Das neue Abenteuer 486
Otto Bonhoff: Porzellanraub
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Mit Illustration...
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Das neue Abenteuer 486
Otto Bonhoff: Porzellanraub
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Mit Illustrationen von Günther Lück ISBN 3-355-00528-2 © Verlag Neues Leben, Berlin 1987 Lizenz Nr. 303 (305/137/87) LSV 7503 Umschlag: Günther Lück Typografie: Christel Ruppin Schrift: 9 p Timeless Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 644 317 3 00025
1. "Ein Mord im Meerbusen von Neapel - und das mitten in Berlin, Herr Kommissar!" sagte Polizeileutnant Schubert vom 6. Revier. Dessen Dienstbereich umfaßte das Gebiet zwischen Spreeufer und Unter den Linden, vom Lustgarten bis zum Pariser Platz und damit auch die Georgenstraße. "Angesichts der Besonderheit dieses Vorgangs hat das Revier auf eigene Erhebungen verzichtet und sofort zum Molkenmarkt geschickt. War das in Ihrem Sinn?" "Durchaus", versicherte Kriminalkommissar Andreas Kronberg, "die meisten Verbrechensmeldungen erreichen das Polizeipräsidium erst, wenn die Spuren schon kalt sind." Die Schnelligkeit, mit der er diesmal gerufen worden war, erfüllte ihn von vornherein mit Zuversicht. Sein Jagdfieber erwachte. Die Zeitspanne, die zwischen dem Abschluß seines Jurastudiums, der Assessorenarbeit am Kammergericht und der Berufung zum Kriminalkommissar lag, hatte nicht ausgereicht, ihn abzustumpfen. Er tat nicht gleichgültig seine Pflicht; er konnte noch Feuer und Flamme sein. In dieser Nacht des Jahres 1832 lagen schwere Regenwolken über der preußischen Hauptstadt. Sie verdeckten die Sterne. Nur die Gaslaternen, die leise zischten, beleuchteten die Georgenstraße und zeichneten gelbe Lichtkreise aufs grobe Pflaster. Ringsum herrschte Stille. Alle Fenster waren dunkel; auf der Straße standen nur der Leutnant, ein Schutzmann vom 6. Revier, der uniformierte Kutscher der Polizeidroschke, Kronberg, Kriminalsergeant Wilhelm Erdmann und zwei zur Kriminalpolizei komman-
dierte Gendarmen in Zivil. Vom Turm der Hof- und Domkirche am Lustgarten schlug die Uhr gerade die zweite Morgenstunde, weithin hörbar in der Lautlosigkeit. Kronberg sah an der hohen, dreigeschossigen Fassade empor, deren mittlere Fensterreihe die doppelte Höhe der beiden anderen erreichte. Nirgendwo brannte Licht. Diese Feststellung enttäuschte ihn. Freilich mochten die Leute vom 6. Revier ihn sofort nach der Entdeckung des Tatopfers verständigt haben, aber laut Anschlag an der Tür hatte die letzte Vorstellung des Pleoramas "Fahrt in den Meerbusen von Neapel - von Ischia nach Sorrent" um sieben Uhr abends begonnen und eine Dreiviertelstunde gedauert. War der Mord in jener Zeit geschehen, lag er bereits sechs Stunden zurück. Keine heißen Spuren mehr, zum Verzweifeln! Doch er hatte sich geirrt. Auf die Frage, wer den Leichnam wann gefunden habe, erwiderte Schubert: "Es ist wenige Minuten nach ein Uhr geschehen, Herr Kommissar. Da gingen die Theaterarbeiter des Herrn Gropius daran, die Dekorationen abzubauen. Ab morgen steht ,Eine Rhein-Reise von Mainz nach St. Goar' auf dem Programm. Man gibt bereits um neun eine Vorstellung. Nur des Wechsels wegen ließ sich Herr Gropius bewegen, um Mitternacht noch eine Privatvorführung des alten Stücks für Interessenten zu veranstalten. Der Umbau begann sofort nach dem Aufbruch der Gäste. Ich dachte in Ihrem Sinn zu handeln, als ich Herrn Gropius bat, vorerst nichts zu verändern. Er selbst und sein Personal erwarten Sie oben." Kronberg sagte dem Leutnant, der die Hacken zusammenschlug und sich verbeugte, seine Anordnungen seien ganz ungewöhnlich umsichtig gewesen, und ging schnell
auf das Gebäude zu, das der berühmte Baumeister Schinkel mitgestaltet hatte. In tiefer Dunkelheit lagen das Luxusartikelgeschäft im Untergeschoß und auch die Bildergalerie darüber. Daneben jedoch, im Pleorama-Saal an der Rückfront des Hauses, erzeugten viele Gaslampen noch immer gleißende Helligkeit und täuschten jenes Licht einer südlichen Sonne vor, das zur Illusion einer Bootsfahrt bei Neapel in diesem optischen Theater gehörte. Im Pleorama-Saal wirkte die Maschinerie dieser Bühne der Täuschungen jetzt grotesk, ja primitiv. Die gemalten deckenhohen Leinwandbilder, die während der Vorführung zu beiden Seiten vorübergezogen wurden und so beim Zuschauer den Eindruck des Dahinfahrens in einer Landschaft erzeugten, hingen ohne Spannung an den Laufschienen. Sorrent warf Falten. Dies nahm, so genau und richtig in der Perspektive Meter um Meter der beiden Rollbilder auch gemalt worden waren, dem Ganzen jeden Schein von Wirklichkeit. Ob sie gegeben sein mochte, wenn die müde am Boden sitzenden Theaterarbeiter die Handkurbeln des Transportmechanismus drehten, wagte Kronberg nicht zu beurteilen. Die Lokalpresse pries die Pleoramen. Kronbergs Aufmerksamkeit richtete sich sogleich auf die Prachtbarke im vorderen Teil des Saales. Dieses Schiffsmodell in Originalgröße nahm während der Vorstellung die Zuschauer auf. Es stand auf einer Art Wippe, die während der "Fahrt" bewegt wurde und den Gästen die Empfindung vorgaukelte, sich wirklich auf einem fahrenden Schiff zu befinden. Sie sahen die Schaukel übrigens nicht, weil sie verkleidet und durch eine "Anlegestelle" verdeckt war, die nach dem "Auslaufen" der Barke weggezogen
wurde. Kronberg entsann sich, in einem Bericht über das Pleorama gelesen zu haben: "Das Schiff bleibt stehen, während das Land vorbeizieht." Derzeit war lediglich eine farbenbekleckste Leiter an die Bordwand gelehnt, und oben auf Deck stand ein Schutzmann und sah den Kriminalisten erleichtert entgegen. Er bewachte den unmittelbaren Tatort. Ein eleganter Mann in schönem nachtblauem Frack zu zimtfarbenen Hosen trat Kronberg an der Leiter entgegen und stellte sich als Carl Gropius vor. "Königlicher Theaterinspektor. Sie wissen natürlich, daß ich das Anwesen hier einem Akt wohlwollender Gnade Allerhöchstdesselben verdanke." Herr Gropius gab zu verstehen, daß er kein Irgendwer, sondern eine Respektsperson war und als solche behandelt zu werden wünschte. Der Kommissar verstand den Hinweis richtig. Er antwortete, daß er sich geehrt fühle, den großen Dekorationsmaler kennenzulernen. Er habe seinerzeit mit Genugtuung gelesen, daß der Zar zur Eröffnung des Alexandra-Theaters in St. Petersburg dreißig große Dekorationen im Atelier Gropius bestellte. "Doch haben Sie die Freundlichkeit, mich hinaufzubegleiten? Bitte, mich wissen zu lassen, wie und durch wen der Kasus entdeckt worden ist." Mit einer Gewandtheit, die auf beruflicher Übung beruhte, stieg Gropius als erster die Leiter hinauf. Aus dem Rumpf ragten zu beiden Seiten je zehn lange Ruder heraus. Der Blick durch eine der Luken verriet Kronberg, daß diese zwanzig Riemen während der "Fahrt" mittels eines verbindenden Gestänges von einem oder höchstens zwei Männern bewegt werden konnten. "Die Serviererin aus dem Salon hat den Toten gefunden'', erklärte Gropius. "Im Salon am Heck kann man
einen kleinen Imbiß und Wein nehmen; italienischen Wein auf dieser Reise, versteht sich. Ab morgen wird Rheinwein kredenzt. Viel wird da nicht eingenommen, aber es ist ein Teil der Illusion. Die Mehrzahl der Gäste zieht einen Rundblick vom Promenadendeck vor." Er schwang sich über die gedrechselte Reling und stand nun auf Deck. "Als alle sozusagen ,von Bord' waren - der Steuermann und Cicerone, also der Fremdenführer, ging Demoiselle Liesgret noch einmal herum, um abgestelltes Geschirr einzusammeln. Es sind ja nur wenige Schritte vom Niedergang zum Salon bis zum Deckpavillon mittschiffs. Ja, und dort schrie sie. Da wurden wir aufmerksam. Ich habe dann gleich zum Revier geschickt. Alles! Bleibt nur zu hoffen, daß der peinliche Vorfall mein Haus nicht in Verruf bringt. Das wäre entsetzlich; ich habe hohe Unkosten." Die Leiter lag am Vorschiff an, dicht hinter der Galionsfigur. Bis zur Mitte der Barke war das "Promenadendeck" offen und wahlscheinlich bevorzugter Aufenthaltsort aller Schaulustigen. Der erwähnte Pavillon schloß sich an, von Bord zu Bord gebaut, überdacht und mit großen Seitenfenstern versehen. Weißlackmöbel mit geblümten Polstern luden hier zum Sitzen ein. Durch schmale Gänge kam man nach hinten auf ein sehr kurzes Stück Deck, an das sich achtern bis zu halber Pavillonhöhe der Salon mit seinem Niedergang anschloß. Auf dem Dach des Salons stand während der Vorführung der "Fremdenführer" an der funktionslosen langen Ruderpinne. Jetzt war das Ruderdeck leer. Am hinteren Pavillonzugang wartete der Schutzmann. Und da lag auch der Tote. Er war mit dem Kopf vornüber auf ein Tischchen gefallen; es sah aus, als schlafe er auf besonders unbequeme Weise.
"So wurde er entdeckt", sagte Gropius. "Als die Demoiselle eintrat, sah sie das Blut. Da hat sie geschrien." Kronberg trat näher heran und betrachtete die dunkle, im grauen Filzteppich des Pavillons versickernde Lache. Der Tote hatte aus einer klaffenden Halswunde sehr viel Blut verloren. Als er vornüber gefallen war, lief es auf die marmorierte Tischplatte und tropfte von dieser herab. "War ein Arzt da?" fragte der Kommissar. "Herr Medizinalrat Doktor Schirmer", sagte Gropius. "Unser Nachbar, sozusagen. Aber jede Hilfe kam zu spät. Nach Doktor Schirmers Ansicht muß der mit einem breitklingigen, scharfen Messer sehr wuchtig geführte Stoß von der Seite her auf der Stelle tödlich gewesen sein. Es hat nicht einmal einen Schrei gegeben. Das weiß ich genau; ich stand gegen Ende der Vorstellung mit allen übrigen Gästen auf dem vorderen Promenadendeck. Man hat mir dort, nebenbei bemerkt, viel Lobendes und Schönes über das Gesamtarrangement gesagt. Nun, dies bin ich gewohnt. Ich erwähne es lediglich, um Ihnen klarzumachen, daß es töricht wäre, den Messerstecher etwa unter meinen Gästen, Herren und Damen von Stand, suchen zu wollen." Daß der Inhaber des Hauses selbst "an Bord" gewesen war, überraschte Kronberg. Er fragte beiläufig, ob persönliche Teilnahme üblich sei. Der Königliche Theaterinspektor und weit über Preußens Grenzen hinaus zum Begriff gewordene Dekorationsmaler lächelte mitleidig. "Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, Herr Kommissar, Gott sei's geklagt! Nun, man arbeitet ja gern . Wäre es nicht die vorerst letzte Aufführung gewesen und hätte ich mit ihr nicht einem Wunsch meines langjährigen Gönners und Freundes, des Herrn Geheimen Finanzrates von Wredebach, entsprochen, keine zehn
Pferde hätten mich auf die Barke gekriegt! Es war natürlich eine Ausnahme. Nun erwarten Sie aber nicht von mir, daß ich Ihnen die Namen der Gäste meines Freundes nenne! Ich kenne sie nicht, wenigstens in der Mehrzahl nicht. Ausländische Geschäftspartner, verstehen Sie? Sie wollten Berlin nicht verlassen, ohne hier gewesen zu sein. Dieses Haus hat ja, mal abgesehen vom etwas älteren ,Diorama' in Paris, nicht seinesgleichen auf der Welt. Ich habe die an der Seine entstandenen Künste natürlich weiterentwickelt und verbessert." "Natürlich!" antwortete Kronberg. Der Kommissar notierte in seinem Taschenbuch: "Gästeliste - von Wredebach" und stellte durch Rückfrage fest, daß der Ermordete für Gropius ein Fremder gewesen war, ein Mann aus Paris wohl, seinem miserablen Deutsch und flüssigen Französisch zufolge. Carl Gropius hatte nur einige unverbindliche Floskeln mit ihm gewechselt. Sergeant Erdmann kam jetzt die Leiter herauf und meldete, die beiden anderen Beamten seien noch mit der Einvernahme des Theaterpersonals befaßt. Er habe jedoch wenig Hoffnung, daß sie mit ihren Erkundungen fündiger würden als er. Wie er sich überzeugt habe, wäre den Arbeitern, die die Rollbilder bedienten oder die verschiedenfarbigen Glasschirme an den Gaslampen austauschten, durch Dekorationen die Beobachtung der Barke völlig unmöglich. Zu hören sei nach Angaben der "Blusenmänner" auch nichts gewesen als von Musik und den lauten Erklärungen des Fremdenführers sowie vom Wasserplätschern in einem Becken überlagertes Sprechen auf dem Promenadendeck. Es sehe ganz so aus, schloß der Sergeant, als könnten lediglich Passagiere und "Besatzung" des Schiffes überhaupt zweckdienliche Angaben machen.
Kronberg nahm dies zur Kenntnis. Er forderte Erdmann auf, die Taschen des Toten zu leeren, und rief in den Saal hinab nach Demoiselle Liesgret. Gleich darauf kam die Serviererin aus dem Niedergang des Salons, ohne die Leiter benutzt zu haben, ein schlankes Mädchen mit brünetter Haut und schwarzen Locken. Sie sah den Kommissar erstaunt an, als er wissen wollte, welchen Weg sie genommen hätte. "Den üblichen, Monsieur!" erwiderte sie. "Unten durch die Tapetentür in den Gestängeraum. Von diesem durch meine Vorratskammer unter Deck in den Salon hinauf. So kommt auch meine Ware ins Schiff. So weit geht die Liebe hier nun wieder nicht, daß wir umständlich von oben laden. Es muß bloß alles echt aussehen, aber es ist eben Theater. Da wird immer gemogelt - bloß merken darfs keiner." Kronberg beugte sich über die Reling, blickte hinab auf den silbrig glänzenden Fußboden mit gemalten Wellen und Schaumstreifen. Wenn sich jemand der Barke leise von hinten näherte, dicht am Rumpf unterhalb der mechanisch bewegten Riemen bis zur geschickt in den Schiffskörper eingepaßten Tapetentür lief und durch diese ein- und nachher wieder ausstieg . Die Männer an der Schaukel unbemerkt zu passieren wäre kaum schwierig gewesen; der beim Erscheinen der Polizei offene Zugang zur Verkleidung der Wippe blieb während der Vorstellung selbstverständlich geschlossen. Es galt zu prüfen, ob im Schiffsrumpf die Möglichkeit bestand, unbeachtet sowohl an der Bedienung des Mechanismus als auch an den Mandolinenspielern vorüberzukommen. Andreas Kronberg musterte das Mädchen in der neapo-
litanischen Volkstracht und mit einer künstlichen Rose im Haar. Der Mörder hatte doch an ihr vorbeigehen müssen, sofern er ihren eigenen Weg nach oben und zurück nahm. Sie mußte ihn gesehen haben. Mußte sie? Der Kommissar bat sie, zu schildern, was sie in der letzten Viertelstunde der Fahrt getan und wo sie sich aufgehalten habe. "Ja, wo war ich denn?" wiederholte Liesgret unbefangen. Sie lehnte sich an die Reling und verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust. "Eine Viertelstunde vor Schluß ." "Ischia längst achteraus", half Gropius ungeduldig, "und auf der anderen Seite ist Pompeji schon vorüber. An Steuerbord rückt die Insel Capri auf uns zu, an Backbord auf steilen Felsen Sorrent. Weitab von Capri steht eine Brigantine mit schlaffen Segeln unbeweglich da ." "Der Champagner, na klar!" entsann sich Liesgret. "Der ist sonst nicht im Programm, aber weil es doch Freunde vom gnädigen Herrn waren, hatte mir Herr Gropius aufgetragen, Champagner zu reichen, sobald Herr Pzybilla anfange, über Capri zu reden. Weil alle vorn standen bis auf den Mann im Pavillon, bin ich mit meinem Tablett dorthin getrabt. Im Vorbeigehen habe ich dem da drin ein Glas hingestellt. Da war er noch sehr munter und sagte, ich hätte aber aufregende Augen. Nachher bin ich vorn geblieben, damit die Gäste ihre Gläser wieder aufs Tablett stellen konnten. Im Salon war doch sowieso nichts los. Die Herrschaften tranken langsam, eben nicht wie durstige Kutscher ihr Bier. Es zog sich hin, bis das Laufbrett herübergeschoben wurde und die Passagiere von Bord gingen, wie wir sagen sollen. Ich ging also nach hinten ." "An dem Toten vorbei! Oder war er nicht da?" unter-
brach Kronberg. Liesgret zögerte. "Das Tablett war voll und schwer", sagte sie dann. "Zwischen den Möbeln ist schlecht durchzukommen. Zerschmeiße ich was, kostet's mich mein Geld, und gewaltige Trinkgelder gibt es hier nicht! Ich habe den Mann gesehen, wie ich ihn dann fand, ja, aber in der Dunkelheit dort und bei flüchtigem Hinschauen . Da habe ich gedacht, ihm sei was runtergefallen und er hebe es gerade auf. Wer ahnt immer gleich was Böses! Im Salon habe ich mich erst mal auf meinen Allerwertesten gesetzt; Sie machen sich keine Vorstellung, wie diese Kostümschuhe drücken! Aber als ich dann losging, herumstehendes Geschirr einzusammeln, saß der Monsieur immer noch so da. Jetzt habe ich es entdeckt. Und losgekreischt. Ich dachte, mich trifft der Schlag." "Als die Demoiselle schrie, kam ich gerade von der Straße zurück. Ich hatte meine Freunde zu ihren Wagen begleitet", sagte Gropius. "Es war spät, jedermann in Eile, und ich . Wir wollten ja umbauen. Können wir jetzt damit beginnen? Zu morgen sind allerhöchste Personen angesagt. Das neue Pleorama, Sie verstehen? Das Leben geht weiter." Kronberg sah in den Saal und meinte, nach Lage der Dinge seien für ihn lediglich Schiff und Besatzung wichtig. Die brauche er noch. Da winkte Gropius ab. Das Schiff bleibe ohnehin stehen, weil diese italienische Prachtbarke - übrigens jener sächsischen nachempfunden, mit der August III. seine Verlobte Maria Josepha 1719 von Königstein nach Dresden holte - morgen mit ausgewechseltem Mobiliar und anderer Beflaggung auf dem Rhein schippern werde. "Und die Besatzung, Herr Kommissar, schenke ich Ihnen! Es handelt sich sowieso
nur bei den Mechanikern und der Demoiselle um ständiges Personal. Die Musiker und dieser angehende Theologe, der den steuernden Cicerone spielt, sind lediglich für das Stück engagiert. Beim Umbau stünden sie nur im Wege." Dann stieg er die Leiter hinab und trieb seine Leute zur Arbeit an. Nur die kleine Gruppe der Besatzungsmitglieder stand noch herum. Kronberg rief sie, nachdem er vorher die beiden Gendarmen heraufgebeten und eingewiesen hatte, aufs Promenadendeck zur Befragung. Er selbst forderte Liesgret auf, ihn durch die Barke zur Tapetentür zu führen.
Das Mädchen in neapolitanischer Tracht ging vor ihm her den Niedergang zum Salon hinab, der mit ebensolchen Möbeln ausgestattet war wie der Pavillon. Eine Art Schanktisch und dahinter ein Regal voller Flaschen, Gläser, Schalen und Speisebehälter verstellten die Heckwand.
Liesgret trat an die seitliche Verkleidung der herabführenden Treppe und öffnete mit einem Schlüssel aus der umgehängten "Geldkatze" eine in der Holztäfelung versteckte Tür. Die Vorratskammer war unter dem Niedergang verborgen, vollgepackt mit Warenkisten und -körben und sehr eng. Sie schloß eine zweite, unkaschierte Tür nach vorn auf; Kronberg blickte in den schmucklosen Gestängeraum - rohes Holz, umgeschlagene Nägel -, in dem direkt vor der Tür in die Kammer vier alte, beschädigte Stühle standen. Hier musizierten die Mandolinenspieler. Ob die beiden Türen sonst nicht offen seien, fragte Kronberg. Das verneinte Liesgret. Sie sperre nur zur Warenübernahme und -entnahme auf und habe die Schlüssel stets bei sich. Das müsse sein; es wäre heiß hier unten und jeder Musiker von Beruf durstig. Was während der Vorstellung gebraucht werde, nehme sie vorher in den Salon. Bei der "Fahrt" blieben beide Türen immer geschlossen. Ja, was für die "Mitternachtsreise" gebraucht worden sei, habe sie schon gleich nach der Abendvorstellung geholt. Der Kommissar bedankte sich und kehrte in den Deckpavillon zurück. Hier hatte der Sergeant den Tascheninhalt des Toten auf einem der Tischchen ausgebreitet. Er hielt gerade eine Schreibtafel in sehr abgegriffenem Schweinsledereinband in der Hand und las, was der Tote auf den drei buchartig angeordneten dünnen Schiefertäfelchen notiert hatte, die durch leicht erhöhten Holzrand gegen ein wechselseitiges Verwischen der Griffelschrift geschützt wurden. "Namen, Herr Kommissar! Beginnend mit von Wredebach. Hinter anderen steht ein Fragezeichen, als sei der Schreiber nicht sicher gewesen, sie richtig verstanden zu
haben. Ich möchte wetten, daß dies die Gäste der Vorstellung gewesen sind!" Erdmann deutete auf den Tisch. "Ein französischer Passeport auf den Namen eines sechsunddreißigjährigen Vincent Tardieu aus Paris. Das Signalement in der Spalte links ist eindeutig das des Opfers." "Legen Sie Herrn Gropius die Liste vor", bestimmte Kronberg. Ohne Hast betrachtete er, was auf dem Tisch lag. Eine gestickte Börse mit zwölf Talern und sechs Silbergroschen in bar (l Taler - 30 Silbergroschen zu je 12 Pfennig). In der ebenfalls gestickten Brieftasche Postquittungen, wie man sie bei der Aufgabe von Briefen als Beleg für entrichtete Beförderungsgebühr erhielt, eine Bescheinigung des Gasthofs "Zwei Tannen" über eine Vorauszahlung von Zimmermiete, Visitenkarten Tardieus mit der Adresse Rue Cloche-Perce Nr. 12, Paris, aber ohne Berufs- oder Titelnennung, und der scharf gekniffte, in kalligraphischer Schrift ausgefüllte Passeport - eine erstaunlich leere Brieftasche ohne den üblichen belanglosen Kleinkram, der sich in jeder ansammelt! Davon fanden sich lediglich ein paar Billetts der Berliner Pferdeomnibusgesellschaft, die mit Kremsern den innerstädtischen Verkehr besorgte, gehaßt und verflucht von jedem Droschkenkutscher. Es sah jedoch aus, als wären diese Billetts bewußt gesammelt worden. Weiter waren da das übliche Federmesser, mit dem man sich meist die Nägel reinigte, ein mit "VT" gezeichnetes Schnupftuch, eine schwarzgebrannte Weidenrohrpfeife mit zerbissenem Stiel, ein Tabaksbeutel und ein Reibfeuerzeug mit Schwamm, ein Kneifer mit dunklen, aber ungeschliffenen Sonnenschutzgläsern. Nichts erklärte, was dieser Mann in kaffeebraunem Rock und Nankinghosen in der preußischen Hauptstadt gewollt, wie er Zugang zur
Gesellschaft des Herrn von Wredebach gefunden und warum er deren Mitglieder heute aufgeschrieben hatte. Erdmann kam wieder und berichtete, soweit Gropius die Teilnehmer der Mitternachtsveranstaltung bekannt gewesen seien, stünden sie alle auf Tardieus Liste, die er, nach Liesgrets Angaben, im Schiff geschrieben habe. Wozu sie notiert worden wären, könne er sich jedoch beim besten Willen nicht vorstellen. "Ich auch nicht", erwiderte Kronberg, "aber vielleicht bringt es uns weiter, den Grund herauszufinden. Wir fahren in die ,Zwei Tannen'. Das ist nicht gerade eines der Häuser, in denen sonst Ausländer absteigen!" Die Befragung der "Besatzung" ergab nichts. Die Männer unter Deck waren zu beeiden bereit, daß während der Vorstellung kein Fremder durch den Gestängeraum gegangen sei; Pzybilla berief sich darauf, er habe Blickkontakt zur Gemeinde vorn halten müssen und deshalb nicht auf Bewegungen zwischen Salonniedergang und Pavillon achten können. Sein Name sei Hase . Er war ein vergnügter Mensch mit gewaltiger Stimme, offenkundig machte ihm die Arbeit als "Gondoliere" Spaß. Wahrscheinlich finanzierte er sein Studium selbst. Andreas Kronberg wies die Gendarmen an, festzustellen, ob es außer Liesgrets Kammerschlüsseln weitere gebe und ob die Schlösser intakt seien. Ferner sollten sie vom Bühnenpförtner eine Aufstellung aller Bediensteten des Hauses verlangen, die zur mitternächtlichen Vorstellung erschienen waren. Er selbst und Erdmann machten sich auf den Weg zu den "Zwei Tannen". Es tagte bereits, als der Kommissar das Gebäude in der Georgenstraße verließ. Das Haus an der Unterbaumbrücke war kein Luxusquar-
tier wie etwa das "Hötel de Brandebourg" Ecke Charlotten- und Mohrenstraße; in den "Zwei Tannen" stiegen Fuhrleute ab. Die standen früh auf; sie mußten ja ihre Pferde versorgen.
2.
"Ach, du gottverfluchte Scheiße!" stieß der sommersprossige Hausknecht hervor, nachdem die Tür zu Tardieus Zimmer aufgeschlossen worden war. Die Kriminalisten - nun in ärmellosen Mänteln mit hüftlangen Umhängen, sogenannten Havelocks, weil es plötzlich und heftig zu regnen begann - hatten ihn aus der Futterkammer geholt, als er den Kutschern das Frühstück für ihre Gäule abmaß. Er war ohne Umstände mitgekommen, nachdem ihm Erdmann die Polizeimedaille mit dem Bild des Adlers über der Silhouette Berlins gezeigt hatte. Offenbar kannte er sie schon. Andreas Kronberg sah das Durcheinander in dem kleinen, anscheinend in aller Eile durchwühlten Zimmer, die auf den Dielen verstreuten Habseligkeiten Vincent Tardieus und das Fenster. Eine der Scheiben war von außen eingeschlagen worden, damit man innen an den Schließriegel herankam. Hätte das Fenster nachts offengestanden wie jetzt, wäre das unnötig gewesen. Der Kommissar trat näher heran. Diese, die Rückfront der "Zwei Tannen", war dem Nordufer der Spree zugewandt und lediglich durch einen schmalen Pfad von ihr getrennt. Man kam auf ihm mühelos ans Haus heran und konnte das Efeuspalier an der Mauer als Leiter benutzen. Die Spree lag still da. Am jenseitigen Ufer waren Frachtschiffe festgemacht, die üblichen 100-Fuß-Kähne (=
33 Meter) mit je einem V-förmigen Sprietsegelmast auf dem Vorschiff und einer unter die Ruderpinne geduckten "Hütte" achtern. Auf dem freien, aber umzäunten Gelände, vor dem sie lagen, stapelte sich ordentlich geschichtetes und sortiertes Bauholz. "Der Holzmarkt", erklärte Erdmann. "Aber die Kähne da", sagte plötzlich der Hausknecht unerwartet lebhaft, "bringen zum Teil auch Material für die Porzellanfabrik. Die hat ihr Lager ebenfalls dort. Das Kaolin für Berliner Porzellan wird aus Trotha bei Halle geholt, wissen Sie - auf der Saale in die Elbe, von der in die Havel und dann weiter in die Spree schippern die Schuten. Ich kenn das, weil ich Schiffsknecht gewesen bin, bis ich Selman geheiratet habe. Die kocht hier, und 'n Kerl, der dauernd weg ist, war ihr nichts. Wie die Weiber so sind! Na, meine Kröten verdiene ich hier auch, und ich habe immer gut zu essen. Die ewige Grütze aus so 'ner Schute, Sie, da wird einer schwermütig! Und immer Waldund-Wiesen-Tee bei der Schinderei mit 'm Stoßruder, wenn kein richtiger Wind weht; es ist viel Sumpf an der Strecke, da können Sie nicht treideln . Nee!" Er winkte ab. "Von da drüben wird die Porzellanerde nachher mit Fuhrwerken zur Fabrik in die Leipziger Straße geschafft. Sie von Trotha aus auf der Straße heranzubringen wäre viel zu teuer. Was geht schon drauf auf so 'n Wägelchen? Schiff bleibt Schiff, auch wenn es wochenlang unterwegs ist! Dies findet der Monsieur ebenfalls, der hier wohnt. Er hat das mit dem Kaolin ganz genau wissen wollen. War nur enttäuscht, daß die Ware nicht auch hier verladen wird. Aber ich habe ihm erklärt, daß das am neuen Packhof geschehen muß, weil da das Haupt-Steueramt ist. Er wollte gleich wissen, wie er hinkommt, und ich habe es
ihm beschrieben. Ist ja gar nicht zu verfehlen, so in Sichtweite der Domkirche und des Museums! Ich denke, er versteht was von Porzellan. Deshalb sind wir ins Schwatzen gekommen." "Dabei hat er wohl auch erwähnt, weswegen er die Reise nach Berlin unternahm?" Kronberg klopfte auf den Busch. Vergebens! Darüber, erwiderte der Hausknecht kopfschüttelnd, habe Monsieur Tardieu kein Wort verloren, doch man denke sich ja sein Teil, wenn jemand nach der Porzellanfabrik und deren Handel frage. Danach wurde er aufgefordert, den Wirt zu holen. Sergeant Erdmann hatte sich unterdessen Überblick über die herumliegenden Sachen verschafft und erklärte nun, sie sagten nichts aus über das Gewerbe des Toten. Unterwäsche, Strümpfe, zwei Hemden, eine Halsbinde, ein zweites Paar Schuhe, Regenmantel und Nachthemd; Vincent Tardieu gehörte anscheinend zu jenen, die Reisen mit schwerem Gepäck haßten. Eine zweite Weidenrohrpfeife lag auf dem Tisch neben hauseigenem Schreibzeug. Wilhelm Erdmann hatte die Gänsekiele betrachtet und sie benutzt gefunden. Das erinnerte an die Postquittungen in der Brieftasche. Der Wirt, ein dicker Mann, erschien schwitzend und unrasiert. Er brachte einen versiegelten Brief mit. Diesen, erklärte er, habe er auf Ersuchen des Herrn Tardieu in seine Kassette eingeschlossen gehabt, aber da die Herren von der Polizei wären . Nichts als Ärger habe man mit solchen Zugereisten! Kronberg öffnete das Siegel und erkundigte sich, ob sich Tardieu über den Zweck seiner Berlinreise geäußert habe. Der Wirt beteuerte, nicht neugierig zu sein. Er hätte zwar gefragt, räumte er ein, aber nur ein knappes "In Ge-
schäften" zur Antwort erhalten. "In Geschäften" jedoch könne auch jeder Fuhrmann antworten, der hier einkehre. In dem versiegelten Brief waren lediglich zwei Wechsel eines Pariser Kreditinstituts, adressiert an die Königliche Hauptbank in der Jägerstraße. "Wir ersuchen höflich, dem Überbringer aus unserem Guthaben bei Ihrem geschätzten Institut gefälligst zahlen zu wollen in summa ." Französischer Text. Auf beiden korrekt gestempelten und unterzeichneten Wechseln war der zu zahlende Betrag offengelassen worden; anscheinend hatte ihn Tardieu selbst je nach Bedarf einsetzen sollen. Die flinken kleinen Augen des Wirtes erhaschten die Wechsel. "Mindestens einen weiteren muß er eingelöst haben", versicherte er. "Als ich nämlich die übliche Vorauszahlung von ihm verlangte- man ist durch Schaden klug geworden -, vertröstete er mich auf später und fragte, wie er zur Jägerstraße gelange. Ein paar Stunden später zahlte er. Bei dieser Gelegenheit siegelte er den Brief wieder zu, wobei er seinen Ring als Petschaft nahm, und gab ihn mir zu sicherem Verschluß." Der Lack zeigte unverkennbar das verschlungene "VT" auf der Platte von Tardieus Siegelring. Mehr als das jedoch fesselte den Kommissar der scharf gekniffte Bogen aus gutem Papier. Auf der Außenseite stand statt einer Adresse lediglich "Monsieur Tardieu". Auf die Innenseite hatte eine gewandte Hand mit einfacher Bleifeder geschrieben: "Was sein muß, muß sein, aber je kleiner die Spesen, desto höher Ihre Prämie, Tardieu! Vidocq." Derselbe Name erschien im gedruckten Briefkopf: "Bureau des Renseignements (Büro für wirtschaftliche Auskünfte), Directeur-en-chef: Franyois Vidocq, gegründet 1832, Rue Cloche-Perce Nr. 12, Paris." Kronberg reichte Erdmann
den Bogen. "Sehen Sie! Die private Auskunftei des berühmtberüchtigten einstigen Chefs der Brigade de Sürete (Sicherheitsbrigade, Kriminalpolizei) an der Seine! Unser Mann hat dort gearbeitet. Die Büroanschrift auf den Visitenkarten! Ein Rechercheur . Er hat hier irgendwas ermitteln sollen, denke ich, und die Wahl fiel wohl auf ihn, weil er leidlich deutsch sprach." " . und da er ein Fachmann war, führte er nichts bei sich, was ihn verraten konnte", ergänzte Erdmann. "Notizen übertrug er und schickte sie in Briefen nach Paris. Danach wischte er dann seine Schreibtafel ab! Seine Briefe gingen alle nach Paris, nicht wahr, Herr Wirt?" Der bedauerte, keine Ahnung zu haben. Wer hier - selten genug! - Briefe schreibe, überlasse es gewöhnlich dem Hausknecht, sie zur Post zu geben. Herr Tardieu habe das nie getan und die seinen wohl selbst weggetragen. Jedenfalls hätte er gleich nach seinem Einzug das Schreibzeug und viel Papier verlangt. "Wissen Sie, wann und wie er nach Berlin kam?" Das wußte der Wirt. Vincent Tardieu wohne seit neun Tagen in den "Zwei Tannen", sagte er, und gereist wäre Monsieur mit der Eilpost. Er habe noch zwei Nächte später das Gefühl gehabt, in der Kutsche durchgerüttelt zu werden, hätte Monsieur zu ihm lachend gesagt und hinzugefügt, wenigstens habe er nette Reisegefährten gehabt. Als Kronberg den Sergeanten daraufhin nur anblickte, bestätigte der gleich: "Königsstraße sechzig." Dort im Gebäudekomplex der Preußischen Postverwaltung, dem Sitz auch des Generalpostmeisters von Nagler, mußte am ehesten zu erfahren sein, wer den gleichen Wagen wie Tardieu benutzt und wem er sich möglicherweise ein
wenig anvertraut hatte. "Ganz recht! Sehen sie jetzt, bitte, einmal nach, wie tragfähig das Spalier ist und ob es Schaden genommen hat. Vielleicht bringt das Hinweise auf Gewicht und Statur des Einsteigers." Kronberg bat den Wirt, die Person herzuschicken, die die Gastzimmer reinige. Eine müde alte Frau mit grausträhnigem Haar und großen, harten Händen erschien und sagte, daß sie "die Schäfer" wäre und von den Gästen rein gar nichts wisse. Sie mache immer in deren Abwesenheit sauber. Als der Kommissar sie aufforderte, die Tür zu schließen und sich zu setzen, murmelte sie etwas. Dann saß sie erschöpft da, und ihre zerschundenen Hände lagen leblos auf der groben grauen Schürze. Weil kein zweiter Stuhl vorhanden war, setzte sich Kronberg aufs Bett. Er bat Frau Schäfer, sich in aller Ruhe umzusehen und ihm zu sagen, ob sie etwas vermisse, was gestern noch hier gewesen sei. Als wollte er andeuten, daß sie sich Zeit lassen solle, nahm er eine dünne Zigarre aus seinem Etui. Frau Schäfer musterte die Gegenstände rundum mit bedachtsamer Gründlichkeit. Was in Schrank und Tischschubkasten gewesen sei, könne sie nicht beurteilen, denn sie schnüffle nicht. Dann stellte sie fest: "Aber das Buch ist weg! Es hat alle die Tage auf dem Tisch neben dem Schreibzeug gelegen." Um was für ein Buch es sich gehandelt habe, erkundigte sich Kronberg. Um einen Memoblock vielleicht oder um eine Art Journal mit Aufzeichnungen? Das verneinte die alte Frau. Es sei ein schönes Buch gewesen, eines mit vielen Bildern, betonte sie.
"Alles so Vasen und Figürchen und bemaltes Geschirr vom Feinsten, wissen Sie? Es lag mal offen da, als ich saubermachte. Hab ich natürlich reingeguckt, und wie's der Teufel will, kommt der Monsieur gerade nach Hause! Es war mir peinlich, das können Sie mir glauben, aber er ist ganz freundlich geblieben. Ich solle nur genau hinsehen, hat er gesagt, denn es lohne sich, und ins Porzellankabinett im Schloß Charlottenburg würde ich ja wohl ebensowenig eingeladen werden wie er. Da stünden viele der schönsten Stücke aus dem Buch; nun, und weil die Berliner Fabrik vor allem Porzellan mache, das prunkvoll ist, werde es auch anderswo gern gekauft. Gelegentlich böten es bei ihm zu Hause auch Händler an, die in der Leipziger Straße bestimmt als Kunden unbekannt wären. Aber sie blieben so tief unter den Preisen seriöser Importeure, daß diese mittlerweile ihre Felle wegschwimmen sähen und böse würden. Also, ich habe ja man nur die Hälfte von dem verstanden, was er radebrechte, doch ich fand's riesig nett von ihm, daß er sich mit mir unterhielt, wirklich!" Der Kommissar rauchte. Immer wieder Porzellan! Tardieu schien in den "Zwei Tannen" Quartier genommen zu haben, um das Lager der Porzellanfabrik beobachten zu können, freilich in der Annahme, dort drüben werde auch verladen. Er hatte sich nach dem Packhof und der Fabrik erkundigt, er war im Besitz von dem jetzt unauffindbaren Prunkkatalog gewesen, und er hatte gegenüber der alten Frau angedeutet, daß er deshalb hier sei. Ja, die Pariser Importeure, die Berliner Porzellan legal einführten, mochten durchaus das Büro Vidocq eingeschaltet haben, damit es den geschäftsschädigenden Handel mit geschmuggelter Ware zu Billigpreisen unterbinde. Franyois
Vidocq war ein erfolgsgewohnter und, wie es hieß, skrupelloser Mann. Wer, wenn nicht er, konnte schnell etwas erreichen, jenseits der eigenen Grenzen noch dazu? Das hatte Logik, und wenn das "große Geld" auf dem Spiel stand, war den Herren Kaufleuten sicher auch an der Seine jedes Mittel recht. Vidocq mußte dies in Rechnung gestellt haben, als er seine private Auskunftei - es gab ihresgleichen noch nicht in der Welt - gründete . Man munkelte auch, das "Bureau des Renseignements" bringe ihm weit mehr ein als die 6000 Franc Gehalt, die er als Süretechef bezogen hatte. Wie dem sein mochte: Vidocqs Rechercheur Vincent Tardieu schien in Spree-Athen tatsächlich fündig geworden zu sein. Daß man es für ratsam gehalten hatte, ihn aus dem Weg zu räumen und in seinem Zimmer nach Belastungsmaterial zu suchen, legte diese Annahme nahe.
Ob Frau Schäfer irgendwem von dem Gespräch erzählt habe, fragte Kronberg. Die alte Frau sah ihn ruhig an und antwortete mit der Gegenfrage, wer sich denn Zeit nehme, mit einer nicht mehr hübschen Witwe, die ärmlich lebe, mehr als notwendig zu reden? Für die Wirtsleute sei sie seit zwanzig Jahren "die Putze"; der Hausknecht könne nicht zuhören, sondern bloß immer von seiner Zeit auf den Flüssen und vor allem in den Häfen schwatzen, von Schlägereien und schlechten Menschen, und die Gäste, Gott, die wären doch entweder müde oder bloß auf die Wirtstöchter aus. Davon hätten die beiden Gänse mehr als genug, und Kinder von Traurigkeit seien sie auch nicht gerade. "So einen wie den Monsieur, der für unsereins Zeit hat, können Sie mit der Laterne suchen, Herr!" Der Regen dauerte unvermindert an, als Andreas Kronberg vors Haus und zwischen die beiden vereinsamten Tannen trat, die dem Gasthof seinen Namen gegeben hatten. Erdmann gesellte sich zu ihm und berichtete, dem Zustand des Spaliers zufolge müsse der Einsteiger behende und leicht gewesen sein. Der Sergeant öffnete gerade den Schlag der schwarzbelederten Polizeidroschke, als von einem anhaltenden Pferdebus her die Gendarmen in Zivil gerannt kamen. Sie händigten dem Kommissar die verlangte Liste des Bühnenpförtners aus und meldeten, außer Liesgrets und einem Paar sicher verwahrter Reserveschlüssel zur Vorratskammer wären keine weiteren vorhanden. Da die Reserveschlüssel nagelneu und noch mit Feilspänen behaftet gewesen seien, hätten sie die Schlüssel der Serviererin unter eine starke Lupe genommen und daran winzigkleine Seifenpartikelchen gefunden. Es sehe aus, als wäre vor nicht allzu langer Zeit ein Abdruck gefertigt worden. Sie,
die Gendarmen, hätten das Liesgret gegenüber nicht erwähnt, so getan, als wäre die Besichtigung ergebnislos verlaufen, und sich lediglich vergewissert, daß die Serviererin die Schlüssel auch außerhalb des Pleorama-Saals bei sich trage. Dies habe sie bejaht. Der Kommissar bedankte sich. Er hatte wieder deutlich das Innere des seltsamen Schiffes vor sich. Die Feststellungen seiner Leute verstärkten die Vermutung, daß der Täter durch den Barkenrumpf und die Vorratskammer den Salon erreicht, unbemerkt von Pzybilla die zwei Schritte vom Niedergang in den Pavillon getan, blitzschnell zugestoßen und sich ebenso rasch auf gleichem Wege wieder entfernt hatte. Es gab kaum eine andere Möglichkeit. Unklar blieb zunächst noch, wie es dem Täter gelungen sein konnte, unbeachtet von den Theaterarbeitern zum Schiff und unbemerkt durch Ruderknechte und Musiker in die Kammer zu gelangen. Und natürlich, in wessen Auftrag der Mörder handelte. Aber dies entmutigte Kronberg nicht. Er meinte, den Anfang des Ariadnefadens in der Hand zu halten, der ihn durch ein Gewirr von Geheimnissen und Unwägbarkeiten ans Ziel führen würde. Zunächst setzte er die Gendarmen mit dem Auftrag ab, diskret Liesgrets Verhältnisse und besonders Männerbekanntschaften auszuforschen, weil ihre Unbefangenheit die Möglichkeit andeutete, daß die Schlüssel ohne ihr Wissen in Seife gedrückt worden waren. Die Gendarmen grinsten. Danach stiegen Erdmann und er in die Polizeidroschke. "Königsstraße!" befahl Kronberg dem Kutscher und ließ ihn, nachdem er die Passagierliste der am fraglichen Tag aus Paris "eingekommenen" Eilpost erhalten hatte, zur Porzellanfabrik weiterfahren. Unterwegs verglich er die Namen mit denen, die Tardieu auf seine Schreibtafel
gekritzelt hatte. Hier wie da erschien ein Alphonse Vallee! "Zweifellos", sagte der Kommissar befriedigt, "hat dieser Vallee den Rechercheur bei Herrn von Wredebach eingeführt und auch zur Mitternachtsvorstellung mitgenommen. Damit es dazu kam, muß Tardieu sich dem Reisegefahrten bewußt genähert haben. Na ja, darauf verstehen sich solche Burschen!" Kronberg teilte die Abneigung aller beamteten Kriminalisten gegen schnüffelnde Amateure, mochten sie nun als Kanzleiangestellte eines Anwalts, als "Prämienjäger" aus Abenteuerlust oder als Rechercheure des Vidocqschen Büros ihre Nasen in fremder Leute Angelegenheiten stecken. Da zeigte er Korpsgeist. "Anzunehmen ist", sagte Kronberg, "daß Tardieu nicht zufällig mit Vallee nach Berlin reiste. Er hat sicher zuvor in Paris herausgefunden, daß ihn Vallee und kein anderer genau zu den Leuten führen werde, die er suchte! Ich bin gespannt, welchen Bären er Vallee hinsichtlich seiner eigenen Identität aufgebunden hat! Die Fremdenpolizei muß wissen, wo der Monsieur in Berlin abgestiegen ist." "Das Bärenfell muß schütter gewesen sein", sagte Erdmann. "Vallee hat die Verkleidung durchschaut und sich Tardieu vom Halse geschafft." "Er selbst nicht!" widersprach der Kommissar. "Er stand zur fraglichen Zeit inmitten der Gäste auf dem Promenadendeck und trank Champagner. Das werden alle bestätigen. Bedenken Sie auch, daß der mörderische Stoß kaltblütig, genau und ohne Hemmungen mit einem breitklingigen Messer geführt worden ist! Der Mörder gehörte nicht jenen ,besseren' Kreisen an, die sich ein Stilett (dreikantiger Kurzdolch mit nadeldünner Spitze) beschaffen, wenn sie einen Mord für den letzten Ausweg halten. Wir
haben es wohl mit einem Mann aus dem kriminellen Untergrund zu tun." "Aber wer soll Tardieu durchschaut haben, wenn nicht Vallee?" Andreas Kronberg wiegte den Kopf. Er habe eine vage Vermutung, sagte er, halte es aber noch für verfrüht, darüber zu sprechen. Man werde sehen . In diesem Moment erreichte die Droschke die Porzellanfabrik, die unmittelbar neben dem Kriegsministerium lag. Um diese Stunde herrschte hier Hochbetrieb, doch das Bild war weniger bunt als sonst, die eintönigen feldgrauen Wettermäntel verbargen die Verschiedenfarbigkeit der Uniformen. Um so ziviler mutete das repräsentative Fabrikbüro an, in dem sich ein Direktor Weiß soeben von einem Kanzleidiener das aus einem nahen Cafe geholte Frühstück servieren ließ. Er ordnete an, die Herren Kommissare mit Kaffee zu versorgen. "Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihr Präsident jetzt Sie mit der Aufklärung der Diebstähle beauftragt hat, denen Ihr Vorgänger nicht beikommen konnte?" fragte er. So war man beim Thema. Der Direktor bejahte zunächst die Frage, ob sich das "Monsieur et Madame Weiß" in einer Gästeliste der Mitternachtsvorstellung bei Gropius auf ihn und seine Gattin beziehe. Er fügte erklärend hinzu, der Geheime Finanzrat von Wredebach gehöre als Vertreter der Hauptbank zum Kuratorium der bekanntlich seit 1763 in königlichem Besitz befindlichen Fabrik und man achte einander. Dann sprach er von seinen Sorgen. Seit gut zwei Jahren, erzählte er, verschwänden Stücke während der Herstellung, genau gesagt: nach erfolgtem Verglühbrand in schmutzabhaltenden Schamottekapseln.
Sie erreichten den Saal, in dem Porzellanmaler mit sogenannten Scharffeuerfarben die Unterglasurdekore gestalteten, ebensowenig, wie sie zum Glasieren und zum Gar-, Gut- oder Glattbrand gelangten, der ebenfalls in Schamottekapseln stattfand. Einfach verschwunden wären sie! Hier seufzte der Direktor. Anfangs habe man nur an ungewöhnlich hohe Verluste durch fehlerhaftes Brennen und Unachtsamkeiten geglaubt, versicherte er, Werkmeister gemaßregelt und Arbeiter auf die Straße gesetzt. Aber plötzlich seien Beschwerden französischer Geschäftsfreunde über den Bruch ihnen zugestandener Alleinverkaufsrechte eingegangen, Angaben über Niedrigpreise und Klagen über dadurch stagnierenden Absatz in den eigenen teuren Geschäften. Sie fügten Annoncen aus dem "Journal de Paris" hinzu, in denen Berliner Porzellan "aus Privathand umständehalber preiswert" zum Verkauf angeboten wurde. Nach Form, Dekor und Materialqualität unzweifelhaft Berliner Ware! Andreas Kronberg dachte, Vincent Tardieu habe wahrscheinlich brauchbare Anhaltspunkte gefunden, indem er solchen Anzeigen nachging. Dann fragte er, wie das Dekor eindeutig gewesen sein könne, wo doch die Berliner Maler die Stücke nie unter die Pinsel gekriegt hätten. Weiß seufzte. Freilich, erklärte er, werde edles Porzellan nicht mit Schablonen, sondern aus freier Hand bemalt, weswegen kein Stück dem anderen ganz gleiche, sondern ein Original darstelle, aber die Porzellanmaler kopierten stets von namhaften Künstlern geschaffene und vom Kuratorium sorgsam ausgewählte Vorlagen. Auch Karl Friedrich Schinkel habe wundervolle Vasen mit Bronzegriffen und reichem Dekor entworfen, und jene Vorlagen nun ließen sich von Originalen ebenso abmalen wie den Stahl-
stichen im Katalog der Firma entnehmen. Der sei ja, weil besonders schön, sogar ein Buchhandelsobjekt. "Der Rest, meine Herren . Die Zusammensetzung von Scharffeuerfarben für Unterglasurmalerei kann Ihnen ein beliebiger polytechnischer Kandidat (Technikstudent) herbeten. Über Glasur und Garbrand unterrichtet Sie in Frankreich jeder Mitarbeiter in einer Porzellanfabrik. Das alles ist nicht das Problem! Unser Problem besteht darin, daß die nach Materialstruktur und Brennqualität eindeutig aus dieser Fabrik stammenden Stücke verschwinden, ehe sie fertiggestellt und unter Verschluß genommen sind. Dadurch werden sie der hohen Besteuerung bei der Ausfuhr entzogen, verstehen Sie, und das macht es den Hehlern in Paris möglich, die Ware trotz erheblicher Eigenkosten für die Pseudovollendung billiger zu verkaufen, als es die renommierten Händler unter Ausnutzung ihres Monopols tun würden. Uns liegen bereits Stornierungen abgeschlossener Verträge vor. Unter uns gesagt: Seine Majestät sind schon sehr ungehalten deshalb. Die Einbuße ist erheblich." "Aha!" sagte Kronberg. "Wie gelangt die Ware nach Paris?" "Per Schiff natürlich; auf der Straße ginge zuviel zu Bruch. Also eine Schute bis Hamburg; dort wird auf einen Küstensegler umgeladen, der bis Paris durchgeht. Bis dahin fahren ja sogar Hochseeschiffe. Ob die Schmuggelware ebenso transportiert wird, wer weiß das?" Kronberg fragte, ob Monsieur Vallee zu den Kunden des Hauses gehöre. Der Direktor schürzte die Lippen und sagte verächtlich, Vallee handle bloß mit billiger Töpferware, Steinzeug und so. Er, Weiß, habe auf Bitten des Herrn von Wredebach Vallee zwar einmal die Fabrik und
deren Musterkammer gezeigt, Porzellan sei für "Tonfritzen" immer bewundernswert und eine Art Heiligtum, doch Geschäftsverbindungen: nein! Er kenne Herrn Vallee nur durch den Finanzrat, der als Verantwortlicher der Bank für Devisengeschäfte mit ihm zu tun hat. Alles, was sie verbinde, wäre die Feststellung, daß sie schon Ware auf denselben Schiffen befördert hätten und was bedeute das? Der Direktor seufzte, als sich Kronberg verabschiedete. Er war überzeugt, daß "die neuen Besen" nicht besser kehren würden als die alten. Die hatten ja keine Ahnung! Draußen auf dem langen Korridor griff Kronberg wieder nach seinem Zigarrenetui. Vor dem Fenster, an dem sie standen, wurden im Hof Fuhrwerke mit Porzellanerde entladen. Auf dem Rückweg zum Lager an der Spree nahmen die Wagen Schamottescherben, Porzellanabfälle und Schlacke mit, damit die nach Trotha abgehenden Schuten sie aus Berlin hinaus zu einer Deponie außerhalb der Stadt brächten. Warum sollten sie leer fahren? "Ihnen ist doch klar, Erdmann", sagte der Kommissar, "daß Tardieu den bewußten Wechsel bei von Wredebach präsentiert hat, nicht wahr? Sie müssen sich auch erinnern, daß der Rechercheur die Anweisungen in Vidocqs Brief bei sich trug, bis er den seinem Wirt zur Verwahrung gab. In der Hauptbank nahm er eine heraus. Nun ja, ich habe diesen Briefkopf sofort zu prahlerisch und besonders auffällig gefunden. Der Finanzrat mußte ihn bemerkt haben. Tardieu sah keinen Grund, ihn vor einem Bankmann in hoher Vertrauensstellung zu verheimlichen. Genau das dürfte der Fehler gewesen sein, der ihn das Leben kostete." Als guter Untertan schreckte Erdmann vor dem Gedanken zurück, ein hoher Beamter Seiner Majestät, von Adel
noch dazu, könne Alphonse Vallee nicht nur gewarnt haben, sondern möglicherweise sogar als dessen stiller Teilhaber aus dessen Schmuggel persönlich Nutzen gezogen haben. "Das Wesen der deduktiven Kombinatorik oder Divination, die wir als den Kern kriminalistischer Arbeit betrachten, besteht darin", sagte er trocken, "daß wir so lange allgemeine Begleitumstände eines Falles aussondern, bis wir das Besondere, Eigentümliche und nur bei diesem Vorgang Durchführbare entdeckt haben. Denn dies schränkt den Personenkreis ein, der unter gegebenen Bedingungen und nach seinen Möglichkeiten dies oder jenes getan haben kann. Zur Sache: Wer außer von Wredebach hat hier den Brief geöffnet gesehen? Der ,Zwei Tannen'-Wirt lernte den Inhalt erst kennen, als wir ihn aufmachten. Also ." Er winkte ab. "Das Leben in der großen Gesellschaft ist teuer, Sergeant, und wenn man gar bei Gropius ganze Vorstellungen kauft . Aber würde man es nicht tun, wäre das mit Prestigeverlust in den besseren Kreisen verbunden. Wie es bei Goethe heißt: ,Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles. Ach, wir Armen!' Man muß repräsentieren, Verehrtester! Oder einflußreiche Freunde verlieren! - Auf zur Fremdenpolizei!" Von da aus ging es zum "Hötel de Brandebourg". Auf dem Wege schimpfte Wilhelm Erdmann auf Gropius' Bühnenpförtner, als er dessen Anwesenheitsliste unterwegs ansah. Dem Kerl werde er auf die Hühneraugen treten, drohte er, denn offenbar habe der einfach eine alte Liste geschickt. Viermal stehe "Musikus" geschrieben, und man wisse doch von Herrn Gropius, daß zur Mitternachtsvorstellung nur drei Mandolinenspieler erschienen! Der Kommisar lächelte, erklärte, der Widerspruch sei
ihm auch aufgefallen. "Den alten Mann zu maßregeln wäre ungerecht. Erstens muß er seine Listen dem Buchhalter geben, der Gagenberechnung für die nicht ständig Beschäftigten wegen. Zweitens: Daß hier an erster Stelle ,Musikus' steht, sagt uns, daß dieser Mann noch vor den Arbeitern zur Stelle war und sich also unbemerkt in die Vorratskammer einschließen konnte, die Liesgret nicht mehr betrat. Die übrigen drei Mandolinenspieler erschienen gemeinsam und viel später. Aber ein Musikus hat das Haus auch als erster vom Personal wieder verlassen; natürlich derselbe. Wir haben erlebt, wie stickig es in diesem Schiffsrumpf ist, Ruderer und Musikanten vorlassen ihn gewiß fluchtartig, sobald das Publikum weg ist. Den Moment paßte der Mörder ab und machte sich aus dem Staube, bevor Liesgret schrie, Gropius zurückkam und verfügt wurde, alles habe unverändert zu bleiben. Der Pförtner besaß noch keinen Grund, den Menschen anzuhalten. Daß er ihn für einen der Musiker hielt . In den hinteren Gängen wird ebenso mit Gas gespart, wie man es im Publikumsbereich großzügig einsetzt. Nehmen Sie Schlapphut und Pelerine, klemmen Sie sich etwas unter den Arm, was ein eingepacktes Instrument sein könnte - und Sie gleichen den anderen so genau, daß er Sie in diesem Halbdunkel für einen der Ihren halten wird! Damit haben wir den springenden Punkt! Der Ablauf ist klar. Dank dieser Liste! Auf die Schulter klopfen sollten Sie dem Alten, statt ihn zu beschimpfen." Daraufhin schwieg Erdmann verdutzt und vielleicht auch verärgert, bis sie Alphonse Vallee gegenübersaßen. Der empfing sie im Schlafrock. Er machte dem Kommissar ein verbindliches Kompliment über dessen flüssiges Französisch und sagte, er habe bereits Zeitung gelesen und die
letzte Meldung über den Mordfall in der Georgenstraße gesehen, obwohl ihm deutsche Lektüre Mühe bereite. Daß der arme Tardieu ein so schreckliches Ende genommen hätte, ohne seine Pläne erfüllt zu sehen, mache ihn tief betroffen. Tardieu sei ein so kontaktfreudiger Mensch gewesen . Hätte Erdmann mehr von der französisch geführten Unterhaltung verstanden, würde er festgestellt haben, daß der Kommissar vorgab, absolut nichts von Vincent Tardieu zu wissen. Vielmehr schätzte er sich glücklich, einen auskunftsfähigen Menschen vor sich zu sehen. Vallee schränkte gleich ein, daß er Tardieu erst in der Eilpost kennengelernt hätte und sein Wissen demzufolge wenig vollständig sei. Aber er goß guten Kognak ein und erzählte bereitwillig, daß sich sein Landsmann ihm als Beauftragter einer neu entstehenden Dampfschiffahrtsgesellschaft vorgestellt hatte. Diese Compagnie habe schnellen Warentransport auch zwischen Paris und Berlin ins Auge gefaßt und sondiere derzeit den Markt dafür. Das sei für ihn, Vallee, natürlich brennend interessant gewesen! Wenn man bedenke, daß Schuten für die Route Berlin-Hamburg bis zu sechs Wochen brauchten und daß andererseits gleich eines der ersten Schiffe jener bedauerlicherweise falfierten (zusammengebrochenen) Königlich Preußischen Dampfschiffahrtsgesellschaft, nämlich der Seitenraddampfer "Kurier", die gleiche Strecke hin und zurück in nur einer Woche schaffte und sie von 1817 an eine Zeitlang viermal im Monat fuhr, welche Möglichkeiten erschlossen sich da der Kaufmannschaft, wie sehr würde sich der Warenumschlag beschleunigen und das Handelssortiment erweitern lassen! Tardieus Vorgesetzte hätten bereits erwogen, fuhr Vallee fort, gleichermaßen zur
Fluß- und Küstenfahrt taugliche Schiffe zu bauen. Nicht auszudenken, wie vorteilhaft es wäre, zerbrechliche Fracht, ohne umzuladen, etwa von Berlin bis Paris befördern zu können! Völlig neue Perspektiven! Er gestehe, daß er Tardieu nicht ohne eigennützige Erwägungen an sich gezogen und in den Kreis seiner Freunde an der Spree eingeführt habe. Nun allerdings quäle ihn die Vorstellung, daß Tardieu noch leben würde, wenn er nicht in der Georgenstraße erschienen und dort, eine andere Erklärung finde er nicht, das Opfer einer Verwechslung geworden wäre. Denn wer, um Himmels willen, komme darauf, den persönlich mittellosen Kommis (Büroangestellten) einer erst entstehenden Schiffahrtsgesellschaft umzubringen? Kronberg lächelte verbindlich. Er ließ Vallee wissen, daß die Unerkennbarkeit eines Tatmotivs und das gänzliche Fehlen von Hinweisen auf Feinde Vincent Tardieus die Untersuchung außerordentlich schwierig gestalteten. "Wir tappen völlig im dunkeln - und dies um so mehr, weil alles aus Tardieus Gasthofzimmer entfernt wurde, was uns hätte auf die Sprünge helfen können." Wilhelm Erdmann begriff, daß Kronberg den verdächtigen Kaufmann aus Paris in Sicherheit wiegen wollte, um ihn dadurch möglicherweise zu einer Unvorsichtigkeit zu veranlassen, bei der er zu fassen wäre. Bereitwillig nannte Vallee die Namen seiner preußischen Steingutlieferanten und zeigte volles Verständnis dafür, daß seine Glaubwürdigkeit überprüft werden müsse. Die Befragung ging dem Ende zu, als ein Etagenkellner erschien und den Kommissar ins Schreibzimmer bat. Die beiden Gendarmen in Zivil waren im Handumdrehen fündig geworden und hielten ihre Erkenntnisse für wichtig genug, sie sofort mitzuteilen.
Liesgret, die Serviererin, meldeten sie, habe bis zum Tag vor der Mitternachtsvorstellung eine schon lange bestehende Liebschaft mit einem der Straßenmusikanten gehabt, die in der Barke Mandoline spielten, demselben, der in der Nacht fehlte. Dies, weil er, voll wie tausend Mann, in der Destille "Zum Posthorn" eingeschlafen war. Die im "Posthorn" unbekannten Männer, die jenen Günter Veith seit Tagen freigehalten hatten, waren daraufhin gegangen, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Der Wirt meine, Veith hätte aus Liebeskummer getrunken, denn er habe von seiner Theke aus gehört, wie Günter Veith seinen Freunden vorwarf, sie trügen Schuld an Liesgrets Bruch mit ihm, und ein Mädchen wie sie kriege er nie wieder! Nun, indessen sei der Musikus zu seiner Schlafstelle gewankt und pflege dort weiter seinen ausgewachsenen Kater. Der Kommissar bestimmte, Veith "einzuziehen" und alles über seine spendablen Freunde zu erfragen. "Aber Sie beide bleiben hier, weil Vallee Sie nicht kennt, und lassen ihn nicht eine Sekunde aus den Augen, sobald er das Hötel verläßt", wandte er sich an die Polizisten. "Alle Kontakte et cetera, Sie wissen schon. Ich bin übrigens sehr zufrieden mit Ihnen; es ist ein guter Einfall gewesen, Ihnen die Uniformen auszuziehen und Sie zur ,Greiferei' zu versetzen. Nur weiter so!" Als Kronberg zu Vallee zurückkehrte, wirkte er wie verwandelt. "Darf ich fragen, wie die Untersuchungen laufen?" Kronberg zögerte, meinte aber dann, als ein Freund des Toten werde Monsieur eine vertrauliche Nachricht für sich zu behalten wissen, die die Lösung des Falles plötzlich in greifbare Nähe rücke.
"Man hat", sagte er leise, "der Kriminaldirektion anonym mitgeteilt, daß Monsieur Tardieu, den Sie als Kaufmann kannten, in Wahrheit ein Privatpolizist und in Berlin mit nicht näher bezeichneten Rekognoszierungen beschäftigt gewesen ist. Man werde mehr erfahren, wenn man sich der Karte versichere, auf der Tardieu Anlaufstellen in Berlin markiert und auf deren Rand er Erläuterungen zu seinen numerierten Kreisen notiert habe; von dieser Gewohnheit wäre er niemals abgewichen. Es handelte sich bei der Karte um ein im Maßstab eins zu fünfzehntausend angelegtes Blatt des Kartographen Wilhelm von Möllendorf aus dem Verlag Bolzani, um eine Lithographie mit Nordorientierung. Tardieu, hieß es weiter, habe derlei Karten seiner Einsatzorte stets aus dem Köcher genommen und auf Taschenformat gefaltet, um sie ständig bei sich tragen zu können." Unversehens erschienen Schweißtropfen auf Vallees Stirn. Er tupfte sie mit vorgegebenem Gleichmut ab. Ihn verwirrte, daß es anscheinend in Berlin noch jemand gab, der zwar wahrscheinlich nicht Tardieus Auftrag, wohl aber ihn selbst und sein Gewerbe genau kannte! Als Vallee nun Kognak nachgoß, verschüttete er einige Tropfen. "Und wo soll diese Karte sein?" fragte er. Das sei nicht mitgeteilt worden, erwiderte Kronberg und fügte hinzu, es lasse sich aber zusammenreimen. Tardieu solle die Karte stets bei sich getragen, er müßte sie also auch bei Gropius gehabt haben. Da der Mörder den Inhalt der Taschen des Rechercheurs unberührt gelassen und nicht einmal die benutzte Schreibtafel an sich gebracht habe, scheine sie auf dem Schiff verborgen zu sein. "Vielleicht versteckte sie Tardieu, weil er Gefahr spürte. Er war ja wohl ein erfahrener Mann. Dem Messerstich konnte er
bedauerlicherweise nicht entrinnen, aber es gelang ihm noch, einen deutlichen Hinweis auf seine Gegenspieler zu hinterlassen. Ich vermute ihn im Salon der Barke." Vallee nickte. "Der war leer. Wir hielten uns ja alle vorn auf, sogar die Serviererin." "Was Liesgret vielleicht das Leben gerettet hat!" betonte der Kommissar ernst. "Wahrscheinlich hätte der zu allem entschlossene Messerstecher auch sie beseitigt, wenn sie ihm im Wege gewesen wäre. Er mußte damit rechnen, von ihr gesehen zu werden." Kronberg ließ den Sprungdeckel seiner Taschenuhr aufklappen und stand auf. "Jetzt läuft bei Gropius bereits das neue Stück, der großen Nachfrage wegen heute den ganzen Tag über. Nachts ist für unsere Zwecke das Licht im Schiffsrumpf zu schlecht. Aber morgen früh öffnen wir alle Saalfenster und rücken mit Spezialisten für derlei Durchsuchungen an. Denen entgeht auch das raffinierteste Versteck nicht. Vielleicht kann ich Ihnen noch vor Ihrer Abreise sagen, daß der Mord an Ihrem Freund aufgeklärt wurde." Draußen sah Erdmann seinen Vorgesetzten zweifelnd an. "Ob er auf die Leimrute geht .?" "Er muß!" antwortete Kronberg überzeugt. "Ich habe ihm das Gefühl absoluter Sicherheit genommen und den Glauben, alle Tatspuren wären zuverlässig verwischt. Daß ich ihm eine der Karten beschrieb, die wir selbst benutzen, tat ich, weil nichts so sehr überzeugt wie die Häufung an sich belangloser Details im Zusammenhang mit Sachverhalten. Erfahrungswert! Monsieur Vallee wird jetzt Alarm schlagen und vor meinem großen Unbekannten noch mehr Angst haben als vor uns; solche Leute glauben immer, private Rechercheure arbeiteten, weil in die eigene Tasche, immer engagierter und erfindungsreicher als wir. Der
Anonymus könnte ja ebenfalls ein Vidocq-Mann sein! Wie dem auch sei: Wer immer bei Nacht und Nebel im Pleorama versuchen wird, uns zuvorzukommen, muß seine Informationen von Vallee haben! Das überführt diesen der Mitwisserschaft, all seiner Gerissenheit zum Trotz. Und weil, wer erscheint, mit großer Wahrscheinlichkeit aus den Reihen der Schmugglerbande kommt, die Vallees Transporte besorgt, schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe und können über diesen Mann auch zu seinen Kumpanen vorstoßen. Sie müssen sich nun alle in Gefahr wähnen und versuchen, ihr zu begegnen, das heißt, sich der verschwundenen Karte zu bemächtigen. Wenn sie nicht von morgen an stündlich mit ihrer Festnahme rechnen wollen, und das wollen sie bestimmt nicht, bleibt ihnen keine andere Wahl. Wir gehen auf das Finale unserer Geschichte zu, Sergeant!"
3.
Andreas Kronberg knöpfte den Leibrock auf. So wurde der Kolben des Terzerols erreichbar, das aus der oberen offenen Ledertasche des Pistolenbandeliers herausragte. Der Kommissar zog es, um noch einmal nachzuschauen, ob die geschlossene Pfanne mit Pulver versorgt war. Der Deckel dieser Pfanne würde sich beim Abdrücken durch Hebelzug selbsttätig öffnen und die Funken einlassen, die beim Schlag des Flintsteins am Hahn auf den Feuerstahl entstanden; alles zusammen bildete die "Batterie", die solchen Schlössern den Namen gab. Die Pfanne war versorgt, Kronberg schob die kleine Pistole in die Tasche zurück. Kommissar und Sergeant saßen im Deckpavillon auf
dem Fußboden, um durch die Seitenfenster nicht gesehen werden zu können. In den Saal floß durch geöffnete Scheiben, von denen zur Belüftung die Vorhänge weggezogen worden waren, blausilbriges Mondlicht. Zu schwach, die Falten der jetzt ohne Spannung schlaffen neuen Rollbilder deutlich zu machen, es gab den gemalten Landschaften eine eigentümliche Lebendigkeit. Der Rhein, der vorgestern noch den Meerbusen von Neapel darstellte und morgen vielleicht die Donau sein würde, glitzerte trügerisch zwischen St. Goar und St. Goarshausen, und auf steiler Anhöhe stand die Ruine der Festung Rheinfels. Gropius hatte Kronberg persönlich die Reserveschlüssel übergeben. Warten . Zwischen zwei Vorstellungen am Nachmittag hatte Liesgret teils zornrot, teils weinend berichtet, warum sie Günter Veith den Laufpaß gab. Mitten in der Nacht wäre sie wach und Zeugin geworden, wie sich der Haderlump an ihrer Geldkatze zu schaffen machte, an einer sehr vollen Geldkatze, denn sie, Liesgret, genieße so viel Vertrauen, daß sie für den Salon selbst einkaufen dürfe, erzählte sie. Wie hätte sie dagestanden, wenn die quittierte Summe bei der Abrechnung nicht mehr gestimmt hätte? "Außerdem, Herr Kommissar: Wenn ich 'n Kerl in meine Kammer lasse, dann bloß, weil ich ihn lieb habe und ihm vertraue. Fängt er an, mich zu enttäuschen, ist mir 'n Ende mit Schrecken lieber als ein Schrecken ohne Ende. Hätte er was gesagt, klar, daß er von meinem Geld gekriegt hätte; jeder kann sich mal reinreiten. Aber auf die krumme Tour: nee! Er hat's auch mir zu verdanken, daß er nicht mehr mit dem Hut auf der Straße sammeln muß, sondern im Pleorama zum erstenmal in seinem Leben 'ne
richtige Gage bekommt, wie sie das nennen. Nur gut, daß der Haderlump wenigstens in der Nacht nicht hier war und mit dem Mord nichts zu tun haben kann . Jedenfalls: Ich bin fertig mit ihm! Soll ihn doch der Teufel holen!" Ihre Aussage hatte sich weitgehend mit der des wieder halbwegs nüchternen Musikanten gedeckt. Der druckste erst herum und sprach von Geldnot. Auf die Frage Kronbergs jedoch, für wen er den nachgewiesenen Abdruck von Liesgrets Schlüsseln genommen hätte, rückte er mit der Wahrheit heraus. Fremde, berichtete er, wären an ihn herangetreten, damit er ihnen Kopien von Liesgrets Durchgangsschlüsseln beschaffe. Einer von ihnen, ein bisher glückloser Kollege von Gropius, könne mit einer ebensolchen Barke für ein ausländisches Haus Karriere machen, hätten sie gesagt; er komme aber nicht weiter, wenn er nicht das Versteifungssystem studiere, mit dem Gropius seinem Schiff hohe Belastbarkeit gab. Niemand werde etwas merken und nichts entwendet werden - und sein Schaden solle es nicht sein . Daraufhin wäre er an Liesgrets Schlüssel gegangen und habe sie bereits abgedrückt gehabt, als sie zur Unzeit erwachte und auf ihn losging wie eine fauchende Katze. Er schwöre, sich nichts dabei gedacht zu haben, denn sonst: niemals! Von dem Mord erfahre er durch die Polizisten zum erstenmal, und nun sei er wie benommen vor Grauen. Über die Identität der Fremden Auskunft zu geben, die auch mit ihm im "Roß" zechten, war er außerstande gewesen. Doch der Kommissar hatte nach der Vernehmung zu Erdmann gesagt: "Das geht alles zusammen! Am ersten Tag von Vincent Tardieus Anwesenheit in Berlin hat von Wredebach den eitlen Briefkopf Vidocqs gesehen. Es vergingen acht Tage bis zum Mord - Zeit genug, ihn
gründlich vorzubereiten, die Pleorama-Vorstellung als unübersichtliche Kulisse zu mieten und ihr zugleich eine Alibifunktion für einige Drahtzieher zu geben. Andererseits konnten die Schlüssel beschafft werden. Möglicherweise hatte Veith selbst auf sie aufmerksam gemacht. Wir wollen nicht übersehen, daß die Kerle in ihm einen Gewährsmann besaßen, der über Wege und Abläufe im Hause Georgenstraße lückenlos Auskunft geben konnte! Vielleicht hat man sich anfangs nur deshalb an ihn herangemacht. Dann jedoch . Daß der Mörder als Musikant erschien, während der echte Mandolinenspieler sinnlos betrunken unter einem Wirtshaustisch lag, spricht doch Bände!" Die ganztägige Beobachtung Alphonse Vallees war nur insofern ergiebig gewesen, als sie einen Überblick über die Berliner Geschäftsverbindungen des Kaufmanns von der Seine erbracht hatte. Man wußte jetzt, von wem er regelmäßig Steinzeug und Töpferware kaufte. Eine Rückfrage beim Haupt-Steueramt ergab, daß frühere Kontrollen am Packhof keine Unstimmigkeiten in den Geschäften Vallees zutage gefördert hatten; sie waren veranlaßt worden, weil sich die Frage stellte, ob der Handel mit den in den Frachtpapieren genannten Billigwaren angesichts der Transportkosten überhaupt rentabel sein könne. Aber die Steuerkontrolleure, die den feinen Seidenglanz glasierten Porzellans sehr genau vom stumpfen Schimmer des von Vallee ausgeführten braunen Zeugs unterscheiden konnten, fanden nichts. Da hatte der Kommissar gesagt: "Die Stücke aus der Leipziger Straße verschwinden vor der Glasur und sehen demzufolge noch stumpf aus. Man braucht sie bloß mit abwaschbarer Farbe braun zu streichen, um sie unter die
legale Fracht mischen zu können, und, damit deren Gewicht stimmt, eine entsprechende Menge Steinzeug zurückzulassen. So einfach! Wenn das Porzellan jedoch schon hier mit an Bord kommt, bleiben auch die Schiffer und ihre Knechte ahnungslos. Der Kreis der Wissenden beschränkt sich auf jene, die einerseits die Diebstähle ausführen und andererseits Färbung und Austausch vornehmen. Es ist ein kleiner Kreis, und um so größer fällt der Gewinnanteil jedes einzelnen aus. Hoch genug jedenfalls, um sogar einen Mord zu rechtfertigen." Daß Vallee mittags im Haus des Geheimen Finanzrats gespeist hatte, erschien nun schon selbstverständlich. Berichterstattung über Kronbergs Bemerkungen im "Hötel de Brandebourg" war nötig geworden . Während die Kriminalisten im Pleorama-Saal warteten, wurde es in der Stadt still. Turmuhren schlugen Mitternacht und auch noch die erste und zweite Morgenstunde, ohne daß etwas geschah. Manchmal war Räderrollen zu hören. Auch der schwere Schritt der Nachtwache klang herein, die wie immer ihre Runden ging. Die Angehörigen der "Greiferei", die in Hausfluren und Toreinfahrten Posten bezogen hatten, nahm sie nicht wahr; da gab es eine Absprache. Einmal rannte ein Mädchen hastig die Georgenstraße hinunter. Sicher eine Hausangestellte, die Ausgang gehabt und getrödelt hatte . Dann wurde es wieder still. Sie hörten den nächtlichen Besucher nicht kommen und ihn auch nicht mit einem Sperrhaken den Bühneneingang öffnen. Erdmann sah nur, daß sich das schlaffe Rollbild in Fensternähe plötzlich bewegte. Er deutete den Kommissar darauf hin. Kronberg nickte ihm zu und nahm das Terzerol heraus.
Auch der Sergeant zog seine klobigere, doppelläufige und mit zwei Batterieschlössern versehene Pistole aus dem untergeschnallten Bandelier. Seine war eine Dienstwaffe, die des Kommissars Privatbesitz. Die Tapetentür unten öffnete sich, dann waren leise Schritte zu hören.
Zweimal würde geschlossen. Die Türen von Liesgrets Vorratskammer . Ein Mann betrat vom Barkenrumpf her den Salon und stand mit dem Rücken zum Niedergang. Das unerwartet helle Licht schien ihn mißtrauisch zu machen. Er duckte sich angesichts der anhaltenden Stille und schaute sich argwöhnisch um. In diesem Augenblick erkannten ihn Kronberg und Erdmann und tauschten einen schnellen, verblüfften Blick. Die Stille in der Barke beruhigte den Mann wohl. Er entspannte sich wieder und trat hinter den Schanktisch, um
nach dem verräterischen Stadtplan von Berlin zu suchen. Jetzt sprang Kronberg in den Niedergang, und Erdmann hetzte zur Vorratskammer, um den Rückweg zu verstellen. Auch die beiden Gendarmen kamen aus ihrem Versteck unter der Ruderpinne hervor und waren ebenfalls bewaffnet. "Aus!" rief der Kommissar scharf. "Die ,Zwei Tannen' müssen sich wohl nach einem neuen Hausknecht umsehen, Kerl! Im Namen Seiner Majestät ." Der Mann warf sich herum. Ein breitklingiges Messer blitzte. Der Sergeant schoß. Die Bleikugel bohrte nur ein Loch in den schön bemalten Spiegel von Gropius' Barke, aber ihr Pfeifen und das Bersten von Sperrholz, der Schwarzpulverdampf im Salon und die drohenden Mündungen der auf ihn gerichteten Faustfeuerwaffen bewogen den Hausknecht aufzugeben. Er warf das Messer hin und ließ sich ohne Gegenwehr fesseln. Draußen in der Georgenstraße wurde es nach dem Schuß schlagartig laut. Männer rannten. In einiger Entfernung galoppierte ein Pferd los. Es stand aber gleich wieder und wieherte. Wahrscheinlich war ihm ein Gendarm in die Zügel gefallen und hatte es angehalten. Der Kommissar nickte befriedigt. Zunächst blieb der Hausknecht stumm. Kronberg zündete sich eine dünne Zigarre an und erklärte seinem Sergeanten: "Vincent Tardieu ist aus einem anderen Grund in den ,Tannen' abgestiegen, als wir dachten. Er muß geahnt haben, daß halbfertige Stücke die Porzellanfabrik nur mit und unter dem Abfall versteckt verlassen konnten, und wahrscheinlich hat er kombiniert, daß in einer Hafenstadt wie unserer der Wasserweg für den Transport der naheliegendste ist. Für einen Privatschnüffler war der Junge gar nicht so schlecht! Er hoffte, von den ,Tannen' aus etwas
beobachten zu können, wenn auch nicht gerade Exportverladungen. Es hätte sein können, daß er endlich bis zu der Deponie gelangt wäre, an der offenbar jemand Diebesgut entgegennimmt, um es einzufärben und unter Vallees Ware zu mischen. Das wäre für den Knecht gefährlich geworden. Er hat uns ja selbst erzählt, daß er früher auf Schuten zwischen Berlin und Trotha gefahren ist! Ich will sagen: Er steckt mit drin; es lag in seinem Interesse, die Aufdeckung des einträglichen Geschäfts zu verhindern. Ob dieses Messer die Mordwaffe ist, kann die Anatomie eindeutig klären. Ich halte es für möglich, daß unser Mann Tardieu als erster durchschaut und seine Kumpane vor ihm gewarnt hat." Jetzt wehrte sich der Hausknecht, der Gustav hieß, Gustav Trampe. "Woher sollte ich denn wissen, daß das 'n Spanner war? Wie denn? Das lasse, ich mir nicht in die Schuhe schieben!" brauste er auf. "Ich habe auch in meiner Fahrenszeit nie so dringesteckt, wie Sie denken. Na schön, ich bin mal über die Kisten gestolpert, die immer derselbe Fabrikkutscher mitbrachte. Die kriegten stets Schiffer und Bootsmann von der ,Maren Schumacher', auf der ich auch schuftete, war 'n Neubau und sah so adrett aus wie die Reederstochter, nach der sie hieß. Als ich gesehen hatte, daß die anderen die Kisten an der Deponie 'nem Mann mit Wägelchen übergäben, habe ich sie angehauen. Sie aber . ,Zehn Taler könnte ich kriegen, damit ich's Maul halte, haben sie gesagt, doch wenn ich noch mal käme, würden sie sich an 'ne bestimmte Schlägerei erinnern bei der ich zu schnell mit dem Messer war. Ein Toter. Ist aber nicht rausgekommen, weil die Jungs mich nicht verpfiffen haben. Sie könnten ja Gewissensbisse kriegen und den Greifern 'n Wink geben, haben sie gesagt. Da wurde nichts aus
dem großen Geld, und ich . Das hat mir die ,Maren Schumacher' ganz verleidet; deshalb habe ich mich von Selman mit 'm Suppenlöffel an Land winken lassen. Es war alles Scheiße." Erdmann war mit Schreibtafel und Griffel beschäftigt. Kronberg sagte:
"Und plötzlich wurde Ihnen das Blaue vom Himmel herunter versprochen, von denselben Leuten. War es so?" Trampe senkte den Kopf. "Wenn Sie's doch schon wissen: ja! Ich sollte künftig den gleichen Anteil am Geschäft haben wie sie, und sie würden den Vorfall für immer vergessen, von dem ich schon gesprochen habe, sagten sie, wenn ich mein Messer jetzt mal für unsere gemeinsame Sache mit Verstand gebrauchte! Falls nicht, hätte ich morgen die Greiferei am Hals. Sie wären bloß Schmuggler, aber ich . Was blieb mir denn übrig? Ich fragte sie, wo ich den Franzmann abtun solle, und sie meinten, es würde alles so
vorbereitet, daß keiner auf mich käme. So geschah es. Sogar das Mädchen haben sie weggelockt, das mir hätte im Wege sein können! Es wäre schon auf einen Stich mehr oder weniger nicht mehr angekommen, Ehrenwort!" Er zuckte die Achseln. "Wir haben uns alle ganz sicher gefühlt, bis das mit dieser verfluchten Karte aufkam. Den Spannern fällt immer etwas Neues ein! Also, was blieb mir übrig? Ich war schon hier; ich kenn mich aus. Nur Glück habe ich nie mit was, und es wird wohl nichts mit 'ner eigenen Kneipe von Selman und mir. Davon träumt sie nämlich. ,Schiffers Ruh' sollte sie heißen ." Die Kutsche, die von der Gendarmerie festgehalten worden war, zeigte das Wappen der Familie von Wredebach am Schlag. Drin schimpfte Alphonse Vallee auf die blöde Polizei, die ihn zu spät zu einem Rendezvous "mit einer Dame aus den allerersten Kreisen" kommen lasse, drohte mit Beschwerde beim Botschafter Frankreichs und verstummte erst, als Kronberg antwortete, Seine Exzellenz werde entzückt sein, den Landsmann als Kumpan von Schmugglern und als Komplizen eines geständigen Mörders aufgegriffen zu sehen. Denn dergleichen liebten die hohen Herren! Dann wandte sich der Kommissar zu seinen Leuten: "Ziehen Sie Schiffer und Bootsmann der schönen ,Maren Schumacher' ein! Die führen uns zu den anderen und werden sich reinzuwaschen versuchen, indem sie die Köpfe der Bande nennen, mögen die Kollegen vom Diebstahldezernat die Lieferanten holen; das ist nicht unsere Sache. Kommen Sie, Sergeant! In der ersten Aufregung wird Vallee am schnellsten über die Rolle von Wredebach in diesem Spiel plaudern. Wir haben zwar den Mörder, aber es gibt noch eine Menge zu tun."