Tatsachen 298
Günter Larisch
»Orzel« kommt durch
1. Auflage © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (V...
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Tatsachen 298
Günter Larisch
»Orzel« kommt durch
1. Auflage © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) - Berlin, 1986 Lektor: Rosemarie Trebeß Illustrationen: Archiv des Autors Umschlaggestaltung: Bernhard Kluge
Vor dem Sturm 1939, an einem heißen Augusttag, versammelten sich in Swinemünde Offiziere der dort stationierten Einheiten der faschistischen Kriegsmarine. In dem kleinen Saal, in dem sie pünktlich Platz genommen hatten, befanden sich auch Stabsoffiziere aus Berlin. Man sah sich im Saal um, grüßte mit einem kurzen Kopfnicken alte Bekannte und konzentrierte sich auf die bevorstehende Besprechung. Die Atmosphäre war spannungsgeladen. Alle spürten es: Irgend etwas lag in der Luft. Die sonst üblichen leisen Unterhaltungen mit den Platznachbarn kamen nicht in Gang. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt. Dann durchdrang die volle Stimme eines Kapitäns zur See die Stille: »Meine Herren Offiziere - der Herr Admiral!« Die Versammelten erhoben sich, nahmen Haltung an und sahen zu der geöffneten Tür, in der ein mittelgroßer Mann in Admiralsuniform erschien, gefolgt von mehreren Offizieren. Nachdem sich der Admiral in der ersten Stuhlreihe niedergelassen hatte, setzten sich auch alle Anwesenden. Auf eine Handbewegung des Admirals hin erhob sich ein Stabsoffizier zum Vortrag. Zwei Leutnants zogen an der Stirnwand des Saales mehrere Vorhänge zur Seite. An der Wand waren großflächige Lagekarten und Tabellen befestigt. Der Stabsoffizier ließ sich Zeit, bevor er mit seinen Ausführungen begann. Währenddessen hatten die Offiziere Gelegenheit, sich auf den Karten und Tabellen zu orientieren. »Na also«, flüsterte einer, »machen wir endlich mal ernst mit den Pollacken.« »Es wird ja auch allerhöchste Zeit«, stimmte ihm ein anderer zu. Langsam trat der Vortragende an eine Karte, die den gesamten Raum der Danziger Bucht (heute Zatoka Gdanska) darstellte. In seiner rechten Hand hielt er einen Zeigestab, in der linken ein Blatt Papier. »Herr Admiral, meine Herren Offiziere«, begann er mit fester und lau3
ter Stimme seinen Vortrag, und er erläuterte Auszüge aus der »Weisung für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht für 1939/40«, die Hitler am 11. April 1939 unterzeichnet hatte und auf deren Grundlage Raeder, der Oberbefehlshaber der faschistischen Kriegsmarine, am 16. Mai 1939 seinen Operationsbefehl für den »Fall Weiß« erlassen hatte. Der »Fall Weiß« sah den Überfall auf Polen und die vollständige Zerschlagung des polnischen Staates vor. Nun, Mitte August, lag der endgültige Operationsplan des Marinegruppenkommandos Ost für die Handlungen seiner Kräfte beim Überfall auf Polen vor. »Der Führer«, setzte der Vortragende mit leicht bebender Stimme fort, »hat der Wehrmacht die Aufgabe gestellt, die polnischen Streitkräfte zu vernichten. Hierzu ist ein überraschender Angriffsbeginn anzustreben und vorzubereiten.« Der Stabsoffizier machte eine kleine Pause, um seine Worte auf die Anwesenden wirken zu lassen. Dann fuhr er fort: »Ich komme jetzt zu den Aufgaben der Kriegsmarine. Sie hat erstens die polnischen Seekriegsbasen zu blockieren, zweitens die polnische Marine zu vernichten und drittens den Überseehandel Polens mit neutralen Ländern zu stören. Außerdem hat die Kriegsmarine unsere Seeverbindungen mit Ostpreußen, Schweden und den baltischen Ländern zu sichern. Folgende Kräfte werden bereitgestellt: In Swinemünde die Kreuzer , und . In Pillau die Zerstörer , , , , <Erich Steinbrink>, , , >Wolfgang Zenker>, und die I. Schnellbootflottille. Außerdem die Geleitflottille, die I. Minensuchflottille, die Minensuchboote des Sperrversuchskommandos , , , und <Sundewall> sowie die III. Minenräumbootflottille. Die örtlichen Kommandanturen haben Hafenschutzflottillen aus bewaffneten Fischdampfern als Wachfahrzeuge und Fischkutter als Minensuchfahrzeuge aufzustellen. Außerdem hat sich die Küstenfliegergruppe 506 bereitzuhalten. Ich möchte Sie auch noch darüber informieren, daß zur Unterstützung des Heeres das Schulschiff <Schleswig-Holstein> mit einer Marinesturmkompanie an Bord kurz vor Ausbruch der Kampfhandlungen zu
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einem Flottenbesuch nach Danzig einlaufen wird.« Damit war der Vortrag beendet. Die Würfel waren also gefallen. Die faschistische deutsche Regierung verfolgte mit der Kriegsplanung gegenüber Polen weitgehende politische und militärstrategische Ziele. Polen sollte ein Stammland für den deutschen Imperialismus werden. So erklärte Hitler am 23. Mai 1939: »Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten...« Ein Überfall auf Polen sollte die erste Etappe des bewaffneten Kampfes um die Weltherrschaft sein. Und noch eine Spekulation stand Pate für den geplanten Einmarsch in Polen: Deutschlands Position im Kampf gegen die imperialistischen Konkurrenten Großbritannien und Frankreich sollte sich durch die Okkupation Polens wesentlich verbessern. Zwischen Polen, Frankreich und Großbritannien bestand ein Bündnis, das in einer Garantieerklärung gipfelte, Polen im Falle eines Krieges mit Deutschland sofort zu Hilfe zu kommen. Aber dieses anglofranzösische Bündnis stand auf tönernen Füßen und war weder in politischer noch militärischer Hinsicht ein einheitliches Ganzes. Darauf baute die deutsche faschistische Regierung. Überdies rechnete sie sich große Chancen mit ihrer Blitzkriegstrategie aus. Hitler hoffte Polen schnell zu zerschlagen und damit Großbritannien und Frankreich vor vollendete Tatsachen zu stellen. Polen befand sich somit noch vor Ausbruch dieses Weltkrieges in einer aussichtslosen Lage. Die bürgerliche Regierung Polens hatte während der gesamten Vorkriegszeit eine reaktionäre Politik betrieben und feindselige Pläne gegen die Sowjetunion geschmiedet. Trotzdem bot die UdSSR in dieser Gefahrensituation ihre Hilfe an. Die Sowjetregierung erklärte: »... die UdSSR würde Polen keine Hilfe abschlagen, falls es diese wünschte.« Aber die polnische Regierung lehnte das Angebot aus Moskau ab. So verspielte sie eine Verständigung mit der UdSSR - die alleinige letzte Chance für Polen, und lieferte das Land dem deutschen Faschismus aus. Die faschistische Propaganda lief am Vorabend des zweiten Weltkrieges auf Hochtouren. Sie verwandte viel Mühe darauf zu beweisen, daß der Krieg mit Polen unvermeidlich sei, weil Polen den Anschluß der
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Freien Stadt Danzig an Deutschland nicht gestatten würde, damit das Hitlerreich das Recht auf die Errichtung einer exterritorialen Magistrale nach Ostpreußen hätte. Nationalismus und eine unglaubliche Demagogie gingen diesem Eroberungsfeldzug voraus. Die faschistische Propaganda appellierte an die niedrigsten Instinkte. Dafür nur ein Beispiel: In dem vom Generalstab des Heeres am 25. August 1938 bestätigten Merkblatt für die Soldaten der Wehrmacht, einer Art »Welteroberer«-Kodex, hieß es: »Keine Macht der Welt kann dem deutschen Ansturm widerstehen. Wir werden die ganze Welt auf die Knie zwingen. Der Deutsche ist der absolute Herr der Welt. Du wirst über das Schicksal Englands, Rußlands und Amerikas entscheiden. Du bist Deutscher, und wie es sich für einen Deutschen gehört, vernichte alles Lebende, das sich dir in den Weg stellt... Morgen wird die ganze Welt vor dir knien.« Die Nacht vom 31. August zum 1. September 1939 war ruhig und warm. Heller Mondschein lag über der spiegelglatten Ostsee. In den Stützpunkten des Ostseekommandos der faschistischen Kriegsmarine waren die Schiffe see- und gefechtsklar gemacht worden. Für die gesamte Flotte bestand höchste Bereitschaftsstufe. Alle Urlauber und Landgänger waren zurück an Bord und in die Kasernen gerufen worden. Eine angespannte Arbeit hatte begonnen. Fernschreiber ratterten, Ordonnanzen hasteten durch die Korridore der Stabsgebäude. Überall herrschte hektische Betriebsamkeit. Es waren die letzten Stunden vor dem zweiten Weltkrieg. Die Kreuzer und Zerstörer, die Schnellboote und Geleitfahrzeuge, die Minensuchboote und Minenräumboote verließen die Häfen und nahmen Kurs auf die Danziger Bucht. Mit Marschfahrt durchpflügten sie die Ostsee. Zur befohlenen Zeit erreichten sie die vorgegebenen Positionen: die Kreuzer in der mittleren Ostsee, die Zerstörer und die Geleitfahrzeuge im großen Bogen rund um die Danziger Bucht, die Boote der I. Minensuchflottille zwischen den Zerstörern und der polnischen Küste. Sie waren bereit zur U-Boot-Jagd.
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Die polnischen U-Boote wurden von der faschistischen deutschen Kriegsmarine als gefährliche Gegner angesehen. Daher war auch die uneingeschränkte U-Boot-Jagd befohlen worden. Die Minensuchboote des Sperrversuchskommandos und die Minenräumboote der III. Räumflottille waren mit Blockadeaufgaben betraut worden. Auf verlorenem Posten Dämmerung lag über der Danziger Bucht. Der anbrechende Tag verdrängte allmählich das Dunkel der Nacht. Die Stadt und der Hafen Gdynia waren eingehüllt in die morgendliche Stille. Eine einsame Möwe segelte über die Nordmole von Oksywie, und ein leichter Flügelschlag trug sie auf die Bucht hinaus. Leises Motorengebrumm hing plötzlich in der Luft. Der Matrose auf dem U-Boot »Orzel«, der um 4.00 Uhr die Wache übernommen hatte, war mit einem Schlag hellwach. »He«, rief er den Posten auf der Pier an, »hörst du das Brummen auch?« »Ja, das scheinen Flugzeuge zu sein.« Interessiert blickten die beiden zur Stadt hinüber, in die Richtung, aus der das Geräusch kam und mehr und mehr anschwoll. Ehe die zwei Seeleute überhaupt begreifen konnten, was geschah, waren sie über ihnen: drei Maschinen, aus allen Rohren feuernd. An ihren Tragflächen, deutlich zu erkennen, die Balkenkreuze der faschistischen deutschen Luftwaffe. »Gefechtsalarm! Gefechtsalarm!« schrien die beiden Posten. Der Oberdeckposten drückte auf den Knopf der Signalanlage. Grell schrillten die Glocken in den Wohndecks und rissen die Männer aus den Kojen. Auch die Menschen in der Stadt gerieten in helle Aufregung. Nicht nur der Luftangriff allein versetzte sie in Panik, sondern auch Kanonendonner, der zu ihnen nach Gdynia herüberdrang. Gegen 5.00 Uhr wurde der Kommandant der »Orzel«, Korvettenkapitän Kloczkowski, am Telefon verlangt. Der Chef der U-Boot-Abteilung, Fregattenkapitän Mohuczy, meldete sich aus Hel, vom Stab der Flotte. Doch Kloczkowski befand sich nicht an Bord. Er hatte Landurlaub und
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hielt sich bei seiner Familie auf. Kapitänleutnant Grudzinski, der Erste Wachoffizier, nahm den Anruf entgegen. »Hören Sie genau zu, was ich Ihnen mitzuteilen habe«, brüllte es aufgeregt aus dem Telefonhörer, »die Deutschen greifen an. Das ist keine Provokation mehr, das ist Krieg! Sie beschießen in Puck unsere Seefliegerstation. Von dort ist keine Unterstützung mehr zu erwarten. und <Wilk> müssen sofort auslaufen. Haben Sie verstanden? Sofort auslaufen und ...« »Pan Kapitän«, unterbrach ihn Grudzinski, »ich melde ...«, er zögerte einen Augenblick, »der Kommandant ist nicht an Bord, hier spricht der Erste Wachoffizier.« »Waas«, schrie der Abteilungschef zurück, »nicht an Bord? Weshalb ist der Kommandant nicht an Bord?« Grudzinski sprach jetzt ruhiger und gefaßter. Er schilderte die Lage: »Er ist gestern nachmittag wie gewöhnlich nach Hause gefahren, Pan Kapitän. Auch die Besatzung ist nicht vollzählig an Bord, wir haben noch einige Landurlauber.« Stille in der Leitung. Der Wachoffizier wartete, nach einer scheinbar endlosen Zeit hörte er wieder die Stimme des Vorgesetzten. »Ich befehle: und <Wilk> laufen sofort aus, wenn die Besatzungen vollzählig an Bord sind. Beide haben nach Operationsplan zu handeln, verstehen Sie, nach Operationsplan! Übermitteln Sie das Ihrem Kommandanten, sobald er eintrifft. Und jetzt schicken Sie sofort einen Ihrer Leute zum <Wilk> hinüber und geben meinen Befehl weiter. Ist das klar, Grudzinski?« »Zu Befehl, alles klar, Pan Kapitän.« »Dann macht's gut! Haltet die Ohren steif. Ende!« Auf dem U-Boot »Wilk« schien die gesamte Besatzung an Bord zu sein, denn kurze Zeit später warf es die Leinen los und lief in die Danziger Bucht. Auf der »Orzel« fehlten noch immer der Kommandant und einige Besatzungsmitglieder. Kapitänleutnant Grudzinski und der Navigationsoffizier, Leutnant Mokrski, standen auf der Brücke. Mokrski hatte dem Ersten Wachoffizier gemeldet, daß das Boot klar
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zum Auslaufen und klar zum Gefecht sei. Besorgt blickten die beiden Offiziere zum Stützpunkt hinüber. Aber weder der Kommandant noch weitere Landgänger erschienen auf der Straße, die das Hafenbecken umgrenzte. Grudzinski hatte Mühe, seine Unruhe zu unterdrücken. Wieder und wieder sah er zur Uhr. Im Boot waren alle Gefechtsstationen besetzt. Die Männer unterhielten sich leise. Die Ereignisse beschäftigten jeden. Ein quälendes Gefühl von Angst und Besorgnis hatte sie ergriffen. Dieses Warten auf den Kommandanten und die Kameraden, die noch fehlten, und hier womöglich einem weiteren Luftangriff ausgesetzt zu sein, zerrte an ihren Nerven. Doch jeder bemühte sich, die innere Erregung vor den Kameraden zu verbergen. »Das lassen sich England und Frankreich nicht bieten«, sagte der Obermatrose Nowak, »die kommen uns bestimmt zu Hilfe.« »Was heißt England und Frankreich? Die sind weit weg«, erwiderte der Bootsmaat Pokrywka, »jetzt zählt nur, was wir uns bieten lassen.« »Doch, doch, die Engländer und Franzosen hauen uns hier raus, darauf können wir uns ganz bestimmt verlassen. Wir müssen nur durchhalten, bis sie die Deutschen vom Westen her packen«, beharrte Nowak auf seiner Meinung. Kurz vor 6.00 Uhr sprang der Kommandant an Bord. Mit ihm drei Matrosen. Jetzt fehlten nur noch vier. Der Erste Wachoffizier übermittelte dem Kommandanten den Befehl des Abteilungschefs zum sofortigen Auslaufen und meldete alle eingeleiteten Maßnahmen. Die schrillen Töne der Alarmanlage unterbrachen seinen Bericht. »Fliegeralarm! Fliegeralarm!« brüllten die Oberdeckposten in den ohrenbetäubenden Lärm der Alarmglocken hinein. »Feindliche Flugzeuge im Anflug!« Die beiden Offiziere sahen sich für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen, dann schob Korvettenkapitän Kloczkowski seinen Ersten Wachoffizier resolut zur Seite und eilte an ihm vorbei. Blitzschnell kletterte er über die steile Eisenleiter nach oben auf die Brücke. Geblendet vom Sonnenlicht, beschattete er mit seinen Händen die Augen und orientierte sich.
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Kapitänleutnant Grudzinski war seinem Kommandanten gefolgt. Aus nordwestlicher Richtung flogen die deutschen Maschinen heran. Kloczkowski und Grudzinski erkannten die näher kommenden Flugzeuge jetzt ganz deutlich: Junkers, Ju 87, Sturzkampfflugzeuge der faschistischen Luftwaffe. »Das sind ihre Stukas«, sagte Grudzinski. Der Kommandant nickte, und mit einem Seitenblick überzeugte er sich davon, daß das Fliegerabwehrgeschütz besetzt und feuerbereit war. Dann befahl er, die Festmacherleinen zu lösen. Die Maschinen wummerten. Das U-Boot entfernte sich von der Außenseite der Nordmole, seinem bisherigen Liegeplatz, und steuerte die Mitte der Danziger Bucht an. Aber dieses Mal war das Ziel der Faschisten nicht der Flottenstützpunkt Oksywie. Sie flogen zur Westerplatte weiter. Bald waren sie den Blicken der polnischen Seeleute entschwunden. Korvettenkapitän Kloczkowski führte sein Boot wieder zurück an die Nordmole. Nachdem der Luftalarm vorüber war, trafen auch die letzten Landurlauber auf dem Boot ein. Sie berichteten, daß das vor einigen Tagen nach Danzig eingelaufene deutsche Linienschiff »Schleswig-Holstein« die Westerplatte beschieße und die Deutschen überall die polnische Grenze überschritten hätten. Es war nun Gewißheit: Radiomeldungen bestätigten ihre Berichte. Das faschistische Deutschland hatte Polen überfallen. Das U-Boot »Orzel« verließ endgültig seinen Stützpunkt und fuhr hinaus in die Bucht. Kurz nach dem Auslaufen erhielt »Orzel« einen Funkspruch aus Hel. Schnell und sicher warf der Funkmaat die Buchstabengruppen auf das Papier. Dann las er im Klartext: »<Worek> ausführen!« Eilig begab er sich zum Kommandanten und übergab ihm den Befehl des Flottenkommandos. Daraufhin entnahm Kloczkowski dem Panzerschrank ein versiegeltes Kuvert und öffnete es. Aufmerksam las er den Operationsbefehl für den Ernstfall. Danach hatten sich alle fünf U-Boote rund um die Halbinsel Hel zu entfalten. Korvettenkapitän Kloczkowski ließ tauchen und das Boot auf Grund legen. Dann befahl er seine Offiziere in die Kommandantenkammer.
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»Meine Herren«, sagte er leise, aber bestimmt, »soeben habe ich den Befehl erhalten, nach dem Operationsplan >Worek< zu handeln. Im Rahmen dieser Operation hat >Orzel< in dem Raum zwischen der Pucker Bucht und der Wislamündung - deutsche Großkampfschiffe zu erwarten und zu bekämpfen.« Kloczkowski machte eine kurze Pause, räusperte sich und fuhr fort: »Die U-Boote >SepWilkRys< und >Zbik< haben die gleiche Aufgabe zu erfüllen, jedes auf der ihm zugewiesenen Position.« Er schaute die anwesenden Offiziere an, als suchte er ihre Gedanken zu ergründen. Was hatte er wohl von jedem einzelnen zu erwarten, jetzt, da der Krieg die Situation völlig verändert hatte. Sein Blick ruhte auf dem kleinen, hageren, aber kräftigen Grudzinski, der stets ruhig und besonnen reagierte. Wenn auch erst kurze Zeit auf dem U-Boot, so war er ihm doch bisher eine verläßliche Stütze. Von der Besatzung forderte er viel, auch von sich selbst. Wegen seiner Bescheidenheit, ja beinahe Schüchternheit, nannten ihn die Matrosen unter sich »Fräulein«. Auf was die Burschen alles kommen, dachte Kloczkowski. Neben dem Ersten Wachoffizier saß Oberleutnant Piasecki, der Waffenoffizier, energisch, entschlußfreudig und immer voller Initiative. Alle mochten den Oberleutnant. Der Blick wanderte weiter zum Navigationsoffizier Leutnant Mokrski. Das schöne runde Jungengesicht fiel jedem an ihm zuerst auf. Er war ein verträglicher und lebhafter Typ und ein ausgezeichneter Sportler. Auf Grund seiner sehr guten Leistungen war er 1936, nach Beendigung der Seeoffiziersschule, mit einem neunmonatigen Praktikum auf dem französischen Schulkreuzer »Jeanne d'Arc« ausgezeichnet worden. Der letzte in dieser Runde war der Leitende Ingenieur Oberleutnant Roszak. Ein hervorragender Fachmann, sympathisch und ausgeglichen. Mit einem beruhigenden Gefühl entließ der Kommandant die Offiziere. Am 2. September lief »Orzel« aufgetaucht mit kleiner Fahrtstufe Kurs Nord. Die Brückenwache machte am Horizont die Silhouetten der Dampfer »Gdynia« und »Gdansk« aus. Aufmerksam beobachteten die Männer den See- und Luftraum. Immer wieder preßten sie ihre Ferngläser vor die Augen. Sie hielten Ausschau
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nach deutschen Flugzeugen, aber auch nach eigenen. »Ohne Luftdeckung, Pan Kapitän, wird das sehr schwierig für uns sein«, sagte Mokrski. »Wir müssen abwarten«, entgegenete Kloczkowski kurz. Er ahnte, was ihnen bevorstand. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Die Einsatzkonzeption für die polnischen U-Boote hielt er für falsch. Und schon bald schwand auch seine Hoffnung, daß eigene Fliegerkräfte in den Kampf eingreifen und die Handlungen der Flotte unterstützen würden. Kein einziges polnisches Flugzeug erschien am Himmel. Die Männer auf der Brücke wurden Zeugen, wie deutsche Flugzeuge die beiden Dampfer »Gdynia« und »Gdansk« angriffen und versenkten. Dicht über der Wasseroberfläche heransausend, warfen sie ungestört ihre Bomben auf die Schiffe. Und niemand hinderte sie daran. Betroffen starrten die Männer auf die sich vor ihnen abspielende Tragödie, Aber die Ereignisse ließen ihnen keine Zeit für Sentimentalitäten. »Alarmtauchen!« brüllte der Kommandant. Im Nu verschwanden die Männer durch das Turmluk ins Innere des Bootes. Als letzter verließ der Kommandant die Brücke. Die deutschen Flugzeuge hatten das U-Boot jedoch bereits entdeckt und griffen an. Die Fliegerbomben trafen das tauchende Boot nicht, und Wasserbomben hatten sie nicht an Bord. Zwei Stunden lag das Boot auf dem Grund der Danziger Bucht, dann tauchte es wieder auf. Die Batterien wurden aufgeladen. Inzwischen war es dunkel geworden. Hin und wieder zeigte sich der Mond zwischen den Wolken und warf einen fahlen Schein auf das Wasser der Bucht. Unablässig beobachteten die Seewachen die Wasseroberfläche. Aber für die Torpedos der »Orzel« blieben die Ziele aus. Die Faschisten hatten die großen Kriegsschiffe bereits wieder abgezogen. In Küstennähe zeigten sich nur Minensucher und Minenräumboote. Die polnischen Offiziere glaubten kaum noch daran, in dem Abschnitt, der ihnen zugeteilt worden war, lohnende Ziele zu entdecken. Die faschistischen Truppen durchbrachen zur selben Zeit die polnische Verteidigung, drangen in einigen Abschnitten tief in das Land ein. Mit 58 Divisionen, 2500 Panzern und fast 2000 Flugzeugen hatten sie
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das polnische Volk überfallen. 1,5 Millionen Mann waren von den Faschisten aufgeboten worden. Auf polnischer Seite standen dem Aggressor lediglich 30 Divisionen, 12 Kavalleriebrigaden, 900 Flugzeuge veralteter Typen und 56 Bataillone der Nationalen Verteidigung gegenüber. Die Kampfkraft der polnischen Streitkräfte litt zusätzlich darunter, daß das polnische Oberkommando bei der Planung der Kampfhandlungen ernste Fehler zuließ. Hinzu kam die antisowjetische Politik der herrschenden Kreise Polens. Deshalb auch hatte es starke Kontingente seines Heeres an der Grenze zur Sowjetunion konzentriert, an der Westgrenze hingegen gab es nicht einmal militärisch bedeutsame Befestigungsanlagen. Schlecht vorbereitet, ungenügend ausgerüstet und bewaffnet, so kämpfte der polnische Soldat gegen die erdrückende militärische Übermacht des Feindes - allein gelassen von seinen angeblichen Verbündeten in Westeuropa. Bereits in den ersten Kriegstagen wurde die polnische Luftwaffe vernichtet, der Eisenbahnverkehr lahmgelegt und die Führung der polnischen Truppen desorganisiert. Im Westen jedoch blieb es nach dem faschistischen Überfall ruhig, die westlichen Alliierten überließen Polen den Faschisten. Zwar erklärten Großbritannien und Frankreich am 3. September Hitlerdeutschland den Krieg, ihre Armeen allerdings setzten sie nicht in Marsch. Zwischen Maginotlinie und Westwall gab es keine wesentlichen militärischen Aktivitäten. Tatenlos verfolgten die Westmächte den Verzweiflungskampf ihres polnischen Bündnispartners, ohne ihm, wie vertraglich vereinbart, zu Hilfe zu kommen. Unterdessen lag Warschau im Bombenhagel deutscher Flugzeuge. Die polnischen Truppen wurden unter großen Verlusten immer weiter ins Landesinnere zurückgedrängt und die Zivilbevölkerung von den Eroberern terrorisiert und gemordet. Die massierten Schläge der Fliegerkräfte gegen polnische Flugplätze, militärische Anlagen, Transportbewegungen und Verbindungswege störten empfindlich die weitere Mobilmachung und den planmäßigen Aufmarsch. Tapfer schlug sich die Besatzung der Westerplatte gegen eine Übermacht von Feinden. Den Angreifern gelang es nicht, die polnischen Flottenstützpunkte
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Gdynia und Hel im ersten Ansturm zu nehmen. In ebendiesen Tagen verabschiedete man Hitlers Diplomaten nach der Kriegserklärung in London betont herzlich. Gegenseitig wünschte man sich ein baldiges Wiedersehen zu Weihnachten. Am frühen Vormittag des dritten Kriegstages wurde »Orzel« von deutschen Minensuchbooten angegriffen, die für die Jagd auf U-Boote speziell vorbereitet worden waren. In Dwarslinie stürmte der Gegner heran. Auf dem polnischen U-Boot schrillten die Glocken Alarm. Das Turmluk war gerade zugeworfen, als auch schon die Waserfluten darüber hinwegschlugen. Das Boot schoß in die Tiefe. Deutlich waren die Schraubengeräusche der sich nähernden U-Jäger zu hören. Dann waren sie direkt über dem U-Boot. Die Detonationen ihrer Wasserbomben lagen in unmittelbarer Nähe der »Orzel«, ohne aber Schaden zu verursachen. Die Deutschen griffen ein zweites Mal erfolglos an. Dann herrschte Ruhe. Gegen 15.00 Uhr ging »Orzel« auf Sehrohrtiefe. Der Kommandant hatte die Holme des Periskops mit den Händen fest umspannt. Seine Augen preßte er an die Optik. Kaum hatte das Sehrohr die Wasseroberfläche durchstoßen, bemerkte Kloczkowski ganz in der Nähe drei deutsche U-Jäger, die sich mit gestoppten Maschinen treiben ließen. »Verdammt«, fluchte er. »Sehrohr ein, auf vierzig Meter tauchen!« befahl er. Auf den U-Jägern hatte man das Sehrohr sofort ausgemacht. Die Maschinen heulten auf, und mit großer Fahrtstufe liefen die Gegner auf die Position zu, auf der das Sehrohr gesichtet worden war. Wieder detonierten rund um das U-Boot Wasserbomben. Mit Schleichfahrt versuchte es, aus dem gefährlichen Sektor zu entkommen. Vergebens. Die U-Jäger hielten Kontakt. In der Zentrale des U-Bootes befanden sich außer dem Kommandanten Grudzinski und Mokrski. »Nach dem nächsten Angriff bleiben wir im Schraubenwasser der Deutschen«, sagte der Kommandant, »vielleicht gelingt es uns, sie ab-
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zuschütteln.« Mokrski arbeitete in der Seekarte. Mit großer Gewissenhaftigkeit trug er die Kurse des eigenen Bootes und die des Gegners in die Karte ein, so daß zu jeder Minute die Lage der beiden Kontrahenten zueinander erkennbar war. Das Vorhaben, die U-Jäger abzuschütteln, gelang nicht. Wieder griffen die Deutschen an. Wasserbombe auf Wasserbombe rollte von den Decks ihrer Boote. Eine Detonation folgte der anderen. Die Druckwellen warfen »Orzel« hin und her. Es knackte und knisterte in den Spanten. Plötzlich fiel im ganzen Boot das Licht aus. Gespenstisches Dunkel hüllte die Gefechtsstationen ein. Eine Taschenlampe blinkte auf. »Kommandant an Leitenden Ingenieur: Schäden feststellen und sofort melden!« Der Befehl des Kommandanten wurde aufgeregt weitergegeben. Dann breitete sich unheimliche Stille im Boot aus, von Zeit zu Zeit unterbrochen durch tastende Schritte auf den Flurplatten. Schon folgte der nächste Angriff. Die Druckwellen der Wasserbomben schüttelten »Orzel« erneut durch. Sollte das das Ende sein? »Wo bleibt die Schadensmeldung?« schrie Kloczkowski ungeduldig. Er wollte endlich wissen, was mit seinem Boot los war. Bange Minuten verstrichen. Plötzlich flammte das Licht wieder auf. Wenig später erschien Oberleutnant Roszak in der Zentrale. »Pan Kapitän, wir haben Wassereinbruch im Vorschiff. Wir sind dabei, die Lecks abzudichten.« »In Ordnung. Ist das alles?« »Nein, einige Tauchzellen sind beschädigt. Außerdem ist der Zylinder eines Kompressors gerissen. Ich befürchte, wir müssen die Hilfe einer Werft in Anspruch nehmen.« »Werft, sagen Sie? Können Sie mir auch sagen, welche Werft?« Der Leitende Ingenieur zuckte mit den Schultern und lächelte verlegen. »Ich kann lediglich über den technischen Zustand des Bootes Auskunft geben, Pan Kapitän, zu mehr bin ich nicht in der Lage.« »Gut, Roszak. Ich danke Ihnen.« Kloczkowski überlegte. Im Grunde genommen gab es nur eine einzige
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Möglichkeit: »Orzel« mußte in der nächsten Zeit einen neutralen Hafen anlaufen, für Stunden nur, um das Boot wieder voll einsatzklar zu machen. In den eigenen Stützpunkt konnten sie nicht mehr zurückkehren. Deutsche Truppen standen vor den Toren Gdynias; so besagten es die letzten Radiomeldungen. Außerdem wurde die Hafeneinfahrt von den Faschisten blockiert. Kloszkowski begriff, daß sie sich in einer ziemlich aussichtslosen Lage befanden. Er geriet in Widerstreit mit sich selbst. Da standen nun plötzlich Vernunft und Befehl gegeneinander. Wie sollte er entscheiden? Es fiel ihm schwer, hier weiterzudenken. Gehorchte er dem Befehl, dann hieße das aber, die konkrete militärische Lage in dem ihm zugewiesenen Operationsgebiet völlig zu ignorieren. Erneut krachten Wasserbomben. Dieser neuerliche Angriff gab schließlich den Ausschlag für seine Entscheidung. Korvettenkapitän Kloczkowski entschloß sich, die Bucht zu verlassen und in den freien Seeraum abzulaufen - ohne Befehl. Aber immer noch kreuzten die U-Jäger über dem Boot. Erst nach vielen Stunden konnte sich »Orzel« aus ihren Fängen lösen. Angeschlagen steuerte das Boot Positionen in der mittleren Ostsee an. Am 5. September nahm der Funker einen Spruch des Flottenchefs auf. »Orzel« sollte sich aus der Danziger Bucht zurückziehen und in der mittleren Ostsee den Feind bekämpfen. Nach diesem Befehl fühlte sich Kloczkowski sichtlich erleichtert. Trotz der Schäden kreuzte »Orzel« noch einige Tage auf den neuen Positionen, suchte nach gegnerischen Schiffen. Doch alle Mühen waren vergebens. Unter der Erfolglosigkeit litt die Stimmung an Bord. Besonders die jungen Besatzungsmitglieder wurden ungeduldig. Sie wollten kämpfen. »Was soll überhaupt aus uns werden?« fragte der Waffenoffizier den Kommandanten. »Wenn die Radiomeldungen stimmen, dann können wir nicht mehr zurück nach Hause.« Kloczkowski blickte Piasecki unsicher an. Er spürte seit einigen Tagen ein zunehmendes Unwohlsein und Schmerzen im Bauch. Nur sein eiserner Wille hatte es bisher vermocht, die Zügel fest in der Hand zu
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behalten. Aber es fiel ihm immer schwerer. Und nun diese bohrende Frage. Eine Frage, die er sich selbst schon gestellt hatte, die auch er nicht beantworten konnte. »Wir schwimmen hier auf der See herum«, Piasecki ließ nicht locker, »und haben kein Hinterland mehr. Sind losgelöst von allem. Wir müssen doch schließlich irgendwo hingehören.« »Bitte, Piasecki, nehmen Sie sich zusammen.« »Entschuldigen Sie, ich meine nur, Pan Kapitän, wir sollten mit der Besatzung reden.« »Mit der Besatzung?« »Ja, mit der Besatzung«, wiederholte er. »Dafür gibt es keinen Grund, Piasecki«, sagte Kloczkowski ungehalten. »Ich wüßte nicht, welchen Sinn das haben sollte.« Kloczkowski ließ den Waffenoffizier stehen und verschwand. Piasecki stieß einen leisen Fluch durch die Zähne. Ärgerlich kletterte er auf die Brücke zu Grudzinski hinauf. Am 8. September erkrankte der Kommandant. Mit hoher Temperatur mußte er das Bett hüten, Blinddarmentzündung wurde vermutet. Einen Arzt gab es an Bord nicht. Schwer atmend bat Kloczkowski seinen Stellvertreter, das Kommando zu übernehmen, bis er sich wieder etwas besser fühle. Sorgenvoll verließ Grudzinski seinen Kommandanten. Inzwischen hatte das Boot den Befehl der Flottenführung empfangen, sich nach Verbrauch der Munition nach England durchzuschlagen oder sich in Schweden internieren zu lassen. Diese Mitteilung traf die Männer wie ein Schlag. »Und wo bleiben unsere Verbündeten?« wollten die Seeleute von ihren Offizieren wissen. Niemand an Bord konnte diese Frage beantworten. Bevor Grudzinski mit der Besatzung sprach, hatte er sich mit Kloczkowski beraten. »Jetzt liegt es allein an uns, aus der entstandenen Situation herauszukommen. Wir laufen den estnischen Hafen Tallinn an, geben dort unseren erkrankten Kommandanten in ärztliche Obhut und versuchen, den Kompressorschaden zu beheben. Danach brechen wir nach England
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durch. Ich hoffe, es wird uns gelingen.« »Und wer führt das Boot nach England, Pan Kapitänleutnant?« wollte einer der Matrosen wissen. »Ich!« Schweigen umgab Grudzinski. »Orzel« lief durch die dunkle Nacht mit Kurs auf Tallinn, der Hauptstadt des bürgerlichen, mit dem faschistischen Deutschland liebäugelnden Estlands. Ein steifer Wind heulte aus Nordost. Schwere Brecher überspülten das Deck und schlugen mit gewaltiger Kraft gegen den Turm des Bootes. Am 14. September erreichte das U-Boot um 21.30 Uhr die Reede von Tallinn und setzte folgenden Funkspruch an die Hafenbehörde ab: »Habe Kranken an Bord und Maschinenschaden. Erbitte Einlaufgenehmigung. O. R. P. >OrzelThalatta< liegt. Er wird in Kürze den Hafen verlassen.« Kloczkowski, der dicht vor dem Esten stand, schwankte leicht. Mit aller Kraft unterdrückte er den Schwächeanfall. Nicht hier, dachte er, nur nicht vor dem Esten. Kloczkowski spürte, daß seine Kräfte nachließen. »Da Estland die Neutralität zu wahren sich verpflichtet hat und sich niemals in die Belange zweier kriegführender Staaten einzumischen gedenkt, sehe ich mich gezwungen, Ihnen erst dann die Auslaufgenehmigung zu erteilen, nachdem das deutsche Schiff vierundzwanzig Stunden zuvor den Hafen Tallinn verlassen hat.« Der Flottenchef hob bedauernd die Schultern und entließ die polnischen Offiziere. Nach dieser Visite begab sich Kloczkowski in Begleitung von Mokrski in ein Krankenhaus, um sich einem Arzt vorzustellen. Das Untersuchungsergebnis war niederschmetternd: akute Blinddarmentzündung, sofortige Operation. Die Rückkehr an Bord war ausgeschlossen. Korvettenkapitän Kloczkowski war in eine Situation geraten, die für
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den Kommandanten eines Kriegsschiffes nicht schwerer sein konnte. Niedergeschlagen stand er vor seinem Navigationsoffizier und bat ihn, dem Ersten Wachoffizier, der nun das U-Boot übernehmen mußte, die Anweisungen des Esten zu übermitteln. »Mach's gut, haltet euch tapfer, Mokrski.« Mit brüchiger Stimme verabschiedete er den jungen Mann. »Schlagt euch nach England durch.« Bei diesen Worten hatte seine Stimme wieder die gewohnte Festigkeit. »Schickt die Hitlerleute zur Hölle, überall, wo ihr sie antrefft. Bereitet diesen Halunken ein schnelles Ende. Das ist mein letzter Befehl! So, nun geh, Leutnant.« Tränen liefen über das Gesicht des Navigationsoffiziers. Er hielt die Hand seines Kommandanten fest umschlossen, als wollte er sie niemals wieder freigeben. Als Leutnant Mokrski allein zurück an Bord kam, war die Betroffenheit unter der Besatzung groß. Viele fühlten sich plötzlich verwaist. Kapitänleutnant Grudzinski übernahm sofort das Kommando. Im Laufe des Tages überbrachte ihm der polnische Militärattache die nachträgliche Erlaubnis, über die international üblichen 24 Stunden hinaus im Hafen zu verbleiben. Er erfuhr, daß die »Thalatta« kurz vor dem Auslaufen stünde. »Orzel« müsse exakt vierundzwanzig Stunden danach Tallinn verlassen. Das hieße am 16. September gegen 21.30 Uhr. Hinter den Kulissen Eine schwarze Opel-Limousine rollte vorbei an den runden Wehrtürmen der alten Stadtmauer, in die engen Straßen der Tallinner Altstadt hinein. Unweit des Restaurants »Gloria« hielt der Wagen. Ein Mann im mittleren Alter stieg aus, ein unauffälliger Durchschnittstyp mit einem freundlichen, rundlichen Gesicht. Das blonde Haar hatte er glatt nach hinten gekämmt. Auch seine Kleidung war unauffällig. Den Sommermantel über dem Arm, betrat er ein helles, spitzgiebeliges Geschäftshaus. Dort wurde er bereits erwartet. Sein Gastgeber, Hauptmann Willem
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Kasari, empfing ihn in der geräumigen Diele der untersten Etage. »Willkommen, lieber Langenbach, herzlich willkommen.« Die beiden Männer drückten einander die Hände und lächelten sich an. Sie hatten sich mehrere Jahre nicht gesehen. Jetzt führten sie die Ereignisse des September 1939 zusammen. »Ich muß Ihnen danken, Herr Kasari, daß Sie sich bereit erklärt haben, mich so kurzfristig zu empfangen.« »Ich bitte Sie, das ist doch selbstverständlich«, wehrte der Gastgeber ab. Langenbach verbeugte sich artig. Gemeinsam stiegen sie über eine schmale und frisch gescheuerte Treppe nach oben und betraten ein kleines, in Dunkel gehaltenes Arbeitszimmer. An der Wand hinter dem Schreibtisch stand ein wuchtiger Bücherschrank, der bis an die Decke reichte. Eine alte Standuhr in der Ecke neben dem Fenster, drei Ledersessel und ein Klubtisch vervollständigten die Ausstattung. Langenbach sah sich interessiert im Raum um, bevor er sich niederließ. Dann musterte er den Hausherrn, der aus der Tiefe des Schreibtisches eine Flasche Wodka und zwei Gläser hervorholte. Langenbach schätzte Kasari. Sie hatten sich 1918 kennengelernt. Bei den Freikorps, den berüchtigten Baltikumern, hatten sie gemeinsam gegen die junge Sowjetmacht gekämpft. Für Kasari und Langenbach hat dieser Kampf nie aufgehört. Hauptmann Kasari, Mitarbeiter des Geheimdienstes, der 2. Abteilung des Generalstabes der estnischen Armee, war seit Jahren auch ein Mann des deutschen Geheimdienstes. »Was führt meinen alten Freund zu mir?« Langenbach lächelte und sagte: »Eine delikate Angelegenheit, mein Lieber, und vorrangig zu behandeln. Die Polen machen uns Schwierigkeiten.« »Die Polen? Sie scherzen wohl?« »Ganz recht, die Polen. Und ich habe durchaus keinen Scherz gemacht.« »Aber die sind doch am Ende, dank Ihrer so glänzend kämpfenden Wehrmacht.«
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»Ja, ja, das stimmt schon alles. Trotzdem.« Kasari sah Langenbach ungläubig an. Langenbach nippte an seinem Wodkaglas und schaute über den Rand des Glases hinweg seinem Gegenüber in die Augen. Die Standuhr schlug. Sie zeigte die dritte Nachmittagsstunde an. Immer noch schwieg der Gast. Kasari wartete geduldig. Langenbach kippte endlich den Wodka in sich hinein und erklärte schließlich: »Bei Ihnen liegt doch ein polnisches U-Boot im Hafen?« Selbstverständlich wußte Kasari, daß in den Morgenstunden das polnische U-Boot »Orzel« in den Hafen eingelaufen war. Schaden an der Antriebsanlage und Kommandant schwer erkrankt, so hieß es. Und jetzt befürchteten die Deutschen offensichtlich, dieses U-Boot könnte vor ihren Küsten Unruhe stiften. »Sagen Sie mir, was wir für Sie tun können, Herr Langenbach.« »Das ist ganz einfach«, der Deutsche ging unverhohlen auf sein Ziel los, »internieren!« »Deutschland wünscht also, daß das polnische U-Boot von uns interniert wird, damit es in der Ostsee keinen Schaden anrichten kann?« »So ist es, lieber Hauptmann. Internieren Sie die Besatzung. Verstehen Sie, wir können es uns nicht leisten, in dieser Angelegenheit nichts zu unternehmen.« Langenbach wollte nicht zurückkehren, ohne eine verbindliche Zusage erhalten zu haben. Kasari verstand. »Wie aber soll die Internierung begründet werden? Sie wissen genauso gut wie ich, daß Estland keinerlei Handhabe hat, die Polen nach Ablauf der international üblichen Frist festzuhalten.« Er spielte dabei auf das XIII. Haager Abkommen von 1907 an, das festlegte, daß sich Kriegsschiffe kriegführender Staaten in den Gewässern, auf den Reeden und in den Häfen neutraler Küstenstaaten bis zu vierundzwanzig Stunden aufhalten können. Diese Vierundzwanzigstundenfrist konnte sogar verlängert werden, wenn das Kriegsschiff beschädigt war oder wegen schwerer See nicht auslaufen konnte. Langenbach begann ungeduldig im Sessel hin und her zu rutschen. »Wenn es keine Handhabe gibt, muß eine geschaffen werden. Das gehört doch wohl zum Abc unserer Arbeit, Kasari.«
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Der Este wehrte ab, er wollte nicht mißverstanden werden. Natürlich war er bereit, im beiderseitigen Interesse alles zu unternehmen. »Wie ich erfahren habe, Herr Langenbach, hat unsere Marineleitung dem polnischen U-Boot ausdrücklich gestattet, sich in Übereinstimmung mit den Haager Regeln in unserem Hafen aufzuhalten. Davon haben wir auszugehen.« »Hören Sie, lieber Kasari, wir dürfen getrost auch davon ausgehen, daß die Behandlung von U-Booten nach diesem Abkommen immer strittig war und es noch heute ist. Nutzen wir also diesen Umstand. Außerdem erinnere ich Sie daran, daß während des Weltkrieges U-Boote nicht unter die Bestimmungen des XIII. Haager Abkommens fielen und nach dem Einlaufen in einen neutralen Hafen unverzüglich zu internieren waren.« »In der Tat«, der Hauptmann lächelte, »hier scheint sich ein Weg zu eröffnen.« »Wiederholen Sie die Praxis, die im Weltkrieg üblich war, und Sie unterstreichen mit Nachdruck den Neutralitätsstatus Ihres Landes.« Der Gast erhob sich und ging zum Fenster. Er zündete sich eine Zigarette an, schaute dann über die Dächer der gegenüberliegenden Häuser. Sein Blick heftete sich an den langen, spitzen Rathausturm, der wie eine Nadel über der Altstadt in den Himmel stieß. Kasari stand am Schreibtisch, füllte erneut die Gläser. Er wußte, daß Langenbach russischen Wodka bevorzugte. »Was ist eigentlich mit Ihrem Tanker, der >Thalatta