Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 555 All‐Mohandot
PLASMA‐TRÄUME von Peter Terrid
Der Konflikt mit der Biopos...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 555 All‐Mohandot
PLASMA‐TRÄUME von Peter Terrid
Der Konflikt mit der Biopositronik
Seit Dezember des Jahres 3586, als die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Schließlich ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Jetzt schreibt man an Bord des Schiffes den Mai des Jahres 3792, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL bereits den Anstoß zu entscheidenden positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Vernichtung rettete. Inzwischen hat das Generationenschiff viele Lichtjahre zurückgelegt, und die Solaner haben in dieser Zeit viele Konflikte mit Gegnern von innen und außen mehr oder weniger unbeschadet überstanden. Unter Breckcrown Hayes, dem neuen High Sideryt, bahnt sich nun eine weitere Stabilisierung und Normalisierung an Bord an. Allerdings gibt es noch Schwierigkeiten, die von SENECA ausgehen. Es sind die PLASMA‐ TRÄUME …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide im Kampf mit Spukgestalten. Breckcrown Hayes ‐ Der neue High Sideryt wird anerkannt. Arjana Joester ‐ Das Dasein des SOL‐Hirten findet ein jähes Ende. SENECA ‐ Die Biopositronik gewährt Atlan Zugang. Deighton, Tschubai und Waringer ‐ Atlans Gegner in einem gespenstischen Konflikt.
1. Meine Lippen zuckten. Schmerz raste durch meinen Körper. Mit aller Willenskraft und Körperanstrengung hatte ich es fertiggebracht, einen Namen auszusprechen, mehr gestammelt als gesprochen. FARTULOON. Über mir sah ich das Gesicht von Arjana Joester. Ihre Augen flackerten, ihre Züge waren grimassenhaft verzerrt. Und in ihrer rechten Hand lag die Waffe, deren Mündung auf meinen Kopf zielte. Vor wenigen Augenblicken hatte sie mir erklärt, daß sie mich nun erschießen würde. Damit sollte die Machtübernahme des SOL‐ Hirten endgültig werden. Der Kampf um die Zentrale der SOL war entschieden – und verloren. Bis auf einen der bonbonrosafarbenen Kugelrobots hatten wir die Angreifer zerstören können, aber dieser letzte Robotdiener des SOL‐ Hirten hatte als Waffe genügt. In der Zentrale – oder dem, was die Kämpfe davon übriggelassen hatten – lagen die Menschen wie Gliederpuppen herum. Paralysatorschüsse hatten sie außer Gefecht gesetzt. Sie sollten sterben. Der SOL‐Hirte hatte es eben verkündet, mit einer Stimme, die nichts Menschenähnliches mehr hatte. Arjana Joester hatte buchstäblich den Verstand verloren.
Wie sie es geschafft hatte, ihr Geheimnis bis zu diesem Augenblick zu wahren, war unerklärlich. Es gab auch anderes zu denken in dieser unendlich lang erscheinenden Sekunde. Die Hand, die die Waffe hielt, zitterte. Arjana Joester bebte am ganzen Körper. Ihre Mundwinkel zuckten unaufhörlich. Ihre Miene bekam etwas Fragendes. Sie begriff nicht, was ich getan hatte. Woher sollte sie wissen, daß ich einer letzten verzweifelten Hoffnung nachhing – der nämlich, daß der letzte Robot in Arjanas Diensten derjenige war, an dessen Programmierung ich versucht hatte herumzufingern. Ich konnte nicht wissen, ob diese Manipulation überhaupt geglückt war, ob es sich um genau diesen Robot handelte – aber eine andere Chance als diese hatten wir nicht mehr. Das galt für mich, der ich auf Arjanas Todesliste den obersten Platz einnahm. Das galt für Breckcrown Hayes, der als nächster an der Reihe sein würde, das galt für Bjo und die anderen in der Zentrale. Sie waren völlig wehrlos. Ich starrte auf den Finger, einen schmalen Frauenfinger, der über dem Abzug der Waffe lag. Bewegte er sich? Ein Ächzen war zu hören. Mein Blick zuckte hoch zu Arjanas Gesicht. Ein Ausdruck unfaßbaren Staunens war in ihren Augen zu lesen, daneben glaubte ich Erleichterung zu spüren. Arjanas Augen weiteten sich. Zurück zum Finger. Bewegte er sich? Ich sah, wie die Waffe nach vorne kippte, über den Finger glitt. Ich sah den Strahler fallen, und eine ungeheure Erleichterung durchströmte mich. Einmal mehr hatte es das Glück gut mit mir gemeint. Ich sah, wie Arjana Joester in die Knie brach. Im Augenblick ihres höchsten Triumphs von ihrem eigenen Werkzeug niedergestreckt zu werden – es war eine ungewollte, aber treffende Ironie des Schicksals.
Die Frau verschwand aus meinem Blickfeld. Jetzt machte sich die ungeheure Anstrengung bemerkbar, die nötig gewesen war, meine Schocklähmung zu überwinden. Das Bild verschwamm vor meinen Augen. Nur das heftige Schlagen meines Herzens war zu spüren. Es ging durch den ganzen Körper. In letzter Sekunde hatte ich es geschafft. * Eine halbe Stunde nach diesen schreckerfüllten Augenblicken war ich wieder auf den Beinen, etwas wackelig zwar, aber durchaus in der Lage, etwas zu unternehmen. Die Solaner, die mehr oder weniger hilflos den Vorgängen in der Zentrale zugesehen hatten, waren so intelligent gewesen, Medo‐ Robots auf den Plan zu rufen, die sich um die Paralysierten kümmerten. Die Ex‐Magniden und meine Freunde waren abtransportiert worden und wurden medikamentös auf das Abklingen der Schockparalyse vorbereitet. Eine Person, die ebenfalls von einem Paralysatorschuß getroffen worden war, hatte diesen Treffer nicht überlebt – Arjana Joester. Sie lag am Boden, der Körper verkrümmt, und im Gesicht war ein Ausdruck, wie ich ihn nie zuvor bei ihr gesehen hatte – eine verzerrte Fratze, die man kaum ansehen konnte, ohne dabei selbst das Gesicht zu verziehen. Es sah aus, als wäre Arjana Joester in einer gräßlichen Geistesverwirrung gestorben. »Schafft sie fort«, befahl ich den Robotern. Während die Maschinen den Befehl ausführten, verschaffte ich mir ein Bild der Lage. Die Zentrale der SOL hatte viel abbekommen. Zwar waren keine unersetzlich wichtigen Einrichtungen zerstört worden, aber es hatte genug Schäden gegeben, so daß sich eine komplette Renovierung
der Zentrale lohnte. Das gleiche galt für Deccons Klause. Der düstere Raum war so verwüstet, daß Breckcrown Hayes mehr als genug Grund hatte, ihn völlig neu einzurichten. Ich vermute, daß er aus der Klause des High Sideryt einen anheimelnderen Aufenthaltsort machen würde, als es Deccon getan hatte. Mein Rundgang überzeugte mich davon, daß die SOL einsatzbereit war – wir würden improvisieren müssen, aber in dieser Kunst hatten die Solaner Erfahrung. Ich verließ die Zentrale und ließ mich zur Medostation führen, wo die Freunde untergebracht waren. Breckcrown Hayes lag noch in tiefer Betäubung. Er hatte gleich zwei schwere Paralysatortreffer abbekommen, und dementsprechend schmerzlich würde sein Erwachen sein. Vielleicht schafften es die Mediziner, die unvermeidlichen Lösungsschmerzen einer Paralyse hinreichend zu dämpfen. Bereits wieder recht klar war Bjo Breiskoll. Er grinste mich an, als ich an sein Bett trat. »Gut gemacht«, sagte er matt. »Und wie üblich in letzter Sekunde. Was ist eigentlich überhaupt passiert?« »Nicht viel, wie man es nimmt«, sagte ich. Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich neben sein Bett. »Breckcrown Hayes und ich haben die Fabrikationsstätte der Kugelrobots entdeckt. Dort habe ich, bevor Hayes die ganze Anlage sprengte, einen der Roboter in der Grundsatzprogrammierung geändert. Auf das Kennwort Fartuloon hin wurden viele Befehle in ihr logisches Gegenteil verkehrt. Und der Zufall wollte es, daß genau dieser Robot als letzter dem SOL‐Hirten geblieben war.« »Das habe ich gemerkt«, sagte Bjo. »Ich habe versucht, herauszubekommen, was Arjana dachte«, fuhr er fort. »Vor allem wollte ich wissen, wie sie es geschafft hat, Telepathen auszuschalten.« »Und? Wie sieht der Trick aus?« »Schwer zu beschreiben«, sagte Bjo. »Du kannst etwas mit dem
Begriff Verdrängung anfangen?« Ich nickte. Bjo spielte auf einen Begriff der Tiefenpsychologie an, der bei nahezu jedem Menschen zu finden war. Der Angestellte, der von seinem Vorgesetzten zusammengestaucht wird, seinen Kollegen aber erzählt, wie er es dem Chef gegeben habe, brauchte manchmal gar nicht zu lügen – das Phänomen der psychischen Verdrängung sorgte dafür, daß er die Kopfwäsche einfach beiseite schob und vergaß und statt dessen eine Deckerinnerung produzierte. Selbst wenn dieser Mann an einen Polygraphen, auch Lügendetektor genannt, angeschlossen wurde, konnte er bei seiner Version der Geschichte bleiben – sie war für ihn wahr geworden, weil er die Wirklichkeit verdrängt hatte. Und das war nur eine von vielen Möglichkeiten, in denen sich das Phänomen zeigte. »Arjana hat es mit Techniken des Autogenen Trainings geschafft, ganze Teile ihres Charakters gleichsam im Block zu verdrängen und auf Kommando wieder hervorzukramen. Eine unglaubliche Leistung.« Das konnte ich mir vorstellen. Die verdrängten Teile waren schließlich nicht verschwunden, sie waren nur unter die Oberfläche des Bewußtseins gedrückt worden, und dort konnten sie ein verheerendes Eigenleben entfalten. »Ich konnte bei Arjana nichts mehr vom SOL‐Hirten spüren, wenn sie diesen Prozeß vollzogen hatte«, erklärte Bjo. »Und in dem explosionsartig hervorbrechenden Wesen des SOL‐Hirten war von der Persönlichkeit Arjana Joesters nichts mehr zu finden.« Ich mußte an die Konzepte denken, die früher mehrere Persönlichkeiten in einem Körper beherbergt hatten, aber unter ganz anderen Voraussetzungen. »Als dann der letzte Roboter einen Paralysatorschuß auf Arjana abgab, brach die künstliche Trennung zwischen diesen beiden Persönlichkeitsteilen zusammen. Was dann passiert ist, weiß ich nicht mehr – ich bin darüber ohnmächtig geworden. Ich fürchte
aber, daß sie nun unrettbar wahnsinnig geworden ist.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie hat den Schock nicht überlebt«, sagte ich. »Hast du etwas herausfinden können, was Arjana dazu getrieben hat, sich so zu verhalten?« »Nur Fetzen«, sagte Bjo. »Sie war von brennendem Ehrgeiz erfüllt, das stand fest. Ich hatte den Eindruck, als hätte sie vor vielen Jahren einmal versucht, mit Chart Deccon anzubändeln, aber der hat sie auf ziemlich demütigende Art und Weise zurückgestoßen. Sie hat Deccon inbrünstig gehaßt, und diesen Haß hat sie dann auch auf alle Männer und insbesondere auf Hayes und dich übertragen.« »Ich verstehe.« Darum also hatte der SOL‐Hirte uns in einem Abwasserbehälter zu ersäufen versucht – wir sollten auf eine möglichst demütigende Art und Weise ums Leben kommen. Vielleicht wäre Arjana Joester zu retten gewesen, wenn sie rechtzeitig behandelt worden wäre. Nun war es zu spät, das Thema SOL‐Hirte war durch ihren Tod abgeschlossen. »Wie sieht es aus?« fragte Bjo nach einer längeren Pause. »Wir haben viel Arbeit vor uns«, sagte ich. »Aber es wird aufwärtsgehen, dessen bin ich mir sicher.« »Hayes ist ein guter Mann für diese Aufgabe«, murmelte Bjo. Ich lächelte. »Wir werden uns gut ergänzen«, sagte ich. »Breckcrown hat unter seiner kantigen Schale sehr viel Herz für seine Solaner. Er könnte ein Patriarch im besten Sinne des Wortes werden – verschlossen und energisch genug, um den Solanern Respekt einzuflößen, aber auch einfühlsam und verständnisvoll genug, daß sie ihm wirklich zugetan sein können. Eine gute Mischung.« Bjo grinste mich frech an. »Aber nicht ganz passend für einen immer vorwärtsdrängenden Arkon‐Admiral?« Ich mußte lachen.
»Wir sind verschieden, und das ist gut so«, sagte ich. »Steht SOL‐City noch?« »Auch die Schäden in unserem Quartier können verhältnismäßig leicht ausgebessert werden«, sagte ich. Der Interkom meldete sich. Ich stand auf und schaltete das Gerät ein. Auf dem Schirm erschien ein Zeichen, das eine Ansprache des High Sideryt ankündigte. Bjo und ich wechselten einen raschen Blick. Tatsächlich erschien eine halbe Minute später das Gesicht von Breckcrown Hayes auf dem Schirm. Er sah übel aus. Er war offenbar erst vor kurzer Zeit zu sich gekommen und hatte vermutlich die Ärzte gezwungen, ihn fitzumachen. »Meine lieben Solanerinnen und Solaner«, begann Hayes. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, und wenn ich recht sah, würde das linke Auge langsam zuschwellen. »Ihr habt mitbekommen, daß wir gerade erst einige harte Stunden hinter uns haben. Eine Person, die sich der SOL‐Hirte nannte, hat versucht, nach der Macht in der SOL zu greifen. Dieser Kampf ist entschieden – und ich glaube, man kann mir ansehen, daß er hart gewesen ist.« Aus jedem anderen Munde hätte das übel geklungen, anmaßend und selbstverherrlichend. Bei Hayes wirkte es anders – sehr aufrichtig und darum überaus eindrucksvoll. Bjo grinste wieder. »Er ist nicht nur sehr fürsorglich, sondern auch ganz schön gerissen«, sagte Bjo Breiskoll anerkennend. »Die Ärzte haben mir strikte Bettruhe verordnet, aber daran werde ich mich nicht halten. Wir haben noch viel zu tun an Bord dieses Schiffes, das unsere Heimat ist, und so wenig, wie ich anderer Leute Drückebergerei zu entschuldigen bereit bin, so wenig werde ich mich selbst schonen, wenn es um diese Aufgabe geht – aus der SOL wieder ein Schiff zu machen, in dessen Haut wir alle uns wohl
fühlen können.« Er preßte die Lippen aufeinander. Ganz ließen sich die Lösungsschmerzen der Paralyse doch nicht unterdrücken – und ich ahnte, wieviel Hayes in diesen Augenblicken wegsteckte, ohne der Kamera und den Solanern etwas davon zu zeigen. »Lange Jahre ist die SOL nichts weiter gewesen als eine raumtaugliche Behausung, kaum eine Wohnung und schon gar kein Zuhause. Ich werde alle Kraft, die ich habe, darauf verwenden, dieses Schiff für seine Besatzung wieder zu einer Heimat zu machen.« Er mußte Pausen einlegen. Breckcrown Hayes galt als kantig, wortkarg und gefühlsarm, und zu überschwenglichen Ausbrüchen war er auch jetzt nicht fähig. Wohl aber war jedem Zuschauer klar ersichtlich, daß Hayes tiefbewegt war. Er suchte nach Worten, und er tat es auf eine Weise, die ihm bei den Solanern mit Sicherheit Pluspunkte eintragen mußte – wenigstens bei denen, die nicht verbohrt und stur waren. »Bis wir das erreicht haben, wird Zeit vergehen. Wir werden alle dazu viel Zeit brauchen, aber wir werden es schaffen.« Er sah geradeaus in die Kamera. »Und wir werden sofort damit anfangen. Hier und jetzt. Wenn einer Fragen hat, was er tun soll – ich bin in der Zentrale zu erreichen.« Mit diesen Worten schaltete er ab. Bjo und ich blickten uns an. Es sah ganz danach aus, als hätte die SOL wieder einen High Sideryt von Format. 2. Breckcrown Hayes holte tief Luft. Er kannte das Gefühl, aber er konnte sich beim besten Willen nicht
daran gewöhnen. Extrasystolen nannten die Mediziner das Phänomen, Hayes nannte es Herzrhythmusstörungen. Das Herz tat alle paar Augenblicke einen Zusatzschlag, aber Hayes kam es so vor, als setzte das Herz alle paar Schläge einmal kurz aus. Hayes hatte sein Elektrokardiogramm auf dem Bildschirm sehen können. Er hatte die Zacken gezählt, die Ärzte hatten recht – sein Herz war fleißiger, als es sein sollte. »Eine allgemeine Streßerscheinung«, hatte man Hayes gesagt. »Das Herz ist kerngesund, aber der Besitzer setzt sich unter starken inneren und äußeren Druck. Dann bleiben solche Extrasystolen nicht aus. Kein Grund zur Sorge.« »Ich habe schon bessere Witze gehört«, hatte der High Sideryt geknurrt. Seit Tagen hatte der High Sideryt kaum geschlafen. Mit aller Macht trieb er die Reparaturarbeiten in der Zentrale und der Klause des High Sideryt voran. Und keiner der Arbeitenden hatte es gewagt, aufzumucken – das Beispiel des Mannes Breckcrown Hayes, der unermüdlich arbeitete, obwohl er sichtlich völlig erschöpft und übermüdet war, trieb die Solaner zu höchster Anstrengung. Hayesʹ Eifer hatte sie mitgerissen. Langsam begann sich der Erfolg abzuzeichnen. Zwei Wochen noch, dann war diese erste wichtige Schlacht geschlagen. Soviel Zeit war nötig, bis die mühseligen Anstrengungen aller an Bord zu den ersten handfesten Erfolgen führen konnten. Das war eines der entscheidenden Probleme – es gab so viel Schlamperei aus früheren Zeiten abzutragen, mühselige Kleinarbeit zu verrichten, daß für etliche Tage beim besten Willen kein Erfolg zu erkennen war. Die Zentrale war ein Musterbeispiel dafür. Der Raum der Hauptzentrale und die benachbarten Räume sahen noch wüster aus als nach dem Kampf mit dem SOL‐Hirten. Man hätte glauben können, das Schiff sollte abgewrackt werden.
Einzelteile lagen herum, Verkleidungen lehnten an Kabelrollen, überall wurde gewerkelt, und niemand hatte eine Ahnung, wie das alles werden sollte. In der Klause wurde ebenfalls gearbeitet. Farbeimer standen herum, Abfälle waren noch wegzuräumen. Hayes hätte jeden einen Phantasten genannt, der ihm hätte erzählen wollen, daß dieser Raum in wenigen Tagen hell, freundlich und vielleicht sogar gemütlich werden könnte – einstweilen wirkte jede Rumpelkammer anschaulicher. Ähnlich sah es an vielen Stellen der SOL aus. Ein paar Tage noch, dann war die Klause bezugsfertig. Achtundvierzig Stunden danach würde die Zentrale wieder ein Bild perfekter Funktionstüchtigkeit bieten – und war das erst erreicht, dann trug der Anfangsschwung weiter. Alles in ihm schrie nach einer Pause. Sich hinlegen, die Beine ausstrecken, schlafen, träumen … aber nichts dergleichen kam für den Unermüdlichen zur Zeit in Betracht. Breckcrown Hayes brannte seine Lebenskerze an beiden Enden ab. Jeder, der vorbeikam, konnte es sehen. Und es kamen viele. Später würde man derlei besser organisieren müssen, aber vorläufig war es noch so, daß alle paar Stunden irgendeine kleine Abordnung kam, die Hayes um Rat und Hilfe bat. Es ging dabei weniger um tatsächliche Probleme – es ging den meisten dieser Besucher darum, den High Sideryt persönlich kennenzulernen, zu testen, ob er seine Ansprache ernst gemeint hatte. Jede dieser Abordnungen hatte Hayes mit unerschütterlich ruhiger Freundlichkeit empfangen. Er hatte sich die Sorgen angehört und Ratschläge gegeben. Manchem hatten diese Ratschläge nicht gepaßt, weil sie mit allerlei persönlichen Unbequemlichkeiten verbunden waren; aber keiner war – soweit Hayes das beurteilen konnte ‐weggegangen, ohne nicht vom neuen High Sideryt einen starken Eindruck mitgenommen zu haben: daß hier ein Mann an der Arbeit war, der
sich selbst nicht schonte, wenn es um das Wohl der Besatzung und des Schiffes ging. Manch einer war am Anfang enttäuscht gewesen. Es gab Solaner, die beim High Sideryt auch etwas Pomp und Prunk erwartet hatten und die sich verwundert die Augen gerieben hatten, als sie auf einen Mann gestoßen waren, dessen Kleidung Arbeitsspuren verriet, der rotgeränderte Augen vor Müdigkeit hatte und ab und zu auch ein wenig fluchte. Aber Hayes hatte gar nicht erst beabsichtigt, bei den Solanern eine Art Hurra‐Enthusiasmus zu wecken. Dergleichen hielt nicht vor, das wußte er. Sein Ziel war gewesen, einen Arbeitswillen zu erzeugen, der auch Zähnezusammenbeißen einschloß. Die Rückmeldungen, die langsam aus allen Teilen der SOL eintrafen, bewiesen dem High Sideryt, daß dieses Verfahren richtig gewesen war. Viele hatten inzwischen gemerkt, daß eine matte Müdigkeit, die von harter, aber erfolgreicher Arbeit herrührte, letztlich doch besser war als die süßen Träumereien von einer besseren Zukunft, mit denen noch vor ein paar Tagen der SOL‐Hirte gelockt hatte. Auch das konnte auf Dauer nicht vorhalten. Irgendwann würden die Solaner auch eine Portion Wohlleben fordern. Sollten sie – wenn bis dahin gearbeitet worden war. An Breckcrown Hayes jedenfalls sollte es nicht liegen, wenn es an Bord des Riesenschiffs nicht voranging. Hayes sah sich in seiner neuen Behausung um. Er grinste. Für einen parfümierten Arkon‐Prinzen – der Atlan im übrigen nie gewesen war – stellte die neue Klause nicht die rechte Behausung dar. Eine gewisse mönchische Schlichtheit würde auch Hayesʹ Einrichtungsstil haben. Die Robotleibwächter gab es nicht mehr, nur ganz normale Service‐Maschinen, und auch die bei weitem nicht in der Anzahl, die man dem High Sideryt vermutlich unterstellen würde. Es war die Wohnung eines Mannes, der sein Amt als Pflicht
und nicht als Belohnung ansah. Einen Winkel des Raumes hatte der High Sideryt nicht in seine Veränderungsplanung einbezogen. Eine seltsame Scheu hatte ihn davon abgehalten, jenen Winkel zu verändern, in dem das Logbuch der SOL lag. Es war eine Gefühlsanwandlung gewesen; Respekt vor den Leistungen der Vorgänger im Amt vielleicht, möglicherweise die Bescheidenheit, die ihm sagte, daß er nur ein Glied in der Kette geschichtlicher Entwicklungen war. Das Logbuch der SOL sollte und konnte Breckcrown Hayes vor jeder Überheblichkeit bewahren; es machte ihm klar, daß es vor ihm Leben und Arbeit gegeben hatte, daß es eine Menschheitsgeschichte gab, die sich nach gigantischen Zeiträumen bemaß, wenn man das bisherige Schicksal der SOL damit verglich, und daß es eine Zeit nach der SOL geben würde. Es war wichtig für Breckcrown Hayes zu wissen, daß er selbst – gleichgültig was er tat oder zuwege brachte – immer nur im Übergang stehen konnte. Die Menschheit – und das schloß selbstverständlich auch die SOL und ihren augenblicklichen High Sideryt ein – stand unter dem Gesetz der Entwicklung. Wer dieses Bewegungsgesetz verkannte, wer dem Wahn anhing, daß er die Geschichte der Menschen in einen Zustand überführen konnte, der war im Grundsatz bereits gescheitert. Die Menschen lebten, waren Teil dessen, was man Natur nannte; und das bedeutete immerwährenden Wandel. In der Vergangenheit der Menschheit waren alle Versuche gottähnlicher oder teuflischer Herrscher, die Geschicke der Völker oder gar aller Menschen für die Ewigkeit festzuschmieden, gescheitert, manche schnell, manche später – aber dafür ausnahmslos alle. Nur ein einziges Mal in der Geschichte der Menschheit hatte es die Chance gegeben, die Menschen tatsächlich und unwiderruflich auf ein vorherbestimmbares Schicksal festzuschmieden. Es war das Chaos der atomaren Apokalypse gewesen, die Möglichkeit der
Menschen, sich selbst im Toben entfesselter Atomgewalten für immer zu vernichten. Diese Möglichkeit war vereitelt worden; Perry Rhodan hatte den notgelandeten Kreuzer der Arkoniden auf dem Erdmond entdeckt, und mit dessen technischen Mitteln war es möglich gewesen, den atomaren Weltenbrand zu verhindern. Seit jenem Jahr war die Geschichte der Menschheit wie zuvor von immerwährender Veränderung gekennzeichnet gewesen – sogar das, was als sicher bekannt geglaubt worden war, hatte sich Veränderungen gefallen lassen müssen. Immer wieder – beim Auftauchen der Lemurer oder der Cappins – waren neue Tatsachen aus der Erdgeschichte bekannt geworden; auch diese Lehrbücher hatte man des öfteren umschreiben müssen. »Umschreiben«, murmelte Breckcrown Hayes. Er wollte sich das Logbuch vornehmen; nicht um es zu ändern, sondern um darin zu lesen. Vielleicht fand sich darin der eine oder andere Hinweis, der für die Zukunft einen guten Rat abgab. Hayes ging zu jenem Winkel hinüber. Er wollte gerade nach dem Logbuch greifen, als er plötzlich bemerkte, daß seine Füße ihm nicht mehr gehorchten. Die Lähmung stieg mit rasender Geschwindigkeit an seinem Körper hoch. Der High Sideryt war so erschöpft und müde, daß er zu schneller Reaktion nicht mehr fähig war. Ehe er noch dazu kam, einen Schrei auszustoßen, hatte diese Lähmung bereits seinen ganzen Körper ergriffen. Hayes wehrte sich nicht; er hatte keine Kraft mehr. Aber er behielt seinen wachen Verstand. Er sah, wie neben seinem Kopf ein hellschimmerndes Gebilde auftauchte, einer energetischen Glocke ähnlich. Das Gebilde schwebte langsam an Hayes vorbei, auf die Kassette mit dem Logbuch zu. Hayes dachte eine Verwünschung. Er ahnte, was er nun zu sehen bekommen würde.
In der Tat senkte sich die Glocke langsam auf die Logbuchkassette herab. Der Behälter schwebte in die Höhe, er verschwand im Innern der Energieglocke. Sofort setzte sich das Gebilde wieder in Bewegung – erneut schwebte es an Hayesʹ Kopf vorbei. Da er den Nacken nicht bewegen konnte, vermochte er nicht zu sehen, was aus dem Ding wurde. Er spürte nur, wie die Lähmung nun auch auf sein Bewußtsein übergriff. Binnen weniger Augenblicke war der High Sideryt bewußtlos. * »Man müßte diesem Ding fast dankbar sein«, sagte ich vorwurfsvoll. Hayes schnaubte verächtlich. Er lag in einem frisch überzogenen Bett und setzte, wie man mir berichtet hatte, seinen ganzen Ehrgeiz darein, der übellaunigste, mürrischste und widerspenstigste Patient zu werden, der jemals in den medizinischen Einrichtungen der SOL betreut worden war. »Ich habe mir deine Herzschrift angesehen, alter Freund«, sagte ich mit gespielter Strenge. »Die Ruhe tut dir gut.« »Mir vielleicht«, maulte Hayes. »Aber ganz bestimmt nicht dem Schiff, und das geht vor.« Ich deutete mit dem Finger auf ihn. »Diesem Schiff ist mit einem High Sideryt, der vor Erschöpfung tot umfällt, so wenig gedient wie mit einem SOL‐Hirten. Du hast den Bogen überspannt.« »Mag sein«, antwortete Hayes. »Trink deinen Saft«, forderte ich ihn auf. »Rede schon«, knurrte Hayes. »Was ist mit dem Logbuch? War das eine Nachwehe des SOL‐Hirten?« »Ich glaube nicht«, antwortete ich. »Noch mehr Saft?«
»Bleib mir mit dem Zeug vom Leibe«, maulte der High Sideryt. »Laß mir meine Kleider bringen und einen Kaffee, dann sehen wir weiter.« Ich leitete diese Forderung an den Arzt weiter, der gerade den Raum betrat. Der schüttelte sofort den Kopf. »Vier Tage Ruhe«, sagte der Mediziner energisch. »Unbedingt.« »Will man mich narkotisieren?« fragte Hayes. »Selbstverständlich nicht«, bekam er zur Antwort. »Solche Patienten sollen sich auch psychisch erholen, und das läßt sich mit Medikamenten nicht erreichen.« »Dann möchte ich noch einmal an ein EKG angeschlossen werden«, bestimmte Hayes. »Und zwar bald.« Der Arzt breitete die Arme aus. »Ich weiß zwar nicht, was das soll, aber meinetwegen.« Ein paar Augenblicke später war Hayes angeschlossen. Auf einem Bildschirm erschienen die Kurven – die vier verschiedenen Linien der Herzschrift, darunter wurden Blutdruck und Hautfeuchtigkeit und einige andere Werte ermittelt. »So, und jetzt möchte ich noch einmal einen kurzen Vortrag über längere Bettruhe hören«, sagte Hayes. Der Mediziner tat ihm den Gefallen, und es zeigte sich bald, was er damit erreichte. Hayesʹ Pulsfrequenz stieg an, er begann zu schwitzen, und sein Blutdruck zeigte Neigung zum Alpinismus. »Gut, gut, ich habe begriffen. Bettruhe ist für diesen Menschen noch anstrengender als Arbeit. Wir können das Experiment beenden. Aber ich lasse in den Unterlagen speichern, daß der Patient die Station gegen unseren Rat und auf eigenes Risiko verläßt.« »Wer sonst würde das Risiko tragen?« fragte Hayes sarkastisch. »Her mit meinen Kleidern.« Ein paar Minuten später stand Breckcrown Hayes wieder auf den Beinen. Er machte ein paar Kniebeugen und lächelte zufrieden.
»Wie lange habe ich geschlafen?« »Zweiundsiebzig Stunden«, antwortete ich. »Und du hast mich nicht wecken lassen?« schnauzte Hayes mich an. »Freund«, sagte ich in gleicher Schärfe. »Wenn du dich verheizen willst, dann handele, wie du es für richtig hältst. Aber mach mir nicht den Vorwurf, daß ich bei diesem Spiel nicht mitmische und dir ab und zu ein wenig Atemholen gönne.« »Vergiß es«, murmelte Hayes. »Komm!« Er stürmte durch die Gänge, als suche er nach einem Gegner für einen Faustkampf. In seiner Klause ließ er einen Automaten zunächst einmal einen Kaffee brauen, den außer ihm wohl nur ein Haluter ohne Herzattacken verkraftet hätte. Er schlürfte die ersten Schlucke, dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und lächelte zufrieden. »So, jetzt bin ich wieder ein Mensch«, sagte er und streckte sogar die Beine aus. Bei der Koffeinkonzentration seines Gebräus würde er es wohl nicht lange in dieser Ruhehaltung aushalten. Ich sah mich um. Die Klause war, verglichen mit ihrem Zustand zu Zeiten eines Chart Deccon, geradezu freundlich und anheimelnd geworden. Da Hayes noch nichts Privates hatte einbauen und aufstellen lassen, war der Raum zwar nüchtern und kalt wie eine Mönchszelle, aber der Ansatz zu einer menschlichen Behausung war nicht zu übersehen. »Dort hat das Logbuch gelegen«, sagte Hayes und deutete auf einen Winkel, an dem noch zwei Roboter herumschweißten. »Und jetzt wüßte ich gerne, wer es hat – und wo dieser Jemand es hat. Mit dem Bordbuch ist nämlich auch unsere Geschichte verschwunden, und das paßt mir gar nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Fragen wir SENECA?« »Ein Versuch kann nicht schaden.«
Nach dem Auftreten des SOL‐Hirten hatte sich die Biopositronik wieder einmal aus dem Verkehr gezogen. Ich war gespannt, ob sie sich melden würde. Die Verbindung kam zustande. »Atlan! High Sideryt!« Ich sah Hayes an. Was war nun schon wieder in die Positronik gefahren? SENECAS Stimme klang heiter, fast euphorisch. »Wir hören dich, SENECA. Du bist über die Veränderungen unterrichtet?« »Ich habe alle Informationen gesammelt«, ließ sich die Positronik vernehmen. »Wundervolle Informationen.« Dieser arge Gefühlsüberschwang stimmte mich mißtrauisch. Sollte SENECA von einem Extrem ins Gegensätzliche fallen? »Meinst du damit das Verschwinden des Logbuchs?« »Diese Information bekomme ich jetzt zum ersten Mal«, antwortete SENECA. »Du weißt nichts darüber?« »Nein.« Ich preßte die Lippen aufeinander. Es war zum Haareraufen. Gab es an Bord noch eine unbekannte Macht, die stark genug war, den High Sideryt zu lähmen und das Logbuch verschwinden zu lassen? »Es ist sehr wichtig, SENECA«, warf Hayes ein. »Bitte überprüfe alle deine Informationen, ob es nicht irgendeinen Hinweis gibt, der das Verschwinden des Logbuchs erklären kann.« »Das wüßte ich aber!« In schneidender Schärfe kam die Stimme aus dem Lautsprecher, aber die von mir befürchtete Reaktion blieb aus – SENECA blieb mit uns verbunden. »Die anderen Informationen freuen dich?« Ich wollte das Gespräch schnellstens auf besonnenere Gebiete umlenken, bevor SENECA wieder einschnappen konnte. »Es freut mich«, sagte die Positronik. »Es geschehen viele Dinge, die mich angenehm berühren. Es ist fast wie in alten Zeiten.«
»Fast?« »Es fehlen die Menschen«, sagte SENECA. Die Stimme verriet Trauer. »Es sind genug Menschen an Bord«, warf Hayes ein. »Menschen, die dich und deine einmaligen Fähigkeiten brauchen.« »Brauchen? Mich? Einen dummen Blechkerl?« Hayes und ich wechselten einen raschen Blick. Zu den positiven Veränderungen gehörte nun offenbar auch, daß SENECA einen Teil seines stark angeschlagenen Seelenlebens öffnete. »Hat man dich so genannt?« »Oft«, antwortete SENECA. »Sehr oft sogar. Man hat mich behandelt wie einen billigen Automaten, einen mechanischen Befehlsempfänger.« Langsam klärte sich die Lage. SENECA hatte – höchstwahrscheinlich – an seinem Positronikteil den einen oder anderen Schaden erlitten. Das war schlimm genug. Aber offenkundig hatten die Ereignisse der letzten zweihundert Jahre vor allem seinen plasmatisch‐psychischen Teil furchtbar verstümmelt. Der Plasmateil war mit der Positronik verbunden worden, um diese einmalige Kombination von rechnerischer Intelligenz mit dem Einfühlungs‐ und Lernvermögen des Bioplasmas herstellen zu können. Und dieses hohe Maß an Empfindungsfähigkeit hatte natürlich den Nachteil, daß auch das Eigenleben der Biopositronik davon beeinflußt worden war. Vermutlich hatte SENECAS plasmatisches Selbstwertgefühl furchtbare Schläge hinnehmen müssen. »Du und der High Sideryt, mit euch beiden kann ich reden. Mit anderen nur mit Schwierigkeiten. Immer wieder greifen interne Schutzschaltungen ein, die mich zum Schweigen verurteilen.« Im stillen bedankte ich mich bei den Erbauern SENECAS für diese Schutzschaltungen. In Klartext übertragen hieß SENECAS Satz nämlich höchst gefährlich: Wenn ich mich nicht selbst immer wieder aus dem Verkehr gezogen hätte,
hätte ich einen Nervenzusammenbruch bekommen. Wie sich ein solcher Zusammenbruch bei einer Biopositronik äußerte, war nicht vorhersehbar – aber vermutlich würde eine ungeheure Portion Aggression ihre Entladung finden, entweder nach außen oder aber auf selbstzerstörerischen Wegen nach innen. SENECAS häufiges Schweigen war also ein Indiz gewesen, daß SENECA vor dem Zusammenbruch gestanden hatte. Breckcrown Hayes sah mich an. Wir dachten beide das gleiche: Jetzt hatten wir die ungeheure Chance, SENECAS angeschlagenes Seelenleben wieder aufzurichten – aber auch die ungeheure Aufgabe, die sich in diese dürren Worte kleidete. 3. »Sie sind vernichtet«, erklärte ich. »Ich kann es nicht ändern, SENECA, du wirst Romeo und Julia nie wieder zu sehen bekommen.« Ich war auf die Antwort der Positronik gespannt. Seit vier Stunden redeten wir miteinander, über den Interkomanschluß in SOL‐City. Der High Sideryt hatte es mir überlassen, diese Unterhaltung zu führen; er wollte sich lieber um die Belange des Schiffes kümmern. Er hatte gut daran getan, denn dieses Gespräch wurde zu einer Strapaze erster Ordnung. Wie viele psychisch Gestörte hatte auch SENECA eine Art Programm entwickelt, ein komplexes Denkschema, mit dem er die Wirklichkeit zu bewältigen versuchte. Gegründet waren solche Programme auf ein paar Annahmen, die bei genauerem Hinsehen gar nicht beweisbar waren – auf denen aber das ganze Denkschema fußte. Das Vertrackte war, daß besonders SENECAS Programm logisch perfekt war, vorausgesetzt, man hatte sich auf seine Grundannahmen eingelassen. Es bedurfte aller
Kombinationsfähigkeit des Extrahirns, um den Sprüngen und Brüchen in SENECAS Denken auf die Spur zu kommen. »Ich bedaure das nicht sehr«, antwortete SENECA. »Seit langem schon habe ich mitbekommen, daß meine beiden Ableger von einer fremden Macht übernommen worden sind. Ich habe es deswegen gespürt, weil diese fremde Macht auch nach meinen Bewußtseinsinhalten zu greifen versucht hat.« »Der SOL‐Hirte?« »Eine fremde Macht«, antwortete SENECA. »Wie weit diese Macht gekommen ist, kann ich nicht sagen. Um mich zu schützen, mußte ich mich mehrfach selbst desaktivieren. Romeo und Julia habe ich schließlich, weil sie gänzlich aus meiner Kontrolle gerieten, in die Syntho‐Quarz‐Blöcke eingießen lassen müssen.« Auf menschliche Verhältnisse übertragen: SENECA hatte einen außerordentlich selbstkritischen Tag, und den galt es zu nutzen. Denn anders als bei den in der Positronik fest gespeicherten Daten waren die Gefühlsaufwallungen des Plasmas vergänglich. Diese Zusammenstellung von Denkvermögen, von kritischer Selbstsicht und Optimismus, ließ sich vielleicht nie wieder rekonstruieren. Beim nächsten Mal war SENECA vielleicht wieder optimistisch, aber dafür nicht selbstkritisch – oder Selbstkritik und Depression verbanden sich zu einer Mischung, die der Riesenpositronik gefährlich werden konnte. »Kannst du mir eine grob zusammenfassende Beschreibung deines Zustands geben?« – »Ich kann es versuchen.« Auf diese Antwort war ich mehr als gespannt. Sie würde weitgehend über die Zukunft der SOL entscheiden. »Gemessen am Standard bei meiner Erschaffung werde ich nie wieder voll einsetzbar sein. Die Ereignisse der letzten zweihundert Jahre haben bei mir rein technische Schäden hervorgerufen, die im Augenblick irreparabel sind. Sie haben auch zu Programmdefekten geführt, die ich in eigener Regie überbrückt habe. Eine völlige Wiederherstellung wäre nur dann möglich, wenn ich vollkommen
desaktiviert, technisch instandgesetzt und dann mit dem vollen Programm meiner Geburt geladen würde.« »Das kommt nicht in Frage«, sagte ich sofort. Der Positronik war dergleichen völlig egal. Sie wurde ausgeschaltet und dann wieder eingeschaltet, damit hatte es sich. Das Plasma aber, untrennbar mit der Positronik verflochten, mußte dies als körperlichen und seelischen Tod empfinden. So etwas konnte man SENECA nicht zumuten. »Ich kann auch nicht sagen, an welchen Stellen – technisch oder im Programm – Dauerschäden aufgetreten sind. Manche Programmteile sind seit zweihundert Jahren nicht mehr gebraucht und gegengerechnet worden.« »Wir werden lernen, damit zu leben. Bist du grundsätzlich zur Zusammenarbeit bereit?« »Mit Einschränkungen«, antwortete SENECA nach längerem Zögern. »Ich fühle mich mitunter nicht wohl, dann verdunkelt sich mein Denken.« Wir hatten dieses Problem inzwischen auf den Namen Einsamkeitskomplex getauft, ein Wort, das ein ganzes Bündel von Problemen umfassen konnte. Der mit Abstand wichtigste Punkt war, daß SENECA etwas entwickelt hatte, was eigentlich bei einer Positronik streng vermieden werden sollte – SENECA verfügte über Denkbereiche, die seinem Bewußtsein nicht zugänglich waren. SENECA hatte ein Unbewußtes, und was sich dort abspielte, konnte nur an den Auswirkungen beobachtet werden. Eine am orthodoxen Freudianismus orientierte Deutung hätte möglicherweise so ausgesehen: SENECA hatte erkannt, daß sein Leben und seine Individualität hauptsächlich seinen »Vätern« Rhodan, Waringer und anderen zu verdanken war. Hätte es sich dabei um normale Sterbliche gehandelt, wäre der Fall in einer Generation von selbst verschwunden – die »Väter« wären ausgestorben, SENECA hätte die SOL samt Besatzung für sich
gehabt, als oberste Autorität an Bord. Das hatte nichts mit der Programmhoheit der SOL‐Führung zu tun, sondern nur mit dem Gefühlsleben des Plasmateils, der zu seinen »Vätern« naturgemäß eine ganz andere affektive Einstellung hatte als zu den »Freunden«, die das Schiff später kommandierten. Unsterbliche aber starben nicht aus, ihr Vorbild blieb erhalten. Um sich endlich von diesen Vaterfiguren unabhängig fühlen zu können, hatte SENECA möglicherweise deren Tod gewünscht – und das verstieß gegen sein Über‐Ich, die ihm einprogrammierte Loyalität. Damit war der klassische ödipale Konflikt im Ansatz vorhanden. Perry Rhodan und die anderen Vaterfiguren waren längst von Bord, niemand wußte, ob sie überhaupt noch lebten. Wenn SENECA sich dafür Schuld beimaß – hatte er sie sich nicht vom Hals gewünscht? – war alles vorhanden, was man für eine handfeste Kernneurose brauchte. Eine Charakteranalyse nach Wilhelm Reich wäre vermutlich zu diesem Ergebnis gekommen: SENECA hatte durch die prägende Wirkung der Ereignisse der Vergangenheit einen ausgesprochen masochistischen Charakter bekommen. Er neigte zum Jammern und Klagen, hatte sogar suizidale Tendenzen (Selbstabschaltung) und zeigte, wenn auch gut verdeckt, den typischen sekundären Narzißmus der masochistischen Charaktere, im Falle SENECAS mit deutlichen megalomanen Strukturen. Man hätte den Fall SENECA auch unter den Gesichtspunkten der analytischen Psychologie CG. Jungs betrachten können; individualpsychologisch nach Alfred Adler, gestaltpsychologisch oder behavioristisch – das Ergebnis blieb sich gleich: ein schwer gestörter SENECA und niemand an Bord, der ihn hätte therapieren können. »Es ist schon wesentlich besser geworden«, fuhr SENECA fort. »Vieles an Bord ist wieder so, wie ich es gewohnt bin, und das hilft mir sehr.« »Kann irgend jemand dir helfen?«
»Das kann ich nicht beurteilen«, lautete SENECAS Antwort. »Der High Sideryt und du, ihr habt schon viel erreicht. Es käme auf einen Versuch an.« »Was sollen wir tun?« »Nicht wir – du!« Damit hatte ich gerechnet. SENECA kannte mich natürlich aus früheren Jahren – vermutlich war ich im Augenblick die wichtigste Bezugsperson für ihn. Auf der anderen Seite sagte ich mir, daß SENECAS augenblicklicher Zustand eine sehr erhebliche Verbesserung darstellte. Wenn ich nun an seiner empfindlichen Psyche herumlaborierte, richtete ich unter Umständen mehr Schaden an, als ich Nutzen stiften konnte. Ich hatte keine Lust, den Versuch zu unternehmen, mich als Pseudo‐Therapeut zu profilieren und dabei zu riskieren, daß es dem Patienten SENECA anschließend schlechter ging als vorher – mit all den Auswirkungen, die das auf die Besatzung der SOL und die Funktionstüchtigkeit des Schiffes haben konnte. »Du sprichst von einem Versuch?« »Es ist ein gewagtes Experiment«, bestätigte SENECA. Ich trug ihm kurz die Gründe vor, die ich gerade erfunden hatte. Wenn ich SENECAS Tonfall richtig interpretierte, freute es ihn sehr, daß ich ihn für so unersetzlich wichtig hielt. »Ich beharre auf meinem Wunsch. Ich möchte das Experiment wagen – es liegt an dir, Atlan.« Versuche es, gab mein Extrasinn durch. Mehr als zehn Jahrtausende Umgang mit diesem Ratgeber hatten mich gelehrt, ihm zu vertrauen – ich entschloß mich also, SENECAS Vorschlag aufzugreifen. »Also gut, was soll ich tun?« Es war sehr still in diesem Teil der SOL. Hier, im mittleren Teil, war SENECA untergebracht, eingehüllt in einen Kugelschirm, der nicht zu durchbrechen war.
SENECA hatte mich hierher beordert. Die Biopositronik hatte mich aufgefordert, einen ganz bestimmten Raum am Rand ihres Lebensbereichs aufzusuchen. Dort würde sich der hermetische Energieschirm für mich – und nur für mich – öffnen. Ich war sehr gespannt, was SENECA sich ausgedacht hatte. Eindringlich hatte mich die Biopositronik beschworen, keinerlei technische Hilfsmittel mitzunehmen, keine Waffen, keine Funkgeräte, nichts dergleichen. »Wir haben guten Kontakt!« sagte Breckcrown Hayes. »Ich höre euch ebenfalls sehr gut.« Noch stand ich in Funkverbindung mit dem High Sideryt. Ihn und Bjo hatte ich über das Gespräch mit SENECA informiert, und sie wußten auch, wohin ich ging. Es war keine sehr gute Rückversicherung, aber immerhin etwas. Aus dem Lautsprecher klang nun die Stimme SENECAS. »Du hast den Raum erreicht. Die Tür wird sich vor dir öffnen – aber vergewissere dich, daß du die Bedingungen erfüllst. Tust du es nicht, kann ich dir nicht helfen.« Ich zuckte mit den Schultern. Was für eine andere Wahl hatte ich? Keine. »Ende des Kontakts«, gab ich an die Zentrale weiter. »Ich lege das Funkgerät neben der Tür ab. Sie öffnet sich gerade.« »Viel Glück«, konnte ich Hayes hören. Dann legte ich das Gerät auf den Boden. Das Schott war vor mir aufgegangen. Dahinter erstreckte sich ein Gang, von dem ich nur die ersten paar Meter sehen konnte – dann spannte sich der schützende Energieschirm quer über die Fläche. Ich trat in den Gang. Hinter mir schloß sich geräuschlos das schwere Schott. »Geh weiter. Der Schirm wird sich für dich öffnen.« Irgendwo war ein Lautsprecher angebracht, aus dem die Stimme der Biopositronik klang. Der Tonfall verriet Ungeduld. Ich machte ein paar Schritte, dann stand ich unmittelbar vor dem
Energieschirm. Ihn zu berühren war lebensgefährlich. Wie SENECA es vorhergesagt hatte, verschwand der Schirm – eine Öffnung war sichtbar, gerade groß genug, um mich durchzulassen. Ich machte die zwei Schritte, dann konnte ich im Umdrehen sehen, daß der Schirm wieder stand. »Und nun?« SENECA schwieg. Vor mir erstreckte sich ein weiterer Gang. Kahle, blankpolierte Wände, ein paar Leuchtkörper, mehr war nicht zu sehen. Ich schritt weiter. Es gab am Ende dieses Weges eine Tür, die sich völlig geräuschlos öffnete, als ich unmittelbar davorstand. Die Beleuchtung flammte auf. Ich trat über die Schwelle und sah mich um. Ich stand in einer großen Halle, die in den letzten zweihundert Jahren von SENECA offenbar bestens gepflegt worden war. Alles war sauber, und die technischen Geräte machten einen Eindruck, als seien sie gerade erst geliefert worden. Ob sie auch so funktionstüchtig waren, wie sie aussahen, konnte ich nicht feststellen, denn von dem Gerätepark, der Boden, Wände und sogar die Decke überzog, war mir nur sehr wenig geläufig. Energieerzeuger waren zu sehen, Projektoren, vielästige Kabelbäume. Die Tür hinter mir hatte sich geschlossen. »SENECA?« Die Biopositronik meldete sich nicht. Gehörte das zu dem Experiment? Plötzlich begann sich das Bild vor mir zu verändern. Das Licht wurde anders. Statt der üblichen Leuchtkörper war nun eine große Lichtquelle in der Höhe zu sehen, eine künstliche Sonne vom SOL‐Typ. Als nächstes änderte sich die Decke. Das metallene Grau wurde von strahlendem Himmelblau abgelöst. Ich ahnte, wie es weitergehen würde. Offenbar war SENECA imstande, diese Halle mit einer sehr realistisch wirkenden
Landschaftsprojektion zu füllen, ich begriff allerdings nicht recht, wozu dieser Mummenschanz dienen sollte. Der Boden wurde braun und erdig, Bäume schossen förmlich daraus hervor, und nach knapp fünf Minuten stand ich vor einem dichten Wald. Es gab einen Pfad, der in den Wald hineinführte, der unmittelbar vor meinen Füßen endete. Als ich mich umdrehte, konnte ich zwei Schritte hinter mir einen klaffenden Abgrund sehen – ein mehr als deutliches Zeichen, daß es für mich zur Zeit kein Zurück mehr gab. »Akzeptiert«, sagte ich laut. Ich war mir sicher, daß ich unausgesetzt von SENECA beobachtet wurde. Die Positronik hatte sich wirklich sehr viel Mühe gegeben. Aus dem Wald schlug mir ein Geruch nach Moder und Harz entgegen, Vogelstimmen waren zu hören. Wenn dies zu einem Spaziergang durch SENECAS Seelenlandschaft werden sollte, hatte ich nichts dagegen – die Stimmung war ausgesprochen friedlich. Langsam schritt ich den Pfad entlang. Es schien sich um eine primitive Straße für einen Wagen zu handeln – deutlich waren die beiden Rinnen zu erkennen, dazwischen wuchs eine Reihe von Grasbuckeln. Ich kniete nieder und untersuchte die Spuren. Mit den Händen konnte ich den Boden tasten, trockene Erde, die sich völlig echt anfühlte. Ich nahm mein Extrahirn zu Hilfe, hoffend, daß dadurch die Illusion im Notfall aufgelöst werden konnte. Der Versuch schlug fehl – wie auch immer SENECA diese Illusionsprojektion erzeugt hatte, sie war auch für mich handfest und echt. Das galt es künftig zu berücksichtigen. Die Wagenspuren schienen von schweren Rädern herzurühren, von Kutschenrädern, jedenfalls nicht von gummibereiften Fahrzeugen, wie sie früher einmal verwendet worden waren. Gleiter kamen nicht in Frage – sie hinterließen keine solchen Bodenspuren. Der Weg war seit längerer Zeit nicht mehr benutzt worden. Die
Furchen, die die Räder eingegraben hatten, bröckelten bei der leisesten Berührung auseinander. Ich hätte gerne gewußt, wie sich meine Bewegungen in der Illusionsprojektion und in der Wirklichkeit entsprachen – denn in der Realität spazierte ich ja durch die Halle und konnte jederzeit gegen eine der Maschinen laufen, die dort standen. Ich vermutete, daß sich SENECA etwas hatte einfallen lassen, um solche Probleme zu lösen. Ich marschierte unverdrossen weiter. Der Wald war hoch und dicht und, abgesehen von dem Weg, naturbelassen. Überall lagen Äste und umgestürzte Bäume herum, von Unterholz überwuchert. Sich durch diesen Urwald einen Weg zu bahnen war sicherlich kein leichtes Unterfangen. Immerhin zeigte sich nach einiger Zeit, daß ich nicht der einzige Wanderer in dieser Wildnis war. Vor mir tauchte eine Gestalt auf, die wacker ausschritt und offenbar die gleiche Richtung einschlug wie ich. Ich nahm die Beine in die Hand und setzte dem Wanderer nach. Es war eine Männergestalt, schlank und hochgewachsen, dem Marschtempo nach zu schließen auch sportlich durchtrainiert. Und augenscheinlich war der Mann überhaupt nicht neugierig – er mußte meine Schritte hören, drehte aber nicht den Kopf. »He, du!« Die Gestalt setzte ihren Marsch unverdrossen fort. Es blieb mir nichts anderes übrig, als den Mann zu überholen. Ein paar Schritte vor ihm blieb ich stehen, machte ein freundliches Gesicht und hob die Hand, um ihn zum Anhalten zu veranlassen. Der Mann blieb stehen. Ich bekam dunkle Haare zu sehen und eine Maske. Diese Maske war hervorragend gearbeitet und stellte ein altes, freundliches Männergesicht dar. Jede Einzelheit stimmte, aber es war nicht zu übersehen, daß es sich um eine Maskierung handelte. Vor allem paßten die Bewegungsabläufe des Mannes nicht zu dem
fast greisenhaften Aussehen der Maske. »Ich grüße dich«, eröffnete ich die Konversation. »Geh aus dem Weg«, bekam ich zur Antwort. Die Gestalt sprach Interkosmo, ich konnte sie also sehr gut verstehen. Das erleichterte mir die Sache. »Kennst du mich?« fragte ich. Da diese Projektion von SENECA gesteuert wurde, war diese Frage nicht so absonderlich, wie sie auf den ersten Blick scheinen mochte. »Du bist Atlan«, sagte der Mann. Seine Stimme klang freundlich, der Klang paßte sogar zur Maske. »Dann wirst du mir sicher sagen, was ich hier soll!« »Sterben!« Einen Augenblick lang war ich verblüfft. Ich hatte mit vielerlei gerechnet, aber nicht damit. Der Mann nutzte diesen Augenblick, um sich auf mich zu stürzen. Ich konnte sehen, daß er bewaffnet war – in der Vorwärtsbewegung wehte der Umhang auseinander, den der Mann trug. Darunter wurden ein Schwert und ein im Gürtel steckender Dolch sichtbar. Meine Verblüffung war so groß, daß mein Gegner mich an der Gurgel hatte, bevor ich reagieren konnte. Während sich der Druck auf meinen Kehlkopf rasch verstärkte, ließ ich mich hintenüberfallen. Gleichzeitig versuchte ich den alten Trick, den Gegner mit den Füßen über den eigenen Körper hinwegzuheben. Mein Feind kannte den Trick und fiel nicht darauf herein. Zwar landeten wir beide auf dem Boden, aber er lockerte seinen Griff nicht. Zu viel Rücksichtnahme war keine Zeit. Ich rammte mit den Ellenbogen nach dem Gegner, versuchte ihm den Atem zu nehmen oder ihm einen solchen Schmerz zu bereiten, daß er mich loslassen mußte. Der Mann schnappte nach dem Treffer nach Luft, und der Griff lockerte sich tatsächlich etwas.
Ich setzte zu einem der Dagor‐Griffe an, die ich als Kristallprinz von Arkon gelernt hatte, aber auch damit war der Gegner nicht zu überlisten. Er konterte meinen Angriff, und zwar mit einem Hebelgriff, der mich der Länge nach auf den Boden schleuderte. Ich war völlig benommen. Ich begriff nicht, wie mir das hatte zustoßen können. Den Hebelgriff, mit dem ich gerade bezwungen worden war, kannten außer mir nur sehr wenige Personen; er gehörte zu jenen Tricks der Kampfsportarten, die nur vom Lehrmeister an ganz besonders gute und vertraute Schüler weitergegeben wurden, als Geheimnis besonderer Art, auf das nur in extremen Notfällen zurückgegriffen wurde. Woher kannte dieser Mann den Trick, mit dem er mich zu Boden geschleudert hatte? Die Antwort bekam ich in der nächsten Sekunde. Während des sekundenlangen Kampfes war die Maske vom Gesicht des Mannes abgefallen. Ich sah in das Gesicht eines alten Freundes. Galbraith Deighton. 4. »Gal!« rief ich. »Was soll das?« Er ließ mir nicht viel Zeit zum Staunen, denn im nächsten Augenblick sprang er mich wieder an, und sein Gesichtsausdruck ließ keinerlei Zweifeln Raum: Er wollte mich töten. Ich rollte mich zur Seite, gerade noch rechtzeitig. Deighton landete auf dem Boden, aber katzengewandt war er binnen eines Herzschlages wieder auf den Beinen. Ich hatte mich gleichfalls aufgerappelt. »Hör auf mit dem Unsinn!« schrie ich ihn an. »Stirb!« knirschte er mit unglaublicher Wut. Sein Gesicht war eine
Fratze des Hasses, kaum mehr als das von Galbraith Deighton zu erkennen. Dieser war ein alter Freund und Vertrauter gewesen, einer der wichtigsten Ratgeber von Perry Rhodan. Und dieser Mann trachtete mir nach dem Leben. Er tat das mit aller Geschicklichkeit und Raffinesse, die ihm zu Gebot stand, und das bedeutete, daß ich ihm nicht die kleinste Chance geben durfte. Deighton versuchte mir mit Tritten und Handkantenschlägen beizukommen, und ich mußte all mein Können aufbieten, um diesen Angriff abwehren zu können. Da ich nicht vorhatte, ihn ernstlich zu verletzen, war ich bei diesem Kampf in einer denkbar schlechten Position. Zwei, drei Male hatte ich Gelegenheit, ihn zu treffen. Er gab sich Blößen, aber die Schläge, die ich in diesen Fällen hätte anbringen können, wären von tödlicher Wirkung gewesen. Es sah fast so aus, als wolle er mir nur diese Alternative lassen – ihn zu töten oder selbst getötet zu werden. Deighton mußte völlig den Verstand verloren haben, daß er mir so zusetzte. Wie zum Hohn versuchte er nicht ein einziges Mal, eine seiner Waffen zu gebrauchen, er wollte mich offenbar mit seinen Händen erwürgen, und ich begann zu begreifen, daß es irgendwann auch gelingen würde. Meine Kräfte nahmen ab – solche Energieverluste, wie sie dieser gnadenlose Kampf mit sich brachte, konnten auch vom Zellaktivator nicht voll ersetzt werden. Deighton hingegen wurde immer wütender und energischer in seinen Angriffen. Schließlich sah ich keine andere Möglichkeit mehr. Ich mußte ihn mit irgendeinem Griff oder Wurf zumindest solange beschäftigen, daß ich die Beine in die Hand nehmen und verschwinden konnte, selbst auf die Gefahr hin, daß er mir folgte. Wieder griff Galbraith Deighton an, ungestüm, haßerfüllt. Ich bekam seinen Arm zu packen, und im nächsten Augenblick hatte ich ihn über die Schulter gehebelt. Er flog wie eine Puppe mehrere Schritte weit, landete neben einem Baumstumpf und blieb dort
liegen. Ich machte ein paar Sätze, um mich von ihm zu entfernen, vielleicht um einen Knüppel zu fassen, mit dem ich mir den Wütenden vom Leibe halten konnte. Ich blieb stehen. Deighton lag am Boden und rührte sich nicht mehr. Sehr vorsichtig, auf eine heimtückische List gefaßt, kehrte ich zurück. Ich trat neben ihn. Die Augen waren gebrochen. Galbraith Deighton war tot. Ich schluckte und preßte die Kiefer zusammen. Wie hatte das nur geschehen können? Ich beugte mich nieder, und als ich den Körper herumdrehte, sah ich, daß Deighton mit dem Hinterkopf gegen einen Aststummel geprallt war. Ich ließ den Körper aus meinen Händen gleiten, setzte mich daneben und schlug die Hände vor das Gesicht. Was war geschehen?. Ein Alptraum? Oder hatte ich den echten Deighton getötet? Minutenlang hatte ich furchtbare Zweifel. Ich sah meine Hände an. Ich hatte mir einen Splitter in die Handfläche gerammt. Als ich ihn herauszog, floß Blut. Gleichgültig, was geschehen war – für mich war dieser Kampf Realität. Möglich, daß ich nur ein Phantasiegeschöpf getötet hatte; andersrum wäre ich sehr real getötet worden. Das Illusionsspiel der Positronik war zumindest für mich von lebensgefährlicher Echtheit. Und ich begriff, daß der Kampf gerade erst angefangen hatte. Ich ließ den Toten liegen, aber ich nahm ihm die Waffen ab. Vielleicht konnten sie mir nutzen. Es gab sehr viele Vielleichts, was meine Zukunft betraf – jederzeit konnte sich die Landschaft grundlegend wandeln. Nichts würde sich auf Dauer berechnen und vorher kalkulieren lassen. Ich mußte in jedem Augenblick auf tödliche Überraschungen gefaßt sein. Niedergeschlagen setzte ich meinen Weg fort. Auch wenn ich mir
einredete, daß ich nur mit einer Ausgeburt SENECAS gekämpft hatte – für mich und mein Empfinden hatte ich einen alten Freund getötet. Mein Gefühl konnte in dieser Illusionswelt nicht mehr säuberlich zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Ich ahnte, daß dies nicht die einzige Belastungsprobe für mich sein würde. Indessen hatte ich keine andere Wahl. Das Spiel war eröffnet worden, ich mußte meinen Part spielen, bis SENECA entweder zufrieden oder ich getötet war. Es begann dunkel zu werden. Aus dem Unterholz kroch Nebel in die Höhe, während sich der Himmel allmählich verfinsterte. Es wurde Zeit, sich nach einem brauchbaren Nachtquartier umzusehen. Der Weg führte noch immer in weiten Bögen durch den Wald. Aus dem Gehölz klangen Laute, die eine Übernachtung im Freien alles andere als verheißungsvoll erscheinen ließen. Ich sah mich nach einem Platz um, an dem ich ungefährdet ein Feuer entfachen und mich ein paar Stunden lang hinlegen konnte – länger würde die Ruhe vermutlich nicht dauern, zum einen der Tiere des Waldes wegen, zum anderen, weil es sich im Nebel schlecht schlafen ließ. Meine diesbezüglichen Sorgen wurden zerstreut, als ich durch das Geäst ein Licht schimmern sah. Ein Lagerfeuer vielleicht? Ich schritt wacker aus. Selbst wenn ich dort wieder auf einen Gegner stoßen sollte, war mir diese Möglichkeit lieber als ein Lager auf dem klammen Waldboden. Der Lichtschein entpuppte sich als das Fenster eines düsteren Gebäudes, das mitten im Wald stand. Im Licht des Mondes, der langsam am Himmel emporstieg, konnte ich das schwarze Gebälk des Fachwerkbaus sehen. Drei Stockwerke hoch, mit zahlreichen Erkern und Söllern und etlichen kleinen Fenstern, aus denen gelbes Licht fiel. Es gab noch einen klobigen Schuppen in Stein‐Wurfweite, und vor dem freigerodeten Platz am Eingang des Rasthauses
standen abgespannt zwei Fuhrwerke. SENECA schien sich bei seiner Illusionswelt auf spätmittelalterliche Epochen eingearbeitet zu haben, wie es dem Baustil und der Art der Fuhrwerke zu entnehmen war. Nun, ich kannte diese Epoche aus eigenem Erleben, und daher trat ich einigermaßen wohlgemut über die Schwelle. Die Tür schwang in hölzernen Angeln, die gut gefettet waren und daher kein Geräusch machten. Das gab mir ein paar Augenblicke Zeit, mich mit dem Innern des Schankraums vertraut zu machen. Im Hintergrund prasselte in einem gemauerten offenen Kamin ein großes Feuer; auf einem Bratspieß wurde ein Tier langsam gedreht. Eine Theke war zu erkennen, das Holz sorgsam weißgescheuert. Es gab ein Dutzend Tische in dem Raum, jeder war besetzt. Es klappte leise, als die Tür hinter mir zufiel. Sofort drehten sich alle Köpfe zu mir herum. Es waren menschenähnliche Gesichter, aber seltsam unfertig. Ich sah Augen, Münder, Nasen. Es gab verschiedene Haarfarben und Schattierungen der Augen, längliche und ovale Gesichter – aber es fehlten individuelle Kennzeichen. Der Wirt stapfte heran, um den monströsen Bauch eine fettglänzende Lederschürze gespannt, auf dem Gesicht zugleich das wohlwollende Standardlächeln und ein taxierender Blick. »Willkommen«, sagte der Wirt und streckte mir die Hand entgegen. Ich warf einen Blick auf die Innenfläche – sie war vollkommen glatt, es gab keinerlei Hautlinien. Auch das Gesicht war porenfrei, wie mir auffiel. Ich schlug ein. Die Hand war seltsam glatt und kühl, es war ein unangenehmer Händedruck. Zwischen den Tischen schlurfte ein grauhaariger älterer Mann umher und verteilte hölzerne Krüge. Eine jüngere Frau, bei deren fleischlicher Ausstrahlung SENECA des Guten ein wenig zuviel getan hatte, verteilte das Essen.
Der Braten duftete verlockend, und ein frisches Bier war genau das, was ich mir in diesem Augenblick wünschte. Dennoch war ich auf der Hut – SENECAS Illusionswelt war sicherlich nicht dazu gedacht, mir mit mittelalterlichen Schmausereien und Gelagen die Langeweile zu vertreiben. »Du wirst müde sein und hungrig«, sagte der Wirt. »Such dir einen Platz, und dann wird dir geholfen werden.« In die ausdruckslosen Gesichter der Gäste trat ein Funken Neugierde, als ich mich langsam auf das Feuer zubewegte. Die Wärme der knisternden Scheite tat gut, ich rieb mir die Hände, drehte mich um die Längsachse, damit ich von allen Seiten etwas von der Wärme abbekam. Dabei ließ sich nicht vermeiden, daß meine Beutestücke sichtbar wurden – Schwert samt Gehänge und der Dolch, den ich Galbraith Deighton abgenommen hatte. »Du bist dem Deit begegnet?« fragte der Wirt. Von den Gestalten, mit denen SENECA diese Szene ausgestattet hatte, war er noch derjenige, der die meisten persönlichen Züge aufwies. »Woher willst du das wissen?« »Du trägst seine Waffen«, sagte er. »Du mußt ein guter Kämpfer sein, wenn du ihn besiegt hast – oder ein sehr guter Dieb.« »Vielleicht habe ich die Waffen wirklich gestohlen.« Der Wirt spitzte die Lippen und pfiff leise. »Dann wird in diesem Raum bald Blut fließen«, sagte er und grinste breit. Sein Gebiß war entschieden zu makellos für das Zeitalter, und mir fiel auch auf, daß der Bratspieß aus rostfreiem Stahl bestand. Ob das eine Programmschwäche war oder ein Hinweis für mich, konnte ich nicht feststellen – in jedem Fall bekam ich genügend Informationen, um dem Idyll nicht zu trauen. »Es ist bereits Blut geflossen«, sagte ich und ließ mich an einem Tisch nieder. »Das des Mannes, der diese Waffen getragen hat.« »In diesem Fall wird in den nächsten Tagen Blut fließen«, sagte der Wirt. »Deines, Fremder.«
»Zunächst soll Bier fließen«, gab ich zurück. Ich streckte die Beine aus und ließ mir die Sohlen wärmen. »Und ein Stück Braten würde mir auch passen.« »Kannst du zahlen?« Ich lächelte. »Womit? Ich bin fremd hier.« »Es wird sich zeigen. Heda, Magd, schaff Braten heran!« Wenig später stand ein hölzerner Teller und ein Napf vor mir, auf dem sich eine weiße Biermütze einladend hochwölbte. Zum Braten gab es Brot und rohe Zwiebeln. Die Gäste sahen mir schweigend zu, wie ich meinen Hunger stillte. Da ich nicht wußte, wann ich in dieser Illusionswelt den nächsten Happen bekommen würde, langte ich kräftig zu; außerdem schien in SENECAS Programmspeicher die gastronomische Abteilung recht gut bestückt zu sein. Der Braten war vorzüglich; der leise Hauch Nelkenpfeffer daran verriet, daß SENECA mit der historischen Genauigkeit großzügig umging. »Wer war der Mann, den ich im Kampf getötet habe?« frage ich, der Zeitsitte entsprechend, mit vollem Mund. »Deit? Ein gefährlicher Wegelagerer, ein Meister der Falschheit, Grausamkeit und Hinterlist. Eine Wohltat für uns, wenn du ihn erschlagen hast.« Alles in allem war das eine Charakterisierung, die auf den echten Deighton überhaupt nicht paßte – er war zwar einfühlsam, geschickt und sehr gerissen gewesen, aber typisch für Deighton war die positive Ausprägung dieser Charakterzüge gewesen, nicht deren boshafte Alternative. »Warum habt ihr ihn nicht selbst davongejagt?« fragte ich. »Ihr seid doch wahrhaftig genug Leute dafür.« »Deit hat hohen Schutz genossen. Der Phronar hielt seine mächtige Hand über ihn. Und diese Hand wird dich vernichten, Fremder – also iß und trink, es wird das letzte Mal sein.« »Herrliche Aussichten«, murmelte ich.
An den Nachbartischen nahmen die Gäste ihre Beschäftigung wieder auf. Es wurde über das Wetter gesprochen – die Texte hätte man in dieser Form jahrtausendelang unverändert übernehmen können – über die Feldwirtschaft, die schlechten Zeiten, das Essen, Frauen und Männer wurden drastisch durchgehechelt, es wurde kräftig gebechert, dazu gewürfelt. Im Hintergrund zankte sich ein Paar lautstark über die Frage, von wem wohl die Kinder all die Unarten haben mochten. Der Wirt blieb die ganze Zeit über auf der anderen Seite des Tisches, die Bank bog sich unter seiner Last ein wenig durch. »Kann ich hier ruhig schlafen?« fragte ich, nachdem ich gesättigt war. »Du kannst«, antwortete der Wirt. »Wohin wird dich dein Weg führen, bis er am Galgen endet?« Der Optimismus, den er ausstrahlte, war herzerfrischend. Es schien für jeden im Raum eine feststehende Tatsache zu sein, daß ich über kurz oder lang ein unerquickliches Ende finden würde – fraglich war nur die Todesart. »Da ich hier fremd bin, kenne ich mich nicht aus. Wohin führt dieser Weg?« »Zur Burg, aber dort würde ich mich nicht sehen lassen.« »Lebt dort der – wie nanntest du ihn?« »Der Phronar? Selbstverständlich nicht, nur einer seiner Unterführer, der Trasu.« Ich war gespannt, wer das nun wieder sein würde – ich ahnte, daß ich einem alten Bekannten gegenüberstehen würde, wenn er kam. »Vielleicht werde ich ihn besuchen«, sagte ich. »Wenn du so leichtfertig mit deinem Leben umgehen willst, nur zu.« Am Nachbartisch wandte sich mir ein vierschrötiger Bursche zu, eine beachtliche Ansammlung von Muskelbündeln, die Augen schon ein wenig glasig vom Bier. »Bist du auch sonst so waghalsig?« fragte er mit schwerer Zunge.
»Spiel doch mit uns!« Er saß mit drei anderen bei den Würfeln, die er herausfordernd im Lederbecher klappern ließ. »Worum sollte ich spielen? Ich besitze nichts.« »Deine Waffen? Sie wären mir etwas wert.« Ich überlegte kurz. Wahrscheinlich würde ich mich – nach meinem Zeitempfinden – mindestens ein paar Tage lang in dieser Illusionswelt bewegen müssen. Da ich nicht jeden Tag einen Wegelagerer erschlagen konnte, um von der Dankbarkeit der Bevölkerung leben zu können, war es ratsam, den Beutel mit klingender Münze zu füllen. Und ein Arkonide mit Extrahirn sollte wohl in der Lage sein, diesen Tölpeln die Beutel zu leeren. »Warum nicht?« sagte ich und setzte mich zu den vieren, deren Augen an meinen Waffen hingen. Ich legte den Dolch auf den Tisch. Es war eine prachtvolle Waffe aus damasziertem Stahl mit kostbaren Ziselierungen. Der Griff schien vergoldet und hatte einige kleinere Edelsteine eingearbeitet. Obendrein war eine kleine Plakette daran zu erkennen – sie stellte in seltsamer Verschnörkelung eine Zeichnung der SOL dar. Der Hüne schob mir ein paar Münzen herüber und grinste. »Das ist zwar nur die Hälfte vom Wert, aber da ich die Waffe ohnehin gewinnen werde, macht das ja wohl nichts. Wenn ich das Geld erst gewonnen habe, bekommst du die andere Hälfte zum Verlieren.« Ich schwieg. Das Spiel nahm seinen Lauf. Ich gewann, setzte und gewann erneut. Die Würfel waren gut, durchaus nicht präpariert. Wir hatten also faire Chancen, wenn man einmal davon absah, daß ein Mann mit einem Logiksektor und einem fotografischen Gedächtnis natürlich in der Lage war, dem Glück auf die Sprünge zu helfen. Ich schob den Münzenstapel – auch auf den Münzen waren die Zeichnungen der SOL zu erkennen – in die Mitte des Tisches. »Alles oder nichts?«
Der Hüne grinste wieder. »Meinetwegen«, antwortete er. »Tja«, sagte ich, während der Hüne mich herausfordernd ansah. »Leider habe ich nichts mehr, worum ich spielen könnte.« »Du hast deine Kleider – und dich selbst. Würfeln wir um deine Freiheit.« »Und wenn ich verliere?« »Gehörst du mir, und ich kann mit dir machen, was ich will.« »Und wenn ich gewinne?« Mit einer weit ausholenden Bewegung faßte er die Werte auf dem Tisch zusammen. »Dann gehört dies alles dir.« Wahrscheinlichkeitsmathematik war eine heikle Sache. Selbst wenn sich bei einer Riesenzahl von Würfeln gewisse Konstanzen herausstellten, war doch jeder einzelne Wurf völlig unabhängig und ließ sich nicht vorhersagen. Ich vertraute aber meinem Glück – schließlich konnte SENECA, der dies ja alles steuerte, mich schwerlich zum Leibeigenen seiner Geschöpfe machen und damit das Experiment auf endlose Zeit verzögern. Selbstsicher griff ich nach dem Würfelbecher. 5. Zufrieden betrachtete der High Sideryt den Raum. Die Zentrale der SOL war instand gesetzt, jedes Instrument funktionierte wieder einwandfrei. Die Klause war neu eingerichtet und wohnlich – die SOL war wieder voll einsatzbereit. Auch die Mannschaft war komplett. Breckcrown Hayes hatte seinen Führungsstab um sich versammelt – die Stabsspezialisten. Gallatan Herts war nun Leiter der Hauptzentrale im Mittelteil der SOL. Dem Ex‐Magniden war Lyta Kunduran als Stellvertreterin
zugeteilt worden. Ihrer Aufsicht unterstanden die Chefpiloten der SOL – Vorlan und Uster Brick –, die Chefin des Funk‐ und Ortungspersonals Curie van Herling und Gavro Yaal als Cheflogistiker der SOL. Wajsto Kölsch und Ursula Grown waren das Führungsteam der SZ‐1; die SZ‐2 wurde von Brooklyn und ihrer rechten Hand Insider befehligt. »Freunde«, sagte der High Sideryt. »Wir haben es – vorläufig – geschafft. Unser Schiff ist wieder voll einsatzbereit, das neue Führungsteam ist ‐ebenfalls vorläufig – komplett. Weiteren Aktionen steht also nichts mehr im Weg.« »Was ist mit Atlan?« warf Gavro Yaal ein. »Unser Freund kümmert sich um SENECA«, antwortete Breckcrown Hayes. »Einzelheiten dazu werde ich nicht mitteilen, das ist mit Atlan so abgesprochen. Auch von SENECA wird zu diesem Themenkomplex kein Material zu bekommen sein.« »Dann können wir uns ja an die Arbeit machen«, sagte Curie van Herling. »Ich habe auch gleich etwas anzubieten.« Sie schaltete die Ortungsergebnisse auf einen Schirm, damit alle Stabsspezialisten informiert werden konnten. »Ein Schiff nähert sich uns«, sagte die Stabsspezialistin. »Recht langsam und gemütlich – aber es zielt eindeutig auf uns.« »Einzelheiten?« fragte Hayes knapp. »Noch nicht erkennbar, weil zu weit entfernt«, lautete die knappe Antwort. »Anrufversuche?« »Ergebnislos»» Hayes rieb sich die Nase. »Wir warten ab. Ich möchte hierbleiben, bis Atlan mit seiner Arbeit fertig ist – wenn wir uns voreilig in neue Abenteuer stürzen, könnten wir diese Arbeit gefährden.« In der Zentrale der SOL war es ruhig. Die allgemeine Stimmungslage hatte sich auch den Stabsspezialisten mitgeteilt – sie waren entspannt, gelassen und zuversichtlich. So viele
Schwierigkeiten waren in der letzten Zeit überwunden worden, daß Hayes und sein Team Grund hatten, vertrauensvoll in die Zukunft zu blicken. »Sobald eine verwertbare Messung …«, begann Hayes, wurde aber von der Ortungschefin unterbrochen. »Wir haben einen ersten groben Meßwert«, gab sie bekannt. »Scheint ein beachtlicher Brocken zu sein, der sich uns da nähert – ein Riesenschiff.« »Ungefähre Größe?« Curie van Herling sah Hayes ein wenig ratlos an. »Mir fällt nur ein Vergleich ein – die SOL.« Es wurde geschmunzelt in der Runde der Stabsspezialisten. Nur einer in der Zentrale spürte, wie das Grauen in seinem Nacken emporkroch. Der High Sideryt erinnerte sich … * Es war, wie ich berechnet hatte, ein guter Wurf. Es gab Möglichkeiten, ein besseres Resultat zu erzielen, aber ich war siegessicher. Mein Gegner war blaß geworden – noch einen Superwurf wie zuvor traute er sich wohl nicht zu. Ich lehnte mich siegesgewiß zurück – schon um den Hünen noch weiter zu verunsichern. Ich war sogar so dreist, die Augen zu schließen und ein uraltes Trinklied zu summen. Weil ich mit diesem kleinen Psychotrick beschäftigt war, dauerte es ein paar Augenblicke, bis mir auffiel, daß es gespenstisch still geworden war. Ich ließ den Stuhl nach vorne kippen und öffnete die Augen. Neben dem Hünen stand ein Mann, und ich wußte im gleichen Augenblick, daß ich es nun wieder mit einem ernstzunehmenden Gegner zu tun hatte. Ich sah nur Weiß.
Weiße, enganliegende Lederhosen, eine weißlederne Jacke. Weiß waren die langen Stulpenhandschuhe, und weiß war auch die lederne Maske, die das ganze Gesicht bedeckte. Die Augen waren von milchigen Scheiben abgedeckt und für mich nicht zu erkennen. Der Mann war sehr groß, schlank, und die enganliegende Kleidung verriet eine gehörige Portion Kraft und Geschmeidigkeit. Ich sah, daß der Weiße nach dem Würfelbecher griff, den der Hüne in der Hand hielt. »Du trittst mir diesen Wurf ab?« fragte der Vermummte. Der Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. Der Hüne schluckte, wurde bleich und nickte. Die Würfel kollerten über den Tisch, blieben liegen. Der Lederne sah mich an. »Du hast verloren. Jetzt gehörst du mir. Das da ist für dich!« Mit einer Armbewegung schob er das Geld und meine Waffen dem Hünen hinüber, der nun vor Freude rot anlief. Ich blieb sitzen, während mein Würfelpartner hastig seine Beute einstrich und zusah, daß er sich damit in Sicherheit brachte. »Mit dir habe ich nicht gespielt«, sagte ich so ruhig wie möglich. Unter der Maske war zu erkennen, daß der Weiße verächtlich grinste. »Aber ich habe mit dir gespielt«, stieß er hervor. »Und ich werde mit dir noch ein wenig mehr spielen – bis du stirbst.« »Dazu gehören immer zwei«, versetzte ich und stand auf. Der Maskenträger hatte keine Waffe bei sich, und ich traute mir zu, es im Faustkampf mit ihm aufzunehmen. »Pah«, sagte, der Weiße. Er wandte sich an den Wirt. »Hat er bezahlt, was er verzehrt hat?« »Noch nicht, hochwürdiger Trasu. Willst du für ihn …?« »Ich denke nicht daran«, versetzte der Lederne. »Er wird seine Schulden bei dir abarbeiten – und dazu das, was ich noch verzehren werde.« »Fällt mir gar nicht ein«, widersetzte ich mich.
Der Maskierte wandte den Kopf. Er sah an mir vorbei. »Schlagt ihn nieder«, sagte er nur, und er hatte das letzte Wort noch nicht ausgesprochen, als ich einen Schlag über den Kopf bekam, der mich augenblicklich umfallen ließ. * Die Ketten klirrten leise. Ich konnte nur kleine Schritte machen, denn die Füße waren mir zusammengekettet worden. Die Hände waren frei, aber das half mir wenig. Sie waren zu viert. Der Lederne hatte drei grobgesichtige Burschen mitgebracht, die eine ähnliche Montur trugen wie er selbst. Ihre Gesichter waren aber deutlich zu erkennen und verhießen nichts Gutes. Außerdem stand noch der Wirt im Raum. Es war die Küche des Gasthofs, eine Ansammlung von Schmutz und Unrat, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Alles, was man anfaßte, klebte von kaltem Fett, dazu kam ein Geruch, der einem schier den Atem verschlug. Vor mir stand ein hölzerner Bottich, der mit einer trüben Brühe gefüllt war. Am Rand lag ein schmieriges, zerfetztes Tuch. Neben dem Bottich stand eine Säule von schmutzigen Tellern und Näpfen. »Fang an«, sagte der Lederne mit kalter Stimme. Alles in mir bäumte sich auf. Was dieser Weißgekleidete vorhatte, war offenkundig – er wollte mich demütigen und lächerlich machen. Unter den besonderen Umständen dieser Illusionswelt konnte ich davon ausgehen, daß er mich kannte – um so größer war die Erniedrigung, die er mir bereiten wollte. »Ich denke nicht daran«, sagte ich. Noch schmerzte mein Schädel von dem Schlag, aus dessen Ohnmacht ich in den Ketten erwacht war. Lieber wollte ich mich noch einmal niederschlagen lassen, als
mich hier zum Küchenjungen machen zu lassen. Der Lederne zuckte mit den Schultern. Er deutete auf seine Knechte und dann auf eine Tonne. Zwei der Burschen traten an mich heran. Da ich die Beine kaum bewegen konnte, hatte ich keine Chance, mich gegen ihren Griff zur Wehr zu setzen. Obendrein hatten sie gewaltige Kräfte. Sie packten mich und hielten mich fest. »Willst du arbeiten?« »Nein!« schrie ich wütend. Er schnippte mit den Fingern. Ich wurde hochgehoben, und obwohl ich mich zur Wehr zu setzen versuchte, schleppten sie mich zu der Tonne hinüber. Scheinbar mühelos hoben sie mich über den Rand. Was ich zu sehen bekam, ließ mich schlagartig übel werden. Abfälle, schmieriges Fett, Knochen, stinkende Fischreste dazwischen der verwesende Kadaver einer toten Ratte – und ehe ich noch Zeit hatte, einen Schrei auszustoßen, wurde ich kopfüber in dieses widerliche Gemisch hinabgetaucht. Ich spürte das ekelhafte Zeug auf der Haut, im Gesicht, in den Haaren. Ich hielt die Luft an, obwohl ich am liebsten in lauten Schreien vor Wut explodiert wäre. Eine Flüssigkeit, die ich mir nicht vorzustellen wagte, sickerte mir in die Nase. Als ich nahe daran war, ohnmächtig zu werden, wurde ich wieder herausgezerrt. An meinem Körper glitschten die Abfälle entlang und sammelten sich zu meinen Füßen. Der Gestank war kaum zu ertragen. »Willst du arbeiten?« Ich schwankte. Ohnmächtige Wut erfüllte mich bis an die Haarspitzen. Ich haßte diesen Leuteschinder und Quälgeist, ich hätte ihn auf der Stelle erwürgen mögen. Ich machte eine Bewegung, und prompt rutschte ich auf irgendeinem Schleim aus und landete auf dem Boden. Gelächter schwappte über mich. Ich preßte die Zähne aufeinander.
Wer immer dieses niederträchtige Psychospielchen erfunden hatte, er hatte es sehr einfühlsam angelegt. Zwar konnte man mich mit einem solchen Trick nicht fertigmachen, dazu war mein Selbstbewußtsein denn doch zu stark ausgeprägt, aber diese Quälerei setzte mir sehr zu – mehr als genug. »Noch einmal!« bestimmte der Lederne. Ich wurde hochgerissen und noch einmal in die Abfalltonne gestoßen. Diesmal hielten sie mich solange fest, bis ich halb ohnmächtig war. Ich mußte gehalten werden, als sie mich herauszerrten. Als ich nach Luft geschnappt hatte, war mir ein Fischrückgrat im Mund gelandet – niemals hatte ich einen widerlicheren Geschmack im Mund gehabt. »Ein letztes Mal: willst du arbeiten?« Ich lehnte mich gegen meine Peiniger. Der Klügere gibt nach, hieß ein altes Sprichwort; damit wurde, wie ein geistreicher Spötter angemerkt hatte, die Weltherrschaft der Dummen begründet. Ich wußte, dies war nur der Anfang. Nach dem Tellerwaschen kam irgendeine andere erniedrigende Quälerei. Aber ich kam wenigstens zum Luftholen dabei. »Ich arbeite!« stieß ich hervor. Sie stießen mich vorwärts, drückten mir den schmierigen Lappen in die Hand. Das Wasser fühlte sich so schmierig an wie der Lappen, und die Teller boten einen ähnlich widerwärtigen Anblick. Ich holte tief Luft – vorsichtshalber durch den Mund – und machte mich ans Werk. Ich spülte die Teller ab, stellte sie neben den Bottich auf den Tisch – wo einer der Knechte des Ledernen sie aufnahm, kurz in die Abfalltonne tauchte und auf der anderen Seite wieder aufstapelte. »Sisyphus läßt grüßen«, murmelte ich. Einen Augenblick lang flackerte der Humor wieder auf, der mich einige Situationen hatte überstehen lassen, in denen mir eigentlich nicht nach Lachen zumute gewesen war. Wenn dies ein Ausdauerspielchen war, konnte der Lederne seinen
Spaß haben. Ich spülte unverdrossen weiter. Und ebenso unermüdlich machten die Knechte das gerade Gespülte wieder schmutzig. Der Wirt sah händeringend zu – er bekam in den nächsten Stunden keinen einzigen sauberen Teller, den er seinen Gästen hätte anbieten können. Dafür wurde er von dem Ledernen aus dem Raum geprügelt, als er sich zu beschweren wagte. Meine Arme wurden schwer, und da ich mich nicht setzen durfte, sackte mir langsam das Blut in die Beine. Früher oder später würde ich einfach umkippen vor Schwäche. Der Maskierte sah mein erstes Schwanken. »Falls du dich erfrischen willst, mußt du es sagen – dann wirst du gebadet.« Der Hinweis auf die Abfalltonne konnte mich nicht mehr sehr schrecken – die Hälfte des unappetitlichen Zeugs schwamm bereits in dem Abwaschbottich herum. Das Spiel schien dem Ledernen nicht mehr zu gefallen – plötzlich tauchten seine Knechte mit einem Bottich frischen Wassers auf, der Lappen wurde durch ein weniger schmieriges Stück ersetzt, und diesmal verzichteten sie darauf, mir die Teller wieder zurückzugeben. Ich brauchte noch eine Stunde, dann war die Arbeit erledigt. »So können wir ihn den Gästen nicht zumuten«, sagte der Lederne. »Säubere ihn.« Ich war trotz Zellaktivator müde und erschöpft. Daher leistete ich keinerlei Widerstand, als sie mich aus dem Haus herausstießen. Ein paar Minuten später lag ich in einem Trog eiskalten Wassers, das mich schlagartig wieder klar denken ließ. Sie verzichteten darauf, das Tauchspiel zu wiederholen. Ich wurde aus dem Trog herausgezerrt und zurückbefördert ins Haus. Was dort auf mich wartete, hatte ich bereits geahnt. Ich war vom Tellerwäscher zum Kellner aufgestiegen – aber selbstverständlich brachte das keinerlei Annehmlichkeiten.
Der Gastraum war bis auf den letzten Platz besetzt, zur Hälfte von Gefolgsleuten des Leuteschinders Trasu, die andere Hälfte waren offenbar Leute aus der Nachbarschaft, Männer und Frauen, denen man schon angekündigt hatte, daß es etwas zum Lachen geben würde. Die Fortsetzung der Quälerei ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Ich bekam einen Haufen gefüllter Teller vorgesetzt, die ich zu servieren hatte. Unwillkürlich mußte ich grinsen – an diesem Tag gab es Braten mit sehr viel dickflüssiger Soße, und das aus gutem Grund. Den ersten Beinen konnte ich noch ausweichen, trotz der Fesseln an den Beinen. Beim vierten oder fünften Spaßvogel flog ich natürlich vornüber und krachte auf den Boden. Indes ging der Spaß daneben. Ich tat den Schindern nicht den Gefallen, mit dem Gesicht in der Soße zu landen – im Fallen stieß ich die Teller von mir, und sie landeten genau dort, wo ich sie haben wollte: in den Gesichtern von Trasus Gefolgsleuten. Es wurde totenstill in dem Raum. Die beiden Opfer standen hastig auf, die weiße Montur war von großen bräunlichen Flecken verunziert, Soße tropfte aus den Haaren. Ich kam auf die Beine, stemmte die Hände in die Hüften und lachte laut los. Es war ein gewagtes Unterfangen, aber es war erfolgreich. Zuerst lachte ich allein, dann fielen die anderen Gäste ein. Während die Verschmierten immer wütender wurden, desgleichen ihre Gefährten, wurde das Gelächter der anderen immer lauter und hemmungsloser. Es wurde erst wieder still, als der Anführer dieser sauberen Bande den Raum betrat. Ein Blick – er trug noch immer keine Waffe. Ich stand in der Nähe des Feuers, und ich hatte die dicken Handschuhe im Auge, die der Mann am Bratspieß gerade erst abgelegt hatte. Er war in den hintersten Winkel des Raumes geflüchtet.
Hastig wichen die normalen Gäste zurück, als Trasu langsam auf mich zugeschritten kam. Ich griff nach den Handschuhen, streifte sie über. Trasu blieb stehen. »Willst du mich sanft anfassen?« fragte er höhnisch. »Es wird dir nichts nützen, Atlan!« »Ich weiß«, antwortete ich. Mit einem Griff hatte ich den Spieß über dem Feuer aus der Verankerung gerissen. Ein Ruck, und der Braten flog durch den Raum. Er knallte Trasu gegen den Bauch und ließ ihn einen Schritt zurücktaumeln. Ich setzte ein provozierendes Lächeln auf. »Was sagst du dazu, Ras Tschubai?« 6. »Was zum Teufel ist das?« Vorlan Brick starrte völlig entgeistert auf den Schirm. Dort war das Abbild eines Raumschiffs zu sehen, das sich in vergleichsweise langsamer Fahrt auf die SOL zubewegte – und dieses Raumschiff war unzweifelhaft die SOL selbst. Vorlan wandte sich zu seinem Bruder um. Die beiden waren Zwillingssöhne eines Ahlnatenpaars und – ihrem Aussehen zum Hohn – obendrein eineiig. Doch während Vorlan Brick es auf einhundertachtundsechzig, Zentimeter Körpergröße brachte, mußte sich der Bruder Uster mit einhundertvierundsechzig Zentimetern begnügen. Uster strich sich durch die schwarzen Haare, seine Lippen waren leicht gekräuselt. Offenbar kam auch er mit diesem Bild nicht zurecht. Die Ratlosigkeit betraf nicht nur diese beiden in der Zentrale der SOL. Sie galt in gleichem Maß auch für die anderen
Stabsspezialisten. Brooklyn, die sich in der Zentrale der SZ‐2 aufhielt, sah von einem Interkomschirm auf den High Sideryt herab. »Hast du eine Ahnung, um was für ein Ding es sich dabei handelt?« Breckcrown Hayes schüttelte den Kopf. »Keinen Schimmer«, gab er unumwunden zu. »Seid ihr sicher, Curie, daß es sich dabei nicht um irgendeinen Ortungsfehler handelt?« Die Stabsspezialistin verneinte energisch. »Wir haben die Geister‐SOL in sämtlichen Ortungsanlagen erfaßt, Materietaster, Energietaster, Normaloptik, was immer du willst. Möglich, daß eines unserer Systeme verrückt spielt – aber ganz bestimmt nicht alle zugleich.« »Vielleicht transportiert die Geister‐SOL die Schäfchen des SOL‐ Hirten«, spöttelte Uster Brick. Die beiden Piloten waren für einen trockenen, sarkastischen Humor bekannt, den sie vorzugsweise untereinander auszutoben pflegten. »Das Ding kommt immer näher«, gab Curie van Herling bekannt. »Noch ein paar Minuten, und die Geister‐SOL ist auf Schußweite heran.« Der Name Geister‐SOL schien sich in Windeseile eingebürgert zu haben. Er traf auch recht gut den Eindruck des Unwirklichen, Gespensterhaften, den dieses Rätselschiff hervorrief. »Schirmfelder aufbauen«, bestimmte Breckcrown Hayes. »Sollen wir die SOL kampfbereit machen?« fragte Broocklyn. »Nein«, entschied Hayes ohne Zögern. »Und was gedenkst du zu tun?« fragte Gallatan Herts bedächtig. »Nichts«, entgegnete der High Sideryt. »Wir warten ab.« »Sollten wir nicht SENECA befragen?« warf Gavro Yaal ein. Hayes bedachte den Einwand. Nach einigen Augenblicken schüttelte er den Kopf. »Wir warten, bis Atlan sich wieder gemeldet hat«, bestimmte er.
Es wurde sehr still in der Hauptzentrale der SOL – es gab nämlich schon gewisse Zweifel, ob Atlan jemals wieder zurückkehren würde. Von dem Arkoniden gab es ebensowenig ein Lebenszeichen wie von SENECA. * Der Mann streifte sich die lederne Maske vom Kopf. Es war Ras Tschubai, der Teleporter, ich hatte mich nicht verkalkuliert. Zum einen hatte mich der Name auf die Spur gebracht – er war aus ein paar Buchstaben des Originalnamens zusammengewürfelt. Zum anderen hatte ich versucht, mir das Gegenteil dieses sadistischen Leuteschinders vorzustellen und einen passenden Charakter in der ursprünglichen Führungsmannschaft der SOL zu suchen. Dabei war ich bei Ras Tschubai gelandet, der sich stets durch freundliche Gemütlichkeit und Sanftmut ausgezeichnet hatte. SENECA hatte auch bei diesem Charakter alle Züge ins groteske Gegenteil verkehrt. Unzählige Male hatte ich Ras Tschubai gesehen, meist freundlich lächelnd, fast ein wenig verlegen. Bei allem Selbstbewußtsein, bei aller Erfahrung und allen Erfolgen hatte der Mutant doch nie seine Bescheidenheit verloren. Von Tschubais freundlichem Grinsen war in diesem Gesicht nichts zu sehen. Hochmut, Aufgeblasenheit und ein unverhohlener Sadismus zeichneten die Züge meines Widerparts – Lust an Grausamkeit und Niedertracht war darin zu sehen. »Du hast das Geheimnis gelüftet, Arkon‐Häuptling. Dafür wirst du jetzt sterben.« Meine Aussichten waren mehr als dürftig. Ich war noch immer an den Füßen gefesselt, und jetzt nutzte Tschubai vermutlich seine Teleporterfähigkeiten.
Er tat es nicht. Verblendeter Haß ließ ihn blindwütig nach vorne stürzen – auch darin das Gegenteil des zwar verwegenen, aber niemals übermütigen oder gar leichtfertigen Originals. Ich hob den schweren Bratspieß und nutzte ihn als Ramme. Tschubai lief mir in den Schlag und wurde zurückgeworfen. Er landete mit einem gräßlichen Wutgeheul auf dem Rücken. Leider verlor ich bei dem Schlag den Halt und landete selbst auf dem Boden. Mit den Fesseln hatte ich es wesentlich schwerer, mich wieder aufzurappeln, aber ich schaffte es zeitgleich mit Ras. Er fletschte die Zähne, griff nach dem nächstbesten Gegenstand und warf ihn nach mir. Der hölzerne Krug flog an mir vorbei, zerschellte an der Wand und ließ eine weißschäumende Bierkaskade über einen Gast herabregnen. Einen Augenblick lang konnte ich mich noch beherrschen. Eine winzige Sekunde lang war ich mir noch der Tatsache bewußt, daß dies eine Art Therapieprogramm für SENECAS Probleme war – im nächsten Augenblick war ich in diesem Spiel so befangen, daß ich nicht mehr klar denken konnte. Unbändiger Haß brandete in mir auf, grenzenlose Wut über die Demütigungen und Erniedrigungen, die er mir zugefügt hatte. Unter normalen Umständen wäre ich zu einer solchen Handlungsweise niemals fähig gewesen … Als ich wieder klar denken konnte und das Nein in meinem Schädel gellen hörte, die schmerzhaft starke Ermahnung des Logiksektors, war es bereits zu spät. Ich hatte in blinder Wut den Bratspieß als Speer benutzt und Ras Tschubai damit niedergestreckt. Er war tot, und noch im letzten Augenblick zeigte sein Gesicht eine erschreckende Grausamkeit. Ich sackte nach vorne, brach in die Knie. Ich schlug die Hände vor das Gesicht. Scham brannte in mir, Schmerz über die Handlung, die ich begangen hatte. Ein zweites Mal hatte ich mit einem alten Freund
auf Leben und Tod gekämpft und ihn besiegt. Und wieder stellte sich der gleiche innere Schmerz ein, den ich beim Tod des echten Ras Tschubai empfunden hätte, dazu das quälende Bewußtsein, daß ich es war, der ihn getötet hatte. Zwei seiner Untergebenen traten zu mir, halfen mir auf die Füße. Einer bückte sich und schloß die Fußfesseln auf. »Gebieter!« sagte der Weißgekleidete ehrfurchtsvoll. Was für ein grotesker, alberner Mummenschanz. Was sollte dies alles? Das Extrahirn half mir mit einer abenteuerlichen Spekulation. Danach war all das, was in dieser Fiktivwelt geschah, nichts weiter als Ausdruck der inneren Kämpfe und Schwierigkeiten, die SENECA zu bestehen gehabt hatte. Er hatte all die Verachtung, die offene oder stille Grausamkeit, den Hohn und den Spott, mit dem die einfühlsame Biopositronik in den letzten zweihundert Jahren gequält worden war, in Ras Tschubai zusammengefaßt. Und in mich hatte SENECA – auf welche Weise auch immer – allen Schmerz gegossen, der sich in ihm angesammelt hatte. Ich war in dieser Szene der Träger von SENECAS Stolz gewesen, aber auch der Vollstrecker seines Hasses, den er diese ganze lange Zeit hindurch in sich begraben hatte. Es war ein Konzentrat Hunderter von kleinen traumatischen Szenen gewesen, was sich in den letzten Stunden in SENECAS Illusionswelt abgespielt hatte. Es war gräßlich gewesen – und ich schauderte, wenn ich an das dachte, was SENECA noch abzuarbeiten hatte. Jemand reichte mir einen Krug mit klarem Wasser, eine Frau gab mir ein Stück Brot und Braten. Ich kümmerte mich nicht um die Menschen ringsum, deren leere, schablonenhafte Gesichter mir deutlich machten, auf wen es in dieser Traumwelt wirklich ankam. Wichtig waren nur die Gestalten, die SENECA aus seiner Erinnerung schöpfte, alle anderen blieben konturlos. Langsam beruhigten sich meine aufgewühlten Gedanken. Die
Mahlzeit tat mir gut, sie lenkte mich ein wenig ab. Als ich fertig war, sah ich mich noch einmal in dem Gasthaus um. Die Bewohner der Umgebung hatten sich auf der anderen Seite des Raumes zusammengedrängt; die Gesichter zeigten deutliche Furcht. Zwischen ihnen und mir standen die Gefolgsleute des Ras Tschubai, dessen Körper inzwischen aus dem Raum geschafft worden war. Die Ledernen sahen mich erwartungsvoll an. »Was nun?« fragte ich und lehnte mich ein wenig zurück. »Du hast den Trasu getötet, jetzt bist du unser Gebieter«, sagte der größte der Ledergekleideten. Eine solche Bande von Halsabschneidern und Plagegeistern in weißes Leder zu stecken verriet einen sehr boshaften Humor. »Und wer gebietet mir?« fragte ich. »Über dir steht nur der Phronar«, bekam ich zur Antwort. »Er herrscht über uns alle.« Ich hatte eine gewisse Ahnung, wer sich hinter diesem Namen verbergen mochte, aber einstweilen fehlte mir der Sinn für müßige Spekulationen. Ich wollte Schritt für Schritt vorgehen. »Wo kann ich den Phronar finden?« fragte ich. »Das weiß keiner von uns«, antwortete der Anführer der Ledernen. »Er haust jenseits der Berge in einem schrecklichen Tal.« »Und wie kommt man dorthin?« »Auch das wissen wir nicht. Der Trasu hat den Phronar das eine oder andere Mal besucht, aber von seinen Begleitern ist nie einer zurückgekommen.« Die Sitten in dem zitierten Tal waren offenbar noch mörderischer als im Wald. Ich mußte auf der Hut sein – auch wenn dieses Spektakel gewisse Züge eines überaus sarkastischen Humors aufwies, war die Angelegenheit für mich buchstäblich lebensgefährlich. »Wer kann mir Kunde verschaffen von dem Tal?« »Dann mußt du zu Nirvan gehen, dem Allkundigen«, wurde mir
geantwortet. »Und wo finde ich Nirvan?« »Wir können dich zu ihm führen, wenn du es verlangst.« Die Formulierung verriet, daß es dem Sprecher wohl lieber gewesen wäre, ich stellte dieses Ansinnen nicht an ihn. Ich überlegte nicht lange. Zwar widersprach eine solche Geisteshaltung vollständig meinen Grundsätzen, aber nach den Regeln dieses Spiels waren die Menschen, die vor mir standen, bloße Werkzeuge. Sie würden sich mitsamt der Illusionsprojektion in nichts auflösen. Ich hatte daher wenig Hemmungen, sie rücksichtslos für meine Bedürfnisse einzuspannen. »Wir reiten sofort los. Nehmt mit, was ihr für die Reise braucht.« »Herr!« schrie der Wirt auf. »Willst du uns kahlfressen lassen?« »Bedient euch auf dem Schloß des Trasu«, empfahl ich ihnen. »Es gehört euch – ich werde niemals dorthin zurückkehren.« Das Gebrüll der Gäste und die betretenen Mienen der Ledernen bewiesen mir, daß es dort wohl allerlei zu holen gab – vermutlich die Beute vieler Raubzüge. »Vorwärts, beeilt euch!« Draußen vor dem Gasthaus schien die Sonne. Reittiere waren angepflockt worden, Pferde und – wie ich mit Verblüffung registrierte – ein Geschöpf, das aussah wie ein blau gefärbtes Einhorn. Dem Zaumzeug nach zu schließen mußte es sich um das Tier des Trasu handeln. Von irgendwoher dämmerte mir die Information, daß es irgendwann in meinem Leben einmal ein solches blaues Einhorn gegeben hatte – und ich hatte den Verdacht, daß SENECA mir mit diesem Fingerzeig andeuten wollte, wie sehr er mich kontrollieren und ausschöpfen konnte. Die Tiere wurden gesattelt, vor die Fuhrwerke, die hastig geleert wurden, spannten die Bauern schwerfällige Ochsen an. »Vorwärts!« Der Ritt begann. Der Anführer der Ledernen – ich hatte ihn der
Einfachheit halber Leo getauft und mit einer roten Armbinde kenntlich gemacht – sprengte uns voran. Wir stellten eine Streitmacht von dreißig Reitern dar, und hinter uns setzte sich allmählich ein Zug von einhundert und mehr Bauern in Bewegung. Unser Ziel war die Burg des Trasu. Nach einigen Stunden eines anstrengenden Ritts durch den dichten Urwald tauchte Tschubais Behausung auf – ein massiger Bau, kahl und von außen schmucklos. Ein zweigeschossiger Steinbau mit einer regelmäßigen Achteckkonstruktion, der auf einer Anhöhe stand und von der Sonne beschienen wurde. Im Freien grasten Pferde, und auf einem Nachbarhügel baumelten einige Körper an einem großen Galgenbaum. »Dort ist die Burg«, informierte mich Leo. Wir ritten auf den Eingang zu. Die Wachen stürzten hervor und bauten sich auf. »Gibt es Gefangene in der Burg?« »Ein paar Dutzend. Sie sollen in den nächsten Tagen sterben.« »Laßt sie frei. Die ganze Besatzung, soweit es sich um Berittene handelt, soll Wasser und Mundvorrat mitnehmen und aufsitzen. Und sputet euch, wir haben es eilig.« Einige meiner Begleiter nutzten das Durcheinander, um mit der Besatzung zu tuscheln – vermutlich bereiteten sie ihre Freunde auf die heranmarschierenden Bauern vor. »Noch eines – wenn hier Bauern mit Fuhrwerken auftauchen sollten, – laßt sie gewähren. Dies ist mein Wille.« »Es wird geschehen, Herr!« Wir mußten eine Stunde warten. Ich legte mich auf dem Hügel in die Sonne und schlief ruhig und fest, bis ich wieder geweckt wurde. Nun unterstanden meinem Befehl knapp siebzig Berittene, die sich ordentlich mit Waffen bepackt hatten. Wenn sie auf einen einträglichen Raubzug gehofft hatten, würde ich sie wohl sehr enttäuschen. »Weiter! Leo, du wirst uns führen.«
Über endlos erscheinende dürre Wiesen ging der Ritt weiter. Das Durcheinander von braunen und grünen Flecken wurde immer wieder durch blühende Büsche unterbrochen; über dem Land lag ein starker Blütenduft. Wäre dies nicht ein lebensgefährliches Abenteuer gewesen, hätte mir dieser Ritt viel Spaß machen können. Ich warf einen Blick auf die Burg zurück, die gerade noch am Rand des Gesichtskreises zu erkennen war. Jetzt fiel mir ein, daß ich das Gebäude kannte. Castel del Monte, die Burg des Hohenstaufenkaisers Friedrich II. in Apulien. Nicht ganz 56 Jahre alt,war Friedrich II. im Dezember 1250 gestorben, ein Kaiser, der in seiner Kindheit bettelarm durch die Straßen Neapels gerannt war, später einen der kultiviertesten Höfe Europas geführt hatte und sogar ein Buch geschrieben hatte: De arte venandi cum avibus, Über die Kunst, mit Vögeln zu jagen. Was hatte das mit SENECA zu tun? Während die Burg aus meinem Blickfeld verschwand, grübelte ich darüber nach. Friedrich II. entstammte dem Geschlecht der Hohenstaufen, das ursprünglich aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation kam. Er aber hatte über Sizilien geherrscht – für die damaligen Reiseverhältnisse war das fast so weit vom Herkunftsort entfernt wie SENECAS Standort von der Erde. Es war das Zeitalter der Kreuzzüge gewesen: Heerscharen edler Christenritter waren aufgebrochen, um das Heilige Land aus der Hand fanatischer Barbaren zu befreien. In Wirklichkeit hatten diese marodierenden Soldateskahaufen im eigenen Land gewütet wie die Pest, sich selbst dezimiert, die Verbündeten ausgeplündert und waren schließlich mit fanatischer Wut über eine Kultur hergefallen, die weit fortgeschrittener war als die des Abendlandes. Eine drastische Anspielung auf die Aufträge, die SENECA mit den Machtmitteln der SOL im Lauf der letzten zweihundert Jahre hatte spielen müssen? Im Gedächtnis der Völker war diese Epoche als das finstere
Mittelalter gespeichert – daß Friedrich II. in Sizilien einen Hof geführt hatte, der an Kultiviertheit, Toleranz und künstlerischer Qualität sein Zeitalter weit überragte, war fast zur Gänze in Vergessenheit geraten. Wollte SENECA damit darauf hinweisen, daß man auch seine Qualitäten ständig unterschätzt und unterbewertet hatte? Ich hatte bei diesem Ritt nicht die Zeit, die vielfältigen Aspekte dieses Symbols auszudeuten; aber mir wurde sehr klar, wie vielgestaltig und dicht SENECAS Illusionswelt war. Jeder Teilaspekt war von Bedeutung, auch wenn die völlige Klärung all dieser komplexen Zusammenhänge, Verschlüsselungen und Symbole wohl nur SENECA selbst gelingen konnte. In einer ungeheuren Symboldichte schien SENECA alles, was die Positronik bedrückte, in diese Illusion eingearbeitet zu haben – einschließlich des mittelalterlichen Dauerstreits zwischen Kirche und Staat, geistlicher und weltlicher Macht, der sich durchaus mit SENECAS Zwiespalt im Verhältnis Plasma zu Positronik vergleichen ließ. Einem einzelnen Menschen – ob mit oder ohne Extrahirn – wäre es niemals gelungen, diese Zusammenhänge bis zur letzten Klärung aufzudröseln. Ich versuchte es auch nach diesem ersten Anlauf nicht mehr. Wenn es SENECA nicht gelang, sich mit Hilfe dieses Illusionsszenariums selbst zu heilen, war das Problem von SENECAS Gefühlsverwirrung wohl nie mehr zu lösen. »Wann werden wir die Behausung des Nirvan erreicht haben?« Leo zuckte mit den Schultern. Er deutete auf eine Gebirgskette, der wir uns näherten. Auch hier machte sich SENECAS Hand bemerkbar – einen Gebirgszug, der schneebedeckte Gipfel aufwies, konnte man so schnell zu Pferd nicht erreichen, wie es augenscheinlich der Fall war. SENECA hatte entweder die Geschwindigkeit unserer Reittiere hochgeschraubt oder einfach die Zeitabläufe verkürzt. Jedenfalls kamen wir den schroffen Zacken sehr schnell näher. »Irgendwo dort«, sagte der Lederne. »Ich selbst bin nie dort
gewesen, aber man hat mir gesagt, man könne den Weg kaum verfehlen.« »Das wird sich zeigen«, sagte ich. Leo behielt recht. Das erste Anzeichen tauchte schon sehr bald auf. Ein Schwarm Raben flog krächzend auf, und als wir näherkamen, sahen wir einen massiven Galgen, an dem zwei halbverweste Körper im Wind schaukelten. Hinter dem Schreckensgerüst öffnete sich ein enges Tal. »Dort müssen wir wohl hinein«, stieß Leo hervor. Er schielte nach den Gehängten. Ein paar weißlederne Fetzen an den Körpern verrieten, daß es sich um Leos Kollegen gehandelt haben mußte. »Unverzagt weiter!« bestimmte ich und gab dem blaufelligen Einhorn die Sporen. 7. Gallatan Herts wirkte ruhig und gelassen. Lyta Kunduran trommelte mit den Fingernägeln einen wütenden Rhythmus auf die Lehne ihres Sessels. Die Stimme von Curie van Herling war beherrscht, als sie mitteilte: »Auf Schußweite heran!« Mit wachsender Betroffenheit starrte die Zentralemannschaft auf das Bild der Geister‐SOL. Sie näherte sich noch immer, noch immer langsam, aber das wirkte noch bedrohlicher als ein rasches Heranjagen. Noch immer war kein Kontakt herzustellen gewesen – die Geister‐SOL antwortete nicht. Immer wieder richteten sich die Blicke der Stabsspezialisten auf den High Sideryt. Hayes saß wie versteinert in seinem Sessel, äußerlich unbewegt. »Du willst nach wie vor nichts unternehmen?« Hayes rieb sich wieder die Nasenflügel. Dann sah er auf. »Ruft SENECA an!« bestimmte er.
Die Verbindung zur Biopositronik war rasch hergestellt. Erleichtert stellte der High Sideryt fest, daß SENECAS Stimme ruhig und fest klang. Ob das auf Atlans Mitwirken zurückzuführen war, ließ sich nicht sagen. »SENECA, du hast sicher das fremde Schiff geortet.« »Information gespeichert.« »Kannst du uns darüber etwas sagen?« »Vorläufig nicht. Ich unterhalte mich gerade mit mir.« »Mit wem?« »Mit mir selbst. Wir sprechen die Angriffsbefehle durch.« »Patsch‐uuh!« klang es aus dem Lautsprecher. Das mußte Insider gewesen sein. Der seltsame Extra war zwar in der Lage, sich in fast jeder Sprache geschliffen auszudrücken, aber in extremen Situationen pflegte er Mißfallen oder Zustimmung mit recht seltsamen Lauten kundzutun. »Verstehe ich dich richtig, du stehst in Verbindung mit der Geister‐SOL?« »Ich spreche mit mir.« »Und ihr diskutiert Angriffsbefehle?« »Information zutreffend.« Breckcrown Hayes war völlig verblüfft. Die Erregung sprang auf die anderen Menschen in der Zentrale über. »Das ist Atlans Schuld!« rief Wajsto Kölsch. »Der Arkonide fummelt irgendwo heimlich an SENECA herum, und das ist nun das Ergebnis!« »Unfug!« wehrte Hayes ab. »Du hast uns gesagt, daß Atlan sich zur Zeit mit SENECA beschäftigt. Ist das richtig?« »Es stimmt«, bestätigte Breckcrown Hayes. »Und jetzt haben wir den Fall, daß sich SENECA mit seinem eigenen Gespenst zusammentut und Angriffsbefehle ausarbeitet – High Sideryt, wenn das nicht bedeutet, daß SENECA völlig übergeschnappt ist, dann weiß ich nicht.«
»Das wüßte ich aber«, ließ sich SENECA vernehmen. »Da haben wirʹs«, sagte Kölsch laut. »Wir müssen etwas tun, bevor es zu spät ist. Ruf Atlan zurück, bevor er noch mehr Unheil anrichten kann.« »Die Operation Atlan steht in keinerlei Verbindung zu den jetzt diskutierten Vorgängen.« Diese Äußerung der Biopositronik stieß auf Unglauben, jedenfalls bei der Mehrheit der Stabsspezialisten. Hayes konnte es an den Gesichtern ablesen. »Ich kann Atlan nicht zurückrufen, wir haben keine Verbindung zu ihm.« »Dann unternimm etwas anderes – wir können doch nicht warten, bis wir beschossen werden.« »Ich weiß nicht, um was es sich bei dieser Geister‐SOL handelt«, rief Hayes. »Vielleicht ein Doppelgänger aus Zeit und Raum – wir würden uns selbst vernichten.« »Wenn wir nichts tun, werden die dort uns vernichten. Du hast es doch von SENECA gehört.« »Ich …«, begann Breckcrown Hayes seinen Widerspruch. In diesem Augenblick krachten die ersten Schüsse gegen die Schutzschirme der SOL. * SENECA schien eine Schwäche für Abendstimmungen zu haben. Als blutrote Scheibe versank die Sonne in der Ebene, während aus den Zacken der Gebirgsgipfel der Mond aufstieg. Er warf ein kalkiges, hartes Licht auf den Weg, den wir ritten. Es war eine gespenstische Angelegenheit. Immer wieder stießen wir auf Hinweise, die uns zu Nirvan führen sollten – aber was waren das für Hinweise: In den Fels geritzte Runen, gräßliche Fratzen, die uns mit spitzen
Zähnen entgegengrinsten, und dieser Schauereindruck wurde von der Beleuchtung noch unterstrichen. Meinen Begleitern grauste es, das war deutlich zu erkennen. Die Reittiere waren frei von Aberglauben, sie schritten ruhig weiter aus. Totenköpfe grinsten uns von Felsbrocken herab an. An einem Überhang baumelte ein Käfig an einer Kette, darin hockte ein Skelett ohne Beine. Aus den Felsspalten schwirrten Tausende von Fledermäusen. Aus kleinen Geysiren stiegen schweflige Dämpfe hoch und machten das Atmen schwer. Dazu kam, daß der Boden ständig vibrierte. Es hörte sich an, als würde unter dem Gestein ein Lavastrom brodeln und tosen. »Herr, laß uns umkehren. Noch ist Zeit dazu. Dies ist ein Ort des Todes!« »Wir reiten weiter – fürchtet ihr euch?« »Schrecklich, Herr.« »Wir reiten trotzdem weiter.« Der Weg war eng geworden. Steinübersät schlängelte er sich zwischen großen Felsbrocken durch, stieg auf und ab, an weißschäumenden Bächen vorbei, an Abgründen entlang, die ins Bodenlose abzufallen schienen. Was immer geeignet war, einem Menschen Furcht einzuflößen, war in diesem Schreckenspfad zusammengestellt worden. Auch ich war ein wenig beeindruckt, als ich auf einem Felsen deutlich einen Schriftzug lesen konnte – die Sprache war eine Uralt‐Version des Interkosmo und drückte eine zauberische Verwünschung für jeden Störenfried aus. Über unseren Köpfen kreisten Geier – schwarz gegen Dunkelblau waren die Schemen am Himmel zu erkennen. Und vor uns loderte roter Feuerschein, ein düsteres Rot, das an Lava erinnerte. Ich warf einen Blick zurück. Die Zahl meiner Begleiter hatte sich vermindert. Der schmale Weg gab jeweils dem letzten die Chance, sich davonzumachen, ohne daß ich es sehen konnte, und die wackeren Helden machten von dieser Möglichkeit eifrig Gebrauch. Knapp ein
Dutzend Begleiter war mir noch geblieben – ihre weißen Monturen sahen geisterhaft aus im Dunkel des Tales. »Wo wird das enden?« jammerte Leo. Er ritt vor mir und hatte gar keine Chance, sich davonzumachen. »Vielleicht so?« Ich deutete auf ein Gerippe, das an einem Felsen lehnte, moosüberwachsen und scheinbar halb vom Felsen verschluckt. Leo zuckte vor Angst. Eine halbe Stunde noch ritten wir durch das Gruseltal, und mit jedem Schritt wurde der Eindruck des Furchterregenden stärker. Auch ich konnte mich nicht länger dagegen wehren. Foltergeräte baumelten von versinterten Bäumen. Überall lagen Skelette herum, deren weiße Knochen im Mondschein blinkten. Darüber lag ein Geruch nach Moder und Verwesung, der einem die Nackenhaare aufstellen konnte. Und in Abständen von jeweils knapp hundert Metern war ein Kopf aus dem Fels gemeißelt. Er stellte ein Menschenantlitz dar – zuerst das eines friedlich dreinblickenden Mannes. Jeweils nach hundert Metern änderte sich der Ausdruck ein wenig – langsam schlich sich Furcht auf das Gesicht, und an unserem jetzigen Standort blickten wir in das schreckverzerrte Gesicht eines Mannes, der vor Angst dem Wahnsinn nahe war. Auch hartgesottene Gemüter wurden davon gepackt, und da half nicht einmal mein Wissen, daß all dies SENECAS Wirklichkeit gewordener Alptraum war. »Dort!« Mehr brachte Leo nicht über die Lippen. Er hielt sein Pferd an. Wir waren am Ziel, es war nicht zu verkennen. Das Tal endete hier – es mündete in einen Felsblock, der mindestens dreißig Meter hoch war. Es war ein Totenschädel. In den Augen leuchtete es in fahlem Grün, zwischen den zahnlosen Kiefern tobte rote Glut, und hoch über dem kahlen Schädel schwirrten die Fledermäuse in der Gestalt
eines Drudenfußes. »Ich gehe keinen Schritt weiter!« schrie Leo und wandte mir sein entsetzengeschütteltes Gesicht zu. Seine Augen waren weit aufgerissen. »Wo sind die anderen?« Ich drehte mich um. Jetzt waren wir nur noch sieben, mich eingerechnet. Und der Rückweg war versperrt. Eine grellblaue Rauchsäule verlegte den Weg. Fahle Entladungen zuckten aus ihr zu den Felsen herüber und ließen dort kleine Krater entstehen – ein deutlicher Hinweis, was jedem drohte, der diese Sperre zu durchdringen versuchen sollte. Es gab also nur noch eine Richtung – hinein in den offenen Rachen des Todes. »Bleibt hier«, ordnete ich an, und meinen Begleitern war es recht. Sie stiegen von den Pferden und rückten dicht zusammen. Ich übergab Leo mein Reittier und machte mich auf den Weg. An Waffen trug ich Deightons Dolch und Schwert – ob das hier half, würde sich zeigen. Der Boden war glatt, wie poliert. Feine Linien waren darin eingeritzt, magische Symbole, Zauberzeichen. Ich spürte, wie etwas in mir hochzuckte, wieder absackte, erneut anstieg. Es waren gleichsam winzige psychische Entladungen, blitzartige Gefühle, die, kaum erkennbar, wieder verschwanden. Der Drudenfuß senkte sich langsam auf den Totenschädel herab, als ich näherkam. Aus dem Innern klangen Geräusche – Schmerzensschreie, Gestöhn und Gejammer. Mir war klar, daß ich mit diesen Mätzchen gefühlsmäßig weichgeschmort werden sollte, aber dieses Wissen half gegen die Sturmflut des Grauens nicht sehr viel. Es ließ mich nicht in Panik verfallen, aber mehr war nicht möglich. Ich fürchtete mich. Dennoch schritt ich weiter, auf die Kiefer des Riesenschädels zu. Düsterrot glomm ein Feuer darin, das immer deutlicher wurde, je näher ich kam.
Ich betrat das Innere von Nirvans Behausung. Der Boden war bedeckt mit bleichen Knochen. In Nischen standen Totenschädel als Leuchter, Spinnweben hingen herab und zwangen die überall herumflatternden Fiedertiere zu akrobatischen Flugkunststücken. »Tritt näher, Freund!« Das krächzende Organ hatte mit keiner mir bekannten Stimme Ähnlichkeit. Es troff förmlich vor Bosheit und Niedertracht. Zu der offenkundigen Grausamkeit, die ich schon bei Tschubai bemerkt hatte, kam hier noch eine gehörige Portion Hinterhältigkeit und Schadenfreude. Ich schritt weiter. In einem hochgewölbten Raum fand ich ihn. Er saß auf einem Sessel, der aus Knochen zusammengebunden war. Der Tisch bestand aus dem gleichen scheußlichen Grundstoff. Im Hintergrund sprang eine graue Katze buckelnd weg, ein Käuzchen gab Laut. Es fehlte nichts am herkömmlichen Schauerzierat, alles war vorhanden, um eine wahre Hexenküche auszustatten. Beeindruckend dabei war die Perfektion, mit der die einzelnen Bestandteile des Gruselkabinetts aufeinander abgestimmt waren – es gab nirgendwo einen Blickfang, der einem einen Hinweis hätte geben können, daß es sich dabei um eine Filmkulisse handelte. Dieser Alptraumort war echt, bis ins kleinste Detail. Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufrichteten. Die Gestalt im Sessel war selbst ein Skelett. Nur das Knochengerüst war zu sehen, schemenhaft der Umriß eines menschlichen Körpers, der sich unscharf gegen den Hintergrund abzeichnete. Die Knochen schienen von innen heraus zu glühen. Mit einer scheinbar freundlichen Gebärde wies die Gestalt auf einen Sessel. Es war der aufgeklappte und ausgepolsterte Kiefer eines riesigen Raubtiers. Als ich mich setzte, steckten meine Beine zwischen den spitzen Zähnen, und rechts und links von meinem Kopf waren weitere Zähne zu sehen. Wenn dieses Sitzmöbel
zusammenklappte, war ich verloren. »Du willst etwas wissen, sonst hättest du den weiten Weg nicht gemacht. Also frage.« »Ich will wissen, wo ich Phronar finden kann.« Von den Wänden hallte das schauerliche Gelächter des Wissenden zurück, ein gespenstisches Echo, das die Worte noch hohler klingen ließ. »Mehr begehrst du nicht von Nirvan, dem Allwissenden?« »Es würde mir genügen, das zu erfahren.« »Hahaha!« Mein Ansinnen schien die Skelettgestalt ungemein zu erheitern. »Du weißt, daß du mir einen Preis zu zahlen hast für jede Kunde, die du von mir erheischst?« Maßlosigkeit und eine ausgesprochen geschraubte Redeweise – man brauchte das Ganze nur ins Gegenteil zu verkehren. Herauskommen mußte eine bescheidene und ein wenig schüchterne Person, jemand, der nicht wie Nirvan mit seinen Kenntnissen protzte. »Was willst du haben?« »Den üblichen Wegzoll – den rechten Arm und das linke Bein. Du wirst es selbst zu den übrigen Tributgaben in der Eingangshalle legen – falls du den Eingriff überstehst.« »Fällt mir nicht ein«, sagte ich. »Du wähnst, mir zu trotzen? Kein Wort wird das Gehege meiner Zähne verlassen, wenn du dich nicht einläßt auf mein Spiel.« Der affig‐aufgeblasene Ausdruck vom Gehege der Zähne war ein Homer‐Zitat und paßte auf niemanden schlechter als auf das zahnlose Skelett, das mir gegenübersaß. Dennoch durfte ich nicht den Fehler machen, diesen Gegner zu unterschätzen. »Spiel? Was ist daran Spiel?« »Du kannst Hand, Fuß und Haupt behalten, mein Freund, und ich werde dir sagen, was du zu wissen begehrst – wenn du mit mir spielst. Löst du gerne Rätsel?«
»Das hängt davon ab, ob sie lösbar sind«, antwortete ich. Ich lehnte mich in meinem seltsamen Sitz zurück. Die Kiefergelenke knirschten leise. »Drei Rätsel werde ich dir vorlegen. Löst du das erste, behältst du deinen Kopf. Löst du auch das zweite, lasse ich dir die Hand, beim dritten gewinnst du alles.« Ich hatte einen sehr üblen Verdacht, der immer stärker wurde. »Frage, Nirvan.« »So merke auf: Was ist das? Auf vieren des Morgens, auf zweien des Mittags, abends auf dreien. Weißt du es?« Ich grinste. »Mit diesem Rätsel hat die Sphinx versucht, Ödipus zu verderben. Dies ist die Antwort: Es ist der Mensch. Am Morgen seines Lebens krabbelt er auf allen vieren, in der Blüte seiner Zeit geht er auf zwei Beinen, und im Alter braucht er als drittes Bein den Stock.« »Trefflich, trefflich, mein Freund.« Eine blasiertere Person als diese war mir nur am Hof der Arkon‐ Imperatoren untergekommen – von denen hätte das Skelett allerdings noch einiges lernen können. »Laß uns weiter sehen. Nimm an, ich weise dir den Weg zu Phronar. Du wirst eine Strecke von siebzig Kilometern zurückzulegen haben. Wie lange wirst du brauchen, mein kraftvoller Freund?« Mit der Unterstützung des Zellaktivators konnte ich eine Zeitlang einen Schnitt von sieben Kilometern durchhalten. Das sagte ich dem Skelett. »Sieben Kilometer in einer Stunde. Trefflich, trefflich. Ich werde dir einen meiner gefiederten Freunde als Begleitung mitgeben. Er ist sehr geschwind, er wird das Dreifache schaffen. Da er Phronars Feste nicht betreten darf, wird er zu dir zurückkehren, dich erreichen, dir wieder voranfliegen, erneut umkehren und so weiter. Wieviel Kilometer wird dein Begleiter zurückgelegt haben, wenn ihr beide zusammen das Ziel erreicht habt?«
Auch dieses Rätsel kannte ich ‐und das machte mich immer stutziger. »Zweihundertzehn Kilometer, annähernd, es sei denn, du rechnest die kurzen Spannen des Wendens nicht mit.« »Abermals trefflich!« Was will Nirvan mit diesem albernen Fragespiel, fragte ich mich. Das erste Rätsel war so uralt, daß es in fast jedem Lesebuch zu finden war. Die zweite Aufgabe war für mich noch leichter zu lösen. Es gab nämlich einen kleinen Trick dabei. Man konnte die Aufgabe auf zwei Arten lösen. Einmal konnte man die tatsächlich von der Fledermaus zurückgelegten Kilometer addieren – das ergab dann das mathematische Problem einer unendlichen Reihe und den damit verbundenen Rechenaufwand. Das andere Verfahren bestand darin, daß ich einfach ausrechnete, wieviel Stunden ich für meine Strecke brauchte – in diesem Beispiel zehn Stunden. Ebensolang war die Fledermaus mit gleichbleibender Geschwindigkeit von einundzwanzig Stundenkilometern unterwegs – und das ergab die Lösung. Besonders Naturwissenschaftler neigten dazu, den ersten, weil mathematischen Weg zu gehen, und verhedderten sich meist. Ich brauchte nur meinen Logiksektor zu befragen, um in Sekundenbruchteilen die richtige Lösung zu haben. Wenn – woran ich nicht zweifelte ‐auch dieser Gegner eine Gestalt aus der ehemaligen Führungsmannschaft der SOL war, mußte sie das vorhergesehen haben. Was also sollte die Posse? »Haupt und Hand bleiben dein. Nun geht es um den Fuß und die Antwort auf meine Frage. Siehst du die beiden Türen dort? Eine dieser Pforten führt dich zur Freiheit, die andere in den sicheren Tod. Siehst du auch meine gefiederten Freunde, die Raben? Sie können sprechen und werden dir eine einzige Frage beantworten. Leider können sie nur Ja oder Nein sagen. Wisse aber, daß einer der beiden immer und überall lügt – er ist so unbedingt verlogen, wie der andere aufrichtig und wahrheitsliebend ist. Leider kann ich dir nicht sagen, welcher von beiden Raben der Lügner ist. Das wirst du
herausfinden müssen.« Auch diese Frage war ein altbekanntes Rätsel. Die Lösung bestand darin, daß man den Antwortenden durch die Fragestellung dazu zwang, gleich zwei zusammenhängende Fragen auf einmal zu beantworten. Der Lügner war so gezwungen, seine erste, verlogene Antwort noch einmal lügnerisch herumzudrehen, und gab daher die gleiche Antwort wie der andere, der zweimal die Wahrheit sagte. »Meine Frage lautet: Wenn ich dich fragen würde, ob die Tür zur Rechten in die Freiheit führt, würdest du mit ja antworten?« Gesetzt den Fall, die fragliche rechte Tür führte in die Freiheit, mußte der Lügner den ersten Teil meiner Frage mit Nein beantworten; die verlogene Antwort auf den zweiten Teil mußte dann Ja lauten. Das Endergebnis war ein klares Ja – die gleiche Antwort mußte der Wahrheitsliebende geben. Gesetzt den Fall, die rechte Tür führte zum Tod, mußte der Lügner den ersten Teil mit Ja und den zweiten Teil mit Nein beantworten. Auch dann war die Antwort des Aufrichtigen die gleiche – Nein. »Wacker, wacker – du hast alle Rätsel gelöst. Nun bereite dich vor.« »Worauf?« Das Skelett lachte meckernd. »Worauf? Deinen Tod natürlich. Glaubst du, dein Wissen und deine Intelligenz nützen dir etwas? Ich bestimme die Spielregeln, und ich sage dir, daß all dein Wissen nicht helfen wird, weil du jetzt sterben wirst.« Ich nickte traurig. »Damit habe ich gerechnet, Geoff!« 8. Die Anzeigen flackerten hektisch, aber einstweilen erreichten sie noch keine ernsthaft gefährlichen Werte. Dennoch machte sich in
der Zentrale der SOL Unruhe breit. Die Geister‐SOL griff an, einstweilen mit vergleichsweise leichten Waffen, aber ohne ihre Schutzschirme wäre die SOL verloren gewesen. Der Angriff bewies deutlich, daß der Gegner es ernst meinte. »Wollen die uns vertreiben oder vernichten?« fragte Vorlan Brick. Die Frage galt dem High Sideryt, der mit erstaunlicher Ruhe die Vorgänge an Bord beobachtete. Noch hatte Hayes keine Befehle gegeben. »Ich möchte wirklich wissen, was in dir vorgeht«, sagte Brooklyn erbost. »Willst du hier als Zielscheibe fungieren, bis die da drüben alles einsetzen, was sie haben?« »Wir bleiben defensiv«, sagte Hayes mit unerschütterlicher Ruhe. »Ich bin dafür, daß wir zurückschießen«, erklärte Brooklyn. »Anders werden wir dieses Geisterschiff nicht los.« »SENECA spricht«, klang es aus den Lautsprechern. »Ich rate ebenfalls zu bewaffneter Abwehr. Meine Auswertungen ergeben, daß es sich bei dem Schiff nur um ein Machtinstrument einer uns feindlich gesinnten Größe handeln kann, selbst wenn das Schiff der SOL aufs Haar gleicht.« Einen Augenblick lang fuhren die Automaten die optischen Blenden hoch. »Transformbeschuß«, meldete Curie van Herling mit erstaunlich ruhiger Stimme. »Es scheint ernst zu werden.« »Vorlan, fliege Ausweichmanöver!« Der Chefpilot stutzte, dann zuckte er mit den Schultern und machte sich daran, den Befehl des High Sideryt auszuführen. Er versuchte dem Feuer der Geister‐SOL auszuweichen. Die Brick‐Zwillinge waren hochbegabte Piloten, aber keine Emotionauten, das wäre jedem Beobachter sofort klargeworden, der Mentro Kosums Flugkunst hatte erleben dürfen. Die Zwillinge waren erstklassig auf ihrem Gebiet, aber die gedankenschnelle Steuerung aller Vorgänge an Bord über die SERT‐Haube hätte sie
mit weitem Abstand geschlagen. Es standen aber keine Emotionauten mehr zur Verfügung. Die Emotio‐Krise hatte die SOL der letzten Möglichkeit beraubt, solche Spezialisten ausbilden zu können. »Der Pilot drüben ist auch nicht schlecht«, kommentierte Vorlan Brick. »Das merken wir«, sagte Brooklyn gereizt. Bei den ersten Flugmanövern hatte Vorlan die Geister‐SOL elegant ins Leere rasen lassen, aber inzwischen schien der Pilot auf der anderen Seite ein geradezu unheimliches Gespür für die persönliche Handschrift des SOL‐Piloten bekommen zu haben. Die Gegenoperationen der Geister‐SOL kamen immer rascher und gewannen an Präzision. Und er gewann an Dreistigkeit. Die Angriffe wurden energischer, auch der materielle Einsatz erhöhte sich. »Die Belastung unserer Defensivbewaffnung steigert sich«, meldete Ursula Grown, Cheftechnikerin der SZ‐1. »Bald werden bedrohliche Werte erreicht sein.« »Vorlan, leite eine kurze Linearetappe ein!« bestimmte Hayes. »Wir werden diese Frechlinge abhängen!« * Geoffry Abel Waringer, Hyperphysiker, Schwiegersohn von Perry Rhodan, einer der Wissenschaftler, der maßgeblich am Bau von SENECA und SOL beteiligt gewesen war. Groß und schlank, fähig, aber überaus bescheiden, im Umgang mit anderen Menschen oft ein wenig verklemmt und unbeholfen. Das war das Original gewesen. Vor mir stand die Karikatur, das Gesicht mit höhnisch geöffneten Lippen, in den Augen blanke Wut und Verachtung. Ich hatte es geahnt.
Die ungeheure Blasiertheit und Überheblichkeit war mir aufgefallen, das beständige Pochen auf Wissen und Kalkulationsvermögen, nicht zuletzt das völlige Fehlen von Fairneß. »Nichts ist dein Wissen wert, gar nichts!« Dies war der Spiegel für all die Demütigungen, die SENECA hatte hinnehmen müssen. Unermüdlich hatte er seine einmaligen Fähigkeiten in den Dienst der SOL und der Solaner gestellt, und nichts hatte er dafür bekommen, bestenfalls die verächtliche Anrede Blechkerl. Jetzt durfte ich wieder SENECAS Sorgen tragen, die Demütigungen, die Enttäuschungen, angesammelt in zwei Jahrhunderten, komprimiert in dieser einen Szene. Ein paar lächerliche Rätselspiele und danach die komplette Enttäuschung – Wortbruch, Unehrlichkeit und Hohn. »Wie geht es jetzt weiter, Geoff?« Die Maske lag in einer Ecke, nur der Körper wurde noch von dem Umhang umgeben, der in diesem Augenblick besonders lächerlich wirken mußte. All dieser groteske Mummenschanz für ein paar läppische Rätsel, und die dienten nur als Vorwand für Wortbruch und die Möglichkeit, den Unterlegenen seine Ohnmacht fühlen zu lassen. »Ich werde dich töten, wie du es verdient hast«, zischte mein Gegenüber. Ich sprang auf. Eine Handbreit hinter mir klappte der präparierte Kiefer zusammen, und es war gewiß kein Zufall, daß dem Zuschnappen ein deutliches Zähneknirschen als Warnung vorausgegangen war. Geoffry wollte mit mir Katz und Maus spielen. Der Boden grollte vernehmlich, zitterte. Aus einer Nische fiel einer der lächerlichen Totenschädel und kollerte über den Fels. Zwei Katzen turnten an den Felsen hinauf und versteckten sich in den Nischen. Die Fledermäuse stießen schrille Schreie aus. Geoff hob beide Arme.
Ich ahnte, daß er jetzt irgend etwas praktizieren wollte, was in den Bereich der Schwarzen Kunst fiel – und unter den Umständen der Illusionswelt konnte solch ein Humbug tatsächlich lebensgefährlich werden. Zwischen Geoffs Händen formte sich eine energetische Kugel, die blutrot leuchtete. Mit einer heftigen Bewegung schleuderte er sie mir entgegen. Ich ließ mich auf den Boden fallen. Das Wurfgeschoß flog über mich hinweg, hinterließ eine gelbe Schwefelspur und barst an einer Wand. Splitter schwirrten durch den Raum, und das Krachen der Explosion wurde aus den Gängen in gräßlichem Echo wiederholt. Ich hätte über dieses Theater lachen mögen. Je länger ich in SENECAS psychischen Eingeweiden herumkroch, um so lächerlicher erschien mir dies alles. Was versprach sich die Positronik davon, mich zu jagen und zu quälen? Also gut, es lief darauf hinaus, daß ich Geoff tötete. Danach durfte ich vermutlich einen Gang passieren, und dahinter wartete jemand, der mir wieder nach dem Leben trachtete und den ich dann auch wieder erschlagen durfte. Und wozu? Bemerkte SENECA nicht, was er mit mir machte? Daß ich mehr und mehr abstumpfte? Daß ich von immer größerer Verachtung für diese Traumprodukte erfüllt wurde, von immer mehr Gleichgültigkeit den Personen gegenüber, die diese Illusionswelt bevölkerten? Ich griff nach meinem Dolch. Meine Hand bewegte sich zurück, schnellte nach vorn – und ich ließ die Waffe nicht los. Ich schaffte es nicht. Noch einmal wollte ich den Versuch unternehmen, diesen überflüssigen Zwist friedlich zu beenden. »Laß den Unfug sein, Geoff! Er hilft weder dir noch mir.« »Dir mit Sicherheit nicht!« schrillte Geoff. Seine Stimme hatte nichts Menschenähnliches mehr.
Diesmal mußte ich einen weiten Satz machen, um einer blauen Feuerkugel auszuweichen. Sie zischte so knapp an mir vorbei, daß meine Haare teilweise verschmorten. Jetzt erfaßte mich Wut. Wenn ich einen dieser lächerlichen Popanze, die SENECA mit den Namen meiner Freunde belegt hatte, erschlug, dann tötete ich ein Phantasiegebilde – und ich sah beim besten Willen nicht ein, warum ich in diesem Narrenzirkus ein echtes Risiko eingehen sollte. SENECA hatte das alberne Spiel darauf angelegt, daß ich einen meiner Freunde nach dem anderen ermordete – gut, das konnte er haben. Ich machte zwei weite Sprünge und tauchte in einen der Nebengänge. Geoffs grelles Lachen klang mir nach. Der Stollen war erleuchtet, obwohl es nirgendwo Leuchtkörper gab. Ein Hinweis mehr auf die Unwirklichkeit der ganzen Szenerie. Ich hetzte über den Felsboden, und hinter mir konnte ich Geoff poltern hören. Er folgte mir. Der Gang wurde sehr eng, dazu immer niedriger. Ich begriff, daß ich dabei war, mich in eine Falle hineinzumanövrieren. Ich mußte auf allen vieren krabbeln, schließlich blieb nur noch ein Weg – ich legte mich auf den Bauch und robbte. »Hahaha!« hörte ich die Gestalt hinter mir lachen. Meine Wut steigerte sich. Ich hatte keine Lust, in einer miserablen Inszenierung des fünfundachtzigsten Aufgusses der alten Klischee‐ Geschichte vom verrückten Genie das Opfer zu spielen – aber mir blieb wohl nichts anderes übrig. Daß ich weiterkommen konnte, verriet mir der Luftzug, der über mein Gesicht streifte. Luftzug war eine sehr schmeichlerische Bezeichnung für einen ätzenden Pesthauch, der sich in meine Lungen fraß und mich immer wieder husten ließ. Dann endlich wurde der Stollen wieder breiter und höher. Ein paar Bewegungen noch, und ich kam wieder auf alle viere. Weit voraus sah ich rötliches Licht Geoff krabbelte mir nach, ich konnte
es an seinem Wahnsinnsgelächter hören. War SENECA wirklich nichts anderes übriggeblieben, als ausgerechnet den sanften Geoffry Abel Waringer in diese Wahnsinnsphantasie einzuspinnen? Ich erreichte das Ende des Ganges und stand am Rand eines Felsbands, das sich an einer riesigen Felshöhlung in halber Höhe entlangzog. Unter mir brodelte Lava, ätzender Qualm stieg davon auf. Mit schmatzenden Geräuschen blubberte Magma in die Höhe, platzte und ließ grellrote Geysire aus flüssigem Gestein aufspritzen. »Scheint sich um einen Ausstattungs‐Monumental‐Film zu handeln«, sagte ich keuchend. Nur eines bewahrte mich in diesem Augenblick davor, wirklich den Verstand zu verlieren – ätzender, sarkastischer Humor, der nichts mehr ernst nahm. Nur wenn ich zwischen diesem Traumgebilde und mir ironische Distanz aufrechterhalten konnte, konnte ich es schaffen, diesen Alptraum zu überleben. Ließ ich mich gänzlich auf den Wirklichkeit gewordenen Wahnsinn ein, war ich rettungslos verloren. Der Weg führte einmal um das Lavabecken herum. Auf der gegenüberliegenden Seite gab es eine große Öffnung, dahinter erkannte ich eine grüne Wiese mit zahlreichen bunten Blumen. »Aufhören!« schrie ich mit überschnappender Stimme. War denn hier alles verrückt geworden? Ich wußte doch, wie es nun weitergehen mußte. Drehbücher dieser Sorte ließen doch keine andere Lösung zu: Geoff kam nachgekrabbelt, jagte mich. Zweikampf auf schmalem Felsgrat, Atlan, der strahlende Held, wird fast von der Brüstung gekippt, zappelt an der Kante … Zum Spannungsanheizen wurde dann meist umgeblendet auf die herzige Freundin, die sich um den Helden sorgt; ich hätte gern gewußt, wer von SENECA für diese Rolle ausersehen worden war – dann zurück zum Klippenhänger: Held erwischt Schurken im letzten Augenblick am Bein, rettet sich selbst und läßt Bösewicht mit grellem Schrei im Magma landen. Mein Körper zuckte, meine Zähne klapperten aufeinander. Ich
spürte, daß ich nahe daran war, den Verstand zu verlieren. Der Versuch, dies alles sarkastisch einzufärben, ironisch zu überdrehen, durch Witz Distanz zu schaffen, drohte fehlzuschlagen, steigerte noch das Alptraumhafte, Unwirkliche. Ich holte tief Luft, schob mich mit dem Rücken am Fels Schritt für Schritt weiter. Geoff erschien. Die Regie hatte ihm allen Ernstes Schaum vor dem Mund verpaßt. Wer war hier verrückt? SENECA, ich, Geoff? Ich wußte es bald selbst nicht mehr. Ich wollte heraus aus diesem Alptraum, mehr nicht, und in diesem Augenblick war mir alles gleichgültig. Neben mir lag auf dem Felsband ein Stein, so wie es der Drehbuchzufall wollte. Ich hob den Brocken auf. »Fahre denn hin, Verruchter!« Meine Texte waren nicht besser als die des Regisseurs. Der Stein flog, traf – auf ungefähr fünfzig Schritte! ‐und ließ Geoff taumeln. Er strauchelte, glitt aus und konnte sich gerade noch an der Klippe festhalten. Sein Blick flackerte zu mir herüber. Einen winzigen Augenblick lang sah ich Geoffry Abel Waringer, den sanften freundlichen Wissenschaftler, an der Klippe hängen, in den Augen ein stummer Hilfeschrei – dann flammte in dem Blick der Wahnsinn wieder auf. Geoff ließ los und stürzte ab. Mein Brustkorb hob und senkte sich in heftigen Bewegungen. Ich schob mich an der Wand entlang, sah kaum noch, wohin ich trat. Ich erreichte die Öffnung, taumelte hinein. Als ich vornüberkippte, landete ich mit dem Gesicht in feuchtem kühlen Gras. Ein erfrischender Wind blies über meinen schweißnassen Körper hinweg, trug Blütenduft an meine Nase. Ich zuckte am ganzen Körper. Wie nahe war ich dem Wahnsinn in den letzten Augenblicken gewesen? Ich wußte es nicht mehr. Ich drehte mich auf den Rücken, atmete tief durch und versuchte, wieder zur Besinnung zu kommen.
Langsam begann ich zu begreifen, was geschehen war, auch wenn ich die tatsächlichen Zusammenhänge niemals würde ausloten können. Wieder einmal hatte SENECA mich in eine der Schreckenskammern seiner Psyche geführt. Welches der Bestandteile dieser Szene SENECAS Probleme hatte verkörpern müssen, ob Geoff, ich oder die gräßlichen Requisiten, konnte ich nicht ermessen. Aber ich verstand, daß auch die Biopositronik in den letzten zweihundert Jahren des öfteren auf dem schmalen Grat gewandert war, der Vernunft und Wissen vom Wahnsinn trennte. Möglich, daß jeder von uns einen Teil dieses Problems hatte transportieren müssen – es war in jedem Fall schrecklich gewesen. Ich richtete mich auf, kam auf die Knie. Über mir stand die Sonne am Himmel. Vor mir erstreckte sich eine weite Grasebene, ein Meer von Blüten und Düften. Vor ein paar Minuten hätte ich bei diesem Anblick noch vermutet, daß nach der historischen und der Horror‐Abteilung nun die Heimatfilm‐Redaktion die Leitung übernommen hatte. Aber dieser Spott war mir nun vergangen. Eines war mir klargeworden. Ich war nicht der wesentliche Faktor dieses Spiels. Ich diente lediglich als eine Art Katalysator. Was ich an seelischen Erschütterungen miterlebte, war nur das Oberflächengekräusel des Sturmes, der in den Tiefen von SENECAS Seele tobte – und dieses Bild gab mir eine ungefähre Vorstellung von den inneren Qualen, die das empfindliche Plasma hatte erleben müssen und in diesen Augenblicken der seelischen Selbstreinigung erneut erlebte. Ich wußte nicht, was mir noch bevorstand. Ich wagte auch nicht, es mir auszumalen. Mir genügte das, was ich bereits erlebt hatte, vollauf. Und wenn SENECA ein wenig Verständnis für mich aufbrachte, dann würde er mir jetzt eine kleine Ruhepause gönnen. Ich rollte mich zusammen und schlief ein.
9. Die SOL kehrte in den Normalraum zurück. Sie hatte einen raschen Linearsprung von ein paar tausend Lichtjahren hinter sich gebracht. »Keine Ortung«, meldete Curie van Herling Sekunden nach dem Wiedereintritt. »Na also«, sagte Breckcrown Hayes zufrieden. »Jetzt können wir uns wohl eine Pause gönnen.« »Was denn? Du?« Hayes quittierte Lyta Kundurans leisen Spott mit einem Lächeln. »Auch ein High Sideryt muß ab und zu essen«, bemerkte er. »Ich habe Hunger.« Er nahm von einem Robot einen Datenstreifen entgegen und überflog die Nachricht. »Es ist gut«, sagte er zu dem Robot. »Kehrt an euren Standort zurück!« »Gute oder schlechte Nachricht?« fragte Gavro Yaal. »Genaugenommen gar keine«, sagte Hayes, während er langsam zu seiner Klause hinüberschritt. »Ich habe Robotwachen dort postiert, wo Atlan in SENECAS Schirmbereich eingedrungen ist. Dort gibt es keine Veränderungen.« »Atlan fingert also immer noch an SENECAS Innenleben herum?« »Ich glaube kaum, daß SENECA so etwas zulassen würde«, meinte Hayes. Er trat vor einen der Service‐Automaten und bestellte sich eine Mahlzeit. Gavro Yaal konnte mit einem leisen Lächeln registrieren, daß der High Sideryt bei der Nahrungsaufnahme sehr anspruchsvoll war. Was das betraf, war er von hoher Effizienz – aus einem Minimum an Nahrung holte er erstaunliche Mengen Energie und Durchsetzungsvermögen heraus. Gavro Yaals Bestellung war nicht ganz so frugal. »Was tut Atlan?« fragte Yaal.
»Ich weiß es nicht«, mußte der High Sideryt antworten. »SENECA hat ihn um Mithilfe bei einem Experiment gebeten – und Atlan hat sich dazu bereit erklärt. Was sich im einzelnen abspielt, weiß ich nicht.« »Und? Geschieht irgend etwas? Sind an SENECA Veränderungen festzustellen?« »Vorläufig nicht. Unser Kontakt mit SENECA hat offenbar mit Atlans Wirken keinerlei Zusammenhang. Allerdings sind bei mir aus allen Teilen des Schiffes Nachrichten eingetroffen, die insgesamt das Bild ergeben, daß SENECA uns an Kapazität gerade das zur Verfügung stellt, was dringend gebraucht wird. Den Rest scheint er für seine inneren Probleme zu brauchen.« Gavro Yaal kannte SENECA, und er vermochte sich vorzustellen, was es bedeutete, wenn eine Positronik dieser Leistungsfähigkeit an nur einem Problem arbeitete. »Willst du deswegen jedem Kampf ausweichen?« »Es ist ein Grund, wenn auch nicht der wichtigste.« Die beiden Männer verzehrten schweigend ihre Mahlzeit. Während Hayes sich noch einen Kaffee bestellte, kam Curie van Herling in den Raum gestürzt. »Sie sind wieder da!« »Die Geister‐SOL?« Das leise Zittern, das im nächsten Augenblick durch das ganze Schiff ging, beantwortete die Frage des High Sideryt. Und es zeigte ihm deutlich an, daß die Geister‐SOL jetzt aufs Ganze ging. * Meine Kleider hingen in Fetzen herunter. Mein Körper war mit blauen Flecken und Schrammen bedeckt. Ich war völlig erschöpft. Das grausame Spiel war weitergegangen. Immer neue Gestalten aus der Vergangenheit der SOL hatten
meinen Weg gekreuzt, und mit jedem hatte ich nach SENECAS Willen kämpfen müssen. Senco Ahrat war aufgetaucht, und ich hatte ihn getötet. Lord Zwiebus hatte unter meinen Händen sterben müssen. Toronar Kasom, Mentro Kosum – immer wieder Kämpfe und Töten. Ich wußte, daß ich das Spiel nicht mehr lange würde durchstehen können. Jedes Mittel, daß ich versuchsweise eingesetzt hatte, um mich selbst zu beruhigen, den gräßlichen Ereignissen die Schärfe zu nehmen, hatte letztlich versagt. Die Zweifel waren immer stärker geworden. Nicht einen Augenblick hatte ich wirklich geglaubt, einen meiner alten Freunde getötet zu haben – aber der Schmerz in den Augenblicken des Kampfes war so echt gewesen wie bei einem wirklichen Streit. Körperlich mochte ich noch einigermaßen beieinandersein, psychisch war ich es nicht. Ich taumelte durch einen Dschungel, ein dichtes Filzwerk aus Ranken und Lianen, Blüten und Blättern. Es war entsetzlich schwül, der Schweiß lief mir in dicken Tropfen über das Gesicht, sammelte sich auf der Haut. Er brannte in den zahlreichen kleinen Wunden, die ich davongetragen hatte. Obendrein litt ich an Durst. Es war absurd, in dieser schwülen Hölle Durst zu haben, aber ich hatte kein Trinkwasser finden können. Mein Gedächtnis hatte mir gesagt, daß all die Pflanzen ringsum literweise Wasser enthielten, aber die grünliche Brühe, die ich daraus hätte gewinnen können, schmeckte so entsetzlich, daß ich nach dem ersten Probeschluck auf weitere Experimente verzichtet hatte. SENECA wollte offenbar, daß ich dürstete, und dann ließ sich nichts dagegen machen. Der Dschungel platzte schier vor Leben. Überall schwirrten Vögel herum, kreischten mich an, während es im Unterholz knisterte und knackte. Ich sah Raubtiere, seltsam exotische Geschöpfe, die an mir vorbeischlichen, ohne mich zu beachten. Von den Ästen baumelten Schlangen herunter, aber keine machte Anstalten, nach mir zu
schnappen. Ich zog den Fuß aus dem Morast und bewegte mich nach vorne. Irgendwo in der Nähe sollte es doch eigentlich eine größere Wasseransammlung geben – anders konnte ich mir den Schlamm nicht erklären, durch den ich zu waten hatte. Es kostete Kraft und vor allem Geduld, sich Schritt für Schritt durch dieses Illusionsland einen Weg zu bahnen. Meine Bewaffnung war reichhaltiger geworden – ich besaß ein Hackmesser, mit dem ich mir den Weg freischlagen konnte. Einmal mehr staunte ich über die inneren Sinnlosigkeiten dieser Illusionswelt – was hatte SENECA davon, mich durch den Dschungel zu schicken. Tat es eine Wiese nicht auch? Bis an die Knie sank ich in den zähen Schlamm ein. In den Löchern, die ich dabei hinterließ, stieg Wasser auf, klares Wasser, wie es schien. Es gab in der Nähe einen Fluß, einen See oder etwas Ähnliches. Ich marschierte weiter, und was mir fast mehr als die körperlichen Strapazen zusetzte, war der Gedanke, daß ich den Sinn dieser Manöver nicht begriff. Ich war nur ein Spielzeug in dieser Phantasielandschaft, mehr nicht. Wenn es SENECA gefiel, wurde ich aus dem Spiel genommen, ob ich wollte oder nicht. Die Freiheit zu eigenen Entscheidungen hatte ich nur noch in sehr begrenztem Maß. Nach meinem Zeitgefühl waren Ewigkeiten vergangen, seit ich zu diesem Unternehmen aufgebrochen war. In all dieser Zeit waren mir nur Haß und Bösartigkeit entgegengeschlagen, Niedertracht und Schurkerei. Die wenigen Figuren, die nicht zu den Hauptpersonen des Spiels gehörten, waren von so entsetzlicher Beschränktheit, daß der Umgang mit ihnen schlimmer gewesen war als die Einsamkeit. Ich hörte es plätschern. Als ich die nächsten Lianen durchschlug, die Äste zur Seite schob, konnte ich die Wasserfläche sehen. Ein See, nicht eben groß, aber sauber und klar. Kühles, frisches
Wasser. Ich watete weiter, schöpfte von dem Wasser und trank mich daran satt. Es war eine Wohltat. Ein urweltliches Grollen riß mich aus der idyllischen Stimmung. Ich sah hoch. Ich hatte es nicht anders erwartet – da waren sie. Diese Geschöpfe ließen sich nicht maskieren, dazu waren sie zu einzigartig. Icho Tolot, der Haluter, und Paladin‐IV, der Roboter, der nach dem Modell eines Haluters entworfen worden war. Sie standen am jenseitigen Ufer, stießen fürchterliche Schreie aus und marschierten schnurgerade auf mich zu. Unter normalen Umständen wäre ich rettungslos verloren gewesen. Icho Tolot allein wäre niemals zu besiegen gewesen, noch viel weniger der Paladin‐Robot. Aber ich hatte feststellen müssen, daß die Projektionen, die SENECA mir in den Weg stellte, von Mal zu Mal schwächer ausgefallen waren. Die Maskierung war weniger auffällig gewesen, die Schwierigkeiten, die Gegner zu besiegen, waren von Mal zu Mal geringer gewesen. Hier lag der Fall nicht anders. In einem schnellen Sturmlauf hätte der echte Icho Tolot den See im Handumdrehen durchquert und mich erreicht. So stapfte er mühselig voran, und der Paladin tat es ihm gleich. Ich war es leid, dieses Spiel mitzuspielen. Fast spürte ich Lust, mich einfach zu ergeben und abzuwarten, was mit mir geschah. »Komm her, Arkon‐Häuptling, damit wir dich vernichten können!« Sprüche dieser Art kannte ich inzwischen zur Genüge. Der Ausdruck Arkon‐Häuptling war in den Gründungsjahren des Solaren Imperiums einmal ein Zeichen für gutmütigen Spott gewesen. Inzwischen war der Scherz schal geworden, so abgeschmackt, daß er mich anwiderte. Und das war vermutlich die
Absicht – man machte sich nicht einmal die Mühe, einen anderen Spottausdruck zu erfinden. Auch das gehörte zum Spiel der Demütigung, das in der Illusionswelt unausgesetzt mit mir getrieben wurde. »Laßt mich in Ruhe«, rief ich zurück. Sie dachten nicht daran. Ich sah sie heranschwanken, zwei riesige Gestalten, die einmal ein Inbegriff für körperliche Kraft und technische Vollkommenheit gewesen waren. Jetzt schwankten sie wie betrunkene Greise, mußten sich gegenseitig stützen, um nicht einfach umzusinken. Es waren lächerliche Gestalten, ein Spottbild. Aber vermutlich reichte das bißchen Kraft in ihnen noch dazu aus, mich zu vernichten. Wieder mußte ich mich meiner Haut wehren. Die kurze Rast hatte mir gutgetan. Ich spürte, daß ich genügend Kraft hatte, den Kampf bestehen zu können. Nur an der Lust fehlte es mir. Dieses makabre Schauspiel war nicht im mindesten originell, ich hatte es bereits etliche Male in der letzten Zeit durchstehen müssen. Die Beschimpfungen gehörten dazu, die Boshaftigkeiten. Die lächerlichen Schattenkämpfe gehörten dazu mit ihrem nicht minder grotesken Ende. Ich hätte mich schon reichlich blöde anstellen müssen, um diesen Kampf zu verlieren. In gewisser Weise war es die konsequente Fortführung des Tellerspiels in dem Gasthaus. Die ständige Wiederholung stumpfte ab, ermüdete, zerrüttete allmählich den Geist. Ich kam mir vor wie ein Soldat, der von Schlachtfeld zu Schlachtfeld gehetzt wurde, kämpfte und tötete und dabei längst vergessen hatte, für wen oder was er eigentlich kämpfte. Es wurde gekämpft, weil gekämpft wurde, so pervers war das Denkschema geworden. Die eine Seite trug Waffen, weil die anderen auch welche hatten, und die waren nur bis an die Zähne gerüstet, weil sie unsere Waffen fürchteten – und dazu war dieser Ringelreihen des Wahnsinns so tief eingegraben in den Boden der Gedanken, daß die
Oberfläche längst nicht mehr zu sehen war. Nur immer ringsherum im Todestanz, weiter und weiter, nicht nachdenken, denn sonst begreifst du, daß du längst teilnimmst an diesem Wahnsinn, daß du nicht mehr heraus kannst, weil du sonst begreifen müßtest, was für ein Narr du gewesen bist … Nirgendwo ein Sinn für dies alles, kein einziger Grund, der einer Prüfung durch die Vernunft standgehalten hätte … Nur ein Gedanke hielt mich noch aufrecht – das Bewußtsein, daß diese Tretmühle des Grauens irgendwann ein Ende haben mußte. Mußte? Ich wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Wenn das makabre Schauspiel tatsächlich so weiterging, wenn es mir niemals gelang, ein Ende oder gar ein Ziel zu erreichen … wenn es so blieb … immer weiterlief …? Ich lehnte mich an den Stumpf eines Baumes, der von einem Sturmwind oder einfach aus Altersschwäche hinabgestürzt war in das Wasser des Sees. Die beiden Kolosse kamen näher, unsicher, schwankend, Giganten, die so schwach waren, daß sie über Zwirnsfäden gestolpert wären. War das die Lösung in diesem Kampf? Ich schwamm den beiden entgegen, die bis an die Brust im Wasser standen. Wieder stießen beide das gleiche urweltliche Brüllen aus, das einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte. Für einen winzigen Augenblick stieg eine Erinnerung in mir auf – an jenen Augenblick in fernster Vergangenheit, in dem ich zum ersten Mal mit einem Haluter zusammengestoßen war. Das war noch zu Zeiten des alten Arkon‐Imperiums gewesen. Danach hatte ich Jahrzehntausendelang nichts mehr von diesen lebenden Kampfmaschinen gehört, bis zu jenem Tag, an dem Icho Tolot sich unserer Suche nach einem Weg zur Andromeda‐Galaxis anschloß. Es war derselbe Icho Tolot, der jetzt laut verkündete, daß er mich zermalmen werde. Die riesigen Handlungsarme wedelten herausfordernd durch die Luft, peitschten das Wasser auf und
verrieten mir, daß der Rest an Kraft, der den beiden geblieben war, für den Zweck, mich zu töten, noch völlig ausreichend war. Ich mußte auf der Hut sein. »He! Sucht ihr mich?« Mit meinem Beinschlag preßte ich mich in die Höhe, winkte den beiden herausfordernd zu. Ein Wutgebrüll war die Folge. Danach tauchte ich, und als ich wieder hochkam, durchbrach mein Kopf die Wasseroberfläche genau zwischen den beiden Kolossen. »Heda, ihr Feiglinge!« Sie waren längst nicht so reaktionsschnell wie früher. Damals hätte ich keine Chance gehabt. Jetzt aber fuhren sie fast zeitlupenhaft langsam herum, holten aus und schlugen nach mir. Ich aber war längst getaucht, und aus dem Donnern und Krachen über meinem Kopf schloß ich, daß mein Plan gelungen war – sie hatten sich gegenseitig die Fäuste gegen die massigen Leiber gedroschen. Ich tauchte ein paar Schritte weiter entfernt wieder auf und besah mir die Szene. Es war lächerlich, ein besseres Wort fiel mir nicht ein – zwei kolossale Hampelmänner, die sich mit Fäusten traktierten. »Wer von euch beiden hat denn das Recht, mich zu töten?« schrie ich, um den Streit weiter anzuheizen. »Ich!« »Nein, ich!« Und schon droschen sie wieder auf sich ein. In diesem Kampf hatte der Paladin‐IV die besseren Trümpfe. Tolot mußte furchtbare Treffer einstecken und stürzte schließlich. »Bravo!« schrie ich. Ich mußte heraus aus dem Wasser. Hier gab es keine Verstecke, in denen ich ein wenig verschnaufen konnte. Zudem rappelte sich Tolot gerade wieder auf; lange hatte seine Betäubung nicht angehalten.
Paladin stapfte auf mich zu. Ich griff zu meinem Dolch. Ich war gespannt, bis zu welchem Grad der Lächerlichkeit dieses Spiel getrieben werden sollte. Ich tauchte geschmeidig an einem Baumstumpf vorbei und nahm den Dolch in die Rechte. Im Vorbeigehen stieß ich mit aller Kraft zu und traf Paladin ins Knie. Dem Superrobot mit solchem Spielzeug zu Leibe zurücken, wäre unter normalen Umständen absurd gewesen, aber diesmal spürte ich, wie die Klinge in die Panzerung eindrang. Als mein Kopf wieder über der Oberfläche erschien, hörte ich Paladins Wutgebrüll. »Ich kann mein Bein nicht mehr bewegen!« schrie der riesenhafte Spezialroboter. Daß Paladin über Bordwaffen verfügte, schien in Vergessenheit geraten zu sein. Der Robot blieb einfach stehen und gestikulierte herum. Tolot näherte sich mir wutschnaubend. Er hatte seinen Metabolismus gewandelt – was da auf mich zugeschwommen kam, war eine einzige kompakte Panzermasse und damit hochbedrohlich. Ich tauchte weg. In dem klaren Wasser konnte ich den Paladin sehen. Er war am Bein schwer beschädigt, und er war ein Stück in den Boden eingesunken. Auf der anderen Seite sah ich Tolot heranschwimmen. Ich machte zwei kräftige Schwimmbewegungen, dann hatte ich Paladin unter Wasser erreicht. Ich tauchte durch seine Beine durch und stieß mich daran ab. Dann wurde es höchste Zeit für mich, wieder Atem zu holen. Ich tauchte auf. Ich kam gerade noch zurecht, um den schmetternden Schlag zu hören, mit dem der strukturverwandelte Tolot auf den Rumpf des Paladins aufprallte. Paladin schwankte, kippte nach vorn. Ich schwamm hastig weiter, und nur einen halben Meter neben meinem Kopf klatschte die geballte Faust des Robots ins Wasser, als er vornüberkippte.
Ich schwamm so schnell wie möglich zum Ufer. Tolot war mit seinem Schädel tief in den Rumpf des Paladins eingedrungen, und nun stak er darin fest und kam nicht mehr heraus. Beider Schicksal war damit besiegelt. Ich hatte auch diesen Kampf gewonnen, scheinbar mühelos. Von Paladin war jetzt nur noch eine Ferse zu sehen, die aus dem Wasser ragte. Ich sah, wie sich dort die kleine Schleuse öffnete, durch die die Bedienungsmannschaft des Paladins ihr seltsames Kampfgerät bestieg. Es gab – dank SENECAS Regie ‐plötzlich eine Strömung in dem Wasser, und jetzt sah ich auch, einen halben Kilometer entfernt, die weiß‐schäumende Kaskade eines Wasserfalls. »Atlan! Hilf uns!« Das Jammergeschrei der Siganesen drang an mein Ohr. Ich preßte die Kiefer zusammen. Was nutzte es, wenn ich hinüberschwamm – und die Siganesen aus dem langsam abdriftenden Wrack rettete – anschließend wären sie über mich hergefallen, und ich hätte auch sie töten müssen. Gegen dieses unentwegte Töten gab es in SENECAS Programm kein Mittel – es mußte gestorben werden, eine andere Lösung kannte SENECA nicht mehr. »Hilf uns, Freund!« Stammte das Wasser, das mir übers Gesicht lief, aus den nassen Haaren, oder waren es Tränen? Ich wußte es nicht mehr. Ich war ausgepumpt und unsagbar müde. Ich sah, wie einer der Siganesen aus der Schleuse sprang, zu schwimmen vesuchte und blitzschnell abgetrieben wurde. Ich sah, daß der See oder Fluß plötzlich von gefräßigen Fischen wimmelte, aber es interessierte mich nicht. Es war SENECAS Programm, was hier ablief, nicht meines. Ich hatte auf den Verlauf der Handlung nur den einen Einfluß – ich mußte jedem, der ein erkennbares Gesicht aufzuweisen hatte, den Tod bringen.
»Ich hasse dich, SENECA!« 10. Buntgefiederte Vögel kreischten und schnatterten, Affen turnten durch die Äste, purzelten durcheinander und fraßen von den zahlreichen Früchten des Waldes. Hinter mir lag die Paladin‐Episode, was vor mir lag, ahnte ich nicht. Ich marschierte den Weg entlang, den SENECA mir vorschrieb, ein fast willenloses Werkzeug in den Händen der Positronik. Ziellos wanderte ich durch die Illusionswelt, nur noch von dem einen Wunsch beseelt, dem allen ein Ende zu machen. Der Zellaktivator war in der Lage, meine Körperkräfte schnell zu regenerieren, zumal wenn das Nahrungsangebot so reichhaltig war wie in diesem Landstrich, in dem einem die Früchte tatsächlich ins Maul zu wachsen schienen. Was der Zellaktivator nicht konnte, war seelische Ermüdungszustände abzubauen. Seit ich SENECAS Illusionswelt betreten hatte, hatte ich nicht mehr lachen können, ich hatte keinen Traum gehabt in den Stunden, in denen ich geschlafen hatte. Stets waren meine Nerven bis zum äußersten angespannt gewesen. Ein Wechselbad des Schreckens hatte ich durchlebt – Angst, Furcht, Verzweiflung, Ekel, Wut und Haß, aber kein einziges angenehmes Gefühl. Dieser Dauerbelastung war niemand längere Zeit gewachsen, auch ich nicht. Auch die Erinnerung an frühere Freunde half da nichts – stets tauchten in diesen Erinnerungen fotografisch getreu die Gesichter der Freunde auf, die damals mein Leben bereichert hatten und nun in der Illusionswelt erschlagen dalagen, getötet von meiner Hand. Stets lieferte die Erinnerung mit quälender Exaktheit zu den angenehmen Dingen die Szenen, in denen ich mit den Freunden
gekämpft hatte. Ich hatte aufgehört, mich zu erinnern. In gewisser Weise hatte ich keine Vergangenheit mehr, und die Zukunft sah trostlos aus, denn das schreckliche Spiel mußte weitergehen. Irgendwann – ich wußte es ganz genau – würde das Spiel seinen Höhepunkt erreichen. Dann würde ich Perry Rhodan töten müssen. Die ganze Anlage dieses Schreckensszenarios schrie nach diesem Ende, eine andere Lösung schien mir undenkbar. Ich sah nach oben. Durch das dichte Blätterdach schimmerte die Kunstsonne. »Mach ein Ende, SENECA!« rief ich. Kein einziges Mal hatte sich SENECA bei mir gemeldet. Ich tappte in seinem Innenleben herum, aber ich bekam nicht die geringste Rückmeldung über das, was ich getan hatte. Ich konnte nicht einmal sicher sein, ob SENECA tatsächlich einen Vorteil davon hatte. War die zunehmende Schwäche und Hilflosigkeit meiner Gegner ein Zeichen dafür, daß sich SENECAS Probleme verminderten – oder bedeutete es, daß seine innere Widerstandskraft abnahm? War ich am Ende sogar damit beschäftigt, SENECAS letzte innere Hemmschwelle abzubauen? Vielleicht wurde die Biopositronik nur von der Erinnerung an die Vorbilder ihrer ersten Jahre daran gehindert, vollends verrückt zu werden, größenwahnsinnig, machtgierig, was auch immer. Wenn dies zutraf, hatte ich die SOL und ihre Besatzung einem Zwingherren ausgeliefert, der den alten Robotregenten von Arkon um ein Vielfaches übertraf. Müßige Spekulation, kommentierte das Extrahirn. Es war in der Tat müßig, darüber nachzudenken, denn fast alle Entscheidungsmöglichkeiten waren mir von SENECA aus der Hand genommen worden. Ich hatte nicht einmal mehr die Möglichkeit, dem Spiel ein Ende zu machen – SENECA ließ das einfach nicht zu. Ich mußte weitermachen, bis ich entweder aufgab und von einem
der Phantasiegebilde erschlagen wurde oder aber SENECA zufrieden war. »Also weiter«, murmelte ich. Eine Hoffnung blieb mir – der Personalbestand für SENECAS Projektionen war stark geschrumpft. Sehr viele Personen von Bedeutung blieben nicht mehr übrig, es sei denn, SENECA griff auf das Reservoir von Leuten wie Galto Quohlfart zurück. Dann allerdings würde ich noch viel zu tun bekommen – es reichte für Jahre. Wieviel Zeit war vergangen, seit ich den Schutzschirm durchschritten hatte? Wochen? Jahre? Nicht einmal der Logiksektor konnte auf diese Frage eine brauchbare Antwort liefern. In sanften Windungen führte der Pfad durch den Wald, und nach jeder Biegung öffnete sich der Blick für weitere Naturzauber. Teiche, in denen Fische sprangen, ein kleiner Wasserfall, ein besonders schön gewachsener Baum, ein Fels, über den ein Schleier goldfarbener Blüten herabrieselte – mich stimmte das Idyll mißtrauisch. Ich war daher auch nicht erstaunt, als der Weg abrupt endete. Eine Mauer stellte sich mir in den Weg. Ein zyklopisches Bauwerk, aus riesigen Quadern aufgeschichtet, vom Urwald grünbraun überkrustet. Es gab ein Tor, ein schmiedeeisernes Gatter. Auf den Flügeln entdeckte ich wieder die stilisierte Zeichnung der SOL. Durch die Stäbe des Gitters spähend, entdeckte ich einen verlassenen Park. Herbststimmung lag darüber, der Wind trieb abgefallene Blätter vor sich her, die Bäume standen kahl. Zwischen den Ästen schimmerte das Gemäuer eines Bauwerks durch – weiße Säulen waren zu erkennen. »Das Ende der Reise?« fragte ich, ohne auf Antwort zu hoffen. Dem Druck meiner Hand gab das Tor geräuschlos nach. Die Flügel schwangen nach innen. Der Weg war frei. Es war bedrückend still. Kein Laut war zu hören außer dem leisen Rascheln des windbewegten Laubes.
Kies knirschte unter meinen Fü ßen, als ich dem Weg folgte, der sich durch den Park schlängelte. Statuen waren darin zu finden. Es waren die Abbilder der Menschen, die ich in SENECAS Illusionswelt gesehen hatte. Die Gesichter waren leer und ausdruckslos. Ich kam mir vor wie auf einem Friedhof. Ich ließ mir Zeit. Dies war hoffentlich die letzte Etappe der Wanderung. Die Symbole sprachen für diese Theorie. Ein leichter Moderduft lag über dem Park, dazu kam die Grabesstille. War dies der letzte Bezirk seines Unbewußten, den SENECA für mich öffnete? Endlich konnte ich das Bauwerk zur Gänze sehen. Ein runder Tempel im klassischen Stil. Ein Kranz schlanker Säulen trug ein schlichtes Kreisgewölbe. Der Innenraum war kreisförmig aus weißem Marmor errichtet worden. Die Öffnung war zu sehen. Eine Gestalt tauchte darin auf, ganz in Schwarz gekleidet. Sehr langsam, fast schleppend kam die Gestalt näher. Perry Rhodan? Es sah nicht danach aus. Ich kannte die Art, in der Rhodan zu gehen pflegte; diese Gestalt bewegte sich anders. Es war das Extrahirn, das mir den entscheidenden Hinweis gab. Alaska Saedelaere, der Mann mit der Maske, die er niemals abnehmen durfte, weil der Anblick des Cappin‐Fragments in seinem Gesicht jeden Betrachter unweigerlich auf der Stelle wahnsinnig werden ließ. Besser hätte SENECA seine Probleme kaum in einer Person zusammengießen können. Ich schauderte. Ich dachte in diesem Augenblick nicht an die Lebensfreude, den Humor, den Alaska ebenfalls besessen hatte. Ich ahnte nur etwas von der grenzenlosen inneren Einsamkeit dieses Mannes.
Es war ein Mensch, einer von uns – und doch durch das Cappin‐ Fragment immer ein Ausgestoßener. Eine gewisse Distanz – auch von ihm gewollt – ließ sich nie überbrücken. War das SENECAS Traum? Einer von uns zu sein, ein Mitglied der Lebensgemeinschaft der Solaner, nicht nur ihr Werkzeug und Gehilfe? Alaska kam näher. Seine Bewegungen waren träge, fast kraftlos. Die Maske, die er trug, war weiß – und in SENECAS Innensprache war Weiß keine Farbe der Freude. Ich blieb vor Alaska stehen. Er sah mich an, aus traurigen Augen, in denen sich eine Welt des Schmerzes ausdrückte. Ich hob die Hand, um ihn zu begrüßen, aber er reagierte nicht. Statt dessen … »Nein!« schrie ich. Unendlich langsam bewegten sich seine Hände vom Gürtel hinauf. Ich wußte, was nun kommen mußte. Er wollte die Maske abnehmen. »Halt ein, Alaska!« Ich versuchte nach seinen Händen zu greifen, sie festzuhalten. Ich hatte keine Lust mehr, diesen Wahnsinn weiterzutreiben. Es war genug, mehr, als ein Mensch ertragen konnte. So langsam die Bewegung auch war, ich konnte sie nicht aufhalten. Mit unwiderstehlicher Kraft bewegten sich die Arme in die Höhe. Ich trat einen Schritt zurück. »Diesmal nicht, SENECA!« rief ich. Weiter bewegten sich Alaskas Hände. Sie hatten die Höhe des Brustkorbes erreicht, und noch immer sahen mich die trauervollen Augen an. Half es, einfach die Augen zu schließen oder weiterzugehen? Hastig bewegte ich mich an Alaska vorbei, aber eine Kraft, gegen die ich mich nicht zu wehren vermochte, hielt mich wie gebannt fest. Ob ich wollte oder nicht, ich mußte den Kopf wenden, Alaska
ansehen. Er hatte die Hände bis an den Hals gehoben. Unbändiger Haß brandete in mir auf. Nichts ließ SENECA aus, er ersparte mir keine Qual, so schlimm sie auch sein mochte. Ich konnte Alaska nicht töten – aber ich haßte SENECA in diesem Augenblick mit aller Kraft meiner Seele, und es gelang mir, diesen Haß auf SENECAS Geschöpf zu übertragen. Ich benutzte den Dolch. Einen Augenblick lang blieb Alaska Saedelaere stehen, dann fiel er hintenüber und blieb liegen. Die Maske wehte davon und zeigte darunter ein höhnisches Gesicht. Ich konnte den Anblick nicht länger ertragen, wandte mich ab. Der Tempel. Eine einzige Aufgabe noch, dann war es vollbracht. Ich taumelte auf das Gebäude zu, stolperte die Marmorstufen hinauf. Ich trat über die Schwelle. Feierliches Halbdunkel umfing mich. Da war er, wie ich es erwartet hatte. Perry Rhodan. Er stand mitten in der Tempelhalle, und er bewegte sich keinen Millimeter, nur die Augen hatten Leben. Sie sahen mich an, freundlich, warmherzig. Dies war der Augenblick der Entscheidung. Ich hatte die Hand am Griff des Schwertes. Ein Stoß, und der Fall war erledigt. Ich konnte es nicht. Es war nicht Unfähigkeit, die mich erfüllte. Ich spürte, wie sich in mir der Wille aufbäumte und keine andere Möglichkeit zuließ. Nein, ich würde dieses Spiel nicht so weit treiben. Ich legte der Gestalt die Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich starr an, kalt und leblos. Aber die Augen sahen mich an. Ein paar Sekunden lang schwankte ich. Bisher war alles so folgerichtig gewesen – im nachhinein
jedenfalls. Ich hatte für viele der Absonderlichkeiten Erklärungen gefunden, psychologische Ausdeutungen, die SENECAS und mein Handeln sinnvoll interpretieren konnten. Jetzt war der Punkt erreicht, an dem diese Laien‐Psychologie zusammenbrach. Ich fand keine Pseudo‐Logik mehr, mit der ich eine solche Tat auch nur annähernd hätte erklären oder gar rechtfertigen können. Meine Verstandeskräfte hatten den Punkt erreicht, an dem es nicht mehr weiterging. Ich hatte für mein Handeln nur noch einen Träger, mein Gefühl, und darauf verließ ich mich. Ich wandte mich zum Gehen. »Töte ihn!« Gewaltig hallte die Stimme durch den Raum. Zum ersten Mal machte sich SENECA bemerkbar. »Nein!« schrie ich außer mir vor Wut, Erschöpfung und Verzweiflung. »Niemals!« »Töte ihn!« »Das werde ich nicht tun«, schrie ich. »Niemals, unter keinen Umständen. Ich habe dieses Spiel satt. Ich habe genug von deinen Problemen, endgültig genug. Hörst du? Ich war bereit, dir zu helfen, aber nicht um diesen Preis. Genug, SENECA, unwiderruflich: genug!« »Töte Rhodan!« Noch gewaltiger brandete die Stimme durch den Raum. Ich schüttelte mich. »Nein«, sagte ich. »Das Spiel ist aus. Ich mache nicht mehr mit. Was willst du noch, SENECA? Ist in diesem Spiel nicht schon genug Blut geflossen, sind nicht genug Wesen gestorben? Brauchst du unbedingt noch einen Toten? Das kannst du haben!« Ich zog das Schwert. *
Breckcrown Hayes zwinkerte einen Augenblick lang, dann war er hellwach. Gavro Yaal stand neben seinem Bett und rüttelte ihn. »Was gibt es?« fragte Hayes und richtete sich auf. »Kontakt zu Atlan«, rief Gavro Yaal aufgeregt. »Er hat sich per Funk gemeldet und ist nun auf dem Weg in die Zentrale.« »Endlich«, stieß Hayes erleichtert hervor. »Es hat lange genug gedauert.« Er zog sich rasch an. Als er damit fertig war und die Zentrale aufsuchte, kam er gerade recht, um Atlan eintreten zu sehen. Der Arkonide sah völlig erschöpft aus, aber das Grinsen in seinem Gesicht ließ Hayes erleichtert aufatmen. »Du hast uns arg in Atem gehalten«, sagte Hayes und umarmte den Arkoniden. »Brauchst du irgend etwas?« »Jetzt brauche ich einen Superstarken Kaffee«, sagte Atlan und ließ sich auf dem nächstbesten Sessel nieder. Er hatte zerfetzte Kleidung an, und sein Körper war von Schrammen und blauen Flecken bedeckt. »Dann werde ich euch berichten.« »Ruft einen Medo‐Robot, er soll ihn verarzten«, bestimmte Hayes. Atlan kicherte. »Drehen wir das Spiel jetzt um?« fragte er mit leisem Spott. »Nun gut, schaden kann es nicht. Und ruft meine Leute in SOL‐City. Ich habe keine Lust, diese Geschichte öfter als einmal zu erzählen.« »Sie sind bereits unterwegs«, sagte Hayes. Ein Robot tauchte auf und brachte den Kaffee. Wenig später erschien Atlans Team in der Zentrale der SOL, und über Interkom wurden die Zentralebesatzungen der SZ‐1 und der SZ‐2 dazugeschaltet. Langsam und bedächtig nahm Atlan einige Schlucke, dann begann er zu berichten. Er faßte sich sehr kurz, erzählte nur das Wesentliche, aber jeder in der Zentrale ahnte und konnte an seinem Gesicht ablesen, was sich in Wirklichkeit abgespielt hatte.
»Ich war restlos fertig«, sagte Atlan am Ende seines Berichts. »Ich hatte beim besten Willen nichts mehr zuzusetzen. Als ich das Schwert hob, verschwand der ganze Spuk, als hätte es ihn nie gegeben. Ich fand mich in der Halle wieder, die ich ursprünglich betreten hatte. Der Weg nach draußen war frei, und vor der Tür warteten bereits deine Roboter. Und hier bin ich nun.« »Du hast die Rhodan‐Projektion nicht getötet?« »Nein«, sagte Atlan. »Wenn es ein Fehler war, dann stehe ich dazu – ich konnte es nicht.« Schweigen breitete sich aus. Niemand wagte es, dem Arkoniden einen Vorwurf zu machen – aber einige zeigten deutlich, daß sie an seiner Stelle nicht anders gehandelt hätten. »Wenn diese Radikaltherapie nicht gewirkt hat, dann werden wir künftig mit einem nach wie vor gestörten SENECA auskommen müssen«, sagte Atlan. »Das wäre schade, aber für mich ist es nicht zu ändern.« Brooklyn meldete sich zu Wort. »Berichte ihm von der Geister‐SOL«, forderte sie Hayes auf. Der High Sideryt setzte Atlan kurz ins Bild. »Wir wissen nicht, was es mit diesem Ding auf sich hat. Da ich nicht wissen konnte, was du mit SENECA unternimmst, habe ich veranlaßt, daß wir uns verstecken.« »Wo sind wir jetzt?« »Am Nordrand von Flatterfeld. Wir waren schon einmal in diesem Raumbezirk.« »Ich erinnere mich«, sagte Atlan. »Nun, es gibt ein Mittel, die Wahrheit herauszufinden. Ich rufe SENECA!« »Ich höre!« klang es aus den Lautsprechern. »Kannst du einen Zustandsbericht abgeben?« »Zu welchem Thema?« »Den Einsamkeitskomplex betreffend. Da das Spiel nun beendet ist, frage ich dich – habe ich richtig gehandelt?« »Im Sinn des Selbstheilungsprogramms war deine Reaktion die
einzig richtige«, lautete SENECAS knapper Kommentar. »Jede andere Handlungsweise hätte den Erfolg des Programms zunichte gemacht, den Schaden eher noch verstärkt.« Beifall kam in der Zentrale auf, Atlan winkte ab. Er war noch zu erschöpft, um sich über die Zustimmung freuen zu können. »Was ist mit dem Geister‐Schiff. Es wird vermutet, daß es etwas mit dir zu tun hat. Handelt es sich dabei um eine Illusionsprojektion von dir?« »Mein Informationsstand ist der, daß ich an der Existenz dieses real vorhandenen Schiffes in keiner Weise ursächlich beteiligt bin.« »Weißt du etwas über den Personenkreis, der die Geister‐SOL besitzt und kommandiert?« »Darüber liegen keinerlei Informationen vor.« »Danke, SENECA. Du hast hervorragende Arbeit geleistet.« Der Arkonide und der High Sideryt sahen sich an. »Wie beurteilst du SENECAS Zustand?« fragte Hayes. »Im Augenblick kannst du ihn besser beurteilen als irgendeiner an Bord.« »Die wesentlichen Probleme scheinen gelöst zu sein«, sagte der Arkonide. »SENECA ist weitgehend funktionsfähig. Wir müssen aber grundsätzlich damit rechnen, daß der Positronikteil von Zeit zu Zeit geschwächt auftreten kann, möglicherweise sogar vorübergehend ganz ausfällt. Aber damit werden wir leben können.« »Das Kapitel SENECA ist damit also vorläufig abgeschlossen«, sagte der High Sideryt. »Jetzt fängt ein neues an – Geister‐Jagd!« ENDE Nach der Heilung des Einsamkeitskomplexes von SENECA sollte nun eigentlich alles an Bord der SOL seinen normalen Gang gehen – doch dem ist
nicht so! Es kommt zu großer Unruhe – durch den SPUK IN DER SOL … SPUK IN DER SOL – unter diesem Titel erscheint auch der nächste Atlan‐ Band. Autor des Romans ist Horst Hoffmann.