Brecht • Majakowski • Theodorokis • HeüfpF- Kirsten Weinert • MatwejewaBpSchreiter • Kunert • Preißler Storm • Kunze • ...
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Brecht • Majakowski • Theodorokis • HeüfpF- Kirsten Weinert • MatwejewaBpSchreiter • Kunert • Preißler Storm • Kunze • Fürnberg • Bartsch • Wolker • Fleming
Poesiealbum Die moderne Lyrikreihe Jeden Monat neu 32 Seiten, 90 Pfennig Erhältlich an Zeitungskiosken, in jeder Buchhandlung und im Abonnement bei der Deutschen Post
Verlag Neues Leben Berlin
32 706
Hans Siebe
Papagenos Flöte Kriminalmeister Schmidt erzählt
Verlag Neues Leben Berlin
Alle Rechte beim Verlag Neues Leben, Berlin 1969 Lizenz Nr. 303 (305/50/69) ES 9 A Umschlag und Illustrationen: Karl Fischer Typografle: Walter Leipold Schrift: 8 p Primus Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin
Ich lehnte am Fenster, der Heizkörper darunter warf trockene, heiße Luft empor. Draußen, vor den doppelten Scheiben, lag Schnee. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite brannte eine Laterne. Der trübe Lampenschein zerfloß in der Morgendämmerung. Der Bereitscbaftsraum war für ein Dutzend Kriminalisten zu klein. Ich wollte das Fenster öffnen, um den Tabaksqualm abziehen zu lassen. Da kamen Major Peukert und Oberleutnant Kühn. Heribert nickte mir zu. In seinen Augen war kein Goldfünkchen zu entdecken, das auf gute Laune hätte schließen lassen. Der Bericht des Majors gab die Erklärung dafür. Gestern abend, um zwanzig Uhr dreißig, stoppte die neunzehnjährige Studentin Helga Kastner am S-Bahnhof Altglienicke, auf dem Autobahnzubringer Schönefelder Kreuz, einen Trabant sechshunderteins, um nach Dresden mitzufahren. Die Studentin merkte, daß der Fahrer des Trabant betrunken war, und wollte aussteigen. Am Kilometer elf lenkte der Mann den Wagen in einen Waldweg und wurde zudringlich. Die Studentin riß sich los und floh. Die Würgemale an ihrem Hals zeugten von der Gefährlichkeit des Täters. Helga Kastner beschrieb ihn als einen Mann Ende Vierzig, von gedrungener Gestalt, mit Stirnglatze und groben Gesichtszügen.
Um dreiundzwanzig Uhr erreichte die Studentin eine VolkspolizeiDienststelle und erstattete Anzeige. Sie wies darauf hin, daß der Trabant im Wald mit der rechten Seite einen Baum gestreift hatte. Das polizeiliche Kennzeichen wußte sie nicht. Am Mantel des Mädchens fehlte ein mit grauem Kunstleder bezogener Knopf, der zusammen mit einem Stück Stoff abgerissen war. Major Peukert teilte die Einsatzgruppen ein. Er besaß bereits die Namensliste der Trabantbesitzer unseres Bereichs, die altersmäßig in Frage kamen. „Kriminalmeister Schmidt, zur Gruppe Kühn", schloß der Major. Da er den neuen Dienstgrad ohne das bisher übliche nachsichtige Lächeln benutzte, verlor die Beförderung den Nimbus der Neuheit. Mir war das recht. Auf dem Weg in unser Dienstziimrner fragte Herbert: „Ist dir klar, worauf es ankommt?" Ich nickte. „Wo die Personenbeschreibung paßt, prüfe ich das Alibi für den gestrigen Abend. Der Trabant muß nach dem abgerissenen Knopf durchsucht werden, außerdem ist auf Kratzspuren an der rechten Außenwand zu achten. Allerdings . . . " , ich sah Herbert skeptisch an, als wir ins Zimmer traten. „Ja?" „Die Studentin sagte, daß er in Richtung Dresden gefahren ist." 3
Herbert winkte ab. „Er kann umgekehrt sein. Das würde ihm aber nichts nützen. Von jetzt an gibt es keinen Ort in der Republik, an dem nicht nach ihm gefahndet wird." Herbert gab mir die Liste der Trabantbesitzer, die ich zu überprüfen hatte. „Nimm den Abschnittsbevollmächtigten mit", rief er, als ich schon draußen war . . . Unterleutnant Vierling wog zwei Zentner. Es störte ihn nicht, daß er mir für diesmal trotz des höheren Dienstgrades unterstellt war. Wir fuhren los. Es wurde hell und fing wieder an zu schneien. Vor den Häusern wurde gefegt, und die Schulkinder bewarfen sich mit Schneebällen. Unglaublich, daß es kaum vierzehn Jahre her war, seit ich mich selbst im Schnee gebalgt hatte. Routineüberprüfungen verlaufen meist ohne Sensationen, und diesmal war es nicht anders. Der Unterleutnant kannte solche Befragungen, die fruchtlosen Besuche brachten ihn nicht aus der Ruhe. Weder der Schneidermeister noch der Buchhalter der DHZ Gummiwaren noch der Oberschullehrer kamen als Täter in Frage. Der nächste Trabantbesitzer auf der Liste hieß Paul Packulat und war Kraftfahrer beim VEB Deutsche Spedition. Wir fuhren in das Neubauviertel mit den dreistöckigen Häusern aus Ziegelsplittplatten. Vor Packulats Haus parkten ein blauer Wartburg, ein roter Skoda und ein weißer Trabant sechshunderteins. Wir stiegen aus dem Dienstwagen, und der Wind blies uns den Schnee ins Gesicht. Vierling schlug den Kragen des Uniformmantels hoch und trat fröstelnd auf der Stelle. Mir waren die Hände klamm ge4
worden, und dennoch lief es mir warm über den Rücken. Die rechte Tür des Trabant wies eine häßliche Schramme auf. Es war Paekulats Trabant. Die Haustür war nicht verschlossen. Packulat wohnte im ersten Stock links. Ich mußte mehrmals klingeln, ehe die Tür geöffnet wurde. Packulat war mittelgroß, und das schüttere Haar begann weit oberhalb der Stirn. Die Gesichtszüge wirkten aber nicht grob. Er hielt mit der linken Hand die Tür offen und mit der rechten den rostroten Bademantel am Halse gerafft. „Wir haben ein paar Fragen an Sie. Dürfen wir eintreten?" Packulat begriff, daß wir uns nicht geirrt hatten, und führte uns in das Wohnzimmer. Er verschwand kurz und kehrte angezogen zurück. Dann zog er die Gardine auf und ließ das Tageslicht herein. Die modernen Möbel waren eingestaubt. „Bin nicht auf Besuch eingerichtet", sagte Packulat und nickte zur Couch hin. Das zerwühlte Bettzeug darauf verriet, daß dort jemand geschlafen hatte. „Mein Sohn ist schon zur Uni." Als wir schwiegen, ergänzte er: „Er studiert Veterinär." Wir setzten uns an den Tisch. Der Hausherr besah die Unordnung. „Wenn meine Frau wieder da ist, sieht es hier anders aus." „Ist sie verreist?" fragte ich. Er schüttelte bekümmert den Kopf. „Nein. Sie liegt im Krankenhaus. Gallenoperation, aber nächste Woche wird sie entlassen." „Gehört Ihnen der Trabant IdaSiegfried zwoundachtzig neunundvierzig?" „Ja. Warum?" Bevor ich antwor-
ten konnte, stand Packulat auf und trat ans Fenster. Ich folgte ihm und merkte, daß er nach Alkohol roch. Packulat sah den Wagen an der Bordkante stehen, und sein Gesicht verlor den besorgten Ausdruck. Hatte er geglaubt, daß er gestohlen worden war? „Wann haben Sie ihn zuletzt benutzt?" fragte ich, als wir wieder am Tisch saßen. „Arn Sonnabendvormittag bin ich zur Brigadeversammlung gefahren. Ich bin Kraftfahrer bei der Deutschen Spedition. Sonnabend war arbeitsfrei." „Wann kamen Sie zurück?" „Gegen Mittag." „Sind Sie nachdem noch gefahren?" Packulat schüttelte den Kopf. „Nein," Ich sah auf die zerwühlte Schlafstelle. „Und Ihr Sohn? Kann er gefahren sein?" „Mein Sohn?" Packulat sah ebenfalls zur Couch und schüttelte energisch den Kopf. „Der fragt vorher." „Wo waren Sie gestern abend, Herr Packulat?" Er sah auf die Hydropflanze, die traurig die Blätter hängen ließ und bestimmt eingehen würde, wenn Frau Packulat nicht bald wiederkam. „Zu Hause", antwortete er. „Und Ihr Sohn?" „Hans? Der war weggegangen. Sie wissen ja, junge Leute." Der Blick gab mir zu verstehen, daß er mich in diesen Begriff einbezog. „Sie waren also gestern abend zu Hause. Der Trabant stand dort unten, und niemand hat ihn benutzt." Packulats Stirn rötete sich, und die Stimme wurde laut, ohne überzeugender zu klingen. „Genauso war es."
Da wußte ich, daß Packulat log. Das hatte nichts mit dem Alkoholgeruch zu tun, den er verströmte, er konnte zu Hause getrunken haben. Trotzdem, Packulat sagte nicht die Wahrheit, und den Beweis lieferte das Auto. Nicht etwa wegen der Schramme. Die konnte einige Tage alt sein, das mußte der Kriminaltechniker herausfinden. Aber Packulat log. Der Trabant war gefahren worden. Woher bezog ich diese Gewißheit? Ich konnte es nicht sagen. Ich stand auf. „Wir sehen uns den Wagen an." „Worum geht es denn? Wollen Sie mir was anhängen?" fragte er. „Nein. Wir suchen einen Trabant, allerdings einen, der gestern abend gefahren wurde." Packulat ging stumm vor uns in die Diele, zog Straßenschuhe an und die Joppe, die er vermutlich zur Arbeit trug. Am Garderobenihaken hing ein kreisrunder Strohhut, wie unsere Großväter ihn in ihrer Jugend getragen hatten. Packulat setzte eine Skimütze auf und rückte sie in die Stirn. „Unfallermittlung?" — Ich schwieg. Von der Haustür bis zur Fahrbahn waren es zehn Schritte. Pakkulat stutzte und starrte finster auf den Wagen. Wegen der Schramme? Oder spielte er nur den Überraschten? „Wo haben Sie sich den Kratzer geholt?" fragte ich. „Von wegen geholt. Den hat mir einer auf dem Parkplatz verpaßt." Plötzlich wußte ich, warum das nicht stimmte, was Packulat erzählte. Ich dachte an den gestrigen Sonntagabend. Regina und ich hatten meine Eltern besucht. Sie waren sträflich von uns vernachlässigt worden. Das war wohl die Folge 5
der gehäuften Festlichkeiten gewesen, Hochzeit, Weihnachten und Jahreswechsel. Wir waren zu Fuß gegangen. Der Arzt hatte Regina viel Bewegung angeraten, damit es ein gesundes Baby werde. Sie arbeitete noch halbtags in der Kinderstation. Als wir gingen, war es neunzehn Uhr gewesen, und es fing gerade an zu schneiend Als wir eine Stunde vor Mitternacht nach Hause kamen, lag der Schnee eine Handbreit hoch. Daran dachte ich, als ich neben Packulats Trabant stand. Der Wagen hatte gestern abend von neunzehn bis dreiundzwanzig 6
Uhr nicht hier geparkt. Der Platz darunter wäre sonst ebenso schneefrei gewesen wie der unter dem Wartburg und dem Skoda. Packulat öffnete die Wagentür. Ich beugte mich hinein. Drinnen sah es aufgeräumter aus als dm Wohnzimmer. Vor dem Rückfenster rekelte sich der unvermeidliche Stofflöwe. Sorgfältig suchte' ich den Boden ab, fand aber keinen Knopf. Doch unter dem rechten Vordersitz lag eine seltsame Flöte. Es waren fünf nebeneinandergereihte Pfeifen, unterschiedlich lang wie Finger einer Hand. Ähnliche Flö-
\ ten gab es für Kinder zu kaufen, aber die waren aus Bledi und klangen wenig melodisch. Solche Flöte war es nidit. Sie war aus Holz und wirkte alt und irgendwie ehrwürdig. „Gehört die Ihnen?" fragte ich. Packulat rückte den Mützenschirm hin und her, als wolle er eine plausible Erklärung herausschütteln. „Weiß der Kuckuck, wo die herkommt." Ich spürte unwiderstehliche Lust, auf der Flöte zu blasen. Wären der Unterleutnant und Packulat nidit gewesen, hätte ich es getan. Ich konnte Vierlings ausgestreckte Hand nicht länger übersehen und gab ihm die Flöte. Als er sie auf der Handfläche wog, wußte ich, daß er ebenfalls gern hineingeblasen hätte. Ich sah mich verstohlen nach einem Beobachter um. Es gab einen. Im zweiten Stock, über Packulats Wohnung, bewegte sidi die Gardine. Vierling legte die Flöte ins Handschuhfach. Er konnte sie schledit unter den Sitz zurückschieben. Idi versuchte an den Knopf zu denken, der mit grauem Kunstleder bezogen war und nach dem ich forschen sollte. Dabei sah idi nodi einmal zu dem Fenster über Packulat hinauf. Die Gardine klaffte einen Spaltbreit auseinander. Idi sah die Hand und das Mäddiengesidit darüber. Es war von hellen, blonden Haaren umrahmt und zog sich hastig zurück. Der Spalt in der Gardine fiel zusammen. Manchmal fühle idi Zusammenhänge. Herbert meint dann, idi spinne. Trotzdem hat meine Nase uns oftmals weitergebracht. Das Mädchen dort oben interessierte sich zweifellos für Packulats Auto. „Genosse Unterleutnant, über-
nehmen Sie die weitere Befragung?" Vierling sah mich überrascht an, nickte aber bereitwillig. Als er und Packulat im Hause verschwunden waren, holte ich einen Spachtel aus dem Bereitschaftsbesteck und nahm eine Materialprobe von der Schramme. Dabei fühlte ich midi wieder von dem Mäddien beobaditet. Idi trat ins Haus und empfand es angenehm, vor dem eisigen Wind gesdiützt zu sein. Idi stieg die Treppe Hinauf und blieb vor Packulats Wohnungstür stehen. Dort war der Klingelknopf. Sollte ich ihn drücken? Ich wandte mich ab und ging höher hinauf. Auf dem Türsdiild stand der Name Niegel. Dem Klingeln folgten leichte Schritte, es raschelte hinter der Tür, dann wurde sie geöffnet. Das von hellen, blonden Haaren umrahmte Gesidit sah midi fragend und ein bißchen ängstlich an. Idi zeigte den Dienstausweis. „Volkspolizei, Kriminalmeister Sdimidt. Darf idi ein paar Fragen an Sie richten?" Sie nickte und räusperte sich. „Bitte." Ich ging hinein. Es war der gleidie Flur wie in Packulats Wohnung und trotzdem anders. Man spürte sofort die weibliche Hand. An der Wand hingen drei Fotografien, eine von Fräulein Niegel, eine zweite unverkennbar von der Mutter, und die dritte zeigte einen etwa zwölfjährigen Jungen. Ich deutete auf ihn. „Ihr Bruder?" Fräulein Niegel nickte. Sie ging voran ins .Wohnzimmer. Es war weniger modern eingeriditet als Packulats, doch es wirkte gepflegt. Wir setzten uns an den altmodisch hohen Tisdi. Wir benahmen
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uns ziemlich steif, fand ich und schlug einen leichten Plauderton an. „Wo arbeiten Sie, Fräulein Niegel?" „In der Schönhauser Allee. Ich bin Verkäuferin im Herrenausstatter'." Die Fragen zur Person beantwortete sie unbefangen. Sie war neunzehn Jahre alt und Fächverkäuferin. Die Mutter arbeitete als Buchhalterin im staatlichen Handel. Der Vater — Fräulein Niegels Gesicht wurde ablehnend — war vor zehn Jahren geschieden worden und hatte wieder geheiratet. Der jüngere Bruder besuchte die Oberschule. Deutlich sah ich wieder das verschmitzte Jungengesicht auf der Fotografie im Flur vor mir. „Interessieren Sie sich für Pakkulats Auto, Fräulein Niegel?" Sie schüttelte heftig den Kopf. „Gewiß nicht." „Wann sind Sie gestern abend nach Hause gekommen?" • „Von der Arbeit? Gegen achtzehn Uhr." „Hat da Herrn Packulats Trabant dort unten geparkt?" Sie sah mich unsicher an. „Ja, er stand da." „Wissen Sie das genau?" „Ja. Wir sind später weggefahren." „Wer, wir?" „Hans Packulat und ich." „Ach." Das klang albern, und ich ärgerte mich darüber. Hans Packulat war, nach Angabe seines Vaters, gestern abend „weg" gewesen. Mit Fräulein Niegel? Vermutlich. Doch das war ihre Privatsache. Ich mußte erfahren, ob Packulat senior einundeinehalbe Stunde später mit dem Trabant am S-Bahnhof Altglienicke gewesen sein konnte. Irgendwo in der Wohnung war
ein Geräusch zu hören. Rita Niegel zuckte zusammen. Sie schlang die Hände auf der Tischdecke ineinander. „Sind Sie allein?" „Ja." Sie sah an mir vorbei, als sie sprach. „Mutter ist im Büro und Günter in der Schule. Ich gehe auch gleich", schloß sie befangen. „Wo sind Sie gestern abend hingefahren, Herr Packulat und Sie?" „Nur so, spazieren." „Wie lange?" Sie zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht mehr." Warum lauschte sie so angestrengt nach draußen? Hier stimmte etwas nicht. Plötzlich war da ein schleifendes Scharren wie von einem behutsamen Schritt. Rita Niegel begann hastig und laut zu sprechen. Gegen acht waren sie zurückgekommen, jetzt erinnerte sie sich, und später hatten sie noch ein Lokal besucht. Daß ich sie befragte, darüber schien sie nicht erstaunt zu sein. Wußte sie, warum ich es tat? Wenn ihre Zeitangabe stimmte, dann konnte der alte Packulat nicht um zwanzig Uhr dreißig mit dem Wagen am Schönefelder Kreuz gewesen sein. Draußen klappte die Wohnungstür. Rita Niegel wurde abwechselnd blaß und rot. Ich sprang auf und tat zwei lange Schritte zur Tür, aber sie kam mir zuvor. Mit ausgebreiteten Armen lehnte sie den Rücken gegen die Zimmertür. Sie atmete hastig. Ich stand ratlos vor ihr. Diese heftige Reaktion hatte ich nicht erwartet. Rita Niegel sah mich ängstlich an und bat leise: „Bitte, lassen Sie ihn gehen." Da fing ich an zu lachen. Das war es also. Vermutlich war Hans Pak-
kulat, der angeblich längst im Hörsaal saß, der heimliche Besucher gewesen. Inzwischen war er längst aus dem Hause. Ich zuckte die Schultern. „Na schön." Auch das klang einfältig, und mein Vorgesetzter hätte wenig Freude daran gehabt. Unten klappte eine Autotür. Ich trat ans Fenster, schob die Gardine weg, und da stand Rita Niegel schon neben mir. Sie mußte von der Zimmertür hergeflogen sein. Wir sahen hinunter. Neben dem Wartburg und dem Skoda lag der Schnee unberührt. Saß jemand im Trabant? Von hier oben war es nicht zu erkennen. Rita Niegel sah diesmal nicht auf das Auto, sondern auf einen rötlichen Haarschopf, der eben um die Hausecke verschwand. Ihre Miene wirkte fast heiter. Ich hatte das Empfinden, etwas Wichtiges versäumt zu haben. „Ich muß zur Verkaufsstelle. Kann ich gehen?" Ich verabschiedete mich höflich und entschuldigte mich wegen meines unangekündigten Besuches. Rita Niegel nickte gelassen und schloß behutsam die Wohnungstür hinter mir:.. Das Vernehmungsformular lag noch unbeschrieben auf Packulats Tisch. Vierling schob es mir demonstrativ herüber. „Wie war das nun gestern abend, Herr Packulat? Bleiben Sie dabei, daß Sie zu Hause waren?" Wie er da vor mir saß, mit trüben Augen, Tränensäcken und grauen Bartstoppeln, tat er mir leid. Die Krankheit seiner Frau hatte ihn aus dem Gleis geworfen. Sicher versäumte er heute, wegen der Alkoholfahne, die Arbeit.
Packulat schüttelte langsam den Kopf. „Nein, ich war nicht zu Hause, habe eine Sause gemacht." Unterleutnant Vierling und ich wechselten einen raschen Blick. Packulat hörte auf zu leugnen. Er war unser Mann. „Kommen Sie mit zur Inspektion", sagte ich, „die Unterhaltung dauert vermutlich länger." Packulat zog sich schweigend an, dann verließen wir die Wohnung und gingen die Treppe hinunter. Vierling stieg mit Packulat in den Wartburg. Ich dachte an die Autotür, die geklappt hatte, und fragte Packulat, ob er den Trabant abgeschlossen habe. Er zuckte die Schultern und gab mir die Schlüssel. Der Wagen war offen. Packulat schien mit den Nerven fertig zu sein. Ich sah ins Handschuhfach. Vierling hatte die Flöte da hineingetan. Nun war sie fort. Ich stieg in den Dienstwagen. „Haben Sie die Flöte mitgenommen?" „Die Flöte?" wiederholte Packulat. „Ach so, die Flöte. Nein." „Ist sie weg?" fragte der ABV. Ich legte den Gang ein und ließ die Kupplung kommen. „Ja." „Komisch", meinte Vierling. Das fand ich auch. Seit Jahren taten Herbert und ich zusammen Dienst, und es kam vor, daß er etwas anordnete, was ich nicht begriff. Auch sein heutiges Verhalten überraschte mich. Statt Packulats Vernehmung vorzubereiten, schickte Oberleutnant Kühn den ABV weg. Danach entschuldigte er sich bei Paul Packulat, daß wir ihn durch ein bedauerliches Mißverständnis behelligt hatten, und gab Anweisung, ihn nach Hause zu fahren. 9
Packulat war nicht weniger erstaunt und ging so zögernd hinaus, als erwartete er, zurückgerufen zu werden. Herbert und ich waren allein. Ich atmete tief ein und blies die Luft geräuschvoll wieder aus. Bei Herbert nannte ich das „Dampf ablassen" . Mein Vorgesetzter kippelte mit dem Stuhl vor und zurück und ließ ihn an die Wand bumsen. Das war die Ausgangsposition für eine Epistel. „Setz dich", sagte Herbert. Ich folgte der Aufforderung und fragte ungläubig: „Ist die Fahndung gestorben?" Herbert nickte. „Ja. Du hattest recht, Heinz. Der Gesuchte war nach Dresden weitergefahren und wurde dort gestellt." „Irrtum ausgeschlossen?" „Selbstverständlich. Die rechte Seite des Trabant ist beschädigt, und im Wagen wurde der abgerissene Knopf gefunden. Die Studentin hat den Mann identifiziert, und er hat gestanden." Im stillen tat ich Abbitte, daß ich Packulat für den Täter gehalten hatte. „Stell dir vor, Herbert, wie viele Fakten gegen Packulat sprachen. Der Trabant war beschädigt. Pakkulat behauptete, nicht gefahren zu sein, und der Schnee unter dem Wagen bewies das Gegenteil. Außerdem roch Packulat nach Alkohol." Herbert winkte ab. „Das war auch alles. Vielleicht ist er wirklich nicht gefahren, sondern der Sohn?" „Stimmt, der ist^famit unterwegs gewesen. Aber warum ist die Flöte verschwunden ?" Herbert zuckte die Schultern und kippte mit dem Stuhl nach vorn. Es lohnte nicht, den Kopf darüber zu 10
zerbrechen. Der Fall Helga Kastner war abgeschlossen. Wir hatten das Fahndungsnetz ausgeworfen und den Gesuchten darin gefangen. Der Vergleich mit dem Netz gefiel mir, obwohl er oft strapaziert wurde. Fingen wir nicht meist noch manchen Fisch nebenbei? Ich meinte: „Vielleicht hat er etwas anderes zu verbergen?" Aber Herbert musterte mich ablehnend. Schließlich sagte er: „Immerhin hast du eine Nase für faule Sachen." Ich nickte. „Hier stimmt was nicht, Herbert. Packulat vertuscht etwas. Und das hängt mit der Flöte zusammen." Mein Oberleutnant bog das durchsichtige Lineal zu einem Flitzbogen. „Eher glaube ich an die Hausnummer, die er selbst gegeben hat: Unfallermittlung! Übrigens, da du von der Flöte redest, ich habe acht Mark und zehn Pfennig Theateranrecht für dich ausgelegt. Die Karten liegen dort im Schub. Staatsoper. Es g i b t . . . " „Die Zauberflöte." „Hoffentlich fällt die Vorstellung nicht aus, weil Packulat die Zauberflöte geklaut hat", sagte Herbert. Ich war für Spaß zu haben, aber diesmal nicht. Plötzlich war mir die Sache ernst. • „Hast du was?" fragte Herbert. Ich schüttelte den Kopf. „Die Zauberflöte war es nicht, die in Packulats Trabant lag, aber . . . " „Ich weiß", unterbrach mein Vorgesetzter mich, „Taminos Zauberflöte sieht aus wie ein Stock, aber der Vogelfänger Papageno bläst auf einer Rohrflöte." „Lache nicht, Herbert, wie Papagenos Flöte sah sie aus. Packulat ist Möbelfahrer. Vielleicht hat er für die Staatsoper Requisiten gefahren u n d . . . "
„Sich eine Flöte unter den Nagel gerissen? Du spinnst, lieber Heinz. Aber Zauberei ist dabei, denn die Flöte ist aus Packulats Trabant verschwunden." Sobald Herbert mich provozierte, forderte er zugleich eine meiner „Patentkombinationen" heraus, wie er sie nannte. Zugegeben, manche gerieten daneben, aber etliche halfen uns weiter. „Es war keine gewöhnliche Flöte, Herbert. Sie wirkte altertümlich. Lach nur, das macht mir nichts aus." Herbert belächelte meinen Eifer. In den Augen blitzten die Goldfünkchen. Grund genug für mich, in den Fall einzusteigen. „Ich wäre niemals darauf gekommen, Herbert, aber als Opernrequisit könnte ich sie mir vorstellen." Mein Vorgesetzter streckte den Arm aus, und ich schob den Schwenkarm mit dem Telefon zu ihm hinüber. „Halten wir uns lieber an die andere Hausnummer, die klingt vernünftiger", sagte er und wählte die Unfallbereitschaft. Die Frage nach einem Verkehrsunfall in der vergangenen Nacht wurde ausführlich beantwortet. Herberts Gesicht wurde zunehmend ernster. Er legte auf und sah mich an. „Heute nacht, um zwei Uhr dreißig, ereignete sich an der Wuhlheide ein Verkehrsunfall mit Fahrerflucht. Ein Motorradfahrer wurde angefahren und schwer verletzt. Die Spuren beweisen, daß ein Trabant an dem Unfall beteiligt war." Die Schramme an Packulats Wagen befand sich in der Höhe einer Motorradfußraste. War Packulat an dem Unfall beteiligt? Herbert unterbrach meine Gedanken. „Bringe sofort die Materialprobe von der Schramme ins RTL"
„Sofort. Sollte ich nicht trotzdem wegen der F l ö t e . . . " „Rufe an und frage, ob Papagenos Flöte vermißt wird." Ich nickte. Aber ich würde mich persönlich darum kümmern. Darin unterschieden wir uns. Herbert telefonierte meist, während ich froh war, .vom Schreibtisch wegzukommen. Zum erstenmal betrat ich die Staatsoper durch den Bühneneingang. Die niedrige, aber wuchtige Tür fiel schwer hinter mir ins Schloß. Ich hatte erwartet, Wände aus unverputzten Ziegeln zu sehen. Nun blieb ich überrascht stehen. Der Vorraum mit der Pförtnerloge wirkte wie das Vestibül eines kleinen Theaters. Die elfenbeinfarbene Holztäfelung war mattgolden eingefaßt, ein roter Teppich war über den Boden gespannt. Der Dienstausweis ließ die Augenbrauen des älteren Pförtners in die Höhe rucken. Umständlich beschrieb er mir den Weg zur Requisite. Es ging viele Stufen abwärts, und ich benötigte meinen Orientierungssinn. An riesigen Schrankkoffern zwängte ich mich vorbei und zwischen abgestellte Dekorationsstücke hindurch. Auch hier gab es nichts von profaner „Kehrseiten-Atmosphäre", von nackten Backsteinen, Spinnenweben und Kulissenresten verflossener Inszenierungen. Selbst die Kellergänge protzten in Elfenbein und Gold. Irgendwo erklang Musik, von einer kommandierenden Stimme unterbrochen und von rhythmischem „Tam-tam" begleitet. In einem der vielen Räume probte das Ballett. Der Requisiteur besaß Packulats Statur, aber eine dichte, weiße 11
Haarmähne krönte den Charakterkopf. Das ausdrucksvolle Gesicht hätte einem der Heldenväter des Hauses gehören können. Der Ausweis imponierte ihm nicht. Was soll's, sagte seine Miene, wer jahrzehntelang das Dasein eines Opernrequisiteurs führt, kann durch nichts erschüttert werden. Den gemurmelten Namen hatte ich nicht verstanden. Er war nicht wichtig, und der Besuch kam mir nun unsinnig vor. Die pompöse Um12
gebung beeindruckte mich. War Papagenos Flöte in diesem riesigen Kunsttempel nicht ein lächerliches Nichts? Der Requisitenraum sah wenigstens so aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Auch ihn beherrschten die Farben Elfenbein und Gold. Die Schrankregale besaßen Schiebetüren, auf denen mit Kreide die Namen der Opern aufgeschrieben waren, zu denen die darin befindlichen Requisiten gehörten. „Puntila" - „Carmen" — „Rigoletto" —
„Lukullus" — und dort — „Zaubernöte" ! Aus dem Heldenvatergesicht traf mich ein verschmitzter Blick. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?" Er zwinkerte vertraulich, beugte sich herüber und flüsterte mit Verschwörermiene: „Vielleicht eine Mordwaffe?" Plötzlich zückte er einen Dolch und stach ihn mir in die Brust. Ich tat ihm den Gefallen und röchelte erbärmlich. Die Klinge hatte sich in das Heft zurückgeschoben. So starb man also unter dem Theaterdolch. Immerhin besaß der Mann Humor, und für humorvolle Menschen habe ich eine Schwäche. Ich fragte: „Kommt es vor, daß ein Requisit verlorengeht?" Er hob entsetzt die Hände, klopfte gegen Holz und gab zu, daß es schon vorgekommen sei. Ein junger Mann brachte einen goldfarbenen Weinkelch aus Pappe. „Der ist geleimt", sagte er. Mich interessierte mehr der junge Mann. Ich schätzte ihn auf höchstens siebzehn Jahre. Der Requisiteur stellte die Attrappe in den Schrank mit der Aufschrift „Zauberftöte". Es war der Weinkelch, der für Papageno aus der Bühnenversenkung emportaucht. Ehe der Heldenvater die Tür zuschob, fragte ich: „Darf ich Papagenos Flöte sehen?" „Papagenos Flöte?" Er nickte und verschwand fast in dem Schrankfach. Er nahm Taminos Zauberflöte in die Hand und Papagenos Glockenspiel, aber Papagenos Flöte fand er nicht. Er suchte vergeblich. Schließlich drehte er sich zu mir herum. Der Humor war ihm vergangen. „Sie ist weg. Papagenos Flöte ist weg", sagte er ratlos. Eben war mir mein Vorhaben
noch unsinnig vorgekommen. Nun, da die Flöte fehlte, war ich perplex. Hatte ich denn wirklich Papagenos Flöte in der Hand gehalten? Wie war sie aber in Packulats Trabant gekommen? Und warum war sie daraus wieder verschwunden? „Transportiert der VEB Deutsche Spedition Requisiten?" Er schüttelte den Kopf und suchte noch einmal. Vergeblich. Nun, deshalb würde die Vorstellung morgen sicher nicht ausfallen. „Besitzen Sie ein Ersatzstück?" „Gewiß. Aber Herr Brüssow wird ungehalten sein. Er spielt das Signal selbst. Wir haben noch eine stumme Flöte. Das Lockmotiv spielt dann der Solist im Orchester. Herrn Brüssow wird das nicht gefallen." „Herrn Brüssow?" „Er singt den Papageno." Während ich über Zusammenhänge grübelte, trugen zwei junge Männer eine Kiste herein. Sie waren ebenfalls kaum älter als siebzehn, achtzehn. „So junge Leute beschäftigen Sie?" „Aushilfen. Neben dem Facharbeiterstamm benötigen wir Aushilfskräfte. Studenten, Oberschüler und andere Nebenberufliche. Das klappt ganz gut. Manche haben sich zu perfekten Bühnenarbeitern qualifiziert. — Wo ist bloß die Flöte hin, zum Kuckuck?" Studenten hatte er gesagt. Pakkulats Sohn studierte „Veterinär". Der Requisiteur beschrieb mir, wo ich den diensthabenden Bühnenmeister finden würde, und ich verabschiedete mich eilig. Daß ich wegen Papagenos Flöte gekommen war, ahnte er sicher nicht. Hatte ich geglaubt, eine Spur gefunden zu haben, so wurde ich ent13
täuscht. Der Bühnenmeister kannte Hans Packulat nicht. Aus einer Telefonzelle rief ich in der Inspektion an. Herbert wartete schon" darauf. Es interessierte ihn nur am Rande, daß in der Staatsoper Papagenos Flöte verschwunden war. „Der Bericht vom KTI liegt vor. Packulats Wagen war an dem Unfall an der Wuhlheide beteiligt. Laß die Flöte sausen. Der Major hat uns die Unfallermittlung übertragen. Fahre ins Krankenhaus Köpenick. Der Motorradfahrer ist zeitweise bei Bewußtsein." „Gut, Herbert", sagte ich und ließ 14
mir die Enttäuschung nicht anmerken. „Ich kümmere mich um Packulat. Der muß Farbe bekennen." Horst Böhme, der verunglückte Motorradfahrer, lag in einem Einzelzimmer. Der Arzt war bei ihm, und ich mußte warten. In Gedanken formulierte ich möglichst knappe Fragen. . Horst Böhme hatte es böse erwischt. Der Kopf verschwand unter dem dicken Verband, und das schmale Gesicht mit den geschlossenen Augen sah blaß aus. Packulat sollte ihn hier liegen sehen, dachte ich.
Der Arzt stand am Kopfteil des Bettes, und ich saß auf dem Stuhl am Fußende. Der Doktor machte ein Handzeichen, das Geduld forderte. Geduld war die Voraussetzung für die Arbeit als Kriminalist. Manchmal fiel es mir schwer, geduldig zu sein. Die Tür des Krankenzimmers wurde geöffnet, und eine Schwester kam behutsam herein. Sie sagte leise zum Arzt: „Er ist wieder da." Der schüttelte den Kopf. „Jetzt nicht." Die Schwester ging hinaus. Auf dem Gang stand ein junger Mann, sein rötliches Haar leuchtete in der Sonne. War es derselbe, der heute morgen um die Hausecke verschwunden war? Ich stand auf. Der Arzt winkte heftig. Resigniert setzte ich mich wieder. Die Zeit verging schleppend. Horst Böhme kam nicht zu sich. Der Arzt vertröstete mich auf den nächsten Tag. Da war nichts zu machen. Leise verließ ich das Krankenzimmer. Die Tür zum Schwesternraum war nur angelehnt. Ich klopfte und trat ein. Die Schwester sah mich fragend an. „Wer war der junge Mann, Schwester, der nach Horst Böhme gefragt hat?" „Der Rothaarige?" „Ja." „Ein Arbeitskollege von Herrn Böhme, aus seiner Brigade." Ich sah die Schwester erstaunt an. „Er kommt alle paar Stunden und fragt, wie es ihm geht." „Ein Arbeitskollege?" wiederholte ich nachdenklich. Sonderbar. Der Rothaarige war nicht älter als siebzehn Jahre. Und mit Siebzehn beim Stahlhochbau? —
„Weißt du, Herbert, vielleicht ist er ein Freund und denkt, wenn er die Brigade vorschiebt, wird er vorgelassen?" Oberleutnant Kühn war vor mir zurückgekommen. Wir saßen uns an den Schreibtischen gegenüber und berieten, wie wir vorgehen wollten. Nach dem verspäteten Mittagessen warteten wir nun darauf, daß der Tauchsieder das Kaffeewasser erhitzte. Herbert war es gelungen, Packulat bei einem Umzug in Treptow ausfindig zu machen. Trotz der Alkoholfahne war er zur Arbeit gegangen, fuhr aber den Möbelwagen nicht selbst. Packulat hatte von Sonntagabend bis Montagfrüh ein Alibi. Zusammen mit zwei Kollegen hatte er eine Kneipentour unternommen. Die Mitzecher bestätigten, daß sie nach Lokalschluß in der Wohnung des einen weitergetrunken hatten. „Packulat hat am Sonntag kaum die Joppe getragen, die er wochentags trägt", sagte ich. „Kaum. Die hing vermutlich in der Flurgarderobe." „In der Joppentasche steckten die Schlüssel vom Trabant." „Ja. Packulat weiß, daß sein Filius gefahren ist." „Und daß er die Schramme reingezaubert hat", beendete ich. „Hör auf mit Zaubern", sagte Herbert. „Hier wird zu viel gezaub e r t Reden wir zuerst mit Packulats Sohn." „Die veterinärmedizinische Fakultät in der Hannoverschen Straße ist ein ausgedehnter Komplex, Herbert." Mein Vorgesetzter antwortete beiläufig: „Der Student Packulat hospitiert in der Klinik für kleine Haustiere." 15
Ich schwieg beeindruckt. Herbert hatte sich wieder einmal telefonisch informiert. Wir tranken den brühheißen Kaffee im Stehen, in Hut und Mantel. Danach fuhren wir los, aber nicht zur Stadtmitte, sondern in Richtung Friedrichsfelde. Herbert drehte auf. Als wir am Tierpark vorbeifuhren, dachte ich an die aufregende Geschichte um den Schimpansen Nepomuk. Dem Tierwärter Blunck hatte sie fast das Leben gekostet. „Wo fahren wir hin, Herbert V „Zur Baustelle vom VEB Stahlbau, in Oberschöneweide, wo Horst Böhme gearbeitet hat. Wollen sehen, ob der Rothaarige zur Brigade gehört. Dein Einwand, er sei zu jung, ist nicht stichhaltig. Sie bilden auch Lehrlinge aus." Die Baustelle lag im Kabelwerk. In einem haushohen, stählernen Skelett kletterten die Stahlbauer herum. Wir warteten, bis der Brigadier, ein stämmiger Mann Anfang Dreißig, heruntergekraxelt kam. Dort oben wehte anscheinend ein kühles Lüftchen, denn das Gesicht des Brigadiers sah verfroren aus. Wir gingen in die Baubude, in der ein eiserner Ofen Hitze spie. „Wie geht es Horst?" fragte der Brigadier, als wir uns gegenübersaßen. Er streckte die Beine aus und schob den Helm in den Nacken. „War von der Brigade jemand im Krankenhaus?" fragte Herbert. Unser Gegenüber schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hatte angerufen. Die Schwester sagte, es hätte heute keinen Zweck, ihn zu besuchen." Ich nickte. „Stimmt. Es geht ihm nicht gut." Wir fragten nach einem Brigademitglied mit roten Haaren; da 16
schüttelte er den Kopf. Von den acht Kollegen.war keiner rothaarig, und Horst Böhme war mit dreiundzwanzig Jahren der jüngste. Wir fuhren zurück, und diesmal überließ mir Herbert das Lenkrad. Das kam nicht oft vor. Er hatte in der letzten Nacht wenig geschlafen und die Kartei in der Kraftfahrzeugzulassungsstelle ausgewertet. Er rückte sich auf dem Beifahrerplatz zurecht und starrte grübelnd vor sich hin. Ich dachte ebenfalls nach. Im Fahndungsnetz war Packulats Trabant wegen der Schramme hängengeblieben. Wir wußten nun, daß sie Gummispuren aufwies, und an der linken Fußraste von Horst Böhmes Motorrad waren Spuren von weißem Lack sichergestellt worden. Packulat besaß aber ein Alibi. Der Unfall geschah nachts um zwei Uhr dreißig. Packulat kam morgens um fünf nach Hause. Da stand der Trabant auf seinem Platz, und der Sohn schlief. Und was hatte die Flöte mit dem Unfall und der Fahrerflucht zu tun? Mein Vorgesetzter brach das Schweigen. „Fahr schneller, Heinz. Der junge Packulat ist nur bis sechzehn Uhr dort." Ich sah auf die Armbanduhr. Sie zeigte- fünfzehn Uhr dreißig. Die Tierkliniken lagen in dem parkartigen Gelände verstreut, aber die Klinik für kleine Haustiere war bequem zu erreichen. Die Sprechstunden für gefiederte und vierbeinige Patienten waren beendet, die Bänke im Warteraum leer. Für akute Fälle gab es einen Notdienst. Vor uns hielt ein Taxi, eine Frau stieg aus, sie hielt ein Kätzchen auf dem Arm, das sie in ein Wolltuch eingehüllt hatte, und hastete in das Gebäude.
Wir warteten in der Gangnische auf den Studenten Hans Packulat. Die Kübel mit den Tropenpflanzen ließen vergessen, daß draußen Schnee lag, und die Ausdünstung der Tiere weckte Erinnerungen an das Brehm-Haus im Tierpark. Zwischen den Blattpflanzen standen Sessel und ein Tisch. Da kam Hans Packulat. Er ähnelte seinem Vater wenig, war schlank und größer. Er war auch nicht etwa rothaarig, sondern hatte dichtes dunkles Haar. Er wirkte müde, begrüßte uns aber trotzdem höflich. Aus der linken Seitentasche des weißen Kittels ragte demonstrativ das Stethoskop. Ich stellte mir vor, wie er damit auf den Herzschlag einer fetten Hauskatze lauschte, und lächelte. „Setzen wir uns", sagte Herbert. Ich nahm das Notizbuch aus der Tasche, um wichtige Punkte zu stenografleren. Herbert kam sofort zur Sache. „Herr Packulat, haben Sie gestern den Trabant Ihres Vaters benutzt? Wenn ja, wann?" Packulat junior musterte uns nachdenklich, aber keineswegs überrascht. „Wegen der Schramme?" Herbert nickte. „Ja. Woher wissen Sie das?" „Mein Vater hat angerufen und mir zugesetzt, weil ich den Wagen genommen habe. Ich konnte ihn doch nicht fragen, er war ja nicht da." „Wann war das?" „Gestern abend. Wir wollten zum Kostümfest ins Klubhaus vom KWO. Es war sieben Uhr." „Neunzehn Uhr?" fragte ich, wegen des Protokolls. „Ja." „Wen meinen Sie mit ,wir', Herr Packulat?" fragte Herbert.
„Fräulein Niegel und ich. Wir — sind befreundet." „Ich weiß", sagte ich, und Herbert bekam eine steile Falte über der Nase. Über meinen Besuch bei Fräulein Niegel hatte ich ihn noch nicht informiert. Hans Packulat sah mich erstaunt an. Warum hatte Rita Niegel das Kostümfest nicht erwähnt? Kostümfest? Das Wort blieb haften. Herbert ging es ebenso. Er wiederholte betont: „Zum Kostümfest?" Da fing etwas an zu stimmen. Zu einem Kostümfest paßte Papagenos Flöte. Ich fragte den jungen Packulat beiläufig: „Verdienen Sie neben dem Studium Geld? Zum Beispiel als Bühnenhilfsarbeiter?" Warum fragte ich, wo der Bühnenmeister ihn nicht kannte? „Nein. In den Semesterferien arbeite ich hier in der Klinik. Das gehört zum Studium." Herbert fragte weiter: „Sie waren gestern mit Fräulein Niegel verabredet? Wo? Im Klubhaus?" Ehe der Student antwortete, warf ich ein: „Sie sind zusammen hingefahren, nicht wahr? Fräulein Niegel wohnt ja über Ihnen." Hans Packulat nickte. „Gewiß. Es war spät, darum nahmen wir den Wagen." „Welches Kostüm trugen Sie?" Ich dachte an die Kreissäge, das heißt anöden runden Strohhut, der an Packulats Flurgarderobe gehangen hatte. „Als junger Mann von neunzehnhundert", sagte er. „Wie spät war es, als Sie mit Fräulein Niegel im Trabant wegfuhren?" fragte Herbert. „Kurz nach neunzehn Uhr." „Welches Kostüm trug Fräulein Niegel?" wollte ich wissen. 17
„Sie hatte es selbst geschneidert, Der Student sah ihn verlegen an. eine schwarze Katze." „Entschuldigen Sie, das weiß ich „Schneite es, als Sie wegfuhren?" nicht, mir fehlen ein paar Meter fragte Herbert. Film. Ich trinke sonst nicht." „Es fing gerade an." Hans PackuHerbert und ich wechselten einen lat wurde nervös. Unsere Fragen Blick. Packulats Offenheit war versteuerten auf den neuralgischen blüffend. Punkt zu. „Es muß wohl gegen zwei Uhr Ich dachte an Rita Niegels heimgewesen sein", sagte er. lichen Besucher. „Wann waren Sie Um zwei Uhr dreißig war Horst heute morgen hier in der Klinik?" Böhme mit dem Motorrad an der „Ich? Um sieben Uhr dreißig." Wuhlheide verunglückt. „Gibt es dafür Zeugen?" Es kostete Herbert Überwindung, Er sah mich ungehalten an. „Min- sachlich zu bleiben. „Trotz Ihrer destens ein Dutzend KommilitoTrunkenheit fühlten Sie sich in der nen." Lage zu fahren?" Das klang überzeugend. Wer war Auf Hans Packulats Stirn erschiedann bei Rita Niegel gewesen? nen wulstige Falten. „Zu fahren? „Warum rief Ihr Vater Sie an?" Mit dem Trabant? Ich bin mit nahm Herbert die Frage noch ein- einem Taxi gefahren." Er sah uns mal auf. empört an. „Er wollte wissen, ob ich einen Herbert ließ Dampf ab, das heißt, Unfall gebaut hätte. Darum geht er blies schnaufend durch die Nase. es, nicht wahr?" Nun folgten seine Fragen so rasch Mein Vorgesetzter nickte ernst. aufeinander, daß ich kaum mit „Ja, Herr Packulat, darum geht es. dem Stenogramm nachkam. Der Wann waren Sie also im KWO- Student widersprach sich nicht einKlubhaus?" mal und blieb dabei, mit Rita Nie„Kurz vor halb acht." gel im Taxi nach Hause gefahren Er mußte einen herben Stil gezu sein. fahren sein. Schneller wäre ich mit „Und der Trabant?" Blaulicht und Martinshorn auch „Ich wollte ihn heute holen. Aber nicht gewesen. als ich morgens aus dem Haus trat, Packulats Stirn rötete sich. Nun stand er an der Bordschwelle." ähnelte er seinem Vater. „Ich „Und wie ist er dorthin gekomhabe keinen Unfall gehabt." men?" fragte ich skeptisch. Wir fragten weiter, und das Bild „Das weiß ich nicht", antwortete rundete sich. Der vergangene Abend er ungerührt. „Rita auch nicht." war ganz anders verlaufen, als Hans Packulat fuhr fort: „Sie war Rita Niegel mir hatte einreden vernünftiger und trank wenig. Sie wollen. Auf dem Kostümfest war fürchtete, daß mir einfallen könnte, es hoch hergegangen. Um Mitter- mit dem Wagen zu fahren, und nacht war Hans Packulat ziemlich nahm mir deshalb die Schlüssel bezecht gewesen. Die Fragen näherweg." ten sich dem entscheidenden Punkt. „Welche? Dieselben, die Ihr „Wie spät war es, als Sie nach Vater heute morgen aus der JopHause fuhren, Herr Packulat?" pentasche holte?" fragte Oberleutnant Kühn. „Ja. Morgens gucke ich immer in 18
den Briefkasten. Da lagen die Schlüssel drin. Ich nahm sie heraus, ging noch einmal nach oben und steckte sie in Vaters Joppe." „Und Fräulein Niegel weiß nicht, wer den Trabant hergefahren hat?" fragte ich. „Einer der Kommilitonen, sagt sie. Sie weiß nicht, wer. Der Schlüssel ist aus ihrer Handtasche verschwunden, während sie tanzte." Wir fuhren zur Schönhauser Allee. Unterwegs warfen wir uns die Fakten und Vermutungen wie Bälle zu. Das half oft zu einer guten Idee. Herbert fuhr wieder selbst und wirkte weniger abgespannt als vor einer Stunde. Der tote Punkt war anscheinend überwunden. „Rita Niegel weiß nicht, wer den Trabant gefahren hat", sagte ich. „Oder sie deckt denjenigen, da sie von dem Unfall und der Fahrerflucht weiß." „Der Fahrer ist ein Student:" „Der am gleichen Tisch saß." „Zu seinem Kostüm gehörte die Flöte, die er später im Trabant zurückließ." „Was zuerst wie ein unsinniger Zufall aussah . . . " „Klingt logisch, wenn unser Student das Stipendium als Bühnenhilfsarbeiter aufbessert." „Der Fahrer hatte außer der Flöte vielleicht auch das Kostüm aus dem Fundus entliehen?" schloß Herbert. Er konzentrierte sich auf den Verkehr. Die Kreuzung Schönhauser Allee—Dimitroffstraße war um diese Zeit stark befahren. Ich warf den Ball zurück. „Zu welchem Kostüm paßt die Flöte?" Herbert schwieg, und ich beantwortete die Frage selbst: „Zum Papageno."
Herbert spielte wieder mit. „Nicht nur zum Papageno. Die Lockflöte paßt zu jedem Vogelfänger- oder Hirtenkostüm." „Der Fahrer trug also ein Kostüm, zu dem er Papagenos Flöte benutzte." „Warum der Fahrer? Sie lag unter dem Beifahrerplatz." Wir waren am Ziel. In der Schönhauser Allee war Parken verboten, und Herbert fuhr in die nächste Nebenstraße. Der „Herrenausstatter" war auf Selbstbedienung eingestellt. Trotzdem hatten die Verkäuferinnen zu tun, und der Objektleiter war nicht begeistert, als wir Rita Niegel sprechen wollten. Sie errötete, als sie mich erkannte. Wir gingen in das Büro und nahmen in den Besuchersesseln Platz. Rita Niegel sah mich ängstlich forschend an. Vermutlich hatte Hans Packulat mit ihr telefoniert. Sie konnte sich ausmalen, daß ich mir über ihren Besucher Gedanken machte. Ich hatte noch immer nicht mit Herbert darüber gesprochen. Das mußte ich nachholen. Das heißt, wenn es unvermeidlich war. Wir fragten nach dem Kostümfest. Im Klubhaus bestimmte der Zufall, wer mit wem am Tisch saß. Trotzdem konnte Rita Niegel die Kostüme derer beschreiben, die am selben Tisch gesessen hatten. Es war keins dabei, zu dem eine Flöte gepaßt hätte. Gegen Mitternacht waren zwei Tische zusammengerückt worden. „Fräulein Niegel", fragte Herbert, „erinnern Sie sich, ob jemand zu seinem Kostüm eine Flöte trug?" „Eine Flöte?" Sie schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht. Das wäre mir aufgefallen." 19
Nun stellte ich jene Frage, die Herbert mir noch Wochen danach als Muster an Naivität vorhielt. „Fräulein Niegel, befand sich unter den Kostümierten an Ihrem Tisch jemand mit roten Haaren?" „Bestimmt nicht. Das wäre mir aufgefallen." „Danke", sagte ich enttäuscht. Die nächste Frage kam von Herbert. „Wann nahmen Sie Herrn Packulat die Trabantschlüssel weg?" Über ihrer Nase entstand eine senkrechte Falte. „Gleich nachdem wir die Tische zusammengerückt hatten." Mein Vorgesetzter räusperte sich. „Erinnern Sie sich, wo die Schlüssel geblieben sind?" Sie sah uns kindlich offen an. „Die habe ich Konnie gegeben, weil er nichts trank." Glaubten wir mit Konnie den Fahrer von Packulats Trabant und den Mann mit der Flöte zu haben, wurden wir enttäuscht. Rita Niegel wußte nur den Spitznamen Konnie und daß er als Seeräuber kostümiert gewesen war. Er studierte in Ilmenau. Dann kam er wohl nicht als Hilfsarbeiter an der Staatsoper in Frage. Rita kannte viele Studenten mit Scherznamen, die im Studentenklub geläufig waren. Hans Packulat und sie verkehrten häufig dort. Eine halbe Stunde später verließen wir den „Herrenausstatter" und wußten, daß diese Ermittlung uns noch einige Nüsse zu knacken aufgeben würde. Für heute war Schluß. Herbert fuhr mich nach Hause, und unterwegs berieten wir die Maßnahmen des nächsten Tages. Ich sollte Konnie finden, und Herbert wollte den Taxifahrer ermitteln, der Rita Nie20
gel und Hans Packulat nach Hause gefahren hatte. Ich gab ihm die Hand. „Bis morgen, tschüs." „Tschüs. Grüß deine Frau." „Danke, du auch." Das würde morgen ein lustiger Tag werden! Und abends gingen wir in die Oper, um die „Zauberflöte" anzusehen. Ausgerechnet „Zauberflöte", dachte ich. Der Dienstag brachte Enttäuschungen. Das fing mit dem Wetter an. In der Nacht hatte es getaut, und der Schnee war in grauen Matsch verwandelt. Zuerst telefonierte ich mit dem Krankenhaus. Horst Böhme ging es besser. Im Laufe des Tages durfte ich ihn besuchen. Ich fragte nach dem Rothaarigen. Aber der war nicht mehr dagewesen. Auf gut Glück fuhr ich zur Hochschule für Politökonomie. Dort gab es ein Studenteninternat, das verkehrsgünstig zum Klubhaus des KWO lag. Ich wartete die Vorlesungspause ab und raste wie ein Reporter mit dem Notizbuch umher. Es füllte sich mit Spitznamen, wie Schnurps, Nase, der Bärtige, ein Konnie war nicht dabei. Niemand kannte ihn. Darüber verging der Vormittag. Ich fuhr zum Klubhaus hinaus. Der Leiter nannte mir die Kollegen, die bei Veranstaltungen servieren halfen. Auf Egon Kramer mußte ich warten, bis er mit der Essenausgabe fertig war. Danach setzten wir uns in den Speisesaal an einen freien Tisch. Egon Kramer, Ende Fünfzig, war der ideale Zeuge. Er besaß ein ausgezeichnetes Personengedächtnis. „Eine schwarze Katze?" Kramer nahm die Hornbrille ab, behauchte
die Gläser und polierte sie gründlich. „Stimmt, sie saß in meinem Revier. Das war ein übermütiges Völkchen, gegen Mitternacht haben sie zwei Tische zusammengerückt. Es war mir zuerst nicht recht, denn der andere Tisch gehörte mir nicht. Der Kollege gab ihn aber ab." Egon Kramer zählte alle auf, die Rita Niegel uns genannt hatte. Kramer wußte sogar, was jeder verzehrt hatte. Ihm ging bestimmt kein Zecher durch die Lappen. „Erinnern Sie sich an den jungen Mann von neunzehnhundert?" „Mit der Kreissäge? Ja. Der war zuerst blau. Es wurde Bier, Schnaps und Wein durcheinandergetrunken. Das verträgt kein Seebär." Ungewollt gab er das Stichwort. „Der hat wohl am meisten vertragen ?"
„Wer?" „Der Seebär." „Der Seebär? Sie sind gut. Das war eine Redensart von mir." „Ich meine keinen echten, Kollege Kramer, sondern ein Seeräuberkostüm." „Tut mir leid, ein Seeräuber saß nicht am Tisch", sagte er bestimmt. „Auch niemand, der auf Konnie hörte?" Kramer rückte an der Brille und schüttelte den Kopf. „Hat der was angestellt?" Ich lächelte unbestimmt. Er meinte: „Verstehe. Sie können aber Gift darauf nehmen, ein Seeräuber und ein Konnie waren nicht dabei." Der Speisesaal lag verlassen. Nur ein Nachzügler holte seine Essenportion. Ich hielt Kramer die Zigarettenschachtel hin. Er nahm eine 21
heraus und steckte sie hinters Ohr. „Rauchen ist hier nicht gestattet, aber für nachher. Danke." Ich fragte beiläufig: „Erinnern Sie sich an ein Kostüm mit einer Föte?" Ich beschrieb ihm das Instrument. „Sie meinen den Hirtenjungen?" „Ja. Wie sah er aus?" Kramer lachte. „Er? Ich bin nicht sicher, ob es wirklich ein Junge war. Das Kostüm war billig. Alte Hose, Sackhemd, Knotenstock und Hirtenhut, aber darunter wunderschöne blonde Haare. Der Hirte tarn spät, kurz vor zwölf. Gäste jhne Sitzplatz liegen mir nicht. Er trank auch nur eine Cola, und ich habe gleich kassiert." Ein Hirtenjunge also. Oder ein Hirtenmädchen ? „Vielleicht trug er eine Perücke?" fragte Kramer. „Vielleicht", sagte ich. „Wie lange blieb er?" Kramer war ein Juwel. „Er hat zwei-, dreimal mit der schwarzen Katze getanzt. Das Pärchen ging aber bald. Die Katze und der junge Mann mit der Kreissäge, meine ich. Kurz vor halb drei ging der Hirte raus. Nachdem habe ich ihn nicht mehr gesehen." „Danke. Sie haben mir geholfen", sagte ich. Dafür spielte mir der Wartburg einen Streich. Er lief nur auf zwei Zylindern. Das passierte nur mir, Herbert nie. Ich rief ihn in der Inspektion an. Vom VEB Taxi waren Oberleutnant Kühn drei Fahrer geschickt worden, die in der Nacht vom Sonntag zum Montag Fahrgäste vom Klubhaus abgeholt hatten. Einer von ihnen beschrieb Rita Niegel und Hans Packula.t. Einen Zweifel gab es nicht. „Ich habe den Hirten mit der 22
Flöte, Herbert. Rita Niegel hat uns gestern die Taschen vollgehauen." Am anderen Ende der Leitung knurrte es ungehalten. „Entschuldige, sie hat uns auf die Schippe genommen, meine ich. Sie kennt den Hirten und hat sogar mit ihm getanzt." „Und wer ist es?" „Das weiß ich nicht, aber . . . " „Du sagtest doch, du hast ihn?" Typisch Herbert. Wo es nicht angebracht war, legte er jedes Wort auf die .Goldwaage. Als ich ihm sagte, daß der Wartburg sauer sei, war er geschafft. Es blieb sekundenlang still, dann sagte er: „Ich schicke dir einen Toni, der bringt dich ins Krankenhaus. Um sechzehn Uhr mußt du zur Dienstbesprechung zurück sein." „Gut. Wir müssen auch noch über Rita Niegel reden." „Die läuft nicht weg", antwortete Herbert ahnungslos. Ich zuckte die Schultern und hängte den Hörer ein. Wenn Herbert wüßte, wieviel sie mir verschwiegen hatte! Hoffentlich dauerte die Dienstbesprechung nicht lange. Um neunzehn Uhr begann die „Zauberflöte". Im Krankenhaus traf ich Horst Böhme erfreulich verändert an. Er hatte den Unfallschock überwunden. Der unförmige Kopfverband war durch einen kleineren ersetzt worden, aber das Gesicht sah noch blaß aus, und er lächelte wenig überzeugend. „Schwein gehabt", sagte er leise. Ich nickte. Der Arzt war hinausgegangen. Viel Zeit blieb mir nicht, das Gespräch durfte nicht lange dauern. Aber Horst Böhme ersparte mir die meisten Fragen. „Es war meine Schuld", sagte er.
„Da lag etwas auf der Fahrbahn. Ich riß den Lenker nach links. Als ich den Trabant neben mir sah, da krachte es schon. Weiter weiß ich nichts." Die Schuld lag also bei ihm. „Der Trabantfahrer hat Sie liegenlassen und Fahrerflucht begangen", sagte ich. Horst Böhme meinte: „Er hat aber den Unfallwagen gerufen, wurde mir gesagt." Nun versuchte er sogar den anderen zu entschuldigen. Auf jeden Fall würde der Unfallbericht erfreulich kurz geraten. Warum hatte der Fahrer von Packulats Trabant den Unfallwagen nicht abgewartet? Besaß er keine Fahrerlaubnis? Hatte er den Wagen entführt? Stand er unter Alkohol? Ich wünschte dem Verletzten baldige Genesung und ging. Es war Zeit für die Dienstbesprechung. — Es fehlten knappe drei Mihuten an sechzehn Uhr, als wir vor der Inspektion hielten. Ich klopfte dem Fahrer anerkennend die Schulter. Es war dann doch noch eine Hetzjagd geworden. Am Ende mußte ich entscheiden, ob ich rasiert und hungrig oder satt und unrasiert in die Oper gehen wollte. Ich entschied mich für Rasleren und hoffte auf das Büfett im Foyer. Wir trafen uns vor der Oper, und Regina hängte sich bei Frau Kühn ein. Beide mochten sich gut leiden. Ich konnte Herbert ungestört den Vorschlag unterbreiten, jeden Bühnenhilfsarbeiter unter die Lupe zu nehmen. Herbert winkte ab. „Kein Wort davon. Wir wollen Mozart hören, sonst nichts." „Zitat! Oberleutnant Kühn: Ein Kriminalist ist immer im Dienst!"
Die Antwort blieb ihm erspart. Die Türen wurden geöffnet. Es war achtzehn Uhr fünfundvierzig. Noch fünfzehn Minuten bis zum Beginn. Unsere Plätze befanden sich in der vierten Reihe. Bevor ich mich setzte, sagte ich zu Regina: „Entschuldige, ich bin gleich zurück." Herbert lächelte maliziös. „Er inspiziert die Requisiten." Die unauffällige Tür führte hinter die Bühne, und dort begann der Kellergang, an dem die Requisite lag. Das hatte ich gestern erfahren. Der Alte mit dem Charakterkopf begrüßte mich aufgeräumt. „Hallo, Sie sind es? Die Flöte ist wieder da. Natürlich ist sie da." Er breitete die Arme aus, als stände er im Rampenlicht. Papagenos Flöte war wieder da. War es die aus Packulats Trabant? Die Versuchung, hinter die Kulissen zu sehen, war groß, und der Bühneneingang stand einladend offen. Hier gab es eine verwirrende Technik. Dutzende Kabel schlängelten sich am Boden entlang und verschwanden in den Seitenkulissen. Da standen Scheinwerfer, die jeder nur einen winzigen Schnörkel anleuchteten. Es gab viel solchen Zierat und für jeden einen separaten Lichtstrahl. Die Bühne wurde durch einen doppelten Vorhang vom Zuschauerraum getrennt. Sie lag in dem bläulichen Dämmerlicht, wie es das erste Bild erforderte. Die hölzerne Brücke ragte aus der gegenüberliegenden Kulisse heraus, und im Hintergrund, zwischen herabwallenden Schleiern, lag das silberschuppige Schlangenungetüm, auf das Tamino vergeblich die Pfeile schleudern würde. Der Brücke gegenüber hing hoch über dem Boden die Gondel mit 23
den drei Knaben, die im dritten Bild auftraten. Sie wurden von Chordamen dargestellt, die sich dort oben flüsternd unterhielten. Sicher sprachen sie nicht von der Zauberflöte. In der Bühnenmitte, fünfzehn Meter über mir, baumelte der schmale Podest mit der „sternflammenden Königin", der Königin der Nacht. Sie schwebte nachher mit Donnergetöse herab. Deutlich sah ich die Gurte, mit denen sie gesichert war. Um hinaufsehen zu können, mußte ich den Kopf in den Nacken legen. Da oben gab es von Drahtgittern abgeschirmte Galerien. Es sah aus, als würde die Zauberflöte in der Produktionhalle eines Stahlwerkes inszeniert, und die Kulissen dienten dazu, die Arbeitsbühnen und Hebevorrichtungen zu kaschieren. Hinter den Kulissen wirkte ein Theater ziemlich desillusionierend. Tamino probte die einstudierte Pose. Papageno lief hin und her und übte räuspernd die Stimme. Der Vogelfängerkorb stand griffbereit neben der Pauke, die später das Donnergrollen produzierte. Summend drangen die Stimmen aus dem Zuschauerraum bis hierher. Und nun sah ich auch Mauersteine. Die Ziegelwand hinten war weiß getüncht. Mit schwarzer Farbe standen unverständliche Hinweise daraufgepinselt: Carmen, vier Meter zwanzig. Puntila, drei Meter achtzig. Lukullus, zwei Meter zehn. Das betraf wohl die Dekorationen und diente den Bühnenarbeitern als Hinweis. Neben dem Vorhang lag die enge Kabine des Inspizienten. Über dem Schaltpult mit Dutzenden Knöpfen zeigte der Fernsehbildschirm das 24
Orchester, draußen vor der Bühnenrampe. Auf dem Pult des Inspizienten lag die aufgeschlagene Partitur. Vor dem Vorhang erklang jetzt die Ouvertüre. Auf der hölzernen Brücke erschienen die drei Hofdamen der Königin der Nacht. Da sah ich ihn stehen. Er war rothaarig, stand in der Kulisse und sah nach oben. War es der Rotschopf, der sich an Packulats Trabant zu schaffen gemacht hatte? Wenn ja, dann hatte er die Flöte herausgenommen, um sie wieder hierherzuschaffen. Er war dann wohl auch der Fahrer, der den Unfall verursacht hatte. Unsere Blicke trafen sich. Trotz des Dämmerlichtes wußte ich, daß mir dieses Gesicht schon begegnet war. Aber wo? Der Rothaarige drehte sich hastig um und verschwand in den Kulissen. Der Vorhang ging surrend auseinander, und Tamino sang die Auftrittsarie. Aus dem schummerigen Hintergrund schob sich das Schlangenungetüm nach vorn. Herbert sah ungehalten her, als ich ihm verstohlene Zeichen gab. Schließlich stand er auf und schob sich aus der Reihe heraus. Regina sah mich fragend an, und ich zog ein harmloses Gesicht. „Der Rothaarige ist in der Kulisse, Herbert." Oberleutnant Kühn sah mich zweifelnd an, folgte mir aber hinter die Bühne, auf der die drei Hofdamen sich um den bewußtlosen Tamino bemühten. Wir trafen den Bühnenmeister. „Dort drüben stand vor wenigen Minuten ein Bühnenarbeiter mit roten Haaren. Wer war das?"
„Drüben? In Charlottenburg?" Die Bühnenseiten trugen ihrer Lage entsprechend die Bezeichnung Berlin oder Charlottenburg. Die Hinweise links oder rechts wären verwirrend gewesen. Ich nickte ungeduldig. Der Bühnenmeister lächelte. „Sie meinen Tomate? Hier hat jeder seinen Spitznamen. Tomate fährt heute Obermaschine." Er brachte das Sprechfunkgerät an den Mund und sprach leise mit jemandem irgendwo, haushoch über der Bühne, zwischen Trapezen und Kulissenteilen. „Bolle, ist Tomate bei dir?" Die Antwort hörten wir nicht, aber der Bühnenmeister nickte. ,„Er ist oben. Wollen Sie etwas von ihm?" Herbert fragte: „Wie heißt er
wirklich?" - „Tomate? Günter Niegel. Oberschüler, prima Kerl. Auf ihn ist Verlaß. Er kommt schon seit einem Jahr zu uns, meist zweimal in der Woche, je nach Spielplan. In der Zauberflöte fährt er Obermaschine. Entschuldigen Sie mich, Sie können dort raufgehen." Er zeigte auf die schmale Tür neben der Inspizientenkabine und gab hastig Anweisungen in das Mikrofon. „Günter Niegel?" wiederholte mein Vorgesetzter und runzelte die Stirn. Wir standen in einer Rotte kostümierter Kleindarsteller und wirkten zwischen ihnen in den dunklen Anzügen anachronistisch. Herbert sah mich fragend an. Ich nickte schuldbewußt. Nun war klar, warum er mir bekannt vorgekommen war. 25
„Er ist Rita Niegels Bruder, Herbert. Ich bin ein Trottel." Herbert wischte ein imaginäres Stäubchen vom Jackenärmel. „Ich widerspreche nur, wenn mir eine Behauptung unrichtig erscheint." Darauf schwieg er ziemlich lange. Schließlich fragte er: „Was veranlaßt dich zu der kritischen Selbsteinschätzung?" „Das Bild." „Welches Bild?" „Die Fotografie in Niegels Korridor. Sie muß mindestens fünf Jahre älter sein als die Bilder der Mutter und der Schwester", sagte ich zerknirscht. Mein Oberleutnant seufzte. „Du hast also als selbstverständlich vorausgesetzt, daß Günter Niegel zur selben Zeit wie sie fotografiert worden ist?" Ich nickte. Der Lapsus war mir peinlich, aber nicht rückgängig zu machen. Rita Niegels Bruder war zwar Oberschüler, aber inzwischen sicher siebzehn. Ich schluckte resigniert. Da hatte ich nun den Bühnenmeister nach dem Studenten Packulat gefragt An Günter Niegel hatte ich gar nicht gedacht. Und der hatte sich gestern früh aus der Wohnung geschlichen, daran konnte ich kaum noch zweifeln. „Der Hirte auf dem Kostümfest ist Günter Niegel gewesen, Herbert. Er hat eine blonde Perücke getragen und mit seiner Schwester getanzt. Rita Niegel hat also meine Frage nach dem Rothaarigen..." „Exakt beantwortet, lieber Heinz. Du hattest gefragt, ob an ihrem Tisch ein Rothaariger gesessen hätte. Der Bürger Egon Kramer hat ausgesagt, d a ß . . . " „Daß der Hirtenjunge blond gewesen ist und keinen Sitzplatz belegt hatte. Stimmt." 26
„Deine entwaffnend naive Frage ist korrekt beantwortet worden, Genosse Kriminalmeister." Um den Bruder zu decken, hatte Rita Niegel den Seeräuber Konnie erfunden. „Komm", sagte Herbert und klopfte mir tröstend die Schulter. Wir stiegen die eiserne Wendeltreppe zur ersten Galerie hinauf. Hier war Niegel nicht. Wir kletterten weiter und sahen aus der Höhe eines vierstöckigen Hauses auf die Bühne hinunter. Auf der Galerie über dem Bühnenvorhang saßen die Beleuchter mit den bunten Scheinwerfern. Sie sahen auf die Bühne hinab wie in ein Aquarium mit exotischen Fischen. Ein sogenannter „Verfolger" begleitete mit seiner gelben Lichtscheibe den Mohren bei jedem der bizarren Sprünge. Günter Niegel hockte im ungewissen Zwielicht zwischen Öldruckleitungen, Ventilen und Hebeln. Von hier aus wurden Kulissen auf- und abgefahren. Es war ein Wunder, daß sie nicht kollidierten, so dicht nebeneinander hingen sie im Bühnenhimmel. Niegel starrte uns an, sprang auf und lief davon. Mußte er nicht die Obermaschine bedienen, wenn das Bild gewechselt wurde? Aber Niegel verschwand auf dem Laufsteg hinter herabhängenden Schleiern. Wir folgten ihm ohne Rücksicht auf unsere Anzüge, zwängten uns zwischen enge Durchlässe hindurch, hasteten Stufen hinauf und hinunter. Unten ging das Spiel weiter. Wo man es nicht vermutete, hockten stumme Gestalten in dunklen Ecken. Sie warteten auf ihr Zeichen, um dann Räder zu drehen, Hebel umzulegen, Scheinwerfer aufleuchten zu lassen. Der Erfolg eines
Stückes hing nicht zuletzt davon ab, daß zur rechten Zeit, an der richtigen Stelle, der entsprechende Knopf gedrückt und der vorgesehene Hebel umgelegt wurde. Und Günter Niegel rannte weiter. Er verschwand auf einem schmalen, schwindelnd hohen Laufsteg. Ich gab Herbert ein Zeichen und lief an dem Steg vorbei, Stufen abwärts und wieder hinauf, dann war ich auf der anderen Seite. Da war der Steg, aber er gähnte leer. Günter Niegel war verschwunden. Irgendwie fanden wir im Halbdunkel die eiserne Wendeltreppe. Unten angekommen, stolperte ich über ein Kabel und schlug lang hin, selbstverständlich, als das Orchester gerade schwieg. Der Inspizient raufte sich die Haare und sah mich flehend an. Am Bühnenausgang trafen wir uns und zuckten gleichzeitig die Schultern. Der Rothaarige war verschwunden. Mein Vorgesetzter klopfte diesmal echten Staub vom Jackenärmel. Der Bühnenmeister sprach gestikulierend in das Sprechfunkgerät. Der Vorhang war geschlossen, und mit den Kulissen stimmte etwas nicht. Zwei eben herabgelassene Tempelteile wurden wieder hochgehievt. Der Bühnenmeister beschwor das Mikrofon. Herbert sah mich unzufrieden an. „Schnapsidee von dir", sagte er, „hier hereinzuplatzen. Komm, den Niegel kaufen wir uns morgen." Er hatte recht, man sollte nichts übereilen. Der Bühnenmeister sah uns unfroh nach, und das Spiel ging weiter. Der Mohr sprang wild umher, und hinter den spanischen Wänden flackerten die Kerzen am Kopfende des Bettes. Wir warteten den nächsten Bild-
wechsel ab, dann suchten wir unsere Plätze auf. Frau Kühn und Regina sahen uns befremdet entgegen. Ich fand mich damit ab, heute Zielscheibe ominöser Blicke zu sein. Die Oper fesselte mich nicht mehr. Dauernd dachte ich an Günter Niegel. Vielleicht war er noch im Bühnenhaus? Der Pförtner hatte ihn nicht weggehen sehen. Papageno blies auf der Flöte das Locksignal. Das war, als gelte es mir. Deutlich sah ich Günter Niegels entsetztes Gesicht, die Ratlosigkeit und die verzweifelte Entschlossenheit darin. Ich konnte nicht länger auf die Musik lauschen und beugte mich zu meinem Vorgesetzten hinüber. „Ich habe ein mieses Gefühl, Herbert. Wenn Niegel nun eine neue Dummheit begeht? Nimmst du Regina im Wartburg mit?" Herbert nickte, ohne den Blick von der Bühne zu wenden. Ich sah, daß er erleichtert war. Er drückte mir die Hand weniger als Verabschiedung, mehr als Zustimmung. Draußen war es knisternd kalt. Nach dem Tauwetter spürte man es besonders. Krümel — so hatte Regina unseren Trabant getauft — sprang trotzdem zuverlässig an. Im Wagen war es eisig und die Heckscheibe gefroren. Im Scheinwerferlicht funkelten Millionen Eiskristalle auf der Fahrbahn. Die Straßen lagen verlassen da. Wo irrte Günter Niegel jetzt umher? Vor Packulats Haus parkten der blaue Wartburg und der rote Skoda. Der Trabant stand nicht dort. Im ersten Stock, in dem unaufgeräumten Zimmer, brannte Licht hinter der Gardine. Darüber, bei Niegels, war es finster. Ich hielt an, stieg aus und lief um den Block herum. Die hinteren 27
Fenster lagen im Dunkeln. Die Haustür war wieder nur angelehnt. Packulat staunte, als er die Wohnungstür öffnete, und trat einladend zur Seite. Das Fernsehgerät war eingeschaltet, aber die Sportreportage interessierte ihn nicht. Auf dem Tisch, unter der Stehlampe, lag ein aufgeschlagenes Buch. „Ich muß Günter Niegel sprechen. Wissen Sie, ob er zu Hause ist?" „Günter? Nein. Hat er was angestellt?" Ich sagte zögernd: „Vermutlich war er Sonntag nacht mit Ihrem Trabant an einem Unfall beteiligt." Auf Paekulats Gesicht wechselten Erleichterung und Staunen. Er pfiff überrascht. „Günter war es?" „Wo ist Ihr Wagen jetzt?" Packulat pfiff noch schriller. „Moment, nun begreife ich einiges. Vor zehn Minuten sind sie weggefahren. Ich habe mich gewundert, daß sie den Campingbeutel mitnahmen. Bestimmt ist es Günter gewesen, der angerufen hatte." „Wer ist mit wem weggefahren, Herr Packulat? Und wer hat angerufen? Haben Niegels denn Telefon?" „Nein", sagte er, „Reitmeiers im dritten Stock, aber sie nehmen für uns Gespräche an." Packulat vertauschte die bequemen Hausschuhe mit derben ledernen und erzählte dabei. Vor einer Viertelstunde war Rita Niegel aufgeregt zu Paekulats gekommen. Sie hatte beschwörend auf Hans eingeredet, und widerstrebend hatte der sich gefügt. Packulat hatte Bruchstücke mitgehört. „Eben angerufen", „helfen" und „Märchenland". .„Märchenland'?" fragte ich. Packulat langte im Korridor die Skimütze vom Garderobenhaken. 28
Die Kreissäge hing nicht mehr dort. Er stülpte die Mütze entschlossen auf den Kopf und rückte sie zurecht. „Ja, .Märchenland'. So heißt die Kleingartenkolonie, in der Niegels ihre Laube haben. Mir schwant etwas. Wollen wir?" Und ob ich wollte. Ich stand schon an der Tür. Daß Packulat mich begleitete, nahm ich als selbstverständlich hin. Im Wagen sagte er: „Ich weiß nicht, wie die Straße heißt, aber ich finde sie. Die Niegeln hat uns öfter eingeladen." Der Kontakt vom ersten zum zweiten Stock war enger, als ich angenommen hatte. Unterwegs erfuhr ich einiges über Günter Niegel. Packulat hielt viel von ihm. „Die Niegeln" kam mit den Kindern zurecht. Es war das erstemal, daß Günter Ärger machte. Wir hielten vor der Kolonie „Märchenland". Es begann zu schneien. Und ich dachte wieder an den Sonntagabend, als Regina und ich meine Eltern besucht hatten. Neben dem Eingang stand Pakkulats Trabant. Die Schramme, von dem Unfall an der Wuhlheide, war nicht zu übersehen. Ich parkte Krümel weiter entfernt, und wir liefen zurück. Der Schnee fiel dichter und bedeckte den Boden. Die Schrebergartenkolonie wirkte in der Winternacht melancholisch wie ein Friedhof. Packulat ging voraus. Hinter dem winzigen Fenster brannte eine Petroleumlampe. Packulat klopfte, drinnen knackte der Riegel, und knarrend ging die Tür auf. Der Anblick enttäuschte mich. Rita Niegel sah erschrocken, Hans Packulat verlegen aus. Günter Niegel war nicht da. Frierend, mit
hochgestellten Mantelkragen und in gab sie ihrem Bruder die Schlüssel. Decken gehüllt, hockten sie uns ge- Der Einfall, selbst zu fahren, war genüber. Auf dem Tisch lag der Günter Niegel erst später gekomCampingbeutel. men. „Gehört er Ihrem Bruder?" „An der Wuhlheide passierte der fragte ich. Unfall. Günter sagte, er hätte keine Sie nickte resigniert. Der Student Schuld gehabt. Er kann fahren, hat machte seinem Ärger Luft. „Alles bloß noch nicht die Fahrerlaubnis. Unsinn, aber Rita hört nicht Deshalb . . . " sie stockte. auf mich. Wo will er denn hin?" „Deshalb beging er Fahrerflucht", „Ja", wiederholte ich, „wo will ergänzte ich. er hin? Trotzdem machen Sie mit?" Sie nickte. Aus ihrem Gesicht verHans Packulat nickte unsicher. schwand der verkniffene Ausdruck. „Die Flöte vermißte Günter erst, Ich untersuchte den Beutel. Er enthielt Wäsche, der man ansah, als er die Trabantschlüssel schon in Briefkasten geworfen daß sie hastig aus dem Schrank ge- Packulats rissen worden war, Lebensmittel hatte." und dreihundert Mark. Alles Vater und Sohn wechselten überwirkte kindisch, unüberlegt. Doch raschte Blicke. Günter Niegel irrte irgendwo in der „Als Sie gestern früh kamen, Kälte umher. dachten wir, nun ist es aus. Später „Hat er am Telefon gesagt, wohin hielten Sie die Flöte in der Hand, und die mußte Günter doch zurücker will?" fragte ich. Rita Niegel schüttelte den Kopf. bringen, denn für heute war ,Die Sie ähnelte der selbstbewußten Ver- Zauberflöte' angesetzt." käuferin nur noch wenig. Ich forIch nickte. Es war so, wie ich es derte sie auf, sich zu äußern, da geahnt hatte. Günter Niegel war sagte sie verstockt: „Sie wissen gestern morgen heimlich aus der doch alles." Wohnung geschlichen und hatte die Wußte ich alles ? Ich dachte an die Flöte aus Packulats Trabant geholt. berühmten sieben W-Fragen. Sechs waren beantwortet: Wann? Wo? „Herr Packulat, werden Sie weWas? Wer? Warum? Womit? Offen- gen der unberechtigten Benutzung geblieben war nur die Frage: Wie? Ihres Wagens einen Strafantrag Das unbeantwortete Wie störte stellen?" mich. Packulat bewegte sich so heftig, Endlich sprach Rita Niegel. Am daß der Korbstuhl knarrte. „Ach Sonntagabend wurde „Carmen" ge- was, aber die Schramme bezahlt er." Es blieb einen Augenblick still geben. Nach der Vorstellung entnahm Günter Niegel unbemerkt aus zwischen uns. In diese Stille hinein sagte Rita Niegel tonlos: „Eben war der Requisite Papagenos Flöte und er am Fenster." die Perücke und fuhr zum Klubhaus, um den Schluß des KostümIch ging zur Tür, und diesmal festes mitzufeiern. Als er mit sei- verstellte sie mir nicht den Weg. ner Schwester tanzte, äußerte sie Draußen war niemand. Doch im die Befürchtung, Hans Packulat Neuschnee führte die Fußspur zum könne in der Trunkenheit mit dem Fenster und von dort zur offenen Wagen nach Hause fahren. Darum. Schuppentür. 29
Ich räusperte mich. „Komm raus, Hirtenknabe. Man kann eine Dummheit nicht mit einer zweiten ungeschehen machen." Im Schuppen blieb es still. Aus der Laube traten Hans Packulat, der Alte und Rita Niegel. „Fahren Sie los", sagte ich, „wir kommen nach." Zögernd gingen sie. Rita drehte sich am Gartentor noch einmal um. Hans Packulat trug den Campingbeutel wie ein Zentnergewicht. Der alte Packulat stampfte vorneweg. „Sie sind gegangen", sagte ich.
„Komm, du Held, ich möchte dich nicht holen. Du bist ja nicht feige, nur ein bißchen durcheinander. Wir fahren nach Hause, und unterwegs reden wir über alles, klar? Übrigens, ich heiße Schmidt, Kriminalmeister Schmidt." Da war der Schatten neben mir. „Gehen wir. Ich habe kalte Füße gekriegt." „Wie - geht es Horst Böhme?" „Besser", sagte ich. Wir liefen schweigend nebeneinander, und Günter Niegel paßte sich meinen Schritten an.
2. Auflage Hans Siebe
Koberlinks Schatten Illustriert von Theo Hesselbarth 420 Seiten Ganzleinen 7,50 M Irgendwo in der Lünebürger Heide steht der halbzerfallene Bauernhof, in dem Axel Prüfer, Schwester Luzy und deren Mann Paul zu Hause sind. Sie ernähren sich durch Pauls chemische „Erfindungen", verfügen über keine Reichtümer, aber irgendwie ist der versponnene Axel in dieser ländlichen Idylle glücklich. Da taucht Herr Brummer auf, eine Eroberung von Luzy, und macht ihm ein tolles Angebot: Ein gewisser Ingenieur Koberlink aus dem „Osten" muß angeblich dringend nach Westberlin an das Krankenbett seiner Mutter. Axel ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten und soll deshalb für ihn während dieser Zeit in einem mecklenburgischen Dorf vierzehn Tage Ferien machen. Axel ist nicht gerade sehr begeistert, stimmt aber dem krummen Geschäft schließlich zu. Den falschen Ingenieur erwarten aufregende Erlebnisse. Schon nach drei Tagen ereignet sich ein Sabotagefall, wichtige Unterlagen verschwinden und Koberlinks Verlobte taucht plötzlich auf. Axel wird es äußerst unbehaglich, und er stellt sich der Polizei. Verblüfft merkt er aber, daß man dort über den falschen Koberlink gar nicht so erstaunt ist.
Verlag Neues Leben Berlin
Siegfried Dietrich
Der letzte Auftrag Zwei Mädchen liegen in einer Lehmhöhle und hören auf den Lärm des Kampfes. Sie möchten fliehen, sie möchten wieder einmal in Ruhe schlafen, sich satt essen. Wenige Wochen später sind die gleichen Mädchen Kundschafter der Roten Armee. Viele gefährliche Abenteuer haben sie zu bestehen. Am schwierigsten ist der letzte Auftrag. Sie sollen sich von den Faschisten auf legale Weise gültige Ausweise beschaffen...
im Januar
Kuba war ein Dichter, der von den Ereignissen und Gedanken seiner Zeit stets außerordentlich bewegt war, ein Dichter, den nichts kaltließ und der es verstand, mit seiner zupackenden, temperamentvollen Art andere zu bewegen und zu begeistern. Kein Dichter unserer Republik hatte in den fünfziger Jahren so viele Leser unter der jungen Generation wie Kuba. Um die besten und schönsten Gedichte seines Werkes, die heute so aktuell sind wie damals, wieder gegenwärtig zu machen, erscheint diese Auswahl ein Jahr nach dem unerwarteten Tod des Dichters. Mit mehrfarbig illustriertem Umschlag und einer doppelseitigen Grafik von Rolf Münzner.
Verlag Neues Leben Berlin