Zukunftsroman von Eberhardt del' Antonio Zweite verbesserte Auflage • 26. bis 45. Tausend Alle Rechte vorbehalten • Ver...
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Zukunftsroman von Eberhardt del' Antonio Zweite verbesserte Auflage • 26. bis 45. Tausend Alle Rechte vorbehalten • Verlag Tribüne Berlin Printed in the German Democratic Republic Umschlaggestaltung: Adelhelm Dietzel • Lothar Ziratzki Gesamtherstellung: Sächsische Zeitung Dresden HI-9-1 79 2-390/16/63 - B 112 - 563 - EVP 7,50
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1 Der Hubschrauber flog im weiten Tal entlang. Sein schlanker Schatten huschte über großflächige Felder, üppige Wiesen, schmale Waldstreifen und betonierte Straßen. Zuweilen berührte er eine Schleife des breiten Flusses, der sich träge durch das Tal schlängelte. Wolfgang Trautenhahn lehnte auf der hinteren Sitzbank der viersitzigen Kabine und musterte die beiden Männer, die vor ihm saßen. Der Pilot, breitschultrig und massig, wirkte unbeholfen und träge, wenn er bewegungslos im Sessel lehnte. Doch seine Blicke schweiften unablässig von Instrument zu Instrument, vom Armaturenbrett nach unten auf die Landschaft. Bewegte er sich, so geschah es mitunter verblüffend schnell und geschickt. Sie nannten ihn Jumbo wegen seines schweren Ganges und weil er meist bedächtig war. Jumbo war schweigsam, Wortgeplänkel liebte er nicht; sagte er etwas, dann war es wohlüberlegt. Neben ihm saß ein kräftiger Bursche mit gepflegtem Haar und gebräuntem Hals. Er blickte erwartungsvoll voraus und suchte am Horizont nach einem vertrauten Merkmal. Über Trautenhahns Gesicht irrte ein Lächeln. Wir sind ja bald da, du kannst es wohl gar nicht erwarten? wollte er fragen. Hat es dir nicht gefallen bei uns? Doch dann bedrängten ihn wieder die Gedanken der letzten Stunden, und er schwieg. Er vergaß die beiden Kollegen, vergaß, wo er sich befand. Er hielt das Kinn auf die offene Hand und den Arm auf die Lehne gestützt, seine Augen waren halb geschlossen. Trautenhahn mochte Anfang der Fünfzig sein. Seine buschigen Augenbrauen und das schüttere, an den Schläfen weit zurückweichende Haar waren von grauen Strähnen durchwirkt. Sein Gesicht war knochig und von Falten zerfurcht. Er war untersetzt, wirkte grob, hatte aber lange, schmale Hände. Er schien müde, wie er so dasaß. Wer ihn näher kannte, bemerkte jedoch das leichte Mahlen der Kiefer und auch die steile Falte über der Nasenwurzel und wußte, daß ihn etwas erboste. „Diese verdammten Bremsklötze!“ knurrte er vor sich hin. „Heimleuchten werden wir euch!“ Es erregte Trautenhahns Zorn, wenn er Menschen begegnete, die hinter dem Schreibtisch ihren Tatendrang und ihren Weitblick einbüßten, denen der Schreibtischsessel an den Hintern wuchs und sie am Gang durch die Produktionsstätten hinderte; Menschen, die ihre Betriebspläne engstirnig nur als tote Zahlenreihen sahen, losgelöst aus dem großen Zusammenhang, für den sie sich kaum noch verantwortlich fühlten; Menschen, die den Plan nicht mehr als Ausdruck einer lebendigen Wirklichkeit empfanden, einer Wirklichkeit, die aus vorwärtsstrebenden Arbeitern bestand und aus dem großen Ziel, das sie erreichen wollten... Er schüttelte den Kopf, heftig und unbeherrscht. Erst im letzten Augenblick vermochte er seine Faust zurückzuhalten, mit der er auf die Lehne schlagen wollte. Dazwischenfahren würde er! Wie konnte man sich in einer Zeit des stürmischen Fortschreitens, in der heute überholt war, was gestern als maximale Grenze des Möglichen festgelegt wurde, in einer Zeit des begeisterten Wettbewerbs dogmatisch an den Plan klammern, ihn als Bremse benutzen? Er war so zornig wie gestern, als er mit dem Produktionsleiter des Glasfaserwerkes telefoniert hatte. Mehr glasfaserverstärkter Polyester! Das war das Ziel seiner Brigade. Mehr Polyester mit denselben Maschinen! Wochenlang hatten sie geknobelt, entworfen und verworfen, gerechnet und geändert, Stillstands- und Anlaufzeiten gekürzt, die Herstellungszeiten der Zwischenprodukte vermindert und die Einstellung der Gießautomaten geändert. Minute um Minute hatten sie zusammengetragen und waren schließlich selbst erstaunt gewesen, wie viele Stunden eingesparte Zeit das ergab, wie viele Tonnen Polyester zusätzlich. Sollte das umsonst gewesen sein? Sie produzierten glasfaserverstärkten Polyester, deshalb bedingte eine erhöhte Produktion auch erhöhten Glasfaserbedarf. Vom Glasfaserwerk aber kam als Antwort:... bedauern wir, den außerplanmäßigen Mehrbedarf nicht befriedigen zu können... Trautenhahn hatte es nicht fassen wollen. Er war zum Fernsprecher geeilt und hatte den Produktionsleiter des Glasfaserwerkes verlangt. Und was erwiderte der? „Ausgeschlossen, unsere Produktion ist plangemäß voll ausgelastet!“ Plangemäß? Komischer Kauz. Der Teufel sollte ihn holen! Als sei ihr Plan nicht real, als hätten sie Reserven eingebaut! Aber sprach man vom schöpferischen Menschen, damit er sich mit Erreichtem begnügte? Entwicklung - das hieß schöpferische Unzufriedenheit, schöpferische Ungeduld! Aber so ist das. Die Bewußtseinsbildung ist kompliziert, neue Werke wachsen schneller als neue Menschen, höhere Ansprüche entwickeln sich schneller als höheres Bewußtsein. Sie würden die Selbstzufriedenen schon in Trab setzen, denn mußte es nicht für jeden, der die Arbeit als menschliches Recht, als Produkt der Vernunft und damit als Beweis des Menschseins erkannte, für jeden, der Achtung vor der menschlichen Leistung hatte, selbstverständlich sein, mit dieser Leistung den
höchstmöglichen Nutzen zu erzielen? Man konnte doch keine Reserven dulden, die sich noch in Maschinen und Arbeitsmethoden verbargen und den effektiven Wert der Leistung minderten! Wenn jedoch die Glaswerker nicht mehr Glasfasern produzierten, konnten die Chemiewerker sich nicht verpflichten, mehr glasfaserverstärkten Polyester herzustellen. Deshalb hatte die Brigade auf jede schriftliche Auseinandersetzung verzichtet. Sie schickte ihren Brigadier Trautenhahn, den Vertrauensmann ihrer Gewerkschaftsgruppe, Stolteroff und Werner Hardenstein zu den Glaswerkern mit dem klaren Auftrag, hineinzuleuchten in die dunklen Winkel, die es im Glaswerk noch zu geben schien. Jetzt befanden sie sich auf dem Wege dorthin. Sie würden... „Mein Dorf !“ rief der kräftige Bursche neben Stolteroff. Trautenhahn schrak auf und wandte sich nach links. Vor dem seitlichen Fenster schwangen sich steile, dicht bewaldete Hänge hinauf zur Hochebene, in die der Fluß zu Urzeiten als Gletscherstrom dieses breite Tal gefressen hatte. Hier und da kam der nackte Fels durch die Baumkronen, als habe der Berg sein grünes Kleid durchgescheuert. Steile Schluchten zerklüfteten wie Falten den Hang. Am Fuß der Hochebene - Spinne im Netz der betonierten Straßen - lag eine Ortschaft. Sie trug den Stempel der neuen Zeit. Um einen breiten Platz, den Blumenrabatten füllten, verteilten sich Landwarenhaus, Landambulatorium, Kulturhaus und Oberschule. Zweistöckige balkongeschmückte Wohnhäuser setzten farbenprächtige Tupfen zwischen die Grünanlagen und verstreuten sich auch über den unteren Hang. In tausend Glasflächen brach sich gleißend die Sonne. Doch es gab nicht nur riesige Fenster und große Balkontüren, es gab auch gläserne Wände und Dächer, farbige und milchige, glatte und vielfältig geschliffene. Glas war zum Bauelement geworden, und wo immer man Licht wünschte, wurde es eingesetzt. Im Tal säumten landwirtschaftliche Gebäude den Ort. Sie boten sich Trautenhahns Blicken offen dar wie Puppenstuben. Sie waren mit organischem Glas überdacht, einem gebräuchlichen Kunststoff, nicht nur schmutzabstoßend und splitterfrei, sondern auch durchlässig für die lebenswichtigen und keimtötenden ultravioletten Strahlen der Sonne. Große Rinder- und Schweineställe, deren Kunststoffwände sich nach Belieben entfernen ließen. Eine Geflügelfarm mit automatischer Fütterung, Entmistung und automatischem Eiertransport - Eierfabrik, sagte der Volksmund. Ein kleiner Flugplatz mit Hangar und Düngersilo. Scheunen und Speicher. Ein überdachter Maschinenhof mit Werkstätten und Waschanlagen, Abschmierstelle und Tanksäule. Am oberen Hang bemerkte Trautenhahn einen Sportplatz, ein Schwimmbad und eine geräumige Turnhalle. Oberhalb der Ortschaft überragte der Aussichtsturm eines Ferienheimes die Hochebene, und als Wahrzeichen der modernsten Technik erhob sich ein schlanker Funkmast. „Dort links, neben dem großen Spielplatz, das Haus mit den roten Balkons, oben am Hang, hinter dem Kindergarten - dort wohne ich!“ sagte der Bursche vor ihm, und Trautenhahn blickte in Richtung des ausgestreckten Zeigefingers. Er hatte seine Kindheit auf dem Lande verbracht. Aber Dorf, das hieß damals: einzelne Gehöfte, verschlammte Straßen, Handtuchfelder, Feldraine... . Trautenhahn entsann sich langer Winterabende, verschneiter Wege und Felder, einer einsamen Straßenlampe, die bei jedem Windstoß quietschend schaukelte und deren trüber Lichtkreis ein Stück Fachwerkwand aus dem Dunkel hob. Irgendwo in der Finsternis kläffte ein Spitz, eine Dogge mischte
sich ein, bald war es ein vielstimmiger Chor, bis die Stille wieder einfiel und man den Schnee unter den Schuhen knirschen hörte und das Knarren eines Tores oder einen fernen Sprachfetzen... Als Kind war ihm das verträumt erschienen, märchenhaft und geheimnisvoll, und als er in die Stadt kam, wehrte er sich gegen das Lärmen und Hasten und gegen die Helligkeit. „Ich komme vom Lande...“, sagte er versonnen, „aus einem alten Dorf mit einzelnen Höfen. Jedes Gehöft hatte sein Wohnhaus, sein Stallgebäude, seine Scheune...“ „... und seinen eigenen Misthaufen, seinen eigenen Gestank, seine eigenen Sorgen - ich weiß!“ unterbrach ihn der Bursche ungehalten. „Jeder bestellte seinen eigenen Zipfel, baute seinen eigenen Kohl und seine eigenen Rüben. Jeder hatte seine eigenen altererbten Methoden - in Jahrhunderten bewährt und deshalb unverändert. Und streng wissenschaftlich, versteht sich - schließlich hatte man den Bauernkalender !“ „Aber...“ „Deine alte Dorfromantik in Ehren, Brigadier - aber das war nicht die Romantik der Knechte und Mägde, nicht die der Tagelöhner. Hör mir doch auf...“ Trautenhahn schüttelte nachsichtig den Kopf. „Ich trauere dem alten Dorf nicht nach. Wenn du auch nur drei Wochen bei uns warst - soweit müßtest du mich doch kennen! Ich wohne seit fünfunddreißig Jahren in der Großstadt. Zugegeben, manchmal sehe ich das Dorf noch immer mit den Kinderaugen von damals durch die Erinnerung verklärt. Man behält ja nur das Schöne.“ „Ach, und das fehlt dir jetzt?“ fragte der Bursche herausfordernd. „Unsinn, das neue Dorf ist zweifellos schöner - aber mich verblüfft es gerade deshalb immer wieder. Man müßte sich mit ihm richtig vertraut machen. Seinerzeit, als ich das Dorf verließ...“ „Warum bist du denn gegangen, wenn es dir so gefiel?“ „Weil es für junge Menschen starke Schattenseiten hatte, die nicht im kindlichen Blickfeld lagen. Als ich das Dorf verließ, war es der Arm der Welt, verstehst du? Genossenschaften, das kam erst später. Uns junges Volk trieb es in die Stadt, denn was gab es für uns noch auf dem Lande, wenn man die kurzen Hosen ausgezogen hatte und das Spielen nicht mehr der Sinn des Lebens war? Arbeit? Gewiß! Aber mit verhältnismäßig primitiven Methoden - wir waren schon Kinder des Zeitalters der Technik und wollten mit der neuen Technik umgehen. Und wo war etwas los? Im Dorfkrug? Dort konnte man, wenn es eine gutgehende Kneipe war, allenfalls Billard spielen, oder einer aus dem Dorfe dudelte auf der Quetschkommode. Und daß jeder eigene Sorgen hatte, mit seinem eigenen Hof, das machte die Menschen nicht besser. Neid, Klatsch...“ „Das ist heute anders: Wir bestellen den gleichen Acker; mühen, sorgen und freuen uns gemeinsam!“ ereiferte sich der Bursche. Trautenhahn lächelte. „Ich glaub dir's. Ich sehe es ja auch. So eine moderne Agrogemeinde - sicher würde ich, wäre ich jung wie damals, auch Landwirt. Frische Luft, moderne Maschinen! Inmitten der Natur leben und doch nicht hinter dem Grenzpfahl, an dem die Kultur aufhört! Solch ein Leben muß verlockend sein. Früher lief man oft Stunden, wollte man Gebrauchsgegenstände einkaufen. Schuhe gab es in der Kreisstadt, das bedeutete eine Stunde Weg bis zur Bushaltestelle und eine halbe Stunde Fahrt. Der Arzt wohnte im übernächsten Dorf: zwei Stunden Weg. Zwar hatte er einen Wagen, aber damit kam er bei Regen nicht weit im Schlamm. Es gab viele bei uns, die während ihres ganzen Lebens nie im Theater waren, ja, es gab alte Leute, die kein Kino kannten.“ „Du müßtest im Austausch mal zu uns kommen, Brigadier“, sagte der Bursche und lachte stolz. „Laß dir mal drei Wochen Landluft verschreiben!“ „Vielleicht“, erwiderte Trautenhahn, „vielleicht. Es wäre für meinen Stellvertreter eine Gelegenheit, sich richtig einzuarbeiten. Was meinst du, Jumbo?“ Volker Stolteroff ließ sich Zeit. Trautenhahn aber hatte die Frage nur leicht hingeworfen und erwartete keine Antwort. So überraschte sie ihn. „Gute Idee“, sagte Stolteroff gemächlich. „Außerdem bist du ein alter Hase und siehst mehr als wir. Wird auch Zeit, daß der Brigadier selbst mal in den Vertrag einsteigt, den er mit unterschrieben hat.“ „Wann hätte ich gehen können? Du weißt doch selbst, daß es nicht möglich war.“ „Schon gut, war nur eine Anregung zum Nachdenken“, brummte Stolteroff. Der Hubschrauber kreiste über dem kleinen Flugplatz des Dorfes, senkte sich und setzte behutsam die Räder auf. Stolteroff reckte sich, öffnete die Tür und sprang hinaus. „Ich vertrete mir die Beine. Hardenstein ist sowieso noch nicht da. Wir sind eine Viertelstunde zu früh hier.“ „Macht's gut!“ sagte der Bursche. „Ich habe allerhand gelernt bei euch. Hoffentlich kann Hardenstein nachher das gleiche sagen. Ihr habt viel Geduld mit mir gehabt, das muß man euch lassen. Besten Dank, und grüßt mir die Kollegen noch mal.“ Er schüttelte den beiden die Hände und verließ den Platz. „Ich besuche euch gelegentlich - und überleg dir's, Brigadier, drei Wochen Landluft!“ rief er zurück. Trautenhahn lachte. „Sag eurem Vorsitzenden, wenn er unseren Hubschrauber braucht, soll er anrufen!“
„Hat selber welche“, dröhnte eine tiefe Stimme vom Hangar her, „braucht eure Mücke nicht!“ Der Vorsitzende der Genossenschaft und Hardenstein kamen heran. Der Vorsitzende war ein Hüne, neben dem der gewiß nicht kleine Hardenstein fast verschwand. Zudem hatte der Vorsitzende einen ziemlichen Umfang, Hardenstein aber war schlank, und das väterlich selbstsichere Wesen des Vorsitzenden ließ Hardenstein wie achtzehn erscheinen, obwohl er schon zweiundzwanzig war. Trautenhahn und Stolteroff hatten auf Hardenstein gewartet, sie wollten ihm viele Fragen stellen, aber jetzt kam der Vorsitzende, und wo der auftauchte, war er sofort der Mittelpunkt. Man konnte sich vorstellen, daß die Genossenschaft eine große Familie war, wenn man ihren Vorsitzenden sah. Er schüttelte den Männern herzlich die Hand. Während er sprach, schob Trautenhahn verstohlen seine Hände auf den Rücken und massierte seine Rechte. „Habt ihr noch mehr von dieser Sorte?“ fragte der Vorsitzende und legte seine Hand auf Hardensteins Schulter. „Hat offene Augen. Manches hat er kritisiert, was wir gar nicht mehr gesehen haben.“ Trautenhahn freute sich über dieses Lob. War der Austausch ursprünglich nur dazu bestimmt, das Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen den Bauern und den Industriearbeitern zu vertiefen, Sorgen und Nöte gegenseitig verstehen zu können, so hatte sich inzwischen gezeigt, daß dieser Austausch ihrer Arbeit auch direkt nützte. Die Genossenschaftsbauern lernten die Produktion der Kunststoffe kennen, mit denen sie täglich zu tun hatten. Die Kunststoffe eroberten unaufhaltsam auch die Landwirtschaft, ersetzten, wo immer es möglich war, Stahl und Holz, die in der Landwirtschaft besonders stark den Witterungseinflüssen ausgesetzt und trotz umfangreicher Pflege einem höheren Verschleiß als der Kunststoff unterworfen waren. Die Bauern lernten die Kunststoffeigenschaften nicht nur vom Prospekt her kennen. In den Prüflabors sahen sie, welchen Belastungen der Kunststoff gewachsen war. Diese eigene Anschauung war nachhaltiger als die beste Beschreibung. So vermochten sie die Kunststoffe zweckmäßiger zu behandeln, stellten keine falschen Ansprüche an sie und vermieden Reparaturen. Das alles steigerte den Gewinn der Genossenschaft. Die Chemiearbeiter lernten die Bedingungen kennen, denen ihre Produkte ausgesetzt waren, sahen, was von einer einwandfreien Qualität abhing, und erschlossen den Kunststoffen neue Anwendungsgebiete auf dem Lande. Diese vielseitigen Erfahrungen gaben manchen wertvollen Hinweis, der sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Kunststoffindustrie berücksichtigt werden konnte. Es hatte sich ein sehr herzliches Verhältnis zwischen der Brigade und der Genossenschaft entwickelt, und bald galt es als selbstverständlich, sich gegenseitig zu helfen, soweit es das Produktionsprogramm zuließ. Die Chemiearbeiter gaben besonders bei der Ernte technische Hilfe, die Genossenschaftsbauern halfen im Winter bei turnusmäßigen Überholungen der chemischen Anlagen. Und nicht nur die Chemiewerker, auch die Bauern hatten meist einen zweiten Beruf, der sie befähigte, technische Arbeiten an ihren Maschinen selbst auszuführen. So war es mehr als eine Höflichkeitsfloskel, daß sich Trautenhahn nach dem Stand der Feldarbeiten erkundigte. Der Vorsitzende lachte. Es klang beruhigend und selbstbewußt. „Wenn wir euch brauchen, rufen wir euch, verlaß dich drauf. Aber nur, wenn wir euch wirklich brauchen. Wir wären schlechte Bauern, wollten wir nicht erst alle unsere Kräfte und Reserven ausschöpfen, ehe wir um Hilfe bitten.“ Während des Fluges zum Glaswerk berichtete Werner Hardenstein. Wie immer war er voller Ideen. „Wir müßten eine spezielle Arbeitsgemeinschaft bilden, einige Bauern und einige Kollegen von uns.“ „Arbeitsgemeinschaften gibt es doch schon, wie auf allen Gebieten, auch zwischen Landwirtschaft und Chemie“, wandte Stolteroff ein. „Aber auf anderer Ebene! Weshalb sollten wir nicht als Praktiker, direkt zwischen Erzeuger und Verbraucher der Kunststoffe, engste Zusammenarbeit anstreben und gemeinsam Erfahrungen sammeln und auswerten? Ich denke so: Die Genossenschaft müßte einige Geräte zusätzlich als Versuchsgeräte einsetzen, dann könnten wir geeignete Holz- und Stahlteile gegen Kunststoffteile auswechseln und sie gleich praktisch erproben. Vielleicht könnte man sogar die Laufketten der Raupenschlepper aus Polyester herstellen, mit auswechselbaren Stollen. Die Montage wäre auch einfacher, die Stahlketten sind verdammt schwer. Der Lärm auf der Straße würde vermindert, die Straßendecke geschont...“ Trautenhahn musterte ihn anerkennend und doch belustigt über den Eifer. Der Junge sprühte wieder einmal vor Tatendrang. Das Nesthäkchen der Brigade! Trautenhahn mochte ihn wirklich gern, aber gerade deshalb verlangte er viel von ihm und bemühte sich, die Ecken abzuschleifen, an denen man sich noch stoßen konnte, wie er es für sich nannte. Vielleicht war er manchmal wirklich zu unduldsam mit Hardenstein, seine Kollegen behaupteten es bisweilen, aber es war wohl mehr väterliche Ungeduld, die das Beste will. Bei Hardenstein lohnte sich die Mühe, er war intelligent, kameradschaftlich und versprach der beste Facharbeiter der Brigade zu werden. Er steckte voller Ideen, das hatte schon manchen Verbesserungsvorschlag eingebracht. Aber gerade wenn er sich in eine Sache verbissen hatte, verlor er leicht die Maßstäbe und sah die Dinge zu einseitig. Trautenhahn hielt
es dann für seine Pflicht, ihm den nötigen Überblick zu verschaffen. Das ging nicht immer ohne Auseinandersetzungen ab. Es gelang Trautenhahn nicht jedesmal, ihn zu überzeugen, deshalb faßte Hardenstein die Ermahnungen als Nörgelei auf, und in ihm verstärkte sich der Verdacht, Trautenhahn könne ihn nicht leiden. Lange blieb Trautenhahn nicht bei diesen Gedanken. Stolteroff erklärte Hardenstein eben ihren Auftrag, den sie im Glaswerk zu erfüllen hatten, und der erwiderte empört: „Denen werden wir einen Marsch blasen!“ Trautenhahn lächelte vor sich hin. Das sah ihm ähnlich! Aber recht hatte er, man würde sehr deutlich mit den Glaswerkern reden müssen. Der Brigadier der Glaswerker schien nicht zu wissen, weshalb sie kamen. „Habt ihr eine Beanstandung, daß ihr um eine Produktionsberatung bittet? Seid ihr mit der Qualität nicht zufrieden?“ fragte er verwundert. „Die ist in Ordnung“, sagte Trautenhahn kurz und bat ihn, die Brigade zusammenzurufen. „Wir möchten gern mit allen sprechen.“ Ein paar Einsichtige mußten doch dabeisein? „Und den Produktionsleiter möglichst auch.“ „Vielleicht auch noch die BGL?“ „Es genügt, wenn euer Vertrauensmann dabei ist.“ „So, ihr Geheimniskrämer, das sind alle Kollegen, die abkommen können - und Schicht haben, natürlich! Oder soll ich die anderen von daheim holen lassen?“ spöttelte der Glaswerkerbrigadier, als sich der Raum füllte. „Unser Produktionsleiter kommt noch.“ Trautenhahn sah sich im Aufenthaltsraum um. Etwa dreißig Frauen und Männer saßen vor ihm. Das genügte. Jetzt würden sie die Spinnweben der Bequemlichkeit auskehren! Hier gingen sie nicht hinaus ohne schriftliche Zusage. Der Vertrauensmann der Glaswerker eröffnete die Beratung. „Die Kollegen vom Chemischen Kombinat haben uns um diese Besprechung gebeten. Wie uns der Werkleiter mitteilte, handelt es sich um einen Brigadeaustausch über Produktionsfragen. Worum es geht, werden euch die Kollegen selbst erklären.“ Trautenhahn erhob sich und schilderte knapp, wie es vorher besprochen war, ihr Bemühen, die Produktion zu erhöhen. Dann kam er auf die Auswirkungen zu sprechen: „Mehr glasfaserverstärkter Polyester, das heißt: mehr Kraftwagen, mehr Schiffe, mehr Maschinenteile, mehr Gebrauchsgegenstände, mehr...“ Die Glaswerker stutzten. Das war doch nichts Neues? Deshalb war er doch nicht hier? Schon rief einer ungeduldig: „Komm zur Sache!“ Da brach es aus Trautenhahn heraus: „Ihr wißt nicht, weshalb wir hier sind? Zum Teufel, warum versteckt ihr euch hinter dem Plan? Ohne eure Hilfe können wir uns nicht verpflichten, unsere Produktion zu erhöhen, das wißt ihr ganz genau!“ „Wer versteckt sich hinter dem Plan - wir? Vor euch etwa?“ rief der Brigadier. Der Vertrauensmann rief: „Was soll das heißen?“ Und die Kollegen stimmten ein: „Los jetzt, die Karten auf den Tisch!“ und: „Drück dich deutlicher aus!“ „Das soll heißen“, sagte Trautenhahn nachdrücklich, „daß wir nicht begreifen können, wieso ihr uns sitzenlaßt! Unsere Produktion war laut Plan auch ausgelastet. Trotzdem haben wir's geschafft!“ Trautenhahn verstärkte seine Worte mit energischen Handbewegungen. „Wir...“ „Nun mal langsam, Kollege Trautenhahn“, unterbrach der Glaswerkerbrigadier. „Wer läßt euch sitzen? Noch habt ihr uns überhaupt nicht gefragt!“ „Was denn?“ fragte Trautenhahn ungläubig. „Ihr wißt von nichts? Euer Produktionsleiter lehnte ab, ohne mit euch zu sprechen?“ „Kollegen, ich habe...“, sagte eine Stimme von der Tür her. Der Mann eilte hastig nach vorn. „Kollegen, ich habe...“ Weiter kam er nicht. „Du hast abgelehnt, ohne mit uns zu sprechen, abgelehnt in unserem Namen, die Produktion zu steigern?“ „Der Plan, wir sind ausgelastet, das wißt ihr doch selber“, erwiderte der Produktionsleiter unsicher. „Du schiebst den Plan vor, vom Schreibtisch aus? Ohne mit uns gesprochen zu haben?“ brauste der Glaswerkerbrigadier auf. „Du kommst aus unserer Brigade, wir haben dich zum Studium delegiert! Stolz waren wir, daß du unsere Produktion leitest! Wir hatten Vertrauen zu dir...“ Ehe der Produktionsleiter etwas erwidern konnte, brach es über ihn herein. „Das Nein war wohl bequemer als der Weg zu uns?“ „Wer produziert hier - du oder wir? Wer entscheidet also, ob wir mehr produzieren können?“ „Bist du selbstherrlich? Hast du vergessen, was wir damals gemeinsam geschafft haben?“ „Du solltest wieder mal zwei Monate bei uns arbeiten!“ „So kommen wir nicht weiter!“ fuhr der Vertrauensmann dazwischen, als alle durcheinandersprachen. „Laßt Hans zu Wort kommen!“
„Wißt ihr vielleicht, wie das zu schaffen wäre?“ fragte der Produktionsleiter. „Wo soll ich denn so schnell die Maschinen hernehmen?“ „Du hast noch immer nicht begriffen!“ rief ein Glaswerker. „Wir wollen mit denselben Maschinen mehr produzieren! Was die Kunststoffmixer können, muß auch bei uns möglich sein!“ „Aber wie?“ „Ich schlage vor, wir bilden eine Arbeitsgemeinschaft, die das ausknobelt, morgen noch“, sagte der Vertrauensmann. „Und Hans sollte den Vorsitz übernehmen, damit er seine Scharte wieder auswetzen kann. - Seid ihr zufrieden?“ fragte er die Chemiewerker. „Ihr hört bald von uns, das versprechen wir euch!“ Sehr gesprächig war Trautenhahn auf dem Rückflug nicht. Froh über das Ergebnis der Auseinandersetzung mit den Glaswerkern, kannte er doch andererseits die Schwierigkeiten zu gut, um gedankenlos darüber hinwegzugehen. Schwer würde es sein, bei dem ausgefeilten Fertigungsablauf noch Reserven zu finden und zu nutzen. Aber schließlich hatten sie es im Kombinat auch geschafft. Nur, ungeduldig durften sie nicht werden, denn für die Glaswerker gab es eine zusätzliche Aufgabe. Sie mußten die Kollegen der Zulieferbetriebe überzeugen, daß auch diese ihre Reserven erschlossen, vom Baggerführer in der Sandgrube bis zu denen, die für die Glasproduktion die notwendigen Zuschläge lieferten. Trautenhahn hatte eigentlich nie so deutlich gesehen, wie eng die verschiedenen Industriezweige verflochten und wie sehr sie aufeinander angewiesen waren. Ihre Verpflichtung, mehr zu produzieren, war wie eine Kette - zurück bis zu den Rohstofflieferanten und voraus bis zu den weiterverarbeitenden Betrieben, denen nun mehr Material geliefert werden konnte. Versagte ein Glied dieser Kette, blieb die Verpflichtung illusorisch. Die Chemiewerker hatten es einfacher gehabt. Die Grundstoffe des Polyesters erhielten sie aus dem eigenen Kombinat. Mit den Kollegen der betreffenden Abteilungen waren sie schnell einig geworden. Außerdem verbrauchten diese Abteilungen derart viel Rohstoff, daß sie den Mehrbedarf des Polyesterbetriebes ausschließlich aus inneren Reserven decken konnten, ohne die Rohstofflieferanten zu zusätzlichen Lieferungen bewegen zu müssen. Werner Hardenstein sprach eindringlich auf Stolteroff ein. Trautenhahn wurde aufmerksam. „Ich wußte, daß die Landwirtschaft wissenschaftlich betrieben wird - aber so hatte ich mir das nicht vorgestellt. Diese Technik! Kein Halm, keine Kartoffel, keine Rübe wird angefaßt. Mistgabel, Schaufel, Hacke, die kannst du im Museum aufhängen. Demnächst wollen sie sogar ferngesteuerte Maschinen einsetzen, Kombines und Traktoren. Wo liegt der Unterschied zwischen Arbeiter und Bauer? Wenn man die Nase einmal in andere Produktionszweige steckt, sieht man erst, wie wenig man weiß. Viel zuwenig!“ Trautenhahn empfand das nicht als Geschwätz. Hardenstein besuchte die Betriebsakademie, er war auch dort einer der Besten. Die Welt war für ihn voller Geheimnisse, die er ergründen mußte - ein Abenteuer, bei dem man auf jedem Schritt Neuem begegnete. Er war ein Forschertyp, voller Neugier und Tatendrang. Das schien die Triebkraft seines Lerneifers. Oder war er unsicher in einer Umwelt, die er nicht genau kannte, die voller Geheimnisse war? Aber gab es das? Nahmen nicht die meisten Menschen das meiste als gegeben hin, ohne nach der Ursache zu fragen? Gab es nicht manchen, der nur wußte, welchen Knopf er wann zu drücken hatte und was dann wo herauskam, ohne die inneren Vorgänge der Maschine oder der chemischen Anlage zu kennen? Hardenstein war anders. Ob die Brigade ihn zum Studium delegieren sollte? Aber war er geeignet? Es war doch beileibe nicht so, daß man wahllos die Hochschulen „beschickte“. Die Brigade delegierte, also war sie auch für die Eignung verantwortlich. Die Vorgesetzten von morgen wählte man heute aus. Der Delegierte mußte entwicklungsfähig sein, charakterlich geeignet und vor allem eine sozialistische Einstellung zur Gesellschaft haben. Sie brauchten „Akademiker“, die sich für ihre Arbeit verantwortlich fühlten, die ihre Arbeit als Auftrag der Gesellschaft betrachteten, denen es nicht um Titel und Stellung ging, die vielmehr vom Wunsch beseelt waren, der Gesellschaft möglichst viel zu geben und die Entwicklung beschleunigen zu helfen. Man mußte sorgfältig wählen. Egoisten, Karrieristen und Blender dienten der Gesellschaft wenig und waren fehl am Platz, sie hemmten die Entwicklung! Trautenhahn hatte zuviel erlebt, um sich diese Wahl leichtzumachen. Was waren ihm im Laufe seines ereignisreichen Lebens für Menschen begegnet! Phrasendrescher: Sie waren so leer wie das Stroh, das sie droschen, inhaltlos und unfruchtbar. Sie verfügten über einen reichen Wortschatz politischer Redewendungen, aber besaßen nur ein kümmerliches Maß politischen Handelns. Sie beherrschten virtuos die Überschriften, kamen aber nie zum Inhalt der Kapitel des gesellschaftlichen Lebens. Egoisten: Sie sahen und bewerteten den Fortschritt nur durch die Brille persönlicher Vorteile, nahmen von der Gesellschaft mit Baggereimern und gaben ihr mit Fingerhüten zurück. Und doch bestahlen sie sich selbst - um das innere Erlebnis der großen Gemeinschaft. Zweigesichtige: Das waren die Schlimmsten; sie ließen sich schwer durchschauen. Im Betrieb zählten sie zu den Fortschrittlichsten, waren immer zur Stelle, wenn man sie brauchte – aber außerhalb des Werktores, daheim, ruhten sie sich vom Fortschritt aus, dort zeigten sie ihr zweites Gesicht:
die groben Züge des Paschas. Im Grunde waren sie Spießbürger, das zeigte sich, wenn sie sich gehenließen, wenn sie Urlaub vom Fortschritt nahmen. Eine böse Sache mit diesen Typen. Zwar gehörten sie zur Entwicklung einer neuen Gesellschaft, schließlich brachte eine neue Ordnung nicht sofort neue Menschen hervor; zwar gehörten diese Typen jetzt auch mehr und mehr der Vergangenheit an, aber Trautenhahn hatte sich in seinem Leben zu oft über sie geärgert, um sie vergessen und mit blindem Vertrauen entscheidende Personalveränderungcn vorschlagen zu können! Der Hubschrauber näherte sich einem Waldstück. Es lag nördlich der Großstadt, mit ihr verbunden durch eine breite Betonstraße, einen mehrgleisigen Schienenstrang und den großen Fluß, der sich von der Stadt herüberzog und das Waldstück in weitem Halbkreis umschlang. Wie von geschickter Hand über einen flauschigen Teppich verstreute Glaswürfel, so harmonisch schmiegten sich reichverglaste Betonbauten zwischen die hohen Bäume. Man hätte diese Anlage für ein Sanatorium halten können. Diesem Eindruck entsprachen auch die Kaskadenglasdächer der großflächigen Gewächshäuser. Doch am Fluß, weitab der Stadt, reckte sich ein hoher Schornstein, und von den Gewächshausdächern stiegen dichte Dampfwolken in den blauen Himmel - für den Kundigen der Beweis, daß die abfallende Wärme sinnvoll genutzt wurde. Die Batterien hoher Destillierkolonnen verrieten endgültig das Chemische Kombinat. Obwohl Trautenhahn dieses Bild oft gesehen hatte, zog es ihn doch immer wieder an. Es erfüllte ihn mit Stolz. Neunhundert Menschen lenkten diesen Industriekoloß. Und er gehörte zu ihnen! Ja, er war einer seiner Geburtshelfer, vom ersten Tage an dabei! Ob sie zu denen gehörten, die in den Labors neue Kunststoffe entwickelten oder in den Konstruktionsbüros neue Produktionsverfahren, oder zu jenen, die den ungestörten Produktionsablauf überwachten: Dieses Kombinat war ein Stück ihres Seins - und es machte ihnen Freude, aber auch Sorgen, wie ein richtiges Kind. Stolteroff steuerte den kleinen Hubschrauberflugplatz des Chemischen Kombinats an. Trautenhahn, der sich zu alt fühlte, um noch fliegen zu lernen, beugte sich interessiert vor und blickte zwischen den beiden Kollegen hindurch auf das Armaturenbrett. Auf einer Tastenleiste drückte Stolteroff die Ziffern der automatischen Flugplatzsicherung und ersuchte, ebenfalls durch Knopfdruck, um Landeerlaubnis. Eine grüne Lampe auf dem Armaturenbrett begann in kurzen Intervallen zu blinken: Platz frei zum Landen! Weder Stolteroff noch Hardenstein waren davon beeindruckt. Beide besaßen die Fahr- und Flugerlaubnis für diesen Kombihubschrauber, dessen Unterteil auch als Kraftwagen und dessen Oberteil auch als leichter „fliegender Kran“ verwendet werden konnte. Sie waren schon zu oft auf diese Weise gelandet, um es nicht als selbstverständlich zu empfinden. Die Gewohnheit entkleidete die Dinge ihres Zaubers, oft auch dann, wenn sie unverstanden blieben. Es genügte, ihnen oft zu begegnen, um sie als selbstverständlich zu empfinden. Stolteroff und Hardenstein waren an dialektisches Denken gewöhnt und bestrebt, den Dingen auf den Grund zu gehen, doch was man ergründet hatte, verlor unvermeidbar den Reiz des Geheimnisvollen. Anders Trautenhahn. Er kannte wohl die Zusammenhänge, doch weil er nicht fliegen konnte und deshalb außerhalb des technischen Geschehens blieb, mußte er sich die Vorgänge immer wieder neu ins Gedächtnis rufen. Man wählte mit den Tasten, wie beim drahtlosen Telefonverkehr, die Nummer des Flugplatzes. Der Apparat fügte selbsttätig die Nummer des Flugzeuges hinzu. Dieses Flugsignal setzte den elektronischen Platzwächter in Betrieb. Mit Radarstrahlen tastete er blitzschnell den Landeplatz ab, sperrte die Zugänge, schaltete die Platzbefeuerung und bei fehlender Bodensicht, das Funkfeuer ein, das die anfliegende Maschine mit seinem Leitstrahl genau über den Platz lotste und ihr ständig die gepeilte Höhe angab. Dann erst funkte der Automat der entsprechenden Maschine Landeerlaubnis, und doch vergingen nur Sekundenbruchteile. Es war hervorragende Bodensicht. Stolteroff landete ohne die Hilfe des Funkfeuers, exakt wie bei der Pilotenprüfung. Sanft setzte die Maschine auf. Das Dröhnen verklang. Die Tragschrauben schwangen aus. Die plötzliche Stille war beklemmend. Man horchte dem dumpfen Dröhnen nach und fand sich mit einem tiefen Atemzug zurecht. Abgespannt rieb sich Stolteroff die Lider, barg sein Antlitz einen Augenblick in den Händen, streifte ruckartig die Erschlaffung ab und entriegelte die Türen. „Das war's!“ sagte er lakonisch. „Sag mal, auf dem LPG-Platz bist du doch ohne Platzsicherung gelandet?“ fragte Trautenhahn. „Warum hast du sie hier benutzt?“ „Vorschrift! Die LPG hat noch keinen Platzwächter, das hier ist ein Versuchsmuster.“ „Aber wir sollten sie aufmerksam machen“, sagte Hardenstein. „Fliegen sie denn bei schlechtem Wetter auch mit ihren Unkrauthummeln?“ fragte Stolteroff.
„Was glaubst du denn?“ ereiferte sich Werner Hardenstein. „Denkst wohl, sie fliegen bloß Dünger und Schädlingsbekämpfungsmittel? Volker, das ist ein landwirtschaftlicher Großbetrieb, dort gibt es ebenso Dienstreisen wie bei uns. Und ihre Zeit ist so kostbar wie unsere - kostbarer noch, wenn geerntet wird.“ „Zeit - das ist das Stichwort. Aussteigen! Nach der Vorschrift ist der Platz schnellstens zu räumen.“ Hardenstein und Trautenhahn sprangen hinaus. Sie warfen die Türen zu, und Stolteroff gab Gas. Es war ein Huckepackhubschrauber, ein moderner Kraftwagen, der einen Flugteil trug. Dieser Flugteil konnte sowohl von einer Pilotenkabine als auch über eine Kupplung vom Kraftwagen aus gesteuert werden. Als er unter dem Dach des Hangars hielt, schoben sich Stützen aus dem Flugteil. Der Motor verstummte. Hardenstein kontrollierte unwillkürlich: Zündschlüssel ziehen, damit die Verblockung getrennt werden kann, Trenntaste drücken und einrasten,. Zündschlüssel einschieben, Straßenfederung einschalten und anfahren... Der Wagen senkte sich einige Zentimeter und fuhr unter dem Flugteil hervor. Trautenhahn blickte auf die Uhr. „Bis zum Schichtwechsel schaffen wir's!“
2 Werner Hardenstein hatte Feuer gefangen. Viel Holz und Stahl wurde noch in der Landwirtschaft, vor allem aber im Landmaschinenbau verwendet, viel zuviel, wie ihm schien. Überall war er während des Landeinsatzes auf Maschinenteile gestoßen, die nach seiner Meinung ebensogut aus Kunststoff hergestellt werden konnten. Aber er hatte auch Teile gesehen, für die ein geeigneter Kunststoff noch fehlte, die Belastungen gewachsen sein mußten, denen Kunststoffe noch nicht standhielten. Je länger er darüber nachdachte, um so unverständlicher erschien ihm der Stand der Kunststofftechnik. Er wurde ungeduldig und war bald davon überzeugt, daß man den vorhandenen Kunststoff schwunglos und nachlässig einsetzte und in der Entwicklung neuer Kunststoffe pedantisch und nicht kühn genug sei. Es fiel seinen Kollegen bald auf, daß er bei jeder Gelegenheit auf diese Dinge zu sprechen kam. Sie nahmen es nicht ernst. Stolteroff sagte eines Tages zu ihm: „Nimm mir's übel oder nicht, Werner: Du hast den Kunststofftick! Man kann doch die Welt nicht nur mit Kunststoffaugen durch die Kunststoffbrille danach beurteilen, zu wieviel Prozent sie schon aus Kunststoff besteht. Behalte die Realitäten im Auge! Die Herstellungskosten spielen auch eine Rolle. Und was die Entwicklung betrifft: Sie verläuft stufenweise. Du kannst den dritten Schritt nicht vor dem ersten tun.“ Da Werners Lieblingsthema noch keinem auf die Nerven ging, lächelte man darüber und hatte es bald wieder vergessen. Zudem sprachen sie ja ohnehin täglich von Kunststoffen. Trautenhahn ärgerte sich über die einseitige Betrachtungsweise Hardensteins. Dabei war er schon aus einem anderen Grunde ärgerlich. Vormittags hatte ihn der Sportbeauftragte angerufen und gefragt, wann denn Hardenstein vom Lande zurückkäme, sie brauchten ihn in der Handballmannschaft. Mittags sprach ihn der Leiter des Estradenensembles an und wollte die Woche wissen, in der Hardenstein wieder im Betrieb sei, weil sie ein neues Programm einstudieren und dabei nicht auf Hardensteins Stimme verzichten wollten. Indessen war Hardenstein schon seit drei Wochen zurück. Zwar hatte Trautenhahn das nicht erwähnt, aber zugesagt, umgehend mit ihm zu sprechen. Wenn es auch keine Brigadeangelegenheit war, so fiel es doch auf die Brigade zurück. Deshalb hatte er geschwiegen, aber es erboste ihn, von Hardenstein in eine solche Lage gebracht zu werden. Einen Zusammenhang zwischen Hardensteins Kunststofftick und seinem Versteckspiel sah Trautenhahn nicht. Weil es kein dienstliches Anliegen war, mochte er Hardenstein nicht über den Lautsprecher rufen. So mußte er ihn suchen, denn die Anlagen waren vollautomatisch, und die Chemiewerker kontrollierten nur. Sie waren an keinen festen Arbeitsplatz gebunden und machten Rundgänge. Lediglich das Steuerpult war ständig besetzt, aber Hardenstein dazu nicht eingeteilt. Als zweiten Beruf hatte er Mechaniker gelernt und eignete sich deshalb besonders für die Überwachung der Anlagen. Es war nicht einfach, jemand beim Kontrollgang zu finden, denn die Anlage erstreckte sich durch zwei Hallen, und zwischen den Behältern, Aggregaten und Rohrleitungen verloren sich die Menschen. Deshalb suchte Trautenhahn nicht planlos. Hardenstein war sicherlich an einem der mechanischen Teile der Anlage zu finden. Der Siloboden, von dem die pulverisierten Grundstoffe des Polyesters - Glykole und Maleinsäure - in den verschiedenen Kombinationen zur Verarbeitung kamen, schied bei dieser Suche aus. Die Dosierautomaten waren zuverlässig, und wer klettert gern auf den Boden, wenn es nicht erforderlich ist? Blieben die Polykondensationskessel, in denen die Glykole und die Maleinsäure sich verbanden und Wasserdämpfe ausschieden, die mit Stickstoff abgeblasen wurden. Dort gab es Rührwerke und ferngesteuerte Ventile. Aber Trautenhahn suchte zwischen den riesigen Kesseln auf der hohen Bühne vergeblich. Er fand Hardenstein auch zwischen den Mischkesseln nicht, in denen der Polyester von einem Rührwerk mit Styrol vermischt wurde. Auch hier gab es ferngesteuerte Ventile, und das war ein neuralgischer Punkt der Anlage, weil erhöhte Brandgefahr bestand. Styrol war feuergefährlich, deshalb mußte der Kesselinhalt mit Stickstoff abgedeckt werden. Diese Stelle wurde von den Chemiewerkern besonders aufmerksam überwacht. Trautenhahn suchte auch in der Bandstraßenhalle, wo der Polyester mit Glasfasern zu Platten und Profilteilen vergossen wurde. Obwohl er auf den erhöhten Umlauf stieg, konnte er Hardenstein nirgends entdecken. Verärgert kletterte er wieder hinab und fragte Stolteroff, der am Leitstand Dienst hatte, nach Hardenstein. „Ist im Betriebslabor“, erwiderte Stolteroff, ohne den Blick vom Schaltbild zu nehmen. „Was will er dort, er hat doch Überwachungsdienst?“ schimpfte Trautenhahn. „Er hat seinen Rundgang schon gemacht, aber der Laborant ist schnell mal zum Arzt gegangen, da ist Werner eingesprungen.“ „Und kein Mensch sagt mir das!“ „Er ist eben erst weg und wollte dir vom Labor aus Bescheid sagen“, erwiderte Stolteroff und blickte kurz auf. Trautenhahn glaubte wieder einen leichten Vorwurf in diesem Blick zu lesen und wandte sich
schweigend ab. Daß die Kollegen immer sofort auf Hardensteins Seite standen, wenn er an ihm etwas auszusetzen hatte! Behandelte er den Jungen wirklich falsch? Trautenhahn beschloß, sich gelegentlich mit der gesamten Brigade auszusprechen - gelegentlich, denn erst mußte er einen konkreten Punkt finden, an dem er ansetzen konnte. Diese leichte Spannung zwischen ihm und der Brigade, wenn es um Hardenstein ging, ließ sich kaum fühlen, eigentlich nur ahnen, greifbare Beweise gab es dafür nicht. Er mußte also seine eigene Einstellung überprüfen und im übrigen warten, bis sich die Lage so zuspitzte, daß er einen Grund zur klärenden Aussprache fand. Als er in das Labor trat, fuhr Hardenstein zusammen und schob instinktiv die Hand in die Tasche seines Berufsmantels. Weil in diesem Augenblick die Alarmglocke gellte, achtete Trautenhahn nicht darauf. Dreimal schrie die Glocke - Stickstoffalarm! Ehe Trautenhahn etwas sagen konnte, stürmte Hardenstein an ihm vorüber. Frau Hardenstein stieß die Tür auf. Ihr Mann wusch sich, leicht lächelnd, die Gartenerde von den Händen. „Ich habe dir Blumen mitgebracht“, sagte er und wies mit dem Kopf zum Tisch. „Die Glaskirschen müssen auch gepflückt werden!“ Obwohl er seine Frau nicht ansah, wußte er, daß sie darauf wartete, nach dem Grund ihrer Verstimmung gefragt zu werden. Seine unbeteiligten Worte faßte sie sicher als die gewohnte Mahnung auf, in allen Lebenslagen gelassen zu bleiben. In einer guten Ehe bedarf es keiner großen Erklärungen, um den Gemütszustand des Lebensgefährten zu erkennen. Hardenstein hatte seine Frau über die Treppe herunterkommen hören und schon an ihrem Schritt bemerkt, daß sie verärgert war. Oben aber war Werners Zimmer! „So geht das nicht weiter!“ erklärte Frau Hardenstein nachdrücklich. „Ich mach das nicht mehr mit!“ „Was hat denn Werner wieder angestellt?“ fragte er und wandte sich endlich um. „Angestellt? Sieh dir sein Zimmer an! Das reinste Labor - überall Reagenzgläser, Retorten, Säureflaschen, Kunststoffproben... Und dazu ein großer Zettel auf dem Tisch: Bitte nichts anfassen! Hätte mir's ohnehin nicht getraut - aber einmal muß schließlich saubergemacht werden. Ein Schlafzimmer ist kein Labor. Seit drei Wochen sehe ich mir das schon mit an, aber was er mir heute anbietet...“ „Ich schau mir's mal an“, sagte er begütigend. „Sein ganzes Geld steckt er in das Zeug, bis zwei, drei Uhr ist er auf. Vergräbt sich daheim - in dem Alter! Ob das wenigstens einen Zweck hat?“ Hardenstein schmunzelte. Sie war schon viel ruhiger geworden. Lange konnte sie sowieso nicht ungehalten sein - und hier handelte es sieh um ihren Jüngsten, den einzigen, der noch daheim war. Der Älteste war Hauptingenieur in einem antarktischen Kraftwerk, der Mittlere lehrte als Professor Kunstgeschichte und Physik an der Sorbonne in Paris und hatte im vergangenen Jahr eine Schwedin geheiratet, die bei ihm studierte. „Ich werde mit ihm reden“, sagte er begütigend. „Vielleicht kann er sich die Garage einrichten.“ „Ihr beiden - das sieht dir ähnlich! Ihr könnt ja auch ein Glashaus in den Garten setzen!“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist ein Gedanke“, sagte er und nahm sie bei der Schulter. „Du unterstützt ihn natürlich noch!“ Sie wehrte ab, doch sie grollte nicht mehr. „Mutter, du mußt dich dran gewöhnen, daß er erwachsen ist. Wir können ihn nur noch beraten, die Verantwortung trägt er selbst. Aber du hast ja noch mich zum Bemuttern - wenigstens bis Uwes Kinder einmal nach ihrer deutschen Großmutter rufen!“ „Ich bin ja gar nicht so. Aber auch als Erwachsener muß er sich einordnen können,“ „Natürlich, gerade als Erwachsener muß er das können. Aber wir wollen Werners Experimentierfimmel nicht zur prinzipiellen Frage erheben. Er hat doch nicht an den Grundpfeilern der Familie gerüttelt“, erwiderte er mit gutmütiger Ironie und ging zur Tür. Sie sah ihm kopfschüttelnd nach. Im Vorbeilaufen ergriff Werner Hardenstein eine Atemschutzmaske. Am Schaltbild orientierte er sich, an welchem Kessel der Stickstoff ausgefallen war. Farbig leuchtete das Schema des gesamten Produktionsablaufs, mit allen Aggregaten und Absperrorganen. Neben den Sinnbildern der Aggregate leuchteten die Meßwerte - Dampfdruck, Stickstoffdruck, Innentemperatur... Man sah die Schieberstellungen und die Füllhöhen. Alles, was dem Programm entsprach, leuchtete grün. Nur die falschen Werte leuchteten rot. Was Werner Hardenstein sah, ließ ihn erschrecken. An sämtlichen Kesseln leuchtete der Stickstoffdruck rot, dazu blinkten rote, abwärts gerichtete Pfeile. In sämtlichen Kesseln fiel der Stickstoffdruck, das bedeutete mangelhaftes Ausblasen der Wasserdämpfe in den vierzig Polykondensationskesseln und erhöhte Brandgefahr in den zehn Mischkesseln. Einhundertneunzig Kubikmeter Polyester waren unmittelbar gefährdet!
Er warf einen kurzen Blick auf Stolteroff, der am Leitstand Dienst hatte. Doch der stand mit gefrorener Miene, die Lippen zusammengepreßt, und blickte mit verkniffenen Augen auf das riesige Schaltbild, als könne er mit seiner Starre auch den fallenden Stickstoffdruck festhalten. Ohne ein Wort stürmte Werner davon, stülpte sich am Durchgang zur Kondensationshalle die Atemmaske auf und lauschte. Oben auf der Bühne, wo der automatische Verteiler stand, zischte es. Von dort kam auch verzweifeltes Winken. Er fand Evelyn Jendra. Sie mühte sich, mit ihren schlanken Händen einen Riß in der Schweißnaht der Polyesterhauptleitung abzudecken. Evelyn war sehr blaß und zitterte. Werner glaubte, sie habe unter der Maske zuwenig Sauerstoff bekommen. Er faßte sie fest an der Schulter, stellte sie auf die Füße und schob sie einem der Kollegen in die Arme, die von allen Seiten herbeieilten. Dabei wies er nach draußen. Inzwischen war auch Trautenhahn heran. Er sah sich kurz den Riß an, suchte zwei Kollegen heraus, winkte sie zu Werner und bedeutete den anderen, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Der Riß lag zwischen dem Hauptschieber und dem Verteilerbehälter, dem die Leitungen der einzelnen Kessel entsprangen. Trautenhahn sah aber auch ein Rohrstück, das pendelnd am Laufkran hing, den man mit einem Fernbedienungskabel von der Arbeitsstelle durch Knopfdruck bedienen konnte. Dieser Kasten hing am Geländer der Bühne. Trautenhahn entsann sich, daß er Evelyn gebeten hatte, einige alte Rohre von der Bühne zu entfernen, Überreste der kürzlich ausgewechselten Dampfleitung. Und das hängende Rohrstück war verbogen! Während er noch angestrengt überlegte, wie man den Riß schließen könnte, ohne dabei den Stickstoff abzustellen und die Füllung der Kessel noch mehr zu gefährden, trat Werner an den nächsten Kessel. Er zog ein Stück Kreide aus der Tasche und begann zu schreiben - sprechen konnten sie wegen der Masken nicht: Machen wir selber! Trautenhahn nickte, obwohl er zweifelte, und folgte Hardenstein. Die beiden anderen versuchten mit einer Schaumgummimatte den Riß abzudecken. Es wird wohl nichts übrigbleiben, als die Reparaturkolonne zu holen, die Kessel zu entleeren und das Rohr auszuwechseln, dachte Trautenhahn. Es sei, daß Werner wirklich eine Lösung wußte - einfallsreich war er ja! Aber dann fiel ihm selbst eine Möglichkeit ein. Versuchen konnte man's immerhin! Im Durchgang riß er sich die Maske ab. „Ich denke auch, daß wir's schaffen! Gummiplatte auflegen, ausgesparte Balken anpressen und gegen die hintere Wand verkeilen...“ „Und dabei die Leitung ganz abreißen!“ fiel Werner ein. „Man kann sie in der entgegengesetzten Richtung ebenfalls mit einem Balken abfangen...“ „Das ist gut! Aber das andere dauert zu lange - ich weiß was Besseres. Bitte besorg einen Balken zum Abfangen und einen einfachen Block, mehr nicht! Halt - noch ein Seil!“ „Was willst du...?“ fragte Trautenhahn. Da rief Stolteroff vom Leitstand herüber: „Wenn nicht bald etwas geschieht, ist die Füllung zum Teufel!“
Trautenhahn lief davon, ohne auf Antwort zu warten. Er paßte bereits den Balken zwischen dem Rohr und einem Stützpfeiler der Bühne ein, der dem Riß gegenüberlag, als Werner zurückkam. Er trug ein breites Blechband unter dem Arm. Die Enden waren mit Bohrungen versehen. Dieses Band legte er auf den Schaumgummi, schlang es auf beiden Seiten um das Rohr, verband die Enden mit einem Schäkel und zog das Seil hindurch. Dann hängte er den Block in das Geländer, fuhr den Laufkran darüber und fädelte das Seil durch die Rolle. Trautenhahn schüttelte wieder den Kopf. Typisch Hardenstein! Doch es war nichts dagegen zu sagen. Der Kran zog senkrecht, und das Seil preßte dennoch waagerecht das Blechband gegen den Riß und das Rohr gegen den Balken. Nur - das Geländer, ob das hielt? Das Zischen ließ nach. Trautenhahn bedeutete Werner aufzuhören. Das mußte reichen! Mochte Werner noch so unwillig gestikulieren, Trautenhahn blieb dabei. Sollte das Geländer abbrechen, das Seil zerreißen? Und doch schmunzelte er verstohlen. Das war Hardenstein, wie er ihn ins Herz geschlossen hatte: entschlossen, schnell und einfallsreich. Am Leitstand klopfte er dem Jüngeren auf die Schulter. „Wie steht es jetzt?“ fragte Werner und blickte auf das Schaltbild. Stolteroff lachte erleichtert. „Der Druck steigt!“ Nun schlug Werner dem Brigadier übermütig vor die Brust. „Na also!“ „Aber ewig hält dieser Notverband nicht“, gab Trautenhahn zu bedenken. „Wir müssen die Kessel leerfahren, es nützt alles nichts.“ „Was, nicht nachfüllen?“ fragte Werner ungläubig. „Nicht nachfüllen!“ erwiderte Trautenhahn kurz. „Dann hätten wir den Notverband nicht anzulegen brauchen“, begehrte Werner auf. „Das wäre auch ein Ausfall von einhundertneunzig Kubikmetern. Wegen einer Viertelstunde Reparatur!“ „Es ist aber kein Materialverlust, wie er entstanden wäre, wenn wir entleert hätten“, widersprach Stolteroff ruhig. Aber Werner wollte sich damit nicht abfinden. „Wir müssen überlegen, Wolfgang. Es muß eine Möglichkeit geben. Und es gibt eine, verlaß dich drauf! Wenn wir gemeinsam überlegen - einer hat bestimmt einen Einfall.“ „Sei doch vernünftig, Werner. Wir können mit diesem Notverband nicht durchfahren. Das kann keine Dauerlösung sein. Wer will denn das verantworten? Dr. Lippmann frißt uns auf, wenn wir länger als unbedingt notwendig mit diesem Notverband fahren.“ „Er kommt erst übermorgen zurück“, warf Werner ein. „Du bist nicht zu retten!“ sagte jetzt Stolteroff nachdrücklich. „Es geht doch nicht um den Betriebsleiter. Schließlich tobt er nicht, weil der Notverband ein Schönheitsfehler ist, sondern weil er gegen die Betriebssicherheit verstößt. Und deshalb kann auch Wolfgang das nicht verantworten.“ Aber Werner gab nicht auf. „Hast recht, sehe ich ein. Wir müssen Zeit gewinnen, in Ruhe überlegen, deshalb...“ „In Ruhe überlegen...“, widersprach Trautenhahn ironisch. „In zwanzig Minuten entleert Kessel zwölf, Kessel sechzehn in einundvierzig Minuten. Füllen wir neu, muß der Verband wieder vierzehn volle Stunden halten.“ Werner schwieg. Zwanzig Minuten noch - er mußte eine Lösung finden. Es widerstrebte ihm, sich geschlagen zu geben. Keinen Ausweg zu finden, das empfand er als Niederlage, als menschliches Versagen - wozu hatte der Mensch ein Gehirn? Vier Polykondensationskessel gehörten zu einem Mischkessel. Vierzehn Stunden dauerte der Kondensationsprozeß, drei Stunden das Mischen - alle dreieinhalb Stunden entleerte ein anderer Kondensationskessel in den Mischer. Alle einundzwanzig Minuten entleerte einer der Mischer in den Sammelbehälter, aus dem die Verarbeitungsabteilung ihren Bedarf deckte. Ein unerbittlicher Kreislauf, nirgends eine Lücke. Sie grübelten angestrengt. „Der Druck fällt wieder!“ sagte Stolteroff in die Stille. „Das Seil wird sich gedehnt haben“, vermutete Trautenhahn. „Ich werde etwas nachziehen.“ „Wir sollten ein Drahtseil einhängen, das gibt nicht nach“, riet Werner und stutzte. Ein jungenhaftes Lächeln stahl sich in sein Gesicht. „Wenn der Notverband stabiler wäre, würdest du dann eine neue Füllung riskieren?“ Trautenhahn nickte. „Aber nur, wenn er solider wäre!“ Damit wandte er sich ab und lief zur Kondensationshalle. Die beiden Kollegen folgten ihm, nur Werner blieb bei Stolteroff. Er nahm ein Blatt Papier und skizzierte seinen Gedanken „Paß auf!“ sagte er, als Trautenhahn zurückkehrte. „Wir gießen uns aus Polyester eine Druckplatte, die genau auf den Riß paßt. Ich schweiße zwei Bügel an das Rohr, mit Gewindebohrungen, dann können wir die Druckplatte mit zwei Spindeln anpressen. Unter die Platte kommt Epoxidharz, das hält und ist sicher, und wir gewinnen Zeit zum Nachdenken.“ Trautenhahn atmete erleichtert auf. „Einverstanden, Werner. Und zum Nachdenken verschreiben wir uns einige Ingenieure aus dem Konstruktionsbüro.“ „Ich bin in meinem Zimmer“, sagte Werner zu seiner Mutter und stieg nach oben. „Rufst mich bitte zum Abendbrot!“
Sie schaute hinaus in den flimmernden Sommertag. Es war ihr unbegreiflich, daß sich Werner im Zimmer vergrub. Andere in seinem Alter gingen baden, trieben Sport oder fuhren mit einem Mädchen hinaus, genossen den Tag und das Alleinsein. Andererseits war sie stolz auf ihn. So verbissen - ganz wie sein Vater, und an dem gefiel es ihr heute noch. Obwohl sie beide schon Pension bezogen und mit den Jahren etwas ruhiger geworden waren, war ihr Mann doch immer noch unnachgiebig, wenn er etwas erreichen wollte. Und etwas zum Knobeln, wie sie es nannte, hatte er immer. Das brauchte er. Als er mit Fünfundfünfzig - wie alle Männer; Frauen schon mit Fünfzig - in Pension ging, wollte er eigentlich weiterarbeiten, aber der Vorsitzende der Gewerkschaftsleitung hatte ihm erklärt, daß die Produktion automatisiert worden sei, um dem Menschen mehr Freizeit zu verschaffen. „Wir schätzen Sie als Ingenieur, und Sie können als freier Mitarbeiter gern noch für uns arbeiten. Sie gehören doch weiterhin zu uns - aber nicht mehr mit fester Arbeitszeit! Das Leben ist so schön, Sie haben für dieses schöne Leben so viele Werte geschaffen, genießen Sie es einmal ausgiebig. Machen Sie Auslandsreisen, widmen Sie sich all den Dingen, für die Sie bisher wenig Zeit fanden,“ Nun trieb er regelmäßig Sport, erfüllte seine Aufgaben als Stadtverordneter, machte weite Ausflüge mit seiner Frau, unternahm mit ihr ausgedehnte Reisen und widmete sich dem Cellospiel - wenn er nicht gerade am Reißbrett stand und für seinen Betrieb etwas ausknobelte. Ruth Hardenstein war es nicht anders ergangen. Auch ihr fehlte etwas, als sie nicht mehr täglich das Krankenhaus betrat, um als Frauenärztin Kindern zum Sprung ins Leben zu verhelfen - aber auch sie war nicht vergessen. Sie vermittelte den jungen Kollegen ihre Erfahrungen in Vorträgen oder bei schweren Fällen, zu denen man sie holte; sie übernahm Urlaubsvertretungen und widmete sich wissenschaftlichen Arbeiten, für die sie nun ausreichend Zeit fand. Bald hatten sich noch andere Aufgaben gefunden. Mit ihrem Mann trieb sie Sport, meist Tennis und Schwimmen, sie arbeitete in den Kommissionen für Mutterschutz und Hygiene und verbrachte viele Stunden an ihrer Staffelei. Ihre Bilder hatten schon manchen Wettbewerb gewonnen. Die schönsten Stunden aber waren, wenn sie mit ihrem Mann wie in jungen Jahren ausging, ins Theater, ins Konzert, zum Tanz oder ins Kino. Sie hatte eine Vorliebe für das Kino, trotz des Fernsehapparates; brachte das Fernsehen auch farbige, plastische Bilder, das Erlebnis der Breitwand ersetzte es nicht. Einmal im Monat kamen Freunde zu Besuch, dann war das Streichquartett vollzählig. Auch aus dieser Liebhaberei hatte sich mehr entwickelt. Fand man sich früher einmal wöchentlich reihum bei jedem Spieler zusammen, so traf man sich jetzt auch außerhalb dieses Turnus; in Altersheimen, Krankenhäusern und im Klubhaus des Stadtbezirkes. Manchmal kam auch Werner mit und sang. Aber der saß jetzt oben in seinem Zimmer und mischte Säuren! Ruth Hardenstein wurde wieder ungehalten, wenn sie an die Unordnung in Werners Zimmer dachte. Nichts gegen eine selbstgestellte Aufgabe, nichts gegen beharrliches Arbeiten - aber ein Schlafraum war kein Labor! Und die vielen Glasgefäße, noch dazu mit Säuren gefüllt und nicht sachgemäß untergebracht, bildeten eine erhebliche Unfallquelle. Sie mußte noch einmal mit ihrem Mann reden. Es war zweckmäßiger, wenn er sich mit Werner auseinandersetzte. Vielleicht fand sie in ihrem Ärger nicht den richtigen Ton. Mißmutig legte sie den Pinsel aus der Hand, wischte sich die schlanken Hände an einem Lappen ab, strich ihr Kleid zurecht und trat von der Staffelei zurück. „Heinz!“ Ihr Ruf verklang ungehört. Sie sah im Arbeitszimmer nach, doch er saß weder vor dem Schreibtisch, noch stand er am Reißbrett. Die Tür zum Garten war offen. Sie fand ihn am Gartenzaun. „Wo steckst du denn? Ich denke, du arbeitest - statt dessen nagelst du Latten fest.“ „Ist das etwa keine Arbeit?“ Er richtete sich auf und betrachtete sie mit schief gehaltenem Kopf. „Siehst gut aus, Donnerwetter! In dem Kleid - und ein solches Gesicht? Frau Doktor, Sie sollten sich mal Sonne verordnen. Echte Sonne - keine ölgemalte!“ „Werner ist oben, ich soll ihn zum Abendbrot rufen“, mahnte sie. „Na, wenn er noch ans Essen denkt...“, erwiderte er obenhin. Sie sahen sich an. Es war ein Duell zwischen Unmut und gelassener Heiterkeit. Die Heiterkeit siegte. Ruth Hardenstein schüttelte den Kopf und begann zu lächeln. „Na siehst du - jetzt würde ich dich wieder heiraten, so gefällst du mir!“ stellte er fest. „Aber ich steige mal hoch in die Alchimistenküche“, setzte er ernster hinzu. In der Tür zu Werners Zimmer stutzte er. So hatte er sich das doch nicht vorgestellt. Auf dem Schreibtisch, auf dem Radio, auf den Fensterbrettern, sogar auf dem Intarsientischchen zwischen den beiden Sesseln standen Flaschen, Reagenzgläser, Meßkolben und Retorten. Auf einem elektrischen Kocher brodelte in einer Retorte eine stechend riechende Flüssigkeit. „Hast du noch irgendwo einen Platz für mich?“ fragte er doppelsinnig. Werner schrak auf. „Ja, bitte, im Sessel.“ Ohne sich weiter stören zu lassen, beobachtete er die Retorte, hielt ein Thermometer in die Flüssigkeit und blickte auf die Uhr. Als er jedoch bei einem schnellen
Seitenblick seinen Vater im Sessel sitzen sah und bemerkte, wie der breite Mann sich zwischen den Flaschen neben ihm schmal zu machen versuchte, schaltete er den Kocher aus. „Wird sowieso nichts! Gehen wir auf den Balkon, du willst doch was von mir?“ Auch auf dem Balkon standen einige Flaschen, aber man konnte sich noch bewegen. „Hier ist es tatsächlich gemütlicher“, sagte der Vater, als er sich an den Klapptisch setzte. „Was braust du denn zusammen?“ fragte er dann ohne Umschweife und wies mit dem Kopf nach der Tür. „Ich suche nach einer neuen Polyestervariante mit höherer Festigkeit.“ „Aha! Und dazu brauchst du die vielen Flaschen überall, sogar auf dem Intarsientisch? Den Kunststofftischplatten macht's ja nichts aus - aber ich finde, Säureflaschen auf diesem Tischchen, das ist eine Unterschätzung der handwerklichen Kunst! Bist du anderer Meinung?“ „Ich räume es gleich ab“, sagte Werner beschämt, denn er wußte, welches Können eine gute Intarsienarbeit erforderte. Außerdem beirrte ihn der mißbilligende Unterton in Vaters Stimme. Es bestand ein sehr herzliches Einvernehmen zwischen ihnen, das vom Vater-Sohn-Verhältnis mehr und mehr zur Kameradschaft zwischen Männern überging. Dennoch büßte Vater Hardenstein keineswegs an Respekt ein. Der Respekt, den seine Kinder ihm erwiesen, beruhte nicht auf väterlicher Gewalt oder gar auf Furcht vor ihm. Es war die Achtung vor seiner Persönlichkeit, seiner Erfahrung, seinem geradlinigen Charakter. Er war ihnen Vorbild, und sie kannten nur ein Ziel: so zu werden wie er. Er war der Maßstab, an dem sie ihr Verhalten prüften. Und es war das Vertrauen zu ihm - ein unerschütterliches Vertrauen. Er hatte sie schon als Kinder ernst genommen und seine Aufgabe darin gesehen, sie möglichst unbemerkt zu leiten, sie zu beraten. Nie hatte er mit Gewalt seinen Willen durchgesetzt, sondern sie immer überzeugt, daß seine Erziehungsmaßnahmen in ihrem eigenen Interesse notwendig waren. Er hatte ihnen stets vertraut. Nicht die Angst vor einer Strafe hatte sie beunruhigt, wenn sie etwas falsch gemacht hatten, sondern Furcht, sein Vertrauen zu enttäuschen, Furcht, er könne sie nicht mehr verstehen. Das war geblieben, auch als sie erwachsen wurden. So bedrückte Werner die Ahnung, Vater mißbillige etwas grundsätzlich. Wenn er anderer Meinung war, konnte man mit ihm streiten, dann ließ er sich auch überzeugen - aber wenn er grundsätzlich mißbilligte, dann hatte man etwas falsch gemacht. „Du bist also freier Mitarbeiter geworden wie ich?“ begann Vater erneut, nachdem Werner ihm wieder gegenübersaß. „Verstehe ich nicht! Ich bin zwar kein Chemiker, Werner, aber mir scheint, daß Elektrokocher, Retorte und Thermometer im Mittelalter ausreichten, nicht aber im Zeitalter der Kunststoffe und der Atomphysik. Ich begreife auch nicht, wie man seinen Schlafraum mit einem Labor verwechseln kann. Zieh meinetwegen mit deinem Glasladen in die Garage aber bitte überleg dir, ob du mit den vorhandenen Mitteln dein Ziel erreichen kannst. Erkläre mir nur, wie du zu dem Auftrag kommst!“ „Ich habe keinen Auftrag, Vater“, widersprach Werner. „Aber wir brauchen neue Kunststoffe - ich habe es auf dem Land gesehen. Ich will ja keine neuen Kunststoffe entwickeln, nur verbessern. Ich gehe von den bestehenden Polyestervarianten aus.“ Er lief in sein Zimmer und kam mit einer kleinen Flasche zurück. „Sieh mal hier! Das ist Polyestergießharz...“ „Woher kommt es?“ „Aus unserem Betrieb.“ „Und das hast du ohne weiteres mitbekommen?“ Werner schwieg unsicher. Das Blut stieg ihm in die Wangen. „Ach - so ist das! Du hast gar nicht erst gefragt?“ Das kam schneidend. Werner fuhr auf. „Ich habe eine Genehmigung! Ich habe gesagt, ich brauche es für kunstgewerbliche Arbeiten!“ „Und warum hast du nichts von deinen Versuchen erzählt?“ „Sie hätten mich ausgelacht!“ „Ich glaube, es ist notwendig, daß du dir das alles noch einmal überlegst, Werner. Man muß systematisch arbeiten, wissenschaftlich. Nur so hat man Erfolg. Menschliche Arbeitskraft ist kostbar, man sollte sie niemals vergeuden.“ Am nächsten Tag rief Stolteroff die Brigade zusammen, soweit sie Schicht hatte; bei der sechsstündigen Arbeitszeit gab es vier Schichten. In der Besprechung des Zwischenfalls erklärte Evelyn, wie der Riß entstanden war. Die Ursache entsprach Trautenhahns Vermutung. Sie hatte mit dem Kran das alte Rohr angehoben. Weil sie es mangelhaft angeseilt hatte, verrutschten die Seilschlingen, und ein Rohrende schob sich unter die Stickstoffleitung. Erschrocken über das herunterfallende Rohrende, hatte sie sich in den Schaltknöpfen vergriffen und, statt das Anheben zu stoppen, die Laufkatze gegen die Stickstoffleitung fahren lassen. Das hängende Rohr wirkte wie ein Hebelarm, und schon hatte es gezischt. Trautenhahn schlug vor, ihr für zwei Monate die
Kranerlaubnis zu entziehen und wegen des entstandenen Schadens die Prämie zu kürzen. Er stieß jedoch auf lebhaften Widerspruch. Man hielt allgemein diese Aussprache für eine ausreichende Belehrung. Werner Hardenstein protestierte besonders lebhaft. Evelyn sei die beste Kranfahrerin, schließlich hole man sie zu allen kniffligen Aufträgen. Durch besonders gute Arbeit solle sie den Schaden wiedergutmachen. Außerdem wäre noch nicht erwiesen, daß dieser Riß allein ihr Verschulden sei. Um das festzustellen, müßte die Schweißnaht erst geröntgt werden, sie könne nicht einwandfrei gewesen sein. Und was den Schaden anbeträfe - er hätte einen Vorschlag. der ihn sehr klein halte. Wenn man ein Ersatzrohr fertigmachen ließe, kämen sie ohne fremde Hilfe aus! Die Kollegen horchten auf. Doch Werner fragte zurückhaltend. ob es ein Problem sei, fünfzig Stickstoff-Flaschen zu besorgen, und ob das kostspielig sei. „Das ist weder ein Problem noch kostspielig“, erklärte Trautenhahn. „Wir haben doch eine Füllstation im Kombinat. Aber nun erzähle, Werner!“ „An jedem Kessel befindet sich doch ein stationäres Manometer“, begann Werner, „das schrauben wir ab, wenn der Kessel entleert wird und setzen ein Ventil auf den Anschluß. Diese Zwischenventile können wir uns im Lager leihen, ich habe mich schon erkundigt. Das Auswechseln ist in vierzehn Stunden erledigt. Gleichzeitig bereiten wir das Ersatzrohr vor, lagern an jedem Kessel eine Flasche und schließen sie an. Hat jeder Kessel eine Flasche, sperren wir die Stickstoffleitung, öffnen die Zwischenventile und nehmen den Stickstoff aus den Flaschen. So können wir das Rohr auswechseln, ohne die Produktion zu unterbrechen. Der Abbau erfolgt ebenfalls beim Entleeren - in achtundzwanzig Stunden ist der Schaden vergessen!“ Im zustimmenden Gemurmel wurden Bedenken laut. „Aber ohne Manometer fahren...?“ „Wir haben doch die Fernmanometer am Leitstand.“ „Das ist zu umständlich!“ „An jeder Flasche ist doch ein Reduzierventil mit Manometer.“ „Das ist nicht dran.“ „Und woher nehmen wir die Schläuche von der Flasche zum Anschlußstutzen?“ Werner hob beschwichtigend die Hände. „Auch die Schläuche und die Reduzierventile borgt uns das Hauptlager - glaubt ihr, ich hätte den Vorschlag gemacht, ohne mich vorher genau zu informieren?“ „Das ist schön und gut, Werner, aber reicht die Flasche denn vierzehn Stunden lang? Du kannst die Zwischenventile doch erst wieder abbauen, wenn der Kessel entleert wird!“ „Richtig!“ sagte Werner von oben herab. „Aber ein Ventil läßt sich nicht nur öffnen, sondern auch schließen! Also öffnen wir das Hauptventil und schließen wir die Zwischenventile nach der Reparatur. Die aber dürfte in fünfzehn Minuten erledigt sein.“ Trautenhahn machte nicht viel Worte, stimmte zu und legte den Reparaturablauf fest. Er war sehr froh über diese Lösung. „Einhundertneunzig Kubikmeter auf Hardensteins Konto!“ rief der kleine Breier im Stile eines Auktionators. Erstaunlich, wo dieser schmächtige junge Mann die tiefe und laute Stimme hernahm. Breier führte gern das große Wort, meist auch das letzte. Wollte er mit dem Gewicht seiner Stimme das fehlende Gewicht seines Körpers ausgleichen? Er litt insgeheim darunter, neben den Kollegen wie ein Halbwüchsiger zu erscheinen, obwohl er doch schon dreißig war. Dabei hatte er einen solchen Ausgleich nicht nötig, denn er war schon von klein auf darauf bedacht, seinem Körper in der Schmiede des Sports Härte und Spannkraft zu verleihen. Er konnte heute seine Kräfte getrost mit jenen messen, denen die Natur zu einer imposanten Gestalt verhelfen hatte, ja, seine Beweglichkeit verschaffte ihm eindeutige Vorteile bei solchem Vergleich. So empfand ihn niemand als Zwerg, wie er ständig argwöhnte. „Einhundertneunzig Kubikmeter, Kinder! Damit dürfte Werners persönliches Konto zwanzigtausend Mark weit überschreiten. Glückwunsch, Werner! Zum Aktivisten müßte das reichen!“ „Mir geht's doch nicht um den Aktivisten“, verwahrte sich Werner, und er kam wieder einmal auf die Notwendigkeit eines verstärkten Einsatzes von Kunststoff zu sprechen. Obwohl er die Dinge recht einseitig sah, ganz so, als hinge der Fortschritt der Menschheit davon ab, sofort alles aus Kunststoff herzustellen, lächelte man nur verstohlen, aber dennoch belustigt. Selbst Trautenhahn widersprach ihm nicht. Er schüttelte zwar leicht den Kopf, aber dann unterbrach er Werners Redefluß lediglich durch sein Aufstehen. Total verrannt, der Junge, dachte er, aber jetzt ist nicht die Zeit, mit ihm zu streiten. Das wäre wohl auch nicht die richtige Antwort auf seinen vorbildlichen Einsatz. Die Reparatur lag hinter ihnen, sie verblaßte mehr und mehr hinter den Aufgaben des Tages. Und die Tage der Menschen dieser Zeit waren inhaltsvoll und abwechslungsreich. Die Redewendung, die Jahrhunderte hindurch das Leben der Menschen charakterisierte: Die Tage gleichen einer dem anderen, sie reihen sich zu einer farblos-eintönigen Kette aneinander, die im Grau versinkt - sie war alt geworden und von den neuen Tagen zur Seite gedrängt. Es war alles glattgegangen, und das erleichterte das Vergessen. Nur das Positive war geblieben: Man hatte wieder einmal gesehen, daß es meist doch noch einen Weg gab, wenn man schon glaubte, vor einem
unüberwindlichen Hindernis zu stehen, und man hatte wieder einmal gespürt, was eine Gemeinschaft erreichen konnte. Sie hatten viel erreicht. Noch etwas war geblieben: Werner nahm die Anerkennung seines Vorschlages mit in die kommenden Tage, sie bestimmte in vielem seine Stellung in der Brigade und ihr Verhalten zu ihm. Für Trautenhahn wurde dieser Zwischenfall Inhalt eines Berichtes und damit gründlicher Überlegungen. Den Bericht hatte die Werkleitung gefordert: Ursache, Reparaturaufwand, Schuldfrage, Erkenntnisse... Es waren zwiespältige Gefühle, die Trautenhahn erfüllten. Stolz auf Werner und auf die Brigade, aber auch Ärger über seine eigene Einfallslosigkeit. Möglich, daß er schockiert war, weil er an diesem Tage als Obermeister und Brigadier und vor allem als Stellvertreter Dr. Lippmanns die Verantwortung für den ganzen Polyesterbetrieb trug und demzufolge auch für alle schnellen Entscheidungen allein verantwortlich war, Verantwortung nahm er ernst, sehr ernst. Es war fast, als habe er sich schuldig gefühlt, daß es ausgerechnet an diesem Tage geschah. Jetzt gewann er Abstand. Hatte er erst für Evelyn Prämienabzug und Kranverbot gefordert, so unterstützte er nun Werners Meinung. Um das Verschulden zu klären, mußte die Schweißnaht untersucht werden. Die Reparaturkosten waren unerheblich. Sämtliche Arbeiten waren neben den dienstlichen Aufgaben erledigt, die Einzelteile - Ventile, Manometer, Schläuche und Flaschen - nur ausgeliehen worden, einen höheren Stickstoffverbrauch hatte es nicht gegeben. Nur das Füllen der Flaschen und das Ersatzrohrstück hatte zusätzlich Kosten verursacht. Selbst den Transport hatte die Brigade ohne zusätzliche Kosten ausgeführt. Da die Untersuchung ergab, daß die Schweißnaht nicht einwandfrei war und der Riß sonst nicht hätte entstehen können, konnten auch diese Kosten abgesetzt werden. Als Trautenhahn die verbliebenen Restkosten errechnet hatte, atmete er auf. „Das ist noch einmal gut gegangen“, sagte er zu Dr. Lippmann und legte den Bericht auf dessen Schreibtisch. „Der Vertrauensmann und die AG L haben schon unterschrieben, wenn Sie unterzeichnet haben, können wir ihn weiterreichen.“ Dr. Lippmann, ein kleiner, drahtiger Vierziger, wies auf einen Stuhl, bat Trautenhahn, Platz zu nehmen, und blätterte den Bericht durch. „Ein fixer Bursche, dieser Hardenstein! Aber das ist wirklich noch einmal gut gegangen, Kollege Trautenhahn. Ein Minus ist es ja, schließlich hat sich Evelyn versehen, aber daß die Brigade aus eigener Kraft den Schaden beseitigte ohne Produktionsausfall, daß sie so einmütig zusammenstand und vor allem diesen Ausweg fand - sicher ist das Plus größer als das Minus. Vor allem, weil Evelyns Fehler ja nur Anstoß und nicht Ursache war.“ „Eigentlich nicht richtig, daß es für einen Fehler in der Endkonsequenz noch ein Plus gibt“, warf Trautenhahn ein. „Unsinn! Das gibt es für die Beseitigung eines Schadens, der nicht oder nur zu einem geringen Teil zu Lasten der Brigade geht. Jeder Mensch macht einmal Fehler. Viel wichtiger ist, wie er mit ihnen fertig wird, wie er sie beseitigt. Das Rohr wäre sicher bei anderer Gelegenheit gerissen. Aber hier wurden durch verantwortungsbewußtes Handeln einhundertneunzig Kubikmeter Polyester erhalten. Das vorbildliche Handeln wird bewertet, Kollege Trautenhahn, der Einsatz des ganzen Kollektivs. Und Hardenstein - wir sollten uns seiner besonders annehmen! Ihnen aber möchte ich meine Anerkennung aussprechen. Sie haben umsichtig und entschlossen gehandelt - das alles während meiner Abwesenheit aus der Welt zu schaffen!“ Trautenhahn verließ den Betriebsleiter mit gemischten Gefühlen. Die Anerkennung war ihm peinlich, schließlich war es Werners Verdienst, aber das hatte Dr. Lippmann nicht als ausschließlich gelten lassen. Wenn man es richtig betrachtete, was war denn so Ungewöhnliches an ihrem Verhalten? Gaben sie nicht immer ihr Bestes? Ob Dr. Lippmann bisher geglaubt hatte, ohne ihn ginge es nicht? So kurzsichtig war er gewiß nicht. Auf die Dauer jedoch konnte man auf seine Kenntnisse bestimmt nicht verzichten. Etwas anderes stimmte Trautenhahn vergnügt: Das Plus war wichtig, man stand im Wettbewerb! Sie hofften, an ihrem zehnten Brigadegeburtstag den Ehrentitel „Brigade der vorbildlichen kommunistischen Arbeit“ zu bekommen. Dr. Lippmann hatte recht: Fehler machte jeder Mensch, Kommunist sein bedeutete doch nicht fehlerfrei sein, sondern mit seinen Fehlern fertig werden - und dabei half das Kollektiv! Wie es half, das bestimmte seinen Wert. Einen Wettbewerb durfte man nicht nur nach nüchternen Zahlen messen, jedenfalls nicht den Wettbewerb um einen solchen Titel. Auch Trautenhahns Wohlwollen gegenüber Hardenstein hatte sich verstärkt, das bedeutete bei ihm aber erhöhte Forderungen. So war er nun einmal, dagegen konnte er nicht an. Es war wohl das uralte menschliche Bestreben, was man liebte, was einem besonders wertvoll war, so vollkommen wie möglich zu machen.
3 Werner hatte seine Experimente von daheim ins Betriebslabor verlegt und verstieß damit eigentlich gegen die Betriebsvorschrift. Anfangs unterlag Trautenhahn einem Dankbarkeitsgefühl wegen Werners Einsatz beim Rohrbruch. Zudem glaubte er, Werner suche lediglich nach einer Verbesserung der bestehenden Arbeitsmethoden. Wenn er sich auch nicht recht vorstellen konnte, welche Gedanken Werner leiteten, so übersah er diese kleinen Experimente geflissentlich. Immerhin hatte Werner schon viele gute Vorschläge eingereicht. Als er jedoch feststellte, daß es um etwas anderes ging, ermahnte er Werner kameradschaftlich, wenn er ihn im Labor erwischte. Bis er eines Tages das ganze Ausmaß der Experimente erkannte. Die Spätschicht hatte eben ihren Dienst angetreten, und Trautenhahn hoffte den Laboranten noch im Labor anzutreffen. Er fand nur Werner dort. Der saß inmitten der gläsernen Geräte, vor ihm auf dem Tisch standen Flaschen und Mensuren, Reagenzgläser, ein Dreihalskolben mit Rührer, ein absteigender Kühler, ein Heizbad... Trautenhahn war verblüfft und trat unbemerkt näher. Das war doch ein Versuchsaufbau, der dem Produktionsverfahren entsprach! Das überstieg das Maß des Vertretbaren bei weitem! Als er auch noch eine Flasche mit Styrol entdeckte und nicht mehr zu bezweifeln war, daß Werner auch diesen Teil der Fertigung in seine Versuche einbezog - ohne ausreichende Erfahrung in diesen Dingen, ohne Sicherheitsvorkehrungen -, vermochte er nur mühsam den aufkommenden Zorn zu unterdrücken. Werner sah kurz auf und streifte ihn mit erschrockenem Blick. Offensichtlich hatte er Trautenhahn schon außerhalb des Werkes gewähnt. Das verstärkte Trautenhahns Erregung. Werner wandte sich wieder seinem Versuch zu, betont gleichgültig, als sei es für ihn selbstverständlich, hier angetroffen zu werden. „Darf ich einmal dein Versuchsprogramm sehen?“ fragte Trautenhahn beherrscht, doch, über der Nasenwurzel stand eine scharfe Falte, und seine Augen hatten einen eisigen Blick. „Ich probiere nur mal so...“, sagte Werner unsicher. Daß ihn der Brigadier ausgerechnet jetzt überraschen mußte! „Das sehe ich“, erwiderte Trautenhahn kühl. „Aber ein Rezept wirst du wohl haben?“ Werner reichte es ihm, beschäftigte sich aber weiter mit seinem Versuch, Trautenhahn las und zog die Augenbrauen hoch. Mit geschürzten Lippen wiederholte er die Rezeptur: „Maleinsäureanhydrid, Phtalsäureanhydrid, Propylenglykol, Hydrochinon, Styrol... aha, Glykolüberschuß - aber wie kommst du zu dieser Zusammensetzung?“ „Ich experimentiere...“, erwiderte Werner zögernd. „Aha - wir werden schon sehen, was dabei herauskommt, falls es nicht schon vorher knallt! Wo liegt der Flammpunkt von Styrol?“ Werner wollte aufbegehren, sich wehren gegen eine derartige Schulmeisterei - aber er begegnete Trautenhahns Blick, der so sachlich kalt war, daß er unwillig antwortete: „Bei einunddreißig Grad Celsius.“ Nun konnte sich Trautenhahn nicht
mehr halten. „Ja bist du denn verrückt geworden?“ schrie er, außer sich. „Glaubst du denn, Laborversuche wären ein Kinderspiel? Von da ein bißchen und von dem ein bißchen, durchgerührt, dreimal aufgewärmt und dann noch drüberweg gespuckt? Und das von dir...“ „Jetzt ist...“, schnaufte Werner verletzt, aber Trautenhahn ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Jetzt rede ich! Vielleicht darf ich dir meine Meinung zu deiner Quacksalberei sagen? Und das ist Quacksalberei! Von dir und im Zeitalter der Kunststoffchemie...“ Er suchte nach Worten. Dann besann er sich. Ob Brüllen die richtige Methode war? Wer die stärkeren Argumente hat, der muß nicht schreien, der kann in Ruhe überzeugen... Trautenhahn.schüttelte unbewußt den Kopf: Wenn man nicht provoziert wurde! Aber von Werner fühlte er sich provoziert. Hatte der das nötig - wie ein Alchimist nach dem Stein der Weisen zu suchen? Entwickelte man Kunststoffe so? Er war enttäuscht von dem Jungen. „Was hast du dir dabei gedacht?“ fragte er ruhiger. „Was man so bei Kinderspielen denkt - nichts!“ erwiderte Werner bissig. „Das scheint mir auch so! Generationen von Forschern haben Berge von Rezepten ermittelt, haben alle möglichen Varianten geprüft...“ „Ich prüfe auch...“ „Aber wie! Den Chemikern stand das ganze Wissen der Menschheit auf ihren Gebieten zur Verfügung, sie entwickelten ihre neuen Varianten faktisch am Reißbrett, bevor sie sie im Labor erprobten - du aber ignorierst alles vorhandene Wissen und benimmst dich wie ein Kind mit verbundenen Augen beim Puzzlespiel! Und dann mit Styrol und ohne jede Anleitung...“ „Hab dich nicht so, Wolfgang. Benzin hat einen Flammpunkt von minus zehn Grad Celsius - damit gehen wir täglich um!“ „Das läßt du auch bei sechzig Grad Wärme in einem Glasbehälter mit Zusammensetzungen reagieren, die du willkürlich gemanscht hast und deren Eigenschaften du also nur vermuten kannst?“ „Unter Stickstoffverschluß - warum nicht?“ erwiderte Werner aufsässig. Doch er war nicht so sicher, wie er sich gab. Trautenhahn hatte ihn schwer getroffen. Als Dilettant hatte er ihn hingestellt, und weil er selbst sein Vorhaben unklar als dilettantisch empfunden hatte, war er besonders verletzt. Die Zeit, in der ein Dilettant, und sei er noch so genial, entscheidende Entdeckungen machen kann, ist endgültig vorüber, sagte ihm sein Verstand, aber die Ungeduld ließ ihn daran zweifeln. Was wollte Trautenhahn von ihm? Er bemühte sich doch schon um das Wissen - und das nicht schlecht! Aber wie konnte er warten, bis er morgen das gewaltige Gerüst des Wissens aufgebaut hatte, mit dem er an dem Haus der Kunststoffe weiterbauen konnte - wenn heute schon das Haus zu niedrig war und alle darauf warteten, daß es endlich erhöht würde? Kam man denn nur mit dem Gerüst hinauf? Es gab auch Fassadenkletterer! Was wußte Trautenhahn von ihm? Wortlos brach er den Versuch ab. Er sah hilflos aus in diesem Augenblick. Sein Resignieren berührte Trautenhahn und stimmte ihn versöhnlicher. „Sei doch vernünftig, Werner! Du mußt einsehen, daß hier nicht jeder nach Gutdünken experimentieren kann. Du kannst nicht nächtelang hier sitzen und deinen Versuch zu Ende führen - oder verlangst du gar, daß dich jemand ablöst?“ Er vermied jetzt, scharfe Worte zu gebrauchen. „Und wenn etwas passiert - was dann?“ Werner stellte das Heizbad ab. Er schwieg noch immer. „Und unser Wettbewerb? Das ist doch eine Disziplinverletzung! Und wenn etwas schiefgeht? Willst du einen Laborbrand riskieren?“ Werner ließ die Schultern hängen und baute ab. Evelyn hatte Trautenhahn gesucht und war zufällig Zeuge dieser Auseinandersetzung geworden. Sie hegte Werner gegenüber seit dem Zwischenfall ein Gefühl der Dankbarkeit, denn sie fühlte sich trotz allem schuldig, sie hatte den Anstoß gegeben, mochte die Schweißnaht mangelhaft gewesen sein oder nicht. Werner hatte ihr erspart, sich für den Verlust von einhundertneunzig Kubikmetern Polyester verantwortlich fühlen zu müssen. Er hatte sie auch vor dem Prämienabzug bewahrt, das war nicht weniger bedeutungsvoll. Ihren materiellen Anreiz hatte die Prämie zwar verloren, obwohl sie aus der Zeit übernommen war, da man noch arbeitete, um Geld zu verdienen. Aber das Bewußtsein hatte sich inzwischen gewandelt, und der Reallohn war durch die Automatisierung auf mindestens das Fünffache angestiegen. Die Preise waren bedeutend gesunken, Steuern, Wohnungsmieten und Sozialversicherungsbeiträge abgeschafft. So besaß der Lohn, den man bekam, längst nicht mehr ausschlaggebende Bedeutung. Man arbeitete nicht des Geldes wegen. Die Arbeit entsprang dem Bedürfnis, einen Beitrag zum gesellschaftlichen Leben zu leisten und durch die Arbeit teilzuhaben am Werden und Wachsen der Gesellschaft. Keine Prämie zu erhalten hieß daher, schlecht gearbeitet zu haben, ausgeschlossen zu sein von der Gemeinschaft derer, die geleistet hatten, was die Gesellschaft von ihnen erwarten durfte. Die Frage des Lohnes war eine Frage der Ehre geworden. Bei einer anderen Auffassung hätte kaum einer studiert, denn die Löhne aller waren weitgehend einander angeglichen, der Unterschied war zu unerheblich, als daß man seinetwegen studierte. Den frischen und ihr sympathischen
Jungen jetzt in ihrer Gegenwart herunterputzen zu lassen wäre Evelyn peinlich gewesen, deshalb zog sie sich unbemerkt zurück und verfolgte aus sicherer Deckung die Auseinandersetzung. Sein hilfloses Resignieren bewegte sie noch mehr als Trautenhahn, und sie ergriff innerlich für Werner Partei. Sie sprach mit keinem über das, was sie beobachtet hatte, da auch der Brigadier schwieg, aber sie verfolgte aufmerksam Werners Verhalten in den nächsten Wochen. Es schien, als habe Werner die Ermahnungen beherzigt. Er verließ pünktlich das Werk, nahm wieder am Handballtraining und an den Proben des Estradenensembles teil; Evelyn glaubte eine gewisse Gleichgültigkeit an ihm zu spüren, als diene ihm alles nur, sich abzulenken. Aber Werner war nur abgespannt; er saß bis spät in die Nacht und lernte, grübelte und rechnete. Immer wieder stieß er auf Lücken. Längst hatte er eingesehen, daß er mit dem Zufall spekuliert hatte. Etwas zufällig zu entdecken schien ihm nicht das rechte Verdienst. Andererseits - er würde ja gern studieren. Aber delegiert zu werden, das war eine Auszeichnung, konnte man die erbitten? Natürlich konnte man darum ersuchen - wenn man würdig war! Aber wenn er das tat, würde Trautenhahn bestimmt auf die Versuche zurückkommen und schildern, wie unwissenschaftlich er diese wilden Experimente fand. Sie würden als Disziplinlosigkeit gewertet, und damit würde natürlich auch sein Antrag verworfen. Sollte er sich derart bloßstellen? Er würde wohl noch ein, zwei Jahre warten müssen, ehe Trautenhahn ihm das verzieh! Zwei Jahre warten... Die Chemie hatte er sich ganz anders vorgestellt, geheimnisvoll, erregend, abenteuerlich - aber sie war zum Heulen langweilig! Sechs Stunden täglich die automatischen Anlagen überwachen, ab und zu ein Kontrollgang, hin und wieder eine Routineprüfung - und das, obwohl die Automaten eine konstante Zusammensetzung garantierten. Er befand sich ja auf dem Abstellgleis - wozu hatte er gelernt? In der Schule hatte es ganz anders ausgesehen, jede Chemiestunde war zu einem aufregenden Erlebnis geworden, immer hatte der Chemielehrer sie etwas Neues entdecken lassen. Zwar waren das die Grundlagen der Chemie, vor Jahrzehnten, ja vor Jahrhunderten schon entdeckt, aber was machte das, für sie war es neu! Hier aber - täglich dasselbe, nicht einmal nachentdecken konnte man, weil man alles kannte, was durch die Automaten lief. Versuchte man, sich aus diesem Gleichmaß zu befreien, kam der Brigadier und rieb einem die Betriebsvorschrift unter die Nase. Eines Tages hatte er den Schock überwunden. Es war kurz vor dem zehnten Jahrestag der Brigade. Im Freien waren Bestrahlungsversuche mit radioaktiven Isotopen vorgenommen worden. Werner, im Umgang mit radioaktiven Strahlungsquellen besonders geschult, hatte daran teilgenommen und war beauftragt, die Strahlungsquelle zum Tresor zurückzubringen. Allein mit dem Gerät, konnte er der Versuchung des Augenblicks nicht widerstehen. Er bestrahlte ein Stück Polyesterprofil und schob es in die Tasche. Dann erst brachte er die Strahlungsquelle zum Tresor. Der große Zeiger der Uhr in der Produktionshalle strebte ruckartig nach der Zwölf und verdeckte schließlich den kleinen Zeiger. Schichtwechsel! Doch man spürte ihn kaum. Menschen sah man in den beiden Hallen ohnehin nicht häufig, denn der Mensch war nur vernunftbegabtes Kontrollorgan, das die automatischen Kontrollorgane überwachte. So verloren sich die weißen Kittel inmitten der Behälter, Rohrschlangen, Aggregate und Maschinen, und es fiel nicht auf, daß die Gesichter wechselten. Die Abgelösten gingen zum Aufenthaltsraum. Werner und Evelyn begegneten sich auf dem Flur. „Gehst du mit?“ fragte sie. In den letzten Wochen waren sie oft gemeinsam heimgegangen. „Ich habe noch zu tun.“ Evelyn horchte auf. Das war der alte Werner! Da sie ihn aufmerksam beobachtet hatte, waren ihr seine kleinen Experimente nicht entgangen; es war nicht schwer für sie, zu erraten, was er zu tun hatte. „Du bringst Wolfgang noch ins Grab!“ sagte sie und lachte lautlos. „Er mag deine Experimente nicht.“ „Wird sich dran gewöhnen, denke ich mir. Er ist ja noch entwicklungsfähig“, sagte er übermütig. „Außerdem, Ev, er ist außerhalb!“ „Wenn die Katze aus dem Hause ist, tanzen die Mäuse.“ „Tanzen, das ist das Stichwort! Wenn du mich so schön bittest, Ev, dann kann ich kaum widerstehen. Also wann?“ „Du bist unverbesserlich. Aber ich will deiner Forschung nicht im Wege stehen - Forschen verlangt persönliche Opfer“, sagte sie, auf seinen übermütigen Ton eingehend. „Schlange, du heißt Evelyn. Eigentlich müßtest du Eva heißen.“ „Sag das meinen Eltern.“ „In Ordnung, Ev. Melde mich für Sonntag an als...“ Er zögerte, „Als was?“ fragte sie schnell. „Wie wäre es mit: Zukünftiger?“ Sie schüttelte den Kopf, halb fassungslos, halb amüsiert über soviel Frechheit, sagte: „Tschüs!“ und stöckelte davon. Hardenstein schob die Hände in die Taschen seines Arbeitsmantels, lehnte sich an die Wand und sah ihr nach. Ihm war, als sei er ihr zum erstenmal begegnet. Sie gefiel ihm. Es war nicht wie
bei Marcella, die er mit neunzehn kennenlernte, ein Gefallen, das wie eine Springflut über ihn gekommen war und ihn unter sich begrub, alles hinwegspülend, was ihn sonst noch erfüllte, daß er nur noch an sie dachte und nur noch von einem Gedanken beseelt war: in ihrer Nähe zu sein. Wäre es so, dann hätte er Evelyn, täglich neben ihr, längst bemerkt. Nein, es brauste nicht wie Sturm, es brannte nicht wie Feuer in ihm, er jauchzte nicht im Leiden und er litt nicht im Jauchzen! Das war ihm einmal passiert, davor hütete er sich, soweit es in seinen Kräften lag, denn wenn er an jene Wochen dachte, kam er sich albern vor, unmännlich und lächerlich. Es war ein Gefallen, das von innen wärmte. Er blickte ihr nach, wie man ein schönes Bild betrachtet, kritisch und doch gepackt, voller Freude am Schauen. Als sie den Gang verließ und die Tür hinter ihr zuschwang, wandte er sich ab und ging versonnen zum Prüflabor. Er mußte herausfinden, was sie von ihm hielt. Wie sie den Kopf zurückgeworfen hatte... Zwischen den Retorten, Reagenzgläsern und Prüfmaschinen vergaß er Evelyn. Er teilte das bestrahlte Profilstück mehrmals und spannte die Teile in die Maschinen, streckte sie bis zum Zerreißen, bog sie bis zum Brechen, preßte sie bis zum Splittern, prüfte ihre Härte und ihre Abriebfestigkeit. Stunden vergingen. Er prüfte, schrieb und verglich. Er war allein im Labor, die Laboranten kamen nur zur ersten und zur dritten Schicht. Wohl schauten Kollegen der zweiten Schicht herein, aber sie wechselten nur wenige Worte mit ihm. Keiner verwehrte ihm sein Treiben, keiner belästigte ihn mit unbequemen Fragen. Wer weiß, dachten sie, was der wieder ausknobelt! Plötzlich stand Trautenhahn neben ihm, das Gesicht völlig verschlossen, der Blick kühl abweisend; er las die Oberschrift auf Werners Protokoll: „Bestrahlte, glasfaserverstärkte T-Profil-Probe. Polyestertype...“ Trautenhahn blickte ihn an, nachdenklich, betroffen. Hardenstein wurde dieser Blick unbehaglich. Ihm war, als blickte Trautenhahn durch ihn hindurch, als fände dieser Blick nichts in ihm, was ihn festhalten könne, nichts, was der Betrachtung wert sei. Wenn er doch wenigstens schreien würde, daß man sich ungerecht behandelt fühlen und sich wehren könnte. Aber dieser Blick entwaffnete ihn, er war so ungewohnt, so fremd... Trautenhahn wandte sich schweigend ab und verließ das Labor. Der Tag war dazu angetan, die Menschen aufzuschließen. Die Sonne schien hell und wärmend, der Himmel spannte sich azurblau über das Land, ein leiser Wind belebte die Blätter der Bäume und Sträucher, ließ die Espen wispern und die Halme am Wege sich wiegen. Die Welt trug ein Festtagskleid. Beschwingt schritten die Menschen unter den Bäumen dahin und sogen den harzigherben Geruch der Kiefern und den süßen Duft der Blüten genußvoll in sich hinein. Werner spürte von alledem nichts. Er trottete längs der Betonstraße mit hängenden Schultern, den Blick abwesend vor sich auf den Weg gerichtet. Ihn zog es in die Stadt, hinein in das Getriebe des Verkehrs. Es gibt Stunden, in denen man sich selbst zu laut ist, obwohl man schweigt; in denen man sich selbst nur entrinnen kann, wenn es ringsum lauter ist, wenn man von außen her so beschäftigt wird, daß man taub ist gegen das innere Lärmen. Instinktiv strebte er danach, sich zwischen den Hochhäusern, im Brausen des Verkehrs und unter den Menschenmassen klein zu fühlen und damit auch seine Probleme zu verkleinern. Trautenhahns Schweigen verhieß nichts Gutes. Es kam so unerwartet nach der letzten turbulenten Auseinandersetzung. Werner mußte das Schlimmste fürchten: vor der ganzen Brigade sich verantworten zu müssen! Und morgen war Versammlung! Mochten die Kollegen seine Versuche bisher stillschweigend geduldet haben; wenn Trautenhahn ihn morgen zur Rechenschaft zog, wenn sie erfuhren, was sich wirklich hinter dem Experimentieren verbarg, würden sie sich gewiß auf Trautenhahns Seite stellen. Irgendwie empfand er auch, daß Trautenhahn recht hatte - aber da war die Ungeduld in ihm, der Drang, sich zu betätigen, die Neugier... Und da war Evelyn, die er heute entdeckt hatte, und nun war es ihm doppelt peinlich, in ihrer Gegenwart bloßgestellt zu werden. Der ganze Jammer des Wartens auf etwas Unangenehmes überkam ihn, die Unsicherheit, die einen erfaßt, wenn man noch nicht genau weiß, was bevorsteht. Es ist wie vor dem Gewitter, wenn die Wolken sich düster und drohend wölben, wenn ihre Vorläufer über uns dahinziehen und man mit angehaltenem Atem auf den ersten Blitz, den ersten Donner wartet. Grellt dann der erste Blitz, verliert sich schon im dröhnenden Poltern des Donners die Spannung. Aber Werner wußte ja nicht einmal, ob es bei einer Brigadeauseinandersetzung blieb. Schließlich waren es Verstöße gegen die Betriebsvorschrift, und wenn die Brigade zur Auffassung kam, daß disziplinarische Maßnahmen ergriffen werden mußten, kam es vor die Werkleitung. Ob er dann noch hoffen durfte, jemals studieren zu können? Trautenhahns Schweigen hatte ihn derart erschüttert, daß er kein Maß mehr für die Dinge fand, sein Handeln überhaupt nicht mehr einzuschätzen vermochte. Ruhe vor sich selbst fand Werner erst in der Stadt. Nach endlosem Umherschlendern kam er ins Zentrum. In der Grünanlage gegenüber dem achtundzwanzigstöckigen Stadthaus ließ er sich auf einer Bank nieder. Seine Blicke wanderten an der breiten Front aus Beton und Glas empor, hinter der sich die Stadtverwaltung, die Gesundheits-, die Hygiene- und die Polizeibehörde, die Sozialversicherung und die Sparkasse befanden. Es war ein großer Platz, eigentlich mehr ein Park. Die Hochhäuser ringsum waren ausschließlich Verwaltungsgebäude.
Bezirksverwaltung, Post- und Eisenbahndirektion, Hauptpost, Bank - alles lag dicht beieinander und ersparte den Menschen zeitraubende Wege. Ein zweiter Platz schloß sich an, der Goetheplatz. Hier fand man das Schauspielhaus, die Staatsoper, die Stadtbücherei, das größte Filmtheater und ein Kulturhaus. Werner gewann langsam Interesse für seine Umgebung. Um die Parkanlage des Platzes brodelte das Großstadtleben. Kraftwagen glitten mit singenden Pneus über den Beton, Fußgänger hasteten über die breiten Gehwege, und gespenstisch lautlos huschten die Züge der Einschienenhochbahn auf ihren Gummilaufrädern zwischen den Hochhäusern hindurch. Werner fand zu sich selbst zurück. Man mußte es auf sich zukommen lassen... Die Versammlung begann wie üblich mit organisatorischen Fragen. Dann sprach man über die Vorbereitungen zum zehnten Jahrestag. Da es um das Brigadeleben ging, führte Stolteroff als Vertrauensmann den Vorsitz, denn Träger der Erziehungs- und Kulturarbeit in der Brigade war die Gewerkschaftsgruppe, die mit der Brigade identisch war und von der Abteilungs- und Betriebsgewerkschaftsleitung intensiv unterstützt wurde. Man saß im Klubraum des Kulturhauses beisammen, drei Schichten der Brigade und Vertreter der vierten, diensthabenden Schicht. Männer und Frauen, meist junge, denn in der Brigade wurden nur wenige alt: Die Industrie mit ihren automatischen Taktstraßen brauchte hochqualifizierte Kräfte - Diplomingenieure, Ingenieure, Doktoren der Chemie, Diplomchemiker, Laboranten, Obermeister und Meister - sie bedurfte der schöpferischen Arbeit des Menschen. Bereits die obligatorische polytechnische ZwölfklassenOberschule diente der Entwicklung dieser schöpferischen Anlagen. Sie vermittelte außerdem ein Allgemeinwissen, das es ermöglichte, die früher üblichen Studienzeiten zu verkürzen und zudem das Niveau der Qualifikationsstufen zu erhöhen. Jetzt entsprach die Stufe eines Meisters der eines früheren Ingenieurs. Die meisten jungen Arbeiter studierten nach einigen praktischen Jahren. Damit fiel den wenigen älteren Kollegen eine besonders verantwortungsvolle Aufgabe zu: die Kontrolle der Entwicklung ihrer Studenten, die Mitglied der Brigade blieben, solange sie studierten. Sie arbeiteten in den Sommerferien in ihrer Brigade, und die Brigade hatte von Semester zu Semester die Möglichkeit, den Studienauftrag zeitweise oder ganz aufzuheben. Die Studenten legten nach jedem Semester ihre Zeugnisse vor, sie wurden in der Brigade besprochen. Die Brigade hatte schon manchem geholfen, in den Semesterferien Schwächen zu beseitigen, das Kombinat hatte genügend Möglichkeiten. Es kam dann auch nicht darauf an, daß der Betreffende praktisch arbeitete, er wurde, wenn es ratsam schien, auch in die Forschungslabors oder Konstruktionsbüros vermittelt, wo man sich eingehend mit ihm beschäftigte. Wenn einer der Hilfe der Gemeinschaft bedurfte, dann gab sie diese Hilfe unbeschränkt. Aber es hatte auch Studenten gegeben, die einige Semester aussetzen mußten, weil sie überheblich geworden waren dann genügte meist ein Semester, um sie zu kurieren - oder weil ihre Leistungen weit unter ihrem Leistungsvermögen lagen. Faulheit aber war unentschuldbar, man wertete sie als Mißachtung des entgegengebrachten Vertrauens. In der Betreuung der Studenten wog besonders das Wort der Älteren, ihre Lebenserfahrung. Auch diesmal waren viele Studenten dabei. Sie beteiligten sich rege an der Debatte. Einem Fremden wäre es schwergefallen, sie von den „aktiven“ Brigademitgliedern zu unterscheiden. Werner blickte umher, unsicher und beklommen. In jedem Gesicht versuchte er zu deuten, wie sie sich verhalten würden. Trautenhahn saß neben ihm, folgte den Ausführungen Stolteroffs und war so angespannt dabei, daß er Werner nicht beachtete. Seitwärts, zwei Tische weiter, saß Evelyn im Klubsessel, gelöst und doch anmutig. Er begegnete ihrem Blick. Zufällig? Sie lächelte leicht, nickte unauffällig und wandte sich nach vorn. Wieder erschien sie ihm neu. Er fand sie hübsch und begehrenswert - um so hübscher, als er kurz vor seiner Maßregelung stand und fürchtete, daß sie damit für ihn unerreichbar werde. Dann fiel zum erstenmal sein Name. Er fuhr zusammen. Aber es war nicht Trautenhahn, der ihn genannt hatte. Jumbo, als Vertrauensmann, schlug Aktivisten vor. „Hardensteins Leistungen stehen über dem Durchschnitt, seine Arbeitsdisziplin ist vorbildlich, er hat keine einzige Fehlstunde, Kameradschaftlich ist er auch. Außerdem beträgt sein persönliches Konto durch Vorschläge und Einsparungen annähernd dreißigtausend Mark!“ Von allen Seiten kam Zustimmung, und Werner atmete schon befreit auf. Als die Aktivisten vorgeschlagen waren, meldete sich Trautenhahn zu Wort. Werner sank in sich zusammen. Trautenhahn schilderte die Experimente, sachlich, aber schonungslos. „Auch das ist eine Seite Werners, die wir sehen sollten, ja sehen müssen, wenn wir ihm helfen wollen.“ Er blickte sich im Raum um. Das erwartete Echo blieb aus. Die Mienen waren gleichgültig, abwartend oder gar ablehnend. Keiner meldete sich zu Wort. Wem hatte Werner nicht schon irgendwie selbstlos geholfen, weit über das übliche Maß hinaus? Wer erkannte seinen Einfallsreichtum nicht an, seine Vorschläge, seine Lernergebnisse? Das Schweigen lag schwer im Raum. „Das ist eine Disziplinverletzung, Kollegen, ein Verstoß gegen die Betriebsvorschrift... Ich halte eine Rüge für angebracht!“ Die wenigen Älteren nickten. Die meisten aber waren jung und geneigt, mit
jugendlichem Optimismus die Dinge leichter zu nehmen, als die Älteren sie auf Grund ihrer Lebenserfahrung nehmen konnten. Sie waren selbst voller Tatendrang und Ungeduld, sich zu bewähren sollten sie Werner nicht verstehen? Es gab zwei Meinungen im Raum. Die Älteren warteten, bedächtig wägend, mit ihrer Antwort. Die Jüngeren aber wurden lebhaft. Mancher fühlte sich mit Werner angegriffen. Andere glaubten ihm beistehen zu müssen. Besonders Evelyn. „Das ist doch kleinlich!“ rief sie. Damit brach sie das Schweigen. „Richtig! Das ist übertrieben!“ stimmte der kleine Breier ihr zu. „Stur ist das! Für dreißigtausend Mark auf seinem persönlichen Konto haben wir ihn zum Aktivisten vorgeschlagen, aber für die dazu notwendigen Versuche wollen wir ihn bestrafen - das ist doch Unsinn!“ Trautenhahn parierte sofort. „Die Versuche waren nicht für die Vorschläge notwendig. Werner hatte sich auch keine Genehmigung geholt.“ „Er machte doch keine Überstunden! Die Betriebsvorschrift war aber von der Gewerkschaft durchgesetzt worden, weil verschleierte Überstunden gemacht wurden! Deshalb soll sich keiner länger als eine halbe Stunde nach Schichtschluß im Betrieb aufhalten!“ erwiderte Breier; er war aufgesprungen und gestikulierte mit den Händen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Es steht aber auch nicht in der Vorschrift, daß man sich aus privaten Gründen länger im Werk aufhalten darf“, sagte Trautenhahn. „Wie streng sind doch die Bräuche!“ spottete Breier. „Und es steht nicht drin, daß man im Prüflabor seinem Hobby nachgehen kann“, warf der dicke Binge ein. Er stimmte zwar der Rüge nicht zu, aber er erkannte auch die Gefahr, der sich Werner ausgesetzt hatte, und fühlte sich verpflichtet, Trautenhahn zu unterstützen: „Wo kämen wir denn hin, wenn jeder macht, was er will?“ Dieses Wortgefecht richtete Werner wieder auf. Aber ein Wort vor allem empörte ihn; Hobby! So war das: Hatte man Erfolge, wurde man ausgezeichnet, hatte man Mißerfolge, war es ein persönliches Hobby. Er sagte laut, was er dachte. „Deine Erfolge liegen auf verfahrenstechnischem Gebiet. Dreißigtausend Mark sind überdurchschnittlich, das bestreite ich nicht“, erwiderte Trautenhahn ruhig. „Auf diesem Gebiet bist du sehr beschlagen.“ „Aha!“ sagte Werner ironisch. „Aber sonst bin ich ein Blindgänger, was?“ Trautenhahn ließ sich nicht provozieren. „Das behauptet keiner. Aber du kannst nicht wie ein Alchimist laborieren. Das ist blindes. Suchen...“ Werner fühlte sich bloßgestellt. Wieder regte sich in ihm die Erkenntnis, daß Trautenhahn recht hatte. Aber er wollte sie nicht wahrhaben. Er war immer stolz gewesen auf seine Leistungen, sie hatten sein Selbstbewußtsein gestärkt. Jetzt war er gekränkt, verbittert. Er mußte sich Luft machen, herausschreien, was er gegen Trautenhahns Vorwurf vorbringen konnte. Er hatte keine echten Einwände. Was seinen Argumenten an Sachlichkeit fehlte, ersetzte er durch Lautstärke, bis er bemerkte, daß die Kollegen ihn verständnislos ansahen. So unbeherrscht hatten sie ihn nie gesehen. Er brach seine Verteidigung mitten im Wort ab, murmelte eine Entschuldigung und setzte sich. Trautenhahn kannte das, er nannte es Koller. Er war sicher, daß Werner sich dieses Ausbruches noch lange schämen werde. Aber er war auch betroffen, daß diese Auseinandersetzung eine andere Richtung nahm, als er ihr geben wollte. Die Rüge erschien ihm aus erzieherischen Gründen wichtig. Werner mußte lernen, sein Handeln richtig einzuschätzen. Aber das war nur die eine Seite... Stolteroff erhob sich mit gewichtiger Bedächtigkeit. Sofort wurde es still, „Du bist ein netter Kerl, Werner. Hast auch deine Verdienste“, begann er ruhig. „Aber du besitzt keine Narrenfreiheit. So spricht man nicht mit seinem Vorgesetzten - außerdem könnte Wolfgang dein Vater sein. Dein Hobby ist eine Sache, dein Benehmen gegenüber Wolfgang eine andere. Über das Benehmen würde ich einmal gründlich nachdenken. Nun zu deinem Hobby.“ Er blickte sich um. Dann sprach er zu allen. „Werner ist unser Jüngster. Daß er unternehmungslustig ist, wissen wir. Bei aller erforderlichen Disziplin, bei aller Anerkennung der Betriebsvorschrift - wir sollten hier keine Tragödie daraus machen. Es war nicht einwandfrei, aber es ist nichts passiert - und er hat es nicht aus persönlichen Gründen getan. Er wollte einen neuen Kunststoff entdecken - mit etwas naiven Methoden, aber den guten Willen sollten wir anerkennen. Ich denke, Werner wird auch so einsehen, daß er zu weit gegangen ist. Er wird es unterlassen und damit,..“ „Er soll es nicht unterlassen, denke ich!“ unterbrach ihn Trautenhahn. Das fuhr wie ein Blitz unter sie, und sie saßen wie vom Donner gerührt. „Was denn nun? Wegen der Experimente soll er bestraft werden - aber dann soll er ruhig weiterexperimentieren? Versteht ihr das?“ Stolteroff schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht gegen Experimente. Ich bin gegen heimliche Experimente und gegen die primitive, planlose Art, in der sie Werner durchführte. Das paßt nicht zu ihm, und das führt zu nichts. Und weil ich außerdem meine, Erkenntnistrieb sei eine positive Sache, finde ich, wir sollten ihn unterstützen und Werner die Möglichkeit geben, sich die fehlenden Kenntnisse anzueignen. Kurz: Ich schlage vor, wir delegieren Werner zum Studium und sorgen außerdem nachdrücklich dafür, daß endlich der Klub junger
Chemiker gegründet und ihm ein Experimentierraum, Aufträge und erfahrene Fachleute zur Anleitung gegeben werden! Trotzdem möchte ich noch einmal die Rüge zur Debatte stellen...“ Aber Trautenhahn kam nicht durch damit. Keiner der Jüngeren nahm Werners Verstoß so ernst, und die Älteren vermochten nicht, sie zu überzeugen. So war der Mehrheitsbeschluß nicht zu erreichen. Die beiden Vorschläge dagegen fanden lebhaften Widerhall. Auch eine Empfehlung Trautenhahns, man möge Werner nahelegen, Verfahrenstechnik zu studieren, wurde einstimmig gebilligt. Das verpflichtete Werner nicht, zeigte ihm jedoch die einstimmige Meinung seiner Brigade. Trautenhahns Empfehlung war sehr stichhaltig begründet, Werners Stärke lag tatsächlich auf verfahrenstechnischem Gebiet, außerdem vereinigte es seine beiden Berufe. Trautenhahn war mit sich selbst unzufrieden. Werner war nach der Versammlung zu ihm gekommen und hatte sich entschuldigt. „Nimm mir's nicht übel, Wolfgang“, hatte er gebeten und ihm die Hand entgegengestreckt. „Ich war durchgedreht. Schön war's nicht von mir - ich weiß. Daß du mich trotzdem vorgeschlagen hast, vergesse ich dir nie. Ihr sollt euch nicht in mir getäuscht haben.“ Die Freude über das Studium lachte ihm dabei aus dem Gesicht. Mit keinem Wort erwähnte er die beantragte Rüge, als habe er sie schon vergessen. Auf keinen Fall aber konnte er sie ernst genommen haben. Das bekümmerte Trautenhahn. Mußte der Junge die Ablehnung der Rüge nicht als nachträgliche Billigung, wenn nicht gar als Ermunterung auffassen? Mit aller Deutlichkeit hätte man ihm klarmachen müssen, daß sein Verhalten falsch und leichtfertig gewesen war! Die Rüge war doch nicht als Strafe gedacht, sondern als nachhaltiger Denkzettel. Sie wäre ein Schock gewesen, der ihn zum Nachdenken veranlaßt hätte; ein Anstoß, künftig das eigene Handeln kritisch einzuschätzen. Dennoch kam Trautenhahn nicht auf die Rüge zurück. Keiner hatte ihn richtig verstanden. Er wußte es. Und doch gab es keinen Widerspruch zwischen Rüge und Vorschlag zum Studium, Beides hing zusammen, beides wurzelte in der gleichen Ursache... Er fürchtete bittere Erfahrungen für ihn. Deshalb die Rüge. Was wäre sie im Vergleich zu dem, was Werner leichtsinnig riskiert hatte! Und wäre sie nicht nützlich, wenn er damit vor Schlimmerem bewahrt blieb? Deshalb aber auch der Vorschlag, ihn zum Studium zu delegieren. Er sollte sich Wissen aneignen, damit er die Grundlage hatte, um weiterreichende Vorschläge zu machen, mehr noch: um grundsätzliche Neuerungen zu finden. „Sein Tatendrang ist an die Kette der mangelnden Kenntnisse gefesselt“, sagte er auf der Heimfahrt zu Stolteroff. Der rekelte sich in den Polstern des schnittigen Sportwagens - er ließ sich gern von Trautenhahn mitnehmen -, blickte auf das heranfliegende Betonband und lächelte. „Du sprichst große Worte sehr gelassen aus“, sagte er, ohne den Mund richtig zu öffnen. „Von wem hast du nur die poetische Ader? Aber richtig formuliert hast du nicht. So mangelhaft sind seine Kenntnisse nicht, um seinen Tatendrang zu fesseln! Er hat sich nur aufs falsche Gebiet gewagt.“ Eine Kurve erforderte Trautenhahns Aufmerksamkeit. Er nahm das Gas weg, schaltete durch Tastendruck den nächstkleineren Gang ein und gab in der halben Kurve wieder Gas. „So meine ich's nicht“, erwiderte er dann. „Werner ist der Typ des Grüblers, er ist voller Ideen, aber ihm fehlt das Rüstzeug, diese Ideen zu verwirklichen. Er hat die Fähigkeit, alle Dinge unbefangen zu sehen wie ein Kind und dann zu fragen, warum sie so sind. Wir nehmen sie doch oft als gegeben: Das ist nun einmal so! Vielleicht ist diese Unbefangenheit auch der Grund für seinen Fehler, alles um sich zu vergessen und nur noch das zu sehen, was ihn interessiert?“ „Konzentration sagt man wohl dazu“, warf Stolteroff ein. „Damit bin ich nicht einverstanden, mein Lieber! Konzentration heißt nicht Engstirnigkeit. Man muß die Dinge immer im Zusammenhang sehen.“ „Laßt ihn erst einmal studieren“, brummte Stolteroff gemütlich. Ihm war nicht zum Diskutieren zumute. „Er wird wachsen - mit den Kenntnissen und mit den Aufgaben. Jetzt stürmt er gegen seine Grenzen an, aber die werden sich weiten“, sagte Trautenhahn sinnend. „Das Studium wird sein Blickfeld vergrößern und ihm Anregungen vermitteln - aber auch die Fähigkeit, sie zu verwirklichen.“ „Du bist ein großer Philosoph!“ sagte Stolteroff sarkastisch, denn er wollte endlich seine Ruhe haben. Trautenhahn schwieg verstimmt. Philosoph! - Er freute sich für Werner. Aber er war auch besorgt. „Die Rüge hätte er bekommen müssen... Als Gegengewicht zum Studium. Wenn das mal gut geht...“ „Pessimist! Was soll denn schon passieren?“ Stolteroff schüttelte den Kopf. „Laß das Kulturhaus im Dorf, Brigadier! Wir sind auch nicht als Sauertöpfe auf die Welt gekommen, Schwung gehört zur Jugend! Manchmal geht's dabei etwas übers Ziel hinaus, das gibt sich, wenn man älter wird. Werner schleift sich schon noch ab...“ Ihm den Schwung zu erhalten, aber in richtige Bahnen zu lenken, wäre besser! dachte Trautenhahn. Sagt, was ihr wollt, es ist eine Disziplinschwäche, ein wilder Trieb, den der sorgsame Gärtner verschneidet. Aber was sollte er noch sagen? Stolteroff war ja selber erst dreiunddreißig, wenn er auch wie ein Alter sprach. Trautenhahn war nicht wohl bei dieser Sache - oder hatte er sich auch verrannt?
4 Werner hatte sich bei der Wahl zwischen den Hochschulen für die Technische Universität in Dresden entschieden, ihn reizte der Ruf Dresdens als deutsches Kulturzentrum, als Stadt der Hochschulen und Institute, der Theater und Museen. Er wurde nicht enttäuscht. Obwohl zur Millionenstadt angewachsen, fehlte Dresden das hastende Getriebe anderer Großstädte. Werner vergrub sich ins Studium. Bald war er seinen Kommilitonen voraus. Er war wie ein trockener Schwamm, der sich vollsaugt. Das Lernaktiv, dem er angehörte, profitierte davon. Er wohnte wie die meisten Studenten in einem der vielen Studentenwohnheime. Zwanzigtausend Studenten der Technischen Universität waren in ihnen untergebracht. Diese Heime waren über die ganze Stadt verstreut, aber sie lagen so, daß man mit O-Bussen oder mit der Einspurschnellbahn die Universität in kurzer Zeit erreichen konnte. Die Einspurschnellbahn war das Verkehrsgerippe des Städtebandes. Sie huschte von Pirna nach Meißen, von Freital nach Radeburg und begann ihre Fühler bis Bad Schandau, Riesa, Radeberg und Rabenau auszustrecken. Überall wurde gebaut, um die Verbindung zu den Erholungsgebieten der Umgebung zu verbessern. Dresden erstreckte sich von Pirna bis Meißen, von Freital bis nach Moritzburg, aber Werner kannte nur die Innenstadt und den Stadtteil Radebeul - und auch das nur flüchtig. Das Heim lag am Südhang. Von seinem Zimmer, das er mit einem Schwaben teilte, konnte er das Elbtal von Meißen bis Pirna übersehen. An klaren Tagen kamen die Felsen der Sächsischen Schweiz aus dem Dunst wie Kulissen hervor. Vor ihm, zu seinen Füßen, pulsierte das Leben der Stadt, flogen beiderseits der Elbe die elektrischen Züge aus Leipzig und Berlin vorüber und die stahlblauen Vorortzüge der Einschienenbahn... Überall lockten ungezählte Stätten, die es zu entdecken galt. Aber Werner unterlag nicht der Versuchung. Die Vorhaltungen seiner Kommilitonen, ihre Einladungen, an Ausflügen teilzunehmen, ihre Spötteleien, das alles focht ihn nicht an. Das einzige, was er sich leistete, war die Arbeit auf der Terrasse, die dem Heim vorgelagert war. Dort saß er und blickte bisweilen von den Büchern auf, träumte wohl auch davon, hinabzusteigen und sich vom Verkehr treiben zu lassen. Aber er ertappte sich immer sehr schnell dabei und schüttelte diese Abschweifung energisch von sich ab. Heino, sein Stubengenosse, ein quicklebendiger, untersetzter Blondschopf, mühte sich unverdrossen, ihn zur gesunden Mäßigung zu bewegen. Kam Heino abends von seinem „Spaziergang“ zurück, dann stellte er sich ans Fenster, genoß das Flimmern des spätabendlichen Lichterteppichs und begann mit unwiderstehlicher Lebendigkeit von seinen neusten Erlebnissen zu erzählen, Werner ließ sich gern für kurze Zeit aus der Arbeit herausreißen, strich sich über die brennenden Augen und lauschte versonnen und amüsiert. Gewöhnlich gingen sie auf die Terrasse, und Heino wies in die Richtung, in der er gewesen war. „Dort der Turm, rechts neben dem großen Schornstein, ha jo, da war ich!“ sagte er gewöhnlich, und Werner blickte gehorsam in die Richtung, belustigt durch das schwäbelnde Ha jo und Ha noi, was schlicht ja und nein hieß. Kam Heino gar zu weitschweifig ins Erzählen oder wurden seine Ermahnungen zu eindringlich, dann erwiderte Werner selbst nur noch ha jo und ha noi und schwieg im übrigen, daß der Schwabe es bald aufgab. So vergingen Monate. Werner aber lernte Dresdens Umgebung nur aus Heinos Schilderungen kennen. Selbst Herbstnebel und Schneegestöber vermochten Heino nicht zurückzuhalten. „Man muß einen gesunden Ausgleich haben, die Lungen gründlich auslüften - ha jo, das muß man!“ Doch er hoffte vergebens, Werner durch sein Beispiel zu bekehren. Auch die Mahnungen der Jugendgruppe, Werner möge sich reger an den Freizeitveranstaltungen beteiligen, fruchteten nicht. Da er sich jedoch ohne Umschweife entschloß, die Winter-Semesterferien mit der Jugendgruppe gemeinsam in der Hohen Tatra zu verbringen, ließen sie ihn schließlich gewähren. „Ihr glaubt wohl wirklich, ich wäre hinter dem Ofen aufgewachsen, was?“ fragte er auf ihre zweifelnden Mienen. „Irrtum! Ich liebe nur keine Halbheiten auch in den Ferien nicht, da rühre ich kein Lehrbuch an!“ Sie wollten schon darauf achten, daß er dieses Versprechen hielt! Doch in den Bergen bedurfte Werner ihrer Ermahnungen tatsächlich nicht. Er tollte übermütig im Schnee, stob mit kühnen Schwüngen über die Steilhänge und war bei jedem Schabernack dabei. So hoffte Heino, daß Werner Geschmack an einer ausgeglichenen Lebensführung gefunden habe. Prächtig erholt begannen sie das zweite Semester. Indessen verfiel Werner bald wieder seiner alten Gewohnheit und forderte erneut Heinos Widerspruch heraus. Heino wurde nicht müde, ihn immer wieder einzuladen. Eines Abends standen sie am Geländer der Terrasse. „Dort drüben, die roten Lichter - ha jo, da war ich!“ sagte Heino. Und er deutete in eine Richtung, die Werner überraschte. Das war ja weit über den
jenseitigen Höhen, das mußte doch der Funkturm von Wilsdruff sein! „Ha jo, das ist er!“ Heino nickte befriedigt. „Wie bist du denn dorthin gekommen?“ „Ganz einfach. Mit der Vorortbahn! Ach, was weißt du schon, du Stubenhocker? Mit dem Schnellverkehr bist du von hier aus in fünfzehn Minuten in Meißen, in zwanzig Minuten in Wilsdruff. Ein schönes Städtchen - aber wie lange noch? Der Moloch Dresden naht gefräßig...“ Werner lachte. So war Heino nun. Er fühlte sich schon ganz daheim in dieser Stadt. Erst kürzlich hatte er ihm erzählt, daß die Stadtteile Radebeul, Coswig, Weinböhla, Freital, Tharandt, Heidenau einmal selbständige Städte waren, aneinandergereiht wie eine Kette, der einfacheren Verwaltung wegen nun mit Dresden verschmolzen. „Am Sonntag fahre ich in den Tharandter Wald; die Birken schlagen aus“, sagte Heino. „Kommst du mit?“ „Ha noi!“ sagte Werner. Doch Heino gab nicht auf. „Eine Schande ist das mit dir! Nichts gegen Strebsamkeit, aber blinder Eifer ist schädlich! Du bist nicht nur Student, du bist auch Mensch, und der Mensch braucht Entspannung, Erholung, Erbauung! Ich habe nie gebummelt, das weißt du. Mein Pensum habe ich immer geschafft. Trotzdem kenne ich das alte Meißen mit der Albrechtsburg und dem Dom, Schloß Pillnitz, Schloß Moritzburg, die Dresdner Heide. Ich war in der Gemäldegalerie, im Zoo, im Grünen Gewölbe und in den anderen Museen. Ich kenne den Großen Garten, die Moritzburger Teiche - ich war sogar schon auf der anderen Elbseite.“ „Die ist doch wohl auch sehr bequem zu erreichen“, warf Werner trocken ein. „Stimmt! Auf der kleinen Schleife über Niederwartha in sechs Minuten. Aber was rede ich! Die beiden Pumpspeicherwerke dort drüben werden dich nicht aus der Stube locken. Und daß man da extra aufgeforstet hat, damit man sich erholen kann...“ „Sagtest du nicht, man hätte das getan, um die grüne Lunge zu vergrößern?“ „Mit dir ist nicht zu reden“, sagte Heino verstimmt. „Aber wenn du glaubst, dir so deine Leistungsfähigkeit zu erhalten, dann täuschst du dich! Du kommst ja nicht einmal bis in den Spitzgrund, dabei brauchst du nur aus der Tür zu gehen. Sieben Monate sind wir hier, und du warst erst viermal im Theater - und da willst du im Estradenensemble gesungen haben?“ „Studiere ich Gesang oder Chemieanlagenbau und Verfahrenstechnik?“ fragte Werner gereizt. „Ha noi Einseitigkeit!“ „Was glaubst du, was mir meine Brigade erzählen würde, wenn ich nicht jede Stunde nütze?“ Heino bezweifelte, daß man derart überspannte Forderungen an seinen Kommilitonen stellte. Werner, der endlich Ruhe haben wollte, bestand darauf. Die Kollegen waren weit, ihnen schadete das nicht. Ihm aber würde es diese ewigen Ermahnungen ersparen. Schließlich lernte er für die Gesellschaft, nicht für sich! Noch immer gab Heino nicht auf. Er war in der Leitung der Hochschulgruppe der Jugendorganisation, und die hatte schon mehrfach versucht, Werner zur vernünftigen Einteilung seines Lebens in Studium und Freizeit zu bewegen. Allein, sie konnte ihm schließlich nicht vorschreiben, nachmittags spazierenzugehen! An den Gruppenzusammenkünften nahm Werner teil, seine Leistungen im Studium waren hervorragend. Heino fühlte sich bisher in einer Zwickmühle. Sollte er sagen: Du mußt weniger leisten, dafür mehr
bummeln? Jetzt hatte er einen Ansatzpunkt: die Brigade. Er hoffte, sie werde ein starker Bundesgenosse sein, schließlich kannte sie Werner besser als er, sie hatte ihn delegiert. Trotzdem versuchte er weiterhin auf Werner einzuwirken, aber der antwortete nur noch mit ha jo und - öfter - mit ha noi. Er sagte das so provozierend gleichgültig, daß Heino schließlich hilflos die Schultern hob und ins Zimmer ging. Werner wartete, bis im Schreibzimmer das Licht verlöschte und er sicher sein konnte, dort allein zu sein. Dann holte er sein Schreibzeug. Während die anderen Studenten dem kommenden Tag entgegenschliefen, schrieb er an Evelyn einen langen Brief. Dieser Briefwechsel war die einzige Ablenkung, die er sich gestattete. Wohl schrieb er auch an seine Eltern und an die Brigade, aber diese Briefe waren kurz und nüchtern und berichteten nur, wie es ihm gehe und was er gerade lerne. Anders bei Evelyn. Am letzten Tag daheim waren sie zusammen ausgegangen. Der bevorstehende Abschied aus seiner gewohnten Umgebung, zu der ja auch Evelyn gehörte, hatte ihn wohl etwas weicher gestimmt, als er sonst war. In dieser Stimmung, in der man erst die Bindungen spürt, die einen an das fesseln, was man verlassen muß, in der man oft auch mehr zu spüren glaubt, als wirklich vorhanden ist, in dieser Stimmung waren sie sehr zärtlich gewesen und hatten einander versprochen, regelmäßig zu schreiben. Es wurde ein reger Briefwechsel. Weil Evelyn sich in Werners Umgebung hineinträumen wollte, wenn sie seine Briefe las, bat sie ihn, viel von Dresden zu berichten. So schilderte Werner alles, was er von Heino und den anderen hörte, selbst aber nie gesehen hatte. Da es ihm selbstgefällig schien, ihr zu schreiben, daß er sich ganz dem Studium widme und deshalb kaum aus dem Zimmer komme, verschwieg er das. Saß er beim Schreiben, dann versetzte er sich in jene Abschiedsstunde zurück, blickte hin und wieder auf Evelyns Bild und überließ sich ganz seinen Vorstellungen. Weil er nur von der Erinnerung zehrte, hinderte ihn nichts, sie unbewußt einem Idealbild anzugleichen. Einzelne Details - mochten es Worte, Blicke, Bewegungen sein - gewannen für ihn eine Bedeutung, die sie in Wirklichkeit nicht besaßen. Er schrieb lange in dieser Nacht. Aber auch Heino löschte viel später das Licht, als Werner vermutete. Ein Brief lag auf Trautenhahns Schreibtisch, aus Dresden - aber nicht von Werner. Trautenhahn war verwundert. Er zog seinen Sessel heran und ließ sich hineinfallen. Bevor er las, überblickte er noch einmal die Bandstraßenhalle. Die Meisterstube lag in Höhe der Galerie. Durch die großen Glasfenster konnte er jede Maschine der Bandstraße übersehen. Außerdem hatte er vor sich ein verkleinertes Abbild des großen Schaltbildes vom Leitstand. Es war alles in Ordnung! Nun öffnete er den Brief. Heino schrieb, die Jugendgruppe sei besorgt. Werner vergrabe sich derart blindwütig in sein Studium, daß man um seine Leistungsfähigkeit fürchten müsse. Er übernehme sich. Auf die Dauer könne man nicht ohne jeden Ausgleich, ohne Entspannung über den Büchern sitzen und büffeln. Er, Heino, habe oft versucht, täglich fast, Werner zum Ausspannen zu bewegen. Das ganze Lernaktiv sei bemüht, ihn zum vernünftigen Maßhalten zu veranlassen. Leider alles ohne Erfolg. Werner komme nicht aus dem Wohnheim, treibe nur den obligatorischen Sport, besuche kaum eine Veranstaltung, unternehme nicht einmal Spaziergänge in die Umgebung. Seine Leistungen seien zwar vorbildlich, er sei der beste Student des Semesters, aber bei einem derartigen Raubbau könne er das nicht durchhalten. Offensichtlich sei Werner der Ansicht, seine Brigade verlange das von ihm - deshalb wende sich Heino an den Brigadier. Trautenhahn schüttelte den Kopf. Das sah Werner ähnlich. Wieder völlig verrannt, der junge. Da mußte schnell etwas geschehen. Aber was? Er fand keine Antwort. Schließlich konnte man Werner nicht zwingen, täglich zwei Stunden spazierenzugehen! Wenn er sich so in eine Sache verbohrt hatte, war er keinem guten Ratschlag zugänglich. Trautenhahn beschloß, sich mit dem Vertrauensmann und den Kollegen zu beraten, die Werner am besten kannten. Es mußten Kollegen aus Werners ehemaliger Schicht sein, etwa Breier, Evelyn... Sie kamen mittags, ihre Schicht ging von zwölf bis achtzehn Uhr. Dr. Lippmann wäre besser auch dabei. Wenn er seine Mitarbeiter auch so selbständig wie möglich handeln ließ, um ihnen die Freude an der Arbeit zu erhalten und ihr Verantwortungsbewußtsein zu fördern, wenn er sich auch mehr um das Polyesterforschungslabor kümmern mußte, denn dort vor allem brauchte man sein Wissen und seine Erfahrung, so unterstand ihm doch auch der Polyesterproduktionsbetrieb. Als Betriebsleiter wünschte er ständig auf dem laufenden gehalten zu werden. Außerdem war er für den Urlaub zuständig. Ohne Urlaub würde es kaum gehen - einer mußte nach Dresden fahren. Es schien Trautenhahn nicht ratsam, bis zu den Semesterferien zu warten. Auch hier würde Dr. Lippmann beraten können, schließlich hatte er studiert und kannte die Studienverhältnisse. Nach der Unterredung mit Stolteroff vergingen Trautenhahn die Stunden nicht schnell genug. Er war unruhig. Nicht die nüchternen Fakten regten ihn auf. Aber daß er nicht vermocht hatte, Werner zur kritischen Selbsteinschätzung zu erziehen, das bedrückte ihn, als habe er sich schuldig gemacht. Irgend etwas mußte er versäumt oder falsch angefaßt haben.
Die Kollegen nahmen es durchaus nicht so problematisch wie Trautenhahn, aber sie verfielen auch keinem sorglosen Schulterzucken. Werner hatte sich verrannt, ihre Aufgabe war, ihm zu helfen, wieder zum gesunden Gleichgewicht zu finden. „Einen Brief müßten wir schreiben, ihn zurechtrücken!“ schlug Breier vor. „Mal richtig die Meinung sagen!“ „Warum nicht gleich mit der Exmatrikulation drohen?“ fragte Trautenhahn ironisch. „Damit erreichen wir nichts! Er schaltet prompt auf stur, schließlich wird er sich im Recht fühlen. Wir fordern von jedem Studenten höchste Leistungen. Die hat er. Sollen wir jetzt schreiben: Deine Leistungen sind zu hoch?“ „Wir müssen ihm klarmachen, daß es uns auf hohe Dauerleistung ankommt und er so - wie sein Kollege richtig schreibt - nicht durchhalten kann“, sagte Stolteroff. „Und was meinst du, Evelyn?“ fragte Trautenhahn. Er hatte bemerkt, daß Evelyn beim Verlesen des Briefes stutzte und nun mit verschlossener Miene ins Leere starrte. Sie schrak auf. „Was sagtest du?“ Er wiederholte seine Frage. „Wir schreiben uns“, sagte sie, ohne sich um die Überraschung der anderen zu kümmern. „Er berichtete mir, daß er viel zu tun habe. Aber er hat auch so viel von Dresden beschrieben... Und so bildhaft! Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sich das aus den Fingern saugt.“ Diese Schilderungen hatten sie besonders berührt, sie waren warmherzig und verrieten einen Blick für die Feinheiten. Sie sah Dresden deutlich vor sich, obwohl sie selbst nie dort gewesen war. Diese Betrachtungen waren es auch, die ihr Werner in einem neuen Licht zeigten, er gewann durch sie. Nun sollte sie annehmen, das sei nicht wahr? „Ich glaube, wir sollten erst einmal Klarheit schaffen!“ warf Dr. Lippmann in das nachdenkliche Schweigen. „Fast klingt es, als wären Sie ungehalten über Hardenstein. Wir müssen uns im klaren darüber sein: Das ist der Typ, der Großes vollbringen kann, wenn er mit seinen Kräften maßhält, sie rationell einsetzt und immer wieder erneuert. Das erreicht man nicht mit Vorwürfen. Man muß behutsam vorgehen. Hardenstein darf nicht spüren, was wir wollen.“ „Aber wie das?“ fragte Stolteroff aufmerksam. „Offenbar versucht man von allen Seiten, ihn zum Maßhalten zu bewegen, ebenso offenbar ohne Erfolg. Er fühlt sich verpflichtet, sich restlos zu verausgaben, das muß man nebenbei berichtigen. Aber seinen Schaffensdrang, seine Betätigungswut können wir doch diplomatisch dazu ausnutzen, ihn vom Schreibtisch wegzubringen.“ Dr. Lippmann genoß einen Augenblick ihr Verwundern. „Wenn wir auch noch verlangen: Geh ins Grüne, erhole dich, treibe mehr Sport und besuche Konzerte, dann verkriecht er sich in sich selbst. Aber wenn wir ihm Aufträge geben, zusätzliche Aufträge, dann kann er nicht dauernd über den Büchern hocken.“ „Aber erholen kann er sich auch nicht!“ sagte Stolteroff kopfschüttelnd. „Werner brauchte keine Aufträge, sondern Erholung!“ „Wenn ihn die Aufträge zwingen, die Stadt zu entdecken, ihre Schönheiten, wenn sie ihn hinausführen ins Grüne?“ „Es dämmert!“ rief Trautenhahn und lachte. „Werner fotografiert gern. Wie wäre es, wenn wir ihn beauftragen, für uns zu filmen? Wir könnten ihm unsere Magnetbandkamera geben und reichlich Bandmaterial. Dann findet er selbst Gefallen, paßt auf!“ Stolteroff und Breier waren noch skeptisch, aber sie ließen sich bald überzeugen. Es war in der Brigade üblich, die Fotos oder Filme besonders schöner Urlaubsreisen bei Brigadeabenden gemeinsam zu betrachten und so im Nacherleben ein möglichst umfassendes Bild unbekannter Städte und Länder zu erhalten. Weshalb sollte man nicht einen direkten Auftrag vergeben? „Gut, einen kulturellen Auftrag also, einverstanden. Aber Werner kann nicht während seines ganzen Studiums filmen“, sagte Stolteroff schließlich. „Natürlich nicht! Er soll ja auch nur angeregt werden, unmittelbaren Kontakt mit der Umgebung aufzunehmen. Hat er ihn, wird er sich kaum noch isolieren können. - Und genügt das Filmen nicht - wir haben ja nicht nur kulturelle Bedürfnisse, wir wollen auch gemeinsam lernen“, erwiderte Trautenhahn. „Uns könnten zum Beispiel die beiden Pumpspeicherwerke interessieren. Niederwartha hat immerhin das erste europäische Pumpspeicherwerk. Etwas elbabwärts davon steht ein neues, der letzte Schrei der Technik!“ „Aber das läßt sich schlecht brieflich machen! Jemand muß nach Dresden fahren“, gab Stolteroff zu bedenken. „Ist das nicht übertrieben?“ brummte Breier. „Muß es gleich eine Feuerwehraktion sein? So schwächlich ist Werner nicht, um von heute auf morgen umzukippen, weil er sich mal scharf ins Zeug legt...“ Stolteroff wurde lebhaft. „Du bist gut! Auf eine solche Kraftprobe wollen wir es gar nicht erst ankommen lassen! Wenn er sich jetzt überschätzt, muß er es vielleicht schon im nächsten Semester büßen.“ „Wenn man helfen kann, sollte man nicht warten“, rief Dr. Lippmann. „Unnötigen Kräfteverschleiß muß man beizeiten stoppen.“ „Wer fährt?“ fragte Trautenhahn kurz.
„Du, wer sonst?“ sagte Stolteroff. „Du hast ihn vorgeschlagen, Wolfgang. Außerdem wirkt es amtlicher, wenn du als Brigadier ihn in unserem Namen beauftragst.“ „Einverstanden, fahren Sie!“ sagte Dr. Lippmann. „Nehmen Sie Evelyn mit!“ Das Haustelefon klingelte. Werner hob ab, meldete sich, horchte überrascht, nickte ungläubig, sagte: „Ich komme!“ und legte auf. Heino unterbrach das Rechnen, schob die Kladde zur Seite und sah neugierig zu Werner. „Was Schlimmes?“ fragte er besorgt. Werner hob unschlüssig die Schultern. „Besuch für mich! Ich kenne doch keinen hier - und meine Eltern machen Urlaub im Ausland...“ „Na los dann - laß ihn nicht warten. Wirst ja sehen, wer es ist!“ Ein schneller Blick rundum. Es war alles in Ordnung. Während Heino den Vorhang schloß, der den Raum in Arbeits- und Schlafzimmer teilte, ging Werner hinunter. Er war freudig überrascht, als ihm im Besucherzimmer Trautenhahn und Evelyn gegenüberstanden. „Wir gehen in unser Zimmer“, sagte er nach der Begrüßung und zog Evelyn im Vorbeigehen kurz an sich. Es wurde ein netter Nachmittag. Heino hatte im Handumdrehen Kuchen und Kaffee besorgt und wollte sich dann still davonmachen, aber Werner ließ es nicht zu. Heino wunderte sich über Werners aufgekratzte Laune. Weil er selbst auch voller Frohsinn war, hallte das Zimmer bald vom Lachen wider. Heino fragte sich nur insgeheim, weshalb weder der Brigadier noch das Mädchen irgendwie auf Werners besessenes Studieren zu sprechen kamen. Dabei hatten sie sich über die Universität unterhalten, einige Dozenten etwas boshaft karikiert, über Dresden gesprochen und auch über die Studienfortschritte! Heino bemerkte grinsend, daß Werner ungeniert von Dresdens Schönheit sprach und Heinos Schilderungen beinahe wörtlich wiederholte, und er konnte sich hin und wieder eine spitze Bemerkung nicht verkneifen. „Da sieht man, was ein geschultes Auge alles bemerkt!“ sagte er obenhin. „Werner war schon immer so!“ Evelyn forderte ihn heraus, aber Werner hörte nicht den Unterton. „Er hat eine besondere Begabung dafür“, fuhr Heino fort, „erstaunlich, was er alles mitbekommen hat. Dabei arbeitet er Tag und Nacht.“ „Hör auf!“ knurrte Werner ihn an. „Ich bin zum Studieren hier.“ Trautenhahn reagierte nicht so, wie es Heino erwartete. „Wir freuen uns, daß du dich so gut machst“, sagte er lediglich. „Denk aber auch an deine Gesundheit!“ Heino war verstimmt. Hatte er deshalb geschrieben? Sie sollten Werner lieber den Kopf zurechtsetzen! Statt dessen fragte der Brigadier auch noch, ob Werner Zeit habe, neben dem Studium einen Brigadeauftrag zu erfüllen. Er stimmte zu, aber Heino protestierte. „Werner kommt so schon nicht aus dem Haus! Er sollte sich nicht übernehmen!“ Ein Blick Evelyns ließ ihn verstummen. „Aus dem Hause müßtest du allerdings hin und wieder“, sagte Trautenhahn. „Ich habe im Wagen unsere Magnetbandkamera. Aber wenn dir's zuviel wird...?“ „Unsinn! Was wollt ihr haben? Chemische Versuche, unsere Arbeit, die Uni - was soll ich filmen?“ „Dresden, die Umgebung - kurz: alles, was du hier Schönes entdeckst!“ Jetzt begriff Heino, „Wenn dir's recht ist, Werner, komme ich mit. Das interessiert mich Magnetbandkamera... Kenne ich noch nicht.“ „Eine Kamera ähnlich der Filmkamera. Statt Filme zieht man Magnetbänder ein. Sie verwandelt wie die Fernsehkamera das Bild in elektrische Impulse, sie werden als magnetische Impulse wie der Ton auf dem Tonband konserviert. Das Band kannst du dann über ein Bildbandgerät und den Fernsehempfänger abspielen. Schön, daß du mitkommst, die Kamera ist ziemlich schwer.“ „Sehen wir sie uns doch an!“ schlug Trautenhahn vor. „Übrigens könntet ihr uns beiden Dresden zeigen. Drehen wir eine Runde!“ Es wurde eine ausgedehnte Spazierfahrt; Werner begriff nebenbei, welchen Umfang der zusätzliche Auftrag seiner Brigade hatte. Dieser Auftrag änderte in den folgenden Monaten tatsächlich seinen Tagesablauf. Man traf ihn jetzt oft in der Stadt oder in der näheren Umgebung. Immer war Heino bei ihm, oft begleiteten ihn auch Kommilitonen seines Lernaktivs. Werner nahm diese Aufgabe ernst, ernster, als es Heino lieb war. Ob die Sonne grellte, ob Hitze auf der Stadt lastete oder ob es regnete, Werner begrüßte diesen Wechsel der optischen Effekte wegen und filmte. Heino kannte den Sinn des Auftrags und sagte sich manches Mal, daß es nicht nötig sei, bei Regen irgendwo herumzusteigen und sich die Tropfen in den Hals rinnen zu lassen - allein er schwieg und trottete mißgestimmt hinter Werner her. Dem bekam das Filmen ausgezeichnet, und er nahm in den Semesterferien sowohl einen Packen Bänder mit guten Aufnahmen als auch ein sehr gutes Zeugnis und die Auszeichnung als Studienaktivist mit nach Hause zu seiner Brigade. Nun war er täglich mit Evelyn zusammen. Bald erkannte er, daß sie anders war, als er sie sich vorgestellt hatte, sie paßte irgendwie nicht in das Bild, das er sich in Dresden gemacht hatte - dabei konnte er nicht sagen, was anders war. Evelyn schien es ähnlich zu gehen, sie war zurückhaltender, als er nach den
Briefen erwarten konnte. So entfremdeten sie sich, bevor sie richtig vertraut miteinander waren - ohne es am Anfang zu spüren. Als sie es erkannten, war es bereits zu spät. Aber es schmerzte auch nicht, und deshalb kam es zu keiner klärenden Aussprache. Auf den Gedanken, die Wurzel von Evelyns Zurückhaltung in seiner Unaufrichtigkeit zu suchen, kam er nicht. Evelyn hatte gerade seine bildkräftigen Schilderungen als Wesensmerkmal und auch als Ausdruck innerer Verbundenheit gewertet, als Bemühen, sie an allem teilhaben zu lassen. Wenn man wirklich liebte, fehlte dann der geliebte Mensch nicht überall, war die Freude nicht halbiert, wenn man sie allein empfand? Sie konnte sich nicht damit abfinden, daß es in Wirklichkeit Heinos Erlebnisse waren, die Werner ihr als seine eigenen mitgeteilt hatte. Nachdem sie ihn anders eingeschätzt hatte, empfindsamer, als er wirklich war, fehlte ihr diese Eigenschaft an ihm. Seine früher von ihr bewunderte Neigung, sich unkritisch an eine Sache zu verlieren und darüber alles andere zu vergessen, erschien ihr jetzt als lebensfremde Versponnenheit - viel zu anstrengend und viel zu unsicher, mochte er noch so genial sein... Erst als Werner das dritte Semester begonnen und Evelyn nicht mehr täglich um sich hatte, vermißte er die frühere Verbundenheit. Mit der Befürchtung, er habe sie verloren, gewann sie in seiner Erinnerung an Liebreiz. Die Nüchternheit ihrer gelegentlichen Briefe wurde ihm schmerzlich bewußt. Eines Tages fragte er, was zwischen sie getreten sei. Die Antwort erschütterte ihn. Evelyn - wohl erwägend, daß er ein Recht auf eine offene Begründung habe und dafür jetzt, da er Klarheit sachte, auch zugänglicher sei - schrieb ihm unverblümt ihre Ansicht. „... Ich brauche einen echten Gefährten, selbstsicher und wohlausgewogen im Wesen, selbstkritisch und berechenbar - keinen, der ständig aus den Wolken heruntergeholt werden muß, der von einem Extrem ins andere fällt und den man wie ein kleines Kind an der Hand führen muß, damit er nicht zu Schaden kommt. Das mag dir grausam erscheinen, aber ich glaube, es muß dir einmal unumwunden gesagt werden. Du mußt dich selbst einschätzen und kontrollieren lernen, Werner, nur dann wirst du deine Fähigkeiten voll zu nutzen vermögen!“ Es standen auch freundlichere Worte in diesem Brief. Etwas von Kameradschaft und Freunde bleiben... Das schrieb man wohl in solchem Fall! Ihm brannten die Wangen vor Scham und verletztem Stolz. Ihm war zumute, als stünde er nackt vor allen Menschen. Dieser Brief hatte mehr erreicht als alle Ermahnungen Trautenhahns. Bin ich denn wirklich so? Diese Frage stellte er sich jetzt oft. Sie führte nicht immer zur richtigen Antwort, denn natürlich verteidigte er sich vor sich selbst. Als er jedoch den ersten Schock überwunden hatte, als mit dem zeitlichen Abstand Evelyns Offenheit die Schärfe verlor, begann er seine Vergangenheit in einem anderen Licht zu sehen.
5 Der Winter schickte wieder seine Vasallen. Stürme. Schneevermischte Regenschauer. Nachtfröste. Er beschnitt die trüben Tage, dehnte die Nächte. Die Bäume reckten ihre kahlen Äste auf wie Leichenfinger. Der Waldboden war glitschig von feuchtem Laub. Man fröstelte auch am Tage, wenn man sich nicht bewegte. Die ersten Kunsthaarpelze umschmeichelten Frauenkörper und belebten das düstere Grau des Tages mit ihren bunten Farben. Werner mühte sich, diese Stimmung mit der Kamera einzufangen. Den farbigen Pelzmantel einer Bäuerin auf kahler Chaussee. Nebelschwaden unter entlaubtem Gebüsch. Einen einsamen Bach zwischen entkleideten Hängen. Die Trostlosigkeit der nackten Wälder. Heino mußte alle Beredsamkeit aufbieten, um ihn endlich zu überzeugen, daß Stadtaufnahmen jetzt reizvoller seien. In der Stadt empfand man den Winter nicht so kraß wie außerhalb des Häusermeeres. Die Kahlheit der vielen Park- und Grünanlagen wirkte nicht so kalt zwischen den hellen Fassaden der modernen Wohnhäuser. Die Straßen und Gehsteige waren blank. Am Abend spiegelten sich die Leuchtreklamen in der Feuchtigkeit und warfen buntschillernde Reflexe. Über den großen Schaufenstern der Warenhäuser waren Infrarotstrahler angebracht. Sie wärmten die Schaulustigen, die sich vor den Auslagen drängten. Auch in den vielen Passagen stauten sich die Menschen. Allenthalben nistete bereits das Raunen und Wispern heimlicher Weihnachtsvorbereitungen. Bei einem dieser Filmbummel kaufte Werner die ersten Geschenke. Eine Sammlung von Gemäldereproduktionen für Mutter. Ein neues Reißzeug für Vater. Eine erzgebirgische Schnitzarbeit für die Pariser Schwägerin. „Für Evelyn?“ fragte Heino, der ihn wie immer begleitete. Werner verneinte kurz. Das Stichwort war gefallen und verdarb ihm gründlich die Laune. Auf dem Heimweg war er wortkarg. Erst im Heim, als er die Geschenke auspackte, kam er auf das Gespräch zurück. „Für meine Schwägerin in Paris“, sagte er und stellte die Schnitzerei auf den Tisch. „Liebt sie denn so etwas?“ fragte Heino und setzte sich zu ihm. „Sie hat ihren Urlaub in Seiffen verbracht.“ Heino zögerte. „Ich dachte - für Evelyn. Hat lange nicht geschrieben?“ „Ist vorbei! Ich habe nicht geantwortet!“ „Habt ihr euch gestritten? Mensch, Werner, so ein Mädel!“ Werner trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch. „Da ist nichts zu kitten...“ „Sprich dich mit ihr aus.“ „Das hat keinen Sinn, Heino. Ihr Urteil über mich ist so, daß ich einsehe, nicht der Richtige zu sein.“ „Unsinn, Werner! Weihnachten hast du Gelegenheit...“ „Ich fahre nicht nach Hause. Meine Eltern sind in Paris - wir treffen uns dort.“ „Dann spreche ich mit ihr!“ sagte Heino bestimmt. Als er Heino nach den Semesterferien wiedersah, wußte er sofort, daß es ergebnislos verlaufen war. Heino berichtete von der Unterredung. Er vermied, wörtlich zu wiederholen, was er mit Evelyn gesprochen hatte, aber er war nun selbst auch überzeugt, daß Werner keine Chance mehr hatte. Tage vergingen, ehe sie wieder von Evelyn sprachen. „Hast du etwas dagegen, wenn ich Evelyn schreibe?“ fragte Heino. Werner schüttelte den Kopf. „Dagegen? Mit welchem Recht? Aber schreibe nichts von mir!“ Er war nicht wütend und auch nicht schmerzzerrissen. Er lebte wie sonst, hielt gute Freundschaft mit Heino - aber es bedrückte ihn doch, wenn von Evelyn Post kam. Anfangs las Heino ihm die Briefe vor. Es war noch viel von Werner die Rede, dann aber ergaben sich gemeinsame Interessen, und die Briefe wurden persönlicher, hatten keine Beziehung mehr zu ihm. Werner merkte, daß Heino ihm die Briefe nur vorlas, damit er nicht glaube, Heino habe die Gelegenheit genutzt. Das war ihm peinlich. Außerdem waren die Briefe nicht für ihn bestimmt. So bat er, darauf zu verzichten. „Ihr paßt auch besser zueinander“, sagte er abschließend. Diese leidige Angelegenheit wirkte sich nicht nachteilig aus - weder auf ihre Freundschaft noch auf das Studium. Dennoch war Werner froh, als sich auch das vierte Semester seinem Ende zuneigte. Er hatte seine Brigade gebeten, ihn für die Semesterferien zu beurlauben. Er wollte in ihrer Paten-LPG bei der Ernte helfen und sich dort durch Arbeit an der frischen Luft innerlich freimachen. Die Brigade sagte zu, und die LPG schrieb, er könne einen Raupenschlepper fahren. Daß Heino mit Evelyn einen Teil der Ferien am Schwarzen Meer verbringen wollte, berührte ihn kaum noch. Vor den Ferien, die schriftlichen Prüfungen lagen bereits hinter ihm, wurde er zum Rektor der Universität gerufen. „Nehmen Sie Platz, Genösse Hardenstein!“ Werner setzte sich. Es war ihm unerklärlich, weshalb er hierher bestellt wurde. Der Rektor saß ihm an einem Rauchtisch gegenüber, bequem in seinen Sessel gelehnt.
„Ich habe vorhin fernmündlich mit Ihrem Brigadier gesprochen - er läßt Sie herzlich grüßen!“ Werner dankte. Mit der Brigade? Das war eine völlig unerwartete Mitteilung! Ob ihn die Brigade vom Studium zurückholen wollte? „Ich soll Ihnen mitteilen, daß Sie die Semesterferien nicht auf dem Land verbringen können. Sie werden von uns scheiden, Genösse Hardenstein!“ Werner war betroffen. „Aber die Zensuren stehen doch noch gar nicht fest... Die mündlichen Prüfungen...“ „Entfallen für Sie!“ widersprach der Rektor. „Magnifizenz, was...“, stammelte er. „Ihre schriftlichen Arbeiten erübrigen sich. Ihre Leistungen sind ausgezeichnet, und wir stellen mit Freude fest, daß Sie Ihren Lebensstil normalisiert haben.“ „Und trotzdem, Magnifizenz?“ „Nein, deshalb, mein Lieber! Ich freue mich, Ihnen im Auftrag des Hochschulrates und auch im Auftrag Ihrer Brigade mitteilen zu können, daß Sie für den Studentenaustausch vorgesehen sind, und zwar für die Hochschule Kuibyschew - es fehlt nur Ihr Einverständnis.“ - Heino freute sich mit ihm, ehrlich und neidlos. Werner hatte diese Auszeichnung wirklich verdient, er sollte fahren - Heino hätte sich ohnehin nicht gern noch weiter von Evelyn entfernt, wenn auch das Reisen im Sozialistischen Staatenbund längst kein finanzielles Problem mehr war oder gar besondere Pässe erforderte. Man reiste kostenlos. Zwar gab es noch Geld, auch in verschiedenen Währungen, aber man konnte es auf jeder Bank, jeder Sparkasse, jedem Postamt gegen die jeweilige Landeswährung eintauschen. Das war möglich, seit die sozialistischen Staaten zu einer großen Völkerfamilie verschmolzen waren, seit ihre Wirtschaft von einem gemeinsamen Wirtschaftsrat aufeinander abgestimmt worden war und nun als ein organisches Ganzes funktionierte. Die ehemals ökonomisch schwach entwickelten Länder hatten den besonderen Nutzen, ihnen galt - wie in jeder guten Familie - die selbstlose Hilfe aller anderen Staaten des Sozialistischen Bundes. So war es möglich, in kurzer Zeit das nachzuholen, was die Kolonialisten in Jahrzehnten und Jahrhunderten bewußt unterließen. Die Grenzen waren aufgehoben. Weshalb auch sollten sich Menschen gleicher Weltanschauung durch Grenzen trennen, wenn es nicht mehr aus Gründen der Sicherheit erforderlich war? Hatte man im nationalen Maßstab nicht jahrzehntelang erfahren, daß es gemeinsam leichter und schneller vorwärts ging. Ging es in einer internationalen Gemeinschaft nicht noch besser und noch schneller? Unaufhaltsam hatten sich die sozialistischen Staaten entwickelt, während das kapitalistische Lager, von Krisen geschüttelt und gehemmt, nicht Schritt zu halten vermochte. Zu eng waren die Grenzen einer Wirtschaft, die von eigensüchtigen Profitinteressen bestimmt wurde. Je deutlicher der Vorsprung des Sozialismus wuchs, desto aufmerksamer wurden die Arbeiter der kapitalistischen Länder, desto drängender ihre Fragen: Weshalb müssen wir um unsere Existenz fürchten, ewig Spielball der Krisen, Prellbock des Kapitals und des Auf und Ab einer planlosen Wirtschaft? Fragen aber heißt Denken! Das Denken mündete im Erkennen der gesellschaftlichen Zusammenhänge. Man konnte sie in Ordnung bringen - und sie schafften Ordnung in ihren Staaten! Die eindeutige Überlegenheit der sozialistischen Planwirtschaft wandelte in den kapitalistischen Staaten auch die Struktur der Bevölkerungskreise, die eine Veränderung forderten; selbst mittlere Unternehmer begriffen die Sinnlosigkeit persönlichen Besitzes an Produktionsmitteln, resignierten wohl auch: Es nützt ja doch nichts! und erkannten, daß sie ihre Fähigkeiten auch im Sozialismus verwerten konnten. Und wozu die ständige Angst, von den Großen gefressen zu werden, wozu Sorgen und schlaflose Nächte, die der Konkurrenzkampf für die nicht ganz Großen mit sich brachte - wozu, wenn man auch ohne das gut, ausgeglichener und sinnvoller leben konnte? Überdies der Ärger mit den Kindern; sagte man ihnen: Du mußt den Betrieb übernehmen! - dann lachten sie nachsichtig: Was soll ich damit? Das gab es - und immer häufiger. Erbitterte Gegner blieben nur die großen Konzerne. Sie bestimmten in Nordamerika noch immer das Geschehen. In Nordamerika! Man begann es als das kapitalistische Museum zu bezeichnen. Boshafte Conferenciers boten Eintrittskarten an: „Kommen Sie und sehen Sie, wie man vorgestern lebte...“ Die UNO hatte scharfe Augen, ihre Arme reichten in alle Teile der Erde - denn die UNOMehrheit bestand nicht mehr aus Trustvertretern, sondern aus Abgesandten der Völker. Die aber hatten nie Krieg gewollt. Die UNO war stark genug, ihre Beschlüsse durchzusetzen. Wenn es auch keine nationalen Streitkräfte mehr gab, so unterhielt die UNO doch eine internationale Sicherheitstruppe, die jeden Versuch, einen Krieg zu entflammen, sofort energisch im Keim erstickt hätte. Diese Truppen waren in ihren Heimatländern stationiert; sie konnten von den nationalen Regierungen jederzeit für friedliche Aufgaben eingesetzt werden. In die inneren Angelegenheiten Nordamerikas mischte sich die UNO nicht ein. Das hätte ihrer Charta widersprochen, vor allem auch dem Grundprinzip der sozialistischen UNO-Mehrheit, daß jedes Volk seine inneren Angelegenheiten selbst zu bestimmen hat. Die alte kapitalistische These vom kommunistischen Welteroberungsbestreben stellte sich nun als das heraus, was sie immer war: eine üble
Propaganda-Zwecklüge, denn jetzt hätten die sozialistischen Länder alle Möglichkeiten gehabt, einem solchen Bestreben unaufhaltsam nachzugehen. Hatte früher vor allem Nordamerika die UNO für sein Expansionsbestreben mißbraucht, so zeigte sich jetzt, daß die sozialistischen Staaten nicht im mindesten daran dachten. Man kann eine Gesellschaftsordnung nicht von außen ändern, sie muß von innen für eine Veränderung reif werden und kann nur von den betreffenden Völkern selbst geändert werden. Im Sozialismus rücken die Menschen und die Völker immer enger zusammen, sie haben eine hohe Gemeinsamkeit: Mensch zu sein. und gemeinsame Interessen: sinnvoll, schöpferisch und menschenwürdig zu leben. Ganz gleich, wo die Menschen wohnen und welcher Hautfarbe sie sind, sie eint im Sozialismus alles, nichts trennt sie. Sozialismus heißt doch: Gleiches Lebensrecht für alle und gemeinsames Mühen um ein reiches, beglückendes und befriedigendes Leben. Je mehr der Mensch versteht, daß er Teil einer großen Interessen- und Lebensgemeinschaft ist, ohne die er nicht zu leben vermag, je mehr er lernt, sich vom ichbezogenen Denken freizumachen und die Schätze der Erde zum Nutzen aller zu verwenden, desto bedeutungsloser werden Grenzen. Deshalb gab es keine Reisebeschränkungen im Bereich der sozialistischen Staaten, deshalb waren Fahrgeld und Visa nur noch für Reisen nach Nordamerika erforderlich. Aber mochten große Reisen noch so bequem sein, mochte es zur Selbstverständlichkeit gehören, seinen Urlaub in Schweden, Sibirien oder irgendwo in Afrika zu verbringen - Heino wäre nicht nach Kuibyschew gegangen. So sehr ihm Werner fehlen würde, einen Vorteil hatte sein Weggehen doch: Evelyn konnte ihn nun besuchen, was sie bisher nur aus Rücksicht auf Werner unterlassen hatte. Werner wollte seine Eltern nur kurz aufsuchen. Den Platz für die Düsenmaschine nach Kuibyschew hatte er schon gebucht. Er wollte die Semesterferien nutzen, um sich am Kuibyschewer Meer zu erholen und schon vor dem fünften Semester die Stadt kennenzulernen. Er erinnerte sich sehr deutlich der anerkennenden Worte des Rektors über seinen veränderten Lebensstil. Dazu Evelyns Brief und Trautenhahns vorherige Ermahnungen - da mußte etwas dran sein! Der Fehler lag also bei ihm. Rationell arbeiten, mit geringstem Kräfteverschleiß höchste Leistungen erzielen und sich beizeiten ausreichende Kraftreserven schaffen - so müßte er den Vorhaltungen am besten begegnen können. Dennoch fand er die Sorge der anderen übertrieben und erkannte sie nur im Hinblick auf seine künftige Stellung an: Wer seine eigenen Kräfte überschätzt, mutet oft auch seinen Mitarbeitern mehr zu, als vertretbar ist. Daß es Trautenhahn um mehr gegangen war, hatte er noch immer nicht begriffen... Der zweite Tag daheim. Das Wiedersehen war sehr herzlich gewesen, denn die Eltern hatten Werner während des Semesters nicht besucht. Mutter hatte eine erkrankte Kollegin vertreten, und so war Vater auch daheim geblieben. Werner wäre eine übersteigerte Fürsorge ohnehin nicht recht gewesen. Schließlich war er mittlerweile vierundzwanzig geworden und hatte wohl Anspruch darauf, als Erwachsener ernst genommen zu werden. Mütter bemerken oft sehr spät, daß aus ihren Söhnen Männer geworden sind. Trotzdem ließ er sich jetzt Mutters Fürsorge gefallen. Er lächelte überlegen, aber es wärmte ihn doch, es gehörte zu seinem Zuhause. „Nimm dir noch Butter, Werner! Was magst du morgen mittag essen?“ fragte Mutter ihn beim Frühstück. Sie saßen im Erker. Durch die großen Glasscheiben blickte man in einen prächtigen Sommertag: Rosen und Margeriten, Wicken und Rittersporn, erste Dahlien. „Makkaroni mit Schinken und Schweizerkäse!“ sagte er. Vater schmunzelte. „Wie hast du geschlafen? Brauchst du noch eine Decke, mein Sohn?“ fragte er anzüglich. Werner zwinkerte heimlich. „Es war ziemlich kühl heute nacht!“ Mutter war natürlich besorgt. „Ich hatte die Balkontür offen gelassen.“ Jetzt lachten die Männer. „Aber Frau Doktor! Meine Mutter sagte immer, man schliefe im kühlen Zimmer besser“, sagte Werner. „Und gesünder!“ fuhr Vater fort. „Außerdem brauchte er die Tür nur zu schließen.“ „Aber im warmen Zimmer schläft sich's schlecht!“ Ruth Hardenstein sah von einem zum anderen. „Vater und Sohn, wie sie im Buche stehen! Ich arme Frau, einsam mit vier Lausbuben! Und der Älteste“, sie nickte ihrem Mann zu, „ist der Schlimmste!“ „Wir werden uns bessern!“ versprach Vater. „Müssen! Denn auch zu zweit kommen wir gegen dich noch nicht auf!“ Sie schüttelte den Kopf, nachsichtig. „Ihr seid gleich unter euch.“ „Du gehst zur Klinik? Wann kommst du zurück?“ „Nur heute. Spätestens ein Uhr bin ich hier.“ „Dann habe ich Küchendienst. Das ändert die Situation, mein Sohn“, sagte Vater. „Als Küchenhilfe hörst du auf mein Kommando!“ Motorengeräusch. Eine Wagentür knallte. „Der Wagen. Ich muß gehen“, sagte Mutter und erhob sich behende, lief zur Diele, warf den Staubmantel um und winkte. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß.
Ein Schrei. Dann Stille. Ehe Werner begriff, war Vater aus dem Sessel aufgefahren und lief zur Tür. Werner sprang ihm nach. An der Tür stutzten beide. Mutter lag in den Armen eines großen Mannes. Als er den Kopf hob, lief Vater auf sie zu. „Bernd!“ „Wo kommst du her?“ fragte Vater nach der Begrüßung. „Vom Südpol!“ Bernd lachte. „Woher sonst?“ Bernd war zehn Jahre älter als Werner. Sein Gesicht kantig und schmal. Die Schläfen bereits ergraut. Sein Auftreten gemessen, bestimmt, ausgeglichen. Vater zog ihn ins Haus. „Die Verstärkung, Mutter! Kommst gerade recht zum Gemüseputzen, Bernd!“ „Das gibt's ja nicht mal mehr auf dem Südpol!“ Mutter mußte in die Klinik. Die Männer hatten sich viel zu erzählen. Werner lauschte gebannt. Was Bernd vom Sechsten Kontinent erzählte, fesselte ihn. Dabei betrachtete er unablässig seinen älteren Bruder. Es war ein Abtasten, ein Erspüren des anderen. Wie sollte er sich verhalten? Gewiß, es war sein Bruder. Aber er war zehn Jahre älter - eine große Spanne! An das tägliche Zusammensein konnte er sich kaum noch erinnern. Als Bernd sein Abitur gemacht hatte, war Werner erst acht Jahre alt, Berührungspunkte hatte es damals kaum gegeben... Sie würden sich wohl nie so richtig zusammenfinden. Dazu war die Zeit zu kurz, in der sie sich sahen. Bernd erzählte, daß er beim Wirtschaftsrat in Prag zu tun hatte, von dort auf einen Sprung zu Uwe nach Paris geflogen sei und dann zurück nach Deutschland. „Und weshalb das Hin und Her?“ fragte Vater. „Ich muß in acht Tagen noch mal nach Prag. Von dort fliege ich direkt zurück.“ „Eine Woche nur? Werner bleibt auch nur acht Tage.“ „Nur eine Woche, aber die genügt, um euch einzuladen - ich will in drei Monaten heiraten! Es wird Zeit, daß Ihr Madeleine kennenlernt. Aber wohin willst du, Kleiner? - Entschuldige diese dumme Angewohnheit, Werner, den ‚Kleinen' begrabe ich nun endgültig!“ Werner erzählte von seinem Vorhaben, in Kuibyschew auszuspannen, bevor das Semester begann. Bernd überlegte. Nach einer Weile sagte er: „Kuibyschew hast du noch lange genug, Werner. Wenn du Lust hast, kannst du die Ferien bei mir verleben. Das könnte auch für den künftigen Chemieingenieur sehr interessant sein. Und wir kämen uns endlich einmal näher. Ist doch eine Schande, daß wir uns kaum kennen. Überleg dir's!“ Viel zu überlegen gab es da eigentlich nicht. Bernd erzählte von „seiner“ Stadt, die nach der ersten sowjetischen Polarstation Mirny benannt worden war. Jedes Wort berichtete von einem Leben, das man im ewigen Eis nie vermutet hätte, und war dazu angetan, Werners Neugier zu verstärken, Parkanlagen, Schwimmbäder, Bergwerke, Atom- und Wasserkraftwerke, offene Personenwagen und Frauen in Sommerkleidern... „Ich würde mich nicht zweimal einladen lassen, zumal du bei Bernds Hochzeit kaum dabeisein kannst sie fällt ja mitten in das Semester!“ sagte Vater. „Wenn es nur nach mir ginge, Vater... Ich muß mit unserem Brigadier sprechen. Du weißt, die Brigade hat mich freigestellt, damit ich Kuibyschew kennenlerne und mich dort einlebe.“ „Das werden wir schon hinbekommen, Werner - ich fahre mit in deinen Betrieb“, sagte Bernd. Werner überlegte. Vermutlich würde es nicht auffallen, wenn er statt nach Kuibyschew erst nach Mirny flog. Trautenhahn würde es nicht kontrollieren können. Aber dann sagte er sich, daß gewiß niemand auf den Gedanken käme, er könne die Freistellung mißbrauchen - und Vertrauen enttäuschen? Selbst wenn es niemand erfuhr, wäre er sich schäbig vorgekommen. Lehnte die Brigade ab, dann ging er eben für zwei Wochen nach Mirny - über seinen dreiwöchigen Urlaub konnte er ja frei verfügen! So fuhr er am nächsten Tag mit Bernd ins Kombinat. „Einen schönen Wagen hast du dir herausgesucht, Bernd - aber ein eigener wäre mir lieber“, sagte Werner beim Einsteigen. Bernd lachte. „Besitzgier ist antiquiert, mein Lieber. Diese Leihwagen sind doch viel bequemer. Keine Pflege, kein Ärger mit Reparaturen - was meinst du, wieviel Mühe ein gut gepflegter Wagen fordert. Die Leihwagen gehen täglich durch die automatische Pflegeanlage; willst du mit einem eigenen Wagen täglich zum Waschen fahren? Am Ende nimmst du doch Gartenschlauch und Schwamm! Denkst du, Vater hätte sonst unseren alten Tatra abgeschafft, wo er so an ihm gehangen hat? Ein eigener Wagen - na ja, Geschmackssache. Überleg nur mal, wie unrentabel ein eigener Wagen ist, wenn er in der Garage steht. Leihwagen sind doch viel rentabler, auch volkswirtschaftlich gesehen.“ Werner hatte geduldig gewartet, ohne Bernd zu unterbrechen. Er lauschte gern der tiefen Stimme seines Bruders. Sie klang bestimmt, aber doch warm und nahm sofort gefangen. „Besitzgier - darum geht's doch nicht“, sagte er endlich. Ich stamme doch nicht aus dem Mittelalter! Aber am Leihwagen kann man doch nicht basteln. Ihn darf man nicht frisieren.“ Bernd lachte. „Das wäre ein Grund, wenn es keine Motorsportgemeinschaften gäbe! Dort kannst du frisieren, so lange du Lust dazu hast. Und erfolgreicher - sie stehen doch direkt mit den Autowerken in Verbindung, bekommen Aufträge und Versuchsfahrzeuge. Nein, mein Lieber - ein eigener Wagen hat nur Sinn, wenn er ständig gebraucht wird und wirklich Zeit spart.“ - Im Kombinat bedurfte es nicht Bernds Unterstützung. Werner unterrichtete Trautenhahn von der Einladung. Der Brigadier hatte nichts einzuwenden, er wünschte
Werner eine gute Erholung und bat ihn, die Magnetbandkamera nicht zu vergessen. „Du kannst sie dann gleich mit nach Kuibyschew nehmen. Die Bänder schickst du uns bitte zu. Schön wäre es, wenn du die Erklärungen gleich mit auf das Band sprechen würdest.“ Mirny - Stadt der extremen Gegensätze. Mirny - blühende Oase im ewigen Eis. Großstadtlärm inmitten uferloser Stille. Brausendes Leben in grenzenloser Einsamkeit. Ruhe im wütenden Orkan. Ungetrübter Sonnenschein im dichtesten Schneesturm. Lebenspendende Wärme in tödlicher Kälte. Mirny - Großstadt unter gläsernen Kuppeln, Mirny - Triumph menschlichen Geistes und Zeugnis der unüberwindlichen Kraft einer in Frieden vereinten Menschheit! Mirnys Hochhäuser erhoben sich auf gewachsenem Fels. Teils hatte ihn der antarktische Sommer freigeschmolzen, teils hatte man ihn freigelegt, als man das Hochplateau im Inneren der Bucht den Erfordernissen der künftigen Stadt anpaßte. Den fruchtbaren Boden für die Grün- und Parkanlagen hatte man aus Südamerika herangeschafft. Zu Füßen der Großstadt lag der Hafen. Er war ständig eisfrei, denn über Mirny strahlten künstliche Sonnen. Starke Atomeisbrecher hielten die Fahrrinne bis ins offene Meer frei. Sie ruhten mit Doppelrumpf- und Unterseefrachtern am Kai. Die Frachter löschten Maschinen, Gebrauchsgegenstände, Lebensmittel. Sie luden, was der Sechste Kontinent in reichem Maße bot: Erze, Erze, Erze! Und Stahlbrammen! Riesige Glaskuppeln überdachten die Stadt und bewahrten ihr Klima, das konstant gehalten wurde. Deshalb gab es in Mirny keinen brennenden Ofen, keinen einzigen Benzinmotor. Abgase hätten die Luft unnütz verunreinigt und zusätzlichen Aufwand erfordert. Zwar waren die Gebäude sämtlich so gebaut, daß sie auch ungeschützt dem Polarwinter standhalten konnten, aber das war nur eine Vorsichtsmaßnahme, falls einmal die Kuppeln beschädigt würden oder der Strom ausfallen sollte. So gab es zwar Öfen und Kohlen in jedem Haus, aber nur als Reserve. Geheizt wurde elektrisch. Auch die Kraftfahrzeuge und die Schnellbahn wurden elektrisch angetrieben. Die Schnellbahn unterhielt nicht nur den Verkehr in der Stadt, sie verband ebenso die Städte des vereisten Kontinents, die oft Tausende von Kilometern voneinander entfernt waren. Sie schaffte auch eine schnelle Verbindung zu den vielen Bergwerken, dem Stahlwerk und zum Atomkraftwerk, die sämtlich weit außerhalb der Stadt lagen. Werner stand oft am Fenster seines Zimmers und blickte landeinwärts auf einen Palmenhain, der sich recht eigentümlich gegen das Eis ausnahm, das sich hinter dem nahe liegenden Flugplatz als haushoher, schimmernder Steilhang erhob. Eine trostlose Eiswüste zog sich zum Horizont und türmte sich in der Ferne zu bizarren Gebirgen auf. Dort lag der Kontinent, der ihn lockte. In den Straßen der Stadt konnte man ihn allzuleicht vergessen. Aber Bernd hatte Werner das Versprechen abgenommen, nie allein dort hinauszugehen. Spalten und Risse in der mächtigen Eisdecke, teils offen, teils verweht, machten Eiswanderungen sehr gefährlich. Unweit von Bernds Wohnung lag ein Bahnhof der Schnellbahn. Werner konnte vom Fenster aus die weiträumige Gleisanlage überblicken. Von dort stürzten sich die Züge in die verkleideten Stollen, die im Eis zu ihren Zielen führten. So brausten sie im antarktischen Winter unbehelligt dahin, während über der mächtigen Eisdecke Schneestürme alles Leben bedrohten. Auch Bernd erreichte mit der Schnellbahn das Atomkraftwerk, dessen Hauptingenieur er war. Werner brannte darauf, dieses Kraftwerk zu besichtigen. „Sieh dir erst einmal die Stadt an“, hatte ihm Bernd geraten. „Ich habe
übermorgen Zeit für dich. Dann bleibe ich wieder in der Stadt. Ins Kraftwerk darf ich dich nicht mitnehmen - Sicherheitsvorschriften! Tut mir leid, Werner!“ Werner hatte nichts unversucht gelassen, aber Bernd war nicht umzustimmen. „Kommt nicht in Frage! Sicherheitsvorschriften sind tabu, sie wurden nicht erlassen, um die Bewegungsfreiheit einzuengen, sondern um jede unnötige Gefährdung menschlichen Lebens auszuschalten“, dozierte er. Werner wagte einen letzten Versuch. „Vielleicht könnte man mit dem Sicherheitsverantwortlichen sprechen?“ „Mit dem sprichst du die ganze Zeit!“ sagte Bernd. Da wußte Werner, daß es aussichtslos war. Die Konsequenz seines Bruders verstimmte ihn. Einmal im Jahr hatte man die Möglichkeit, in dieses Kraftwerk zu fahren: zur jährlichen Revision. Dann wurde der Stollen wieder verschlossen. Gesteuert wurde das Kraftwerk von Mirny aus. Nun hatte er das Glück, gerade während der wenigen Revisionstage hier zu sein - und Bernd ließ sich nicht erweichen! Ein Kernfusionskraftwerk modernster Konstruktion... Hier wurden Deuteriumatome zu Heliumatomen verschmolzen... Werkskapazität fünf Millionen Kilowatt... Und er saß an der Quelle und durfte nicht heran! „Meine Kollegen werden enttäuscht sein. In Dresden haben sie mich in Pumpspeicherwerke geschickt - filmen sollte ich. So stark interessieren sie sich für Kraftwerke! Hier ist der letzte Schrei der Energieerzeugung, und ich kann nicht einmal erzählen, wie es aussieht“, nörgelte er. Bernd klopfte ihm versöhnlich auf die Schulter. „Dem Kind kann geholfen werden! Gib mir deine Kamera mit, Werner - ich mache Aufnahmen.“ „Und die Erklärungen?“ „Spreche ich dir auch noch. Zufrieden?“ Werner war zufrieden. Bernd war doch ein netter Kerl. Er winkte, als Bernd zum Bahnhof ging, und wartete, bis der Zug langsam in die Schleuse zwischen den Glaskuppeln und den gläsernen Tunnels rollte, die sich in das Eis hineinschoben. Dann schlenderte er durch die Stadt. Zwischen den Hochhäusern unterschied sich Mirny nicht mehr von den Großstädten der anderen Kontinente. Auf Fußsteigen promenierten Einkaufslustige, und sie stauten sich vor den Schaufenstern der Warenhäuser. Vor den Hotels, den Verwaltungsgebäuden, den Kulturhäusern, den Theatern, den Hallen- und Freibädern und vor den Sportstadien hielten die Elektrobusse und spien dichte Menschentrauben aus. In den Bahnhöfen herrschte ständiges Kommen und Gehen, Aus den Reparaturwerken und Fabriken drangen die Melodien der arbeitenden Maschinen. Die Reifen schneller Wagen pfiffen auf dem Betonband der Straßen. Frauen schürzten ihre Sommerkleider, wenn die Sprengwagen vorüberfuhren. Kinder tummelten sich quietschend unter den Fontänen der Rasensprenger in den Grünanlagen. Auf Kinder traf man überall. Spielplätze, Kindergärten, Wäschereien und Schulen rundeten das Bild der Großstadt. Werner schlenderte zum Hauptbahnhof. Es war ihm noch unvorstellbar, wohin die Leute auf diesem vereisten Kontinent verreisten. So setzte er sich in der Empfangshalle auf eine Bank und lauschte den Gesprächen der Reisenden und dem Lautsprecher. „Zum Schnellzug nach Danger-Oase bitte beeilen... Der Schichtzug zum Stahlwerk Ost fährt heute von Bahnsteig siebzehn, ich wiederhole... Zum Schichtzug zur Grube Silberglanz, planmäßige Abfahrt zwölf Uhr vierundzwanzig...“ In vier Sprachen erklangen die Worte: russisch, englisch, französisch und deutsch. Werner erhob sich und schlenderte zu den Bahnsteigen. Ein- und ausfahrende Schnelltriebwagen und - Bitte von der Bahnsteigkante zurücktreten! - durchfahrende Güterzüge, hauptsächlich mit Erzen oder Stahlbrammen beladen. In nichts unterschied sich Mirny von anderen Großstädten. Mit dem Bus fuhr er zum Hafen. Bevor sich der Wagen über die Serpentine hinunterschlängelte, stieg er aus. Hinter ihm lag die Schleuse der letzten Glaskuppel, vor ihm, direkt unter dem Felsen, auf dem er stand, der Hafen. Auf der anderen Seite der fjordartigen Bucht stürzten sich die Erzzüge hinab, sie fuhren unten auf eine Rampe. Wenn der Zug hielt, öffneten sich sämtliche Entladeluken der Wagen, das Erz ergoß sich in Silos oder über Schüttvorrichtungen direkt in die Schiffsbäuche. Fünf Minuten später raste der Zug wieder davon, kam der nächste an... Eine ältere Frau trat zu ihm ans Geländer. „Heimweh, junger Mann?“ fragte sie mütterlich. Werner schüttelte befremdet den Kopf. „Wie kommen Sie darauf?“ „Ich beobachte Sie schon ein Weilchen. Ich saß dort drüben.“ Sie wies auf eine Bank. „Sie sahen so sehnsüchtig hinunter.“ Werner lachte. „Interessiert! Ich bin nur zu Besuch. Finden Sie hier öfter Heimwehkranke?“ Die Frau wehrte ab. „Wer es nicht aushält, kann doch zurück.“ „Nicht aushalten?“ Es sei nicht jedermanns Sache, sagte die Frau, sich jahrelang in einer Stadt aufzuhalten, die nur einen beschränkten Lebenskreis böte, einer Stadt unter Käseglocken mit künstlicher Klimagestaltung und vereistem Hinterland - wenn man sich auch alle Mühe gebe, das Leben so erträglich wie möglich zu
machen. Die meisten hielten sich deshalb auch nur für mehrere Jahre hier auf. „Deshalb traf ich kaum auf ältere Leute?“ „Ja, Mirny ist eine Stadt der Jungen. Das Alter verbringt man in Europa, Afrika, Südamerika, Asien oder Australien, dort, wo es einem am besten gefällt. Ältere Menschen sind hier fast ausschließlich Besucher.“ „Ach, dann sind Sie auch...“, entfuhr es Werner. Verlegen biß er sich auf die Lippe. „Verzeihen Sie!“ bat er dann. „Aber weshalb denn? Jung kann man mich ja nun beim besten Willen nicht mehr nennen. Und zur älteren Generation zu gehören, das hat doch nichts Fatales... Alt werden wir alle. Aber ich bin nicht zu Besuch hier. Ich bin“, und nun lachte die Frau, „ich bin die Mutter der Stadt.“ Werner sah sie begriffsstutzig an. „Oberbürgermeister sagt man auch!“ Bernd lachte, als ihm Werner von dieser Begegnung erzählte. „Ja, die Mutter Cantinelli. Du darfst dich nicht wundern, wenn wir wirklich ‚Stadtmutter' sagen. Hier in Mirny rücken die Menschen noch näher zusammen als auf den eisfreien Kontinenten. Und Professor Cantinelli ist eine prächtige Frau. Sie war Leiterin unseres Observatoriums und hat sich als Mitglied vieler ehrenamtlicher Kommissionen der Stadtverwaltung so beliebt gemacht, daß man sie zum Oberbürgermeister wählte. In zwei Jahren ist ihre Amtszeit um. Es wird allen schwerfallen, sich von ihr zu trennen. Sie geht nach Italien zurück.“ „Was, Professor ist sie?“ „Zweifacher Doktor auch - aber was viel wertvoller ist: eine Seele von einem Menschen.“. Am Nachmittag fuhren sie hinaus zum anderen Ende der Stadt. Außerhalb der Kuppeln erklommen sie einen steilen Anstieg im Felsen, der allmählich in das Eis überging. Werner war zu sehr mit dem Aufstieg beschäftigt - die dicke Pelzkleidung war ungewohnt - , als daß er auf die Umgebung geachtet hätte. Er fuhr zusammen, als er unvermittelt drei Tiere auf sich zukommen sah. „Adeliepinguine!“ sagte Bernd. Bis auf wenige Schritte kamen die metergroßen, schwarzbefrackten Gesellen neugierig heran. Trat Werner auf sie zu, watschelten sie zurück oder rutschten in schneller Fahrt auf dem Bauch davon. Werner folgte Bernd. Die Pinguine schlossen sich an. Sie näherten sich einem sanften eisfreien Hang unweit der Küste. Hier standen Hunderte von Pinguinen beisammen. Kaum bemerkten sie die Männer, schon kamen sie von allen Seiten herbei. Werner blickte hilflos zu Bernd, aber der schmunzelte und schritt unbeirrt weiter. Kurz vor ihm wichen die Tiere zur Seite, um sich ihnen dann anzuschließen. „Der reinste Umzug! Weshalb kommen sie nicht in die Stadt?“ fragte Werner. „Sie kämen schon“, sagte Bernd. „Wir hatten Mühe, sie fernzuhalten. Neugierig, wie sie sind, haben sie zu Hunderten unseren Hafen inspiziert. Überall standen sie im Wege. Sie behinderten die Arbeit und den Verkehr, denn verletzen will diese drolligen Kerle ja keiner.“ „Werden sie nicht gejagt?“ „Laß das nicht hören, besonders nicht die Mutter Cantinelli - sie stehen unter Naturschutz!“ „Leben sie nur an Südhängen?“ Bernd lachte. „Nordhängen wolltest du sagen!“ „Aber dort ist doch die Sonne...“ Werner zeigte hinauf. „Eben! Aber du vergißt etwas. Wenn du in Deutschland der Sonnenbahn zugewandt bist, geht sie links von dir auf und rechts von dir unter. Hier aber stehst du auf der anderen Seite der Sonnenbahn, also geht sie rechts von dir auf und links von dir unter, denn sie steht hier mittags nicht im Süden, sondern im Norden!“ „Daran werde ich mich nie gewöhnen!“ stöhnte Werner. „Alles ist anders. Hochsommer im Januar, tiefster Winter im August. Im Januar in der Sonne dreißig Grad Wärme, im August unter siebzig Grad Kälte. Verdrehte Welt!“ „Ja, der Winter geht zu Ende“, sagte Bernd mit seiner dunklen Stimme versonnen. „Verdrehte Welt? Ja. Naturgemäß müßten uns ja die Adeliepinguine längst verlassen haben.“ „Dann wäre es noch einsamer hier draußen!“ „Ach was!“ erwiderte Bernd resolut. „Du vergißt die Kaiserpinguine, Werner, die eigentlichen Winterbewohner der Antarktis! Sie sind größer, aber phlegmatischer, nicht so neugierig wie diese drolligen Burschen hier. Es mag an der Kälte liegen...“ „Wo halten sie sich auf?“ fragte Werner, und die schwarzbefrackten Gesellen, die sie in dichten Scharen umstanden, musterten sie, als verständen sie jedes Wort. „Außerhalb des Strahlungsbereichs unserer Sonnen. Ihnen könnten wir die Absperrung öffnen, sie sind nicht so aufdringlich und gehen dem Getriebe der Arbeit von selbst aus dem Weg.“ „Und die Adeliepinguine?“ „Eigentlich sind sie unsere Sommergäste und fliehen den Winter. Nur die Wärme unserer Sonnen hält sie hier. Aber du bist ja auch so ein Reisender zwischen zwei Jahreszeiten, verläßt uns im Winter, um im Sommer in Europa anzukommen!“ Am nächsten Vormittag, Bernd war zum letztenmal ins Kraftwerk gefahren, klingelte das Telefon.
Werner schaltete den Staubsauger ab und griff zum Hörer. Sicher Madeleine, die ihre morgige Ankunft bestätigen wollte. Madeleine war Schauspielerin am Stadttheater Danger-Oase, der benachbarten Großstadt, die nur zweitausend Kilometer entfernt lag. Wie sprach man seine künftige Schwägerin an? Daß sie ihm auf den Fotos außergewöhnlich hübsch erschien, machte Werner noch befangener. Erstaunt lauschte er. Die Oberbürgermeisterin! Ob er nachmittags einmal im Rathaus vorbeikommen könne? Werner sagte zu, obwohl sie sich eigentlich vorgenommen hatten, nachmittags Bernds Wohnung auf Hochglanz zu bringen. Dann beeilte er sich mit dem Saubermachen. Als Bernd vom Dienst kam, blieb ihnen nichts mehr zu tun. „Du bist ein Küchenwunder! Mutters Erziehung!“ sagte Bernd und klopfte ihm auf die Schulter. „Was machen wir nach dem Essen?“ Werner erzählte von der Einladung. Bernd wunderte sich. „Weißt du was? Ich komme mit!“ Sie aßen im Speiselokal des Wohnblocks. Es war nicht üblich in Mirny, das Mittagessen selbst zu kochen. Das Vorbereiten der Mahlzeiten stahl zuviel von der Zeit, die man sinnvoller verwenden konnte. Fünfzig Gerichte bot das Speiselokal zur Auswahl, für jeden Nationalitätengeschmack etwas. Wem das noch nicht zusagte, der konnte in den großen Hotels der Stadt spezielle Gerichte vorbestellen. Das Rathaus war ein großes schlichtes Gebäude aus Schaumbeton und Glas. Innen war es einladend farbenfroh ausgestaltet. Man hatte nicht das Gefühl, in einer Behörde zu sein. Läufer aus Kunstfasern dämpften die Schritte. Grünpflanzen zierten den weiten Aufgang und die breiten Gänge. Allenthalben hingen Gemälde und kunstvolle Wandteppiche, auch im Zimmer der Oberbürgermeisterin. Sie telefonierte, als die Männer eintraten. Einladend wies sie auf Sessel, die einen unsymmetrischen, niedrigen Tisch umstanden. Wie alle Betriebe und Behörden hatte sie ein Bildtelefon, das ihr erlaubte, bei telefonischen Besprechungen Akten oder Zeichnungen, Fotos oder Gegenstände optisch in die Besprechung einzubeziehen. Jetzt stritt sie sich mit einem Herrn in mittleren Jahren. Soweit Werner von seinem Sessel aus sehen konnte, handelte es sich um einen Südeuropäer. „Und ich sage dir: Damit bin ich nicht einverstanden! Diese Terminverschiebung ist nicht gerechtfertigt. Du denkst wohl, wir sitzen weit genug, um am ehesten...“ „So ist das nicht...“, widersprach der Unbekannte temperamentvoll. „Ihr lebt unter erschwerten Umständen, deshalb kommt ihr zuerst dran. Aber die Einrichtung wird nicht so schnell fertig, sie haben falsch geplant.“ „Hast du mal für Wind gesorgt?“ „Ja, ich habe geschrieben, telefoniert...“ „... telegrafiert, administriert - aber selbst warst du wohl nicht dort?“ unterbrach sie ihn lebhaft. „Ich bin enttäuscht von dir! Fahre hin und sprich mit der Belegschaft. Gib mir Bescheid - sonst komme ich selbst! Ein Krankenhaus ist schließlich kein Tanzlokal!“ Das sagte sie schroff und unduldsam. Dann schlug ihre Stimme plötzlich um. „Wie geht es dir? Was macht Gina? Und die Kinder? Du siehst nicht gut aus - hast du Ärger gehabt? Nur die Beleuchtung? Na gut, unterrichte mich, Petruccio - und enttäusche deine Mutter nicht, mein Junge!“ Dabei drohte sie scherzhaft mit erhobenem Zeigefinger. Sie legte auf, bestellte über die Rufanlage drei Mokka aus der Hausküche, begrüßte die Brüder, entschuldigte sich wegen des Gesprächs und entnahm den Mokka dem Speiseaufzug. „So, nun können wir uns in Ruhe unterhalten“, begann sie, fragte Bernd nach dem Stand der Revision, erkundigte sich, was Werner in Mirny gefalle und was nicht, flocht gelegentlich mit ein, daß ihr Gesprächspartner der zuständige Gesundheitsreferent beim Wirtschaftsrat und nebenbei ihr Sohn sei, und kam dann zum eigentlichen Grund ihrer Einladung. „Sie erzählten mir, Sie führen von hier nach Kuibyschew, um dort zu studieren?“ wandte sie sich an Werner. Werner nickte. Ob sie ihm etwas auftragen würde? „Heute vormittag, kurz bevor ich Sie anrief, besuchte mich eine Studentin aus Kuibyschew. Sie studiert Petrochemie oder die einschlägige Verfahrenstechnik, verbringt ihre Semesterferien hier und bat mich, ihr eine Genehmigung zum Besuch eines Bergwerkes und des Fusionskraftwerkes zu vermitteln.“ „Das wird...“, sagte Bernd. Sie unterbrach ihn lächelnd: „... nicht möglich sein, ich weiß doch. Aber ich empfahl ihr, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen!“ Bernd blickte sie verständnislos an. „Ihr Bruder wird in einer fremden Stadt studieren. Gewiß wird er sehr schnell Freunde gewinnen - aber wäre es nicht schön, wenn er schon vorher einen Menschen kennenlernt, der ihm helfen kann, sich schneller einzuleben?“ Bernd schmunzelte. Das war Mutter Cantinelli!
„Gut, Frau Oberbürgermeisterin, schicken Sie uns das Mädchen. Morgen kommt meine Braut... Sagen wir übermorgen? Übrigens werde ich ihr etwas entgegenkommen können. Ich habe gestern und heute im Auftrag meines neugierigen Bruders im Kraftwerk gefilmt!“
6 Die temperamentvolle Französin brachte ungewohntes Leben in Bernds Wohnung. Werner fragte sich, ob Bernd das auf die Dauer aushielte, stellte aber bald fest, daß der Bruder sich offensichtlich wohl dabei fühlte. Also stimmte es doch, daß Gegensätze sich anzogen? Madeleine gefiel ihm, wenn sie für seinen Geschmack auch etwas zu lebhaft war - aber schließlich wollte nicht er sie heiraten. Die Befangenheit, die er ihr gegenüber fühlte, als er sie noch nicht kannte, war in dem Augenblick gewichen, als sie vor ihm stand und ihm gewinnend die Hand entgegenstreckte: „Bon jour, Werner!“ Schauspielerinnen waren ihm immer leicht überspannt erschienen. Das mochte daran liegen, daß er im Estradenensemble mit jungen Schauspielerinnen zusammengekommen war, bei denen sich das Selbstbewußtsein schneller entwickelt hatte als ihre Leistungen und schließlich zur Überheblichkeit auswuchs. Man hatte sie als Paten dem Estradenensemble zugewiesen, zur Bewährung! Dort konnten sie ihre Kenntnisse vermitteln und wurden gleichzeitig erzogen. Madeleine war anders. Ihre selbstbewußte Natürlichkeit überraschte Werner. Er war sicher, sie würde ihn verständnislos ansehen, sagte er ihr das. Aber mußten großartige Künstler nicht auch großartige Menschen sein? War es nicht in der Kunst ebenso wie in allen anderen Berufen: Wer berufen war, besessen von seiner Arbeit, strebte der nicht nach immer höheren Leistungen, konnte der jemals mit sich zufrieden sein? War Überheblichkeit nicht Selbstzufriedenheit? Und Selbstzufriedenheit nicht Stagnation? Am Nachmittag schlenderten sie durch die Stadt, Madeleine zwischen ihnen eingehängt. Die Brüder überragten sie um Kopfeslänge. Madeleine betrachtete das Stadttheater genau. Bernd ließ sie gewähren, fragte aber doch, was sie heute so interessant daran finde, schließlich sehe sie es nicht zum erstenmal. Madeleine legte mit einer weichen Bewegung den Kopf in den Nacken, daß ihr langes Haar über die Schultern fiel, blinzelte ihn verschmitzt an und sagte: „Das nicht - aber zum erstenmal als baldige Arbeitsstätte.“ „Was?“ Bernd strahlte. „Ab nächsten Monat bin ich engagiert.“ „Aber wir wollten doch... du wolltest doch... ich meine...“ „Langsam, mon cheri... Ich wollte erst in der nächsten Spielzeit kommen - aber wer hält das aus? Der Intendant hatte Verständnis... Doch im Ernst, Lieber, wir haben ausgetauscht!“ Werner sah Bernds Freude. Plötzlich fühlte er sich einsam. Ob auch zu ihm einmal ein Mädchen sagen würde, sie halte es nicht aus ohne ihn? Lange hing er seinen Gedanken nach. Madeleine erzählte von Danger-Oase. Das fesselte ihn. Eine Stadt aus Glas - aber anders als Mirny! Die Häuser hohe Glaszylinder, untereinander durch gläserne Tunnels verbunden. Nur die Parks unter gläsernen Kuppeln. „Man fühlt sich eingeengter als hier, obwohl man praktisch die gleiche Bewegungsfreiheit hat“, sagte Madeleine. Am Abend war es schon so, als wäre Madeleine immer dagewesen. Nur die Blumen auf dem Tisch beim Abendbrot waren ungewohnt. Nach dem Essen sahen sie auf dem Bildschirm eine Reportage vom Bau des großen Mondobservatoriums. Gleiskettenkräne bewegten gewaltige Bauteile vom Landeplatz der Zubringerraketen zu einem Stollen und verschwanden im Berg. Werner vergaß in dieser fremden Welt seine Umgebung. Das Observatorium wurde auf einem kegeligen Felsen errichtet. Die mächtige Kuppel saß wie ein Hut auf dem Kegelstumpf. Am Fuße des Felsens öffnete sich ein großer Stollen, in den man das Baumaterial für den inneren Ausbau einbrachte. Unter dem Observatorium, im ausgehöhlten Felsen, wurde der Stützpunkt der Menschen errichtet. Wohn- und Arbeitsräume und ein großer Raum für die Hydroponik. In ihm baute man ein geräumiges Wasserbecken für die Algenkultur; das würde die Lunge des Stützpunktes werden. Es bedurfte nicht der erklärenden Worte des Sprechers. Im Gegenteil, Werner fragte sich fast ungehalten, für wen diese Erklärungen erforderlich seien. Das alles hatte er bereits in der Schule gelernt; die allgemeinen Erläuterungen verärgerten ihn. Dachte der Sprecher etwa, die Zuschauer hätten das Ziel der zwölften Klasse nicht erreicht? „So ein Quatschkopf!“ entfuhr es ihm. „Der soll lieber Details erklären.“ Bernd fragte verständnislos, weshalb er so ungehalten sei. Werner stellte fest, daß Bernd überhaupt nicht bei der Sache war. „Du denkst wohl, die Reportage ist nur für dich bestimmt?“ fragte Bernd, als Werner weiter schimpfte. „Du vergißt, daß nicht alle, zumindest nicht die Älteren, Astronautik als Lehrfach in der Schule hatten. Denk nur an die Länder, die erst in den letzten Jahrzehnten zum Sozialistischen Bund gekommen sind.“ „Na ja, aber was Hydroponik ist, müßte doch jeder wissen. Das gibt es ja schon seit vielen Jahrzehnten.“
„Aber doch nicht zur Sauerstofferzeugung“, begütigte Bernd und schüttelte den Kopf über Werners Ungeduld. „... Da den Mond keine Lufthülle umgibt, muß der Stützpunkt hermetisch verschlossen werden“, sagte der Sprecher. „Die Luft wird von der Erde importiert, dann aber ständig regeneriert. Hierzu wird sie von einem Ventilationssystem durch den Algenbehälter gepumpt. Die Algen benötigen die Kohlensäure der verbrauchten Luft und reichern sie dafür mit Sauerstoff an...“ Dann zeigte die Kamera, woher das Baumaterial kam. Eine große Rakete, eigens für diesen Zweck konstruiert, wurde zerlegt. Jetzt brachte der Sprecher Einzelheiten, die auch Werner interessierten. Er beugte sich vor und stützte das Kinn auf die Hände. „... Diese Raketen sind somit ein Kompromiß zwischen den Erfordernissen der Mondbautechnik und denen der astronautischen Raketentechnik. Deshalb wurden dieser Raketentyp und der Stützpunkt vom gleichen Kollektiv konstruiert. Vom Trägergerippe über die Außenhaut und die Inneneinrichtung bis zur technischen Anlage der Raketen wird alles zum Bau des Mondstützpunktes verwendet...“ Als der Sprecher jedoch erwähnte, daß die Raupenfahrzeuge mit Elektromotoren betrieben würden, weil für Verbrennungsmotoren der Sauerstoff der Lufthülle fehle, und daß auf dem Mond wegen der geringeren Schwerkaft alles nur ein Sechstel wiege, da war Werner wieder erbost. Das nannte man idiotensicher! „Mich würde interessieren, weshalb sie nicht mehr an die Kräne hängen, schließlich wiegt doch alles nur ein Sechstel“, knurrte er und lehnte sich im Sessel zurück. Bernd faßte das als Frage auf. „Weil auch die Kräne nur ein Sechstel wiegen, mein Lieber! Das Hebelarmgesetz und auch der Schwerpunkt haben beim Auslegen des Kranarmes die gleiche Bedeutung wie auf der Erde. Nur die Tragfähigkeit bei senkrechten Belastungen erhöht sich infolge der unveränderten Materialfestigkeit.“ Werner biß sich auf die Lippen. Wie konnte er das außer acht lassen! Er hatte die Erklärungen idiotensicher genannt - wie stand er nun da? Und das vor Madeleine! Er wartete noch etwas, damit sie nicht glaubten, er fühle sich blamiert. Dann erhob er sich, schützte Kopfschmerzen vor und zog sich zurück. Aber er lag noch lange wach. Er war mit sich und der Welt uneins. Woher kam nur diese Unruhe, diese gereizte Stimmung? Es trieb ihn umherzulaufen, aber er blieb liegen und wälzte sich nur herum. Er hätte schreien können, doch er preßte die Lippen aufeinander. Waren das die Nerven? Die Einsamkeit? War er einsam? Wenn er daran dachte, wie sich Bernd und Madeleine gegenübersaßen, sich zulächelten, wie sie den Kopf an seine Schulter legte, wenn sie glaubte, Werners Aufmerksamkeit sei vom Bildschirm gefangen. All diese kleinen Zärtlichkeiten, die dem Zusammengehörigkeitsgefühl entspringen... Wenn er sich vorstellte, daß sie sich jetzt umarmten...! Und er lag hier, allein... Zu ihm sagten Mädchen wie Evelyn, daß er von einem Extrem ins andere falle, unkritisch und unausgewogen, also unmännlich sei und wie ein kleines Kind an der Hand geführt werden müsse! Was für ein Leben war das... Am nächsten Morgen sah die Welt wieder freundlicher aus, wärmte ihn Madeleines Liebenswürdigkeit. Er verstieg sich sogar zu scherzhaft vorgebrachten, aber ernstgemeinten Komplimenten. Doch irgendwo hatten die bitteren Gedanken dieser Nacht einen giftigen Stachel eingegraben: Zweifel an sich selbst jene Unsicherheit, die oft zu betont selbstbewußtem Auftreten führt und von der Umwelt meist als Überheblichkeit gewertet wird. Wer konnte immer ergründen, ob sich hinter der unnahbaren Maske, hinter dem Überbetonen der eigenen Persönlichkeit ein unsicheres Menschenkind versteckte? Dem Besuch der sowjetischen Studentin sah er zwar neugierig, aber auch mit einer gewissen Skepsis entgegen. Dieses Mädchen würde für die nächsten Jahre zu seiner Umgebung gehören. Wie er sich heute gab, so würde sie ihn einschätzen. Er nahm sich vor, recht zurückhaltend und beherrscht zu sein, knapp und bestimmt zu antworten. In Gedanken zog er eine Mauer um sich, einen Schutzschild, hinter dem er sich verbergen konnte. Seine Neugier galt nicht dem Mädchen, sondern nur der Studentin. Während er früher in solchen Fällen wünschte, eine neue Bekanntschaft möge recht hübsch und zugänglich sein, kam ihm jetzt gar nicht der Gedanke daran. Es war ihm völlig gleichgültig. Ein zweitesmal stand ihm nicht der Sinn nach solchen Briefen... Überhaupt, für die nächsten Jahre hatten diese Dinge keinen Platz in ihm. Er mußte studieren, beweisen, was er wirklich wert war! Studieren und nicht poussieren! Nach dem Mittagessen, das sie in einem der großen Hotels einnahmen (Madeleine zu Ehren, es gab Austern!), baute er mit Bernd die Filmapparatur auf. Das war recht einfach. Ein Bandabspielgerät, das die magnetischen Ton- und Bildimpulse vom Band abnahm, wurde mit dem Fernsehapparat verbunden, beide Geräte wurden an die Steckdose angeschlossen, das Band zwischen den Magnetköpfen eingelegt, und schon war die Apparatur spielbereit. Bernd war beeindruckt. „Muß ich mir anschaffen, Werner. Klasse ist das! Kein Entwickeln. Fixieren, Trocknen, sofort spielfertig.. -“
„Da muß erst ein Student des vierten Semesters kommen, um dir moderne Filmtechnik vorzuführen. Wozu bist du eigentlich Doktoringenieur?“ zog ihn Werner auf. „Man merkt, du lebst auf dem Südpol!“ „Eine Schande, daß man Kinder damit spielen läßt, ehe man es reifen Menschen in die Hand gibt!“ gab Bernd trocken zurück. „Aber sag mal, wieso habe ich diese Kamera noch nie im Geschäft gesehen?“ „Ein Versuchsmuster, Bernd. Nullserie. Bekam meine Brigade anläßlich ihrer Auszeichnung. Wir sind doch jetzt ‚Brigade der vorbildlichen kommunistischen Arbeit'. Aber die Kamera wird in diesem Jahr in Großserie produziert und bald im Handel erscheinen. Die ersten Exemplare gehen doch immer an verdiente Kollektive!“ „Aha!“ erwiderte Bernd ironisch. „Entschuldige, so war es nicht gemeint. Ihr müßtet diese Erstfabrikate doch vor allen anderen bekommen.“ „Das wäre zum Auf-den-Mars-fliegen! Bist du nicht gescheit? Wenn wir von allen Neuentwicklungen die ersten Muster bekämen, müßten wir dauernd umräumen, uns jeden Tag umgewöhnen. Was meinst du, was so täglich Neues auf den Markt kommt. Mir würde vor jedem neuen Morgen grauen!“ Es klingelte. „Laß!“ wehrte Bernd, als Werner aufsprang, um zu öffnen. „Madeleine ist schon an der Tür.“ Sie hörten Stimmen. Begrüßung und Förmlichkeiten. Die Studentin. Dann lachten die Mädchen. Die Tür öffnete sich. Die Studentin war größer als Madeleine. „Natascha Baranowa“, sagte sie ohne jede Befangenheit. „Studentin des sechsten Semesters.“ Nataschas Händedruck war fest, fast männlich, ihr Auftreten von selbstverständlicher Sicherheit. Dabei war sie ein ausgesprochen fraulicher Typ. Sie setzten sich in die Sessel um den niedrigen Tisch. „Mich interessiert das Kraftwerk“, begann Natascha. „Ich weiß“, erwiderte Bernd liebenswürdig. „Aber ich kann Ihre Bitte nicht erfüllen. Es tut mir leid.“ Er erklärte ihr die Zusammenhänge. Werner nützte die Gelegenheit, Natascha zu mustern. Ohne innere Anteilnahme, weder angenehm berührt noch ablehnend. Einen Kommilitonen hätte er nicht anders betrachtet. Natascha hielt sich aufrecht, mit jener straffen Geschmeidigkeit, die der Sport verleiht. Doch das war nicht außergewöhnlich. Aufgefallen wären steife und eckige Bewegungen. Haltungsfehler waren selten, seit die Menschen von klein auf obligatorisch Sport trieben. Natascha war gut gewachsen, ihre Bewegungen flössen weich und anmutig. Das Gesicht offen, mit großen dunklen Augen, leicht betonten Backenknochen und energischem Kinn. Das alles stellte Werner fest, als stünde er vor einem schönen Bild, das man mit Freude betrachtet, ohne es besitzen zu wollen. Natürlich war es ihm angenehm, daß sie hübsch war, aber es war die Befriedigung eines Menschen, der sich gern mit schönen Dingen umgibt. „Schade, aber nicht zu ändern!“ sagte Natascha zu Bernd. Sie verbarg ihre Enttäuschung nicht. „Das Kraftwerk interessierte mich am meisten.“ Sie erhob sich aus dem Sessel. „Dann möchte ich Sie nicht länger...“ Doch Madeleine legte ihre Hand auf Nataschas Arm und drückte sie in den Sessel zurück. „Sie stören nicht, Natascha Baranowa. Bitte trinken Sie Kaffee mit uns.“ Ehe Natascha etwas erwidern konnte, fuhr Bernd lächelnd fort: „Ich bin ja noch gar nicht fertig! Mein Bruder ist genauso neugierig wie Sie - und durchaus nicht so bescheiden. Er drückte mir eine Filmkamera in die Hand und befahl unerbittlich: Filme dort unten! So fuhr ich mit der Kamera ein und filmte. Das Ergebnis wollen wir Ihnen vorführen.“ „Eine Uraufführung“, sagte Madeleine geheimnisvoll. „Spannend wie ein Kriminalfall - er weiß nämlich noch nicht, ob die Aufnahmen geworden sind!“ „Was soll da nicht geworden sein, Schwägerin?“ ließ sich Werner zum erstenmal vernehmen. Und zum erstenmal wandte sich Natascha zu ihm. Er sah in gute Augen. Ihm kam der Gedanke, daß sie ein prächtiger Kamerad sein müsse. Er ließ das Magnetband ablaufen. Aber so angestrengt er auch am Abspielgerät hantierte, auf dem Bildschirm flackerte es nur. und die Lautsprecher heulten gequält. Er stellte das Band ab. „Dein Fernseher...“, sagte er hilflos. „Und wenn es die Kamera ist? Der Fernseher ist in Ordnung!“ erwiderte Bernd peinlich berührt. „Falsch bedienen kann man die Kamera doch nicht... Man braucht nur die Auslösetaste zu drücken.“ Werner schaltete den Fernseher ein. Bild und Ton waren einwandfrei. Kurzerhand nahm er die Bandkassette vom Abspielgerät, schob sie in die Kamera und legte das Band ein. „Das ist doch das bespielte Band!“ sagte Bernd. „Du weißt doch vom Tonbandgerät, daß Neuaufnahmen die alten Aufnahmen löschen“, erwiderte Werner, trat zurück und nahm die drei am Tisch auf. Als er das Band abspielte, zeigte sich, daß die Kamera in Ordnung war. „Demnach lag es an mir - aber was kann ich falsch gemacht haben?“ fragte Bernd betroffen.
Natascha schien nicht enttäuscht. Sie interessierte sich für die Filmkamera, mit der man aufnehmen und sofort abspielen konnte. Gehört hatte sie schon davon. Werner öffnete die Kamera, legte sie in Nataschas Hand und erklärte ihr die Arbeitsweise. „Es handelt sich doch um ein Plasmakraftwerk?“ fragte sie unvermittelt und gab Werner die Kamera zurück. „Das Deuteriumgas wird als Plasma zum Faden verdichtet und im Magnetfeld festgehalten?“ „Allerdings...“, sagte Bernd verständnislos. „Und die Kamera zeichnet Bild und Ton magnetisch auf!“ erinnerte sie. Bernd schlug sich vor die Stirn. „Das ist es! Irgendwo muß ich mit einem Magnetfeld nähere Bekanntschaft gemacht haben. Zu dumm! Aber das läßt sich wieder gutmachen. Ich werde im nächsten Jahr, eher kommen wir nicht wieder hinein, einen neuen Film drehen und ihn meinem Bruder senden. Sie können ihn dann gemeinsam ansehen. Vielleicht mache ich auch eine Kopie, die Sie der Hochschule Kuibyschew zur Verfügung stellen können. Das Original geht doch zu deiner Brigade, Werner?“ Werner nickte. Natascha fand das offensichtlich sehr kompliziert. „Wenn Sie mich rechtzeitig verständigen würden - ich käme natürlich nach Deutschland“, sagte sie zu Werner. „Wenn ich in Deutschland wäre“, erwiderte Werner. „Aber dann wäre es für Sie einfacher, wenn ich Ihnen den Film schicken würde...“ „Aber das ist nicht so!“ fiel Bernd ein. „Mein Schwager studiert im nächsten Semester an Ihrer Hochschule!“ sagte Madeleine in die Pause, die Werner gelassen hatte. Werners Urlaub neigte sich dem Ende zu. Mit Bernd verband ihn nun ein herzliches, brüderliches Verhältnis, in das auch Madeleine einbezogen war. Werner hatte in seinem Bruder einen Menschen gefunden, der ihm nahestand, auf den er sich verlassen konnte. Der Abstand zwischen dem Großen und dem Kleinen war abgebaut. Madeleine verehrte er. Es mußte schön sein, einen solchen Menschen an seiner Seite zu wissen. Ihr Temperament störte ihn nicht mehr. Er freute sich für Bernd. Aber es war noch ein Mensch in sein Leben getreten. Natascha! Wie von selbst hatte sich ergeben, daß sie sich öfter sahen, zu viert und bald auch zu zweit ausgingen. Er hatte sich nicht in ihr getäuscht, sie war ein prächtiger Kamerad, offenherzig und unkompliziert. Sie gab sich, wie sie wirklich war, ohne jede Beschönigung, ohne jede Komödie. Ihr selbstsicheres Auftreten, ihr klares Wesen und ihre Geradlinigkeit nahmen ihn gefangen. Er fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart. Am meisten imponierte ihm, daß Natascha anscheinend keine Probleme kannte, die ihr Unbehagen einflößten. Unbekümmert schien sie ihren Weg zu gehen. Sie hatten verabredet, gemeinsam nach Kuibyschew zu fliegen und diese Reise einige Tage früher als geplant zu unternehmen. Natascha erbot sich, ihm Kuibyschew und das Kuibyschewer Meer zu zeigen, bevor das Semester begann. Der Abschied von Bernd und Madeleine war herzlich, aber für Werner doch nicht so ergreifend, wie er befürchtet hatte. Es mochte daran liegen, daß er nicht mehr alles zurückließ, was diese Urlaubswochen erfüllt hatte, daß Natascha eine Brücke schlug, einen Obergang in die neue Erlebniswelt, die ihn erwartete. Natascha erzählte ihm während des Fluges zum erstenmal von ihrer Kindheit. Sie war in einem staatlichen Kinderheim aufgewachsen. Ihre Mutter fiel, als Natascha das Laufen lernte, dem Krebs zum Opfer, kurz bevor die medizinische Wissenschaft jenes Mittel entdeckte, mit dem sie den Krebs sicher zu heilen vermochte. Der Vater stürzte zwei Jahre später während einer wissenschaftlichen Expedition im Himalaja-Gebirge ab. Natascha sprach mit Wärme vom Kinderheim, es schien, als habe sie ihr Elternhaus kaum vermißt. Die große Düsenmaschine war nur halb besetzt. Sie konnten sich ungestört unterhalten. Hinauszusehen lohnte sich kaum, denn sie flogen in zwanzigtausend Meter Höhe über dem Indischen Ozean. Als westlich die Südspitze Afrikas aufkam, verdeckte ein dichtes Wolkenfeld die Sicht. Auch Werner erzählte von daheim. Er bemühte sich, kühl und sachlich zu berichten, fürchtete er doch, Natascha könne schmerzlich erkennen, was sie mit ihren Eltern verloren hatte. Seine Eltern waren ihm auch heute noch die zuverlässigsten Kameraden, und würden sie es nicht immer bleiben? Die knapp neuntausend Kilometer bis Addis Abeba legte die Maschine in drei Stunden zurück. Beide waren überrascht, als die Stewardeß bat, sich zum Landen anzuschnallen. Wie schnell doch die Zeit verging, wenn man sich unterhielt. Die Maschine zog eine große Schleife über der Millionenstadt. Schneeweiße Hochhäuser leuchteten in der afrikanischen Sonne. Breite Straßen, von Palmenhainen gesäumt, durchzogen das Zentrum. „Schade, daß wir nur eine Viertelstunde Aufenthalt haben“, sagte Natascha. „Ich hätte mir die Stadt gern angesehen.“ „Ich auch“, sagte Werner. „Aber wir können doch mal zum Wochenende hierher kommen.“ Natascha warf ihm einen seltsamen Blick zu. Fragend, abschätzend und auch belustigt.
Werner wurde unsicher. Was war ihm nur eingefallen? Einen Wochenendausflug vorzuschlagen, als wären sie ein Liebespaar! Aber ihr sagen, daß er es nicht als Annäherungsversuch gemeint habe, daß er nur kameradschaftlich...? Das konnte er schlecht machen, es wäre, als sagte er: Sie sind mir als Frau völlig gleichgültig! Werner war froh, als die Maschine aufsetzte und das Hin und Her der Aussteigenden ihn der Antwort enthob. Als sie von Addis Abeba abflogen, war die Maschine voll bis auf den letzten Platz. Da sie sich am Fenster gegenübersaßen, waren die Plätze neben ihnen besetzt. An Werners Seite saß ein Inder, bei Natascha ein Europäer, Werner vermutete in ihm einen Engländer. Ihr Gespräch wurde einsilbig. Sich in Gegenwart Fremder über persönliche Dinge unterhalten, das mochte Werner nicht. Dafür knüpfte Nataschas Nachbar ein lebhaftes Gespräch mit ihr an, und es stellte sich sehr schnell heraus, daß er tatsächlich Engländer war. Werner verfolgte die Unterhaltung mit wachsendem Unbehagen. Er merkte die bewundernden Blicke des Briten und begann sich zu ärgern. Die Blicke des Mister Thompson, so hatte der Engländer sich vorgestellt, erschienen ihm begehrlich, die gewandten Umgangsformen aufdringlich, der elegante Anzug geckenhaft. Zu allem Überfluß war Mister Thompson Mitte der Dreißig und ihm, wie Werner glaubte, schon dem Alter nach überlegen. Er fürchtete, neben ihm nicht besonders abzuschneiden, ihm in keiner Hinsicht gewachsen zu sein. Jetzt vergingen die Minuten träge, dehnten sich zu Stunden, und Werner sehnte Moskau herbei, damit dieser Flug und diese Unterhaltung ein Ende hätten. Nur mühsam konnte er an sich halten. Um sich nicht bloßzustellen, lehnte er sich in die Ecke und stellte sich schlafend. Dabei verfolgte er hellwach jedes Wort. Er hörte die Stewardeß herantreten. „Herr Minister, ein Telegramm, bitte sehr!“ Ungläubig öffnete Werner die Augen. Mister Thompson hielt ein Telegrammformular in den Händen, las mit gekrauster Stirn und winkte der Stewardeß. Dann nahm er sein Notizbuch heraus, warf einige Zeilen auf ein Blatt, reichte es ihr und sagte halblaut: „Bitte Blitztelegramm an Wirtschaftsrat Prag!“ „Bitte sehr, Herr Minister!“ Die Stewardeß zog sich zurück, der Minister setzte die Unterhaltung mit Natascha fort. Werner atmete auf und sah Mister Thompson plötzlich in völlig anderem Licht. Seine Blicke waren nur freundlich, die Umgangsformen nur liebenswürdig, der Anzug wirklich elegant... Um sechs Uhr waren sie in Mirny gestartet. Zwölf Uhr dreißig landeten sie in Kuibyschew. Im Studentenwohnheim legten sie ihr Gepäck ab, dann aßen sie in einer Gaststätte. Am Nachmittag bummelten sie in ausgelassener Stimmung durch die Stadt. Natascha fühlte sich ganz daheim, und Werner war erleichtert. Seit Nataschas Unterhaltung mit Mister Thompson sah er sie mit anderen Augen. Nach dem gemeinsamen Abendbrot richtete er sich in seinem Zimmer ein. Es unterschied sich kaum von seinem Dresdner Zimmer. Da es jedoch mit einem Klappbett versehen war, das am Tage im Wandschrank verschwand, war es wohnlicher. Außerdem war es ein Einbettzimmer. Werner schaltete vergnügt das Radio an und packte seine Koffer aus. Dann stöberte er in der Handbücherei des Bücherschrankes, probierte die Sessel in der Leseecke, setzte sich an den Schreibtisch, warf sich übermütig auf die Liege und ging schließlich ins Bett. Sie wollten am nächsten Morgen zeitig aufstehen, das Schiff zum Stausee fuhr um sieben Uhr. Trotz des anstrengenden Tages lag Werner noch lange wach. Er überdachte die letzten Stunden. Es schien ihm unglaubhaft, am Morgen noch auf dem vereisten Kontinent gewesen zu sein, vormittags in Afrika, und nun in Europa, am Rande Asiens, ins Bett zu gehen.
Dann sann er über Natascha nach. Sein Mißmut, als sie mit Mister Thompson sprach, war - Eifersucht gewesen! Nackte, simple Eifersucht! Natascha war ihm also mehr als nur eine gute Kameradin. Diese Einsicht machte ihn nicht ruhiger. Teufel, das war eine Situation! Er wußte doch noch nicht einmal, ob sie einen Freund hatte. Sie sprach nicht darüber. Und wie stand sie zu ihm? Daß sie in Mirny mit ihm ausgegangen war, daß sie ihm Kuibyschew zeigte und mit ihm auf den Stausee hinausfahren wollte, das hatte wenig zu bedeuten. Er konnte ihr sympathisch sein, ohne ihr als Mann zu gefallen. Und als Mann gefallen mußte man einer Frau wohl, wollte man ihr näherkommen. Seit Evelyns Brief war er von seiner Männlichkeit nicht mehr überzeugt. Sie hatte ihn tiefer getroffen, als er sich selbst eingestand. Er fragte sich vergeblich, wie er sich in Nataschas Augen ausnahm, und kam zu keinem beruhigenden Ergebnis. Wenn er es recht bedachte, war Natascha zwar liebenswürdig, aber immer sachlich und unpersönlich gewesen. Er fand nichts in seiner Erinnerung, was er anders hätte deuten können. Im Gegenteil - ihr Blick, als ihm die Sache mit dem Wochenend in Afrika entfuhr... Zum anderen: Wäre es gut, wenn zwischen ihnen... Würde sie ihm nicht wieder eine Enttäuschung bringen?
7 „Nun, wie gefällt Ihnen mein Kuibyschew?“ fragte Natascha, seiner Zustimmung sicher, als sie an der Reling des Tragflächenschnellbootes standen, das sie nach Stawropol, etwa sechzig Kilometer flußaufwärts von Kuibyschew, tragen sollte, wo es in der Schleuse auf das Kuibyschewer Meer gehoben wurde. Werner blickte auf die Stadt, die beiderseits der Wolga an ihm vorüberflog, und sagte nachdenklich: „In meiner Sonntagslaune ausgezeichnet. Wie könnte sie mir nicht gefallen? Hier studieren zu können und...“ Er zögerte, setzte jedoch entschlossen hinzu: „Die Stadt, der ich unsere Bekanntschaft verdanke.“ „Danke!“ quittierte sie unverbindlich. „Ich habe viel gutzumachen!“ „Haben Sie gesündigt?“ fragte sie schelmisch und lachte ihn an. Er mußte in das Lachen einstimmen, wurde aber doch wieder nachdenklich. „So meine ich's nicht. Ich konnte mein Abitur machen, durfte zum Studium, wurde sogar hierher delegiert. Manchmal ist mir bange, ob ich all das Vertrauen und auch das in mich investierte Geld tatsächlich rechtfertigen kann.“ Natascha legte ihm die Hand auf den Arm. „Das kenne ich, Werner. Diese Bedenken haben wir mehr oder weniger alle. Sie sind ja auch der Ansporn für uns, die Wissenschaft in uns aufzunehmen und in eigene Erkenntnisse und Leistungen umzusetzen. Was triebe uns sonst, unser Studium plangerecht und mit guten Ergebnissen abzuschließen? Unser Gehalt läuft doch weiter! Was also sollte uns anspornen, wenn nicht das Bestreben, nicht zu enttäuschen? Und viel wissen ist doch die Krönung unseres Seins, viel wissen und leisten!“ Da Werner nicht antwortete, sagte sie bestimmt: „Schluß damit! Heute ist Urlaub! Kommen Sie mit aufs Oberdeck? Ich lasse mir gern den Fahrtwind um die Ohren blasen.“ Werner folgte ihr. Behende erklomm sie die breite Treppe. Als sie aus dem Windschatten des Aufgangs auf die kleine seitliche Kommandoplattform trat, faßte der Fahrtwind in ihren Mantel und wühlte in ihrem langen dichten Haar. Werner taumelte zurück, vom Schlag des Fahrtwindes getroffen. Sie lachte hell. „Siebzig Stundenkilometer - keine Kleinigkeit!“ rief sie in den Wind. Das Schnellboot hatte sich ganz aus dem Wasser gehoben und schoß über die Wolga dahin. Hinter ihm sprühte eine Wolke Wasserstaub. Schweigend trotzten sie dem Wind. Natascha mit lachendem Gesicht, Werner dagegen befangen. Er fand nicht mehr zur gelassenen Fröhlichkeit des gestrigen Nachmittags zurück. Selbst als er ihr im Gesellschaftsraum den Mantel abnahm, kam er sich ungeschickt und linkisch vor. Sie trug ein enges Kleid aus synthetischen Fasern, die wie Seide schillerten. Er wollte ihr sagen, wie gut es ihr stehe, aber es fehlte ihm an der Gewandtheit, dieses ehrliche Kompliment in die rechten Worte zu fassen. Nur zögernd kam ein Gespräch in Gang. Als er auf Nataschas Gesicht Unmutsfalten zu entdecken glaubte, wurde er noch unsicherer. Erst in der Schleuse gewann er sein Selbstvertrauen zurück. „Jetzt werden wir siebenundzwanzig Meter gehoben“, sagte Natascha. „In fünfzig Minuten sind wir auf dem Meer - dann geht es auf große Fahrt!“ „Und wohin fahren wir? Weshalb verraten Sie mir das Ziel nicht, Natascha?“ „Weil es eine Fahrt ins Blaue ist. Das Ziel wird erst verraten, wenn wir die Schleuse hinter uns haben.“ „Sie sind mein Reiseführer, daran ist nicht zu rütteln...“ „... und tragen die Verantwortung, wollten Sie sagen, stimmt's?“ fragte Natascha, um dann im Reiseführerton fortzusetzen: „Diese Schleuse gehört zum Kraftwerk Kuibyschew. Leistung zwei Komma eins Millionen Kilowatt bei zwanzig Aggregaten. Nur vier Personen halten in jeder Schicht den Koloß in Gang: ein Schichtleiter, ein Mechaniker, ein Schlosser und ein Elektriker. Gesteuert wird, wie bei allen Kraftwerken, zentral von einem Dispatcher, der in Moskau sitzt. Zu diesem Kraftwerk gehört ein Stausee, das sogenannte Kuibyschewer Meer, das wir zu befahren im Begriffe sind. Es wird von einem sechs Kilometer langen Staudamm verriegelt. In ihm stecken fünfundsechzig Millionen Kubikmeter Erde. Beim Bau wurden täglich neunzehntausend Kubikmeter Beton vergossen. Eingeweiht wurde das Werk 1958. Dieses Meer ist etwa fünfundvierzig Kilometer breit und sechshundert Kilometer lang...“ „... die wir natürlich nicht hinter uns bringen können, weil wir sonst heute nicht zurückkämen!“ Er ging auf ihren Ton ein. „Wäre das so schlimm?“ fragte sie hintergründig. „Im Gegenteil - zu schön!“ entfuhr es ihm. Der erwartete rügende Blick blieb aus. „Gibt es das?“ fragte sie. „Was?“ „Daß etwas zu schön ist?“ „Eine Redensart, entschuldigen Sie! Aber ich bin kein Sonntagskind!“ sagte er. Nataschas Augen blitzten übermütig. „Wir fahren nach Tscheboksary, hundertfünfzig Kilometer von Gorki entfernt!“ „Ich wußte gar nicht, daß Sie scherzen können“, sagte er mit gezwungener Heiterkeit und hoffte doch, es sei wahr. „Ich habe in Tscheboksary Zimmer bestellt. Ein Onkel von mir ist dort Objektleiter.“
In Werner stritten noch Unglaube und Freude. Als er endlich überzeugt war, wurde er aufgeräumt. Würde sie ihn mit dieser Zwei-Tage-Fahrt überrascht haben, wenn sie ihn nicht mochte? Früher hätte er sich bestimmt in diesem Augenblick Klarheit verschafft, aber selbst nach dieser Überraschung nagte Evelyns Brief noch so in ihm, daß er der Antwort nicht sicher war. Lieber hoffen und warten, als jetzt ein bedauerndes Nein zu hören, das womöglich allem ein Ende setzte. Das Schnellboot flog mit äußerster Kraft über das Wasser. Neunzig Kilometer mochte es in der Stunde zurücklegen. Das war so recht nach Werners Geschmack. In der Ferne zogen die Ufer vorbei, näherten sich dem Boot und traten wieder zurück. Westlich kamen Berge auf und schoben sich wie eine Kulisse vorüber. Sie lagen auf dem Oberdeck in Liegestühlen. Über ihnen wölbte sich ein Dach aus durchsichtigem Kunststoff. Die Sonne erklomm das Firmament und verstärkte ihre Wärme. Ganz leise vernahmen sie das Heulen der Gasturbine. Das Schnellboot war nur halb besetzt, etwa einhundert Passagiere waren an Bord, sie saßen in den Salons. Hier oben waren Natascha und Werner allein. Sie rekelte sich wohlig, verschränkte die Arme unter dem Kopf, legte ihre schlanken Beine übereinander und schloß die Lider. Ihre straffen Brüste hoben sich gleichmäßig. Ihr Atem ging ruhig. Werner glaubte, sie sei eingeschlafen, und versank ganz in der Bewunderung des Mädchens, das ihm reizvoller schien als alle, die er bisher kennengelernt hatte. Sie in den Armen zu halten! „Weshalb schweigen Sie?“ fragte Natascha plötzlich und riß Werner aus seinen Betrachtungen. „Ach, ich... ich dachte, Sie schlafen...“ „Schlafen? Ich genieße die Sonne, den Urlaub - und lausche Ihrer Stimme. Sie sprechen ausgezeichnet russisch, aber mit deutschem Akzent. Das ist ungewohnt, gefällt mir aber. Sprechen Sie weiter, Werner.“ Er schalt sich wegen seiner Befangenheit, die so gar nicht seinem Wesen entsprach, einen ausgewachsenen Trottel. Fehlte bloß noch, daß er an den Knöpfen abzählte: Sie liebt mich, sie liebt mich nicht... Noch konnte er dieses Mädchen erringen - benahm er sich aber weiter so töricht, würde ihm das kaum gelingen! Wenn er nur wüßte, ob sie einen Freund hatte... Er mühte sich, seine Beklemmung abzustreifen, sprach einige belanglose Sätze, wurde freier, als er sie lächeln sah, und sicherer, wenn sie nickte oder ihm zustimmte. Schließlich überkam ihn Übermut, eine Stimmung wie im Rausch, die ihn emportrug und bald so fesselnd plaudern ließ, daß Natascha sich aufrichtete. Er brachte das Gespräch auf seine Brigade, und da er die Augen offengehalten hatte und auf dem Gebiet der Polyesterherstellung Kenntnisse besaß, gewann er bei diesem Thema seine alte Sicherheit zurück und wußte einige spöttische Bemerkungen über sich selbst einzuflechten; so vergaßen sie die Umwelt und nahmen kaum wahr, wenn das Boot an einer der Landebrücken anlegte, die sich vor den Städten ins Meer hinausschoben. Dabei vergaß Werner nicht, welche Frage ihn am meisten bedrängte. Er lag wie ein Jäger auf der Lauer, der einen günstigen Augenblick abwartet, um seinen Schuß anzubringen. Jetzt, da er entschlossen war, sich Klarheit zu verschaffen, vermochte er seine im Grunde fröhliche Natur hervorzukehren und einige treffende Pointen anzubringen. Natascha entzündete sich an Werners Ausgelassenheit und verlor ihre Zurückhaltung, die sie bei aller Liebenswürdigkeit betont hatte und die ihm abweisend erschienen war. Sie wurde zum übermütigen Mädchen - Werner war von dieser Änderung hingerissen. Er sprach von seinem Dresdner Stubengenossen, erklärte ihr die Bedeutung des Ha jo und Ha noi und schilderte ihr, wie er ihn beim Wort genommen und durch den winterlichen Matsch getrieben hatte, „Aber Heino ließ sich nicht unterkriegen. Er stand zu seinem Wort. Ein guter Freund. Man konnte sich immer auf ihn verlassen.“ „Freunde, echte Freunde sind kostbar“, sagte sie. „Man muß sie hüten.“ Er mißverstand ihren unerwarteten Ernst. „Haben Sie keinen Freund?“ fragte er und verriet sich, indem er sich vorbeugte und seinen Blick an ihre Lippen hing. Sie zögerte mit der Antwort. In ihren Mundwinkeln lachte es. „Freunde habe ich viele, Werner, aber das wollten Sie doch gar nicht fragen! Ihnen brennt eine andere Frage auf der Zunge!“ Er wand sich verlegen, unentschlossen, wie er es sagen könne. „Zugegeben“, druckste er endlich. „Ich meinte mehr als Freund...“ „Liebster sagt man auf deutsch, nicht wahr?“ fragte sie in seiner Sprache. „Ja. Aber ich bin indiskret, entschuldigen Sie!“ Nun lachte Natascha hell und schüttelte den Kopf. „Sind alle Deutschen so unbeholfen? Wieso indiskret? Hätte ich einen Liebsten, weshalb sollte ich's verschweigen?“ „Sie haben nicht...?“ fragte er ungläubig. „Das ist doch nicht möglich! Sind denn alle Männer mit Blindheit geschlagen?“ „Einer nicht, scheint mir!“ erwiderte sie und blickte ihn offen an. „Doch der ist offensichtlich recht unbeholfen und vermag sich nicht vorzustellen, daß er einem Mädchen gefällt. Aber wir müssen zum Essen hinuntergehen.“ Damit erhob sie sich. Er half ihr in den Mantel, drehte sie an den Schultern um, sagte: „So unbeholfen bin ich nicht!“ und zog sie in seine Arme. „Ich sprach vom Essen, nicht vom Küssen!“ stellte sie fest, als sie sich von ihm löste.
In Tscheboksary wurden sie vom Onkel herzlich empfangen. Er war über Nataschas Begleiter keineswegs überrascht und übertrug, als Natascha Werner als ihren Freund vorstellte, seine Fürsorge auch auf Werner. Die Tante bezog ihn ebenfalls sofort in die Familie ein. Sie mußten Natascha sehr gern haben und wohl auch darauf vertrauen, daß sie sich gründlich überlegte, was sie tat. Was mochte Natascha ihnen am Telefon über ihn erzählt haben? Oder war er nicht der erste, den sie mitbrachte? Es war ein kleines, schon älteres Hotel, innen modernisiert, wobei man sich bemüht hatte, die unpersönliche Hotelatmosphäre zu vermeiden und bei allem Komfort eine gediegene Note zu erreichen, daß der Gast sich sofort heimisch fühle. Werners Zimmer lag zum Meer hinaus, in unmittelbarer Nähe der Anlegestelle. Trat er auf den Balkon, konnte er den Bootshafen überblicken, in dem Motorboote und Segeljachten des Städtischen Bootsverleihs und der Wassersportgemeinschaft nebeneinanderlagen. Vor dem Hotel dehnte sich der Strand mit seinem feinen Sand derart verlockend, daß Werner nicht widerstehen konnte. Bevor er sich in seinem Zimmer einrichtete, lief er hinunter und stürzte sich zu einem kurzen Bad in die Wellen. Doch Natascha sah ihn vom Fenster aus und folgte ihm. „Eigentlich wollte ich mich abkühlen!“ rief er ihr zu, als sie im Badeanzug über den Strand lief. „Aber wenn ich dich so sehe...“ „Sieh mal an, frech bist du gar nicht!“ rief sie zurück. „Jetzt bin ich gewarnt!“ Und als sie neben ihm schwamm, fügte sie hinzu: „Du hast wohl gedacht, du bekämst Schüttelfrost? Und hast mich trotzdem geküßt?“ Er schwamm auf sie zu. Doch sie tauchte unvermittelt. Strandwärts tauchte sie auf, kraulte das letzte Stück und lief über den Strand davon. Er holte sie erst vor dem Hotel ein. „Natascha, ich...“ „Pst! Schön brav sein - Onkel Wassja liebt kalte Duschen!“ Den Abend verbrachten sie mit Nataschas Verwandten. Onkel Wassja hatte eine Flasche alten Wein aus dem Keller geholt, von der er mit der Ehrfurcht des Kenners die Spinnweben entfernte. Jahrgang 1965, las Werner. Es stellte sich im Gespräch heraus, daß Onkel Wassja eigentlich Bergmann war, sich aber nach Ablauf.der zulässigen UntertageArbeitsjahre noch viel zu jung fühlte, um sich zur Ruhe zu setzen. „Mit vierzig Jahren Pension, stellen Sie sich das vor!“ sagte er lächelnd. „Da habe ich umgelernt und dieses Hotel am Wasser übernommen. Der Arzt hat zwar geschimpft, als ich ihm bei der Abschlußuntersuchung sagte, daß ich weiterarbeiten wolle. Ich bin auch um das halbe Jahr Erholungskur nicht herumgekommen. Die Ärztekommission hat mir kategorisch jede Vollbeschäftigung in der Industrie untersagt. Aber ich habe meinen Willen durchgesetzt! Schließlich vermittelte mir derselbe Arzt, der erst geschimpft hat, die Stelle in diesem Hotel. Günstiges Klima, sagte er, halber Erholungsaufenthalt. Dafür mußte ich ihm versprechen, mit Fünfzig endgültig Schluß zu machen! Mal sehen, vielleicht schule ich noch einmal um, Forstpfleger oder vielleicht auch Stauwärter an einem der vielen Staudämme der Wolga.“ „Müssen Sie denn den Arzt erst fragen?“ „Das ist ja das Dumme!“ knurrte Onkel Wassja. „Wir Bergleute stehen auch nach unserer Dienstzeit in ständiger Überwachung - zweimal im Jahr zur Untersuchung. Was das die Gesellschaft kostet! Ich bin doch gesund, habe ich gesagt. Was Sie der Gesellschaft gegeben haben! hat der Arzt im gleichen Ton erwidert und mich ein Hindernis der medizinischen Fürsorge genannt!“ Werner konnte sich gut vorstellen, daß dieser kräftige Mann sich in einem Wartezimmer fehl am Platze fühlte. Tante Valentina war klein und zierlich. Es belustigte Werner, wenn Natascha sie Tante nannte, man konnte beide für Schwestern halten. Bald kamen sie auf Nataschas Kindheit zu sprechen. Werner erfuhr, daß sie oft ihre Ferien bei Onkel Wassja und Tante Valentina verbracht hatte, die Natascha aber nicht zu sich genommen hatten, weil sie selbst sechs Kinder aufzogen und Natascha auch nie den Wunsch äußerte, aus dem Kinderheim genommen zu werden. Später entwickelte sich jedoch ein sehr inniges Verhältnis zwischen ihnen, und Natascha fühlte sich hier wie daheim. Das war auch der Grund, weshalb sie, die Leningraderin, sich in Kuibyschew immatrikulieren ließ. Natascha in dieser Umgebung zu sehen, unter Menschen, die ihr nahestanden und gewiß Einfluß auf ihr Wesen ausgeübt hatten: Es ergänzte das Bild, das er sich von ihr gemacht hatte, und verstärkte die Zusammengehörigkeit. Er war sicher, daß sie ihn niemals mit hierhergenommen und diesen Menschen, die sie spürbar liebte, als ihren Freund vorgestellt hätte, wenn sie ihn nicht mochte. Zudem war sie von einer Weichheit, die ihn verblüffte. Daß sie ihre Zuneigung nicht verhehlte, erfüllte ihn mit Stolz, zugleich aber auch mit leiser Besorgnis: Ob er wirklich ihrer Vorstellung entsprach, ob er sie nicht enttäuschte, wenn sie ihn näher kannte? Diese ihm ungewohnte Befangenheit war ihm unbehaglich, bewies ihm aber gleichzeitig, daß ihm mit Natascha etwas völlig Neues begegnete. Mit Evelyn war, bis auf den verteufelten Brief, alles viel einfacher gewesen - oder lag es an diesem Brief, daß er sich so
unvollkommen fühlte? Lag es an Nataschas Auftreten, daß er sich unterlegen fühlte? Ein heftiges Bestreben überkam ihn, ihre Achtung zu erringen. Ja, er träumte davon, daß sie bewundernd zu ihm aufsehe. Natascha allerdings gab ihm keine Veranlassung zu derartigen Gedanken. So gleichmäßig unpersönlich sie vorher gewesen war, so unverändert gleichmäßig war sie in ihrer Zuneigung. Sie kannte keine Launen und lachte hell, als er sie abends fragte, woher sie dieses Gleichgewicht habe. Sie saßen auf seinem Balkon, sahen hinaus auf das Meer, das im Mondlicht blitzende Reflexe versprühte, und lauschten auf das Klatschen der Wellen am Strand. „Gleichgewicht?“ „Na ja, man sagt doch, je schöner die Frauen, desto launenhafter ihr Wesen.“ „Bin ich denn schön?“ kam es aus dem Halbdunkel. Ihm war, als lache sie lautlos. , „Du bist schön - und das weißt du ganz genau!“ gab er zurück. „Das beruhigt mich“, sagte sie. Noch immer schien sie lautlos zu lachen. „Und nun vermißt du das launenhafte Auf und Ab, den Wechsel zwischen Anziehen und Abstoßen, zwischen Gewähren und Versagen, dieses kapriziöse Spiel mit der Gunst? Fürchtest du, daß Beständigkeit Langeweile mit sich bringt und jede Leidenschaft vermissen läßt?“ Das klang ironisch. Er widersprach lebhaft. „Unsinn, davon spreche ich nicht! Ich bin froh über diese Klarheit, Natascha - aber es ist...“ „Wie sagtest du heute? Zu schön, wie?“ spöttelte sie. „Wenn du so weitermachst, dann...“ „Was dann?“ Er küßte sie. Sie erwiderte den Kuß voller Leidenschaft, schob ihn dann von sich und sagte ohne jeden spöttischen Unterton: „Es ist keine Gleichgültigkeit, Werner! Aber Launen? Ich weiß nicht... Ist mir ein Mensch gleichgültig, dann heuchle ich keine Zuneigung, dazu bin ich mir zu schade. Aber liebe ich einen Menschen, dann spiele ich nicht mit ihm, dazu ist er mir zu schade. Wenn man liebt, wirklich liebt, wie könnte man dem geliebten Menschen durch Unklarheit schwere Stunden bereiten wollen? Mit Gefühlen spielt man nicht!“ Die Tage verliefen wieder wie gewohnt in Hörsälen und Laboratorien, angefüllt mit konzentrierter Arbeit. Werner fand sich schnell in das neue Kollektiv. Es war bunt zusammengesetzt, aus fast allen Nationen kamen die Kommilitonen. Er dachte noch lange an die gemeinsamen Urlaubstage. Zweimal wöchentlich traf er sich jetzt mit Natascha. Doch ihre Spaziergänge waren kurz, nur an Sonntagen blieben sie vom Morgen bis zum Abend zusammen und fuhren hinaus aus der Stadt, mit dem Dampfer oder mit einem Leihwagen. Sie waren auch unter den letzten Badegästen des Strandbades in der ausklingenden Saison. Werner hatte sich an den Gedanken gewöhnt, daß Natascha wirklich zu ihm gehöre, er begann jede Stunde bewußt zu erleben. Noch gab es Augenblicke, in denen er sie mit trunkenen Blicken betrachtete und es nicht zu fassen vermochte, daß er sie küssen und umarmen durfte, aber dann verschaffte er sich schnell Gewißheit und riß sie so ungestüm in seine Arme, daß sie ihn von sich schob: „Laß mich leben!“ War er allein, begann er sich auszumalen, wie das Leben mit Natascha würde, denn daß es noch ein Leben ohne sie geben könne, schien ihm unvorstellbar. Er sprach auch mit ihr darüber. „Du sprichst immer von Kindern?“ fragte sie bei einer solchen Gelegenheit. „Bist du am Ende ein Nimmersatt?“ „Und ob! Es können nicht genug sein, Natascha!“ „Etwas bescheidener stünde dir gut an.“ „Na ja, zwei, drei sollten es schon sein. Aber alles Mädchen, und alle wie du.“ „Darüber reden wir später, Lieber - erst wollen wir unser Studium abschließen, ja?“ Er schalt sich wegen seiner Verliebtheit närrisch und unmännlich, fand sein Betragen kindisch und nahm sich immer wieder vor, beherrschter aufzutreten. Jeden Tag überraschte er sich, wie er an Natascha dachte, statt dem Vortrag des Dozenten zu folgen. Trafen sie sich, war er Stunden vorher aufgeregt und blickte dauernd zur Uhr. Er war froh, allein auf dem Zimmer zu sein, denn vor einem Zimmergenossen hätte er seine Erregung kaum verbergen können. War er dann mit Natascha zusammen, verlor sich diese Aufregung bald. Je weiter das Studium vorrückte, desto ruhiger wurde er - bis ihn eines Tages ein Zwischenfall erneut durcheinanderbrachte. Er saß mit einigen Kommilitonen im Lesezimmer der Bibliothek und schrieb Auszüge aus einem wissenschaftlichen Buch, als ein Student das Zimmer betrat, der von einer längeren Kur zurückkehrte und von der Runde lärmend begrüßt wurde. Nur Werner kannte ihn noch nicht. Sie machten ihn mit dem Hinzugekommenen bekannt. „Wie geht's euch?“ fragte der Student nach der Begrüßung, erkundigte sich nach den Professoren und fragte dann: „Und was macht der Schwärm des Semesters, die schöne Natascha? Noch immer so spröde? Hat Kolja mal geschrieben? Der Arme hat es nicht verwinden können...“ Er übersah die warnenden Blicke der Runde, bemerkte auch nicht Werners unwillige Miene. „War ja auch ein toller Verlust für ihn. Wie wir ihn beneidet hatten - aber da sieht man's, je höher einer steigt, desto tiefer kann er fallen. War schließlich auch kein Wunder, er war ihr doch in keiner Hinsicht gewachsen. Der muß man imponieren!
Hat ein verdammt kluges Köpfchen, das Mädchen. Und Beine wie die Venus von Medici, und Brüste - oi, da möchte ich...“ In Werner kochte Zorn, daß er sich nur schwer zu zügeln vermochte. Aber einer seiner Kommilitonen hatte die Situation erfaßt und sagte, ehe Werner aufspringen konnte, unerwartet scharf: „Laß das gefälligst!“ Der Student stutzte, blickte verstört in die Runde, sah Werners Augen und seinen verkniffenen Mund, erkannte offensichtlich, was er angerichtet hatte, murmelte: „So war's doch nicht gemeint!“ und verdrückte sich. „Nimm's nicht tragisch, Werner! Ist ein Luftikus - aber er meint es nicht so“, sagte Kirik, der Leiter des Lernaktivs, ein Sibirier mit den Augen eines Jägers und dem Gang eines Waldläufers. „Er ist selbst bei Natascha abgeblitzt. Und das mit Kolja... Natascha ist ein feiner Kerl und unbedingt zuverlässig. Daß sie von vielen verehrt wird, ist kein Wunder und nicht ihre Schuld. Sie ist wirklich eine der besten Studentinnen, hat auch schon einige Forschungsaufgaben gelöst. Sie hat also ein Recht darauf, geistige Ansprüche zu stellen. Denen war Kolja nicht gewachsen. Daß es allerdings zum Bruch kam, hatte einen anderen Grund: Er begann sich andeutungsweise mit Dingen zu brüsten, die ausschließlich Sache der beiden Beteiligten sind und die jeder Außenstehende von selbst als natürlich voraussetzt. Natascha hörte einmal durch Zufall seine Protzerei, ging auf ihn zu und ohrfeigte ihn in aller Öffentlichkeit.“ „Das war ein Auftritt!“ fiel ein anderer ein. „Eiskalte Verachtung, keinerlei Erregung! Nur bleich war sie. Weder Verlegenheit noch Scham. Aber Stolz! Das werde ich nie vergessen. Selbst ihre Ohrfeigen waren exakt. Sie stand da wie die personifizierte Gerechtigkeit...“ „Und dann wandte sie sich an die Umstehenden“, fuhr Kirik fort. „Sie sah von einem zum anderen: Diese Ohrfeigen waren auch für euch bestimmt! sagte sie, Wer sich diese Indiskretionen sensationslüstern anhört, ist nicht viel besser! Eure Einstellung zur Frau - pfui Teufel! Dann ging sie, stolz, mit erhobenem Kopf, hinter sich zertrümmerte Männlichkeit in betretenem Schweigen.“ In Werner brannte ein Stachel. Er mußte mit sich allein sein. Schweigend raffte er seine Bücher zusammen und verließ die Bibliothek. Am Ufer der Wolga, auf einer Bank der Strandpromenade, fand er sich wieder. Daß Natascha in den Armen eines anderen gelegen hatte, wühlte in ihm. Jetzt erst wirkte, was er längst wußte, denn jetzt war greifbar, was bisher schemenhaft geblieben war: Ein anderer hatte sie vor ihm besessen! Bisher war dieser andere für ihn anonym gewesen, jetzt hatte er einen Namen: Kolja! Jetzt vermochte er sich diesen anderen, den er nie gesehen, vorzustellen, er bekam Gestalt. Jetzt sah er ihn vor sich - und Natascha in seinen Armen... Ihn hatte sie genauso heiß geküßt und genauso leidenschaftlich... Ihm hatte sie die gleichen kecken Vertraulichkeiten zugeflüstert... Und jeder an der Hochschule wußte es. Das schmerzte. Ein Nachfolger bin ich, Ersatz! dachte er bitter. Diese ersten Aufwallungen gingen vorüber. Er wurde ruhiger. Wie ausgebrannt. Er starrte vor sich hin. Lange saß er so, fröstelnd und einsam. Schließlich raffte er sich auf und ging heimwärts, ohne einen Blick auf die herbstliche Farbenpracht ringsum. Erst am Heim wurde er aufmerksam. Natascha wohnte in einem anderen Flügel des großen Gebäudes, dennoch fürchtete er, ihr zu begegnen. Er konnte sie jetzt nicht sehen, erst mußte er mit sich selbst ins reine kommen. In seinem Zimmer warf er sich in einen Sessel. Die Vernunft kam zurück. Er begann die Fakten nüchterner zu betrachten, zu wägen und mit sich selbst ins Gericht zu gehen. Was war geschehen? Natascha hatte vor ihm einen anderen geliebt. Das hatte er gewußt. Sie war bloßgestellt worden, hatte recht nachhaltige Konsequenzen gezogen und sich erhöhte Achtung errungen! Immerhin, die anderen standen ihr nicht so nahe. Mit welchem Recht erwartete er eigentlich, daß Natascha ihr Leben bisher ohne Liebe verbracht haben sollte? Hatte er nicht Marcella, Evelyn, hatte er nicht andere Mädchen geliebt? Überhaupt - war Liebe ein Recht? Oder war sie vor allem Bemühen, den anderen zu beglücken? Was für ein Egoist war er doch! Für sich nahm er das Recht auf schöne Erinnerungen in Anspruch, und ihr wollte er sie verdenken? Kam es auf das Vorher an oder auf die Gegenwart? War der Partner ein Gegenstand, den man „besitzt“? Nur einen Gegenstand konnte man als gebraucht oder benutzt betrachten, wenn ihn schon andere „besessen“ hatten. Wurde die Einmaligkeit einer Liebe nicht von der Größe des Empfindens für den anderen bestimmt? Pfui Teufel, was für ein Spießer war er! Es gab in der Liebe nur ein Recht: die Aufrichtigkeit des Empfindens; nur eine Pflicht: nicht zu heucheln. Waren etwa ihre Küsse für ihn nun weniger köstlich, liebte er sie nicht mehr so wie vorher? Glaubte er etwa, sie heuchelte, wenn sie in seinen Armen lag? Mußte er nicht stolz sein, daß sie - in ihren Gefühlen so bitter getäuscht - ihm soviel Vertrauen schenkte? Ihr Verhalten damals - war das nicht großartig? Zeigte es nicht, wie tief sie empfand, wenn sie liebte? Werner schämte sich vor sich selbst. Als er am nächsten Abend Natascha traf, war er
besonders liebevoll. Er fragte sie nicht nach Kolja. Er ging mit ihr zu jener Bank am Wolga-Ufer, auf der er am Tage vorher gegrübelt hatte, und brachte dort das Gespräch auf die Liebe und darauf, daß man meist schon andere Menschen liebte, bevor man den richtigen Partner findet. Natascha hörte schweigend zu, als er jedoch von seiner Vergangenheit berichten wollte, schnitt sie ihm das Wort ab. „Du willst doch nicht etwa eine Beichte ablegen?“ fragte sie belustigt. „Hör mal, daß du schon andere Mädchen hattest, war mir klar. Wäre ja auch schlimm in deinem Alter. Ich müßte doch sonst glauben, ich hätte einen absonderlichen Geschmack. Ist man nicht ein wenig stolz, wenn man weiß, daß der Geliebte auch anderen gefällt?“ Er ging nicht auf den leichten Ton ein. „Du hast ein Recht darauf, Natascha.“ „Unsinn, Werner“, widersprach sie nachdrücklich. „Was du früher erlebtest, ist ausschließlich deine Angelegenheit. Die Hingabe, die du empfingst, war ausschließlich für dich bestimmt. Würdest du einen Brief von mir einer anderen zeigen? Na siehst du! Es gibt nichts so Persönliches wie die Hingabe.“ „Davon will ich nichts erzählen, aber du hast ein Recht zu wissen, daß ich vor dir...“ „Hör auf damit!“ sagte sie ungeduldig und legte ihm die Hand auf den Arm. „Aber versteh doch, Natascha: Die Gleichberechtigung ist die Wurzel der Liebe...“ Sie schüttelte den Kopf. „Was hat das damit zu tun?“ „Ich weiß von Kolja... Man hat mir's erzählt.“ Natascha griff in seine Haare. „Was bist du für ein Kindskopf! Deshalb brauchst du mir keine Beichte abzulegen. Kolja war... ich habe ihn zu spät erkannt. Aber nun Schluß davon. Sprechen wir von uns... Oder sagen wir's uns lieber anders - falls du noch küssen kannst!“ Werner konnte sich dem Gefühl nicht entziehen, vor sich selbst bei dieser Unterredung schlecht abgeschnitten zu haben. Je öfter er darüber nachdachte, desto tiefer gruben sich die Worte seiner Kommilitonen ein: Sie ist eine der besten Studentinnen und hat schon einige Forschungsaufgaben gelöst. Sie hat ein Recht darauf, geistige Ansprüche zu stellen. Und: Der muß man imponieren! Imponierte er Natascha? Forschungsaufgaben hatte sie gelöst. Forschungsaufgaben! Im fünften Semester! Er war jetzt auch im fünften Semester, aber hatten sie schon Forschungsaufgaben bekommen? Nicht eine! Und Natascha war ihm sowieso schon um zwei Semester voraus. Er mußte vor ihr bestehen! Bald gehörte er auch hier zu den Besten seines Semesters. Und im sechsten Semester hatte er sich endgültig an die Spitze gesetzt. Der Lohn blieb nicht aus. Kurz vor den Semesterferien wurde er zu einem Laborversuch hinzugezogen und erhielt eine selbständige Teilaufgabe, gemeinsam mit Kirik. Diese Aufgabe sollte sich über das gesamte siebente Semester hinziehen. Bei Kuibyschew befand sich nicht nur der riesige See, das Kuibyschewer Meer, hier lag auch ein gewaltiges Erdölgebiet, das größte der Sowjetunion. Ihm entsprang die Erdölleitung, die das flüssige Gold nach Polen, Ungarn, in die CSSR und nach Deutschland brachte. In Kuibyschew gab es neben Maschinenfabriken und erdölverarbeitenden Betrieben ein großes Chemisches Kombinat, in dem künstlicher Kautschuk und viele andere Produkte aus den Rohstoffen gewonnen wurden, die dem Erdöl und dem Erdgas entspringen. Gemeinsam mit diesem Kombinat suchte die Hochschule nach neuen Verarbeitungsverfahren und neuen Produkten. Diese praktische Arbeit war eine wertvolle Ergänzung des Studiums und diente der Vertiefung gewonnener Erkenntnisse, wie ja das gesamte Studium eng mit der Praxis verbunden war. Bis zu den Ferien trafen sie die Vorbereitungen, um im neuen Semester sofort mit der Arbeit beginnen zu können. Einen Teil der Ferien verbrachte Werner im Chemischen Kombinat von Kuibyschew, um sein Wissen zu verbreitern und praktische Erfahrungen für die Versuche zu sammeln. Da seine Studienergebnisse nichts zu wünschen übrigließen, hatte seine Brigade dem Wunsch, in Kuibyschew zu bleiben, ohne Bedenken zugestimmt. Die restlichen freien Tage verbrachte Werner mit Natascha. Das Bewußtsein, bald beweisen zu können, was in ihm steckte, hatte ihm sein Selbstvertrauen zurückgegeben. Sein Auftreten war sicherer und bestimmter. Sie flogen nicht nach Addis Abeba, obwohl einer solchen Reise nichts im Wege gestanden hätte. Sie blieben im Gebiet Moskau-Ural-Donezbecken. Werner legte ein Tagebuch an, und die Seiten füllten sich mit Städtenamen, mit denen sich Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse verbanden. Gorki, Kasan, Tschistopol und die Geburtsstadt Lenins, Uljanowsk, während des Semesters an sonnigen Wochenenden bereits besucht, wurden für das Tagebuch neu entdeckt. Zwischendurch überprüften sie bei Nataschas Onkel die Magnetbandfilmaufnahmen, die Werner für seine Brigade gemacht hatte. Als Abschluß dieser Ferien planten sie eine Reise wolgaabwärts, denn Werner wollte Saratow kennenlernen. Zwar fiel ihm auf, daß Natascha und ihr Onkel sich einen schnellen Blick zuwarfen, wenn die Sprache auf diese Reise kam, und auch Tante Valentina lächelte verhalten, aber er maß dem keine Bedeutung bei. Erst am Tag vor der Abreise, als sie ihre kleinen Koffer packten, wurde er aufmerksam. Er überraschte Natascha, als sie einen dritten Koffer ausschließlich mit Magnetbändern füllte. Sie schien erschrocken, als er plötzlich hinter ihr stand. „Was wollen wir mit den vielen Bändern, Natascha? Soll ich die alle in Saratow verkurbeln? Sieht aus, als wollten wir eine Marsexpedition unternehmen!“
„Ach, weißt du“, begann sie stockend, „man kann nie zuviel davon haben. Lieber bringen wir unbespielte Bänder zurück, als daß wir uns interessante Aufnahmen entgehen lassen.“ „Wer soll das schleppen, Mädel?“ „Du natürlich“, sagte sie und lachte. „Du bist das deiner Brigade schuldig!“ Nataschas Verhalten irritierte ihn. „Na, wenn du meinst...?“ „Ich meine!“ „Aber wo hast du die Bänder her?“ Er war erstaunt. Seine Bänder hatte er sich aus Deutschland schicken lassen, vor Monaten schon. Inzwischen waren seine Reserven fast aufgebraucht. Nun füllte sie einen ganzen Koffer damit, als gäbe es diese Bänder bereits in jedem Geschäft. „Du bist ein Nachtwandler! Seit einigen Monaten gibt es Bänder und Kameras in Kuibyschew - wo hast du nur deine Augen?“ „Bei dir, wo sonst? Wie sollte ich Augen für die Schaufenster haben, wenn du bei mir bist?“ fragte er. „Du bist ein hemmungsloser Schmeichler!“ „Na hör mal. Trägst ein hautenges Sommerkleid - für mich als Blickfang! Und beschwerst dich, wenn ich wie die Fliege auf den Leim gehe!“ „Jetzt aber raus, du...!“ Er flüchtete lachend. Irgend etwas stimmte nicht, darüber war er sich klar. Aber was ihm Natascha verbarg, dahinter kam er nicht. Am nächsten Morgen schleppte er ergeben die Koffer zur Anlegestelle. Kurz vor dem Aufgang bog Natascha zum Bootshafen ab. Jetzt wurde Onkel Wassjas geheimnisvolles „Grüßt das Meer von mir!“ noch unverständlicher. Das Kuibyschewer Meer lag vor ihnen, sie gingen ja am Strand entlang. Meinte er den Wolgograder Stausee? Aber er sprach doch sonst nur von Seen? Oder war das alles ein Scherz? Blieben sie hier? Was bedeutete das? Natascha steuerte auf den Bootshafen zu. Werner schwieg, obwohl es ihm schwerfiel. Das Schnellboot vom Linienverkehr war in der Ferne schon zu sehen, es hatte nur fünfzehn Minuten Aufenthalt und fuhr dann zurück nach Kasan. Am Bootshafen empfing sie ein jüngerer Mann. Natascha stellte ihn als den Vorsitzenden der Wassersportgemeinschaft vor. Sie kannte ihn, wie Werner im Gespräch erfuhr, schon seit Jahren. Das war nicht ungewöhnlich, schließlich hatte Natascha ihre Ferien immer hier verbracht. Aber daß Natascha Mitglied der Sportgemeinschaft war, das verblüffte Werner. „Seit wann denn?“ entfuhr es ihm. „Schon lange.“ Die Sirene des Schnellbootes heulte langgezogen. „Das Schiff!“ mahnte Werner. „Mit dem fahren wir nicht!“ erwiderte sie. Der Vorsitzende musterte beide verständnislos. Natascha zwinkerte ihm zu. „Er weiß noch nichts.“ „Das hast du fertiggebracht?“ fragte der Vorsitzende. „Dein Kind verleugnet?“ Werner stutzte. Kind? Aber hier war er doch im Bootshafen, nicht im Kindergarten! Indessen ging Natascha voraus auf einen Schuppen zu, von dem sich eine Betonbahn sanft ins Wasser neigte. Sie öffnete die großen Schiebetore. Ein Luftkissenfahrzeug! „Eigenbau!“ sagte der Vorsitzende stolz. „Natascha hat wesentlichen Anteil.“ Sie wehrte ab. „Meine Überraschung, Werner! Das Fahrzeug ist bisher nur auf dem Kuibyschewer Stausee erprobt worden, wir machen die erste große Reise damit!“ Werner kannte Luftkissenfahrzeuge. Sie preßten mit Kompressoren ein Luftpolster unter sich, das sie über den Boden oder die Wasserfläche hob, und glitten darauf entlang, von Propeller- oder Düsentriebwerken geschoben. Da sie größere Lasten mit geringerem Bau- und Leistungsaufwand als Flugzeuge und mit höheren Geschwindigkeiten als Schiffe befördern konnten, wurden sie als Schnelltransporter eingesetzt. Sie trugen hundert bis zweihundert Tonnen bei Geschwindigkeiten von rund zweihundert Kilometern in der Stunde. Allerdings benötigten sie breite „Fahrbahnen“, weil sie nur mit „Luftstrahlen“ gelenkt und gebremst werden konnten und deshalb nicht so manövrierfähig wie Straßenfahrzeuge waren. Deshalb eigneten sie sich nicht für Straßen und wurden vornehmlich auf Seen, breiten Flußläufen und in ebenen Wüstengegenden eingesetzt. „Wie weit fahrt ihr heute?“ fragte der Vorsitzende. „Bis Saratow. Auf dem See können wir dreihundert Stundenkilometer herausholen, also müßten wir die rund neunhundertfünfzig Kilometer in knapp vier Stunden schaffen.“ „Dreh auf dem Fluß nicht gar so auf!“ mahnte der Vorsitzende. „Keine Angst!“ erwiderte Natascha. „Wir können also in Saratow Mittag essen, nachmittags die Stadt besuchen, und morgen“, sie blickte Werner spitzbübisch an, „morgen fahren wir durch bis zur Krim.“ „Du willst... wir wollen...?“ stotterte Werner überrascht. „Nach Sewastopol, allerdings!“
„Aber die vielen Schleusen?“ „Wir brauchen nicht durch die Schleusen. Entsinnst du dich der breiten Betonstreifen, die sich vor der Schleuse flach aus dem Wasser heben, die Schleuse umgehen und sich wieder flach ins Wasser senken? Darauf umfahren wir die Schleusenkammern. Aber nun Schluß mit der Fragerei!“ Sie trat zu einem Schalter an der Seitenwand der Bootshalle und betätigte ihn. Das Fahrzeug rollte auf einem flachen Wagen aus der Halle. „Starte am besten gleich auf dem Wasser, es gibt sonst wieder soviel Staub“, empfahl der Vorsitzende. Natascha ließ das Fahrzeug auf dem Betonstreifen halten. „Einverstanden. Aber ich möchte Werner erst noch erklären, worauf er sich einläßt, wenn er sich diesem Untersatz anvertraut.“ Das Fahrzeug hatte einen dreieckigen, abgerundeten Grundkörper und ähnelte der Deltaform schwanzloser Flugzeuge. Die Aufbauten waren stromlinienförmig dem dreieckigen Unterbau angepaßt und endeten in einem doppelten Seitenleitwerk, das die Flugzeugähnlichkeit verstärkte und für Werner ebenso neu war wie die Dreieckform des Fahrzeugs. „Unser Flitzer arbeitet mit drei Kompressoren, die gleichmäßig auf die Ecken verteilt sind und das tragende Luftpolster für die niederen Geschwindigkeiten schaffen. Der Grundkörper ist so ausgebildet, daß er sich dieses Polster bei hoher Geschwindigkeit selbst schafft. Er hat also einen gewissen Auftrieb, der ihn etwa vierzig Zentimeter über dem Wasser hält. In diesem Falle sind die unteren Austrittsdüsen der Kompressoren verschlossen, ihr Strahl wird umgelenkt und wirkt als zusätzlicher Antrieb. Der Hauptantrieb erfolgt in der üblichen Weise durch das Düsentriebwerk auf den Aufbauten. Im Notfall, um Havarien zu vermeiden, kann man niedrige Schiffe überspringen...“ „Untersteh dich!“ fiel der Vorsitzende erschrocken ein. „Du weißt genau, daß wir nur die ersten Hüpfer versucht haben!“ „Aber erklären darf ich's doch mit?“ fragte Natascha erheitert. „Glaubst du, ich hätte Lust, auf dem Oberdeck eines Schiffes zu landen? Doch weiter mit der Vorstellung: Die Ausstellflächen bremsen wie Flugzeuglandeklappen. Mit ihnen, einem sehr starken Bremstriebwerk und einem neuen Treibanker kommen wir schnell zum Stehen. Neben dem Leitwerk und den bekannten Lenkdüsen haben wir noch ein ausfahrbares Seitenruder, das wir ins Wasser tauchen können. Dadurch ist das Fahrzeug wendig genug, um auf breiten Flußläufen mit hoher Geschwindigkeit zu fahren und Hindernissen rechtzeitig auszuweichen.“ „Bißchen viel auf einmal!“ meinte Werner. „Lohnen sich denn diese kleinen Dinger?“ „Versuchsfahrzeug! Wir arbeiten eng mit dem Entwicklungsinstitut für Luftkissenfahrzeuge zusammen“, sagte der Vorsitzende. Natascha lachte. „So eng, daß unser Vorsitzender aus diesem Institut kommt.“ „Eine Frage noch: Womit treibt ihr die Kompressoren an?“ „Kreiskolbenmotoren. Sie laufen mit Heizöl. Aber komm, steig ein!“ mahnte Natascha. „Wir wollen doch in Saratow Mittag essen!“ Werner half Natascha auf den flachen Unterbau, hob die Koffer hinauf und folgte ihr. Sie öffnete die Kabinentür und trat in den Fahrstand, während Werner in der Kabine die Koffer abstellte. Der Raum war mit allem gewohnten Komfort großer Bootskajüten ausgestattet. Eine Polsterecke mit Tisch, Wandschränke, Rundfunkgerät, Kochnische. Hinter einem Vorhang Klappbetten. Die Kabine war durch eine Schiebetür vom Fahrstand getrennt. Werner trat zu Natascha. „Richtige Betten gibt es hier, ich dachte schon, wir schlafen auf Luftpolstern!“ raunte er ihr ins Ohr. „Ich warne dich - noch kannst du die Fahrt abblasen!“ „Ich freß dich! sagte die Maus zur Katze und zitterte vor Angst am ganzen Leib!“ gab sie ebenso leise zurück. „Na warte!“ „Bis Saratow!“ erwiderte sie und beugte sich aus der Kabine. „Fertig!“ rief sie dem Vorsitzenden zu. Der ließ das Fahrzeug ins Wasser rollen und winkte. „Gute Fahrt!“ Natascha schaltete die Kompressoren ein, rückte den Fahrhebel auf „Langsames Gleiten“ und gab Gas. Die Motoren liefen an, die Kompressoren heulten auf. Es begann zu rauschen. Das Fahrzeug hob sich über die Wasserfläche. Der Luftstrom peitschte die kleinen Wellen nieder. Obwohl das Strahltriebwerk noch nicht lief, schob sich das Fahrzeug langsam aus dem Hafen. Werner setzte sich in den zweiten Sessel neben Natascha. „Wieso gleiten wir?“ fragte er verwundert. „Das ist ein Teil der Luft aus den Polsterkompressoren. Sie wird abgezweigt und tritt nach hinten aus“, sagte Natascha und steuerte auf den See hinaus. In ausreichender Entfernung vom Land schwenkte sie in ihre Reiserichtung ein und startete das Düsentriebwerk. Es donnerte und ging in ein hohes Pfeifen über. Werner sprang auf und schloß die Tür. Nun war das Geräusch erträglich. Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung, beschleunigte schnell und raste bald mit doppelter D-Zug-Geschwindigkeit über den See. Und noch immer beschleunigte es.
In der Ferne tauchte das Tragflächenschnellboot auf, das seine Rückreise bereits angetreten hatte. Es wurde zusehends größer und lag bald hinter ihnen. Ein anderes Schnellboot kam auf sie zu; diese Begegnung verstärkte den Eindruck der hohen Geschwindigkeit. „Das ist ja toll!“ rief Werner begeistert und sah gebannt voraus, wo schon Kasan zu sehen war. „Aber was machst du nachts oder bei plötzlichem Nebel?“ Er fuhr zusammen. Eine lautstarke Sirene heulte auf. Als sie verklungen war, sagte Natascha: „Das! Und dort ist ein Radarschirm. Für nachts haben wir außerdem einen lichtstarken Scheinwerfer.“
8 Dieser Urlaub blieb ihm unvergessen. Als sie längst wieder im Hörsaal saßen, entsann er sich der gemeinsamen Tage und Nächte auf dem schwebenden Dreieck, und bisweilen zweifelte er, daß es Wirklichkeit gewesen sei. Nur einmal hatte es eine Mißstimmung gegeben, als er sie bat, ihn steuern zu lassen. Sie hatte ihn sehr kurz beschieden, daß er weder genügende Kenntnisse vom Fahrzeug habe noch eine Genehmigung. Nicht die Ablehnung kränkte ihn, aber die Art, in der Natascha ablehnte, schien ihm herablassend. Zwar hatten sie sich sehr bald ausgesöhnt, aber dieses Ereignis ließ einen Stachel in ihm zurück. Sie hatte ihn zurechtgewiesen, von oben herab, wie er glaubte. Sie hatte ihm bedeutet, daß er ihr unterlegen sei. So steigerte er sich in einen Minderwertigkeitskomplex, übertrieb aus gekränktem Stolz und aus Furcht, sie zu verlieren, diese Lappalie zu einem inneren Konflikt, der ihn bestärkte, jede Gelegenheit wahrzunehmen, um ihr schlüssig zu beweisen, was für ein Kerl er sei. Was hätte ihm dafür geeigneter erscheinen können als die Forschungsaufgabe? Er hatte sein Einzelzimmer aufgegeben und war mit Kirik zusammengezogen. Es war so bequemer, sich auszutauschen und gemeinsam den Versuch vorzubereiten, und er war ohnehin kein Einzelgänger. Kirik musterte ihn zuweilen mit seinem aufmerksamen Jägerblick, wenn sie in ihrem Zimmer Versuchsergebnisse durchsprachen und Veränderungen der Versuchsanlage festlegten. Eines Tages fiel es Werner auf. Ihre Schreibtische hatten sie zusammengerückt, damit sie sich gegenübersaßen. Kirik antwortete einsilbig und spielte mit seinem Schreibstift. „Sag mal, hörst du überhaupt zu?“ fragte Werner vorwurfsvoll. „Ich höre!“ „Genügt das? Oder ist es unsere gemeinsame Arbeit?“ Kirik legte den Stift aus der Hand, lehnte sich mit den Ellbogen auf den Schreibtisch und blickte Werner an. „Wir arbeiten gemeinsam, denke ich. Aber im Augenblick war ich tatsächlich nicht ganz bei der Sache, entschuldige. Ich dachte über dich nach. Weißt du, Schwung ist eine gute Eigenschaft, sie ist die Triebkraft zu großen Erfolgen - aber exakte Gründlichkeit ist das Rückgrat! Oder anders betrachtet: Forschungsarbeit ist wie ein Autorennen; ein starker Motor ist die Garantie für hohe Geschwindigkeit - aber ob der Wagen das Ziel erreicht, hängt davon ab, wie er gesteuert wird. Gas geben allein genügt nicht, man muß die Geschwindigkeit der Strecke anpassen.“ „Was soll's?“ Werner hob verständnislos die Schultern. Er wußte, daß Kirik gern in Vergleichen sprach, und sie stimmten sonst ja auch. Aber diesmal hatte er sich undeutlich ausgedrückt. „Meinst du etwa, ich gebe nur Gas...?“ „Mir scheint, du fährst zu verwegen, mein Lieber, zu wenig auf Sicherheit. Mir scheint das Risiko einer Karambolage zu groß.“ „Na hör mal!“ begehrte Werner auf, aber Kirik brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Es ist, als säße dir ein Tiger im Nacken. Als wärst du auf der Flucht! Das ist nicht der Schwung, der echtem Drang nach Erkenntnissen entspringt. Ich habe das Gefühl - sei mir nicht böse, wenn ich es offen sage - , als wäre dir unsere Arbeit nur Mittel zum Zweck, als suchtest du Erfolge an sich, nicht Erkenntnisse. Das ist mir neu an dir. Steckt Natascha dahinter?“ „Wie kommst du darauf?“ „Hinter solcher Erfolgsjagd steckt entweder Geltungstrieb, Kraftmeierei oder krankhafter Ehrgeiz. Das ist es nicht bei dir, das entspricht nicht deinem Wesen. Du neigtest bisher zwar zur Besessenheit, aber immer um der Sache willen. Was also könnte es sein? „Du hast selbst gesagt, sie habe ein Recht, Ansprüche zu stellen. Meinst du, ich will versagen? Ist es so unbegreiflich, wenn man bestehen will?“ Kirik wog kritisch den Kopf. „Liebe baut sich auf menschlichen Eigenschaften auf. Es ist der Mensch, den man liebt, nicht der Erfolg, den er erreicht. Sonst müßte doch jeder Mißerfolg die Liebe in Gefahr bringen - oft aber festigt er sie erst, dort erweist sich nämlich ihr Wert! Ich gebe ja zu, daß Natascha manchmal überheblich erscheint, sie ist es aber nicht. Das empfinden nur die so, die sie abblitzen läßt. Sie ist verteufelt hübsch und der Wunschtraum vieler - vielleicht ist die Selbstsicherheit ihre wirksamste Waffe? Aber eines weiß ich. Du siehst das alles verdreht! Ein echtes Streben nach exakten wissenschaftlichen Erkenntnissen imponiert ihr bestimmt mehr als mit Risiken erkaufte Erfolge. Muß man sich wie ein Pfau spreizen, wenn man einem Mädchen gefallen will?“ „Machen wir weiter!“ sagte Werner eisig.
Kirik hatte gut reden! Er saß auf der Tribüne und schaute zu, konnte nach Belieben klatschen oder pfeifen. Er aber, Werner, mußte das Rennen gewinnen. Und daß hinter der Windschutzscheibe manches anders aussah als auf der Zuschauertribüne, war eine alte Erfahrung. Sie kamen nicht mehr auf dieses Thema zurück. Werner bemühte sich, nichts an Schwung einzubüßen und doch jedes Risiko auszuschließen. Das gelang nicht immer. Dann war es Kirik, der unnachgiebig den exakten Weg einhielt. Aus Sicherheitsgründen war angeordnet worden, Versuche nie allein durchzuführen, sie vorher anzumelden und im Kollektiv zu besprechen. Da Werner und Kirik neue Wege in der Hochdruckhydrierung des Erdöls suchten, galt diese Vorschrift vor allem für sie. Es handelte sich darum, die großen Moleküle der nach der Destillation des Erdöls verbleibenden Anteile unter Druck-, Hitze- und Katalysatoreinwirkung zu spalten und mit Hilfe dieses Krackverfahrens die Benzinausbeute zu steigern; bei einem Flammpunkt des Benzins von minus zehn Grad Celsius eine Versuchsreihe, die gewissenhafter Arbeit und einiger Sicherheitsvorkehrungen bedurfte. Zwar arbeiteten sie nur mit kleinen Mengen, die aber genügten, bei unsachgemäßer Arbeit gefährlich zu werden. Natascha reiste wegen einer Forschungsaufgabe für drei Wochen nach China, und Werner bemühte sich, diese Zeit durch intensive Arbeit zu überbrücken. Wenn sie auch nur zweimal wöchentlich gemeinsam ausgingen, so war Natascha doch täglich mit ihm zur Hochschule gefahren, und mittags hatten sie in der Mensa gemeinsam gegessen. Jetzt fühlte er sich einsam und seelisch halbiert, weil er sich nicht mit ihr austauschen konnte. Er sah wieder nur mit seinen Augen, hörte nur mit seinen Ohren, und ihm fehlten ihre Wahrnehmungen und ihr Urteil! Als nun auch noch Kirk für einige Tage wegen familiärer Angelegenheiten heimfuhr - sein Vater feierte den einhundertsten Geburtstag in voller Rüstigkeit: Kirik war immerhin erst fünfundzwanzig! – und Werner an diesen Tagen keine Versuche unternehmen konnte, vergrub er sich hinter seinem Schreibtisch. Bei diesem angestrengten und konzentrierten Arbeiten kam ihm der Gedanke, einen anderen Katalysator zu verwenden und die Temperatur noch etwas zu erhöhen. Daß sich dabei auch der Druck erhöhen würde, nahm er nicht allzu ernst. Vom Wunsch geblendet, das Ei des Kolumbus zu finden, malte er sich in den Minuten vor dem Einschlafen selbstgefällig aus, welche Augen Natascha machen, wie es ihr imponieren würde, käme er zu dem großen Erfolg. Er dämmerte in den Schlaf hinüber, der Fluß seiner Vorstellungen mündete in das Meer der Träume. Fern von den sicheren Gestaden des kritischen Verstandes strömten seine Traumbilder ins Uferlose. Er war sehr glücklich in dieser Nacht. Zwar brachte der Morgen Nüchternheit und kontrollierenden Verstand zurück, doch blieb etwas von der glückhaften Zuversicht. Ständig kreisten seine Gedanken um diesen Weg, den er gefunden zu haben glaubte. Immer nachhaltiger wurde die kritische Vernunft von der Zuversicht eingeengt, bis ihm weiteres Warten unerträglich schien und er auf eine Möglichkeit zu sinnen begann, wie er sich unverzüglich Gewißheit schaffen könne. Er mußte diesen Versuch allein wagen! Seine Bedenken betäubte er mit dem Opium fadenscheiniger Rechtfertigungen, deren harmloseste war, daß große Erfolge nur mit großen Wagnissen zu erreichen seien. Ja, er verstieg sich zu der Auffassung, mit einem solchen Einsatz beweisen zu können, wie ernst es ihm sowohl mit seiner Aufgabe als auch mit seiner Liebe war. So entschloß er sich, den Versuch am Nachmittag des dritten Tages von Kiriks Urlaub zu beginnen. Der Pedell des Verfahrenstechnischen Instituts der Hochschule öffnete auf das Klopfen die Tür. „Mein Name ist Hardenstein, siebentes Semester“, sagte der junge Mann. „Ich hätte gern den Schlüssel zum Labor sechs. Ich muß für morgen eine Versuchsanordnung vorbereiten.“ Der Pedell war ohne Argwohn. Er übergab den Schlüssel und hängte einen Zettel mit dem genannten Namen an den Haken. Anerkennend blickte er dem Studenten nach, der die Treppe hinaufsprang und immer zwei Stufen auf einmal nahm. Das war eine Generation - der schönste Sonnenschein lockte sie nicht von der Arbeit weg! Dann ging er nach draußen, versetzte den Rasensprenger, um den Herbstblumen die sengende Hitze des Altweibersommers zu erleichtern, und nahm schließlich seinen Rundgang durch das große Gebäude auf. Hier und da fand er in den Hörsälen noch einen Dozenten, der mit einigen Studenten Experimente des kommenden Tages vorbereitete. Die meisten Säle waren leer, und der Pedell warf nur einen kurzen Blick hinein, um zu sehen, ob die Fenster geschlossen seien. Ein berstender Knall riß ihn herum. Fensterscheiben klirrten, Holz splitterte. Das Haus schien zu beben. Türen flogen auf. Dozenten und Studenten rannten auf den Gang. „Das war oben!“ rief der Pedell und lief davon. Die anderen folgten ihm und überholten ihn auf der Treppe. Als sie den dritten Stock erreichten, sahen sie eine Tür auf dem Gang liegen. Es knallte wieder, schwächer diesmal, aber eine Stichflamme grellte auf. In der Tür lag ein Körper. Im Schutz der Wand gingen sie vor, zogen den Bewußtlosen heraus. Andere rissen Feuerlöscher aus den Haltern. Ehe sie zum Labor kamen, knallte es erneut. Es brannte lichterloh. Der Pedell lief zum Feuermelder, drückte die Knöpfe für Feuerwehr und Rettungswagen.
Ein Dozent bemühte sich um den Ohnmächtigen. „Wer ist das?“ „Hardenstein, siebentes Semester!“ rief ein Student. „Wo sind die anderen? Es müssen noch welche im Labor sein!“ „Er kam allein!“ rief der Pedell. „Wollte Aufbau vorbereiten!“ „Aber er hat doch den Gesichtsschutz vor und trägt feuersichere Kleidung!“ sagte der Dozent. Werners Hände bluteten, die Arme waren seltsam verdreht. Noch immer war er ohnmächtig. Die Studenten lenkten vom Gang her die Schaumstrahlen in das Labor. Hineinzugehen untersagte der Pedell als Brandschutzverantwortlicher. Immer wieder grellten Stichflammen auf, barsten Flaschen. In der Ferne ertönte das Feuerwehrsignal. Schnell kam es näher. Bremsen kreischten, Kommandos ertönten, Stiefel dröhnten auf der Treppe. Ein Arzt und zwei Krankenträger mit einer Trage waren unter den Männern. „Vorsicht!“ sagte der Arzt, als er vor Hardenstein kniete. „Beide Arme gebrochen, Glassplitter in den Händen!“ Behutsam schnitt er Werners Gummihandschuhe auf und entfernte die größten Splitter. Dickbäuchige, pralle Schläuche zogen sich durch das Treppenhaus, spien quellenden Schaum in das Labor. Vor dem Gebäude reckten sich Leitern auf. Behutsam trugen die Sanitäter den Bewußtlosen hinunter. Mit dringlich heulender Sirene schoß der Rettungswagen davon. Aus der Nacht der Lebensvergessenheit erwachend, war es zuerst ein aufmerksames Gesicht, das Werners Blick einfing. Noch hatte sein Gehirn Mühe, die Trägheit abzustreifen und Fragen zu formulieren. Wer ist das...? Wo befinde ich mich...? Sein Blick irrte von dem Gesicht ab. Große Fenster, eine Balkontür, ein weißer Schrank, ein kleiner Tisch und zwei Sessel... Eine Schwester... Und das Gesicht ein Arzt! Krankenhaus! Eine böse Ahnung überfiel ihn quälend. Er mühte sich aufzustehen, aber die Arme waren seltsam steif. Die Stimme des Arztes zwang ihn zur Ruhe. „Schön liegenbleiben, nicht sprechen, Herr Hardenstein!“ „Weshalb... was... was ist?“ „Kleinigkeiten! Die bioelektrischen Untersuchungen ergaben eine Gehirnerschütterung. Und ihre Arme sind ein bißchen geschient - das ist alles! Je ruhiger sie liegen, desto schneller können sie wieder aufstehen.“ Werner schloß die Augen. Als er sie erneut öffnete, war er allein. Ganz fern brauste der Verkehr. Auf dem Gang vor dem Zimmer gedämpfte Schritte. Das Heulen eines Turbinenflugzeuges. Vogelgezwitscher. Die Balkontür stand halb offen. Draußen pulsierte das Leben. Er aber befand sich auf einer Insel der Ruhe, der Gleichgültigkeit. Bleierne Müdigkeit umfing ihn, doch er konnte nicht schlafen. So dämmerte er zwischen Wachen und Träumen dahin. Hin und wieder fütterte ihn eine Schwester. Aber er wußte nicht, ob es Morgen, Mittag oder Abend war. Er wußte auch nicht recht, was er zu sich nahm. Alles geschah ohne innere Anteilnahme. Am liebsten war er allein. Sein Denkvermögen kehrte wieder. Bald konnte er sich auf Einzelheiten besinnen. Aus der Perspektive des Krankenbetts, mit zwei geschienten Armen zur Untätigkeit verurteilt, sah
alles anders aus. Ihm war, als betrachte er sich selbst mit den Augen anderer. Er schnitt nicht gut dabei ab, doch er machte nicht den Versuch, sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Fest stand, daß er die Vorschriften verletzt hatte! Das nannte man disziplinlos. Durch seine Schuld war gesellschaftliches Eigentum gefährdet und zerstört worden. Und das, um diese Einsicht kam er nicht herum, wegen persönlicher Gründe. Er hatte Natascha imponieren wollen, dabei ein unverantwortliches Risiko auf sich genommen, das Kollektiv mißachtet und sich von Wunschträumen leiten lassen, statt mit den Dozenten und Kommilitonen zu beraten. Weil er den Erfolg für sich allein beanspruchte, war ihm das passiert - das war das Schlimmste! Nun sah er auch seine Experimente in der Brigade mit anderen Augen. Nachträglich schämte er sich der Ermahnungen Trautenhahns. Dabei war Trautenhahn noch sehr maßvoll gewesen, denn die Ansicht, daß die berufenen Forscherkollektive zu langsam arbeiteten, zu wenig Kühnheit besäßen und er ohne das ausreichende Wissen in der Lage sei, größere Erfolge zu erzielen - das war nicht nur Selbstüberschätzung, sondern Überheblichkeit! Wie ein Individualist hatte er sich benommen, für sich eine Sonderstellung beansprucht, die ihm nicht zukam. Evelyn hatte recht gehabt mit ihrem Brief... Wenn er sich vorstellte, er wäre Diplomingenieur, und einer der ihm anvertrauten Menschen benähme sich so zügellos... Das Studium hatte er verspielt, endgültig! Ganz gleich, wie man entscheiden würde - er fühlte sich einer solchen gesellschaftlichen Stellung unwürdig. Wie würde er Menschen leiten, wie von ihnen Disziplin fordern können...? Eines Tages besuchte ihn Kirik. Er stellte einen Strauß Herbstblumen auf den Tisch. „Endlich hat mich der Arzt zu dir gelassen! Wie geht's dir, Feuerwerker?“ Kirik gab sich, als wäre nichts geschehen. Als Werner über sein Verhalten sprechen wollte, wehrte er ab. „Laß das jetzt! Darüber entscheidet der Hochschulrat der delegierenden Hochschule. Aber sei es, wie es will, Werner, ich hoffe, daß wir Freunde bleiben!“ „Ich weiß, was mir blüht, ich hab's auch verdient, Kirik. Ich muß versuchen, als Facharbeiter wieder gutzumachen...“ „Nun mal langsam! Die Gesellschaft gibt keinen auf. Eines Tages studierst du wieder.“ Diese gutgemeinten Worte nahmen ihm die letzte Hoffnung. Ihm war, als habe er eine erbärmliche Gestalt und wäre unverhüllt allen Blicken preisgegeben. „Ich werde Natascha benachrichtigen - ich wollte nur erst sehen, wie es dir geht.“ „Natascha bohrt irgendwo nach Öl, sie ist unerreichbar.“ Kirik lachte. „Hör mal, das mag es vor hundert Jahren gegeben haben. Unerreichbar! Spätestens übermorgen hat sie Nachricht.“ „Ich will nicht!“ schrie Werner ihn an. Nach diesem Besuch bat er den Arzt, keinen Besucher mehr vorzulassen. Der Arzt sah seine Erregung und versprach es ihm. „Wenn es möglich ist, möchte ich nach Hause“, bat Werner. „Meine Mutter ist Ärztin.“ „Gut. ich spreche mit dem Chefarzt. Für den Heilverlauf ist es nicht notwendig, aber ich glaube, Sie benötigen die vertraute Umgebung und Ruhe, viel Ruhe. Und wohl auch einen Menschen, der Sie restlos versteht...“ In den nächsten Tagen erregte ihn der Gedanke, Natascha könne unverhofft zurückkommen, an sein Bett treten und ihm das gleiche sagen wie Evelyn - Schlimmeres gar, nach dieser Katastrophe! Er atmete auf, als der Arzt ihm mitteilte, daß er nach Deutschland geflogen werde. Geflogen? Die verdammte Gehirnerschütterung! Aber immerhin: nach Hause! Der Kippflügler startete auf dem Platz vor dem Krankenhaus. Es war ein zweimotoriges Turbopropflugzeug mit drehbaren Flügeln. Beim Start standen die Tragflächen senkrecht, und die Propeller wirkten als Hubschrauben. In der Luft drehten sich die Flügel in die Waagerechte. Die Maschine ging in den Horizontalflug über und verschwand „aus dem Blickfeld der Ärzte. Sie flog direkt nach Moskau, um Werner zur planmäßigen Düsenmaschine Moskau-Berlin zu bringen. Stunden später landete ein Sanitätshubschrauber des Deutschen Roten Kreuzes auf einer Weide neben der Siedlung, in der Werners Eltern wohnten. Derartige Krankentransporte waren nicht ungewöhnlicher als früher mit dem Krankenwagen. Hubschrauber wurden überall dort eingesetzt, wo man große Transportstrecken zurücklegen und die Patienten möglichst erschütterungsfrei transportieren mußte. Das geschah nicht selten, galt doch die besondere Fürsorge der Gesellschaft dem Kranken. Deshalb blickten nur vereinzelt Schaulustige aus den Fenstern, aber es gab keinen Auflauf. Einige Kinder standen mit betroffener Neugier an der Absperrung, als sich die Kabine des Hubschraubers öffnete und Werner auf der Trage herausgehoben wurde. Er gab keine Wiedersehensszene. Mutter begrüßte ihn, als habe sie ihn erst am Morgen gesehen, unterhielt sich kurz mit dem begleitenden Arzt und folgte der Trage ins Haus. Kaum war Werner umgebettet und das Trägerpaar zum Hubschrauber zurückgekehrt, dröhnten die Motoren auf, und die Maschine hob sich in die Lüfte.
Indessen saß Ruth Hardenstein am Krankenbett, maß Körpertemperatur und Puls, legte eine Fieberkurve an und kontrollierte die Verbände. Zwar schmerzte sie Werners hilfloser Zustand, aber sie war bestimmter und unnachgiebiger als sonst. Als Werner die Arme hob, sich um ein Lächeln mühte und leise sagte: „Nicht einmal die Hand kann ich dir geben!“, erwiderte sie kurz: „Wenn das deine ganzen Sorgen sind Arme herunter, mein Junge! Es gibt Schlimmeres. Jetzt habe ich dich erst einmal bei mir, ich werde dir schon wieder auf die Beine helfen. Aber eines sage ich dir gleich: Wenn du dich nicht an meine Verordnungen hältst - ich bringe dich ins Krankenhaus!“ Werner lächelte zufrieden. Er spürte Mutters Liebe hinter ihren Anweisungen und fühlte sich ganz daheim. „Wo ist Vater?“ „Den habe ich in die Stadt geschickt! Immer hübsch der Reihe nach, ratenweise, mein Junge. Jetzt schläfst du erst einmal, dann darf Vater zu dir.“ Er schlief bis zum Abend. Dann saß Vater am Bett. „Tag, mein Lieber!“ sagte er lachend, als Werner die Augen öffnete. Das Lachen klang nicht echt. Um so mehr rührte es Werner. „Ich habe Blödsinn gemacht...“, begann er zögernd. „Den macht man manchmal, Junge - viel wichtiger ist, was man daraus lernt. Aber davon sprechen wir jetzt nicht - später!“ Ebenso erging es ihm mit Trautenhahn, der ihn am nächsten Tag besuchte. Trautenhahns Besorgnis verstärkte Werners Schuldgefühl. „Ich habe euch enttäuscht, Wolfgang!“ begann er kleinlaut. Trautenhahn wehrte ab. „Laß das jetzt! Wenn du gesund bist, sprechen wir weiter. Du mußt sehen, daß du bald aus dem Bett kommst.“ So blieb er allein mit seinen Gedanken, Erkenntnissen und Selbstvorwürfen. Je länger er grübelte, desto quälender wurden sie. Ruth Hardenstein stellte besorgt fest, daß sich sein Zustand kaum verbesserte. Unablässig sann sie über die Ursache nach. Meist schien er wie im Dämmerzustand zu liegen, völlig gleichgültig gegen die. Umwelt. Wenn das Fieber kam, phantasierte er. Er sprach mit Natascha und Kirik, mit Trautenhahn und Evelyn, aber das alles war so verworren, daß sie sich daraus kein Bild machen konnte. „Wenn ich nur wüßte, was ich noch tun soll!“ klagte sie abends bei Tisch und legte ihr Gesicht müde in die Hände. „Ihn bedrückt etwas.“ „Frag ihn doch - aussprechen ist immer gut! Oder soll ich...?“ fragte ihr Mann. Sie richtete sich auf, müde und abgehärmt. „In seinem Zustand die Sachen aufrühren, die ihn bedrücken wenn er sich zu sehr erregt dabei?“ „Wenn wir nicht mit ihm sprechen, Ruth, dann frißt er das alles noch tiefer in sich hinein, büßt womöglich den vernünftigen Maßstab ein und verliert sich... Das ist doch ein Knoten, den man durchschlagen muß: Spricht er sich aus, erregt er sich. Deshalb darf er nicht sprechen und erregt sich, weil er vor sich selbst keine Ruhe findet! Lieber eine kräftige Erregung und dann Ruhe, als ständiges ruheloses Grübeln. Er muß sich doch verlassen vorkommen, wenn er wirklich sprechen möchte und wir es ihm untersagen: später, später - ich glaube, du mußt dich über die medizinische Norm hinwegsetzen!“ Sie überlegte. „Gut, sprich du mit ihm - aber nur, wenn er von selbst anfängt. Und schone ihn, Heinz, bitte! Mag er angestellt haben, was er will. Es ist doch unser Junge...“ Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Wenn du wüßtest, wie froh ich bin, ihn hierzuhaben... Das konnte schlimmer kommen! Keine Angst, ich zerreiße ihn nicht.“ Nach der Aussprache kam Werner wirklich zur Ruhe. Er hatte sich nicht geschont, und der Vater war erschüttert, wie wenig er in den letzten Jahren von Werner gewußt hatte. Es war für ihn einer jener Augenblicke, in denen man mit aller Deutlichkeit spürt, daß die Kinder erwachsen sind, eigene Ansichten und Vorstellungen haben und eigene Wege gehen. Er würde sich noch mehr als bisher darauf einstellen müssen. „Du hast Fehler gemacht, das stimmt. Aber du hast offensichtlich viel daraus gelernt, Werner. Jetzt kannst du ganz anders anfangen. Nicht den Mut verlieren, nicht in Selbstbezichtigungen versinken! Die Lehren ziehen und wieder zupacken! Und hin und wieder daran denken, daß du Eltern hast, auf die du dich immer verlassen kannst! Soweit wir dir helfen können, sind wir für dich da. Was Natascha betrifft... Ich kenne sie nicht, vielleicht hast du sie falsch gesehen? Es ist vermutlich unberechtigt von dir, zu glauben, sie urteile nach äußeren Erfolgen. Natürlich verstehe ich, daß du ihr so nicht gegenübertreten willst obwohl es besser wäre, sich auszusprechen. Aber das mußt du am besten wissen. Finde zu dir selbst zurück, zum Glauben an dich, werde dir klar über dein Verhältnis zu ihr. Und laß ihr ebenfalls Zeit. Vielleicht faßt sie es als Vertrauensbruch auf - immerhin hast du sie nicht benachrichtigt und dich außerdem heimlich davongestohlen... So, jetzt schläfst du! Ich schreibe an Natascha über unser Gespräch, das bist du ihr schuldig.“ Er schrieb ihr offen, ohne jede Beschönigung. Auch daß Werner sie liebe, aber sich erst wieder zurechtfinden müsse. Natascha antwortete umgehend. Sie müsse ebenfalls erst mit sich fertig werden,
alles genau durchdenken und Abstand gewinnen, immerhin habe Werners Verhalten ihn in einem völlig neuen Licht gezeigt. Außerdem habe er sie falsch eingeschätzt und müßte auch hier erst zu einem richtigen Urteil finden. Dazu brauche er Abstand wie sie. Sie bitte jedoch, über Werners Gesundheitszustand auf dem laufenden gehalten zu werden, denn Abstand bedeute für sie nicht, Werner aufzugeben. Allerdings setze sie voraus, daß er nichts von dieser Briefverbindung erfahre - wenn er ihr gegenübertrete, müsse er es, in beider Interesse, freiwillig und ohne jede Beeinflussung tun. Werners Eltern hielten sich strikt an diese Bitte. Werner, der sich damit abgefunden hatte, Natascha verloren zu haben, setzte als sicher voraus, sie lasse diesen Brief unbeantwortet, und fragte deshalb nicht danach. Sein Zustand besserte sich zusehends. Bald kam der Tag, an dem er die ersten Schritte machte. Nun saß er häufig am Fenster. Der Herbst schritt mit reichhaltiger Palette durch das Land und verteilte seine Farben in verschwenderischer Fülle. Doch schon raschelte das Laub und tanzte im Wind. Bald würden Stürme folgen, die Farbenpracht von den Ästen reißen und sie im Rinnstein zusammenfegen. In Werner regte sich Betätigungsdrang. Er mußte endlich reinen Tisch machen, einen Strich unter die Vergangenheit ziehen. Noch trug er die Arme geschient, doch schon drängte er, Vater möge der Hochschule Dresden mitteilen, daß er bereit sei für das Disziplinarverfahren. Mutter schimpfte. „In diesem Aufzug, mit steifen Armen - wann du vernehmungsfähig bist, entscheide ich als behandelnde Ärztin!“ Sie war auf die Dauer seinem Drängen nicht gewachsen. Bei einem Besuch erzählte sie Trautenhahn davon. „Ich kann ihn verstehen, Frau Doktor“, erwiderte Trautenhahn unerwartet. „Er braucht Klarheit. Können Sie es wirklich nicht verantworten?“ „Verantworten schon. Aber begreifen Sie doch, es ist mir einfach unvorstellbar, daß er hilflos, mit steifen Armen, vor einem Auditorium steht, das über ihn herfällt.“ Da lachte Trautenhahn laut und herzlich. „Aber Frau Doktor, es geht weder um einen Zweikampf, noch soll er hingerichtet werden! Es ist eine sachliche Auseinandersetzung, eine Klarstellung, in der die Fakten ergründet und dann entsprechende Maßnahmen erörtert werden. Hart wird es werden, bestimmt – aber alles ist darauf gerichtet, Werner zu helfen“, versicherte er beruhigend und setzte hintergründig hinzu: „Ich glaube, eine baldige Aussprache wäre für ihn sehr wichtig.“ „Gut! Wir werden ihn röntgen. Morgen. Ist alles verheilt, nehmen wir übermorgen erstmals für einige Stunden die Schalen ab. In diesem Falle würde ich sagen, in zehn Tagen etwa. Aber nicht früher!“ Werners Arme waren in poröse Kunststoffschalen eingebettet, die im weichen Zustand dem Arm angepaßt wurden und dann schnell verhärteten. Sie reichten vom Oberarm bis zum Handteller. Dieser Stütze beraubt, waren Werners Arme kraftlos. Unter Mutters Massage gewannen sie langsam ihre Beweglichkeit zurück. Die Fleischwunden waren längst vergessen.
9 Das Disziplinarverfahren fand, gemäß den üblichen Gepflogenheiten, in der Brigade statt. Als Werner den Klubraum betrat, war er recht beklommen. Vertreter des Hochschulrates der Technischen Universität Dresden, eine Delegation des Hochschulrates Kuibyschew und seine Kollegen waren versammelt, Trautenhahn, Evelyn, Stolteroff, Breier... Er wußte nicht recht, wie er sich verhalten solle. Man grüßte ihn freundlich, machte hin und wieder eine scherzhafte Bemerkung, wohl um zu betonen, daß man gegen ihn persönlich gar nichts habe - aber Werner wußte nur zu gut, daß das keinen abhalten würde, ihm gründlich die Wahrheit zu sagen. So war er froh, als der führende Vertreter des Dresdner Hochschulrats das Verfahren eröffnete. Dem Hochschulrat gehörten Studenten und Dozenten an. Die Studenten wurden von der Hochschulgruppe des Jugendverbandes gewählt. Werner wurde aufgefordert, die Geschehnisse darzustellen. Auch hier schonte er sich nicht, vielmehr wies er auf seine Fehler innerhalb der Brigade hin, erläuterte seine Ungeduld, erklärte sie als Überheblichkeit und kam dann auf den Vorfall in Kuibyschew zu sprechen. War er erst befangen, so sprach er bald freimütig, doch mit gebührendem Ernst und sachlich. Nur über seine Beweggründe sprach er nicht. Er stellte es so hin, als sei sein Verhalten in Kuibyschew ausschließlich von Ungeduld und Geltungsbedürfnis diktiert worden. „Ich bin mir der Tragweite meines Verhaltens inzwischen voll bewußt geworden und weiß, daß mein weiteres Verbleiben auf der Hochschule zumindest für die nächsten Jahre unmöglich ist! Ich werde mich jedoch bemühen, in diesen Jahren das Vertrauen zurückzugewinnen und zu beweisen, daß ich die richtigen Lehren gezogen habe.“ Damit setzte er sich und blickte vor sich nieder. Seine Kollegen sahen sich verwundert an. War das ihr Hardenstein? Als nächster Redner sprach der Vertreter des Hochschulrates Kuibyschew. Er stellte fest, den Ausführungen Werners nichts Nachteiliges hinzufügen zu können, hob jedoch Werners gute Leistungen und sein kameradschaftliches Verhalten hervor und bemerkte, daß der Kuibyschewer Hochschulrat die Überzeugung gewonnen habe, Werner hätte die richtigen Schlußfolgerungen gezogen. Eine Exmatrikulation halte er deshalb nicht für erforderlich, ohne jedoch einer Entscheidung vorgreifen zu wollen. Dieser Vorschlag beschämte Werner tief. Der Vertreter des Dresdner Hochschulrates, wohl durch die Tatsache befangen, daß er Werner delegiert hatte, verwarf mit scharfen Worten Werners Verhalten und beantragte Exmatrikulation und Aberkennung des Titels Studienaktivist. Dann sprach Trautenhahn im Namen der Brigade. Er beschönigte Werners Verhalten nicht. „Es handelt sich zweifellos um eine schwerwiegende Disziplinverletzung, wir stimmen deshalb der Aberkennung des Ehrentitels zu. Aber wir kommen nicht umhin, festzustellen, daß diese Schwäche Hardensteins auch eine Schuld der Brigade ist. Wir haben, und das muß deutlich ausgesprochen werden, um diesen Fehler künftig zu vermeiden, Werner damals nicht mit allem Nachdruck klargemacht, welche Tragweite seine wilden Experimente haben. Wir haben sie mehr oder weniger als ein Hobby abgetan, das man nicht allzu ernst nehmen darf. Wir haben uns nicht entschieden genug mit ihm auseinandergesetzt, weil Werner vorbildliche Leistungen zeigte, eine tadellose Arbeitsdisziplin hatte - außer diesem Hobby - und sich immer kameradschaftlich verhielt. Wir haben ihn in dieser Beziehung nicht ernst genommen und ihm Narrenfreiheit gewährt. Das war nicht nur unüberlegt, sondern eigentlich beleidigend für Werner! Die harte Auseinandersetzung wären wir ihm schuldig gewesen, wir sind sie ihm schuldig geblieben - was dabei herauskam, sehen wir heute. Inzwischen hat Werner durch diesen Vorfall selbst erkannt, welchen Fehler er gemacht hat. - Weshalb sitzen wir hier beisammen? Nicht um Werner zu bestrafen, sondern um ihm zu helfen, auf den richtigen Weg zu kommen. Wir müßten Erziehungsmaßnahmen ergreifen, damit er seine Fehler erkennt - wenn er sie nicht schon erkannt hätte! Damit erübrigt sich unserer Meinung nach eine Exmatrikulation! Wir glauben, daß dieser Vorfall ihm Anlaß sein wird, den richtigen Weg einzuhalten. Wenn wir aber dieser Meinung sind, gibt es keine Veranlassung, ihn vom Studium auszuschließen. Wir schlagen deshalb vor, ihn bewährungshalber auf der Hochschule Dresden studieren zu lassen, ihm Gelegenheit zu geben, unser Vertrauen zu rechtfertigen. Andererseits kann er nicht Studienaktivist bleiben, da er die Studiendisziplin gröblich verletzt hat. Wir sind der Auffassung, und die Berichte der Hochschulräte bestätigen es, daß Hardenstein hervorragende Leistungen aufzuweisen hat; deshalb wären wir erfreut, wenn er - soweit das möglich ist - noch im laufenden Semester nach Dresden zurückkehren könnte. Die Brigade verpflichtet sich, bei der Einrichtung des zerstörten Labors zu helfen. Wir bitten, uns die Höhe des Schadens mitzuteilen.“
„Unsere Labors sind mit unbrennbaren Einrichtungen versehen. Es handelt sich überwiegend um Glasschäden und Chemikalienverluste. Der Schaden ist nicht nennenswert und wurde bereits behoben“, versicherte abwehrend der Vertreter des Hochschulrates Kuibyschew. Der Ausgang des Disziplinarverfahrens ergriff Werner mehr als eine Exmatrikulation. Wäre er von der Hochschule verwiesen worden, dann hätte das in ihm das Gefühl erzeugt, die Sache sei beendet, das Gleichgewicht zwischen Wirkung und Gegenwirkung hergestellt; ja, er hätte sich in stillen Stunden selbst betrügen können mit dem Gedanken, zu hart bestraft worden zu sein. Aber jetzt war die Sache nicht beendet, er fühlte beschämt, daß man ihm Vertrauen entgegengebracht hatte, das er sich erst verdienen mußte. Man hatte ihm überlassen, das Gleichgewicht herzustellen und diese Angelegenheit zu bereinigen! Das Disziplinarverfahren wandelte ihn nicht plötzlich. Es war ein kräftiger äußerer Anstoß, der eine innere Wandlung beschleunigte, die schon auf dem Krankenbett eingesetzt hatte. Alle diese Erfahrungen der letzten Wochen mußte er erst verarbeiten, ordnen und in die richtigen Erkenntnisse umsetzen, um sein künftiges Handeln aus einer neuen Perspektive kritisch beurteilen zu können. Es war, als habe man ihm den Boden unter den Füßen hinweggezogen, auf dem er sicher gestanden hatte, nun versuchte er, unsicher und unbeholfen, sich zu erheben. Indessen währte diese Unsicherheit nicht lange. Bald schon lernte er, sein Handeln aus der Perspektive der Gesellschaft zu beurteilen. Werner studierte erneut in Dresden. Seine Kommilitonen und die Jugendgruppe halfen ihm, den Anschluß wiederherzustellen. Er zog sogar wie vorher mit Heino auf ein Zimmer. „Wenn Evelyn dir einmal die Meinung sagt, Heino, dann höre sehr aufmerksam zu!“ riet er ihm eines Tages. „Ihr Urteil hat es in sich bei mir hat's gestimmt! Ich fahre an jedem Wochenende nach Hause, wenn du willst, kannst du mitkommen. Evelyn wird sich freuen. Wohnen kannst du bei mir.“ „Das ist prima, Werner, wenn deine Eltern...?“ „Schon geregelt, bist herzlich willkommen! Meine alten Herrschaften sind froh, wenn Leben ins Haus kommt. Früher drei Knaben von meinem Kaliber, und jetzt ganz allein!“ An diesen Wochenenden sprach Werner regelmäßig mit seinem Vater über das Studium, hörte dessen Meinung und verglich sie mit seiner eigenen. Auch Trautenhahn besuchte er oft, um im Gespräch sein Urteil zu schulen und zu überprüfen. Mit der Zeit entwickelte sich ein echtes Vertrauensverhältnis zwischen ihnen, zumal Trautenhahn ihn mehr und mehr in Brigadeangelegenheiten um seine Ansicht bat und Werner damit veranlaßte, die Brigade aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, Zusammenhänge zu erkennen und dadurch auch sein früheres Verhalten richtig einzuschätzen. Trautenhahn bewohnte in der Stadt eine Dreizimmerwohnung im zweiten Stock. Die verglaste Loggia ging nach der Straße hinaus. Im Winter konnte man von dort den Verkehr beobachten, und Werners Blicke folgten gern den dreifachen Fahrzeugschlangen, die in beiden Richtungen über die getrennten Fahrbahnen huschten. Im Sommer, wenn die Buchen in den breiten Anlagen vor den Wohnblöcken grünten, hörte man nur gedämpft das Brummen der Motoren. Dann schob Trautenhahn das breite Schiebefenster hoch, und sie ließen sich in der Sonne bräunen. Diese Besuche fanden meist samstags statt. Wußte Frau Trautenhahn, daß Werner kam, dann deckte sie den Kaffeetisch besonders festlich. Sie hatte, obwohl sie es wünschte, nie Kinder bekommen und übertrug nun ihre mütterliche Fürsorge auf Werner. Es war im Sommer, gegen Ende des achten Semesters. Trautenhahn und Werner saßen an ihrem luftigen Platz. Frau Trautenhahn hatte ihnen zwei Gläser und eine Flasche Wein auf den Klapptisch gestellt, ehe sie in die Stadt gegangen war. Trautenhahn probierte mit der Bedächtigkeit des Kenners den Wein, goß die Gläser voll und trank Werner zu. „Auf das kommende vorletzte Semester, Werner! Auf große Studienerfolge!“ Sie stellten die Gläser ab. „Hast du dir schon überlegt, wohin du gehen willst, wenn du fertig bist?“ fragte Trautenhahn. Werner hob die Schultern. „In den ersten beiden Jahren werde ich eingesetzt - erst dann kann ich mir den Betrieb wählen.“ „Vielleicht haben wir bis dahin einen Auftrag für dich?“ begann Trautenhahn geheimnisvoll. „Unser Klub junger Chemiker hat einen Forschungsauftrag bekommen. Diesmal allerdings nicht Polyester. Schließlich sind ja auch die Jugendfreunde der Silikonbetriebe mit im Klub. Es handelt sich um Silikon! Nachdem es gelungen ist, ein rentables und unkompliziertes Verfahren zur Siliziumgewinnung aus Sand zu entwickeln, gilt es nun, eine harte Silikonvariante zu entdecken, die, glasfaserverstärkt, ähnliche Aufgaben erfüllen kann wie Stahl...“ „Was denn - und davon hast du mir nie etwas erzählt?“ unterbrach ihn Werner aufgeregt. „Das ist ja toll! Bei der Rohstoffhäufigkeit...“ „Wir wollten dich nicht ablenken, Werner. Du hast jetzt zu studieren!“ „Du sagst immer wir? Zum Jugendverband gehört man doch nur bis Dreißig! Oder wird das Alter in Kürze wieder erhöht? Der Klub ist doch ein Patenkind des Jugendverbandes?“
„Das dürfte schon der Name sagen: junge Chemiker! Indessen kann dem Klub jeder beitreten, der sich jung fühlt. Außerdem sind die Älteren eingeladen, ihre Erfahrung zu vermitteln. Aber wie gesagt, du solltest jetzt studieren!“ „Glaubt ihr noch immer, ich verlöre mich wieder in privater Quacksalberei?“ fragte Werner. „Nein - aber hier ist was dran, mein Lieber! Bei dieser planmäßigen Entwicklung im großen Maßstab kann man Feuer fangen, da sieht man, wie es vorwärtsgeht. Weshalb ein gebranntes Kind erneut durch Feuer gefährden? Aber jetzt wird es spruchreif, es sieht so aus, als kämen wir mit Gammabestrahlung zum Ziel - Molekülvernetzung. Damit wird auch die Verfahrenstechnik aktuell! Um es kurz zu machen, Werner: Es ist ein Auftrag, den der Klub wegen seiner ausgezeichneten Erfolge erhielt und natürlich unter Anleitung erfahrener Spezialisten erfüllt. Die Produktion wird gewiß zum Jugendobjekt erklärt. Wir haben deshalb beschlossen, in den Semesterferien alle Studenten unseres Werkes einzuweihen, die im nächsten Jahr ihr Studium beenden. Als Diplomarbeit sollt ihr das industrielle Produktionsverfahren und eine Pilotanlage dafür entwickeln. Der Beste erhält nach dem Studium den Auftrag, die Großproduktion aufzubauen.“ „Bei aller Begeisterung, Wolfgang - uns fehlt die Erfahrung.“ „Hör mal, es ist doch nicht das erstemal, daß jungen Akademikern solche Aufträge erteilt werden. Natürlich stehen euch erfahrene Fachleute zur Seite. Es gibt genügend Möglichkeiten, sich beraten zu lassen. Bei eurer Ausbildung, Werner! Wenn vor zwanzig Jahren ein junger Diplomingenieur Bedenken gehabt hätte - aber überleg doch selber: War euer Lernen nicht von der Schule her schon mit der Praxis eng verbunden, seid ihr nicht an den Aufgaben gewachsen? Ihr geht doch nicht wie früher als Theoretiker von der Hochschule, die ihr Wissen erst mit der Praxis verbinden und erweitern müssen.“ „Na ja“, sagte Werner zweifelnd, „aber eine solche Aufgabe...“ „Träumtest du nicht von einem Kunststoff, der anstelle von Stahl verwendet werden kann und uns die hohen Pflege- und Instand- setzungskosten und auch die Verschleißverluste erspart, die vor allem durch Rost auftreten?“ „Ich träume noch davon, Wolfgang! Glasfaserverstärkter Polyester hat zwar schon manche Lücke gefüllt, aber er geht auf Erdöl und Kohle zurück, das heißt auf Benzol. Erdöl und Kohle stehen weder unbegrenzt zur Verfügung, noch ist die Herstellung von Polyester billig genug, um ihn so großzügig anzuwenden, wie ich es geträumt habe. Aber Sand - das ist prächtig, davon haben wir genug! Überhaupt Silizium, fast sechsundzwanzig Prozent unserer Erdrinde bestehen aus Silizium. Das ist eine Rohstoffbasis!“ „Es scheint tatsächlich zu klappen, Werner! Dreierlei spricht dafür: Wir haben verschiedene Varianten organischer Reste mit Silizium verbunden, die bisher unerforscht waren; zweitens setzen wir in verschiedenen Herstellungsstufen Ultraschall ein, und drittens haben wir beim Endprodukt erfreuliche Erfolge mit Gammabestrahlung erreicht. Das gibt eine zusätzliche Vernetzung der Makromoleküle. Wir sind den Festigkeitseigenschaften des Stahls nicht nur hart auf den Fersen, wir haben sie teilweise sogar übertroffen! Zudem haben wir jetzt eine neue Glassorte bekommen, sie schrumpft unter Einwirkung der Gammastrahlen und spannt damit den Werkstoff wie etwa beim Spannbeton. Die Zugfestigkeit überschreitet schon jetzt weit die des Stahls.“ „Das ist ja phantastisch!“ schwärmte Werner. „Maschinen, Flugzeuge, Fahrzeuge, Rohrleitungen, Landmaschinen, Kräne, Brücken, Türme, große Schiffe aus Kunststoff. Keine Entrostungsarbeiten, kein kostspieliges Konservieren...“ Er war so erregt, daß Trautenhahn fürchtete, er verfiele seiner alten Schwäche. Doch Werner beruhigte sich schnell. „Gut, Wolfgang - wenn ihr es schafft, ich werde mich am Wettbewerb um die beste Diplomarbeit beteiligen. Und wenn es mir gelingt, den Vogel abzuschießen, werde ich euch die Maschinen entwickeln. Dann müßt ihr anbauen.“ Trautenhahn schüttelte den Kopf. „Mit anbauen ist da nichts getan. Das wird ein neues Werk, mit eigener Glasfaserproduktion. Was diesmal an Glas gebraucht wird, können die Glaswerker nicht wie damals durch Nutzung stiller Reserven schaffen - beim besten Willen nicht! Das Werk wird wohl in der Nähe der Rohstofflager aufgebaut werden - am geeignetsten sind Wüsten. Du scheinst dir über das Ausmaß dieses Projekts noch gar nicht klar zu sein, mein Lieber!“ „Hast recht. Das ist zuviel auf einmal und will in meinen Schädel noch nicht hinein“, sagte Werner sinnend. „Damals habt ihr über meinen Kunststofftick gelacht - natürlich berechtigt!“ versicherte er schnell, als Trautenhahn die Augenbrauen hob. „Aber es ist ungewohnt, dich so zu hören: begeistert, vorausschauend!“ „Inzwischen war auch ich in unserer Patengemeinde.“ „Du hast selbst gesehen, wie wichtig es ist, Stahl im Landmaschinenbau zu ersetzen, ja?“ fragte Werner mit leichtem Triumph. „Das nicht. Aber ich habe festgestellt, daß du die Bauern - und vor allem die Mädchen - überzeugt hast. Nun warten alle auf den Kunststoff - wir dürfen sie doch nicht enttäuschen! Aber im Ernst, Werner, ich habe die Notwendigkeit nie geleugnet.“
Wenn Trautenhahn gefürchtet hatte, Werner könne sich wieder in das wilde Experimentieren verlieren und womöglich vom Studium ablenken lassen, sobald er mit den Forschungsarbeiten des Klubs in Berührung komme, so hatte er sich getäuscht. Zwar vertiefte sich Werner sehr in die Arbeit, er fehlte zu keinem Klubabend und nützte die Zeit, sich mit allem vertraut zu machen, aber danach widmete er sich ganz seinem Studium. Nur hin und wieder erhielt Trautenhahn von ihm Skizzen zu einzelnen Teilen der geplanten Pilotanlage, damit er sie im Klub zur Diskussion stelle und mit den Experten des Werkes berate, aber weiter ging Werner nicht, wenn er auch voller Ungeduld war, mit der Arbeit zu beginnen. Vielmehr trieb ihn gerade der Wettbewerb um die beste Diplomarbeit und die Hoffnung, zu gewinnen und damit diesen Auftrag zu bekommen, alle Möglichkeiten zu nützen, sein Wissen zu bereichern und sich auf diese Aufgabe vorzubereiten. Heino, der aus einer Werkzeugmaschinenbau-Brigade kam und deshalb auf seinem berufsfremden Studiengebiet keine praktische Arbeit für seine Brigade leisten konnte, interessierte sich mehr und mehr für Werners Skizzen. Da er wußte, daß Werners Diplomarbeit dieses Gebiet behandeln würde und er sein eigenes Thema noch nicht gewählt hatte, reizte ihn diese Vorausschau besonders. Werner hatte ihm allerdings verschwiegen, was für eine ehrenvolle Aufgabe dem winkte, der die beste Diplomarbeit schrieb. Als Heino es von Evelyn erfuhr, war er verblüfft über Werners Ruhe. „Ich kenne dich nicht wieder, Werner. Weshalb hast du mir nichts davon gesagt?“ „Ich dachte, du wüßtest es“, sagte Werner gelassen. „Wir haben anderes zu besprechen, wenn wir uns treffen. Evelyn kam ganz zufällig darauf. Aber ich begreife nicht, daß du dabei so ruhig sein kannst. Du warst doch sonst Raketenhans in allen Lüften, und jetzt, wo es um die Wurst geht, bist du nüchtern und kalt.“ „Eben weil es um die Wurst geht, Heino! Für mich hängt zuviel davon ab, ich kann mir keine unbedachten Sprünge mehr leisten. Damals wußte ich zuwenig, um einen Überblick zu haben, jetzt habe ich ihn und weiß, wie vermessen meine Quacksalberei war.“ „Du bist zu beneiden - solche Aussichten zu haben...“ „Hast du weniger Aussichten?“ fragte Werner. „Du übertreibst! Auf jeden von uns warten große Aufgaben - außerdem ist noch nichts gewiß. Erst einmal die Diplomarbeit...“ „Die haut hin, Ehrensache! Wäre doch gelacht, wenn du's nicht schaffst! Ich helfe dir, wenn ich kann wir könnten uns viel öfter über das Projekt unterhalten, das käme uns beiden zugute. Und wenn du die Aufgabe bekommst, stellst du mich bei dir ein.“ „Du bist ein Spötter! Ist es dein Ziel, unter meiner Leitung zu arbeiten?“ „Ha jo!“ versicherte Heino treuherzig. „Da hätte ich wenigstens einen verständnisvollen Vorgesetzten.“ „Ha noi! Du hättest nie Respekt vor mir, deshalb bist du entlassen, ehe du eingestellt wirst!“ „Und ich wollte dir helfen - Undank ist kein schöner Zug!“ „Ob wir's nicht mal wieder mit ernster Unterhaltung versuchen?“ „Einverstanden! Auch im Ernst bin ich der Meinung, daß ein solches Projekt vielen jungen Diplomingenieuren eine selbständige Arbeit gibt. Ein gutes Kollektiv...“ „Das hängt doch nicht von mir ab“, wehrte Werner den verfrühten Plänen Heinos. Sie kamen jedoch immer öfter auf diese Zukunftspläne zurück. In ihrer freien Zeit saßen sie beisammen, sprachen über Details der Produktion und verwuchsen bald derart mit diesem Projekt, daß sich Werner besorgt fragte, was denn werden solle, wenn er die Aufgabe nicht bekäme. Ihnen schien bald, ihr ferneres Leben sei allein von dieser Aufgabe bestimmt, sie nahm in ihren Zukunftsplänen einen immer größeren Raum ein. Die Vorbereitungen seiner Diplomarbeit lenkten Werner wohltuend von den Gedanken an Natascha ab, die ihn unablässig bedrängten und sich als Träume in seine Nächte stahlen. Er sah sie zum Greifen deutlich vor sich, lag wieder mit ihr am Strand des Kuibyschewer Meeres, flog mit ihr über die Wolga dahin, spazierte mit ihr durch Mirny und saß mit ihr auf dem Balkon des Hotels von Onkel Wassja. Doch wenn er sie ergreifen wollte, griff er ins Leere. Es gab auch Schlimmeres: Natascha an der Seite eines anderen. Erwachte er am Morgen, war er schweißgebadet und mißgestimmt. Was mochte sie von ihm denken? Was dachten ihre Verwandten? Sie mußte inzwischen ihr Studium beendet haben, und er wußte nicht einmal, wo sie sich befand. Als er ihr noch schreiben konnte, hatte er es unterlassen, aus Schuldbewußtsein, Scham und falschem Stolz. Er hatte sich eingeredet, in ihren Augen nun derselbe haltlose Mensch zu sein, als den Evelyn ihn bezeichnet hatte. Er glaubte nur noch bestehen zu können, wenn er die Konsequenzen zog. In Wirklichkeit war es nichts als blanke Furcht, von ihr ebenso abgefertigt zu werden wie damals von Evelyn. Er trug es Evelyn nicht nach und wußte auch, daß Natascha ebenso recht hätte wie Evelyn. Aber bei Natascha wog es schwerer... Sollte er sich jetzt, nach mehr als zweijährigem Schweigen, an Onkel Wassja wenden, um ihren Aufenthaltsort zu erfahren? Sie dann um Verzeihung bitten?
Er hatte sie so oberflächlich eingeschätzt, daß er ihr mit äußeren Erfolgen imponieren wollte, um sie an sich zu fesseln. Ob sie ihm das je verzeihen konnte? Und Onkel Wassja? Er liebte Natascha und würde ihm gewiß mit der gleichen Verachtung begegnen, die ihm Natascha entgegenbringen mußte. Wenn er überhaupt antwortete... Nur einmal hatte Werner andeutungsweise zu Heino davon gesprochen. „Nimm mir's nicht übel, Werner, aber du hast einen Defekt“, hatte der in seiner geraden Art gesagt. „Das sind doch Komplexe. Schreib ihr einen Brief, und die Sache ist in Ordnung!“ Das nahm ihm den Mut, Heino alles zu sagen; zudem war da noch Evelyn, mit der Heino darüber sprechen konnte. Außerdem blieb Werner die Ausflucht, daß Heino anders urteilen würde, wüßte er die genauen Umstände. Durch die Diplomarbeit bekam er sich auch in dieser Sache in die Hand. Er vermochte die Gedanken an Natascha immer weiter zurückzudrängen, bis sie nur noch flüchtig an ihm vorüberzogen. Vielleicht würde er ihr noch einmal begegnen. Wenn sie ihm dann auch unerreichbar war, so wollte er ihr doch mit echten Leistungen gegenübertreten können, die sie uneingeschränkt anerkennen mußte, und die ihm das Recht gaben, über seine vergangenen Torheiten zu lächeln. Auf diese Weise befreit von einer baldigen Entscheidung, deren möglichen Folgen er sich nicht gewachsen fühlte, und gegen die drängenden Gedanken gewappnet, widmete er sich ganz der Diplomarbeit und richtete sich auch seelisch an den sichtbaren Erfolgen in dieser Arbeit auf. Mit jedem Abschnitt des Projekts bewies er sich selbst, wozu er fähig und daß er über diese Jugendkindereien hinausgewachsen war. Sein zurückgewonnenes Selbstvertrauen machte ihn sicherer im Auftreten, beherrschter im Umgang und zielbewußter in seinen Entscheidungen. Seine Eltern und auch Trautenhahn bemerkten diese Entwicklung mit Genugtuung. Hatte er nach dem Vorfall in Kuibyschew sein Urteil am Urteil der anderen überprüft und geschult, so war er jetzt seines Urteils sicher. Selbst Evelyn sagte eines Tages zu ihm, als er sie auf der Straße vor dem Kombinat traf: „Du hast dich sehr verändert, Werner. Fast bereue ich meinen Brief von damals. Ich hätte mehr Geduld haben sollen. Es muß sehr schmerzlich sein, von einem geliebten Menschen so brüskiert zu werden!“ Dabei sah sie ihn mit offenem Wohlgefallen an. Werner war nicht brutal genug, ihr zu sagen, daß sie offensichtlich mehr Liebe auf seiner Seite voraussetzte, als damals vorhanden war. Er hatte sich viel zu sehr von ihr gelöst, um noch aus gekränkter Eitelkeit irgendwelche Vergeltungsgelüste zu haben. Wenn Evelyns Worte auch schmeichelten, so war er doch verstimmt, als er an Heino dachte. Ob sie diesen prächtigen Menschen als Ersatz betrachtete? Dann aber schalt er sich einen Narren, der vergangenheitsbezogene Worte auf die Gegenwart überträgt. Als er seine Diplomarbeit abgeschlossen hatte, wußte er, daß sie gut war. Er wartete längst nicht so aufgeregt auf den Ausgang des Wettbewerbs, wie er sich das vorgestellt hatte. Er würde bestehen können, das wußte er, ob er nun gewann oder nicht. Es schien ihm nicht einmal wesentlich, ob er die Leitung des Projekts übernehmen würde. Auf jeden Fall würde er alles versuchen, daran mitzuarbeiten. Auch in seiner Einstellung zur Arbeit hatte er sich verändert. Das intensive Hineinwachsen in das Projekt hatte ihm klargemacht, daß es nicht so sehr darauf ankam, wer verantwortlich zeichnete, sondern daß Erfolge errungen wurden. Erfolge erzielte man aber nur in kollektiver Arbeit. Wesentlich war die Sache, und was man für diese Sache gab. War es für die Gesellschaft wichtig, ob Meier oder Schulze das Kollektiv leitete? Wichtig war nur, was das Kollektiv der Gesellschaft gab! Zu dieser Erkenntnis hatte Heino nicht unerheblich beigetragen. Fern aller Selbstherrlichkeit hatte er Werner wertvolle Anregungen vermittelt, ihn durch das Für und Wider in der Diskussion oft gezwungen, seine Überlegungen zu vertiefen und ihre Zweckmäßigkeit zu überprüfen; er hatte sich über den Fortgang des Projekts so gefreut, als sei es seine eigene Diplomarbeit. Ebenso selbstverständlich hatte Heino erwartet, daß sich Werner für seine Arbeit interessiere, und er war offensichtlich gar nicht auf den Gedanken gekommen, Werner könne ihm aus selbstsüchtigen Erwägungen irgendwelche Hinweise vorenthalten. So freute sich Werner, fast noch mehr als für sich selbst, für seine Brigade, für Trautenhahn, für seine Eltern und vor allem für Heino, dem er sich wegen der Anteilnahme verpflichtet fühlte, als er mit Auszeichnung bestand und damit den Wettbewerb gewann. Jetzt bewegte ihn der Gedanke: Er sollte die Leitung eines Kollektivs übernehmen - würde er allen Anforderungen gerecht werden?
10 Was Heino scherzhaft gefordert hatte, setzte Werner beharrlich durch: Heino wurde von der vorgesehenen Planstelle gestrichen und Werner beigegeben. Auf Veranlassung des Klubs junger Chemiker hatte der Jugendverband das Projekt zum Jugendobjekt erklärt. Diese Klubs dienten ja nicht nur der sinnvollen Freizeitgestaltung, nicht nur der Vorbereitung einer Zukunft mit vier und noch weniger Stunden täglicher Arbeitszeit, sie dienten vor allem der Erweiterung des Wissens, des Blickfeldes und damit des Verantwortungsbewußtseins. Sie ermöglichten, die schöpferische Kraft der Jugendlichen schneller zu entwickeln und besondere Begabungen zeitiger zu erkennen. Aus einem Klub junger Chemiker hervorgegangen, sollte der Kunststoff auch weiterhin bis zur Produktion in den Händen der Jugend bleiben. Der Gewerkschaftsbund hatte die Patenschaft übernommen und dem Jugendverband alle Unterstützung zugesagt. Zudem war dieser Kunststoff außerhalb des Wirtschaftsplanes entwickelt worden, sein nachträgliches Einordnen hätte einen Zeitverlust bedingt. Bei dem hohen Entwicklungstempo der Kunststoffindustrie wäre es nur schwer möglich gewesen, die Konstruktion der erforderlichen Anlagen als zusätzliche Aufgabe dem zuständigen Entwicklungsbüro zuzuweisen. Außerdem gedachte man durch größtmögliche Freizügigkeit das Verantwortungsbewußtsein zu stärken und das Entscheidungsvermögen zu schulen. Deshalb wurde das Kollektiv als selbständige Abteilung direkt dem Ministerium unterstellt und nur personell dem Kombinat angegliedert. Noch andere Gründe sprachen für diese Entscheidung. Die Spezialisten der Entwicklungsbetriebe besaßen ein hohes Können und reiche Erfahrung, unterlagen aber auch sehr leicht der Versuchung, in ausgetretenen Bahnen zu bleiben. Der Begriff der Betriebsblindheit war ja schon sprichwörtlich geworden. Zum anderen legte man auch Wert darauf, daß das künftige Leitungskollektiv sich möglichst schon während der Projektierung seines Betriebes mit den künftigen Aufgaben vertraut machte und beim Aufbau maßgeblich beteiligt war. Ein solches Kollektiv kannte die Anlage bis ins Detail und würde mit künftigen Schwierigkeiten besser fertig, es würde aber auch schon während der Entwicklung darauf achten, solche Schwierigkeiten weitgehend auszuschalten. Es war geplant, aus diesem Entwicklungskollektiv das künftige Leitungskollektiv zu bilden. Das Entwicklungskollektiv umfaßte vierzehn frischgebackene Diplomingenieure und Fachingenieure und zwanzig technische Fachkräfte. Es nannte sich „Entwicklungsabteilung für Hartsilikone-Produktion“ und sollte seinen Arbeitsplatz auf dem Gelände des Chemischen Kombinats erhalten. Werner kannte nur neun der künftigen Mitarbeiter, da die übrigen vierundzwanzig Arbeitsplätze dem Weltjugendbund und dem Wirtschaftsrat zur internationalen Vermittlung zur Verfügung gestellt waren. Diese dreiunddreißig Mitarbeiter würden allerdings erst zu ihm kommen, wenn seine Entwicklungsabteilung eine feste Heimstatt gefunden hatte. Vorerst galt es den Bau der Pilotanlage zu überwachen und etwa auftretende Mängel schnell zu beseitigen. Für die Pilotanlage war ihm innerhalb des Kombinats eine kleine Halle eingeräumt worden. Nicht alles, was im Labor möglich ist, läßt sich in die spätere Großproduktion übertragen. Deshalb erprobt man die veränderten Herstellungsverfahren in Pilotanlagen, paßt sie hier den Erfordernissen der industriellen Produktion an und baut danach die endgültigen Anlagen auf. Es war ein berauschendes Gefühl für Werner, als die erste Silikonlösung aus der Anlage lief und eine Probe erwies, daß die Berechnungen stimmten. Zwar ergaben sich verschiedene Änderungen, aber sie waren nicht erheblich. Mit seinen neun Kollegen, unter denen sich Heino befand, suchte Werner in einer Besprechung im Ministerium für Chemie, Hauptabteilung Kunststoffe, aus dem Baukatalog den Gebäudetyp aus, der ihnen als Arbeitsstätte dienen sollte. Natürlich wurden sie von erfahrenen Fachleuten beraten, doch man ließ ihnen die Freude, unter den in Frage kommenden Typen selbst zu wählen. Dieses Gebäude sollte während des Urlaubs, den sie nach dem Diplom-Examen beanspruchen konnten, aufgebaut werden. Werner verzichtete trotz des Protestes seiner Eltern und Trautenhahns auf eine Urlaubsreise. „Du bist ein Dickschädel, Werner!“ polterte Vater, nachdem er wohl zum zehnten Mal empfohlen hatte, den Urlaub am Schwarzen Meer oder in Italien zu verbringen. „Schalte einmal gründlich ab! Du hast eine große Aufgabe übernommen und brauchst deine Kräfte dafür!“ „Mir ist, als könnte ich Bäume ausreißen, Vater“, behauptete Werner und streckte die Arme. „Fortfahren? Ich hätte keine Ruhe. Laß mir doch die Freude, unser Gebäude wachsen zu sehen! Morgen geht es los ich muß dabeisein! Jetzt ans Schwarze Meer oder nach Italien ...?“ „Bernd hat dich auch eingeladen.“
„Das fehlte noch! Bernd wird meine Eselei von Kuibyschew nie begreifen, was glaubst du, wie genau er es mit Sicherheitsvorschriften nimmt. Als ich damals ins Kraftwerk wollte... Außerdem wird er nach Natascha fragen - ich habe keine Lust, dort an jeder Ecke daran erinnert zu werden.“ „Dann fahre nach Kuibyschew, erkunde Nataschas Adresse und suche sie auf. Wird Zeit, daß du mit ihr sprichst!“ „Nach Jahren? Das habe ich mir verscherzt, sprich nicht mehr davon! Und gib dir keine Mühe, mich zu verschicken. Verstehst du denn nicht? Ich kann nicht weg. Würdest du jetzt fahren, an meiner Stelle?“ Vater war zu ehrlich, um das sofort zu beteuern. „Du überfragst mich, mein Junge. Ich kann es nicht sagen, denn ich habe nie in deiner Lage gesteckt. Das Diplom in der Tasche und schon Leiter einer Sonderabteilung! Direkt dem Ministerium unterstellt, sich seine künftige Arbeitsstätte aussuchen können, als wäre es ein Eigenheim... Das gab es zu meiner Zeit noch nicht!“ „Nein, aber eure Arbeit, eure Leistungen haben ermöglicht, daß es das heute gibt. Begreifst du aber nicht, daß ich mich auch für den Bau verantwortlich fühle?“ „Es gibt einen Bauleiter“, warf Vater ein. „Na schön, dem will ich auch gar nicht dreinreden. Aber ich muß ganz einfach dabeisein, das Büro wachsen sehen. Morgen geht es los!“ „Fühlst du dich eigentlich der Aufgabe gewachsen?“ fragte Vater und lehnte sich im Sessel zurück, seinen Blick gespannt auf Werners Gesicht gerichtet. Doch Werners Miene verriet weder Unsicherheit noch Zweifel, nur Nachdenklichkeit. „Ich werde alles geben, was ich geben kann, Vater. Ich wurde von der Brigade empfohlen, von der Hochschule gefördert, vom Jugendverband ausgewählt und vom Ministerium bestätigt, die Gewerkschaft und die Partei haben mich ebenfalls empfohlen - sie werden gewußt haben, weshalb. Ich will jedenfalls alles tun, damit sie sich nicht geirrt haben.“ „Na ja, nach deinem Diplom zu urteilen...“, sagte Vater. „Das Diplom allein hilft mir nicht, ich werde sehr eng mit dem Klub, mit dem Forschungsrat und vor allem mit den Kollegen zusammenarbeiten - und außerdem: Keiner von denen, die sich für mich verwendeten, wird mich im Stich lassen, das weiß ich. Weshalb also Bedenken haben? Früher wollte ich alles allein machen, fühlte mich stark genug, um mit dem Kopf durch die Wand zu gehen - heute habe ich begriffen, um wieviel stärker und klüger die Gemeinschaft ist. Nur vor einem graut mir...“ „Und das wäre?“ fragte Vater gespannt und beugte sich vor. „Daß mir einmal so ein überschäumender Jüngling über den Weg läuft, der sich Scheuklappen aufsetzt und seine Umwelt vergißt, wenn er eine Idee hat.“ „Du meinst ein Werner Hardenstein in Neuauflage?“ Vater schmunzelte. „Genau das! Ein einzelner kann nie die ganze Wirklichkeit erfassen, er wird immer nur ein begrenztes Blickfeld haben.“ Werner begab sich fast täglich zur Baustelle. Am ersten Tag ebneten Planierraupen das Gelände zwischen den alten Laubbäumen am Fluß. Am zweiten Tag fraßen sich die unersättlichen Mäuler zweier Erdbohrer gierig in den Boden, versenkten Kranwagen Betonsäulen in die frischen Löcher. Vom dritten Tag an rollten Spezialwagen mit großen Platten heran. Schnell waren die Bodenplatten auf den Säulen verankert, und schon wuchsen die Wände aus Schaumbeton, zeichneten sich die einzelnen Zimmer ab, verbanden Monteure die Platten und die in ihnen eingelassene Installation. Am sechsten Tag setzten die Kräne die Decke auf. Wie im Spielzeugbaukasten paßten die Teile ineinander, fuhren die Schraubbolzen in die Bohrungen. Während sich die Dachträger auf das langgestreckte Gebäude senkten und die
ersten Dachplatten befestigt wurden, begannen die Innenmonteure mit ihrer Arbeit. Aus ihren Spritzpistolen sprühte flüssiger Kunststoff in die Fugen der kunststoffverkleideten Wände. Diese Verkleidungen waren farbig, weich und schallschluckend. Ebenso weich waren auch die Fußbodenbeläge, die auf die glatte Schaumgummischicht der Bodenplatten gespritzt wurden. Die ersten Lampen und Infrarotstrahler wurden angeschlossen, und schon kamen Lastwagen mit Möbeln, Zeichen- und Rechenmaschinen, wurden im Inneren des Gebäudes die Kunstfaservorhänge in die eingegossenen Schienen geklemmt. Am achten Tag saß Werner wie gewöhnlich auf einem Baumstumpf am Rande des Bauplatzes. Wenn das so weiterging, würde das Gebäude am übernächsten Tag bezugsfertig sein. Er war bester Laune. Alles in ihm drängte danach, sich an den Schreibtisch zu setzen und mit den Vorarbeiten zu beginnen. Er beschloß, ungeachtet seines Urlaubs sofort nach der Fertigstellung die Arbeit aufzunehmen. Wer kam schon hierher? Das Gebäude lag abseits, er würde eine märchenhafte Ruhe haben. „Nun dürftest du dich aber überzeugt haben, daß alles in Ordnung geht, finde ich!“ sagte eine Stimme hinter ihm trocken. Werner fuhr herum. Der BGL-Vorsitzende und der Parteisekretär des Kombinats standen hinter ihm. Die hatten ihm gerade noch gefehlt! „Ich wollte nur mal sehen, wie es vorangeht“, sagte er leichthin. „Du hast schon besser geschwindelt“, stellte der Parteisekretär so trocken wie vorher fest. „Jeden Tag hast du hier gesessen!“ Dabei sah er Werner aus munteren Augen vorwurfsvoll an. „Ich habe Urlaub und kann...“, begann Werner aufbegehrend, aber der BGL-Vorsitzende unterbrach ihn. „Höre ich recht? Urlaub? Und da sitzt du täglich hier herum? Nach dem Diplom und mit dieser Aufgabe vor dir?“ „Brauchst mich nicht in Watte zu packen! Das hier ist für mich Erholung“, wehrte sich Werner entschlossen. „Na gut, verstehen wir“, lenkte der Parteisekretär listig ein. „Aber nun hast du dich hier genug erholt, jedenfalls wird deine weitere Erholung jetzt nicht mehr durch die Furcht beeinträchtigt, daß der Bau nicht rechtzeitig fertig wird. Übermorgen kommen die letzten Sachen. Wir versprechen dir, daß wir den Bau sorgfältig abnehmen.“ „Ich habe schon veranlaßt, daß mir der Schlüssel zugestellt wird. Beim Pförtner ist er mir zu unsicher“, sagte der BGL-Vorsitzende grinsend. „Es würfe ein schlechtes Licht auf dich, müßte ich ihm sagen: Falls der neue Chef der Entwicklungsabteilung Hartsilikone nach dem Schlüssel fragt, sag ihm, bis zu seinem Dienstantritt sei der Bau gesperrt.“ „Das ist ein starkes Stück!“ fiel Werner ein. „Ich unterstehe direkt dem Ministerium!“ „Ei, ei, ei“, murmelte der Parteisekretär kopfschüttelnd. „Ist noch gar nicht im Amt und schon überheblich. Wird ja eine schwierige Zusammenarbeit werden zwischen ihm und dem Kombinat.“ Werner musterte ihn und suchte nach einer passenden Antwort. Diese Anzapfung mußte pariert werden. Der BGL-Vorsitzende enthob ihn der Erwiderung. „Rein formell betrachtet, Werner, unterstehst du erst ab nächstem Ersten dem Ministerium, bis dahin gehörst du noch zu uns. Wir bezahlen deinen Urlaub und...“ „... wachen unerbittlich darüber, daß du dich für unser Geld gut erholst“, fiel der Parteisekretär ein. „Scherz beiseite. Wir sind für den Bau verantwortlich, die Schlüsselübergabe erfolgt am Ersten, keinen Tag eher! Was deinen Urlaub angeht, Werner - sei vernünftig. Wir haben alle großes Vertrauen zu dir, deshalb hast du den Auftrag bekommen - aber wir wissen ebenso, daß es eine schwierige Aufgabe ist, namentlich für backwarme Diplomingenieure. Du brauchst bald deine Kräfte bis zum letzten. Deshalb wäre es vernünftig, wenn du nun endlich deinen Urlaub antrittst. Du darfst uns nicht enttäuschen, Werner! Ich weiß, du wirst dich ganz einsetzen - aber es wäre unverantwortlich, würdest du dann schlappmachen, weil du nicht genügend Reserven aufgespeichert hast. Natürlich zwingen wir dich nicht - aber wir erwarten es von dir. Und ich denke, du kannst soviel Vertrauen zu uns haben, daß hier alles in Ordnung geht?“ Werner brummte erst. Der Sekretär wußte doch ganz genau, daß es nicht darum ging. Aber dann lenkte er ein. „Na gut. Ich weiche dem moralischen Zwang!“ Der BGL-Vorsitzende lachte, doch der Parteisekretär sagte gelassen : „Wem du weichst, ist gleich, aber weiche, Werner, weiche! Und erhol dich gut!“ Kirik Mokrinski, der junge Diplomingenieur mit dem Jägerblick und dem Waldläufergang, verbrachte seinen Urlaub daheim, in seiner Heimat am Rande der Taiga. Sein Äußeres trog nicht. Er entstammte einer alten Jägerfamilie, obwohl sein Vater, trotz des hohen Alters noch sehr beweglich, seine reichen Erfahrungen schon seit mehr als vierzig Jahren als Leiter einer Pelztiersowchose zur Verfügung stellte. Auch Kiriks drei Brüder und zwei seiner Schwestern arbeiteten in der Sowchose, während die dritte Schwester am Moskauer Konservatorium einen Lehrstuhl innehatte und die vierte Schwester als Raketeningenieurin neue Raumschiffe entwarf. Aber auch die daheimgebliebenen Geschwister hatten
studiert. Ein Bruder und eine Schwester waren Tierärzte und hatten mit der medizinischen Betreuung der Zehntausende Pelztiere vollauf zu tun, während die andere Schwester Ökonomie studiert hatte und der kaufmännischen Abteilung vorstand. Einer der verbleibenden beiden Brüder war Maschineningenieur und verantwortlich für die technischen Anlagen und den Fuhrpark. Der andere, Zweitälteste Bruder Kiriks war das Sorgenkind des alten Stepan Iwanowitsch. Kirik amüsierte sich stets, wenn der rüstige Greis dem fünfundsiebzigjährigen Bruder in seiner bärbeißigen, aber gutgemeinten Art bittere Vorhaltungen machte, weil er nicht studiert hatte und sich für zu alt hielt, das jetzt noch nachzuholen. „Es ist eine Schande, Söhnchen!“ begann der Alte meist. „Was soll bloß die Partei von mir denken, daß ich es nicht fertigbringe, aus dir einen fortschrittlichen Menschen zu machen? Fühlst dich mit deinen fünfundsiebzig Jährchen zu alt! Da war ich doch ein anderer Kerl, als ich so jung war wie du. Sieh dir Kirik an - so jung war ich damals!“ „Aber Papa!“ erwiderte der Bruder dann. „Lohnt es sich noch, der Gemeinschaft die Kosten für ein Studium aufzubürden, ich kann es ja gar nicht mehr voll nützen.“ Gewöhnlich kam er damit schlecht an. Stepan Iwanowitsch wies auf sich und räsonierte, die Jugend habe keinen Unternehmungsgeist mehr. Manchmal kam auch der Parteisekretär dazu. Er verteidigte den Sohn. „Das ist nicht schön von dir, Sekretär, ist es nicht! Mich vor meinem Jungen bloßzustellen. Wo soll da der Respekt vor dem Vater bleiben? Und du, Söhnchen, geh an die Arbeit!“ „Stepan Iwanowitsch, so geht es nicht! Du kannst stolz auf deine Söhne sein, die - weit über die Altersgrenze hinaus - sich weigern, ihre wohlverdiente Pension zu genießen.“ „Papperlapapp!“ machte der Alte wütend. „Wem willst du zumuten, sich in den Schaukelstuhl zu setzen? Das wäre ja barbarisch, seit einem halben Jahrhundert müßte ich schon schaukeln! Zum Donner, da wäre ich längst hinter dem Ofen vertrocknet. Daß du so was meinem Sohn anbietest! Daß du diesen Nichtsnutz noch unterstützt!“ „Nichtsnutz? Dabei hast du ihn selber zur Auszeichnung vorgeschlagen, und jeder weiß, daß deine Kinder bei dir zuallerletzt drankommen.“ „Was?“ schnaubte der Alte entrüstet. „Bin ich ein Rabenvater?“ „Man könnte es glauben, wenn du deinem Iwan das hohe Alter mit deinen Sticheleien so verdirbst!“ Meist drehte sich der Alte dann entrüstet um und ging wortlos davon. Aber er nahm es nie krumm und ließ Iwan für ein Weilchen in Ruhe. Es war ja auch nicht böse gemeint. Er hatte sich seinerzeit selbst zu alt gefühlt, um noch zu studieren, und er glaubte, damit der Gemeinschaft etwas schuldig geblieben zu sein. Deshalb ärgerte es ihn, daß auch Iwan diese vermeintliche Schuld auf sich nahm und damit seine eigene Schuld noch vergrößerte. So sehr sich alle bemühten, ihm das auszureden, es gelang keinem. Dieser Komplex, inzwischen zur Schrulle geworden, saß fest, und er trug wohl auch dazu bei, ihn rüstig zu erhalten, denn immer war er in Bewegung, um zu beweisen, daß er auch ohne das damals abgelehnte Studium der Gemeinschaft nichts schuldig blieb. Dieses unermüdliche Bemühen hatte ihm höchste Achtung errungen, eine Achtung, die ihm auch die Schrullen verzieh. Seine Grundeinstellung war den Töchtern und Söhnen zum Vorbild geworden. Deshalb konnte man ebensowenig wie den Alten die älteren Geschwister dazu bringen, nach dem Erreichen der Altersgrenze ihre Arbeit aufzugeben. Im übrigen war Stepan Iwanowitsch ein liebevoller Vater, der auch in seinem hohen Alter noch glaubte, über seine Kinder wachen zu müssen, und der seine Enkel und Urenkel rührend umsorgte. Kirik jedenfalls fühlte sich wohl, als er mit ihm für einige Wochen wieder unter einem Dach lebte. Der Alte bemühte sich, ihm den Urlaub so schön wie möglich zu machen, denn es rührte ihn, daß die Kinder trotz seiner rauhen Art an ihm hingen. Er kannte Kiriks Jagdleidenschaft und fand manche Stunde, mit ihm auf die Pirsch zu gehen. Kirik erholte sich prächtig in der vertrauten Umgebung, aber seine Gedanken weilten oft in Kuibyschew. Natascha hatte dort im Ölfeld ihre Arbeitsstelle gefunden. Sie waren sich nähergekommen, seit Werner nach Deutschland zurückgeflogen war. Da er mit Kirik auf einem Zimmer gewohnt und am gleichen Auftrag gearbeitet hatte, wandte sie sich seinerzeit nach ihrer Rückkehr an Kirik, um Genaueres zu erfahren. Kirik hatte sich nach Kräften bemüht, Werners Verhalten verständlich zu machen, obwohl er es selbst keinesfalls billigte. Geradlinig, wie er war, tat er es jedoch recht ungeschickt, und Natascha spürte bald, wie er wirklich dachte. Nun setzte sie ihm derart zu, daß er ihr die Tatsachen schilderte, auch den eigentlichen Grund für Werners Verhalten. „Werner hatte einen Minderwertigkeitskomplex dir gegenüber. Er wollte dich nicht verlieren und versuchte deshalb, dir zu imponieren“, hatte er zu ihr gesagt. „Die Geschichte mit Kolja mag schuld sein und unsere dumme Rederei, du würdest hohe Ansprüche stellen, und man müßte dir imponieren...“ Als er ohne Vorbehalte sprechen konnte, fand er auch ehrliche, warme Worte menschlichen Verstehens für Werner.
Natascha hatte das alles erst verdauen müssen, und Kirik bereute, ihr von Werners Gründen erzählt zu haben, denn sie war gekränkt, daß er sie so oberflächlich eingeschätzt hatte. Dennoch interessierte sie sich sehr für Werners Briefe an Kirik, die In der ersten Zeit noch kamen. So hatten sie sich hin und wieder getroffen und diese gemeinsamen Stunden auch beibehalten, als Werners Briefe ausblieben. Bald sprachen sie nicht mehr von Werner. Sie wurden sehr vertraut, aber mehr als Freundschaft war nicht. Eines Tages saß Kirik, wie so oft, oberhalb des Ortes auf einer Bank und schaute hinab ins Tal. Der Ort mochte tausend Häuser haben. Sie gruppierten sich um das große Kulturhaus und schmiegten sich an die sanften Hänge. Das Ambulatorium und der Kindergarten befanden sich am jenseitigen Hang, während die Pelztiersowchose den oberen Ortsteil im Tal begrenzte. Am unteren Ortsausgang, wo das Flüßchen sich mit mehreren Bächen vereinigte, standen ein modernes Sägewerk, das kleine Heizkraftwerk, das die Ortschaft mit Energie und Wärme versorgte, und der Wirtschaftshof der landwirtschaftlichen Abteilung der Sowchose. Talauf zogen sich Hauptstraße und Schienenstrang der elektrischen Nebenbahn, die hier endete. Kirik saß gern hier oben. Es verstärkte das Gefühl, Ferien zu haben, wenn er die elektrischen Triebwagen und die Kraftwagen beobachtete oder die Raupenschlepper über die Felder kriechen sah. Überall emsige Geschäftigkeit - und er befand sich auf einer Insel der Ruhe, lauschte dem Gezwitscher der Vögel, dem fernen Bellen der Hunde, dem verlorenen Pfiff der Bahn und dem Tuckern der Trecker. Langsam wurde es Zeit, daß er wieder Arbeit unter die Finger bekam. Man wurde steif, wenn man so gemächlich durch die Tage schlenderte. Morgen ging er noch einmal mit Vater auf die Jagd, aber dann wollte er ihn bitten, sich in der Sowchose betätigen zu können. Wenn Vater ablehnte, würde er seine Schwester Lusja, die Tierärztin, bitten, ihn mitzunehmen. Sie war nur fünf Jahre älter als er und stand ihm von den Geschwistern am nächsten. Auf dem Feldweg, der sich unter ihm entlangschlängelte, brummte wie eine gereizte Hummel ein Raupenschlepper vorüber. Als das Brummen abriß, blickte er hinunter. Ein Mädchen winkte ihm. „Kirik, kommst du heute abend zum Tanz ins Klubhaus?“ rief sie herauf. Kirik hatte Mühe, unter dem Kopftuch die Diva zu erkennen, wie Nina im Ort genannt wurde, ein reizendes, aber auch eigenwilliges Mädchen. „Ich komme!“ Der Schlepper brummte auf und zog davon. Zurück blieb Kirik mit seinen Gedanken. Daß die Mädchen aus dem Ort ihm nachsahen, hatte er bemerkt, daß aber auch Nina... Er wußte, viele Burschen aus dem Ort warben um sie - und Natascha würde er wohl kaum erringen! Zwar hatte er sich nach Kuibyschew ins Erdölkombinat beworben, aber ob es Sinn hatte, auf mehr als Freundschaft zu hoffen? Jedenfalls ging er heute zum Tanz - mit Nina! Das Dröhnen eines niedrig fliegenden Hubschraubers schreckte ihn auf. Das Postflugzeug! Es brachte die Post direkt aus der Hauptstadt des Rayons, wie überhaupt eilige Güter aus der Umgebung mit dem Flugzeug befördert wurden. Der Ort hatte eine ständige Verbindung mit der Hauptstadt. Kirik blickte nach dem Kennzeichen der Maschine. Dann winkte er mit seinem Jackett. Der Pilot war ein Neffe von ihm, allerdings zehn Jahre älter als Kirik. Er wohnte im Ort und wußte, daß Kirik Post erwartete. Fast täglich war Kirik zu ihm gegangen. „Hast du Post aus Kuibyschew dabei?“ Meist wurde er enttäuscht. Der Hubschrauber flog talauf, und Kirik sah deutlich den Neffen, der den Winkenden bemerkt haben mußte, denn die Maschine verlangsamte ihren Flug. Der Pilot öffnete ein Seitenfenster und winkte Kirik. Dabei wies er mehrmals zum Ort. Kirik sprang auf und setzte sich in Bewegung. Der Hubschrauber landete auf dem umzäunten Platz neben dem Gemeindeamt, in dem sich auch die Post befand. Ein Brief von Natascha - da war Nina vergessen. Kirik trabte frohgestimmt und erwartungsvoll zum Ort hinab. Sein Neffe war noch im Postamt, als er hineinstürmte. Marka, die Leiterin des Postamtes, war eine Nichte von Kirik, wie die meisten Ortsbewohner irgendwie mit ihm verwandt waren. „Sieh dir unseren Onkel an“, sagte der Pilot scherzend zu seiner Kusine. „Diese Jugend! Trabt wie ein Langstreckenläufer hinter der Maschine her - wegen eines Liebesbriefes!“ „Sprich nicht so respektlos von unserem Onkel!“ verwies ihn Marka mit schalkhaftem Lachen. Sie war fast doppelt so alt wie Kirik. „Diese Verwandtschaft bringt mich noch um!“ keuchte Kirik. „Gebt mir schon den Brief!“ Verwundert hielt er ihn in der Hand. Nicht von Natascha? „Wirtschaftsrat - Abteilung für Nachwuchsfragen“ stand als Absender darauf. Der Neffe grinste, als er das enttäuschte Gesicht sah. „Ich muß wohl mal mit deinem Vater reden!“ drohte Kirik dem Älteren und öffnete den Umschlag. „Auf Grund Ihrer Leistungen und einer Empfehlung des Weltjugendbundes haben wir Sie für ein Jugendobjekt vorgesehen“, las er. Und: „Es handelt sich um die Entwicklung einer neuen Kunststoffproduktion in Deutschland. Sollten Sie nicht grundsätzlich abgeneigt sein, erbitten wir Ihren Besuch für den...“ Kirik wischte sich über die Augen und las noch einmal. „... bitte telegrafieren Sie uns,
ob Sie kommen. Ihre Planstelle im Erdölkombinat Kuibyschew wird bei Ihrem Einverständnis von uns zur anderweitigen Besetzung freigegeben.“ „Was Schlimmes?“ fragte der Pilot. „Du machst ja ein Gesicht!“ Kirik gab ihm den Brief. „Nerven haben die! Als wäre es nach Prag ein Morgenspaziergang“, sagte der Pilot. „Aber was machst du, Kirik?“ „Fliegen natürlich! Mit dir zur Hauptstadt, von dort mit der Düsenmaschine nach Moskau und weiter nach Prag. Wenn du mich früh mitnimmst, bin ich nachmittags beim Wirtschaftsrat. Das ist eine Auszeichnung, von der ich mir nichts hätte träumen lassen. Los, Marka, telegrafieren wir, daß ich komme. Zwei Tage bleiben mir noch, dann geht es wieder hinaus. - Es war schön bei euch“, sagte er, und sein Blick auf den Marktplatz mit dem großen Warenhaus war schon Abschiednehmen, „aber die Ruhe hier bin ich nicht mehr gewohnt.“
11 Werner hatte tief und traumlos geschlafen. Er war sofort hellwach, als Mutter ihn rief. Ihre Stimme hatte anders geklungen als sonst, drängender, als könne sie nicht erwarten, daß er komme. Schnell sprang er aus dem Bett, ging ins Badezimmer und prustete unter der Brause. Heute war sein Urlaub zu Ende. Ob Mutter deshalb anders gerufen hatte? Als er das Wohnzimmer betrat, fiel ihm auf, daß es erst sieben Uhr war. Die Schlüsselübergabe fand um zehn statt. Weshalb hatte Mutter es so eilig gehabt? Auch beim Frühstück waren die Eltern seltsam. Sie blickten sich bedeutungsvoll an und aßen mit ungewohnter Hast, die sich ungewollt auf ihn übertrug. „Nun komm schon!“ sagte der Vater, als Werner sein Messer weglegte. Sie begaben sich zur Haustür. Mutter öffnete. Werner stockte der Atem. Auf dem Gartenweg stand ein Sportwagen der neusten Konstruktion. „Viel Freude damit!“ sagte Vater. Mutter fügte hinzu: „Und viel Glück zum heutigen Tag!“ Es war ein schnittiger Wagen, mit spritzigem Temperament, dabei sehr bequem. Werner beschnüffelte ihn von allen Seiten. Sein Gesicht strahlte wie seit langem nicht. Kreiskolbenmotor von einhundert PS. Dem Körper angepaßte Sitze. Sicherheitsgurte. Automatisches Getriebe. Luftfederung. Luftkammerreifen. Jungenhaft huschten seine Augen von einem Detail zum anderen, seine Hände faßten hierhin und dorthin. Infrarotseher für Nebel und Nacht. Radaranlage mit automatischer Notbremsung. Selbststeuereinrichtung für die Leitstreifen der Fernverkehrsstraßen. In das Wagenheck einfahrbares Hartverdeck. Glasfaserkarosse. Die Feinheiten entdeckte er erst bei genauerem Hinsehen. Die Sitze waren gleitend befestigt. Bei hoher Bremsverzögerung, wie sie beim Zusammenprall auftrat, rissen sie sich aus der Halterung und bewegten sich nach vorn, wobei sie immer stärker abgebremst wurden. Das Armaturenbrett war schaumgummigepolstert und ebenso wie die Sessel beweglich. Um den Wagen lief eine Stoßleiste, deren einzelne Sektoren aus einem Kunststoff bestanden, der jeder Verformung zunehmenden Widerstand entgegensetzte. Die Lenkung entlockte Werner einen Pfiff der Überraschung. Der neuste Typ! Bisher war die Lenksäule bei frontalem Zusammenstoß eine große Gefahrenquelle, viele Kraftfahrer hatten sie sich in die Brust gerammt. Man hatte die Lenkräder elastisch ausgeführt, in Schüsselform und mit nur einer Speiche, damit sie den Aufprall abfingen, aber auch sie hatten das Übel nicht ganz beseitigt. Hier aber bestand außerdem die Lenksäule aus einem Teleskopstab, der sich zusammenschob, wenn der Fahrer beim Unfall dagegengepreßt wurde; auch er setzte dem Zusammendrücken zunehmenden Widerstand entgegen, so daß der Fahrer nicht auf das Armaturenbrett aufschlug. Eine Rücklaufhemmung verhinderte federartiges Zurückschnellen. Natürlich war dieser Teleskopstab mit einer Sperre ausgestattet, die nur dann ausgelöst wurde, wenn die Kräfte größer waren als bei einer Eigenbremsung des Wagens. Mutter bemerkte Werners prüfende Handgriffe und ermahnte ihn, vorsichtig zu fahren. „Was soll mit diesem Wagen noch passieren?“ fragte er übermütig, fügte aber sofort beruhigend hinzu: „Das ist doch kein Rammbock, Mutter. Rechtzeitiges Bremsen ist immer noch die beste Sicherheitseinrichtung.“ „Nun fang aber möglichst nicht schon morgen an, den Motor zu frisieren!“ sagte Vater.. „Wie kommst du darauf?“ „Bernd erzählte mir damals von eurem Gespräch. Erst wollte ich dir einen Motorenbaukasten kaufen, aber dann fiel mir noch rechtzeitig ein, daß du ja sehen willst, was das Frisieren einbringt. Alter Bastler! Wenn du den Motor ganz wegfrisiert hast und ohne Kraftstoff auskommst, kaufe ich mir auch wieder einen Wagen!“ „Perpetuum mobile - ihr seid mir Ingenieure!“ rief Mutter. „Haltet laienhafte Reden, anstatt eine Probefahrt zu machen!“ „Einsteigen!“ sagte Werner sofort. „Ich hole nur noch meine Papiere. Wohin fahren wir? Querfeldein? Die Luftfederung verschafft uns eine Bodenfreiheit von hundertdreißig bis vierhundertfünfzig Millimetern, je nach Bedarf.“ Frohgestimmt hielt er nach der Probefahrt vor dem Klubhaus des Werkes, in dem die Schlüsselübergabe erfolgen sollte.
Der Saal war festlich geschmückt. Chrysanthemen und Grünpflanzen, Fahnen des Wirtschaftsrates und der einzelnen Länder, deren Angehörige in diesem Kollektiv vereinigt wurden. Fahnen des Jugendverbandes und des Weltgewerkschaftsbundes. Werner schüttelte viele Hände. Noch wußte er nicht, welche davon mit ihm gemeinsam schaffen würden. Es waren auch Vertreter des Weltjugendverbandes, des Wirtschaftsrates, der Regierung des Gastlandes, der Partei und des Gewerkschaftsbundes anwesend. Musik erklang und versetzte die Teilnehmer in feierliche Stimmung. Der Direktor des Chemischen Kombinats, das die Patenschaft übernommen hatte, eröffnete die Veranstaltung. Der Vertreter des Weltjugendbundes stellte die einzelnen Mitglieder vor: Afrikaner, Europäer, Asiaten und Südamerikaner. Gemeinsam würden sie diese Aufgabe lösen. Als Kiriks Name fiel und er sich erhob, gelassen und selbstsicher, glaubte Werner zu träumen; es fiel ihm schwer, mit der Begrüßung zu warten, bis die Veranstaltung vorüber war. Der Vertreter des Weltgewerkschaftsbundes überbrachte dem jungen Kollektiv die Grüße und Glückwünsche des Präsidiums und gab der Hoffnung Ausdruck, daß das Kollektiv sich stets seiner hohen Verantwortung bewußt sei. Nach ihm erhob sich der Vertreter des Wirtschaftsrates, würdigte die Bedeutung des Objekts, wünschte dem Kollektiv Erfolg und versprach jede gewünschte Unterstützung. Auch die Vertreter der anderen Institutionen würdigten aus der Sicht ihrer Aufgaben die Bedeutung dieser Stunde. Keiner beendete seine kurzen und grundsätzlichen Worte, ohne dem Kollektiv echte Hilfe versprochen zu haben. Schließlich übergab ein Vertreter des Klubs junger Chemiker Werner den Schlüssel. Man hob die Gläser und stieß an. Werner, der lange Reden haßte, wenn sie nichts Neues brachten, der vor allem Feiern fürchtete, in deren Mittelpunkt er selbst stand, war verwundert, wie schnell diese Stunde vergangen war. Er fühlte sich wunderbar gestärkt, voll optimistischem Schwung. Heino und Kirik an seiner Seite - die übrigen, noch unbekannten Mitarbeiter waren gewiß aus dem gleichen Holz - und die Gewißheit der echten Hilfsbereitschaft aller maßgeblichen Institutionen: Wo sollten da noch Bedenken nisten können? Am Eingang zum neuen Bürogebäude erwartete ihn eine Delegation seiner Brigade und überreichte ihm Blumen. Es waren die Kollegen seiner ehemaligen Schicht. Trautenhahn legte ihm die Hand auf die Schulter. Er war sichtlich bewegt. „Vergiß nicht, wo wir wohnen, Werner.“ Evelyn sagte: „Ich freue mich für dich - und nichts für ungut!“ und wandte sich dann zu Heino. Der kleine Breier federte heran, warf sich in die Brust und sagte in seiner betont selbstbewußten Art: „Ich habe es ja immer gesagt, du bist ein Prachtkerl! Wir sind stolz auf dich! Leiter einer internationalen Auswahl der besten Köpfe!“ Diese Tirade war Werner vor seinen Mitarbeitern peinlich, er verbarg das hinter einem undurchsichtigen Lächeln und war froh, als Jumbo zu ihm trat. „Besuche uns oft - und ruf uns, wenn du Hilfe brauchst! Klar?“ Die gemeinsame Arbeit führte das neue Kollektiv schnell zusammen. Während der größere Teil sich tatendurstig der Pilotanlage widmete und ihr den letzten Schliff zu geben suchte, befaßten sich die
anderen bereits mit den Vorarbeiten des großen Projekts. Es galt, die Pilotanlage noch einmal in all ihren Teilen zu durchdenken und zu überprüfen, damit die Großproduktion später ohne Störung und mit höchstmöglicher Produktivität laufen konnte. Jeder einzelne der Gruppe Pilotanlage, die von Heino geleitet wurde, überprüfte die Anlage von seiner Perspektive aus und machte Änderungsvorschläge, die das gesamte Kollektiv begutachtete. Versprachen sie Erfolg, so wurden sie schnell verwirklicht. Bei einer solchen Betriebsamkeit, die jeden einzelnen mitriß, reichte natürlich die Kraft der Facharbeiter unter den Hilfskräften nicht aus. Da es zudem keine sozialen Unterschiede mehr gab und Ingenieur, Diplomingenieur oder Doktoringenieur lediglich Qualifikationsbezeichnungen waren, sah man einträchtig Facharbeiter und Ingenieure Hand anlegen. Darüber hinaus fanden viele Besprechungen mit erfahrenen Spezialisten anderer Institutionen statt, und oft sah man auch Werners ehemalige Kollegen bei der Pilotanlage; vor allem Trautenhahn gab aus seiner reichen Erfahrung wertvolle Hinweise. Indessen nahm das große Projekt mehr und mehr Gestalt an, formten sich die wesentlichen Züge der künftigen Produktionsstätte. Längst war Werner mit seinen anderen Mitarbeitern ebenso vertraut wie mit Heino und Kirik. Weil jeder einzelne sich für das Projekt verantwortlich fühlte, weil keiner persönliches Geltungsbedürfnis empfand, gab es keine Unterschiede zwischen ihnen, galt das Wort eines jeden gleich. Der Schwung, der sie erfüllte, unterdrückte alle persönlichen Nichtigkeiten. Selbstverständlich gab es heiße Debatten um das Für und Wider einer Neuerung. Jeder verteidigte seinen Vorschlag mit aller Energie, bis er überzeugt war, daß die Bedenken der Gegenseite berechtigt waren. Aber weil es jedem um die Sache ging, kamen durch diese Debatten keine persönlichen Differenzen auf, zumal der Meinungsstreit bis zur endgültigen Übereinstimmung geführt wurde. Und meist war es derjenige, dessen Vorschlag abgelehnt worden war, der dann mit aller Kraft den Gegenvorschlag verwirklichen half, schon um nicht in den beschämenden Verdacht zu kommen, er sei verschnupft oder in seiner Eitelkeit gekränkt. Dieser Kampf um den Erfolg trug sportlichen Charakter und erfüllte das Kollektiv mit einem stark ausgeprägten Mannschaftsgeist. Selten einmal hielten sich Meinung und Gegenmeinung die Waage, vermochte keine völlige Übereinstimmung erzielt werden. Obwohl Werner als Leiter des Kollektivs viele Entschlüsse fassen mußte und sich nie vor der Verantwortung scheute, machte er sich die Entscheidung in diesen Streitfällen schwer. Da kaum einer aus Eigensinn oder Selbstüberschätzung auf seinem Standpunkt beharrte, sondern jeder ernstlich bemüht war, der Sache den größten Erfolg zu sichern, fühlte sich Werner verpflichtet, die Ansichten sehr gewissenhaft zu überprüfen. In diesen Fällen richtete er sich nicht nur nach seiner eigenen Meinung, und es war für ihn nicht entscheidend, welche Meinungsgruppe am stärksten war. In rein fachlichen Fragen konnte man eine Entscheidung nicht nur nach dem Mehrheitsprinzip fällen. Zudem zwang ihn das ehrliche Bemühen jedes einzelnen um die Sache zur äußersten Sorgfalt. Deshalb holte er in diesen Fällen gewöhnlich noch die Meinung bekannter Experten ein. Zu seinen engsten Mitarbeitern bei der Vorprojektierung gehörten Kirik, Manuela Torres, eine südamerikanische Diplomingenieurin, Ahmed Haji Nkomo, ein afrikanischer Ingenieur, und Fan Yü-hua, eine chinesische Berechnungsingenieurin. Da Fan Yü-hua die elektronische Rechenmaschine bediente, die blitzschnell die kompliziertesten Rechnungen bewältigte, wurde sie scherzhaft „Dawai-Dawai“ genannt. Der ruhende Pol dieser Gruppe war Kirik, der in der Arbeit bei allem Tempo, das ihm eigen war, gelassen blieb. Sein temperamentvoller Gegenpol war Manuela, immer schwungvoll und ungeduldig. Kam ihr etwas in die Quere, so funkelten ihre dunklen Augen angriffslustig, sie warf den Kopf mit den blauschwarzen Locken in den Nacken und überschüttete den Widersacher mit einem Schwall von Argumenten, und nur wenige vermochten sich ihrem Feuer zu entziehen. Allein bei Kirik prallten diese Überfälle wirkungslos ab. Weder ihr ungewöhnlicher Reiz noch ihr nur mühsam gezügeltes Temperament beeindruckten ihn. So war es kein Wunder, daß sie sich besonders an Kirik rieb, ohne daß beide einander feind gewesen wären. Schoß sie einmal über das Ziel hinaus und griff in ihrer Erregung Kirik persönlich an, so verbeugte er sich ungerührt und sagte mit liebenswürdigem Gesicht, aber ironisch gefärbter Stimme: „Aus dem Munde einer schönen und klugen Frau sind selbst ungerechte Vorwürfe ein Vergnügen.“ Das genügte, um Manuela zu ernüchtern. Sie entschuldigte sich sofort und erörterte dann ruhig mit Kirik das strittige Problem. Über all das unterhielt sich Werner oft mit seinem Vater, der die Mitarbeiter und die Probleme des Kollektivs bald so genau kannte, als habe er täglich mit ihnen zu tun. „Ihr macht verblüffende Fortschritte“, stellte er eines Morgens fest, als sie beim Frühstück saßen. „Verblüffend?“ fragte Werner. „Ja! Verblüffend für mich. Ich habe oft darüber nachgedacht, woran das liegen mag. Wir haben euch erzogen, haben vom neuen Menschen mit dem neuen Bewußtsein geträumt, haben alle Möglichkeiten geschaffen, daß er sich entwickeln kann. Manchmal waren wir ungeduldig, es ging uns zu langsam, wir
haderten auch mit dem Erreichten - jetzt sind wir verblüfft über den Erfolg.“ Werner sah ihn begriffsstutzig an. Auch Mutter stellte die Tasse ab und hob ihren Blick zu Vater, aber sie wußte, was er meinte. „Erkläre mir das“, bat Werner. „Mal sehen, ob es mir gelingt“, begann Vater. „Wenn ich mir euer Kollektiv ansehe, eine derartig einmütige Zielstrebigkeit, eine solche Zusammenarbeit, frei von persönlichem Hader, das war früher selten. Damals spielten oft Neid, Mißgunst, Klatsch und vor allem politische Kurzsichtigkeit eine große Rolle im Zusammenleben, hemmten die Erfolge und vergifteten häufig den Alltag. Meist war der materielle Anreiz die Triebkraft des einzelnen - der Wunsch, eine Prämie zu erlangen, sich finanziell zu verbessern. Das sozialistische Denken, also das Verantwortungsbewußtsein der Gemeinschaft gegenüber, war noch nicht so ausgeprägt. Wer aber nur der Prämie wegen Erfolge zu erringen suchte, fühlte sich persönlich benachteiligt, wenn die Erfolge des anderen und damit dessen Prämien größer waren. Natürlich gab es schon Freude über des anderen Leistungen, gab es Menschen, deren Handeln vom Wohl der Gesellschaft bestimmt war, sonst wäre die Gesellschaft nicht vorangekommen, hätte es keine Neuerer, keine Kosmonauten, hätte es nicht die oft umwälzenden Erfolge - und vor allem keine echten Kommunisten gegeben. Aber es war noch nicht selbstverständliches Allgemeingut des Menschen, sich im Spiegel der Gesellschaft zu sehen und seine persönlichen Belange ihren Interessen unterzuordnen. Nicht alle Menschen verstanden, daß sich ihr Leben weitaus umfassender verbessert, wenn sich nicht nur ihr persönlicher, sondern auch der Lebensstandard der gesamten Gesellschaft erhöht. Nicht alle begriffen, daß es vor allem viel befriedigender ist und menschlich würdiger, Teil der Gemeinschaft zu sein, als nur Individualist. Aber euer Kollektiv... Es muß doch herrlich sein, in einer Gemeinschaft zu arbeiten, in der alle bewußt für die gemeinsame Sache schaffen, sich das Leben nicht mit persönlichen Zwistigkeiten vergällen und so auch nicht ihre gemeinsamen Erfolge schmälern. Leiter eines solchen Kollektivs - Junge, weißt du eigentlich, was für ein Glück du hast? Und welch leichtes Arbeiten ohne die vielen Streitigkeiten deiner Mitarbeiter, die du früher hättest mit in Rechnung stellen und nebenbei lösen müssen.“ Werner leerte nachdenklich seine Tasse. „Na ja, so gesehen bin ich eigentlich mehr Sekretär des Kollektivs, denn die meisten Entscheidungen bespreche ich vorher mit den betreffenden Mitarbeitern. Aber das kann doch meines Erachtens gar nicht anders sein. Ich kann doch keine Entscheidungen über die Arbeit des Kollektivs fällen, ohne mich dabei auf die Meinung des Kollektivs zu stützen. Richtig genommen bin ich der Treuhänder des Kollektivs.“ Der Tag kam, an dem die Pilotanlage einwandfrei arbeitete und Heinos Gruppe nur noch wenig zu tun hatte. Längst waren Mitarbeiter Heinos in der Projektierung eingesetzt worden, die inzwischen auf vollen Touren lief. Nun wurden auch die letzten seiner Gruppe mit Projektierungsarbeiten betraut. Nur zwei Kollegen widmeten sich weiterhin der Pilotanlage, und natürlich ein entsprechender Kreis von Fachkräften, die den Produktionsfluß unterhielten. Vorerst stellten sie nur Halbfertigprodukte her, Grundstoffe für die weiterverarbeitende Industrie, die ihnen herkömmliche Formen gab, da entsprechende Verarbeitungsmaschinen erst auf den Zeichenmaschinen entstanden. Indessen hatte sich Werners Kollektiv vergrößert. Junge Bauingenieure waren hinzugezogen worden und entwarfen bereits die Werkhallen und die Bürohäuser des künftigen Kombinats; sie kamen ausschließlich aus Afrika, da das Kombinat am Rande der Sahara errichtet und baulich den dortigen Verhältnissen angepaßt werden sollte. Der genaue Standort war noch zu ermitteln, er mußte kürzeste Transportwege für die Rohstoffe, das radioaktive Material, die Energie und Fertigprodukte ergeben. Das konnte Fan Yü-hua auf der elektronischen Rechenmaschine bestimmen. Die Vergrößerung des Kollektivs brachte organisatorische Veränderungen. Nach einer eingehenden Diskussion mit allen Mitarbeitern benannte Werner ein fünfköpfiges Leitungsgremium. Diesem Gremium gehörten neben ihm an: Manuela als seine Stellvertreterin, Ahmed Haji Nkomo als Chefkonstrukteur, der Hauptbuchhalter des Chemischen Kombinats, dem das Kollektiv in der Rechnungsführung angeschlossen war, und Heino als Leiter der Versuchsabteilung. Außerdem gründeten sie, darin bisher ebenfalls dem Kombinat angeschlossen, eine eigene Gewerkschaftsgruppe, eine eigene Jugendgruppe und eine eigene Parteigruppe. Heino wurde zum BGLVorsitzenden, Fan Yü-hua zur Jugendsekretärin und Kirik einstimmig zum Parteisekretär gewählt. Diese Funktionen erforderten hohes Einfühlungsvermögen, Fingerspitzengefühl und vor allem Weitsicht und politisches Verantwortungsbewußtsein, denn die Gewerkschaftsgruppe unterstand direkt dem Sekretariat des Weltgewerkschaftsbundes, die Jugendgruppe der Organisationsabteilung des Weltjugendbundes und die Parteigruppe dem Ständigen Internationalen Büro für Zusammenarbeit der Marxistischen -Parteien. Es würde nicht immer einfach sein, in allem international zu denken und sowohl den Auffassungen als auch den Temperamenten der verschiedenen Nationalitäten gerecht zu werden. Fan Yü-hua und Kirik gehörten selbstverständlich zum Leitungskollektiv.
Noch etwas änderte sich: Da der Standort des künftigen Kombinats in Afrika liegen würde, war das nationale Ministerium nicht mehr zuständig. Werners Abteilung wurde dem Wirtschaftsrat unterstellt. Das änderte jedoch nichts an der fachlichen Beratung, sie blieb dem Kollektiv im vollen Umfang erhalten. „Himmeldunst und Raketenstart!“ sagte Kirik, als er nach der Versammlung mit Werner in dessen Zimmer saß. „Das kann ja heiter werden - dieses feurige Teufelsmädchen dein Stellvertreter! Werde ich sie bändigen können während deiner Abwesenheit?“ Werner lachte. „Na hör mal. Bisher habt ihr euch doch wunderbar zusammengestritten.“ „Hast recht. Zusammen gestritten und schließlich zusammengestritten. Aber wenn du nicht da bist? Seltsam, Werner, dir gegenüber ist sie sanft - mir zeigt sie gern die Krallen. Aber schon wenn du dazukommst, wird sie zurückhaltender“, sagte er vieldeutig. Werner sprach nie von Kuibyschew und von Natascha. Sollte Kirik an diesen Vorfall rühren? Wozu? Von Natascha sprechen, das hätte doch die alte Geschichte aufgerührt. Andererseits war Kirik mit Natascha nicht weitergekommen, obwohl er noch immer mit ihr Verbindung hatte. Im Gegenteil, ihm fiel auf, daß Natascha jetzt öfter schrieb und intensiv auf alles einging, was Werner betraf. Obwohl Kirik seine Hoffnungen noch nicht begraben hatte, tat er alles, um ihr Werners positive Veränderung glaubhaft zu machen. Werner gegenüber schwieg er darüber, weil der nicht fragte und weil Natascha darum gebeten hatte. Kirik verstand diese Bitte. Natascha wußte nicht, wie Werner sich entwickelt und ob er sie vergessen hatte. Zum anderen konnte diese Zwischenzeit nur dann ohne bitteren Nachgeschmack überbrückt werden, wenn ihr Werner ein Ende bereitete. Aber irgendwie mußte man diese Sache doch beleben, wie ein Katalysator den Prozeß beschleunigen! Und er mußte endlich einmal Klarheit finden, wissen, wie Werner zu ihr stand. Hatte er Natascha aufgegeben, dann gab es noch Hoffnung... Jetzt schien Kirik dieser Augenblick gekommen. Deshalb die Anspielung auf Manuelas Sympathien für Werner, die sie alle bemerkten und die nur Werner zu übersehen schien. Und richtig. Werner tat erstaunt. „Meinst du?“ fragte er dann belustigt. „Manuela?“ „Das willst du nicht bemerkt haben? Diese feurigen Blicke hast du übersehen? Das Gesicht, eine solche Figur, dieses sprühende Temperament, das alles willst du nicht entdeckt haben?“ „Du hast es jedenfalls nicht übersehen“, sagte Werner anzüglich. „Wer könnte das?“ fragte Kirik ungerührt zurück. „Ich bin Mann genug, um mich an reizvollen Formen zu erbauen...“ wie an einer steinkalten Skulptur“, fuhr Werner im gleichen Ton fort. „Genau so!“ sagte Kirik ernsthaft. „Man kann auch blutwarme Schönheit bewundern, ohne sie besitzen zu wollen - falls du das meinst.“ „O du prinzipienfester Apostel! Aber ehrlich gesagt, so habe ich Manuela noch nicht gesehen. Sie ist eine gute Kollegin, eine zuverlässige Mitarbeiterin...“ „... aber nebenbei auch Mensch, Genosse Büroleiter, falls du das übersehen hast! Schlimm, schlimm - wie kann man den Menschen vergessen?“ „Hör auf! Bist doch keine Ehevermittlung unseligen Angedenkens. Den Menschen habe ich nie vergessen - vielleicht die Frau...“ Er unterbrach sich. Manuela trat ins Zimmer. „Die Herren sprachen von mir?“ fragte sie mit herausfordernder Ironie, als die Männer um einen Gesprächsstoff verlegen waren. „Siehst du nicht, wie unsere Wangen glühen“, rief Kirik pathetisch. „Wir können doch nur von dir gesprochen haben!“ „Nun schmelzt nicht gleich, ihr Eiszapfen“, sagte Manuela spöttisch. „Daß ich euch einmal verlegen sehe!“ „In deiner Gegenwart fehlen uns immer die Worte“, sagte Werner galant. „Na, ihr seid treu! Dann muß ich mich versetzen lassen. Chef und Parteisekretär, denen die Worte fehlen? Übrigens wußte ich noch gar nicht, Werner, daß dein Sprachschatz auch Spuren eines Kompliments ermöglicht, ich glaubte bisher, er umfaßt nur Dienstanweisungen“, parierte sie ironisch. Nach Kiriks Worten sah Werner sie in einem anderen Licht. Manuela war wirklich hübsch. Sie nahm Platz im Sessel, Werner gegenüber, und setzte die Füße so, daß ihre Beine ihn verwirrten. Zum Teufel mit Kiriks Schilderungen! Er entdeckte nun ihr Profil und ihre reizenden Formen, fand ihre Bewegungen lockend. Befangen löste er seine Blicke von ihr und wandte sich entschlossen zu Kirik. Der beobachtete ihn und grinste. „Ich fahre in der nächsten Woche zum Internationalen Kunststoff-Kongreß nach Havanna“, begann Werner betont sachlich. „Mir wäre es lieb, wenn du mitkommst, Kirik. Ich erhielt eine Einladung für zwei Mann.“ „Steht das wirklich drauf: zwei Mann?“ fragte Kirik. „Könnte es nicht ein Mann und eine Frau sein?“ „Natürlich könnte es das, es könnten sogar zwei Frauen sein“, erwiderte Werner unwillig. „Was soll das? Wen schlägst du vor?“ „Manuela! Erstens bist du mehr unterwegs als im Büro, und es wäre gut, wenn deine Stellvertreterin dann orientiert ist. Und zweitens - Manuelas Eltern wohnen, soviel ich weiß, in Havanna. Stimmt's, Manuela?“
Sie nickte. Da aber Werner noch immer mit undurchsichtigem Gesicht schwieg, glaubte sie, er sei nicht einverstanden, und wandte ein, daß sie Werner doch vertreten müsse. Kirik winkte ab. „Das könnte ich wohl auch, außerdem haben wir ein Leitungsgremium. Wir werden in den fünf Tagen diese Villa schon nicht einreißen. Einverstanden, Werner?“ Was sollte Werner machen? Es gab keinen Grund abzulehnen. Außerdem war es ihm nicht unangenehm. So ein Gauner, dachte er und warf Kirik einen strafenden Blick zu, den der gelassen hinnahm.
12 Unter der Düsenmaschine zogen die Bahama-Inseln hinweg. Rechts unter ihnen tauchte Kap Sable auf, die Südspitze Floridas, links die kubanische Küste, Die Maschine beschrieb einen weiten Bogen und schwenkte in die Bucht von Havanna ein. Manuela schaute unablässig hinunter. Werner betrachtete sie von der Seite. Ihr Gesicht verriet Freude und Stolz über ihre Heimatstadt. Es war kein verhaltener, stiller Stolz, wie er ihn an Natascha bemerkt hatte. An Manuela war alles flammend: ihre Regungen, ihre Bewegungen, ihr Wesen. Werner spürte das Verlangen, sie in die Arme zu nehmen und sich selbstvergessen vom Strudel der Empfindungen hinwegreißen zu lassen... Seltsam, in Nataschas Armen war es ihm nie so ergangen, hatte er sich erhoben gefühlt und sich bemüht, mit allen Sinnen und Nerven das Geschehen zu erfassen, damit ihm nichts verlorengehe; alles war inniger und bewußter gewesen... Er warf einen Blick hinunter. Hochhäuser ragten aus dem Häusermeer, ältere und moderne, heller Beton und viel Glas. In dreißig, vierzig Reihen übereinander blinkten die Scheiben. Dazwischen moderne Wohngebäude, Parkanlagen und breite, belebte Straßen. Sein Blick wandte sich wieder dem Mädchen zu, und er malte sich aus, wie es wäre, wenn er sie stürmisch an sich zöge... Manuela müßte er gewiß mit aller Kraft erobern, Natascha hatte er behutsam und innig umarmt. Manuela war überschäumend impulsiv, Natascha beherrscht... Aber stimmte das, oder hatte er sich inzwischen geändert, sah er jetzt alles anders? Er freute sich jedenfalls auf die gemeinsamen Tage und war voller Erwartung. Und doch hemmte ihn die Erinnerung an Natascha, die sich gerade jetzt nicht vertreiben ließ. Die Maschine setzte zur Landung an, kam weich auf den Boden und rollte aus. Manuela wandte sich am Fuß der Gangway um und hieß Werner in einem Anflug übermütiger Laune auf ihrem Heimatboden herzlich willkommen. Dann hängte sie sich bei ihm ein und zog ihn zum Empfangsgebäude. Werner genierte sich. War es denn üblich in Kuba, eingehängt zu gehen? Oder hatte Manuela das in Deutschland gesehen? Kein Paar sonst ging untergehakt, aber schließlich mußte Manuela wissen, was sie tat. Daß mancher Seitenblick Vorübergehender sie beide traf, das konnte schließlich auch Manuela gelten. „Jetzt bist du mein Gast, Werner“, sagte sie. „Alles, was du hier sehen willst, werde ich dir zeigen.“ „Das ist sehr nett von dir - aber die wenigen Stunden, die uns bleiben, mußt du deinen Angehörigen widmen.“ Sie lachte. „Die werden schon auf ihre Kosten kommen. Ich will versuchen, daß wir nachher neben meinen Eltern sitzen. Wenn es dir recht ist, werden wir bei ihnen wohnen.“ „Nehmen denn deine Eltern an dem Kongreß teil?“ „Sie müssen! Mutter ist Staatssekretär im Ministerium für Chemie und Vater beim Nationalen Sicherheitsdienst. Du weißt ja, wir haben Nordamerika vor der Tür. Meine Landsleute haben die ständigen Versuche der Yanquis, uns von Zeit zu Zeit Kuckuckseier - so sagt ihr doch? - ins Nest zu legen, noch nicht vergessen.“ Über dem Empfangsgebäude stand noch immer: Cuba - Territorio libre de America. Kuba - freies Territorium von Amerika! Einst schien es unglaublich: Eine sozialistische Insel inmitten eines Erdteils, den Uncle Sam als seinen Vorgarten betrachtete, in dem er die Regierungen wie Bluthunde aushielt, dazu bestimmt, die Völker wie Leibeigene zu zwingen, für Uncle Sam zu ernten - auf ihrem eigenen Boden! Nordamerikanische Profitinteressen bestimmten das Leben auf diesem Kontinent - und mitten im Hexenkessel der nordamerikanischen außenpolitischen Giftküche erhob sich ein kleines Volk, bot den Ausbeutern die Stirn und baute den Sozialismus auf! Indessen hatte sich das Blatt gewendet. Jetzt war dieses Territorio libre de America eine Selbstverständlichkeit. Mit Kuba wurde ein freies Amerika geboren. Das Patria o muerte! breitete sich wie ein Feuer aus unter den Völkern Südamerikas. Aus dem Cuba si - Yanqui no! wurde ein vielstimmiger Chor. Der Text änderte sich: Guatemala si -, Ecuador si -, Guayana si -, Venezuela si -... Doch der Refrain blieb der gleiche: Yanqui no! Und war der Freiheitswille erst wie ein Frühlingsahnen, so brauste er bald wie ein Frühlingssturm, zertrümmerte das Eis der Fremdherrschaft, fegte die eigenen Ausbeuter mit hinweg und trug den Völkern bald reiche Früchte. Jetzt dürfte es auf dem amerikanischen Kontinent eigentlich nur noch einen Spruch geben: Reservat der Ausbeuter, und der müßte der Freiheitsstatue von Long Island um den Hals gehängt werden, die schon lange schamhaft die Augen geschlossen hielt wegen der Dinge, die in Gottes eigenem Land geschahen. Die Sympathien, die sich das kleine kubanische Volk überall auf der Erde errungen hatte, übertrug Werner unwillkürlich auf Manuela, sie erschien ihm wie ein Symbol leidenschaftlichen Stolzes.
„Ich möchte gern einige Stätten eurer Revolution sehen“, sagte er. Ihre freudige Zustimmung beschämte ihn. Er besann sich: In Deutschland hatte er sich nicht nur um Manuela, sondern um alle seine ausländischen Mitarbeiter außerdienstlich wenig gekümmert. Wäre es nicht seine Aufgabe gewesen, sie mit ihrem Gastland vertraut zu machen und ihnen so das Einleben zu erleichtern? Er war doch kein kapitalistischer Boß, den nur die Arbeitskraft interessierte, er war verantwortlich für die Menschen, und die konnten sich nur dann ganz ihrer Aufgabe widmen, wenn sie sich in ihrem Lebenskreis wohl fühlten, wenn sie sich nicht isoliert vorkamen. Nur fünf Tage würde er mit Manuela in Kuba weilen - aber selbst diese kurze Zeit, die ihr für ihre Angehörigen blieb, stellte sie ihm zur Verfügung! „Was hast du?“ fragte sie, als er neben ihr ging und nur einsilbige Antworten gab. „Ich habe viel nachzuholen“, sagte er, „denn ich habe manches versäumt...“ „Wirklich?“ Ihre Augen glühten auf. „Zum Nachholen ist es noch nicht zu spät...“ „Du hast recht, Manuela“, sagte er, ohne sie verstanden zu haben. „Wir werden Busfahrten organisieren, damit ihr Deutschland kennenlernt, und Theaterbesuche...“ Jetzt verstand Manuela, was er meinte, unterdrückte ihre Enttäuschung und sagte leicht verwundert: „Heino hat sich doch um uns gekümmert; der Jugendverband und die Gewerkschaft natürlich auch. Du hast Heino doch selbst darum gebeten!“ „Wer sagt das?“ „Heino! Er hat uns, gemeinsam mit Evelyn, die Stadt und die Umgebung gezeigt. Natürlich können wir Busfahrten machen, aber die anderen haben meist schon Anschluß gefunden...“ „Und du?“ „Ich auch, scheint mir“, sagte sie, lächelte warm und drückte seinen Arm. „Morgen fahren wir nach...“ „Morgen ist Kongreß, und abends gehörst du deinen Eltern!“ „Irrtum! Morgen zeige ich dir ein Stück Kuba - dafür kannst du mir ein Stück Deutschland zeigen, wenn wir zurück sind. Ich möchte gern einmal nach Weimar - aber allein mit dir.“ Als hätte sie zuviel gesagt, fügte sie hinzu: „Ich möchte die Gedenkstätte Buchenwald sehen und das Goethe-Museum. Reist man in großen Gruppen, hat man nicht soviel davon, man kann nicht verweilen, wie man möchte.“ „Nur deshalb?“ fragte er mutwillig. „Natürlich nicht“, erwiderte sie freimütig. „Du bist offensichtlich Radrennfahrer?“ „Ich? Wie kommst du darauf?“ „Weil du wie ein Steher auf den Schrittmacher wartest. - Tandem ist mir lieber!“ Zu diesem internationalen Kongreß waren auch Kunststoffexperten der USA eingeladen. Wie bei solchen Anlässen üblich, tauschte man Erfahrungen aus und machte Neuentwicklungen bekannt. So bekamen die Teilnehmer nicht nur einen Überblick über den neuesten Stand der Kunststoffentwicklung, sondern regten sich auch gegenseitig an. Gleichzeitig wurden die künftigen Entwicklungsrichtungen der neuen und die Einsatzgebiete der bekannten Kunststoffe besprochen, internationale Normen festgelegt und freundschaftliche Verbindungen zwischen den Wissenschaftlern geknüpft. So mancher erkannte erst durch die Diskussionen, welch umfassende Bedeutung seine Neuentwicklung besaß, welch breites Anwendungsgebiet sich ihr eröffnete. Beeindruckt durch die offene und herzliche Atmosphäre dieses Kongresses sozialistischer Wissenschaftler, fanden auch die nordamerikanischen Experten zu weit größerer Offenheit, als sie bei ihnen, durch den Konkurrenzkampf ihrer Firmen untereinander bedingt, üblich war. Werner sprach über die neue Silikonvariante und gab einen Ausblick auf die Verwendungsmöglichkeiten. Er erntete lebhaften Beifall und viele Anregungen. Unmittelbar nach ihm sprach Dr. Jonas Bratford, ein nordamerikanischer Experte. Seine Ausführungen erregten ungeteilte Aufmerksamkeit, denn es stellte sich heraus, daß Dr. Bratfords Institut an fast dem gleichen Projekt arbeitete und ungefähr den gleichen Entwicklungsstand erreicht hatte. Werner fing viele Blicke auf; Blicke der Anteilnahme und der Neugier, wie er es aufnehmen würde. Er mußte sich sehr zusammennehmen, um seine Überraschung zu verbergen. In der Pause, als Manuela ihre Eltern suchte, verließ Werner den großen Kongreßsaal. Er trat an eines der automatischen Büfetts, die in den Wandelgängen für schnelle Erfrischung sorgten, falls man nicht vorzog, in einer der beiden Kongreßgaststätten seinen Imbiß zu nehmen. Hastig schüttete er ein Glas Orangensaft hinunter. Als er sich umwandte, stand Dr. Bratford hinter ihm. „Einen guten Zug haben Sie!“ sagte er lächelnd zu Werner. Sie machten sich bekannt und waren bald in ein angeregtes Gespräch verwickelt, doch war es mehr ein Abtasten, wie zwischen zwei Ringern, die im Wettstreit ihre Kräfte messen wollen und weder Stärken noch Schwächen des Gegners kennen. Werner erfuhr, daß Dr. Bratford diese Entwicklung für einen Chemie-Trust vorantrieb. Er bemerkte auch, daß Dr. Bratford leicht den Mund verzog, als Werner betonte, seine Silikonvariante habe ein Klub junger
Chemiker entwickelt. Nach Bratfords Fragen zu urteilen, schien er nicht recht daran zu glauben, daß ein Jugendklub solche Aufgaben lösen und ein Kollektiv junger Wissenschaftler sie zur Produktionsreife führen könne. Dr. Bratford war mittelgroß und burschikos im Auftreten. Offenbar wußte er nicht recht, ob er Werner für voll nehmen oder den erfahrenen, überlegenen Experten herausstreichen sollte. Im Laufe der Unterhaltung jedoch spürte Werner, daß er den Respekt des Älteren errang. „Donnerwetter!“ sagte der Amerikaner schließlich. „Sie sind tatsächlich fast so weit wie wir. Allerdings werden Sie Schwierigkeiten haben, die geplanten Festigkeitswerte zu erreichen.“ Werner überhörte das impertinente „tatsächlich fast“. Er wußte, daß die Härte und die Biegefestigkeit seiner Variante die des Amerikaners bereits übertraf. „Die von mir mitgeteilten Werte haben wir bereits erreicht!“ sagte er nachdrücklich. „Sie entsprechen den Merkmalen unserer Pilotproduktion.“ „Sehr interessant“, murmelte der Amerikaner nachdenklich und fixierte Werner aus halbgeschlossenen Augen. Obwohl Werner keine rechten Vorstellungen von Bratfords Arbeitsverhältnissen hatte, beschlich ihn das Gefühl, er habe Bratford mit dieser Feststellung getroffen. „Schade!“ sagte er aus diesem Gefühl heraus. „Jetzt wäre der Moment gekommen, wo wir uns die Hände reichen und gemeinsam arbeiten könnten, lebten wir beide im Staatenbund.“ Er bedauerte seine Worte, als er Bratfords spöttischem Blick begegnete. „Ich bin Wissenschaftler!“ sagte Bratford kurz. Das konnte viel heißen; Werner verstand es so, als hielte es Dr. Bratford für ehrenvoller, eine Arbeit erst aus der Hand zu geben, wenn man sie abgeschlossen hatte. Individualist! dachte er verstimmt, besann sich dann aber auf die Herkunft des Amerikaners. Wer weiß, welche Vorstellungen er von der Gemeinschaftsarbeit hatte. „Es ist doch doppelte Entwicklung, also doppelte Arbeit, doppelter Aufwand“, versuchte er sich verständlich zu machen. „Ich liebe die Freiheit der Persönlichkeit. Die Wahrung meines geistigen Eigentums ist die wichtigste Grundlage meiner Arbeit“, erwiderte der Amerikaner kühl. Das reizte Werner. „Ist es gewahrt?“ fragte er herausfordernd. „Sind Sie frei? Ohne die menschliche Gemeinschaft können Sie nicht leben, sie gibt Ihnen die Lebensgrundlage. Hat sie damit nicht auch ein Recht auf das, was Sie geistiges Eigentum nennen? Unsere Arbeit kommt allen zugute - Ihre vor allem den Aktionären!“ „Ich kümmere mich nicht um Politik“, sagte der Amerikaner abweisend. „Ich sagte schon, ich bin Wissenschaftler.“ Dieses Gespräch beschäftigte Werner noch am späten Nachmittag, als er längst mit Manuela und ihren Eltern in deren Heim beisammensaß. Die Eltern waren herzlich und von einfachem Auftreten. Zwar waren sie lebhafter als die Europäer, aber ihre Funktionen hatten sie gelehrt, das Temperament zu zügeln. Die Mutter war kleiner und nicht so schlank wie Manuela, sie hatte ein gütiges Wesen; man traute ihr nicht zu, täglich weitreichende staatliche Entscheidungen zu treffen. Ihre Stimme war weich, aber ihre Art zu sprechen sehr bestimmt. Der Vater hatte ein kühnes Profil mit scharf ausgeprägten Zügen. Jede seiner Bewegungen war von bewußter Entschlossenheit. Unwillkürlich wurde Werner an einen Raubvogel erinnert, der mit unbestechlich scharfem Blick beobachtet, um dann im richtigen Augenblick zuzufassen. Dabei lachte der Mann gern und herzhaft. Mitten im Gespräch mit ihren Eltern wandte sich Manuela zu Werner und fragte: „Du bist recht einsilbig? Entschuldige, wenn wir uns in der Wiedersehensfreude zuwenig um dich...“ „Ich bitte dich, Manuela, so ist es nicht!“ widersprach er lebhaft. „Ich hab's auch nicht so empfunden. Mir geht der Amerikaner nicht aus dem Sinn. Er ist für mich so undurchsichtig - vielleicht habe ich ihn auch falsch behandelt?“ „Laß doch den Yanqui!“ sagte sie. „Eine Wachsfigur aus dem Panoptikum der Gestrigen - was erregt er dich? Er ist doch schon Vergangenheit!“ „Und entwickelt heute Silikone?“ Ehe Manuela etwas erwidern konnte, schaltete sich ihr Vater ein...Sie übertreibt wieder einmal“, begütigte er, „Der Haß aus unserer Vergangenheit ist noch immer wach.“ „Und heute? Beweist nicht deine Funktion, daß Mißtrauen noch immer angebracht ist?“ widersprach sie lebhaft. „Du übertreibst schon wieder, Mädel! Damals bildeten die Yanquis Konterrevolutionäre aus, gab es Mord, Brandstiftungen, Sprengstoffanschläge, Bombenangriffe, Blockade und Aggressionsversuche, gab es einen amerikanischen Stützpunkt auf unserer Insel. Also war Mißtrauen angebracht und auch der Haß verständlich. Heute gibt es nur noch Wirtschaftsspionage und kleinere Störversuche.“
„Und wer hat mir immer wieder gesagt: Solange noch irgendwo auf dem Erdball Kapitalisten sitzen, hat die Menschheit die Pflicht, wachsam zu sein? Meinst du, sie hegen heute freundlichere Gefühle für uns? Sie greifen uns nur nicht an, weil das einem Selbstmord gleichkäme!“ „Hast du schon mal Großaktionäre gesehen, die ein Gewehr in die Hand nehmen? Vergiß nicht, daß es amerikanische Arbeiter waren, die den Aggressionsvorbereitungen gegen uns schließlich ein Ende setzten. Wenn auch die innenpolitische Lage in den USA noch sehr kompliziert ist - der Versuch, gegen uns eine Armee aufzustellen, wäre aussichtslos! Auch in den USA bleibt die Entwicklung nicht stehen!“ „Aber der Yanqui, Vater, sagt doch selbst, er kümmere sich nicht um Politik, damit ist er doch ein willfähriges Werkzeug...“ „Aber Mädel, vergiß seine Umwelt nicht! Er hat sich aus Furcht vor einer Entscheidung wie eine Schmetterlingspuppe abgekapselt, sich in eine Scheinwelt eingewickelt. Er weiß noch nicht, daß auch wissenschaftliche Arbeit in jedem Falle Politik ist, ob man es will oder nicht. Aber sei sicher, eines Tages muß auch dieser Schmetterling ans Licht.“ „Unbegreiflich“, warf Werner ein. „Man muß doch wissen, wofür man arbeitet! Man arbeitet doch nicht um der Arbeit willen, sie soll einen Nutzen bringen, also muß man mitbestimmen, welchen Nutzen und wem sie ihn bringt. Aber das ist doch Politik!“ „Im Kapitalismus arbeitet man für Geld, man verkauft sein Wissen, seine Arbeitskraft und sich selbst“, sagte die Mutter. „Wobei eine wohlfeile Propaganda dafür sorgt, daß dem Arbeitnehmer eines eingehämmert wird: Mit dem Lohn ist deine Leistung abgegolten ist sie Besitz des Unternehmers, und mit seinem Besitz kann der machen, was er will!“ „Und noch etwas anderes versucht man ihm beizubringen: Politik kann nur der Berufene und besonders Geschulte machen!“ ergänzte der Vater. „Gleichzeitig stellt man sie als etwas Anrüchiges dar: Politik ist eine Hure, bleut man der Masse ein, sie geht mit jedem ins Bett! Das stimmt zwar für die kapitalistische Politik, denn sie ist nur dem Profit treu und ändert ihren Partner mit den Gewinnchancen - aber für uns ist Politik nichts Wandelbares, sie ist einfach Sammelbegriff für die Interessen der Gemeinschaft, Inbegriff des Strebens nach ständiger Verbesserung des Lebens für alle. „Aber Bratford ist doch kein Arbeiter“, wandte Werner ein. „Er ist Wissenschaftler idealistischer Prägung: Der Geistesschaffende steht über dem perfiden Alltag und dem profanen Kampf um das tägliche Brot, seine Arbeit ist erhaben über politische Erwägungen, denn sie ist göttlicher Funke und nicht von dieser Welt!“ spottete Manuela. Ihre Mutter widersprach: „So einfach liegen die Dinge nicht. Manches Wahre ist dran, zugegeben, aber das ist doch komplizierter. Man braucht den Wissenschaftler, denn seine Arbeit sichert den Profit, deshalb sichert man ihm ein erträgliches Leben, in dem er nichts entbehrt, und schafft so eine Kluft zwischen ihm und der Arbeiterklasse, die man möglichst unwissend hält, damit sie die Zusammenhänge nicht erkennt. Ihn aber bildet man aus, stärkt in ihm das Bewußtsein, einer anderen Klasse anzugehören, und macht ihn möglichst weltfremd. Das gelingt nicht immer, schließlich gibt es genügend Beispiele, daß viele Wissenschaftler im Kapitalismus von ihrer Fähigkeit zu denken auch politisch Gebrauch machen, nicht jeder läßt sich isolieren. Wissenschaftler vom Schlage des Dr. Bratford, falls wir ihn richtig einschätzen, beweisen nur, daß sie überheblich, weltfremd und engstirnig sind.“ „Ich bezweifle, daß wir uns überhaupt noch so richtig in diese Verhältnisse hineindenken können“, warf der Vater ein. „Du hast wenigstens in deiner Jugend noch gegen die Konterrevolutionäre gekämpft“, sagte Manuela. „Aber wir... So eingehend haben wir uns beim Studium nicht mit dem Kapitalismus befaßt.“ „Wozu auch? Jetzt, da er überwunden ist und nur noch in den USA auf Eis liegt, ist er lediglich historisch interessant, als Entwicklungsabschnitt der Menschwerdung.“ „Du bist gehässig!“ warf die Mutter ein. „Wieso? Wirklich Mensch ist unsere Art von Lebewesen doch erst, wenn sie menschenwürdig lebt, wenn ihr ganzes Streben ausschließlich dem Leben dient, wenn jeder Mißbrauch des Geistes und des Verstandes zur Vernichtung von Menschenleben und Menschenwerk unmöglich ist.“ Manuelas Eltern wohnten in einem weiträumigen, flachen Haus aus Kunststoffplatten in Zellenbauweise. Die Zellen wurden auf Lastwagen einzugsfertig von der Fabrik geliefert, die Montage dauerte zwei Tage. Das Haus bestand aus sechs Zellen, die zu einem doppelten T zusammengefügt waren. Auch das Dach war aus Kunststoffplatten. Werner dachte an sein Elternhaus, an den Ärger mit dem Mauerputz und der Verwitterung des Daches: Erst als Dach und Mauer mit Silikonöl getränkt wurden und die Feuchtigkeit nichts mehr ausrichten konnte, waren seine Eltern zur Ruhe gekommen. Dennoch, aus wieviel Teilen Steinen, Balken, Sparren - bestand so ein Dach! Und hier? Die Kunststoffplatten waren zu einer Fläche verschweißt. Werner schwor sich: Wenn schon in ein Einfamilienhaus, dann würde er nur in ein Kunststoffhaus ziehen.
Manuelas Eltern lebten in einer langgestreckten Siedlung, die sich unter Palmen am Strand der Bucht von Havanna entlangzog. Jedes Haus war anders. Man fand massive Kunststoffplatten-, Kunststoffschaumplatten-, Glasplatten-, Schaumglasplattenbauweise und auch Kombinationen dieser Materialarten. „Hier läßt sich's wohnen“, sagte Werner, als er mit Manuela im letzten Tageslicht zum Strand ging. „Hübsche Häuser.“ „Leichtbauweise - wie es unserem Klima entspricht. Eine Versuchssiedlung.“ „Und wer wohnt hier?“ Sie lachte. „Gescheite Fragen stellst du! Natürlich die Verantwortlichen für diese Bauart. Die Projektanten, die Produktionsleiter, die Werkleiter, die zuständigen Minister und Staatssekretäre. Erst wenn sie aus eigener Erfahrung sagen können, daß diese Typen einwandfrei sind, wird produziert!“ „Hast recht, Manuela, ein Diplom habe ich mir mit meiner Frage nicht verdient. Hätte mir's denken können. Weshalb sollte man gerade in Kuba gegen das Prinzip der Selbsterprobung verstoßen? Schließlich müssen auch bei uns die Verantwortlichen der Bedarfsgüterindustrie ihren Eigenbedarf der laufenden Produktion entnehmen und damit beweisen, daß sie ihre Produkte für die besten halten. Ich möchte den Direktor einer Schuhfabrik oder eines Kleiderwerkes sehen, der nicht sein eigenes Fabrikat trägt!“ „Ein Direktor in Kleidern! Kannst du dir das vorstellen?“ „Du mißverstehst mich absichtlich.“ „Ich fragte, ob du dir das vorstellen kannst?“ beharrte sie. „In deinem Kleid kaum, es käme nicht recht zur Geltung.“ „Gracias!“ sagte sie übermütig. „Bitte sehr, ich stelle nur Tatsachen fest. Der schönste Effekt ginge verloren: die Linie!“ Sie lächelte. Ihre Stimme hatte einen anderen Klang. Weicher, vibrierender. Und lockender? „Was du so alles siehst!“ Als hätte er das übersehen können! Die Mode bevorzugte, als Ausdruck einer natürlichen Auffassung, die körperbetonte Linie. Man freute sich der natürlichen Schönheit, und die Mode diente ihr als Rahmen. Die HLinie und ähnliche Verirrungen hätte man als unnatürliche Zumutung empfunden. Dennoch schien es Werner, als habe Manuela sehr aufmerksam vor dem Spiegel gestanden und sich betont elegant gekleidet – weder aufdringlich noch auffällig, und doch spürte er, es war für ihn bestimmt. Sie wollte ihm gefallen! Diese Erkenntnis schuf eine Gemeinsamkeit, die ihn beglückte. Zwischen den Palmen breitete die Nacht ihre Schleier, verhängte die Farben, beengte das Blickfeld und machte die Gegenwart des anderen noch deutlicher. Manuela ging so nahe neben ihm, daß sich ihre Arme berührten. Ihre körperliche Nähe erregte ihn. Behutsam legte er seinen Arm um sie, ahnend, daß sie es erwartete, und doch beglückt, daß sie es duldete. Mit beseligendem
Verwundern spürte er, wie sie sich an ihn schmiegte. Der unerwartete Wechsel vom lebhaften Sprechen zum gefühlvollen Schweigen, vom überschäumenden Temperament zur hingebungsvollen Weichheit rührte und reizte ihn. Sie war wie wärmende, verhaltene Glut, die beim nächsten Windstoß zu hellen, verzehrenden Flammen auflodert. Diese prickelnde Erwartung machte ihn blind und taub für die Umgebung. Er empfand nur noch das Mädchen neben sich, unfähig, sich der übrigen Welt zu erinnern. Wortlos, ganz der Stunde ergeben, gingen sie am Strand entlang. Irgendwo im Dunkel, von den nachtschwarzen Fächern der Palmen überdacht, fanden sie eine Bank.
13 Der betagte Hauptaktionär und Chef des Hauses Fouler, American Chemical Company, war kurzatmig, doch das kam nicht vom Alter, auch nicht von organischen Leiden, sondern vom Fett. Er war eine lebende Karikatur auf den Kapitalismus, wie man ihn Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gern darstellte; kein Wunder, daß die linken Gewerkschaftsblätter ihn gern als Spottbild benutzten. Fouler junior dagegen war schlank, groß, hatte breite Schultern und den elastischen Gang eines trainierten Sportlers. Wer die beiden nebeneinander sah, fragte sich, wie Fouler senior zu einem solchen Sohn gekommen war. „Pa“, sagte dieser Sohn oft zu ihm, „weniger essen, dafür etwas Ausgleichssport, das wäre dir besser bekommen und hilft auch heute noch besser als der beste Arzt und deine jährliche Abmagerungskur.“ Fouler senior ärgerte sich über diese Ratschläge. Sie schienen ihm typisch für die Art und Betrachtungsweise der jüngeren Generation. So gesehen: War dieser Rat nicht östlich inspiriert? Ausgleichssport - schon wenn er das hörte, machte ihm die Galle zu schaffen. Ausgleichssport - kommunistisches Schlagwort, obligatorische Einrichtung auf den roten Kontinenten. Ausgleichssport - so hieß auch eine der hartnäckigen Forderungen der amerikanischen linken Gewerkschaften. Gesunderhaltung der Arbeiter zum Teufel, es gab doch genug davon. Viele wären froh, überhaupt Arbeit zu bekommen. Alle zwei Stunden zehn Minuten Ausgleichssport, zwanzig Minuten täglich für das Gezappel, und der Trust sollte das bezahlen. Das war ein Angriff auf die Dividende. Nie zufrieden waren die Brüder, kaum hatten sie den Sechsstundentag erzwungen, verlangten sie weitere Vergünstigungen. Zum Teufel, sie lebten doch in den USA! Und sein Sohn riet ihm zum Ausgleichssport. Womöglich sollte er in eine der Produktionshallen gehen und mit den Arbeitern gemeinsam den Rumpf beugen! Vor wem denn - er? Man sagt, Ärger zehre - Fouler senior behielt seinen Bauch, und er betrachtete ihn mit gewissem Wohlgefallen im Spiegel, wie früher die Hocharistokraten ihre Stammbäume betrachtet haben mochten. Schließlich unterschied ihn das von der Masse Mensch, die mit den Händen arbeitete. Er jedenfalls gebrauchte seine Hände nur zum Unterschreiben, zum Drücken des Knöpfchens der Rundsprechanlage, über die er seine Anweisungen gab, zum Schütteln gleichgearteter Hände und natürlich zu lebensbedingten Zwecken. Er war nicht in bester Stimmung, als sein Sohn den Raum betrat, denn der Tag hatte gerade begonnen, und er liebte es nicht, in seinen Morgenbetrachtungen gestört zu werden. „Hallo, John! Was gibt's?“ keuchte er kurz angebunden. John F. Fouler warf sich in den breiten Sessel gegenüber dem väterlichen Schreibtisch. „Dein Freund Bratford ist in Havanna, zum KunststoffKongreß!“ sagte er mit einer Mischung von Vorwurf und Schadenfreude. „Was will er dort?“ hechelte der Alte aufgebracht, ihn störte das dein Freund mehr als Bratfords Aufenthaltsort. „Tut mir leid, Pa - er spricht über unseren Auftrag.“ „Wer behauptet das?“ „Unser Gewährsmann Brown. Er hat es selbst gehört. Anschließend unterhielt sich Bratford mit einem von drüben, der an der gleichen Sache arbeitet.“ „Ich werde ihm... ihm zeigen, was... Ich sperre ihm... die Mittel...“, tobte der Alte. „Damit lockst du heute keinen Hund mehr hinter dem Ofen vor. Wie oft muß ich dir noch sagen, daß sich die Zeiten geändert haben und damit auch unweigerlich die Methoden!“ fuhr ihm der Sohn energisch dazwischen. „Ich war nicht für Bratford und in diesem speziellen Fall auch nicht für die Neuentwicklung. Die drüben haben mehr Möglichkeiten als wir und einen größeren Absatzmarkt. Für die sind solche Entwicklungen billiger. Jetzt hast du die Quittung, sie arbeiten am gleichen Projekt! Wenn du Bratford die Mittel sperrst, kannst du alles abbuchen, was du bisher hineingesteckt hast, und Bratford geht womöglich hinüber. Gewöhne dich dran, daß die Fäden dünner geworden sind, an denen wir die Puppen tanzen lassen können.“ „Eine Ausdrucksweise...“ „Unter uns haben wir nie ein Blatt vor den Mund genommen! Unser Bogen ist zu dünn geworden, er läßt sich nicht mehr so spannen wie früher. Wenn du das endlich einsehen würdest!“ „Wie kann man als Juniorchef... so denken? Du bringst es fertig... und sozialisierst freiwillig!“ „Unsinn, Pa, wir leben in einer realen Welt und müssen real denken: Was da auf uns zukommt, ist nicht aufzuhalten, nur zu verzögern. Früher mehr Peitsche, heute mehr Zuckerbrot! Ich halte nichts von deinen totalitären Ansichten. Man kann eine Schraube nur so weit anziehen, wie sie es verträgt - überdrehst du sie, fällt alles auseinander. Ich bin jünger als du und habe keine Lust, mit taktischen Dummheiten meine eigene Laufbahn abzukürzen, klar? Kommt's eher, kann ich's nicht ändern - aber ich trage nichts zur Beschleunigung bei.“
„Und deine Kinder?“ „Gäbe es eine Möglichkeit, den ganzen sozialistischen Rummel zurückzudrehen, ich wäre dabei. Aber man kann drehen, wie man will, es gibt keine Möglichkeit mehr. Meine Kinder? Die Roten haben noch keinen verhungern lassen. Vielleicht hält's noch solange - wenn nicht, kommen die Kinder schon unter. Sie kriegen eine Ausbildung, die ihnen im Notfall gestattet, bei denen nicht unten anfangen zu müssen. Und was Bratford angeht - überlasse ihn doch besser mir. Wir müssen herausholen, was noch herauszuholen ist.“ Als er den Raum verließ, sank der Alte in sich zusammen. Was für eine Welt war das? Gewohnt. Besitz mit Macht zu verknüpfen, verstand er sie plötzlich nicht mehr. Hunderttausende arbeiteten unter seiner Leitung, fanden bei ihm Brot. Aber statt dankbar zu sein, verlangten sie immer neue Zugeständnisse, forderten Mitspracherechte... Es war doch sein Besitz! Hunderte Vertrauensleute finanzierte er, Senatoren, Gouverneure, Minister, Arbeitsrichter, sie schluckten immer größere Summen für immer geringere Gegenleistungen. Früher genügte ein Wink, und jeder, der sich mausig machte und ihm an den Geldbeutel wollte, verschwand von der Bildfläche; ein Wink, und dieses oder jenes Gesetz stoppte die unverschämten Forderungen der Arbeiter, die sich unterstanden, ihn durch Streik in die Knie zwingen zu wollen. Notfalls hatte man die Armee eingesetzt. Aber heute? Überall stieß man auf die Kautschuktaktik: elastischer vorgehen! Sogar beim eigenen Sohn! Dabei nahm der ihm mehr und mehr die Zügel aus der Hand. Mit ihm, dem alten Fouler, ging eine Epoche hohen Unternehmertums zu Ende. Wohin sollte es denn führen, wenn der Boß persönlich mit den Arbeitern über ihre Forderungen sprach, wie es John machte? Vor Fouler senior hatten sie gezittert, aber sein Arm war nicht mehr lang genug. Schießen müßte man, dachte er verbittert, die ganze Bande zusammenschießen, daß sie wieder Respekt bekommt. Aber wenn schon der eigene Sohn von Loyalität schwafelt und den Handel mit den Roten verstärkt, wie sollen da die Arbeiter nicht von der roten Pest infiziert werden? Nach ihrer Rückkehr aus Havanna berichtete Werner dem gesamten Kollektiv vom Kongreß, besonders von Dr. Bratfords Arbeit. Manuela machte mit ihren temperamentvollen, bissigen Bemerkungen zu diesem Thema die politische Bedeutung der Angelegenheit nachhaltig bewußt. „Wir haben fast die gleiche Ausgangsposition wie die Yanquis!“ rief sie. „Wollen wir uns überholen lassen? Das wäre eine Schmach, bei der Unterstützung, die wir von allen Seiten erhalten. Wollen wir den Yanquis Propagandamaterial in die Hand spielen? Was meint ihr, wie sie das ausschlachten würden: Unser Wirtschaftssystem ist leistungsfähiger! Das wäre Wasser auf ihre Bewußtseinsmühlen, so mancher amerikanische Arbeiter würde durchgedreht. Das wäre eine verlorene Schlacht, ein Dolchstoß in den Rücken der nordamerikanischen Arbeiterklasse, wäre...“ „Manuela, du übertreibst wieder!“ warf Werner trocken ein. Und Kirik traute seinen Augen nicht: Manuela, die nach seiner Erfahrung jetzt hätte aufbrausen müssen, blickte Werner zwar vorwurfsvoll an, aber sie schwieg und setzte sich. „Es ist natürlich etwas dran“, stimmte Kirik zu. „Wenn auch nicht so kraß, wie Manuela es sagt. Hier könnten wir wieder einmal am Beispiel beweisen, welche Gesellschaftsform leistungsfähiger ist. Aber erst einmal zum augenblicklichen Stand der Arbeit. Dawai kann übermorgen mit der genauen Berechnung des Standorts beginnen, die erforderlichen Unterlagen werden morgen abgeschlossen. In der nächsten Woche können wir mit dem Wirtschaftsrat verhandeln, damit er zusammen mit der nationalen Regierung alle erforderlichen Maßnahmen einleitet.“ „In Ordnung“, sagte Werner. „Die genauen Mengen der erforderlichen Baumaterialien müssen also bis zu dieser Verhandlung bekannt sein. Schaffen wir das?“ Jomo Ennafaa, Gruppenleiter der afrikanischen Bauingenieure, sah von einem zum andern, fuhr sich nachdenklich durch die schwarzen Krauslocken, warf seine Lippen auf und blickte schließlich zu Werner. „Gut“, sagte er, „du bekommst die Unterlagen bis dahin.“ „Das ist dir aber schwergefallen“, sagte Werner überrascht. „Habt ihr Schwierigkeiten?“ „Das nicht, es ist nur viel Arbeit. Die ersten Baustufen werden doch aus Schaumbeton und Stahl, die anderen bereits aus Hartsilikon errichtet. Aber wir schaffen das schon.“ „Und wie weit seid ihr mit der Wohnstadt für die Bauarbeiter und Monteure?“ fragte Kirik. „Das benötigte Material ist selbstverständlich in dieser Aufstellung eingeschlossen“, erwiderte Jomo Ennafaa. „Sorgt aber dann dafür, daß die Produktion termingerecht anläuft, damit wir auch, wie geplant, für die weiteren Ausbaustufen des Kombinats und der Wohnstadt genügend Silikon zur Verfügung haben.“ „Wann sind die Zeichnungen für die Produktionsanlagen fertig?“ wandte sich Werner nun an Kirik. „Die Projektzeichnungen kannst du dem Rat vorlegen, die kompletten Sätze werden spätestens im nächsten Monat fertig, Detailzeichnungen, Stücklisten und so weiter, sie könnten dann sofort zum Chemieanlagenbau gegeben werden.“
„Also sind wir fast ein halbes Jahr früher fertig“, stellte Werner befriedigt fest. „Die werden sich wundern beim Wirtschaftsrat!“ Nach dieser Besprechung herrschte im Entwicklungsbüro fieberhafte Tätigkeit. Wettkampfstimmung hatte alle erfaßt. Nur Werner wurde von Tag zu Tag besorgter. Es war ihm, als entglitten ihm die Fäden, als könne er die Einzelheiten nicht mehr überschauen und kein klares Bild mehr gewinnen. Allein schon die Berechnung des Standorts ihres künftigen Kombinats - wie viele Faktoren galt es dabei zu berücksichtigen: Mächtigkeit und Zusammensetzung der Rohstoffvorkommen; klimatische Voraussetzungen für die Lebens- und Produktionsbedingungen; Länge und Zustand der Transportwege für Baustoffe, Rohstoffe, Fertigteile, für Lebensmittel und Bedarfsgüter zur Versorgung der Arbeitskräfte und für die Treibstoffe der Baumaschinen; Lage der verfügbaren Wasserläufe, die zur Trink- und Kühlwassernutzung in Frage kamen und eventuell für den Materialtransport genutzt werden konnten; Lage und Kapazität der vorhandenen Hochspannungsfernleitungen des internationalen Verbundnetzes, an das die Baustelle angeschlossen werden mußte, um während des Baus des kombinatseigenen Atomkraftwerkes Energie zu haben und später während der Produktion eigenen Energieüberschuß des Kraftwerkes an das Netz abgeben zu können; Lage des nächsten Erholungszentrums für die Beschäftigten; Lage von Projekten, die bereits geplant waren und irgendwelche Bedeutung für das Kombinat hatten... Aus alledem mußte die elektronische Rechenmaschine die Variante herausfinden, die für den Standort des Kombinats am günstigsten war, also bei geringsten Kosten die höchste Rentabilität versprach und den Beschäftigten den höchstmöglichen Lebensstandard verschaffte. Gewiß, die elektronische Rechenmaschine irrte sich nicht, aber sie konnte nur das berücksichtigen, was man ihr diktierte. Das Leitungsgremium und vor allem Kirik mit seiner ausgeglichenen Ruhe trugen wesentlich dazu bei, daß Werner nicht den Kopf verlor. Der Tag kam, an dem sie sich in Prag angemeldet hatten: Werner, Manuela, Kirik, Heino, Fan Yü-hua und Jomo Ennafaa. Sie benutzten den Städteschnellverkehr, eine Einschienenbahn, die alle europäischen Hauptstädte untereinander verband und auch auf die asiatischen und afrikanischen Hauptstädte ausgedehnt werden sollte. Die Reisegeschwindigkeit betrug fünfhundert Stundenkilometer. Für die Strecke BerlinPrag, die wegen der hohen Geschwindigkeit so geführt war, daß sie nur geringe Höhenunterschiede und weite Kurven aufwies, benötigte der Zug etwa fünfunddreißig Minuten. Dabei war kein Schienenstoß zu spüren, kein Rütteln, keine Schläge, denn der Zug hatte keine Räder. Düsen umfaßten die Schiene und schufen ein Luftpolster, auf dem er dahinglitt, ohne die Schiene zu berühren. Nur wenn die Druckluft ausfiel, senkte er sich auf Reserveräder. Angetrieben wurde der Zug von einem Düsentriebwerk, das auch zum Bremsen benutzt werden konnte. Der Zug stob auf seinem zwanzig Meter hohen, von windschnittigen Betonpfeilern gestützten Schienenstrang dahin und ließ ihnen kaum Zeit, die vorüberfliegende Landschaft zu betrachten.
Sie waren auch viel zu aufgeregt. Vor allem Manuela heizte die Wettbewerbsstimmung an, indem sie immer wieder Vermutungen über den Stand des amerikanischen Projekts äußerte. Nur Kirik schien unerschütterlich, wenngleich Werner glaubte, auch bei ihm unterdrückte Erregung zu bemerken. Pünktlich trafen sie in Prag ein. Zwei Wagen des Wirtschaftsrats erwarteten sie am Bahnhof. „Der Minister läßt bitten!“ empfing sie der Ratssekretär und geleitete sie in dessen Zimmer. Der Minister für internationale Industrieprojektierung erhob sich und kam ihnen entgegen. „Nehmt Platz. Ich werde mir wohl Verstärkung holen müssen - bei eurer Übermacht!“ scherzte er, schüttelte ihnen die Hand und wies auf den Konferenztisch. „Was habt ihr denn auf dem Herzen, muß ja ein großes Anliegen sein, wenn ihr mich zu sechst überfallt?“ Er nahm bei ihnen am Tisch Platz, erkundigte sich, wie lange sie in Prag bleiben wollten und ob sie schon gefrühstückt hätten. Als sie verneinten, bat er seine Sekretärin, der ganzen Runde ein handfestes Frühstück zu servieren und vor allem einen starken Kaffee. „So, und nun zu euch. Wie steht es mit eurem Projekt, was braucht ihr?“ „Nichts! Das Projekt ist fast abgeschlossen“, erwiderte Werner. „Die Hauptzeichnungen, die Materialaufstellungen und die Standortbestimmung haben wir mit. Wir denken, daß wir in spätestens vier Wochen die letzten Zeichnungen an die Produktions- und Baufirmen geben können.“ „Langsam!“ sagte der Minister, ein junger, untersetzter Araber. Für einen Augenblick legte er seinen Kopf in die offene Hand und warf dann dem Ratssekretär einen vielsagenden Blick zu. Er sah von einem zum anderen, offensichtlich unschlüssig, wie er beginnen solle. „Das ist eine Überraschung“, sagte er schließlich. „Keine angenehme?“ fragte Werner zurück, betroffen über die unerwartete Reaktion. „Doch. Wenn die Unterlagen stimmen, und ich zweifle nicht daran, ist es eine ausgezeichnete Leistung.“ „Sie ist nicht nur unser Verdienst. Wir wurden von allen Seiten, vor allem von erfahrenen Fachleuten, beraten und unterstützt“, sagte Kirik nachdrücklich. „Das schmälert eure Leistungen nicht. Keiner vermag heute etwas Neues zu projektieren und zu bauen, ohne sich auf die Erfahrungen und die Hilfe anderer zu stützen“, erwiderte der Minister bedächtig, um dann fortzufahren: „Reden wir nicht um die Dinge herum. Euch ist bekannt, daß dieses Projekt nebenher läuft und wir nicht in der Lage sind, die Aufträge innerhalb von vier Wochen unterzubringen. Ich werde nachher die zuständigen Abteilungsleiter hinzuziehen, aber vor einem halben Jahr ist an eine Auftragserteilung nicht zu denken. Und auch dann werden wir kurztreten müssen - wir können kein anderes Projekt zurückstellen. Das Material muß beschafft, mit der zuständigen Nationalregierung muß verhandelt werden... Die Arbeitskräfte, der zusätzliche Energieverbrauch, das alles ist erst für Ende des nächsten Jahres vorgesehen...“ „Eher kann mit dem Bau des Kombinats nicht begonnen werden?“ fragte Werner. „Kaum. Ihr kennt doch selbst das Wesen der Planwirtschaft: Kleinere Projekte kann man hier und da einfügen, aber doch kein Projekt von derartigem internationalem Ausmaß.“ „Aber wir haben doch alles drangesetzt, um so schnell wie möglich fertig zu werden, weil wir überzeugt sind, daß das Silikon dringend benötigt wird“, begehrte Manuela auf. „Es muß doch einen Weg geben! Die Yanquis sind dabei, die gleiche Produktion aufzubauen, uns zu überholen...“ Sie erzählte vom Kongreß in Havanna, voller Leidenschaft und Temperament, daß der Minister schließlich die Arme hob. „Ich bin ja eurer Meinung, Genossen - aber trotzdem geht es nicht Hals über Kopf. Das Kombinat ist schließlich keine Kleinigkeit. Die Produktions-, Finanz- und Arbeitskräftekapazität ist genau festgelegt. Ohne Mehrleistungen sehe ich wenig Möglichkeiten aber ihr wißt, es gibt hier wohlbegründete Gesetze.“ Die Aussichten verschlechterten sich noch, als am Nachmittag die verantwortlichen Abteilungsleiter hinzugezogen und die Unterlagen durchgesprochen wurden. Wohl spürten sie die Bereitschaft, das Projekt so schnell wie möglich zu verwirklichen, aber diese Bereitschaft vermochte die Schwierigkeiten nicht aus der Welt zu schaffen. „Allein schon das Atomkraftwerk, Genossen, wer soll das bauen? Gewiß, es ist ein Serientyp, aber die betreffenden Firmen sind für die nächsten Jahre ausgelastet“, sagte der Leiter der Abteilung Energiewirtschaft. „Wir könnten bis dahin aus dem Netz Energie entnehmen“, wandte Werner ein. Der Abteilungsleiter schlug die Hände zusammen. „Unsere Lage ist noch immer angespannt, trotz aller Kraftwerksneubauten reicht die Energie gerade für die geplanten Vorhaben. Ihr wißt doch selbst, Genossen, welch immense Energie durch die Industrialisierung der ehemaligen, ökonomisch schwach entwickelten Kolonialgebiete gebunden wird. Wenn deren Energiereserven nutzbar gemacht sind, wird es besser. Euer Kombinat benötigt allein die Kapazität eines beachtlichen Kraftwerks... Laßt die Unterlagen hier. Ich verspreche euch, daß wir sie eingehend prüfen und unser möglichstes tun werden.“ „Hallo, Bratford, wieder im Lande?“ begrüßte Fouler senior seinen Besucher. „Ja“, sagte Dr. Bratford kurz und setzte sich in den Sessel. „Sie waren in Havanna?“ „Ja.“ „.Bei den Roten?“
„Und haben über unsere Entwicklung berichtet?“ „Ja.“ „Sie legen Wert auf kommunistische Publicity?“ „Nein.“ „Zum Teufel“, brauste der alte Fouler auf, „was wollten Sie dann da drüben? Wohl Verbindungen anknüpfen...“ Er rang mit offenem Mund nach Luft. „Ich bezahle Sie... ich, verstanden? Und ich werde...“ „Mich nicht aufregen, denn das bekommt mir nicht“, sagte Fouler junior, der unbemerkt hereingetreten war. Er kümmerte sich nicht um das wütende Schnauben des Alten, sagte: „Laß das!“, ging zu Bratford und schlug ihm jovial auf die Schulter. „Hallo, Doktor, freut mich, Sie zu sehen! Wohlbehalten zurück aus der Höhle der Löwen? Ihr Bericht soll den Herren da drüben übel aufgestoßen sein.“ „Woher wissen Sie eigentlich?“ fragte Dr. Bratford mißtrauisch. „Nun, nun“, begütigte Fouler junior. „Wir beschützen unsere besten Leute.“ „Ja, Sie wären ein Verlust“, keuchte der Alte, doch der Junior fuhr schnell fort: „Für unsere Wissenschaft, Doktor!“ „Und für den Trust, was?“ sagte Dr. Bratford spöttisch. „Auch das“, gab der junge Fouler unbekümmert zu. „Wir haben einiges investiert. Es wäre schön, wenn es Zinsen trüge. Wie steht es nun - die drüben arbeiten am gleichen Projekt?“. „Ja.“ „Und wie stehen die Aktien?“ „Gut, Mister Fouler - wenn wir uns beeilen!“ „Das heißt?“ „Die Arbeiten großzügiger vorantreiben, den Aufbau einer Produktionsstätte vorbereiten und dann schnellstens anfangen.“ Der junge Fouler überlegte. „Und wenn wir es nicht tun?“ fragte der Alte lauernd. „Müssen wir eines Tages Hartsilikone von drüben beziehen“, erwiderte Fouler junior anstelle Bratfords. „Sind wir schneller auf dem Markt, gelingt es uns vielleicht, einen Teil unserer Produktion drüben unterzubringen. Also, Doktor, machen Sie Volldampf! Übermitteln Sie mir noch in dieser Woche die nötigen Unterlagen, wir legen dann mit den Fachabteilungen die Finanzierung, den Bau und alles übrige fest.“ „Wie du mit meinem Geld umspringst!“ keuchte der Alte, als Dr. Bratford gegangen war. „Unser Geld, Pa!“ „Ich hätte ihn kurzgehalten...“ „Und dir ein Bombengeschäft entgehen lassen, bloß um Bratford Mores zu lehren? Du wirst alt, Pa. Das ist doch eine politische Frage. Es wäre ein Knüller, wenn wir mit unserem Hartsilikon eher auf dem Markt wären als die drüben. Ja, und viel wichtiger: Die eigene Konkurrenz drücken wir glatt an die Wand. Gelingt es, unseren Silikon-Super-Stahl billiger auf den Markt zu werfen als die Stahltrusts ihr Eisen...“ Er kniff ein Auge zu. „Eine Baisse in Stahlaktien... Aufkaufen und dann die Produktion zwischen Stahl und Silikon so abstimmen, daß die Kurse wieder steigen! Außerdem brauchen sie drüben noch jede Menge Material, die stülpen das Unterste nach oben - am Ende werden wir beides los, Silikon und Stahl, wenn wir den erst in der Hand haben.“ „Wie willst du eine Baisse machen, John“, fragte der Alte kopfschüttelnd, „wenn die drüben den Stahl abnehmen, den die Stahlwerke wegen unseres Silikons nicht mehr loswerden?“ „Du vergißt, die drüben haben eine Planwirtschaft und kümmern sich den Teufel um unsere Sorgen. Auf zwei, drei Jahre planen die voraus und binden sich vertraglich. Zwei, drei Jahre auf Lager produzieren, das halten die Stahlwerke nicht aus, Pa, da wird die Börse empfindlich reagieren. Und wenn die drüben unsere Überproduktion abnehmen, mischen wir im Stahl bereits mit.“ „Also glaubst du doch, daß du bei denen Stahl los wirst?“ „Wenn es im Stahl erst Arbeitslosigkeit gibt, nehmen die ihn ab, sobald ihr Plan es zuläßt - Solidarität der internationalen Arbeiterklasse nennen sie das. Bis dahin haben wir unsere Hände im Spiel.“ Das Haus Fouler besaß, bis auf eine unbedeutende Minderheit, die Aktien der American Chemical Company, es besaß die Aktienmajorität in vielen Trusts anderer Industriezweige, so bei der American Oil Company, der American Railway Corporation, es verdiente in einigen Reedereien und Luftfahrtunternehmen mit, besaß ein großes Bankhaus und kontrollierte die Kohleindustrie, So konnte der alte Fouler vorschlagen, den Kurssturz der Stahlaktien noch zu beschleunigen. „Wenn unser Silikon auf den Markt kommt, John, erhöhen wir die Kohlepreise und treiben so die Stahlpreise hoch...“ „Das ist bereits vorgesehen, Pa.“ „Du bist doch mein Sohn“, sagte der Alte stolz. „Ich fürchtete schon, die Roten hätten auf dich abgefärbt!“
14 Obwohl das Kollektiv nach der Besprechung beim Wirtschaftsrat Zeit gehabt hätte, arbeitete es an der Vollendung des Projekts so, als ginge es darum, schnellstens mit dem Bau zu beginnen. Es war nicht die Hoffnung, doch noch die Schwierigkeiten zu überwinden, es war mehr ein Betäuben. Die Stimmung war gereizt, sie grübelten unablässig, ob es nicht eine Möglichkeit gebe, ihr Kombinat vorzeitig aufzubauen. Besonders Manuela fuhr schnell auf, wenn ihr etwas in die Quere kam. Selbst gegen Werner war sie zeitweilig unduldsam. Es war wieder Kiriks Ruhe zu danken, seiner gleichmäßigen Gelassenheit, wenn es im Kollektiv nicht zu persönlichen Reibereien kam. Dabei bekümmerte ihn das Ergebnis der Prager Besprechung ebenso, auch er grübelte nach einem Ausweg. Werner befand sich in doppelter Bedrängnis. Neben den Sorgen mit ihrem Bauvorhaben bedrückte ihn die Unsicherheit, ob sein Verhalten gegenüber Manuela richtig sei. Er dachte immer häufiger an Natascha, der er hatte beweisen wollen, wessen er fähig und daß er ernst zu nehmen sei. Vielleicht erinnerte ihn Kiriks imponierende Gelassenheit, die in vielem Nataschas Wesen entsprach, an ihr sicheres, bestimmtes Auftreten; jedenfalls fragte Werner sich oft, wie Natascha sein Verhalten in der jetzigen Lage beurteilen würde. Mit diesen Gedanken kamen ihm auch Vergleiche zwischen Natascha und Manuela. Nicht, daß Manuela ihm nicht gefallen hätte - aber Natascha war zuverlässiger. Es schien ihm sicher, daß sie besser mit diesen unbestimmten Arbeitsbedingungen fertig würde als Manuela. Natascha würde ihn unterstützen, Manuela mußte man stützen... Aber war nicht auch Manuela ein prachtvolles Mädel, hatte sie nicht ein Recht darauf, ohne Vorbehalte und Vergleiche geliebt zu werden? Er mußte Klarheit schaffen! Was erwartete sie von ihm? Vorerst kam er über diesen Entschluß nicht hinaus. War Manuela in seiner Nähe, dann verblaßte Natascha, und er brachte es nicht über sich, von seinen Zweifeln zu sprechen. Sollte er etwa zwischen zwei Küssen sagen: Ich liebe dich – aber da ist eine andere, die ich nicht vergessen kann? Meist empfand er in Manuelas Gegenwart diese Gedanken als Ausgeburt einsamer, vergrübelter Stunden, als ein Zeichen, daß er mit den Nerven fertig sei und dringend der Erholung bedürfe. Was sollte das Grübeln? Natascha hatte er sich verscherzt, und schließlich hatte er zu Manuela noch mit keinem Wort von einer gemeinsamen Zukunft gesprochen und wußte nicht einmal, ob sie das überhaupt im Sinn hatte. Er hielt sich an die Vorsätze, die er in Havanna gefaßt hatte: Gelegentlich unternahm das Kollektiv gemeinsame Omnibusfahrten; in Thüringen, im Erzgebirge, an der Ostsee, der Nordsee, am Rhein und im Schwarzwald vergaßen sie für Stunden ihre Sorgen, lachten und sangen übermütige Wanderlieder, die ihnen Heino beibrachte. Doch bei aller Abwechslung: Die Wochen vergingen, und die Unsicherheit griff um sich, wie es weitergehen sollte. Die letzten Arbeiten am Gesamtprojekt waren bald getan, man konnte schließlich nicht monatelang eine fertige Sache überprüfen, nur um die Zeit totzuschlagen und sich nicht trennen zu müssen. Sie hatten nicht Monate eingespart, um sie dann nutzlos zu vergeuden. Immer häufiger lehnten sie die Teilnahme an den Reisen ab, um persönliche Kontakte, die sie inzwischen gefunden hatten, zu pflegen und zu vertiefen, damit sie die bevorstehende zeitweilige Trennung überdauerten – wie es so ist, wenn man sich von nahestehenden Menschen trennen muß und sich noch nicht damit abgefunden hat, sie bald nicht mehr nach Belieben sehen zu können. Am besten hatte es da noch Fan Yü-hua, die einen chinesischen Studenten kennengelernt hatte, der im letzten Semester in Deutschland studierte. Nun fuhren Manuela und Werner oft allein hinaus, er brachte sie auch immer häufiger mit zu seinen Eltern. Sie waren liebenswürdig und sehr gastfreundlich zu ihr, und doch schien es Werner, als verstünden ihn seine Eltern nicht so, wie er es gewöhnt war, als wären sie ihm gegenüber in dieser Sache reserviert. „Ein schönes Mädchen“, sagte Mutter eines Tages zu ihm, als sie allein im Garten saßen. „Geschmack hast du, das muß man dir lassen.“ Werner nickte und schwieg. „Wir werden eine internationale Familie“, begann Mutter erneut und blinzelte in die Abendsonne. „Eine Schwedin, eine Französin und eine Kubanerin als Schwiegertöchter.“ „Wieso?“ „Wirst doch einmal heiraten?“ „Habe ich das behauptet?“ fragte er schroff. Mußte sie ihm ausgerechnet jetzt auf den Zahn fühlen? „Was heißt das?“ Ruth Hardensteins Stimme klang scharf. Das verwunderte Werner und machte ihn hellwach. „Entschuldige, Mutter, aber an Heiraten denke ich nicht!“ „Und Manuela?“ „Wir haben nie davon gesprochen.“ „Sie will also nicht?“ bohrte sie.
„Himmel, ich weiß nicht!“ erwiderte er gereizt. „Was hast du nur?“ „Hör mal gut zu, mein Junge!“ sagte sie nachdrücklich. „In diesen Dingen muß man ehrlich sein, zum Partner und zu sich selbst. In den Beziehungen zwischen Mann und Frau muß Klarheit herrschen – Klarheit über das, was man sich entgegenbringt. Unklarheit ist Unehrlichkeit, wenn man sie künstlich erhält, obwohl man sich selbst klar ist.“ „Mutter, ich…“ „Vielleicht hörst du deiner Mutter erst einmal zu?“ unterbrach sie ihn. „Was du machst, ist deine Sache, aber du kannst mich nicht hindern, mir über dein Verhalten ein Urteil zu bilden und daraus Rückschlüsse auf deine Einstellung zur Frau – und damit auch zu deiner Mutter – zu ziehen und darauf, was wir bei deiner Erziehung versäumt haben. Ich bin weit davon entfernt zu glauben, man müsse den Lebensweg gemeinsam gehen, wenn man sich unterwegs einmal begegnet. Nicht jede Liebelei muß wegen schöner und durchaus wertvoller Stunden zu einer dauerhaften Bindung führen, nicht einmal jede Liebe führt dazu, und nicht jede Liebe erträgt sie. Das ist auch nicht ausschlaggebend für den Wert dessen, was man erlebt. Uns begegnet so manches, was sich nicht schablonenhaft normen und registrieren läßt. Aber immer entscheidet die Ehrlichkeit zueinander über den Wert. Es wäre ausgesprochen gemein, sich schöner Stunden dadurch zu versichern, daß man Hoffnungen nährt, die man nicht erfüllen will, oder daß man beim Partner falsche Voraussetzungen erhält, ohne die er nie zur Hingabe bereit wäre. Ganz gleich, ob Mann oder Frau - eine Spielerei mit dem anderen, mit seinem Gefühl und seiner Hingabe ist unwürdig, ist egoistisch und überheblich. Niemand hat das Recht, einen anderen zum Objekt egoistischer Lust zu machen, das heißt Hingabe zu empfangen, ohne bereit zu sein, sich selbst dafür hinzugeben, ohne den Wunsch, den anderen zu beglücken und mit ihm eine höhere Gemeinsamkeit zu erleben. Das ist der Maßstab, mein Junge! Man kann einen anderen nicht zum Gebrauchsgegenstand erniedrigen, ohne damit seine eigene Würde zu verlieren. Versteh mich richtig: Ich bin nicht spießig, aber eines muß man vor allem beachten: gleiche Rechte, gleiche Pflichten und gleiche Voraussetzungen, also Ehrlichkeit zueinander!“ „Hör auf!“ bat Werner. „Das ist ja nicht mit anzuhören, ich bin doch kein Strolch! Ich bin mir nicht klar und habe diese Klarheit auch nie vorgetäuscht.“ „Das behaupte ich auch nicht, Junge. Aber du sollst immer daran denken, daß du für den anderen mitverantwortlich bist, ganz gleich, ob er Manuela oder Natascha heißt.“ Das Bedürfnis, sich wieder in die Hand zu bekommen, aus diesem Strudel der Ungeduld, des Mißmuts, der Unsicherheit und Unklarheit herauszufinden und als Leiter des Kollektivs wie Kirik eine Stütze der Ruhe zu werden, trieb Werner immer häufiger in den Kreis seiner ehemaligen Kollegen. Die Sicherheit des Produktionsablaufs in der Brigade, die Überschaubarkeit der nächsten Zukunft zogen ihn an: Hier war ein gleichmäßiger Fluß der Arbeit, und man wußte heute schon, was man im nächsten Monat und im nächsten Jahr produzieren würde. Trautenhahn bemerkte Werners unausgeglichenen Zustand und war besorgt. Er konnte sich nach Andeutungen Evelyns, die wohl durch Heino einiges wußte, und nach gelegentlichen Bemerkungen Werners bald ein ungefähres Bild machen. Er nahm sich vor, bei Gelegenheit Werner zum Sprechen zu ermuntern. Vielleicht war alles nur halb so schlimm, und den jungen Leuten konnte geholfen werden. Er kannte doch Werner und wußte, wie leicht er sich in eine Sache verrannte. Die Gelegenheit zur Aussprache ergab sich, als er eines Tages mit Jumbo am Leitstand das Spiel der Instrumente verfolgte und Werner dazukam. „Welch Glanz in unsrer Hütte!“ sagte Jumbo launig, als er Werner die Hand reichte. „Das heißt, so strahlend siehst du eigentlich nicht aus.“ „Sorgen?“ fragte auch Trautenhahn. „Ja und nein. Die Produktionsanlagen stehen auf dem Papier, aber es gibt keine Möglichkeit, mit dem Aufbau zu beginnen. Das sind wieder Milliarden, die uns der Rost wegfrißt, ehe unser Silikon eingesetzt werden kann. Millionen, die jährlich für die Pflege der Projekte draufgehen, die nun noch aus Stahl gebaut werden müssen - ganz abgesehen von dem unnötigen Arbeitsaufwand, den diese Pflege erfordert. Millionen von Arbeitsstunden, die wir anderweitig ausnutzen könnten. Von den Rostschutzmitteln ganz abgesehen.“ „Wann kann denn der Bau begonnen werden?“ fragte Trautenhahn. „Das ist noch nicht genau abzusehen. Geplant ist er für Ende des nächsten Jahres.“ „Also zwei JahreVerlust?“ „Nein. Die Maschinen können vorher gebaut, in bestimmten Betrieben können schon Vorbereitungen getroffen werden, soweit es der Plan zuläßt - aber ein Jahr verlieren wir, denke ich. Schlimm ist auch, daß wir wahrscheinlich auseinandergehen müssen, wir haben doch vorerst nichts mehr zu tun. Zwar wird
darüber noch verhandelt, aber ich sehe keinen Ausweg.“ Trautenhahn zwinkerte Jumbo verstohlen zu und bedeutete Werner, mit in sein Büro zu kommen. „Du solltest schnellstens Klarheit schaffen, meine ich“, sagte Trautenhahn, als sie sich an seinem Schreibtisch gegenübersaßen. „Mache im Wirtschaftsrat mal ein bißchen Wind!“ „Die tun, was sie können ... Es ist zum Kotzen, Wolfgang, wir schwimmen, aber treiben ohne Kurs. Für mich als Kapitän, wenn ich mich mal so nennen darf, kein Aushängeschild. Manchmal habe ich das Gefühl, mir fehlen die Nerven für eine solche Funktion.“ Da lachte Trautenhahn. „Verlier nicht den Kopf! Wissen deine Kollegen von deiner Auffassung?“ „Soll ich mich hinstellen und sagen: Ich weiß nicht weiter?“ „Sie werden schnell dahinterkommen, daß du nicht weiterweißt!“ Werner blickte nachdenklich hinunter auf die Bandstraßen der Produktionshalle. „Ich möchte bloß wissen, woher Kirik die Ruhe nimmt.“ „Du machst einen Fehler, Werner: Ihr seid ein gutes Kollektiv, gerade deshalb müßt ihr jetzt gemeinsam über diese Dinge sprechen. Paß auf, wir treffen uns heute nachmittag, sagen wir um vier, auf dem Mühlenberg im Bergrestaurant. Du bringst Kirik mit und ich Jumbo. Vielleicht können wir euch helfen.“ „Bratfords Projekt!“ rief Fouler junior und warf die Mappe auf den Tisch des alten Fouler. „Bevor wir den Familienrat einberufen...“ „Du meinst den Aufsichtsrat“, berichtigte der Alte. „Was dasselbe ist. Oder gehören Schwager, Neffenund Onkel nicht zur Familie? Bevor wir also den Familienrat einberufen, möchte ich mich mit dir darüber unterhalten. Fürs erste benötigen wir dreihundert Millionen, dann kann's losgehen. Um einen Bauplatz habe ich mich schon gekümmert - am Rande der Nevada. Spottbillig, ehemaliges Atomtestgelände. Mit der Regierung habe ich verhandelt, wir bekommen es für zwanzig Prozent des Normalpreises plus Handgeld für den Staatssekretär plus Direktorposten im neuen Werk für den Gutachter.“ „Gutachter?“ „Die Sperrfrist für das Gelände läuft erst im nächsten Jahr ab. Minimal verseucht. Er muß uns bestätigen, daß es unbedenklich ist. Kommt ja nur für den Bau in Frage; wenn im nächsten Jahr die Produktion anläuft, dürfte die letzte Strahlung abgeklungen sein. Das heißt: bestimmt, sonst würde er sich ja nicht selbst in das Werk setzen. Aber Gutachten muß sein, sonst machen die Kommunisten Spektakel.“ „Nicht schlecht, John, aber dreihundert Millionen? Woher so schnell? Können wir doch so kurzfristig gar nicht frei machen.“ Der Junior lachte. „Sechsundvierzig Prozent der Aktien übernimmt der Staat, damit tragen wir der Gewerkschaftsforderung Rechnung, daß der Staat am Gewinn und an der Kontrolle beteiligt ist.“ Der alte Fouler war entsetzt. „Freiwillig willst du diese unverschämte Forderung erfüllen? Und die Bedingungen?“ „Daß die übrigen vierundfünfzig Prozent nicht in einer Hand vereinigt werden. Können sie haben! Trotzdem behalten wir die Majorität. Wir verteilen zweiundfünfzig Prozent in der Familie und schenken zwei Prozent den Beteiligten der Regierung. Damit sind wir sicher, daß sie nicht querschießen. Und wenn der Staat einmal in Nöten ist, vielleicht können wir die sechsundvierzig Prozent aufkaufen.“ „Und wer baut? Das Industriebau-Syndikat?“ „Nein.“ Der Junior grinste. „Die Hochbau-Gesellschaft.“ „Die steckt doch im Krankenhausbau?“ „Macht nichts, Pa. Daran sind die Gewerkschaften, aber nicht unsere Leute im Ministerium interessiert. Haben sowieso noch einen Rochus, daß die Gewerkschaften diese Spitalbauten mit Streikdrohungen erzwungen haben!“ „Ob das nicht Ärger gibt?“ „Unsinn, Pa! Es wird weitergebaut. Die Schnelligkeit ist nicht Gegenstand der Verhandlung. Den guten Willen wird man zeigen, aber es wird objektive Schwierigkeiten geben, Verzögerungen. Soviel ich weiß, sind einige Gewerkschaftsbosse in den Aufsichtsräten der Bau- und Zuliefergesellschaften; wenn wir alle Firmen im Block übernehmen, werden die nicht schlecht dabei verdienen, also auch keine Schwierigkeiten machen. Hab ich auch nie verstanden, da schicken die Gewerkschaften ihre Bosse in die Aufsichtsräte, damit sie ihre Interessen wahrnehmen, und lassen sie die Gehälter schlucken, Aktienpakete erwerben und an der Dividende auch noch mitverdienen. Als ob die so blöd wären, sich den eigenen Profit zu beschneiden! Ein leichtes Einkommen, Hunderttausende jährlich verdienen und nur sagen zu müssen: Kollegen, es ist alles in Ordnung! Wenn nur die linken Gewerkschaften nicht wären - aber die halten Verbindung nach drüben.“ „Noch haben wir die rechten und die christlichen“, warf der alte Fouler ein. „Noch, Pa, aber wir müssen die Zeit nutzen. Die Distriktvorstände spuren nicht mehr so wie früher. Man müßte dem Hauptvorstand
mal die Leviten lesen, daß er wenigstens den gewerkschaftlichen Anschein wahrt. Er macht doch die Distriktverbände erst rebellisch!“ „Was springt bei der Hochbau-Gesellschaft heraus?“ drängte der Alte. Wenn es um Geschäfte ging, liebte er keine Umschweife. Ohne Grund hatte John doch nicht ausgerechnet diese Gesellschaft gewählt. „Aber Pa!“ rügte Fouler junior. Der Alte sah ihn begriffsstutzig an. „An der Hochbau-Gesellschaft ist doch American Oil beteiligt, und in der mischen unsere Strohmänner mit. Also verdienen wir an unserem eigenen Bauvorhaben und haben mit zweiundfünfzig Prozent die Majorität, obwohl wir im Endeffekt gar keine zweiundfünfzig Prozent Kapital einbringen.“ Der Alte war sehr zufrieden mit seinem Sohn. Daß der sich ebenso auf Transaktionen verstand wie er selbst und die Regeln des kapitalistischen Geschäfts nicht nur beherrschte, sondern auch anzuwenden gewillt war, machte ihm die Einsicht leichter, eigentlich nur noch nach außen hin der Kopf des Hauses Fouler zu sein, während in Wirklichkeit John längst die Zügel in der Hand hatte und er fast auf dem Altenteil saß. Wenn er sich auch nicht mit Johns realistischer Einschätzung der Weltpolitik befreunden konnte, so mußte er doch zugeben, daß der Junior aus der Sache machte, was aus ihr zu machen war. John grinste insgeheim über den Alten. Eines Tages würde er in dieses Zimmer einziehen, eines nicht allzufernen Tages. Dann würde dieses Mumienparadies gründlich ausgemistet werden. Eine nüchterne, geschäftliche Note würde es bekommen, wie es seit Jahrzehnten üblich war. Er jedenfalls machte diesen Traditionsfimmel nicht mit! Es war ja lächerlich, diesen Raum so zu erhalten, wie er vom Urgroßvater überkommen war, und in dieser vermotteten Atmosphäre von vergangenen Zeiten zu träumen. Kindisch, diese Nachäfferei vergangenen hocharistokratischen Ahnenkults. „Die Plutokratie ist die echte Nachfolge der Aristokratie“, sagte der Alte oft, und in diesem Bekenntnis lag die gleiche Bewunderung, mit der seine traditionslosen Vorväter in Europa die Burgen und Schlösser des längst verblichenen Hochadels angestaunt hatten. Eigentlich war der Alte trotz aller geschäftlichen Gerissenheit recht primitiv geblieben. Nur gut, daß er seinen Sohn in einem Internat hatte erziehen lassen! Man brauchte nur diesen Schreibtisch zu betrachten: Souvenirs aus aller Welt, zu jener Zeit gesammelt, da der Erdball noch der Vorgarten Amerikas war, bis auf jene fatale Ausnahme im Osten natürlich. Da gab es Schäferidylle, Tänzerinnen aus Porzellan und verkleinerte Gipsnachbildungen antiker Statuen, galante Nichtigkeiten aus dem Paris der zwanziger Jahre, schwertförmige Brieföffner mit der eingravierten Behauptung DULCE ET DECORUM..., Glaskugeln mit Landschaft und Schneetreiben, Segelschiffe mit Grüßen aus irgendeinem Gebirge... Und der Schreibtisch war natürlich massiv Eiche, mit Ornamenten verziert – fehlte, weiß Gott, nur noch die Plüschportiere! Dieser Ahnenkult - was nützten die Ahnen? Jeder mußte selbst sehen, wie er durchkam! Die hatten es früher leichter, hatten Gummiknüppel, Handschellen und Kerkerschlüssel in der Hand. Aber heute? Daß der Alte mit ihm zufrieden war - na gut! Dabei wußte der nicht einmal alles. Aber sollte er ihm alles
auseinandersetzen, da er so schon Mühe hatte, das Netz der finanziellen Verbindungen einigermaßen zu überschauen? Der alte Mann lebte noch in einer Welt des Angriffs, aber John war sich klar, daß es für ihn eine Welt des Rückzugs war. Man mußte verzögern um jeden Preis, die Taktik ändern und mitnehmen, was mitzunehmen war. In der Silikonsache ließ sich mehr mitnehmen, als der Alte sich träumen ließ. American Oil hatte einen Großauftrag für Chemieausrüstungen vergeben. Chemical Equipment mußte, um diesen Auftrag erfüllen zu können, das Unternehmen vergrößern. Die Bank, die den Kredit dafür gewährte, wurde von Fouler kontrolliert. Wenn er nun ein kleines Kesseltreiben gegen Chemical Equipment veranstaltete? Ein Mann wie er hatte doch seine Hände überall im Spiel. Die Regierung würde die erforderlichen Baugenehmigungen für die neuen Aufbereitungswerke der American Oil, für die diese Ausrüstungen bestimmt waren, verzögern; daß entsprechende, längst vergessene Gesetze dazu ausgegraben wurden, hatte er veranlaßt. Es würde Rückfragen und Einsprüche geben - allesamt nicht ernst zu nehmen, aber geeignet, die Sache zu verschleppen und der American Oil einen Vorwand zu liefern, ihrerseits die Teilaufträge nur zögernd zu erteilen. Daß sich die American Oil so verhielt, hatte er veranlaßt, schließlich hing er selbst mit drin. Und daß die Bank auf prompte Zahlung der Zinsen drängte, dafür würde er ebenso sorgen. Gleichzeitig würden die Preise für Industriekohle anziehen und damit die Stahlpreise hinauf drücken, denn American Oil hatte Stahlausführungen bestellt. Die Verkaufspreise für die Ausrüstungen waren vertraglich fixiert, die Gewinnspanne würde sich für Chemical Equipment also vermindern. So würden Schwierigkeiten entstehen, und die Gerüchte seiner Mittelsmänner, bei Chemical Equipment gebe es finanzielle Schwierigkeiten und umfangreiche Veruntreuungen, konnten bei den kleinen Aktionären auf fruchtbaren Boden fallen. Und es waren überwiegend Kleinaktionäre, denn Chemical Equipment war ein „volkskapitalistischer“ Betrieb, dessen Aktien in kleinen Werten ausgeschrieben und unter das Volk verkauft worden waren. Waren diese Kleinaktionäre einmal mißtrauisch, würden auf der Börse weit unter dem Kurs Aktien angeboten werden, die er vorher zu diesem Zweck aufkaufen ließ. Stießen die Kleinaktionäre dann ihre Aktien ebenfalls ab, um wenigstens noch einen Teil ihres Geldes zu retten, würden seine Mittelsmänner aufkaufen. Schon dabei würde er anständig profitieren. Aber das war erst der Anfang. Hatte er die Majorität, dann würde Chemical Equipment, die ja nie wirkliche Schwierigkeiten hatte, auf Teufel komm raus produzieren, die Kohlepreise würden sinken, die Stahlpreise auch, dafür sorgte er dann. Vielleicht ließ sich das schon mit der Produktion der Hartsilikon-Versuchsanlage und entsprechender Propaganda erreichen? Die ließ sich außerdem als Werbungskosten von der Steuer absetzen! Aber der Clou kam erst: Er verdiente an den Ausrüstungsanlagen der American Oil mit! Und den Auftrag für die Silikonanlagen des neuen Projekts bekäme ebenfalls Chemical Equipment. Daß die Preise gepfeffert wären, verstand sich von selbst, daß die neugegründete Silikongesellschaft sie akzeptierte, dafür bürgte seine Aktienmajorität - also verdiente er auch hier. Die hohen Preise für die Silikonanlagen mußte der Staat fast zur Hälfte mit tragen, den Gewinn, der für Chemical Equipment dabei heraussprang, hatte er allein. Wenn er alles überschlug, war es am Ende so, daß er tatsächlich für zweiundfünfzig Prozent Aktien nur etwa dreißig Prozent Kapital einbrachte und doch über die Verwendung der sechsundvierzig Prozent staatlicher Aktien bestimmte und für zweiundfünfzig Prozent die Dividende kassierte.
15 Werner parkte seinen Wagen im Schatten einiger alter Buchen, dann suchte er mit Kirik nach einem freien Tisch auf der Terrasse des Bergrestaurants. Obwohl die Terrasse gut besucht war, fanden sie direkt an der Brüstung noch Platz. Sie setzten sich und schauten sich um. Am Fuße des Mühlenbergs, zweihundert Meter unter ihnen, breitete sich die Großstadt im weiten Flußtal aus. In der Ferne blinkten die Glasflächen des Kombinats. Werner bestellte beim Kellner zweimal Kaffee. „Du trinkst doch mit, Kirik? Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit, Trautenhahn kommt pünktlich, ich kenne ihn.“ Kirik nickte. „Warum hast du Manuela nicht mitgenommen? Oder warst du schon mit ihr hier?“ fragte er. Schon seit Tagen hatte er sich vorgenommen, mit Werner über Natascha zu sprechen. Er mußte wissen, wie Werner jetzt zu ihr stand. Das war eine verteufelte Situation. Noch immer schrieb sich Kirik mit Natascha, indessen war der Briefwechsel träge geworden und drehte sich zum größten Teil um Werner. So unglaublich es war: Natascha hatte ihn noch immer nicht vergessen. Nun hätte Kirik ihr ja schreiben können, daß Werner mit Manuela... Aber Natascha wußte, daß er selbst sich Hoffnungen gemacht hatte und wohl auch noch machte - konnte sie eine solche Mitteilung nicht als unfairen Wettbewerb mißverstehen? Zum anderen: Er war nicht sicher, was es mit Werner und Manuela auf sich hatte. Er vermochte nicht zu sagen warum, aber ihm schien, als wäre es doch nicht ganz das, was man als beständig bezeichnet. Um sich endlich ein Bild machen zu können, hatte er Werner nach Manuela gefragt und gehofft, es wäre der Anfang eines längeren Gesprächs. Werner erwiderte nur, sie seien schon hier gewesen. Er blieb einsilbig, doch Kirik ließ nicht locker. „Hättest sie trotzdem mitbringen können.“ „Trautenhahn sprach nur von dir. Manuela ist so impulsiv - erst mal sehen, was bei unserem Gespräch herauskommt, dann muß sie sowieso eingeweiht werden.“ „Mich geht's nichts an - aber habt ihr euch gestritten?“ Werner blickte verwundert auf. „Wieso?“ „Nur so... Wenn ich an damals denke, an Kuibyschew... Von Natascha konntest du nicht genug bekommen!“ Werner zog die Augenbrauen hoch, sein Blick wurde abweisend. „Natascha war anders...“ Der Kellner unterbrach sie. Als er serviert hatte, nahm Werner das Gespräch nicht wieder auf. Sein schroffer Ton hatte Kirik gewarnt. Weshalb war er nur so brüsk - war es Empfindlichkeit? War Natascha gar der wunde Punkt? Aber wenn, zum Teufel, warum nahm er dann keine Verbindung mit dem Mädel auf? Natascha saß und wartete - war Kirik am Ende selbst schuld daran mit seinen Briefen über Werner? Aber wartete sie wirklich...? Trautenhahn und Stolteroff traten heran. „Es ist aber erst sechzehn Uhr“, sagte Trautenhahn nach der Begrüßung mit einem Blick auf die Uhr. „Ja, wir waren etwas eher hier.“ „Es geht also darum“, sagte Trautenhahn ohne Umschweife und zog sich einen Stuhl heran, „daß ihr euch trennen müßt, weil ihr vorzeitig fertig geworden seid und nun keine Arbeit habt.“ „Moment!“ fiel Kirik ein. „Was heißt hier trennen? Natürlich müssen wir, wenn unsere Aufträge erteilt sind, in die Betriebe gehen und den Bau der Maschinen an Ort und Stelle verfolgen - was heißt müssen, das haben wir von Anbeginn so bestimmt! Ein Teil geht in die Betriebe, der andere Teil zur Baustelle, auf der wir uns erst dann wieder vereinen, wenn das Kombinat produziert.“ „Und die Zeit bis zur Auftragserteilung?“ sagte Werner. „Wie füllen wir sie aus? Sollen wir uns festhalten an der fertigen Arbeit? Wozu haben wir dann vorfristig abgeschlossen?“ „Mit Arbeit könnten wir euch aushelfen“, sagte Stolteroff. „Trautenhahn hat da einen Gedanken...“ „Der Produktionsprozeß im Kombinat ist mir zu schwerfällig“, fiel Trautenhahn ein. „Das ist doch kein kontinuierlicher Fluß, erst Kondensationsbehälter, dann Mischbehälter, dann Sammelbehälter, dazwischen meterlange Verbindungsrohre, Dutzende Ventile und Meßgeräte, alle vierzehn Stunden Ausstoß eines Kessels... Das müßte eleganter gehen, fließend, ohne die ruckartige Rohstoffzuführung.“ „Aber wie?“ fragte Werner. „Ich hätte längst einen Vorschlag gemacht, wenn ich's genau wüßte. Mir schwebt eine Art Drehrohrofen vor - vorn schüttest du die Rohstoffe hinein, hinten läuft der fertige Polyester aus. - Aber geht es euch wirklich nur um Arbeit?“ „Natürlich nicht!“ sagte Kirik. „Es geht darum, keinen Zeitverlust zu erleiden, nicht wieder zu verlieren, was wir herausgeholt haben. Aber im Wirtschaftsrat wurde uns eindeutig gesagt, daß der Plan keine
Möglichkeit läßt. Unser Projekt lief doch nebenher und ist erst für Ende des nächsten Jahres vorgesehen. Natürlich wird es möglich sein, Teilaufgaben vorher zu lösen, bestimmte Maschinen eher in der Produktion unterzubringen - aber niemals das ganze Projekt.“ „Dabei ist ein amerikanischer Trust ebensoweit und wird natürlich politisches Kapital daraus schlagen, wenn er eher fertig wird“, sagte Werner. Trautenhahn unterbrach ihn. „Sie sagten eben“, wandte er sich an Kirik, „der Zeitverlust liege im Plan. Und was ist außerhalb des Plans zu machen?“ „Wie meinst du das?“ fragte Werner. „Laß mich mal nachdenken.“ Trautenhahn schwieg ein Weilchen, dann fuhr er zögernd fort: „Ihr seid doch ein Jugendkollektiv, arbeitet an einem Jugendobjekt. Warum soll der Bau nicht auch ein Jugendobjekt werden? Ich kann mich entsinnen, daß es früher Aufgebote gab, Jugendaufgebote..., daß beispielsweise die Wische von der Jugend melioriert wurde...“ „Na gut!“ Werner zweifelte. „Im nationalen Maßstab geht das, aber interkontinental?“ „Weshalb eigentlich nicht?“ Kirik wurde lebhaft. „Der Komsomol hat doch die Neulandaktion auch gemeistert. Weshalb nicht interkontinental? Im Gegenteil, Werner! Eine Großbaustelle der Jugend aller Länder, aller Kontinente, das müßte doch noch viel eher möglich sein. Genösse Obermeister, Prachtkerl! Daß wir nicht selbst darauf gekommen sind!“ Kirik aufgeregt? Das verblüffte Werner. Aber dann riß ihn Kiriks Begeisterung mit. Tatsächlich - es war unverständlich, daß er nicht daran gedacht hatte. „Die Möglichkeiten kennen wir nun“, sagte Stolteroff gemessen, „aber der Weg ist noch nicht klar. Ihr könnt nicht einfach sagen: Morgen, Freunde, schnappt ihr euch eine Schippe und trabt ab in die Sahara, Sand schaufeln! Das muß organisiert werden. Und wie steht es mit dem benötigten Material, den Maschinen?“ „Ich schlage vor, wir skizzieren jetzt unsere Gedanken und wenden uns dann an den Weltjugendbund. Es ist doch ein Jugendobjekt gewesen“, sagte Kirik. „Das nach der Projektierung in den Plan das Wirtschaftsrates eingeht“, erinnerte Werner. „Das ließe sich ändern! Wenn nun Weltjugendbund und Weltgewerkschaftsbund gemeinsam... Das müßte sich machen lassen! Am besten, Werner, wir fahren nach Berlin und sprechen mit dem Zentralrat des Jugendverbandes. Die Freunde werden uns schon weiterhelfen!“ Die Stimmung des Kollektivs, durch die Planschwierigkeiten und den unabwendbaren Aufschub gedrückt, hob sich, als Werner am nächsten Morgen Trautenhahns Vorschlag unterbreitete. Vor allem Manuela war begeistert. „Jetzt werden wir's den Yanquis zeigen!“ sagte sie. „Und zu trennen brauchen wir uns auch nicht. Heino hat für seine Gruppe sowieso Arbeit an der Pilotanlage, die übrigen teilen sich. Eine Gruppe übernimmt Trautenhahns Polyestervorschlag, die andere organisiert den außerplanmäßigen Bau.“ „Langsam, nicht so ungestüm!“ bremste Werner. „Erst müssen wir die Zusage der Weltorganisation haben, allein können wir gar nichts erreichen.“ „Um deren Zustimmung ist mir nicht bange. Die werden schon ausbügeln, was der Wirtschaftsrat zerknittert hat.“ Kirik schüttelte nachsichtig den Kopf. „Sei nicht ungerecht! Es liegt nicht am Wirtschaftsrat. Diese Schwierigkeiten gäbe es nicht, wären wir eines der üblichen Projektionsbüros, deren Projekte nach der Fertigstellung aus der Hand gegeben werden. Aber wir haben nur dieses eine Projekt, und wir werden nicht nur seinen Bau überwachen, wir werden auch das Kombinat übernehmen, als Leitung, Manuela! Das ist ein neuer, unausgefahrener Weg, da kommt hin und wieder mal ein Hindernis.“ „Trotzdem ist es bitter“, widersprach sie. „Denk an Amerika! Bratfords Auftraggeber bauen bestimmt ohne Plan, ohne Verzug.“ „Sicher“, gab Kirik ungerührt zu, „denn sie haben keine Planwirtschaft. Dafür haben sie Krisen.“ „Eine sehr konkrete Begründung!“ spottete Manuela. „Ich verstehe ja deine Ungeduld, aber du darfst beim Vergleich nicht nur unser Projekt sehen“, sagte Kirik. „Unsere Planwirtschaft richtet sich ausschließlich nach den vielfältigen Bedürfnissen der Gesellschaft, und entsprechend plant und nutzt sie ihre Kapazität.“ Manuela schwieg, aber sie lächelte noch immer spöttisch. Kirik war nicht der Mann, einem spöttischen Blick auszuweichen. Er brauchte Klarheit - für sich selbst und bei anderen. Aber es war gar nicht so einfach, in diesem speziellen Fall das Wesen der kapitalistischen und der sozialistischen Wirtschaft zu vergleichen. Sah man nur diesen einen Fall, dann schien der Kapitalismus beweglicher. Man durfte eben nicht nur den einen Fall sehen, man mußte immer das Ganze im Auge behalten. „Bei uns haben alle Baustellen einen gemeinsamen Auftraggeber: die Gemeinschaft mit all ihren Bedürfnissen. Im Kapitalismus hat fast jede Baustelle einen anderen Auftraggeber, der nur ein Bedürfnis kennt: seinen Profit. Allen Bedürfnissen gerecht zu werden heißt: alle Kräfte und alle Reserven nutzen,
jeden Faktor der gesamten Wirtschaft berücksichtigen, planen und einsetzen. Der Kapitalist richtet sich ausschließlich danach, was ihm Gewinn bringt. Ihn interessiert nicht, ob seine Arbeitskräfte, seine Produktionsmittel für die Allgemeinheit sinnvoller und gewinnbringender. eingesetzt werden könnten. Ihn interessiert ja nicht einmal, ob seine Produktionsmenge den tatsächlichen Bedürfnissen entspricht.“ „Man kann nicht mehr verkaufen, als gebraucht wird“, warf Manuela ein. „Oh, man kann! Man kann Bedürfnisse künstlich durch intensive Propaganda wecken, man kann die Lebensdauer seiner Erzeugnisse beschränken und sich so ständiger Nachfrage versichern, man kann fortwährend neue Modelle auf den Markt bringen und die bisherigen als veraltet und unpraktisch abtun, und man kann, wenn der Absatz stockt und sich nicht wie früher neue Absatzmärkte durch Krieg oder andere außenpolitische Verbrechen schaffen lassen, man kann dann immer noch die weniger finanzkräftige Konkurrenz an die Wand drücken. Notfalls kann man auch einen Teil seiner Arbeiter entlassen.“ Manuela biß sich wütend auf die Lippen. Das alles hätte sie sich selbst sagen können. Statt dessen forderte sie diese Erklärung heraus, aus purem Widerspruchsgeist, ohne vorher überlegt zu haben. Was mochte Werner von ihr denken? War er nicht schon seit einiger Zeit zurückhaltender...? „Um zum Thema zu kommen!“ fiel Heino ungeduldig ein. „Werner fährt also nach Berlin und bespricht die erforderlichen Schritte mit dem Zentralrat unseres Jugendverbandes. So bekommen wir am schnellsten auch Verbindung zum Weltjugendverband und erfahren dabei gleichzeitig, wie wir vorgehen müssen. Es ist euch doch recht?“ Diese Frage richtete er an die ausländischen Mitglieder des Kollektivs. Es war mehr eine Höflichkeitsformel, und er erhielt auch einmütige Zustimmung. „Um die Zeit zu überbrücken, bis wir wieder voll beschäftigt sind, schlage ich vor, daß Manuela sich mit einigen Kollegen Gedanken macht über Trautenhahns neue Polyesteranlage. Sollten sie einen Weg finden, dann könnten wir die Konstruktion als zusätzliche Verpflichtung übernehmen...“ Über New York lastete Sonnenglut. Hitzeflirrende Dünste stiegen aus den engen Straßenschluchten auf, angeheizt von den sonnenbestrahlten Betonwänden der Wolkenkratzer, den Betonbahnen der Straßen. Fouler junior stand am Fenster seines Büroraumes im sechsundfünfzigsten Stockwerk und ärgerte sich, wie so oft, über die benachbarten Wolkenkratzer, die ihm mit ihren mehr als einhundert Stockwerken die Aussicht auf Long Island nahmen. Nur die frische Brise, die vom Atlantik herüberwehte, fand den Weg durch die riesigen Betonsäulen bis zu seinem offenen Fenster. Er hatte seinem Vater schon oft vorgeschlagen, das Hauptquartier des Hauses Fouler in einen Neubau zu verlegen, doch Traditionsfimmel und Geiz hinderten den Alten daran. Aber war es heute nicht wichtiger denn je, zu repräsentieren, seine Macht zu zeigen? Zudem lagen seine Büroräume ausgerechnet so, daß sie der Mittagssonne voll preisgegeben waren. Die Sekretärin schreckte ihn auf. „John! Dr. Bratford wird gleich hier sein, er rief eben an. Soll ich ihn vorlassen?“ Fouler junior krauste unwillig die Stirn. Er liebte im Büro diese Vertraulichkeiten nicht. Sollten seine Angestellten, wie früher über seinen Vater, auch über ihn flüstern? Außerdem mußte man vorsichtig sein und den Gewerkschaften so wenig wie möglich Angriffspunkte bieten, die kümmerten sich sonst um Geschenke und derartige Kosten und erinnerten bei solchen Gelegenheiten gern daran, daß sie bessere Verwendung für diese Mittel hätten... Aber je länger er Mary Gordon ansah, desto versöhnlicher wurde sein Blick. „Laß ihn sofort rein“, sagte er. „Dann möchte ich nicht gestört werden!“ Wohlgefällig musterte er sie, als sie hinausging. Dieses Wiegen in den Hüften... „Wir fliegen am Sonnabend nach Florida!“ rief er ihr nach. Sie lachte. „Schon wieder? Wenn dir's nicht zuviel wird?“ fragte sie anzüglich und schloß schnell die Tür. Eigentlich müßte ich jetzt ärgerlich sein, sagte er sich. Diese Krabbe wurde reichlich zutraulich - aber andererseits... Mary war Striptease-Tänzerin, er hatte sie in einem Lokal kennengelernt und zu einem Ausflug eingeladen, dabei aber einen Unfall gehabt... Der leidige Alkohol! Mary hatte Schnittwunden davongetragen, am Körper zwar, aber ausreichend, um ihren Beruf vorerst nicht mehr ausüben zu können. Der Polizei hatte er den Mund verschlossen, die Presse war nicht dabei - aber wenn Mary nicht schwieg! Die linke Presse wartete doch nur darauf, über das „süße Leben“ zu berichten. Und ob die Polizei dann noch nach seiner Pfeife tanzen konnte? Wozu einen Skandal riskieren? Also hatte er Mary in einer Privatklinik von einem erstklassigen Chirurgen behandeln und sie dann auf seine Kosten ausbilden lassen. Er war nicht schlecht dabei gefahren. Die Lösung kam ihm auch in anderer Hinsicht gelegen. Mary gefiel ihm. Hatte er es nötig, täglich allen Blicken preisgeben zu lassen, was nur ihm gehören sollte? Es war auch gut, wenn sie ständig in seiner Nähe blieb; das war nicht nur bequem, sondern auch sicherer. Wußte er, wie sie sich sonst die Zeit vertriebe? Schließlich waren Stripteas-Erinnerungen keine solide Grundlage... „Mister Fouler? Dr. Bratford! Bitte treten Sie ein, Herr Doktor!“ sagte Mary völlig korrekt.
Er begrüßte Bratford, prüfte mit ihm die Unterlagen und besprach Einzelheiten. Er war sehr zufrieden mit Bratford. „Ihre Projektierung hat gut gearbeitet. Ich werde schnellstens mit der Baufirma verhandeln.“ Selbst als Bratford gegangen war und er noch einmal die Unterlagen überblickte, fand er nichts daran auszusetzen. Die Anlagen waren vollautomatisiert und beschränkten die Belegschaft auf das unerläßliche Mindestmaß. Kaum anzunehmen, daß er mit diesem kleinen Kreis Ärger haben würde. Je größer die Belegschaft, desto größer auch die Streikgefahr! Außerdem würde eine respektable Arbeitsproduktivität erreicht werden... So, nun konnte er Wind machen, nun würde gebaut - und profitiert! Die drüben, dessen war er sicher, kämen bei dem Tempo, das er jetzt vorlegte, nicht mit. Die hatten ja Planwirtschaft... Er hatte also mindestens zwei Jahre Zeit. Werners Besprechung in Berlin hatte dem Kollektiv die volle Unterstützung des Zentralrats eingebracht. Zwar konnte der Zentralrat nicht entscheiden, auch keine konkreten Maßnahmen einleiten, aber er hatte bereits Rücksprache mit dem Zentralkomitee und dem Bundesvorstand der Gewerkschaften genommen und zugesagt, eine Besprechung mit den Weltorganisationen zu vermitteln. Inzwischen hatte auch der Wirtschaftsrat das Projekt geprüft, für gut befunden und seine Teilnahme an der Besprechung zugesichert. Werner sah diesem Tag mit einiger Aufregung entgegen. Er war kein Redner, dennoch mußte er das Projekt erläutern und die richtigen Worte finden, um die Begeisterung und auch die Ungeduld des Kollektivs auf die Vertreter der Institutionen zu übertragen. Vor allem Kirik versicherte, wenn Werner zu bedenklich wurde, immer wieder, daß sie schließlich auch noch da wären und schon ein gewichtiges Wort mitreden würden. Der Tag kam. Es schien eine üble Vorbedeutung, daß es in Strömen goß. Der Himmel war derart verhangen, daß man im kleinen Saal des Klubhauses, in dem die Besprechung stattfand, das elektrische Licht einschalten mußte. Werner fröstelte und wußte nicht, ob es vom trüben Wetter oder von seiner Aufregung kam. Er zitterte, bis er vor dem Auditorium stand und die Teilnehmer überblickte. Da waren die Vertreter des Wirtschaftsrates: Experten der Planung, der Finanzen und anderer Fachgebiete; da waren die Vertreter des Weltjugendbundes, des Weltgewerkschaftsbundes, des Ständigen Büros für Zusammenarbeit der Marxistischen Parteien; da waren Vertreter des Patenbetriebes und seiner Brigade. Alle blickten zu ihm und warteten. Er vergaß das Wetter, verlor seine Aufregung und begann, sachlich, verständlich und wohlüberlegt. Er erwähnte noch einmal, daß dieses Projekt außerplanmäßig entwickelt und mit dem Kollektiv ein völlig neuer Weg beschriften worden war und daß innerhalb des Planes nun keine Möglichkeit bestand, dieses Projekt ohne Verzug zu verwirklichen. Er erläuterte es und entwarf ein farbiges Bild von den vielseitigen Verwendungsmöglichkeiten des Hartsilikons, um schließlich nachdrücklich von den Verlusten zu sprechen, die noch immer für die Wirtschaft und damit für die Gesellschaft entstanden. „Nehmen wir nur den Schiffbau. In diesen zwei Jahren müßten weiterhin die großen Schiffseinheiten aus Stahl gebaut werden, das heißt: Hunderte Schiffe zusätzlich im regelmäßigen Turnus im Trockendock, Hunderttausende Arbeitsstunden, Unmengen von Farbe, abgesehen von der unnütz vergeudeten Arbeitskraft und vom Ausfall der Schiffseinheiten. Oder nehmen wir den Brücken- und den Maschinenbau. Neben der Möglichkeit, neue, zeitsparende Methoden beim Bau der Brücken einzuführen, würde mit diesem gegenüber Stahl und Beton um vieles leichteren Baustoff Kraft und Transportkapazität eingespart. Ähnlich beim Maschinenbau. Beim Landmaschinenbau liegt der Vorteil auf der Hand Oder denken wir an die Schienen: Wie viele Kilometer werden täglich gelegt - aus Stahl! Unsere Schienen wären haltbarer, verschleißfester, und vor allem wären sie, wie alle anderen erwähnten Endprodukte, billiger. Man könnte wahrscheinlich die Doppelspurschienen mitsamt den Schwellen in einem Guß herstellen. Ich brauche wohl nicht zu erläutern, welchen Vorteil das für Transport, Montage und Wartung bedeutet...“ Im Saal war es still. Keine Zwischenbemerkung fiel. Erst als er geendet hatte, erhob sich ein Brausen. Nach ihm sprach ein Vertreter des Ministeriums für Internationale Industrieprojektierung. Er begründete noch einmal, weshalb laut Plan vor dem letzten Quartal des kommenden Jahres an einen forcierten Aufbau nicht zu denken sei. Dann erhob sich der Vertreter des Ständigen Internationalen Büros für Zusammenarbeit der Marxistischen Parteien, ein grauhaariger Türke. „Wir haben uns hier versammelt“, begann er, als er hinter dem Rednerpult stand, „um darüber zu beraten, wie wir das Kombinat errichten und in Betrieb nehmen können. Wir haben bereits mit den hier vertretenen Organisationen und auch mit dem Ministerium Rücksprache genommen. Wir schlagen vor, das Projekt zur internationalen Baustelle des Sozialismus zu erklären und die Jugend der Staaten des Sozialistischen Bundes aufzurufen, zum schnellen Aufbau außerhalb des Plans beizutragen! Dieser Aufruf wird von den drei hier vertretenen Weltorganisationen erlassen.“ Der Wirtschaftsrat sagte seine volle Unterstützung zu. „Da das Entwicklungskollektiv den besten Überblick über den erforderlichen Material- und Arbeitsaufwand hat, schlage ich vor, daß es die Organisation übernimmt. Wie bereits während der Projektierung stehen ihm selbstverständlich alle unsere Experten beratend zur Seite.“
16 Projekt Sahara - Ruf an die Sozialisten der Welt! grellten die roten Schlagzeilen der sozialistischen Presse. Projekt Sahara - Ruf an die Sozialisten der Welt! hämmerten die Fernschreiber in den Zentralstellen der nationalen Jugend- und Gewerkschaftsverbände. Projekt Sahara - Ruf an die Sozialisten der Welt! sang es in Telegrafenleitungen, zirpte es als Morsezeichen durch den Äther. Projekt Sahara - Ruf an die Sozialisten der Welt! tönte es aus Kopfhörern und Lautsprechern, leuchtete es auf Bildschirmen und Filmleinwand. Projekt Sahara - Ruf an die Sozialisten der Welt! mahnte es von Plakaten und Flugblättern. In allen Ländern, in allen Sprachen: Projekt Sahara - Ruf an die Sozialisten der Welt! Tausendfach der Ruf, millionenfach das Echo! Überall wurde der Ruf gehört: am Rande der isländischen Gletscher, in den norwegischen Fjorden, unter den afrikanischen Palmen, unter den griechischen Zypressen, in den südamerikanischen Bergen, an den asiatischen Flüssen, am Rande der australischen Steppen, auf den Ozeanen. Überall weckte er Begeisterung, die sich in Taten niederschlug. Das Projekt Sahara brauchte alles: Menschen, Geldmittel, Material, Maschinen, Gebrauchsgegenstände. Es war nicht erforderlich, eine detaillierte Aufstellung zu geben, sie hätte den Rahmen eines Aufrufes gesprengt, und die Weltorganisationen konnten sicher sein, daß sich jeder Gedanken machen würde. Dieser Aufruf war ein Anstoß, der erste Stein zu einer großen Lawine. Eine genaue Aufstellung hätte die Initiative der Menschen gehemmt, die Entfaltung einer umfassenden Begeisterungswelle unterbunden; sie hätte den Kreis der Beteiligten eingeengt und viele Menschen um das Gefühl gebracht, dabeizusein, teilzuhaben und den Millionen von Gleichgesinnten verbunden zu sein. Baustelle des Sozialismus - das hieß doch nicht nur bauen und helfen, das hieß auch wieder einmal beweisen, wie mächtig die Gemeinschaft von Menschen ist, die ein gleiches Ziel verbindet. Projekt Sahara Ruf an die Sozialisten der Welt! Dieser Aufruf hing noch druckfeucht an den Plakatsäulen, da zuckten schon die ersten Funksprüche durch den Äther:... an organisationsbüro projekt sahara... Auf Werners Schreibtisch flatterten die ersten Meldungen und türmten sich bald zu Stapeln. Jede Meldung war ein Spiegelbild dessen, was sich in den Städten und Dörfern, in den Betrieben und Organisationen der Kontinente abspielte. ...brigade meldet fünf freiwillige der berufsgruppe betonierer für die internationale baustelle und verpflichtet sich die arbeit dieser freiwilligen am bisherigen arbeitsplatz zu übernehmen... ... wir verpflichten uns zu einer sonderschicht zugunsten projekt sahara und rufen alle brigaden auf sich anzuschließen... ... anfrage welcher bautyp für projekt sahara vorgesehen verpflichten uns
dreihundert bausegmente außerhalb des plans kostenlos herzustellen... ...erbitten zeichnungen für produktionsanlagen die in unser herstellungsprogramm fallen sind bereit zu zusätzlicher produktion... Unablässig klapperte der Fernschreiber. Glaswerke versprachen zusätzliche Lieferungen. Baufirmen meldeten Baumaschinen, die sie durch innerbetriebliche Umstellungen abgeben konnten. Die Grundstoffindustrie meldete erhöhte Förderleistungen zugunsten der Baustelle. Zwischendurch trafen Meldungen der nationalen Jugendverbände ein: Freiwillige, Freiwillige, Freiwillige. Das waren nur die ersten Ergebnisse. Die Tage vergingen, doch der Strom der Begeisterung schwoll weiter an. Schon vermochte Werner nicht mehr alle Meldungen zu sichten und mußte drei seiner Mitarbeiter einsetzen, die sie registrierten und an die entsprechenden Fachgruppen weiterleiteten. Täglich prüfte er mit Manuela, Kirik, Heino und Fan Yühua die Zwischenergebnisse. Vor allem die Jugend wollte in Afrika dabeisein, wie immer, wenn es galt, Kraft und Einsatzbereitschaft zu beweisen. Es mochte zum Teil Abenteuerlust sein, das Bestreben, sich in unbekannten Schwierigkeiten zu bewähren. Eintausend... zweitausend... fünftausend... zehntausend... zwanzigtausend Freiwillige. Der Zustrom nahm immer noch kein Ende. Dazwischen: Planierraupen, Lastkraftwagen, Montagekräne, fliegende Kräne, Bagger. Das alles bot man an, teils freigestellt, teils aus der zusätzlichen Produktion. Möbel für die Wohnhäuser, Kabel zur Installierung, Wasserhähne, Badewannen, Rohrleitungen, Wasserpumpen, Typenhäuser, Beleuchtungskörper, Teppiche, Bettwäsche, Profilstahl, Bestecke, Geländer, Gartenschläuche, Klimaanlagen. Bunt war das Angebot. Keiner wollte zurückstehen. Selbst die nationalen Kontingente der UNO-Sicherheitstruppen ersuchten das UNOOberkommando, ihren Einsatz in der Sahara zu gestatten. Es gab Arbeit für das Kollektiv, mehr als man sich hätte träumen lassen. Längst hatte eine elektronische Buchungsmaschine die Verrechnung der einzelnen Konten übernommen. Auch das Elektronenhirn, von Fan Yü-hua bedient, lief auf vollen Touren. Die Bauabteilung veränderte die Projektierung entsprechend dem unerwarteten Angebot. Das war kein Bau mehr mit herkömmlichen Bauzeiten - diese Begeisterung verlangte kühne Bauverfahren. Wer konnte sich diesem Schwung entziehen, wer noch von überlieferten Fristen sprechen? Die Spendensumme ging bereits in die Millionen, täglich kamen neue Millionen dazu. Sie warteten bei den nationalen Banken auf ihre Verwendung. Rechnete man das Material dazu, waren es Milliarden. Schon waren in manchen Positionen die Planziffern erreicht, doch der Zustrom riß nicht ab. Werner hielt es bald für angebracht, Experten anzufordern, da er fürchtete, der Flut nicht Herr zu werden. Der Wirtschaftsrat schickte sie. Nun konnte er aufatmen. Zwar waren sie ihm als Berater zugeordnet, aber sie schalteten sich aktiv in das Durcheinander ein. Gewohnt, mit großen Summen umzugehen, im Weltmaßstab zu planen und zu koordinieren, hielten sie das Heft fest in der Hand, leiteten die Ströme in die richtigen Kanäle und hielten das junge Leitungsgremium ständig auf dem laufenden. Dabei fanden sie noch Zeit, den jungen Leuten Zusammenhänge zu erklären und ihnen Kenntnisse für ihre künftige Arbeit zu vermitteln. Der Deutsche Fernsehfunk übertrug täglich den letzten Stand des internationalen Aufgebots, gab Hinweise, welche Dinge noch fehlten, und berichtete von Episoden, die sich am Rande der Aktion abspielten. Da hatten sich in der Sowjetunion Rentner gemeldet, die den Arbeitsplatz der Freiwilligen besetzen wollten. Maler aus Frankreich wollten das Kulturhaus des Kombinats ausgestalten, Musiker aus Deutschland darin Konzerte geben. Diese Sendung wurde täglich zu einem der künstlichen Erdtrabanten ausgestrahlt und über andere, in gleichen Abständen um die Erde kreisenden Trabanten auf den ganzen Erdball zurückgeworfen, „Es ist gut, daß wir die Experten vom Wirtschaftsrat haben“, sagte Werner eines Abends zu seinem Vater. „Allein wäre mir zumute wie dem Habgierigen im Märchen, der unter dem Talerregen erstickt, oder wie Goethes Zauberlehrling: Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los! Es ist wie eine unaufhörliche Flut, die sich über uns ergießt!“ Der Vater setzte nachdenklich die Tasse ab, musterte Werner ein Weilchen und fragte schließlich: „Fehlt euch nun der Hexenmeister, der die Quelle zum Versiegen bringt? Gebt doch bekannt, in welchen Positionen ihr eingedeckt seid.“ „Nein!“ unterbrach Werner lebhaft. „Das ist es ja gerade! Der Zustrom soll nicht unterbrochen werden. Wir würden viele Menschen enttäuschen, die eine Möglichkeit fanden, uns zu unterstützen. Zum anderen, Vater, wenn es so weitergeht, können wir das Kombinat vergrößern, ehe der Bau begonnen hat. Dann machen wir in der Entwicklung einen doppelten Sprung, nehmen zwei Stufen auf einmal. Es ist erstaunlich, zu welchen Ergebnissen dieser Aufruf führt. Ärzte haben sich gemeldet, mindestens fünfmal soviel, wie wir gebrauchen können. Neunzigtausend Freiwillige haben wir schon registriert, davon allein dreißigtausend Afrikaner. Die verschiedensten Berufsgruppen.“ „Könnt ihr doch gar nicht unterbringen!“
„Meinst du? Die Afrikaner und die Tropentauglichen der nördlichen Länder werden in der Sahara eingesetzt. Die anderen übernehmen kurzfristig die Verladearbeiten und den Transport des Materials in ihren Ländern oder in den Häfen.“ „Aber in Afrika - braucht ihr soviel Leute? Baut ihr nicht mit der modernen Technik?“ „Natürlich, aber wir haben viele Baustellen: das Kombinat, das Atomkraftwerk, die Wohnstadt, die Verkehrswege, Rohrfernleitungen, Hochspannungsfreileitungen. Vom Nil muß ein Kanal zum Kombinat gezogen werden, ein Hafen wird gebaut...“ „Und das ganze Material habt ihr schon?“ „Nein. Das Atomkraftwerk fehlt noch, auch die Energieversorgung ist noch nicht klar. Aber diese Verzögerungen kann man mit den entsprechenden Fachleuten aufholen.“ So zuversichtlich, wie er sich gab, war Werner nicht. Die Energiekapazität des internationalen Verbundnetzes war ausgelastet, eine zusätzliche Versorgung des künftigen Kombinats war, das wußte er selbst, nicht ohne weiteres möglich. Die für den Bau erforderliche Energie konnten sie selbst produzieren; ihm waren Sonnenspiegelkraftanlagen angeboten worden. Aber wenn die erste Baustufe abgeschlossen war, was dann? Das Bürogebäude war zu klein geworden. Werners Kollektiv hatte sich vergrößert. Die ersten Freiwilligen waren zu ihm gestoßen: Baufachleute und Organisatoren. Das Chemische Kombinat hielt sich noch immer an die Patenschaft über Werners Kollektiv und hatte ihm ein zweites Gebäude errichten lassen. „Wir benutzen es später als Verwaltungsbau“, hatte der Generaldirektor gesagt. Wenn das Kollektiv auch größer wurde, die Arbeit hielt Schritt, und das Tempo im Organisationsbüro Projekt Sahara verminderte sich nicht. Die rege, oft hastende Betriebsamkeit ließ dem jungen Leitungsgremium keine Zeit für persönliche Dinge. Werner bemühte sich verbissen, den Überblick zu behalten. Reichte der Tag nicht aus, nahm er die Nacht zu Hilfe. Manchen Strauß mit der Mutter hatte er zu bestehen, die dringende medizinische Bedenken anmeldete. Werner erklärte sie als befangen und lachte sie aus. Der Vater verstand ihn. „Es gibt Situationen, in denen man sich an keine feste Arbeitszeit halten kann, in denen man auch gar keine Ruhe fände, wollte man sich im Arbeitsfluß unterbrechen. Laß ihn wühlen, Mutter, dabei lernt er, seine Arbeit zu organisieren, seine Kräfte zweckmäßig einzuteilen und seine Mitarbeiter richtig einzusetzen.“ In diesen Tagen erhielt Werner ein Fernschreiben der zuständigen afrikanischen Regierung, daß die Vermessung der Baustellen entsprechend den eingereichten Plänen von afrikanischen Freiwilligen durchgeführt sei und mit dem Bau begonnen werden könne. Fouler junior griff zur „New York Times“ und lehnte sich im Sessel zurück. Er hatte gute Laune und war behaglicher Stimmung. Seine Frau war mit den Kindern ans Meer gefahren, das gab ihm endlich wieder freie Hand und entband ihn mancher Rücksichtnahme. Zwar war sein Goldkäfer, so nannte er sie wegen der Millionen, die sie in die Ehe eingebracht hatte, eine attraktive Erscheinung, aber es war eben eine Vernunftehe, wie man die Geldehen taktvoll umschrieb. Inzwischen hatte die Gewohnheit des alltäglichen Zusammenlebens den Reiz des Neuen längst getilgt. Was hatte man sich zu sagen, wenn nichts anderes verband als der juristische Fakt der Ehe? Außer Skandalgeschichten wenig. Die Kinder? Fouler junior liebte sie, aber er fand keine rechte Verbindung zu ihnen. Mit ihren kleinen Sorgen gingen sie zum Kindermädchen, Schularbeiten erledigten sie mit dem Hauslehrer - was blieb für ihn? Wenn er es recht bedachte, wurde seine Ehe eigentlich nur von der Gewohnheit, von der Bequemlichkeit und von der Rücksicht auf die Kinder zusammengehalten. Mary dagegen... Wie sie es nur machte, daß sie für ihn begehrenswert blieb? Sonst hatte dergleichen nie so lange angehalten und war langweilig geworden wie die Ehe. Eine Schlagzeile fesselte seinen Blick und riß ihn aus seinen Gedanken: Aufruhr in der Sahara! Was er las, elektrisierte ihn. Ein Silikonkombinat in der Sahara? Großbaustelle des Sozialismus? Dieses Wort hatte einen verdammt bitteren Beigeschmack, wenn er sich der anderen Projekte mit gleicher Bezeichnung entsann. Da hatte der Alte mit Bratfords Projekt ja eine schöne Suppe eingerührt - zum Teufel, jetzt mußte sehr schnell gehandelt werden! Wenn die das propagandistisch aufzogen... Er stieß auf die Mitteilung, daß eine amerikanische Aktiengesellschaft gegründet worden sei, die ein ähnliches Projekt aufbaue, allerdings auf reeller geschäftlicher Grundlage und nicht durch derartige Bettelei. Damit erweise sich die solidere Grundlage der amerikanischen Ordnung und die Überlegenheit freier Unternehmerinitiative. „Mary!“ brüllte Fouler, unfähig weiterzulesen, „Mary!“ Sie mußte am Ton gehört haben, daß er wütend war, denn sie kam herein, zurückhaltend und ohne jede Spur der üblichen Koketterie. „Den Werbechef!“ „Sofort, Mister Fouler.“ Sie mußte es dringlich gemacht haben, denn der Werbechef stürmte mit wehendem Berufsmantel ins Zimmer. „Haben Sie diesen Artikel in die ,New York Times' gesetzt?“
„Jawohl, Mister Fouler.“ „Wie kommen Sie dazu?“ Seine Stimme war kalt. „Ich erhielt gestern die Information von dem Projekt. Konnte ich mir nicht entgehen lassen - gute Reklame für uns, wir retten die Ehre unserer Nation...“ „Schweigen Sie!“ unterbrach Fouler grob. „Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind!“ „Mister Fouler, ich...“, sagte der Werbechef beleidigt, aber Fouler fuhr ihm dazwischen. „Jetzt rede ich! Mann, was haben Sie uns da eingebrockt? Überlegenheit freier Unternehmerinitiative, das ist eine Herausforderung, so wie Sie es anbringen! Und wenn sie angenommen wird?“ „Unsere Überlegenheit wird sich erweisen...“, sagte der Werbechef unsicher. „Wir bauen ja schon, die fangen erst an und müssen alles zusammenbetteln.“ Fouler legte verzweifelt das Gesicht in die Hände. Sie Rindvieh, hätte er brüllen mögen, sagte aber nur: „Haben Sie Jahrzehnte verschlafen?“ Er winkte resigniert ab. „Glauben Sie, die Massen sind blöd? Das konnten Sie ihnen vor dreißig, vielleicht noch vor zwanzig Jahren anbieten. Können Sie mir sagen, warum sich diese Bettelei durchgesetzt hat, warum wir heute von diesen Bettlern umgeben sind? Vor dreißig Jahren kontrollierten wir mehr als die Hälfte des Erdballs!“ Er sah in das verwunderte Gesicht des anderen, biß sich auf die Lippen und fauchte schließlich: „Verschwinden Sie, wir sprechen uns noch!“ Wieder allein, schüttelte er über sich selbst den Kopf. Wie konnte er, Juniorchef des Hauses Fouler, so zu einem Angestellten sprechen? Aber der Kerl war auch zu einfältig, glaubte sogar, was er schrieb. Man durfte doch einen Gegner nicht derart unterschätzen, noch dazu, wenn er in der Vergangenheit ständig an Einfluß und Macht gewonnen hatte, wenn er die freie Unternehmerinitiative mehr und mehr eingeschränkt hatte, daß man schließlich innerhalb der eigenen Landesgrenzen Rücksichten nehmen mußte, die zu nehmen man nicht gewohnt war. Er unterschätzte die Roten nicht, schließlich konnte er denken. Verstand er auch nicht alles, was sie wollten, eines wußte er, sie hatten den Wechsel auf die Zukunft, und sie lösten ihn ein. Keine Macht konnte sie mehr verdrängen oder, wie sie sagten, das Rad der Geschichte zurückdrehen! Er wußte auch, daß die Politik seiner Vorfahren diese Entwicklung wesentlich beschleunigt hatte - Freiheitsgefasel und Terror, das vertrug sich nicht! Flugzeugträger, Napalmbomben, Mord und Provokationen, das waren keine überzeugenden Freiheitsargumente. Südkorea, Laos, Südamerika, Afrika, Asien - kein Aushängeschild für die USA. Faschismus, Rassenhetze und dieser primitiv-brutale Antikommunismus, wie hätte man damit auf die Dauer überzeugen können? Es war doch geradezu idiotisch gewesen, Kredite mit politischen Bedingungen zu verknüpfen, wenn die Roten sie ohne Bedingungen gewährten, idiotisch auch, alle nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen als kommunistisch zu diffamieren, Regierungen durch direkte Einmischung zu stürzen, Wahlen in anderen Ländern zu annullieren, sich mit Diktatoren zu verbünden und ihre Völker mit Waffengewalt zu unterdrücken. Damit legte man den Menschen ja in den Mund: Wenn das anders werden soll, müssen wir also Kommunisten werden! - Zu einfach hatte man es ihnen gemacht! Nein, Fouler junior machte sich nichts vor. Vielleicht hätte er sich nie über den Kommunismus Gedanken machen sollen, das hatte schon manchen aus der Bahn geworfen. Nicht ihn, er war und blieb Fouler junior, aber es hätte ihm das Grübeln darüber erspart, wie es nun weitergehen sollte. Überhaupt, wäre er so primitiv-gerissen wie sein Vater, manches wäre für ihn leichter, unkomplizierter. Aber so? Ihm war manchmal zumute, als stehe er auf einem Schiff, weitab vom Land, und er höre, wie das Wasser durch ein Leck sprudelt. Derartigen Depressionen folgten gewöhnlich Zeiten besonderer Aktivität, in denen er sich in die Arbeit stürzte, Transaktionen einleitete, sich immer wieder bewies, daß er noch festen Boden unter den Füßen hatte, daß ihm das große Raubtier Kapital noch willig gehorchte. Es ging ihm nicht um den Profit als Kapitalzuwachs, denn was er besaß, vermochte er auch bei den größten Anstrengungen zeitlebens nicht auszugeben. Profit, das war wie die Siegerurkunde beim Sportwettkampf; Profit, das war auch der Beweis, daß er noch Macht in den Händen hatte, daß er noch nicht unterlegen war. Es gab auch Zeiten, da resignierte er und fragte sich, welchen Sinn sein Leben habe, seine Arbeit, die aus Geldmachen bestand - Geld, das ihm in keiner Weise nützte, weil es sein Leben in keiner Weise beeinflußte. Wer Milliarden besitzt, für den ist unwichtig, ob sie sich um Millionen vermehren, wenn er damit nicht seine Macht zu erhöhen vermag. Der Machtbereich aber war begrenzt. In diesen Zeiten sah er den Sinn des Lebens im Genießen, er versuchte mitzunehmen, was mitzunehmen war, er bemühte sich, die Sinnlosigkeit seines Wirkens, die Ausweglosigkeit seines Lebens und die innere Leere im hektischen, übersteigerten Erleben zu ertränken. Dann feierte er böse Orgien, die seinen Ekel nur verstärkten und deren er sich ungern entsann. Natürlich nicht mit Mary, sie hielt er aus diesen Dingen heraus, er brauchte sie, um danach den Kater zu überwinden. Und sie schnitt nicht schlecht dabei ab, denn dann war er besonders gebefreudig. Foulers Blick fiel wieder auf den Artikel. Dabei erinnerte er sich der Worte seines Werbeleiters: Wir retten die Ehre der Nation! Eigentlich nicht schlecht. Vielleicht ließe sich damit etwas machen. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr packte ihn der Ehrgeiz, aus der Sache herauszuholen, was herauszuholen war. Der Staat war doch am Bau beteiligt. Wenn man nun eine
ähnliche Kampagne startete wie die Roten? Also die Gewerkschaften einspannen: Amerikaner, stellt die Klasseninteressen zurück, es geht um die Ehre der Nation! Aber dann mußte man genau überlegen, welchen Gewerkschaftsboß man dafür gewinnen konnte. Als Fouler Tage später zur Zeitung griff, stieß er auf einen anderen Artikel, der sehr scharf mit einigen linken Jugendgruppen abrechnete, die Freiwillige nach Afrika entsenden wollten. Nach Afrika! Der Artikel sprach von Verrat an den nationalen Interessen. Für Fouler kam das gerade recht, um die Meinung der Gewerkschaften zu testen und festzustellen, inwieweit Aussichten bestanden, eine Aktion der Massen für die amerikanische Baustelle zu inszenieren. Zu diesem Zweck bat er den Vorsitzenden des Betriebsrats zu sich. Fouler junior begegnete ihm stets mit ausgesuchter Höflichkeit, seit sein Vater diesen Gewerkschafter wegen einer Forderung kurzerhand entlassen hatte und am Tage darauf ein Streik die Produktion stillegte, bis er wieder eingestellt wurde. Der Mann hieß Steel, und so war er auch: stahlhart, unbeugsam. Dabei war er klein, neigte zur Fülle und machte eher den Eindruck eines Biedermannes. Wer allerdings seine Augen sah und den schmalen Mund, der ahnte, daß der Mann wußte, was er wollte. Fouler besprach einige betriebliche Dinge mit ihm, um die Unterredung zu begründen, und kam dann wie zufällig auf den Artikel zu sprechen. „Was meinen Sie, Mister Steel, zu dieser Freiwilligenaktion? Ihnen ist gewiß bekannt, daß Amerika ein ähnliches Projekt baut. Meinen Sie nicht auch, daß diese jungen Menschen ihren Enthusiasmus besser für amerikanische Interessen einsetzen sollten?“ Steel blickte ihm gelassen ins Gesicht. „Sagen Sie neuerdings zu Ihren Interessen amerikanische Interessen?“ „Der Staat selbst ist zu annähernd fünfzig Prozent beteiligt.“ Steel lachte laut. „Annähernd - eben! Aber davon abgesehen, Mister Fouler - Staat? Na gut, aber Ihr Staat ist nicht unserer. Und, vielleicht denken Sie darüber einmal nach: Wäre es nicht möglich, daß diese Jugendlichen in Afrika amerikanische Interessen vertreten wollen, das heißt Interessen eines nicht unbedeutenden Teils der Amerikaner?“ Als Steel gegangen war, pfiff Fouler durch die Zähne. Bei der Wahl des Gewerkschaftsbosses für die amerikanische Aktion mußte man äußerst vorsichtig sein!
17 Die Oase Völkerfreundschaft, mit Hilfe tiefer Brunnen der Wüste abgerungen, um den Zugang zu den Wüstenorten zu erleichtern, lag wieder so still wie vorher. In der Oase standen nur wenige Gebäude, ein breiter Palmengürtel umschloß sie. Es gab hier ein flaches Hotel, schneeweiß wie die anderen Bauten; das Magazin, in dem alle Bedarfsgüter für Wüstenbewohner und Wüstenwanderer lagerten; das kleine Sonnenkraftwerk, das die wenigen Wohnhäuser mit Strom belieferte und die Pumpen zur Wasserversorgung betrieb. Umfangreiche Batterien speicherten Energie für den geringen Nachtstrombedarf und eine erforderliche Notstromreserve. Die Oase lag an einer Piste, die im Laufe der Zeit befestigt werden sollte. In den Häusern wohnten Afrikaner der verschiedenen Länder: einige Ingenieure des Kraftwerkes, das zugleich Forschungsstätte für künftige Sonnenkraftanlagen war, einige Agronomen, die Versuche machten, wie man das Wachstum der Pflanzen in der Wüste beschleunigen kann, einige Geologen, die von hier aus Exkursionen in das umliegende Sandmeer unternahmen, zwei Kraftfahrzeugschlosser, die den Wagenpark der Oase betreuten, und der Objektleiter des Wüstenhotels. Ein Ort also, dessen Leben sich unter den breiten Fächern der zahlreichen Palmen verlor. Nur gelegentlich brachten Durchreisende Abwechslung, die bald nach ihrer Abreise wieder verklang. Indessen hatten sich hier in den vergangenen Wochen ständig Gäste aufgehalten. Sie hinterließen vielbedeutende Zeugen ihrer Anwesenheit und Vorboten künftigen Lebens: hohe, rotweiße Stäbe. Man sah sie, wenn man am Rande der Oase stand und in nördlicher Richtung blickte. Sie begrenzten ein riesiges Geviert, von dem sich in östlicher Richtung eine Doppelreihe dieser Stäbe im Sandmeer verlor. Bis zum Nil sollte diese Doppelreihe gehen, hatten die Vermesser den Bewohnern der Oase erzählt, das würden die Ufer des künftigen Kanals, der die Oase mit einer der Staustufen des Nils verbinden sollte. Dort drüben - das Rechteck mit den vielen Seitenstreben - liege der Hafen. Ein Stück einwärts der Wüste, neben dem Kanal, wüchse bald ein Atomkraftwerk aus dem Sand. Westlich, am Fuß des Vorläufers des fernen Felsengebirges, würde die Stadt gebaut, und dort die großen Rechtecke, das seien die mächtigen Hallen des künftigen Kombinats. Aus nördlicher Richtung käme auch die Pipeline, die das Kombinat mit Erdöl aus der internationalen Ölringleitung versorgen sollte. Die große Freileitung würde sich ebenfalls neben dem Kanal zum Nil hinüberziehen, um an einem der Wasserkraftwerke der Nilstaudämme in das internationale Verbundnetz zu münden. Zwar waren die meisten Oasenbewohner Wissenschaftler, zwar kannten sie das Projekt aus den Presseveröffentlichungen zum Aufruf, sie vermochten durchaus, Pläne zu lesen, dennoch standen sie seit der Abreise der Landvermesser oft im Schatten der Palmen, blickten in das Flimmern des Sandmeers hinaus und versuchten vergeblich, sich das künftige Kombinat vorzustellen. Waren sie aus allen Teilen Afrikas zusammengekommen, um gemeinsam den Angriff auf die Sahara vorzubereiten, so spürten sie jetzt deutlicher als je vorher, daß sie Teil einer noch größeren Gemeinschaft waren, der Gemeinschaft aller sozialistischen Menschen, deren gemeinsames Streben nach einem menschenwürdigen Leben ohne materielle Sorgen keine Ländergrenzen kannte und keine Unterschiede der Hautfarbe. Daß Menschen aus allen Ländern in die Sahara kamen, um gemeinsam ein internationales Kombinat zu errichten - unterstrich das nicht deutlicher als jede Proklamation die absolute Gleichberechtigung aller Menschen im Sozialismus? Auch Weiße würden kommen, aber nicht wie früher als Herren, sondern als Genossen! So war das künftige Kombinat für die Einwohner der Oase mehr als ein Industrieprojekt. Heute nun saßen sie im Schatten der durchbrochenen Mauern des weißen Hotels und horchten in die Luft. Der Objektleiter hatte über Funk eine Bestellung für sämtliche Hotelzimmer erhalten und die Bitte, innerhalb der Oase einen Platz mit grellfarbenen Tüchern auszulegen, der für die Landung mehrerer Hubschrauber geeignet sei. Die Ingenieure hatten das übernommen. Es war ein mit Steppengras bewachsener Platz gegenüber dem Hotel, der für ein Schwimmbad vorgesehen war. Die Männer tranken schon die dritte Runde Eiswasser, als in der Ferne ein Brummen aufkam. Erwartungsvoll liefen sie hinaus. Drei Hubschrauber kamen über die Wipfel, hingen über dem markierten Platz und landeten schließlich einer nach dem anderen. Es waren große Brocken mit dickem Rumpf. An ihrem Heck senkten sich Klappen, über die geländegängige Kraftwagen herausfuhren, vollbeladen mit Akten. Aber das war nur der Anfang. Unerschöpflich schien die Tiefe des Rumpfes: Zeichenmaschinen, Schreibtische, Aktenschränke, Funkgeräte, ein transportables Elektronenhirn. Das alles luden die Männer aus, die aus den Hubschraubern gestiegen waren. Die Oasenbewohner sprangen hinzu und faßten mit an. Jetzt war keine Zeit zu großer Begrüßung. Die Geländewagen fuhren hin und her, brachten das Ladegut zum Hotel. Die beiden Kraftfahrzeugschlosser der Oase waren nicht untätig. Sie fuhren mit Lastwagen heran, die über ein eigenes Hebezeug verfügten und so den Transport zu einem Kinderspiel machten. Schnell waren die Hubschrauber entladen und die Hotelzimmer zum Teil als Büroräume eingerichtet.
Während die Maschinen sich wieder erhoben, fanden die Männer Zeit, sich untereinander bekannt zu machen. Es war Werner Hardenstein, der mit einem Teil seines Kollektivs in der Oase eingetroffen war und den Aufbau des Kombinats vorbereitete. Beim Willkommenstrunk äußerte Werner, daß es der erste Teil des Baustabes sei, der sich heute eingefunden habe. Er danke für die herzliche, tatkräftige Begrüßung, hoffe allerdings, daß dieses gute Verhältnis nicht leiden werde, wenn es nun mit der Ruhe dieser Wüsteninsel vorbei sei. „Morgen schon kommen weitere Mitarbeiter. Wir werden täglich Begrüßung feiern können!“ Der Wirt, ein junger Ghanese, war über diese Ankündigung ehrlich bestürzt. „Aber wohin wollen Sie mit diesen Leuten? Ich habe keine Zimmer mehr frei! Ob es gut ist, wenn sich der Baustab derart einengt? Man braucht doch Platz zum Arbeiten!“ Werner blinzelte vergnügt hinüber zu Jomo Ennafaa, dem Leiter der Bauabteilung, und der lachte, daß die weißen Zähne in seinem dunklen Gesicht blitzten, „In einigen Tagen steht Ihr Hotel wieder uneingeschränkt den Durchreisenden zur Verfügung!“ Dann machte sich Werner mit der Leistung des kleinen Kraftwerks und des Wasserwerks bekannt. „Es reicht nicht. Da müssen wir Ihnen wohl Konkurrenz machen!“ Er vermerkte auf seinem Block: Kraftwerk, Pumpwerk, Brunnen bohren... Von den Geologen erhielt er den Hinweis, daß einige Kilometer westlich der Oase bei Bodenuntersuchungen ein tiefes Wasservorkommen angebohrt worden sei. Nach bisherigen Erkundungen handle es sich um Ausläufer eines unterirdischen Sees. „So viel Wasser brauchen wir gar nicht, wir haben ja später den Kanal“, sagte Werner. „Immerhin werden wir dort einen großen Brunnen bohren. Und nun entschuldigen Sie uns bitte, wir haben noch viel Arbeit!“ Er erhob sich. Während er sich über seine Karte beugte, errichteten seine Mitarbeiter einen schlanken, hohen Funkmast neben dem Hotel. Jomo fuhr mit einem Geländewagen hinüber zu dem abgesteckten Bauplatz. Er war noch nicht zurück, als schon die ersten Funksprüche in den Äther spritzten. Spät legte Werner sich ins Bett. Wenn er vom großen Abenteuer einer Wüstenoase geträumt hatte, so hatte er am ersten Tag überhaupt nichts davon mitbekommen. Jetzt, da Zeit zum Nachdenken war, fiel er sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen erwachte er sehr zeitig. Er wusch sich und nutzte die frühe Stunde zu einem Gang durch die Oase. Nun überfiel ihn der Reiz des Fremden doppelt stark, entzückte ihn jeder Sonnenstrahl, der sich durch die Palmenwipfel stahl. Jetzt fühlte er sich einsam. Wieder fehlte ihm ein Mensch an seiner Seite, der das alles miterleben konnte. Er ertappte sich dabei, daß er an Natascha dachte. Erst als er sich dessen bewußt wurde, stellte er sich Manuela vor und empfand Freude auf ihr Kommen. Das würde wenigstens die Gedanken an Natascha vertreiben! Nach dem Frühstück, das die Gruppe gemeinsam einnahm, begab sich Werner mit Jomo in sein Arbeitszimmer, dessen Wände voller Karten hingen. Auf ihnen war der Grundriß des gesamten Kombinats eingezeichnet. „Die Kraftzentrale kommt vorerst hierher an den Rand der Oase, die ersten Häuser stellen wir hier auf, wir versetzen sie später auf den endgültigen Platz, jetzt möchte ich sie im Schatten des Palmenhains haben. Würdest du das übernehmen? Nimm dir noch vier Mann mit. Die anderen könnten bereits die Rohrleitungen für das Wasser und die Kanalisation vermessen. Müssen wir die Anschlüsse schon vorbereiten?“ Jomo schüttelte ungeduldig den Kopf. „Nein, sie sind montagebereit seitlich am Haus vorhanden, wir müssen nur einen kurzen Graben ausheben. Das mache ich schon. Hast du die Grabenbagger abgerufen?“ „Kommen heute, wie vorgesehen. Ich schicke dir rechtzeitig den Funker.“ Jomo schaufelte mit seinen Leuten einige Löcher, in denen die Rohrleitungen münden sollten. Dann steckten sie mit ihren rotweißen Stäben die Gräben für die Rohre ab. Ein rot-weiß-gestreifter Geländewagen mit dem Funkgerät preschte heran. Als er stoppte, fuhr die Antenne aus. „Es geht los!“ rief der Funker zu Jomo hinüber. „In einer Viertelstunde sind die ersten hier!“ Jomo keuchte heran. „Haben Sie schon Verbindung?“ „Ja! Wohin kommt die Kraftzentrale?“ „Die ist fahrbar - auf dem Platz vor dem Hotel absetzen!“ „Der Grabenbagger?“ „Gleich nebenan!“ „Und die Häuser?“ Jomo wies ihn ein. „Ich bleibe hier! Am besten, wir fahren dann von Haus zu Haus.“ Es brauste heran. Wie riesige Insekten, die ihre Beute unter sich fortschleppen. Fliegende Kräne Hubschrauber, die Häuser herantrugen. Mächtige Staubwolken erhoben sich. Als Werner mit dem Wagen herüberkam, standen schneeweiße, flache Häuser aus Schaumglas im dürren Gras, komplett eingerichtet. Ein Bürohaus und neun Wohnhäuser. Vom Hotelplatz kroch auf breiten Gleisketten die GasturbinenKraftzentrale heran. Der Grabenbagger fraß sich in den Sand und zog eine tiefe Rinne zum Wasserwerk hinüber.
Und wieder dröhnte es. Dickbäuchige Hubschrauber brachten die ersten Freiwilligen, einhundertfünfzig Sudanesen, die das Klima gewöhnt waren. Auch ein kompletter Werkstattzug kam in den Fängen der großen Vögel heran. Kaum abgesetzt, fuhren die Wagen auf den angewiesenen Platz. Die Luft war erfüllt vom Donnern der Motoren, dem aufgewirbelten Sand. Längst hatte das Dröhnen die Einwohner der Oase angezogen. „Ein lautstarkes Tempo legt ihr vor!“ rief der Leiter des Kraftwerks anerkennend. „Ich habe euch doch gesagt: Mit der Ruhe ist es vorbei!“ brüllte Werner zurück. Dann wandte er sich an Jomo. „Sind die Rohre schon bestellt?“ Jomo nickte. „Sie kommen heute noch. Ich lasse inzwischen die Lichtleitungen legen.“ Werner machte sich mit den Freiwilligen bekannt und übergab sie Jomo. Der teilte sie in Gruppen ein: Gerätefahrer, Elektriker, Schlosser und Monteure. Die Gerätefahrer gingen mit Werner, da ihre Maschinen noch nicht eingetroffen waren. Sie halfen beim Umzug aus dem Hotel ins Bürogebäude. Als Werner zum Bauplatz zurückkehrte, hatte sich die Siedlung um zwei Häuser vermehrt: ein Küchengebäude und ein Ambulatorium. Werner begrüßte den algerischen Arzt und den Koch, einen Malinesen. „Für Sie kann's gleich losgehen. Mittagsmahlzeit für einhundertsicbzig Mann. Brauchen Sie Hilfe?“ „Zum Kochen nicht, da gibt's Konserven. Aber zum Austeilen. Vorläufig fehlen mir die Lebensmittel.“ „Schon unterwegs!“ rief der Funker. „In der übernächsten Maschine. Ich lasse sie direkt neben der Küche landen.“ „In Ordnung“, sagte Werner zum Koch. „Lassen Sie sich zehn Mann zum Ausladen geben.“ Dann wandte er sich an den Arzt. „Und Sie, Doktor, bleiben möglichst lange arbeitslos. Was jetzt an Freiwilligen kommt, ist doch genau untersucht. Sie übernehmen wohl den Unfallschutz.“ Maschine auf Maschine landete und startete, es war ein ständiges Kommen und Gehen in der Luft. Die Lagerplätze wuchsen; erste Baumaschinen, Planierraupen, Zugmaschinen, aber auch Rohre, Profilstahl, Scheinwerfer, Bodenrüttler... Werner befand sich längst im neuen Büro. Fernschreiben warteten auf ihn: Materialzüge unterwegs... Sonnenspiegel bereitgestellt... Dazwischen Motorendröhnen, Rufe, Arbeitslärm. Wenn er aus dem Fenster blickte, sah er das sinnvolle Getriebe. Jomo hatte die Zügel der einzelnen Gruppen fest in der Hand. Die Kraftzentrale war bereits angeschlossen. Am Graben entlang fuhr der Rohrlegekran und brachte die Wasserleitung ein. Der Bagger schürfte bereits den Graben für die Abwässerleitung der Siedlung in anderer Richtung, ihm folgte ein zweiter Rohrlegekran, der die ausgelegte Leitung sofort zuschüttete. Zwischen den Gruppen fuhren Wagen mit Material und Werkzeug hin und her. Immer neue Hubschrauber landeten, entluden und starteten. Wenn der Koch mit dem Ausladen der Lebensmittel fertig war, würde er sofort kochen können - Wasser und Strom hatte er jedenfalls. Ein Bauingenieur aus Jomos Gruppe hatte mit dem Geländewagen das künftige Werkgelände inspiziert. Jetzt meldete er sich über UKWSprechfunk: „Flugplatzgelände ziemlich eben. Erbitte Planierungskolonne!“
Werner freute sich. Die Aufgaben waren für die ersten Tage, soweit sie sich vorher einschätzen ließen, schon in Deutschland genau durchgesprochen und verteilt worden. Jeder Mitarbeiter aus Werners Kollektiv hatte den Zeitplan: Wer war für welche Aufgabe zuständig, wann mußte sie fertig sein? Das war erforderlich, um den Flugplan genau einhalten zu können, der mit dem Wirtschaftsrat ausgearbeitet worden war. Das Baumaterial für die ersten Tage lagerte in Port Said und wurde von dort herübergeflogen. Außerdem waren in den Häfen der einzelnen Staaten zentrale Lager errichtet worden; Schiffe wurden bereits beladen; wenn in den nächsten Tagen die große Funkstation errichtet war, würde Werner mit allen Lagern in direkter Verbindung stehen. Jetzt hatte er nur einige UKW-Funkgeräte für den Funkverkehr auf der Baustelle und die fahrbare Funkstation zum Verkehr mit Port Said. Über UKW-Funk gab Werner der Planierungskolonne den Auftrag, zum künftigen Flugplatz zu fahren. Zehn große Planierraupen schoben sich aus dem Schatten der Palmen und fuhren in die Wüste hinaus. Und schon wieder ein Funkspruch: Erster Abschnitt der Kanaltrasse planmäßig begonnen... Werner hätte jubeln können. Jetzt ging es richtig los! Nun würde sich ein riesiger Kanalbagger, größer als die größte Abraumförderbrücke, unaufhörlich in den Sand graben, andere Bagger würden in den nächsten Tagen unterwegs auf der mehrere hundert Kilometer langen Strecke eingesetzt werden. Dort, wo sich die Bagger durch den Sand fraßen, wo Sprengkommandos felsigen Untergrund zertrümmerten, würde in einigen Jahren die Wüste grünen, denn der Kanal war gleichzeitig als Bewässerung vorgesehen, er war ein Angriff auf die Wüste. Es wurde Mittag. Die Hitze nahm derart zu, daß die Europäer den Schutz der Häuser nicht verließen, in denen die Klimaanlagen erträgliche Temperaturen schufen. Die Afrikaner litten nicht so darunter und fertigten die noch eintreffenden Hubschrauber ab. Dann kam die vorgesehene Pause. Die Stunden der größten Hitze wurden zum Essen und zur Erholung in den Häusern genutzt. Nachmittags trafen zwei Wüstentransportzüge mit Material ein. Es handelte sich um waggongroße Fahrzeuge, die auf luftgefüllten Gummiwalzen rollten. Diese Walzen paßten sich dem Boden an und schufen außerdem eine große Auflagefläche, die das Einsinken im Sand verhinderte. Mehrere Fahrzeuge wurden miteinander gekuppelt und von einem Leitfahrzeug aus gesteuert. Auf diesem Führungsfahrzeug befanden sich eine große Kanzel für das Fahrpersonal und eine leistungsfähige Gasturbinen-Kraftzentrale; mit der von ihr erzeugten Elektroenergie wurden die Motoren der einzelnen Luftwalzen betrieben, denn die Züge hatten Allwalzenantrieb. Bis zu zwanzig vierachsige Fahrzeuge konnten so zusammengestellt werden. Sie folgten durch eine sinnvolle Kupplung genau der Spur des Leitfahrzeugs. Wurden diese Züge, die sich in jedem Gelände bewegen konnten und Reisegeschwindigkeiten von fünfzig Kilometern je Stunde entwickelten, durch einen Atomreaktor angetrieben, dann führten sie die Kraftzentrale als letzten Wagen mit. Die beiden Züge brachten die Funkstation, den zerlegten hohen Funkmast, zerlegte Turmdrehkräne und zwei Spezialmaschinen für den Flugplatz. Nun setzte auch der Flugverkehr wieder ein. Maschinen, Material und Kraftstoffe wurden entladen. Gegen Abend landeten vier fliegende Kräne, Hubschrauber wie jene, die morgens die fertigen Häuser gebracht hatten. Die Piloten meldeten sich bei Werner, sie sollten auf dem Bauplatz bleiben und baten um einen Standort für die Maschinen. Werner begleitete die Piloten hinaus. Fliegende Kräne für die Baustelle, das mußte er selbst sehen! Aber wo brachte er die Maschinen unter, daß sie geschützt standen? Vorläufig würden sie im Freien bleiben müssen, bis der Flugplatz und die Hangars fertig waren. Auf einer Lichtung wären sie gewiß am besten vor Stürmen geschützt! Vor dem Hotel war Platz genug. Der Staffelführer hatte sich schon umgesehen und stimmte zu. Ob Werner die Maschinen dort erwarten könne, ob er zwanzig Mann zum Helfen mitbringe? Während die Piloten zu ihren Maschinen eilten, fuhr Werner mit den Helfern zum Hotel. Die Maschinen kamen heran und ließen sich langsam nieder, wie Heuschrecken setzten sie mit ihren vier langen Beinen auf. Zwischen den Beinen trugen sie mächtige silberglänzende Stoffballen, legten sie behutsam ab und rollten zur Seite. Dann schoben sich die Teleskopbeine zusammen, und die Hubschrauber senkten sich wie Vögel, die sich auf dem Nest niederlassen. Luken öffneten sich, die Besatzungen sprangen heraus. An der Maschine des Staffelkapitäns öffnete sich die Ladeluke. Ein selbstfahrender Kompressor auf drei Rädern rollte heraus zum ersten Stoffballen. Die Helfer liefen hinzu und legten die Ballen nach den Weisungen der Piloten aus. Es schien, als würden Fesselballons zum Aufstieg vorbereitet, das silberne Gewebe bestand aus den gleichen Kunststoffasern. Und richtig, die Piloten schlossen den Kompressor an. Die Ballen streckten sich träge, begannen sich zu wölben und erhoben sich schließlich zu großen Hallen. Die sahen aus wie riesige Nissenhütten aus Wellblech, und doch bestand ihre Außenhaut nur aus doppeltem Kunstfasergewebe, das wie bei Luftmatratzen zu großen Wülsten zusammengeklebt war. Mit Seilen wurden sie verankert. Zwanzig Meter hoch und vierzig Meter breit, boten sie den Hubschraubern ausreichend Platz. Behutsam schoben sich die Maschinen hinein, dann schlossen die Piloten den Eingang, indem sie die zurückgeschlagenen Vorderwandhälften so wie die Rückwand aufbliesen und verspannten.
Werner fand diese transportablen Hangars großartig, hatte aber doch Bedenken. „Wenn ein Sturm kommt?“ fragte er den Staffelkapitän. Der lachte. „Windgeschwindigkeiten bis hundertzwanzig Stundenkilometer sind unbedenklich, da auch die Rück- und Vorderwand gewölbt ist und dem Sturm keine Angriffsfläche bietet.“ Am nächsten Morgen vergossen die Spezialmaschinen die Pisten des Flugplatzes mit dicken Kunststoffplatten. Bereits nach zwei Stunden war der Belag steinhart und vermochte auch die großen Transportflugzeuge zu tragen. Während die einhundertfünfzig Sudanesen die Turmdrehkräne und den Funkmast montierten, mit den Maschinen zum Bauplatz der Stadt hinüberfuhren und die Ausschachtung für die Fundamente begannen, einen großen Brunnen bohrten und Rohrleitungen verlegten, trafen in regelmäßigen Abständen die Fahrzeugzüge mit Bausegmenten ein, landeten Transportflugzeuge und brachten neue Maschinen, Freiwillige und Material. Die Baugruben wurden ausgehoben, der Grund durch Hohlbohrer mit Chemikalien geimpft, die den Sand fest verbanden. Nun setzten die Kräne das Fundament aus Segmenten zusammen, die mit einem Schnellbinder vergossen wurden. Man sah das Haus wachsen : Die Kräne setzten Zelle für Zelle auf die Fundamente, Stockwerk um Stockwerk erhob sich aus dem Sand. Die Zellen, fertig installierte Räume, wurden miteinander verschraubt und dann die Zwischenspalte vergossen. Werner mußte sich mehr und mehr auf die UKW-Sprechfunkverbindung verlassen, mußte das Baugeschehen vom Schreibtisch aus überwachen, wenn er den Überblick behalten wollte. Das gefiel ihm nicht. Wenn er auch wußte, daß die Freiwilligentrupps aus Fachleuten zusammengesetzt waren und von Spezialisten angeleitet wurden, so fühlte er sich doch eingeengt und ersehnte den Tag, an dem der andere Teil seines Kollektivs, der noch in Deutschland weilte, hierher übersiedeln würde. Dann hatte er mehr Zeit für die operative Leitung. So ging, als der Funkmast fertig war, der erste Funkspruch nach Deutschland. Werner sprach mit Manuela, Kirik, Heino und Fan Yü-hua und bat sie, schnellstens umzusiedeln.
18 Drei Tage später trafen die letzten des Kollektivs in der Oase ein. Obwohl sie nach dem Zeitplan wußten, was inzwischen geschehen sein mußte, waren sie doch überrascht, als sie das Flugzeug verließen. Die grauen Zahlen imponierten doch längst nicht so wie die bunte Wirklichkeit. Werner war stolz, als er die erstaunten Gesichter bemerkte. Wenn er auch Leiter des Kollektivs und nun der gesamten Baustelle war, so wußte er doch, daß man sich echte Anerkennung nicht durch Befugnisse oder Titel errang, sondern nur durch die Leistung, daß man sich Titel und Stellung immer wieder neu erringen mußte, wenn sie Geltung behalten sollten. Zudem schätzte er seine engsten Mitarbeiter sehr und gab viel auf ihr Urteil. Manuela sparte nicht mit begeisterten Ausrufen. Kirik schlug Werner auf die Schulter. Werner wußte, was dieser Schlag wog. Dann sagte Kirik trocken: „Du hast Planvorlauf, scheint mir.“ „Ja, die Jungen sind prächtig. Hier ist ein Schwung, daß man nicht zur Ruhe kommt. Aber davon überzeugt euch selbst.“ Nachdem sie sich erfrischt hatten, fuhren sie hinaus zu den Baustellen. Zuerst zur künftigen Stadt. Zwanzig dreistöckige Häuser standen schon. Zehn waren im Bau. Daneben Baugruben, Gräben für Kabel, Wasserleitungen und Kanalisation. Dazwischen Wüstentransportzüge, schwenkende Kräne, schwebende Lasten, Bagger, Rohrleger, Raupenfahrzeuge. In dem betriebsamen Durcheinander allenthalben dunkle Gesichter unter weißen Tropenhelmen. Auf dem Gelände des künftigen Kombinats entstanden auch schon die ersten Baugruben und Gräben. Auf dem Flugplatz war der Turm der Flugsicherung im Bau. Und überall der Frohsinn schwungvoller, zielgerichteter und befriedigender Arbeit, trotz des Schweißes, der wieder über die Gesichter rann und die Hemden näßte, trotz des Staubes, der bei der Arbeit aufwirbelte, in alle Fugen drang, den man selbst im Mund spürte. Nach der Rundfahrt saßen sie, wie in den Tagen der Projektierung, vor ihrem Plan und besprachen die Einzelheiten, verteilten die Aufgaben. Werner und Jomo atmeten auf. Jetzt würden sie Luft bekommen, nicht mehr soviel improvisieren müssen. „Seid ihr nicht abgespannt von der Reise?“ fragte Werner zwischendurch, als er sich bewußt wurde, daß sie am frühen Morgen noch in Deutschland gewesen waren. „Von der Reise?“ spottete Manuela. „Wir haben uns in den weichen Sesseln einer wohltemperierten Flugzeugkabine ausgeruht. Ihr dagegen habt Stunden in Hitze und Staub hinter euch - und da sprichst du von Ausruhen!“ „Manuela hat recht, ha jo!“ stimmte Heino zu. „Bei dem Tempo da heraußen, wenn man das gesehen hat wer könnte da müde sein? Joi, das ist Bewegung, Schwung, Begeisterung.“ Werner lachte über diesen Ausbruch, aber Kirik nickte dazu. „Das merkt man besser, wenn man von außen kommt. Schwung ist das, wir können ihn gebrauchen. - Ich hab was für dich, Werner.“ Damit zog er eine Zeitung aus der Tasche und reichte sie Werner. Der war überrascht. ,“New York Times'?“ Dann fand er den rotumrandeten Artikel. Las. Und lachte. „Eine imposante Bettelei! Großartig ist das! Denen ist doch keine Dummheit zu dumm. Sollen sich's ansehen!“ Kopfschüttelnd gab er die Zeitung zurück. „Na und?“ fragte Kirik. „Was soll man dazu noch sagen?“ „Du hast nicht richtig gelesen, mein Lieber.“ Er las vor: „... damit erweist sich die solidere Grundlage der amerikanischen Ordnung und die Überlegenheit freier Unternehmerinitiative.“ „Blödsinn!“ „Nein, Herausforderung! Sollten wir sie nicht annehmen?“ Nun war auch Manuela nicht mehr zu halten. Sie sprach auf Werner ein, als ließe er sich nur schwer überzeugen, daß es eine politische Sache sei, daß man es ihnen zeigen müsse. „Aber du läßt mich ja gar nicht zu Worte kommen. Natürlich nehmen wir die Herausforderung an. Am besten, wir rufen die Belegschaft zusammen...“ In den Abendstunden versammelten sich die Männer der Baustellen. Werner hatte zusätzlich Lautsprecher aufstellen lassen, denn es waren immerhin schon über eintausend Freiwillige. Als er mit seinen Mitarbeitern, unter ihnen Manuela und Fan Yü-hua, die Ladefläche eines Lastwagens bestieg, damit sie von jedem gesehen werden konnten, erhob sich beifälliges Murmeln: Die ersten Mädchen auf der Baustelle! „Als Eva im Paradies erschien, folgte ihr die Arbeit auf dem Fuß!“ rief ein Vorwitziger aus den ersten Reihen. Gelächter ringsum. Werner trat ans Mikrofon. „Kollegen, Freunde! Man kann nicht sagen, daß in den ersten Tagen nicht gearbeitet wurde, im Gegenteil, wir haben bereits Planvorsprung.“ Der erste Beifall brauste auf. „Aber der Kollege hat recht: Jetzt geht es erst richtig los! Es werden noch viele Evas in unserem Paradies erscheinen, und es wird noch sehr viel Arbeit geben!“ Jetzt war das Gelächter auf
seiner Seite. „Bisher haben wir vorbereitet, künftig wird gebaut. Gebaut, wie man es im Sozialismus versteht. Morgen kommen weitere eintausend Freiwillige, aber auch einhundert Wagenzüge mit Wohnzellen. Das sind viertausend Zellen oder einhundertfünfundzwanzig Häuser. Wir haben zehn Kräne und setzen pro Kran stündlich vier Zellen auf...“ „Fünf Zellen!“ rief ihm einer zu. „Gut, fünf Zellen. Das sind also fünfzig Zellen pro Stunde. Wenn wir ab morgen in zwei Schichten zu sechs Stunden arbeiten, schaffen wir also täglich sechshundert Zellen und sind bei diesem Tempo in der Lage, die täglich hinzukommenden Freiwilligen unterzubringen. Seid ihr mit dem Schichtbetrieb einverstanden? Ich schlage vor, daß die erste Schicht von vier bis zehn Uhr und die zweite von sechzehn bis zweiundzwanzig Uhr arbeitet.“ Alle Arme hoben sich zum Zeichen der Zustimmung. „Später arbeiten wir dann in vier Schichten, wobei die Mittagsschicht innerhalb der Gebäude oder in Baggern mit Klimaanlagen eingesetzt wird. Und nun möchte ich euch meine Mitarbeiter vorstellen.“ Er nannte Namen und Beruf, bisherige Funktion und neue Aufgabe. Jomo war verantwortlich für die Bauarbeiten, er hatte seinen Bauingenieuren, sowohl denen, die in Deutschland am Projektieren beteiligt waren, als auch denen, die sich unter den Freiwilligen befanden, verantwortliche Arbeitsbereiche zuzuweisen. Manuela wurde stellvertretende Leiterin des Gesamtprojekts und war verantwortlich für Personalfragen und soziale Betreuung. Kirik wurde Technischer Leiter des Gesamtprojekts, speziell für den Aufbau der Industrieanlagen. Fan Yü-hua wurde ihm als Stellvertretern! unterstellt. Heino war verantwortlich für die Organisation, darunter fielen auch Transport, Wagen- und Maschinenpark. Diese Einteilung war vorher mit dem Wirtschaftsrat besprochen und von ihm bestätigt worden; er wollte ihnen in den nächsten Tagen noch erfahrene Berater zuweisen. Zudem wurden der Baustelle für spezielle Bauvorhaben wie Flugplatz, Hafen, Kanal, Pipeline, Produktionsstätten und Freileitung Fachleute entsprechender Betriebe zur Verfügung gestellt. Nachdem Werner die organisatorischen Dinge erledigt hatte, verlas er den Artikel der „New York Times“ und erntete schallendes Gelächter. Aus dem verebbenden Lachen kamen temperamentvolle Zurufe: „Hochstaplerl“ - „Quatschköpfe!“ - „Unverbesserliche Träumer!“ Es brauste in der Menge. Als Kirik ans Mikrofon trat und fragte, ob sie sich das bieten lassen wollten, hallte der Platz vom Protest wider. Kirik lachte, und seine Augen blitzten. „Das wußte ich. Freunde, das war eine Herausforderung, ich denke, wir nehmen sie an! Natürlich wissen die Leute, die hinter diesen Artikeln stehen, genau, daß es nicht so ist. Aber es geht ihnen darum, ihre Position im eigenen Land zu halten, ihren Untertanen Sand in die Augen zu streuen. Wir werden ihnen diesen Sand wieder aus den Augen wischen, daß der Blick klar wird. Wir werden ihnen zeigen, was hierzulande Bettelei vermag. Nehmen wir die Herausforderung an und fordern wir sie zum Wettbewerb auf. Offensichtlich ist das amerikanische Vorhaben kleiner, der Kanalbau entfällt, es geht dort nicht darum, nebenbei der Wüste Land abzuringen...“ Freudige Zustimmung unterbrach ihn. „Wir sind also im Nachteil, wenn wir den Umfang betrachten. Aber wir haben einen unerhörten Vorteil auf unserer Seite: den Sozialismus! Wir arbeiten nicht für den Lohn, wie die amerikanischen Arbeiter, wir arbeiten nicht für fremde Interessen, nicht für den Profit einer kleinen Gruppe von Nutznießern, wir arbeiten für uns, nur für uns. Wir verfügen über unermeßliche Reserven an menschlichem Geist, menschlicher Begeisterung und Einsatzfreudigkeit, an modernster Technik, an Material. Wir haben den Wettbewerb also schon gewonnen, ehe er begonnen wurde. Das bedeutet aber, daß wir unsere Kräfte sinnvoll einsetzen, unsere Arbeit genau koordinieren müssen. Menschlicher Geist und menschliche Arbeit sind kostbar, wir dürfen sie in keiner Weise verschwenden. Deshalb ist jeder aufgerufen, unsere Arbeit verbessern und erleichtern zu helfen. Sie muß auf breiten Schultern ruhen, muß die ureigenste Sache jedes einzelnen sein. Darum betrachtet uns nicht als Leitung, die allmächtig und allein verantwortlich ist. Jeder einzelne ist mitverantwortlich, jeder einzelne leitet mit, wir sind nur Treuhänder eures Schaffens und eures Willens. Um diesem Willen Geltung zu verschaffen, bedarf es natürlich der Organisation. Deshalb schlage ich vor, wir gründen noch heute internationale Gruppen der Jugend, der Partei und der Gewerkschaften.“ So gab es an diesem Abend noch drei kurze Versammlungen. Vorsitzender der Gewerkschaft wurde Jomo, den in den letzten Tagen jeder kennen- und wegen seines umsichtigen Eingreifens bei auftretenden Arbeitsstörungen schätzengelernt hatte. Zum Jugendsekretär wählten die Jugendlichen, die Mehrzahl aller Freiwilligen, einen Brigadier vom Häuserbau, einen stämmigen Sudanesen, der den Wettbewerb der Baubrigaden in den ersten Tagen improvisiert hatte, einen Mann voller Temperament und mit witzigen Hinfallen, der überall, wo er auftauchte, Heiterkeit weckte. Kiriks Wahl zum Parteisekretär erfolgte auf Grund seiner Erfahrungen, die er in dieser Funktion bei der Projektierung gesammelt hatte. Werner war aufgefordert worden, über Kiriks Arbeit zu berichten, denn er hatte dessen Funktion bei der Vorstellung erwähnt. Kiriks ruhige Sicherheit erweckte Vertrauen, und sein Vorschlag zum Wettbewerb mit Amerika ließ die Genossen der marxistischen Parteien aus den verschiedenen Ländern erwarten, daß er zu dieser
Funktion die nötige politische Reife mitbringe. In den Mitgliedern von Werners Projektierungskollektiv sah man die Urheber dieses gewaltigen Projekts, allein schon das verschaffte ihnen Ansehen und Respekt. Kirik nahm seine Wahl gelassen hin. Als ihm Manuela beim Abendbrot gratulierte, nickte er so unverbindlich, daß sie verwundert war. „Dich freut's wohl gar nicht?“ „Freuen? Die Aufgabe ja, aber...“ Er unterbrach sich und hob die Schultern. „Na hör mal, ist das keine Auszeichnung?“ „Auszeichnung? Parteisekretär - das ist Auftrag, keine Auszeichnung! Ich werde tun, was nur irgend möglich ist!“ „Ach du Philosoph, versponnener“, sagte Manuela und schüttelte den Kopf. „Sag's klar, freust du dich nicht?“ „Na gut“, brummte er nachgiebig, richtete sich aus seiner lässigen Haltung auf und tat ernsthaft. „Wieso ist es ein Grund zur Freude, Verehrteste? Es sind vorläufig Vorschußlorbeeren.“ „Vertrauen...“ „Dazu müßte man mich kennen. Ich wurde Sekretär auf Verdacht, daß ich geeignet sei. Eine Verpflichtung für mich, sonst nichts, kein Ehrengeleit, kein Salut, nicht mal Ehrenjungfrauen. Man wird zu angemessener Zeit das Fazit ziehen, dann erst wird sich's entscheiden, ob diese Wahl richtig war. Dann darfst du mir Lorbeerkränze flechten, mir einen Huldigungskuß darbringen.“ „Spötter, bissiger“, erwiderte Manuela in der gleichen Manier, obwohl sie sich mühsam beherrschte, ihm nicht temperamentvoll in die schnoddrige Rederei zu fahren. „Na gut, hast recht, Manuela. Aber ich begreife nicht, daß ihr eine Funktion wie einen Ehrentitel begrüßt. Sie ist weder auf Lebenszeit verliehen, noch erhöht sie uns in irgendeiner Weise, Sie erhöht nur unsere Verantwortung und unsere Pflichten.“ „Ich hätte es nicht gewußt, hättest du mich nicht aufgeklärt“, erwiderte sie ironisch. „Himmel, wie sag ich's ihr? Sieh mal, ich mache es gern, aber wenn sich herausstellt, daß ich der Funktion nicht gewachsen bin, wird man einen anderen finden, einen Fähigeren. Dann werde ich ohne verletzte Eitelkeit zurücktreten und diesen anderen mit aller Kraft unterstützen. Es geht doch nicht um mich, es geht um die Sache. Deshalb mag ich nicht, wenn man diese Dinge persönlich sieht.“ Werner, Fan Yü-hua und Jomo hatten diesen Disput belustigt verfolgt, sie kannten Kiriks Meinung und waren nicht verwundert. Und doch widersprach ihm Jomo. „Du hast recht. Aber in meinem Fall liegen die Verhältnisse nicht so klar: Bauleiter und Gewerkschaftsvorsitzenderl“ „Na und? Gefällt dir diese Mischung nicht?“ fragte Kirik begriffsstutzig. „Überleg doch: Bauleiter und Gewerkschaftsvorsitzender! Geht denn das überhaupt? Du sprachst von Verantwortung - kann man denn beidem gerecht werden?“ Kirik wollte spöttisch werden. Da baute man den Kommunismus auf, und es gab immer noch Leute, die sich mit Resten des Denkens aus der Vergangenheit herumschlugen! Bauleiter und BGL-Vorsitzender, war das heute noch ein Widerspruch? Aber dann entsann er sich rechtzeitig, daß Jomo Bürger eines afrikanischen Staates war, der als einer der letzten unabhängig wurde und als Nationalstaat nicht sofort die innerpolitischen Probleme lösen konnte. Mit der Unabhängigkeit waren die eigenen Ausbeuter nicht sofort beseitigt. Darum spielte die Gewerkschaft des sich entwickelnden Proletariats dieses Landes, das nun eine eigene Industrie aufbaute, eine entscheidende Rolle im Klassenkampf. Aus dieser Zeit mochten Jomos Reste alter Denkgewohnheiten stammen. Zwar kannte er die neue Rolle der Gewerkschaft im Sozialismus, aber in diesem speziellen Fall mußte er sich erst zurechtfinden. Die Gewohnheit überspielt doch oft das Wissen, dachte Kirik. Man muß das Wissen erst in eigene Erkenntnisse umsetzen, um es zum Maßstab des Handelns werden zu lassen. Das geht nicht von heute auf morgen, das ist ein langwieriger Prozeß. Deshalb war Geduld am Platz, man mußte ihm helfen, auch mit den letzten Resten fertig zu werden. Es war wie bei einer Umstellung der Verkehrsordung. Jahrzehntelang fuhr man nach bestimmten Vorschriften, hielt sich instinktiv auf der vorgeschriebenen Straßenseite, wurde sie aber gewechselt, dann mußte man immer wieder gegen die alte Gewohnheit ankämpfen, sich immer erneut daran erinnern, auf welcher Seite man zu fahren, mußte man an jeder Kreuzung überlegen, wie man abzubiegen hatte. „Bauleiter und Gewerkschaftsvorsitzender, Jomo, diese Mischung ist goldecht! Da ist doch kein Widerspruch. Früher vertrat der Bauleiter die Interessen der Unternehmer, die Gewerkschaft die Interessen der Arbeiter. Diese Interessen widersprachen sich, also stand der Bauleiter kontra Gewerkschaft. Heute ist die Gemeinschaft aller schaffenden Menschen der Bauunternehmer, und der Bauleiter ist ihr Treuhänder! Die Organisation der schaffenden Menschen aller Glaubensbekenntnisse aber ist die Gewerkschaft, und ihr gewählter Vertreter ist damit ebenfalls Treuhänder aller schaffenden Menschen, in deinem Falle eines Teiles davon, nämlich des Teiles, der jenem Bauleiter untersteht. Wo ist da der Widerspruch? Der Bauleiter hat die fachliche, ökonomische Seite und den Menschen zu sehen; der
Gewerkschaftsvorsitzende den Menschen und die fachliche, ökonomische Seite. Gut, es ist üblich, Jomo, daß der Bauleiter vor allem die fachliche und der Gewerkschaftsvorsitzende vor allem die menschliche Seite sieht. Der Bauleiter wird etwas mehr fachlich, der Gewerkschaftsvorsitzende vor allem auf das Menschliche orientiert sein, deshalb wird der Bauleiter von fachlichen Gremien eingesetzt, der Gewerkschaftsvorsitzende jedoch gewählt - aber nicht, daß sie sich bekämpfen, sondern um sich zu ergänzen. Wo also ist der Zwiespalt? Du wurdest als Bauleiter eingesetzt und danach von deinen Bauarbeitern zu ihrem Gewerkschaftsvorsitzenden gewählt. Da gibt es doch keinerlei Bedenken. Wenn du beide Aufgaben erfüllst, die fachliche und die gewerkschaftliche - und wenn du als Vorsitzender unserem Heißsporn Werner ein bißchen auf die Finger guckst, damit er in seiner Begeisterung mit seinen Anforderungen nicht zu weit geht, dann ist alles in Ordnung. Leicht wird es also nicht sein.“ Als er sah, daß Werner grinste, fügte er hinzu: „Vor allem nicht mit unserem Chef. Aber ich helfe dir, die Partei steht hinter dir.“ „Also doch Kampf?“ fragte Werner. „Ich denke, es gibt keinen Kampf zwischen...“ „Das nicht!“ unterbrach Kirik schnell. „Aber Kontrolle und Kampf gegen Überspitzungen gewisser Leute, die vierzehn Stunden täglich arbeiten und so leicht in Versuchung kommen, die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter ebenfalls zu verlängern.“ „Wer hat dir das schon wieder erzählt?“ „Ja, die Partei ist überall. Zwar hat sich noch keiner über zu hohe Forderungen beschwert, aber deine persönliche Maßlosigkeit hat man bemerkt. Wir werden dir also auf die Finger sehen. Am besten, Manuela nimmt dich unter persönliche Kontrolle.“ Sie lachte. „Parteiauftrag?“ „Parteiauftrag!“ bestätigte Kirik. „Gewerkschaftsauftrag!“ sagte Jomo. „In Ordnung! Da sowohl der Parteisekretär als auch der Gewerkschaftsvorsitzende die heutige Arbeitszeit unseres Chefs bei weitem überzogen und ihm selbst beim Abendbrot keine Erholung gegönnt haben, sehe ich mich als beauftragte Betreuerin gezwungen, diese Sitzung aufzuheben und unseren Chef zu einem Spaziergang aufzufordern.“ „So geht ein Schuß nach hinten los“, sagte Kirik und erhob sich. „Also ab, ihr beiden - aber vergiß nicht, Manuela, du sprachst von Erholung.“ „Wie meinst du das?“ fragte sie drohend. „Nicht so, wie du denkst. Du sollst ihn nicht noch durch die ganze Wüste schleppen, sonst seid ihr zum Arbeitsbeginn nicht wieder zurück.“ „Du bist ein...“ „...guter Kollege, ich weiß. Deshalb werde ich mit Jomo jetzt noch den Funkspruch für die Presse aufsetzen, während ihr in Wiedersehensfreude schwelgt.“ Während die Fahnen des Weltjugendbundes, des Weltgewerkschaftsbundes und des Ständigen Büros für Zusammenarbeit der Marxistischen Parteien über der Baustelle aufstiegen, während sich die Frühschicht den Schlaf aus den Augen wusch, ging ein Funkspruch um die Welt:...baustelle des sozialismus fordert amerika zum wettbewerb auf... Wieder gab es ein tausendfaches Echo. Hier kam der Funkspruch gerade bei der Vorbereitung einer neuen Zeitungsausgabe zurecht, dort hielt er Maschinen an und zerriß die Druckformen. Hier wurde er in die Morgen-, dort in die Mittags- und da in die Abendnachrichten eingefügt - je nachdem, auf welchem Längengrad der Sender lag, welche Tageszeit die Uhren anzeigten. Der Funkspruch war wie ein Windstoß, der die Flammen der Begeisterung höher entfacht. Er weckte die Bequemen aus ihrer Beschaulichkeit, riß selbst die Trägsten mit. Ein Wettkampf ihrer Baustelle mit Amerika, das war auch die Sache des letzten! Die Freiwilligenmeldungen stiegen sprunghaft an, immer neue Möglichkeiten wurden ersonnen, um Material und Maschinen für das Projekt Sahara freizustellen. War nach dem Aufruf besonders die Zahl der Verbesserungsvorschläge und Erfindungen angestiegen, die es ermöglichten, Arbeitskräfte freizumachen und zugunsten der Baustelle Sahara Material einzusparen oder die Produktion zu erhöhen, so ergriff dieses Bestreben jetzt alle Industriezweige, selbst die Landwirtschaft. Jeder fühlte sich angesprochen, keiner wollte abseits stehen. Auch in der Patengemeinde von Trautenhahns Brigade zündete der Funkspruch. Bevor die Mitglieder der Genossenschaft nach der Mittagspause wieder auf die Felder gingen, versammelte sie der Vorsitzende. Hochaufgerichtet stand er am Ende des großen Speisesaals. Sein Blick ging über die vertrauten Gesichter. Die letzten Gespräche verstummten. Als auch die Küchenkräfte vollzählig versammelt waren, nahm er das Wort. „Ihr habt in der Presse gelesen, daß Hardensteins Baustelle - daß unsere Baustelle in der Sahara Amerika zum Wettbewerb aufgefordert hat. Ich kenne die Schwierigkeiten unseres Bauvorhabens von Trautenhahn - es wird nicht einfach sein. Wenn diese jungen Menschen, die mit der Sahara ringen, Amerika herausfordern, um aufs neue die Überlegenheit unserer Ordnung zu beweisen; wenn Millionen aus allen Berufszweigen sich anschließen, weil sie verstanden haben, daß es unser Wettbewerb ist...“, er
schlug sich vor die Brust und wartete einen Augenblick, um dann nachdrücklich fortzufahren, „können wir dann abseits stehen? Das ist auch unser Wettbewerb, weil es auch unsere Gesellschaft ist. Zu beweisen, daß unsere Gesellschaftsordnung besser ist, ist nicht nur Sache der neuen Baustelle - dazu können auch wir beitragen. Deshalb wollen wir bewußter als bisher arbeiten und diesen Wettbewerb als unseren eigenen betrachten. Laßt uns überlegen, wie wir...“ Die Sirene heulte über der Baustelle am Rande der Wüste in Nevada. Schichtwechsel! Die Betonarbeiter warteten ungeduldig auf ihre Ablösung, begrüßten sich kurz, knurrten gelegentlich, wenn der andere zu spät kam, nahmen dann ihre Sachen und stapften hinüber zur Barackenstadt. Auf der Baustelle indessen schritt die Arbeit im alten Rhythmus fort, bewegten sich Kräne und Maschinen, regten sich fleißige Hände. Die Fundamente einiger großen Hallen standen schon, Wandsegmente schwebten durch die Luft. Es ging vorwärts in Nevada. Jack Johnson rekelte sich unter der Brause, spülte den mit Sand- und Zementstaub verkrusteten Schweiß von der Haut, trocknete sich ab, fuhr in die Kleider und ging gemächlich zu seiner Baracke. Er war froh, daß die Schicht zu Ende war, aber nun wußte er nicht recht, was er mit seiner Zeit beginnen sollte. Ins Kino? Für die Leinwandschießereien war er schon zu alt, und die Schmachtstreifen von der Liebe - Gott, wer schon erwachsene Kinder hatte und seit zwanzig Jahren verheiratet war, der kannte das wirkliche Leben und vermochte diesem Saccharin kein Vergnügen mehr abzugewinnen. Viel lieber hätte er jetzt daheim im Garten gesessen. Statt dessen saß er hier am Rande des Sandhaufens und machte Geld. Verdammtes Leben! Im Zimmer, das er mit sechs anderen teilte, warf er sich aufs Bett und griff nach der Zeitung. Er blieb nicht lange allein. Roger White, ein jüngerer Betonarbeiter, kam herein, setzte sich an den Tisch und zog ein Magazin aus der Tasche. Er blätterte es durch, betrachtete einige Bilder und sagte anerkennend: „Tolle Puppen!“ „Was nützt das hier?“ fragte Johnson. „Appetit macht nicht satt. Oder willst du mit den Taxigirls ins Bett?“ „Warum nicht? Ist doch mein Vergnügen.“ „Und der Company Verdienst.“ „Wie das, alter Junge?“ „Der Company gehört alles, sie verdient an allem. Auch an den Taxigirls und dem Magazin, an dem Whisky, den du trinkst, genau wie an dem Bett, in dem du schläfst, um für die Company neue Kraft zu sammeln. Sie verdient - und das nicht schlecht.“ „Wir leben und verdienen aber auch nicht schlecht“, erwiderte Roger obenhin. „Wir wohnen auch nicht schäbig.“ „Ist auch nicht gerade billig.“ „Aber trotzdem ein Job, bei dem du einiges auf die Kante legen kannst“, stellte Roger fest. „Wenn du's nicht schon hier verjubelt hast, um die Langeweile totzuschlagen“, unterbrach Jack. „Verfluchtes Nest!“ „Weshalb bist du dann hierhergekommen?“ „Eben wegen der Dollars! Mein Großer soll studieren, soll sich nicht wie sein Alter in allen Teilen der Staaten auf Baustellen herumsielen.“ „Es gibt noch andere Berufe, in denen man Geld machen kann, ohne den Ort verlassen zu müssen.“ „Jawohl, es gibt auch Arbeitslose, die brauchen nicht herumzuziehen, wenn sie genug Geld zum Leben haben“, höhnte Jack. „Na ja“, lenkte Roger ein. „Trauben wachsen einem in Gottes eigenem Land nicht in den Mund, man muß sie schon pflücken. Wenn ich denke, was mein Alter so erzählt - Autos, Häuser...“
„Doch keiner sprach davon, wie alt und wie befristet der Wechsel ist“, spottete Jack. „Jetzt reicht mir's aber, Jack! Willst du bestreiten, daß die amerikanischen Arbeiter sehr gut gelebt haben?“ „Teils, teils, Arbeitslose in die Millionen gab's schon immer, doch von ihnen sprach man nie. Aber immerhin, so mancher hat sehr gut verdient.,.“ „Woran liegt's?“ „Daß es schlechter wurde? Die Kuponschneider sind nicht bescheidener geworden. Amerika war ein reiches Land, aus aller Welt hat es sich damals bedient. Aber der Griff in die Rohstofflager und Taschen der anderen ist vorbei.“ „Wir sind also ärmer geworden?“ „Nein, gezwungenermaßen ehrlicher. Aber trotzdem wären wir reich genug, um allen ein schönes Leben zu garantieren, wenn dieser Reichtum gerecht verteilt würde.“ „Ach, du bist Kommunist?“ fragte Roger überrascht. „Noch nicht! Aber Gewerkschafter“, erwiderte Jack kurz. „Und ihr meint, es reicht?“ „Sieh dir die anderen Länder an. Außerdem, mein Lieber, die drüben meinen, der Reichtum der Erde gehört allen. Würden wir wie die Reinschiff machen, wäre ihr Reichtum unser Reichtum, unser Reichtum der ihre. Die kennen wirtschaftlich keine Ländergrenzen.“ „Warum teilen sie dann nicht mit uns?“ „Gott, bist du ein naiver Hänfling! Käme uns das zugute? Sollen sie die Taschen der Großen füllen?“ „So toll scheint's mit dem Reichtum drüben nicht zu sein“, sagte Roger und zog eine Zeitung aus seinem Spind. „Lies mal, wie sie das Zeug für die Sahara zusammenbetteln.“ Jack trat zu ihm, nahm die Zeitung, faltete sie auf, schloß sie wieder, ohne den Artikel gelesen zu haben, und sagte: „Ja, wenn du diese Zeitung liest...“ „In deiner Gewerkschaftszeitung steht's wohl anders?“ „Erfaßt!“ „Und das ist richtig?“ fragte Roger spöttisch. „Erfaßt!“ „Du hättest es wenigstens lesen können. Wie willst du etwas beurteilen, was du nicht kennst?“ „Ich habe alle bedeutenden Blätter gelesen, die rechten, die linken und die sogenannten unabhängigen. Die rechten verschweigen den Wettbewerbsaufruf ganz oder bringen ihn, um sich den Anschein der Objektivität zu geben, auszugsweise, unauffällig und mit gehässigem Kommentar. Die sogenannten unabhängigen bringen ihn als Sensation, verraten aber dem aufmerksamen Leser durch bagatellisierende oder witzelnde Bemerkungen, von wessen Inseraten sie leben. Die linke Presse berichtet sachlich über den Aufruf und läßt sich die Gelegenheit nicht entgehen, am konkreten Beispiel die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft und die Unterschiede zwischen beiden Ordnungen zu erläutern und natürlich einige Prognosen über den Ausgang des Wettbewerbs zu stellen.“ „Ach, nur die linke Presse?“ „Ja, das heißt die ‚New York Times' fällt aus dem gewohnten Rahmen. Sie berichtet mit großer Aufmachung vom Bauplatz in der Sahara, verschweigt aber den Gesamtumfang des Projekts und die schwierigeren geographischen und klimatischen Bedingungen, unterstreicht dagegen die Bedeutung des Kunststoffes und flicht den Bossen unserer Baustelle den Lorbeerkranz des echten Patriotismus. Natürlich lehnt sie den Wettbewerb ab, nicht wie die rechten Blätter mit abfälligen Bemerkungen, sie macht in amerikanischer Fairness. Unsere Baustelle hätte bereits einen Vorsprung, und unser sprichwörtlicher Sportsgeist verbiete es, einen Wettbewerb anzunehmen, den ein unterlegener Gegner in verzeihlicher Selbstüberschätzung anbiete.“ „Und da sagst du, die wären nicht sachlich. Du hast selbst gesagt, die drüben hätten schwierigere Bedingungen. Dieser Artikel ist...“ „... auf solche Schafsköpfe wie dich gemünzt“, unterbrach Jack hart. „Sei nicht böse, alter Freund, aber auf diese Reaktion beim Leser spekulieren sie gerade. Nach dieser Meldung kann man künftig über den Wettbewerb schweigen, man braucht nicht mehr über die Sahara zu berichten...“ „Aber das ist doch in Ordnung, wenn sie sowieso zurück sind...“ „Laß man, du begreifst es noch. Wenn sie nicht so sicher wären, die Hintermänner der ,New York Times', daß sie dabei verlieren, hätten sie es ausgeschlachtet, verlaß dich drauf.“ „Bloß die Linke hat recht“, maulte Roger. „Du mußt doch objektiv sein.“ „Das heißt, links und rechts in einem Topf, schön durchgerührt, was?“ „Nein, aber von jedem die Hälfte.“ „Das setzt voraus, daß beide die halbe Wahrheit sagen und du diese halbe Wahrheit erwischst. Aber wie, wenn die eine Seite lügt, die andere die Wahrheit sagt?“ „Also sagt die Linke die Wahrheit?“
„Es gibt einen Schlüssel, die Wahrheit zu finden.“ „Der wäre?“ „Du mußt immer fragen: Wem nützt es?“
19 Vater und Mutter Hardenstein hatten jeden Besuch abgesagt, heute wollten sie allein sein, denn der Fernsehfunk hatte in seine Nachmittagssendung eine zweistündige Reportage von der Baustelle in der Sahara aufgenommen. Zwei Stunden lang würden sie so bei ihrem Jungen sein. Zwar berichteten Fernsehen und Funk täglich, täglich las man in der Presse Berichte über den Kampf gegen die Wüste, über den Stand einzelner Arbeiten, über die Auswirkungen des Aufrufs, über Unterstützungsangebote und Freiwilligenmeldungen, aber ein Bild vermochte sich selbst Vater Hardenstein nicht zu machen. Seine Vorstellungen blieben Stückwerk, Mosaiksteine, die er mit seinem technisch geschulten Verstand zu ergänzen suchte, die aber einer willkürlichen Auslegung zu viel Raum boten. Er freute sich nicht nur wegen seines Sohnes, sondern auch als Techniker auf die Sendung, während für Mutter Hardenstein das Projekt Sahara doch erst in zweiter Linie interessant war. Beiden war so feierlich zumute, als empfingen sie einen seltenen Gast. Der Vater rückte die Sessel zurecht, holte eine Flasche Wein aus dem Keller und schloß schon lange vorher die Vorhänge, um bereit zu sein, wenn die Sendung begann. Gab es Schöneres, als sich der Kindheit des Sohnes, der Sorgen um ihn und der elterlichen Hoffnungen zu entsinnen, um dann zu erleben, daß er weit über ihre Träume hinausgewachsen war? War es nicht ein Grund zur Ungeduld, wenn man Bilder von seinem Wirken, ja vielleicht ihn selbst zu Gesicht bekommen sollte? Sie genossen diese Stunde vor der Sendung mit einer Mischung von Erwartung und Dankbarkeit, Freude und Stolz, aber auch voller Genugtuung, daß es ihnen gelungen war, ihre Kinder zu guten Gliedern der Gemeinschaft zu erziehen. Ein schrilles Klingeln hallte durch das Haus. Vater schickte einen verzweifelten Blick zur Decke, murmelte, das habe ihm gerade noch gefehlt, überlegte sich eine passende Ausrede, um jeden Besuch abzuwimmeln, wußte, daß er das doch nicht fertigbrächte, und ging zur Tür. Draußen stand Trautenhahn. Vater Hardenstein war versöhnt. Wenn schon Besuch, dann war ihm in dieser Stunde Trautenhahn willkommen, der an Werners Entwicklung gewichtigen Anteil hatte. „Nett, daß Sie kommen“, sagte er nach der Begrüßung. „Ich komme, um zu gehen“, erwiderte Trautenhahn hastig. „Aber mit Ihnen und Ihrer Gattin. Ich möchte Sie abholen, Werners ehemalige Brigade wartet auf Sie. Wir möchten mit Ihnen gemeinsam...“ Es fiel Vater Hardenstein nicht leicht, sein Widerstreben zu verbergen, aber sollte er absagen, konnte er das? Auch seine Frau verbarg ihre Enttäuschung. Trautenhahns Wagen brachte sie schnell ins Chemische Kombinat. Hier wurden sie angenehm überrascht. Im Kultursaal wurden sie von Werners ehemaligen Kollegen und deren Angehörigen erwartet. Sie schüttelten sich die Hände und wechselten freundliche Worte miteinander. Unterwegs hatten Hardensteins befürchtet, sie müßten ihre Erregung verbergen, aber sie spürten bald, daß eine hochgespannte Erwartung sie mit allen diesen Menschen verband, daß jeder etwas von dem Stolz auf Werner empfand, jeder etwas von der Genugtuung, ihn mit vorbereitet zu haben für diese Aufgabe. Die niedrigen Tische waren mit Blumen geschmückt, auch Gläser standen darauf. Die Sessel waren so gruppiert, daß man von ihnen mühelos die große Leinwand übersehen konnte, die an der Stirnwand des Saales aufgestellt worden war und auf die der Fernsehprojektor das erwartete Bild werfen würde. Hardensteins wurden an den mittleren Tisch geleitet. Bei ihnen nahmen Trautenhahn mit seiner Frau Platz und Evelyn; denn Heino, als Werners Mitarbeiter, zählte ja inzwischen auch zur Brigade. Sie stießen auf Werner an, auf Heino, auf die vielen Tausend Freiwilligen, die an Werners Seite standen. Dann flammte das Zeichen der Intervision auf. Die Blicke hingen an dem farbig-plastischen Bild, die Sprecherin erschien. „Die Intervision begrüßt Sie herzlich am Bildschirm. Ob es bei Ihnen Morgen, Mittag oder Abend ist, ob Sie gar die wohlverdiente Nachtruhe opfern, um uns für zwei Stunden in die Sahara zu begleiten - wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und hoffen, daß es uns gelingt, Ihnen einen Einblick in ein Projekt zu verschaffen, das heute der Gesprächsstoff Nummer eins in allen Ländern ist. Millionen Menschen haben direkt oder indirekt Anteil daran und ein Recht, ihren Bauplatz einmal mit eigenen Augen zu sehen. Sehr herzlich begrüßen wir auch die nordamerikanischen Zuschauer, die, trotz der abschätzigen Berichterstattung ihres Fernsehens über unsere Baustelle, auf unseren Kanal umschalteten, um sich selbst ein Urteil zu bilden. Zu Beginn unserer Sendung wird der Minister für internationale Industrieprojektierung vom Wirtschaftsrat Ihnen noch einmal die Vorgeschichte in Erinnerung rufen.“ Als der Minister nach einer kurzen Einführung schilderte, wie von dem Klub junger Chemiker eines deutschen Kombinats das Hartsilikon entwickelt wurde, lachten sich die Brigademitglieder zu. Jetzt verstand auch Vater Hardenstein, wie eng die Brigade mit diesem Projekt verbunden war. Er hatte sich vorher als Mittelpunkt dieses Kreises gefühlt, als Hauptbeteiligter, jetzt fühlte er, daß er eigentlich am
Rande stand, daß diese Einladung dem Gefühl der Zusammengehörigkeit mit Werner entsprang. „Diese Entwicklung wurde nun in die Hände eines internationalen Kollektivs besonders fähiger Nachwuchswissenschaftler gelegt, das sie zur Produktionsreife bringen und dabei selbst an dieser Aufgabe wachsen sollte. Es war ein Versuch, junge Menschen an einer großen Aufgabe auszubilden, ihnen ihre Begeisterungsfähigkeit zu erhalten, die in der Enge kleinerer Teilaufgaben unter widrigen Umständen leider noch oft verlorengeht. Sie sollten sich, unter Anleitung erfahrener Experten, direkt am Objekt schulen, sollten ihre Kräfte mit den Problemen messen, ihre Verantwortungsfreudigkeit erhöhen, entscheidungsfähiger werden. Sie sollten dieses Projekt von Grund auf kennenlernen, sich ihre künftige Wirkungsstätte selbst errichten. Wir können heute sagen, daß dieser Versuch gelungen ist und wir gewillt sind, ihn auszuwerten und für den künftigen Einsatz unseres Wissenschaftlernachwuchses entsprechende Schlußfolgerungen zu ziehen. Da dieser Versuch außerhalb unserer Planwirtschaft lief, das junge Kollektiv außerdem mit hervorragenden Leistungen die erwarteten Fristen weit unterbot, war es uns nicht möglich, das Projekt sofort in die laufende Planperiode zu übernehmen. Deshalb der Aufruf der Weltorganisationen an Sie, verehrte Zuschauer, dieses Projekt zu unterstützen. Ich kann Ihnen mitteilen, daß das Echo unsere Erwartungen weit übertroffen hat. Der Wirtschaftsrat hat beschlossen, die von Ihnen außerhalb des Plans bereitgestellten Mittel zu nützen und den ursprünglichen Umfang des Projekts zu verdoppeln. Das wird uns in die Lage versetzen, schon in der kommenden Planperiode Milliarden internationaler Währungseinheiten zusätzlich zu gewinnen. Es gab und gibt bei diesem großen Projekt natürlich Schwierigkeiten, die überwunden werden müssen. Das schwierigste Problem, wie Ihnen durch die Berichterstattung bekannt, war die Versorgung des Sahara-Kombinats mit Energie und Erdöl. Ich freue mich, Ihnen heute mitteilen zu können, daß dieses Problem dank des unermüdlichen Einsatzes der entsprechenden Industriezweige gelöst wurde und dem Kombinat außerhalb des Plans sowohl ausreichend Erdöl als auch ein leistungsfähiges Atomkraftwerk zur Verfügung gestellt wird. Ich hoffe“, er lachte dabei jungenhaft, „daß das Bauleitungskollektiv mit uns nun zufrieden ist.“ Die Reportage begann, und im Kulturraum vergaßen die Menschen, wo sie sich befanden. Intervision rief die Weltraumstation. Sie meldete sich und richtete ihre Kamera auf Afrika. Immer näher holte sie den Erdteil heran. Ein Kanal mit noch trockenem Bett kam ins Bild. Die Kamera folgte ihm. Ein riesiger Bagger fraß sich gierig in den Sand. Die Kamera huschte ihm voraus, entlang den rotweißen Stäben, die dem Bagger den Weg markierten. Plötzlich wieder ein trockenes Kanalbett, dann ein neues Baggerungetüm. Wieder rotweiße Stäbe, unberührter Sand. Ein neues Kanalbett. „Noch zwei Wochen...“, sagte der Sprecher. Die Kamera irrte über den Sand. Endlich ein neuer Maschinenriese. Er grub eine schmale, tiefe Rinne, legte ein biegsames, großes Kunststoffrohr hinein, schüttete die Rinne wieder zu. Ihm voraus ein anderes Großgerät. Es ergriff lange Rohrstücke vom Rücken eines Wüstentransportzuges, stopfte das eine Ende in seine Vorderseite, dann setzte es sich in Bewegung, schlang das Rohrstück in sich hinein, spie ein endloses Rohr hinter sich aus. Die Pipeline! Ein Hubschrauber landete nebenan. Gestalten im Tropenanzug sprangen heraus, eilten zu den Geräten, verschwanden in ihnen, andere kamen heraus. Man vermochte nicht zu erkennen, ob es sich um Männer oder Frauen handelte, es waren Punkte auf dem Sand, winzige Tropenhelme. Die Maschinen hatten ihren Rhythmus nicht unterbrochen. „Noch zehn Tage ...“, sagte der Sprecher. Wieder irrte die Kamera über die Wüste. Sand... Sand... Plötzlich zwei dicke, glänzende Rohre, sie kamen aus der Unendlichkeit des Sandes und verloren sich wieder in ihr. Die Kamera folgte ihnen. „Die Hochdruckwasserleitung“, sagte der Sprecher. „Seit gestern bringt sie den Lebensspender vom Nil zum Bauplatz Völkerfreundschaft. Folgen wir ihr.“ Endlos schienen die Rohre, endlos der Sand. Plötzlich Palmen, kleine weiße Häuser, Straßen, ein hohes Gebäude - in ihm mündeten die Rohre. „Wir sind in der neuen Stadt Völkerfreundschaft“, sagte der Sprecher. „Wir übergeben an die fliegende Fernsehstation. Hallo, Pierre Gardon, hören Sie mich? Bitte übernehmen Bild und Ton. Wir verabschieden uns von Ihnen, verehrte Zuschauer...“ „Hier spricht Pierre Gardon, ich begrüße Sie auf der Baustelle des Sozialismus.“ Die Kamera schwenkte. Vater Hardenstein wischte sich über die Augen, so verblüfft war er. Vorgestern erst hatte er einige Fotos erhalten, Werner schrieb dazu, er habe sie vor kurzem angefertigt. Aber dort das war kein wüster Bauplatz mit zerfahrener Piste, aufgewühltem Sand, mit fertigen und halbfertigen Häusern inmitten trostloser Wüste, das war eine Stadt mit schneeweißen Häusern, mit Straßen und Fußwegen und Palmen. Die Kamera folgte einer solchen Straße, überflog Kreuzungen. Zwei-, drei- und vierstöckige Häuser. „Diese Stadt wird nicht nur der Belegschaft des Chemiegiganten als Wohnstätte dienen, von hier aus wird der Angriff gegen die Wüste vorgetrieben, wenn das Kombinat errichtet ist“, sagte der Sprecher. Nun kam ein Straßenzug, in dem noch alles so war, wie es auf dem Foto aussah: halbfertige Häuser, Transportzüge, Straßenbaumaschinen, Kräne. Die Zuschauer erlebten für einen Augenblick das Wachsen eines Hauses mit.
„Die Zellen sind bezugsfertig“, sagte der Sprecher, „sie werden nur miteinander verbunden, dann können die installierten Wasser-, Strom- und Klimaanlagenleitungen angeschlossen werden. Schränke sind eingebaut. Lediglich Stühle, Tische, Sessel, Liegen und andere individuelle Einrichtungsstücke sind transportabel, denn auch die Tropenbetten werden tagsüber in die Wand geklappt.“ Beim Wegschwenken der Kamera schob sich ein Kran ins Blickfeld, der eine große Palme in eine Pflanzengrube setzte. Die Oase, das Kernstück des Bauplatzes, kam ins Bild. Man sah das kleine Hotel, das Sonnenkraft- und das Wasserwerk und wieder die kleinen weißen Häuser an der Wasserleitung. Doch sah man zwischen den Palmen auch große Gebäude, eines mit Terrasse und breiten Anfahrtswegen. „Sehen Sie das Krankenhaus der jungen Stadt, es ist mit den modernsten medizinischen Anlagen ausgestattet.“ Ein anderes, noch größeres Gebäude mit geräumigem Vorplatz, gepflegten Anlagen und einem noch leeren Schwimmbecken erschien auf dem Bildschirm. „... das Kulturzentrum. Hier finden Sie einen kombinierten Kino- und Theatersaal, eine Bibliothek mit Büchern in allen Sprachen, Tanzsäle, Räume für die verschiedenen Interessengemeinschaften. Das Schwimmbad wird noch überdacht; das Dach wird so eingerichtet, daß es wahlweise durchsichtig ist oder die direkte Sonneneinstrahlung verhindert. Neben diesem Kulturzentrum sehen Sie die erste Gaststätte, die jetzt der Versorgung der Freiwilligen dient und entsprechend großzügig ausgestattet ist. Und jetzt kommt das Dienstleistungszentrum ins Bild, hier finden Sie Läden aller Branchen, Reparaturwerkstätten für die unterschiedlichsten Dinge, die Wäscherei...“ An der Kamera zogen einigen Baugruben vorüber, in denen erst die Fundamente gesetzt wurden. „... für die Stadt von morgen. Wenn die Belegschaft mit ihren Familien einzieht, werden hier Schule und Kindergarten stehen. Nun hinüber zum Bauplatz des Kombinats.“ Jetzt war alles so, wie Vater Hardenstein es kannte, nur größer, weiträumiger, imponierender. Im ersten Augenblick wirkte das Bild chaotisch, wenn man es als Ganzes sah; löste man es in einzelne Sektoren auf, folgte man einer bestimmten Bewegung dieses zuckenden Durcheinanders, dann spürte man Zweckmäßigkeit und Sinn. Fahrzeuge und Maschinen, Kräne und Bagger beherrschten das Bild, Dazwischen, wie verloren, die Menschen - klein und unscheinbar von der Höhe der Kamera aus. Vater Hardenstein starrte selbstvergessen auf den Bildschirm. Er spürte den Atem des Kampfes, der dort unten ausgefochten wurde, des Kampfes mit der Natur, mit der Zeit, mit den Schwierigkeiten. Er fühlte aber auch den faszinierenden Pulsschlag der Technik, dieser Frucht menschlicher Schöpferkraft. Technik, dachte er, das ist Zeugnis menschlichen Geistes und Ausdruck menschlichen Lebenswillens. Technik, das ist gesteigerte Lebensfreude, ist reicheres, schöneres Leben. Technik, das ist vervielfachte menschliche Kraft. Was der Mensch früher während seines ganzen Lebens an Werten schuf, das vollbrachte der moderne Mensch in Tagen. Leichter wurde das menschliche Dasein, sinnvoller und würdiger, wenn die Technik den Menschen von der Last körperlicher, gleichförmiger Arbeit befreite und ihm Zeit und die materielle Grundlage gab, seine schöpferischen Fähigkeiten zu entwickeln. War die Technik nicht echter Ausdruck der Menschwerdung? Vater Hardenstein nippte gedankenverloren am Glas. Nein, spann er seinen Faden fort, nicht überall! Nur dort, wo sie dazu diente, das Leben aller zu bereichern. Nicht, wenn sie nur wenigen nützte, wenn sie im Solde persönlicher Bereicherung stand, und vor allem nicht, wenn sie zur Vernichtung menschlichen Lebens und kultureller Werte mißbraucht wurde, um diese Bereicherung zu sichern, um die Profite zu erhöhen. Bestand nicht zwischen technischer und gesellschaftlicher Entwicklung eine enge Beziehung, eine Wechselwirkung? Bewies nicht gerade die Technik, daß der Kapitalismus nicht mehr lebensfähig, daß der Sozialismus eine gesetzmäßige Entwicklungsstufe war? Zweifellos war der Kapitalismus einmal ein Fortschritt in der menschlichen Entwicklung, aber er trug den Keim seines Untergangs bereits in sich: den privaten Besitz an Produktionsmitteln. Die Technik als Mittel persönlicher Bereicherung: Welcher Widerspruch! Für den Kapitalisten blieb die Maschine ein totes Ding, wenn sie der Arbeiter nicht zu fruchtbarem Leben erweckte. Der die Maschine besaß, sollte den Gewinn einstreichen, der die Werte damit schuf, sollte nur einen Bruchteil dieser Werte bekommen, ausreichend, ein kümmerliches Leben zu fristen, gerade so viel, um sich die Arbeitskraft zu erhalten, die dem Besitzer den Gewinn verschaffte? Die Gegensätze zwischen den Produktionsmittelbesitzern und den Arbeitern verstärkten sich. Je höher sich die Technik entwickelte, je höheren Profit sie für den einen abwarf, desto weniger blieb davon für die anderen, denn der Umfang der Produktion stieg schneller als der Lohn, den die wirklichen Erzeuger dafür bekamen. Das Proletariat war gezwungen, sich zu organisieren, es erstarkte als Interessenund Lebensgemeinschaft, als Klasse. Die Technik entwickelte sich weiter, höher wurden die Produktionszahlen; was früher zwei Maschinen produzierten, schaffte bald eine. Arbeiter wurden arbeitslos. Aber der Arbeiter war auch der Verbraucher. Je größer der Widerspruch zwischen dem, was er an Werten schuf, und dem, was er dafür an Werten erhielt, desto schneller wurde die Nachfrage gedeckt, es kam zur Überproduktion, weil die Verbraucher nicht das kaufen konnten, was sie in den Betrieben
produzierten. Nun schrie der Kapitalist nach neuen Absatzmärkten. Doch die Technik entwickelte sich weiter, die Märkte sättigten sich, die Kapitalisten kamen sich ins Gehege, der Konkurrenzkampf begann... Während Vater Hardenstein die Bilder von der Leinwand gleichsam in sich hineinschlang, sie in sich wie in einem Archiv verwahrte, zu späterem Gebrauch, liefen seine Gedanken ihre eigenen Wege: Die Widersprüche verschärften sich. Der Wolfskampf um die größere Beute begann. Sie zeigten sich die Zähne, begannen zu beißen. Kriege waren ein Mittel dieses Kampfes. Man rief zu den Waffen, an denen man beim Verkauf an den Staat bereits profitiert hatte; man rief - aber nicht etwa die, um deren Profit es ging. Der Ruf war ein Befehl an jene, die man ohnehin um ihren gerechten Anteil betrogen hatte und deren Leben man nun im Spiel um noch höheren Profit als Einsatz benutzte. Es geht ums Vaterland, behaupteten sie und meinten ihre Bankkonten. Nicht, daß man selbst tatenlos zugesehen hätte. Man stellte die Produktion auf Rüstung um, denn dabei verdiente man horrende Summen und hatte, solange Krieg war und sich der Arbeiter zum Töten seiner Klassengenossen mißbrauchen ließ, keine Absatzschwierigkeiten. Gewann man den Krieg, konnte man sich billig am unterlegenen Volk bereichern, die Rechnung bezahlte das Proletariat. Im übrigen hielt man die Spannung, sprich: die Rüstung, hoch. Das Geschäft ging zu gut. Der Arbeiter aber durchschaute das Spiel und besann sich, über die Ländergrenzen hinweg, seiner Klassenzugehörigkeit, des gemeinsamen Ziels. Das war das unaufhaltsame Ende des Kapitalismus, da half auch kein Antikommunismus. Im Gegenteil, sie entlarvten sich immer deutlicher, die Aktionäre und Großunternehmer. Der Faschismus war die letzte Ausgeburt. Aber wo lag der Punkt, an dem die Technik den Kapitalismus ad absurdum führte?... Auf dem Bildschirm zogen Baugruben vorüber, Wüstentransporter brachten Segmente von der transportablen Zementplattenfabrik. „Die Anlage arbeitet vollautomatisch, kein Arbeiter schwingt mehr die Schaufel...“, sagte der Sprecher. Automatik - das war's! Der extreme Widerspruch war die Automatisierung. Wenn im Kapitalismus alle Fabriken vollautomatisch würden, fände kaum noch jemand Arbeit - wer aber sollte dann kaufen, was die Fabriken produzierten? Der Gewinn floß doch nur in die Taschen weniger, damit sägte sich der Kapitalist selbst den Ast ab. Im Sozialismus war das kein Problem. Je mehr Fabriken automatisch produzierten, desto weniger wurden die Menschen mit mechanischer Arbeit belastet, desto mehr verringerte sich ihre Arbeitszeit bei ständig steigendem Lohn, bis der Lohn den materiellen Bedürfnissen entsprach, dann wurde das Geld überflüssig, dann konnte der Mensch nach seinen Bedürfnissen und seiner eigentlichen Bestimmung gemäß würdig leben, das hieß: seine schöpferischen Fähigkeiten entwickeln und zum Nutzen der Gesellschaft anwenden... Die Kamera schwenkte zu einigen Produktionshallen. Jetzt war Vater Hardenstein ganz bei der Sache. Nur noch Tage sollte es dauern, bis die Hallen fertig waren. Noch war das Dach offen, aber schon setzten fliegende Kräne Anlagenteile hinein. Neben den Hallen wuchsen Destillationskolonnen aus dem Sand, Rohrleitungen zogen sich kreuz und quer. Nun der Flugplatz. Auch die Empfangs- und Dienstgebäude reckten sich in die Höhe. Der Flugsicherungsturm war fertig, der Radarkorb drehte sich bereits. „Dieses lange Fundament, verehrte Zuschauer, ist der Sockel einer Startbahn für Raketenflugzeuge, denn auch an den bevorstehenden Raketenflugzeugverkehr für Fernstrecken wurde gedacht.“ Eine weiträumige, tiefe und nach den Seiten verästelte Grube kam in Sicht. Hier schürften die Bagger mit aller Kraft. An manchen Stellen war felsiger Untergrund erreicht worden, dort waren automatische Preßluftbohrer an der Arbeit, bohrten dem Sprengstoff ein Bett. An den Seitenarmen der Grube setzten Kräne Schuppensegmente. „Und hier der Hafen. Wie Sie sehen, fänden mehrere Ortschaften in der Grube Platz. Von den im Bau befindlichen Schuppen werden sich automatische Förderstraßen zu den Produktionshallen hinüberziehen. Viele Produkte werden auf ihnen in die Lagerschuppen und von dort in die Bäuche der Frachtschiffe kommen, denn das Kombinat wird nicht nur Silikone herstellen und weiterverarbeiten, sondern auch die vielen Nebenprodukte, die dabei anfallen. Es werden also auch herkömmliche Fabrikationsanlagen errichtet.“ Jetzt schaltete sich der Reporter ein, der sich am Boden befand und Bild und Ton übernahm. Mutter Hardenstein hielt den Atem an, als Werner ins Bild kam. Braun war er geworden und männlich. „Ich freue mich, verehrte Zuschauer, Ihnen den Leiter des Projekts, Diplomingenieur Hardenstein, vorstellen zu können. Sagen Sie, Herr Hardenstein, wie ist es möglich, bei einer derart gewaltigen Baustelle von der Ausdehnung einer modernen Großstadt, bei diesen vielen verschiedenartigen Bauvorhaben die Zügel in der Hand zu halten, alle Einzelheiten zu überblicken, ständig im Bild zu sein, wie der Stand der Arbeit ist, überall zu sein und nichts zu vergessen, was erforderlich ist?“ Werner lachte. „Das ist möglich durch eine straffe Organisation, die einen planmäßigen Ablauf sichert. Aber mir scheint, Sie machen sich ein falsches Bild. Die Baustelle wird von einem großen Kollektiv geleitet, ein einzelner ist dazu nicht in der Lage. Dieses Leitungskollektiv hat die Aufgaben unter sich
aufgeteilt. Da es sich um ein junges, noch unerfahrenes Kollektiv handelt, verfügt es über einen großen Stab versierter Fachberater, die ihm ihre reichen Erfahrungen zur Verfügung stellen. Sämtliche wichtigen Entscheidungen werden grundsätzlich im Kollektiv beraten, ich habe in diesen Beratungen lediglich den Vorsitz.“ „Und die Entscheidungsgewalt in strittigen Fragen“, fügte der Reporter hinzu. „Die ich aber bisher kaum anwenden mußte. Besonders hervorheben möchte ich, daß ein derart reibungsloser Ablauf, ein solcher Planvorsprung, wie wir ihn bereits haben, nur möglich ist, weil sich jeder Bauarbeiter für die Baustelle verantwortlich fühlt und jeder alles tut, was in seinen Kräften steht, um Fehlerquellen zu beseitigen und Schwierigkeiten zu überwinden. Die Vorschläge, die wir aus der Belegschaft inzwischen erhalten haben, Vorschläge zur Verbesserung der Arbeit, zur Beschleunigung des Bauablaufs, gehen in die Tausende. Ja, wir haben auf Grund solcher Vorschläge bereits neue Bauverfahren eingeführt. Außerdem gibt es eine ganze Reihe von Arbeitsgemeinschaften, die sich mit diesen Problemen befassen, so daß man im weiteren Sinne sagen muß: An der Leitung ist jeder Beschäftigte beteiligt.“ „Wie den Zuschauern bekannt, Herr Hardenstein, wurde dieses gewaltige Projekt von einer Entwicklungsgruppe unter Ihrer Leitung entworfen. Nun erwähnte mein Kollege vorhin, daß auch viele herkömmliche Produktionsanlagen errichtet werden. Wie war es möglich, in dieser kurzen Zeit mit dem verhältnismäßig kleinen Kollektiv das alles zu projektieren?“ „Auch auf diese Arbeitsgruppe trifft im vollen Umfang zu, was ich zur kollektiven Leitung unserer Baustelle sagte. Projektiert haben wir lediglich die Hartsilikonanlagen, entsprechend dem Produktionsfluß die Standorte der einzelnen Betriebe und deren Verbindungen sowie die Stadt in ihrem Grundriß. Für die Betriebe, die Transportanlagen, die Häuser, den Flugplatz und so weiter standen uns Typenpläne zur Verfügung, die vom Wirtschaftsrat ständig auf dem neuesten Stand gehalten werden. Die Projektierung des Kanals, der Pipeline, der Wasserleitung und der Hochspannungsfreileitung wurde von den Regierungen der betreffenden afrikanischen Länder übernommen.“ „Wie viele Arbeiter sind zur Zeit am Projekt Sahara beschäftigt?“ „Gewiß meinen Sie Freiwillige, denn es sind auch sehr viele Ingenieure, Ärzte und andere Gruppen darunter, von der unvermeidlichen großen Verwaltung ganz abgesehen. Insgesamt wirken zur Zeit auf diesem Bauplatz, einschließlich der Leitungstrassen mit ihren Zwischenpumpstationen, des Kanalbaus sowie des Versorgungs- und Transportwesens, annähernd fünfzigtausend Freiwillige. Nimmt man die Zentralen auf den Kontinenten dazu, dann kommen über einhunderttausend zusammen, die direkt für diese Baustelle eingesetzt sind.“ „Wir sahen vorhin von der fliegenden Kamera aus das Gasthaus und das kleine Hotel. Wie können Sie damit die vielen Menschen hier auf der Baustelle versorgen?“ „Diese beiden Küchen würden es natürlich nicht schaffen, deshalb haben wir fahrbare Großraumküchenzüge eingesetzt, übrigens auch andere Versorgungszüge.“ „Wenn man die vielen Maschinen sieht, erscheint die Zahl der Freiwilligen sehr hoch, Herr Hardenstein, vor allem sieht man auch verhältnismäßig wenige davon. „Wir arbeiten in vier Schichten, also befindet sich nur ein Viertel auf dem Bauplatz.“ „Und was machen die anderen inzwischen?“ „Es gibt viele Möglichkeiten. Schlafen, Freizeitgestaltung – zu diesem Zweck ist in jedem Haus ein Klubraum eingerichtet worden - , Lehrgänge, Theater und dergleichen mehr. Außerdem besteht ein regelmäßiger Schnellflugverkehr zu den nächsten Großstädten.“ „Die Baustelle hat eine eigene Luftflotte?“ „Natürlich. Nur ist sie noch auf den umliegenden Flugplätzen stationiert, bis wir unsere eigenen Hangars errichtet haben.“
20 „Hast du das gehört?“ fragte Roger White ungläubig. „Fünfzigtausend Mann auf einer Baustelle, hunderttausend Freiwillige an einem Projekt?“ „Brüll nicht so!“ fuhr ihn Jack Johnson an. „Schließlich stellt uns die Company keinen Fernseher ins Zimmer, damit wir den roten Kanal sehen.“ „Der Hausmeister verpetzt uns nicht, ist ein Bekannter von mir. Was will man denn, unerwünscht ist nicht verboten.“ „Aber oft ein Grund zum Kreuz auf der Personalkarte.“ „Stell dir das vor, fünfzigtausend Mann - glaubst du das?“ „Du hast die Baustelle doch selbst gesehen. Aber nun sprich endlich leiser, zum Teufel, es ist nicht nötig, daß der Schichtführer erfährt, weshalb wir die Schicht gewechselt haben; er ist ein reaktionäres Luder und vermasselt's uns sonst das nächstemal.“ „Na gut“, sagte Roger gedämpft. „Aber überleg dir mal, was dort los ist, da komme ich mir hier ganz mickrig vor. Und die haben uns zum Wettbewerb aufgefordert.“ „Bei dieser Bettelei, was?“ fragte Jack ironisch. „Aber wir haben sie dazu herausgefordert. Und was hat die ‚Times' dann geschrieben? Uns verbietet die Fairness, einen unterlegenen Gegner... Die stecken uns mit Schirm und Perücke ein, mein Lieber. Da gehen wir baden bis an den Hals. Die Company wußte, warum sie ablehnt. Weißt du, was sie jetzt schreiben? Sie sprechen von einem epochalen Fiasko. Dabei hatten sie doch abgelehnt. Aber um den Wettbewerb kommen sie nicht herum, ob sie ihn annehmen oder nicht, er findet statt und geht ihnen an die Nieren. Sie wissen, daß es die Entwicklung beschleunigt, wenn sie hier verlieren, die Entwicklung zum Umsturz. Bin gespannt, wie sie sich abstrampeln werden, um das wieder aufzuholen. Aber das ist aussichtslos. Epochales Fiasko - als wüßten sie das erst seit heute!“ „Denkst du, die ahnten das schon länger?“ „Die wußten es von Anfang an, aber sie haben sich gegen dieses Wissen gesträubt. Was meinst du denn, warum bei uns das Arbeitstempo immer mehr anzieht?“ „Na, die drüben haben auch ein ganz schönes Tempo drauf.“ „Haben sie, aber hast du gesehen, wo sie überall Maschinen einsetzen? Außerdem ist da doch wohl ein Unterschied.“ „Tempo ist Tempo...“ „Denkst du! Wem nützt es, mir oder dem Bankkonto der Kuponschneider, he? Mensch, Roger, in meinem Garten arbeite ich schneller als auf dem Feld des Farmers, oder?“ „Wie du redest... Das ist ja eine tolle Sache dort drüben, aber ich bin Amerikaner, da liegt mir unsere Baustelle mehr am Herzen, das ist doch eine nationale Angelegenheit.“ Jack lachte böse. „Das hast du wohl aus deinen unabhängigen Blättern, was? Genau das wollen sie! Mehr schuften sollst du, damit sie mehr verdienen, das ist ihr Nationalstolz. Hör mir auf mit Nation und Vaterlandstreue. Wenn die das sagen, haben sie eine Gemeinheit vor. Mit diesen Parolen haben die Kapitalisten früher die Proleten der verschiedenen Länder aufeinandergehetzt und in den Tod getrieben! Hör mir auf, das kotzt mich an! Unsere nationalen Interessen haben wir in Korea, in Laos, in Vietnam verteidigt; überall, wo mit unseren Waffen Blut vergossen wurde, in Asien, Afrika, Südamerika, waren es unsere nationalen Interessen! Die Völker haben uns das noch nicht vergessen.“ „Jetzt versteh ich gar nichts mehr. Bist du Amerikaner oder nicht?“ „Bin ich, aber auch Arbeiter. Und die mußten immer auslöffeln, was ihnen die Geldsäcke einbrockten!“ „Was streiten wir uns. Kriege gibt es nicht mehr, das ist vorbei.“ „Das ist kein amerikanisches Verdienst, so kommst du mir nicht weg! Man muß sich damit auseinandersetzen. Man muß die Vergangenheit kennen, wenn man die Gegenwart begreifen und die Zukunft erkennen will. Besonders die modernen Kriege sind ein gutes Mittel, Licht und Schärfe in die Unklarheiten zu bringen.“ „Nun fang noch bei Adam und Eva an. Die Sahara, das interessiert mich viel mehr.“ „Mensch, Roger, das ist doch nicht als einzelner Fakt zu begreifen. Das muß man im Zusammenhang sehen, man muß die Gesetzmäßigkeiten herausfinden, warum das möglich ist. Früher sagte man, der Krieg ist der Vater einer beschleunigten technischen Entwicklung, er mobilisiert die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen, wie es der Frieden nie vermag. Neue Flugzeugtypen waren zuerst Kriegsmaschinen, denn deren Entwicklung bezahlte der Staat, und das mit unseren Steuergroschen. Im Frieden hätte der Aktionär bezahlen müssen. Es ist doch nicht zufällig, daß unsere hochentwickelte Technik nach dem letzten Kriege ausgerechnet von der Sowjetunion überholt wurde - im Frieden! Ich
entsinne mich, plötzlich traten sie mit modernen Düsenpassagiermaschinen auf, von denen wir noch träumten, plötzlich starteten sie interkontinentale Raketen, von denen wir noch nicht einmal zu träumen wagten, plötzlich piepsten ihre Sputniks und Luniks im All, umkreisten ihre Kosmonauten die Erde... Und wir haben gestrampelt, haben unsere Raketen beim Start um die Ohren gekriegt, haben über Hopser gejubelt und unsere Kosmonauten nach Stunden aus dem Atlantik gefischt. Für den Kapitalismus war der Krieg weiß Gott beschleunigte Entwicklung der Technik, weil sie auf unsere Kosten ging und der Kuponschneider daran verdiente, aber in den sozialistischen Staaten - wer sollte da am Krieg verdienen? Er hält doch nur ihre ökonomische und soziale Entwicklung auf. Was meinst du, wie ungern die damals Waffen hergestellt haben, das mußten sie doch zu Lasten ihres Lebensstandards finanzieren. Was meinst du, wie gern sie die dann verschrottet haben.“ „Und was hat das mit der Sahara zu tun?“ „Du bist hartnäckig wie der Gerichtsvollzieher. Hast du nicht gehört, daß ihr Projekt eine Flut von Verbesserungen auslöste, daß sogar in anderen Betrieben die Automatisierung schneller beendet und vervollkommnet wird? Wo das bessere Leben für alle der Antrieb ist, dort ist der Frieden Vater der Entwicklung. Vergleiche einmal die Baustellen, Menschenskind, da müßte selbst dir Schafskopf klarwerden, daß deren Gegenwart unsere Zukunft ist, weil die Kuponschneider keine Zukunft haben.“ Werner war seit dem Morgen auf der Baustelle gewesen, hatte die augenblicklichen Schwerpunkte der Arbeit besucht, sich vom Stand der Bauarbeiten in der Stadt überzeugt, mit den Abschnittsbauleitern an Ort und Stelle die nächsten Arbeiten besprochen. Nun fuhr er, schweißnaß und verstaubt, am Krankenhaus vor. Der Chefarzt sah ihn und kam ihm auf der Treppe entgegen. „Guten Tag, Genösse Hardenstein“, grüßte er und schüttelte ihm die Hand. „Sie sehen nicht gerade blendend aus, mein Lieber. Müssen Sie in der Hitze draußen herumfahren?“ „Fragen Sie das auch die Bauarbeiter, Doktor? Die müssen!“ „Lenken Sie nicht ab. Wenn Sie sich an die reguläre Arbeitszeit hielten, hätte ich nichts gesagt. Aber Sie sind ohnehin abgespannt. Ich habe ja Verständnis dafür, daß Sie von früh bis spät zu tun haben, aber dann kann ich auch erwarten, daß Sie sich an meine Anweisungen halten. Wenn Sie so weitermachen, werde ich Sie bald nach Europa schicken, sagen wir für vier Wochen, zur Erholung. Sie wissen, daß es dagegen keinen Einspruch gibt.“ „Ich wußte doch, daß Sie ein Scheusal sind“, sagte Werner lachend. „Ein Diktator! Aber Ihr geschultes Auge trügt, mein Bester, es ist nur der Sand, der mich so grau erscheinen läßt. Ich werde duschen, danach erfreue ich mich bester Gesundheit.“ „Na gut, spülen Sie Ihre sandige Abgespanntheit weg, Sie Wüstenblitz.“ Sie traten ins Haus, und Werner suchte sofort das Brausebad auf. Erfrischt kam er zurück. Der Chefarzt, Dr. Hussein Mohamadi aus Algerien, musterte ihn, als Werner sich den weißen Mantel überzog. Dann sagte er nachdrücklich: „Diesmal war es kein Scherz, Genosse Hardenstein. Bitte denken Sie an Ihre Leistungsgrenze, es würde mir leid tun, Sie nach Europa schicken zu müssen. Aber so machen Sie das nicht mehr lange. Außerdem sollten Sie Ihren Mitarbeitern Vorbild sein. Ihre Unvernunft macht Schule, jedenfalls sieht man es einigen Mitgliedern der Bauleitung bereits deutlich an.“ Werner war nun doch nachdenklich geworden. „Gut, Doktor, ich werde mit dem Kollektiv beraten. Sicher läßt sich unsere Arbeit noch besser organisieren. Wollen Sie teilnehmen? Na, ist das nun Einsicht? Aber nun haben Sie auch Nachsicht und lassen Sie uns zu Ihren Patienten gehen. Wieviel sind es denn?“ „Etwa vierhundertfünfzig, die können Sie nicht alle besuchen. Es sind meist leichte Sachen, die wenigen schweren Fälle werden ja sofort abgeflogen. Wir behandeln hier nur leichte Unfälle, Magenverstimmungen und ähnliches, Krankheitsdauer höchstens zehn Tage, alles andere kommt in die Heimat zurück. Aber deshalb habe ich Sie nicht hergebeten. Wir haben zwar meistens Mühe, die schweren Fälle zu überzeugen, daß sie nicht hierbleiben können, aber diesmal haben wir drei hartnäckige Verschworene. Ein Armbruch, ein Magengeschwür und eine Augenentzündung. Die hiesigen Bedingungen sind wahrhaftig nicht geeignet, das auszukurieren. Die Genossin Torres hat sich schon eingeschaltet, aber vergebens. Ich kann die drei doch nicht mit Gewalt verschicken.“ „Manuela hat mir davon berichtet. Na, gehen wir zu den Dickköpfen.“ Auf den Gängen begegneten sie gehfähigen Leichtkranken, die Werner mit vertraulicher Herzlichkeit grüßten und Fragen stellten nach dem Stand der Arbeit, als könnte über Nacht, seit dem letzten Besuch ihrer Kollegen, draußen Umwälzendes geschehen sein. „Ist das Dach schon auf Objekt zehn?“ „Sind die Elektroofen angeschlossen?“ „Wie weit sind wir mit der Ölraffinerie?“ Werner antwortete unermüdlich: Das Dach werde heute gesetzt. die Elektroofen könnten noch nicht angeschlossen werden, weil die Hochspannungstrasse noch nicht vollendet und so noch keine Energie vorhanden sei, die Ölraffinerie habe vierzehn Tage Planvorsprung.
Dann standen sie bei den Kranken, die zusammen in einem Zimmer lagen, weil sie ja für den Abtransport in ihre Heimatländer vorgesehen waren. „Neue Attacke, Herr Chefarzt?“ fragte der mit dem Armbruch, ein stämmiger Schwede. „Und mit schwerwiegender Verstärkung“, sagte der Ungar mit dem Magengeschwür. „Mika, der Chefarzt und der Oberbauleiter persönlich“, setzte er für den augenkranken Finnen hinzu, der mit verbundenen Augen im Nebenbett lag. Werner begrüßte sie, bemerkte die hoffnungsvollen Blicke und fragte sich, ob er für diese Mission der Richtige sei, da er sich doch ebenfalls mit Händen und Füßen wehren würde. „Also was ist, ihr Hübschen, warum wollt ihr nicht nach Hause, habt ihr Krach mit euren Angehörigen?“ „Das fragen Sie, Genösse Hardenstein?“ erwiderte der Ungar. „Gingen Sie von hier weg? Man hängt doch an der Arbeit, war von Anfang an dabei. Man hat es wachsen sehen, Stück für Stück, hat sich gesorgt und gefreut, war ein Teil dieser großen Familie, hat dem Tag entgegengefiebert, an dem dieses Werk die ersten Produkte ausstößt - und das alles soll vorbei sein, man soll plötzlich außerhalb stehen, die andern verlassen? Daheim am Tisch sitzen und lesen, wie hier gerungen wird um jeden Tag? Daheim bemitleidet werden: Der hatte auch das Glück dabeizusein - der arme Kerl, hat der ein Pech! Wenn wir schon nicht zugreifen können, aber am Rande zusehen wollen wir doch, fühlen, daß wir noch zur Gemeinschaft gehören.“ Der Chefarzt sah Werner bedeutungsvoll an: Leicht würde es nicht werden für ihn. Werner war nach diesem temperamentvollen Ausbruch etwas hilflos. Was waren das für prächtige Kerle aber er mußte sie enttäuschen. Er überlegte angestrengt. Dann kam ihm ein Gedanke. „Was sind Sie von Beruf?“ Der Ungar war Schweißer und Kleber. Der überwiegende Teil der Verbindungen verschiedener Einzelteile wurde ja verklebt. Der Finne war Chemiker. „Als was haben Sie hier gearbeitet?“ fragte Werner. „Als Kraftfahrer.“ „Und warum?“ „Ich wollte sehen, wie ein derartiges Projekt gebaut wird, wollte dabeisein. Ich hatte Verlangen, wieder mal körperlich zu arbeiten.“ „Das ist alles?“ „Verstehen Sie doch. Ich bin Chemiker. Wie hätte ich bei diesem Bau fehlen dürfen?“ „Und Sie?“ wandte sich Werner an den Schweden. „Ich bin Lehrer. Habe als Bauhelfer gearbeitet.“ „Ja, was machen Sie als Lehrer hier?“ „Weshalb kommen die anderen? Außerdem: Ich will das, was ich meinen Schülern erzähle, aus eigenem Erleben schöpfen. Wie kann der Unterricht praxisverbunden sein, wenn man nicht inmitten der Praxis war? Wie kann man die Kinder für den Kommunismus zur Einsatzbereitschaft erziehen, wenn man es ihnen nicht vorlebt?“ Werner blickte von einem zum anderen, dann zum Chefarzt. „Muß man mit einem Armbruch unbedingt im Krankenhaus sein?“ „Nein, aber hier sind noch keine normalen Lebensverhältnisse. In den Wohnhäusern, die für die Freiwilligen als Unterkunft dienen, ist durch die Schichtarbeit ständiges Kommen und Gehen. Außerdem, vier Mann wohnen in einem Zimmer, da kann man nicht die nötige Rücksicht nehmen. Deshalb ist Genösse Svendström bei uns. Aber soll er hier herumsitzen, täglich an seine erzwungene Untätigkeit erinnert werden?“ „Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Doktor! Genösse Svendström ist doch eigentlich studienhalber hier, da muß er nicht unbedingt selbst zupacken. Studieren kann man auch, wenn ein Arm in Kunststoffschalen verpackt ist. Der Bau wird eines Tages fertig, und wenn Genösse Svendström jetzt nach Hause fährt, verpaßt er wirklich etwas. Deshalb würde ich sagen, er bleibt hier im Krankenhaus, bekommt von Ihnen Ausgang und erhält von mir die Gelegenheit, sooft er möchte, die andere Seite des Baus kennenzulernen: die Organisation. Ich würde ihm einen festen Platz in der Bauleitung einrichten, von dort aus kann er ausziehen und sich in den einzelnen Abteilungen informieren. Ich würde ihn auch gelegentlich im Wagen mit zur Baustelle nehmen. So lernt er die Zusammenhänge kennen. Allerdings unter einer Bedingung: Er verpflichtet sich, den ärztlichen Anweisungen unbedingt Folge zu leisten, nicht zu arbeiten und vor allem nicht allein die Baustelle zu betreten. Augenblicklich ist die Unfallgefahr für ihn dort zu groß. Was meinen Sie?“ Der Chefarzt blickte ihn vorwurfsvoll an. Und du solltest mir helfen! hieß das. Aber dann stimmte er zu. „Und was wird aus uns?“ fragten die beiden Bettlägerigen. „Sie beide“, sagte Werner, „werden jetzt einmal ganz vernünftig sein. Ich gebe zu, daß ich nicht gern von hier fortginge, und ich glaube, ich habe Ihnen gerade bewiesen, daß ich Ihre Lage verstehen kann. Andererseits sind für Sie die Heilungsaussichten hier sehr schlecht, es wäre unverantwortlich, das zu leugnen, und unverantwortlich. Sie länger hierzubehalten. Fliegen Sie nach Hause, kurieren Sie sich gründlich aus. Wenn Sie gesund sind, kommen Sie zurück. Aber erst, wenn es die Ärzte erlauben!“
„Bis dahin sind Sie hier fertig“, sagte der Ungar. „Wäre das so schlimm? Wenn Sie wollen, können Sie auch dann kommen. Ich würde mich freuen, Sie beide in die Belegschaft des Kombinats aufzunehmen.“ „Die beiden Widerspenstigen fahren, der dritte bleibt hier und treibt Studien“, sagte Werner zu Manuela, als sie sich im Klubhaus zum Abendbrot trafen. „Du hast einen unwiderstehlichen Charme“, stellte sie fest. „Da siehst du's wieder!“ Werner ging lächelnd darüber hinweg. „Und Dr. Mohamadi hat mir die Leviten gelesen.“ „Weshalb?“ „Ich sei abgearbeitet...“ „Er hat recht“, sagte sie schnell. „So schlimm ist es nicht, aber ich versprach ihm, daß wir unsere Arbeit besser organisieren.“ „Wie denn, du Schlauberger?“ „Das werden wir überlegen, wir haben ja dich, du kluges Köpfchen.“ „Du wirst dich wundern: Das werden wir! Vielleicht haben wir dann auch Zeit für unser Privatleben? Sieh mich nicht so verwundert an. Wann haben wir mal Zeit füreinander gehabt?“ „Wir sind doch täglich beisammen.“ „Bei der Arbeit, ja. Bin ich nur Bauleitungsmitglied oder auch Frau? Du scheinst dir überhaupt keine Gedanken darüber zu machen.“ „Ich habe den Kopf so voll“, wich er aus. „Daß es fürs Herz nicht mehr reicht“, sagte sie. „Was soll das später einmal werden? Falls wir mal zusammenbleiben...“, setzte sie schnell hinzu. Werner erschrak. Da war es, was er immer vermieden hatte, was er dennoch ständig erwartete. Zusammenbleiben! Sie dachte also doch an eine gemeinsame Zukunft. Ja, war denn das nicht vorauszusehen? „Gehen wir ein Stück spazieren?“ fragte er befangen. Als sie unter den Palmen dahinschritten, suchte Werner nach einem Anfang für das, was er sagen wollte. Aber was wollte er denn sagen? „Du sprachst vorhin vom Zusammenbleiben, Manuela. Das zwingt mich, über Dinge zu sprechen, die mir selbst noch nicht klar sind. Laß uns offen sprechen. Du bist mir sehr viel, ich habe dich wirklich gern, aber genügt das für dich? Ich habe nie mit dir darüber gesprochen, es mag auch unsinnig sein, aber... ich habe ein Mädel geliebt, vor Jahren, und mit der Sache quäle ich mich heute noch herum. Wenn wir zusammen sind, ist es gut, aber bin ich allein, kommen die Erinnerungen. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Versteh mich bitte nicht falsch, du bist mir kein Ersatz, kein Lückenbüßer, aber ich...“ Er verstummte hilflos und war sehr ärgerlich auf sich. Dann verblüffte ihn Manuela. Er kannte ihr Temperament, wußte auch, wie aggressiv sie sein konnte. Nach allem mußte sie jetzt aufbrausen und ihm heftige Vorwürfe machen. „Erzähle mir von dem Mädchen“, sagte sie beherrscht. „Muß ein toller Käfer sein“, fuhr sie mit gemachter Burschikosität fort. „In Jahren unvergessen!“ Er schwieg unentschlossen. „Na erzähl schon. Hast du erwartet, ich falle in Ohnmacht oder spiele die enttäuschte Geliebte und stoße dir den Dolch in die Brust? Glaubst du, ich hätte unabsichtlich heute abend davon angefangen? Je näher ich dich kennenlernte, je mehr sich der Rausch der ersten Wochen verlor, desto sicherer kam der Tag, an dem ich spürte, daß etwas nicht stimmt. Erst habe ich's nicht wahrhaben wollen, aber dann, hier auf dem Bauplatz, ließ sich's nicht mehr übersehen.“ „Aber wieso denn?“ „Wenn du gewußt hättest, was du willst, hättest du die Gelegenheit ergriffen, klare Verhältnisse zu schaffen und das Nebeneinanderleben zu beenden, es wäre längst ein Miteinander.“ „Du hast doch nie etwas merken lassen.“ „Das macht man besser erst mit sich selbst ab. Wenn man sich schon innerlich darauf eingerichtet und fast damit abgefunden hat, ist die Gewißheit nicht so schmerzlich. Aber nun mach keine langen Sprüche, erzähl mir von ihr!“ Werner erzählte, sprach sich endlich einmal gründlich aus und beschönigte nichts. „Du siehst, ich war unmöglich.“ „Was macht sie jetzt, ist sie verheiratet?“ „Ich weiß es nicht!“ „Ist denn so was möglich, du hast dich nie wieder um sie gekümmert?“ „Es ist doch aussichtslos. Meinst du, man wartet jahrelang auf mich?“ „Ich könnte es unter diesen Umständen nicht“, gab sie freimütig zu. „Aber wie du sie schilderst? Nicht, daß sie auf dich wartet, aber ich traue ihr zu, daß sie auch so schwer vergißt. Werner, du mußt dich nach ihr erkundigen!“
„Du sprichst, als wäre es zu Ende zwischen uns.“ „Ich weiß es noch nicht, Werner. Jetzt, da ich Gewißheit habe, ist doch manches anders, als ich es mir vorstellte. Wir müssen uns erst einmal darüber klarwerden... Und du mußt dich vor allem erkundigen, ihr gegenübertreten und sehen, wie du heute zu ihr stehst.“ „Das ist doch Unsinn! Sie ist bestimmt verheiratet! Dem Kolja, von dem ich dir erzählte, hat sie doch auch nicht nachgetrauert.“ „Er hat sie bloßgestellt, hat damit bewiesen, daß ihm das alles nicht so viel galt, wie sie erwarten mußte. Aber du. Werner, hast die Dummheiten doch gemacht, weil du sie liebtest. Da sieht es anders aus. Ich möchte nicht in dauernder Ungewißheit leben, Werner. Ich will ehrlich sein. Hätte ich mich von Anbeginn auf Freundschaft, auf eine schöne Episode oder was weiß ich eingestellt, wäre es nicht so schwer, aber ich hatte mich in den Gedanken hineingelebt, daß wir für immer zusammenbleiben, ich hatte es zumindest gehofft. Und nun - warten? Ich weiß das alles noch nicht.“ „Aber du hast doch selbst gezweifelt, hast geahnt, was ist, und doch dich hineingelebt?“ fragte Werner, dem dieser Gedanke schmerzlich war, weil er ja selbst diese Ungewißheit verursacht hatte. „Ahnen kann man viel, mein Lieber, vielleicht macht auch die Befürchtung alles deutlicher, sie läßt das Gefühl schneller reifen, weil man seinen Wert erkennt. Ach, ich weiß das nicht, ich bin doch kein Psychologe.“ Werner war voller Widerspruch. Jetzt hatten die gemeinsamen Erlebnisse doppeltes Gewicht, jetzt war es ihm unvorstellbar, daß er Manuela nicht mehr umfangen sollte, er fürchtete, sie zu verlieren. Indessen hoffte er auch, daß er Natascha zurückgewinnen könne. Er mußte mit ihr sprechen! Und Manuela? Dennoch, er war es beiden schuldig. Ein scheußliches Gefühl... Manuela hatte recht, sie mußten Klarheit gewinnen.
21 Fouler junior wurde von Tag zu Tag sorgenvoller. Es war gekommen, wie er es vorausgesehen hatte. Die Roten hatten die Artikel über die Baustelle in Nevada und die Überlegenheit freier Unternehmerinitiative übelgenommen, als Herausforderung betrachtet und zum Wettbewerb aufgerufen. Den Reklamechef, diesen Hohlkopf, mußte er entlassen. Verdammt, bei ihm wurde real gedacht, man sägte sich ja sonst den Ast selbst ab, auf dem man saß. Wettbewerb um das erste Hartsilikon. Konnte man das überhaupt noch schaffen? Konnte man diesen Wettbewerb, den man nicht angenommen hatte und dennoch mitmachen mußte, überhaupt noch gewinnen? Aber das war die einzige Chance, etwas Boden zurückzugewinnen. Er hatte mit dem Innenminister gesprochen. Was der ihm an Berichten vom Geheimdienst und vom Meinungsforschungsinstitut vorgelegt hatte, war alles andere als beruhigend. Die Presse hatte die Roten lächerlich gemacht, den starken Mann markiert, die beiden Baustellen als konkretes Beispiel angeführt und die Leute erst richtig aufmerksam gemacht. Jetzt fragten die sich, wie es zu einem solchen Fiasko kommen konnte, von dem die Presse nun sprach. Viele hatten die Übertragung des roten Kanals gesehen und verfolgten mit Aufmerksamkeit die weiteren Berichte. Was sollte man noch machen? Der Innenminister hatte ihm seinerzeit schon erklärt, daß es nicht möglich sei, die Baustelle zur nationalen Sache zu machen und etwa mit öffentlichen Mitteln einzuspringen. Auf inoffiziellem Wege erfuhr er dann, daß andere Finanzgruppen gegen diese Unterstützung interveniert hatten. Eine Einigung mit ihnen war nicht zustande gekommen. Auch hier hatte ihm der Staub, den die Presse aufwirbelte, geschadet. In den Kreisen der Hochfinanz hatte man seine Baustelle besonders unter die Lupe genommen und teilweise seine Absichten durchschaut. Der Kampf der einzelnen Gruppen hatte sich entschieden verschärft, seit es keine gemeinsamen ausländischen Interessen mehr gab, keinen gemeinsamen Kampf. Sie waren fast alle so borniert wie der Alte, hatten noch nicht erkannt, was auf dem Spiel stand, würden es vielleicht erst erkennen, wenn es ihnen direkt an den Kragen ging. Die Bedingungen, unter denen sie sich bereit finden wollten, ihn zu unterstützen, waren so, daß sie einer Niederlage für ihn gleichgekommen wären. Sollte er auf seine Kosten das amerikanische Prestige retten und die anderen auch noch daran verdienen lassen? Fiasko! schrien die Zeitungen, nicht einmal das hatte er unterbinden können. Fiasko - wenn sie wüßten, wie recht sie hatten. Und wenn man von einem nationalen Fiasko sprach? Wenn man die Begeisterungsfähigkeit der Amerikaner weckte? Der Staat hatte doch zweiundvierzig Prozent der Aktien, aber welchen Weg konnte man da gehen? Die Roten hatten einen Aufruf veröffentlicht und ihr Projekt durch Freiwillige unterstützen lassen. Ob man das ähnlich machen konnte? Fouler junior beugte sich zur Rufanlage und drückte ungeduldig auf die Betriebstaste. „Mary, ich brauche Zeitungen von drüben, in denen der Aufruf zur Baustelle Sahara steht. Die Nummern der folgenden zwei Monate gleich mit. Am besten eine englische Ausgabe. Aber schnell, bitte!“ Als der Archivar der Presseabteilung die Zeitungen brachte, war Fouler noch nicht weitergekommen. Gespannt las er den Aufruf und die einzelnen Berichte. Zwar mißfiel ihm in manchem die Terminologie, trotzdem fesselte ihn der Inhalt: Arbeiter stellen zusätzlich und kostenlos Maschinen her - Unsinn, das eignete sich für Amerika nicht. Selbst wenn man die Arbeiter dazu brächte, wären die Firmen nicht einverstanden. Er würde in seinen Fabriken auch nicht kostenlos für einen anderen Unternehmer Maschinen herstellen lassen. Abnutzung, Material, Energie, Verwaltungskosten, wer sollte das bezahlen? Und welcher Arbeiter würde mehr arbeiten, als er mußte? Die Brüder zeigten doch nicht, was sie wirklich schafften... Arbeiter stellen einen Schichtlohn zur Verfügung - unmöglich, hier arbeitete keiner umsonst... Baubetriebe stellen durch Verbesserung der Arbeitsorganisation Baumaschinen und Baukräne frei lachhaft, das machten sie ohnehin, aber niemals, um sie einem anderen Bau kostenlos zu übergeben, sondern um damit mehr zu verdienen... Rentner gehen wieder arbeiten, damit andere Arbeiter sich freiwillig melden können - Rentner! Von denen, die eine Rentenversicherung eingegangen waren, machte das keiner. Die wollten ihren lebenslangen Beitrag auch genießen, und die anderen, die keine Rente bekamen, arbeiteten, wenn es für sie Arbeit gab. Das amerikanische UNO-Truppenkontingent einsetzen? Das würden die anderen Konzerne hintertreiben - Futterneid... Aber es war auch nicht nötig, man hatte ja genügend Arbeitslose... Man mußte nur das Problem der Finanzierung lösen, doch war es unsinnig, daß er sich den Kopf zerbrach. Was ging es ihn eigentlich an? Das war Sache der Hochbau-Gesellschaft, die bekam doch den Bau bezahlt. Wenn er sie unter Druck setzte, würde sie das Tempo sicher noch beschleunigen. Mit einem Aufruf wie bei den Roten war also nichts zu machen. Er mußte mit der Baufirma verhandeln, daß sie mehr Leute auf die Baustelle warf. Wichtiger waren die Anlagen. Nachdem er die Majorität bei Chemical Equipment besaß - die kleinen Aktionäre hatten auf sein Manöver hin prompt ihre Aktien verschleudert - ,
hatte sie also auch die Ausrüstung des neuen Kombinats übernommen. Hier konnte er direkt eingreifen. Er würde sich den Direktor vorknöpfen. Das Arbeitstempo mußte verschärft werden. Wenn die drüben das freiwillig und ohne Lohnforderungen machten, mußte es doch mit etwas Nachhilfe auch hier möglich sein. Sollten sich die Herren in der Direktion mal Gedanken machen, wie das zu erreichen war. Er lachte verschmitzt - das würde die Dividende heben. Also den Direktor von Chemical Equipment vorknöpfen und die Hochbau-Gesellschaft über die American Oil unter Druck setzen... Fouler rief den Direktor an. Viel sagte er nicht. Er stellte nur fest, daß er mit der Rentabilität nicht zufrieden sei, daß dringend rationalisiert werden müsse, und dann empfahl er die Ausrüstungsanlagen der besonderen Aufmerksamkeit des Direktors. „Ich bin überzeugt, daß die nächste Aufsichtsratssitzung Ihnen Ihre Fähigkeiten bescheinigt und daß Ihre Stellung sich festigen wird“, sagte er nachdrücklich. „Sie sind noch jung, sind noch nicht lange auf diesem Posten, aber ich habe Vertrauen zu Ihnen, sonst hätten Sie diese Stellung ja auch nicht bekommen...“ Wenn das der Hauptaktionär sagte, verstand der Direktor garantiert die Bedeutung der Worte, er hörte auch die Warnung heraus. Staub lag über der Baustelle in der Sahara. Dagegen halfen auch die Sprengwagen nicht, die auf den Straßen und Pisten ständig ihre Runden zogen, nicht die Sprühanlagen an den Baggern. Das Hafenbecken war fertig, aber noch leer. Von ihm zog sich das Kanalbett in die Wüste hinaus, fraßen sich Bagger dem fertigen Kanalbett entgegen, das sich vom Nil herüberzog. Die Hochspannungsleitung war bereits im Umspannwerk des Atomkraftwerks angeschlossen, dort mußte im gegebenen Augenblick nur noch der Schalter gedreht werden. Die Pipeline war fertig und pumpte bereits Öl in die Großtanks der Ölraffinerie. In den Hallen der ersten Baustufe wurden die letzten Aggregate eingebaut. Es war Hochstimmung auf der Baustelle. Man zählte nicht mehr die Wochen, man zählte die Tage. Alle horchten auf, wenn Meldungen über den Fortgang der Arbeiten auf dem amerikanischen Bauplatz kamen. In Nevada schienen sie sich Hoffnungen zu machen, daß man das Rennen doch noch gewinnen könne. Die Berichte der amerikanischen Presse waren sehr optimistisch. Zwar gab es auch andere Meldungen, namentlich der linksorientierten Blätter, die von Mißstimmung unter den Bauarbeitern und einer sehr gespannten Atmosphäre in dem Betrieb berichteten, der die Ausrüstungen lieferte, Meldungen von erhöhter Ausbeutung, unerträglichen Arbeitsbedingungen und von neuen Lohnforderungen. Aber das alles bedeutete nicht, daß Amerika den Wettbewerb verlieren mußte, denn die Schwierigkeiten und der Bauumfang waren längst nicht so groß wie in der Sahara. „Jedenfalls können wir noch in keiner Weise garantieren, daß wir das erste Hartsilikon herstellen“, sagte Werner zu Kirik. „Es ist mir unbegreiflich, daß sie uns nicht schon längst überholt haben, daß wir sie überhaupt einholen konnten und diesen Gleichstand halten können. Ich hätte dem amerikanischen Organisationstalent mehr zugetraut und den Fachleuten auch. Dabei sind wir Anfänger, und trotz aller fachlichen Beratung haben wir bestimmt nicht immer den kürzesten Weg eingeschlagen.“ „Du vergißt die Widersprüche in der kapitalistischen Gesellschaft, vor allem den Unterschied der Arbeiter dort und hier. Es ist sehr wichtig, ob man des Lohnes wegen zu arbeiten gezwungen ist oder freiwillig um der Sache willen schafft. Wäre ich in Nevada, würden mich doch Bautermine überhaupt nicht interessieren, interessant wäre nur das Geld, das ich bekäme. Wenn sie unser Tempo halten, Werner, dann müssen sie einen mächtigen Druck auf die Arbeiter ausüben. Hinzu kommt, daß wir selbst dort mechanisieren und automatisieren, wo es keinen nennenswerten Gewinn bringt, weil wir die körperliche Arbeit abschaffen wollen; in den USA wird nur dort mechanisiert und automatisiert, wo es Profit bringt. In Nevada wird also mehr körperliche Arbeit verrichtet - und dazu dieses Tempo? Was muß da los sein unter den Arbeitern, welche Spannung zwischen ihnen und den Antreibern. Dort müssen ja die Widersprüche des Kapitalismus auf die Spitze getrieben werden. Das ist es doch! Die amerikanischen Fachleute sind nicht dümmer als wir, aber unter dem kapitalistischen Korsett können sie nicht so Luft holen wie wir.“ Sie saßen sich in Werners Arbeitszimmer am Schreibtisch gegenüber, im zehnten Stock des Verwaltungsgebäudes. Von hier aus konnte Werner das gesamte Baugelände übersehen. Die Wand vor ihm war als Leuchtbild ausgeführt und zeigte die Karte des Kombinats. Auf ihr würde er später sehen können, in welchem Betriebszustand sich die einzelnen Betriebe befanden. Jeder Maschinenausfall, jeder Rohrbruch, jede Unregelmäßigkeit würde sich sofort als ein rotes Blinken bemerkbar machen und es ihm ermöglichen, sofort zur Schadenstelle zu gehen. Wann aber würden die Objekte der ersten Baustufe grün aufleuchten und anzeigen, daß die Anlage produzierte? Vor ihm standen Bildtelefone und ein UKWFunkgerät. Er konnte mit jeder Abteilung, mit jeder Baugruppe sofort Verbindung aufnehmen. Er war der Kapitän eines Schiffes, jede Anordnung wurde sofort und exakt ausgeführt - und doch, was war er ohne die anderen? Manchmal hatte er sogar das Gefühl, als würde dieser riesige Apparat auch ohne ihn arbeiten, wie ein Herz, das unermüdlich schlägt. Unwillig über diese Gedanken schüttelte er den Kopf.
Kirik betrachtete ihn verwundert. Werner wurde sich bewußt, daß er nicht allein war. „Entschuldige, wovon sprachen wir? Ach so, vom Wettbewerb, Öl haben wir, Energie auch, fehlt uns noch das Wasser. Es liegt also am Kanal. Wir könnten zwar die Trinkwasserleitung anzapfen und uns so mit Wasser versorgen, aber dann müßten wir den Stadtverbrauch einschränken. Für eine gedrosselte Produktion würde es notfalls reichen, wir gewinnen einige Tage. Trotzdem möchte ich das nicht. Wenn wir produzieren, dann richtig. Und es wäre unfair, mit Behelfsmitteln zum ersten Hartsilikon zu kommen, finde ich. Was meinst du?“ „Das gleiche, lassen wir's also.“ „Gut, Kirik, sprechen wir den Stand der Arbeiten durch, Öl und Energie ist klar. Zum Kanal fahren wir dann raus. Wie sieht es mit dem Abwasser aus?“ „Die Leitungen zum Tal sind verlegt. Die Planierraupen sind beim Zuschütten. Die Abwasserreinigungsanlagen werden nächste Woche fertig...“ „Wenn ich mir das vorstelle, Kirik: heute eine zwar riesige, aber dafür um so trostlosere Senke - und in einigen Jahren ein See, mit tropischer Vegetation umgeben, von hier auf einer glatten Rollbahn in einer halben Stunde Fahrzeit zu erreichen! Dazu der Kanal, der sich dann am Tibestigebirge vorbei bis zum Tschad-See zieht und von dort über den Benue zum Niger...“ „Die Hafenanlagen werden gleichfalls nächste Woche fertig, auch die Transporteinrichtung zur ersten Baustufe.“ Es klopfte. Werners Sekretärin reichte ihm ein Fernschreiben herein. Werner las und gab es Kirik. „Die Fertigmeldung vom Kanalbau, alle Sektoren melden füllbereit. Nun müssen wir nur unser kurzes Stück noch ausbaggern, dann kann die Barriere am Nil gesprengt werden, dann fließt das Wasser zu uns. Es wird ein Weilchen dauern, ehe sich das Hafenbecken füllt, ehe das Wasser überhaupt hier ist.“ „Fahren wir am besten gleich mal hinaus“, sagte Kirik verwundert. Zwar war Werner schon seit Wochen verändert, aber so unkonzentriert wie heute hatte er ihn noch nicht erlebt. Ob mit Manuela etwas nicht stimmte? Sie waren nett zueinander, gewiß, doch wenn er es recht bedachte, fehlte die besondere Note der Vertraulichkeit. Aber schließlich konnte er sich nicht um ihre Privatangelegenheiten kümmern. Sie fuhren hinaus, eine Staubfahne wirbelte hinter ihnen her. Werner steuerte selbst. Er fuhr ein Stück auf der Piste, schwenkte zum Kanalbett ab, nahm mit Schwung den flachen Damm und fuhr die Schräge auf die Sohle hinunter. Vom Damm an hinterließ der Wagen keine Spuren mehr. Werner gab Gas. Die Reifen sangen wie auf einer Betonpiste. Der riesige Bagger kam heran. Beiderseits auf breiten Gleisketten laufend, überspannte er das Kanalbett wie eine große Brücke. Zwei endlose Eimerketten gruben sich von beiden Seiten in den Sand und warfen ihn neben dem Bett zu Dämmen auf. Zweihundert Meter vor dem Kran fuhr Werner die Schräge hinauf und verließ den Kanal. Der Brigadier der Baggerbrigade kam über den Laufsteg herab und trat zu dem haltenden Wagen. „Förderleistung einhundertzwölf Prozent“, sagte er zur Begrüßung und schüttelte ihnen die Hände. „Wie steht es bei den anderen Sektoren?“ „Haben fertig gemeldet, bauen ab“, sagte Werner. „Waas? Also bloß noch wir? Heißa, da wird Dampf gemacht!“ rief er, und ehe sie sich's versahen, standen sie allein. In der Ferne tauchte ein Wüstentransportzug auf. Tankwagen. Er schwenkte in weitem Bogen auf den Bagger ein und fuhr dann in dessen Fahrtrichtung neben ihm her. Werner und Kirik waren zu ihrem Wagen zurückgegangen, verfolgten aber aufmerksam das Geschehen. Vom Bagger schwenkte ein Ausleger herüber, an dem ein flexibles Rohr hing. Einer der Männer des Transportzuges befestigte es am Anschlußstutzen des letzten Wagens. Indessen hielten sich weder der Bagger noch der Transporter auf. Während sie nebeneinander fuhren, saugte der Bagger die Flüssigkeit in sich hinein, die von den Pumpen der einzelnen Wagen in den letzten Tank gepumpt wurde. Giftgrün waren die Tanks, also Chemikalien. Auf dem gleichen Wege wurde der Bagger mit Kraftstoff versorgt. Die Chemikalien versprühte der Bagger auf das fertige Kanalbett, sie banden den Sand und machten ihn undurchlässig für das Wasser. Da der Kanal auch der Bewässerung dienen sollte, würden sich später Bewässerungsanlagen beiderseits der Ufer in die Wüste erstrecken. Zu diesem Zweck wurden bereits Pumpstationen errichtet. Werner wollte schon wenden, da brach das Motorengetöse des Baggers ab. Unbeweglich stand er über dem Kanalbett. Auch der Transporter stoppte. Werner sprang aus dem Wagen, den Blick auf den Bagger gerichtet. „Was ist denn los?“ Kirik sah das Blinken der Ruflampe des Autotelefons. „Bleib hier, Werner, nimm den Anruf entgegen!“ Werner drückte auf die Empfangstaste des Lautsprechers, damit Kirik mithören konnte, nahm den Hörer ab und meldete sich. Die regionale Wetterzentrale gab eine Warnung durch: Sandsturm! Jetzt war klar, weshalb der Bagger stand. Man igelte sich ein, wie die Bauarbeiter sagten. Die Maschinen dieser Baustelle waren für die klimatischen Bedingungen der Sahara eingerichtet und ließen sich staubdicht verschließen. Werner sprang in den Wagen, überfuhr den Damm und raste dann im Flußbett zurück. Die Tachonadel kletterte bis fünfundneunzig. Jetzt sah Werner jungenhaft unternehmungslustig aus,
konzentriert und energisch. Kirik lachte. So war das immer: Wenn es Schwierigkeiten gab, fielen alle privaten Stimmungen und jede Nervosität von Werner ab, dann zeigte sich erst, was wirklich in ihm steckte. Das hatte ihm auch den Respekt und die Anerkennung der Bauarbeiter eingetragen, und dies war ebenso wichtig wie die menschliche Zuneigung, die er sich mit seiner Fürsorge errang. Diese Fürsorge ging manchmal soweit, daß Manuela als Verantwortliche für die soziale Betreuung sich hätte verletzt fühlen können; schließlich ließ es sich auch so deuten, als traue er ihr nicht zu, diese Aufgabe zu bewältigen. Weshalb war es eigentlich noch zu keiner Auseinandersetzung deshalb gekommen? Fühlte Manuela das nicht, weil sie Werner liebte, war sie ihm innerlich so verbunden, daß sie das Du und Ich nicht mehr so scharf abgegrenzt empfand? Aber konnte sie so tief empfinden? Oder war das vielleicht der Grund für die Verstimmung zwischen ihr und Werner? Irgend etwas stimmte doch nicht mit den beiden. Kirik wollte versuchen dahinterzukommen, schließlich bekam jetzt diese Sache Bedeutung für die Arbeit im Leitungskollektiv, da war es besser, nicht erst zu warten, bis das Kind in den Brunnen fiel, sondern vorher einen Deckel auf den Brunnen zu legen. Über der Baustelle heulten Sirenen. Wer dienstfrei hatte, lief sofort zu den Betrieben, die sich im Bau befanden. Sandsturm - das kannten die Frauen und Männer, das hatten sie schon erlebt, als die ersten Baugruben ausgehoben wurden: ungezählte scharfe Sandkörnchen, die der Sturm vor sich herpeitschte, ein milliardenfach vergrößertes Sandstrahlgebläse, Sturmgewalten mit Schleifwirkung. Was diesmal auf sie zukam, übertraf alles bisher bekannte Maß; die angekündigten Windgeschwindigkeiten lagen weit höher als sonst. Dazu waren die Betriebe der ersten Baustufe noch nicht völlig gedeckt, denn die Maschinen waren durch das offene Dach eingebracht worden. Eine Düsenmaschine war dem Sturm entgegengeflogen und meldete ständig den Standort der Sturmspitze. Werner und Kirik fuhren nicht zum Verwaltungsgebäude, sie rasten zur Baustelle. Es bedurfte kaum umfassender Anweisungen. Wenn die gesamte Belegschaft in die Leitung einbezogen wird, wenn sie gewöhnt ist, mitzudenken und sich mitverantwortlich zu fühlen, dann besitzt sie ein weites Blickfeld und vermag Zusammenhänge zu begreifen und in besonderen Fällen ohne Anweisungen richtige Entschlüsse zu fassen. So schafften Arbeiter, Meister und Ingenieure ohne viel Worte Hand in Hand. Die Brigaden hatten ihre UKW-Funkgeräte bei sich und standen mit der Zentrale in Verbindung, die ihnen die Zeit übermittelte, die noch zur Verfügung stand. Es war ein unerbittlicher Wettlauf mit dem Sandsturm. Gerüste wurden gesichert, Maschinen in ihre Hüllen verpackt. Turmdrehkräne vorsorglich verankert. Die Hubschrauber setzten indessen Dachplatte auf Dachplatte, um die freien Stellen zu schließen. Werner entdeckte Manuela, die am Funkgerät stand und die Hubschrauber oben auf dem Dach einwies. Die Zeit drängte, der Sturm kam unaufhaltsam näher. Das Tempo beim Dachbau verstärkte sich. Die Platten schwankten, sie wurden nicht so sorgsam ausbalanciert, wie es vorgeschrieben war, keiner kümmerte sich mehr darum, ob er unter schwebender Last hantierte. Die Männer sprangen hinzu, hielten die sich senkenden Platten mit den Händen und drückten sie mit oft halsbrecherischer Artistik in die Halterung. Daneben hockten andere, schraubten und vergossen die Betonfugen mit Schnellhärter. Ein unglücklicher Handgriff, eine Unachtsamkeit der Piloten oder der Männer an den Platten - und einer lag
zerquetscht unter Tonnenlast oder wurde vom Dach gestoßen. Wen sollte das jetzt kümmern? Wen? Werner sah es, hielt den Atem an und lief zum Funkgerät. „Dachbau sofort abbrechen!“ Es änderte sich nichts. Da tat Werner, was er bisher nie getan hatte. „Hier spricht der Oberbauleiter. Ich befehle, den Dachbau sofort abzubrechen! Die Hubschrauber fliegen unverzüglich zum Flughafen!“ Das Ungewöhnliche wirkte. Werner sah Manuela gestikulieren, aber die Hubschrauber folgten seiner Weisung, schwangen sich auf und drehten zum Flughafen ab, um sich dort in den Hangars in Sicherheit zu bringen. Für einen Augenblick wandten sich die Arbeiter zu den Dächern. Dann beschleunigten sie ihre Handgriffe. Nun wich Werner nicht mehr vom Funkgerät. Er war empört. So leichtsinnig ging man nicht mit Menschenleben um. „Noch zwanzig Minuten...“, sagte die Stimme in der Zentrale. „Achtung! Achtung!“ Werner schaltete sich auf der Gemeinschaftswelle ein. „Hier spricht der Oberbauleiter. Befehl an alle: Die Baustelle ist sofort zu räumen! Ohne Ausnahme begeben sich sofort sämtliche Belegschaftsmitglieder zu ihren Unterkünften. Bitte achten Sie auf den sorgfältigen Verschluß der Türen und der Klimaöffnungen!“
22 Eine mächtige Sandwolke stürmte heran. Es heulte in den Lüften. Überall begann es zu rauschen. Der Sand kam! Werner stand mit Kirik am Fenster seines Arbeitszimmers. Sie hatten das Gebäude im letzten Augenblick erreicht und sahen nun hinaus in den tobenden Schleier, der sich über alles legte und das Sonnenlicht verdunkelte. „Das hat uns gerade noch gefehlt. Verfluchte Schweinerei!“ schimpfte Werner aufgebracht. „Wenn das lange anhält, kann es uns Millionen kosten.“ Manuela war eingetreten und hatte Werners letzte Worte gehört. „Das wird uns Millionen kosten, den Wettbewerb werden wir verlieren, die Yanquis werden sich ins Fäustchen lachen - und das nur, weil du die Nerven verloren hast.“ Kirik musterte Manuela und wußte, daß es jetzt eine Auseinandersetzung geben würde, wenn er sich nicht im rechten Moment einschaltete, eine Auseinandersetzung, die im ungünstigen Fall die Zusammenarbeit beeinträchtigen würde. Es kam anders. Werner drehte sich um. Sein Gesicht war so hart und kühl, daß Manuela verwirrt schwieg. „Ich möchte dahingestellt sein lassen, wessen Nerven durchgingen. Aber eines weiß ich: daß du eine Arbeitsweise geduldet hast, die nicht zu verantworten und nicht zu entschuldigen ist, auch nicht mit dem Sandsturm.“ „Die Maschinen stehen frei, das sind Millionenwerte“, empörte sich Manuela heftig, „und du ziehst in einer solchen Situation die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften vor, läßt in unverantwortlicher Weise gesellschaftliches Eigentum verkommen!“ „Und wenn es Milliardenwerte wären - wiegen sie Menschenleben auf? Du bist Sozialbetreuerin und stellst die humanistischen Gesetze auf den Kopf, denkst an materielle Dinge und gefährdest ihretwegen Menschenleben? Der Wettbewerb und deine einseitige Betrachtungsweise haben dir offensichtlich den Überblick genommen.“ „Deine pedantische Furcht vor den Sicherheitsvorschriften ist ja zur Manie geworden. Das mag mit deinem früheren Leichtsinn zusammenhängen, mit deinen Erfahrungen, aber es gibt Fälle, da kann man sich nicht daran halten. Jedenfalls nicht, wenn man sich der Verantwortung für die anvertrauten Werte bewußt ist und sich Zivilcourage bewahrt hat“, fauchte sie erregt. „Die höchsten Werte, die uns anvertraut wurden, sind die Freiwilligen“, erwiderte Werner scharf. „Frag sie doch, ob sie damit einverstanden sind, daß du sie in Watte packst und damit unsere Anlagen und den Wettbewerb gefährdest. Der Wettbewerb ist eine politische Frage.“ „In zweiter Linie! Kernstück unserer Politik, ihr Sinn und ihr Ziel ist der Mensch, ihm hat das Materielle zu dienen, sich seinen Interessen unterzuordnen! Wir leben im Sozialismus, bauen den Kommunismus auf, hast du das noch immer nicht begriffen? Und du kommst mit materiellen Werten! - Daß du mich nicht verstehst“, fügte er bekümmert hinzu. Kirik hatte mehrmals zum Sprechen angesetzt, war aber nicht dazu gekommen. Die beiden hatten sich zu sehr erhitzt, die Nervenanspannung der letzten Stunden hatte sich entladen. Nun leitete Werner offensichtlich einen besonneneren Teil der Auseinandersetzung ein. Kirik konnte jedoch nicht verhindern, daß Manuela in ihrer Erregung etwas sagte, was sie sofort bitter bereute. „Deine Natascha, die hätte dich verstanden, was?“ Werner ging wortlos zur Tür und verließ den Raum. Manuela war verblüfft über diese Wirkung, dann warf sie sich in einen Sessel und schluchzte heftig. Sie liebte Werner mit ihrer ganzen Leidenschaft. Es war ihr damals schwergefallen, sich beherrscht und verständnisvoll zu zeigen, als Werner von Natascha gesprochen hatte. Gewiß, bei ruhiger Überlegung hatte sie erkannt, daß es die einzige Möglichkeit war, in ihren Beziehungen keinen Mißklang aufkommen zu lassen, auch dann, wenn sie zu bloßer Freundschaft überwechselten. Aber leicht wurde ihr das nicht. Nun fiel die Beherrschung von ihr ab, ihr ganzer Kummer erzwang sich freien Lauf. Kirik war überrascht. Ihm war unvorstellbar, daß dieses stolze Mädchen, bei aller Impulsivität, derart die Gewalt über sich verlieren konnte. So stand er hilflos im Hintergrund und ließ ihr Zeit, sich wieder zu finden. Das also war es: Werner hatte ihr von Natascha erzählt. Aber dann mußte er doch noch immer an Natascha denken? Himmel, was für ein verbohrter Kerl! Statt Klarheit zu schaffen, statt mit allen Mitteln zu versuchen, Natascha zurückzugewinnen, gab er sich den Anschein, als denke er nicht mehr an sie. Bei allem Verständnis für ein Schuldgefühl, für eine gewisse Scheu nach seinem Experiment in Kuibyschew und dem jahrelangen Schweigen - es gehörte eine tüchtige Portion Verranntheit dazu, sich derart in dieses Schuldgefühl einzuspinnen. War das nun lächerlich oder rührend, zeugte es von tiefem Gefühl oder von Dummheit?
Manuela richtete sich auf. Keine Träne war in ihrem Gesicht. „Entschuldige, wenn ich mich so gehenließ“, sagte sie und hatte sich wieder völlig in der Hand. „Das eben war die größte Dummheit meines Lebens - nun habe ich das Spiel verloren.“ „Natascha?“ „Ja. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Aber seit Wochen dieses Bangen um Werner. Ich wollte so sein, daß er auch mich nicht vergißt, ich versuchte etwas von dem anzunehmen, was ihm an diesem Mädchen so unvergeßlich ist. Dann kanzelt er mich derart ab, beweist mir, daß ich eben nicht so bin.... da rutschte mir das raus.“ „Du wolltest Natascha kopieren?“ „Nein, ich kenne sie ja nicht. Aber ich weiß, was ihn so beeindruckte bei ihr, und wollte mich auf ihn einstellen - aber ich habe übertrieben.“ „Vor allem vergessen, daß zwar das Aufeinandereinstellen notwendig ist, daß es aber zweiseitig sein muß und man sich selbst nicht verfälschen darf. Mädel, das war wirklich eine Dummheit, entschuldige, aber selbst wenn du Natascha kopiert hättest, wärst du ein Abklatsch geworden. Kopie bleibt Kopie - sie kann noch so vollkommen sein, sie hat nicht den Originalwert. Du bist ja genauso verrannt wie Werner. Soll er in dir eine andere lieben? Gerade das Persönliche macht doch den Wert eines Menschen aus, unterscheidet ihn vom anderen. Bist du nicht bemüht, im Äußeren auf jeden Fall deine persönliche Note zu bewahren, dich nie der Mode zu unterwerfen, sie vielmehr deinen Vorzügen, deiner Gesamterscheinung dienstbar zu machen? Und dort, wo es um deine Wesensart geht, wolltest du dich selbst aufgeben? Das kannst du nicht - und es wäre schade. Zudem, Manuela, in der Liebe dominiert nicht nur das Äußere, sie bezieht den ganzen Menschen ein, sein Wesen, seinen Charakter, seine geistigen Eigenarten. Ginge es nur um äußere Reize, wie hohl wäre die Liebe, und vor allem, wie unsicher.“ „Äußere Dinge spielen keine Rolle?“ fragte sie, schon wieder leicht ironisch. „Doch. Aber das Äußere ist viel wandlungsfähiger, es bestimmt nicht den menschlichen Wert. Es ist Ergänzung, Rahmen; den Inhalt aber bildet der Mensch in seiner Vielzahl individueller Eigenarten. Was nützte dir eine Liebe, die nur deiner reizvollen Figur gilt, die nur das Äußere sieht - könnte sie dich erfüllen? Das heißt nicht, daß man sich nicht anpassen soll, aber man soll sich dabei nicht verleugnen. Man kann Anlagen vertiefen, Eigenschaften ablegen, aber man kann sich nicht umkrempeln, Anlagen kopieren, die man nicht hat, und Eigenarten ablegen, die unser Wesen ausmachen. Das würde ein jämmerliches Zerrbild - es wäre schade um dich.“ „Und wenn diese Wesensart dem anderen nicht entspricht?“ „Dann muß man einsehen, daß man nicht zueinander paßt. Das ist schwer, aber nicht zu ändern.“ „Also wäre zwischen Werner und mir alles ein Irrtum gewesen?“ fragte sie widerstrebend. „Irrtum? Bereicherung, denke ich. Bereicherung an Gefühlsvermögen, wertvoller Erinnerung, Lebenserfahrung, Menschenkenntnis. Es war ein Suchen. Das Gefühlsleben des Menschen ist vielseitig, es gipfelt immer im Wunsche gegenseitiger Ergänzung zu einer höheren Vollkommenheit. Deshalb muß nicht alles, was nicht dazu führt, wertlos sein.“ „Ach, du Theoretiker der Liebe, es ist leicht, weise Sprüche zu machen. Aber sich auch weise zu verhalten?“ „Noch ist ja nicht entschieden, ob Werner und Natascha zusammenkommen. Vielleicht ist sie verheiratet, vielleicht empfindet sie nichts mehr für ihn.“ „Woher kennst du sie überhaupt?“ „Hat es Werner nicht erzählt? Wir haben in Kuibyschew gemeinsam studiert, alle drei. Ich stand später mit Natascha in Verbindung, aber das schlief ein. Ich habe nie mit Werner darüber gesprochen.“ „Du bist ja genauso verdreht. Es ist ein Kreuz mit euch Männern!“ sagte sie kopfschüttelnd. „Ich wußte doch nicht, wie er zu Natascha stand, und dann hatte er dich...“ „Und wie schätzt du mein Verhalten auf dem Dach ein?“ fragte sie unvermittelt. „Auch so kraß wie Werner?“ Was würde Kirik erwidern? Er nahm doch alles so schrecklich prinzipiell! „Der Mensch lernt ständig, Manuela, ich hoffe, du ziehst die richtigen Lehren daraus.“ „Weiche nicht aus!“ „Man darf nie das Materielle über den Menschen stellen.“ „Also du auch! Dann liegt der Fehler bei mir, dann stimmt meine Auffassung nicht.“ „Vielleicht solltest du dich nicht so impulsiv mitreißen lassen, Manuela, sondern etwas mehr deinen kritischen Verstand einbeziehen. Mag ein Werk noch so groß sein, erst kommt der Mensch! Wenn du Werner die Sicherheitsvorschriften vorwirfst - es gibt nichts, was eine Gefährdung menschlichen Lebens rechtfertigt, es sei denn, sie dient der Rettung anderer Menschen oder der Beseitigung großer Gefahrenquellen. Aber auch dann ist sie nur gerechtfertigt, wenn es keine andere, gefahrlose Möglichkeit gibt. Werner hat richtig gehandelt, das weiß die Belegschaft.“
„Die dann auch zu ihm geht, statt zur Verantwortlichen für soziale Betreuung, ich weiß!“ „Beleidigt deshalb?“ „Nein, aber auch hier habe ich versagt.“ Da lachte Kirik herzlich. „Nun wittere nicht hinter allem menschliches Versagen. Ich bin Parteisekretär, aber in persönlichen Fragen gehen die Arbeiter viel öfter zu Werner. Sie kämen zu uns, wenn Werner nicht wäre, mit demselben Vertrauen, glaube ich - oder kommen sie nicht, wenn Werner unterwegs ist? Werner ist der Hauptverantwortliche. Es ist ihm zur Selbstverständlichkeit geworden, in erster Linie den Menschen zu sehen. Weißt du über den Kalorienhaushalt des Körpers Bescheid? Weißt du, was ein Betonarbeiter täglich essen muß, nach Kalorien, Vitaminen, Proteinen, Nährsalzen? Du meinst, das ist Sache des Küchenchefs? Werner weiß es! Er befaßt sich mit vielen solchen Sachen, wenn er das auch verbirgt. Aber manchmal hat er dem Küchenchef schon die Leviten gelesen, unter vier Augen, damit du dich nicht gemaßregelt fühlst. Werner verlangt hohe Leistungen, aber kennt den Einfluß persönlicher Dinge auf die Leistungsfähigkeit, deshalb fühlt er sich verpflichtet, bei der Überwindung persönlicher Schwierigkeiten zu helfen. Wir sollten froh sein, einen solchen Chef zu haben, Manuela - ja, wir können stolz sein, daß er sich in unserem Kollektiv so entwickelt hat. Jeder von uns hat zu dieser Entwicklung beigetragen. Statt nun beleidigt zu sein, sollten wir ihn in jeder Beziehung unterstützen und ihm helfen, dieser riesigen Aufgabe, die er sich gestellt hat, auch gerecht zu werden. Es geht doch um unsere gemeinsame Sache, nicht um persönliche Sentiments.“ Manuela sah ihn unsicher an. Vieles ging ihr durch den Kopf. War sie noch tragbar in dieser Funktion? Daß man ihr das sagen mußte - und ausgerechnet die beiden, die sie am meisten schätzte: Werner und Kirik. Schlimmer noch: Wenn ihre Eltern das wüßten, sie würden ihr das gleiche sagen. „Aber der Wettbewerb?“ fragte sie leise. „Verliert seinen Sinn, wenn wir unser humanistisches Prinzip verletzen. Das Materielle in den Mittelpunkt zu stellen und dabei Menschenleben zu mißachten wäre kapitalistische Denkart und Arbeitsmethode. Gewännen wir damit den Wettbewerb, hätte ihn der Sozialismus dennoch verloren! Aber nun laß den Kopf nicht hängen. Fehler machen wir alle. Wenn wir daraus lernen, sind sie überwunden.“ Der Sturm ließ nach. Stunden hatte er gewütet, ungezählte Tonnen Sand gegen die Baustelle gepeitscht. Nun sah man, daß er ganze Arbeit geleistet hatte. Gerüste waren zusammengebrochen, Baugruben halb verschüttet, Fensterscheiben waren blind geworden, Masten geknickt, zwei Turmdrehkräne umgestürzt. Die Seiten der übrigen Turmdrehkräne und der Bagger, auf die der Sand aufgeprallt war, blitzten spiegelblank, der Sandsturm hatte den Lack abgeschmirgelt. In die offenen Dächer war er gefahren, hatte Platten herausgerissen und davongewirbelt. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld. Die Bauarbeiter standen betroffen. Mancher ließ mutlos die Schultern hängen. Werner ging mit Kirik, Manuela, Heino und Jomo von Baustelle zu Baustelle. Wo sie auftauchten, faßte man neuen Mut; bald herrschte rege Betriebsamkeit. Am schlimmsten sah es an der Verarbeitungshalle aus, in der dem Hartsilikon seine endgültige Gestalt gegeben werden sollte: Platten, Profile, Rohre. Das Dach war schwer beschädigt. In der Halle lag zentimeterhoch der Sand, an manchen Stellen wie Schneewehen aufgetürmt. „Na, was ist?“ fragte Werner die Umstehenden, die nicht recht wußten, was sie beginnen sollten. „Stehen uns die Tränen in den Augen? Schön ist es nicht, zugegeben, aber das bißchen Sand kann uns doch die Laune nicht verderben. In den letzten Monaten haben wir täglich mehr Sand bewegt, als hier liegt.“ Als er die Halle betrat, folgten ihm die Arbeiter. Werner kletterte die Treppen hinauf zum Dach. Oben bemerkte er, daß einige Arbeiter die Planen anheben wollten, mit denen die Maschinen vorsorglich bedeckt worden waren. „Liegenlassen!“ rief er hinunter. „Nicht anfassen!“ Dann sah er sich das Dach an. Der Sturm hatte einige Segmente aus der Lagerung gerissen und über das Dach gewirbelt. Glücklicherweise waren keine Platten in die Halle gefallen. Er stieg wieder hinab und rief die Brigadiere zusammen. „Helft erst an den anderen Baustellen, hier wird lediglich aufgeräumt, was an Brocken herumliegt. Jomo, du läßt bitte das Dach genau überprüfen, ebenso die anderen Dächer. Was schadhaft ist, wird sofort abgenommen, und dann mit voller Kraft die Dächer schließen.“ Am Wagen gab er die ersten Anweisungen an den Flughafen. Die fliegenden Kräne hingen bald mit donnernden Motoren über der Baustelle, setzten Masten, richteten Turmdrehkräne auf. Überall rasselten wieder die Bagger und räumten die Baugruben frei. Werner fuhr indessen mit Kirik und Manuela zur Funkstation. „Es sieht schlimmer aus, als es ist“, sagte Kirik. „Ja, in zwei, drei Tagen ist der Schaden behoben. Bitte melde dem Wirtschaftsrat, was passiert ist. Ich kümmere mich um die Sandbeseitigung in den Hallen. Kommst du dann in die technischen Werkstätten nach?“ Diese Bitte war ungewöhnlich, denn der Anruf war Sache Werners, die technischen Werkstätten jedoch Kiriks Angelegenheit als Technischer Leiter, aber Kirik verstand, daß Werner einige Minuten mit
Manuela sprechen wollte. Kirik hatte die beiden kaum allein gelassen, da entschuldigte sich Werner wegen seiner Heftigkeit. Manuela legte ihre Hand auf seinen Arm. „Ich muß mich entschuldigen, Werner. Ich weiß, es war ein Vertrauensbruch, daß ich von Natascha sprach. Auch mein Verhalten auf dem Dach war falsch, ich werde mich vor der Parteigruppe verantworten.“ „Vergessen wir diese häßliche Auseinandersetzung, damit kein Schatten auf unsere Freundschaft fällt, denn ich hoffe, daß sie uns erhalten bleibt. Was aber die Parteigruppe betrifft - ich glaube nicht, daß eine solche Mohrenwäsche notwendig ist, denn ich habe dich gerügt, und du hast deinen Fehler eingesehen. Es sei denn, die Genossen verlangen Rechenschaft von dir, dann wirst du dich verantworten müssen. Aber raten möchte ich dir, Manuela, tiefer in gesellschaftliche Probleme einzudringen. Dein Verhalten war, glaube ich, auf unverdautes Wissen zurückzuführen. Und was den Wettbewerb angeht, Manuela, wenn man die realen Fakten nimmt, ist er längst gewonnen. Ganz gleich, ob du von den Kubikmetern bewegter Erde ausgehst, den Kilometern Rohrleitung, den Tonnenkilometern Transportleistung oder von den pro Mann geschaffenen Werten.“ In den technischen Werkstätten, zwei großen Hallen mit einem umfangreichen Maschinenpark, gingen sie zum Betriebsleiter. Manuela war gespannt, was Werner dort wollte, mochte aber nicht fragen. „Ich brauche zehn Panzerschläuche, sechzig Millimeter Durchmesser, mindestens vierzig Meter lang. Außerdem muß sofort ein Rohrverteiler hergestellt werden. Übergang von einem Rohr mit zweihundertfünfzig Millimeter Durchmesser auf die zehn Panzerschläuche. Würden Sie das bitte veranlassen?“ Dann rief er die fahrbare Betonplattenfabrik an. „Soweit ich mich entsinnen kann, sind Ihre Zementsaugförderer jeweils auf einer Fahrzeugeinheit montiert und jederzeit sofort umsetzbar, stimmt das? Gut! Der Saugrohranschluß hat einen Durchmesser von zweihundertfünfzig Millimetern, so hatten wir's doch bestellt? Bitte schicken Sie eine Einheit sofort zur technischen Werkstatt. Keine frei? Mein Bester, dann wird eine freigemacht, Sie haben zehn! Natürlich ist das ein Ausfall, aber nicht in der Produktion. Kommen Sie mir nicht damit. Das ist ein Irrtum. Die Entladeeinrichtungen arbeiten auf Silos, und die sind, wie ich Sie kenne, bestens gefüllt, können also den Ausfall durchaus überbrücken. Ich verstehe ja, daß Sie Ihre Anlage gern beisammen haben und aus dem vollen schöpfen wollen. Ja, selbst wenn eine Transportstockung auftritt, selbst wenn die Produktion gedrosselt werden muß. Wie lange? Moment!“ Er überlegte einen Augenblick. „Hören Sie? Ich schätze, daß wir morgen fertig sind. Wir wollen die Hallen und vor allem die Maschinensätze vom Sand befreien. Nein, zur Werkstatt, auf die Einheit wird ein Verteiler für zehn Anschlüsse montiert. Wie hoch ist die Anlage im fahrbereiten Zustand? Gut, damit kommen wir direkt in die Hallen. Nein, die Sandabfuhr organisiere ich. Besten Dank! Auf Wiederhören!“ Er legte auf und lachte. „Bevor er aufhing, hat er was von Wüstenblitz gebrummt. Kennst du diesen Spitznamen?“ Manuela nickte. „Ach nein, und du hast mir nie etwas gesagt? Ich dachte, nur der Chefarzt nennt mich so. Ist das nun ein Kompliment?“ „Es ist ein Ausdruck der Anerkennung“, sagte Kirik, der inzwischen hinzugekommen war. „Es soll schwer sein, dich übers Ohr zu hauen, wurde mir gesagt, denn du seist wie der Blitz: schnell, unerbittlich, kommst unerwartet und leuchtest in jeden dunklen Winkel.“ „Du bist anderer Meinung? Dann möchte ich nicht wissen, wie oft dir's schon gelungen ist, mich anzuführen!“ „Ja, wenn du deine Mitarbeiter mit Sonderaufgaben betraust, bei denen sie unbeaufsichtigt sind“, sagte Kirik grinsend. Werner sah ihn nachdenklich an, schwieg aber und ging mit dem Betriebsleiter hinaus. „Manuela, ruf doch bitte die Fahrbereitschaft an. Eine schwere Zugmaschine zum Betonwerk und drei Transporter zur Halle zwei, dort fangen wir an.“ Kirik blieb bei Manuela. Werner bemerkte, als er mit dem Klempner und dem Betriebsleiter über das Verteilerstück sprach, daß die beiden in angeregtem Gespräch, etwas geheimnisvoll, das Zimmer des Betriebsleiters verließen. Hatte sich Manuela so schnell getröstet? Dieser Gedanke war zwar schmerzlich für ihn, aber er schob ihn beiseite.
23 Fouler junior war voller Hoffnung. Er kannte zwar die Fragwürdigkeit eines Erfolges im Wettbewerb, denn er war über die einzelnen Leistungsfaktoren beider Baustellen genau unterrichtet, aber jetzt ging es um das erste Hartsilikon. Wenn er es erst in Händen hielt, war er gesonnen, das weidlich auszunutzen, sowohl als Reklame wie auch innenpolitisch. Durch die Zuspitzung dieses Wettbewerbs, durch das Interesse, das er in Amerika geweckt hatte, war es Fouler gelungen, weitere kapitalistische Unternehmen zu interessieren, die nun.langsam begriffen, worum es ging. Zwar mußte er dabei einige Federn lassen, aber er verdiente an diesem Objekt genug. Es ging ihm ja sowieso nicht nur um den Profit, um die Vermehrung des Kapitals, das er ohnehin nicht verbrauchen konnte, sondern er sah es mehr vom sportlichen und vom politischen Standpunkt. Allerdings sah er auch die Politik wie ein leidenschaftlicher Spieler. Er wußte, daß diese Gesellschaftsordnung ihrem Ende zuging. Aber es machte ihm Spaß, das Ende hinauszuschieben, die Macht auszukosten, die er noch besaß. Er wollte dieses Leben genießen, solange er das noch konnte, die Marionetten tanzen lassen, solange sie noch an seinen Fäden hingen. Ihn kümmerten nicht die Verhältnisse der Arbeiter, er war gesonnen, seinen Platz so lange wie möglich zu behaupten, nur eben nicht mit dem Fanatismus eines langsam Versinkenden, der mit aller Kraft um sein Leben kämpft, sondern mehr sportlich. Er wußte, daß er auch nach einer Veränderung, wenn sie wirklich zu seinen Lebzeiten kam, würde leben können. Aus diesem Grunde vermied er alles, was ihn kompromittieren konnte. Dafür hatte er seine Leute. Wenn er sich schon nicht rückversichern konnte, wie es früher üblich war, wenn ein Krieg verlorenging und man sich mit den feindlichen Konzernen bereits verständigte, während die Proleten sich noch abknallten oder wegen „Feigheit vor dem Feind“ an den Ästen aufgeknüpft wurden, wenn er sich also schon nicht rückversichern konnte, dann wollte er vermeiden, seine Weste allzusehr zu beschmutzen. Seine Leute funktionierten ausgezeichnet. Der Direktor der Chemical Equipment hatte jedenfalls die Rentabilität ganz beachtlich gesteigert. Zwar forderten die Gewerkschaften wieder mal höhere Löhne, zehn Prozent, aber das war völlig undiskutabel. Fünf Prozent, na ja. Aber noch war der Alte ausschlaggebend, und der war hart. Der hatte auch noch immer nicht begriffen, worum es ging, hatte sich schon damals offen dafür eingesetzt, daß keine Arbeitslosen sich freiwillig nach drüben melden durften - er würde auch hier stur bleiben. Wenn es um Erhöhung der Profite ging, war alles in Ordnung, da hatte der Junior freie Hand, aber bei Zugeständnissen mischte sich der Alte ein. Trotzdem, um fünf Prozent kam er nicht herum, zumal die Stahlpreiserhöhung sich auf die Bedarfsgüter auswirkte. Wenn er es recht bedachte: Hatte das alles eigentlich einen Sinn? Dieses Leben, war es wirklich lebenswert, war es nicht eigentlich sinnlos und langweilig? Wofür das Spekulieren, hatte es nicht dort seinen Sinn verloren, wo man die eigenen Bedürfnisse voll befriedigen konnte, wo man alle Macht hatte und keine Möglichkeit, sie über einen bestimmten Kreis hinaus zu vergrößern? Gab es seinem Leben wirklich Inhalt, wenn er sich hin und wieder ins Fäustchen lachen konnte, weil er einen anderen bezwungen hatte? Chemical Equipment zum Beispiel und dieses ganze Projekt des Hartsilikons - weshalb eigentlich? Richtig besehen, hatte er nur mehr Arbeit, mehr Ärger damit. Wenn die Kapitalziffern sich erhöhten, änderte das irgend etwas für ihn? Also wozu das alles? Aber änderten diese Gedanken etwas? Das einzige Reale war, dieses Leben zu genießen. „Mary!“ rief er in einem plötzlichen Entschluß. „Mary!“ Sie öffnete die Tür. „Mister Fouler?“ „Bestell uns zwei Flugkarten nach Florida, ich habe es satt! Nichts sehen und hören will ich!“ „In Ordnung! Wie lange bleiben wir?“ „Zwei Tage, eine Woche - weiß ich's?“ Sie verschwand und warf ihm in der Tür einen vielsagenden Blick zu. Kurz darauf klingelte das Telefon. Er hob ab. „Was ist, Mary?“ „Der Direktor von Chemical Equipment.“ „Na gut, gib her!“ Was wollte der denn wieder? Da sprudelte es schon aus der Leitung: „Mister Fouler, die Arbeiter haben die Arbeit niedergelegt!“ „Nun mal langsam, was ist los?“ „Streik!“ „Reden Sie keinen Unsinn, Mann! Ohne Urabstimmung wird nicht gestreikt.“ Fouler nahm einen Bleistift und begann ärgerlich auf die Tischplatte zu klopfen. „Doch, spontan, ich meine: wild! Die Stimmung war ja schon lange schlecht. Ich hatte es gemeldet.“ „Wem?“ „Ihrem Herrn Vater, Sie waren nicht erreichbar.“
„Aber wieso dieser wilde Streik?“ „Es gab einen Unfall. Zwei Arbeiter tot, einer verletzt.“ „Na und?“ „Von einem Kran löste sich eine Stahlplatte.“ „Haben Sie denn unter schwebender Last arbeiten lassen?“ „Was glauben Sie, wie wir sonst dieses Tempo erreicht hätten?“ „Davon weiß ich nichts, das interessiert mich auch nicht“, erwiderte Fouler kalt. „Aber wie lange wollen die Herrschaften streiken? Bis die Toten wieder lebendig werden, oder was? Erneuern Sie das Verbot, unter schwebender Last zu arbeiten, und erledigt...“ „Sie haben ein Streikkomitee gewählt, ihre Forderung: Sofortige Überprüfung des Betriebes auf Unfallsicherheit und Erhöhung des Lohnes um zehn Prozent.“ „Das kenne ich schon. Aber sie sind an das Gesetz gebunden, vierzig Tage müssen sie warten, bevor sie streiken können. Beseitigen Sie also die Unfallquellen und sorgen Sie mir dafür, daß die Arbeit sofort aufgenommen wird.“ „Wenn wir alle Sicherheitsbestimmungen erfüllen wollen, haben wir mindestens drei Wochen zu tun. Sie nehmen aber die Arbeit nicht eher wieder auf, bevor nicht alles in Ordnung ist.“ In Foulers Hand zerbrach der Bleistift. „Ich verbinde Sie mit dem Seniorchef!“ Dann legte er auf und erhob sich. „Mary, laß umbuchen für die nächste Maschine! Ruf meine Frau an, sag das übliche!“ - Doch auch in Florida vermochte er sich nicht seiner Welt zu entziehen. Sie kam mit Presse, Rundfunk und Fernsehen zu ihm. Streik! Bei Chemical Equipment begann es. Fouler senior hatte mit eiserner Hand durchgegriffen. Die Polizei marschierte und besetzte den Betrieb, verhaftete das Streikkomitee und linke Arbeiter. Aber da waren zwei tote Arbeiter und die berechtigte Forderung nach Sicherheit: Der Angriff auf das Leben der Arbeiter mußte zurückgeschlagen werden. Die linken Gewerkschaften unterstützten den Streik mit der Macht ihrer großen Mitgliederzahl, die anderen Gewerkschaften stimmten zu, teils weil sie erkannten, daß es auch ihre Sache war, teils weil sie ihr Gesicht wahren mußten. Das Feuer breitete sich aus. Überall Solidaritätswarnstreiks mit der Forderung, sofort die Polizei abzuziehen und die Verhafteten freizulassen, die Verantwortlichen für den Unfall zu bestrafen und die Forderung nach Sicherheit unverzüglich zu erfüllen. Schon schlossen sich Betriebe dem Streik für höhere Unfallsicherheit an, weiteten sich die Forderungen. Man begann auch für höhere Löhne zu streiken. Die Unternehmer antworteten mit Terror und überspannten den Bogen. Sie wichen erst zurück, als Generalstreik drohte. Auf der Baustelle Völkerfreundschaft lief alles wieder seinen gewohnten Gang. Die Sturmschäden waren längst beseitigt. Nun zählte man nicht mehr nach Tagen, sondern nach Stunden. Mußte man auch noch mit dreistelligen Ziffern rechnen, so befriedigte die Stundenrechnung doch besser die Ungeduld, denn die Stunden vergingen rascher, man sah deutlicher, wie schnell sich die Summe verringerte, konnte man doch viermal täglich sechs Stunden abziehen. Es war, als spürten selbst die Maschinen, daß bald die erste Etappe erreicht war und die Arbeit Früchte trug. Alles lief schneller. Und doch erfüllte ein anderes, näher liegendes Ereignis die Belegschaft der Baustelle mit der gleichen brennenden Erwartung. Der Kanal war fertig, der letzte Bagger demontiert und abtransportiert. Die Barriere am Nil war gesprengt, nun floß das Wasser in den Kanal und näherte sich der Baustelle. Werner stand mit Manuela am Fenster seines Zimmers. Seit der Auseinandersetzung war Klarheit zwischen ihnen. Wenn auch manchmal ein Augenblick der Verlegenheit kam oder in ihren Augen ein sinnendes Bedauern lag, so verband sie doch die gemeinsame Arbeit und vor allem die gemeinsame Erinnerung. „Bald wird das Wasser kommen“, sagte Werner bewegt, „wird allmählich das Hafenbecken füllen, wird den dürstenden Boden tränken können. Kannst du dir vorstellen, daß dieses riesige Becken bis zum Rand voll Wasser ist, Manuela, kannst du das?“ Sie schüttelte den Kopf und freute sich seiner Begeisterung. „Es wird sich die Wüste erobern, wird ihr Meter um Meter abringen. Üppige Vegetation wird sich ausbreiten, wo heute noch Sand ist, das Klima wird sich verändern, Städte werden aus dem Boden schießen, für Millionen Menschen wird hier Nahrung wachsen, mehrere Ernten jährlich...“ „Träumer“, sagte sie und fuhr ihm von hinten durch das Haar. Er kämmte es lachend zurück. „Hätten wir es ohne zu träumen geschafft? All die Schwierigkeiten überwunden, ohne vom Morgen zu träumen? Ohne vor uns das Bild zu haben, wie es sein wird, wenn wir fertig sind? Das ist doch gerade das Großartige, daß wir träumen und unsere Träume verwirklichen können. Daß wir gemeinsam träumen können, von gemeinsamen Erfolgen - nicht nur jeder für sich von seinem eigenen Fortkommen. Macht nicht das Gemeinsame erst den wirklichen Menschen?“ Es klopfte. „Herein!“ rief Werner. Die Tür öffnete sich. Vor ihnen stand der Minister für internationale Industrieprojektierung, hinter ihm der Präsident des
Weltgewerkschaftsbundes. Sie begrüßten sich, und Werner bat sie, am Konferenztisch Platz zu nehmen. „Na, was macht unsere Baustelle?“ fragte der Minister. „Alles in Ordnung. Der Planvorsprung beträgt bereits zweieinhalb Monate“, erwiderte Werner. „Ihr könnt es doch nicht lassen, mich immer wieder in Schwierigkeiten zu bringen. Jetzt müssen wir wieder knobeln, wo wir die Energie herholen. Es ist ein Kreuz mit euch! Kaum hat man alles so hinbekommen, daß ihr am gemeldeten Termin regelmäßig mit Energie und Öl versorgt werdet, schon meldet ihr einen neuen Termin. Man müßte euch einen Termin fixieren - dann gibt's Strom, eher nicht!“ „Sagen Sie das den Freiwilligen“, riet Werner. Der Minister lachte. „Lieber nicht, ich bin nicht lebensmüde. Aber nun endgültig: Wann kann die erste Baustufe anlaufen? Deshalb sind wir hier. Bitten Sie Ihre Mitarbeiter zur Besprechung. Ich möchte gleichzeitig noch einmal den Stellenplan der Kombinatsleitung mit dem Kollektiv besprechen.“ „Sind Sie nicht einverstanden mit unserem Vorschlag?“ „Im wesentlichen schon, aber wir glauben, daß er erweitert werden muß. Es erscheint uns vom Arbeitsumfang her bedenklich, daß verschiedentlich Doppelfunktionen vorgesehen sind. Zum Beispiel bleibt der größte Teil der Kombinatsleitung auch gleichzeitig Bauleitung. Wir sind der Meinung, daß zwar die Kombinatsleitung die Oberaufsicht behält, aber eine neue Bauleitung aufgestellt wird. Dann wäre noch die Stelle des Betriebsleiters der Ölraffinerie zu besetzen, wir haben einen Vorschlag dazu.“ „Ich rufe die Leitung zusammen“, sagte Manuela unvermittelt und erhob sich. „Übrigens erwarten wir stündlich das Wasser im Kanal.“ „So?“ Die Gäste erhoben sich und traten ans Fenster. Noch war das Hafenbecken leer. Manuela atmete auf und rief Kirik an. Er versprach, die anderen mitzubringen, kam dann aber doch allein. „Ich habe mir erlaubt, die Sitzung für elf Uhr anzusetzen“, sagte er. Die Gäste verglichen ihre Uhren und sahen ihn befremdet an. Das war in zwei Stunden! „Ich bekam soeben die Meldung des Luftbeobachters: In zwanzig Minuten erwarten wir das Wasser. Ich nahm an, daß Sie es mit uns gemeinsam begrüßen wollen?“ „Selbstverständlichl“ sagte der Minister. „Also gehen wir!“ „Nehmen Sie einen Tropenhelm“, riet Werner und ging zum Schrank. Der Minister lehnte ab. „Danke! Ich bin Hitze gewöhnt.“ Werner glaubte nicht recht daran. Zwar war der Minister Araber, aber er lebte seit Jahren in Europa, und trugen nicht die meisten Araber Kopfbedeckung? Aber konnte er ihn zwingen? Die Arbeiter waren vom Nahen des Wasser bereits verständigt worden, nun säumten Tausende das Hafenbecken. Als Werner kam, machte man Platz und ließ ihn mit seinen Begleitern nach vorn. Kirik beschloß mit dem Minister die Gruppe, sie unterhielten sich angeregt. Werner verstand nicht, worüber sie sprachen, da Manuela den Präsidenten in ein Gespräch verwickelt hatte und auch ihn ständig einbezog. Sie standen am Beckenrand inmitten der Menge, und es ließ sich nicht recht unterscheiden, wer zur Baustelle gehörte und wer Gast war. Zudem waren die Menschen in ständiger Bewegung, suchten den besten Platz, um als erste das Wasser zu sehen, das hier in der Wüste so lebenswichtige Bedeutung hatte. Einer der Arbeiter klopfte dem Minister auf die Schulter. Werner hörte, wie er ihm zuraunte: „Du bist leichtsinnig, Kollege, ohne Tropenhelm - und das in der Nähe vom Wüstenblitz.“ „Wieso?“ fragte der Minister. „Bist du ein Neuer? Ist doch Vorschrift!“ „Ich habe noch keinen“, raunte der Minister zurück. Werner wandte sich ab. Was sollte er machen? Sirenen heulten auf und enthoben ihn der Antwort. Auf der Baustelle ruhte die Arbeit. Jubel brandete auf, Tropenhelme flogen durch die Luft. Das erste Wasser im Hafenbecken! Um elf Uhr versammelte sich das gesamte Leitungskollektiv. Es wurde eifrig diskutiert, Planstelle um Planstelle durchgesprochen, Namen wurden genannt und vom Minister bestätigt. Werner als Kombinatsund als Oberbauleiter, Manuela als Betriebsleiter für Hartsilikon, Kirik als Technischer Leiter des gesamten Kombinats, Jomo als Bauleiter der weiteren Baustufen... Nur eine Stelle wurde nicht besetzt: die des Betriebsleiters der Ölraffinerie. „Sie wollten uns einige Vorschläge dazu machen?“ erinnerte Werner den Minister. „Ja, wir haben einige Kandidaten in Kuibyschew. Der Genösse Kirik Mokrinski kennt sich doch in Kuibyschew aus, er fliegt am besten dort hin und sieht sich die Kandidaten einmal näher an. Einverstanden?“ Kirik nickte, er lächelte dabei. Dann wurde er ernst. „Sie sprachen vorhin von Doppelfunktionen, Genosse Minister... Nach meiner Bestätigung als Technischer Leiter des gesamten Kombinats, dessen erste Stufe demnächst zu produzieren beginnt, erscheint es mir ratsam...“ Er blickte sich in der Runde seiner Kollegen um. „Ich werde der Parteiorganisation den Vorschlag unterbreiten, mich von meiner Funktion
als Parteisekretär zu entbinden. Heino erscheint mir als Nachfolger geeignet. Ich möchte mich ganz der Produktion widmen.“ „Ihre Genossen werden diesem Wunsch gewiß entsprechen, Genosse Mokrinski“, sagte der Minister, „ich hoffe aber, daß Sie uns bei der Entflechtung zwischen der Baustellen- und der künftigen Stadtverwaltung helfen werden...?“ Als Werner nach der Besprechung ans Fenster trat, blinkte der Wasserspiegel des halbvollen Hafenbeckens herauf.
24 Tage später flog Kirik nach Kuibyschew. Ihn erwarteten nicht mehrere Kandidaten, wie der Minister zu Werner gesagt hatte, ihn erwartete nur Natascha. Er hatte sich bei ihr angemeldet. Sie empfing ihn schon auf dem Flughafen und winkte, als er die Gangway herunterkam. Herzlich schüttelten sie sich die Hände. Es war, als hätten sie sich erst gestern gesehen. Natascha hatte sich kaum verändert. Verblüffend jung, elastisch, gewandt und schlagfertig. Und vor allem heiter. Teufel, dachte Kirik, sie sieht nicht aus, als verzehre sie sich vor Liebeskummer, da werde ich wohl vergeblich kommen. Er betrachtete sie mit Wohlgefallen, als sie ihn in ihrer kleinen Wohnung Platz nehmen ließ und mit anmutiger Beweglichkeit den Tisch deckte. Eigentlich ist sie noch schöner als früher, fraulicher, dachte Kirik, er verstand nun noch deutlicher, warum Werner Natascha nicht vergessen hatte; eine solche Frau vergaß man nicht so schnell. Damit wurde ihm seine Mission nicht leichter. Immerhin war er ehrlich genug, sich einzugestehen, daß es bei ihm nicht so tief saß wie bei Werner. Aber bei dem kam wohl die Erinnerung dazu... Na, Schluß damit! Er begann von belanglosen Dingen zu sprechen, von Nataschas Wohnung, von ihrer gemeinsamen Studienzeit, fragte schließlich nach ihrer Arbeit und wie es ihr gefalle. Ihre Antworten waren heiter, manchmal witzig. Die Arbeit - gewiß, sie gefalle ihr, aber das hieße nicht, daß sie nicht noch befriedigender sein könnte. „Weißt du, ich bin Abteilungsleiterin. Aber man wächst mit den Aufgaben, und eines Tages wünscht man sich größere, an denen man seine Kräfte messen kann. Du bist da glücklicher, Kirik, hast eine große Aufgabe in der Sahara.“ „Und einen erstklassigen Chef!“ Natascha überhörte es. Kirik war sich nicht klar, ob sie es überhören wollte oder ob es im Klappern des Geschirrs tatsächlich untergegangen war. „Du bist noch schöner geworden“, sagte er, als sie ihm gegenübersaß. Natascha lachte. „Mach keine Witze!“ „Im Ernst!“ beteuerte er. „Du machst Komplimente? Das ist doch hoffentlich kein Rückfall, Kirik? Es täte mir leid.“ „Also bist du gebunden?“ „Fragen stellst du! Wäre das verwunderlich? Aber gebunden...? Hattet ihr nicht mal gesagt, ich stelle Ansprüche? Vielleicht hattet ihr recht.“ Das sagte sie leichthin, aber dann bemerkte sie Kiriks Ernst und fügte, ebenfalls ernster, hinzu: „Ich habe den Richtigen noch nicht gefunden.“ „Das ist ja großartig!“ entfuhr es ihm. „Ich fürchtete schon...“ „Kirik, du bist ein lieber, netter Kerl“, unterbrach sie schnell, „wir sind immer gute Freunde gewesen, laß uns das bleiben, ja? Aber deshalb bist du doch nicht gekommen. Fährst du auf Urlaub?“ „Jetzt, kurz vor der Einweihung der ersten Baustufe? Natürlich kam ich nicht deshalb, aber eine Rolle spielt es doch.“ „Dann sprich!“ „Werner braucht dich“, sagte er in seiner geraden Art. Sie blickte auf und sah ihn lange an. Zweifelnd, ablehnend. Ihr Gesicht verschloß sich und bekam einen herben Zug. „Nach Jahren!“ sagte sie schließlich bitter. „So einfach ist das? Man schweigt jahrelang, kümmert sich nicht darum, ob man eine Wunde aufreißt - und wenn es einem einfällt, sagt man einfach: Ich brauche dich! Schickt sogar einen Freund mit dieser Botschaft. Erwartet ihr nun, daß ich jauchze: Endlich! Ich komme, du brauchst nur zu rufen?“ Sie erhob sich und trat ans Fenster. „Nach Jahren... Wie viele versäumte Stunden liegen darin, wieviel vermißte Liebe...“ Kirik hatte sich von seinem Schreck erholt. Einen solchen Ausbruch hatte er bei ihrer Heiterkeit nicht erwartet. „Werner weiß nicht, daß ich bei dir bin.“ „Nun brauchst du nur noch zu verlangen, daß ich zu ihm gehe: Hier bin ich, eine gebrochene Mädchenseele, erbarme dich meiner! Ich bin kein albernes Gänschen, Kirik, das sich vor einem offenen Wort scheut, aber das kannst du nicht von mir erwarten. Werner ist gegangen ohne ein Wort. Wenn er mich wirklich brauchte, wäre er längst gekommen.“ „Werner hat dich nie vergessen. Aber er hat sich verrannt. Er ist einem Schuldkomplex verfallen und glaubt, du hättest ihn längst vergessen. Erst hat er deine Vorwürfe gefürchtet, wollte dir beweisen, daß er anders ist, als du ihn sehen mußtest; dann schien es ihm zu spät, er glaubte, das Recht verloren zu haben.“ „Und jetzt?“ fragte sie, ohne sich umzusehen. „Jetzt weiß er, daß du zwischen allem stehst, was auf ihn zukommt. Daß er nur dann glücklich werden kann, wenn du... Wie soll ich dir das nur erklären?“
Natascha kam zurück und setzte sich. „Du wirst mir alles erklären müssen, alles erzählen, was sich inzwischen ereignet hat.“ Und Kirik erzählte, von der Arbeit im Entwicklungskollektiv, von der Baustelle in der Sahara und auch von Manuela. „Woher weißt du das mit dem Mädchen?“ fragte sie. „Sie hat es mir anvertraut.“ Natascha sann. „Wie hast du dir das alles vorgestellt?“ „Ich bin im offiziellen Auftrag des Wirtschaftsrates hier. Ich soll dich fragen, ob du bereit bist, unsere Ölraffinerie zu leiten, das wäre die große Aufgabe, die du dir wünschst.“ Natascha schüttelte den Kopf. „Neben diesem Mädchen? Und das soll gut gehen?“ „Manuela hat mich eigentlich darauf gebracht, daß ich dich für diese Stelle gewinnen soll.“ Jetzt war Natascha überrascht. „Was? Sie hat es selbst...? Was seid ihr bloß für ein Kollektiv, Kirik, daß ihr sogar in diesen Dingen füreinander einsteht?“ „Du wirst begeistert sein“, erwiderte er rasch. „Kirik, so einfach ist das nicht. Ich muß mir das reiflich überlegen, jetzt kann ich dir keine Antwort geben.“ „Eines Tages wirst du sie Werner geben müssen. Er kommt dich suchen, und er wird dich finden, Natascha. Etwas Schuld hast du auch an der Sache. Weshalb hast du mir verboten, mit Werner über dich zu sprechen?“ „Weil er aus freien Stücken kommen sollte, unbeeinflußt. Deshalb habe ich auch seine Eltern gebeten...“ „Du kennst Hardensteins?“ „Brieflich, wir haben lange Zeit korrespondiert. Doch lassen wir das. Sicher habe ich auch Fehler gemacht, aber überlegen muß ich mir das erst, das kommt zu unverhofft. Und vergiß nicht, Kirik: Wir haben uns so in Erinnerung, wie wir vor Jahren waren, vielleicht sogar anders, unserem Idealbild angenähert. Ich telegrafiere dir. Eine Woche Bedenkzeit brauche ich.“ Die ersten Motorschiffe fuhren, über die Toppen geflaggt und mit heulenden Sirenen, in den Hafen ein und bereicherten die Symphonie der Arbeit um einen neuen Klang. Am Hafen begann das Kombinat zu leben. Die Kräne griffen in die Luken und hoben die ersten Kisten heraus. Ein Tanker brachte Dieselöl für den Kraftwagenpark. Auch die Lebensmittel kamen nun auf dem Wasserweg und füllten das Kühlhaus. Tage später erstarben die Geräusche der Kraftzentralen, Energie aus dem internationalen Verbundnetz floß in die Stadt. Sie hatte sich gemausert: Aus dem Bauplatz waren saubere Straßenzüge geworden mit schattenspendenden Palmen und blendendweißen Häusern, die sich bis zum Vorläufer des Gebirges hinüberzogen. Die Piste hatte einer breiten Betonstraße Platz gemacht, die sich schnurgerade durch die Wüste zog. Der Flughafen war von großen Hangars umgeben. Ein Empfangsgebäude erhob sich zwischen den Pfeilern einer kühngeschwungenen Raketenflugzeug-Startbahn. In den Produktionshallen herrschte peinliche Sauberkeit, nichts erinnerte mehr an die Bauzeit. Die einzelnen Aggregate hatten die ersten Probeläufe hinter sich. Von ihnen zogen sich die Transportbänder in geschlossenen Laufgängen bis hinüber zu den Großraumbaggern, die darauf warteten, sich mit mächtigen Zähnen in den Sand zu wühlen; sie zogen sich hinüber zum Hafen, um mit ihrem Fördergut die Schiffsbäuche zu füllen, und zu den Verladerampen für die Wüstentransporter, die vorerst für die Materialbeförderung eingesetzt wurden, bis später eine Bahnlinie am Kanal entlangführte. Auch im Kombinat waren die Betonstraßen palmengesäumt. Das Getriebe der Baustelle war weitergerückt und bildete mit seinen schwingenden Kranarmen, donnernden Hubschraubern, schwebenden Lasten, mit dem regen Verkehr der Fahrzeuge und den halbfertigen Produktionshallen einen bewegten Hintergrund; das unterstrich die Stille, die noch in dem unbewohnten Stadtteil herrschte, der aber bald mit Leben und Rhythmus erfüllt würde. Schon erhoben sich Fahnenmasten, Scheinwerfer wurden montiert und Illuminationsketten gespannt. Der Festausschuß hatte Mühe, die Arbeit zu bewältigen, denn täglich kamen Stöße von Vorschlägen aus den Reihen der Belegschaft. Ein Fest wurde vorbereitet, ein Fest der Hunderttausend, die in der Sahara mitgeholfen hatten und zum Teil schon abgelöst und in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Sie alle würden kommen und die Einweihung feiern. Alle Abteilungen nahmen an den Vorbereitungsarbeiten teil, überall entstanden zusätzliche Aufgaben, vor allem aber in den Abteilungen Handel, Transport, Flugverkehr, Finanzen und technische Werkstätten. Eine zweite Stadt wuchs unter den Palmen der alten Oase: Tropenzelte für die Unterkunft der Gäste, die in den Hotels keinen Platz finden konnten, komfortabel eingerichtet mit Betten, Campingmöbeln und Licht. Und für die Abendstunden: Freitanzflächen, Freilichtbühnen, Verkaufsstände. Die technischen Werkstätten hatten vollauf zu tun, diese Aufgaben zu bewältigen, denn ihre reguläre Arbeit durfte nicht darunter leiden. Die Abteilung Hochbau errichtete blinkende Aluminiumhallen, Flachkuppeln mit beweglichen Seitenwänden, die man nach Belieben öffnen oder staubdicht verschließen konnte. Die Kuppeln ruhten auf Säulen und waren für die kühlen Nächte mit Infrarotstrahlern ausgestattet. Der weite Innenraum wurde mit Spannteppichen ausgelegt. Diese Hallen ließen sich vielseitig verwenden: als
Restaurants mit Tanzflächen, Theater mit Behelfsbühnen, Konzerthallen, Dächer für Ladenstraßen, Zirkusgebäude, Lagerhallen und Maschinenunterkünfte. Man war reges Kulturleben gewohnt, denn viele Künstler waren während des Baus gekommen und hatten ihre Verbundenheit mit den Freiwilligen bewiesen. Dieses Fest aber sollte ein Höhepunkt werden, der alles bisher übliche in den Schatten stellte. Über zweitausend Kulturschaffende hatten sich angesagt. Wenn Werner auch nicht der Vorsitzende des Festkomitees war, so blieb er doch der Hauptverantwortliche und mußte in allen wichtigen Fragen entscheiden. Da war keine Zeit für abschweifende Gedanken, denn auch die Baustelle und selbst die fertige Baustufe erforderten seine Aufmerksamkeit. So begnügte er sich mit Kiriks Versicherung, daß der Betriebsleiter für die Ölraffinerie am Vortage der Einweihung eintreffen würde. „Hast du die Unterlagen mit?“ hatte er nur gefragt. „Du steckst jetzt derart in der Arbeit, Werner - ich habe sie mir angesehen, der Wirtschaftsrat hat sie überprüft. Du kannst dich dann persönlich ausgiebig mit ihm befassen“, hatte Kirik erwidert und von etwas anderem gesprochen. Zwei Tage vor dem Fest wurde für Werner persönlicher Besuch gemeldet. Seine Eltern standen vor ihm. Er freute sich sehr, denn sie hatten geschrieben, sie wüßten noch nicht, ob sie kommen könnten. „Also doch tropenfest?“ fragte er und umarmte sie. Vater blickte sich im Zimmer um, Mutter sah nur ihn und strahlte. „Eine Woche können wir bleiben, wenn du uns unterbringen kannst“, sagte sie. „Ihr wohnt bei mir. Jetzt habe ich viel zu tun, aber wenn ihr bleibt, habe ich nach der Einweihung mehr Zeit für euch. Doch nun setzt euch!“ Er sagte der Sekretärin, daß er für eine Viertelstunde nicht zu sprechen sei, und war ungehalten, als es kurz darauf klopfte. Es war Kirik. „Entschuldigung, ich hörte, daß deine Eltern angekommen sind, und wollte wenigstens guten Tag wünschen. Was steht denn jetzt auf deinem Terminkalender? Baustelle! Das übernehme ich. Die Besprechung mit dem Festkomitee auch. Keine Widerrede, Genosse Hardenstein! Zeig deinen Eltern die Stadt.“ Werner sträubte sich, aber Kirik setzte sich durch. „Mach keinen Unsinn. Mein Vater ist zu alt. er kommt nicht, aber wenn er käme, würdest du genauso einspringen.“ Als sie durch die Stadt gingen, blickte Vater bei jedem Hubschraubergeräusch nach oben. Werner amüsierte sich. „Fliegende Kräne, Vater“, sagte er, ohne hinaufzusehen, „davon haben wir ein ganzes Geschwader.“ Doch Vater ließ sich nicht davon beeindrucken und stand selbst in Werners Wohnung ständig am Fenster, verfolgte jeden Hubschrauber mit seinen Blicken. Mutter schmunzelte dazu, nachsichtig, wie es Werner schien. „Sieht man nicht alle Tage“, sagte Vater. „Diese mächtigen Brocken mit ihren langen Beinen und den großen Behältersegmenten. Was montieren sie denn?“ „Destillierkolonnen der zweiten Baustufe“, erwiderte Werner, der unterdessen seiner Mutter die Wohnung zeigte. „Komm mal her, Werner! Ist das auch ein fliegender Kran?“ fragte Vater vom Fenster her. Werner trat hinzu und stutzte. Was war denn das? „Was will denn dieser Zwerg bei uns?“ Der Hubschrauber kam näher. Werner schloß die Augen und öffnete sie wieder. Das war doch... Er blickte zum Vater, ungläubig, sprachlos, sah wieder hinauf. „Unser Huckepack? Trautenhahn?“
fragte er zweifelnd. „Gehen wir ihn begrüßen“, sagte Vater und zog ihn hinaus. Der Hubschrauber war inzwischen herangekommen. Ein anderer Hubschrauber hielt sich neben ihm, er gehörte zur Baustelle und wies Trautenhahn offensichtlich ein. „Aber da muß doch Jumbo dabeisein, Trautenhahn kann doch nicht fliegen. Was haben die denn drunter? Das ist doch - mein Wagen!“ Drei Häuser weiter war ein freier Platz, auf den später Grünanlagen kommen sollten. Auf ihn hielten die Maschinen zu. Langsam ließ sich der Kombihubschrauber nieder, setzte ganz behutsam auf. Der Wagen fuhr unter ihm hervor. Der Motor des Hubschraubers verstummte, die Teleskopbeine schoben sich ineinander, und die Maschine ging, wie eine Glucke über ihre Küken, zu Boden. Aus der Kabine der Maschine kletterte Stolteroff und wischte sich den Schweiß ab. Aus Werners Wagen stiegen Trautenhahn, Evelyn und zwei andere Kollegen aus Werners ehemaliger Brigade. Der Hubschrauber über ihnen drehte wieder ab. „Wir kommen als Delegation deiner alten Brigade“, sagte Trautenhahn. „Wollten doch mal sehen, ob du uns Ehre machst.“ „Und mein Wagen?“ „Wir dachten, du bastelst immer noch so gern.“ Werner lachte hellauf. „Ich habe hier genug zu basteln, mehr, als mir lieb ist. Aber schön, daß ihr ihn mitgebracht habt. Jetzt haben wir vernünftige Straßen, und außerdem können wir mal prüfen, wie er die Verhältnisse hier verträgt.“ „Sagte ich's nicht? Bloß kaputtmachen!“ sagte Trautenhahn. „Und dazu die Arbeit?“ „Es war gar nicht so einfach“, erklärte Stolteroff, „deinen Wagen an unsere Hummel so anzupassen, daß die Flugsicherung den Flug genehmigte. Aber das Schlimmste war, daß an deinem Wagen keine Kupplung für die Steuerung ist und ich so den ganzen Flug über von der Kabine aus steuern mußte, während die anderen sich unter mir in den Autopolstern gemütlich ausstreckten und den Flug auf meine Kosten genossen.“ „Tröste dich, Jumbo, du wirst Ehrengast Nummer eins und darfst dich jetzt ausruhen.“ „Danke! Habt ihr's gehört? Ehrengast!“ Er warf sich in die Brust. „Das entschädigt mich für alle Mühsal. Aber ich muß trotzdem erst die Maschine zum Flugplatz schaffen. Was meinst du, welche Überredungskunst nötig war, um vom Leiter eurer Flugsicherung diesen Stadtflug genehmigt zu bekommen. Du seist so schrecklich genau mit den Sicherheitsvorschriften, hat er gesagt. Den Mund haben wir uns fusselig geredet. Dann hat er Kirik angerufen. Aber erst als ihm Kirik versicherte, daß er sich von dir den Kopf abbeißen ließe, hat er's gestattet, mit Wachhund, wie du gesehen hast. Strenge Sitten hast du eingeführt - oh, wie haste dir verändert!“ „Das war die längste Rede unseres Gewerkschaftsonkels seit mehreren Jahren“, sagte Evelyn. „Gewerkschaftsonkel?“ Stolteroff schüttelte bekümmert den Kopf, zeigte auf Trautenhahn, sagte: „Deine Erziehung!“ und ging im Gelächter der anderen zur Maschine. Am nächsten Morgen, Werner las gerade den Baustellenbericht vom Vortage durch, den ihm Kirik auf den Platz gelegt hatte, schreckte ihn das Telefon auf. Seufzend griff er zum Hörer. Wann würde er einmal Ruhe haben? „Hier ist Kirik. Werner, der Leiter für die Ölraffinerie ist eingetroffen, können wir gleich mal rüberkommen?“ „Ich bin gerade beim Bericht, hat das nicht noch Zeit? In einer halben Stunde, ja?“ „Ich dachte nur, weil er doch Natascha kennt.“ Das warf ihn fast vom Stuhl. „Wen? Natascha? Woher weißt du das?“ „Das sagt er dir in einer halben Stunde selbst.“ „Bring ihn sofort zu mir, Kirik!“ „Aber der Bericht?“ „Hat Zeit!“ Dann kam Kirik. Allein. „Er wartet im Vorzimmer. Werner. Ich wollte dir vorher nur sagen, daß unser Verhalten in mancher Stunde über unser ferneres Leben entscheidet, daß es Jahre auszulöschen vermag.“ „Was soll das?“ „Draußen wartet die neue Leiterin der Raffinerie. Ich sage: Leiterin.“ Werner wußte später nicht mehr, was in dieser Stunde alles geschehen war. Er sah nur Natascha, zweifelnd, ob es wahr sei, mit einem Glücksgefühl, das ihm die Brust zu sprengen schien, und mit aufkeimender Furcht, sie wieder zu verlieren. So standen sie sich gegenüber, zögernd reichte er ihr die Hand, hielt sie behutsam fest. „Natascha!“ In diesem Wort lag alles, was er fühlte, alles, was er ihr sagen wollte. Es war Bitte und Hoffnung. Und es besaß die Kraft, vieles auszulöschen, was sich an Bitternis in den Jahren zwischen ihnen angehäuft hatte.
Schließlich wollte er erzählen, doch Natascha unterbrach ihn. „Laß jetzt das Vergangene, Werner, wichtiger ist die Zukunft. Wie soll es werden? Wir müssen uns neu kennenlernen, neu ergründen und neu liebenlernen.“ „Blieb die Liebe nicht zwischen uns?“ fragte er. „Aber sie ließ Zweifel zu, Mißtrauen. Laß uns neu beginnen!“ Die Stadt trug ein Festkleid. Fahnen aller Länder, Girlanden und Lichterketten in den Fenstern, über den Straßen. Festlich gekleidete Menschen. Die Arbeit ruhte für drei Tage. Morgens Musik auf allen Plätzen. Am Vormittag die Festkundgebung. Unter dem Jubel der Hunderttausend wurde die Oase offiziell zur Stadt erklärt und damit aus der Baustellenverwaltung herausgelöst. Nun würde es für Werner leichter werden. Den Belegschaftsangehörigen der ersten Baustufe wurden die Schlüssel für ihre Wohnungen ausgehändigt, sie bildeten den Kern der bleibenden Stammbelegschaft des Kombinats und waren nun Bürger dieser Stadt, die den Namen „Völkerfreundschaft“ erhielt. Es waren Freiwillige, die sich entschlossen hatten, hier zu bleiben. In den nächsten Tagen würden sie aus den mit vier Mann belegten Zimmern der Bauarbeiter in komplette Wohnungen umziehen und ihre Angehörigen zu sich nehmen können. Die Schule mußte den zuziehenden Kindern ihre Pforten öffnen. So mancher Mann und so manches Mädchen würden heiraten, den geliebten Menschen aus der Heimat, die Kollegin von der Baustelle. Das Standesamt der Stadt würde Arbeit bekommen. Zum kommissarischen Bürgermeister wurde Manuela ernannt, die sich durch ihre soziale Betreuung die Zuneigung aller errungen hatte. Ihr Stellvertreter wurde Kirik. Er blinzelte ihr vergnügt zu: „Ob das gut geht mit uns beiden?“ „An mir soll's nicht liegen“, sagte sie herzlich. Kirik freute sich auf diese gemeinsame ehrenamtliche Arbeit. Wenn diese Funktion auch nicht langfristig war - sie galt nur für die Entflechtung zwischen Stadt- und Baustellenverwaltung; danach würde ein hauptamtlicher Bürgermeister gewählt und ihnen die Möglichkeit gegeben, sich ganz ihren beruflichen Aufgaben zu widmen - , so hoffte er doch, diese ehrenamtliche Arbeit möge sie näher zusammenbringen. Dann stand Werner auf der Tribüne. Er ließ noch einmal die vergangenen Monate lebendig werden, sprach von der Begeisterung, die alle Schwierigkeiten überwunden hatte, dankte seinen Mitarbeitern für die Leistungen, die sie alle vollbracht hatten, und gab einen Ausblick auf die weitere Arbeit. „Es liegt noch viel vor uns. Viele Schwierigkeiten, die wir noch überwinden müssen, aber auch viele schöne Stunden echter Gemeinsamkeit!“ Bei diesen Worten blickte er zu Natascha. Sie nickte ihm zu. „Ein neuer Abschnitt liegt vor uns, schwer wie der erste, aber bereits begleitet vom lebensvollen Klang dessen, was wir geschaffen haben. Unser Werk beginnt zu leben und der Gemeinschaft die Werte zurückzugeben, die sie so opferfreudig für seinen Bau aufgebracht hat...“ Er drückte auf den Hebel, der symbolisch am Rednerpult befestigt war. Ein grüner Scheinwerfer flammte auf. Die Räder der Förderbrücken begannen sich zu drehen.