Eva Marbach
Pandemie
Roman
2
Kapitel 1 "Auf dem schnellsten Weg zur Klinik, bitte! Meine Frau erwartet ein Kind - ...
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Eva Marbach
Pandemie
Roman
2
Kapitel 1 "Auf dem schnellsten Weg zur Klinik, bitte! Meine Frau erwartet ein Kind - es kommt jede Minute", der rotwangige Mann schob seine Angetraute auf den Rücksitz, was angesichts ihres voluminösen Bauches nicht ganz einfach war. Dann klemmte er sich selbst hinterher und warf die Tür des Wagens zu. "Bitte schnell!" rief er atemlos. "Selbstverständlich fahre ich so schnell, wie ich es verantworten kann. Wir wollen Ihre Frau doch nicht unnötig durchrütteln und das Kind gefährden", Iris versuchte, dem werdenden Vater etwas Ruhe zu übermitteln, denn das hatte er anscheinend bitter nötig. "Oh, natürlich nicht." "Wie oft kommen denn die Wehen?" "Etwa alle fünf Minuten." "Dann müssten wir noch reichlich Zeit haben, die Klinik rechtzeitig zu erreichen", Iris war froh, dass sie durch ihr Medizinstudium über ein gewisses Wissen zur Geburtshilfe verfügte. Wie regeln das andere Taxifahrer nur, wenn sie gebärende Frauen zu Klinik fahren? So ganz ohne medizinisches Wissen stelle ich mir das sehr stressig vor, rätselte Iris in Gedanken. 3
Trotz ihrer Beschwichtigungen gab Iris soviel Gas, wie sie wagen konnte, ohne einen Strafzettel zu riskieren. "Oh, ah, jetzt kommt es schon wieder. Nein, wie das weh tut!" die Schwangere wand sich und trat Iris dabei durch die Rückenlehne ins Kreuz. Die werdende Mutter hat sich anscheinend nicht gründlich genug auf die Geburt vorbereitet. Das kommt wohl auch völlig aus der Mode. "Atmen Sie tief durch. So ruhig wie Sie können. Das hilft!" "Ich kann aber nicht tief durchatmen! Es tut viel zu sehr weh!" beim Zappeln schlug die Gebärende aus Versehen ihrem Mann ins Gesicht. Sie hörte erst auf zu toben als die Wehe nachließ. "Aaaah, jetzt fängt es schon wieder an." Das waren jetzt nur noch zwei Minuten. Vielleicht wird es allmählich ernst. Am besten gebe ich etwas mehr Gas. Iris beschleunigte auf knapp zweihundert Stundenkilometer und nutzte jede freie Stelle auf den nächtlichen Straßen Berlins. Durch den Dauerregen glänzten die Straßen wie Spiegel. Wie gut, dass es so tief in der Nacht ist, und dass ich mich mit Autofahren leidlich auskenne. Wenn ich da an die Kartrennen denke: dort ging es noch viel wilder zu. Die Bremsen quietschten, als Iris um die Ecke bog. "Nicht so schnell! Meine Frau wird durchgeschüttelt."
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"Ja, was nun? Schnell oder vorsichtig?" "Am besten beides!" "Aaargh! Oh Gott, ich mag nicht mehr. Ach wäre ich doch tot!" "Immer mit der Ruhe! Tief durchatmen! Wir sind bald da", jetzt wird es aber Zeit. Das klingt schon nach der Übergangsphase, kurz bevor das Kind ausgetrieben wird. Hoffentlich schaffen wir es noch rechtzeitig. Auf eine blutige Geburt hier im Auto kann ich verzichten. "Graaaah! Neeeiiiin! Ich will nicht!" "Hecheln, immer hecheln! Das hilft! Nur noch eine Minute!" Iris beschleunigte ein letztes Mal, dann bog sie auf den Klinikvorplatz ein. Vor dem Eingang warteten schon zwei Männer mit einer rollbaren Trage. Ob der Vater die schon vorher alarmiert hat? Egal! Hauptsache ich werde diese stressigen Passagiere bald los. Sie stieg aus und half dem werdenden Vater, seine Frau aus dem Auto und auf die Trage zu bugsieren. Die Pfleger fuhren die schreiende Frau in die Klinik. Noch eine halbe Stunde, wenn nichts dazwischenkommt, dann ist sie Mutter und überglücklich. Und für mich ist jetzt Zeit für ein Päuschen. Der Taxijob ist echt nervenzehrend. Iris fuhr ein Stückchen zur Seite und entspannte sich. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch ihre kurzen, 5
blonden Locken, in der Hoffnung, dass sie damit die Kopfschmerzen etwas lindern konnte, die sie in letzter Zeit so oft peinigten. "Hallo, sind Sie frei?" ein junger Mann klopfte an das Beifahrerfenster. "Ja, ich kann Sie fahren? Wohin soll’s denn gehen?" Iris war alles andere als begeistert, gleich wieder los zu müssen. Aber schließlich ist es mein Job, Menschen in der Gegend rumzukutschieren. Der neue Passagier nannte seine Adresse und bestieg den Beifahrersitz. "Waren Sie zu Besuch im Krankenhaus?" Iris hatte die Erfahrung gemacht, dass Krankenhausbesucher meistens einen starken Drang hatten, sich ihren Kummer von der Seele zu reden. Durch das Zuhören kam sie sich nicht nur wie eine Fahrmaschine, sondern wie eine Art Kummerkasten vor, was ihr besser gefiel als die reine Fahrerei. "Ja, meine Eltern haben sich auf einer Kreuzfahrt eine Krankheit eingefangen, wissen Sie? Direkt vom Flughafen aus wurden sie hier eingeliefert." "Isolierstation?" "Ja, ganz schrecklich. Ich konnte sie nicht einmal berühren. Durfte nur durch eine Scheibe zu ihnen sprechen, wissen Sie?"
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"Worunter leiden Ihre Eltern denn?" "Irgendeine unbekannte Tropenkrankheit. Lungenentzündung haben die Ärzte gesagt. Aber sie wissen noch nichts Genaues. Meine Eltern sahen grauenvoll aus, alle beide, wissen Sie? So blass, mit blauen Lippen trotz Sauerstoff. Und keuchend! Ganz schnell keuchend!" "Bei Lungenentzündung ist es leider normal, dass die Betroffenen keuchen. Immerhin sind sie jetzt hier in der Klinik. Das ist allemal besser als im Ausland." "Ja, ich bin auch ganz froh, dass sie hier sind und nicht weit weg." "Wo waren sie denn?" "Ach, in Asien. Überall sozusagen. Das war eine sechswöchige Kreuzfahrt, zu ihrem dreißigsten Hochzeitstag, wissen Sie? Also überall in Asien, wo man rumschippern kann und wo es warm ist. Traumstrände, Kokospalmen, blaues Meer, wissen Sie? Am liebsten würde ich ja auch mal so eine Kreuzfahrt erleben. Aber es ist ihnen nicht gut ergangen, meinen Eltern, wissen Sie? Am Anfang schon hatten sie eine leichte Grippe und jetzt diese schreckliche Lungenentzündung seit sie auf dem Heimweg waren. Dabei hatten sie sich doch so auf die Reise gefreut. Seit Jahren haben sie darauf gespart, wissen Sie?" "Das ist sicher sehr hart für Sie, als Sohn. Und die Ärzte wissen nicht, was Ihre Eltern haben?"
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"Nein, sie sind ganz aus dem Häuschen und machen tausend Untersuchungen. Es ist wirklich ganz schrecklich, wenn die eigenen Eltern so krank sind, wissen Sie?" Als sie die Straße ihres Fahrgastes endlich erreichte, war Iris sehr froh, ihn wieder in die Welt zu entlassen. Was soll man nur sagen zu so einer Angelegenheit? Reisen in die Tropen bergen immer gewisse Risiken. Aber für die Beteiligten sind die Konsequenzen dann schwer zu tragen. In aller Gemütsruhe fuhr Iris zum Bahnhof, denn für diese Nacht hatte sie genug von Krankenhausbesuchern. Ach, was waren das noch Zeiten in unserer Biotech-Firma. Welch ein Jammer, dass sie pleite gegangen ist. Wenn Vater erfahren würde, dass ich jetzt Taxi fahre, bekäme er sofort einen Herzinfarkt. Aber auf so einen stressigen Job im Krankenhaus habe ich auch keinen Bock. Und noch viel weniger auf eine elegante Privatpraxis, in der sich lauter feine Pinkel tummeln. Die Arbeit in der Firma war so schön spannend. Gepackt hat sie mich, so dass ich fast glücklich war. Und dann so was! Warum nur, warum hat sie sich finanziell nicht getragen? Wo doch soviel Geld in der Pharmazie verdient wird. Eine Schande, in so einer Branche Pleite zu gehen. Doch was nützt das Lamentieren? Davon können wir auch nicht wieder eröffnen.
Kapitel 2 Zwei Fahrten später wurde Iris müde und fuhr nach Hause. In ihrem Appartement schenkte sie sich ein halbes Glas Rotwein ein und ließ sich auf ihr Ledersofa fallen. 8
Langsam ließ sie den Wein, einen Medoc, durch ihre Kehle rinnen und genoss das samtige Aroma. Sie überlegte kurz, ob sie den Fernseher einschalten sollte, doch ließ es lieber bleiben, als sie daran dachte, was ihr dort in den letzten Nächten geboten worden war. Der Hunger trieb Iris schließlich in die Küche. Auf dem Weg dorthin kam sie an ihrem Laborkittel vorbei, der wie ein Ausstellungsstück an der Wand hing, so als würde sie ihn jederzeit wieder schnappen und mit in ein Labor nehmen können. Verlegen blickte sie sich um, wohl wissend, dass sich außer ihr niemand in ihrem Appartement befand, drückte ihr Gesicht in den Kittel und atmete tief ein. Ah, welch ein Duft! Nach Forschung und Abenteuer. Auf Dauer sollte ich mir wohl doch wieder eine Stelle in einem Forschungslabor suchen. Schade, dass es hier in Berlin so wenige Stellen dieser Art gibt. In München hätte ich wohl schon längst eine gefunden. Aber ich mag nicht nach München, zu den Bayern. Hier in Berlin pulsiert das Leben. Hier will ich bleiben. In ihrer Küche belegte sich Iris ein Käsesandwich, dann ging sie wieder zurück zum Sofa. Einigermaßen gesättigt ging sie schließlich ins Bett, wo sie sofort einschlief. Um zehn Uhr morgens schrillte der Wecker und riss Iris unsanft aus dem Schlaf. Schon wieder Kopfschmerzen, welch ein Elend. Und dann auch noch diese Übelkeit. Fast als wäre ich schwanger: jeden Morgen mit flauem Magen erwachen. Dabei weiß ich ganz genau, dass ich 9
keinesfalls schwanger sein kann. Na ja, der Kaffee wird es richten, wie jeden Tag. Auf dem Weg zur Dusche befüllte Iris ihre Kaffeemaschine und setzte sie in Gang. Dann ließ sie erst warmes, dann kaltes Wasser über ihren Körper strömen. Dadurch verlor sich schon ein Teil ihres Unwohlseins. Der Kaffee verhalf ihr vollends wieder zu Wohlbefinden. Gegen den ersten Hunger verspeiste sie noch eine Banane, dann war sie bereit für neue Taxifahrten. Ihr erster Kunde schnäuzte sich ständig die Nase und berichtete, dass er gerade seinen Vater ins Krankenhaus gebracht hatte, der nach einer Kreuzfahrt plötzlich Fieber und Atembeschwerden bekommen hatte. "Eine Kreuzfahrt in Asien?" "Ja, genau. Thailand, Hongkong, Taiwan, Philippinen, Borneo und was so alles dazu gehört. Soll phantastisch gewesen sein. Strahlende Sonne, blaues Meer, exotische Speisen. Wie gerne würde ich so was auch mal erleben. Aber jetzt isser krank. Die Ärzte befürchten eine Tropenkrankheit, wissen aber noch nichts Genaues. Moment, ich muss mir schon wieder die Nase putzen. Tschuldigung." Iris nickte und konzentrierte sich auf den Straßenverkehr. Ob das wohl die selbe Kreuzfahrt gewesen ist? Anscheinend gab es da einen Ausbruch. Aber wohl erst so spät, dass sie schon in alle Winde verstreut sind. Wenn’s was Ernstes ist, werde ich es bestimmt in den Nachrichten erfahren. Später kann ich ja mal im Internet schauen. 10
Vielleicht ist es ja auch was ganz Alltägliches. Irgendein Dengue-Fieber, scheußlich aber verbreitet. Den dritten Kunden musste Iris ganz in der Nähe ihres Labors absetzen. Ob ich wohl mal reinschaue? Zeit hätte ich ja und es ist auch fast zwölf: eine gute Zeit, um in die Firma zu gehen. Sie parkte ihr Taxi in einer Seitenstraße und betrat das Laborgebäude. Alles totenstill. Igor schläft wohl noch. Aber bestimmt nicht mehr lange. Werd ihm mal einen Kaffee anwerfen, dann kriecht er vielleicht aus seinem Loch. In der kleinen Teeküche stapelten sich die schmutzigen Tassen. Das ist ja mal wieder typisch Igor. Na ja, dafür hat er seine anderen Qualitäten. Iris warf die Kaffeemaschine an und räumte das Geschirr in die Spülmaschine, die danach voll genug war, um sie einzuschalten. Das Röcheln der Kaffeemaschine schien eine belebende Wirkung auf Igor zu haben. Schon nach wenigen Minuten öffnete sich die Tür seiner Kammer und seine untersetzte Gestalt schlurfte mit fast geschlossenen Augen an Iris vorbei zur Quelle des Morgengetränkes. "Hm", sagte Igor und nickte dabei fast unmerklich. "Das heißt nicht 'Hm', sondern 'Guten Morgen, liebe Iris. Danke für den Kaffee'", zog Iris ihn auf. Dabei hatte sie sich eigentlich schon an Igors Schweigsamkeit gewöhnt.
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"Hm", Igor schenkte sich eine Tasse voll und setzte sich auf einen der Hocker vor dem Brett, das sich Frühstücksbar nannte. Laut schlürfend trank er einige Schlucke. "Und? Alles klar hier?" "Hm." "Haben die Gläubiger noch mehr Geräte abgeholt?" "Ne!" "Sehr gut! Hat dir der Insolvenzverwalter inzwischen mitgeteilt, wann diese unselige Versteigerung sein soll?" "Hm." "Ja, und wann? Lass dir noch nicht alles wie Würmer aus der Nase ziehen." "Drei Monate." "Ok, das dauert ja noch ein Weilchen. Mir grausts vor dem Moment, wenn hier alles abgewickelt ist." "Hm." "Weißt du denn inzwischen wo du dann hausen kannst, wenn hier mal Sense ist?" "Ne."
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"Na ja, hast ja noch Zeit bis dahin." "Hm." "Ich geh mal ein wenig Ordnung in meinen alten Arbeitsplatz bringen. Lass dir nur Zeit mit dem Aufwachen." "Hm." Iris betrat das Labor, in dem sich ihr Arbeitstisch befand. Fast zärtlich strich sie über ihr Mikroskop und tat so, als würde sie es entstauben, dabei wurde es durch seine Haube fast vollständig vor Staub geschützt. Eigentlich war ihr Platz in perfekter Ordnung, sodass es nicht wirklich etwas zu tun gab. Daher ordnete sie nur ihre Reagenzgläser anders an und stapelte die Objektträger, säuberlich abgestaubt, in eine der Schubladen. Anschließend kontrollierte sie das verbliebene Elektronenmikroskop, das sie günstig gebraucht erstanden hatten. Das größere Elektronenmikroskop war schon abgeholt worden, weil sie die Raten nicht mehr hatten zahlen können. Es hinterließ eine schmerzhafte Lücke im Labor. Sie warf einen Blick in die Unterdruckkammer, in der gefährliche Stoffe untersucht werden konnten. Die Anzüge, die so aussahen, als wären sie für Mondlandungen geeignet, hingen im Vorraum ordentlich in Reih und Glied. Ob zukünftige Nutzer dieser Räume die speziellen Besonderheiten überhaupt richtig würdigen können, oder werden sie ihr Gerümpel dort abstellen, wo wir einst seltene Viren untersucht haben? Wahrscheinlich wird das Labor sowieso jahrelang leer stehen, denn schon normale 13
Büroräume sind ja massenweise verwaist. So eine Verschwendung. Am besten mache ich mich wieder an die Arbeit, sonst werde ich noch ganz wehmütig. Mir wird schon wieder übel. Ist bestimmt nur psychosomatisch. Noch ein Schlückchen Kaffee und dann auf zum Taxifahren. Igor hatte die Kanne schon halb geleert, aber für Iris reichte es noch locker. Er sah sie durchdringend mit seinen schwarzen, schmalen Augen an, als sie beim Einschenken leicht zitterte. Ja, du gefühlkaltes Ungeheuer. Mir geht’s nicht gut mit unserer Pleite. Du scheinst es ja gelassen zu nehmen. Geht dir überhaupt mal was an die Nieren? "Hm", grunzte Igor, als hätte er Iris Gedanken gelesen. Er schob ihr eine offene Packung Kekse hin und versuchte so etwas wie ein Lächeln, was aber eher zu einer schiefen Grimasse geriet. "Danke!" Iris war überrascht von Igors Fürsorglichkeit. Ob er wohl immer so gewesen ist? So schweigsam? Oder war er früher in Russland leutseliger? Was er dort wohl getrieben hat? Auf jeden Fall hat er viel gelernt. Wenn man ihn lässt, kann er schließlich fast alles, vor allem wenn es mit Maschinen zu tun hat. Das geht über seine Berufbezeichnung als Chemiker weit hinaus. Ob er wohl wieder einen neuen Job findet, wenn hier alles vorbei ist? Seltsamer Typ, dieser Igor, aber irgendwie mag ich ihn. "Ich fahr dann mal wieder. Muss Geld verdienen. Pass gut auf den Laden auf, Igor!" 14
"Hm. Sonntagnachmittag ist Treffen. Siegfried und Martin kommen." "Ok, dann komme ich auch", welch lange Rede für Igor. Hat ihn bestimmt Überwindung gekostet, so geschwätzig zu sein.
Kapitel 3 Am Nachmittag bestieg wieder ein erkälteter Fahrgast Iris' Taxi. Ob das wohl irgendwas zu sagen hat? Ist da was im Anmarsch? Mach dich nicht lächerlich, Mädel! Im März, und vor allem bei diesem kalten Regenwetter, ist es völlig normal, dass ein Großteil der Menschen erkältet ist. Das hat nichts, aber auch gar nichts mit den Lungenkranken auf der Isolierstation zu tun. Keine der bekannten Tropenkrankheiten fängt mit einem milden Schnupfen an. Achte lieber auf die Straße, statt dich in Spekulationen zu verstricken. Bei einer längeren Wartezeit am Taxistand vor dem Bahnhof konnte Iris es sich jedoch nicht verkneifen, ihre Kollegen zu fragen, ob sie auch Verwandte von erkrankten Asienreisenden transportiert hatten. "Ne", war die einhellige Antwort. Davon bin ich jetzt auch nicht schlauer. Ich weiß nur, dass einer Handvoll von Taxifahrern kein solcher Kunde aufgefallen ist. Vielleicht haben andere Kollegen hunderte von 15
Lungenkranken in verschiedenen Krankenhäusern untergebracht. Aber das glaube ich eher nicht. So eine Häufung hätte sich bestimmt herumgesprochen. Na ja, später mal im Internet stöbern. Da finde ich bestimmt was, wenn sich irgendetwas Auffälliges getan hat. Ohne dass es Iris richtig bewusst wurde, zählte sie jedoch ihre schniefenden Fahrgäste. Als sie sich am frühen Abend eine Pause gönnte und nach Hause fuhr, notierte sie sich die Zahl auf einen Zettel und kam sich dabei albern vor. Im Internet stöberte sie auf den Seiten der WHO, des CDCs, des Robert Koch Instituts und auf mehreren inoffiziellen Seuchentickern, die normalerweise am meisten hergaben, weil sie die Informationen aus vielen lokalen Quellen sammelten. Doch sie fand nichts in der gesuchten Richtung. Außer einem milden Cholera-Ausbruch und fortgesetzter Malaria-Häufigkeit schien Asien weitgehend seuchenfrei. Fast schon unheimlich. Sonst ist in Asien ja immer die Hölle los. Ein paar Hühnergrippen-Fälle gibt es sonst immer. Und wo sind die Denguefieber-Ausbrüche? Obwohl Denguefieber ja eigentlich gar nicht so ins Bild passt. Da gibt es normalerweise keine Lungenentzündungen nur hohes Fieber und superstarke Gliederschmerzen. Die langbefürchtete Supergrippe würde passen und auch SARS käme in Frage. Aber dann wären nicht nur die Seuchenticker voll davon, sondern auch das Fernsehen würde kaum noch was anderes bringen. Ich mach mir einfach zu viele Gedanken. Bestimmt fehlt mir die Arbeit im Labor. 16
Ob ich mich je daran gewöhnen werde, eine einfache Taxifahrerin zu sein? Bei ihrer Spätschicht stellte sich Iris dennoch am Krankenhaus in die Taxischlange. Einerseits, weil man dort meistens schnell auf Fahrgäste stieß und andererseits ließ die Neugier sie einfach nicht los. Doch außer den üblichen Schniefnasen, die von ihren Besuchen heimfuhren, musste sie nur Kunden mit gebrochenen Handgelenken, genähten Platzwunden und Halskrausen transportieren. Bis zum Sonntag stellte Iris eine leichte Steigerung der Erkältungen fest, war aber immer mehr der Überzeugung, dass sie Gespenster sah. Besucher von lungenkranken Asienreisenden sah Iris nicht mehr. Es wurmte sie, nicht zu wissen, was hinter den Mauern der Isolierstation vor sich ging. Die Vorfreude auf das Treffen mit ihren ehemaligen Kollegen drängte diese Thematik jedoch in den Hintergrund. Auf dem Weg zum Labor hielt sie bei einer Konditorei und kaufte einen Kuchen, um den Nachmittag etwas gemütlicher zu gestalten. Als sie ankam, war Siegfried schon da. Sie konnte schon am Eingang hören, dass er wegen irgendeines Gerätes auf Igor einredete. Er klang verschnupft. "Hallo Leute! Ich habe euch Kuchen mitgebracht." "Wie aufmerksam von dir, Iris", Siegfried gab Iris einen Begrüßungskuss auf die Wange. 17
"Hm." "Tag Igor! Hier hast du ein Stück." "Und hier Siegfried, eins für dich. Bist du erkältet?" "Mhm, lecker der Kuchen, danke. Ja, seit gestern. Schnupfen, Husten, das Übliche eben." "Und weißt du, bei wem du dich angesteckt hast?" "Das kann nur bei dieser süßen Stewardess gewesen sein. Die war auch erkältet." "Stewardess?! Die kam nicht zufällig gerade aus Asien?" Iris Herz schlug ihr plötzlich bis zum Hals. "Ne, aus Atlanta und New York. Die fliegt meistens zwischen den Staaten und Deutschland." "Ist ja merkwürdig." "Was ist denn an einer Erkältung im März merkwürdig? Vor allem bei dem Wetter?" "Stimmt! Du hast eigentlich Recht. Mir ist halt eine Erkältungs-Häufung aufgefallen." "Bei deinen Taxifahrten?" "Ja, genau. Immer mehr meiner Fahrgäste sind erkältet. 18
Aber das hat wohl nichts zu sagen." "Ich frag mich immer noch, warum du dir so einen Job zumutest. Das hättest du doch bestimmt nicht nötig. Wenn du schon arbeiten willst, dann such dir doch wenigstens eine Stelle, die deiner Qualifikation entspricht." "Ein paar Monate könnte ich wohl auch ohne Arbeit überbrücken. Aber dann würde ich bestimmt vor lauter Grübelei umkommen. Ich halte mir schließlich keinen Stall voller Gespielinnen." "Na, jetzt macht aber mal halblang. Die eine oder andere Lady, die den Weg in meine Gemächer findet, ist doch kein Stall voll", betont elegant strich Siegfried sich seine blonden Haare zurück. Er funkelte Iris herausfordernd an. "Na gut, lassen wir das Thema. Ich bin ja schon zufrieden, wenn du mich diesbezüglich verschonst. Wo bleibt wohl Martin?" "Bestimmt bei seinen Krebskindern, wo denn sonst?" "Igor, hast du was von Martin gehört?" "Ne." "Na ja, er kommt bestimmt bald. Gibt es was Bestimmtes zu besprechen?" "Eigentlich nicht. Nächste Woche soll ein Teil der Büroschreibtische abgeholt werden, aber das dürfte ja keinen 19
von uns besonders schockieren. Ist doch so, oder Igor? Die holen ein paar unbezahlte Tische ab." "Hm." Am Eingang hörte man die Tür ins Schloss fallen. Martin betrat den Raum und setzte sich an den Tisch. Er wirkte daran wie ein Grizzlybär, wuchtig wie er war. Dabei war er wie ein freundlicher Teddybär, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Genau das richtige für seine neue Arbeit als Arzt in einer Kinderkrebsstation, fand Iris. "Tach, alle miteinander. Hatte noch einen kleinen Notfall auf der Station. Wie geht’s, wie steht’s?" "Hallo Martin. Schön, dass du es einrichten konntest. Hier gibt es Kuchen." "Oh, lecker! Meine Lieblingssorte. Und Kaffee! Sehr gut, der wird wohl gegen die lästigen Kopfschmerzen helfen." "Hast du etwa auch immer Kopfschmerzen, die vom Kaffee etwas besser werden?" Iris war sofort hellhörig geworden. "Ja, und leichte Übelkeit. Aber wahrscheinlich fühle ich nur mit meinen kleinen Patienten mit. Denen ist schließlich ständig übel. Bei mir hilft wenigstens der Kaffee." "Mir geht’s genauso. Aber ich habe keine kleinen Patienten, mit denen ich mitleide. Ich dachte, es käme vom Frust wegen der Pleite." 20
"Kann natürlich auch sein." "Siegfried, Igor, habt ihr auch Kopfschmerzen und Übelkeit?" vielleicht sollte ich mir doch einen Job als Ärztin suchen. Ich scheine ja richtig ausgehungert zu sein, mit allen Krankheitsthemen. "Hm." "Nicht dass ich wüsste. Ich achte ja auch darauf, dass ich solche Gefühlsduselei nicht so nah an mich ranlasse." "Warum wundert mich das nicht? Und Igor, hilft bei dir auch das Kaffeetrinken?" "Ne, russische Medizin." "Meinst du etwa Wodka?" "Hm, nur wenig." "Du meinst also, dass du dir regelmäßig einen kleinen hinter die Binde kippst und damit deine Kopfschmerzen in Schach hältst?" Iris hatte sich schon daran gewöhnt, dass man von Igor meistens nur eine detaillierte Information erhielt, wenn man sie für ihn vorformulierte. "Hm." "Richtig gesprächig heute, unser Igor!" Martin schlug Igor freundschaftlich auf die Schulter, was dieser mit einem 21
schiefen Grinsen quittierte. "Sag mal Martin, du bist doch in der Klinik und erfährst bestimmt auch einiges aus anderen Stationen. Gibt es in der Isolierstation eine Häufung von unklaren Lungenentzündungen?" "In der Tat, die gibt es. Woher weißt du das?" "Von meinen Fahrgästen. Einige davon haben Verwandte dort. Schieß schon los: wie viele Patienten sind es und was haben sie?" "Details dürfte ich dir sowieso nicht verraten, aber es gibt keine, daher spielt das auch keine Rolle und schließlich bist du ja eine Kollegin. Es sind sieben Patienten und keiner weiß, was sie haben. Alles ausgetestet, alles negativ. Keine Influenza, kein Denguefieber, keine Malaria, was sowieso nicht passen würde, und auch kein SARS. Zwei haben leichten Pneumokokken-Befall, aber da wird eine Superinfektion vermutet. Ich geh dort natürlich gar nicht hin, wegen meiner kleinen Schützlinge. Aber natürlich muss ich auf dem neuesten Stand bleiben. In anderen Großstädten gibt es übrigens auch ein paar solcher Fälle." "Erstaunlich! Und international? Das war doch eine Kreuzfahrt, auf der die Betroffenen waren, oder?" "Was du alles weißt! Die meisten der Kreuzfahrtteilnehmer liegen jetzt in Krankenhäusern, egal ob sie aus dem Amiland, Frankreich oder Deutschland kommen. Aber in Asien ist kein Ausbruch bekannt. Das ist ja das Mysteriöse 22
an der Angelegenheit." "Sehr interessant! Ich hatte auch schon den Eindruck, dass es mysteriös ist. Aber so scheint es ja noch viel geheimnisvolle und vor allem unheimlicher."
Kapitel 4 Das Gespräch mit Martin ließ Iris auch am Abend keine Ruhe. Erneut durchforstete sie im Internet alle Seiten, die mit Seuchen zu tun hatten, fand aber wieder nichts Relevantes. Ich sollte den Quatsch einfach vergessen. Die lungenkranken Touristen gehen mich nichts an. Aber ich sollte dieses übersteigerte Interesse an Seuchen vielleicht als Hinweis nehmen, dass ich mich um einen neuen Job kümmern sollte. Fällt mir ja schwer, denn irgendwie habe ich bisher wohl noch gehofft, dass unsere Firma sich wieder erholt. Aber das ist blauäugig und naiv. Iris ging auf die Seiten des Robert Koch Institutes und verzweigte diesmal nicht auf die Seuchennachrichten, sondern klickte sich zur Kontaktseite durch. Leider konnte man sich nicht online bewerben, sondern nur traditionell per Post. Also schrieb Iris eine normale Bewerbung, schob sie in einen Briefumschlag und steckte Kopien ihrer Zeugnisse dazu. Am nächsten Tag würde sie den Brief unterwegs einwerfen. Danach fühlte sie sich gleichzeitig besser und schlechter. Wenigstens einen kleinen Schritt für eine neue Zukunft habe ich unternommen. Aber die 23
eigene Firma rückt dadurch wieder etwas weiter ins Traumland. Als sie am nächsten Tag wieder im Taxi saß, war Iris jedoch froh, dass sie sich beworben hatte, denn sie spürte, dass sie das Taxifahren bald hassen würde. Es ist einfach was völlig anderes als Kartrennen, hier durch die Innenstadt zu schleichen. Ach, die Kartrennen, die haben Spaß gemacht. Und jetzt ist das schon so lange her. Schade, dass ich bei den Tourenwagen nie so recht Fuß fassen konnte. Aber man kann nicht alles haben. Ich habe immerhin zwei angeschlossene Studien, beide nicht schlecht. Mit der Medizin finde ich bestimmt leicht eine neue Arbeit und selbst bei der Biologie habe ich Hoffnung, denn zusammen mit der Medizin ergibt sich ein begehrtes Duo. Vielleicht nehmen die mich ja sogar beim Robert Koch Institut, das wäre erste Sahne. Die zahlen zwar bestimmt nicht viel, aber ich brauche ja auch keine Unsummen, vor allem nicht, wenn ich den ganzen Tag arbeite. Wie gewohnt stellte sich Iris beim Krankenhaus in die Warteschlange. Die meisten Fahrgäste kamen mit gebrochenen Armen und anderen Verletzungen und viele erzählten ihr wortreich von ihren jeweiligen Unfällen. Das zeigt mir mal wieder deutlich, dass ich mich in einer Unfallambulanz gar nicht erst bewerben brauche. So was reizt mich einfach nicht. Bei den meisten der Verletzten denke ich ständig "hätten Sie besser aufgepasst". Wie leichtsinnig viele Menschen sind. Forschung gefällt mir sehr viel besser. Heilmittel entdecken, auch wenn es lange dauert - das ist meine Passion. Vielleicht sollte ich doch nach München gehen, oder vielleicht in die Schweiz. Na ja, jetzt war24
te ich erst mal ab, was die Bewerbung bringt. Außerdem muss ich ja wegen der Abwicklung der Firma noch eine Weile hier bleiben. Schlimm genug, das Yacup so weit weg ist. "Hallo, können Sie mich fahren?" eine junge Frau, mit einer Plastiktüte in der Hand, klopfte an die Scheibe. "Ja, gerne. Wo soll’s hin gehen?" "Zum Bahnhof bitte!" "Steigen Sie nur ein." Die Frau nahm Platz und Iris fuhr los. Geschickt fädelte sie sich in den fließenden Verkehr. "Waren Sie schon mal auf einer Isolierstation?" fragte die Kundin. Sofort spitzte Iris die Ohren. "Nur zu Besuch. Kommen Sie gerade von der Isolierstation?" "Genau. Meine Eltern liegen dort, mit Lungenentzündung. Und mich haben sie drei Tage lang festgehalten, weil ich erkältet war. Stellen Sie sich mal vor: die haben doch glatt gedacht, dass ich auch Lungenentzündung bekommen könnte." "Bei sowas müssen die auf Nummer Sicher gehen, auch wenn es unangenehm ist. Sie wirken aber gar nicht erkältet." 25
"Genau. Es ist wieder besser. Darum haben die mich ja auch gehen lassen. War wohl nix mit deren Befürchtung." "Und Ihre Eltern haben eine Lungenentzündung?" "Ja, fürchterlich! Beide atmen ganz schnell und tragen Sauerstoffmasken. Dabei sind sie gerade erst von so einer schönen Reise zurückgekehrt." "Einer Reise?" "Genau. Soll einfach herrlich gewesen sein. In Asien, mit dem Schiff waren sie unterwegs. Die Ärzte befürchten eine Tropenkrankheit. Aber vielleicht ist es auch eine normale Lungenentzündung mit solchen Pneumodingern, haben die Ärzte gesagt." "Meinen Sie Pneumokokken?" "Genau. Pneumo... äh ... kokken, so hießen die. Das sei sehr verbreitet, sagen die Ärzte. Ist aber schon komisch, dass so viele der Schiffsreisenden solche Kokkenteile haben sollen." "So was kann schon mal vorkommen, dass Pneumokokken als kleine Epidemie auftreten. Wo waren Ihre Eltern denn in Asien?" "An tausend Orten. Ganz viel Indonesien, aber auch Thailand, Philippinen, Malaysia, Hongkong und so weiter. In Australien ging es los und dann hin und her durch diese 26
Inselwelt. Und kaum waren sie wieder zurück, wurden sie krank. Na ja, besser als irgendwo im Indonesischen Dschungel." "Haben Sie vielleicht eine Idee, wo sich Ihre Eltern angesteckt haben könnten? Wo waren sie denn in der letzten Woche vor der Rückreise?" "Keine Ahnung. Da sind auch die Ärzte völlig ratlos. Zuletzt waren sie auf den Philippinen, bevor sie von Hongkong aus nach Hause geflogen sind. Wenn Sie es genau wissen wollen, können Sie ja im Internet gucken. Denn meine Mutter hat während der Reise ein InternetTagebuch geführt. Mit Karten, Bildern und genauen Beschreibungen von allen Sehenswürdigkeiten." "Oh, das klingt ja interessant - ein Tagebuch im Internet. Das würde ich gerne anschauen. Können Sie mir die Adresse geben, wenn wir am Bahnhof angekommen sind?" "Genau. Das mache ich doch gerne. Meine Mutter freut sich immer über Besucher in ihrem Tagebuch." Als Iris am Bahnhof anhielt, notierte sie sich die InternetAdresse auf ihren Notizblock: http://wt.parsimony.net/buch944/ Abends zu Hause, rief Iris gleich das Tagebuch auf, denn sie konnte es kaum abwarten, dort vielleicht Hinweise auf einen möglichen Ansteckungsort zu erhalten. Mit dieser Info könnte sie dann viel gezielter nach Seuchenausbrüchen weitersuchen. 27
Das Tagebuch schlug sie schnell in den Bann. Es machte Lust darauf, selbst dort hin zu reisen und all die Inseln mit ihren Vulkanen, Stränden und dem Kunsthandwerk der Einwohner zu besuchen. Vielleicht könnte ich das sogar einschieben, wenn die Formalitäten mit der Firmenauflösung erledigt sind. Mit einem neuen Job kann ich an so eine Reise erst mal gar nicht denken, aber vorher ginge das schon, wenn ich will. Mein Geld würde dafür bestimmt noch reichen. Kingt einfach phantastisch, was die Frau so schreibt. Und wenn man immer wieder in die heile Welt des Schiffes zurückkehren kann, ist es bestimmt auch nicht so stressig, wie in Hotels vor Ort. Aber ich sollte nicht vergessen, dass die Reisenden unterwegs schwer krank geworden sind. Vielleicht sollte ich mir das noch mal gründlich überlegen, mit der eigenen Reise. Wo sie sich nur angesteckt haben könnten? Es muss in der letzten Woche passiert sein, oder vielleicht auch in den letzten zwei Wochen. Ich finde einfach keinen Hinweis auf eine Ansteckung in diesem Zeitraum.
Kapitel 5 Die nächsten Tage verliefen zäh wie Kaugummi. Das Taxifahren ödete Iris an, vom Robert Koch Institut hörte sie nichts und bei ihrer alten Firma tat sich auch nichts. Das schien Iris jedoch eher positiv, denn jede zu erwartende Änderung wäre ein weiterer Abbau des Inventars gewesen. 28
Mehrere Male fuhr sie in der Firma vorbei und brachte Igor ein paar Lebensmittel mit. Sie wusste nämlich, dass er nur ungern einkaufen ging. Doch jedes Mal brach sie zügig wieder auf, weil der Anblick der halb geplünderten Firma sie noch trauriger machte als gar nicht dort zu sein. Eine kurze Zeitungsnotiz ließ Iris vorübergehend aufschrecken. Ein Kindergarten hatte geschlossen, weil die meisten Kinder an grippalem Infekt litten; ungewöhnlich viel für diese Jahreszeit. Bei diesem miesen Wetter aber auch nicht weiter verwunderlich. Das ist ja schlimmer als im November. Auch beim Taxifahren hatten sich die erkälteten Fahrgäste vervielfacht. Außer Iris selbst schien fast jeder erkältet zu sein. Aus Sorge um Siegfried rief Iris bei ihm an. Er wirkte so, als hätte sie ihn gerade bei etwas besonders wichtigem gestört. "Erkältet? Und deswegen rufst du extra an? Ich bin längst wieder gesund. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe zu tun." Iris konnte sich lebhaft vorstellen, wie eine tumbe Blondine mit aufgespritztem Schmollmund selbigen genervt verzog, weil ihr die kostbare Aufmerksamkeit für einen Moment entzogen worden war. Vermutlich jage ich einem Phantom hinterher. Der reine Frust, weil mir die Arbeit im medizinischen Bereich so 29
fehlt. Ich sollte mich besser auf meine Bewerbungen konzentrieren. Eines Tages erhielt Iris eine Email von Yakup aus der Türkei. "Hallo Iris, ihr fehlt mir alle ganz arg. Obwohl hier das halbe Dorf aus Verwandten besteht, fühle ich mich hier wie ein Ausländer. Mit den bleichgesichtigen Touristen, die sich von mir durchkneten lassen, fühle ich mich vertrauter als mit der eigenen Familie. Mein Onkel wollte mir sogar seine Tochter als Braut anbieten. Dabei kenne ich die junge Dame gar nicht und sie ist auch kaum mehr als ein Kind. Außerdem steht mir der Sinn noch nicht danach, zu heiraten. Ich fürchte, ich bin gar kein richtiger Türke mehr. Mir fehlt auch die interessante Arbeit. Hier bin ich zwar sehr gefragt, weil ich die Gäste massieren und ihre Wehwehchen mit Chiropraktik lindern kann. Aber das ist eigentlich nicht das, womit ich mein Leben verbringen will. Vielleicht hätte ich mir auch, wie du, einen Job als Taxifahrer suchen sollen, bis ich wieder eine Stelle als Pharmakologe finde. Wie geht es denn bei euch im kühlen Norden? Trefft ihr euch noch ab und zu in der Firma? Grüß die anderen, wenn du sie mal wieder triffst. Euer Yakup"
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Ach, der Arme! Dem geht’s wohl ganz ähnlich wie mir. Und dann noch so weit weg in der Ferne. Wie pervers: hier war er immer der Ausländer, der Türke. Und dort ist er auch wieder der Fremde, der Deutsche. Aber immerhin hatten wir viel Spaß miteinander bei der Arbeit. Als Kollege war es völlig schnuppe, welcher Herkunft er ist. Wahrscheinlich wäre er doch besser hier geblieben. Ein guter Pharmakologe müsste doch bestimmt einen Job finden können. Ein paar Tage später fand Iris einen Brief vom Robert Koch Institut in ihrem Briefkasten. Schon im Hausflur riss Iris den Briefumschlag auf und zerrte das Schreiben hervor. "...bedauern sehr.... leider keine freien Stellen.... wünschen viel Erfolg...." Oh Mist, die wollen mich nicht. Wahrscheinlich stimmt das sogar, was die schreiben. Man hört ja schließlich ständig, dass die Mittel überall gekürzt werden. Na ja, irgendwas werde ich bestimmt finden. Und wenn ich hier in Berlin auf Dauer nicht fündig werde, kann ich es ja immer noch in München versuchen. Oder vielleicht in der Schweiz. Dort finde ich sicherlich etwas. Und bis es soweit ist, kann ich ja noch ausgiebig den Verlust unserer eigenen Firma beweinen. Es war einfach so ein schöner Traum: Medikamente zu entwickeln, die vielen Leuten helfen könnten, ihre schlimmen Krankheiten zu überwinden. Tja, wir waren eben nicht schnell genug mit der großen Entdeckung, oder hatten zu wenig Mittel.
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Frustriert schleppte sich Iris in ihre Wohnung und schaltete den Fernseher ein, um sich abzulenken. Dort endete gerade ein Bericht, bei dem Hausmittel gegen Erkältungen empfohlen wurden. Sogar das Fernsehen stürzt sich zurzeit auf jede Laufnase. Die sind ja schlimmer als ich. Fast merkwürdig, dass ich die ganze Zeit über keine Erkältung bekommen habe, obwohl so viele meiner Passagiere kränklich sind. Na ja, mir reichen auch schon die ewigen Kopfund Magenschmerzen. Als Iris das nächste Mal vor der Klinik abends auf Fahrgäste wartete, stieg wieder die junge Frau bei ihr ein, deren Mutter das Tagebuch geschrieben hatte. "Hallo, schön, Sie wieder zu sehen", begrüßte Iris ihre Passagierin. "Das Tagebuch Ihrer Mutter habe ich übrigens gelesen. Ich fand es sehr interessant. Hat mir gut gefallen. Grüßen Sie sie bei Gelegenheit." Anstelle einer Antwort hörte Iris ein Schluchzen. Dann kramte die Frau nach einem Taschentuch und putzte sich geräuschvoll die Nase. Erst jetzt fiel Iris auf, dass die Frau rot geschwollene Augen hatte. Bei dem schwachen Abendlicht hatte sie es vorher nicht sehen können. "Oh, sorry! Ist Ihnen nicht gut?" "Meine Mutter!" stieß die Frau zwischen zwei Schluchzern hervor. "Meine Mutter ... ist vorhin gestorben. Die Ärzte ... die Ärzte ... konnten ihr nicht mehr helfen. Und das bei all den Maschinen."
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"Das tut mir aber leid für Sie", Iris war froh, dass sie noch nicht losgefahren war, denn so konnte sie die Frau, wenn auch umständlich, in den Arm nehmen und etwas trösten. "Und Vater ... Vater geht es auch immer schlechter. Wenn es so weiter geht, stirbt er auch. Er hat noch nicht mal mitbekommen, dass Mutter gestorben ist." "Wie schrecklich!" "Ja, ... es ist furchtbar!" "Das ist ja eine schreckliche Zeit für Sie", welch plumpe Sprüche angesichts so einer grausamen Situation. Aber was soll man sonst sagen? "Ja, stimmt. So was Schlimmes habe ich noch nie erlebt. Ich ... ich glaube, von den anderen sind auch schon welche gestorben. Da war in den letzten Tagen mehrmals so ein Durcheinander. Aber mir wird ja nix gesagt, nur wenn es die eigene Familie angeht." Von Schluchzern geschüttelt kuschelte sich die Frau an Iris.
Kapitel 6 Als sie Martin das nächste Mal traf, fragte Iris ihn, ob er mehr über die Patienten mit Lungenentzündung auf der Isolierstation wusste. 33
"Die lassen dir wohl keine Ruhe, was? Soviel ich weiß, sind die alle gestorben." "Alle! Das ist aber mysteriös. Und weiß man inzwischen, was für eine Lungenentzündung das war?" "Ein bisschen mysteriös ist das schon, aber nicht allzu sehr. Die Patienten waren allesamt schon älter und wie du bestimmt weißt, ist Lungenentzündung eine der häufigsten Todesursachen." "Ja, aber alle! Wenn die Hälfte gestorben wären, hätte ich ja nichts gesagt, aber hundert Prozent Sterblichkeit ist ja nun nicht gerade üblich", fast wäre Iris aufgesprungen, so sehr regte es sie auf, dass der Tod der Reisenden einfach so hingenommen wurde. "Stimmt schon, aber manchmal kommt auch so was vor." "Wird das denn nicht gründlich untersucht? Mit Obduktion nach allen Regeln der Kunst." "Klar sind die obduziert worden. Aber du weißt ja sicher wie das ist bei dem Personalmangel. Seit die viertausend Mitarbeiter entlassen wurden, kann sich die Belegschaft nur um die wichtigen Probleme kümmern." "Sind sieben Tote etwa nicht wichtig?" "Doch natürlich, aber es gibt in der gesamten Charité täglich Tote und auch sehr oft Patienten, die an Lungenentzündung sterben. Du kannst aber unbesorgt sein: nach der 34
genauen Todesursache deiner lungenkranken Reisenden wird gefahndet, zumindest habe ich das so verstanden", Martin hielt den Kopf schräg und lächelte Iris aus seinen warmen Augen an, wohl um sie zu beruhigen. "Na hoffentlich. Mir ist nicht wohl bei der Angelegenheit." "Wenn du meine ganzen Krebskinder kennen würdest, wäre dir erst recht nicht wohl bei der Sache. Die haben ihr Leben eigentlich noch vor sich und müssen so eine Tortur durchstehen." "Du hast wohl recht. So einen Job, wie du hast, würde ich bestimmt gar nicht durchstehen. All dieses Elend bei den kleinen Kindern." "Aber ohne Medizin hältst du es anscheinend auch nicht aus. Willst du dich nicht bei uns auf der Infektionsstation bewerben? Infektionen sind ja schließlich dein Steckenpferd." "Schon, aber der Umgang mit Patienten ist wohl nicht so mein Ding. Die Forschung reizt mich eher." "Tja, dann such dir eine Stelle in der Forschung. Dein Taxifahren ist ja eine richtige Verschwendung von Fachwissen und Forscherdrang." "Ok, weil du es bist, werde ich mich demnächst mal wieder bewerben. Aber es fällt mir schwer, denn jede Bewerbung tötet ein Stück weit die Hoffnung darauf, dass es für unsere Firma noch eine Chance gibt", Iris zuckte mit den 35
Achseln und kniff heftig die Augen zusammen. "Diese Chance kannst du dir abschminken. Gib lieber dir selbst eine reale Chance, als dein Leben mit einem aussichtslosen Wunsch zu vertrödeln. Wir sollten hier mal weitermachen, bei der Katalogisierung der Laborbestände. Sonst werden wir nie fertig bis zur Versteigerung." "Oh, diese Versteigerung, ich mag gar nicht dran denken!" plötzlich schoss Iris das Wasser aus den Augen, was sie fast so sehr ärgerte wie die Aussicht auf die Versteigerung ihrer Gerätschaften. "Na komm, ich verstehe ja, dass dir das Ende unseres Firmentraums weh tut. Mir geht es ja genauso", Martin legte seinen Arm um Iris und zog sie an seinen massigen Körper. Iris nahm seinen Trost dankbar an und gab sich ihrem Kummer hin. Nach geraumer Zeit verebbten ihre Schluchzer und sie wusste nicht so recht, ob sie sich mit ihren verquollenen Augen schämen sollte. Schließlich ignorierte sie es jedoch einfach und begann, zusammen mit Martin, die verbliebenen Geräte zu katalogisieren. Die Tage vergingen vorwiegend mit Taxifahren. Iris hatte sich immer noch nicht wieder dazu durchgerungen, sich zu bewerben. Nur eine Liste der geeigneten Firmen und Labore hatte sie in ihren Arbeitspausen zusammengestellt. Eigentlich ist da nichts dabei, wo ich wirklich gerne arbeiten würde. Schon beim Gedanken daran, könnte ich schreien. Ich will unsere eigene Firma zurück. Wir waren auf so einem guten Weg. Bald schon hätten wir erste verkaufbare Ergebnisse gehabt, das weiß ich genau. Gute 36
Medizin für seltene und schwierige Krankheiten. Und was machen diese anderen Läden auf der Liste? Murks, nichts als langweiliges Zeugs. Vielleicht bin ich ja auch ungerecht, aber ich will nicht bei denen arbeiten. Und bestimmt haben die sowieso keinen Job für mich frei. Oh, und immer diese grässlichen Kopfschmerzen. Ich sollte mich vielleicht hinlegen und heute einfach mal früh schlafen. Vielleicht habe ich ja auch Schlafmangel durch die vielen Nachtschichten im Taxi. Auf dem Weg ins Bad tauchte Iris noch mal ihr Gesicht in ihren Laborkittel und inhalierte den Duft der weiten Forschungswelt. Dann kuschelte sie sich unter ihre Bettdecke, aber es brauchte geraume Zeit, bis sie endlich einschlafen konnte. Der Sandsturm tobte. Seit Ewigkeiten tobte der Sandsturm nun schon und schien überhaupt nicht nachlassen zu wollen. Iris hüllte sich noch enger in ihren Laborkittel, der sie vor dem schlimmsten Unbill schützte. Durch einen Spalt sah sie, wie die Sandkörner über das wüste Land peitschten. Hinter einem Erdwall entdeckte sie auf einmal kleine Wesen, schwarze Geschöpfe, die den Windschatten nutzten, um sich fortzubewegen. Das sind doch Kobolde, oder? Rußige Kobolde! Und was tun die da? Die verstreuen irgendwas, als wollten sie säen. Na so was, was säen die denn? Mitten in diesem Sturm. Wollen die Gartenbau betreiben oder was? Rußige Kobolde, die säen. Im Windschatten dieses Sturmes säen? Jetzt kommen sie auf mich zu. Aber sie können mich doch gar nicht sehen, weil mein Laborkittel mich verbirgt. Doch, sie kommen näher. Sie hüpfen auf mich drauf und trippeln 37
meinen Rücken herunter. Wie es kitzelt. Aber mit ihrem Saatgut können sie nicht landen bei mir. Was ist das nur für ein Samen, den die säen? He, was soll denn dieser Unsinn? Das ist doch völliger Quatsch. Das kann doch nur ein Traum sein. Schweißgebadet schreckte Iris aus dem Schlaf. Ihre Decke hatte sie sich vollständig über den Kopf gezogen und musste sich erst wieder daraus befreien. Erst als sie ihre Nachtischlampe eingeschaltet hatte, fand sie allmählich wieder zur Realität zurück. Was für ein Traum! So ein Blödsinn! Sandsturm und rußige Kobolde, die den Windschatten nutzen, um darin zu säen. Wie ich nur auf so was gekommen bin? Am besten dusche ich mir mal den Schweiß vom Leib, vielleicht kann ich dann ja wieder einschlafen und normale Dinge träumen. Bevor Iris unter der Dusche verschwand, setzte sie noch Wasser auf, um sich einen Baldriantee zu kochen. Den schlürfte sie anschließend mit Honig, gemütlich im Bett sitzend, bei dem sie die Decke umgedreht hatte, um nicht in ihrem Schweiß zu liegen. Anschließend las sie noch eine Weile in einem interessanten Roman, bis sie müde genug war, um einzuschlafen. Am nächsten Morgen hatte sie den Traum fast schon wieder vergessen. Erst gegen Mittag, als sie im Taxi saß und auf Kundschaft wartete, fiel er ihr wieder ein. Doch sie kam nicht darauf, was der Traum für eine Bedeutung haben könnte und wie sie dazu gekommen war, so etwas zu 38
träumen. Die Tage vergingen. Wieder einmal trafen sich die ehemaligen Firmengründer im Firmengebäude. Diesmal wollten sie die Gerätelisten miteinander abgleichen. Iris brachte Igor eine dicke Pfeffersalami mit, was ihm eines der seltenen Lächeln entlockte. Für alle hatte sie, wie meistens, Kuchen mitgebracht, denn sie brauchte bei diesen Treffen wenigstens einen kleinen Trost und vermutete, dass es den anderen auch so ging. Martin und Igor langten kräftig zu, doch Siegfried schnitt sich nur ein schmales Stückchen ab und stocherte lange daran rum, bevor er sich eine winzige Portion in den Mund schob. "Können wir diesen Listenvergleich zügig hinter uns bringen?" bat Siegfried mit unruhigem Blick in die Runde. "Auf dich wartet bestimmt mal wieder eine attraktive Blondine", neckte Martin ihn. "Ne, diesmal nicht. Mir tut jeder Atemzug weh. Ich glaube, ich habe mich wieder erkältet."
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Kapitel 7 "Das klingt aber nicht nach Erkältung, wenn dir jeder Atemzug weh tut. Du siehst auch überhaupt nicht gut aus", Iris betrachtete Siegfried besorgt. "Was? Ich sehe nicht gut aus?" "So ist das natürlich nicht gemeint. Du bist selbstverständlich schön wie ein junger Gott. Aber deine Augen glänzen zu stark und du wirkst fiebrig." "Ach so, dann ist ja gut", Siegfried widmete sich wieder der Inventarliste, die Iris ausgedruckt hatte. "Das sehe ich aber nicht so", Iris fühlte, wie eine energische Kraft sich in ihr breit machte. "Nichts ist gut. Du bist offensichtlich krank." "Mag ja sein, na und? Dann lass uns schnell fertig werden, damit ich bald nach Hause komme. Du machst immer ein Theater wegen kleiner Erkältungen. Bist du dir sicher, dass du nicht vielleicht ein Kind brauchst, dass du betüteln kannst?" "Ein Kind? Also hör mal! Wie kommst du denn auf diese absurde Idee?" "Nichts für ungut. Hab ich nur so daher gesagt. Also lass uns zur Sache kommen", ungeduldig wedelte Siegfried mit den Unterlagen. 40
Punkt für Punkt ging die Stammcrew, die aus Iris, Siegfried, Martin und Igor bestand, die Liste durch. Bei manchen Punkten auf der Liste wurde über den Wert debattiert, andere wurden einfach so abgehakt. Dieser Siegfried ist schon ein seltsamer Typ. Wehleidig bis zum Gehtnichtmehr, wenn es um harmlose, kleine Probleme geht, aber wenn es ernst wird, spielt er den Helden. Nach dieser Abfuhr von ihm traue ich mich ja kaum noch, zu seiner Krankheit Stellung zu nehmen. Dabei scheint mir sein Zustand echt besorgniserregend. Wie gemein er mir ein Kind aufdrängen wollte. Dabei habe ich ja nicht mal einen Partner. Und als mittellose Taxifahrerin könnte ich mir auch gar kein Kind leisten, weder von der Zeit her noch finanziell betrachtet. Wenn es so weiter geht, dann werde ich nie ein Kind bekommen können, weil die Situation nie passen wird, bevor ich zu alt dazu bin. Und dann besitzt dieser Typ die Frechheit, mir ein Kind aufzunötigen, als wäre es eine Vitamin-Tablette. Wie gemein! Iris verlor kurz den Faden bei der Besprechung, bis Martin sie anstieß. Dann konzentrierte sie sich wieder auf die Bestandsliste. Ihr blieb jedoch nicht verborgen, dass auch Martin skeptische Blicke in Richtung Siegfried warf. Dennoch kam es völlig überraschend, als Siegfried plötzlich aufstöhnte und seinen Kopf auf die Tischplatte sinken ließ. Nur die Tatsache, dass er sich schon vorher mit seinen Unterarmen aufgestützt hatte, bewahrte ihn davor, auf den Boden zu rutschen.
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"Oh je, was ist denn nun los?" Iris erhob sich voller Sorge, doch Martin war schneller und fühlte bereits den Puls von Siegfried. "Das Fieber ist anscheinend schlagartig gestiegen. Haben wir noch eines der Patientenbetten benutzbar?" Martins Blick wanderte zwischen Iris und Igor hin und her. "Ich glaube schon, aber ich überprüfe das sicherheitshalber. Bestimmt muss es frisch bezogen werden", Iris war endgültig aufgesprungen und strebte dem Ausgang zu. "Ok, kümmer dich darum. Igor, helfe mir mal, den Siegfried vorsichtig auf den Boden zu legen, damit ich ihn untersuchen kann", als erfahrenster Arzt übernahm Martin spontan die Führung der Gruppe. Iris hörte noch, wie Martin etwas zurief, bevor sie den Raum verließ. Sie eilte in den Patientenraum, der für eventuelle Medikamententester vorgesehen gewesen war. Die Betten waren alle mit Schutzhüllen bedeckt. Iris öffnete einen Schrank und griff nach der Bettwäsche, die dort gestapelt lag. Die haben wir ja noch gar nicht auf unserer Liste. Oh, was für ein unwichtiger Unfug mal wieder durch meinen Kopf geht. Jetzt sollte ich mich darauf konzentrieren, den Raum für Siegfried vorzubereiten. So schnell sie konnte, bezog Iris das Bett. Dann fuhr sie den Tropfständer neben das Bett und befreite das EKGGerät von seiner Umhüllung. So, die restlichen Geräte können wir auch noch später reaktivieren. Mit einer klappbaren Trage unterm Arm ging sie zurück in den Be42
sprechungsraum, wo Martin sich über den schnell atmenden Siegfried beugte. "Das Bett ist bereit. Wir können Siegfried rübertragen." Vorsichtig legten die drei Gesunden Siegfried auf die Trage. Beim Anheben rüttelte es etwas sodass Siegfried stöhnte und plötzlich seine Augen weit aufriss. "Es ist gut, Siegfried. Wir tragen dich jetzt ins Bett", Iris versuchte, ihren unerwarteten Patienten zu beruhigen. Doch das misslang. Siegfried versuchte sich aufzusetzen, und als das nicht funktionierte, fing er an, um sich zu schlagen. Fast wäre die Trage den dreien entglitten. Mit größter Mühe gelang es ihnen, den tobenden Siegfried in den Patientenraum zu schleppen. Dann galt es, ihn auf das hohe Bett zu wuchten. Siegfried wehrte sich so heftig, dass er beinahe auf der anderen Seite des Bettes runtergerutscht wäre. Doch endlich lag Siegfried auf der Matratze und keuchte, als hätte er gerade einen Wettlauf hinter sich gebracht. Seine Augen waren zwar offen, aber er schien seine Freunde nicht wahrzunehmen. "Igor, besorg mal die Sauerstoffflasche samt Maske, und Iris, pass bitte auf, dass er nicht runterfällt. Du kannst ihm auch schon mal die Schuhe ausziehen. Ich hole geschwind meine Tasche, damit ich ihn untersuchen kann." 43
Die beiden Männer verließen ihren Platz um das Bett und Iris hoffte, dass es ihr gelang, Siegfried auf dem Bett zu halten. Vorsichtig entknotete sie seine Schnürsenkel und zog anschließend die Schuhe von den Füßen. Wie schnell er atmet. Das ist ja richtig unheimlich. Was er wohl hat? Bestimmt eine Lungenentzündung. Wie er sich die nur eingefangen hat? Das ist mir alles sehr suspekt. Nach kurzer Zeit kam Martin zurück, öffnete Siegfrieds Gürtel und Hemd und klebte einen Temperaturfühler auf die Stirn des Fiebernden. Dann stöpselte Martin sein Stethoskop in die Ohren und begann, Siegfried abzuhorchen. Dabei schüttelte er immer wieder den Kopf. Er wirkte besorgt. Siegfried schien von all dem nichts mit zu bekommen. "Zieh ihm auch die Socken aus und gleich helfe ich dir mit der Hose. Er sollte es kühl haben, damit das Fieber nicht noch mehr steigt", wies Martin Iris zwischendrin an. Wie gut, dass Martin da ist. Ich wüsste nur theoretisch, was man tun muss, aber in der Praxis finde ich es doch sehr erschreckend und bin mir nicht sicher, was man am besten zuerst anpackt. So, jetzt erst mal die Socken. Das Ausziehen der Hose erwies sich anschließend als schwierig, obwohl Martin ihr dabei half. Siegfried wehrte sich heftig dagegen. Doch seine Atemprobleme schienen ihn so stark zu fordern, dass er nicht mehr viel Kraft zum Sträuben aufbrachte.
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Martin warf einen Blick auf den Temperaturfühler. "Wie hoch?" wollte Iris wissen. "Über vierzig Grad. Igor, wo bleibt der Sauerstoff?"
Kapitel 8 "Hier", Igor rollte eine Sauerstoffflasche herbei und reichte Martin eine Maske, die durch einem Schlauch mit der Gasflasche verbunden war. Martin stülpte Siegfried die Maske über Mund und Nase. Siegfried schnappte Luft wie ein Ertrinkender, versuchte aber, sich die Maske vom Gesicht zu reißen. Martin ergriff eine seiner Hände und hielt sie fest. Für die andere Hand, die jetzt verstärkt an der Maske riss, hatte Martin jedoch keine Hand frei, weil er noch die Maske halten musste. Kurz bevor es Siegfried gelang, seine Nase zu befreien, war Iris zur Stelle und ergriff den kämpfenden Arm. Mit beiden Händen musste sie voll zupacken, denn in seinem Fieberwahn entwickelte Siegfried enorme Kräfte. Schließlich trat auch Igor an Siegfrieds Bett und nahm die Hand, die Martin hielt, damit Martin die Sauerstoffmaske mit Gummibändern am Hinterkopf befestigen konnte. Siegfrieds Gesichtshaut wirkte inzwischen schon weniger violett und auch seine Lippen hatten wieder fast die richtige Farbe, wie man durch die transparente Maske sehen 45
konnte. "Uff! Haltet weiter die Arme fest. Ich suche nach Mullbinden, um die Hände am Bett festzubinden, solange Siegfried so tobt", Martin wandte sich ab und öffnete die Schränke. Nach kurzer Zeit kam er zurück, klappte zuerst die Seitenteile des Bettes hoch, schlang dann die Binden um Siegfrieds Handgelenke und befestigte sie am Bettgestell. Erst jetzt durften Iris und Igor loslassen. "Das gefällt mir ja überhaupt nicht, ihn so festzubinden, aber uns bleibt wohl kaum was anderes übrig", Iris schüttelte den Kopf, um ihren Unwillen auszudrücken. "Gut erkannt", Martin lächelte Iris an. Das Geschehen scheint ihn nicht besonders zu beeindrucken. Wahrscheinlich ist er das von seinen Krebskindern gewöhnt. Ich glaube, das wäre wirklich kein Job für mich. "Iris, such mal nach fiebersenkenden Mitteln und einem Breitbandantibiotikum", forderte Martin sie auf. "Ein Antibiotikum? Wir wissen aber doch noch gar nicht, was er genau hat. Müssen wir nicht erst den Erreger feststellen?" "In der Theorie ist das schön und gut. Aber das dauert. Und in der Zwischenzeit können die Bakterien sich ungehindert verbreiten. Das wäre unverantwortlich." "Aber was ist, wenn es Viren sind?"
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"Dann verhindern wir zumindest eine bakterielle Superinfektion." "Ok, das leuchtet ein. Denn die Bakterien könnten ja die Chance nutzen, um die Infektion noch zu verstärken." "Genau! Passiert in der Praxis bei fast jeder VirusPneumonie, wird aber im Studium nur am Rande behandelt. Du brauchst wirklich mal ein bisschen medizinische Praxis, meine Liebe." "Die krieg ich ja jetzt. Und sonst liegt mir die Forschung einfach mehr als der Umgang mit Patienten. Aber jetzt geh ich erst mal das Gewünschte suchen." Iris ging zum Schrank mit den Medikamenten. Bisher hatte sie die dortige Medikamentenfülle immer für übertrieben gehalten, aber jetzt wurde ihr schon bei einem kurzen Blick klar, dass sie mit ihren Beständen nicht sehr weit kommen würden. Sie nahm ein fiebersenkendes Mittel und suchte dann nach einem geeigneten Antibiotikum. Anschließend bewaffnete sie sich noch mit einer Flasche mit Zuckerlösung und dem zugehörigen Tropfbesteck. Ihre Beute brachte sie zu Martin, der ihre Wahl begutachtete und zustimmend nickte. Vorsichtig legte Martin einen venösen Zugang und schloss die Tropfflasche an. Dann spritzte er die mitgebrachten Mittel. "Hoffen wir, dass es hilft. Siegfried ist ja in einem erschreckenden Zustand. Aber immerhin scheint er ein wenig zur 47
Ruhe zu kommen", sagte Martin, nachdem er die Spritze aus dem Tropfschlauch gezogen hatte. "Stimmt! Dass so ein Zusammenbruch so schnell gehen kann, hätte ich auch nicht gedacht." "Kommt manchmal vor, aber dies hier ging schon besonders hopplahopp. Ich rufe mal beim Klinik an, damit die ihn abholen kommen", Martin fischte sein Handy aus der Hemdtasche und drückte ein paar Tasten. Dann hielt er sein Telefon ans Ohr und erklärte die Situation. Plötzlich wurde er lauter. "Was? Ihr seid voll belegt? Von gestern auf heute! - Pneumoniefälle? - auch das Klinikpersonal? - auf dem Gang? nein, wenn das so ist, dann behalten wir ihn lieber hier ok, ich melde mich dann wieder." Martin steckte sein Handy wieder ein und schüttelte den Kopf: "Na so was! Da hat man mal einen Tag frei und schon geht es in der Klinik drüber und drunter." "Was ist denn geschehen?" wollte Iris wissen, die sich aber schon so ihre Gedanken machte. "Siegfried ist nicht der einzige mit Lungenentzündung. Seit heute Nacht wird einer nach dem anderen eingeliefert. Sogar Ärzte und Schwestern sind betroffen. In der Klinik herrscht das reinste Chaos." "Dann musst du jetzt bestimmt sofort dorthin, oder?" Iris schauderte bei dem Gedanken, sich alleine um Siegfried 48
kümmern zu müssen. "Irrtum, ich darf da gar nicht mehr hin, denn ich war dem potentiellen Erreger ja ungeschützt ausgesetzt." "Oh je, da habe ich noch gar nicht dran gedacht. Uns könnte es genau so erwischen wie Siegfried." "Gut erkannt. Daher sollten wir ab sofort nur noch mit Mundschutz in Siegfrieds Nähe kommen. Igor, wärst du so lieb und suchst mal nach Gesichtsmasken?" "Hm", sagte Igor und machte sich auf die Suche. "Vielleicht sollte ich mal im Netz stöbern, ob es da Nachrichten über den Ausbruch gibt." "Gute Idee! Hier können wir im Moment sowieso nicht viel tun. In der Klinik arbeiten sie mit Hochdruck an einer Diagnose. Eine normale Pneumokokken-Pneumonie scheint es nicht zu sein, zumindest nicht als Grunderkrankung." "Ob es was mit der Penumonie der Reisenden vor vier Wochen zu tun hat?" Iris hatte gar kein gutes Gefühl, wenn sie an die damaligen Kranken dachte. "Das mag sein. Die Ärzte in der Klinik ermitteln anscheinend auch in dieser Richtung." "Gar nicht gut. Ich schau jetzt erst mal im Netz und dann sehen wir weiter", Iris ging ins Nebenzimmer, wo immer 49
noch einige Computer standen. Sie zog die Schutzhülle von einem Bildschirm, schaltete den Rechner an und setzte sich an die Tastatur. Nach kurzer Zeit leuchtete der Bildschirm auf und Iris atmete erleichtert aus, denn sie war sich nicht sicher gewesen, ob noch alles reibungslos funktionieren würde und hatte vor lauter Anspannung die Luft angehalten. Die Seuchen-Newsticker überschlugen sich fast. In Jakartha hatte es schon vor zwei Wochen angefangen, doch die Nachricht war erst heute öffentlich geworden, vermutlich weil auch Hongkong und Singapur von vielen Pneumoniefällen berichteten. In der indonesischen Hauptstadt waren anscheinend schon am ersten Tag tausende von Menschen krank geworden und täglich kamen über zehntausend Menschen hinzu. Das Gesundheitssystem war völlig zusammengebrochen. Wie können die so eine Katastrophe so lange verschweigen? Ob die gehofft haben, dass es dann von selbst wieder vorbei geht? Wir hätten hier Schutzmaßnahmen ergreifen können, wenn wir es rechtzeitig gewusst hätten. Und was ist mit den ganzen Urlaubern? Hier steht auch was von einem Ausbruch in Bali. Na ja, immerhin haben sie hier wohl inzwischen Kontrollen an den Flughäfen. Aber anscheinend zu spät. Ob Siegfried sich wieder mit einer Stewardess getroffen hat? "Und, was sagt das Netz?" Martin war in den Raum gekommen und schaute auf den Bildschirm.
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"Ein ganz dramatischer Ausbruch findet statt. Stell dir vor: in Jakartha gab es schon vor zwei Wochen die ersten Fälle und sie haben es bis heute geheim gehalten. Erst nachdem Hongkong berichtete, dass seit gestern ein Patient nach dem anderen eingeliefert wird. Die Flughäfen sind dicht. Und schau hier: Jetzt melden sie auch Fälle in den USA, England, Frankreich und Italien." "Das sieht aber gar nicht gut aus. Wir sollten uns auf eine Quarantäne einrichten. Haben wir denn genügend Vorräte, um hier eine Weile auszuharren?" "Ne, haben wir nicht. Höchstens ein paar Packungen Kekse und Nahrungsmittel für ein paar Tage für Igor."
Kapitel 9 "Oh je, das klingt gar nicht gut. Ohne Lebensmittel bekommen wir hier nach kurzer Zeit Hunger und wenn die Quarantäne erst mal greift, wird es nicht so einfach, an Nahrungsmittel ran zu kommen", Martin knetete sein Kinn und schaute Iris sorgenvoll an. "Dann sollte ich vielleicht einkaufen gehen." "Einerseits ja, andererseits hast du dich ja dem Erreger ausgesetzt, was immer auch der Erreger sein mag." "Du meinst, ich bin verseucht?" 51
"Genau!" "Mist, das habe ich völlig übersehen. Logisch bin ich verseucht. Aber wie kommen wir dann an Nahrungsmittel? Wir hatten ja alle Kontakt zu Siegfried." "Wenn du gründlich duschst, dich umziehst und eine Maske aufsetzt, dürfte es gehen. Aber du solltest möglichst viel Abstand zu anderen Menschen halten." "Hm, das klingt nicht nach einer sicheren Lösung. Aber es ist wohl unsere einzige Möglichkeit. Schreibt mal auf ihr beiden, was ich einkaufen soll, solange ich dusche." Iris suchte Ersatzkleidungsstücke zusammen und verzog sich in die enge Duschkabine. Dort seifte sie sich von Kopf bis Fuß gründlich ein. Die Vorstellung, dass die unbekannten Krankheitserreger schon auf ihr Platz genommen hatten, war ihr unheimlich. Daher wiederholte Iris die Einseifung mehrmals. Nach dem Duschen spülte sie ihren Mund mit einem antibakteriellen Mundwasser und gurgelte bis ihr die Flüssigkeit fast in den Hals rann. Anstelle ihres Pullovers warf sie sich einen sauberen Laborkittel über, den sie im Schrank gefunden hatte. Für ihre Hose hatte sie jedoch keinen Ersatz entdeckt. Am besten fahre ich zuerst noch mal zuhause vorbei und packe ein paar Klamotten ein. Wie gut, dass wir hier wenigstens eine Waschmaschine haben und dass die noch nicht abgeholt wurde. Was man bei so einer drohenden Quarantäne alles beachten muss. 52
Martin und Igor hatten eine umfangreiche Einkaufsliste zusammengestellt. Iris überflog den Zettel und runzelte die Stirn. "Dass ihr viele Fertiggerichte aufgeschrieben habt, wundert mich ja nicht und auch Butterkekse sind wohl sinnvoll. Aber was wollen wir mit Babybrei? Und diese Powergels sind doch eher alberner Schnickschnack für Sportler." "Babybrei ist wunderbar geeignet, wenn man Kranke füttern muss. Oder willst du Siegfried ein Schnitzel einflößen, wenn er mal wieder die Augen aufmacht?" Martin grinste. "Oh, du hast Recht! Und das Powergel ist bestimmt für den Fall gedacht, dass wir auch krank werden und uns selbst mit einem Griff etwas zu essen schnappen müssen. Oh Gott, ich hoffe ja, dass es nicht soweit kommt." "Und wie willst du das verhindern, bei einem unbekannten Erreger, der rapide um sich greift?" "Wart nur ab. Mir fällt bestimmt etwas ein. Spaß beiseite: ich weiß gar nicht, ob ich daran so ausgiebig denken will. Aber du hast natürlich schon wieder Recht. Es ist wichtig, das einzuplanen." "Gut erkannt. Also, hier habe ich noch ein Rezept aufgeschrieben mit Medikamentenvorräten. Außerdem wäre es sehr nett, wenn du kurz bei mir vorbeifährst und meinen Kleiderschrank plünderst. Eine Reisetasche steht neben 53
dem Schrank." "Ok, mache ich. Das wird ja die reinste Tournee. Wie gut, dass mein Taxi einen großen Kofferraum hat. Was mir gerade noch einfällt: Diese Papiere sind doch jetzt potentiell auch verseucht, oder?" "Stimmt. Legen wir sie einfach für ein paar Minuten in die Mikrowelle. Das dürfte die schlimmste Gefahr abwenden. Am sichersten wäre es natürlich, wenn wir unser Labor gar nicht mehr verlassen würden, aber wer versorgt uns dann?" Richtig wohl war Iris nicht zumute, als sie das Firmengebäude verließ und in ihr Auto stieg. Siegfrieds Krankheit schien ihr wie ein Schreckgespenst, das über ihr schwebte und sie auf ihre Einkaufstour begleitete. Die Gesichtsmaske, die sie beim Verlassen des Hauses aufgesetzt hatte, drückte unangenehm auf ihre Nasenwurzel und das Atmen durch das kleine Ventil fiel Iris schwer. Wahrscheinlich wäre ein Vollanzug, ähnlich wie wir ihn im Unterdruckraum benutzen, die richtige Bekleidung für meine Mission. Aber dann würden die Menschen schreiend davonlaufen. Außerdem haben wir gar keinen solchen Anzug für den Außeneinsatz. Hoffen wir mal, dass unsere Vorsichtsmaßnahmen ausreichen. Am besten, ich fahre zuerst nach Hause und dusche noch mal, bevor ich mir neue Klamotten anziehe. Zuhause war Iris unsicher, ob sie zuerst duschen oder vorher nach Kleidungstücken suchen sollte. Sie entschied sich, mit dem Duschen anzufangen. Krebsrot vom heißen Wasser entstieg sie schließlich der Dusche und warf hastig 54
bequeme Kleidungsstücke in eine Tasche. Erst dann zog sie sich saubere Klamotten über. Zuletzt nahm sie noch ihren Laborkittel vom Haken und stopfte ihn in die Tasche, die sich kaum noch schließen ließ. Als nächstes fuhr Iris zu Martins Wohnung und holte den Wohnungsschlüssel aus ihrer Handtasche. Sie fühlte sich wie ein Einbrecher als sie die fremde Wohnung betrat. Doch sie überwand ihre Skrupel und öffnete eine Zimmertür nach der anderen, bis sie Martins Schlafzimmer fand. Dort füllte sie die angekündigte Reisetasche mit Kleidung. Bis zu diesem Moment war Iris keinem Menschen persönlich begegnet, doch jetzt musste sie in die Apotheke gehen. Mit ihrer Maske fühlte sie sich wie eine Aussätzige und fürchtete, dass die Apothekenhelferin sie aus der Apotheke jagen würde. Aber sie hatte Glück. Die Frau hinter dem Tresen betrachtete Iris zwar etwas irritiert, aber das umfangreiche Rezept brachte sie noch viel mehr aus dem Konzept. "Da muss ich aber erst mal schauen, ob wir das alles da haben. Ist das für ein Krankenhaus?" "Ja, für ein Krankenhaus", Iris spürte ihr Herz schnell schlagen angesichts dieser Notlüge. Ich kann ihr ja schlecht alle Details erklären. Und irgendwie sind wir ja zur Zeit eine Art Krankenhaus, wenn auch nur mit einem Patienten. Sogar mit zwei Ärzten, obwohl ich mich so unsicher fühle, dass ich eigentlich kaum zähle. Hoffentlich 55
hat sie alles da. "Tut mir leid, von dem Antibiotikum habe ich nicht die volle Menge und auch vom fiebersenkenden Mittel muss ich einen Teil nachbestellen. Soll ich Ihnen die vorhandenen Medikamente schon mal einpacken oder wollen Sie später alles auf einmal mitnehmen?" die Apothekenhelferin stapelte etliche Schachteln auf ihren Tisch. "Bitte alles einpacken, was Sie da haben. Die nachbestellten Mittel hole ich dann in den nächsten Tagen ab." Iris zückte ihre Kreditkarte und beglich den erschreckend hohen Betrag. Das riss ein schmerzhaftes Loch in ihr Finanzpolster. Vielleicht beteiligt sich Martin ja an den Kosten. Oder Siegfried soll das zahlen, wenn der wieder fit ist. Der ist schließlich reich ohne Ende. So, und jetzt kommt der Großeinkauf. Schon auf dem Supermarktparklatz wurde Iris angestarrt, als wäre sie eine Außerirdische. Die Menschen, an denen Iris vorbeiging, wichen reflexartig ein Stück zurück, was es Iris erleichterte, engen Kontakt zu vermeiden. Wenn ich da an Asien denke: da rennen die Leute ständig mit Mundschutz durch die Gegend. Aber hier gilt das ja geradezu als makaber. Wenn diese Seuche um sich greift, werden Schutzmasken aber bestimmt bald zum Alltagsbild gehören. Drollig! Hier laufe ich rum wie eine Art Karikatur aus der nahen Zukunft. Auch im Laden wichen die Kunden Iris argwöhnisch aus, was sie einerseits erleichterte, denn sie wollte auf keinen 56
Fall irgendjemand infizieren. Andererseits fühlte es sich unangenehm an, so gemieden zu werden. Regal für Regal graste Iris ab und bald türmten sich Dosen, Fertiggerichte, Salamis, Kekse, Kaffee, Milchpulver und der bestellte Babybrei in ihrem Einkaufswagen. Iris stand gerade bei den Nudelgerichten und überlegte, ob sie noch mehr als die bereits eingepackten zehn Tüten in den Wagen werfen sollte, als sie bemerkte, wie eine andere Kundin ihr zuschaute und ihrerseits Nudelgerichte in ihren Wagen lud. Unterwegs fiel Iris auf, dass weitere Kunden sich anscheinend von ihr hatten inspirieren lassen, größere Mengen Vorräte einzukaufen. Ein Mann schielte ganz offen in Iris Wagen und packte dann auch Breipulver ein. Ob das jetzt gut ist, dass mir die anderen Kunden nacheifern? Oder bringe ich sie nur auf dumme Gedanken mit meiner maskierten Einkauferei? Egal! Schließlich ist es deren Sache, was sie einkaufen. Ich habe sie ja nicht dazu genötigt. Den unteren Teil des Wagen belud Iris mit Getränken, vor allem stillem Mineralwasser. Dann warf sie noch zwei Pakete Toilettenpapier und Küchentücher auf den Berg, der sich inzwischen in ihrem Wagen türmte. Der Weg zur Kasse glich einem Balanceakt, denn die sperrigen Packungen drohten ständig, herunter zu gleiten. Auch hier bezahlte Iris mit ihrer Karte, denn auf solche Großeinkäufe waren ihre Bargeldbestände nicht vorbereitet. Das Taxi platzte fast aus allen Nähten, als Iris endlich ihre 57
gesamten Einkäufe eingeladen hatte. Hoffentlich reicht das alles lange genug, um diese Krise zu überstehen. Mehr könnte ich jetzt sowieso nicht ankarren. Wie lange es wohl dauern wird? Ob wir wohl alle krank werden? Zuerst kam Iris zügig voran, doch plötzlich stand sie in einem Stau, der kaum vorwärts kam. Sie schaltete ihren Taxifunk an, in der Hoffnung, Informationen über die Verzögerung zu erhalten. Außerdem aktivierte sie ihr Radio. Zuerst wurde ein aktueller Hit gespielt. Doch dann kam eine Nachrichtenmeldung. "In Berlin wurde eine Quarantäne verhängt. Grund dafür ist das massive Auftreten von Lungenentzündungen. Bleiben Sie zuhause und vermeiden Sie Kontakt zu anderen Menschen. Der Verkehr wird umgeleitet. Nach dem nächsten Song erfahren Sie weitere Informationen über die Epidemie." Aha, jetzt wird es also offiziell. Das ging ja richtig flott. Da muss die reinste Hölle los sein, wenn die so schnell reagieren. Mal sehen, was die noch zu berichten haben. "Überall in Europa wird von Krankheitsfällen berichtet. Die Bundesregierung ist zu einer Sondersitzung zusammengetreten. Kenner der Materie rechnen damit, dass der Notstand ausgerufen wird. Hier kommt gerade eine Meldung rein, dass es auch in den USA Fälle von Lungenentzündung gibt. Wir halten Sie auf dem Laufenden. Bleiben Sie dran!" Das ist ja der reinste Dominoeffekt. Ob diese Epidemie 58
etwas mit den Lungenentzündungen vor vier Wochen zu tun hat? Wäre ja merkwürdig, denn das ist ja schon richtig lange her. Und wie kann sich so was so schnell weltweit verbreiten? Richtig unheimlich, das. Und hier hocke ich nun, und komme nicht weiter. Eine Stunde später war Iris gerade einmal fünfhundert Meter weiter gekommen. Alle paar Minuten hörte sie neue Schauermeldungen über Lungenentzündungsfälle. Dann endlich, nach zwei Stunden, näherte sie sich dem Ende des Staus. Schon von Weitem konnte sie Männer in Uniform sehen, die mit den Fahrern der Autos redeten. Fast alle Autos wendeten anschließend und fuhren zurück in Richtung Stadt. Nur wenige Autos fuhren weiter stadtauswärts. Je näher Iris den Posten kam, desto heftiger schlug ihr Herz. Schließlich war sie an der Reihe und ein Mann beugte sich zu ihrem geöffneten Fenster herab. "Guten Tag junge Frau. Hier dürfen Sie nicht weiterfahren. Und als Taxifahrerin sind Sie ab sofort verpflichtet, Krankentransporte zu übernehmen. Der Notstand wurde ausgerufen. Wenden Sie und fahren Sie dort hinten auf den Parkplatz, um weitere Anweisungen zu erhalten."
Kapitel 10 Oh je, was mach ich nur? Martin und Igor warten doch auf mich. Ohne die Vorräte sind die doch aufgeschmissen. Und Siegfried braucht mich auch. Was sag ich nur diesem 59
Polizisten? Iris holte tief Luft und setzte sich aufrecht hin, so gut es auf dem Autositz ging. "Hören Sie, ich bin schon für ein medizinisches Institut unterwegs. Sehen Sie nicht, dass ich mit Vorräten und wichtigen Medikamenten beladen bin?" dabei deutete Iris auf die Tüte aus der Apotheke, die auf dem Beifahrersitz lag. "Ok, dass Sie Medizin dabei haben, kann ich erkennen. Aber das beweist noch lange nicht, dass Sie im Auftrag eines Krankenhauses unterwegs sind." "Kein Krankenhaus! Ein medizinisches Institut! Wir erforschen den Erreger der Lungenentzündung und entwickeln ein Heilmittel. Unsere Mission ist lebenswichtig für die ganze Menschheit. Also lassen Sie mich endlich durch! Ich habe schon viel zuviel Zeit in diesem Stau verbracht." "Hm. Wir haben aber Anweisung, alle Taxis in den Dienst des Gesundheitsamtes zu stellen." "Sie wollen doch nicht Schuld daran sein, dass kein Heilmittel gefunden wird. Moment, ich zeige Ihnen meine Karte vom Institut", mit zitternden Fingern Iris kramte in ihrer Handtasche und zog schließlich eine Visitenkarte heraus. Wie gut, dass ich die immer noch einstecken habe. Hoffentlich hilft es. Der Beamte nahm die Visitenkarte entgegen und studierte 60
sie gründlich. Er runzelte die Stirn. Die wartenden Autos hupten. Oh Mann, entscheide dich! Lass mich weiterfahren! Der Uniformierte drehte die Visitenkarte um, schaute Iris an, als würde er ein nicht vorhandenes Bild mit ihrem Antlitz vergleichen und kratzte sich dann am Kopf. Ratsuchend schaute er zu seinem Kollegen, der mit einem anderen Auto beschäftigt war. Dieser nickte auffordernd und warf einen Blick auf die Autoschlange. "Ich kann Ihnen auch noch meinen Personalausweis zeigen, wenn Ihnen das weiterhilft", bot Iris an. "Ne, ne, lassen Sie mal. Sie können durchfahren. Aber nur bis zu Ihrem Institut!" "Ok, danke." Mit klopfendem Herzen fuhr Iris zügig von der Kontrollstelle weg. Am liebsten hätte sie Vollgas gegeben, um möglichst schnell Distanz zu den Beamten zu gewinnen, aber sie wollte sich nicht verdächtig machen. Erst als Iris zum Gewerbegebiet, in dem sich ihr Firmengebäude befand, abgebogen war, konnte sie wieder entspannter atmen und auch ihr Herzklopfen beruhigte sich, wenn auch nicht vollständig. Vor ihrer Firma parkte Iris das Taxi und spürte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel. Sie griff nach der Medikamententüte und schnappte sich noch soviel von den Einkäufen, wie sie tragen konnte und betrat die Firma mit einem Gefühl als würde sie nach Hause kommen. Wie pervers, ich freue mich richtiggehend darauf, hier für eine Weile eingesperrt zu sein. 61
Leicht keuchend betrat Iris die Teeküche und stellte ihre Tüten auf eine Ablagefläche. Martin und Igor starrten ihr entgegen, nachdem sie ihre Augem von dem kleinen Fernseher losgerissen hatten, der inzwischen in der Küche stand. "Oh, Iris! Endlich bist du wieder da! Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht. Wo warst du so lange? Warum hast du dich nicht gemeldet?" Martin fuchtelte aufgeregt mit den Armen. "Hm", selbst Igors Kommentar klang sorgenvoll. "Immer langsam Jungs! Ok, ich hab im Stau gesteckt, das war ziemlich lästig. Fast hätten sie mich nicht durchgelassen. Ich musste ihnen erst erzählen, dass wir hier ein Heilmittel entwickeln, bevor sie mir die Weiterfahrt erlaubt haben. Das tun wir doch, oder? Wenn wir hier schon festhängen. Ich meine natürlich, ein Heilmittel entwickeln." "Aber warum hast du uns nicht informiert?" "Mein Handyakku war mal wieder leer. Du müsstest doch inzwischen wissen, wie sehr ich Handys hasse." "Für so einen Zweck sind Handys aber sehr nützlich. Wir sahen dich schon abgestochen irgendwo verbluten." "Wie kommt ihr denn auf solche perversen Ideen? Habt wohl zuviel Fernsehen geguckt?" 62
"Daran wird’s liegen. Hast du denn kein Radio gehört? In vielen Läden ist es zu Plünderungen gekommen, teilweise mit Messerstechereien. Überhaupt: das totale Chaos ist ausgebrochen in der Zeit, in der du weg warst." "Oh, das war mir nicht bewusst. Im Radio habe ich zwar hin und wieder von Plünderungen gehört, habe das aber nicht auf mich bezogen. Denn schließlich war ich davon ja nicht betroffen." "Wie hörst du denn Nachrichten? Plünderungen! Hier in Berlin! Und auch in anderen Städten. In unserem braven Deutschland! Mit meuchelnden Raubrittern. Und du warst da draußen, mitten im Getümmel. Geht das in deinen Schädel rein?" "Ok, ok, ich hab’s ja kapiert. Dass es gleich so schlimm wird, damit habe ich eben nicht gerechnet." "Hier, guck dir’s im Fernsehen an! Dann weißt du, warum wir uns Sorgen gemacht haben. Sie bringen die ganze Zeit nichts anderes außer Krankenhaus- und Plünderungsszenen." Auf dem Bildschirm konnte man gerade sehen, wie sich in der Eingangshalle einer Klinik Feldbett an Feldbett reihte. Auf jeder dieser Pritschen lag ein Kranker, der hechelte, als ginge es um sein Leben. Sauerstoffmasken waren nicht zu sehen. Zwischen den Feldbetten eilten Menschen in Seuchenanzügen, die an Raumanzüge erinnerten, hin und her. Sie verteilten Wasserflaschen, maßen die Körpertem63
peratur und gaben Spritzen. "Wie geht es eigentlich Siegfried?" wollte Iris wissen. "Der schläft inzwischen und es scheint ihm besser zu gehen. Aber jetzt schau weiter! Die liegen in der Eingangshalle, weil die Gänge in den Stationen schon längst voll sind. Sauerstoffflaschen sind längst Mangelware. Das Militär baut auf dem Vorplatz Zelte auf. Zeigen sie bestimmt gleich noch mal." Wie angekündigt wechselte die Szenerie und Iris sah Soldaten, die Massenunterkünfte aufstellten. Dann wurden die Plünderungen gezeigt. Man konnte einen Supermarkt sehen, bei dem die Fensterscheiben eingeworfen worden waren. Eine junge Frau verließ den Laden mit einem vollen Einkaufswagen. Drei Männer sprangen auf sie zu und rissen an ihrem Einkaufswagen. Als sich die Frau wehrte, zückte einer der Männer ein Messer und stach mehrmals auf die Frau ein. Blutüberströmt blieb die Frau auf dem Parkplatz liegen. Die Plünderer verschwanden mit ihrem Wagen. Die Szene wechselte und Iris sah eine bunt zusammengewürfelte Horde, die einen Laden stürmte, den der Inhaber gerade geschlossen hatte. Aus einem anderen Geschäft strömten bepackte Menschen. Einige trugen unnötige Artikel wie Musikanlagen mit sich. Eine Frau, die einen Fernseher ergattert hatte, blieb mitten bei der Flucht stehen und taumelte. Der Fernseher fiel ihr aus den Armen und zerschepperte auf dem Asphalt, während sich die Frau mit dem Arm über die Stirn wischte. Man konnte 64
sehen, wie ihr der Schweiß über die Augen lief. Sie taumelte noch einmal, dann glitt sie wie in Zeitlupe zu Boden, neben die Bruchstücke ihrer Beute. Die nachfolgenden Plünderer stolperten über sie. Erst als die Kamera verwackelte und sich der Kameramann anscheinend einmischte, griffen einige der Menschen die gefallene Frau an den Armen und zerrten sie aus dem Weg. "Oh je, kein Wunder, dass ihr euch Sorgen gemacht habt. Das geht ja zu wie in einer Bananenrepublik. Dort wo ich eingekauft habe, war alles ruhig. Ich war die einzige, die etwas Aufsehen erregt hat, mit meiner Schutzmaske. Aber das ist jetzt auch schon gute zwei Stunden her", Iris wischte sich den Schweiß von der Stirn. Erschrocken hielt sie inne. Geht das womöglich jetzt auch bei mir los? Ach iwo, ich hatte viel Stress und jetzt hat mich auch noch die Angst gepackt. Ansonsten fühle ich mich völlig gesund. "War das eigentlich alles, was du eingekauft hast?" "Nein, natürlich nicht. Ach du liebes Bisschen! Unten steht das beladene Taxi und wartet auf uns. Ich habe es noch nicht einmal abgeschlossen." "Dann lass uns gleich mal runtergehen! Igor, dein Typ ist gefragt!" Zu dritt entluden sie das Auto in wenigen Minuten. Anschließend ging Martin ins Krankenzimmer, um nach Siegfried zu schauen, während Iris die Nahrungsmittel so gut es ging in der Teeküche verstaute.
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"Er schläft immer noch. Aber seine Sauerstoffwerte sind nach wie vor schlecht. Es scheint ihn ziemlich erwischt zu haben", berichtete Martin als er wieder zurückkam. Seine Schutzmaske hatte er sich in die Stirn geschoben, sodass sie aussah, wie eine Narrenkappe. "Soll ich uns erst mal was zu trinken machen, auf den Schreck? Und vielleicht einen kleinen Imbiss?" Iris sehnte sich danach, etwas Normalität in die Situation zu bringen. "Gute Idee, ich habe heute noch gar nichts richtiges gegessen. Igor, du willst bestimmt auch was essen, oder?" "Hm." In der Enge zwischen all den Einkäufen gelang es Iris, einen Topf voll Spaghetti zu kochen. Zum Trinken bot sie den Männern mit Wasser verdünnten Rotwein an. Rotwein, damit ein wenig lockere mediterrane Stimmung aufkam und Wasser, damit die wenigen Flaschen, die Iris gekauft hatte, länger hielten und damit niemand betrunken wurde. Schließlich mussten sie sich ja rund um die Uhr um Siegfried kümmern. Igor trank einen Schluck des verdünnten Weins, runzelte die Stirn und stürzte das Getränk mit einem weiteren Schluck komplett runter. Dann holte er eine Flasche aus seiner Kitteltasche und füllte eine klare Flüssigkeit in das Glas. Zufrieden nickte er und ließ sich die Nudeln schmecken. Martin schüttelte seinen Kopf und nippte am wässrigen Rotweinglas.
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"Eine Frage habt ihr noch nicht beantwortet, vor lauter Fernsehchaos: wir arbeiten doch daran, ein Heilmittel zu entwickeln, oder?" Iris blickte von einem ihrer Kameraden zum anderen. "Ja, klar! Du hast ja Recht. Wenn wir hier schon festsitzen, können wir auch unsere Arbeit machen. Aber es wird schwierig, wo uns doch die ganzen Hochleistungsgeräte fehlen." "Igor besorgt uns bestimmt alles, was wir brauchen, nicht wahr, Igor?" "Hm!" "Sehr gut, auf dich kann man sich verlassen." Später saß Iris an Siegfrieds Bett und überwachte seinen Zustand. Die Maske störte sie beim Atmen, aber ihr war klar, dass sie sie aus Sicherheitsgründen unbedingt tragen musste. Siegfried atmete flach und so schnell als hätte er gerade ein Wettrennen hinter sich gebracht. Wie er dieses schnelle Atmen nur so lange durchhält? Bestimmt hat er sich schon die Kehle wundgehechelt. Wahrscheinlich bleibt ihm aber gar nichts anderes übrig. Ob wir alle krank werden? Wir hatten ja schließlich alle Kontakt zu Siegfried. Wer pflegt uns dann bloß? Wie schrecklich, wenn wir dann so daliegen wie Siegfried und keiner ist da, der uns hilft. Werden wir alle sterben? 67
Kapitel 11 Der Sandsturm hatte nachgelassen. Schon lange hatte der Sandsturm aufgehört. Iris sah Siegfried auf dem Wüstenboden liegen, aus Mund und Nase quollen winzige schwarze Kobolde. Ganz dicht verstopften die kleinen Wesen Siegfrieds Atemöffnungen. Siegfried zappelte und rang nach Luft. Er versuchte, die Kobolde abzuwischen, aber immer mehr quollen aus seinem Mund. Schnurstracks marschierten diese Miniungeheuer auf Iris zu. Iris war kurz davor in Panik auszubrechen, doch dann erinnerte sie sich an ihren Laborkittel und hüllte sich vollständig damit ein. Die Kobolde verlangsamten sich, doch einige hüpften auf den Kittel und trippelten darauf herum, sodass es Iris kitzelte. Nach kurzer Zeit fielen die Kobolde jedoch von Iris ab und ihre Genossen versuchten es gar nicht erst, Iris näher zu kommen. Iris wunderte sich und sog genießerisch den Duft ihres Kittels ein. Dann nahm sie einen der herunterhängenden Ärmel in ihre Hand und kroch zu Siegfried, der immer noch um jeden Atemzug kämpfte. Iris wischte mit ihrem Kittelärmel die Kobolde ab und ihr schien es, als würden die schwarzen Dinger langsamer nachkommen als zuvor. Siegfried holte tief Luft und öffnete für einen kurzen Moment die Augen. Erschrocken setzte Iris sich aufrecht hin und öffnete ihre eigenen Augen. Ihr Nacken schmerzte und sie fühlte sich am ganzen Körper verspannt. Siegfried lag immer noch schlafend auf dem Krankenbett und atmete hastig in die Sauerstoffmaske. Was ist los? Habe ich geschlafen? Was für ein unsinniger Traum! Immer wieder diese Kobolde. 68
Wie weh mir alles tut! Eine schöne Überwacherin bin ich ja - schlafe einfach so ein. Dem armen Siegfried hätte sonst was passieren können. Immerhin scheint sich bei ihm nichts verändert zu haben. Das ist ja auch schon was wert, wenn es nicht schlimmer geworden ist. Mal schauen, ob ich Martin finde und dann sollte ich mich richtig hinlegen und eine Mütze Schlaf nehmen. Beim Aufstehen spürte Iris noch mehr Verspannungen und konnte sich lautes Fluchen nur mühsam verkneifen. In den Firmenräumen schien alles ruhig. Nur aus einem der Laborräume hörte sie leise kratzende Geräusche. Iris öffnete die Tür und sah zwei Schenkel und Füße, die unter einer alten Zentrifuge hervor schauten. Den Schuhen zufolge, musste es sich um Igor handeln. "Igor, was treibst du da unter der Maschine?" "Optimieren." "Das klingt nach einer guten Idee. Weißt du, wo Martin steckt?" "Weck ihn!" "Hat er dir das aufgetragen, dass ich ihn wecken soll?" "Hm" "Ok, dann geh ich ihn mal suchen." Iris öffnete nacheinander alle Türen, doch Martin fand sie 69
nicht. Schließlich entdeckte sie ihn im alten Buchhaltungsbüro, das schon fast vollständig ausgeräumt worden war. Dort lag er auf einem Feldbett und wachte sofort auf, als er Iris reinkommen hörte. "Wie geht’s Siegfried?" war das erste, was Martin wissen wollte. "Unverändert." "Ok, dann werde ich mal die Nachtwache übernehmen. Wenn du willst, kannst du dir hier das andere Feldbett aufstellen. Ich meine, falls es dir nichts ausmacht." "Gute Idee. Macht mir nix aus. Du wirst ja bestimmt nicht des Nachts über mich herfallen, wenn ich das nicht will." "Keine Sorge. Du weißt ja, dass ich ein harmloser Gutmensch bin", dabei grinste Martin verschmitzt. Er zog seinen Kittel über, griff nach der Schutzmaske und verließ den Raum. An die Wand gelehnt fand Iris ein weiteres Feldbett, das sie an einer freien Stelle aufklappte. Ein freundlicher Zeitgenosse hatte ihre Reisetasche samt Schlafsack schon hergebracht, was Iris eine weitere Runde durch die Firma ersparte. Sie zog den Schlafsack aus dem Beutel, schüttelte ihn gründlich bis er sich aufgeplusterte, dann legte sie ihn auf das Feldbett und schlüpfte hinein. Als sie lag, spürte Iris, dass sie bleiern müde war. Der Traum mit den Kobolden ging ihr noch mal durch den Kopf, dann sah sie Siegfried vor sich, schwer atmend und schließlich fiel Iris 70
in einen erschöpften Schlaf. Die Sonne schien kraftvoll ins Zimmer als Iris erwachte. Geblendet blinzelte Iris und brauchte einige Minuten, um sich zu orientieren wo sie war. Martins Pritsche war leer, also war er nicht zurückgekehrt. Ob er wohl immer noch bei Siegfried wacht? Iris stand auf, spritzte sich im Bad kaltes Wasser ins Gesicht und ging zum Krankenzimmer. So leise wie möglich öffnete Iris die Tür und linste in den Raum. Dort lag zu Iris Entsetzen Martin schlafend auf einem zweiten Bett, wachte aber sofort auf, als Iris den Raum betrat. "Psst!" zischte Martin und legte den Zeigefinger an die Lippen. Dabei deutete er mit den Augen auf Siegfried, der nach wie vor hechelte und schlief. Martin stieg aus dem Bett und Iris konnte sehen, dass er vollständig bekleidet war. Er winkte in Richtung Ausgang und folgte Iris dann zur Teeküche. Dort nahm Iris gleich die Kaffeemaschine in Betrieb. Martin verschwand kurz im Bad und kam anschließend mit rotem aber munterer wirkendem Gesicht zurück. Mit gefüllten Tassen setzten sich die beiden an den Tisch und schlürften eine Weile schweigend. "Und? Alles klar mit Siegfried?" wollte Iris schließlich wissen. "Nichts ist klar mit Siegfried, aber wenn du meinst, ob sein Zustand im Wesentlichen stabil ist, dann: ja. In der 71
Nacht war er eine Weile wach. Da habe ich dann versucht, ihm Wasser einzuflößen, denn mit unseren Beständen für die Tropfflasche kommen wir nicht sehr weit. Der gute Siegfried hat sich ziemlich bockig angestellt, bis er mal getrunken hat. Aber dann gings. Er hat gleich einen halben Liter runtergestürzt, nachdem er kapiert hatte, dass es ums Trinken geht." "Gut, dass er getrunken hat. Und du hast dir das Nebenbett zurechtgemacht? Im ersten Moment dachte ich schon, dass du jetzt auch krank wärst, aber dass dem nicht so ist, wurde ja schnell klar." "Ich habe Siegfried schließlich so verkabelt, dass es sofort piepsen würde, wenn sich sein Zustand deutlich ändert. An Bereitschaftsschlafen bin ich ja auch gewöhnt. In der Klinik gehört das zum Alltag." "Du bist auch erstaunlich schnell aufgewacht." "Tja, das kann ich", Martin grinste. "Und wie gehen wir weiter vor? Überhaupt: werden wir auch krank werden?" "Damit müssen wir rechnen. Nichts spricht dafür, dass uns die Pneumonie verschont. Wir sollten uns also darauf vorbereiten. So bequem wie Siegfried hätten wir es dann aber nicht, wenn wir mal alle danieder liegen." "Wie schaurig! Die Betten vorbereiten und dann darauf warten, dass es uns ereilt." 72
"Na na, so schlimm ja nun doch nicht. Bis es soweit ist, können wir ja durchaus an der Erforschung des Erregers arbeiten und wenn der mal gefunden ist, nach einem Heilmittel suchen. Schließlich ist das ja unsere Spezialität." "Gut, nach dem Erreger suche ich gerne. In Siegfrieds Schleimhäuten müsste er schließlich in Massen sitzen." "Tu das! Während Siegfried wach war, habe ich eine Probe entnommen. Mit der kannst du anfangen. Ich kümmere mich derweil um die Krankenbetten für uns. Wie gut, dass wir damals fünf Betten angeschafft haben, da könnte sogar noch einer dazukommen. Welch perverse Angelegenheit", kopfschüttelnd verließ Martin die Teeküche. Iris schaltete zuerst den Fernseher an, einerseits um allgemeine Neuigkeiten zu erfahren und andererseits, um zu wissen, ob schon jemand anders den Erreger entdeckt hatte, denn in diesem Fall könnte sie sich die Suche sparen. Weltweit war die Katastrophe ausgebrochen. Die meisten Länder hatten den Notstand ausgerufen. Ein großer Teil der Weltbevölkerung war inzwischen erkrankt und mit jeder Sekunde wurden es mehr Lungenkranke. Die Krankenhäuser waren samt und sonders überfüllt; dort einen Platz zu bekommen, war aussichtslos geworden. Neue Pneumoniekranke lagen inzwischen unversorgt in ihren Wohnungen, im besten Fall gepflegt durch ihre Angehörigen. 73
Die meisten Städte waren wie ausgestorben. Nur dort, wo die Ordnungsmacht es nicht schaffte, den Mob zurückzuhalten, wurde geplündert. Iris sah Aufnahmen, auf denen man zurückgelassene Plünderer sah, die auf ihrem Raubzug von der Lungenentzündung eingeholt worden waren. Die jungen Männer lagen einfach auf der Straße und wanden sich. Ihre Kollegen rannten eilig davon, sobald sie sahen, was mit ihren Freunden los war. In der Ferne hörte man ein Martinshorn, das jedoch nicht näher zu kommen schien. Auf Luftbildern konnte man sehen, dass einige Städte in Flammen standen. Vor allem Innenstädte und die Stadtteile der Armen waren betroffen. In diese Gegenden wagte sich kein Reporter mehr hinein, berichtete der Nachrichtensprecher. Als Iris den Kanal wechseln wollte, stieß sie auf exakt die gleichen Berichte, wie auf dem anderen Sender. Das galt auch für die meisten anderen Kanäle. Schließlich stieß sie bei einem Sender auf eine dezente Laufschrift am Bildschirmrand, die darauf hinwies, dass aus Krankheitsgründen auf einen öffentlichen Sender umgeschaltet worden war. Letztendlich gab es nur noch drei unterschiedliche Programme. Um uns herum geht die Welt unter und ich hab einfach die ganze Nacht über geschlafen wie ein Murmeltier. Vielleicht war das die letzte Nacht meines Lebens in der ich frei atmen konnte und ich vergeude sie so einfach. Was bin ich nur für ein Dödel? Immerhin bin ich jetzt ausge74
schlafen und habe Kraft, mich auf die Suche nach dem Übeltäter zu machen. Und sei es das letzte, was ich tue.
Kapitel 12 Über medizinische Einzelheiten schwieg sich das Fernsehprogramm aus. Daher ging Iris ins Büro und schaltete ihren Computer an. Im Internet überschlugen sich die Nachrichten über die Seuche. In der Textfülle war es für Iris nicht so einfach, die Informationen zu finden, nach denen sie suchte. In Jakartha starben die Menschen inzwischen wie die Fliegen, in mehreren Ländern war es trotz Ausgangssperre zu Ausschreitungen gekommen, woanders gab es Stromausfälle, weil zu viele Mitarbeiter der Stromfirmen krank geworden waren und manche wichtige Labore konnten mangels gesunden Fachkräften nicht nach dem Erreger suchen. Was funktioniert eigentlich noch in diesem ganzen Chaos? Dann endlich stieß Iris auf halbwegs sachliche Informationen über den Stand der Forschung. Die meisten Wissenschaftler vermuteten einen Virus als Verursacher der Pneumonie. Zur Debatte stand ein mutierter Grippevirus, ein Verwandter von SARS oder ein gänzlich neuer Virus. Manche diskutierten auch eine Variante der Legionärskrankheit. Bisher hatte jedoch noch niemand den gesuchten Erreger gefunden. Rätselhaft war die Tatsache, dass die Übertragung der 75
Krankheit bislang völlig ungeklärt war. Aus den Krankenhäusern kamen Meldungen, dass manche Patienten in den letzten Wochen keinerlei Kontakt zu anderen Menschen gehabt hatten, die ihrerseits erkrankt waren. Einige hatten sogar wochenlang in völliger Isolation gelebt und waren dennoch krank geworden. Eine Übertragung durch Klimaanlagen oder Luftschächte wurde in den meisten dieser Fälle jedoch ausgeschlossen. Daher war die These aufgekommen, dass möglicherweise Tiere die Verbreiter der Krankheit waren. Die Kranken wurden nach Einstichen abgesucht und befragt, mit welchen Tieren sie Kontakt hatten. Manche Wissenschaftler vermuteten umherfliegenden Staub, der mit Vogelkot durchsetzt war. Natürlich gab es auch Stimmen, die hinter all dem einen terroristischen Anschlag mit Biowaffen vermuteten. Als Argument wurde herangezogen, dass die Durchseuchung zu perfekt sei, um natürlichen Ursprungs zu sein. Iris traute den Terroristen jedoch nicht zu, eine solch weltweite Seuche zu inszenieren. Gerade die weltweite Verbreitung sprach aus ihrer Sicht gegen die Terrorthese. Iris spürte, dass die jetzige Seuche in Zusammenhang mit den Pneumoniefällen vor vier Wochen stand. Sie konnte sich jedoch nicht erklären, wie das sein konnte. Dennoch beschloss sie, diese Idee im Hinterkopf zu behalten. Nachdem sie alle Nachrichtenquellen abgeklappert hatte, ging Iris in den Laborraum, wo die Probe aus Siegfrieds Rachen schon auf sie wartete. 76
Sie überlegte, ob sie sicherheitshalber in den Hochsicherheitsraum gehen sollte, entschied sich jedoch dagegen, weil sie ja sowieso überall mit dem Erreger konfrontiert wurde. Die Arbeit im Druckanzug war auch sehr mühsam, bestimmt hätte sie damit länger gebraucht, um Ergebnisse zu erzielen. So warf sich Iris ihren Laborkittel über, schmunzelte, weil er sie an ihren Traum erinnerte und zog sich Handschuhe, Maske und eine Haube an. Zuerst wollte Iris die Probe unterm Lichtmikroskop ansehen, um einen allgemeinen Eindruck zu erhalten. Sie färbte einen Teil von Siegfrieds befallenen Schleimhautzellen ein, applizierte einen noch kleineren Teil auf einen Objektträger und hielt ihre Augen an die Okulare. Mit der einen Hand stellte Iris die Schärfe ein und mit der anderen justierte sie die Probe. Da, deutlich erkennbare Zellen. Iris' Herz klopfte vor Aufregung. Hier haben wir sie also, Siegfrieds Schleimhautzellen. Und was scharwenzelt das Drumherum? Größer stellen. Kleine längliche Punkte. Größer stellen. Könnten Kokken sein. Pneumokokken? Möglich. Wahrscheinlich sogar. Die haben bestimmt die Chance genutzt, die geschwächten Schleimhäute heimzusuchen. Größer stellen. Sehen müde aus, die kleinen Dinger. Vielleicht sogar tot? Könnte am Antibiotikum liegen. Und was haben wir denn da? Staphylokokken? Würde auch nicht wundern. Die sind ja überall, wo sich eine Infektion abspielt. Diese miesen kleinen 77
Biester. Schwächeln aber auch. Um sicher zu gehen, sollte ich einen Teil der Probe noch durch den PCR jagen, damit wir wissen, welche Bakterien sich zusätzlich angesiedelt haben. Dann können wir Siegfried gezielter behandeln. Das mach ich gleich mal als nächsten Schritt und dann: Elektronenmikroskop, ich komme! Iris löste ihre Augen vom Mikroskop und strahlte. Endlich fühlte sie sich wieder wie ein richtiger Mensch. Ein Mensch mit einer sinnvollen Aufgabe. Lächelnd platzierte sie eine weitere Probe im PCR-Gerät, um die DNS-Stränge der Bakterien zu vervielfältigen, damit sie später einen DNS-Abgleich damit vornehmen konnte. Dadurch würde sie genaue Infos darüber erhalten, welche zusätzlichen Erreger sich in Siegfried tummelten. Wie pervers! Da draußen sterben die Menschen in Massen und ich bin einfach glücklich. Das erste Mal seit Monaten. Dabei liege ich nachher vielleicht auch so da und hechel um mein Leben. Aber ich bin glücklich. Glücklich und zufrieden. Dabei ist die Firma immer noch insolvent. Sobald diese Seuche vorbei ist, müssen wir hier raus und ich sitze wieder im öden Taxi. Und juckt mich das? Ne! Ich platze fast vor Vergnügen, hier mit den gefährlichen Krankheitserregern rumzuspielen. Mädchen, du hast se nicht mehr alle! Mit gespitzter Zunge, die zwischen ihren maskierten Lippen hervorlugte, bereitete Iris Siegfrieds Schleimhautzellen für die Untersuchung unterm Elektronen-Mikroskop vor. Dann brachte sie die erste Teilprobe in Position.
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"He Iris, bekommst du überhaupt keinen Hunger mehr? Du bist jetzt schon seit Stunden im Labor. Ich habe uns einen Happen zubereitet", Martin schreckte Iris aus ihrer Konzentration. Das passt mir jetzt aber gar nicht. Ich habe noch soviel zu tun. Genau! Du wirst noch Tage mit der Untersuchung beschäftigt sein und brauchst all deine Kraft. Also gibt dir einen Ruck und geh essen. "Ok, Martin. Das ist lieb von dir. Ich komme gleich." Einen kurzen Blick warf Iris noch durch das Elektronenmikroskop, entdeckte aber auf diesen ersten Blick nicht Besonderes. Dann folgte sie Martin in die Teeküche. "Hier, iss!" Martin schob Iris einen Teller zu. Iris schaufelte die Mahlzeit in sich hinein, ohne überhaupt zu merken, was sie da aß. Stattdessen dachte sie über ihre Untersuchungen nach. "Hast du schon was entdeckt?" "Ja, ein paar Kokken. Vermutlich die üblichen Sekundärinfektionen. Anscheinend schon recht schlapp. Die Antibiotika scheinen zu helfen. Lass ich gerade genauer untersuchen." "Sehr gut. Die Suche nach dem Virus dauert sicher noch." "Was denkst du denn? Natürlich dauert die noch. Du hast 79
mich ja vom spannenden Objekt weggezerrt, bevor ich genau hingucken konnte." "Verzeih. Aber die kleine Essenspause wird dir bestimmt gut tun und dann kommst du später schneller voran." "Hoffentlich. Wie geht es eigentlich Siegfried?" "Unverändert. Aber er wirkt inzwischen erschöpft. Die schnelle Atmung fordert ihren Tribut. Auch das hohe Fieber verbrennt ihn förmlich. Aber das Fieber ist zur Zeit schließlich sein einziges Heilmittel für den Haupterreger. Damit bekämpft er den vermeintlichen Virus. Darum drücke ich es nicht komplett runter. Würde mir wohl auch schwer fallen." "Hm, schlimme Sache, diese Lungenentzündung." Schweigend aß Iris den Rest ihrer Mahlzeit und ging dann wieder ins Labor. Der Blick durchs Elektronenmikroskop zeigte ihr, wie erhofft, die wunderbare Welt der starken Vergrößerung. Langsam tastete sich Iris von Zelle zu Zelle. Das dauert bestimmt Ewigkeiten, bis ich mal auf den gesuchten Virus stoße. Und in der Zwischenzeit sterben überall die Menschen. Wenn ich den Erreger doch nur schnell finden könnte. Um dann ein Heilmittel zu finden. Das darf einfach nicht so lange dauern, wie normalerweise. So schnell ging eine Seuche noch nie um die Welt. Wie es da draußen wohl aussehen mag? Bei den einzelnen Menschen?
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Kapitel 13 Irgendwo da draußen... Robert wachte auf, weil jeder Atemzug schmerzte. Am Abend hatte er sich schon schwach gefühlt, daher war er früh ins Bett gegangen, denn am nächsten Morgen wollte er fit sein für die wichtige Besprechung, die über seine berufliche Zukunft entscheiden würde. Und jetzt so was! Robert fühlte sich wie kurz vor dem Ersticken, obwohl er bequem in seinem Bett lag. Er hechelte wie nach einem Dauerlauf. Ob dieser Zustand bis zu Termin wieder verschwinden würde? Robert hatte da seine Zweifel. Die Bettdecke war feucht, so sehr hatte Robert geschwitzt. Wenn er seine Haut berührte, fühlte sie sich heiß an. Da stimmte etwas ganz und gar nicht mit ihm. Er stützte sich mühsam auf seine Ellenbogen, um nach Luft schnappen zu können. So würde das nicht lange gehen. Robert wurde klar, dass er ein zusätzliches Kissen brauchte, das seinen Oberkörper aufrecht hielt. Sein Gästekissen würde nicht ausreichen. Das war ihm sofort klar. Ob ihm die Decke weiterhelfen konnte, die er für den seltenen Damenbesuch in seinem Kleiderschrank aufbewahrte? Möglicherweise. Das Denken war anstrengend, wie durch einen Nebel. 81
Zuallererst musste Robert dringend auf die Toilette und dann ein paar Schlucke trinken. Dann würde er weitersehen. Keuchend wie ein angestrengter Sportler schob er seine Decke zur Seite und beförderte seine Beine aus dem Bett. Die Beine schienen ihm wie Fremdkörper, so weit weg waren sie. Ob das gut gehen würde? Egal! Es musste sein. Nach dem dritten Anlauf gelang es Robert, sich aufzustellen. Er hielt sich an der Wand fest, die er gerade eben mit ausgestrecktem Arm erreichen konnte. Es hatte keinen Zweck! Seinen wichtigen Termin würde er absagen müssen. Gleich nach dem Gang ins Bad. Doch jetzt galt es erst mal, bis zur Tür zu kommen. Wenn nur das Atmen nicht so schmerzen würde. Die kostbare Luft ließ sich nur in winzigen Portionen in die Lunge zwingen. Jeder Atemzug war zu klein, reichte nicht aus. Im Stehen ging das Atmen jedoch etwas leichter als vorher im Liegen. Robert atmete so tief ein, wie er konnte, und stieß sich dann von der Wand ab in Richtung Tür. Die ersten Schritte gingen leichter als erwartet, doch mitten im Raum wurde Robert schwindelig. Alle Wände waren weit weg, zu weit weg, um sich daran abzustützen. Ob er es noch bis zur Tür schaffen konnte? Robert hoffte, dass der Schwindel nachlassen würde. Doch er wurde stärker. Schwarze Punkte tanzten vor Roberts Augen. Er konnte die Tür kaum noch erkennen. Sie schien sich von ihm zu 82
entfernen. Noch einen Schritt, oder zwei. Der Schwindel verdichtete die Punkte vor den Augen zu einer schwarzen Fläche, die sich wie ein Strudel in Robert reinbohrte. Der Strudel zog an Robert. Robert versuchte, noch einen Schritt zu gehen, aber sein Fuß schien auf dem Fußboden zu kleben. Das Problem verlor an Bedeutung. Robert träumte vom Fliegen. Fliegen durch eine sturmgepeitschte Nacht. Zitternd erwachte Robert und fand sich auf dem Boden wieder. Frierend, schlotternd. Was war geschehen? Atmen schmerzte. Anscheinend hatte Robert das Bewusstsein verloren. Wie lange er wohl auf dem kalten Boden gelegen hatte? Mühsam rappelte sich Robert wieder auf, bis er halb saß und wieder besser atmen konnte. Wie er es wohl schaffen konnte das Bad zu erreichen? Nach längeren nebelhaften Überlegungen entschied sich Robert, den Weg auf allen Vieren zurück zu legen. Dann würde er wenigstens nicht so tief fallen. Keuchend positionierte sich Robert in den Vierfüßlerstand und begann zu kriechen. Jede Bewegung fiel schwer und zwang ihn zu noch schnellerem Hecheln. Zuerst kämpfte sich Robert bis zur Tür. Er musste sich am Türrahmen hochziehen und sich strecken, bis er die Klinke erreichen konnte. Nach vier Versuchen war die Tür offen.
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Jetzt noch bis zum Bad. Vorsichtig ließ Robert sich wieder auf alle Viere und kroch zentimeterweise bis zur nächsten Tür. Er war auf einmal froh, dass seine Wohnung so klein war. Die Badezimmertür zu öffnen erforderte die gleiche Prozedur wie bei seiner Zimmertür, aber diesmal gelang es ihm schon beim dritten Anlauf. Endlich! Robert roch das Wasser schon. Zuerst musste er sich aber hochziehen, um auf gleiche Höhe mit dem Waschbecken zu gelangen. Als das geschafft war, öffnete er den Hahn und steckte seinen Kopf in den Wasserstrahl. Gierig saugte er das Wasser ein. Beim Schlucken befürchtete er zwar jedes Mal zu ersticken, aber der Durst war stärker. Dann wurde der Druck auf seine Blase übermächtig. Robert schloss den Wasserhahn und tastete sich an der Wand entlang zur Toilette. Das Wasserlassen war eine große Erleichterung. Doch dann wurde der Durst wieder stärker. Also hangelte er sich zurück zum Waschbecken und trank bis sein Magen protestierte. Anschließend ließ sich Robert wieder zu Boden gleiten, um zurück in sein Zimmer zu kriechen. Auf dem Weg machte er einen Abstecher zu seinem Schrank und zerrte die Gästedecke heraus. Diese zog er wie eine Schleppe hinter sich her, bis er das Bett erreichte. Dort angekommen, versuchte Robert die Decke zusammen zu falten, damit sie ihn beim aufrecht liegen stützen konnte. Das gelang ihm nur unbefriedigend, aber immerhin hatte er am Schluss einen dicken Wulst an seinem 84
Kopfende, der ihn aufrecht halten konnte. Robert kroch erschöpft ins Bett und keuchte erst einmal ein paar Minuten besonders schnell, um nach den Strapazen wieder Luft zu schnappen. Dann erinnerte er sich daran, dass er noch in seiner Firma Bescheid geben musste. Wie gut, dass sein Handy immer auf dem Nachttisch lag. Schon das Greifen nach dem Telefon erschien ihm als große Anstrengung. Er tippte die Kurzwahl und wartete darauf, dass die Empfangsdame abnahm. Stattdessen tönte ihm jedoch der Anrufbeantworter entgegen. Robert wurde bewusst, dass es noch sehr früh am Morgen war. Die Dame an der Rezeption würde erst in mehreren Stunden erscheinen. Also krächzte Robert auf den Anrufbeantworter, dass er krank sei und leider nicht kommen könnte. Völlig entkräftet ließ sich Robert auf die Kissen sinken. Jeder Atemzug war zu klein und es reichte auch nicht, dass er so schnell atmete wie ein Sportler nach dem Wettkampf. Robert hatte Angst zu ersticken - diese Angst wuchs mit jedem Mal Luftholen. Ob sich so ein Ertrinkender fühlte?
Kapitel 14 woanders, da draußen... Fatima betete seit Stunden zu Allah, er möge ihr wenigstens diese letzten beiden lassen. Ihre alten Knie schmerz85
ten so sehr, dass sie sich nicht sicher war, ob sie je wieder aufstehen können würde. Aber Fatima war die einzige, die noch übrig war, um den beiden Wasser zu geben. Also betete sie ein letztes Mal und flehte so inbrünstig zu Allah, wie es ihr möglich war. Dann versuchte sie aufzustehen. Sie stützte sich auf den niedrigen Tisch, drückte sich hoch und brachte dann das erste Bein in Hockstellung. Erschrocken sog Fatima die Luft ein, denn ihr Bein drohte zu explodieren, so sehr schmerzte es. Sie zögerte, auch das zweite Bein aufzustellen, doch es musste sein, um zu ihren Schutzbefohlenen gehen zu können. Also löste sie auch das zweite Knie vom Boden und wurde von der befürchten Schmerzwelle überrollt. Um vorsichtig wieder Leben in ihre Beine zu bringen, setzte sich Fatima auf den Tisch. Ängstlich schaute sie zu ihrem Enkel Hassan und hoffte, dass dieser, wie in all den letzten Tagen, für diese wenigen Minuten bewusstlos blieb. Denn es war natürlich äußerst ungehörig, auf dem Tisch zu sitzen, auch für eine alte Frau. Zu ihrer Erleichterung blieb alles ruhig außer dem ununterbrochenen Hecheln der beiden Kranken. Das Blut schoss quälend wieder in Fatimas Beine. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sie wieder benutzbar waren. Warum war sie nicht krank geworden? Ausgerechnet sie, die schon seit Jahrzehnten auf den Tod wartete? Die ganze Familie - dahingerafft. Und die beiden letzten machten 86
auch nicht den Eindruck, als würden sie sich erholen. Nicht mal die Seuche in ihrer Kindheit war so schlimm gewesen. Damals gab es wenigstens Überlebende. Selbst sie hatte die Krankheit gehabt und erinnerte sich noch gut daran, wie schrecklich es gewesen war, keine Luft zu bekommen. Damals war sie nur wenig älter gewesen als jetzt ihre Ururenkelin Ayshe, die da auf der Matte lag und um ihr Leben kämpfte. Was für ein hinreißendes Mädchen die kleine Ayshe war. So aufgeweckt. Fast zu aufgeweckt für ein Mädchen, aber Fatima liebte sie, so wie sie war. Immer wieder hatte Fatima versucht, der Kleinen dabei zu helfen, nicht all zu sehr anzuecken mit ihrer munteren Art. Meistens war es ihr auch gelungen, sie vor dem Zorn ihres Vaters, der Onkel und ihres Großvaters zu schützen. Ihr Vater, der jetzt unter der Erde lag und all seine Brüder, denen es ebenso ging. Die stolzen Männer, die Fatima vor gar nicht allzu langer Zeit als Säuglinge in ihren Armen gewiegt hatte. Sie war seinerzeit schon alt gewesen. Als Fatimas Beine endlich wieder funktionierten, stand sie mühsam auf und schlurfte zum Wasserkanister. Zuerst flößte sie Ayshe einige Schlucke ein, denn sie wusste, dass Kinder schneller austrockneten als Erwachsene. Die Haut des Mädchens glühte. Es atmete flach und so schnell wie nach einem Wettrennen. Das Schlucken fiel ihr schwer, aber das wunderte Fatima nicht, denn die Kleine war ja gar nicht richtig bei Bewusstsein. Bei einem der Schlucke atmete sie gleichzeitig und bekam das Wasser in die falsche Kehle. Danach hustete sie so stark, dass Fatima be87
fürchtete, sie würde ihre Lunge aus dem Leib husten. Fatima hielt das Mädchen aufrecht und klopfte ihr behutsam auf den Rücken. Nach dem schrecklichen Hustenanfall erneuerte Fatima die kühlen Wickel um die Beine des Mädchens. Am Anfang der Krankheit waren die Schenkel der Kleinen noch rundlich gewesen, doch jetzt glichen sie knotigen Stöcken. Ungern verließ Fatima die Kleine wieder. Am liebsten hätte sie bei ihr ausgeharrt, um ihr von ihrer eigenen Kraft abzugeben, wenn diese auch alt und schwach war. Doch das Familienoberhaupt brauchte auch Wasser. Fatimas Beine schmerzten wieder, als sie sich aufrichtete, um zum Bett ihres Enkels zu gehen. Ihr Enkel Hassan atmete inzwischen so flach, dass Fatima die Bewegungen seines Brustkorbs kaum erkennen konnte. Sie hielt ihr Ohr dicht an seinen Mund, um die Atemgeräusche zu hören. Dann gab sie ihm das dringend benötigte Wasser. Ein großer Teil des eingeflößten Wassers rann wieder aus seinem Mund und floss auf an seinem Hals entlang bis auf die Matte. Der einst so unbeugsame Mann konnte kaum noch schlucken. Fatima ahnte, dass ihr Enkel den Abend nicht mehr erleben würde. Nachdem auch Hassan versorgt war, leerte sie den kleinen Rest Wasser aus dem Kanister in eine Karaffe und machte sich auf den Weg zum Dorfbrunnen. Wie lange schon hatte die Regierung in Jakartha ihnen fließend Wasser in 88
ihren Häusern versprochen. Doch das waren leere Versprechungen gewesen. Immer noch musste alle Dorfbewohner ihr Wasser aus dem einzigen Brunnen holen. Normalerweise musste man eine Weile warten, bis man mit dem Wasserschöpfen dran war, doch dieses Mal lag der Brunnen verlassen da. Keinem einzigen Menschen war Fatima unterwegs begegnet und auch am Brunnen war niemand. Fatima sandte ein kurzes Stoßgebet zu Allah, denn diese Leere war ihr unheimlich. Weil niemand mit Fatima wartete, war auch niemand da, der ihr beim Befüllen des Kanisters half. Sie verschüttete eine Menge Wasser bis der Kanister endlich voll war. Dann machte sie sich auf den Heimweg. In der Ferne rauchte der heilige Berg. Das tat er öfter, doch diesmal erfüllte der Rauch Fatima mit Furcht. Der Zorn des Berges schien ihr wie ein schlechtes Omen. Der Kanister war schwer. Fatima musste ihn über den Boden schleifen und jeder Meter war für sie eine Mühsal. Nur langsam kam sie vorwärts, vorbei an den stillen Häusern der Nachbarn. Ob dort drin noch jemand lebte? Oder waren alle gestorben? Warum nur war sie gesund geblieben? Fatima empfand ihre Gesundheit als besonders schlimmen Fluch. Endlich kam Fatima mit dem Kanister wieder zu Hause an. Hassan atmete noch flacher als zuvor. Fatima benetzte seine Lippen mit Wasser, traute sich aber nicht, ihm einen richtigen Schluck einzuflößen. Sie wischte ihm die heiße 89
Stirn mit einem Lappen ab und wickelte ein frisch angefeuchtetes Tuch um seine Unterschenkel. Doch sie glaubte nicht, dass sie ihn damit vor seinem Schicksal bewahren konnte. Ayshe wälzte sich unruhig auf ihrer Matte. Die dünne Decke, die sie vor Insekten schützen sollte, hatte sie davongestrampelt. Fatima flößte ihr soviel Wasser ein, wie die Kleine schlucken konnte und wusch sie dann am ganzen Körper. Dabei entdeckte sie zahlreiche Stiche, die Ayshe bestimmt zusätzlich schwächten. Sorgsam deckte Fatima das Mädchen wieder zu. Nur ungern machte sich Fatima an die Pflicht, die anschließend nach ihr rief. Im hinteren Teil des Gartens grub sie Löcher für die verstorbenen Familienmitglieder. Einen nach dem anderen hatte sie dort schon beerdigen müssen. Mit der Grube für ihren Enkel hatte sie am Vortag angefangen. Fatima fühlte sich schlecht dabei, ein Grab für jemanden zu schaufeln, der noch um sein Leben kämpfte. Aber sie wusste genau, dass sie nicht schnell genug graben konnte, um rechtzeitig vor Sonnenuntergang damit fertig zu werden, wenn jemand starb. Bei einer ihrer Enkelinnen war ihr das passiert und sie schämte sich immer noch dafür, wie sie die Verstorbene erst in der tiefen Nacht in einer viel zu flachen Grube beerdigt hatte. Am Tag danach hatte sie noch zusätzliche Erde darauf angehäuft, aber das war nicht das gleiche wie eine richtige Ruhestätte. Also grub Fatima und pries Allah, dass sich an dieser Stelle des Gartens wenigstens kein Fels unter der dünnen 90
Humusschicht befand, wie an vielen anderen Stellen in dieser Gegend. Dennoch war das Graben harte Arbeit für Fatima. Schon nach wenigen Minuten tat ihr Rücken weh. Nie hätte sie erwartet, dass sie in ihrem hohen Alter noch solch anstrengende Tätigkeiten würde durchführen müssen. In den letzten Jahren hatte sie nur in der Hütte gesessen und die Kinder betreut. Viele Geschichten hatte sie den Kindern erzählt, aber das stärkte nicht den Rücken. Nach viel zu kurzer Zeit hielt Fatima das Graben nicht mehr aus. Das Loch im Boden war nur wenig tiefer geworden. Für den mächtigen Körper des Familienoberhauptes reichte es bei weitem nicht aus. Fatima hoffte, dass er noch einen weiteren Tag durchhalten würden, und sei es nur, um eine ordentliche Grabstätte zu erhalten. Aber es war sowieso Zeit, sich wieder um die Kranken zu kümmern. Also humpelte Fatima gestützt auf ihren Grabstock ins Haus. Sofort beim Betreten der Hütte merkte Fatima, dass etwas nicht stimmte. Ihr Blick fiel auf das Lager ihres Enkels, mit dessen Ableben sie jeden Moment rechnete. Doch er wirkte wie zuvor, wenn sie seine Atembewegungen von der Tür aus nicht sehen konnte. Aber das Keuchen von Ayshe fehlte, stellte Fatima fest. Sie erschrak so sehr, dass ihr fast das Herz stehen blieb. So schnell sie konnte, eilte sie zu dem Kind und berührte es. Tatsächlich: es rührte sich nicht mehr. Keine Atmung, keine Bewegung, nichts. Dabei hatte sie vorher doch noch so kräftig geschnauft. Warum war es plötzlich so schnell 91
gegangen? Fatima stimmte lautes Wehklagen an und brach über der Kleinen zusammen. Doch nach kurzer Zeit besann sie sich auf ihren anderen Patienten und schlurfte tränenüberströmt zu ihrem Enkel. Der lag nach wie vor still auf seinem Lager und es kostete Mühe, seine schwache Atmung überhaupt wahrzunehmen. Doch er lebte noch. Wie unzählige Male zuvor feuchtete Fatima seine Lippen an und wischte ihm über die Stirn. Das Familienoberhaupt schien ihr noch schwächer als zuvor. Wie lange er wohl noch durchhalten würde? Voller Kummer ging Fatima wieder zu dem Mädchen, ihrer Lieblingsururenkelin, die jetzt auch tot war. Wie all die anderen Kinder ihrer Familie und die Erwachsenen auf der Höhe ihrer Kraft und die anderen Alten, von denen aber keiner so alt wie sie gewesen war. Alle tot. Bei der kleinen Ayshe hatte Fatima insgeheim gehofft, dass sie es überleben würde, aber diese Hoffnung hatte getrogen. All ihre Gebete hatten nicht geholfen. Warum wurden sie so bestraft? Die Klagelaute von Fatima hallten durch das stille Haus. Im halben Dorf mussten sie zu hören sein. Noch vor Tagen hatte Fatima den ganzen Tag über Klagelaute durchs Dorf hallen hören. In jedem Haus waren Tote zu beklagen. Seit Wochen ging das so. Doch diese Geräuschkulisse hatte in den letzten Tagen nachgelassen. Waren alle anderen auch gestorben? Am liebsten hätte Fatima weiter geweint bis sie selbst ge92
storben war, doch sie besann sich auf ihre Pflicht und ging wieder in den Garten. Dort begann sie, ein kleines Loch neben dem zukünftigen Grab für ihren Enkel zu graben. Jede handvoll Erde wurde von ihren Tränen benetzt. Fatima ignorierte ihre Rückenschmerzen und grub weiter, bis ihr die Grube tief genug erschien. Dann ging sie zurück ins Haus. Verantwortungsbewusst kümmerte sie sich um Hassan, dann setzte sie sich an Ayshes Totenbett und weinte lauthals über deren Tod. In wenigen Stunden würde sie das Kind der Erde zurückgeben müssen. Fatima schauderte bei diesem Gedanken. Es schien ihr schlimmer als all die Male zuvor. Wieder ging Fatima zum Oberhaupt der Familie, denn sie wollte ihm noch einmal die Lippen anfeuchten, bevor sie draußen an seinem Grab weitergrub. Seine Atmung war kaum noch wahrnehmbar, noch weniger als zuvor. Fatima legte ihr Ohr auf den Brustkorb des Mannes, um zu hören, ob sein Herz noch schlug. Es schlug, aber nur schwach, und es schien schwächer zu werden. Fatima beschloss, noch ein paar Momente bei ihm sitzen zu bleiben und stimmte ein Gebet an. Am Ende des Gebetes, spürte Fatima, wie das Leben aus Hassan wich. Ganz allmählich zog es sich zurück, mit jedem der nachlassenden Herzschläge etwas mehr. Ein kaum wahrnehmbares Zittern durchlief den Körper des Mannes und dann war er still. Kein Herz schlug mehr, kein Atemzug bewegte die Luft. Fatima horchte gründlich 93
an seinem Brustkorb. Nichts. Ein lauter Ruf der Traurigkeit entfuhr ihrer Kehle. Dieser prachtvolle Mann! Dahingerafft wie all die anderen. Noch viele Jahre hätten vor ihm gelegen, Jahre in denen er seine Familie zu Größe und Wohlstand geführt hätte. Er war ein guter Chef der Familie gewesen. Zu gerne hätte Fatima ihr Leben hingegeben, um das Leben ihres Enkels zu retten. Doch ihre Last war das Leben. Nachdem Fatima eine Weile angemessen gewehklagt hatte, ging sie erneut in den Garten und vollendete die Grube für den letzten ihrer Familie. Als sie fertig war, konnte sie sich kaum noch aufrichten, so sehr schmerzte ihr Kreuz. Sie stützte sich auf ihren Stock und streckte ihren Rücken Zentimeter um Zentimeter. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu. Welch ein schrecklicher Tag. Unter Tränen ging Fatima ins Haus und fing an, die Gestorbenen zu waschen, wie es ihre Pflicht war. Zwischendurch gönnte sie sich selbst ein paar Schlucke Wasser, denn sie wusste, dass das beständige Weinen sie zusätzlich austrocknete. Um ihre Familie zu beerdigen brauchte sie all ihre verbliebene Kraft. Danach konnte sie sich gehen lassen, um endlich selbst zu sterben. Die kleine Ayshe war so leicht, dass Fatima sie fast ohne Mühe zu ihrem Grab tragen konnte. Schluchzend legte Fatima das Mädchen in die Grube und sprach ein Gebet, bei dem ihr mehrmals die Stimme versagte. 94
Der Transport von Hassan stellte Fatima vor größere Probleme. Obwohl er im Verlauf seiner Krankheit stark abgenommen hatte, war er immer noch ein stattlicher Mann. Fatima bückte sich und ergriff den Rand von Hassans Matte, denn es war würdevoller und leichter, einen Toten auf einem rutschfähigen Gegenstand zu transportieren als ohne solche Hilfe. Mit einen kräftigen Ruck zerrte Fatima ihren Enkel von seinem Schlafpodest, bis er mitsamt der Matte auf dem Fußboden lag. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um ihn bis zur Tür der Hütte zu ziehen. Beim Rutschen über die Stufen des Hauses glitt Hassan von der Matte und landete im Staub. Unter Ächzen und Stöhnen gelang es Fatima, ihn wieder auf die Matte zu wuchten. Dann kam die Strecke durch das unebene Gelände des Gartens. Nach jedem Meter musste Fatima eine Pause einlegen, um wieder zu Atem zu kommen. Sie nutzte die Pausen für kurze Gebete. In ihrer Verzweiflung schimpfte sie auch mit Allah, doch das bereute sie sofort und entschuldigte sich tränenreich. Endlich erreichte Fatima mit ihrer traurigen Last die Grabstelle. War das Loch tief genug? Egal - es musste reichen, denn es wurde bald dunkel. Die Sonne war schon hinter dem Horizont verschwunden. Mit einem Plumps rutschte Hassan in sein Grab, begleitet von Fatimas Wehklagen. Sie empfahl ihn der Gnade Allahs, dann begann sie, die Gräber zuzuschaufeln. Bis beide Ruhestätten ordentlich verschlossen waren, war es so dunkel, dass Fatima kaum noch die Schaufel in ihrer 95
Hand erkennen konnte. Sie weinte ein letztes Gebet für diese beiden Opfer der Seuche, griff nach dem Grabstock und schleppte sich zurück ins leere Haus. Jetzt wurde es Zeit für sie zu sterben. Fatima bat Allah, sie heimzuholen - in dieser Nacht. Keinen weiteren Tag wollte sie auf dieser traurigen Erde weilen. Diese schreckliche Welt, die ihr die gesamte Familie genommen hatte. Als ihre Tränen versiegten, legte sich Fatima erschöpft nieder, um ihr viel zu langes Leben auszuhauchen. Doch am nächsten Morgen erwachte Fatima davon, dass ihr die Sonne ins Gesicht schien. Es hatte nicht geklappt. Alle waren tot und ihr gelang es einfach nicht zu sterben. Fatima rappelte sich auf und verließ das Haus, denn sie wollte sehen, ob es noch Leben gab in ihrem Dorf. Vor dem Haus der nächsten Nachbarn rief Fatima zuerst einen Gruß. Doch niemand antwortete. Zaghaft öffnete sie die angelehnte Haustür und rief erneut. Ein atemberaubender Gestank und unzählige Fliegen schlugen ihr entgegen. Es roch nach Tod. Fatima hielt die Luft an und bahnte sich ihren Weg durch die Fliegen in das Wohnzimmer, das sie von früheren Besuchen kannte. Dort lag die ganze Familie. Unbestattet. Einige Familienmitglieder waren schon halb verwest, andere schienen erst vor wenigen Tagen gestorben zu sein. Maden krabbelten auf den aufgedunsenen Toten. Bei diesem Anblick wurde Fatima übel und sie eilte nach 96
draußen. Im letzten Augenblick ließ sie das Haus hinter sich und übergab sich in einer Ecke vor dem Gebäude. Da sie seit Tagen nichts gegessen hatte, kam nur ein wenig Flüssigkeit aus ihrem Magen. Der saure Geschmack in Mund und Kehle vervollständigte den Ekel, der Fatima überkommen hatte. Sie hastete nach Hause und trank ein paar Schlucke Wasser bevor sie sich wieder auf den Weg machte. Bevor sie das nächste Haus betrat, hielt Fatima die Luft an und nahm sich fest vor, sich nicht wieder so erschrecken zu lassen. Dieser Entschluss half, denn beim Anblick der Leichen dieser Familie konnte Fatima gefasst das Haus verlassen. Der gleiche Schrecken wiederholte sich bei jedem der Häuser, die Fatima aufsuchte. Nach einem guten Dutzend Häuser hielt Fatima es nicht mehr aus, sich jedes Mal aufs neue durch die Fliegenwolke und den Gestank zu kämpfen. Also rief sie nur noch von draußen und lauschte, ob sie etwas hören konnte. Doch sie erhielt keine Antwort. Das ganze Dorf lag wie ausgestorben da. Es lag nicht nur wie ausgestorben da, es war tatsächlich ausgestorben. Fatima war die einzige, die übrig geblieben war. Wie hatte das nur geschehen können? Noch vor wenigen Wochen war es ein freundliches Dorf mit fleißigen Bewohnern gewesen, und jeder hatte sein bescheidenes Auskommen gehabt. Welcher Fluch hatte sie nur heimgesucht? Und warum musste Fatima das alles ansehen ohne selbst sterben zu können? Fatima verzweifelte fast an ihrem Los. Sie konnte die ganzen Dorfbewohner nicht unbestattet lassen. Doch alleine 97
würde sie es nie schaffen, alle zu beerdigen. Also musste Fatima Hilfe holen gehen. Hilfe gab es nur in der Stadt. In der Stadt, die mehrere Tagesreisen weit entfernt war, wenn man keines dieser modernen Motorfahrzeuge hatte. Fatima füllte noch mal den Kanister am Brunnen und trank selbst soviel bis ihr Durst gestillt war. Den Kanister stellte sie in den Handkarren, den sie mitnehmen wollte. Dort brachte sie auch eine Matte, eine Decke, Kleider zum Wechseln und Kochgeschirr unter. Dann fing sie zwei Hühner, die frei umherliefen, und sperrte sie in einen Reisekäfig, den sie auf den Karren spannte. Schließlich holte sie ein Säckchen Erdnüsse aus dem Vorrat der Familie außerdem noch Reis und Maniok. Bevor Fatima aufbrach, kochte sie sich eine Mahlzeit, die erste seit vielen Tagen, denn sie wusste, dass sie viel Kraft brauchen würde, um den weiten Weg in die Stadt zu schaffen. Bestimmt war sie verschont worden, um den toten Dorfbewohnern Hilfe zur Bestattung zu bringen. Also musste sie diese Aufgabe auch zu Ende bringen. Fatima aß den Reis in kleinen Bissen, denn sie wusste, dass man nicht zuviel auf einmal essen sollte, wenn man zuvor lange gefastet hatte. Die Reste packte sie in eine Schüssel und legte sie in einem Korb auf dem Karren. Der heilige Berg grollte, als Fatima sich schließlich auf den Weg machte. Die aufsteigende Rauchwolke war größer geworden als zuvor. Fatima dachte sich, dass der Berg sein Opfer doch schon reichlich erhalten hatte. Eigentlich müsste er dadurch besänftigt worden sein. Aber vielleicht 98
mussten die Toten erst bestattet werden, damit der Berg wieder Ruhe gab. Fatima dachte an ihre Jugend, als der Berg ausgebrochen war und alle hatten fliehen müssen. Wie durch ein Wunder war ihr Dorf jedoch von schlimmer Zerstörung verschont geblieben und alle konnten wieder ihre Häuser beziehen, als sie sich wieder nach Hause trauten. Den gleichen Weg, auf dem damals das ganze Dorf geflohen war, schlug Fatima jetzt alleine an. Ihr Handkarren rumpelte laut hinter ihr her. Die Vögel sangen, als wäre es ein ganz normaler Tag und nicht der Untergang ihres Dorfes. Ob Fatima in der Stadt wohl Hilfe finden würde?
Kapitel 15 wieder woanders, da draußen... Schwester Birgit wischte sich den Schweiß von der Stirn. Durch die lästige Maske konnte sie so schlecht atmen und die vielen fiebernden Menschen ließen die Raumtemperatur in unangenehme Höhen steigen. Die Gänge zwischen den Feldbetten waren so schmal, dass Birgit kaum durch kam. Doch sie musste Wasser verteilen, denn die Patienten schwitzten enorme Mengen Flüssigkeit aus. Ohne Wasserzufuhr würden sie verdursten. Die Tropfflaschen waren schon alle verbraucht, denn mit so einem Andrang hatte keiner gerechnet. 99
Eine ältere Frau war ihre nächste Patientin. Birgit füllte den Plastikbecher, der neben der Pritsche stand, halb voll und hockte sich neben die Frau. Ihrem Arm schob sie unter den Oberkörper der Kranken und stützte sie dadurch soweit ab, dass sie trinken konnte. Die Frau war jedoch halb bewusstlos, wie die meisten der Patienten, und konnte nicht koordiniert trinken. Daher musste Birgit ihr das Wasser in Minischlucken einflößen. Die Trinkmenge, die ihr Birgit innerhalb von fünf Minuten einflößen konnte, entsprach nicht mal einem halben Becher. Birgit bezweifelte, dass sie an diesem Tag noch einmal Zeit für diese Patientin haben würde, denn eine Schwester nach der anderen war ausgefallen und die Patienten wurden immer mehr. Bevor Birgit weiterging wischte sie der Frau noch mit einem feuchten Tuch über die Stirn. Wann kam nur endlich die Unterstützung vom Militär? Schon gestern war ihnen versprochen worden, dass Materialien und Helfer kommen würden. Aber bisher gab es keine Spur von ihnen. Neben der Frau lag ein kleiner Junge, dessen Gesicht grau angelaufen war. Die Lippen waren tieflila. Er hechelte um sein Leben. Birgit wusste, dass er unbedingt Sauerstoff brauchte, um überleben zu können. Aber es gab keine Sauerstoffgeräte mehr. Ohne Sauerstoff musste der Junge sterben. Ob wohl irgendwo ein Sauerstoffgerät frei geworden war? Birgit erschrak über sich, denn ein frei werdenden Sauerstoffgerät würde bedeuten, dass derjenige, der es vorher benutzt hatte, gestorben war. Dass ein Patient es nicht mehr brauchte, war völlig ausgeschlossen, so 100
schlimm war die Krankheit. Was sollte Birgit nur mit dem Jungen machen? Sie wischte ihm über die Stirn und benetzte seine Lippen. In der Hoffnung, dass es seine Lunge ein wenig befreien würde, richtete sie ihn auf und klopfte ihn sorgfältig ab. Ein dickes Kissen müsste man haben, um ihn dauerhaft aufzurichten, dachte sich Birgit. Aber sie konnte schon froh sein, dass es überhaupt ein Feldbett für ihn gab. Das Abklopfen schien gewirkt zu haben. Birgit hatte den Eindruck, dass der Junge nicht mehr ganz so livide aussah. Sie versuchte, ihm etwas Wasser einzuflößen, und siehe da: er schluckte. Mit viel Mühe gelang es Birgit, ihm einen halben Becher voll zu geben. Dann klopfte sie ihn noch einmal ab. Bedauernd legte sie ihn anschließend wieder flach hin, wohl wissend, dass ihm das Atmen dann wieder schwerer fallen würde, aber sie musste dringend weiter. Sie hatte schon viel zuviel Zeit mit dem Jungen verbracht. Zeit, die ihr bei anderen Patienten fehlen würde. Der Mann neben dem Jungen war wenigstens in der Lage richtig zu schlucken. Birgit war erleichtert. Als sie ihm die Stirn abwischte, riss er seine Augen auf und versuchte, ihr etwas zu sagen. Aber die schnelle Atmung behinderte seine Sprache, oder vielleicht war er auch wirr im Kopf vom hohen Fieber. Birgit verstand überhaupt nichts von den Lauten, die er ausstieß. Sie war nicht mal sicher, ob es überhaupt echte Worte waren. Der Mann rollte eindringlich mit den Augen und ergriff Birgit am Ärmel. Was sollte sie bloß tun?
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Birgits Blick schweifte über den Raum, der normalerweise die Empfangshalle der Klinik war, jetzt aber zum Massenlager umfunktioniert worden war. Wenn sie in diesem Tempo weiter machte, würde sie bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht mal die Menschen dieses Lagers versorgen können. Nicht ein einziges Mal. Aber auch in den Gängen des Erdgeschosses warteten noch viele Menschen auf sie. Menschen, deren letzter Schluck Wasser auch schon viele Stunden zurücklag. An Medikamente mochte Birgit gar nicht denken, denn die waren schon lange verbraucht. Das einzige Zugeständnis an irgendeine Hygiene waren die Plastikbecher, die noch vom letzten Fest zugunsten der Krebskinder übrig gewesen waren und im Keller auf ihren Einsatz gewartet hatten. Nachdem Birgit eine Reihe weiterer Patienten versorgt hatte, wurde sie immer unruhiger. Wo blieb nur Doktor Wolff? Er war längst überfällig, um den schweren Fällen zu helfen. Vielleicht konnte er auch dem Jungen die Atmung erleichtern. Aber der Junge war nicht der einzige, dem es extrem schlecht ging. Es war wirklich dringend, dass Herr Wolff bald auftauchte. Etwas später kam Birgit zu einer Patientin, deren Atmung sie nicht wahrnehmen konnte. Das Gesicht der Frau war grau angelaufen und Birgit sah nicht nur keine Atmung, sondern gar keine Bewegung. Die anderen Patienten wälzten sich alle unruhig auf ihren Lagern. War die Frau etwa tot? Birgit suchte nach einem Puls - nichts. Auch die Atmung konnte sie nicht entdecken, nicht mal einen schwachen Hauch. Was sollte Birgit bloß mit der Toten machen? 102
Herr Doktor Wolff musste her - dringendst. Birgit beschloss, aktiv auf die Suche nach ihm zu gehen. Zuerst vergewisserte sich Birgit, dass niemand wach war und aktiv nach Wasser verlangte. Nein, alle waren zu sehr mit dem Atmen beschäftigt. Eigentlich müssten sie alle auf der Intensivstation liegen und beatmet werden. Stattdessen lagen sie hier und bekamen kaum einen Schluck Wasser. Birgit verließ die Empfangshalle und betrat den Gang im Erdgeschoss. Auch hier konnte sie kaum fußen, um sich fortzubewegen. Ein Mann starrte Birgit mit weit aufgerissenen Augen an und streckte seinen Arm nach ihr aus. Sie trat zu ihm, füllte seinen Becher und half ihm beim Trinken. Endlich mal jemand, der aktiv mittrank, freute sich Birgit. Nachdem er genug getrunken hatte, füllte sie ihm den Becher noch mal nach und stellte ihn wieder neben das Bett. Sie wischte ihm die Stirn ab und redete ihm gut zu. Bei diesem Patienten hatte sie wenigstens das Gefühl, ihm ein wenig geholfen zu haben. Kaum wollte Birgit weitergehen, rief schon der nächste Patient nach ihr. Anschließend war ihre Kanne fast leer und sie arbeitete sich durch bis zum Schwesternzimmer, um das Wasser nachzufüllen. Dort lagen die Schwestern der Station, teilweise sogar auf dem Boden, und litten genauso wie die Menschen auf den Gängen. Kein Wunder, dass die Patienten hier nach Birgit verlangten. 103
Doch wo war Doktor Wolff? Vielleicht in den Patientenzimmern oder auf einer anderen Station. Besorgt kümmerte sich Birgit um ihre Kolleginnen und füllte anschließend ihre Wasserkanne nach. Dann machte sie sich wieder auf die Suche. In einigen der überfüllten Zimmer wollte einer der Kranken Wasser, in den meisten Räumen schnauften die Patienten jedoch um ihr Leben, ohne Birgit auch nur zu registrieren. Auf dem Weg zum letzten Zimmer der Station bäumte sich einer der Patienten auf. Er packte Birgit am Kittel und zog sich daran hoch. In seinen Augen stand Panik. Er röchelte. Birgit sprach beruhigend auf ihn ein, doch er schien sie nicht zu hören. Sie bot ihm Wasser an, doch auch das ignorierte der Kranke. Birgit dachte darüber nach, wie sie sich möglichst sanft wieder von dem violettgesichtigen Mann befreien konnte, als er anfing, unkontrolliert zu zittern. Seine Atmung setzte aus, dann brach sein Blick und das Zittern ließ nach. Die folgende Ruhe war Birgit unheimlicher als die Attacke des Sterbenden. Wo war Doktor Wolff? Es fiel Birgit schwer, bei den nächsten nach ihr rufenden Patienten ausreichend lange zu verweilen, um deren Durst zu stillen. Sie wollte unbedingt den Doktor finden. Ein Patient nach dem anderen starb und sie wusste nicht mal, was sie mit diesen Patienten anfangen sollte. Schließlich fand Birgit Doktor Wolff. 104
Doch er war nicht damit beschäftigt, Patienten zu umsorgen, sondern lag schweißgebadet am Ende eines Ganges im dritten Stockwerk auf dem Fußboden. Wie die anderen Patienten keuchte er um sein Leben. Birgit fühlte, wie etwas in ihr abstürzte. War sie völlig allein in diesem Krankenhaus voller Sterbender? Wo blieb die Hilfe? Ob im Behandlungszimmer Platz für den Doktor war? Nachdem sie den Arzt mit Wasser versorgt hatte, bahnte sich Birgit den Weg zum Behandlungsraum. Tatsächlich war die Untersuchungsliege leer. Birgit ging zurück zum Arzt, packte ihn unter den Schultern und zog ihn völlig würdelos bis zum Zimmer. Nur mit größter Mühe gelang es ihr, Herrn Wolff auf die Liege zu hieven. Fast wäre er ihren Armen entglitten und unsanft auf dem Boden gelandet. Doch schließlich lag Herr Doktor Wolff auf der schmalen Matratze, mit frisch gewaschenem Gesicht und einigen Schlucken Flüssigkeit in seinem Bauch. Von der Anstrengung war Birgit inzwischen selbst über und über verschwitzt. Sie trank einen Schluck und wischte sich über die heiße, schmerzende Stirn. Wie lange war sie jetzt schon im Dienst? Mindestens sechzig Stunden, ohne Pause. Sie war so müde und fühlte sich abgekämpft.
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Birgit legte sich auf den Boden vor der Untersuchungsliege. Nur ein paar Minuten ausruhen.
Kapitel 16 Wie gut, dass ich hier sein kann, in diesem medizinisch gut bestücktem Labor. So gut versorgt wie Siegfried ist bestimmt kaum ein anderer der vielen Kranken. Hoffen wir mal, dass zumindest einer von uns verschont bleibt, sonst ergeht es uns auch nicht besser als den anderen. Am besten wäre es, wenn wir alle so lange gesund bleiben, bis wir ein Heilmittel gefunden haben. Also auf gehts, wo ist der Virus? Wie eine Zwergin wanderte Iris mit ihrem Mikroskop zwischen den Zellen umher. Es war offensichtlich, dass die Zellen nicht gesund waren, denn sie sahen stark verändert aus gegenüber normalen Zellen der Schleimhäute. Einige der Gebilde waren geplatzt, grossflächig aufgerissen. Vermutlich Brutstätten der Viren, nach denen ich suche. Schade, dass ich keine Zellen der Bronchialschleimhäute habe; dort würde ich bestimmt schneller fündig. Die Viren waren bei der untersuchten Probe anscheinend ausgeflogen, denn Iris fand keinen Erreger, den sie für den Auslöser der Lungenentzündung hielt. Nur weitere Kokken und einige Erkältungsviren traf sie an. Auch die nächsten vier Proben brachten sie nicht weiter. In der Zwischenzeit waren viele Stunden vergangen. Zwischen Probe vier und fünf hatte Iris einen Blick aus dem 106
Fenster geworfen und festgestellt, dass es schon wieder dunkel geworden war. Martin betrat den Raum mit einem fertig geschmierten Käsebrot, gerade als die Zellen vor Iris' Augen anfingen zu verschwimmen. "Kommst du voran?" fragte Martin mit einem Blick auf das Elektronenmikroskop. "Bisher nicht. In den Proben habe ich nichts entdeckt, was ich eindeutig als den Erreger der Pneumonie identifizieren könnte." "Das wäre ja auch ein Wunder, wenn das so schnell klappen würde." "Richtig, aber wir brauchen mehr als ein Wunder, um diese Pandemie in den Griff zu bekommen." "Bestimmt hast du Hunger. Ich habe dir ein Brot gemacht, denn ich schätze, du hast keine Ruhe, um dich in der Küche selbst zu verpflegen." "Oh, Essen! Gute Idee! Stimmt, ich wäre gar nicht darauf gekommen, in die Küche zu gehen. Hm, schmeckt gut, danke! Wie geht es eigentlich Siegfried?" "Unverändert würde ich sagen. Das ist zwar alles andere als gut, aber immer noch besser, als das was ich aus manchen Krankenhäusern gehört habe. Dort sterben Menschen mit schlechter Konstitution reihenweise. Aber 107
Kranken, die vorher gesund waren, geht es ähnlich wie Siegfried: schwerste Atemprobleme ohne große Veränderung des Zustands." "Das heisst, eigentlich müssten alle auf der Intensivstation liegen und von einem ganzen Team behandelt werden?" "Richtig, aber die meisten liegen auf den Gängen. Alle mir bekannten Krankenhäuser haben inzwischen Aufnahmestopp." "Kein Wunder! Bei der Finanzlage ist ja niemand wirklich auf solche eine Katastrophe vorbereitet. Schon eine normale Grippe-Pandemie, wie sie immer befürchtet wurde, hätte alles aus dem Ruder laufen lassen. Aber sowas wie wir jetzt haben, hätte sich niemand in seinen kühnsten Alpträumen vorstellen können. Ist die Neuerkrankungsrate immer noch so hoch wie heute morgen?" "Die Leute erkranken eher schneller. In manchen Ortsteilen scheinen neunzig Prozent der Bevölkerung krank und andere Gegenden steuern in diese Richtung." "Wie grauenvoll. Dann liegt da draußen wohl alles brach." "Genau. Notstand ist ein mildes Wort für den Zusammenbruch des öffentlichen Lebens, der außerhalb unseres Labors stattfindet." "Mal was ganz anderes: könntest du mir wohl noch eine neue Gewebeprobe von Siegfried besorgen, am besten aus den Bronchien?" 108
"Das wäre wohl möglich. Ich wollte sowieso gleich mal wieder nach ihm schauen." "Sehr gut, du bist ein Schatz!" Martin verließ den Raum und Iris zwang sich dazu, in Ruhe weiter zu essen. Doch zwischen den Bissen konnte sie es sich nicht verkneifen, weiter die Zellen im Mikroskop zu studieren. Ob diese Erkältungsviren vielleicht die gesuchten Bösewichter sind? Mal vergrößern! Sieht aus wie völlig normale Coronaviren. Sehen sie nicht vielleicht ein bisschen anders aus? Nein, nix besonderes. Hoffentlich kommt Martin bald mit einer neuen Gewebeprobe. Doch Iris musste eine gute halbe Stunde warten, bis Martin kam und ihr ein Stückchen von Siegfrieds Bronchialschleimhaut brachte. Ungeduldig nahm Iris die Probe entgegen und fing sofort an, sie für die Untersuchung unterm Elektronenmikroskop vorzubereiten. Schon der erste Blick auf das neue Gewebe zeigte Iris etliche der zerissenen Gewebezellen und dazwischen tummelten sich massenhaft Viren. Wieder diese Erkältungsviren. Dabei kann man ja nun wirklich nicht von Erkältung reden, bei dem, was Siegfried durchmacht. Aber SARS gehört schließlich auch zur Familie der Coronaviren. Vielleicht sind das schon die gesuchten Erreger. Mal vergrößern!
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Plötzlich erlosch das Licht des Mikroskops und Iris konnte überhaupt keine Zellen mehr sehen. Entsetzt starrte sie auf das Gerät. Bin ich in der Aufregung auf den Schalter gekommen? Nein, der ist weit weg und steht immer noch auf "eingeschaltet". Der normale Strom funktioniert, sonst würde ich ja völlig im Dunkeln sitzen. Oh je, hoffentlich ist das Mikroskop nicht kaputt. Am liebsten würde ich ja draufhauen, um zu sehen, ob das hilft, aber womöglich richte ich damit noch mehr Schaden an. Da hilft nur eines: Igor muss her! Aufgeregt verließ Iris ihr Labor und machte sich auf die Suche nach Igor. Wie erhofft fand sie ihn wieder in einem der anderen Laborräume, diesmal über ein Gerät gebeugt, sodass sein Kopf fast im Gehäuse verschwand. "Igor! Mein Mikroskop ist kaputt! Das Licht geht nicht mehr. Kannst du es dir mal ansehen?" "Hm." Igor folgte Iris zum Mikroskop und fing sofort mit der Untersuchung an. Eine Weile sah Iris ihm dabei zu, aber dann beschloss sie, die Zeit zu nutzen, um nachzuschauen wie es der Welt erging. Sie ging in die Küche und sah eine Weile der Sondersendung zu, die ununterbrochen über den Bildschirm flimmerte. Außer Horrormeldungen über den weiteren Verlauf der Seuche wurden Tipps gesendet, wie man die Lungenentzündung möglichst gut ohne ärztliche Hilfe überstehen konnte. Immer wieder wurde betont, dass man 110
reichlich Wasser trinken sollte. Dann wurden die unterschiedlichsten Hausmittel beschrieben. Wie sollen sich Menschen in Siegfrieds Zustand wohl selbst mit Wasser versorgen oder gar ein Dampfbad zubereiten? Ohne gesunde Angehörige sieht es mies aus für die meisten Kranken. Im Netz stöberte Iris nach den neuesten Forschungsergebnissen, in der Erwartung, dass vielleicht schon jemand den Erreger entdeckt hatte. Bisher sah es aber überall aus wie bei Iris. In vielen Labors war es außerdem zu Ausfällen bei den Forschern gekommen, die inzwischen auch krank darnieder lagen. Oh je, hoffentlich passiert uns das nicht. Ich muss den Erreger finden, bevor uns die Pneumonie niederstreckt. Unbedingt! Und ein Heilmittel! Ein einfaches Heilmittel muss es sein, das von wenigen Personen ohne komplizierte Maschinen hergestellt werden kann. Wie sollen wir das nur bewerkstelligen? Nach überraschend kurzer Zeit betrat Igor die Küche und hielt triumphierend ein elektronisches Bauteil hoch. "Kaputt!" "Gar nicht gut! Kannst du es reparieren?" "Ne." "Haben wir ein Ersatzteil oder kannst du eins besorgen?" "Hm." 111
Igor legte das angeschmorte Bauteil vor Iris auf den Küchentisch und holte eine Strickmütze aus seinem Zimmer. Dann verließ er das Labor durch den Hinterausgang. Hoffentlich bekommt er da draußen keinen Ärger. Schließlich herrscht Ausgangsperre. Na ja, wenn es einer schaffen kann, dann Igor. Wo steckt wohl Martin? Bestimmt bei Siegfried. Tatsächlich war Martin im Krankenzimmer und bettete gerade Siegfried um. Iris half ihm, Siegfried umzudrehen. Sie war entsetzt über den Zustand ihres Patienten. Objektiv betrachtet hatte sich zwar nichts verändert, aber man konnte ihm ansehen, dass er durch den Kampf ums Atmen entkräftet war. Sein Gesicht war grau vor Sauerstoffmangel. Nach dem Umbetten wurde Iris nicht mehr im Krankenzimmer gebraucht und war froh, wieder entkommen zu dürfen. Sie stöberte weiter im Netz und las sich die Meldungen in einem speziellen Medizinerforum durch, wo sich die Forscher untereinander weiterhalfen. Als sie alles gelesen hatte, schrieb sie ihre eigenen bisherigen Ergebnisse auf. Vielen der anderen Wissenschaftlern ging es ähnlich wie Iris. Sie hatten begleitende Sekundärerreger gefunden, aber dem eigentlichen Verursacher der Pandemie war noch keiner auf der Spur. Diejenigen, die Kontakt zu Patienten hatten, natürlich in Schutzanzügen, berichteten davon, dass die Übertragungswege nach wie vor ein großes Rätsel darstellten. Zu112
viele der Erkrankten, die man befragen konnte, hatten im typischen Zeitraum der Inkubationszeiten für Erkrankungen der Atemwege keinen Kontakt zu anderen Kranken gehabt. Außerdem war es mysteriös, wie sich die Erkrankung so schnell ausbreiten konnte, wie es der Fall war. Iris gähnte. Die Kobolde hatten sich um Iris herum aufgebaut und grinsten sie an. Iris war erleichtert, dass sie eine gewisse Distanz hielten und Iris nicht angriffen. Eigentlich sahen die kleinen Kerle ganz lustig aus, fast schon niedlich. Auf jeden Fall harmlos. Warum hatte sie sich so vor ihnen gefürchtet? Die Kobolde lächelten Iris freundlich zu und zwitscherten unverständliche Worte. Gerne hätte Iris sie verstanden. Sie streckte ihre Hand aus, um einen der Kobolde zu berühren, doch er hüpfte kichernd zur Seite. Auch der nächste ließ sich nicht anfassen. Iris gab es auf, in körperlichen Kontakt mit den kleinen Geschöpfen zu treten. Stattdessen versuchte sie zu zwitschern, ähnlich wie die Kobolde, in der Hoffnung, ins Gespräch mit ihnen zu kommen. Begeistert antworteten die Kobolde und hüpften vor Freude auf und ab. Iris begann, sie lieb zu gewinnen. Doch da sah sie im Augenwinkel, wie einer der Kobolde seine Maske absetzte und dahinter diabolisch lachte. Er sah zum fürchten aus, egal wie klein er war. Als Iris den Kopf drehte, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen, setzte der Kobold die Maske blitzschnell wieder auf. "Hm!" Iris fuhr auf. Igor stand vor ihr und hielt ihr ein neues Bauteil für das Mikroskop hin. Iris rieb sich die Augen 113
und streckte ihren schmerzenden Rücken durch. Schon wieder bin ich im Sitzen eingeschlafen. Das wird noch zur Gewohnheit. Ob ich jetzt wohl wach bin? Mal kneifen! Ja, tut weh. "Oh Igor! Du hast es mal wieder geschafft, wie ich sehe. Baust du es jetzt noch ein, das Teil, damit ich weiterarbeiten kann?" "Hm." Ehe sich Iris versah, war Igor im Labor verschwunden. Zur Aufmunterung aller kochte Iris einen Kaffee und brachte eine Tasse ins Krankenzimmer. Martin schreckte aus dem wohlverdienten Schlaf und Iris überlegte kurz, ob sie sich wieder zurückziehen sollte. "Ah, ich rieche Kaffee! Sehr gut! Es wird sowieso Zeit, Siegfried mal wieder umzubetten. Packst du mit an?" Iris stellte die Tasse auf einen Tisch und half Martin, Siegfried umzudrehen. Dann gingen die beiden in die Küche, Martin mit der Tasse in der Hand. Ob ich dem Igor jetzt gleich den Kaffee bringen soll? Ne, dann fühlt er sich bestimmt beim Schrauben gestört. Wenn die Reparatur nicht allzu lange dauert, will er bestimmt erst anschließend etwas trinken. Schweigend tranken Iris und Martin ihre Tassen leer. Iris dachte an ihren merkwüdigen Traum.
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Schnuppernd betrat Igor nach kurzer Zeit die Küche und füllte sich eine Tasse. Er nickte Iris zu. "Hast du das Mikroskop schon fertig repariert?" "Hm." Hastig verließ Iris den Raum und setzte sich mit neuem Forschungseifer an das Elektronenmikroskop. Vergrößern wollte ich. In dieser Probe sind echt zuviele von den Coronaviren, um begleitende Erscheinungen zu sein. Ja, sehr schön. Sieht wirklich aus wie Erkältungserreger, auch bei stärkerer Vergrößerung. Aber sind es wirklich normale Erkältungsviren? Der Traum schoss Iris durch den Kopf. Noch näher ran! Sieht wirklich ganz harmlos aus. Tausendmal gesehen, im Laufe der Jahre. Aber sind sie nicht ein klein wenig untypisch? Iris' Herz schlug schneller. Ob sie dem Rätsel auf der Spur war?
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