Rudolf Braunburg
Piratenkurs
Inhaltsangabe Rudolf Braunburg, in der Welt des Fliegens zu Hause, Pilot aus Leidensch...
56 downloads
556 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Rudolf Braunburg
Piratenkurs
Inhaltsangabe Rudolf Braunburg, in der Welt des Fliegens zu Hause, Pilot aus Leidenschaft, Kapitän der Luft hansa, schrieb den Roman, der fällig war: den Roman einer dramatischen Flugzeugentführung. Sein Modell ist nicht nur denkbar, es ist Wirklichkeit: in den letzten zehn Jahren mehr als 160mal versucht oder erfolgreich ausgeführt. Eine Boeing 707 auf dem Flug von Sydney nach Deutsch land. An Bord Menschen, die ein Ziel gemeinsam haben, aber sonst so verschieden sind, wie nur denkbar auf einem Flug über die Erde: Wissenschaftler, die von einem Kongress zurückkehren, Schauspieler, Schriftsteller, Politiker, Besucher von Verwandten, jung, alt, voller Pläne, voller Wünsche, in die Ferne gerichtet oder auch nur auf die Nähe, aufs Heimkommen. Aber alles ändert sich schlagartig, kommt völlig aus der Richtung: Verbrecher sind am Werk, zwingen die Maschi ne zur Kursänderung, bringen Geiseln in ihre Gewalt, setzen sie in der Wüste aus. Wie verhalten sich die Menschen? Wie bewältigen sie die Konfrontation mit Gewalt und Brutalität? Der Autor beschreibt das Unbeschreibbare. Menschenkenntnis und Erfahrung halfen ihm festzuhalten, was nur in einem Roman darstellbar ist: Menschen in höchster Not, in auswegloser Situation.
Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln
mit Genehmigung der Franz Schneekluth Verlag KG, München
Gesamtherstellung: Bercker Graph. Betrieb GmbH, Kevelaer
Schutzumschlag: Roberto Patelli
Printed in West Germany
Alle Rechte vorbehalten
Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder
chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Das Leben geht weiter, gleichgültig ob wir als Feiglinge oder als Helden handeln.
Für A. B.
Henry Miller
Von 1930 bis 1960 fanden 33 Flugzeugentführungen statt. Im darauf folgenden Jahrzehnt wurden rund 160 Entführungen versucht oder er folgreich ausgeführt. Bevor die große Welle einsetzte, hatte die Masse höchstens durch den Film LOST HORIZON von dieser Möglichkeit der Erpressung er fahren: Ein Passagierflugzeug wird in den Himalaja gezwungen. Ent führer und Fluggäste entdecken dort das zeitlose irdische Paradies Sh angri-la. Gerade der Hölle des 2. Weltkrieges entflohen, finden sie ein ungestörtes Reich ewigen Friedens. Die in diesem Roman geschilderte Kursabweichung ereignet sich unweit jenes erträumten Himalaja-Shangri-la. Die realistischen Zie le dieser Entführer-Gruppe stehen in krassem Gegensatz zu dem ein stigen Filmtraum von einer besseren Welt. Ob jedoch materialistische oder idealistische Motive hinter Gewalt und Erpressung stehen, ist für die ihnen Ausgesetzten gleichgültig – ihre Todesangst ist die gleiche. Da der größte Teil der erzwungenen Kursabweichungen ohne Todes fälle oder gar Abstürze verläuft, finden sie von Fall zu Fall weniger Be achtung. Das erscheint konsequent in einer Epoche, in der das nackte Überleben als befriedigendes Ziel proklamiert wird, ohne noch nach Schönheit und Würde dieses Lebens zu fragen. Aber Mensch und Maschine stellen recht diffizile Gebilde dar. Trotz des eindrucksvollen Sicherheitskoeffizienten des modernen Luftver kehrs bleibt ein beachtlicher Teil der Menschheit dem sichersten Ver kehrsmittel grundsätzlich fern. Ray Bradbury, der als Science fictionAutor seine Helden in galaktische Räume schickt, weigerte sich, mit dem Astronauten John Glenn im Privatflugzeug zu fliegen. Berühmt sind die Zugparties, die der amerikanische Fernseh-Showmaster Jak kie Gleason auf der Strecke Miami – New York gibt, die er niemals mit dem Flugzeug zurücklegt. Eine dünne Duralwand trennt die Flugzeuginsassen von der Eises kälte, dem Sauerstoffmangel und Unterdruck der Stratosphäre. Wie
viel mehr muß erst die unterbewußte Angst durchbrechen, wenn die schützende Wand zwischen Geborgenheit und Untergang durch die Pistole eines Entführers gefährdet ist. Zusammen leben, zusammen sterben – die Panik, die durch diese Verbrechermaxime ausgelöst wird, ist unabhängig davon, ob die Ent führer einer Geldsumme oder dem Traum vom Shangri-la nachjagen.
Die wichtigsten Personen des Romans Die Besatzung Michael Steiner Henk Weersma Chris De Laer Karen Hilldorff Kay Sanders Vera Merkelsbach
Flugkapitän Kopilot Bordingenieur Purserette Stewardeß Stewardeß
Die Entführer Wilhelm Lohmar Ingrid Lagerlöf Inger Bergsson Der Bär Die Passagiere Robert Bronn Gwen Gary Ruth & Ralph Osterman Phra Maha Chai Herr und Frau Bauer Herr und Frau Radewald Jack Patrinelli ehemaliger
Journalist Filmschauspielerin Gesangsduo buddhistischer Mönch Ehepaar Ehepaar G. I.
1
A
n jenem Frühlingstag funkten die Wettersatelliten das übliche Bild: Wolkenfelder, Küstenformen, Inselgruppen, die blaudunstig auf den Ozeanen des Planeten schwammen. Südlich Islands zeigte eine milchige Wolkenspirale den Kern eines kräftigen Tiefs an. Das Tief würde Stürme an der schottischen Kü ste, Schauer über Rotterdam und Brüssel und Nieselregen über Schles wig-Holstein bringen. Wolkengruppen wie Heringsrogen deuteten auf Kaltluftgebiete über Grönland und Sibirien. Am Ural und im Persi schen Golf stauten sich weiße Wolkenbänder. In den subtropischen Hochdruckgebieten zeigte sich die Erde unverhüllt: der Hohe Atlas, die Steppenwüste des indischen Great Rann of Kutsch, Gangesdel ta und Hochland von Burma unterbrachen dunkel die hellen Wetter schlieren. In den Polgegenden traten kaum Wolken auf. Hier wurden die weißen Flecken durch das Eis der Polarmeere, Schneefelder und verschneite Gebirge gebildet. Südlich der Philippinen bildete sich der erste Taifun des Jahres aus. Der Gipfel des Fujiyama brach hell durch ein gewaltiges Wolkenstau band. Fast alle großen Inseln des westpazifischen Raumes waren von Gewittern bedeckt. Über Borneo, Célebes, Sumatra und Java reihten sich Quellwolkenmassen zu Unwetterfronten auf. Das Antlitz der Erde wurde von der Satellitenhöhe aus nicht durch die Verteilung von Land und Wasser geprägt, sondern durch Wolken massen. Es wechselte täglich. Aber nie zeigte sich eine Spur von Le ben. Zwischen den Wolkenspitzen jedoch, die über Indonesien empor schossen, bewegte sich ein winziger Punkt: eines jener Zehntausende von Flugzeugen, die zu jeder Zeit unterwegs waren – in dem schmalen 1
Band zwischen Erde und Stratosphäre, das die Technik sich bisher als Bewegungsspielraum für sie erobert hatte. Den winzigen Punkt stellte eine Fokker dar, die Tag für Tag zwi schen Denpasar, Djakarta und Bangkok pendelte. Ihre Besatzung flog die Strecke an diesem Tag im Mai bereits zum zweiten Mal und wurde dringend in Bangkok erwartet. Dessen Flugplatz Don Muang lag zur Zeit noch unter heftigen Gewitterschauern, sollte aber zur Ankunfts zeit frei von Regen sein. Auf der welligen Landebahn 21 hatten sich knöcheltiefe Pfützen gebildet; und einer der Männer in den Büros der Luftfahrtgesellschaften starrte trist durch die verregneten Scheiben und sagte zu seinem Assistenten: »Wenn die Herren von der Fokker sich beeilen, können wir den An schluss nach Deutschland halten.« »Hat aber nicht den Anschein!« sagte der Assistent. »Wo hängt unsere Boeing?« fragte Stationsleiter Raff. »Keine Ahnung, die letzte Positionsmeldung ist drei Stunden alt, da stand sie noch dekorativ in Hongkong. Sie wissen doch: hier findet die Nachrichtenübermittlung mit dem Fahrrad statt. Der hinkende Bote zwischen Thailand und dem South Pacific wird mit einer Reifenpanne im Urwald von Neuguinea stecken.« Raff nippte an seiner fünften Tasse Tee. »Abwarten ist das beste in diesem Sch…« Da krachte der nächste Gewittersturz nieder.
»Gibt es hier öfters Gewitter?« fragte Robert Bronn der Filipino-Ste ward. »Ich glaub' nicht, daß es hier überhaupt Gewitter gibt«, antwortete der Steward und neigte sein dunkles Gesicht geringfügig herab, ohne aus dem Fenster zu sehen. »Es blitzt aber rechts und links vom Kurs, schon die ganze Zeit!« sag te Bronn. 2
»Ich frag' mal den Kapitän«, meinte der Steward und verschwand hinter den Vorhang. Idiot, dachte Bronn, das braucht mir niemand zu bestätigen, daß da Gewitter herumliegen wie Wegelagerer. Die werden uns hoffentlich nicht den Durchgang versperren! Vor dem Backbordfenster türmten sich die Vulkane Ost-Javas: Raung, Argopura, Semeru. Über jedem Kegel stiegen weiße Quellun gen empor, als schnaube der Berg wütend in die Atmosphäre. Wie war zenübersäte Zeigefinger streckten sie sich bis zur Stratosphäre empor. Dort schien eine unsichtbare Riesenhand sie niederzudrücken. Sie zer faserten, wurden weich und lichtdurchlässig und verloren sich im tie fen Blau des Tropenhimmels. Bronn merkte, wie der Pilot zu kurven begann. Die zweimotorige Fokker Friendship war vor knapp einer Stunde in Denpasar auf Bali gestartet; und Bronn war sehr daran interessiert, pünktlich in Bang kok zu landen. Dort wollte er umsteigen auf die Langstrecken- Boeing des Transcontinental-Fluges TC 773. Die Maschine kam aus Hong kong und sollte ihn nach Deutschland bringen. Nach sechs Wochen Dschungelhitze, Campleben und Inseldasein abseits jeglicher Zivilisa tion erschienen ihm die harmlosen Namen seiner Heimatstadt Frank furt wie magische Begriffe. Die Zeil mit ihren hellen glatten Waren hausfronten wurde zur leuchtenden Tempelstraße. Königstein klang wie der Name einer fernen Dschungelstadt. Forsthaus Gravenbruch, Montanus- Buchhandlung, Palmengarten, DIE SCHMIERE schienen für immer unerreichbar. Die Aussicht, wegen einer versäumten Ma schine noch drei Tage in Bangkok warten zu müssen, erfüllte jetzt so gar den Globetrotter in ihm mit Schrecken. »Der Kapitän läßt melden: Es gibt einige Gewitter, aber man wird sie umfliegen!« teilte der Steward mit. Er lachte übers ganze Gesicht. Im gleichen Augenblick wurde der Schulterdecker von der ersten Bö gepackt, kräftig durchgeschüttelt und wieder in ruhige Gefilde ent lassen. Schwarze Kratermünder quollen mit geborstenen Lavalippen durch giftgrüne Wolkenschleier. Außer den beiden Passagieren zwei Reihen vor ihm war der fünfundzwanzigsitzige Kabinenraum fast leer. 3
Links am Fenster, auf seiner Seite, saß eine schwarzhaarige Frau, die er für knapp dreißig hielt. Die müde aussehenden Snacks hatte sie von vornherein abgelehnt, statt dessen eine Karaffe Rotwein verlangt und sich entspannt zurückgelehnt, wobei sie gelegentlich seitlich der Kopf stütze eine schlanke Hand mit einem Opal zeigte, der blaugrün in ei nem schmalen Weißgoldreif glühte. Auf der rechten Seite, am Mittelgang, saß ein schlaksiger, übergro ßer amerikanischer GI-Typ in khakigrünem Tropenanzug mit Zivil schnitt. Er hatte sich mehrmals ausgiebig Käsehäppchen und Lachsschnitten nachreichen lassen und dann ungehemmt und langwierig mit dem Zahnstocher gearbeitet. Die erste Bö ließ ihn jäh zusammen zucken, gejagt um sich blicken und zu seiner Sitznachbarin jenseits des Mittelganges sagen: »Stets der gleiche Mist auf dieser Strecke. Die Piloten benehmen sich, als stammten sie aus Feuerland!« Die Schwarzhaarige warf ihm einen kurzen Blick zu. »Glaub' nicht, daß ich das beurteilen kann.« »Wir hatten mal in unserer Einheit einen dressierten Gorilla, der flog besser. Immer, wenn ein Einsatz zu gefährlich war, schickten wir ihn auf mission. Aber nachdem wir immer noch Sergeants, er längst Major war, brachten wir ihn zurück in den Urwald.« Er lachte schallend. »Hoffentlich mit einem Flugticket!« sagte die Schwarzhaarige iro nisch. »Gorillas gibt's nur in Afrika … Immerhin, Sie können beru higt sein. Ich weiß jetzt: Sie sind auch Pilot.« Ein neuer Schlag ließ die Propellerturbinen aus der Synchronisation geraten, das Geschirr in der Galley klirren. Pechschwarze Nacht brei tete sich aus, plötzlich ein Strahl Purpur, gleich darauf die alte Mittagshelle. Bergkegel im Wolkendunst. Buchten, Küstenstädte, leicht ver zerrt. Ein rauchender Vulkankrater, das mußte der Argopura sein. Bronn genoß den Anblick des sanft schwelenden Kraters wie einen allerletzten Gruß unberührter Natur. Die Dämpfe der glühenden Lava füllten den ganzen gewaltigen Trichter aus und quollen von Zeit zu Zeit über den Rand die prallgrün bewaldeten Hänge hinunter. Dann 4
riß ihn eine neue Wolkenwand aus der Betrachtung. Die Fokker tanz te zwischen fahlblauen Schluchten. Sofort begann der GI-Typ wieder zu reden; und plötzlich erkannte Bronn: Nervosität und Angst trieben ihn dazu. »Ich war bei der 12th Tactical Fighter Wing!« teilte der GI-Typ mit und kaute einen Kaugummi intensiv durch. »Und woher kommen Sie?« »Interessant, aber ich hab' Sie nicht gefragt!« sagte die Frau. »Schätze, Sie sind Französin, so, wie Sie Amerikanisch sprechen.« Er klammerte sich nervös beim nächsten Böenschlag fest und erstarr te; nur sein Mund mahlte weiter. Dann: »Hab' ne Menge Französinnen kennen gelernt. Sollten nicht so allein in dieser Gegend umherreisen, Sie. Alles schlitzäugige Kanacker! Diese Hundefleischfresser, ehe Sie sich's versehen, machen sie Sie, zzzzzupppp, zum Schrumpfkopf!« Er schob den nächsten Kaugummi nach. »Ehrlich! Werd' mich um Sie kümmern, wo immer Sie hinfliegen.« Er musterte sie ungeniert von oben bis unten. »Ihr Fahrgestell ist top, versteh' nicht, warum Sie so mies dreinschauen.« Jetzt erwiderte die vermeintliche Französin: »Ihr Interesse ehrt mich, Ihre Einladung ehrt mich. Aber dies ist ein Flugzeug, kein Frontbordell.« Das verschlug ihm ganz kurz die Sprache; aber dann kam die näch ste Bö, die war hart, dann die übernächste, die war noch härter. Die Bucht von Surabaja tauchte kurz auf und erlosch wieder; dann war Ha gel da. Kieselsteine schienen auf den Duralrumpf geschleudert zu wer den. Dann sah Bronn die weißfunkelnden Kristalle, die wie Perlen schnüre horizontal vorbeijagten. In den Wirbeln der Fallwinde wurde der junge Amerikaner direk ter und aggressiver. »Hören Sie, Miß, ich bin Pilot gewesen, ich hab' 'ne Menge combat missions geflogen, ich bin nicht irgendwer, und Sie behandeln mich wie einen dummen Jungen. Sie treiben sich hier in dem dreimal verdamm ten Dreckasien herum, und Sie benehmen sich, als ob Sie sonst wer sei en. Ich hab' 'ne F-4C unterm Arsch gehabt, das ist 'ne Phantom, wenn Sie wissen, was das ist, und ich weiß, daß dieser Hinterstubenpilot nichts 5
von der Scheißfliegerei versteht. Ich hab' sechs wingpods gehabt, und in jedem pod, da hören Sie mal gut zu, haben 19 Raketen gesteckt. Neun zehnmal ZZZZZTTTT WWWW WUUMMMMM, und jede hat geses sen, und Sie behandeln mich wie den letzten Idioten aus El Paso, Neu mexiko, da wo der große Manitu sprach: Lasset uns Sand nehmen und Kretins schaffen. Aber daher stamm' ich nicht, no Sir!« Er drehte sich um nach weiteren Zuhörern. »Ich stamm' aus Oklahoma, yes Sir, das kennt jeder, auf die Mädchen hat das gewirkt wie ein Apollo-Countdown, ZZZZTTTT WWWWUUMMMM, und Sie führen sich hier auf!« Bronn spürte, daß er bald eingreifen mußte. In der heftigen Turbu lenz, mit der Warnung BITTE ANSCHNALLEN, wagte er nicht, auf zuspringen. Unter der Tragfläche zeigte sich jetzt die Nordküste Ja vas, dahinter aufgereiht lagen die Vulkane der Südküste, blaudunstig wie auf Bildern Caspar David Friedrichs. Schräg voraus hoben Sla met und Tjareme ihre Kegel an die Untergrenze der Gewitterwolken. Blauer Himmel wechselte schlagartig mit fahlem Dämmer, überflutete Reisfelder wurden gegen düstergraue Lavaflächen ausgeblendet. Blitze hängten sich wie Sperrketten über ihren Kurs. »Ich bin auf Westpoint ausgebildet worden!« schrie der Amerika ner jetzt. »Mit mir könnt ihr so was nicht machen, ihr Scheißpiloten! Ihr Scheißweiber!« Er nestelte an seinem Gurtschloß. »Hättet mal mit mir in den F-A-missons fliegen sollen! Tan Son Nhut, Cam Ranh, Chu Lai – kenn' ich alles!« Jetzt wollte er aufspringen, aber Bronn kam ihm zuvor, sprang ne ben ihn, drückte ihn zurück in den Sitz, mußte sich selber festklam mern. Mit trockenem Ticken schlug ein Blitz ein. Ozongeruch durch drang die Kabine. »So nicht, chunk!« Der Amerikaner hob sich halb aus dem Sitz, bog sich wie eine Feder zurück und ließ dann seine Faust in den Unterleib Bronns vorschnellen. Aber sein Gurt hatte sich nicht völlig gelöst und bremste die Wucht seines Körpers. Bronn schlug sofort zu. Er traf den Amerikaner an der Halsschlag ader. Der wich zurück und starrte ihn erstaunt und ohne weitere In itiative an. Die Schwarzhaarige sagte: 6
»War das denn nötig?« Bronn blickte verblüfft erst sie, dann seine Hand an. »Ich glaube selbst nicht, daß das nötig war!« Der Amerikaner verzog schmerzhaft das junge faltenlose Gesicht. Im Flackerlicht der Blitze schien sein Crewcut sich wie ein Hahnen kamm zu sträuben. »Das werd' ich mir merken, Mister!« »Er hat einfach zuviel getrunken!« sagte die Schwarzhaarige ruhig. »Ich habe beobachtet, wie er sich in Denpasar vor dem Start eine halbe Flasche Bourbon genehmigt hat. Ihre Beschützertalente in Ehren; aber warum schießen Männer so gern mit Kanonen auf Spatzen? Simples Beiseitespringen hätte genügt; der Mann hat sich völlig verausgabt!« »Tut mir leid!« murmelte Bronn und zog sich zurück, nahm einen Hauch von Hamamelis, eine Erinnerung an stark gewölbte Augen brauen, schwarze Rehaugen, fein ziselierte Lippen mit.
Noch so ein Zwischenfall, dachte das schwarzhaarige Mädchen, das vor Robert Bronn in der Fokker saß, noch so eine üble Schlägerei, und die Nerven meines überaus verehrten Ralph wären hin, zerfetzt, gone with the wind! Meine eigenen würden wenig später folgen. Aber Ralph, mein Begleiter, Mitspieler, Widerpart, meine Basis, mein Boden der Tatsachen – er ist nicht bei mir. Ich bin ihm entflohen, einfach da vongeflogen, arrivederci Melbourne. Wir hatten großartige Auftritte in Australien, Neuseeland, in den Hiltons und Intercontinentals des Pazifiks, Palmen vor dem offenen Konzertsaal, Mai-Tai-Cocktails und Cocos au Rhum in Mengen; wir trinken beide gern. Wir trinken und spielen und passen gut zusammen, wir haben nur positive Kritiken: Ruth und Ralph Osterman, zwei Stimmen, zwei Gitarren, eine Begei sterungswelle! Zwei Flugtickets: er direkt nach Hongkong und Bangkok, ich mit dem Umweg über Timor und Bali, das wird ihn ärgern, denn das kann er gar nicht fassen, der große Könner, der immer Aufwärtsstrebende, 7
nie Ruhende! Ich habe mich herrlich ausgeruht, während er in Mel bourne schon wieder zu unser beider Wohl neue Verbindungen ange knüpft hat, habe ich auf Timor hinter tropischen Schmetterlingen her geträumt, bin ich einfach mal ausgestiegen und habe nachgeschaut, ob der Himmel noch blau, das Alang-Alang-Gras noch braun ist! Ruth Osterman blickte aus dem Fenster. Um die Luftschraubenspit zen züngelte Elmsfeuer. Sie fand den Anblick beängstigend. Sie war vierundzwanzig und reiste seit drei Jahren mit Ralph um die Welt – als überall stürmisch gefeiertes Gesangsduo, mit einem weit gefächerten Repertoire, das von Volksliedern über global beliebte Liebeslieder bis zu Beat, Pop, Folk Blues und anspruchsvollen, ansonsten unbekannten Schlagern reichte. Sie ließ keine Gelegenheit aus, neue Texte und Me lodien zu sammeln. Und Ralph war Meister darin, ein tahitianisches Liebeslied geschickt in Belgien, ein flämisches Volkslied in Südafrika, ein Bantulied in Schweden zu placieren. Sie fixierte den G. I. Er hatte die Beine lang und ungeniert ausge streckt und kaute stumpfsinnig Kaugummi. Sie hasste Männer, die sich so haltlos gaben und sich trotzdem für unwiderstehlich hielten. Aber noch mehr hasste sie Männer, die den Anschein zivilisierter We sen erweckten und ihre Reaktionen durch tierhafte Reflexe bestimmen ließen. Du bist mal wieder hart und ungeschminkt in deinen Urteilen, dach te sie. Mit deinen Ansprüchen an andere wirst du es nie zu etwas brin gen. Du solltest dich lieber auf Ralph freuen, den du in Bangkok wie dertriffst. Er wird dir einen hübschen Fensterplatz reserviert haben, auf den du gar keinen Wert legst, neue Pläne enthusiastisch ausbrei ten, auf die du pfeifst, und neue Akkorde vorklimpern, die du scheuß lich findest. Ihr Blick wurde wieder von den Flammen und Feuerschlangen ange zogen, die jetzt auch über die Scheiben zuckten. Sie schienen durch ein Meer diffuser Elektrizität zu fliegen; alles brannte oder stand kurz vor dem Entzündungspunkt. Das Flugzeug vibrierte verhalten wie ein ner vöser Schimmel, der sich mühsam beherrscht, weil sein Reiter es for dert. Um sich abzulenken, schrieb sie die Nummern für ein neues Pro 8
gramm zusammen, das sie in München, Paris oder Casablanca geben würden: Ulili E, Sombras de Saudade, Sag mir, wo die Blumen sind, Myn Sarie Marys, Sounds of Silence, Sawa Sawa Dé, Shein vi di Levone. Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Er war ihr in einem Lon doner Nachtclubkeller aufgefallen: ein heruntergekommener, halbver hungerter Junge mit einer Gitarre, der man häufigen Personenwech sel ansah. Die Country-Blues-Musik war nicht ihr Fall. Aber sie spür te nach wenigen Akkorden, daß da einer nicht nur Stücke herunter spielte, sondern mit verbissener Energie an sich selbst arbeitete, allzu Billiges, Geläufiges verwarf und nach einer neuen Auffassung suchte. Da kämpfte sich einer fast zornig (und sich einen Dreck um sein Pu blikum scherend) durch Akkorde und Harmonien und machte einen weiten Bogen um jede glatt sich anbietende Phrase. Wahrscheinlich wäre von jenem Barbesuch nichts zurückgeblieben als eine flüchtige Erinnerung, hätte sie sich nicht mit ihrem Beglei ter zerstritten. Es hatten noch weitere scheinbare Zufälle hinzukom men müssen, um sie zusammenzubringen: der Ärger mit ihrem Be gleiter, der sie einfach davonrennen ließ durch die düsteren Gassen So hos, Ralph, der den Streit beobachtete, der triste Novembernieselregen. Der besonders – das Schicksal bediente sich immer der unwahrschein lichsten Kombinationen, um seine Fäden zu knüpfen. In einer strah lenden Vollmondnacht wäre sie bestimmt nicht mitgegangen. So aber, als sie Hand in Hand durch den Nebelabend liefen, hatte sie zum ersten Mal mit ihren 21 Jahren das Gefühl einer Geborgenheit, das eng mit dem anderen Geschlecht verknüpft war. Sie verbrachten die Nacht in seinem Mietzimmer auf unkonventio nelle Weise: Sie spielten sich gegenseitig ihre Songs und Kompositio nen vor. Besser: ihre Vorstellungen von der Zukunft, ihre Pläne. Wäh rend sie mehr zum Lyrischen, Volksliedhaften neigte, galt seine gehei me Leidenschaft dem Jazz, besonders den Versuchen, ihn mit östlicher Musik zu verbinden. Sie sangen und spielten um die Wette, und gegen Morgen war sie zu der Überzeugung gelangt, daß ihre zurückhaltende lyrische Art und sein progressives Ungestüm einen recht interessanten Gegensatz innerhalb eines Duos bilden könnten. 9
Die Erfolge bestätigten ihre Versuche. Von jener ersten Nacht her war ihr eine Moll-Phrase in Erinnerung geblieben, die immer in ihr auf tauchte, wenn sie Unbehagen oder Furcht spürte. Sie pflegte sie dann vor sich hin zu summen und fühlte sich beruhigt … a-c-e-c-d-d …
Wenn man sich von See her, vom Ao Thai, von Malaysia zur Zeit der Monsunregen Bangkok nähert, treibt die Stadt inmitten der über schwemmten Felder wie ein ertrinkendes Insekt, die Glieder der Aus fallstraßen weit hinausgestreckt nach Ayuthya, Nakorn Pathom, Pat taya, Korat. Von Singapore, von Djakarta her anfliegend, wird man meistens östlich der Stadt der Engel durch Bangkok Radar aufgefan gen und zum entgegengesetzten Ende der Bahn 21/03 geführt. Sinkt man tiefer, hebt sich die Suriwongse und Silom Road deutlich aus dem Gewirr heraus. Um sie sind Glas- und Betonblocks gebaut worden. Chinatown setzt sich gegen diesen modernen Teil mit seinen Gold geschäften, Banken und Handelsgesellschaften ab. Im nördlichen Teil der Stadt erstrecken sich breite, baumbegrenzte Avenuen, an der Raj damnern Avenue protzen großräumig Ministerien und Konsulate. Das typische Stadtleben jedoch spielt sich in den sois ab, den über füllten Seitengäßchen. An den Eingängen warten ganze Pulks von samlors, den Dreiradmotorroller-Taxen. Hier sind die Hütten und Häuser farbenfreudiger angemalt als in den modernen Vierteln: grün, rosa und gelb. Durch die sois dringt schrill das anpreisende Geschrei der Händler, die Dampfnudeln, kui tewor, keow nam, tom yum pla und gebackene Bananen und Obstsäfte feilbieten, in denen trübe Eisstücke schwimmen. In den winzigen coffee-shops drängen sich lärmende Gä ste um die Fernsehgeräte, die auf Thai Gunsmoke oder The man from UNCLE zeigen. An brüchigen Tischchen hocken schwatzend Taxifah rer und Lastenträger vor ihrem Meekong-Reiswhisky. Überall breiten sich Monsunregenpfützen aus; die Klongs sind über die Ufer getreten und überschwemmen die schmalen Straßen, durch die sich dicht an dicht, in einer einzigen Auspuffwolke, der Verkehr 10
quetscht. Busse und Lastwagen heben sich farbenprächtig aus dem Cha os hervor. Auf europäischen oder japanischen Chassis lasten dunkel braune Teakholzkabinen. Kunstvolle Volksmotive sind in grellem Blau und Orange auf Seitenverschalungen und Dächer gemalt. Chromtei le sind zu blitzenden Sternen oder Raketenbahnen umgeformt, Blink lichter zu Pinup-Girls oder Düsenflugzeugen. Die Silhouette der Kö niglichen Barke wird im Rhythmus der Bremsbetätigung den Nachfol gern dargeboten. Jeder Taxifahrer ist ein verhinderter Kamikazepilot. Nie endende Bewährungsproben bieten zahlreiche Rondells, in die man mit Voll gas hineinschießt, um im Kampf aller gegen alle den Weg zur nächsten Abzweigung freizuräumen. Die Taximeter rosten still vor sich hin; sie sind vorgeschrieben, aber unglücklicherweise hat die Regierung kein Gesetz erlassen, nach dem sie auch benutzt werden müssen. Die Fahrer wechseln aus den Hauptstraßen in die Seitengassen und wieder hin ein in die nächste Ausfallstraße mit der Geschicklichkeit von Leicht gewichtboxern, beherrschen die Regel Wer zuletzt bremst, hat Vorfahrt perfekt und verwechseln in den kritischen Situationen stets die Hupe mit der Bremse. Aus dem brodelnden Getriebe der auf Sumpf gebauten Stadt heben sich golden und bunt die Stupas und Pagoden der Tempel. Das Herz der Stadt bilden die Gebäude des Königlichen Palastes, aber von die sem Herzen hat sich das moderne Bangkok mit seinen glänzenden Ho telneubauten mehr und mehr entfernt. Mehr und mehr müssen ganze Straßenzüge enger hölzerner Reihenhütten modernen Bankgebäuden, Geschäftsvierteln, Superhotels weichen. So eindeutig, so greifbar und direkt die modernen Viertel unter dem grellen Neonlicht liegen, so verworren und undurchschaubar läuft das Leben in den alten Vierteln ab. Gerüchte stehen hier höher im Kurs als Nachrichten und Schlagzeilen der Zeitungen. Scheinbar eindeuti ge Mitteilungen werden im Zwielicht der Innenhöfe, Klonggassen, La gerschuppen und Slumhütten mehrdeutig und wirken wie Chiffren ei ner unverständlichen Welt: VC überfällt alliierten Convoy. Generalleutnant Amphorn Srichaipant 11
starb an einem Herzkollaps im Phra-Mongkut-Armee-Hospital. Komi tee gebildet für thailändisch-kambodschanische Grenze. Rotchina kauft deutsche Lokomotive. ITC hebt Bodenpreise an. RP unfähig, Peso zu halten. Ihre Königlichen Hoheiten Prinzessin Sirindhorn und Prinzes sin Chulabhorn waren überraschend Gäste des Oriental-Hotels. Him melsauge hilft, Monsunregenfluten zu überwachen. Drei örtliche freiwil lige Hilfskräfte wurden verletzt, als kommunistische Terroristen eine Pa trouille in Pakchorn überfielen. Irgendwo in einem der undurchdringlichen Viertel hockte eine Grup pe Männer und Frauen um einen spärlich erleuchteten Tisch und sor tierte Pässe und Reisedokumente, hielt Bescheinigungen prüfend ge gen das Licht, studierte Karten und machte Notizen. Im Hintergrund stand, halb verdeckt durch ein japanisches Fernsehgerät, ein Kurzwel lenempfänger mit Sendetaste. Gelegentlich brachte ein winziger Thai, der höchstens siebzehn war, Speisen und Getränke aus dem angren zenden Raum, mi grob, haw mok und yum, dazu krating thong. Es war 13 Uhr 40 thailändischer Ortszeit. Über dem Flughafen von Dong Muang ging der zweiundzwanzigste Regenschauer seit Beginn des Monsuns nieder. 13 Uhr 40: Der Taifun Abigail hatte sich über dem Südchinesischen Meer auf 115 Grad östliche Länge häuslich niederge lassen wie ein erschlafftes Raubtier, das seine Wunden leckt. 13 Uhr 40: Auf Don Muang sagte Stationsleiter Raff: »Nach der letzten Positionsmeldung könnte die Fokker noch recht zeitig für unsere 773 kommen!« 13 Uhr 45: Einer der Männer vor dem Kurzwellengerät sagte: »Mit diesem netten Coup werden wir unseren lieben Freunden von der Geheimpolizei einen hübschen Denkzettel verpassen! Sie werden sich fühlen wie rosige Babys, die man hilflos an der Straßenecke aus gesetzt hat!«
12
2
R
alley, Chef der thailändischen Geheimpolizei, sah sein Gegenüber resigniert an: »Diese Deutschen mit ihrem penetranten Eigensinn! Ihrem Misstrau en! Ihrer kleinbürgerlichen Gewissenhaftigkeit! Dieser Scheurer vom Konsulat ruft jetzt zum dritten Mal an, was wir in der PHRYXX-An gelegenheit erreicht hätten! Was haben wir denn in der PHRYXX-An gelegenheit erreicht, Blavatzky?« Blavatzky wirkte mit seinen imponierenden Eins-achtundneunzig fast doppelt so groß wie sein schmächtiger Chef. »Wir wissen inzwischen: die Phryxxe haben irgendeine Schweine rei vor!« »Dazu brauche ich mir keinen teuren Agenten zu halten!« Ralley, mit winzigen Wurstfingern, rollte sich schnaufend eine Zi garette, leckte; Blavatzky sprang mit gezücktem Feuerzeug herbei, als pariere er eine Messerattacke. »Diese Information gibt Ihnen auch das deutsche Konsulat!« »Die Deutschen sind überängstlich!« konterte Blavatzky nicht unele gant. »Aber jetzt wissen wir, daß sie endlich mal recht haben.« »Was, genau, wissen wir, Blavatzky?« »Wir wissen: Der PHRYXX liegen die zwölf Phryxxe im Magen, die die Deutschen im Hamburger Hafen festgenommen haben. Das war oberstes Management, sozusagen, da hört der Humor auf, die wollen sie wiederhaben.« »Konkrete Anhaltspunkte über die formelle Durchführung des Vor habens?« »Man fürchtet Repressalien. Nimmst du mir zwölf, nehm' ich dir zwölf – dieses Spielchen.« 13
»Fürchtet der gute alte Scheurer, selbst entführt zu werden? Für den krieg' ich nicht mal 'ne Packung Viceroy! Und wer ist man?« »Mein Informant.« »Ein echter oder einer von Ihren Spesenabrechnungen?« »Sir«, erwiderte Blavatzky vornehm und nestelte an seinem Halskra gen. »Sie wissen, wie das ist in Fernost: Ein Gerücht ist oft zuverlässi ger als eine offizielle Regierungsmitteilung.« »Darf ich, als Ihr unmittelbarer Vorgesetzter, teilhaben an den Vor zügen Ihrer Zuverlässigkeit?« »Alles, was ich wirklich weiß …« Er zündete sich jetzt selbst eine Zi garette an, und Ralley wußte, wenn Blavatzky rauchte, empfand er sich in einer unbehaglichen Situation. »Man plant, sich Geiseln zu beschaffen. Ich habe da einen zuverläs sigen Mann laufen, der hat mir den Tip mit dem Bangkok-Singapo re-Expreß gegeben. In drei Tagen verläßt eine Gruppe von mehr als zwanzig Deutschen Thailand in Richtung Malaysia. Prominente Leu te darunter, Industrielle hauptsächlich. Darauf sollten wir unser Au genmerk richten.« »Ich werde mir das mal ansehen!« meinte Ralley großartig. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie was zum Ansehen gefunden ha ben?« fragte Blavatzky ironisch. Wenige Straßenzüge vom Polizeipräsidium entfernt hebt sich das President-Hotel betongrau aus den niedrigen Häuserzeilen – ein luxu riöser Kastenbau, der einmal zum Elegantesten gehört hat, was Bang kok seinen Touristen zu bieten hat. Inzwischen sind längst architekto nisch sensationellere Bauten aus dem Boden geschossen wie das Du sit Thani oder Siam-Intercontinental. Aber mit seinem Fireplace-Grill, Rochana und der Cats Eye Bar gilt es noch immer als Treffpunkt der Society. Gegenüber dem Hotel gibt es ein anrüchiges Etablissement mit dem Namen Thai Yo Nok. Im internen Sprachgebrauch der TC und ande rer Airline-Besatzungsmitglieder ist von diesem Uralten Thailand im mer nur als von der Crew-Lounge die Rede. Tatsächlich erzählen sich einige Piloten und Stewards, die hier gelegentlich verkehren, Wunder 14
dinge über die Dutzende von Thai-Mädchen, die auf den Barhockern in langen Reihen auf Abruf bereitsitzen. An jenem frühen Nachmittag, als Raff, Stationsleiter der TC in Bangkok, nervös die stündlichen Positionsmeldungen über den Tai fun Abigail prüfte, um festzustellen, ob seine TC 773 aus Hongkong davon betroffen wurde, an jenem Monsungewittertag saßen im Thai Yo Nok nur ein paar vereinzelte Neckermann-Touristen, ein Bodenme chaniker und ein Bordingenieur der TC. Der Bordingenieur hatte ein schwarzhaariges, zartgliedriges Geschöpf mit dem Vornamen Romdee auf dem Schoß, das jedoch von allen Airline-Leuten stets Yo-Yo geru fen wurde. Yo-Yo war speziell für Cockpitleute der TC und für Stewards der BOAC und Japan Air Lines reserviert und ganz nebenbei ein wandeln des Nachrichtenbüro, was fliegerische Angelegenheiten betraf. Ob wohl allen Angehörigen öffentliche Diskussionen über Interna streng untersagt waren, wußte Yo-Yo über alle Vorgänge innerhalb der Ge sellschaften bestens Bescheid. Wann die Umschulung auf Tristar statt fände? Yo-Yo fragen. Weshalb die Stewardeß Regine Rettenbach von der Langstrecke auf die Mittelstrecke strafversetzt sei? Yo-Yo wußte pikante Einzelheiten. Sie hatte es sich auf dem Schoß des Bordingenieurs bequem gemacht und streichelte mit ihren schlanken, langnägeligen Fingern Gesicht, Brust und Hände. Langsam glitten ihre Hände tiefer. Der Bodenme chaniker versuchte gelegentlich vergeblich, Yo-Yo zu sich hinüber zuziehen, gelangte aber stets nur in den Besitz eines flüchtigen Kus ses. Ein Tonbandgerät produzierte Ten-Years-After-Beat am laufenden Band. Der Bordingenieur hielt mit der einen Hand die rechte Brust YoYos umschlossen, mit der anderen trank er von seinem Suntory. »Was mich viel mehr interessiert, ist, ob ich morgen pünktlich nach Hause komme.« Yo-Yo blickte ihn aus kirschrunden Augen vorwurfsvoll an. »Gefällt es dir bei mir nicht?« »Bei deinen Händen schon mal sehr gut, Yo-Yo!« »Langsam sehnt er sich nach Hause, zu seiner Frau und seinen Kin 15
dern!« erläuterte der Mechaniker neidisch und ärgerlich, weil er stets zu kurz kam. »Nach vierzehn Tagen Abwesenheit möchte er gern wie der die 1.000-Meilen-Zone überfliegen!« »Was ist das, die 1.000-Meilen-Zone?« »Aeronautischer Begriff aus der Zivilluftfahrt!« erklärte der Mecha niker bereitwillig und versuchte, einen neuen Kuß zu erhaschen. »Au ßerhalb der 1.000-Meilen-Zone zählt Ehebruch nicht mehr als Ehe bruch. Erst innerhalb der Zone wird man wieder zu einem ehrbaren Familienvater mit Frau und Kindern.« Yo-Yo giggelte. »Wie gut: Wir sind noch außerhalb der Zone. Du siehst bedrückt aus, habe ich dir Kummer gemacht?« »Nein, ich möchte nur nichts mehr über die Fliegerei hören.« »Ich auch nicht. Nur von Liebe. Möchtest du eine Special Massage?« »Ja gern, nachher.« »O schön: Ich werde dich verwöhnen. Wie deine Frau! Verwöhnt dich deine Frau?« »O ja, sehr. Manchmal!« »Belle! Liebst du sie?« »O ja, sehr!« »Morgen fliegst du ja zu ihr.« »Mein ganzer Kummer! Ich muß da mit einem Kapitän fliegen, den mag ich gar nicht. Viele mögen ihn nicht.« Yo-Yo verzog ihr schmales Mündchen und ließ ihre Hand tiefer glei ten. Der Mechaniker beobachtete den Vorgang und fragte gereizt: »Mit wem denn?« »Captain Schlumm!« »Stimmt nicht!« sagte der Mechaniker, froh, einen Anlass zum Wi derspruch zu finden. »Der fliegt heute auf der TC 773.« »Was ist?« fragte der Bordingenieur erstaunt; Yo-Yo hatte ihre Hand jäh zurückgezogen. »Ah, nichts!« Yo-Yo lächelte und küßte ihn auf die Brust. »Einer eu rer Kopiloten hat mir gestern verraten: Ein Captain Steiner fliegt heu te.« 16
»Dachte ich auch, Yo-Yo.« »Stimmt nur halb!« triumphierte der Mechaniker. »Steiner und Schlumm fliegen heute beide. Morgen fliegt Vermeeren!« »Beide?« Yo-Yo unterbrach ihr Streicheln. Ihre Finger ruhten in der rechten Hosentasche des Ingenieurs. »Da fliegen zwei Kapitäne im Cockpit? Zwei?« »Steiner hat einen Prüfungsflug von Bangkok nach Teheran!« erläu terte der Mechaniker. »Da bin ich aber heilfroh, daß ich morgen mit Vermeeren fliege!« seufzte der Ingenieur erleichtert. »Okay, Yo-Yo, jetzt habe ich Appetit auf eine Special Massage!« »Das beste ist, du gehst schon mal nach hinten. Ich komme gleich nach!« verhieß Yo-Yo. Der Mechaniker trank verärgert seinen Whisky aus, winkte dem Bordingenieur ironisch zu und verließ das Lokal; helle Sonne schlug ihm blendend entgegen. Er sah nicht mehr, daß Yo-Yo ans Telefon auf der Bartheke ging und eine lange Nummer wählte.
»Der angenehmste Aufenthaltsort auf diesem Planeten ist immer noch die gute alte deutsche Heimat!« sagte Schlumm. Er reckte seinen sonnengebräunten Körper ausgiebig in der Mittags sonne und sah sich antwort heischend im Kreis der Stewardessen um. Die Sonne stand fast senkrecht über dem Swimming-pool, und die Gartenpalmen, obwohl sie täglich dreimal von einem mageren, immer lachenden Boy begossen wurden, ließen die Blätter hängen. »Nichts gegen den Schwarzwald oder die Bergstraße!« sagte Karen Hilldorff. »Aber hier würde ich schon gern zwei, drei Jährchen ver bringen. Ein faszinierendes Land, und immer Heiterkeit um dich.« »Das ist doch alles nicht echt.« Schlumm richtete sich endgültig auf und blickte nachdrücklich, fast missbilligend, zu ihr hinüber: phan tastische Proportionen, ein intelligentes Gesicht – diese Feststellung 17
stimmte ihn wieder milder. An und für sich liebte er keinen Wider spruch, schon gar nicht von blutjungen Mädchen. »Sehen Sie sich die Slums an, die Klongs! Da putzt sich einer die Zähne im Menam und hundert Meter weiter pinkelt die alte Großmutter in den Fluss!« »Diese Flüsse sind noch gesund, die regenerieren sich nach knappen zwanzig Metern!« sagte Karen. »Woher wollen Sie denn das wissen?« fragte Schlumm scharf und ge noß die beunruhigten Gesichter der übrigen, die Karen betroffen an blickten. Sie kämpfte mit der Versuchung, genauso scharf zu antworten, etwa mit: Das gehört zur Allgemeinbildung, machen Sie doch mal eine Mi kroskopprobe, da werden Sie sehen, dieser Fluss lebt – ganz im Gegen satz zum toten, aber hochgelobten Vater Rhein, dank sei der deutschen Chemie. Aber sie schwieg. Schlumm war ein Mensch, der das Schweigen anderer sofort seiner eigenen Überlegenheit zuschrieb. Er betrachtete jeden, der nicht un mittelbar seiner Meinung zustimmte, als potentiellen Gegner; und er besaß eine fast übersinnliche Fähigkeit, Lücken im Verteidigungsge füge seines vermeintlichen Gegners zu entdecken, durch die er sich ohne Verzug vorwärts kämpfte, so, wie man sich im Straßengedränge geschickt und rücksichtslos durch Hohlräume windet. So war er lang sam, aber unaufhaltsam Sprosse um Sprosse der Aufstiegsleiter der Transcontinental aufwärts geklettert, hatte seine Kollegen, seine einsti gen Kollegen weit hinter sich gelassen, hatte auch – nun ja, das kommt schon mal vor, wo nicht – gelegentlich mit beiden Ellbogen umgesto ßen, was ohnehin schon fiel. Da stand er also, da lag er also am Swim ming-pool des President-Hotel in Bangkok, mit sportlich gestähltem Körper, 48 Jahre jung, auf der Höhe seines Lebens, wie er gern durch blicken ließ. Karen dachte: Gut, daß das nicht mein Kapitän ist, heute abend von Bangkok nach Teheran, dem würde ich Gift in den Kaffee tun, was hab' ich nur gegen ihn, er hat mir doch nichts getan? »Was hast du nur gegen ihn, er hat dir doch nichts getan?« flüsterte Kay Sanders, die hatte das also auch schon gemerkt. 18
»Der beste Aufenthaltsort südlich der Alpen und östlich der Elbe«, fuhr Schlumm ermutigt und provozierend fort, »ist immer noch ein Grand-Hotel-Swimming-pool. Den verlassen Sie am besten nicht, wenn Sie überleben wollen.« »Das sind mir schon wahre Männer, die sich wegen ein paar Bazillen nicht auf die Straße trauen!« sagte Karen zu Kay. »Weißt du, wozu mir solche Helden gut sind?« Sie schnaubte wütend wie ein Stier durch die Nüstern. »Da scheiß' ich drauf!« »Bitte?« fragte Schlumm mißtrauisch. »Ich scheiß' drauf!« sagte Karen laut und vernehmlich; die ganze Runde starrte sie verstört an. »Es steht Ihnen frei, Ihre Exkremente an einem für sie geeigneten Ort zu deponieren«, sagte Schlumm kühl und parodistisch. Das find' ich gut, wie er darauf reagiert, dachte Vera Merkelsbach; ich kapier' nicht, was die Hilldorff gegen ihn hat. Außerdem kann er uns gar nicht jucken, wir fliegen ja nicht mit ihm. »Andererseits«, fuhr Schlumm ungerührt fort, »liebe ich derartige Ausscheidungsprozesse bei mir an Bord nicht. Außer auf den dafür vorgesehenen Toiletten.« Karen hob ihren Finger zur Meldung, gehorsam wie eine brave Schü lerin: »Bitte Herrn Flugkapitän mitteilen zu dürfen: diese ihn umgebende Crew hat nicht die Ehre, mit ihm zu fliegen. Sie fliegt heute abend mit Flugkapitän Steiner; der startet jetzt gerade in Hongkong.« Jetzt war der Triumph ganz und gar auf der Seite Schlumms, das spürte man drei Meilen gegen den Wind. Und weil Schlumm das wuß te, nutzte er das nicht plump aus, sondern gab sich leidenschaftslos sachlich: »An der Korrektheit Ihrer Angaben, Fräulein Hilldorff, würde nie mand zu zweifeln wagen. By the way: sie sind korrekt! Nur: Ihrer, mei ner Fluggesellschaft in ihrem unerforschlichen Ratschluss hat es gefal len, Herrn Flugkapitän Steiner einen Checkpiloten mit auf den Weg nach Teheran zu geben: den Schlumm. Jetzt Sie wieder!« Daran mußten alle erst einmal schlucken – betretenes Schweigen. 19
Also der Steiner, zwischen Bangkok und Teheran, hatte einen LineCheck, einen so genannten: Alle halbe Jahre war es mit dem Glanz und Gloria der Kapitäne zu Ende, sie mußten erneut (wie I-Männ chen, dachte Karen) ihre Fähigkeiten beweisen – vor dem Onkel Dok tor, in einem so genannten Base-Check rund um den Heimatflugha fen, wo alle Notfälle durchgespielt wurden, und auf der Strecke, im Line-Check. Wußte Steiner das überhaupt schon? Schlumm konnte Gedanken lesen. »Steiner hat das eben erst erfahren«, sagte er. »Per Telex nach Hong kong. Der wird sich freuen!«
3
I
mmer, wenn Steiner in Hongkong startete, war er ausgezeichneter Laune. Hongkongstops verbuchte er stets auf der Plusseite, Enttäu schungen waren ausgeschlossen. Der Einsatzplan der Transcontinental bot ihm Gelegenheit, Hongkong in Raten kennen zu lernen: gestern ein Scheibchen Kowloon, heute ein Scheibchen chinesische Oper, morgen ein Scheibchen Aberdeen-Dschunkenleben. Langsam drang man tiefer ein in den gewaltigen Menschenkessel, lernte die Geheimnisse einiger der 235 kleineren Inseln kennen, die verschont vom Touristenstrom wa ren, fand Möglichkeiten, nach Peng Chau, Kau Yi Chau, Cheung Chau hinüberzufahren. Er liebte es, in kleinen, einsamen Tälern den bronze farbenen Feldarbeitern auf den Gemüsefarmen zuzusehen. In den Buchten wiegten sich sampans im Wind. Auf den stillen Stränden und Piers ließen Kinder ihre bunten Drachen steigen. Auf ackerbraunen Hügeln drängten sich Buddhisten- und Tao-Tempel und winkten mit kleinen Gebetsflaggen den vorbeifahrenden Seeleuten Abschied zu. Aus düsteren Schluchten zog plötzlich eine Prozession braungekleideter Mönche vorbei und entschwand geisterhaft im nächsten Dunkel. 20
Steiner hatte oft so gesessen: auf einem Felsbrocken am Strand, zwi schen leise sirrendem Riedgras auf einem Hügel, hatte seine Pfeife ge raucht, in den blauen Tag geblinzelt und sich wunschlos glücklich ge fühlt. Am Tag vorher war er nach Lantau hinübergefahren, eine Insel, die doppelt so groß wie Hongkong war. Er hatte sich über romantische Treckpfade bis zum Gipfel vorgekämpft, die hohe Luftfeuchtigkeit machte ihm zu schaffen, aber er wollte das Buddhistenkloster Po Lin Tse erreichen. Im Golden-Lotus-Kloster brannten Räucherkerzen, an roten Klostermauern flammten feuerrot blühende Regenbäume. Aus Rot-China wehte eine kühle Brise herüber und trocknete sein durch nässtes Hemd. Jetzt startete Steiner auf der Bahn 13 über der Bucht aus Hongkong hinaus. Die Sicht war schlecht; und er konzentrierte sich stark dar auf, haarscharf den Kurs zu halten, der ihn zwischen Inselhügeln hin durchführte. Die Hügel verschwammen im Dunst des tropisch-feuch ten Maitages; und Steiner stieg mit maximalem Steigwinkel, um so rasch wie möglich die Sicherheitshöhe zu erreichen. Als die letzten In selerhebungen weit unter der Fläche zurückblieben, die tiefe Inver sionsschicht, die über den Siedlungen lag, durchstoßen war, der Ho rizont sich ungetrübt über dem Pazifik ausdehnte, lehnte er sich be quem zurück. Er stopfte sich entspannt seine Pfeife, entzündete sie, schmauchte ein paar Züge, ließ sie wieder ausgehen und entzündete sie zum zweiten Mal. »Hübsch, dieser Tag über der Südsee!« sagte er. Im Gegensatz zu seinem Kapitän war Weersma, der Kopilot, in mi serabler Stimmung. Henk Weersma war Holländer, stammte aus De Koog auf der Insel Texel und war mit seinen 32 Jahren, wie er sich aus drückte, ›nicht mehr der Jüngste‹. Eine Bemerkung, die stets Heiterkeit erzeugte und als fishing for com pliments betrachtet wurde, jedoch ernst gemeint war. Fiel in einem Gespräch der Ortsname Hongkong, wurden Weers mas Nerven sofort in Alarmzustand versetzt. Er hatte Erinnerungen an diese Stadt, die erzeugten Alpträume. Schuld daran war Schlumm, 21
der auf Weersma wie das berühmte rote Tuch auf den Stier wirkte. Mit ihm hatte er seine Hongkong-Einweisung trainiert. Der Flughafen Hongkong gilt als einer der schwierigsten Häfen der Welt bei den Piloten. Die einzige Landebahn wurde aus Raumman gel zwischen See und Stadt in die Bucht gequetscht. Auf der Landsei te von hohen Bergen umgeben, erfordert der Flughafen ein kompli ziertes Anflugverfahren, das speziell trainiert werden muß. Noch kurz vor dem Aufsetzpunkt ragen die Slumbaracken der überbevölkerten Chinesenstadt in den Anflugsektor. Ein gradliniger Anflug ist wegen der Berge nicht möglich. Vielmehr mogelt man sich querab durch den West-Lamma-Kanal heran, hält direkt, schon mit voll gesetzten Klap pen und ausgefahrenem Fahrwerk, auf einen steil aufragenden Hügel zu, der sich über der Innenstadt türmt und mit einem schachbrettähn lichen Muster gekennzeichnet ist, und kurvt dann, kurz vor dem Auf prall, scharf und steil um neunzig Grad zur Kowloon-Bucht hin, wo sich jetzt erst, im letzten Teil des Landeanflugs, die Landebahn hinter den Hochhäusern zeigt. Ein solcher Anflug erfordert viel Training und eine genaue Kenntnis geographischer Einzelheiten, zumal die Sicht über dem Hafengebiet häufig schlecht ist und starke Querwinde und Böen den Anflug zusätzlich erschweren. Weersma hatte seine Einweisung zusammen mit zwei Kapitänen der Fernostflotte gemacht. Der erste, erholsamste Teil bestand darin, daß man auf den Victoria-Peak kletterte. Von dort aus bot sich ein faszi nierender Überblick über Städte, Buchten, Inseln und über den An flugsektor. Auf dem Wanderweg rund um den 650 Meter hohen Gipfel sagte Schlumm: »Das dort also ist Green Island, daneben Kau Yi Chau. Bis abeam Green Island müssen Sie 40 Klappen gesetzt haben … Sie halten noch immer 45 Grad bis Stonecutters, Sie gehen dabei 200 Fuß tiefer, mei netwegen … Da, die DC-8, da können Sie gut verfolgen, wie man's nicht machen soll … Warum so früh einkurven, warum jetzt erst vol le Klappen setzen? … Achten Sie auf den Overshoot-Radial, überwa chen Sie den Kopiloten, daß der das richtig setzt … Sie geraten in Teu 22
fels Küche, wenn Sie über Stonecutters nicht eindeutig das Checker board erkennen …« »Ich habe auch schon Kapitäne gesehen, die haben eine Zahl falsch eingedreht«, sagte Weersma laut und überdeutlich in die friedliche, klare Morgenluft hinein. Schlumm, der völlig vergessen hatte, daß er einen Kopiloten dabei hatte, glich seinen kleinen Fauxpas sofort durch Härte aus: »Was, genau, wollen Sie damit sagen?« »Ich will damit sagen: weshalb die diffamierende Bezeichnung ›über wachen‹? Wir sind eine Crew, wir arbeiten im gleichen Cockpit, wir helfen einander, das will ich damit sagen.« »Mehr will ich auch nicht sagen, Weersma.« »Der Ton macht die Musik!« beharrte Weersma. Schlumm blieb abrupt stehen, an jener Stelle, wo der Pfad durch Be tonstützen brückenähnlich abgestützt ist und frei im Raum, losgelöst vom Berg, zu schweben scheint. »Na, ganz wie Sie wollen«, sagte er ruhig. Dann wandte er sich seinen Kapitänen zu und fuhr sachlich in sei ner Einweisung fort. Weersma war ein Mensch, der von einem naiven Glauben an Gerech tigkeit durchdrungen war. Obwohl seine fliegerische Laufbahn sich als ein einziges Fiasko entpuppt hatte, war dieser Glaube durch nichts zu erschüttern. Auch auf dem Victoria-Peak, an jenem Märztag, wurde er durch Schlumms Bemerkung nicht mißtrauisch, bis er beim prakti schen Training am Nachmittag eines Ärgeren belehrt wurde. Die beiden Kapitäne hatten ihre Anflüge absolviert, und Weersma quetschte sich auf den rechten Sitz und übernahm die letzten drei. Er flog das ganze komplizierte Verfahren aus 6.000 Fuß durch, mit hol ding über Charly-Charly, Sinken auf 2.000 Fuß auf Abflugkurs und Sin ken auf 1.000 Fuß beim inbound-Kurs nach Charly-Charly. Schlumm hockte neben ihm, führte jede Anweisung Weersmas korrekt aus und schwieg mit einer Konsequenz, die jedem, der ihn kannte, unheimlich vorkommen mußte. Weersma setzte die Maschine bei seinem ersten Hongkong-Trai 23
ningsanflug recht und schlecht auf die Piste, rollte aus und bog auf die Rollbahn ein. Da brachte Schlumm die Boeing mit einem jähen Tritt auf die Brem sen zum ruckartigen Halt, beugte sich zu Weersma herüber und sag te: »So, das war das. Und jetzt hören Sie mal gut zu: Noch ein solcher Anflug, und Sie haben Hongkong zum letzten Mal gesehen, Ihre letz te Chance!« »Was hab' ich denn falsch gemacht?« fragte Weersma. »Was Sie falsch gemacht haben?« Jetzt wachte Schlumm aus seiner Ruhe auf. »Alles haben Sie falsch gemacht. Bei Charly-Charly out bound waren Sie 200 Fuß zu hoch, bei Charly-Charly inbound 200 Fuß zu tief. Sie haben den Luvwinkel nicht berücksichtigt. Sie haben zu spät 40 Grad Klappen gesetzt und zu früh 50 Grad! Sie sind über die Bruchbuden im Anflugsektor gedonnert, daß einem angst und bange werden konnte, nicht nur den Anwohnern!« »Warum haben Sie mir das dann nicht gesagt?« fragte Weersma. »Ich sag's Ihnen doch jetzt!« bemerkte Schlumm verblüfft. »Ich wußte nicht, daß dies ein Prüfungsflug war«, sagte Weersma ru hig. »Ich dachte, ich sollte Training erhalten.« Schlumm schluckte daran ziemlich lange, löste die Bremsen, ließ Weersma weiterrollen und kam auf seinen alten Satz zurück: »Okay, ganz wie Sie wollen!« Beim zweiten Anflug fand Weersma dann einen voll und ganz ver wandelten Prüfungskapitän vor, der vom Einfahren des Fahrwerks bis zum Aufsetzen tobte: »Sie liegen wieder zehn Grad daneben! Sehen Sie, verdammt noch mal, den verdammten Berg nicht? Wollen Sie ihn rammen? Rechts, sag' ich, rechts, Himmelkreuz! Warum haben Sie Ihre Hand nicht an den Schubhebeln? Wie, Sie wollten gerade? Wollten?? Tun, Mann, tun! Handeln!! Aber rechtzeitig! Eine Sekunde zu spät genügt, Sie ha ben keinen Vergnügungsdampfer unter ihrem Arsch, sondern eine 150-Tonnen-Boeing! Wo fliegen Sie denn jetzt hin? Dem Zeiger nach? Haben Sie mir denn befohlen, das Funkfeuer korrekt zu checken? Ich 24
hab's nicht gecheckt, junger Mann, Sie fliegen hinter einer Fiktion her! Und was ist mit der Höhe? Und den Klappen? Und dem Fahrwerk? Und dem Kurs? Sollen die Passagiere vielleicht Ihr verdammtes Fahr werk ausfahren? Warum geben Sie mir keine klaren Anweisungen? Warum wollten Sie jetzt Gas zurücknehmen, wo wir sowieso schon so wenig Fahrt haben?« »Ich hab' kein Gas zurückgenommen!« protestierte Weersma. »Sie wollten aber, geben Sie es doch zu!« »Ich hab' aber nicht!« »Sie wollten!« »Ich hab' rechtzeitig den Fehler erkannt!« »Rechtzeitig? Wir sind beinah abgeschmiert!« »Wir sind nicht abgeschmiert!« »Wir hätten aber können, weil Sie zu spät …« »Nicht zu spät! Wir sind ja nicht!« »Trotzdem zu spät! Und was ist jetzt mit der Höhe, der Position, dem Luvwinkel? Wo sind wir eigentlich? Sie lassen sich zu leicht ablenken, Mann, Sie lassen sich zu leicht verwirren! Halten Sie doch Höhe, ver dammt noch mal!« »Im Ernstfall würde niemand mich beim Anflug auf Hongkong so ablenken wollen.« »Nicht? Da haben Sie aber eine Ahnung, Sie Armleuchter! Nicht ich, aber die schlechte Sicht lenkt Sie ab, in Ihrem so genannten Ernstfall! Oder ein Regenschauer. Oder das Geschwafel des Chinesen-Control lers! Oder ein niedlicher Taifun, der gerade um die nächste Inselek ke gefegt kommt! Und was heißt hier: Ernstfall? Ist dies vielleicht kein Ernstfall, Sie Fatalist? Sind wir fünf Mann Besatzung nicht ernst ge nug? Wollen Sie uns gegen den nächsten Berg fliegen, Mann? Sehen Sie denn nicht, daß Sie die Kurve nie mehr kriegen?« »Ich hab' sie aber gekriegt!« sagte Weersma nach der Landung. Im Cockpit war ein saurer Geruch von Schweiß. Die schwüle Luft vi brierte. Der Bordingenieur seufzte still vor sich hin. Die beiden Kapi täne, die fertig waren, kamen aus der Kabine nach vorn und erschra ken über die nervöse, explosive Atmosphäre im Cockpit. 25
»Ja, weil ich eingegriffen habe!« tobte Schlumm. »Sie hätten aber nicht einzugreifen brauchen!« sagte Weersma, trotz der Anspannung, ruhig. »Schreiben Sie mir vor, was ich zu tun habe?« »Keinesfalls! Aber ich bitte Sie, diese … eh … Ausdrücke zu unter lassen. Mein Name ist Weersma, Herr Weersma.« Jetzt wurde auch Schlumm unmittelbar beherrscht und ruhig. »Darf ich das so verstehen, daß Sie Kritik an meinen Ausbildungs methoden üben?« »Ich schreibe Ihnen keinesfalls vor, was Sie zu tun haben!« »Vielen Dank; aber ich glaube, den Rest schenken wir uns!« Den Rest schenkten sie sich: der dritte Anflug fand nicht statt. Aber wenn Weersma geglaubt hatte, er würde Hongkong nie wieder sehen, irrte er sich. Jetzt hatte er Hongkong angeflogen; mir nichts, dir nichts war er für tauglich befunden worden, sogar mit einer Landung weni ger. »Aber Sie werden verstehen, da war ich sauer!« sagte er jetzt zu Stei ner. Er hatte ihm, während des Steigfluges, des Anschneidens der Luft straße über das Südchinesische Meer zur vietnamesischen Küste, sei ne Abneigung gegen Hongkong erläutert, und Steiner hatte ruhig zu gehört, gelegentlich an der Pfeife ziehend, Kurs korrigierend, die Wol kenformen eingehend studierend. Er war sechsundvierzig Jahre alt, von mittlerer Statur und ohne be sondere Kennzeichen, obwohl Kollegen von ihm behaupteten, ohne Pfeife sähe er irgendwie amputiert aus. Er trug einen kurzen Bart, den er im Urlaub auswuchern ließ, was während des Dienstes untersagt war, und liebte es, privat möglichst lässig gekleidet zu gehen. Er hat te sich einen way of life erarbeitet, der ihn die unangenehmen Din ge mit Gelassenheit, der Reihe nach, wie sie kamen, nehmen ließ. Die guten Stunden genoß er wie kostbaren Wein. Schlumm meinte, besä ße er keine Pfeife, müsse er Gauloise rauchen. Er zeigte ungewöhnli che Begabung zuzuhören: einer der Gründe, weshalb viele Besatzungs mitglieder ihr Herz bei ihm ausschütteten. Ein anderer: Man hatte das 26
Gefühl, daß er stets mit einem Teil seines Wesens auf der Seite des Sprechers war, ohne ihm nach dem Mund zu reden. Während sie Kurs auf North Reef nahmen, einem Korallenriff am Rande des Paracel-Archipels, meinte er ausgleichend: »Versteh' ich. Aber sehen Sie mal die andere Seite. Der Schlumm ist zwar ein al ter Haudegen und immer kurz vor dem Detonationspunkt. Aber er meint das nicht so, hinterher. Sie sehen ja, er schenkt Ihnen den letz ten Flug.« »Ausgesprochen gnädig! Ein Mann von weiß ich wieviel Jahren sollte sich beherrschen können. Vom Kommandanten einer LangstreckenBoeing erwarte ich, daß er nicht mit unflätigen Ausdrücken um sich wirft wie eine Dreckschleuder!« Weersma schaltete verbissen an der Kurzwellenskala. Steiner blickte ihn schweigend von der Seite an. »Hört sich gut an! Sie kommen weiter im Leben, wenn Sie die Men schen nehmen, wie sie sind. Forderungen an andere stellen? Großar tig. Stellen Sie sich lieber auf seine Schwächen ein und versuchen Sie, damit fertig zu werden!« »Hören Sie: Es gibt bestimmte Grundregeln, darüber gibt es keine Diskussion.« »Wer legt die fest? Sie?« »Vielleicht die Herren, die Captain Schlumm zum Check-Kapitän gemacht haben!« Er hatte die Frequenz abgestimmt und ließ erstaunt den Arm sinken. »Ich dachte, Sie hätten am ehesten Verständnis für arme Teufel wie mich.« Er korrigierte sich. »Haben Sie auch. Sie wollen mich wohl hart machen? Aber in der Hinsicht habe ich mehr durchge macht als ein Neger auf Polarexpedition!«
27
4
G
wen Gary saß in der hinteren Reihe des Erster-Klasse-Compartments. Jetzt, mit der Küste Vietnams unter sich, die sie nicht interessierte, mit Fluggästen vor sich, die sie nicht interessierten, sah sie sich wieder im Seashore-Café in Sydney sitzen: die Palmen des Botanischen Gar tens um sich, die Betonmuscheln und Baukräne der halbfertigen Oper aus der Hafenbucht ragend. Auch das interessierte sie nicht, damals. Was sie interessierte, war der schwarzhaarige Burt Lancaster- Typ, der drei Tische von ihr entfernt die SYDNEY POST las. Für eine alternde Frau, die nicht aufgeben wollte, sah er verdammt attraktiv aus. Gwen wußte, daß er nicht nur so aussah … sie erkannte Hank Midway auf den ersten Blick. Es lag fast ein Jahrzehnt zurück. Da hatte Hank noch weitaus attrak tiver ausgesehen, in seinem Schlafzimmer, eine ihrer Blusen notdürftig um den Körper gebunden, als sie sich verabschiedete für die Morgen theaterprobe. Damals hatte sie ihre letzte wirklich große Rolle gehabt. Jetzt, während die Stewardessen sich neue Störungen ausdachten und sie unbedingt zu einem Abendessen überreden wollten, wußte sie es endgültig: Alle ihre wirklich großen Rollen danach und alle wirklich ganz großen Rollen, die nach den wirklich großen Rollen gekommen waren – der ganze Hintertreppen-Schmieren-Kram war nichts als ein unaufhaltsamer Abstieg gewesen. Sie war erledigt, fertig, basta. »I am finished!« sagte sie in das Fahrtwindgeräusch hinein. Sie spürte, wie die Erinnerung an Sydney sie wieder aufzuregen be gann, obwohl sie sich schon über Australien geschworen hatte, nie mehr daran zu denken, und wie sie nun doch daran dachte und zu zit tern anfing! Nervös fingerte sie in ihrem Handtäschchen nach den Ta 28
bletten und fand die richtigen. Danach hatte sie Appetit auf einen Ko gnak, einen doppelten, nur, um den schlechten Geschmack runterzu bekommen. Sie klingelte nach der Stewardeß, die sie eben weggescheucht hat te mit der Aufforderung, sich bis zur Landung nicht mehr sehen zu lassen. Und während sie wartete, dachte sie an Hank, den muskulö sen, schmalhüftigen, mit allen Wassern gewaschenen Frauenverfüh rer. Sie hatten sich mehr als ein Dutzend Jahre gekannt, geliebt und vergöttert, damals in Hollywood, in ihrer Glanzperiode. Von all den Männern, die sie damals gekannt, geliebt und vergöttert hatte, war er einer der wenigen, mit dem sie sich auch menschlich verbunden ge fühlt hatte. Hank war stets für sie dagewesen. Ärger mit dem Produ zenten: GEH ZU HANK. Hilfe gegen ein ganzes Rudel kapitalisti scher Honorar-Beschneider: DER BESTE HANK, DEN ES JE GAB. Hindernisse auf dem Weg nach ganz oben? PUT A HANK IN YOUR TANK. Und Hank, nach einem Höllentag voller Drehärger, konnte abends am Ausgangstor der UNIVERSAL stehen, seinen neuesten Camaro wie einen eben auf einer Auktion erstandenen Rubens vorführen und sagen: Kommt, wir fliegen nach Las Vegas; hab' meine Beech schon auftanken lassen! – Und man war nicht mehr müde; man machte den Strip unsicher, die ganze Nacht hindurch, damals sang Sinatra noch im Sands, sagte: Eigentlich wollte ich heute zum Grand Canyon rauf, aber er war geschlossen. Man lachte, soff und liebte. Und Hank hatte nur Augen für sie und war, wie immer, ein großartiger Entertainer und maître d'amour; und damals trieben sie es praktisch die ganze Nacht hindurch: im Camaro. Hinter der Bühne, während Sinatra sich mit ei nem Kritiker von der LAS VEGAS DAILY herumboxte. In der Beech craft über Death Valley. »Bitte?« sagte die Stewardeß; es war die gleiche, die Gwen Gary nach dem Start zum Teufel gewünscht hatte. »Einen doppelten Kognak, wenn's geht!« »Wir sind bei den Vorspeisen, aber ich will sehen, was ich für Sie tun kann!« Sie verzog keine Miene; aber es bedurfte keines Hellsehers, um 29
ihre Gedanken zu lesen: Die alte Eule führt sich auf, als sei sie noch im mer ein Weltstar! Hank, also, vor sechsunddreißig Stunden in Sydney, kurz vor ihrem letzten Auftritt im King's Cross Théâtre: Sie hatten sich zehn Jahre nicht gesehen, gut! Aber hatte sie sich eine thailändische Tempeltänzermas ke übergestülpt? Ihr Gesicht einem Spezialisten für plastische Chirur gie überlassen? Auch Hank war älter geworden. Aber ein Blick auf sei ne Hände hätte genügt, ihn aus Tausenden herauszufinden. Schließ lich kannte man jede Falte am Körper des anderen. Sie hatte ihm voll ins Gesicht geschaut, als er seine Zeitung fortlegte. In seinen Zügen war nicht der Hauch des Wiedererkennens, einer Ahnung, einer flüch tigen Erinnerung. Endlich, nach qualvollen Minuten, war sie einfach aufgestanden und hatte sich an seinen Tisch gesetzt. »Ich weiß, dir schwebt mein Name auf den Lippen«, sagte sie so hu morvoll wie möglich. »Ich bin Gwen.« Sie hatte es ganz genau wissen wollen. Jetzt wußte sie es! Sein noch immer markantes, noch immer nicht verfettetes Gesicht überflog eine verlegene Röte. Er stotterte und benahm sich wie ein hilf loser Schuljunge in der Pubertät. »Natürlich! Die alte Gwen! Ich wußte schon die ganze Zeit, das ist doch Gwen, der alte Kumpel! Hab's einfach nicht riskiert, bei dei nem unnahbaren Äußeren! Hi Gwen! Hast dich gar nicht verändert, Gwen!« Das gab ihr den Gnadenstoß! Wenn er gesagt hätte: Sorry, Gwen, hab' dich wirklich nicht erkannt. Zehn Jahre gehen nun mal nicht spurlos vorbei, auch nicht an einer Frau wie dir. Muß mich erst an deine neue Figur gewöhnen; und, hal lo, was macht denn unser Doppelkinn? Schließlich war sie immer hart im Nehmen gewesen. Aber diese ver logene Schonung, die machte sie fertig. Die zeigte ihr, wo sie wirklich stand. Endgültig. »Ihr doppelter Kognak!« kam die Stewardeß mit maliziösem Lä cheln. 30
Gwen nahm das Glas vom Tablett. Sie blickte auf ihre Finger, die den Kognakschwenker umschlossen. Es waren Finger, die sie bisher, von ihrem zwanzigsten Lebensjahr an, für unveränderbar schlank gehalten hatte. Jetzt sah sie zum ersten Mal, wie fest ihre Ringe sich ins Fleisch pressten. Wie plump verformt der Mittelfingerknöchel war. Wie müh sam und nicht ganz schmerzfrei sich der Daumen krümmte. Sie setzte das halbvolle Glas an den Mund und trank, ihren Blick auf die Stewardeß richtend, ohne abzusetzen.
Im hinteren Teil der Touristenklasse saß, auf Vietnam hinunterblik kend, Ralph Osterman. An den leeren Sitz neben sich hatte er durch die Stewardeß das BESETZT- Schild heften lassen. Er jagte mit annä hernder Schallgeschwindigkeit Ruth entgegen; und auch Ruth, um fast 2.000 km von ihm getrennt, jagte auf tangierendem Kurs zu ihrem gemeinsamen Treffpunkt: Bangkok, die Stadt der Engel, die Doppel stadt am Menam, über den einmal jährlich die Königliche Barke glitt. Sie würden von Bangkok nichts anderes als die Flughafenbaracke ken nenlernen; und Ralph wußte nicht, ob er sich auf die Wiederbegeg nung freuen sollte. Er war Mitte Zwanzig, trug sein Haar locker und sehr lang und wirkte weicher, als er war. Ruth warf ihm in den zahlreichen gereiz ten Diskussionen seine Geschäftstüchtigkeit, seine Zielstrebigkeit, sei ne Cleverness geradezu vor. Sein Christusbart sah kaum gepflegter aus als sein Haar, obwohl der Eindruck täuschte: Er verwendete viel Zeit darauf, in seinen Haarwuchs attraktivste Unordnung zu bringen. See lische Belastungen zeigten sich unmittelbar an seinen großen, hellen Augen: Sie zogen sich auf schmale Spalte zusammen, als könne er sich dadurch von der Außenwelt und ihren Problemen abschirmen. Er stammte aus der Mark Brandenburg, aus einem winzigen Kaff in der Nähe Neuruppins; und er war erst vor fünf Jahren über die DDRGrenze gelangt. Von jener Flucht her datierte die Reizbarkeit seiner Augen: Kurz war der Kegel eines Suchscheinwerfers über ihn hinweg 31
geglitten, ohne ihn zu entdecken. Aber damals hatte er in einer Art Starrkrampf minutenlang in der feuchten Waldmulde gelegen; seit je ner Nacht zuckten seine Augen stets und unvermeidlich zusammen, wenn irgendwo unerwartet Licht aufflammte. Sofort, als könne er sich vor der Gefahr in ihre Geborgenheit zurückziehen, tauchten dann Er innerungsbilder an die märkische Heide auf: harzduftende Kiefern wälder, verwilderte Blumengärten hinter morschen, halb zerbroche nen Zäunen, verträumte Kreisstädte mit sehr viel Backsteingotik, Hei depfade, die an versumpfte Seen führten, über deren Binsenufer Wald schnepfen und Brachvögel schwirrten. Seine Kleidung pflegte er nur in Boutiquen einzukaufen; wegen der Hitze an Bord und in Hongkong hatte er seine hellviolette Samtjacke abgelegt. Am offenen Kragen seines gestreiften Hemdes trug er eine altsilberne Renaissancekette, an der als Anhänger die Friedensrune hing. Nach ihrem ersten gemeinsamen Auftritt und ihrer formlosen Hei rat im flämischen Mechelen hatte er ein N ihres Künstlernamens strei chen lassen. In Deutschland könne man gar nicht international genug wirken, um Erfolg zu haben, und es gäbe einem die Berechtigung, mit ausländischem Akzent zu singen. Ruth waren derartige Manipulationen zuwider. Trotzdem hielt sie sie nicht für wichtig genug, viel Zeit auf Diskussionen zu verschwen den. Andererseits geriet man mit ihr ohne Umschweife in die schönste Auseinandersetzung, wenn sie das Thema nur für wertvoll genug hielt. Er dachte an seinen ersten Besuch in ihrer Stuttgarter Mietwohnung, wenige Monate nach ihrer Begegnung im Londoner Soho. Sie wohnte in der Haussmannstraße; die alte, bürgerliche Villa lehn te sich mit dem putzbröckelnden Rücken gegen den Hügel, auf dem die Sternwarte stand; und von ihrem Zimmer aus blickte man hoch über die dunstgetrübte Stadt bis zum fernen Bismarckturm. Zum ersten Mal beobachtete er das feingliedrige Mädchen bewußt. Ruth war nicht übermäßig groß und wirkte körperlich fast zerbrech lich. Aber ihre marmorgrünen Augen, ihre ausgeprägten Züge strahl ten ungeheure Energie aus. Ihr Haar war tief schwarz, aber gelegent 32
lich schillerten schmale Strähnen auf wie das silbrige Grün auf Starenflügeln. Sie trug gern längliche Ohrgehänge aus Silberdraht. Während sie ihm Kaffee anbot, wirkte sie sehr nervös, lief planlos umher, wiederholte sich, geriet vom Hundertsten ins Tausendste. Und so sollte er sie eigentlich immer dann erleben, wenn sie das hatte, was sie ihre schöpferische Phase nannte. Gerade wenn sie mit unbedeuten den Handlungen beschäftigt war, wurden ihre besten Ideen geboren. In den ersten Monaten befruchteten sie sich gegenseitig mit ihren Einfällen und ergänzten sich zum Vorteil ihres breit gefächerten Re pertoires. Aber als er sie nach ihren spektakulären Anfangserfolgen in Stuttgart besuchte, um neue Programme durchzusprechen, zeigten sich zum ersten Mal Gegensätze, die von Auftritt zu Auftritt extremer wurden. »Hör mal, Ruth, wie gefällt dir das?« Er griff zur Gitarre. »Would you please come to Chicago … We can change the world, we arrange the world …« »Möchtest du Sahne im Kaffee? Das ist von Cosby, Stills, Nash & Young, nicht wahr?« »Ja, bitte.« »Zweimal ja? Hast du meine Zigaretten gesehen?« »Hier auf den Büchern. Aber meine Fassung ist originell, keine Ähn lichkeit mehr mit der Beatgruppe! Hier – hör mal!« »Sehr jazzig. Aber der Text bezieht sich doch auf die Protestaktion in Chicago, die ist passé und sagt doch den Leuten in … wo ist unser nächster Nahostauftritt? Istanbul?« »Beirut. Aber dann nimm es doch einfach als Musik!« »Wenn du es als Musik genommen haben willst, warum singst du dann Text? Dein Kaffee wird kalt! Schiebst du mir mal den Aschenbe cher rüber?« »Ich würde gern eine textlose Nummer bringen. Aber dann kommst du wieder und sagst: das ist mir zu jazzig!« »Wir müssen uns darüber klar sein, was wir sind: ein Gesangsduo oder eine Jazzgruppe. Im zweiten Fall sollten wir uns einen Bassisten und Schlagzeuger dazuholen.« 33
»Und ich fürchte, eine neue Sängerin wäre auch fällig. Warum siehst du so nervös auf die Tür?« »Hat es nicht geschellt? Gib her, ich habe auch was Neues!« Sie sang eine alte irische Ballade in einer sehr aparten, modernen Phrasierung. Wie immer war er hingerissen von ihr und vergaß vor übergehend seinen Ärger. »Warum kannst du meinen Ideen gegenüber nicht einmal so aufge schlossen sein wie ich den deinen?« »Wir dürfen uns nicht verzetteln. Wir haben schon zwei Bluesnum mern im Repertoire; und du weißt, daß mir die nicht liegen! Außer dem schluckt das Publikum das nicht. Es ist sehr schwer, die Leute für beides zu interessieren …« »Das ist doch einfach tantig!« »Wir sollten auch Lucy in the sky with diamonds wieder herausneh men!« »Aber es kommt großartig an!« »Es schadet unserem Ruf! Es verherrlicht LSD!« »Aber das wissen doch die Tanten nicht!« »Also … wenn du meine Sorgen tantig findest …« So etwa. Von Auftritt zu Auftritt versteiften sich ihre Auffassungen; aber ihre Erfolge waren spektakulär. Die ZEIT schrieb: … Fortsetzung dessen, was Abi und Esther Ofarim so viel versprechend begannen …
5
S
ind das die Waffen?« fragte er. Der Kanadier grinste. In seinem Stoppelgesicht wirkte der breit gezogene Mund wie eine Narbe. »Ziemlich eindeutig! Kaum zum Salatessen zu gebrauchen, Chef!« »Bißchen mickrig in deinen Tatzen!« sagte der Chef. 34
»Ich verlass' mich auch besser auf meine natürlichen Gaben. Aber für die Damen und die Intelligenz …« Er sah zu Lohmar hinüber, der gegen die Tischkante lehnte – mit winzigen Augen, die gutmütig blinzelten, bis sie in den entscheiden den Augenblicken kalt und teilnahmslos auf ihr Opfer starrten. Der Kanadier war gewaltig und scheinbar plump wie ein Bär, und so wur de er genannt. Er war ein Ungetüm von Mensch, dessen ärmellose Le derjoppe stets verschwitzt war; und tatsächlich fühlte sich der Bär erst wohl, wenn er schwitzen, poltern, losdonnern konnte wie ein Saurier. Die beiden Schwedinnen lächelten. »Ich übe lieber noch mal das Zusammenstecken!« sagte die Hell blonde mit dem Sommersprossengesicht. Sie ließ sich eine der Pistolen von Lohmar reichen. »Die findet man nicht einmal im zusammenge setzten Zustand an uns.« »Der Bär bringt die unter dem Fingerring unter!« sagte die dunkel blonde Dunkelhäutige, die Inger hieß und aus einem Dorf am VänerSee stammte. Lohmar räusperte sich. Er bog den Draht, der die Birne hielt, tie fer, so daß die wenigen Holzmöbel in dem kargen Hüttenraum lange Schatten warfen. »Pistolen, Gasspraydosen, Sprengkapseln – alles bestens vorhanden. Nimm die Füße vom Stuhl, Bär!« Er trat brutal nach seinen Beinen, der zog sie murrend an. »Wie immer geht die Sache elegant auf Katzen pfötchen über die Bühne. Geraucht wird jetzt nicht!« Die Hellhäutige, die Ingrid hieß und zwei Semester Philosophie in Uppsala studiert hatte, drückte gehorsam ihre Zigarette mit der Fuß spitze aus. Lohmar grinste zufrieden. Er war zu der Erkenntnis gelangt: Die geistreichsten Ideen nützten nichts, wenn man ihnen nicht mit Ge walt zum Durchbruch verhalf. Darin hatte er Erfahrung. Nach seinem Dienst in der deutschen Wehrmacht hatte er aus der französischen Ge fangenschaft heraus den Dienst in der Fremdenlegion angetreten, was ihm ein Jahr Gefangenschaft ersparte und ihn wahrscheinlich vor dem Hunger- oder Seuchentod rettete. In ihm war ein primitiver Drang 35
nach Rache verblieben: für die vergeudeten Jugendjahre in der Rus slandarmee und im Westen, für die Quälereien im Gefangenenlager bei Metz, wo sie Morgen für Morgen unter den Reitpeitschen polni scher und französischer Offiziere hindurchgejagt wurden. Und später für die Quälereien in der marokkanischen Sahara, wenn sie ihn, wegen simpler Brotdiebstähle, bis zum Hals in den Sand gruben. Scheißka meraden! Sie waren in der heißesten Mittagsstunde nicht etwa heim lich zu seiner Befreiung zurückgekommen, sondern um über ihm zu urinieren. Jetzt besaß er Macht und Gewalt genug, auf die ganze Welt zu kotzen! Die vier hockten in einem der zahlreichen PHRYXX-Quartiere Süd ost-Asiens – in jenem Viertel Bangkoks, das von den Besatzungen als Blue-Movie-Viertel bezeichnet wurde. Hierher fuhren die Taxifah rer vor den Luxushotels ihre Gäste, wenn sie ihnen movies, boys, girls very young zugeflüstert hatten: in ein Gassen-Hüttengewirr nahe dem Menam, das auch am hellichten Tag niemand wiedererkennen würde. Alles, was Verdacht erregen konnte, war hinter soliden Bambusver schlägen verborgen: Kurzwellensender und -empfänger, Dokumente, Skizzen, Namenverzeichnisse. Die Leute, die von PHRYXX ›an die Front‹ geschickt wurden, wech selten stetig. »In dieser Hinsicht«, pflegte Lohmar zu spotten, »glei chen wir den Astronauten. Ein Trip als Kopilot, später einen als Kom mandant, und dann adieu Raumfahrt!« Lohmar allerdings hatte meh rere Gesellenstücke, seit einiger Zeit nur noch Meisterstücke geliefert. Seine Aktivität resultierte aus seiner Anpassungsfähigkeit und Be weglichkeit, Japan, Malaysia, Irak hießen die Stätten seines Wirkens, in Thailand war er neu und unbekannt, nach seinem jetzigen großen Coup würde er hier nie wieder auftauchen. Im nächsten Land würde er erscheinen, bevor die träge mahlenden Mühlen der Regierung und von Interpol auf internationaler Ebene in Bewegung geraten waren. Der Organisation kam die Feindseligkeit und politische Zerrissenheit der asiatischen Staaten zugute. Wer in Indien unangenehm aufgefal len war, tauchte in Pakistan leicht unter. Voraussetzung war ein ein wandfreier Paß. 36
»Ein guter Paßfälscher ist für einen Phryxx das, was ein Masken bildner für den Filmstar ist«, sagte er gern. Er hatte einen ausgezeich neten. »Rekapitulation!« Er trat demonstrativ nach dem Schienbein des Bä ren, der apathisch zusammengesunken schien. »Wir sind auf der TC 773 gebucht. Der Bär und ich: First Class. Die Damen: Holzklasse! Schon mal nachgedacht, warum?« »Ingrid läßt sich einen Innenplatz vorn, ich hinten reservieren. Da mit covern wir die Economy!« Inger stopfte sich drei Pistolenkugeln in ihre Blusentasche über der rechten Brust und wölbte sich so vor, daß die Kugeln sich deutlich abzeichneten. »Glaubst du, die kleinen süßen stupids merken das, am Flughafen? Die halten doch eine MP-Schutz hülle für einen Geigenkasten!« »Der Bär hält die ganze Luxusklasse in Schach, da staunt ihr, was? Der kann das! Mach mal deinen Trick, Jumbo!« Der Bär erhob sich grummelnd, tastete nach einem Päckchen auf ei nem Steinsims und förderte eine längliche Dose zutage. Die Metallbox war nichts als eine sogenannte PSU, eine Public Service Unit, wie sie über jeder Sitzreihe in einem Düsenflugzeug angebracht ist. In ihr wa ren vier Atemmasken untergebracht, die bei Druckverlust in der Kabi ne automatisch herausfielen und von den Passagieren über Mund und Nase gestülpt werden konnten, um Sauerstoff zu atmen. Es gab bei der T.C.-Ausführung auch die Möglichkeit, eine Einzelbox auszulösen, die der scheinbar träge Bär jetzt demonstrierte: Vier Masken fielen heraus. Er stülpte sich eine Maske über Mund und Nase, zerrte eine Spraydose hervor, richtete sie auf Inger und In grid und rief: »Eine verdächtige Bewegung, und ich bring' euch um!« »Idiot!« sagte Lohmar ruhig. »Volltransistorierter, falsch program mierter Idiot! Wie wär's, du ließest erst deinen sonoren, alles tötenden Bestienschrei ertönen, ehe du ihn unter der Maske abwürgst?« »Noch mal!« sagte der Bär ruhig. Er probte dreimal, dann hatte er seinen Job im Griff. »Das wär's!« beschloß Lohmar lakonisch die Aufführung. 37
»Ich hab' ein Problem«, sagte die hellblonde Ingrid. »Wir besteigen gemeinsam die 773 nach Teheran, gut! Du, großer Lohmar, begibst dich gegen 120 Minuten nach Null ins Cockpit und einigst dich mit den Piloten. Auch gut! Gleichzeitig machen wir unsere verehrten Mit reisenden auf einige belanglose Änderungen im Flugplan aufmerk sam, okay! Saublöde Frage: Wozu das Ganze? Wer soll entführt wer den? Vor allem: wohin? Es geht uns natürlich nichts an, aber ein Hin weis wäre hilfreich. Hebt die Moral, sozusagen!« »Wohin? Hört her, wichtige Durchsage! Nach Teheran! Hauptstadt wovon? Ingrid, du kommst doch aus der Intelligenzfabrik!« »Persien. Aber da fliegen wir doch sowieso hin!« »Aber da fliegen wir doch sowieso hin, hört, hört! Nur: Wir den ken uns auch was dabei. Es hat jedoch seine Vorteile, schreibt euch das hinter die Ohren, wenn nicht allzu viele allzu viel wissen! Denn wenn man euch mal schnappt, oh happy day, dann ist es gut, ihr wisst unter all den süßen Vergewaltigungen und Arschkneiferchen nicht allzu viel auszuspucken! Klar?« »Frauenemanzipation ist in Thailand ein Fremdwort, wie?« begehr te Inger sanft auf. »Ob das klar ist?« »Das ist klar, Boss, allmächtiger!« »Okay, weil ihr es seid: Falls die Sache mit Teheran schief geht: KA BUL IST INFORMIERT.« »Das kennen wir, das genügt!« sagte Ingrid für alle. Lohmar grunzte befriedigt. Er beobachtete fasziniert zwei gewalti ge Kakerlaken, die vom einen Wandspalt über den zerfurchten Holz boden hinüber in den nächsten wechselten. Er ließ die größte geduldig an seinen Fuß heran, hob ihn langsam und ließ ihn sanft, aber unauf haltsam auf das Kerbtier niedersinken. Unter dem Geräusch, das in der Stille wie das Zusammenbrechen eines morschen Baumes klang, zuck ten die beiden Mädchen zusammen. Der Bär brummelte wollüstig in sich hinein und wartete auf das zweite Opfer. Aber Lohmar besann sich plötzlich eines Besseren oder Schlechte 38
ren. Er wischte die zweite Kakerlake mit der hohlen Hand vom Boden und sperrte sie in eine Seifendose aus milchigem Plastik. Mit seinem Klappdolch, den er aus der Gesäßtasche zog, bohrte er unbeholfen ein Luftloch hinein, steckte die Dose in die Hosentasche und meinte: »Ich glaube, die brauchen wir noch.« Die Mädchen räusperten sich: »Wir haben noch sieben Stunden bis zum Teheranflug! Wir sind am Swimming-pool von Siam-Intercontinental zu finden, falls man uns sucht!« »Das geht klar!« erlaubte Lohmar generös. »Und zur allgemeinen Be ruhigung: Wir nehmen in Ruhe unser Abendessen ein an Bord. Selbst, wenn wir auf Null plus einhundertfünfzig kommen sollten! Da kann gar nichts schiefgehen zwischen Bangkok und Teheran!«
»Da kann gar nichts schiefgehen in Bangkok!« sagte Raff. »Wetter okay, Anschlüsse okay. Die PASSAT kommt wunderbar um den Taifun her um. Alle on time, sogar die Passagiere.« Er warf einen flüchtigen Blick auf die Passagierliste, die seine Assi stentin abtippte: TRANSIT: Mrs. and Mr. Radewald … Mrs. Gary … Mr. Osterman … German Deputies of International Astronomical Union, to tal number 20 … »Diese deutschen Wundermänner, die muß ich mir mal in Ruhe an sehen nach der Landung. Das muß ja wohl die Creme deutscher Intel ligenzija sein, was? Das Dollste, was wir zu exportieren haben! Und die hat die Deutsche Bundesrepublik so einfach nach Australien ausgelie hen? Die wollten doch nicht etwa die mißlungene Stufe der Europara kete in Woomera neu abschmieren?« Er überflog die Namen der Zusteiger in Bangkok: Mr. Bronn, Mr. Patrinelli, Miß Osterman … Umsteiger der Interis lands aus Den Pasar … Raff stutzte. 39
»Osterman? Hatten wir doch eben schon!« »Das war Mr. Osterman!« »Miß Osterman steigt hier zu? Wahrscheinlich die Tochter des Al ten, was?« Seine Assistentin schrieb schon wieder: Miß Inger Bergsson … Miß Ingrid Lagerlöf … Mr. Chai … Mrs. and Mr. Bauer … Mr. Lohmar … Raff ersparte sich das Dutzend japanischer Geschäftsleute, das die TC 773 aus Hongkong mitbrachte. Seine Augen überflogen noch ein mal die Namen Osterman und Osterman. Merkwürdig, dachte er. Eu ropäische Namen. Holländer, Flamen oder so. Weit von zu Hause fort. Trotzdem getrennt gereist. Er aus Sydney. Sie steigt in Bangkok zu. Warum nicht? Ganz normal. Trotzdem mal anschauen. Gleich trifft der Schlumm hier ein. Der montiert wieder. Irgendwas. Zackiger Bur sche. Der fragt: Was tut die Station eigentlich noch gegen jene mittelal terliche Seuche, die einmal unter dem Namen HIJAK-KING aufgetre ten ist? In Deutschland werden die Passagiere auf dem Flug von Stutt gart nach Nürnberg gefilzt. Was geschieht in Fernost? Nichts, nichts! Raff würde antworten: Wir haben unsere Anweisungen. Beziehungs weise keine. Aber Sie als Kapitän können jederzeit veranlassen, daß … Natürlich: Die Verspätung geht auf Ihre Kosten. Aber Sie können das sicher begründen … Diese Tour. Oder er könnte antworten: Ich habe da zwei Passagiere, die scheinen mir nicht koscher. Mr. und Miß Osterman. Die sind aber bisher nicht zusammen gereist. Ich werde sie gründlich durchsuchen lassen. Gepäck identifizieren, all das. Wirf den Vierstreifern einen Krümel vor, sie fressen schon. Es gab Kapitäne, die mochte er gern. Steiner zum Beispiel. Aber das waren Ausnahmen. Er blieb immer höflich, sofern ihm die Tempera turen keinen Streich spielten, natürlich. Ab 45 Grad im Schatten ohne Klimaanlage brachen alle menschlichen Konventionen zusammen. Aber bis dahin: leben und leben lassen. Sie lebten schließlich nicht schlecht, die Kapitäne. Sie zehrten noch immer von ihrem alten Image. Aber die Aura schwand. Eines Tages würde sie aufgebraucht sein. Dann würde auch der Dümmste erken 40
nen: Kapitäne, so pionierhaft sie früher einmal gewesen sein moch ten – auch das in Grenzen –, heute waren sie nichts als menschliche Roboter. Steigen Sie auf 37.000 Fuß! befahl die Flugsicherungszentrale. Und die Herren Kapitäne, der Chief-Pilot Superman kletterte gehor sam und mühselig auf 37.000 Fuß, obwohl er eigentlich in 33.000 hatte bleiben wollen. Ein paar Schalter umlegen, einen Hebel auf down stel len, das konnte der Dümmste erlernen. Zum Lesen einer Checkliste genügten die Grundkenntnisse der englischen Sprache. Wenn sie wenigstens noch Englisch fließend sprechen könnten! Aber viele der älteren, der alten Luftwaffengeneration radebrechten auf eng lisch wie nach dem zweiten Fernsehkurs. Sie kannten sich aus mit Überdruckventilen und Rücklaufschaltungen, Nieder- und Hochfre quenzmysterien waren ihr täglich Brot. Aber sich über einen avantgardistischen Film mit ihnen zu unterhal ten, über den neuesten Dürrenmatt, die letzte Karajan-Aufführung … Anzeige negativ! Raff seufzte. Um sich abzulenken, suggerierte er sich künstlich Misstrauen gegen Mr. and Miß Osterman. Er beschloß, einmal am Eincheck-Schalter nach dem Rechten zu sehen und verließ den OpsRaum.
Der junge Mönch Phra Maha Chai reihte sich gegen 15 Uhr 30 in die Schlange vor dem Transcontinental-Schalter ein. Fast alle BangkokZusteiger für den Flug TC 773 trugen ihre Jacken über dem Arm und hatten ihre Krawatten gelockert: Mai und April waren die heißesten Monate Thailands; der Temperaturdurchschnitt lag zehn Grad höher als im Dezember.
Fast keine Frauen, stellte Phra Maha Chai sachlich fest, ohne Schlüs se zu ziehen. Genauso teilnahmslos registrierte er die Werbeplakate, 41
STOP OVER MALAYSIA AND EXPECT THE UNEXPECTED. HONGKONG – INSTANT ASIA. SAIGON STILL LIVES. BALI THE LOVELY ONE. Dann stießen seine Blicke auf ausgelegte Kabel, glitten an ihnen entlang und entdeckten Sven Arnold mit seinem Kamera team. Gleichzeitig hatte auch Arnold ihn entdeckt, löste sich aus dem Durcheinander von Assistenten, Verkabelungen und Fahrlafetten und streckte ihm jovial die Hand entgegen; der Mönch verneigte sich. »Trifft sich ausgezeichnet!« Der hagere Schwede wischte sich Hän de voller Schweiß von der Stirn. »Wir blenden da noch ein paar Ab schiedsworte ein, hätten das gleich in Betracht ziehen sollen, heute nachmittag im Wat Benchamobaphit!« »Benchamabophit«, korrigierte Phra Maha Chai lächelnd. »Genau da!« fuhr Arnold fort und hatte schon Wessmann, seinen Kameramann, herangewinkt. »Wir machen noch mal ein paar Close ups, dann schwenk über die Pax-Schlange, und da müssen dann auch Sie wieder stehen, Phra Maha Chai, mit Ihrem, was für einen eleganten Koffer haben Sie da eigentlich?« Der Mönch sah erstaunt an sich hinunter. »Rindsleder!« »Dieses Asien«, sagte Arnold, zu Wessmann gewendet, »bleibt mir ewig unverständlich. Wie 'ne Fuge von, na, Bach. Oder das New Yorker U-Bahn-Netz. Da sollte man nun was Abgegriffenes aus Pappe oder Sperrholz erwarten. Kommt der Mann mit feinstem Boxcalf!« »Ob der mitteleuropäische Zuschauer das frisst?« fragte Wessmann und beschäftigte sich schon mit dem Close-up. »Denken Sie nur an den Medizinmann!« erinnerte Arnold und häng te dem Mönch das Mikrophon um; dieser, bereits trainiert, bedeckte es mit seinem Gewand. Wessmann dachte gehorsam an den ›Medizinmann‹. Sie waren im Wat Benchamabophit umhergestreift, jenem Tempel aus weißem Mar mor an der Ayudhya Road, der wegen seiner romantischen Ecken von Liebespärchen bevorzugt wurde. Dort hatten sie für das schwedische Fernsehen den ersten Teil einer Serie über THAILAND HEUTE ge dreht, waren auf Phra Maha Chai gestoßen und auf den Mönch, den 42
Wessmann sofort als Medizinmann bezeichnete: Er hockte selbstver gessen vor einer brüchigen Holzbude im Staub. Wessmann hatte laut stark geäußert, der arme Hund von Bettler könne wahrscheinlich kei ne lebende Sprache sprechen. Da hob der Mönch lächelnd das Haupt und sagte in fließendem Schwedisch und feiner Ironie, er spräche außer Schwedisch, Englisch und Thai tatsächlich nur tote Sprachen – Altgriechisch und Sanskrit, sein Spezialgebiet seien die Pali-Schriften. Das verschlug Wessmann die Sprache, wenn auch nur für sehr kur ze Zeit. Schon hatte er das Innere der Hütte inspiziert, die ersten Be leuchtungsproben vorgenommen. Da standen auf wurmstichigen Re galen Flaschen und Glasballons, gefüllt mit Alkohol; und im Alko hol schwebte eine Schlange. Oder ein Schlangenstück: Da grinste ei nen einfach ein giftzahngespicktes Rachenstück an. Schon mußte sich Wessmann ein Kolleg über die Heilwirkung von Schlangenfleisch an hören, die chinesischen Schlangenweine kamen ins Gespräch, während Arnold mit der Handkamera eifrig filmte. Auch der junge Mönch Phra Maha Chai kam mit ihnen ins Gespräch; er staubte Krüge und Heil kräuter ab und rückte Zauberwurzeln und Schlangenweine ins fern sehgerechte Licht. Ob einer von ihnen schon mal etwas von der großen weiten Welt gesehen habe? Wessmann natürlich, mit seiner Plumpheit. »Ich habe«, sagte der Mönch, der im Staub gehockt hatte, »als Do zent an der Universität Uppsala unterrichtet. Allerdings nur drei Jah re. Sanskrit.« Er zeigte auf den jungen Mönch. »Phra Maha Chai wird morgen nach Europa fliegen. Er ist gebeten worden, über die zwölf Prinzipien des Buddhismus zu referieren.« Uppsala hatte dem deutschen Wessmann nicht einmal übermäßig imponiert. Er hatte gerade Haifische gefilmt, die in einem Süßwasser see in Peru lebten. Man stelle sich vor: Salzwasser-Haifische in einem Süßwassersee! Eine Sensation! Der See war durch Abschnürung vom Meer entstanden, hatte Süßwasserzufluß; aber die abgekapselten Hai fische passten sich langsam an und dachten nicht daran, zu krepieren, das hätte der Grzimek wissen müssen oder der Schuhmacher – Wess mann war ihnen zuvorgekommen. 43
Haie oder thailändische Mönche – die Welt war voller Wunder! Phra Maha Chai, so lernte Wessmann, würde morgen nach Europa fliegen, nicht nach Schweden, sondern nach, und das hatte für Wessmann eine unendlich höhere Priorität, Hamburg, an die Universität am Damm tor. Er ließ die Namen zärtlich auf seiner Zunge zergehen, bei 38 Grad im Schatten, in Bangkok: Mittelweg, Rothenbaumchaussee, Philoso phenturm. Später hatten sie begeistert interviewt: »Welche Rolle spielen die Mönche im gesellschaftlichen Leben Thai lands?« »Gar keine. Das ist unser Problem. Früher war der Tempel Mittel punkt des Dorfes. Alle Bildung ging von den Mönchen aus. Heute ist Erziehung eine nationale Angelegenheit geworden. Die Mönche sind die am wenigsten Gebildeten. Wir versuchen, die Apollomission ge nauso zu studieren wie die Lehren Buddhas.« Sachliche Informationen (man wird sie später zur Untermalung der Bilder brauchen. Einfach einblenden. Raumlos. Wieder ausblenden): »Im 14. Jahrhundert empfingen die Thais in Sukhotai einen Missi onsmönch aus Ceylon, von der orthodoxen Theravada-Schule … Die meisten Thais werden bhikkhus oder Buddhistenmönche. Sie rasie ren sich Kopf, Bart und Augenbrauen. Diese letzte Sitte ist typisch für Thailand; man findet nirgends einen Hinweis darauf im Buch buddhi stischer Disziplinen.« Oder: »Wenn der Mönch seine orangenrote Robe angezogen hat, trennt er sich von allen weltlichen Banden. Er darf keine Frau berüh ren, nicht mal seine eigene.« »Das Tolle«, sagte Wessmann, »ist: diese Religion lebt!! Sie ist nicht isoliert vom Alltag – etwas für die Erbauung am Sonntagmorgen in Schlips und Kragen wie bei uns. Sie ist gegenwärtig, Mann! Sie ist in!« Und jetzt, vor seiner Abreise nach Hamburg mit TC 773, wurde Phra Maha Chai noch einmal befragt: »Nein. Genau genommen läßt sich Wat nicht mit Tempel überset zen. Buddha hat sich nie als göttlich bezeichnet; eher als Lehrer mit einer Mission. Ein Wat ist daher eher eine Gruppe von Gebäuden, 44
in denen man die Lehren Buddhas studieren und über sie meditie ren kann.« Harter Schnitt, dachte Wessmann. Einblenden: eine provinziel le deutsche Dorfkirche, Sauerland oder so. Schön gekleidet schrei ten die Sonntagmorgen-Christen zum Altar. Eine zu Herzen gehende Predigt. Hinterher: Dorfkrug, Stammtischpolitik. Die Kirchgänger geraten sich in die Haare: über die Anlage des neuen Naturlehrpfa des. Über die Außenpolitik Willy Brandts. Über die Erhöhung der Benzinsteuer. Über einen Punkt sind sich alle einig: keine Pornogra phie! »Sie immer mit Ihrer Sozialkritik!« monierte Arnold und schob sei ne Kopfhörer beiseite. »Davon hat sich das meiste in Schweden längst von selber erledigt! Vielen Dank, Phra Maha Chai!« Der Mönch, kurz vor seinem Transcontinental-Flug nach Deutsch land, nach Hamburg, an Jungfernstieg und Altonaer Fischmarkt, lä chelte sanft zurück. Er reihte sich wieder in die Schlange ein; und Ar nold ließ noch einmal die ganze Reihe abfilmen. Das Orangenrot des Mönchgewandes hob sich blendend aus dem eintönig sachlichen Weiß der Europäerhemden hervor.
6
I
m Luftraum über dem westlichen Pazifik herrschte in den Nach mittagsstunden immenser Verkehr wie während der Stoßzeiten in einer Großstadt. Von Tokyo aus ergoss sich ein lückenloser Schwall von Boeings, Coronados, Douglas-Lang- und Mittelstreckenmaschi nen. Eine erste Aufgabelung erfolgte über Oshima, südlich Hondos. Ein Teil nahm Kurs auf Okinawa, ein weiterer wählte weiter südlich die A 90 nach Manila. Über Taiwan bogen alle Maschinen, die Bang kok nicht als Ziel hatten, nach Saigon und Singapore ab; und schließ 45
lich blieb zwischen Hongkong und Vietnam nur noch der Strom von Flugzeugen übrig, die nach Bangkok oder Rangún wollten. Einer dieser Punkte auf den Radarschirmen von Saigon-Controlwar die TC 773; und Steiner sagte zu Weersma: »Da haben Sie Ihren Taifun!« »Ein gut entwickeltes Mädchen, zeigt aber kein Interesse für uns. Wie heißt es?« »Abigail.« Der Taifun stand etwa 200 Meilen querab an Backbord. Die Schat ten seiner äußersten Wolkenausläufer verdunkelten gerade das klare Grün des Nordriffs. »Eine hübsche geballte Ladung Gewalt!« Steiner kurvte 20 Grad weiter nach Norden, weil er spürte – mehr ahnte als spürte –, daß er in die äußersten Randwirbel des Taifuns ge riet. Voraus blinkten vietnamesische Küstensiedlungen auf: Tuy An, Bong Son, Tarn Quan und die große Stadt Bich Dinh. Das Land dahin ter lag bereits im Schatten der Sturmwolken. »Abigail hat Wumm!« lachte Weersma. »Come in, Saigon!« Er gab seine Positionsmeldung durch. »Ein an den Himmel projizier tes Symbol für die Gewalt dort unten!« philosophierte er weiter. »Da schwafelt die Presse von anarchistischer, faschistischer Gewalt, wenn ein paar linke Studenten Molotow-Cocktails werfen! Das da – ein ein ziger Angriff von B-52-Bombern: darin ist mehr Gewalt, als seit Beste hen der Menschheit von den paar einsamen Revolutionären angewen det worden ist! Über diese Art von Gewalt regt sich niemand auf!« »Die Befürworter der Gewalt werden aber stets die besseren Argu mente auf ihrer Seite haben!« Steiner wich einem Zirrenschleier aus, der wie zerknüllte Gaze aussah und auf Turbulenz deutete. »Ich habe mal Joan Baez an Bord gehabt. Da lief gleichzeitig ein Interview mit ei nem Zeitungsreporter. Gegen seine Gegen-Thesen wirkte die Baez hilf los kindlich und verträumt idealistisch. Und obwohl der Reporter lo gisch nicht zu widerlegen war, hätte jeder merken können, die Baez hat recht.« »Einer der Fälle, bei denen die ungeschickten Argumente überzeu 46
gender wirkten als die logisch-raffinierten, würde ich sagen. Ich habe das Interview, glaube ich, später im Playboy gelesen.« Steiner kurvte von 213 Grad auf 270. Der Luftkorridor über Vietnam war in dieser Richtung angelegt. Unter ihnen lagen Quien Nhon und Bien Dinh. Er warf einen letzten Blick auf den Taifun, der vielleicht schon heute oder morgen Schlagzeilen machen würde, weil er eine Kü ste verwüstet, Sturmfluten erzeugt, Zehntausende ertränkt hatte. Steiner hatte in Hongkong die Wetterkarten studiert und wußte, daß ihm im Golf von Bengalen ein weiteres Exemplar der Gattung STURMTIEF bevorstand: Ein äußerst eng begrenztes Tiefdruckgebiet nordöstlich von Ceylon wanderte in jene unterentwickelte Ecke des Golfs von Bengalen hinein, die von jeher als Zyklon-Notstandsgebiet verschrien war: Ost-Bengalen, Gangesdelta, Bangla Desh. Erst im No vember 1970 waren hier, auf den vorgelagerten Inseln des BramaputraDeltas, weit über 100.000 Menschen umgekommen. Der Pfad des da maligen Zyklons war Tage vorher durch Wettersatelliten genau ausge macht worden, und jeder zuständige Meteorologe wußte, daß er das Delta mit verheerender Vehemenz treffen würde. Aber im Zeitalter der Mondlandungen gab es keine Möglichkeit, ein paar lumpige hundert tausend Pakistanis rechtzeitig zu warnen! Oder es hatte keine Behör de Interesse daran, hungerleidende Nichtsnutze zu alarmieren. Oder: Die Warnung ließ sich nicht vermeiden, aber die Gewarnten befolgten sie nicht. Das war nicht unbedingt als ein Mangel an Intelligenz anzu sehen; bei der Hamburger Flutkatastrophe 1964 waren die Betroffenen überaus rechtzeitig benachrichtigt worden, hatten aber die Warnung schlichtweg für Hamburger Schnack gehalten. Im Gegensatz zu den karibischen Hurrikans und pazifischen Taifu nen trugen die indischen Zyklone keine Namen. Die leutseligen Me teorologen tauften Hurrikans und Taifune auf Mädchennamen wie Kathleen, Bery oder Susi, gelegentlich auch schnurrig auf Honeymoon, Your Father's Mustache oder Mercedes 250. In ihrer schrulligen, unter kühlten Art warnten sie vor derartigen Flughindernissen stets in der gleichen Art: Da nähert sich Opal Ihrer Route, nun ja, Sie werden et was Bewölkung und Turbulenz haben, das übliche in dieser Jahres 47
zeit. Aber sehen Sie nur: hier auf der Karte! Er bleibt weit südlich Ihrer Flugroute und berührt sie nicht! Die Karten wirkten stets beruhigend auf die zu beratenden Besat zungen ein, und statt in blutigem Rot waren sie stets in dezentem Grau und Druckschwarz gehalten, keine Angst, so schlimm wird es nicht werden, sehen Sie nur, die hübsche Zeichnung! Flog man dann los, so rappelte und schepperte es an allen Ecken und Enden. Rannte man als junger Anfänger von Kapitän nach der Landung schweißüberströmt zur Wetterwarte und zeichnete zitternd die gewaltige turbulente Wettererscheinung dort in die Karte, wo man sie angetroffen hatte, so blickte einen der älteste Veteran vom Dienst mitleidig an, als habe man Ginger Ale mit Cointreau verwechselt, be feuchtete seinen Zeigefinger entgegenkommend, fegte damit über die komplette, schmerzlich erarbeitete Wettererscheinung und sagte un aufdringlich: Sehen Sie doch selber: dort, wo Sie hinmalen, kann gar nichts sein. Ihr angeblicher Zyklon liegt, wenn überhaupt, hier! Wir haben das sehr sorgfältig eingezeichnet! Nach spätestens zehn harten Dienstjahren war jeder Kapitän so weit, daß er sich die Beratungen der Meteorologen stillschweigend anhörte und seinen Teil dazu dachte. Das erzählte Weersma seinem Kapitän. »Ich finde es großartig, daß Sie so gewissenhaft die gesammelten Lei den Ihrer Kapitäne studieren!« lobte Steiner. »Trotzdem gehe ich sicher nicht fehl in der Annahme, Sie werden bald Ihren drei Streifen über aus freudig einen vierten hinzufügen?« »Nur, weil ich die Unabhängigkeit liebe! Die freie Entscheidung! Ich möchte gern verantwortlich sein! Ändern, ändern, ändern!« »Da hat man mir einen weltfremden Idealisten als Kopiloten beige geben!« ironisierte Steiner herausfordernd. »Sie sind doch selber einer!« sagte Weersma leise. »Wissen Sie noch damals: der Kampf der Piloten gegen die Bodenstationen? Als die drei Jets nach Jordanien entführt wurden? Als in Kairo der erste Jumbo ge sprengt wurde? Passen Sie auf, jetzt treib' ich unseren Bordingenieur De Laer auf achtzig! Das ist sein Spezialthema: Flugzeugentführungen!« 48
De Laer war ein wortkarger Amerikaner, der an Magengeschwüren litt. Er hatte sie sich vor Jahren unter missmutigen, kurz vor der Pen sionierung stehenden amerikanischen Charterkapitänen geholt – der Grund für seine Übersiedlung nach Europa. An Privatgesprächen be teiligte er sich nur, wenn er dabei Kritik und Aggression loswerden konnte. »Entführungen? Attentate? Da stecken doch alle unter einer Decke! Luftfahrtgesellschaften und Hijacker! Nicht der Entführer ist schuldig! Sondern die Entführten!« Weersma drehte sich um – ein mühseliger Prozess in der Boeing 707, da der Bordingenieur direkt hinter dem Kopiloten saß. »Das erläutern Sie mal genauer.« »Wissen Sie genauso gut wie ich. Erst sehen alle geduldig zu, bis eine Entführung geschehen ist. Dann werden fieberhaft Maßnahmen er griffen – die Warnung für die Entführer, die Finger davonzulassen und sich vorübergehend harmloseren Beschäftigungen zuzuwenden. Dann, weil ja nichts passiert, werden die Gegenmaßnahmen laxer: er ste Anzeichen für die Entführer. Eines Tages werden sie ganz einge stellt: Bahn frei für die neue Schweinerei.« »Sie glauben aber doch nicht, daß Behörden und Gesellschaften Pro zente für ihre Zusammenarbeit mit den Banditen erhalten?« »Würde mich nicht wundern! Nehmen Sie nur das Beispiel Prämie nerhöhung!« »Welche?« »Die Zerstörung der drei Jets in Kairo und Jordanien im Spätsom mer 1970. Bis dahin hatte sich niemand sonderlich über Hijacking auf geregt. Es war nie ein Flugzeug beschädigt worden.« »Doch: in Damaskus!« »Gut. Das war eine Ausnahme von der Regel. Aber ansonsten waren immer nur die Besatzungen in Mitleidenschaft gezogen worden, das regte niemanden auf.« »Wir sollten gefälligst nicht so mit unserer Nervenbelastung hausie ren gehen, nicht wahr?« »Genau! Das schreiben natürlich immer nur Leute, die gerade keine 49
Pistole im Nacken spüren und keine Grenze unerlaubt überfliegen, bei deren Überflug scharf geschossen wird.« »Und die nicht bei Nacht und Nebel unangemeldet auf einem völlig unbekannten Platz landen müssen«, mischte sich Steiner ein. »Wir sind uns also völlig einig: Die tatsächlichen Belastungen der Crews werden bewußt heruntergespielt. In den Pressemeldungen, die als vornehmere und kostenlose Werbung von den airlines an die Re daktionen geschickt werden, ist nie von den Nöten einer Besatzung die Rede, die in einem Achtzig-Millionen-Airliner mit schlecht funk tionierendem Radargerät oder einer steinzeitlichen Sonnenblende kämpft. Immer nur davon, daß das neue Fluggerät das fortschrittlich ste und am besten funktionierende der Luftfahrtgeschichte ist.« »Und von den achtzig Millionen ist die Rede!« ergänzte Weersma. »Von einer Charter-Verkaufsabteilung können Sie nun wirklich kei ne Sachkenntnis erwarten!« sagte Steiner, sich über das schlecht funk tionierende Radargerät beugend. Die Beanstandung, das Wetterradar lösche auf dem 50-Meilen-Radius Bodenechos nicht genügend aus, lief schon seit Wochen durch das Technische Log. Der prüfende Boden mechaniker hatte stets dazu vermerkt: AM BODEN OK, WEITER BE OBACHTEN! Als ob man das Radar am Boden brauchte und nicht in 40.000 Fuß Höhe! Man konnte selbstverständlich als Kapitän ein solches Flugzeug ablehnen. Und würde aufgrund einer Nicht-Ableh nung einmal ein Unfall passieren, schon würde man den Kapitän für sein Nicht-Ablehnen verantwortlich machen. Insofern hatte sich der Arbeitgeber bestens abgesichert. Aber der Himmel hätte dem Kapi tän gnädig sein müssen, der im harten Alltags-Flugbetrieb tatsächlich ein solches Flugzeug abgelehnt hätte, nur, weil ein Wetterradar, das nicht einmal auf allen Strecken Vorschrift war, nicht völlig einwand frei, aber immerhin noch brauchbar arbeitete! Bei einer Chartergesell schaft, für deren drei jährlich aufzufüllende Kapitänsposten dreißig Bewerber zur Verfügung standen! »Vergessen Sie nicht, daß wir bei ei ner Chartergesellschaft fliegen! Bei einer regulären Gesellschaft ist al les anders!« De Laer gluckerte in sich hinein. 50
»Sie sind doch nicht etwa bei einer regulären Gesellschaft geflogen?« fragte Weersma. »Was meinen Sie nun eigentlich mit Ihrer Prämiener höhung?« »Als der erste Jumbo der PAN AM in Kairo in die Luft ging, da rea gierten die Versicherungsgesellschaften prompt: Sie erhöhten ihre Ver sicherungsprämien. Von den Besatzungen, die diesem offenbar erhöh ten Risiko ausgesetzt waren, sprach niemand.« »Hören Sie mal!« Weersma drehte sich wieder einmal demonstra tiv um und parodierte helle Empörung. »Der reine Materialwert des Menschen beträgt dreizehn Mark neunzig! Den wollen Sie doch nicht allen Ernstes mit so etwas Wertvollem wie einem 80-Millionen-Flug zeug vergleichen? Und da sind die Ersatzteile noch nicht einmal inbe griffen!« »Genauso ist es!« sagte De Laer und widmete sich inbrünstig der Ju stierung seiner Generatoren. »Das ist so wie bei den Gewitterflügen!« sagte De Laer. »Gewitterflüge?« »Die Besatzung bemüht sich unter Aufbietung aller Kenntnisse und Erfahrungen, lebensgefährliche Tropengewitter zu umfliegen, und wenn sie nach der Landung in Schweiß gebadet ist, fragen die Stewar dessen: Was haben Sie nur – wir hatten doch einen langweiligen Flug, überhaupt nichts los! Nicht mal Gewitter!« Steiner suchte nach seiner Pfeife: »Also gut, wir sind uns einig: Sehr viele zuständige Leute behandeln das Thema Flugzeugentführung sehr leger. Sie wissen aber auch: Für das Auslösen der Piloten werden anstandslos irre Preise von den Er pressten bezahlt. Unser Leben gilt eben doch! Aber über das Wie der Verhinderung – da gehen die Meinungen nun eben wirklich ausein ander.« »Bei der EL AL«, sagte De Laer, dankbar, ein neues Stichwort zuge worfen zu bekommen, »und bei der SWISS-AIR gibt es Fernsehgerä te im Cockpit. Damit können die Piloten jederzeit die Passagierkabi ne überblicken.« »Was soll ich denn da überblicken?« Weersma zuckte protestierend 51
die Schultern. »Wie die Entführer meine Lieblingsstewardeß mit einer Kanone bedrohen? Da nützen mir doch alle verschlossenen Cockpit türen und Panzerungen nichts.« »Bei der EL AL läßt sich Tränengas durch die Frischluftdüsen sprü hen. Und die Sicherheitsbeamten, die stets mitfliegen, sind ehemalige Fallschirmjäger und Karate-Leute.« »Die EL AL«, mischte sich Steiner ein, »ist in einer besonderen Lage. Ihre Flugzeuge werden von den arabischen Nationen als Militärflug zeuge betrachtet. Ich habe aber nicht vor, den israelisch-arabischen Krieg in unseren Zivilflugzeugen austragen zu lassen!« »Ein bißchen Gewalt gegen diese Verbrecher kann nie schaden!« »Verbrecher: ja. Gewalt: ich weiß nicht. Ich weiß es einfach nicht. Sie, Weersma?« »Die beste Art, Entführungen zu verhindern, ist eine gewissenhafte Kontrolle am Boden!« meinte Weersma. »Ich mache für jede gelungene Entführung die zuständige Bodenstation verantwortlich!« »In Amerika fliegen ebenfalls Sicherheitsbeamte mit«, drängte De Laer. »Amerika«, konterte Weersma, »hat noch nie in der kurzen Ge schichte seiner Existenz einen auch nur harmlosen Beitrag zur geisti gen Bewältigung eines Problems geliefert. Von den ersten Pioniertagen an galt dort das Gesetz: Wer zuerst schießt, hat recht! Und diese Phan tasielosigkeit, diesen Mangel an geistiger Initiative sollen wir an Bord ausbaden? Unsere Flugzeuge in Schlachtfelder verwandeln? Bloß, weil den zuständigen Behörden kein fruchtbarer Gedanke kommt? Dieses Versagen sollen wir ausbaden? Uns auf Straßenkämpfe an Bord einlas sen? Nie!« Weersma knallte temperamentvoll seinen Kugelschreiber auf sein clipboard. Steiner schloß ab: »Ich möchte nicht, daß meine mir anvertrauten Passagiere zu Scha den kommen. Muß deswegen gleich der Entführer niedergemetzelt werden? Gibt es in einer zivilisierten Gesellschaft keine Möglichkeit, besser als der Verbrecher zu sein?« 52
»Ich kenne einen Fall bei Ethiopian Airlines«, sagte De Laer. »Da ha ben zwei Sicherheitsbeamte zwei Entführer an Bord übermannt und an ihre Sitze gefesselt. Dann haben sie zwei Handtücher um ihre Häl se gebunden. Und dann …« »Und dann?« fragte Weersma; Steiner kannte den Fall, der sich 1970 ereignet hatte. »Dann«, De Laer machte eine eindeutige Bewegung an seinem Hals, »dann haben sie, ssshrrrtt, den Entführern den Hals durchgeschnit ten. Das schreckt ab!« »Das mit den Handtüchern zwecks Vermeidung größerer Blutflek ken auf den Sitzen find' ich gut!« sagte Weersma. »Aber das mit der so genannten Abschreckung, das ist eine altbewährte Ausrede für eige ne Mordlust.« »Bei der gleichen Gesellschaft«, half Steiner seinem Kopiloten, »hat sich wenig später wieder ein Entführungsfall ereignet. Kein Verbre cher läßt sich durch Strafen abschrecken.« »Alte schwedische Bauernregel!« unterstützte jetzt Weersma seinen Kapitän. »Weil jeder Verbrecher glaubt, er sei so geschickt, daß ihn niemand erwischt!« »Weil Gewalt immer wieder raffiniertere Gewalt erzeugt!« De Laer zuckte die Schultern und schaltete dann die Kraftstoffentei ser ein; gelbe Warnlampen flackerten auf.
»Abgeblasen? Wieso abgeblasen?« rief Lohmar ratlos. Immer, wenn er sich erregte, schwoll die Narbe auf seiner Stirn. In der grobporigen Haut über der Nasenwurzel wirkte sie wie das dritte, mystische Auge legendärer Propheten. Er trommelte wütend auf den Telefonhörer. »Wegen des Risikos!« sagte der Boss. »Die Sache ist geplatzt, weil mir im Cockpit zuviel Leute herumstehen.« »Leute herumstehen?« 53
»Sitzen, meinetwegen! Auf ihrem dicken, fetten Kapitänsarsch! Da fliegen zwei mit, heute abend. Da ist mir einer zuviel an Bord, ka piert?« »Wer hat Ihnen den Bären aufgebunden?« »Kein Bär. Tatsache!« »Letzte Nachricht?« »Allerletzte! Da fliegt so' ne Art Prüfer mit, der hockt hinter dem Kommandanten, da, wo Sie sich hinhocken sollten mit der Kanone. Der heißt Schlumm, und das ist mir einfach zu riskant. Hat's jetzt ge zündet?« »Da ist was dran!« gab Lohmar zögernd zu. »Das ist ein zusätzliches Risiko.« »Und das lassen wir ruhig im Schrank! Wir konzentrieren uns jetzt auf den Eisenbahntrip nach Singapore.« »Darüber haben wir den Konsulatsschweinen doch gerade einen Tip zukommen lassen, um sie abzulenken?« »Na und? Soll das heißen, wir würden mit Blavatzky und seiner zahnlosen Meute nicht fertig?« »Okay, nicht mein Baby. Also abgeblasen!« »Abgeblasen!« »Und wir hatten die ganze westdeutsche Super-Intelligenz schon in der Hand!« sagte Lohmar wütend und knallte den Hörer auf die Ga bel. Aus den Lautsprechern des Siam-Intercontinental klangen James Last, Tijuana Brass, The Fifth Dimension. Ihre Rhythmen verfolg ten die Hotelgäste bis in die Fahrstühle. Am Swimming-pool schwieg auch nachts, wenn das gründurchleuchtete Wasserbecken verlassen dalag, die Stimme von Diane Ross nicht, und mexikanische Trompe ten bliesen, wenn auch sanft, Pseudo-Volkslieder in die feuchte Tro penluft. Hier, hinter den Wachtposten der Hotelportiers, dem Vertei digungswall der Réception, in Reichweite der Klimaanlagen und Bar keeper, verbrachte eine durch Finanzkraft und Kreditkartensystem identifizierte Elite ihre Freizeit, geschützt vor Staub, Hitze, Auspuffga sen und Hunger. 54
Die beiden Schwedinnen genossen die wenigen Stunden am Hotel Swimming-pool wie vor einem ganz gewöhnlichen Flug. Ingrid La gerlöf war die kaltblütigere von beiden, obwohl sie wegen ihrer Som mersprossen harmloser als die malagabraune Inger Bergsson aussah. Inger wurde von Lohmar gern als die ›Schlangenäugige‹ bezeichnet, die ihre Glieder wie ein Python um ihr Opfer schlang. »Aber die Gift zähne«, pflegte er zu ergänzen, »die Giftzähne schlägt die Lagerlöf in ihr Opfer!« Bei dem, was Lohmar als ›buchungstechnisch notwendige Liquidation‹ nannte, wurde stets die sommersprossige Ingrid ›bevor zugt‹. Tatsächlich gab es nur ein untrügliches Anzeichen ihrer Erre gung oder Angespanntheit: Ihre Haut wurde stärker durchblutet, und die Sommersprossen traten stärker hervor – wie Fieberflecke. Sie tranken die Spezialität des Hauses: Klong Cooler, mit sehr viel Pflaumenwein. Sie waren Blickfang für alle Männer; und sie unter schieden sich kaum von den übrigen, sonnenhungrigen Mädchen, höchstens durch ihre außergewöhnlichen Reize. Sie hatten sich den Arbeitsbedingungen der PHRYXX bedingungs los verschrieben; und lediglich Ingrid, als die ›Studierte‹, entwickelte gelegentlich eine Art Philosophie in Bezug auf die PHRYXX. »Beachtlich, wie sich unser Syndikat gemausert hat«, pflegte sie sich gelegentlich Inger gegenüber zu äußern. Angefangen hatte die Grup pe ganz klein – mit Marihuana. Dadurch war die Beziehung Europa – Ferner Osten von vornherein gegeben. Anfangs über Tanger – welch eine unnötige Vorsichtsmaßnahme! Dumme Pubertätsstreiche, längst überholt! »Dieses Zwischenspiel mit dem Airline-Steward aus Deutschland. Darmstadt, glaube ich. Der erste Fall, auf den ich angesetzt wurde! Der arme Junge fühlte sich ungerecht behandelt, weil er nicht das gleiche Gehalt bekam wie sein Kapitän. Er hatte den Ehrgeiz, mehr zu verdie nen – wenn auch auf andere Art. Ich habe ihm dazu verholfen aber: welch ein Trottel! Am Frankfurter Zoll hatte er keine Probleme. Aber der Idiot fuhr stets mit dem gleichen Wagen vor den Schulen vor, um seine Kunden mit Stoff zu versorgen. Selbst der senilste Landpolizist hätte aufmerksam werden müssen! Man hat sich die Autonummer no 55
tiert, den Besitzer festgestellt, den Flughafenzoll informiert – und als der junge Mann wieder einmal aus Fernost zurückkam … schnapp, die Falle zu!« Inger gähnte: »Du mit deinen Kindheitserinnerungen! Das kennt man doch inund auswendig!« Die beiden Mädchen unterhielten sich leise auf schwedisch. Wegen der Background-Musik war nicht jedes Wort verständlich gewesen, aber das Stichwort ›Darmstadt‹ oder ›Airline-Steward‹ genügte. »Ich will dir was sagen«, fuhr Ingrid fort, strich sich das helle Haar aus der Stirn und blickte verträumt hinter zwei Filipinos her, die schlankgliedrig vorübertänzelten. »Die PHRYXX kommt noch einmal ganz groß heraus! Spätestens im Jahr 2000!« »Was soll im Jahr 2000 so Weltumwälzendes passieren?« Ingrid sog gedankenvoll an ihrem Klong Cooler. »Vom Gras sind wir auf Heroin umgestiegen. Auch darüber sind wir hinaus. Zu spezialisiert. Hast du irgendeine Ahnung, wie groß unsere Organisation ist?« »Nicht die geringste! Es interessiert mich auch nicht übermäßig. Ich führe meinen Job aus, kassiere meinen Kies. Fertig!« »Ich schätze über 300 Mann. Vielleicht auch 1.000! Egal! Was ist?« »Diese Frau geht mir auf die Nerven!« sagte Inger. »Welche Frau?« »Die da oben am Fenster!« Sie hob ihre Augenbrauen demonstra tiv und deutete mit den Augen auf die dritte Etage der Fensterfront. »Auf – zu. Auf – zu. Und dauernd ein Blick auf den Pool!« »Unbefriedigte alte Hippe. Langeweile!« diagnostizierte Ingrid und fuhr fort: »Heutzutage führen wir jeden Auftrag aus, der von finanzstarken Auftraggebern an uns herangetragen wird und der sich durch den Christlichen Verein Junger Männer nicht lösen läßt. Ein politisches Attentat? PHRYXX hat das günstigste Preisangebot! Revolution in Manila? PHRYXX arbeitet ein Dutzend Aktionsvorschläge aus! Ab wehrraketen in Länder der dritten Welt? Wünschen Sie Luft- oder See 56
transport? PHRYXX schickt Ihnen detaillierte Versandkataloge! Und ich will dir was sagen, Inger!« »Was denn?« »Unsere Progressivität wird mehr und mehr Schule machen. Die Tendenz zur Gewalt nimmt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zu! Sie muß zunehmen, weil der Materialismus stärker und stärker wird. Nur ma terieller Besitz läßt sich mit Gewalt erobern. Unsere Organisation wird mehr und mehr beansprucht werden von Auftraggebern, die nur noch durch Gewalt ihre Ziele erreichen können.« »Mich würde interessieren, mit was für einem Flugzeug wir heute abend fliegen müssen. Ich mag die Caravelle nicht!« »Spätestens im Jahr 2000 werden wir als Allround-Service mit min destens 25 Dienstleistungsbetrieben in mehr als 80 Ländern der Erde tätig sein!« »Du spinnst doch!« sagte Inger und gähnte vernehmlich. »Die Liquidierung von 3.000 Sozialisten, Kommunisten, Faschisten gefällig? Prompter Service durch PHRYXX, mit dreijähriger Todesga rantie!« »Du solltest mal ausschlafen, Ingrid.« »Zu viele Nichtraucher, Umweltschützer, Kanarienvogelhalter im sü deuropäischen Raum? PHRYXX rottet sie aus, mit Money-Back-Ga rantie!« »Trink nicht soviel, wir müssen bald fliegen!« »So sieht es im Jahr 2000 aus! Aber das kommt dir heute noch ge nauso spanisch vor wie den Puritanern und Baptisten und weiß ich sonst was für Pietisten einst die Aussicht auf eine öffentliche Schnaps werbung.« »Ich weiß: Bald wird die erste Anzeige für ROTEN AFGHAN genau so groß in der Zeitung stehen wie heute die für Bols oder Dry Gin.« Ein Hotelboy, der Telefonanrufe bekannt gab, lief mit einer schwar zen Tafel klingelnd um den Swimming-pool. Auf der Tafel stand: Miss LAGERLÖF. »Der Chef ruft!« sagte Inger.
57
»Was hast du gesagt?« fragte die Frau. »Ich habe nichts gesagt«, antwortete der Mann. »Warum redest du nicht«, sagte die Frau. »Ich habe gedacht!« sagte der Mann. »Was hast du gedacht?« »Nichts Bestimmtes, nur so.« »Man denkt nicht nur so, man denkt immer was Bestimmtes. Träu men ja, das kann man nur so. Denken nicht.« »Dann habe ich eben geträumt.« »Du hast aber gesagt, du hättest gedacht.« »Dann habe ich mich geirrt!« »Du irrst dich oft in letzter Zeit«, sagte die Frau. »Du wirst alt.« Sie warf einen Blick aus dem Hotelfenster. Ihr Gesicht wirkte un ter dem rosa fond de teint wie die Totenmaske eines Kindes. Sie war seit einer Stunde mit ihrem Reise-Make-up beschäftigt. Sie konnte und mußte maßlose Anstrengungen auf ihr Gesicht verwenden. Die leger am Swimming-pool faulenzenden Mädchen reizten sie dadurch um so mehr. »Blond und hellhäutig!« stellte sie fest. »Und dann in dieser Sonne! Die ist prädestiniert für Hautkrebs! Die Dunkelblonde trinkt jetzt den dritten Gin-Tonic. Die muß volltrunken sein bei der Tropenhitze!« »Sie sind beide sehr hübsch; und man sieht ihnen Hautkrebs und De lirium nicht an«, sagte der Mann. Er war mit der Auswahl einer Krawatte beschäftigt, von denen ein halbes Dutzend sauber geordnet im aufgeschlagenen Koffer la gen: zwei gestreift, zwei kariert, zwei einfarbig – in Weinrot, Umbra braun, gedämpftem Indigo. Er konnte sich nicht entscheiden, und um sich abzulenken, überprüfte er immer wieder ihre Papiere: Paß, Impfpass, Flugschein: Mr. und Mrs. Bauer, Bangkok – Hamburg, Econo my-Class, TC 773. »Spätestens in fünf Jahren sind sie passé«, sagte die Frau. »Runzli ge Haut, brüchiges Haar. Die eine ist jetzt schon voller Sommerspros sen – Anzeichen von Krebsanfälligkeit.« »Frühestens in zehn. Und dann haben sie wenigstens gelebt.« 58
»Ich habe nie so leben können.« »Aber jetzt lebst du so.« »Was habe ich jetzt davon, mit dir? Was machst du, was treibst du da?« »Ich treibe gar nichts.« »Aber du tust doch irgend etwas.« »Ich treibe aber nichts. Ich suche eine Krawatte für den Flug aus.« »Du tust aber was. Du suchst eine Krawatte aus.« »Ich habe sie aber noch nicht ausgesucht. Ich überlege noch.« »Du hast gesagt: Ich suche eine Krawatte aus. Hast du das gesagt oder nicht? Jetzt sagst du: Ich habe sie noch nicht ausgesucht.« »Ich bin dabei, sie auszusuchen.« »Du bist dabei! Du stierst aus dem Fenster und findest diese beiden Nutten hübsch.« »Es sind keine Nutten.« »Es sind Nutten. Sie hätten sonst gar kein Geld, in einem solchen Ho tel herumzufaulenzen.« »Welche Krawatte soll ich nun nehmen?« »Du nimmst die blaugestreifte. Sie paßt zu deinem grauen Reisesak ko.« »Die einfarbig blaue paßt aber auch.« »Dann nimm die einfarbig blaue.« »Ich glaube, ich nehme doch die gestreifte«, sagte der Mann endgül tig, zog sie heraus und postierte sich vor dem winzigen Spiegel neben der Tür, während die Frau behutsam Puder auf die Grundierungsmas se tupfte, die unter dem Kinn abrupt endete und die Runzeln der Hal spartie freiließ.
Als Ingrid fort war, ließ Inger sich auf den Rücken fallen und blickte in den Himmel. Eine einzige blendende Quellwolke türmte sich über dem Pagodendach des Hotels. Hinter dem Fenster in der dritten Eta ge stand noch immer die Frau und blickte auf sie herab. Zwischen den 59
Wolkenkronen zog sich ein schmaler Kondensstreifen über Bangkok hinweg. Durch ihn wurde ihr Fernweh und Abenteuerdrang neu ge weckt. Erregt dachte sie an das bevorstehende Unternehmen. Sie war vordergründiger als Ingrid. Sie empfand sich schon als au ßergewöhnlich tiefschürfend, wenn sie gelegentlich dachte: Vielleicht bin ich wirklich einmal eine Schlange gewesen. Es gibt doch bei den Indern so etwas wie Seelenwanderung? Nicht überlegen, rasch reagie ren, scharf zustoßen! Sie sah an ihren kognakbraunen Gliedern hin ab. Oder rasch umzingeln, einkreisen, zerquetschen! Sie freute sich auf den neuen Auftrag. Die Hintergründe interessierten sie nicht. Sie wür de zustoßen. I beg your pardon, I never promised you a rose garden … sang eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher. Sie schrak auf; jemand trat neben sie: Ingrid. Als sie ihr Gesicht erblickte, wurde sie von Unru he erfasst. »Neue Nachrichten?« »Nur eine einzige Nachricht!« sagte Ingrid. Sie ließ sich seufzend neben Inger nieder und nahm einen tiefen Zug aus deren Glas. »Nämlich?« »CANCEL HIJACKING!« sagte Ingrid. »Alles abgeblasen!«
7
W
enn Steiner flog, war er weder glücklich noch unglücklich. Er befand sich einfach in Harmonie mit der Welt. Über ihm re gungsloser Himmel, unter ihm die Erde vorüberziehend, schwebte er zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit. Wenn er flog, hatte er die Vergrößerungslinse, die alle Probleme ins Riesenhafte verzerrt, abgelegt. Die Ursachen von Neid, Hass, Bosheit 60
und Streitsucht zeigten ihre wahre Relation. Sie versanken in den Dunst des Unwesentlichen. Jetzt galten andere Maßstäbe: Weite, Großzügig keit, die Einheit von Ländern, die künstlich getrennt waren, ein kosmi scher Rhythmus, der andere als irdische Bezugspunkte setzte. Wenn er flog, fühlte er sich gleichzeitig verwurzelt und frei, behei matet und heimatlos. Das Flugzeug, als Stellvertreter der Erde, bot Ge borgenheit. Der gestirnte Himmel zeigte, daß sein Ich nicht an den Leibesgrenzen endete. Der Flug über die Erde war wie ein Lehrfilm, durch den der Anfän ger in erste Lebensweisheiten eingeführt wird. Stand man aufrecht in der Cockpittür, so erstreckte sich voraus starr und massiv die Führer kanzel. Alles war ohne Bewegung: Dural, Glas, Polsterung. Darin aus gespart aber waren die Scheiben. In ihnen war Bewegung, Leben: end los sich abspulende Erde. Man mußte die Erde so sehen: in Beziehung zu den feststehenden Fensterstreben. Man bekam eigene Ruhe vorge täuscht, während die Erde vorbeidrehte. Millionenstädte voll mit brandendem Verkehr und leidenschaftli chem Leben – schon vorbei … Undurchquerbare Sumpfdeltas mit un durchdringlichen Mangrovenwäldern – schon überflogen … Oasen, Palmplantagen, Highways, Häfen – vorbei … Geburt, Leben, Tod – vorbei. Wenn Steiner flog, sah er Detroit, Bremen, Singapore unter dem Glast endloser Weite. Am Horizont zerflossen die festen Formen stei nerner Behausungen zu lockeren, schwerelosen Farbtönen, badeten im Dunst, ertranken im Dämmer blauer Ferne. Wie der kurze Traum ei nes erwachenden Engels schrumpfte das ganze gewaltige Menschen werk zur vagen Erinnerung zusammen. Darüber wölbte sich endlos tief die unterste atmosphärische Schicht der Ewigkeit. Zwischen Erde und Ewigkeit pulsierte, splitterte, sprühte das Licht der Sonne oder der Nachtgestirne. Dort, auf dem Grat zwischen Bewegung und Ruhe, hing das Flugzeug wie in Bernstein gebannt. »Die einzig angemessene Plattform für den Blickpunkt des Menschen!« sagte Steiner. »Das erzählen Sie mal denen da unten!« sagte Weersma und deu tete mit dem Kopf in Richtung Süd-Vietnam. »Saigon hat schon wie 61
der Raketenalarm! Kein Interesse für unsere Positionsmeldung!« Er drehte wild an den UKW-Senderknöpfen, um irgendeine lebende Fre quenz zu erwischen, auf der er seine Positionsmeldung absetzen konn te. »Wenn Sie die großartigen Handlungen unserer großartigen Politi ker höhenmäßig einstufen wollten – dann sind die alle noch nicht aus ihren Maulwurfslöchern hervorgekrochen!« Als sie die Wehrdörfer Vietnams mit den gradlinigen Zäunen über flogen, deren Scheinwerfer auch tagsüber brannten, steckte einer der Passagiere seinen Kopf kurz ins Cockpit: »Gibt es was Besonderes zu sehen über Vietnam?« »Alte Bombentrichter und neue Brände!« sagte Weersma. »Sonst nichts?« »Sonst nichts!« Als der Passagier fort war, meinte Weersma: »Im Deutschen gibt es dafür ein Wort …« »Herzensträgheit?« »Herzensträgheit! Ich habe mal in Bangkok im Wartesaal geses sen und Chicken Curry Thai Style gegessen. Die üblichen Jagdbom ber mit den ominösen Registrationszeichen starteten, mit Zusatztanks und Napalmbehälter unter den Flächen. Wir aßen mit Appetit unser Hühnchen und einen leckeren Nachtisch. Wir waren noch nicht fer tig, da landeten sie schon wieder. Ohne Zusatzbehälter. Ohne Napalm. Ich habe mich gefragt: Wie viele Menschen sind während des Chik ken Curry lebendigen Leibes verbrannt? Wie viele Kinder winden sich jetzt schreiend am Boden? Die Leute haben nicht mal aufgeblickt von ihrem Essen!« »Und Sie?« fragte Steiner. »Haben Sie Ihr Essen wieder ausgekotzt?« »Ich habe wenigstens nachgedacht!« »Auch nicht viel, Henk!« »Immerhin doppelt soviel wie gar nichts! Ah, da hab' ich ein lebendes Wesen erwischt, das Interesse für unsere Position zeigt!« Er rückte sei ne Kopfhörer zurecht und setzte die Meldung ab. Dann: »Sie machen sich selber viel Gedanken, das finde ich prima. Sie ahnen gar nicht, wie wenig Menschen sich Gedanken machen!« 62
Saigon Control antwortete: »Roger 773. Tut uns leid, Sie müssen auf 37.000 Fuß steigen! Wir haben eine Recoverance-Mission in 33.000, eine Auftank-Mission in 29.000!« Steiner schob die Schubhebel vor und verlangte vom Bordingenieur Steigleistung; der justierte und ließ die Kabine steigen. »So harmlos und sanft spielt sich der moderne Krieg ab!« kommen tierte Steiner. »Da ist ein Bomber, der geworfen hat, in Not geraten und wird heimgeleitet: Recoverance-Mission. Ein weiterer wird aufgetankt, vielleicht für den nächsten Angriff. Saigon bittet uns freundlich, dar um etwas höher zu fliegen! Wenn das kein Gentleman-Krieg mit Gla cé-Handschuhen ist!«
»Nichts gegen Spektrohelioskop-Aufnahmen, aber …«, sagte in der er sten Klasse einer aus der westdeutschen Super-Intelligenz. Die vorübergehende Stewardeß hörte den Einwand nicht mehr. Die Turbulenz über Thailand hatte allen arg zu schaffen gemacht: Kaum war der Wagen in der Kabine, begann die Maschine zu rollen und gie ren, die Stewardessen waren verzweifelt. Dabei wollten sie gerade der Delegation deutscher Wissenschaftler, die den größten Teil der ersten Klasse belegt hatte, gern ihre Käsehäppchen zukommen lassen. »Für kostspielige Tempel haben sie Geld da unten!« meinte eine der Stewardessen scherzhaft. »Aber zum Asphaltieren ihrer Luftstraßen, dafür reicht es nicht!« Die Delegation war auf dem Rückflug von der 15. Generalversamm lung der International Astronomical Union. Hier trafen sich stets die fähigsten Astronomen der Welt: 2.300 wissenschaftliche Koryphäen aus 46 Ländern hatten teilgenommen. In zehn Tagen waren 200 Sit zungen abgehalten worden. Seit der erste Mensch den Mond betre ten hatte, war auch die Forschungstätigkeit der astronomischen Sek tionen mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Einer der führenden deutschen Astronomen, Prof. K. H. Gennenburg, hatte ei 63
nen viel beachteten Vortrag über galaktische Spiralstrukturen gehalten. Eine Sondersitzung stand unter dem Thema ›Ergebnisse der Direktex ploration auf dem Mond und ihre Bedeutung für die Erforschung des Mondes‹. In den Diskussionen waren die Deutschen führend gewesen auf dem Gebiet wichtiger Atomdaten für UV- und Röntgenastrono mie, der interstellaren Moleküle sowie der fotoelektrischen Beobach tungen bei Sternfinsternissen. Noch nach der Zwischenlandung in Port Darwin war es an Bord zu erregten Diskussionen über die Mixmaster-Theorie Charles Mis ners gekommen, die von Professor Hoyle, dem britischen Mathemati ker und Astronomen, verteidigt, von Dr. Novikow von der Moskauer Akademie der Wissenschaften mit Vehemenz verworfen worden war. Die servierenden Stewardessen fingen Satzfetzen auf wie: »Unstimmigkeit in der Big-Bang-Theorie …« »… Analyse der Mariner-Mars-Aufnahmen.« »Pulsars und kosmische Strahlungen …« »… hätte man die übrigen topographischen Merkmale nicht nach verstorbenen Schriftstellern benennen sollen.« So unterschiedlich die Auffassungen über Molekular-Theorien, Ge stirnentfernungen und Protuberanzzusammensetzung waren, so ein heitlich waren sie, daß die gute alte Heimat auf dem schnellsten Wege erreicht werden sollte. Die meisten waren länger als drei Wochen un terwegs gewesen, hatten Abstecher nach Adelaide und nach Woomera zur Europa-Raketenabschussbasis gemacht und sehnten sich nach ei nem ehrlichen deutschen Bier vom Fass. »Meine drei Söhne«, sagte Professor Gennenburg zu der blonden, leicht molligen Stewardeß, die ihm Mokka Türkisch brachte, »werden mich kaum noch wieder erkennen. Mein Hund schon gar nicht, der ist gerade ein halbes Jahr alt, wir haben ihn erst seit zwei Monaten. Flie gen – das wäre nichts für mich, auf die Dauer!«
64
»Fliegen sei nichts für mich, hat mein Vater gesagt!« berichtete Weers ma. »Ich war damals gerade sechs. Und weil Krieg war, hab' ich natür lich lauter Papierflieger starten lassen im Garten. Das mochte mein Vater gar nicht. Er sagte: Als Pilot brauchst du breite Schultern, Junge, damit die Leute Vertrauen zu dir haben, wenn sie hilflos angeschnallt hinter dir sitzen. Die hast du nicht!« »Wo haben Sie in Holland gewohnt?« fragte Steiner. »In Elspeet!« »Elspeet«, sagte Steiner. »Unbekanntes Kaff am Rand der Veluwe, einem ausgedehnten Hei degebiet, kennen Sie garantiert nicht!« »Nicht durchgekommen …« Er verlor sich in Erinnerungen. »Aber den Wegweiser hab' ich gesehen: ELSPEET 14 KM. Warten Sie, das war von Amsterdam aus …« Jetzt hatte er die Szene wieder. Er kam aus Luanda, über Lissabon und Paris, und als er im Anflug auf Hamburg war, ging Fuhlsbüttel dicht. Es schob sich einfach eine dicke Nebeldecke übers Moorgesicht und sagte: Danke, ich mag nicht mehr, gute Nacht! Er mußte nach Schiphol ausweichen. Dort teilte ihm der Transcontinental-Vertreter gleich nach der Landung folgendes mit: Laut zuverlässiger Auskunft der Wetterwarte werde sich an der mitteleuropäischen Herbstnebel wetterlage in den nächsten Tagen kaum Wesentliches ändern. Er, Stei ner, solle ja an und für sich drei Tage frei haben vor seinem nächsten Angola-Flug. Die könne er auch haben. Zwar nicht in Cranz an der Este, wo er ja wohl zu Hause sei, aber im Amsterdam-Hilton; auch was Feines. Seine Passagiere würde man von Amsterdam nach Hamburg mit dem Zug transportieren, falls sich nichts Grundlegendes ändere – fahr lieber mit der Bundesbahn! So, zwischen Luanda und Luanda, blieb Steiner erst einmal in Am sterdam. Aber als er ausgeschlafen hatte, fragte er sich, warum er nicht rasch mit dem Wagen nach Hamburg hinüber sollte, um in seiner Fi scherkate nach dem Rechten zu sehen. Zwar war der Flugverkehr ein gestellt, aber der Landverkehr ließ sich bewältigen. Er ließ sich von Hertz einen Wagen bringen und fuhr los. Als er ge 65
rade durch Hilversum gefahren war, fragte er sich plötzlich, was um Himmels willen er einen Tag lang in Cranz anfangen wollte. Späte stens ab Bremen würde die Autobahn schweren Nebel aufweisen, und die dumpfen Signale der ankernden Schiffe würden ihm die Nacht ruhe rauben. Nebel auf der Elbe gehörte für Steiner zum Inbegriff der Melancholie, seiner Melancholie. Denn Steiner, trotz aller Gelassen heit, neigte zur Schwermut. Er litt, was er kaum sich selber, geschwei ge denn einem Fremden einzugestehen wagte, unter der Trennung von seiner Tochter. Seit er geschieden war, besuchte sie ihn gelegentlich. Sie wurde in Aachen in den TEE-Zug gesetzt und traf stets pünktlich ein. Sehr selten fuhr er zu ihr in seine frühere Wohnung, in die Eifel, wo er nach Kriegsende Fuß gefaßt hatte. In Amersfoort bog er noch immer nicht nach Süden ab, sondern fuhr in Richtung Apeldoorn, Deventer, Enschede, weiter. Bei Hoevela ken traf er auf einen Wegweiser: ELSPEET 14 KM. Diese Information war für Steiner absolut unwichtig. Die Tafel des ANWB, des Algemeen Nederlandsen Wielrijdersbond, zeigte linksab, und außer Elspeet stan den noch Ortsnamen wie Harderwijk und Elburg darauf. Vielleicht bestärkte dieser Hinweis auf Orte nördlich seines Kurses ihn um so mehr, nach Süden abzubiegen – in Apeldoorn hatte er sich, an der ge denknaald, endgültig entschieden. Er lenkte seinen Manta in Richtung Arnhem, Nijmegen, Venlo und Roermond nach Aachen, wo er gegen fünf Uhr abends eintraf und zum Essen in den Rathauskeller ging. Im Dunkeln preschte er hinter Monschau die Kurven nach Kalter herberg hinauf, das er gegen neun Uhr abends erreichte. Er bog von der Hauptstraße ins Venn ab. Hier oben wehte ein eisiger Wind. Hier kannte er jeden Winkel, jede Siedlung, jedes Schlagloch in der Kiesstraße. Hier hatte er zehn Jah re gelebt, ehe er zur Transcontinental nach Hamburg umgesiedelt war. Hier hatte er seiner Tochter, wenn er sie anfangs zur Schule begleitete, Mulden gezeigt, da lag im Juni noch Schnee. Hier hatte er Birkhähne gesehen, Auerhähne balzen hören; jetzt gab es nur noch Fasane. Als er vor dem vertrauten Haus ausstieg, nach dem Schlüssel taste 66
te, den er noch immer hatte, ging eine schmale Mondsichel über der nahen Mischwaldlichtung auf. Er hatte die erste Spur des neuen Mon des vor zwei Tagen über der westlichen Sahara aufgehen sehen, prall gelb aus einem Zirrusschleier steigend, der sie querab von Kap Juby wie eine zu leichte Barke taumeln ließ. Er würde der Sichel in zwei Ta gen wiederum über der Sahara begegnen, und sie würde auf der Spit ze stehen und wie ein Segel aussehen – über Villa Cisneros oder querab von Mauretanien. Der Wind ließ ihn frösteln. Er blickte zur Hausfront auf: alles dunkel. Ein Kauz schrie aus dem nahen Erlenhain. Der Wind heulte klagend um die Hausecke, die er schon vor zehn Jahren hatte ausbessern wol len. Tiefe Wolken trieben über das Venn und ließen den Mond milchig verschwimmen. Die reglose Sichel schien plötzlich davonzujagen. Er kannte das dritte Fenster von links im oberen Stock: dort schlief seine Tochter. Ihre Mutter wird in der Stadt sein, dachte er, schloß die Tür auf, hob sie vorher leicht an, er kannte sich aus, noch immer. Leise schlich er sich die Treppe hinauf, vermied die dritte Stufe, die knarrte gottserbärmlich. Ehe er die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffne te, schaltete er das Licht auf dem Flur an. Er schloß sanft die Tür hinter sich, durch die Milchglasscheibe drang genügend Licht. Dann stand er vor seiner Tochter Angela. Zwischen Luanda und Luanda stand er vor seiner Tochter, die allein in einem Haus schlief, um das der Herbstwind heulte, kalt und verloren unter einer weißen Mondsichel, die langsam durch die Milchstraße wanderte. Hier im Hohen Venn lag seine Toch ter verloren unter Mond und Herbstwind in der Nacht. Auf ihrem Schreibtisch, den er kannte, lagen Hefte, die er nicht kannte: korrigierte Aufsätze, englische Diktate, Notenbücher. Auf einem losen Blatt mit vielen Korrekturen eine rottintige Anmerkung: Einige Flüch tigkeitsfehler, sonst gut. Angela lag auf der Seite, tief atmend, rotwangig. Sie hatte ihren Kopf auf den linken Oberarm gelegt. Ein Buch war ihr halb auf die Brust, halb unter die Decke gerutscht. Hatte sie heimlich ge lesen? War ihr der Karl May einfach vom Tisch ins Bett geglitten? Was wußte er von seiner Tochter? Woran dachte sie, bevor sie einschlief? An Old Shurehand? An Lassie? An ihren Französisch-Lehrer? 67
Er fand die Luft dumpf und öffnete ein Fenster. In der Ferne heulten wildernde Hunde. Der Wind fegte eisig herein; er schob das Fenster wieder zu. Er suchte nach einer Spur von sich selber. Nach einer Karte, die er ihr geschickt hatte – aus Tanger oder Recife. Nach einem Bild. Nach einer Notiz. Nach irgendeinem Hinweis, daß er existierte. Er hockte sich auf den Bettrand. Angela atmete tief und fest. Ihre schwarzen Wimpern hatten sich fest über ihre Augen geschoben, wie Muschelschalen. Fahler Mondschein lag auf ihrer Decke. Behutsam strich er ihr mit zwei Fingern über die Wange. Er spürte ihre Wärme. Er hörte die Käuze. Hinter dem Fensterkreuz entfalteten sich blaukalt Stier und Siebengestirn. In zwei Nächten würde er Stier und Siebenge stirn verlassen, und der Mond würde vor dem Kreuz des Südens ste hen. Sein Flugzeug würde reglos über dem Golf von Guinea hängen, während Angela hier genauso lag wie jetzt, Nacht für Nacht. Er berührte ihre Stirn, dann ging er. Er schaltete das Licht aus. Er schaltete den Thermostat zwei Grad niedriger; dann schloß er leise die Tür hinter sich. Er bemühte sich, den Wagen sanft anzulassen. Er fuhr ohne Licht ab. Gegen Morgen kam er in Amsterdam an. Über dem IJ zeigte sich ein erster roter Lichtstreif.
Lohmar telefonierte. Seine schweren Augenbrauenwülste schoben sich vor. »Hören Sie: Ich garantiere Ihnen, der Fall Schlumm wird bestens er ledigt.« »Was heißt das: erledigt?« »Er wird nicht mitfliegen.« »Ich habe Ihnen gesagt: Die Entführung ist gestorben!« »Braucht sie aber nicht. Ich beseitige Schlumm, und keiner macht mir den Sitz hinter dem Kommandanten streitig.« »Sie beseitigen Schlumm, und um 15 Uhr 30 wollen Sie am Flugha fen sein!« 68
»Ich beseitige Schlumm auf meinem Weg zum Flughafen.« »Sie beseitigen Schlumm auf Ihrem Weg zum Flughafen. Und dabei wissen Sie: Wir können kein Risiko eingehen.« »Wir gehen kein Risiko ein.« »Sie beseitigen Schlumm, Sie entführen die Maschine, und Sie gehen kein Risiko ein!!« »Nein …! Hören Sie noch?« »Wie wollen Sie das schaffen?« »Ich werde es schaffen, mein Wort!« »Sie werden es schaffen, sonst sind Sie erledigt, Lohmar!« »Okay, sonst bin ich erledigt. Einverstanden?« »Einverstanden! Wo stecken die Mädchen?« »Intercontinental. Ich rufe sie an!«
Weersma meldete sich über die Company-Frequenz aus dem Lautspre cher im Ops-Raum der Station Bangkok. »Hier Sieben-Sieben-Drei, unsere voraussichtliche Ankunft ist 38, bei euch alles okay?« »Eben ein Schauer durchgegangen, Bahn noch nass. Wenig Zustei ger.« »Captain Schlumm schon eingetroffen?« »Nee, hätte längst da sein sollen. Der Chef ruft schon im Hotel an. Wahrscheinlich irgendwo im Verkehr verloren gegangen. Der bricht ja um diese Zeit zusammen.« »Petchaburi Road, würde ich sagen. Da werden sie ihn eingeklemmt haben. Vielleicht sollte mal einer zu Fuß losgehen und ihn rausholen. Hört mal her: Euer Taifun, die Abigail, liegt tatenlos über North Reef und kann sich nicht entscheiden. Hongkong oder Vietnam, das ist ihr Problem. Man kommt gut drumherum. Wenn ihr das mal den ande ren armen Schweinen erzählen würdet, die da heute nacht dran längs müssen?« »Eigentlich nicht unsere Aufgabe, aber ich geb's weiter!« 69
»Typisch! Nicht euer Angstschweiß! Aber wenn mal eine sanfte Bri se über euern Bungalow fächelt, rennt ihr in den Luftschutzkeller! Mo ment, mein Boss hat noch was!« »TC-Ops?« sagte Steiner. »Hier Ops; das letzte Platzwetter flattert gerade auf meinen Schreib tisch: 220 mit 15, mehr als 10 Meilen, 3 Achtel CeBe in 1800, QNH 1028. Bahn nass.« »Okay. Ich habe noch eine private Bitte. Als ich das letzte Mal aus Hongkong gekommen und ausgestiegen bin …« »Ich weiß: Ihre Vogelscheuche!« »Meine was?« »Vogelscheuche. Wir haben schon Wetten abgeschlossen, was das sein könnte.« »Also meine Vogelscheuche. Wenn Sie die auf die Maschine bringen könnten, behutsam?« »Wir werden Ihren aztekischen Totempfahl wie ein rohes Ei behan deln!« »Totempfahl!« »Also, bis nach der Landung, Skipper! Denken Sie an die nasse Bahn!«
8
A
ls die TC 773 die Grenze zwischen Kambodscha und Thailand überflog, befanden sich im Bereich von Bangkok Approach Con trol sieben Maschinen, die alle kurz nacheinander in Bangkok landen wollten: eine DC-8 der KLM aus Djakarta, zwei Thai-InternationalCaravelles, eine Lufthansa -Boeing aus Singapore, eine Air-Vietnam-727 aus Saigon, ein Pan Am-Jumbojet aus Bombay und TC 773. Mike ›Bird‹ Artley, der aufsichthabende Kontrollbeamte im schlecht 70
klimatisierten Turm, hatte wieder einmal eine Situation vor sich, wie er sie liebte! Von Rechts wegen übte er nur noch gelegentliche Berater funktionen aus – all seine Controller waren geprüfte Thai-Controller, und die Amerikaner hatten längst vor, sich völlig aus dem Bangkok Control-Geschäft zurückzuziehen. Aber man brauchte sich als Fachmann nur die jetzige Lage anzuse hen, und die Haare standen einem zu Berge! Nicht, daß das, was sei ne Thais jetzt mit den sieben Maschinen anstellten, etwa unsicher ge wesen wäre! Hell no! Sicher war das allemal! Nur, ob es auch elegant war, das war die Frage! Mike B. Artley hatte einen harten Job in Sai gon ausgeübt, einen verdammt harten. Er hatte sein Mikrophon noch absolut ruhig in der Hand gehabt, wenn auf der Landebahn die Rake ten der Victor-Charlies einschlugen, und, Mann, das musstest du ge sehen haben, wie die aufsetzenden Phantoms nicht mehr durchstarten konnten, sondern weiter und hinein in die Krater rollen mußten! Da war er sich mehr wie ein Pfarrer vorgekommen: Take it easy, Bravo-4, I'll pray for you! Aber er hatte gelernt, wie man in Null Komma nichts zehn, zwan zig Maschinen hereinschleusen konnte, auf eine Bahn, die zerstückelt von Raketentrichtern war. Und hier, der Himmel habe Verständnis für sie, saßen diese Thais, vor einer Apparatur, von der man in Vietnam nicht einmal zu träumen gewagt hatte, vor einer völlig heilen Lande bahn, ohne Angst vor einem Volltreffer auf den Tower! Und sie benah men sich, als müßten sie 80.000-Tonnen-Ozeandampfer mühselig an den Pier lotsen! »Say again!« sagte KLM 489. »Sorry«, sagte Pan Am. »I didn't quite get it!« »Kurs 120 oder 130?« forschte Lufthansa gründlich nach. Man muß sie wurschteln lassen, dachte Mike B.A. beherrscht. Sonst lernen sie es nie. Er war auch so davon überzeugt, daß sie es nie voll endet lernen würden. – Die letzten Feinheiten bleiben ihnen verwehrt, dachte er. Hauptsache, irgend jemand hat überhaupt was davon, ohne zu Schaden zu kommen! Aber nun sieh dir das an, oh lord! Der Thai-Controller hatte rechtzeitig entdeckt, daß er zwei Maschi 71
nen in der gleichen Höhe von 6.000 Fuß mit Gegenkurs auf das glei che Funkfeuer zufliegen ließ. Er hatte auch rechtzeitig action gezeigt – alles bestens! Aber wie er das Problem löste, das hätte einem Ökono men das Lebenslicht ausgeblasen! Das kostet jede der beiden Maschi nen eine halbe Tonne Treibstoff, überschlug Mike Bird rasch. Er war selber, als Anfänger, erstaunt gewesen, als er einmal in einer Passa gier-Boeing gesessen und beobachtet hatte, wie die Treibstoffverbrau cheranzeiger vorwärts rasten! Im Reiseflug verbrauchte ein viermoto riger Jet rund 5 bis 5 ½ Tonnen pro Stunde. Im Anflug, mit voll gesetz ten Klappen und ausgefahrenem Fahrwerk, wenn der größere Luftwi derstand erhöhte Triebwerkleistung erforderte, wesentlich mehr. Um acht Maschinen hintereinander aufzureihen, wendet der Thai ein Ver fahren an, das an einen Menschen erinnerte, der sich mit der linken Hand über den Schädel hinweg auf der rechten Wange kratzen woll te. Und Mike Bird sah voraus, daß das Ganze in einem gesteuerten Cha os enden würde, mit unnötigen Verspätungen für alle Maschinen. Da griff er trotz seiner Beraterfunktion ein, ohne daß die Sicherheit der Luftfahrt gefährdet war. Da tippte er dem schmächtigen Thai auf die Schulter und übernahm. Da klang Mike Bird Artleys sonore Texas Slang-Stimme durch den thailändischen Äther: »Okay … Jeder steuert den Kurs, den er zuletzt erhalten hat. Keine Rückfragen! Jeder hält jetzt mal den Mund! KLM 489, Sie fliegen Kurs 320 und sinken, let's say, auf 3.000! TC 773, gehen Sie mal auf 7.000 und kurven auf 180 Grad; ich hab' Sie noch immer nicht identifiziert! Squawk 2.100! Pan Am-Clipper-Two, halten Sie 100 Grad! TC 773, was ist jetzt Ihre Höhe?« »Wir gehen gerade durch 10.000!« antwortete TC 773. Jeder wußte: Da ist ein Könner am Werk, der hat den gordischen Knoten in Sekundenschnelle gelöst! »Das ist eine gute Höhe!« sagte Mike Bird. »Da bleiben Sie mal, bis Ihr Entfernungsrechner 60 Meilen von der Bangkok-VOR anzeigt. Dann dürfen Sie auf 7.000 sinken!« »Roger!« sagte TC 773. 72
»Und Air Viet 005, steuern Sie wirklich 250 Grad?« fragte Mike Bird, mißtrauisch auf den Radarschirm äugend. »Sorry«, sagte 005. »Wir weichen hier ein paar Gewittern aus. Wir verbessern aber schon.« »Macht nichts«, tröstete Mike B. und hatte erkannt, daß der Kurs der 005 niemandem schadete. »Behalten Sie Ihren jetzigen Kurs bei, vor ausgesetzt, Sie sind mit einem 3-Meilen-Finale zufrieden!« In wenigen Minuten hatte er die Konfusion geklärt und alle sieben anfliegenden Flugzeuge auf dem schnellsten Wege aufgereiht. »Jetzt Sie wieder!« forderte er den Thai auf und überreichte ihm das Mikrophon. »Thank you!« sagte der Thai und lachte strahlend.
Schlumm bestieg das Toyota-Taxi, das bremsenkreischend vor dem President-Hotel hielt. Der Fahrer murmelte ein verlegenes krai und jagte los. Nicht allzu weit, denn schon an der Einmündung zur Raj Pra Rop Road, der Ausfallstraße zum Don-Muang-Flughafen, hemmte der Stoßverkehr die beste Absicht. »Koy koy pai!« versuchte Schlumm den Fahrer anzufeuern. Die unfreundliche Aufforderung zur Eile stellte fast seinen gesamten thailändischen Sprachschatz dar. Der winzige Thai wandte sich erheitert um und beteuerte: »Me no can! Much traffic!« Er mogelte sich mühsam in die gewaltige Warteschlange, die unüber sehbar die breite Straße in beiden Richtungen ausfüllte, dann lehnte er sich ergeben im Sitz zurück. Schlumm hatte geduldig bis zehn Minuten nach seiner pick-up-time gewartet und dann den Flughafen angerufen: »Hören Sie, wenn Sie wollen, daß ich den Steiner nach Teheran chek ke, dann schicken Sie endlich mal einen fahrbaren Untersatz! Sonst bleib' ich noch drei Tage hier am Swimming-pool, und zwar auf Ihre Kosten!« 73
»Ich will das doch gar nicht!« entgegnete Raff. »Das kommt aus Ham burg! Aber ich versteh' das trotzdem nicht; der Wagen ist hier rechtzei tig los! Warten Sie noch fünf Minuten. Wenn dann nicht, dann auf ei gene Faust, okay?« Jetzt hockte Schlumm gereizt im verstaubten Fond des Taxis. Un pünktlichkeit war ihm verhaßt, und seine Dienststellung als Prüfungs kapitän nahm er sehr ernst. Wie soll ich mir ein Bild von Steiner ma chen, wenn ich ihn nicht bei zwei seiner wichtigsten Tätigkeiten beob achte, dachte er. Seine Flugvorbereitung nach Teheran und sein brie fing der neuzusteigenden Kabinenbesatzung. Eine Schlappe hatte er damals erlitten, als Weersma den Verbesse rungsvorschlag mit den Anflugkarten machte. Von Anfang an hatte es in den 25-Millionen-Flugzeugen keine vernünftige Möglichkeit gege ben, die beim Anflug dringend benötigten Anflugkarten aufzustellen. Weersma hatte einen Verbesserungsvorschlag eingereicht: Man möge unter dem Cockpitfenster eine simple Drei-Mark-Klammer anbrin gen, mit der man die Anflugkarten festklemmen könnte. Empört hat te Schlumm, dem der Vorschlag zugereicht wurde, abgelehnt: Ob er, Weersma, Flugzeugkonstrukteure für Idioten halte, die hätten sich bei ihrer Konstruktion schon etwas gedacht; im übrigen erwarte er von ei nem Kopiloten, daß er alle Zahlen im Kopfe habe. Jedoch der unglückliche Zufall wollte es, daß kurz danach irgendeine Chartermaschine beim Anflug auf einen nahöstlichen Hafen abstürzte. Der SPIEGEL, ansonsten nicht übermäßig fachmännisch in Bezug auf Flugzeugtechnik, griff Weersmas Kritik auf. Kaum wurde die Sache pu blik, gebärdete sich auch die TC aktiv: Ob er, Fachmann Schlumm, nicht eine Möglichkeit wüsste, die Sicherheit der Cockpitauslegung noch mehr zu erhöhen. Natürlich, erwiderte Schlumm spontan, man solle doch un ter dem Cockpitfenster eine Klammer anbringen, zum Befestigen der dringend benötigten Anflugkarten. So geschah es denn auch sofort; das dumme war: Weersma schien gute Beziehungen zu geistigen Kreisen zu haben und hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. »Den hol' ich mir schon noch«, drohte Schlumm damals. »Der braucht irgendwann eine Hongkong-Einweisung!« 74
Jetzt war er längst ›ganz oben‹. Natürlich, ohne gelegentliche Pan nen und Inkonsequenzen war der Aufstieg nicht gelaufen. So hatte er bald festgestellt: Der jüngere Teil der Besatzungsmitglieder brachte für Reminiszenzen wie Scapa Flow, Focke Wulf CONDOR, Ardennen schlacht 44/45 nicht die gleichen Voraussetzungen mit wie er. Ihre le gere Na-und-Haltung stand in krassem Gegensatz zu jenem inneren Ruck, den er sich stets bei der Nennung derartiger Namen gab. So sonderte er sich, anfangs, gern betont von Stewardessen und Ste wards ab. Es machte ihm nichts aus, sich an einen Einzeltisch im Ho telrestaurant zu setzen, statt zu seiner eigenen Kabinenbesatzung. Die se Haltung behielt er bei, bis sein bester Geschwaderkamerad sich in eine Stewardeß verliebte und seine inzwischen zwanzigjährige Kriegsehe auflöste. Gerade ihn hatte Schlumm stets als den Inbegriff der Moral und des Anstands hingestellt. Von jenem Schock an verkehrte auch Schlumm wieder ausdrückli cher mit jungen Stewardessen; und bald stellte er fest: Die politisch be lasteten und weniger Nachdenklichen unter ihnen bewunderten seine Männlichkeit und Sportlichkeit; so stellte er sich um. »Mai pen arai, mai pen arai!« beteuerte der Taxifahrer und ruckte endlich zehn Meter vor, das mache gar nichts. Seit seiner Zeit bei der TC hatte Schlumms ganzes Interesse nur der Flugzeugtechnik gegolten. Er liebte Sentenzen wie: Ihr Anflug war nicht schlecht, aber mir wäre lieber, Sie wüssten über die Funktion des Ausgleichsventils im Auxiliary-Hydraulik-System Besseres! Ärgerlich dachte er an Karen Hilldorff, die ihn mit scheinbar naiven Fragen aufs Glatteis zu führen versucht hatte. »Sie sind doch alle Kollegen. Sie sitzen auf dem gleichen Sitz. Sie lei sten alle das gleiche. Wie können Sie sich da anmaßen, mehr sein zu wollen?« Schlumm hatte seine Zivillaufbahn nach dem Krieg als Weinhänd ler begonnen. Während des Krieges war er Geschwader-Kommodo re einer Fernaufklärer-Einheit gewesen. Vorher hatte er als Kampfflie ger im schottischen Firth of Forth mehrere Kriegsschiffe versenkt. Da er seine ganze Jugend dem gewidmet hatte, was er auch jetzt noch als 75
›Dienst am Vaterland‹ bezeichnete, war für die Vorbereitung auf einen Zivilberuf keine Zeit geblieben. Als Geschäftsmann blieb er in Kon takt mit der Fliegerei. Er verkaufte im Nachkriegs-Hamburg an eng lische und amerikanische Piloten, die nach wie vor über Deutschland flogen – in ihren Vikings, Dakotas, umgebauten Lancaster-Frachtern. Er knüpfte Verbindungen an – mit jenen, deren Basen und Wohnun gen er einst bombardiert oder durch Aufklärung für die Vernichtung reif gemacht hatte. Die Zeiten hatten sich geändert, man mußte mit der Zeit gehen. Schlumm war ein Mann der Tat: Er beging lieber eine zweite, als über die erste nachzudenken. Daß er auf geistigem Gebiet unterlegen war, wußte er. So blieb er von vornherein bei seinen Leisten. Argwöh nisch wachte er darüber, niemals in Bereiche gelockt zu werden, die er nicht beherrschte. ›Sie sollen fliegen, nicht denken‹ war auch 1960 noch seine Philosophie, als er die erste Sprosse des Führungsnachwuchses erklommen hatte. Plötzlich stoppte der Wagen scharf. Schlumm schrak auf. Rötli cher Unrat wirbelte hoch. Sie standen zwischen unbewohnten Holz katen, deren vermoderte Dächer sich windschief zusammenneigten. Die morschen Wände lehnten aneinander wie Karten eines Karten hauses. Direkt neben dem Wagenschlag ragte ein verwitterter Budd hakopf aus mannshohem Gras. Zerbröckelte Tempelstufen endeten an einem Holzverschlag. Kaum stand das Taxi, tauchte Lohmar hinter einem Sockel auf, riß die Tür auf, zerrte Schlumm in den Abfall. »Sorry!« murmelte der Taxifahrer verstört und jagte davon. Schlumm reagierte rascher, als Lohmar erwartet hatte. Seine Reflexe waren ausgezeichnet. Sein scharfer Verstand überschlug blitzschnell seine Möglichkeiten. Sein Körper war bestens trainiert. Kein Urlaub, in dem er sich nicht durch Sporttauchen, Tennis, Reiten fithielt. Er beging nicht den Fehler, sich im Wagen zu widersetzen. Loh mar hatte ihn mühelos ins Gras geschleudert; dieser Erfolg täuschte ihn. Schlumm federte hoch, stand, warf sich mit dem Rücken in eine Nische, so war er sicher gegen Angriffe von rückwärts. Während er 76
sprang, erkannte er eine Menge: Er hatte nur einen einzigen Gegner vor sich. Der Mann war muskulös und weißhäutig. Der Tempelbezirk war verödet wie nach einer Epidemie. Die Luft war kochend heiß, und die Uniformjacke behinderte ihn. Lohmar war eine Sekunde so verblüfft, daß er sofort reflexhaft sein Messer zog. Er hatte in der Fremdenlegion lange genug Nahkampf trainiert, um sofort wieder Selbstvertrauen gewinnen zu können. Im Kongo hatte er eigenhändig Dutzende von Negern in ihren Verstecken unschädlich gemacht, »nicht auf die ganz feine Art«, wie er sich auszu drücken pflegte. Er grinste. Langsam, aber mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze bewegte er sich auf sein Opfer zu. Schlumm sah: Er saß in der Falle. Die zerborstene Nische wölbte sich um ihn wie eine Austernschale. Sie täuschte trügerisch Geborgenheit vor. Er ließ jedoch keine Zeit mit Überlegungen verstreichen. Er handelte und kämpfte damit die aufsteigende Angst nieder. Er riß sich die Jak ke vom Oberkörper. Ein Fehlgriff – er wäre stecken geblieben und er ledigt worden. Die blitzartige Bewegung saß, und sein Gegner hatte sie im Gesicht. Sofort stieß Schlumm nach; aber die Wucht traf ins Lee re. Lohmar hatte sich beiseite geworfen; er war mit allen Tricks ver traut. Nur sein Messer hatte sich im Stoff verfangen. Er ließ es stecken. Er konnte jederzeit darauf als letzte Reserve zurückgreifen. Er landete einen gewaltigen Schlag auf Schlumms Schädel. Der prallte gegen den verwitterten Buddha und versank halb im Gras. Der Schlag kam nicht ganz wie berechnet an. Aber an der Art, wie sein Opfer ihn abzuwehren versuchte, merkte er, daß er es ohne gro ßes Risiko schaffen würde. Er konnte seinen Mann in aller Ruhe fer tigmachen und hatte noch einen gewissen Nervenkitzel von Gefahr dabei. Und er würde ihn fertigmachen; die Art, wie er sich verteidigte, reizte ihn geradezu. Nichts hatte er so gehasst wie die Neger, die heu lend auf den Knien um Gnade flehten, wenn man ihnen ein paar läppi sche Hautstreifen herausschnitt. Diese Gegenwehr hier weckte all sei ne herrlichen Raubtierinstinkte und ließ ihn wieder einmal abrech 77
nen mit der Welt, die ihn von jeher immer nur getreten und verach tet hatte. Schlumm federte mit dem Fuß gegen einen Steinbrocken und warf sich wie eine Ramme gegen den Bauch Lohmars, der taumelte, schlug im Taumeln zu, drehte eine halbe Rolle, riß ihn über sich weg, fühl te stechenden Schmerz im Nasenbein, bekam Haare zu packen und schlug Schlumms Kopf zweimal gegen die Nischenwand. Er gewann Abstand und fühlte Blut über Mund und Kinn rinnen. Sein Opfer war bereits wieder auf den Beinen. Sein Gesicht war übel zugerichtet. Über die Stirn zog sich ein tiefer Schnitt. Sein rechtes Auge war geschwollen und blutverklebt. Lohmar wartete auf die nächste Re aktion. Schlumm fühlte sich seltsam leicht und elastisch. Ein rötlicher Schein lag über Buddha, Nische, Gras und Gegner. Wasser rauschte in sei nen Ohren, überlagert von hohen Pfeiftönen. Plötzlich, in einem kur zen Moment der Klarheit, erkannte er, daß sein Leben in Gefahr war. Dieses Bewußtsein versetzte ihn in Panik. Die Panik verlieh ihm ge waltige Kräfte. Er wollte nicht sterben, nie, und schon gar nicht jetzt und hier, in dreckigen Tempelruinen kurz vor dem Rückflug. Er woll te nach Deutschland, jetzt und sofort, und Harald den Transistor mit bringen und Helmar die chinesische Teakdschunke und Lisa die ThaiSeide, und er krümmte sich, und Lohmar dachte, jetzt verendet er, so rasch geht das, aber Schlumm zog nur den Steinbrocken an sich und schleuderte ihn mit übermenschlichen Kräften. Er traf seinen Gegner direkt vor die Brust. Der stürzte und schrie auf. Jetzt entdeckte Schlumm hinter den Ruinen einen Autofriedhof und eine vergammelte Zapfsäule mit aufgestapelten Kanistern; und er dachte: Wenn ich sie erreiche, bin ich in Sicherheit, und irgend jemand wird mir helfen. Er kämpfte sich hoch, strauchelte und stürzte los. Der Wurf hatte Lohmar nicht mehr Schaden zugefügt als ein Fuß ball, abgesehen von einem Schmerz in der unteren Rippengegend. Der neue Schmerz weckte Hass und Mordlust in ihm. Er vergaß seinen Auftrag. Er tötete nur noch um des Tötens willen. 78
Er griff den gleichen Stein und warf, als Schlumm ihm in einem wahnwitzigen Fluchtversuch die Seite zukehrte und losspurtete. Mit einem Aufschrei brach Schlumm endgültig zusammen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf sein zerschmettertes Bein. »Warum?« murmelte er erstaunt wie ein Kind. »Warum?« Ohne Eile suchte Lohmar sein Messer hervor. Dann stach er zwei mal eiskalt zu. »Weil diese Welt nur aus Schweinen besteht!« sagte er. »Ein Schwein wehrt sich gegen das andere. Jedes auf seine Art!« Er zerrte den leblosen Körper in die Nische; ihm war mitten im Selbstgespräch eine glänzende Idee gekommen. Er lief zur Tankstelle hinüber. Die ganze Slumgegend war einmal von allen Lebewesen ver lassen worden, außer von Ratten. Der winzige Tempel war zerfallen, die Tankstelle geräumt. Aber in den verrosteten Kanistern stand noch ein Rest von Benzin. »Genau ausreichend für ein munteres Feuerchen!« sprach er sich sel ber zu. Er warf Schlumms braune Uniformjacke über den Leichnam, über goss alles mit Benzin und ließ ein brennendes Streichholz darüberfal len. Der Anblick der Flammen erzeugte in ihm eine rauschhafte Eupho rie. Mit weit aufgesperrten Augen starrte er entrückt ins züngelnde Feuer und fühlte, wie er wuchs und selber leicht und grenzenlos wie eine Flamme wurde. »Wir werden es euch zeigen!« rief er wie ein Magier. »Genauso wer den wir es euch zeigen! Wir sind die Herren der Welt, und wir werden ohne Erbarmen sein. Wer uns nicht gehorcht, der wird brennen, bren nen …«
79
9
S
teiner stand am Barackenfenster und blickte über das Vorfeld, wo ein gutes Dutzend internationaler Jets zusammengepfercht stand, umstellt von Catering-Wagen und Elektrokarren. Ein Heer von ThaiPutzern schwärmte aus einem heranjagenden Bus aus. Der Klimawa gen stieß blauschwarze Giftwolken in den Nachmittagshimmel. An ei nem der Gepäcklorries war eine Achse gebrochen, die Koffer lagen in wirrem Haufen auf dem Beton. Zwei junge Thais standen daneben und hielten sich die Bäuche vor Lachen. Man kann ihnen einfach nicht böse sein, dachte Steiner und wand te sich wieder dem Dispatcher zu. Der durchblätterte den Stoß Wetter karten, zog die Bodenkarte heraus und wischte über Burma, Ost-Ben galen und Indien. »Kaum Wetter, das übliche.« »Ich sehe eine ganze Menge Wetter!« sagte Steiner. »Gelegentlich vereinzelte Gewitter, zwei Achtel insgesamt.« »Ein Achtel ist genauso schlimm wie acht Achtel, wenn Sie hinein geraten.« »Ein bis zwei Achtel sollten Sie aber umfliegen können.« »Besonders, wenn sie genau über dem Platz festgewachsen sind, wo Sie landen müssen!« »Für Ihren Zielhafen sind nicht mal Wolken vorausgesagt, geschwei ge denn Gewitter!« »Und wenn die nicht vorausgesagt sind, dann stehen die garantiert nicht da!« Der Dispatcher zuckte die Schultern. »Ich kann Ihnen nur sagen, was hier steht.« »Wir wollen Ihre Theorie ja nur durch unsere Praxis ergänzen!« füg 80
te Weersma hinzu. »Wir sind nur etwas misstrauischer. Das gibt uns mehr Sicherheit.« »Dann bleiben Sie doch am besten gleich am Boden!« knurrte der Dispatcher unwirsch. Steiner blickte erstaunt von seiner Treibstoffkalkulation auf. Wir sind alle etwas gereizt, dachte er, gewittrige Luft, schlechte Klimaanla ge, und gearbeitet haben wir alle auch schon eine ganze Menge. »Sie liegen ja im Bett, wenn es uns in Ihrem harmlosen Achtel das Gebiss auseinander schlägt!« konterte Weersma. »Ich würde gern mal mitfliegen. Wir kommen ja nicht dazu!« »Fein! Dann führe ich Ihnen Ihre harmlosen Achtel mal vor. Da fle hen Sie uns aber auf den Knien an, umzukehren!« »Okay, okay«, mischte sich Steiner ein. »Wir wollen lieber zusehen, daß wir unsere 52 Tonnen getankt bekommen. Wenn sich nachher ein Gewitter entlädt, ist es mit dem Tanken vorbei.« »Wir hatten vorhin mal einen Schauer, aber es sind für Bangkok kei ne Gewitter vorausgesagt worden!« Der Dispatcher schob sein Bündel Papiere ärgerlich dem Kopiloten zu. »Dann sehen Sie am besten mal aus dem Fenster!« meinte Steiner. Der Platz war umstellt von düster-grauen Quellwolken, deren Gip fel blendend aufleuchteten. Nördlich des Platzes stürzte ein Schauer wie ein rauschender Vorhang zu Boden. Auf dem Beton selber spiegel te sich die Sonne in den letzten Pfützen. Der Dispatcher stürzte hinaus, um sich um das Tanken zu küm mern. »Genau das, was wir mit Theorie und Praxis meinen!« rief Weers ma ihm nach. »Dieses Klima eignet sich erstklassig für Auseinandersetzungen, wie?« meinte Steiner, wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging die Hunderte von Zahlen auf den Flugplänen und -freigaben durch. Weersma war einmal – aber das wußte bei Transcontinental nur die Personalabteilung und der Chefpilot – Flugkapitän gewesen. Für eine holländische Chartergesellschaft war er mit der guten alten 81
DC-3 über den Kanal nach Manchester und Dublin, durchs Rhône tal nach Marseille und Turin geschippert. Seine bisherige fliegerische Laufbahn war durch einen lückenlosen Zusammenlauf unglückli cher Umstände gekennzeichnet. Das reichte nach Meinung einiger Leute, die er als Kleinhirn-Akrobaten, Seelenchirurgen und PsychoMaschinisten bezeichnete, schon aus, um ihn grundsätzlich für den Pilotenberuf zu disqualifizieren. Aus dem bisherigen Verlauf seines Traumberufs leitete sich so manche seiner jetzigen Aversionen, Ag gressionen und Aufsässigkeiten ab. Steiner hielt er für einen ausge zeichneten Mann. Er hatte einmal eine Statistik gelesen, nach der ein Durchschnitts kapitän verheiratet und im Besitze zweier Kinder und zweier Wagen war. Sein Allgemeininteresse war gerade durchschnittlich, sein kultu relles Bedürfnis unter dem Durchschnitt. All diese Feststellungen tra fen auf Steiner nicht zu; vielleicht finde ich ihn deshalb so gut, dach te Weersma. Es gab Kapitäne, die konnten einen Kopiloten vom Start bis zur Lan dung, und auch danach noch, pausenlos beschäftigt halten. Es tra ten Situationen auf, die unter einem Riesenaufwand an Sprache aus führlich begründet, erläutert, kritisiert oder abgeändert werden muß ten. Zum Schluß kam nichts weiter dabei heraus, als daß das Flugzeug wohlbehalten von A nach B geflogen war. Andere sprachen während des ganzen Fluges kaum, und alles lief elegant und scheinbar wie von selbst; und trotzdem war nach der Landung die gleiche Leistung voll bracht worden. Plötzlich zuckten beide zusammen. Hinter den Militärbaracken des südlichen Airforce-Bereiches entluden sich Gewitter. Glühend weiß flammten lange Blitzkaskaden durch die schwarze Wand der Böen front. »Hoffentlich schafft die B.P. das Tanken noch!« sagte Steiner und klopfte seine Pfeife aus. Die Tür des Dispatcher-Raumes wurde aufgerissen, und seine fünf Stewardessen stürmten herein. »Ach«, sagte er vor sich hin und steckte die leere Pfeife in die äußere 82
Brusttasche. »Karen Hilldorff ist dabei. Wußte gar nicht, daß sie hier ist.«
»Hallo, Captain!« sagte Karen Hilldorff ironisch. Seitdem beide miteinander drei Wochen in Nepal verbracht hat ten, duzten sie sich. Jeder, der sich für die Klatschgeschichten der von Mund zu Mund übermittelten TC-News interessierte, wußte davon. Aber Steiner hatte einmal durchblicken lassen, er halte das Duzen vor versammelter Mannschaft in offizieller Funktion nicht für über mäßig glücklich. Später an Bord, im kleineren Kreis, ließ er sich ohne hin wieder schnell genug dazu verführen. Zu ihrem Erstaunen antwortete Steiner: »Hallo, Karen!« Da kenne sich einer mit den Männern aus, dachte sie, kannte sich aber im übrigen recht gut aus. Eigentlich war Karen das, was sich die Initiatoren des Stewardessen berufes einmal in einer optimistischen Stunde vorgestellt hatten: eine welterfahrene Frau, mit der sich auch ein überdurchschnittlich gebil deter Fluggast angeregt unterhalten konnte, gewandt, schlagfertig, ge bildet, dazu noch gut gebaut und verführerisch. All diese Eigenschaf ten trafen auf Karen Hilldorff zu, sonst nicht auf viele Kolleginnen bei der TC. In Amerika, das war bekannt, wo ein Überangebot geschei ter, attraktiver gebildeter Mädchen vorlag, war die Situation anders. Mochte bei der TC auch eine ganze Reihe uninteressanter Mädchen tä tig sein, deren Bedürfnisse sich in Sonnenbaden, Essen, Schlafen ziem lich erschöpften, so legte TC besonderen Wert auf überdurchschnittli che Purseretten, die das Manko ausglichen. Da sie keine Stewards be schäftigte, fielen den Purseretten deren sämtliche Aufgaben zu: Ent scheidungsgewalt für die Kabinenangelegenheiten, volle Verantwor tung in Notfällen in der Kabine, Abrechnung der Bordkasse und das körperliche handling von unhandlichen, schweren Containern, die ei gentlich nicht für zarte Mädchenhände gedacht waren. 83
Karen wohnte in einem nicht eben billigen Appartement in Othmar schen, nahe der Eibchaussee. Den komplizierten Weg nach Fuhlsbüt tel bewältigte sie in einem MG, einem Geschenk ihres Vaters, der im Rheinland Mitinhaber einer florierenden Werbefirma war. Sie bemüh te sich, auf eigenen Füßen zu stehen, aber den MG hatte sie gern ge nommen. Mit ihrer Erscheinung hätte sie auf jedem Schönheitswettbewerb eine gute Figur gemacht. Tatsächlich, das wußten nicht einmal ihre El tern, hatte sie für einige ausländische Commercials den Star abgege ben. Aber bald ließ sie ihre Karteikarte bei der Filmgesellschaft ent fernen. Sie war es leid, Tag für Tag am Telefon sprungbereit zu sitzen, weil irgend jemand sie für eine kurze Szene, deren Aufzeichnung den ganzen Tag dauerte, beanspruchen konnte. Außerdem ging ihr das Fa sten auf die Nerven. Denn Karen erkannte bald, daß der verführeri sche Reiz ihrer Figur nicht in Richtung der Bohnenstange Twiggy lag. Das bedeutete nicht, daß sie zur Fülle neigte. Aber ihr Körper bestand aus festem straffem Fleisch, das sich unter hautengen Kleidern vorteil haft abzeichnete. Ihr ins Rötliche spielende Haar gab ihr einen unauf dringlichen Hauch von Verruchtheit. Das Grün ihrer Augen funkelte am vielversprechendsten im Dämmer bei Kerzenlicht. Sie liebte Eleganz und Burschikosität gleichermaßen. Sie konnte be geistert in einem stilvollen Feinschmeckerlokal stundenlang soupie ren und rannte nicht weniger engagiert in alten zerlumpten Hosen durch die versumpften Auen der Haseldorfer Marsch. Sie war sehr an spruchsvoll und hinreißend im Bett; aber die Nacht wurde ein Fiasko, wenn sie sich vorher nicht intelligent und geistvoll unterhalten konn te. Diese Charakteristika ließen sie alle gleichaltrigen Männer als fade und uninteressant empfinden und führten sie zwangsläufig zu älteren Männern hin. Diese, das war allgemein bekannt, litten unter einem unübersehba ren Nachteil: Sie waren meistens verheiratet. Oder sie waren einer auf regenden jungen Frau nicht gewachsen. Oder sie hießen Michael Steiner. 84
Und Steiner begann jetzt mit dem briefing für seine neue Kabinen crew bis Teheran: »Unsere Flugzeit bis Teheran wird, daran ist der Gegenwind schuld, sechs Stunden dreißig betragen. Höhe, wenn wir es schaffen, 37.000 Fuß, sonst erst einmal 33.000. Den Unterschied merkt ohnehin kein Passagier.« »Wir haben einhundertundvierzehn«, ergänzte Karen sofort und ge noß, zusammen mit ihrem Kapitän Informationen geben zu können. »Sechsunddreißig vorn, der Rest Holzklasse.« »Wetter: das übliche. Irgendwo wird es wackeln, weil die Tropopause oder ein JETSTREAM kreuzen. Wo und was genau, weiß niemand – glorreiche Satelliten-Wissenschaft! Es sind ein paar Gewitter voraus gesagt, aber die können auch genau dort stehen, wo sie nicht voraus gesagt sind.« »Verpflegung: das Übliche. Zweiter Abendimbiß, dann hoffentlich Ruhe bis Teheran. Strecke?« Karen wußte, daß sich kaum jemand der Kabinenbesatzung jemals für die zu fliegende Route interessierte. In Zweifelsfällen hieß es stets: Da frag' ich mal den Kapitän. Um so mehr konnte sie sich durch ihr In teresse aus der Masse hervorheben; jedermann durchschaute ihre klei nen Eitelkeiten. Steiner lächelte.
»Von Bangkok über River Kwai und Andaman-See nach Rangún. Gol dene Pagode liegt links. Falls pünktlicher Abflug: im letzten Abend sonnenlicht, sollten Sie schon mal einen Blick aus dem Fenster wer fen, lohnt sich! Dann über den Golf von Bengalen und das Gangesdel ta nach Kalkutta. Diese Stadt übrigens liegt keinesfalls am Ganges, au ßer für deutsche Schlagerkomponisten.« »Hoogly-River!« kam Vera Merkelsbach wie aus der Pistole geschos sen. Die Tour hatte sie der Hilldorff vermasselt! »Hoogly-River. Dann Varanasi, das ist das frühere Benares. Luck now, Delhi, querab von Lahore, dann hinüber nach Afghanistan.« 85
»Was ist mit dem Himalaja?« Vera wieder. »Zwischen Kalkutta und Varanasi, vielleicht. Wir haben ja … Was für einen Mond haben wir, Henk?« »Gestern Vollmond. Da könnte man bei guter Sicht die mondbe schienenen Schneegipfel sehen. Mount Everest, Annapurna, I, II, III. Gaurisankar. Rechts natürlich!« »Das war für die ganz Doofen, wie?« fragte Kay Sanders. »Bei Dhanbad«, sagte Karen unvermittelt, »biegt die Luftstraße nach Katmandu ab. Rot 81.« Sie blickten aus dem Ovalfenster der Avro 748 der Royal Nepal Air lines – früher Morgen, ginklare Luft, erst Flachland, dann sumpfige Waldstreifen, dann Vorhügellandschaft, dann flog man auf den Hima laja zu wie auf eine unübersteigbare Wand. Leichte Nebelstreifen husch ten vorüber; darauf prägte sich der Flugzeugschatten ab, von Regenbo genfarben umrundet, wuchs, war fort. Der Mann neben ihr sagte: »In Tibet haben sie diese Aura zum ersten Mal beobachtet. Henry Mil ler erwähnt sie. In Deutschland nennt man sie Brockengespenst.« »Ich beneide Sie um Ihren Beruf!« sagte sie. Sie waren sich in Delhi begegnet; eigentlich wollte der Mann nach Taschkent, mal sehen, was in Russland so los ist, aber das Visum war nicht pünktlich eingetroffen. Katmandu, das sei gar keine schlechte Idee, ob sie ihn mitnähme! Sie dachte daran, wie sie ihn erst gar nicht gern mitgenommen hatte – machte man Urlaub von der Firma, um dann trotzdem wieder mit den gleichen Leuten zusammenzukommen? Sie bemühte sich von vornher ein, in ihm nur den Mann zu sehen, nicht einen Kapitän, mit dem sie ge legentlich geflogen war – nach Agadir, Boston, Jedda. Wie viele Tage, Wochen, Nächte hatte sie in Nepal verbracht? Nach wie vielen Stunden schon hatte sie vergessen, woher er, woher sie kamen? »Interessant!« sagte Vera Merkelsbach. »Wir biegen mal nicht ab«, fuhr Steiner fort, »wir fliegen über Kan dahar, Farah, Kamar, Dehnamak nach Teheran weiter, wo wir gegen 21 Uhr Ortszeit ankommen.« 86
»Nie gehört«, kommentierte Kay Sanders. »Eine Menge Wüste. Sand, Salz, Stein.« »Was den Notfall betrifft«, schaltete sich Karen ein. »Vera und ich selber bleiben vorn, Kay und die anderen beziehen die hinteren Statio nen. Sollte getankt werden mit Paxen an Bord, werden wir vorn und hinten einen Posten einteilen. Ansonsten gilt: fünfmal klingeln akuter Fall von emergency; ich rase dann nach vorn.« »Und fahren Sie nicht gleich die große Feuerwehr auf, wenn es in der Galley mal brennt. Oft genügt das Ziehen einer Sicherung, um den durchgeschmorten Auftauofen zur Räson zu bringen!« »Aye, Aye, Captain!« Karen legte die Hand an ihr Käppi. »Wir schmeißen den Laden hinten schon!« versprachen die ande ren. Gut, gut, dachte Steiner; dann runzelte er die Stirn. Schlumm müßte jetzt wirklich bald kommen, wenn er nach Teheran will, dachte er.
10
W
ie ein großer Teil der Weltflughäfen seit Kriegsende befand sich auch Bangkok Don Muang im Umbau. Viele Häfen waren weiter nichts als permanente Großbaustellen, durch die Bretterzäune und Well blechverschläge von einem Provisorium ins nächste führten. Wandrisse und unverputzte Leitungen wurden gern notdürftig mit der Mitteilung der Flughafenverwaltung verdeckt, man bedaure die Unannehmlichkei ten, aber bald werde alles noch schöner, noch größer werden. War dann der Neubau unter großen Lobsprüchen eingeweiht worden, fanden am äußeren Ende bereits wieder die ersten Umbauten statt. Don Muang war ein stets aus den Nähten platzender Hafen, des sen Südteil, ähnlich wie Frankfurt, von den Militärs beherrscht wurde. 87
In den Gängen und Hallen prangten mit thailändischer Farbenfreu digkeit die Werbeplakate der asiatischen Fluggesellschaften, die einen Hauch östlichen Fernwehs vermittelten. Da warb Cathay Pacific für Fukuoka und Kota Kinabalu, Air Vietnam für Siem Reap, Thai Inter national für Osaka, Union Burma für Rangun, Garuda für Pakanba ru und Palembang, Malaysia-Singapur-Airlines für Kuala Lumpur und Ipoh, Japan Airlines für Kyoto. Ceylon warb mit Elefanten, Manila mit den Heiligen der Philippinen; auch Bhutan, Sikkim, Sarawak, Bangla Desh, Kaschmir, Guam, Laos waren vertreten. Robert Bronn, der während der Transitzeit die Plaka te studierte, warf verstohlene Blicke auf seine schwarzhaarige FokkerBegleiterin, die einen jungen Mann begrüßte – ein wenig kühl, stellte er fest. Obwohl er vor wenigen Stunden noch Heimweh nach der Zivi lisation gespürt hatte, faszinierten ihn die fremdartigen Namen bereits wieder. Obwohl er noch nicht heimgekehrt war, wurde er schon wieder von neuem Fernweh berührt. Hinter ihm standen und saßen die übrigen Passagiere, zum Teil be reits erschöpft durch den vorangegangenen Flug. »Gut, daß du den Anschluss nicht verpasst hast!« sagte Ralph zu Ruth Osterman. »Geht's dir gut?« Sie sah ihn nur kurz von der Seite an. »Wie ich dich kenne, hast du mich gar nicht vermisst.« »Ich habe mir Sorgen gemacht«, antwortete er unbekümmert. »Aber ich habe auch großartige Sachen entdeckt, während des Fluges. Eine neue Bluessache, die geht so … Willst du sie hören?« »Nicht jetzt, nicht hier …« Durch die Passkontrolle kamen die ersten Zusteiger, ein älteres Ehe paar. »Du wolltest die Pässe einstecken!« sagte die Frau. »Aber du hast gar nicht daran gedacht!« »Ich habe sie aber gehabt!« »Aber du hast nicht daran gedacht! Es war reiner Zufall, daß sie noch in deiner Jackentasche steckten! Du hättest sie genauso gut liegenlas sen können.« 88
»Ich habe sie aber nicht liegengelassen!« »Du hättest sie liegenlassen können, das genügt!« Durch eine größere Gruppe deutsch sprechender Männer drängelte sich ein junger Amerikaner, der sich aus einer Art Kampfjacke einen Zivilanzug hatte schneidern lassen. Er ließ sich auf einen Barhocker fallen und bestellte einen Brandy mit Eis und Sodawasser. Dann starr te er missbilligend auf die Hantierungen zweier Fernsehleute, die Ka bel zusammenrollten. »Diesen Gegensatz müssen wir herausbringen!« sagte Arnold. »Hier, im öffentlichen zugänglichen Teil des Flughafens, leichte Werbeslo gans, die auf leibliches Wohl und Genuss-Sucht des Passagiers gerich tet sind: Fühlen Sie sich wie ein Maharadscha, ein Senator, ein Kö nig. Jenseits der leichtverständlichen Plattitüden, for crews only, in den Ops- und Dispatch-Räumen, die technischen Geheimchiffren für die Magier, die die Schwerkraft überwinden.« Wessman war in euphorischer Stimmung. Seine Bangkok-Repor tage lief ausgezeichnet. Nach dem Interview mit dem Mönch war er im Transitraum auf die wissenschaftliche Delegation gestoßen. Men schen im Wartesaal: die natürliche Bescheidenheit des Mönches bilde te einen reizvollen Kontrast zu der klaren, selbstbewussten Diktion der Wissenschaftler. War Ihre Reise erfolgreich? Unbedingt ja. Wir haben auf der Generalversammlung der IAU eine Menge gesehen und gelernt. Aber wir haben auch, nicht ohne Stolz, festgestellt: Wir Deutschen stehen, im internationalen Kreis der For scher, nicht abseits. Wir sind vollwertige Mitarbeiter. Muß das, trotz Wernher von Braun, überhaupt noch betont werden? Das muß betont werden. Ich rede nicht von Leistungen, die im Aus land, mit ausländischem Kapital, vollbracht worden sind. Ich meine die Arbeit jener Deutschen, die im eigenen Land mit den mehr als be scheidenen Mitteln Bahnbrechendes leisten. Im übrigen sind wir ja keine Raketen-Techniker, sondern Astronomen. Moderne Raumfahrt allerdings ist ohne astronomische Erkenntnis nicht möglich. Arnold würde später das 20-Minuten-Interview rücksichtslos wie ei 89
nen wild wuchernden Strauch beschneiden und mit den Worten des Mönchs und dem Wenigen, dessen er aus dem Internbereich der Flug planung habhaft werden konnte, übergangslos mischen … … Im Dispatchraum der Transcontinental hatte Steiner tatsächlich eine Menge Informationen erhalten, die nur Eingeweihten verständ lich waren: KHI ILS nur Cat II BC Beacon auf Frequ. 220 u/S. BKK21 LWIP AVI in Comp 1 3 No-shows heute; 2 Tourist wurden upgegradet. Beim Climbout ist das Noise-Abatement zu beachten. Das DME der CAL-VOR ist unreliable. Die Limitation im 2. Steigsegment kann disregarded werden. AIREP ist compulsary. Das Wetter in Teheran: 220/15 8 2/100 1014 19/8 Nosig. »Was für AVI haben wir denn in Compartment 1?« fragte Steiner nach. AVI war der Drei-Buchstaben-Code für lebende Tiere. »Einen Beruk aus Java, den die Garuda angeliefert hat. Hübsches Tier! Dazu einen Käfig Rhesus-Äffchen für ein Serum-Institut in Ko penhagen.« »Gut untergebracht?« »Bisher ja, müssen aber in Teheran unbedingt verpflegt werden. Wir haben ein TELEX losgelassen. Tiere reagieren auf arythmische Stö rungen weitaus sensibler als Menschen!« »Gut, daß die TC keine Affen als Piloten hat!« sagte Weersma. »Die würden ihr reihenweise aus den Pantoffeln kippen – bei dem Einsatz!« Überall im Terminal zuckten plötzlich die Lampen auf. Hinter den Scheiben flammten Blitze. Donner knallte trocken dazwischen und übertönte sogar den Start einer Caravelle. »Trinken wir noch eine Tasse Chai zusammen?« fragte Steiner Ka ren, als sie zusammen das Büro verließen. Sie schielte ihn über ihre Sonnenbrille mit den leicht getönten Gläsern an. 90
»Wenn mein Kapitän mir die Ehre erweist … Mehr schwitzen als jetzt kann ich ohnehin nicht.« Sie schob die gewaltigen Gläser zurück, und sie gingen durch die Paßabfertigung, wo Steiner einen Stapel Pa piere zu unterschreiben hatte. »Ich belege uns schon mal zwei Plätze im Café und bestelle.« Steiner unterschrieb die Passagier- und Frachtmanifeste. Er unter schrieb für Personen und Sachen, von denen er nicht im mindesten wußte, ob sie jemals an Bord kommen würden. Er unterschrieb für eine Lebendtiersendung aus Djakarta und für Tropenfische aus Manila, für Autoersatzteile und deutsche Wissen schaftler im Transit aus Sydney; und als er alles abgezeichnet hatte, setzte er sich zu Karen, trank einen Schluck heißen Tees und sagte: »Unternehmen wir was Interessantes in Teheran?« »Natürlich! Schon Pläne?« »Nichts Bestimmtes. Bin ja gerade erst mit diesem Problem konfron tiert worden! Bisher habe ich andere Sorgen gehabt!« »Aber ich habe mir schon Gedanken gemacht! Lass dich überra schen, das ist das beste! Gut siehst du übrigens aus!« »Hongkongsonne! Jetzt, wo mein Check ausfällt wegen Traffic Jam in Bangkok, habe ich ein Problem weniger!« »Sag mal, was macht dein Haus in Cranz?« »Das letzte Mal, als ich über Deutschland war, bin ich nur so darüber hinweggeflogen. Aber es sah gut aus, von oben.« »Mein neuer MG steht seit drei Wochen in Fuhlsbüttel und rostet still vor sich hin im Hamburger Frühlingsregen. O je, ich muß gehen, meine Crew winkt vom Bus aus. Trinkst du für mich aus?« »Ich komme in fünf Minuten nach!« Während Karen, ihm mit der Hand zuwinkend, zum Bus ging, dachte sie daran, wie sie zum ersten Mal in sein Haus gekommen war, nachdem sie sich zufällig in Nepal kennen gelernt hatten. In Gedanken versunken ging sie an der Zoll- und Gepäckkontrol le vorbei, wo thailändische Beamte flüchtig das Passagiergepäck überblickten und dann freigaben. Einer der männlichen Passagie re wurde für eine Stichprobe vorgesehen und mußte sein Handge 91
päck öffnen. Der Beamte warf einen Blick in den Paß und verglich Photo und Namen. »Lohmar, Wilhelm?« »Ja.« Der Beamte, ein winziger Thai mit einer Narbe auf dem schmalen Kinn, ließ sich den Toilettenbeutel aus Büffelleder öffnen. Er wühlte verspielt darin. »Sie haben eine Menge Spraydosen, wie?« Der Mann namens Lohmar grinste. »Pre-Shave, After-Shave, Deodorant … ich mag das.« Der Beamte zog sorgfältig den Reißverschluss zu und gab das Ge päck frei. Karen inzwischen hatte den Bus erreicht und gab sich lächelnd ihren Erinnerungen hin. »Komm nur!« sagte er. »Wollte nur mal sehen, wie du so lebst, hier in Norddeutschland!« sag te sie und trat, umbrabraun vom Schal bis zu den Schuhen, in sein Zim mer. »Hübsch hast du es!« »Sehr ruhig. Sehr abgeschieden.« »Ein Gegenpol zu dem Flughafenkrach und den vier Turbinen unse rer Boeing!« Er half ihr aus dem Mantel, bot einen Sessel an, holte eine Flasche Whisky herbei. »Bourbon, bitte, wenn es geht!« bat sie. »Wie in Nepal.« »In Nepal hatten wir Old Forester. Nimmst du mit Jim Beam vorlieb?« »In meiner Phantasie wird er wie der alte Forester schmecken.« Sie saßen sich gegenüber; mildes Dezemberlicht fiel durch die Schei ben, hinter denen rostige Fischkutter auf der Helling der Estewerft ihren Winterschlaf hielten. Wolken von Heringsmöwen tummelten sich über dem nahen Sommerdeich. »Nett, daß du mich mal besuchst! Schwierigkeiten mit deiner Hand tasche?« Karen nestelte in den Eingeweiden ihrer riesigen, befransten Lederta sche und zerrte endlich einen winzigen Strauß Mimosen hervor. 92
»Ich wußte erst nicht, ob ich … und so. Wo steckt denn deine Frau ei gentlich? Und wie lange steckt sie?« »Lange genug, um diese Gabe in Ruhe und auf diesem Tisch ausblü hen zu lassen.« »Problem erkannt! Ich hole mal eine Vase, darf ich?« »Dort im Wandschrank. Hübsche Schuhe hast du an. Passen gut zum Rock!« »Ich war skeptisch, bei der Rocklänge. Erst wußte ich nicht; jetzt weiß ich's also.« Als die Blumen auf dem Wohnzimmertisch standen: »Die habe ich gestern in Neapel gekauft. Die Vase stammt aus Teheran, nicht wahr? Da gibt's die.« »Isfahan. Auch Persien!« »Geschenk für deine Frau?« »So ungefähr.« »Keine Angst. Mit der Sache werde ich fertig. Your favourite airline has the best skilled personal. Wenn du willst, koche ich uns sogar Kaf fee. In ihrer Küche. Ich spüle auch hinterher. Damit ich keine Spuren hinterlasse.« »Soviel kriminalistische Umsicht ist wirklich nicht nötig. Ich bin auch nicht ganz untrainiert!« Sie schob die Fenstervorhänge beiseite. »Erklärst du mir mal die Geographie? Ich möchte wissen, was du siehst, wenn ich auf meiner teuren Luxusbude hocke und auf die Erdumwäl zung an der Parkallee starre. Da wird, wie jeder fortschrittliche Ham burger weiß, der neue Elbtunnel gegraben.« Er täuschte eine Mikrophonansage vor: »Hier spricht Ihr Kapitän, dem Sie sich auf Gedeih und Verderb an vertraut haben – Ihre Schuld! Tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müs sen: Service gestorben, Crew hat alles aufgegessen. Als generösen Aus gleich bieten wir Ihnen den Ausblick auf ein phantastisches Panora ma. Zur Linken: Stoltenhörne, Hinterbrock, der Hahnöfer Sand. Der Borsteler Schallen. Rechts: Hohe Wiese, Estemündung. Vor Blanke nese der Schweinsand. Die Wagenräder auf den Strohdächern haben nur noch symbolische Bedeutung. Wer sich heutzutage als wohlsitu 93
ierter Storch noch bis auf die Giftwiesen Deutschlands verirrt, ist sel ber schuld.« »Ich werde mich über meinen Kapitän beschweren! Zeitkritische Durchsagen mit politischem Hintergrund sind untersagt! Was sind das dort für Baken?« »Die rote Spitze ist eine Spierentonne. Die Schwarzrote mit dem Recht eck ist eine Kreuztonne an Backbord, die dort hinten mit dem auf die Spitze gestellten schwarzen Viereck eine Kreuztonne an Steuerbord. Die Rote dort mit der Lichtbake und dem C ist eine Leuchttonne an Steuer bord.« »Segelst du?« »Im Sommer. Kommst du mal mit?« »Gern. Wenn gerade kein sonstiges weibliches Wesen an Bord ist.« Er küßte sie zärtlich in den Nacken. Er legte seinen Arm um sie. Sie schmiegte ihren Rücken gegen seine Brust. Er drückte ihren Körper ge gen seinen Leib. Sie neigte ihren Kopf nach rechts. Er küßte ihr linkes Ohrläppchen. Sie kuschelte ihre Schulter gegen seinen Hals. Er beugte sich weit über sie und küßte sie in die Delle zwischen den Brüsten. Sie hob ihre Hände und streichelte mit weit zurückgeworfenem Kopf sein Haar. Er legte seine Hände um ihr Gesicht und küßte sie lange auf den Mund. Sie blickten wieder über den Strom. Ein libanesischer Frachter hisste die schwarz-weiße Zollflagge. Vom gegenüberliegenden Ufer, aus Schulau, klang eine Nationalhymne herüber. »Schön, daß du gekommen bist, Karen!« sagte er leise und streichel te ihre Brust. »Wird mal Zeit, daß mein großer Kapitän sich zu schwacher Will kommensbezeigung herablässt!« Sie ließ sich noch weiter in seinem Arm zurücksinken und küßte von unten sein Kinn. »Genau wie im Cockpit läßt er sich nur selten zu einer Handlung hinreißen! Aber wenn er schon mal – dann sitzt jede Bewegung.« Sie löste sich von ihm und wirkte jetzt beschwingter. »Soll ich uns mal einen tüchtigen Kaffee machen? Mit einem Schuß Kognak oder Cointreau, falls vorhanden!« 94
»Beide C's vorhanden. Warte, ich zeig' dir mal, wo …« »Ich suche mir gern alles zusammen. Oh, einen Plattenspieler besitzt mein Kapitän auch! Legst du mal auf, was du besonders gern magst? Hast du Beat oder was Psychedelisches?« »Gar nichts, zur Enttäuschung der Jugend! Rock und Beat sind mir einfach zu hektisch, das habe ich schließlich im Beruf schon. Wenn ich Musik höre, dann muß ich dabei die Möglichkeit haben, über meine Flüge zu … jetzt wirst du lachen!« »Bitte?« »Zu meditieren. Einfach dasitzen. Eine Pfeife rauchen. Einen ruhen den Punkt finden. Eine Insel, um die die Zeit kreist. Das ist, als ob du von der äußersten Spitze eines Uhrzeigers zurück an seinen Drehpunkt kriechst! Zwischendurch mal die anderen kreisen lassen!« »Nicht übel, dieser Zeigervergleich. Wir entfalten eine gewaltige Akti vität. Wir rasen mit Geschoßgeschwindigkeit um die Erde. Aber wir keh ren immer wieder zum Ausgangspunkt zurück: Alles umsonst, deine dich liebende Tochter!« Sie suchte in der Wohnküche Geschirr zusam men. »Leg mal auf, deine Meditationsmusik!« »Ich mag gern altitalienische Gitarrenkonzerte! Hier hast du Carullis Concerto in A-Dur, gespielt von Siegfried Behrend.« Sie setzte Wasser auf stellte Tassen bereit, maß Cointreau in einem Jig ger ab. »Klingt aber sehr heiter – wie früher Mozart!« »Es liegt kein Anlass vor, über finstere Themen zu meditieren!« »Siegfried Behrend – warte mal, den habe ich an Bord gehabt, der hat doch in Ost-Bengalen ein Konzert gegeben, in Chittagong.« Die Musik regte sie an: »Wir haben schon einen irren Beruf, findest du nicht? Manchmal ver fluche ich ihn! Wenn nach der Schinderei die Ohren rauschen, als ob alle Nervenfasern einzeln an der Zimmersteckdose angeschlossen sei en. Der Sauerstoffmangel! Die trockene Luft! Der geringe Luftdruck! Die Fliehkräfte! Die Turbulenz! Der Klimawechsel! Die tropischen Krank heiten! Der Kalkhaushalt, der sich nicht regenerieren kann! Der Tagund Nachtrhythmus, der sich nicht regenerieren kann! Die Chromo 95
somen, die sich nicht regenerieren können! Die Gehirnzellen, die un ter Sauerstoffmangel beschleunigt absterben und sich nicht regenerie ren können! Die Runzeln, die sich beschleunigt vermehren! Die verhaßte Uniform mit dem Gestank von Babykotze, Desinfektion, angebrannten Steaks! Die brüchigen Haare! Die entzündeten Schleimhäute! Das gei stige BILD-Niveau, auf das du mit zunehmender Flughöhe sinkst! Hier ist der Kaffee! Hoffentlich ist es nicht Cointreau mit Kaffeearoma ge worden!« »Prost!« sagte Steiner und hob seine Kaffeetasse. … Später spielte Behrend Vivaldis D-Dur-Concerto; und sie küssten sich während des Allegros und noch einmal während des Andante Lar go; und während des 3. Satzes räumte sie in der Küche auf, und dann kam sie zurück und sagte: »Wie lange ist deine Frau eigentlich schon fort?« »Oh, ein paar Tage oder so.« »Oder so?« »Ich war ja auch unterwegs. Sie ist zu einer kurzen Kur oder so.« »Oder so?« Sie setzte sich bequem zurecht, zündete sich eine Zigarette an und sah ihn inquisitorisch an. »Für eine intensive Familie habt ihr wenig Geschirr!« sagte sie dann. »Hm …« »Bitte?« »Nichts.« »Wenn du mir nicht zwischen Katmandu und Patan erzählt hättest, du seist, dann würde ich glauben, du bist gar nicht.« »Verheiratet?« »Was sonst. Sieht hier fast wie eine Junggesellenwohnung aus.« Steiner wählte umständlich eine Pfeife aus einem halben Dutzend aus, begann, sie nicht weniger umständlich zu stopfen und meinte endlich: »Also gut, wenn du Wert darauflegst …« »Worauf?« Sie erstarrte jetzt vor Spannung. »Ob ich verheiratet bin.« 96
»Ja?« »Nicht mehr. War. Seit drei Jahren geschieden.« Da begann Karen Hilldorff laut zu lachen. »Das ist nun wirklich eine neue Erfahrung mit Männern!« Sie um armte ihn. »Ich habe immer nur Männer getroffen, die leugneten, ver heiratet zu sein. Die versprachen das Blaue vom Himmel herunter. Ein Mann, der eine Ehe vortäuscht und Junggeselle ist, das ist sogar für eine auspuffstrahlgehärtete Purserette keine alltägliche Begegnung! Komm her und lass dich küssen dafür, Ehekrüppel!«
11
A
ls Lohmar die Kontrollen hinter sich gebracht hatte, gewahrte er mit seinem stets misstrauischen Blick die Hantierungen des Fern sehteams. Seine Züge verhärteten sich. Der Bär war gerade für ein Close-Up vorgesehen; das waren die Imponderabilien, mit denen man im mer rechnen mußte. Er hatte mit ihnen gerechnet, darin lag seine Stär ke. Sein Gesicht entspannte sich, als er sah, wie gelassen ausgerechnet der Bär die Kontrolle passierte. Es hatte nur kurze Perioden gegeben, in denen auch die Transconti nental im Fernen Osten besondere Sicherheitsmaßnahmen gegen Ent führungen durchgeführt hatte: im Herbst 1970, nach den Attentaten der palästinensischen Guerillas. Dann 1972, als ein Lufthansa-Jumbo entführt worden war. Schwer genug war dieser Beschluss der TC oh nehin gefallen. Es galt, eine heilige Kuh zu schlachten: die Ruhe und Zufriedenheit des Passagiers. Da die Schreibtisch- und Werbefachleu te der TC nur selten flogen und statt dessen lieber voller Entzücken auf die wundervollen Slogans blickten, war ihnen unvorstellbar, ein Pas sagier könne sich vor einem Hijacker fürchten und sich strengere Kon trollmaßnahmen wünschen. In ihrem rastlos Werbesprüche produzie 97
renden Bewußtsein war Fliegen die wundervollste, harmloseste Ange legenheit der Welt. Sie wurde stets von strahlenden Piloten unter hei terblauem Himmel hoch über den Wolken absolviert; und so drängte sich notwendigerweise die Frage auf, wofür die Schönwetterpiloten ei gentlich so viel Geld erhielten. Sie flogen zu den wundervollsten Feri enzielen der Welt: Malaga, Kairo, Djakarta. Daß viele dieser wunder vollen Ferienorte über miserable und kriminelle Flughäfen verfügten, ohne die geringsten Schlechtwetterhilfen oder ausreichend beleuchte te Landebahnen, wußten die Leute mit den wundervollen Werbesprü chen nicht; es interessierte sie auch nicht. Die Tropengewitter, die 300 Tage pro Jahr Strecken wie Lagos – Accra oder Bangkok – Djakarta zu einem Hexenkessel der Naturgewalten machten, erreichten die grü nen Tische derer nie. Schließlich war es Sache der Piloten, Flüge abzu lehnen, die sie mit ihrem Sicherheitsstandpunkt nicht vertreten konn ten. Ein solcher Paragraph war eine ausgezeichnete Rückendeckung für das Management. Schob man die letzte Entscheidung dem Piloten zu, so ließ sich im Falle einer Katastrophe stets auf eine Fehlentschei dung des Piloten drängen. In der harten TC-Praxis jedoch war einem Piloten ein solches Verfahren zur Erlangung äußerster Sicherheit nicht zu empfehlen. Ein Pilot, der wegen Bauarbeiten in seinem Münchener Hotel den ganzen Tag kein Auge zugetan hatte und mit dieser Begrün dung den Flug verweigerte, wozu er laut TC-Vertrag verpflichtet war, entging um ein Haar seiner Entlassung. Der Chefpilot der TC tobte. Seine Piloten müßten derartigen Belastungen gewachsen sein, sonst könne man aus ähnlichen Gründen fünfzig Prozent aller Flüge strei chen. Er schickte den vorschriftsmäßig handelnden Piloten zu einer medizinischen Sonderuntersuchung, um seine psychische Belastbar keit feststellen zu lassen. Sie war ausgezeichnet – das rettete ihn. Weersma war einer der jüngeren Piloten, die solche Fälle dutzend weise sammelten. Sein Stoßseufzer nach derartigen Schilderungen war stets der gleiche: Bei einer regulären Fluggesellschaft oder bei ei ner Chartergesellschaft, die von einer regulären Fluggesellschaft be treut werde, sei alles ganz, ganz anders. Lohmar und Wessmann, die sich jetzt langsam voneinander entfern 98
ten (Wessmann hatte es auf den malerischen Mönch abgesehen, Loh mar auf den ersten Platz am Ausgang), waren einander durch gleich artige Kenntnisse näher, als sie ahnten: Wenn Wessmann bei einem Anflug im Cockpit filmte, sah er sofort, was wirklich los war. Die Pilo ten zögerten nicht, ihn als kritischen Betrachter par excellence in ihre Kritik einzuweihen. Lohmar hatte die löbliche Angewohnheit, sich auf seinen Flügen in die erste Reihe der Ersten Klasse zu setzen. Dort hör te er viele der privaten Gespräche, die von den Besatzungen in der Gal ley voraus geführt wurden. Auch ließ er sich manchmal als harmloser Passagier in den Crewbussen ins Hotel fahren. Er hatte eine hilfreiche Feststellung gemacht: Besonders jüngere Besatzungsmitglieder zeich neten sich nach anstrengenden Flügen durch außergewöhnliche Ge spräch- und Kritiksucht aus. Es bedurfte nur eines winzigen Ansto ßes, aus einem Steward wichtige Hinweise herauszuholen, die er ver werten konnte. Phra Maha Chai beobachtete lächelnd Wessmann, wie er sich nervös über den kahlen Schädel fuhr, mißtrauisch das Aufrollen der Kabel verfolgte, Anweisungen für das Verpacken der kostbaren Scheinwerfer durch die Menge rief, seine Notizen durchblätterte, sich armrudernd einen Weg durch eine Gruppe Burma-Touristen bahnte. »Sie ziehen mich an wie ein Magnet!« meinte er und ließ sich auf seufzend neben ihm an der winzigen Bar nieder. »Was trinken Sie?« »In China«, antwortete der Mönch, ohne auf die Frage einzugehen, »nennt man den Magneten den Stein, der liebt. Das ist eine treffende Formulierung.« »Ich würde mich gern noch unterhalten über Ihre …« Dem strapazierten Fernsehmann fiel das rechte Wort nicht ein. »Meine Lebenshaltung? Trinken Sie ein Ginger Ale mit?« »Gern, wenn ich Sie zu einem zweiten einladen darf. Ihren … Way of Life.« »Besser: Attitude of Life. Ich habe gerade über ein Wort von Blyth nachgedacht: Was ist das Schlimmste das uns widerfahren kann? Sün de, Leid, Tod. Wenn wir, statt überrollt zu werden, durch diese Wogen emporgehoben würden – wir wären frei.« 99
»Bei diesem Lärm? Dieser Hitze? Nachdenken? Ich bewundere Sie – uneingeschränkt!« Der Mönch verneigte sich kaum merkbar. Er setzte jedes seiner Wor te mit der gleichen Präzision und Betonung. Man merkte, daß Eng lisch nicht seine Umgangssprache war – aber jeder Satz saß fehlerfrei. Dann begann er zu erzählen. Er sprach einfach vor sich hin, als habe er Wessmann vergessen. Er schilderte seinen Tageslauf, Gedan ken, flüchtige Impressionen. Das Ganze schien zusammenhanglos, ab sichtslos dahergesagt. Aber vor Wessmanns Augen entstanden Bilder von großer Eindringlichkeit. Das schließlich war sein Beruf: Informa tionen in Bilder umzusetzen. Hier, im Transitraum des Don-MuangAirports, geschah das ganz von selber, ohne spitzfindige Raffinessen. Die morgendlichen Bettelgänge durch das Dorf. In der Stille des er wachenden Morgens verläßt die Gruppe der leuchtend gelb gekleideten Mönche den Frieden des Wats und bittet um Reis und Blumen, Fleisch und Obst. Ehe die Straßen sich mit Schulkindern, Radfahrern, Haus frauen füllen, sind sie mit ihren Kürbisschalen wieder zurückgekehrt, lautlos wie sie kamen. Die Aufnahmefeier im Tempel: Die Angehörigen tragen den Novi zen in dreimaliger Prozession auf den Schultern durch die Tempelan lage, ehe er vom Orden aufgenommen wird. Die Roben der Mönche variieren in der Farbe von blassem Zitronengelb bis zu rostigem Oran ge. Die schmalen Boote der Mönche auf den Klongs: vollgeladen mit Schalen und Früchten kehren sie zurück ins Wat. Das Frühstück wird schweigend eingenommen. Danach versammeln sich alle vor dem Al tar zum Gesang. Dann beginnt das Studium der Pali-Schriften. »In Thailand«, sagte Maha Chai, »gibt es mehr als 250.000 Mönche in 20.000 Tempeln. Wir kennen zwei Lehrrichtungen: Theravada und – hauptsächlich für unsere chinesischen und vietnamesischen Brüder – Mahayana. Wir kennen nur vier Ordensregeln …« »Armut, Abstinenz …«, probierte Wessmann. Maha Chai schüttelte den Kopf und zog sein Gewand über den Schul tern zurecht. Es stand ihm gut; er war schlank und jung. Seine Stim 100
me klang sanft, aber direkt. Wenn er zuhörte, neigte er sich leicht nach vorn und runzelte die Stirn, wie um sich zu vergewissern, daß ihm kein Wort entging. Sein Lachen klang leicht und ehrlich. Jede seiner Bewegungen drückte Grazie und Würde aus. »Wir dürfen Alkohol trinken – wenn es uns Freude macht. Wir sind auch nicht unbedingt arm. Wir benötigen Geld für die öffentlichen Verkehrsmittel. Zwar dürfen wir kostenlos auf den Bussen fahren. Aber sie sind oft überfüllt, und es fällt uns schwer, unserem ersten Gelübde nachzukommen: keine Frau zu berühren. Die Taxifahrer, leider, ma chen keinen Unterschied zwischen Geschäftsleuten und Mönchen.« Er lachte. »Und die anderen Gelübde?« Wessmann spürte, wie seine Aufmerksamkeit abgelenkt wurde. Er hatte einen untrüglichen Instinkt für Außergewöhnliches, der schlug jetzt Alarm, ohne daß er dahinter kam, was gemeint war. Seine Blik ke waren zum Ausgang abgeschweift, wo die Passagiere von Flug TC 733 sich jetzt um den Platzverteilungstisch zu drängen begannen. Sie fielen auf einen der männlichen Passagiere, der sich außergewöhnlich intensiv bemühte, einen bestimmten Platz zugewiesen zu bekommen, den ihm ein anderer streitig zu machen schien. Aber die Angelegen heit löste sich in Wohlgefallen auf. Trotzdem dachte er: Die Gesichter der Passagiere filmen, wie sie um bestimmte Sitze kämpfen. Die Gier in den Augen der sonst so würdevollen Herren in den dunklen Anzü gen mit der gestreiften Krawatte und den uniformen Bordcases. »Und die anderen Gelübde?« Er wußte nicht, ob er die Frage schon mal gestellt hatte. »Nicht nehmen, was nicht gegeben wird. Kein menschliches Wesen töten. Keine falsche geistige Erleuchtung vortäuschen.« »Ihr Flug ist aufgerufen. Erklären Sie mir noch rasch: Was bedeutet Ihr Name? Oder hat er keine Bedeutung?« »Phra heißt Mönch. Maha bedeutet, daß ich sieben der neun Gra de Pali-Sprache absolviert habe. Chai bezieht sich auf den Tag meiner Geburt. Mein Familienname ist Podhisita, mein buddhistischer Name Abhakaro.« 101
»Sie machen aus alledem kein Geheimnis«, lobte Wessmann. »Das ist wohltuend!« Sie erhoben sich, und der Mönch verabschiedete sich nach Thaiart und schritt, sein Gewand zusammenraffend, davon. Er hatte jedem Wort aufmerksam gelauscht; aber jetzt schien er schon weit fort zu sein, als ginge ihn Wessmann nichts mehr an. Als er am Gate ankam, drängten sich die ersten Zusteiger bereits in den blauen Bus. »Ich geh' mal wieder in mein Büro!« pflegte Steiner zu scherzen, wenn er im Cockpit Platz nahm. Das Cockpit eines kostspieligen Airliners war der ungemütlichste und engste Teil, vielleicht von den Toiletten abgesehen. Schon ohne Piloten war es mit Instrumentenkästen, Konsolen, Schalttafeln, zu sätzlich angeflickter Elektronik so vollgepfercht, daß harmlose Besu cher sich verzweifelt fragten, wo zwischen all den Hebeln, Schaltern, Schläuchen, Kabeln, Sicherungen noch ein menschliches Wesen Platz finden sollte. Sitzgestaltung, Bemalung, Platzierung der Instrumente waren teil weise so primitiv ausgeführt, daß man den Eindruck gewann, die Konstrukteure hatten in ihrer Sorge um das Wohl der Passagiere tat sächlich die Piloten vergessen und rasch zu einer flüchtigen Notmaß nahme gegriffen. Im Gegensatz zu Entscheidungen in einem Büro mußte ein Teil der Cockpitentschlüsse in Bruchteilen von Sekunden gefaßt werden. So, wenn im kritischen Teil der Startphase, V1, ein Triebwerk ausfiel und über Abbruch oder Startfortsetzung entschieden werden mußte. Schon wegen des stets wechselnden Panoramas hätte Steiner sein Büro jedoch gegen kein geräumigeres auf der Erde eingetauscht. An den Scheiben rasten Höhenstürme vorbei. Phantastische Wolkenpan oramen entrollten sich. Zarte Zirrenschleier bogen sich im Jetstream. Bizarre Tiefs krümmten ihre Wolkenbahnspiralen wie Ammonshör ner. Nordlicht spannte seinen Lichtbogen von Horizont zu Horizont. Sankt-Elms-Feuer umhängte den Bug mit blauflimmernden Auren. Fremdartige Sternbilder flackerten in der schwarzen Tropennacht. 102
Das Cockpit war ein guter Ort, die Erde zu betrachten. Er hatte ihre unterschiedlichsten Gesichter gesehen: Flußdeltas, die wie vorsintflut liche Bäume anmuteten. Canyons wie Studentenschmisse. Kraterland schaften, die Mond vortäuschten, jetstundenlang. Wüsten mit Graphi ken, die phantastischer als alles von Künstlerhand Geschaffene wa ren. Inselarchipele, hingestreut wie Konfetti. Gebirgszüge, -schründe und -kämme wie aufgewölbte, nicht vernarbende Wunden. Quadra tisch zersiedelte Prärien. Städte unter Dunstschleiern wie auf Perga ment. Marschland, Regenwaldland, Lavainselland, Sumpfland, Kanalland, Farmland, Plantagenland, Tundraland, Gletscherland, Eisland – Erde! »Ladeplan und Vertrimmung, Sir!« sagte der Stationsassistent und drückte ihm die Papiere auf den Schoß. Er überflog einen Teil der wichtigsten Zahlen, ließ Weersma Start gewicht und Trimm notieren und ließ das Trimmrad an der Mittel konsole durch einen Daumendruck am Steuerhorn auf die errechneten 26,2 % laufen. Der Wert war aufgrund der Fracht-, Gepäck- und Pas sagierverteilung errechnet und garantierte, daß die Maschine bei Er reichen der Abhebegeschwindigkeit mehr oder weniger von selber ab hob. Weersma las die Checkliste. 16 Uhr 30 thailändische Ortszeit: die JETSTREAM stand klar zum Triebwerkanlassen, Kühlaggregat, Gepäckkarren, der letzte Cateringwagen krochen aus dem Umkreis der Boeing. Das rote Antikollisionslicht begann zu kreisen; der Bodenmechaniker meldete über die Bord Boden-Verbindung: »Alles klar an Triebwerk 3!« Im Cockpit sagte Steiner zu Weersma: »Nummer 3 starten!« Weersma drückte den Startschalter, und als der Drehzahlmesser der Hochdruckwelle 18 % zeigte, legte er den Starthebel Nr. 3 auf Start. Er wartete, bis der N2-Drehzahlmesser 32 % zeigte, Weersma ließ den Startschalter los; und als die Instrumente sich eingependelt hatten, wiederholte er das Verfahren für Triebwerk 4, 2 und 1. 103
Alle Anzeigen waren normal, und er sagte durch den Sprechfunk zum Bodenmechaniker: »Okay, Pressluft kann entfernt und der Radioraum geschlossen wer den. Wenn Sie Ihr Interphon gelöst haben, warten wir auf Ihre Roll freigabe. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« »Alles klar, schönen Flug nach Teheran«, sagte der Mechaniker; zwei Thais rannten wie besessen mit den Bremsklötzen aus dem Rollbereich der JETSTREAM. »Startschalter?« sagte Weersma mit der Checkliste auf dem Schoß. »Aus!« »Starthebel?« »Leerlauf.« »Triebwerkenteisung?« »Geprüft und aus.« »Scheibenheizung?« »Maximum.« »Flugschreiber?« »An.« »Türwarnung?« »Aus.« »Elektrik-Schaltbrett?« »Anzeigen normal!« übernahm De Laer jetzt die Antworten. »Hydraulikmenge und -druck?« »Geprüft.« »Hydraulik-Verbindungsschalter?« »Geschlossen.« »Klimaanlage?« »Ein.« »Turbo-Kompressoren?« »Zwei an.« Während des kurzen Rollweges bis zur Startposition der Bahn 21 R kam die Flugfreigabe nach Teheran. TC 773 freigegeben nach Teher an via Amber 1, Rot 60, Flugplanroute, Flugfläche 330, nach dem Start Abflugverfahren Lima Echo 1, Abflugfrequenz 119.1. Vor und nach der 104
Flugfreigabe wurden 15 weitere Checkpunkte verlesen. Vor dem Trieb werk anlassen waren bereits rund 60 Punkte verlesen worden, und vor der Übernahme der Maschine hatte der vorherige Bordingenieur mit dem Bodenmechaniker in Hongkong drei dichtbedruckte Seiten durchgeprüft. Ein viermotoriger STOL-Transporter der US-Airforce schwebte in 500 m bis zum Bahnende an, stieß dann steil nach unten, fing hart ab, setzte auf, rollte, startete durch – gekonnt.
12
S
teiner liebte seine Boeing, und er zog sie steil mit V2 + 10 Knoten vom Ende der Bahn auf 6.000 Fuß, wie einen Hengst, den man an die Kandare nimmt. Dann ließ er langsam locker und ließ sie auf Fahrt kommen, und während er, vorsichtig die Gewitter umkurvend, weiter auf 33.000 Fuß stieg, dachte er daran, daß Schlumm eigentlich hinter ihm hätte sitzen sollen und vielleicht schon die erste Beanstandung ge habt hätte und daß auch Schlumm seine Boeing liebte. Anders als er, nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Selbstzweck, während Steiner damit Städte erreichen wollte und Flüsse und Wüsten, die er sonst nicht erreichen konnte. Er liebte den Cockpitgeruch nach Farbe, Gum mi und Staub; er erinnerte ihn an Rio und Casablanca, an Kopenha gen und Beirut. Die Maschine hing scheinbar reglos im Abendglast, umströmt von Fahrtwind und Sonnenschein. Der Bug war unverrückbar auf den River Kwai gerichtet, dessen Schlangenleib sich in tausend Reflexen brach. »Wir haben schon mal eine kleine Vorspeise fertig!« verkündete Ka ren strahlend aus der Durchgangstür. »Ausgezeichneter Service!« lobte Steiner. 105
»Gibt's denn?« fragte Weersma. »Gänseleberpastete, Geflügelsalat, Canapees.« »Auch Consommé?« fragte De Laer. »Auch Consommé! Champignonsalat, Heringshäppchen in Essigs oße, alles!« Sie bestellten, während der River Kwai von den Turbinen verschluckt wurde. »Was haben Sie da eigentlich für ein Bambusgestell?« fragte Weers ma. »Abstrakte Kunst?« Steiner war aufgestanden und hantierte mit einem fast mannshohen Geflecht, das unter dem Navigationstisch hervorgerutscht war. Es be stand aus ungleichmäßigen Bambuslatten, die teils parallel liefen, teils sich kreuzten. Einige waren gekrümmt. Auf die Schnittpunkte waren mit Bast Muscheln gebunden. »Landkarte«, sagte Steiner und klemmte sein Souvenir zwischen Sitz und Bordwand. »Dachte immer, Landkarte wäre etwas mit Papier und Meridianen.« »Nicht bei den alten Polynesiern.« »Kostbares Stück?« »Relativ. Die ganz wertvollen stehen im Museum, in Philadelphia zum Beispiel.« »Und was, genau, stellt dieser Picasso dar?« »Jede Muschel eine Insel. Die Bambusstäbe sind die Meeresströmun gen. Die Polynesier haben sie wie Straßen benutzt. Diese Karte gibt ei nen Ausschnitt aus den Marshallinseln wieder. Dies hier ist Maloelap, das da Erikub.« »Praktisch. Man braucht nicht einmal Licht, wie? Nachts kann man sie abtasten.« »Ich habe sie für meine Tochter gekauft. Die hat mal einen Film dar über gesehen. Seit der Zeit liegt sie mir in den Ohren damit. Einen al ten Schiffsextanten hat sie schon.« »Sie wird sich gewaltig freuen, wie?« »Geburtstagsgeschenk. Ich habe halb Kowloon dafür abgesucht.« Während des Weiterfluges zur burmesischen Küste, über die Anda 106
man-See nach Rangún, dessen Goldene Pagode im letzten Abendlicht aufleuchtete, von Rangún zur Küste des Bengalengolfs, überließ sich Steiner seinen Gedanken. Das Flugwetter war jetzt ausgezeichnet; die wenigen Routinehandlungen hätte er im Halbschlaf ausführen kön nen. Weersma war intensiv und mit Hingabe mit dem Kurzwellen funkverkehr beschäftigt. Steiner entschloß sich, einen Gang durch die Kabine zu machen. Sie bummelten bei einem Gegenwind von 60 Knoten an der Golfküste ent lang. Weersma hatte noch immer keine Clearance-Nummer erhalten. Ein jüngerer Kapitän wäre wahrscheinlich langsam nervös geworden und hätte sich selbst an der Kontaktaufnahme beteiligt: Streng genom men durfte kein Flugzeug ohne diese Nummer das indische Territori um überfliegen. Aber Steiner wußte aus langjähriger Erfahrung, daß der Kontakt im letzten Augenblick immer noch zustandekam; zur Not konnte man auf UKW den Kontrollturm von Akyab, dessen Position man in Kürze überflog, um Vermittlung und Relay bitten. Und Weers ma war ebenfalls ein alter Fernosthase, der tausend Tricks kannte. Er arbeitete sich aus seinem Sitz, warf einen prüfenden Blick über das Pult des Bordingenieurs und öffnete die Tür zur Kabine: heller Lichtschein, hektische Aktivität fluteten ins Cockpit. Vom Bug bis zum Heck überblickte er jetzt das Flugzeug; es war sein winziges Reich, in dem er uneingeschränkter Herrscher war. Technik, Besatzung, Passagiere – alles unterlag seinem Willen und war von sei nen Fähigkeiten abhängig. Er zwängte sich in die Uniformjacke und versuchte den Sitz der Schirmmütze im spiegelnden Glas des Navigationshöhenmessers zu erkennen. Er verrichtete all jene lächerlichen, von Lampenfieber zeu genden Handhabungen, die Kapitäne verrichten, ehe sie sich an die Pe ripherie ihres Liliputreiches begeben: in die Fluggastkabine. Lampen fieber – das hätte ihm niemand mit seinen achtzehn Jahren Langstrek kenerfahrung abgenommen. Aber es stimmte. Er schob sich durch die Galley: Vorspeisenwagen, dampfende Kaffee behälter, herausgezogene Container, spritzendes Heißwasser, geöffne te Kognakflaschen – der Service lief auf Hochtouren. Karen war in der 107
Kabine; sie schob gerade einem gewaltigen Naturburschen von runden zwei Metern eine doppelte Portion Hors d'oeuvre délicieux zu. Sie wirkte plötzlich zart und zerbrechlich. Er kannte jede verlocken de Stelle ihres Körpers und wußte, daß sie keinesfalls zart und zer brechlich war; und er freute sich auf Teheran und ihren gemeinsamen Stop. »Gar nicht so einfach, in der Stratosphäre sein Geld zu verdienen!« flüsterte sie ihm im Vorübergehen zu. Er grinste verstohlen und wollte weitergehen. Der Nachbar des Zwei Meter-Herkules griff ihn sanft am Jackett. »Captain, verraten Sie mir, wo genau wir uns befinden?« »Gern!« Er drehte sich um und blickte in ein sportlich gebräuntes Gesicht mit harten Zügen. »Wir haben vor fünfunddreißig Minuten Rangún überflogen.« Er blickte auf seine Seiko-Uhr: »Um fünfzehn nach sind wir über Kalkutta.« »Besten Dank.« Er warf einen letzten Blick auf Karen, die verloren zwischen den bei den Männern stand, und ging weiter. Er bemühte sich, was er gern tat, aus den Gesichtern der ihn Anblickenden oder Speisenden Schicksale herauszulesen, Stichworte, Stenogramme, à la: Natürlich müßte man die Kosten auf die INTERNORG abwälzen, sollen froh sein, daß wir diesen eben aus den Bäumen gestiegenen Af fen zeigen, was Kultur ist … Brauchst dich nicht zu ängstigen, wirst dich daran gewöhnen, nach der Hochzeitsreise werden wir noch oft fliegen. Du möchtest lieber dein Heim einrichten? Dafür ist später noch Zeit. Du möchtest trotzdem lieber? Stell dich nicht so an … Na türlich war unser Kandidat Stücke besser, aber die Herren haben un verschämte Intrigen eingefädelt. Verlassen Sie sich drauf: Wir machen sie schon fertig. Wir löschen sie aus! … Er hatte die Passagierlisten studiert und versuchte, einige der Na men wieder zu finden. Unübersehbar: die Gruppe deutscher Astrono men. Man speiste mit großem Appetit und diskutierte trotzdem an geregt über sämtliche Sitzreihen hinweg. Ehe er in die Economyklas se hinüberwechselte, erkannte er flüchtig Gwen Gary, auf die ihn Ka 108
ren schon hingewiesen hatte. Wenig Ähnlichkeit mit damals, dachte er, mit der Belle aus zu FRÜHER NACHMITTAG oder der Ciaire aus EIN TROPFEN TRAURIGKEIT, immerhin, beachtliche Frau – er ging trotzdem hinüber. Hier, in der Touristenklasse, ging alles einfacher, ungezwungener, lauter zu. Die komplizierten Vor- und Nachspeisen fehlten; wer Alko hol wollte, konnte – kostenlos – einen recht guten, aber namenlosen Weißwein ausgeschenkt erhalten oder gegen IATA-Kurs schärfere Sa chen kaufen. Er identifizierte mühelos zwei junge Menschen in der al lerletzten Reihe als RUTH UND RALPH OSTERMAN, GESANGS DUO. Merkwürdig, dachte er, sie sitzen nebeneinander, als wäre eine Mauer zwischen ihnen – jeder für sich. Inmitten der Fülle versuchte er seine Aufmerksamkeit auf derartige Punkte zu konzentrieren. Ihm fielen ein paar ältere Ehepaare auf, dazwischen saß ein gutes Dutzend gleichförmig gekleideter Japaner. Was ihm noch auffiel: eine wasserstoffsuperoxydblonde junge Dame, die in der hinteren Galley mithalf. »Das ist Ingrid!« erläuterte Kay Sanders aufgekratzt. »Sie ist Schwe din; und es macht ihr Spaß, uns in der Galley helfen zu können!« Steiner nickte flüchtig und warf der blonden Ingrid einen kurzen aufmunternden Blick zu. Auf den ersten Blick wirkte sie ohne Zweifel aufreizend; aber ihre Bewegungen und Gesichtszüge wirkten auf ihn ernüchternd ordinär. Hier, an der äußersten Peripherie, fühlte er sich nie übermäßig ent spannt. Er war zu weit von der Gehirnzentrale des sensiblen Flugzeugs entfernt. Jede geringfügige Schiebebewegung (wie sie hier hinten häu fig auftrat), ließ ihn zusammenzucken. Ihm schien, als trennten ihn Ozeane von der Kommandozentrale, dem einzigen Ort an Bord, wo er sich wirklich wohl fühlte. Und von Karen. Inmitten der ungewohnten Atmosphäre, der frem den Menschen sehnte er sich mehr denn je nach ihr. Er trat den Rück weg an. Ein schlaksiger, langaufgeschossener junger Mann, Kaugummi im Mund, hielt ihn zurück. 109
»Listen, Captain! Ich hab' selber geflogen! Phantom, Freedom Figh ter, F-104, das ganze Zeugs! Vietnam, wenn Sie wissen, was das ist! Ich bin auch oft mit Transportern verschaukelt worden. Starlifter, Skyma ster, Dakota. Ich kenn' mich aus! Aber diese Art Fliegerei … Sie wis sen, was ich meine?« »Nein«, sagte Steiner. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« »Was ich meine, ist: Vorhin: diese Kurven! Geef Davor: dieser Steig flug! Man! Know what I mean?« »Keine Ahnung!« sagte Steiner amüsiert. »Was ich meine, ist: Sie sollten Ihren Kopiloten nicht so oft fliegen lassen. Er lernt's nie!« »Ich mach' Ihnen einen Vorschlag. Kommen Sie nach vorn, fliegen Sie selber ein Stückchen. Okay?« »Okay!« sagte der junge Mann ohne große Begeisterung. Er schob seinen Kaugummi in die andere Backe. »Ich komm' schon aus Bali, falls Sie wissen, wo das liegt! Ich schlaf erst mal. Ich meld' mich nachher!« »Wann immer Sie wollen«, sagte Steiner und ging weiter. Er kämpfte sich zur Ersten Klasse und zum Cockpit durch die Rei hen wie ein Ertrinkender. Ein älterer Herr versuchte ihn schüchtern zurückzuhalten. Die Frau daneben blickte ihn strahlend an: einfache Leute; Steiner mochte sie sofort. »Wir fliegen schon seit Hongkong mit Ihnen, mein Name ist Rade wald …« Herr Radewald wußte nicht, wie er sich weiter verhalten soll te. »Meine Frau und ich … wir genießen den Flug. Ich glaube, Sie flie gen wunderbar. Sie machen wunderbare Landungen. Wir waren in Sydney …« Er sah Steiner fragend, ein wenig hilflos an. »Das freut mich!« sagte Steiner herzlich. »Ich werde mich bemühen, Sie bei der Landung in Teheran nicht zu enttäuschen.« Herr Radewald nickte freundlich und sah strahlend seine Frau an. Als sei es ihm gelungen, den berühmten Star zu sprechen, dachte er lä chelnd. O weh – der Star fühlte sich gar nicht als ein solcher! Da lie gen noch eine Menge Flugfallen auf der Luftstraße Rot 60 vor uns. Tai fundrohungen, Gewitterfronten, Clear Air Turbulence. 110
Als er sich bis zur Ersten Klasse zurückgearbeitet hatte, verlangsam te er seinen Schritt, Karen hatte ihn noch nicht bemerkt. Sie bemühte sich, den Astronomen möglichst viel Gutes in Form von Pilzsalat, Ge flügelsalat und Gänseleberpastete zukommen zu lassen. Er fing eine Menge Fremdwörter aus dem Fachslang auf, die sich die Wissenschaft ler wie Bälle zuspielten: »Rasch rotierende Neutronensterne …« »… Phase enorm starker Aktivität nur wenige Millionen Jahre dau ern.« »… Energie für das gesamte Milchstraßensystem: 1033 Watt, das sind 1027 Megawatt.« »K. Pounds … M. Rees … J. Ostriker … J. Silk …« »Rasant hohe Energieabgabe der Pulsare …« »Freust du dich auch aufs Elburs-Gebirge?« fragte Karen an seinem Ohr. »Zeigst du mir beim Anflug den Mount Damavand im Mond schein?« »Ja«, flüsterte er. »Und im Mondschein werde ich dich unter dem Mount Damavand …« »Möchten Sie noch ein wenig von dem Geflügelsalat?« fragte Karen lächelnd. »… küssen!« sagte Steiner und verschwand im Cockpit. Die Radewalds stammten aus Michelstadt im Odenwald. Wie die meisten Passagiere hatte Hannes Radewald eine unterbewußte Angst vor dem Fliegen. Das luftige Element erschien ihm fremd und unheim lich. Die Mitteilung des Kapitäns, die Außenluft betrage weniger als 40 Grad minus, verursachte ihm Schauder. Aber seine Frau Mechthild zeigte von Geburt an uneingeschränktes Vertrauen zu ihren Mitmen schen. Dieses Vertrauen war auch auf Hannes Radewald übergegan gen. Im Laufe der langen friedlichen Ehejahre waren sich beide stets ähnlicher geworden, hatten aber im wesentlichen immer nur die posi tiven Eigenschaften voneinander übernommen. Mechthild Radewald sagte sich: Die Leute wissen schließlich, was sie tun. Heutzutage fliegt jedermann; so schlimm kann die Luftfahrt nicht sein. Wie viele Deutsche, die sich mühsam von unten herauf emporge 111
arbeitet hatten, waren sie durch billige Urlaubscharterangebote zum Fliegen gekommen. Mallorca, Las Palmas, Tunis hießen die Ziele, für die sie jährlich einmal ihre bescheidene Wirtschaft am Stadtrand von Michelstadt für vier Wochen schlossen. Sie warf ihnen ein Existenz minimum ab, mit dem sie in Frieden die Jahre zwischen Silber- und Goldhochzeit genießen konnten. »Diese jungen Mädchen heutzutage haben einfach keinen natürli chen Charme mehr!« sagte Frau Radewald. »Sie zeigen viel zuviel her und glauben, das sei bereits verführe risch.« »Sie beherrschen nicht mehr die Kunst des Verhüllens und Andeu tens!« »Sie sind viel zu offen und direkt.« »Sie wissen nicht, was flirten heißt.« Diese kurze Unterhaltung während des Abendessens fand ohne kriti sche Absicht statt, einfach als Feststellung. Beide bewunderten gleich zeitig die Geschicklichkeit der servierenden Stewardessen, die Ge schwindigkeit, mit der Speisen und Getränke gereicht wurden. Seitdem Hannes Radewald durch eine harmlose, aber schmerzhaf te Unterleibsoperation Bekanntschaft mit dem Krankenhaus gemacht hatte, verglich er Flugzeugbesatzungen gern mit Operationsteams. Die uniformierten Stewardessen: reizvoll vermummte Kranken schwestern. Die Cockpitcrew: Chirurg mit Assistenzärzten: HERZ LICH WILLKOMMEN AN BORD: Wie fühlen wir uns denn heute? Sie sind ein reizender Patient! DARF ICH IHNEN EINE ERFRISCHUNG SERVIEREN: Jetzt machen wir noch eben rasch dieses kleine Einläuf chen, das wird uns erleichtern. DER KAPITÄN TEILT MIT, IN 37.000 FUSS WERDEN WIR EINEN RUHIGEN FLUG HABEN: Unser An ästhesist hat mir verraten, wir werden bei der Vorbereitung nicht den geringsten Schwierigkeiten begegnen, WIR WERDEN IN ZWANZIG MINUTEN LANDEN: Unser Professor ist bekannt für seine wunder vollen Narben. Wir werden uns fast ein bißchen bereichert fühlen. Ich beneide Sie – von so einem Mann! Frau Radewald, Kalbsfrikassee mit Kartoffelbrei mischend, dachte: 112
Diese Mädchen sind wirklich sehr hilfsbereit. So jemanden müßten wir mal für unseren Betrieb finden – für die Hauptsaison, wenn an spruchsvolle Gäste aus den Großstädten kommen! Und daß sie so an ders sind als unsere Generation: das muß so sein, das ist der Lauf der Welt. Unsere Kritik eben – die richtete sich gar nicht gegen unsere net ten Gastgeberinnen, die ging gegen Ingeborg. Ihre Stammgäste würden fragen: Geht es Ihrer Tochter denn gut, dort unten in Sydney? Nicht Sydney, würde sie antworten, Katoomba, in den Blauen Ber gen. Ja, die sind wirklich so, das macht das Laub des Eukalyptus. Hat Ingeborg erklärt. Glücklich verheiratet, ja, zwei Kinder, wirklich süß, das schon, aber man wird sich eben doch fremd, nach all den Jahren. Man hat mal gesehen, wie sich's dort lebt, ja; jetzt muß jeder sein eige nes Leben weiterleben. Schließlich waren wir doch froh, daß es zurück ging nach Michelstadt, wir sind hier geboren, beide, Ingeborg auch, ja, aber so ist die Jugend heute. Soll sie; aber diese … Hannes, wie heißen sie, diese Ureinwohner? »Aborigines!« Die, ja. Die richtigen, die sind ja längst fort, bei Alice Springs gibt es ein Reservat, sagt Ingeborg. Aber die, die so in den Vororten die unte re Schicht bilden; sie lebt da mittendrin. Am Tag vor unserer Abreise, da haben sie den Nachbarn verhaftet: unfähig, seine Familie zu ernäh ren. Der kam aus der Stadt und fühlte sich ohne Pokermaschinen nicht wohl. Und Ingeborg, die zieht's ja auch in die Stadt. Sydney, hat sie ge sagt, Sydney ist eine kranke Stadt, vielleicht. Aber Katoomba, das ist einfach tot! Da lob' ich mir mein Michelstadt, meinen Odenwald. Wis sen Sie, was ich glaube? Die Jugend heute, die ist nur glücklich, wenn sie sich unglücklich fühlt. Wie hießen die Vögel, Hannes, mit ihrem Lachen? »Kookaburras!« Mein Mann hat jeden Morgen meine Schuhe durchsucht – nach Schlangen, Skorpionen, Spinnen. Und am Strand unten, wir waren mal dort, in Ingeborgs Station Wagon, tatsächlich richtige Haie, man konnte die Flossen erkennen. 113
»Darf ich Ihnen zum Nachtisch eine Birne Hélène servieren?« frag te die Stewardeß. »Nehmen wir eine Birne Hélène, Hannes?« »Bringen Sie zwei Birnen Hélène, bitte«, sagte Hannes Radewald. Er dachte noch heute gern an seinen ersten Flug, seinen allerersten. Der hatte während des 2. Weltkrieges stattgefunden, als er als Verwun deter von Bialystok nach Radom geflogen werden sollte. Sie lagen stun denlang auf Pritschen am Rollfeldrand aufgebahrt; es war 1944, jeden Augenblick konnten die Russen, wie er sich ausdrückte, um die näch ste Barackenecke blicken. Aber die angekündigte Ju 52 aus Polen kam nicht. Sie hatten keine Schmerzen, nur Angst. Die, die Schmerzen ge habt hatten, waren entweder schon in der HEIMAT oder tot. Sie bilde ten sozusagen die Verletzten-Nachhut. Seit Stunden hörte man die russischen Geschütze: Abschuss, Ein schlag. Noch weit entfernt, gewiß, aber auch die Ju 52 schien noch weit entfernt. Tief hängende Wolken in Radom, hieß es offiziell. Aber sofort, obwohl die Verletzten-Gruppe völlig isoliert von der Außenwelt war, begannen die Gerüchte zu kursieren: Die Piloten hät ten den Start verweigert, weil Bialystok schon in russischer Hand sei. Oder: Es sei kein Benzin zum Tanken freigegeben worden, obwohl alle Lager noch voll seien – Befehl von oben. Oder: Alle Ju's seien von den Offizieren beschlagnahmt worden, um ihre Möbel, ihre Kunstgegen stände, ihre Liebchen aus Russland ausfliegen zu können! Sie fühlten sich, gelähmt, geschient, amputiert am Rollfeldrand von Bialystok in den blauen Himmel blickend, verraten, verschaukelt, ver kauft! Dann, nachdem sie stundenlang apathisch gelegen hatten, begann das Gras zu vibrieren. Noch war kein Geräusch zu hören; die Abend sonne fiel in einen gelbgrünen Dunsthimmel. Über den Antennen der Flugleitungsbaracke kreiste regungslos ein Steppenadler. Jetzt klang am westlichen Himmel fernes Surren, Summen auf, ver stärkte sich, die Körper auf den Pritschen reckten sich, Gemurmel, Ge brumm – aus dem türkisenen Himmel schwoll es heran, dröhnte über 114
den verstaubten Platz, riesig, schattenwerfend, kurvte, schwenkte ein, landete: die große Ju war da! Später, wenn Hannes Radewald im Zusammenhang mit dem mo dernen Touristik-Luftverkehr das Wort Gigant oder Superjumbo auf fing, lächelte er: Kein Flugzeug würde ihm jemals gewaltiger vorkom men als jene Ju 52, die ihn abholte! Aber seine euphorische Freude war von kurzer Dauer. Bescheiden, rücksichtsvoll, wie er war, hatte er allen anderen Kameraden den Vor tritt gelassen. Als ein Träger ihn aufheben wollte, sagte er: Lass nur, nimm die andern, die halten es nicht mehr aus, wir kommen ja alle mit! Die riesige Ladeöffnung der Ju 52 flößte ihm Zuversicht ein. Dann, als die Träger ihn als letzten aufheben wollten, kam abwinkend der Flugzeugführer, ein schmächtiger, übernächtigter Oberfeldwebel her angerannt. »Genug, genug!« rief er. »Die Mühle ist mehr als voll!« Der Schock war für Hannes Radewald gewaltig. Seines sicheren Heimfluges gewiß, war ihm der kurze Verzicht, der nichts als eine Ge ste darstellte, leicht gefallen. Jetzt hilflos auf eine Bahre geschnallt, mit seiner eiternden Hüftverwundung, den Geschützdonner in den Oh ren, bäumte sich in ihm der Überlebenswille auf. »Dann raus mit den anderen!« brüllte er. »Ich bin einer der am schwersten Verletzten! Ich bin Nummer drei! Ich habe den höchsten Dienstgrad.« Er überlegte blitzschnell, was er noch für Gründe vorbringen könn te, hier nicht als einziger, letzter für immer zurückgelassen zu werden. Aber der Flugzeugführer hatte schon eingelenkt. »Also gut, ich will es versuchen! Aber wenn ich beim Start merke, die Kiste kommt nicht – fliegt einer raus!« Schon als sie tief über die dunklen Fichtenwälder, über die von Par tisanen gesprengten Bahnschienen nach Westen flogen, hatte er den kleinen Zwischenfall, der ihm das rettende Flugzeug vorenthalten wollte, vergessen: Hannes war wieder der bescheidene rücksichtsvol le Kamerad. Vom Krieg hatte er nichts zurückbehalten als ein leichtes, 115
kaum sichtbares Hinken, wenn er sich beeilen wollte. Zufrieden blickte er auf die vorbeigleitende Landschaft, auf die Sturmwolken über Step pe und Wald … Er riß sich los von den Regenwalddschungeln unter ihm und sah die Stewardeß an. »Hier ist Ihre Birne Hélène!« sagte sie.
13
D
ie Welt der Wolken, schrieb Robert Bronn auf seiner Reiseschreib maschine über dem Golf von Bengalen, ist eine lebendige Welt. Nichts, auch das Meer nicht, ist verwandlungsfähiger als sie. »Sie sehen müde aus!« sagte Karen, als sie vorüberging. »Sie soll ten sich ausruhen, zumindest nach dem Essen. Wollen Sie wirklich nichts?« »Vielleicht noch einen Whisky?« »Ich gebe es auf, Ihnen unser ausgezeichnetes Supper schmackhaft zu machen. Also gut, noch einen Chivas Regal!« »Ah, ich wußte, das ist kein gewöhnlicher Scotch! Am besten gleich einen doppelten, das erspart Ihnen nachher den zweiten Weg!« »Sie machen es sich gemütlich, wie? Wovon handelt denn Ihr Pam phlet?« »Wolken. Mögen Sie die?« »Da gibt es eine spezifische Rasse, die mag ich gar nicht! Cumulo nimbus!« »Die netten kleinen Gewitterwölkchen. Merkwürdig, daß im Volks mund ausgerechnet Quellwolken als Schönwetterwolken bezeichnet werden! Aber merken Sie sich mal: Es gibt keine fehlerhaftere Infor mationsquelle als den so genannten Volksmund!« 116
»Also, was schreiben Sie?« »So eine Art histoire de nuages. Darüber gibt es wenig. Ich versuche, Sachinformation mit Impression zu koppeln.« »Sie sind ein verkappter Lyriker, geben Sie es zu!« »Nun protzen Sie man nicht so mit Ihrer Menschenkenntnis!« »Kunststück! Bei jeder passage vorbei an Ihrer Sitzreihe habe ich ein paar Zeilen mitgenommen; ich bin nicht kurzsichtig!« »Dürfte Sie im ganzen kaum interessieren – ich bin gerade bei den Anfängen der Wolkenkunde!« »Was mich interessiert, ist: Habe ich genug Chicken Curry – oder was immer wir heute abend servieren – in die Auftauöfen gepackt? Und wo steckt der zollfreie Kognak? Welcher Idiot hat die Peter Stuyvesant im Tiefkühlfach verstaut? Also: Was ist mit Ihren Anfängen? Was les' ich hier auf Ihren malerisch auf dem unbezahlten Nebensitz drapierten Blättern? … Es ist klar, daß, neben individuellen und zufälligen Formen jeder Wolke, Wolken gewisse Allgemeinformen besitzen …« »Lamarck, 1802 in seinem Annuaire Météorologique.« »Nie gehört, ich kenne nur Howard.« »Das ist aber schon viel, wenn Sie den kennen. Er hat die Grundfor men benannt, mit heute noch gültigen Namen …« »Lassen Sie mich mal: Cirrus, Cumulus, Nimbus …« »Und Stratus. Falls es Sie interessiert – setzen Sie sich doch!« »Die TC verbietet mir das; ich sitze ja schon! Der Hauptgang läuft auch ohne meine Mitwirkung.« »Sie sind so eine Art captaine de cabine, nicht wahr?« »Chef de cabine, bitte schön! An welcher Stelle kommt Goethe ins Gespräch? Der hat doch auch …?« »Jetzt geben Sie aber Vollgas! Ich stoß' sonst immer nur auf Leute, die halten Goethe für einen großen Dichter!« »War er aber gar nicht. Seine naturwissenschaftlichen Schriften …« »Lernt man das heutzutage bei der Stewardessenausbildung?« Jetzt mußte Karen doch laut auflachen; da hörte sogar die Ironie auf. »Ich hatte mal vor, Naturwissenschaften zu studieren.« 117
»Scheint Sie aber nicht zu befriedigen, Ihr jetziger Beruf.« »Man kann viel hinzulernen. Man hat alle Chancen.« »Das Übliche ist aber doch: sie nicht zu nützen.« »Können Sie gar nicht beurteilen.« »Ich fliege sehr viel.« »Was ist mit Ihrer Wolken-Story?« »Abercromby. Der umreiste 1887 gleich zweimal die Erde, um sicher zugehen, daß Wolken gleicher Grundformen überall die gleiche Er scheinung besitzen. Sie werden staunen: Erst 1932 erschien ein Wolke natlas, in dem die mannigfaltigen Erscheinungsformen endgültig fest gelegt wurden: im Atlas International des Nuages. Der wurde 1956 er gänzt und korrigiert.« »Ich staune. Ich hole Ihnen mal Ihren doppelten Chivas.« Als Karen fort war, hämmerte Bronn sofort weiter auf seiner Ma schine. Mehr als irgendeine andere Naturerscheinung stellen die Wolken ei nen subtilen Gradmesser dar für die lebensnotwendigen Bedingungen unseres Planeten. Ein geringfügiges Schwanken der Sonnenwärme wür de Katastrophen erzeugen. Es würde aber auch sofort und zuerst das Bild der Atmosphäre ändern. Bei Temperaturabnahmen würde nur noch ein schmales Wolkenband beiderseits des Äquators lebensmögliche Bedingungen anzeigen. Bei Zunahme würde die Erde, ähnlich der Ve nus, unter einem dampfartigen Wolkenmantel ersticken. Es berührt eigenartig, daß das Auftreten vertrauter Wolkenformen, das so untrüglich die Gesundheit der Atmosphäre anzeigt, so negativ empfunden wird. In der Literatur ist trüber, bewölkter Himmel gera dezu eine symbolische Metapher für Melancholie, negative Emotionen und Schicksals schlage geworden. (Madame de Sévigné: »Kein Leben ist frei von Wolken.«) Das Streben einer ganzen, im Sonnenkult erzoge nen Generation geht paradoxerweise dahin, den öden Himmel mit der ungehemmt niederbrennenden Sonne positiver zu empfinden als einen mildtemperierten, von den phantastischsten Wolkenformen dramatisch überschatteten Sommertag. »Ihr Doppelstöckiger!« kündigte Karen an. »Was ist mit Rousseau?« 118
»Wie kommen Sie darauf?« »Hier steht eine Notiz auf Ihrer Kladde: Rousseau, ein sonst leiden schaftlicher Beobachter und Liebhaber der Natur … Was, genau, trei ben Sie eigentlich sonst so? Brauchen Sie nicht zu beantworten, derar tige Fragen sind ohnehin untersagt.« »Rousseau hat seltsamerweise den atmosphärischen Bedingungen kaum Beachtung geschenkt. Ich habe hier nur einen Satz aus dem 4. Buch seiner Bekenntnisse angestrichen: … die Sonne, nachdem sie un tergegangen war, hinterließ rote Schleier am Himmel. Erst Bernadin de St. Pierre hat die Schönheit der Wolken …« »Was, genau, treiben Sie?« »In Paul et Virginie und La voyage à Lisie de France stehen Sätze wie: Stell dir am Horizont ein liebliches Orange vor, subtil berührt von Grün, das am Horizont in einen lila Schleier ausläuft, während der Rest des Himmels ein prächtiges Azur ist. Wolken treiben hier und da, in einem wundervollen Perlengrau. Was ich treibe? Ich bin freier Mitarbeiter ei niger Zeitungen, Ressort: Umweltverschmutzung. Naturschutz.« »Stehen jetzt schon die Wolken unter Naturschutz?« »Noch nicht, noch nicht. Aber für mich sind das … Sie werden la chen …« »Da brauchen Sie aber viel Geduld …« »Also gut: Lebewesen. Wie eine aussterbende Paradiesvogelart auf Neuguinea.« »Lebewesen? Ja, für mich auch! Aber nicht wie Paradiesvögel! Wie Wölfe oder Hyänen stehen sie neben der Luftstraße, bereit, sich auf uns zu stürzen. Manche trampeln uns nieder wie Elefanten. Da ver geht einem die Lyrik!« »Die hübschen Gewitter-Cumuli sind aber lange Zeit bevorzug te himmlische Transportmittel gewesen! Nymphen, Engel, Heilige, Jungfrauen reisen auf ihnen durch hierarchische Gefilde. Davon zeu gen Carraccis Bacchus und Ariadne, Rubens' Martyrium von St. Liévin, Correggios Heilige Nacht, El Grecos Christus auf dem Ölberg.« »Ist dies eine Gemäldeausstellung oder ein Fernostflug?« »Giorgioni hat Ihre Cumulonimbus zum ersten Mal dekorativ an 119
gewandt. Später sind Vlaminck, Géricault, Ruysdael gefolgt – der hat endlich auch mal Zirren hinzugefügt.« »Jetzt geht's mit Ihnen durch!« »Bonnard war der erste, der den Jetstream gemalt hat. Lange, bevor sich in Ihren Kreisen die Sache mit den Höhenstürmen herumgespro chen hat!« Karen horchte auf. »Es klingelt! Ich muß mal nachsehen. Gelegentlich komme ich wie der mal vorbei.« »Sie sind die erste Stewardeß, mit der ich mich über Wolken unter halten habe!« sagte Bronn. Jetzt lehnte er sich entspannt zurück. Merkwürdig, dachte er. Ich bin auf der Dracheninsel gewesen. Und ich schreibe über Wolken! Er dachte zurück an seine Reise nach Komodo. Ein echtes Abenteu er! Keines der Schiffe, die Surabaja mit Ostkurs verließen, steuerte den Drachen-Archipel an, der von gefährlichen Riffen umgeben war. Aber er hatte eine Einladung des Indonesischen Naturschutzkomitees zur Teilnahme an einer Expedition. So brauchte er nicht von Flores aus die übliche gefährliche Segelprautour auf gut Glück zu versuchen. Da mit lag man inmitten unübersichtlicher Liliputinseln tagelang in der Windstille fest, um plötzlich von Sturmböen zwischen die Riffe getrie ben zu werden! Trotz aller Vorbereitungen und Einladungen weitete sich das Ganze zu einer strapaziösen Expedition aus – aber das liebte er ja! Die Inseln der tausend Drachen waren die unwirtlichsten des Indo nesischen Archipels. Nur von Dezember bis März füllten Monsunregen die Flüsse und Bäche und wuschen den Staub von der Vegetation. Auf Komodo existierte nur ein einziges Dorf mit 300 Einwohnern. Zunächst schossen sie Wildschweine, als Fleischköder für die Warane. Dann, nach qualvollen Wochen des Wartens, sichteten sie die Urweltdrachen. Bronn hatte die indischen Löwen des Gir-Waldes gesehen. Er war auf Elefanten im indischen Jim-Corbett-Park hinter Nashörnern und Gaur-Büffeln hergejagt. Er hatte im Umfolozi Game Reserve Südafrikas Weiße Nas hörner photographiert und sich an einer aufregenden Zählung beteiligt, 120
die 1970 statt der erwarteten 1.300 Tiere rund 1.700 erbrachte. Er hatte sich sogar in die unwirtlichen Salzsteppen des indischen Great Rann of Kutch gewagt, wo die letzten Wildesel der Erde ihr Herdendasein friste ten. Aber nichts glich dem Schauspiel der fleischfressenden Drachen auf Komodo und Padar, nichts hatte ihn so erregt. Niemals war er dem, was er als ›Urgeheimnis der alten Erde‹ bezeichnete, so nahe gewesen. Gewiß: Er erhielt eine Menge Vorschußhonorar dafür, abseits des Touristenstroms zu reisen und geheimnisvolle Orte zu entdecken, die in keinem Prospekt erwähnt wurden. Aber er schlug sich nicht wo chenlang mit einer Machete einen Pfad durch den Dschungel, weil er dafür bezahlt wurde, sondern weil er den Anblick einer Gruppe Ko modo-Warane für wesentlicher hielt als den Anblick einer schorn steinübersäten Industrielandschaft. Für zukunftsträchtiger. Die Exi stenz einer seltenen Tierrasse war für ihn der Beweis für eine gesunde, nicht vergiftete Landschaft, in der Menschen noch ohne Gefahr exi stieren konnten. Darüber hätte er gern eine Menge geschrieben. Bali war ein guter Ort zum Schreiben gewesen. Er hatte sich eisern gezwungen, jeden Morgen von neun bis eins zu arbeiten. Trotz Pal men, Mädchen, Strandleben. Nachmittags, mit ruhigem Gewissen, konnte man die Bars nach gutem Whisky und interessanten Frauen absuchen. Robert Bronn war, in Grenzen, keinem Abenteuer abgeneigt. Es hat te Zeiten in seinem Leben gegeben, da war er von Apartment zu Apart ment gezogen; und er hatte nichts ausgelassen, die hübschen kleinen Sekretärinnen nicht, die hinter ihrem massiven Schreibtisch so abwei send schienen, die reifen, verlassenen, geschiedenen, gelangweilten älteren Frauen nicht, die in ihren Nerzen und Colliers so abweisend schienen. Er hatte jedoch immer rasch die Lust verloren, wenn sich au ßer der körperlichen Beziehung keine Übereinstimmung ergab. Mit zunehmendem Alter störten ihn mehr und mehr Missverhältnisse in Bezug auf gegenseitige Interessen, Weltanschauungen, politische An sichten. Halb im Scherz hatte er einmal zu einer Jugendfreundin geäu ßert: Ich kann doch nicht mit einer Frau ins Bett gehen, die Nixon für einen großen Mann hält! 121
Er blickte hinaus, oder besser: Er hatte die Absicht. Seine Blicke streif ten die beiden Passagiere an der rechten Seite vor ihm. Er war sicher: Der Riese und der Hagere kannten sich nicht. Sie waren getrennt an Bord gekommen und hatten kein Wort miteinander gewechselt. Aber eben hatten sie einander angeblickt; und der Hagere hatte dem Riesen eindeutig ein paar Worte zugeflüstert. Das machte ihn stutzig.
Sie dachte an Graumanns Chinesisches Theater in Beverly Hills. In den Beton des Eingangs waren die Handabdrücke berühmter Stars eingeprägt. Robert Taylor, Clark Gable, Shirley Temple. Auf dem Hö hepunkt ihrer Karriere, als sich in den Kritiken noch nicht Passagen häuften wie: Mit der Besetzung der Hauptrolle hat Hollywood keine glückliche Hand bewiesen … hatte sie dort gestanden, bereit, ihren Beitrag zur Unsterblichkeit zu leisten. Einer ihrer Begleiter griff ihre Hand: »Wenn Sie jetzt, Mrs. Gary, Ihre Hand so in den feuchten Zement … Was haben Sie denn mit Ihren Nägeln gemacht?« Sie errötete bis tief in den Nacken. »Manchmal im Halbschlaf«, flüsterte sie. »Ich bin sehr nervös …« So mußte eine Maniküre herbeigeholt werden, die ihren zerkauten Nägeln kostspielige Imitationen überstülpte. Sie spürte, wie ihr durch Alkohol und Paraldehyd ruinierter Körper wieder zu revoltieren be gann. Sie war erst in den frühen Morgenstunden eingeschlafen und mußte sich nach anderthalb Stunden Schlaf mit Aufputschmitteln zur Morgenprobe zwingen. Gegen die ersten nervösen Tränen ankämp fend, beugte sie sich vor. Unter dem Blitzlicht der Photographen pas sierte die zweite, große Katastrophe. Als sie die Hand zurückzog, blieben die heimlich übergestülpten, Bewunderung erregenden Nägel im Zement stecken. Im Wagen erlitt sie einen ihrer berüchtigten Nervenzusammenbrüche, der die Dreh termine um Tage zurückwarf und die ohnehin übersteigerten Kosten weiter in die Höhe trieb. 122
Sie klingelte nach der Stewardeß und bestellte etwas Roquefort, Schwarzbrot, einen neuen Doppelten dazu. »Ich will mal nachsehen«, sagte das Mädchen, »wir haben ja gerade alles abgeräumt. Vorhin, da habe ich Sie noch gefragt.« »Ich esse am liebsten dann, wenn ich selber Appetit habe, und nicht, wenn andere ihn haben!« »Es ist sehr schwer, mit so vielen Passagieren!« »Es ist sehr schwer, 2.000 Dollar für einen Erste-Klasse-Flug zu ver dienen …« In der Galley tobte die Stewardeß Vera Merkelsbach los: »Jetzt hast du mich zum letzten Mal im Prominenten-Parkett gese hen, Karen! Starallüren in Ehren! Aber diese Frau kann ein ganzes Re giment beschäftigen! Wo sind wir denn hier? Im Mittelalter? Bei den Leibeigenen? Jetzt will sie was zu fressen haben! Und eben …« »Dann gib ihr doch was!« unterbrach Karen. »Aber wir sind doch gerade mit der Schmatzorgie fertig!« »Gerade, weil wir fertig sind, haben wir doch am meisten Zeit!« »Und sie säuft wie ein Loch! Gleich fängt sie zu randalieren an!« »Die nicht«, sagte Karen, »die nicht! Gib mir mal die Flasche und das Tablett. Ich mach' das mal selber.« Als sie durch den Vorhang in die Erste Klasse ging, sagte sie leise: »Ich mag sie nämlich gern, glaube ich.« Während sie servierte, meinte sie: »Wir werden pünktlich in Teher an landen, Mrs. Gary. Das Wetter ist in Ordnung, unser Flugzeug ist in Ordnung, da müßte es mit dem Teufel zugehen, wenn …« »Was mich mehr interessiert, ist London.« Gwen zündete sich eine Zigarette an und blickte dann endlich auf. »Der Anschluss in Ham burg nach London – der! Und, by the way, manchmal geht es tatsäch lich mehr mit dem Teufel zu als mit den Piloten!« »Wenn wir in Teheran pünktlich auftanken, werden wir auch in Hamburg pünktlich sein, werden Sie auch pünktlich in London an kommen. Alles hängt davon ab, ob wir in Teheran pünktlich sind.« »Sie mit Ihrem Teheran! Sie mit Ihrem Flugzeug! Sie mit Ihrem Wet ter!« sagte Gwen, fast ein wenig amüsiert. »Alles großartig durchge 123
checkt, nicht wahr? Mich würde mal interessieren: Wie checken Sie Schicksal?« »Die 64.000-Dollar-Frage! Wir halten uns an Handfestes!« »An Teheran?« »An Teheran, in diesem Fall!« »Scheint fast, als läge Ihnen Teheran besonders am Herzen, in die sem Fall!« Karen blickte erstaunt auf und nickte. Um abzulenken: »Aber auch für Ihr London ist Teheran wichtig!« Einer solchen Frau kann eine Göre wie ich natürlich nichts verber gen, dachte sie. Für die stehen deine frivolen Absichten in Schlagzei len auf der Stirn! TRICKREICHE LIST EINER LANGSTRECKEN STEWARDESS. KAPITÄN DURCH EL-BURS-GEBIRGE ANS KAS PISCHE MEER ENTFÜHRT. JETZT ODER NIE! DROHT HEIRATS WÜTIGE STEWARDESS IN EINSAMER STRANDHÜTTE. Es wird alles wieder so wunderbar wie in Nepal werden, dachte sie. Nur kon zentrierter, intensiver – wir haben drei volle Tage Zeit bis zum Heim flug mit der nächsten Maschine. Wir werden es uns sehr gemütlich machen, allein zu zweit. Wir werden … »Sagen wir so: London ist für mich sehr wichtig …« Das war Gwen Gary, die Göttliche. »Ich habe viele Ihrer Filme gesehen!« gestand Karen. »Im Fernsehen. Da war neulich eine Woche guter alter Filme …« Sie spürte, daß sie ei nen Fauxpas begangen hatte. Die guten alten Filme waren Gwen Garys letzte gewesen. »Ich meine … in Sydney … es waren die berühmtesten der fünfziger Jahre … Frühstück bei Tiffany war darunter … Dann die frühe Taylor mit …« Gwen lächelte. »Setzen Sie sich doch! Wenn Sie Zeit haben …« »Gern … Nur: Darf ich noch für fünf Minuten in die Galley? Kraut und Rüben dort, nur kurz nach dem Rechten sehen!« »Kommen Sie, wann immer Sie Lust haben!« »Ich kenne auch alle Ihre Kinderfilme!« rief sie noch, ehe sie in die Galley verschwand. 124
Plötzlich schien der Kognak ein volleres Aroma zu entfalten. Wer Gwen kannte, und das waren immer Freunde gewesen, mit denen sie nie ins Bett gegangen war, sondern bis in die frühen Morgenstunden angeregt diskutiert hatte – wer Gwen wirklich kannte, wußte, daß sie im Grunde ein nicht nur liebebedürftiges, sondern auch liebenswertes und liebevolles Geschöpf war. In ihren guten Stunden konnte sie jeden mit ihrem sonnigen Temperament, ihrer Bedürfnislosigkeit, ihrer Be troffenheit über die Sorgen anderer verblüffen. Diese guten Stunden waren, spärlich genug, wie Hochseeinseln eingebettet zwischen Ver zweiflung, Hysterie, Nervosität, Volltrunkenheit, Trägheit, Protest. In den Kliniken, Entziehungsanstalten, Nervensanatorien wurde sie rasch zum Schrecken aller Ärzte und Schwestern. Jeder Assistenzarzt, der Gwen Gary einmal den pillengefüllten Magen ausgepumpt hat te, mied ihre Filme wie die Pest. Ihre Verehrer, die sie mit Schmuck und Nerzstola zu gewinnen trachteten, waren verblüfft über ihre Fehl investitionen: Sie konnte sich über wertlosen, aber hübschen Mode schmuck, über ein Buch oder über eine alte Schallplatte mehr freuen als über Fifth-Avenue-Schmuck, zu dem sie keine Beziehung hatte. Der kurze Wortwechsel mit Karen hatte genügt, ihr wieder Lebens lust einzuflößen. London, ihr Engagement, war ihre letzte, ihre aller letzte, ihre absolut allerletzte Chance! Sie würde sie wahrnehmen. So, wie sie immer ihr Chancen wahrgenommen hatte: unter rücksichtslo sem Einsatz ihrer selbst. Sie würde sich geben wie immer: ganz. Sie dachte daran, wie sie sich stets ganz gegeben hatte, von ihrem er sten Kinderfilm an, den Karen erwähnt hatte. »Wenn sie wüsste, wie das wirklich war mit den Kinderfilmen!« sag te sie in das Rauschen des Fahrtwinds.
125
14
V
ierzig Minuten nach dem Start der JETSTREAM klingelte im Büro der Transcontinental eines der Telefone. Eine junge Angestellte, die vor drei Monaten aushilfsweise aus Düsseldorf herübergekommen war und nur wenige Sätze Thai verstand, nahm den Hörer ab. »Transcontinental, Flughafen.« »Sawat dee. This Airport? Airline?« »Dies ist das Büro der Transcontinental, ja.«
»Ich wichtige Nachricht. Sie verstehen? Mee krai poot pasa tai dai
bang?« »Prote yah poot reh – oh nahk! Langsamer, bitte.« »Me no time. Me very afraid. Me message, sehr dringend.« »Tan peu krai?« »Chan mai sahp.« »Kohy sahk pra dee – oh!« »Me no time. Hören Sie! Ihr Flugzeug … Gefahr.« »Gefahr? Was für eine Gefahr?« »Me no time. Zwei Männer, zwei Frauen.« »Tan poot wa garai!« »Chan tong pai dee – oh nee.« »Tan pen krai?« »Me now go. Sayan sawat!« »Koy sahk pra dee – oh!« Aber die Anruferin hatte schon aufgelegt. Die Angestellte, die nicht wußte, was sie mit dem Anruf anfangen sollte, versuchte den Stationsleiter zu finden. Aber Raff war schon nach Hause gefahren. Sie rief in seiner Wohnung an. Frau Raff melde te sich. 126
»Hier Transcontinental … Ihr Mann schon da?« »Noch nicht. Entweder im Verkehr stecken geblieben oder noch we gen Captain Schlumm unterwegs.« »Captain Schlumm?« »Wußten Sie das nicht? Der ist spurlos verschwunden.« »Spurlos verschwunden? Hören Sie, ich arbeite in der Passage und bin hier ganz allein. Alle anderen sind schon fort. Aber ich habe eine sehr wichtige Nachricht für Herrn Raff.« »Ich weiß wirklich nicht, wo er steckt, Kind.« »Wenn er kommt, sagen Sie ihm: Es ist ein wichtiger Anruf gekom men, ein sehr wichtiger. Er möchte sofort anrufen. Ich bleibe solange am Flughafen.« »Ich werde es ausrichten!« versprach Frau Raff, nicht übermäßig be eindruckt. Kaum hatte die Angestellte Renate Burger aufgelegt, da schellte das Telefon aufs neue. Plötzlich fürchtete sie sich, abzunehmen. Sie hatte das Gefühl, ein Ring schlösse sich enger und enger um ihren Hals. Ihre Schläfen poch ten; die Klimaanlage war noch immer außer Betrieb. Sie war ganz al lein auf der Station und hätte längst, wie die anderen, Schluß machen können. Sie hatte noch eine Freundin angerufen, auf Dienstapparat, eine kleine Mogelei. Die Schalter zu ihrer Rechten und Linken wa ren ebenfalls verlassen. Nur in den engen Wandelgängen stauten sich Menschenmassen, fremde Gesichter, Passagiere und Abholer, die ihr nicht helfen konnten. Sie entdeckte, daß der Hörer die Form eines Knochens hatte. Mit Ekel griff sie nach ihm. »Transcontinental?« »Me back again. Say an sawat!« Die gleiche Stimme wie vorhin.
»Ja bitte, wer sind Sie?«
»Me no ñame. Me afraid. Sie gut zuhören?«
»Ja! Chan kao jai laa-oh!«
»Ihr Maschine, Teheran, Deutschland: vier Personen in Flugzeug.
127
Zwei Männer, zwei Frauen. Männer: ein Deutsch, ein sehr groß und dick. Mädchen: jung, blond. Understand?« »Weiter, weiter!« drängte Renate Burger. »Bleiben Sie am Apparat.« »Große Gefahr! Sie Flugzeug landen machen!« »Chan cha tarn sing te chan tarn dai!« versprach sie aufgeregt. »Hal lo?« Aber im Hörer hatte es bereits wieder geklickt. Sie griff sich an den Hals. Sie war in Schweiß gebadet. Sie sah sich hilflos in den vorbeiströmenden Gesichtern nach einem Bekannten um. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Sie war gerade einundzwanzig geworden und seit drei Monaten in Thailand. Asien war ihr unheim lich; sie wußte sich nicht zu helfen. Sie brach in Tränen aus.
Obwohl Arnold und Wessmann erst zum zweiten Mal in Bangkok wa ren, fühlten sie sich heimisch unter den Thais. Sie mochten ihre Gast freundschaft und Fröhlichkeit, die Art, wie sie stets einen Anlass zum Festefeiern fanden. Allerdings fiel es ihnen nicht schwer, sich überall in der Welt zu Hause zu fühlen. Beide besaßen die Gabe, sich rasch anzu passen, sich in nüchternen Hotelzimmern häuslich einzurichten, inter essante Menschen auszuwählen, Verbindungen herzustellen. Arnold, der größere der beiden, hager und feingliedrig, mit zartem Schnurr bart, hätte gut in eine Malermansarde auf dem Montmartre gepaßt. Er trug sein Tonbandgerät über die Schulter gehängt und gestaltete die Interviews; Wessmann filmte. Er hatte die schwerste Last zu schlep pen: seine Handkamera. In tropischen Ländern rann ihm bald der Schweiß aus den blonden Haaren über sein Gesicht in den wild wu chernden Bart. Ohne Kamera hätte ihn jeder für einen Hippie gehal ten, der schon lange im Fernen Osten unterwegs sein mußte – er fühlte sich wohl in seinen fleckigen, ausgebuchteten Hosen, mit denen er kei ne Rücksicht zu nehmen brauchte. In der gleichen Aufmachung hatte er schon den französischen Premierminister und in Saigon Mitglieder des Militär-Regimes gefilmt. 128
Da Arnold gleichzeitig Toningenieur, Interviewer und Koordinator war, hatten beide alle Hände voll zu tun; aber sie waren gut aufeinan der eingespielt. So begeistert sie von der Zusammenarbeit mit den Thais waren, so verärgert waren sie über das Desinteresse und die Ablehnung durch Transcontinental. »Die glauben, sie hätten kostenlose Werbung nicht mehr nötig!« meinte Arnold und strich sich über den Schnurrbart, dabei gleichzeitig hinter drei hübschen Stewardessen der Korean Airlines herblickend. »Sie fürchten Kritik, wenn wir hinter die Kulissen schauen. Jemand könnte sich für die wenigen Ruhestunden interessieren, nach denen die Crew wieder an Bord ihrer 400-Passagier-Jumbos geht.« »Dabei wollen wir doch nur ein ganz sachliches Bangkok-Portrait ausarbeiten.« Wessmann ruckte an seiner Kamera und zeigte auf den Schalter der TC: »Da hat jemand Wut, Ärger oder Bauchschmerzen!« Sie schlenderten durch die Halle und arbeiteten sich mühsam an ei nem Riesenpulk vor den Schaltern der THAI INTERNATIONAL vor bei. »So ein hübsches Mädchen weint doch nicht!« sagte Arnold. »Noch dazu in Bangkok!« sagte Wessmann. Er stellte seine Filmkamera auf den Counter der TC ab und hob das Kinn des Mädchens hoch. »Liebeskummer?« Renate Burger sah die beiden Kameraleute erst erschrocken, dann entspannter an. Sie wischte sich ungeschickt über die Augen. »Sie sind vom Fernsehteam, nicht wahr?« »Ja. Und wir sind gar nicht so gut auf Transcontinental zu spre chen!« »Aber das geht nicht gegen Sie!« bemühte sich Arnold abzuschwä chen. »Sie kommen wie Retter in höchster Not. Sie müssen mir helfen!« Sie schob die beiden in den VIP-Raum. 129
»Darf ich meine Kamera holen?« protestierte Wessmann schwach. »Hier haben Sie Kognak!« sagte sie unbeholfen und stellte eine Fla sche Rémy Martin auf den Tisch. »Trinken Sie sie aus, aber hören Sie mir zu.« … Als sie alles berichtet hatte, meinte Arnold: »Das ist 'ne Story, was?« »Das ist nicht nur eine Story, das ist ein ernstes Problem!« sagte Wess mann. »Darf ich mal ans Telefon?« Er rief Konsul Scheurer an. Bevor er sich durch den äußeren und in neren Verteidigungsring der Sekretärinnen durchgearbeitet hatte, ver strichen kostbare Minuten. Ehe er sein Anliegen deutlich gemacht hat te, weitere. »Ich kann nichts für Sie tun!« sagte Scheurer. »Ich bin hier Gast – wie Sie! Wenn Sie Maßnahmen am Flughafen ergreifen wollen: bitte schön! Rufen Sie die Militär-Flughafenverwaltung an! Don Muang ist ein Militärhafen, der an die Zivilgesellschaften widerruflich vermietet worden ist. Wollen Sie, daß ich Sie mit dem Kommandanten verbin de. Es ist …« »Nein, danke!« lehnte er müde ab. »Ich kann Sie mit dem thailändischen Geheimdienst verbinden?« schlug Konsul Scheurer vor. »Warten Sie.« Er wartete. Renate Burger schenkte Kognak nach. Arnold begann nervös auf die Einlegearbeit der Teaktischplatte zu trommeln. Witter te er eine Sensation für sein Feature oder machte er sich ernsthaft Sor gen? »Hallo?« Arnold und Renate Burger blickten sofort auf; Wessmann hatte Kon takt. Eine Langstreckenmaschine startete; der Barackenraum vibrier te. Die Schwüle hing wie in feuchten Lappen von der Decke. Wenn man einen Schritt tun wollte, hatte man das Bedürfnis, sie wie Wä schestücke aus dem Weg zu schieben. Trotz scheinbarer Konzentra tion stellte Arnold plötzlich fest, daß er Wessmanns Antworten und Darstellungen der Lage schon seit geraumer Zeit nicht zuhörte. Was ging ihn diese ominöse Sache an? Irgendein Hypochonder hatte ange 130
rufen; ließ sich daraus eine Story machen? Den Fall aufzuklären oder die zuständigen Eierköpfe dafür ausfindig zu machen war Sache der Station. »Aber vielleicht könnte doch wenigstens …«, hörte er Wessmann jetzt sagen; sein Gesicht schien sich in träge zerfließendes Fett aufge löst zu haben. Wenig später wieder: »Vielleicht wenigstens …« Dann hörte er sich offenbar widerwillig eine längere Ablehnung an. Draußen donnerte die nächste Maschine vorüber. Arnold stellte sich vor, sie sei blendend weiß gestrichen und flöge an einen erquickenden Strand oder in den kühlen Norden. Norden ging nicht, da lag die Mon golei dazwischen. Wessmann hatte aufgelegt. »Der Herr vom Geheimdienst bedauert. Ihm sei nichts bekannt über einen Flugzeuganschlag. Auf bloße Vermutungen hin könne er nicht et cetera. Außerdem müsse jede Initiative von der Fluggesellschaft ausge hen. Im übrigen kämen täglich in diesem mysteriösen Land Dutzende anonymer Anrufe, Drohbriefe, Androhungen. Ja, wenn man ihm eine Person benennen könne, auf die unser Verdacht et cetera. Am besten gleich mitbringen. Er kenne sämtliche verdächtige Knaben des Nahen, Mittleren, Fernen und Fernsten Osten schon am Geruch, spätestens an der Nase. Auch wenn diese Herren meinten, ihre Physiognomie sei streng geheim. Penetrantes Selbstlob eines kleinen Polizeichefs. Wie gesagt: Man bedauert. Man fühlt sich nicht. Man hat keine. Man läßt dahingestellt. Man will das Kind nicht mit dem Bade, aber. Man be streitet nicht grundsätzlich, jedoch!« Arnold hatte seinen sich steigernden Kollegen geduldig bis zum sich abfindenden Schulterzucken austoben lassen. Dann schüttelte er sich selber einen neuen Kognak ein, kippte ihn wie billigen Schnaps herun ter und sagte wie nebenbei: »Aber wir haben doch sämtliche Zusteiger gefilmt. Da müßte doch festzustellen sein, ob dem Geheimdienst einer der Passagiere bekannt ist …!«
131
Raff raste los: Sri Ayuthya Road, Phya Thai Road, Paholyothin Road – zurück zum Flughafen. Er hatte noch einmal bei der Burger zurück gerufen, ob über Schlumm eine Nachricht eingetroffen sei. Was er er fuhr, genügte, ihn unter Eingehen sämtlicher Risiken zurückjagen zu lassen. Er wußte jetzt: Schlumm war keiner gewöhnlichen Verspätung zum Opfer gefallen. Gasgeben, Bremsen, Hupen – Marktweiber mit weit schwingenden Korbstangen, die jeglichen Verkehr missachteten. Inmitten der Auspuffschwaden der Vespa-Rikschahs fühlte er Übel keit aufsteigen. Die Klimaanlage des Toyota streikte. Er griff sich an den Kragen. Gab ruckweise Gas. Stand schon wieder. Raff war nur scheinbar ein robuster Typ. Im Grund litt er unter jeder Auseinandersetzung, unter jeder Antipathie, die ihm entgegengebracht wurde. Er hasste die Querelen mit den Besatzungen, die nach anstren genden Flügen oft besonders reizbar waren. Hätte er nicht ungute Er innerungen an den Kopiloten, an die Fernsehleute – wahrscheinlich wäre er nicht mit dem Gefühl der Bedrohung unterwegs. Ihm war, als hätten sich alle verschworen, ihm eins auszuwischen. Er kam verschwitzt, abgehetzt und überreizt am Flughafen an; und der erste, der ihm entgegenkam und Bericht erstattete, war Wessmann, und Wessmann konnte sich nicht verkneifen, zu spotten: »Schätze, Sie haben jetzt mehr Zeit für uns als vorhin!« Raff behielt das Tempo, das er im Ausfallverkehr vorgelegt hatte, bei. Er ließ sich auf keine Vermutungen und Überlegungen ein. Er nahm als gegeben hin, daß sich die TC 773 in Gefahr befand. Er handelte so fort. Er ließ sich vom Flight-Watch die letzte Position der Maschine ge ben. Akyab, Burma. Dann würde sie in Kürze im Bereich von Calcut ta Control sein. Aber das nützte wenig. Man konnte sie nur über Kurz welle erreichen, und vielleicht war das noch von Bangkok aus möglich. Außerdem konnte noch viel Zeit vergehen, bis er seine message durch hatte. Besser, man rechnete gleich damit, daß sie in Calcutta oder so gar erst Delhi runterging. In Raff arbeitete es fieberhaft. Er ließ sich mit dem Flughafenkom mandanten verbinden und informierte ihn. Dann rief er die Flugsiche rungskontrolle an und gab seine Nachricht auf. Man mußte die Besat 132
zung warnen, falls noch nicht alles zu spät war. Es konnte noch nicht zu spät sein: KEINE BESONDEREN VORKOMMNISSE, lautete die Routinemeldung. War alles ein Bluff, ein Irrtum, die Laune eines Gei steskranken? Es interessierte ihn nicht. Er hatte die Maschinerie in Gang gesetzt und würde es zu Ende führen. Bis zum bitteren Ende. »Und jetzt zu uns!« lächelte Wessmann, der sich die Sache mit den Fil men noch aufgespart hatte. »Wenn Sie uns jetzt in Ruhe anhören wür den? Wir haben da noch ein Problemchen!« Raff spürte die Erniedrigung. Er hasste grundsätzlich alle Public-Re lations-Organe. Hatte man mühsam das Image einer airline, eines Flug zeugtyps, eines bestimmten Service oder einer bestimmten Flugroute aufgebaut, kamen diese Trampel in ihrer laienhaften Unbekümmert heit daher und machten alles mit ihren Halbwahrheiten oder durch keine Sachkenntnis getrübten Falschmeldungen kaputt. Sie nagten am Imagekuchen wie parasitäre Mikroben. Sie schrien schlagzeilenträch tig NOTLANDUNG, wenn ein simples Triebwerk in aller Ruhe abge stellt und die Maschine harmlos wieder gelandet wurde. Sie faselten von Stürmen, in denen Flugzeuge in Not gerieten, und wußten nicht einmal, daß in großen Höhen fast immer Orkane wehten und eine sol che normale Höhenwetterlage nie die Ursache für ein emergency sein konnte, höchstens eine Begleiterscheinung. Sie verwechselten fortwäh rend Schlechtwetteranflüge, die normal waren, mit Blindlandungen, die es gar nicht gab. Sie konstruierten künstlich mystische Unfallket ten, indem sie einem einzigen Unfall aus der Verkehrsluftfahrt plötz lich Unfälle aus der Militär-, Sport- und Segelfliegerei beizumischen begannen; wenn es sein mußte auch aus der Ballonluftfahrt. »Ich sagte: Wenn wir dem Geheimdienst nette kleine Bildchen Ihrer zugestiegenen Passagiere präsentieren könnten – das wäre eine Hilfe! Nach der Identifizierung der Übeltäter ließe sich an die Besatzung eine genaue Beschreibung durchgeben …« Raff faßte das besitzanzeigende IHRE als böswillige Haftbarma chung auf und reagierte entsprechend. »Ich habe leider versäumt, Passbilder machen zu lassen! Ich will Ih nen ein Geheimnis unter Männern verraten; und wie ich Sie kenne, 133
werden Sie das Ihren Zuschauern nicht vorenthalten: Sie können mich mal! Ich habe keine Bilder, und ich kann auf Sie verzichten! Ab so fort!« »Aber wir!« sagte Wessmann schlicht und kratzte sich unbehaglich am Hemdkragen, als leide er für sein Gegenüber. Mit Raff, das ließ sich nicht leugnen, ging eine Veränderung vor. Er sank zusammen, gewahrte zum ersten Mal die dreiviertelgeleerte Ko gnakflasche und schob sie den beiden Männern zu. Beide lehnten ab. Nach einem längeren Disput schlug Arnold vor: »Also gut, wir gehen das Risiko ein, daß unsere Filme verdorben werden. Aber was uns ohnehin fehlt, ist eine Entwicklungsanstalt, die rasche und gute Arbeit leistet.« »Wir können das beim Geheimdienst erledigen lassen!« sagte Raff und rappelte sich wieder auf, weil er gut informiert war. »Das kostet aber Scherereien. Ehe sich jemand für zuständig erklärt und die Bü rokratie überwunden ist, hängt unser Flugzeug über der Inneren oder Äußeren Mongolei oder wo immer hin sie entführt werden könnte.« Er sprang auf. »Ich habe eine private Adresse. Die hat meinen Ferienfilm von den Philippinen prompt und erstklassig entwickelt. Da wird das sofort erledigt! Und noch was: Ich hol' mir einen Polizeiwagen heran. Der jagt uns mit Sirenengeheul durch die Stadt!« Plötzlich fühlte er sich wieder überlegen. Aber so schnell ließ sich zu mindest Wessmann nicht versöhnen. »Sie bekommen die Filme. Aber wenn wir damit tatsächlich eine Schweinerei oder sonst was verhüten, dann sind Sie uns was schuldig: Ihr Copyright!« »Copyright? Wofür?« »Copyright für Ihr Geheimnis unter Männern!« sagte Wessmann. »Die Äußerung erfahren unsere Hörer gern – als Beispiel für Männer unter Stress!«
134
Blavatzky saß verärgert kauend hinter seinem Schreibtisch. Er schob das fade Sandwich, das er sich hatte bringen lassen, über den Stapel Pa piere, den er zwischen den Telefongesprächen studiert hatte. Er hatte die Listen der Zusteiger für die TC 773 ab Bangkok. So schnell, ha-ha, arbeitete er, wenn er arbeitete! Was ihm fehlte, waren die Namen der Transits aus Hongkong und Australien. Er zerrte den letzten Rest Roastbeef zwischen den Scheiben her vor und zerknüllte das Weißbrot wie Papier, ehe er es in den Abfall korb warf. Niemand hatte einen Hinweis gegeben, daß die PHRYXXE eine Schweinerei im Bereich der Luftfahrt vorhatten; alle Bemühungen hatte er auf den Schiffs- und Bahnverkehr konzentriert. Konnte man in dieser verfluchten Gegend seinen engsten Mitarbeitern nicht trau en? Wieder einmal schienen ihm alle Fäden zu entgleiten. Nichts war im Fernen Osten so, wie es sich ihm darstellte. Stein zerschmolz, Au tobahnen endeten in Karrenspuren, kompakte Fakten lösten sich in Rauch auf – so stellte sich ihm manchmal der Hintere Orient dar. Al les zerrann zwischen den Fingern. Es gab Vorgänge, die erfüllten sogar seine höchsten Thai-Untergebenen mit Schauern. Unter der scheinba ren Aufgeklärtheit hockte unzerstörbarer Atavismus. Es war wie frü her im Vorderen Orient: Die waren zum Christentum bekehrt wor den und liefen mit japanischen Transistorgeräten zwischen den Ziegen umher. Aber ihre modernen Betonhäuser malten sie mit blauer Farbe an als Schutz gegen böse Geister; und wenn sie krank wurden, mieden sie den Dorfarzt und schlichen sich nachts zum Medizinmann. In Malaysia waren Froschkämpfe ausgebrochen. Ganze Armeen die ser Herbivoren waren zu Fleischfressern geworden im Streit um ihre überschwemmten Brutplätze. Sechs Tage lang zerfleischten sie sich in den Sümpfen bei Kuala Lumpur. Die BANGKOK POST hatte diese Nachricht auf der ersten Seite gebracht, zwischen Schlagzeilen über Luftverkehrsabkommen und Außenministerkonferenzen. Und sie hat te hinzugefügt: derartige biologische Abnormitäten hätten stets ein schlechtes Omen bedeutet. Beispiele: 1940, Froschkampf in Kedah und Malakka – die Japaner besetzten Malaysia. 1949: Froschkampf in Ke dah – Ausbruch des zwölfjährigen Notstands mit den kommunisti 135
schen Terroristen. 1969: Froschkampf bei Penang – schwere Rassenkämpfe in der Hauptstadt Kuala Lumpur. Oder: Im Oktober 1970 war der thailändische Filmstar Mitr Chai bancha aus einem Hubschrauber gestürzt und getötet worden. Im November 1970 erschien er vor der Privatwohnung des hohen Bang koker Polizeioffiziers Chalaw Uthokpach, dessen Frau ihn durch zu Berge stehende Haare auf seine Ankunft aufmerksam machte. Cha law Uthokpach fragte höflich, was er wünsche; und Mitr bat freund lich um Auskunft darüber, wie man ihn auch weiterhin filmen könne. Chalaw zögerte nicht mit fachlicher Beratung: Mitr solle sich ganz auf die Fotografen, die Fotografen müßten sich voll auf ihn konzentrieren. Als Filmmaterial käme nur Hochempfindliches in Frage – ab 400 ASA aufwärts. Der Polizeioberst versäumte nicht, Mitr auf seine Entstellun gen aufmerksam zu machen, die er noch immer als Folge des Sturzes aufweise; Mitr dankte freundlich. Auch diese Nachricht war auf der ersten Seite der BANGKOK WORLD zu lesen. Darunter kündigte PIA Nonstopflüge nach Mani la an. Blavatzky wollte gerade ein drittes Beispiel überdenken, voller Groll über Zustände, die jede Vernunft ad absurdum führten, als ihm Raff und Arnold gemeldet wurden. … Als Raff eine Stunde später vom Büro aus mit dem Flughafen kommandanten telefonierte, wußte er verblüffende Einzelheiten: Vier seiner Zusteiger waren als Angehörige der PHRYXX-Organisation identifiziert worden. Auch Blavatzky war verblüfft: Er hatte nur die beiden Männer in Thailand, die Damen jedoch in Indonesien vermu tet. Raff legte verzweifelt den Hörer auf. »Ich habe in einer neuen message die Personalien durchgegeben. Aber es wird höchste Zeit: Der Kurzwellenempfang ist heute abend sehr schlecht. Die erste Nachricht ist noch gar nicht angekommen. Keine Verbindung möglich.«
136
15
D
ie JETSTREAM glitt jetzt, das Gangesdelta an Steuerbord, Indien entgegen. Dem Land, von dem alle klassischen Autoren berichte ten, es sei das herrlichste Land der Erde. Steiner war ein Liebhaber al ter Stiche und Karten; und während unter ihnen das pythongefleckte Sumpf- und Dschungelland des tausendarmigen Ganges vorüberglitt, entfaltete er neben seiner Luftstraßenkarte einen alten Stich aus dem Theatrum Orbis Terrarum 1570. »Schätze, unsere Luftstraße A I fehlt darauf noch?« Weersma warf ei nen schrägen Blick auf die Darstellung des INDIAE ORIENTALIS IN SVLAR VMQVE ADIACIENTIVM TYPYS. »Und wie sieht denn un ser Golfo di Bengala aus! Leicht verformt, die Dame!« »Plinius begrenzt Indien im Westen durch den Indus, im Norden durch den Taurus, im Süden durch den Indischen, im Osten durch den Pazifischen Ozean. Marco Polo hingegen hat das Land dreigeteilt.« »Kalkutta-Funkfeuer sendet sehr unregelmäßig!« meldete Weersma. »Ha, da ist es wieder! Trampelt wahrscheinlich wieder eine heilige Kuh auf der Antenne herum!« Weersmas Ironie hatte Hand und Fuß. Er hatte einen Schlechtwet teranflug auf Delhi erlebt, da zeigte der Gleitpfadempfänger konstant zweihundert Fuß Höhe zuviel an. Hätten nicht alle Cockpitinsassen skeptisch diese Fehlanzeige mit Höhenmesser, Variometer und ihrem eigenen instinktiven Gefühl verglichen – das Flugzeug hätte 50 Me ter vor der Bahn aufgesetzt. Hinterher stellte sich heraus: Eine Her de Kühe hatte im Niemandsland vor dem Aufsetzpunkt gegrast – im Ausstrahlungsbereich der Gleitpfad-Antenne. »Sie müssen mal den Brief lesen, den Alexander der Große an Ari stoteles geschrieben hat!« sagte Steiner, half dem Autopiloten beim 137
Nachtrimmen, indem er kurz am Steuer zog. »Der hat Indien großar tig beschrieben!« »Im Altertum bin ich weniger bewandert«, meinte Weersma. »Aber wenn ich früher Namen hörte wie Mandalay, Cox's Bazar, Chittagong, dann kriegte ich Fernweh! Eben sind wir querab an allen drei Orten vorbeigesegelt – was habe ich nun davon gehabt? Alles voor de poes, die ganzen romantischen Illusionen!« »Die Fliegerei erfordert eine Menge innere Aktivität! Vorher darüber nachlesen, darüber fliegen, in der Phantasie ergänzen, was Sie unterm Dunst sehen und vorher gelesen haben. Kombinieren: Realität und Phantasie bemühen. Dann sehen Sie eine Menge mehr als ein bißchen blaßfahle Kontur.« »Gutes Rezept!« lobte Weersma spontan. »Müssen Sie mal Ihren Da men hinten klarmachen, die zum ersten Mal nach Tokio fliegen und von neuen Ländern nichts anderes kennen gelernt haben als den Swim ming-pool. Aber es gibt natürlich Ausnahmen.« Er meinte auch das spontan, obwohl jedermann wußte, daß er mit seinem Lob für Karen Hilldorff seinem Kapitän ein Kompliment ma chen wollte. »Was wollen Sie!« meinte Steiner und wischte sich ein paar Tabak krümel aus dem Bart. »Der moderne Swimming-pool hat den mittel alterlichen Dorfplatz ersetzt. Er schließt einen von der bösen feindli chen Welt ab. Dort träumt sich's – bei Akazienduft oder Gin Tonic – so schön von einem Häuschen im Grünen in einer heilen Welt!« »Gut!« lobte Weersma begeistert. »Man trinkt sein Bierchen, freut sich, bald an den häuslichen Herd zurückkehren zu können. Das finde ich einen guten Vergleich: Dorfplatz und Swimming-pool! Treffpunkt der kleinbürgerlichen Spießer! Es hat sich nichts geändert – auch im Jetzeitalter nicht!« »Genug Philosophie!« meinte De Laer. »Allmählich kommt in mei nem Magen die rote Warnlampe an! Bin gespannt, was es hinten gibt!« Es gab ein ausgezeichnetes Hühnchen in Ingwersauce, das in Hong kong gecatered worden war. TC bemühte sich stets, Streckenmahlzei 138
ten zu servieren, die ungefähr dem Stil der überflogenen Länder ent sprachen: Paupau-Suppe und Ghanaesisches Fischragout über Afrika. Gefillte Fisch, Schalet, Kartoffelkirschen, Honignudeln querab von Is rael. Hammel-Djuvetsch, gefüllte Weinblätter, Dobos-Torte nach dem Start in Zagreb. Jetzt, zum Hühnchen: Chwan Waro Tzu, Reismehlku chen, Nanking-Birnen. Ein letzter Hauch von China. Der Bär saß neben Lohmar und schlang mit Wohlbehagen hinein, was hineinging. Er hatte sich doppelte Frühlingsröllchen reichen las sen und bestellte so oft von dem thailändischen Singha-Bier nach, bis Lohmar, an dem sämtliche Bestellungen vorbeitransportiert wurden, ihm einen mahnenden Blick zuwarf. Der Bär rülpste protestierend, wischte sich mit dem mächtigen Handrücken den fettigen Mund und stierte dann auf seine Armbanduhr. Er grunzte zufrieden: nur noch vier Minuten bis zur Stunde Null. Hinten saßen die beiden Mädchen und lehnten, nach einem Blick auf die Uhr, den angebotenen Kaffee ab. »Einen kleinen Cointreau vielleicht?« »Auch keinen Cointreau!« Inger tastete verstohlen nach ihrer Pistole, die sie längst aus sieben Teilen zusammengeschraubt hatte. Ingrid, die am Mittelgang saß, be obachtete jetzt die Vorgänge in der Ersten Klasse. Im Gegensatz zu den Maschinen anderer Fluggesellschaften hatten die TC-Boeings keinen Trennvorhang zwischen beiden Abteilungen. Drei Minuten bis Null: Lohmar ließ sich sein Tablett forträumen, schlug die Beine übereinander und zündete sich eine Zigarette an. Der Bär brummte missbilligend. Er rauchte selten. Wennschon, dann Zigarren. Er hielt das Paffen von Zigaretten für ein Zeichen von Nervosität. Er kannte diese psychologische Reaktion nur vom Hörensagen; er besaß ein Fell, das ihn von allem abschirmte, was die Nerven weniger Robuster strapazierte. Behäbig zog er sein Bordcase unter dem Sitz hervor. Hinter ihm schwätzten die deutschen Wissen schaftler in einem Fachslang, den er auch auf englisch nicht begrif fen hätte. Er löste die Riemen aus den Schnallen und ließ das Schloß auf 139
schnappen. Er stellte die Tasche so zwischen die Sitzbeine, daß sie sich auf einen Spalt öffnete. Zwei Minuten dreißig Sekunden bis Null: Lohmar beobachtete kon zentriert die beiden blauen Lichtpunkte über der vorderen Galley, die anzeigten, ob die Toiletten besetzt waren. In der Galley waren zwei Stewardessen mit dem Verstauen der be nutzten Tabletts beschäftigt. Sie schütteten die Überreste in einen Container, warfen die benutzten Bestecke und Teller in eine Plastiktü te und stapelten die leeren Tabletts aufeinander. Sehr leichte Turbulenz ließ die Maschine sanft und fast beruhigend dümpeln. Viele Passagiere begannen, gesättigt, sich behaglich auszu strecken und auf ein Nickerchen einzustellen. Zwei Minuten bis Null: Lohmar sah sich zum letzten Mal forschend um.
Die Zirren fluteten in Wellen gegen den Bug wie Brandungswogen. Sie überhauchten die Cockpitscheiben mit winzigen, knisternden Tropfen, verhüllten die Sicht und gaben sie, bis zum nächsten Wolkenschwall, wieder frei. Einige Fetzen trieben unter ihnen hindurch; sie sahen graupelig und grobkörnig aus, mit wirren dunklen Schlieren darin, als habe jemand in einem zähen Brei gerührt. Die Landschaft, die hin durchschimmerte, sah aus wie auf brüchiges Pergament gemalt. Der Himmel war sehr lange hell gewesen, dann rubinrot. Das Rot hatte sich zu einem winzigen Horizontstreifen zusammengezogen; darüber ereignete sich ein Happening in Blau. Die verschiedenartigsten Tönungen durchdrangen sich gegenseitig, übertrumpften sich, zogen sich in die Schwärze der östlichen Nacht zurück: Lapislázuli, Aquama rin, Taubenblau, Tintenblau, Preußischblau, Yorubablau, Kobalt, Krä henflügelblau. Das reine stratosphärische Licht war längst nach We sten ausgewichen. Einige tiefe Wolken waren noch schwer von Regen, konnten ihre Last nicht loswerden und lagerten über den bräunlich grünen Feldern wie Kühe, die auf den Melker warten. Steiner hatte sich entspannt zurückgelehnt. Er dachte an Angela und 140
daran, wie er versuchen würde, ihr einen Abendhimmel in der Stra tosphäre über Indien zu beschreiben. Er hatte seine letzte Pfeife über dem Gangesdelta ausgehen lassen, und er freute sich auf die nächste, die er beim Überflug von Varanasi anzünden würde. Er hatte immer gehofft, einmal das heilige Benares von Kalkutta oder Delhi aus be suchen zu können, aber nie hatte die Zeit gereicht. So war die Tem pelstadt weiter nichts für ihn als ein Funkfeuer mit der Frequenz 113.9 und der Kennung BBN – nichts als das Umschlagen einer Radiokom paßnadel. Plötzlich, obwohl er sich aus dem Funksprechverkehr aus geschaltet hatte, spürte er, daß etwas Ungewöhnliches eingetreten war. Er schrak auf. Weersma hatte aufmerksam die Kopfhörer zurechtgerückt; er mußte eine wichtige Meldung aufgefangen haben. Kam das Wetter von Delhi, Karatschi, Lahore durch? Dann hätte Weersma nicht so verzweifelt am Lautstärkeregler gedreht und ihn befremdet angesehen. Steiner schaltete sich mit in den Funkverkehr ein. »… Bitte noch mal«, drängte Weersma. »Sie sind sehr schlecht zu verstehen, Bangkok!« »Wir haben eine wichtige Nachricht für Sie!« hörte Steiner jetzt Bang kok durchkommen, leicht gestört und mit wechselnder Stärke. »Sind Sie bereit zur Aufnahme?« »Go ahead!« forderte Weersma routinemäßig auf. »Roger. Nachricht von Transcontinental Bangkok an TC 773: Erhiel ten Warnung geplante Entführung oder Attentat stop verlangen Zwi schenlandung Delhi und umgehende Information örtliche Autoritäten über Notfrequenz stop folgt Beschreibung verdächtiger Personen an Bord Ihrer Maschine stop ready to copy?« »Go ahead!« wollte Weersma erwidern, da kam ihm die Positions meldung einer Maschine über Ost-Bengalen dazwischen: »Pakistan 359, über Cox's Bazar 34, Flugfläche 33, erwarten Chittagong 51.« »Funkdisziplin ist was Feines!« schimpfte Weersma. »Say again.« »Roger. An Bord TC 773 vier Paxe verdächtigt Entführung oder At tentat stop folgt Beschreibung stop soweit alles mitgekriegt, 773?« »Copied okay!« sagte Weersma. »Go ahead!« 141
Die Cockpittür wurde geöffnet, ein Streifen Licht fiel in das Halb dunkel; Weersma drehte sich unwillig um. »Jetzt nicht, jetzt nicht!« mahnte er erregt; Steiner hob abwehrend die Hand – Karen blieb stehen und wartete. »Vierergruppe«, sagte Bangkok. »Zwei Männer – ein Deutscher, ein nicht Identifizierter, sehr groß stop zwei Mädchen blond, wahrschein lich Schwedinnen stop wiederhole: Bitte dringend um Beobachtung und Zwischenlandung Delhi letzte Entscheidung bei Captain. Got it, 773?« »Got it okay!« bestätigte Weersma. Die beiden Piloten sahen sich an. »Was wollen Sie eigentlich?« fragte Weersma Karen. »Tut mir leid, daß ich störe«, sagte Karen. »Aber da ist ein Erster Klasse-Passagier, der würde gern mal einen Blick ins Cockpit wer fen!«
16
W
enige Minuten vorher hatte Karen auf der Toilette das getan, was sie ›ein neues Gesicht anziehen‹ nannte. Eine Boeing-Kabine voller Passagiere mit drei, vier Gängen zu bedienen, zehrte nicht nur an Physis und Psyche; es warf auch die raffinierteste Kosmetik über den Haufen. Nach dem Service klebten die stets unpraktischen, stets durchschwitzten Uniformen wie nasse Säcke am Körper. Die Lippen waren geborsten, die Nasenschleimhäute entzündet, die Haare hingen strähnig und ausgedörrt herab. Als sie sich von Flecken und abgebrochenen Haaren gereinigt und neu geschminkt hatte, zog sie sich in die Crewlounge zurück – so gut wie möglich. Ein Vorhang trennte sie jetzt notdürftig vom Gang und der Schlange, die sich vor den Toiletten zu stauen begann. 142
Sie zündete sich eine Zigarette an und sog tief den anregenden Rauch ein. Sie wollte sich fünf Minuten lang völlig auf sich zurückziehen. Sie fühlte sich, als sei sie in winzigen Portionen selber auf die Passagiere verteilt worden. Aber ein Spalt im Vorhang gab den Blick auf die Kabi ne frei; und sofort waren ihre Gedanken wieder dort. Sie ertappte sich dabei, daß sie die Männer schon wieder auf ihre Fä higkeit als able bodied men einstufte. Den Jumbotyp, dachte sie, würde ich im Notfall als Rammbock ein setzen, wenn die übrigen Passagiere die Notausgänge blockieren, der schaufelt die mit den bloßen Händen hinaus. Der Typ neben ihm sieht eiskalt aus, dem möchte ich nicht auf dem Connaught Place in Delhi begegnen! Aber Nerven wird er haben, also: den würde ich ebenfalls als zuverlässig mit einplanen! All diese bunt zusammengewürfelten Menschen! – Wie werden sie im Notfall reagieren? Wenn ein Triebwerk explodiert, eine Tragfläche in Flammen gehüllt ist, wenn eine Notwasserung auf dem Ozean be vorsteht – wer wird die Nerven behalten, wer durchdrehen? In welcher Ecke sitzen die wahren Stoiker, wo die Hypochonder, getarnten Psy chopathen? Wer wird sich an seinen Sitz krallen und wie ein Gelähm ter selbst mit Männerkraft nicht zu lösen sein? Wer wird sich lachend und scheinbar entspannt in die kritischste Gefahrensituation begeben? Karen hatte von Unfällen gehört, da liefen die Überlebenden unter der Schockwirkung seelenruhig in der brennenden Kabine umher, statt durch den weit geöffneten Ausgang zu springen! Sie drückte ihre halb gerauchte Zigarette aus. Sie fiel auf den Boden; und Karen mußte sich losschnallen und bücken; und als sie den Scha den bereinigt hatte, hatte sie schon wieder die innere Unruhe gepackt, die sie an Bord nie völlig entspannen ließ. Sie stand auf und stieß auf den able bodied-Nachbarn des Jumbo typs, der sie mit der Bitte um einen kurzen Cockpitbesuch ansprach. Sie begab sich ins Cockpit. »Tut mir leid, Karen!« sagte Steiner. »Aber wir haben hier gerade eine wichtige Angelegenheit. Dein Passagier muß warten.« »Sehr wichtig?« 143
»Top urgent, unsere grauen Zellen arbeiten auf Hochtouren!« »Ich könnte auch noch ein paar dazuschmeißen, Skipper!« »Okay, wenn du schon mal hier bist. Soeben Warnung erhalten, Henk, lesen Sie mal vor!« Weersma las von seinem Funksprechlog ab. Karen hörte ihm mit unbeweglichem Gesicht zu. Sie schluckte ein einziges Mal. »Das ist kein fauler Trick, nicht wahr? A la: Wenn diese rote Lampe aufglüht, stürzen wir ab!« »Nein«, sagte Steiner ernst. »Das ist kein fauler Trick.« Plötzlich durchschossen Karen und Steiner gleichartige Erinnerun gen. Steiner erinnerte sich des blonden Mädchens in der Galley; Karen des Jumbotyps. Jetzt wurde ihr bewußt, daß der Mann mit der Cock pitbesuchs-Bitte neben ihm gesessen hatte. »Sieh dir mal die neue Assistentin von Kay Sanders an. Die hat hin ten unerwartet Hilfe erhalten.« »Gut. Werde ich tun! Zwischendurch noch Kaffee gewünscht? Frisch gebrüht, sehr stark? Und wann, bitte, würden wir in Delhi landen?« »Kaffee, ja!« sagte Steiner. »Delhi: knappe Stunde.« »Ich geh' mal durch die Kabine und glotz' die Leute so unauffällig wie möglich an!« versprach Karen. »Den Steckbrief hab' ich ja.«
Eine Minute bis Null: Lohmar drückte seine Zigarette aus, die er ge rade angezündet hatte. Der Bär reckte sich behaglich und grunzte zu frieden. Die beiden Mädchen spähten unauffällig nach vorn. Draußen fielen lange Schlagschatten über das flache Land. Lohmar rührte sich nicht mehr in der letzten Minute. Sie war lang samer vergangen als die übrigen fünf zusammen. Null: Er stand auf, beide Toiletten zeigten Blau – besetzt. Er schlängelte sich durch die enge Galley, studierte beide Toiletten türen, trat zurück, wandte sich an Karen. »Ist es möglich, einen Blick ins Cockpit zu werfen? Die Toiletten sind sowieso besetzt?« 144
Karen musterte ihn flüchtig. »Ich werde den Kapitän fragen. Warten Sie!« Sie verschwand im Cockpit. Sie blieb lange fort, und Lohmar zündete sich eine neue Zigarette an und beobachtete das zweite Mädchen, das in der Galley aufräumte: Es bedeckte die Brotschnitten mit einem feuchten Tuch, verstaute zoll freie Zigaretten und wischte zwischen jeder Handlangung mit einem Tuch über die Anrichte aus Leichtmetall, als hinge ihr Leben von je dem unentdeckten Tropfen ab. Karen kam aus dem Cockpit zurück; Lohmar stellte eine eindeutige Unruhe an ihr fest. »Tut mir leid, der Kapitän ist jetzt sehr beschäftigt!« sagte sie schroff. Lohmar blickte flüchtig hinter sich: Der Bär war aufgetaucht und po stierte sich im Durchgang zur Kabine. »Tut mir auch leid, Kindchen. Wir werden ihn noch mehr beschäfti gen!« Er zog seine Pistole aus der Jackentasche, drückte die Mündung auf ihren Bauch, dorthin, wo sich ein centgroßer Kaffeefleck abzeich nete, und zwang sie auf die Notsitzbank. »Und ich will dir was verra ten, Schönheit: Diese Kanone ist gar nicht geladen. Probier's doch mal aus, wenn du Mut hast!« »Verdammt, zu spät!« preßte sie zwischen den Lippen hervor. »Mach nur auf Wut, das verdrängt die Angst!« Lohmar hatte eine Se kunde den Bär und die zweite Stewardeß aus den Augen verloren, sah aber jetzt: alles in Ordnung. »Deine Lider flattern, du hast Angst!« Der Bär hatte Kay Sanders einfach an die Hand genommen und ne ben Karen auf die Bank geschleudert. Lohmar sah ihn gespielt miss billigend an: »Nicht diese Töne! Die Mädchen tun, was wir wollen. Brech ihnen nicht gleich die Knochen!« Der Bär postierte sich vor den beiden Mädchen. Seine Arme hingen aus dem muskulösen Schulterpaket mit einwärts gedrehten Handflä chen herab wie bei einem Rugbyspieler. Lohmar steckte die Pistole zu rück, sah, daß Ingrid sich planmäßig im Galleyausgang placiert hatte, und wollte die Cockpittür öffnen. 145
In diesem Augenblick kam Hannes Radewald aus der Toilette. »Was machen wir jetzt?« fragte Weersma. »Ruhig weiterfliegen, erst mal!« sagte Steiner. »Jetzt jeder eine Pistole und ein gepanzertes Cockpit!« sagte De Laer. »Wären wir fein raus!« »Sind wir hier auf einem Kriegsschiff?« sagte Steiner. »Wenn Sie …«, begann Weersma aufgeregt. »Eine Bombe, die wäre längst hochgegangen! Ich meine … Entführen, das hätten sie doch längst gemacht, wenn? Glauben Sie überhaupt, daß?« »Nein!« sagte Steiner. »Das glaube ich nicht. Aber ich glaube, wir kommen vom Kurs ab. Steuern Sie mal 15 Grad kleiner, Henk!« Als Radewald aus der Toilette kam, spürte er Appetit auf ein Bier. Nein, Sekt, dachte er, den mag sie lieber. Wir trinken zusammen ein halbes Fläschchen, weil der Flug so schön ist! Er sah die beiden Stewardessen auf der vorderen Bank, im Gespräch mit einem Passagier. Er gab einem anderen Passagier, der vor der Toi lette wartete, die Tür in die Hand. »Könnte ich wohl ein Fläschchen Sekt haben? Ich nehme es gern sel ber mit. Sie brauchen sich, bitte, nicht zu bemühen!« Das eine Mädchen sah den Passagier fragend an, der nickte. Es stand auf und zog einen Container heraus. Die beiden Passagiere sahen in teressiert zu. Radewald stand unbeholfen im Weg. Das Mädchen hatte eine Flasche Henkel gefunden und bemühte sich, das Goldpapier vom Korken zu entfernen. Müde, dachte Radewald mitleidig. Müde und nervös. Fliegen ist an strengend! »Ich glaube, ich habe die falsche Toilette benutzt«, entschuldigte er sich. »Die für die Touristenklasse sind …« »Das macht doch gar nichts!« sagte das Mädchen und lächelte, ein wenig gezwungen, dachte er und hatte ein schlechtes Gewissen. Der Korken saß sehr fest. Das Mädchen suchte nach einem Servier tuch, fand keins. Fand dann doch eins im Brotkorb. Ließ es fallen. Hob es auf und umwickelte den Korken. Probierte. Die Flasche schlug ge gen die Metalltheke. 146
»Soll ich mal?« fragte er beflissen. Der größere der beiden zuschauenden Passagiere kam zu Hilfe. »Nichts für schwache Mädchen!« lachte er dröhnend, warf das Tuch fort, dreht mit zwei Fingern – Sekt sprudelte. Das Mädchen stellte Flasche und Glas auf ein Tablett. »Könnte ich, bitte, noch ein zweites Glas haben?« Das Mädchen stellte ein zweites Glas dazu und schenkte, ohne zu fragen, beide halb voll. Der zweite Schuß ging halb daneben. »Ich hole Ihnen ein …« »Aber das macht doch nichts!« sagte Radewald, hatte das Tablett ge griffen und verließ die Galley. Der Riese hielt ihm den Vorhang auf. Wie ein Gorilla, dachte Radewald, aber nett. … Als der Bär den Vorhang wieder geschlossen hatte, sagte Loh mar: »Ich mach' jetzt mal Cockpitbesuch. Den zweiten Toilettenbenützer wie verabredet: weniger sanft!« Karen spürte zum ersten Mal nackte Angst. Sie sah Lohmar die Cockpittür öffnen. Sie dachte: Jetzt, jetzt, jetzt … Jetzt wird es passie ren! … Er wird das Flugzeug … Er wird Michael … Ihre Augen wa ren weit aufgerissen. In einem Anfall von Panik wollte sie sich auf Loh mar stürzen. Da wurde die zweite Toilettentür geöffnet, und der Japaner trat her aus. Der Bär legte ihm die rechte Pranke auf die Schulter, drehte ihn wie eine Puppe mit dem erstaunten Gesicht zu sich hin und drückte ihn dann wortlos zwischen Öfen, Spüle und Containerregale gegen die Bordwand. Lohmar hatte ohne eine Spur von Anteilnahme einen letz ten Blick zurückgeworfen und verschwand jetzt im Cockpit.
147
Er riß die Pistole heraus, schlug die Tür hinter sich zu, blickte um sich. Halbdunkel. Instrumente. Gelbe Warnlampen. Roter Himmel. Die drei Männer. »Ruhig bleiben! Weitermachen! Keine verdächtige Bewegung!« Er richtete den Lauf auf den Bordingenieur, der ihm am nächsten saß. »Keine Tricks! Ich schieß verdammt gut; und ich weiß, wohin!« Die drei Männer starrten ihn an. Steiner nahm als erster den Kopf zurück und richtete seinen Blick auf die Scheiben, als hätte er eine Er scheinung. Lohmar suchte sich eine bessere Stehposition zwischen den Sitzen aus. »Mich unschädlich zu machen ist sinnlos. Ich habe eine Menge Leu te bei mir, die richten in der Kabine ein Blutbad an!« Jetzt sagte Steiner, ohne ihn anzusehen: »Wir sind stets bemüht, die Wünsche unserer Passagiere zu erfül len.« »Dieser Ton gefällt mir!« sagte Lohmar. »Nehmen Sie es als selbstverständlichen Service!« sagte Steiner. »Schön!« sagte Lohmar. »Würden Sie mir den Gefallen tun, den Kurs zu fliegen, den ich befehle?« »It's on the house!« sagte Steiner. »Auf unsere Kosten selbstverständ lich! Wohin wollen Sie?« »Nach Teheran!« sagte Lohmar. Jetzt drehte Steiner ihm langsam sein Gesicht zu. »Das nenne ich mal eine originelle Entführung!« sagte er. »Dahin fliegen wir sowieso!«
Einen Atemzug lang verlor Lohmar seine Selbstsicherheit. Die küh le Gelassenheit Steiners, obwohl erwartet, beeindruckte ihn. Er wurde verwirrt durch die Vielzahl der Instrumente, Schalter, Knöpfe und Si cherungen. Seine desorientierten Blicke fanden Halt an etwas Bekann tem: der Borduhr. Von dort aus orientierte er sich weiter, wie ein Kind, 148
das das schützende Haus verläßt. Horizont, Kompass, Höhenmesser, Machmeter. Die Triebwerküberwachungsgeräte. Wo, verflucht, waren die Kraftstoffvorratsmesser? Dort, an der unteren Konsole des Ingeni eurpultes, okay … »Fein …« Er ließ seine Blicke zum letzten Mal prüfend über die Män ner schweifen, die wieder über ihren Instrumenten hockten, als ginge sie sein Auftritt nichts an. »Wir sind uns einig über das Ziel: Teheran. Da fliegen wir sowieso hin, na bitte! Ist das ein Gag? Das ist kein Gag! Wir denken uns was dabei, wenn wir ein Flugzeug nach Teheran ent führen, das sowieso nach Teheran fliegt! Aber das hat Zeit. Jetzt erst einmal dieses!« Lohmar zerrte aus seiner Hosentasche eine Spraydose von der Größe einer Deodorantdose hervor. Das Stichwort DIESES veranlaßte Weers ma, sich sofort umzudrehen; der ist am aufgeregtesten, stellte Lohmar fest, befriedigt über sein psychologisches Experiment. Aus einer zwei ten Tasche zog Lohmar jetzt die Plastikschachtel mit der Kakerlake. Er stellte sie behutsam zwischen die beiden Piloten auf den Radarschirm, wo jeder sie gut sehen konnte. Die Kakerlake hockte fett und riesig reg los am Boden. Er nahm die Spraydose und sprühte durch eines der Löcher einen kurzen Dash. Sofort kam Leben in das Tier. Es krabbelte erregt über den Boden. Schlagartig beschleunigten sich seine Bewegungen wie im Zeitraffer. Von unsichtbarer Kraft gejagt prallte es wie eine Billardku gel von Wand zu Wand. Es schlug hart auf dem Rücken auf. Seine be haarten Glieder strampelten wild, erstarrten ruckartig und sanken zu sammen: das gewaltige Tier war tot. »Tropische Kakerlaken sind mit dem härtesten Insektengift nicht um zubringen!« erklärte Lohmar sachlich. Die drei Männer hatten gebannt auf den kurzen Todeskampf gestarrt. »Gegen Nervengas … sind auch robuste Pilotennaturen nicht gefeit. Geschweige denn Passagiere …« »Sie würden sich selber damit umbringen!« Weersma war tatsächlich erregt. Er brachte einen kindischen Protest vor, um sich ein Ventil zu schaffen. Seine Stimme hatte sich überschla gen, das ärgerte ihn maßlos. 149
Lohmar lachte trocken, das klang sehr hässlich. »Wir sprühen das in die Klimaanlage. So, wie eure Küchenmie zen vor der Landung Eau de Cologne hineinsprühen. Oder einfach so …« Er richtete die Spraydose auf Weersma, der zuckte sichtbar zusammen. »Pssss … Keine Angst! Im Ernstfall, Skipper, setzen wir Sauerstoffmasken auf! Unsere Mitarbeiter in der Kabine hängen sich Ihre Lungengeräte um. Oder sie bedienen sich der Masken in der PSU!« Das Fachwort machte Eindruck. Weersma sank zusammen. Nur Steiner reagierte nicht ganz nach Wunsch. »Darf ich mir eine Pfeife anzünden?« fragte er. »Auf keinen Fall!« erwiderte Lohmar gereizt. »Mit Pfeife bin ich viel ruhiger!« sagte Steiner. »Sie sind mir ruhig genug!« sagte Lohmar. Einen Augenblick zöger te er. Dann befahl er Weersma: »Drück mal den Rufknopf für die Kabine! Zweimal! Verzähl dich nicht, Aspirant!« »Aspirant wofür?« sagte Weersma und drückte zweimal den Knopf. »Pilotentod oder Pilotenleben – hängt von deinem Benehmen ab!« sagte Lohmar.
17
D
er Bär, sanft in den Knien federnd bei der leichten Turbulenz, richtete seine Augen auf das schwarze Bedienungspult über dem Galley-Ausgang: Das blaue Sprechlicht flammte auf; jemand aus dem Cockpit meldete sich. Auf dieses verabredete Zeichen hin riß der Bär den Vorhang zurück und zeigte sich grinsend, die Beine nach Cowboyart gespreizt, mit sei ner Pistole den Passagieren. Eine Welle des Schreckens lief durch die 150
Kabine. Gleichzeitig zogen Inger und Ingrid ihre Waffen und verstärk ten den Aufschrei der Menge. Jetzt erklang die Stimme Steiners über die Bordanlage, sonor, unter kühlt. Später wiederholte er seine Aussage auf englisch: »Meine Damen und Herren, wir haben hier einige Herren in der Ge gend des Cockpits, die ihre eigenen Vorstellungen über die Durchfüh rung unseres Fluges haben. Sie werden mit mir der Ansicht sein, daß wir den Sonderwünschen unserer Gäste entgegenkommen sollten. Ich bitte Sie also dringend, ihren und meinen Anweisungen nachzukom men und ruhig auf Ihrem Sitz auszuharren; wir tun hier vorn das glei che. Es ist die sicherste Art, wieder die Erde zu erreichen. Über unser Ziel herrscht seltsamerweise Übereinstimmung: Wir wollen gemein sam nach Teheran …« Längere Pause. Die Passagiere ohne Deutschkenntnisse blickten rat los und schockiert um sich. In der hinteren Galley wirkten Vera Mer kelsbach und zwei weitere Kolleginnen wie versteinert. »Der Herr hinter mir«, fuhr Steiner endlich fort, »bittet mich noch, Ihnen folgenden Tatbestand zu verdeutlichen: Sollte irgend etwas nicht in seinem Sinne ablaufen, so zögert er nicht, Sie schlichtweg zu vergif ten. Er benutzt für dieses Vorhaben einen Gasspray, den er durch die Frischluftanlage schickt. Dabei kann er sich selber und uns hier im Cockpit durch Sauerstoffmasken schützen. Ich habe mich davon über zeugt, daß er für diesen Zweck bestens ausgerüstet ist. Ich bitte Sie nochmals, ruhig zu bleiben; es sieht so aus, als würden wir uns in allen Punkten überaus gütlich einigen.« Während der letzten Sätze hatten die beiden Schwedinnen demon strativ handliche Spraydosen hervorgezogen und hielten sie, als woll ten sie den Gebrauch der Schwimmwesten vorführen. »Gekonnt!« sagte Vera Merkelsbach zu ihren Kolleginnen. Sie hatte keine Spur von Angst. Alle Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das Geschehen in der vorderen Galley, wo der Bär jetzt wieder seine Pisto le auf die beiden Stewardessen richtete. Sie strich sich eine Locke aus der Stirn. »Wie gut, daß ich mich vorher auf der Toilette noch zurecht gemacht habe!« 151
Sie hatte die Durchsage gehört, die Stimme, die ihr so vertraut war. Eine erregende Leichtigkeit durchfloss sie. Vorn war also alles in Ord nung! Jetzt die Passagiere! Sie spürte durch alle Wände hindurch die gespannte Nervosität in der Kabine, die jeden Augenblick in nackte Angst umschlagen konnte. Jeder harmlose Zwischenfall konnte der Auslöser sein; schon eine unerwartete Bewegung des Flugzeugs ge nügte völlig. Eine der beiden Schwedinnen warf einen prüfenden Blick in die Gal ley. »Darf ich mich um die Passagiere kümmern?« fragte Karen. »Bitte!« sagte Ingrid. Mit klopfendem Herzen, aber lächelnd, begann sie, durch die Reihen zu gehen. Das Lächeln fiel ihr nicht einmal schwer, aber sie spürte, daß die Passagiere ihr diese Leichtigkeit nicht abnahmen. Für Karen lief al les nach einem festgelegten Verfahren ab, für das sie ausgebildet wor den war. Für jede Reaktion der Fluggäste hatte sie eine Gegenreaktion bereit. Unruhe: Ruhe und Selbstvertrauen ausströmen. Panik: Mit en ergischen Anweisungen und eigenem Vorbild zur Selbstbeherrschung zwingen. Akute Notsituation nach der Landung: Evakuieren. Während sie sich schrittweise von Reihe zu Reihe vorwärts arbeitete, redlich bemüht, niemanden zu übersehen und jedem einen beruhigen den Blick zuzuwerfen, suchte sie sich aus den männlichen Passagieren bereits ein paar neue zuverlässige able bodied men heraus. Laut Ausbil dungsvorschrift sollten sich die Stewardessen beim Einsteigen der Pas sagiere grundsätzlich die Männer in Bezug auf ihre Zuverlässigkeit und Körperkraft ansehen. Im Notfall mußten sie sich Hilfe von Passagie ren holen, die in der Lage waren, ein Notfenster herauszunehmen oder eine verklemmte Tür aufzustoßen. Blockierten unbeholfene Mütter mit Kindern die Notausstiege, so sollten sie dezent zu einem anderen Sitz gelockt werden. In der Praxis wurde nur allzu oft gegen diese Anord nung der Transcontinental verstoßen. Die jahrelange Routine des Flug dienstes, bei dem sich nicht der geringste Zwischenfall ereignete, muß te einfach dazu verführen. Auch das interne Rügeverfahren der Trans continental trug dazu bei: Schließlich fiel eine Stewardeß mit einem sich 152
beschwerenden Passagier unangenehmer auf, als sich durch das exakte, von niemandem quittierte Befolgen der Sicherheitsvorschriften ausglei chen ließ. Zufriedenheit durch Service, Service, Service, hieß die Parole der Transcontinental. Für das vorschriftsmäßige Placieren der able bo died men an den Notfenstern hatte sich noch kein Passagier jemals be dankt; wohl aber für ein lächelnd serviertes Steak. Das Kontingent der deutschen Wissenschaftler in der ersten Klas se schien Karen eine zuverlässige Reserve, auf die sie im Notfall zu rückgreifen konnte. Der Schauspielerin Mrs. Gary hingegen, die be reits eine beträchtliche Menge Alkohol intus hatte, traute sie im Not fall recht unbeherrschte Reaktionen zu. Von den nichts sagenden, in korrektes, aber phantasieloses Grau ge kleideten Geschäftsleuten aus Japan und Australien konnte sie sich keine konkrete Vorstellung für den Ernstfall machen. Einer von ihnen, austauschbar mit jedem Kollegen, hielt sie am Ärmel zurück. »Hören Sie, Miß, wir werden doch pünktlich in Teheran sein?« Die Gesichtsmuskeln des Mannes zuckten nervös. Er drehte unun terbrochen an einem Rauchtopasring. »Ich werde unsere Entführer darauf ansprechen, sobald sie ansprech bar sind!« versprach sie. »Nämlich, es ist eminent wichtig für mich, pünktlich anzukommen. Ich werde im iranischen Handelsministerium erwartet.« »Ich werde unsere Entführer davon in Kenntnis setzen!« versprach Karen, ohne eine Miene zu verziehen. »Hören Sie!« mischte sich scharf sein Nachbar ein. »Wir haben eine Menge Geld bezahlt. Wir haben Anspruch darauf, dorthin geflogen zu werden, wohin wir gebucht haben.« »Ich werde alles ordnungsgemäß ausrichten!« versprach sie und sah sich nach der nächsten Reihe um. »Wir sind bereit, den doppelten Flugpreis zu entrichten!« ergänzte der erste Japaner. »Sagen Sie das den Herren!« »Zur gegebenen Zeit werde ich ihnen Ihre Vorschläge unterbreiten!« Während sie weiterging, hörte sie hinter sich mehrmals ein scharf gezischtes: 153
»Sagen Sie das! Sagen Sie das!« Sie atmete auf. »Hallo!« wurde sie von einem einzeln sitzenden Mann mit übermä ßig gebräuntem Gesicht begrüßt. »Erster Ausgang der Verdammten?« Sobald Bronn seine Frage gestellt hatte, tat sie ihm leid. Das Mäd chen war strapaziert genug und sollte nicht zusätzlich durch Albern heiten belästigt werden. Gelegentlich empfand er seine Impulsivität selber als lästiges charakterliches Attribut. Seine overaction in der Fok ker aus Bali beschäftigte ihn nach wie vor. Er war Anfang Juni gebo ren; und wie viele Zwillinge liebte er Abwechslung, ferne Reisen, Witz und geistige Wendigkeit. Lange Stadien der Ruhe, Stetigkeit und End gültigkeit waren ihm verhaßt. Er hatte sich oft dabei ertappt, bestehende Zustände lediglich um der Änderung willen ändern zu wollen, ohne Rücksicht darauf, ob die Än derung gleichzeitig Besserung bedeutete. Warf man ihm sein Verhal ten vor, pflegte er zwar schlagfertig, aber wenig überzeugend zu erwi dern, er befände sich schließlich bei Thomas Mann und William But ler Yeats als Zwillingsgeborenen in guter Gesellschaft. – Und Marilyn Monroe? pflegte irgend jemand dann mit unfehlba rer Akribie zu entgegnen. – Ah, wenn Sie wüssten, welch ausgezeich nete Schauspielerin die Marilyn gewesen ist, antwortete er dann. Sie hätten sie in ›Das verflixte siebente Jahr‹ sehen sollen! Natürlich, »Bus stop« war wirklich eine alberne Hollywood-Angelegenheit! Derartige unkontrollierbare Assoziationsketten kamen ihm stets, wenn er sich über sein Verhalten ärgerte. Jetzt, inmitten der ange spannten Atmosphäre, klammerte er sich an seine Gedankengänge wie an Strohhalme. Er starrte das Mädchen an. Die Klimaregelung in der Kabine war katastrophal. Natürlich hat te der zuständige Bordingenieur an derartige Nebensächlichkeiten nicht mehr gedacht, seit er eine Pistole im Nacken spürte! Die Luft war zum Schneiden; und allen Passagieren mußte der Schweiß aus den Poren brechen. Von seinem Sitz aus nahm er nur im Halbdunkel vereinzelte Nacken wahr, die sich zum Mittelgang hinneigten: ver 154
schwitzt, mit verwirrten Haaren, im Gegenlicht wie selbständige We sen taumelnd. Karen fühlte den Schweiß in heißen Tropfen über ihren Hals rinnen. Ihre Uniform klebte und fühlte sich an wie aus warmem Waschsud ge zogen. Ihr schwindelte plötzlich; und während die Kabine zu kreisen begann und nur die Augenpaare der Passagiere unbarmherzig erkenn bar blieben, fand sie Halt an den Blicken Bronns. Sie strich sich über die Stirn und hatte sich wieder in der Gewalt. »Ich laufe gern am Ganges entlang!« antwortete sie schlagfertig, nach einem kurzen Blick aus dem Fenster. »Reizender Fluss, besonders im indischen Frühling.« »Hinter Ihrem Rücken sieht es weniger beruhigend aus als hinter meinem!« warnte Bronn. Sie drehte sich so harmlos wie möglich um und zuckte nun doch un merklich zusammen. Der Riese in der Lederjoppe war ihr bis auf fünf Schritt Abstand ge folgt. Er beäugte sie aus mißtrauisch zusammengekniffenen Augen. In den Händen hielt er eine imposante Maschinenpistole, deren Schram men auf häufige Benutzung schließen ließen. Weit hinter ihm, in der vorderen Galley, stand das erste Mädchen, nicht weniger leger als ihre Genossin. Sie wendete sich wieder dem Mann zu und versuchte, die Bedrohung hinter sich zu vergessen. »Hören Sie …« Sie beugte sich vor. »Im Fall einer Notlandung – wür den Sie drei Reihen weiter vorn Platz nehmen? Am Notausstiegsfen ster? Sie können in den Notanweisungen in der Sitztasche alles genau studieren. Helfen Sie mir?« »Schon genehmigt! Ich kenne mich aus, keine Sorge! Ich bin auch bestens trainiert: Ich habe schon eine Notlandung hinter mir. Im Dschungel von Yucatan. Wenn auch nur mit einer leichten Maschine. Blödes Gefühl für Sie, wie?« »Es ist nicht das Gefühl, das in der Werbung vermittelt wird; aber mit Ihrem Angebot in der Tasche fühle ich mich trotzdem großar tig!« 155
Sie blinzelte ihm aufmunternd zu, zog weiter in die Economyklasse und fühlte sich wirklich großartig. Vor ihr tauchte das Ehepaar Radewald auf und sah sie voller Ver trauen an. »Nicht wahr? Es besteht keine unmittelbare Gefahr?« »Überhaupt nicht! Sie können ganz beruhigt sein!« Der Mann griff tröstend nach der Hand seiner Frau. »Die Piloten wissen, wie sie sich zu verhalten haben. Wenn sie sich richtig verhal ten, wird ihnen und uns nichts geschehen.« »Ich habe auch überhaupt keine Befürchtungen, daß etwas schief geht!« erwiderte die Frau. »Aber Sie …« Sie sah zu Karen auf. »Sie müssen eine große Verantwortung tragen. Wenn Sie glauben, wir könnten Ihnen … Wir sind alte Leute. Aber wenn wir Ihnen helfen können – gern!« Als Hannes Radewald die Hand seiner Frau spürte, fiel es ihm leicht, Ruhe auszustrahlen. »Also«, wiederholte Frau Radewald verlegen, »wenn wir helfen kön nen – sagen Sie es uns!« »Bestimmt!« versprach Karen gerührt. »Ich bin froh, ein paar zuver lässige Menschen unter uns zu wissen!« Eine Reihe weiter hielt sie neben den Bauers an. »Alles in Ordnung soweit?« Die Frau sah sie mit stechenden Blicken an. Sie mußte Anfang fünf zig sein. Ihre Haut war grobporig und fleckig; das helle Fleisch aufge dunsen. Die grelle Schminke betonte mehr, als sie verbarg. Ihre Stim me war hart; und ihre Füße, die sie aus den zu engen Schuhen gezogen hatte, zeigten Beulen und Warzen unter den faltigen Strümpfen. Sie ist einfach hässlich, dachte Karen; aber was besagt das? »In Ordnung?« sagte sie laut. »Was soll das heißen: in Ordnung? Soll das ein verspäteter Faschingscherz sein? Ihre Fluggesellschaft verfrach tet uns gemeinsam mit Gangstern und Huren; und Sie fragen, ob alles in Ordnung ist! Mädchen, wenn Sie wollen, daß hier etwas wieder in Ordnung kommt, dann müssen Sie schon selber dafür sorgen!« »Es ist eine Schande, was hier passiert!« fiel der Mann neben ihr ein. Er zerrte unbehaglich an der korrekt sitzenden Krawatte. 156
»Es ist noch nichts passiert!« korrigierte die Frau. »Aber es wird bald etwas passieren!« »Es wird passieren, und dann ist es passiert!« erwiderte der Mann. »Das war's, was ich meinte!« »Meinst du es jetzt denn plötzlich nicht mehr?« Der Mann sah seine Frau erstaunt an. »Natürlich meine ich auch jetzt noch, daß etwas Schlimmes passie ren wird. Diese junge Dame wird mich nicht von meiner Meinung ab bringen können!« »Warum sagst du dann nicht: Das ist, was ich meine? Und warum hast du deine Tabletten noch nicht genommen? Hier sind sie; wenn ich mich nicht um dich kümmern würde, würdest du krepieren wie ein Hund! Bringen Sie ein Glas Wasser, Mädchen!« »Ich glaube nicht, daß mir das erlaubt ist!« meinte Karen und freu te sich fast darüber. »So fängt es an!« sagte die Frau. »Bald haben wir chaotische Zustän de an Bord. Nimm die Tabletten ohne Wasser, Fred!« »Ich brauche die Tabletten nicht!« »Du brauchst sie. Du hast zu hohen Blutdruck! Du nimmst sie!« Der Mann nahm sie gehorsam, und Karen dachte: Bei diesem Paar habe ich keine Glanzleistung vollbracht! Im übrigen fühlte sie sich der Situation völlig gewachsen. Sie spürte keine Angst. In der hinteren Galley sah sie das zweite Mädchen stehen. Es hatte sich gegen die Bordwand gelehnt, die Daumen in den Ober rand der Bluejeans gehakt und den Unterleib bequem vorgewölbt. Eine winzige Pistole lag lässig neben ihr auf der Anrichte. Vorbei an einer indischen Mutter mit vier Kindern, die sie hilflos an lächelte und von der sie wußte, daß sie kein Englisch sprach, vorbei an einem jungen Amerikaner mit Crewcut und Kaugummikauen, der sie frech und herausfordernd anblickte, kam sie in der letzten Reihe an. Im Hintergrund, auf der Crewbank, sah sie zusammengedrängt mit bedrückten Gesichtern ihre Kolleginnen sitzen. Das junge Paar zur Rechten beachtete sie gar nicht, so daß sie nur ein paar Gesprächsfetzen auffing: 157
»Obwohl diese Situation … keinen Zweck … wie vorher …« Das Mädchen war schwarzhaarig, dunkeläugig und von herber Schönheit. Der junge Mann neben ihr trug langes welliges Haar, sein weiches, vergeistigtes Gesicht war betont von seiner Begleiterin fort auf das Fenster gerichtet. »Hier geht's nicht weiter, Kindchen!« sagte Inger und stipste ihr mit dem Zeigefinger auf den Bauch. »Das beste ist: Du spielst DER WEG ZURÜCK und hockst dich in die vordere Galley. Alle weiteren In struktionen kommen aus dem Cockpit.« Jetzt dachte Karen wieder an Steiner – wie er dort saß und bedroht wurde.
18
J
etzt zu uns!« Nachdem Steiner sein Mikrofon zurückgehängt und seine Durchsage beendet hatte, schlug Lohmar dem Bordingenieur mit dem Pistolenknauf über die Schulter. »Deine Haltung gefällt mir gar nicht, Bruder! Jetzt drehst du dein fotogenes Gesicht zur Wand und läßt es dort! Ein Blick zurück, und deine Überlebenschance fällt wie ein Stein! Und deine Hände bleiben ab sofort über dem Tisch! Die se ewige Fummelei im Ablegefach paßt mir nicht!« Tatsächlich stand die Nervosität De Laers im Gegensatz zu der Ge lassenheit der beiden Piloten. Sein Gesicht hatte sich fahlgrün verfärbt; seine Hände verkrampften und streckten sich, als knete er Wachs. Er litt wieder unter dem wachsenden Druck im Magen, der ihm von den Schikanen amerikanischer Kapitäne so vertraut war. »Was den Herrn Kopiloten anbelangt: Es gibt keinen Grund für ihn, sich überhaupt zu bewegen. Hör zu, Ikarus: Steck deine Hände in die Taschen, da fühlen sie sich wohl. Der einzige, der hier überhaupt Be wegungen ausführt, ist der Kommandant!« 158
»Es gibt eine Menge Funkverkehr zu erledigen!« sagte Weersma un eingeschüchtert. »Wir haben Probleme. Auch so!« Steiner warf ihm einen warnenden Blick zu und schüttelte den Kopf. Weersma zuckte die Schultern und steckte unter kaum übersehbarem Protest die Hände in die Taschen. Lohmar wandte sich an Steiner: »Wenn ich Kommandant sage, dann mit der Einschränkung: Das Oberkommando liegt ab sofort bei mir. Ich erlaube Ihnen, alle Hand lungen auszuführen, die notwendig sind, um meine Anordnungen zu befolgen. Mehr aber nicht!« Lohmar ertappte sich dabei, daß sich sein Sprachstil dem Kapitän gegenüber änderte. Seine lange Dienstzeit hatte ihm unbewußt einen heimlichen Respekt vor Goldlitzen und Sternen eingeprägt. Steiner drehte seinen Kopf leicht zur Seite: »Ich mache Ihnen einen Vorschlag! Da wir alle als Reiseziel Teheran haben: Nehmen Sie doch in der ersten Klasse Platz. Ich werde meine Stewardessen anweisen, Ihnen einen ausgezeichneten Veuve Cliquet zu servieren!« Jetzt grinste Lohmar unverhohlen. »Drehen Sie mal die Frequenz 5.568 ein!« forderte er Steiner auf; der drehte am Abstimmknopf für das Kurzwellengerät. »Auf dieser Fre quenz werden Sie Teheran rufen.« Lohmar stellte mit Befriedigung fest, daß seine Fachkenntnis ver blüffte. »Und was, bitte, hätten Sie gern ausgerufen?« »Sie werden Teheran anweisen, den Botschafter anzurufen. Den deutschen!« »Den deutschen Botschafter!« wiederholte De Laer verständnislos. »Mund halten, Ratte! Du bist der, den wir am ehesten entbehren kön nen. Dich geht das gar nichts an.« »Das ist aber ein ungewöhnliches Verfahren!« mischte sich jetzt Weersma ein. »Das ist auch ein ungewöhnlicher Flug, Stratosphärenzwerg!« »Worüber hätten Sie den deutschen Botschafter gern informiert?« fragte Steiner. 159
»Erstens: über die Entführung dieses Flugzeugs. Es befindet sich ab sofort unter dem Kommando der Phiyxx. Falls Sie wissen, was das ist.« »Zweitens?« sagte Steiner. »Zweitens werden Sie den Botschafter daran erinnern: In Hamburg sind vor vierzehn Tagen zehn unserer Mitglieder verhaftet worden.« »Drittens?« »Freut mich, daß Sie die Dinge so schnell über die Bühne bringen wollen. Erspart uns eine Menge Munition.« »Drittens?« »Drittens soll der Botschafter auf dem schnellsten Wege die Freilas sung unserer Leute veranlassen. Sollte bis zu unserem Anflug auf Te heran eine entsprechende Erklärung aus Deutschland nicht vorliegen, dann …« »Dann … was?« Lohmar lehnte sich so bequem wie möglich gegen den leeren Sitz hinter Steiner, der sich jetzt fast ganz mit dem Gesicht umgedreht hat te. Er trommelte mit den Fingern auf die Spraydose, die er dort abge legt hatte, und sah Steiner mit gespitzten Lippen nachdrücklich an. »Sie haben eine Menge interessanter Leute an Bord, Captain!« »Jetzt brauche ich eine Pfeife; jetzt werde ich nervös!« sagte Steiner. Lohmar versuchte, Leutseligkeit in seine spröde Stimme zu legen. »Die sei Ihnen erlaubt. Fürchte, Sie kriegen wirklich Kummer. Mehr, als Sie ahnen.« »Bisher waren meine Vorahnungen immer schlimmer als die Wirk lichkeit!« sagte Steiner und zog seine Pfeife hervor. Er begann um ständlich, sie zu stopfen. »Welche meiner Leute halten Sie denn für be sonders interessant?« Lohmar hatte argwöhnisch jede Bewegung Steiners beobachtet; jetzt entspannte er sich wieder und genoß im voraus die Wichtigkeit seiner Mitteilung. »Sie haben da eine erlauchte Fracht von Intelligenzbestien an Bord. Lauter Eierköpfe. Den Jetset deutscher Wissenschaft. Die meine ich!« »Ach die!« sagte Steiner. 160
Dieser Ausruf kam so spontan, daß Weersma und De Laer beide auf blickten. Nur Lohmar schien keinen Sinn für Feinheiten zu haben. »Genau die! Diese zwanzig Astronomen sind ab sofort Geiseln der Phryxx. Und ich gebe keine Flasche Sekt für ihre Überlebenschan ce, wenn bis zu unserer Landung unsere Leute in Hamburg nicht frei sind.« »War's das?« fragte Steiner. »Das war's!« Steiner begann, die Pfeife zu entzünden, verschwendete mehrere Streichhölzer darauf, machte ein paar Züge, ließ sie wieder ausgehen, stopfte nach, entzündete neu. »Old Mixture?« fragte Weersma. »Douwe Egberts!« sagte Steiner. »Aus Amsterdam. Duty free!« »Riecht gut!« sagte Weersma. »Wie sieht's mit dem Kontakt mit Teheran aus?« sagte Lohmar. »Ich hab' mir erst mal in Ruhe Ihre Wünsche angehört!« sagte Stei ner; die Pfeife brannte jetzt endgültig. »Was ist unsere ETA für Teher an, Henk?« »Unsere voraussichtliche Ankunftszeit für Teheran beträgt 16 Uhr GMT!« »Ich empfehle Ihnen, keine künstlichen Probleme zu konstruieren!« sagte Lohmar. »In fünf Minuten ist der Kontakt hergestellt. Sonst wer de ich ungemütlich. Wenn ich ungemütlich werde, ist immer meine Leibgarde in der Nähe. Die besitzt eine französische MP mit vier Ma gazinen. Sie sind alle voll; und damit lassen sich eine Menge Probleme aus der Welt schaffen.« »So einen Problemlöser«, sagte Steiner, »könnten wir wirklich ge brauchen. Unsere Probleme sind nicht konstruiert. Sie sind echt; und wir haben eine lausige Menge davon. Sie sollten sich wirklich in der er sten Klasse verwöhnen lassen, bis wir sie gelöst haben.« »Ich ziehe die Fünf-Minuten-Klausel vor!« sagte Lohmar.
161
Um sich zu beruhigen, dachte Hannes Radewald an den Zwischen stop in Delhi. Transcontinental hatte für die Sydneyroute geworben mit dem Slogan: Sydney liegt mitten in Indien! Fliegen Sie nach Austra lien und lernen Sie Indien kennen! Brav waren sie in Delhi ausgestie gen und hatten die kostenlose Fahrt zum Taj Mahal mitgemacht. Die Tagesfahrt war nicht ganz so großartig gewesen wie im Prospekt – im merhin: Sie hatten einen Blick auf das Monument Schah Jahans ge worfen. Sie müssen einmal bei Nacht wiederkommen, hatte die Rei sebegleiterin gesagt – bei Vollmond, das ist ein Anblick! Leider haben wir keine Zeit dazu – unsere Maschine startet heute nacht um 23 Uhr in Richtung Sydney! Obwohl sich selbst für einen einfachen Mann wie Radewald Beratung und Reiseführung in recht billigen Phrasen er schöpften, die in jedem Reiseführer nachzuschlagen waren, hatte er von der Fahrt einen tiefen Eindruck zurückbehalten. Er dachte an den Abstecher nach Vrindavan, abseits der Straße – ein winziges Kaff. Inderinnen mit Tonkrügen auf dem Kopf, grazil durch den Abendstaub schwebend, verklärt vom Gold der tiefstehenden Sonne. Auf den Feldern: Wasserbüffel vor Holzpflügen. Ein Karren mit Steinrä dern, beladen mit Schilf zum Hüttenbau. Ein Schöpfwerk – Ochsen, die im Kreis zuckelten, Runde um Runde, wie zur Zeit Buddhas. Nichts hat te sich geändert, hier stand die Zeit. Er dachte zurück an die Sarus-Kraniche. Sie waren, sieben, acht, zwölf, eingefallen aus dem roten Purpurhimmel. Sie schritten majestätisch durch die feuchten Reisfelder, ihre gelben Schnäbel glühten im Abend licht; ihre roten Köpfe leuchteten wie Baken aus dem Nebelblau der Ka meldornhecken. Plötzlich, auf einem erhöhten, sandigen Hügelbuckel, begannen die Männchen zu tanzen. Von Zeit zu Zeit verbeugten sie sich vor den Weibchen, breiteten erneut die Schwingen und hüpften graziös durch die Nebelschwaden, die vom Yamuna heraufzogen. Nach der Paarung, sagte die Reiseführerin, halten sie sich Treue fürs Leben. Wenn einer der beiden getötet wird, wandert der andere ruhe los umher, stößt verzweifelte Rufe aus und stirbt schließlich aus Kum mer. Jedenfalls – sie lächelte überlegen und dumm – glauben das die Inder. 162
Die Erinnerung an die Sarus-Kraniche im roten Abendlicht beru higte ihn. Sie stärkte ihn und gab ihm Zuversicht. »Weißt du noch – die Kraniche?« fragte er zärtlich und griff nach der Hand seiner Frau.
Karen hatte, als sie wieder nach vorn zurückkehrte, einen letzten Blick zurückgeworfen. Wie gern hätte sie jetzt unter ihren Passagieren ge sessen – anonym, ohne eine Spur von Verantwortung. Ich bin nicht allein, dachte sie. Wir werden das gemeinsam beste hen – er vorn, ich bin in der Kabine. Wir fliegen ruhig weiter, das ist wichtig. Kein Absturz, keine Schießerei an Bord, alles geht seinen nor malen Gang. Wir müssen nur die Ruhe bewahren. Wie hat er immer gesagt? Die Dinge nehmen, wie sie kommen, eines nach dem anderen. Wie ein Mann damit fertig werden. Sie richtete sich auf. Zurück in die Höhle des Löwen! dachte sie. »Setz dich endlich hin, Mädchen, sonst knallt's!« drohte der Bär, als sie von ihrem Trostgang durch die Kabine zurückkehrte. »In der Küche kann sie sowieso nicht mehr sitzen!« meinte Ingrid zu ihrer Entschuldigung. »Dann soll sie sich auf einen leeren Passagierplatz setzen. Aber keine Ränke! Keine Pläne! Kein Wort über den Vorfall, klar?« Karen warf einen kurzen Blick über die Sitzreihen und nahm dann kurz entschlossen neben Gwen Gary Platz. »Jetzt komme ich doch noch zu Ihnen. Wenn auch unter anderen Umständen. Sie auch mit Ihrem Schicksal!« Sie lehnte sich zurück. »So rasch geht das!« … Später sagte Gwen: »Wenn Sie wüssten, wie das wirklich war mit den Kinderfilmen!« »Ich würde es gern erfahren. Ich habe Sie darum gebeten.« »Zumindest lenkt es ab …« Gwen lächelte. »Eine richtige Flugzeu gentführung. Und ich erzähle Ihnen meine Kindheitserinnerun gen!« 163
»Es lenkt ab; es lenkt einen einfach ab!« Karen spielte nervös an dem Aschbecher. »Haben Sie gar keine Angst?« »Nein«, sagte Gwen. »Überhaupt nicht. Ich stelle das selber mit Er staunen fest. Wissen Sie … es ist … ich bin einfach in einem Stadium, in dem ich … ich muß dringend und pünktlich nach London … das schon. Andererseits. Das ist alles so unwichtig. Es gibt Augenblicke, da stellt man fest: Das Unwichtigste im Leben sind die so genannten wichtigen Angelegenheiten.« »Ich habe den Eindruck: Diese ganze scheußliche Sache läßt Sie ir gendwie kalt.« »Wie gesagt – es erstaunt mich selber. Aber es ist so: Ich stelle fest, ich sehe gar nicht den Vorfall an sich. Sondern immer nur … meine Stellung dazu. Wie ich damit fertig werde. Ich glaube, das ist das ein zig Wichtige im Leben – wie man fertig wird mit den Problemen, vor die man gestellt wird …«
… Die schlaflosen Nächte. Der Zwang, im Morgengrauen aufzu stehen, zum Studio zu fahren. Die Vorwürfe: Wir haben wieder zu viel gegessen, Miß Gary. Ihr Magenknurren. Das flaue Gefühl, der Schwindel, die Erschöpfung. Wir sehen wieder gar nicht gut aus, Miß Gary. Sie sagte: Ich möchte mal Ferien machen, wie andere Kinder. Sie war ein hübsches, dunkelblondes Mädchen von knapp fünfzehn Jahren. Je der liebte sie wegen ihres Charmes, ihrer Aufgeschlossenheit – wenn sie ausgeschlafen war. Sie lieferte Schlagzeilen für die Weltpresse. Jeder ihrer Kinderfilme spielte mehr ein, als ihre Produzenten sich in ihren optimistischsten Stunden träumen ließen. Wenn sie nach der siebenten Drehstunde zusammenzubrechen droh te, stand jemand mit einer Pepup-Pille bereit. Nach weiteren vier Drehstunden durfte sie sich auf eine Couch hinter den Kulissen ausstrek ken. Jemand stand mit einer Schlafpille bereit. Sie fiel in einen tode sähnlichen Schlaf, aus dem sie nach vier Stunden geweckt wurde. Je 164
mand stand mit einer neuen Pepup-Pille bereit. In diesem Zyklus wur den zweiundsiebzig Stunden abgedreht. Ihre Ferienaufenthalte fanden in Sanatorien, später in Nervenheilund Entziehungsanstalten statt. Sie neigte zur Fettleibigkeit, schon mit fünfzehn. Dagegen gab es Pillen. Die Pillen bereiteten ihr Kopfschmer zen. Dagegen gab es Pillen. Die Pillen machten sie müde. Dagegen gab es Aufputschpillen. Die Aufputschpillen verursachten Appetit. Dage gen gab es Pillen … Sie war nichts als eine reizende Puppe. Aufziehen, Pillen schlucken lassen, abfilmen, wie sie sich benimmt. Sie versuchte auszubrechen; und die Filmgesellschaft warf ihr Vertragsbruch vor und ließ sie zu rückholen. Die Zeitungen schrieben, sie sei launisch und unberechen bar. Ihre Migräne trieb sie nachts zur Verzweiflung. Nimm doch eine Pille, Gwen. Ich habe schon vier genommen. Probier mal diese … Danach krieg' ich immer einen Mordshunger auf Eiskrem. Nimm eine Pille. Ich glaube, ich lerne schlecht auswendig danach. Du mußt aber gut lernen. Was ist mit deiner neuen Rolle? Ich kriege den Akzent nicht hin. Dann übe gefälligst mehr. Ich kann nicht reiten. Dann lerne reiten! Ich habe Angst vor Pferden. Dann lerne, sie zu lieben. Du hast eine Mordsrolle! Sollen wir deinet wegen aus dem Pferd ein Fahrrad machen? Wenn du diesen Film ge schafft hast, Gwen, bist du … Krieg' ich dann einen ganzen Bottich voller Eiskrem? Alles, was du nur willst, Schätzchen. Davon werde ich aber dick werden. Du darfst aber nicht zunehmen, um Himmels willen! Hast du deine Pillen schon genommen? 165
Sie lebte in einer Millionen-Dollar-Villa, und mit neunzehn besaß ihre Garderobe den gleichen Wert. Millionen Augen waren auf sie ge richtet; und abends soupierte sie mit Charles Boyer, Ginger Rogers, Fred Astaire oder Spencer Tracy. Mit zwanzig zerschnitt sie sich zum ersten Mal die Pulsadern. Der Mann ihrer Träume sollte eine Mischung aus Robert Donat, Clark Gable und Benny Goodman sein. Aber sie heira tete stets Männer, die ihr hektisches arhythmisches Leben nur kurze Zeit ertrugen. Ihr Körper war voll gepumpt mit Dexedrin, Benzedrin, Amphet amin, Phénobarbital, Paraldehyd und Morphium. »Alle Filmgesellschaften, die Kinderstars beschäftigen«, sagte Karen, »sollte man wegen Misshandlung vor Gericht stellen!« Sie beobachtete die Vorgänge vor der Cockpittür. Gwen Garys Schil derung hatte zwar ihre Aufmerksamkeit abgelenkt, aber nicht ihre völ lige Anteilnahme bewirken können. Gwen Gary lehnte sich erschöpft zurück. Sie atmete entspannt aus. Sie wollte gerade den Rest ihres Glases austrinken, da machte das Flugzeug einen kurzen, heftigen Satz. Jeder Passagier klammerte sich automatisch fest. Instinktiv sprang Karen auf, um ins Cockpit zu ren nen. Mit unerwarteter Schnelligkeit war der Bär bei ihr und drückte sie hart in den Sitz. »Noch eine solche Bewegung, Mädchen, und du kannst deine Phy siognomie von der Wand kratzen!«
19
A
ls Ingrid einen Blick ins Cockpit warf, spürte sie die nervöse, ge spannte Atmosphäre. Was sie beunruhigte, war, daß die gereizte Stimmung von Lohmar auszugehen schien. 166
»Machen Sie mir nichts vor; Sie spielen Theater!« Lohmar drehte sich um. »Irgendwelche Probleme hinten?« Ingrid steckte ihre Pistole in die Bluejeans und gab sich so begeistert wie möglich. »Alles okay! Die Leute benehmen sich vernünftig. Für den Notfall hat unser Bär einen japanischen Zwerg in der Galley behalten. Sollte in der Kabine jemand auf dumme Gedanken kommen, wird er öffent lich hingerichtet, sozusagen.« »Gut, dann dampf ab!« sagte Lohmar kurz. »Und sag dem Bär, er soll keine langen Umstände machen. Ich kann sie alle nicht leiden: Japaner, Neger, Juden. Sie stinken! Hier vorne stinkt's auch ganz gewaltig, aber das wird sich bald ändern.« »Ich glaube nicht, daß wir an den Funkverhältnissen viel ändern kön nen!« sagte Steiner, als die Schwedin fort war. Seine Pfeife war längst endgültig ausgegangen. »Was uns zu schaffen macht, ist der Däm merungseffekt. Wir haben kurzen Kontakt mit Teheran gehabt, aber dann ist die Verbindung überlagert worden. Er wird uns wieder rufen, sobald die Verständigung besser ist.« »Hier vorn sitzt eine Handvoll Idioten oder Selbstmörder!« Lohmar hatte selber in den Funksprechverkehr hineingehört; und obwohl er Erfahrung hatte, verwirrte ihn das Tohuwabohu der Slangund englischen Fachausdrücke – so hatte er sich den Funksprechver kehr auf Kurzwelle nicht vorgestellt. »Bis wann wird es euch Stümpern gelingen, meine Anweisungen zu befolgen?« »Spätestens bis wir in den UKW-Bereich gelangt sind!« mischte sich Weersma ein. »Wann?« »In frühestens zwei Stunden. Wir sind gerade über Delhi weg.« »Zu verdammt spät. Bis zur Landung muß die Antwort aus Deutsch land vorliegen!« »Wir haben Treibstoff genug, um anderthalb Stunden länger in der Luft zu bleiben.« »Interessiert mich alles nicht! Ich möchte diese Sache mit Teheran sofort geklärt haben.« 167
Weersma machte sich wieder über die Kurzwelle her. Längst hatte ihm Lohmar Erlaubnis gegeben, als er gesehen hatte, wie beschäftigt Steiner allein war. Die Erde lag in fahlem Nachtdämmer unter einer aufreißenden Altocumulus-Schicht. Der westliche Himmel war flammend rot, gab aber kaum noch Helligkeit ab, und Steiner hatte die Cockpitbeleuchtung eingeschaltet. Die rote Instrumentenbeleuchtung, die gelben, grü nen und blauen Lichter verstärkten die gespenstische Atmosphäre des Cockpits. Die JETSTREAM hatte soeben die pakistanisch-indische Grenze querab von Lahore überflogen und nahm jetzt Kurs auf Multan am nördlichen Indus. Von dort würde man die Grenze Afghanistans an steuern. Die häufigen Kurswechsel, der Funksprechverkehr mit den rasch wechselnden Ländern, die in Feindschaft miteinander lebten, er forderten höchste Aufmerksamkeit; und Steiner hoffte, daß an diesem Abend die Wachsamkeit der Radarstationen und das Misstrauen nicht allzu groß sein würden. Er fragte sich verzweifelt, was geschehen würde, wenn plötzlich ein indischer, pakistanischer oder afghanischer Abfangjäger neben ihnen auftauchen würde, der sie zur Landung zwingen wollte. Lohmar wür de das Ganze für ein verabredetes Spiel halten und vielleicht durch drehen. Aber auf Steiner kam noch ein weiteres Problem zu. Er hatte schon öfter seinen Kopf gegen die Scheibe gepresst und den Himmel studiert. Jetzt sagte er: »Darf ich das Radar einschalten?« Gleichzeitig rief Weersma: »Hier kommt Teheran! Ich hab' ihn – laut und klar!« Alle horchten gespannt, wie Weersma ihre Position durchgab und bestätigt erhielt. Dann versuchte er, seine Sondermeldung durchzuge ben; und alles, was er als Antwort erhielt, war ein NOCH EINMAL BITTE. »Ich glaube, sie sind gehijacked!« mischte sich lakonisch eine englische BOAC-Maschine ein. »Hören Sie, Teheran, TC 773 ist gehijacked!« 168
»Ist … was?« fragte Teheran zurück. »Geben Sie verdammt noch mal endlich unsere Botschaft durch, sonst sind Ihre Minuten gezählt!« zischte Lohmar jetzt und richtete seine Pistole auf den Kopiloten. »Okay Teheran!« sagte Weersma auf gut Glück ins Mikrofon. »Wir haben eine besondere Nachricht. Bitte rufen Sie den deutschen Bot schafter. Ich wiederhole: Hier folgt eine Nachricht für den deutschen Botschafter. Haben Sie soweit verstanden, Teheran?« Plötzliche Stille im Äther; nur sehr entfernt hörte man die zerstük kelte Standortmeldung einer Maschine über Dharan. »Okay, 773!« meldete sich die BOAC. »Ich höre Sie laut und klar, sa gen Sie, was Sie auf dem Herzen haben. Wir versuchen dann, es Teher an klarzumachen.« Weersma gab jetzt seine Meldung durch; Lohmar preßte den Kopf hörer an sein linkes Ohr und verfolgte jedes Wort. »Okay, 773!« bestätigte BOAC. »Wir haben alles. Haben Sie mitge hört Teheran?« Aber Teheran schwieg. »Wir bleiben in Verbindung mit Teheran!« versprach BOAC. »Wir wünschen alles Gute und trotzdem: Happy Landings!« »Fliegergewäsch!« murrte Lohmar. Er rieb sich das Nasenbein. Und zum ersten Mal nach dem Überfall im Cockpit spürte er die Schmerzen. Sie zogen sich von der Nasenwur zel zu den Nasenflügeln hin und schienen im Blutrhythmus zu pulsie ren. Gleichzeitig war wieder der dumpfe Druck da, den er schon beim Einsteigen unter den Rippen gefühlt hatte und der von dem Steinwurf Schlumms herrührte. Die bittere Erkenntnis, Schlumm nicht ganz ele gant erledigt zu haben, machte ihn jetzt reizbar. Die Schwierigkeiten in der Nachrichtenvermittlung hatte er nicht vorausgesehen. Scheißpi loten! Scheißfliegerei! dachte er wütend. Fliegen Zwanzig-Millionen Mark-Flugzeuge. Aber ihr Kurzwellenverkehr stammt aus der Stein zeit! Weiter jetzt! »Bereitet euch aufs Sterben vor!« Er beobachtete eiskalt, wie der Ko pilot zusammenzuckte. »Für den Fall, daß bis zur Landung die Frei lassungsgarantie für meine Hamburger Leute nicht eingetrudelt ist! 169
Am Boden werde ich persönlich pro Stunde einen der deutschen In telligenzbestien abknallen, bis die Freigabe da ist. Aber vorher rech ne ich mit euch ab! Am Boden brauch' ich euch Kutscher nicht! Es sei denn, ihr gebt endlich eure verfluchte Verzögerungstaktik auf und schafft den Botschafter an den Draht! Dann lass ich mich nicht lum pen!« Er grinste und betastete seine rechte untere Rippenpartie. »An sonsten, ihr Luftstraßenfeger: Ihr wärt keinesfalls der erste Ikarus, der in die Ewigen Jagdgründe eingeht!« Steiner horchte plötzlich auf. »Was soll das heißen?« »Das soll heißen: Ich habe heute schon mal einen von euch beför dert!« »Schlumm?« Jetzt saßen alle starr. »Ich hab's nicht gern, wenn das Cockpit so voll ist!« »Wo ist Captain Schlumm?« Das war nicht Steiner, der fragte, son dern Weersma. Seine Stimme klang drohend. Lohmar lachte, sein Zwerchfell schüttelte; das bereitete neue Schmerzen. Er kniff die Au gen zusammen: »Ist? War, würde ich treffender sagen. Aber das ist natürlich eine Sa che der Religion: ist oder war.« »Sie haben ihn umgebracht, nicht wahr?« fragte jetzt Steiner. Er saß sehr steif im Sitz, als trüge er ein Gipskorsett, und wandte den Kopf keinen Zentimeter. »Er starb wie ein Held!« lachte jetzt Lohmar herzlich. »Keine Ban ge, er hat mir arg zugesetzt, ehe er hinüber war! Mein Nasenbein ist hin!« Blitzartig drehten sich ihm alle Gesichter zu. »Das ist eine Schweinerei!« stieß Weersma hervor. »Das ist eine ver dammte Mordsschweinerei! Einen Menschen umzubringen, der Ihnen nichts getan hat! Sie verfluchtes Schwein!« Mit Weersma war eine seltsame Veränderung vor sich gegangen. Kalkweiß und zitternd saß er im Sitz; Backenknochen, Nasenrücken, Lippen traten plötzlich scharf hervor. Seine Hände bebten. 170
»Ganz ruhig, Henk!« sagte Steiner leise. »Ganz ruhig. Ein Opfer ge nügt!« Lohmar klopfte Steiner anerkennend auf die Schulter. Er war jetzt ganz entspannt. Er fühlte sich sofort überlegen, wenn sein Gegner die Haltung verlor. »Krieg dich wieder ein, Junge!« schlug er Weersma vor. »Du über drehst. Das schadet dem Motor!« Aber Weersma war außer sich geraten. »Sie Mörder! Sie elender Verbrecher! Sie haben Schlumm umge bracht!« »Henk!« mahnte Steiner wieder. »Es hat keinen Zweck! Halten Sie Ihren Mund!« »Aber er hat Schlumm umgebracht!« schrie Weersma, als habe Stei ner das noch gar nicht begriffen. (Er hatte es auch nicht.) »Ich habe von ihm meine Hongkong-Einweisung! Ich habe eine Menge von ihm ge lernt! Ich bin mit ihm geflogen, nach Tokio, Rio, Kapstadt! Jetzt hat er ihn umgebracht, der Gangster!« Vielleicht wäre alles gut gegangen. Aber der Zufall wollte, daß gleich zeitig Lohmar sich im Jumpseat zurücklehnte und das Bambusgerüst, die antiquarische Kostbarkeit Steiners, in einer kurzen Bö vorschnellte. »Was ist'n das für ein Drachengestell?« fragte Lohmar und schubste mit seinem Ellbogen das Gerüst mißtrauisch und unwirsch zurück. Es prallte heftig gegen die Kante des Navigationstisches; Weersma hatte den ganzen Vorgang wie ein Raubtier beobachtet. »Das ist eine antiquarische Kostbarkeit!« Er funkelte Lohmar wilde Blicke zu. »Da lassen Sie man die schmutzigen Finger von!« Unbewußt war er in Hamburger Jargon verfallen. »Die gehört meinem Kapitän!« »So«, wiederholte Lohmar herausfordernd langsam. »Die gehört dei nem Kapitän! Weißt du, was ich mit der antiquarischen Rarität deines Kapitäns mache, Spatz?« »Wagen Sie es nicht!« stieß Weersma bebend hervor. Seine Lippen waren kalkgrau. Aber damit forderte er Lohmar geradezu heraus. Prompt griff er hinter sich. Er stellte, in parodistischer Ehrfurcht, das Souvenir auf seinen Schoß. 171
»Wagen Sie es nicht! Das hat er seiner Tochter mitgebracht, die ist knapp zwölf!« »Rührende Romanze!« spottete Lohmar und geriet in Fahrt. »Weißt du, was ich mit dem phantastischen Mist deines Kapitäns mache?« Er schraubte seine Hände um die Bambussprossen, die den Seeweg zwi schen den Inseln Maloelap und Erikub darstellten. »Ich mache da mit das gleiche, was ich mit dir machen werde, wenn du nicht ver dammt noch mal deinen vorlauten Schnabel hältst! So zerbreche ich dich! So!!« Er drückte zweimal kurz; mit hartem Splittern brachen die Bambus verstrebungen, und die Längssprossen knickten zusammen. »Sie Schwein!« schrie Weersma. »Henk!« rief Steiner warnend. Aber es war zu spät. In einem Anfall blinden Zorns schlug Weers ma hart auf die Steuersäule, griff nach und drückte sie fest nach vorn. Alles im Cockpit, was nicht angeschnallt oder verschraubt war, wurde gegen die Decke geschleudert: Pappbecher, Zeitschriften, Lohmar. Lohmar war der einzige, der nicht angeschnallt war; und De Laer war der einzige, der mit diesem Zwischenfall gerechnet hatte. Er wuß te, daß dieser jähe Abwärtssturz die einzige Möglichkeit war, Lohmar außer Gefecht zu setzen; und er war sofort zur Hand. In ihm hatte sich alles neu aufgestaut, was er längst überwunden glaubte: Angst, Groll, Hass. Lohmar erschien ihm als die konzentrierte Verkörperung aller früheren Übel. In dem plötzlichen Abwärtssturz drückten seine Ober schenkel schwer und schmerzhaft gegen die Sitzgurte; und sein Ober körper wurde aufwärts gerissen. Aus dieser Bewegung heraus schleuderte er sich rückwärts gegen Lohmar. Er schlang seine Arme um Lohmars Hals; und als seine rech te Hand die Kehle spürte und zudrückte, löste er seine linke und öffne te blitzartig das Gurtschloß. Aber der kurze Zeitverlust entschied den Ausgang. Als er wieder beide Hände zur Verfügung hatte, war Lohmar schon frei, hatte den Pistolenknauf hart und dreimal auf seine Schläfe schnellen lassen; und De Laer sank zusammen auf dem Ingenieurpult, seufzte noch einmal, lag still. 172
Lohmar atmete tief durch. Er hatte die Pistole wieder fest im Griff und richtete jetzt die Mündung gegen die Schläfe Steiners. »Noch mal das gleiche; und er ist hin!« schrie er Weersma zu; der schrak zurück. Der Bär steckte sein Gesicht durch die Tür; und – tatsächlich – die plumpen, groben Züge konnten die Angst nicht verbergen. »Ist was, Chef?« »Jetzt nicht mehr. Die Herren hier sind nervös geworden. Inzwi schen haben sie kapiert, worum es geht. Sie werden keine Schwierig keiten mehr machen. In einer halben Stunde werden sie uns mit dem Botschafter verbunden haben, sofern sie noch …« Er blickte auf den Körper des zusammengesunkenen Bordingenieurs … »Sofern sie noch genügend Mumm in den Knochen haben! Was ist hinten los?« »Alles ruhig. Im Zweifelsfall habe ich da einen Japs, dem hacke ich die Glieder einzeln ab. Das beruhigt die übrigen!« »Fort Sandeman!« sagte Steiner. »Wir sind über Fort Sandeman hin weg; und Sie haben noch keinen Report abgesetzt, Henk!« Er hatte die Maschine kurz abgefangen und wieder auf Höhe gebracht. Er spürte den kalten Stahl der Pistole an seiner Stirn. Er schluckte ein paar Mal und sah sich flüchtig um. Lohmar hatte sich die spärlichen Haare aus dem Gesicht gestrichen, den Schweiß abgetupft. »Der nächste, der zu Boden geht, wird Ihr Kopilot sein!« Er hechel te wie ein erschöpfter Hund. »Dieses Flugzeug fliegt ausgezeichnet mit einem einzigen Piloten!«
20
W
ie werden all diese Menschen mit ihrer Angst fertig? dachte Karen. Sie sah sich flüchtig, noch immer zitternd, um. 173
Robert Bronn dachte: Ich habe eine Menge unangenehmer Probleme hinter mich gebracht – auf Bali und Lombok und früher in Afrika und Peru. Aber ich hatte immer Gelegenheit, sie selber zu bewältigen. Jetzt hocke ich da und bin ausgeliefert. Alles, was ich tun kann, ist, mich fest anzuschnallen und mich nach dem Notausgang umzusehen. Es ist wich tig, als erster am Notausgang zu sein, wenn die Maschine zu Bruch geht. Aber noch fliegen wir; und es ist wie in Nepal, als der Gaur mich angriff: Er hat mich verfehlt und ist vorbeigetobt – und wir fliegen noch immer. »Mit den lyrischen Wolkenbetrachtungen«, sagte er ironisch zu sich selber, »ist es jetzt vorbei, alter Knabe!« … »Die werden uns gewiß nichts tun!« tröstete Hannes Radewald seine Frau. »Sie haben an uns einfachen Leuten gar kein Interesse.« »Manchmal ist es gut, bescheiden im Odenwald zu wohnen. Ich woll te, wir wären schon wieder da. Weißt du noch, die Nebelschlieren hin term Haus, auf der Fichtenlichtung?« »Wir hatten schon alles abgeschlossen, der Motor lief, das Gepäck war verstaut, da bist du noch mal zurück hinters Haus …« »Ich konnte mich einfach nicht trennen. Ich dachte: Wozu das alles aufgeben, die Wälder duften nach Harz, bald brechen die Frühlings blumen durch den letzten Schnee … dieser wunderbare Nebel …« »Aber du bereust doch nichts?« »Ich bereue nichts. Ich bin dir sehr dankbar. Du hast mir alles ge zeigt. Wenn nur das Flugzeug nicht so geruckt hätte. Meinst du, es wird wieder rucken? Ich glaube, ich habe Angst gehabt!« »Wenn es wieder ruckt, hältst du meine Hand. Ganz fest. Dann kann dir nichts passieren.« »Das ist gut, ja …« »Diese Komplikationen mag ich gar nicht«, sagte Ralph Osterman nervös. »Das ist doch alles ein Vabanquespiel – die ganze Technik. Keiner durchschaut sie.« »Du bist ein hervorragender Tröster!« Ruth klammerte sich noch immer fest. »Glaubst du, ich habe nicht schon so Angst genug?« »Wenn du mich zum Trost brauchst, warum kneifst du dann aus und fliegst über Bali?« 174
»Jetzt bist du gereizt aus Angst, da kommen dann immer sofort dei ne Vorwürfe, schwupp, aus dem Mauseloch!« »Keine Vorwürfe. Aber wir sollten lieber mit dem Schiff fahren in Zukunft. Kaum kommt ein Zwischenfall, schon gerät alles an den Rand der Katastrophe. Ein Schuß genügt, wir explodieren!« »Du bist wirklich die Ruhe selbst!« »Wir haben noch so viele Pläne, und da kommen so ein paar Halun ken daher, und alles wird zweifelhaft.« »Du meinst, es wäre jammerschade um die Welt, wenn sie dich ver lieren würde – jetzt, mit deinen neuen Plänen!« »Du bist die Güte selbst!« Ruth strich sich über die Stirn. »Verzeih mir! Diese verdammte Anspannung! Wir sollten nicht so reden! Beide nicht! Diese Frau mit ihrer Pistole macht mich nervös. Diese Fliegerei macht mich nervös. Ich wollte, wir wären unten. Und heil!« … Er kam aus den nordöstlichen Farbebenen Thailands, und er hatte seinen Beschluss nie bereut. Obwohl seine Eltern ihn nie besucht hat ten, war seine Entscheidung in gegenseitigem Einverständnis gefällt worden. Sein Heimatdistrikt Roi-Et war heiß und trocken, der Weg bis ins Kloster nach Bangkok weit und beschwerlich. Acht Geschwi ster machten das Leben seiner Eltern zu einem harten Kampf. Von sei nem Klostereintritt versprachen sie sich Hilfe: Es geschieht nicht nur zu seinem, sondern auch zu unserem Segen. Er rettet uns damit vor der Hölle. Er hatte die Vorgänge in der Kabine kurz, keinesfalls uninteressiert, verfolgt. Jetzt gab er sich wieder der Betrachtung des Tao hin: Es wird weder benannt noch beschrieben. Er spürte Verzweiflung darüber, daß das Tao sich jeder Fragestellung entzog. Was blieb, war ein ehrfürchti ges Schauern vor dem Geheimnis und der Schönheit des Alls und sei ner Wandlung. Aber schließlich, befand er, entzog es sich nicht mehr dem Bewußtsein, als sich die Lösung der letzten Fragen den Wissen schaftlern entzog. That's it, boy, you've had it! dachte Jack Patrinelli sterbensblaß. Er 175
kämpfte gegen Übelkeit und Durchfall gleichzeitig. Angst und Schrek ken der vergangenen Jahre standen jäh vor ihm und hatten nichts von ihrer Intensität eingebüßt – hier sind wir wieder, alter Junge, du wirst uns nie los! Du kannst vor uns fliehen, so weit du willst, aus Vietnam, aus Kambodscha, aus Laos, hier, über Indien, Afghanistan, haben wir dich wieder eingeholt, du Deserteur! Jetzt stand der Anfang der Schrecken wieder vor ihm: das Ausbil dungslager der Rangers in North Carolina, denen er einmal angehört hatte, ehe er ihnen in die Tactical Air Force entflohen war. Jener Nach mittag, an dem die Abschluss-Performance für Journalisten und gela dene Gäste gegeben wurde, eine Art Tag der offenen Tür, und es kamen eine Menge Offiziersmatratzen und Vorzimmermiezen; und wenn wer geglaubt hatte, die holden Damen würden reihenweise in Ohnmacht fallen bei dem grässlichen Zeugs, das sie ihnen demonstrierten, so irr ten sie sich mehr als Nixon, als der seinen Einfall in Kambodscha für eine Meisterleistung hielt, yeah. Patrinelli stopfte drei Bänder Kaugummi gleichzeitig hinter die Bak ken und kämpfte verzweifelt gegen seinen revoltierenden Magen an. Der Gedanke, keine Erlaubnis für das Aufsuchen der Toilette zu be kommen, machte ihn halb wahnsinnig. Sie führten ihre erlauchten Gäste durch den Privatzoo voller Dschun gelüberraschungen, durch die imitierten Vietcong-Dörfer mit all den netten surprises: Bambustore, die hinter einem zuschlugen und ver steckte Bambusspitzen ins Kreuz trieben, Hütteneingänge, die nach gaben und einen mit giftigen Dolchspitzen empfingen. Irgendwo, aus dem Dschungel, ballerte eine Salve ab und klappte wieder zurück: BIG SHOW REAL NICE rief eine der Salonhuren, lobend in ihre lackier ten Finger klatschend. Alles wurde mit der gleichen Begeisterung auf genommen – das Abhäuten lebender Opossums für die Mittagsmahl zeit, der Tee aus Sassafras-Wurzeln, die Tonbandrede des Komman danten: »Während der Kampf sich siegreich vorwärts wälzt, zeige nie mand Schwäche … Mann und Waffe seien gestählt … Gott sei unser Leitsystem … Seinen Signalen folgen wir zum Heiligen Gral gerech ten Sieges …« 176
Jetzt beobachtete Patrinelli mit Bestürzung, wie ganz vorn ein schwarzgekleideter Japaner von einem hünenhaften Mann einfach hochgehoben und wie eine Puppe deutlich sichtbar in der Kabine ab gestellt wurde. Eines der Mädchen mit Pistole stellte sich demonstra tiv vor ihm auf, als solle eine öffentliche Exekution stattfinden. Aber dabei blieb es. Patrinelli schluckte und versuchte wieder, sich auf Erinnerungen zu konzentrieren. Auf den Sergeanten, der die Eidechse unter dem heißen Felsen hervorzog, am Schwanz hochhielt und ihr, schwupp, den Kopf abbiss. Aber die Szene gab ihm den Rest; er krümmte sich und erbrach sich gegen das Fenster. Die ganze Kotze über BEAUTIFUL INDIA, dachte er; und das ist schon mehr Kotze, als jemals jemand in North Carolina von sich ge geben hat: Sie haben das alles nur als Show genommen, die ganzen kil ling procédures, die Tritte in den Unterleib beim Nahkampf, auf den Solar Plexus … die Messerkämpfe, die genaue Erläuterung, wie man ein Messer im Unterleib ansetzen muß, um möglichst große Wunden zu erzielen. Sie stellen keine Verbindung her zwischen dieser Show und dem Krieg, den ihre kleinen Lieblinge kämpfen müssen. Krieg ist für sie ein großes fernes Coney Island, ein Würstchenbuden-Prater … »Gott ist mein Leitsystem!« brüllte er plötzlich durch die Kabine. Ihn überfiel die gleiche Angst wie in North Carolina und in Viet nam. Aber niemand hörte ihn im Fahrtwindrauschen und Turbinen surren; und niemand beachtete ihn – nicht einmal Ruth und Ralph Osterman, die ihm am nächsten saßen. Steiner spürte, wie Gelassenheit und Ruhe langsam von ihm wie Tünche abblätterten. Der kurze Gewaltakt Lohmars hatte den Prozess beschleunigt. Aber da waren noch andere Imponderabilien, die ihn unsicher gemacht hatten: Da war seine Reaktion auf Lohmars Mitteilung, es ginge ihm um die deutschen Wissenschaftler. ACH DIE, hatte er spontan geäußert. Er hatte sich plötzlich ganz leicht und frei gefühlt: nur ein Teil seiner Passagiere – NICHT KAREN! 177
Die ganze Zeit hatte er befürchtet, die Entführer hätten von seiner Beziehung zu Karen erfahren und würden sie zur Erpressung ausnut zen; jetzt war ein Stein von seinem Herzen gefallen. Diese Reaktion bedrückte und verunsicherte ihn jetzt von Funkfeuer zu Funkfeuer mehr. Konnte er zwanzig seiner ihm anvertrauten Passa giere eher ihrem Schicksal überlassen als Karen? Wie würde, wie muß te er sich entscheiden, wenn er sich zu entscheiden hätte? Er sah sich einer Aufgabe gegenüber, die er gern gegen einen Mond landejob eingetauscht hätte. Seine Blicke zuckten vom zusammengesunkenen Körper De Laers zurück zum schwarzen Knopf des Autopiloten. Jetzt auf Wesentliches konzentrieren, dachte er. Auf Lebensentscheidendes! Der Kursknopf. Der Autopilot. Guter Autopilot! Guter Georgie! Meine Hand bedient ihn. Meine Muskeln lenken meine Hand. Meine Nerven befehlen mei nen Muskeln. Meine Nerven lenkt mein Gehirn. Mein Gehirn, ver dammt noch mal, steht unter dem Befehl meines Ichs. Mein Ich nimmt die Registrationen meines Gehirns entgegen. Es entscheide, was ge schehen soll. Es duldet keine Panik! Hör zu, Hirn: Hör gut zu, was ich dir sage! Befiehl meinen Nerven, ruhig zu sein! Befiehl ihnen, überle gen meinen Muskeln zu sagen: Kursknopf nach rechts drehen, für sie ben Sekunden! Alles klar, alles kapiert? Also: auf dreihundertundsech zig Grad kurven! Los, wird's bald? Und die Nerven reagierten, die Muskeln reagierten, die Hand be wegte den Kursknopf, Georgie steuerte, das Flugzeug legte sich schräg und kurvte. Dann aber, als der neue Kurs anlag, entdeckte er, was er schon lange erwartet hatte, über dem Golf von Bengalen, hinter dem Gangesdelta, und was nicht eingetroffen war, jetzt aber eintraf: Hinter der Cockpit scheibe quoll unüberschaubar Wolke um Wolke empor. Schon flacker ten fern die ersten Blitze im fahlen Frühnachtdämmer; nur die oberen Ränder der Gewitterschirme glühten noch rostbraun im Spätlicht der Stratosphäre. »Da kommt eine gewaltige Unwetterfront auf uns zu!« sagte er. 178
21
L
ohmar hatte sich seine Sporen in Südostasien verdient. Das hieß: Er besaß Erfahrung mit Unwettern aller Art. Er war immer wieder überrascht über die geringfügige Rolle, die das Wetter in den so ge nannten Erlebnisberichten Ostasien-Reisender spielte. In Wirklichkeit wurde der gesamte Tagesablauf durch Regen oder Nichtregen, Sturm oder Windstille bestimmt. Besonders, damals, sein eigener: in Viet nam. Er hatte sich – er grinste oft bei der Erinnerung – als der beste Freund der Amerikaner in Vietnam erwiesen. Und niemand wurde so un barmherzig von den offiziellen Stellen verfolgt wie er und Freunde sei nes Schlages: Er hatte zu denen gehört, die 62 Prozent der Truppen mit dem Rauschgift vertraut gemacht hatten. Die Zahl war zum ersten Mal von einem Berichterstatter genannt worden, der zwar einen prominenten Namen trug, aber sofort offiziell als übelster Verleumder der siegreichen, vor allem aber soliden Trup pen diffamiert wurde: von einem Sohn John Steinbecks. Wenig spä ter ließ sich die Rauschgiftsucht der G.I.s nicht mehr vertuschen; und Lohmar stieg mit den Männern, die ihm für den Auftrag zugeteilt wor den waren, ›groß ein‹. Von allen Dealern war er der skrupelloseste. Er entwickelte Pläne, die jugendlichen Südvietnamesen als Kontaktper sonen der Truppen einzusetzen, und verbuchte seine größten Erfolge mit Vierzehnjährigen, die der Krieg verkrüppelt hatte. Unwetterfronten? Er war während des Monsuns im Einsatz gewesen, da bestand das gesamte Wetter ein halbes Jahr lang nur aus Unwetter fronten! Er sah sich wieder, während Steiner mit dem Radar hantier te, im Gewitterregen durch den lehmbraunen Schlamm waten. Riesige Schwärme von Nebelkrähen und Schwarzmilanen, die hier offensicht 179
lich die Funktion der Geier übernommen hatten, kreisten über den nackten, verkohlten Stämmen des Dschungels, auf den gerade mehr als zwei Dutzend Phantom-Angriffe niedergegangen waren. Er war mit einer schlichten dunkelgrünen Leinenjoppe bekleidet, und er fungierte als Lkw-Fahrer, der mit zwei jungen vietnamesischen Gehilfen unterwegs war. Er tauchte immer dort auf, wo sich die ameri kanischen Truppen gerade aus dem Kampf zurückgezogen hatten; und er hatte diese Gesichter zu Hunderten gesehen: schweißtriefend, lehm verschmiert, modder- und blutbespritzt, mit vor Panik geweiteten Au gen, noch unter dem Schock der Erlebnisse, während die Hubschrau ber noch kreisten oder schon wieder kreisten, bereits wieder neu zum Angriff gesammelt wurde, sich das vermeintliche Kampf ende nur als Pause herausstellte. Das waren die Augenblicke, wo Lohmar seine großen Auftritte hatte. Das Gute an den Kämpfen in Südvietnam, so betonte er später immer wieder, war die nahtlose Verknüpfung nicht betroffener Zivilisten mit den Kriegsgeschehnissen. Ein Dorf schlummerte friedlich in der Mit tagshitze, zwischen den windschiefen Hütten rannten ein paar Kin der umher, eine alte Frau schlurfte über den Dorfplatz. Plötzlich fiel irgendwo in den nahen Wäldern oder Reispaddies ein Schuß; schon fiel eine amerikanische Panzereinheit ein, durchkämmte die Hütten, trieb Frauen, Kinder und Greise zusammen (die jungen Männer waren längst fort), steckte Hütten in Brand, Hubschrauber dröhnten über die Baumwipfel, Granaten heulten über die Wellblechdächer. Nach dem Kampf oder dem, was sie als Kampf bezeichneten, hock ten die zerschlagenen, hitzeleidenden Soldaten unter den regentriefen den Schilfdächern; und es war ein Kinderspiel für Lohmar und sei ne einbeinigen Gehilfen mit den napalmverbrannten Gesichtern, die Ware an die Männer zu bringen. Man mußte nur wissen, wo gerade erhöhter Bedarf war. Die verlässlichsten Informationen erhielt er bald von den Vietcong selber, mit denen er eng zusammenarbeitete. Das Groteske an der Situation war, daß er sich dafür der Hilfe der Ameri kaner versichern konnte. Mit den Südvietnamesen als Mittelsmänner ließen sich große Mengen von Konsumgütern und Kriegsausrüstun 180
gen an den so genannten Feind verscherbeln. Die abgedunkelten Last wagen, die manchmal von den Häfen und Feldflughäfen die Transpor te direkt zum Vietcong hinüberfuhren, hatten an den kritischen, vom Vietcong kontrollierten Punkten stets freies Geleit, liefen nie in eine Falle, wurden höchstens zum Schein gelegentlich beschossen, um kei nen Argwohn aufkommen zu lassen. Lohmars Leistung bestand darin, das korrupte Kriegsund politische System eher zu durchschauen als die übrigen. Und er hielt sich nicht mit Lappalien wie Marihuana oder Opium auf; er stieg gleich hart mit Heroin ins Geschäft ein und blieb dabei. Unwetterfront? Er blieb wöchentlich drei-, viermal in den Monsun gewittern stecken, einfach, weil die Scheibenwischer den Regen nicht mehr schafften und man weniger als unter Wasser sah. In den tropi schen Stürmen stürzten von Termiten ausgehöhlte Bäume über die Pi sten, zwangen ihn Raketensalven zur Deckung in verschlammten Lö chern, die von Ratten wimmelten. Nie wieder hatte er so furchtbare Ängste ausgestanden wie Mitte der sechziger Jahre in Südvietnam. Bei jedem Granateinschlag, jedem Wirbelsturm zitterte er, denn er war im Grunde genommen ein fei ger Mensch, sobald ihm die Ereignisse aus der Kontrolle gerieten. Er fühlte sich nur sicher, solange er Macht ausübte und die Geschehnis se lenken konnte. Er kämpfte schon deshalb verbissen um Anerken nung und Erfolg, um so rasch wie möglich aus der vordersten Linie in die rückwärtigen, gehobeneren Stellungen zu gelangen, was ihm bald glückte. Er lächelte, als aus Steiners Mund das Wort ›Unwetterfront‹ fiel. Er konnte sich nicht vorstellen, daß ein Flugzeug, das mit annähernder Schallgeschwindigkeit elegant dahinglitt, ein üblerer Aufenthaltsort sein konnte als ein stecken gebliebener Lkw im Monsunsturm und Ra ketenwerferfeuer.
181
Jack Patrinelli schloß die Augen, beleckte seine trockenen Lippen und befand sich wieder in Vietnam. Die Markierungspunkte der Schrek ken tauchten auf wie auf der Geisterbahn und fielen wieder zurück ins Dunkel: die Cong-Jagden vom Helikopter aus, der kleine wendige Viet cong, der im Reisfeld Haken schlug wie ein Hase, ehe ihn die Bord kanonen zerfetzten und er wie ein fleischlicher Meteorit im Sumpf versank, die schmalbrüstigen, dürrgliedrigen Kinder in CamouflageUniformen, deren Gesichter von den riesigen Erwachsenen-Stahlhel men überschattet wurden, die Comics lesenden Kameraden auf den heißen Panzern, die bald seine Kameraden nicht mehr sein sollten … Die Warnungsschilder an den Minen: DO NOT REMOVE YELLOW TAGGED SAFTY CLIP – TO SET FUZE CHECK TO BE SURE THAT SAFETY CLIP IS IN PLACE, die kleinen rehäugigen Mädchen, die vor den Gräbern ihrer Eltern knieten, schwelende Trümmer, verzweifelt durchkämmt von Kindern, Blut, Tränen, Folter – alle Komponenten der Gewalt standen in ihrer obszönen Brutalität vor seinem Blick. Um bestehen zu können, hatte er zu Rauschmitteln gegriffen – zu leichteren, für die sich Lohmars Organisation von vornherein kaum interessierte. Er hatte sich von den härteren Sachen immer fernhalten können; und das medizinisch Verblüffende war: Seit er Vietnam den Rücken gekehrt hatte, hatte er kaum noch Verlangen nach Haschisch. Er war zur guten alten Nikotin-Zigarette zurückgekehrt. Sie brachte, wie er seinem Vater, der leidenschaftlicher Nichtraucher und Antial koholiker war, gern versicherte, gegenüber den neueren Drogen we sentliche Vorteile: Sie war gesellschaftlich akzeptiert und eingegliedert worden. Patrinelli stammte aus einer armen italienischen Einwandererfami lie, die sich in der ödesten Gegend Wyomings mühsam, aber redlich vom Schrotthandel ernährte. Als er an der Hand seiner Mutter ame rikanischen Boden betrat, war er acht; und bis zu seiner Einberufung war er groß geworden zwischen Lagerschuppen, verrosteten Garten zäunen, keifenden Kleinbürgerfrauen mit Lockenwicklern. Die Einberufung erschien wie eine Erlösung; und der gleiche Vater, der ihn von den Gefahren des Nikotin- und Alkoholmissbrauchs fern 182
halten wollte, empfahl ihm die Armee als eine harte Schule des Le bens, in der jeder Tüchtige mehr lernen konnte als in dreißig Jahren auf Sizilien. Er drückte seinen Kopf an die Scheibe: Sterne, die unregelmäßig von vorbeihuschenden Schleierwolken ausgewischt wurden, neu aufblink ten, verdämmerten. Das rotierende Antikollisionslicht verwandelte die Schleierfetzen in züngelnde Flammen. Genauso hatte der Nachthimmel ausgesehen bei jenem letzten An griff, jener letzten Flussüberquerung, bevor er Schluß machte. Irgend ein Vorhutpanzer war an der Flussbrücke von einem Einzelschützen mit ganzen drei Schüssen bedacht worden – das reichte aus, um den ganzen Weitermarsch zum Stillstand zu bringen und hysterisch Artil lerie und Luftunterstützung anzufordern. Sie zogen sich also an den Rand der Flusssümpfe zurück; Zwergmispeln, Jujuben und Wildrosen vermittelten die Illusion einer Deckung. Der Nachteil der ›Nah‹-Unterstützung war, daß sie oft zu nahe war. Schon die erste Granate ließ auch die letzten Verwegenen im Hecht sprung in die Büsche tauchen, die zweite brachte zwei Tote in den ei genen Reihen. Danach rannten sie alle wild durch die verfluchte Ge gend, um einen Verletzten vor dem Verbluten zu retten; und falls der ominöse gook, der die drei Schüsse abgegeben hatte, noch in der Nähe war, hätte er jetzt leichtes Spiel gehabt. Die Nacht vor der Brücke am Boung-Fluß war voller Unheil. Während der Detonationen am Flus sufer hatte er das Gefühl, in der Luft zu schweben. Obwohl er seine Ka meraden neben sich wußte (sie waren nie seine Freunde gewesen, da für blickten sie zu verächtlich auf den kleinen ungebildeten Itaker her ab), hatte er das Gefühl, alle Geschützrohre, Ferngläser und Bomben zielgeräte seien nur auf ihn, den kleinen G.I. Patrinelli, gerichtet. Er versuchte, die Gesichter der Männer um sich zu erkennen. Wenn schon diese Aktion, die zu seinem Schutz geschah, mit soviel Angst und Tod verbunden war, wie mußte sich dann erst der Gegner fühlen, für dessen Vernichtung diese Höllenmaschinerie in Gang gesetzt wor den war? Nachdem sie ihre Toten und Verletzten beiseite geschafft hatten, er 183
gingen sie sich in Ausmalungen der Folterungen, die sie den verant wortlichen Artillerieoffizieren zukommen lassen würden. Aber statt der Artillerieoffiziere geriet ihnen drei Stunden später ein Vietcong in die Hände. Flammen voraus: Drei Rotten PHANTOMS setzten alles in Brand, was jenseits des Flusses brennbar war. Als der Spuk verflogen, als nichts zurückgeblieben war als das Knistern der Feuer (die ersten Sterne bra chen durch die Schleierwolken), setzten sie sich abermals in Bewegung. Und als sie auf der Brückenmitte waren, fielen abermals drei Schüsse; und dieses Mal sank einer der Unteroffiziere zusammen und glitt wie im Zeitlupentempo von der lehmverkrusteten Platte seines Panzers, auf der er, Zigarette zwischen den geborstenen Lippen, gehockt hatte, arrogant vertrauend auf die allgegenwärtige Perfektion der amerika nischen Kriegsmaschinerie. Undenkbar, daß in dem trichterübersäten, lodernden Angriffsgebiet auch nur eine Krähe überlebt haben konnte! Aber dieses Mal hatte jemand Mündungsfeuer entdeckt; und schon richteten sich sechs Panzergeschützrohre auf den brennenden Sumpf und verballerten innerhalb weniger Minuten vierzigtausend Dollar. Der Aufwand wurde vom Erfolg gekrönt: Ein zitternder, halbverhun gerter, mit Schwären übersäter Vietnamese humpelte mit erhobenen Händen hinter brennenden Rhododendronbüschen hervor. Er hatte fünf Stunden lang ein halbes Dutzend Panzer und fast fünfzig Mann am Weitermarsch gehindert; und an ihm wurden sie die Rache los, die sie den ›schieläugigen Hurensöhnen von Artillerieoffizieren‹ zuge dacht hatten. Sie folterten den schmächtigen Vietcong fünf Stunden lang. Dann starb er. Patrinelli sah fünf Stunden lang zu. Er hatte sich geschworen, kei nen Blick von dem verzerrten, stummen Gesicht zu lassen. Plötzlich durchzuckte ihn der Wille, die Leiden des gequälten Menschen nach zuvollziehen – wenn nicht physisch, so zumindest in seinem Bewußt sein. Er starrte fünf Stunden in das zerfallende Antlitz eines Men schen, den er in einer Art Stunde der Wahrheit plötzlich als einen Bru der erkannte, UNGLAUBLICH, WIEVIEL EIN MENSCH ERTRA 184
GEN KANN, dachte er immer wieder … WIEVIEL EIN MENSCH ERTRAGEN KANN!!! Am nächsten Tag war Jack Patrinelli verschwunden.
22
L
ohmar hatte seine Pistole wieder eingesteckt. »Lassen Sie Ihre verdammte Trickkiste zu, Captain! Noch so ein Kaninchen aus dem Kopilotenhut, und Sie gehen in die Luft!« »Sie auch! Die Luft ist mein Element!« »Sie verkennen die psychologische Situation. Für mich gibt es nur Gelingen oder Untergang. Wer mich am Gelingen hindert, geht mit unter. Lassen Sie also Ihre Gewitter in der Kiste!« »Überzeugen Sie sich selbst! Da vorn: eine ausgewachsene Front, die wir nicht übersteigen können. Darf ich das Wetterradar einschalten?« »Bitte! Machen Sie es nur hübsch eindrucksvoll. Aber machen Sie mir nicht weis, Sie würden sich vor ein paar Wölkchen fürchten.« Steiner beugte sich über den mattgrünen Kreis des Radars, auf dem sich jetzt, im 150-Meilen-Bereich, die Unwetterfront klar konturiert ab prägte. Entfernung: 120 Meilen, rund 200 Kilometer. Flugzeit bis dort hin: 15 Minuten. »Ich könnte Ihnen eine Menge Angst ersparen! Sind wir erst mitten drin, wird es Schläge hageln – dagegen ist der kurze Störversuch mei nes Kopiloten sanftes Streicheln!« »Davon habe ich noch nie gehört, daß ein paar Wolken am Horizont einem Düsenliner gefährlich werden!« »Beschweren Sie sich wegen dieser Unterlassung bei der Werbeabtei lung meiner Firma.« Lohmar wurde unsicher. Er wußte zwar nicht, daß die Energie einer einzigen Tropengewitterwolke die einer Atombombenexplosion über 185
steigen konnte, aber er wäre zu Kompromissen bereit gewesen, hätte die Aktion Weersmas ihn nicht gereizt und mißtrauisch gemacht. Die fehlende Verbindung mit Teheran trug ebenfalls nicht zur Hebung sei ner Stimmung bei. »Ich glaube, Sie sollten auf dem kürzesten Wege nach Teheran flie gen!« sagte er drohend. »Ich glaube nicht, daß wir auf dem kürzesten Wege Teheran jemals erreichen werden!« sagte Steiner. »Und diese Gewitterfront ist nicht das einzige Problem, das mich nervös macht!« »Sie sehen aber ganz ruhig aus!« »Ein unverzeihlicher Fehler! Aber warten Sie nur, bis wir in den Tur bulenzen hochgeschleudert werden bis ans Dach der Welt!« »Wollte ich immer schon mal hin!« Lohmar war sicher, daß Steiner einen neuen Trick versuchte. »Was sind Ihre übrigen Wehwehchen?« »Wenn meine Fluggesellschaft …« Er drehte Lohmar langsam sein Gesicht zu und erschrak über dessen harten, abweisenden Ausdruck. »Wenn sie drei Leute im Cockpit bezahlt, statt nur den Kapitän, dann hat sie dringende Gründe dafür. Ich brauche meinen Bordingenieur, spätestens beim Anflug auf Teheran.« Lohmar schlug ihm auf die Schulter. Steiner zuckte zusammen, dar an wurde erkennbar, wie sehr er unter Stress stand. »Flugkapitäne sind mir schon wahre Helden! Sie fürchten sich vor rosaroten Wölkchen; und sie können nicht mal allein ihr Flugzeug lan den!« Steiner schwieg. Er hatte das Gefühl, ein stählerner Ring, der an fangs sehr viel Spielraum ließ, zog sich unerbittlich zusammen. Ruhig bleiben, alter Junge, dachte er, ganz, ganz ruhig. Da sind die Tankschaltungen, die nicht mehr überwacht werden. Welche Tanks sind leergeflogen, welches Triebwerk nuckelt aus welchem Tank Kero sin? Muß irgendwann irgendwas umgeschaltet werden? Was ist mit der Kraftstofftemperatur? Muß wegen drohender Vereisung vorgewärmt werden? Arbeiten die Generatoren einwandfrei? Müssen sie nicht ir gendwann justiert werden? Was ist mit der Kabinentemperatur? Ich kann die Passagiere erfrieren lassen, mit ihnen die Entführer. 186
Steiner war in die internen technischen Raffinessen eingeweiht, aber es war ein Unterschied, ob man auf jedem Flug damit zu tun hatte oder ob man sie dem Bordingenieur überließ – der, schließlich, wurde dafür bezahlt. Der Kapitän verhielt sich zu seiner übrigen Be satzung wie ein Dirigent zu seinem Orchester: Er gab die Einsätze für seine Solisten und Instrumentalgruppen. Gewiß spielte er auf ei ner Reihe von Instrumenten; aber jeder seiner Solisten-Spezialisten war auf seinem spezifischen Instrument besser als er mit seinem Ge samtüberblick. Jetzt, unter der drohenden Belastung der Unwetter-Durchquerung, drangen von allen Seiten Probleme auf ihn ein, die wie Stehaufmänn chen sagten: Hallo, wir sind auch noch da. »Darf ich die Passagiere anschnallen?« fragte Steiner plötzlich. »Die dürfen sowieso nicht aufstehen!« »Darum geht es verdammt noch mal nicht!« »Worum geht es denn, Captain?« Lohmars Ironie, der Anblick seines bewußtlosen Ingenieurs, die un aufhörlich näher gleitenden Konturen auf dem Wetterradar, das Un verständnis Lohmars drängten ihn aus seiner beherrschten Reser viertheit. »Darum: In der ersten Unwetterbö wird alles durcheinander wir beln. Ihre übrige Chartercrew übrigens auch. Daran können Sie sehen: Ich meine es ehrlich.« »Was schlägt der große Kommandant mit dem großen Zukunfts blick vor?« »Mein Vorschlag: Sie selber schnallen sich auf dem schnellsten Weg an!« Triumphierend schlug Lohmar Steiner wieder auf die Schulter. »Jetzt hab' ich Sie! Sie möchten mich gern fesseln – auf die leise Art, wie?« »Brechen Sie sich Ihr Genick, auf Ihre Art!« antwortete Steiner kurz. Er beugte sich wieder vornüber, und seine Blicke schweiften zwischen dem Radarschirm und dem Nachthimmel. Gut, daß der Mond schon aufgegangen ist, dachte er. Impulsiv legte 187
er die rechte Hand um den Autopilotenknopf, um den ärgsten Turbu lenzzonen rechtzeitig auszuweichen. Lohmar schlug ihm kurz und hart mit dem Pistolenknauf über die Finger. »Auf dem kürzesten Weg, hab' ich gesagt. Das Genickbrechen über lassen Sie mir! Merken Sie sich: Ich dulde jetzt keine Extravaganzen mehr! Den zweiten Revoluzzer knall' ich ab; der sieht die Wolken nie mehr von oben!« »Hier kommt Teheran!« mischte sich Weersma ein. Seine Stimme klang zögernd und sehr leise. Nach seinem misslungenen Coup wagte er kaum noch, Steiner anzublicken. »Laut und klar!« lachte Lohmar. »Ein wenig Druck: Plötzlich läuft al les wie am Schnürchen! Was sagt denn Teheran?« Teheran sagte: »Sorry, TC 773, wir können deutsche Botschaft nicht contacten!'Wir haben einen Telekommunikationsstreik in Teheran. Kein Telex, kein Telefon, kein TV!« Lohmar erstarrte: »Was hat der Idiot gesagt?« Weersma, obwohl er jedes Wort verstanden und die Konsequenzen erfasst hatte, sagte geistesgegenwärtig: »Say again, Teheran Radio!« Teheran wiederholte und fügte hinzu: »Wir haben selber keine Verbindung mehr mit irgendwelchen Stel len. Kein Flugplan kommt durch, kein Wetter!« »Kein Flugplan kommt durch, kein Wetter!« wiederholte Weersma für Lohmar. »Derartige Streiks erleben wir oft. Diesen haben wir nicht angeordnet, falls Sie das glauben!« »Sagen Sie diesen verfluchten Kanaken, sie sollen einen Radfahrer losschicken!« tobte Lohmar. Weersma wiederholte brav: »Bitte versuchen Sie Botschaft zu contacten vermittels Radfahrer!« »Please say again!« bat Teheran. Wäre die Situation angesichts der drohenden Unwetterfront nicht 188
so ernst gewesen, Steiner hätte laut losgelacht. Im nächsten Augen blick war der klare Empfang Teherans bereits wieder hinweggefaded, statt dessen knisterten jetzt in immer kürzeren Abständen die elektri schen Entladungen der Gewitter. Zunächst kam Dharan unterbrochen durch, Delhi schaltete sich ein, dann war nichts mehr zu hören außer einem gleichmäßigen Durcheinander von Geräuschen, Pfeiftönen, un verständlichen Wortfetzen. »Der nächste Wortwechsel«, erläuterte Steiner, »ist erst hinter der Front möglich. Aber da kommen wir nicht lebend raus.« Vor ihnen stand jetzt eine Flammenwand aus zuckenden Blitzen. Der hohe Zirrenschleier, der sich bedrückend über sie stülpte, nahm das letzte Abendlicht und hüllte alles in gespenstisches Dunkel. Der Mond zerschmolz zu einem matten Fleck. Lohmar wurde unsicher und nervös. In seinem Programm waren weder Streik noch Gewitter vorgesehen. »Da kommen wir doch leicht drüber weg?« »Da kommen wir kaum mit den Flugzeugen der nächsten Jetgenera tion drüber weg. Die gehen über 60.000 Fuß hoch.« »Dann umfliegen Sie in Gottes Namen diese verdammten Blitze!« Aber dazu war es längst zu spät. Sie waren von Quellwolken um stellt wie von blutrünstigen Ungeheuern. Hier, über der Großen To deswüste Südafghanistans, stieß die feuchtheiße Meeresluft des Indi schen Ozeans auf die eiskalten Fallwinde aus dem Himalaja. Das Er gebnis der krassen Temperaturgegensätze waren ganze Orgien explo dierender Gewitter. Steiner begann zu kurven. Aber es war zu spät. Schlagartig waren sie in den Hexenkessel der Böen geraten. Das Radar zeigte nur noch eine einzige kompakte Masse von Wolkenechos. Hagel knallte wie Maschi nengewehrfeuer gegen die Scheiben. Sankt-Elms-Feuer setzte den Bug in Brand, wuchs wie eine Feuersäule hervor, erlosch wieder, bildete sich neu, explodierte mit trockenem, hartem Knall. Dann folgten drei mittelschwere Böen. Wie Kinnhaken eines Boxers. Plötzlich griff Stei ner ins Steuer, wie Weersma, als er Lohmar außer Gefecht setzen woll te. Aber Steiner dachte nicht an Lohmar. Und Lohmar dachte nicht 189
mehr an einen Trick. Er klammerte sich mit beiden Händen am Sitz fest. Jetzt hatte er Angst, nackte Angst. Ein Schlag wie eine Detonation erfolgte. Steiner hatte ihn um eine Zehntelsekunde vorausgeahnt, aber nicht mehr verhindern können. In den Halterungen der Instrumentenkonsolen knackte es trocken. Staub wirbelte auf. Pappbecher, Karten, Logbücher schwebten schwerelos im Raum. Dann folgte der Gegenschlag; und alles knallte tonnenschwer zurück. »Raus hier!« schrie Lohmar in panischer Angst. »Machen Sie, daß wir hier rauskommen! Kehren Sie um! Kehren Sie sofort um, oder ich erschieße Sie auf der Stelle!« Steiner kurvte jetzt steil. In den nachfolgenden Böenschlägen ver schwammen die Instrumente, stürzte und stieg die JETSTREAM unkontrollierbar. Er zwang sie verbissen auf Gegenkurs; sie jagten durch ein Flammenmeer. Herber Ozongeruch durchzog das Cock pit; wieder und immer wieder schlugen Blitze mit trockenem Tik ken gegen die Bordwand. Auf dem Radiogeräteregal sprühten bläu liche Flammen über die Metallteile. Plötzlich war auch das Haar des zusammengesunkenen Bordingenieurs von kalten Flammenbögen überspannt. Lohmar starrte auf diese künstliche Aura wie auf eine übersinnliche Erscheinung. »Raus hier!« schrie er wieder. »Noch zehn Sekunden, und Sie sind ein toter Mann, Steiner!« Aber mit Steiner war eine seltsame Verwandlung vor sich gegan gen. All seine Zweifel, seine Befürchtungen und Selbstvorwürfe wa ren wie zerflammt in dem Inferno der Böen und Hagelsalven. Er tat, was er tun konnte: Er kurvte so steil wie möglich zurück aus der Höl le. Weersma hatte sich gleichzeitig ganz auf die Wiederherstellung des Funksprechverkehrs konzentriert. Es war der beste Halt, den er in sei ner Angst finden konnte. Er hatte nie ein derartiges Unwetter, nie so harte Böenschläge erlebt. Er hatte erst seinen Blick auf die Instrumente geheftet. Als sie vor seinen Augen verschwammen, fühlte er sich halt 190
los in die Tiefe stürzen. Er griff zum Abstimmknopf des Empfangsge rätes, der gab ihm neuen Halt. Jetzt sagte er, ganz ruhig, als sei nichts geschehen: »Der Kurzwellenempfang ist tot. Absolut tot. Ich glaube, der Blitz ist in die Antenne geschlagen.« Lohmar klammerte sich noch immer fest; und noch immer tanzte die JETSTREAM auf den Turbulenzen. Ein Spielball der Elemente. Ich dachte, das gehört der Vergangenheit an! Er starrte mit angstgeweite ten Augen auf die Hagelschauer, die wie Perlenketten auf die Scheiben zurasten und sich durch die elektrostatische Aufladung kurz vor dem Aufprall entzündeten. »Wie? Was ist tot?« »Die Kurzwellenverbindung mit Teheran. Mit überhaupt jeder Stati on!« wiederholte Weersma. »Wir sind auf Gegenkurs. Wohin wollen Sie, daß ich fliege?« Steiner war ganz ruhig. Nur er, Lohmar, zitterte. Plötzlich hatten alle den Entscheidungs zwang auf ihn abgewälzt! Und plötzlich hätte er viel dafür gegeben, wenn die Piloten ihm diese Entscheidung abgenommen hätten. »Also gut!« sagte er tief aufatmend. »Also sehr gut. Teheran ist tot, nicht wahr?« »Alle Kurzwellensender sind tot!« sagte Weersma. Neue Böenschläge. Ein gewaltiger Blitz lief wie eine Feuerschlange mit kurzen Verästelungen quer über den Horizont. Die prallen Kon turen aufgetürmter Quellwolken prägten sich silbrig ab, erloschen wieder. Finsternis. Neue Böenschläge. Neue Blitzkaskaden, jetzt ver schwommen. Zwei Sekunden Hagelprasseln. Ein Fetzen Licht. Wie der Finsternis. »Also Teheran ist tot und gestorben!« wiederholte Lohmar und wag te zum ersten Mal, eine Hand von der Sitzunterkante zu lösen. »Wir werden jetzt ein anderes Ziel anfliegen. Dort ist man bestens vorberei tet auf unser Kommen. Also keine Hoffnungen!« »Das beste wäre, wir würden nach Delhi zurückgehen!« schlug Stei ner vor. »Oder Karatschi.« 191
»Wir fliegen weder nach Delhi noch nach Karatschi, noch nach Tausendundeine-Nacht-Stadt!« sagte Lohmar drohend und fing sich lang sam wieder. »Wohin denn sonst?« Trotz der Anspannung sah Steiner sich um. »Nach Kabul!« sagte Lohmar kurz. »Nach Kabul in Afghanistan. Ka bul erwartet uns!« Steiner blickte Weersma an. Weersma pfiff nervös. »Nach Kabul«, formulierte Steiner dann zögernd seinen Einwand, »können wir nicht fliegen.« »Ich glaube schon, daß wir nach Kabul fliegen können!« sagte Loh mar, schon wieder drohend. »Ich glaube nicht!« sagte Steiner. »Kabul ist für unsere JETSTREAM nicht zugelassen. Die Landebahn ist zu kurz. Es gibt keine Anflughil fen für die Nacht. Wir haben den Platz überhaupt nicht in unseren Karten. Da können wir gleich in der Todeswüste landen.« »Wenn Sie das glauben, dann landen Sie nur in der Wüste!« sagte Lohmar jetzt ruhig. »Ich würde Ihnen trotzdem Kabul empfehlen!« Ein neuer Schlag schüttelte die JETSTREAM.
In der Kabine herrschten Angst und Chaos. In den Böen waren lose Gepäckstücke, Tassen und Zeitungspake te erst gegen die Decke, dann auf die Passagiere geschleudert worden. Zwei indische Kinder von drei und fünf Jahren waren bis an die gegen überliegende Wand geworfen und an Armen und Beinen verletzt wor den. Zwei Japaner, die am Kopf bluteten, hämmerten jetzt in Panik ge gen die Fenster und wollten abspringen. Die deutschen Wissenschaft ler waren mit Champagner, Essensresten, Büchern und Aktentaschen überschüttet worden. Ingrid hatte sich zwischen Containern und La gerfächern festgeklemmt, aber Inger war zwischen zwei Sitze gestürzt und richtete sich mühsam mit blutendem Ellbogen und verschramm ter Wange wieder auf. Ihre Pistole war ihr entglitten. 192
Gejagt suchte sie unter den Sitzen. Sie riß die Spraydose aus ihren Bluejeans und richtete sie wahllos in die Kabine; niemand hatte sie be droht. Der nächste Schlag schleuderte sie fast wieder zu Boden. Jetzt hatte sie gelernt, sich eisern festzuklammern, mit der einen Hand zu zielen und gleichzeitig mit der anderen nervös nach der Pistole zu su chen. Der einzige Unerschütterliche war der Bär. Er stand nach wie vor wie ein Betonklotz im vorderen Galleydurchgang und hatte nicht einmal den Japaner losgelassen. Der winzige Mann zappelte jetzt schreiend an seiner rechten Faust. In den Böen hob sich die Maschinenpistole am Hals des Bären waagerecht und schwebte schwerelos vor seiner Brust, ehe sie wieder klatschend gegen seinen Bauch zurückschlug. Der Bär hatte als einziger den Gesamtüberblick in der Kabine. Er sah Inger stürzen; und instinktiv entdeckten seine Blicke in der Hutablage vor ihm das elektrische Megaphon, er riß es an sich, ließ den Japaner einfach fallen wie einen toten Gegenstand, setzte das Mundstück an die Lippen und dröhnte durch die Kabine: »Dies ist eine verdammt ernste Ansage, hört also zu, Leute! Jeder bleibt sitzen! Wer seinen verdammten Kopf höher als meine Gürtel linie hebt, kriegt mehr Bohnen durch seinen verdammten Magen, als er verdauen kann! Keiner steht auf; und wer mir auch nur einen bösen Blick zuwirft, ist schuld daran, daß dieser Osakazwerg hier unten ab kratzen muß!« Er trat fast zärtlich mit seinen Stiefeln gegen den Leib des Japaners, der sich zusammenkrümmte und beschloß, liegenzublei ben. »Also, alles klar?« Eine neue Bö wirbelte Zeitungen und Staub hoch; hinter den Fen stern stand die Welt in Flammen. Der Bär warf das Megaphon zurück ins Netz und legte seine behaarten Hände auf seine MP. Dann stierte er wie eine Statue mit unbeweglichem Gesicht durch die Kabine. Jetzt geschah Unglaubliches. Neben Gwen Gary löste Karen Hill dorff ihren Gurt, stützte sich an der Lehne vor ihr ab und stand lang sam, aber unmissverständlich auf. Der Bär holte seinen Blick wie auf ein Signal aus einer imaginären Ferne zurück und glotzte sie mit weit aufgerissenen Augen an. 193
»Du bist verdammt jung zum Verrecken, Kind!« sagte er zärtlich. »Dann lassen Sie mich gefälligst durch die Kabine gehen! Und an der Galleywand, gleich neben Ihnen, hängt ein Rot-Kreuz-Koffer. Da ist Verbandszeug drin. Ich möchte ihn abnehmen.« »Du gehst nicht, und du darfst nicht!« entschied der Bär. »Soweit ich sehe, hat es keine Leichen gegeben. Aber gleich wird hier eine liegen, und du kannst dich schlecht selbst bedienen, also setz dich hin!« Karens Furcht im Gewitter entlud sich in rücksichtslosem Zorn. »Die Leute brauchen Zuspruch! Sonst machen sie Panik! Wollen Sie das?« Sie hatte Ingers Verletzungen entdeckt. »Ihre eigenen Leute brauchen Hilfe! Also lassen Sie mich!« Sie riß den Kasten aus der Halterung, ohne auf den Bären zu achten. Es war die beste Art, mit der Angst fertig zu werden. Der Bär starrte verblüfft auf sie wie auf ein irritierendes Insekt. Sie klammerte sich mit einer Hand von Sitzlehne zu Sitzlehne fest und arbeitete sich, tapfer lä chelnd, vorwärts. Sie schüttelte verächtlich den Kopf, wenn sie Furcht auf den Gesichtern der Männer sah – das brachte sie dazu, sich zusam menzureißen. Dann, wenige Schritte vor dem Ehepaar Bauer, vor der verzweifelt suchenden Inger, sah sie es. Sie sah, wie der Mann seinen Fuß auf die Pistole setzte, die Inger suchte. Sie erstarrte hilflos und wußte nicht, was sie tun sollte. Dann spielte sich alles so rasch ab, daß sie nicht ein greifen konnte. Die Frau hatte gesagt: »Paß auf, gleich machst du in die Hose vor Angst. Jetzt ist sie neben dir! Sie sucht was! Hoffentlich sucht sie es nicht bei dir!« Der Mann sagte: »Sie ist gestürzt; und jetzt hat sie ihre Pistole verloren; und ich sitze hier ganz ruhig – ich habe keine Angst!« »Du wirst Angst haben, wenn sie dich nur anblickt!« Inger hatte sich jetzt eine Reihe weiter vorgetastet. Sie drehte den Bauers den Rücken zu. Ihre Hose spannte sich prall, und in der Hüft tasche prägte sich klar erkennbar ein Taschenmesser ab. »Was würdest du von mir erwarten, wenn ich jetzt eine Pistole hätte?« 194
Frau Bauer lachte schallend. »Ich würde erwarten, daß du dir die Finger klemmst. Oder daß du dir aus Versehen damit in den Hintern knallst. Ich würde keine Träne vergießen, außer vor Lachen!« Bauer hatte angefangen, unruhig auf seinem Sitz zu rutschen. Jetzt sah er Karen herankommen. Jetzt bückte er sich. Jetzt griff er unter sei nen rechten Schuh. Er spürte das harte Metall, den Lauf, den Griff. Er schnellte hoch und hatte die Pistole gut in der Hand. Er legte an. Er sah Karen beiseite springen. Er drückte ab und wunderte sich über den Wi derstand des Hahns. Er wunderte sich, daß er ihn nicht durchziehen konnte und daß trotzdem der Schuß dröhnte. Er wunderte sich, daß die Pistole schwerer und schwerer wurde und ihm entglitt. Er wunder te sich, daß seine Frau sich mit einem Aufschrei über ihn stürzte. Sei ne Frau rief seinen Namen, da war er schon tot. Ingrid hatte nur einmal geschossen. Sie stürzte aus der Galley herbei, Inger hatte ihre Pistole aufgegriffen; und beide Mädchen hielten jetzt die Passagiere unter Kontrolle, vorn hatte der Bär sofort seine Maschi nenpistole drohend in die Kabine gerichtet. Karen kniete nieder, hatte ihren Verbandskoffer aufgerissen, ver suchte verzweifelt, das Blut zu stillen, das aus der Brust Bauers rann. Inger stieß sie grob beiseite. Sie blickte verächtlich und kalt auf die Frau, die wehklagend und hysterisch schluchzend ihren toten Mann beweinte. »Wie wär's, du würdest dich mal um meinen Ellbogen kümmern? Der da weiß deine Dienste gar nicht zu schätzen!«
195
23
D
rehen Sie mir mal was ein!« sagte Steiner. »Wo sind wir eigent lich?« »Kandahar voraus!« sagte Weersma. »Funkfeuer KN identifiziert. Auf dem Empfänger Eins. Da vorn sind die Lichter!« Bronn sah die Lichter ebenfalls an Backbord. Wie Inseln, dachte er. Wenn jetzt alles normal wäre – ich würde schreiben: Die Städte trieben wie Inseln auf den Fluten der Nacht … Warum schreibst du es nicht? Du kannst sowieso nichts ändern; und es lenkt dich ab. Er zog einen Kugelschreiber heraus, zögerte, ob er seine Schreibma schine wieder hervorholen sollte, wagte es nicht und begann, mit der Hand auf einen Briefbogen zu kritzeln. Dann starrte er wieder faszi niert auf Kandahar. Die Luft war jetzt klar und trocken, und die Lichter flackerten greifbar nahe herauf. Nie hatte er eine so exakt abgegrenz te Stadt gesehen. Alle Straßen waren gradlinig angelegt und kreuzten einander im rechten Winkel. Wie ein leuchtendes Gitternetz lag Kan dahar im Schwarz der Wüste. Da dachte er: Dieses Mädchen ist eine hervorragende Stewardeß. Sie hat sich nicht beirren lassen. Sie ist aufgesprungen, um den Passagie ren zu helfen. Sie hat mehr Mut gezeigt als wir alle zusammen; und wenn wir dieses Abenteuer wohlbehalten überstehen, werde ich eine Menge über sie schreiben. Dann sah er den Mond: eine tiefgoldene Barke, die auf dem Tropo pausendunst dümpelte. Er mußte sich weit gegen die Scheibe lehnen, um ihn voraus, hinter Kandahar, zu sehen. Dann dachte er: Merkwür dig, wir fliegen nach Westen, der Mond geht grundsätzlich im Osten auf, da müßte er hinter mir aufgehen. Er geht unmissverständlich vor mir auf, folglich fliegen wir nach Osten. 196
Das beunruhigte ihn so, daß er nichts mehr aufs Papier brachte. »Ich fliege Sie überallhin!« sagte Steiner zu Lohmar. »Delhi, Karat schi, Bombay, Bagdad, Lahore. Wir haben Treibstoff genug. Nur nach Kabul, dahin flieg' ich Sie nicht!« »Schade!« sagte Lohmar. Ingrid hatte ihm eben die Nachricht von dem Zwischenfall in der Kabine gebracht. »Wirklich schade um Sie!« Er blickte ihn lange an, aber in seinem Gesicht zeigte sich keine Ge fühlsregung. »Sie werden in spätestens zehn Minuten ein toter Mann sein, Steiner. Angesichts Ihrer Leiche wird Ihr Kopilot entdecken, daß er ohne Schwierigkeiten nach Kabul fliegen kann.« »Mein Kopilot wird erst recht nicht nach Kabul fliegen!« sagte Stei ner. »Kabul ist während der Nachtstunden gesperrt und nur bei guter Sicht anfliegbar. Es hat keinerlei Schlechtwetter- oder Nachtlandehil fen. Der Platz ist umringt von Bergen.« »Ich weiß«, sagte Lohmar. »Im Norden liegt der Koh-i-Baba. Aber wir haben gute Sicht.« London, dachte Gwen Gary, cheerio London, da geht es hin, und da geht deine endgültig letzte Chance hin! Es war der letzte Vertrag, den du in Aussicht hattest … vorbei, vorbei. Wie hat es irgendein Philo soph ausgedrückt? Zufall ist der Schnittpunkt zweier Gesetzmäßigkei ten. Sie traf ganz sachlich Feststellungen und wunderte sich über ihre ei gene Sachlichkeit. Sie schrie nicht (wie früher), sie heulte nicht hyste risch (wie früher). Sie hatte nicht einmal Angst (wie früher, wenn sie nachts in einem Hotelzimmer aufwachte). »Wir haben gute Sicht!« sagte Steiner. »Aber selbst bei guter Sicht ist der Platz bei Nacht nicht anfliegbar. Schon gar nicht mit einer Boeing 707. Die Bahn ist zu kurz. Sie ist auch zu schwach. Ich kenne den Platz nicht, da er von uns nicht angeflogen werden kann.« »Wenn Sie ihn nicht kennen, woher haben Sie denn da Ihr profun des Wissen, Captain?« Lohmar schoß diese Frage geradezu ab; er muß te seine Unsicherheit verbergen. »Ich glaube, Sie kennen den Platz aus dem Effeff!« »Ich glaube, er ist wirklich tot!« flüsterte Hannes Radewald entsetzt. 197
»Ganz und gar tot. Sieh bitte nicht hin!« Er starrte auf das schmale Blutrinnsal, das den Mittelgang hinuntergekrochen kam. »Es war eine so wunderbare Reise«, sagte sie. »Dieser Abschluß …« »Ich wollte dir das ganz große Traumerlebnis vermitteln!« sagte er mit einem Anflug von grimmigem Humor. »Diese Frau scheint wahn sinnig vor Schmerz. Sie schreit ununterbrochen.« »Die Stewardeß hat versucht, ihn zu verbinden; aber man hat sie weg gestoßen.« »Für so ein junges Ding ein furchtbares Erlebnis!«
»Ich kenne den Platz wirklich nicht. Weil wir ihn nicht anfliegen. Weil wir ihn nicht anfliegen können, weiß ich, wie mies er beschaffen ist.« »Am besten, Sie sehen mal rasch in Ihren Unterlagen nach! Es gibt für Sie nur eine Möglichkeit, die Erde lebend zu erreichen! In Kabul!« »Wir fliegen den Platz nicht an, wir haben keine Unterlagen!« Weersma rutschte unruhig auf seinem Sitz und wußte nicht, ob er sprechen sollte oder nicht. »Ist was, Stukaflieger?« hakte Lohmar sofort ein. »Ja!« sagte Weersma, eine Spur zu entschlossen. »Wir fliegen völ lig unkontrolliert durch die Gegend. Wir sind auf Gegenkurs; und ich weiß, daß uns jetzt bald eine Menge Flugzeuge begegnen werden – in unserer Höhe.« »Du bist aber ein Kluger, was? Dann hol uns mal schnell eine Geneh migung zum Weiterflug. Aber nach Kabul!« »Okay, ich versuche es mal bei Kandahar!« »Bevor du das tust …« Lohmar sah ihn schlau aus zusammengeknif fenen Augen an. »… Was war da noch für ein Wehwehchen? Als El Ca pitano behauptete, ihr hättet keine Karten?« »Ich glaube, wir haben welche. Unter der Rubrik Notlandeplätze!« »Dann hol sie mal rasch hervor! Mehr als eine Notlandung will ich gar nicht!« 198
»Glaubst du, wir müssen jetzt abstürzen? Glaubst du, wir setzen schon zur Notlandung an?« fragte Ruth Osterman bange. Ihre Augenlider flat terten. Über ihre Haut liefen winzige Wellen von Gänsehaut. Die gleichen Anzeichen hatte sie vor jedem Bühnenauftritt. Sie griff seine Hand. »Ich habe Angst. Ich wollte, wir wären unten. Ich wollte, wir stünden wieder auf der Bühne. Glaubst du, wir stehen jemals wieder auf der Bühne?« »Interessant, wie sehr so ein bißchen Schreck dich verändert!« Ralph Osterman lächelte ironisch. Er schielte voller Abscheu auf den toten Mann, der jetzt unbeachtet von den beiden Schwedinnen im Mittel gang lag, die rechte Hand grotesk angekrümmt. »Weißt du, was du in Melbourne gesagt hast?« »Da war ich betrunken, das weißt du!« »Es kotzt dich an, mit mir auf der Bühne zu stehen! Hast du gesagt. Weißt du, was du noch mehr gesagt hast?« »Ralph, lass das, ich hab' Angst!« »Es kotzt mich an, mit dir ins Bett zu gehen, bloß, weil die Leute das von uns erwarten! Hast du gesagt!« »Glaubst du, wir kommen hier heil heraus?« »Hast du das gesagt oder nicht? Eine Frage nach der anderen.« »Ja, habe ich! Ist das jetzt wichtig?« »Wie kannst du erwarten, daß ich jetzt den großen Tröster spiele, wenn du das gesagt hast?« »Wir sitzen doch im gleichen Boot! Wir sind fast vier Jahre zusam men aufgetreten! Ralph, ich bin völlig fertig. Ich stelle mir dauernd vor: du würdest dort liegen. So … still!« »Jetzt regt sich doch nicht etwa dein schlechtes Gewissen? Mach dir lieber Gedanken darüber, was aus unseren Gitarren wird, wenn hier alles zu Bruch geht! Aus meinen Plänen! Ich habe einen halben Koffer voller neuer Arrangements und Kompositionen bei mir!« Während Weersma sich an der Navigationstasche zu schaffen mach te, flüsterte er Steiner zu: »War das wieder falsch?« »Es war besser so«, gab Steiner leise zurück. »Ich wäre sonst noch in Versuchung geraten, Dummheiten zu machen! Ich habe eine Idee!« 199
Er schielte zu De Laer hinüber, der noch immer regungslos, mit der Stirn auf der Tischplatte, zusammengesunken lag. »Ist was?« forschte Lohmar sofort nach. »Mir sitzt noch die Gewittersache im Nacken!« sagte Steiner. »Ich bin nicht der Ruhigste. Wie wär's mit einer Pfeife? Dann mache ich Ih nen einen Vorschlag zur Güte!« »Ich habe sehr viel Geduld mit Ihnen!« »Ihr Leben hängt mit dran – an meinem!« Er begann, sich die Pfeife zu stopfen, während Weersma eine rote Notlandekarte für Kabul aus dem Route Manual zog. »Die unangenehme Überraschung im Gewit ter hatte ich Ihnen ersparen wollen. Sie sollten gemerkt haben, ich ar beite ohne Tricks!« »Nur noch zwölf Minuten bis Kabul!« meldete sich Weersma. »Kan dahar möchte wissen, ob und wann wir in Kabul landen. Man ver sucht, einen Controller auf den Turm zu holen, der uns Landeanwei sungen erteilt!« Sie hatten Kandahar ihre Entführung mitgeteilt; und Kandahar hat te geistesgegenwärtig reagiert. Der gleiche Controller hatte vor knapp zwei Wochen bereits einen anderen Entführungsfall behandelt: Das Flugzeug einer indischen Gesellschaft war zur Landung in Lahore, im verfeindeten Pakistan, gezwungen worden. »Wir werden erst einmal über dem Kabuler Funkfeuer kreisen! Ma chen Sie das, Henk?« »'türlich. Frequenz 365. Kennung KB. Ich reiche Ihnen mal die Kar ten rüber. Können Sie in Ruhe studieren. Alles drauf!« Steiner hatte seine Pfeife entzündet und wandte sich an Lohmar. »Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, dieses riskante Unternehmen mit einer Spur von Überlebenschance zu starten.« »Da vorn sehe ich deutlich Kabul liegen!« sagte Lohmar. »Da werden Sie ja wohl den Platz finden!« »Den Platz schon, aber nicht die Landebahn. Sie ist hier besonders schmal und weich und kurz. Und sie ist schlecht beleuchtet. Warum las sen Sie nicht wieder den deutschen Botschafter rufen? Wir haben noch für mehr als zwei Stunden Treibstoff. Wir könnten hier oben warten.« 200
»Und dann, wo würden Sie dann landen?« »Lahore, Delhi oder Karatschi. Wir könnten sparsam fliegen.« »Ich mag diese Städte überhaupt nicht. Das sollte Ihnen genügen. Hier hingegen, hier werden Sie erwartet! Wußten Sie das? Wir werden erwartet!« Lohmar genoß seinen Triumph. »Interessant!« nickte Steiner anerkennend. »Der Ausweichplan für Teheran, wie?« Lohmar zeigte Zeichen von Ungeduld. Abrupt sagte er: »Sonst noch Vorschläge?« »Ja! Für einen solchen Kamikaze-Anflug brauche ich alle Mann im Cockpit. Machen Sie mir meinen Ingenieur lebendig – dann versuch' ich es! Ohne Garantie!« »Wozu brauchen Sie den denn?« »Ich möchte nicht, daß mir beim Anflug ein Triebwerk ausfällt. Ich kann mich um die technische Bedienung überhaupt nicht kümmern. Ich komme genug ins Schwitzen, wenn ich nur aus dem Fenster sehe. Ich möchte bei der Landung so leicht wie möglich sein. Dazu muß ich Kerosin ablassen. Das kann ich nicht, das muß der Bordingenieur ma chen. Er hat das Bedienungspult dafür vor sich.« Lohmar überlegte kurz. »Klingt einleuchtend. Aber geben Sie sich keinen Illusionen hin: Ich lasse alles nachprüfen. Sie kommen mir nicht ungeschoren davon, wenn nicht jedes Wort, ich wiederhole: jedes Wort, stimmt!« »Und sonst?« fragte Weersma gespannt. Er hatte alle Hände voll zu tun: Er informierte Kandahar, er stellte Kurse und Funkfeuer ein, er bediente den Autopiloten und ließ die JETSTREAM in 35.000 Fuß um die Station KB kreisen. Von Zeit zu Zeit glitt der Mond durch die Schei ben und wurde abgelöst von dem Lichtermeer der Hauptstadt Afgha nistans. Dazwischen lagen große Flecken aus schwarzer Leere: Berge, Wüsten, Steppen. »Alles stimmt, also was wird aus uns?« »Wenn alles stimmt«, sagte Lohmar langsam und genoß, wie sich das Gesicht Weersmas entspannte, »dann können Sie in zwei Stunden schon wieder in der Luft sein.« 201
»Sie meinen wirklich, wir …« »Ohne Ihre deutschen Intelligenzbestien natürlich. Die laden Sie aus. Dann, mit meinem Segen und den übrigen Helden, können Sie wieder starten.« Weersma sah seinen Kapitän strahlend an. Man merkte, wie sehr ihn, trotz aller äußeren Ruhe, die Angst in der Gewalt hatte. Steiner schwieg. »Wir können einfach wieder starten … Sie bleiben da, mit den zwan zig … eh … deutschen Passagieren – und wir …« Steiner schwieg. »Sie fliegen, wohin Sie wollen. Zum Mond meinetwegen! Sie sehen, wir sind noble Leute!« Weersma lachte, kurvte, sah gespannt Steiner an. Steiner schwieg. »Ihr Boss ist nicht ganz so begeistert wie Sie!« sagte Lohmar und war selber über Steiners Verhalten überrascht. Der sog an seiner Pfeife, warf prüfende Blicke auf Kurs, Höhe, Trieb werkanzeigen und sagte endlich: »Ich könnte jetzt den großen Helden darstellen und folgendes erwi dern: Meine Passagiere sind mir anvertraut. Ich denke gar nicht daran, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Aber das sag' ich gar nicht …« »Was denn, was denn?« forschte Weersma unruhig. »Wenn wir bei unseren zwanzig Astronomen bleiben, riskieren wir die glückliche Heimkehr der übrigen – das sind mehr! Ist das besser?« »Das sag' ich auch gar nicht«, wiederholte Steiner gelassen. »Was ich sage, ist: Wenn wir schon nicht legal und sicher mit unserer Boeing in Kabul landen können, weil die Landebahn zu kurz ist …« »Sie haben recht!« bestätigte Weersma trostlos. »Wir werden auf keinen Fall wieder starten können!« sagte Steiner und klopfte seine Pfeife aus.
Ingrid hatte als erste das verabredete Klingelzeichen gehört und eilte ins Cockpit. 202
Inger hatte sich mit dem Rücken gegen die hintere Galleywand ge lehnt. Die Pistole locker in der rechten Hand, überwachte sie die Ka bine. Am anderen Ende ihres Blickbereichs stand der Bär und glotzte mit unbeweglichen Gesichtszügen über die Köpfe der Passagiere. Fast alle hatten die Köpfe merklich eingezogen, als fürchteten sie aufzufal len, hervorgezogen und kurzerhand erschossen zu werden. Der Mit telgang war blockiert durch den Leichnam, über den sich Frau Bauer geworfen hatte. Ihre hysterischen Schreie waren in ein leises Schluch zen übergegangen; sie lag wie eine Liebende über ihm und rührte sich kaum noch. Nur Karen hatte sich um sie kümmern wollen; aber Inger hatte sie kurz fortgezogen und ihr befohlen: »Mach mir mal einen Verband! Aber ohne Arsen!« Karen hatte sie verbunden. Danach hatte sie sich übergeben. Geistesgegenwärtig konnte sie noch den Deckel des Abfallcontai ners in der Galley heben. Der Gestank von Erbrochenem und Blut war unerträglich. Die fünf Kinder des indischen Ehepaars, die nicht zur Toilette durften, hatten sich kurzerhand niedergehockt. Trübe Brühe quoll unter ihren Sitzen hervor und vermischte sich mit dem Blut des Toten. Dann stand sie scheu in der hinteren Galley. Hier fühlte sie sich nicht wohl. Solange sie für die Passagiere beschäftigt sein konnte, spürte sie keine Angst. Die beiden Schwedinnen flößten ihr Unbehagen ein. Ihre Kolleginnen saßen regungslos und sehr blaß wie verschreckte Küken auf der Notbank zusammengedrängt. Eine von ihnen, Kay Sanders, lä chelte ihr tapfer zu. Wenn wir nur erst in Teheran wären! dachte sie. Wenn sie ihm nur nichts tun! Wenn er nur die Maschine heil hinunterbringt! Wenn, wenn, wenn! Aber Teheran hat eine Riesenbahn, Radar und gute Nachtbeleuchtung, da wird er selbst mit einer Pistole an der Schläfe si cher landen! Michael schon, der schon. Unsere Pläne für Teheran, un sere wunderbaren Träume – was wird davon bleiben? Wenn ich nur endlich einmal ins Cockpit könnte, sehen, was dort eigentlich läuft! Dieses irre Gewitter! Jetzt sind wir hindurch! Der Mond leuchtet, den 203
hätten wir morgen nacht bei Shasavar am Kaspischen Meer aufgehen sehen können! Karen hatte noch nie einen Toten gesehen. Jeder Gedanke, der sie ablenkte, war ihr recht. Sie versuchte krampfhaft, an angenehme Din ge zu denken … Die Elbe im Nebel … tiefe Schwaden über dem grau en Tidewasser, darüber stahlblauer Himmel. Die Schiffe dröhnten tief ihre Signale … hör mich, hör mich … ihre Masten hoben sich farblos aus dem Grau … Dahinter lag das andere Ufer, lag Cranz mit der Este, mit den kleinen hübschen Werften, wo die Fischkutter auf der Reling ruhten, lag Michael Steiners stilles Backsteinhaus mit dem Storchen nest auf dem Giebeldach … kamen eigentlich noch Störche ins Alte Land geflogen? Sie mußte ihn unbedingt fragen, es war sehr wichtig, das zu wissen … Ingrid kam aus dem Cockpit zurück. Fast tänzelnd umging sie den toten Bauer und richtete ihren Zeigefinger wie einen Pistolenknauf auf Karen: »Dich will der Boss sprechen! Mach, daß du ins Cockpit kommst!« Karen lief schon. »Halt! Stop! Der Boss befiehlt: Bring ein Wie-heißt das mit! Ein Lungengerät. Was mit Sauerstoff! Okay?« »Ein Atemgerät?« Sie hatte schon ins Hutregal gegriffen, sich das Sauerstoffgerät um gehängt. »Für wen?« »Da hängt noch so 'ne Leiche rum wie hier!« »Mein Gott! Wer?« »So 'ne Art Pilot wahrscheinlich. Geh mal rein!« Sie stürzte nach vorn. Sprang über den Leichnam, über geronnenes Blut und rinnenden Urin. Durch die erste Klasse. Die Wissenschaft ler reinigten sich gegenseitig mit Kleenextüchern. Der Japaner lag re gungslos zu Füßen des großen Bärs. Sie öffnete die Cockpittür … – Gott sei Dank, Michael saß lebendig und wohlauf auf seinem Platz … »Hier ist ein Schlappmann, der braucht 'n bißchen Lunge, Schätz chen!« sagte Lohmar. »Und keine Privatgespräche! Gleich landen wir in Kabul!« 204
Karen hatte sich schon über De Laer gebeugt. Jetzt knallte die schwe re Flasche des Sauerstoffgeräts auf den Tisch. »In Kabul?« »Afghanistan. Hübsches Städtchen. Viel Wüste drumrum. Sehr heiß im Mai. Ist aber nicht deine Sorge, wenn dein Herr und Gebieter sich ordentlich verhält! Mach ihn lebendig, den Komplikationsminister; und dann verdufte, Biene!« Sie beugte sich über den Bordingenieur. Sie setzte das Atemgerät an, wie sie es gelernt hatte. Nach kurzer Zeit kam er zu sich; das gab ihr neuen Mut. De Laer richtete sich auf, schlug die Augen auf, blinzelte, sagte, tief Luft einschlürfend: »Raus damit, raus damit!« Dann waren die Schmerzen da. Sie schienen seinen Kopf zu zerrei ßen. Er griff sich in panischer Angst an die Schläfen und starrte Stei ner mit weit aufgerissenen Augen an. Steiner lächelte ihm krampfhaft zu. »Ich weiß, es ist scheußlich. Aber versuchen Sie, zu sich zu kommen. Ich brauche Sie noch!« De Laer atmete tief durch; aber man sah, wie jeder Zug ihm Schmer zen bereitete. »Sind wir … sind wir wieder unter uns?« »Tut mir leid, ich bin noch da!« sagte Lohmar kalt. De Laer sah sich erschrocken um, versuchte, Zusammenhänge zu er fassen, erfasste sie, entschuldigte sich: »Tut mir leid, Skipper!« Er überflog die Instrumente. »Öldruck okay, Generatoren kerngesund, wir haben noch vierzehn Tonnen!« »Wir machen mal die descent checks!« ordnete Steiner an. »Wir fan gen gleich mit dem Abstieg an!« Wie in Trance langte De Laer an die Schalter für die Treibstoffhei zung und begann, das Landegewicht auszurechnen. Steiner entging nichts. »Unnötige Arbeit!« unterbrach er. »Wir lassen noch Treibstoff ab vor her. Ich möchte mit nicht mehr als sechs Tonnen landen!« 205
»Okay!« sagte De Laer stupide und rechnete schon wieder. »Warum lassen wir Treibstoff ab, warum landen wir in Kabul?« frag te Karen aufgeregt. »Hör mal …« Steiners Gesicht zeigte nervöse Anspannung. Er korri gierte sich sofort: »Hören Sie, wir haben jetzt eine Menge Sorgen hier vorn …« »Soll ich die Kabine für eine Notlandung vorbereiten?« »Gute Idee! Sie wissen, was Sie zu tun haben!« Sie wußte es: lose Gegenstände verstauen, alle Verzurrungen über prüfen, die Notausgänge frei machen. Tüchtige Männer an die Notfen ster setzen. Die Schuhe ausziehen, Schlipse entfernen lassen. Anwei sungen für das Verhalten beim Aufprall geben: Den Oberkörper nach vorn beugen, die Hände unter den Knien zusammendrücken, tief den Kopf senken, mit Kissen abpolstern. Sie sah zögernd Lohmar an: »Kann ich eine Ansage machen?« »Was für 'ne Ansage?« »Über das Verhalten im Notfall.« »Was für einen Notfall?« »Ich dachte … wenn wir …« »Wenn wir was?« »In Kabul landen …« »Tun wir, ja! Also was?« »Falls etwas schief geht …« »Was geht schief?« »Schiefgehen könnte …« »Ich will dir was sagen!« Jetzt wurde Lohmar deutlich und heftig. »Wenn etwas schief geht, dann werdet ihr dahinten alle mit uns hops gehen! Oder glaubst du etwa, wir rennen uns hier vorn den Schädel ein, und ihr sollt davonkommen? Und jetzt verdufte!« Schockiert verließ Karen das Cockpit. Sie hatte sich die ganze lange qualvolle Zeit danach gesehnt, bei Mi chael zu sein. Sie hatte gedacht: ein Blick, ein einziges Zeichen von Zusammengehörigkeit – alles ist gut … Solange wir zusammen sind, 206
kann nichts passieren. Ein Lächeln, alles ist halb so schlimm … Jetzt werde ich aus dem Cockpit geworfen. Sie wurde abgelenkt durch die Ansage Ingrids: »… werden wir bald in Kabul landen. Nach der Landung wird sich jeder so verhalten wie bisher: Jeder bleibt angeschnallt auf seinem Sitz. Wer den Versuch macht aufzustehen, wird erschossen. Ein Teil von euch wird bald weiterfliegen können. Einige andere Leute werden bei uns am Boden bleiben. Macht keinen Ärger! Gleich nach der Landung werden wir zur besseren Sicherheit ein paar hübsche Dynamitpäck chen in der Kabine deponieren. Ein böses Wort – und ihr fliegt in die Luft! Alle!« … »Hallo Seven-Seven-Three!« sagte Kabul Tower plötzlich aus der Funkstille. »Höre, Sie machen Notlandung. Sie sind freigegeben zur Landung. Aber zu Ihrer Information: Dieser Platz ist gesperrt für Ihre Maschine!« »Sind wir nun freigegeben zur Landung oder nicht?« fragte Weers ma, als habe er die Hoffnung, doch noch durch ein Landeverbot nach Teheran gelangen zu können. »Sie sind freigegeben, aber der Platz ist während der Nachtstunden und für Ihren Typ gesperrt!« sagte der Tower orakelhaft. »Wir sind noch immer in 35.000 Fuß und lassen jetzt erst mal Treib stoff ab!« mischte sich Steiner ein. Er hatte die spärlichen Informationen über den Notlandehafen Ka bul International studiert. Der Vierlettercode für Kabul hieß OAKB. Die Landebahn hatte die Richtung 110/290 Grad. Das einzige Funkfeuer stand in Richtung 285 Grad von der Landebahn 29. Die Anflugfrequenz war 120.3, die Turm frequenz 118.1 – darauf sprachen sie jetzt. Die Landebahn war 147 Fuß breit und 9.184 Fuß lang, das überraschte Steiner. Damit konnte man eine Menge anfangen, das war mehr, als ihm auf so manchem deut schen Hafen zur Verfügung stand. Weshalb war die Bahn denn ge sperrt für die 707? Er kam rasch darauf. Die Höhe Kabuls betrug 5.871 Fuß über dem Meeresspiegel. Je höher ein Platz lag, um so dünner und weniger trag 207
fähiger die Luft, um so länger mußten die Start- und Landebahnen sein. Trotzdem: Er war angenehm überrascht. Dann stieß er auf die entscheidende Zahl: SICHERHEITSHÖHE 17.500 Fuß … Das bedeutete: Um den Platz herum standen Berge bis zu fünfeinhalb tausend Meter hoch! Es gab keine Funkhilfen, die das Um- und Durch fliegen dieser Berge und Pässe ermöglichten. Aus diesem Grund konnten Anflüge nur nach Sicht und nur während der Tagesstunden stattfinden. Er drückte sein Gesicht gegen die Scheiben. Jetzt sah er im Mondlicht die Gipfel lehmgelb aufglühen. Das diffuse, durch hohe Zirren gefilterte Licht irritierte und ließ kei ne Schätzungen zu. Zwischen den Lichtern der Siedlungen und Stra ßen schwebten dunkle Schatten. Er wußte nicht, war es Flachland oder Hochgebirge. Er wandte sich zum letzten Mal Lohmar zu. »Sie haben Mut!« sagte er einfach. »Wenn Sie mir nicht den Befehl für diesen Selbstmord geben würden, würde ich lieber abspringen oder nach Rotchina fliegen!«
»Wir lassen jetzt Treibstoff ab!« kündigte Steiner an. »Checkliste!« Weersma las die einzelnen Punkte vor. Er hatte, außer beim Trai ning, noch nie Treibstoff abgelassen. Eine Reihe von Sicherheitsmaß nahmen war erforderlich: Niemand an Bord durfte rauchen. Die Ge schwindigkeit mußte auf 240 Knoten reduziert werden, da sich sonst die ausfahrenden Ablaßrohre verbiegen konnten. Es durften keine Kreise geflogen werden, weil sonst das Flugzeug mit seinen glühenden Turbinenteilen in die eigenen Kerosinsprühfahnen geriet. Die Lande klappen mußten eingefahren sein, da sie den Strom der ausströmen den Kerosinfahnen gegen das Leitwerk lenkten. Die Ablaßrohre fuhren aus. Alle Checkpunkte waren erfüllt. Trotz dem spürte Weersma, wie angespannt er auf seinem Sitz hockte. Er hatte einmal von einem Flugzeug gehört, das beim Treibstoffablassen explodiert war – diese Erinnerung hing ihm an. Lohmar war der ru 208
higste von ihnen. Wer keine Ahnung von den möglichen Komplikatio nen hatte, hatte keine Furcht. Glückliche Laien! dachte Weersma ver zweifelt, dann sagte Steiner: »Dump fuel!« Jetzt liefen mehr als acht Tonnen Treibstoff aus den Tragflächen tanks – fast 6.000 Liter. Wenn diese Idioten von Entführern wüssten, wie gefährlich und kriminell ihre Handlungen sind, dachte Weersma angespannt und bitter, dann … Und wenn diese Idioten von Journa listen diese Verbrecher nicht noch wie Stars vorstellen würden … Die Sheila zum Beispiel … Eine geheimnisvolle, faszinierend-exotische Schönheit, die für ihre Ideale ihr Leben einsetzt … Großaufnahme. Vom Leben der Passagiere ist weniger die Rede, die sind nicht ganz so photogen. Und die Piloten – die Piloten sollten gefälligst nicht so mit ihren Ängsten kokettieren, was wissen die schon von der Fliegerei! Schließlich ist kaum jemals ein Flugzeug bei einer Entführung verun glückt! Na bitte, wenn das kein Beweis für die Harmlosigkeit der Ent führer ist, diese Schweine! »Fuel dump gestoppt!« sagte De Laer lakonisch. Außer den technischen Codewörtern hatte er noch keine Äußerung getan. »Okay!« Steiner warf einen flüchtigen Blick auf die Instrumente des Bordingenieurs. »Treibstoffablaßhähne zu. Treibstoffablaßrohre ein fahren!« »Fahren ein!« Sie lasen den Rest der Checkliste. Jetzt wogen sie nur noch 85 Ton nen. Aber sie besaßen auch nur noch Treibstoff für knapp anderthalb Stunden. »Wird's bald mit der Landung?« forschte Lohmar ungeduldig. »Mei ne Freunde unten warten sich die Beine in den Bauch!« »Sie sind zur Landung freigegeben, aber der Platz ist für die Nacht gesperrt!« wiederholte das Orakel von Kabul stereotyp. »Wissen Sie, was das auf deutsch heißt?« fragte Steiner Lohmar. »Das bedeutet: Sie dürfen sich gern das Genick brechen, aber wir haben Sie gewarnt!« 209
24
D
er einzige an Bord der JETSTREAM, der Kabul kannte, war Bronn. Die Ankündigung der Kursabweichung löste bei ihm zwiespältige Gefühle aus. Einerseits wußte er zuviel von der Fliegerei, um nicht die Gefahren einer Flugzeugentführung zu erkennen. Au ßerdem war er erschöpft von der langen Globetrotterei und reisemüde. Andererseits reizte ihn sofort das Neuartige und Außergewöhnliche – der Abenteurer in ihm kam zum Durchbruch. Als er die steile Sturzlage des Flugzeugs erkannte, die Gipfel vorbei schießen sah, spürte er nichts als nackte Angst. Er kämpfte mit der Versuchung, ins Cockpit zu stürzen, zu rufen: Lassen Sie mich mal! Ich kenn' mich hier aus; es gibt da einen Bergrücken, die Bemaru-Hö hen … Er sah Karen aus der Galley zurückkommen. Ihr Gesicht strahlte al les andere als Ruhe und Zuversicht aus. Sofort richteten sich die Augen sämtlicher Passagiere auf sie. Als sie sich dessen bewußt wurde, ver suchte sie reflexhaft ein idiotisches Lächeln. Sie gab auf und ließ sich neben ihn plump in den Sitz fallen. Ihre sichtbare Beunruhigung akti vierte sofort seine Beschützerinstinkte. Er riß sich zusammen. »Ehrliche Angst beruhigt manchmal mehr als gespielte Gelassen heit!« sagte er und grinste fast dabei. »Sie haben Mi … sie zwingen den Kapitän, in Kabul zu landen. Der ist für uns gar nicht zugelassen!« »Was passiert, wenn wir unten sind?« »Keine verdammte Ahnung! Bin froh, wenn wir das überstehen!« »Bedenken? Bei dem Kapitän?« »Natürlich nicht! Grundsätzlich! Aber es gibt Anforderungen und Zumutungen, denen ist selbst …« 210
»Kennen Sie ihn näher?« Bronn sah sie forschend an. Er versuchte, sich auf diese Frage zu kon zentrieren. Er war froh, einen Angelpunkt gefunden zu haben … ir gendein Thema, für das man Interesse vortäuschen und wodurch man sich ablenken konnte. »Gut, ja. Einer der Besten, Ruhigsten!« Bronn sah sie prüfend von der Seite an. Noch immer hatte er kein persönliches Interesse, sondern versuchte nur, sich zu konzentrieren. »Wenn Sie … falls Sie … persönlich … Lassen Sie das nur nicht ei nen der Entführer merken.« Er ertappte sich dabei, wie er krampfhaft andersartige Probleme konstruierte. »Man weiß nie, was uns noch bevorsteht. Man könnte das gegen Sie … Sie einfach damit erpressen, vielleicht.« Karen hatte nervös in ihr Täschchen gegriffen und sich eine Zigaret te angezündet. Schon die Zigarette zwischen den Fingern verlieh ihr ein Gefühl von Festigkeit; sie spürte Vertrautes. Als sie ausatmete, be ruhigte sich auch ihr Atem. »Sie machen mir Freude, ehrlich!« Sie warf einen flüchtigen Blick auf seine verstaute Reiseschreibmaschine. »Keine Lust mehr? Hat man Ih nen die Freude an den Wolken verdorben?« Sie spürte mit Erstaunen, wie sie neben Bronn rasch die alte Ironie zurückgewann. »Wie wär's mit Wolken über Kabul? Da stoßen wir dann gleich blindlings hin durch!« »Ich kenne Kabul! Ich war schon in Afghanistan, als davon nichts weiter bekannt war als Karawanen der Nacht von Michener.« »Dann erzählen Sie doch! Reden Sie einfach drauflos!« »Ihnen ist, trotz aller Frotzelei, mulmig zumute, was?« »Wie Ihnen auch! Allerdings …« Sie grinste ihn unverhohlen an. »Sie armer Hund müssen dafür noch bezahlen!« »Sie vergessen, daß ich Journalist bin, wenn auch nur ein so genann ter freier! Wenn ich heil davonkomme, kann ich viel Geld mit meiner Angst machen!« »Und ich habe Sie für einen verkappten Romantiker gehalten! Was 211
wissen Sie von Kabul? Erzählen Sie irgendwas, geben Sie Stichwor te! Die letzten fünf Minuten vor der Landung sind die schlimmsten! Nichts als Finsternis und Berge!« »Kabul ist eine abenteuerliche Stadt. Durch die Straßen ziehen Ka mel- und Eselskarawanen, dazwischen finden Sie Schafe, Ziegen, VWs, russische Moskovitch, italienische Fiats …« »Auch Karakulschafe?« »In großen Mengen! Die Männer tragen Turbane oder Mützen aus Karakulpelz. Am Kabulfluß können Sie das typische Volksleben stu dieren. Wenn man Sie warnt, als Frau dort allein hinzugehen, hören Sie nicht darauf.« »Nonsens, wie überall! Mein Gott, ich bin schon allein auf den dun kelsten Bazars des Mittleren und Fernen Ostens gewesen.« »Wenn Sie später Zeit und Muße haben, lesen Sie mal über die histo rischen Helden nach, die dort eine Rolle spielen.« »Ich kenne nur Alexander den Großen.« »Mahmood von Ghazni. Babur. Nadir Shah Afshar. Ahmad Shah Durrani. Dschingis Khan natürlich auch.« »Dschingis Khan natürlich, ja.« Sie hörte nur noch mit einem Ohr zu und drückte schon wieder die Zigarette aus. »Mein Gott, wenn wir gleich landen, muß ich doch wenigstens die Gurte überprüfen!« Sie sprang auf. »Falls ich bis zur Landung nicht zurück bin: Pressen Sie Ihren Kopf fest auf die Oberschenkel! Halten Sie Ihre Arme unter den Kniekehlen zusammen! Ich versuche inzwischen, das den übrigen un ter der Hand beizubringen!«
Endlos glitt die JETSTREAM durch die Finsternis. Lohmar beschuldig te sich jetzt, nicht alle Details seines Entführungsplanes sorgfältig genug nachgeprüft zu haben. Die Ausweichlösung KABUL war sein ganz be sonderer Stolz gewesen. Drei PHRYXX-Angehörige spitzten in der Stadt die Ohren und hörten die entsprechenden Frequenzen ab, um bei einer eventuellen Ausweichlandung am Flughafen parat zu sein, den Botschaf 212
ter zu informieren und alles nach Plan INSAF ablaufen zu lassen, INSAF war die Urdu-Bezeichnung für Gerechtigkeit; und die Ausarbeitung die ses Plans war wesentlich komplizierter als die für den Teheranflug. »Warum läßt du von der Luft aus den Botschafter von Kabul nicht genauso rufen wie den von Teheran?« hatte der Boss ihn gefragt; und er hatte diesen Idioten erst auf die direkte Landlinie von Teheran nach Deutschland und auf die fehlende von Kabul nach Deutschland hin weisen müssen. Man konnte unmöglich in der Luft bleiben, bis der Botschafter Kabuls Verbindung mit Bonn hergestellt hatte. Umgekehrt konnte man nicht einfach in Teheran landen und warten, bis alle Ver handlungen beendet waren; keiner von ihnen kannte sich dort aus, und man verfügte über keinen einzigen PHRYXX. Voller Stolz über seine Idee mit dem PHRYXX-besetzten Afghani stan hatte er sich durch die pompöse Bezeichnung Kabul Internatio nal bluffen lassen. Er war nicht auf die Idee gekommen, der Platz kön ne für eine Boeing 707 gesperrt sein und während der Nacht noch be sondere Schwierigkeiten verursachen. Die mußte er jetzt ausbaden. Er spürte allmählich seine Nerven. Erfolge, die ihm zu seinem En derfolg verhalfen, hatte er kaum zu verzeichnen. Er machte Bilanz: Keine Verbindung mit Teheran. Ein aufsässiger Kopilot. Ein aufsäs siger Bordingenieur. Ein Toter in der Kabine. Kritische Situation im Gewitter. Jetzt: ein wirklich übler Anflug auf Kabul. Wenn die Bahn nur halb so gut erleuchtet wäre wie die verfluchte Stadt, dachte er. Sein Rücken war klitschnass. Zum ersten Mal hatte er im Mondlicht Berggipfel auftauchen sehen, direkt neben der Fläche. Das Cockpitlicht, obwohl gedämpft, blende te ihn. Er hoffte, daß Steiner, der seine Nase an der Scheibe hatte, mehr sah. An der Anspannung des Kopiloten erkannte er, wie brenzlig die Situation war. Aber er durfte jetzt nicht nachgeben. Die Blamage wäre vollkommen; bei der PHRYXX hätte er ausgespielt. Alles schien sich gegen ihn verbündet zu haben: Wetter, Technik, Menschen. Im Cockpit, getrennt von den anderen, fühlte er sich von allen und allem verlassen. Sein Nasenbein stach und reizte ihn. Er massierte die alte Stirnnarbe – sogar sie meldete sich. 213
»Jesus!« entfuhr es ihm unwillkürlich, als er jäh die Maschine zwi schen zwei kahlen Steilhängen hindurchjagen sah. »Ihr Kamikaze-Pi loten wollt mich umbringen, gebt es nur zu!« Aber niemand antwortete ihm. Steiner hatte sich entschlossen, in Vollkreisen um das Funkfeuer KB Höhe aufzugeben – so rasch wie möglich. »Fahrwerk aus!« Rauschend fuhr das Fahrwerk aus den Schächten. »Klappen 25 Grad!« Steiner drückte die Maschine auf den Kopf und ging kreisend im gebremsten Sturzflug hinunter … 33.000, 31.500, 29.000 Fuß spul te der Trommelhöhenmesser ab. Das Fahrwerkausfahren täuschte eine baldige Landung vor; auch Lohmar fiel darauf herein. Verzwei felt suchte er den Höhenmesser und hielt Ausschau in der Schwär ze vor ihm. Als er den Höhenmesser entdeckte und 25.000 Fuß an zeigen sah, merkte er, daß die Steilhänge tief unter ihnen gewesen sein mußten und daß die Schräglage des Flugzeugs falsche Relatio nen vortäuschte. Er begann die Übersicht zu verlieren, das flößte ihm Angst ein. Die Angst vor dem Zerschellen hatte sich schlagartig über die ganze Kabine ausgebreitet. Der steile Abstieg, der Druck auf die Ohren, das Orgeln des Fahrwerks hatte alle aufgeschreckt. Einer der Japaner am Fenster hatte einen spitzen, alarmierten Schrei ausgestoßen, als er die Steilhänge im Mondschein neben sich sah. Er hatte sich durch das ganze Flugzeug fortgepflanzt. Fast alle Passagiere hatten plötzlich unbewußt eine verkrampfte Haltung eingenommen: Mit weit zurückgestrecktem Oberkörper und hochgerissenem Kinn waren sie wie ägyptische Statuen erstarrt. Frau Bauer fiel als einzige aus der Rolle. Karen hatte einen letzten Versuch gemacht, sie von ihrem Mann zu trennen, und sich dann ein fach angeschnallt. Sie kannte derartige Abstiege mit ausgefahrenem Fahrwerk und hatte volles Vertrauen zu Steiner. Sie kämpfte mit der Versuchung, ans hintere Mikrofon zu rennen und die Passagiere zu beruhigen. 214
Der Bär stand jetzt noch wie ein Fels in der Brandung, mit gleichfalls durch die Schräglage verzerrter Körperhaltung. Zu seinen Füßen lag der Japaner und rührte sich nicht. Der Bär beob achtete sachlich, aber ohne tieferes Interesse, den gewaltigen Schweiß fleck, der sich auf seinem Hemd über der Bauchpartie ausbreitete. »Ihr Brüder macht das aber spannend, wie?« fragte Lohmar unbe haglich. Wieder gab niemand Antwort. Der Höhenmesser zeigte 12.000, 10.000 Fuß – jetzt kam man unwiderruflich in den Bereich der Berge. »Dabei geht's euch doch glänzend!« fuhr Lohmar fort, um seine Angst zu überbrücken. »Ihr landet, schmeißt uns und die zwanzig Ge hirnakrobaten raus und könnt wieder starten! Das macht ihr schon, auch wenn die Bahn ein bißchen kurz ist, das könnt ihr doch! Aber wir, wir bleiben hier sitzen! Denn die PHRYXX, die besteht aus Gen tlemännern, und was der Lohmar verspricht, das hält er auch! Einzi ge Bedingung: Ihr bringt mich heil runter, absolut heil! Ein einziges Schrämmchen – ihr seid geliefert!« »Noch zwei Vollkreise, dann liegen wir in Anflugposition!« sagte Steiner. »Sehen Sie zufällig den Platz?« fragte Weersma, das Gesicht an die Scheiben gepresst. »Keine Spur!« sagte Steiner. Das nächste Mal, dachte Lohmar, entführe ich eine Lokomotive. Oder einen japanischen Supertanker! Nie mehr ein Flugzeug! Nie mehr! Kreisende Finsternis, Vollmond, bleiche Berghänge, Mauern, Lehm hütten, eine Moschee. »Neuntausend Fuß!« sagte Weersma. »Okay, ich kurve ein!« sagte Steiner. »Die letzte Checkliste! Ich fliege bis zum absoluten Minimum runter. Dann muß sich irgend etwas zei gen. Die Sicht ist doch gut!« »Sie landen! Sie laden uns aus!! Sie starten wieder!!!« ermutigte Loh mar hilflos. Sie lagen in Anflugrichtung. Die schneebedeckten Gipfel des Hindu kusch oder Pamir oder Koh-i-Baba glänzten neben Weersma auf. Sie 215
hatten keine Anhaltspunkte über die Lage im Raum, zum Horizont, zur Landebahn. Sie sanken gleichmäßig mit 700 Fuß, nachdem sie das Funkfeuer passiert hatten. »Dort!« schrie Weersma. »Zwei-Uhr-Position!« Steiner kurvte sofort nach rechts. Stellte fest: »Fehlanzeige! Straßenbeleuchtung!« Er kurvte zurück. Sie waren noch vierhundert Meter über Grund. »Da vorn …«, zögerte er dann. »Das muß die Bahn sein! Das muß sie sein!!« Es schien, als wolle er mit dem MUSS die Bahn beschwören. Er wuß te: Das Durchstartmanöver durfte nicht stattfinden! Direkt in Start richtung standen steile Berggipfel. Nur wer mit den örtlichen Verhält nissen vertraut war, wußte, wie er ihnen entgehen konnte – bei Tage! Er erkannte rote, blaue, grüne Lichter. Dort – diese Aneinander reihung von Weiß, durchsetzt mit Blau –, das mußte die Bahn sein. Über Höhe und Schräglage hatte er keine Anhaltspunkte. Jetzt spür te er, wie erschöpft er war … Reiß dich zusammen, befahl er sich laut. Fahrt! Höhe! Richtung! Was ist mit Triebwerk drei? Zuwenig Lei stung! Nachschieben! Du treibst nach links ab! Gas raus! Gas rein! Höhe korrigieren! Dort, das ist der Aufsetzpunkt, viel zu hoch! Gas raus! »Volle Klappen!« Weersma riß den Hebel in die äußerste Position. »Das ist sie!« rief er ermutigend. »Das ist die Bahn!« Steiner jonglierte wie ein Akrobat auf dem Hochseil, und er wuß te, daß er kein Netz zur Verfügung hatte. Er wußte, und er sah jetzt, wie kurz die Bahn war. Er schwebte noch immer, er schwebte dem na hen Ende zu. Runter, du Biest! murmelte er. Aber die Bahn war warm von der Hitze des Tages, und er schwebte, schwebte … Er riß das Gas heraus, jetzt oder nie! Er knallte auf die Bahn, aber er war unten. Er riß den Hebel für die Störklappen heran, er zwang die Schubhebel in Umkehrschub; und donnernd bremsten die Turbinen. Er trat voll in die Fußbremsen, er griff ans Bugrad, hielt die schlingernde Maschi ne geradeaus. Die roten Warnlichter des Bahnendes rasten auf ihn zu. 216
Die Schubdüsen donnerten, die Fußbremsen kreischten. Dann folgten zwei, drei scharfe Knalle. Fast gingen sie unter im orgelnden Lärm. Aber Steiner hatte sie deut lich gehört, und er wußte, was sie bedeuteten. Er sah Weersma kurz an; Weersma starrte fasziniert geradeaus auf die blendend roten Lichter, die das Ende der Bahn ankündigten. »Wir stehen!« murmelte er wie ein Betrunkener. Steiner ließ alles los. Er sackte plötzlich zusammen, als habe man Luft aus einem Kissen gelassen. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen; und als er sich wieder auf richtete, rann der Schweiß herab wie Regenwasser. Er wandte sich Loh mar zu und flüsterte: »Wenn ihr Schweine wüsstet, wie ihr mit euren Entführungen unser Leben gefährdet!«
25
A
li Azizi schob den Rundfunkempfänger beiseite und lehnte sich grinsend zurück. Er hatte das Gespräch zwischen Kabul Tower und TC 773 mitgehört; und es gab weiter nichts zu tun, als zum Tele fon zu greifen und den Botschafter anzurufen. Danach würde er an den bereitstehenden Bus gehen, seine vier Helfer aus dem Schlaf auf scheuchen und losfahren. Er rieb sich die knochigen, verschwielten Hände. Endlich brauch bare Arbeit in diesem Land; endlich Geld, Spannung und Abenteu er dazu! Ali Azizi gehörte der Rasse der Pathans, der Pashti oder Pushti und somit der führenden Oberschicht an. Aber das wollte nicht unbedingt viel besagen in einem kargen Land wie Afghanistan. Die Pathans stell ten die letzten Nachkommen der blonden, blauäugigen Arier dar; sie 217
waren voller Stolz und Verachtung für alle, die weniger glücklich in ih rer Abstammung waren. Sie hatten im neunzehnten Jahrhundert die englischen Imperialisten zurückgetrieben. Jetzt lebten viele Stämme als Nomaden. Aber auch die kümmerlichsten unter ihnen wußten vol ler Stolz, daß der regierende König ein Pathan vom Stamme der Mu hammadzai war. Ali selber schien mehr türkisch-persischer Abstammung zu sein. Zwar besaß auch sein Gesicht die typischen Merkmale der hohen, lan gen Stirn und der hoch angesetzten, ausgeprägten Nase, aber er war außergewöhnlich dunkelhäutig. Er griff zum Telefon und rief an. Die PHRYXX war eine erstklassi ge Geheimorganisation: Was sie plante, war bis in die letzten Details durchdacht. Ihr war bekannt, daß der Botschafter zu dieser Zeit und an diesem Tag nicht unter seiner gewöhnlichen Nummer zu erreichen war: Im KABUL INTERCONTINENTAL wurde ein Empfang gege ben.
Von Benrath war relativ jung für seine Position. Andererseits saß man in Kabul nicht gerade im Schnittpunkt des Weltgeschehens. Die aufregendste Affäre, die er bisher zu bewältigen gehabt hatte, war die mit den sieben deutschen Volkswagen gewesen. Sie waren der Kabuler Polizei von der deutschen Bundesregierung im Namen des deutschen Volkes übermittelt worden. Eines Tages war das hochherzi ge Geschenk auf dem Seewege im Hafen von Karatschi angekommen; und natürlich dachte niemand in Pakistan daran, den erforderlichen Einfuhrzoll zu zahlen. So rostete die deutsche Wertarbeit im Zollla ger lange vor sich hin, ehe diese Angelegenheit geklärt war. Dann wur den die Fahrzeuge mit teuer gemieteten pakistanischen Fahrern durch die Wüste bis an den Khyberpaß gefahren. Als sie verstaubt und ver schlammt eines Tages dort eintrafen, ergaben sich die gleichen Ein fuhrprobleme noch einmal. Natürlich hatte niemand in Bonn an der artige Schwierigkeiten gedacht; und da niemand der abholenden Fah 218
rer bereit war, die Fahrzeuge in seinen Paß eintragen zu lassen, stan den sie lange im bleichen Mond an der Grenze, ehe sie durch Vermitt lung von Benraths endlich nach Kabul gelangten. Natürlich war nie mand in Kabul bereit, für ein Geschenk auch noch Einfuhrzoll zu zah len; und so mußte von Benrath erst einmal eine Menge Papier ver schreiben und Privatinitiativen ergreifen, die leicht außerhalb der Le galität lagen, um die inzwischen überholungsreifen Autos nach Kabul zu transportieren. Wenn man, so pflegte er öfters nach der vierten Partystunde sehr privat zu äußern, den Intelligenzquotienten der Bonner Gehirnbrem senverwaltung mit 100 ansetzt, dann kommen die Insassen der Pflege anstalt Langenhorn (er war Hamburger) leicht auf 225! Keiner, der den Mut findet, auf eigene Faust eine Entscheidung zu fällen. Er hatte sie gefällt; und so waren die Fahrzeuge wenigstens bis Kabul gekommen; und die Missfallensäußerungen aus Bonn waren wesent lich rascher eingetroffen als die ausgelegten Gelder. In Kabul standen die VW noch heute und verrosteten, da sie in das Ausrüstungskonzept der Kabuler Polizei überhaupt nicht passten. Sein Kollege von der rus sischen Botschaft hatte sich schon ins Fäustchen gelacht: Uns kann es nur recht sein, wenn die Polizei aus deutschen Autos auf demonstrie rende Studenten schießt! So weit war es nicht gekommen; aber von Benrath hatte immer er lebt, wie der Mut zur eigenen Entscheidung nichts als Ärger einbrach te. Zumindest wenn man in einer Organisation tätig war, die derarti gen skandalösen Äußerungen von persönlicher Freiheit keinen Raum ließ. Als er ans Telefon gebeten wurde, hatte er gerade zum auf Besuch weilenden deutschen Militärattache aus Teheran geäußert: »Nun führen Sie man nicht immer grundsätzlich alles auf die prähi storischen Verhältnisse im Orient zurück. Manchmal ist an den Mis serfolgen schlicht und einfach unsere deutsche Unfähigkeit schuld!« Der Militärattache hörte derartige Redensarten nicht gern. Er hat te gerade ausführlich und unter großem Aufwand von Bedeutsam keit die Situation der afghanischen Luftwaffe dargestellt: Auf den Mi 219
litärhäfen, wie zum Beispiel in Kandahar, standen eindruckerwecken de MIG-Jäger herum. Aber die Finanzen für Pilotentraining waren so knapp, daß jeder MiG-Pilot auf weniger als sieben Stunden pro Mo nat kam. Von Benrath verließ den großen Klubsaal und ließ sich den Hörer reichen. Nach wenigen Sätzen wußte er, daß er mit dem schwierigsten und aufregendsten Fall seiner Laufbahn konfrontiert wurde.
»Sie schießen!« schrie Frau Bauer. »Die elenden Verbrecher schießen schon wieder!« Sie hatte sich jäh vom Leichnam ihres Mannes aufgerichtet. Die Ma schine war zum Stillstand gekommen; und in der Stille, die nach dem Inferno des Umkehrschubs, der kreischenden Bremsen, der scharfen Knalle über die Insassen fiel, klang ihr Schrei um so aufpeitschen der. »Sie bringen uns alle um! Sie haben nur bis zur Landung gewartet!« Das war Jack Patrinelli. Nachdem der Fahrtwind verstummt war, hörte man jede Stimme deutlich durch die ganze Kabine. Nach dem Ausrollen hatten die meisten entspannt aufgeatmet. Die Verkrampfung hatte sich gelöst. Jetzt schlug die Stimmung sofort wieder um. Panik drohte auszubrechen. Mit weit aufgerissenen Augen starrten alle auf die Frau und den G.I. Während Patrinelli sofort, fast verlegen, zurück sank unter den angstvollen Blicken, steigerte sich die Frau mehr und mehr in eine exzessive Hysterie hinein. Mit Schaum vor dem Mund, verdrehten Augen, mit weit vorgewölbten Lippen, von denen längst die Schminke in blutroten Bächen geronnen war, bäumte sie sich auf, heulte, jammerte in kurzen, abgehackten Kadenzen. Inger hatte als erste blitzschnell erkannt, daß die Kabine aus ih rer Kontrolle geriet. Mit einem Satz war sie neben der Frau, drückte den Pistolenlauf an ihre Stirn; wimmernd brach sie erneut neben dem Leichnam zusammen. »Uns sind ein paar Reifen geplatzt!« sagte Weersma in die Stille hin 220
ein, die sich im Cockpit ausbreitete. Sie hatten, nachdem Steiner die Maschine auf Anweisung Lohmars ans äußerste Ende des Rollweges getaxied hatte, die Turbinen abgestellt. »Das ist dein Problem, Junge!« Lohmar hatte tief aufgeatmet und sich sofort wieder in der Gewalt gehabt. »Jetzt paßt auf, was passiert!« Er stieß das triumphierend aus; und er hatte Grund dazu. Über die Zufahrtstraße zum Flughafen kam ein Bus geholpert. Es war einer der üblichen afghanischen Busse: Bunt und primitiv war die Holzverschalung mit ländlichen Phantasieszenen vollgemalt, das Ver deck weit über das Führerhaus gezogen, um die Sonne fernzuhalten. Der Fahrerraum war mit Teppichen ausgelegt, die Rückwand mit wei teren farbenprächtigen Szenen mit Bergen, Wasserfällen, Vögeln und Düsenjägern ausgestattet. Er kam um die letzte Kurve gebogen, als sei es das Selbstverständ lichste von der Welt, daß eben jetzt Lohmar, eigentlich auf dem Weg nach Teheran, hier zwischengelandet sei. Kurz vor der Anfahrt zum Terminal bog er scharf auf die Grasebene des Flughafens ab. Lohmar beobachtete das Abspringen von vier Männern mit umge hängten Maschinenpistolen, ein fünfter, unbewaffneter, begann, Ki sten mit Sprengladungen aus dem Innern des Busses zu zerren. Einen Atemzug lang erschien Lohmar diese Pünktlichkeit selber so unheim lich, daß er an eine Falle glaubte. »Sie haben uns umstellt!« Ruth Osterman warf angstvolle Blicke nach beiden Seiten durch die Fenster. »Sie bringen eine Leiter!« »Wenn diese verdammten Hysteriker nicht mit ihrem Geflenne auf hören, werden sie uns alle umbringen!« Ralph warf Hasserfüllte Blicke durch die Kabine. »Und wenn sie unsere Gitarren entdecken, sind wir sie los. Dann können wir einpacken!« »Ich würde gern meine Gitarre geben, wenn sie uns gehen ließen!« »Bist du irre, Ruth? Es würde Wochen dauern, ehe wir ein ähnliches Exemplar auftreiben! Nochmals Wochen, ehe wir uns darauf einge spielt haben!« Alle richteten ihre Augen schlagartig auf Steiner, der in der Galley öffnung erschien und zum Mikrofon griff. Der Bär wich nur widerwil 221
lig ein paar Zentimeter zur Seite und schob mit dem Fuß den regungs losen Japaner ebenfalls beiseite. »Meine Damen und Herren!« Die Spannung war fast körperlich spürbar. »Diese Gentlemen hier – und es sind wirklich Gentlemen – haben mich gebeten, Sie über die Lage und über ihre Absichten zu informie ren. Diese Information wird für den größten Teil von Ihnen Erleichte rung und Beruhigung bringen. Für einen anderen, kleineren Teil zu nächst weitere Spannungen. Aber wir arbeiten daran, alle von Ihnen frei zu bekommen. Die Herren haben das Bedürfnis, einige von Ihnen als Geiseln zu behalten, bis über die deutsche Botschaft in Kabul der Austausch ihrer eigenen Gefangenen stattgefunden hat. Diese kleine Gruppe wird als einzige an Bord bleiben müssen. Alle anderen kön nen sofort über die Leiter das Flugzeug verlassen. Unsere Stewardes sen werden sich um Sie …« »Sie quatschen verdammt viel, Captain!« Ingrid hatte ihm brutal das Mikrofon aus der Hand gerissen. »Ich will euch was sagen, Leute: Un sere Männer heizen jetzt diesen alten Kasten ein bißchen mit Dynamit auf. Eine falsche Bewegung – und alle … alle gehen in die Luft! Macht, daß ihr runterkommt, Leute!« Überall in den Reihen entstand Bewegung, Unruhe und Entspan nung. »Hoffentlich kriegen wir unsere Gitarren heil diese Hühnerleiter hin unter!« sagte Ralph Osterman und zerrte die beiden Instrumente hin ter der letzten Sitzreihe hervor. »Ich will dir was sagen, Ralph!« Ruth sah ihn verächtlich an. »Du bist der größte Egoist, den ich kenne!« Er warf ihr einen langen Blick zu und strich sich durch das dichte, tief in den Nacken wallende Haar. »Du bangst um dein bißchen Leben!« sagte er. »Ich um unsere Zu kunft. Wer ist der größte Egoist?« »Hören Sie mal, Stewardeß …« Gennenburg zog Vera Merkelsbach zu sich heran. »Da ist soviel von Geiseln die Rede. Wer gehört eigent lich dazu? Die japanischen Industriellen, schätze ich?« 222
Vera Merkelsbach warf einen kurzen, fast verächtlichen Blick auf den Professor. »Tut mir leid, Professor. Nicht die Japaner! Die Deutschen! Sie!!« Gennenburg sank zurück, als wäre ihm das Todesurteil verkündet worden. Aber sie war schon weitergeeilt. Die stundenlange Spannung, die Bedrohung, das Angeschnalltsein auf der Sitzbank ließen sie alles vergessen, was sie als Stewardeß an äußeren Umgangsformen einge prägt bekommen hatte. Plötzlich wurden für sie die deutschen Wissenschaftler zur Wur zel allen Übels. Es ging ihr wie der Verehrerin eines Rennfahrers, der in einem grässlichen Crash verstümmelt über die Piste geschleudert wird, schockiert wenden sich alle ab; niemand will mehr mit diesem Häufchen zerquetschten Fleisches zu tun gehabt haben. Lohmar hatte zu Steiner gesagt: »Wir bringen die Gehirnakrobaten auf dem Rollfeld unter. Die ande ren lassen wir an Bord. Mit ihnen können Sie sofort wieder starten – wir sind Ehrenmänner!« Steiner hatte ihn, fast wehmütig, angesehen, geantwortet: »Abgesehen davon, daß wir ohnehin erst genau überprüfen müß ten, mit welchem Abflug- und Treibstoffgewicht wir überhaupt starten könnten: Uns sind drei Reifen geplatzt – das löst alle Probleme!« »Ich fürchte, nicht!« hatte Lohmar geantwortet. »Wir machen's mal umgekehrt. Die Leute mit der Geistesaura als Gehirnbremse am Kopf bleiben hier. Die anderen schmeiß' ich raus, Sie inbegriffen!«
»Meine Herren«, sagte Professor Gennenburg zu seinen Kollegen, »wir wollen die Dinge vorläufig nicht ernster nehmen, als sie sind.« Er warf einen schrägen Blick auf Ingrid, die allein an Bord geblieben war. »Jetzt können wir erfahren, was wir der deutschen Regierung wert sind!« Er sah sich, fast flehend, nach ein wenig Heiterkeit um. Dr. Berner von der Sternwarte Bochum rückte nervös seine Krawat te zurecht. 223
»Wir könnten uns zum Skat zusammentun, das lenkt noch am mei sten ab. Aber die Ganovenlilly wird es nicht erlauben.« »Auf die Kraftprobe mit der Bonner Regierung würde ich es lie ber nicht ankommen lassen.« Das war Professor Blanck aus Stuttgart. »Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf ge bracht. Da würde ich glatt jede Partie verlieren.« »Außerdem wird gleich die Bordbatterie abgeschaltet!« Vera Mer kelsbach war zurückgekommen und ging durch die Reihen, um zu kontrollieren, ob alle außer den Wissenschaftlern gegangen waren. »Gleich sitzen Sie im Dunkeln.« In Gedanken fuhr sie fort: Hätten wir Sie nur nicht an Bord gehabt, säßen wir jetzt schon im Hilton in Teheran. Angst und Spannung hat ten sie nervlich erschöpft. Planlos lief sie bis in die hintere Galley, wie der zurück und kletterte die Leiter hinunter. Die Kabine bot ein Bild des Chaos. Erbrochenes, Zeitungen, vergessene Gepäckstücke (um die sie sich nicht kümmerte) lagen wirr in den Gängen und zwischen den Sitzen. »Dann sollten wir schon lieber unsere Diskussion fortsetzen, solange wir noch Kraft haben, das Maul aufzutun!« meinte Dr. Berner burschi kos. »Setzen wir ein Alter von zehn Milliarden für unsere Galaxis vor aus, so können wir mit mindestens einer Milliarde toter Pulsare rech nen. Einverstanden?« »Meine Herren, das hatten wir doch alles schon!« Das war Blanck. »Wir hatten auch schon die Energiemenge für das Milchstraßensystem zitiert, 1027 Megawatt. Wir wiederholen uns; und ich schlage doch vor, wir wagen ein Spielchen. Wir haben ja noch die Flughafenbeleuchtung von draußen.« Gennenburg: »Mein Magen knurrt. Ich hätte vorhin mehr essen sol len!« Dr. Berner: »Da kommen zwei Männer hoch. Jetzt holen sie uns. Die deutsche Regierung hat uns ausgelöst; das nenne ich prompte Reaktion!« Dr. Heller, Mainz: »Sie gehen aber weiter nach hinten. Was jetzt?« Blanck: »Die Regierung wird in die Ferien gefahren sein, da dauert es ein Stündchen länger!« 224
Dr. Berner: »Jetzt bin ich doch für ein Spielchen, das schaffen wir noch bis zur Auslösung.« Gennenburg: »Sie kommen zurück, mein Gott; sie tragen einen Mann!« Blanck: »Das ist kein Mann mehr, das ist ein Toter, das sieht man.« Dr. Heller: »Hat es denn einen Toten gegeben? Davon haben wir nichts bemerkt?« Blanck: »Und warum?« Die beiden Afghanen transportierten mühsam die Leiche die Treppe hinunter. Als sie aus der Kabine verschwunden waren, stürzten einige der Wissenschaftler an die Fenster und verfolgten, wie sie zum Heck gebracht wurde und dort unter dem Rumpf verschwand. Gleichzeitig wurde ihre Aufmerksamkeit auf neue Vorgänge gelenkt: Von den Bussen her schleppten verhüllte, dunkelhäutige Gestalten gro ße Kästen heran und stellten sie vor der Treppe ab.
26
D
er Mond ging hinter den Hügelketten unter, und Ruth Osterman hatte angstvoll die Afghanen beobachtet und die Kästen mit Dy namit gezählt, die an Bord untergebracht und angeschlossen worden waren: sieben. Beide Passagiergruppen waren jetzt eindeutig getrennt in Bevorzugte und Geiseln. Die Bevorzugten hatten sich am Bug der JETSTREAM im spärlichen Gras niedergelassen. Der Bär stand zwan zig Meter von ihnen entfernt mit schräg vor die Brust gehaltener Ma schinenpistole. Er stand regungslos, wie er schon an Bord gestanden hatte; und Ruth fragte sich, ob er nicht endlich, endlich einmal ein menschliches Bedürfnis spüren müsse. Die Banalität des Gedankens ließ sie in ein hysterisches Lachen ausbrechen; und sie stellte fest, daß sie am ganzen Körper zitterte. 225
Die beiden Mädchen hatten sich den Afghanen angeschlossen, mit ihnen einen Kreis um Flugzeug und Entführte und so eine Front ge gen alle gebildet, die versuchten, sich ihnen zu nähern. Lohmar hat te eines der Bordmegaphone geholt und einem der Afghanen befoh len, auf Pushtu jedem eine geharnischte Warnung zuzuschmettern, der sich dem Bannkreis näherte. Längst hatten sich die ersten Neugie rigen eingestellt und beobachteten aus angemessener Entfernung die Vorgänge. Im Gegensatz zu dem Bären, der wie ein Roboter auf alles ballern würde, das verdächtige Bewegungen machte, studierte Lohmar heim lich das Verhalten der Passagiere, um herauszufinden, wo sich Wider stand und Gefahr andeutete. Die Japaner würdigte er keines versteck ten Blickes: verwirrte Ameisen, deren Ordnung durcheinander geraten war. Auch die Besatzung schied aus seinem Misstrauen aus – trotz des Zwischenfalls an Bord. Was ihn ärgerte, war die Hysterie Mrs. Bau ers, die sich wegen ihres toten Mannes aufregte. Er hatte den Leich nam von Bord schaffen und abseits der übrigen legen lassen. Die Fra ge, ob diese verdammte Ballerei an Bord notwendig gewesen war, wür de er später klären. Jetzt interessierte ihn einer der Passagiere beson ders; und er ließ kein Auge von ihm … Ruth sagte: »Die armen Leute da drin! Sie sitzen auf Tonnen von Dynamit!« »Unsere Gitarren sind noch an Bord!« sagte Ralph. »Du bist der größte Egoist, der mir jemals begegnet ist!« »Egoismus – auch so ein Wort! Warum soll ich mir nicht Sorgen we gen unserer Instrumente machen? Ihr macht es euch leicht!« »Wer ist ›ihr‹? Und wieso machen wir es uns leicht?« »Die Masse, deren Moral du vertrittst, Ruth. Bloß weil da drin zwan zig Männer schmoren, wagst du nicht mehr an deine Gitarre zu den ken! Und das findest du schon moralisch! Was hast du dadurch geän dert? Nichts!« »Ich denke an die Gefahr, in der diese Geiseln schweben, du an dein Instrument – das ist der Unterschied! Ich kann einfach an nichts an deres denken!« 226
»Wie großartig! Wie edel! Wir sind in einer Ausnahmesituation, die alles in Frage stellt! Und du bist in Sorge um zwanzig Geiseln! Das wird sie retten!« »Wie pathetisch: Ausnahmesituation! Infragestellen! Ich habe ein fach Angst! Um mich! Um die Deutschen!« »Gut, daß du dir um mich keine Sorgen machst! Das erleichtert man ches!« »Erleichtert was?« Aber Ralph schwieg. Er hielt Ausschau nach einem der beiden Mädchen. Aber der einzige, der Interesse für ihn zeigte, war Loh mar. Ralph stellte fest, daß seine stahlharten, eiskalten Augen schon seit längerer Zeit auf ihn gerichtet waren. Wie ein Tierpsychologe, der das Verhalten von Ratten unter extremen Bedingungen studiert, dachte er. Diese Langhaarigen, dachte Lohmar, ich habe sie nie gemocht! Sie sind unberechenbar! Sie lehnen sich gegen jede Art von Gewalt auf! Diese Rotznase führt etwas im Schild – aber was? Ich rieche das Mei len gegen den Wind. Die beiden Weiber hätten ihn schon an Bord besser beobachten sollen! Statt dessen ballert eine von ihnen auf ei nen harmlosen Idioten – die Blödheit sieht man ihm noch im Tod an! Nichts als Ärger! Steiner näherte sich. Er hatte seine Krawatte gelockert und die Jak ke lose über die Schultern gehängt. Trotz der Nacht war die Luft feucht und warm. »Sie kommen mir gerade recht!« Lohmar warf ihm einen gereizten Blick zu. »Alles, was ich von Ihnen wollte, sind zwanzig Professoren! Und Sie liegen mir mit der gesamten Einwohnerschaft Ihrer Maschine auf der Pelle! Ich habe Ihnen erlaubt, wieder zu starten. Und Sie stra pazieren meine Gastfreundschaft!« »Ich habe versucht, Sie von der Wichtigkeit unseres kleinen techni schen Problems zu überzeugen …« Nachdem er seine Maschine in ei nem meisterhaften Anflug heil heruntergebracht hatte, nachdem er der Verantwortung zwangsweise enthoben war, fühlte er sich erleichtert. »Uns sind beim scharfen Bremsen drei Reifen geplatzt, das wissen Sie. 227
Mit geplatzten Reifen können wir nicht, falls überhaupt, starten. Das sollten Sie wissen!« »Wenn Sie nicht bald«, drohte Lohmar, »von selber verschwinden, muß ich Sie … entfernen lassen. Gewaltsam!« »Es gibt eine einfache Methode! Lassen Sie meine Passagiere zum Terminal hinübergehen! Es gibt dutzendweise Möglichkeiten, morgen früh aus Kabul abzufliegen.« Aber gerade davor hatte Lohmar eine verstandesmäßig nicht be gründbare Angst. Er sah plötzlich aus der Kontrolle geraten, was innerhalb des von ihm überwachten Bereiches kontrollierbar war. Eine Boeing, die mit vier schwarzen Auspuffstrahlen am Horizont verschwand, die störte ihn nicht. Aber wer garantierte ihm, daß die Menschen, die er jetzt noch so argwöhnisch bewachen ließ, wirk lich abflogen, wenn sie sich im Terminal unter die Einheimischen mischten? Sie hatten Einblicke in die Bewaffnung seiner Leute ge wonnen; sie waren über die Art seiner Bewachung bestens infor miert. Sie sahen, wo und wie die Zündkabel für die Sprengladun gen angebracht waren. Die einheimischen Polizei- und Militärstel len würden sie mit Fragen löchern und wertvolle Informationen ge winnen über die Art, wie man sie unschädlich machen konnte. Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Captain! Für mich selber am meisten! Bringen Sie Ih ren verdammten Kahn in Ordnung, und Sie können starten! Sofort!« Steiner nickte wehmütig. »Dafür brauche ich eine ganze Menge! Kerosin, mindestens 10 Ton nen. Neue Reifen, die für die Boeing 707 in Kabul nicht gelagert sind. Mechaniker, die sie montieren können!« »Ich hätte eine Chartermaschine entführen sollen!« In Lohmar brach eine Spur von Humor durch. »Deren Besatzung wäre weniger pingelig! Ihr Sprit reicht doch, um die zehn Minuten bis Kandahar zu fliegen? Und fünf heile Reifen haben Sie immer noch!« »Ja!« sagte Steiner. »Aber mit soviel Passagieren, auf dieser Bahn – das riskier' ich nicht!« »Das ist Ihre Verantwortung!« sagte Lohmar jovial. »Für alles, was 228
durch Ihre Entscheidung mit Ihren kostbaren Passagieren geschieht – Sie sind zuständig!« »Vielen Dank für die Überschreibung!« sagte Steiner unbehaglich. Als er fort war, stellte Lohmar fest: Er hatte die Vorgänge unter den Passagieren aus den Augen verloren. Fieberhaft suchte er den Lang haarigen – er war verschwunden.
Mit Ausnahme von Karen lagen die Stewardessen in einer deutlich ab getrennten Gruppe beisammen. Die Dienstjüngste unter ihnen flog gerade seit drei Monaten. Sie war zum ersten Mal nach Fernost geflogen. Früher, als sie noch auf den Kurzstrecken flog, war der Ferne Osten immer ihr großer Traum gewesen. Aber je mehr sie in die tägliche Routine geriet und sich die Mentalität der Kolleginnen zu eigen machte, um so mehr wurde ihre Traumwelt durch Banalitäten verdrängt. Es bedurfte einer starken In dividualität, sich gegen eine gewisse Grundhaltung durchzusetzen. Die Mädchen, die mit Vera und Kay zusammenlagen, waren längst gleichgeschaltet. Sie vertraten gemeinsam die Auffassung, daß der Swimming-pool der sicherste und angenehmste Auslandsaufenthalts ort sei. Hier war man unter seinesgleichen, geschützt gegen die Un durchschaubarkeit exotischen Treibens. Hier fand man die vertrauten Tageszeitungen, Getränke, Anschauungen vor. Man war sicher vor tro pischen Krankheiten, ein Minimum an Hygiene war garantiert, gab es Wichtigeres in einem fremden Land als Hygiene? Und die Sonne sorg te für einen makellos braunen Körper, was wollte man mehr? Tempel, Statuen, Dschungel – schön und gut! Aber wichtiger war zunächst das leibliche Wohl: gut essen, duschen, schlafen. Dann konnte man wei tersehen. Da weder Vera Merkelsbach noch Kay Sanders trotz ihrer jahre langen Auslandsstopps viel Erfahrung gesammelt hatten, standen sie der außergewöhnlichen Situation hilflos gegenüber. In ihrer Erinne rung zogen verlockende Bilder verflogener Schlemmereien, Partys und 229
Männerbekanntschaften vorüber: der Koch im Oberoi-Intercontinen tal, wie er Mutton Biryani bereitete … die Mai-Tai-Cocktails auf Tahiti an der Bambusdachbar, das beschlagene Glas, an dem die Tropfen hin abrannen … die Kreuzfahrt in der Bucht von Singapore mit der Par ty für das diplomatische Korps … das Picknick am Hawksburry-River, nördlich von Sydney, die beiden Philips-Vertreter hatten frisch gefan gene Krabben mitgebracht, dazu, nein, natürlich keinen australischen Landwein, sondern französischen Champagner … Endlich wieder einmal gegrillten Tintenfisch in Rotweinsoße … Kay Sanders mußte selber lächeln, während sie ihre Zehen von Sand zu säubern versuchte. Er schien in die intimsten Stellen ihres Körpers ge drungen zu sein, den sie mit leidenschaftlichem Interesse gepflegt hat te … »Disgusting …«, sagte sie zu Vera, »welch eine abscheuliche Situati on …« … Die Stunden vergingen. Nahtlos glitt die frühe Nacht in den frü hen Morgen hinüber; Frau Radewald weinte die halbe Nacht still vor sich hin, es erleichterte sie. … »Darf man hier rauchen?« fragte Jack Patrinelli Karen. »Natürlich nicht, bei all dem Öl, dem Dynamit!« »Das macht nichts! Ich kenn' mich aus! Ich war Pilot!« »Dann sollten Sie besser Bescheid wissen!« »Warum starten wir nicht? Es gibt Gerüchte, danach sind wir frei gegeben.« »Sehen Sie sich mal die Reifen an!« »Fünf sind heil! Kein Mumm, unser Kapitän, wie?« Karen wollte weitergehen. Im fahlen Flutlicht der nächtlichen Rampe sah ihr Ge sicht grau und krank aus. »Ein elender Feigling! Oder er steckt mit den Gangstern unter einer Decke! Na?« »Wie wär's mit etwas Schlaf?« schlug sie müde vor. »Wir haben Dek ken holen lassen, wollen Sie eine?« »Was ich will, ist einen fähigen Piloten, der uns hier rausfliegt! Hö ren Sie, Miß, ich war in Hué dabei, als wir unter Beschuss lagen und ausgeflogen wurden … Nichts als eine Waldschneise, auf die die Gooks 230
ihr Raketenwerferfeuer gerichtet hatten. Wir kamen alle heraus! Und hier?« »Hier ist kein Kriegsschauplatz. Und wenn der Kapitän irgendeine Chance sieht, wird er sie ergreifen. Bis dahin sollten Sie sich schlafen legen!« »Keine Beweglichkeit, diese Luftstraßenkutscher!« Sie ließ ihn ein fach liegen und ging weiter. »Auf ihre Instrumente glotzen – das kön nen sie, stundenlang! Aber keinen Mut zur Entscheidung!« »Warum schlafen Sie nicht etwas?« fragte Karen Gwen Gary. Die Schauspielerin hatte ihre Arme um die angewinkelten Beine ge schlagen und sah sie strahlend an. »Gegenfrage: In dieser herrlichen Nacht?« »Herrliche Nacht?« »Atmen Sie mal die Luft ein! So was Reines habe ich seit meinem vierzigsten Lebensjahr nicht mehr gerochen – und das ist lange her! Damals habe ich vier Wochen in der Gegend von Bombayhook ausge spannt. Das ist eine gottverlassene Landschaft bei Philadelphia. Nichts als Schilf, Sümpfe, Fischerkaten und Vogelschwärme.« »Sie scheinen sich mit allem abzufinden, was?« »Ich habe lange genug mit dem Schicksal gehadert. Damit bin ich fer tig. Jetzt lasse ich alles auf mich zukommen und mich überraschen – ich finde es großartig! Hören Sie mal die Vögel! Mitten in der Nacht! Wo gibt es das sonst?« »Das sind Nachtigallen!« entfuhr es Karen spontan. »Den Gesang kenne ich! Ich war mal in Nepal, da sind wir nachts durch eine Allee gelaufen … es duftete … wie hier … die Luft war ganz seidig …« Das sind Nachtigallen, sagte er, und streichelte ihre Hüfte, die ferne Stu pakuppel von Bandha glomm im Mondlicht. Hier möchte ich bleiben, sagte sie, für immer und mit dir. Nie wieder zurück in unser kompli ziertes, unnatürliches Leben! Nie wieder in ein steriles Hotel, nie wieder diesen Zeitverschiebungskrampf! Irgendwo hier wohnen bleiben, mit dir, und die Nachtigallen hören, nachts. 231
»Mein Gott, das sind Nachtigallen!« »Sie weinen ja, Kindchen!« sagte Gwen plötzlich. Sie fuhr auf und strich sich verwirrt das Haar aus der Stirn. »Ich bin einfach müde!« antwortete sie und ging weiter. Ralph Osterman war die Leiter hinaufgeklettert, ohne von jeman dem aufgehalten worden zu sein. Aus der Kabine schlug ihm ein atem beraubender Geruch entgegen, der aus abgestandener Luft, afghani schem Knoblauchgestank und dem ätzenden Dunst des Sprengstoffs gemischt war. Einige der Wissenschaftler dösten, andere diskutierten. Die Kabine war jetzt nur durch das einfallende Licht der Flughafen lampen schwach erhellt. Er tastete sich an den Gepäckstücken vorbei in die hinterste Reihe. Die beiden Gitarren standen noch unversehrt hinter den Sitzen. Als er sich mit ihnen mühsam seinen Weg zurückbahnen wollte, hörte er Schritte hinter sich. Er drehte sich um: Ingrid. »Auf Abenteuer aus?« Er zuckte zusammen. »Auf Gitarren!« sagte er geistesgegenwärtig. Ingrid starrte ihn endlos lange an; sie ließ sich Zeit. Trotz des Däm merlichtes sah er ein Messer in ihrer rechten Hand. »Das beste ist, du hältst deine beiden Gitarren gut fest!« Sie spielte mit dem Messer. »Lass sie ja nicht fallen. Du könntest dich selber da bei beschädigen!« »Ich wollte nur … sie sind …«, stammelte er. »Du bist kein Held, was?« Ihre Züge schienen sich zu entspannen. »Du willst doch überleben, nicht? Sag ja!« »Ja!« sagte er gehorsam. »Du willst auch, daß deine … Freundin überlebt. Sag ja!« »Ja!« wiederholte er. »Dann tu, was ich dir sage! Dann wirst du überleben! Ich sehe noch eine Menge trouble voraus. Wenn du tust, was ich dir auftrage, wirst du garantiert überleben …« Sie zeigte eine Spur von Lächeln, fast von Sympathie für ihn. »Sagen wir so: Du wirst am besten überleben. Du wirst der erste sein, der freikommt. Du mit deiner Freundin!« 232
»Was soll ich tun?« »Nichts Schlimmes. Von Zeit zu Zeit hole ich dich zu mir. Sehr schlimm?« Er sah sie zweifelnd an. Sie brach in ein hartes, unnatürliches Lachen aus. Er schüttelte den Kopf, zögernd. »Nicht das, was du denkst! Du wirst mir Bericht erstatten. Du wirst dich gut umhören. Du meldest mir alle, die an Widerstand denken. An Ausbruchversuche. An schmutzige Tricks!« Sie trat beiseite, als wolle sie ihm schon jetzt den Weg freigeben. »Ich frag' dich nicht mal, ob du zustimmst. Du mußt – es ist deine einzige Überlebenschance. Deine und die deiner Freundin. Jetzt frag noch, was passiert, wenn du dich weigerst!« »Was passiert, wenn ich mich weigere?« »Gute Frage! Paß auf, ich zeig' dir's!« Plötzlich sprang sie katzen haft vor. Er schrie auf. Er starrte sie ungläubig an. Er griff sich an den Bauch. Die Gitarre schlug dumpf auf. Er zog die Hand zurück und sah sie, noch immer ungläubig, an. »Stell dich nicht so an! Die Wunde ist genau einen halben Zentime ter tief; ich kenn' mich aus. Aber für jedes Mal, wo du mir keine befrie digende Antwort gibst, wird sie einen halben Zentimeter tiefer! Jetzt hau ab!«
»Du bist der größte Egoist, der mir jemals begegnet ist!« Ruth sah ihn zornig an. »Du denkst nur an deine … Was hast du?« Er hatte beide Gitarren vor sie hingelegt und preßte ein Taschentuch zwischen Hemd und Bauch. »Nichts von Bedeutung; ich habe mich nur verletzt. Ein kleiner Riß!« »Du siehst erschöpft aus. Wir sind beide ziemlich fertig! Wir sollten versuchen zu schlafen!« »Was wird mit den Gitarren?« Er sah sie verstört an; und sie warf einen nicht verstehenden Blick zurück. 233
»Während wir schlafen! Ich werde sie zwischen uns legen!« »Zwischen uns?« »Meinst du, ich habe sie gerettet, damit sie gestohlen werden?« »Wie du meinst«, murmelte sie. »Wie du willst …« Sie sah träge, wie Karen vorüberging und neben Steiner stehen blieb, dann schlief sie schon. »Du hast gut schlafen …«, flüsterte Ralph Osterman. Steiner sagte zu Karen: »Komm, wir gehen etwas abseits.« »Sofern das möglich ist, ohne angeschossen zu werden!« »Wie geht es dir?« »Fertig, fast! Dir?« »Im Augenblick noch hellwach.« »Eiserne Kondition, was?« »Zu viele Probleme!« »In Nepal, da hat es uns besser gefallen.« »Ja!« »Meinst du, wir kommen hier bald raus? Und heil?« Er sah sie lange an. Am Horizont zeigte sich ein schmaler Streif Pur purrot. Plötzlich legte sich ein bleiches, geisterhaftes Licht über die Landschaft. Die fernen Lehmhütten an den Hügelhängen schienen von innen heraus aufzuleuchten. Schwarz hob sich ein Milan aus dem Geäst. »Ich habe nachgedacht.« »Erzähl mal!« »Ich glaube, die Gefahr geht gar nicht von den Entführern aus. Die sind froh, uns loszuwerden!« »Sondern?« Der Purpurstreifen hellte sich erst zu Karminrot, dann zu Orange auf und wurde breiter. Jetzt schwirrten Wolken von Vögeln über die Dächer und Bäume des Flughafens. Selbst der Beton der Piste schien von unten erhellt zu werden. Der Schrei der Vögel schien die ferne Stadt aufgeweckt zu haben. Wie auf Kommando setzte das Aufknat tern von Zweitaktmotoren ein. 234
»Die Gefahr droht von den Passagieren. Ein einziger, der durchdreht, und die Panik ist da!« »Das habe ich an Bord schon befürchtet. Aber die Panik ist nicht ein getreten. Denkst du an Frau Bauer?« »Ich denke an alle und niemand!« »Orakelhaft wie der Morgen!« »Man kann einfach nicht berechnen, wie wer wann womit reagieren wird. Die Menschen – alle – sind unberechenbar. Sie reagieren unter derartigen Stresssituationen auf Reize völlig anders, als du erwartest. Und wen kennen wir schon?« »Ich habe aber doch schon einige Erfahrungen gemacht!« »Welche denn?« »Na, die Bauer ist doch ein eindeutiger Fall. Sie hat eine hysterische Verzweiflung in sich; und wir müssen aufpassen, daß sie sich nicht sel ber umbringt!« »Weiter?« »Patrinelli, das ist dieser G.I.-Typ dort, ist gefährlich! Manchmal glaub' ich, das ist ein Irrer oder ein Verbrecher!« »Weiter?« »Die Radewalds, dieses deutsche Ehepaar: hilfsbereit. Zuverlässig.« »Weiter?« »Dann: Bronn. Ich glaube, du hast schon mit ihm gesprochen. Ein …« Sie stellte fest, daß es ihr schwer fiel, über ihn zu reden. »Jedenfalls ein intelligenter und gleichzeitig romantischer Mensch.« »Na gut!« sagte er. »Sieh mal, gleich ist sie da, die Sonne.« Orange verfärbte sich zu Kadmiumgelb, und zwischen die sich zu rückziehende Nacht und den Tag begann ein breiter Streif Pastellgrün zu fließen. Dann war nur noch Zitronengelb da. »Später wirst du mir in Ruhe erzählen, wie es eigentlich zum Tod Bauers gekommen ist. Und ich werde dir sagen, was man hier eigentlich mit uns vorhat. Fin dest du es nicht seltsam, daß wir beide noch gar nicht danach gefragt haben?« »Ich finde es wunderbar!« sagte sie und starrte mit großen Augen auf das Farbspiel. 235
Jetzt stieg die Sonne hinter den nackten Hügeln wie ein Ballon auf. Schlagartig wechselte das letzte Gelb in Weiß; und es schien, als wer de das Leuchten der Berge und Hütten von innen abgeschaltet: Helles, siegreiches Licht glitt über die Erde. Die Sonne war aufgegangen. Fast mit einem Knall, dachte Karen.
27
J
etzt, unter der kargen Eintönigkeit des afghanischen Himmels, be fiel den Mönch zum ersten Mal Heimweh. Er sehnte sich zurück nach den kühlen Wandelgängen und Hallen seines Klosters, und er dachte mit Zärtlichkeit an die beiden Trauerfliegenschnäpper, die fast täglich im Schatten seiner Orchideen im Laub hingen. Er hatte die Blu men auf Töpfen und von Topf zu Topf Drähte zum Ranken gezogen. An das dumpfe Dröhnen der Mönchstrommeln dachte er, an die Schild kröten im Teich und an das Gebaren der wenigen Touristen, die sich bis zu der bescheidenen Anlage des Wat Benjama Bophit verirrten. Mit der Pracht des Wat Chetupon Vimol Mangalaram, das jeder Wat Po nannte, konnten sie nicht konkurrieren. Er hatte Wat Po selber oft besucht und die gewaltige Goldstatue des Liegenden Buddha bewun dert. Er lächelte, wenn er sich die stille Würde der vier Chedis vor stellte; und unbewußt ahmte er das Lächeln des Großen Buddha nach: Jede von ihnen repräsentierte einen der vier Monarchen der gegen wärtigen Dynastie. Es gab eine grüne Pagode, eine weiße, eine gelbe, eine blaue; das eindruckerweckendste Monument aber stellte der Bud dha selber dar, wie er ins Nirwana hinüberwechselte. Er war neunund vierzig Meter lang; und sein Sandstein- und Zementkörper war mit Blattgold überzogen. Von Zeit zu Zeit mußten alle jene Stellen erneuert werden, die für die Pilger und Touristen erreichbar waren und demzu folge unter Goldschwund litten. 236
Er lächelte – noch immer, aber der flirrende, blendende Himmel über ihm stimmte ihn unbehaglich. Von der eindruckerweckenden Monumentalität des Wat Po dachte er wieder zurück zu den klei nen Schätzen seiner Tempelheimat. Würde er sie jemals wieder se hen? Würde er Bangkok, würde er Thonburi wieder sehen, jenseits des Chao Phraya? Er dachte an die Worte seines Abts: Wenn es stimmt, daß Bangkok wie ein edler Diamantring ist, dann sind unsere Tem pel, Pagoden und Klöster die Steine darin. Unser Wat stellt nicht den größten Stein dar; aber wir lieben ihn am meisten, weil er uns selber geschenkt wurde. Schönheit und Würde! dachte er. In Schönheit und Würde in einer Umgebung leben, die uns und unserer Aufgabe angemessen ist. Den Alltag in Harmonie verbringen … Phra Maha Chai bewunderte die großen Leistungen der Technik. Er dachte daran, wie sie zur Zeit der zweiten Mondlandung auf den Holzstufen ihrer Behausung gehockt und aus dem Transistor fasziniert die technischen Vorgänge verfolgt hatten. Er hatte Achtung vor der Leistung der Ingenieure; aber er sehn te sich nicht danach, ihrer Welt anzugehören. Und er begriff die Jagd nach Geld und Ruhm nicht. Er sah sie als die Unfähigkeit, sich ein Leben in Harmonie einzurichten. Dazu gehörte, von seiner Perspektive aus, wenig. Er begriff nicht die Motive der Ent führer, die ihr eigenes Leben und das der Passagiere riskierten für Zie le, die er sich nicht vorstellen konnte. Gewiß: Verstandesmäßig regi strieren konnte er die Dinge und Vorgänge. Neid, Besitzgier, Aggressi onslust waren nun einmal in der Welt; und die Menschen waren ihnen unterlegen – das hatte er gelernt. Ich stehe auf einem Hügel, dachte er, an einem milden Nachmonsu nabend. Ich sehe den Nebel in silbernen Wellen durch die Täler zie hen. Ich höre die Vögel im Laub. Die Wolken ziehen vorbei wie Schif fe in den Hafen der Nacht. Ein Rind brüllt fern. Ein unendlicher Frie den liegt über dem Land. Wie kann ich da noch danach dürsten, die ses Land zu besitzen? Ich besitze es doch bereits: Ich höre, sehe, rieche, taste es – was will ich mehr? Was nützt es, wenn ich jetzt dieses Land räumlich erobere? 237
Ich zerstöre den Frieden, die Harmonie, es entgleitet mir; und was ich bestenfalls übrig behalte, ist Schein. Ein toter Leib. Alles Elend in der Welt, dachte der Mönch Phra Maha Chai, rührt davon her, daß die Menschen räumlichen, körperlichen Besitz mit gei stigem verwechseln und die Illusion nicht erkennen. Die ganze Welt steht mir offen. Ich kann mir die Werke der Dichter, Denker und Pro pheten aneignen – und ich gewinne eine gewaltige Kraft, und ich be stehle niemanden! Warum erkennen die Menschen das nicht? Was oder wer hat sie geblendet? »… Schönheit und Würde!« sagte fast gleichzeitig Bronn zu Karen Hilldorff. »Die findet man nur noch im Tierreich!« Sie hatten sich, wie die meisten der Passagiere, aus ihren Gepäckstücken einen Son nenschutz gebaut, indem sie eine Decke als Dach aufgespannt hatten. »Beobachten Sie einmal die Geschmeidigkeit einer Raubkatze, wie sie sich lautlos durchs Schilf bewegt. Die Erhabenheit einer Elefantenher de, die abends rüsselschwenkend an der Tränke steht. Das beherrschte Kreisen eines Geiers, der sich aus großer Höhe herunterschraubt.« Er lachte: »Ich habe gut reden, ich sage einfach: Beobachten Sie mal! Hier haben Sie nur Menschen um sich!« »Und ich dachte, Sie würden die Wolken über alles stellen! Jetzt kommen Sie mit dem Tierreich! Aber der Mensch ist bei Ihnen wohl der letzte in der Reihe: leblose Natur – Tier – Homo sapiens? Was ist mit der Pflanzenwelt?« »Ich sehe die Wolken nicht als leblose Natur, dafür ist einfach zuviel Dramatik in ihnen … Sie sind fast schon ein Vorstadium der Pflan zen … Vielleicht müssen wir unsere durch Linné völlig festgefahre nen Schemata von Grund auf erneuern … Ich glaube, die Hitze bringt mich zum Phantasieren …« »Wie halten Sie es mit dem Homo sapiens?« »Sagen wir so: Er erweckt am meisten meinen Argwohn. Ihm gegen über muß ich am misstrauischsten sein. Viel mehr als dem so genann ten heimtückischen Raubtier gegenüber. Die Handlungsweisen der Tiere sind leicht zu durchschauen. Da ist alles ehrlich und motivierbar: Hunger ist Hunger, Sexualtrieb ist Sexualtrieb. Beim Menschen ist al 238
les viel verklausulierter und verkappter. Aber wenn Sie die ganze ver klärende Tünche Schicht um Schicht abblättern – was bleibt übrig?« »Sie sind ein alter Skeptiker und Menschenverächter – ich mag Sie!« »Danke! Nehmen Sie die Motive unserer erlauchten Entführer: Was treibt sie? Sie wollen Geiseln. Sie wollen Genossen auslösen, die in Deutschland inhaftiert sind … Wirklich?« Er sah Karen abwartend an, fächelte sich und ihr mit der Handfläche kurz illusionäre Kühle zu. »Na, nun machen Sie schon!« forderte sie ihn auf. »Ist es wirklich Kollegialität, Menschenliebe, was weiß ich, was un seren … Expeditionsleiter treibt, ein komplettes Langstreckenflugzeug samt Inhalt zu kapern? Natürlich nicht! Er will, wie jeder kleine Ab teilungsleiter, Karriere machen. Aufsteigen. Eine Aufgabe bewältigen, um ruhmvoll höher zu steigen auf der endlosen Leiter, auf der wir alle mehr oder weniger sinnvoll herumklettern. Seine Leute in Hamburg lassen ihn kalt. Er kennt sie nicht, wahrscheinlich. Und wenn er ihnen mal begegnen sollte – wahrscheinlich steht sofort die Rivalität zwi schen ihnen!« Karen hatte so laut losgelacht, daß sich ein Teil der Umliegenden fast empört umdrehte. »Ich sehe uns da alle herumklettern auf Ihrer weltgroßen Lebenslei ter! Alle wollen natürlich höher, keiner kann zurück. Aber PLATSCH! Schon orgelt einer abwärts. RRUMMSSS! segelt einer drei Posten nach unten, KNACK, das war 'ne Sprosse, die nicht gehalten hat! PPÄNNGGG PPSCHTTTTT! da liegt einer auf allen vieren ganz un ten, und weiter oben reiben sich ein paar befriedigt die Hände!« »Nur ganz ganz oben, da dreht sich das Gesetz der Anziehungskraft um!« ergänzte Bronn grinsend. »Die sind schon über das Schwerefeld der Erde hinaus! Wenn die stürzen, können sie nur nach oben stürzen. Altes Gesetz aus dem Management.« »Jetzt trägt er eine sozialkritische Häme in seine Philosophie hin ein!« »Und Sie? Was treibt Sie, sich so aufreibend um Ihre verdammten Passagiere zu kümmern? Ich habe Sie nun lange genug beobachtet: Sie 239
kümmern sich in einer selbstzerstörerischen Weise um die Leute, für die Ihnen Ihre verdammte Gesellschaft keinen Pfennig zahlt!« Karen wiegte den Kopf, fast kam ein Spur von Hochgefühl auf. Bronn stellte Fragen, die sie aus ihrer Lethargie aufrüttelten. Er bot ihr Gele genheit, Gedanken zu äußern, die sie beschäftigten. Es gab noch einen Mann, der diese Fähigkeit besaß. Sie drängte das Bild zurück. »Also gut!« sagte sie, engagiert. »Ich hasse die Leute! Aber mich be schäftigt der einzelne Mensch, mit dem ich jeweils konfrontiert wer de.« »Ortega y Gasset, wie?« »Wenn es noch philosophischer wird, renn' ich weg!« Und jetzt war das andere Bild da, endgültig. Wie geht es dir, konn te sie fragen; und er: Bin gestern mit Jean-Luc Godards weekend kon frontiert worden, oje! Oder: Er hinterließ ihr in den Hotels keine Lie besbriefe, sondern Zeitungsausschnitte – Feuilletonseiten, Berichte aus der dritten Welt, Umweltprobleme. Wie gräßlich, sagten Kolleginnen manchmal, wieso, sagte sie, großartig, hält mich immer in connection, das andere haben wir sowieso! »Wen von den Passagieren mögen Sie besonders?« »Ich mag den Mönch«, sagte sie. »Wie er so in sich selber ruhend da sitzt. Wie er seine Religionsübungen verrichtet.« »Ich mag die Japaner nicht!« sagte er. »Typisch!« sagte sie. »Sie mit Ihrer Verneinung!« »Ich neige nicht dazu, ganze Rassen oder Völker pauschal zu beur teilen. Wie Sie schon angedeutet haben: Der Mensch ist wichtig, die Leute sollen zum Teufel gehen! Aber …« »Die Japaner sind für Sie Leute?« »Ich finde es bewunderungswürdig, wie sie die Deutschen aus dem Dornröschenschlaf gerissen haben! Wir mit unserem Mercedes- und Leica-Herrenmenschenkomplex! Und daß sie uns auf dem einzigen Gebiet, auf dem wir überhaupt noch glaubten eine Rolle zu spielen, sanft lächelnd überholt haben …« »Aber?« »Es ist und bleibt ein Ameisenvolk. Haben Sie mal erlebt, wie rück 240
sichtslos Sie von diesen Massen beiseite gedrängt werden? In der UBahn in Tokio, in den Fahrstuhleingängen? Und bei uns an Bord? Kein Gefühl für den Nächsten! Alle im Sturmschritt im Ameisenvormarsch auf das einundzwanzigste Jahrhundert! Keine Zeit für …« »Schönheit und Würde!« Sie lachten beide. Dann sagte sie und erhob sich seufzend und nicht ohne Mühe: »Ich muß mich mal um die anderen kümmern; meine Betreuung ist etwas einseitig!« »Um die Leute oder um die Menschen?« »Mal sehen, ob ich noch einen finde!« Sie winkte ihm kokett mit zwei Fingern zu. Trotz ihrer körperlichen Erschöpfung war sie hellwach. »Auf bald, Diogenes!« sagte er.
»Hör mal, Karen!« sagte Vera Merkelsbach. »Deine verdammten Paxe können mich jetzt mal gernhaben!« »Was soll das heißen?« »Das soll heißen: Wir sitzen alle im gleichen Boot!« »Na und?« »Na und? Ich bin genauso eine Entführte wie jeder andere hier!« »Na und?« »Die Verantwortung für das Wohlergehen der Paxe ist mir abge nommen worden. Dafür ist das Komitee FREIHEIT FÜR ALLE VER BRECHER Zuständig.« »Für die Verpflegung sind wir zuständig – solange wir noch gefüllte Container haben. Wir kratzen jetzt die letzten Sachen zusammen und servieren ein Frühstück!« »Ich finde: Das ist jetzt Angelegenheit der Phryxxe!« »Ich habe mit den Mädchen gesprochen. Sie erlauben es!« »Erlauben! Wie überaus großzügig! Sollen sie doch selber servieren! Unsere Verantwortung ist abgelaufen!« 241
»Solange wir noch Essen haben, werden wir Essen servieren!« Vera sah Karen schräg von der Seite an. Sie biss sich auf die Lippen. Sie waren spröde. Durch die Unterlippe zog sich ein dunkler Riß. »Soll das eine dienstliche Anordnung sein?« »Wenn du so willst!« »Okay, ich schmeiß' die Sachen raus! Aber nur unter Protest! Noch bist du der Boss! Oder du bildest es dir ein! Ich hol' die anderen Mäd chen zusammen!« »Der Captain ist der gleichen Meinung!« Vera pfiff ordinär durch die Zähne. »Aha!« »Was: aha?« »Nichts aha! Der Captain ist der gleichen Meinung!« »Ja.« »Okay!« Vera drehte sich brüsk um und holte den Rest der Mädchen zusam men.
Sie teilten die Tabletts aus – mühsam, primitiv; die Sonne stach. Während Karen servierte, ertappte sie sich dabei, daß sie ihre Glie der mechanisch bewegte. Ihre Gedanken gingen eigene Wege. Sie war erschöpft, überreizt; und sie spürte, daß sie nicht mehr lange durch halten würde. Bronn hatte zum letztenmal ihre Lebenskräfte aufflak kern lassen. Darf ich Ihnen … ja, wenn Sie vielleicht die Decke etwas ausbreiten könnten, das letzte, was wir noch haben. Nein, Eier können wir nicht kochen, die Bordbatterie ist … alles kalt, ohne Strom. Hör mal, Kay, hast du noch eine Milch übrig für den Kleinen hier? Ja, wir sind auch froh, hier friedlich … Nein, ich kann Ihnen nicht sagen, wann die näch ste Maschine geht! Ihren Bruder in Oshima benachrichtigen, nein, leider nicht möglich. Setzen Sie sich doch bequemer hin, Herr Radewald, nein, helfen können Sie nicht. Hast du noch Pappbecher übrig, Vera? Guck 242
nicht so blöd aus der Wäsche, wir sind alle am Ende, soll ich die Leute mit der Trillerpfeife zwingen, sich anzustellen und selber zu bedienen? Michael rennt noch mehr zwischen den Leuten rum als ich; da soll ich schlappmachen? Der muß doch auch auf dem Zahnfleisch gehen, so ein verdammtes Pech mit den Reifen, jetzt könnten wir schon Kabul ade sa gen. Ich hab' noch keine zehn Worte mit ihm gewechselt; jetzt heißt es erst einmal Kaspisches Meer ade, dos zvidaniya Schilfhütte, diese Schwei ne. Gleich leg' ich mich zu Michael und penn' aus, lange halt' ich nicht mehr durch. Kay, gib mal das Brot. Ich kratz' den letzten Schmierkäse zusammen, keiner soll hungern. So, jetzt kommt die Crew ran, hoffentlich haben Vil ma und Evelyn unsere Astronomen ausreichend versorgt, die haben das am nötigsten. Nein, Frau Bauer, Sie sollten jetzt wirklich einen Happen zu sich nehmen, wenigstens einen Schluck. Nein, natürlich, er kann das auch nicht, aber deswegen sollten Sie … Mit ihm sterben, auf gar keinen Fall, das hilft ihm auch nicht. »Die Frau ist völlig unzurechnungsfähig!« sagte später Karen zu Stei ner. Sie hatte sich einfach neben ihn fallen lassen, und er hatte ihr seine Uniformjacke unter den Kopf geschoben. Es war später Vormittag, und die Sonne hatte die regungslose Luft über der heißen Piste in Schwin gung versetzt. Sie hatten sich alle im Schatten der Tragflächen nieder lassen dürfen; und die meisten schliefen oder dösten. »Sie isst nicht, sie trinkt nicht. Sie will sterben.« »Ich habe wegen der Leiche verhandelt. Lange macht die nicht mehr mit bei der Hitze.« »Sie beunruhigt die Passagiere, hast du ihnen das gesagt?« »Sie lassen sich vorläufig auf nichts ein.« »Vorläufig?« »Sie rechnen mit der Antwort aus Deutschland bis 14 Uhr Ortszeit. Die würde alle Probleme lösen.« »Himmel, Michael, stell dir vor: Wir gehen jetzt einfach hinüber zum großen weißen Terminal dahinten und steigen ins nächste Flug zeug nach … Meinetwegen nach Moenjudaro, nur fort von hier!« 243
»Am Ende?« »Ziemlich! Aber wie muß es euch erst gehen! Der Anflug war hart, wie?« »Der Anflug war eine Schweinerei; aber uns blieb keine Wahl!« »Warum sind wir nicht nach Teheran?« »Keine Verbindung möglich. Da scheint das gesamte Kommunikati onswesen zu streiken!« »Und hier?« »Der deutsche Botschafter rotiert schon! Die Phryxxe haben hier so eine Art Zweigstelle, die hat ihn unter Druck gesetzt.« »Aber geplant war Teheran?« »Ja, das wäre auch für unsere erlauchten Entführer beruhigender ge wesen. Jetzt improvisieren sie.« »Aber wenn bis zwei die Antwort da ist, sind wir frei? Alle?« »Ja. Wir fliegen ihnen davon wie gewöhnliche Sterbliche!« Karen, der die Augen mehrmals zufielen, verzog schmerzlich ihr Ge sicht. »Sterbliche klingt gar nicht gut!« Er strich flüchtig über ihre Wange. »Schlaf erst mal, du siehst elend aus! Wenn du aufwachst, sind wir alle frei! Da kann gar nichts schief gehen!« »Vielen Dank für das aufrüttelnde Kompliment!« Aber es gelang Karen nicht, fest einzuschlafen. Es war, als prallte ihr Ich, das sich vom Körper lösen wollte, gegen eine unsichtbare Barrie re. Während sie zwischen Traum, Schlaf und Wachen schwebte, sah sie sich wieder mit Michael in Nepal. Mit einer uralten DC-3, die den stolzen Namen ANNAPURNA trug, waren sie in den südlichen Dschungel geflogen. Dicht vorbei an den Hängen der Himalajakette, hinweg über Teeterrassen an Steilhän gen, Passdurchbrüchen und Quellwolkenfeldern waren sie nach Meghauli-Field gelangt. Meghauli war weiter nichts als eine Steppenweide am Rand des Regenwalds; und der Pilot umkreiste im Tiefflug zweimal die Ebene, um die Rinderherden zu vertreiben. Er landete staubaufwir 244
belnd auf einer Graspiste, die durch zwei Reihen von Feldsteinen mar kiert war; und als sie ausgestiegen waren, fiel die Urwaldhitze über sie her. Sie waren die einzigen Gäste; und während ANNAPURNA don nernd hinter einer Baumkette verschwand, suchten sie Schutz unter ei nem Rietdach auf Bambuspfählen – das Terminal, spottete Michael. Im nahen Gehölz schrien hühnerartige Vögel, Wildpfauen, sagte Michael. Plötzlich entstand Bewegung im grünen Wogen der Terne, rhythmi sches Schwingen, Schwirren im vorgelagerten Schilf Treiberköpfe, Ele fantenrümpfe tauchten grau aus der flirrenden Luft auf; und Karen und Michael kletterten auf den Rücken des umständlich niederknienden Ele fanten – über die gleiche Holztreppe, über die sie ANNAPURNA verlas sen hatten. Auf dem Weg zum Camp war nichts als Hitze, Einsamkeit, Vogelschrei um sie. Bienenfresser, zeigte er manchmal. Oder: Blauraken! Oder (im Sumpf): Schwarzhalsibisse! »Du schläfst überhaupt nicht!« sagte er vorwurfsvoll. Sie hörte ihn aus weiter Ferne, versuchte, aus Nepal zurückzukehren, wurde sich der Realität bewußt, zog Nepal vor, dämmerte wieder hin über. »Sieh mal, die Pfauen«, sagte sie unhörbar. Sie standen mit Vorliebe auf Schneisen und an Waldrändern; und man sah meistens Weibchen, und die Elefanten wateten durch Flüsse, Schilfdschungel, Sümpfe; und auf dem Weg zum Camp entdeckte Mi chael den ersten Gaur, Karen eine Herde Blauböcke. Später machten sie Treibjagd auf Rhinos und Tiger, sechs Treiber wa ren mit ihren Elefanten unterwegs, um ihnen das Wild vor die Kame ra zu treiben; und dann, als Büffel, Warzenschweine, Nashörner vor ih nen aufsprangen, davonstoben, gelang ihr kein einziges Bild, sie starrte nur fasziniert hinter den Schreien, Schilfwogen, Staubwolken her. Ein mal sprang ein Gaur sie an; aber der Büffel, den Kopf schon zum Stoß gesenkt, scheute im letzten, entscheidenden Augenblick zurück; und so entstand Michaels Bild: Karen, Auge in Auge dem Stier gegenüber, auf gleicher Höhe, nur den Rüssel des scheuenden Elefanten dazwischen, rote Staubwirbel, gelber Abendhimmel darüber. Dicht daneben (das ent deckten sie nach der Aufnahme): Tigerspuren! Sie stiegen ab, sie schlichen hinter den Spuren her: vier dicke, nach 245
drückliche Punkte im Sand, dahinter ein einzelner als Schlußzeichen. Wir haben seit fünf Tagen ein Rind als Köder angebunden, sagten die Treiber; aber er ist nicht gekommen. Es sieht so aus, als ob er jetzt kom men wird; morgen früh werden wir auf Tiger gehen. Sie gingen auf Tiger, aber leider nicht allein. Eine Gruppe Amerikaner war eingetroffen; und als sie am nächsten Morgen, sehr früh, ausritten, ritten sie eingeklemmt zwischen amerikanischen Ehemännern, die sehr müde, und alten amerikanischen Damen, die sehr unternehmungslustig, aber trotzdem sehr verschrumpelt aussahen. Die Männer (Hawaiihemd, Shorts, think-optimistic-Stimme) redeten sehr laut, weil sie schon auf Hawaii, Samoa, Neuseeland, in Berlin und Paris gewesen waren und glaubten, jedermann sei daran interessiert, das zu erfahren. Die Ladys giggelten, nannten sich gegenseitig Mabel, girls, how lovely and exciting, zeigten beim Klettern ihre altmodischen Strumpfbänder, Nylonschlüpfer und Schlimmeres, fanden das alles aufregend confusing und machten so jeden Versuch der geduldigen, kummer- und touristengewohnten Treiber zunichte, den Tiger auf freier Wildbahn zu erwischen. Endlich hockten alle auf einer Art Plattform, Filmkameras surrten, obwohl sich nichts regte. Die Treiber waren mit ihren Elefanten ausge schwärmt, durchkämmten den Schilfsumpf, kaum ragten ihre Köpfe aus den Binsen hervor. Die Morgensonne stach, Bengalengeier kreisten; das Kalb, nächtlich ausgesetzt, war geschlagen worden, lebendigen Leibes, der Tiger war nah. Geschrei der Treiber, die sich langsam (in Schützenkette?) heran pirschten. Sie sahen bereits, was die Touristen nicht sahen: den Tiger. Sie schrien. Was aufstob aus dem Schilf, waren Fasanen, war ein Pfauenpär chen, zwei Mungos rannten vorbei. Jesus, sagte die Dame aus Oklaho ma, hier müssen Kobras sein! Was plötzlich kam, war der Tiger himself. Nur die Kenner wußten: Wenn die Treiber sich so dicht der Beobachtungsplattform näherten, muß der Tiger noch näher sein. Da sprang er, so plötzlich, daß niemand den Auslöser drückte, nicht ein Bild gelang. Er sprang, von einem Schilfdschungel in den nächsten. Und während der drei Sekunden, wo er frei und sichtbar in der nepalesischen Luft 246
schwebte, hatte niemand ihn geknipst! Jetzt verbarg er sich im nächsten Dschungel. Aber weil der Treiber sagte: finished, blickte niemand mehr auf den nächsten Dschungel, wie er vorher auf den vorherigen Dschun gel geblickt hatte: finished! Das also war es gewesen. Sie hatten den Tiger springen sehen. Und obwohl er jetzt, keine zehn Meter von ihnen entfernt, noch immer im Schilf hockte, würdigte ihn niemand mehr eines Blickes: Die Tigerjagd war vorbei. Man hätte nur abzusteigen, sich ins Schilf zu schleichen brauchen: Man hätte ihm Auge in Auge gegenübergestanden! Aber die Strumpf halter-Ladys, die Nylonschlüpfer-Damen aus Wisconsin und Utah ritten befriedigt zurück: You saw the tiger? No, but it was very exciting! Zum Kotzen! sagte Michael. Zum Kotzen! sagte Karen. Sie schlichen sich aus dem Camp fort, kaum daß sie zurückgekehrt waren. Ohne Elefant, ohne Sicherung, ohne Waffe. Einfach so, zu Fuß. Zurück ins Alang-Alang-Gras, wohinein der Tiger verschwunden war. Angst? fragte er gelegentlich. Nein, erwiderte Karen. Aber heiß! Das ist schlimmer! Er hat die ganze Nacht gefressen! sagte er. Also ist er gesättigt! Also ist er träge, faul! Also denkt er nicht daran, einen stinkenden Menschen an zugreifen! Sie hatten die Sprungspuren wiederentdeckt. Sie drängten sich vor wärts, hinein ins unübersichtliche Schilf, in dem der Tiger lag. Er hat mehr Angst als wir, beruhigte sie Michael noch einmal. Über ihnen schwirrte ein Fasanenpaar davon. Sehr hoch oben kreisten Ben galengeier. Ganz sanft aus dem fernen Lager wehte der Wind Transistorradiomu sik herüber: The Ginger Baker Airforce Band. Da liegt er! sagte Karen ruhig. Keine zehn Meter vor ihnen lag er. Gelb und braun. Seine katzenarti gen Schnurrhaare sträubten sich. Er murrte. Er riß die Lippen zurück. Grummeln. Schnaufen. 247
Keine Angst, sagte er. Er versucht nur, zu imponieren! Er hat Angst! Tatsächlich erhob sich das Tier, nicht übermäßig eilig, aber immerhin. Reckte sich, schniefte. Rülpste. Schüttelte sich. Sie standen keine acht Meter entfernt. Über ihnen schlug das Schilf zusammen. Der Tiger riß murrend die Lippen zurück. Aber gleichzeitig drehte er seinen geschmeidigen Leib – ohne Eile allerdings. Sie hatte Michaels Hand erwischt und grub ihre Fingernägel tief in seine Haut. Er lächel te sie an. Jetzt, sagte er. Jetzt wird er gehen! Und er ging! Er trottete grummelnd davon; das Schilf schloß sich hin ter ihm. Er war verschwunden. »Willst du nicht endlich mal schlafen?« fragte er zärtlich. »Ja!« flüsterte sie. »Jetzt möchte ich schlafen! Endlich!« Und sie schlief.
28
D
ie Hitze nahm von Stunde zu Stunde zu; und Steiner dachte: Wie gut, daß die Boeing so lange und breite Tragflächen hat. Wir hät ten die Klappen ausgefahren lassen sollen, dann würden sie noch mehr Schatten spenden. Dann blickte er wieder erregt auf die Vorgänge unter dem Heck: Die Leiche wurde fortgeschafft. Hoffentlich dreht die Frau nicht durch, dachte er. Aber Frau Bauer hatte den Abtransport gar nicht bemerkt. Sie lag bäuchlings auf ihrer Decke, die Beine mit den verrutschten Strümp fen leicht gespreizt, den Kopf mit den wirren Haaren seitlich gegen ihre Tragetasche gepresst. Sie lag da selber wie eine Tote, wie bei ei ner Explosion beiseite geschleudert, und regte sich nicht. Sie sah nicht, wie zwei Afghanen den in Decken gehüllten Körper nahmen, der im 248
Schatten der Schwanzflosse einsam abgelegt worden war, und zu ei nem winzigen Ahornhain trugen, der am Rollfeldrand kargen Schat ten spendete. Hinter dem Hain war eine tiefe Schlucht, und dahinter wellten sich versteppte Felder wie riesige erstarrte lehmgelbe Wogen. Steiner hatte den Abtransport selber angeregt und beschleunigt; und er hatte Lohmar versucht zu überreden, Frau Bauer, den Mönch und ihn selber mitgehen zu lassen auf dem letzten Weg Bauers. Aber Loh mar hatte kalt erwidert: »Das ist keine Beerdigung. Das ist nur die Entfernung einer Leiche. Sie wird uns nicht mehr lange belästigen. Es gibt eine Menge Geier in Afghanistan. Sehen Sie nur!« Tatsächlich kreisten über dem Platz jetzt ein Dutzend Geier; und Steiner entdeckte sogar die weiß-schwarzen Schwingen der größeren Lämmergeier. Schließlich war er dankbar, daß Frau Bauer schlief. Mit Widerwillen und Faszination gleichzeitig blickte er später auf die sich tiefer und tiefer schraubenden Vögel. Besorgt beobachtete er die Frau, die noch immer regungslos dalag. Seine Augen entdeckten Phra Maha Chai, und er ging zu ihm. Der Mönch ließ den Kapitän ruhig näher treten und im Ungewissen, ob er ihn bemerkt hatte. Er hatte im Dhammapada gelesen, der Perle der Weisheit, dem klas sischen Werk Buddhas, der Anthologie der 423 Aussprüche, die für mehr als 2.000 Jahre Führer zum Nirwana waren, ein Quell geistiger Inspiration für Millionen. »Ich bewundere Sie«, sagte Steiner, »um Ihre stoische Gelassenheit. Sie sind ein Fels inmitten der Brandung; und von Ihnen strahlt Ruhe aus, die können wir gebrauchen!« »Durchlässig«, zitierte der Mönch geistesgegenwärtig, »sind alle fest gelegten Dinge. Wer das voller Weisheit erkennt, wendet sich ab vom Leid.« »Ich wollte, wir hätten mehrere Ihrer Brüder an Bord; ich hätte eine Sorge weniger!« Der Mönch verneigte sich kaum merklich; und Steiner machte ihn auf sein Sorgenkind aufmerksam, auf Frau Bauer. 249
Der Mönch nickte und schlug sein Buch zu. »Geben Sie mir noch ein letztes Wort mit auf den Weg?« fragte Stei ner, ehe er weiterging. Der Mönch verneigte sich: »Weder am Himmel noch mitten im Ozean, noch in einer Höhle, nirgends auf Erden gibt es einen Ort, an dem man dem Tod entgehen kann.« Er sah Lohmar und ging auf ihn zu. »Sie haben uns die Freiheit versprochen, warum lassen Sie meine Passagiere nicht gehen?« »Nicht gehen? Sie können nicht starten, daran liegt es!« »Es gibt andere Möglichkeiten!« »Welche?« »Ich gehe ins Terminal hinüber und organisiere eine Maschine. Man wird mich durch den Polizeikordon lassen. Übrigens: Er wird dichter und dichter!« »Keine Hoffnung! Die Herren sind durch unsere Kabuler Freunde bestens orientiert! Sie wissen, was Ihnen passiert, wenn sie auch nur ei nen Schritt zu nahe kommen oder gar mit ihren Waffen spielen sollten. Glauben Sie mir: Es sind nichts als harmlose Neugierige.« »Was halten Sie von meinem Vorschlag?« »Unter uns: Ich finde ihn gut. Ehrlich: Ich sähe nichts lieber als Ihre Gäste am Horizont verschwinden! Sie mit! Meine Geiseln reichen mir. Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen: Ich weiß noch nicht, wie ich Sie heute abend ernähren soll! Sie sehen, ich bin ganz ehrlich!« Steiner kaute auf seiner Pfeife. »Das genießen Sie so richtig, was? Die ses Viertelstündchen Ehrlichkeit!« Lohmar tat, als überhöre er ihn. Er zeigte in die Menge: »Was ist da los?« Der Mönch hatte mit Frau Bauer wenig Erfolg gehabt. Sie reckte sich breitbeinig empor, warf die Hände in die Luft und schrie: »Ich will sterben … Warum läßt man mich nicht sterben?«
250
»Also gut!« sagte Lohmar und schritt mit auf den Rücken gelegten Händen wie ein General die Front ab. »Also gut, Sie organisieren das. Und zum letztenmal: keine Mätzchen! Die Maschine muß isoliert auf der Rampe stehen; und alle Passagiere gehen direkt von hier an Bord!« »Gut!« sagte Steiner. »So werde ich das machen!« »Nein!« sagte Weersma plötzlich und trat neben ihn. »Lassen Sie mich das machen!« Steiner warf ihm einen überraschten, Lohmar einen misstrauischen Blick zu. »Sie werden hier gebraucht, hier ist Ihr Platz, bei den Passagieren. Das ist Kopilotenarbeit! Sonst hole ich das Wetter, melde die Flüge an. Jetzt reserviere ich ein Flugzeug!« Steiner wandte sich an Lohmar. »Einverstanden?« »Falls etwas dahintersteckt …« Er kniff die Augen halb zu. »Die Plä ne gibst du lieber gleich auf! Es ist jetzt 13 Uhr 15, Kabuler Ortszeit – stell deine Uhr exakt! Um Punkt drei bist du zurück! Falls nicht …« »Meine Uhr geht korrekt, das können Sie sich denken!« Man sah ihm an, wie er sich freute, Steiner eine Arbeit abnehmen zu können. Er litt noch immer unter einem schlechten Gewissen; er woll te gutmachen, was er an Bord verdorben hatte. Lohmar ließ sich Zeit. Er musterte abwechselnd die beiden Piloten und die Reihe der erschöpften, unter der Hitze leidenden Passagiere. Frau Bauer stützte sich auf Hannes Radewald. Am Himmel tauchte die erste Wolke auf, noch blaß, noch wenig ausgeprägt. »Das ganze Unternehmen hat einen Haken. Wir sichern uns ab, das ist doch klar, oder?« Jetzt bot er wirklich das Bild eines Offiziers vor der Front, wie er gekrümmt dastand, erregt auf dem Rücken die Fäu ste gegeneinander stieß, von schräg unten Weersma feindselig anblick te und drohte: »Ob das klar ist?« »Natürlich, das ist klar!« Seine Mundwinkel hingen jetzt verkniffen herab, als leide er unter ungeheurer Verantwortung. 251
»Das ist doch klar, daß ich eine Geisel für dich brauche! Bist du um Punkt drei nicht zurück, fällt hier ein Schuß! Ingrid!« Er rief Ingrid wie ein Demonstrationsobjekt herbei; und Ingrid kam, zückte betont effektiv ihre Pistole, stand da, lächelte; er hat Sinn für Showwirkungen! dachte Bronn, rieb sich unbehaglich das stoppelige Kinn: »Hier wird Punkt drei ein Passagier erschossen, wenn du nicht Punkt drei zurück bist, klar?« »Ja!« sagte Weersma leise. Er hatte beobachtet, wie Frau Radewald zusammenzuckte und kurz vor einem Tränenausbruch war. Sie war sehr blaß und griff sich haltsuchend an ihrem Mann fest; der diente nun zwei Seiten als Stütze. »Gut! Wunderbar!« Er krümmte seinen Rücken, verzerrte sei ne Züge noch mehr – ein General vor der Schlacht. Er spürte seine Macht, den Schrecken, den er verbreitete. Er genoß die Furcht, die sich langsam ausbreitete auf den Gesichtern, auch auf den beherrsch testen: Das war der Lohn, wie er ihn sich wünschte! »Großartig! Wir haben uns verstanden! Und ich bin ein großzügiger Mensch. Ich las se mit mir reden!« Er pausierte schon wieder, schlürfte die Spannung in sich ein wie ein köstliches Geleegericht. »Ich warte geduldig auf ei nen Freiwilligen …« Das schien niemand verstanden zu haben; und er baute das hilfsbereit aus. »Ich überlasse es euch, wer sterben will. Er soll vortreten und sich melden, und er wird sterben um drei Uhr, falls. Falls!« Er warf Weersma einen gleichzeitig drohenden und verheißungsvol len Blick zu, als hoffe er, er bringe ihn nicht um seine Gelegenheit. »Wer bietet sich an? Wer bürgt? Mir ist es gleich!« Er trat einen Schritt zurück, er entspannte sich; und dabei fiel er nicht zusammen – er wurde größer, die Verkrampfung schwand. Niemand trat vor. Eine zweite Wolke, größer als die erste, segelte vorbei, langsam … kaum Wind. Ein Esel schrie sehr fern, das einzige Geräusch. Und jetzt brach Lohmar in Lachen aus, in ein hektisches, spöttisches Lachen, und Inger und Ingrid stimmten ein, obwohl sie den genauen Grund nicht wissen konnten. 252
»Hier steht einer der beiden Piloten!« rief er mit verächtlicher Heiter keit, »einer, der euch sicher und mutig und zuverlässig nach Kabul ge bracht hat! Ihr habt euch ihm anvertraut! Und keiner, keiner ist da, der für ihn bürgt! Keiner!« Er schritt jetzt die Front ab, und wo er auftauchte, da wich die Men schenlinie zurück, und keiner blickte ihm in die Augen. Leichenblass stand Weersma vor den Menschen und zitterte. Er hat keinen Sinn für Show, für Wirkung, dachte er verzweifelt, dieses Schwein hat sie erst alle eingeschüchtert; und jetzt erwartet er, daß je mand sich meldet. Jetzt machen doch alle in die Hose vor Angst, das ist der einzige Grund, weshalb mir keiner traut. Er schämte sich; und er merkte nicht, daß er in eine Falle gelaufen war und Lohmar sich an ihm rächen wollte. Er stand einsam und ver loren in der heißen Sonne, und ihm schwindelte. Der Horizont begann zu kreisen, langsam, rascher. Da sagte eine Stimme: »Er ist mein Kopilot; natürlich bürge ich für ihn.« Der Horizont kam zum Stillstand. Fast hätte er Steiners Hand ge griffen. Eine kühlende Brise kaum auf; jedenfalls spürte er sie zum er sten Mal. Aber Lohmar schüttelte den Kopf. »Sie sind mir einfach zu unentbehrlich, Captain. Und nun markieren Sie nur nicht den stillen Helden – das wissen Sie selber genauso. Nein! Ich möchte schon jemand von denen da! Am liebsten bald! Das Elend ist: Ihm bleibt um so weniger Zeit, die Dinge zu organisieren! Um drei erwarte ich ihn zurück, so oder so!« Wieder legte sich Stille über die Gruppe. Hoch oben tauchten neue Geier auf, kreisten regungslos, während der Himmel sich mehr und mehr mit Alto-Cumulus überzog. Dann, während niemand mehr damit gerechnet hatte, entstand Be wegung in der Gruppe. Weersma hatte die Augen gesenkt und hör te das Scharren im Sand. Er wagte noch immer nicht aufzublicken; aber er spürte die Nähe des Menschen, der vorgetreten war. Ein kur zer Schatten lag vor ihm. Er hob seine Augen um eine Nuance. Er sah, daß eine Frau vor ihm stand. Er wußte nicht, wer die Frau war, denn 253
er hatte sich nicht um die Passagiere gekümmert. Er spürte eine gro ße Dankbarkeit für sie. Es war Gwen Gary.
29
D
ie Wolken, die Vögel, die Hügel, dachte Bronn. Konzentrier dich auf Wolken, Vögel, Hügel – auf die Schönheit der Welt, die dir immer Kraft gegeben hat. Wieder schweiften seine Gedanken ab und gingen andere Wege. Er erinnerte sich seiner Streifzüge und Safaris, die fast alle ausgefallen ge wesen waren; aber ihm kamen immer nur die halbwegs misslungenen in den Sinn; nur Unbefriedigendes fischte sein Gedächtnis herauf. Burma zum Beispiel; er dachte an Mandalay. Es gab nur eine Mög lichkeit, ins fabulöse Kiplingsche Mandalay zu gelangen: eine DC-3, die schon von der Armee wegen Überalterung ausrangiert worden war. Die Landroute war für Ausländer gesperrt. Die trostreiche Ent schuldigung lautete, Kipling habe sich geographisch ohnehin geirrt: keine fliegenden Fische längs der Route. Keine Sonne, die donnernd über der Bucht aus China heraufsteigt; denn Mandalay liegt inmitten von Dschungeln und Bergen. Aus der DC-3 wurde er im letzten Au genblick ausquartiert – Armeeoffiziere charterten sie, um ins nörd liche Rebellenkampfgebiet zu gelangen. Wohin Bronn auch in Fern ost wollte, in Thailand, Burma, Kaschmir, Nepal, Pakistan, Malaysia: stets fanden im Norden Rebellenkämpfe statt. Hier waren es die Mons, Shans, Chins, Karens und Kachins, gegen die der Feldzug ging, aber gerade diese Bergstämme gehörten zum Interessantesten Burmas. »Weiter!« forderte Karen ihn atemlos auf. Sie hatte sich neben ihn gehockt, und er war einfach dazu übergegangen, seine Gedanken in Sprache umzusetzen. »Ich bin noch keinen Tag in Gefangenschaft, da 254
komm' ich mir schon wie ein Vogel im Käfig vor. Mandalay, Samar kand, Ankor Wat, das beflügelt die Phantasie, da möchte man gleich losfliegen.« »Wir sollten einfach so nebeneinanderher unsere Gedanken ausspre chen, das erleichtert und beruhigt!« »Ja. Sie haben die richtige Haltung; Sie wissen, was man tun muß, um nicht verrückt zu werden … All diese Menschen, die stumpfsin nig vor sich hin starren oder einem vorwurfsvolle Blicke zuwerfen … die Hitze … die Ungewissheit … Kabul, das war auch so ein Traum ziel, o je!« Bronn erzählte mit leiser Stimme weiter. Wie er sich, um wenigstens nach Pagan zu gelangen, Informationen im Regierungs-Gastbungalow am Irawady-Fluß geholt hatte. Das Personal hatte schon längere Zeit keinen Gast mehr zu Gesicht bekommen und schien auch keinen zu erwarten. Es spielte Karten; und die Regel war, daß dem Verlierer ei nes Spiels jedes Mal ein Strich Asche übers Gesicht gezogen wurde. Als Bronn ankam, starrte ihm die gesamte Belegschaft mit grauen Geister gesichtern entgegen … »Oder: mein Abstecher in den Jemen. Ich wollte von Addis Abeba nach Karatschi fliegen, aber der Vertreter der Fluggesellschaft meinte: Warum machen Sie nicht bei der Zwischenlandung in Aden einen Ab stecher nach San'a' im Jemen. Er ist frei für Sie; und das Visum erhal ten Sie bei der Landung in San'a' am Flughafen. Auch frei.« »Bitte, erzählen Sie!« Er stieg also in Aden in die DC-3 der YEMEN AIRWAYS um – sein Schicksal schien eng mit der DC-3 verknüpft. Im Gang lag ein verwun deter Soldat auf einer Bahre (wahrscheinlich wieder einer, der im Nor den gegen Rebellen gekämpft hat, dachte er). Die einzige Stewardeß machte erst gar keinen Versuch, über den Verwundeten zu klettern, und gab sich intensiv der Lektüre einer zerfledderten arabischen Zeit schrift hin. Der einzige Passagier machte ihn auf den Wasserspender aufmerksam, aus dem man sich selber einen Pappbecher warmer Flüs sigkeit einschenken konnte. Sie spräche Saudi-Arabisch, Serbokroa tisch und Rumänisch, drei Fremdsprachen, meinte er von der Stewar 255
deß, aber mit Englisch, nein, damit sei bei ihr wirklich nichts zu ma chen. Kurz vor der Landung winkte sie ihn zu sich hin, und er kletter te über den stöhnenden Soldaten mit den blutbefleckten Verbänden an den Armen und lieferte seinen Paß ab. »Wenn Sie wissen, was in Gegenden wie Jemen, Buthan, Bahrain oder den Nikobaren ein Paß bedeutet, können Sie sich meine Gefühle vorstellen, als ich meine Stewardeß nach der Landung in einen Wagen steigen und in Richtung Stadt verschwinden sah.« »Wenn ich freikomme«, sagte Karen vor sich hin, »werde ich all diese Länder besuchen: Jemen, Albanien, Usbekistan, Tibet, Mustang, Sik kim … Wissen Sie, was ich vorher mache? Kennen Sie das Royal Palace in Bangkok, natürlich kennen Sie es. Davor ist ein großer Markt, da werden Singvögel in Käfigen verkauft, zu Hunderten, zu Tausenden! Manchmal hocken bis zu einem Dutzend Tiere in einem engen Kä fig. Einige liegen schon regungslos am Boden. Die Sonne brennt … Wenn ich jemals wieder freikommen sollte: Ich fahre nach Bangkok zum Sman Lu-ang und kaufe sie alle, lade sie auf einen Lastwagen, fahre damit in die Reisfelder am nördlichen Menam und lasse sie flie gen!« Bronn lächelte; er wollte über ihren Arm streicheln. Aber er sah Stei ner in der Nähe, der sich mit dem Mönch unterhielt; und eine plötzli che Eingebung ließ ihn die Hand zurückziehen. Er kehrte zurück nach San'a', und wie er da verloren auf dem leeren staubigen Feld stand, tote Baracken um sich, ohne Paß. Es dauerte lange, ehe er jemanden aufgetrieben hatte, dem er sich verständlich machen konnte. Er erfuhr, daß sein Paß im städtischen Einreiseamt für Touristen abgegeben worden sei und daß er in spä testens drei Tagen mit der Eintragung und Rückgabe rechnen könne. Aber meine Maschine geht morgen früh zurück, und ich habe keine Devisen, protestierte er; am besten, er fahre selber mal hin. Nach lan gen Verhandlungen mit einem Taxifahrer und noch ehe er in der Gas se vor dem Bretterverschlag und der unüberschaubaren Menge her umlungernder Männer angekommen war, erfuhr er eine wichtige Tat sache: Es war Feiertag, und niemand arbeitete. Endlich trieb er einen 256
Gassenjungen auf, der sich als Dolmetscher anbot und herausbekam: Vor vier Uhr werde das Office heute nicht besetzt sein. Er wartete in der staubigen Mittagshitze, inmitten Scharen untätiger, abenteuerlicher Gestalten, die sich alle dem Genuss eines Getränks hingaben, das der Dolmetscher undeutlich mit Quam oder Math oder ähnlich Klingendem benannte und dessen stark alkoholischen Cha rakter man jedem Mann unschwer vom Gesicht ablas. Gegen halb fünf teilte der Dolmetscher mit, nach den neuesten Informationen werde das Office nicht vor fünf besetzt sein, und um halb sechs, es werde nicht vor sechs, sieben oder acht besetzt sein. Und damals war Bronn noch zu wenig vertraut mit den Gepflogenheiten des Ostens, um zu wissen, daß nicht vor vier, fünf oder sechs lediglich hieß: heute nicht mehr, vielleicht morgen! Was wollen Sie, sagte der Dolmetscher später schulterzuckend, die Männer sagten die Wahrheit: ist denn das Office vor sechs geöffnet worden? »Da saßen Sie aber ganz schön in der Tinte, damals im Jemen, was?« sagte Karen mit einem Anflug ihrer alten Burschikosität. »Ohne Paß, Devisen, Intercontinental-Hotel!« »Ich bin einfach durch ein Fenster ins Office eingestiegen, über die Leiber der hockenden, träumenden, sich wälzenden Männer hinweg. Ich glaube, dieses Quam, Mham oder Quath war eine Art Rauschgift; sie stierten mich alle reglos an; es war gegen acht und dunkel. Und da, in einem Staubhaufen, aus dem Spinnen und Kakerlaken stoben, lag mein kostbarster Besitz – meine Dreifremdsprachenstewardeß hatte den Paß einfach durch einen Spalt ins Office geworfen! Ich habe mich dann zum Flughafen zurückfahren lassen und auf einer Bank über nachtet; alles war tot und leer. Jetzt hätten sie kommen können, die gefürchteten Saboteure, Regierungsfeinde, Spione, mit ganzen Luftar madas hätten sie landen können; niemand wäre dagewesen, sie zu kon trollieren. Ich bin dann am nächsten Morgen zurückgeflogen, zersto chen, verdurstet, ausgehungert; ich kann eine Menge vertragen, Stra pazen machen mir nichts aus! Ein Visum allerdings, ein Visum für den Jemen habe ich nie erhalten!« »Sie sind Strapazen gewohnt, mit Ihnen könnte man Jaks stehlen!« 257
sagte sie geistesabwesend. Er ertappte sie dabei, wie sie öfter und öfter zum Terminal hinüberblickte, ob sich da nicht ein winziger Punkt aus der schwarzen Kette der Schaulustigen hob. Und auch er selber wur de eindeutig nervöser; es war 14 Uhr 32, afghanische Ortszeit. »Jetzt könnte er bald kommen!« »Er wird Schwierigkeiten haben. Sie kennen die orientalische Men talität und Bürokratie.« »Trotzdem, das habe ich alles schon einkalkuliert!« »Kalkulieren Sie neu! Wir haben noch 28, nein 26 Minuten!« Sie sah, wie auch Steiner, de Laer und ihre Kolleginnen sich öfter und öfter aufrichteten und nervöse Blicke zum Terminal hinüberwar fen. Himmel, dachte sie, ich muß zu Gwen Gary hinüber! Wie sie sich jetzt fühlen mag. Dann stellte sie eine Tatsache fest, die einen eisigen Ring um ihr Herz legte: Unmerklich war Gwen Gary isoliert worden. Die beiden Schwedinnen hatten sich zwischen sie und die übrigen Pas sagiere geschoben; die waren sofort beiseite gerückt, als ginge sie das alles nichts an, als hätten sie nichts mit den Vorgängen zu tun. Hastig drängte sie: »Weiter, weiter! Haben Sie nie Angst gehabt auf Ihren Streifzügen? Richtig Angst? Ich ertappe mich dauernd dabei, daß ich richtig Angst habe. Auch ohne Trips nach Burma oder in den Jemen!« »Doch, doch«, sagte er. »Und wir haben noch 25 Minuten, wir soll ten uns keine Sorgen machen … Der Schlangentempel von Padang auf Sumatra, darin habe ich gezittert vor Angst; daraus bin ich laut schrei end geflohen!« Da war er in Panik davongerannt. Erst sah alles ganz harmlos aus: Er wußte, daß sich zwischen den brennenden Kerzen, den Nischen und Statuen Schlangen bewegten. Er sah sie im Halbdämmer hängen, sanft und fast melodiös den Dreieckskopf wiegen, züngelnd gegen ihn vor stoßen, zurückwogen. Das alles sah nach schwarzer Magie, sah angster regend aus und flößte ihm nicht die geringste Furcht ein. Dies ist ein öf fentlich zugänglicher Tempel, sagte er sich, wenn auch an einer schwer zugänglichen Stelle des Landes gelegen. Dies sind Kobras, das erkennt auch ein blutiger Laie. Man läßt keine giftigen Kobras frei in einem öf 258
fentlich zugänglichen Tempel umherschlängeln, das liegt auf der Hand. Man hat ihnen also die Giftzähne gezogen, das ist logisch. Er sah sich in den feuchten halbzerfallenen Gemäuern um. Überall flackerten Ker zen, Weihrauchstäbchen, Räucherfackeln; und überall lagen Schlangen, hatten sich ineinander verknäult oder ragten träge, wie Äste, die im Zeitraffertempo wuchsen, aus Felsspalten heraus. Einmal spürte Bronn die kalte, widerliche Glätte eines Schlangenkörpers an seinem nackten Unterarm; und er dachte: Das mußt du einfach einmal erlebt haben, wie eine züngelnde Kobra sich um deinen Arm schlängelt! Dann sah er es. Im aufflackernden Licht dehnte die Kobra weit ihr Maul, als müsse sie gähnen; und hinter der grauschwarzen Spaltzun ge sah Bronn hell und scharf und unmissverständlich die Giftzähne stehen. Und jetzt, als sei sein Blick plötzlich geschärft, entdeckte er auch in den übrigen Mäulern die gierig gespitzten Zähne. Er taumel te zurück. Erstaunt zog die Kobra sich von seinem Arm; laut schreiend stürzte er hinaus in die blendende Helle … »Damals mußte ich noch viel lernen!« sagte er und versuchte, sich zu entspannen. »Was ich nicht wußte, war: Die Schlangen waren durch die intensiven Weihrauchdüfte so betäubt, daß ihnen jede Angriffslust abhanden gekommen war. Noch nie ist in diesem Tempel ein Besucher von einer giftigen Kobra gebissen worden!« »Noch achtzehn Minuten!« sagte Karen. »Noch neunzehn. Aber es gibt ein Geheimnis, das selbst den auf geklärten Touristen von 1972 nicht bekannt ist, wenn sie sich vor den Intercontinental-Hotels in Karatschi oder Katmandu zusammen mit den Schlangenbeschwörern und ihren Kobras knipsen lassen fürs Fa milienalbum: Entgegen allen landläufigen Gerüchten kann man Gift schlangen ihre Giftzähne nicht ziehen. Man kann es, aber sie gehen ein. Kein echter Orientale denkt daran, es zu tun. Er melkt sie von Zeit zu Zeit, er füttert sie gut, er läßt sie fett und träge bleiben, das ist alles, was er zur Sicherheit der Touristen tut!« »Himmel!« rief Karen jetzt nervös. »Warum heben Sie sich derarti ge Spezialitäten nicht für später auf? Jetzt muß doch etwas geschehen, jetzt muß er doch kommen!« 259
Aber Weersma kam nicht. Und auch Steiner stand jetzt da und starrte hinüber, und de Laer wandte seinen Kopf, und die Mädchen ließen keinen Blick mehr vom Terminal … »Da ist er doch!« rief Kay, aber es war eine Falschmeldung. Jetzt standen beide Schwedinnen vor Gwen Gary, die schon längst völlig abseits saß, obwohl sie sich nicht bewegt hatte; komm schon, nickten sie, und die Frau erhob sich, nicht zu schnell, nicht zögernd; das können sie doch nicht tun, schien Karen zu sagen und blickte mit wilden Augen Steiner an. Steiner suchte Lohmar, der tauchte hinter dem Bugrad auf, gleichzei tig landete eine Avro 748, die Räder radierten, die Bremsen kreischten. Staub wirbelte … »Hören Sie zu, Lohmar!« »Bitte?« fragte Lohmar ruhig, als der Lärm vorbei war. »Ich sehe ein, daß es um Ihr Prestige geht. Aber Sie werden sie nicht wirklich erschießen, nicht wahr?« »Sondern?« »Sie werden Sie fortführen …« »Zu der Ahornbaumgruppe dort, ja …« »Sie werden einen Schuß abgeben lassen …« »Sie besitzen hellseherische Fähigkeiten, Captain!« »Aber er wird in die Luft gehen. Ich gebe Ihnen mein Wort: Kein Passagier wird mehr diese Frau zu Gesicht bekommen. Wir können sie in die Kabine zu den Geiseln tun, oder …« »Diese Hitze«, sagte Lohmar ruhig. »Ihr Gedächtnis leidet. Sie ver gessen: Ich habe gerade Ihren Kollegen umgebracht.« »Das können Sie doch nicht tun!« Steiner sah ihn hilflos an. »Sie wis sen genauso gut wie ich, daß mein Kopilot … er ist aufgehalten wor den, schuldlos. Er wird kommen!« »Es macht Spaß!« sagte Lohmar ruhig. »Es macht mir einfach Spaß!« Er beobachtete geduldig, wie Gwen Gary noch einmal stehen blieb, über die Menge, vorbei an der Maschine, zu den fernen Hügeln hin überblickte und dann widerstandslos mitging. 260
»Außer Ihrer Crew«, fuhr er fort, »scheint niemand übermäßig viel Interesse aufzubringen. Niemand winkt ihr nach. Niemand bricht in Wehklagen aus … Ich will Ihnen was sagen, Captain: Ich bin ein groß zügiger Mensch! Es ist fünf vor; aber ich warte noch bis genau fünf nach!« Er wandte sich abrupt um. »Dann knallt es! An der richtigen Stelle.« Steiner blickte verzweifelt hinter ihm her, wie er der einsamen Grup pe nachschlenderte, die Kurs auf die Baumgruppe am Rollfeldrand nahm. Er sah erstaunt über die Gruppe seiner Passagiere hinweg, die mit gesenkten Blicken dasaßen und nichts wahrzunehmen schienen. 14 Uhr 58: Der Himmel hatte sich bezogen; aber die Sonne war noch immer spürbar. Jetzt kam Bewegung in die erstarrte Gruppe: Der Mönch erhob sich und trat an Frau Bauer heran, die apathisch unter der linken Außenturbine hockte. Er ließ sich vor ihr nieder, raffte vor her sorgfältig sein Gewand zusammen, starrte sie lange an, starrte sie einfach an, ohne ein Wort zu sagen. Sie stierte ihn ebenfalls wortlos an, mit halb geöffnetem Mund glotzte sie ihn an, bewegte sich nicht, reagierte nicht. So saßen sie sich gegenüber, so warteten alle erstarrt auf den Schuß …
Mit ihnen, ohne zu wissen, was bevorstand, harrten Hunderte von Neugierigen hinter dem Polizeikordon. Mit Absperrmaßnahmen wa ren die afghanischen Sicherheitsbehörden nicht kleinlich; die vergan genen Wochen hatten ihnen praktisches Training ermöglicht: Konser vative und Progressive hatten sich unzählige Protestdemonstrationen beschert. Den Fortschrittlichen ging es um die Stellung der afghani schen Frau; und die Konservativen hatten mehreren Frauen, die sich ohne chadri gezeigt hatten, Salzsäure ins herausfordernd enthüllte Ge sicht geschüttet. Schon bei der Landung der JETSTREAM war der Polizeichef durch die PHRYXX vorgewarnt worden, er möge sich und seine Schutzbe 261
fohlenen von einem Flugzeug fernhalten, das gerade am Südwestende des Hafens abgestellt werde – falls ihm am Vermeiden eines Blut bads gelegen sei. Kurz darauf raste er fluchend an der Spitze seiner mo torisierten Mannschaft hinaus, verhaftete schon mal pauschal einige im Flughafengras herumstreunende Nomaden und hatte die Ordnung bereits im PHRYXXschen Sinne hergestellt, ehe sie überhaupt benö tigt wurde. Seine nächste Amtshandlung bestand darin, sich den er sten besten auftauchenden Reporter zu greifen und einige imposante Lichtbildaufnahmen von sich schießen zu lassen – für die Morgenaus gabe des KABUL EXPRESS. Gemeinsam mit dem überstürzt eintreffenden Flughafendirektor faßte man den ersten offiziellen Beschluss: Der Flughafen wurde ge sperrt für jeglichen Start- und Landeverkehr. Eine leicht und exakt durchzuführende Maßnahme, da der Platz nachts ohnehin gesperrt war. Gegen zehn Uhr morgens allerdings wurde der Platz wieder für den internationalen Verkehr geöffnet: Die Vertreter der ARIANA und AE ROFLOT hatten mit Komplikationen gedroht, falls man ihren Vormit tagsmaschinen die Landerechte verweigern würde. Und jetzt, 14 Uhr 59, landete bereits die dritte Maschine; zischend ra dierten die Räder einer Fokker Fellowship über den heißen Beton. Als der Lärm des Umkehrschubs verhallt war, flüsterte Karen: »Mein Gott, jetzt muß er doch kommen. Er muß doch zurückkom men? Jetzt …!« Aber Weersma kam nicht.
Während Weersma über das Feld ging, versuchte er, seine Uniform in Ordnung zu bringen. Ihm wurde bewußt, wie verwahrlost er aus sah. Er hatte sich weder gewaschen noch rasiert, noch sorgfältig ge kämmt. Er hatte Jacke und Krawatte zurückgelassen, so ließen sich die Flecken auf seinem zerknitterten Hemd nicht verbergen. Es über raschte ihn, daß er Gedanken auf sein Aussehen verschwendete. Aber 262
vor der Menschenwand, die vor ihm hochwuchs, überfiel ihn Lam penfieber. Er suchte nach einem Durchschlupf; aber die dichteste Ballung kon zentrierte sich dort, wohin er gerade seine Schritte lenkte. Erschöp fung, Hitze und seelische Belastung hatten ihm längst seine Selbst sicherheit geraubt. Fahrig strich er mit den Fingern durch das wider spenstige Haar. Die Sonne brannte; er spürte Durst, Übelkeit und Kopfschmerzen. Als er das Spalier erreicht hatte und durch das absperrende Seil schlüpfte, brach ein Tohuwabohu um ihn los. Ein Dutzend Reporter stürzte sich mit Fragen und Kameras auf ihn. Inmitten des Gedränges versuchte er einen Polizisten zu entdecken. Eine Kamera schlug mit ihrem Teleobjektiv gegen seinen Ellbogen. »Lassen Sie mich durch! Ich bin in Eile!« »Nur zwei Fragen: wie sind die Bedingungen, wie ist …« »Um wieviel Entführer handelt es sich?« »Stimmt es, daß er Kapitän …?« »Lassen Sie mich zum Flughafenkommandanten! Oder zum …« »Erst die Frage: wie lange reichen Ihre Essensvorräte?« »Wie ist die Moral an Bord?« »… oder zum Chef der örtlichen Polizei! Wer hat hier die Ober …« »So ja, bleiben Sie so stehen, jetzt noch ein Schuß von schräg …« Kameras klickten, Filmkameras surrten; Weersma war keinen Schritt vorwärts gekommen. »Oder ins Büro der Ariana. Ich brauche ein Flugzeug!« »Sollen die Passagiere freigegeben werden?« »Ja, lassen Sie mich durch!« »Laßt ihn doch mal durch! Wie viele sollen freigegeben werden? Alle?« »Nicht alle! Wo ist hier …?« Die Schweißausdünstungen der zusammengepferchten Leiber be täubten ihn. Zwischen den Reportern schlugen sich einheimische Schaulustige, ausnahmslos Männer, um die Plätze. Er kämpfte sich verbissen vorwärts. Er schlug um sich; einmal biss 263
er zu. Er spürte, wie seine Kräfte zu Ende gingen. Endlich tauchte der Eingang des Terminals auf. Zwei afghanische Polizisten räumten den Weg für ihn frei. Er verlangte auf englisch den Polizeichef; sie verstanden ihn nicht. Sie holten Verstärkung und bahnten ihm den Weg an einen Jeep. Er sprang auf. Als der Jeep davonrasen wollte, überfielen ihn Zweifel, ob er das Richtige tat. Er mußte am Flughafen bleiben! Er sprang ab und rann te zurück zum Eingang. Dort stieß er auf höhere Offiziere, die Englisch sprachen. Sie brachten ihn zum Platzkommandanten. Kostbare Zeit verstrich weiter, ehe er sein Vorhaben verständlich gemacht hatte. Als er sprach, merkte er langsam, daß er in eine andere Welt geraten war. Die Geborgenheit des Büroraums stand in krassem Gegensatz zu der Bedrohung und Angst, der er entflohen war und deren Nachwir kungen erst jetzt durchbrachen. Er zitterte, schwitzte, stotterte gehetzt. Ihm gegenüber saßen Männer, die gerade einen erholsamen Schlaf hinter sich gebracht hatten und Unruhen, Protestmärsche, ja Revolu tionen gewohnt waren. Sie ließen sich durch ein paar Geiseln auf dem Flughafenvorfeld nicht aus der Ruhe bringen; einer der Offiziere war gerade von Scharmützeln am Khyber-Paß zurückgekehrt. Und vor al lem: sie hatten Zeit. Der Platzkommandant schlug die Beine übereinander, zündete sich umständlich eine Zigarette an, bestellte nicht weniger kompliziert hei ßen Tee für alle, klopfte einen Staubfleck von seiner khakigrünen Lei nenjacke und sagte im breiten, gesetzten Englisch der Afghanen: »Ihre Leute können jederzeit herüberkommen. Wir richten uns in der Ab flughalle auf sie ein.« »Wir brauchen ein Flugzeug!« »Ein Flugzeug. Das wird schwer sein. Morgen vielleicht. Übermorgen.« »Aber wir brauchen es sofort!« »Dann nehmen Sie Ihr eigenes!« »Wir haben geplatzte Reifen. Wenn es hier einen Mechaniker gäbe, der Boeing-707-Reifen …« »Wollen Sie ein Flugzeug von uns oder einen Mechaniker?« unter brach einer der Armee-Offiziere. 264
»Ich würde niemals Starterlaubnis für eine Boeing 707 erteilen!« sag te der Platzkommandant und gab einem Boy das Zeichen, den Tee aus zuschenken. »Es ist schlimm genug, daß Sie ohne meine Erlaubnis ge landet sind!« »Also dann brauchen wir sofort eine Maschine zum Abtransport der freigegebenen Passagiere!« »Wir haben keine zur Verfügung. Sie könnten mit der Ariana 556 um 17 Uhr nach Delhi fliegen. Die Maschine ist allerdings ausgebucht.« »Ausgebucht? Spielt das denn eine Rolle? Hier geht es doch um das Leben der entführten Passagiere!« »Wieso um das Leben?« Erstaunen auf allen drei Gesichtern. »Weil … Die Moral und die äußeren Bedingungen verschlechtern sich von Stunde zu Stunde. Die Verbrecher sind unberechenbar. Wir haben bereits einen Toten. Es wird einen zweiten geben, wenn ich bis um drei nicht pünktlich zurück bin …« »Weshalb?« »Man hat mir zur Bedingung gemacht, bis um drei zurück zu sein. Andernfalls …« »Das finde ich eine kurzsichtige Bedingung!« sagte einer der Offizie re. Der andere antwortete: »Es wäre klüger, den Jungen hier zulassen, bis alle Probleme geklärt sind!« Weersma schlug sich gehetzt und verzweifelt auf die Schenkel. »Wir können doch jetzt nicht über die Richtigkeit der Maßnahmen der Entführer diskutieren!« Der Platzkommandant sah ihn pikiert an. »Wer bestimmt, worüber wir diskutieren? Es ist gerade zwei Uhr vorbei, wir haben Zeit genug …« Er schüttete ausgiebig Zucker in sei nen Tee, ließ die Schale weiterreichen. »Sie behaupten: das Leben Ihrer Passagiere sei gefährdet. Wieso ist das Leben Ihrer Passagiere gefähr det, wenn wir sie im Abflugraum unterbringen? Wir verpflegen sie; es gibt dort eine Bar …« »Die Entführer erlauben nicht, daß die Passagiere sich im Flugha 265
fen aufhalten. Ihre Bedingung lautet: direkt von unserer Boeing ohne Kontakt an die neue Maschine.« »Sie kommen hierher und stellen Bedingungen …«, mischte sich ei ner der Offiziere wieder ein. »Wir haben Sie nicht gerufen.« »Sie behandeln mich, als wäre ich der Entführer!« protestierte Weers ma gereizt. Der Tee trieb ihm den Schweiß in Bächen von der Stirn. Der Ventilator an der abgeblätterten Decke spendete keine Kühle. Der Kommandant sagte: »Hören Sie! Sie sind illegal eingereist. Sie können nicht wieder illegal ausreisen! Wir stellen Ihnen unser Terminal und unsere Behörden zur Verfügung. Wir werden uns sogar bei der Ariana für Ihre Flugscheine verbürgen, die Sie wahrscheinlich gar nicht bezahlen können. Aber Sie müssen uns erlauben, dafür Zeit zu verschwenden!« Weersma starrte die Männer wie Geistererscheinungen an. Sein Un terkiefer schnappte einige Male auf und zu, aber er schwieg. »Wir werden«, fuhr der Kommandant fort, »ein Sonderkomman do der Zoll- und Einreisebehörden alarmieren, damit die Formalitä ten rasch erfüllt werden. Obwohl … niemand hat wahrscheinlich ein Visum … doch wir werden das regeln, diesen Sonderfall. Aber das braucht Zeit …« Die Uhr zeigte 14 Uhr 28, als Weersma seinen Versuch aufgab. Er bat, mit dem deutschen Botschafter verbunden zu werden. Aber der deutsche Botschafter war schon am Flughafen eingetroffen; als er eintrat, rückte der Zeiger auf 33.
Von Benrath beugte sich fast unmerklich vor und lächelte unverbind lich. »Natürlich tun wir alles, was in unserer Macht steht. Wir begegnen aber Schwierigkeiten, gegen die wir machtlos sind.« »Welche zum Beispiel?« Weersma ließ keinen Blick mehr von seiner Armbanduhr. Sie zeig te 41; nach. 266
»Zum Beispiel dieser Streik der Telecommunications in Teheran. Wir kommen nicht durch. Oder, sagen wir: Wir sind – hoffentlich – inzwi schen durchgekommen, aber verspätet. Ehe die Antwort da ist … vor allem: über Teheran durchgekommen ist … Sie müssen verstehen – wir Deutschen sind sehr gründlich … es wird dauern. Aber selbstver ständlich: es wird alles klargehen, das ist ganz sicher, das können Sie ausrichten, das ist doch das Wichtigste.« »Wenn ich in fünfzehn Minuten nicht zurück bin, wird ein Passa gier erschossen!« Der Botschafter wehrte mit einer erstaunten Geste ab. »Ah, kommen Sie! Was erzählen Sie da! Ihre wertvollen Geiseln … man will sie eintauschen, nicht erschießen!« »Nicht alle Passagiere sind Geiseln. Ihr Zustand verschlechtert sich von Stunde zu Stunde …« »Wir bemühen uns; und ich garantiere Ihnen: alles wird klargehen! Ich schicke Ihnen einen Vermittler mit einer weißen Flagge, sobald die Rückantwort da ist, sagen Sie das Ihren Leuten!« »Meinen Leuten?« »Sie wissen, was ich meine: den Entführern.« »Die Temperaturen an Bord sind unerträglich. Die Leute drehen durch …« »Die Temperaturen in Afghanistan in dieser Jahreszeit sind immer unerträglich. Sie können mich nicht für die Temperaturen verantwort lich machen!« »Natürlich nicht … Schicken Sie uns Bescheid, so rasch Sie kön nen … Ich muß jetzt zurück.« »Schauen Sie …« Von Benrath drückte die gespreizten Fingerkuppen seiner beiden Hände zusammen und schien keine Eile zu haben. »Sie müssen das verstehen: ich könnte Ihnen auf eigene Faust Zusagen ma chen … Aber ich habe meine Erfahrungen, ich denke gar nicht daran. Wir müssen uns in Geduld fassen – Sie und ich. Auch meine Lage ist nicht die rosigste, vergessen Sie das nicht, Captain!« »Ich bin nicht der Captain!« sagte Weersma abrupt und sprang auf. »Ich bin der Kopilot.« 267
Von Benrath war ganz und gar Überraschung. »Ich habe mich schon gewundert. Ich war mir wegen der Streifen nicht sicher. Sie sprechen einen holländischen Akzent, nicht wahr?« »Ich bin Holländer!« »Warum kommt der Kapitän nicht selber?« »Weil es für ihn bei den Passagieren schwere Probleme zu lösen gibt! Daran sehen Sie, wie ernst die Situation draußen ist!« Aber er spürte sofort, daß er einen Fehler begangen hatte, als er sich statt Steiner für diese Mission bereit erklärt hatte. Die Unterhaltung war auf deutsch geführt worden, aber die Offiziere hatten genug ver standen, um sofort einzuhaken: »Sie sind nicht der Kapitän? Hält er diese Angelegenheit nicht für wichtig genug, selber zu kommen?« Alle sahen ihn ratlos an. »Ich muß jetzt gehen!« sagte Weersma hastig und verabschiedete sich. »Können Sie mir helfen, möglichst rasch an das Flugzeug zu ge langen?« »Nur bis zur Absperrung!« sagte einer der Offiziere kühl. »Das ande re ist Ihre Sache!« »Meine Sache ist gut!« sagte Weersma. Er stürzte hinunter; aber als er vor der Menge ankam, mußte er auf seine Begleiter warten; und als sie da waren, zeigte die Uhr 2 Minuten vor voll. Er wollte losstürzen, aber schon hielt ihn der erste Reporter am Ärmel zurück, riß die Kamera hoch – andere folgten. Er sah hilfe suchend zu den Offizieren hinüber; die lächelten nur andeutungswei se, der Botschafter war nicht mehr zu entdecken. Weersma stürzte vorwärts, und als er endlich die Sperre durchbrach, zeigte die Uhr drei Minuten nach. Er hatte noch gute dreihundert Me ter vor sich; und er war kurz vor dem Zusammenbruch. Er hatte noch keinen Schuß gehört; und er dachte: Es war nicht so ernst gemeint; es wird alles gut gehen!
268
30
S
päter, wenn er an diese Minuten und Sekunden zurückdachte, er schien Steiner alles ganz unwirklich: Er sah Weersma zurückjagen, straucheln, sich aufraffen, erstarren, während der Schuß fiel, weiter rennen mit vermehrter Kraft. Von diesem Bild kam er kaum mehr los; es wiederholte sich wie in einem Trickfilm: Straucheln, Sichaufraffen, Schuß, Erstarren, Straucheln … Er hatte Gwen Gary nie kennen gelernt; erst durch Karen lernte er sie kennen; und Karen brach nach dem Schuß in lautes Weinen aus, und Weersma gebärdete sich wie ein Irrer – er sei an allem schuld, angefangen von der Kurzschlußhandlung an Bord bis zu seinem Vorschlag, stellver tretend für den Kapitän Verhandlungen zu führen – alles, was er über nehme, ginge schief, jetzt sei er am Tod der Schauspielerin schuld … Die Hitze waberte in Wellen über die Landschaft. Die Luft war wie trübes Glas, hinter dem alle, die durch den Schuß kurz aufgeschreckt waren, wieder zu Panoptikumsfiguren erstarrten. Durch die Reihen der fernen Neugierigen lief ein kurzer Aufschrei wie eine Woge; Bewe gungen waren nicht auszumachen. Dann sirrte aus dem Norden, vom Hindukusch her, das Geräusch ei nes Flugzeugs heran. Über den Minaretten der Stadt tauchte eine Ilju schin 18 auf, umkurvte den Platz, verschwand wieder hinter Bergkup pen, näherte sich, tiefer jetzt, von der anderen Seite … ein dünner Ke rosinschleier senkte sich in eine Talmulde … mit gespreiztem Fahr werk, gesenkten Klappen zog sich der schwarze Schatten heran … fünf Doppelräder radierten kreischend über die Piste: die Aeroflot-Maschi ne aus Taschkent war gelandet. Um eine winzige Enklave des Schreckens brandete die große wei te Welt. 269
Vera Merkelsbach hatte sich Erlaubnis geholt, die Bordtoilette aufzu suchen. Sie nahm sich zwei der Not-Batterielampen, placierte sie ge schickt neben Spiegel und Waschbecken, verriegelte die Tür und sah sich befriedigt um. Zum ersten Mal fühlte sie sich wohl. Obwohl die nicht geleerten Kü bel in der Hitze stanken, obwohl ihr kaum Luft zum Atmen blieb, ge noß sie die Abgeschiedenheit, die Möglichkeit, sich endlich mit sich selber, und mit niemandem anders als sich selber beschäftigen zu kön nen. Sie fühlte sich ausgelaugt, als hätten tausend Blutegel und Parasi ten ihr den Lebensnerv ausgesogen. Menschen in der Masse sind das Furchtbarste auf Erden, dachte sie. Sie versenkte sich ins Bürsten ihres Haars. Sie hatte lange, blonde Locken, die jetzt verfilzt und brüchig waren. Sie hätte stundenlang so stehen können, ganz diesem sinnlichen Vergnügen hingegeben, dem prickelnden Duft des versprühten Parfüms, der frischen Weichheit der Cremes, die sie aufzutragen begann. Es war eine Tätigkeit, bei der man nicht zu denken brauchte; und sie konnte sich ihr genauso intensiv widmen wie einem ausgiebigen Frühstück, mit dem sie sich ebenfalls stundenlang beschäftigen konnte – in einem Schwebezustand zwi schen Realität und Traum. Dann, kurz und trocken, fiel der Schuß. Die Bürste entglitt ihr. Sie entglitt ihr nicht nur, sie wurde durch die aufzuckende Hand beiseite geschleudert. Schlagartig stand die Realität wieder vor ihr. Ihr wurde bewußt, daß sie diese halbe Stunde für ihr Makeup ausgewählt hatte, um den Schuß nicht hören zu müssen. Sie dachte daran, wie Gwen Gary ihr auf die Nerven gegangen war und daß sie sie für eine heruntergekommene Säuferin gehalten hatte; und statt mit sich selber ins Gericht zu gehen, verdrängte sie diese Er innerungen und stürzte sich mit Vehemenz auf Karen. Karen war für sie das rote Tuch geworden, der böse Feind, der an al lem schuld war – Jude, Kommunist, Neger, Hippie in einer Person. Blöde Ziege, dummes Weib, dachte sie und versuchte, den Nach hall des Schusses aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen. Irgendwo sind Grenzen gesetzt, die sind erreicht, wir sind nichts als Opfer, nicht 270
mehr, nicht weniger als jeder Passagier; alles andere ist Wichtigtuerei. Ich habe nie Freude an der Fliegerei gefunden; sie ist eine unheimli che Sache! Der ganze Trick der Fluggesellschaften besteht darin, die se Tatsache mit Filet Mignon, Lagerbier und Acht-Kanal-Super-Ste reo zu übertünchen. Irgendwann schlägt, päng, die Sicherung durch, zzzschttt, entfaltet sich eine Rakete aus Angst und Schrecken gar far benprächtig. 50 Grad minus Außentemperatur, Sauerstoffgehalt so ge ring, daß du ohne Druckanlage den Höhentod stirbst! Und was ist mit deinem Blut, diesem ganz besonderen Saft? In den unmenschlichen Höhen, in denen wir leben müssen, kocht Wasser schon bei 75 Grad, da kannst du dir vorstellen, wie dein Blut langsam zu einer dicken, fla denreichen Brühe gerinnt, die deine Aorta und Herzklappen blockiert! Und der Luftdruck? Eine plötzliche depressurization versetzt dir einen Schlag in die Magengrube, darauf würde jeder Schwergewichtler stolz sein, der ein foul riskiert! Die Blutäderchen in deinen Augen platzen – was sonst noch platzt, hängt von der Robustheit deines Körpers ab! Dein Trommelfell ist hin, that's for granted! So was machst du, um den nötigen Kies für die Dinge zusammen zu bekommen, die wirklich Freude machen. Nur ein perverses Stück wie Karen kann in diesem Scheißberuf so was Ähnliches wie l'art pour l'art sehen! Fliegen, um die Welt kennen zu lernen, welch ein Nonsens! Auf dem Zahnfleisch kommst du an im Hotel, das Klima spielt grundsätz lich verrückt, entweder ist es zu heiß oder zu kalt, ohne Swimming pool wärst du aufgeschmissen. Und von Zeit zu Zeit kommt dann ir gendein Idiot daher und redet von Sehenswürdigkeiten, unberühr ter Natur – diesem ganzen Mist. Du hängst in den Seilen; und wenn es hoch kommt, machst du einen Bummel zum Shopping oder holst transpirierend dein Kleid von der Schneiderin. Und überhaupt: muß man überhaupt in jeden Tempel, in jedes Mu seum kriechen? Es ist doch immer wieder das gleiche. Ich habe mir mal die Akropolis angesehen, und in Florenz war ich auch mal. Da regt sich die Hilldorff auf, wenn ich in Bangkok oder Rom nicht gleich mit in die Stadt renne! Die einen mögen Ruinen, die anderen kühles Bier, wozu dieser Kult? 271
Das Ganze inszeniert sie doch nur, um bei Steiner Eindruck zu schin den! dachte Vera und packte ihre Toilettesachen zusammen. Langsam wurde auch ihr die Hitze unerträglich. Überhaupt: diese beiden mit ihrem illegalen Verhältnis! Alle Spatzen pfeifen es vom Dach; und sie sollte etwas vorsichtiger sein … Ja, das sollte sie … Sie dachte ange strengt nach, während sie die Tür öffnete. Wenn unsere Schweine von Entführern dahinter kämen … Eben haben sie die Schauspielerin … weggeführt. Sie könnten … da wäre viel Erpressung drin, in deren Verhältnis … Sie pfiff gedankenverloren durch die Zähne und verließ die Toilette. Als sie die steile Leiter hinuntertastete, entdeckte sie im Hintergrund der stinkendheißen Kabine, weit hinter den dösenden, schwitzenden Astronomen Ingrid und Ralph. »Mach, daß du von Bord kommst, sonst knallt's!« schrie Ingrid ihr drohend durch die Kabine zu; eilig sprang sie zurück in den blenden den Sonnenschein. »Jetzt wieder zu uns beiden!« sagte Ingrid zu Ralph Osterman. »Ich warte weiter!« »Spar dir die Zeit!« sagte Ralph. Er war blaß, aber ganz ruhig. Sie betrachtete lächelnd die Spitze ihres Messers, das im diffusen Ka binenlicht schimmerte. »Du hast mehr Chancen gehabt als ein Bodenspekulant!« Sie zuckte die leicht gewölbten, mageren Schultern. »Überall hocken sie zusam men, flüstern, zischeln. Du bist unter ihnen gewesen; ich habe dich be obachtet. Ich weiß, daß Aufwiegler darunter sind. Jetzt sag mir brav, welche!« »Du siehst mehr als ich. Ich habe niemand entdeckt.« »Ach komm …« Sie sah ihn über die Klinge lange und warnend an. »Niemand!« »Wie du meinst.« Sie hob langsam und sorgfältig seinen Pullover hoch; und er wehrte sich nicht. Er sah auf die nackte Stelle seines Körpers und auf die Messerspitze, die sich langsam näherte. »Weißt du, Ralph … Es gibt einen Menschentyp, der sehnt sich geradezu nach Schmerzen. Man bietet ihm Chancen – er ist fast glücklich, 272
sie nicht benutzen zu brauchen. So eine Art Christustyp … Du bist so einer!« »Blamable Planung!« sagte Ralph. »Sich einen Masochisten als De nunzianten auszusuchen!« »Vielleicht war das nur ein Vorwand …« Sie setzte lächelnd die Mes serspitze auf seinen Körper. »Vielleicht bin ich Sadist!« Er schüttelte den Kopf. Er war in Schweiß gebadet. »Dazu habt ihr viel zuviel Sorgen!« »Was war das?« »Viel zuviel Sorgen!« Sie stach zu. Sein Körper klappte zusammen wie ein Klappmesser. Er schrie auf, sehr kurz und sehr leise; dann starrte er fasziniert auf das Blut, das aus der Wunde lief. Eine dunkle Spur zog sich hinunter und versickerte im Hosenbund. »Keine Angst!« versicherte sie lächelnd. »Das ist völlig harmlos. Noch!« »Gib's auf!« sagte er. »Gib's auf!« sagte sie. »In zwei Stunden hol' ich dich wieder. Dann wird es kritisch! Und wenn du immer noch auf deiner Jesus-Märty rerattitude beharrst: zwei Stunden später bist du schon wieder dran! Dann wird es gefährlich …« »Und dann?« »Tödlich!« »Vielen Dank für die Information! Kann ich gehen?« »Natürlich nicht. Warte, ich verbinde dich. Kein Wort darüber!« Sie hatte fast zärtlich gesprochen. Aus dem Erste-Hilfe-Kasten, der auf einem der hinteren Sitze lag, zog sie Verbandszeug und Leukoplast. Sie stillte gewissenhaft das Blut, achtete sorgfältig darauf, die alte, eben verkrustete Wunde nicht zu berühren, zog seinen Pullover darüber, meinte zuversichtlich: »In zwei Stunden wird dir sicher mehr einfallen!« Er ging. Gegen Frühabend zog ein starker Leichengeruch über das Feld. Die ersten, die unruhig wurden, meinten, er käme vom Ahornhain 273
her, von dort, wohin man den toten Bauer und Gwen Gary gebracht habe. Patrinelli stellte eindeutig fest: der Gestank kam aus der Maschine. »Sie haben begonnen, die Geiseln umzubringen!« verkündete er. Gleichzeitig begannen die ersten Gerüchte umzulaufen. Der deutsche Bundeskanzler, hieß es, sei im Urlaub und habe sich geweigert, wegen dieser Angelegenheit zurückzukehren. Der deutsche Botschafter in Kabul habe sich selber und seinen Mercedes 600 als Austausch angeboten. Die afghanische Luftwaffe plane einen Angriff, falls das Feld nicht bis zum Abend geräumt sei. Nicht die afghanische, die persische Luftwaffe habe mit Angriffen gedroht, um das Leben der befreundeten Deutschen zu retten. Eine Verbindung mit Deutschland könne nicht zustande kommen, weil in Teheran Revolution sei. Steiner identifizierte als erster die Ursache des Leichengeruchs. Die Lösung stimmte ihn nicht zufrieden sich selbst gegenüber. Der Geruch kam aus dem Laderaum, und dort waren in der Hitze, ohne Wasser und Nahrung, der indonesische Affe und die Rhesusäffchen eingegangen. Er verhandelte eine halbe Stunde, ehe Lohmar die Tiere durch einen der Afghanen entfernen ließ. Er hatte gerade dieses Problem gelöst, als Patrinelli auftauchte. »Schöner Mist, den Sie hier veranstalten, Captain!« »Bitte?« Patrinellis Gesicht war wie vom Fieber gerötet, seine winzigen roten Augen flackerten. »Ich kenn' mich aus mit Flugzeugen, ich hab' selber genug geflogen, ich weiß, welche Notfrequenzen da sind, wie man sich verständigen kann. Sie hätten Jäger anfordern können …« »Bitte?« Steiner spürte plötzlich eine unbezwingbare Erschöpfung, der Sinn von Patrinellis Worten entging ihm. »Ein simpler Abschwung, der ganze Klüngel wäre schon an Bord er ledigt gewesen. Wissen Sie, was ich glaube?« 274
»Bitte?« »Sie kassieren. Sie stecken mit der Bande unter einer Decke. Geben Sie es zu!« »Sie sollten ein bißchen schlafen. Ich auch. Wir sind beide müde!« »Ich will Ihnen was sagen: Sie haben die Reifen absichtlich hochge hen lassen bei der Landung. Sie wollen gar nicht, daß wir wegkom men.« »Wenn Sie das beruhigt. Jetzt legen Sie sich am besten hin, Patrinel li.« »Es beruhigt mich nicht. Sie könnten auch jetzt starten, heile Reifen genug dran … drei, vier, fünf allein am Hauptfahrwerk. Aber Sie wol len nicht. Ich sag' Ihnen noch was …« »Bitte!« »Sie sind unfähig, Kapitän zu sein! Sie sollten abgelöst werden!« »Wollen Sie übernehmen?« »Ich werde übernehmen! Ich werde diesen verdammten verratenen Haufen übernehmen!« schrie Patrinelli jetzt. »Und ich werde Sie vor ein Gericht stellen lassen! Und jetzt werde ich den Leuten klarmachen, wer Sie sind!« Er drehte sich vor Wut zitternd um und stapfte davon. »Das ist eine gute Idee!« sagte Steiner und seufzte erschöpft.
»Wohin verdrückst du dich eigentlich immer?« fragte Ruth. »Du mußt mal in die Kabine gehen, da ist eine Temperatur, da fällst du rückwärts wieder hinaus!« »Danke, mir reicht die Hitze hier im Schatten!« »Die da drinnen sind kurz vor dem Exitus!« »Die hier draußen auch! Mir ist übel, alles dreht sich, und ich habe Angst!« Es war später Nachmittag, Himmel und Erde schienen in einer einzi gen flammenden Orgie miteinander zu verschmelzen. Wenn man mit der Sonnenbrille in den Himmel starrte, konnte man über den Bergen 275
düstere Quellungen erkennen. Von Minute zu Minute schien die Hitze unerträglicher zu werden. Es wehte kein Wind. »Wenn du schon Angst hast, was sollen dann die Geiseln sagen?« fragte Ralph. »Ich habe gehört: wenn bis heute abend keine endgültige Zusage aus Deutschland da ist, wird der erste erschossen. Das fördert vielleicht die deutsche Entschlußfreudigkeit.« »Die werden nicht erschossen, die sind viel zuviel wert!« »Wenn du das so genau weißt, warum hast du dann um dich selber Angst?« »Deine Trostversuche sind irre, wirklich! Was machst du da?« »Ich stimme meine Gitarre. Willst du deine haben?« »Gitarre? Ich habe andere Sorgen; ich bin hungrig, durstig, und ich zittere vor Erschöpfung!« »Die da drinnen auch!« sagte Ralph. Er hatte sich wie ein Raga-Spieler niedergehockt und strich zärtlich über die Saiten, schlug Akkorde an, stimmte nach, versuchte ein arabi sches Motiv, pentatonisch. Er rückte sich das Instrument zurecht; und als er es an seinen Körper preßte, zuckte er einen Augenblick schmerz lich zusammen. Wieder schlug er eine Tonfolge an; im Hintergrund, jenseits des Rumpfes, wimmerten die Kinder der Inderin. Gleichzei tig rollte vom fernen Hindukusch das dumpfe Grollen eines Gewit ters heran. Einen Atemzug lang entstand aus Akkorden, Klagelau ten und Donner eine Klangmischung, die Ruth aufhorchen ließ. Es war, als habe Ralph einen Augenblick lang ihr Elend ins Künstlerische transponiert, als sei aus dem Universum ein Hoffnungsstrahl herabge schossen. Jäh brach er ab; und alles war wie vorher: trostlos, verzwei felt. Unter der erstickenden Hitzedecke vegetierten alle dahin wie Tief seetang. … Tiefseetang, dachte Ralph, ist das nun ein gutes Bild für unse re Situation? Strömungen … archaische Urbewegungen … Vegetati ves … was passiert, wenn sich die Wurzeln losreißen? Alles schwankt, kein fester Boden, Haie schießen durch flaschengrüne Tiefseeflora … der Boden schwankt, das ist deine eigene Angst, deine … »Na!« sagte Ruth schneidend. »Wenn das nicht eine großartige Rei 276
se ist! Die Leute verrecken; und der Künstler in dir schlägt sogar dar aus noch Kapital!« Ralph sprang auf. »Ja!« sagte er kurz. »Wie recht du hast! Wie verdammt recht!« »Gleich ballert der Jumbo mit der MP auf dich!« warnte Ruth. »Be nimm dich nur weiter so künstlerisch!« »Glaub' ich nicht!« Er hängte sich die Gitarre um und kletterte die Bordleiter hinauf. »Und wenn, dann werfen sich die Mädchen dazwi schen. Bei einer der beiden hab' ich einen Stein im Brett!« »Den Eindruck hab' ich auch!« Ruth drehte sich wütend ab. Er kämpfte mit der Versuchung, an der Kabinentür umzukehren. Er prallte wie gegen eine Wand aus brennender Luft und Gestank. Im Halbdunkel dösten die Wissenschaftler vor sich hin, hoben müde ihre Köpfe, auf dem Boden lagen Karten, Zeitungen verstreut. Er stellte den linken Fuß auf einen der Sitze als Stütze und begann zu spielen. »Na!« sagte Gennenburg. »Was kriegen wir denn jetzt? Kraft durch Freude?«
»So schnell geht das«, sagte Karen, »so rasch bröckelt die Tünche ab.« Sie hatte drei Japaner beobachtet, die sich um eine halbe Flasche Whisky stritten, die einer von ihnen im Handgepäck hatte. Jetzt wurde ihre Aufmerksamkeit auf Frau Radewald gelenkt, die plötzlich auf eines der indischen Kinder eingeschlagen hatte, das über ihre Füße gestrauchelt war. »Was unter der Tünche zum Vorschein kommt, ist das nackte Tier!« »Das wäre ein Lob!« sagte Bronn. »Wenn die Menschen sich beneh men würden wie die Tiere – wir hätten das Paradies auf Erden! Jeder würde nur zum simplen Zweck der Nahrungsaufnahme töten. Kein Sadismus, keine Quälerei! Wunderbar.« Er sah einen Augenblick zu, wie Hannes Radewald auf seine Frau einzuschreien begann, dann fuhr er fort: »Was mich immer wieder frappiert: Die Leute benehmen sich 277
völlig … unliterarisch. Vorhin habe ich noch überlegt: Wenn du dar über einen Roman schreiben würdest – wie müsstest du das aufbau en? Auf jeden Fall Tage voller Hunger und Entbehrungen vorangehen lassen, ehe du dem vor einem kühlen Bier sitzenden Leser klarmachen könntest, daß eine so harmlos aussehende Frau wie die dort Kinder prügelt. Ein einziger Nachmittag voller Hitze und Bedrohung genügt vollauf, schon ist der Anarchismus da!« »Da haben Sie nur bedingt recht: Die Leute sind aus Sydney ja bereits seit Tagen unterwegs. Und auch die Entführung liegt ziemlich weit zu rück; ich bin aber einfach zu träge, es nachzurechnen!« »Der einzige Trost für die Optimisten ist: Der Mensch renoviert hin terher seine Fassade genauso rasch wieder, wie er sie hat verkommen lassen!« Er sah sich gereizt um. »Dieser Kerl mit seiner Gitarre geht mir allmählich auf die Nerven!« »Aber er meint es nur gut; er versucht, die Leute abzulenken!« »Wie ein ungarischer Schnulzengeiger!« »Aber …«, machte Karen erstaunt. »Er ist ein berühmter Star, und ich dachte, zumindest Sie würden diese Musik mögen. Ich mag sie!« Bronn warf ihr einen Blick zu, als sei er aus einem Traum erwacht. »Sie haben recht, Sie haben verdammt recht, Karen! Da geht mei ne Tünche! Und ich will Ihnen was gestehen: Ich hab' meine Fassade schon mal verloren, in einer Fokker Friendship über Bali, das ging sehr rasch und ist eine andere Geschichte.« Er lauschte ein paar Takte lang den Gitarrenakkorden Ralph Ostermans, der, einen Fuß auf die un terste Sprosse der Bordleiter gesetzt, in die aufkommenden Gewitter wolken starrte und Moon River anschlug. »Es gibt nur einen, nur zwei Menschen, die ich hier bewundere; und ich selber bin nicht darunter, das wurmt mich!« »Jedenfalls haben Sie Ihre Ironie zurück! Wer sind die beiden Glück lichen?« »Sie … und Ihr Captain!« »Großartig! Wenn Sie wüssten, wie dreckig ich mich fühle!« »Das tun wir alle! Woher nehmen Sie die Kraft, so gut über die Run den zu kommen, Karen?« 278
Kraft? Sie summte ein paar Takte mit, scheiterte aber. Denn Ralph begann plötzlich, die Melodie atonal zu zerhacken und à la Jimmy Hendrix in Dissonanzen aufzulösen. Er starrte selbstverloren in das Wetterleuchten der fernen Berge, fing sich plötzlich wieder und spiel te mit der Bravheit eines Schülers, Ton für Ton gewissenhaft die Me lodie zu Ende. »Das kann ich Ihnen sagen!« Sie rieb sich den Hals, die Kehle. Sie war durstig; und ihr Gesicht glühte, die Lippen brannten. »Sagen Sie es!« »Ich denke einfach an all die wunderbaren Reisen, die ich gemacht habe. An die Landschaften, die ich gesehen habe. An den … ich bin immer gern in der unberührten Natur gewesen, wissen Sie … an den Frieden, der dort herrscht. Ich war in Nepal, ich habe dort wunderba re Tage verlebt … Im thailändischen Hochland, nördlich von ChiengMai … In Mauretanien, am Rande der Sahara … Die Welt ist so herr lich … die Menschen … die Menschen machen alles kaputt …« Sie wußte plötzlich nicht weiter. Sie sah ihn hilflos an. »Sie weinen ja!« sagte Bronn. »Nicht das erste Mal heute! Und Sie fragen, woher ich die Kraft neh me! Das erste Mal, da lebte Gwen Gary noch! Mein Gott, das war eine Frau! Eine wunderbare Frau!« Bronn spürte das Bedürfnis, einen Arm um sie zu legen. »Karen, kann ich dich mal sprechen?« sagte Steiner, der plötzlich hinter ihnen aufgetaucht war. Sie sprang auf. »Natürlich.« Sie schlenderten langsam zwischen Bug und Heck hin und her. Die Sonne hatte sich jetzt hinter gewaltigen, goldumrandeten Cumuli ver steckt; und über Kabul ging der erste Schauer nieder. Steiner sah ver wildert aus. Sein Kinnbart wuchs an den Seiten mit den Koteletten zu sammen; sein Hemd bestand aus einem einzigen Muster von Kaffee-, Blut- und Ölflecken. Nasenrücken und Stirn waren von der Sonne ver brannt, an der rechten Schulterklappe fehlten die Litzen. 279
»Weersma macht mir Sorgen. Vielleicht kannst du dich mal um ihn kümmern.« Er nickte mit dem Kinn zu dem Piloten hin, der bäuchlings im Gras lag und sich nicht rührte. »Er ist völlig fertig, wie?« »Er fühlt sich verantwortlich für den Tod dieser Mrs. Gary.« »Ich kümmere mich um ihn. Wie geht es dir?« »Ich sehe schlechte Zeiten voraus. Noch immer keine Nachricht aus Deutschland. Die Verpflegung ist noch immer nicht gesichert; Lohmar bemüht sich aber.« »Jetzt könnten wir in einer Hütte am Kaspischen Meer sitzen …« »Ja … Aber ehrlich gesagt, ich habe jetzt andere Sorgen. Die Ent führer werden von Stunde zu Stunde nervöser. Die Leute auch! In der Kabine liegen die Geiseln in den letzten Zügen. Sie ersticken einfach, bei der Hitze! Und Lohmar wird darangehen, die ersten noch heute zu erschießen! Er hat gedroht, die Leichen dem deutschen Botschafter vors Haus zu fahren, um die deutsche Entschlußfreudigkeit anzuhei zen. Aber wahrscheinlich liegt es an diesem verdammten Teheran – das hat er nicht voraussehen können.« »Der Osterman ist der einzige, der die Nerven behält. Er versucht, die Leute bei Laune zu halten. Großartig!« »Ja, aber er kommt nicht an!« »Kommt nicht an?« Steiner wollte nicken, aber er fühlte sich an der Schulter gepackt: Lohmar stand hinter ihm. »Ich hätte Sie gern mal gesprochen, Captain; aber ein bißchen rasch!« Steiner nickte zu Karen hinüber und folgte Lohmar. Sie machten nur wenige Schritte, da sagte Lohmar schon Worte, die Steiner überrascht anhalten ließen; er sagte: »Wir haben uns entschie den: Sie sind frei! Sie können auf der Stelle Ihre Siebensachen packen und gehen, wohin Sie wollen!« »Alle?« »Natürlich nicht – die Geiseln bleiben! Aber die Antwort aus Deutsch 280
land wird jeden Augenblick eintreffen; und dann schmeiß' ich Ihnen Ihre Koryphäen sofort hinterher! Und jetzt verschwinden Sie mit Ih ren Leuten! Und eines wollen wir ganz klar sehen, Captain: Sie und Ihre Besatzung möchte ich als erste aus den Augen verlieren!« »Das ist eine erfreuliche Nachricht!« sagte Steiner.
31
A
ls Lohmar sich von Steiner abgewendet hatte, hockte er sich auf die Stufen des nächststehenden Busses und begann aus einer ab gestellten Konservendose Ananasscheiben zu verschlingen. Er strich sich müde über die Stirn und dachte an die vorangegangene Besprechung mit seiner Gruppe, die zu seinem Entschluß geführt hat te. »Womit willst du die vielen hungrigen Mäuler eigentlich stopfen?« hat te Inger gefragt; Ingrid hatte hinzugefügt: »Reichlich große Gesellschaft, die wir uns da angelacht haben. Wir sollten sie endlich davonjagen!« »Verdammt schwerer Entschluß!« Lohmar hatte sich die Stirn gerie ben, den Schädel gekratzt. Er spürte, wie er allmählich in eine Sackgas se geriet. Seine Aktion hätte mit voller Geschwindigkeit am Schnür chen ablaufen müssen. Statt dessen kam er sich vor wie in einem riesi gen Leimtopf, nur noch zähflüssige Bewegungen waren möglich, und langsam erstarrte alles. »Die Leute haben einen Einblick in unsere Be waffnung und Bewachung erhalten. Sie kennen vielleicht, besser als wir, unsere schwachen Punkte.« »Ah bah, Nonsens!« Inger spuckte wütend auf den Boden. »Hier schaden sie uns mehr als im großen weiten Terminal! Die haben wei ter nichts im Sinn, als erst einmal rund um die Uhr zu pennen!« »Gegen sieben kommen vier Container mit Schlangenfraß, die wer den gerecht aufgeteilt.« 281
»Und was ist gegen acht? Wenn der Konsul noch immer nichts …« »Botschafter bitte. Um acht fällt der Hammer, da fahren wir ab, wie geplant. Da sind wir uns einig!« »Wir sind uns immer einig, wenn der große Meister das befiehlt!« In grid blinzelte ironisch unter ihrer Sonnenbrille hervor. »Und da willst du alle mitschleppen, statt, wie ursprünglich vorgesehen, nur die deut schen Intelligenzler! Falls überhaupt vorgesehen!« Lohmar tastete unsicher seine lädierte Nase ab. »Hier sitzen wir auf dem Präsentierteller. Unsere Freunde haben ein hervorragendes Versteck, das wird vorbereitet. Wir hatten das ja für den Notfall eingeplant.« »Für den äußersten Notfall!« Ingrid verfolgte lächelnd, wie Ralph Osterman mit seinem Gitarrenspiel teils Interesse, teils Ablehnung erntete. »Das ist ein Bursche – bewundernswert! Er soll mir ein paar gefährliche Leute nennen. Der Hund schweigt! Der Hund könnte mir was vorflunkern. Er läßt sich lieber kaputtmachen! Er ist selber der ge fährlichste, glaub' ich!« »Dann nimm ihn doch mit, aber gefälligst nur ihn!« sagte Inger är gerlich. »Ich bin einfach dagegen, so viele Leute, die uns noch wertvoll sein können …« »Wertvoll?« unterbrach Ingrid. »Gefährlich! Im Flugzeug habe ich mich sauwohl gefühlt! Aber hier, in Afghanistan? Mit nichts als diesen Kanaken um uns? Ich weiß nicht.« Lohmar sah die beiden Mädchen zweifelnd an. Der Bär stand weit im Hintergrund und beherrschte das Gelände mit seiner Maschi nenpistole. Gegen vier war ein Vertreter des Botschafters erschie nen und hatte ihn schwitzend beschworen, nicht die Geduld zu ver lieren. Die Nachricht sei durch bis Deutschland, das wisse man po sitiv, auch Telegramme seien unterwegs; aber die Antwort würde noch etwas auf sich warten lassen. Jetzt beobachtete er, wie ein Jeep mit der bestellten Verpflegung sich näherte. Seine Afghanen hat ten ihn gestoppt, alles argwöhnisch inspiziert und ihn dann an ei nen ihrer Busse fahren lassen. Das lief also, obwohl die Begeiste 282
rung über den spärlichen afghanischen Eintopf nicht allzu groß sein würde … »Ich hab' gesagt: wertvoll. Das heißt: Ich möchte die Geiseln nicht gleich der Reihe nach abknallen, wenn die Sache schiefläuft. Ange nommen, wir fahren nachher los; und man wird neugierig und folgt uns. Oder man hält uns an irgendeiner Sperre auf – es wimmelt auf den Straßen von Kontrollpunkten für Busse und Laster … Und man bringt unserer afghanischen Vorausabteilung oder Nachschub nicht den gewünschten Respekt entgegen – ein paar Leichen zum Pflastern des Asphalts wirken oft Wunder!« »Das war 'ne lange Rede, um deine Unsicherheit zu verbergen!« sag te Ingrid. »Das ist schon ein Vorteil!« gab Inger zu. »Aber der ertrinkt in einem ganzen Meer von Nachteilen!« Lohmar kniff die Lippen zusammen, stopfte die Fäuste in die Hosen taschen, zog damit die Hose zurecht, stampfte verbissen auf und sag te endlich: »Also gut, also gut … Ich lasse sie laufen … aber wohl ist mir nicht dabei!« »Na fein!« schloß Ingrid schlicht ab. »Dann will ich mich noch ein mal mit unserem Musikanten beschäftigen – zum letzten Mal.« Sie verfolgte langsam Ralph Osterman, der sich vor dem Bordingeni eur niederlassen wollte und ein mexikanisches Volkslied anstimmte. »Geh weg mit deiner Hippie-Musik!« schrie de Laer. »Mir dröhnt der Schädel; und mir geht's von Stunde zu Stunde dreckiger!« »Es lenkt aber ab und ich kann leise spielen.« »Hau ab und wasch dich!« Ralph zuckte die Schultern und erhob sich. »Komm!« sagte Ingrid freundlich. »Wir gehen mal wieder nach oben.« Er legte die Gitarre über die Schulter und folgte ihr widerspruchs los. Im Flugzeug schlug ihnen ein bestialischer Gestank entgegen, der aus den Toiletten drang. Der größte Teil der Insassen schlief oder dö 283
ste halb bewusstlos vor sich hin. Einige hatten sich erbrochen; der ein zige, der tätig war, war Dr. Berner. Er war bis auf seine Unterhose nackt und legte eine Patience. Hinten sagte Ingrid: »Ich habe keine Lust, noch jemals wieder in diesem Mief zu stehen. Dies ist also deine letzte Chance! Überleg dir gut, was du mir zu mel den hast!« Sie nahm erst jetzt ihre Sonnenbrille ab, steckte sie sorgfäl tig und betont langsam in eine ihrer vielen Hosentaschen und zog das Messer hervor. »Also? Deine letzte Chance!« Es entstand eine Stille, in der nur das Rollen der heraufziehenden Gewitter zu hören war. Dann sagte Ralph ruhig: »Ja! Dieses Mal habe ich etwas Wichtiges!« »Na bitte!« Erleichtert ließ sie die Hand sinken, mit der sie seinen Pull over hatte heben, die alten Wunden hatte bloßlegen wollen. »Einmal fal len auch die größten Idealisten auf den Boden der Tatsachen zurück!« »Es dreht sich um den Ingenieur, bei dem ich eben gestanden habe!« »De Laer! Was ist mit ihm?« »Er braucht ärztliche Behandlung! Er soll während des Fluges zu sammengeschlagen worden sein! Es geht ihm sehr schlecht.« Sie brauchte lange, ehe sie sich von ihrer Verblüffung erholt hatte. Endlich konterte sie geistesgegenwärtig: »Ich werde es dem Roten Kreuz melden.« Sie spielte mit dem Mes ser, hielt es an der Schneide und fuhr mit dem Elfenbeingriff fast zärt lich über die blutverkrusteten Wunden; er zuckte zusammen. »Du bist wirklich so 'ne Art Jesus, was? Dabei bist du überhaupt kein Held, landläufig gesehen. Du krümmst dich schon jetzt – was wird erst wer den, wenn ich zusteche?« Sie sah ihn lange an, hob das Messer, fuhr jetzt mit dem Griff an seinen Schläfen entlang. »Du bist beängstigend, weißt du das? Ich geb' das ehrlich zu … Du zitterst vor Angst, ich merk' das … Aber du verrätst nicht mal deine Feinde … es sind doch dei ne Feinde, das hast du ganz genau gemerkt … etwas in dir ist stärker, das macht mir angst … Ehrlich! Mann, bin ich froh, wenn ich dich los bin!« »Los bin?« 284
Sie fuhr jetzt mit dem Griff an seinem Ohrläppchen entlang. Sie hat te sich leicht nach vorn geneigt, und ihre Stirnen berührten sich fast. »Ihr fallt uns allmählich zur Last! Wir sind froh, wenn wir uns auf diese Sterndeuter konzentrieren können! Nicht genügend Verpfle gung, wenig Leute zur Bewachung! Gleich wirst du unten die erfreuli che Mär erfahren: ihr kommt noch heute frei!« »… zur Last? Ihr wollt uns loswerden?« »Nichts lieber als das! Und, Ralph, ich will dir was gestehen … du heißt doch Ralph, nicht wahr?« »Ja …« »Ich könnte dir jetzt einen hübschen Stich verpassen – damit kannst du dich gleich bei den Geiern anmelden. Aber ich werde lieber wort brüchig!« Sie nahm ihre Hand zurück, ohne zurückzutreten. Sie steck te das Messer fort. Sie hatte jetzt beide Hände frei; und einen Atemzug lang schien es, als wolle sie seinen Kopf zwischen ihre Hände nehmen. Aber sie sagte nur: »Behalt mich einfach in … nicht allzu schlechter Erinnerung … Okay?« Draußen verdunkelte sich der Himmel; durch die Kabine flackerte der Widerschein der Blitze.
Es regnete noch nicht, aber schon über die nächsten der Hügel wälzten sich jetzt die ersten Schauerwolken. Im diffusen Abendlicht stand Stei ner vor der Reihe seiner Passagiere. In ihren abenteuerlichen Aufzü gen, mit den chaotisch abgestellten Gepäckstücken glichen sie einem müden Haufen, der seit Tagen auf seinen Abtransport wartete. Die Boeing wiegte sich leicht in den ersten Böenwirbeln, als Steiner zu der fertigen Gruppe sagte: »Wir werden jetzt unser Gepäck aufnehmen und im Gänsemarsch, ohne zu sprechen, gradlinig auf das Abfluggebäude zugehen! Unsere Gastgeber legen großen Wert auf die strikte Befolgung dieser Marsch ordnung. Sie werden nicht zögern, Zuwiderhandelnde … mit dem Tode zu bestrafen.« 285
Alle warfen schräge Blicke auf ihre Bewacher. Bis auf zwei Afghanen, die die Isolierung von den Neugierigen überwachten, hatten sich alle mit Pistolen vor der Kette der Abmarschbereiten aufgebaut. Die Mäd chen, der Bär, die Afghanen standen ruhig, die meisten breitbeinig, vor ihnen – die Pistolen schussbereit. Nur Lohmar ging nervös wie ein ge reizter Tiger auf und ab. Es gab noch einen zweiten, der aus der Reihe fiel: Ralph Osterman. Die Gruppe hatte sich an der Längsseite der Boeing aufgestellt; und dabei hatte er mit Ruth den Platz vor der Bordleiter erhalten. Er sah keinen Grund, sich nicht auf die Stufen zu hocken, die Gitarre zwi schen den Beinen. Zweimal hatte er versucht, Ruth vor sich auf die un terste Sprosse zu drücken. Aber Ruth hatte unwillig die Schultern ge schüttelt und war stehen geblieben. Hinter den Kabinenfenstern wur den schwach die Umrisse einiger Gesichter sichtbar: einige der Geiseln verfolgten den Abzug ihrer Mitpassagiere. »Sie werden auch nicht zögern«, fuhr Steiner fort, »der Reihe nach die Geiseln zu erschießen, sollten sie erfahren, daß wir im Terminal so etwas wie eine Befreiungsgruppe organisieren …« An dieser Stelle seiner etwas langatmigen Ansage wurde Steiner un terbrochen. Später versuchte er verzweifelt, die Vorgänge, die danach abzulaufen begannen, zu rekonstruieren, Auslösungspunkte zu erken nen. Er kam zu dem Schluß, daß winzige Nebensächlichkeiten eine Lawine ausgelöst hatten. Eine Lawine, die alles von Grund auf ändern sollte … Eine der Boeing-727-Maschinen, deren Start am frühen Nachmittag von Entführten und Entführern in Kabul beobachtet worden war, hat te nach einer Linksschleife vor der Innenstadt Kabuls Kurs auf Delhi genommen, war über Fort Sandeman, Multan und Hissar nach Del hi geflogen und dort gegen 18 Uhr Ortszeit gelandet. Von dort war die Maschine eine Stunde später über Calcutta, Gangesdelta, Golf von Bengalen und Rangún nach Bangkok weitergeflogen, wo sie um 00 Uhr 45 auf der Bahn 21 aufsetzte. Unter den Kabul-Passagieren hatten sich mehrere Deutsche be funden – Firmenpräsidenten, Touristen, ein Ehepaar, das zum er 286
sten Mal seit fünf Jahren Afghanistan wieder verließ. Einige von ih nen setzten sich sofort nach der Landung mit der Bangkoker Pres se in Verbindung, andere riefen die Stationen der Transcontinental und, irrtümlicherweise, der Lufthansa an, um Auskunft zu geben über den Zustand der deutschen Maschine und ihrer Insassen, so fern sie beim Start mehr oder weniger wichtige Beobachtungen ge macht hatten. So war Raff die ganze Nacht auf den Beinen; und als sein Telephon endgültig zu schweigen schien, griff er seinerseits danach, ließ sich mit dem Siam-Intercontinental verbinden und verlangte Wessmann. Raff hatte ein sehr schlechtes Gewissen. Er wußte nicht mehr, was alles er zu wem gesagt hatte an jenem denkwürdigen Nachmittag vor der Entführung der JETSTREAM. Er wußte, daß er weder zu den Ka meraleuten noch zu der Besatzung der TC 773 übermäßig freundlich gewesen war; und er wußte, daß die Kameraleute dabei waren, außer planmäßig eine Mordsreportage über den ganzen Fall zu drehen. Sie hatten inzwischen, der Teufel wußte, wie, herausbekommen, daß so wohl einige der entführten Passagiere als auch zwei der Entführerin nen im Siam-Intercontinental gewohnt hatten. Vielleicht, so hatte Ar nold gemeint, hätten sie sogar gemeinsam an der Bar gehockt oder so, das sei doch eine Mordsstory! In dieser Mordsstory wollte Raff eine möglichst günstige Rolle spielen. Und was er bisher geleistet hatte, war nicht sehr erquicklich. So überraschte er in aller Herrgottsfrühe die beiden Fernsehleute und scheuchte sie mit den neuesten Nachrichten aus Kabul aus dem Bett. »Das beste wäre, wir würden uns mal an Ort und Stelle ein Bild von der Sache machen, wie?« Auf diesen Vorschlag der beiden hatte Raff gewartet. »Das habe ich schon einkalkuliert; Ihre Tickets nach Kabul liegen abholbereit. Start: morgen früh um neun!« Er genoß die Überraschung selber am meisten. Aber seine Hoch stimmung brach zusammen, als er hörte: »Kabul? Ich glaube nicht, daß das der richtige Zielhafen ist!« »Aber dort liegt die Maschine! Sie können das Ganze beim Anflug 287
filmen, von oben! Ich spreche mit dem Kapitän, der gibt Ihnen einen Cockpitplatz …« »Nein … Kabul ist ganz und gar nicht das Richtige. Da wird Filmver bot sein, Überflugverbot, was weiß ich. Die Entführer sind doch nicht von gestern!« »Aber …« »Wohin wir möchten, ist … Kandahar! Nicht wahr, Erik?« »Ja«, sagte Arnold, »Kandahar, das ist eine wirklich gute Idee.« »Wieso ist das eine gute Idee?« »Dort können wir uns ein Privatflugzeug mieten. Und damit sind wir frei, in ganz Afghanistan herumzufliegen …« »Aber Kandahar ist ein Militärflugplatz.« »Eben! Dort haben wir eine gute alte Freundin, die ist Ausbilderin bei der Luftwaffe. Die stellt uns ihre, was ist es für ein Typ, Erik?« »Dornier Do 28!« sagte Arnold aus dem Hintergrund. »Ihre Do 28 zur Verfügung. Da können wir nach Herzenslust filmen, da möchten wir hin!« »Aber dahin hab' ich keine Tickets!« sagte Raff hilflos. »Dahin fliegt niemand!« »Doch!« korrigierte Wessmann. »Die PAK INTER! Zweimal wö chentlich ab Karatschi. Dahin möchten wir, nicht wahr, Erik?« »Dahin möchten wir!« bestätigte Arnold aus dem Hintergrund. Raff schwieg. »Na, was ist, möchten Sie nicht auch?« erkundigte sich Wessmann brutal. »Okay!« seufzte Raff. »Ich besorge Ihnen zwei Tickets. Auf rein pri vater Basis!« »Fein!« sagte Wessmann. »Wir legen auch ein gutes Wort bei unse rem Drehbuchautor für Sie ein. Auf rein privater Basis!«
288
»Sie werden auch nicht zögern«, hatte Steiner gesagt, »der Reihe nach die Geiseln zu erschießen, sollten sie erfahren, daß wir im Terminal so etwas wie eine Befreiungsgruppe organisieren …« Wodurch wurde die Lawine ausgelöst? Durch seine Müdigkeit, die ihn langatmig werden ließ? Durch die Ungeduld, die nervöse Angst der Passagiere, die kurz vor der Freiheit standen? Durch den einset zenden Gewitterregen? Durch den aufgestauten Groll Ralph Oster mans, durch seine raffinierte Einschätzung der Schwäche des Geg ners? Oder einfach durch seine ehrliche, gerechte Empörung? »Warum gehen wir nicht endlich?« schrie einer der Japaner auf. »Es beginnt zu regnen! Wir haben keine Lust, auch noch nass zu werden! Es ist eine Schweinerei!« Steiner traute seinen Ohren nicht. Aber der Ruf pflanzte sich durch die Reihen fort: »Wir stehen hier und werden nass! Wir stehen hier …« »Wir sind schon auf dem Weg!« rief Steiner und wollte sich an die Spitze der Kolonne setzen. Da sprang plötzlich Ralph Osterman auf und zwei Sprossen höher; reflexhaft richteten sich alle Pistolen auf ihn. »Es ist eine Schweinerei!« Er schleuderte seine Worte inmitten des einsetzenden Schauers über die Menge. »Wir wollen uns feige abset zen! Wir machen uns heimlich davon! Da drinnen …« Er sprang zwei Sprossen höher und zeigte auf den Eingang, in dem verstört das Ge sicht Gennenburgs auftauchte. »Da drinnen hocken unsere Mitpassa giere; und ihr, ihr wollt euch davonstehlen! Laßt sie nur verrecken! Hauptsache, wir kommen selber noch einmal davon!« Die Empörung über diese Störung flammte wie ein Blitzschlag auf. Jetzt aber sprang auch Ruth auf und drängte sich neben Ralph; und dort, verloren auf der Leiter, ließen sie die Schimpforgie der Menge über sich ergehen. »Los endlich, verdammt!« drängten die Hinteren in der Reihe; Stei ner hörte die Stimme Radewalds heraus. Mit diesem war eine angsterregende Veränderung vor sich gegangen. Mit wutverzerrtem Gesicht versuchte er Ralph zu erreichen; und als er 289
zu rennen begann, hinkte er wieder, und das Hinken hatte seine Ver letzung in Polen bewirkt, und da lag er wieder: hilflos auf die Maschi ne wartend … »Du hast mich schon mal hindern wollen!« schrie er außer sich. Frau Radewald versuchte, ihren Mann zu erreichen. »Aber Hannes!« »Jedes Mal versucht er, uns vom Flugzeug fernzuhalten!« Er drängte zur untersten Stufe hin. Über den Antennen der Flugleitungsbaracke kreiste regungslos ein Steppenadler. Das Dröhnen der Transportmaschinen löschte die Schreie der Verletzten aus. Die Ladeluke war das Verbindungstor zwischen Ret tung und Untergang. Er stürzte sich auf den, der den Durchgang verwehrte. »Hören Sie auf damit!« Seine Schulter wurde zurückgehalten, gerade als er zum Schlag aus holen wollte. Er riß sich los, holte schon wieder aus, sah sich nicht um. »Lass mich los, du Gangster!« Seine Augen waren rot unterlaufen, auf der Stirn mit dem zurück weichenden Haaransatz prägten sich dicke Adern ab. »Kommen Sie zu sich!« Radewald sah sich um. Hinter ihm stand nicht Lohmar, sondern Steiner. Die Rangabzeichen, wenn auch beschmuddelt, flößten ihm so fort Ehrfurcht ein. Er strich sich über die Augen. »Verzeihung, Captain!« Atemlos hatte Frau Radewald die beiden erreicht. »Nehmen Sie es ihm nicht übel, Herr Kapitän! Er hat das vom Krieg zurückbehalten!« Steiner stand jetzt zwischen den Ostermans und den Radewalds – dahinter drängte sich die Masse der aufgebrachten Passagiere. Einer schrie: »Er hat schon öfter versucht, uns …« Ein anderer unterbrach: »Schlagt ihn tot!« 290
Steiner hielt Radewald noch immer hart an der Schulter fest. »Niemand wird hier totgeschlagen!« Er versuchte, die Aggressivsten zu fixieren. Aber alle verschwammen vor seinen Augen zu einer an onymen Masse. Endlich entdeckte er Karen. »Möchten Sie, daß einem unserer Passagiere ein Haar gekrümmt wird?« Karen schaltete sofort und bahnte sich einen Weg zu Steiner hin. Lautstark antwortete sie: »Natürlich nicht! Wir sitzen doch alle im gleichen Boot!« »Frau Bauer?« fragte Steiner. »Sie können am besten beurteilen, was es heißt …« Alle wandten ihre Köpfe. Sie schwieg; aber keiner schrie jetzt mehr. Betretenes Schweigen. »Entweder: wir gehen alle, oder …« Leises Murren. Steiner wußte, daß er als simple Zivilperson nicht die geringste Chance gehabt hätte. Eine gute Idee, das Hemd mit den Schulterklap pen-Litzen nicht auszuziehen, dachte er verzweifelt. Alle starrten ihn an; er wußte ihren Ausdruck nicht zu deuten. »Also gut!« sagte er hilflos und ohne Sinn. »Also gut!« Und, mit einer plötzlichen Eingebung: »Ich danke Ihnen.« Das rettete die Situation. Niemand wagte mehr, die Ostermans zu bedrohen. Aber jetzt trat Lohmar vor. Er hatte die schwierige Lage Steiners dankbar genutzt, seiner Verblüffung Herr zu werden. Jetzt war er zu einem eindeutigen Schluß gekommen. »Stop!« schrie er und drängte sich nach vorn. »Der Mann hat recht: Mitgefangen, mitgehangen!« … Steiner stand vor der Menge und sah, wie sich die Reihe in Be wegung setzte – nicht hinüber zum fernen, fernen Terminal, sondern hinein in die Busse, während der erste Schauer sich senkrecht über ih nen entlud und die ersten zu rennen begannen. Ja, sie rannten, freiwil lig stürzten sie auf den schützenden Bus zu, nachdem sie von den bei den Schwedinnen erst einmal in die genaue Richtung dirigiert wor den waren. Sie rannten auf die Busse zu, die ihnen Schutz gegen einen simplen Schauer boten; vielleicht glaubten ja einige wirklich, die Bus se würden sie wegen des Regens zum Terminal hinüberfahren, wie sie 291
es als routinierte Luftreisende nicht anders gewohnt waren auf einem Flughafen. »Ich glaube, ich träume!« sagte Steiner zu Karen, die neben ihn ge treten war. »Träume sind oft wirklicher als die Realität!« Karen sprach die Worte wie im Traum vor sich hin; die ganze Sze ne inmitten des niederbrechenden Gewitters war gespenstisch und un wirklich wie ein Alptraum. »Komm brav runter!« rief Ingrid Ralph zu. »Dein Todesurteil ist ge fällt!« Ruth und Ralph stiegen hinunter; der Sturzregen hatte ihre Kleidung durchnäßt; Ruths langes schwarzes Haar hing in formlosen Strähnen herab. »Wieso Todesurteil?« fragte sie. »Deins mit!« Sie sprach betont nur mit Ralph. »Ihr habt die Rettung dieser Leute verhindert. Wisst ihr, wie sie euch das danken werden? Im Bus, in den wir euch gleich mitten hineinstoßen werden? Sie wer den euch in kleine handliche Stückchen hacken und einzeln über Bord werfen!« Sie grinste.
32
D
ie Fahrzeugkarawane setzte sich gegen 22 Uhr, unter einem tief goldenen Mond, in Bewegung. In der Luft hing ein betäubender Duft von Blüten nach erfrischendem Regen. In den hartgefederten, verdreckten Bussen war die Luft zum Schneiden. Die vorausfahrenden Busse bliesen den nachfolgenden dicke Auspuffahnen in die aufgeris senen Fenster. Vor der Abfahrt war die karge Mahlzeit verteilt worden: Reis mit Hammelfleisch, das einen für viele der Europäer bestialischen Geruch verbreitete. Aber alle waren ausgehungert; und zum Schluß 292
beobachtete Lohmar mit Verblüffung, daß sich einige der Japaner kopfüber in die geleerten Kübel beugten, um die letzten Reste mit den Fingern herauszukratzen. Lohmar fühlte sich von Stunde zu Stunde unwohler, als habe er eine Schlinge um den Hals, die sich fast unmerklich zuzog. Bisher war er nur auf sich selber angewiesen; hier aber, im finsteren Afghanistan, mußte er wohl oder übel den einheimischen Fahrern trauen. Er hockte mit der Straßenkarte neben dem uralten Pathan im er sten Bus, in dem die Wissenschaftler untergebracht waren. Der Fahrer, finster und wenig gesprächig, obwohl er sehr gut Englisch sprach, ge noß das Abenteuer sichtlich, das Abwechslung in sein eintöniges Le ben brachte. Er kannte, das merkte Lohmar rasch, die Strecke bis in feinste Einzelheiten: er bremste vor unsichtbaren Bodendellen und Schlaglöchern, die plötzlich auftauchten. Er bog ab, um Straßensper ren auszuweichen, die im schwachen Scheinwerferlicht nicht zu erken nen waren. Die leeren Busse, die weit voraus und zurück die Kolonne sicherten, waren unsichtbar. Sie würden jeden Widerstand, jeden Ein mischungsversuch kontern mit der Drohung, die Busse mit den Gei seln in die Luft zu sprengen. Trotzdem behagte ihm die Vorstellung einer endlosen Kette von Neugierigen, die der Kolonne folgte, gar nicht. Er wußte, daß sie bald mit gelöschten Lichtern abbiegen würden, daß einer von ihnen weiter geradeaus fahren würde, in der Hoffnung, die Verfolger fehlzuleiten. Jetzt holperten sie über die Ausfallstraße nach Norden. Die Straße von Kabul über Doshi nach Mazar-i-Sharif war von den Russen an gelegt worden und grundsätzlich in ausgezeichnetem Zustand. Aber die Gewitterstürme der letzten Tage hatten Äste und Geröll auf den Asphalt geschleudert. Sie befanden sich querab von Istalif, einem ro mantisch in den Bergen gelegenen Ort, der gern von den Touristen be sucht wurde. Sie fuhren durch ein Kaff namens Qarabagh, und Loh mar wußte, daß sie irgendwo dahinter auf eine ominöse Piste nach Westen abbiegen würden, um auf Schleichwegen an einen Ort zu ge langen, der als ›Die Zitadelle‹ bezeichnet wurde. Dort, in den Ruinen einer ehemals blühenden Stadt, würden sie, auf einem Berg hoch über 293
der Ebene, sicher sein und in Ruhe auf die Austauschvorschläge der deutschen Regierung warten können. Lohmar hoffte, dazu würde es nicht kommen. Er hatte dem Bot schafter mitteilen lassen, er brauche nur über die Sender des nationa len Rundfunks die Bereitschaft der deutschen Regierung in einer Son dermeldung mitteilen zu lassen, und die PHRYXX würde auf den Hin terrädern kehrtmachen und die Geiseln und alle übrigen ausliefern. Jetzt starrte Lohmar gespannt auf seine beiden Transistorgeräte, aber aus den beiden Sendern klang ihm nichts anderes entgegen als ein Ge misch aus Persisch und schwermütiger Hirtenflötenmusik. Plötzlich löschte der Fahrer alle Lichter. Lohmar sah sich nach den nachfolgenden Fahrzeugen um; auch dort nichts als Dunkelheit. Dann holperten sie querfeldein durch Schlaglöcher, Querrinnen, lo ses Geröll – dichter Busch nahm sie auf. Die Fahrzeuge bremsten, das Rattern aller Motoren erlosch schlagartig. Dann hörte Lohmar fern auf der Straße die Schlange der Neugierigen vorbeirollen – ihr Ab zweigen war unbemerkt geblieben. Er schlug dem Fahrer jovial auf die Schulter: gut gemacht. Jack Patrinelli schlug zu. Da er beim ersten Mal nur flüchtig die Wan ge traf, zielte er jetzt besser und traf Ralph Osterman hart am Kinn. Danach fühlte er sich erlöst – er hatte sich für eine Ohrfeige gerächt, die er zwischen Bali und Bangkok erhalten hatte. Ralph wehrte sich nicht. Er sah Patrinelli fast ohne Vorwurf an, seine Kiefer zuckten, und er wandte sich ab und versuchte, im hinteren Teil des Busses Schutz zu finden. Aber Patrinellis Schlag hatte nur der allgemeinen Empörung den Weg gebahnt. Während Ralph nach hinten zu flüchten versuchte, empfing er zahl reiche Kniffe, Püffe und einen gemeinen Tiefschlag in den Magen. »Verdammter Langhaariger!« schrie einer der Passagiere. »Jetzt könnten wir auf dem Weg in die Freiheit sein, du Schwein!« »Schmieriger Itaker!« »Dreckiger Hippie!« 294
Wieder schlug jemand ihm in den Unterleib. Er krümmte sich zu sammen; und während Ruth ihn mit einem Angstschrei auffing, blick te er voller Verwunderung auf alle Hassverzerrten Gesichter, die ihn, überflackert von den vorbeihuschenden Laternen und Scheinwerfern, anstarrten. Plötzlich tauchte Ingrid im schmalen Gang auf. »Welcher Hurensohn hat hier geschlagen?« Stille. Niemand rührte sich mehr. Im blendenden Licht entgegenra sender Wagen kniffen alle die Augen zusammen. »Ich bin hier in einem Schweinestall, in einem dreckigen Stall voller stinkender Feiglinge! Wer hat geschlagen?« Ihre grünen Augen funkelten im Licht wie die eines Panthers. Unerwartet hob Jack Patrinelli seine Hand wie ein verschüchterter Schuljunge. »Ich, Miß!« »Dich mein' ich nicht, Taschenheld! Nach dir – wer war das?« Aber niemand antwortete mehr. Alle duckten sich möglichst tief in die Sitze. Und jetzt tastete sich Ingrid langsam von Sitzreihe zu Sitzrei he vorwärts und sah jeden mit einem drohenden Blick an. »Dann will ich euch sagen, wer der Feigling ist!« Sie blieb vor Frau Bauer stehen, die brach in hysterisches Lachen aus. Ingrid schüttelte den Kopf und ging weiter: Hannes Radewald zuckte zusammen. Er hatte gekniffen, aber nicht geschlagen. Weiter: Chris de Laer. Er hatte getreten, nicht geschlagen. Ingrid überging auch ihn; sie war längst sicher. Steiner, Weersma: Ingrid zuckte die Schultern. Hinter der Cockpit crew saßen die Stewardessen, eng zusammengedrängt. Der Bus nahm eine scharfe Kurve; und sie mußte sich festhalten, um nicht zu fallen. Dieser Augenblick der Ungeschicklichkeit verstärkte ihren Zorn. Sie warf Karen einen kurzen, prüfenden Blick zu, dann griff sie Vera Mer kelsbach an den Schultern und zerrte sie hoch. »Du hast gemein zugeschlagen, gib's zu!« »Er hat's verdient!« flüsterte sie zitternd. »Ich will dir zeigen, was du selber verdient hast.« Sie hielt Vera Mer 295
kelsbach an der Kehle fest und schlug mit der anderen Hand zu. Mit dem Diamantring ihrer Rechten riß sie eine schmale, aber schmerzen de Wunde über die linke Wange Veras. »Jetzt du, Minnesänger!« Aber Ralph schüttelte den Kopf. Ingrid zuckte die Achseln und schlug noch dreimal zu. Vera krümmte sich und ließ sich endlich wi derstandslos zurück in den Sitz schleudern. »Das nächste Mal schlag' ich genauso wie du tiefer zu!« versprach In grid wütend und kämpfte sich wieder nach vorn durch. Karen zog ihr Taschentuch und bot es Vera an, die schob ihre Hand beiseite. »Ich brauche deine Hilfe nicht! Heb sie lieber für deinen halbstarken Bartaffen auf!« Karen lief rot an. »Wen meinst du damit?« »Den Musikanten natürlich! Wen denn sonst?« Einen Augenblick schien es, als würde sie sich auf Vera stürzen. Sie beherrschte sich und ließ sich zurück in ihren Sitz fallen.
Professor Gennenburg hatte den ersten Teil der Fahrt bis zum Paßauf stieg gut überstanden, als die Schmerzen begannen. Sie deuteten sich sehr langsam an, als ein dumpfer, kaum spürbarer Druck im Unterleib. Obwohl er es aus seinen Erfahrungen längst bes ser wußte, bemühte er sich verzweifelt, ihn für eine Folge der furcht baren Schüttelfahrt zu halten, der seine Gedärme ausgesetzt waren. Er saß im ersten Bus, dicht hinter dem Fahrer und Lohmar, inmitten sei ner Berufskollegen; und als der Bus die versandete Staub- und Schlag löcherpiste zum Shibar-Paß hinaufzurumpeln begann, schob er sich mühsam zurecht, so daß sich sein Unterleib entspannen konnte. Die aufgehende Sonne fiel schräg von hinten durch die dick ver dreckten Scheiben und warf spukhafte Schatten- und Lichtreflexmu ster über die karge Gebirgssteppe. Lehmgelbe Ruinen tanzten vorbei, 296
fast verwitterte Forts auf steilen Hügeln, Kamele, die verlassen über den Steinboden zogen. Er streckte den Unterleib vor und drückte sich mit den Schultern so tief wie möglich in den Sitz. Er spürte den Druck der Federspira len durch die schäbige, zerschlissene Polsterung, und war bemüht, sich ganz auf diesen Druck im Rücken zu konzentrieren. Sie umkurvten schaukelnd, wie in schwerer Dünung, einen mina rettähnlichen Turm. Überreste grünblauer Keramik … wetterzerfres sene Backsteinornamente … vorbei. Steiler Anstieg über kurvenden Serpentinen; er warf den Kopf zurück; der Druck hatte sich verstärkt und war nun lokalisierbar. Es gab keinen Zweifel mehr. Berner, der hinter ihm saß, wurde aufmerksam. »Schwierigkeiten?« »Das alte verdammte Leiden!« »Hämorrhoiden?« fragte Berner. »Die wären eine Südsee-Erholung dagegen! Nierensteine!« »Au wei, da muß was geschehen, nicht?« »Im Augenblick noch nicht. Es kann noch Stunden dauern. Ich hof fe, es geht vorbei. Es muß vorbeigehen …« Der Bus donnerte durch ein trockenes Flussbett, um Kurven abzu schneiden. Der Fahrer hatte sich verschätzt und blieb in der Mitte stek ken, dort, wo ein schmales Rinnsal den Boden aufweichte. Er mußte zurücksetzen, das ganze Manöver kostete fast zwanzig Minuten Zeit; und als sie weiter mit Vollgas den Paß hinaufjagten, wußte Gennen burg endgültig, daß er an einer Nierenkolik nicht vorbeikommen wür de. Während er unruhig auf seinem Sitz zu rutschen begann, fragte Berner teilnahmsvoll: »Schon öfters gehabt?« Alle wurden jetzt aufmerksam. Die meisten litten sehr unter der Hitze; und Gennenburg hatte sich bis auf seine Hose entkleidet, weil er fürchtete, zu ersticken. »Jedes Mal in den Tropen bei Wassermangel! Hawaii, Kenia, Cura çao!« »Romantische Orte, um sich eine Krankheit auszusuchen!« Berner versuchte, ihn bei guter Laune zu halten. »Andere arme 297
Schlucker müssen sich in so reizlosen Gegenden wie Ostfriesland oder Düren bei Aachen ins Bett legen!« Gennenburg versuchte ein dünnes Lächeln. Seine rechte Niere schmerzte jetzt eindeutig, durchaus erträglich noch. Aber er wußte, wie alles weiterging. An der Kühle des Windes merkten sie, daß sie in höhere Regionen kamen. Neben ihnen schlängelte sich plötzlich ein Fluss durch wilde Schluchten, das Wasser schäumte. Dahinter, gegen einen lateritroten Steilhang, klebte ein Dorf. Zwischen Dorf und Fluss ein Streifen Grün, eine Pappelgruppe, mattsilbrig glänzend im Morgenlicht. »Schön!« sagte Gennenburg verzweifelt. Lohmar drehte sich mißtrauisch um und überzeugte sich, daß seine beiden Afghanen in der letzten Reihe mit ihren Gewehren noch nicht eingeschlafen waren. »Diese ewige Quatscherei muß aufhören! Nicht ganz, aber nicht so aufgeregt. Sonst wird einer von uns noch nervös und beginnt zu bal lern!« drohte Lohmar. Sie schwiegen; aber als Berner in das angespannte Gesicht Gennen burgs blickte, schämte er sich, daß er sich so leicht einschüchtern ließ. Er sprach ihm Trost zu: »Bald haben wir es geschafft und sind auf dem Paß! Ich sehe schon den ersten Schnee!« »Was werden wir geschafft haben, wenn wir oben sind?« gab Gen nenburg nüchtern zurück. Er zitterte, und der Schweiß quoll in dicken Bächen von seiner Stirn. Er spürte jetzt, daß der erste Anfall nicht mehr fern war, und wuß te, wie jeder nächste Anfall an Intensität zunehmen würde. Bis jetzt war jedes Mal irgendwann ein Arzt angekommen, der immer kurz vor dem totalen Kollaps eine Spritze bereit hatte. »Was ist mit ihm los?« fragte Lohmar. Gennenburg wälzte sich jetzt auf seinen beiden Sitzen. »Nierenkolik!« sagte Berner. »Er braucht sofort einen Arzt!« »Gute Idee!« Lohmar war gereizt und erheitert gleichzeitig. »Wer eine gute Kapazität weiß, soll mir die Adresse geben. Ich fahre sofort hin!« 298
»Aber er hält das nicht durch!« »Er wird müssen!« Lohmar drehte sich demonstrativ nach vorn. Gennenburg zuckte zum ersten Mal merklich zusammen und stöhn te. Eiskalter Wind fegte durch den Bus. Gebirgshänge tauchten auf, mit schmutzigem Schnee bedeckt. Die krassen Temperaturunterschie de setzten auch den anderen zu. Der Paß war nichts als eine busbreite Durchfahrt zwischen einem Paar Szylla- und Charybdis-Felsen. Dahinter dehnte sich ein Plateau mit kargem Strauchwuchs. Der Wind heulte über die Hochebene. Gennenburg sprang auf und versuchte, durch den Bus zu gehen. Er war leichenblass und taumelte. »Legen Sie ihn auf den Boden!« schrie Lohmar die anderen an. »Bringen Sie ihn zu einem Arzt, sofort!« Lohmar zuckte die Schultern. »Hier gibt es keinen Arzt!« »Dann in die nächste Stadt! Er stirbt uns sonst!« Sie betteten Gennenburg in den Mittelgang, auf Decken, die sie über einander stapelten. Er stöhnte jetzt ununterbrochen, preßte die Hände gegen die rechte Nierengegend und schwamm in Schweiß. »Da sind schon mehr gestorben!« sagte Lohmar. »Das Ganze ist viel leicht ein fauler Trick, wie?« Er dachte gereizt an das Aufsehen, das er in der nächsten Siedlung verursachen würde. Berner hatte die rettende Idee. »Das beste Pferd im Stall, die größte Koryphäe unter Ihren Geiseln! Sie sollen uns eintauschen, und die größte Kapazität liefern Sie tot ab. Ist das nicht Wortbruch?« Das half. Lohmar verhandelte mit dem Fahrer. Der zuckte die Schul tern. Um sie war nichts als Steppe. Eine Schafherde: dickschwänzige Tiere, frisch geschoren. Wieder Wälle und Ruinen auf kahlen Kuppen. »Er wird noch durchhalten müssen. Sie sehen, hier gibt es keine Ärz te!« 299
»Dann fahren Sie doch schneller!« drängte Berner. Er sah verzweifelt auf den Kranken, dessen Körper sich, geschüttelt von Krämpfen, aufbäumte. »Gleich sind wir da!« redete er ihm zu. »Wir fahren auf eine große Stadt zu, und bald tritt ein Arzt aus einem weißen Krankenhaus und gibt Ihnen eine wunderbare Spritze, und Sie spüren nichts mehr, und morgen sind Sie gesund!« Der Kranke versuchte zu lächeln, aber ein neuer Anfall schüttelte ihn. Als Berner hinter sich sah, stellte er fest, daß der zweite Bus weit zu rückgeblieben war. Er beeilt sich tatsächlich, dachte er, hoffentlich ist nicht alles zu spät.
»Mehr kann ich nicht tun!« sagte Lohmar wütend. Die Bewohner der Straßensiedlung umstanden den Bus und suchten herauszufinden, woher sie kamen. Aber die Bewacher schwiegen, und Lohmar dachte: Sie können genauso gut reden. Morgen weiß jeder in Kabul, daß wir hier durchgekommen sind – alles geht schief! Sie trugen Gennenburg auf einer Decke hinaus und lagerten ihn auf einer der geflochtenen Liegen des Straßenrestaurants. Ein junger Af ghane sprang auf sein verrostetes Rad, um den Arzt zu holen. Berner klopfte dem Halbtoten mit verkrampfter Zuversicht auf die Schulter: »Gleich geht es Ihnen besser! Und wenn wir uns wieder sehen, wer de ich Ihnen beweisen, daß die Fixsterntheorie Andronows kalter Kaf fee ist!« Aber Gennenburg, halb bewusstlos, antwortete nicht. Lohmar trieb sie zurück in den Bus; und als sie abfuhren, tauchte der nachfolgende am Ortseingang auf. Noch so ein Zwischenfall, dachte er wütend, und ich erschieße sie alle eigenhändig! Stunde für Stunde kroch die Buskarawane von Tal zu Tal, von 300
Schlucht zu Schlucht, von Hochplateau zu Hochplateau. Herden von Fettschwanzschafen grasten an Berghängen; breitbrüstige Schäferhun de umkreisten sie. Gelegentlich kam die Kolonne zum Stehen – in einer Schlucht aus ro tem Sandstein oder auf einer versteppten Bergebene. Gewaltige Män ner, die die Enden ihrer langen Turbane gegen den Staub um ihr Ge sicht geschlungen hatten, tauchten aus Ruinenschatten oder Steppen gebüsch auf, wechselten Worte, zeigten mit langen, knochigen Hän den in die Ferne, verschwanden dann wieder oder wechselten mit den Fahrern die Plätze. Lohmar mischte sich von Stop zu Stop unsicherer und überflüssiger in die undurchschaubaren Vorgänge. Er kämpfte krampfhaft um seine Führerposition und versuchte, die Vorgänge unter Kontrolle zu halten. Einmal fuhr er einen der Fahrer an, weil er den Lautstärkeregler für die Radios zu leise gedreht hatte. Die einzige wichtige Nachricht war bisher ein Aufruf des deutschen Botschafters an die Entführer gewe sen, keine unüberlegten Schritte zu tun, er erwarte in Kürze eine wich tige Nachricht aus Deutschland, die alle zufrieden stellen werde. Sie stießen auf die Lager der Kochis, jene geheimnisvollen und wil den Nomaden, die von den Wüsten Pakistans bis an die Grenzen Süd russlands zogen und im Sommer die Hochebenen Afghanistans auf suchten. Wenn die Karawane an einer steilen Paßstraße zum Halt kam, um die dampfenden Motoren abkühlen zu lassen, fiel die Stil le mit verblüffender Intensität über sie. Daraus hob sich das feine Läu ten handgemachter Glocken; und aus den Jurtenzelten strömten Kin der und Frauen herbei, um sie zu bestaunen. Zwischen den Zelten la gerten die Kamele, und stets hörte man irgendwo das Zischen der Trei ber, die sie auf die Knie oder zur Ruhe zwangen. Dunkelhäutige Knaben suchten nach Feuerholz. Mädchen in langen schwarzen und roten Gewändern schöpften mit großen Silber- oder Zinngefäßen Wasser aus den zahlreichen Bächen. Über den schwarzen Zelten hing stets eine dünne Fahne milchblauen Rauches. Einmal kam Ralph Osterman aus dem stinkenden, lehm- und staub verkrusteten Innern des Busses gekrochen, um unter Ingrids Geleit 301
seine Wunden an einem Bach auszuwaschen. Irgend jemand hatte ihm während der Dunkelheit mit einem hölzernen Gegenstand über Beine und Schenkel geschlagen. Er wußte nicht, wer es gewesen war, und es war ihm auch gleichgültig. Ruth, die selbst beschimpft und bespuckt worden war, meinte, am nächsten Morgen hätte eine Gestalt, die de Laer oder Radewald ähnlich sah, einen Baumast aus dem Fenster ge worfen; es interessierte ihn nicht. Irgendwann, irgendwo während einer Mittagsrast saßen Karen und Bronn zusammen. »Ein herrliches Land!« sagte Bronn. »Sie waren hier schon, wissen Sie nicht, wohin es geht?« »Ich habe eine Vermutung, aber die behalte ich für mich. Vorläufig. Ich weiß nur, was jeder wissen kann: die allgemeine Richtung scheint, trotz aller Richtungswechsel, Westnordwest zu sein. Wir nähern uns dem Shibarpaß – die einzige Möglichkeit, über das Gebirge nach We sten zu gelangen.« »Ich habe manchmal den Eindruck: Sie genießen diese Reise, trotz allem.« »Sie auch, geben Sie es nur zu, Karen.« »Ich weiß nicht; ich weiß es wirklich nicht. Einerseits habe ich Angst. Und ich kann diese verdammte Verantwortung als Stewardeß noch immer nicht loswerden. Obwohl mir die nun wirklich längst abge nommen worden ist. Andererseits: es ist phantastisch! So etwas be komme ich kein zweites Mal geboten!« »Wir beiden sind die einzigen, die so denken!« »Stimmt nicht! Vieles von dem, was Sie sagen, erinnert mich stark an … an Captain Steiner.« »Sie sind sehr … sehr nahe mit ihm bekannt, nicht wahr?« »Ja. Aber er wird sein verdammtes Verantwortungsgefühl noch we niger los als ich! Das hindert ihn daran, dieses Abenteuer so zu erle ben, wie … wie wir es eigentlich immer schon mal gern zusammen er lebt hätten … Verstehen Sie, was ich meine?« »Sehr gut … Wissen Sie, was all unsere übrigen Mitopfer daran hin dert, dieser Reise positive Seiten abzugewinnen?« 302
»Machen Sie mal, Bronn; Sie können das so gut!« »Immer, wenn Sie mir grünes Licht geben, gehen die Pferde mit mir durch!« »Wenigstens einer, der in dieser lähmenden Hitze noch Leidenschaft entwickelt!« Und Bronn legte los, es schien, als habe sich während der langen stumpfsinnigen Schüttelfahrten durch Staub und Dreck inmitten stumpfsinnig glotzender Passagiere nichts als Verachtung und Hass für sie angesammelt. »Was sie daran hindert? Ihr so genannter verfluchter Realitätensinn! Alles, was sie bisher für wirklich und wichtig hielten, ist in Frage ge stellt! Alles, was sie sich im Rahmen ihrer hochgepriesenen Zivilisa tion erschuftet haben, wird zum Plunder! Ihr Bankkonto! Ihr Eigen heim im Grünen!« »Vergessen Sie ihre Multimedia-Supercolor-Fernsehkultur nicht!« »Und ihre Rasenmäher-Heimwerker-Freizeitgestaltung!« »Aber Sie verfluchen diese Dinge nicht grundsätzlich, o nein! Jetzt Sie wieder!« »Sondern nur als Selbstzweck!« »Für Sie sind diese Dinge … over!« »Mittel zum Zweck.« »Um dem, was unserem Leben Sinn und Inhalt gibt …« »Spielraum zu geben. Platz zum Atmen!« »Aber damit erschöpft sich dann auch der Sinn eines simplen Dachs über dem Kopf, eines Bankkontos. Und was, Señor Ortega y Gasset, stellt sich jetzt heraus?« »Jetzt stellt sich heraus: da haben sie all diese hübschen Mittel zum Zweck mit Selbstzweck verwechselt. Da stellt sich heraus: nimm ihnen ihr Konto, ihren Supermarkt um die Ecke, und es bleibt nichts zurück als das nackte Nichts!« »Gibt es, Herr Heidegger, zu dieser obviolenten Situation eine Par allele?« »O ja, die am Ende des zweiten Weltkrieges in Deutschland.« »Jetzt stellt sich heraus: dazugelernt hat niemand. Wir stehen wie 303
der genauso hilflos vor dem Nichts wie damals. Wir besitzen nichts, das uns Kraft gibt. Ein versäumter Termin, und die Welt bricht zu sammen.«
33
A
nfahren, jähes Stoppen, jähe Stöße, Fliehkräfte in durchjagten Kurven, die sie wie leblose Gegenstände durcheinander schüttel ten … Wenn Bronn die Augen schloß und sich vorstellte, er würde rückwärts die Piste zurückjagen, hätte er schwören können, rückwärts zu fahren. Seitwärts nach rechts: nach kurzer Zeit die gleiche Illusion. Schräg von rechts oben nach links unten durch den Raum: es ging. Er kehrte zu seiner Vorstellung des Rückwärtsfahrens zurück: da war der Flugplatz wieder, das Lager unter der Tragfläche … der Hunger ließ nach, der Gestank der Ausdünstungen. Hinein in das wunderbar küh le Flugzeug, über Delhi zurück nach Bangkok … Abendessen, wie war's dieses Mal mit einem Nurgh Makhni, einem indischen Butter huhn? Er machte sich nichts aus exotischen Spezialitäten, aber er sam melte diese Rezepte, um sie in seine Reiseberichte einzustreuen; und das Eigenartige war, daß er sich jetzt bis in Einzelheiten dieses Rezepts erinnerte: etwa 700 Gramm zerschnittenes chicken ticka, ein paar Tropfen Orangensaft über die Joghurtpaste, 3 grüne Chilis, längsge schnitten, frische Sahne … Seine Gedanken schweiften bereits, weiter, während ihm das Wasser im Mund zusammenlief (eine weitere Illusi on, sein Mund war längst ausgetrocknet!), noch immer glitt er zurück, über Bangkok, Bali hinaus, zurück in die Kindheit, zu seinen Jugendträumen. Wieder waren Bilder von Speisen und Getränken da: er stand, ein hagerer, blässlicher Knabe, vor dem vornehmsten Speise restaurant der Kleinstadt und drückte seine Nase platt an der Scheibe, die halb von kostbaren Volants verhüllt wurde … einmal so vornehm 304
an einem weißgedeckten Tisch speisen, später, befrackte Kellner hinter sich, einer edlen, schönen Dame gegenüber, die verspielt an ihrem Per lenkollier zupfte und ihn verträumt anblickte. … Er lachte laut auf, während sein Kopf von der Rückenlehne des Vordersitzes glitt. Ausgerechnet er, der wochenlang auf regelmäßi ge Mahlzeiten verzichtete, um sich irgendeinen Urwaldtempel anzu sehen, der mit ein paar Scheiben Brot auf Flußfahrt ging, der immer wieder die Vorherrschaft des Geistes über den Körper betonte, er also wurde jetzt von gastronomischen Halluzinationen heimgesucht! Kurven, Abrutschen auf steiler Schotterstraße, gefährliches Schwan ken der Karosserie … Frau Radewald glitt körperlos, haltlos durchs All. Sie hatte es längst aufgegeben, sich einen festen Halt zu verschaffen. Sie wußte nicht einmal, ob sich ihr Mann noch neben ihr befand. Ihr Kör per hatte jeden Widerstand aufgegeben; sie ließ sich in den Schlaglö chern schleudern, wohin die unberechenbaren Kräfte wollten. Alles war unberechenbar geworden; sie war Mächten ausgeliefert, gegen die zu kämpfen sinnlos war. Gelegentlich, wenn sie aufschrak, wurde sie sich bewußt, daß sie lautlos und gleichförmig vor sich hin weinte, daß ihr Körper voller blauer Flecken und Blutergüsse sein mußte. Sie ver suchte, ein einziges Bild hervorzuzaubern, das ihr Halt verschaffte im Chaos der gleitenden Lichtreflexe. Hinter fahlen Bergkämmen tanz te der Mond hervor, schoß wie ein Meteor quer durch den Raum und tauchte plötzlich auf der anderen Fensterseite auf … De Mond steht üwwerm Giwwel
un unnerm Bett die Stiwwel,
un alle Berjer ruhn
mit sauwerem Gewisse
uff ihre Ruhekisse
aus bunt gewerfeltem Kaddun.
Sie erkannte den verwilderten Blumengarten hinter ihrem Wirtshaus, den sanften Birkenhang zum Mischwald hinauf, wo die Schwarzspech te nisteten … Dort hätte sie bleiben sollen; es gab nichts, das gegen die 305
Heimat ankam … Sie schloß die brennenden Augen, dort lag sie wie der, unter schneeweißem Leinen … Doch haamlich uff de Schlabbe
hört mer des Unheil dabbe?
Wer waaß, bei wen sich's leht?
Wer schläft, den duht nit wecke!
Der krieht schont selbst sein Schrecke,
wann's Daach werd un de Gickel kräht.
… Bremsenkreischen. Türenknallen, unverständliches Eingeborenen geschrei, Vorwärtsholpern im Schritttempo, Türenknallen, weiter … Der krieht schont selbst sein Schrecke … So muß es gewesen sein, dachte Ralph Osterman, genauso. Wie Vieh. Wie Stückgut. Natürlich noch enger. Ohne Sitze, in den Bahnwaggons. Hin zu den Lagern im Moor, Arbeit macht frei, stand über den Eingän gen mit den romantischen Namen. Er stellte sich vor, wie er jetzt auf dem Wege dorthin war; er malte sich alles selbstquälerisch in Einzel heiten aus: Nur nicht von deiner Frau getrennt werden … Wenn sie uns nur zusammenlassen, ist alles zu ertragen. Nicht auseinander gerissen werden … sie müßten sich aneinanderschmieden können, unzertrenn lich. Sie würden sich nie loslassen, man müßte ihnen die Hände ab schneiden. Hunger, Durst, Angst. Der Uringestank, der kotverschmierte Boden, das Wimmern der Kranken; einer war zu Tode gequetscht wor den, ein alter halbblinder Mann, der im Fieber immer nur von seiner jungen Tochter phantasierte, die ihn erlösen würde … Sie hatten drei Bahnstationen lang darüber palavert, ob ein so alter Mann eine junge Tochter haben könne … Einmal, als er in einer kurzen Rundfunksendung drei israelische Volkslieder gesungen hatte, flatterte ihm mit der Fan-Post kommen tarlos eine herausgerissene Zeitungsseite ins Haus. Sie stammte vom 13. Februar 1936 und war dem offiziellen Organ der ›Reichsführung SS‹, DAS SCHWARZE KORPS, entnommen. Der rot angekreuzte Ar tikel dieser Seite 10 trug die Überschrift KZ und seine Insassen und 306
war offensichtlich von dem anonymen Absender als Konsequenz auf seine Liedwahl gemeint. Eines der sechs Photos zum Text zeigte das Gesicht eines Lagerinsassen (schwülstige Lippen, zusammengekniffe ne Augen, mongolische Züge) mit der Unterschrift: EIN TYPISCHER LAGERREPRÄSENTANT: GEWOHNHEITSSÄUFER UND WÜST LING. Ihm gegenübergestellt war ein frisch-nordisch-junges, markan tes Gesicht unter einem Stahlhelm mit den SS-Runen: SS-MANN AUS DEN WACHVERBÄNDEN, WELCHE DIE AUFSICHT ÜBER DIE KONZENTRATIONSLAGER FÜHREN. Und in der Mitte war jenes Bild abgedruckt, das Jahrzehnte später noch zitiert werden sollte, weil es den Herausgeber der WELTBÜHNE, Carl von Ossietzky, inmitten von Häftlingen zeigte, mit der Unterschrift: EINE GALERIE JÜDI SCHER RASSENSCHÄNDER. SAGEN DIESE VISAGEN NICHT EI GENTLICH SCHON GENUG? Als der Nobelpreisträger von Ossietzky an den Folgen der Haftmiß handlungen starb, war Ralph noch nicht einmal geboren. Jener ›FanBrief‹ war seine erste Bekanntschaft mit dem Geist deutscher Vergan genheit, der in einigen auch nach dem Kriegsende nicht erstorben war. Von jenem Tag an identifizierte er sich gern selbstquälerisch mit allen Verfolgten, und hier fuhr er nun durch die unheilvolle Nacht, litt und dachte: Ich werde eine Suite komponieren … fort von dem folkloristi schen Kleinkram, etwas Großes, das die Angst und Schrecken aller Verfolgten zum Ausdruck bringt … Aber ich werde nicht überleben, sie werden mich abschlachten, sie werden uns ins Lager führen, in die Kam mern, wenn wir nur nicht getrennt werden … Wo war Ruth? Er wuß te nicht einmal, wo sie, nach der letzten Rast, saß. Sie waren längst ge trennt worden – ohne Zwang von außen. Gleichzeitig mit seiner Verzweiflung kamen auch die Schmerzen seiner Verletzungen zurück, WENN NICHT EINMAL DIE VOR STELLUNG DES NAHEN TODES ZWEI MENSCHEN VEREINEN KONNTE – WAS DANN NOCH? … Rasende Fahrt vorbei an Abgründen, Finsternissen, Öllampen, die in einsamen Zelten flackerten … Steiner saß ganz vorn hinter Loh mar, der den Bus gewechselt hatte, unnatürlich steif, wie eine Holz 307
puppe. Es war jene Haltung, die Kollegen als seine ›Langstreckenhal tung‹ bezeichneten. Sie meinten, er könne länger so ausharren, als der Treibstoff ausreiche. Regungslos auf die Blindfluginstrumente star rend, ohne Erdsicht, ohne natürlichen Horizont, ohne ein Wort zu wechseln, hätte er ›Tag für Tag‹ so sitzen können – ›bis an sein Lebens ende‹. Mit seinen Leidensgenossen ausharren, sie nicht im Stich lassen, dar in lag seine Stärke. Er wurde sich ihrer bewußt, je mehr er sich zum Mönch hingedrängt fühlte. Seine stoische Art, die Dinge zu nehmen, faszinierte ihn. Sich einen Innenraum zu schaffen, der nur einem sel ber gehörte, zu dem auch der blutrünstigste Verbrecher mit den dro hendsten Waffen keinen Zugang hatte … Nachdem ihm das Gerät, das er befehligte, entzogen war, sah er keinen Anlass mehr zur Aktivität. Diese Haltung war ihm von seinen Vorgesetzten lange genug einge impft worden: keinen Widerstand leisten, lautete die Parole, nichts un ternehmen, was die Passagiere gefährden könnte, den Forderungen der Gangster nachkommen … Der wagemutige Pilot, der durch sei nen Handkantenschlag einen Flugzeugentführer unschädlich gemacht und die Passagiere vor der Entführung bewahrt hatte, würde nach der Landung fristlos entlassen werden. Weil er sich auf ein Risiko eingelas sen hatte, das genauso anders hätte ausgehen können. Er ließ sich auf nichts ein; er versuchte lediglich durch seine Hal tung Vorbild zu sein. Er aß, er trank noch weniger als das, was ihm zu stand. Er fühlte etwas von der Größe des Schiffskapitäns, der auf dem langsam sinkenden Ozeandampfer aushielt und als letzter, wenn über haupt, von Bord ging … Felsen, Grate, Kämme. Mondaufstieg, Mondsturz. Kreisende Lich ter, Schemen. Ein Kamel, mitten auf der Piste. Bremsen. Alle wurden nach vorn geschleudert. Karen hielt sich krampfhaft fest. Sie war ans Fenster gerutscht, hatte mit weit offenen Augen auf die Phantasmagorie der Formen und Schatten gestarrt und war von Kur ve zu Kurve unruhiger geworden. Sie war hellwach und rutschte unbe haglich hin und her – auch dann, wenn der Bus ruhig lag. Jetzt! dachte sie mehrmals. Jetzt könnte er ihm eins über den Schädel 308
geben. Aber er sitzt da, reglos wie ein Baumstumpf! Er weiß doch, daß ich, daß wir da sind und sofort eingreifen würden. In jeder Kurve wird uns unsere Chance geboten! Wir werden einfach auf den Fahrer ge schleudert, wer kann uns das übel nehmen! Dann schmeißt sich einer hinters Steuer und jagt hupend davon – zur nächsten Polizeistation! »Würden Sie sich hinters Steuer schmeißen …« Sie hockte sich neben Bronn, klemmte sich mit Schenkeln und Ober armen an den Sitzen fest. »Wenn ich die Chance hätte? Sofort!« Karen nickte, mit einer Spur von Melancholie. »Chancen genug, nicht?« Sie sah ihn prüfend an. »Zumindest für den, der vorne sitzt. Direkt hinter Lohmar.« Bronn begriff sofort. »Sie müssen das verstehen … Wir … wir haben keine Verantwor tung. Zumindest keine offizielle, berufliche. Er trägt noch immer sei ne vier Streifen. Alles, was er tut, wird ihm später nicht als Privatper son angekreidet werden, sondern in seiner Funktion als Kapitän … Sie wissen: von diesen Scheißern am grünen Tisch, die drei Wochen brau chen, um die Rechtmäßigkeit einer Handlung zu prüfen, für deren Be schluss zwei Komma drei Sekunden zur Verfügung standen. Wollen Sie ihm das verübeln?« »Aber hier herrschen doch völlig außernormale Umstände!« »Alle betrachten ihn noch immer als The Captain!« »Ja schon, aber …« »Sie sollten nicht so urteilen. Sie betrachten sich doch selber auch noch als verantwortlich? Ich habe Sie beobachtet, Karen, wie Sie sich Ihren Kolleginnen gegenüber verhalten haben, die die Flinte ins Korn werfen wollten.« »Sie müssen das verstehen …« »Ich verstehe Sie schon, Karen.« »Wirklich?« Rasende Fahrt durch ein trockenes Flussbett. Vollgas im ersten Gang, Haarnadelkurven, steil bergauf. Wasserfluten im Scheinwerferkegel, Spritzer gegen die Scheiben. Fluchen der Eingeborenen. 309
»Hör mal, Inger!« sagte Ingrid. »Hast du dir den Flug von Bangkok nach Teheran so vorgestellt?« »Bißchen viel Turbulenz auf der Luftstraße heute!« »Ich fühl' mich gar nicht wohl!« »Ist doch ganz gleich, wo wir unsere Aufgabe erfüllen – in der Stra tosphäre oder im Bamyan-Tal.« »Ich denke oft an die gute alte Dealer-Zeit zurück. Weißt du noch?« »Als Studentin shit verkaufen, war' auf die Dauer nichts gewesen.« »Wir haben nur Qualität verkauft, Inger. Erinnerst du dich? Wir hat ten noch eine Art von Moral. Wir haben sogar verschenkt, wenn einer kein Geld hatte und drauf angewiesen war. Man ließ den Joint rundge hen. Das waren noch Zeiten, richtig nett. Nicht so knallhart wie heu te.« »Du wirst alt, würde ich sagen.« »Wir sind rechtzeitig ausgestiegen aus dem Job. Heute wird der Markt von Erpressern und Zuhältern beherrscht. Damals habe ich mir noch Gedanken gemacht über die Schädlichkeit des Stoffes, den wir verhö kert haben.« »Du weißt doch: in jedem harten Alkoholrausch werden drei Mil lionen Gehirnzellen zerstört. Mehr hat unser Stoff garantiert nicht auf dem Gewissen gehabt!« »Das habe ich mir auch gesagt.« »Weißt du noch, wie wir am 30. jedes Monats an den Kasernen und Fliegerhorsten aufgekreuzt sind? Zahltag! Zeppelinheim am Frank furter Rhein-Main-Airport zum Beispiel. Weißt du noch?« »Die Kaiserstraße. Plötzlich hattest du eine Pistole im Bauch. Das ganze Zeug noch in der Tasche. Wir wurden gelinkt, noch und nö cher!« »Na also! Das ist vorbei! Jetzt sind wir wer!« »Die hübschen Teakholzelefanten aus Thailand, weißt du noch? Sie waren hohl; und wir füllten sie harrgenau so voll, daß sie auf ihr ur sprüngliches Gewicht kamen. Und das frische Holz roch so stark, daß sogar die Spürhunde der Zollfahndung, ha-ha, daneben rochen!« »Paß auf! Da passiert was!« 310
Ingrid schrie die letzten Worte. Der Bus hatte so plötzlich gebremst, daß sie nach vorn schossen, ihren Halt verloren. Aber niemand nutz te die Chance. Im Scheinwerferlicht tauchte eine Barriere auf. Sie hatten schon vie le passiert; und jede hatte sich bisher rechtzeitig geöffnet. Diese aber blieb geschlossen. Die Busse standen jetzt eng zusammen hintereinan der, die Motoren schnauften wie aufgebrachte Stiere, die mühsam ver hielten. Die Fahrer blinkten nervös mit dem Fernlicht. Die Schranken öffneten sich nicht. Lohmar sprang hinaus. Der Bär sicherte mit angelegter Maschinen pistole. Die beiden Mädchen waren auf der Hut. Im Lichtkegel tauchte eine uniformierte Gestalt auf. Lohmar fuchtelte nervös mit Pistole und Taschenlampe gleichzeitig durch die Nacht. Er durchschaute nicht, was hier schiefgegangen war. Der Afghane, in einer schmutzigbraunen verschlissenen Uniform, nä herte sich ihm prüfend und zögernd. Lohmar winkte seine afghanischen Helfer heran. Sie begannen auf Urdu auf den Schrankenwärter einzureden. Während der lautstarken Diskussion wurden weitere uniformierte Beamte im Halbdunkel hin ter der Zöllnerbaracke sichtbar. Lohmar blickte nervös um sich, such te nach sicherer Rückendeckung. Hier tauchten Hindernisse auf, die nicht rechtzeitig beseitigt worden waren. Man mußte sie jetzt beseiti gen, ohne Umschweife. Er sah prüfend zum Bären hinauf, der war be reit. Plötzlich, als spürten alle die Sekunde der Entscheidung, war tiefe Stille um sie. Ihre afghanischen Helfer, die auf die Beamten eingeredet hatten, schwiegen wie auf ein verabredetes Zeichen. »Einsteigen!« befahl Lohmar ihnen. »Und Vollgas hindurch!« Er hatte die Zerbrechlichkeit der verrotteten Schranken erkannt. Lohmar war der letzte, der aufsprang. Mit entsicherter Pistole blieb er auf dem Trittbrett stehen. Der Bär hing über ihm, wie ein Sandsack, aber schussbereit. »Vollgas!« befahl er. Der Fahrer fuhr an. Gleichzeitig bellte ein Maschinengewehr auf. Es 311
mußte im Dunkel hinter der Zollbaracke versteckt gehalten worden sein. Durch die Busse jagte ein Entsetzensschrei. Wer reaktionsfähig war, warf sich unter die Sitze. Lohmar umklammerte mit beiden Händen die Pistole und feuerte. Der Ruck des anfahrenden Busses warf ihn vom Trittbrett. Plötzlich lag er auf dem Bauch, die Pistole schon wieder schussbereit und feuer te, feuerte. Die Barackenwand splitterte. »Jetzt!« schrie Karen erregt. Sie hatte die Chance erkannt, die einzige. Aber niemand nahm sie wahr. Steiner, in nächster Reichweite des Fahrers, der durch die split ternde Balustrade jagte, schrie: »Volle Deckung! Unter die Sitze!« Er überblickte im gespenstischen Halbdunkel das Businnere. Erst als der letzte, Hannes Radewald, den Kopf senkte, duckte er sich, schielte auch jetzt noch über die wimmernden Gestalten hinweg. »Die Russen, die Schweine, jetzt schießen sie wieder!« schrie Rade wald. Lohmar feuerte. Er sah kaum, wie der Bus davonjagte, die Schranken splitterten, die Zöllner zusammensanken. Über ihm, vor ihm schoß der Bär, mit kurzen, aber gezielten Stößen. »Gottes Segen fürs Gelinge, mit Bete und mit Singe«, jammerte Frau Radewald. Als spule sich in ihr ein Tonband ab, sagte sie vertraute Namen auf – Weine, die sie ihren Gästen eingeschenkt hatte, in einer friedlichen Welt inmitten des Hochspessarts: Sommeracher Engelsberg, Eschen dorfer Lump, Rödelseer Schwanleite. Alles Bocksbeutelweine, deren Nennung ihr Beruhigung verschaffte. Ralph Osterman hatte sich über Ruth geduckt, sich über sie gewor fen, die Maschinengewehrgarben vor dem ausgehobenen Massengrab, nur nicht getrennt werden im Tod, nicht aufhören zu singen, jetzt erst recht nicht, Vuloch, My Yiddisch Momme, Shaine une Zees. Lohmar reckte sich auf hinter seiner MP. Er sah die roten Rücklichter des letzten Busses durch die zersplitter ten Schlagbäume holpern. 312
Niemand erwiderte mehr seine Schüsse. Nur der Bär feuerte noch immer durch die Nacht. Er erkannte zwei zusammengesunkene Gestalten an der Barackenwand. Blutbefleckt. Regungslos. Er klopfte den Dreck von seinem Anzug und erhob sich. Der letzte Bus stoppte. Lohmar sprang auf. »Alles in Ordnung?« fragte er. Ingrid nickte. »Nur die hysterische Witwe dreht schon wieder durch!« sagte sie. Frau Bauer lag flach auf dem Boden ausgestreckt. »Steh auf!« befahl Patrinelli schlicht und brutal. »Wenn du die Ein schläge hörst, ist keine Gefahr mehr!« »Mein Mann!« jammerte Frau Bauer. »Mein armer, armer Mann. Keiner hat ihn so geliebt wie ich!« »Skip it!« befahl Patrinelli unwirsch. »Gei up! Wir sind jetzt sicher.« Steiner richtete sich wieder auf. Er sagte laut: »Die Herren haben ihre Meinungsverschiedenheit bereinigt. Es be steht keine Gefahr mehr.« Alle nahmen ihre ursprüngliche Haltung wieder ein. Nur Frau Bau er war nicht zu beruhigen. Sie wimmerte leise vor sich hin. Die Fahrzeuge holperten weiter. Die Schluchten waren finsterer denn je. Bergzinnen wischten den Mond aus wie mit riesigen Zeigefingern.
Als die Karawane anderthalb Tage nach der Abfahrt endgültig zum Stillstand kam, bot das Innere des Fahrzeugs ein Bild des Chaos. Er schöpfte Gestalten taumelten über den roten Staubboden, über dem sich die bleierne Schwere des Himmels wölbte. Reflexhaft suchte jeder von ihnen Halt an den gewaltigen Felsbrocken des Berghangs. Nach sechsunddreißig Stunden Pistenfahrt war ihr Gleichgewichtssinn ge stört, ihre physische Kraft vernichtet. 313
Aber Lohmar gönnte dem chaotischen Menschenhaufen noch keine Ruhe. Er ließ alle den Steilhang hinauftreiben; und ihm selbst bereitete der mühsame Aufstieg nicht weniger Qual als seinen Opfern. Lohmar war genauso am Ende seiner Kraft wie sie. Er wußte, daß er sich in eine Sackgasse manövriert hatte, aus der es kein Entrinnen gab. Es sei denn, DIE BOTSCHAFT käme endlich aus dem Radio. Aber sie kam nicht, und Lohmar glaubte nicht mehr, daß sie jemals kommen würde. Er wußte, daß er erledigt war, wenn DIE BOTSCHAFT nicht kam. Aber wenn er erledigt wäre, würden auch die anderen erledigt sein. Er war fest entschlossen, niemanden davonkommen zu lassen, wenn er nicht selber davonkam. Und davonkommen hieß für ihn: Erfolg haben. Ralph Osterman, von Ruth gestützt, schleppte sich mit letzten Kräf ten über den Maultierpfad, der zwischen mannshohen Geröllbrocken bergauf führte. Sein Leib war übersät mit blauen Flecken, Prellungen, Striemen und kleinen und größeren Wunden. Den Schluß der Menschenkarawane, die sich durch Staub und Geröll aufwärts quälte, bildete Steiner. Er hatte sich bewußt von der Gruppe distanziert, und gelegentlich überholte sogar Lohmar ihn und ließ ihn zurück, ohne ihn zu beachten, als habe er Narrenfreiheit oder als rech ne niemand mit seiner Flucht. Steiner hatte seine Jacke über die Schulter geworfen. Seine Goldstrei fen hoben sich kaum noch von den verstaubten Ärmeln ab. Jetzt, als er sich rückwärts wandte über das tiefe Tal, erweckte er den Eindruck ei nes Sonntagswanderers. Die Karawane war auf einem sandigen Hochplateau zum Stillstand gekommen. Von ihr hob sich ein einzelner gewaltiger Berg Hunderte von Metern empor. Der Berg war übersät mit Ruinen einer alten Stadt. Die Mauerreste der Stadt hatten sich durch Jahrhunderte der Verwitte rung wieder in ihren Urzustand zurückverwandelt, aus von Menschen Bearbeitetem war wieder natürlicher Sandstein geworden. Unterhalb des Plateaus dehnte sich eines der wunderbarsten Täler der Welt, früh lingsgrün, von Bewässerungskanälen durchzogen, begrenzt durch die rotglühenden Grate der Wüstengebirgsketten: Baméyan Valley. 314
Der Berg, den die armselige Menschenkarawane hinaufgetrieben wurde, hieß Die Zitadelle und trug die Überreste einer der blühend sten Städte des ersten Jahrtausends. Von ihrem Gipfel hatte man ei nen phantastischen Ausblick auf das gegenüberliegende Bergmassiv, in das frühe Buddhistenmönche Tausende von Zellenhöhlen geschla gen hatten. Steiner starrte lange auf das Panorama, bis einer der zurückgeblie benen Afghanen ihn zur Eile antrieb. Er hatte erst im letzten Augen blick die beiden gewaltigen Buddhastatuen entdeckt, die sich durch ihre Goldtönung kaum von der Steilwand abhoben und an beiden Sei ten den Höhlenkomplex abschlossen. Er stieß auf Karen, die erschöpft auf einem Felsstein hockte, der ei nem gigantischen Mongolenkopf glich. »Erledigt?« Er legte seinen Arm um ihre Schulter. »Gar kein Ausdruck! Ausgelaugt! Ausgesogen!« »Oben lassen wir uns einfach fallen und schlafen, schlafen! Auf gu tem, festem, hartem Boden!« »Es gibt nichts Scheußlicheres als die anonyme Masse! Sie heftet sich an dich wie ein Polyp!« »Wir stellen uns einfach vor, wie es jetzt in Teheran wäre. Am Kas pischen Meer.« »Genauso, wie sie ihre Wut, ihre Ohnmacht an Ralph Osterman aus lässt, genauso klammert sie sich an mich wie an …« »An einen Engel.« »Der große Medizinmann hat gefälligst für Wunder zu sorgen! Ich bin es leid; es kotzt mich an! Die friedfertigsten Leute verwandeln sich in Ungeheuer, sobald sie anonym in der Masse untertauchen und die Allgemeinheit hinter sich wissen. Außerdem habe ich Durst, Hunger, Ausschlag und Durchfall!« Während er ihr den Steilhang hinauf half, fuhr sie fort: »Vera, meine eigene Kollegin, erpresst mich! Ich glaube, wir sind alle im Irrenhaus gelandet!« »Erpresst dich?« 315
»Uns! Sie droht dauernd damit, Lohmar über unser Verhältnis zu unterrichten!« »Wessen Verhältnis?« »Unser Verhältnis. Deins. Meins. Wir sind alle verrückt geworden.« »Aber wie will sie dich erpressen?« »Das weiß sie wohl selber nicht. Fixe Idee von ihr. Vielleicht glaubt sie, irgendeinen persönlichen Vorteil für sich dabei heraushandeln zu können.« »Das ist idiotisch!« »Alles, was in diesem Menschenhaufen geschieht, ist idiotisch. Aber wichtig ist, daß sie überhaupt mit solchen Absurditäten droht!« »Gleich sind wir oben. Gleich lassen wir uns einfach fallen!« »Du gibst auch allmählich auf, wie?« »Ich bin einfach müde, Karen.« »Der große Kommandant ist müde! Aber du hast dich immer mehr auf Distanz gehalten. Du hast die große Überschau behalten, wie es dem großen Kommandanten geziemt. Die Kleinarbeit haben die an deren gemacht. Das Dienstleistungsgewerbe.« »Hör mal, Karen, da klingt ja fast ein bißchen Gehässigkeit mit. Jetzt fang du auch noch an!« »Man wird ja noch seine Meinung sagen dürfen!« »Nicht, wenn man so dabei außer Atem gerät. Wir sind hier schon sehr hoch!« »Ich hab' Milch für die Bälger von dieser indischen Gebärmaschine besorgt! Das war schwieriger, als eine Boeing im Monsungewitter zu landen.« »Das streitet niemand ab! Du bist großartig!« »Okay, okay! Ich bin großartig am Ende!« Die Gruppe fand dicht unter dem höchsten Trümmergipfel ihre La gerstätte. Hier heulte der Wind kühl und heftig und linderte die Hit ze. Der Blick auf das Tal mit den Statuen wurde durch ein hochaufra gendes Wandmassiv verdeckt, das gleichzeitig jede Fluchtmöglichkeit ausschloss. Der einzige Zu- und Ausgang war der Bergpfad, über den sie gezogen waren. Halbschalenförmig abgeriegelt konnte das Plateau 316
von der Größe eines Vorstadtkinosaals durch einen einzelnen Posten unter Kontrolle gehalten werden. Steiner mußte Lohmar neidlos bescheinigen, daß die Wahl dieses Rückzugortes genial war. Er sah keine Chance, zu entkommen, es sei denn durch eine entsprechende Nachricht aus Deutschland. Er stellte sich vor, wie gerade jetzt in einem Deutschland voller Frühlingsstim mung Ausschüsse gegründet, Zuständigkeiten geprüft wurden, mit echt deutscher Gründlichkeit überwiesen und rückverwiesen, vorge prüft und nachgeprüft wurde, während im tiefsten Innern Afghani stans eine Handvoll Menschen langsam vor die Hunde gingen. Er stellte sich, während um ihn seine ehemaligen Passagiere auf den Steinen erschöpft zusammensanken und die Sonne langsam in einem limonengelben breiigen Spätnachmittagshimmel sank, Frühling in Deutschland vor, einen milden Hochdruckmaientag. An der Bergstraße blühten Apfel-, Birnen-, Aprikosenbäume, end lose Schlangen von Autos wälzten sich durch die engen Serpentinen am Saukopf und Daumberg, durch Oberliebersbach und Unterflok kenbach. Von Meersburg fuhren weiße Fährschiffe zur Insel Mainau und zur Reichenau hinüber, unter Schuppenbäumen und Palmen drängten sich Ströme von Sonntagsspaziergängern, die Pfauen und Tulpenra batten bestaunten. Um den Wilseder Berg in der Lüneburger Heide ratterten die Pferdefuhrwerke aus Niederhaverbeck; und am Timmendorfer Strand wur den die ersten Strandkörbe aufgestellt. Im Alten Land donnerten vom Tonband über Lautsprecher die ersten Böllerschüsse, um die Stare aus den Obstgärten zu vertreiben. Seine Erinnerungen wurden durch Lohmar unterbrochen. Er war verdreckt und verstaubt wie jeder von ihnen und unterschied sich kaum noch von seinen Opfern. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und glänzten fiebrig. »Sie sehen aus, als ginge es Ihnen dreckig!« sagte Steiner. »Es geht mir dreckig!« sagte Lohmar. »Aber das ist um so schlim mer für Sie.« 317
»Ich dachte, große Könner wie Sie hätten eine endlose Geduld.« »Ich denke nicht daran, sie mit der Geduld der deutschen Bürokra tie zu messen.« »Kaum haben Sie uns hier so mühsam, aber wohlbehütet unterge bracht, verläßt die Geduld Sie schon wieder!« »Sagen wir so: sie ist unberechenbar! Ich kann Wochen warten, bis der letzte von Ihnen verreckt ist. Ich kann aber auch morgen schon durchdrehen und alle in die Luft jagen!« »In die Luft?« »Meine Männer werden morgen anfangen, einen Sprengstoffring um dieses Plateau zu legen. Wenn mir die Geduld ausgeht, jage ich Sie ein fach in die Luft!« »Damit wäre Ihre … Mission gescheitert!« »Ja. Aber mein Scheitern wird niemand von Ihnen überleben!« Fast hätte Lohmar hinzugefügt: ich auch nicht. Aber er wandte sich ab und schwieg. Obwohl Karen am Ende ihrer Kräfte war, quälte sie sich noch ein mal durch die Reihen, ehe sie sich selbst zur Ruhe legte. Verzweifelt be mühte sie sich, hinter den stumpfen, ausdruckslosen Gesichtern wie der die Aufgeschlossenheit ihrer einstigen Passagiere zu entdecken. Radewald hatte gesagt: Wenn Sie knapp sind mit dem Hauptgang, wir treten gern zurück, wir wissen, wie das ist, meine Frau und ich. Bei der letzten Verteilung von Reis und Huhn hatte er brutal drei Japaner bei seite geprügelt. Die Nahrung kam in einem grauen Behälter von der Größe und Form eines Mülleimers, und da jeder nur einen Teller pro Tag erhielt, hatte bald das Thema Hunger alle Gespräche und Gedan ken beherrscht. Neben ihm hockte Jack Patrinelli. Er hatte sich einfach gegen einen Trümmerbrocken sacken lassen, der die Form einer verwitterten Mini-Pagode hatte. Patrinelli hatte sich in der letzten Nacht über Ralph Osterman hergemacht. Er hatte ihn so lange verprügelt, bis Bronn ein gegriffen hatte; und Karen war erschrocken über die Brutalität, mit der Bronn Patrinelli zu Boden gezwungen hatte. Wir beide haben noch eine alte Schuld zu begleichen, keuchte er, als 318
er ihn endlich losließ. Dachte, ich wär's, der was zu begleichen hätte, schrie Patrinelli und wischte sich die blutenden Lippen ab. Ruth war die einzige, die Bronn für sein rücksichtsloses Drauflos schlagen dankte; und Karen fragte sich, welche Rolle Patrinelli eigent lich im Krieg gespielt hatte. Ich glaube, er ist einfach desertiert, hatte sie Steiner gegenüber geäußert. Bronn, der die Hände unter dem Kopf verschränkt hatte, starrte sie während ihres Rundganges unentwegt an. Ihr schien, er wolle ihr et was sagen, aber sie spürte kein Bedürfnis, mit ihm zu sprechen, und wandte sich ihren Kolleginnen zu, die getreulich vereint beisammen lagen. Mit Ausnahme der offenen Feindschaft Vera Merkelsbachs hat te sie sich über Hilfsbereitschaft und Zusammenarbeit nicht beklagen können. Jetzt lagen sie alle eng um Kay Sanders zusammengeschart, wie hilflose Kinder, die Schutz suchten. Kurz flammte in ihr der Gedanke auf, sie habe sich vielleicht zuviel um die Passagiere, zuwenig um ihre Kolleginnen gekümmert. Sie ver drängte ihn und warf einen beunruhigten Blick auf de Laer. Er war körperlich am übelsten dran; der Schlag Lohmars zeigte schlimme Nachwirkungen; und er brauchte dringend ärztliche Hilfe. Von Chris de Laer war nichts als ein Häufchen Hass übrig geblieben; bei den ge ringfügigsten Anlässen brach er in eine Flut von Schimpfworten aus. Karen suchte Steiner und stellte fest, daß er für sie eine Decke ne ben sich gebreitet hatte. Er war bereits in Schlaf gefallen; der einzige, der immer noch hellwach ohne eine Spur von Erschöpfung dasaß, war Phra Maha Chai. Er hatte sich an den äußersten Rand des Plateaus ge hockt und starrte mit verklärten Augen auf das Tal und die beiden Sta tuen. »Davon habe ich immer geträumt!« sagte er sanft und glücklich. »Es ist der wunderbarste Tag meines Lebens!« Seine Worte senkten sich mild wie Honig in sie. Sie fühlte eine gro ße, friedliche Mattigkeit über sich kommen; und statt der Gruppe der Wissenschaftler einen Besuch abzustatten, sank sie neben Steiner nie der und fiel sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf. 319
34
K
aren schrak hoch: Wind heulte um die Felsen; und irgendwo brach Gestein auseinander und rollte einen Hang hinunter. Sie war si cher, von einem der Steine getroffen und dadurch aufgeschreckt worden zu sein. Sie bewegte die Zunge durch den ausgedörrten Mund: Staub knirsch te zwischen den Zähnen. Staub war seit Tagen überall: in der Kleidung, in den Decken, in den Poren, in der Nahrung. Sie blickte auf: tiefe Nacht, die Sterne nicht sichtbar, der Wind brach te keine Kühlung. Dann zuckte sie zusammen. Aus dem Halbdunkel neben ihr starrte sie eine Gestalt an. Sie warf einen flüchtigen Blick auf Steiner, der neben ihr hingestreckt lag; im Notfall hatte sie Hilfe. Der Mann kroch näher und sie erkann te Bronn. »Sie schlafen verdammt fest!« sagte er, und obwohl er mit norma ler Lautstärke zu sprechen schien, mußte sie sich ihm entgegenbeugen, um ihn zu verstehen. »Ich war auch verdammt müde!« seufzte sie. Sie kam sich selbst widerlich vor: verklebt, ausgedörrt, die Lippen brannten, die Hüfte schmerzte; sie hatte auf unebenem Untergrund gelegen. »Hoffentlich sind Sie jetzt ausgeschlafen! Karen …« Er griff ihren Arm. »Ich muß Ihnen was Wichtiges sagen!« Sie starrte ihn stumpfsinnig aus halb geschlossenen Augen an. »Jetzt?« »Jetzt! Niemand kann uns hören, dafür sorgt der Wind!« Sie warf einen Blick auf Steiner. Dieser Anblick beruhigte sie. Sie glaubte zu wissen, was Bronn vorhatte. Sie hatte keinen Hehl daraus 320
gemacht, wie gern sie ihn mochte. Er war neben Steiner ihre einzige Stütze; und sie hatte seit der Entführung persönlicher mit ihm gespro chen als mit Steiner. Plötzlich brach etwas von ihrer alten Energie durch. »Wenn Sie nichts wirklich Wichtiges wissen, steinige ich Sie!« »Ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt, Karen. Hören Sie lieber zu!« »Bitte!« »Habe ich Ihnen eigentlich erzählt, daß ich schon in Afghanistan war?« »Ich glaube, ja!« »Wissen Sie, wo wir hier sind?« »Keine Ahnung, das heißt, der Mönch hat etwas über die zwei Bud dhastatuen verlauten lassen; sie sollen sehr berühmt sein, das sieht man.« »Sie sind beide etwa fünfundvierzig Meter hoch; und sie heißen Sal sal und Shamama.« »Wollen Sie jetzt zu meinem persönlichen Reiseführer avancieren?« »Sie stehen im Tal von Bamiyan; und dieses Tal war zwischen dem ersten und sechsten Jahrhundert eines der berühmtesten Buddhisten zentren. Dschingis-Khan hat aus diesem Geisteszentrum eine Wüste gemacht.« »Interessant; ich habe Durst!« »Alle, die sich vor den ersten Angriffen retten konnten, haben sich auf diese Zitadelle zurückgezogen. Aber durch Verrat sind auch sie umgekommen!« »Schaurig, aber das hätte bis morgen früh warten können. Wie spät ist es eigentlich? Meine Automatik steht – zu wenig Bewegung.« »Gerade erst Mitternacht! Wir haben noch etwa fünf Stunden Zeit!« »Wozu Zeit?« »Niedergemacht bis zum letzten Mann, bis zum letzten Kind, letzten Schlaf. So wird uns auch Lohmar niedermachen. Er hat schon wieder sein verdammtes Dynamit anbringen lassen, und ihm gehen die Ner ven durch. Das einzige, was ihm bleibt, ist ein hübsches Feuerwerk zum Abschluß. Er jagt sich selber mit in die Luft. Ich kenne diese Typen.« 321
»Sie meinen, die Zeit bis dahin sollten wir auf angenehme Weise überbrücken?« »Oh, verdammt, Karen, jetzt hören Sie endlich besser zu. Ich war hier schon mal! Hier, auf diesem Plateau! Ich kenne hier jeden Stein!« »Und? Was bringt uns das?« »Eine ganze Menge. Die Freiheit!«
Lohmar schleuderte eines der Transistorgeräte gegen die Felsen. Im schwachen Flackern der Öllampe trieb eine rote Staubwolke vorüber. »An alles hat der große Könner gedacht!« spottete Inger. »Und was die Auswahl dieses Ortes betrifft – da mach' ich dir unser uneinge schränktes Kompliment.« »Aber er hat vergessen, an diesen hochgelobten Ort Ersatzbatterien mitzunehmen!« ergänzte Ingrid. »Und jetzt sind ihm seine sämtlichen Geräte an Unterernährung ein gegangen!« »Wenn dieses Unternehmen scheitern sollte, dann nur, weil ich mich verdammt um jede Lappalie selber kümmern mußte!« tobte Lohmar. »Hätte keiner von euch Lahmärschen mal an so was Simples wie Ra diobatterien denken können?« »Morgen früh besorgen wir welche in dem Kaff da unten!« versprach Inger. »Das heißt, wir werden einen von deinen einheimischen Goril las hinunterschicken!« »Das setzt den Trümmerhaufen dort auch nicht wieder in Gang!« In grid zeigte auf das zersplitterte Gerät. »Wir haben mehr von der Sorte! Wir wollen froh sein, wenn wir ge nügend Batterien für einen einzigen Kasten auftreiben können!« »Was wir heute nacht an interessanten Nachrichten verpassen, wird auch morgen noch durchposaunt werden!« tröstete Ingrid. Lohmar zuckte zusammen. Sie saßen zu dritt um das trübe Licht der Öllampe. Schon im nächsten Umkreis wurde alles zu blassen Sche men. 322
»Was war das?« »Der Wind!« beruhigte Ingrid. »Alles unter Kontrolle! Hier kommt niemand vorbei; und niemand wird den Versuch riskieren.« »Ich warte noch bis übermorgen! Entweder sind unsere Leute in Deutschland bis dahin frei, oder dieser Berg geht in die Luft. Mit al lem, was darauf ist!« »Ich ziehe vor, mir das Feuerwerk vom Tal aus anzusehen!« mein te Inger. »Eure Angelegenheit!« sagte Lohmar. »Nicht meine!« »Schlag vor, wir hauen uns hin!« Ingrid ließ sich auf den Schlafsack fallen, den ihr der älteste der Afghanen überlassen hatte. »Das hat min destens drei Dutzend Flöhen den Garaus gemacht.« Ehe Lohmar sich schlafen legte, inspizierte er lustlos die beiden Po sten: den Bären und Ahmed, den Pathanen. Sie hockten träge auf den Felsbrocken, die den Ausgang des Plateaus begrenzten, und von dort hatte man bei der herrschenden Dunkelheit lediglich einen Blick über die ersten drei Meter des Plateaus. Lohmar hatte diesen Teil freihalten lassen, so daß jeder, der sich dem Ausgang zu nähern versuchte, sofort ausgemacht werden konnte. Dahinter hob sich undeutlich die dunkle Masse der Schlafenden ab. »Sie sind alle hinüber!« brummte der Bär und schrak auf. »Du vor allem!« murrte Lohmar. »Morgen früh lösen dich die Mäd chen ab.« Der Bär zuckte gleichgültig die Schultern, als interessiere ihn das nicht; und Lohmar trottete nicht weniger gleichgültig zurück und warf sich auf seine Decken. Er starrte in den finsteren, sturmgepeitschten Himmel, bis ihn der Schlaf übermannte.
»Was ich euch bieten kann, ist ein Rundflug über Kandahar!« sagte die Frau. Arnold und Wessmann blickten schwermütig über die Wüste. 323
»Wie lange kennen wir uns jetzt, Anja?« fragte Wessmann und stieß mit dem Fuß ein Steinchen beiseite. »Seit Moskau, seit fünf Jahren.« »Und da bietest du uns einen Rundflug an, als wären wir deine Groß eltern.« »Ich mag meine Großeltern sehr gern.« »Und wir mögen dieses Land, besonders die Gegend westlich von Kabul. Dahin sind sie doch gezogen, nicht?« »Sie sind in der Nacht verschwunden; es interessiert uns nicht über mäßig.« Sie standen in der Abendsonne vor den Flughafenbaracken. Öl- und Kerosinlachen schillerten auf dem Beton. Anja Serwowitsch war eine robuste Russin aus dem Wolgadelta, die als Beraterin der af ghanischen MiG-Flotte zugeteilt worden war. Obwohl die Temperatur auf dem Platz noch immer um die dreißig Grad betrug, war sie in eine abgesteppte, unförmige Trainingsjacke gekleidet. »Also gut, ich will euch mit der doppelsitzigen MIG durch die Ge gend fliegen, weil ihr es seid!« »Wir würden gern mit der doppelsitzigen MIG fliegen«, sagte Wess mann traurig. »Aber dieses Mal ziehen wir die Dornier vor. Für die gleiche Strecke.« »Unmöglich, ich kriege Schwierigkeiten mit den Afghanen!« »Weißt du noch, wie wir zu Tolstojs Landsitz hinausgefahren sind? Es war ein wunderbarer Frühlingstag; und Erik hockte auf der Notbank mit all seinen Kameras, und ich saß neben dir, und du sahst wunder bar aus, und …« »Die Dornier ist nicht vor morgen Mittag fertig. Sie kriegt eine Kon trolle und sieht heute noch ziemlich zerrupft aus.« »So lange haben wir Zeit, nicht wahr, Erik?« »Vorher zeigst du uns mal die Schönheiten Kandahars, Anja!« »Kandahar ist eine schöne Stadt, eine der schönsten Asiens, außer Südrusslands, natürlich; Ahmed-Schah hat sie erbaut. Wir gehen mor gen in die Kokaran-Gärten, dann müßt ihr mir von Lappland erzählen. Ich liebe die Tundra. Und von den neuen Überschall-SAAB der Schwe den …« Sie sah die beiden listig an. »Ich habe eine Menge Fragen …« 324
»Wir würden gern in aller Seelenruhe mal die zurückgelassene Bo eing in Kabul aus der Luft aufnehmen … und dann mal die Strecke nach Westen abfliegen. Vielleicht stoßen wir auf interessante Neuig keiten.« »Die technischen Leistungsdaten der VIGGEN über 50.000 Fuß, die würden mich schon interessieren«, meinte Anja harmlos und spielte an dem Reißverschluss ihrer Kombihose. »In aller Seelenruhe über die Wüste, die Pisten absuchen, stunden lang …«, murmelte Arnold unschuldig vor sich hin.
Karen starrte Bronn mit großen Augen an. »Die Freiheit? Welche Freiheit?« »Unsere. Deine. Meine!« »Sie meinen: Bloß, weil Sie hier schon mal gewesen sind, wissen Sie eine … Fluchtmöglichkeit?« »Ja, Karen. Und eine sichere! Hundertprozentig! Hör zu!« »Ich denk' gar nicht daran, zuzuhören! Oder … könnten wir alle flie hen?« »Nein, Karen, alle nicht. Aber drei oder vier … Die könnten Rettung holen!« »Rettung? Von wem? Jeder in Kabul wußte, was los war. Wer hat uns geholfen? War doch gar nicht möglich!« »Nein! Aber hier wäre es möglich! Auf dem gleichen Weg, den wir zur Flucht benutzen, könnte Hilfe aufs Plateau geschafft werden!« »Um Lohmar zu übermannen?« Sie sah ihn ungläubig an. »Wir sind unbewaffnet. Aber es würden ein paar Bewaffnete genü gen!« »Und wie wollen Sie fliehen?« »Hör zu, Karen!« Bronn beugte sich vor. Obwohl der kalte Wüstenwind über den Gip fel heulte, schien er sich jetzt selber vor der Offenbarung seines Ge 325
heimnisses zu fürchten. Während er sprach, taumelten Scharen von Fledermäusen über die Steinzinnen der Zitadelle. Für einen kurzen Augenblick brach der Mond durch die Wolkendek ke, wurde jedoch sofort wieder verhüllt. Bronn sprach mit einschmei chelnder Stimme, als fürchte er, sie werde ihm keinen Glauben schen ken. »Die Wand hinter uns sieht wie fest gefügt aus, ohne Spalten und Höhlen. Aber der Eindruck täuscht. Zwei Meter neben dir, dort, wo die Radewalds schlafen, dieses Felsmassiv dort, ja … Wenn du auf den un tersten mannshohen Brocken kletterst und von dort auf den nächsten, nur noch halb so hohen … dahinter ist ein Durchschlupf. Der dritte Stein, der diesen Spalt verbirgt, läßt sich leicht beiseite schieben. Man muß es wissen … wissen … sonst findet man diesen Ausgang nie.« »Wie sieht die andere Seite aus?« »Ein steiler Serpentinenpfad führt bis ins Tal. Das Tal östlich der Zita delle besteht aus Wüste, aber wenn wir uns dort nach Norden wenden, stoßen wir auf die große Straße, auf der wir hierher gelangt sind.« »Wo würdest du … würden wir Hilfe holen?« »In einer der Siedlungen im Bamiyan-Tal. Wir müßten einen Polizei posten erwischen …« »Ich glaube nicht, daß sich irgend jemand auf unsere Vorschläge und Berichte einlassen würde. Wie wollen wir uns verständigen?« »Du hast recht. Aber es ist unsere einzige Chance. Die letzte. Spä testens übermorgen dreht Lohmar durch, wenn keine Nachricht ein trifft.« »Vielleicht haben wir Glück. Wir brauchen einfach Glück.« »Mit vier, fünf bewaffneten Leuten«, fuhr Bronn fort, »ist alles ein Kinderspiel. Sie können unbemerkt bis auf wenige Meter an dieses Pla teau heran. Bei hellem Tageslicht. Es gibt keine Möglichkeit, die Ser pentinen an der Ostseite vom Plateau aus einzusehen. Sie erscheinen plötzlich im Durchgang, durch den wir geflohen sind.« »Fliehen könnten …« »Sie stehen erhöht. Sie richten ihre Waffen direkt auf unsere Bewa cher. Ehe einer von ihnen schießt, sind sie schon erledigt.« 326
»Gräßlich … trotzdem. Ich möchte nicht …« »Zum Kampf wird es erst gar nicht kommen. Dazu sind sie zu über rascht.« »Es ist die einzige Chance, wie?« »Ja. Und die einzige Chance ist diese Nacht, diese mondlose, stürmi sche Nacht. Bei Mondschein werden wir sofort entdeckt. Bei Windstil le ebenfalls. Wir müssen los, sofort!« »Wer ist wir?« »Drei, vier zuverlässige Leute. Mehr nicht.« »Warum nicht alle?« »Die Geiseln liegen so dicht an den Bewachern, daß ihr Aufbruch bemerkt wird. Und stell dir diese Riesenmenschenkarawane vor, die durch die Wüste zieht morgen früh. Drei, vier Leute können sich leicht mal verstecken.« »Das leuchtet ein. Warum erzählst du mir das eigentlich, Robert?« Es war das erste Mal, daß sie ihn eindeutig duzte; und er streichel te kurz ihr Haar. Es fühlte sich klebrig und filzig an; und er dachte: Es wird Zeit, daß wir hier herauskommen. Nicht mehr lange, und wir ha ben uns genauso dem Urzustand angepasst und uns zurückverwandelt, wie diese ehemaligen Hausreste wieder Sandstein geworden sind! »Weil du am besten weißt, wer in Frage kommt.« »War das der einzige Grund?« »Okay, ich möchte dich dabei haben. Ich möchte dich nicht zurück lassen!« »Es wird strapaziös werden, nicht?« »Könnte …« »Gut! Wir nehmen Michael mit … Steiner.« Sie blinzelte ihn prüfend an; aber Bronn reagierte sofort. »Selbstverständlich. Mach ihn wach!« »Nein, erst wollen wir alle Teilnehmer festlegen. Dann erzählen wir allen gleichzeitig unseren Plan. Kostet weniger Zeit!« »Du bist schon sehr gut, Karen!« »Ich schlage dazu noch Weersma vor, den Kopiloten.« Bronn wiegte bedenklich den Kopf. 327
»Die Crew verläßt das sinkende Schiff. Auf die Moral der Passagiere macht das keinen guten Eindruck, wenn sich die halbe Besatzung aus dem Staub macht.« »Weersma ist aber sehr gut. Und auf die Moral können wir jetzt kei ne Rücksicht mehr nehmen. Wenn alles klappt, sind alle morgen Mittag frei. So lange werden sie verdammt noch mal durchhalten müssen!« »Himmel, Karen, du bist schon mittendrin! Energisch wie …« »Wie ein Flintenweib. Also Weersma. Das wären schon vier.« »Ja, das reicht! Mach sie wach!« Steiner war bereits durch Karens letzte Worte aufgeschreckt worden, und Weersma robbte sich lautlos an die Gruppe heran. Er war sofort Feuer und Flamme, noch bevor Bronn ausgesprochen hatte. Nur Stei ner schwieg. »Alles klar?« fragte Karen. »Bis auf mich!« sagte Steiner. »Ich komme nicht mit!« »Aber … Bist du gegen den ganzen Plan?« Karen sah ihn ratlos an. »Ich bin für den Plan. Ich finde ihn hervorragend. Aber ich komme nicht mit!« Weersma, nicht weniger hilflos, deutete das Verhalten seines Kapi täns auf eigene Weise: »Ich trete zurück, falls Sie das beruhigt! Ich habe bisher nur versagt, und ich verstehe, daß Sie sich mit mir auf kein Risiko mehr …« Steiner schlug ihm sanft auf die Schulter. »Idiot! Du wirst meinen Platz einnehmen und mich würdig vertre ten, hörst du? Aber ich selber bleibe hier.« »Weshalb, Michael?« »Das ist doch ganz selbstverständlich! Ich bin für die Passagiere ver antwortlich; ich muß bei ihnen bleiben!« »Dieser chaotische Haufen, das sind nicht mehr deine Passagiere! Nicht mal ich fühle mich mehr zuständig für sie, nicht mal …« »Psss, Karen. Du bist gerade dabei, dein Leben für sie zu riskieren!« »Es ist doch nicht nur …« Karen kämpfte erregt mit plötzlich auf quellenden Tränen. Bronn gab Weersma ein Zeichen, sie zogen sich 328
zurück. »Wir gehören doch zusammen … Wir müssen jetzt doch ge meinsam … du kannst mich doch nicht einfach allein …« Sie wußte nicht mehr weiter. Plötzlich wurde sie heftig: »Überleg dir gut, was du jetzt tust, Michael! Du kannst das nie mehr gutmachen …« »Versteh das doch, Karen … Einer von uns beiden muß sich um die Leute kümmern …« »… Ist unsere Liebe denn nicht wichtiger als ›die Leute‹?« »Die wird davon doch gar nicht berührt.« »Und wenn ich dir sage, daß sie entscheidend dadurch getroffen wird, kannst du das nicht akzeptieren?« »Das ist doch Nonsens, Karen.« »Für dich scheint unsere Liebe Nonsens gewesen zu sein …« »Wir müssen jetzt los!« drängte Bronn, der zurückgekrochen kam. »Ich habe hier noch einen Beutel mit Orangen, leider nicht Erste Wahl … Immerhin.« »Unser Kapitän macht nicht mit!« berichtete Karen. »Wen schlagen Sie an Ihrer Stelle vor?« fragte Bronn. Die Antwort verschlug allen die Sprache. »Jack Patrinelli!« sagte Steiner ruhig. »Das ist keine sehr günstige Lösung«, zögerte Bronn. »Wir beide hat ten gewisse Differenzen …« »Der Herr Kapitän will nur einen unbequemen Zeitgenossen loswer den!« sagte Karen hart. »Ich halte Patrinelli für eine sehr günstige Lösung!« sagte Steiner noch ruhiger. »Und weshalb?« fragte Bronn. »Patrinelli ist im Krieg gewesen und hat eine harte Ranger-Ausbil dung hinter sich – das hat er mir im Bus erzählt. Er weiß, wie man mit einem Minimum an Existenzgrundlage durchkommt. Er weiß, wie man in der Wüste überlebt. Er hat vier Wochen in der Sonora-Wüste verbracht, an der mexikanischen Grenze.« »Wir haben nicht vor, uns lange in der Wüste aufzuhalten!« sagte Karen. 329
»Captain Steiner hat recht!« sagte Weersma. »Was Sie sagen, hat eine gewisse Berechtigung!« sagte Bronn. »Also gut, wecken wir ihn …« … Und zehn Minuten später brach die Gruppe auf. Bronn bestieg als erster den untersten Felsen, reichte Karen die Hand, tastete sich weiter, fand den Durchschlupf … Als sie alle hindurch waren, kehrte er zurück, schob pedantisch Stein um Stein zurück, verwischte Spu ren, die der Wind noch nicht verwischt hatte … dann lag, während sie sich gegen die Felswand drückten, die Tiefe, die Freiheit vor ih nen.
35
A
bstieg: Eiskalter Wind umwirbelte sie. Staubwolken nahmen ih nen den Atem. Jetzt waren sie zum ersten Mal der ganzen Gewalt des Nordostwindes preisgegeben. »Er treibt aus dem Hindukusch heran!« erläuterte Bronn. »Und er bringt die Gletscherkälte des Pamirs mit sich. Unten in der Wüste steigt die Temperatur.« Karen, dicht hinter Bronn, spürte weder Staub noch Kälte. Sie hatte ihren Schock noch nicht überwunden (ich werde ihn nie überwinden, dachte sie bitter). Er hat mir Patrinelli als seinen Stellvertreter mitge geben, gut gut, dann will ich ihn auch als seinen Ersatz behandeln! Ein rasendes Gefühl der Rache war in ihr. Ich werde mit ihm schlafen, drohte sie Steiner, bei der erstbesten Gelegenheit! Dann wurde sie sich der Nähe Bronns bewußt, und sie wurde unsicher. Weiter: Jemand strauchelte, Steine rollten in die Schlucht, ein trok kener Knall – hatte jemand geschossen? Waren sie entdeckt worden, wurden sie schon verfolgt? Ein Nachtvogel flatterte auf, unsichtbar, sein Kreischen umzirkelte sie, brach jäh ab. 330
Sie glitt aus, jemand fing sie auf. Patrinelli? Bronn! Weiter! Michael scherte sich den Teufel darum, daß sie sich hier die Beine brach; er ließ sie im Stich – er gefiel sich viel besser in seiner albernen Ich-bin die-Ruhe-Selbst-Pose. Kommt, so ihr zweifelt, zu mir! Und ich habe ge dacht, wir gehörten zusammen! Gerade in Situationen wie dieser! Sie fror; in der nächsten Minute, bei der geringsten Anspannung, brach ihr der Schweiß aus. Ich schaffe es nicht, dachte sie plötzlich vol ler Panik. Ich habe mir zu viel zugetraut, dies ist meine Rubikon – aus! Ich hätte es schaffen können, mit seiner Hilfe. Er ist schuld, daß ich versage! Jetzt zu guter Letzt noch! »Wir sind rascher unten, als ich angenommen habe!« ließ sich Bronn plötzlich hören. »Es ist noch immer stockfinster!« rief Patrinelli gegen den Wind an. »Was jetzt?« Sie drängten sich unter einer Felswand zusammen. Der Wind war wärmer und wärmer geworden; jetzt war die Temperatur angenehm. »Schlage vor, wir warten hier, bis es hell wird!« sagte Weersma. »Damit verlieren wir kostbare Zeit!« – Bronn. Patrinelli wischte sich den Staub aus dem Mund und wandte sich an Bronn: »Wenn du so sicher bist, daß die Straße mit den Siedlungen nörd lich der Zitadelle liegt … wir sind an der Ostseite abgestiegen … also brauchten wir uns jetzt nur nach links zu wenden. Irgendwann stoßen wir dann auf die Straße!« »Gute Idee!« rief Karen lauter, als nötig war. Bronn schüttelte den Kopf. »Wer garantiert uns, daß unser Abstiegspfad ausgerechnet nach Osten in die Ebene mündet? Wir sind in Serpentinen hinabgestie gen. Es kann sein, daß wir jetzt gerade nach Süden blicken, statt nach Osten.« »Man sieht nicht mal den Anfang des Zitadellenhanges!« bestätigte auch Weersma. »Es gibt eine einfache Methode, die Richtung festzustellen«, sagte Patrinelli und spuckte wieder Dreck aus. »Der Wind kommt aus Nord 331
nordost. Also: gehen wir doch etwas schräg gegen den Wind an, mit leichter Linksdrift. Da ist Norden!« »Gehen wir!« forderte Karen die Männer sofort auf. Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Jetzt, unten in der Ebene, war der Wind erträglich. Nur der Sandgehalt der Luft nahm zu, unmerk lich zunächst, bis sie mehr und öfter schlucken und spucken mußten. Patrinelli ging jetzt voran. Man konnte knapp zehn Meter weit sehen, keine Spur von Helligkeit am Himmel. Bronn blieb mehr und mehr zurück, bis er endlich am Schluß ging. »Probleme?« fragte Weersma vor ihm. »Eine ganze Wüste voll!« Sie hielten an. Patrinelli sah sich zweifelnd um und begann, Stein chen mit dem Fuß zu treten. »Ist was, Leute?« »Ich schlage vor, wir warten den Sonnenaufgang ab!« sagte Bronn energisch. »Laut Gegenwind gehen wir genau nach Norden!« versicherte Ka ren. »Falls er noch immer aus Nordnordost bläst!« sagte Bronn. Patrinelli sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, schwieg aber. »Warum sollte er nicht?« fragte Weersma. »Weil er wesentlich wärmer ist als oben am Hang!« »Du hast doch selber gesagt … daß der Wind unten in der Wüste wärmer ist als oben am Hang?« »Ja, aber das ist nur die halbe Wahrheit! Er kann in der Wüste auch seine Richtung ändern!« »Da ist was dran!« bestätigte Weersma. »Mit zunehmender Höhe än dern die Winde ihre Richtung im Uhrzeigersinn. Auf der nördlichen Halbkugel. Westwinde werden in der Höhe zu Nordwestwinden.« »Bei den geringen Höhen hier können wir diesen Effekt ruhig ver nachlässigen. Aber es gibt lokale Bedingungen, die Winde ablenken. Die Luv- oder Leewirkung an Bergen zum Beispiel.« »Zum Beispiel die abendlichen Küstenbrisen«, fiel Patrinelli ein, 332
»sind reine Lokalwinde aufgrund von örtlichen Erwärmungsverhält nissen. Sie haben nichts mit der allgemeinen Windrichtung zu tun. Da hast du recht, Mann!« »Deshalb sollten wir die Helligkeit abwarten!« Karen und Weersma sahen sich zweifelnd an; aber Patrinelli ent schied: »Er hat recht!« »Wir warten, bis der Kegel der Zitadelle im Morgendämmer auf taucht. Daran orientieren wir uns!« Sie hockten sich auf den Boden. Die Wüste war felsig, aber mit ei ner dicken Sandschicht überzogen; und es gab Steinbrocken genug, gegen die man sich lehnen konnte. Als sie alle saßen, fiel die Stille über sie. Es war das erste Mal, daß sie die Stille so erlebten. Bisher waren die ruhigen Minuten immer nur eine Abwesenheit von Lärm gewesen: das Busrattern schwieg, das Reifenkreischen verstummte. Aber irgendwo war immer noch Stimmenmurmeln gewesen, das Surren von Telegra phendrähten, ferne Straßengeräusche. Diese Stille war absolut. Im Schutz der Felsen war auch der Wind nicht mehr spürbar. In dieser Stille war etwas, das mehr war als blo ße Abwesenheit von Lärm. Als sei etwas Neues vorhanden: ein großes unsichtbares Tier etwa, das irgendwo hockte und sie beäugte. Karen rückte dichter an Bronn, und Bronn legte den Arm um sie. Jetzt fühlte sie sich wieder geborgen, und damit war auch ein Teil ihres Grolls und ihrer Enttäuschung verflogen. Sie hockten einfach so beisammen, fast selber wie Steine – regungs los und stumm. Grau und rissig, verstaubt und mit ungepflegten Haa ren wie mit Schlingpflanzen überwachsen. Patrinelli war der erste, der unruhig wurde. Öfter und öfter sah er auf seine Uhr. Bald tat es Bronn ihm nach. »Versteh' ich nicht«, brach Patrinelli die Stille. »Es hätte längst hell sein müssen. Wie spät hast du es, Junge?« Er meinte Bronn. »Halb sechs! Und du?« 333
»Achtundzwanzig vor sechs. Vielleicht noch kein Sonnenaufgang – aber es müßte hell werden. Heller!« »Und du, Weersma?« »Meine Uhr steht nun wirklich!« Weersma zuckte verlegen die Schul tern. »Ich wollte letzte Nacht dem … Osterman eins damit auswischen, als er vorbeiging. Aber ich hab' auf die Sitzlehne getroffen … Sie hat den Geist aufgegeben.« »Unsere Uhren müssen stehen«, meinte Bronn. »Gestern morgen war es um fünf schon hell. Ich habe darauf geachtet, im Bus. Karen, hast du eine Uhr?« »Zwanzig nach fünf!« sagte Karen. »Weiberuhren gehen immer nach!« kommentierte Patrinelli. »Da habt ihr das ganze billige Geheimnis ihres Zuspätkommens!« »Aber gestern morgen«, zögerte Weersma, »hatten wir blauen Him mel. Heute ist es bewölkt! Schwer!« »Trotzdem!« beharrte Bronn. »Irgendwas stimmt da nicht. Es müßte wenigstens eine Spur von Helligkeit da sein.« »Es ist eine Spur von Helligkeit da …« Karen reckte ihren Hals. »Man sieht jetzt weiter als vor einer Stunde, am Hang.« »Aber nicht weit genug …« Bronn schüttelte den Kopf. »Wir haben doch unsere Uhren alle auf die afghanische Ortszeit umgestellt?« »Natürlich … Gestern morgen hat es doch auch gestimmt!« Patrinelli: »Was heißt das überhaupt: unsere Uhren müssen stehen? Wenn sie stehen, dann wäre es ja noch später am Tag. Oder?« Er sah sich nervös triumphierend um. Alle schwiegen betreten. »Irgendwann muß es hell werden!« meinte Weersma. »Dann werden wir die Zitadelle sehen. Dann werden wir wissen, wo Norden ist. Dann werden wir in die nächste Siedlung gehen. Dann werden wir Hilfe ho len!« Sie sanken wieder in sich zusammen. Nur Karen schreckte sie noch einmal hoch. »Angenommen, der Wind hier unten weht gar nicht aus Nordnord ost. Sondern, sagen wir: aus Süden. Was dann?« 334
»Dann wären wir bisher weit, weit nach Osten gegangen, statt nach Norden.« »Die Antwort hätte ich mir selber auch geben können!« meinte Ka ren gereizt zu Weersma. »Ich meine, da gibt es doch auch Siedlungen. Oder?« »Im Osten und Süden«, sagte Bronn nachdenklich, »gibt es nur Wü ste. Zumindest für die nächsten fünfhundert Kilometer.«
»Ein widerliches Volk von Schweinen!« tobte Lohmar. »Von Verrätern! Von Scheinheiligen! Wir haben euch mit Samthandschuhen angefasst! Keiner hat gehungert, keiner Durst gelitten!« Er stapfte wütend vor der Front der aufgescheuchten und zusammengetriebenen Menschen auf und ab. »Wir hätten euch fesseln können, knebeln! Wir hätten jede Stunde einen von euch aus dem Bus oder den Hang hinunterstoßen können! Damit ihr endlich kapiert: wir meinen es ernst! Wir sind zu tolerant gewesen! Nicht wahr?« Er sah sich erregt nach Inger und Ingrid um. »Ja!« bestätigten sie unisono. »Das hört jetzt auf! Vier von euch haben mein Vertrauen miss braucht! Vier von euch haben euch im Stich gelassen und sich abge setzt! Diese elenden Feiglinge! Zwei davon gehören sogar der Besat zung an, die euch geflogen hat! Der ihr euch anvertraut habt! Ihr Idi oten!« Er wandte sich an Steiner, der mit offenem Hemd und grau ver staubter Uniformhose blaß und gefaßt dastand. »Eine feine Crew ha ben sie uns da mitgebracht, Captain! Erstklassiges Personal! Läßt bei der erstbesten Gelegenheit Ihre Passagiere im Stich! Türmt! Haut ab! Macht Mücke! Jetzt können Ihre Passagiere sehen, wie sie klarkom men! Was haben Sie sich da nur zusammengetrommelt als Besatzung, Captain! Und ich hatte Sie für einen ehrenwerten Mann gehalten! Und Ihre Passagiere auch! Wie stehen Sie jetzt da!« Er wurde sich der Wir kung seiner Worte, trotz seiner Erregung, bewußt und kostete sie aus. »Das wird jetzt anders!« 335
»Das wird jetzt anders!« riefen auch Inger und Ingrid. »Ich gebe euch zwei Stunden Zeit! Das gibt es nicht – daß vier aus gewachsene Leute verschwinden, ohne daß einer von euch was merkt! Zwei Stunden – dann habe ich von euch erfahren, was passiert ist! Wir sitzen dort hinter dem Felsen! Ihr wisst, wie ihr mich finden könnt! War bis um zehn Uhr niemand da, dann erledige ich die ersten bei den.« Er machte eine unzweideutige Bewegung mit seiner Pistole. »Eine Stunde später die nächsten beiden … Aber nicht endlos. Irgend wann werde ich die Lust verlieren. Dann puste ich das ganze Camp in die Luft! Das ganze Camp! Also überlegt euch das, Leute! Aber nicht zu lange! Ich warte! Und vielleicht verliere ich auch schon vorher die Geduld!« Er zog sich mit den beiden Schwedinnen zurück, während der Bär mit seiner MP alle wieder auseinander scheuchte. Über dem Gipfel der Zitadelle lag ein heller Schein, als werde jeden Augenblick die Son ne durchbrechen. Aber sie brach nicht durch; eine fahle Helligkeit lag bedrohlich über dem Plateau. Hier oben ging jetzt kaum ein Wind hauch, und die Stille war bedrückend; die Hitze waberte aus jedem Felsblock. »Diese Schweine!« sagte jetzt Lohmar zu den Mädchen. Aber er meinte nicht die Passagiere, er meinte seine afghanischen Helfer. »Sie müssen gepennt haben, die ganze Nacht, und die Leute sind einfach an ihnen vorbei!« »Lass sie doch!« grinste Inger. »Sie sind bald erledigt, bei der Hitze!« »Der Mann mit den Batterien ist auch noch nicht zurück!« Lohmar hatte gar nicht zugehört. »Vielleicht sind meine Bedingungen längst akzeptiert! Und ich schlag' mich hier mit einem Haufen von Idioten rum!« Er knallte wütend seine Waffe auf sein Lager. Mehr und mehr kam er sich selbst bemitleidenswert vor. Mehr und mehr spürte er seine Son derstellung, wurde er sich seiner Einsamkeit bewußt. Alle arbeiteten sie nur für Geld. Am eindeutigsten seine afghanischen Helfer: Sie ver richteten einen Fahrer- und Bewacherjob, für den ihnen mehr geboten wurde als bei irgendeiner anderen Firma – das war alles. Aber auch 336
seinen näheren Helfern ging es in erster Linie ums Geld; er selber war der einzige Idealist. Er setzte seine Ehre darein, die Hamburger Leu te freizubekommen, und als Belohnung erwartete er Beförderung, die war ihm wichtiger als Geld. Er wollte Macht. Er wollte sie alle unter sich bringen, all diese kleinen Spießer und Feiglinge, die zu allem be reit waren, wenn nur die Kohlen stimmten. Einmal würde er ganz oben stehen. Ganz oben wie jeder High-Top manager oder Bankdirektor. Meine Methoden sind nicht verwerflicher als ihre, nur nicht so verlogen, dachte er. Die kleinen Leute wurden ausgenommen, übers Ohr gehauen mit verführerischen Phrasen – so oder so. Er hatte den härteren Weg gewählt, war das verwerflicher? Ich schaff's noch! murmelte er. Ich schaff's zu guter Letzt doch noch! Er wartete, etwas ruhiger, auf die ersten Meldungen. Es ging ihm nicht darum, Aufschlüsse über den Fluchtweg zu erfahren. Es ging ihm ums Prestige. Um das Gefühl, Angst und Schrecken verbreitet zu haben.
»Jetzt sieht man mindestens hundert Meter weit!« sagte Karen plötz lich. Sie schraken auf. Sie waren eingedöst; die Erschöpfung der letzten Tage machte sich unkontrollierbar bemerkbar. »Es ist ja auch schon halb acht!« schränkte Bronn sofort ein. »Ja«, stellte Weersma fest, »wir haben längst hellen Tag, aber der hel le Tag ist verdammt dunkel!« Alle rieben sich Sand aus Augen, Ohren und Nase. Als sie sich erho ben, rieselte er rötlich an ihren Kleidern hinab. »Himmel unsichtbar, nichts als Sand um uns!« sagte Patrinelli lako nisch. »Manchmal kann man Wolken unterscheiden!« meinte Karen zö gernd. »Das ist nichts als feiner, treibender Sand!« 337
Patrinelli schleuderte die Plastiktüte mit Früchten auf den Boden. »Da sind wir in einen verdammten, unerwarteten Wetterumbruch hineingeraten!« Inmitten der schwerfeuchten, unheilschwangeren Luft fühlte sich Karen wie eine Erstickende. Alpträume aus ihrer Kindheit tauchten auf: Sie lag mit gelähmten Armen unter dicken Federkissen, und je mand drückte ihr das schwerste aufs Gesicht. »Was jetzt?« fragte sie und sah angstvoll abwechselnd Bronn und Pa trinelli an. »Auf dem schnellsten Weg weitergehen!« Bronn sah Patrinelli kurz an. »Wenn wir Glück haben, laufen wir direkt auf die Straße zu. Dann sind's keine tausend Meter!« »Wenn wir Pech haben«, ergänzte Patrinelli, »sind's tausend Meilen! Ich will euch was sagen, Leute, ich habe eine Menge Einsätze erledigt, und ich bin nicht immer sehr glücklich dabei gefahren. Aber eins hab' ich gelernt: Geh nie in eine Richtung, wenn du nicht sicher bist, in welche!« »Gute Idee!« sagte Bronn ironisch. »Dann können wir uns gleich nie derlegen und einstauben lassen! Irgendeine Richtung ist besser als gar keine!« Weersma nickte. Karen sagte kleinlaut: »Vielleicht stoßen wir dann wenigstens wieder auf die Zitadelle. Ich wäre froh, wir wären wieder da!« »Das sind mir schon richtige Helden!« spottete Patrinelli und spuck te trocken aus. »Immerhin ist sie die tapferste Frau, die wir haben. Davon könntest du dir eine dicke Scheibe abschneiden!« Das war nicht Bronn, der Ka ren verteidigte, das war Weersma. »Ich fühl mich übrigens auch nicht wohl!« Eigentlich hätte ich das sagen müssen, dachte Bronn. Aber unser Verhältnis ist schon angeknackst genug, seit der Fokker von Bali her. »Okay, okay!« lenkte Patrinelli ein. »Wenn ihr hier wie die Schlachtlämmer und Klageweiber an der Schlachtbank knien wollt, bitte! Aber man kann auch folgendes machen!« Sofort hatte er alle im Kreis um sich. Er genoß das Interesse. 338
»Also was?« drängte Bronn. Patrinelli kratzte mit einem Stein eine Windrose in den Sand. »Ich male die vier Himmelsrichtungen auf. Die stimmen natürlich nicht, das macht aber nichts. Jeder schreibt jetzt auf einen Zettel auf, wo er glaubt, daß die Sonne steht. Dabei nimmt er die Windrose als Bezugspunkt. Ich bin nämlich der Meinung, man kann durchaus Un terschiede in der Helligkeit ausmachen … Aber ich weiß aus Erfah rung, wie der eine den andern beeinflussen kann. Deshalb schreibt je der für sich getrennt, was er glaubt. Wir richten uns dann nach den meisten Stimmen. Denn die Sonne steht jetzt im Osten, und wenn wir nach Norden wollen … das wollen wir doch, nicht, Robert?« »Natürlich!« gab Bronn unwirsch zu. »Dann gehn wir um neunzig Grad nach links. Und schon, halleluja, stoßen wir auf die Straße!« Weersma hatte schon den Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche ge zückt und einen alten Notizzettel in vier Teile gerissen. Jetzt liefen sie alle mit zusammengekniffenen Augen im Kreis durch einander, und wer schreiben wollte, der schrieb. Patrinelli war der er ste, der den Kugelschreiber verlangte, Karen die letzte. Patrinelli verlas die Ergebnisse feierlich, als zöge er Lose für ein Wohltätigkeitsfest. Sie lauteten: zwei für Osten, eins für Süden, eins für Westen. »Na, wenigstens ein Mehrheitsbeschluss!« sagte Bronn sofort. »Dre hen wir uns also um neunzig Grad und gehen nordwärts!« Die Gruppe wollte sich in Bewegung setzen, da sagte Weersma en ergisch: »Ich glaube nicht, daß wir so richtig gehen. Nein, ich bin sicher, das stimmt nicht!« »Hör mal, Junge!« protestierte Patrinelli. »Das ist ein Mehrheitsbe schluss!« »Wer hat denn so gewählt, außer dir?« »Ich!« sagte Bronn. »Wo bleibt denn da die Mehrheit!« sagte Weersma trocken. »Du, Jack, warst doch sowieso für Osten!« 339
»Das ist vielleicht 'ne Logik! Genauso wie du für Süden oder Westen warst!« »Westen war ich!« warf Karen ein. »Aber ich habe wirklich keine Ah nung! Gehen wir doch endlich los!« »Westen ist auch falsch!« Weersma ereiferte sich mehr und mehr. »Ich bin sicher, wir gehen jetzt wieder auf die Zitadelle zu.« »Na, das werden wir dann ja sehen!« wandte Bronn ein. »Dann wis sen wir wenigstens endgültig, wo wir sind.« »Aber das ist doch suggestiv!« rief Weersma erregt. »Der Patrinel li hat Osten dorthin gemalt, wo er glaubt, daß Osten wirklich ist! Das ist doch suggestiv! Da die Sonne jetzt im Osten steht, bietet sich sein Osten geradezu an!« »Aber außer Robert«, warf Patrinelli wieder trocken ein, »hat sich doch keiner beeinflussen lassen! Schalt mal zwei Gänge runter, Junge, du überdrehst langsam!« Weersma strich sich über die Stirn. »Also gut«, flüsterte er. »Also gut! Aber ich bleibe dabei!« Sie setzten sich in Bewegung. Bronn dachte: Er kann recht haben, er kann wirklich recht haben! Warum bist du so froh, die gleiche Richtung wie dieser Jack gewählt zu haben? Weil du alter elender Feigling keine Lust hast, so eine Art Ri valität zwischen euch beiden zu entfachen! Diese Prügelei in der Fok ker, da ist noch was auszutragen zwischen Männern, sagt sich Lieschen Müller. Aber das machst du nicht mit! Du denkst gar nicht daran, aus Prinzip gegen den andern zu sein. Jetzt habt ihr die gleiche Richtung gewählt – da freut sich deine Altweiberseele! Sie stapften vorwärts, die Spannung auf die nächsten hundert Me ter trieb sie rascher an, als ihre Kräfte erlaubten. Die Luft war heiß und feucht, trotzdem konnte man sie ertragen bis zur Straße. Vor ihnen tauchten Schemen, schwarze Schatten auf. »Hütten!« sagte Bronn. Aber es waren nur dürre, laublose Strauchhecken.
340
36
A
us der Gruppe löste sich ein Schemen und ging auf Lohmars La ger zu. Die beiden Afghanen, die auf den heißen Steinen gedöst hatten, hoben reflexhaft ihre MP. Aber die Gestalt winkte nervös mit der erhobenen Rechten, und Lohmar nickte den beiden Posten flüchtig zu: Durchlass gewährt. »So!« sagte er lobend und musterte das Mädchen. »Endlich eine Mu tige in einem Haufen erbärmlicher Feiglinge! Noch eine halbe Stunde und ich hätte die ersten beiden erschießen lassen!« Vor ihm stand Vera Merkelsbach. »Ich habe mit der Flucht nichts zu tun!« wehrte sie zitternd ab. »Ich war nicht dabei; ich weiß von nichts!« »Wenn du von nichts weißt, warum störst du mich dann?« »Ich weiß aber jemand, der etwas wissen könnte!« »Wer soll das sein?« Sie sah hinter sich, als werde sie verfolgt. »Eine der Flüchtlinge ist die Stewardeß Karen Hil …« »Das weiß ich verdammt noch mal allein!« Er spuckte wütend aus. Seine Wut war auf dem Siedepunkt: Noch immer war der Afghane, der die Batterien besorgen sollte, nicht zu rück. Er hatte die beiden Mädchen angeschrien: Um jeden Mist müsse er sich selber kümmern; ja, hatte Inger geantwortet, man müsse eben an alles denken, man dürfe nichts vergessen. Sonst könne, hatte Ingrid ergänzt, das ganze großartige Unternehmen an vier simplen 1,5-Volt Transistor-Batterien scheitern! Das sei vielleicht eine peinliche Ange legenheit! Ihre Kollegin Karen sei aber sehr intim mit jemand aus der Crew befreundet … »Bitte?« 341
»Ich meine … wirklich sehr persönlich befreundet …« »Bist du gekommen, um mir die Zeit zu stehlen?« schrie Lohmar sie an. »Sie haben«, sagte Vera Merkelsbach bebend, »ein Verhältnis mitein ander.« »Weißt du, was ich machen werde?« sagte Lohmar. »Ich werde dich als erste hinunterwerfen!« »Aber es geht um Captain Steiner!« »Steiner?« »Sie … sie lieben sich … und das gibt es nicht … daß Karen ver schwindet, ohne daß Steiner weiß, wohin.« Jetzt wurde er endlich hellhörig. »Weiter!« »Nichts weiter! Aber Steiner muß wissen, wohin Karen und die an deren verschwunden sind. Und wie. Sie müssen sich vorher gesprochen haben!« »Also gut, wenn du meinst …« Er scheuchte das Mädchen verächtlich fort. Fast nahm er ihr ihre Mitteilung übel. Wie alle primitiven Männer, die lange gedient hatten, besaß er eine unausrottbare Achtung vor Uniformen und Litzen. Stei ner war für ihn einfach eine Respektsperson. Ingrid, die zugehört hat te, sagte: »Da werde ich mir also mal den Steiner vorknöpfen!« »Das wirst du garantiert nicht tun!« lehnte er wütend ab. »Den Stei ner nehm' ich mir selber vor! Hol ihn mal her!«
»So«, sagte Weersma ganz ruhig. »Da wäre die Zitadelle!« Sie hatten es bis zuletzt nicht glauben wollen; jetzt standen sie seuf zend, erschlagen, gerädert vor dem Hang, dessen Schemen steil vor ih nen in die schwere, undurchsichtige Luft ragte. Schweiß tropfte von Patrinellis Stirn. »Du hast recht gehabt, Junge. Ich tauge nicht mal dazu, 'ne Barkasse über einen Binnensee zu navigieren! Jetzt mach du weiter!« 342
»Wir sind alle nicht sehr gut!« gab Weersma zu. »Hör mal, ich dachte, wir hätten dich mitgenommen als Spezialisten für Wüstennavigation?« »Immerhin hat er es als erster gemerkt!« verteidigte Bronn ihn. »Worum geht's?« fragte Karen, sich über die Stirn streichend. »Wir hätten längst an der Straße sein müssen. Erklärung: Wir ha ben uns nicht davon überzeugt, daß wir wirklich wieder an der Ost seite auf die Zitadelle gestoßen sind. Vielleicht war unser Ausgangs punkt die Südseite. Dann gehen wir jetzt nach Osten immer tiefer in die Wüste hinein.« »… nur, wenn wir auf der Ostseite der Zitadelle losgegangen sind! Wir haben schon wieder einen Fehler gemacht, wir Vollidioten!« »Außerdem«, ergänzte Patrinelli, »lenkt der Wind uns ab. Entweder, man geht stur gegen ihn an, oder man läßt sich abtreiben. Unmerk lich – wir haben ja keine Anhaltspunkte.« »Mir ist schon alles egal!« seufzte Karen. »Macht, was ihr wollt!« »Gut!« entschied Bronn energisch. »Wir stärken uns jetzt: jeder eine halbe Orange, dann bleiben noch zwei übrig. Danach bieten wir un sere letzte Kraft auf und gehen, bis wir auf Siedlungen stoßen. Irgend wann müssen wir auf eine Straße geraten!« Sie schälten die Apfelsinen, sie waren trocken und winzig; und da nach rafften sie sich auf (wie schwer es war, die Glieder wieder in Be wegung zu bringen!) und kämpften sich energisch weiter gegen den Wind vorwärts. Wolken wurden sichtbar. Sie hingen wie dicke Daunendecken über der fahlbleichen Landschaft und erzeugten das Gefühl, lebendig be graben zu sein. Kein Laut drang zu ihnen. »Jedenfalls haben wir jetzt den Ausgangspunkt! Jetzt kann nichts mehr schief gehen!« »Ich bin für die Rückkehr!« sagte Karen. »Rückkehr wohin?« fragte Bronn erstaunt. Sie zeigte vage den Steilhang hinauf. »Selber massakrieren wäre humaner!« sagte Weersma. Er fühlte sich groß in Form. Es war das erste Mal während des ge samten Zwischenfalls, daß er nicht versagt hatte. 343
»Hör mal, Karen …« Bronn legte einen Arm um sie. »Jetzt halte noch eine einzige Stunde durch! Bis dahin haben wir es geschafft!« Noch einmal setzte sich die Gruppe in Bewegung, und während sich hinter ihnen ihr einziger Bezugspunkt wieder in vage Schemen und dann ganz auflöste, nahm der Wind zu. Jeder stapfte jetzt verbissen vor sich hin, eingekapselt in seiner eige nen Welt aus Staub, Hitze und Ermattung. Bei Karen war die meiste Furcht angesiedelt, bei Bronn die größte Zuversicht. Dein Gottvertrauen ist bloßer Selbsterhaltungstrieb, alter Junge, sprach er sich selber zu. Schließlich bist du der Initiator dieses Un ternehmens! Immerhin großartig, wie sich alle verhalten! Jeder macht seine dummen Fehler, keiner hat bisher durch Leistungen geglänzt, die die Welt aus den Angeln heben könnten. Aber keiner macht dem ande ren Vorwürfe, prima! Der Wind klärte die Luft und hob den Dunst an, ohne daß markan te Punkte sich abzeichneten: Dorngebüsch ringsum, Sandwellen und Mulden, zerrissenes, gesprungenes Gestein, Ansammlungen wie Hü nengräber, von Sand überweht. Keine Piste, kein Telegraphenpfahl, keine Hütte. Einmal blieb Patrinelli so plötzlich stehen, daß Karen auf ihn prall te. Schweißgeruch, verschwitzter Handrücken. Plötzlich war ihr alles Körperliche zuwider. Sie ekelte sich vor sich selber, ihren verklebten Poren, verschwitzten Achseln, dreckverkrusteten Waden. Ihre Haut war spröde und rissig. Dort, wo der salzige Schweiß lief, begann sie zu brennen. Patrinelli, der kaum Augenbrauen besaß, konn te vor Schmerz kaum noch die Augen aufhalten, weil ihm das Wasser hineinlief. Wer in der Wüste auf sexuelle Gedanken kommt, muß pervers sein, dachte sie mit einem letzten Anflug von Spott. Und das war das: deine Racheorgie gegen Michael. Kein Funken Sensation rauszuholen! Gelegentlich stießen sie auf natriumweiße Flecken, die nach Jod stan ken. Manchmal verfinsterte sich die Luft rasch, so daß sie zusammen rücken mußten, um sich nicht aus den Augen zu verlieren. 344
Einmal schien Bronn, als wehe ihm Sprühregen ins Gesicht. Patri nelli meinte, es seien feine Sandkörnchen, härter als die bisherigen. Bronn blieb bei Regen. Sie stießen auf eine geringfügige Abwechslung des Bodens, die wie eine Sensation wirkte: eine leere Bachfurt. Geröll, mitgeschleifte Äste, die jetzt in einem Kokon von hartem Lehm dahinbleichten. Eine Pla stikflasche. Eine Plastikflasche, dachte Bronn krampfhaft. Aber die kann vor Jahren mitgeschleift worden sein, die ist unzerstörbar, und sie braucht nicht auf Leben im Umkreis hinzudeuten! »Immerhin!« meinte Patrinelli. »Wir wissen jetzt, wo das Gebirge ist. Daher kommt der Bach natürlich!« »Es ist aber kein Wasser da, das fließt!« Karen, gleichgültig. »An der Art, wie die Äste gegen die Steine geschmettert worden sind …« »Man sieht's auch so«, meinte Weersma. »Dorthin geht es bergauf!« Sie überlegten, ob sie dem Bett folgen sollten, stellten aber fest, daß der Boden voller Hindernisse war, überquerten es und gingen gerade aus weiter. Später schimmerten Konturen wie aus Blei durch die Sandluft: Hü gel. Kahl. Verkarstet. Ohne eine Spur von Leben. Keine Serpentinen. Keine Rauchfahne. »Hier müßte es doch Nomaden geben«, meinte Weersma. »Massen haft!« Es fiel ihm schwer, die verklebten Lippen zu öffnen. Sie waren blaß und geborsten. Mit grau belegter Zunge strich er von Zeit zu Zeit dar über. »Warum gibt es hier keine Nomaden?« wiederholte Karen stupide. »Wir haben sie massenhaft gesehen. Wann war das, Robert?« »Auf der Busfahrt!« »Auf der Busfahrt. Das war großartig, nicht?« »Bald werden wir auf eine Straße stoßen!« beharrte Bronn mit mehr Energie, als ihm anzusehen war. »Auf eine blendendweiße Straße. Dar auf werden Busse fahren, massenhaft!« 345
»Ich glaube nicht, daß sie massenhaft fahren werden!« sagte Patri nelli. »Aber es genügt, wenn einer kommt!« »Massenhaft!« beharrte Bronn. Sie gaben sich wieder ihrem mechanischen Schweigemarsch hin. Der Boden wurde unebener, rauer und zerklüfteter. Gelegentlich mußten sie springen, größere Geröllformationen umgehen. Karen stürzte und raffte sich auf, als sei der Boden eine Kochplatte. Bronn stürzte sofort auf sie zu. »Ernst?« »Nichts!« Aber von da an hinkte sie leicht. Auch Bronn begann, den einen Fuß nachzuziehen, Haut aufgescheu ert, kommentierte er vor sich hin. Ihre Kleider klebten heiß, feucht und dampfend am Körper. Ihre Uhren zeigten 15 Uhr, als Karen leise vor sich hin murmelte: »Durst. Und nichts zu trinken …« »Gleich stehen wir auf einer weißen Straße!« sagte Bronn. »Ich sehe Jurtenzelte!« Weersma. Aber es waren Kameldornsträu cher, baumhoch. Karen humpelte jetzt eindeutig. Patrinellis Gesicht sah am verhee rendsten aus: blaßgrün, rissig, entzündete, offene Stellen an den Mund winkeln; wie ein Wüstenfaun, dachte Karen. Gab's die, Wüstenfaune? Weersmas Schläfen klopften rasend. Obwohl er der Jüngste war, ver sagten seine Glieder am raschesten. Seine Gelenke schmerzten. Er fürchtete sich vor jedem Halt, er kam einfach nicht mehr in Gang. Die Sohlen brannten. Seltsamerweise wurde auch sein Zahnfleisch wund! Gegen siebzehn Uhr (Karens Uhr war wieder stehen geblieben, zu viel Staub. Auf dreizehn Uhr – schlechtes Omen!) murmelte Weers ma: »Es hat keinen Zweck. Wir gehen zurück, komm, Karen!« »Wohin – zurück?« »In den Bus, ins Lager …« Er ließ sich einfach fallen. Er streckte sich mit dem Rücken gegen eine flechtenüberzogene Geröllgruppe und sackte zusammen. 346
»Warum schlafen wir nicht einfach und gehen bei Nacht weiter?« fragte Karen und sank lautlos in den Sand. Bronn erfasste als erster die Tragweite dieses Vorschlages. »Aber … wie lange wollen wir überhaupt noch gehen? Wir müssen Hilfe holen, so rasch wie möglich!« Patrinelli sagte: »Wir sollten wirklich ein paar Stunden schlafen. So hat es keinen Zweck mehr. Vielleicht wird die Sicht gegen Abend besser. Der Him mel wird aufklaren, und überall sehen wir Lichter.« »Man wird uns zu Hilfe kommen!« »Man wird uns Wasser bringen!« »Bier vielleicht!« Weersma, im Halbschlaf bereits. »Man wird uns zehn bewaffnete Pushtus mitgeben …« »Pushtu – ist das nicht eine Art Dialekt? Was willst du mit einem be waffneten Dialekt, Robert?« Karen lachte hysterisch vor sich hin. »Zehn herrliche Soldaten … Wir zeigen ihnen den Weg, und sie wer den das Plateau erobern und uns alle retten …« Karen war schon eingenickt, und Bronn kroch zu ihr hin und bette te ihren Kopf in seinen Schoß. Ihr Haar war eine einzige graue klebri ge Masse, unentwirrbar. Ihre Haut war nicht mehr von ihrer Bluse zu unterscheiden, Arme und Kleidung staubverkrustet. Mit rauhen Fin gerkuppen strich er ihr über die bleichen, spröden Wangen. Aber ihn schmerzte, aus unerklärlichen Gründen, schon die bloße Berührung.
»Eine üble Sache, Captain. Wirklich!« Lohmar zog mit hämischer Besorgnis den Mund breit. Steiner steckte sich seine kalte, leere Pfeife in den Mundwinkel. »Ich habe mit der Sache nichts zu tun.« »Ich glaube gern, daß Sie mit der Sache nichts zu tun haben. Aber Sie werden mit der Sache zu tun kriegen!« Steiner wandte all seine Konzentration auf, um nicht in eine Falle zu 347
gehen. Er hatte nach der Flucht der Gruppe kaum noch geschlafen, er war erschöpft und zerschlagen. Aber er wußte, daß auch Lohmar nicht der Frischeste sein konnte. Es geht darum, dachte er, wer am längsten Schwäche verbirgt. Wer am besten blufft. »Ich weiß von nichts!« wiederholte er und sah Lohmar aus zusam mengekniffenen Augen an. Manchmal glaubte er, der Boden schwank te unter ihm. Jetzt keinen Schwächeanfall! »Sie wissen alles! Den Fluchtweg, das Ziel! Zwei Ihrer Leute sind da bei. Sie haben sich vorher mit Ihnen abgesprochen!« »Ich glaube nicht, daß sie sich mit mir abgesprochen haben!« sag te Steiner. »Glauben Sie, ich würde meine jungen Leute in die Wüste schicken und selber hier feige zurückbleiben?« Er beobachtete Lohmar scharf, der rauchte nervös. Afghanischer Ta bak, stellte Steiner fest. Gehen ihm die Vorräte aus? »Sie meinen, Sie wären selber mitgezogen, hätten Sie davon gewußt?« »Natürlich!« Lohmar lachte triumphierend auf. »Jetzt sind Sie überführt! Einfach zu primitiv, Ihre Art, Verdacht zu zerstreuen! Natürlich hätten Sie nicht daran gedacht mitzufliehen! Dazu kenne ich Sie viel zu gut! Dazu sind Sie viel zu pflichtbewusst! Sie würden Ihre Passagiere niemals allein lassen!« Jetzt hat er mich! dachte Steiner verzweifelt. Er war in Schweiß ge badet, obwohl die Sonne hier oben wie ein breiiger Klecks hinter der Wolkendecke schimmerte. Lohmar setzte alles auf eine Karte. »Man hat Sie gesehen, wie Sie sich mit Ihrer Crew beraten haben. Ei ner aus der Besatzung hat mitgehört!« »Mitgehört? Wer?« »Ihre Stewardeß. Merkelsbach.« Steiner starrte Lohmar an. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. »Das wirft Sie um, was?« triumphierte Lohmar, fast heiter. Er antwortete noch immer nicht. Seine Gedanken rotierten. Ge sprächsfetzen mit Karen über Vera Merkelsbach taumelten wie Treib holz vorüber. 348
»Sie lügen!« sagte er plötzlich fest und sicher. »Sie lügen. Oder Sie werden belogen. Niemand kann etwas gehört haben. Es ist nichts be sprochen worden. Ich weiß von nichts.« Lohmar sackte sichtbar zusammen. Er traute Steiner mehr als der Stewardeß. Ein unbändiger Zorn überkam ihn. Nichts gelang mehr. »Wie Sie meinen, Captain. Sie haben bis morgen Mittag Zeit. Der al lerletzte Termin!« (Ja, dachte er, sie kann nichts gehört haben. Karen hat mir erzählt, wie hinterhältig sie ist. Sie hat das eingefädelt, aus Rache.) »Ich kann morgen nicht mehr sagen als heute.« »Der letzte Termin. Morgen Mittag um zwölf fliegt das gesamte Pla teau in die Luft. Mit allen, die darauf sind … Es sei denn, Sie geben uns brauchbare Hinweise.« »Ist das Ihr letztes Wort?« »Mein allerletztes. Den Nachmittag wird niemand von Ihnen mehr erleben!«
Bronn war schweißgebadet. Er war verfolgt und über Treppen, Brük ken, Abgründe gehetzt worden. Wenn er den Atem der Verfolger im Nacken spürte, drehte er sich in panischer Angst um, reckte sich dro hend und brüllend in seiner vollen Größe und versuchte, seine Feinde mit einer Imponiergebärde zu bannen. Je mehr sich sein Feind näherte, um so gewalttätiger wurde sein Schreien. Es war eine Art Magie, die er mit seinem Löwengebrüll ausübte. In seiner Panik blieb ihm nichts als der Glaube an seine Wirkung. Und es wirkte. Sobald er sich zur Flucht wandte, wurde er verfolgt. Blieb er stehen und brüllte, blieb auch sein Gegner stehen. Dieses Wechselspiel wiederholte sich unzählige Male. Als er die Augen aufschlug, mit seinem Bewußtsein noch weit fort war, glaubte er, geträumt zu haben, eine Kobra zu sein, die sich mit wütendem Zischen auf ihre Beute stürzte. Diese Assoziation entführ te seine Phantasie im Halbschlaf sofort nach Penang, wo er die Schlan gentempel besucht hatte. 349
Er stolperte aus dem Bus: Morast, klebrige Feuchtigkeit, Gerüche. Chi nesische Souvenirhändler, die sich, wie überall im Fernen Osten, bis zur obersten Tempelstufe hin lagerten. (Wie Krebsgeschwüre, sagte ein Tou rist.) Endlich im Tempelraum: Düfte von Räucherstäbchen, Mandarin, Or chidee, Lemone, Hibiskus, Teerose. Halbdunkel, Rauchschwaden. Chi nesische Buddhas, Gongs, Trommeln, Blumensträuße, brennende Ker zen. Und: in noch größerer Anzahl als Räucherstäbchen – Höhlenvi pern! Ihre Köpfe wiegten sich über den Räucherstäbchen wie Kinderdrachen im Abendnebel. Sie waren betäubt – drugged durch die betäubenden Aromen der Stäbchen, das hatten ihm alle Führer und Kenner versi chert. Aber die Menge der wiegenden Schlangenhäupter verwirrte ihn. (Und gegen Abend, wenn die Stäbchen heruntergebrannt waren, ließ die Betäubung nach. Sie senkten sich hinunter zu den Vogeleiern, die ihre Verehrer ihnen gebracht hatten, sie waren heilig, die Schlangen. Jünger des Gottes CHOR SOO KONG. Er verließ den Altarraum und ging in den Tempelgarten, begierig auf frische Luft. An jeder Topfpflanze schlängelten sich mehrere Vipern. Hier war nichts mehr vom betäubenden Duft der Stäbchen zu spüren. Aber ein chinesischer Knabe behauptete, diese Schlangen hier hätten ihre Giftzähne gezogen bekommen. Bronn schrak auf. Er fuchtelte noch mit den Armen, als habe er ge gen Schlangen gekämpft. Die anderen schliefen noch, aber nichts in ihren Gesichtszügen ließ darauf schließen, daß sie einen angenehmen Schlaf hatten. Er sank wieder zurück. Er stieg in einer zähen Luftblase aufwärts, wie in der Gashülle ei nes Luftballons. Hoch über ihm pendelte ein Drachen mit dem kind lich aufgemalten Strichgesicht eines Mannes. Je näher er kam, um so undeutlicher verschwamm das Gesicht. Plötzlich stürzte er unkontrol lierbar aufwärts. Kurz vor dem Zusammenstoß gewannen die Züge wieder scharfe Konturen: das nach innen gerichtete Antlitz des Tem pelbuddhas schoß auf ihn zu. 350
Nichts als Schein, lächelten die Lippen. Wüstenwanderung, Flucht, Rettung. Wovor fliehst du? Vor wem willst du gerettet werden? Die Züge verschwammen und verschärften sich wieder, als spiele jemand an einem Kameraobjektiv. Jetzt glich das Gesicht den Zügen der ägyp tischen Isis. Fliehen? Wovor? Tat twam asi. Das bist du! Er schlug um sich. Er versuchte, wach zu werden. Sie wachten fast alle gleichzeitig auf, röchelnd, stöhnend, nach Atem ringend. Sie hatten kaum zwei Stunden geschlafen, und es war noch immer hell. Aber die Helligkeit war jetzt zweifelhafter denn je. Finsternis wälzte sich wie in Nebelwolken heran, und gleichzeitig wurde die Atmosphä re noch drückender und erstickender, als entziehe ihr jemand den Sau erstoff. »Die Luft färbt sich schwarz!« murmelte Karen und griff verzweifelt an ihre Schläfen. »Ja«, flüsterte Bronn, »ich habe die ganze Zeit schon das Schlimmste befürchtet. Was jetzt weht, das ist der Schwarze Wind!« »Der Schwarze Wind?« »Der schlimmste Wüstenwind, den es in Afghanistan, Usbekistan und Tadschikistan gibt. Wir sind in das übelste Wetter geraten, das uns in der Wüste beschert werden kann.« »Hier müssen wir raus!« rief Weersma in Panik. »Hier verschmoren wir langsam!« Er sprang auf und blickte wild um sich. »Das schlimmste ist, daß man nicht hinaus kann!« sagte Bronn leise. Aber niemand hörte ihn. Sturmböen und Staubfontänen umwirbel ten die Steingruppe. Patrinelli, als letzter, löste sich wie ein Verschütte ter aus einem aufgetürmten Sandhaufen. »Ich will euch was sagen, Leute, ich kenn' mich im Dschungel aus. Aber das hier … lieber drei Jahre unter Affen leben!« »Ich kriege Herzbeklemmungen!« Karens Stirnadern quollen wie Taue hervor. 351
»Laßt uns endlich losgehen!« jammerte Weersma. »Wenn ich noch länger warte, werde ich wahnsinnig!« Sie setzten sich wieder in Bewegung. Windböen schütteten Sand über sie. Kochendheiße Luft umwirbelte sie wie unsichtbare Flammen. Bald kämpften sie sich nur noch mechanisch vorwärts. Bronn ver suchte vergeblich, Gedankenfetzen zu Gesamtbildern zu vereinigen, Fäden zu knüpfen, die Verbindung zurückzuschlagen. Weshalb liefen sie hier? Bali, der Dschungel, große grüne Papageien, Patrinelli schlug danach, er sah Patrinelli vor sich, aber die Papageien waren plötzlich verschwunden, das Café an der Frankfurter Hauptwache, er trieb dar in hinüber auf die Inseln der Drachen, köstliches Nass, aus dem man trank, gemeinsam auf allen vieren mit den Weißen Tigern Indiens. Patrinelli griff ihm unter die Arme. »Nicht hinlegen, Junge, hier gibt's keine Klimaanlage!« Er taumelte weiter. Karens Leib wurde von hysterischem Schluchzen geschüttelt. Sie sollte umgebracht werden, jemand würde sie erdrosseln, sie hatte es immer gewußt. Schon vom 18. Lebensjahr an, als sich zum ersten Mal ein Mann über sie geworfen hatte, war diese Furcht nicht mehr von ihr gewichen. Jetzt sah sie riesige Schemen auftauchen, Staubriesen, Sand giganten, die schwarze Luft zusammenrafften wie Kissen, um sich auf sie zu stürzen. Mit einem Aufschrei fiel sie zu Boden. Patrinelli zerrte sie hoch. »Mädchen, geh weiter, hier brennt's!« Raus! dachte Weersma, wo ist der Notausstieg, in diesem Katastro phendampfer muß irgendwo ein Notausgang sein. Ich habe den Kahn hingeschmissen, ich werde es nie zum Kapitän bringen, jetzt muß ich raus, ich brenne schon halb. Ich schaffe es wieder nicht, ich hab' es noch nie geschafft im Leben, ich finde den Ausgang nicht … Er schlug wild um sich. Er spürte einen Stoß ins Kreuz, da war der Ausgang, er flog hindurch, wunderbar leicht … Patrinelli schob ihn vor sich her. »Wenn du so mit den Armen fuchtelst, kommst du mit den Beinen nicht voran! Mach's mal umgekehrt!« 352
Alle wieder in Bewegung! dachte Patrinelli. Wenn das jetzt so bleibt, hältst du durch! Du weißt genau, wieviel du schaffen, was du dir zumu ten kannst! Damals – die Stechpalmen, Lianen, die Angst. Die gooks, die Minen, die Fallen und Zäune, die Selbstschußbolzen und die Chop pers, die immer nur kreisten und dich nicht fanden. Und du, drei Gift dorne im Fleisch, die Todesangst im Nacken, Hornissen und Skorpi one und Moskitos und durchgehalten, bis sie dich holten, endlich, an der Rettungsleiter und dann, was dann … »Was dann?« »Frag lieber, was jetzt!« Bronn kam wieder zu sich, sah hellwach um sich, man ging noch immer. »Ich kann nicht mehr!« klagte Karen. »Doch, Karen, du kannst! Du hast das Schlimmste schon geschafft! Wer die ersten zehn Minuten im Schwarzen Wind durchhält, dem kann keiner mehr. Du hast es geschafft!« »Geschafft? Endlich?« »Bald, bald … die Piste kommt bald. Eine wundervolle, weiße Piste. Hier – iß!« Er reichte ihr die Apfelsine, die ihnen noch zustand. »Und du?« »Damit du siehst, wir haben es bald geschafft. Ich halte die kurze Zeit noch durch!« Sie saugte dankbar die wenige Flüssigkeit auf. Patrinelli und Weers ma teilten sich die andere. Patrinelli ließ die leere Tüte wie einen Bal lon im Wind steigen. Es war jetzt fast dunkel. Sie lebten, sie gingen noch immer. Ihre Kleidung war steif von Schweiß, Dreck und Salz. Sie begann zu scheuern, alle hatten wunde Schenkel. Patrinelli stelzte schon breitbei nig wie ein Filmcowboy. Karen humpelte erbärmlich. Weersma wand sich in grotesken Verrenkungen vorwärts. Alle Gedanken waren wie aus zähflüssigem Gummi. Bronn breitete von Zeit zu Zeit die Arme wie Flügel. Salz und Schweiß hatten seine Achseln wundgescheuert. Ihre Lippen waren geborsten, Patrinellis Mund war blutverkrustet. Das Seltsame war: obwohl ihre Kehlen und Gaumen ausgetrocknet 353
waren, obwohl jeder Atemzug wie Feuer brannte im Hals, spürten sie kaum Durst. Nur Weersma schien von Zeit zu Zeit heftig darunter zu leiden. Die Nacht senkte sich über die glühendheiße, flammende Wüste. Gleichzeitig ließ der Wind nach. Man sah die Sandfontänen nicht mehr, keine erstickenden Wolken, keine Staubwirbel – nur gnädige Finsternis. »Nicht stehenbleiben!« bat Weersma flehentlich. »Ich komme nie mehr in Bewegung!« »Wir gehen jetzt unaufhörlich bis zur Straße!« Bronn sprach wie in Trance. Bodenwellen, Spalten, dann glatter Boden, wie Parkett, man rutsch te. Sie kletterten aufwärts, durch eine Hecke (Dornen! Achtung!). Ein trockenes Bachbett. Keine Spur von Wasser. Sie liefen hechelnd mit of fenem Mund. Die Nasenlöcher waren verklebt, sie hatten keine Kraft, die Hand, die Finger zu bewegen, sie rissen den brennenden Schlund auf. Wieder Schatten. Berge? Neue Sandwolken? »Licht!« rief Weersma plötzlich. Alle standen wie auf Befehl. »Ja!« bestätigte Patrinelli. »Keine Täuschung!« »Ah, kommt!« Bronn. Er zerrte Karen weiter, die wie angewurzelt stand. Eine Salzsäule in der Wüste. Lots Weib. »Mehrere Lichter!« Wieder Weersma. »Er hat recht!« Patrinelli. »Fata Morgana!« Bronn hatte Mühe, noch Laute von sich zu geben. Die Stimmbänder versagten spröde. »Wirklich Lichter!« gab Karen zu. Endlich erkannte auch Bronn die Lichter, greifbar nahe. Sie gingen darauf zu; die Lichter nahmen zu an Zahl, wurden klarer, Einzelhei ten wurden erkennbar. »Ich seh' die Umrisse von Hütten!« Weersma. »Minarette!« Das war Karen. »Straßenlaternen, ganze Reihen!« rief Bronn, aber es kam sehr lei se heraus. 354
Sie gingen weiter, versuchten zu beschleunigen, aber die Glieder ga ben nicht mehr her. Nur Patrinelli schwieg. Endlich blieb er einfach stehen. Die anderen starrten ihn an, ohne äußere Regung, aber innerlich verblüfft. »Keine Lichter!« sagte er matt. »Keine Hütten! Keine Minarette! Kei ne Straßenlaternen!« »Jack dreht durch!« sagte Bronn, niemand hörte ihn. »Sterne! Einfach Sterne!« »Ah, nein!« Aber es waren Sterne. Der Himmel riß auf, und mehr und mehr wich die schlimmste erstickende Hitze, mehr und mehr belebte sich der Himmel, bis endlich klar und staubfrei die subtropische Sternen nacht herabblinkte. »Du kennst dich doch aus da oben, nicht, Henk?« »Ja, Jack!« »Aus welcher Richtung sind wir gekommen? Ich lasse mich nicht be einflussen, ich habe meine feste Meinung, ich kenn mich aus, Henk!« »Okay, da ist das Kreuz des Südens. Da Drache, Wasserschlange, ganz klar: Wir sind aus Westen gekommen! Wir gehen nach Osten!« »Ost bis Ostsüdost!« bestätigte Jack. »Mitten in der dicksten Wüste, nicht, Robert?« Aber Bronns Stimme versagte endgültig. Er nickte nur noch ver zweifelt. Plötzlich sprach Karen für ihn: »Jetzt haben wir klare Sicht. Jetzt warten wir den Morgen ab. Dann stoßen wir auf eine wunderbare weiße Straße! Darauf fahren große Busse …« Sie lächelte, dann ließ sie sich sanft zu Boden gleiten und schmiegte sich an den Sand wie an ein Bettkissen und schlief schon. »Ja!« bestätigte Jack. »Das Beste, was wir tun können! Morgen früh sehen wir die Landschaft und irgendwo wird eine Hütte, ein Zelt, eine Spur von Leben sein. Das kriegen wir schon hin, wie?« Das kriegen wir schon hin, dachte Robert und schlief schon halb. Mit so einem Burschen wie Jack kriegen wir das glatt hin. Er versuch 355
te sich vorzustellen, wie er über Jack Patrinelli gedacht hätte, wenn der Flug ihn ganz normal nach Teheran geführt hätte. Normal, dachte er, hinüberdämmernd, was heißt normal? Jack Patrinelli war körperlich nicht sehr kräftig, aber zäh. Den gan zen verzweifelten Nachmittag lang hatte er nur ein einziges Bild vor Augen gehabt: den gefolterten Vietcong, den sie bei der Flußüber querung gefangen hatten, WIEVIEL EIN MENSCH AUSHALTEN KANN! dachte er immer wieder. So ein kleiner Schlitzäugiger, der sich von nichts als einer Handvoll Reis ernährt! Und ich – ich soll versa gen, aufgeben? Diese Vorstellung hatte ihn vorwärts getrieben. Der kleine Vietnamese, der wahrscheinlich nie über seine Reisfelder und während seiner Soldatenzeit über die Dschungel seiner Heimat hinaus gekommen und der jetzt längst verwest war, wirkte durch sein Beispiel weit über seine Grenzen hinaus: Er hat mir das Leben gerettet, dachte Jack. Ich hätte längst aufgegeben! … Karen führte Gespräche mit Robert, von denen sie später nicht mehr wußte, ob sie erträumt oder wirklich gewesen waren: Würdest du mich jetzt allein lassen, Robert? Wegen ein paar blöder Passagiere, denen du sowieso nicht helfen kannst? Du darfst ihm das nicht übel nehmen, Karen. Er hat die größte Bela stung von uns allen! Bisher hat er sich immer nur in vertrauter Umge bung bewähren müssen: am Arbeitsplatz! Du meinst: im Cockpit, inmitten seiner Instrumente? An ihnen hat er ablesen können, wie er handeln mußte. Zu wenig Fahrt am Fahrtenmesser: mehr Gas geben. Er vermisst seine vertrau ten Hinweise. Er schwebt im leeren Raum; er muß Blindflug absolvie ren ohne Blindfluginstrumente. Glaubt er denn, dort mehr Vertrautes zu finden als hier bei uns? Karen wälzte sich rastlos im Halbschlaf. In der Ferne heulte ein Scha kal. Oder ein Wolf. Gab es hier Wölfe?
356
Sie hatte keine Ahnung. Sie richtete sich auf. Um sie schienen alle zu schlummern. Sie wuß te nicht, wieviel Zeit nach ihrem Gespräch mit Robert vergangen war. Hatte sie sofort danach die Wölfe gehört? Hatte sie überhaupt mit Robert gesprochen? Er schlief. Hatte sie die Wölfe gehört? Jetzt war alles stumm. Über den Himmel fegten schwache Lichtreflexe – wie Nordlicht. War der Himmel klar oder bewölkt? Man sah keine Sterne. Ihre Haut glühte plötzlich unerträglich. Oder sie wurde sich dieses Glühens bewußt. Oder fror sie? Sie spürte Gänsehaut. Sie vermeinte, die Augen wieder zu schließen, aber die Reflexe am Himmel waren noch immer sichtbar. Sie öffnete die Augen: fort! Sie schloß sie wieder: auch fort. Endgültig. Sie fror und glühte gleichzeitig. Sie sah mit geschlossenen Augen Landschaften voller Bergkonturen, Baumschatten, Schiffssilhouetten, alle in Schwarz-Weiß. Sie öffnete die Augen und sah die gleiche Land schaft farbig, bis sie wie hinter einem Nebel entschwand. Dann schlummerte sie wieder hinüber, zusammen mit den ande ren. Das Schweigen der Wüste hüllte sie ein. Sie ruhten wie gefällte Bäume, in vielfältigen Stellungen der Erschöp fung. Selbst im Schlaf bewegten sich ihre Zungen noch, als befände sich auf den trockenen Lippen noch eine Spur von Speichel. Manch mal fuhr sich einer mit dem Handrücken über die Augen, als werde er noch immer geblendet, als schmerze der Sand noch immer. Im Halbschlaf schien es Weersma, als treibe sein Körper auf den Wel len; am Horizont tanzten die Bergkonturen. Der Gang durch den wei chen Sand hatte seinen Gleichgewichtssinn mehr gestört als ein stun denlanger Flug durch Turbulenz. … Selbst im Schlaf schleppte sich Karen noch weiter. Sie stöhnte leise, als ihr Körper sich der vermeintlichen Anstrengung widersetz te. Sie wollte ein Ziel erreichen, um jeden Preis. Seitdem sie sich von Michael losgesagt hatte, trieb sie haltlos im Raum. Wie jene Satelliten und Raketenstufen, die man im Fernsehen sah. Sie wollte sich absto 357
ßen, aber sie spürte keinen Widerstand unter den Füßen. Der Sand, die Luft, der luftleere Raum gaben nach. Sie spürte nur die schmerzen den Fußsohlen, sonst nichts. Sie wollte irgend etwas erreichen, aber sie wußte das Ziel nicht. Sie spürte unendliche Müdigkeit; sie wollte zur Ruhe kommen, aber nicht vor dem Ziel. Es gab keinen Halt für sie, kei ne Gewissheit …
37
A
m nächsten Morgen war die Sonne so grell, daß alle aufschraken, als sie blendend über den Horizont schoß. »Die Sonne!« rief Karen, als verkünde sie eine Sensation. Auch ihre Stimme war kaum noch hörbar. Sie hatte am Boden gele gen wie eine Tote. Grau in Grau, verschüttet unter der Asche der Wü stenhitze. Ihr rechter Arm, mit dem sie in einen Dornenbusch geraten war, zeigte Blutkrusten. Hals, Nacken, Waden waren zerstochen von irgendeinem Insekt. Die gleichen Stiche fanden sich auch bei Jack und Henk, nur Robert war verschont geblieben. Dafür brachte er kaum noch einen Laut über die Lippen. Er reagierte mit Handzeichen und Kopfbewegungen. Während der klaren Nacht war die Hitze fast angenehm gewesen. Aber sie hatten den Wechsel kaum gespürt in ihrem todesähnlichen Schlaf. Jetzt fühlten sie sich, trotz der zunehmenden Temperatur mit rasch steigender Sonne, fast wie neu geboren. Henk sprang unternehmungslustig auf, um sofort schmerzgekrümmt zusammenzusinken: seine Gelenke und Muskeln streikten noch im mer. Mühsam brachte er sich durch Freiübungen im Zeitlupentempo in Gang. Karen wurde vom Durst geplagt. Ihr linker Fuß versagte endgültig, sie schleifte ihn mühsam hinter sich her. 358
Jack hatte endgültig die Führung übernommen. Er fühlte sich wie ein Kommandoführer im Krieg, der keine Schwäche zeigen durfte. Ihre Zuversicht sank sofort nach dem ersten Rundblick. Im Norden: eine ferne Hügelkette, nicht allzu hoch, kahl, unwirtlich. Davor: Wü ste. Im Osten, unter der blendenden Sonne (Robert hatte keine Son nenbrille): Wüste, glatt, gleichförmig. Im Süden: Wüste, mit unein sehbaren Mulden und Dellen. Im Westen (woher sie kamen): Dornge strüpp, Geröllformationen, keine Zitadelle mehr. »Leute, wir sind wirklich ein Stück gegangen!« Jack versuchte die Enttäuschung positiv zu formulieren. Sofort fiel die Hoffnungslosigkeit über sie her. Karen schluchzte still vor sich hin. »Und ich dachte, jetzt hätten wir es gepackt!« Auch Henk hockte sich wieder in den Sand. Jack Patrinelli blieb stehen, zusammen mit Robert Bronn. »Was hat mir meine Tante denn hier für einen Kindergarten ange tragen? Das weint und flennt, bloß weil die Mutti nicht in Sicht ist!« »Glaubst du, irgend etwas hat noch irgendeinen Zweck, Jack?« Robert röchelte mühsam ein paar Worte. »Und wenn es nur den Zweck hat, zu überleben. Und, glaub mir, Robert: Man überlebt besser im Gehen!« »Hast Erfahrungen, was?« Krächzen. »Aus Vietnam? Was machst du eigentlich hier? Entlassen? Warum nicht in Amerika?« Robert hustete dabei eine Menge Staub und Dreck aus. Seine Haa re klebten fest und steif am Schädel. Gegen ihn sah Jack wie ein Gnom aus. Gedrungen, sehnig, noch grauer als sie alle zusammen. »Los, Leute!« Er scheuchte sie vor sich her wie Hühner. »Auf die Ber ge, ihr Affen! Irgendwo läuft eine Straße, die sieht man nur nicht, von hier aus. Ich kenn' das!« Sie stapften wieder weiter, Robert mit fast geschlossenen Augen; selbst die dunklen Stellen der Wüste blendeten ihn noch. »Es ist doch alles zu spät!« jammerte Karen. »Sie sind längst alle tot. Alle …« Die Sonne stieg höher und höher und verwirbelte alles in einer Orgie aus Hitze und Licht. Es gab keine Schatten mehr. 359
Seit Karen geflohen war, gewann Steiner an Autorität, an Vertrauen. »Nicht wahr, Sie werden uns nie im Stich lassen!« lobte Frau Bauer rhetorisch. Mit Frau Radewald unterhielt er sich über die Vorzüge eines Wirts hauses im Hochspessart, mit dem Mönch über die Prinzipien Bud dhas. Er war von Natur aus ein weltaufgeschlossener Mann, der sich für alles interessierte. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen flog er nicht von A nach B, um möglichst viel Geld zu machen, sondern weil ihn die Strecke, die Art der Fortbewegung faszinierte. Trotzdem spürte er manchmal deutlich, wie sein Interesse für alles außerhalb seiner Be rufssphäre erlahmte. Sein Beruf hatte, während der Ausbildung, während des Trainings, während der Umschulungen, stets seine ganzen Kräfte erfordert. Er mußte Hunderte von Zahlen lernen und auswendig im Kopf behal ten. Ein modernes Flugzeug ließ sich mittels dieses Zahlenwissens be herrschen. Die moderne Verkehrsfliegerei, so hatte er Karen gegenüber einmal geäußert, war nichts anderes, als die Umwandlung von Zah lenwissen in Aerodynamik. Aber je mehr die Werte für Turbinenauslaßtemperaturen, Öldrük ke und höchst zulässige Verdichterumdrehungszahlen sein Gehirn ausfüllten, um so häufiger entfielen ihm wichtige Passagen aus dem ›Heinrich von Ofterdingen‹, den Briefen zur ästhetischen Erziehung oder den Schriften Sören Kierkegaards. Er war nicht der geborene Typ des Technikers – er mußte seine vol le Konzentration aufwenden, um zu bestehen. Er fühlte sich oft unsi cher, was keiner seiner Kollegen je bemerkt hatte. Er klammerte sich dann starr an Vorschriften, Tabellen, Diagramme. Er konnte nicht so beweglich und souverän jonglieren wie seine Berufsgenossen. Sie flogen von A nach B; sie interessierten sich weder für die kulturel len Sehenswürdigkeiten von A noch für die soziologischen Gegeben heiten in B. Um Schritt zu halten mit ihren technischen Kenntnissen, mußte er oft alles ausmerzen, was ihn ablenkte. »In zwei Stunden ist alles vorüber!« tröstete Lohmar. 360
Steiner saß ihm gegenüber, das Radio knisterte. Ein zweites, entfern teres, ließ melancholische Hirtenflötenmusik erklingen. »Was zwingt Sie, uns in die Luft zu jagen?« »Ihre eigene Regierung! Die deutsche Gründlichkeit! Man bittet um Geduld! Aber unsere Geduld ist zu Ende, endgültig. Speis und Trank übrigens auch! Sie verdursten und verhungern, auf soviel deutsche Gewissenhaftigkeit ist hier niemand eingestellt! Wir haben Sie nicht zwingen können! Gut! Dann gehen wir eben gemeinsam unter!« »Das klingt mir ebenfalls sehr deutsch in den Ohren!« sagte Steiner und sog an der kalten Pfeife. »Wie Ihnen das klingt, kann mir egal sein. Um zwölf gehen Sie in die Luft! Ihr Botschafter in Kabul hat ein letztes Mahntelegramm ver schickt; ich habe es selber über die Nachrichten gehört. Man reagiert einfach nicht in Deutschland!« »Sie sehen schlecht aus!« sagte Steiner zusammenhanglos. »Bereiten Sie die Leute auf ihren Tod vor!« stieß Lohmar gereizt aus. »Verschwinden Sie! Singen Sie Choräle! Halten Sie Messen ab! Haben Sie nie an Bord Pastor gespielt?« Der Bär drängte Steiner zurück ins Lager, und Lohmar bemühte sich, auf die Beine zu kommen. Er hatte seit dem vorigen Abend Fieber. Hitze, Anspannung und afghanische Notverpflegung waren ihm nicht bekommen, und er sah sich mehr und mehr in der Rolle des geschei terten Helden, den die Widerstände zwingen, aufzugeben. Wenigstens seine allerletzte Rolle würde er heroisch spielen. Er dachte nicht daran, lebend zurückzukehren; erledigt war er so oder so. Er ließ die Kabel überprüfen, die Sprengladungen. Völlig überflüssig, kommentierten die beiden Mädchen, alles sei bestens unter Kontrolle. Ob sie unten vom Dorf aus … »Verschwindet!« raste Lohmar. »Ich brauche euch nicht mehr!« Aber sie nahmen ihn nicht ernst; sie lachten. Frauen hatten ihn nie ernst genommen.
361
»Das haben wir aber ganz vorzüglich hingekriegt!« Wessmann klopfte seiner Pilotin zärtlich auf die Schulter; Arnold zog seine Kamera vom Fenster zurück. Sie schüttelte unwillig die Schultern: »Das mag ich gar nicht. Wenn ich fliege …« Sie lachte jetzt doch, mit blitzenden, gewaltigen Zähnen. »Das war Kabul International. Die verlassene Boeing, umstanden von einem Ring Neugieriger. Sehr schön, mit zwei Low-Passes restlos abgeknipst! Jetzt weiter, nach Westen!« Sie zog die Dornier hoch und verabschiedete sich von Kabul Tower. Wie sie das Mikrophon lässig hielt, mit der anderen Hand steuerte – große Klasse, die Frau, dachte Arnold. »Nicht weiter als bis zum Paß!« schränkte sie ein. »Wir sind aus drücklich gewarnt worden! Keiner weiß, wo …« »Ich weiß … ah, bah!« Wessmann, neben ihr, kraulte ihr den Nak ken. »Wo sich die Entführer aufhalten. Um Himmels willen nicht die sensiblen Pistolenschützen erschrecken! Mal kurz über den Paß hüp fen, ja? Keine zehn, fünfzehn Minuten weit.« »Mit fünfzehn wären wir schon fast bis Bamiyan!« sagte sie prote stierend. »Bis dahin werden sie kaum gekommen sein, die Entführer.« »Einen kleinen Sprung über den Paß bitte«, bat Wessmann kindlich. »Und ich werde nie mehr ein böses Wort über die afghanische und russische Luftwaffe sagen!«
Karen warf sich mit einem Schreikrampf zu Boden. »Ihr wollt mich umbringen! Laßt mich endlich liegen!« Robert saß erstarrt neben ihr, selber unfähig zu einer sinnvollen Handlung. Jack zuckte apathisch die Schultern. Henk hatte die Schu he ausgezogen und rieb seine Zehen mit Sand; niemand wußte, wes halb. Niemand interessierte sich dafür. Sie waren am Ende ihrer Kräf te. Sie waren noch einmal drei Stunden gegangen; und sie befanden sich noch immer in der gleichen Wüstenlandschaft, als wären sie im 362
Kreis gelaufen. Die gleichen lateritroten Sandbrocken, aufgeplatzten Salzlaken und graugrünen Steinschmätzer zwischen dem niedrigen Pflanzenwuchs. Roberts Uhr zeigte fünf Minuten nach zehn. Mit letztem Kraftauf wand, letzter Wut schleuderte er sie fort. Er ließ sich zu Karen und Henk sinken. Nur Jack stand noch, wie ein kahler verkrüppelter Stamm gegen den blendenden, knochenweißen Himmel. Jetzt ist der letzte von uns durchgedreht! dachte Robert noch, dann überkam ihn wohliger Dämmer. Jack hatte sein Hemd mit einer jähen Gebärde zerrissen. Er zerrte sich die Lappen vom klitschnassen Körper und begann damit, wie ein Irrer zu winken. Hoch über ihm kreisten drei, vier, fünf Geier.
»Sieh mal dort, mitten in der Wüste!« schrie Wessmann plötzlich. »Das ist schon eine komische Gesellschaft, da mitten drin!« gab Ar nold zu. »Geh mal tiefer, Anja!« Sie setzte Klappen und umkurvte langsam die Gruppe Menschen. »Mitten in der Wüste? Seltsam!« Arnold filmte schon. »Landen wir? Einfach so?« Sie grinste. »Angst? Wir Russen sind sehr neugierig!«
Jack Patrinelli lief ein paar Schritte auf die ausrollende Maschine zu, dann brach er zusammen. »Hübscher Empfang!« murmelte Arnold und filmte. Wessmann schlug ihm die Kamera beiseite: »Hör mal, das sind keine Schauspieler! Dies ist blutiger Ernst!« Zu dritt gingen sie auf das Häufchen zusammengebrochener Men schen zu. 363
»Die kenn' ich doch zum Teil!« murmelte Arnold. »Die hab' ich schon mal gefilmt!« Der Vollgasstart, mit sieben Menschen an Bord, erforderte Anjas ganze Konzentration. Jack Patrinelli hatte kurz und hastig berichtet. Als er erfuhr, daß endgültige Entscheidungen noch nicht aus Deutschland bekannt ge worden waren, beeilte er sich, Bronns Plan darzulegen: wie man das Plateau erobern könne. Die beiden Reporter wiegten bedenklich den Kopf. »Wir sind keine Militärs … Das überlassen wir lieber den Fachleu ten …« Anja schwieg. Sie knüppelte und franste angestrengt, flog knapp fünf Minuten und landete dann neben einer Landstraße, die sich zu einer Siedlung verdickte. Als die Maschine ausgerollt war, sagte sie kurz: »Dschanbe! Hier wohnt der Polizeikommandant des Bamiyan-Be zirks! Wenn er sich nicht gerade mit Weibern in Kabul herumtreibt!«
Der Kommandant schüttelte den Kopf: »Ich darf nichts selbständig entscheiden. Das geht weit über meine lo kalen Befugnisse hinaus!« Er war ein dicker, kurzer Mann mit Stoppel bart und verkrüppelter rechter Schulter. Sie hing wie ein lahmer Flü gel herab. Seine Füße steckten in Schafpelzschuhen. Er zerrte an seiner khakifarbenen Leinenhose. »Eine internationale Angelegenheit.« Anja warf sich in Positur und zeigte eine ganze Galerie von Ausweisen: »Genügt das?« Er sah sich unsicher um und kratzte sich den nackten Bauch. Arnold hatte die entscheidende Idee. »Wissen Sie nicht, daß Ihr ganzes Unternehmen gefilmt wird?« »Gefilmt?« Wessmann war schon an die Maschine gerannt und schleppte eine der beiden Kameras heran. 364
»Das Ganze ist natürlich Ihre Idee: die Befreiung der Geiseln!« »Ich kenne die Zitadelle wie meine Tasche!« sagte der Polizeikom mandant. »Mit acht Mann erobere ich die Festung in dreißig Minuten! Wir fahren mit einem Lastwagen bis an die Serpentine. Dann hinauf! Dann hinein! Erledigt! Wo filmen Sie?« »Nehmen Sie lieber zehn Leute!« sagte Jack Patrinelli. »Das macht sich filmisch besser, Mann!« Sie hatten alle Wasserbehälter geleert und sich mit ihren brennenden Gesichtern in die Tröge gestürzt. Karen lachte die ganze Zeit haltlos. »Wir filmen vom Flugzeug aus – Ihren Aufstieg, Angriff, Kampf, Sieg!« »Großartig!« Er sah auf die Uhr, warf sich ein Hemd über. »Bis zum Mittag ist alles erledigt!« Er lachte schallend und stürzte an ein Telephon, das man wie ein al tes Feldtelephon mit der Handkurbel bedienen mußte. »Wieso vom Flugzeug aus?« fragte Anja. »Dadurch machen wir sie doch stutzig, mit dem Geräusch.« »Also gut …«, lenkte Wessmann ein. »Wir starten erst, wenn der erste Schuß fällt. Aber ich möchte das Ganze von oben haben – einmalig!« »Ich möchte mit, ich kenne den Zugang genau!« sagte Bronn. Anja mußte alle Gespräche übersetzen. »Wir kennen den Zugang noch besser!« sagte der Kommandant überlegen. Er hatte inzwischen einen abenteuerlichen, gewaltigen Pa tronengurt umgelegt. »Aber meinetwegen!« Anja übersetzte. Draußen versammelten sich bereits die ersten frei willigen Kämpfer: riesige Gestalten. »Wie aus dem wilden Kurdistan von Karl May!« sagte Arnold. »Keine zehn Minuten sind vergangen!« wunderte sich Wessmann. »Und sie trudeln schon ein! Wie hat er die benachrichtigt? Mit Buschtrommeln? Sollten sich die Deutschen mal merken!« »Übrigens!« sagte der Kommandant noch. »Ich habe hier einen Ihrer Leute. Wurde gestern auf der Landstraße gefunden. Muß ins Hospital nach Kabul. Anordnung vom Arzt. Guter Mann, unser Arzt. Wir woll ten ihn nachher mit dem Bus mitnehmen, aber Flugzeug ist besser!« 365
»Himmel!« rief Karen. »Das muß Professor Gennenburg sein! Den haben sie zurückgelassen, weil er Nierenkoliken hatte! Die Schweine, sie haben ihn einfach liegenlassen!« Wessmann zeigte sich wenig beeindruckt. »Was heißt hier Flugzeug? Damit filmen wir doch erst mal!« Die Russin und der afghanische Polizeikommandant sahen ihn streng an. »Kein Flugzeug zum Filmen!« sagte sie streng. »Ihr werdet eure Ka meras selber schleppen müssen! Wo ist der Mann? Ich starte sofort nach Kabul.« »Ich habe ihn schon entdeckt!« rief Karen. »Er liegt nebenan.«
Das Polizeiunternehmen startete um 11 Uhr 10. Während der Lastwagen mit der Zwölfmann-Truppe, Bronn und den beiden Kameraleuten abfuhr und rote Staubwolken zurückließ, half Karen, so gut sie wieder konnte, den sterbenskranken Professor in die enge Maschine zu tragen. Der Arzt, der mühevoll aus Doshi be ordert worden war, hatte mit Spritzen geholfen, so gut er konnte. Er sprach fließend Französisch; und Karen unterhielt sich während der letzten Abflugvorbereitungen mit ihm über Marseille, bis ihr plötzlich etwas bewußt wurde. »Mein Gott, Robert!« murmelte sie. Sie stand und starrte lange auf die Staubwolke, die noch immer über der Wüste hing … … Von der Polizeistation bis zum Westhang der Zitadelle waren es knapp zwanzig Autominuten. Bronn stellte resigniert fest, daß sie in einem gewaltigen Halbkreis um die Station geschwenkt waren, wäh rend ihrer Odyssee. Er hatte sich erfrischt, Ziegenmilch getrunken und seine Haut mit Fett eingeschmiert; aber er fragte sich verzweifelt, ob er noch durchhalten würde. Er mußte durchhalten; er traute den Afghanen weniger örtliche Kenntnisse zu als sich selber. Aber der Kommandant leitete die Aktion sehr umsichtig und klug. 366
Er kannte sich aus in seiner Wüste. Fast lautlos ließ er an den Hang fahren, rechtzeitig halten und die letzten hundert Meter bis zum Auf stieg zu Fuß gehen. Wessmann und Arnold, mit ihren Kameras, fluch ten.
Die beiden Mädchen taumelten den Berg hinunter. »Ein hübsches Feuerwerk werde ich euch bescheren!« rief Lohmar hinterher. Seine Augen glühten fiebrig. Der Bär machte langsam Anstalten, sich in den Schutz der tieferen Geröllhalden zurückzuziehen. Einer der Af ghanen stellte den Sprengkasten bereit. Lohmar hatte bewußt vermieden, seine Gefangenen zu informieren. Er fürchtete eine Panik. Steiner war der einzige, der Bescheid wußte. Aber seit den frühen Morgenstunden hatte er ihn gesondert unter Be wachung stellen lassen. Der Wind vom Vortag hatte sich gelegt. Über der Buddha-Wand bil deten sich winzige weiße Wolken und vergingen gleich wieder. Frieden lag über der Landschaft. Auf dem Plateau waren die Gruppen noch immer voneinander ohne Notwendigkeit getrennt: Die Wissenschaftler für sich, die restlichen Passagiere – und unter ihnen wieder die Japaner unter sich. Kein Be dürfnis zusammenzurücken, jede Gruppe blieb für sich. Es gab kaum noch Gespräche. Sie lagen zusammengedrängt, aber jeder war allein. Die meisten litten unter Hunger, Durst, Durchfall, Schmerzen. Je weiter die Zeit vorrückte, um so nervöser wurde Steiner. Das kön nen sie nicht tun, dachte er, das ist ein Erpressungsmanöver. Er lag im Lager Lohmars, und nachdem alle Bewachungsmannschaften mit dem Anbringen der Zündleitungen beschäftigt waren, hatte er ihm einfach die Hände auf den Rücken binden und ihn gefesselt hinter die Fels gruppe legen lassen. Steiner wälzte sich so, daß er die steile Rückwand des Plateaus im 367
Auge hatte, die Stelle, durch die Bronn mit seinen Leuten geflohen war. Er hatte keine Hoffnung, Karen jemals lebend wieder zu sehen, und er wußte nicht, ob er selbst in einer Stunde noch leben würde. Lohmar blufft, dachte er, er bringt seinen Sprengkasten im Lager an, wie will er sich da selber in Sicherheit bringen. Er wird sich kaum sel ber in die Luft jagen wollen.
Die Polizeimannschaft brauchte keine Bergpfade, um an den Durch bruch zu gelangen, den Bronn ihnen unnötigerweise zeigte. Wie die Bergziegen, dachte er, sie steigen fast senkrecht in der Wand hoch, mit ihren schweren, unhandlichen Gewehren. Er kam nicht nach, die Kräfte verließen ihn; und als die Mannschaft oben angekommen war, hatte er gerade die halbe Strecke geschafft. Er gab auf. Er hatte kaum den dröhnenden Kopf mit den stechenden Schläfen in seinen Händen vergraben, als der erste Schuß fiel. Danach hallte eine wilde Salve durch die Schrunde und Höhlen der Bergkuppe. Er riß den Kopf hoch und sah, wie der letzte der Wüstensöhne brüllend durch den Spalt verschwand.
Steiner wollte gerade zu Lohmar sagen: Wenn Sie jetzt die Ladung zün den, gibt das nicht eine Menge Ärger für Sie selbst? – da sah er das erste bärtige Turbangesicht an der Mauer auftauchen. Drei, vier, fünf Krie ger sprangen brüllend aus mehr als vier Meter Höhe aufs Plateau; diese Idioten, dachte er mit frappierender Klarheit, von oben hätten sie das Feld bestreichen können und alles unter Kontrolle gehabt. Dann dröhnte der erste Schuß, und er warf sich hinter den nächsten Felsen, und im Lager stieg wildes Angstgeschrei auf. (Wir glaubten, massakriert zu werden, sagte Hannes Radewald spä ter aus); Lohmar riß seine Pistole hoch und ließ sie in der nächsten Se 368
kunde schon wieder sinken. Mit eindeutiger Klarheit erkannte er, daß alles verloren war. Gleichzeitig stellte er überrascht fest, daß sein eige ner Todeswille geschwunden war. (Im Kampf gefallen, übermannt? So nicht, dachte er, wenn, dann ganz und gar freiwillig.) »Ich könnte Sie jetzt zu guter Letzt noch umbringen.« Er hob seine Stimme nur unwesentlich über den Kampfeslärm empor. »Aber ich bin nicht mehr an Ihnen interessiert. Einfach nicht mehr interessiert!« Er stand auf und reckte sich noch einmal empor, wie ein General, der seine verlorene Schlacht überblickte. Kugeln spritzten sirrend und pfeifend gegen die Felsen. »Wie eine Horde wilder Affen! Worauf ballern die Kerle eigentlich? Es tut ihnen doch keiner was!« Die eigenen Afghanen hatten, als sie ihre Brüder auftauchen sahen, erstaunt die Waffen gesenkt und sich dann persische Urlaute zuge schrien. Der Bär ließ seine MP fallen und blickte überrascht auf sei nen linken Arm, der einfach heruntersank und aus dessen Ellbogen Blut sprudelte. Auf dem Plateau hatten sich alle schreiend an die Erde gedrückt. Himmel, dachte Steiner verzweifelt, wo bleiben die vier, wo bleibt Ka ren? Statt dessen tauchte oben Arnold mit seiner Kamera auf und be gann, das Chaos zu filmen. »Kommen Sie!« sagte Lohmar ganz ruhig zu Steiner und schnitt ihm die Taue durch. »Stellen Sie sich mal in Positur; Sie haben gewonnen!« »Irgendwie bewundere ich Sie, trotz allem!« sagte Steiner. Der Polizeikommandant stürzte auf Steiner zu und drückte ihm sei ne Dienstpistole unter die Nase: »Ergeben Sie sich! Ihr Spiel ist aus!« Er schielte zur Filmkamera hin. »Etwas weiter nach links!« schlug Steiner vor. »Der da ist zuständig.« Lohmar grinste säuerlich und ließ sich abführen. Sie hockten alle transportbereit auf dem Plateau und beobachteten gespannt die Busse, die unten für sie vorfuhren. Hannes Radewald löste sich aus der Gruppe und sprach Steiner an, der mit Bronn zusammenstand: 369
»Das haben Sie großartig gemacht, Captain! Meine Frau und ich, wir danken Ihnen ganz besonders herzlich!« »Ich habe mit der Sache nichts zu tun!« wies er ab. »Hier: Ihr Mit passagier …« »Ah, nein!« Radewald schüttelte den Kopf. »Sie sind der Captain. Sie sind zuständig!« Unten wurden Inger und Ingrid gefesselt aus einem LKW gezerrt. Der Polizeikommandant hatte einfach zwei seiner Leute mit einem Jeep hinter ihnen hergeschickt und sie im Dorf festnehmen lassen. »Meinen Sie, daß ich morgen in Zürich sein kann?« fragte ein japa nischer Geschäftsmann.
Karen fand irgendwann inmitten der turbulenten Vorgänge Zeit, sich zurückzuziehen, auf einen Stein zu setzen und ihren Gedanken frei en Lauf zu lassen. In den Bussen, die sie zurückbeförderten nach Kabul, war mehr Platz als in den verstaubten Vehikeln, die als ihr Gefängnis gedient hatten. Sie genoß, sich der Länge nach auf einem sauberen Sitz ausstrecken zu können. Trotz der Schmerzen, die ihre strapazierte Haut ihr bereite te – oder gerade deshalb –, genoß sie Fahrt und Landschaft. Ein Ort hieß Jabalus-Siraj, ein anderer Charikar. Sie genoß kindlich die jungen Esel, die unbeholfen hinter der Mut ter herstolperten, die weit überragende Lasten von Schild, Stroh oder Baumzweigen transportierte. Sie genoß die lachenden Hirtenjungen, die ihre verwilderten Hunde in Zaum zu halten versuchten und sel ber über soviel Vergeblichkeit lachen mußten. Sie genoß vor allem den kühlen Schatten der Felsschluchten, durch die sie fuhren, laut hupend jetzt an jeder Zollschranke stoppend. Sie genoß überhaupt alles, und sie fühlte sich wie neugeboren. Jetzt saß sie abseits in mehr als 3.000 Meter Höhe. Sie hatten gerade einen Paß überquert. Aus der Wüstenhitze waren sie in die Eiseskälte des Hindukusch geraten. Sie wußte nicht, ob sie den gleichen Gebirgs 370
zug bewältigt hatten wie auf dem Hinweg. Sie hatte das Gefühl, ganz Afghanistan bestehe nur aus Gebirgsübergängen; aber schließlich hat te sie nur die Gegend zwischen Bamiyan und Kabul kennen gelernt. Einschließlich der Wüste – in allen Einzelheiten. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie ein einmaliges Abenteuer, eine einmalige Leistung bestanden hatte. Sie pfiff leise vor sich hin. Vor ihr fielen zwei Steinrötel hinter den Felsen ein, die Schneekap pen trugen – stargroße, weißbürzelige Vögel, die mit ihrem Ruf die Pi role der afghanischen Tiefebene nachahmten. Nichts von dem, was sie erlebt hatte, mochte sie mehr missen. We der ihre eigenen Qualen noch ihre Beobachtungen der Verhaltenswei sen ihrer Leidensgenossen. Noch die Erkenntnisse, die sie in Bezug auf ihr Verhältnis zu Michael, zu Robert gewonnen hatte. Kalt strich der Wind über die kahlen Höhenzüge. Sie schauerte, wenn sie daran dachte, daß nur wenige ihrer ehemaligen Fluggäste be reit waren, Konsequenzen aus ihren furchtbaren Erlebnissen zu zie hen. Nicht ungerecht sein, Karen, dachte sie. Du meinst doch immer nur die Radewalds, die so beliebt wegen ihrer Bescheidenheit, ihrer Dank barkeit gewesen waren. Natürlich, auch Frau Bauer wird aus tiefster Überzeugung behaupten, sie habe ihren Gatten heiß und innig geliebt. Der Mönch ist über jede Änderung erhaben. Die Ostermans, vielleicht, werden Konsequenzen ziehen. Aber die Radewalds und alle die vielen, vielen anderen werden so wei termachen wie bisher. Sie werden oben und unten abschnippeln, was aus dem Bereich ihres Begriffsvermögens herausragt und sie umkrem peln könnte. Sie werden wieder in ihrem Wirtshaus im Spessart, in ih rem Häuschen im Grünen sitzen und von ihrem großen Abenteuer be richten. Aber sie werden keinen Schritt weitergekommen sein. Sie werden über die milden Spessarthügel blicken und von den Vor zügen eines Eschendorfer Lumps oder einer Rödelseer Schwanlei te schwärmen, und nach dem dritten Bocksbeutel wird jedermann be 371
haupten, in der Politik und in der Welt müsse alles ganz, ganz anders werden. Sie strich sich über die Stirn. »Du bist ein hervorragender Captain, Michael!« sagte sie laut in den Wind hinein. »Aber ich glaube, ich fühle mich stärker zu Robert hinge zogen. Wenn man tagelang unter Todesangst durch eine Wüste irrt – das könnte einen schon ändern und binden!« Ein Schneefink flatterte heran und ließ sich kurz auf einem verdorr ten Büschel Zweige nieder. »Manchmal kann das, was uns Schmerzen, was uns eine Niederlage bereitet, trotzdem schön und wesentlich sein!« Sie lächelte. »Sprichst du mit dem Wind, dem Finken oder dem Schnee?« fragte Robert Bronn. Sie sah dem Schneefinken nach, der mit weißem Flügelaufschlag da vonstob. »Mit dir!« antwortete sie.
38
V
om Kabul Intercontinental hatte man einen herrlichen Blick über die Stadt. Eine breite, wunderbar glatte Straße zog sich in weitem Schwung zur Stadt hinunter. Die Zimmer blitzten vor Sauberkeit, es gab Wasser, soviel man wollte, hinter den doppelten Scheiben war es kühl; und das Surren der Klimaanlage klang wie Orgelmusik. Man hatte geschlafen, geduscht, gebadet, in Wasserorgien geschwelgt, man hatte getrunken, gegessen und wieder getrunken, gebadet. Jetzt traf man sich in der Empfangshalle; und in einer halben Stunde würde man im großen Konferenzsaal dem Heer der Pressephotographen und Reporter überliefert werden. 372
Karen und Robert standen vor der Hotelladenreihe und sahen sich die Souvenirs der örtlichen Handwerker an: Weißblechdosen mit ein gelegten Steinen, Ringe und Manschettenknöpfe aus Lapislázuli, alte Gewehre und Dolche, handgeblasene Vasen aus blauem Glas, Hippie halsketten, Hirtenmäntel, Karakulschafsledertaschen. »Hamburg und Frankfurt«, sagte er, »liegen nicht so weit auseinan der wie Bamiyan und Kabul.« Er ergriff ihre Hand. »Ich werde schneller bei dir sein, als du glaubst.« »Nicht schnell genug!« sagte sie. »Da kommt dein Captain! Entlaß mich mal eben in diesen Laden. Ich habe was Dringendes zu erledigen!« »Unsere Maschine geht um 15 Uhr!« sagte Steiner. »Ich hätte euch alle lieber selber nonstop nach Europa geflogen, statt uns als Passagie re einer Sondermaschine anzuvertrauen.« »Unsere Boeing wird sicher von einer unserer geliebten Koryphäen zurück überführt werden, die sich damit auch noch rasch ein Stück vom Kuchen der Publicity abschneiden möchte.« »Genau nach altbewährter Art!« Sie lachten beide, eine Spur zu gewollt. Steiner sah auf seine Pfeife. Sie brannte wieder, mit neuem, englischem Tabak. »Ich freue mich auf mein Haus in Cranz«, sagte er. Sie schwieg. Er sah sie schräg von der Seite an und lächelte dann. »Ich fühle mich da sehr wohl. Ich meine … ich habe mich nie einsam gefühlt … Ich habe mir einen Lebensstil geschaffen, der … ich könnte ihn nicht mehr ändern. Ich fühle mich sehr wohl dabei. Vollkommen, geradezu! Jede Änderung wäre weniger.« »Und das wäre das!« sagte sie. »Was ist mit de Laer. Bleibt er hier?« »Ja, der Schlag im Cockpit scheint ihm ärger zugesetzt zu haben, als er erst dachte. Professor Gennenburg bleibt auch noch hier, um das Untersuchungsergebnis abzuwarten. Es geht ihm aber gut.« »Fein«, sagte sie; sie schluckte. »Wusstest du schon, daß Patrinelli abgeholt worden ist?« »Abgeholt?« »Gleich nachdem die Lohmar-Gruppe abtransportiert wurde.« 373
»Er steckt aber nicht mit ihnen unter einer Decke?« »Amerikanische Militärpolizisten haben ihn im Jeep mitgenommen. Die haben überall ihre Finger im Spiel, scheint's.« »Himmel, er war ein prima Kerl! In der Wüste! Du hättest ihn erle ben sollen! Hat was nicht gestimmt?« »Er soll desertiert sein. Aus Südvietnam. Er ist nie geflogen. Er war bei einer Marine-Spezialeinheit. Er ist aus einem Lazarett in Saigon ausgerückt.« »Aus dem Lazarett?« »Aus der psychiatrischen Abteilung. Er soll durchgedreht sein; und man hatte noch nicht herausgefunden, ob er wirklich verrückt war.« »Wenn er abgehauen ist, dann war er völlig normal.« »Das versuche mal jemandem in dieser Idiotenwelt klarzumachen.« Steiner sah Robert zurückkommen. »Wir sehen uns gleich beim Ver hör!« Robert drückte ihr ein Päckchen in die Hand. »Als Überbrückung, bis ich in Hamburg bin!« »An und für sich«, sagte sie schelmisch, »nehme ich nur Geschenke von bleibendem Wert!«
Im Tamerlan-Room des Hotels drängten sich chaotisch über zweihun dert Menschen. Blitzlichter flammten auf, Kameras klickten, Diener mit Turban und afghanischen Pluderhosen servierten Champagner. »Keine Frau hat ihren Mann jemals so geliebt wie ich!« sagte Frau Bauer. »Ich werde seinen tragischen Tod nie …« »Etwas näher ans Mikrophon bitte«, bat der Reporter. »Wir waren, wie sagt man, ein Herz und eine Seele!« »Nein«, sagte Ruth Osterman zu Ralph, als sie gemeinsam für ein Bild posiert hatten. »Es hat sich nichts geändert. Wir haben uns gegenseitig beigestanden, so gut wir konnten. Aber deswegen zusammenbleiben?« »Ich werde mir all deine Platten kaufen, die du ohne mich machst«, sagte er. 374
»Vielleicht schenkst du mir ja deine erste Blues-Platte«, sagte sie. »Sie wird bestimmt ein Erfolg.« »Da war doch«, sagte ein Journalist zu Hannes Radewald, »diese Sa che mit dem Osterman.« »Dem Hippie? Welche Sache?« »Er ist arg zusammengeschlagen worden. Sein rechtes Auge ist jetzt noch halb zu. Blaue Flecken überall, Hautrisse, Schädelbeulen … Man hat ihn heute morgen schon ambulant behandelt …« »Mir ist nichts bekannt, dir?« Er wandte sich an seine Frau, die hei ter und gelöst neben ihm stand. »Es gibt immer mal Spannungen, glaube ich. Mein Gott, der arme Junge«, sagte sie zusammenhanglos. »Wie ich mich auf den Odenwald freue!« »Jeder war immer sehr zuvorkommend zu uns«, sagte Hannes Ra dewald. »Es ist nichts Schlimmes passiert, außer, daß wir sehr großen Durst hatten und furchtbar unter der Hitze litten!« »Vergiß nicht diese entsetzliche Schießerei! Zwei Tote! Und es roch so furchtbar! Wie ist so etwas Gräßliches möglich! Ob unsere Gar tenblumen alles gut überstanden haben? Es soll sehr trocken gewesen sein.« »Aber eine Menge Leute müssen ihn so zugerichtet haben!« beharr te der Journalist, ein junger Engländer aus Wales. Er wandte sich an Kay Sanders. »Wenn man unter Stress steht, reagiert man manchmal etwas ge reizt. Mir ist nicht bekannt, daß es irgendwann zu Ausschreitungen gegen irgendwen gekommen ist.« Sie sah auf ihre Fingernägel. »Aber er soll geblutet haben. Haben Sie nicht mal gefragt, woher er seine Verletzungen hat?« »Ich habe ihn doch kaum mal gesehen. Wir waren sehr mit unseren eigenen Schwierigkeiten beschäftigt. Jeder hatte sein Scherflein zu tra gen!« Irgendwo stieß Steiner, der mehr oder weniger geschickt den vielen Kameras zu entgehen versuchte, auf Weersma. 375
»Ich beneide dich fast ein bißchen, Henk«, grinste er. »Du kannst stolz auf dich und deine Wüstentour sein! Das hätte ich alter Mann nicht durchgehalten! Ich werde schon hysterisch, wenn ich die Schuhe voller Elbsand habe!« »Der ist auch nicht so sauber wie afghanischer Wüstensand«, pro testierte Weersma, strahlte aber über das ganze scheußlich verbrann te Gesicht. »Sie hätten den Champagner besser kühlen können«, sagte Vera Merkelsbach. »Das hätten wir uns verdient!« Sie sah Steiner unsicher von der Seite an: wußte er nun von ihrem Verrat oder nicht? »Wenn ich Feldherr wäre«, sagte Steiner, »würde ich sagen: Ich bin stolz auf meine Mannschaft! Aber das ist mir zu blöd, deshalb nur cheerio!« Er stieß mit ihr an. »Jeder hat getan, was er konnte!« sagte Vera Merkelsbach. Phra Maha Chai lächelte glücklich in die Kameras. Wegen seiner Kleidung hatte er den größten Zuspruch. »Ich habe die Buddhas von Bamiyan gesehen. Das ist alles, was ich zu sagen habe …« Robert Bronn wurde von einer intellektuellen Reporterin mit Colle ge-Haarschnitt ausgefragt. »Das Fazit? Was ich als Erfahrung mit nach Deutschland nehme? Die große Erkenntnis?« Er überlegte lange. »Dieses: daß der Mensch ein unberechenbares Wesen ist. Jeder von uns hat so völlig anders ge handelt, als man östlich von Bangkok angenommen hätte. Ich habe selber aus einer unerklärlichen Massenhysterie heraus einmal einen unschuldigen jungen Mann getreten im Bus. Darüber werde ich mal schreiben. Gutmachen kann ich das nicht.« »Wir können stolz auf uns sein!« rief einer der Japaner laut in gebro chenem Englisch aus. Er ließ sich ein neues Glas bringen und muß te dafür von seinem Podest heruntersteigen, was ihm nicht mehr ein wandfrei gelang. Hannes Radewald hatte lange schweigend in die vielen Gesichter geschaut, deren Rissen, Flecken und Wunden man die harten Ent 376
behrungen ansah. Dann ging er schwerfällig auf Ralph Osterman zu: »Ich hoffe, du hast dich bald wieder erholt«, begann er ungeschickt. »Schon gut!« winkte Ralph kurz ab. »Ich meine, wir haben das nicht böse gemeint. Du hast uns aber auch eine Menge zugemutet. Wir sind alle keine Heiligen. Niemand! Du mußt das verstehen. Aber … es tut uns leid.« »Schon gut«, sagte Ralph. Karen spielte an ihrer Halskette mit dem Lapislazuli. »Ich möchte gern damit und mit dir durch die Haseldorfer Marsch gehen!« sagte sie zu Robert.
Am späten Nachmittag dröhnte die Ariana-Boeing nach Teheran, Istanbul, Frankfurt über das Untersuchungsgefängnis Kabuls. In ei ner der heißen, verschmutzten Zellen schraken zwei Mädchen aus dem Halbschlummer auf. Der Lichtschacht erlaubte keinen Blick auf den Himmel; und die beiden Mädchen schlossen die Augen wieder und versuchten weiterzuschlafen und die Kakerlaken zu vergessen, die sie in der dunkelsten, dreckigsten Ecke hatten hocken sehen. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?« fragte die afghanische Stewardeß, zwölf Kilometer von Kabul entfernt. Robert sah Karen an, die am Fenster entspannt lächelnd auf den Ka bulfluß hinabblickte. »Zwei Flaschen Veuve Cliquot!« sagte er.
377