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LUDWIG MARCUSE
OBSZÖN Geschichte einer Entrüstung
PAUL LIST VERLAG MÜNCHEN
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Umschlag und Einband von Wolfg...
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LUDWIG MARCUSE
OBSZÖN Geschichte einer Entrüstung
PAUL LIST VERLAG MÜNCHEN
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Umschlag und Einband von Wolfgang Dohmen
© Paul List Verlag München 1962. Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany Schrift: Garamond Linotype. Gesamtherstellung: Graphische Kunstanstalt Jos. C. Huber KG., Diessen vor München Scan by maoi
n 2003
2003/I-1.0
ALLE SCANS VON MAOI UND PÁRDUC SIND NON-PROFIT-SCANS UND NICHT ZUM VERKAUF BESTIMMT.
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Inhalt
Obszön: seit Jahrhunderten steckbrieflich verfolgt – und nicht gefaßt
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Das Wort: Verwandtschaft, Ton, Herkunft Der Papst, der amerikanische Supreme Court und ein deutscher Candidatus philosophiae definieren Zwei Griffe: das Obszöne zu packen Die vier unanständigen Literaturen Ein Beischlaf, von Rembrandt gezeichnet, ist ein moralisches Kunstwerk? Ein Viertel-Jahrtausend Feigenblatt Das Gespenst auf dem Operationstisch
Jena 1799 Hundertfünfzig Jahre deutsche Entrüstung Um Achtzehnhundert gab es in Deutschland ... Friedrich Schlegels »lüsterner« Roman »Lucinde« Jedes verschriene Buch hat seine Stellen Von den Dichtern des Barock bis zum sogenannten Heiden Goethe Die Aufnahme im engsten Kreis Das Ärgernis Siebzig Jahre später nahm Wilhelm Dilthey Anstoß Der große Fürsprecher: Pastor Schleiermacher Die Ehe a quatre und höhere Zahlen
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Paris 1857 Emma Bovary und andere Blumen des Bösen
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Achtundfünfzig Jahre nach Frau Lucinde erregte Madame Bovary die Gemüter Der Staat kümmert sich nicht um die unscheinbaren Ehebrüche kleiner Provinzlerinnen, aber um Flauberts und Baudelaires Glorifizierungen Monsieur Senard, ein alter Freund des Vaters, verteidigte Die urtio mystica und die unio physica »Madame Bovary« freigesprochen, Madame Bovary verurteilt Vier Monate nach dem Freispruch der »Madame Bovary« erschienen Charles Baudelaires Gedichte »Die Blumen des Bösen«
New York 1873 Anthony Comstock, eine Kreuzung aus Barnum und McCarthy Die lustigste wilde Jagd auf das Obszöne ist jüngeren Amerikanern kaum noch bekannt Wer dem seltsamen Phänomen mit dem Namen obszön psychologisch nachgeht, hat in Anthony Comstock den Glücksfall Sein Aufstieg begann in einer Epoche des Katzenjammers Auf der Flucht vor der Eva, heiratete er Maggie In der Blüte seines Lebens und seiner Saat war noch nicht vorauszusehen, daß er einmal als Anachronismus dahingehen werde Er hatte keine glückliche Hand in seinen Feldzügen gegen die Damen
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Vom blutigen Jäger zum unpersönlichen, aber nicht weniger blutigen Gesetz Viele Comstocks der letzten hundertundfünfzig Jahre versuchte man in Schach zu halten, indem man ihnen das magische Wort »Kunst« entgegenstreckte – wie dem Teufel das Kruzifix Berlin 1920 Sex, Politik und Kunst – im Reigen
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Der dreiundzwanzigste Dezember 1920 war ein denkwürdiger Tag in der Geschichte der Entrüstung Schnitzlers »Reigen« hat zehn Vorher-und-Nachher Szenen Er war schon der zweite Mann aus Wien, der eine schamhafte Welt in Harnisch brachte. Der erste ist Freud gewesen Das besondere Schamgefühl, das, verletzt, seine Wunde vorweist, indem es öffentlich Krach schlägt, muß organisiert werden Der Schmutz-Brunner oder das organisierte Ärgernis Auf der andern Seite: auf Seiten des Dichters, seines Stücks, der Weimarer Republik und der offiziellen Liberalität Man hatte sich auf ein Wagnis eingelassen, das man – nicht wagte London 1960 D. H. Lawrence oder purissimus penis (Kaiser Augustus über Horaz)
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Die Sensation war groß, wenn auch nicht so sensationell wie das, was nicht zur Sprache kam Die Handlung der »Lady Cbatterley« kann in jedem konservativen Mädchen-Pensionat erzählt werden, wenn man das Entscheidende ausläßt: die »Stellen« Die beiden »gelehrten Freunde«, der Staatsanwalt und der Verteidiger, hatte wegen ein paar Saiten des Buches voll mobilisiert
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Ein vertrautes Muster im Streit der Parteien wurde sichtbar. Die Einen versteiften sich auf die These: zweimal zwei ist Drei, die Andern: ist Fünf Die Stars, zur Erhellung des Literarischen bestellt, waren weniger Sternen-klar als Nachtlicht-funzlig Was wäre geschehen, wenn einige hochangesehene Herrschaften die Wahrheit über die Moral des Waldhüters und seines Schöpfers gesagt hatten? Die zwölf Richter, Geschworene genannt Wo war der Dreizehnte? Oscar Wilde, 1895 vor Gericht über Kunst und Schmutz befragt, redete sich nicht auf die brave, unzerstörbarste Phrase hinaus: wenn etwas Kunst ist, dann ist es rein; und wenn es unrein ist, dann ist es nicht Kunst Los Angeles 1962 Der obszönste Schriftsteller der Welt-Literatur Mit diesem Meisterschafts-Tttel zeichnete der englische KunstKritiker Herbert Read den Amerikaner Henry Miller aus Man verwechsle ihn nicht mit der vernünftigen Entblößung im Zeitalter der Aufklärung. Damals begann Amerika, sich an Europa anzulehnen: in der Philosophie, in den Künsten, in der Pornographie Er ist nicht nur ein Pornograph, der viel Neuland beschrieben hat, er ist mehr: eine obszöne Existenz Entmythologisierung des Sexus Welche Realität wurde selbst im klassischen Realismus ausgeklammert? Los Angeles, Chicago, Philadelphia, Cleveland, Atlanta, Miami, Dallas, Houston, Seattle, St. Louis, Buffalo, Phoenix, Oklahoma City und, und, und . . . halten im Jahre 1962 eine Koexistenz ihrer Stadt und des Buchs »Wendekreis des Krebses« für unmöglich Die Jury bestand aus neun Frauen und drei Männern.
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Auch die Rasse der Verteidiger zeigt durch die Zeiten den einen Verwandtschaftszug: vom Pastor Schleiermacher, dem bedeutendsten, bis zu den ebenso wohlmeinenden, ambivalenten Juristen, Geistlichen und Professoren auf Seiten der Obszönität 1962 Henry Miller ist der Erste in der langen Reihe der Opfer dieser Entrüstung, der sich eine Schönheits-Operation, exekutiert von den ängstlichen Seinen, nicht gefallen läßt Wie souverän ist ein souveränes Volk, das sich in seinem Spruch gegen die Freiheit wendet, die ihm von der Verfassung geschenkt worden ist? Sieben Thesen Zwecks Abrüstung der Entrüstung
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Eins: Entrüstung: ein menschliches Wesen in Alarm Zwei: Der Imperativ: rüste ab! trägt nichts zur Abrüstung bei Drei: Der innerste Wall jeder Entrüstung: Ich bin die Wahrheit. Der innerste Wall dieser Wahrheit: hie, Gott und Kultur – dort, der Erdenrest, zu tragen peinlich Vier: Jede runde Antwort auf die Frage: Was ist der Mensch? ist falsch Fünf: Neben dem Factum brutum: dem Nicht-aus-der-Welt-Wollen, neben dem göttlichen Überschuß: den Lüsten, das Factum humanum: Mit-Leid, Mit-Freude Sechs: Obszön ist kein Faktum, sondern eine brauchbare Scheuche. Contra Obscoenum ist die jüngste Phase im Feldzug gegen den ältesten Gegner: den unverkrüppelten Adam Sieben: Es gibt keine feinen oder weniger feinen Amores, aber unhumane. Oder: L'affaire Sade 9
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Obszön: seit Jahrhunderten steckbrieflich verfolgt und nicht gefaßt
»Priapeia« (eine berühmte lateinische Anthologie):
Sehr unanständig, obwohl für ein gebildetes Publikum geschrieben. Wörterbuch der Antike
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Das lehrt die lange Geschichte: obszön ist, wer oder was irgendwo irgendwann irgendwen aus irgendwelchem Grund zur Entrüstung getrieben hat. Nur im Ereignis der Entrüstung ist das Obszöne mehr als ein Gespenst. Die Identität ist noch nicht komplett. Die spezielle Entrüstung, die einen ihrer beliebtesten Namen im Schimpfwort Obszön hat, richtet sich gegen den Bereich des Sexuellen und benachbarte Gebiete. Und weil dies Obszöne eine Gleichung mit mindestens sechs Unbekannten ist, seufzen die Juristen noch heute: daß es keine Definition gibt, mit denen man Gesetze machen kann ... und machen sie dennoch. Das Wort: Verwandtschaft, Ton, Herkunft Der zweisilbige Laut Obszön ist die Königin im Schwarm der Synonyme. Sie heißen, sehr allgemein: pikant, unschicklich, ungebührlich, frech, verdorben; etwas enger: unanständig, unzüchtig, unrein, unkeusch; sehr aggressiv: schmutzig, schlüpfrig, unflätig, schamlos. Alle diese Vokabeln und noch viele mehr sind schon einmal füreinander gesetzt und gegeneinander gesondert worden. Die Sprache war sehr erfinderisch in der Verlautbarung dieser Abneigung. Bisweilen auch grotesk irreführend. Die stärksten jener Abwertungen sind die erstaunlichsten: »tierisch«, »schweinisch«. Übernehmen sich eigentlich Tiere sexuell? Haben Schweine das große Reich sexueller Vergröberungen und Verfeinerungen (auch Perversionen genannt) entdeckt – wie sie im indischen Kamasutra geschildert sind, an den Wänden der römischen Villen in Pompeji und in der unsterblichen Liebestechnik, die der Dichter Ovid verfaßt hat? Wie man auch 13
diese Früchte menschlicher Phantasie und phantasievoller Praxis einschätzen mag, die Tiere im allgemeinen und die Schweine im besonderen pflegen nicht ihre Einbildungskraft in den Dienst von Steigerung und Differenzierung der Lüste zu stellen; das ist ein Privileg der menschlichen Kultur. Die Linguistik hat diese Kultivierung kaum beachtet. Das Vokabular rund um das Obszöne ist nicht arm; doch ist die Geschichte der verfemenden Worte ebensowenig aufgehellt wie das, was sie bezeichnen. Im Achtzehnten Jahrhundert redete man gern von »Libertinage« und, galanter, von »Galanterie«. Sie benannte einmal etwas Lockeres; Christian Thomasius empörte sich, daß sie »bei uns Teutschen so gemein und sehr mißbraucht worden ist«. Unfreundlicher klingt heute das damalige Wort Frivolität; es war wohl schon immer (wenn auch nicht immer so böse) die zynische Variante der unanständig-galanten Tändelei. Wer studierte den Bedeutungswandel? Die Gelehrten, deren Pflicht es ist, den Wortschatz zu registrieren, blank zu putzen und dem Ursprung nach zu bestimmen, lassen das Obszöne seinen schlechten Ruf entgelten. In einem programmatischen Brief an Lachmann erlaubte Jacob Grimm nur jenen unanständigen Wörtern Eintritt in sein Wörterbuch, welche Schriftsteller im Affekt nicht entbehren können und ein guter Komiker nötig habe. Der größere Rest, den die Menschheit nicht entbehren will, kümmerte ihn nicht. Das Wort Obszön kam nicht zur Darstellung. Wann und in welchem Sinn hielt es seinen Einzug ins Deutsche? Man sollte ein Lexikon der gemiedenen Sprachen schaffen. Ethnologen hätten in Erfahrung zu bringen, ob es auch außerhalb der Hoch-Kulturen Vokabeln gibt, die privat mit Genuß gebraucht, deren öffentliche Preisgabe aber bestraft wird. Klassische Philologen sollten mitteilen, ob dies »Naturalia
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non turpia« sagt: daß es in der Antike keine bemakelten Worte gegeben hat; ob der berüchtigte Pornograph Sotades aus Thrazien eine Ausnahme gewesen ist oder nur einer der wenigen Überbleibsel eines blühenden Zweigs der Schriftstellerei. Die Sprachforscher aber sollten eine Universal-Geschichte der linguae obscoenae schreiben: der alltäglichen und der literarischen. Wer auf der Suche nach der Identität eines Begriffs ist, pflegt, wenn er sich keinen Rat mehr weiß, dem Ursprung des Wortes nachzugehen. Der verliert sich bei solchen Existenzen nicht selten im Dunkel. So ist es auch mit unserem Helden Obszön. In welchem Land ist er zur Welt gekommen? Bei den Römern? Die Etymologie ist eine der fruchtbarsten Stätten der Phantastik; sie hat auch auf der Suche nach dieser Geburt üppig geblüht. Haben die Osker, die Ureinwohner Latiums, dies Zukunftsreiche hervorgebracht? Ihre Sprache starb schon zu Beginn der römischen Kaiserzeit aus; nicht günstig für die Fahndung nach dem oskischen Erzeuger. Vor allem muß man daran denken, daß ein Wort mehr als einen Vater haben kann. War einer die scena: was einem vor der Bühne bewußt wurde, erhielt von ihr den Namen? Vielleicht am populären Feste der Flora, wo es hoch herging – und doch besuchte an diesem Tag selbst der strenge Cato das Theater? Während jener unpolitischen Mai-Feier gürteten die Schauspieler ihre Lenden mit Phallen aus Leder – und trieben einen Schabernack, den man obszön nannte? Der englische Sexual-Forscher Havelock Ellis, auf denselben etymologischen Spuren, fand das genaue Gegenteil; und übersetzte Obszön mit »off the scene«, hinter den Kulissen – ein Wort für etwas, was nicht im Rampenlicht erscheinen konnte. Heute wird es von caenum abgeleitet: Schmutz, Schlamm, Kot, Unflat. Auch wurde caenum für Schamglied gebraucht, der Plural sowohl für Schamteile als auch für den Hintern. Im römischen Schrifttum drückte obscenum eine ästhetische Aversion aus (scheußlich), eine moralische (unsittlich) und eine vitale (eklig). Bei Cicero, Ovid, Livius, Tacitus trat es bisweilen auch recht unspezifisch auf: im Sinne von pöbelhaft, 15
garstig. Im Kern aber war fast immer das Sexuelle. »Obsceno verbo uti« bedeutete: eine Zote reißen. Das Wort zotig ist auf der Grenze zwischen moralischer und ästhetischer Abwertung. Der Papst, der amerikanische Supreme Court und ein deutscher Candidatus philosophiae definieren Kommt man auf der Suche nach dem Ahn eines Findlings wie Obszön nicht weiter, so wendet man sich an die Geschichte der Definitionen, die er erhalten hat. Viele sehen in solchen Produkten ein hartes Stück konzentriertesten Denkens: hergestellt von strengen Gelehrten für strenge Gelehrte in strengem Bemühen. Schaut man genauer hin, so ist das Geschäft des Begriff-bestimmens bei solchen Windhunden von Worten viel lustiger; es handelt sich nur um Emotionen, die auf akademisch stilisiert worden sind. In den definitorischen Antworten auf Fragen wie: was ist Glück? was ist obszön? hat man die epigrammatischen Autobiographien von Zeiten, Schichten, Persönlichkeiten. Dies Obszön ist immer recht passioniert definiert worden. Denn im Verhalten zur Sexualität hat man eine noch leidenschaftlichere Anteilnahme gezeigt als im Verhalten zu Gott und zum Staat – heute, in unserem Klima, heiße Eisen zweiten und dritten Ranges. Ja, ein schlechtes Benehmen in sexualibus war immer auch eine Beleidigung des Herrn im Himmel, des Landesfürsten und des Mitmenschen. Es ist noch nicht lange her, daß ein englischer Richter (im Oscar WildeProzeß) sagte: ein Mord-Fall wäre ihm nicht so zuwider wie diese Verhandlung über die Liebes-Briefe, welche der angeklagte Dichter an seinen Freund Lord Douglas geschrieben hatte. Und es geschah im Jahre 1962, in einem bayrischen Mord-Prozeß, daß der Vorsitzende, der die Angeklagte zu
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Geständnissen ermutigen wollte, breit verkündete: »Eine unverheiratete Frau, die Beziehungen erotischer Natur hat, braucht deshalb noch keine Mörderin zu sein.« Da ist es kein Wunder, daß dem Obszön durch die Jahrhunderte immer wieder einmal ein Steckbrief nachgesandt wurde: auf daß man es endlich dingfest mache, wo immer man es träfe. Das Resultat ist beängstigend. Es ist wie im »Sommernachtstraum«: im Irrgarten der Entrüstung glaubt man hier und da den Bösewicht gepackt zu haben – und hat ihn dann doch nicht. So beschlossen die Amerikaner, Goyas »Maya« nicht mit der Post zu befördern (ihre Form der Zensur); während die Spanier diese Obszönität als Briefmarke benutzten. Das katholische Spanien sah nichts Unzüchtiges in einem Bild, das in dem Land, in dem (wenigstens der Verfassung nach) Staat und Religion getrennt sind, als obszön betrachtet wurde. Bei diesen Verfolgungen handelt es sich ganz offenbar um einen der rätselhaftesten Banditen. Es gibt zwei Gruppen, die an seiner Identifizierung schon professionell interessiert sind: die Juristen und die MoralPhilosophen; die Rechtsprecher noch mehr, weil die ewigen Probleme auf Lösung warten können (die wichtigsten warten schon Jahrtausende), die Verbrecher aber nicht. Sie sterben weg, bevor man das zuverlässige Gesetz gemacht hat, nach dem sie ihre verdiente Strafe erhalten. So klagten Staatsanwälte, eingestandenermaßen, mit schlechtem Gewissen an. Aber lieber Gesetze, an die man nicht glaubt, als gar keine. Schon Paulus sagte: »Wo kein Gesetz ist, wird die Sünde nicht registriert.« Um dieser Registrierung willen hat man Obszönitäts-Paragraphen in die Welt gesetzt – und zu gleicher Zeit gestanden, daß man nicht weiß, was das eigentlich ist: obszön. Unter den Gesetzgebern ist einer der ältesten die katholische Kirche. Allerdings war sie in manchem Jahrhundert nicht so sehr interessiert, wie man meint. Ihr erster Katalog Verbotener Bücher stammt aus dem Jahre 496 und verzeichnet vor allem, was auch späteren Indices immer das Wichtigste war:
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die Schriften der Häretiker. Nur selten wurde auch einmal Unflätiges aufgenommen. So setzte Pius II., mit seinem Schriftstellernamen Aeneus Silvius de'Piccolomini, die Erotica, die er in seinen frühen Jahren verfaßt hatte, auf die Verbots-Liste. Neunzehnhundert erschien die endgültige Redaktion: »Der Index der Verbotenen Bücher, neu bearbeitet und herausgegeben auf Geheiß und im Namen Leo XIII.«. Hier heißt es: »Bücher, welche schmutzige und unsittliche Dinge planmäßig (ex professo) behandeln, erzählen oder lehren, sind streng verboten.« Dies »planmäßig« war bereits eine alte, aufklärerische Einschränkung und hatte außerdem eine große Zukunft; wenn Unanständiges nicht »planmäßig« dargestellt wurde, war offenbar kein Einwand. Das öffnete eine Tür, sperrangelweit. Der amerikanische Supreme Court sagt es heute ganz ähnlich. Vielleicht unterstreicht er stärker das Erlaubte: »Die Darstellung von Sexuellem, zum Beispiel in den bildenden Künsten, der Literatur und wissenschaftlichen Werken, genügt noch nicht, um die konstitutionelle Rede- und Presse-Freiheit zu verweigern.« Im übrigen arbeiten die Juristen des Staats, der keine Religion hat, mit ähnlichem Wort-Schaum, wie die Juristen jenes Staats, der nichts als Religion hat. Das amerikanische Law Institute, eine Vereinigung von Richtern und Anwälten, welche neue Gesetze präparieren, definiert: etwas ist obszön, wenn es vor allem der Unzucht dient – zum Beispiel einem schändlichen, morbiden Interesse am Nackten, am Geschlecht oder am Exkrement. Der päpstliche Gesetzgeber ging nicht ins Detail und sagte trotzdem nicht weniger; aber das ist auch gar nicht möglich. Die amerikanischen Gelehrten machen mit Floskeln wie »schändlich« und »morbid« das Unbekannte nicht bekannter. Doch steckt hinter den Nichtsen aus Buchstaben eine Metaphysik, die den Tautologien einen Sinn gibt (wenn auch nicht einen lebenden). Die christliche, mit dem Wert-Dualismus von Leib und Seele, ist bekannt; in vielen Schattierungen
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wird der Körper ein wenig oder noch weniger zugelassen. Die amerikanischen Rechtslehrer, in einer nicht so glücklichen Lage, weil sie nicht mehr eine massive Philosophie vorfinden, auf der sie ihre Gesetze errichten können, müssen bei Soziologie und Tiefen-Psychologie kurzfristige Anleihen machen, um die große gefürchtete Unbekannte Obszön streng wissenschaftlich zu exorzieren. Die Kirche tut es mit dem schlichteren Requisit: Sünden-Fall. Der moderne Mythos ist viel wackliger, weil er nicht so ehrwürdig ist. Er steht im Falle der amerikanischen Theoretiker auf zwei Thesen. Erstens: jeder ist zwei einander entgegengesetzten Trieben unterworfen: dem sexuellen (inklusive der geschlechtlichen Neugierde) – und der Furcht vor der Gesellschaft, die ihn kontrolliert. These Zwei: diese Unterdrückung bringt Schamgefühl, schlechtes Gewissen und Verlegenheit hervor, wenn Sexus aktiviert wird. Die Anklage lautet: Leute, die Geld damit machen, daß sie jenen Konflikt noch verschärfen, indem sie Salz in die Wunde streuen, sind jenseits der Grenze des Erlaubten. Der Garten Eden leuchtet ein. Auch der Grund, weshalb Adam und Eva ihn wahrscheinlich verlassen mußten: der Teufel entrüstete sich noch obendrein. Diese Juristen aber, unsere Zeitgenossen, reden Kauderwelsch. Frage Eins: also ist etwas Fragwürdiges dann obszön, wenn es für Geld hergestellt worden ist? Dann müßte man Shakespeare darauf hin untersuchen, bei welchen unflätigen Sätzen Gewinnsucht im Spiele war. Und wenn jemand nun zu seinem Privatvergnügen höchst Riskantes offenbart? Frage Zwei: das Obszöne streut Salz in die »Wunde« (eine pathetische Methapher für Konflikt)? Ist dies Obszöne wirklich eine Verschärfung der Spannung? Nicht vielleicht für den, der es schafft, und für die, welche es genießen, eine Entspannung? Wagt man sich heraus aus dem Schutz der Metaphysik vom »Gefängnis« Leib und der himmlisch-freien Seele – so verliert man den Boden, auf dem allein man dem Obszönen begegnen kann: mit dem platonisch-christlich-deutschidealistischen Dogma.
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Die päpstlichen und demokratischen Definitionen sind Zwillinge in einem charakteristischen Zug: sie leiten gern die Armut von der pauverté her, das Obszöne von der Schweinerei. Das Ganze paßt ihnen nicht: theologisch oder wissenschaftlich begründet. Das Zeughaus für ihre Argumente steht schon eine ganze Weile. Im Jahre 1688 schrieb ein Leipziger Doktorand seine Dissertation unter dem Titel »De libris obscoenis«: so seien alle Schriften zu nennen, »deren Verfasser sich in deutlich unzüchtigen Reden ergehen und frech über die Geschlechtsteile sprechen oder schamlose Akte wollüstiger und unreiner Menschen in solchen Worten schildern, daß keusche und zarte Ohren davor zurückschrecken«. Dieser Johannes David Schreber aus Meißen hat bereits alles gesagt, was in den letzten Jahrhunderten von der Kirche, der Moral-Philosophie und der Jurisprudenz wieder und wieder repetiert – und nie aufgeklärt worden ist. Er hat einen Teil des Vokabulars der Entrüstung ausgespien – kam man je weiter? Zwei Griffe: das Obszöne zu packen Unser X gehört zu jenen Rätseln von erheblicher Lebensdauer, die zwar nie gelöst – aber doch im Laufe der Zeiten in ihrer Rätselhaftigkeit etwas erhellt wurden. Die beiden Königswege zur Erhellung zeichneten sich schon bei dem Kandidaten von 1688 ab. Der eine führt zum obszönen Menschen und seiner bösen Absicht: Reizung der Sinnlichkeit. Der andere führt zur bösen Wirkung: obszön ist, was reizt, beabsichtigt oder nicht. Die beiden Methoden gehören zwei verschiedenen Moral-Systemen an: die eine dem protestantisch-kantischen: der Sünder rechnet, nicht die Sünde; die andere dem katholisch-gesellschaftlichen: was einer wirkt, ist entscheidender als, was er will. In den Rechtshändeln rund um das Obszöne hat man sich bald auf den subjektiv-moralischen, bald auf den objektiv-
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pragmatischen Standpunkt gestellt. Kläger und Verteidiger obszöner Kunst haben von beiden Maßstäben Gebrauch gemacht – je nachdem, was ihnen gerade günstig zu sein schien. Diese Schrift hier ist nicht im Dienste irgendeines bestimmten Streits. Kein Individuum und kein Werk wird angeklagt oder in Schutz genommen. Beide Wege, zum Obszönen zu gelangen, werden abgeschritten, um zu zeigen, daß sie Holzwege sind. Die Frage nach dem Schöpfer des Obszönen hat (unter anderem) auch eine liberalisierende Wirkung gehabt: das unzüchtige Wort, die unzüchtige Wendung, das unzüchtige Bild, das unzüchtige Thema ist noch nicht – unzüchtig; alles kann züchtig werden, wenn der Urheber eine anima candida ist. In diesem Sinne liebten angeklagte Obszöne und ihre Anwälte den Römer-Brief XIV 14 zu zitieren: »Ich weiß und ich bin des Herrn Jesus gewiß, daß nichts an sich gemein ist; nur dem, der es rechnet für gemein, dem ist's gemein.« Aber diesem Gemein ist immer wieder der Inhalt gegeben worden, den sogar der liberale Sexual-Forscher Iwan Bloch so formulierte: produziert »zum Zweck der geschlechtlichen Erregung«. Die Gleichung: Obszön gleich beabsichtigte sexuelle Stimulierung gleich niedrig beherrschte und beherrscht die Gedanken. Als im Jahre 1933 das New Yorker Bezirksgericht entschied: James Joyce's »Ulysses« dürfe in den Vereinigten Staaten verkauft werden, schrieb der Richter John M. Woolsey als Begründung: das Werk sei zwar in manchen Passagen eine starke Dosis für einen empfindsamen normalen Menschen; »doch nach langer Überlegung bin ich der wohlbegründeten Überzeugung, daß der ›Ulysses‹, wenn er auch an vielen Stellen zweifellos etwas abstoßend wirkt, nirgends auf eine aphrodisische Wirkung zielt.« Also: der deutsch-liberale Gelehrte Iwan Bloch schrieb gegen die »Erweckung grobtierischer Sinnlichkeit«, der amerikanisch-liberale Richter gegen jede »aphrodisische Wirkung«. In dem einen Fall wie im andern und in tausend ähnlichen Fällen fand man das verdammenswerte Obszön im Anfeuern jenes Triebs, dem jeder sein Leben, dem fast jeder 21
die begehrteste, intensivste Lust verdankt. Vor der Verdammung dieses Reizens ist es nie zum Streit gekommen zwischen Anklägern und Verteidigern, zwischen den Engherzigsten und den sogenannten Freiheitlichen. Mit anderen Worten: die Debatte über Obszön hat noch gar nicht begonnen. Die Männer, die hier kurz und bündig Liberale genannt werden oder die Freiheitlichen, sollten besser die Liberaleren, Freiheitlicheren heißen; denn nur im Vergleich mit ihren Gegnern verdienen sie den Ehren-Namen. Und da sie im Zentrum des Bildes stehen, das hier gegeben wird, ist zuvor ein Wort zum Thema Aufklärung, Befreiungs-Kampf nötig. Kaum jemand war je rundum ein Lichtbringer; dort erhellte er, an einem anderen Ort verdunkelte er vielleicht. Am meisten Widerstand gab es immer dort, wo sexuelle Vorurteile herrschten. Der Freisinn – weitgehend frei von religiösem und politischem Aberglauben – war und ist oft den ältesten Schauergeschichten über das Geschlechtliche verhaftet. Oder es wurden einige gelichtet, andere aber nicht. Die liberale Illiberalität ist unerforschter als der Typ des unbeweglichen Konservativen; vor allem im Gebiet, auf das sich die Entrüstung über das Obszöne bezieht. Jene großzügigen Verständigen, die einen halben Schritt vorwärts machten, wurden auch dort als Helden des Fortschritts gefeiert, wo sie nicht fortschritten. Sie haben verdeckt: daß, wo das Reizen der Sinnlichkeit als unmoralisch verdammt wird, die ganze Sphäre der Sexualität bemäkelt ist. Die Stimulierung des Auges und des Ohrs wird gefördert. Die Sinne, welche man für zweitklassig hält, Geruch und Geschmack, werden gewohnheitsgemäß gereizt und nur selten böse zensiert. Was aber pointiert »Sinnlichkeit« genannt wird, ist unter strengster Bewachung. Zwar hat man sich – mit Ausnahme einiger Unentwegter, von den Kirchenvätern bis zu Schopenhauer – mit der Geschlechtlichkeit des Menschen abgefunden. Aber doch nicht
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so sehr, daß nicht auch noch hinter den Sentenzen des mutigen Iwan Bloch so etwas geistert wie Ängstlichkeit: man kann den Geschlechts-Trieb nicht ignorieren, soll ihn aber nicht auch noch nähren. Das ist die Haltung in Zeiten, die nicht mehr unter dem Ideal der Enthaltsamkeit stehen ... und nicht von ihm freikommen. Deshalb wurde in den Gesprächen über das Obszöne nie in den Mittelpunkt gerückt, was allein entscheidend ist: weshalb ist »die Erweckung grobtierischer Sinnlichkeit« unmoralisch, gar kriminell? Und gibt es neben der »grobtierischen« noch eine feintierische? Und darf sie gereizt werden? Die Verurteilung hat in unserer Kultur nur einen Sinn innerhalb der platonisch-katholisch-protestantisch-idealistischen Metaphysik. Die Aufklärung hat dies Fundament zerstört, aber eben nur teils-teils. Die Vorbehalte gegen den Körper wurzeln hier nur noch in einer kraftlos gewordenen Tradition. Die Verfemung des »Grobtierisch«, der »geschlechtlichen Erregung« hängt bei den liberalen Verteidigern (gegen Angriffe auf Obszön) in der Luft. Weshalb auch viele sich auf eine Linie zurückgezogen haben, die im Theologisch-Philosophischen weniger problematisch ist. Die Absicht des Einzelnen wird in den Hintergrund gerückt, das Wohl der Gesellschaft in die erste Linie. Frühere Zeiten sorgten sich mehr um den Sünder, unsere Tage kümmern sich mehr um die Gruppe. Als das Individuum aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit verschwand, wurden seine Verfehlungen belangloser. Die Sorgen wurden umfangreicher: die Nation, die Klasse, die Gemeinde wurden diagnostiziert und auf den Weg des Heils und der Heilung befördert. So soll, was als Obszön verschrien ist, zugelassen werden, wenn es »eine erlösende Wirkung im gesellschaftlichen Maßstab« mit sich bringt. Die Wendung klingt, als stamme sie aus der Sowjet-Union, kommt aber aus dem Zwillingshaft ähnlichen Amerika. Der gute Wille, den allein Kant als moralischen Maßstab kannte, ist ersetzt durch das Wohl der Gesellschaft.
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Schon der Doktorand von 1688 zog in seinen Betrachtungen nicht nur die Absicht der Autoren obszöner Bücher in Betracht – auch die Wirkung, die sie hervorbringen. Die Sittlichkeits-Hüter von heute, ihre Polizisten und Gerichte, sind mehr an den gesellschaftlichen Folgen interessiert als an der makellosen Seele des Inkriminierten (obwohl sie bei Freisprüchen immer noch herhalten muß). Doch tritt sie in unseren Tagen zurück hinter dem anonymen Schaden, den eine anonyme Gesellschaft erleidet. »Schädlich«, eines der Lieblingsworte in diesem Zusammenhang, kam allenthalben in Gebrauch: bei Christen und Atheisten, Idealisten und Krämern, Kapitalisten und Sozialisten, Leuten von der Fürsorge und dem Altersheim, die sich sorgten, ihre Greise könnten angespornt werden, sich zu übernehmen; des Jugend-Pflegers muß noch gründlich gedacht werden. Dem Obszön wurde mancher Schaden zur Last gelegt: von Priestern und Ärzten und Lehrern und Gesetzgebern. Der Gegensatz von Schädlich wurde »Heilsam« (eine ins Religiöse spielende Kategorie) oder (biologisch) »Gesund« oder »Nützlich« (unter dem Aspekt der Staats- und Partei-Raison). Die Entrüstung über den obszönen Einzelnen ist immer total gewesen. Wo die Wirkung der Maßstab ist, gibt es Teil-Entrüstungen – wie die mittelalterliche Kirche großartig illustriert. Sie war großzügig und ließ dem Würdenträger, sogar dem Volk sein Vergnügen, solange ihr Interesse nicht berührt war; und wurde erst empfindlich, wenn Darstellungen von Unanständigem Beamte des Kirchenstaates kompromittierten. So war der herrschende Katholizismus viel generöser als die nachkirchliche Gesellschaft. Boccaccio wurde scharf zensuriert, wo er Klosterbrüder hernahm; und dann enthielten die gereinigten Ausgaben alle Zoten, welche der kirchlichen Administration nicht wehtaten. Man hatte Geistliche in Zauberer verwandelt, Nonnen in adlige Damen, den Erzengel Gabriel in einen Märchenkönig ... und das vorher beanstandete Buch war in Ordnung. Am leichtesten ist die »Gesundheit« autoritärer Gruppen zu
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bestimmen, schwarzer oder roter. Da dekretiert ein SowjetIdeologe, im Namen seiner Herren: »Pflicht der Gesellschaft gegenüber ist stärker als irgendein Gefühl«. Und da das Obszöne ein Gefühl stimuliert, stärker von Natur als irgendeines, muß dieser mächtige Konkurrent niedergehalten werden. So war es logisch, daß die Sowjet-Union, die (wie das Frankreich von 1789) in ihren großen Tagen auch die sexuelle Befreiung durchzuführen suchte, am 25. November 1935 zu verstehen gab: man könne ohne ein Gesetz gegen obszöne Bücher und Bilder nicht auskommen. Es hat den entsprechenden kapitalistischen Brüdern eins voraus: die Strafe im Lande des freien Sozialismus ist besonders hoch, fünf Jahre Gefängnis. Der liberale englische Dichter E. M. Forster nannte diese Entwicklung rückschrittlich – und kommentierte: die »magische Frische«, die dem »Volk« zugeschrieben wird, gibt es nicht. Damit tat er dem Volk unrecht. Was hat es zu sagen, im Lande der Diktatur über das Proletariat? Daß aber das Obszöne auch dort so gefürchtet wird, weist darauf hin: daß Sexus ein sehr gefährlicher Revolutionär ist – besonders für Sprößlinge der Revolution. Dort, wo die Interessen-Sphäre des Herrschers nicht so leicht abzugrenzen ist, wird die Bestimmung der gesellschaftlichen Gesundheit schwieriger. Da erfand man denn Definitionen wie: ungesund ist, »was geeignet ist, die eingeborene und erworbene erotische Reaktionsfähigkeit des Menschen physiologisch zu reizen«. Die Frage nach der Moral dessen, der reizt, fällt also fort; das Objekt der Reizung, »die eingeborene und erworbene erotische Reaktionsfähigkeit« ist im Vordergrund. Wer oder was aber ist dieser neue Unbekannte? Er hatte eine Reihe von Vorgängern. 1688 waren es »keusche und zarte Ohren«. Zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts berief sich das Deutsche Reichsgericht auf ein gewisses »normales Schamgefühl des Mitteleuropäers«. Heute sprechen amerikanische Soziologen von Community Standards. Reichsgericht und moderne Soziologie haben den keuschen und zarten Ohren voraus: daß sie eine starre Definition ausschließen. Das
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Obszön ist also in verschiedenen kulturellen und sozialen Schichten verschieden; diese Einsicht ist ein Vorwärts in der Richtung auf Toleranz. Und trotzdem noch immer eine kindische Mär, gerade in der jüngsten Version. Was heißt: obszön ist, »was geeignet ist, die eingeborene und erworbene erotische Reaktionsfähigkeit physiologisch zu reizen«? Erregende Schriften und Bilder reizen nie »physiologisch«, immer nur die Einbildungskraft; und erst auf diesem Umweg die zuständigen Drüsen. Direkt »physiologisch« reizt nur – Nicht-Obszönes. Der Forscher G. V. Ramsey veröffentlichte 1943 eine Untersuchung über siebenundsiebzig Ursachen, welche Knaben sexuell stimulieren. Nur dreizehn sind erotischer Natur. Unter den anderen fand er: Strafen, Prüfungen, Sitzen im warmen Sand, enge Kleidung, Fahren im Auto, aufregende Sportveranstaltungen. Und unter den dreizehn erotischen stand das Lesen von Liebesgeschichten (das man vielleicht verhindern kann) sehr bescheiden neben unendlich viel mehr Stimulantien, die nicht zu eliminieren sind: zum Beispiel das Denken an Mädchen und Beobachten von Tieren, die es treiben. Wie gering ist der Einfluß der erotischen WeltLiteratur zuzüglich der klassischen und weniger vornehmen Pornographie neben den nicht-fabrizierten psychologischen und physiologischen Reizungen der Sinnlichkeit! Ist also schon diese »eingeborene und erworbene erotische Reaktionsfähigkeit«, die von Mensch zu Mensch wechselt, von Saison zu Saison, von Stunde zu Stunde ... problematisch, so ist der Schaden, der dieser Reizung zugeschrieben wird, ein höchst abenteuerliches Gerücht, eins der unfundiertesten On dits. Eindeutig ist dieser Schaden nur, wo Sexus und Teufel gleichgesetzt werden. In Zeiten aber, in denen man mit der »Gesundheit« als oberstem Wert operiert (man sagt auch gern: leibliche und seelische Gesundheit), müßte schon sehr augenfällig gezeigt werden, in welcher Beziehung dieses sagenhafte Wohlbefinden affiziert wird; abgesehen davon, daß natürlich zuviel Sex ebenso ungesund ist wie zuviel Fett.
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Immer mehr Forscher haben in jüngster Zeit bekundet, wie wenig der Schaden, den das Obszön anrichten soll, bisher substantiiert worden ist. Ein Jugend-Richter sagte: zu den 878 Gründen, die für Störungen in jungen Jahren verantwortlich zu machen sind, gehört nicht das Lesen von unschicklichen Büchern. Der Chef-Psychiater des Elizabeth Hospital in Washington: wer obszöne Literatur liest, ist, da sie als Ventil angesehen werden kann, weniger in Gefahr, ein Sexualverbrecher zu werden. Der englische Gelehrte Dr. Robert Gosling: bisher hat noch kein Forscher etwas über die Wirkung der Pornographie veröffentlicht; eigene Erfahrungen deuten darauf hin, daß sie keinen gesellschaftlich belangvollen Effekt hat, zumindest keine Verbrechen hervorruft. Das New Research Center for Human Relations veröffentlichte eine Arbeit, die gegen die Überschätzung der Lektüre als Ursache für Wandlungen im Charakter des Einzelnen gerichtet ist. Und der Psychologe Robert Lindner schrieb: wenn morgen alle zweifelhaften Bücher von der Erde verschwinden würden, wäre noch nichts geändert an der Kriminalität, dem unsozialen Verhalten, an Krankheit und Not. Jeder spricht über den Schaden des Obszön-Konsums – und keiner hat diesen Schaden je gesehen. In England kam einmal ein Fall wegen Verkauf von Giften und ein Fall wegen Verkauf von Obszönitäten in denselben Tagen zur Verhandlung. Und die Sprache, diese größte Kupplerin, ermutigte den Richter zu der zeitgemäßen Metapher: daß der Verkauf von Obszönem »ein Handel mit Giften ist, tödlicher als Blausäure, Strichnin und Arsenik«. Anstatt Forschung – Wörter der Hölle: diese Technik aller Dunkelmänner ist in der Geschichte der Kreuzzüge gegen das Obszöne besonders beliebt gewesen. Die empörte Anständigkeit verdient einen besonderen Abschnitt, weil sie durchaus nicht immer, wie Simplifikateure vorgeben, Heuchelei ist. Baudelaire erzählt, daß er einmal die Fünf-Franken-Dirne Louise Villedieu in den Louvre mit-
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nahm, in dem sie noch nie gewesen war. Sie errötete, hielt sich die Hände vors Gesicht, zupfte ihren Begleiter immer wieder am Ärmel. Und fragte dann, »vor den unsterblichen Gemälden und Statuen, wie man nur solche Unanständigkeiten ausstellen könne«. Diese Anekdote verdient, als Monument errichtet zu werden über einem Massengrab, in dem »alle keuschen und zarten Ohren« beigesetzt sind. Mademoiselle Villedieu ist viel ernster zu nehmen als jeder Feinschmecker, der für das kulturell servierte Obszöne eine Ausnahme macht; denn sie legte die Wurzeln der aufrichtigen Entrüstung bloß. Sie hatte gelernt, daß das Geschlechtliche als Beruf anständig ist ... unanständig aber, wenn es überflüssiger Weise an die große Glocke gehängt wird. Sie hatte nicht gelernt, daß Kunst ein Privileg ist, zu zeigen, was ohne das Prädikat künstlerisch-wertvoll nicht gezeigt werden darf; und sie kannte nicht die Namen der privilegierten Künstler. Sie wäre also, in aller Reinheit, bei den Prozessen um obszöne Kunst immer auf Seiten der Staatsanwälte gewesen. Obwohl diese Herren einen ganz anderen Beruf hatten – auch das Mädchen Louise spürte nicht, daß Kunst die gefährliche Wirkung mindert. Und es wird eine der reizvollsten Fragen sein: hat Baudelaires Begleiterin, hat mancher unmusische Ankläger nicht auch etwas recht gehabt ... und worin? Die vier unanständigen Literaturen Jedes Pamphlet ist parteiisch, auch dies; unparteiisch allerdings in dem Glauben, daß die Stellungnahme nicht der Einsicht vorausgehen darf. Leider gibt es viel mehr Engagement als Nachdenken; die Engagierten sind oft in nichts als einen Mangel an Wissen engagiert. Im Elfenbeinturm, nicht auf dem Marsch erscheint das Ziel. Am Anfang ist die Idee – und dann erst die Praxis, die sie realisiert. Das Interesse der hier vorliegenden Philosophia militans ist
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nicht, zum soundsovielten Mal, noch einmal mehr die bösen Zensoren zu treffen – sondern zum ersten Mal die Illiberalitäten ihrer liberalen Gegner. Deshalb kann es geschehen, daß die Engherzigsten glauben werden, diese Schrift auf ihrer Seite zu haben. Es sieht nur so aus, wenn sie den Gegner ihrer Gegner für einen Gleichgesinnten halten; wenn sie die Abwehr eines schlechten Arguments gegen sie als ein gutes Argument für sie mißverstehen. Ein Fechten nach zwei Seiten verwirrt immer die Eingleisigen; zumal wenn die schlimmere Partei weniger attackiert wird, weil alles Notwendige bereits gesagt worden ist. Wenn sich Obskuranten aus diesem Buch Zitate holen sollten: die Angst davor soll mich nicht hindern, vor allem die ängstlichen Aufklärer, die stationären Fortschrittlichen aufs Korn zu nehmen. Ich richte mich deshalb ganz besonders gegen sie, weil ihre Rückschrittlichkeit schwerer zu erkennen ist. Man hat Muckern, Heuchlern, reaktionären Klassenkämpfern zuviel aufgebürdet – und so verschleiert, daß ihre lautesten Feinde, was die Sexual-Moral betrifft, nur ein bißchen weniger engherzig sind. Von Clemens Brentano wird berichtet, er habe zu einer Fürstin, die auf seinen Roman »Godwi« zu sprechen kam, gesagt: »Pfui, schämen Sie sich, daß Sie als Frau und Mutter so etwas lesen.« Derart gespalten waren viele wackere Kämpfer gegen die Anklage auf Obszönität, wenn sie sich außerdem über Obszönes entrüsteten. Friedrich Schlegel nahm die »Lucinde« nicht in seine Werke auf. Schnitzler verbot testamentarisch für alle Zeit die Aufführung des »Reigen«. Nabokov warf D. H. Lawrence Obszönität vor. Dies Plädoyer kennt keinen entscheidenden Unterschied zwischen den einander bekämpfenden Parteien. Es ist nicht auf Seiten der Kunst-Liebhaber gegen die Amusischen (diese Parteiung verschleierte immer die gemeinsame Sexual-Moral), sondern für die Sinnen-Lust gegen die musischen und amusischen, reaktionären und etwas liberalen Puritaner, die in gleicher Weise, deutlicher oder weniger ausgesprochen, Sinnen-feindlich waren. Man stritt sich immer nur um die Frage:
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ob das strafende Wort Obszön auf diesen oder jenen Künstler, auf dieses oder jenes Werk angewendet werden dürfe oder nicht. Man zog kaum in Betracht, daß das Wort selbst vielleicht ohne jede Existenzberechtigung ist. Gerade sie aber steht hier zur Debatte; und nur nebenbei wird auch viel Trübes auf der Grenze zwischen Religion, Moral und Kunst aufzuhellen sein. Die wichtigsten Dokumente, in denen Auseinandersetzungen über das Obszöne überliefert sind, beziehen sich leider nur auf die Welt-Literatur; auf jenes schmale Gebiet, in dem Erotisches zum Thema geworden ist. Beziehen sich also nicht auf das individuelle und gesellschaftliche Leben des Sexus, das von den Künsten nur bescheiden gespiegelt worden ist. Es existiert keine gleichwertige Erörterung der Reizung »eingeborener und erworbener erotischer Reaktionsfähigkeit«: wie sie täglich von Millionen Männern und Frauen auf das eigene oder das andere Geschlecht mehr oder minder »planvoll« ausgeübt wird. So kam man auf die Idee, das Obszöne für eine ästhetische (oder unästhetische) Kategorie zu halten; und beim Streit um sie sein Dasein außerhalb der Künste und der kunstloseren Produktion zu ignorieren. Begreiflich! Die lebendigen Reizungen sind so zahllos und vielfältig, daß kein Ankläger ihnen nachjagen kann. Und die Wurzel des Übels, »die angeborene und erworbene erotische Reaktionsfähigkeit«, kann man sowieso nicht packen – ganz abgesehen davon, daß es neben ihr noch eine (völlig unbeachtete) Aktionsfähigkeit gibt. Auch der mächtigste Diktator könnte nicht verfügen, daß die beiden gleich bei Geburt zerstört werden. Selbst wenn er eine Entsinnlichung der Menschheit riskierte ... das Verschwinden der Lust wäre nicht das einzige Resultat. Es ist ein Glück, daß Menschenrasse und sexuelles Vergnügen so unauflöslich miteinander verknüpft sind; man hätte es sonst längst aus der Welt hinausmanipuliert. Das geht also nicht; so findet die Jagd auf die Reizung der
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erotischen Reaktionsfähigkeit nur in jenem schmalen Gebiet statt, das man immer wieder unter Kontrolle zu bringen hofft: im Bezirk der Darstellung, vor allem der literarischen. Es war gelegentlich auch einmal ein »obszöner Walzer« unter Anklage (zum Beispiel im »Reigen«-Prozeß) oder die obszöne Schlafzimmer-Musik in Richard Strauss' »Feuersnot« und Schrekers »Gezeichneten«. Man ging gelegentlich auch gegen ein Bild oder eine Statue vor. Aber stand je ein Werk der bildenden Kunst eine ganze Woche lang von morgens bis abends im Mittelpunkt des Für und Wider? Dabei hat sie sich manches geleistet. Die gotischen Kathedralen mit ihren Figuren, Reliefs und Statuetten sind auch ein großes pornographisches Bilderbuch. In der Vorhalle der englischen Kirche Isle Adam steht eine junge nackte Frau, vor ihr sitzt ein ebenso jugendlicher und nackter Teufel, der seinen Kopf in ihren Schoß preßt. Ein Relief an einer frühmittelalterlichen Kirche im französischen Pairon zeigt zwei Nackte, die mit den unteren Partien gegeneinander liegen. Correggios Jo, Rubens' pissende Männer, auf die Flaubert hinwies: eine Kette von Obszönitäten bis zu Hogarth und Rowlandson und Hokusai und Aubrey Beardsley, der die Schmerzen der Lysistrata-Genossinnen noch eindeutiger illustrierte als Aristophanes. Doch sind die gemeißelten und gemalten Unanständigkeiten nicht so gegenwärtig wie die literarischen. Man hat mit Recht bemerkt: es gibt in der modernen Malerei und Musik keine Parallele zum Joyce-Skandal. Henry Miller deutete es so: bei Büchern fühlen auch Klempner und Metzger, daß sie ein Recht auf Meinung haben ... Die Literatur ist die wenigst esoterische Kunst; das Obszöne aber ist immer eine Entrüstung der Massen, von wem sie auch dirigiert sein mögen. So setzten nur im Zusammenhang mit der Literatur weitläufigere Debatten ein. Und dies enge Feld ist noch dreimal eingeengt. Es gibt vier unanständige Literaturen – und nur eine, der wir Einblick in Auseinandersetzungen über das
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Obszöne verdanken. Wir haben zunächst über die drei anderen zu sprechen. Da ist die Kiosken-Literatur für verheiratete und unverheiratete Junggesellen, für Jungen und Mädchen, die nicht die Paralipomena zu Goethes »Faust« mühsam in der Bibliothek heraussuchen. Sie ist nicht immer an Kiosken ausgestellt worden, aber immer von gleicher Art gewesen. Sie wurde nie einer (mehr als polizeilichen) Beachtung gewürdigt; daneben vielleicht noch als Thema donnernder Prediger, die kaum mehr sagten, als daß sie des Teufels sei. Noch weniger Aufmerksamkeit hat man der offeneren und weniger öffentlichen Pornographie geschenkt; sie erscheint geheim, ist nur einem kleinen Kreis für viel Geld zugänglich. Um sie hat es nie Streit gegeben, weil niemand je für sie eingetreten ist; und niemand trat für sie ein, weil diese erotischen Arcana, die auch das Neben-Gebiet behandeln, unter Titeln wie »The benefit of farting explained« – nur selten einmal einen berühmten Verfasser hatten: obwohl Benjamin Franklin und Mark Twain hier zu nennen sind; auch Deutsche, Franzosen und Engländer bis zu Musset und Frank Harris. Und niemand kann sagen, wieviel Obszön-Klassisches nicht ängstlichen Erben in die Hand gefallen ist. Die Großherzogin Sophie schloß Goethes schmale Produktion von »Hanswursts Hochzeit oder der Lauf der Welt« bis zum Marienbader »Tagebuch« von ihrer umfassenden Ausgabe des Gesamtwerks aus. Wieviel aber wurde hier und sonst vernichtet? Zu unterscheiden von dem Unanständigen der Klassiker sind die klassischen Unanständigkeiten. Die Bibliographie der hohen Pornographie, 1936 zusammengestellt in einem Registrum Librorum Eroticorum, verzeichnet 5000 englische, französische, deutsche, italienische Titel. Diese Publikationen können in den feinsten Bücher-Mausoleen besucht werden. Das größte ist im Vatikan: 25000 Bände, 100000 Drucke. Folgt das Britische Museum: 20000 Stück. Die Bibliothèque Nationale in Paris nennt ihre Kollektion »L'enfer«; die Library
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of Congress in Washington »Delta«, nach dem griechischen Symbol für die Frau. I. P. Morgan soll für seine Sammlung eine Million ausgegeben haben; der amerikanische Staat hatte es billiger, ihm wurde zugeschanzt, was Post und Zoll beschlagnahmt hatten. Die große Sammlung des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin ist unter Hitler spurlos verschwunden. Man hat diesen Verlust mit dem andern beim Brand der Bibliothek von Alexandria verglichen. Manche berühmten Stücke, die keinen Cotta zum Verleger hatten, von keiner Oxford History of Literature verzeichnet und von keinem Georg Brandes zergliedert wurden, können auf eine lange Lebenszeit (nicht nur Ruhezeit im Archiv) zurücksehen. Da zirkuliert noch immer die im Geburtsjahr Goethes erschienene »Fanny Hill« oder »The Memoirs of a Woman of pleasure« – die Geschichte eines armen Mädchens vom Lande, die in die Hauptstadt kommt und ihre Abenteuer in Briefen erzählt. Der Autor, John Cleland, war ein britischer Ex-Konsul. Und es gehen immer noch von Hand zu Hand »Die Memoiren einer Sängerin«, schon ein Jahrhundert alt, verfaßt von der großen Wilhelmine Schröder-Devrient – soweit man etwas mit Sicherheit sagen kann auf einem Gebiet, das von den wissenschaftlichen Ordnern ignoriert wird. Eins der Glanzstücke dieser Gattung, klassisch und zugleich von einem Klassiker, ist Alfred de Mussets lesbische Erzählung »Gamiani«. Manchen großen Schriftsteller lockte dieses Gebiet. Die ungeschriebenste Literatur-Geschichte wird vielleicht einmal von einem Außenseiter verfaßt werden. Wenn immer »Pornographie« (vom griechischen Porne: Dirne) auf diesen Seiten erscheint, ist das Wort rein deskriptiv gemeint, nicht abwertend. Die Grenze zwischen der Pornographie (einem Schrifttum, das den meisten Literatur-Historikern nicht bekannt sein dürfte, weil es auf der Universität nicht gelehrt wird und aus denselben Gründen auch den meisten Richtern nicht – nicht einmal denen, welche in Obszönitäts-Prozessen fungieren) und jener Welt-Literatur, die erotische Themen sehr realistisch behandelt, wird gewöhnlich
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so gezogen: pornographisch sei, was von einem schlechten Menschen und drittklassigen Schriftsteller zur Reizung der Lust für Geld hergestellt ist. Oder, wie ein englischer Experte im »Lady Chatterley« Prozeß viel feiner und dünner sagte: Literatur und Pornographie unterschieden sich in »dem Ziel des Autors«. Vielleicht aber kann man der unfreundlichen griechischen Vokabel mehr begrifflichen Umriß geben. Das Genre Pornographie zeichnet sich vor allem durch seine Irrealität aus: das Dasein wird auf den vitalen Bezirk eingeschränkt – und dann noch einmal auf den, der öffentlich nicht zur Sprache kommen darf (wie die Sprache so schön sagt); er ist offiziell von allen Sprachen, auch den buchstabenlosen, ausgesperrt ... und erhält nur in der »Dirnen-Literatur« sein Wort. Die zentralen Figuren pornographischer Geschichten sind Helden: in ihrem märchenhaften Verlangen, ihrem märchenhaften Können und ihrer märchenhaften Freude am Sichzeigen. Als wäre die Welt von Gott Sexus und Gott Anus und anderen verbannten Göttern nach ihrem Bilde gemacht. Es ist eine verzerrte Welt. Die Donjuanerie ist eine Unterabteilung der Donquichoterie ... und auch entstanden aus mächtigen, unerfüllten Sehnsüchten. Innerhalb dieses Schrifttums gibt es besser und schlechter Geschriebenes, Eintags-Literatur und die große, die sich über Jahrhunderte gehalten hat. Vielleicht wird man bei einer künftigen Bestandsaufnahme hier nicht so viel ästhetisch Beträchtliches finden, daß eine Einreihung dieser Gattung in die Geschichte der Literatur gerechtfertigt ist. Vielleicht – hat aber je einer eine gründliche Untersuchung vorgenommen? Wie verhalten sich die Josefine Mutzenbacher-Geschichten literarisch zu vielen, die in den Literatur-Geschichten gepriesen werden? Ganz gewiß gehören jene Erzählungen in eine Kultur-Geschichte; sie spiegeln die intimste Sphäre der Sitten und Gebräuche. In dem hier versuchten schematischen Abriß bleibt noch – nach Abzug der sehr sichtbaren Kiosken-Literatur, der sehr
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geheimen Werke großer Schriftsteller und der ansehnlichen pornographischen Klassik – die erotische Welt-Literatur, die allein Gegenstand eingehender Auseinandersetzungen geworden ist. Man definiert sie am besten als eine Reihe von Erotica, die von berühmten Schriftstellern unter ihrem Namen vor aller Welt publiziert und deshalb von den LiteraturProfessoren zur Kenntnis genommen worden sind. Hier aber muß eine immer unterdrückte Frage sehr laut gestellt werden: wo hört die Pornographie auf – und wo beginnt die nicht einwandfreie, aber dennoch angesehene erotische Literatur? Man hat schöne Kategorien geschaffen, um die Wahrheit freundlich zu dämpfen; die jüngsten heißen: »Krasse Pornographie« und »Erotischer Realismus«. Aber schließlich kommt es doch darauf hinaus: was Griechenland geschaffen hat und Rom und der Mönch, der das altenglische Exeter-Buch herausgab, und das Sechzehnte Jahrhundert – gehört nicht zum Krassen. Wohingegen: was im Neunzehnten und Zwanzigsten Jahrhundert verfaßt worden ist – von Autoren, deren Nachruhm noch ungewiß war ... war, am Tage des Erscheinens: krasse Pornographie. Auf der Grenze unehrlicher Benennungen haben wir zum Beispiel die Carmina priapeia. Alexander von Bernus übersetzte sie ins Deutsche, sie erschienen als Privat-Druck des angesehenen Verlages Schuster & Löffler, in 530 Exemplaren; den Käufern wurde versprochen: »Eine Neuauflage findet nicht statt.« Zum ersten Mal wurde die Anthologie 1469 gedruckt, als Anhang zu einer Virgil-Ausgabe, später auch mit den Werken des Petronius und Martial. Ovid und Catull sind bestimmt beteiligt gewesen, wahrscheinlich auch andere bedeutende Dichter des goldenen Zeitalters der römischen Dichtung. Wie die Kollektion zusammengekommen ist, weiß man nicht. Eine nicht sehr fundierte, wenn auch reizvolle Vermutung lautet: im Garten des Maecenas hätten dichtende Gäste ihre Verse an die Wände eines Priapus-Tempelchens gekritzelt.
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Diese Konjektur mag zurückgehen auf Strophen wie: Wenn Du rings unsere Dachwand mit Verszeilen vollgeschmiert siehst, die etwas unzarte Witze enthalten, und wenn du sie liest, fühl' durch die saftigen Spaße dich nur nicht beleidigt, du Tor: unser Schwanz trägt den Kopf hoch und hat einen guten Humor.
Lessing, im Zeitalter der Aufklärung, die nur sehr begrenzt aufklärte, war diesen »unsauberen Torheiten« nicht wohlgesinnt. In mancher Beziehung ist die Antike spurlos an den eifrig griechisch und lateinisch studierenden Generationen vorübergegangen. Und mit großem Recht schrieb der bekannte Übersetzer geheimer Klassiker, Heinrich Conradt, im Jahre 1903: »Unsere sogenannte humanistische Bildung verfolgt allem Anschein nach absichtlich den Zweck, dem Lernbegierigen und Wahrheitssucher einen ganz falschen Begriff vom klassischen Altertum zu geben.« Nämlich: einen idealistischpreußischen! Das Thema der Carmina priapeia kreist um jenen Mythos, der nicht so bekannt ist wie die Geschichte von der Geburt der Pallas Athene aus Papas Schädel. Strabo und Diodor schrieben die Kurz-Biographie des Priapus, Sohn des Dionysos und der Aphrodite. Als sie in den Wehen lag, in Lampsakos, tat ihr Hera, Göttin der Entbindung und eifersüchtig auf die Schönheit der Gebärenden, etwas Böses an. So kam Baby Priapus verkrüppelt zur Welt – und mit einem abnorm großen Glied. Seinetwillen waren die Damen der Stadt verrückt nach dem Jüngling, während die Männer aus demselben Grunde ihn wegjagten. Auf inständige Bitten der betroffenen Lampsakosserinnen, die Herren der Stadt zu strafen, sandten ihnen die barmherzigen Götter die Syphilis. Von dieser Plage könnten sie nur erlöst werden, meinte das Orakel zu Dodona (Vorgänger der demoskopischen Institute), wenn Priapus zurückkäme. Er kam und wurde zum Gott erhoben: als Beschützer der Gärten und Repräsentant der Geilheit. In dieser Doppel-
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Funktion ist er Held der Carmina, wie schon Carmen Eins zeigt. Liest du das lockere Spiel, das in kunstlosen Versen versteckt ist, so entsag auch dem Ernst, der dem Römer die Würde verleiht. Denn dies Tempelchen ist nicht der Schwester des Phoebus geweiht, noch der Vesta, noch ihr, die dem Haupte des Vaters entsprang, sondern dem roten Hüter der Gärten, dess Brunstknippel lang und durchaus nicht züchtig von keuschem Gewände bedeckt ist. Anmutig, oft auch lakonisch derb ist hier in 86 zweizeiligen oder etwas längeren Verschen zusammengereimt, was auf vielen, nicht zu gut duftenden Wänden dieser Erde weniger mythologisch zu lesen ist. Zum Beispiel dies Gedichtchen Ovids: Durch die Blume gesprochen, sagte ich ungefähr: Gib mir, was du mir geben kannst, ohne daß dir's durch Schaden vergällt wird, was nach Jahren – zu spät – du selbst vielleicht gerne zulieb mir tätest, wenn rauh deine Wangen ein häßlicher Bartwuchs entstellt, was dem Jupiter der gab, der einst geraubt ward vom heiligen Vogel – die köstlichen Lustbecher mischt er dem Liebhaber heut – was in der Brautnacht die Jungfrau dem geilen Gemahl zur einstweiligen Abfindung reicht, weil sie töricht den Schmerz der Entjungferung scheut. – Laß dich päderastieren! – Wie sonst? Meine Kunst ist gemein.
Auch diese Antike hatte Folgen, die den von der Antike idealistisch-preußisch begeisterten Jüngern ebenfalls nicht offenbart wurden. Im Jahre 1903 erschien im hochangesehenen Insel-Verlag eine deutsche Ausgabe von: Elegantiae latini sermonis Alisiae Sigaea Toletanae Satira Sotadica de Arcanis Amoris et Veneris. Aloisia Hispanice scripsit Latinitaete donavit Johannes Meursius. 37
Als Privatdruck in einer einmaligen Auflage von 1200 Exemplaren ausgegeben, wurde auch hier schwarz-auf-weiß den Käufern zugesichert: »Ein Nachdruck wird niemals veranstaltet werden.« Diese sodatische Satire wurde zum ersten Mal im Jahre 1658/9 veröffentlicht, mit der Versteck spielenden Angabe: Autorin dieser Gespräche der »Aloisia Sigaea« sei eine junge, 1530 in Toledo geborene Hofdame der Donna Maria von Portugal gewesen. Als lateinischer Übersetzer stellte sich ein ebensowenig existenter Leydener Professor Johannes Meursius vor. Tatsächlich war der Verfasser ein französischer, lateinisch schreibender Advokat, Maître Nicolas Chorier. Er schuf ein kräftiges Sitten-Gemälde, die Skandalaffären der Grenobler Gesellschaft als Material verwendend, nach dem berühmten Muster des Aretino; und schilderte Leben und Treiben der oberen Schichten, die bei ihrer munteren Beschäftigung unbekannte Ereignisse aus der Antike zum besten gaben, wie Vorbild Aretino dieselben Aktivitäten unter den weniger Glanzvollen dargestellt hatte. Kein Werk der sogenannten Pornographie übertrifft an Deutlichkeit diese klassischen Gespräche, die mit einem Dialog zwischen der verheirateten Lesbierin Tullia und der erst verlobten, aber bereits sehr entzündlichen Jungfrau Oktavia zwecks Aufklärung der Novize beginnen. Sechs robuste, nicht nur gesprochene Duette folgen. Pornographie oder »Erotischer Realismus«? An der Ecke kaufte ich gerade für 35 cents ein harmloses Büchlein, um dessentwillen sich im Moment ein Verleger der Großstadt Los Angeles Sorge macht. Im Titel kommt das Wort Sex vor. Dies Heft zeigt das Bild eines Jungen mit breitem Rücken und eines verschüchterten kleinen Mädchens. Es ist harmlos im Vergleich zu manchem Horaz-Gedicht; und trüge dies unschuldige Gift eine Jahreszahl vor Christi Geburt oder auch noch 1658 Nach – dann wäre es bestimmt ein »Kultur-Dokument«. Im Zeitalter des Augustus und des Rabelais brauchte man stärkere Reize. Wir aber leben im Zeit-
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alter der hochorganisierten, keimfreien UNESCO, weshalb jede Darstellung, welche die ehrwürdigen Ahnen kopiert, ungeheuerlich ist. Vor der Vergangenheit aber, die uns von den Schulen vergoldet wurde, ist man feige. Obszön mit Patina wird geduldet. Ein Beischlaf, von Rembrandt gezeichnet, ist ein moralisches Kunstwerk? Im Bezirk der unanständigen Welt-Literatur sind in den letzten hundertundfünfzig Jahren nur Werke angeklagt worden, die zur Zeit der Anklage noch nicht klassisch waren. Platon ist mutiger gewesen; er warf dem klassischen Homer die pornographischen Zeus-Hera Stellen vor. In unsern Zeiten aber ist man zu gebildet, um Ovid, Apulejus, Petronius, Shakespeare, Rabelais vor Gericht zu ziehn. So hat man für die Anerkannten eine Ausnahme gemacht. Leo XIII. verkündete: »Die Bücher Älterer und Neuerer, die als Klassiker gelten und von jenem Schmutz nicht frei sind, werden mit Rücksicht auf die Eleganz und Reinheit der Sprache gestattet, doch nur solchen, deren Amt oder Lehrberuf diese Ausnahme heischt.« Die Säkularisierten gaben sogar noch diese Einschränkung auf: die Zoll-Behörde, die in Amerika zensiert, hat in ihren Regulationen auch ein Ausnahme-Recht für die »sogenannten Klassiker« – ohne »doch nur«. Ergo: wer sich in die Welt-Literatur hineingeschrieben hat, über dessen »Schmutz« wurde von Leo XIII. und amerikanischen Behörden der Mantel der Ungerechtigkeit gebreitet. Er wurde auch D. H. Lawrence zuteil – als sein »Schmutz«, dreißig Jahre nach der Entstehung, Teil eines klassischen Opus geworden war. Wer noch nicht so sehr über den Wolken thronte, war dem Zugriff ausgesetzt. Als Friedrich Schlegel die »Lucinde« schrieb, Flaubert »Madame Bovary«, Baudelaire »Die Blumen des
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Bösen«, Henry Miller den »Wendekreis des Krebses« ... waren sie noch keine Klassiker – und ihre Anwälte hatten erst mit Mühe die »Eleganz« und »Reinheit der Sprache« gerichtsnotorisch zu machen. In jenen frühen Tagen blamierte sich noch kein Richter, wenn er Flaubert und Baudelaire behandelte, wie er es heute nicht wagen würde. Damals mußten die moralischen Blößen des Noch-nicht-Anerkannten mit viel Rhetorik ästhetisch zugedeckt werden. So wurde die Entrüstung über das Obszöne auf das ästhetische Neben-Gleis geschoben. Nie kam es zu einer Klärung dieser Empörung: weil sie nur aus Anlaß von Kunstwerken beachtet – und mit kunstphilosophischen Argumenten zurückgewiesen wurde. Nie fragte jemand: angenommen, Lady Chatterley wäre nicht ein Werk der Dichtung, sondern der Schöpfung – wäre ihr Leben mit dem Liebhaber, wäre die Mitteilung davon obszön? Das wurde immer als selbstverständlich vorausgesetzt. Es ist ein künstlerischer Unterschied zwischen den saftigen Szenen des »Simplicius Simplicissimus« und jenen flauen, die in den Büchern »Ratschläge eines Nimmerschlappen oder die Kunst, die Vergnügungen der Wollust zu vervielfältigen«, »Liebeskämpfe im Brautgemach oder der Sieg des Wüstlings über die weibliche Schamhaftigkeit« ... geschildert sind; obwohl man in diesen Brautgemächern oft Erzähler-Talente findet, welche die Titel nicht vermuten lassen. Da ist zwar in der Regel ein künstlerischer Unterschied – auch ein moralischer? Der liberale Forscher versichert uns, daß das »Grobsinnliche hinter der höheren künstlerischen Auffassung« verschwinde. Ist das wahr, rundum? Ist je untersucht worden, wie sehr die erotische Reaktionsfähigkeit von jenen hochliterarischen Liebes-Geschichten »physiologisch« gereizt wird, die zu Aufsatz-Themen verschrottet werden? Diese Frage blieb vor der anerkannten Erotik ungestellt; denn man hatte zwar nie etwas gegen den Druck auf die Tränen-Drüsen – ignorierte aber jenen, der minder respektable Säfte hervorruft. Deshalb forschte man jener kränkenden Hypothese nie nach.
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Und welche Sekretionen rufen den Mord-Rausch hervor? Hat je jemand gefragt, wieviel Verbrecher Shakespeare mit seinen kunstvollen Darstellungen von Kriminellen auf dem Gewissen hat? Nein: weil man »Richard III.« nicht mehr rückgängig machen kann. Wer einmal das Tor der Welt-Literatur passiert hat, steht unter dem Schutz der Kulturwächter. Und die große Rechtfertigung hieß immer: die erhebende Macht der Kunst. Sie schützt den Künstler. Und man bewies, daß Friedrich Schlegel und Flaubert und Baudelaire und Schnitzler und D. H. Lawrence und Henry Miller »rein« sind, das heißt Unschuldslämmer. Eines der ungeschriebensten, aber unentbehrlichsten Kapitel einer Literatur-Geschichte der Zukunft wird die Überschrift haben: die Neigung der großen Dichter für mehr oder weniger anerkannte Erotica. Goethe und Schiller erfreuten sich an den »Gefährlichen Liebschaften«. Lichtenberg las mit größtem Vergnügen eines der Glanz-Stücke der Pornographie, »Fanny Hill«. Flaubert war vernarrt in den »Goldenen Esel«. Baudelaire bestellte pornographische Literatur – mit der Bemerkung, er brauche sie nicht, er könne auch ohne sie alles dank seiner Phantasie herbeizaubern, aber Kollege SainteBeuve habe sie nötig. Gewiß hatte sie auch Schiller nötig, dessen Phantasie eher aufs Unkörperliche ging. Er bekannte in einem Brief des Jahres 1798 an Goethe, wie sehr ihn die »heftig sinnliche Natur« des Poeten Rétif de la Bretonne ergötzte: »Haben Sie vielleicht das seltsame Buch von Rétif ›Coeur humain devoile‹ je gesehen oder davon gehört? Ich habe es nun gelesen und ungeachtet alles Widerwärtigen, Platten und Revoltanten mich sehr daran ergötzt. Denn eine so heftig sinnliche Natur ist mir nicht vorgekommen und die Mannigfaltigkeit der Gestalten, besonders weiblicher, durch die man geführt wird, das Leben und die Gegenwart der Beschreibung, das Charakteristische der Sitten und die Darstellung des französischen Lebens in einer gewissen Volksklasse muß interessieren. Mir,
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der so wenig Gelegenheit hat, von außen zu schöpfen und die Menschen im Leben zu studieren, hat ein solches Werk einen unschätzbaren Wert.« Ist diese Selbst-Interpretation seines Ergötzens korrekt? Vermittelte der Franzose ihm nur eine unbekannte Wirklichkeit, nicht vielleicht auch Lust? Tausend Ernsthafte waren sich nie im klaren, was sie an einem Buch genossen, wenn sie sich zu genießen erlaubten, was sie eigentlich nicht genießen wollten. Weshalb sie auch immun waren gegen die ernsthaftesten Sätze der »heftig sinnlichen« Schriftsteller. Rétif de la Bretonne schrieb: »Die Moral hat alle Übel in die Liebe gebracht.« Schillers Lehrer, Kant, hätte sagen können: die Liebe hat alle Übel in die Moral gebracht. Aber die Berührung mit dem Unanständigen wurde erst problematisch, wenn es ums Theoretisieren ging. Und leider besitzen wir mehr davon als Kenntnis vom Genuß der Poeten an Darstellungen, die zu geben sie sich verboten. Haben ihre sublimeren, weniger »heftig sinnlichen« Schöpfungen vielleicht dieselbe Quelle? Haben die großen Künstler nie aus Wollust geschaffen und ihren Lesern nie Wollust verschafft? Jedenfalls haben sie die »Reaktionsfähigkeit« immer gereizt. Generationen von Lesern Shakespeares und Schillers und Byrons und Dostojewskis danken den Meistern ungeheure Steigerungen der Emotionen. Mit Ausnahme der sexuellen? Indem die sogenannten Liberalen leugneten, daß die große Literatur die erotische Phantasie stachle, verdeckten sie höchst illiberal einen ihnen unbequemen Zustand der Dinge. Sie wollten unter keinen Umständen den Boden der Tradition verlassen, die vorschrieb: das Geschlechtliche ist nur zugelassen, wenn es im poetischen Äther verdunstet. Es gibt herrliche Auflösungen des Irdischen in eine Musik aus Worten. Wer aber die Verdampfung des Irdischen als KunstKanon etabliert, vor allem im Zusammenhang mit der vitalsten Sphäre, leugnet die lebendige Herkunft aller erregenden Schöpfungen, weil sie in einer Sphäre weiterleben, die fälschlich die ideale genannt wird.
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So war die Liberalität der Verteidiger angeklagter Künstler nur Fortschritt auf einem Boden, der das Fortschreiten eng begrenzte. Alles, was diese gefeierten Sieger gesetzgeberisch zustandebrachten, ist dies: daß man außerordentliche ästhetische und wissenschaftliche Qualitäten gegen die (nie bestrittenen und immer mißbilligten) obszönen abwog. Als im Jahre 1960 Jean Genets »Notre-Dame-des-Fleurs« vor den großen Straf-Senat des Hamburger Landgerichts kam, wurde verfügt: »Es soll Beweis erhoben werden über die Frage: überwiegen in ›Notre-Dame-des-Fleurs‹ die Obszönitäten oder umgekehrt? durch Einholen einer gutachtlichen Analyse.« Die Gutachter waren Kunst-Experten. Die moralische Verurteilung im Worte »obszön« wurde gar nicht in Frage gestellt. So benahm man sich durch die Jahrhunderte: der Moral-Kodex verstand sich von selbst; der Fortschritt bestand nicht darin, daß man ihn untersuchte, sondern nur darin, daß mehr und mehr andere Aspekte auf das Werk als mildernde Umstände zugelassen wurden. Und dieses »Überwiegen«, dies Mehr oder Weniger, angewandtauf zwei inkommensurable Größen, dieses Aufrechnen unmoralischer Elemente gegen andere, kulturell wertvolle (vor allem ästhetische) wurde nie zum Problem. Die Anerkennung des ästhetisch und wissenschaftlich und pädagogisch Bedeutsamen als Kompensation für den Mangel an Moral war auch eine Barriere gegen die Gefahr: womöglich die Bibel und Shakespeare vor Gericht ziehen zu müssen. Die kühnste Ideologie zwecks Unsichtbarmachung des Obszönen holten sich die Liberalen aus der Antike: das berühmte Kaloskagathos. In diesem Sinne verkündeten sie: Kunst ist immer moralisch. Wie immer die Griechen diese zwillinghafte Verbundenheit von Gut und Schön gemeint haben mögen – die schlichte Partnerschaft, als handle es sich um zwei berühmte Kompagnons einer weltberühmten Firma: der Halske ist ohne den Siemens nicht zu denken ... ist schlichter Aberglaube. Wer nicht bereit ist, diese traurige Einrichtung der Welt: die
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Möglichkeit einer Diskrepanz von Schön und Gut zu akzeptieren, denke wenigstens über Thomas Manns Worte nach: es sei eine »vorgefaßte Meinung«, zu behaupten, »Literatur und Fortschrittlichkeit seien identisch«; er fügte hinzu, »daß man mit dem größten Talent, mit dem erdenklichsten Witz und Glanz den Lobredner der Inhumanität, des Henkers, des Scheiterhaufens, der Inquisition, kurz dessen machen könne, was Fortschritt und Liberalismus das Reich des Untergangs nennen.« Mit dieser Einsicht sollte der Versuch, ästhetisch zu retten, was man moralisch verurteilt, erledigt sein. Das Dogma: Kunst macht moralisch ... ist Teil der Theorie: die ästhetische Distanz sublimiere jeden irdischen Vorgang, beraube ihn seiner vitalen Kraft. Der Maler Emil Orlik fand für diese Illusion den stärksten Satz: »Ein Beischlaf, von Rembrandt gezeichnet, ist ein moralisches Kunstwerk.« Man ist verblüfft und fragt: wie hat der Maler ihn moralisch gemacht – und was war er vorher? Diese Transsubstantion wird auch Veredelung genannt. Sogar Freud, dessen ästhetische Arbeiten nie die Herkunft der Künste aus dem Trieb-Bereich verleugneten, sah nur ihr Dämpfendes. Und seltsamerweise war es gerade der Idealist Platon gewesen, der mehr die Triebstärkung der Kunst beachtete. Er wollte Homer in der »Republik« nicht zulassen, weil seine Götter nicht Pädagogen, sondern schlechte und außerdem noch wirksame Vorbilder seien. Die Heutigen, mindestens ebenso streng wie Platon, haben nicht mehr die Courage, mit den Enkeln und Urenkeln Homers anzubinden. Kunst distanziert – oder rückt näher, je nachdem; pazifiert oder aktiviert – je nachdem. Künstler dämpften ... und steigerten Affekte ins Ungemessene: nicht nur in der Tragödie, in der sich Ödipus die Augen ausreißt, Othello im Rausch der Eifersucht mordet, Penthesilea aus Enttäuschung ihre Zähne in die Brust des Achilles gräbt, im Bunde mit ihren Hunden. Kein Don Juan hat soviele Menschen verliebt gemacht wie Werther; kein Liebesbund so die Sehnsucht gesteigert wie Romeo und Julia, Tristan und Isolde ... sie be-
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ruhigten nicht, sie sind die großen Quellen des Aufruhrs der Sinne. Die Macht der Kunst kommt auch dem Morden zugute, das Shakespeare und Dostojewski wirksamer dargestellt haben als die Kleineren, von den Kleinsten nicht zu sprechen. Und die wirksamsten Werke der Pornographie sind vom Range der »Lady Chatterley« – gerade weil das Obszöne hier auch noch große Kunst ist. Die Pornographie der Künstler hat eine Eindringlichkeit, die kraftloseren Darstellungen fehlt. Das Fremd-machen, in dem Novalis das wesentliche Element des Romantischen, ja aller Poesie sah, die Verfremdung, die Brecht als wichtigstes Mittel seines anti-emotionalen Kunst-Willens proklamierte, haben nur an der Oberfläche eine Ähnlichkeit mit den vital-feindlichen Lehren des epigonalen Idealismus. Trotz der liberalen Vermummungs-Versuche, deren populärster die Schein-Identität von Moral und Kunst ist ... das liberalisierende Element in der Frage nach dem guten Willen des Schöpfers und dem ästhetisch-kulturellen Wert moralischfragwürdiger Produkte darf nicht übersehen werden. Die so etablierte Praxis: daß ein Wort, eine Wendung, ein Thema noch nicht an sich als obszön zu verurteilen ist, änderte zwar nicht die Sexual-Moral, engte aber den Machtbereich der Engstirnigkeit wesentlich ein. Ein Viertel-Jahrtausend Feigenblatt Die Geschichte der Entrüstung über das Obszöne ist wohl nicht älter als zweihundertundfünfzig Jahre – und vielleicht nicht verbreiteter gewesen als die europäisch-amerikanische Gesellschaft, deren Vorstellungen allerdings die Welt eroberten. Japan war eins der Länder, das durch die Jahrhunderte recht frei von dieser Entrüstung war: bedeutende Künstler haben das Unanständige in Holzschnitten, Kunst-Gegenständen, Bildern und Versen dargestellt, die Lust erzeugen sollten.
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Seit der amerikanischen Besetzung nach dem letzten Krieg hat auch dies Land sein Obszönitäts-Gesetz und seine Sittlichkeits-Streifen, mit allen Paraphernalia. Die Vorgeschichte des »Lady-Chatterley«-Prozesses 1960 geht also nicht weiter zurück als bis zum Beginn des Achtzehnten Jahrhunderts. 1708 machte die englische Krone den ersten Versuch, ein Buch als obszön zu verdammen: »Die fünfzehn Plagen einer Jungfernschaft«. Etwas später wurde die erste Bestrafung zelebriert. Ein Pornographie-Verleger kam an den Schandpfahl in Charing Cross. Der Verbrecher wurde aber nicht, wie üblich, mit Dreck beworfen, sondern, als er wieder frei war, von der Menge im Triumph in die nächste Taverne getragen. Nur selten sah man später so deutlich die lichte Seite der dunklen Medaille Obszön: die dankbaren Empfänger. Weil zwischen die Spender des Vergnügens und die Beschenkten die Kontrolleure traten; sie mäkelten an der Bibel herum und an Shakespeare, sperrten noch 1927 das »Satyricon« des Petronius aus und 1930 sowohl Brantômes »Les Vies des dames galantes« als auch Huysmans' »La Bas«. Und ein Chirurg, W. Acton, schrieb in seinem Buch »Funktionen und Störungen der Geschlechtsorgane«: die »Unterstellung«, daß Frauen sexuelle Gefühle hätten, sei eine »gemeine Verleumdung«. Die Liste jener Welt-Literatur, die in England Schwierigkeiten hatte und verboten wurde, ist stattlich. Der deutsch-katholische Erotiker Franz Blei tat alles, um seine Kirche von dem Vorwurf zu reinigen, an dieser Entrüstung schuld zu sein; erst die moderne Aufklärung habe sie in die Welt gebracht. Und er zitierte den Kirchenvater Klemens von Alexandrien, als Muster der Liberalität: »Warum soll ich mich schämen, jene Körperteile zu nennen, die zu erschaffen Gott sich nicht geschämt hat?« Ein isoliertes Zitat hat wenig Gewicht vor einer kontinuierlichen Praxis. Doch liegt eine große Wahrheit in der Anklage gegen die nur ein bißchen aufgeklärte Aufklärung. Franz Blei gehörte zu den Seltenen, die den überalterten,
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lächerlich strapazierten Gegensatz Heidentum-Christentum unter die Lupe nahmen. Die Christenheit lebte auch recht heidnisch, unbehelligt von den Theologen, welche den Blick auf die Wirklichkeit verstellten; Ideologen funktionierten immer auch als Verhüller der Realität. Vor allem allerdings als Apologeten. Thomas von Aquino, der Systematiker des Katholischen, kam zu folgendem Schluß: da Gott das Fortbestehen der Menschen-Rasse wolle, da er die Erzeugung von Nachkommenschaft an den Geschlechtstrieb gebunden habe, wäre der Kampf gegen ihn eine Rebellion gegen den Herrn im Himmel. Der hohe Klerus war, wie man weiß, noch weniger rebellisch. Im Fünfzehnten Jahrhundert liebten Martin V. und seine Kardinale die Obszönitäten des italienischen Humanisten Poggio sehr. In der berühmtesten geht es um »Eine junge Frau, die ihren Mann anklagte, unzulänglich gerüstet zu sein«: weil das Werkzeug des Esels, eines Tieres nur, doppelt so lang sei. Über diese und ähnliche Geschichten unterhielten sich die hohen Herren des Vatikan. Es darf aber der Einfluß sexual-feindlicher christlicher Theologien nicht unterschätzt werden. Paulus sah in der Ehe einen Schutz gegen noch größere Unzucht. So riet er der Gemeinde von Korinth: »Um der Unzuchtsünder willen soll jeder seine eigene Frau und jede ihren eigenen Mann haben.« Aus einer Negation heraus war auch Tertullian fürs Heiraten: es sei besser als in Brand stehen. Und Augustinus meinte: der Königsweg zur vollkommenen Ehe sei die Entsagung. Er hatte bereits eine Einsicht, die dann leider verloren ging: daß die Verdammung des Sexuellen und der Sprache, die es bezeichnet, gleichen Ursprungs sei; ohne Sündenfall gäbe es auch keine obszönen Worte. Luther genießt zu Unrecht das Prestige, das Geschlechtliche zu Ehren gebracht zu haben. Er bezeichnete die Ehe als ein »Spital der Siechen«: »Gutt ist nicht freyen, es sei denn nott.« Eine Not aber bestehe überall, wo Gott die seltsam edle Gabe der Keuschheit nicht gewährt habe. Da die Ehe also eine Pro-
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tektion gegen Hurerei sei, fand der Reformator auch noch den Beischlaf während der Schwangerschaft gerechtfertigt. Calvinisten und Puritaner waren dann strenger, erkannten nur noch den Fortpflanzungs-Akt an, nicht die begleitende Wollust und nahmen so dem ehelichen Vergnügen die letzte Rechtfertigung: daß es wenigstens nicht ganz so vergnüglich sei wie der Harem ... Diese Lehren können nicht ohne Folgen geblieben sein. Es ist wohl eine autobiographische Rechtfertigung katholischer Erotiker wie Blei, wenn sie die Feindseligkeit der christlichen Kirche gegen das Sexuelle schlicht zu leugnen suchen und philosophieren: »Alle Religionen integrieren sich das Sexuelle, indem sie es sublimieren und sanktifizieren.«Tatsächlich hat das Christentum kaum sublimiert und sanktifiziert – außer vielleicht im Marienkult und der spirituell-sexuellen Nonnen-Mystik. Vielmehr hat die Kirche getan, was alle diplomatischen Utopisten taten: sie hat das Soll und das Ist hübsch separiert gehalten ... und in ihren großen Jahrhunderten nicht noch durch Entrüstung die Aufmerksamkeit auf das Nebeneinander gelenkt. So drang die Unzucht unbehelligt in die offiziellsten Kundgebungen ein – in die Ausschmückung der Kathedralen, in die Literatur der Geistlichen. Eines der ältesten anglo-sächsischen Denkmäler, das sogenannte Exeter-Buch, ist eine Sammlung von Äußerungen der Frömmigkeit, der Reue, erzieherischer Ideen. Der Herausgeber war ein Mönch. Aufgenommen wurden auch die gesalzensten Charaden: Etwas Seltsames hängt dem Mann zwischen den Beinen Unter seiner Kleidung. Es ist vorn gespalten, Ist steif und hart, hat einen guten festen Platz. Wenn der Mann seine Kleidung aufmacht Über dem Knie, wünscht das Ding zu besuchen Mit dem Kopf des herunterhängenden Werkzeugs das bekannte Loch, Das es, wenn es hineinpaßt, schon oft vorher gefüllt hat.
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Auflösung: der Schlüssel. Auf vielfältige Weise drang das Anzügliche in alle Gattungen der Literatur ein. Es gibt einen Briefwechsel zwischen Lawrence Durrell und Alfred Perles, in dem die Frage auftaucht: »Petronius, Rabelais ... haben sie wohl ihre Zeitgenossen schockiert?« Man möchte weiter fragen: wer hat einst Ovids kräftige Anleitung zum Zusammenschlafen gelesen? Hat man sich entrüstet? Das Gerücht, daß ihn der Kaiser wegen seiner Unanständigkeiten ins ferne Tomi verbannt habe, ist nichts als welthistorischer Klatsch. Durrell fuhr fort: »Man wird sich nicht klar darüber, ich möchte wohl annehmen, daß die Zivilisation, mit der sie es zu tun hatten, nicht leicht für Entrüstung in unserem Sinne empfänglich war.« Und erst recht waren nicht empfänglich für Entrüstung jene Orientalen, deren Handbuch für alle Lagen im Bett das »Kamasutra« war, mit seinen Kapiteln: »Arten der Liebesvereinigung nach den körperlichen Dimensionen«, »Über das Beißen, Umarmen, Küssen, Sich-drücken oder Bearbeiten mit den Fingernägeln«, »Von den Geräuschen, die für die verschiedenen Weisen des Zusammenkommens geeignet sind«. Die Frage Durrells muß erweitert werden. Weshalb konnten im Vierzehnten Jahrhundert erscheinen: Boccaccio und Chaucer ... im Fünfzehnten: die dreihundert »Facetiae« des Poggio, Sekretär der apostolischen Kirche, dann Kanzler von Florenz, und die Cent Nouvelles Nouvelles, deren Autor vielleicht Ludwig XL von Frankreich war ... im Sechzehnten: Aretinos »Gespräche«, Rabelais' und Brantômes »Leben der galanten Damen«, »Simplicius Simplicissimus« und Daniel Defoes »Glück und Unglück der berüchtigten Moll Flanders, die in New-Gate das Licht der Welt erblickte und von sechzig Jahren eines wechselvollen Lebens zwölf als Dirne lebte, zwölf das Handwerk einer Diebin trieb, acht als Strafgefangene in Virginia zubrachte, schließlich aber zu Reichtum gelangte, nachdem sie fünfmal verheiratet gewesen, darunter einmal mit dem eigenen Bruder, ein ehrenhaftes Leben führte und bußfertig starb«?
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Noch zu Beginn des Achtzehnten Jahrhunderts erschienen kräftige Barock-Verse auf die »Kunst zu küssen« und verwandte Künste, ohne daß sich die Zeitgenossen sonderlich entrüsteten. Dann bekamen griechische und Renaissance-Statuen Feigenblätter. Dann wagten die Hüter der Gesellschaft nicht, den unverschämten Casanova herauszugeben. Dann waren die deutschen Klassiker und Romantiker sehr brav, ebenso die englischen, französischen und russischen Realisten des Neunzehnten Jahrhunderts. Seine Kultur stand im Zeichen des Feigenblatts. Sieht man den Strom der Welt-Literatur zurück – dorthin, wo das Feigenblatt zum erstenmal in Erscheinung trat, in der Genesis, dann fällt die enorme Kluft zwischen zwei Sätzen auf. Der erste lautet: »Und die beiden, der Mensch und sein Weib, waren nackt und schämten sich nicht.« Der zweite: »Und sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.« Was lag zwischen Unbefangenheit und Scham: nicht gemäß der biblischen Mythologie, sondern in dem Vorgang, den sie nur verhüllt? Die Geburt der Entrüstung! Etwas Ähnliches muß sich um die Wende des Siebzehnten und Achtzehnten Jahrhunderts zugetragen haben. Im Siebzehnten Jahrhundert führte ein hoher Beamter des englischen Marine-Ministeriums, Samuel Pepys, ein zweitausendfünfhundert Seiten langes Tagebuch, das besonderes Augenmerk auf das geheime und weniger geheime Treiben seines geheimsten Gliedes richtete. Im Jahre 1775 entwarf ein Mann, auf dem Wege, ein hoher Beamter des Staates SachsenWeimar zu werden, der sechsundzwanzigjährige Goethe, eine Farce »Hanswursts Hochzeit«, die nicht damit zu erklären ist, daß er (wie ein bekannter Goethe-Forscher meint) eins über den Durst getrunken hatte. Vielmehr war ihm das Schweben im reinen Äther des ungeduldigen Faust über. So schuf er, in Besinnung auf die andere Hälfte seines Daseins, diese Karikatur: den ungeduldigen Bräutigam. Der hat die langen Hochzeits-Vorbereitungen satt (wie Faust das Studieren), die Gäste sind ihm wurscht,
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er will zu »des Lebens grünem Baum« (wie der Dichter später sagte), in diesem Falle zur Braut Ursel Blandine – und sagt es mit der Deutlichkeit einer schwindenden Epoche: Ich mögt wohl meine Pritsche schmieren Und sie zur Tür hinausformieren, Indeß was hab ich mit den Flegeln Sie mögen fressen und ich will vögeln.
Der Goethe-Forscher nennt die Namen der dramatis personae »Ekelnamen«: Hans Arsch von Rippach, Matzfoz von Dresden, Nichte Schmuckfözgen, Loch König, Peter Sauschwanz, Hosenscheiser, Leckarsch, Spritzbüchse, Farzpeter. Sie ekeln Professoren und die gute Gesellschaft, von welcher der Dichter damals mehr als genug hatte. Ihn ekelten die Ekelnamen nicht. In dem Maße, in dem man sie öffentlich verpönte, wurden sie ein mächtiges Ventil der Befreiung von gesellschaftlichem Druck. Goethe lebte im Saeculum des Rokoko und der noch sittsameren Klassik; so blieb sein literarischer Aufstand in der Skizze stecken. Er begann mit einem Geheim-Archiv, einem »Bündelchen verschnürter Schreibereien«, wie es Thomas Mann nannte; und endete sehr schnell mit dem Geheim-Rat, der in einem langen Leben nur wenige Stücke für das GeheimArchiv verfaßte. Das aber gehört weniger ins Kapitel Goethe und mehr in die Geschichte des Feigenblatts im letzten Viertel-Jahrtausend. Auch die Epoche des großen Realismus sparte die Ereignisse der vitalen Sphäre weitgehend aus; in seinen Tagen fanden die großen Prozesse gegen Obszön statt, wie schon ein bescheidener Hinweis auf die Wirklichkeit des Sexus bezeichnet wurde. Was die Gesellschaft damals schockierte, war bereits sehr zensuriert zur Welt gekommen – vergleicht man es mit den unbekümmerten Ahnen. Woher die wachsende Entrüstung? Es gibt, vor so umfänglichen Rätseln, immer mehr als eine einzige Auflösung. Vor allem soll man das Wort »Puritanis-
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mus« (als Abstractum) aus dem Spiel lassen; es klärt nichts auf und ist selbst erklärungsbedürftig. Auch das Anschwellen der unanständigen Straßen-Literatur ist keine Begründung; vielleicht eher eine Folge der Tatsache, daß die große Literatur so zurückhaltend wurde. Mit dem Zeitalter der Aufklärung verstärkte sich (das wird kaum bemerkt) die Angst vor den dunklen Kräften unterhalb der erhellten Welt. Damals schrieb Schiller: Und der Mensch versuche die Götter nicht, und begehre nimmer und nimmer zu schauen, was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.
Die frohe Botschaft: mehr und mehr Licht... verdeckte auch die steigende Angst vor mehr und mehr Dunkel. So kam mit dem Zeitalter der Vernunft die rigoroseste Moral ins Dasein. Als in England die Vice Societies, die Gesellschaften gegen das Laster, ins Kraut schössen, blühte in Deutschland der unerbittlichste, der Kategorische Imperativ – und wohl aus demselben Grund: die schwach gewordenen himmlischen Autoritäten mußten durch starke irdische ersetzt werden. Kant und Fichte, des Atheismus angeklagt, produzierten als neue Sicherheit einen SittlichkeitsRigorismus, den die christlichen Jahrhunderte vorher kaum gekannt hatten. Die Dynastie Gott war stark genug gewesen, um manches durchzulassen; sie hatte genug Autorität gehabt, um auch milde zu sein. Die Dynastie Vernunft, auf weniger solidem Boden, mußte strikter sein. Es war die Aufklärung, welche die Epoche der deftigen sexuellen Literatur des Sechzehnten und Siebzehnten Jahrhunderts beendete. Gott Ratio zeigte der Göttin Venus die kalte Schulter. So verkündete der amerikanische Aufklärer Benjamin Franklin: »Kein Liebesgenuß: außer aus Gründen der Gesundheit oder der Nachkommenschaft.« Und der große aufklärende Lessing wurde ein Ahn der späteren liberal-illiberalen Verteidiger obszöner Kunst: indem er das Unanständige preisgab – und den Künstler, dem es vorgeworfen wurde, gegen den Vor-
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wurf in Schutz nahm. In solcher Apologie zeigte sich auch bei ihm die Moral-Pusseligkeit. Er stellte sich zwar auf die Seite des Epigrammatikers Martial – aber eben mit einem Argument, das eine große und nicht sehr helle Zukunft haben sollte: der Poet habe das Obszöne nur durchgelassen, um es zu tadeln, »mit Spott und Verachtung«. Und wo diese Verteidigung beim besten Willen nicht möglich war, wo Martial selbst sich als indezent porträtierte, half sich Lessing mit der Bemerkung: wenn ein Dichter in der ersten Person von sich spreche, meine er nicht immer sich. So intolerant in Eroticis war der Verfasser des »Nathan«, dem Deutschland viel Licht verdankt: daß er Martial nicht verziehen hätte, wenn er wirklich derjenige gewesen wäre – der er offenbar war. Die Grenzen der Aufklärung sind noch nicht recht erforscht worden; vor allem nicht ihre Intoleranz contra obscoenum. Immerhin konnte im Zeitalter kleiner Leser-Schichten ihre Bildung noch als Regulativ in Betracht gezogen werden, ein Motiv zur Nachgiebigkeit. Je weniger man aber auf den gebildet-disziplinierten Käufer des Buchs rechnen konnte, um so mehr mußte kontrolliert werden. Solange die Autoritäten, die äußeren und die inneren, selbstverständlich funktionierten, war die Angst vor der Anarchie nicht zu mächtig. Die Entrüstung über das Obszöne wurde um so größer, je mehr man sich vom sexuellen Chaos bedroht fühlte: der Ursprung aller Unordnung. Kein Zufall, daß Hebbels »Rühre nimmer an den Schlaf der Welt« im Zusammenhang mit dem heimlichen Entkleiden der Ehe-Frau vor dem Fremden ausgesprochen wurde. Sexuelle Entfesselung ist Auflösung aller gesellschaftlichen Bande. Ein Dr. Soper schrieb in diesen Tagen: »Das Mädchen, dem man Mut macht, nichts Schlimmes darin zu sehen, daß sie sich mit dem Körper eines andern vergnügt, wird auch nichts Böses darin sehen, daß sie sich mit dem Geld eines andern amüsiert.« Nicht immer wird es so naiv gesagt. Aber immer wird es so empfunden. So wuchs durch das Jahrhundert der Toleranz die Intoleranz gegen die sexuelle Lust. Im Jahre 1806 war im Lande Shake-
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speares über den Dichter zu lesen: »Freche Obszönitäten, niedrig Vulgäres und übelmachende Laster kommen so oft vor, und beschmutzen die Seiten, daß man nur die unglückliche Stunde bedauern muß, in welcher er ein Stückeschreiber wurde.« Und bei Coleridge heißt es: »Shakespeares Worte sind zu indezent, als daß man sie übersetzen kann ... nur in den elendsten Tavernen hört man so etwas.« Die Entrüstung über das Eindringen des »Grobtierischen« entzündete sich bereits am Walzer. Es entstand eine Rühr-mich-nicht-an Empfindlichkeit – schon lange vor dem Regierungs-Antritt der Queen Victoria, die wenigstens am Victorianischen nicht schuld war. Überhaupt wurde die »Engländerei« (wie man bereits um die Wende des Neunzehnten Jahrhunderts sagte) als Quelle der Entrüstung überschätzt. Gewiß rühmte sich Dickens in der Einleitung zum »Oliver Twist« (1841), daß »er noch dem niedrigsten Charakter seines Buchs nur die Sprache erlaubte, die keinen Anstoß erregen könne.« Aber das internationale Klima der Zimperlichkeit auf Britannien zurückzuführen, ist ebenso albern wie jede aggressive Völker-Psychologie. Während der Regierung Victorias fanden in Paris die Prozesse um »Madame Bovary« und »Die Blumen des Bösen« statt. Und in Deutschland entrüstete man sich, durch das ganze Neunzehnte Jahrhundert, über Friedrich Schlegels »Lucinde«, später dann auch noch über Sigmund Freud. Obszön ist einer der großen Affekte der nach-christlichen Jahrhunderte. England natürlich eingeschlossen. Ein besonders schönes Dokument stellt die Londoner Saturday Review vom 5. April 1856 dar. Man glaubt zunächst, sie sei in den Tagen des Paradieses erschienen. Sie macht sich lustig über die Leute, welche denken: es sei die wichtigste Aufgabe des Poeten, Kinder zu unterhalten. Sie wirft den Erwachsenen vor, daß sie eine entkräftete Literatur mit Reinheit verwechseln. Sie weist auf die Statistik hin, auf den nächtlichen Anblick der Straßen, auf die Berichte aus Gerichts-Sälen. Man hat den Eindruck, hier sollen die Dichter ermuntert werden, etwas blut-
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voller ihre Zeit zu zeichnen. Ach, hier wird die Literatur nur deshalb getadelt, weil sie nicht genug die sündige Wirklichkeit abstraft. Hier wird auf die Zeitgenossen von Dickens mit dem Zeigefinger gewiesen, weil sie nicht besser sind als die Zeitgenossen Fieldings, obwohl Dickens soviel gesitteter schrieb. Und in derselben Nummer wird über »Madame Bovary«, die gerade unter Anklage stand, der Stab gebrochen. England war ebenso victorianisch wie der Rest dieser Feigenblatt-Kultur. Ein Gespenst auf dem Operationstisch Die Obszönitäten, die wir im Zusammenhang mit Anklagen gegen eine Reihe von literarischen Werken betrachten werden, sind chronologisch gereiht, zwischen 1800 und unseren Tagen. Ist an dieser Reihe eine Entwicklung abzulesen? Eine Abrüstung oder Aufrüstung der Entrüstung? Mancher Leser wird den Eindruck gewinnen: er und sein Nachbar und dessen Nachbar denken freier als die Zeitgenossen der Aufregungen von einst. Wird nicht gerade jetzt ein Buch angekündigt, das seit fast einem Jahrhundert ein Glanzstück der geheimen Literatur war: Mark Twains »1601«? Daß kein Irrtum entstehe! Es gibt einen Gestaltwandel des Victorianischen, der eine Wandlung nur vortäuscht. Was wandelte sich? Es ging in den letzten Jahrhunderten vom matteren zum stärkeren Vokabular. Es ging von der seltener zur häufiger verbreiteten Unanständigkeit. Es ging auch von lauteren zu leiseren Protesten: in Ehrfurcht vor den KunstExperten. Die Entrüstung ist dieselbe geblieben, wie jeder erkennen kann, der die Reaktion auf den Freispruch der »Lady Chatterley« beachtet hat. Die öffentliche Sexual-Moral hat sich kaum geändert – auch wenn sie weniger pathetisch geworden ist, etwas eingeschüchtert vor einer Wirklichkeit, die sie vorsintflutlich erscheinen läßt.
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Aber zur Wirklichkeit gehören auch jene Gespenster, die sie nicht anerkennen und zu maßregeln suchen, wo immer sie können. Das Gespenst Obszön geht unter uns um wie eh und je: von Los Angeles bis Wladiwostock, von dem Oslo, das sich gegen Henry Millers »Wendekreis des Krebses« wendete, bis Japan, das endlich auch die Segnungen des Feigenblatts genießt. Es wandelte sich die sexuelle Gesellschaft; es wandelte sich nicht die Einschätzung sexueller Lust. Man hat nicht mehr den Mut, den Kultur-repräsentierenden Sachverständigen so laut zu widersprechen, wie man es noch in den Tagen der Angriffe auf den liberalen Pastor Schleiermacher wagte. Aber zeigt die Macht der Experten und ihrer Gutachten einen Wandel des sexual-moralischen Klimas an? Der Kampf gegen das Obszöne ist kleinlauter geworden – dort, wo es von Kultur-Trägern als Kultur-Träger gefeiert wird. Aber die verborgene Antipathie, welche auch die Fortschrittlichen gegen das Unanständige hegen, tritt zum Beispiel in einem snobistischen Naserümpfen zutage: wie langweilig! Eifernd oder hochmütig: die alte Aufregung ist sehr am Leben und wert, gründlich untersucht zu werden. Sie wird hier angeschaut, nicht nur abstrakt-theoretisch analysiert. So wird in diesem Buch ein paar klassischen Entrüstungen die Farbe ihrer Zeit gelassen, auch das Cachet des Individuellen. Es kommen also auch zufällige Züge ins Bild, die eine begrifflich systematische Erörterung ausschalten könnte. Das Moral-philosophieren innerhalb konkreter Situationen hat den Vorteil, daß man sich nicht in den Himmel nichtiger Allgemeinheiten versteigen kann. Auf diesen Seiten herrscht die Absicht, nah bei den Dokumenten zu bleiben. An sie werden viele Fragen gerichtet – und manche beantwortet. Zwei machen besondere Schwierigkeiten: woher stammt der Trieb zur Darstellung des Obszönen: vom Exhibitionismus in Person bis zum Exhibitionismus im Ton, im Bild, im Wort? Und woher der andere Trieb, das Obszön zu brandmarken und das Gebrandmarkte zu verfolgen? Die Verfolger, die wir bei Namen kennen, sind nicht nur Staats-
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anwälte und Polizisten, welche diese Jagd beruflich betrieben; wie einer Bank-Beamter wird, so ein anderer Ankläger. Es sind bisweilen die erlauchtesten Gelehrten, welche die ordinärsten Hetz-Jagden veranstalten, auf akademisch. Leider entziehen sich diese Herren und Damen der Autopsie. Was wir von ihnen wissen, ermöglicht noch nicht, die Entrüstungs-Bazillen unters Mikroskop zu legen. Doch existierte, am Ende des Neunzehnten Jahrhunderts, ein klassischer Entrüster, dessen Tagebücher einen großartigen Einblick in das Werden dieses Affekts gewähren. Er hieß Anthony Comstock; ein Amerikaner, der so lebendig war wie Barnum und zu seiner Zeit ebenso berühmt. Ein Schüler Freuds, der Engländer Ernest Jones, schrieb über ihn, ohne es zu ahnen: »Die Menschen, die sich insgeheim zu verschiedenen Versuchungen hingezogen fühlen, sind emsig bemüht, anderen Menschen diese Versuchungen aus dem Wege zu räumen. In Wirklichkeit schützen sie sich selbst unter dem Vorwand, andere zu schützen; denn im Innersten fürchten sie sich vor ihren eigenen Schwächen.« Diese psychologische Hypothese von der Flucht vor der eigenen, für sündhaft gehaltenen Sexualität als Motiv des Detektivs hinter dem unanständigen Verbrecher wird hier verifiziert an einem der leidenschaftlichsten Obszönitäts-Jäger. Es ist nicht jeder Fall so gewichtig. Es gab unter den JagdGenossen dieses Typs manchen, den die Freude am Jagen von Menschen nur zufällig auf sexuelle Jagdgründe verschlagen hatte. Es gab auch die, welche das Nackte nur deshalb verfolgten, weil sie (wie die meisten, meinte Montaigne) nackt nicht sehr erfreulich anzusehen sind. Es gibt viele Ursprünge des Jagens von Obszönem. Nicht der geringste ist der Stolz, der in der Sexualität (und gar in ihrer Reizung durch Benennen) eine Minderung der Herrschaft des Menschen über sich selbst sieht. Es war dieser Stolz auf die Souveränität der regierenden Vernunft, der Augustinus dazu brachte, zu schreiben: die Nachkommenschaft sollte mit der Hand gesät werden wie das Korn in die Erde; auch brauche die Jungfernhaut
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nicht verletzt zu werden, da der Samen durch denselben Duktus eingeführt werden könne, durch den das Menstruationsblut austräte. Hinter vielen krausen Vorstellungen, welche die künstliche Befruchtung vorwegnahmen, steckte auch der Widerstand gegen die Stunden, in denen der Mensch am wenigsten sich gebieten kann. Woher aber das Verlangen stammt: literarisch-sexuell zu reizen, kann wahrscheinlich nicht am lebenden Objekt nachgewiesen werden – und kämmte man die Lebens-Geschichten der Künstler noch so gründlich aus. Denn gerade dieser Hang ist des Teufels, wie man meint: und wird als schmutzige GeldGier motiviert (als ob es eine saubere gäbe); auch mit der Wendung »Dirt for dirt's sake«, eine amerikanische Albernheit. Denn wie jemand Schmutz hervorbringt im Interesse des SCHMUTZES, kann ebensowenig erklärt werden wie L'art pour l'art: wie jemand Kunst hervorbringt im Interesse der KUNST; denn die beiden ganz groß Geschriebenen sind nichts als Gespenster. Auf der Suche nach der Herkunft des Triebs zur literarischsexuellen Exhibition wird man wohl nicht weiterkommen als bis zur Theorie. Und man darf nicht vergessen, daß dieser Drang nicht nur eine einzige Wurzel haben wird. Das Bemühen, hier zu erhellen, war immer mühsam; die moralischen Verurteilungen ließen es gar nicht erst zum Nachdenken kommen. So begann ein höchst zweifelhafter Forscher unserer Zeit seine Definition der Zote, eines Ursprungs der indezenten Literatur, mit dem Satz: »Zote bedeutet immer etwas ethisch Minderwertiges« – ein Ansatz, der dann auch zur gewünschten Lehre führt, die in ihr »geistige Notzucht« sieht. Wohingegen Freud, ein Entdecker, zunächst einmal interessiert war an der Geburt der Zote aus dem Trieb. Er suchte, wie immer, den Ursprung eines ästhetischen Phänomens in der vitalen Funktion, der es seine Entstehung verdankt. Er konstruierte die Zote als sprachliches Losgehen auf den Geschlechts-Partner, mit Hilfe der obszönen Wendung; es wird »die angegriffene Person zur Vorstellung des betref-
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fenden Körperteils« gezwungen und so in »korrespondierende Erregung« versetzt. Dann habe sich die Zote verselbständigt, als ihr Transitorisches aus äußeren Gründen (zum Beispiel wegen der Gegenwart eines Dritten) nicht zu etwas führte. Von diesem Dritten leitete Freud die gesellschaftliche Bedeutung der Zote ab. Hier mag eine von mehreren Quellen der obszönen Literatur gefunden sein. Doch bringt die Zote, wenn auch das Muster für einen breiten Bereich innerhalb der Welt-Literatur, nur ein begrenztes Verhältnis zur sexuell-analen Welt an den Tag. Hämisch-plebejisch oder behaglich oder vehement gegen das feine Vertuschen: eine Zote hat nie Verliebtes und nie Trauriges und nie die Aufsässigkeit gegen das moi haïssable. Die sehnsüchtigen und verzweifelten Obszönitäten haben andere Herkünfte. Der Stellenwert innerhalb der Persönlichkeit, die das Indezente herausstellt, bestimmt erst das Woher. Bei Luther heißt es: »Du sollst kein Buch schreiben, ohne auf den Furz einer alten Sau gehört zu haben – der Du Deinen Mund weit öffnen und sagen sollst ›Dank Dir, liebe Nachtigall. Ist Dein Text für mich?‹« Wenn man dies obszön nennt, sagt man nichts, als daß man entrüstet ist. Es gewinnt erst einen Sinn in der Zugehörigkeit zum Leben dieses Manns. Aber ein Locken ist in allem Obszönen: ob man es so böse nennt, oder ob man aufgeregt jede Reizung der Sinnlichkeit leugnet. Diese Leugnung verdunkelte viel. Platon und die Leser seines »Gastmahls«, Goethe und die Zuschauer der Werbung um Gretchen (die doch nicht alle Literaturhistoriker oder Aufsatz-schreibende Schüler sind), waren immer im Medium der Sinnlichkeit verbunden; es hängt dann von sehr individuellen Umständen ab: von Alter, Reizbarkeit, Stärke des Über-Ich, wie weit eine Liebes-Szene bis zum Körper des Lesers vordringt. Besonders ist zu beachten, daß ein gemäßigter, mit Sinnlichkeit geladener Realismus stärkere Wirkung hat als ein krasser, der gar nicht sinnlich ist. Tatsächlich reizen die leise streichelnden Anspielungen des »Gol-
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denen Esel« mehr als viele der deutlichsten, aber kältesten unanständigen Passagen unserer Jahre. Wie das Obszöne, wie die Entrüstung, die sich in jenem Wort ausdrückt, aufkam, ist nur zu konstruieren. Ist es ein Zufall, daß sie weder im Alten Testament erwähnt wird noch in den Zeugnissen anderer Frühkulturen? In ihnen gab es wohl kaum Sexuelles, was nicht erlaubt war – und zugleich nicht geahndet wurde. Wer aus dem Deuteronomium erfährt, welche furchtbaren Strafen manche vorehelichen und außerehelichen Beziehungen trafen, wird begreifen, daß man dies Gebiet nicht zum Gegenstand anreizender Darstellungen machte. Das Obszöne zeigt immer schon die Lockerung einer gesellschaftlichen Ordnung an. Wie sehr sich auch der EntrüstungsAffekt verselbständigen mag, am Leben erhalten wird er von den Hütern der Ordnung. Je bedrohter sie sich fühlen, um so üppiger wird man sich entrüsten. Die Herrscher selbst pflegen nicht Anstoß zu nehmen, können aber ohne Anstoßnehmer nicht auskommen: ohne die politische, religiöse Empörung und ohne die sexual-moralische, die im Wort Obszön monumentalisiert ist. Je weniger geschlossen eine Offene Gesellschaft ist, um so toleranter wird sie sein. Innerhalb der europäischen Welt war das Zeitalter der Toleranz erst ein ängstlicher Beginn: besonders ängstlich vor dem Gespenst Obszön. Wie man auch in den hundertfünfzig Jahren seitdem nicht recht vorwärts kam, sollen die sieben folgenden Geschichten zeigen: Jena 1799, Paris 1857, New York 1873, London 1895, Berlin 1921, London 1960, Los Angeles 1962 – und die Geschichte der Tage, an dem der Leser dieses Buch liest. Nur wer bescheiden ist, wird nicht aufgeben. Die Gegner unter den Dunkelmännern und den etwas Aufgeklärteren sind zu unzugänglich und zu mächtig, um durch ein Buch umgeworfen zu werden. Aber es gibt keinen Weg, Unmenschliches abzubauen als: für den Abbau einzutreten. Die Versuche dürfen nicht aufhören, à fonds perdu.
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Die Wort-Maske Obszön muß gelüftet werden. Der Bösewicht, der Sexuelles entzündet, der Unsoziale, welcher die heiligsten Gefühle seiner heiligsten Zeitgenossen verletzt – sind nur Vorwände, oft nicht geahnte, um sich zu entrüsten, um die gelernte Entrüstung zu betätigen. Eine Parallele zur Gottes-Lästerung. Eine Parallele zur Lästerung der Fahne, unter der man geherdet ist. Sexus würde nicht anders leben, wenn es auch nicht eine Spur von dem verdammenden Obszön gäbe. Aber das Feld der Entrüstung wäre um einen seiner hervorragendsten Bezirke gebracht. Wenn heute alle Gesetze und alle Diskussionen, das Obszöne betreffend, verschwinden würden, verlören gewiß unzählige Menschen Themen, Stellungen und Gelegenheiten, Dampf abzulassen. Möglicherweise würden auch für einige Zeit eifrige Händler gut davon leben; und gewiß würden einige Jahre lang mehr Künstler und Denker als bisher den freigegebenen »Stoff« durchdenken und gestalten. Nach einer Weile hätte das neue Gebiet den Reiz der Neuheit verloren. Die Einzigen, die für die Ewigkeit geschädigt wären – das sind die ewigen Anstoßnehmer.
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Jena 1799 Hundertundfünfzig Jahre deutscher Entrüstung
Die Kunst soll das Penible nicht vorstellen. Goethe »Maximen und Reflexionen«
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Jeder vollkommene Roman muß obszön sein; er muß auch das Absolute in der Wollust und Sinnlichkeit geben. Auf Friedrich Schlegels Notizheften
Um Achtzehnhundert gab es in Deutschland einige Jünglinge und einige Mädchen (fünfzehnjährige Bräute, Ehefrauen und Blaustrümpfe), an die wir uns noch heute erinnern; nicht so sehr an ihr Werk (es ist zum guten Teil in den Literaturgeschichten beigesetzt) als an das Klima, das aus ihren Freundschaften und Liebschaften, ihren Zwisten und Scheidungen, ihren Tagebüchern und Klatschgeschichten entstand. Sie selbst sind mehr am Leben als ihre Romane und Dramen. Nur einige Gedichte, Kritiken und Sentenzen hatten Kraft genug, um zu überleben. Die Frühromantiker waren stärker als die Literatur, die sie schufen. Diese jungen Menschen hatten dieselben Sorgen, in derselben Richtung sahen sie ihr Heil – und steckten einander an mit Ideen und Hoffnungen. Dann lief jeder allein zu seinem Ende; mancher und manche in den frühen Tod, mancher auch in eine lange Karriere, die nur noch wenig zu tun hatte mit dem Beginn. Die Literaturgeschichte schleppt bisweilen Achtzigjährige mit, weil sie mit Achtzehn Genies gewesen sind. Im letzten Jahrzehnt des Achtzehnten Jahrhunderts waren Fichte und Schelling und Tieck und Novalis und Schleiermacher und die Schlegels, ihre Geliebten, Bräute, Ehefrauen und Kinder so voll Leben, daß man sich heute noch mehr für sie interessieren würde, wenn nicht die Konservatoren der Literatur ihre Scheinwerfer so ausschließlich auf Goethe und Schiller eingestellt hätten, daß alles um sie herum ungebührlich weggeblendet wurde. Hofmannsthal sagte: »Wir haben keine neuere Literatur. Wir haben Goethe und Ansätze.« Die Romantik gehörte wohl zu den Ansätzen.
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In jenem Kreis junger Männer zwischen Zwanzig und Dreißig, deren Weiblichkeiten entweder erheblich älter waren oder blutjung, erschien im letzten Jahr des Jahrhunderts ein Roman, der die Gemüter gewaltig erregte – vor allem wegen seiner Unanständigkeit: Friedrich Schlegels »Lucinde«. Es war ganz gewiß nur eine kleine Zahl von Gemütern, die er in Aufruhr setzte; man macht sich nie genug klar, mit welch geringem Personal die Weltgeschichte arbeitet, wenn ihr Geist in Aktion ist. In Deutschland lebten etwa fünfundzwanzig Millionen. Wie hoch war die Auflage? Wieviel Exemplare wurden abgesetzt? Wieviel gelesen – und von wem? Da in allen Literaturgeschichten fast dasselbe steht – und meist die Ideologie von vorgestern, sind solche winzigen Fragen kaum lösbare Rätsel. Wahrscheinlich hat der kleine Roman mehr Federn als Leser in Bewegung gesetzt. Denn dies berüchtigte Objekt literarischer Geschäftigkeit wurde kein Geschäft, wie der Dichter bereits ein Jahr nach Erscheinen klagte: »der wenige Absatz« gäbe keine Hoffnung auf eine zweite Auflage. Eine Generation später, im Jahre 1833, teilte Heine mit: das Buch sei »verschollen«. Bald darauf kam dann doch eine neue Ausgabe heraus. Vielleicht, weil der Autor inzwischen als Metternichs rechte Hand berühmt geworden und außerdem noch gestorben war. Weniger darf vermutet werden, daß sich plötzlich eine Nachfrage zeigte. Noch am Ende des Neunzehnten Jahrhunderts wurden unaufgeschnittene Exemplare der ursprünglichen Publikation angeboten. Doch war inzwischen das Werk ein Jahrhundert-Ereignis geworden: innerhalb der Geschichte deutsch-moralischer Entrüstung. »Lucinde« hat nie Chancen gehabt, viel gelesen zu werden – trotz des Prestiges, ein Erotikon zu sein. Was in der Zeit, die vor dem Biedermeier schon biedermeierte, als obszön empfunden wurde, ist hier dicht eingehüllt in lyrisch-philosophische Verstiegenheiten; auch die Lüsternsten verlieren die Lust, wo der beschwerliche Weg so unlustig macht. So geht der fragwürdige Ruhm zurück auf den literarischen Skandal, den
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Schlegel in seinen Tagen hervorrief – und nicht nur damals; er wurde von den Prominentesten konserviert, bis in unser Jahrhundert. Er gab den erlauchtesten Deutschen (von Schiller bis zu Dilthey) Gelegenheit, sich zu entrüsten. Das begann also 1799 – in demselben Jahr, in dem das nekkisch-anzügliche Geplauder »Galanterien von Leipzig« erschien, ohne daß sich jemand empörte; wahrscheinlich, weil die Elite der Nation so etwas nicht las. Hingegen wurde »Lucinde« vornehmlich von ihr gelesen. Zwar sagte Goethe: »Jedermann liest's, jedermann schilt darauf und man erfährt nicht, was eigentlich damit ist.« Aber wenn einer vom Bau Jedermann sagt, meint er immer die Eingeweihten und die, welche ihnen nachsprechen; daß man aber von Jedermann nichts erfahren konnte, lag auch darin, daß hier viel Lärm um wenig war. Doch das Wenige genügte. Schleiermacher schrieb: »Das Geschrei ist allgemein; der Parteigeist verblendet die Menschen bis zur Raserei.« Der Norweger Steffens, der zum engeren Kreis gehörte, erwähnte den »literarischen Skandal« der »nur zu berüchtigten Lucinde« in Jena, Weimar, Göttingen, Berlin und Wien. Und dann schleuderte man gegen dies Werkchen durch die Jahrzehnte immer wieder die Vokabeln: Ekel, moralischer Frevel, schamlose Sinnlichkeit. Ein berühmtes Lexikon belehrte noch das zwanzigste deutsche Jahrhundert, daß dies Buch »in kühler Schamlosigkeit« gemacht sei. Und in einer Kulturgeschichte, die zur Zeit der Weimarer Republik die Historie der Lüsternheit in Bild und Schrift behaglich ausbreitete, wurde noch einmal Friedrich Schlegels »lüsterner« Roman angeprangert. Friedrich Schlegels »lüsterner« Roman »Lucinde« wurde ein Katalysator deutschen Anstoßnehmens, wie es von Dichtern und Denkern des deutschen Geistes und Ungeistes getätigt worden ist. Die Figur im Mittelpunkt heißt Julius. Er ist ein gründliches Selbst-Porträt des siebenundzwanzigjährigen Dichters. Beide sind »kränklichen Herzens« (wie Bruder August von Bruder Friedrich sagte). Beide zeigen die Über-
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Kraft der Kränklichkeit, wenn sie »Gott verachteten«. Beide sind unausgegoren, noch nicht festgelegt. Labilität erzeugt oft Heftigkeit. Ihr Appetit auf Wissen ist »gefräßig«, ihr Verlangen nach Freundschaft eine Art Heißhunger: eine »Wut«. Ihre Liebe ist »ohne Gegenstand«; der Brand hat nichts, woran er sich sättigen kann. Julius ist (wie sein Schöpfer) ein Faust, der es über die Anfangs-Monologe nicht hinausbringt. So schildert er sich seiner Geliebten, die es dann schließlich schafft. Das Ewig Weibliche zieht ihn hinan. Es heißt: Lucinde. Eine Serie von Romantiker-Romanen kreiste um diese Art junger Menschen, die einen Drang, der zu nichts drängte, erlitten und genossen. Sie leben zu gleicher Zeit an den Polen unsinnlich-geistiger Verstiegenheit und geistloser Sinnlichkeit, die üppig blühte – in der Phantasie und ein bißchen wohl auch im Leben. Nachdem ein Drittel des Romans vorüber ist, kommt in die monologische Situation etwas Aktion: Julius erinnert sich an die Reihe von Affären, die er hinter sich hat. Sie werden erzählt unter dem Titel »Lehrjahre der Männlichkeit«, eine pädagogisch-fromme Überschrift in dem als unzüchtig verschrienen Buch. Im Wort »Lehrjahre« kündigt sich das Goethesche Ideal der Meisterschaft an; »Männlichkeit« klingt eher nach Zucht als nach Lockerem. Das Werk, das durch ein Jahrhundert für obszön galt, ist eine Schule für Jünglinge, die ihrer Gesellschaft Ehre machen wollen. Auf der ersten Station des Aufstiegs zu Lucinde lernt der Leser »ein heiliges Bild der Unschuld« kennen ... das GegenBild des Partners Julius, des berechnend-lüsternen Draufgängers, des Verführers, wie er in allen Sitten-strengen Büchern gemalt wird. »Sie ist kaum reif und noch an der Grenze der Kindheit; das reizte sein Verlangen noch um so unwiderstehlicher.« Der Lolita-Komplex ist immer als Verbrechen angesehen und die Entrüstung über ihn immer so ausgelegt worden: das unschuldige Kind kann sich nicht wehren, weil es noch nicht Bescheid weiß. Tatsächlich zerstört das »heilige
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Bild der Unschuld« dies Argument; und der Zorn richtet sich nun nicht mehr nur gegen Julius, sondern gegen seinen Dichter Schlegel. Der Verführer Julius gibt in dem Augenblick, in dem ihr Widerstand gebrochen ist und bitterste Verzweiflung ihr Gesicht entstellt, seine Absicht auf: »in Gedanken von allgemeiner Sympathie«. Der Engländer Frank Harris, Verfasser einer berühmten sexuellen Konfession, hat hundert Jahre später in seiner Autobiographie eine ähnliche Szene beschrieben; sie ist glaubhaft und erbaulich. Man zweifelt nicht mehr daran, daß Julius ein Vorbild werden wird. Aber nun kommt es arg. Er berichtet: das Mädchen schien unzufrieden damit, daß es nicht ganz verführt worden sei. Dafür kann man den Helden nicht verantwortlich machen, wohl aber den Autor, der solches für möglich hält. Der Mythos vom Paradies Kindheit, den Freud zerstört hat, und der (wie es nach solchen Zerstörungen zu gehen pflegt) munter fortlebt, ist hier angetastet. Und auch Julius geht dann doch nicht rein aus dieser Affäre hervor; er wollte zwar das Mädchen, verabscheute aber die entfernteste Erinnerung an bürgerliche Verhältnisse, wie jede Art von Zwang. Seine Zurückhaltung war also vielleicht doch nicht ganz moralisch. Trotzdem: per aspera ad astra! Zuerst kommen immer die harten Zeiten, bevor man bei den Sternen anlangen darf. Die Zweite auf seinem dornigen Weg zur Männlichkeit ist eine Dame, vielleicht verheiratet, die unter denen, welche am stärksten gesellschaftlich glänzen, am freisten lebt. Julius wirbt um sie, scheinbar mit Erfolg. Sie läßt sich nur auf ein strikt-gesellschaftliches Spiel mit dem Feuer ein: lockt ihn, macht ihn mißtrauisch und schließlich zum Gespött. Er revanchiert sich mit einer recht lahmen Psychologie: daß Narrheit und Dummheit ein Vorrecht der Männer sei, Bosheit und naive Kälte die angestammte Kunst der Frauen. Die Metaphysik der Geschlechter kam zum guten Teil aus dem Ressentiment Abgeblitzter. Folgt die dritte Niederlage. Er liebt Lisette – nicht ohne
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Zweifel an ihrer Liebe zu ihm; denn sie gehört zu denen, die »beinahe öffentlich sind«. Sie trägt ein Kind von ihm; doch er glaubt nicht an ihre Neigung und seine Vaterschaft. Er ist schließlich verzweifelt; aber durchaus nicht, weil er einsieht, daß seine phrasenhafte Vorstellung vom käuflichen Mädchen sie in den Tod getrieben hat. Aus dem Thema: moralistische Verblendung hätte ein Roman werden können. So wurde diese Affäre nur eine von sechs schnellen Skizzen. Es geht noch eine Etage tiefer, in Richtung Hölle. Er hat von Mädchen genug und hält sich an Jünglinge. Die LiteraturHistoriker haben drei Urbilder entdeckt. Mit dem dritten, berichtet Julius, wäre sein »Verhältnis verstimmt und fast gemein geworden«. Diese Eröffnung war damals noch so unerhört, daß nicht einmal die bittersten Feinde Schlegels diese Schande beleuchtet haben. Julius und sein Autor waren dem Selbstmord nahe. Aber: wenn die Not am größten ... Ein weiblicher Erlöser taucht auf. In demselben Jahrhundert, in dem Schopenhauer und Nietzsche und Weininger und Strindberg die Frauen verteufelten und Wedekind sie entmenschlichte, woben Romantiker am Madonnen-Bild des Jahrhunderts: von Lucinde bis Senta. Die erste Dame, die Julius erst halberlöste, war (autobiographisch gesprochen) Karoline; von vielen Zeitgenossen die geistreichste Frau genannt, die »einen wunderbaren Zauber auf alle Männerherzen ausübte«. Sie war die Braut seines Bruders, mit dem ihn eine innige Freundschaft verband. So hielt sich Friedrich zurück. Er und sein Held lernten Askese und wurden ihr Troubadour. Sie zog ihn an und hinan; aber nicht weiter. Julius ist auf dem Weg zur vollkommenen Ehe. Die Frau auf dem Gipfel heißt Lucinde. Sie hat »einen entschiedenen Hang zum Romantischen«; das heißt: sie lebt »in einer eigenen, selbstgedachten und selbstgebildeten Welt«. Man darf Lucinde auch Dorothea nennen: Friedrich Schlegels Geliebte (wie jeder gebildete Leser wußte), die Tochter Moses Mendelssohns, seit ihrem siebzehnten Jahr auf Wunsch des Vaters die Gattin des Bankier Veit; als der Roman erschien,
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war sie bereits geschieden – und wurde später Schlegels Frau. Er hatte sie im Berliner Salon der Henriette Herz kennengelernt. Bald war er sehr stürmisch geworden. Sie war überrascht ... und gab nach, weil sie ahnte, daß er danach »liebender und treuer sein würde als vorher«. Das war eine unanständige Psychologie; die anständige lautet, daß er sie nachher verachten wird. Julius berichtet über seine Beziehungen zu Lucinde: wie sie begeistert waren und tändelten und scherzten: »Amor war hier wirklich, was er so selten ist, ein fröhliches Kind«. Viel mehr erfährt der Leser über Dorothea nicht; höchstens, daß ihre Üppigkeit für »die Wut seiner Liebe und seiner Sinne« reizender war als »der frische Reiz der Brüste und der Spiegel eines jungfräulichen Leibs«. Die Geliebte war in der Tat bereits einige Dreißig, sieben Jahre älter als er. Man hat diesen berüchtigten Schlüsselroman einen »RomanExtrakt« genannt, woraus nun jeder selbst Romane machen könne. Die sechs Affären sind nur sechs flüchtige Entwürfe; solche Flüchtigkeit ist einer stimulierenden Wirkung sehr abträglich. Außerdem sind um die skizzenhaften Geschichten poetisch-reflexive Arabesken in großer Zahl geschlungen: Kommentare, Exkurse, Schwärmereien – für Forscher der Geistesgeschichte eine attraktive Bibel romantischen Geistes; für Liebhaber anregender Galanterien hingegen eine einzige Langeweile. Weshalb entrüstete sich, von der Zeit der Postkutsche bis in die Ära des Flugzeugs, die deutsche Elite? Jedes verschriene Buch hat seine Stellen, für die es verschrien ist. Sie sind »Stellen« wegen des Vokabulars, das man nicht öffentlich zu gebrauchen, wegen der Szenen, die man nicht öffentlich zu beschreiben pflegt – wenigstens nicht in solcher Nähe zur Wirklichkeit, in solchem Detail. Und dann kommt immer noch etwas hinzu, etwas Geheimeres, das vorläufig als unanständige Melodie angedeutet werden mag.
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An der Oberfläche sind die Wörter und Szenen; auf sie kann man mit dem Finger weisen. Die Grenze wurde immer weiter ins Gebiet des Verbotenen hinausgeschoben: von der »Lucinde« zur »Madame Bovary«, die noch sittsam war im Vergleich zur »Lady Chatterley«, die noch ein Waisenkind war im Vergleich zu Henry Miller. Das erweckt die Illusion, es habe die Stärke der Entrüstung nachgelassen. Die offiziellen Hüter – auf verlorenem Posten, ohne Kontakt mit der Wirklichkeit, ihren Bestsellern und Illustrierten – sind kleinlaut geworden vor der Kinsey-Statistik; sind aber noch sehr am Leben und haben immer wieder ihre Stunde. Auch wenn die Stellen des alten Romans, die damals den Ungeist mobilisierten, heute nicht einmal mehr von den keuschesten Ohren wahrgenommen werden: die obszöne Qualität eines Worts hängt vom gesamten Wortschatz der Zeit ab. Als die »Unterhose« sofort assoziiert wurde mit dem, was in ihr steckt, war dies Wörtchen ein Aphrodisiakum und deshalb verboten. Und nun gar die »Wollust«. Die unzüchtigen Bilder jener Zeit konnten ohne diese Unterschrift nicht auskommen. Sie hießen zu Dutzenden: Wollüstige Schönheit, Wollüstige Träume. Man kann das Gesicht nicht erkennen, aber die gespreizten Schenkel; oder ein Kissen wird umklammert, die rechte Hand hält das Ende eines Stuhlbeins, das wie ein Phallus geformt ist. Der Höhepunkt aber ist diese Unterschrift Wollust. Die ärmliche Verteidigung angeklagter »schmutziger Wörter« war immer, daß sie nur Wörter sind. Sie sind Herde der Erregung – wie kaum einem Liebespaar unbekannt ist. Man verteidigt nichts, wenn man das leugnet. Eine Geschichte, die sich in England zutrug, ist eine der besten Illustrationen für die Rolle der Sprache beim Anstoßnehmen. Ein Oberst Baker saß in einem Coupe mit einer Miss Dickenson. Ein verfängliches Hin und Her entspann sich, ohne Greifbarkeit. Die Dame tat, als schliefe sie ein, der Oberst betätigte sich ein wenig, sie wehrte sich nicht – bis er in die Worte ausbrach: My darling! My ducky! Damit hatte er die Grenze überschrit-
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ten. Sie schrie um Hilfe und setzte einen die Nation erschütternden Prozeß in Bewegung. Das Verletzende begann also mit der Verlautbarung. Erst die Wortwerdung der Lust ist unmoralisch. Und wahrscheinlich hätten viele Bilder mit verhängten Augen und gequälten Mündern, die zu sagen scheinen: die Spannung ist kaum noch erträglich ... nicht so obszön gewirkt, hätte nicht noch der Kommentar »Wollust« das Wollüstige auf die Spitze getrieben. Es ist die Benennung, welche das Schlimme unwiderruflich macht. Goethe reimte: Kein leicht unfertig Wort wird von der Welt verteidigt Doch tut das Niedrigste und sie wird nie beleidigt.
Damals waren Wollust und Vermischung und »Empfindung des Fleisches« (eine Diderot entlehnte Wendung) ReizWorte. Und wahrscheinlich wurden die Vorfahren um 1800 schon lüstern, wenn die erhabene Kultur und die weniger erhabene Vital-Sphäre (nach dem ewigen Platonismus strikt getrennte Sphären) verkuppelt wurden zu Wendungen wie: Vermischung »geistiger Wollust und sinnlicher Seligkeit«. Ein hehres Adjektiv im Zusamenhang mit einem Substantiv, das auf die sogenannten niederen Regionen hinweist – diese Kombination ließ wohl manchem Leser das Feuchte zusammenlaufen. Denn das Zusammenspannen von Respektablem und Verbotenem (etwa: eine Umarmung »mit ebensoviel Ausgelassenheit wie Religion«) übte immer eine ganz besondere Wirkung aus; die »Ausgelassenheit« genoß sich intensiver in Gegenwart der Tabus. So kann man in pornographischen Erzählungen und im Cinema Cochon hohe Persönlichkeiten im Ornat, in Uniform, in großer Toilette sehen, die sich, so gewandet, betätigen. Das ist nicht Sozial-Kritik, sondern Zuspitzung auf erhöhten Genuß, der aus der Spannung zwischen dem Nicht-Erlaubten und dem repräsentativen Dekor entsteht. Und es mag sein, daß oft die Kirche für Verhöhnung hielt, was nur eine Technik der Lust-Steigerung war. Diese
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Spannung ist auch in der »Lucinde« (bescheiden) laut geworden: in Wendungen wie die »vom höheren Leichtsinn unserer Ehe«. Unsere Ohren hören hier nichts Alarmierendes mehr. Auch deshalb, weil die strahlenden Kostüme des Dezenten an Glanz verloren haben und so als Folie für das Nackte nicht mehr recht brauchbar sind. Es ist nicht leicht, eine Rangordnung der obszönen »Lucinde«-Stellen zu konstruieren; man kann nur versuchen, sie nach dem Grad der Aufregung zu gruppieren, wie sie die »Lucinde«-Literatur überliefert hat. »Wenn er sie« (berichtet Julius aus dem Schlafzimmer) »im Zauberschein einer milden Dämmerung hingegossen sah, konnte er nicht aufhören, die schwellenden Umrisse schmeichelnd zu berühren; und durch die zarte Hülle der ebenen Haut die warmen Ströme des feinen Bluts zu fühlen.« Dieser Satz diente dem deutschen Neunzehnten Jahrhundert, soweit es sich damit abgab, zur Charakterisierung des unflätigen Charakters dieses Buchs. Tatsächlich ist das unbeachtetere Nackt-Photo, das der Dichter von sich gibt, viel deutlicher und sinnlicher als das Schattenbild Lucinde: man sieht seine vollen und runden Glieder, den glatten Körper, »dicht und fest wie Marmor«. Das entsprach ganz dem Geschmack der Zeit. In einem »Beitrag zur Philosophie der Mode«, erschienen im selben Jahr wie »Lucinde«, wurde die Abneigung der Frauen gegen dünne Männer-Waden unterstrichen: sie seien »der wahre Thermometer ihrer praktischen Zärtlichkeit, der eigentliche Barometer ihrer verliebten Lehrstunden, das Rechnungsbuch ihrer weiblichen Ausgaben«. Ein Schritt weiter – und Julius vergleicht die Vorurteile der Gesellschaft mit den »fatalen Kleidern«, »die er oft von der Geliebten riß und in schöner Anarchie umherstreute«. Das war ein Schock in vieler Beziehung und in vieler Beziehung unter Anklage. Es war zunächst ein weiblicher Akt; wenn auch, wie man meinen könnte, so unbestimmt, daß nichts zu sehen ist. Aber damals genügte schon die abstrakte Vorstel-
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lung: Nacktheit. Und in dem Tätigkeitswort »riß« wurde abermals die brünstige »Wut« des Helden lebendig. Sinnlich sind auch Kleider, die nicht mehr bedecken und so aufs Enthüllte hinweisen. Und damit ist die erotische Ladung dieser Stelle immer noch nicht voll registriert. Die Anarchie der unordentlich umhergestreuten Kleider deutet auf das Verbotenste hin: die Anarchie der nicht mehr in ordentlicher Relation zueinander befindlichen Körper ... und (was noch schlimmer ist) zwei Seelen in ungelenkter Bewegung miteinander, gegeneinander. Anarchie ist die Gefahr aller Gefahren; und Anarchie im Bett, das so zum Lotterbett wird, Auflösung schlechthin. Es ist bequemer, heute hochmütig zu sagen: man war damals prüde. Man war es nicht mehr als später, wie die hundertjährige Geschichte der Aufregung über »Lucinde« lehrt. Deshalb muß herausgehoben werden, was hinter den Chiffren, die verblaßt sind, lebte und lebt. Viel obszöner als alles Photographierbare war der Enthusiasmus für die Aufhebung der Schlafzimmer-Ordnung, wie er sich in den Wendungen »schöne« Anarchie und »Verwirrungsrecht« dokumentiert. Die Zeitgenossen und ihre Nachfahren hörten aus ihnen ein Gesellschaftsbeben heraus. Die schöne Anarchie wurde am kräftigsten symbolisiert in dem Abschnitt, der überschrieben ist »Dithyrambische Phantasie über die schönste Situation«. Gegen dieses frevelhafte Stück richtete sich, zwischen 1800 und 1904, die Klage aller Klagen. Am schönsten sei es, jubelte Julius, wenn sie »die Rollen vertauschten und mit kindischer Lust wetteifern, wer den andern täuschender nachäffen kann«, ob ihr »die schonende Heftigkeit des Manns besser gelingt« oder ihm die »anziehende Hingebung des Weibes«. Das war der Einbruch in die Harmonie der Schöpfung. Kant hatte noch im Jahr zuvor in seiner »Anthropologie« erklärt: »Das Weib ist weigernd, der Mann werbend; ihre Unterwerfung ist Gunst.« Schiller hatte gedichtet:
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Tugend brauchet der Mann, er stürzet sich wagend ins Leben, Tritt mit dem stärkeren Glück in den bedenklichen Kampf. Eine Tugend genüget dem Weib, sie ist da; sie erscheinet: Lieblich dem Herzen, dem Aug" lieblich erscheine sie stets.
Da zeigte Schlegel, daß die Frau, gar nicht lieblich, gar nicht weigernd in den Liebes-Kampf geht; daß der Mann, gar nicht wagend, das Besiegtwerden genießt. War nach Kant eine Frau, die Griechisch lernt, ein Monstrum, sie könnte ebenso gut sich einen Bart wachsen lassen – wieviel monströser war eine Frau, welche im Bett die Position verließ, die, wie man meinte, Eva von der Natur zuerteilt war. Von den Völkern der Südsee hingegen wurde sie die Missionars-position genannt ... eine »Missionarsmode«, eine dieser neuen Unschicklichkeiten, die das Christentum einführte. Die Position Nummer Eins der Stämme, welche Malinowski beschrieb, ist recht verschieden von der europäisch-anständigen: »Der Mann hockt vor der Frau und bewegt sich auf sie zu, die Hände auf den Boden gestützt, oder er faßt ihre Beine an und zieht sie zu sich. Liegen die Geschlechtsteile eng aneinander, so wird der Penis eingeführt.« Die Frau wird in ihrer Gegen-Bewegung nie behindert. Tun sie es im Liegen, so sind sie nebeneinander, die Frau schlägt das obere Bein über den Mann. Immer ist hier auch die Frau – frei in der Aktion. Die Eingeborenen verachten die europäische Grund-Stellung als unpraktisch und unschicklich. Sie sagen: »Der Mann liegt schwer auf der Frau; er drückt sie schwer nach unten; sie kann nicht mitmachen.« Vielleicht war es gerade dies Nicht-mitmachenkönnen, was dieser Konfiguration den Charakter der Dezenz verlieh. Am keuschesten ist die Unkeuschheit in der Passivität, die sich auch in anderen Bezirken ziemte. Das Tier mit den beiden Rücken, wie es Shakespeare nannte, war innerhalb dieser Tiergattung immer noch das anständigste. Man mußte in der Beichte ein Geständnis ablegen, wenn man von diesem sexuellen Leit-Bild abgewichen war ... obwohl es in der Bibel, die keine Liebes-Technik vorschreibt, nicht zu finden ist.
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Das Anstoßnehmen am Abgehen von der als sittlich ausgezeichneten Position war nicht nur eine Empörung des Jahres 1799. Noch 1904 nannte ein Deutsch-Schweizer, Doktorand der Sorbonne, die »Dithyrambische Phantasie über die schönste Situation«, über den Rollentausch im Bett, eine der schändlichsten. Denn hier wurde die Ordnung des Unordentlichsten, die dringendste Ordnung, gefährdet – und außerdem noch jubilierend. Was war die Ordnung? Eva war aus der Rippe Adams gemacht: das wirkte noch nach in der mühseligen »Vernunft«-Ordnung Kants, des edelsten Demokraten, der dennoch auf seine Weise den biblischen Mythos zu konsolidieren suchte. Er stellte zunächst Mann und Frau gleich und unter das Gesetz. Zwei Jahre vor der »Lucinde« war seine »Metaphysik der Sitten« erschienen. Die Ehe wird definiert als »die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften«. Da sich nun damit der Mensch »zur Sache« macht, der große Kant aber (lange vor Marx) gerade in dieser Verdinglichung des Menschen die Verletzung seiner Würde sah, beruhigte er sich so: »Nur unter der einzigen Bedingung ist dieses möglich, daß, indem die eine Person von der andern gleich als Sache erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe; denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her.« Wie schwach aber dieser Schutz der menschlichen Würde war, ging vor allem aus einer Konsequenz dieser Konstruktion klar hervor: wenn »eines der Eheleute« sich »verlaufen« sollte, ist »das andere« berechtigt, »es jederzeit und unweigerlich als eine Sache in seine Gewalt zurückzubringen«. So wich der edelste Sänger der Autonomie des Menschen von seinem heiligsten Prinzip ab, wo die Ordnung des Geschlechtlichen auf dem Spiel stand. Schlegel meinte, diesem Kant sei »die Jurisprudenz auf die inneren Triebe geschlagen«. Die Paragraphen waren doch nur das Material, aus dem der Wall um die Sexualität erbaut war.
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Um seinetwillen erfand Kant die Sklavenschaft zu zweit, gemildert dadurch, daß jeder zugleich Herr und Sklave ist. Und dann fand er auch noch einen Weg, die Rippen-Herkunft Evas auf eine nicht mehr so plastische Weise zu wiederholen: »Wenn das Gesetz von dem Manne im Verhältnis auf das Weib sagt: er soll dein Herr (er der befehlende, sie der gehorchende Teil) sein, so kann dieses nicht als der natürlichen Gleichheit eines Menschenpaares widerstreitend angesehen werden, wenn dieser Herrschaft nur die natürliche Überlegenheit des Vermögens des Mannes über das weibliche in Bewirkung des gemeinschaftlichen Interesses des Hauswesens und des darauf gegründeten Rechts zum Befehl zu Grunde liegt.« Soviel mußte Kant aufwenden zur Stütze der uralten Ordnung. Ja, er war so strikt mit der Einkapselung der sexuellen Lust in eine ganz und gar zuverlässige Gesetz-Ordnung, daß er sich zu dem phantastischen Satz verstieg: »Das unehelich auf die Welt gekommene Kind ist außer dem Gesetz (denn das heißt Ehe), mithin auch außer dem Schutz desselben geboren. Es ist in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen (wie verbotene Ware), so daß diese seine Existenz (weil es billig auf diese Art nicht hätte existieren sollen), mithin auch seine Vernichtung ignorieren kann.« Der Mord eines unehelichen Kindes ist nicht so schlimm wie sexuelle Lust außerhalb des Gesetzes, außerhalb der Sperr-Zone »Vernunft«. Man muß also ermessen, welche mächtige Tradition in Schlegels »schönster Situation« zwischen Julius und seiner Geliebten Lucinde außer Kraft gesetzt wurde, um die Aufregung durch die Zeiten zu verstehen. Daß die Frau aus der Rippe des Manns verfertigt war, daß die hingebende Frau mit dem werbenden Mann einen Vertrag auf Lebenszeit machte, zum Gebrauch der »gegenseitigen Geschlechtseigenschaften« – und mit der selbstverständlichen Stipulation, daß ihr die Rolle des Stillehaltens zugewiesen ist: diese Vorstellung ist in der »schönsten Situation« zerstört worden. Am Ende des Neunzehnten Jahrhunderts, im Zeitalter der Frauen-Emanzipa-
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tion, lieferte Otto Weininger mit seiner Theorie von der Bisexualität des Menschen die Physiologie zur »Lucinde« nach. Im tiefsten war die Sünde der Romantiker ihre Phantasie, die das Gewohnte durch Möglichkeiten erschütterte. Das französische Achtzehnte Jahrhundert brachte einen Überfluß an Entwürfen ungeahnter Metamorphosen der Sexualität. La Bruyère schrieb: »Ich habe den Wunsch gehört, man möchte von Dreizehn bis Zweiundzwanzig ein Mädchen, ein sehr schönes Mädchen sein und dann ein Mann werden.« Friedrich Schlegel, ein Vorgänger der experimentierenden Phantasie Kierkegaards, malte sich aus, »wie diese oder jene interessante Frau in diesem oder jenem interessanten Verhältnisse wohl sein und sich verhalten dürfte«. Und meditierte über die Möglichkeit »einer dauernden Umarmung«. Die Empörungen von damals verlieren ihre Komik heute, wenn man hinter den unbedeutend gewordenen Anlässen hervorzieht, was getroffen war. Da ist denn noch das seltsamste Anstoßnehmen: an der Szene einer zweijährigen Wilhelmine. Woher kam der Aufschrei, den sie hervorrief? Das Baby, Abbild einer Nichte des Dichters, findet viel Vergnügen daran, »auf dem Rücken liegend, mit den Beinchen in die Höhe zu gestikulieren, unbekümmert um ihren Rock«. Diese Idylle wäre kaum ein Grund zur Aufregung gewesen, hätte der Dichter nicht in dem Kind eine kleine Frau gesehen – und den Schluß gezogen: »was dem zartesten weiblichen Wesen« erlaubt ist, muß doch erst recht einem ausgewachsenen Mann wie Friedrich Schlegel gestattet sein. Es war ein Einbruch ins Paradies der Kinder, daß man, wenn auch nur in der Phantasie, in ihm ansiedelte: den entblößten Tunichtgut Schlegel, »auf dem Rücken liegend, mit den Beinchen in die Höhe«. Da war Goethe moralisch von soliderem Kaliber. Er gebrauchte fast dasselbe Bild. Zwar hatte auch er wenige Jahre zuvor gedichtet:
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Kehre nicht, liebliches Kind, die Beinchen hinauf zu dem Himmel; Jupiter sieht dich, der Schalk, und Ganymed ist besorgt.
Aber dann bestätigte er sofort dem bereits verängstigten Leser mit einer Replik, daß im Paradies der Kinder alles paradiesisch ist: Wende die Füßchen zum Himmel nur ohne Sorgen! Wir strecken Arme betend empor; aber nicht schuldlos, wie du.
So löschte er aus, mit frommer Hand, die unschickliche Verbindung zwischen einer Kleinen und dem himmlischen Herrn, der einen wenig unschuldigen Blick in sie hineinwerfen könnte. Goethe forderte nicht Jupiter zu einem Goldregen auf, Schlegel aber seine Freundin, es der Wilhelmine gleichzutun. Es gibt eine Macht, welche die sexuelle Lust sprachlich sterilisiert: die Metapher, die sie einhüllt; ihr höherer Glanz soll das Niedere wegblenden. Auch Schlegel glänzte bisweilen. Die Bitte des Liebhabers, seine Lippen »in dem Schnee ihres Busens kühlen« zu dürfen, ruft beim Leser wohl nicht mehr hervor als vielleicht die Angst, der Liebhaber könne sich eine Erkältung von mittlerem Umfang holen. Die Provokationen aber lagen dort, wo der Liebe nicht nur ihr Kleid, auch noch ihre sprachliche Hülle genommen wurde und mit ihr die religiöse und moralische Gloriole. Schlegel entblößte, indem er die Lust nicht mehr kulturell kostümierte: »Ich genoß nicht bloß, sondern ich fühlte und genoß auch den Genuß.« In demselben Jahr, in dem Fichte in seiner Schrift »Die Bestimmung des Menschen« den Leser »kräftig von der Sinnlichkeit zur Übersinnlichkeit fortreißen« wollte, jubilierte Schlegel das Evangelium dieser Sinnlichkeit. Es ist immer die Melodie der Lust, die den Sturm der Entrüstung entfacht; und gleich danach der Abbau der Vermummungen. Deshalb waren obszöner als die herzlich abstrakten BettSzenen die gar nicht abstrakten Sätze gegen den sexuellen Gottesdienst, wie ihn (zum Beispiel) Pauline und ihr Liebhaber zelebrierten. »Ich glaube«, heißt es, »die ließen die
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Betglocken anziehn, wenn sie sich umarmen, falls es nur schicklich wäre. Oh! Es ist wahr, meine Freundin, der Mensch ist von Natur eine ernsthafte Bestie.« Dieser tierische Ernst, der wirklich »tierisch« ist im Gegensatz zu der nur sogenannt tierischen Sexualität, die am wenigsten tierisch ist, wenn sie so genannt wird, ist in den klingenden Ätherisierungen der Lust zu zweit karikiert worden. Schlegel wirkte deshalb so unzüchtig, weil er den Glorien-Schein um das Unheilige zerzupfte. Zu diesem Zweck empfahl er »Zweideutigkeiten«; »nur sind sie so selten zweideutig, und wenn sie es nicht sind und nur einen Sinn zulassen, das ist eben nicht unsittlich, aber zudringlich und platt«. Er war nicht auf Latrinen-Kritzeleien aus, sondern auf die Entmythologisierung des mächtigen Gottes. Schlegel erlöste Eros nicht nur aus dem Gefängnis, das die Feinde der Sinnlichkeit bewachten, auch aus dem tieferen Verlies, in das ihn die pathetisch-seriösen Jünger gesperrt hatten – und predigte den »Scherz mit der Liebe«. Und prophezeite: »Wenn man nicht scherzt und tändelt mit den Elementen der Leidenschaft, so ballt sie sich in dicke Massen und verfinstert sich.« Solch eine Verfinsterung trat ein, als das Bett zur Brutstätte reinrassiger Arier wurde, zum Zweck totalen Mordens in die Welt gesetzt. Da gab es keine Zweideutigkeit mehr; es war ein eindeutig-totaler Orgasmus, zum höheren Ruhm des auserwählten Volks. Schlegel aber rühmte Witz, Zynismus, Frechheit noch in einer Sphäre, wo immer nur Ekel oder Erhebung zu den Sternen erlaubt war. Als »des Witzes lieber Sohn« war er schon eh verdächtig unter einem Volk, welches Witz immer für unanständig hielt; Goethe und Schiller, wie groß sie auch waren – am wenigsten waren sie witzig. Und Heine, des Witzes allerliebster Sohn, wäre sogar als Jude akzeptiert worden, wäre er nur ohne Witz gewesen. Schlegel war nicht nur witzig, auch noch paradox. Er setzte dies sprachliche Mittel polemisch ein und begann damit eine
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Schock-Therapie mit Hilfe des überrumpelnden Worts; Nietzsche brachte es schließlich zur Meisterschaft. Die AlarmWendungen der »Lucinde« sind mißverständlich – und können nützlich sein; der solidere Leser stockt, stutzt, denkt: das ist doch nicht möglich ... endlich gehen ihm die Augen auf. Wieviel Leser verstanden die »Lucinde«? Und die, welche sie verstanden, haßten sie nur noch mehr? Es sieht so aus, als sollte der zweite, nur geplante Teil des Werks die irdische Lust noch stärker pointieren. Eine Notiz heißt: »Der Scherz müßte sein, die Geliebte zu verlosen.« Ein nicht geschriebenes Kapitel hat die Überschrift: »Fest des ausgelassensten Witzes«. Auch waren »leichtfertige weibliche Gespräche« vorgesehen. Die intellektuelle Obszönität ruft immer mehr Entrüstung hervor als die standardisierte, praktizierte Unzucht. Sie hat nur eine Gegenwart. Die »Lucinde« aber hatte eine Zukunft – bis in unsere Gegenwart. Heute heißt sie, in einer veränderten Welt und unveränderten Lust-Feindschaft: »Lady Chatterley« und »Wendekreis des Krebses«. Von den Dichtern des Barock bis zu Goethe, vom Anfang seines Jahrhunderts bis zum Ende, bis zu den »Venezianischen Epigrammen« und der »Lucinde«, wurde Amor immer amouröser, immer unvitaler. Am Ende erschien die brave »Lucinde« und der anarchische Sexus. Die Deutsch-Barocken waren schwülstig gewesen, plump, gedrechselt; hatten sich aber nicht gefürchtet vor dem kräftigen Wort: »die Schoß« (weiblich) wurde eifrig bedichtet. Die »Pietzchen« (Brüste), die »Purpurmuschel«, die »Geilheit«, die »Brunst«, der »Kitzel« und das »zuckersüße Loch« waren Teile des poetischen Vokabulars. Christian Hofmann von Hofmannswaldau bedichtete leichthin ein Thema, das man in diesem Detail nicht einmal dem streng bebrillten Arzt Sigmund Freud gestattet hätte. Mutter Venus gibt dem Sohn Cupido eine Liebes-Lektion:
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Als die Venus neulich säße In dem Bade nackt und bloß Und Cupido auf dem Schoß Von dem Liebeszucker äße, Zeigte sie dem kleinen Knaben Alles was die Frauen haben. Und nach einem sehr informatorischen Anschauungs-Unterricht heißt es: Unterdessen ließ sie spielen Seine Hand auf ihrer Brust, Denn sie merkte, daß er Lust Hatte, weiter nachzufühlen, Bis ihr endlich dieser Kleine Kam an ihre zarten Beine. »Herrn von Hofmannswaldaus und anderer Deutschen auserlesene und bisher ungedruckte Gedichte, erschienen in sieben Bänden zwischen 1695 und 1727«, waren ohne Poesie – vielleicht, weil ihre Lust ebenso pedantisch war wie ihr Vers. Da heißt es: Ich wollte meine Hand auf ihre Brüste strecken (was für ein Bild ist in diesem »strecken« mißglückt?) Es tat ein naßer Kuß ihr meine Geilheit kund (deutlich – und wenig verführerisch) Als Lesbie rief: ist dein Verstand gesund, Er führe keine Brunst in meine keuschen Hecken. Ein Schulmeister als heimlicher Verkäufer von Nackt-Fotografien. Es gelang diesen reimenden Pedanten nur selten, auch nur in die Nähe des Gottes Pan zu kommen; ihr unanständiges Gedicht war eine pflichtgemäße Liederlichkeit, die in dem Wort »Liederlichkeit« bereits weit überschätzt ist. 83
Selten gelang auch einmal etwas, wie dies »An Lisette«: Ich weiß, daß dir durch Mark und Bein Das süße Wesen rinnet ein, Und du kannst nicht mehr stille liegen, Du lehrst durch deiner Lenden Werk Und den gewölbten Hinterberg, Daß ich mich tiefer soll verfügen. In dem »Verfügen« ist schon der echte Realismus einer viel späteren Zeit. Aber die gereimten Zoten herrschen vor. Da dachte sich Daniel Casper von Lohenstein aus: Mein Herz will das deine schauen, Drum such ich es da, wo du offen bist. Auch die Fleiß-Aufgabe mit dem Thema: Nur einmal bringt das ganze Jahr uns Nelken, Dein Blumenbusch bringt's monatlich, adressiert »An Melinde«, wird auf Altherrn Abend-Weise gereimt: Man geht, wie jedermann bekannt, Durchs Rote Meer in das gelobte Land. Ein Gedicht wie »Der schlimme Traum« endet recht traumlos: Aber ach! wenn ich erwachet, Sinket mir mein steifer Mut. So steifleinern waren diese lustfreisten Erotica; abstrakt wie Lohensteins »Laß meine Hand mit deinem Reichtum scherzen«; und, als handle es sich um eine Sommerfrische, will hier ein Ungenannter »entzückt das schöne Tal beziehn«. Der Charakter dieser umständlichen Unanständigkeit: das Danebengreifen, weil weder Seligkeit noch Sinnlichkeit die Feder lenkt, ist vollendet da in einem Gedicht Christian Fr. Hunolds: »Die Schoß«. Sie stellt sich mit einem »Ich bin« vor. Der Steckbrief, den sie von sich selbst gibt, ist ellenlang. Was ist sie? Zum Beispiel »ein spiegelglattes Eis, wo auch der 84
Riese fällt«. Welch eine abkühlende »Schoß«. Auch ist sie »der Hafen, den vergnügt die Zuckerflott erreicht« – das falscheste aller Bilder; denn (erstens) ist sie kein Hafen, sondern ein Sturm-Zentrum und (zweitens) ist vergnügt reichlich idyllisch für die Stätte der schärfsten Lust und (drittens) ist noch nie eine Flotte in diesem »Hafen« gelandet, immer nur ein einzelner Mast. Hier ist keine Scheu vor der Lust – nur fehlt sie selbst, die Heldin; und vielleicht liegt da die Erklärung dafür, daß diese Offenherzigkeiten erlaubt wurden. Sie verschwanden mehr und mehr, je älter das Jahrhundert wurde; es war kein Saft in diesen saftigen Versen ... und doch war, was folgte, noch saftloser. Was dann kam: dies kokette, niedliche, tändelnde, sich zierende, süßliche Hüpfen und Springen und Kosen von Schäfern und Sirenen, der Phillis und Chloe, war noch weniger voll Lust als die Plumpheiten der Vorfahren, die immerhin noch vitale Assoziationen hervorriefen. »Die Schoß« wurde zur Spieldose, Madame Venus' kesser Hosenmatz Cupido ein gebügelter Amor, kurz nach der Konfirmation. Er sagte immer dasselbe Verschen auf: Artig weiß er zu liebkosen: Seine Lippen duften Rosen. In der Liebes-Lyrik der Ahnen wurde immer noch an ganz unmythologische Leiber erinnert – mit Worten, deren SlangCharakter auf eine Sphäre hinwies, die nicht aus Schönheitspflästerchen bestand. Die Chiffren der Rokoko-Ziselierer erweckten den Eindruck, daß hinter den duftigen Gewändern ihrer Figuren nichts als blauer Äther war. Wieland, dem König dieser Schar, der den Ruhm genoß, fast schon Horaz zu sein, fiel bei dem »verführerischen Morgenanzug« einer Dame nichts ein als ein Vergleich mit den »Grazien«; sein Agathon konnte an keine Bekleidung denken, die auf eine wohlanständigere Art das Mittel »zwischen Kleidung und Nacktheit hielte«.
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Wieland, als obszön verschrien, entrüstete sich über die Petronius-Übersetzung seines großen Jüngers, des Dichters Heinse, der noch die Sprache kräftigerer Zeiten schrieb: »Was sagen Sie« (heißt es in einem Wieland-Brief an Gleim) »zu dem abscheulichen Frevel, den Heinse durch seinen Enkolp wider unsere Göttin Kalokagathia und ihre Grazien begangen hat? Hätte der Unglückliche nur das von Petron übersetzt, was ehrliche Leute lesen können.« Und der entrüstete, das Obszöne repräsentierende Wieland fragte, ob der Sünder nach Italien gegangen sei, um den Vatikanischen Ap.ollo mit profanen Augen zu verunreinigen. Heinses Antwort lautete: Petronius schrieb für den gesunden Geist, Nicht für verfaulte Herz und Nieren. Innerhalb der deutschen Literatur-Geschichte (und nicht nur dort) siegte Wieland; der Literatur-Historiker Gervinus meinte, daß Heinses gewagte Idylle »Die Kirschen« noch in der Geschichte der Borgias empören würde. Die Leser der »Lucinde« hatten in der Schule des Rokoko lesen gelernt. In einem »Almanach der Gracien auf das Jahr 1776 von Cupido, Cythere (Hamburg), bei Ganymedes erschienen«, gibt es eine Kindergarten-Lektion unter dem Arbeits-Titel »Der Kuß«. Die Anweisung lautet: man möge nicht zu schnell küssen, es sei denn, man ist auf dem Sprung. Hier ist nichts mehr von der linkischen Holprigkeit der Hofmannswaldau und Lohenstein. Es reimelt anheimelnd. Hier ist nicht mehr die wilde Jagd nach Bildern – und das falsche wird gepackt. Wieland, der Vollendetste, dichtete: Nun hielt ich mich nicht mehr, die Wonne war zu groß! Wer wäre nicht in vollem Überwallen Der Dankbarkeit an ihre Brust gefallen? Wer hätte nicht in süßer Trunkenheit Solch einen Mund mit Küssen überschneit. Hier sind die glühendsten Eruptionen »überschneit« von Redensarten, die nur eins verraten: es gibt keine »Schoß«, es
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gibt keine »Brunst«, es gibt nicht »das zuckersüße Loch« – es gibt nur noch »Das Vergnügen«: Das Vergnügen folget nur Sanften Trieben der Natur. Freunde, wißt ihr, wo ichs fand? Wo ich es mit Blumen band? Zwischen Tugend und Verstand. Und dann kam Goethe, der Poet, der dem Himmel und der Erde ihre Worte gab – und vor dem »Iste«, der Schoß und ihrem ganzen Reich zugeknöpft blieb wie nur irgendeiner der steifen Tändler. Ein Jahrzehnt vor der »Lucinde« waren die Sammlungen »Römische Elegien« und »Venezianische Epigramme« erschienen; sie haben, bis zu diesem Tage, das Renommee, Goethes, des sogenannten Heiden, Sinnlichkeit auf poetisch zu verraten. Wie körperlos ist sein Liebes-Gott Amor! Er sieht so aus: »Amor bleibt ein Schalk, und wer ihm vertraut, ist betrogen.« Von diesem Schalk aus gesehen ist die »Lucinde« wirklich eine einzige Ausschweifung. Goethe war vor den Weimarer »Muhmen und Tanten« nach Italien ausgerückt. Stolz berichtete er: daß er, »der nordische Barbar«, »römischen Busen und Leib beherrscht«. Aber die Geliebte glaube um Gottes willen nicht, daß er ein Spießer sei; er denke »nicht niedrig« von ihr, weil sie sich so schnell »ergeben« habe. Weimaranischer ging es wirklich nicht mehr. Im übrigen sind Elegien und Epigramme heidnisch nur insofern, als der Dichter alle Heiden-Götter und Heiligtümer und auch alles andere aus der Antike stammende Bildungsgut reimt: den Idaeischen Hain und Anchises und Luna und Aurora und Hero nebst Leander und Rhea Silvia und Alexander und Cäsar ... Die Mädchen hingegen, die durch die Hexameter geistern, sind schwerer zu erkennen; zuviel griechische und römische Großkophtas machen sie zur Statisterie. 87
Was man von seinem Umgang mit Schönen hört, ist betrüblich wenig. Der Norde feiert »heimliche Feste« – und »Schweigen ziemt allen Geweihten«. Die Aufgabe der Dichter aber ist ganz im Gegenteil, zu reden. Und tatsächlich überschreitet er bisweilen die Schweige-Grenze und teilt dann mit, daß sie bräunlich sei und kurze Locken habe, die sich um ein zierliches Hälschen ringeln. Auch die Erwähnung ihres Nackens und »der Bewegungen Maß« wird dem Leser gegönnt. Und dann wird der Dichter so indiskret, mitzuteilen: »Lieblich gab sie Umarmung und Kuß bald mir gelehrig zurück«. »Lucinde« erschien nur einige Jahre später und war, gemessen an soviel Korrektheit, eine einzige Lasterhöhle. Goethe wagte sich noch ein vorsichtiges Schrittchen weiter in diese Richtung: Deinen Busen fühlt ich an meinem! Den herrlichen Nacken, Ihn umschlang nun mein Arm; tausendmal küßt ich den Hals; Mir sank über die Schultern dein Haupt; nun knüpften auch deine Lieblichen Arme das Band um den Beglückten herum. Amors Hände fühlt ich: er drückt' uns gewaltig zusammen, Und aus heiterer Luft donnert es dreimal; da floß Häufig die Träne vom Aug' mir herab, du weintest, ich weinte, Und vor Jammer und Glück schien uns die Welt zu vergehn. Das war Deutschlands größter Poet, im Scheitelpunkt seines Lebens. Sexus war in eine Ferne verbannt, daß selbst ein Goethe ihn nicht mehr heranholen konnte. Schrecklich, daß der große Lyriker für ihren und für seinen »Busen« dasselbe Wort gebraucht und ihn so deutlich zur papierensten Metapher macht. Schrecklich, was da die Geliebte für eine Knüpf-Arbeit um seinen Nacken herum vollbringt, als säße sie in der Kemnate an einer frommen Stickerei. Goethe ist nie ein Heide gewesen (nicht im Leben und nicht in der Phantasie), höchstens eine sehr blasse Erinnerung daran, daß es einmal »heroische« Zeiten gab. Dann dichtete er: In der heroischen Zeit, da Götter Göttinnen liebten, folgte Begierde dem Blick, folgte Genuß der Begier. 88
Das war zur Zeit der »Priapeia« gewesen, denen auch Goethe ein paar Epigramme nachgebildet hat; sie ruhen versteckt in einem dreiundfünfzigsten Band und haben mit Recht die Vorstellung von Goethe nicht mitbestimmt: Mentula käme von Mens, der Sch.... ist etwas von hinten, Und nach hinten war mir niemals ein froher Genuß. Knaben lieb ich wohl auch, doch lieber sind mir die Mädchen, Hab ich als Mädchen sie satt, dient sie als Knabe mir noch. Auch Goethe tastet (wie Schlegels Held Julius) »des lieblichen Busens Formen« ab; auch er läßt die Hand »die Hüften hinabgleiten«. Weshalb aber wohl? So erst versteht er besser den Marmor: sieht »mitfühlendem Aug«, fühlt »mitsehender Hand«. Damit ist gerechtfertigt, was er tut; im Dienste der Kultur tut er es. Der Zweck heiligt die Mittel: im römischen Bett erweitert der Rokoko-Troubadour sein Verständnis für bildende Kunst. Von Anarchie kann keine Rede sein: »Unsere Zufriedenheit bringt keine Gefährde für die Welt.« So weit auseinander waren Goethe und sein jüngerer Zeitgenosse Friedrich Schlegel: der eine bildete sich im Bett seiner Dame kunsthistorisch, der andere erfreute sich der »schönen Anarchie«. In Goethes »Episteln«, deren zweite den gefährlichen Büchern gewidmet ist, wird etwas gegen den Stachel der Kindergarten-Kultur gelockt. Goethe brachte den unsterblichen Einwand ins Spiel: Denke dir nur die Töchter im Hause, Die mir der kuppelnde Dichter mit allem Bösen bekannt macht... und antwortete sarkastisch: laß sie schrubben und backen und nähen, dann greifen sie höchstens zum Kochbuch. Vierzehn Jahre Theaterdirektor, wußte er ein bitteres Lied über »die Töchter im Hause« zu singen. Zu Eckermann: »Schiller hatte den guten Gedanken, ein eigenes Haus für die Tragödie zu bauen, auch jede Woche ein Stück bloß für Man89
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ner zu geben.« Wegen der Jungfrauen! »Was tun unsere jungen Mädchen im Theater? Sie gehören gar nicht hinein, sie gehören ins Kloster, und das Theater ist bloß für Männer und Frauen, die mit menschlichen Dingen bekannt sind. Als Moliere schrieb, waren die Mädchen im Kloster, und er hatte auf sie keine Rücksicht zu nehmen.« Goethe nahm Rücksicht; und noch in unseren Jahrzehnten hielt ein bekannter deutscher Literaturhistoriker dem Autor der »Lucinde« Goethes »künstlerische Stilisierung« des Unanständigen als Muster vor. Mit Recht! Goethe wob mit an der Kultur der Wohlanständigkeit. Er glaubte, »Das Tagebuch« des Sechzigjährigen, geschrieben zu Marienbad im Jahre 1810, nicht in sein GesamtWerk aufnehmen zu dürfen. Und doch war es ein Prachtstück – im Siegeszug des Feigenblatts. Der Dichter kehrt in einen Gasthof ein. Ein Mädchen, in das er sich verliebt, ist bereit – aber die kleine Haupt-Person nicht. Traurig denkt der Alte, im Bett zu zweit, zurück an vergangene Zeiten; wenn immer es soweit war: »da regte sich der Iste«. Jetzt aber stöhnt der Sechzigjährige: Verfluchter Knecht, wie unerwecklich liegest du! Und deinen Herrn ums schönste Glück betrügest du. Und dann erweist der Beschimpfte sich doch noch als guter Knecht: Doch Meister Iste hat nun seine Grillen Und läßt sich nicht befehlen und verachten, Auf einmal ist er da, und ganz im stillen Erhebt er sich zu allen seinen Prachten. Und dann kommt noch einmal eine dramatische Wendung. Die Bett-Szene endet nicht nur happy für den stolzen Herrn, auch für die stolze Moral. Der Gedanke an die ferne Geliebte (»sehr viel die Pflicht, unendlich mehr die Liebe«) lassen Iste einschwenken; die Entrüsteten können abrüsten. Man sollte dieses geheime Stück populär machen, zum Zweck moralischer 91
Aufrüstung. Goethe ist ein Vorbild, bis heute. War er christlich? War er heidnisch? Das waren immer die Sorgen junger und altgewordener Doktor-Kandidaten. Noch das riskanteste Werkchen seiner Literatur ist – erbaulich. Goethe wurde von den Zeitgenossen als Priapus und Faun abgebildet. Die Armen hatten nur keinen Vergleich. Im selben Jahr 1790, in welchem die »Venezianischen Epigramme« erschienen (und neun Jahre vor der »Lucinde«), kam ein Büchelchen heraus, das berühmt ist in der Geschichte der Geheim-Literatur: »The Lascivious Hypocrite or the Triumph of Vice, a free translation of ... Tartuffe Libertin«. Auch hier wird (wie in der »Lucinde«) langatmig-philosophisch begonnen. Aber die Botschaft ist direkter: genieße! Die Vorsehung ist auf deiner Seite! Das Buch zeigt unverkennbar den Charakter seiner Gattung: es ist ein Aphrodisiakum aus der Substanz Wort. Schlegel war sowohl zuviel als zuwenig Dichter, um durchzubringen, was in ihm durchwollte. Er kam nicht bis zum Leser, nur bis zum Literatur-Historiker. Er brachte es nur zu einer säkularen Entrüstung seiner gebildeten Landsleute. Schon die Aufnahme im engsten Kreise des »Lucinde«-Dichters war zweifelhaft. Die Mutter schrieb: »Fritz hat sich mir durch seinen Roman als einen gezeigt, der keine Religion und keine guten Grundsätze hat.« Unter den Freunden war dies kleine Ungetüm zunächst einmal die Sensation der Indiskretion. Niemandem war recht wohl. Das Urteil schwankte. Freundschaftliche und sachliche Solidarität wurden unterstrichen – und keiner war glücklich. Diese leise Beklemmung der Avantgarde sagt viel mehr aus über die Sexual-Moral der Zeit als die Entrüstung der andern. Bruder August pries zwar »die hohe Glut der leuchtenden Lucinde«, riet aber vom Druck der »törichten Rhapsodie« auf die schönste Situation ab; töricht war wohl ein avantgardisti-
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scher Ausdruck für obszön. Der siebenundzwanzigjährige Freund Novalis, ein Psychologe hundert Jahre voraus, ein Realist, der im Tagebuch nach dem Tode der fünfzehnjährigen Braut ebenso gewissenhaft den Entschluß eingetragen hatte, ihr nachzusterben, als auch das immer wiederholte »Am Morgen sinnliche Regungen« ... genießt »Lucinde« – und hält sie in beträchtlicher Distanz von sich weg. »Aus Venedig ist Berlin geworden«, schreibt er mit Anspielung auf Goethes Epigramme; es war nicht schmeichelhaft gemeint. Er würdigt ihre Funktion als Reizmittel: »Man verliert sich in einen Schwindel, der aus dem denkenden Menschen einen bloßen Trieb, eine Naturkraft macht, uns in die wollüstige Existenz des Instinkts verwickelt.« Und schwenkt dann in eine Philosophie ab, die er mit den bittersten Feinden des Buchs teilte: »In mir regt sich viel dafür und viel dagegen«; »vielleicht gehört der Sinnenrausch wie die Liebe, wie der Schlaf zum Leben – der edelste Teil ist es nicht.« Novalis wollte lieber wachen. Er hatte die »Hymnen an die Nacht« gedichtet und zog doch den Tag vor. Auch präludierte schon bei ihm die Anklage des Jahrhunderts gegen den autobiographischen Charakter. »Selbst sehr innige Frauen«, schrieb er, »dürften die schöne Athenienserin tadeln, daß sie den Markt zur Brautkammer nähme.« Was sagte »die schöne Athenienserin« selbst, die Haupt-Figur des Buchs und des Klatsches? Dorothea-Lucinde hatte die ersten Kapitel mit Humor gelesen und gemeint: daß die Götterbuben (so nannte Wieland die Schlegels) »aus der Schule schwatzen«. Dann aber fühlte sie sich kompromittiert, litt – und billigte die Indiskretion. Sie war unglücklich, daß »das Innerste so herausgewendet werden soll – was mir so heilig war, so heimlich; jetzt nun allen Neugierigen, allen Hassern preisgegeben«. Sie schied Privat und öffentlich: nicht, weil sie meinte, das Innerste solle als unanständig verhüllt werden, sondern weil sie wußte, daß die Öffentlichkeit, dreckig, das Buch und sein Modell dreckig macht. Sie traute ihren Deutschen nicht zu, daß sie dies Werk lesen können.
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Trotzdem war sie mit der Veröffentlichung einverstanden und argumentierte gegen sich: »Alle diese Schmerzen werden vergehen, mit meinem Leben, und das Leben auch mit, und alles, was vergeht, sollte man nicht so hoch achten, daß man ein Werk unterließ, das Ewig sein wird.« So tauchte die Rechtfertigung für obszön auf, die dann klassisch wurde: das »Ewig« der heiligen Kunst rechtfertigt alles. Mit dem Hinweis auf diese Heiligkeit ist dann immer wieder ein angeklagtes Buch Zensoren entrissen worden; so hat sich bei den Anklägern, den Angeklagten und ihren Verteidigern das Vorurteil festgesetzt: daß mit jedem Verbot nicht mehr auf dem Spiel steht, als daß der Menschheit ein Kunstwerk vorenthalten wird. Diese Interpretation der Kunst-Liebhaber schuf einen der unfruchtbarsten Stellungs-Kämpfe. Karoline, die andere freie Frau des Kreises, war ebenso kleinmütig vor der Obszönität und ebenso fest im Glauben an die Erlösung alles Übels durch die Kunst. Karoline, die ein uneheliches Kind von einem französischen Leutnant hatte, dem Liebhaber einer Nacht, jetzt die Frau August Schlegels ist, den sie bald für Schelling, den dritten Gatten, verlassen wird – schrieb dennoch entrüstet: »Wenn ich seine Geliebte wäre, so hätte es nicht gedruckt werden dürfen«. Sie lehnte »diese schamlose Lüsternheit«, den »Lucindianismus«, ab, fügte allerdings abschwächend hinzu: dies sei keine »Verdammnis«; was Schlegel täte, sei in Ordnung. Weshalb? Auch sie wiederholte unaufhörlich, wie kurz das Leben sei, und daß nichts so wahrhaft existierte wie ein Kunstwerk. So wurden Kunstwerke gerettet – und die Menschen, die sie schufen, die Künstler; und so wurde, nebenbei, der Aberglaube Obszön festgehalten. Friedrich Schlegel nahm »Lucinde« in seine Werke nicht auf; nach dem Urteil seines Bruders: eine Verdammung. Das Ärgernis cm »Lucinde« äußerte sich in den verschiedensten Tonarten, gerichtet gegen diverse Arten von Verbrechen
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– moralische und ästhetische. Doch war wohl die hundertjährige Abscheu vor dem kompositorischen Aufbau nicht selten eine Maske für den Anstoß, den man an dieser »Liederlichkeit« nahm. Es ist schwer zu sagen, wo hier die Unanständigkeit beginnt, die mit obszön bezeichnet wird. Vielleicht schon beim romantischen Enthusiasmus für das »Symfaulenzen«, für den Müßiggang« – bekanntlich aller Laster Anfang. Und war nicht die romantische Maxime: »daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide«, als ästhetische Anarchie eine Parallele zur sexuellen? Und zur staatlichen, wie sie sich im romantischen Grundsatz verriet: die erste Regung aller Sittlichkeit sei »Opposition gegen die positive Gesetzlichkeit«? Man konnte aus dieser Wendung (zum Beispiel) eine Aufforderung zum Mord herauslesen; denn sein Verbot gehört zur positiven Gesetzlichkeit. Die Schock-Therapie mit Hilfe des provozierenden Worts will aufwecken durch scheinbare Verletzung. Die vielen Leser, die nie gelernt haben, zu lesen, werden nur verletzt – und nicht aufgeweckt. Sie sehen nicht klarer, sondern entrüsten sich. Bedeutende Zeitgenossen wendeten sich angeekelt ab. Jean Paul sprach vom »frechen Poetenwinkel in Jena«, Herder über das »Ungezücht der Schlegel und Konsorten«. Wilhelm von Humboldt war gegen die »Schlegelsche Clique, in der viel Roheit sei«. Ein Professor dichtete: Der Pedantismus bat die Phantasie Um einen Kuß. Sie schidtt ihn zu der Sünde. Frech, ohne Kraft umarmt er die, Und sie genas von einem toten Kinde, Genannt Lucinde. Man überbot einander: freche Zoten! sophistische Liederlichkeiten ! Und dann war da Schiller, im Glanz seines Dichter- und Professoren-Ruhms. Er hatte in seiner Jugend ein Gedicht verfaßt: »Der Venuswagen«, das dem Eiferer Savonarola alle Ehre gemacht hätte: 95
Jugend stirbet in der Phryne Schöße, Mit der Keuschheit flieht der Geist davon. »Angejocht an den Hurenwagen«, wurde »die geile Fee« vom Jüngling Schiller angeklagt: mit einem Schwung, der zur Lynch-Justiz aufrief: Ja, so heule – Hetze, kein Erbarmen! Streift ihr keck das seidne Hemdchen auf. Auf den Rücken mit den runden Armen! Frisch! im patschpatsch! mit der Geißel drauf. Und dann akklamierte er das deutsche Volk oder die Menschheit: »Höret an das Protokoll von Schanden«! Zu ihnen gehörte (zum Beispiel) der von der »Schlange« verlockte Fürst: Lose Buben Leihen dienstbar seiner Wollust Flügel Und ermauscheln Kron' und Reich dafür. Woraus hervorgeht, daß die »losen Buben« Juden gewesen sind. Er hatte diesen Schlegel nie gemocht, schon den Zwanzigjährigen einen kalten, unbescheidenen Witzling genannt. »Lucinde« machte dem Schiller den Kopf »taumelig«. In einem Brief an Goethe warf er dem Werk das »Fratzenhafte« vor, das »hohle Geschwätz«. Unter den Ingredienzien des Buchs hob er den frechen französischen Roman ans Licht. Die Romantiker ihrerseits sind »fast von den Stühlen gefallen vor Lachen«, als sie Schillers »Lied von der Glocke« lasen. Man versteht Schillers Entrüstung, wenn man sein Gedicht »Würde der Frauen« neben die Würde der Frau Lucinde setzt: Ehret die Frauen! Sie flechten und weben Himmlische Rosen ins irdische Leben, Flechten der Liebe beglückendes Band, Und in der Grazie züchtigem Schleier Nähren sie wachsam das ewige Feuer Schöner Gefühle mit heiliger Hand. 96
August Wilhelm Schlegel parodierte dies, auf romantisch: Ehret die Frauen! Sie stricken die Strümpfe, Wollig und warm, zu durchwaten die Sümpfe, Flicken zerrissene Pantalons aus; Kochen dem Manne die kräftigen Suppen, Putzen den Kindern die niedlichen Puppen, Halten mit mäßigem Wochengeld haus. Doch der Mann, der tölpelhafte, Find't am Zarten nicht Geschmack. Zum gegorenen Gerstensafte Raucht er immerfort Tabak; Brummt, wie Bären an der Kette, Knufft die Kinder spat und früh; Und dem Weibchen, nachts im Bette, Kehrt er gleich den Rücken zu. Die hausbackene Ehe, die Schiller auf den Flügeln des Gesanges ins Elysium versetzt hatte, holten die Romantiker zurück – zu welchem Ende? Um der wackeren Hausfrau eine Schlacht zu liefern unter dem Banner der neuen Aspasia. Sie repräsentierte die geistige und sexuelle Ebenbürtigkeit, welche Schlegel und die Seinen verkündeten. Die Romantiker waren keine Frauenrechtler. Sie hatten nur ihre Freude an der Selbständigkeit des anderen Geschlechts. Was später »Gleichberechtigung« wurde, zeigte sich in der »Lucinde«: als Vergnügen des Manns an bewegteren Stunden – auch im Bett. Die Entrüstung kam in alarmierenden Übertreibungen heraus. In einem literarischen »Gemälde aus dem itzt lebenden Berlin« hieß es: die Frauen der höheren Stände seien durchgängig käuflich. So sehr ängstigte man sich vor dem Aufruhr, der in »Lucinde« Wort geworden war. Ein führendes Literatur-Blatt erhob Anklage: der Autor fände an plumpen und feurigen Schilderungen der Wollust ein schändliches Wohlgefallen. Da, durch die Jahre hindurch, der Angeklagte von seinen Verteidigern immer wieder gegen dies Wohlgefallen in ästhetische Schutzhaft genommen wurde, muß unter97
strichen werden: daß von grauen Zeiten an bis zu diesem Tag nicht alle Gesänge auf Priapus und den Schoß aus irgendeiner Pflicht heraus verfaßt worden sind – sondern auch aus Wohlgefallen. Schändliches Wohlgefallen aber ist ein Pleonasmus; denn so etwas wurde immer für schändlich gehalten. Schlegels »Lucinde« ist (wie dann »Madame Bovary«) von Wohlgefallen überglänzt. Die Ankläger spürten es. Man versucht es ihnen seit hundertfünfzig Jahren auszureden. Leider gab es unter den Feinden nicht einen, der es an Witz mit Schlegel aufnehmen konnte. Kotzebue versuchte in der Parodie »Hyperboräischer Esel« den Autor der »Lucinde« nur durch Zitate lächerlich zu machen. Aber das erfordert viel Geist; und Kotzebue war kein Karl Kraus. Eine andere antisemitische Schmäh-Schrift, die witzig sein wollte, erschien unter dem Titel »Diogenes Laterne«. Sie fingierte ein billet doux der »geschiedenen Madame Veit, jüdischer Nation, nunmehr halbverehelichter Schlegel« an den berühmten Verfasser »von dem grobepikuräischen Roman Lucinde«, in welchem billet der »verfeinerten Berlinischen Jüdin« ... das also war Dorothea Veit. In demselben Jahr, in dem »Lucinde« erschien, fragte David Friedländer den Probst Teller: wie können die Juden ohne heuchlerisches Bekenntnis in die Gemeinschaft der Christen? Erst vor kurzem hatten französische Kugeln das Frankfurter Getto geöffnet – aber noch nicht recht den deutschen Horizont. Zur Zeit des Skandals schrieb Schlegels Freund, der große Philosoph Fichte, an seine Frau einen Brief, in dem er ihr die Jüdin Dorothea empfahl: »Das Lob einer Jüdin mag aus meinem Mund besonders klingen. Aber diese Frau hat mir den Glauben, daß aus dieser Nation nichts Gutes kommen könne, benommen.« Rasse-Kämpfe haben ihr Zentrum in der Abwehr gegen sexuelle Vermischung. Das wurde mehr als hundert Jahre später besonders deutlich im antisemitisch-hakenkreuzlerischen Kampf gegen Schnitzlers »Reigen«. Die Unanständigkeit der »Lucinde« wurde dadurch potenziert, daß die Anarchie im Schlafzimmer bis zur Vermischung der Rassen ging; das An98
stoßnehmen am Sexuellen und Jüdischen wurde eins. Die »Diogenes Laterne«, die gegen diese Obszönitäten schrieb, kündigte eine Verteidigungs-Schrift von Schlegels Freund, dem Charite-Prediger Schleiermacher, antisemitisch an: der Pastor habe sie »in der literarischen Gesellschaft unter dem lauten Beifall der darin befindlichen Judenweiber vorgelesen«. Der Antisemitismus ist unter anderem auch eine sexuelle Perversion: Lust und Jude werden gleichgesetzt und miteinander verteufelt. Siebzig Jahre später nahm Wilhelm Dilthey Anstoß, Deutschlands größter Historiker zwischen Ranke und Spengler. In seiner klassisch gewordenen Schleiermacher-Biographie schrieb er: »Die reiche Kaufmannschaft bestand vorzugsweise aus Juden.« Und warf den viertausendfünfhundert Juden des damaligen Berlin vor, »ihr Reichtum, ihr übertriebener Aufwand, ihre Neigung, den Ton anzugeben«, hätte das schlechte moralische Klima geschaffen. Auch »das andere Deutschland« starrte auf dies furchtbare Gespenst, das schließlich, zwei Generationen später, in Fleisch und Blut ausgerottet wurde. In dieser blutigen Zeit wurde für die Komik der blutigsten Abirrung die beste Metapher gefunden: deutscher Jägerhund von jüdischem Baby gebissen. Der große, verehrte Wilhelm Dilthey war ein Ahnherr dieser Entdeckung. Damals also, als die viertausendfünfhundert Juden Berlin unmoralisch regierten, schrieb die verfeinerte Berliner Jüdin, in der deutschen Hetzschrift »Diogenes Laterne« an ihren Liebhaber: »Teurer, auch mitten im Unmuth geliebtester Hellene meines Herzens! Kein leichtes Nebelgewölk hat die Erscheinung deines Romans auf meiner Stirne verbreitet: wie Juno möcht' ich zürnen, wie Ajax möcht' ich rasen; wenn ich bedenke, wie schnöde du, in diesem Werk deines göttlichen Genies, unser beyder Blößen vor den schauenden Augen des ehrsamen teutschen Lesepublikums aufgedeckt! Und wahr-
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lich! kein Kritiker wird uns, wie Gott der Herr dem Adam und der Eva, Röcke von Fellen madien, um unsere Blößen zu bedecken. Ists doch, als wenn du uns beyde, die schönsten Augenblicke des göttlichen Beyschlafs feyernd, und in dem Allerheiligsten der Religion der Liebe, der ganzen Welt, mit Rubensscher Grellheit und Wahrheit des Pinsels, hast vor Augen mahlen wollen. Wahr ist's! Du kennst die geheimsten Falten meines Koischen Gewandes, zu teutsch, Hemde genannt: ich bin, in so manchen holden Stunden, deine Lendennackte Spartanerin. Aber warum dies alles dem Publikum sagen und mahlen?« Und sie fährt fort: »Freue dich meiner geheimsten Geheimnisse: aber schreibe davon nichts ins Publikum.« Im selben Jahr 1800 erschienen »Drey Briefe an ein Berliner Freudenmädchen über die Lucinde von Schlegel – ein fortlaufender physischer Kommentar zu dieser Metaphysik des Beyschlafs«. So entrüstete sich deutscher Humor. Auch hier kam also ein Argument aller Anti-Lucinde-Argumente durch: die Indiskretion. Weshalb wirkt ein Roman besonders skandalös, wenn der Leser in den unanständigen Stellen auch noch die Aufdeckung einer unzüchtigen Wirklichkeit sehen muß? Solange Dichtung »nur« Phantasie, ist unanständige Dichtung »nur« phantasierte Unanständigkeit; die phantasierte Sünde wiegt aber, wie die meisten meinen, nicht so schwer wie die reale. Schlegel aber evozierte ein bestimmtes Schlafzimmer in einer bestimmten Straße einer bestimmten Stadt. Das ist Obszönität in dritter Potenz: die erste ist das heimliche Tun, die zweite die öffentliche Phantasie, die dritte die öffentliche Abbildung des heimlichen Tuns. Die Phantasie ist immer noch zu retten als Nur-Phantasie: als Kunst, als Sublimation. Der autobiographisch-unanständige Roman ist eine nicht mehr zu rettende Unanständigkeit; deshalb wurde »Lucinde« immer als Ausbund an Schamlosigkeit empfunden – und später »Der Wendekreis des Krebses«. Der Schlüssel-Roman, dessen Leser den Schlüssel haben, zwingt: Figuren, Worte und Handlungen auf Bekanntes zu beziehen. Die Unflätigen sind nicht in jene Ferne gerückt,
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von der nichts unmittelbar zu befürchten ist; sie sind Nachbarn und können jeden Anfälligen infizieren. Zwar wird vom Körper der Lucinde nicht viel mehr gezeigt als jeder Zeitgenosse sehen konnte, der sie im Reisekostüm auf irgendeiner Post-Station traf. Aber die Phantasie ist angeregt, sich gerade diese Frau im Bett vorzustellen – und außerdem noch aktiv; und aktiv waren nur Dirnen. Außerdem wußte man auch, was der Roman nicht erwähnt, der Leser aber hinzutun konnte: daß die Geliebte Schlegels eine verheiratete Frau war. Und es ließ, ein Jahrhundert hindurch, die Entrüstung nicht nach. Es entrüstete sich, im Jahre 1870, Rudolf Haym, der bekannte Historiker der »Romantischen Schule«, über die »rücksichtslose Ausstellung« des »roh Unmittelbaren«; er entrüstete sich allerdings nicht über jenes Roh-Unmittelbare, das damals Burckhardt und Nietzsche abstieß: der DeutschFranzösische Krieg. Es entrüstete sich, im selben kriegerischen Jahre 1870: der Philosoph Wilhelm Dilthey über »unsäglich Widriges«. »Die herbsten Urteile« gegen die »schamlose Sinnlichkeit der Lucinde« seien »matt und beinahe gutmütig«. Und er meinte, 1870: »Der Kern des deutschen Lebens war doch so gesund, daß nur Widerwillen und Lachen dem Angriff« Friedrich Schlegels antwortete. Man kann also so weltweit sein in seinem Wissen, so fähig, sich einzufühlen in ferne historische Zeiten und Räume ... und dennoch, eng gebannt in dem muffig-provinziellsten Kral, sich entrüsten. Daß dieser große Gelehrte in »Lucinde« »den Schlamm des Gemeinen« sah, erklärt auch etwas, was angeblich nicht zu erklären ist: wie 1933 kam, was gekommen ist. Das eine Deutschland und »das andere« hatten auch gemeinsame Wurzeln. Auch im Zwanzigsten Jahrhundert lebte diese Entrüstung weiter. Es entrüstete sich, im Jahre 1904, ein Doktorand in seiner Arbeit »Erläuterungen zu Friedrich Schlegels Lucinde« – und bewies, daß das Anstoßnehmen auch auf dem Weg des Abschreibens fortgepflanzt werden kann. Es entrüstete
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sich, 1908, Brockhaus' Konversations-Lexikon über das »allseitig scharf verurteilte Werk«. Noch im Jahrzehnt nach dem ersten Weltkrieg schrieb wiederum eine Leuchte der deutschen Literaturwissenschaft, Oskar Walzel, über diese unsterbliche Gefahr: sie »mag jeden abschrecken, der für solche Stoffe die künstlerische Stilisierung der ›Römischen Elegien‹ Goethes wünscht.« Und während der Weimarer Republik hieß es, über den bekanntesten Weimaraner: »Die Frage, ob Charlotte von Stein sich vorübergehend ihm ganz geschenkt habe, ist von wenig Belang und sie zu stellen, undelikat.« Während man die Rechnungen für Goethes schmutzige Wäsche eifrig sammelte. Diese gelehrten Herren, soweit sie keine Mönche waren oder in klösterlicher Ehe lebten, werden nicht sagen können, daß sich im Schlafzimmer der Frau Lucinde Unerhörtes ereignet habe. Was also reizte sie zu derselben Wut, der schon die UrGroßväter, die Zeitgenossen von 1799, zum Opfer gefallen waren? Gibt es ein traditionelles Ärgernis? In welcher Tradition wuchsen die repräsentativen deutschen Gelehrten heran? In einem »Reskript des Churf. Hannoverschen UniversitätsCuratoriums« an den Prorektor der Universität Göttingen vom 26. September 1800 stand: »Unsere freundlichen Dienste zuvor, Ehrwürdig-Hochgelahrter, auch Ehrenwert-Hochgelahrter, insbesondere vielgünstiger, auch günstig guter Freund! Wir vernehmen von mehreren Seiten, daß der Professor August Wilhelm Schlegel aus Jena mit seiner Frau, der vormaligen verwitweten Böhmer, geborenen Michaelis, sich dort einfinden wird.« Falls sich die Frau Professorin länger als ein paar Tage aufhalten will, so ist »ihren Anverwandten und nötigenfalls ihr selbst zu eröffnen, daß sie sich zu entfernen habe«. Ausdrücklich wurde bemerkt, daß diese Verfügung nur die Frau Professorin betrifft. Ihrem Ehemann ist gleich anderen Gelehrten der Aufenthalt erlaubt. Dabei war Karoline nicht einmal Jüdin, nur zum zweiten Mal verheiratet und mit einem unehelichen Kind behaftet.
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Das war Nummer Eins. Nummer Zwei: »Sollte aber der Bruder des Professors, der durch seine sittenverderblichen Schriften berüchtigte Friedrich Schlegel sich dort einfinden, um sich einige Zeit daselbst aufzuhalten, so ist selbigem gleichfalls nicht zu erlauben, sondern ihm die Bedeutung zu tun, daß er Göttingen zu verlassen habe.« Ist das ein Dokument aus der Geschichte des einen oder des anderen Deutschland? Kultur und Unkultur jedes Landes haben auch gemeinsame Wurzeln. Und ist jenes Reskript nicht nur seinem Kostüm nach von 1800? Der große Fürsprecher der »Lucinde«, ein tief zu verehrender Mann, ein bedeutender Denker, nie wieder erreicht im Niveau seines Plädoyers für eine angeklagte Obszönität, der Philosoph Schleiermacher ... war dennoch ein Vorfahr des M. Senard, der Flauberts »Madame Bovary« verteidigte, ein Vorfahr des Rechtsanwalts Heine, der Schnitzlers »Reigen« verteidigte, ein Vorfahr vieler ausgezeichneter Männer, die wahrscheinlich glaubten, der geschmähten sexuellen Lust das Odium zu nehmen ... und doch am Gewand Lust-feindlicher Respektabilität woben. Diese Skizze einer Geschichte der Entrüstung ist, das soll immer noch einmal wiederholt werden, nicht darauf aus, noch einmal die Gestrigen als gestrig hinzustellen. Wenn es so einfach wäre: dort stehen die Unbeweglichen, Muffigen, Heuchlerischen – auf der andern Seite aber die, welche in die Zukunft leiten, die Fortschrittlichen, Freiheitlichen, GeradeGewachsenen! Es ist nicht so einfach! Denn es kommt nicht darauf an: daß man ein als obszön Angeklagtes in Schutz nimmt – sondern: wie. Unserer Untersuchung letzter Schluß wird sein: das Gespenst Obszön war unter den Verteidigern nicht weniger lebendig als unter den Anklägern. Und da dies kaum bemerkt wurde, haben die Kämpfer gegen diese Entrüstung sie besser konserviert als die, welche sich sichtbarer entrüsteten. Schleiermachers vorzügliches kleines Werk »Ver-
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traute Briefe über die Lucinde« steht am Beginn der Zweideutigkeit. Es ging los mit einer scharfen Attacke gegen die »Lucinde«Feinde, die das »Berlinische Archiv der Zeit und ihres Geschmacks« anonym veröffentlichte. Hier wurde (ein wenig übertrieben) diese Dame, welcher doch nicht einmal der Prozeß gemacht worden war (nicht vom Staat und nicht von der Kirche), verglichen mit jenen Unglückseligen, die einst als Praktikanten der Schwarzen Kunst verfolgt wurden. Jene Anklagen würden aus der Bosheit stammen, wenn das Urteil auch von frommer Einfalt gefällt würde. Die Verleumder hätten das Buch nicht gelesen – sondern vorgezogen, es unter gottseligen Manieren zu verbrennen. Derselbe Anonymus, der einunddreißigjährige Geistliche Schleiermacher, wurde ausführlicher in der Schrift »Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde«. Vor zwei Jahren war Schlegel, fünfundzwanzig Jahre alt, nach Berlin gekommen: ein aufgehender Stern unter den Jüngsten. Schleiermacher war völlig gewonnen. Bald wohnten sie zusammen und genossen die Nähe; und waren sie einmal getrennt, so schrieben sie einander, im Stil dieses Kreises, »wie zärtliche Eheleute«. Die Romantiker entdeckten die Erlösung durch Freundschaft. Der junge Schlegel, schlank, blasses Gesicht unter sehr dunklem, kurz geschnitten gepudertem Haar, muß in Ruhe sehr phlegmatisch gewirkt haben – und eminent expansiv gewesen sein, wenn er sich entfaltete; voller Antipathien und heftiger Neigungen, argwöhnisch in der Art von Kindern, irritabel bis zur Komik. Als seine Schwägerin Karoline meinte, seine Fragmente seien zu lang, schrieb er dem Bruder: das sei eine der Bemerkungen, auf die »einem die Antwort in der Kehle stecken bleibt«. Dem Freund Novalis war er darin verwandt, daß die raffinierten, Pythia-artigen Sentenzen aus einem naiven, frohen, kindlichen Gemüt kamen. Nichts charakterisiert Schleiermacher besser, als was er am angebeteten Freund vermißte: das zarte Gefühl und den
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freien Sinn für die lieblichen Kleinigkeiten des Lebens. Das Sanfte fesselte Schlegel nicht. Er hielt für schwach, was nicht feurig schien; er hielt den milden, undramatischen Schleiermacher für schwach. Doch war auch der Dramatische vom Sanften beeindruckt: »Sein ganzes Wesen ist moralisch.« Das ist zu übersetzen: er ist gut ohne Anstrengung, ohne PflichtKomplex, ohne die Möglichkeit, anders zu sein. Weshalb wurde der moralische, nicht sehr vitale Schleiermacher zum klassischen Verteidiger der klassischen deutschen Unanständigkeit? Es ging in diesem Kampf auch um ihn. Immer wieder wird auf diesen Seiten sichtbar werden, wie eng Schutz der Orthodoxie in Religion und Sexualität zusammenhängen. Im selben Jahr wie die »Lucinde« waren des jungen Pastors »Reden über die Religion« erschienen. Und wie er hier gegen die Tempelwächter schrieb, welche die Hirngespinste der Abergläubischen festigen, so schrieb er ein Jahr später in seinem Plädoyer für Schlegel gegen die Moral-Wächter, welche schlechte Ehen für heilig halten. Die religiösen und sexuellen Dogmen zerfielen im gleichen Kreis zu gleicher Zeit. Schleiermacher gehörte zu jenen leisen Umstürzlern, welche die Gehäuse, gewoben aus Gesetzen und traditionellen Anständigkeiten, unter frommen Worten frommen Herzens schmerzlos einreißen. Die Religion war ihm geblieben, »als Gott und Unsterblichkeit dem zweifelnden Auge verschwanden«. Seine Religion wurde der religiöse Atheismus der nachkirchlichen Zeit: »Religion ist Sinn und Geschmack für das Unendliche.« Nackter gesagt: er reduzierte das Christentum auf Religiosität – und sie auf das Gefühl der »schlechthinnigen Abhängigkeit«. Das war schon die maskierte Gottlosigkeit des Zwanzigsten Jahrhunderts; keine Statistik zeigt, wieviel Anhänger (unter christlichem Namen) sie heute hat. Und wie er Dogmen und Institutionen des Glaubens unpathetisch zerstörte, so auch die Dogmen und Institutionen des Sexuellen: vor allem die konventionelle Ehe. Denn die wahre Ehe, die er verkündete, hat kein Standesamt und kei-
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nen Priester, der sie stiftet. Er war einer der größten, stillsten, liebenswertesten Auflöser. Sein Vater war Geistlicher. Beide Großväter waren Geistliche. Und außerdem scheint der religiöse Affekt im Hause Schleiermacher erblich gewesen zu sein. Der Pietismus, Durchbruch der Mystik durch einen autoritär gewordenen Protestantismus, der, dreihundert Jahre alt, weniger protestierte als konservierte, gab dem Leben des aufgeklärten Schleiermacher die besondere Farbe, die schon bei manchen Rationalisten zuvor (zum Beispiel: bei Kant) den Vernunft-Stolz religiös getönt hatte. Der Junge war schüchtern gewesen und ganz für sich. Wie Mozart, wie mancher Jüngling des als verstandes-nüchtern katalogisierten Jahrhunderts, versuchte er in frühen Jahren, sich mit »Freund Hein« vertraut zu machen. »Kränklichkeit an Leib und Seele« drängte den jungen Menschen, »die Kunst« zu lernen, »gelassen und weise zu sterben«. Es ist eine Kunst, die man heute nicht mehr besitzt; man läuft dem Gedanken an den Tod schlicht davon. Das Ideal »leidenschaftsloser Sanftmut«, ein Bund zwischen abgeklärtem Temperament und früher Weisheit, prädestinierte ihn gewiß nicht zum öffentlichen Verteidiger der obszönen Lucinde. Auch war sie kaum die Weiblichkeit, der er huldigte. Die Frauen, damals noch ausgesperrt von der Konkurrenz-Gesellschaft, hatten Tugenden entwickeln können, welche den stillen Prediger anzogen. Henriette Herz (zum Beispiel), die unruhige Jünglinge wie Ludwig Borne sänftigte, las zusammen mit Schleiermacher Platon und Goethe. So sehr war er von diesen ätherischen Wesen verzaubert, daß er sich wünschte, durch »einen Kursus der Weiblichkeit« gehen zu können. In der Freundschaft mit Männern suchte er dieselbe idyllische Erfüllung. Friedrich Schlegel aber, den er im Salon der Henriette Herz kennengelernt hatte, lebte nicht im Klima des Zephirs. In seinem Buch wurde nicht nur das Leibliche vergeistigt, das Geistige wurde sexualisiert. Weshalb verteidigte
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der Zarte den Rauhen? Es gab mehr als ein Deshalb. Weil Schleiermacher Freundschaft sehr ernst nahm. Dann aber auch noch, weil der Sturm, den »Lucinde« entfacht hatte, derselbe war, den seine »Reden über Religion« entfesselt hatten. Schlegel hatte dasselbe laut und grell, Schleiermacher sehr abstrakt und unpersönlich exekutiert. Aber es war derselbe Aufruhr, den sie gestiftet hatten! Prediger-Kinder sind, wenn sie rebellieren, unfreundlicher gegen den Himmel als Abkömmlinge von Atheisten – wie später auch Nietzsche zeigte. Der junge Theologe Schleiermacher war schon aufsässig in zweiter Generation. Sein Onkel hatte die christlichen Vorstellungen nur akzeptiert, um »dem Volke seine Pflichten auf wirksamere, überredende Art vorzustellen«. Der Neffe verlachte schon aus ganzem Herzen die mythologischen Subtilitäten, nach denen er im Examen gefragt wurde. Er nennt diese Theologien »Kunstwerke des berechnenden Verstands« und wertet sie noch kräftiger als »theologischen Wust« ab. Er untergrub die Lehren, auf denen die Kirche ruhte, im selben Jahr, in dem sein Freund die Lehren untergrub, auf denen die sexuelle Ordnung und ihr Bollwerk, die Ehe, errichtet waren. Erst seit dem Prozeß der »Madame Bovary« wurde dann gerichtsnotorisch, wie sehr die Hüter beider Ordnungen um ihre Verbundenheit wissen. Schleiermacher ging mit derselben energischen Zartheit in den neuen Kampf. Er bestritt die »Verletzung der Dezenz« – deren man bezichtigen könne »wie und wen man will«. Ja, schrieb er schon: wenn man diese Entrüsteten an die Alten erinnert und an Wieland, dann sind sie ohne Rat. Man kann es ihnen nicht verdenken; denn gegen Ovids »Liebeskunst« und Apulejus' »Goldener Esel« und Petronius oder was immer Schleiermacher an unanständiger Welt-Literatur gelesen haben mochte, war »Lucinde« ein Pensionärinnen-Buch. Lange vor der Psychologie der Entrüstung, welche die Analyse schuf, begann Schleiermacher, die Entrüsteten zu analysieren. Sie seien mit Schlegels Roman unzufrieden, weil sie »für die Verletzung der Dezenz nicht die Valuta in barem
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Sinnenkitzel empfangen haben, wie es doch hergebracht ist«. Es war nämlich schon damals hergebracht, die offenkundigen kräftigen Reizungen unbeachteter zu lassen und nur die literarisch gedämpften unter Feuer zu nehmen. Während ich dieses schreibe, an der kalifornischen Küste, liegt vor mir ein populäres Magazin mit den verlockendsten nackten Mädchen, das für wenig Geld ohne jede Schwierigkeit zu haben ist ... und daneben der recht kostspielige und literarisch anspruchsvolle Henry Miller, der gerade wieder einmal einen Sturm der Entrüstung und auf Buchläden entfesselt. Diese frappante Unlogik wird logisch, wenn man errät: nur seriöse Werke werden zugelassen als amtlicher Maßstab des Erlaubten und Nicht-Erlaubten; deshalb muß man streng mit ihnen sein. Die Junggesellen-Zeitschriften liegen beim Friseur und in vielen Wartezimmern aus. Henry Miller aber liegt in der guten Stube und ist damit gesellschaftlich anerkannt. Deshalb ist er die größere Gefahr. So war es schon damals. Das Licht wurde nicht auf alles gerichtet, was es auch gab, sondern auf »Lucinde«: das Buch des Bruders eines Professors, Anführers einer seriösen literarischen Richtung. Schleiermacher, der liebenswerteste Schwärmer, dessen Vokabular dicht neben den Sternen angesiedelt war, ging noch weiter in der Zergliederung der sehr irdischen Entrüstung. Er sagt von den »Lucinde«-Feinden: daß »ihre eigene rohe Begierde überall auf der Lauer liegt und hervorspringt, sobald sich von fern etwas zeigt, was sie sich aneignen kann, und daß sie davon die Schuld gern auf dasjenige abschieben möchten, was die höchst unschuldige Veranlassung dazu war«. Auf gut analytisch: es ist pervertierte Lust, die sich auslebt in der Attacke auf den Genuß. Auf diesen latenten, zur Geilheit gewordenen Trieb, auf die Suche nach Lüsternem, um sich legitim aufregen zu können, führt Schleiermacher »jene ängstliche und beschränkte Schamhaftigkeit« zurück, »die jetzt der Charakter der Gesellschaft ist und seine tiefe Verderbtheit anzeigt«. Lange vor der Königin Victoria hatte England den Ruf, das
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Land der Prüderie zu sein. Und Schleiermacher folgte der herrschenden Völker-Psychologie und machte sich lustig über die Mistress Hund, ihr »echt englisches« »Guter Gott wie können Sie doch in Gegenwart der Mädchen von Strumpfbändern reden«; auch über »jene andere Engländerin, welche behauptete, es sei unkeusch, in einer vermischten Gesellschaft das Wort keusch auszusprechen«. Und wirklich fürchteten sich die Engländer erst von den Oscar Wildes und später, vierzig Jahre lang, vor der »Lady Chatterley« ... und fürchten sich noch immer. So schrieb mir einer der ältesten und treusten Freud-Schüler, der Engländer Ernest Jones: meine Fragen nach Freuds Liebes-Leben seien irrelevant. Aber auch in Sachen »Engländerei« stimmt die Völker-Psychologie nicht. Die Deutschen, die Franzosen, die Amerikaner steuerten reichlich bei zur grotesken Geschichte der Entrüstung. Als Schleiermacher eine Dame bat, sich, falls sie prüde sei, nach England einzuschiffen, »wohin ich die ganze Gattung verweisen möchte« ... wäre zu fragen gewesen: weshalb nicht lieber zum Teufel? Soweit ging der scheue Pastor Schleiermacher noch nicht – in Worten. Doch im Begriff. Sein großartiger Exkurs »Versuch über die Schamhaftigkeit« ist noch lange nicht erreicht in unseren Tagen, in denen ein bekannter Völkerkundler so schlicht mit ihr fertig wird: »Da alle bekannten Völker der Erde ein Schamgefühl aufweisen, muß angenommen werden, daß dieses Gefühl dem Menschen sozusagen eingeboren ist.« »Sozusagen«, auf daß man eine solide Grundlage für die Entrüstung habe. Schleiermacher hingegen erschütterte dieses Gefühl mit feinen, stillen Distinktionen. Der christliche Pastor kam zu dem Resultat: daß es unmöglich sei, sich nicht vorzustellen, was »schamlos« genannt werde. Denn: ohne es sich vorzustellen, könnte man es auch nicht tun; und ohne es zu tun, würde die Menschheit zugrunde gehen. Mit anderen Worten: der Mensch besitzt Phantasie, und zur Vorbereitung der Fortpflanzung gehört die sogenannte schmutzige Phantasie. Er wagt sich noch ein bißchen weiter. In seinem Argument ist
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das Schmutzige noch immer protegiert von dem guten Zweck; es trägt dazu bei, die Menschheit am Leben zu erhalten. Er rechtfertigt aber auch noch die schlimme Phantasie mit einem Triebe, »dessen Allgewalt von den ältesten Zeiten an vergöttert worden ist«. Neben dem Zustand des Denkens oder der Ruhe habe auch »der Zustand des Genusses der herrschenden Sinnlichkeit sein heiliges und fordert gleiche Achtung, und es muß ebenfalls schamlos sein, diesen Zustand der Sinnlichkeit gewaltsam zu unterbrechen«. Ist je einer der berühmten Verteidiger soweit gegangen im Preis auf die Sinne, wie dieser leise Prediger? Diese Seiten sollen auch ein Denkmal für den unbekannten Schleiermacher sein. Zwar war das alles in einer Sprache und mit einer BegriffsSchärfe gesagt, die heutigen Lesern völlig unzugänglich ist. Aber welcher Verteidiger nach Schleiermacher ist soweit gegangen, das Recht auf sexuelle Phantasien öffentlich zum Problem zu machen und zu bejahen; und sich nicht dahinter zu verschanzen, daß das Sexuelle in das Kunstwerk eingegangen – und damit eingegangen ist? Und dieser seltene Mann ging noch ein drittes Schrittchen weiter; es ist faszinierend, zu beachten, wie sehr er sich abmühte. In gewundenen Wendungen, die das innere Sträuben verraten, soweit vorwärts zu gehen, wie er getrieben wurde ... lehnt er das Dogma ab, »daß von dem Zustand der Leidenschaft und des Genusses gar nicht die Rede sein, und daß er wenigstens niemals das bessere und ernsthaftere unterbrechen soll; daß also aus den Unterhaltungen über das Leben jede Andeutung verbannt sein muß, mit der es darauf abgesehen ist, das Verlangen zu wecken«. Wenn aber der große idealistische Philosoph und christliche Prediger Unterhaltungen und Darstellungen zuläßt, die das Verlangen wecken ... dann rechtfertigt er die Künste (auch die weniger künstlerischen), die gerade das tun. Ja, er droht, daß eine Hyper-Sexualität die Folge der Unterdrückung des natürlichen Triebes sein wird. Diese Einsicht ist hier durch höchst abstrakte Begriffe, eingesetzt als
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hydraulische Pressen, an die Oberfläche gepumpt; und bis heute sieht man nicht diese vorgeschobenste Position vor dem gewaltigen logischen Aufgebot. So wird verschleiert, wieweit dieser humanste der großen idealistischen Denker gekommen war. Sein Biograph, Wilhelm Dilthey, begnügte sich, dem Verteidiger der »Lucinde« ein schlechtes Zeugnis auszustellen und ihn zu belehren: es bedürfe einfacher, allgemein gültiger, durchgreifender Maximen, das Leben zu beherrschen; ideale Gesinnung, welche sich wieder nur an die Gesinnung wendet und von ihr die Entscheidung erwartet, ist gegenüber den Irrungen des Menschen und dem unbändigen Drang ihres Willens gleich dem Wort eines Philosophen inmitten einer tobenden Volksmasse. Mit einfachen Maximen sind Zuchthäuser zu regieren. Schleiermacher aber war auf die Befreiung des Menschen von den Gefängnis-Wärtern aus. Sein privates Leben hatte es ihm erleichtert, »Lucinde« vorurteilslos zu lesen. Es hatte sich zwischen ihm und Eleonore, der Frau des Predigers Grunow, die in unglücklicher Ehe lebte, eine innige, bis zur Liebe sich steigernde Freundschaft entwickelt. So las er aus der »Lucinde« auch seine Geschichte heraus. Auch der junge Pastor hatte offenbar erfahren (wahrscheinlich nur in der Phantasie), daß in der Liebe nicht nur Seelen einander umarmen. Seine Verteidigung der Einbildungskraft, mit der man sich auch dem Körper der Geliebten nähert, war ganz gewiß fern dem Taumel Friedrich Schlegels. Aber wenn auch der Geistliche diese Phantasie-Umarmung nur im zartesten Pastell malt, nur in Anschauungs-freien Abstrakta (die Situation löst sich schließlich in einen Hauch auf, der mit der Wendung Linde Lüfte noch zu materiell bezeichnet wäre) – auch Schleiermacher erlebte das Primat der Liebe, im Konflikt mit der Ehe. Um es nüchtern zu sagen: der Ehebruch, im Zentrum der »Lucinde«, im Zentrum der Anklagen gegen die »Madame Bovary«, gegen »Anna Karenina«, gegen »Lady Chatterley« – wurde von dem Pastor der Berliner Charité verteidigt... obwohl er das Verbrechen nur in der Phantasie vollzog.
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Die Ehe zwischen Eleonore und dem Pastor Grunow hatte in der Kinderstube begonnen; sie war zwölf, er vierzehn. Als der junge Mann von der Universität zurückkam, erkannte sie, wie wenig sie füreinander passen; aber das Wort Treue fesselte sie, sie heiratete ihn. Das Wort Treue lahmt sie noch immer; sie beschließt, bei dem ungeliebten Mann zu bleiben, obwohl sie glaubt, es werde sie das Leben kosten. Schleiermacher ist im Prozeß des Klärens recht weit gekommen; aber noch zäher als das Ungeklärte ist die gewohnte Praxis. In einer Stunde, da er seiner Gefühle nicht mehr Herr war, sagte er: Ach, Sie könnten meine Frau werden, und wir würden glücklich sein. Und bereute sofort diesen Satz, bat sie, die »entsetzliche Übereilung« zu vergessen, und ermahnte sie, daß dies Geständnis seiner Liebe keine Folgen haben dürfe. Und als er ihr bald den Abschieds-Brief schrieb, berichtete er: seine Schwester sei gerade bei den Nonnen, um das Fest des Fußwaschens zu feiern; und endete: »Ich will Dir auch die Füße waschen und Du sollst Dich dann herabbeugen und meine Stirne küssen.« Auch dies war der klassische Verteidiger des obszönen Buchs »Lucinde«. Und beides war gleich wahr: seine Ankunft im Garten des Epikur – und sein Respektieren der zerrütteten Ehe. Denken und Fühlen sind, bei aller Schwerfälligkeit, immer noch beweglicher als das Handeln. Die Werke der Philosophen und Künstler sind nicht so monolithisch, wie die Fabel, die über sie umläuft. Sie sind nie aus einem Guß. Eng verwoben ist, was in die Zukunft will, mit dem, was von der Vergangenheit nicht loskommt. Schlegel und Schleiermacher waren auch Überbleibsel aus entschwundenen Tagen. Bedachte nicht auch Schlegel seinen Held Julius mit schlechten Zensuren? Er wird verwildert genannt; nachsichtiger: nicht ganz verdorben. Beide Freunde praktizierten auch schon dies ewig gestrige Tauziehen am Wort Sittlichkeit. Schleiermacher nannte »Lucinde« »ein tugendhaftes Werk«, was die Eigentümlichkeit des Buchs kaum ins Licht stellt. Und bis heute laufen alle Kämpfe um
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das Obszöne meist darauf hinaus: wer bringt das Wort Sittlichkeit auf seine Seite? Selbst Schleiermacher konnte nicht frei und froh sagen: die sexuelle Lust hat zunächst einmal mit der Sittlichkeit, wie immer man sie definiert, nichts zu tun. Er ereifert sich über die Deutung der Liebe als »tierischen Trieb«, der »bis zur Höhe der Kochkunst hinauf verfeinert und humanisiert« wird. Was ist schlecht an der Kochkunst? Ist sie nicht Teil des Kultivierens, des Humanisierens der Speise? Was ist schlecht an der Verfeinerung des sexuellen Sinns? Das Sehen und Hören und Tasten und Schmecken und die anderen hundert göttlichen Sinne sind doch auch differenziert, vertieft, verfeinert, vermenschlicht worden. Schleiermacher war, ebensowenig wie irgend jemand, nicht immer auf der Höhe seiner fruchtbarsten Erfahrungen. Es hat gute Gründe, wenn öffentliche Diskussionen an das Kauderwelsch erinnern, in welchem man beim Turmbau zu Babel aneinander vorbeigeredet haben soll. Was die beiden Freunde über die Ehe verkündeten, war ein gewaltiges Ärgernis, zusammengesetzt aus zwei Ärgernissen: man nahm Anstoß an dem, was sie meinten – und außerdem noch an dem, was sie gar nicht meinten. Die Ehe a quatre hatte Schlegel vorgeschlagen. Ein späterer Romantiker, Arthur Schopenhauer, aufs Praktische versessen, wie viele große Metaphysiker, und der Meinung, ein Philosoph solle »nicht bloß mit dem Kopfe, sondern auch mit dem Genitale aktiv sein«, arbeitete jenen Vorschlag (kannte er ihn?) zu einer ganzen Theorie aus, »Tetragamie« genannt. »Indem die Natur« (schrieb er in der sogenannten Brieftasche) »die Zahl der Weiber nur knapp gleichmachte und dennoch den Weibern nur eine halb so lange Zeit hindurch die Fähigkeit zur Zeugung und Tauglichkeit für den Genuß des Mannes verlieh, hat sie das menschliche Geschlechtsverhältnis schon in der Anlage derangiert. Durch die gleiche Zahl scheint sie auf Monogamie zu deuten: hingegen hat ein Mann an einem
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Weibe nur für die halbe Zeit seiner Zeugungsfähigkeit Befriedigung; er müßte also eine zweite Frau nehmen, wenn die erste verblüht ist; aber es ist für jeden nur eine geredinet worden. Was dem Weibe an Dauer der Geschlechtsfähigkeit abgeht, hat es wieder an Maß derselben voraus: es ist fähig, zwei bis drei tüchtige Männer zu gleicher Zeit zu befriedigen, ohne zu leiden.« Und Schopenhauer schlug vor: zwei Männer sollen zusammen eine Frau haben, die sie beide jung nehmen; nachdem diese verblüht ist, nehmen sie eine zweite ebenso junge dazu, welche dann ausreicht, bis beide Männer alt sind. Die zwei Frauen sind versorgt, und jeder Mann hat nur die Sorge für eine ... Schleiermacher ist noch über die Zahl Vier hinausgegangen, mit der Empfehlung, drei oder vier Paare zusammenzubringen: auf daß so »gute Ehen entstehen könnten, wenn sie tauschen dürften«. Nicht Promiskuität war das Ziel, sondern die Einehe. Und auch in »Lucinde« gibt es »frohlockende Lobreden auf den Wert eines eigenen Herdes und über die Würde der Häuslichkeit«. War Schlegels »provisorischer Versuch« schon die Probe-Ehe des Zwanzigsten Jahrhunderts? Machte sich Schleiermacher Gedanken darüber, ob nur die Seelen ausprobiert werden sollen? Beide wußten bereits, daß der Körper nicht nur ein Annex ist. Goethe brachte dasselbe auf, vorsichtiger, abgeschirmter. In den »Wahlverwandtschaften« geht von einer Figur die Anregung zu einer Ehe mit fünf Jahren Bewährungs-Frist aus. Fünf »sei eine schöne ungrade heilige Zahl, und ein solcher Zeitraum eben hinreichend, um sich kennenzulernen, einige Kinder heranzubringen, sich zu entzweien, und, was das Schönste sei, sich wieder zu versöhnen«. Die Nicht-Versöhnung zog der Olympier nicht in Betracht. Die beiden Freunde, Schlegel und Schleiermacher – weniger präzis als Schopenhauer und Goethe und, um ihrer Begeisterung willen, gehaßter – waren der Lautstärke nach, mit der sie die Lust priesen, recht verschieden. Schlegel fand im Schleiermacherschen Höhen-Flug das Buch – entmannt; und
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warf dem gewaltigen Fürsprecher vor, daß die Kraft zu sehr von der Feinheit überwogen würde. Obwohl Schleiermacher gefährlicher war als Schlegel und Schopenhauer und Goethe miteinander (weil er allein die Erweckung der sexuellen Phantasie guthieß), kam er doch weniger über die Rampe als die schrillere, grellere Sprache des Freundes. Die Verteidigungs-Schrift, nur in siebenhundertfünfzig Exemplaren gedruckt, war noch viel schwieriger zu lesen. In engsten Kreisen war es eine kleinere Sensation, nur das Anhängsel einer größeren. Im Titelkupfer von Falks »Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire« konnte man den kleinen, verwachsenen Prediger sehen, am Arm der Henriette Herz, aus seiner Rock-Tasche schauten die »Reden über Religion« hervor. Im übrigen interessierte man sich nicht zu sehr für diese subtilen Begriffs-Spaltungen, die weiter in die Zukunft vorstießen als Schlegels knallige Wort-Raketen. Man wollte nur wissen: darf man ehebrechen oder nicht? Ist die sogenannte schönste Situation, in der sich die Dame wie ein Kerl benimmt und der Herr der Schöpfung wie eine Jungfrau, zuzulassen oder nicht? Darf man solch ein Vokabular öffentlich benutzen oder nicht? Darf man die Phantasie der Leser und Leserinnen mit solchen Szenen bevölkern oder nicht? Und ganz gewiß ahnten die Alarmierten auch etwas von dem Zusammenhang zwischen einem Ehepartner, der daneben geht, und einem Gottlosen, der außerhalb der Kirche seine Andacht verrichtet. Und es schrieb der Hof- und Domprediger Friedrich Sack, Bischof und zweiundsechzig Jahre alt, aus Berlin: »Mein teuerster Herr Schleiermacher, Sie wissen, wie hoch ich Sie von Beginn an geschätzt habe, daß Sie mich zu Ihren aufrichtigsten Freunden zählen konnten. Ihr Talent und Ihr Wissen und Ihr rechtschaffener Sinn erwarben Ihnen meine Hochachtung und mein Herz.« Der Oberkonsistorialrat war ein freundlicher Mann. Nur eine Seite in der Denkungsweise und Lebensart des Untergebenen war seinem Gefühl von Schicklichkeit entgegen. Der Geschmack, den Schleiermacher an vertrauteren Verbindungen mit Personen
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von verdächtigen Grundsätzen und Sitten zu rinden schien, sei mit den Vorstellungen von dem, was ein Prediger sich und seinen Verhältnissen schuldig ist, nicht zu vereinen. »Äußerst empörend und verderblich« sei »diese revolutionäre neue Schule, die mit frevelhafter Hand alles umstürzt und niederreißt«; im besonderen sei auch »der empfmdelnden, gelehrt sein wollenden Weiblein« ungnädig zu gedenken. Mehr als einundeinhalb Jahrhundert sind vergangen seit dem Kampf um die »Lucinde«, der allerdings nie verging. Friedrich Schlegel und Schleiermacher sahen die Ehe als problematisch an und priesen jene Ehe, die ihnen vorschwebte. Inzwischen ist Deutschland ein Kaiser-Reich geworden und dann eine Republik und dann eine Hölle und dann wieder eine Republik. Und die machte ein Gesetz zugunsten zerrütteter Ehen. So aktuell ist die obszöne »Lucinde«.
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Paris 1857 Emma Bovary und andere Blumen des Bösen
Einer Frau die Freiheit lassen, alles zu lesen, wozu ihre geistige Veranlagung sie treibt, das hieße ja einen Funken in die Pulverkammer werfen, ja noch schlimmer, das hieße, ohne dich durchkommen wollen in einer Welt der Phantasie, einem erträumten Paradies. Honore de Balzac »Physiologie der Ehe«
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Achtundfünfzig Jahre nach Frau Lucinde erregte Madame Bovary die Gemüter. Es scheint eine lange Strecke zu sein, von Jena 1799 nach Paris 1857: mehr als ein halbes Jahrhundert, eine ganze Welt lag zwischen der deutschen Kleinstadt des nach-friederizianischen Obrigkeits-Staats und dem Can Can tanzenden Paris des zweiten Kaiserreichs. Und was hat die farblose, zwischen Bett-Hase und Göttin zwielichtigferne Deutsch-Jüdin gemein mit der sehr lokalisierbaren, sehnsüchtigen französischen Paris-Imitatorin aus der Provinz? Die Gemeinheit – die man in beiden fand. Zeit und Raum verschwinden, wenn es darum geht, daß diese Damen nicht hätten existieren dürfen. Ihr literaturhistorisches Schicksal trennte sie. Emma Bovary wurde hochberühmt, nicht nur von Gnaden des Dichters; der Staatsanwalt verewigte sie. Lucinde blieb ein Aschenbrödel, bestimmt, in den abgeschiedenen Regionen der Literaturgeschichte zu hausen; zwar auch deshalb, weil ihr Dichter nicht begnadet gewesen war – vor allem aber, sie wurde nicht von der Zensur »bekränzt« (wie Goethe es nannte). Weshalb eigentlich nicht? Die Umstände waren günstig. Es war das Jahrzehnt nach dem Tode Friedrichs des Großen. Die Erben, Friedrich Wilhelm II. und sein Minister, schaufelten die Ära des königlichen Atheisten zu; Kant, der damals gerade beim Thema Religion angelangt war, sollte es zu spüren bekommen. Die Obrigkeit klagte: eine gänzliche Ungebundenheit werde von unbesonnenen, gar boshaften Schriftstellern mißbraucht – »zum Verderbnis der Sitten durch schlüpfrige Bilder, durch verlockende Darstellungen des
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Lasters«. Die Korrespondenz zwischen König und Minister nahm den Ton der Panik an. Der Thron war gegen »alle Neologen und die ganze Rotte der sogenannten Aufklärer, sowie die durch Lebenswandel Anrüchigen«. Der Minister forderte: »Gleich in der Geburt ersticken!« Weshalb wurde »Lucinde« nicht wenigstens nach der Geburt erstickt? Fünf Jahre zuvor hatte ein Dekret den drei Buchhandlungen Münchens verboten, Liebesromane zu führen, »die in jedem Anbetracht nicht nützen, wohl aber im Gegenteil für die Leser, besonders für die nach dergleichen Lektüre begierige Jugend äußerst schädlich und verderblich seien«. Nun sagten zwar der »Lucinde« viele Rezensenten nach, daß sie in jedem Anbetracht nichts nützen kann. Aber eine Jugend, die nach solchen philosophischen Ekstasen gierig war, gab es wohl kaum; sie existierte nur in der Phantasie literarischer Anstoßnehmer. Und das Heilige Offizium interessierte sich (wie später die Sozietas Marx) immer mehr für gefährlich-seriöse Gelehrte als für leichtsinnige Poeten. Wahrscheinlich hat es dem Absatz des Buchs Lucinde sehr geschadet, daß es nicht auf den Index kam; die Indizes waren die wirksamste Reklame. Der Catalogus Librorum rejectorum des Römischen Reichs Deutscher Nation, der 1754 in Wien herauskam, eine halb geistliche, halb staatliche Publikation, hatte in den nächsten Jahrzehnten seine Fortsetzungen, eine erweiterte Ausgabe nebst fünf Nachträgen, einen Neu-Druck und drei Supplemente. Sie wurden so glänzend verkauft, daß bald zwei Konkurrenz-Unternehmen auftauchten. Denn hier konnte man nachschlagen, was verboten – also begehrenswert war. Der Aufklärer Nicolai sagte: die klugen Leute würden auf die klugen, die schlechten auf die schlechten Bücher aufmerksam gemacht. Geschäftstüchtige Buchhändler spezialisierten sich in diesem Feld und verdienten am Klugen und am Schlechten. Zum Schlechten rechnete man Amours, Amüsements, Art de ..., Abenteuer, Deliciae, Intrigues, Memoirs, Recueils, Tableaux. Lucinde wurde nicht »bekränzt«.
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Dennoch war sie die große Ahnin Emma Bovarys. Auch sie kam nicht erst in einem Roman zur Welt, sondern auf einem Standesamt. Und wie Lucinde nicht allein ins Dasein trat, sondern in einem Schwärm von romantischen Damen, so lebte auch die Französin, die schließlich Madame Bovary hieß, in den Jahren um 1830 an vielen Orten des Landes. Vier Jahrzehnte waren seit der großen Revolution vergangen, anderthalb seit dem Ende der Napoleonischen Kriege. Einige Zeitgenossen erklärten jene anfällige Generation mit den Aufregungen in den Jahren des Umsturzes und der WeltEroberung: man hätte von den Vätern überreizte Nerven geerbt. Auch meinte man, das ständige Zur-Aderlassen habe ein anämisches Geschlecht geschaffen; die reichlich verordneten Blutegel hätten am Mark der Nation gesaugt. Die blutarme Jugend (wie die Anti-Romantiker sie nannten) verkleidete sich gelegentlich als Troubadour, sang mittelalterliche Romanzen und benahm sich auch sonst liebestoll. Es wurden spezielle Anweisungen für Liebeserklärungen gedruckt: je nachdem einer Schneider war oder Optiker oder Kuchenbäcker. Ein Chemiker hatte so zu werben: es gibt ein Antidot gegen das Gift in meinen Adern, spende Du tröstenden Balsam meinem wunden Herzen. Große Mode waren blasse Wangen, das Zeichen gebrochener Herzen. Junge Mädchen, die unretouschierbar gesund aussahen, waren verzweifelt. Ein Lehrbuch der Liebe empfahl hysterische Anfälle, Ohnmächten und Selbstmorde; ihre Zahl wuchs im Jahrzehnt zwischen 1827 und 1837 aufs dreifache. In Deutschland wurde der liebeskranke Heine Lieblings-Poet aller deutschen Bovarys; sie lasen »Das Buch der Lieder«. Die Scheidungs-Anwälte haben Details überliefert. Der Refrain ihrer Klientinnen lautete: ich sehne mich nach der großen Liebe. Schlegels Held Julius hatte von einer »ewigen Umarmung« geträumt. Die Enttäuschung ist seit je am besten von Mystikern beschrieben worden: das schnelle Absinken. Und weil auch die unio physica schon immer nur eine sehr kurze Umarmung war und wahrscheinlich auch sonst nicht ganz
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wie erträumt, lagen die Damen, soweit es ihr Leben zuließ, auf einer Ottomane und lasen Romane – und nicht gerade um der Bildung willen. Wenn die Zarten ihren Blick aus dem Buch herausnahmen, wanderte er traurig-abwesend in eine sehr entfernte Ferne. So zeigen es die Bilder der Zeit. Ein englischer Kupferstich um 1850 hat die Beschriftung: »Bei der Lektüre eines galanten Romans«. Er liegt aufgeblättert vor dem Schoß der von ihm verführten, träumerisch auf ihr Lager hingegossenen, einen Jupiter in Menschengestalt erwartenden Schönen: übergehende Augen, füllige Arme, der hintere Teil wölbte sich mächtig wie ein zweiter, überdimensionaler Venusberg. Ein anderes Abbild von der Wirkung dieser Romane – eine Federzeichnung: sie liest; der Effekt ist wiedergespiegelt in ihren kaum noch bekleideten Beinen, die nicht gerade in Ruhe sind. Flauberts lesende Emma ist von hundert Abbildern ihrer Leidensgenossinnen illustriert worden. Man hat damals, als diese Madames Frankreich bevölkerten, nicht nur geschmachtet. In vollen Zügen trank man wohl nur in Paris; doch nahm die Provinz durch Hörensagen teil. Thackeray berichtete von einem Ball in der Rue St. Honore: wie zu vorgerückter Stunde sich die viertausend Dämonen und Dämoninnen des Saals in die Richtung der Place Vendome wälzten, in turbulenter Ausgelassenheit, Männchen und Weibchen aller Schichten in allen Verkleidungen. Am Alltag hingegen bat der Heiratskandidat, ganz in Schwarz und mit weißen Handschuhen, an der Seite seines Vaters, um die Hand der Erkorenen; Bräutigam und Braut durften nicht ohne Bewachung einander sehen; wenige Tage vor der Hochzeit gaben der Künftige und sein Papa zwei Visitenkarten (jede an zwei Ecken eingebogen) bei den Angehörigen der Zukünftigen ab. Acht Tage nach der Heirat machte das junge Paar die pflichtschuldigen Antrittsbesuche, und noch ein Jahr lang durfte die junge Frau nur in Begleitung ihres Mannes, der Mama oder der Schwiegermutter sich öffentlich zeigen.
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Wahrscheinlich hatten die Emmas auf dem Lande weniger Kille und mehr Alltag und fanden gründlicher heraus, daß die Liebe nicht ganz wie im Roman ist; und meist noch viel weniger. Da mußten denn Dichter wie Balzac an die ideologische Front, um dieses etwas unromantische Leben zu zweit zu romantisieren. Er rief, ganz im Sinne Schlegels – doch nicht in seinem dithyrambisch-verhüllenden Stil: wie blasphemisch es sei, Liebe und Kindermachen in einem Atem zu nennen! Auch fragte er: kann man ein Leben hindurch eine einzige Frau begehren? Und antwortete, damals ein wackerer Junggeselle: Ja! Es sei ebenso absurd, das zu bestreiten, wie zu sagen: ein Violinist könne nicht aus ein und derselben Violine alle Melodien herausholen. Erst für Ehen, älter als zwanzig, möge man statt des gemeinsamen Lagers zwei Betten zulassen; es sei denn einer habe den Katarrh. Diese Ehe mit der einen Violine und den vielen Melodien dekorierte ein gar nicht dekoratives Ehegesetz, das nicht nur auf dem Papier stand. Der Gatte jener Dame, mit der Victor Hugo ein Verhältnis hatte, bestand darauf, daß die Ehebrecherin ins Gefängnis abgeführt werde. Viel mittelalterliche Vorstellungen hüllten immer noch die Frau in ein dunkles Geraune. In den Jahren, in denen die von Flaubert erfundene Bovary von den erfundenen Einwohnern ihres erfundenen Nests Yonville angeklagt wurde – und Flauberts Roman von einem gar nicht erfundenen Ankläger ... widerlegte ein M. Michelet »wissenschaftlich«, an Hand der Zeugnisse einiger Biochemiker, daß »Menstruationsblut« unrein sei. Und meinte: die Frau leide an der Liebe wie der Mann am Magen. Eine Französin jener Zeit, Delphine Couturier, wuchs auf einem normannischen Bauernhof heran, heiratete 1843 Eugene Delamare, einen kleinen Landarzt, der in Rouen studiert hatte, langweilte sich in dem Nest, in dem sie lebten, verliebte sich in einen feinen Gutsnachbarn, der für sie die große Welt war, dann in den Schreiber eines Rechtsanwalts-Büros, der wußte, wie man es in Paris macht, kam in die Hände eines
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Wucherers – und vergiftete sich. Das war der Lokal-Fall, aus dem Flaubert, in genauer Nachbildung der Ereignisse, die Figur schuf, von der er sagte: »Madame Bovary – c'est moi.« Der Staat kümmert sich nicht um die unscheinbaren Ehebrüche kleiner Provinzlerinnen. Erst wenn so etwas an die große Glocke kommt, horcht er auf. Jene Geschichte wurde sehr publik, als ein junger Schriftsteller, Gustave Flaubert, mit exakter Phantasie und einer überzeugenden Palette den Fall unübersehbar malte ... und ihm so eine Gasse ins öffentliche Bewußtsein bahnte. Madame Delamare war unwichtig. Man konnte schließlich nicht alle Ehebrecherinnen vor Gericht ziehen. Zwar wünschte ein Sittenrichter der Zeit: TodesStrafe für die Gattin im Fall von Ehebruch, Schamlosigkeit, Verrat, Trunksucht, Diebstahl, Widerspenstigkeit und Ungehorsam aus Verachtung. Aber diese Strenge konnte sich im zweiten französischen Kaiserreich nicht durchsetzen. Um so mehr war es notwendig, sich bei gegebener Gelegenheit laut und nachhaltig zu entrüsten. »Madame Bovary« brachte es an den Tag. Sie erst machte jene Delamare, geborene Couturier, gerichtsnotorisch und die Sünde arretierbar. Man redet viel über die Macht des Wortes. Sie liegt auch darin, daß, was in seiner stummen Existenz ignoriert werden kann, Aufregung schafft, sobald es lautbar geworden ist. Ein angesehenes Blatt hatte in einigen Nummern Auszüge aus dem Werk des kaum bekannten Schriftstellers Gustave Flaubert gebracht. Nach den Universitäts-Jahren, nach Reisen in Italien, Ägypten und Palästina sah der Sechsunddreißigjährige sein erstes Buch im Druck: »Madame Bovary. Moeurs de Province«. Der Roman erschien in sechs Lieferungen der »Revue de Paris«. M. Pichat, Leiter des regierungsfeindlichen Organs, das schon zweimal verwarnt worden war und deshalb sehr vorsichtig sein mußte, hielt jene Stelle für gefährlich, die beschrieb, wie die Heldin mit ihrem Liebhaber in
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einem Wagen bei herabgelassenen Vorhängen den ganzen Tag herumfuhr, immer wieder durch dieselben Straßen der kleinen Stadt. Von der Streichung gab er dem Leser Kenntnis. Diese Anmerkung setzte die Polizisten auf die Fährte. Aber noch bevor der Staat sich entrüstete, hatten schon Leser Anstoß genommen; es ist immer falsch, die Schreie der Empörung einem gewissen reaktionären Herrn in die Schuhe zu schieben, nur weil er infolge seines aggressiven Talars besonders sichtbar ist. Die »Revue« war die ergebene Dienerin ihrer Abonnenten. Vor ein paar Jahren hatte sie erklärt: wir haben nur ein Prinzip: absolute Freiheit; ein Wort eines Satzes zu streichen, ist ebenso barbarisch wie die Nase einer Statue abzubrechen. Aber wie mutig man ist, weiß man immer erst, wenn der Ernstfall eintritt. Als Napoleon III. vor fünf Jahren die Republik besiegt hatte, ließ er die Druckereien besetzen. In den Zeiten, die folgten, hagelte es Verbote, und die »Revue«, im Ruf, liberal zu sein, stand unter besonderem Verdacht. Man bat Flaubert: laß" uns in der Zeitschrift freie Hand und mach' du dann mit dem Buch, was du willst! Courage! Schließ' die Augen während der Operation! Er machte sich lustig über diese Art von Entgiftung: das Brutale des Romans liege tief drinnen, nicht an der Oberfläche; man könne einen Neger nicht weißwaschen und das Blut eines Romans nicht ändern. Man ließ eine Stelle aus, man ließ immer mehr aus. Flaubert erklärte: der Abdruck sei nur noch eine »Serie von Fragmenten«. Und die Wächter wurden immer neugieriger. Die kaiserliche Behörde packte zu und schleppte das Werk vor Gericht. Flaubert war nicht untätig. Man teilte ihm mit, die Kaiserin Eugenie, sogar Majestät selbst, werde ihn schützen. Er bat Theophile Gautier und andere Männer von Einfluß um Hilfe. Es sieht so aus, als hätte man um ein Haar den Fall fallen lassen. Der Staat las, fand, was er suchte, und erhob Anklage gegen den Verfasser, den Herausgeber und den Drucker, der (wie es hieß) eine »Schildwache« zu sein hat vor der Tür, die zum
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Skandal führt. Drucker haben zu lesen! Sie sind keine Maschinen! Sie sind verantwortlich für den Text, den sie setzen! Sie sind ein vorgeschobener Posten an der moralischen Front! So hieß es vor Gericht. Angeklagt wurde also auch M. Pillet, weil er die äußerste Linie gegen den Feind nicht gehalten habe. Allerdings bat der Staat, möge das Gericht milde vorgehen gegen die Komplicen. Die volle Schwere der Strafe falle auf den Urheber des Verbrechens! Im übrigen war der Ton eher con sordino. Das Motiv eines Angeklagten, warum er sein Buch schrieb, ist nie so kennenswert wie das Motiv des Anklägers. M. Ernst Pinard, Verfasser von pikanten Gedichten, hätte die Möglichkeit gehabt, sich in diesem riskanten Prozeß ersetzen zu lassen. Er lehnte es ab: aus Pflicht; so wenigstens heißt es in seinen Memoiren. Flaubert nannte ihn später einen »obszönen Autor«. Der klagte nun Flaubert auf Obszön an. Ganz sichtbar wird der Mann in seiner Anklage-Rede. Er ist kein Eiferer. Er ist klug. Er erkannte dies Werk besser als die vielen liberalen Verteidiger, die es bis in unsere Tage gehabt hat: von M. Senard, der den Prozeß (scheinbar) gewann – bis zu dem freiheitlichen amerikanischen Schriftsteller Carl van Doren, der in unseren Tagen »Lady Chatterley« wohlmeinend und ahnungslos sowohl verteidigte als auch verkannte. M. Pinard sah, daß dieser Romancier Wort- und Bild-mächtig ist... und deshalb um so gefährlicher. Der Ankläger war, wie jeder spätere Kreuzzügler im Kampf gegen das Obszöne, für die literature engagee, gegen das liberale Argument: ach, es ist doch so schön ausgedrückt! Die Aktivisten, welche die Literatur propagandistisch einsetzen, können die Pinards (und wenn sie ihnen noch so unbequem sind) nicht abschütteln. Denn auch sie gehören zu denen, welche die militante Kunst verkünden. So ist das Leben: das war für Flauberts Gegner die Parole unverantwortlicher Künstler. Echter Realismus, der Wille
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zur Schilderung dessen, was es gibt, ist (obwohl das kaum gesehen wird) dem L'art pour l'art verwandt, Gleichgültigkeit gegen die Wirkung des Dargestellten. Die Rede des M. Pinard hingegen war eine Vorlesung über die gesellschaftliche Pflicht der Kunst. Und er schloß mit der Verurteilung des »Elfenbeinturms«, wie man später sagte; das Schlagwort war damals bereits zwanzig Jahre alt, aber noch nicht recht im Umlauf. Der Staatsanwalt wies der Kunst einen Platz im Dienste seines Ideals an, wie jeder Aktivist; auch wenn er sich nicht Idealist nennt, sondern Materialist. Pinards Ideal war die Anständigkeit. Er war sehr empfindlich und verglich Flaubert mit einer Frau, die ihre Kleider öffentlich abwirft. Zunächst hörte man die Roman-Handlung sehr sachlich referiert, bis auf einige Seufzer aus bekümmertem Herzen ... Schon der Knabe Carl Bovary war nicht sehr hell; er arbeitete, ohne Fortschritte zu machen. In Rouen, wo er studierte, kam er nicht recht weiter. In seiner freien Zeit spielte er Domino; das war die einzige Leidenschaft des Studenten. Mama verheiratete ihn mit der Witwe eines Polizisten. Sie war Fünfundvierzig, hatte sechstausend Franken jährlich – und starb an gebrochenem Herzen, als der Rechtsanwalt, der ihr Vermögen verwaltete, aus guten Gründen nach Amerika floh. Der junge Witwer erinnerte sich an die Tochter eines benachbarten Bauern. Emma war von den Ursulinerinnen in Rouen aufgezogen worden. Er heiratete sie und wurde einer der ergebensten Ehemänner. Die junge Madame Bovary hatte (wie viele ihrer nicht-erfundenen Zeitgenossinnen) romantische Geschichten gelesen –und begnügte sich nicht mit dem gar nicht romantischen Alltag. Sehnsüchtig suchte sie in dem kleinen Yonville ... und glaubte, zu finden. Nahbei, auf einem Schlößchen, lebte ein Märchen-Prinz: Rudolf. Er wurde der Held des ersten Kapitels eines Liebes-Romans, in den sie ihre kümmerlichen Tage zu verwandeln suchte. Dann wurde der Alltag rebellisch gegen den Traum. Rudolf war nichts als die Routine sexueller
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Alltäglichkeit. Die schwärmende Emma fiel zum ersten Mal aus allen Wolken. An dem zweiten Höllensturz ist der Notariats-Schreiber des Örtchens schuld. Er war in Paris gewesen; so erwartete sie von ihm, daß er den Glanz der Hauptstadt in ihr kleines Absteigequartier bringen werde. Alles versuchte sie, um sich im Äther sexueller Transzendenz zu halten, bis sie abermals in die Schäbigkeit zurückgeworfen wurde. Für die Inszenierung ihres Paradieses hatte sie weder Mühe noch Kosten gescheut: ihre Liebhaber mit Geschenken überhäuft, sich selbst prächtig eingehüllt. Aber die Rechnungen des Wucherers ließen sich nicht phantasievoll weg-träumen. Eines Tages wurde die Dekoration der glänzenden Szene vom Gläubiger abgetragen; bei dieser Gelegenheit ging sogar noch das eheliche Mobiliar mit. Sie nahm sich das Leben. Der ahnungslose Gatte erfuhr alles, liebte sie mehr als je – und ging bald ein. M. Pinard erzählte diese Geschichte noch neutraler, als es hier geschah. Nur an einigen Stellen konnte er sich nicht zurückhalten. Dann fragte er, herausfordernd: Meine Herren! Liebte sie ihren Mann? Versuchte sie es wenigstens? Leider sagte er nicht: wie man versucht, zu lieben – mit Körper und Seele? Ein andermal fiel er aus der Rolle des Berichterstatters, wenn er von den »äußersten Grenzen der Wollust« sprach. »Wollust« war schon in den Tagen der »Lucinde« ein schwer belastetes Wort gewesen; in ihm rumorte Übertriebenes, Sündhaftes, geradezu Unzucht. Und nun gar »die äußersten Grenzen der Wollust«! Das ist viel mehr, als ein gesitteter Bürger sich vorstellen darf. Besonders böse war Pinard dem guten Monsieur Bovary. Der fletscherte am Tage danach die Hochzeitsnacht aus, wie nach der Mahlzeit die Trüffeln. So sagte es der Dichter. Das war verdrießlich; denn diese besondere Nacht ist identisch mit Liebe, durch ihre Heiligkeit entgiftet. So kann der Nachgeschmack der heiligen prima nox nicht mit dem Nachgeschmack eines Gerichts profaner Trüffeln verglichen werden.
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Da ist noch mehr gegen diesen Gatten einzuwenden. Er liebt, skandalöserweise, übers Grab hinaus, obwohl er doch nun weiß, was sie angerichtet hat. Man hat sogar den Eindruck, der Staatsanwalt wäre eher bereit gewesen, der Ehebrecherin zu verzeihen als diesem Gehörnten, der nicht einmal die moralische Kraft aufbrachte, ihr den letzten Stein nachzuwerfen. Doch erst im Schluß-Satz des sachlichen Reports brechen die Schleusen der Objektivität. M. Pinard schrieb Flauberts Untertitel »Ein Sittenbild aus der Provinz« pornographisch um: »Die Geschichte von den Ehebrüchen einer Provinzlerin«. Das war der Auftakt. Es ging nun im besonderen gegen vier Stellen. Solchem Vorgehen wird, bis in unsere Tage, vorgeworfen: man risse aus dem Zusammenhang, was nur im Rahmen des Vorhergehenden und Folgenden richtig eingeschätzt werden könne. Auch verhielten sich, sagte dann der Verteidiger, die für anstößig erklärten Passagen zum Gesamt wie Eins zu Fünfhundert. Die armen angeklagten Ankläger! Man packt sie immer gerade dort, wo sie untadlig sind. Wenn man nicht das ganze Buch zitieren kann, gibt es keine andere Möglichkeit als – herauszureißen. Die vier Szenen, auf welche sich die Anklage konzentrierte, waren wirklich repräsentativ. Und die Aufrechnung Eins zu Fünfhundert könnte jeder Giftmischer benutzen mit dem Argument: daß er nur einen Tropfen in eine ganze Kanne geträufelt hätte. Macht es sich die Verteidigung deshalb immer so leicht, weil sie nie zentral attakiert – aus Ahnungslosigkeit? aus Feigheit? Die Welt wäre den Verfolgern des Obszönen zu größtem Dank verpflichtet, hätten ihre Gegner die Gelegenheit benutzt, um die Sexual-Moral etwas menschlicher zu machen. Der Ankläger war recht fair. Er begnügte sich nicht mit der Aussonderung von Parade-Stellen. Er gab, bevor er zu ihnen kam, Illustrationen, welche die Farbe des Romans vortrefflich beleuchteten. Er zeigte, daß Emma von früher Jugend an erotisiert war; zum Beispiel, als sie im Beichtstuhl kniete. Das ist die Wahrheit. Die Abwehr hätte beginnen sollen mit der Frage: wie diese Pubertäts-Sexualität moralisch einzuschätzen ist.
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Der Ankläger war gewissenhaft genug, gleich zu Beginn die eine große Schwierigkeit zu bekennen: die Erklärung der im Gesetz gebrauchten Wendung »Verstöße gegen die öffentliche Moral und Religion«. Er sagte: das sind recht elastische Begriffe. Aber nach dieser Sekunde heller Skepsis erinnerte er sich wohl an sein Amt und pflanzte ein gar nicht elastisches Verdikt in den Raum: der Roman sei obszön. Das Wort selbst (noch ganz unabhängig vom Roman) hätte der Verteidiger zurückweisen müssen. Er aber baute sich, Seite an Seite, neben dem Ankläger auf – auf jenem moralischen Feldherrnhügel, von dem aus das Sexuelle dirigiert wurde und dirigiert wird; und versuchte nur, mit allen Kräften, seinen lieben Gustave aus dieser furchtbaren Kategorie Obszön herauszuretten. Das war fast immer die Sünde der Liberalen: von dem großen Schleiermacher im Jahre 1800 an bis (sagen wir) zu dem englischen Dichter E. M. Forster, der im Jahre 1960 der »Lady Chatterley« ebenso wohlmeinend wie unzulänglich zu Hilfe kam. Diese Kunst-liebenden Fortschrittler entrissen immer ein Kunstwerk der Polizei – und konservierten (aus Taktik? aus Aberglauben?) den Ungeist, den es vernichten wollte. Zieht man den verfemenden Ton im Schimpf-Wort Erotik ab, die Beschreibung Pinards stimmt haargenau; es gibt nicht nur erotische Einlagen, die beiden Ehebrüche ... ein erotisches Fluidum durchströmt das ganze Leben dieser Frau. Sie ist, wie es der Maler Liebermann einmal nannte, »mit Hurensalbe gemalt«. Ihre Tage, von der Schulzeit bis zur letzten Ölung, wenn sie als Himmelsbraut mit allen durstigen Sinnen das letzte Sakrament empfängt, sind durchtränkt von Wollust. Der Ankläger fragte: schildert Flaubert ihren Verstand? ihr Herz? ihren Geist? ihre körperliche Schönheit? Er schildert vor allem, wie sie nach dem ersten Ehebruch aufblüht. Diese Feststellung ist großartig sachlich. Dann aber fragte er auch noch: darf das sein? Die Frage aller Moral-Richter. Der Verteidiger hätte klipp und klar antworten sollen. Vor dieser Antwort drückten sich die sogenannten Progressiven immer. Man darf die aggressiven Sittenwächter nicht zu schön malen
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– nur deshalb, weil die Gegner nicht weniger häßlich waren. Sie entbehren nicht der Komik, jene Hüter der Anständigkeit. Sie können nicht alle Ehebrecherinnen einsperren und fühlen sich deshalb sehr ohnmächtig. Und der Mann, der »Mada-ne Bovary« festnahm, wäre sich wahrscheinlich noch viel ohnmächtiger vorgekommen, wenn ein Kinsey von 1857 ihm mitgeteilt hätte, wieviel Prozent aller lebenden Französinnen ähnlich lebten wie die Dame Bovary – und weniger elend. So blieb einem besorgten Vertreter des anständigen Staates nichts übrig, als diese Emmas wenigstens in effigie hinter Schloß und Riegel zu setzen. Da aber die Abbilder das Feuer der Inquisition nicht spüren, holt man gern gegen den aus, der in Fleisch und Blut zu packen ist. Flaubert wurde dafür haftbar gemacht, daß seine Zeitgenossinnen so waren. Mit Kunst haben diese Vorgänge nur soviel zu tun, daß die Verteidiger gern hinter jenem magischen Wort den Konflikt zu verstecken pflegen. Es ging nicht allein um die zu wenig monogame Provinzlerin. Die ganze Welt dieses Romans ist unsittlich. Da wird von einem Kavalier behauptet, er habe mit Marie Antoinette geschlafen. Erstens: ist es unanständig, miteinander zu schlafen, wenn man nicht miteinander verheiratet ist; zweitens (besonders), wenn die Dame einen Mann hat; drittens (um so mehr), als sie Königin ist –und viertens (zu allem Überfluß) eine arme, hingerichtete. Der Staatsanwalt war empört. Zwar gab es eine große Literatur über »die französische Messalina«, über »Die Liebesraserei Marie Antoinettes, der Frau Ludwigs XVI.«, über »Letzte Seufzer der heulenden Dirne« ... zwar gab es eine weite Galerie von Karikaturen: Marie Antoinette, knieend vor dem Grafen Artois, den sie eingehend examiniert; Marie Antoinette, sitzend vor dem knieenden Lafayette, der seine ausgestreckte Hand dort hat, wo sie nicht sein darf. Aber es gibt eben noch Frauenlobs: der französische Patriot Ernst Pinard, Untertan Kaiser Napoleons III., ist beleidigt, daß einer Figur des Romans, um sie glanzvoll zu machen, nachgesagt wird, er habe das königliche Bett der seli-
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gen Bourbonen-Gattin geteilt. Ist es historisch erwiesen? fragt der postume Ritter. Gelegentlich wird M. Pinard auch recht bös: wenn von einer »Befleckung durch die Ehe« oder von »ehelicher Öde« gesprochen wird oder, daß sie »im Ehebruch die Schalheiten der Ehe« wiederfand. Ehe ist Ehe. Er ist ein unerbittlicher Hüter. Doch ist wiederum zu bewundern, wie er schon das HauptArgument der Verteidigung (und das sollte es bleiben bis in unsere Tage) vorwegnimmt und elegant wegfegt. Er wußte, M. Senard wird nachher einwenden: ist Madame Bovary nicht schwer bestraft worden mit Not und Tod? Großartig ist die Antwort schon vor der Frage: die Ausbreitung unanständiger Details wird nicht unwirksam gemacht, wenn man zeigt, wie schlimm ein unmoralisches Leben endet. Was bedeutet der triste Schluß nach der Seligkeit des Genießens? Fürsorglich fügte er noch hinzu (und die Kritiker wiederholten es dann): keine Figur, keine Zeile, kein Wofrt der Reue verurteilt, was geschehen ist. Noch schlimmer als das Ehebrechen ist das In-Blüte-stehen der Ehebrecherin in den Tagen der Sünde. Die Glorie um sie ist verwerflicher als das Verbrechen. Pinard hat den Dichter verstanden; hat sein Herz gehört in dem Jubel Emma Bovarys: »Ich habe einen Liebhaber«. Der Ankläger ist, bis zu diesem Tag, einer der wenigen BovaryKenner. »Lucinde« hatte noch nicht mit einer großen Leserschaft zu rechnen. Aber hier in Paris, vor dieser faszinierenden Unmoral, erhob sich schon sehr laut die Frage, die, mit wachsenden Auflagen, immer lauter wurde: wer liest das? Politiker und Soziologen? Nein! antwortete der Sitten-Vogt. Kleine Mädchen und junge Frauen. Sie sind sehr verführbar. Der Mensch ist schwach, hat hohe Ideen und niedrige Instinkte. Man führe ihn nicht in Versuchung. Niemand sagte: Ihre Philosophie stimmt nicht, Hsrr Pinard. Erstens ist die rigorose Spaltung zwischen Ideal und Trieb ein überlebter Mythos... und dann: wo ist die Gefahr? Und für wen ist sie eine Gefahr? Für die Prediger oder für die
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Bepredigten? M. Senard, der Verteidiger, war nicht der Mann für solch eine Neugierde; und seine Nachfolger, bis heute, waren nicht neugieriger. Deshalb gehört die Aufregung um die »Lucinde", um die »Madame Bovary«, um den »Reigen«, um »Ulysses«, um »Lady Chatterley« – um alle geschriebenen und gemalten und gemeißelten und komponierten Unanständigkeiten und auch um die, zu denen jemand durch sein Leben Anlaß gab wie der arme Oscar Wilde und manch anderer weniger berühmte Unkeusche: immer noch zur unbewältigten Vergangenheit und Gegenwart. M. Senard, ein alter Freund des Vaters, verteidigte den angeklagten Dichter. Der Verteidiger redete viermal soviel wie der Ankläger, sagte noch nicht ein Viertel – und gewann den Prozeß, wie man so sagt. Er bekam das Buch frei und festigte die Anklage. Das ist aus dem Urteil des Gerichts zu erkennen, auch aus der Zufriedenheit des Staatsanwalts mit dem Ausgang. Senard entrüstete sich über das »Laster« wie sein Vorredner. Nur nahm er den jungen Freund vor diesem Vorwurf in Schutz, indem er ihn in einem falschen Licht erscheinen ließ: als hätte Flaubert einen artigen Traktat verfaßt, der zur Tugend aufmuntert. Der Familienvater teilte den Richtern mit: er habe die als obszön angeklagten Stellen seinen verheirateten Töchtern vorgelesen, braven Mädchen, die eine gute Erziehung gehabt haben und nie vom Pfad der Tugend abweichen würden. Das blieb die Linie des Plädoyers: der Spieß wurde umgedreht, aus dem wegen Unkeuschheit Angeklagten wurde ein keuscher Joseph. Mit Hilfe dieser Manipulation wird dann ein Buch wie »Madame Bovary« eine Art von Vogelscheuche für lockere Vögel. Der eifrige Schönfärber forderte für seinen Gustave nicht nur Freispruch, auch noch Wiedergutmachung. Soviel erreichte er zwar nicht. Aber er zeigte deutlich das Muster, das im Jahrhundert danach immer wiederkehrte. Sie waren alle auf-
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richtig, diese Kunst-liebenden Freiheitler. Und der liberale Carl van Doren pries in unseren Tagen Flauberts Roman – und nannte seine Heldin ein »törichtes Weib«, ein »warnendes Beispiel«. In diesem Sinne könnte man auch sagen: »Faust« sei als Warnung für kleine Mädchen geschrieben, sich nicht mit besseren Herren einzulassen. M. Senard (geboren in jenem Jahr 1800, in dem sein großer Vorgänger Schleiermacher die Vorgängerin der »Madame Bovary«, »Lucinde«, verteidigt hatte), 1848 ein Rebell, seit Napoleons III. Staatsstreich in der Opposition, erzählte den Herren vom Gericht und dem glänzenden Publikum, aus welch anständiger Familie dieser jüngste Flaubert-Sproß stamme. Der Vater, Senards guter Freund, war dreißig Jahre Chefarzt im Krankenhaus dieser Stadt Rouen gewesen, ein großer Forscher und außerdem noch ein wackerer Mitbürger. Drei Kinder hatte er in die Welt gesetzt: die Tochter starb mit zweiundzwanzig, der Älteste wurde so geschätzt, daß man ihm die Position des Vaters anvertraute. Die Söhne erbten nicht nur ein beträchtliches Vermögen – auch die Pflicht, Verstand und Moral zu kultivieren. Gustave studierte unermüdlich. Fünf Jahre lang, von morgens bis abends, widmete sich der junge Schriftsteller dem Buch, das jetzt angeklagt ist. Seltsame Beschwörungen! Kann nicht auch der fleißigste Sproß eines hochangesehenen Geschlechts Obszönes zutage fördern? Senard suchte eine Atmosphäre von Wohlwollen zu schaffen. Er war ein Taktiker, bereit, Kompromisse zu machen. Vielleicht sei nicht jedes Wort umsichtig gewählt; schließlich ist dies Werk ein Erstling. Der Verteidiger ist zwar mit allen Wassern gewaschen, aber offenbar kein Zyniker. Er glaubte wohl das meiste von dem, was er sagte. Als nach den Vorabdrucken in der Zeitschrift die Anklage anhängig gemacht worden war, habe er, Senard, gesagt (und wiederholte es jetzt): unsere Richter wollen Gerechtigkeit! Drucken wir schnell das Ganze, fügen wir dem Text aufklärende Kommentare hinzu und stellen den Spezial-Druck
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der Behörde zur Verfügung! Während dies Unternehmen in vollem Gange war, untersagte die Staatsanwaltschaft solch eine Publikation. Der Verteidiger gab tatsächlich alles zum besten, was der Ankläger erwartet – und prophylaktisch bereits zurückgewiesen hatte. Flaubert war auch als Skeptiker gebrandmarkt worden, dieser Angriff auf sein religiöses Wohlverhalten konnte kaum widerlegt werden. Denn da gibt es heikle Dialoge im Roman. Der Aufklärer sagt hier: »Sie werden doch zugeben, daß die Bibel kein Buch ist, welches man jungen Mädchen in die Hand gibt. Ich wäre jedenfalls sehr ungehalten, wenn meine Athalie ...« Und der Geistliche antwortet: »Aber es sind doch die Protestanten und nicht wir, welche die Bibel empfehlen.« Das war nicht auszulöschen. So holte Senard zu einem großen persönlichen Bekenntnis aus. Der Ankläger hatte das nicht nötig gehabt. Daß er fest im Glauben war, ging schon aus der Bezichtigung hervor: Flaubert habe Heiliges und Profanes, Religiöses und Sexuelles gemischt. Doch der Verteidiger des Verfassers eines solch zweifelhaften Buchs mußte erst beweisen, daß er, Monsieur Senard, ein ebenso guter Christ ist wie Monsieur Pinard. Deshalb gab Flauberts väterlicher Freund feierlich zu Protokoll: nichts Schöneres, nichts Nützlicheres, nichts Notwendigeres für Männer und Frauen als das »religiöse Gefühl«. Als ob er selbst angeklagt sei, versicherte er hoch und heilig: es ist mein Wunsch, daß meine Kinder an den einen und einzigen Gott glauben! Nicht an den abstrakten des Pantheismus, sondern an den persönlichen, mit dem man in Kontakt kommen kann, der dem Bedrohten hilft. Um dieses Kontakts willen sei schließlich der Mittler da. Nachdem er so alle Zweifel über seine religiöse Respektabilität zerstreut hatte, konnte er wagen, das etwas Ungewisse Verhältnis seines Klienten zu Gott freundlicher erscheinen zu lassen. Man hatte ihm vorgeworfen (und das war einer der wesentlichsten Anklagepunkte): er verschmelze Religion und Sinnlichkeit. Man klage die Wirklichkeit an! rief Senard: der 136
Dichter hat nur nach der Wirklichkeit erzählt. Als ob das eine Entschuldigung in den Augen von Männern wäre, die den Künstlern die Aufgabe stellen, aus Lesern Seraphims zu machen. Deshalb begnügte sich auch das Plädoyer nicht damit. Es ging einen guten Schritt weiter. Der Staatsanwalt hatte behauptet: es gebe keine Frau, selbst nicht unter dem Himmel Italiens und Spaniens, die Gott wie einem Liebhaber Süßes zuflüstere. Der Verteidiger war anderer Meinung. Er diskutierte zwar nicht das Thema: Klima und Liebe; ob Hitzigkeit vor allem unter dem Himmel Italiens und Spaniens ausbreche. Er wies nur auf das Leben der Heiligen Therese hin und auf die Madame Guyon, die mystische Freundin der Maintenon. Sehr flüchtig. Als ob er zu gleicher Zeit etwas sagen und verschweigen wollte. Schade! Kannte der Mann nicht die Geschichte der Religionen? Oder wagte er nicht, das knifflige Thema anzupacken? Er hätte die Möglichkeit gehabt, hier seinem Gegner eine eindrucksvolle Belehrung zuteil werden zu lassen. Herodot, hätte er beginnen können, berichtete schon, daß sich viele Völker in Tempeln »begatten und vom Beischlaf ungewaschen ins Heiligtum« gehen. Ein mehr beschlagener (oder couragierterer) Senard hätte dann die Isis-Feiern der Ägypter geschildert, die phönizischen Venus- und Adonis-Feste, die Dionysien der Hellenen, den Tag der Flora im alten Rom, die Huldigungen an die Bona Dea ... eine Kette von Veranstaltungen, in denen Heiliges und Profanes unscheidbar vermischt sind. Wahrscheinlich hätte dann der deklarierte Christ Pinard erwidert: heidnische Sitten und Gebräuche! Das hätte die große Stunde des M. Senard sein können. Aus der vielhundertjährigen Geschichte der christlichen Mystik war reichlich zu zitieren. Und zwar nicht nur das, was unter dem Himmel Italiens und Spaniens geschah. Im kalten Norden hatte, im Dreizehnten Jahrhundert, der Mönch Wilibald von Stablo keine staatsanwältlichen Bedenken gehabt, den Abt Rupert
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von Deutz klipp und klar zu fragen: ich bitte Euch, »beim Sohne der Jungfrau, daß Ihr geruht, mir zu schreiben, ob jemand die Palme der Jungfräulichkeit verliert, wenn er oder wenn sie durch eigene Hand oder mit fremder Hand oder sonst auf irgendeine Weise ohne natürlichen Geschlechtsverkehr seinen Samen hervorlockt; und ferner, ob eine so befleckte Person geweiht werden darf«. Wurde hier nicht Profanes und Heiliges gemischt, wenn »beim Sohne der Jungfrau« zwischen Mönch und Abt die Onanie erörtert wurde? Und es war im selben Dreizehnten Jahrhundert, in dem das erste deutschgeschriebene Buch der Mystik, Mechthild von Magdeburgs »Das fließende Licht der Gottheit«, spekulierte: Gott schuf sich die Seele zur Braut, damit er »etwas zur Minne habe«. Die Nonne dachte an einen Liebestrank, Jesum zu gewinnen. Und fragte ihn: »Herr, wohin soll ich dich legen?« Und antwortete: »Ich will dich in mein Bett legen.« Abermals im kalten Norden, im Vierzehnten Jahrhundert, ließen Jesus-Bräute nachts ihre Türe offen, damit der Bräutigam jederzeit eintreten könne. Eine von ihnen, Margaretha Ebner, geboren in Bayern, beschrieb in ihren »Offenbarungen«: wie sie ein Kruzifix an ihr »bloßes Herz« preßte; und berichtete »von der Lust und den süßen Gnaden«, die sie dabei empfand: »Von meinem Herrn wird mir oft zugesprochen minniglich und süßiglich: Schone Deiner selbst und laß uns beieinander sein. Des gelüstet mich aus rechter Minne zu dir.« Und als Margaretha ein Bild erhielt: Jesus in der Wiege, träumte sie in der Nacht: »Da sprach ich zu ihm: ›Warum bist Du nicht züchtig und läßt mich nicht schlafen?‹ Da sprach das Kind: ›Ich will Dich nicht schlafen lassen, Du mußt mich zu Dir nehmen.‹ So nahm ich es mit Begierden und mit Freuden aus der Wiege und stellte es auf meinen Schoß. Da war es ein leibhaftiges Kind. Da sprach ich: ›Küsse mich, so will ich es vergessen, daß Du mir die Ruh benommen hast!‹ Da umfing es mich mit seinen Armen und halste und küßte mich. Danach verlangte ich von ihm, zu wissen um die heilige Beschnei-
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düng, das wird mir nicht von ihm kundgetan.« Auf alten Holzschnitten der Wiener Bibliothek, die aus diesem Jahrhundert stammen, zieht Christus der minnenden Seele die Kleider ab. Ein Vers gibt die Erklärung: Willst du dich freuen mein So mußt du ganz entblößet sein.
Flaubert ist, im Jahrhundert der psychologischen Verdächtigungen, nicht soweit gegangen. Aus dem Fünfzehnten Jahrhundert hätte Senard diese SchlußVerse eines Jesus-Lieds anführen können: Meines Liebsten Arme Stehen weite ausgebreitet: Ach könnt ich darin rasten, So vergaß ich all mein Leid! Er hat zu mir geneiget, Seinen edlen roten Mund: Ach könnt ich ihn küssen, Meine Seele, die würde gesund.
Und ein »Badelied« aus derselben Epoche endet: Ihr Fräulein insgeheime, Dies Badeliedli reine Wünsch ich Euch alle Stund. Daß Euch Gottes Gnad erwarme, Nehmt Jesus in die Arme, Daß er sich schier erbarme Und mach die Seel gesund!
Eine weniger aufgeklärte Zeit als das Neunzehnte Jahrhundert durfte noch schlicht-»unschuldig« dies Ineinander von Trieben und Aufschwüngen aussprechen, ohne daß Gutes und Böses auseinandersortiert wurde. Das begann erst in der Zeit, in der Schiller dichtete: Ach, zu oft nur drückt der Gottesliebe Aphrodite ihren Stempel auf. 139
Nach dem Dreizehnten, Vierzehnten und Fünfzehnten Jahrhundert: das Sechzehnte. Aus ihm stammen die Lieder des Heiligen Franfois de Sales, die durch die Jahrhunderte von der weiblichen Bevölkerung Frankreichs gesungen wurden: Vive Jesus, lorsque sà bouche D'un baiser amoureux me touche.
Und Zeitgenossen der Herren Pinard und Senard, die Gebrüder Goncourt, notierten in ihren Tagebüchern: Religion ist ein Teil des weiblichen Geschlechtslebens. In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts beschrieb der Katholik Franz Blei ein Manuskript der Münchener Bibliothek, eine Bilderfolge Liebeswerke und Einung, wie folgt: Jesus tritt in das Schlafgemach seiner Braut, der Seele, und geht an ihr Bett, sie zu beschauen, die eine Magd ist. Auf dem nächsten Bilde ergötzt sich das Paar an reicher Tafel. Die Standhaftigkeit wird auf dem dritten geprüft, da Jesus die Braut ganz entblößt und mit Ruten schlägt. Nun wendet er ihr wieder seine Liebe zu und reicht ihr den Becher mit dem Minnetrank. Die nackte Magd umfaßt ihren Geliebten, fesselt ihn und schießt ihm den Pfeil der Liebe ins Herz. Das letzte Bild stellt beide trunken von Liebe dar: ChristopherOrpheus singt seiner Braut Liebesworte ins Ohr. Die unio mystica und die unio physica, religiöse und sexuelle Inbrunst, zwei Ekstasen, zwei Aufschwünge aus dem Alltag heraus, aus dem Individuum heraus, aus der Zeit heraus ... in welchem ursächlichen Zusammenhang sie auch stehen mögen: sie hatten immer die Neigung, ineinander zu fließen. Der Herr Senard aber hatte entweder nicht die Kenntnis oder nicht den Mut, um das dem Staatsanwalt deutlich zu machen. Wie lahm war es, Bossuets »Unerlaubte Vergnügungen« als Kronzeugen heranzuholen! Bossuet schilderte die Illusionen, die von den Sinnen ausgebrütet werden. Flaubert hingegen sah (wie der Staatsanwalt sehr gut erkannte) das Glück, das 140
aus der Sinnlichkeit kommt. Versuchte der Verteidiger, zu täuschen oder täuschte er sich selbst? Unter heftigstem Feuer stand Flauberts außerordentliche Schilderung der letzten, mit Wollust empfangenen Ölung, die der Selbstmörderin zuteil wird. Senard hätte aus der Geschichte des christlichen Epikuräismus den christlichen Philosophen Malebranche, der zur Kongregation der Väter des Oratoriums Jesu gehörte, zitieren können: »Wir gehorchen Gott, wenn wir dem Instinkt nachgeben, der uns treibt, unsere Sinne und Leidenschaften zu befriedigen.« Auch hätte Senard darauf hinweisen können, was später der Graezist Usener so umschrieb: »Das ganze Heidentum zog in das Christentum ein.« Mußte einziehen, hätte der Advokat hinzufügen dürfen, weil es sonst nur die Geister, nicht auch die dazugehörigen Körper erobert hätte. Ach, der Liberale zog sich, wie dann jeder seiner Kollegen in ähnlicher Situation, hinter das Lob auf die poetische Gestaltung zurück. Und schob, ein ewiges Muster, das Ästhetische vor, um sich vor dem Moralischen zu drücken. Der Staatsanwalt hatte besonders die folgenden Sätze Flauberts auf die Anklagebank verwiesen: »Der Priester erhob sich und ergriff das Kruzifix. Sie reckte den Hals wie jemand, den es dürstet, und preßte auf den Leib des Gottmenschen mit dem letzten Rest ihrer Kraft den innigsten Liebeskuß, den sie jemals gegeben hatte. Dann sprach der Geistliche das Misereatur und das Indulgentiam, tauchte seinen rechten Daumen in das öl und begann die heilige Handlung; zuerst salbte er die Augen, die so begehrlich nach allen Herrlichkeiten der Welt geschaut hatten; dann die Nasenflügel, die so gern die lauen Lüfte und die Düfte der Liebe eingesogen, dann den Mund, der so oft zu Lügen sich aufgetan, in Hoffart gezuckt und in Wollust gestöhnt hatte, dann die Hände, so geschaffen, zärtlich zu berühren, und endlich die Sohlen der Füße, die einst so flink gelaufen waren, wenn es galt, ein Begehren zu stillen.« Der Ankläger kommentierte: »Ich treffe in einem Roman
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nicht gern heilige Dinge an.« Er hätte noch deutlicher sagen können: hier wird allen Sinnlichkeiten feierlich das Cachet der Heiligkeit verliehen. Georg Büchner hatte einige Jahrzehnte zuvor geschrieben: »Wer am meisten genießt, betet am meisten.« In diesem humanen Sinne hätte M. Senard antworten sollen. Der Staatsanwalt wußte: die Aufhebung der Grenze zwischen den sogenannten niedrigen und den sogenannten höheren Trieben ist bereits Anarchie, da diese Grenze die Ordnung herstellt. Der instinktsichere Mann merkte, daß alle Entkleidungen harmlos sind vor der Überschreitung jener soliden Linie, die das sogenannte Menschliche von dem sogenannten Tierischen scheidet. M. Pinard witterte das Ende der Welt, als Emma Bovary »den Herrgott mit denselben Koseworten anredete, die sie ihrem Geliebten in den hingebenden Augenblicken des Ehebruchs zugeflüstert hatte«. Er stand auf dem festgetretenen Boden einer uralten Tradition. Sein Gegenspieler hingegen hatte der Anklage nichts als advokatorische Kunststückchen entgegenzusetzen. Sainte-Beuve habe dasselbe getan – weshalb ist er nicht angeklagt worden? Ein seltsamer Jurist, der sich vor einer Anklage darauf beruft, daß ein anderer, der dasselbe getan hat, nicht angeklagt worden ist. Aber dann konnte der Verteidiger wirklich noch alle düpieren; und vielleicht sogar sich selbst. Er konnte, hier angelangt, einen kleinen Überraschungs-Sieg erringen. Woher stammt Flauberts Ritual der letzten Ölung? Nicht aus seiner schmutzigen Phantasie, die als gotteslästerlich plus obszön gestempelt worden ist. Die heilige Handlung ist sehr genau einem Katechismus nachgebildet worden, der von Abbé Ambroise Guillois, Kuratus von Notre-Dame-du-Pre verfaßt, von Seiner Eminenz, dem Kardinal Gousset, von den Bischöfen und Erzbischöfen von Mans, Tours, Bordeaux und Köln anerkannt, vor sechs Jahren gedruckt wurde. Siegesgewiß las der Anwalt vor, wie auch im offiziellen Buch des Abbe" während der letzten Ölung alle Sinne aufgerufen werden: die Augen, die Ohren, die Nasenlöcher, der Mund,
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die Lippen; sogar das Gemachte und die ungezähmten Triebe waren nicht vergessen worden ... Und das Gericht bemerkte offenbar nicht, daß der stolze Besitzer dieser funkelnden Waffe – wußte er es? – ganz hübsch mogelte. Flaubert schuf in seiner Mischung von Profanem und Heiligem wirklich eine Aufhebung dieser Scheidung. Während die Vorlage, nach welcher der Erzähler sehr präzis gearbeitet hatte, in schärfstem Gegensatz zum Roman die Sinne aufrief – um sie zu verdammen. M. Senard hatte noch zwei andere Pfeile im Köcher; er hatte ein ganzes Bündel davon, zeigte es vor, zog aber nur die beiden heraus: den angesehenen Kritiker Sainte-Beuve, der eine letzte Ölung ähnlich gemalt hatte; und den großen Poeten Lamartine. Ihn vor allem schoß Flauberts Beschützer in Sieges-Laune ab. Einen Satz Lamartines schwang er triumphierend gegen den Ankläger: der große Dichter fand, der junge Kollege Flaubert habe die Bovary zu hart angepackt. Der aber schrieb, in jenen Tagen, erstaunt: »Alles in meinem Buch sollte ihn irritieren.« Der Dichter-Fürst Lamartine wurde nicht irritiert, weil er entweder den Roman nicht genau gelesen oder nicht recht verstanden hatte. Weshalb aber lassen sich immer die Herren in den Roben des Rechts (und später auch die weniger uniformierten Geschworenen) von berühmten Zeugen der Verteidigung einschüchtern? Es wiederholte sich durch die Zeiten, daß nicht die dazu Bestellten das Urteil sprachen, sondern die Stars, die zugunsten der verhafteten Werke auftraten. Wahrscheinlich dachten M. Dubarle und M. Nacquart und M. Dupaty: wer sind wir, Richter von Rouen, vor dem großen Alphonse de Lamartine, Mitglied der Akademie, angesehen in der Republik und im Kaiserreich, berühmt in Frankreich und in der Welt! Zumal es sich um »Kunst« (magisches Wort für die Unkünstlerischen) handelt, die der überragende Kenner garantiert. Und hundert Jahre später (im »Chatterley«-Prozeß) fragte sich wahrscheinlich manch brave Geschworene: wer bin ich, eine Hausfrau aus London, vor dem berühmten E. M. For-
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ster, Ehrenbürger der Welt? Und so wurden alle diese Urteile kleinmütig-freiwillige Unterwerfungen in einem besonderen Fall... ohne irgendwelche Konsequenzen. Das Falsche lag nie darin, daß Flaubert und Schnitzler und Joyce und Lawrence ihr Obszönes veröffentlichen durften – sondern: erst unter dem Druck von Autoritäten im Bezirk der Kunst, denen man nicht seine eigene Meinung im Bezirk der Moral entgegenzusetzen wagte; um so mehr, als diese Kunst-Experten sich dieser Moral anzupassen pflegten. So lernte man nichts, und verewigte seinen Aberglauben, der bei der nächsten Gelegenheit wieder virulent wurde. Man beugte sich im Moment vor Lamartine oder (siebzig Jahre später) vor angesehenen Deutschen Ordinarien der Literaturgeschichte und (wieder vierzig Jahre später) vor ähnlichen Professoren Englands und (im Falle von Henry Miller) vor einer ganzen Garde von Connoisseurs ... aus Angst, sich lächerlich zu machen, wenn man sich mit diesen Koryphäen in Widerspruch setzte. Und blieb unbeugsam in seiner Intoleranz. Sie wurde konserviert, unbeschadet der Niederlage im einzelnen Fall. Entscheidender als die guten Resultate waren immer die schlechten Argumente, mit denen sie erzielt wurden. Der Verteidiger akzeptierte die Gesetzestafeln des Staatsanwalts; und das Gericht machte sie notorisch durch Beschluß. Wie einig die Gegner immer waren, von einander geschieden nur durch winzige Tönungen! Der Ankläger monierte die Worte: »Sie gab sich ihm hin«. Mit diesem Sätzchen wurde der Ehebruch mitgeteilt. Der Verteidiger verteidigte ihn: wie taktvoll! Nur diese paar schlimmen Worte; Flaubert hätte die Hingabe auch im Detail ausmalen können. Lesen Sie, meine Herren, zum Vergleich die Verse unseres Andre1 Chenier, der sich nicht scheute, das Alabaster der weiblichen Nacktheit wortreich zu malen, während Flaubert ein Äußerstes an Zurückhaltung ist: nur dieses schmucklose Sie-gab-sich-ihm-hin. Daß so etwas allerdings nicht zu verteidigen ist – das brauchte erst gar nicht erwähnt zu werden.
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Ankläger und Verteidiger waren sich auch einig, daß der Walzer eine gefährliche Annäherung der Geschlechter hervorbringt. Dies »wilde Umherschwenken und Springen«, der Twist unserer Ahnen, war schon 1794 im »Versuch einer Enzyklopädie der Leibesübungen« gebrandmarkt worden. Und 1820 hatten Kultur-Kritiker vom Walzer geschrieben: »Jener ausländische, wollüstige Tanz, den hoffentlich kein nur etwas moralischer Zirkel dulden wird.« Denn da ging es toll und sittenlos zu, berichtete ein Augenzeuge: »Die Weiber wurden zu Bacchantinnen, die Unschuld floh aus dem Saal.« Nur, führte Flauberts Verteidiger zur Entschuldigung an: der Dichter hat diesen Walzer nicht erfunden. Natürlich würde er, M. Senard, nicht gerne sehen, wenn sich seine Frau und seine Tochter diesem Tanz hingäben; er hat soviel Ungebändigtes. Der Liberale Senard und der Konservative Pinard waren Zwillinge. Und: 1857, 1962 sind abermals Zwillinge. 1962 ist (über alle Verfemungen hinaus) in Tirol und Ägypten der Twist – und in Süd-Vietnam durch ein »Gesetz zum Schutz der Moral« jeder Tanz verboten. Der Ankläger hatte die Szene im Wagen verdammt, in dem der Notariats-Schreiber Leon und die verehelichte Bovary einen Tag lang bei heruntergelassenen Vorhängen durch die Stadt fahren. Der Verteidiger setzte dagegen: daß man doch nichts sieht und hört, so dezent sei dieser Vorgang geschildert. Allerdings konnte er dann die Entkleidungs-Szene im Absteige-Quartier nicht leugnen; auch nicht, daß sie sich ihm an die Brust warf. Aber sie tat es doch »mit einem langen Schaudern«; und ein Ehebruch, der unter einem »Schauder« vonstatten geht, ist fast schon keiner mehr. Sie waren aus dem gleichen Holz: die, welche die Anklage auf Obszönität erhoben, und die, welche irgendein Buch oder Bild oder gelegentlich einmal ein paar Takte Musik gegen solchen Vorwurf in Schutz nahmen. Der liberale Senard zitierte ein einziges Mal eine unanständige Stelle von einem französischen Klassiker. Um den Klienten zu entlasten, las der Verteidiger aus einer Liebes-
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Szene des Präsidenten Montesquieu ein Stückchen vor, das folgende Sätze enthielt: »Bereits waren meine Hände bis zu ihrer Brust gewandert. Sie rasten in alle Richtungen. Die Liebe zeigte sich nur in ihrer Wildheit. Es ging los auf den Sieg. Im nächsten Moment konnte sie sich nicht mehr verteidigen.« Dies sei schlimmer als irgend etwas, was sein Klient geschrieben habe; denn bei Montesquieu begleite keine Bitterkeit, kein Ekel die gewagte Szene – und doch werde jenes Buch Studenten der Rhetorik als Prämie verliehen. Hätte M. Senard Humor gehabt, so hätte er hinzugefügt: die Liebe habe eben ihre Rhetorik wie jede andere Passion; deshalb sei jene rhetorische Stelle sehr lehrreich für die Studenten dieses Fachs. Aber er mußte beweisen, wie sittsam er und sein Dichter waren. So wurde er einer aus dem Heer der SichEntrüstenden, indem er das Vorgelesene eine »Attacke auf die Moral« nannte, weil die Befriedigung der Sinne ohne schlechte Zensur erfolge. Der ganze Unterschied zwischen Angriff und Abwehr bestand ausschließlich darin: daß der eine jede nicht sanktionierte Sexualität von der Darstellung ausschloß – und der andere sie erlaubte, wenn nur gezeigt werde, wie schrecklich sie sei. Der Liberale entwickelte sogar eine ganz hübsch ausgewachsene Klassen-Moral: der Ursprung allen Übels sei eben gewesen, daß Emmas Papa, ein Bauer, ihr eine höhere Bildung geben ließ. Weshalb die Moral von der Geschichte sei: Schuster bleib' bei deinen Leisten! Und ein Bauern-Mädchen sollte bei ihren Kühen bleiben und sich mit einem Ochsen begnügen. Das waren die progressiven Ideen des Mannes, der, wie es in den Märchenbüchern für große Kinder heißt, siegreich war im Kampf gegen die reaktionären Schnüffler nach Schmutz und Schund. Für die Vermenschlichung des sogenannten natürlichen Schamgefühls aber wäre es immer wichtiger gewesen: der Polizei wären nicht diese und jene Kunstwerke unter zweideutigen Vorwänden entrissen worden – dafür aber den Öffentlichkeiten der Aberglaube, daß der begehrteste Genuß giftig ist.
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»Madame Bovary« freigesprochen, Madame Bovary verurteilt: das war der Ausgang. Denn die Bedeutung eines solchen Prozesses ist nicht abzulesen an der bürgerlichen Rehabilitierung des Dichters, an der Freigabe seines Werks – sondern an den moralischen Grundsätzen, die zu schlechter Letzt im Namen der Gesellschaft verkündet, der Gesellschaft eingeräumt werden. Gewinnt man nicht vom Urteil den Eindruck, die verstorbene Emma wäre zum Scheiterhaufen geführt worden, hätte sie sich nicht schon vorher aus dem Staube gemacht? Das Gericht verurteilte (erstens): Worte, Wendungen und Szenen, die den guten Geschmack und eine ehrenwerte Empfindlichkeit verletzen und ließ Tür und Tor offen für alle Nachkommen dieses Prozesses. Es gibt also Vokabeln und Ereignisse, die artikuliert ... und andere, die nicht einmal gedacht werden dürfen. Der siegreiche Verteidiger aber hatte versäumt, das Gericht mit der Geschichte dieser verdammten Worte und Geschehnisse innerhalb des großen französischen Schrifttums vertraut zu machen. Weshalb hat er nicht den Schatz der nationalen Literatur ausgestellt: von Brantome und Madame de Lafayette und Rabelais und Margarethe von Navarra bis zu den gefeierten Zeitgenossen Beranger und Musset? Das Gericht verurteilte (zweitens): die Philosophie des Romans, soweit sie im Gegensatz stehe zu den herrschenden Sitten und Institutionen und religiösen Zeremonien, den Grundlagen der französischen Gesellschaft. Aber: obwohl es oft die Leistung der Philosophie ist, die Prinzipien der herrschenden Behörden mit Geist zu schmücken, ebenso oft war es ihr Wille, die Fundamente zu zersetzen: von Sokrates bis Voltaire; und spätere Zeiten nannten dann diese Zersetzung das Positive der Epoche. War Flaubert ein Element der Auflösung? Er kritisierte nicht und konsolidierte nicht Thron und Altar. Er hatte es überhaupt nicht mit den Untertanen Napoleons III. zu tun. Aber ist es wahr, was der große Kritiker Sainte-Beuve
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schrieb: ein Anatom und Physiologe habe diesen Roman verfaßt? Ist in ihm wirklich die sternenferne Gleichgültigkeit der Wissenschaft? »Wissenschaftlich« ist (bis zu Brecht) die unwissenschaftlichste Vokabel einer hundertjährigen Konfusion. Es ist in diesem kühlen Buch des Arzt-Sohns, der dann auch (in einer Karikatur), aufgespießt von einem Seziermesser, Emmas blutendes Herz vorweist ... mehr Pathos, mehr Emotion, mehr Propaganda, mehr Provokation als alle ahnen, welche »Madame Bovary« als ein neutrales SeelenPräparat in Schutz nehmen. Gewiß suchte er seinen Figuren »durch eine unerbittliche Methode die Präzision der Naturwissenschaften zu verleihen«. Eine Forderung des Zeitalters! Aber er sagte auch: »Ich bin Madame Bovary« – und gab damit die Distanz auf. Endlich muß damit Schluß gemacht werden, den Roman als eine case history zu verharmlosen. Es ist besser, ihn zu verdammen als gefällig zu deuten. Die Richter ahnten mehr, als die Literatur-Historiker seit hundert Jahren verhüllen können. Ahnten sie wohl die Quelle des Unbehagens, das dem Roman entströmt: die Bitterkeit des Dichters? Die Erzählung gewinnt alles Licht von ihrem letzten Absatz her. Die Heldin ist tot. Auch ihr Mann ist tot, der ebenso unromantische wie unverspießte Dorf-Arzt, ein einfaches Herz. Um die Zukunft ihres Kindes ist es schlecht bestellt. Die Familie Bovary ist ausgelöscht. Dagegen ist außerordentlich am Leben der wahre Gegen-Spieler, Apotheker Hornais. Ihm sind die letzten Sätze gewidmet. Es geht ihm, Gott sei Dank, noch immer vorzüglich. »Blühend und frohgemut« breitet sich die Apotheker-Sippe aus. Schließlich wird ihm auch sein Herzenswunsch erfüllt. Die Schluß-Zeile lautet: »Kürzlich hat er das Kreuz der Ehrenlegion bekommen.« Welches Buch der WeltLiteratur hat einen letzten Satz, der böser wäre? Madame Bovary – das war Flaubert, Sehnsucht und Absturz. So genau wußten die Richter das nicht. Sie hielten sich an die Oberfläche: das Obszöne. Das Unanständigste dieser Geschichte liegt aber in dem armseligen Versuch eines Himmel-
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Flugs zur Liebe, direkt aus dem schäbigen Absteige-Quartier. Da sich die Herren das nicht klar machen konnten, verirrten sie sich mit ihrer Antipathie auf das Gebiet der Kunst-Philosophie. Ahnungslose Dilettanten, dekretierten sie: »daß die Literatur, wie jede Kunst, wenn sie ihre Sendung erfüllen will, das Leben in makelloser Reinheit wiedergeben muß«; womit nicht gemeint war, daß der Spiegel, sondern daß das Gespiegelte makellos zu sein hat. »Die Mission der Literatur sollte es sein, dem Geist zum Schmuck und zur Erholung zu dienen.« Sie sagten aber nicht, wie der Geist aussieht, wenn er nicht geschmückt ist und sich nicht erholt. So tadelte das Gericht (drittens): sein Werk beleidige »das Auge und den Geist«. Flaubert sei nicht der Verpflichtung des Künstlers nachgekommen, zu verschönen, den Verstand zu kräftigen, das Benehmen zu veredeln ... Es wäre falsch, dieser Forderung sofort den Ton der Fest-Phrase unterzulegen. Die griechischen Tempel verschönten. Voltaire kräftigte den Verstand. Goethe veredelte. Aber die Künste sind nicht aus einer einzigen Wurzel erwachsen und haben nicht nur eine einzige Funktion. Eine andere ist, zum Beispiel: Wirklichkeiten, die noch nicht Wort geworden sind, zur Sprache zu bringen. Es gibt Sphären des Daseins, die alle oder viele oder manche häßlich nennen. Die Künste stellen Schönes und Unschönes – auf schöne Weise nichts verschönernd dar. Das Fehl-Urteil war also nicht nur ein moralisches: daß es die Sehnsucht der Heldin nach Seligkeit häßlich nannte; auch ein ästhetisches: welches das Häßliche aus dem Gebiet der Kunst ausschloß, ohne Ahnung von dem großen Raum, den es hier einnimmt. Die Kenner der StrafParagraphen, die in solch einem Prozeß funktionieren, sollten vorher die Bildung erhalten, die nötig ist, um sich vom ungesunden Menschenverstand freimachen zu können. Das Gericht verurteilte (viertens): den Romancier und sein Werk auch dort, wo man der Verteidigung beipflichtete und dem Dichter wohlwollend auf die Schulter klopfte. Er war
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ein fleißiger Mann, hatte jahrein jahraus von morgens bis abends an seinem Werk geschaffen. Auch hatte er sich alle Mühe gegeben, die Sünderin zu bestrafen; er sei kein schreibender Wüstling. Leider aber ist unter seinen Figuren nicht eine, welche der Ehebrecherin den Kopf zurechtsetzt. Auch kann man das Keusche nicht fördern, wenn man vorher das Unkeusche so breit ausmalt. Ein »Realismus«, der »vulgär« ist, schockierend, nicht eine gute und schöne Wirklichkeit wiedergibt, ist »eine Beleidigung der Öffentlichkeit, ihrer Moral und ihrer guten Manieren« – auch wenn der Erzähler nicht beleidigen will. Die Richter waren nicht törichter als Staatsanwalt, Rechtsanwalt und der Dichter Lamennais; sie alle unterlagen der freundlichen Illusion, Flaubert hätte die Absicht gehabt, seine Sünderin büßen zu lassen. Er aber hatte sie doch (an der ergreifendsten Stelle des Buches), in den Armen des Tänzers Rudolf, aufblühen und jubeln lassen: »Ich habe einen Liebhaber.« Flaubert wurde am grausamsten verurteilt, als man ihm mildernde Umstände zubilligte. Es sieht so aus, als hätte sich schließlich alles in Wohlgefallen aufgelöst. Der Verteidiger, dem die Richter weitgehend folgten, den der Dichter in einer Widmung pries, den das Jahrhundert seit 1857 feiert, der bekannte: das Leben ist etwas Prosaisches, womit man sich abfinden muß ... dieser juristische Homais, der auch Apotheker in Yonville hätte sein können, ging als epochaler Sieger hervor. Es war wie im Märchen: sogar der Staatsanwalt war zufrieden. Er allerdings mit größerem Recht. Denn die Sexual-Moral, die er vertrat, ging stärker aus dem Prozeß hervor als Flaubert und sein Retter. Weil niemand gefragt hatte: ist das Geschlechtliche sündhaft? Oder ist es zwar nicht sündhaft – aber nur in bestimmten Grenzen nicht? Oder ist zwar die Betätigung nicht sündhaft, wohl aber die Darstellung? Oder darf manches dargestellt werden, manches aber nicht? Weil es Gott nicht will – oder nur nicht so will? Weil die Darstellung der Gesellschaft scha-
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det – oder nur einem Teil? Und welche Beweise sind für den Schaden erbracht worden? Es waren die nicht-gestellten Fragen, die den Prozeß zu einer Niederlage machten. Für die Menschwerdung des sogenannten Schamgefühls aber wäre wichtiger als die Freigabe des Buches ein Vorwärtskommen auf dem Weg zur Erhellung des Anstoßnehmens gewesen. Flaubert wußte, was alles nicht ans Licht gekommen war. Obwohl er froh war, daß sein Buch erscheinen konnte – man hatte ihm sein Konterfei, die romantische Provinzlerin, entstellt. Er war nicht in Sieges-Stimmung. In den Monaten des Rechtsstreits hatte er viele Briefe geschrieben. Sie erreichten die Gesammelten Werke; im Gedächtnis der Menschen blieb nur die ärmliche Mär von der Ehebrecherin, sowohl eine Verführung als auch ein warnendes Beispiel – und von dem Dichter, einem unbescholtenen, wenn auch etwas unvorsichtigen Klassiker an der Grenze des Erlaubten. In der Geschichte der Entrüstung aber war dieser Prozeß einer der großen Fehlschläge, dem dann manche folgten. Die moralische Intoleranz wurde mit Hilfe der Nachgiebigkeit in Aesteticis gefestigt. Das hätte nicht geschehen können, wenn Flaubert vor Gericht ausgesagt hätte, was in den Briefen aus jenen Tagen zu lesen ist. Etwa dies: Hohes Gericht! Sie verkennen mich! Ich bin völlig uninteressiert an Ihren Institutionen; ich wollte sie nicht erschüttern und nicht festigen. Ich selbst bin diese arme Frau Bovary! Wie sie leide ich am Alltag. Wie sie fliehe ich ihn. Wie sie bin ich niedergeschlagen, wenn ich aus meinen Höhenflügen zurückfalle. Nur habe ich es besser als sie: ich rücke mein Unglück als »Madame Bovary« von mir ab; so befreie ich mich weniger schmerzvoll von ihm. Ich kann in ein Paradies fliehen: in den Satz, französische Worte mir zur Lust meißelnd; die Sprach-Schönheit gewährt mir ein Asyl auf der Flucht vor der Häßlichkeit. Glauben Sie, hohe Richter, meinem Verteidiger und dem erlauchten Poeten Lamartine nicht. Sie haben versucht—aus Diplomatie? aus Beschränktheit? –, mich als einen Musterknaben
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zu präsentieren, der nach der Vorlage Schuld und Sühne arbeitet ... wenn auch nicht mit vollem Erfolg, wie mein väterlicher Freund und das hohe Gericht meinen. Sie täuschen sich. Ich liebe das Sinnliche. Leconte de Lisle sagte einmal: niemand ist fähig, in einen Puff zu gehen – ich, Gustave Flaubert, »ich war oft dazu fähig. Man lernt soviel in einem Puff und fühlt Trauer und träumt sehnsüchtig von der Liebe. Mein Herz beginnt zu schlagen, sobald ich eins jener auffallend gekleideten Mädchen im Regen unter der Laterne schlendern sehe.« Ach, »ce brave Organe genitale ist der Sitz aller menschlichen Neigungen.« Weil aber die Künstler und ihre Verteidiger immer nur daran interessiert waren, ein Werk freizubekommen, nie die Menschheit sittlich weiterzubringen, weil sie nie zu den Richtern wie zu Erwachsenen sprachen, wurden die Paragraphen-Spezialisten (eine ehrenwerte Innung) nie erwachsen. »Die Kunst«, hätte Flaubert mit den Worten seiner Briefe fortfahren können, »verlangt weder Gefälligkeit noch Höflichkeit, nichts als Ehrlichkeit«: die Einsicht in das Zusammen von »Weihrauch und Urin, von Bestialität und Mystik«. »Der Goldene Esel« des Apulejus, gegen den mein Roman ein herzlich schwaches Erotikon ist, hat meine ganze Liebe. Ich halte ihn für eins der größten Meisterwerke, die Lektüre macht mich »ganz benommen«; ich schenke meine Sympathie dem, der dies Buch schätzt. Oft habe ich in diesen Wochen meine Pariser Freundin Louise gebeten, die Gäste ihres Salons auszufragen, wie ihnen dies Werk gefällt. Nach den Antworten mache ich mir ein Bild von ihnen. Ich weiß nicht, meine Herren, wieweit Ihre Kenntnis vom Altertum geht. Wahrscheinlich kennen Sie nur Platon, der allerdings noch strenger war als unser M. Pinard; wahrscheinlich kennen Sie weniger Aristophanes, dessen Personen sich auf der Bühne entleeren. Der Verfasser der »Republik« wollte sogar, daß Homer zensuriert wird – während unser staatlicher Sittenwächter sich nur an mich heranwagt, der ich noch nicht zur klassischen Pornographie des Landes gehöre
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wie der große Balzac mit seinen »Trollatischen Geschichten«. Da nun die Diener der Justitia wahrscheinlich das einschlägige Schrifttum nicht kennen, lese ich Ihnen zur Probe eine meiner Lieblings-Stellen aus dem »Goldenen Esel« vor. Nach der Vorlesung hätten die Richter vielleicht gesagt: daß das Stubenmädchen Fotis immerhin nicht verheiratet gewesen ist; oder daß die Sitten im kaiserlichen Rom verwildert waren und kein Vorbild sind für die Sitten im kaiserlichen Paris. Unangenehmer wäre es ihnen vielleicht gewesen, wenn der Verteidiger nicht nur die Erzählung »Das doppelte Mißverständnis« des Akademikers Merimee erwähnt, sondern Stellen aus der Geschichte zum Besten gegeben hätte, die in einem Postwagen spielt – und in ihn kann man hineinsehen, während man nicht sieht und nicht hört, was in der Kutsche geschieht, in der Leon und Emma durch Rouen kutschieren. Flaubert hielt seine Rede nicht. Er beschwerte sich nur über die Kritiker, welche, nach der Veröffentlichung des Buchs, noch einmal die alte fade Melodie aborgelten. »Die gesellschaftliche Heuchelei ist fürchterlich«, klagte er; man hält schon eine photographische Wiedergabe der Wirklichkeit für eine Beleidigung und die wahrheitsgetreue Darstellung der Historie für eine Satire. Was aber hatte Flaubert beigetragen, um seine Kritiker mit und ohne Talar zu erziehen? Noch der zweitbeste Rezensent, der ihn pries, verkannte ihn. Der herrschende Kritiker, Sainte-Beuve, bezeichnete das umstrittene Buch als »Meisterwerk« – und (mit einer zweiten Entschuldigung) als »wissenschaftlich«. Diese Verteidigung veröffentlichte er im »Moniteur«, dem offiziellen Organ des Staates, der die Anklage erhoben hatte. Das brachte die Kollegen in Siede-Hitze. Im Debat hieß es: »indezent«; man konnte keinen vernichtenderen Vergleich finden als Dumas fils, dessen gesamte Heroinen sich hier in einer einzigen prostituierten. Im Constitutionel war zu lesen: die junge Generation verdiene eine bessere Literatur. L'Univers erklärte sich außerstande, ein Referat zu geben; keine Geschicklichkeit könne verhindern, daß der Dreck dabei mit herauskommt.
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Reveil mimte den Anatom: machte Einschnitte und Öffnungen in den Kadaver, um das Pathologische zu studieren; und seufzte: vor verdächtigen Champignons und grünen Kirschen schütze man sich, das Gift dieses Romans aber wird geschluckt und von der Kritik (Anspielung auf Sainte-Beuve!) noch als Herzstärkung empfohlen. Der arme Sainte-Beuve! Die Entrüsteten machten aus ihm einen Vorkämpfer der zersetzenden Literatur. Er war es ebensowenig wie M. Senard. Sainte-Beuve hatte die ungewöhnliche Begabung des jungen Romanciers laut anerkannt, weil es in Frankreich gang und gäbe sei, junge Talente totzuschlagen. Im übrigen aber riet er einer befreundeten Dame, das Buch nicht zu lesen. Sie werde es nicht vertragen: es sei zu unerbittlich, zu grausam. Selbst die Wenigen, welche das Kunst-Werk priesen, hielten es sich oder anderen vom Leibe: zwischen Beklemmung und Empörung. Und »Madame Bovary« war nicht ein französisches, sondern ein europäisches Ärgernis. Ein englischer Verleger notierte in sein Tagebuch: dieser Roman rege die Sinne auf und sei deshalb schädlich. Es gab nur wenige, die uneingeschränkt begeistert waren – abgesehen davon, daß das Publikum kaufte: d'Aurevilly zum Beispiel, Autor der »Teuflischen«. Aber nur einer schrieb Flaubert, er sei in das Geheimnis des Buches eingedrungen. Freund Baudelaire hatte erkannt, daß Emma Bovary hinter einem Ideal hergewesen sei, mit tödlichem Ausgang. Er schrieb es nieder in der Zeitschrift »Artiste«: am Tage, an dem er selbst also obszön verurteilt worden war, zu dreihundert Franken und zur Entfernung von sechs Gedichten seiner Sammlung. Vier Monate nach dem Freispruch der »Madame Bovary« erschienen Charles Baudelaires Gedichte »Die Blumen des Bösen«, in einer Auflage von dreizehnhundert Exemplaren. Der Band kostete drei Francs; der Preis sei eine Garantie dafür, meinte der Dichter, daß das Buch nicht populär werden könne.
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Die Presse erklärte: Flauberts Roman sei noch ein frommes Werk gegen diesen Schmutz. »Figaro« denunzierte einige Verse und fügte hinzu: bisweilen sei am Zustand des Verfassers zu zweifeln, bisweilen nicht mehr; dies Ungeheuer, geschaffen von einem mehr als Dreißigjährigen, sei nicht zu rechtfertigen. Steckte der Minister des Innern hinter der Denunziation? Gut drei Wochen später erfolgte die Beschlagnahme. Dichter und Verleger wurden unter Anklage gesetzt. Der Ankläger hieß wieder: M. Pinard. Baudelaire hatte kein Interesse, sich zu verteidigen. Er war bereit, sein Werk mit Hilfe falscher Auslegungen genehm zu machen: als Unterhaltungs-Lektüre oder als ein rein artistisches Gebilde oder als ein Mittel, Abscheu vor dem Laster zu wecken. Am achtundzwanzigsten August wurde der Autor verurteilt, einige Gedichte zu entfernen. Am dreißigsten Dezember schrieb er seinem Verleger, er sei entschlossen, sich dem Urteil vollständig zu unterwerfen und sechs neue Gedichte zu schreiben, viel schöner als die ausgetilgten. Neun Jahre später sagte er: sein ganzes Herz gehöre diesem Buch; aber er werde immer sagen, es sei eine Posse, ein Jongleurstückchen – »und dabei werde ich lügen wie ein Quacksalber«. Er war bis zur Gleichgültigkeit erhaben über die Anstoßnehmer. Aus Verachtung? In dem Memorandum, das er für seinen Anwalt niederschrieb, statuierte er: es gebe mehr als eine Freiheit, eine für das Genie und eine sehr begrenzte für »Gassenjungen«. Zwar riet er zur Taktik: aus dem Titel »Die Blumen des Bösen« eine moralische Absicht des Autors zu deduzieren. Seine Wahrheit aber lautete: das Genie ist über jeder Moral ... Mehr als ein Jahrhundert später, in den Tagen des Expressionismus, wurde Georg Kaiser angeklagt, weil er Teppiche aus der Villa von Freunden versetzt hatte. Er erklärte, vor Gericht: das Genie habe mit bürgerlichen Gesetzen nichts zu tun. Baudelaire geriet vor ein Tribunal, das sein Gedicht auf ein Thema hin aushorchte, welches ihn nichts anging: wie hältst Du's mit Religion und Sittlichkeit?
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Pinard, Ankläger der »Madame Bovary« und der »Blumen des Bösen«, war im zweiten Prozeß noch skeptischer in Bezug auf sein Amt. Wieder begann er: es sei »höchst delikat«, ein Buch wegen Verletzung der Moral zu verfolgen; auch hatte er bereits gelernt, daß solche Verfolgungen nur zu Erfolgen führen – für die Verfolgten; deshalb hatte er von einer Revision des Flaubert-Freispruchs abgeraten. Er war jetzt noch weniger emotioneil und wies gleich zu Beginn ausdrücklich auf die hervorragenden Männer hin, welche die künstlerische Kraft des Angeklagten bezeugten. Und diesmal endete er sogar mit der Bitte um Milde – nicht nur für den Verleger, auch für den unstabilen Poeten. Lediglich ein paar aufreizende Gedichte sollten verboten werden: als Zeichen dafür, daß der Staat wacht. Auf daß eine Warnung ergehe an die immer stärker werdende Tendenz in Richtung Obszön. Der Staatsanwalt stand nicht gegen den einen Baudelaire, sondern gegen den Trend einer neuen Sexual-Unmoral. Einige Ärgernisse zitierte er: zum Beispiel den Schluß des Gedichts »Die Lethe«: Als Märtyrer verurteilt ohne Schuld, Der voller Inbrunst seinem Tod begegnet, Will ich, auf daß mein Haßgefühl sich legt, Nepenthes und den holden Schierling trinken Aus steilen Brüsten, die mir zärtlich winken, In denen niemals sich ein Herz geregt.
Zitierte dann die letzten Strophen des Gedichts »Der Allzufrohen«: Des Frühlings Lust und frohes Grünen Verspottete mein armes Herz. Drum schuf ich einer Blume Schmerz, Den Hochmut der Natur zu sühnen. Und so auch wünschte ich zur Nacht, Schlägt mir der Wollust kühne Stunde, Zu des Alkoven reichem Grunde Mich feig zu schleichen mit Bedacht. 156
Um dort dein frohes Fleisch zu plagen Und um zu quälen deine Brust, In den erstaunten Leib zur Lust Dir eine Wunde tief zu schlagen. Und dir – berauscht, verzückt und blind – Durch solche Lippen, neu erschaffen, Die herrlicher und schöner klaffen, Mein Gift einflößen, o mein Kind!
Der Vertreter des Staats kommentierte nicht, so daß wir leider nicht wissen: hielt er sich an ein paar unfeine Vokabeln oder ging ihm das Furchtbare der Dichtung auf? Fand er nur die üblichen Unanständigkeiten oder wurde ihm das Ungeheuerliche bewußt: daß einer nicht nur seine (immerhin üblichen) Liebes-Spiele publiziert, sondern daß er die Lust in den Dienst des Hasses stellt, ein Attentat unternimmt auf die Unschuld der Natur (und was ist unschuldiger als eine Blume?), daß ihn ein frohes Mädchen zu einer Lust-Operation reizt, daß er feige zur Liebsten schleicht – und nicht, um ihr Vergnügen im gängigen Sinne zu bereiten. Es ist nicht anzunehmen, daß Pinard genau las. Sonst hätte er, bei aller Skepsis, den Mann für einen obszönen Unhold erklärt. Der Staatsanwalt verdammte »Die verdammten Frauen«. Das Ende lautet (in Stefan Georges Übersetzung): In mitleid folg' ich euch in eure hölle Euch armen Schwestern bin ich zugewandt Ob eurer quäl ob eurer gierden volle ob eurer herzen groß und lichtentbrannt.
Und in »Lesbos«, auch verurteilt, heißt es: Was bedeuten die sätze des guten und schlechten? Hehre mädchen. Ihr zierde der inselweit. Euer glaube ist einer der großen und echten. Liebe hat himmel und hölle in schatten gestellt. Was bedeuten die sätze des guten und schlechten?
Was sie bedeuten, das zu sagen, darüber zu wachen war M. Pinard bestellt. Diese fünf Zeilen waren ein Einbruch in seine Welt. Weshalb verteidigte er sie nicht stärker? 157
Auch gegen das, was in dieser Welt als Gotteslästerung empört, die immer als Zwilling der Lästerung des keuschen Menschen auftauchte? Zwar wurde auch hier, von demselben Mann Pinard, wieder verkündet, daß »die religiöse Moral«, die große christliche Lehre, Grundlage des öffentlichen Lebens, verletzt sei: in den Gedichten »Abel und Kain«, »Die Litaneien des Satan«, der »Wein des Mörders«. Weshalb aber wurde Flauberts Beschreibung der letzten Ölung so laut als Blasphemie angeklagt – und nur nebenbei erwähnt der ungeheuer viel stärkere Beginn von Baudelaires Gedicht »Die Verleugnung des Heiligen Petrus«? Was macht nur gott mit diesem stürm von fluchen Der stets zu seinen lieben engein gellt? Wie ein tyrann mit fleisch und wein geschwellt Entschläft er sanft bei unseren lästerflüchen.
Es endet (in der Übersetzung Stefan Georges) mit der Zeile: Petrus verleugnete den herrn mit recht.
Das Rätsel dieses zweiten Prozesses war die Milde vor einem Werk, das, nach herrschender Anschauung, ein bisher unerreichter Gipfel des Obszön-Blasphemischen war. Darf man schon hier die Vorsicht des Staats vor den berühmten Künstlern und Kunst-Kennern erkennen, die das Werk priesen? Dann war sie auch hier nur ein strategischer Rückzug, dem keine Änderung des religiös-moralischen Klimas entsprach. M. Pinard, sehr zurückhaltend, hatte schon eingeräumt, noch bevor es geltend gemacht werden konnte: Baudelaire ist ein Meister und hat die besten Absichten gehabt. Gustave Chaix d'Est-Ange, der nun gegen die Anklage auftrat, repetierte entschuldigend noch einmal, was gar nicht strittig war. Er ist noch.blumiger als der Kollege Senard. Ebenso stolz, daß sein Schützling so fleißig gearbeitet hatte, verglich er ihn mit einer Schwangeren, die mit Hingebung die Frucht ausgetragen habe. »Die Blumen des Bösen« waren die gesammelten Früchte von sechzehn Jahren. Die Frage war nur, ob sie bekömmlich sind. 158
Sie wären wie christliche Predigten, predigte der Verteidiger. Mag sein, die Farben sind etwas grell – aber im Dienste des Guten. Der Poet habe eine Art Dantescher Hölle gemalt; solch ein Vergleich nobilitiert. Moliere habe gewußt, daß man das Böse zeichnen muß, will man das Gute fördern. Und Balzac habe im Moralisieren, nicht im Amüsieren das Herz der Kunst erblickt. Das Gericht erhielt auch noch die dazugehörigen Zitate. So – von Dante, Moliere und Balzac flankiert – wurde Baudelaire vorgestellt. Wieweit glaubte der Verteidiger, was er von dem großen »Christen« und »Moralisten« Baudelaire sagte? Wieweit glaubte es das Gericht? Am Tage nach seiner Verurteilung schrieb Baudelaire über den »Madame Bovary«-Prozeß: man habe diesem schönen Werk vorgeworfen, nicht eine einzige Person des Romans verurteile die Ehebrecherin: »Ewige Verwechslung der Amtshandlungen und der Dichtungsarten.« Und in demselben Jahr 1857, in dem er öffentlich von seinem Verteidiger auf fromm geschminkt wurde, mit Einwilligung des Geschminkten, veröffentlichte Baudelaire eine ungeschminkte Attacke auf die Einmischung moralischer Überlegungen in die Geschäfte der Kunst. »Die Poesie«, ließ er im Jahr des Prozesses drucken, »hat kein anderes Ziel als sich selber«; das große Gedicht wird einzig »um des Vergnügens willen« geschrieben. Selbst die »Wahrheit hat nichts mit den Liedern zu tun«. Der Dichter, der auf Moralisches aus ist, vermindere seine Kraft. Es sei schmerzlich, festzustellen, daß wir in zwei entgegengesetzten Schulen die gleichen Irrtümer finden: in der bürgerlichen und in der sozialistischen: »Moral! Moral! schreien sie alle beide in Missionsfieber.« Am Anfang war L'art pour l'art (es wurde dann vergessen) eine leidenschaftliche Abwehr: gegen die Maßregelung dessen, was in den Künsten ans Licht kam, nach dem Maßstab gerade geltender Gesetze, gerade geltender Theorien. Als er geboren wurde, war L'art pour l'art die Losung in einem Befreiungskampf. In den Gebilden der Phantasie konnte sich das Neue am leichtesten durchsetzen: ohne Missionsfieber.
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Warum ließ sich der Staatsanwalt entgehen, Baudelaires Pronunciamentos der Gleichgültigkeit gegen die Empfindlichkeit seiner Mitmenschen zu zitieren? Weil die geistigen Probleme der Zeit auf dem Amtsweg erledigt werden. Weil nicht das geringste Interesse bestand, den Konflikt durchzudenken. Das Gericht ging nicht einmal auf die Schluß-Pointe des Verteidigers ein, der einen imposanten Aufmarsch der unanständigen Klassiker arrangierte, vom Sechzehnten Jahrhundert an bis zu den Zeitgenossen Alfred de Musset und Beranger. Musset war im Jahr zuvor gestorben, hochgeehrt. Aber nicht nur die Staatsanwaltschaft, auch der Verteidiger hätte wohl gezögert, sich über die Obszönitäten des Gefeierten auszusprechen. Der Dichter hatte neben seinem offiziellen Ruhm noch einen geheimen: als Verfasser der Erzählung »Gamiani«, einem Prachtstück pornographischer Literatur. Es wäre nicht möglich gewesen, aus der Geschichte dieser Dame, die in leidenschaftlicher Liebe zu dem jüngeren Mädchen Fanni entbrannte und ihr, nach den wildesten Umschlingungen, den tödlichen Liebes-Trank gab, um sie dem Mann, der sie liebte, wegzunehmen ... es wäre nicht möglich gewesen, dies Werk des großen französischen Autors der Öffentlichkeit zu präsentieren; wahrscheinlich hätte sich das Gericht selbst von solch einer Vorlesung ausgeschlossen. Verglichen mit seinen Szenen waren »Die verdammten Frauen« und »Lesbos« unansehnlich – als Gefahr. Wußten die Herren von diesem Werk? Kannte es der Verteidiger, der zum Schluß seines Plädoyers auf Musset hinwies? Wenn er es gelesen hatte – weshalb spielte er den Trumpf nicht aus? Wenn sie aber alle ahnungslos waren, die Männer, die in einem solchen Verfahren agierten, erfüllten sie dann ihre Berufs-Pflicht? Sie sollten mehr kennen, als was sie auf der Schule gelernt haben: zum Beispiel auch das Leben und die Literatur, die nicht in Kinder-Fibeln zugeteilt wird. Es ist, noch in der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts, bei Verhandlungen über Obszönes herausgekommen, daß keiner der Beteiligten wußte, wovon er sprach: nicht der Gesetzgeber,
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nicht der Polizist, nicht der Verteidiger, nicht der Ankläger, nicht der Richter und nicht der Geschworene. Sie kannten nicht die einschlägige Literatur, über die sie urteilten. Und wäre es nicht förderlich, wenn sie darüber nachdächten, weshalb die größten Dichter mehr oder weniger geheim die Welt des Sexus ohne Metaphern dargestellt haben? Und weshalb man es den Musset und Beranger nicht erlaubt, während die Paul de Kock aller Zeiten ungeniert die Mädchen so gut versorgten, daß sie eigentlich eine »Madame Bovary« und »Die Blumen des Bösen« nie nötig hatten? Es entbehrt nicht der Komik, daß Baudelaire seinem Verteidiger riet, Beranger ins Feld zu führen: als Beweis dafür, daß man zu gleicher Zeit unanständig – und dennoch der Stolz der Nation sein kann. Beranger, siebenundsiebzig Jahre alt, bereits ein nationales Monument, hatte einst ausgiebig den Wein und die Liebe bedichtet, zum Beispiel mit dem Refrain: »Recommenfons! Recommencons!«: Encore un coup vite! dit-elle Recommençons! Recommençons!
Aber diese Zeilen, vor Gericht zitiert, hätten dem Angeklagten nicht genützt. Beranger war vor vierzig Jahren wegen Obszönität zu fünfzig Franken und drei Monaten Gefängnis verurteilt worden. Vor zwanzig Jahren, als seine Gesammelten Werke herauskamen, wurde der fünfte Band, überhaupt nur unter dem Ladentisch existent, verboten. Was also konnte die Verteidigung mit der Zitierung seines Namens beweisen? Das Aufbringen des Themas Beranger war um so grotesker, als Baudelaire keine Achtung vor ihm hatte. Und Freund Flaubert schrieb ihm, am Tage nach seiner Verurteilung: »Diese Verfolgung hat keinen Sinn. Sie empört mich. Und die Nation hat gerade Beranger gefeiert! Diesen dreckigen Bourgeois, der die leichte Liebe besungen hat und die habits rapes.« Die leichte Liebe ist Teil der bürgerlichen Anständigkeit; nicht gerade der respektabelste – aber immerhin freund-
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lieh zugelassen. Wenn sie auch nicht fein ist, so produziert sie (wird sie nicht an die große Glocke gehängt) kein Ärgernis, eher ein angenehm kitzelndes, stillschweigendes Einverständnis. Die vom Gericht hatten wohl auch ihre Jugend-Affären gehabt; sie sind nicht so schlimm, sie werden erst verborgen und dann auch noch vergessen. Hier aber rückt einer das Geschlecht in die Helle poetischer Faszination, ohne es platonisch zu überglänzen: oder wenigstens im Namen der Amoretten halblegitim zu machen. Hier kommt Sexus nicht als ein alle bezwingender, von allen jauchzend empfangener Gott, sondern wie ein brünstig umworbener Untergang. Baudelaire wurde einer der ersten französischen Wagnerianer. Auch deshalb, weil im »Ring« Liebe und Weltuntergang im selben Brand auflodern? Erst bei Flaubert und Baudelaire und ihren Enkeln wurde es bitterernst: die Liebe Freuds, Schnitzlers, Lawrences, Henry Millers wurde eine Naturgewalt, die sich nicht mehr in die niedlichen Giftschränkchen der Erinnerung an die Jugend unterbringen läßt; auch durchaus nicht immer in ein großes Jauchzen einklingt. Flaubert schrieb an Baudelaire: »Sie besingen das Fleisch, ohne es zu lieben – so traurig, so detachiert; ich sympathisiere damit.« Mit diesem Satz kam auch eine neue Obszönität ins Bewußtsein. Das Gericht sprach sich aus gegen die »verderbliche Wirkung der Bilder«. Wen und was verdarben sie? Das beantworteten sie nicht, weil sie an Straf-Paragraphen interessiert waren, nicht an einer Diagnose dessen, was da am Horizont heraufzog. Witterte man: daß die Lust eine Energie hinter den zerstörendsten Kräften geworden ist? Um so zerstörender, wenn sie nicht der Lust diente, sondern der Unlust? Sie sprengte die Einheit von Liebe und Sittlichkeit: Den eitlen Träumer laß auf ewig uns verfluchen, Der als ein erster in verworfener Nüchternheit Sich an dem Rätsel, dem verschlossenen, zu versuchen, Die Liebe einen will mit Recht und Sittlichkeit.
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Das ist weit furchtbarer als irgendein In-Brandsetzen der Wollust, die auch dann wieder ausbrennt. Das ist ein Herausbrechen des anarchischen Elements aus dem Gefüge, in dem es gebunden war. Baudelaire, der Esoterische, der keinen Kitzel dichtete, häufte mehr Dynamit als die gesamte antike Nacktheit der »HetärenGespräche« und des berüchtigten »Gastmahl des Trimalchio«. Baudelaire war ein schwermütiger christlicher Blick auf die Blumen des Bösen; er hegte und pflegte sie und genoß, gar nicht christlich, ihren Duft in berauschter Trauer. Und trank Nepenthes, den magischen Trank, der in homerischen Tagen gegen die schwarze Melancholie gebraut wurde – »aus steilen Brüsten«. Man kann seine Tristia auch biographisch umreißen. In frühen Jahren wollte er sich töten, weil er, wie er schrieb, den andern nicht nütze und sich selbst gefährlich sei. Und er wollte nicht nützlich sein, weil er – in der Sicht eingeengt auf das Reich der Bourgeoisie – im Nützlichen nur das Häßliche sah. Er fühlte sich verödet; der Haß, mit dem man seine Gedichte verfolgte, und der Prozeß belebten ihn nur flüchtig. Er kannte kein Liebes-Glück: nur Sehnen und Krankheit. So kann man das Sich-quälen und Rache-nehmen auch aus diesem Schicksal ableiten. Die Verschmelzung von sexueller Lust und Ekel war schon in den Strophen des Jugend-Gedichts: Sie ist erst zwanzig; der schlaffe Busen hängt beidseitig tief hinab, zum Flaschenkürbis ausgelängt, Und dennoch midi's allnächtlich zu ihr reißt, Dem Neugebornen gleich, der saugt und beißt. Und da sie meistens keinen roten Heller hat, Den Leib zu pflegen und zu salben, tu ich's an ihrer statt, Ich leck sie still und feuriger bewegt, Als Magdalena war, da sie des Herren Fuß gepflegt.
Merkte das Gericht, daß in diesem Dichter etwas heraufkam, was bei Flaubert erst in Ansätzen da war, was ein Redakteur (als wäre damit etwas gesagt) »sadistische Mittel« schimpfte 163
und – was nichts mehr zu tun hat mit den lustigen Anakreontikern aller Zeiten? Obszön erhielt einen neuen Zug: das Leiden. Orgasmus und Passion verschmolzen. Sollten die Richter das empfunden, wenn auch nicht gewußt haben, so ist die milde Strafe nicht zu verstehen. Denn was da ins Bewußtsein gelangte, bedrohte ihre Welt furchtbarer als die ganze Reihe der Experimente, die Ehe zu liberalisieren. Als wäre er ein eifernder Mönch, sah Baudelaire in der Liebe die Folter, den chirurgischen Eingriff, das Zusammenspiel von Henker und Opfer ... und wurde nicht müde, den Duft der Blumen des Bösen einzuatmen und zu besingen. Auch dieser, sein Verteidiger war nicht ernstzunehmen. Er deklamierte mit Genuß die Poesie seines Schützlings, als ob ihre sprachliche Kraft zur Diskussion stände. Ob sich die Herren von der Justiz aus Versen etwas machten oder nicht, wissen wir nicht; es ist auch nicht wissenswert. Pinard hatte mit Recht abgelehnt, als Kunst-Kritiker zu fungieren. Er war von Beruf Sitten-Wächter. Die Aufgabe des Gegners wäre es gewesen, sich näher anzusehen, was da bewacht wird. M. Chaix d'Est-Ange konnte es nicht. Denn er unterschied sich ebensowenig wie sein Vorgänger, Senard, von dem Ankläger. Der hatte mit einer Präzision, die den liberalen Verteidigern immer fehlte, sein Bild vom Menschen gezeichnet, Ausgangspunkt seiner Attacken gegen das Obszöne: der Mensch ist ein Lebe-Wesen, mehr oder weniger gebrechlich, mehr oder weniger schwach, mehr oder weniger krank, und immer unter dem Druck des Sünden-Falls – um so mehr, wenn er daran zweifelt oder gar dies Verhängnis leugnet. So heikel ist seine Natur, solange er sie nicht durch männliche Anstrengungen und feste Disziplin veredelt. Wie leicht ist es da, Geschmack zu finden an »lasziven Frivolitäten«, ohne sich um die Lehre zu kümmern, die der Dichter geben will. Kurz: es nützt nichts, diese »Blumen« böse zu nennen, wenn man sie mit »steilen Brüsten«, einem »Tigergeruch«, »zarten Musselin, der halb dich nur bekleidet« und ähnlichen locken-
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den Attributen beschenkt. Diese »Kleinode«: ihr Bauch, ihr Schoß, die er noch »Trauben seines Weines« nennt, führen nicht gerade (wird der Beamte gefunden haben) zu frommem Werk. Die lasziven Frivolitäten bestehen aus Substantiven und Adjektiven und Verben: vor allem, wenn sie in so benannten Zusammenhängen vorkommen. Sah man wirklich nur das? Spielte der Prozeß heute, kennte man persönlich Pinard und Chaix d'Est-Ange und die Herren, die das Urteil fällten, könnte man nicht nur ihre Worte lesen, auch die Intonation hören ... so wäre es vielleicht möglich, zu entscheiden, was hier verurteilt wurde. Wir können es nicht. Die Nachwelt aber sollte nicht den paar hundert Franken nachweinen (die dem Dichter, der eine Petition einreichte, auf dem Gnadenweg erlassen wurden) und nicht den sechs verhafteten Gedichten (die bald in Freiheit erschienen) – sondern abermals einem der vielen Versäumnisse, ins Licht des Bewußtseins zu heben: was ein großer Dichter aus dem untersten Orkus mitgebracht hat. Die Entrüstung hätte die Aufklärung hervorreizen können. Die Verteidiger aber standen nie auf der Höhe der Situation, die ihnen die Welt-Geschichte beschert hatte. Sie waren wohlmeinende Zerstörer ihrer Klienten. 1857, das Jahr, in dem Emma Bovary und andere Blumen des Bösen verurteilt wurden, ist auch noch aus einem anderen Grund denkwürdig in der Geschichte dieser Entrüstung: in jenem Jahr wurde Campbells Obscenity Act vom englischen Parlament angenommen, für ein Jahrhundert der Wall gegen das Obszöne jenseits des Kanals. Und 1857 war der Mann, der in der Neuen Welt den lautesten Kreuzzug führen sollte, dreizehn Jahre alt.
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New York 1873 Anthony Comstock, eine Kreuzung aus Barnum und McCarthy
Im Jahre 1909 wurde ein früherer Richter, Richard R. Shegard, zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt: wegen Benutzung der Post zu verbotenen Zwecken. Ein Postspitzel hatte entdeckt, daß er den »Dekameron« zur Beförderung gegeben hatte. Schriftsteller und Senatoren reichten beim Präsidenten Theodore Roosevelt ein Begnadigungsgesuch ein. Er antwortete: »Begnadigung verweigert, es tut mir leid, daß ich den Mann nicht sein ganzes Leben einsperren kann.«
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Die lustigste wilde Jagd auf das Obszöne ist jüngeren Amerikanern kaum noch bekannt. Der prominenteste Jäger, zwischen dem Civil War und dem Ersten Weltkrieg, war einer der buntesten, populärsten Figuren des Landes: eine Art von Ein-Mann-Zirkus, eine Mischung aus Barnum und McCarthy. Sein Name: Anthony Comstock. In dem kleinen purpurnen Tagebuch, das der Dreißigjährige führte, nannte er sich stolz »Der Mann des Obszönen«; nach alter Sitte erhob er das Schimpfwort, das man ihm nachrief, zum Ehrentitel. Ein Menschenalter später ging sein Eigenname als Begriff in die amerikanische Sprache ein. Bernard Shaw, der ihn zu spüren bekam, als er »Frau Warrens Gewerbe« vom Broadway zu verjagen suchte und den Dichter »diesen irischen Schmutzfink« nannte, schenkte Comstocks Landsleuten, die »eine zweitklassige provinzielle Zivilisation« hätten, das Wort Comstockery. Das Original, nach dem der Begriff gebildet worden war, hatte Shaws Stück weder gesehen noch gelesen; und ist überhaupt in seinem einundsiebzigjährigen Leben nur zweimal im Theater gewesen. Um so öfter nahm er Anstoß. Darin wurde er einer der wirksamsten Darsteller und Regisseure der Zeit. Seine große Rolle war St. Georg, der auszog, den Drachen Obszön zu töten. Er fing früh mit der Hetze auf Menschen an und jagte bis zum biblischen Alter. Mit Achtzehn unternahm er eine Razzia auf eine Bar und goß den Alkohol auf den Boden. Mit Einundsiebzig, 1915, in seinem Todesjahr, übernahm er sich auf einem Keuschheits-Kongreß, im Eifer gegen den Feind. In
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dem halben Jahrhundert dazwischen lag sein Jäger-Glück. Die Triumphe sind genau registriert; Comstock war ein sehr ordentlicher Buchhalter. Schon 1874, erst Dreißig und schon ein Jahrzehnt hinter der Unsittlichkeit her, hatte er (nach einer Aufstellung »Privat und Vertraulich«) das Folgende erlegt: 134 000 Pfund indezente Schriften, 194 000 Stück gleichgeartete Reproduktionen und Photographien, 60 300 unsittliche Gummi-Artikel, 5 500 unzüchtige Spiel-Karten, 3 150 Kisten voll obszöner Pillen. Auch hatte er schon 241/12 Jahre Gefängnis durchgedrückt und Strafen in Höhe von 9 250 Dollar. In diesem Tempo arbeitete er weiter. Die Bulletins vom Kriegsschauplatz verkündeten einen Sieg nach dem andern. Schon nach wenigen Jahren waren 160 von den 165 Nummern der Bibliothek des Unanständigen aus der Welt geschafft. Nur wenig Kapital wurde noch in diese Branche gesteckt. Auf den Straßen New Yorks wurde kaum noch Zwielichtiges verhökert. 1908 allein arretierte er, nach seinen Büchern, neunundneunzig Subjekte. Zwei Jahre vor seinem Tode, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, machte er wohl zum letzten Mal Bilanz und rühmte sich, daß er einen 61 Wagen langen Zug, pro Wagen 60 Plätze, mit Unsittlichen, die er zur Strecke gebracht, füllen könnte. Das Gewicht der Literatur, die er zum Tode verdammt hatte, war auf 160 000 Tonnen angeschwollen: darunter Klassiker der Pornographie wie »Fanny Hill« und »Eine Nacht im marokkanischen Harem«. Sie leben, trotz des 160 000 TonnenGrabs, immer noch, in alter Frische. Würde ihn das überraschen? Er nannte, in seiner melodramatischen Sprache, das Obszöne ein Ungeheuer mit HydraKöpfen ... und schlug, in fünfzig sehr resoluten Jahren, der lockeren Miss Hydra Köpfchen nach Köpfchen ab. Inzwischen sind sie reichlich nachgewachsen. Damals aber war er Sankt Anthony, an der Spitze der »Gesellschaft zur Unterdrückung des Lasters«, Spezial-Assistent der Post, die als Zensur-Behörde funktionierte (und funktioniert), der Mann in Washing-
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ton, der unermüdlich-aufdringlich verschärfte Gesetze durchdrängelte. Heute nennt der Biographie-Wehster diesen farbigsten Amerikaner ganz farblos einen »Reformer« – als hätte er Bauchbinden erfunden gegen Kälte-empfindliche Leiber. Damals aber war er viel mehr: ein großer Kirmes, von dem Hunderte, im grellen Schein eines schrillen Feuerwerks, zur Zwangsarbeit getrieben wurden, in den Kerker ... und nicht wenige in den Tod. Zum Beispiel eine siebenundsechzigjährige Puff-Mama, die fünfzehnte seiner Leichen (wie er errechnete). Er hatte sie geklappt, nachdem er ihr als Hilfeflehender genaht war: ein Mann in äußerster Armut, kurz vor dem Ruin. Sie wollte ihm helfen. Er half ihr ins Grab – und schrieb als Nekrolog: »Ein blutiges Ende nach einem blutsaugerischen Leben.« Der Fünfzehnten folgte eine Stenographie-Lehrerin, die religiös-erotische Halluzinationen hatte. Sie hielt sich für die Gattin eines Engels, trat in frommer Scheu für den BauchTanz ein und schrieb eine pädagogische Broschüre »Hochzeitsnacht«. Ärzte und Priester fanden diese Führung von Anfängern durchs eheliche Schlafzimmer hilfreich. Comstock sah nur eine »Verführung auf wissenschaftlich«, klagte den Schmutz an und brachte die Verfasserin dahin, wo schon einige Vorgängerinnen gelandet waren. Sie hinterließ eine Zeile: sie konnte es nicht tragen, daß ihre wohltätige Schrift als obszön gebrandmarkt worden sei. Sein Gewissen war solide gepanzert, mit eisernen Überzeugungen? Oder vielleicht mit einer Eis-Schicht, rund um das Herz, so daß kein Leid es in Mitleidenschaft ziehen konnte? Klagte man ihn an, daß er einen Menschen umgebracht habe, so antwortete er: vielleicht ja, vielleicht nein – jedenfalls ist es so für die Welt besser. Wie mancher Henker liebte er kleine Kinder. Sie schränkten seine Macht nicht ein. Er war nicht irgendein Mr. Comstock. Er war der gefeierte Tugendbold in einem Amerika, dessen Staatsanwalt sagen konnte: »Die Vereinigten Staaten sind eine große Gesellschaft
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zur Unterdrückung des Lasters.« Zumindest ist gewiß, daß starke Kräfte daran waren, Amerika dazu zu machen. Als ein Präsident des Landes einen obszönen Häftling begnadigen wollte, organisierte man eine Petition von Schul-Kindern im Alter zwischen Acht und Fünfzehn: daß so Schreckliches doch, bitte, nicht geschehen möge. Der Mann des Obszönen herrschte nicht unumschränkt. Das Gesicht mit dem dominierenden Backenbart war auch die Lieblings-Visage der Karikaturisten; man machte sich lustig. Natürlich nicht über die traditionelle Puritaner-Moral, die er repräsentierte – nur über diese clownige Version. Der Clown ging, die Moral blieb. Heute lebt er weiter, anonym in anonymer Zeit. Heute, wenn man so einen kümmerlichen Funktionär einer Legion of Decency sieht, kann man sich kaum noch vorstellen, daß jener ausladend grelle, vitale Gladiator Gottes der Großvater gewesen ist. Er brachte an das Licht des Tages, was heute dies Licht scheut und deshalb viel gefährlicher ist. Wer dem seltsamen Phänomen mit dem Namen Obszön nachgeht, hat in Anthony Comstock den Glücksfall: eine Fülle von intimen Dokumenten gewährt Einblick in die tieferen Gründe dieser Entrüstung. Sie ist gewiß auch nuanciert nach Tradition, Temperament und dem besonderen Schicksal des einzelnen, hat aber nie etwas zu tun mit der großen Askese. Gandhi teilt in seiner Autobiographie, welche er die Geschichte meiner Erfahrungen mit der Wahrheit nannte, mit, daß er mit seiner Frau schlief, als sein Vater starb. Der Sohn fühlte sich schuldig, daß er, in Gegenwart des Todes, die schärfste Lust des Lebens genoß. Da entschloß er sich, mit der Frau nur noch wie mit einer Schwester zu leben. Es ist zu vermuten, daß es das enge Zusammenrücken vom Erlebnis der Vergänglichkeit und leidenschaftlichster Hinwendung zum Leben gewesen ist, was ihn auf den Weg jener Entsagung brachte – die kein Anstoßnehmen kennt. Die Sentenz: von
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allen sexuellen Verirrungen sei die Keuschheit die seltsamste ... gilt nicht für die Gandhis. Comstock beschritt nicht die Straße zur Heiligkeit, sondern (das kann nicht genug getrennt werden) zur stellvertretenden Selbst-Verstümmelung, zur Mißgunst. Comstock war nicht ein Heiliger, sondern zu bedauern. Ihn charakterisierte ein starker Trieb, der durch passionierten Widerstand besonders hartnäckig wurde; und ins Missions-Fieber, schließlich in die spektakulär-hemdsärmelige Robustheit eines aggressiven amerikanischen Primitiven changierte. Aber da gibt es – in den ernstesten Fällen und hier ganz sichtbar – eine Quelle, die noch unterhalb dieser ethnischen und individuellen Sonderheiten liegt. Die Aufzeichnungen des gut-aussehenden Zwanzigjährigen, der Typ eines jungen Künstlers, leiten zu ihr hin. Die Prae-Historie zuerst. Der Jäger nahm zu Beginn andere Fährten auf. Es fing an mit dem Kampf gegen den Dämon Rum, dem er auch in späteren Jahren immer wieder einmal eine Schlacht lieferte. Im »Bürgerkrieg« gab er seine WhiskyRation nicht an die Kameraden weiter, sondern goß sie aus. Nie lud er dann, der Angestellte eines PosamentierwarenGeschäfts, einen Kunden zum Trinken ein; nie, später, die Polizisten, die er, Detektiv auf der Spur des Bösen, sich gern verpflichtet hätte. Die Abscheu vor dem Trunk und die Abscheu vor dem Geschlecht sind in der Tradition der Entrüstung Zwillingshaft verbunden. Ein englischer Methodisten-Prediger unserer Tage fand im Trinken den Ursprung der Pornographie. Der junge Comstock empörte sich über vieles: auch über fluchende und Tabak-rauchende Kameraden; und erlaubte das Rauchen selbst nicht als Schutz gegen die Moskitos der sumpfigen Gegend. Er nahm Anstoß an Reisen am Sonntag und Glücksspielen; und fing mit einem mächtigen Unternehmen wie der Lotterie von Louisiana einen Kampf an. Aber alle diese Teufel-Tricks: die Dämonen Rum, Tabak und Spiel sind ihm nie gefährlich geworden.
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So konnte er Betrunkenheit auch einmal komisch nehmen; in einem seiner plumpen Spaße mimte er einen Trunkenbold vor der »Gesellschaft zur Unterdrückung des Lasters«. Jenseits des Humors war nur die sexuelle Lust, weil er mit keiner anderen in einen so intimen Konflikt geraten war. Vielfältig rationalisierte er ihre Suprematie: Trunkenheit sei offenbar, im Auge, in der Haltung des Sünders. Geheim aber – und deshalb schwer aufzustöbern, seien nur die furchtbaren Bilder der Fleischeslust im Schädel dessen, der ihnen ausgeliefert ist. Die Bilder! Jung-Comstock kannte wohl nur die ausschweifende Phantasie und die einsame Sünde. Er muß sehr gelitten haben, gemessen an dem Umfang seiner Feldzüge gegen sie. Er stammte vom platten Lande, aus dem Ort New Canaan; ein anzüglicher Name, wenn man bedenkt, daß er sein Volk in ein neues Kanaan führen wollte. Er war der Sohn schollengebundener Puritaner (im historischen Sinne des Worts), erzogen in Kirche und Sunday-school – und dann noch im Widerwillen gegen katholische Pracht. Erzogen vor allem in der Furcht Gottes, auch im Vertrauen auf Gott; es war so stark, daß es schon dem Jüngling nichts ausmachte, ausgelacht zu werden und verdächtigt und verfolgt. Auch hatte er von früh an Protektoren. Seine Vorgesetzten in der Armee merkten, wie nützlich dieser eifernde Knabe war: zur Organisierung von Kirchen-Besuch und bravem Verhalten; seine Gönner waren dann so mächtig, daß sie ihm eine glänzende Karriere ermöglichen konnten. Doch war sie erst ein spätes Resultat. Jahrzehnte stand er recht allein. Und hatte nur zwei große unsichtbare Verbündete, die ihm noch mehr als die kapitalkräftigeren Sichtbaren den Rücken steiften: Gott und Jesus. Comstock war nicht der Erste, der mit Alliierten siegte, die er selbst aus dem Arsenal seiner Energie und seiner ebenso strotzenden Einbildungskraft geschaffen hatte. Man versteht den Gott und den Jesus, den Comstock bekannte, nur, wenn man herausfindet, womit er persönlich
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den überlieferten, allgemeinen Umriß der Vorstellung von ihnen füllte. Es ist nur eine Phrase, zu sagen: er meinte sich, wenn er Gott sagte. Gott war die Stärke, die Comstock nicht besaß – die nur von seiner Gott-Vorstellung mobilisiert werden konnte. Gott war ein überlegener Freund, im Vertrauen auf den man die gefährlichsten Unternehmungen wagen konnte. Sie trugen ihm manche (keineswegs nur metaphorische) Wunde ein. Er blutete viel und sehr real zur höheren Ehre des Herrn. Auch Jesus hatte sein Blut vergossen. Gott stimulierte ihn zu seinen Expeditionen, gab ihm noch im hoffnungslosesten Unternehmen Hoffnung, schenkte dem Ungeduldigen die Kraft zur Geduld, ließ ihn manche Niederlage ertragen. Zunächst gingen die Geschäfte des jungen Kaufmanns schlecht, obwohl er Gott vertraute, daß er gut verkaufen werde; dann starb ihm das einzige Kind; dann hatte er sich über den Verlust eines großen Sittlichkeits-Prozesses zu trösten mit »Dein Wille geschehe«. Und er war getröstet. Er begann sofort, in altem Selbst-Vertrauen, eine neue Jagd. Man darf die Wirksamkeit der Mensch-gemachten Transzendenz nicht deshalb unterschätzen, weil sie in unserer Ära meist nicht mehr ist als ein Schall. Wenn der Wille zu einer Phantasie so stark ist, daß sie sich wie eine Wirklichkeit benimmt, dann ist sie eine – in der Praxis, wenn auch nicht vor der Wahrheit. Und sein Jesus war von größter Wirkung. Er ist hier nicht der Mittler. Comstock hatte ihn nicht nötig. Er brauchte keine Fürsprache. Er unterwarf sich, ohne zu fragen und zu rechten: bedingungslos. Jesus war für ihn ein Eroberer, den keine Öffentlichkeit von seinem Weg hatte abbringen können. Comstock praktizierte ein Christentum, das weniger Liebe, Mitleid und Erlösung kannte als GefolgsTreue, Gehorsam. Er war der Knappe zweier Herren, die sich kaum voneinander unterschieden. Ihr Wille trat alsComstocks Erfolg oder Mißerfolg in Erscheinung. Das Geschöpf rechtfertigte unter allen Umständen seinen Schöpfer. So konnte dieser Krieger durch keine Niederlage gebrochen werden, weil er sie als Gott-gewollt sanktionierte.
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Gott ist unerferschlich. Das Einzige, was man weiß: er ist gegen Trinken, Rauchen, Spielen und Fluchen. Aber gegen nichts so sehr als gegen die sexuelle Phantasie. Und hier brauchte der Allmächtige die Hilfe seines ohnmächtigen Geschöpfs, Anthony Comstock. Es ist nicht ganz logisch, aber nicht unlogischer als manche berühmte Theologie. Comstocks Werk wurde errichtet auf dieser seltsamen Abhängigkeit Gottes. In dem Jüngling lebte noch eine Jenseits-Sehnsucht; sie verblaßte mehr und mehr vor dem Willen zum irdischen Paradies, das dort wieder beginnen wird, wo es von Eva mit der Einladung zum Apfel zerstört worden war. Diese Wandlung, die mit dem Drang zur Entichung beginnt, und dem Willen zur Macht endet, ist nicht untypisch. Wenn man Kleines mit Großem vergleichen darf: der aus den Banden des Irdischen sich befreiende junge Loyola wurde der stärkste und erfolgreichste Konquistador. Von diesem Gott und diesem Jesus kam Comstocks Unbesiegbarkeit. Der gewaltige Druck hinter dem Grauen vor dem Teufel Sexus hatte einen anderen Ursprung. Mag sein, daß später, als diese irdisch-überirdische Schlacht eingespielt und zu einem guten Teil auf das Gebiet der Gesetzgebung verlegt war, viel professionelle Routine, viel Eitelkeit und eine heftige Gier nach politischer Macht ins Spiel kamen. Im Ursprung war eine Kraft von ganz anderer Größen-Ordnung am Werk gewesen: die Sorge um sein Heil, gemäß seiner Vorstellung vom Unheil. Es ist schwer, ins klare zu kommen, ob er den Teufel dreidimensional gesehen hat: mit Schwanz, Hörnern und Klauen. Ganz gewiß war der Böse mehr als eine Metapher; er legte Schlingen, warf Köder aus und war durchaus kein LiteraturTeufel. Und ganz gewiß war er für Comstock vor allem in der einen seiner vielen Materialisationen der große Widersacher Gottes: als Verführer zur Wollust. So rückte das Obszöne ins Zentrum dieses Daseins. Comstock ist in seinem Leben kaum anderen Gefahren ausgesetzt gewesen. Er hätte es sehr leicht gehabt, reich zu wer-
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den und angesehen und sehr mächtig; man hätte ihn gern bestochen mit großen Summen, imponierenden Ämtern und den höchsten Ehren. Da ist nicht der geringste Verdacht, daß er je in Versuchung kam, auf diesem Irrweg Satan ins Garn zu laufen. Anfällig war er nur an einer Stelle. Dort baute er, im Namen Gottes, eine Zyklopen-Mauer. Wenn man den lockenden Bildern den Eintritt gestatte – durch Auge und Ohr, die Tore in den Bezirk der Phantasie, werde die Seele verfaulen. Comstock, ein Mann mit wuchernder Phantasie, verglich die Sinnes-Organe mit elektrischen Drähten, die mit einem inneren Pulver-Magazin in Verbindung stehen; es sind die obszönen Bilder, welche das Dynamit zur Explosion bringen. Man kann die Gewalt der Erfahrungen, die er gemacht haben muß, ermessen an der Unermüdlichkeit, mit der er sie, ins Mythologische transponiert, ausmalte – und an dem gewaltigen Verteidigungs-Wall, den er an den Zugängen zur Seele, den Sinnen, aufbaute. Comstock hatte entdeckt, was den Kennern der Natur-Völker bekannt ist. In Nordwest-Melanesien nennen sie die Augen den Sitz der Begierde (wörtlich: »Wunsch nach Begattung«). Ihre psycho-physische Geschlechts-Theorie lautet: von den Augen überträgt sich der Wunsch auf das Gehirn und breitet sich über den ganzen Körper auf Bauch, Arme und Beine aus. Das Geschlechts-Organ ist der Endpunkt. Wenn also die Augen ein Objekt der Begierde erblicken, »wachen sie auf« und geben den Impuls an die Nieren weiter, die ihn in den Penis leiten und so die Erektion hervorrufen. Daher sind die Augen die Haupt-Ursache aller geschlechtlichen Erregung; sie sind »die Dinge der Begattung, das, was in uns den Wunsch, zu begatten, erweckt«. So sagen die Eingeborenen: »Ein Mann mit geschlossenen Augen hat keine Erektion.« Dieselbe Erfahrung leitete Comstocks Taktik bei seinem Feldzug gegen zu häufige und zu illegitime Aufstände. Die Augen der Primitiven werden nur gefüllt von Objekten der Wirklichkeit und der Erinnerung. Menschen, die lesen und Bilder anschauen, sehen viel mehr: Nie-Gesehenes. Photographien
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und Zeichnungen und Darstellungen im Wort spielen in der Fülle dessen, was sie vermitteln können, eine viel größere Rolle als die Szenen der Unzucht, die ein Einzelner mit den leiblichen Augen sieht. Deshalb bezog Comstock vor allem dort Posten, wo das Alarmierende nicht unmittelbar die Phantasie affiziert: vor dem obszönen Bild und Schrifttum. Es war sehr logisch, was er tat. Es ruhte auf einer ganz und gar soliden Psychologie. Den Akt ohne vorhergehende Stimulanz durch Bilder, geboren aus der Phantasie, vervielfältigt für Tausende, konnte er ignorieren; erst die Überflutung des Einzelnen mit Produkten aus der Werkstätte gelernter Einheizer schuf Urwälder von Erektionen. Comstock dachte nie daran, daß auch diese Bäume nicht in den Himmel wachsen. Er hatte das eine mit der pornographischen Literatur gemein: die irrsinnige Überschätzung der Potenz und der Unersättlichkeit des Menschen und eine wildwuchernde Phantasie für Sexuelles. Eine Karikatur zeichnete ihn, wie er einen Maler beim Malen verhaftete; sein Bild zeigte ein Mädchen im Wasser, von dem man nur den Kopf sehen konnte. Comstocks Anklage: »Glauben Sie, ich kann mir nicht vorstellen, was unter der Wasserfläche ist?« Er hatte in der Sonntags-Schule gelernt, daß von Eva her das Geschlechtliche sündhaft ist; er hatte es nicht nur begriffen, auch in seinen Willen aufgenommen. Denn jene Stätte der Bildung war ihm Gymnasium gewesen und Universität und des Lebens grüner Baum zugleich. Dann überfiel den jungen Studenten das Verlangen nach Eva, er spürte die Übermacht des Bösen: dies Locken in die ausschweifende Phantasie. Es ist anzunehmen, daß ihm nie eine Magdalena begegnet ist und nie eine Potiphar; sein Abscheu gegen die Prostitution war unbedeutend vor seiner Besessenheit mit dem obszönen Wach-Traum. Es war die innere Bilder-Welt, die ihm schwer zu schaffen machte; deshalb führte er dann einen fünfzigjährigen Grenz-Krieg zur Abdichtung der Zugänge. Die Sittlichkeits-Apostel schenkten nicht selten den unsittlichen Phantasien mehr Aufmerksamkeit als den Wirklich-
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keiten, welche sie in die Tat umsetzen: nicht nur deshalb, weil hier keine Schein-Siege möglich sind; auch, weil man selbst es nie bis zum Kontakt mit dem Teufel Weib gebracht hat... außer in der Vorstellung. Deshalb ist es nicht das Tun, sondern die Einbildungskraft, auf welche sich die Abwehr konzentriert. »Laß Dich nicht gelüsten Deines Nächsten Weibes« ... mit dem »Gelüsten« fängt es immer an. Die Gaukelei, in der Eva erscheint, ist viel gefährlicher als Eva persönlich. Was die Sinne reizt, war Comstock gleich teuflisch: ein Bild oder eine Schrift oder ein Theater oder eine Zirkus-Nummer mit Halbbekleideten, die Existenz eines Huren-Hauses oder eine medizinische Aufklärung, die Frauen-Bewegung oder eine unbekleidete Wachs-Puppe in einem Warenhaus-Fenster, eine Annonce, die Empfängnis-Verhütungs-Mittel empfiehlt, oder die Akt-Zeichnung eines Kunst-Studenten. Obszön ist, was immer die Lust mobilisiert; das ist der gemeinsame Nenner für alle Aphrodisiaka. Es ist von hier aus logisch, zwischen Wirklichkeit und Roman, Kunst und billigen Produkten nicht zu unterscheiden. Auf solche Unterschiede kommt es dem Feind des Teufels nicht an; es geht um die Auslösung des inneren Bildes, das seinerseits die Begierde auslöst. Man kann diesem soliden Argument nicht so billig entkommen, wie es immer wieder versucht wurde mit dem Kampf-Ruf: Kunst in Gefahr. In viel größerer Gefahr ist das innere Dynamit. Der Teufel besiegte den heftig sich wehrenden Soldaten im Bürgerkrieg, wie aus den frühen Eintragungen hervorgeht. Der Besiegte nahm sich die Niederlage zu Herzen und schrieb: lieber tot als sündig. Wie schwer solche Worte wiegen, ist selten auszumachen; die Zukunft bewies, daß sie keine Redensart waren. Die Art der Sünde ist zu erkennen. »Morgens schwer vom Satan versucht«, heißt es da, »wurde schwach und gab nach.« Er scheint zuerst hingeschrieben zu haben, worin das Nachgeben bestand; dann löschte er das Geschriebene wieder aus. Er hatte ein Grauen noch vor dem Wort, welches das Grauenhafte schwarz auf weiß bezeichnet.
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Stehen blieben Wendungen wie »die Sündigkeit meines Kopfs«. Alle anderen Sünden bezeichnete er mit ihrem spezifischen Namen; kam er aber zur Fleisches-Lust, so wagte er sich (selbst im Tagebuch) nie näher heran als mit solchen Sätzen: »Ich erniedrigte mich vor mir selbst durch Schwäche und Sündhaftigkeit. Ich kam sehr in Versuchung – und gab nach, anstatt zur Quelle aller meiner Kraft zu fliehen. Niemand kann ermessen, wie ich seitdem gelitten habe. Ich wohnte einer Gebets-Stunde bei, ohne Erleichterung. Im Gegenteil: jedes Gebet, jeder Hymnus machte mein Elend noch schlimmer.« Man ist versucht, in der »Quelle meiner Kraft« zugleich die Verdeckung und Offenbarung der heimlichen Praxis zu sehen. Seine Sprache war verhüllend, in der überlebensgroßen Aufmachung. Er klagte sehr, daß er das Bekämpfte bekämpfen müsse, ohne es bei Namen nennen zu können. Deshalb wurde sein Wortschatz so üppig. Da ist das Unausgesprochene »ein brüllender Löwe«; »Sodom« wird ein Haushaltswort. Die Residenz des armen Anthony Comstock findet man auf keinem Atlas. Seine Adresse lautet: »Ich bin in einem Sumpf stationiert, an der Mündung einer Kloake.« Comstocks Buch »Frauds exposed« heißt im Untertitel: »Wie das Volk betrogen und beraubt wird und die Jugend korrumpiert«. Die Propheten des Alten Testaments haben nicht Mythisches statt Wirklichkeit gegeben, sie wurden sehr deutlich. Comstock, die Augen rollend während der GigantenSchlacht mit der obszönen Literatur, hat nur Metaphern geerbt und geht, mit ihnen fuchtelnd, um den heißen Brei herum. Keine Feder, so wendet er sich an den Leser, kann die Wirkung des verdammten Obszönitäts-Geschäfts auf die Gesellschaft beschreiben. Und dann versucht er es doch; aber nur so, daß er keine Lese-Proben gibt, sondern lediglich die gespenstischen Folgen ans Firmament malt. »Lust wird ausgebrütet. Lust besudelt den Körper, macht die Einbildungskraft ausschweifend, den Geist korrupt, den Willen schlaff. Lust zerstört das
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Gedächtnis, das Gewissen verwelkt, das Herz wird hart, die Seele geht zum Teufel. Der Arm sinkt, der Schritt wird schleppend.« Das ganze Vokabular der Trostlosigkeit wird über den Leser ausgeschüttet, der zu gerne einmal wüßte, welche enormen Sätze der gehaßten Literatur so etwas vermögen. Aber Comstock gibt sie nicht her. Geheimnisvoll wird angedeutet, daß es das »Panorama« der Lust ist, eine sündige Bilder-Welt, die sich immer tiefer in das Gottes-Geschöpf einfrißt und das Opfer in furchtbare »Praktiken« stürzt. Die Folge dieser »Praktiken« (näher ging er nie heran!) sind Menschen-»Skelette«, die durch den Haushalt geistern. Die Familie wird bedreckt, das Heim entheiligt: durch diese »Monster«, diese »Teufel in Menschen-Gestalt«, diese »Bande frei-gelassener Verbrecher«, diese »Vampyrs«, diese »Krebs-Pflanzer«, welche die Literatur der Sünde schaffen und vertreiben; und so »tödliches Gift in die Quelle moralischer Reinheit« schütten. Comstock kündigte in der Vorrede an, daß er keinen Anspruch auf literarischen Glanz mache. Verdecken war die eine Funktion dieser Sprache, die andere: Dramatisierung des Gottes-Gesandten Anthony Comstock. Viele Heilsbringer machten aus ihrem Alltag ein überirdisches Ereignis. Sie sprechen von sich nur in Superlativen, es macht keinen Unterschied, ob er positiv ist oder höllisch. »Ich bin das Haupt aller Sünder«, sagte in seiner Jugend der Sünder Comstock; mit einer bescheideneren Position hätte er sich nicht begnügt. Auch lebt in diesem Satz die ursprüngliche Mischung von Kleinmut und Größen-Wahn; seine Verzagtheit schwand dann mit den Erfolgen. Da verlagerte er seine Verderbtheit auf die Mitmenschen. Und es wandelte sich das Vokabular mehr und mehr von hochtrabender Selbst-Anklage ins Schimpfen. Nur die Mitmenschen durften nicht. Er ließ einmal eine Frau verhaften, die ihren Mann auf einer Postkarte »Spitzbube« nannte. Er selbst fluchte wie ein FuhrKnecht. Es ist aber zu billig, Comstocks Aggressivität pervertierte
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Sexualität zu nennen: als habe er, heuchlerisch oder verlogen, Tonnen von phantasierten Bett-Szenen durchschnüffelt, um sich, unter dem Vorwand von Empörung, sexuell zu befriedigen. Das gibt es. Das war nicht der Fall des Anthony Comstock. Sein Glück lag nicht in der heimlichen Erfüllung dessen, was er öffentlich verdammte, sondern in der Star-Rolle, die ihm im Menschheits-Drama zwischen den guten und bösen Mächten zuerteilt war. Diese Helden-Spieler in der Zwischen-Welt zwischen Himmel und Erde sind die allergefährlichsten Feinde der Menschheit. Comstock hatte keine Armee zur Verfügung, die er einsetzen konnte. Deshalb kam er nicht in die Welt-Geschichte. Es ist anzunehmen, daß die Jagd auf das Unzüchtige, daß seine Mission als Gottes liebster Jagd-Hund ihn mehr und mehr abgezogen hat von den Bildern, die der Teufel dem Jüngling vorgegaukelt haben mag. Es gibt auch eine geglückte Flucht; das vergessen zu viele Psychologen. Ein nicht-erfülltes Verlangen kann kompensiert werden durch Erfüllung eines andern. Als man die Sexualität zu dämonisieren begann, vergaß man, daß auch sie ablösbar ist – zwar nicht durch Sublimierung, aber durch Essen und Trinken und vor allem durch Macht. Es gibt ebenbürtige Dämonen neben dem Dämon Sex: zum Beispiel die Vorstellung, ein Erkorener zu sein. Comstock war schließlich zufrieden, im Bunde mit Gott und Jesus zu richten, zu strafen, in den Tod zu treiben. Das war ein voller Ersatz. Man braucht nicht mehr das Ersetzte als heimliche Triebkraft hinter dem Ersatz zu vermuten. Er ist nicht immer eine Verdrängung, die weiter drängt. Comstock scheint den Teufel endgültig verjagt zu haben. Er führte, so gesehen, mitten im Schlachten-Tumult ein friedliches Dasein. Doch soll diese Einsicht nicht die andere verdunkeln, daß es sexueller Verzicht gewesen ist, der ihn zum Schwert Gottes und seines Sohnes machte: gegen das Eindringen von unzüchtigen Einbildungen in die Seele des gefährdeten Menschen. Und wahrscheinlich stammt das seriöseste Anstoßnehmen
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immer aus frühem hoffnunglosen Widerstand gegen die Lokkung jener Lemuren, die den furchtbaren Trieb mobilisieren, stärken und allmächtig machen: das obszöne Wort, das obszöne Bild. Comstocks Aufstieg begann in einer Epoche des Katzenjammers, einer Nachkriegs-Zeit in den Sechzigern, die den vier Jahren Bürgerkrieg folgten. In den Siebzigern wurde er eine nationale Figur. Wie es nach Kriegen zu sein pflegt: es gab eine Lockerung der überkommenen Ordnung, auch Unordnung genannt, es gab Gründer-Jahre und dann, am Schwarzen Freitag 1869, einen panikartigen Zusammenbruch vieler grundloser Gründungen. Es gab Propheten, die teils nur prophezeiten, teils auch quacksalberten. Es war die Geburtsstunde des Ku Klux Klan, der Räuberbarone, des Feldzugs gegen die Mormonen – und der Young Man's Christian Association (YMCA): des verjüngten Puritanismus. Die Klu Klux Klaner vermitteln am besten die Sprache dieser Terroristen, die Furcht erweckten und zum Lachen reizten. Die Anrede an die Verfolgten lautete: »Verfluchter Hund!« Dann ging es weiter: »Die Schatten der mächtigen Toten sind im Aufbruch. Die Hölle ist losgelassen. Sie sind unerwünscht. Sie haben zehn Tage Zeit, zu verschwinden. Wenn Sie nicht gehorchen, wird des Lebens schreckliches Fieber im kühlen Grab friedlich enden.« In dieser Atmosphäre war Anthony Comstock auf Sex spezialisiert. Der größte Anti-Puritaner, den Amerika hervorgebracht hat, der streitbare Henry Mencken, in den Zwanzigern Protagonist im Affen-Prozeß zu Dayton, machte den Geist, den Ungeist der Renaissance des Puritanismus sichtbar: in der Kontrastierung zwischen dem Einst und dem Jetzt. Man ist nicht mehr klösterlich-beschaulich, sondern militant; nicht mehr auf Heiligkeit aus, sondern auf Rowdys, die den Sünder niederschlagen. Einst war man introvertiert und arm. Man hatte
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keine Neigung und kein Geld zu kostspieligen Expeditionen gegen sündige Mitmenschen; man schlug sich an die eigene Brust, das konnte auch der kleinste Mann ermöglichen. Nun wurde man ein Gottes-Protz, verlegte sein Duell mit dem Teufel nach außen, bekämpfte ihn in anderen, mit der Hilfe von wohldotierten Organisationen und dem puritanischen Entrepreneur. Aber auch der neue, expansive und schaulustige Puritanismus hatte (ebenso wie der alte, intimere) seine tausendjährige Wurzel in jenem Christentum, das durch die Jahrhunderte die Freuden des Leibes verketzert hatte, keine so sehr wie die explosivste; und selbst die Ehe nur gerade duldete. Der Kirchenvater Tertullian, ein Römer aus Karthago, hatte im Zweiten Jahrhundert entscheidend die christliche SexualMoral bestimmt. Seine Schrift »Die zwei Bücher an meine Frau« ist eigentlich ein Brief, ein Testament-artiges Schreiben an die künftige Witwe, die er dringend bittet, nach seinem Tod nicht wieder zu heiraten. Im Detail widerlegt er alle Einwände, die gegen einen solchen Rat immer wieder geltend gemacht worden sind. Bei dieser Gelegenheit prägte er einige Du-sollst, Du-darfst und Du-sollst-nicht vieler christlicher Jahrhunderte. Das weitaus Beste sei die Jungfräulichkeit. Allerdings gehört die Ehe zu den Du-darfst; Gott hat sie als Mittel gewählt, um die Erde mit Menschen zu bevölkern. Aber er hat diese Erlaubnis nur notgedrungen gegeben, als einen leidigen Kompromiß. Denn weshalb sonst habe der Herr Wehe geschrien über die Schwangeren und Säugenden! Und weil die Ehe nur das Zweit-Beste ist, beschließen manche Paare, auf »eheliche Leistungen« zu verzichten. Was folgt daraus für eine Witwe? Es sollte genug sein, daß sie das eine Mal nicht stark genug war, um keusch zu bleiben. Adam war der einzige Gatte Evas. So ermahnt dies Testament Frau Tertullian, daran zu denken, daß »uns vom Herrn des Heils in der Enthaltsamkeit ein Mittel gezeigt worden ist, zur ewigen Seligkeit zu gelangen«.
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Die Macht, welche diese (nicht nur christliche) Vorstellung durch die Jahrhunderte ausgeübt hat, zeigte sich nicht so sehr in der geringen Zahl von Mönchen und Nonnen, als in der nicht abzusehenden Fülle der Milliarden, die mit schlechtem Gewissen – nicht enthaltsam waren und eine Epidemie von Anklagen auf Sündhaftigkeit gegen sich und andere verbreiteten. Das Sinnen-feindliche Christentum lebte unter vielen Masken, dichteren und durchlässigeren – auch recht Sinnen-freudigen. Im Wandel der Jahrhunderte entstand aus der Vorstellungs-Welt des Tertullian, die viel platonische und orientalische Askese enthielt, auch der Inquisitor Comstock, der Gott-ergebenste Korporal Amerikas. Er konnte auch auf einer fünfzigjährigen amerikanischen Traditon aufbauen. Schon in der ersten Generation gab es aus England mitgebrachte alttestamentarische Flüche gegen die verdammte Schweinerei. Und auch die obszöne Literatur, die man bald verfluchte, war aus dem Mutterland importiert. Dann machte man im Literarischen einen kleinen Schritt vorwärts in der Richtung auf Eigenständigkeit: die klassischenglisch-obszöne »Fanny Hill« wurde unter neuen Namen nachgedruckt und amerikanisch adaptiert. Im selben Jahr 1821, fast ein Jahrhundert nach dem Land, dessen Kolonie man gewesen war, erhielt Vermont das erste Obszönitäts-Gesetz der Vereinigten Staaten. Es war die Zeit, in welcher ein Doktor Bowdler einen »Familien-Shakespeare« herausbrachte und sich rühmte, daß nicht ein einziges indezentes Shakespeare-Wort überlebt hätte; seit damals nennt man so etwas bowdlerize. Comstock gehörte zur Generation der Enkel. Die Saat der Großväter ging präditig auf. Er war grell und schrill: ein Hausknecht, der alle professionellen Gaben, Muskeln und kräftige Worte hatte, um aus dem amerikanischen Haus hinauszuschmeißen, wer ihm und seinen feineren Compagnons nicht paßte. Behaftet mit dem gleichen Affekt wie sie, war er passionierter, gröber und deshalb wirksamer. Die Rausschmeißer-Rasse ist durch die Jahrhunderte immer dieselbe geblieben: der kleine Stadtschreiber
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Dionys von Syrakus, Platons Gegenpart, kam schon auf demselben Weg hoch wie der Rausschmeißer, der 1933 auf dem Gipfel war. Comstock war die amerikanische Version. Sie hatten nicht nur gleiche Karrieren, auch gleiche Parolen. Man erkennt den Verwandtschafts-Zug, der die Demagogen der Zeiten eint: sie sind Drachen-Töter, das Untier heißt der Kapitalist oder der Jude oder der Kommunist oder anders. Comstocks Untier hieß: das Obszöne. Unter Gleichen blieb er der kleinste; er hatte nicht den Apparat, um mehr als ein paar Hundert in Not und Tod zu treiben. Doch arbeitete er, zieht man seine geringeren Mittel in Betracht, nicht schlechter. In den letzten Tagen seines Daseins rühmte er sich, 98,5% von dem, was ihm vor den Schuß kam, so oder so erledigt zu haben. Er war vom ersten bis zum letzten Tag derselbe. Besser ist es so gesagt worden: er sei am Ende ein bißchen intoleranter gewesen als zu Beginn. Man darf von diesem pompösen Korporal-Stock sich nicht verstellen lassen, was ihn durch die Jahrhunderte mit vielen verbindet, die nicht so auffallen. Die Schock-Therapie ist dieselbe: wer sich seiner Sinnlichkeit erfreue, glaube an nichts, was den Menschen übers Tier erhebt; wer sich der SinnenLust hingebe, sterbe wie ein Tier – der letzte Atemzug ist das Ende. Die Comstock-Rasse macht die Mitmenschen bange, setzt sie auf Kranken-Diät. Georg Büchner schrieb: »Es läuft auf eins hinaus, an was man seine Freude hat: an Leibern, Christusbildern, Weingläsern, an Blumen oder Kinderspielsachen; es ist das nämliche Gefühl.« Das Gefühl der Dankbarkeit für das irdische Dasein. Comstock war die Gegen-Stimme der Engherzigkeit, der Mäkelei. Er war ohne Unterbrechung – verletzt. Ihm aber kam nie der Gedanke, daß er es war, welcher verletzte: mit seinen aufgedunsenen Sprachbildern, den Manieren eines Landsknechts und seinem Eifer, Menschen-Leben zu vernichten. Er war ein Phantast und phantasielos. Jeder hätte ihm gegönnt, als Kastrat zu leben; er gönnte niemand etwas.
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Auf der Flucht vor der Eva heiratete er im Jahre 1871 Maggie. Sie war ein vorzüglicher Hintergrund für den Gladiator. Er war siebenundzwanzig, sie siebenunddreißig; was die Zaghafte, die Tochter eines presbyterianischen Kirchen-Ältesten kurz vor dem geschäftlichen Bankrott, noch mehr bedrückte. Der Bräutigam war groß, breit, schwer, ein Mann mit Muskeln und einem imponierenden Backenbart; sehr laut, ein expansiver Wilder. Unter einem nackten Schädel glänzte ein ebenso nacktes Kinn, das über den Lippen und an beiden Seiten von viel Haar eingerahmt war. Er war auch ein kräftiger Esser; Futter war offenbar das einzige sinnliche Vergnügen, das er für erlaubt hielt, das jedes andere zu ersetzen hatte. Er war fest verpackt in roter Flanell-Wäsche (ohne Ansehen der Saison), steif-gestärkten Hemden und einem dunklen Anzug; die angemessene Kluft eines Mannes, der nichts für gefährlicher hielt als das Fleisch. Seine Erwählte war unansehnlich: klein, wenig Fleisch, schweigsam, kränklich – und sehr ängstlich vor der öffentlichen Meinung. Vor allem bedrängte sie täglich die Frage: wird dieser Furcht-einflößende Krieger am Abend nicht mit gespaltenem Kopf daliegen? Sie wurde die Pflegerin seiner Wunden, ganz ordinär-körperlicher. Sie war die BilderbuchSanfte, an der Seite des rasenden Puritaners. Er gab ihr Koseworte: mein kleines vorzügliches Weib – und wachte über den Einkauf der kleinsten Gegenstände ihres Haushalts. Er jagte als Anti-Obszön-Reisender in der Welt herum; 23 500 amerikanische Meilen hatte er im vierten Jahr der Ehe zurückgelegt. Sie wartete zu Haus und war aufs Schlimmste gefaßt. Die, welche sie am besten kannten, erinnerte sie an eine verblassende Schrift. Er war sehr glücklich. Ihr dämmerte wohl nie, daß es so etwas wie Glück gab. Er blühte als der starke Schutzherr des Schutz-bedürftigen Stamms, der unter seinem soliden Dach lebte: die kaum existierende Mrs. Comstock, ihre kränkliche Schwester, ein zurückgebliebenes adoptiertes Mädchen und die Haus-Magd. Er, schwerer als zwei Zentner, regierte die Vier mit fester Hand.
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Als sie heirateten, hatte er schon längst seine ersten Opfer dingfest gemacht. Es war der böse Rum gewesen, an dem er gleich zu Beginn die Strategie seines Lebens exerziert hatte: spionieren, Fallen-legen, denunzieren. Es hatte so begonnen: er wandte sich an einen Hüter der Ordnung, der nichts unternahm. Da ging der Jüngling in den Laden, verlangte Äpfel, die man nicht führte, und sah sich um. Brach nachts in die Destille ein, stürzte sich auf die Branntwein-Fässer, öffnete die Hähne, ließ die Flüssigkeit auslaufen – und kündigte auf einem Zettel an: wenn die Bude nicht geschlossen werde, käme er wieder und nehme das ganze Gebäude mit. Der kleine Terrorist war schon am Beginn ganz fertig. Sehr zeitig erklomm er die erste Sprosse auf der Leiter zum Weltruhm. Er bekam eine Organisation in die Hand: jenen »Christlichen Verein junger Männer«, geboren aus Sinnenfeindlichem Geist. Comstock war auch ein sehr lebendiger Einzelner, vor allem aber die Verkörperung eines sehr allgemeinen Affekts. Er konnte nur deshalb der große Verführer werden, weil viele bereits auf dem Weg waren, den er sie dann in schärferem Tempo vorwärtsführte. Ein Führer entsteht nur, wenn eine Gefolgschaft bereits da ist. Da war zum Beispiel jene Dame, die auf einer Weltausstellung erschüttert einer Tanz-Vorführung beiwohnte: sie würde lieber ihre beiden Jungen ins Grab legen als sie diese Tänzerinnen sehen lassen ... Das waren die Felsen, von denen sein Echo kam. Was ihn aber vor Millionen von Kostverächtern auszeichnete, war die »Führer«-Qualität: er sprach dröhnend; hatte keine Angst, sich schmutzig zu machen; schlug zu, treffe es, wo's trifft. Er konnte zunächst den stillen Verein überzeugen, daß für Gott gepoltert werden muß. Nun war er nicht nur Comstock, sondern außerdem noch eine Bewegung. Es war von Beginn an nicht leicht. Leute, die sich scheuen, das Sexuelle auch nur beim Namen zu nennen, fühlen diese Scheu nicht weniger, wenn es gilt, das Unkeusche zur Bekämpfung herauszuschreien. Es war den Gentlemen, welche die Christlichen Jungen Männer leiteten, sehr peinlich, daß ver-
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fängliche Worte wie Nacktheit, Sexualität und Prostitution im Namen ihres Vereins hinausposaunt wurden, daß Berichte von den gottlosesten Zuständen unter die Menge gebracht wurden – wenn auch zur Ehre Gottes. Demagogen, die in konservativen Nestern ausgebrütet worden sind, erleben früher oder später immer wieder diesen Konflikt. Der Trommler hat mehr als seine Schuldigkeit getan. Er muß gehn ... wenn er nicht inzwischen zu mächtig geworden ist. Comstock wurde immer einflußreicher an der Spitze der »Gesellschaft zur Unterdrückung des Lasters«, seine besondere Domäne innerhalb des »Vereins«. Die Laster-feindliche Firma trug denselben Namen wie das englische Mutter-Haus, das schon im Jahre 1802 gegründet worden war. Das Siegel, an der Spitze des Briefbogens, zeigte auf der linken Seite einen Lieferanten von Obszönem, der in eine Zelle spediert wird, auf der rechten einen Christen, der einer Bücherverbrennung beiwohnt. Comstock führte dem militanten Unternehmen Freunde zu, brachte es zu nationaler Bedeutung und – erst langsam drang die Erkenntnis durch – kompromittierte es auch. Man war bewahrend und liebte Methoden, die kein Aufsehen erregten. Er aber war ein Irregulärer, dem jedes Mittel recht war, wo es auszurotten galt. Ihm machten auch Niederlagen nichts aus; er hatte immer noch seine beiden großen Alliierten. Eine Organisation aber braucht außerdem noch Geldgeber und Mitglieder, auf die sie Rücksicht zu nehmen hat. Schließlich hängte man ihn ab und machte seine »Gesellschaft« unabhängig; vielmehr, man machte sich unabhängig von diesem Narren Gottes. Sein neuer Präsident war ein Seifen-Fabrikant. Er mußte die Reklame der von ihm hergestellten Vaseline ändern; sie konnte nun nicht mehr als ein Mittel zur Geburten-Kontrolle angepriesen werden. Obwohl Comstock eine starke Strömung im Lande repräsentierte, war er ein unbeugsamer Einzelner ... ohne Macht-Apparat. Er ging keinen von den beiden Wegen, die einen Kämpfer wie ihn vor Isolierung schützen können: er ließ sich nicht zu
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einem anonymen Funktionär denaturieren – und war nicht ein Mann des Staats-Streichs, der die Organisation, die ihn hochgebracht hat, zerbricht und sich als Organisation etabliert. So ging es bergab. Schließlich mußte er noch erleben, daß ein Kirchen-Ältester, ein Diakon, Mitglied des »Christlichen Vereins junger Männer«, ihm erklärte: er gehöre nicht zu ihnen. Eine Welle hatte ihn hochgeworfen, er konnte sie nicht reiten, weil er nicht das A und O aller Politik kannte: daß man zuerst die Seinen auf seine Seite bringen muß, ehe man den Feind angreifen kann. Er setzte seine Macht nur gegen die Sünder ein, anstelle zunächst einmal sich die Guten voll zu unterwerfen. Im letzten Jahr seines Lebens schickte ihn Präsident Wilson nach San Francisco, als Delegierten zu einem Welt-Kongreß zwecks Förderung der Unschuld. Das war im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs – und sein ehrenvolles Begräbnis dritter Klasse. Doch war in der Blüte seines Lebens und seiner Saat, in den Siebziger Jahren, noch nicht vorauszusehen, daß er einmal als Anachronismus dahingehen werde. In seiner besten Zeit war er ein Mann, solide im Bau, unangefressen von Skrupeln, der sich in seine Opfer hineinbiß – und sie nur aus den Zähnen ließ, wenn einmal Gott (mit Hilfe eines besonnenen Richters) sie ihm entriß. Er war (wie die ganze Rasse der Demagogen, die besser als Filmstars und Astronauten das Zwanzigste Jahrhundert illustrieren) ein Mann, der sich einzuprägen wußte. Seine Zeit war voll von solchen Übermenschen der Unterwelt: es gab sie in Wall Street, in der Politik, im Moral-Betrieb, im Bethaus und in der Unterhaltungs-Industrie – Barnums in allen Gassen. Sie waren rücksichtslos und sensationell, mehr ulkig oder mehr schädlich: je nachdem, ob sie nur einen Sparren hatten oder auch die Mittel, einen Börsen-Krach in die Welt
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zu setzen. Comstock gehörte zu den faszinierendsten, wenn auch nicht mächtigsten Selbst-Darstellern dieser Ära; er verbreitete, in der Epoche vor Radio und Fernsehen, sein Ich durch die Kanäle der Presse; die antiken Rattenfänger hatten dies Mittel noch nicht. Comstock setzte nicht nur seine Worte in Szene, auch seine Aktionen. Im Beginn seiner Karriere machte er sieben Arreste in Begleitung eines Reporters der New York Tribüne; von nun an ernährte er durch die Jahrzehnte die Phantasie seiner Zeitgenossen üppig. Er hatte eine große Verachtung für den Roman, das Symbol des Müßiggangs – und hängt Roman nicht mit Romanze zusammen? Er selbst aber setzte die wildesten Reißer in die Welt. Seine Raufereien konkurrierten mit den Schundheften des Tages. Zwei Matrosen, die sich im Grase wälzten, dort wo sein Wagen hielt, suchten von ihrem bevorzugten Blickpunkt aus den aussteigenden Damen unter die Röcke zu sehen. Comstock boxte sie nieder, auf daß ihnen die Lust verginge. So spektakulär baute er am Gottes-Staat. Die Leute gafften angeregt und vergnügt. Der Panik- und Faxen-macher war sein Geld wert. Er schonte sich nicht. Nicht selten spuckte ihm ein Verfolgter ins Gesicht und versetzte ihm eins mit dem Stock über den Schädel. Comstock opferte sein Blut, ohne die Tropfen zu zählen. Nach der ersten Spende schrieb er: mein erstes Blut für das, was recht ist; alles, wenn notwendig, für meinen gebenedeiten Erlöser. Er hätte die höchste Kriegs-Auszeichnung verdient; er hat sich so wacker geschlagen wie nur irgendein Held. Er muß recht stark gewesen sein. Er warf den Gegner zu Boden, packte ihn am Kragen und übergab ihn dem Arm des Gesetzes. Da der oft keine Muskeln hatte, tat Comstock selbst das Notwendige. Gottes Rowdy scheute sich nie, selbst Hand anzulegen. Die Technik, die er ausbildete, kennen wir aus Wild-West-Filmen; seine Verfolgung einer Spieler-Bande, aus welcher er mit Hilfe seiner Fäuste und eines HaftBefehls siegreich hervorging, hätte von Gary Cooper dar-
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gestellt werden können. Manchmal arbeitete er auch mit feineren Mitteln. Da brachte er nach Washington die außerehelichen Liebesbriefe eines Mannes, der seit zwanzig Jahren verheiratet war. Der Präsident hatte den Häftling, der wegen Obszönität eingesperrt war, begnadigen wollen. Dem schob Comstock einen Riegel vor. Seine Begabung, sich zur Legende zu machen, war enorm. Gottes Hand war nicht eine Floskel, er ließ alle fünf Finger sehen. Zum Beispiel damals, als fünf Verleger von Obszönem während der Verfolgung auf natürlich-übernatürlichem Wege starben. Den Nummer Eins – Chirurg, Autor und Verleger von Unanständigem – verfolgte er noch übers Grab hinaus, erfolgreich. Er fuhr zur Witwe und erblickte während des Gesprächs durchs Fenster einen Expreß-Wagen, hoch beladen mit Stereotyp-Platten. Der Fahrer stand noch davor, Comstock sprang in den Sitz, jagte die Pferde zur nächsten Filiale des »Christlichen Vereins junger Männer« und ließ dort alles zerstören, unter seiner Aufsicht. Das Material soll einen Wert von 30 000 Dollar gehabt haben. Er zahlte der Witwe aus christlichem Fonds 450. Dem Nummer Zwei setzte er durchs dunkelste Brooklyn nach, wo er den Sünder stellte, in der Tracht eines episkopalischen Geistlichen. Kurz nachdem er alles ausgeliefert hatte – auch Holzschnitte und französische Spielkarten, starb auch dieser. Der Dritte floh in den Süden ... und war innerhalb von zwei Wochen tot. Die »Christian Weekly« spann an der Comstock-Mythe: es sei sehr eindrucksvoll, drei schamlose Hersteller dieses Schmutzes wurden dem irdischen Gericht entzogen und vor das himmlische gestellt; vor den »Großen Richter«. Der Vierte (ebenso berechtigte) Tote hatte sich mit Transportieren von Obszönem sein Geld verdient, der Fünfte hatte unanständige Gummi-Artikel hergestellt. Woran (nach irdischen Begriffen) diese Fünf starben, ist unbekannt. In der Phantasie, die Comstock entfesselte, erschien jener KnochenMann, unter dem er arbeitete, persönlich. Allerdings konnte er dem himmlischen Auftraggeber nicht
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immer die Eingefangenen ausliefern. Manche nahm ihm das irdische Gericht aus den Klauen. Er hatte keine glückliche Hand in seinen Feldzügen gegen die Damen; eine ganz große Schlappe erlitt er im Zusammenprall mit Frauenrechtlerinnen. Die Suffragetten fühlten sich als die Frauen der Schöpfung. Einer, die entmutigt war, wurde einmal geraten: »Wenden Sie sich an Gott. Sie wird Ihnen helfen.« Diese Amazonen beunruhigten die Welt der amerikanischen Männer schon eine geraume Zeit; nach dem Bürgerkrieg bekamen die Damen neuen Auftrieb. Die Neger sollten das Wahlrecht bekommen – und die Frauen nicht? Die Antwort vieler Amerikaner war ganz schlicht: Nein, sie nicht! Wyoming, damals noch nicht ein Staat, erst ein amerikanisches »Territorium«, gewährte es ihnen, 1868. An dieser winzigen Ausnahme ist die Stimmung des Landes abzulesen. Vieles wirkte zusammen: Gewohnheit; auch die religiös-philosophische Lehre, die (so subtil auch bisweilen die Metaphysik der Geschlechter in Erscheinung trat) ganz simpel auf die transzendente Tatsache zurückging, daß Eva aus einer Rippe Adams geschnitzt worden war. Ein weniger spirituelles Motiv war die Angst vor ökonomischer Konkurrenz ... und dann gab es noch das eine, geladen mit ungeheurer Explosiv-Kraft: die sexuelle Ungebundenheit des Mannes ist schon schlimm genug, der losgelassene Dämon Weib würde die Welt aus den Angeln heben. Aus England kam Emmeline Pankhursts Blatt »The Suffragette«. In Amerika entstand »The New England Free Love League«, welche die Zeitrechnung Nach Christi Geburt aufgab und Nach der Geburt der Liga für Freie Liebe rechnete. Wahrscheinlich ist die Jahrhunderte lange Abwehr der Frauen-Bewegung durch nichts mehr gespeist worden als durch den Horror vor der Entfesselung des vom Manne gefesselten unheimlichen Weibes. Man fürchtete seine Sklaven immer mehr als irgendeinen Feind.
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Es ist also gar nicht so skurril, wenn Comstock keinen Unterschied machte zwischen dem Wahl-Recht, das die Frauen verlangten, der gesetzlichen Ebenbürtigkeit – und Hurerei, Prostitution. In einer seiner leidenschaftlichsten Jagden war er hinter zwei (der Emanzipation verschriebenen) Schwestern her: der siebenundzwanzigjährigen blauäugigen Tennessee Claflin und ihrer um sieben Jahre älteren Schwester Victoria, auch die Jeanne d'Arc der Frauenbewegung genannt und ehemaliger Präsidentschafts-Kandidat der Partei für Gleiche Rechte. Sie war in erster Ehe mit einem Mr. Woodhull verheiratet gewesen; ihr zweiter Gatte war ein Oberst, einst Kommandeur des sechsten Missouri Regiments, zur Zeit des Zusammenstoßes mit Comstock Geschäftsdirektor der radikal-liberalen Zeitschrift, die Victoria herausgab. Die beiden Damen hatten eine Emanzipation auf eigene Faust veranstaltet. Frauen durften damals nicht allein ins Restaurant gehen; so rief Tennessee ihren Chauffeur hinein, als man sie ausweisen wollte. In Indiana hatten sie ein Sanatorium gegen alle Leiden geführt. In New York besaßen sie ein Bank-Geschäft. Man nannte sie die faszinierenden Finanziers, auch Vanderbilts Schützlinge; er war ein Geldgeber ihrer wilden Zeitschrift, welche die Stützen der Gesellschaft angriff und für die Gleichberechtigung der Frauen kämpfte, auch für Freie Liebe – im übrigen aber der Vorsehung ekstatisch-mystisch vertraute. Räuber-Barone wie Commodore Vanderbilt konnten sich alles leisten, auch die Subvention eines umstürzlerischen Blattes; sie standen über den Gesetzen und Klassen. Sie konnten die Lieblosigkeit unterstützen und die Freie Liebe; fortschrittliche, rückschrittliche und fortschrittlich-rückschrittliche Geistliche standen auf ihrer Seite. Als dieser schwerreiche Gangster starb, rief ihm ein Priester ins Grab nach: er möge auch im Himmel Schätze sammeln, zum Wohle der Menschheit. Bevor er das tat, stützte er also auf Erden die originelle Dame Victoria. Es hat sich immer wiederholt (bis zum Harden-Moltke-Pro-
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zeß), daß Liberale, die keinen Anstoß nehmen – dennoch dieses Anstoßnehmen benutzen, um eine Heudielei ihrer Gesellschaft bloßzulegen. So kam es, daß die gute Victoria, die für Freie Liebe kämpfte, einen Skandal um einen hochangesehenen Ehebrecher entfesselte. Der beliebteste, respektierteste und bestbezahlte Kanzelredner des Tages war der Reverend Henry Ward Beecher. Er hatte ein Verhältnis mit der Frau seines Freundes. Man munkelte schon lange, aber niemand hätte gewagt, diese Zierde der Society bloßzustellen. Victoria wagte es. Sie gab seiner Affäre ihren schriftstellerischen Segen; sie trat (wie vor ihr Schleiermacher und Friedrich Schlegel) für die Auflösung von Ehen ein, die keine sind. Sie pries die imponierende Physis des Ehebrechers, die magnetisierende Macht seiner Predigt; sie zitierte zustimmend seine Sentenz, daß die Ehe das Grab der Liebe sei. Und kompromittierte den Mann, mit dem sie sympathisierte, durch ihre Enthüllungen. Sie wollte nicht ihn treffen, sondern die Gesellschaft, die mit zweierlei Maß mißt... und opferte ihn für den guten Zweck. Er war hochgeehrt, hatte eine vornehme Position – während Victoria, die dachte wie er, verfolgt wurde. Sie wollte ein Exempel statuieren. Sie machte sich lustig über den betrogenen Ehemann, den verlogene Sentimentalität befallen habe, weil die religiöse Literatur und die Sonntags-Schule dem süßlichen Gespenst Eingang verschaffte. Sie war Blut vom Blute dieses Geistlichen. Er jubelte über die »herrlich-geschmückte Maien-Welt«, er badete in der »ständig tropischen Üppigkeit gesegneter Liebe«. Sie widmete ihr Blatt derselben »universalen Zukunftsreligion«, »der Universologie«, »der Menschheit auf dem Weg zu paradiesischer Vollendung«. Ihre Sehnsucht war durchtränkt von derselben Liebes-Seligkeit, die auch den Reverend durchpulste. Aber vor dem großen Advent gab es in der Gegenwart noch eine Unmenge von vorletzten Gefechten, zum Beispiel gegen diesen Comstock. Sie machte sich über ihn lustig: es würden noch Mütter arretiert werden, weil sie ihre männlichen Babys
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küßten. Er aber griff nicht den ehebrecherischen Geistlichen an, sondern die Schwestern. Der Geistliche war, trotz allem, staatserhaltend. Er hatte gefragt: ist die große Arbeiterklasse unterdrückt? und geantwortet: zweifellos ja; aber Gott wollte die Großen groß und die Kleinen klein. Der Arbeiter hat mit seinem Los zufrieden zu sein, bis der Arbeitgeber entscheidet, ihm Zulage zu geben ... So wendete sich Gottes Diener Comstock nicht gegen den sündigen, aber gutbezahlten, die Ordnung schützenden Kanzelredner, der den Armen Bescheidenheit empfahl, sondern gegen die beiden Mädchen, die sich schon längst nicht mehr der Gunst ihrer Mitbürger erfreuen konnten. Weil sie zu deutlich geworden waren, waren sie nicht mehr Prinzessinnen, sondern Harlekine und Huren. Comstock packte zu; hinter ihm war Morgan, wie hinter den Schwestern Vanderbilt. Der Mann des Obszönen konnte den wahren Grund nicht angeben: sie hätten die gute Gesellschaft kompromittiert in der Bloßstellung ihres gefeiertsten (und sündigen) Glieds. Die Anklage lautete farbloser: Vertreibung unsittlichen Materials durch die Post. Beamte erwischten die Schwestern in ihrer Kutsche; sie waren wie immer in Schwarz mit lila Schleifen. Sie forderten einen der Schergen auf, im Wagen Platz zu nehmen. Er mißverstand die Einladung und setzte sich der einen gleich auf den Schoß. Sie hätten nicht ins Gefängnis zu gehen brauchen. Freunde wollten eine Kaution stellen. Sie aber wollten den Kampf. Am ersten Januar 1873 schrieb Comstock in sein Tagebuch: »Ich will etwas für Jesus tun.« Zunächst fing er für Jesus die beiden Frauen, die inzwischen entlassen waren, wieder ein. Es war ihnen verboten worden, ihr Blatt per Post zu senden. Comstock bestellte es unter falschem Namen (eine Praxis, die ihm schon viel eingebracht hatte); denn es ist keine Sünde, für Gott zu lügen und zu betrügen und Fallen zu legen und in den Tod zu treiben. Victoria wurde geschnappt. Sie sollte am Tage, an dem sie einen Vortrag zu halten hatte, verhaftet werden. Tausend waren im Saal, auch die Polizi-
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sten, die sie auf dem Wege zum Podium abfangen sollten. Da schlüpfte sie durch die Reihe der Beamten im Kleid und im Gehaben einer alten vertrottelten Quaker-Lady, stand plötzlich auf dem Podium, warf die Maskerade ab und redete einundeinehalbe Stunde. Dann lieferte sie sich der StaatsGewalt aus. Bei dem Kreuzverhör wurde Comstock eine Stelle aus dem Deuteronomium vorgelegt. Er hatte zu beantworten, ob sie obszön sei. Es ging ihm in diesem Prozeß nicht gut. Er mußte seine Beute fahren lassen. Wenn einer verliert, kommt die ganze feindliche Meute aus dem Versteck. Man rief laut: ein ruhmloser Fehlschlag. Man klagte: wir leben unter Gesetzen, enger und bedrückender, als sie irgendein Land mit einer geschriebenen Verfassung hat. Der »Christliche Verein junger Männer« mußte es sich gefallen lassen, als Bund protestantischer Jesuiten verschrien zu werden. Victoria machte es nicht gnädig: sie schuf aus den Anfangsbuchstaben der Firma YMCA die »Young Mules• Concubine Association«. Und als Zeitungen von amerikanischer Inquisition sprachen, meinte die unerbittliche Victoria: man könne Comstock ebensowenig mit Torquemada vergleichen wie ein lebendes Stinktier mit einem toten Löwen. Trotz dieser Sprache wurden die beiden Schwestern nicht vor den höchsten Richter zitiert, sondern fuhren nach England, heirateten glänzend, arbeiteten weiter in alter Weise ... und erreichten ein schönes Alter. Comstock (»Dein Wille geschehe«) tröstete sich mit der Verhaftung eines Verlegers, den er schon dreimal hatte hergeben müssen. Zur Zeit, als er noch die beiden Schwestern in der Zange hatte, erkannte er, daß diese Frei-Liebenden ein Ratten-Nest bilden – sechs, acht Exemplare der »übelsten Sorte« lungerten immer herum. Eine der dicksten Ratten, die er einfing, war George Francis Train, dreiundvierzig Jahre alt. Er bot den Schwestern Geld an, zur Verbreitung ihrer Ideen. Er war sehr reich, hatte Land und Schiffe, baute Eisenbahnen in Europa, plante die Union Pacific und organisierte den Credit mobilier. Er sah gut aus, machte Eindruck und hatte die glänzend-
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sten Beziehungen. Er war gut Freund mit Napoleon III., der Kaiserin Eugenie, dem regierenden spanischen Haus – und ein bißchen später mit den französischen Kommunisten. Er hatte eine Reise um die Welt gemacht. In Australien hatten ihm unzufriedene Bergarbeiter die Präsidentschaft angeboten. In Marseille, nach 1870, hatte er die Kommune organisiert, die »Ligue du Midi«. Jetzt war er neben Grant und Greely als unabhängiger Kandidat für die amerikanische Präsidentschafts-Wahl aufgestellt worden. Er hatte noch einen anderen Ehrgeiz: er wollte unter allen Umständen eingesperrt werden, um mit Comstock gründlich in Kontakt zu kommen. Zu diesem Zweck gab er eine Zeitschrift heraus, in welcher er laufend Obszönes aus der Bibel abdruckte ... und vorschlug, sie wegen Verunglimpfung Abrahams, Salomos und Davids zu verbieten. Obwohl man sich lange wehrte, erreichte er schließlich, daß man ihn festnahm. Er bekannte sich »schuldig« und forderte eine Anklage wegen Abdruck von obszönen »Auszügen aus der Heiligen Schrift«. Ihre Redakteure waren weniger ängstlich gewesen als alle europäisch-amerikanischen Schriftleiter heute sein müssen: freimütig ließen die Rabbiner jener Tage Erzählungen durch, die von Inzest und Vergewaltigung, sexuellem Verkehr mit Tieren und Masturbation, Exhibitionismus und Voyeurismus berichteten. Mr. Train erwähnte auch Lot, ein gefährliches Kapitel. Nachdem Lots Gattin zur Salzsäule erstarrt war, zog der Witwer mit den beiden Töchtern ins Gebirge. Da sprach die ältere zur jüngeren: unser Vater ist alt, und es ist kein Mann mehr im Lande, der zu uns kommen könnte nach aller Welt Brauch. Komm, wir wollen unserem Vater Wein zu trinken geben und uns zu ihm legen, daß wir unsern Stamm erhalten ... So wurden die beiden Töchter Lots schwanger. Die heilige Redaktion hatte nur eine tugendhafte Interpretation angehängt. Aber auch so wollte sich das Gericht auf Biblisches nicht einlassen; es war nicht so leicht, damit fertig zu werden wie mit
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den harmlosen Schreibereien der Schwestern. So gab man dem Mann Train die Chance, zu fliehen. Er blieb. Schließlich verurteilte man ihn – zur Irren-Anstalt. Aber auch dies Urteil nahm man nicht so genau. Er entkam zu Schiff nach England... Die Zirkus-Nummern rund um Comstock endeten oft weniger lustig. Was lächerlich ist, braucht nicht zum Lachen zu sein. Comstock ist noch ein Schädling in den langweiligsten Comstockianern. Sie sitzen heute (zum Beispiel) im Parlament und kommen zum Vorschein bei einer Erörterung des Sexual-Lebens der Fische. Ein amerikanischer Abgeordneter trat 1961 für ein Gesetz ein, welches staatliches Eingreifen in das Fortpflanzungs-Tempo der Schellfische forderte. Bei dieser Gelegenheit kam es zu einer eingehenden Debatte über künstliche Befruchtung. Da griff einer der Gesetzgeber aus dem Stamme Comstocks, einer seiner jüngeren Zeitgenossen, ein Mann von Fünfundachtzig ein; und warnte vor der Folge solcher biologischen Aufklärungen, da auch junge Menschen ParlamentsDebatten läsen. Kinsey hatte versäumt, in seinem Report aufzuzeichnen, wieviele junge Amerikaner durch Diskussionen im Parlament auf die Kinsey-Bahn geraten sind. Es ist bereits in seinem Leben der Wandel vom blutvollen Jäger zum unpersönlichen, aber nicht weniger blutigen Gesetz abzulesen. In der Massen-Gesellschaft ist der Kämpfer gezwungen, sich aus einem Duellanten in eine Institution zu verwandeln; auch die lautesten Individuen sind nur Angestellte fürs Maul-Aufreißen. Wie die beiden Oberbefehlshaber zweier feindicher Heere nicht mehr zum Zweikampf schreiten, nicht einmal mehr zum Feldherrnhügel, nur noch zum entfernteren Kriegs-Ministerium, so versachlichte sich Comstocks Ins-Genick-Packen mehr und mehr zur weniger theatralischen Arbeit für das wirksamste Anti-Obszönitäts-Gesetz. In Washington, in den Vorzimmern des Kongresses, schlug er sein Feldlager auf.
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Das war nicht mehr das bunte Spektakel auf der Straße, auf der Lauer, auf dem Sprung, hinter irgendeinem Sünder her. Das war auch nicht mehr der saftige Auftritt vor einer lokalen Jury, welcher das inkriminierte Objekt gar nicht vorgelegt wurde, weil es zu unanständig sei; das souveräne Volk, das richtete, verließ sich auf Comstock und die Richter, die ihm sekundierten – und verurteilte. Aber Comstocks dramatische Aufzeichnungen machen selbst noch aus dem stillen Hangen und Bangen im Ringen mit den Abgeordneten eine farbige Schau. Er hatte ein Gesetz vorbereitet, das manche Lücken der Bestimmungen von 1865 und 1872, durch welche die Sünder noch hatten durchschlüpfen können, endgültig schließen sollte. Endlich wird auch jede Beihilfe zur Verhütung der Empfängnis strafbar sein, selbst wenn nur ein Rat erteilt worden ist. In diesen Entwurf legte er seine ganze Seele, Wochen und Wochen steht er mit ihm auf und geht mit ihm schlafen. Die Gesetzgeber haben noch andere Sorgen: andere Gesetze zum Beispiel, auch verschwenden sie ihre Gedanken an Frauen und Kinder und Geschäfte und Maitressen. Auch die Parlamentarier sind gegen die Sünde, speziell gegen die Pornographie (was immer sie dazu rechnen) – und sehr beeindruckt von Comstocks Rhetorik. Aber dieser Mann ist schrecklich aufdringlich, heute abend ist es zu spät... und als es dann morgen wurde, war nicht die rechte Gelegenheit da. Auch sollte man nichts übereilen, einige Passagen müssen geändert werden, also das Ganze noch einmal von vorn. Sie fanden auf ihrem Sitz Material, das seine Gegner zusammengetragen hatten: »Das Leben und die Verbrechen des Anthony Comstock«. Ein kleiner Aufenthalt wieder. Es ging nicht recht vorwärts. Da fragte der gefolterte Mann: haben diese zögernden Volksvertreter vielleicht Freunde in der Obszönitäts-Branche? Mancher Ängstliche fürchtete sich, als Schwein gebrandmarkt zu werden, und wurde so in die Comstock-Front hineingepreßt. Aber es ging sehr langsam. Und er konnte doch die
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Herren vom Kapitol nicht schlicht niederschlagen wie irgendeinen Buchhändler. Da hieß es, diplomatisch sein, finessieren. Ihm riß die Geduld. Er vermochte nicht mehr, als diesen Riß seinem Tagebuch anzuvertrauen. Und rächte sich mit geheim-schriftlicher Verachtung dieses Packs. Wie schon ihre Frauen aussehen! Nach einer Party im Weißen Haus beschrieb er: wie. Sie bemalen sich das Gesicht. Sie pudern sich das Haar ... Wir wüßten sehr gern, was sie anhatten. Aber die emotionalen Adjektive: ihre Kleidung sei »frech«, ihr Gesicht »albern«, die Wirkung »ganz ekelhaft« auf jeden, »der die reine, edle bescheidene Frau liebt« – vermitteln nicht die geringste Vorstellung von der damaligen Washingtoner Damenwelt. Die typische Beschreibung eines Anstoßnehmers. Von schlappen Gleichgesinnten und starken Feinden umringt, greift er auf die eiserne Ration zurück: Gott und Jesus. Er ist am Rande der Verzweiflung. Sie halten ihn. Sie stärken ihn mit Zuversicht. Und im schlimmsten Fall: Dein Wille geschehe! Dann zeigt sich doch noch dieser Wille von seiner freundlichen Seite: der Entwurf geht durch. Aber noch im Sieg schmeckt er einen bitteren Tropfen. Das neue Gesetz hebt alle schwebenden Verfahren auf, die unter früheren Verordnungen anhängig gemacht worden waren. Er aber kann nicht loslassen, was er bereits gepackt hat. Doch eine Erweiterung des neuen Paragraphen, die solch ein Unglück verhinderte, würde einen neuen Aufschub zur Folge haben. Nach vielen Seelen-Qualen riskiert er ihn. Die Verzögerung stellt abermals alles in Frage. Und dann zeigt sich wieder Gottes Hand, die Comstock zugetan ist. Er ist auf der Höhe seines Daseins. Er wird auch noch zum Spezial-Agenten der Post ernannt. Die Früchte schießen üppig aus dem Boden. Führende Zeitungen streichen Annoncen, gegen die Comstock war, bitten ihn um Vor-Zensur. Es gab bereits irgendwo im großen Land ein lokales Gesetz: es ist verboten, Medizinen, Drogen oder Apparate zur Heilung von Geschlechts- und Frauen-Krankheiten zu annoncieren. Nun wurde es in weiten
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Bezirken strafbar, irgend etwas zu drucken, was Comstock für unsittlich hielt. Der Sieger ging soweit in seiner Dankbarkeit, daß er bereit war, den Parlamentariern manches nachzusehen; sie sind doch nicht die Schlechtesten. Die neue Würde stärkte auch das alte Ego. Er war ein vom Staat anerkannter Tugendheld. Die schönste Geschichte, die aus seiner Karriere als Zensur-Gehilfe des Brief- und Paket-Beförderungs-instituts erzählt wird, spielte sich auf dem Broadway ab. Ein Post-Wagen hätte ihn beinahe überfahren. »Ich bin Comstock«, rief er den subordinierten Pferden zu. Er hätte sie als ihr Vorgesetzter glatt verhaften können. Im Jahre 1913 gab ein Biograph seiner Comstock-Geschichte den Titel »Kämpfer im Konflikt mit den Mächten des Übels«. Und dankbare Mitbürger bestätigten ihm auch die irdische Position: er sei für seine Aufgabe der richtige gewesen, wie Lincoln und Grant für ihre. Die beiden hätten Millionen Patrioten zur Verteidigung der Nation geführt, im vierjährigen Kampf. Zehnmal vier Jahre sei Comstock auf dem Marsch gewesen, ein einsamer Soldat... Aber so einsam war er wieder nicht. Viele Comstocks der letzten hundertundfünfzig Jahre versuchte man in Schach zu halten, indem man ihnen das magische Wort »Kunst« entgegenstreckte – wie dem Teufel das Kruzifix. Deshalb waren sie um so schwächer, je mehr sie ihren Kampf auf diesem Gebiete führten, je anerkannter die Werke waren, deren Unzüchtiges sie anprangerten. Comstock hatte diese Schwierigkeit kaum. Zwar hatten sich in manchen Buchhandlungen seines Amerika Rabelais und Zola und Daudet unter dem Ladentisch zu verkriechen – dort, wo heute (in Boston und Dallas und Los Angeles) Henry Millers zu finden sind. Und ganz offenbar wurde »Der Mann des Obszönen« auch in den Gefilden der Literatur gefürchtet; im Jahre 1914 verlangte der Verleger von Theodore
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Dreisers »Genius« eine kontraktliche Garantie, daß der Roman nichts Unmoralisch-Skandalöses enthalte. Aber es gab in der Laufbahn Comstocks keinen Zusammenstoß mit einer »Lucinde«, einer »Madame Bovary«. Die amerikanischen Debatten um »Ulysses«, »Lady Chatterley«, »Wendekreis des Krebses« fanden erst nach seinem Tode statt. Und niemand verteidigte die Illustrationen und Schmöker, die er zentnerweise zerstörte; die Kunst war nur ganz gelegentlich einmal im Spiel. Und das Andere gab man gern als »Pornographie« preis: ein Wort, das viele gebrauchen; eine Ware, die wenige gesehen haben; ein Produkt, über das kaum jemand nachgedacht hat – nicht über seine Herkunft, nicht über seine echte Funktion, nicht über seine vielfältigen Folgen ... so sehr scheint allen mit dem Wort Schmutz alles gesagt zu sein. Einer spricht's dem andern nach: das Obszöne und sein Leben im Wort, der Pornographie, bewirke eine Zerstörung von Leib und Seele. Und was den Ursprung betrifft, so wird man ebenso schnell fertig: der Produzent will verdienen. Das wollen auch die Bäcker, die das Brot ... die Bankiers, die das teure Geld beschaffen – und sogar die Verleger von Bibeln. Liegt im Geld-verdienen ein Verbrechen? Die Empörung über die Pornographie läßt es gar nicht erst zum Nachdenken kommen. Niemand also war gegen seine Bücher-Verbrennungen, solange er nicht ins Gebiet der Kultur stolperte. Dann allerdings hatte Comstock alle Bildungs-Beflissenen gegen sich. Andere Sittlichkeits-Schnüffler waren ebenso amusisch wie er. Aber verwechselten eben nicht eine Kunst-Ausstellung, den »Paris Salon«, mit Kneipen, den »Paris-Saloons«. Comstock war nicht ein französischer Staatsanwalt im zweiten Kaiserreich, der es sich nicht hätte leisten können, offiziell die Kunst zu mißachten. Comstock war nicht ein hervorragender Professor wie Dilthey, der zwar über die »Lucinde« die Nase rümpfte, aber dennoch ein hingebungsvoller Kunst-Enthusiast war. Comstock war nicht ein preußischer Regierungsrat wie seine bläßliche Kopie, der (bald auf-
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tretende) Professor Brunner, der bei aller Kunst-Blindheit dennoch eisern Goethe zitierte. Comstock war ein unbefangener amerikanischer Freiluftmensch, der die Courage zu seiner Unbildung und Barbarei hatte, sich den Teufel um die literaturhistorische Bedeutung des »Dekameron« kümmerte (den er wie ein wildes Tier einhegen wollte). Comstock meinte: die nackte Kunst könne man, wenn man wolle, in Museen internieren – in das Schaufenster einer Kunst-Galerie, an welcher Schulkinder vorbeikämen, gehöre sie nicht; denn der Unterschied zwischen den Primitiven und den Sittlichen liege in der Bekleidung. Ein Witz-Blatt stellte ihn dar, wie er eine am Boden liegende Frau vor die Gerichts-Schranke schleift: »Diese hier brachte ein nacktes Baby zur Welt.« So sehr fürchtete der Mann den Anblick des unverhüllten Körpers. Sehr gelegentlich nur machte er sich in seinen Streifen gegen preisgekrönte französische Impressionisten und offizielle Photographien von Stücken aus amerikanischen Museen lächerlich. Man ließ die Gelegenheit, die eigene kulturelle Überlegenheit zu demonstrieren, nicht vorbei. Er sorgte dafür, daß Hans Makarts »Triumph Karls V.« aus dem Schaufenster eines Konditors verschwand, weil die Pferde des Triumph-Wagens von nackten Knaben geführt werden. Eine Illustrierte karikierte dies Ereignis: die Pferde waren in Hosen. Auch Vogel erschienen auf Comstock-feindlichen Pamphleten in Beinkleidern. Witzige Einfalle von Redakteuren – und recht billig. Und vielleicht sterben diese Comstocks nicht aus, weil man sie immer nur dort verspottete, wo sie sich selbst schon in Karikaturen verwandelt hatten. Nie aber griff man sie in ihrem Kern an: in ihrem Unbehagen, in ihrem Horror vor dem Sexus. Die Anti-Comstocks dachten fast immer wie die Comstocks – und manövrierten nur vorsichtiger an den Kultur-Belangen vorbei. Sie wurden immer erst aufsässig, wo die Kunst in Gefahr war. Der lebende Mensch interessierte sie weniger.
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Das hätte die Dynastie Comstock vorbringen sollen. Sie hat es nie getan, weil auch sie der Mensch nicht interessierte – nur ein anderer Kultur-Götze: die Moral. Es klingt ganz gewiß banausisch, wenn er die erotische Kunst mit Strychnin in einer Zucker-Hülle vergleicht; es sei so nicht weniger tödlich. Es klingt nicht hübsch. Aber was er sagen wollte, ist bedenkenswert ... man darf auch einmal auf die Seite Comstocks treten, wenn das verhüllte Problem so besser zu enthüllen ist. Er wollte sagen, daß Kunst kein Gegen-Gift ist. Sind Zilles kunstvolle »Hurengespräche« nicht obszöner gewesen als alle Berliner Jöhren in der Fülle ihrer Direktheit? Es ist sehr bequem, zu tun, als ob die Comstocks die einzigen Mucker in der Welt wären; sie zeigen es nur ungeniert. Während viele, welche die Literatur zwischen Ovid und Frank Harris laut preisen, weil hier die Kunst das Unreine geadelt habe, sich verstecken. Mit dieser Kunst-Veredlung des Unreinen ist man bereits mitten in der Comstockerie, einer glorifizierten allerdings. Comstock und seine Ahnen und seine Erben hatten viel Gleichgesinnte unter ihren ausgesprochenen Gegnern; ihnen war jener ungehobelte Bauer nur nicht fein genug, diskret genug, genug angepaßt an die Konventionen der Gebildeten. Comstock erlitt Blamagen, die sich Kultur-strotzende Gleichgesinnte dadurch ersparten, daß sie sich kulturell tarnten. Er riskierte es, einem Pamphlet den Titel zu geben: »Moral. Nicht Kunst oder Literatur«, während hervorragende Künstler und Kunst-Kritiker den Konflikt vertuschten mit der ängstlichen Taschenspielerei: Kunst ist moralisch. Die angedokterten alten Jungfern mit ihrem Kotau vor den KulturWerten und dem schiefen Blick zu dem hin, was sie bemänteln sollen, stehen an Aufrichtigkeit weit unter diesem Mann. Er war eine Gefahr und ein Narr – und hatte das ungewollte Verdienst, grell herauszustellen, was viel gefährlicher ist, wo es in unscheinbar-konventioneller Uniform erscheint ... das heißt: fast überall.
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Er machte sich lächerlich: wenn er den Namen Boccaccio nur ungern aussprach, um nicht für ihn noch Reklame zu machen; wenn er Havelock Ellis' Buch »Erotischer Symbolismus« beschlagnahmte. Ein Professor, sogar ein Student hätte das nicht gewagt; denn der englische Sexologe war eine wissenschaftliche Autorität. Aber die Kenner, die Bescheid wissen, auf ihre kulturelle Reputation wertlegen – und sich wie Comstock entrüsten, sind bekämpfenswerter als er: sind Dunkelmänner, die nebenbei auch noch Leuchten sind auf irgendeinem Gebiet der weiten Kultur ... und deshalb ihr Dunkles so gut verbergen. Comstock hingegen lebte und starb als ein aufrechter, sich ins Licht stellender Obskurant. Zum Schluß verfolgte er einen obszönen Doktor. Der rannte eine Treppe hinauf, Anthony ihm nach und packte ihn an einem Bein. Das versetzte dem Verfolger einen erfolgreichen Tritt. Comstock rollte die Treppe hinunter und kam mit drei gebrochenen Rippen, Quetschungen und inneren Verletzungen unten an. Tief unten. Von diesem Stoß erholte sich der Anstoßnehmer nicht mehr. Im Jahre 1895 wurde in New York Anthony Camstocks Buch »Ein einziger moralischer Standard für alle« veröffentlicht – und in London der dreifache Oscar Wilde-Prozeß durchgeführt. Mutterland und ehemalige Kolonie gingen in gleichem puritanischen Schritt und Tritt. Die Liquidierung des Dichters sieht nur nicht so rüde aus: weil der englische Staat korrekter war als der amerikanische Raufbold, weil in England ein Talentierterer höflicher zu Tode gequält wurde als die Puff-Mama, die Comstock hingemacht hatte. Aber auch im Lande Shakespeares wurde mit Hilfe des amerikanischen Prokrustesbettes hingerichtet: ein einziger moralischer Standard für alle. Es ist das Comstocksche, was noch hinter dem kultiviertesten Terror hervorgezogen werden muß. Eine kleine Schar, welche die Macht hat, vergewaltigte immer
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mit Hilfe ihrer Sprache, die den einzigen moralischen Standard für alle diktierte ... und eine einzige moralische Entrüstung für alle erzeugte. Comstock starb nicht 1915. In dem Jahrzehnt nach seinem Tode machten Universitätsprofessoren den Teufel und seine Heerscharen für die kurzen Damen-Röcke verantwortlich und sahen das Chaos voraus. In Utah plante man Geldstrafen und Gefängnis für alle Frauen, deren Kleider kürzer als drei Inches über dem Fußgelenk waren. Warnung vor diesem Weg nach oben! Man prophezeite, wohin das führen wird: ins Automobil, das »Freudenhaus auf Rädern«. Und in einem Ort des Staates Arkansas ging eine Verfügung durch, nach der es (Sektion I) innerhalb der Grenzen dieser Stadt für Frauen und Männer ungesetzlich wurde, geschlechtlichen Verkehr zu haben; ausgenommen (Sektion III) sind Eheleute, soweit sie nicht unkeusch miteinander verkehren ... sagen wir: wie Julius und Lucinde. Und nochmals vierzig Jahre später ist Comstock immer noch am Leben. Der siebzigjährige Henry Miller, dessen »Wendekreis des Krebses« seit vierzig Jahren in vielen Ländern Europas gelesen und geschätzt wird, seit 1961 sogar in Amerika, wurde im Januar 1962 Anlaß für eine der gebildetsten Comstockerien. Ein Buchhändler wurde von der Stadt Los Angeles angeklagt, er verbreite den »Wendekreis«-Schmutz. Hohe Beamte des lokalen Erziehungswesens unterstützten die Anklage. Da präsentierte die Verteidigung einen UniversitätsMann, Professor für Englisch, der den literarischen Wert des Buches bezeugte. Als man ihn aber aufforderte, eine obszöne Seite laut vorzulesen, weigerte er sich. Seine Begründung lautete: »Wenn man mich auffordert, diese Stellen öffentlich vorzutragen, könnte man von mir auch verlangen, daß ich meine Zehen öffentlich reinige.« Das war ein Verteidiger des künstlerischen Schmutzes: die subtilere Reinkarnation Comstocks. Sie wird nun mehr und mehr in den Vordergrund rücken.
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Berlin 1920 Sex, Politik und Kunst – im Reigen
Es gibt Etwas, höher als Kunst, Literatur und Wissenschaft: die Moral, die Tugend, die Keuschheit einer Nation. Ein entrüsteter Ire. The Spectator, 6. Oktober 1928 – sieben Jahre nach dem »Reigen«-Prozeß, im Jahr des ersten Erscheinens der »Lady Chatterley«.
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Der dreiundzwanzigste Dezember 1920 war ein denkenswürdiger Tag in der Geschichte der Entrüstung. Die Schamhaften brüllten »Schweinerei«, fast ein ganzes Jahr lang. In jenem Winter fand in Berlin eine Theater-Premiere des Wiener Dichters Arthur Schnitzler statt. Das Stück hieß »Reigen«. Es schildert ein ewiges Auf und Ab: Vorher – illusionäre Gier, Nachher – die Lieblosigkeit der Abgekühlten. Das Stück wurde bis in den Herbst hinein in vielen Städten Deutschlands gespielt: vor allem aber attakiert, angeklagt, verteidigt, gepriesen; und (wie im Falle »Bovary«) freigesprochen, nachdem es von vielen eminenten Rittern des Geistes für die unreifere Jugend zurechtinterpretiert worden war. Ein weiterer Pyrrhus-Sieg in der Historie des Raufens um das Obszöne. Diese farbige Episode im langen Leben des Anstoßnehmens am Unanständigen lebte viele Monate, explosive deutsche Monate. Der Krieg war verloren worden. Es war bereits zwei Jahre her. Die Hohenzollern waren entthront, nicht aber ihre Generäle; und nicht das Groß- und Klein-Bürgertum, das in den christelnd-nationalistischen Vorstellungen des KaiserReichs herangewachsen war. Es gab eine Republik, es gab sogar Republikaner. Aber immer stärker kam heraus, wieviele es nicht gab. Bald nach der Revolution, schon Ende 1918, formierte sich der monarchistische »Stahlhelm«; fünfzehn Jahre später wurde er der SA unterstellt. 1919 kam die Deutsche Arbeiterpartei in die Welt; ihr siebentes Mitglied hieß Adolf Hitler. Er verkündete, 1920, seine Fünfundzwanzig Punkte im Mün-
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ebener Hof-Bräu. Im selben Jahr versuchte ein preußischer Beamter, Kapp, und ein preußischer General, von Lüttwitz, die Republik zu zerschlagen. Es waren diese Jahre 1918, 1919 und 1920, die im TheaterSkandal, der am dreiundzwanzigsten Dezember begann, die prominenteste Rolle spielten. Damals wurde auch offenkundig, daß die politische Reaktion eine ihrer (unbeachtetsten) Manifestationen im Anstoßnehmen an Sexuellem hat. Aber erst viel später, nach dem Tode von Weimar, gelangte ins allgemeine Bewußtsein, wie mächtig die feindlichen Kräfte gewesen sind, die von der deutschen Republik nie besiegt, nur unter die Oberfläche gedrückt waren. Obwohl sie schon sehr früh in einer Art Rampenlicht standen, im Prozeß gegen das Obszöne auf der Bühne. Die Deutschen, ein Theater-besessenes Volk, feierten die Triumphe der neuen Freiheit im Theater. Die PräventivZensur war gefallen. Stücke, Szenen, Sätze, Worte konnten nicht mehr ausgesperrt werden. Die Aussperrung war durch die Jahrhunderte von Fürsten und Kirchen ausgeübt worden, immer unter drei Gesichtspunkten: werden Interessen regierender Häuser berührt? Werden die Priester gekränkt – was man immer »Gotteslästerung« nannte? Schickt sich der Text für den ordentlichen Untertanen? Das heißt: paßt der Text zur herrschenden Wahrheit? Es kränkte schon das kaiserliche oder auch nur königliche Haus, wenn Grillparzer einen Ahnherrn der Habsburger auf die Bühne brachte oder Kleist einen legendären Hohenzollern. Es war ungebührlich, Angehörige der erlauchten Familien im Scheinwerfer der Vergnügungsstätten erscheinen zu lassen, als Spektakel für Schaulustige. Das zweite mächtige Rühr-mich-nicht-an war der Bezirk amtlich geschützter Glauben; die nicht-geschützten nennt man Aberglauben, sie dürfen beleidigt werden (wie heute die heiligsten Gefühle der Atheisten). Es war lästerlich, ein Stück »Maria Magdalena« zu nennen, selbst wenn es nichts mit dem Neuen Testament zu tun hatte. Hebbels Drama konnte
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vor der Revolution von 1848 des Titels wegen nicht aufgeführt werden; es schickte sich nicht für die Namen biblischer Figuren, auf Theater-Zetteln zu erscheinen. Es war auch nicht statthaft, das heilige Vokabular dem Mund von Komödianten anzuvertrauen. Das Wort »beten« auf der Bühne war eine Profanierung. Hamlets: »Ich meinesteils will beten gehn« wurde fromm abgewandelt in »Was mich betrifft, ich will das Meinige tun«. Das Wort »Gott« durfte nicht ausgesprochen werden; es wurde durch »Himmel« ersetzt. Die Erteilung des Abendmahls in Schillers »Maria Stuart« spielte man nirgends. Die Schaubühne als moralische Zwangs-Anstalt! Im Jahre 1795 kam in Wien eine Anordnung heraus, die darauf zielte, »das Theater, diese Schule der guten Sitten, der Tugend und des Patriotismus zu reinigen«. Man reinigte »Kabale und Liebe« dort, wo der Sohn sagt: »Es gibt eine Gegend in meinem Herzen, wohin das Wort Vater niemals gedrungen ist.« »Vater« mußte durch »Onkel« ersetzt werden. Schließlich gab es kein Gebot: Du sollst Onkel und Tante ehren! Auch diese staatlich-geistlichen Vormünder waren am Ende des Ersten Weltkriegs besiegt, dachte man. Man bildet sich immer ein, frei zu sein, wenn man eine Knechtschaft loswird – und bedenkt nur selten, in welche neue man bei dieser Befreiung gerät. Die Nachfolge des Kaisers und des Papstes trat nun der Volks-Zorn an, der viel übelnehmerischer, engherziger, blutrünstiger war als irgendeiner seiner Vorgänger. Der »ReigenProzeß wäre unter den Wilhelms nicht möglich gewesen. Der neue Tyrann stellte sich ekelhaft pompös in der Serie von häßlichen Auftritten vor, die am 23. Dezember 1920 begann und am 12. November 1921 vorläufig endete; Höhepunkt war die Stinkbomben-Schlacht am 22. Februar. Aber es stank von Beginn bis zum Ende. An jenem Februar-Abend hatte die deutsche Empörung, die weder gegen Wilhelm II. (vorher) noch gegen Hitler (nachher) in Erscheinung trat, ihre epochale Stunde. Man hielt es nicht aus, daß in einem
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Theaterchen Berlins die Phantasie der Zuschauer auf jenes nicht ganz unbekannte Ereignis gelenkt wurde, ohne das (seit den Kinderchen des Adam und der Eva) Menschen nicht existieren würden. Institutionen vergehen; länger währt die Tradition, der sie entstammten. 1903 hatte das preußische Oberverwaltungsgericht (beim Verbot der »Maria von Magdala« des Nobelpreisträgers Paul Heyse) erotische Triebe »die niedrigsten, verwerflichsten menschlichen Triebe« genannt. Inzwischen war (so redeten sich die Weimaraner ein) die Welt des preußischen Oberverwaltungsgerichts untergegangen. In Wirklichkeit geht immer viel weniger unter, als siegreiche Revolutionäre glauben; zumal wenn nicht sie gesiegt haben, sondern (wie in diesem Falle) die Franzosen, die Engländer und die Amerikaner. Nicht die freiheitlichen Kräfte Deutschlands hatten das Joch zerbrochen, sondern die Feinde. Und es änderte sich nicht so viel, wie die neuen Farben glauben machten. Die Demagogen, nicht die Demokraten, traten das Erbe des kaiserlichen Deutschland an; die Untertanen durften schließlich »Heil Hitler« schreien, während sie beim Kaiser noch lautlos stramme Haltung angenommen hatten. Beim »Reigen«-Skandal stellten sich zum ersten Mal die Erben des Kaiser-Reichs vor: die Enkel des Turnvater Jahn, die Vorläufer des kommenden Führers. Es war bereits die ganze Phalanx da: gegen Juden, Sozialisten und Liberale. Zur Auslösung der Wut diente das älteste Ärgernis: dieses verdammte Teufelchen Sex, das einem soviel zu schaffen macht. Wie sehr die Justiz dieser randalierenden Anstoßnehmer die Tradition ehrte! 1794 hatte die Wiener Oberdirektion angekündigt, sie werde nie ein Stück annehmen, »das den guten Sitten zuwider ist, welche durch das Theater gefördert, nicht umgestürzt werden müssen«. Umstürzend war: die Vornahme unzüchtiger Handlungen und die Beschimpfung einer anerkannten Religionsgesellschaft. 1920 konnte also der deutsche Staat, der sich gern von seinen nun demokratisch genannten Untertanen zum Eingrei-
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fen bewegen ließ, auf eine lange Tradition zurückblicken; obwohl Eberts kaiserloses, mit keinem Papst und keinem Luther verheiratetes Deutschland an der Oberfläche ganz anders aussah als weiland das Kaiserlich Römische Reich Deutscher Nation. Es hatte bereits die Vornahme unzüchtiger Handlungen auf der Bühne verboten; und als jetzt einige phantasie-reiche Kleinbürger solche gesehen zu haben glaubten, griffen die Vertreter des gar nicht mehr kaiserlichen und gar nicht mehr christlichen Staates nach alter Sitte ein. Das Eingreifen war ein bißchen komplizierter als zur Zeit der Maria Theresia, welche die erste deutsche Zensurbehörde in die Welt gesetzt hatte. Doch wird, wer sich nicht an Formalitäten hält, sehen, daß sich nichts Wesentliches geändert hatte. Schon im Achtzehnten Jahrhundert war verfügt worden: der Schauspieler hat »bei eigener Verantwortung« solche Stellen zu korrigieren, »die seine eigene Klugheit für bedenklich« hält; bedenklich war bereits Umarmen und Küssen. In demselben Sinn klagte der republikanische Staatsanwalt nicht nur den Autor an, auch alle Schauspieler, die mitwirkten. Auch er machte die Darsteller verantwortlich, welche die Sätze des Haupt-Schuldigen in den Mund nahmen. Maria Theresia hatte ihnen bei der ersten Verfehlung einen Verweis, bei der zweiten vierzehn Tage, bei der dritten lebenslängliche Haft zudiktiert. Der Herr von Bradtke war im Jahre 1921 insofern strenger, als er gleich mit einem Antrag auf fünf Monate Gefängnis begann. Wie einfach, wie lautlos war es noch in alten Zeiten gewesen, als Hof und Kirche das Geschäft des Verbietens mit einem Federstrich erledigten! Das feudalistische Publikum war gegen ein nicht-genehmes Stück recht feudalistisch, das heißt: kurz und bündig vorgegangen, ganz ohne Bemühung einer Zensur-Behörde. So gefiel Leo X. das Schauspiel eines Klostergeistlichen nicht, das 1519 in der Engelsburg aufgeführt wurde. Man setzte nicht Himmel und Hölle und Paragraphen in Bewegung. Dem Autor wurde auf Befehl des Papstes das Gürtelband durchschnitten, die Hose fiel, der Stücke-
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Schreiber bekam coram publico eins hinten drauf, die Gesellschaft amüsierte sich ... Solches geschah Schnitzler nicht. Die Zeiten hatten sich geändert. Das Verprügeln hatte sich geändert. Zwölf Jahre später wäre er schlicht ermordet worden. Das aufhetzende Anstoßnehmen 1921 war eine erste Probe vor der großen Premiere 1933. So einfach war zwölf Jahre vorher das Kaputtmachen noch nicht. Schon lange, bevor es zum Prozeß kam, hatte man versucht, diese unanständige kleine Geburt abzuwürgen. Bereits die Eröffnung fand gegen eine Einstweilige Verfügung statt. Sie wurde am dritten Januar aufgehoben und dem »Reigen« das Prädikat »eine sittliche Tat« zuerkannt. Es kamen Mitte Januar die antisemitischen Krawalle in Wien. Und dann kam der Berliner 22. Februar. Seiten-Balkon, zweite und dritte Reihe – Plätze, von denen man kaum sehen, aber ungesehen agitieren konnte, waren schon lange vor der Aufführung ausverkauft. Am Abend zogen Gruppen auf: fünfzehnjährige Burschen, in kurzen Höschen. Ihre Kampf-Parolen waren auf die Melodie gestimmt: »Die Juden nach Palästina!« Unter den Platz-Inhabern des Seiten-Balkons war ein Jüngling in der Kluft eines Straßenfegers, dicker Schal um den Hals. Einer seiner Kameraden rief ihm vor dem Theater zu: »Mensch! Wenn du so drin bist, fällst du auf.« Zuerst tat er nichts Auffallendes, aß ruhig sein Butterbrot und blickte nicht auf die Bühne. Dann aber, als vom bestmöglichen Versteck aus Stink-Bomben auf Bühne und Zuschauerraum niedergingen, fielen sie alle auf. In den »Lebensregeln des deutsch-völkischen Schutz- und Trutz-Bunds« hieß es: »Geht nicht ins Theater, wenn ein jüdisches Stück aufgeführt wird.« Selbstverständlich war gemeint: falls ihr nicht zum Stinken abkommandiert seid. Und bisweilen hatte dies Vorgehen Erfolg. Der Polizei-Präsident von München erläuterte sein »Reigen«-Verbot: »Soviel Polizisten, wie nötig sind, um die Deutsch-Völkischen in Zaum zu halten, kann ich nicht aufbringen«. Berlin konnte es vorläufig noch.
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Dann sprach, am 11. Juni, ein Gericht den »Reigen« wegen mangelnden Beweises frei. Und schließlich war man soweit, daß man einen großen Schau-Prozeß arrangieren konnte. Der deutsch-demokratische Staat brauchte die Hilfe des Volks, um anklagen zu können. Im Sommer hatte man sein Volk hinter sich. Mit einem Federstrich von oben war es nicht mehr gemacht, es mußte so aussehen, als ob einem der Mann auf der Straße voranging; und er ging voran. Er nahm, straff organisiert, Anstoß. Erst, wenn sie genug Entrüstete rekrutiert hat, kann eine Demokratie zupacken, zum Schutz jener Öffentlichkeit, der man beigebracht hat, daß sie schutzbedürftig ist. Man kann nur selten einen so guten Blick in die Unterwelt der Anstoßnehmer werfen, wie es in diesem Prozeß möglich wurde. Es marschierten auf: Verbände über Verbände, welche sexuelle, religiöse und patriotische Empörung in verschiedener Dosierung dieser Ingredienzien organisiert hatten. Vor allem marschierte auf: ein Führer, welche alle Verbände für den besonderen Fall koordiniert hatte – der Mann, der Organisationen organisierte. Es marschierten auf der anderen Seite die berühmtesten Professoren der deutschen Literatur auf: Männer, die im Namen Goethes, Shakespeares und der Freiheit ängstlich vorgingen gegen die verkümmertsten deutschen Kleinbürger, die wildgeworden und mit Klassikern nicht zu bändigen waren. Es marschierte auf die große Theater-Kritik jener Tage: gebildet bis dort hinaus, Experten, die niemand hier brauchte, weil das Literarische und Theatralische gar nicht im Ernst zur Diskussion stand. Und vielleicht gab es kein zweites Ereignis in der Weimarer Republik, bei dem die Elite und ihr künftiger Henker eine Woche lang weder mit noch gegen einander im selben Räume redeten. Was auch gar nicht möglich war, da sie zwei verschiedene Sprachen sprachen. Ist es ein Zufall, daß es um Sexuelles ging? Ist das Thema Nationalsozialismus und Sexualität schon erfaßt worden?
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Die Soziologie mit ihrer Haupt-Kategorie Ökonomie greift nie tief genug. Hungrige wollen nicht nur ihren Magen füllen, auch ihre Rachsucht befriedigen. Die Rache der Ohnmächtigen ist das Anstoßnehmen. Schnitzlers »Reigen« hat zehn Vorher-und-Nachher Szenen. Jede besteht aus einem Dialog, zwischen einer Person männlichen und weiblichen Geschlechts. Der Held aller zehn ist ein Neutrum, das nicht auftritt. Im Buch erscheint es in der Mitte jedes Auftritts: in Form von Gedankenstrichen. Gedankenstriche, sagte eine Zeugin, lassen immer eine sehr weite Auslegung zu. In der angeklagten Aufführung – da man Gedankenstriche nicht verkörpern kann – wurde das Neutrum als Vorhang materialisiert: »Schwupp, man zieht den Vorhang zu«. Er bleibt jedesmal etwa sechs Sekunden unten und wird von Verschiedenem aus seiner Stummheit gerissen: einmal von dem Geräusch eines vorüberfahrenden Zugs; einmal durch den transparenten Prospekt eines Tanzsaals, in dem einige Paare sich bewegen; meist von wenigen Takten eines Walzers, der vierzehn Jahre vor der Aufführung komponiert worden war ... und die Anstoßnehmer enorm erbitterte. Der Vorhang, der elfmal herunterging (in dem einen Bild zweimal), rief in einer Studienrätin, wie sie dann beim Prozeß bekundete, eine außerordentliche Erregung hervor. Die Gedankenstriche, die Vorhänge, die Imitation, die man im Zug-Rättern fand, vor allem die paar Takte Valse melancholique wurden die Haupt-Angeklagten. Genauer: nicht sie, sondern das Es, das sie repräsentierten. Es war weder zu sehen noch zu hören. Man benannte Es mit einem Wort, das mehr als irgendein anderes den Prozeß beherrschte: »Der Geschlechtsakt«. Angeklagt war nicht seine öffentliche Darstellung (die es nicht gab), sondern der öffentliche Hinweis auf ihn. Angeklagt war die Aufmunterung der Phantasie, sich ihn vorzustellen. Schleiermachers
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Rechtfertigung dieser Aktivität der Einbildungskraft war wohl selbst den Gelehrten nicht gegenwärtig. In dem Jahr, in dem Hitler begann, verursachte der Hinweis darauf: daß es sowas gab wie den »Geschlechts-Akt« – und daß er in dieser Sekunde von zwei Figuren des Dramas vollzogen wird, eine Panik, die ein Jahr lang währte. Jeder der zehn Dialoge hat ein Vorher und ein Nachher, säuberlich getrennt von jenen Satz-Zeichen, die in diesem Fall nicht nur gewöhnliche Gedanken- und Phantasie-Striche waren ... sondern Striche, welche die Phantasie veranlaßten, auf den Strich zu gehen (wie man meinte). Die Ändern aber entschuldigten sie mit der frommen Interpretation: die unheimlichen Vertreter jenes furchtbaren Geschehens seien nur Gedankenlosigkeits-Striche, die, durch Entziehung des Worts, den Gedanken und der Einbildungskraft jede Nahrung nähmen. Was das Vorher betrifft, so herrscht zehnmal (männlicherseits oder weiblicherseits oder beiderseits) großer Eifer, vorwärts zu kommen: in Richtung auf das, was (wie gesagt) nicht zu lesen, zu sehen oder zu hören ist. Dies Vorher ist vielfältig differenziert. Die Mädchen und Damen machten eher etwas Umstände, je nachdem Gewissen und Konvention es geboten. Das Stubenmädchen wehrt sich, ein bißchen ängstlich, schwach. »Das Süße Mädel«, von dem Schnitzler einmal sagt: »In der Stadt werden sie geliebt und in der Vorstadt geheiratet«, ist auf Süßigkeit aus, leise zögernd. Die Junge Frau, aus wohlhabenderen Kreisen, braucht ein paar Druckseiten mehr fürs Vorher; sie kommt im Pelzmantel und zwei Schleiern, will nur fünf Minuten bleiben, muß sofort zu ihrer Schwester, nimmt ihm das Versprechen ab, brav zu sein, nennt sich eine leichtfertige Person ... und hat noch eine ganz unvorhergesehene Hürde zu nehmen: es liegt ein guter Grund vor, daß es zu einem Gespräch über Stendhals Impotenz-Anekdoten kommt. Nicht alle Weiblichkeiten zeigen dasselbe Vorher-Muster. Die Dirne und die Schauspielerin – weder Mädchen noch Damen,
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wie die Männer mitten im feindlichen Leben – nehmen sich recht männlich, was sie wollen. Sie sind in der Liebe ebenso wenig passiv wie im Geschäft. Die Dirne, eher verliebt als auf Fischfang aus, ist werbend. Und die Schauspielerin packt sehr resolut den Dialog beim Zügel und galoppiert in kürzester Zeit auf die Gedankenstriche zu. Das Vorher ist auch bei den lockenden Männchen abschattiert: je nach Dringlichkeit und Profession. Der Soldat produziert keinen Liebes-Zauber; darauf ist er nicht einexerziert. Der Dichter hingegen, in schmelzenden Tönen ausgelernt, ist gefühlsselig wie eine entflammte Jungfrau. Der junge Mann ist auf andere Weise lyrisch; er ist vorübergehend nicht fähig. Der Graf wiederum ist langsam und weise und, weil aus altem Geschlecht, versoffen und vertrottelt. Die berühmte männliche Draufgängerei zeigt am besten der betrogene, betrügende Ehemann; er ist sehr solide in der Ideologie eines westlichen Harem-Besitzers. Eine Zeugin klagte während des Prozesses, »daß es sich in allen Bildern um dasselbe handelt«. Dieses Dasselbe (das entging ihr) ist eine jener unveränderlichen Mächte, die seit je das menschliche Schicksal mitgestalten. Dieses Dasselbe ist hier eine farbige Monotonie: dasselbe – fünfmal männlich und fünfmal weiblich variiert. Was das Danach anlangt, so sind die Männer wie »ausgewechselt« (klagen ein paar Mädchen); sie wollen sofort tanzen gehen (mit anderen) oder ins Caféhaus oder nach Haus, ins Ehebett, um auszuschlafen. Die Darstellung der Abkühlung Danach gehört zu den Prachtstücken unter diesen Bildern; nur der Junge Mann, dem es erst beim zweiten Anlauf glückt, fragt Danach, als sie fortwill: »Hast Du mich denn nicht mehr lieb?« Er ist offenbar von seiner Heldentat so überwältigt, daß er sich nicht wie ein Mann benimmt und genug hat von dem ganzen Zauber. Die Frauen sind Danach eher anhänglich – mit der Frage, die den Männern Danach auf die Nerven geht: hast Du mich gern? Was dem Soldaten, einem ebenso schlichten wie humor-
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vollen Mann, die (im Prozeß angeklagteste) Antwort eingab: »Na, das mußt doch g'spürt haben, Fräul'n Marie.« Aber auch die Frauen gehen, wenn der Gockel abschwirrt, nicht ins Kloster. Die Dirne, die es aus Liebe gemacht hatte, kompensiert ihre Enttäuschung, indem sie zum Schluß doch noch versucht, etwas herauszuholen. Das Stubenmädchen tröstet sich, schnöde alleingelassen im Diwan-Zimmer des jungen Herrn, mit einer Zigarre, die sie ihrem Feinen vom Rauchtisch wegstiebitzt für den fernen, nicht so feinen Liebhaber. Und die Junge Frau, die schon während der lyrischen Introduktion ihres nicht sehr kräftigen Jünglings eine kandierte Birne ins Mäulchen schob, benimmt sich auch Danach sozusagen unweiblich, das heißt: detachiert. Frauen, die Danach vorläufig einmal genug haben von männlichen Locktönen, sind nicht häufig in Schnitzlers Vor-1914-Welt. Der Dichter psychologisiert und soziologisiert. Sexus ist nicht nur nach Dringlichkeit, auch nach Einkommen und Beruf modelliert. In Vokabular, Gehaben und Thematik der LiebesKonversation bewegen sich Dirne, Soldat und Stubenmädchen anders auf den Valse noire zu und von ihm wieder weg als die Junge Frau mit Pelzmantel, der Graf, der Dichter und die Schauspielerin. Der Junge Herr liegt auf dem Diwan, liest französische Romane und spielt ein anderes EröffnungsSpiel als einer aus den unteren Ständen. Auf seine Frage: »Du hast kein Mieder?« antwortet die Junge Frau: »Die Odilon trägt auch keins.« Wenige Zeilen also, bevor sie »Alfred! Alfred!!« stammelt, beherrscht die vorbildliche Wiener Schauspielerin ihre Welt. Das Dienstmädchen wird in dieser Minute nicht an die Hofburg gedacht haben. Der Gatte der Odilon-Verehrerin ist ein solider Bürger. Er hält ihr, im Ehebett, einen Vortrag über das Verhalten der anständigen Frau – und später, im Chambre separee, dem Süßen Mädel eine ebenso fundierte Rede über das anständige Verhältnis: es hat treu zu warten, in Wien, bis der bessere Herr wieder einmal herüberkommt, von Graz. Die Welt der Künstler ist Schnitzlers eigenste Domäne. Der
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»Dichter« sagt, sofort Danach, in einem Atem: »Das ist überirdische Seligkeit« und »Ich nenne mich Biebitz«. Der berühmte Biebitz interessiert sich Danach für nichts so sehr als für die Frage: weißt du wirklich nicht, wer ich bin? Und die Schauspielerin hat Danach nur eine Idee: »Du hast mir übrigens noch kein Wort über meine gestrige Leistung gesagt.« Der Graf wiederum, ein Art Graf Bobby, gibt aus dem Schatz seiner Weisheit zum besten: »Die Menschen sind überall dieselben, da wo mehr sind, ist halt das Gedräng größer.« Aus Grafen-Mund! Schnitzler stellt hier nicht die Liebe dar: die weite SeelenWelt, welche dies Wort auch umfaßt; nicht einmal den explosiven Trieb, der Augen und Ohren betört und alle anderen Sinne und auch Gedanken, Stimmungen, Absichten. Er gibt nicht den Himmel und nicht die Katastrophen der Leidenschaft. Er stellt nur ins Licht, wie der große Gott in seinem weniger beachteten kleinen Alltag prozediert; wie er häßliche Allianzen eingeht mit Dummheit, Eitelkeit, Feigheit und Großspurigkeit. Es ist schwer, über diese Metamorphose des Mächtigen zu lachen; aber man kann auch nicht ernst bleiben. Man ist beklommen amüsiert. Dies melancholisch-lächelnde Durchschauen – weit entfernt von Romeo und Julia und dem Gretchen-Pathos – strömt Skepsis aus und leise Wehmut. Hier waltet bisweilen etwas von dem elegischen Ton Baudelaires, der den gedämpften Hymnus auf das Fleisch schuf. Die schwermütigste Schnitzler-Szene ist leicht zu überhören. Sie erinnert an Büchners »Wozzek«. Dirne: Geh' bleib' jetzt bei mir. Wer weiß, ob wir morgen noch's Leben haben. Soldat: So komm' – aber g'schwind. Dirne: Gib Obacht, da ist so dunkel. Wennst ausrutscht'st, liegst in der Donau. Soldat: War' eh das Beste. Die Moral von der Geschieht' – gibt es nicht. Sie sind verschie221
den: nach Herkommen, Einkommen und gesellschaftlichem Abkommen. Aber Schnitzler schafft keine Rangordnung. »Reigen« ist eine Meditation über diesen seltsamen Gott und die Reichhaltigkeit seines Tiergartens. Die himmlische Liebe gehört nicht zum Thema. Und von der irdischen nicht die passionierte des »Othello«, sondern mehr die beiläufige – zum Beispiel die des Grafen, welcher Frauen wie die Schauspielerin prinzipiell nicht vor dem Frühstück zu sich nimmt. Der kleine Reigen, den der große Herrscher dirigiert, ist ein Rundtanz: die Letzte im Kreis, die Dirne, war schon die Erste. Der Kreis ist hier (wie seit je) Symbol der ewigen Wiederkunft; es geht immer wieder herum, ohne Anfang und Ende. Es gibt nichts Neues. Es gibt noch einmal und noch einmal diesen drängenden Eifer Vorher; und Danach Gleichgültigkeit oder ein krampfhaft-vergebliches Festhalten der verzauberten Welt. Schlegel träumte von einer ewigen Umarmung. Dieses Zehnmal-Vorher-und-Nachher ist ein sehr subtiles Mitteninne zwischen Lust und Unbehagen, Ernst und Komik, Resignation und Mitspielen. Alle aber, die während des Prozesses den Versuch machten, dem Stück innerhalb eines moralischen Koordinaten-Systems entweder als unmoralisch oder als geradezu Sitten-streng seinen Platz zuzuweisen, verfehlten die milde Weisheit des Gleichnisses. Unter Anklage stand nicht das Stück, sondern die Vorführung. Sie brauchen nicht identisch zu sein, exakter: können es nicht sein; ebenso wenig wie Noten und das Konzert, das sie zum Klingen bringt. Ein Stück kann in vielen Graden mehr oder weniger sein als das Schau-Spiel. Der inszenierte »Reigen« unterschied sich vom gedruckten vor allem darin, daß er nach Kräften entkräftet worden war. Wo die verheiratete Frau zum Junggesellen sagt: »Rasch, Alfred, gib mir meine Strümpfe«, ersetzte man die gefährlichen Strümpfe durch weniger gefährliche »Schuhe«. Das wäre unter Maria Theresia auch nicht anders praktiziert worden. Das alles aber konnte die Heerschau der Entrüstung nicht
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verhindern. Entrüstung worüber? Daß »Leute zehnmal hintereinander einen Geschlechtsakt verüben«. Die Sprache bringt es an den Tag. Am »Verüben« sollt Ihr sie erkennen! Schnitzler war schon der zweite Mann aus Wien, der eine schamhafte Welt in Harnisch brachte. Der erste ist Freud gewesen, seit vielen Jahren bereits ein Pfahl im europäischamerikanischen Fleisch. Man war in ständiger Bereitschaft, sich gegen ihn zu schützen. Lud man ihn ein, in der »Philosophischen Gesellschaft« seine Ideen vorzutragen, so erhielt er ein paar Stunden vor Beginn einen Rohrpost-Brief: er möge doch unverfängliche Beispiele anführen und zeitig ankündigen, wenn er zu einem heiklen Punkt käme; dann eine Pause machen und den Damen die Möglichkeit geben, den Saal zu verlassen. Es ist, zur Zeit des »Reigen«-Prozesses, elf Jahre her, daß der Geheime Medizinalrat Professor Wilhelm Weigand auf einem Hamburger Kongreß schrie – und mit der Faust aufs Podium schlug: Freuds Theorien gingen die Wissenschaft nichts an, sie seien vielmehr eine Angelegenheit der Polizei; seine Kranken-Behandlung sei eine Art von Massage der Geschlechtsorgane. Und im selben Jahr ermutigte ein Professor Oppenheim, auch auf einem Kongreß, seine Kollegen: jenes Institut zu boykottieren, das diese Ideen toleriere. Zwei Jahre später enthüllte ein bekannter New Yorker Neurologe in der »Times«, daß Freuds Ideen ihren Ursprung in seinem unmoralischen Leben hätten. Und der deutsch-amerikanische Professor Münsterberg erzählte als Argument gegen die unanständige Ursachen-Forschung der Analyse: er hätte bei einem Patienten, der an hysterischem Sich-Übergeben litt, festgestellt, der Mann hatte nur eine heiße Kartoffel verschluckt. Freud war in den ersten zwei Jahrzehnten des Jahrhunderts der Mann, der das Schamgefühl verletzte. Aber im Buch, nicht auf der Bühne; in der Sprache des Wissenschaftlers, nicht des Theatralikers und Romanciers. Des-
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halb kam er nie vor die Paragraphen und die Klubs der Beleidigten. Wer wird in seinem Schamgefühl verletzt – und wer bis zu öffentlicher Empörung? Mutter Natur hat keine Scham über dies oder jenes dem Neugeborenen eingepflanzt; sie ist immer eine andere: von Zeit zu Zeit, Gesellschaft zu Gesellschaft, Schicht zu Schicht. Die ganze Gattung dieser Gefühle hat nur eine einzige Konstante: das Sich-laut-genieren. Herr Müller, in dieser Epoche, dieser Gemeinde, diesem Kreis, hat gelernt bei bestimmten Vorkommnissen sich zu schämen: für sich und die anderen. Man hat wohl fast immer geglaubt, die Züchtung solcher Reaktionen nötig zu haben. Sie variieren in einer unübersehbaren Fülle. Eine sowjetrussische Fliegerin aus Baku, Heldin der Nation, Mohammedanerin, erzählte mir einst: ihr kommunistischer Bräutigam habe sie während der Brautzeit bewegen, ohne Schleier über die Straße zu gehen. Als sie das erste Mal, so unanständig entblößt, sich öffentlich sehen ließ, fiel sie aus Scham in eine schwere Krankheit; es hätte sie nicht so getroffen, wenn sie sich nackt, aber mit verhülltem Gesicht, zur Schau gestellt hätte. Das besondere Schamgefühl, das, verletzt, seine Wunde vorweist, indem es öffentlich Krach schlägt, muß organisiert werden. Es gibt politische, moralische und religiöse Organisationen, die das Anstoßnehmen verwalterisch betreuen; sie arbeiten Hand in Hand. Nachdem 1918 der deutsche Pontifex Maximus und seine Hofprediger abgetreten waren, füllten private Behörden diese Vakanz. Das war ein Schritt rückwärts. In demagogischen Demokratien hat ein Einpeitscher die Aufgabe, das »Volk« zu mobilisieren, das viel besser dran war, als es nur schlecht verwaltet – nicht auch noch zum Schlechten angestachelt wurde. Die Zeit des Obrigkeits-Staats war 1920 vorbei. So traten beim »Reigen«-Prozeß kaum noch Einzelne auf, sondern vor
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allem Vorsitzende und schlichtere Befehlsempfänger hakenkreuzlerisch-antisemitischer, frömmelnd-chauvinistischer und moralterroristischer Verbände. Zum Beispiel: Der deutsch-völkische Schutz- und Trutzbund, Filiale Hasenheide Der deutsche Offiziers-Bund Der Nationalverband der Offiziere Der Bund nationalgesinnter Soldaten Der deutschvölkische Geselligkeitsverein Die deutsch-christliche Vereinigung Der Christliche Studentenbund Der Herold Der Bund der Aufrechten Der Bund der Wandervögel Die deutschnationale Volkspartei, Landsberg a.W., Frauenabteilung Der Verein Berliner Lehrerinnen Der Landesverband Preußischer Volksschullehrerinnen Der Verband der akademisch-gebildeten Lehrerinnen.
Das alles gab es in der Weimarer Republik. In vielen dieser Konvertikel pulsierte im Jahre 1920 die deutsche Zukunft. Es gab auch Narren auf eigene Faust. Da war dieser zweiundfünfzigjährige Buchhändler; kein anderer hatte einen Heiterkeits-Erfolg wie er. Er sah auf der Bühne nichts als »Bettstellen«, zehn Szenen voll von Bettstellen; er kam von den Bettstellen nicht los. Derartiges sei jetzt modern; wir haben auch die Mode der kurzen Röcke. Er versuchte, die Schnitzler-Sprache zu imitieren und gab eine kuriose Inhaltsangabe des Bildes »Graf und Schauspielerin«. Der Kavalier spräche im Wiener Dialekt von Pferden, Regiment und Paraden. Schließlich scheint das Eis zu tauen, er wird wärmer. Da senke sich der Vorhang, wahrscheinlich von der TheaterLeitung aus. Er war dagegen, daß »die Bettstellen ein dauerndes Asylrecht auf der Bühne haben sollen«. Dieser Kauz war ein ganz und gar unorganisierter Narr: ohne Konfession, Patriotismus und andere Verbindlichkeiten, von Kopf bis Fuß auf das »Bettstellen-Karussell« eingestellt. Das Gros aber bestand aus Funktionären oder noch un225
bedeutenderen Schall-Platten mit dem ewigen Refrain: Gott, Vaterland und Reinheit. Sie kämpften mit Sorgenfalten in der Stimme. Das Vaterland sei in Gefahr, sagten sie (mit oder ohne Hakenkreuz). Weil die Hohenzollern, Hindenburg und Ludendorff den Krieg verloren hatten? Nein, weil die Welt nun sehe, daß es in Deutschland vielfältig und gar nicht fein vor sich geht, worauf Schnitzler mit Gedankenstrichen gedankenreich hinweist. Eine fünfundfünfzigjährige Dame seufzte patriotisch: die vielen Ausländer in Berlin werden denken, daß ein so degeneriertes und demoralisiertes Volk sich alles gefallen lassen muß. Dazu kamen noch lokalere Sorgen. Eine Dame nahm Anstoß als Berlinerin. Obwohl der Dichter ein Österreicher sei, hätten die Wiener sein Stück unter Wasser gesetzt. Und die Berliner sollten nachstehen? Neben der Berlinerin trat ein Berliner für die Ehre der Stadt ein: alle sind sie mit dem »Reigen« fertig geworden: das kunstsinnige München, das lebensfrohe Wien, das schöne Dresden und auch Hannover (das kein schmückendes Beiwort erhielt) ... nur die Hauptstadt sollte versagen? Der Vorsitzende unterbrach: das täte nichts zur Sache. Doch war der Berliner in Fahrt und protestierte noch einmal; diesmal als einer, der »als Preuße und Deutscher Anstoß genommen«. Sie alle hatten die Mission, Deutschland zu reinigen, und taten es, indem sie gröhlten und Gestank verbreiteten. In Wien hatte man es ihnen vorgemacht. Mitte Januar hatte dort die Premiere stattgefunden, österreichische Gleichgesinnte der deutschen Krawallmacher hatten sämtliche Hydranten geöffnet, das Theater unter Wasser gesetzt – die moderne Version der alten Sintflut. Die Berliner Genossen hielten offenbar weniger vom Wasser als vom Duft der Hölle. Im vierten Bild, nach einem verabredeten Stichwort, fiel an jenem 22. Februar das Wort »Schweinerei«. Die Direktion ließ hell machen und erklärte: niemand dürfe hinaus. Ein Empörter stand auf und schrie: das ist Freiheitsberaubung. Die Freiheit, die Luft zu verpesten, sollte einem geraubt werden.
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So kämpfte man, schon 1921, mit dem Hakenkreuz für die Gesundheit des Volkes. Es war gefährdet von den Gedankenstrichen des Juden Schnitzler; und so groß war der Horror vor diesen Rasse-Fremden, daß man alle mitwirkenden Direktoren, Regisseure und Akteure zu Juden ernannte (obwohl es kaum einen gab). Es war nicht ein politisches Stück, gegen das man das Vaterland verteidigte; man warf den Szenen nur eine nicht-vaterländische Sexualität vor. Was das für eine ist, wurde nie aufgeklärt. Schon in dem Kapitel: »Lucinde« und der deutsche Geist... war die Verschmelzung von Sexual-Moral und Antisemitismus offenbar geworden. Das Urbild jener Figur war eine Jüdin; so wurde die nicht genehme Sexualität, die in ihrem Namen verkündet worden war, als jüdisch verschrien. Und später, zwölf Jahre nach 1921, kam im Schmutzblatt »Der Stürmer« die sexuelle Geladenheit des hakenkreuzlerischen Antisemitismus sichtbar zum Durchbruch. Es ist denkwürdig, daß nicht gegen ein einziges der vielen antinationalistischen Stücke jener Jahre der teutonische Furor sich entlud, sondern gegen ein Bühnenwerk, das um Obszönes zentriert war. Es ist das Schoßkind der Entrüstung. Und wurde schon oft mit den Zügen des teuflischen Juden gemalt. Der Direktor, ein Katholik, der sich nachher viel auf seine katholische Vergangenheit zugute tat, wurde in der nationalen Presse als dicker, fetter, schwarzer, osteuropäischer, galizischer Semit verhöhnt. In den Zuschriften an ihn hieß es: Dumme Sau, Hüte dich, Juda, Nieder mit euch Juden. Während der Stinkbomben-Schlacht riefen sie: das verdanken wir diesem Judenpack. Auf einer Protestversammlung sagte man: die Direktion sind Juden! Der Schriftsteller ist ein Jude! Sämtliche Schauspieler sind Juden! Ein Redner dekretierte: jedes Land hat die Juden, die es verdient. Zwanzig Jahre später bewies dann das Deutschland der Gasöfen: daß es, nachdem es an den Juden gut verdient hatte, keine Juden mehr verdiente. Ein nationaler Zeuge, ein Berliner Landgerichtsrat und Land-
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tags-Kandidat, hatte auf seinen Wahlreisen gegen die jüdischdemokratische Regierung und den zersetzenden jüdischen Geist gewettert. Diese Zersetzung zeige sich ganz besonders in der jüdischen Sexualität. Worin sie bestand, kam nicht heraus; vielleicht nur darin, daß die germanische so etwas still und leise und etwas geniert abmache. »Der Stürmer« zeichnete später den jüdischen Lüstling detaillierter. Aber das waren noch zwölf Jahre hin. Weshalb sahen sie sich dies Stück an? Was trieb sie, Skandal zu machen? Der Vorsitzende versuchte immer wieder, das herauszubringen. Da war ein Lehrer. Er hatte ein Referat in der »Täglichen Rundschau«, einem Organ dieses Kreises, gelesen – und sich empört! Die meisten hatten sich aufs Hörensagen hin entrüstet, ohne das Buch gelesen oder die Aufführung gesehen zu haben. Dann saß dieser Erzieher der Jugend eines Tages mit Freunden im Kino, man besprach seine Empörung im Anschluß an das empörte Referat und beschloß, nachdem man Anstoß genommen hatte, sich »die Sache« mal anzusehn. So oder ähnlich kamen sie ins Theater. Der Vorsitzende fragte: verfolgten Sie mit Ihrem TheaterBesuch einen Zweck als Lehrer? Der Zeuge: Die »Lehrereigenschaft« spielte wohl keine Rolle. Vorsitzender: Haben Sie sich als Staatsbürger interessiert? Ich möchte sagen: aus völkischem Interesse. Woran dieses verbreitete Interesse interessiert war, wurde in allen sechs Tagen des längeren diskutiert, ohne Resultat. Eine Zeugin, Klara Müller, sechsundvierzig Jahre alt, Frau eines Hauptmanns, war »zu Studienzwecken« in die Aufführung gegangen. Es wurde bald klar, was das für Studien waren. Sie bezogen sich auf die Fragen: was man »dem deutschen Volk vorzusetzen wagt«, »wie sich das deutsche Volk diesem Stück gegenüber benimmt«. Außerdem ging sie auch noch als Mutter hin und nahm ihre beiden Söhne mit, um sie »auf das Leben vorzubereiten«. Womit keineswegs sexuelle Aufklärung gemeint war, eher ein Versetzen in den AlarmZustand, auf daß sie den Kampf aufnehmen könnten gegen
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alles, was undeutsch sei. In diesem Fall: den Kampf gegen den undeutschen Geschlechtsverkehr. An einem anderen Front-Abschnitt schlug man sich unter einer anderen Flagge. Mit Wilhelm II. hatte Deutschland seinen Priester-König verloren. Das Deutsche Reich war ohne Religion. Die Staatsanwälte durften Gott nicht mehr beschützen. Anklagen wegen Beleidigung religiöser Rühr-mich-nichtan waren nicht mehr gesetzlich. Man hatte während des Prozesses diesen legalen Zustand der Dinge immer wieder zu betonen. Die deutschen Untertanen verstanden nicht, daß der Staat die Verletzung ihrer frommen Empfindlichkeiten nicht mehr mit Gefängnis rächte. Sie waren zwar durch die Jahrhunderte unempfindlich gemacht worden gegen den schnöden Kasernen-Ton, umso sensibler aber für das Vokabular, das Worte wie »Gott«, »beten« und »schwören« enthält. Ihre Organisationen hielten auch in der Republik die Fahne der gottesfürchtigen Mimosen hoch. Das politisch stärkste, einflußreichste Bollwerk, das sie besaßen, war das sogenannte Zentrum, die festgefügte katholische Partei. Sie war auch in der Republik noch recht streitbar. Einer ihrer bekanntesten Führer war erst vor kurzem auf Grund seines Verhaltens in einer Vorstellung der »Pfarrhauskomödie« wegen Hausfriedensbruch angeklagt worden. Für diese katholische Aktion sprach jetzt ein Abgeordneter. Er hatte wieder und wieder die Republik aufgefordert, dem sich in der Öffentlichkeit immer breiter machenden Sexualismus entgegenzutreten. Ihn störten besonders die laxen Auffassungen außerehelicher Beziehungen und die Prostitution; er war der Ansicht, daß diese ganze »Schweinerei« nicht etwa von Gott Priapus angestiftet wird und von den lieben Mädchen auf der Straße, sondern »daß ein solches Stück die Jugend der Prostitution zuführt«. Die Evangelischen zeigten die gleiche Empörung. Der Direktor des Zentralausschusses für innere Mission der deutschen evangelischen Kirche nahm besonderen Anstoß daran, daß
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die Impotenz ausführlich behandelt wurde – obwohl sie doch wirklich älter war als die Juden-Republik, ja schon in der Bibel vorkam. Die Vorsitzende der kirchlich-sozialen Frauengruppe für Hebung der Sittlichkeit (auch im Vorstand des Ausschusses der Vereinigten Berliner Vereine für Fragen der Volks-Sittlichkeit) entrüstete sich ebenfalls. Wie mancher Verantwortliche hatte sie das Stück weder gesehen noch gelesen; ihr genügten die schlimmen Dinge, die andere ihr erzählten. Wie es mit dem Verantwortlichkeits-Gefühl dieser »Volkssittlichkeit« bestellt war, wurde hier gerichtsnotorisch. Die Zeugin mußte zugeben, daß sie eine Anzeige an den Staatsanwalt unterschrieben hatte, die ausdrücklich betonte, die Unterzeichner hätten einer »Reigen«-Aufführung beigewohnt. In puncto »Du sollst nicht lügen!« war die Volkssittlichkeit nicht so sittlich. Der Direktor der deutsch-evangelischen Missions-Hilfe, auch noch Vorsitzender des Vereins für Anstand und gute Sitte und ebenfalls mit der Volks-Sittlichkeit verbündet, geriet, wie der Vorsitzende rügte, immer wieder ins Uferlose. Nachdem so oft schon die Ehre der deutschen Frauen in Schutz genommen worden war, stellte er sich hinter die deutschen Männer. Nein, sie seien nicht solche; es gäbe auch welche, die »geschlechtliche Dinge vor und nach der Ehe als unsittlich betrachten«. Einige religiös-Entrüstete wurden konkreter. Sie wiesen auf die beiden Dialoge hin, in denen die Vermischung von Heiligem und Tierischem sie schwer gekränkt hatte. Da gab es einen Medizin-Studenten; er sprach für das gesamte Studenten-Parlament, was immer das gewesen sein mag. In einer Szene sagt die Junge Frau zu ihrem Liebhaber: »Jetzt werde ich Sie etwas fragen, Alfred – schwören Sie mir, daß Sie mir die Wahrheit sagen werden.« Der Student konnte sich nicht recht ausdrücken, aber soviel wurde klar: schwören in einem Prae-Coitus-Gespräch zwischen einer verheirateten Frau und ihrem Liebhaber verletzt sein religiöses Gefühl; Gott wird gewissermaßen in einen illegitimen Beischlaf verwickelt.
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Und ein Fabrikant, der sich allerdings nicht sehr genau an das, was ihn verletzt hatte, entsinnen konnte, erinnerte sich nur noch vage an einen sein religiöses Gefühl kränkenden Eid. Mehr und mehr tauchte der Verdacht auf, daß dieses Anstoßnehmen am Schwören verabredet war. Denn es schien nicht sehr glaubhaft; selbst wenn man in Betracht zog, was die Erziehung zu religiöser Empfindlichkeit angerichtet hat. Am farbigsten entfaltete sich das religiös-sexuelle Ärgernis anläßlich der Szene zwischen der Schauspielerin und dem Dichter. Ein Zimmer in einem Gasthof auf dem Land. Die Komödiantin tritt ans Fenster und bewundert, eine routinierte Wichtigtuerin, Frühlings-Abend und Mond und Wiesen – »mit gefalteten Händen«. Dichter: Was machst du? Schauspielerin, empört: Siehst du nicht, daß ich bete? Dichter: Glaubst du an Gott? Schauspielerin: Gewiß, ich bin ja kein blasser Schurke. Dichter: Ach so! Schauspielerin: Komm' doch zu mir, knie dich neben mich hin. Kannst wirklich auch einmal beten. Wird dir keine Perle aus der Krone fallen. Dichter kniet neben sie hin und umfaßt sie. Schauspielerin: Wüstling! (Erhebt sich) Und weißt du auch, zu wem ich gebetet habe? Dichter: Zu Gott, nehm' ich an. Schauspielerin, großer Hohn: Jawohl! Zu dir habe ich gebetet.
Wahrscheinlich haben die Gebildeteren unter den Anstoßnehmern einen Gretchen-Faust-Katechismus erwartet. Sie waren nicht imstande, diesem durchsichtigen Dialog zu folgen. Sie gehörten zu jenem Publikum, das in folgendem kleinen Dialog enthüllt wurde: Vorsitzender: Gehen Sie öfter ins Theater? Zeuge: Nein.
Sie waren keine Theater-Besucher. Sie waren die Vorläufer der Saalschlachten – Helden kommender Jahre. 231
Die angeklagte Gottlosigkeit hatte nichts mit Gott zu tun und viel (zum Beispiel) mit der Charakterisierung des eitlen Poeten und der aufgedonnerten Komödiantin. Aber es sind nie Mißverständnisse, die eine Wut hervorrufen; es ist die Wut, welche Mißverständnisse emotional lädt. Die Dummheit ist unter allen barbarischen Kräften immer noch die schwächste; die furchtbare Dynamik sitzt nicht in der Beschränktheit, sondern hinter ihr. Da gab es noch zwei Sakrilege, im selben Bild. Der Dichter entdeckt im ländlichen Zimmer Heiligenbilder, bei welcher Gelegenheit ihm Fest-Phrasen einfallen. Und die Schauspielerin holt aus ihrer Tasche ein gerahmtes kleines Porträt hervor und stellt es auf den Nachttisch, der neben dem Bett steht, in welchem sie mit dem Dichter liegen wird: die Madonna – ein »Talisman«, wie sie schauspielert. Ein Bankbeamter, eine der rührenden Ausnahmen, innerhalb dieser ungelüfteten Volks-Sittlichkeit, sagte: sein religiöses Gefühl könne so etwas nicht vertragen, aber vielleicht gehe diese Sensivität zu weit. Er war fast der Einzige, von dem man behaupten darf, daß er ganz unorganisiert an dieser Szene litt. War auch jene Theater-Besucherm unorganisiert äußer sich, als sie ausrief: »Es ist mir wie ein Fegefeuer, daß ich hier sitzen muß« – und trotzdem im Fegefeuer blieb? Und jene Hausdame »mit erziehlichen Befugnissen«, die mit Siebzehnjährigen die »Nibelungen« las, auch die Stelle, an der (nach Siegfrieds Tod) von Treue die Rede ist? Ein Knabe sagte: Treue gibt es bei Frauen überhaupt nicht mehr und murmelte etwas vom »Reigen«. Daß Siegfried es ganz unehelich mit Brunhilde trieb, scheint ihn weniger gestört zu haben. Es gab Grenz-Fälle. Aber unorganisiert oder organisiert, es wäre zu nichts gekommen, wenn nicht der eine Mann erschienen wäre, der noch die Organisationen zusammen-organisierte. Sechs Jahre nach dem Tode Anthony Comstocks, im zweiten Jahr der nationalsozialistischen Bewegung, erschien der preußisch korrekte Führer des »Reigen«-Prozesses.
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Der Schmutz-Brunner (wie er sich stolz nannte – analog zu Comstocks »Der Mann des Obszönen«) war der Spitzname des Professor Dr. Emil Brunner vom Wohlfahrts-Ministerium. Er residierte in der Zentralstelle des Berliner Polizei-Präsidiums als »Gutachter« für alle Gebiete der Kunst, soweit der Grenzbereich zwischen Zulässigem und Strafbarem in Frage kam. »Ein durchaus gutgläubiger Schädling«, meinte Alfred Kerr; ebenso gutgläubig und schädlich wie der große Vorgänger Anthony Comstock, aber nicht so populär wie er. Der Amerikaner war ein Mann des Volkes. Der Preuße ein Regierungsrat; deshalb konnte er es nicht einmal zu einem bescheidenen Henker bringen. Der Schmutz-Brunner war ob seines Namens beleidigt und stolz; ein verspotteter Triumphator. Das Kompositum ist sprachlich zweideutig: war er schmutzig – oder Herkules, der den Augias-Stall ausmistete? Aller Schmutz drängte zu ihm, daß er ihn zerstöre – und beschmutzte ihn auch. Es ist wie mit den Heiligen, die auch vom Bösen besessen waren. Brunner war nur die Anlage dazu, zu unbedeutend, um wirklich der Schmutz-Brunner zu werden. Einst ist er Professor für Geschichte in einem Gymnasium zu Pforzheim gewesen. Selbst ein Gegner meinte, daß er wohl ganz nützlich war, als er den Jungens die Schlacht von Salamis erklärte oder Mittelalterliches – solange er sich an die Tatsachen hielt. Dann warf ihn das Schicksal aus seiner Bahn, auf das Gebiet der Kunst, und zwar dorthin, wo man sie obszön nennt. Wie er dahin gelangte: durch Zufall oder eher so ähnlich, wie die Späne an den Magnet kommen, erfuhr man nicht. Dem Brunner sind nicht, wie dem amerikanischen Mann des Obszönen, Biographien gewidmet worden. Deshalb wissen wir viel über seine berühmte Blamage und nur wenig über sein Innen-Leben; aber doch genug, um sein Profil vor dem Hintergrund Comstock deutlich zu sehen. Jener war ein Freischärler gewesen, hatte sich immer wieder bloßgestellt, ein gewaltiger Narr mit einem Missions-Komplex – und gar nicht zaghaft. Lehrer Brunner war eher wie
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Heinrich Manns Lehrer Unrat: ein Bürokrat, der immer Unrat witterte, ein Administrator des Anstoßnehmens. Wo es darauf ankam, die Heldenbrust zu zeigen, versteckte er sich... und spielte, wurde er hervorgezerrt, die gekränkte Unschuld. Er war die Triebfeder hinter dem Tick und Tack des Prozesses; und legte dar, daß er vollkommen unbeteiligt sei, das unschuldige Opfer eines Kesseltreibens. Es wurde immer wieder ausgesagt, daß die Anstoßnehmer von seiner Dienststelle Freikarten zum »Reigen« bekommen hätten; der korrekte Herr Professor konnte nachweisen, daß alles völlig ordnungsmäßig zugegangen sei. Er war ein Wühler im Bratenrock und Vatermörder und hatte einen untadeligen Lebenslauf. Das Dezernat, welches ihm das Schicksal zugeteilt hatte, war Schmutz. Der amerikanische Puritaner war ein Individuum, der preußische eine Institution. Er ließ sich einst von seinem Gymnasium auf zwei Jahre beurlauben, reiste quer durch Deutschland und verkaufte ein Mittel gegen »Schmutz in Wort und Bild«: die Denunziation. Der neue Beruf scheint so lukrativ gewesen zu sein, daß er sein Schulamt aufgeben konnte. Man wurde auf ihn aufmerksam. Das Vaterland konnte ihn brauchen. Er nahm an Kongressen teil, auch an ausländischen Empörungen und wurde schließlich Sachverständiger für die Zentralstelle zur Bekämpfung unzüchtiger Schriften. Er war zwar nicht ein Kenner von Musik, Malerei und Literatur – aber doch Kenner des Schmutzes in diesen Bezirken; man wundert sich, daß ihm nicht ein Ordinariat für Schmutz-Kunst errichtet wurde. Seine Affinität zum Schmutz war enorm; er war ausgestattet mit einer Wünschelrute, welche die geheimsten Schmutz-Lager fand. Sein Beruf, sie zu entdecken, formte die Welt, in der er sie fand. Er war nicht ein Bauer, wie der Mann aus New Canaan. Er war ein Gelernter. So war seine Transzendenz nicht so pompös wie Comstocks. Er sagte nur »Ich spreche im Namen des heiligen Zorns«. In einer Variante von »Ich bin
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der Herr, Dein Gott« hieß es: »Ich bin der Brunner«, der »in einem gewaltigen packenden Auftreten ...«. Die Ausstattung war nicht mehr der Sinai und noch nicht der Parteitag zu Nürnberg. Die Zukunft war erst in Klein-Format da. Er sagte erst: »Ich bin der Vertreter des Volksgewissens.« Das war wieder zu bescheiden. Denn er war weniger der Vertreter als der Verführer, welcher »spontane Kundgebungen der Volksentrüstung« in die Welt setzte. Ich sage unter Eid, schwur er, daß dieser Zorn über den »Reigen« eine Volksbewegung ist. Auch die größenwahnsinnigsten Missionare haben nicht die Courage, sich für Gott persönlich zu halten. So deuten sie sich ihr Tun nur als seine Stimme; oder, in demokratischer Version, als vox populi. Jetzt, im Jahre 1921, hatte Brunner zwanzig Jahre Schmutz hinter sich, die Hälfte dieser Zeit in seiner Funktion als Schmutz-Beamter. Er ist im Zenith: »Wenn einmal in Deutschland etwas über Schmutz zu erledigen ist, so werde ich um Rat gefragt.« Sehr gut kann dieser Rat nicht gewesen sein. Denn zwölf Jahre später hatte das Volk ohne Raum wirklich nicht genug Raum für den Schmutz. Ein deutsches Gericht hatte also die »Reigen«-Aufführung, gegen die eine Einstweilige Verfügung vorlag, freigesprochen und ihr das Prädikat »Sittliche Tat« verliehen. Da packte Brunner zu. Am Tage nach dem Freispruch lief eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft ein. Sie stammte aus der Zentrale zur Bekämpfung unzüchtiger Schriften, wo Brunner herrschte. So kam die ganze Affäre in Gang. Der Professor nahm den verflossenen Zensor, Herrn von Glasenapp, in eine Aufführung; auch er, ein Professioneller, witterte Unrat. Brunner konferierte mit weiblichen Reichstagsabgeordneten, die im Parlament eine »Anfrage« loslassen und die großen Organisationen, an deren Spitze sie standen, mobilisieren wollten. Etwa fünfzig Vereine wurden so erfaßt. Brunners Maschinerie kam auf Touren. Den Vereinen wurde eine Protest-Erklärung zur Unterschrift vorgelegt – und von vielen empörten Personen unterzeich-
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net, die durch dieses Papier zum ersten Mal von dem Skandal hörten; denn es ist immer mehr Drang zum Protest als konkreter Anlaß. Brunner hatte unterschrieben: Regierungsrat im Preußischen Wohlfahrts-Ministerium; meinte aber, sein Amt habe mit der ganzen Sache nichts zu tun. So leitete er den Sturm deutscher Männer und Frauen in die Klause der Staatsanwaltschaft, deren Aufgabe es war, revolutionäre Äolusse zu bändigen, um die Windstille wieder herzustellen. Sicherheitshalber fragte man noch weitere zweiundzwanzig Organisationen, ob sie nicht vielleicht bereit wären, ihrerseits gekränkt zu sein. Sie waren es. Brunner erfuhr von seinem Sohn, daß der Volkszorn ganz groß am zweiundzwanzigsten Februar in Szene gehen wird. Zwischen der Loyalität gegen seine Behörde, die Polizei, welcher er hätte melden müssen, was sich da zusammenbraute, und seiner Neigung zur Entrüstung entschied er sich für die Randalierer. Preußisches Beamtentum in der Ära der aufgehenden Hitlerei! Comstock wäre selbst zum Fest gegangen und hätte kräftig mitgeholfen, Stinkbomben zu werfen. Ein preußischer höherer Beamter tat so etwas nicht. Es ist ein Zeichen des Größenwahns, sich nicht zu kontrollieren. Wer sich kritisch sieht, bringt Besseres nach vorn, schiebt weniger Schönes in den Hintergrund. Brunner hatte die Naivität des In-sich-Vergafften: er stellte sich, wenn auch mit einem gebildeten Bikini versehen, nackt dar. Seine Philosophie und sein Deutsch waren die Höhepunkte der Komik. Er billigte Sexualität, wenn sie »psychologisch ausführlich begründet ist«. Er billigte, daß man die Sexualität »als eine starke natürliche Entwicklung durchaus begreift«; ihm war recht, »wenn man nicht prüde ist, daß Menschen sich gelegentlich paaren«. Der Satz könnte von Schnitzler sein, hätte er einen preußischen Regierungsrat in Barchent-Unterhosen und Barchent-Deutsch zeichnen wollen. Brunners Sexual-Moral erklärte, wie man sich anständig begattet: indem man »beim menschlichen Zeugungsakt stets des göttlichen Ursprungs sich erinnert«; »denn das Sexuelle, was
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der Mensch in sich trägt, ist heilig«. Abgesehen davon, daß dies Sexuelle, »was der Mensch in sich trägt«, nicht gerade darauf schließen läßt, daß der Mann mit der deutschen Sprache ebenso intim war wie mit dem Schmutz – und auch abgesehen davon, daß diese Heiligkeit des Sexuellen, nicht sehr christlich, den Sündenfall leugnet... ist die Gefahr recht groß, daß die Menschheit ausstirbt, wenn sie wirklich dem Professor Brunner folgt und »beim Zeugungsakt stets des göttlichen Ursprungs sich erinnert«. Die alte Parodie der »Lucinde« war 1920 immer noch aktuell. Brunner teilte mit, er habe gestern mit einem hochangesehenen Schriftsteller gesprochen, der sagte: »Bei der Liebe klingen die himmlischen Glocken wie Choräle.« Da schon Schlegel es mit der Choral-Glocken-Begattung zu tun hatte, ist anzunehmen, daß es sich um einen nicht zeitlich begrenzten Geschmack handelt. Brunner ist nicht nur ein Schwärmer in sexualibus, auch ein Jurist. Als solcher gab er zu, daß unflätige Gespräche im ehelichen Schlafzimmer »keinen Angriffspunkt irgendwelcher Art nach der juristischen Seite bieten«. Obszönität zwischen Verheirateten ist also legal; Berlin ist nicht der Staat Arkansas. Das Schnitzlersche Ehepaar darf sich also, ohne die Gesetze zu verletzen, im Ehebett an die Hochzeits-Nacht erinnern; ja, hier ist »auch nach der moralischen Seite ein Anstoßnehmen nicht nötig«. In diesem Falle handele es sich »um eine erlaubte Sache«, wie die Sprache im Jägerhemd sich ausdrückt. Und sein Volk sprach ihm nach. »Das Volk« stieg zum herrschenden Götzen auf, als Thron und Altar an Glanz verloren hatten. Dasselbe, was sie früher überglänzten, wurde nun Im-Namen-des-Volks glänzend. Alle Anstoßnehmer des Prozesses nahmen Anstoß: aus Liebe zum Volk, im Kampf für die Gesundheit des Volks, besorgt um das Ansehen des Volks. Die völkische Sexualität vereinigte sich mit der christlichen; die Scheidung zwischen frommen und heidnischen Völkischen war noch nicht im allgemeinen Bewußtsein. Dies »Volk« war der unausgelüftetste Teil
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des Mittelstands; und lebte wirklich so, wie die TraktätchenLiteratur seiner Abstinenzler-Vereine es wollte. Der Berliner Frauenverein gegen Alkoholismus war auch gegen Schnitzler, obwohl in allen zehn Szenen nur ein einziges Gläschen Kognak auftritt. Noch ein Weilchen – und im Namen der Volkssittlichkeit wurde gemordet, gequält, geschändet. Soweit war es noch nicht. Es wurde erst gehetzt im Namen des Volks. »Unser Volk ist heute krank«, jammerte Brunner; und begann, es zu kurieren. Besonders zu beachten ist sein Heute. Die Republik ist schuld an der Häufigkeit und dem Modus des neu-deutschen Geschlechts-Verkehrs: »Wie kann der einfache Mann aus dem Volke dieses Stück sehen, ohne wirklich mindestens in seiner Sitte erschüttert zu werden?« Was wäre das Pendant zum »mindestens«: das Höchstens? Und der düstere Prophet hat eine Vision; es »saust das Volk gewissermaßen rasch bergab und hemmungslos einem gewissen Ziel entgegen«. Wir können heute dem Gewissermaßen und dem gewissen dunklen Ziel Deutlicheres zuordnen: das damals dunkle Ziel ist jetzt die sichtbar gewordene Vergangenheit – Millionen Ermordete. Es war die Kur von 1933—1945, die in der Krankheits-Diagnose von 1921 vorbereitet wurde. Die Kloake Berlin, von der Brunner sprach, wurde vom Schmutz gründlich gereinigt – zum Beispiel mit Bücher-Verbrennungen, von denen der Anstifter dieses Prozesses noch nicht zu träumen wagte; denn er war Beamter und hatte über seinem Herzen, das von Schmutz besessen war, eine saubere Weste. Er war just einer von jenen Jahrhunderte alten Vulgär-Platonikern und definierte geistige Freiheit als »Befreiung des Geistes von niederen Trieben«. Der Platonismus ging in einem langen Leben mit vielen Bewegungen bewegte Bündnisse ein. Er war (um die feinere Schattierung nicht zu ignorieren) ein liberaler Völkischer. Er war sehr stolz auf seine engstirnige Weitherzigkeit. »Ich betrachte natürlich nicht den Geschlechtsakt als solchen als unzüchtig; das ist ausgeschlossen«; und dann
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zeigte sich, daß er eben doch den »Geschlechtsakt als solchen« für unzüchtig hielt. Er ließ ihn nur zu, wenn er sich »mit der Keuschheit umkleide, die von der Sitte des Volks verlangt wird«; diese »völkische Sitte geht durch alle Volksgenossen hindurch«, hieß es im völkischen Deutsch. Das Volk als oberster Schneider, der dem einzelnen den Geschlechtsakt zumißt, war sehr logisch; denn das Volk war den Völkischen der Nachfolger Gottes. Die Wurzeln dieser deutschen Sprache, ihre Bilder und Ideen können mindestens ein halbes Jahrhundert zurück verfolgt werden, Bayreuth war ihr Humus. In Bayreuth war Brunner auch leiblich geboren, dort ging er mit Siegfried Wagner ins Gymnasium. Warum aber erinnert sich Mitschüler Brunner nicht an die Werke des Meister Richard? Wird in der »Walküre« nicht gesungen: »Bei der Schwester liegt der Bruder«? Und kann es der »Reigen« an Unzüchtigkeit aufnehmen mit Tannhäusers Pariser Venusberg? Der Unterschied war, daß Wagners Walhall, der Harem Wotans, nicht von einem Juden stammte, sondern von dem völkischen Juden-Fresser. Und das war für einen Brunner, der vom republikanischen Gericht gelobt werden wollte, weil er im Ludendorff-Krieg »in vorderster Linie gestanden«, die Grenze, wo arteigenes Heidentum endet und jüdischer Schmutz beginnt. Auf Richard Wagner läßt er sich nicht ein. Es gibt einen viel ungefährlicheren Kronzeugen, mit dem man immer siegt. Schon viele deutsche Männer haben ihre kulturelle Respektabilität mit Goethe unter Beweis gestellt. Eigentlich hatte er mit dem »Reigen« wenig zu tun. Er hätte wohl ein sehr vorsichtig-pikantes Urteil abgegeben; und, a la Thomas Mann, »von der sinnigen Frechheit des ›Reigens‹« gesprochen. Aber allen deutschen Gebildeten, in denen ein Oberlehrer steckt, (also sehr vielen) ist es eigen, daß ihnen – sei es bei täglichen Verrichtungen, sei es im Übermaß der Tafel-Freuden – etwas Goethesches kommt. So konnte auch Brunner, angesichts der versammelten GoetheGesellschaft, zu der wohl alle seine liberalen Gegner gehör-
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ten, nicht umhin, sich als Goethe-Kenner zu produzieren: Goethe und der Schmutz. Es war nicht zu leugnen, auch der große Goethe hatte »streng Sekretes« abgesondert. Und es wäre bei dieser Gelegenheit nicht uninteressant gewesen, zu erwähnen, daß der Olympier nicht nur eine schmutzige Phantasie hatte, sondern so etwas auch noch niederschrieb. Aber Brunner hatte keine Gegner von Format. Und er selbst dachte nicht darüber nach, sondern baute sofort einen Verteidigungs-Wall; denn Goethe war nicht jüdisches Freiwild, sondern ein nationaler Belang. War Goethe nicht von herrlicher Diskretion, als er die Kinder seiner geheimsten Wünsche nicht auf dem Weimarer Markt zeigte? Sie seien nur durch »Vertrauensbruch« in die Öffentlichkeit gelangt. Nicht der Verbrecher – wer es an den Tag bringt, ist der Schuldige. Aber wohl fühlte sich Brunner auch bei dem Thema Goethe nicht. Und als dann wieder einmal einer von den vielen anwesenden Goetheanern ihm den Meister als Knüppel zwischen die Beine schmiß, brach der Gepeinigte aus: »Es ist Blasphemie an unserem National-Empfinden, Goethe hineinzuzerren.« Brunner hatte es mit dem Heiligen. Das Heilige ist mit dem Obszönen Zwillingshaft verbunden; die Anstoßnehmer nahmen immer auch Anstoß an der Profanierung. Es sind dieselben Leute, die devot auf den Knien rutschen und an jeder Ecke vergnügt dem ordinären Satan eine Schlacht liefern. Der Hang, überall Unrat zu wittern, ist innig verbunden mit dem Hang, die Reinheit anzubeten. Als Gebildeter darf er, bei aller Heiligkeit, nicht (wie Comstock) die Kunst verachten; er muß Schnitzler vorsichtig traktieren. Aber Kunst ist, meint Brunner, nicht Sache des Volks. Es hat einen anderen Mittelpunkt. »Es gibt Millionen Menschen, die keine tiefere Ahnung von Kunst haben, und die haben ein anderes Gebot, nämlich, daß man ihnen etwas Heiliges am Leben erhält. »Aber um zu zeigen, daß er nicht etwa zu den Millionen Kultur-Blinden gehört und sogar von der Philosophie etwas versteht, begann er, »die Sittlichkeit in dem Kantischen Sinne« einzumischen.
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Da aber wurden die anwesenden Professoren der Philosophie sehr streng, nahmen ihn bei den Ohren und belehrten ihn, daß Kant nur eine rein formale Ethik deduziert habe; der durchgefallene Bildungs-Protz konnte nicht mehr Piep sagen. Das hätte Anthony Comstock nicht passieren können. Er ließ sich weder auf Kunst noch Philosophie ein. Heute, nach dem Höllensturz des Dritten deutschen Reichs, ist besonders aktuell Brunners Bemerkung über die Deutschen als moralische Geniusse: »Die größten Leistungen des deutschen Volks liegen nicht auf dem Gebiet der Kunst, sondern des Sittlich-Ethischen.« Aus der Geschichte von den Nibelungen bis zu den Hitlerungen kann man die Weisheit dieser Sentenz erkennen; wohingegen Bach, Hölderlin und Nietzsche Brunners These zu beweisen haben, daß die größten Leistungen des deutschen Volks nicht auf dem Gebiet der Kunst liegen. Brunner: das war das Dritte Reich, als es erst Zweivierfünftel war und noch recht bourgeois. Er gehörte nicht zu den Kommenden. Er gehörte zu den Vergangenen, die ihnen sehr nah standen. Beobachtet man diesen Mann, wie er sich vor Gericht gebärdete, so erkennt man, wie leicht er und die ganze Sippe der Goebbels zu gewinnen gewesen wären. Immer wieder: ich bin gar nicht so; er war ein aufgeschlossener Biedermann, mit dem man reden kann, wenn man ihn nur zuläßt. Der amusische Regierungsrat war stolz, Schauspieler und Schriftsteller persönlich zu kennen, und brüstete sich dieser Bekanntschaft. Er war nicht zugelassen zu den großen Blättern, die er nannte: die »Vossische Zeitung«, »Das Berliner Tageblatt«. Sein Witzblatt »Ulk« hatte den Professor verulkt; er las es vor, in einer Mischung aus Ressentiment und Stolz. Man ließ ihn nicht ein. Sein Gefolge bestand aus Lesern der »Täglichen Rundschau«, der »Deutschen Zeitung«, des »Hammer« – völkischer, antisemitischer Organe. Einer ihrer Theater-Kritiker, der deutschnationale Erich Schlaikjer, Sozialist a.D., hatte einen HetzBericht geschrieben, auf den sich so viele Prozeß-Zeugen beriefen, daß man ihn zum geistigen Urheber der Volks-Er-
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hebung gegen das Schnitzler-Obszöne zu ernennen suchte. Er war aber nur ein Schatten neben dem sehr existenten Brunner. Der Staatsanwaltsrat von Bradtke kam nicht einmal in den Verdacht, ein geistiger Urheber zu sein. Er definierte »unzüchtig«, als hätten nicht schon die Jahrhunderte daran herumgedoktert, schlicht: »was einem normalen, gewöhnlichen menschlichen Empfinden gegenüber schamverletzend wirkt«. Es blieben eben nur die kleinen Fragen: wer ist »normal« – der Stink-Bomben werfende Halbwüchsige nebst all den Lehrern, Geistlichen und Beamten, die vom »Reigen« nichts wußten, als daß ihr Hausblättchen dagegen war? Oder der Maler Orlik, der Leiter des Klindworth-Schwarwenka-Konservatoriums, der Ordinarius für Literaturgeschichte an der Universität Leipzig? Der Ankläger von Bradtke zerbrach sich darüber nicht den Kopf. Was zählt, ist Paragraph 183 aus dem Strafgesetzbuch von 1869. Kann er diese Theater-Sippschaft damit fassen oder nicht? Man ist in einem Rechts-Staat. Von Bradtke sperrt nur auf Grund des bestehenden Rechtes ein. In jener Zeit henkte man auch Juden nur an Paragraphen auf. Es war ein zwanzig Druckseiten langes Gedulds-Spiel, dem sich der Ankläger hingab: ganz unemotionell, streng professionell, für Nicht-Juristen recht öde. Aber bisweilen horchte auch auf, wer kein Fachmann war. Der Staatsanwalt hat es phantastisch leicht, eine Anklage auf Obszönität zu erheben: »Es genügt nach der Rechtsprechung, wenn nur eine einzige Person Ärgernis genommen hat.« Professor Brunner würde sehr unrentabel gearbeitet haben, wäre er auf nichts als dieses eine Verbot aus gewesen. Auch war von Bradtke hörenswert, als er versicherte: kein Gericht würde Bedenken tragen, Rembrandtsche BeischlafSzenen einzuziehen, wenn sie öffentlich zur Schau gestellt würden. Ein Höhepunkt des Plädoyers war die Begründung, weshalb auch die Theater-Direktion ins Kittchen müsse: »Es
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ist dasselbe wie beim ›Schmiere stehen‹; wer ›Schmiere steht‹, der wirkt nicht mit, ist aber doch strafbar.« Es gab damals im glänzenden Theater-Berlin wenig Abende, die so abwechslungsreich waren, wie diese sechs Verhandlungs-Tage. Herr von Bradtke hatte es vor allem mit Paragraphen. Den lieben Kleinen war keiner gewidmet. So organisierte er keinen Kinder-Kreuzzug. Aber die Anstoßnehmer waren nicht nur um das weite Vaterland besorgt, auch um die engere Wohnung und die Kinderchen in ihr, besonders die Mädchen. Der Mann muß hinaus ins feindliche sexuelle Leben; und ein paar Narben auf diesem Feld der Ehre pflegten moderne Eltern eher als Sieges-Trophäen anzusehen. Aber die Jungfräulichkeit der kleinen Weiber gehörte in weiten Kreisen des Bürgertums zum innersten Bezirk der Moral; und das illegitime Kind, das nur Proletarier sich moralisch leisten konnten, zur Schande der Familie. Wahrscheinlidi war das Anstoßnehmen dort, wo es nicht von Schmutz-Experten und entsprechenden Vereinen organisiert war, die Angst der Eltern. Ein dreißigjähriger Bank-Prokurist erklärte: als er Zwanzig war, gefiel ihm so ein Stück. Inzwischen hat er geheiratet, eine Tochter; während der Aufführung dachte er immer an sie. Vorsitzender: Wie alt ist Ihr Kind? Antwort: Vier. Es gab noch einen Vater einer Vierjährigen. Ihm »stockte der Atem«, weil neben ihm während der Aufführung junge Mädchen saßen. Er würde seins nicht mitnehmen. Wie alt ist sie? Die Antwort rief viel Heiterkeit hervor. Vielleicht wurde es das künftige Schicksal dieser Vierjährigen, in einer von Hitlers Paarungs-Stätten ihre Jungfernschaft herzugeben oder unter einem Vergewaltiger der vom Osten her anmarschierenden Armee. Der »Reigen« war, als sie verführbar wurden, bestimmt nicht mehr auf dem Repertoire. In der Regel traf man in jenen Jahren nicht viel Jugend im Theater, wenn man nicht gerade in eine Aufführung von »Wilhelm Teil«, »Alt Heidelberg« oder »Peer Gynt« Sonntag nachmittag ging. Nach den Bekundungen der Anstoß-
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nehmer hat man hingegen den Eindruck, als wäre der »Reigen« vor einem Parkett von Siebzehnjährigen gespielt worden. Und welche furchtbaren Dinge hatte die Generalsekretärin der deutschen Bahnhofs-Mission aufgeschnappt: vor der Aufführung und nachher. Eine sagte zur anderen: »Das wird ja fein.« Vorsitzender: Kann das nicht vor jedem Theaterstück geäußert werden? Der Ton hatte etwas Anstößiges, meinte die Generalsekretärin. Anstößig war ihr auch, daß zwei Mädchen, beim Verlassen des Theaters, die Liebes-Melodie summten und außerdem noch sagten: »Es war bildschön.« Einen unverheirateten weiblichen Rektor schmerzte es, daß junge Leute, die das Stück sehen, für das ganze Leben in ihrer Anschauung von der Frau ruiniert sein können. Und ein verheirateter weiblicher Rektor steuerte noch bei, daß man vor einem Jungfrauen-Verein so etwas ohne Gefahr aufführen könne, aber nicht vor der Großstadt-Jugend. Niemand aber fragte: gehören Jungfrauen nicht zur Großstadt-Jugend? Und sind vereinte Jungfrauen vor den Gefahren des Lebens besser geschützt als nicht vereinte? Und welche Erfahrungen, welche Untersuchungen, haben ergeben, daß ein TheaterStück, ein Dutzend Theater-Stücke, daß ein Roman, ein Dutzend Romane den Charakter eines Menschen so wesentlich ändern, daß er aus einem ungefährdeten ein gefährdeter wird? Ein Professor und Geheimer Regierungsrat, sechsundfünfzig Jahre alt, erinnerte sich an folgende Szene im ZuschauerRaum. Es wurde auf der Bühne zum großen Thema gesagt: »Es gibt Menschen, die morgens nicht aufgelegt sind.« Vor dem Geheimen Regierungsrat saßen junge Leute, die flüsterten sich nach diesem Satz etwas ins Ohr. Man könnte sich denken, meinte er, was für Dinge das waren ... Wer darüber nachdenkt, was das für Dinge gewesen sein mögen, wird sehr bald beim Resultat sein. Entweder sie hatten schon einige Erfahrung und sagten: ihnen ginge es nicht so; Novalis (im Tagebuch nach dem Tode seiner Braut) schreibt immer wieder von sinnlichen Erregungen am Morgen – und auch der
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junge Comstock notierte Ähnliches auf. Möglich auch, daß sie sich freuten, einen Gleichgestimmten gefunden zu haben. Schließlich kann es auch so gewesen sein, daß diese jungen Leute zum ersten Mal auf die Beziehung zwischen Tageszeit und Sexualität aufmerksam wurden. In allen Fällen ist nicht einzusehen, weshalb dieser Satz und ein ähnlicher die Jugend, die dann im Hitler-Krieg vernichtet wurde, auf eine schiefe Bahn brachte. Auf der anderen Seite, auf Seiten des Autors, seines Stücks, der Weimarer Republik und der offiziellen Liberalität waren Dichter und Maler, Universitäts-Professoren und TheaterKritiker, Direktoren vom Klindworth-Schwarwenka-Konservatorium, Kunstgewerbe-Museum und Deutschen Theater. Nur Männer, keine Frauen und Fräuleins. Bekannte Persönlichkeiten, die angesehensten älteren Herren der Zwanziger. Sie waren hochkultiviert: aufgewachsen mit Kant und Goethe, in einer Tradition, die sich noch recht unproblematisch »humanistisch« nannte. Sie kannten das Ausland und beriefen sich auf Stendhal, Flaubert und Zola wie auf Familien-Angehörige. Ein Teil von ihnen gehörte zum gebildeten deutschen Judentum: freiheitlich, national und wohlhabend. Diese Christen und Juden waren Ton-angebend in jener schmalen Schicht, welche zu Hause und vor der Welt kulturell Deutschland repräsentierte... und deshalb für Deutschland gehalten wurde. Sie genossen schon im wilhelminischen Reich ein höheres Ansehen als des Kaisers Groß-Admiral. Sie kannten einander – die Andern aber nicht; einer von den Andern war Hitler. Der war ihnen noch verborgen, im unheilvollen Schoß der Zeit. Kein Volk ist ein Volk der Dichter und Denker; oft sieht man vor ihnen das Volk nicht. Glücklich dasjenige, dessen Sprachen nicht zu weit auseinander sind. Das Deutsche Volk trat erst mit Hilfe von Hitler und seinem Deutsch in Erscheinung;
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nicht das ganze, aber immerhin eine lange verdeckte und tief verwurzelte, furchtbare Tradition. Treitschke hatte sie mitgeformt und Lagarde und der »Rembrandt-Deutsche« und der Wagner-Kreis mit dem englischen Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain und den allgegenwärtigen Wagner-Vereinen; dies Erbe wurde dann in dem Buch mit dem Titel »Mein Kampf« virulent. Eine der ersten ganz großen Auftritte des Volks war der »Reigen«-Prozeß. Das Stich-Wort hieß Obszön. Es hat eine Schlüssel-Stellung in Religion, Moral und Politik. Wie begegneten die sehr kultivierten Herren Professoren und Kunst-Direktoren dem im Gerichtssaal anwesenden Volk? Überhaupt nicht! Es gab keine Verbindung zwischen ihnen, auch wenn sie einmal miteinander sprachen; nicht nur deshalb, weil die Randalierer Barbaren, auch weil ihre Partner keine Griechen waren. Sie sagten kaum etwas, was selbst den Gutwilligsten hätte überzeugen können. Sie saßen in einer Burg aus Kunstwerken – und schössen mit verstorbenen Argumenten. Sie waren volksfremd: nicht weil sie aus einer anderen Schicht, sondern ohne Gegenwart waren. Sie wußten von der Vergangenheit, waren mild und wohlmeinend und ohne Zukunft. Sie ahnten nicht, daß dieser Prozeß sie mehr kompromittierte als die wildgewordenen Kleinbürger auf der anderen Seite. Die Lieblings-Sentenz, welche die Humanisten in vielen Variationen durchspielten, lautete: »Unmoralische Kunst gibt es nicht.« Das war entweder ein semantisches Kunststückchen oder die Unwahrheit. Es war der Maler Emil Orlik, der den bereits zitierten Ausspruch tat: »Ein Beischlaf, von Rembrandt gezeichnet, ist ein moralisches Kunstwerk.« Das ist ein wichtigtuerisches Apercu oder eine Finte. Man brauchte nicht die Frau Hauptmann Klara Müller zu sein, um diesen Satz des großen Künstlers als Redensart zu empfinden, die einem was weismachen will. Das »Volk« war nicht auf der Höhe. Sonst hätte es gefragt: was ist ein Beischlaf, den ein Pfuscher malt? Pfusch-Werk
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oder unmoralisch? Was ist eine erhabene Moral, dargestellt von einem Nichts-Könner? Unmoralisch? Gibt es nicht moralische Kunst-Stümperei? Welche Moral verkündet Rembrandts Beischlaf, so daß er das Prädikat moralisch verdient? Die erlesenen Künstler und Kunst-Kenner versündigten sich am Volk, indem sie idealistisch-verblasen daherschwätzten. Alle deutschen Wege führen über Goethe, wie auch Brunner gezeigt hatte. Die Sentenz, die jeder Deutsche schon einmal zitiert hat oder beinahe, lautet: Wer Kunst und Wissenschaft hat, hat auch Religion, Wer sie nicht hat, habe Religion.
Diese Identifikation von Religion (deren substantiellster Teil die Moral geworden ist) und Kunst war schon ein Irrtum zu Goethes Zeit, als die Kultur-tragende Schicht noch von Kunst und Wissenschaft beseelt war. Inzwischen ist die viel-zitierte Wendung zu einem niedlichen geflügelten Wort geworden, daß einem aus dem Munde fliegt, bevor man noch recht weiß, was man sagen will. Lessing war vorsichtiger gewesen mit diesem Wer-Kunst-hat, hat-auch-Religion. Er schrieb: nicht, als wollte man leugnen, »daß etwas ästhetisch schön sein könne, wenn es nicht auch moralisch gut ist. Aber es ist doch auch so gar unbillig nicht, daß man jenes Schöne verachtet, wo man dieses Gute nicht zugleich erkennet.« Anstatt den schlichten Sachverhalt anzuerkennen, der von Lessing bis Thomas Mann immer wieder herausgestellt wurde: daß schön und gut keine Zwillinge sind, sogar dissonieren können, anstatt zu sehen, daß Schnitzlers »Reigen« der Alternative moralisch-unmoralisch gar nicht subsumiert werden kann, wollte man den Freispruch erzwingen mit einer Konklusion, die zu einem formell richtigen Schluß kommt – auf Grund einer materiell falschen Prämisse: »Alle Kunstwerke sind moralisch. »Reigen« ist ein Kunstwerk. Also: moralisch.«
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So waren die Kunst-Anwälte gezwungen, die Verhandlung gewaltsam in ihrem Bezirk festzuhalten, obwohl sie nur sehr bedingt hierhin gehörte. Und der Professor Brunner war nur nicht denkscharf und couragiert genug, um dafür zu sorgen, daß der Prozeß dort ausgetragen wurde, wo allein er auszutragen war. Es ging zentral um die sexuelle Lust und ihren Wert. . . und die Liberalen stellten sich nicht. Das ungewandte Volk ließ sich auf das den Gebildeten vertraute Gebiet der Künste locken und blamierte sich hier. Eine siebenundsechzigjährigeKaufmanns-Frau sprach aus, was vielen aus der Seele gesprochen war: »Wir dürfen doch nicht zugeben, daß das Theater, wo wir Erholung und Erhebung suchen, zu einer Stätte wird, wo diese Ausschreitungen des sinnlichen Lebens dargestellt werden.« Was antworteten die Herren von der Sensibilität für künstlerische Valeurs darauf? Sie wetteiferten im Ehrgeiz, zu wissen, ob ein Zitat von Stendhal, Flaubert oder Zola ist. Wichtiger aber wäre gewesen, die deutschen Landsleute, welche gewohnt waren, sich im Theater mit oder ohne Erhebung von dem zu erholen, was außerhalb weder erholend noch erhebend war, aufzuklären über die »Ausschreitungen des sinnlichen Lebens«. Die Freisinnigen taten es nicht, weil ihnen selber vor soviel Freiheit graute. Es wäre ein Dienst am Volk gewesen, wenn sie ihm wenigstens aus der Fülle ihrer Kenntnisse mitgeteilt hätten, daß es keine Gesetzes-Tafeln für das Theater gibt, auf denen steht: es soll erheben oder erholen! Daß das Theater im Laufe der Jahrhunderte schon viele Bedürfnisse befriedigt hat ... zum Beispiel auch die nationale Eitelkeit, als nach dem Sieg von Sedan erbeutete Fahnen auf die Bühne des Königlichen Schauspielhauses geschleppt wurden, um eine Rolle im Stück zu übernehmen. Die anwesenden Historiker und Kritiker des Theaters hätten sich ein bißchen des Volkes annehmen sollen. Und sich selbst klarmachen, daß in den Mittelpunkt des Prozesses nicht die Kunst Schnitzlers gehörte und nicht die
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Kunst als Göttin (von der überhaupt nur einige Kunst-Besessene reden dürfen), sondern: Gott Sexus und seine Darstellungen. Um dieses Thema drückten sich die Kunst-Enthusiasten mit albernen Spielereien: zum Beispiel dem gelehrten Nachweis, daß noch die angesehensten unter den Klassikern der Darstellung von Unsittlichem gehuldigt hatten. Ihre These war: Unzucht kann durch Kunst züchtig werden. Beweisen läßt sich nur, daß die Welt-Literatur voll von »Bettstellen« ist. Im »ödipus« steht der Inzest im Mittelpunkt. Die Nonne Roswitha, der erste deutsche Dramatiker, hat eine Bordell-Szene geschrieben, in welcher ein Mädchen neben ihrem Liebhaber auf dem Bett liegt? Schon bei Voltaire gibt es einen Reigen. Hebbels Holofernes, der doch »die Judith vornimmt« (wie ein Zeuge meinte), ist seit Generationen ein Schul-Aufsatz-Thema. Hauptmanns Griseldis wird von dem Markgrafen in die Hütte eines Bauern geschleppt und vergewaltigt. In Strindbergs »Fräulein Julie« wird der Beischlaf der Gnädigen mit dem Diener durch einen Dienst-Boten-Tanz überspielt, wie im »Reigen« durch einen Walzer. Den kräftigsten deutschen Dramatiker, Grabbe und seinen »Gothland«, erwähnten sie nicht, obwohl er Shakespeare näher war als irgendein Kronzeuge. Hätte Professor Brunner die Kraft eines Comstock gehabt, so hätte er sich aufgemacht, alle diese Unanständigkeiten zu verbieten. Die Akademiker, die sich hinter der anerkannten, also unantastbaren Erotik verschanzten, hatten keinen Gegenspieler. Da auch Kunst-Kritiker anwesend waren, gab es auch BeweisStücke aus der großen Malerei. Ein religiöser Künstler wie Tizian, jubelte man, bildete in der Leda, Correggio, »der Darsteller der Heiligen Nacht«, in der Jo den »Geschlechtsakt« ab. Bei Hogarth gab es schon ein Vorher und Nachher: vorher wenig bekleidet und Gier ... nachher: siehe Schnitzler. Sein Schicksal, klagten die Goetheaner, hatte schon der Meister zu erleiden, man konterfeite ihn als Priapus; und Schiller wurde nach einer Aufführung der »Maria Stuart« die »viehische Sinnlichkeit Mortimers« vorgeworfen.
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Der Gipfel des billigen Triumphs der versammelten Künstler und Kunst-Kritiker war die Beschwörung des Theater-Klassikers über allen: Shakespeare. In diesen Tagen, hüb ein Verteidiger des »Reigens« an, wird im Staatlichen Schauspielhaus »Othello« aufgeführt. Da heißt es: Heraus! Während Ihr mit mir sprecht, bespringt ein Berberroß Eure Tochter. Wer spricht das? Einer, der Euch zu melden kommt, daß Eure Tochter und der Mohr jetzt das Tier mit zwei Rücken spielen ... Die Männer sind nur Magen, wir nur Kost Sie schlingen uns hinab, und sind sie satt, Spei'n sie uns aus.
Schnitzler sagt das alles viel dezenter. Vor allem versuchte man, mit »Romeo und Julia« das angeklagte Werk zu retten. Da gibt es die Szene, die beginnt: Will'st Du schon gehn, der Tag ist ja noch fern. Kommentar eines Experten der Verteidigung: »Man weiß, daß hier zwei junge Menschen die Nacht über allein zusammen gewesen sind. Man weiß, daß sie nicht in der Bibel gelesen haben.« Da aber gab das Volk eine Antwort. Eine Redakteurs-Gattin kannte ihren Romeo und ihre Julia. Was sie sagte, war nicht druckreif, aber immerhin richtig: Shakespeare löse die illegitime Nacht in die legitim machende Poesie auf, während es Schnitzler gerade auf den immer noch illegitimen Alltag danach ankomme; er unterstreiche geradezu die Unanständigkeit durch Akzentuierung der Abwesenheit aller Lyrik. Das war eine gute Herausforderung. Das war eine Antwort, die weiterführen konnte. Da hätte man klarmachen sollen: ob Romeos und Julias unanständige Nacht durch Poesie anständig wurde – und wie? Aber wer war interessiert, eine der wichtigsten Unklarheiten: das seltsame Leben des Sexus und die seltsame Geschichte sei250
ner Porträts aufzuhellen? »Die Freiheit der Kunst« war in Gefahr, die Freiheit des sexuellen Menschen gehörte nicht zu den kulturellen Belangen. So wurde es wichtig, Schnitzler als künstlerischen Moralisten dick aufzuschminken. Der große Jurist Wolfgang Heine, der das angeklagte Kunstwerk zu verteidigen hatte, wußte, daß sein Klient nur mit Hilfe des Prädikats »künstlerisch« gerettet werden konnte. In Band 24, auf Seite 367 der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs war zu lesen: »daß die Kunst imstande ist«, auch nackte Darstellungen und Vorgänge, die das Geschlechtsleben betreffen, »künstlerisch bis zu dem Grade zu durchgeistigen und zu verklären, daß für das natürliche ästhetische Gefühl die sinnliche Empfindung durch die interesselose Freude am Schönen zurückgedrängt wird.« Wenn man also nachweisen kann, daß Schnitzler zu »verklären« vermochte und das Sinnliche »zurückgedrängt« hat – dann ist alles gewonnen. Schnitzler aber hat weder verklärt noch zurückgedrängt. Dionysos war nicht sein Thema, nur das leiseste Echo des turbulenten Gotts: das bißchen Liebelei auf Feld und Flur und im Boudoir. Die Haltung des Dichters war nicht moralisch, sondern distanziert-melancholisch. Diese lächelnde Schwermut als moralisch-künstlerisches Korrektiv zu feiern, war eine totale Verfälschung. Nicht weniger total als Brunners, der hier eine »Verherrlichung von Seitensprüngen« fand und den »Schrei nach dem Kinde« vermißte. Shakespeare wurde von beiden Seiten dort eingesetzt, wo er einen schwachen Front-Abschnitt zu stärken hatte. Die Liberalen sagten: auch der große Brite schrieb Schnitzlerisches und noch deftiger. Die Anstoßnehmer sagten (wenn auch nicht mit diesen Worten): ein Künstler war Shakespeare, weil er nicht auf Romeos und Julias Bettstelle hinweist, sondern auf den heraufziehenden Morgen und die himmlischen Vögel. Schwächte er Mordlust und Haß und Eifersucht und Neid und Geilheit poetisch ab oder intensivierte er sie? Die KunstExperten, welche in der Kunst vor allem Trieb-Dämp-
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fung entdeckten – und das waren fast alle, zeigten, daß sie eher Kunst-Registratoren waren als Genießer. Die Pachulken ä la Brunner sind später mächtig geworden in dem Feldzug ihrer Nachfolger gegen die Entartete Kunst. Die Gegner, die nur noch sogenannten Humanisten kurz vor der Ankunft der Entarteten Zeit, gehören zur unbewältigten Vergangenheit (nicht nur Deutschlands). Die Mutlosigkeit, die Gegenwartslosigkeit derer, die nur im Prinzip vorwärts wollten, hat entscheidend am Ausbruch des Unheils mitgewirkt. Deshalb ist der »Reigen«-Prozeß immer noch von höchster Aktualität. Vom Versagen des Volks kann man in vielen Geschichtsbüchern lesen. Das Versagen der humanistischen Elite wird totgeschwiegen. Sie versagte, weil sie einige der dumpfsten und gefährlichsten Aberglauben mit dem Gegner teilte. Zum Beispiel den Mythos vom unheimlichen Sexus, den übrigens das Dritte Reich ebenso scharf, vielleicht noch drakonischer kontrollierte als der Liberale, der in Wendungen wie »wertlose Pornographie« sein Wohlverhalten zeigte. »Ein leichtfertiger Geschlechtsakt« konnte sie zum Gruseln bringen. Sie unterschieden sich von den Brunners nur darin, daß sie die großen unanständigen Bücher gelesen hatten, weil hier die leichtfertigen Geschlechtsakte zur WeltLiteratur gehören. Sie rechtfertigt alles, Goethe gehört zu ihr; so nannte ein Sachverständiger »das Tagebuch« und »die Venezianischen Epigramme« »geheimste, keuscheste Dinge der Seele«. Und niemand fragte den Professor, wie er diese Verse nennen würde, wenn nicht der Name Goethe sie heiligte? Das Volk aber konnte das nicht fragen, weil es den dreiundfünfzigsten Band der Weimarer Ausgabe nicht kannte. Im Entscheidenden, in ihrer Sexual-Moral, war kein Konflikt zwischen Ankläger und Verteidiger. Der freiheitliche Anwalt schüttelte sich beim Gedanken an Nackt-Tänze und stellte sein Grauen dar, in vielen sprachlichen Wendungen: »Nackttänze in geheimen Nachtlokalen«, »schwüle Nackt-Tänze in verrufenen Lokalen«. Sexus sah auf beiden Seiten gleich
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gespensterhaft aus. Der bedeutende Verteidiger Schnitzlers, der den »Reigen« ebenso beredt verteidigte wie M. Senard die »Bovary« – und bei dieser Gelegenheit die traditionelle Sexual-Moral ebenso solide verfestigte wie der französische Vorgänger, proklamierte: »Die körperliche Vereinigung sollte stets lediglich der natürliche Ausfluß innigster seelischer Gemeinschaft sein.« Genau dasselbe meinte Professor Brunner und seine Gefolgschaft. Die winzige Differenz lag nur in der Frage: ob Schnitzler dies »sollte« gefördert hat oder nicht. Hier aber traf der Professor Brunner schon eher die Wahrheit als der ausgezeichnete Straf-Verteidiger. Schnitzler sagte, eher resigniert: es ist eben so, wie es ist. Er war recht »traurig und detachiert« – wie Baudelaire, den Flaubert so charakterisiert hatte. Die Professoren aber bauten einen pathetischen, geradezu reformatorischen Schnitzler auf. Und deklamierten: »Viel zu rein, viel zu hoch ist Schnitzler, als daß es ihm darauf ankäme, den Beischlaf darzustellen.« Es wurde die Haupt-Auf gäbe seiner Apologeten, diese teuflischen Gedankenstriche auszuradieren. Das unternahm der kühne Wolf gang Heine nun. Er übersetzte sie: »Jetzt kommt etwas, was ich nicht schildern will, weil es mir nicht darauf ankommt. Es ist mir gleichgültig, was die beiden da machen.« Da es aber jeder sowieso wußte, war es gleichgültig, ob es Schnitzler gleichgültig war oder nicht. Die Schnitzlerianer spielten dem kleinen, im Personen-Verzeichnis nicht auftretenden Helden böse mit, als sie ihn auch noch zu verleugnen suchten – und den Gedankenstrichen ihre Gedanken strichen. »Es kann sein«, sagte der Verteidiger, »wenn einer eine nicht gebändigte Phantasie hat, daß er nun sich die Sache ausmalt.« Dagegen eben sei man in der Aufführung mit dem Sechs-Sekunden-Vorhang eingeschritten. Sechs Sekunden und nicht mehr; da hat der Zuschauer nicht viel Zeit zum Ausmalen. Der Wolfgang Heine war also nicht weniger salbungsvoll als einst der französische Verteidiger Flauberts und Baudelaires.
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M. Senard hätte als Motto über seine tugendhafte Schul-Ausgabe den Satz des deutschen Kollegen setzen können: »Sie haben auch wohl bemerkt, daß das ganze Geschlechtsleben, was da geschildert wird, durchaus nichtig, leidenschaftslos, jeder Größe entbehrend ist.« Rechtsanwalt Heine verriet nicht, wie man Größe in sein Geschlechtsleben bringt. So wetteiferten sie mit den Traditionalisten und ihren RadauBrüdern im Blasen der Moral-Trompete. Gertrud Eysoldt, die große Tragödin, die das angeklagte Theater leitete, ließ es sich nicht nehmen, den Dichter zu preisen, weil er die Menschheit »erlöst«, indem er die Sexualität »künstlerisch auflöst«; ein Glück, daß diese Auflösung nicht die ganze Zukunft der Menschheit mit-aufgelöst hat. Und ihr Mit-Direktor fragte, als spräche er zu einem Kindergarten: ist im »Reigen« nicht »für die Frauen eine Mahnung zur Vorsicht und für die Männer ein ernüchterndes Element«? Niemand antwortete, schlicht: Nein! Neben ihnen modelte ein bekannter Regisseur so am Monument des großen Moral-Predigers Schnitzler: »Er wollte die Schmählichkeit dieses Verkümmerten, Verzettelten, des sinnlichen Triebs darstellen.« Da wurde aus einem wehmütigheiteren Spiel eine »tief leidenschaftliche Anklage« gegen die Gesellschaft. Und ein bekannter Theater-Kritiker ließ den unpathetischsten Dichter also pathetisch savonarolisieren: »Ihr Menschen, hoch oder niedrig, arm oder reich, gut oder schlecht angezogen, seid eine sehr bedauernswerte Gesellschaft.« Und weshalb? Weil sie nicht miteinander schliefen, wie es in gutbürgerlichen Häusern üblich war. So versagten die Intellektuellen vor dem (in die Sex-Feindschaft geflüchteten) Unbehagen in der Politik. Die Gefolgsleute Brunners nannten, was sich im Stück zehnmal abspielte, »Schweinerei«. Die Gefolgsleute Schnitzlers bezeichneten denselben Vorgang in gleicher Weise, nur gebildeter. Ein einziger Wortschatz verband sie; auch die Humanisten sprachen von »unzüchtig« und »lüstern«. So war es nicht erstaunlich, daß ein angesehener Akademi-
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ker, Zeuge der Verteidigung, auch die andere Seite respektvoll anerkannte, indem er, hoch über dem Jahr 1921, theoretisierte: es gäbe zwei Urtypen der Menschheit: den traditionellen Menschen, den er durchaus gelten ließ (da wurde aus der Frau Hauptmann Klara Müller ein Urtypus), und den künstlerischen Menschen, zu dem er, Professor Georg Witkowski aus Leipzig, rechne. Von diesem Typ, hieß es in seiner Vorlesung, die er zur Abwechslung nicht in Leipzig, sondern vor Gericht hielt: »In dieser Sphäre schweigen die Begierden, da ist keine Rede von einem groben Wollustantrieb; denn in dem Augenblick, wo sich der zeigen würde, würde sich der künstlerische Mensch von dem Werke, das ihm solche Triebe erregt, mit Ekel und Verachtung abwenden.« Auf weniger schwülstig gesagt: ich darf mit Shylock keine Rache, mit Othello keine Eifersucht, mit Faust kein Verlangen nach Gretchen empfinden. Die Leidenschaften, die große Dichter zu einer im Leben nicht vorhandenen Stärke haben anschwellen lassen, dürfen in mir nur ein sanftes Echo wekken. Der Dichter schafft nicht aus Erregung, und der Leser darf nicht aufgeregt werden. Das Ideal ist der Kunst-Professor, der nur künstlerisch genießen kann, was sein Vital-System einschläfert. Trieb-Leben ist gemein (das hatten schon Platon und Kant gesagt, die Ahnen); die Epigonen schrieben der Kunst die Funktion zu, das Adamitische wegzuzaubern. Und weil eben dieser Schnitzler ein Künstler ist, so war er imstande, mit Kunst den Zuschauer zu anästhesieren, so daß er zehnmal »Geschlechtsakt« ohne die geringste Empfindung durchsitzen kann. Der Professor dozierte ein ausgedehntes Kolleg, fast alle seine humanen Freunde waren von gleicher Erhabenheit. Die Verteidiger, gesittete und belesene Leute, boten alles auf, um die fürchterliche Tatsache zu rechtfertigen, daß Schnitzler den »Geschlechtsakt« zum zentralen Ereignis seines Werkes gemacht hatte. War es nicht vielleicht der genius loci, der das herbeigeführt hatte? Das Wiener Leben, führte einer aus, sei viel stärker von Sexualität durchblutet als etwa das nord-
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und mitteldeutsche. In München gehe es schon warmblütiger zu. Aber erst in Wien wird die Sinnlichkeit als eine hohe »Kunst« betrieben. Und wenn man erst das Wort »Kunst« im Satz hat, ist die Sinnlichkeit schon fast keine mehr. So fanden sie den Übergang von der kunstvollen Sinnlichkeit zur sinnlichen Kunst – das heißt schon fast: zur Übersinnlichkeit. Wer genoß damals diese Komödie rund um den heißen Brei: den heißen kleinen Held? Die Farce hatte einen besonders amüsanten Auftritt: der als »fetter Jude« annoncierte Direktor des »Reigen«-Theaters produzierte sich als »guter Katholik«, der einst Geistlicher werden wollte. Mit diesem Ausweis bewaffnet fühlte er sich in der Lage, einem vor Gericht anwesenden Kurator mitzuteilen, daß man die Mutter Maria um Beistand anruft, um sich von den »sinnlichen Begierden freizumachen«. Der Kurator ergänzte, daß die Jugend in solchen Nöten auch auf das Beispiel des Heiligen Aloysius hingewiesen wird. Worauf der Theater-Direktor so animiert war, daß er einiges Katholische aus seiner Jugend zum besten gab: »Hochwürden, mein damaliger Religionslehrer hat den Begriff der Keuschheit so weit ausgedehnt, daß wir Jungens von zwölf Jahren die Ausübung der natürlichsten täglichen kleinen Bedürfnisse als eine so unkeusche Handlung ansahen, daß wir bei der Berührung des betreffenden Körperteils, um diese kleinen Bedürfnisse auszuüben, ein ›Ave Maria‹ sprachen.« Es gab aber unter diesen Humanisten, welche die Sinnlichkeit in Kunst verdampften, welche die religiösen Bedenken mit frommen und neckischen Anekdoten beschwichtigten, sogar auf beruhigende Interpretationen von Anstoß erregenden Stellen sich einließen ... eine einzige Ausnahme. Nur dieser eine Mann verließ die pathetisch-moralisierende Linie der Verteidigung und gab dem Trieb, was des Triebes ist. Es war Alfred Kerr, Poet und Kritiker, der den besagten kleinen Unhold nicht verklärte, vergeistigte und der Erstickung durch »Kunst« preisgab. Er allein schlug einen anderen Ton an; leider, ganz gegen seine Gewohnheit, molto moderato. Er
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war vom Stamme Heines und Nietzsches, die in Deutschland immer noch nicht zum-Olymp zugelassen sind. Er pries den schlechtes! beleumdeten Genuß. Er schwenkte nicht auf die fromme Legende der Verteidigung ein, obwohl er sich (wohl aus Taktik) nicht laut separierte. Er machte als einziger gerichtsnotorisch, daß es »einen ganz berechtigten Geschlechtsakt gibt, der mit Liebe nichts zu tun hat«. War allerdings nicht sehr glücklich in der Rechtfertigung des Berechtigten: bei längerer Enthaltung träte eine Verdickung des Blutes ein. Und es war erst recht nicht glücklich, diese gänzlich unplatonische Liebe mit Maßnahmen der verflossenen Obersten Heeresleitung zu legitimieren; sie habe Einrichtungen getroffen, die »nichts mit Heiligkeit« zu tun hätten. Kerr, ein begabter Hymniker, wagte sich nur sarkastisch vor. So wurde leider sein großartiger, seltener Vorstoß auf dem Gebiet der Moral-Philosophie ein bißchen lächerlich kostümiert. Goethe hatte zu Eckermann gesagt: »Es müßte schlimm zugehen, wenn das Lesen unmoralischer wirken sollte als das Leben selber, das täglich der skandalösen Szenen im Überfluß, wenn nicht vor unseren Augen, doch vor unseren Ohren entwickelt. Selbst bei Kindern braucht man wegen der Wirkungen eines Buchs oder eines Theaterstücks keineswegs zu ängstlich zu sein. Das tägliche Leben ist, wie gesagt, lehrreicher als das wirksamste Buch.« Kerr variierte das jetzt und gab eine neue Antwort auf die Hilferufe zum Schutz der lieben Kleinen: »Das Reich der Kunst ist keine Kinder-Schule ... Wir Erwachsenen sind auch noch da.« Und fragte: was reizt die Jungens mehr: der »Reigen« oder ein Mädel, das zum Bäcker rennt und der Wind läßt ihre Röcke hochgehen? Auch kann man den »Reigen« verbieten, aber nicht zwei Hunde, die es auf der Straße treiben – und die ganze Jugend sieht zu. Es war schon oft gesagt und noch nie gehört worden. Aber, hinter allen pragmatischen Argumenten versteckte der Dichter Alfred Kerr das Hohe Lied, das er hätte singen sollen. Dann aber machte er eine Distinktion, die mehr wert war
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als das ganze kraftlose Bildungs-Produkt seiner Freunde und ihrer Moral-Reverenz. Er brachte den Begriff des Geschmacks ins Spiel. Er bekannte, wie oft es ihn jucke, den ganzen Kurfürstendamm totzuschlagen; wie ihn diese Serien von Schlüpfrigkeiten anwiderten. Aber, fügte er hinzu, gegen die Brunners (auch auf Seiten der Verteidigung): diese Schlüpfrigkeiten sind »weit mehr Verstöße gegen den Geschmack als gegen die Moral«. Die Konsequenz dieser Unterscheidung ist enorm: von Stätten des schlechten Geschmacks kann man sich distanzieren, man kann sie kritisieren – man geht gegen sie nicht mit Stink-Bomben, Drohungen und Verleumdungen vor. Im Reiche des Geschmacks gibt es keine Entrüstung. Die Kategorie des Geschmacks sollte in Fragen des Obszönen eine viel größere Rolle spielen ... vor allem in Ablehnungen der Pornographie. Man würde diesem Kampf den KreuzzugsCharakter nehmen. Geschmacklosigkeit ist nicht unmoralisch; eher ein Vergehen auf einem Gebiet, das mit Worten wie plump, grob, primitiv, öde zu bezeichnen ist. Da droht keine Diktatur. Schlechter Geschmack ist heilbar; man kann dem Wahllosen vielleicht beibringen, was besser schmeckt. Die Sünde ist unheilbar, weil seit Adams Zeiten alle die außerordentlichste Lust suchen. Die billige Pornographie hingegen, die mit Schimpfreden nicht aus der Welt geschafft werden kann, weil sie zu tiefe Wurzeln hat, könnte kultiviert werden, wenn sich Dichter der Verfemten annähmen. Dann endlich wäre die Kluft zwischen ihr und der großen erotischen Literatur geschlossen. Es war den »Humanisten« nicht möglich, die Anstoßnehmer ernstlich zu besiegen. Man errang (wie die Verteidiger der »Bovary« vorher und der »Lady Chatterley« später) nur einen Schein-Sieg. Die Humanisten waren nicht human, als sie (im ahnungslosen Bunde mit den Comstocks und Brunners) das Sexuelle als Tierisches preisgaben, anstatt es rückhaltslos ins Menschliche einzubeziehen – auch dort, wo es nicht unter der Flagge Seele und Kunst versteckt werden kann.
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Schnitzlers »Humanisten« machten es sich ebenso leicht wie die ähnlich humanen Verächter des Anthony Comstock. Der Verteidiger des »Reigen« berichtete, in humanem Ärger: es seien Postkarten beschlagnahmt worden, welche die Amoretten am Schaperschen Goethe-Denkmal im Tiergarten abbildeten. Es seien Photographien von der Polizei konfisziert worden, die den Geigerschen »Bogenschützen« im Park von Sanssouci darstellten, dessen »männlicher Teil entsprechend der Größe und der imponierenden Kraft dieser Figur auch groß und auffallend ist«. Dagegen gäbe es nun einen sehr wirksamen Schutz: kunsthistorisch ausgebildete Polizisten für solche Fahndungs-Streifen. Wer aber schützt die Menschen vor dem unhumanen Albert Köster, o. ö. Professor der Universität Leipzig, der (als zweifelhaftester Zeuge der Verteidigung) ausrief: »Es ruht ein Fluch über der Fleischgemeinschaft, wenn nicht eine Seelengemeinschaft mit dazu kommt.« Tatsächlich ruhte ein Fluch sowohl über diesem Deutsch als auch über den lauteren oder leiseren Flüchen des erlauchten liberal-humanitären Gremiums. Daß sie sich mit den tölpelhaften Gegnern über ein Theater-Stück nicht einigen konnten, auch nicht über gesittete Manieren, verdeckte die tiefere Gemeinsamkeit. Die Republik ging auch daran zugrunde, daß sie keine Gegenwart hatte – im besten Fall nur eine Abwehr der schlimmen Vergangenheit, die nicht sterben wollte. Arthur Schnitzler, der all dies in die Welt gesetzt hatte, war nicht geladen worden und nicht erschienen und mischte sich nicht ein – ebensowenig wie vor ihm Flaubert und Baudelaire ... und wohl aus denselben Gründen. Sie gestalteten, was ihnen vorschwebte; die Kunst-Beflissenen sentimentalisierten diesen Vorgang mit Wendungen wie Sich-von-derSeele-schreiben. Aber wie immer man das Bedürfnis: NichtErlaubtes zu benennen mit nichterlaubten Worten ... deuten mag, die Poeten hatten getan, was sie mußten, und nicht die geringste Neigung zur Selbst-Verteidigung. Schnitzler hätte viel zu tun gehabt, wenn er sich in alle Ver-
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böte und Skandale eingemischt hätte. »Märchen« (1891) wurde untersagt – und hatte dann seinen Skandal. »Freiwild« (1896) wurde in Prag verboten; in Wien war es »nicht gewünscht«. Der »Grüne Kakadu« (1898) wurde auf Wunsch einer Erzherzogin nach der dritten Aufführung abgesetzt. »Leutnant Gustl« (1900) trug ihm die Aberkennung seiner Oberarzt-Charge ein. »ProfessorBernardi« (1912) wurde verboten. Aber allein »Reigen« erschreckte auch noch Amerika. Der Dichter war von Beginn an gegen eine Aufführung gewesen. Die Nieder-Schrift lag zur Zeit des Prozesses sechsundzwanzig Jahre zurück. Damals, im ersten Jahrzehnt der Regierung Wilhelms II., hatte er für Freunde zwanzig Exemplare drucken lassen – mit der versteckten Bitte, den Druck für sich zu behalten: »Da Dummheit und böser Wille immer in der Nähe sind, füge ich den Wunsch hinzu, daß meine Freunde das Buch als bescheidenes Geschenk für sich ansehen.« Es wurde dann in mehr Exemplaren gedruckt, im Sommer 1923 erschien das hundertste Tausend. Nach anfänglichen Teil-Aufführungen in Vereinen und Kabaretts ging es jetzt über viele Bühnen. Schnitzler, der eine Theater-Inszenierung abgelehnt hatte, ließ sich gegen besseres Wissen umstimmen – und behielt recht gegen sich; die Berliner »Reigen-Aufführung erzeugte zweierlei: Sensation – und Langeweile. Man hatte sich auf ein Wagnis eingelassen, das man – nicht wagte. Die Herren vom Gericht konnten ohne viel Mühe die Theater-Leute freisprechen; sie waren streng geprüft worden und gingen als die Bravsten der Braven aus dem Examen hervor. Einundvierzig Seiten konnten zitiert werden, auf denen der Text – gereinigt worden war. Zwar hatten einige Unentwegte Halluzinationen gehabt: der eine Schauspieler soll am Hosenschlitz herumgefummelt, ein Anderer »perverse Beinumschlingungen« vorgenommen, ein Mädchen »einen Druckknopf in Ordnung gebracht« haben.
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Aber selbst Anstoßnehmer priesen immer wieder die Zurückhaltung der Darstellung; und die Humanisten, obwohl auf Dezenz erpicht, klagten ganz unlogisch (aber umso beweglicher) über das große Gähnen, das von der Bühne ausging. Ein Mechaniker, einer der raren vorurteilslos Amusischen, gab sein Votum so ab: es hat mir nicht gefallen, ich habe keinen Anstoß genommen, es war langweilig. Und ein anderer Zuschauer über den Parteien versicherte: »Wenn ich gewußt hätte, daß weiter nichts drin ist, hätte ich die vierzig Mark nicht ausgegeben. Dafür hätte ich mir die Sache selbst leisten können.« Es war das klügste Urteil, das einer fällen konnte, der für das, was Schnitzler zu geben hatte, nicht empfänglich war. Die andern ebenso Unempfänglichen ersetzen die sexuelle Erregung, die erwartet, aber nicht angekommen war, durch eine politisch-moralische eigener Provenienz. Nur ein greiser, lieber dreiundsiebzigjähriger Theaterkritiker, eine Mischung aus Moses und Weihnachtsmann, der Professor Alfred Klaar, blieb konsequent – und für die Langeweile. Und förderte eine nagelneue ästhetische Theorie zutage: Zwang, Totschlag, sogar Mord auf der Bühne werde immer noch begleitet von dem Gefühl: es ist nur eine Illusion. Eine unanständige Gebärde aber sei in nackter Realität da, wenn sie ausgespielt wird. Hier allein sei Sein und Schein nicht getrennt. Diese Philosophie der Theater-Kunst hat keinen Sinn; und ist sehr sinnvoll in ihrer Sinnlosigkeit. Nicht vor Mord und nicht vor Gewalt fürchten auch Humanisten sich so sehr als vor dem Sexus. Was ihn verrät, kann in die Schein-Realität nicht eingehen, so gewaltig ist er. Bei keinem anderen Punkt der Anklage aber kam so trefflich heraus, daß sie ahnungslos am selben Strang zogen, die einen und die andern: wie vor dem Verbrechen der sechs Sekunden währenden Begleit-Musik zu den Gedankenstrichen. Bisweilen schien es, als sei sie die Hauptschuldige. Die Ankläger klagten: weichlich, prickelnd, anstößig. Die Verteidiger entschuldigten sich: die Musik führt leise darüber hinweg – ja, sie verhindere eine nüchterne Ausmalung und trockene
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Vorstellung. Herr von Bradtke meinte: in dieser Situation spricht der Walzertakt »Bände« (M. Pinard drückte ihm aus dem Grabe heraus die Hand). Allerdings, flüsterte der Staatsanwaltsrat von 1921 (a part), würde an solcher Stelle auch ein Stück aus der Klavierschule unzüchtig sein. Der Komponist, der Schauspieler Forster-Larrinaga, verteidigte sich: dieser Walzer ist früher von Lola Herdmenge, der keuschesten aller Tänzerinnen Deutschlands, getanzt worden. Anklage: in der Liebe erklingen die himmlischen Choräle ... vielleicht hätte eine Sechs-Sekunden-Choral-Melodie den Anstoßnehmer beruhigt. Zur Verteidigung: erzählte der Konservatoriums-Direktor eine Anekdote. Franz Liszt habe sich einmal den Spaß gemacht, dasselbe Stück unter fünf verschiedenen Titeln an fünf verschiedene sachkundige Beurteiler zu senden; und war sehr belustigt, zu hören, daß jeder hervorhob, wie sehr das Stück zu dem Titel passe. Die Moral von der Anekdot': man hätte eh aus jeder Note die Gedankenstriche herausgehört. Anklage: der Rhythmus gibt in unverkennbarer Klarheit die Bewegungen des Beischlaf-Akts wieder. Verteidigung: dieser Rhythmus ist verschieden nach Alter, Temperament, Erfahrung und gegenseitiger Anpassung. Höchster Triumph der Defensive: man hat auch Richard Wagners »Tannhäuser«, »Walküre« und »Tristan« »Bordell-Musik« genannt... So ging es hin und her. Und nicht einer der Leute um Schnitzler, um Rechtsanwalt Heine, um den edlen Geist der Weimarer Republik sprach schlicht die kleine Wahrheit aus: der Valse melancholique, in seinem leisen Dahingleiten, lenkt keineswegs ab, sondern gibt recht angemessen Schnitzlers resignierten Kommentar zu den schnellen Aufregungen der sechs Sekunden. Es endete gut für alle Beteiligten. Sie wurden freigesprochen. Schnitzler wurde rehabilitiert. Ihm wurde künstlerische Absicht bescheinigt. »Künstlerisch ist Absicht dann«, kommentierte einmal der Strafrechtslehrer Frank, »wenn der geschlechtliche Reiz nur als Mittel zu künstlerischen Zwecken
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erweckt werden soll.« Wie also jener Reiz durch die Jahrhunderte als Anlaß zur Produktion neuer Produzierer akzeptiert wurde, so erhielt er nun seinen Segen auch noch von der Ästhetik: als Mittel zu künstlerischen Zwecken. Aber so verständlich die biologische Rechtfertigung ist, so unverständlich ist die ästhetische. Kinder sind nur auf jenem Wege zu haben, Kunst kann auch auf gefahrlosere Weise hergestellt werden. Auch ist schwer vorstellbar, wie ein Zuschauer durch geschlechtliche Reizung in einen künstlerischen Zustand versetzt werden soll. Gemeint ist wohl, daß geschlechtliche Reizung schlecht ist – aber immerhin noch entschuldbar, wenn die aufgewandten Darstellungs-Mittel der Art sind, daß sie dem Leser oder Zuschauer den Appetit nehmen. Das brauchten aber nicht gerade künstlerische Mittel zu sein. Moralische sind auf jeden Fall zuverlässiger; deshalb forderten die Pinards und Brunners mit Recht, daß ein Repräsentant ihrer Moral innerhalb des Werks deutlich mache, was nicht so deutlich gemacht werden kann durch künstlerische Mittel. Sie haben dreimal recht gegen die Kunst-Enthusiasten, die Geschlechtliches mit Hilfe der Kunst unwirksam machen wollen. Und noch besser als die Forderung aller Ankläger wäre das strikte Verbot, Geschlechtliches darzustellen – auch nicht mit moralischem oder ästhetischem Keuschheits-Gürtel versehen. Es ist die einzige echte Gegen-Position gegen die Freigabe: ohne irgendeine Freiheits-Beschränkung. Das Urteil im »Reigen«-Prozeß zeigte dasselbe Muster wie das »Bovary«-Ende (und es werden ähnliche Urteile folgen). Derselbe Verbrecher hat die Zeche zu zahlen: Monsieur Obscene, Herr Obszön, Mr. Obscene. Dem Dichter wurde bescheinigt, daß er nichts mit ihm zu tun habe. Und alle, die beteiligt waren, konnten sich dieser Ehren-Erklärung mit-erfreuen. Bei dieser Gelegenheit wurde auch der Hakenkreuzler und ihrer Alten Herren, die es noch nicht soweit gebracht hatten, freundlich und respektvoll gedacht. Besonders betont wurde, daß schließlich Schnitzler nichts an-
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deres getan habe als der National-Held Richard Wagner. Sprach das Gericht: »In Wagners ›Walküre‹ zielt die ganze Handlung auf eine geschlechtliche Beiwohnung hin.« Und ein deutscher Richter unterschied im Jahre 1921 noch nicht zwischen arisch und semitisch dargestellter »Beiwohnung«. Es gehören aber diese Triumphe zur Klasse jener Siege, die Niederlagen sind. Man befreite ein obszönes Werk mit Argumenten, welche die alte moral-sexuelle Vorstellungswelt nur noch solider etablierte. Schnitzler besiegelte dies Schicksal, indem er »Reigen« nicht in die Gesamt-Ausgabe seiner Schriften aufnahm; und, wie gesagt, jede Aufführung testamentarisch untersagte. In denselben Zwanzigern, fünf Jahre später, begann der englische Dichter D. H. Lawrence einen Roman, dessen Echo die offizielle, europäisch - amerikanisch aggressive, philosophtheologisch solide unterkellerte Zimperlichkeit in Eroticis deutlicher machte als irgendein anderes Ereignis des Zwanzigsten Jahrhunderts.
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London 1960 D. H. Lawrence oder purissimus penis (Kaiser Augustus über Horaz)
Aus einer Strafanzeige gegen den deutschen Verleger der »Lady Chatterley« gemäß S 184 des Strafgesetzbuchs.
»Lady Chatterley« ist unzüchtig, weil sie geeignet ist, das Scham- und Sittlichkeitsgefühl unbefangener Leser gröblich zu verletzen. Die Schrift kann nicht als Kunstwerk angesehen werden, weil ein wahres Kunstwerk Freude an der Schönheit schafft, die vorliegende Schrift jedoch nur geeignet ist, geschlechtliche Lüsternheit, Widerwillen oder Abscheu zu erregen. Der Volkswartbund, Sitz Köln, bischöfliche Arbeitsstelle für Fragen der Volkssittlichkeit. Der Volkswartbund, gegründet 1898, hieß zuvor »Verein für Bekämpfung öffentlicher Unsittlichkeit«.
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Die Sensation war groß – wenn auch nicht so sensationell wie das, was nicht zur Sprache kam. Das unendliche Gespräch über Unzüchtiges in Benehmen, Wort und Bild hat es nie weiter gebracht als bis zu einem ewigen, hoffnungslos festgefahrenen Entweder-Oder; es sind die herrschenden Alternativen, in denen die Phantasielosigkeit eines Jahrzehnts, Jahrhunderts, Jahrtausends erscheint. Entweder: die Körper-Örtchen, die am verhülltesten sind, sollen im Dunkel bleiben ... und schon das Denken an sie ist zuviel Licht und wird mit der Wendung »unsaubere Gedanken« gebrandmarkt. So wollen es die Einen. Die Andern propagieren den Bikini: aus Gründen der geistlichen, geistigen oder ganz ordinären Gesundheit, im Verfolg eines neu-heidnischen (weder neuen noch heidnischen) Nackt-Kults; er hat weniger mit Pan zu tun als mit Sonne-im-Herzen und Sonneauf-der-Haut, wegen der Kalorien, welche die Strahlen des Mutter-Gestirns zu spenden haben. Diese Andern, die sich stolz modern nennen, behaupten auch, daß ein anständiger Mensch (und erst recht ein anerkannter Dichter) keine unanständigen Gedanken haben kann. So streiten sich die metaphysischen Nudisten mit den bekleideteren Züchtigen über ein paar Pfund Unterwäsche pro Person; und ganz wird verdeckt, daß beide, in unschöner Harmonie, die Lust verleugnen, die an den geheimsten Residenzen des Leibes lokalisiert und konzentriert ist. Unter den vielen Verteidigern, die für den großen Bekenner D. H. Lawrence vom zwanzigsten bis zum fünfundzwanzigsten Oktober 1960 vor einem Londoner Schwurgericht in
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die Schranke traten, war nicht einer, der aussprach: daß die gesteigertste und differenzierteste sexuelle Lust im Mittelpunkt der Verkündung des Roman-Traktats »Lady Chatterley's Lover« blüht. So war das Aufsehen erregende, höchst weitschweifige Rede-Tournier im Gerichts-Saal weniger als ein Hauch. Und dennoch war es undankbar von der New York Times und mancher anderen Herbstzeitlosen neben ihr, nach dem letzten Vorhang der glänzenden Theater-Woche blasiert mitzuteilen: nun aber genug von dieser langweiligen Geschichte. Sie war kurzweiliger als alles, was über sie geschrieben wurde. War man auch an der Oberfläche geblieben: hie Sitte und Anstand bewahrende Konservative, hie Sitte und Anstand bewahrende Fortschrittler – das sechstägige Spektakel war ungewöhnlich unterhaltend. Vielleicht war es das eindrucksvollste Schau-Stück des ganzen Jahrhunderts: der »Bovary«und der »Reigen«-Prozeß und Anthony Comstock noch einmal, mächtiger orchestriert, vor einem weltweiten Publikum ... und zugleich in demselben engen Pferch. Es gibt zwei Arten von Sensationen. Die eine: viel Lärm um nichts; die andere: wo sich Rauch zeigt, da ist auch ein Feuer. Der Qualm von einem (nicht aufgedeckten) Feuer lag in dicken Schwaden eine Woche lang über der Stadt London und dem Rest der Welt. Manch fette Überschrift, ein Zirkus außer Rand und Band, lärmte: (ganz dick) »Mädchen von Zehn kennen die unanständigen Worte in der ›Lady C‹«; (kleiner, aber auch fett): »Wie Jungens Sex diskutieren«. Ganz dick: »Ja, Christen sollen es lesen!«; kleiner, aber auch dick: »Impotenz«. Unter dem Blick-Fänger »Ohne Wert« – ein Zitat von Rebecca West: »Da gibt es Stellen, die überhaupt keinen literarischen Wert haben – aber dasselbe gilt für Shakespeare und Wordsworth.« Auffallend: »Dies Buch ist geeignet für jedes Mädchen über Siebzehn«; weniger auffallend, doch ganz munter: »Kitzel«. Das war der nicht nur zum Husten anreizende Rauch. Das Feuer aber wurde selbst in den grellsten Schlagzeilen
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nicht sichtbar, weil alle Beteiligten soviel Wasser draufgossen, daß man vor Qualm kaum sehen konnte. Dennoch: zieht man auch nur in Betracht, wie laut geschwiegen wurde, so war es doch ein sehr origineller Lärm. Einer der berühmtesten, gelesensten, übersetztesten englischen Dichter, D. H. Lawrence, wird 1960 vom englischen Staat der Pornographie bezichtigt. Der Mann ist dreißig Jahre tot. Das inkriminierte Buch ist dreiunddreißig Jahre alt. Es ist überall in der Welt erschienen (im Jahr zuvor sogar im Lande Anthony Comstocks): in England nur – von allem »Schmutz« gesäubert, wobei, wie es zu gehen pflegt, die edelsten Teile weggereinigt worden waren. Und selbst dies Präparat für die unreifere Jugend und das unreifere Alter kam vor einem Jahrzehnt, zwanzigjährig, also etwas verspätet, vor den Richter. Er entschied: »Absoluter Schund, aber nicht so obszön, daß es deswegen verboten werden müßte.« Nun stand das Ganze, auch das herausoperierte Obszöne vor Gericht. Von dem englischen Klassiker, der es produziert hatte, gab es zweiundzwanzig Bücher, über welche achthundert Arbeiten veröffentlicht worden waren. Er wird von Kennern der englischen Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts als einer der sechs größten Schriftsteller des Landes, ja Europas gepriesen. E. M. Forster charakterisiert ihn als den Phantasie-reichsten Dichter der Generation, die zur Zeit in den Siebzigern ist. Und dieser Mann ist der einzige englische Autor seines Ranges, von dem ein Werk nicht gedruckt werden darf. Er hatte, 1928, Ungewöhnliches unternommen: etwas ohne Parallele in der Geschichte der modernen Literatur. Mancher Angesehene vor ihm hatte sich auf dem Feld versucht, das Pornographie genannt zu werden pflegt: im England des Achtzehnten Jahrhunderts ein hoher Beamter des Civil service, in Frankreich Alfred de Musset, in Österreich die große Sängerin Schröder-Devrient. Die Liste ist lang und wäre wohl viel länger, wenn man wüßte, was Witwen, Schwestern und Töchter nach dem Tode des erlauchten Pornographen aus
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der Welt geschafft haben; auch was bis in die Ewigkeit versiegelt ruht. Und nur die Gelehrten wissen, was in irgendeinem Appendix bescheidener als ein Veilchen blüht. Lawrence aber veröffentlichte unter seinem Namen, was (nach allgemeiner Vorstellung) unpublizierbar ist; und nie in dieser Anschaulichkeit, nie mit diesem Enthusiasmus aller Welt ins Gesicht geschildert wurde. Selbst bei den Alten, selbst im Sechzehnten Jahrhundert wurde das Verschwiegene nie so realistisch-sehnsüchtig ins Licht gestellt. Dazu kam das Unanständigste: Lawrence produzierte nicht ein Stück isolierter »Schweinerei«, sondern verwob das Tabuierte in das Gewebe eines breiten Romans, dessen Charakter zur Gattung »Pornographie«, unter die er subsumiert werden mußte, nicht paßt. Kurz: er schuf eine poetisch-philosophische Cochonnerie und etablierte damit das gehaßte Genre auf höchstem Niveau. Die Handlung des Romans »Lady Chatterley« kann in jedem konservativen Mädchen-Pensionat erzählt werden, wenn man das Entscheidende ausläßt; es liegt in den »Stellen«, die der Staatsanwalt mit Recht ins volle Licht stellte und ohne Recht verwarf. Wie Madame Bovary, wie Anna Karenina wird die frustrierte Titel-Heldin ehebrüchig. Übrigens ist es der bescheidenste Ehebruch. Mr. Chatterley ist aus dem ersten Weltkrieg zerfetzt zurückgekommen, gelähmt von den Hüften abwärts. Er war 29, sie 23. Es gibt auch verschärfende Umstände. Blickt man auf Flauberts Roman zurück: er ist realistisch nur in Bezug auf das gesellschaftliche Milieu und die Stimmungen der Sünderin; nicht in Bezug auf die Urlaute und die Technik der Brünstigen. Das Sinnen-Glück der Emma bricht gerade wie ein Sonnenstrahl durch, dem nur der Bruchteil einer Sekunde gegönnt ist. Während Lawrence sich ausgibt in Hymnen auf jene Lust, die in der Literatur meist besungen worden ist, als sei sie eine Sublimation, deren kräftigerer Ursprung nur
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austirilliert werden darf. Es gab also mit gutem Grund um den Bocks-Gesang des Ladyschen Waldhüters ein dreißig Jahre dauerndes Getöse; das kam zu seinem Höhepunkt im Londoner Prozeß, zu seinem glänzend illuminierten Tiefpunkt. Jene Londoner Oktober-Woche war der originellste Lärmum-nichts des Jahrhunderts. Da gab es einen Vorsitzenden, auch Richter genannt, auch »My Lord«; er war zu gleicher Zeit sehr korrekt und eine Art von zweitem (kaschiertem) Ankläger. Da gab es einen Staatsanwalt, der nannte den Verteidiger »Mein gelehrter Freund« und wurde von seinem Gegner ebenso tituliert. Man unterhielt sich sehr fachlich und sehr Gentleman-like über Paragraph Vier, Sektion Zwei – und dann platzten, innerhalb dieser hoch-stilisierten Kulissen, die ordinärsten Sätze und Worte; es war, als ob in einer Szene von »Alt-Heidelberg« ein echter Staats-Chef erschiene und mitteilte, die Mächte überschütteten einander mit AtomBomben. Alles war korrekt und höflich und gutes Benehmen – und was gibt es Erden-ferneres, Staub-freieres als die Statistik? Statistisch-seriös wurde mitgeteilt: das Wort »fuck« oder »fucking« komme dreißigmal vor und vierzehnmal das Wort »cunt«, das in der sentimentalen Pornographie eines vergangenen deutschen Jahrhunderts gern als »Wollustgrotte« bedichtet wurde. Weiter in der Statistik: das Wort »Hoden« (und weniger Feines) – dreizehnmal, »Scheiße« und »Arsch« je sechsmal, viermal »Schwanz«, »Pissen« dreimal. Als Corpus delicti bezeichnete man vor allem die dreizehn »Nummern«; der Staatsanwalt gebrauchte für sie den Ausdruck »bouts«. Er glaubte mit diesem Jargon die Vorgänge zu deklassieren und konnte sich von diesem ordinären Einsilber nicht trennen. Die saftigsten Stücke des Bratens wurden auf dem Tisch des Hauses deponiert. In solcher Konzentrierung wurde der haut-goût penetrant. Und es folgte die unvergeßlichste Sensation: fünfunddreißig führende Geistliche, Künstler, Gelehrte, Lehrer, Kritiker, Ver-
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leger marschierten auf – und rümpften nicht vor Ekel die Nase, sondern bezeugten, wie gut das alles riecht. Sie waren sehr bekannt, sehr angesehen, sehr gebildet; von einem erfuhr man, daß er zweihundert Bücher pro Jahr liest. Vergeblich nahm der Staatsanwalt diesen und jenen beim Wickel und tauchte sein Riech-Organ tief hinein in das, was dem Ankläger Morast zu sein schien. Aber unbewegt, kühl bis ans Herz, bezeugten Mr. and Mrs. Zeuge: poetisch-moralischer Ozon! Fünfunddreißig ebenso Bereite waren noch in Reserve. Sie kamen nicht mehr ins Feuer, das eher ein Feuerwerk war. Das interessanteste und amüsanteste! Und wer lernen wollte, fand hier die Lektion seines Lebens: mit welchem Aufwand von Argumenten der Einzelne, jeder auf seine Weise, versuchte, das Gepfefferte dem keuschen Gaumen der Zeitgenossen mundgerecht zu machen. Darin lag der untergründige Reiz dieser stürmischen Stagnation. Der unbekannte, bewundernswerte Regisseur, der dies alles geschaffen hatte, sprudelte nur so von genialen Einfallen. Einer der apartesten war: der Angeklagte saß nicht auf dem Arme-Sünder-Bänkchen; es blieb leer. Wer dort hätte sitzen müssen, war aufgenommen im Kreis der Honoratioren und wurde mit Lobreden überschüttet. Anklage und Verteidigung und auch der Beklagte selbst waren eins: er sei ein Ehrenmann. Dieser Geehrte war eine ganze Firma: hochangesehen und erfolgreich. Sie hatten auf ihrem Konto einen Katalog von 3 500 Nummern und 250 Millionen verkauften Exemplaren. Die Zahl wurde zweimal genannt, auf daß sie sich einpräge; sie manifestierte den Segen, der auf diesem Hause lag. Auch wurde mitgeteilt, daß der anwesende Gründer geadelt worden war; damals wußte man allerdings noch nicht, daß in einer seiner kommenden Publikationen dreizehn bouts erscheinen werden. Und es mag sein (das war zu Beginn eine sehr mögliche Möglichkeit), daß er trotz aller Ehrungen die 200 000 schon ausgedruckten Exemplare einstampfen, eine unbegrenzt hohe Geldstrafe zahlen oder gar drei Jahre ins
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Kittchen wandern muß. Im übrigen aber war nur das Beste von ihm und seinem Unternehmen zu sagen. Ist dem Stück-Schreiber Shaw oder einem andern großen Spaßmacher des Jahrhunderts je soviel eingefallen? Die beiden gelehrten Freunde, der Staatsanwalt und der Verteidiger, hatten wegen ein paar Seiten eines Buchs voll mobilisiert – in dem unnötigsten aller Kriege. Tatsächlich trennte sie nichts ... außer dieser und jener Abschnitt eines Romans. Es war die gleiche Respektabilität, die beide bekannten. Sie waren in Harmonie auch darin, daß sie beide in gleicher Weise sich blamierten. Mr. Griffith-Jones, Vertreter des Staats, von den Nürnberger Prozessen her bekannt, ein Veteran mancher ObszönitätsSchlacht, war bemitleidenswert. Als fesselte man Hamlet vor seinem Gefecht mit Laertes! Mr. Griffith-Jones konnte sich kaum rühren, so sehr engte ihn das Obszönitäts-Gesetz ein, das zwei Jahre zuvor herausgekommen war. Es verfügte: selbst wenn die Geschworenen zu dem Resultat kommen, die Lady und Freund Waldhüter benehmen sich in Haltung und Sprache obszön – selbst dann kann ein Freispruch erfolgen, falls das beschmutzte Werk literarische oder wissenschaftliche oder irgendwelche anderen Qualitäten hat, die eine Veröffentlichung rechtfertigen. Der Prozeß, der beliebig auf das ästhetische, wissenschaftlich-soziologische, pädagogische Gebiet hinübergespielt werden konnte, war entschieden, bevor er noch begonnen hatte; denn die »Lady« und ihr Autor wurden an einigen hundert Universitäten der englischen und nicht-englischen Welt studiert, seziert, eingeschätzt und geschätzt... selbst der Kläger konnte nicht umhin, gleich zu Beginn eine tiefe Verbeugung vor diesem entsetzlichen Autor zu machen. Dann allerdings ließ er alle Minen springen, um ihn herabzusetzen. Er stand auf verlorenem Posten und sang sich ein AmmenLied aus längst vergangenen Zeiten. Er hatte es in der Rede
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eines Richters gefunden, der es in einem früheren Prozeß gedichtet hatte. Das Kind, Junge oder Mädchen, reife heran, im Stande »gesegneter Ahnungslosigkeit«. Es betritt einen dunklen Kontinent, ohne Landkarte und Kompaß. Haben da nicht Eltern und Lehrer aufzupassen, daß nichts Schlimmes in dies Köpfchen gerät, damit Jüngling und Jungfrau ihre Bestimmung erreichen: »ein ausbalanciertes individuelles Dasein« ? Man ließ den verlorenen Griffith-Jones, der so Erbauliches vortrug, um die Welt gläubiger Urgroßväter herbeizuzaubern, im Stich. Niemand klärte ihn auf. Er beschwerte sich, daß man sich über die Anklage lustig mache; schlimmer war, daß ihm niemand die Augen öffnete. Man hätte ihn aus dem blauen Dunst der Familien-Romane in die zweite Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts herabholen sollen. Man hätte ihm mitteilen müssen: daß inzwischen Sigmund Freud gelebt und die Fabel von der »gesegneten Ahnungslosigkeit« der frühen Jahre zerstört hat. Man hätte ihn informieren sollen, daß nicht nur die Heranwachsenden, auch die Erwachsenen ohne Landkarte und Kompaß über die Erde wandeln, nachdem sich die Richtungs-Zeichen von Jahrhunderten als KinderSpiel erwiesen haben. Man hätte ihn belehren sollen, daß dieses »ausbalancierte individuelle Dasein« ein Ideal der GoetheZeit war, im besten Falle eine seltene Fast-Wirklichkeit; daß aber die Kultur der großen Zahl in den Tagen des Mr. GriffithJones das »ausbalancierte Individuum« aus der Balance gebracht hatte; daß der eine Gott, die eine Theologie, die monotheistische Metaphysik, die monolithische Moral und das unteilbare Individuum in viele Splitter gegangen war. Wenn schon die Blüte Englands den Mr. Griffith-Jones eine Woche lang in Anspruch nimmt, hätte sie ihn wenigstens aufklären können, daß er mit einer vorsintflutlichen Psychologie arbeitet. So meinte der juristische Gelegenheits-Psychologe: es sei die Natur der Lady, pathologisch sexuell und ehebrecherisch zu sein. Als ob diese Natur ihre Babys mit solchen Eigenschaften bestückt. Lawrence hatte doch glasklar gezeigt, wie dies individuelle Schicksal entstanden war.
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Der Anwalt des Staats hielt markig eine Fahne hoch, um die sich viele Seufzer im Lande scharten; Seufzer lassen immer das Irdische weit unter sich. Und er stürmte vor, mit der Beschwörung: »Meine Herren Geschworenen! Es muß Maßstäbe geben! Sie müssen in frühester Jugend den Kleinen eingerammt werden!« Wie aber,wenn dieGesellschaften desZwanzigsten Jahrhunderts nur noch Maßstäbe haben, an die niemand glaubt – die zum Schein noch verkündet werden, weil man sich einredet, daß das Chaos einbricht, wenn der Schein aufgegeben wird? Der Staatsanwalt und der Richter wollten »Maßstäbe«, wie ihre Vorfahren den Stein der Weisen. Es gibt wirklich noch Maßstäbe: der National-Sozialismus hat sie mit Feuer und Schwert zur Geltung gebracht; und jetzt tut dasselbe ein Land, das zwar nicht kommunistisch ist – dies aber durch Terror ausgleicht. Wer Maßstäbe haben will, kann sie heute nur so haben: mit Gewalt auferlegt. Wie aber wäre es, wenn man auf nicht-mehr-geglaubte und nichtmehr-befolgte Moralen verzichtete, und sich dann bescheiden ansähe, was trotzdem noch an haltbarer Tradition übrigbleibt? Zum dekorativen Schein gehört auch das Obszöne, das sich als nicht-existent erweisen würde, wenn man einmal die Vokabel aus dem Vokabular striche. Aber niemand sprach zum Staatsanwalt wie zu einem Erwachsenen. Was er von den feinsten Persönlichkeiten zu hören bekam, war baby talk. So wurde der Mann eine tragikomische Figur. Im Unrecht, widerfuhr ihm viel Unrecht. Die Philosophie, in der die Anklage auf Obszön verankert ist, wurde mit vereinten Kräften aufgebaut. »My Lord« half. Auch er war bekümmert: die »Lady« sei besonders gefährlich in unseren Tagen, in denen die Moral auf ein solches Tief gesunken sei. Man hätte ihn instruieren sollen, daß derselbe Tiefpunkt, den er London 1960 beklagte, bereits in Berlin 1921 beklagt worden war, im »Reigen«-Prozeß; und seit hundert Jahren beklagt wird von den Marxisten, da erst im Kapitalismus die Ausbeutung ihren Gipfel erreicht habe,
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den Gipfel des Tiefs. 1805 hatte Fichte für seine Jahre dasselbe Tief in Anspruch genommen, unter der Überschrift »Das Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit«. Und schon die jüdischen Propheten rauften sich die Haare: weiter bergab geht's nicht mehr. Es ging nie weiter bergab. Alle Epochen hielten sich wohl so ziemlich auf der gleichen Ebene zwischen Himmel und Hölle. Der Superlativ-Tiefpunkt kam den Jeremiassen gewiß auch aus bekümmerten Herzen: weil aus der Menschen-Gesellschaft kein Paradies zu machen ist. Vor allem aber ist dieser fürchterliche Superlativ eine Art von Schreck-Schuß: zum Beispiel, um die »Lady« nicht in die Salons zu lassen – wo sie, wie es im Prozeß hieß, in die Hände der Frau des Hauses und der Dienerschaft fallen könnte. England ist schließlich noch einigermaßen intakt. Weshalb aber das unromantische Britannien sich 1960 auf die Donquichoterie eines solchen Monstre-Prozesses einließ, ist nur zu vermuten. Die Engländer haben, seit Puritans Zeiten, das Renommee, wacker in die Schlacht zu ziehen gegen alle Versuche, den Rock ungeniert abzulegen oder die Unterhosen zu erwähnen. Sie haben in dieser Spezialität sich einen großen Namen gemacht in der Welt. Das Victorianische vor, während und nach Victoria war immer noch kräftig am Leben, als die Prinzessin Margaret ihren (geschiedenen) Herzensfreund nicht heiraten durfte; und sang mitnichten seinen Schwanengesang in diesem Prozeß ... eher seine NationalHymne. Man leistete es sich, ihn zu verlieren; man konnte es sich nicht leisten, die »Lady« ohne Protest zuzulassen. Der Vertreter des Staates stand im Zwielicht und wurde nicht erkannt. Der zwielichtigste, hinreißendste Satz war seine Ermahnung an die Geschworenen: nicht engherzig victorianisch zu sein; er wollte sie weitherzig victorianisch. Er führte kein Rückzugs-Gefecht; denn von Gefecht konnte gar keine Rede sein. Er war bestellt, dem Gang der Dinge zu trotzen. Er erkannte Kinsey und alle seine Feststellungen nicht an. Und auch die Nicht-Anerkennung von Fakten ist ein Faktum ... und kein unbedeutendes, wie sich nach dem Prozeß zeigte.
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Ein vertrautes Muster im Streit der Parteien wurde sichtbar. Die einen versteiften sich auf die These: zweimal zwei ist Drei, die andern: ist Fünf. Sie hatten beide unrecht – und recht nur in der Behauptung, daß der Andere unrecht hat. Mr. Griffith-Jones, der anklagende Staat, und Mr. Byrne, der Richter, sahen in dem Roman, gegen den sie vorgingen, einen Herd moralischer Korruption und übersahen das geradezu humorlose Pathos des Erlösers Lawrence. M. Gardiner hingegen, der Anwalt der Lady, und die Seinen plakatierten die Sexual-Mystik des Poeten so grell, daß die Lust, die in einigen Kapiteln gefeiert wurde wie nie zuvor, zu kosmischer Liebe wegsublimiert war. Der Staatsanwalt verlor den Prozeß ganz sichtbar; der Verteidiger so leise, daß man es nicht merkte. Aber allein seine Niederlage garantiert, daß die Geschichte der Entrüstung eine Zukunft haben wird. Die Parteien tauschten miteinander Lufthiebe aus. Mr. Griffith-Jones gab sich enorme Blößen; stand aber nie ganz nackt da, weil die Ungeschicklichkeiten seiner siebenunddreißig Gegner sie verdeckten. Wie konnte der Ankläger sagen: der Roman fordere zur Promiskuität auf? Zwar war diese Beschuldigung ganz geeignet, die Geschworenen aufzuhetzen; denn selbst Anarchisten schrecken vor der Sexual-Anarchie zurück. Aber so hatte nun der Gegner das große Vergnügen, die These von der Promiskuität noch und noch zu blamieren. Immer wieder wurde ein Zeuge aufgerufen, um zu Protokoll zu geben: das staatliche Märchen ist albern und peinlich. Dann wiederum halfen die unsicheren Verteidiger dem Ankläger, indem sie sich auf einen Holzweg locken ließen und sich abstrampelten mit Bitten: er möge doch diese ungesetzlichen bouts etwas freundlicher ansehen. Weil sonst Neunzehntel aller Romane verboten werden müßten! Weil der Dichter doch nur gegen Mißstände seiner Zeit anging ... nicht gegen die Institution Ehe! Weil die Lady bei diesen unehelichen Aktivitäten an Persönlichkeit gewänne! Weil die beiden Sünder doch heiraten wollten! Und eine Dame sagte schlankweg: dieser Romancier glaube an die Ehe – wenn
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auch nicht »im juristischen Sinne des Wortes«. Worauf der Richter, höhnisch, sich nach dem nicht-juristischen Sinn des Wortes erkundigte. Auch fragte er, eine kleine Beigabe: rannte Lawrence nicht mit der Frau seines Freundes, Mutter von drei Kindern, auf und davon? Der Verteidiger hätte antworten sollen: was geht Sie das an? Haben wir es nicht lediglich mit dem Buch zu tun, wie Sie selbst uns belehrten? Aber von allen möglichen Antworten fanden beide Seiten immer die kraftlosesten. So erwiderte Mr. Gardiner nur, entschuldigend: aber bei dieser Frau blieb Lawrence, bis zu seinem Ende ... Er war, gewissermaßen, ein monogamer Ehebrecher. Sollen die Geschworenen folgern: ehebrechen ist in Ordnung, wenn man es bei einem einzigen Seitensprung bewenden läßt – und dann heiratet? Ja, soweit ging der Verteidiger in seinen Konzessionen an die Moral-Philosophie des Gegners, daß er (wenn auch nur durch ein Zitat) das Paar, das er verteidigen sollte, für sündig erklärte. Er zitierte den Heiligen Augustinus: »Der Mensch ist sündig; ein Buch über Menschen, die nicht sündigen, wäre ein Widerspruch in sich selbst.« Und Scharen von Lawrencianern kamen dem sündigen Meister und seinem sündigen Paar mit Feigenblättern zu Hilfe. Unter ihnen Rebecca West. Sie erklärte das Ganze für eine »Allegorie«. Deutsche Nonnen des Dreizehnten Jahrhunderts hatten früher schon Ähnliches wie diese Dichterin praktiziert und aus dem Hohen Lied eine Allegorie gemacht, in welcher Christus als Bräutigam figurierte und die Kirche als seine Braut. Die Dame West blieb in einer alten Tradition, zwecks Aufwertung des Unanständigen. So wurden Staatsanwalt und Richter nie besiegt, weil man ihnen nie frontal entgegenzutreten wagte, mit dem schlichten Wort: Lawrence, was immer sonst er noch philosophiert, besingt die Lust der Sinne. In den Ausflüchten, die sie machten, waren sie im Unrecht. Und zur Offensive gingen sie nie über. Niemand erkundigte sich: richtet sich die Anklage eigentlich gegen das Obszöne? Oder gegen den Ehebruch?
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Oder hält man beides für identisch? Niemand war neugierig, zu erfahren: gesetzt, das Paar wäre verheiratet – wären auch dann diese dreizehn bouts obszön, wegen der begleitenden Wort-Musik? Und als der Ankläger immer wieder bestätigt haben wollte, daß der Waldhüter die Ehe nicht für »heilig und unverletzlich« hält, erwiderte niemand: ich bestätige ihnen dies und mehr: Lawrence dachte wie sein Waldhüter, und ich denke wie Lawrence: daß DIE Ehe nicht »heilig und unverletzlich« – und daß eine gute Ehe das Paradies auf Erden ist; weshalb man es sich nicht verdrießen lassen soll (worauf schon der deutsche Pastor Schleiermacher hinwies), immer wieder zu beginnen, bis es glückt. Mr. Griffith-Jones hatte recht, wenn er sich beklagte, daß man ihm auswich; war aber nicht überlegen genug, die Gegner festzunageln. Ja, er begab sich aufs Glatt-Eis und lag bald auf der Nase. Der anklagende Beamte hätte nie das Feld der Ästhetik betreten dürfen: vor einem Parkett von Schriftstellern und Schrift-Gelehrten. Er ließ sich von dem neuen, ungünstigen Gesetz die Rolle des Kunst-Richters aufzwingen. Es genügte also nicht mehr, die Geschworenen mit den dreizehn BettSzenen und ihrem kräftigen, auf Lautstärke Maximum gebrachten Bett-Geflüster zu erschrecken. Er mußte auch noch gegen einen Berg von Literatur-Geschichten und gegen eine Bibliographie von achthundert Schriften den Glauben an die künstlerische Bedeutung dieses Romans erschüttern. Es gehört zur Technik dieses Dichters, mit Wiederholungen zu arbeiten. Derselbe Satz, dasselbe Wort erscheint bisweilen auf derselben Seite wieder und wieder. Ist das Kunst? fragte rhetorisch der ausgewachsene Schüler. Er hatte wahrscheinlich in der Schule, beim Aufsatz-schreiben, gelernt, daß man abwechseln soll; hat man ein Wort gerade gebraucht, so sucht man besser nach einem Synonym. Er ahnte nicht, daß die Wiederholung ein altes Kunstmittel ist, im Dienste vieler Wirkungen; daß es nicht darauf ankommt, ob man wiederholt, sondern wie. Als ulkiger Kunst-Richter zeichnete er sich auch mit der Ma-
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xime aus: daß in einem Werk der großen Literatur die Bibel nicht falsch zitiert werden darf. Das war einer der seltenen Momente, wo ein Zeuge ihm wirklich Belehrung zuteil werden ließ: nicht der Poet, sondern der Waldhüter führt Psalm Vierundzwanzig an; und außerdem sind Zitate innerhalb von Kunstwerken nicht vor Gebrauch zu kontrollieren. Der Staatsanwalt verwechselte Literatur-Professoren mit RomanSchreibern. Diese Instruktion war eine seltene Episode. Im übrigen taten die vielen Kunst-Experten leider nichts, die stilistische Macht dieses Buches – und gerade an den inkriminierten Stellen – zu erhellen; obwohl sie es doch war, die vielleicht einen Freispruch zu rechtfertigen hatte. Man war eher ein bißchen von oben herab, nannte das Werk gern (leise herabsetzend) einen Traktat, eine Lebensphilosophie. Und brachte nicht mehr zustande als: ich, Professor der Universität Soundso, LawrenceKenner, bezeuge, daß der Tote einer der größten englischen Dichter war. Die »Lady« wäre nicht sein bestes Buch, aber immerhin recht gut, seine Verurteilung würde eine der heiligsten Güter der Nation treffen: DIE KUNST. Das magere Ergebnis einer sechstägigen Literatur-Debatte: Schüler Staatsanwalt fiel durch. Es war nicht zu peinlich; er hatte sich gleich zu Beginn prophylaktisch vor dem Mann mit den achthundert literarischen Kränzen auf dem Grab feierlich verbeugt. Schließlich konnte ein hoher englischer Beamter wie Mr. Griffith-Jones und ein hoher französischer Beamter wie M. Pinard (aus den seligen »Bovary«-Tagen) nicht soweit gehen wie der amerikanische Kurzwaren-Händler Anthony Comstock, der im Neben-Beruf auch noch Obszönes jagte, und nach der Maxime handelte: Hauptsache es wird ausgerottet ... Kunst hin, Kunst her. Die Stars, zur Erhellung des Literarischen bestellt, waren weniger Sternen-klar als Nachtlicht-funzlig. Einer von ihnen brachte die Theorie auf: es sei ein Unterschied, ob Zwei etwas
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tun – oder ein Dritter sieht noch durchs Schlüssel-Loch zu. Das verändere den Vorgang. Erst der Voyeur mache ihn unanständig. Ist nicht jeder Leser eines solchen Romans ein Voyeur? Wie anders soll sein Verhältnis zu Lawrences Liebespaar beschrieben werden? Wie anders soll er sich verhalten? Er soll sich mit dem Paar identifizieren! Lesen ist sich identifizieren und Zuschauen. Vor allem aber: weshalb ist der sich mit den dreizehn bouts identifizierende Leser weniger unmoralisch als der distanzierte? Es war eine der vielen Gelegenheiten, die nicht benutzt wurden, um weiterzukommen als bis zur Wiederholung derselben Fest-Phrasen auf beiden Seiten. Derselbe Kunst-Philosoph lehrte auch: solche Vorgänge seien im Buch ohne Tadel, im Kino wären sie unziemlich – von der Wirklichkeit gar nicht zu reden. Das war ein neuer wichtiger Ausgangspunkt, von dem nichts ausging. Es gibt so etwas wie einen Consensus omnium, daß der Grad der PhantasieReizung (also auch der moralischen, antimoralischen Beeinflussung) abhängig ist vom Medium der Aussage. Dahinter steckt das Vorurteil, daß, für den Effekt, entscheidend ist: ob Gewagtes in der Wirklichkeit erscheint oder im Theater oder im Film oder in der Photographie oder im Buch. Die Wirklichkeit wird überschätzt und das Buch verharmlost. Der Voyeur wird kaum von irgendeiner Leibhaftigkeit angeregt werden können wie ein Leser der kräftigsten Seiten pornographischer Literatur, weil die Wirklichkeiten nicht konkurrieren können mit den Figuren dieses Schrifttums: den Übermenschen des Verlangens und Könnens. Und gleich danach wird die Gefahr der Schein-Wirklichkeit übertrieben. Die Szenen der lockeren Bühnen und der ebenso lockeren Leinwand sind meist ärmlich vor dem, was ein schreibender Magier vermag. Entscheidend ist nicht das Medium, sondern die Intensität dessen, was gezeigt wird. Bei Heinrich Mann heißt es, daß »für die Kunst Intensität alles ist«. Die Intensität der Lawrence-Sprache kann von keinem Film-Dialog erreicht werden, er sei denn von einem Lawrence geschrieben.
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Abgesehen von diesen schnellen ästhetischen Nebenbeis wurden, trotz dieses Auflaufs von Kunst-Experten, künstlerische Probleme sorgsam gemieden. Auch der Staatsanwalt hatte nur einen kleinen Ausflug dahin unternommen. Im übrigen ließ er seine Atom-Bombe spielen: die Schilderung der dreizehn bouts und des Wort-Akkompagnements, das nur ganz gelegentlich einmal ein gebildetes Thema habe – zum Beispiel Platons Theorie von der Seelen-Troika. So entnahm der Ankläger den dreizehn Gesprächen, daß die Lady dumm sei. Aber: abgesehen davon, daß Dummheit gesetzlich nicht verboten ist ... was hatten Tristan und Isolde, was hatten Anna Karenina und Wronskij miteinander Kluges gesprochen, als sie schon nicht mehr voneinander lassen konnten? Und: sollte Perikles mit Aspasia sich, währenddem, über Anaxagoras' strafbare Philosophie und Sokrates' Gotteslästerungen unterhalten haben – wäre dann das, was sie bei dieser Gelegenheit taten, anständiger gewesen? Und: wurde Gretchen, eine fromme Jungfrau, die sich einem Gelehrten hingab, geadelt, weil sie ihn vorher gefragt hatte: wie hältst Du's mit der Religion? War übrigens Gretchen gebildeter als Lady Chatterley? Nicht einer der anwesenden Professoren verteidigte die Mädchen der Welt-Literatur, die ganz unphilosophisch und unliterarisch Feuer gefangen hatten. Und Maupassant sagte einmal zu Frank Harris: »Man muß gescheit sein, um einander das Äußerste an Lust zu schenken.« War die Lady nicht gescheit? Die ängstlichen Siebenunddreißig auf Seiten von Lawrence waren wenig interessiert, die künstlerische Kraft des Erzählers plausibel zu machen. Da hätten sie gerade die heißesten Stellen anrühren müssen. Ihr Haupt-Geschäft bestand darin, im Bunde mit den geistlichen und weltlichen Moral-Philosophen Lawrence als erhabenen Idealisten, am besten als christlichen Missionar zu feiern. Die Genügsameren versuchten, die Stellen des Anstoßes mit Hilfe von Deutungen als nicht-anstößig erscheinen zu lassen. Die Toll-Kühnen riefen sie als Gipfel christlicher Moral aus.
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Bringt man alle diese Bemühungen in eine Reihe zwischen den Polen Vorsicht und Aberwitz, so hat man mit dem bescheidenen Statistiker zu beginnen, der ausrechnete: von dreihundert Seiten sind nur dreißig riskant. Leider stellte der Staatsanwalt nicht die Frage: weshalb nicht zehn Prozent opfern, um neunzig zu retten – wenn es nur eine Sache der Quantität ist? Der Nebenmann des Statistikers deutete diese Liebes-Affäre als eine Rückkehr der Seele zu einem intensiveren Leben, wie es in Kulturen mit solider Religion zu finden sei; erklärte aber nicht, weshalb solch ein solides religiöses Leben nur durch dreizehnmal fucking nebst obszönem Wort-Konzert zu erreichen sei. Die Geduld des Anklägers war bewundernswert. Er schleuderte nicht einmal Blitze, als ein Professor kaltblütig erklärte: »Das Sexuelle spielt im Roman nur eine untergeordnete Rolle; und ganz gewiß für Lawrence.« Alle Manipulationen der Lawrence-Retter versuchten auf vielen Wegen dasselbe: sie beleuchteten einen Teil-Aspekt, um das Zentrale zu verdunkeln. Einer der rigorosesten Drückeberger statuierte: es handelt sich um eine tragische Situation ... und wer etwas anderes behauptet, ist so pervers, daß ich mich gar nicht darauf einlassen werde, um nicht wütend zu werden. Die Wut ist verständlich bei einer so rücksichtslosen Selbst-Zensur. Und der fast wütende Herr ging soweit, zu verkünden: die gereinigte Ausgabe sei – obszön. Das war vielleicht der schönste Fall von Verdrängung in der Chatterley-Woche. Wenn auch nicht original. Im Jahr zuvor, anläßlich des amerikanischen Lady-Prozesses, hatte der Dichter MacLeish dasselbe gesagt. Die Interpretation feierte wilde Orgien; man scheute keine intellektuellen Kosten, um Lawrence als einen der bravsten Engländer aufzubauen. Man gebe labilen Jünglingen dies Buch in die Hand, um sie vor der Promiskuität zu bewahren! Konnte man schon nicht beweisen, daß Lawrence sich victorianisch verhalten hatte, so versuchte man es mit der Flucht nach vorn: dieser Roman sei eine Art von Korrektions-An-
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stak für moralisch Wurmstichige. Aber ganz zuverlässig wurde seine Unschädlichkeit erst, als man ihn christlich interpretierte oder halb-christlich oder viertel-christlich oder wenigstens religiös; man spielte die ganze devote Tonleiter herunter. Das Problem war immerhin: wie bringt man die dreizehn bouts mit dem Christentum zusammen. Wer studiert, wie dies hier erzwungen wurde, wird erkennen, weshalb die Vorstellungs-Welt unserer Ära ein Dschungel ist. Da gab es also einen Prebendary, Herausgeber einer Kirchen-Zeitung. Er stellte fest, daß Lady »ein sehr eindrucksvolles Dokument der christlichen Anschauung von der Ehe« sei. Weshalb? Das Buch bringe ein wesentliches Element der christlichen Tradition heraus: daß der Mensch an der Schöpfung mitbeteiligt ist, daß diese Beteiligung im Verhältnis der Geschlechter sich manifestiert, speziell in der Fortpflanzung. Und der geistliche Herr stellte folgenden Zusammenhang zwischen dem christlichen Gott und dem menschlichen Sex her: alles Leben kommt durch Geschlechtliches, alles Leben kommt von Gott: also kommen die dreizehn bouts von Gott. Der fromme Logiker, der weniger christlich als gnostischneuplatonisch und sophistisch argumentierte, tat nur, was zu den beliebtesten Praktiken unserer Dogmen-feindlichen Ära gehört: das Wort christlich so weit zu dehnen, bis man untergebracht hat, was man unterbringen will. Er wurde sekundiert von einem Bischof, der zugunsten Lawrences sagte: er »behandelt den Beischlaf nicht um seiner selbst willen«. Um wessentwillen denn? Ad majorem dei gloriam? Weshalb dann gleich dreizehn Mal? Weshalb denn mit so unmanierlichen Balz-Arien? Der arme Staatsanwalt war nicht überlegen genug, den Prozeß umzuwandeln in eine große Satire auf diese liberale Echternacher Prozession, London 1960: ein Schritt vorwärts, unendlich viele Schritte zurück. Die Skala der ehrerbietigen Ehrenrettungen war lang. »Christlich« war die stürmischste. Folgte: zwar nicht offi-
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ziell christlich, aber immerhin christlich. Folgte: zwar nicht christlich, aber doch voller Gottesfurcht. Schließlich wurde Gott ganz aus dem Spiel gelassen, aber das Prädikat »religiös« blieb den Dreizehn erhalten. Dieser Prozeß war in der Tat die großartige Illustration der verbreitetsten Methode, sich zu täuschen: man deckt mit lieb-gewordenen Worten zu, was man nicht sehen will. Wie liebevoll sie sich bemühten, Lawrence so einzukleiden, daß sie ihm den Bruder-Kuß geben konnten. Ein Katholik sagte: der Dichter sei zwar kein Katholik – aber innerhalb der »Katholischen Tradition«, führte die Verketzerung des Sexus auf den Protestantismus zurück und kam zur Konklusion: jeder katholische Priester und Laie solle dies Buch lesen! Die nächste Variante: Lawrence ein Mann Gottes, der die bouts ablehnt, wenn nicht die Ganzheit des Partners umarmt wird – und die Ganzheit sei Gott. Folgte ein Zitat aus dem »Verlorenen Paradies«. So hatte die Lady Anschluß gefunden an die große Erbauungs-Literatur. Auf der untersten Stufe dieser theologischen Wagnisse – katholisch, christlich, gläubig – setzte man das Wort »heilig« ein. Ein Bischof wagte sich soweit vor, daß er, was Lady und Liebhaber taten, »einen Akt der Heiligen Kommunion« nannte. Das Fleisch sei dem Dichter Lawrence sakral, spirituell. Er hätte hinzufügen können: essen und trinken wir nicht den Herrn im Abendmahl? So umarmen wir ihn in den bouts. Die Assoziation zwischen der unio mystica und der unio corporum hatte eine lange Geschichte: M. Pinard contra Emmy Bovary rührte die numinose Wollust ahnungslos an. Mr. Grifflth-Jones schwieg, wohl ebenso ahnungslos. Die Bescheidensten unter denen, die den erotischen Dithyrambiker entschuldigten, versuchten nicht, ihn an geweihten Orten anzusiedeln; sie brachten zu seinen Gunsten nur vor, wie human er sexuelle Rücksicht verkünde. Der Dichter wurde zum Propagandisten des Altruismus: daß der eine dem ändern nicht als Mittel zum Zweck diene (um mit Kant zu reden, der dieselbe Würde im Bett gefordert hatte).
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Der Ankläger aber fragte alle die Goldschnitt-Ausgaben des Romans nicht: worin unterscheiden sich dann die Lawrenceschen Hochzeits-Nächte von andern religiös-moralischen? Was wäre geschehen, wenn einige hochangesehene Herrschaften die Wahrheit (nicht nur Teil-Wahrheiten) über die Moral des Waldhüters und seines Schöpfers gesagt hätten? Sie hätten von Lawrence und seinem Pendant, dem Marquis de Sade, sprechen müssen. Sie hätten etwa Folgendes gesagt. Der Kategorische Imperativ ist der Verwandtschaftszug, der noch die verschiedensten Moralen zu einer einzigen Familie macht. Lawrence gehörte zu ihr. Er war ein SittlichkeitsFanatiker, einer der lautesten Eiferer. Man nannte ihn während des Prozesses einen nicht-konformistischen »puritanischen Moralisten«. E. M. Forster reihte ihn entsprechend hinter Bunyan und Blake ein. Der Staatsanwalt, höchst perplex, wollte eine Definition dieses ungewöhnlichen Gebrauchs des Worts Puritaner. Vielleicht wäre die kürzeste: ein Mann, dem ein Du-sollst den Rest der Welt verdeckt. Bleibt die Frage: was forderte Lawrence kategorisch? Die dreizehn bouts waren die strahlende Illumination: umarme Deine Wahl mit allen Sinnen, allen sinnlichen Worten, aller raffinierten Technik und aller kreatürlichen Sympathie und Zärtlichkeit! Dies Gebot in ein religiös-moralisches Abstraktum erheben, in dem alles Fleisch verdunstet ist, heißt: Lawrence verleugnen. Sie fälschten ihn alle, auf beiden Seiten. Der Staatsanwalt proklamierte: die Dreizehn seien nur nach Ort und Zeit unterschieden. Niemand demonstrierte (was wichtiger gewesen wäre als zu streiten, ob man dieser beunruhigenden Bett-Gemeinschaft den Namen christlich oder moralisch verleihen darf): wie differenziert diese eine Lust ist, wieviel Himmel und Höllen sie öffnen kann. Man zog sich vornehm zurück auf die »Entfaltung des Bewußtseins von ihrer Natur«. Das reicht vielleicht gerade für eine be-
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scheidene Doktor-Arbeit: nicht zur Erhellung eines ganzen Landes, eines dunklen Kontinents. Hätte einer unbekümmert hingesehen und ausgesprochen, so hätte er gesagt: Lawrence war zwar ein Rigorist strengster Observanz, aber diese Einsicht genügt noch nicht. Es gibt nicht nur eine einzige Moral, sondern eine ganze Serie von Moralen. Lawrences radikaler Epikuräismus ist der GegenPol zur radikalen Askese und lautet: Du sollst der sexuellen Lust dienen mit allen Kräften Deines Körpers, Deiner Seele und Deines Geistes! Dies Gebot ist philosophisch kaum je auskonstruiert worden. Wie überhaupt die Philosophen weniger beweglich sind als die Dichter. Ein Zeitgenosse der Französischen Revolution versuchte es: der Marquis de Sade. Er wurde einer der ungelesensten Autoren der Welt-Literatur: nicht nur, weil er chronisch verboten – auch, weil er kaum lesbar ist. Sowohl die anschaulich-pornographischen als auch die moral-philosophischen Kapitel seiner Wälzer sind unerträglich aufgeschwemmt von lästigen Wiederholungen; und dann ist das Ausmaß an Grausamkeit, das sie schildern, unerträglich. Hier, nicht bei Nietzsche, wurde der Wille zur Macht oberstes Gesetz; er kommt zum klassischen Ausdruck im Orgasmus und der Zerstörung des Andern; das Umarmen wird gekrönt von der Erstickung des Umarmten, eine überraschende Version von Schlegels »ewiger Umarmung«. Im Orgasmus wird der Sexual- und der Macht-Rausch eins. Und die Disziplin dieses sexual-moralischen Ethos will, daß alle Widerstände auf dem Wege zum Ziel niedergebrochen werden: vor allem das Mit-Leid. Nur die vehementeste Askese kann es mit der Vehemenz dieser Lust-Despotie aufnehmen. Sie will die fleischliche Unio als Höhepunkt des Daseins – und die Mitmenschen sind die Heizung für diesen Brand. Ein Jahrhundert vor Lawrence hat der Marquis de Sade dies Brennen und Verbrennen mit den brennendsten Farben gemalt, in der Stilisierung, welcher aller Pornographie eigen ist: die Kopulation wird mythologisch gesteigert. Der Marquis de Sade war der blutrünstigste
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Romantiker, der Menschen-feindlichste Utopist, der je gelebt hat. Sein Bruder und Antipode, der Romantiker Lawrence, ist Erden-näher und sehr human und genau so außer sich – in seiner Zärtlichkeit. Sein Roman sollte ursprünglich den Titel »Tenderness« erhalten; es ist zu bedauern, daß er einem farbloseren Platz gemacht hat. Das milde Wort »Zärtlichkeit« scheint zunächst nicht die rechte Bezeichnung für das wilde Geschehen zu sein; weist aber sehr exakt auf eine Quelle und eine Mündung dieses Treibens der Leiber. Bei Sade ist das Ideal ein unersättlicher Hohepriester, welcher das Opfer frißt; es muß ausbluten, der schmale Strom des Samens ist viel zu wenig. Auch Lawrence will die Unio, welche die Respektablen in den Vordergrund rücken, das Ineinanderfluten der Individuen. Aber man verrät ihn, wenn man dieser Umarmung der Seelen ihre Körper nimmt. Das körperliche Ineinander ist nicht ein Symbol; es ist die lustvollste Wirklichkeit. Niemand sagte wahrheitsgemäß, daß die dreizehn süßen Tätlichkeiten durchaus nicht zunächst ein Weg zur Ehe und zum Kinde waren. Er war ein Zeitgenosse Bergsons und William James' und Nietzsches. Der hätte sich" erfreut an den LawrenceZeilen: Und ich glaube, in dieser leeren Welt war noch Platz für mich und einen Berglöwen. Und ich glaube, in einer andern Welt würden wir leicht auf ein oder zwei Millionen Menschen verzichten können und sie niemals vermissen. Aber nun, welch ein klaffendes Loch in der Welt: Das fehlende, weiße Rauhreif-Gesicht eines schlanken, gelben Berglöwen.
Lawrence wollte nicht auf dem konzessionierten Wege der von Gott vorgesehenen Kopulation die Einheit der Seelen und Geister ... und dann wird man als Einheit gemütlich alt. Die frommen Auslegungen des Prozesses vermummten ihn. 289
Er war ein Utopist. Schlegel sagte noch nicht, daß mit einer neuen Liebe die Welt ins Lot kommen wird. Der späte Romantiker Lawrence glaubte an die Erlösung von allem Übel durch den vollkommenen Coitus. Es war weniger obszön, als phantastisch. Hätte er nur sagen wollen: auf dem Bett, da gibt's koa Sund' ... hätte er nur sagen wollen: Frau und Mann, seid lieb zueinander und respektiert einander und nehmt im Bett fein Rücksicht aufeinander ... hätte er nur sagen wollen: gegen die Vereisung des Menschen in der industriellen Gesellschaft gibt es nur die Wärme, die zwei Körper-Seelen einander schenken, in Antizipation einer Menschheit, die eine Liebesgemeinschaft ist... hätte er nur dies sagen wollen (was er auch sagen wollte): wäre das nicht ohne das dreizehnmal Muntere gegangen, das der Staatsanwalt, mit vollem Recht, in den Mittelpunkt rückte, um es, ohne jedes Recht, mit den Strahlen der Hölle giftig zu färben. Der Prozeß wäre zu einem Ruhmesblatt in der Geschichte Englands geworden, wenn man (unabhängig von Verurteilung oder Freispruch) die Herz-Stellen des Werks abgeleuchtet hätte. Der Ankläger spürte am ehesten etwas von Lawrences wildem Credo; aber noch er verharmloste sittsam den Dichter: er habe die Sinnlichkeit »fast« verherrlicht. Weshalb »fast«? Viele Zeugen der Verteidigung waren weder Kunst-Kenner noch Experten des Christentums und der Moral-Philosophie. Sie waren Musterknaben, die sich laut über das billige SexualLeben der Gegenwart ereiferten und den Anschein erweckten, als hätte man es in besseren Zeiten teurer getrieben. Vor allem konnte man sich nicht genug tun in Attacken auf die Pornographie, zu der doch (dem allgemeinen Sprachgebrauch zufolge) die glänzendsten Stellen gehörten, die der Ankläger verlas; abgesehen davon, daß sie unendlich viel besser geschrieben waren als alles, was unter dem absprechenden Firmen-Namen kursiert. Gerade dies, die pornographische Poesie, hätte ins Licht gestellt werden müssen.
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Man zog sich aber auf die General-Linie zurück: wir lieben Lawrence, sogar seine Lady – und sind trotzdem anständige Menschen. Ein Experte meinte: Pornographie sei von NichtPornographie nach dem Motiv des Autors zu scheiden. Da hätte einer neugierig werden sollen: was für ein Motiv macht ein Buch pornographisch? Zum Beispiel die Freude des Autors an der sexuellen Lust, die seine Phantasie ihm selbst und dem Leser schenkt? Dann ist »Lady Chatterley« ein echtes Stück pornographischen Schrifttums. Mr. Gardiner aber schmetterte (vierzig Jahre nach dem Kollegen Wolfgang Heine) die so schlecht beleumdete Gattung in die tiefste Hölle, mit dem amerikanischen Fluch: dirt for dirt's sake. Was man am besten übersetzt: Schmutz pour le Schmutz. Diese Wendung ist aber ebenso unsinnig wie das L'art pour l'art; es gibt keine Kunst für die KUNST und keinen Schmutz für den SCHMUTZ, weil die Ganz-Großgeschriebenen nur Gespenster sind. Die Verteidiger müssen eben viel emotioneller sein als die Kläger, die nicht zu beweisen brauchen, daß sie keine Schmutzfinken sind. So wurde das neue Obszönitäts-Gesetz, vom Parlament geschaffen, um Klagen einzuschränken, in den Händen des liberalen Mr. Gardiner eine Angriff s-Waffe gegen den Drachen Obszön; natürlich nicht gegen Lawrence, einem weltberühmten Träger der Kultur. Der Verteidiger zeigte sein Wohlverhalten auch darin, daß er, im Gefolge des Staatsanwalts, eine Episode des Buchs als shocking preisgab. Dem Liberalen war es schrecklich, daß der Vater der Lady, Mitglied der Königlichen Akademie, zum Liebhaber seiner Tochter in männlicher Komplicenschaft sagte: »Sie haben ihren Heuschober ganz schön in Brand gesetzt.« Papa war stolz, daß sein Kind die Marke des Erzeugers zeigte. Ein Zeuge der Verteidigung schloß sich der Empörung an: ein Mitglied der Akademie spreche nicht so; das sei ein entsetzlicher Mißgriff des Dichters. Weshalb eigentlich? Eine Erörterung dieser Frage hätte vielleicht zum unerforschtesten Thema des Prozesses einen
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Beitrag geliefert: wie rückschrittlich waren die Progressiven? Sie zeigten sich auch bereit, einem anderen Teil der Erzählung eine schlechte Zensur zu erteilen: einer Affäre der Lady, als sie noch nicht Lady war. Sie »fühlte fälschlich«, sagte man zur Entschuldigung, daß sie durch den sexuellen Akt mit dem Herrn Michaelis aus ihrer Isoliertheit erlöst würde. Was für eine vornehme Einkleidung der Tatsache, daß sie den jungen Mann wollte und dann nicht mehr, weil er sich im Bett als unzulänglich erwies. Es wurde nicht recht klar, ob man sich für Lawrence schämte oder für Connie Welch, die echte Tochter des Mitglieds der Königlichen Akademie. Das Naserümpfen der Pro's unterschied sich nicht von ähnlichen Bekundungen der Contra's. Auch die Fortschrittlichen waren gegen die Sinne; mußten aber diesem einen um Lawrences willen ein Privileg schaffen. Tragödien und Gedichte, meinten die Lawrence-Freunde, seien mit Ernsterem befaßt als mit Musik, Blumen und Wein ... Sex hingegen wäre nicht auf dem gleichen niedrigen Niveau. So pries man die Umarmung, indem man sie aus ihrem schönsten Milieu: Blumen, Wein und Gesang herausriß und zu den Sternen erhob; da wurde sie ein Ineinander von zwei Wolken. Die dreizehn bouts entpuppten sich als ein »zunehmendes Gewahrwerden voneinander als volle Menschenwesen«. Mr. Griffith-Jones erwies sich als der sorgfältigste LawrenceLeser, obwohl er wohl nie ein Kolleg über den Dichter gehört hatte. Der Staatsanwalt erinnerte sich nicht nur an die viel zitierte »Zärtlichkeit«, auch noch an ihre bestimmte Art: »phallische«, »cunt« Zärtlichkeit. »Ich glaube«, hatte Lawrence geschrieben, »wenn Männer aus voller Seele fickten und Frauen sie mit ganzem Herzen empfingen, würde alles in Ordnung kommen.« Die Grenze des epikuräischen Puritaners lag in seiner Oberschätzung des Orgasmus als einer konstruktiv gesellschaftlichen Macht. Der Poet war ein von Freud beeinflußter AntiFreud.
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Die zwölf Richter, Geschworene genannt, neun Männer und drei Frauen: unter ihnen eine Witwe mit vier Kindern, ein Fein-Medianiker, eine Kindergarten-Lehrerin, ein Architekt, ... blieben während der sechs, von Beredsamkeit triefenden Tage stumm. Nur in der letzten Minute sagten sie, mit einer einzigen Stimme: nicht-schuldig! Weshalb eigentlich nicht? Wir ahnen es nicht einmal. Niemand schrieb die Geschichte dieser Zwölf. Der Prozeß brachte das Entscheidende nicht heraus: was dachten sie? Wir wissen manches von E. M. Forster und Dame Rebecca West – und nichts vom Seelen-, Geistes- und Körper-Zustand der Zwölf, welche den Fall entschieden. Wir können uns wenigstens in Umrissen ein Bild machen von den vielen Bücherschreibern, die auftraten, aber nicht von dem anonymen Dutzend. Sie waren die sibyllinische Stimme des Volks: es gibt viele Deutungen dieser zwölfköpfigen Sibylle und keine Gewißheit. Wenn wir wenigstens wüßten: wieviel urteilten: nicht-obszön ... und wieviel: zwar obszön, aber vor allem kulturell wertvoll. Drei waren von A bis Z dagegen, soviel wurde bekannt; im Zeitpunkt Z schlossen sie sich der Majorität an. Offenbar, weil bei Kriminal-Prozessen nur einstimmig verurteilt oder freigesprochen werden kann. Aber was dachte und fühlte jeder einzelne, als er zu Beginn, im Ledersessel und in Klausur, den Roman las – der langsamste Leser brauchte drei Tage? Dann hörten sie sich zwei Eingangs-Plädoyers an und die fünfunddreißig Zeugen und die Serie der Kreuz-Verhöre und die Schlußreden des Verteidigers und Anklägers. Wir wissen nicht, wie interessiert jeder war (und wo), wie gelangweilt (und wo), wie überzeugt, wie abgestoßen, wer zu Zeiten oder noch öfter nicht folgen konnte. Vor allem wäre es wichtig, zu erfahren: was sie nach soviel Worten über die ganze Wort-Familie dachten, deren Patriarch Obszön heißt. Dann gingen sie ein zweites Mal in Klausur: eine Gruppe in Einzelhaft; denn sie durften, obwohl in einem einzigen Raum,
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nicht diskutieren. Und schließlich waren sie dann Zwölf und zugleich Eins und zugleich ganz England. Und da zweifelt man noch an der Begabung unserer Zeit für den Mythos. Mr. Pro and Mr. Contra hatten ihr Bestes getan, die Welt und das Land zu gewinnen – vor allem aber das Urteil. Mr. Contra hatte es sehr leicht gehabt, Unanständiges vorzuzeigen, und sehr schwer, das Werk des berühmten Lawrence, zu dem »Lady Chatterley« gehörte, aus dem literarischen Himmel, in dem es angesiedelt war, herabzuholen. Die Gegen-Partei hatte es sehr leicht gehabt, das Ansehen des Dichters über fünfunddreißig Stufen immer höher wachsen zu lassen, und sehr schwer, die nacktesten Zitate in die keuschesten religiösen und moralischen Wort-Gewänder zu hüllen. Die Verteidigung half dem Glauben an diese Heiligen Röcke nach, indem sie die Schneider, Geistliche und Professoren, imposant vorstellte. Ihr beruflicher und gesellschaftlicher Schimmer strahlte nur so. Man hätte denken können: die Fünfunddreißig seien angeklagt – und nun gelte es, nachzuweisen, was für fabelhafte Fachleute, Mitbürger und Gotteskinder sie sind. Sie sind keine Bohemiens, keine Casanovas, keine wildernden Junggesellen. Es sind Familien-Väter und FamilienGroßväter, die zugunsten der Lady aussagen. Und wenn auch alle dringenden Probleme, die der Prozeß aufwarf, unbeachtet blieben: ans Licht kam umso strahlender, was für fruchtbare Erzeuger diese Zeugen waren. Ein Englisch-Lehrer hat einen Sohn, drei Töchter und acht Enkel – und trotzdem keinen Einwand gegen die Lady und ihren Freund. Der Bischof hat einen Sohn und drei Töchter; der Prebendary einen Einundzwanzigjährigen und einen Zwölfjährigen, dazu Mädchen im Alter von Zweiundzwanzig, Neunzehn, Siebzehn und Fünfzehn. Einer seiner Jungens hatte das Buch gelesen und ziemlich öde gefunden; hoffentlich war es der Zwölfjährige. Ein Professor hatte nichts dagegen, wenn sein Sohn und die drei Töchter (achtzehn, siebzehn, zwölf) die Lady kennen-
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lernten. Ein berühmter Fernseh-Mann, im Besitz von zwei erwachsenen Kindern und zwei Enkeln, zögerte ein bißchen, allen die Erlaubnis zur Lektüre zu erteilen; die Enkel seien noch etwas jung. Ein Zeitschriften-Herausgeber hatte vier Kleine, gab aber der Lady die Hoffnung: sobald sie älter sein werden. Die Fruchtbarkeit der Zeugen war glänzend bewiesen. Ein berühmter Verleger hatte sogar zehn Enkel – und sorgte sich trotz des furchtbaren Buchs nicht im mindesten um die Zukunft des blühenden Stamms. Es wurde nicht bekannt, wieviel Kinder, Enkel und Urenkel jeder der Zwölf hatte; aber sie wurden gewiß beruhigt von der Gelassenheit, mit der erlauchte Väter und Großpapas bereit waren, den Roman der ihnen anvertrauten Nachkommenschaft in die Hand zu drücken. Überhaupt arbeitete die Anklage nur sehr zurückhaltend mit dem Argument: zum Schutz der Jugend. Der Verteidiger sagte zum Schluß: »Die Gesellschaft kann sich nicht danach richten, was einem Vierzehnjährigen angemessen ist.« Aber das hatte der Staatsanwalt auch gar nicht verlangt. Er hätte die Anklage auch dann erhoben, wenn es nur Menschen über Fünfzig auf der Welt gäbe. Wo war der dreizehnte Geschworene? Er existiert nur in der Einbildung eines Betrachters, der gern sähe, daß sich wenigstens Einer gegen diese Schein-Gefechte gewandt hätte. Dieser imaginäre Dreizehnte sagte: Ich kann kein Urteil fällen, bevor ich nicht eine Reihe von Kreuzverhören vorgenommen habe: mit mir selbst, mit dem Staatsanwalt und My Lord, mit der Verteidigung und ihren Sach-Verständigen (welche Sache verstanden sie?), mit dem blutjungen, sogenannten liberalen Obszönitäts-Gesetz und mit Lawrence persönlich. Frage eins des Dreizehnten, zunächst an sich: welche Wirkung hatte die Lektüre? Ich meine nicht nur, fragte sich der Mann, auf meine Moral, meine ästhetische Empfänglichkeit – son-
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dern auf den Leib, der zu meiner Seele gehört; ganz genau: auf meine moralisch fragwürdigen Drüsen? Ich muß so neugierig sein, weil niemand diese Frage an den Mr. Bischof und die Mrs. Professor gestellt hat. Soweit der Dreizehnte sich erinnern konnte, war die Verhandlung nur einmal dicht an diesen empfindlichen Punkt herangerückt: als ein Zeuge zugeben mußte, daß ihn als Schuljungen die Lady erregt habe. Niemand aber wollte wissen, wen von den Anwesenden in späteren Jahren? Wie erging es dem Richter, dem Staatsanwalt, den beiden Verteidigern, den fünfunddreißig Zeugen, den zwölf Geschworenen, als sie die Dame kennenlernten? Und nicht nur: wie erging es ihnen moralisch und ästhetisch – wie erging es ihnen physisch? Auch wäre förderlich, zu wissen, bei welchen Büchern, die sie je lasen, verbotene Reaktionen eintraten. Es ist dringend nötig, das zu erfahren. Denn das Gesetz fordert einen Entscheid: ob das angeklagte Buch imstande ist, einen Menschen schlechter zu machen; und der Weg solch einer Veränderung geht über die Trieb-Stärkung oder-Schwächung, die am deutlichsten sich körperlich verifizieren läßt. Hätte dann, unter der Oberhoheit rücksichtsloser Wahrhaftigkeit, ein guter Teil zugeben müssen, daß die Lektüre auffallende organische Veränderungen hervorgerufen hat – jener Art, die unter Feuer liegen, dann wäre die weitere Frage fällig gewesen: muß man dann nicht alle Stimulantien, die solches erreichen können, in gleicher Weise beurteilen? Zum Beispiel auch Kognak, Hormon-Injektionen und die Oper »Tristan«? Der Dreizehnte hatte nämlich einen Freund, der jede neue Braut diesem lautesten, köstlichsten Brunst-Schrei unterwarf. Die Frage aller Fragen, um die man mit viel Gerede herumschlich, hätte gelautet: ist die Lust-Reaktion, wie sie bei einem gewissen Reiz der Phantasie in einem gewissen Organ spürbar wird, eine Verschlechterung des Menschen? Es gibt für das Ja drei Kron-Argumente. Erstens: Gott ist gegen sexuelle Vorstellungen – außer vielleicht im Zusammenhang mit der
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Ehefrau; und auch da nur in geziemendem Zeit-Abstand, in geziemender Stärke und in geziemender Weise. Der Dreizehnte ist ein bescheidener Mann, traut sich nicht, zu ergründen, was Gott will, und untersucht deshalb sofort Argument Zwei: die Bekanntschaft mit der Lady und ihrem Waldhüter könne die Phantasie so erregen, daß sie den Leser für schlichte Hausmannskost verderbe. Auch könne ein Seitensprung in der Phantasie (mit einer Verheirateten) die Institution Ehe untergraben. Der Verlauf des Prozesses zeigte: daß diese Angst im Mittelpunkt war; denn der Ankläger nahm die alte »Bovary«-Klage auf: der Dichter verurteilte den Ehebruch nicht, glorifizierte ihn gar. Der Dreizehnte aber konnte nicht einsehen, weshalb der Obszönitäts-Prozeß mehr und mehr ein Plädoyer für die Ehe wurde. Das Thema Ehebruch teilt »Lady Chatterley« mit einer Serie der angesehensten Romane der Welt-Literatur; es ist nicht ihr Spezifisches. Der Statsanwalt kniff, als er sich hinter die alte, bewährte Linie zurückzog. Es war doch viel schlimmer. Vor allem aber war er nicht einer von den Zwölf, sondern der Dreizehnte, weil er die Liberalen nicht für liberal hielt. Ihn interessierte nicht, daß sie Lawrence für einen großen Schriftsteller hielten, diese Ansicht teilten sie mit dem Staatsanwalt und dem ganzen Land und Tausenden von Lesern außerhalb; sondern daß sie Religion, Moral und Gesundheit (im Superlativ: Volks-Gesundheit) mobilisierten, um die strahlende Pornographie des Poeten zu verdecken. Ihre Pseudo-Fortschrittlichkeit stieß ihn am meisten ab. Die moralisch-theologischen Kategorien befriedigen nicht mehr den Zeitgeist, da hatte man biologisch-pragmatische in Reserve. So argumentieren die, welche glauben, die Avantgarde zu sein: je mehr die sexuelle Phantasie gereizt wird, umso mehr ist der Trieb beunruhigt, umso häufiger und ausgiebiger sucht er, wozu er aufgestachelt wird, umso mehr Kräfte werden dem Körper entzogen, der schließlich im Armen-Spital endet; Armen-Spital ist der Superlativ von Spital.
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Dasselbe aber gilt auch fürs Essen, Trinken, Sport-treiben, Kindergebären und andere Aktivitäten. Man kann sich sogar überarbeiten; was zuviel ist, ist zuviel ... und zuviel ist ungesund. Der Dreizehnte aber erinnert sich, in einem klassischen pornographischen Roman, den »Memoiren einer Sängerin«, eine Warnung gelesen zu haben, die schon der erste Epikuräer, Epikur, verkündet: wer ein Maximum an Lust will, muß sich manche versagen. Worauf wollten alle die, welche für Lawrence Zeugnis ablegten, hinaus? Auf die Freigabe des unangetasteten Romans! Der Dreizehnte fand, das ist nicht genug. Wenn das gute Ziel erreicht wird auf krummem Wege, wenn man das Land irreführt, um eine gute Tat zu tun, wenn ein Fortschritt nur erreicht werden kann mit Hilfe vieler Schritte zurück in Unlogik und Köhlerglauben, die alles in Schatten stellen, was Staatsanwalt und Richter sich leisteten ... dann ist der Preis zu hoch für das Erreichte. So sprach unser Geschworener gegen die, welche dasselbe wollten wie er: eine unbeschädigte »Lady Chatterley«. Er allein hätte eine zweite Woche gebraucht, wäre er allem nachgegangen, was hier vertuscht, verbogen, verborgen worden war. Er wählte nur das Auffälligste aus und sagte zu den Moral-Philosophen: Sie preisen, meine Herren, die kavaliersmäßige Rücksichtnahme des Herrn auf das Begehren der Dame, wie Lawrence es gepredigt hat. Auch mir gefällt das sehr. Aber Sie benutzten diese zarte Ritterlichkeit als große Rechtfertigung für alles, was als anstößig empfunden wird. Ist also jede sexuelle Praxis anerkannt, vorausgesetzt sie zeigt das unselbstische Verhalten des Mr. Mellor? Meinen Sie, daß, wie die beiden es treiben, die Rechtfertigung darin findet: daß ihre Persönlichkeit sich entwickelt, daß die Bett-Demokratie gefördert wird, daß ein großer Dichter sie meisterhaft beschreibt – daß also das Benehmen des Paars anstößig ist und aller dieser Entschuldigungen bedarf? Was immer Sie sagen, ist mir recht – wenn nur endlich ans Licht kommt; wie hoch, wie niedrig schätzen Sie die sinnliche Lust ein?
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Sprechen wir so detailliert wie möglich! Wie stehen Sie zu folgender Stelle: »Sie hatte darüber nachgedacht, was Abaelard meinte, als er sagte, daß in ihrem Jahr der Liebe er und Heloise alle Stadien und Verfeinerungen der Liebe ausgekostet hätten. Das Gleiche, tausend Jahre früher – zehntausend Jahre früher! Das Gleiche auch auf den griechischen Vasen – überall! Die Verfeinerungen der Leidenschaft, die Ausschweifungen der Sinnlichkeit!« Diese Sätze hätte der Staatsanwalt den Geistlichen vorlesen sollen, um sie zu fragen: ist das »christlich«, wie Sie behaupten? Wo findet sich Derartiges im Neuen Testament? bei den Kirchenvätern? bei Thomas von Aquino? Augustinus, ein christlicher Epikuräer, hatte zwar gesagt: er würde Epikur die Palme reichen, hätte der alte Grieche nur an die Unsterblichkeit geglaubt – aber selbst Epikur war noch ein Kostverächter vor der Lust unseres Paars und ihrer »Ausschweifungen«. Ist es wirklich erlaubt, fragte der Dreizehnte weiter, daß ein Bischof einen Erzbischof zitiert: die Christen machten keine Spaße mit der Heiligen Kommunion und keine mit der Geschlechtlichkeit ... um auf diese Weise Kommunion und Sex zusammenzubringen – und, als Nebenprodukt, die dreizehn bouts in eine sakrale Handlung zu verwandeln. Mit Worten wie »sakral«, mit allen diesen losen Sprachlichkeiten, die sich so billig hergeben, zwingt man doch nur zusammen, was einander fälschen soll. Diese Mogelei ist gefährlicher als die klare Opposition des Anklägers. Und der Verteidiger, der eine höhere Aufgabe hatte, als ein Buch durchzuboxen, nämlich einem Land mitzuteilen, worum es ging – Mr. Gardiner machte nie mehr als einen halben Schritt vorwärts. Als die Wendung »unreine Gedanken« aufklang, wehrte er energisch ab: die ganze Nation habe unreine Gedanken, von Kindesbeinen an. Daraus hätte er eine von zwei Konsequenzen ziehen müssen. Entweder: folglich muß die ganze Nation verboten werden ... oder: Lawrences »Verfeinerungen der Leidenschaft«, »Ausschweifungen
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der Sinnlichkeit« gehören zum Menschen ebenso wie seine Sehnsucht nach Heiligkeit. Es ist aber nicht zu entscheiden, ob ein Mangel an Einsicht oder an Mut ein solches Bekenntnis verhinderte. Nachdem der Dreizehnte Lawrences Schar also geröstet hatte, waren sie alle glücklich, als offiziellen Gegen-Part den Mr. Griffith-Jones zu haben, der sie schließlich nur fragte, worauf sie sich präpariert hatten – und resigniert-abwesend hinnahm, was sie ihm zuteilten. Die grimmigen Verhöre, in welche der Dreizehnte Ankläger und Verteidiger verwickelte, waren nichts gegen seine Pfeile, die das blutjunge Obszönitäts-Gesetz traf; es hatte das Prestige, ein leuchtendes Denkmal moderner Aufgeschlossenheit zu sein. Es kann also die Unzüchtigkeit eines Buchs aufgewogen werden von seiner künstlerischen oder pädagogischen oder wissenschaftlichen Qualität. Wie geht eigentlich dies Abwiegen vor sich? Welches ist das gemeinsame Gewicht, auf Grund dessen man ein Schwerer oder Leichter feststellt? So daß man rechnen kann: moralisch: minus zehn Gramm; ästhetisch: plus acht; erzieherisch: plus drei; wissenschaftlich: plus vier. Summa summarum: plus Fünfzehn gegen minus Zehn. Das wissen die englischen Gesetzgeber auch; deshalb versuchte der Dreizehnte, den Sinn dieses Gesetzes zu ergründen. Es soll, schien ihm, verhindert werden, daß das Obszöne dort belichtet wird, wo man es einfach nicht als Schmutz beiseite schieben kann: bei Ovid und Rabelais und einem englischen Romancier, über den achthundert Gelehrte gelehrte Arbeiten geschrieben haben. Es sollen peinliche Prozesse, wie jetzt einer gegen die »Lady Chatterley« geführt wird, verhindert werden. Es war nur ein Betriebs-Unfall im Rechts-Verkehr, meinte der Dreizehnte, daß es dazu kam. Der Verteidiger hat recht, meinte er, daß dies Gesetz eine Verschärfung, nicht eine Abschwächung im Kampf gegen die Obszönität ist. (Und überzeugte den Autor dieses Buchs, der vorher dem Verteidiger dieserhalb einen Vorwurf gemacht hatte.) Man wollte den Kampf gegen das Obszöne stärken, indem man ihn nicht dort führte, wo er blamabel war.
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Offenbar hatte der Richter weder die Oberfläche noch die tieferen Wurzeln des Gesetzes erfaßt; wenn man nicht annehmen will, daß er es sabotierte. Da er bestellt war, den Geschworenen juristischen Unterricht zu erteilen, muß er in ihren Köpfen eine heillose Verwirrung angestiftet haben. Denn er instruierte sie: die Freiheit des schöpferischen Künstlers habe seine Grenze, wo er Anstoß erregt; auch er habe sich dem Brauchtum zu unterwerfen. Das war der Moment gewesen, wo die Zwölf wie ein Mann hätten aufstehen sollen und fragen: wenn dem so ist – wozu das neue Gesetz? Es ist doch gerade gemacht worden für die Fälle, wo der Schaffende sich nicht dem Herkommen unterworfen hat. Die Mission des Dreizehnten wäre unvollständig geblieben, hätte er sich nicht zum Schluß an Lawrence gewandt, der bereits dreißig Jahre tot war. Aber der Dreizehnte war schließlich nicht lebendiger, so konnten sie auf gleicher Ebene verhandeln. Der Dichter hatte die dreizehn Nummern nicht nur dargestellt, auch im Roman ausphilosophiert; und außerdem noch einen separaten Kommentar nachgeliefert »A propos Lady Chatterley«. Der ungemischte, von Chiliasmen nicht verdünnte Enthusiasmus für die Lust zu Zweit erklingt nur in den Schilderungen; in der angehängten (wenn auch eben so echten) Weltanschauung bringt ein strebsamer Held Gesetzes-Tafeln vom rigorosesten Olymp: »Eine Ehe ist keine Ehe, wenn sie nicht in ihrer Grundlage dauernd phallisch ist.« Das ist sehr streng – und keineswegs wahr. Außerdem muß dieser Bund, fordert der Sexual-Kategoriker, mit dem Mond, den Fixsternen und den Planeten im Rhythmus der Tage, der Monate, der Vierteljahre, der Jahre, der Jahrzehnte und der Jahrhunderte verbunden sein. Das ist noch anstrengender. Der Dreizehnte fand, daß Lawrence, wenn er nicht dichtete, sondern spekulierte, dem armen Menschen dort, wo er genießen darf, mehr zusetzte als irgendeine herbe Religion. Die Liberalen zeigten das Alibi vor, so freuten sie sich über diese groteske Zwangs-Jacke.
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Aber nichts brachte unseren Mann so auf wie: daß Lawrence die Kunst, die ihn vor allem auszeichnete: seine kräftige Poetisierung des unanständigen Vokabulars, in eine falsche Theorie hüllte. Anstatt die lebende Funktion der verbotenen Worte plausibel zu machen (und die Meisterschaft des Romans liegt vor allem in dem sprachlichen Glanz, den er dem »Ordinären« verlieh), stellte er die seltsamste Sprach-Psychologie in den Dienst einer Entschuldigung. Früher, philosophierte er, seien Worte, wie er sie gebrauchte, gefährlich gewesen, weil der Körper sofort reagierte. Übersetzen wir diese These ins Handgreiflichere: früher hätte sich ein Junge nach der Lektüre des ersten bout sofort auf das Mädchen im Nachbarhaus gestürzt. Inzwischen aber, beruhigte Lawrence die Entrüsteten, habe man gelernt, Vorstellung und Tat zu trennen, so daß keine schlechten Folgen in der Wirklichkeit zu fürchten sind. Der Dreizehnte fragte nun: Mr. Lawrence, was meinen Sie mit früher? Er antwortete vielleicht: die Zeit der Kreuzfahrer. Da hatten »Worte eine Macht und bildhafte Kraft, die wir uns nicht mehr vorstellen können«. Wirklich nicht? Hatte 1933 das Wort Jude nicht bildhafte Kraft? Haben 1962 Kapitalismus, Kommunismus, Atheismus, Materialismus nicht bildhafte Kraft? Und was die unanständigen Wörter betrifft, so haben sie und ihre Nachfahren uns gewiß etwas abgestumpft. Aber geht ein eingeschüchterter Lawrence nicht zu weit, wenn er behauptet: jetzt verletzen die »Wörter« nur die Augen, den Geist nicht im geringsten? Was ist der Unterschied zwischen einer Entrüstung, die aus einer Augen-Wunde und einer, die aus einer Geist-Wunde stammt? Sie halten, hätte der Kritiker des apologetischen Pornographen gesagt, die »Wörter« für ungefährlich, nachdem Worte und Taten »zwei verschiedene Bewußtseinsformen« geworden sind, seitdem wir ein »Doppelleben« führen. Idi aber bin der Überzeugung, daß dieses »Doppelleben« schon einige Millionen Jahre währt, daß mindestens solange schon eine Barriere zwischen Reiz und Reaktion besteht – daß es des-
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halb völlig gleichgültig für uns ist, was »früher« war, weil es damals bestimmt noch keinen Lawrence und keine Obszönitäts-Prozesse gegeben hat. Außerdem bin ich überzeugt, daß dieses »Doppelleben« nicht so exakt doppelt ist, wie Sie zu meinen scheinen. Und was die »Wörter« angeht: es wäre traurig um die Leser bestellt, wenn sie nicht Eindruck machten, auch in der andern Bewußtseinsform; gerade in Ihrer faszinierenden sprachlichen Verstärkung. Vielleicht haben Sie Casanovas in die Welt gesetzt. Bei allem Respekt vor Ihrer dichterischen Kraft und Ihrem bewundernswerten Mut ... mit Ihrer Beschwichtigungs-Theorie der unanständigen Worte sind Sie Blut vom Blute Ihrer Verteidiger 1960. Die durften sich mit Recht auf Sie berufen: auf Ihre Theorien, nicht auf Ihre Dichtung. Die Zeugen konstruierten nicht so systematisch; versuchten nur, abzuschwächen, was Lawrence mit seinem Vokabular angerichtet hatte. Der anglo-sächsische Sprachschatz, heimatberechtigt seit Jahrhunderten, nicht so fein wie die Worte antiker Herkunft, habe doch eben nun einmal diese Wörter, Schuljungens und zehnjährigen Mädchen wohlbekannt. Und in einem Land, welchem das Gewohnte heilig war, ist das kein unwirksames Argument gewesen. Vor allem aber, sagte einer, meinen diese Silben oft etwas ganz anders, als sie wortwörtlich sagen ... und berichtete folgende Geschichte. Er hätte, gerade an diesem Morgen, ein paar Meter vom Gerichtsgebäude entfernt, einen Passanten dreimal monologisch sagen hören: fuck! fuck! fuck! Leute gebrauchten solche Laute, nur um sich Luft zu machen. Ein Lehrer, mit vielen Kriegsdekorationen, nahm sich der Lawrence-Sprache also an: die Jungens lieben nicht Wendungen wie »sexueller Verkehr«. Sie wollen schlicht Anglosächsisches, alles andere halten sie für Heuchelei. So wurde auch der pädagogische Wert der verrufenen Diktion erläutert. Und einer, der wohl das griechisch-römische Englisch besser beherrscht als das anglosächsische, erklärte: dies »phallisch« sei vom Christentum getauft und geheiligt. Vergaß aber zu
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erwähnen, daß Lawrence dem Helden Phallus eine höchst realistische, ungetaufte Illustration gab: sowohl seinen Vorstößen als auch seinen Rückzügen, sowohl aus der Perspektive weiblicher Verliebtheit als männlichen Narzismus'. Und dann gab noch eine Dame zu bedenken: wenn Worte so oft wiederholt werden, brauchen sie sich ab ... so habe der Waldhüter viel beigetragen zur Schwächung der unziemlichen Klänge. So viele freundliche Gewänder gab es für das, was der Mr. Mellor in seinen leidenschaftlichsten Stunden hervorgestoßen hatte. Ja, so akzeptiert schien schließlich diese unfeine Sprache zu sein, daß sich der liberale Mr. Gardiner gedrängt sah, zum Schluß noch zu warnen: man solle um Gottes Willen nicht denken, daß nun jeder es dem Dichter Lawrence nachsprechen dürfe. Die Gefahr war nicht groß. Denn immer noch gilt das alte Gesetz von 1745 (Profane Oath Act): wer in profaner Weise sich ausläßt, wird mit einem Schilling bestraft, wenn er ein Tagelöhner oder schlichter Soldat, mit zwei, wenn er ein Mann von Bildung, mit fünf, wenn er ein Edelmann oder mehr ist, wer nicht zahlt, wird eingelocht. Da aber dies alte Gesetz nicht zu bekannt ist, unterstrich man sicherheitshalber: Lawrence hat die schmutzigen Worte zwar blank geputzt; aber man lasse sie dort, wo sie nun sanktioniert sind – zwischen den Deckeln eines Buchs. Hätte es den Dreizehnten gegeben, so hätte er den zwölf Leidensgenossen während der Beratung noch folgende Rede gehalten. Am Anfang war bestimmt nicht das Wort; aber es ist ebenso falsch, jedes Wort damit abzutun, es sei nur ein Wort. Es kann viele Funktionen haben; sein mögliches Gewicht ist zwischen minimal und ungeheuer. Tausend Worte werden nicht registriert – und ein unscheinbares (vielleicht ein Irrtum, eine Lüge) tötet. Nicht einmal die kleine Gruppe der unanständigen Worte ist eindeutig: der Schuljunge, der sie an die Wände der Latrine kritzelt, der Greis, der sie bei Alt-Herren-Abenden prahlerisch vorzeigt, der monologisierende Passant, der sie in
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Verachtung oder Zorn oder Ekel vor sich hinplappert – und Lawrences Waldhüter gebrauchen zwar dieselben Buchstaben; sie sind aber etwas völlig anderes hier und dort. Der Schuljunge wird gereizt vom Verbot, auszusprechen, was er heimlich erfahren hat; seine Lust ist, sich das Unerlaubte zu erlauben. In der Regel ist dies Hingeschmierte dasselbe wie die erste Zigarette; in beiden Fällen ist kein vitaler Drang dahinter, nur die Sucht, zu übertreten. Das Eintrittverboten ist ein starker Anreiz für Freiheits-Gelüste. Ebenso unvital, vom Geschlechtlichen her, sind viele lüsterne Greisen-Konventikel: Ferien von der Würde im trauten Familien-Kreis oder im vornehmen Klub, ein Protzen mit der Don Juan-Vergangenheit – und der Trost: hat man schon alles verloren, so hat man sich wenigstens das Sprach-Schätzchen von einst bis ans Grab gerettet. Und ebenso unvital, immer vom selben Bezugspunkt aus, sind besagte Worte, wenn sie (in amerikanischen Nachkriegsromanen) als Äußerungen der Unlust erscheinen; ein Bedeutungs-Wandel, besser: ein Abblassen des Worts ist eingetreten – geblieben ist nur die Heftigkeit. Und abermals ebenso unvital ist der Reformator, der mit diesen Worten den Zimperlichkeiten trotzt und sie den Zeitgenossen als Pensum aufbrummt: als Pferde-Kur gegen erotische Etepetetes. Da werden die dirty words zur Schock-Therapie: Seht, es tut gar nicht weh! Es wird aufrichtig zum Heile der Seele »geschweinigelt«. Lawrence war nicht frei vom Trotz-Komplex. Er darf Euch, Ihr Zwölf, nicht hindern, zu sehen, daß ihm in einigen Beschreibungen geglückt ist, was einmalig ist in der Geschichte der erotischen Welt-Literatur: er hat den Jargon des Alltags ins Poetischste gewandelt, ohne Einbuße an vitaler Energie. Aus dreifachen Ursprüngen sprudeln diese nur-anartikulierten Laute: aus der Erregung und aus dem Willen, sich selbst und nicht nur sich selbst zu steigern. Aus dieser dreifachen Quelle gewinnt hier die angeklagte Sprache eine Schönheit, die ihr niemand vor Lawrence geschenkt hat. Seit ihm gibt es künstlerische Pornographie.
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Zum Schluß wies der Dreizehnte auf die tolle Unlogik des Prozesses hin: man hatte einen ganzen Heer-Bann von KunstExperten aufgeboten – und der Richter instruierte immer wieder die Geschworenen: kümmern Sie sich nicht um die Geschmacks-Frage! Ja, worum sollten sich eigentlich Leute kümmern, die eine Woche lang Literatur-Historikern und Kritikern zuhören mußten? Mit dieser Ermahnung von My Lord wurde allerdings verhindert, daß man entdeckte (Alfred Kerr hatte es schon im »Reigen«-Prozeß gesagt, ohne Folgen): Obszön, wo es ein sinnvoller Angriff ist, bedeutet geschmacklos – nie unmoralisch. Es gibt für Schriftsteller kaum eine anspruchsvollere Aufgabe als die Eroberung dieses Neulands, das man fast völlig NichtSchriftstellern überlassen hat. Das Gesetz ist nicht so bedrohlich wie die Gefahr des Mißglückens. Im Schlafzimmer mag ein falsches Wort von der physischen Sensation ausgelöscht werden; in der Distanz, die der Leser hat, wird es lächerlich oder gar peinlich. Selbst ein Poet wie Lawrence war davor nicht geschützt. Wo die Liebenden in den Regen hinauslaufen – und nach der Rückkehr die gefeiertsten Heiligtümer ihrer Leiber mit FeuerNelken, Vergißmeinnicht und Waldmeister schmücken, bringt der vitale Strom die Worte nicht mehr zum Glühen; die Szenerie wird komisch. Gerade das Talmi-Sakrale, von der Verteidigung so gepriesen, macht das Obszöne zum ulkigen Götzen. Aber auch ein Norman Mailer, der den sentimentalen Einschlag als die Schwäche des Werks verurteilt, bekennt: »Es ist ein Buch, das ich auf Tod und Leben verteidigen würde. Hätte es die Literatur zur Zeit, als es entstand, beeinflussen können, dann würde alles, was heute über Sex geschrieben wird, weit besser, weit subtiler, weit feinfühliger, weit schärfer, weit gründlicher sein.« Der letzte Satz des Dreizehnten lautete: Sprecht das Buch frei – obwohl es wichtiger wäre, das gesamte Personal dieser englischen Konvention mit verteilten Rollen gründlich zu
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verurteilen. Zumal die herbeigerufenen Historiker sich an die Geschichte der Entrüstung ihres Landes hätten erinnern können. Aber Geschichts-Lehrer haben ein ebenso schlechtes Gedächtnis wie ihre weniger geschichtlichen Mitmenschen. Oscar Wilde, 1895 vor Gericht über Kunst und Schmutz befragt, redete sich nicht auf die brave und unzerstörbarste Phrase hinaus: wenn etwas Kunst ist, dann ist es rein, und wenn etwas unrein ist, dann ist es nicht Kunst. Die Londoner seiner Zeit erhielten eine blankere Antwort. Er war vom Vater seines Freundes Lord Douglas, dem Marquess von Queensberry, beleidigt worden und hatte ihn verklagt. Zur Verteidigung legte der Marquess Liebesbriefe an seinen Sohn vor, vom Dichter verfaßt. Sie waren fade und ohne Kraft – im Verhältnis zu allem, was (zum Beispiel) Heinrich von Kleist an seine Freunde geschrieben hatte. An Ernst von Pfühl: »Ich habe Deinen schönen Leib oft, wenn Du in Thun vor meinen Augen in den See stiegst, mit wahrhaft mädchenhaften Gefühlen betrachtet ... Ich heirate niemals, sei Du die Frau mir, die Kinder und die Enkel.« An Rühle von Lilienstern: »Eine immer wiederkehrende Empfindung sagt mir, daß diese Brieffreundschaft für uns nicht ist, und nur insofern, als Du auch etwas von der Sehnsucht fühlst, die ich nach Dir, das heißt nach der innigen Ergreifung Deiner mit allen Sinnen, inneren und äußeren, spüre, kann ich mich von Deinen Schriftzügen, schwarz und weiß, in leiser Umschlingung ein wenig berührt fühlen.« Der bereits citierte englische Richter, dem schon vor den konventionellen Liebes-Floskeln, mit dem ein Mann an einen andern schrieb, so sehr graute, daß er es lieber mit einem Mord-Fall zu tun gehabt hätte (wie er sagte) als mit jenen billets doux ... was hätte er gelitten, wenn er mit der großen Leidenschaft des deutschen Dichters konfrontiert worden wäre? Während des ersten Verfahrens, in dem Wilde noch nicht der Angeklagte war, entwickelte sich zwischen dem Advokaten
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des Verklagten und dem Poeten folgendes Zwiegespräch (es ging um irgendeine Erzählung »Der Priester und der Meßnerknabe«): — Sie sind der Ansicht, es gibt nicht so etwas wie ein unmoralisches Buch? Wilde: Ich bin dieser Ansicht. — Darf ich annehmen, daß Sie die Geschichte »Der Priester und der Meßnerknabe« nicht für unmoralisch halten? Wilde: Sie ist schlecht geschrieben. — Und blasphemisch? Wilde: Das Wort Blasphemie gehört nicht zu meinem Vokabular.
Das war der erste Höhepunkt des kleinen Dialogs. Oscar Wilde lehnte eine der mächtigsten sprachlichen Artikulationen der Entrüstung ab – und damit die ganzen Zauberformeln, unter denen das Obszöne eine prominente Rolle spielt. Nicht eine Sekunde des Prozesses, der fünfundsechzig Jahre später stattfand, war so erhellend. Ein weiteres Bekenntnis Wildes lautete: Ich glaube nicht daran, daß irgendein Buch oder Kunstwerk je die Moral beeinflußt hat. Das ist ein problematischer Glaube; aber er ist immerhin weniger wacklig als die sture, implicite Voraussetzung der siebenunddreißig Verteidiger 1960: daß ein Buch gegen den Vorwurf, Lust-Gefühle zu reizen, verteidigt werden müsse. Und dann brachte Wilde die Situation des Schaffens ins Bild, während 1960 nur vom Wohlverhalten des Dichter-Bürgers die Rede war: »Wenn ich ein Stück oder ein Buch schreibe, habe ich es nur mit Literatur zu tun, das heißt mit Kunst. Ich bin nicht auf Gutes oder Böses aus, sondern auf ein Gebilde, das Schönheit besitzt.« Nach dieser präzisen Psychologie des schöpferischen Prozesses schlug der Gegner zu: »Dann mag also ein gutgeschriebenes Buch, das eine üble Moral verkündet, ein gutes Buch sein.« Wilde parierte: »Kein Kunstwerk verkündet etwas.« Das war nicht Ästhetizismus, sondern die pure Wahrheit – obwohl hier übersehen wird, daß der Dich-
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ter das Durchkommen einer Botschaft nicht verhindern kann. Auf dieses Niveau der Erörterung brachte ein einziger Mann seinen Prozeß; er wußte, was Schaffen ist, und fürchtete sich nicht vor dem Terror, der die Zeugen der Wahrheit einschüchtert mit einem Das-sagt-man-nicht. Der Oscar Wilde-Prozeß 1895 hat wirklich stattgefunden – nicht nur deshalb, weil er zum Tod führte; auch weil es wenigstens einige Minuten lang zu einem Dialog kam, der zum Kern führte. Der Prozeß »Lady Chatterley« hingegen hat nicht stattgefunden. Nach der Verurteilung Oscar Wildes führten die Dirnen Londons einen Freuden-Tanz auf, weil sie glaubten, daß nun eine furchtbare Konkurrenz geschwächt sei. Die Folgen des Freispruchs der Lady waren weniger vital. Also: ein in England bisher verstümmeltes Kunstwerk durfte nun auch in England unverstümmelt erscheinen. Weitere Konsequenzen: 200 000 Exemplare wurden im Vorverkauf abgesetzt, 30 000 mehr für den Weihnachtsgabentisch angekündigt. Die Käufer standen Schlange vor den Buchhandlungen. Der glückliche Verleger sah auch einen nicht-kommerziellen Silberstreif: er prophezeite, daß kaum noch ein ernsthaftes Buch von einem ernsthaften Autor als obszön angeklagt werden wird; in der Hochstimmung hatte er Henry Miller ganz vergessen, dessen »Wendekreis des Krebses« fast genauso alt und genauso übelbeleumdet war wie die »Lady Chatterley« ... und sie überleben sollte als Quelle der Entrüstung. Aber selbst wenn dem so gewesen wäre, wie Sir Allen Lane, Gründer der Penguin Books, hoffte: sollte man als segensreich betrachten, daß es keine Gelegenheit mehr geben wird, die Aufmerksamkeit der Welt an einem nicht zu übersehenden Fall auf das Phänomen Obszön zu lenken – so daß dies Gespenst nie durchschaut werden wird? Denn tägliche Beschlagnahmen kommen nicht an die große Glocke; sie sind PolizeiAktionen gegen Buchhändler, die froh sind, wenn es dabei sein Bewenden hat.
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Der Prozeß um die »Lady Chatterley« hat nicht stattgefunden. So harften die Traditionalisten die alte Melodie weiter; und die Illusionisten, immer in Bewegung, die sie deshalb Fortschritt nennen, fügten den vielen alten Täuschungen noch einmal eine ebenso alte hinzu: daß die Freigabe eines beanstandeten Buchs unter Konsolidierung der alten Entrüstung ein Sieg der Helden des Lichts über die Schwarzalben sei. Diese Täuschung wird ihnen immer so leicht gemacht, weil es immer noch Rückschrittlichere gibt. Die London Times, Sprachrohr des Bswährt-Victorianischen (natürlich mit ein paar Rüschen weniger), schrieb: »Der gestrige Urteilsspruch ist eine Aufforderung an die Gesellschaft, sich dem Wechsel der Sitten und Verhaltensweisen, der daraus entstehen könnte, zu widersetzen.« Und man widersetzte sich. Der Erzbischof von Canterbury rief den Bischof, der sich für die fromme Philosophie des Waldhüters fromm ausgesprochen hatte, zur christlichen Ordnung: »Das Christentum lehrt, Ehebruch, in der Tat oder nur in lustvollem Begehren, ist eine Sünde.« So machte er den Verheirateten klar, daß sie bereits vom rechten Weg abirren, wenn sie, in Identifikation mit dem Waldhüter, sich zur Lady ins Bett legen. Und in der Westminster Kathedrale warnte ein Monsignore vor Leuten wie E. M. Forster und Rebecca West (wie es schon der Richter getan hatte): »Laßt Euch nicht durch Experten verführen.« Durch wen denn? »Die Kirche ist Hüter der Moral ihrer Kinder.« Es tauchten eine ganze Reihe von Hütern auf. Schottland hielt sich nicht an den Spruch gebunden, weil es das Gesetz nicht hatte, auf das er sich berief. Eine große Buchhandlung Londons erklärte, sie würde das freigesprochene Buch unter der Theke bergen. Die Stadtbüchereien beschlossen, den Roman nicht auszulegen. Eine Zeitung druckte »Lady Chatterley« in gesäuberten Fortsetzungen, als hätte der Verleger nie erklärt, eine beschnittene »Lady Chatterley« käme nicht in Frage. Ein Papier-Händler kaufte die Theater-Rechte für eine Aufführung – exclusive der schlimmen Worte; ein Lon-
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doner Club gab dann sowohl die Worte als auch Ladys nackten Rücken, unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Der alte französische »Lady« Film wurde gezeigt; die Darrieux ist eingehüllt in Kleider, die bis auf die Fesseln reichen. Die Freunde des Lawrence glaubten wirklich, daß sie mehr als die Freigabe eines Buchs erreicht hatten. Der Verleger teilte stolz mit: ein Journalist habe während der Verhandlungen gesagt, zwei Welten hätten im Gerichts-Saal einander nicht in einem einzigen Punkt berührt. Tatsächlich gab es dort nur die eine solide Welt; die kleine Differenz zwischen den Gleichgesinnten war, ob man für das Werk eines so angesehenen Manns eine Ausnahme machen soll oder nicht. Zu den alten Illusionen kam noch eine neue, die namentlich in Deutschland grassierte: der Urteils-Spruch sei ein Zeichen, daß die Kluft zwischen der progressiven Avantgarde und dem mündig gewordenen Mann auf der Straße sich geschlossen habe. Das war gar nicht möglich, da es gar keine Avantgarde gab. Vor allem aber waren jene Zwölf nicht Zwölf auf der Straße, sondern in einem luftdicht abgesperrten Raum, unter dem Wort-Bombardement von Rhetoren, christlichen Raritäten und Schrift-Gelehrten. Wie war es möglich, bei diesem kontinuierlichen Lärm, ohne die Möglichkeit, um Aufklärung zu bitten, der inneren Stimme zu lauschen? Wie was es möglich, zu lernen – ohne Lehrer? Ihr einheitlicher Spruch war eine Art von unconditionel surrender. Was anders hätten sie tun können? Ein Jahr später wurde in England eine Grammophon-Platte hergestellt, die den Kindern die Fakten der Fortpflanzung beibringen soll. Die Eltern mögen dabei sein, meinte ein Psychologe, wenn es sie nicht geniert. Es wird hier nicht nur der Ursprung des Babys erklärt, sondern auch der Unterschied zwischen Liebe und Vernarrtsein. Liebten die Lady und ihr Waldhüter einander? Oder waren sie ineinander vernarrt? Vielleicht sollen die Heranwachsenden vor dieser Marotte von Anfang an beschützt werden. So wird immer die Liebe zur letzten Waffe gegen den Sex.
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Denn human love raised its mansion in the place of excrement, wie Yeats gedichtet hatte; und die Prozesse gegen das Unanständige hatten immer die Funktion, den Palast Liebe aus dem Latrinen-Viertel herauszuholen. Was bisher nicht gelungen ist. Was bisher noch nicht aufgegeben wurde.
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Los Angeles 1962 Der obszönste Schriftsteller der Welt-Literatur
Zwei Zitate, zusammenmontiert als These und Widerlegung: Edgar Homier, Chef des amerikanischen Sicherheitswesens: Wir wissen, daß in einer überwältigenden Zahl von Fällen Sexual-Verbrechen und Pornographie verbunden sind. Albert Ellis, Doktor der Psychologie und Psychotherapie: Wenn wir zeigen könnten, daß neun von zehn großen Künstlern oder Komponisten sich ziemlich gut im pornographischen Schrifttum auskennen, dann könnte man nach dieser »Logik« schließen, ihre Bekanntschaft mit Pornographie brachte sie dazu, bedeutende Bücher zu schreiben, bedeutende Musik zu machen!
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Mit dem Meisterschafts-Titel »Der obszönste Schriftsteller der Welt-Literatur« wurde der Amerikaner Henry Miller von dem englischen Kunst-Kritiker Herbert Read ausgezeichnet. Ein hoher Orden; denn die Welt-Literatur hat auch auf diesem Gebiet Beträchtliches hervorgebracht. Dem Adjektiv »Obszönst« wurde eine kleine Einschränkung angehängt: im Sinne des Fachausdrucks. Damit sollte die moralische Denunziation, die in der nicht-fachlichen Bedeutung des Wortes steckt, annulliert werden. Dem Superlativ »obszönst« muß nach der Einschränkung noch eine Erweiterung zuteil werden; denn er zeigt nur an, daß Henry Miller alle Vorgänger im Visuellen und Sprachlichen übertrumpft hat. Er hat viel mehr getan: Sexus – meist am Rande, behaglich-neckisch, seltener leidenschaftlichjubelnd – ist hier nicht nur in den Mittelpunkt der MenschenWelt gerückt; er ist so vielfältig wie sie, so fragwürdig wie sie, so erhebend wie sie, so teuflisch wie sie. Das Unanständige rückt aus seinem Sonderdasein in die Mitte. Das geschah auch schon bei Lawrence. Aber er malte nur eine Miniatur, den zärtlichen Coitus. Henry Miller schuf den volkreichsten Kanvas: Myriaden von Brüsten, Nabeln, Vaginas und Penissen; die Bezeichnungen sind deplaciert, Abstraktionen aus medizinischen Lehrbüchern. Er gab ihnen ihre Individualität. Noch nie ist eine Biographie des Sexus in solcher Breite ausgezeichnet worden, noch nie so anschaulich, noch nie solch eine Intimität von Aufschwüngen und Erektionen, von Fleisches-Unlust und Seelen-Unfrieden. In dieser Milchstraße aus sehr individuellen Kopulationen
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gibt es keinen Zynismus – und nie läßt er Gebet-Glocken läuten. Das Zynische und das Sentimentale, zusammengehörig, findet sich bei ihm nie. Nie wird die Lust verflüchtigt zur Erlösung (wie bei Lawrence bisweilen) und nie zum Venusberg-Schauder degradiert (wie bei Richard Wagner). Das Obszöne hat mit dem Mann Henry Miller und seinem Werk ein neues Lebens-Stadium erreicht. Es ist nicht mehr ein Sonder-Fall, eine Irregularität; es wurde eine der großen Chiffren menschlicher Existenz. Diese ist durch und durch anstößig, so daß jedes speziell Anstößige seine Spezialität einbüßt. Bisher gab es immer noch eine Möglichkeit, »Stellen« auszuradieren, einen Roman von dem Nicht-Salonfähigen zu säubern. »Lady Chatterley« konnte noch gereinigt, ihr Schöpfer als hochanständiger Mitbürger aufgebaut werden. Henry Millers Bücher haben nicht »Stellen«, sie sind eine einzige Stelle – so daß dieser Begriff unbrauchbar geworden ist. Und es erlauben diese betont autobiographischen Romanzen nicht mehr, den Citizen Henry Miller von dem Held seiner Erzählungen zu distanzieren. Die Irritation, die von diesem Mann und seinem Werk ausgeht, ist enorm. Sie ist widergespiegelt in superlativer Anerkennung und Ablehnung. Der amerikanische Poet Karl Shapiro nennt ihn den größten lebenden Schriftsteller. Die Zeitschrift »Time«: er sei jemand, der sich literarisch mit Schmutz befasse. George Orwell: er habe den Abgrund zwischen dem denkenden und nichtdenkenden Menschen erfolgreicher überbrückt als Joyces »Ulysses«. Der amerikanische poeta laureatus, Carl Sandburg, Mitte Achtzig: dieser Henry Miller war krank, an dem oder jenem, als er den »Wendekreis des Krebses« schrieb. Lawrence Durrell: spätere Zeiten werden sein Buch »Sexus«, von dem einige Teile ganz haarsträubend sind, mit jener Ehrfurcht lesen, mit der Gläubige die großen indischen Felsentempel und ihre obszön-religiösen Skulpturen besuchen. Faulkner, über Henry Miller befragt: Tut mir leid, kenne ich
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nicht. Aldous Huxley: Das Werk hat mich künstlerisch in einem Maß aufgesaugt, wie es kein El Greco-Gemälde je tun könnte. Bestseller Leon Uris, Autor von »Exodus«: Ich glaube nicht, daß dieser Mann ein Schriftsteller ist. Henry Miller: Ich bin kein Schriftsteller im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Er ist erst recht kein obszöner Schriftsteller im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Und es gibt eine gute Methode, sein Obszön aus dem allgemeinen Obszön-gleich-Obszön herauszufischen: wenn man ihn vor dem Hintergrund der langen Tradition sieht, zu der er – nicht gehört. Er ist nicht das Bekannte, nur schlimmer. Das zeigt schon der kürzeste Blick zurück. Er heizt nicht durch Andeutungen ein, Unruhe stiftend und zugleich sänftigend, wie die reizenden Rokoko Lüsternheiten von Apulejus bis Wieland und den charmanten Gewagtheiten Thomas Manns; und selbst Casanova ging nur ganz selten einmal ein klein bißchen weiter. Unser Zeitgenosse kühlt durch Deutlichkeit ab. Er ist auch nicht derb-primitiv und versöhnend in der Bewunderung für die Göttin Fruchtbarkeit: wie Rabelais und Grimmeishausen. Unser Zeitgenosse Henry Miller stärkt sich nicht am üppigen Busen der Natur. Diese Üppige erscheint eher im Zwielicht zwischen Fruchtbarkeit und bösartigem Wuchern. Henry Miller ist nicht Rousseau. Und ganz und gar kein antiker Heide wie der römische Syrer Lukian im Zweiten Jahrhundert. Seine Glycera und Thais und Myrtion und Philinna sind zwar gelegentlich recht eindeutig zweideutig – wenn Thais die eifersüchtige Freundin tröstet: »Du wirst einen andern ausquetschen, laß diesen laufen«; im übrigen aber sind sie kleine Mädchen, deren Körper man vor Verliebtheit und Herzensweh und Klatschsucht kaum sieht. Sie gehen (genau wie die Anständigen) zur Zauberin, um den untreuen Schatz zurückzugewinnen. Sie bringen ihr eine Drachme und ein Brot; oben drauf müssen noch sieben Obolen liegen, Salz, Schwefel und eine Fackel. Dann soll noch etwas von dem Mann sein, ein Kleidungs-
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stück oder einige Haare ... um an ihn näher heranzukommen. Melitta war im glücklichen Besitz seiner Pantoffeln. Was haben diese Hetären gemein mit ihren Berufsgenossinnen, die Henry Miller abgebildet hat? Den Beruf! Im übrigen ähneln sie einander wie – sagen wir: Rom 200 und New York 1962, es sind zwei Städte. Eine zwillingshafte Ähnlichkeit hingegen besteht wohl zwischen spät-antiker und gegenwärtiger Entrüstung. Der fromme Lexikon-Verfasser Suidas behauptet, der Autor jener »Hetären-Gespräche« sei schließlich von wütenden Hunden zerrissen worden, weil er sich ohne Respekt über das Christentum geäußert habe. Er hatte sich auch über vieles andere wenig respektvoll geäußert – und wurde nach seinem Tode viel verrissen. Henry Miller braucht nicht so lange zu warten. Ihm geschieht schon zu Lebzeiten, was dem zahmeren Vorgänger offenbar erst zu guter Letzt beschieden war; denn Lukian ist immerhin ein hoher Gerichtsbeamter der Provinz Ägypten gewesen. Aber auch wenn sie Brüder waren im Anstoß-erregen, man verwechsle nicht, was sie wollten und vollbrachten. »Um die Seele eines Dichters zu durchschauen«, schrieb Baudelaire, »muß man in seinem Werk diejenigen Worte aufsuchen, die am häufigsten vorkommen. Das Wort verrät, wovon er besessen ist.« Aber das Wort außerhalb des Zusammenhangs verrät noch nichts. Wie es nicht nur eine einzige schöne Sprache gibt und eine einzige realistische und eine einzige pathetische – nur viele Schönheiten, Realismen und Pathetiques, so gibt es auch nicht nur eine einzige unanständige Sprache. Man verwechsle ihn nicht mit der antiken Offenheit und nicht mit der Renaissance-Unbekümmertheit des Aretin und nicht mit dem Stallgeruch des Siebzehnten Jahrhunderts. Wenn Henry Miller von »Pferde-Pisse und Löwendung« redet, so breitet sich keine Behaglichkeit aus. Das Durchstoßen dessen, was Nietzsche das »dünne Apfelhäutchen« Kultur nannte, wird sehr ungemütlich praktiziert. Man verwechsle ihn auch nicht mit dem großartigen Raffi-
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nement der Grande Nation in der Zeit ihrer Grandeur: wie es in der Literatur geschildert ist, die mit Madame de Lafayettes »Die Prinzessin von Cleve« begann. Der Marquis de Sade resümierte in der »Geschichte der Juliette« am besten, was der Esprit für die Lust tat: »Es genügt nicht, zu genießen, man muß den Genuß noch zergliedern können.« Seine Erhöhung durch Reflexion ist in jenem Dixhuitieme zur Vollendung gebracht worden. Henry Miller ist fern dieser Welt. Man verwechsle ihn schon gar nicht mit der vernünftigen Entblößung im Zeitalter der Aufklärung. Damals begann Amerika, sich an Europa anzulehnen: in der Philosophie, in den Künsten und in der Pornographie. Es gab viele Importe, einige hausgemachte Varianten und kaum Selbständiges. Eines der frühesten Originale konnte erst anderthalb Jahrhunderte später veröffentlicht werden. Es stammt von einem erlauchten Gründer der Vereinigten Staaten. Benjamin Franklin fingierte einen Brief an die Königliche Akademie zu Brüssel. Erfinder des Blitzableiters, gelernter Bastler, schlug er den Akademikern ein Verfahren vor: wie man den menschlichen Süd-Wind, welcher den Nasen der Nachbarn auf die Riech-Nerven geht, in einen besseren Geruch zu setzen vermag. Man mische in die Nahrung chemisch hergestellten Puder, der den üblen Duft nicht nur geruchlos macht, sondern angenehm parfümiert. Franklin war nicht nur ein vergnüglicher Spaßmacher und urbaner Mitbürger, voll Glauben an die Verbesserung des Unvollkommenen, auch ein Zeitgenosse Rousseaus, des Schwärmers fürs Natürliche. Also lautete das Problem: wie kann man einerseits dem natürlichen Drang nachgeben (die Verdrängung mag üble, naturwidrige Folgen haben) und andrerseits seine soziale Pflicht erfüllen, sich angenehm zu machen? Franklins Rezept war das Resultat eines menschenfreundlichen und die Natur verehrenden Nachdenkens. Ebenso könne die penetrante Ausdünstung des Wassers, das
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abgeschlagen wird, wohlriechend verwandelt werden. Man möge ruhig Spargel essen; der Zusatz von einem Tröpfchen Terpentin läßt die Ausscheidung nach Veilchen duften. Was haben die Philosophen, was hat Aristoteles zum Glück der Menschen beigetragen? Diese Frage war nicht nur ein Scherz, auch ein rhetorisches Nicht-Viel! Was nützte Descartes' Entdeckung des Wirbels – dem schmerzhaften Wirbel im Bauch? Der zukünftige Gastgeber wird nicht so sehr wissen wollen, ob die Gäste Ciaret vorziehen oder Burgunder, Champagner oder Madeira – als: ob ihre Befreiung vom Druck im Leib nach Muskat duften soll oder nach Rosen. Der Pragmatismus war der Nation schon in die Wiege gelegt worden. Franklins Brief bewegte sich auf dem schmalen Grat zwischen Spaß und Erziehung des Menschengeschlechts; der akademische Ton macht das Peinliche ulkig, das Ulkige macht das Akademische anmutig. Dies neckische Lüften des Vorhangs ist Millionen Sternen-Jahre entfernt von Henry Miller, der alles ist – nur nicht neckisch. Und ein Jahrhundert nach Franklin, 1876, hatte sich Mark Twain noch nicht um einen Millimeter dem Nachkommen Henry Miller genähert, obwohl es so aussieht. Nach der Beendigung des »Tom Sawyer« und vor Beginn der »Abenteuer des Huckleberry Finn« verfaßte der gesittete Humorist seine höchst extravagante kleine Erzählung »1601. Konversation an geselligen Kaminen zur Zeit der Tudors«. Und schrieb einem Bibliothekar: sollte noch ein anständiges Wort stehen geblieben sein, dann habe ich es übersehen. Und ließ trotzdem noch nicht im entferntesten ahnen, was wenige Generationen später, in unseren Tagen, geschehen wird. Das kleine Werk, das in Amerika vierundvierzig mehr oder weniger exklusive Ausgaben erlebte, gehört zu den Glanzstücken jener erlauchten Pornographie, die, um des Autors willen, zur Welt-Literatur gerechnet werden muß. Queen Elisabeth und ihre Tafelrunde (Lord Bacon, Sir Walter Raleigh, Ben Jonson und einige Hofdamen zwischen Siebzig und Fünfzehn; die Mutter der Fünfzehnjährigen, sechsundzwanzig
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Jahre alt, war auch dabei) werden aus ihren Tafel-Freuden aufgestört durdi einen gewaltigen Knall und einen durchdringenden Gestank. Die Queen ruft, voll Bewunderung: »Weiß der Teufel, in all meinen achtundsechzig Jahren habe ich nie einen Mann gesehen, der so was zu Gehör bringt.« Die große Frage wird nun ausgiebig erforscht: wer war der Urheber? Jeder hält eine Verteidigungs-Rede, die oft zur Entschuldigung wird: man sei einer solchen Leistung nicht fähig. Bei dieser Gelegenheit wird Art und Funktion dieses nicht nur akustischen Phänomens eingehend erörtert. Langsam gleitet das Gespräch ins Nebengebiet: zu Montaignes Bericht über die Witwen von Perigord, welche Embleme von verwelkten Phallussen auf ihren Hüten tragen. Die Königin findet das nicht bemerkenswert; englische Witwen wären auch damit ausgerüstet, allerdings wären diese Dinger nicht verwelkt, zierten auch nicht den Hut – sondern ... siehe Aubrey Beardsley, hätte sie sagen können, wenn sie ein paar Jahrhunderte später auf der Welt gewesen wäre. Das delikate Prosa-Stückchen trug Mark Twain hohe Ehren ein. Der Deutsche Kaiser öffnete ihm seine Kollektion von Erotica, in Paris lud ihn die »Bauch«-Gesellschaft zu einem Vortrag ein; er sprach über »Die Wissenschaft von der Onanie«. Diese Opuscula stammen noch aus idyllischer Zeit. Mark Twain bot seinen Sarkasmus auf, um die feinen Leute ein bißchen darauf hinzustoßen, daß auch sie nicht nur aus Seide und höheren Redensarten bestehen. Die historische Szenerie und das Sechzehnte Jahrhundert-Englisch distanzieren; und die witzig-reflexiven Pointen schaffen einen weiteren Abstand. Der Leser schmunzelt. Ein Schmunzeln ruft Henry Miller kaum je hervor. Bei Mark Twain riecht man nicht, was der Truchseß der Königin in die Luft lancierte; sieht nicht dreidimensional, was die Witwen von Perigord am Hut und die englischen anno Elisabeth I. woanders hatten. Eine ästhetische Isolier-Schicht schützt die Sinne vor Beunruhigung. Die kräftige Humoreske Benjamin Franklins und die kräftigere Mark Twains haben dennoch
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etwas Zartes und Liebenswertes. Es wird dem gebrechlichen Menschen in verständnisvoller Zutraulichkeit auf die Schulter geklopft. Man zupft die Damen ein bißchen an ihrer cachesex, wie die Franzosen ein Bekleidungs-Stück nennen, das schon sehr dicht dran ist. Das peinliche, aufdringliche Ereignis, von dem Franklin ganz theoretisch spricht – bei Mark Twain spielt es sich geradezu während eines königlichen Schmauses ab, wird nicht so aufdringlich, daß der Leser, der doch während der Lektüre im selben Räume sitzt, sich die Nase zuhalten muß. Mit dem Verbotenen wird nur getändelt. Henry Miller tändelt nie. Er hat zum Verhüllten nicht das Verhältnis des charmanten Aufklärers. Er ist gefährlicher. Er ist auch gefährlicher als der liebe Casanova, der so gut bürgerlich abenteuerte und sein gesetztes Wesen gerade in den Sätzen verrät, welche nun schon die gewagtesten sind: »Die Natur sprach gebieterisch, und wir mußten ihrem Rufe folgen. Nachdem ich mich mit einem Sicherheits-Käppchen versehen hatte, dessen Zerplatzen ich nicht zu fürchten brauchte, machte ich Hedwig zur Frau.« Henry Miller lebte und schrieb ohne »Sicherheitskäppchen«. Und er ist gefährlicher als Emile Zola, der die Nacktheit der herrschenden Dirne Nana mit Hilfe von Bühnen-Beleuchtung und theatralisierenden Worten bunt verkleidete. Nana tritt als Venus auf: »Ein Schauder durchlief das Haus. Nana war nackt.« Dieser »Schauder« ist bereits die erste Garnitur des Unterzeugs. Dann kommt die pompöse Phrase »Allmacht des Fleisches«, zweite Garnitur. Man sieht das angeblich allmächtige Fleisch nur in Transzendenz als »Venus, die Flutentstiegene«; ein »einfacher Chiffonschleier« ist aus mehr oder weniger mythologischen Verschleierungen gewoben. Immer hat diese Nackte hier etwas Kulissen-Geruch. Sie sieht sich in den Spiegel – und ,vernarrt sich in den Anblick. Sie posiert: öffnet die Arme, verweilt »beim seitlichen Anblick ihrer Brüste«, balanciert auf den Fußspitzen und gibt sich schließlich eine Vorstellung als »Bajadere im Bauchtanz«. Der Leser kann sie nicht sehen, außer im Opernglas. Da ist noch
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ein Herr in ihrem Boudoir, den sie und ihr Spiegelbild wild macht, der ist nicht im Spiegel – und kann sich nicht halten. Sie ist abgestoßen: »Laß los«. Dies Abblitzen wirkt so: als stürze ein Mann aus dem Parkett auf die Bühne – und zerstört den wollüstigen Monolog einer Schauspielerin mit seiner wenig gespielten Gier. Henry Miller aber hat nichts zu schaffen mit dieser Kluft zwischen Zuschauerraum und jenen Brettern, welche die Welt nur deuten. Seine Nanas rufen nicht einen heiligen oder unheiligen Schauder hervor; sie rücken dem Leser auf den Leib – und sind mehr oder weniger willkommen. Lawrence Durrell schrieb über ihn, an Alfred Perles: »Ich will Faulkner, Hemingway und andere nicht anschwärzen, aber sie sind nur literarische Handwerker wie wir selbst. Es besteht ein Qualitätsunterschied zwischen der machtvollen Besessenheit des Genies und den intellektuellen Kunstgriffen von Leuten wie uns.« Wer sich über diesen Satz ärgern sollte, denke außerdem noch über ihn nach. Die etwas schnöde Wendung von den intellektuellen Kunstgriffen wird dem Werk Faulkners, Hemingways und Durrells nicht gerecht. Aber was hier ein bißchen leichtsinnig gekennzeichnet ist, zielt auf eine Wahrheit: Henry Miller gehört nicht nur, nicht in erster Linie in die Geschichte der Literatur. Er ist der Autor, nicht der Berichterstatter, der poetische Arrangeur seines Daseins. Er gehört zur Rasse der Fanatiker, das sah man schon dem Knaben an. Was ist ein Fanatiker? Er antwortete: einer, der leidenschaftlich glaubt und auf Tod und Teufel danach lebt. Er glaubte, daß für jeden Henry Miller oberstes Gesetz Henry Miller ist. Er war nie zeitgemäß wie Hemingway nach dem Ersten Weltkrieg: Sprecher einer Generation von Europäern und Amerikanern, photographierbar mit Stier, Pferd und Gewehr. Henry Miller hat eine unterirdische Aktualität: in seinem Drang zur Entgrenzung, der die Gegenwart im Tiefsten beherrscht und immer negativ gedeutet wird als »Verlust der Mitte«, während er viel mehr ein Verlust der Enge ist.
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Millers oberster Satz lautet: »Jede Art von Außenreiz hat Zutritt, nichts wird abgewiesen. Ich habe in bezug auf die Unordnung keine Angst.« Das ist die Wurzel der seriösesten Obszönität. Er ist die radikalste, fröhlichste Aufsässigkeit. Ihr Symbol ist die Freisetzung des gefangensten Gefangenen: des Leibes, vom Nabel südwärts. In ihm hat man immer die Ur-Wurzel aller Anarchie gefürchtet. Henry Miller ist nicht nur ein Pornograph, der viel Neuland beschrieben hat, er ist mehr: eine obszöne Existenz. Wer seine Schriften verhaften will, verhaftet besser ihn. Er wehrte sich ein Leben lang gegen alle Ordnungen, die ihm immer Einengungen waren. Es begann mit dem Schüler. Der ließ sich nicht in die Tradition hineinzwingen und zog alles, wozu man ihn erziehen wollte, vor seinen Richterstuhl: nicht so sehr vor das Tribunal des Verstandes wie der Sinne und Triebe. In einer Zeit, in der sich andere lernend unterwerfen, begann er, sich loszusagen: von den Eltern, von der Stadt New York, von dem Land Amerika, von den Leitbildern der westlichen Zivilisation. Die Unabhängigkeits-Gier, Quelle seiner Leiden und Seligkeiten, machte ihn vogelfrei, frei wie kein Vogel; Taugenichts-Ungebundenheit und gesellschaftliche Ächtung sind Teil-Aspekte dieser zwielichtigen Situation. So konnte er sein Leben nicht beschreiben als Henry Millers Lehr-, Wander- und Meister-Jahre; obwohl diese vielbändige »Dichtung und Wahrheit« chronologisch geordnet werden kann: in diesem Band sind die frühen Jahre geschildert, in jenem die Zeit vor dem Verlassen Amerikas, in dem dort die erste Pariser Zeit... der Held war nie jünger, wird nie älter. Die Kategorie des Reifens hat nur innerhalb einer bestimmten Metaphysik einen Sinn. Mit dem Wort »autobiographisch«, das er selbst seinen Schöpfungen angeheftet hat, ist nicht viel gesagt; es gibt viele Arten von Selbst-Darstellungen, die verschiedensten Motive brachten sie hervor. Georg Brandes hat einmal drei Typen katalo-
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gisiert. Eins: so sehr irrte ich vom rechten Wege ab, so wurde ich bekehrt. Augustinus! Zwei: so schlecht war ich, wer aber wagte es, sich für besser zu halten. Rousseau! Drei: so formte sich langsam von innen heraus und durch die Umstände ein Genie. Goethe! Henry Miller irrte nicht und fand nicht die Wahrheit; zeigte nicht böse auf sich und forderte niemand heraus: er werfe den ersten Stein auf mich; und bewunderte schon gar nicht sein Leben als Kunstwerk. Sein Selbst-Porträt will nichts sein als er selbst—noch einmal. Er existiert doppelt: zweitens auf dem Papier. Dies Doppelt ist zu hart hingesetzt. Zwischen solch einem Leben und seinen Druckseiten findet eine Osmose statt; er lebt auch als Roman-Figur und bisweilen atmen die Druckseiten und zwar recht unzensuriert. Mit Goethe, Rousseau und Augustinus hat er nur eins gemein (was sie alle trennt von der stärksten idee fixe unseres Jahrhunderts) – und Henry Miller drückte es so aus: das soziale Leben ist »die kleinere und geringere Seite des Daseins«. Er gehört zu den großen Einzelnen im Zeitalter der großen Herden und der großen Mächte. Er ist ein Fanatiker der Ungebundenheit. Es ist, als verlöre einer die Schwerkraft; er ist überall und nirgends. Selbst für einen Amerikaner hatte er reichlich viel Jobs: Geschirrwäscher und Botenjunge, PlakatAnschläger und Totengräber, Bar-Kellner, Müllkutscher, Schreibkraft bei einem Prediger, Hafenarbeiter, Turnlehrer und, und, und. Am liebsten borgte und bettelte er; es schien ihm weniger unnatürlich als Lehren und Redigieren. In einer sinnlosen Welt ist am wenigsten sinnlos, was nicht vorgibt, sinnvoll zu sein. Er ließ sich seine Freiheit etwas kosten; er hungerte und fror. Seine Seele schwebte über den Wassern. Er ging zu Lutheranern und Presbyterianern, Methodisten und Episkopalisten, Bahäis und Sieben Tage Adventisten, Quäkern und Mormonen. Ist er heute noch beim Zen Buddhismus? Er war es gestern. Er ist der geborene Passant. Keine Überlieferung hielt ihn. Keine Profession setzte ihn fest. Er gehörte nie einem
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Klub, einer Loge, einer politischen oder sozialen Organisation an. Man bedauert fast, daß er Mitglied der amerikanischen Akademie geworden ist. Es paßt nicht zu ihm. Der Siebzigjährige versichert: »Ich bin noch immer Anarchist.« Er sagte es schon einmal, provokativer: »Zurück zur Unverantwortlichkeit des anarchischen Menschen.« Diese Zuspitzung geht über alles hinaus, was von Rousseau, Stirner und Emma Goldmann, seinen Meistern, verkündet worden war. Henry Miller ist das vollendete Pendant zur herrschenden Unverantwortlichkeit des Bürokraten, der die Verantwortung auf den Vorgesetzten schiebt – aufwärts bis zum großen unbekannten Chef. Das Bild vom Anarchisten muß aus seiner Restriktion im politischen Wörter-Buch herausgenommen werden. Henry Miller will nicht Anarchie, er ist eine. Die traditionellen großen Worte charakterisieren ihn nicht, auch wenn er sie gebraucht – zum Beispiel diese »Freiheit«. Sie weckt Erinnerungen an die klassisch-idealistische Definition: freiwillige Bindung an ein Gesetz. Davon kann keine Rede sein; jene Freiheit führte zum unfreien »Immanuel Leisetreter Kant«. Henry Miller lebt nicht unter einer Norm, auch nicht einer erwählten – eher als kleiner Privat-Vulkan; da wurden allerlei Stücke ausgeworfen, die auch der geschickteste Deuter nicht zu einem sinnvollen Mosaik zusammensetzen kann. Deshalb ähnelt sein Selbst-Porträt einer Serie von Paradoxen. Das bekannteste lautet: »Ich habe kein Geld, keine Hilfsquellen, keine Hoffnungen. Ich bin der glücklichste lebende Mensch.« Was da beim Brodeln ganz unordentlich über den Krater kam, soll hier ordentlich (wenn auch unvollständig) registriert werden. Da ist der sinnenfreudigste Romantiker, der die Blaue Blume im Schmutz der Gosse sucht, das heißt nicht außerhalb des sehr irdischen Leibs und der sehr irdischen Seele. Er ist glühend enthusiastisch und glühend feindselig und sogar glühend gleichgültig: »Ich habe nichts mit der knarrenden Maschinerie der Menschheit zu tun.« Die Glut ist seine Nor-
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mal-Temperatur. In seiner Umwertung ist er ein Über-Nietzsche; Nietzsche in einer Ära, die auch keinen Übermenschen will. Sein oberster Wille lautet: Freiheit von allen Rang-Ordnungen. Wie die radikalsten Romantiker hat er kein Programm – mit Ausnahme der steinernen Tafel, auf der die Programmlosigkeit verkündet ist. Er ist ein großer Verehrer des Bauchs; alle seine Triebe haben immer freudigen Appetit, bisweilen regierte diese vielfältige Freß- und Sex-Gier sein Leben. Und er ist, auch im Extrem, ein brennender Asket und versagt sich die fetteste Weide: wo einem, innerhalb der menschlichen Herde, der Futterplatz garantiert ist; und man verwendet seinen Scharfsinn darauf, viel mehr zu erhalten als das Garantierte. Der Hymnus auf die Vollere! und der Hymnus auf die Abstinenz von einem Leben, das allein zum Überfluß führt, machen aus seinem Dasein ein Gebilde, das es eigentlich gar nicht gibt. Clownerie (die es nie recht zu einer literarischen Gattung gebracht hat) mildert seine Glut. Das Ausspielen des Nichtgenormten wird immer als Verrücktheit genormt. Sie wurde seine Erholung. Das fand er früh heraus. Bei der Entlassung von der Schule fragte man ihn, was er werden wolle. Clown! Und noch im »Wendekreis des Steinbocks« seufzt er: »Ich hätte ein Clown werden sollen, da hätte ich die beste Chance gehabt, mich zu geben, wie ich bin.« Clown: das ist nicht eine Verkappung, sondern eine Entspannung. So warf er die Bürde ab, immer und ewig der eine aufbegehrende Henry Miller zu sein. Er verulkte sich, drehte sich eine Nase, guckte sich und den andern in der Manege amüsiert zu. Die Reihe seiner Selbst-Bildnisse zeigt nicht nur einen Marsch durch viele Höllen, in viele Himmel (zum Beispiel in die Seligkeit des Sich-Vollfressens und permanenten Coitierens) – auch eine unterhaltende Theaterei, inszeniert für den Ehren-Gast, den Zirkus-Besucher Henry Miller. Man lacht wie befreit, über die grausigste Situation: wenn der gute Doktor eine Lesbierin während der Untersuchung zu vergewaltigen sucht, sie ist es nicht ganz, und er meint es nicht
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ganz, sie übertreibt die Empörung und er den Eifer. Es ist recht abscheulich. Man prustet auch, um es wegzubringen, vor allem aber, weil die konventionellen Vorstellungen vor der unkonventionellen Wirklichkeit grotesk werden. Wie unkonventionell ist er? Es sieht beinahe so aus, als sei auch er ein Opfer des fadesten Aberglaubens geworden, der völkerpsychologischen Orthodoxie. Es sieht nur so aus. Nord-Amerika ist in dem Giganten-Kampf zwischen Henry Miller und seinem Land nicht so sehr ein überlebensgroßer Feind, ein Dämon, als einer der größeren Trabanten um die Zentral-Sonne Henry Miller. Sein Verhältnis zur Heimat ist vergleichbar der Beziehung des Zeus zu Vater Kronos: das Vaterland wollte Sohn Henry Miller fressen, so entthronte er es; und schleifte dann (das tat Zeus nicht) die Beute als Prügelknaben durch seine Bücher: sein Anti-Ideal, Inkorporation alles dessen, was ihm zuwider ist. Der Anti-Amerikanismus der Verlorenen Generation des Fitzgerald und Hemingway war nur eine kleine Neckerei im Vergleich zu den mythologischen Flüchen des Amerikaners Henry Miller gegen Amerika: »Man mag von den Mongolen und den Hunnen reden, im Vergleich zu uns waren sie Kavaliere.« Das Muster ist nicht neu. Am Ende von Hölderlins »Hyperion« stehen die Ausfälle gegen die Deutschen; alles, was er haßte (man würde heute sagen: den entfremdeten Menschen), nannte der deutsche Dichter »deutsch«. Und dies ist wiederum eine Variante des allgemeineren Benehmens: dem Bösen Schimpfnamen zu geben wie »Materialist«, »Kapitalist«, »Kommunist«, »Atheist«, »Imperialist« ... je nach der Mode; zur Zeit der Französischen Revolution war »Demokratie« solch ein gehässiger Spitzname, während dasselbe Wort heute noch von den vehementesten Anti-Demokraten umworben wird. Der Poet aus Brooklyn beschimpft seit dreißig Jahren alles Häßliche mit der Vokabel »Amerika«; diese Identifizierung mit dem Teufel wurde zum Gewohnheits-Zwang. Und da die Normal-Temperatur dieses Namengebers Siede-Hitze ist,
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schwitzen auch seine Flüche. Wenn er an New York denkt, erfaßt ihn »eine blinde, weiße Wut«: »Keine Hoffnung, solange nicht diese kolossale sinnlose Maschine, die wir aus Amerika gemacht haben, in Grund und Boden gehauen ist.« Das ist ein Leit-Motiv. Er konnte sich nicht genugtun an immer neuen Phrasierungen des Haß-Gesangs. Zum Teufel gehört als Pendant die Licht-Gestalt. Der Amerikaner Henry Miller folgte dem alten, lieben amerikanischen Brauch, sie »Europa« zu nennen ... schon lange, bevor er, fast vierzigjährig, auf die erste Pilger-Fahrt ins Heilige Land zog, nach Paris. Vor einer Europa-Reise hatte er vor, auf die Frage: weshalb wollen Sie Frankreich besuchen? zu antworten: »Weil ich wieder ein Mensch werden möchte.« Kultur und Europa wurden Synonyme, wie Barbarei und Amerika. Das sieht fast wie das Gerippe von etwas aus, was man ein Dogma nennen könnte. Aber im Leben dieses Anarchisten ist nicht einmal die Achse Gutes Europa – Böses Amerika stabil. Weder wurde er ein Europäer, noch kam er als Verlorener Sohn heim. Mit Siebzig ist er immer noch nicht zuhaus: nicht an der kalifornischen Küste und nicht an der Seine und nicht an irgendeinem Platz, wo er gute Tage hatte: zwischen Reinbek bei Hamburg (Adresse Rowohlt Verlag) und Griechenland. Man möchte sagen (wenn es sprachlich erlaubt wäre): er brodelt hin und her. Es ist durchaus nicht so, als hätten seine Amerika-Phobie und seine Europa-Verliebtheit einen Wandel durchgemacht; es ist nie so einfach gewesen. Von Beginn an lebten seine Illusionen und die dazugehörigen Enttäuschungen nebeneinander in seiner Brust. Da heißt es, unbeschadet der Amerika-Verteufelungen: »Amerika gibt es gar nicht. Das ist nur ein Name für eine abstrakte Idee.« Und er treibt die Entmythologisierung des wildwuchernden Millerschen Amerika-Mythos soweit, daß er erwägt: vielleicht geht mein Haß auf Neid und Bösartigkeit zurück, weil ich nie imstande war, ein wirklicher Amerikaner zu werden.
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Und sein Europa-Enthusiasmus schließt nicht die Erkenntnis aus, daß Amerika und Europa in gleicher Weise gezeichnet sind: der Titel »Untergang des Abendlandes« enthielte die Wahrheit. Er aber, Henry Miller, fühle nichts von Untergang. Der Hoffnungslosigkeit abendländischer Kultur setzt er nicht eine Hoffnung – nein: die Gewißheit entgegen, daß Henry Miller nicht untergeht. Und während er knietief durch Morast watet, ruft er sich ungebrochen zu: Henry, mach" weiter! Nichts mindert seinen »unheilbaren Optimismus«. Er ist nicht bezogen auf eine besseres Morgen. Die einzige These seiner Zuversicht lautet: der Mensch ist nicht unterzubekommen, er ist »unheilbar gesund«. Und er schreibt diese Widerstandsfähigkeit des Henry Miller der amerikanischen Wurzel zu: »Was meine Lebensgeister betrifft, bin ich ein Millionär. Vielleicht ist es das Beste am Amerikanischen, du glaubst immer an eine Zukunft, selbst nach dem nächsten Krieg. Wir Amerikaner sind immer zu einem neuen Versuch bereit, selbst wenn wir am Erfolg zweifeln.« Wir Amerikaner: das ist er und seine Verwandtschaft. Das ist Thoreau, Emerson, Whitman, der tausendmal mehr Amerika gewesen sei als die ganze Geschichte des ganzen Landes. Henry Miller fühlt sich stolz als Erbe eines Reichs im Überfluß; Überfluß und Wunder, das sei auch sein Glauben. Und er nimmt alles in Kauf – und belächelt sich stolz: »Ich bin ein wenig rückständig wie die meisten Amerikaner.« Und kehrte nicht heim. Und kommt immer nur auf Besuch. Und ist bis zu diesem Tage einer der unerkanntesten und gehaßtesten Bürger seines Landes. Unerkannt, nicht weniger von den Freunden als von den Feinden. Der Lärm um sein Obszönes brachte es seit einem Menschenalter an den Tag. Henry Millers Entmythologisierungen des Sexus werden vielfältig verharmlost: von Feinden durch Geschimpf, von Freunden durch Illuminationen, die, nach alter Weise den Splitter-
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nackten religiös-moralisch anleuchten. Das Beiwort »rabelaisisch« ist zum Beispiel einer der Wege zur Vertuschung. Das war er auch und noch ganz etwas anderes. In einer anderen Verharmlosung hat man die obszönsten Szenerien, die obszönsten Vokabeln (er akzeptiert das Wort) als Anti-Puritanismus geistesgeschichtlich eingeordnet und damit ad acta gelegt. Teil-Wahrheiten tun gern, als wäre mehr als ein Teil erhellt, und schützen so das Unerhellte. Richtig ist nur: ohne Puritanismus kein Henry Miller. Es waren natürlich auch jene puritanischen Verbote, die ihn enorm stimulierten, die Hosen herunterzulassen. Aus Trotz knipste er alle Lichter an, wo es bisher am dunkelsten gewesen war. I defy you, ich stelle mich trotzig entgegen, wurde sein ,Schlachtruf. Über die tabuierten Stellen des Körpers, seine tabuierten Funktionen und Aktivitäten wurde vor dreißig Jahren von ihm so viel Helle ausgegossen, wie zuvor Dunkelheit geherrscht hatte. Er ist hartnäckig aus auf Wiedergutmachung für die Unterprivilegierten. Freud demonstrierte, wie das Verdrängte in irgendeinem Symptom an den Tag kommen kann. Auch Henry Miller zeigt dies Stigma. Aber wird bei ihm nicht alles herausgeschleudert, nichts mehr unterdrückt? In seinen Überbelichtungen, in dem Aussprech-Fanatismus, mit dem er sich der Kur des Entblößens hingibt, bricht die Unterdrückung von Generationen durch. Die Gewalttätigkeit der obszönen Aussagen ist das ehrenvollste Krankheits-Symptom. Aber das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Die dirty words sind auch ein stellvertretender Protest gegen alles Tabuieren – und oft nur an der Oberfläche von unanständigem Charakter; das Wort unanständig selbst existiert in einem engeren und weiteren Sinn. Goethes »Mach es kurz! Am jüngsten Tag ist's nur ein Furz« ist von derselben Art wie Henry Millers: »Die Welt ist ausgepumpt; kein trockner Furz ist mehr übrig.« Diese Art Ausdruck entbehrt häufig des Spezifischen, das es anzuzeigen scheint; zielt weiter als auf die Aufdeckung der sexuell-analen Zone. Was aber bei Goethe nur eine gele-
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gentliche Ungeduld war, ist bei Henry Miller permanenter Aufstand. Die Worte, die nicht gedruckt zu werden pflegen, wurden als Sturm-Truppen eingesetzt, um alle Barrieren niederzubrechen. Henry Miller ist (wie jeder Moralist) Pädagoge. Dem Leser wird auch ein Pensum aufgebrummt. Es ist ähnlich wie mit dem politischen Engagement der Dichter: der ästhetische Genuß (erst recht der sinnliche) wird vom Appell beeinträchtigt. Nicht seine Immoralität, seine Moralität, in deren Dienst diese unsagbaren Worte stehen, nimmt dieser Pornographie eines Dichters viel von ihrem Reiz, dem direkt-sinnlichen und dem ästhetisch-sublimierten. So kommt es, daß kein anderes Werk des pornographischen Schrifttums der echten Pornographie so fern ist, obwohl der »Wendekreis des Krebses« und mancher andere seiner Romane »Dirnen-Literatur« wortwörtlich sind. Es sind vor allem Dirnen, welche in diesen Büchern die Welt des Sexus offenbar machen. Der leere Sammel-Name wird hier, wie kaum je zuvor, zu einer prächtigen Sammlung von unvergeßlichen Gestalten. Balzac, der es wissen mußte, der große Realist, schrieb: »Romane, ja alle Bücher, malen die Empfindungen und alles andere in weit leuchtenderen Farben, als sie uns die Natur bietet.« Henry Miller glückte es auch, den Dirnen die Farbe der Natur und noch mehr Farbe zu geben; bisher waren sie meist im Gewände der engherzigen Moral und der weitherzigen Sentimentalität versteckt worden. Da ist die Szene mit dem Hindu-Knaben, der nach Europa geschickt wurde, um das Evangelium Gandhis zu verbreiten. Er kommt in ein Pariser Freudenhaus ... und hat keine Freude daran. Er weiß mit den europäischen Installationen nicht Bescheid und erleichtert sich auf dem Bidet in seinem Zimmer. Die Spülung ist zu schwach, die Bescherung wird entdeckt – und dann stehen sie alle drumherum: die Stubenmädchen, die zu anderen Zwecken Angestellten und Madame persönlich, empört, fluchend, fauchend, gestikulierend. Auch der Leser wird gezwungen, da hineinzusehen, wo es
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herumschwimmt; nicht einmal die Angabe der Anzahl wird ihm erspart. Diese Puff-Szene schmeichelt den Sinnen nicht. Sie ist eine seiner Destruktionen, seiner Grenzverletzungen. Diese Durchbrüche (und gerade die wütendsten) sind nicht selten sexuellfäkal gewesen; gewiß, weil in dieser Sphäre am meisten Gegen-Druck aufgespeichert worden ist. Auch in Baudelaires »Blumen des Bösen«, in Grabbes »Herzog Theodor von Gothland«, in Kleists »Penthesilea« zeigt sich der gleiche Wille zur Zerstörung in der gleichen Sprache. Der Kampf zwischen der Amazonen-Königin und Achill wird so geschildert: Sie schlägt, die Rüstung ihm vom Leibe reißend, Den Zahn schlägt sie in seine weiße Brust. Sie und die Hunde, die wetteifernden, Onyx und Styx den Zahn in seine rechte, In seine linke sie; als sie erschien, Troff Blut von Mund und Händen ihr herab.
Und sie machte die orgiastische Erfahrung, daß Küsse und Bisse sich reimen, daß man das eine für das andere setzen kann ... weshalb? Näher an das, was Schmutz genannt wird, kam Grabbe, der deutsche Shakespeare. Der Neger Berdoa will Gothlands Mark aufzehren, seinen Stamm; will alles, was ihn beglückt, mit seinem Hauch versengen. Die Rede ist unflätig. Auf die Zeile: »Mein Leben würf' ich weg für einen Kuß auf ihre Lippen« folgt: »Wenn sie nun aber aus dem Halse stänke?« Und auf die Frage: »Wie geht es Deinem hübschen Nachtgeschirre?« wird erwidert: Da habt Ihr Recht, die ist ein Nachttopf! Sie sitzt in meinem Zelte; wenn Ihr pissen wollt, so steht sie Euch zu Diensten! Wo sie vorbeigeht, springen Die Hosenknöpfe los. Hat sie'ne tüchtige ...? Man kann darin Die Stiefel ausziehn. 334
Das ist bereits die Sprache Henry Millers, geboren aus derselben Zerstörungs-Wut; und das Nitroglycerin ist hergestellt aus denselben Säften. Die Ursprünge der Explosion sind verschieden; gemeinsam ist ihnen, daß ihr Ausdruck in der verbotenen Sphäre liegt. Henry Miller klagt, daß bisher kein Mensch verrückt genug gewesen sei, »eine Bombe ins Arschloch der Schöpfung zu legen«. Man nimmt solche Kraftausdrücke zu leicht (in der Regel mit dem Wort »Geschmacklos«), wenn man nicht auf ihre lange Ahnen-Reihe blickt. Sie zeigt auch einen Wandel. Baudelaire schrieb (und es gilt zum Beispiel für Kleist): »Es ist das wunderbare Vorrecht der Kunst, daß das Schreckliche, kunstvoll ausgedrückt, zur Schönheit wird, und daß der rhythmisierte, gegliederte Schmerz den Geist mit einer ruhigen Freude erfüllt.« Sein Sadismus war gewaltig – und noch rhythmisiert. Bei Henry Miller hat der Druck einen Grad erreicht, welcher Wort-Entladungen hervorruft, die nicht mehr »kunsvoll ausgedrückt sind«. Bilder und Sätze sind nicht mehr Schmerz im Takt, sondern unsublimiertes Dynamit. Das ist weder eine moralische noch eine ästhetische Unzulänglichkeit. In der Rangordnung seiner Sehnsüchte hatte die lebendige Erfüllung einen höheren Rang als die Petrifizierung im Werk, dem Ersatz. Es ist nicht immer so ernst. Und er selbst verharmlost gelegentlich seine literarischen Gewalttätigkeiten. In einem Offenen Brief hieß es einmal: »Wir haben keine Angst, zu töten, wenn unsere Ehre auf dem Spiel ist. Aber wir haben eine Todesangst vor ein paar guten anglosächsischen Worten im Druck.« Wären sie weiter nichts als das – weshalb hat dann Henry Miller so verbissen seine Sach' auf sie gestellt? Auch er schläft bisweilen und sieht dann rotwangig und pausbäckig aus, ein gar nicht terribles enfant terrible. Es ist komplizierter. In seinem Zerstörungs-Rausch sind zwei Ströme in eins geflossen; weshalb es so schwer geworden ist, sie auseinanderzuhalten. Es ist da die romantisch-leidende Wut, die schon
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in der »Lucinde« bis zum Wort durchdrang; geboren aus dem Leid an einer Welt, von der Rousseau schrieb: daß nur das schön ist, was nicht ist. Aber in diesem bitteren Rausch ist auch Süßes: die Lust zum Zerstören künstlicher Schranken, ein jubelndes Vernichten des schlecht Bestehenden. Daß jede Ordnung nicht wahr ist, das ist eine alte romantische Einsicht. Ein Blick zurück. Schnitzler schrieb: »Wir versuchen wohl Ordnung in uns zu schaffen, so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas Künstliches – das Natürliche ist das Chaos.« Vor ihm schrieb Kierkegaard: »Die Natur hat vergessen, daß sie Chaos ist. Ihr kann das aber jederzeit wieder einfallen.« Vor ihm schrieb Novalis: »Ich möchte fast sagen, das Chaos muß in jeder Dichtung durchschimmern.« Henry Miller ließ es nicht nur durchschimmern, es trat in seiner ganzen Macht ans Licht: »Das Chaos ist eine Schreibtafel, auf welches die Wirklichkeit geschrieben wird.« Baute man die Metapher aus: alles Geschriebene wird immer wieder gelöscht, die Tafel bleibt. Das Ewige ist nicht ein Kosmos, sondern die Nacht vor Anbruch des ersten Tages. Die Worte, die man dirty nennt, setzen diese Nacht in ihr Recht ein. Die beiden Ströme, zu einem geworden, werden manifestiert von dem einen Wort, welches die Generation diarakterisiert, die Henry Miller folgte: die Beats. Nach dem Slang-Wörterbuch bedeutete beat im Neunzehnten Jahrhundert jemand (oder etwas), der (oder das) unübertroffen ist. In unseren vierziger Jahren stand dann beat für: häßlich, in Unordnung geraten. Dann gab Jack Kerouac dem Wort wieder den ursprünglichen positiven Sinn zurück und die Etymologie: beatific (beseligend). You got the beat, ist zu übersetzen: »jazzisch« oder Du-bist-richtig. Beat wurde also vor Jahren in Unordnung geratenen jungen Menschen von ärgerlichen Ordnungshütern angehängt; wobei man mit dem nik noch den anti-russischen Komplex hineinbrachte. Die Angeschwärzten akzeptierten (wie das in der Geschichte nicht selten ist) den kränkenden Namen und machten aus ihm ein jubelndes
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Feldgeschrei. Sie wurden in ihrer Selbstauslegung eine Schar von glücklichen Menschen. Aber es steckt noch mehr in ihnen, wie der Ober-Beat Henry Miller verrät: die Geschlagenen, die rebellieren. Und vielleicht ist er nirgends amerikanischer als in diesem rebellischen Überrennen der Grenzen. So ist er nicht nur der attackierendste Autor der Welt-Literatur, auch der amerikanischste. Der allgemeine Trend zur Gleichförmigkeit hat die sehr amerikanische Tendenz des Beginns verdeckt: den Zug zum Sich-nicht-einordnen, zur Anarchie. Henry Miller ist eine völlig unzeitgemäße Nachgeburt. Neben Thoreau und Whitman, auf die er sich beruft, kann man auch den Philosophen William James, in mancher Beziehung der amerikanische Nietzsche, zu seinen Ahnen rechnen. Er hatte mitgeholfen, die überlieferte Welt aus ihren begrifflichen Fugen zu bringen. Auch in ihm lebte der amerikanische Traum, der einmal dem Wort »Demokratie« seine Faszination schenkte: Aufhebung aller Grenzen, die alle künstlich sind. Hinter dieser »Demokratie« steckte, als sie eine enthusiastische Vokabel war, die schöne Leidenschaft für die UnOrdnung. Und hinter Free speech und Freedom of the press steckte, als noch Begeisterung diese Vereins-Symbole belebte, Friedrich Schlegels Satz: »Fühlt man es, so muß man es sagen wollen, und was man sagen will, darf man auch schreiben.« Und diese Leidenschaft ist nicht völlig ausgestorben. Der Justice Harlan erklärte jetzt: »Das Federal Government hat keine Befugnis, nicht auf dem Wege der Post und nicht auf dem Wege des Zolls, den Verkauf von Büchern zu verbieten, weil sie den Leser auf ›Gedanken‹ bringen könnten.« Es gibt immer noch Amerikaner, in denen der Traum des Beginns am Leben ist: die Hingabe an einen Humanismus, den man nicht mehr erkennt, weil er recht anders aussieht als – was man in der Schule mitbekommen hat. Henry Miller ist mit vielen unfreundlichen Wendungen bedacht worden; eine lautet: »Rebel without cause«. Auf gut deutsch: nihilistischer Bombenschmeißer. Und tatsächlich ist
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er der rauhste Humanist, den die Welt gesehen hat. Seine Verkündung in bezug auf das verpönteste Gebiet: es ist unhuman, dem Menschen sein »Tierisches« vorzuenthalten. Allerdings sieht dieser ungehobelte Humane anders aus, als der milde, feinsinnige Erasmus, der durch die Jahrhunderte kopiert wurde und immer auftaucht, wo von Humanen die Rede ist. Sieht auch anders aus als dieser Homo: Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige Stehst du an des Jahrhunderts Neige, In edler, stolzer Männlichkeit, Mit aufgeschlossenem Sinn, mit Geistesfülle, Voll milden Ernst, in tatenreicher Stille, Der reifste Sohn der Zeit. Frei durch Vernunft, stark durch Gesetze, Durch Sanftmut groß und reich durch Schätze, Die lange Zeit dein Busen dir verschwieg, Herr der Natur, die deine Fesseln liebet, Die deine Kraft in tausend Kämpfen übet Und prangend er aus der Verwilderung stieg.
Schiller, zur Begrüßung des Neunzehnten Jahrhunderts, glaubte, daß die Natur die Fesseln liebet, die ihr auferlegt werden. Er war noch nicht gezwungen, der Entfesselung seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Er war noch nicht gezwungen, zu erfahren, wie der Mensch nicht frei wurde durch Vernunft, sondern geknechtet durch sie, nicht stark durch Gesetze, sondern verkümmert (zum Beispiel durch Obszönitäts-Gesetze); und wie er im Kampf mit der Natur, im Sieg über sie kein Sieger wurde, sondern ein Besiegter. Das alles wurde hundert Jahre später die Voraussetzung eines gewandelten, härteren Humanismus. Es sollen aber mit dem Prädikat Humanismus nicht die dirty words parfümiert werden; vielmehr soll er etwas von dem Tier-Geruch erhalten, der ihm fehlt, auf daß er an Wahrheit gewinne. Es soll ihm die Blässe genommen werden, die nicht von den Gedanken kommt, sondern von der Gedankenlosigkeit. »Gandhi mit einem Penis«, hat man Henry Miller genannt; seine Freunde und seine Feinde unterscheiden sich 338
darin, daß die einen ihm den Penis nehmen und die anderen den Gandhi. Diese andern machen Kremser-Partien nach dem pazifischen Big Sur, um sich seinem Sex-Kult anzuschließen – und erhalten von ihm ein gutes Mahl und das RückfahrtBillett. Die Feineren aber, die nichts als Gandhi sehen, haben wohl, als sie den »Wendekreis« lasen, ihren Körper vorher abgelegt. Doch er zeichnet den Schoß eines Pariser Straßenmädchens mit der Innigkeit, die ebenso ekstatisch wie unerbittlich realistisch ist. Seine Welt erstreckt sich in außerordentlicher Breite zwischen der untersten Hölle und dem obersten Himmel. Die Hölle ist auch für bescheidene Leser zu erkennen; aber die meisten Zeitgenossen sind noch nicht gewohnt, in der Zeichnung des Deltas einer Hure das sublimste Himmelsblau zu entdecken. Aus soviel Wurzeln entstand die kleine Ungeheuerlichkeit: Henry Millers Welt und Sprache; und die vielen Ursprünge sind noch nicht annähernd aus dem Gesamt-Geflecht herauspräpariert. Einer ist abgebildet in dem Satz: daß ihn nur eins »wesentlich interessiert: alles aufzuzeichnen, was in den Büchern weggelassen worden ist«. Welche Realität ist selbst im klassischen Realismus ausgeklammert? In Tolstois Roman »Anna Karenina« wird Kitty geschildert, wie sie auf den großen Ball geht. Sie ist im subtilsten Detail da: nicht nur psychologisch, auch photographierbar als eine Wolke aus Tüll; die Borten und Spitzen sind zum Greifen. Sie ist eine glänzend getroffene Fee, ein mit Exaktheit gezeichnetes Traum-Bild. Sie schwebt – höchst realistisch. Von den dichten, blonden Bandeaus auf dem lieben Köpfchen bis zu den rosa Schuhen mit den hohen geschweiften Absätzen: »ein junger Krieger vor der Schlacht«. Dazwischen, zwischen dem inneren Tumult und dem Gewebe aus Stoffen und Farben: nichts. Es werden auch ihre Lippen erwähnt und die
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Augen und sogar die entblößten Schultern; aber sie sind nur ein Reflex des beseelten Materials, von dem sie eingerahmt sind. Als sie ihren Hals im Spiegel betrachtete, wurde sie von dem Samtbändchen angeredet, das ihn schmückte. Aus Liebeskummer wird sie krank. Ein noch nicht alter, stattlicher Arzt wird hinzugezogen. Er verlangt, daß sie sich entkleidet. Sie unterwirft sich schweren Herzens dieser neuen Mode, weil der Doktor berühmt und die letzte Hoffnung ist. Kitty ist verwirrt und betäubt – ihr Körper bleibt unbekannt. Wie sich die unglückliche Liebe umgesetzt hat, bleibt unbekannt. Tolstoi schildert die Untersuchung auf weniger als einer Seite, ohne jede Präzision. Meisterhaft geschildert wird nur ein einziger Körper im Werk des großen Realisten: das Pferd Frou-Frou. Das ist nicht nur für Tolstoi charakteristisch. Es gab zwar Schilderungen von Krankheiten (vor allem vornehmen: zum Beispiel der Tuberkulose); aber in der Krankheit ist der Körper nur Objekt. Man hat dem individuellen Leib nie die Würde der individuellen Seele zugebilligt. So haben ihm Dichter und Denker nur eine sehr begrenzte Sprache geschenkt; das Vokabular, mit dem er in Erscheinung treten kann, ist ärmlich – wie jeder entdeckt, der sich seinem Arzt verständlich machen möchte. Man könnte, etwas übertrieben, sagen: der Körper blieb stumm, weil er nie recht beachtet wurde, außer in der Reparatur oder als Mittel zum Zweck. Am ehesten noch hat der Roman dem Erdenleben der Liebe Aufmerksamkeit geschenkt. Liebes-Geschichte und Roman waren lange fast identisch. Aber wo wurde die Geschichte der liebenden Körper mehr als ein nicht-gestalteter Annex? Als Emma Bovarys Sehnsucht das Gebiet des Sehnens und der Stimmungen transzendierte, schrieb Flaubert: »Sie gab sich ihm hin.« Und wo der Vorhang nicht ganz zugeht, wird noch sichtbarer: der große französische Realist meisterte nirgends weniger die Wirklichkeit, als in den Szenen, die im AbsteigeQuartier zu Rouen spielen. Der Körper ist unentdeckter als das unsichtbare Dasein.
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Es sieht so aus, als wäre es dann anders geworden. Es sieht nur so aus. Auch der Naturalismus scheute vor dieser Wirklichkeit zurück. Und das Neu-Heidentum schuf nur Nudistisch-Hygienisches. Man überschätzt die Entwicklung von der »alles versagenden Keuschheit des weiblichen Badekostüms« (wie Thomas Mann die Zeit um 1900 charakterisierte) zum Bikini. Brust und Leib und Rücken wurden zwar ein bekanntes Schaustück, aber nicht als individuelles Schicksal anerkannt. Auch nicht im amerikanischen Nachkriegs-Roman, der zwar vieles Nicht-Salonfähige zeigte – aber nur als Chiffre des Unbehagens in dieser Kultur. Auch Henry Miller stößt in Ablehnung, aus Ekel, in Verzweiflung Unflätiges hervor, weil in ihm die Auflehnung ihren reinsten, den unreinsten, also gemäßesten Ausdruck findet. Aber diese Formel wird noch nicht gerecht seinem leidenschaftlichen Drang zu einem extremen Realismus auf dem Gebiet der ignoriertesten Wirklichkeit. Es ist viel mehr als die Freude an der literarischen Eroberung eines neuen Feldes. Wenn er in einer Korrespondenz festhält: keiner der Jünger erwähnte, »daß Jesus furzte oder auch nur sich die Nase putzte«, so ist das leicht dahin zu interpretieren, daß eben jeder Naturalismus tendiert, kunstfeindlich zu werden, das Wesen ästhetischer Gestaltung und erst recht mythischer Gewebe zu verkennen. Tatsächlich kam etwas Wesentliches durch in diesem ungewönlichen Satz, der nicht aufklärerischgotteslästerlich verstanden werden darf: sein unbändiger Wille zur Entlassung des Körpers aus der kulturellen Knechtung. Solange die Frage so gestellt wird: sind seine Sätze Kunst oder Blasphemie, Kunst oder Schweinerei ... solange sind sie an einem falschen Maßstab gemessen. Seine autobiographischen Werke sind nicht »Bruchstücke einer großen Konfession«, das heißt: goethesch ziseliert. Die Absicht war nicht, sein Leben in den Rang eines Kunstwerks oder gar einer Legende zu erheben. Er ist ein Feind der Vollendung des individuellen Daseins im objektiven Gebilde. Es ist für ihn nur
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ein ärmlicher Widerschein. Er liebt die Sentenz des sterbenden Thomas von Aquin: »Alles, was ich geschrieben habe, erscheint mir jetzt als ein Haufen von Stroh.« Er ist leidenschaftlich gegen die, welche im Werk die Quintessenz des Werkers sehen. Deshalb nannte Goethe ein stuffed shirt, einen Pedanten, eine deutsch-bourgeoise Gottheit und stellte sich Thomas Mann vor, »wie er seine Romane im Hintergrund eines Feinkostladens schrieb«. Die Brief-Stelle, in welcher der neunundzwanzigjährige Thomas Mann schrieb: »Wenn Sie mich persönlich verschlossen fanden, so mag es daran liegen, daß man den Geschmack an persönlicher Mitteilsamkeit verliert, wenn man gewohnt ist, sich symbolisch, das heißt in Kunstwerken zu äußern« – ist Anti-Miller im Superlativ. Seine Urteile über Goethe und Thomas Mann künden nur eins: die Feindschaft gegen den Sieg der Kunst über den Lebenden. Es gibt einen Satz von James Joyce zu seinem Bruder, der von Henry Miller sein könnte: »Mir ist es völlig gleichgültig, ob ich jemals noch eine Zeile schreibe. Ich will leben. Man sollte mich auf Staatskosten erhalten, weil ich fähig bin, das Leben zu genießen.« Henry Miller sagte es noch zugespitzter: Schreiben ist nur ein Vorspiel. Sein Freund Alfred Perles variierte es radikaler: Schreiben ist ein Surrogat. In diesem Sinne hielt Henry Miller jeden Schriftsteller für einen »glatten Versager«. Er ist ein Künstler wider Willen – und sehr oft keiner. Aber es gibt vollendete Stücke: realistisch und überhöht von dem Jubel eines Mannes mit bösem Blick, der auch noch in das Leben vernarrt ist: ein dithyrambischer Naturalismus. Mona, seine Frau, ist nach Paris verschwunden. Er geht zum Times Square, in ein Tanzhaus, und dichtet es. Es ist eine höchst exakte Nachtmahr. Da ist ein Verlassener, Henry Miller, er wandelt durch eine Totenstadt und transponiert den Geruch der Verwesung in Sätze. Der Leser ist deprimiert – und empfängt die frohe Botschaft, daß es ein Lebender ist, der jeden Tag von der Hölle loskommt. Das gibt seinen traurigen Büchern ihre Lebenslust.
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Man hat seine Romane einen »Taubenschlag« genannt. Die Metapher gibt immer noch keinen Eindruck von diesem Trubel; ein falsches Gebiß und Bergsons Evolution creatrice und ein Bidet und Matisse und die Dirnen der Passage des Thermopyles und Dostojewski-Sätze und, und, und. Personen, Ideen und Sachen sind gleichberechtigt. Es wäre falsch, zu sagen, hier gehe es überdemokratisch zu; im »kratisch« steckt Gewalt, Ordnung, und das Wort »demisch« gibt es leider nicht. »Der Wendekreis des Krebses« ist mit fliegender Feder hingestrichelt; Menschen, Gedanken und Dinge folgen einem Gefalle, das kein Gesetz hat. Sogar die Druckseite, während man sie noch in der Hand hat, scheint zu fallen. Sein Gott ist nicht Apoll, sondern Prometheus, der weder Gestalten noch Begriffe bildete – aber laut schrie, aus dem rätselhaften Zentrum des Lebens. Alle Schönheiten, die Henry Miller geschaffen hat, sind ein Nebenbei. Das Leben bricht ein in das andere Reich, das man Kunst nennt. Man soll das nicht als Stil-Prinzip ästhetisch auslegen. Es ist dieser Durchbruch, dieser Gegenstoß gegen das künstlerische Sublimieren, welche die immensen Stürme der Entrüstung entfesselt haben. Die Vorbedingung aber, daß er ihr zum Trotz solches unternehmen konnte, ist die dissolute Gesellschaft der Gegenwart, die dem Künstler erlaubt (wenn auch nicht Erlaubnis erteilt), zu tun: was Balzac und Tolstoi nicht gestattet war innerhalb eines Gefüges, das nicht so aus den Fugen war und deshalb nicht eine Freiheit schenkte, wie sie Henry Miller genießt, trotz allem. Und die Montaigne, im dichteren Netz der Ordnung Franz' I. und Heinrichs IV., erst ersehnte. Im Vorwort zu seinen »Essays« heißt es: »Hätte ich mich unter jenen Völkern befunden, von denen man sagt, daß sie noch unter der sanften Freiheit der ersten Naturgesetze leben, so versichere ich, daß ich mich sehr gern ganz und gar abgebildet hätte, und splitternackt.« Die Sehnsucht nach der splitternackten Abbildung ist alt. Die amerikanischen Indianer aber,
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von denen Montaigne glaubte, daß sie unter der sanften Freiheit der ersten Naturgesetze leben, waren nur sein Traum (oder das Kleid für ihn); jene sanfte Freiheit hat auch in den vierhundert Jahren seitdem keine irdische Stätte gefunden. Aber es geschah, was Montaigne wohl nicht voraussah: daß der Zerfall des einen Gottes, der einen Welt und jeder soliden Gesellschafts-Struktur einigen Mutigen ermöglichte, splitternackt sich darzustellen. Auf Nackt-Photographien ist dies Splitternackte nicht abzubilden. Im Obszönen aber kommt viel zum Durchbruch: des Nackten Wut und Jauchzen, auch sein Clownisches – auch schlichte Angeberei. »Ich weiß«, jubelt der wütendrenommierende Clown, »wie man eine Mimi entflammt. Ich schieße heiße Bolzen in Dich, Tania. Ich mache Deine Eierstöcke weißglühen. Ich habe die Ufer ein wenig ausgeweitet, die Falten ausgebügelt. Nach mir kannst Du Hengste nehmen, Bullen, Widder, Drachen oder Bernhardinerhunde.« Balzac hat die Liebeslust eine Art körperlicher Gedanken genannt. So gedankenreich ist Henry Millers Körper: sein Zupacken, sein Ehrgeiz, sein Sich-Steigern, sein Genießen, seine Flucht in die Utopie vom Vitalen, sogar noch seine Albernheit. Sucht man für die Fülle dieser Obszönitäten die eine Formel, so ist sie bestimmt falsch. Man hat den gefürchteten Gattungs-Begriff in eine Reihe der Von-Fall-zu-Fall aufzulösen. Dann wird man außer dem Bombenschmeißer und dem erregten Dummen August auch noch dem Idylliker begegnen. Dieses Genre scheint reserviert zu sein für »Hermann und Dorothea«, Philemon und Baucis und den Pfeife schmauchenden Alten, der auf die Postille gebückt ist. Zu den friedlichsten Seiten der Welt-Literatur gehören auch Henry Millers Gesänge auf seine Pariser Lieblings-Pissoirs und das Klo im Kornfeld mit dem halbmondförmigen Ausschnitt in der Tür, durch den silbernes Licht hereinsickert. »Ich bin ein Mensch«, so stimmt er seinen Päan an, »der viel und häufig pisst, was ein Zeichen großer geistiger Regsamkeit sein soll.« Er klagt, was er da in New York zu leiden
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hat, auf der Suche. Und schwärmt von den vornehmen unterirdischen Waschräumen: was sie einem bieten, wenn man kaputt und hungrig ist. Doch gehört seine ganze Liebe den Pissoirs im Freien, im freien Paris: »Man pisst gern im vollen Sonnenlicht, unter menschlichen Wesen, die einem zuschauen und auf einen niederlächeln. Eine Frau, die sich niederhockt, um ihre Blase in eine Porzellanschüssel auszuleeren, mag ja gerade kein erfreulicher Anblick sein, aber niemand, der nur eine Spur Gefühl hat, kann leugnen, daß der Anblick eines Mannes, der hinter einem Blechstreifen steht und mit jenem zufriedenen, sorglosen, verlorenen Lächeln, jenem in die Ferne schweifenden, erinnerungsseligen, vergnügten Blick auf die vorübergehende Menge schaut, etwas Wohltuendes ist. Eine volle Blase erleichtern, ist eine der großen menschlichen Freuden.« Gesegnet der Mann, der sie ins Bewußtsein gehoben hat. In den Geschichten, die dem Humanismus gewidmet sind, gibt es nicht viele Sätze, die so human sind wie die Beschreibung seines Glücks im luftigen Blech-Verschlag zu Boulogne, der Hügel von St. Cloud zu seiner Rechten, die Frau im Fenster über ihm – und die Sonne scheint auf das stille Wasser des Flusses ... Mischte man solches in die Repetitionen der ererbten Phrasen, so würde vieles Großspurige herausgedrängt. Den Großspurigen gehört die Welt; ganz besonders jene besondere, die sich die Welt des Geistes nennt. Ein Prozeß brachte es wieder häßlich-leuchtend an den Tag. Die Arriere-Garde trat auf den Plan und brachte die Weltgeschichte um mehr als einen Inch den dunkelsten Zeiten der Vergangenheit näher. Los Angeles, Chicago, Philadelphia, Cleveland, Atlanta, Miami, Dallas, Houston, Seattle, St. Louis, Buffalo, Phoenix, Oklahoma City und, und, und . . . halten im Jahre 1962 eine Koexistenz ihrer Stadt und des Buchs »Wendekreis des Krebses« für unmöglich. Sein amerikanischer Verleger hatte 1942,
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als Student, eine Arbeit geschrieben: »Henry Miller gegen unsern ›Way of Life‹«. Zwanzig Jahre später konnte er seine These statistisch belegen: zweieinhalb Millionen Paperback stehen zur Verfügung – und in den meisten amerikanischen Staaten ist nicht ein einziges Exemplar zu haben. Der Schaden ist groß; allein Cleveland ist auf vier Millionen achthunderttausend Dollar Schadenersatz verklagt worden. Nachdem der »Wendekreis« seit Jahrzehnten im Ausland gepriesen worden war (Lawrence Durrell stellte ihn neben »Moby Dick« und die amerikanische Zollbehörde in ihren Giftschrank), machte man mit dem gefährlichen Buch 1961, siebenundzwanzig Jahre nach der Pariser Veröffentlichung, auch im Lande des Dichters seinen Frieden. Henry Miller traute dem Frieden schon nicht, als er noch gar nicht geschlossen war. Sein Pariser Verleger hatte ihn in Deutschland besucht und erst nach fünf Stunden und sechs Flaschen Mosel dahin gebracht, es mit den Amerikanern zu versuchen. So erschien das kleine Ungeheuer auch im Lande Jeffersons und Comstocks. Die New York Times und ein führendes Literatur-Blatt, die Saturday Review of Literature, empfingen das Lockere wie eine würdige Matrone. Die Blätter allerdings, die vor allem jene Kultur propagieren, welche von Miller die air-conditioned nightmare, der Luft-gekühlte Alptraum, getauft worden war, nahmen zwar gottergeben, aber mit gequetschter Stimme von dem fragwürdigen Eindringling Kenntnis. Die Post, die (wie der Zoll) Zensur-Befugnis hat, machte einen letzten Versuch, das Schlimmste zu verhindern. Aber das Justiz-Ministerium erklärte das Werk für legal. Und einige im Lande meinten: die Leute von der Brief- und PaketBeförderung sollten froh sein, wenn man ihnen endlich erlauben würde, sich dem zu widmen, wozu sie da sind: daß, wie es in alten Zeiten hieß, weder Schnee noch Regen noch Hitze noch die düstere Nacht ihre Couriere an der schnellen Erledigung der vorgeschriebenen Runden hindern.
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Das amerikanische Klima hatte sich seit Comstock und Theodore Roosevelt geändert; wenigstens sah es so aus. 1933 wurde Joyces »Ulysses« ins Land gelassen, wenn auch auf seltsam gewundenem Wege. Der wohlwollende Richter meinte: die Lokalität des Werks sei keltisch, die Saison, in der es spielt, Frühling ... das mache verständlich, daß sie immerzu gerade daran denken. Dann fragte er nach der Wirkung auf den homme moyen sensuel; in Amerika fällt einem Frankreich ein, wenn es um etwas geht, was risque ist. Die Frage erhielt eine stupende Anwort: zwar sei nicht zu leugnen, daß einiges Brechreiz hervorrufe – aber eben doch keinen Kitzel, in einem verschwiegenen Organ. Das war des modernen, irischen Odysseus letztes Abenteuer. So kam er in die Neue Welt, welche Übelkeit im Magen vorzieht der Lust etwas tiefer. In den Sätzen des liberalen, anpassungswilligen Richters kam die alte Angst Comstocks zum groteskesten Ausdruck. Und ein Revisor bestätigte das Urteil: das Buch sei kaum erotisch. So durfte es passieren. Eine Generation später kam dann »Lady Chatterley« durch den amerikanischen Zoll und mit der Post an, ein Jahr vor ihrer Londoner Ankunft. »In diesem Stadium unserer Gesellschaft«, schrieb ihr Richter, »überschreitet jenes englische Paar nicht die Grenzen dessen, was über Sex geäußert werden darf.« So milde geworden, tolerierte der Staat schließlich auch Henry Millers Amerikaner in Paris nebst ihrer Viertel-Welt, jener professionellen Hälfte der Halbwelt. Aber der Staat ist noch nicht das Land. Da gibt es die Listen der National Organization of Decent Literature; sie leiten die Polizisten. Da gibt es Männer in Amerika, vor allem Frauen und ihre Polizisten und ihre Staatsanwälte, ihre Theologen und ihre Universitäts-Professoren, die meinen, man solle jene landfremden amerikanischen Zigeuner in Frankreich, wie sie im Buch beschrieben sind, wieder hinausjagen. Und man hatte eine gesetzliche Handhabe. Jeder der fünfzig Staaten ist in mancher Beziehung souverän; er kann sich eine eigene Lynch-Justiz und
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eine eigene Obszönität leisten. Der eine Staat über den Fünfzig hatte die Verbannung des alten Buchs aufgehoben. Aber jeder Comstock jeder Stadt im weiten Reich konnte unter Berufung auf einen Paragraphen seines Landes den »Wendekreis« konfiszieren und den Verkäufer festnehmen lassen. Also geschah es. Und es gaben diese Geschehnisse einen tiefen Einblick in die gar nicht rätselhafte öffentliche Meinung. In Los Angeles hatte es eigentlich schon 1959 begonnen. Damals ging der City Attorney, der Stadt-Syndikus, mit einem Obszönitäts-Fall bis zum Obersten Gerichtshof – und verlor. Ein Buchhändler der Main Street, Elazar Smith, war zu dreißig Tagen Gefängnis verurteilt worden, weil er irgendein »Süßer als das Leben« verkauft hatte. Und gewann mit dem Argument: er wäre verantwortlich gemacht worden für den Inhalt eines Romans, den er nicht kannte. Man kann tatsächlich nicht verlangen, daß alle Buchhändler auch noch alle Bücher lesen, die sie auf ihren Regalen haben. So änderte man das kalifornische Gesetz: strafbar ist nur, wer Obszönes in voller Kenntnis der Ware absetzt. Also gerüstet, fing man abermals einen Smith, diesmal mit Vornamen Bradley R. und mit einem Laden am Hollywood Boulevard. Als Student hatte der Mann nur vierzig Seiten des »Wendekreis« gelesen, voll Ablehnung. Dann wurde in Gesellschaft immerzu davon gesprochen, er studierte das Ganze und fand es gut. Man klappte ihn mit den gleichen Methoden, mit denen man sich schon den ersten Smith geholt hatte. Nur mußten sie jetzt auch noch das Geständnis des Buchhändlers haben, daß er wisse, was er da verkaufe. Ein Polizist in Zivil begann ein Gespräch, steuerte auf das Wort Obszön zu, das der Verkäufer auch wirklich aussprach – und arretierte den Mann. Dieser Smith muß eine ungewöhnlich naive Type sein. Er war einst jahrelang Deputy Sheriff; man sollte annehmen, daß so ein Kundiger nicht in solch eine Falle geht. Und vielleicht verbreitete er sich über Obszön überhaupt nur, um mit seiner Männlichkeit zu prahlen. Der Detektiv packte zu.
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Vierundsiebzig Exemplare und ihr Händler wurden arretiert. Wie kommt so etwas ins Rollen? Da gibt es Bürger und Bürgerinnen, die Anstoß nehmen, meist (wie der »Reigen«-Prozeß an den Tag brachte), ohne das Anstoß-erregende zu kennen. Sie wenden sich an die Schutzleute, welche die Befugnis haben, zu beschlagnahmen, was ihnen schlecht zu riechen scheint. Sollte sich jemand wundern, daß es diesen Wächtern gegen Verkehrs-Unfälle und Einbrüche überlassen ist, zu entscheiden, was unanständig ist, so wird er von der Anklägerin Los Angeles belehrt: »Jedermann weiß das.« Jedermann wußte es immer: daß »Lucinde«, »Madame Bovary«, »Die Blumen des Bösen«, »Das Bildnis des Dorian Gray«, »Der Reigen«, »Ulysses«, »Lady Chatterley« obszön sind ... und nun die Bücher Henry Millers. Die Empörung braucht aber nicht von den Bürgern, Bürgerinnen und den von ihnen animierten Beschlagnahme-Beamten auszugehen. Irgendein Comstock, irgendein Professor Brunner kann die Initiative ergreifen. Er wird immer Mitbürger und Fahndungs-Streifen finden, die er vorschicken kann. Im Falle Los Angeles kam ein Ober-Polizist zu dem Stadt-Syndikus, der gewiß noch wund war von der verlorenen Obszönitäts-Schlacht zwei Jahre zuvor. Er las und fand hier »Latrinen-Literatur«. Er fand sie beleidigend – und beleidigte seinerseits die große Leserschaft Henry Millers in allen Ländern der Welt. Er meinte, sie müsse ihren Geschmack in Bedürfnisanstalten ausgebildet haben, in denen geistig zurückgebliebene, verbrecherische Teenagers Four letter Worte an die Wand gekritzelt haben... Sein Gegner, der Advokat des Buchs, fragte leider nicht: hat auch Aldous Huxley, einer der vielen hervorragenden Verehrer des angegriffenen Werks, in jenen Lokalitäten lesen gelernt? Die Anstoßnehmer, die ihre heiligen Gefühle lärmend schützen, zeichnen sich auch darin aus, daß sie auf die heiligen Gefühle ihrer anders fühlenden Mitmenschen ungewöhnlich wenig Rücksicht nehmen. Und dann: wie steht es eigentlich mit denen, welche die Be-
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dürfnisanstalten als Lese-Saal benutzen? Einer von ihnen war tatsächlich Henry Miller. Als Schüler, berichtete er in dem Buch »Schwarzer Frühling«, wußte er die Klos als Leseraum zu schätzen: »O die herrlichen Pausen auf den Toiletten! Ihnen verdanke ich die Kenntnis Boccaccios, Rabelais' und des Goldenen Esels. Alle guten Bücher habe ich auf der Toilette gelesen.« Es ist anzunehmen, daß der Stadt-Syndikus wenig von dieser Literatur und der geistigen Funktion der von ihm angeschwärzten Lokalität wußte. Die Jury bestand aus neun Frauen und drei Männern. Das Inkriminierte wurde von der ersten bis zur letzten Zeile laut vorgelesen. Die Methode ist ungewöhnlich. Auch in London wagte man nicht, den Geschworenen die »Lady Chatterley« mitzugeben, um sie am Herd des Hauses zu prüfen. So hatte man sich zu einer Klausur für die Geschworenen während der Lektüre entschlossen. Wollte man in Los Angeles den Zwölf diese Unbequemlichkeit ersparen? Der seröse, bebrillte Jüngling, der das Ganze zu Gehör brachte, gehörte zum Stab der Anklage-Behörde. Er hatte Übung; in den letzten eineinhalb Jahren war es schon das dritte Derartige, das er vorzutragen hatte. Sein Auftrag lautete: keine Deklamation. Er las monoton, in einem nichts verratenden Sing-Sang. Henry Miller hatte sich so etwas gewiß nicht vorgestellt, als er vor fünfunddreißig Jahren in Leidenschaft sich zu Papier brachte. Drei Tage redete der Jüngling, fünf Stunden täglich, ohne daß die Stimme versagte. Es heißt: viele Damen der Jury hätten sich empört, einige Herren hätten sich das Lachen kaum verbeißen können. Unbekannt blieb, wer auf diese Weise dies Buch aufnehmen konnte. Das Interesse der Bevölkerung war gering. Nicht viel hing vom Ausgang ab. Die Wirkung war schon längst eingetreten. Als der Strafantrag gestellt wurde, ließen die meisten Buchhandlungen der Stadt die gefährlichen Exemplare verschwinden. Andere hatten diesen Gang der Dinge schon vorwegge-
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nommen und seit langem keine Bestellungen mehr gemacht. Manche konnten die Konjunktur, die dank der staatsanwaltlichen Propaganda der Stadt eingetreten war, ausnutzen und verkauften im Nu den ganzen Bestand. Ein Buchhändler mußte verwarnt werden; er verteilte während der Verhandlungen seine Geschäftskarte, auf der zu lesen war, daß man von ihm per Post das angeklagte Buch haben könne. Einige Richter im weiten Lande hatten verkündet: »Die Geschworenen brauchen keinen Rat« und ließen Experten nicht zu. Los Angeles war freundlicher. Aber es zeigte sich, in Zeugnissen und Gegen-Zeugnissen, das alte Muster: die unzerstörbaren Substantive, Adjektive und Verben: schmutzig, bedeutend, ekelhaft, klassisch, zum Totlachen, morbid, langweilig, ehrenvoll, voll Galgenhumor. DieContras (von 1800, dem »Lucinde«-Skandal an, bis 1962) sind eins in ihrer dampfenden oder mehr zweckbetonten Entrüstung; aber sehr bunt in allerliebsten Einzelheiten. Die Sachkundigen, die in Amerika auftreten, heißen mehr oder minder Präsident; zum Beispiel gab es eine Präsidentin des California Congress of Parents and Teachers; in anderen Ländern haben dieselben Stützen der Gesellschaft andere Titel. Sie arbeiten meist mit einem sehr bescheidenen SchimpfVokabular und verraten nur selten, ob sie imstande sind, zu dem in Frage stehenden Buch einen Kommentar zu liefern, der über das Fluchen hinausgeht. Der Wort-Schatz, den sie zur Verfügung haben, ist klein und häßlich; auch nicht nach dem Grad der Bildung differenziert, weil er außerhalb jeder Bildung liegt – höchstens nach der Profession. So erging sich ein Psychiater zwar auch in der allgemeinen Schimpfwort-Orgie, wenn er den »Wendekreis« ein Buch für Kannibalen und Tiere nannte; zeigte aber daneben, zu welcher Innung er gehört, als er von einer Freudschen Couch-Katharsis sprach, einer autobiographischen Krankengeschichte. Ein entrüsteter Bankbeamter, Waffen-Fabrikant oder Schornsteinfeger würde seine Entrüstung in Metaphern kleiden, die mit seinem Handwerk verbunden sind;
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leider wurden Banklieamte und Schornsteinfeger nicht befragt. So zeichnen sich alle diese Prozesse durch die Monotonie des akademischen Schwulstes aus. Gegen diese Sorte schrieb Freud (im Vorwort zur deutschen Übersetzung von John Gregory Bourkes Buch »Der Unrat in Sitte, Brauch, Glauben und Gewohnheitsrecht der Völker«): »Sie werden offenbar durch alles geniert, was allzu deutlich an die tierische Natur des Menschen mahnt. Sie wollen es den vollendeteren Engeln‹ gleichtun, die in der letzten Szene des ›Faust‹ klagen: Uns bleibt ein Erdenrest zu tragen peinlich, und war' er von Asbest, er ist nicht reinlich.
»Da sie aber«, fährt Freud fort, »von solcher Vollendung weit entfernt bleiben müssen, haben sie den Ausweg gewählt, diesen unbequemen Erdenrest möglichst zu verleugnen.« Und Henry Miller, der ihn nicht nur offenbart, der ihn auch noch als Menschliches zu Ehren bringt, ist der große Feind. Nicht alle nahmen den Mund so voll wie der Psychiater, der aus dem Dichter des »Wendekreis« einen Autor für Menschen-Fresser machte. Diejenigen, die weniger aus Empörung und eher nüchtern gegen ihn zeugten (vielleicht nur, weil ihnen ihre gesellschaftliche Position oder das Geschäft verbietet, für ihn zu sein), hatten oft schwere Stunden. Ihnen stellte man Fragen. Ein Händler wurde verhört: weshalb, wenn Sie gegen die Pariser Mädchen Henry Millers sind, verkaufen Sie dann »Lolita«? Sie ist unselig, aber nicht obszön! Weshalb handeln Sie mit Büchern, die den Ehebruch schildern? Das taten die Bibel und »Hamlet« auch! Weshalb scheinen Ihnen die nackten Frauen der Illustrierten, die Sie vertreiben, weniger nackt als die Roman-Figuren des verpönten Dichters? Nackt und obszön ist nicht dasselbe! Ein zupackender Verteidiger hätte den Mann fragen können: wirklich nicht? Wissen Sie etwas über die amerikanische Ma-
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lerei und Skulptur, soweit sie das Nackte darstellte – und deshalb als obszön verfemt wurde? Daß, im Jahre 1915, der Maler Trumbull einen Sturm der Entrüstung gegen die harmlos nackte »Ariadne« des Kollegen John Vanderlyn entfachte – und ihn fast ruinierte? Daß, im Jahre 1862, in Boston, die »Venus« des Malers William Page, die nicht einmal den Venusberg zeigte, verschwinden mußte? Daß in der Pennsylvania Academy of the Fine Arts, wo an Ladies Day die griechischen Statuen schamhaft bedeckt wurden, Thomas Eakins ein nacktes Paar ausstellte – und der Fakultät seine Resignation einreichen mußte? Der Maler John Sloan war der Ansicht, daß fast alle Akt-Bilder Pornographie sind, und philosophierte: Kunstwerke würden aus Holz, Bronze und Öl-Farbe gemacht, nicht aus Fleisch und Blut ... Aber gerade darauf war Henry Miller aus. Im englischen »Lady«-Prozeß hatte der Verteidiger die Blüte der Nation zu den Fahnen gerufen – und der Staatsanwalt niemand. In Los Angeles traten auf beiden Seiten nur lokale Größen auf. Die verkündete Kunst-Philosophie war auf Seiten der Anklage nicht schwächer als auf Seiten der Verteidigung. Ein Schulmeister beschwerte sich: das Buch habe kein Ziel und käme zu keinem Resultat. Welches Ziel hat die »Odyssee«? Zu welchem Resultat kommt »Macbeth«? Er selbst, meinte der Literatur-Richter, sei zu zivilisiert, um im Gebrauch von soviel Four letter Wörtern ein Verdienst zu sehen. Der Präsident eines College mit sechzehntausend Studenten fühlte sich von dem »Wendekreis« so beschmutzt, daß er ein Bad nehmen mußte. Er klagte: ich könnte so etwas nicht meiner Frau vorlesen oder meinen Kindern oder meinen Enkeln; ich könnte auch nicht in den Hörsaal damit gehen, ich würde mich schämen. Der schämige Präsident sah aber nicht, daß es in dieser Lage einen ebenso bequemen wie angenehmen Ausweg gibt: das Buch weder zu seiner Frau noch zu seinen Kindern noch zu seinen Enkeln noch zu seinen Studenten zu nehmen ... und in Ruhe Platon zu lesen.
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Derselbe Pädagoge, der so voll Schamhaftigkeit war, schämte sich nicht, als er antworten mußte, er habe von Hemingways »Fiesta« nie gehört; und auf die Frage nach Coccens' »Von Liebe besessen«, einem der weitest diskutierten literarischen Ereignisse dieser amerikanischen Jahre, erwiderte er: mir schwant etwas, aber ich kann mich nicht recht erinnern. Und als die Rede auf die Stelle im »Wendekreis« kam, wo von dem Maler Matisse die Rede ist, sagte der Bildungs-Präsident: vielleicht habe ich einmal den Namen gehört, vielleicht auch nicht. Ein Musik-Lehrer tadelte dann, daß die »Wendekreis«-Stelle, die sich mit Ravel befaßt, in der Beschreibung nicht akkurat sei. Im übrigen lese er vor allem Bücher über Geschäftsführung und Philosophie im Zeitalter des Atoms. Was erklären sollte, daß er nicht wußte, von wem das Buch stammt »Wem die Stunde schlägt«, eins der populärsten Hemingway-Bücher, weil nach ihm einer der erfolgreichsten Filme gedreht worden war. Ein Geistlicher, von der Presbyterian Church, sagte auf biochemisch, was alle Entrüsteten in den verschiedenen Sprachen äußerten: wenn auch nur ein Stück einer Frucht vergiftet ist, genügt es; man braucht nicht viel Gift, um den stärksten Mann umzubringen. Aber erst sein jüdischer Kollege schüttete mit dem Gift-Bade alle Miller-Kinder aus: der Mann sei ein Antisemit, geradezu ein Doppelgänger Hitlers; er besudle den noblen Geist des jüdischen Volkes. Sollte dieser Rabbiner einmal Ferien vom jüdischen Volk und der Entrüstung nehmen, dann wäre es gut, wenn er in dem Buch »Sexus« läse: »Das Getto ist der einzige Teil von New York, der mir etwas bedeutet. Als ich nach Amerika zurückkehrte, verbrachte ich dort die meiste Zeit. Nur in diesem verachteten Viertel der Stadt konnte ich damit rechnen, auf einen interessanten Menschen zu stoßen. Nur in diesem Bienenstock stößt man auf ein menschliches Klima.« Und in dem Roman »Nexus«, in dem Henry Miller sein Brooklyn darstellte, sind es die Juden seiner Kleinstadt, auf
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die alles Licht fällt. Von dem Papierhändler Sid Essen sagt er: »Wenn ich auf einen richtigen Juden stoße, fühle ich mich daheim.« Der Rabbiner, der diesen Philosemiten einen Antisemiten nannte, sollte einmal im Dekalog nachlesen: »Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.« Und dann schoß Moses, der Jüngste, mit biblischem Zorn, Hitler, dem Jüngsten, mitten ins Herz: dieser amerikanische »Mein Kampf« sei geradezu Existentialismus. Das war als Schimpfwort gemeint – und hätte ein Ansatz zur Erhellung dieses Henry Miller sein können, der (wie jeder seiner Vorfahren, in allen ähnlichen Prozessen) nichts als ein Schwarzer Mann war. Er ist ein Existentialist aus jener Rasse, deren Urahn Rousseau gewesen ist. Der war der Erste, dessen Verdikt der europäischen Kultur auf der ganzen Welt gehört wurde. Das Gegen-Bild, die Chriffre seiner Zuversicht, nannte er »Natur«. Sie war recht idyllisch; ihr irdisches Abbild war der edle Landmann des Rokoko. Die Bilder von dem Gegengift gegen die schlimme Kultur veränderten sich ins Ungemütliche. Henry Miller gehört zu jenen enttäuschten Romantikern, die im Zwanzigsten Jahrhundert die mächtige Vital-Sphäre aufdeckten. Zu den Abdeckern verstorbener Geister gehörten viele, die in vielem nicht zusammengehörten: Schopenhauer und Marx und Nietzsche und Freud. Das Vitale wurde mobilisiert gegen den herrschenden, abgeblaßten Humanismus für einen kommenden. Der Aufstand, von Rousseau an, stammt nicht aus der Barbarei, nicht aus einem reaktionären Willen zur Ausbeutung, den man immer vermutet, wo die Natur als blinder Wille gedeutet wird. Der Aufstand stammt aus einer Enttäuschung, einem Aus-allen-Wolken-fallen, einem Sich-weder-abfindennoch-hoffen-können, von Kleist und Kierkegaard bis zu Kafka und Henry Miller, der diese Rasse »gequälte Geister« nennt, »unfähig in der Gegenwart zu leben«. Davon war während des Prozesses keine Rede. Es ist ein Kennzeichen der Entrüstung, daß sie blind um sich schlägt.
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In dem Professor für Literatur, Frank Baxter, hatte die Anklage ihren Star-Zeugen. Der war eher ein Zeugnis für die Popularität, die das Fernsehen einem Professor schenkt, als für die Wissenschaft. Der gemütliche Mann, Sechsundsechzig Jahre alt, wollte nie ein Gelehrter sein, immer nur die Studenten lehrreich unterhalten; so übte er, eine Verbindung von Lehrer und Maitre de plaisir, ein großes, preisenswertes Handwerk aus. Er ist in vielen Jahren der populärste Mann seiner Universität geworden – und seit einem Jahr außer Diensten, aber ein Diener. Nur wenige Angeleser hatten Interesse gehabt für Henry Miller, sein Buch, seine Ankläger und Verteidiger. Als aber der Fernseh-Professor im Gericht auftrat, war es bummvoll. Seine Universität hat einen soliden, republikanisch-konservativen Ruf. Er bekräftigte ihn. Er verhüllte sein Haupt. Er wandte sich mit Schaudern ab ... und zeigte den routinierten Pointen-Macher noch in der Entrüstung. Das einzige Four letter Wort, das Henry Miller obszön fände, sei Love. Der Professor ist wirklich spezialisiert auf Lacher. Er war nicht immer geistreich, meist ein Moral-Anwalt mit einem langen Zeigefinger gegen das Böse: dieser Henry Miller sei eine einzige Deklaration der Anarchie, gegen alle KulturWerte. Da aber Professor Fernseh-Akteur, abgesehen von der üblichen Phraseologie, kein Analphabet ist, brachte er – zwar nicht die Tiefen des Werks ans Licht, aber eine der geheimsten Zentren der Empörung: daß dies Buch nicht anreizt, sondern eher ein Spiel-Verderber ist in den Spielchen mit Amor. Der gescheite Mann erkannte, daß der lustige kleine Knabe mit dem süßen Pfeil hier sehr anders aussieht. Der Mann sagte nicht: wir wollen Sexus nicht so genau sehen, wie er uns hier, grausam ungeschminkt, gezeigt wird. Er erfand, um die Herkunft seiner Entrüstung zu drapieren, einen jugendlichen Leser, den dies Buch unfähig mache zur Liebe zwischen Mann und Frau. Diese Sorge um die lieben Kleinen hätte man schnell abtun
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können. Sie arbeiten sich nicht durch solch einen Text hindurch. Sie nehmen auch nicht soviel Unlust-Gefühle auf sich; man muß eine gewisse Reife haben, um von dem unfreundlicheren Dasein nicht wegzusehen. Die jungen Menschen, die der alte Professor kennen sollte, können an jeder Ecke die verlockendsten Nackt-Illustrationen haben, die appetitlichsten Susannas im Bade. Und da er das weiß, der populäre Lehrer, spezialisierte er sich allmählich auf jene Teenagers, welche wurmstichig sind. Auf sie würde das Buch wirken wie öl oder Gasolin (ein Auto-Fahrer denkt natürlich an alles), die man in eine Flamme schüttet. Die lange Geschichte des Kampfs gegen Obszön ist voll von dem Vergleich mit Feuer und Gift; es sind die erschreckendsten Metaphern, die man anzubieten hat. Wir sollen also wie Feuer und Gift diesen Miller meiden, da unsere Kultur nach den Gefährdetsten, den zurückgebliebenen Kindern, ausgerichtet werden muß. Da aber der Mann viel 2u clever ist für solch eine Stupidität, kann man nur annehmen, daß die Geistesschwachen, die er unter seine Obhut nimmt, ein Vorwand sind für das Trauma, mit denen die Baxters bei der Lektüre der Henry Millers affiziert werden; weil sie das Leben nur wollen, wie es im Fernseh-Kästchen, also für Kurzsichtige aussieht. Sexus aber schaut leider auch so aus, wie Marchal Foch die Ziegfeld girls schilderte: »Ich habe nie solche traurigen Gesichter und solche vergnügten Hintern gesehen.« Henry Miller zeigt nicht nur die vergnügten Hintern – was dem Vergnügen allerdings abträglich ist. Er schmeichelt nicht den Sinnen, wenn er ein Mädchen schildert: »Der Hintern ist abgenutzt, zerkratzt, mit Sandpapier abgerieben, glatt, hart, glänzend wie eine Billardkugel oder der Schädel einer Aussätzigen.« Dafür ist Professor Baxter zu zartbesaitet. In der Bekämpfung des Obszönen ist nicht nur ein Widerwille gegen die Erweckung der Lust, auch die Feindseligkeit gegen die Erweckung der Unlust, die viel stärker durch einen unerbittlichen Realismus als durch fluchende Moralismen er-
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regt wird. Wenn der sonst so Kompromiß-bereite Professor es wagte, sich in Gegensatz zu setzen zu den hervorragendsten Literatur-Kennern der englisch-amerikanischen Literatur: Aldous Huxley, Edmund Wilson ..., so war er tief verwundet: Venus hat also einen Hintern wie der Kopf einer Aussätzigen. Vor mehr als einem Vierteljahrhundert sagte Ezra Pound von dem »Wendekreis«: es ist ein Buch voll Schmutz, das wert ist, gelesen zu werden. Professor Baxter ist vor allem loyal gegen den Fernseh-Zuschauer, weniger gegen das, was »wert ist, gelesen zu werden«. Kann er diese Szenen seiner großen Bildschirm-Gemeinde vorlesen? Da liebt einer ein Mädchen im Hausflur, preist diese Stunde als sein schönstes Erlebnis – und ist darauf bedacht, ein paar Cent, die ihr aus der Tasche rollen, zu erhäschen; er braucht sie für die Rückfahrt. Seine Lust ist recht motivenreich; das schwächt für den Zuschauer den Impetus des physischen Reizes ab. Der Jüngling im Flur genießt besonders die Nähe ihres Bruders, der ihn von der Schwester fernhalten wollte. In Henry Millers Kopulationen verschmelzen, lösen einander ab, wirken gegeneinander: das Pathos des Lieds der Lieder (allerdings ohne das seraphische Milieu), der scharfe Reiz sinnlicher Empfindung, die detachierte Beobachtung, Reflexionen über Gleichgültiges, Lächerliches, Häßliches – und außerdem noch seine revolutionäre Sexual-Ideologie. Der Kitzel ist tausendfältig differenziert; so erreicht er die Physis des Lesers erst auf Umwegen. Henry Miller hat mit der Pornographie vieles gemein – nicht nur die monotone, wenn auch angenehme Richtung auf die Seligkeit der lustvollsten Besinnungslosigkeit. Er gibt Pornographie ohne das volle Äquivalent für solche Unmoralität. Der Haarbusch, von dem er sagt: er stand zwischen ihren Beinen so deutlich empor, als hätte sie einen Blumentopf unter ihrem Rock versteckt ... lockt nicht mehr als ein Blumentopf. Das ist ärgerlich für alle Moralisch-Lüsternen: wenn schon eine Sünde, dann muß sie sich lohnen. Hier liegt eine der großen geheimen Quellen der Entrüstung.
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Man hat von ihm gesagt: er ist nicht ein Tier, er ist ein Zoo. Das ist das Lob, das er verdient; er weiß nicht nur in einem Käfig Bescheid, sondern in tausend. Deshalb kann er die Stäbe tausendfach hassen. Und er weiß nicht nur in einem Elysium Bescheid, sondern in tausend. Deshalb kann er die Freiheit tausendfach lieben. " Auch die Rasse der Verteidiger zeigt durch die Zeiten den einen Verwandtschaftszug: vom Pastor Schleiermacher, dem bedeutendsten, von Flauberts Freund, dem M. Senard, vom Anwalt des »Reigen« Wolf gang Heine und allen ihren Helfern bis zu den ebenso wohlmeinenden und ebenso vorsichtigen, ambivalenten Juristen und Geistlichen und Professoren auf Seiten Henry Millers 1962. Auch sie schwankten zwischen einer (verdunkelnden) Schwärmerei, einer (sehr sichtbaren) Angst vor der eigenen Courage und einer (grotesken) Antipathie gegen ihren Protege. Da gab es, wie seit eh und je, wohlwollende Männer Gottes, die Miller tatsächlich in die unmittelbare Nähe des Sohns versetzten. Ein Pastor von der Unitarian Universalist Church sprach von dem bösen Henry Miller als einem tiefreligiosen Mann, dessen qualvolle Erforschung seiner Seele verglichen werden könne mit Christus, der sich in die Einöde zurückzog. Und der auch, wie Miller, fügte ein Universitäts-Professor hinzu, die Wechsler aus dem Tempel jagte; und stellte Millers Konfessionen neben die Confessiones des Heiligen Augustinus. Beide seien (wie Hiob vor ihnen) durch das Tal der Verzweiflung gewandert – und hätten zum Leben Ja gesagt. Was allerdings von vielen Helden behauptet werden kann, zum Beispiel auch von dem Atheisten Karl Marx. Weniger christliche Verteidiger (ein Professor Fick zum Beispiel) gaben zu bedenken, daß Sex, wie er in den Ehe-Leitfäden und Textbüchern für Studenten erscheint, nicht ganz derselbe ist wie jener weniger feine, den man aus der eigenen Praxis kenne. Auch wiesen die Literatur-Beflissenen immer
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wieder einmal auf Shakespeare und Pepys hin. So wurde fast vergessen, daß es hier nicht um die ferne Vergangenheit ging und nicht um das alte Thema von den »Stellen«, sondern um ein sehr gegenwärtiges Unikum. Was ist mit seiner Literatur – abgesehen davon, daß auch Chaucer schon ...? Würde man einen Geschworenen aufgefordert haben, mitzuteilen, was er nach Wochen-langen Belehrungen von der Verteidigung gelernt hat, er hätte höchstens sagen können: daß der Herr Miller ein großer Mann ist. Der aber hat von sich Wesentlicheres mitgeteilt: man hätte es nur vorzulesen brauchen, um die neun Damen und drei Herren mit dem Dichter bekanntzumachen. In seinem ersten, folgenreichen Roman, dem »Wendekreis des Krebses«, gleich zu Beginn, klingt es auf: »Dies ist kein Buch, es ist eine Schmähschrift, ein Ausfall, ein Charakterbekenntnis.« Er schuf nie »Kunstwerke«. Er hinterließ nur seine Erdenspur auch in gedruckten Buchstaben. Man hätte der Jury vor allem helfen sollen, das Wort »geschmacklos« zur Klarheit zu bringen. Es ist ein Urteil auf der Grenze zwischen Ästhetisch und Moralisch; sie sind sehr benachbart in der erotischen Kunst. Nichts ist schwerer als einen neuen indezenten Ton zu beurteilen; die alten Töne sind ehrwürdiges Erbe, gehören zur Bildung. Aber vor Henry Millers Obszönitäten hilft keine anerkannte LiteraturGeschichte. Und nicht einmal der gute Wille. Denn: auch wer sich von moralischen Vorurteilen im Prinzip befreit hat, ist noch nicht unabhängig in den Reaktionen, die das Sehen und Hören und Riechen und Schmecken begleiten. Auch der willigste Leser wird nicht selten zwiespältig reagieren: der Magen dreht sich ihm um – und er ist auf Seiten des Dichters. Der Magen ist kein Kunstrichter. Er muß aber nicht immer im Unrecht sein. Die Literatur-Professoren hätten seit hundertsechzig Jahren den Versuch machen sollen, zu Richtern und Laien nicht wie zu Babys zu reden. Sie hätten Los Angeles 1962 an Beispielen darlegen sollen: wie hier Prometheus von Apoll
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gezähmt wird und sich dann wieder losreißt, eine lange Serie von Zähmungen und Befreiungen, literarisch Gelungenem und ... manchmal ist nicht nur Prometheus schuld, daß es nicht gelang. Zur Erhellung dieses Falls hätte es auch gehört, sichtbar zu machen, wo übereifrige Freunde ihn überschätzen: er habe, sagen die Prominentesten, die blutarme Ratio entthront, habe der Maschinen-Welt Fehde angesagt, habe die Erde und das Blut und den Eros wieder-entdeckt ... ein bißchen spät nach Whitman und den Seinen, nach Nietzsche und den Seinen. Henry Miller hat viele offene Türen eingerannt. Man kann auch jemand damit schaden, daß man ihn für Leistungen preist, die er nicht vollbracht hat. Aber am schwächsten ist man gewesen, als man versuchte, ihn mit denselben Methoden herauszupauken, mit denen man schon von »Lucinde« an manchen Künstler und manches Werk in Schutzhaft genommen hat: indem man von seiner Erhabenheit über dem Schmutz der Welt viel Rühmens machte ... anstatt seinen zauberhaften »Huldigungen an die Prostituierten von Paris« zu huldigen. Henry Miller ist der Erste in der langen Reihe der Opfer dieser Entrüstung, der sich eine Schönheits-Operation, exekutiert von den ängstlichen Seinen, nicht gefallen läßt. Er zieht sich nicht in den Elfenbeinturm der Reinheit zurück. Er verteidigt auch gar nicht in erster Linie sein Bürger-Recht auf free speech ... sagen wir: ein bißchen free speech. Er fordert sein Menschen-Recht: zu sein, was er ist, und sich so splitternackt darzustellen, wie er kann. Als der Staat Massachusetts sein Buch verbot, schleuderte er, wie kein Dichter vor ihm, diesen Blitz – weder vom Olymp noch aus der Hölle: »Ich biete Ihnen Trotz. Was ist schlecht an Obszönität, wie immer man sie definiert? Leben wir in einer Welt so rein, so zart, so zerbrechlich, daß eine kleine Obszönität sie kaputtmachen kann? Bringt Obszönes, ob in der Literatur oder außerhalb, unser Leben in Gefahr?«
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Es wäre ewig schade, wenn es nicht doch noch zu einem großen, von der Central-Regierung eingeleiteten Verfahren gegen Henry Miller käme: am besten nicht nur gegen dieses oder jenes Werk, am besten nicht nur gegen sein Literarisches – sondern gegen den ganzen Mann, Von ihm darf man hoffen, daß er seine ängstlichen Apologeten abschüttelt; und daß er nicht auf den Freispruch einiger Bücher hinsteuert (es gab schon zuviele unfreie Freisprüche), sondern auf die weiteste Publizität eines Befreiungs-Kampfs, der nicht den Sieg darin sieht, daß Kunst-Werke frei – und ihre Schöpfer vom entrüsteten Mob geknechtet werden. Das Unbehagen derer, die zu ihm standen, zeigte sich sowohl in dem Eifer, ihn in unmittelbare Nähe von Hiob und Jesus und Augustinus zu stellen, als auch, zum Beispiel, in dem Halb und Halb des Dekans einer Abteilung für Bibliothekarisches. Er erklärte das Werk für ein wichtiges KulturDokument. Als man ihn aber bat, eine nicht sehr salonfähige Seite vorzulesen, weigerte er sich: für seinen Geschmack wäre das zu starker Tobak. Aber er hätte doch, hielt man ihm vor, die Werke dieses Dichters für erfrischend und nahrhaft erklärt. Er meine die späteren ... und Sex sei überhaupt für diesen Dichter ohne Wichtigkeit. Hätte aber der Ankläger Millers Schriften gut gekannt (was in seinen Reden nicht zutage kam), so hätte er zur Beleuchtung des Am-Sex-angeblich-nicht-sehr-interessierten Miller etwa folgende Stelle aus dem Werk »Schwarzer Frühling« vorgelesen: »Keine Blicke durch Schlüssellöcher mehr! Keine Masturbation im Dunkeln! Keine Geständnisse mehr über sexuelle Erlebnisse! Reißt die Türen aus den Angeln! Ich will eine Welt, wo die Vagina durch einen einfachen, ehrlichen Schlitz dargestellt ist, eine Welt, die ein Gefühl für Knochen und Umrisse hat, für starke Grundfarben, eine Welt, die Respekt vor ihrem tierischen Ursprung hat. Ich habe es satt, mir dauernd frisierte, entstellte, entartete, idealisierte Votzen anzusehen.« Das war der Henry Miller, den seine Freunde auch so verkleideten: er sei am Sex nicht sehr interessiert.
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So verrieten sie ihn, sobald es ernst wurde. Einer, auch ein Universitäts-Professor, Sparte englische Literatur, lehnte es als Zweiter ab, ein paar Absätze vorzulesen. Seine Begründung lautete (man darf sie wiederholen, weil sie unübertroffen ist): es sei, als fordere man ihn auf, sich die Zehen in aller Öffentlichkeit zu reinigen. Allein im Kämmerlein, bearbeitet dieser Mann seine Fußnägel und Henry Miller. Ganz ausnahmsweise einmal meldete sich ein Erbe jener Männer, die einst im Ernst die Declaration of Independence verfaßt hatten – und nicht für den jährlichen Declaration Day. Ein Literatur-Kritiker der Los Angeles Times erhob den unerhörten Anspruch: jeder solle lesen dürfen, was ihm Spaß macht; und im übrigen verhindere so etwas die SowjetUnion. Diese Bemerkung brachte den Ankläger auf die Beine. Er wollte, daß dieser Satz nicht gefallen sei. Dem Antrag wurde nicht stattgegeben. Arme Zeugen! Arme Für-und-Gegen-Anwälte! Da wurde ihnen ein Buch vorgelesen, das keiner, der es nicht kannte, beim Zuhören aufnehmen konnte; weshalb es unter die alte, undifferenzierte Alternative: obszön, ja oder nein? subsumiert, mit alten, ganz unspezifischen Argumenten bearbeitet wurde, die mit dem besonderen Henry Miller nicht das geringste zu tun hatten. Ein Tauziehen zwischen zwei Mannschaften, die beide nicht merkten, daß das Tau überhaupt nicht existiert; und daß, was existiert, ihnen völlig unzugänglich ist. Sie sind nach Herkunft, Bildung, Gewohnheit dem Roman so fremd, daß sie nicht in derselben Welt mit jenen Figuren leben; vor allem auch, weil ihre Phantasie auf den lokalen Sex zugeschnitten und nicht ausdehnungsfähig ist. Sie selbst haben noch nie einen Henry Miller getroffen; und selbst wenn einer von ihnen einst ein Mädchen des Caf£ de l'Avenue gehabt haben sollte – der Eingeborene von Los Angeles hat sie dennoch nicht kennengelernt. Sie kennen das Girl-meets-boy in und auswendig; aber selbst die verschwiegensten Phasen dieser Meetings ähneln nicht jener fremden 363
Welt. Sowohl die Anstoßnehmer als auch die Freundlicheren, welche Religion und Moral zu seinen Gunsten aufboten, um nicht Anstoß nehmen zu müssen, verdrängten alles, was sie nicht-gesund, nicht-anständig nennen. Und sie haben es sehr leicht, das Obszöne in seiner weniger vertrauten Umgebung als völlig fremd anzusehen. Viele Amerikaner lehnten schon den Kinsey-Report als eine freche Beleidigung ab. Der ausländisch-potenzierte Schmutz gar ist ihnen die Ausgeburt einer krankhaften Phantasie. Was ist gesund? Der Professor Baxter meinte: Whitman war gesund. Weshalb? Seine Philosophie sei gewesen: »Es ist gut, ein Mann zu sein.« Das Fernseh-Porträt eines amerikanischen Klassikers, der nicht gerade der Norm gemäß lebte! Und die Gegen-Seite? Es ist rührend, wie sie versuchten, den alten bösen Elefanten (wie Freund Durrell ihn nannte) mit den heiligen Symbolen ihrer Welt, die nicht seine ist, zu verschönern. Aber erhellten sie ihn? Arme Geschworene! Vor allem aber: arme Richter! Da schrieb einmal einer, im Anschluß an die Sorgen, die man mit Joyces »Ulysses« hatte: »Das Buch ist nicht pornographisch, aber indezenter, obszöner, mehr Unrat, ausschweifender als die meisten Bücher, die erklärtermaßen pornographisch sind.« Ist das nun gut oder schlecht? Das ist gut; denn wenn »Ulysses« auch ungewöhnlich indezent, obszön, unflätig und ausschweifend sei – Gott sei Dank! nicht pornographisch! So ist dieser WortSchwarm zu einem Wirbel geworden, der selbst die hellsten Juristen in die Tiefe zieht. Arme Straf-Paragraphen-Experten! Dabei könnten sie es so gut haben. Sie brauchten sich nur an das Grundgesetz ihres Landes zu halten, die Verfassung der Vereinigten Staaten. Der Richter Douglas, vom Obersten Gerichtshof, wies einmal auf diesen schlichten Weg hin. Die Klausel in den Obszönitäts-Gesetzen: was den Moral-Standard der Gemeinde beleidigt ... ist, so sagte er, in Konflikt mit dem Ersten Zusatz zum Grundgesetz: daß der Kongreß kein Gesetz machen darf, welches die Freiheit in Rede und
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Druck einschränkt. Auch würde man nie wagen, eine solche Klausel in ein Gesetz einzubauen, das die Religion, die Wirtschaft, die Weltanschauung zum Thema hat. Wie kommt es dann, daß man keine Bedenken trägt (fragte der Richter des Obersten Gerichtshofs), wo es um erotische Literatur geht? Die Antwort kann man in dem offenen Eingeständnis eines bekannten Washingtoner Juristen sehen: Obszönitäts-Gesetze hätten ein anderes Motiv als irgendeine andere Beschränkung. Andere Literatur-Verbote wollten verhindern, daß Menschen zu gefährlichen Aktionen verleitet werden. Das ObszönitätsStatut hingegen ist eine moralische Deklaration des Parlaments. Die meisten Menschen würden von Erotica stimuliert und schämten sich dessen. So müßten diese als Sünde öffentlich verurteilt werden, ob sie nun gesellschaftliche Folgen haben oder nicht. Das ist ein neuer Anfang, der eine Serie von Religions-Kriegen einleiten kann. Es begann im Lande Jeffersons nicht – mit Jefferson, sondern mit einer Theokratie, die den engsten, strengsten Moral-Kodex hatte. Die Entrüstung, die 1962 an vielen Orten und auch in Los Angeles ausbrach, ist einer der Schritte zurück zu Cotton Mather und dem Hexenprozeß von Salem. Man übersieht es nur, weil zur Zeit jenes Prozesses Los Angeles noch nicht von Autos beherrscht war. So konnte der Ankläger von damals noch nicht sprechen wie der Ankläger von 1962. Der erzählte jetzt den Geschworenen: das Statut, das den Straßen-Verkehr regelt, hat 561 Seiten. Es legt den Verkehrenden eine Freiheits-Beschränkung auf. Sonst würden statt 35 000 viele Millionen im Verkehr getötet werden. Wer Henry Miller verteidige, wolle 120 Meilen auf der Autobahn fahren. Deshalb bauten die zwölf Geschworenen in jenen Verkehr, den Henry Miller schilderte und so ampellos ließ, VerkehrsAmpeln ein. Für diesen öffentlichen Dienst, erklärte der Ankläger, würde er am liebsten jedem Geschworenen eine Medaille verleihen.
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Keine Demokratie kann besser sein als ihr Demos; ja, sie kann auf seinen Wunsch demokratisch aufgehoben werden. Ein Professor auf Seiten Millers zitierte Milton: »Wer dies Buch tötet, tötet einen Menschen.« Das ist zu pathetisch. Henry Miller lebt vergnügt weiter, unberührt von dem Urteil der neun Frauen und drei Männer gegen ihn. Aber was wird aus den Resten der amerikanischen Demokratie? Entrüstungen können nicht mit Feuer und Schwert ausgerottet werden; schon aus dem Grunde nicht, weil die Gewalt eine neue Entrüstung etablieren würde. So bleibt auch hier die härteste Frage: wie macht man die Demokratie ein bißchen demokratischer? Die neun Frauen und drei Männer, die nach der Verurteilung des angeklagten Buchhändlers dem Ankläger eine Schlipsnadel überreichten, weil nur sein Lächeln in den sechs Wochen des Prozesses sie aufrechterhalten habe, machten Gebrauch von dem Recht des souveränen Volkes: gegen George Orwell und Lawrence Durrell und Aldous Huxley und Blaise Cendrars und Ezra Pound ein Urteil zu fällen ... und gegen den größten lebenden Humanisten Amerikas, Henry Miller. Es bleibt die Frage: Wie souverän ist ein souveränes Volk, das sich in seinem Spruch gegen die Freiheit wendet, die ihm in der Verfassung geschenkt worden ist?
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Sieben Thesen zur Abrüstung der Entrüstung
Ich weiß nicht, was ich noch das Gute nennen soll, wenn ich die Lust des Geschmacks, die Lust der Liebe, die Lust des Ohres sowie den Reiz beim Anblick einer schönen Gestalt abrechne. Epikur. Es behagt mir, den Leuten dieses Wort ›Lust‹, das ihnen so gar zuwider ist, bis zum Überdruß zu wiederholen. Montaigne.
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Aus der neueren Geschichte der Abrüstung Die Ehe ist nicht von der Natur geschaffen. Die Ehe kann also der stufenweisen Vervollkommnung unterworfen werden, der alle menschlichen Erscheinungen unterliegen. Napoleon vor dem Staatsrat, bei der Erörterung des Code civile Als der französische Poet Berenger wegen einiger unzüchtiger Gedichte verurteilt worden war, pilgerte man zu seiner Zelle: die Akademie bekundete ihre Sympathie, Lafayette umarmte ihn, die Marktweiber überhäuften ihn mit Lebensmitteln und die Königs-Jäger präsentierten ihm Wild, erlegt im königlichen Park. Frauen und Liebe bilden immer das Konversations-Thema, wo Männer von Geist zusammen essen und trinken. Unser Tisch-Gespräch war zuerst nicht comme'il faut und Turgenjew hörte uns mit offenem Mund zu ... ein Barbar, der ohne Raffinement liebt. Goncourt Ausgelassen sind solche Worte, die, ein bißchen zu kühn, Augen und Ohr wehetun mögen; und Jungfern wie Damen, die, wahrhaft tugendhaft, drei Liebhaber verbrauchen, schamrot machen und zur Entrüstung treiben. Balzac: Contes drollatiques. Empfindlichkeit – eine traurige, traurige Überempfindlichkeit, beraubt die Literatur der besten zwei Möglichkeiten: der Familien-Geschichten und des Obszönen. Mark Twain Die Erwachsenen brauchen obszöne Literatur wie die Kinder Märchen: als eine Entlastung von der drückenden Bürde der Konventionen. Ellis Als ich im Jahre 1855, als Schüler Charcots, in Paris weilte, zogen mich neben den Vorlesungen des Meisters die Demonstrationen und Reden Brouardels am stärksten an, der uns an dem Leichenmaterial der Morgue zu zeigen pflegte, wieviel es Wissenswertes für den Arzt gäbe, wovon doch die Wissenschaft keine Notiz zu nehmen beliebte. Als er einmal die Kennzeichen erörterte, aus denen man Stand, Charakter und Herkunft des namenlosen Leichnams erraten könne, hörte ich ihn sagen: »Les genoux sales sont le signe d'une fille honnete. Freud 370
Es gibt kein Argument für die Unterdrückung der obszönen Literatur, das nicht in unvermeidlicher Folge zur Rechtfertigung aller anderen Beschränkungen, die der Freiheit des Geistes auferlegt wurden, dienen würde oder bereits gedient hätte. Lawrence Viele ausnehmend fromme Personen der Geschichte bekunden, es sei eine allgemeine Erfahrung, daß im Laufe der Bildung einer Gott zugewandten Gebetsstimmung gerade im Fühlen der sich steigernden Gottesnähe plötzlich besonders starke unzüchtige Vorstellungen in die Gemütslage hineindrängen, und sie deuten es sich dahin, daß in diesem Augenblicke »der Teufel mit besonderer Hartnäckigkeit um die Seele und sein Reich kämpfe«. Über Mord nachzudenken, ist anscheinend »gesund«; über Geschlechtsgenuß nachzudenken, ist es nicht. Man setzt offenbar als selbstverständlich voraus, daß niemand einen Mord begehen wird, nur weil er seine Freizeit damit verbringt, zu lesen, wie andere Leute morden; aber es besteht eine schwere Gefahr, daß jemand ungesetzliche Sexualakte begeht, weil er Pornographie liest. Dieser Glaube an die aufreizende Wirkung der Pornographie verrät uns einiges über die Geistesverfassung der Gesetzgeber und der ehrenwerten Leute, die sie unterstützen; für sie ist unerlaubte Geschlechtsbefriedigung offenbar eine Versuchung, die so dicht unter der Fassade der Wohlanständigkeit liegt, daß sie sich sofort Bahn bricht, sobald den Leuten eine Möglichkeit gezeigt wird. Gorer Was ist schlecht daran, den Leser zu kitzeln? Girodias. Olympia Press, Paris Ich habe gehört, daß Automobile eine Menge Leute umbringen. Ich habe nicht gehört, daß man deshalb das Automobil verboten hat. Rosset. Grove Press, New York Hoffentlich wird eines schönen Tages sich jemand damit verteidigen, daß sein Werk a) pornographisch ist b) ernsthaft und c) wertvoll für Gesundheit und Leben der Republik. Mailer Der wirkliche Wert der Freiheit des Worts kommt nicht der Minorität zugute, die aussprechen will, sondern der Majorität, die nicht hören will. Chafee 371
Eins: Entrüstung: ein menschliches Wesen in Alarm Die Etymologie ist die Wissenschaft von der Herkunft des Worts und besonders wissenswert, wenn mit ihr eine geheime Psychologie aufgedeckt wird. Zuerst lautete der Untertitel dieser Schrift: aus der Geschichte einer Empörung. Aber das Empor, das durchschlägt, stört; die Empörung, von der hier die Rede ist, trägt nicht empor. Da bot sich die Entrüstung an. An ihrer Abstammung kann man sie erkennen. Sie ist sprachlich eine Offenbarung. Im Alt- und Mittelhochdeutschen kommt dies Tätigkeitswort transitiv vor; jemand entrüsten bedeutete: ihm die Rüstung ausziehen. Bei Hans Sachs heißt es: »sein Vernunft wird entrüst und wild«; »wild« ist der Gegensatz zur Geborgenheit innerhalb der Rüstung. Die Schutzlosigkeit wurde zur Dominante des Reflexivs. Das Verbum »Entrichten« ist, nach Grimms Wörterbuch, dem Entrüsten verwandt: jemand aus der Richte bringen, aus den Fugen, aus der Fassung, aus der Ruhe. Mit dem Verlust der Rüstung setzt die Fassungslosigkeit ein, die Angst. Grimm verbindet: »einen entrüsten und angsthaft machen«. So ist an der Geschichte des Worts der Herd dieses Affekts abzulesen: die defensive Mobilisierung einer Emotion zur Abwehr eines Einbruchs in die Feste, in der man sich verschanzt hat. Nur in der Entrüstung liegt, verglichen mit allem Verwandten, unter allen Umständen: Alarm gegen eine Gefahr. Zorn – dort, wo das Phänomen rein ist – hat nichts damit zu tun;
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er ist rationaler und betont aggressiv, von einem Vorbild her. Haß (man könnte ihn einen unaufhebbaren Zorn nennen) mag gelegentlich eine Folge der Entrüstung sein, ist aber nicht in erster Linie Abwehr; man kann hassen ohne Entrüstung. Und Wut, auch eine ihrer möglichen Metamorphosen, ist am deutlichsten ohne Objekt. Die beiden Figuren, die auf diesen Seiten die Entrüstung am deutlichsten sichtbar machen, waren Anthony Comstock und Professor Brunner; der eine verteidigte sich eher listig, der andere eher altjüngferlich. Zorn, Haß und Wut können das Bild dessen, der um seine Rüstung bangt, verschleiern. Der verdeckendste Schleier ist eine zur Schau gestellte Liberalität und Bildung, zwei Schaustücke, die am besten die Sicht versperren. Da entrüsten sie sich, indem sie mitteilen: sie seien erhaben über die Niederungen der Schnüffelei, der Moral-Enge, sie seien durchaus zu haben für eine anständige Unanständigkeit: kurz man sei nicht eine von Molieres komischen Figuren, müßte aber schon sagen ... Diese Aber haben es in sich; haben sie in sich, die Entrüstung. Sie hat viele Kostüme. Sie kann akademisch auftreten oder auch weniger. Im akademisch-geistlichem Talar meint der Entrüstete, zum Beispiel: »Die unflätigen Hosenlatztiraden eines Rabelais und die ganze sexprotzende Literatur«, und alle, die sie preisen, seien eben nicht auf der Höhe unserer gegenwärtigen philosophischen Anthropologie. Und dann müssen Husserl und Scheler und Nicolai Hartmann und Heidegger die Rüstung schützen, indem sie laut und deutlich verkünden: der Mensch lebt nicht von den Vital-Funktionen allein. Hinter der Deckung, die diese feinen Namen gewähren (wieviel Zitierer haben sie gelesen?), ängstigt sich immer ein armer Köhler mit seinem angeschlagenen Glauben – in Sorge um die angeborene, aber nicht unverlierbare Rüstung. Diese viertelgebildete Garde der entrüsteten Öffentlichkeit hat kaum je den Mut zur Direktheit. Anstatt die Kluft aufzudecken, tarnen sie sich als geistig Überlegene: wäre der An-
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dere nur tiefer, nicht so »journalistisch«, wüßte er mehr von Goethe, wäre er nicht ein armer Hinterherläufer hinter dem bösen Freud ... alles wird vorgebracht, nur nicht das eine: daß sich hier die Geister scheiden. Und man verwirrt dies, zum Beispiel – nehmen wir die irreführende Interpretation! Goethe nannte in den »Tag- und Jahrheften« von 1805 seinen Besuch beim »tollen Hagen«: »detestabel«, weil dieser Kerl seine Frau zwang, eine unschickliche Strophe zu singen. So empfindlich war Goethe gegen Unschickliches? So »indigniert« war er »durch das Widerwärtige« der Vergewaltigung. Und ebenso trübt man den berechtigten Angriff auf Shaws Satz: »Die ›Lady Chatterley‹ sollte auf den Regalen jeder Oberrealschule für heranwachsende Mädchen bereitstehen, sie sollten gezwungen werden, sie zu lesen, andernfalls man ihnen die Heiratserlaubnis verweigern sollte.« Shaw war im Unrecht, weil er hinter die wirklich empfehlenswerte Lektüre den Zwang setzte. Wie Lawrence und Henry Miller wurzelte auch er mit einigen Fasern seiner Seele in einer Tradition der Härte. Das Gebot: Du sollst ein Bett-Held sein! ist ein Puritanismus wie jeder andere, nur etwas ungewöhnlicher. Nicht alle in Alarm verschanzen sich ästhetisch oder kulturell oder mit Tricks. Manche sagen ganz deutlich, was sie aus Husserl und Scheler und Nicolai Hartmann und Heidegger herauslesen (und zum guten Teil haben diese Leser es nicht nur hineingelesen). Ein zeitgenössisches Buch, »The Smut Peddlers« (übersetzen wir: Die hausierenden Schmutzfinken), druckt recht markig-unverblümt: »Ein Jugendlicher, der einverstanden ist mit Sex ohne Liebe, ist innerlich bedreckt.« Das ist herzerfrischend eindeutig; man kommt auch ohne das teure Vokabular aus, um das Billigste zu sagen. Hinter den tausend Variationen, welche die Geschlechts-Lust zu entvitalisieren suchen durch eine magische Liebe, die solches vermag, zittert die Angst vor dem unverdünnten Sex. Die harte Plumpheit: hier con amore, dort ohne ... ist immer ein Sinnen-feindlicher Dualismus – bis hin zu Freuds »Subli-
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mation«, dem Residuum des Platonismus auf vorgeschobenstem Posten. Die Anti-Freudianer ahnen gar nicht, wie sehr noch dem kühnen Freud vor den Sinnen, vor allem dem mächtigsten unter ihnen, angst und bange war. In Gott, in der Vernunft, in der Kultur verteidigte man stets das Bollwerk gegen diese Ruhestörer; und erst Freud ging auf, daß dieser Ausschluß schuld ist am Unbehagen in der Kultur: es kommt vom vielen Sublimieren. Diese Einsicht ist nicht vorgetrieben worden. Und die Entrüstung, in wachsender Gefahr, zieht sich darauf zurück, unentwegt zu repetieren: »daß Liebe nicht nur etwas Naturales bedeutet«; ich würde es in meine weniger feine Sprache übersetzen: der Mensch ist mehr als sein Penis. Diese Albernheit (es ist albern, zu glauben, mit einer Selbstverständlichkeit den wahren Konflikt verdecken zu können) ist das letzte Refugium der Entrüsteten. Sie machen aus Adam einen Trottel. Wir nehmen die Entrüsteten ernster, als sie sich geben. Zu den Traditionen gehören auch überkommene Reaktionen auf eingebildete Gefahren. Wie man nicht alles Nützliche am eigenen Leibe ausprobieren kann, so erst recht nicht alles Schädliche. Man nimmt den Geschlechtern, die vor einem lebten, vieles auf guten Glauben ab; auch so wurde die Angst vor einer Welt ohne Gott und Feigenblatt lebendig erhalten. Das Herkommen ist mehr als alles andere: ein sicheres Nest. Nichts schützt so sehr wie die Enge. Je schmaler, übersehbarer eine Welt ist, je höher die Hürde um das Eingeengte, um so weniger kann einem die Rüstung ausgezogen werden. Die Entrüstungen sind Fortifikationen gegen alle Entengungen. öffnet man auch nur ein einziges Fenster, so blasen vielleicht die vier Winde das ganze Haus in die Luft. Und ganz gewiß, wenn das Fenster einen Ausblick gibt auf das Verbotenste. Die Entrüstung war einmal das laute oder leise, primitive oder hochphilosophische Sich-Klammern an den Harnisch, zwecks Protektion der »Intimgrenze«, wie man heute sagt. Da aber die unbescheidenen Zeitgenossen nicht mehr Ich
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sagen, nur noch Die Gesellschaft, so rufen die modernen Entrüsteten: Nation in Gefahr, Menschheit in Gefahr ... wenn es sich darum handelt, ob ein Kleidungsstück mehr abgelegt werden darf. Handelt es sich wirklich nur darum? Casanova erwähnt eine Frau, die den Heiligen Klemens von Alexandrien zitiert: daß die Scham im Hemde liegt. Es war die Absicht dieses Zitats, die Scham als Konvention herabzusetzen. In unserer Ära, in der sogar das Hemd gefallen ist, ist zu erkennen, wie leichtfertig diese Scham von frischfröhlichen Aufklärern wegdisputiert worden ist. Sie ist nicht identisch mit dem Hemd. Sie ist identisch mit der Angst vor dem Unheil. Es kommt, seit eh und je, aus derselben Ecke. Gott ist das Solide. Die Vernunft ist das Solide. Die Kultur ist das Solide. Unsolide ist nur der lebende Mensch; am unsolidesten aber der sinnlichste seiner Sinne. Und im Obszönen macht er sich noch mausig. Zwei: Der Imperativ: Rüstet ab! trägt nichts zur Abrüstung bei Weil derlei Befehle nie hinzufügen, wie man es eigentlich machen soll. Es ist sehr leicht, zu kommandieren. Aber wo ist der Weg? Es ist leicht, zu wünschen. Damit kann man viel Geld verdienen bei allen, die sich an Wünschen sattfressen; und das können sowohl Satte als auch Hungrige. Aber Imperativisten verheimlichen die Stagnation, welche Unbewegliche preisen. Wie macht man es besser? Der erste, ganz kleine Schritt vorwärts ist die Einsicht, daß die Vorstellungswelt der Abrüstungs-Propagandisten aus Worten besteht, die nicht gedeckt sind. Sie reden munter gegen unsere Tabus, als wären wir Fidschi-Insulaner. Tatsächlich haben wir höchstens Viertel- und Achtel-Tabus. Dieser Unterschied ist zu studieren. Auch bei den Primitiven wächst wohl das Tabuierte mit jedem Körper und jedem Geist kräf-
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tig heran; die vitalen Funktionen und nicht nur sie werden mächtiger. Aber in den frühen Kulturen, in allen, die stark zentralisiert sind, ist die Ideen-Welt und das eng verbundene Reich der Lüste gründlich ausgejätet: von einer rigorosen Willkür, die zwischen Kraut und Unkraut scheidet. Dann aber – je breiter die Ökumene, je länger die Erinnerung wurde – nistete sich mehr und mehr ein, was irgend jemand irgendwann irgendwo eingefallen war. Nicht nur die Schulbildung, auch das weniger geschulte Begehren lebt heute im Zeitalter der Welt-Geschichte. Vor dieser universalen Zugänglichkeit klingt die Vokabel Tabu in Zusammenhang mit unserem recht entfesselten Habitus reichlich antiquiert. Und nicht viel ist dadurch geändert, daß der Denkund Gefühls-Horizont der Meisten nicht einmal so weit ist, wie die kleine Strecke, die sie selbst zurückgelegt haben. Denn im provinziellsten Schlafzimmer können Erregungen aufspringen, die irgendein Vorfahr an irgendeinem Punkt der Erde gezüchtet hat; wer weiß, wo dem ahnungslosen Familien-Vater das angeflogen ist. Mit Schlagworten wie Tabu kommt der Abrüster nicht weiter. Kein Erfolg ohne eine exakte Kenntnis der momentanen Situation, die allein bestimmt, was getan werden kann, was getan werden soll. Die unsere, die zu operieren ist, wird bald als Kultur ohne Mitte gelästert, teils als Polyversum, als pluralistische, anti-monolithische Menschen-Gemeinschaft gepriesen. Auch die Lüste wurden pluralistisch; Freud, der Kühnste, stellte es, in Ablehnung, fest. Dieser großartig revolutionäre und zugleich erstaunlich bremsende Forscher brachte es noch nicht über sich, dem Sexus, diesem Erz-Trieb, die pluralistische Konsequenz zuzugestehn. Er verherrlichte, streng konservativ, in der Konstruktion eines Fortschritts vom Polytheismus des Möchtens zum Monotheismus des hierarchisch geordneten Trieb-Systems, von der RangordnungsFreiheit der polymorphen Libido zur Diktatur des Penis und der Einehe – den Weg nach oben. Aber Freuds GesetzesTafeln sind noch weniger haltbar als die vom Sinai. Und das
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erklärt die prekäre Lage der Entrüster. Sie wehren sich gegen einen Zustand der Dinge (besser: der lebenden Menschen), der folgendermaßen schnell skizziert werden kann. Das Innen ist nur noch mehr oder weniger schwach von Okkupations-Truppen besetzt. In tausend Heimlichkeiten tummelt sich das Tabuierte, weshalb dieser Name stark übertrieben ist. Es gibt leider kaum eine Möglichkeit, einen Vergleich zu ziehen zu weniger pluralistischen Jahrhunderten. Wie sahen ihre verborgenen Aktivitäten aus? Doch darf man wohl recht abstrakt folgern: was nicht in der Phantasie gewesen ist, wurde nicht zur Praxis. Ein Denken, das straff ausgerichtet war, wird auch weniger üppige Verschwiegenheiten gehabt haben. Und sie sind nicht einmal das bemerkenswerteste Achtel-Tabu unserer Zeit. Auffälliger sind die unheimlich-ungenierten, ganz offenen Praktiken, deren Tabu-Charakter lediglich darin besteht, daß sie radikal ignoriert werden. Was hat man mit dem Kinsey-Report gemacht? Man hat ihn als streng kritisierte wissenschaftliche Methode in den Bezirk der Fach-Diskussion abgeschoben. Ignorieren ist heute der Königsweg des Tabuierens. Es ist dies Nicht-beachten einer nicht mehr einzudämmenden Entfaltung, was den Staat und herrschende Gruppen der Gesellschaft treibt, von Zeit zu Zeit ein Exempel zu statuieren. Es soll anzeigen: fortsehen und erlauben ist noch nicht identisch. So wurde zum Exempel, ein Buch oder ein Bild oder die Begleitmusik zu einer veroperten Bett-Szene oder eine lebendige Unzucht – nicht ignoriert, sondern attackiert. Man wählt aus einem Urwald verbotener Umschlingungen irgendeine berühmt gewordene kleine Obszönität aus: von der »Lucinde« bis zu Henry Millers Historien – und gibt enorm an. Es ist eine symbolische Handlung; mehr ist den Entrüstern nicht möglich. Daher das Hektische dieser Anklagen. Ihre Rüstung ist zwar völlig durchlöchert; aber gerade deshalb Schrecken-erregend. Die Stärke der durchlöcherten Nachhut ist ihre Panik. Man benimmt sich wie ein aufgescheuchter
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Bienen-Schwarm. Sie stechen, weil sie in Not sind. Dies hilflose Brummen ganzer Geschlechter von kleinen Comstocks und Brunners in allen Ländern der Welt kann man (zum Beispiel) in ungezählten amerikanischen Traktätchen studieren; die Titel lauten »Decency versus Obscenity Raket« oder »Warum Schmutz-Literatur?« oder so ähnlich. Europa, Du hast es nicht besser, hast auch keine festen Schlösser, welche die entfaltete menschliche Phantasie abriegeln: sowohl vom Staate Arkansas im amerikanischen Mittelwesten als auch von allen anderen Hinterwäldlern. Es gibt keine überzeugenden Argumente gegen aufgeregte Bienen und auch nicht gegen alle die Arkansas-Bewohner dieser Erde. Ihren Vergiftungs-Komplexen, ihrem Grauen vor dem Adam- und Eva-Treiben, das sie mit Hilfe von Spielregeln eindämmen möchten, die zur Metaphysik erhoben worden sind, ist nicht beizukommen mit einer kühlen Untersuchung der nur angeblichen Gefahren und jener Donquichoterie, die ihnen immer wieder einmal Halt gebieten will mit einem Urteil: sei es gegen ein Kunstwerk, sei es gegen irgendeine »Tolle Lola« am nächsten Zeitungs-Stand. Es ist aber ein ebenso törichtes Unternehmen, diesem wütend summenden Völkchen mit Geboten zu kommen: es solle doch abrüsten; oder mit Argumenten: es möge so freundlich sein, sich dies oder jenes zu überlegen. Deshalb sind heute viele geneigt, auch zwecks Ausrottung der Entrüstung, einen Umbau der Gesellschaft zu propagieren. Dort, wo man ihn vollzogen hat, ist der theistische Aberglaube durch den atheistischen ersetzt worden; und der bolschewistische Sex ist stärker unter Kuratel als der kapitalistische. Im revolutionären Frankreich war nur ein paar Jahre lang die Darstellung des Geschlechtslebens unkontrolliert; und auch die russische Revolution war nicht lange revolutionär. Ein Casanova, der mit einem illustrierten Aretino verführt, ist eher im Westen denkbar als im Osten – was manchen Kapitalisten neidisch machen mag. Aber auch im Westen gilt die Eroberung einer Lady mit Hilfe von Black & White und einem gepfefferten Abend-
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essen für weniger anstößig als eine Obszönität, weil, der Rangordnung nach, Fressen und Saufen, wie betrüblich es auch sein mag, immer noch feiner ist als die Betätigung jenes Organs, das, was seine körperliche Residenz betrifft, immer noch im Slum-Gebiet haust. Was also bleibt übrig, wenn man dennoch abrüsten will? Die Hoffnung nicht aufzublähen, sondern bescheiden zu sein. Weshalb nicht a fonds perdu aufklären? Weshalb sich nicht an ein paar Freunde halten und ein paar Leser und ein paar Zuhörer, denen man ein Licht aufstecken darf? Und sie tragen es, vielleicht, ein bißchen weiter. Es ist nicht erlaubt, sich vorzumachen, daß die Entrüstung in den letzten Jahrhunderten abgenommen hat. Aber man kann immer wieder einige Wenige, die man erreicht, aus der erstickenden Rüstung befreien und von einem Anschlag auf noch nicht Aufgerüstete zurückhalten. Wie prozediert man da? In der Richtung auf den innersten Wall der Entrüstung. Drei: Der innerste Wall jeder Entrüstung: Ich bin die Wahrheit. Der innerste Wall dieser Wahrheit: hie, Gott und Kultur – dort, der Erdenrest Ich bin die Wahrheit ist immer eine über das »Wesen« des Menschen und über Gott, der ihn gemacht hat. Zu diesem Wesen gehört seit anno Graue Vorzeit die säuberliche Scheidung zwischen Körper und Seele, zwischen Körperauf wärts und Körper-abwärts; das Auge, wenn auch nicht so vornehm wie der Geist, ist immerhin noch feiner als alles, was sich einen halben Meter tiefer abspielt. Der repräsentabelste menschliche Ausfluß ist die Träne. Gott ist der Schöpfer seines Ebenbilds, mit Einschränkung; eigentlich nur bis dort, von wo an das Ebenbild keins mehr ist, weil ein anderer dazwischen gepfuscht hat. Auf wen Sexus zu-
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rückzuführen ist, wird von den Theologen und ihren Erben, den Philosophen, umstritten. Eine der göttlichsten Rechtfertigungen des kleinen satanischen Ungeheuers ist: erstens, die platonische Liebe, die es nicht selten in reinen Äther auflöst; und zweitens, das Interesse des Schöpfers am Fortbestand der Menschen-Rasse. Sexus darf passieren: als Mittel zu einem von zwei Zielen. Ein Zeitgenosse, der englische Reverend Dr. Soper, hat diese immer wieder betonte Dienstbarkeit so formuliert: »Wer die Freuden sexueller Erwartung und Betätigung genießt, ohne sie in Beziehung zu setzen zu Zwecken, denen sie zu dienen haben, ist pervers und muß als Verbrecher verdammt werden.« Die Geschichte der Propaganda für den Diener Sexus ist so breit, daß die Verkündungen der Askese und der Sinnen-Lust als unbedeutende Randerscheinungen übersehen werden können. Die Diener-Rolle wurde allen Sinnen zuerteilt, weshalb sie kaum ausgebildet wurden; es sei denn für spezifische Dienste – und für das Höhere, GOTT oder die KULTUR. Die Augen werden geübt, wenn einer Fein-Mechaniker werden will oder für Schul-Besuche im Museum. Gute Ohren sind wichtig zum Hören von Nebengeräuschen am Motor und zum Besuch der gesellschaftswichtigen städtischen Abonnements-Konzerte. Andere Organe werden überhaupt nur ernst genommen, wenn einer (etwa) Koch werden will; da wird das Schmecken und Riechen lebenswichtig. Die Kultur hat mit Nase und Zunge nichts zu tun, weil sie nicht an unsterblichen Werken beteiligt sind. Und als Herren sind die Sinne kaum in Betracht gezogen worden. Wer übte seine Augen um der Augen-Lust willen? Daß alle Sinne jauchzen können, ist unbekannt geblieben vor dem Jauchzen der rätselhaften Seele zu dem rätselhaften Gott. Der Satz muß etwas korrigiert werden: die bunte Wiese und das Eindringen ihres Duftes und das Überströmen der Freude an ihr wird zwar genossen; auch von Dichtern publik gemacht. Kommt es aber an die große Glocke der Gottesgelahrt-
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heit, der Menschen-Weisheit oder gar der moralphilosophischen Diatribe, so verschwinden Wiese, Einatmen und das sehr spezifische Glück; aus dem farbigen Teppich wird das Meisterwerk eines höchst unsichtbaren Künstlers, aus dem einatmenden Herrn Müller eine Kreatur und aus dem ganz besonderen Genuß, den er nicht so bewußt machen kann wie die logische Struktur seiner Unlogik: untertänige Dankbarkeit. Die Lust wird drapiert als Lob des Oberherrn; in diesem Gewand ist sie gesellschaftsfähig. Aber selbst dazu kommt es nur noch in festlichen Stunden. Die Fähigkeit, zu genießen, schrumpft ein, weil man kaum noch von ihr Gebrauch macht. Wenn die Klage über das Schwinden der Religiosität irgendeinen Sinn hat, so wird mit ihr die Armut beklagt, sich über Erwerb und »Kultur« zu erheben; das heißt: über das Geschäftemachen und die zur Pflicht gewordene Rezeption der übermittelten Geistes-Güter. Die Sinne und, was sie zu spenden vermögen, sind von Deutern und Gesetzgebern erstens verketzert und zweitens reichlich ignoriert worden. Die Lust war immer im Gegensatz zur Kultur; so wurde sie garantiert Genuß-frei. Die Folge davon ist (heute zum Beispiel) die nicht genug zu preisende Gleichgültigkeit der Jugend gegen das sogenannte Gute Buch, das erlauchte Museum und die Musik vor dem Jazz. Diese Abwendung wird von Bildungs-Händlern als Materialismus angeprangert – und ist die gesündeste Reaktion: man ist kein Kamel und liebt nicht, bepackt zu werden. Es heißt, in der Sowjet-Union stände es besser mit der Bildung der jungen Menschen. Tatsächlich: man trainiert dort mehr Kosmonauten. Die Wurzeln der Lust-freien Kultur liegen tief. Es wäre eine (allerdings übliche) Ungerechtigkeit, sich an den vorhin zitierten englischen Reverend zu halten, nur weil er unter uns lebt; und nicht an das gewaltige platonisch-christlich-deutsch-idealistische Arsenal hinter ihm. Wobei man nicht vergessen darf, daß um den schadhaften Kern jener Lehren – und bisweilen
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recht unabhängig von ihnen, die bedeutendsten Einsichten und herrlichsten Absichten kristallisierten. Es wäre nichts wichtiger als die einflußreichste Tradition Europas zu spalten und das Sinnen-feindliche Element zu trennen von vielem Beglückenden. Neben jener monumentalen und fragwürdigen Tradition (nur sehr daneben) gab es viele aufhellende Ketzereien. Sie blieben Nebenbeis. Die Skepsis und die Ethik Epikurs kam in mehr als zweitausend europäischen Jahren nie zur Entfaltung, am stärksten noch als Schwarzer Mann. Epikuräer wurde ein prominentes Schimpfwort. Und was die Skeptiker betrifft, so wird zwar von dem antiken Pyrrhon berichtet, daß, als er starb, seine Kollegen ihm zu Ehren von den Steuern befreit wurden ... aber bestimmt nicht wegen seiner Zweifelsucht; der Mann muß noch andere Verdienste gehabt haben. Es gab und gibt keine Behörde und keine ordnungsliebende Bürgerschaft, auch keine ordnungsliebende Proletarierschaft, welche Zweifel liebte; er trägt Horizonte ab, öffnet neue, sie bringen eine alte Ordnung in eine neue Unordnung. Und eben dies tun die Lieblinge des Epikur, die zu allem aufgelegt sind: sie sind für das Schnuppern und die Fingerspitzen. Offiziell malt man ein anderes Bild vom herrschenden Geist. Aber was da als Gottlosigkeit aufgebaut wird und als Verfallensein ans Vitale {mit den Titeln Atheismus und Materialismus und den Zügen von Marx und Freud), existiert vor allem: als Vogelscheuche im Westen, als Schulmeister-Fibel im Osten; der Westen ist deshalb noch widerwärtiger, weil hier brillante Schriftsteller wie Egon Friedell am Werke waren, der in Freud »den Anbruch des Satansreichs« sah. Schopenhauer, Marx, Nietzsche und Freud, vier große Abkömmlinge des antiken, mittelalterlichen und deutschen Idealismus, waren dennoch der entscheidende Bruch mit den Vorstellungen, die mehr als zweitausend Jahre geherrscht hatten. Beachtenswert ist, wie bei diesen großen Vier die Vergangenheit nicht weichen und die Zukunft nicht warten wollte. Schopenhauer schrieb: die Seele sei »keineswegs so unver-
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fänglich wie die Psyche und anima, als welche Atem bedeuten«; die Menschen sind »nicht als von vorne gezogen, sondern als von hinten getrieben« zu verstehn. Dies »Hinten« zeigt an, daß er ebenso Sinnen- wie Kultur-feindlich gewesen ist. Und auch Freud hatte sein »Hinten«; es war mehr ein Unten. Platon erfand die Idee und Freud (noch ein Viertel-Platoniker) die Sublimation. Auch in ihr ist die Distanz zum trüben Erdenrest. Und Marx, der mit einer Dissertation über Epikur begonnen hatte, setzte eine Societas in die Welt, die nur deshalb nicht ganz so streng wie die des Jesu war, weil das WeltProletariat nicht ganz so straff zu erfassen ist wie ein HauptHaus in Rom und ein paar Filialen auswärts. Aber, wo immer die Organisation (zum Beispiel Orden genannt, auch Partei) die Macht über allen Mächten ist, dort ist (noch ganz unabhängig von der Philosophie, die im Spiele ist) am unterdrücktesten das Unruhigste: die Sinnlichkeit. Sie ist der ewige Feind jedes Ich-bin-die-Wahrheit. Damit aber soll nur eine recht zähe Unwahrheit zerstört, nicht ein neues Ich-bin-die-Wahrheit aus der Taufe gehoben werden; etwa der Art: der Mensch ist ein Lust- und Unlust-Sensorium ... und damit hat es sich. Man kann die Sinne nicht trennen von dem, was (außer im Präparier-Saal) mit ihnen zusammengewachsen ist. Doch muß man deshalb so laut hinweisen auf ihr Sinnliches, weil das andere immer wieder die große Quelle der Lust, des Vergnügens, der Freude, der Seligkeit verdeckte. Das andere ist zum Beispiel irgendeine Pflicht: gegen Gott, den Mitmenschen und sich selbst ... wie schon Cicero katalogisierte. Vier: Jede runde Antwort auf die Frage: Was ist der Mensch? ist falsch Denn hinter der Antwort stand immer der Wille eines Einzelnen, einer Gruppe: wie sie den Menschen haben wollten. Die Geschichte der philosophischen Anthropologie ist eine
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Reihe von Stilisierungen fragmentarischer Erfahrungen; die Hersteller von Vorbildern modelten den Anthropos nach ihren Interessen und Sehnsüchten – im Material von (verabsolutierten) Einsichten. Jeder Denker, der bis zu Ende dachte, bis ans Ende der Welt, mag sich der Illusion hingegeben haben, daß er mit seiner Enträtselung das Problem gelöst hat. Die philosophisch-anthropologische Frage der Sphinx: was ist diese Seltsamkeit, die am Morgen vierfüßig ist, mittags zweifüßig, abends dreifüßig? wurde oft beantwortet – und stürzte sich nicht jedesmal die Sphinx, unter dem Jubel der aufgeklärten Ignoranten, vom Felsen? Ein Jubel, der jeder Auflösung eines Kreuzworträtsels und jeder Verführung durch einen philosophischen System-Bauer folgt? Bis sich dann immer herausstellte, daß es der Enträtseier gewesen ist, der besiegt worden war. Man wußte wieder einmal nicht, wer oder was der Mensch ist. Vielleicht kann nur eine Zeit, welche die Desillusionierung so stark erlebt hat wie unsere, erkennen: die Serie der Siege über die Sphinx ist eine Reihe von Gewalttätigkeiten gewesen, zu erzwingen, was nur für eine kurze Spanne Zeit erreicht werden kann. Unsere Ära ist voll von dieser mächtigsten Erfahrung, auch wenn talentierte und untalentierte Epigonen im Vordergrund sie verdecken. Hugo von Hofmannsthal beschrieb, was dies größte Ereignis der Gegenwart für den Dichter bedeutet: »Niemals wieder wird eine erwachte Zeit von den Dichtern ihren erschöpfenden rhetorischen Ausdruck, ihre in begriffliche Formen gezogene Summe verlangen. Dazu hat das Jahrhundert, dem wir uns entwinden, uns die Phänomene zu stark gemacht.« Das gilt nicht nur für die Dichter. Die erwachte Zeit wird ebensowenig von denen, welche die Sphinx mit Begriffen scheinbesiegten, ihren erschöpfenden rhetorischen Ausdruck erhalten. Die Sphinx erhebt wieder stolz ihr Haupt; der Mensch ist frei von allen unzulänglichen Das-ist-der-Mensch. Frei von Phantastereien lebt er mit der Unbesiegbaren zu-
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sammen. Nur solange er sich einbildete, sie in den Abgrund gestürzt zu haben, war er ein Sklave seiner unerfülltesten Sehnsucht: allwissend zu sein wie Gott, der auch nach ihrem Bilde geschaffen wurde. Die Theorien der Theologen sind mausetot. In diesem Frei-sehen waren die Dichter erfolgreicher als die Philosophen, weshalb das Wissen vom Menschen eher in Gedichten und Romanen als in den Büchern der Theoretiker niedergelegt ist. Das Element der schweifenden Phantasie, in dem die Poeten legal leben, dispensiert sie davon, beim Wort genommen zu werden. Während die Denker immer verantwortlich gemacht worden sind; Sokrates wurde auch deshalb zum Tode verurteilt, weil er sich (wie die Sprache sinnreich sagt) dichterische Freiheiten erlaubt hatte. Die Repräsentanten der Wahrheit waren immer enger an der Kette der Staats-Kirchen- und Familien-Raison; ihre Sätze wurden immer mit der Verantwortung sowohl für das Nützliche als auch für das Gute beladen. So kommt es, daß sie sich von der platonisch-theologischen Idee einer hierarchisch gestuften Menschen-Natur nie so leicht losmachen konnten wie die Geschichten-Erzähler und nie soviele Entdeckungen machten, die abseits vom erlaubten Pfade lagen. Wenn Georg Simmel sich wunderte, daß viele zentrale Themen kaum theoretisch behandelt wurden – zum Beispiel die Liebe, so ist die Erklärung: sie war immer in interessierten Händen oder im Blumengarten der nicht zu ernst genommenen Phantasierer. Es ist kein Zufall, daß es zu der Literatur, die mit der »Lady Chatterley« begann, keine Parallele gibt in der zeitgenössischen Philosophie. Diese nuova scientia hätte zu beginnen mit dem Verzicht auf jede Von-oben-nach-unten-Architektur in der Konstruktion des beseelten Körpers. Sie hätte ataktisch nebeneinanderzusetzen, was man nicht als ein Über und Unter, sondern nur als ein Neben-Einander vorfindet. Dann entdeckte man zunächst – hinter dem bekannten homo sapiens, homo faber und homo ludens – den kaum beachteten, aber umso existenteren
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ganz unmodern gewordenen Drang zum Leben und Überleben, die (ebenso veraltete) Selbst-Behauptung: wie sie in verschiedenen Gesellschaften und verschiedenen Schichten verschieden zur Erscheinung kam. Es war ein abwechslungsreicher Weg von den freien Oligarchen Platons bis zu den freien Bürokraten hoch über dem Proletariat. Das Nicht-aus-derWelt-wollen, auch dies zähe Festhalten in Form der Expansion – bis an die Grenze des Volks, der Rasse, der Menschheit, ist immer dasselbe gewesen und recht anders. Daß dies Factum brutum, mit dem jede philosophische Anthropologie beginnen sollte, dies Sich-ans-Leben-Klammern des Einzelnen, welches erst das Festhalten der Gruppen und Schichten fundiert, jeder philosophischen Konstruktion des Menschen zugrunde gelegt werden muß, kann den Massen heute leicht ausgeredet werden. Nie wurde das Individuum (sogar der Graf und der Millionär) so überwältigend seiner Winzigkeit gewahr; man photographiert ihn zusammen mit Milliarden und vor den gigantischsten Maschinen aus der Welt heraus. Da glaubt er nicht mehr, daß er überhaupt existiert; schon ganz und gar nicht, daß er nicht weg will. So überzeugend nichtvorhanden sah er nie aus neben Gott; schließlich war er sein Kind oder sein Diener, also doch etwas. Der Einzelne fühlt sich heute als Lücke – und vergißt völlig, daß er der einzige Beziehungspunkt für Groß und Klein ist, das Maß aller Apparate und Ideen und großmächtigen Gefühle. Das Factum brutum, ein Lebewesen, das nicht aus der Welt will und zunächst auf alles drängt, was solches verhindert, ist erst der Beginn im Aufbau des Menschen; aber wer nicht mit dem Beginn beginnt, faselt. Es ist ein überhistorisches Faktum, daß der Hunger noch des geliebtesten Menschen nicht dieselbe Sinnes-Einprägsamkeit hat wie der eigene (gemeint ist nicht etwa: nicht dieselbe, oder gar eine größere Bedeutung). Diese Tatsache fundiert den übel beleumdeten »Egoismus«, der in jedem konkreten Fall sehr zeitliche Züge trägt. Das Faktum aller Fakten ist durch die Jahrhunderte ver-
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wertet worden: in der verdammenden Aufmachung als Alter Adam (als ob es einen neuen gäbe), auch im Preis auf den »Heiligen Egoismus«, der allerdings immer nur Gruppen zugebilligt wurde; zuletzt machte man aus dem Individuum und seinem Hängen am Dasein ein bourgeoises Vorurteil ... oder ein unmilitärisches, wie Friedrich der Große, der ganz bolschewistisch sagte: wollen denn die Kerle ewig leben. Irgendeine Absicht ließ es nie zur Einsicht kommen, daß dieses Ewigleben-wollen eine Konstante ist. Die Lüste, denen Freud leider den monotheistischen Singular libido schenkte und die er mit der intensivsten Lust identifizierte, sind ein Überschuß über das Hängen-am-Leben hinaus; sie verdienen, göttlich genannt zu werden. Man kann die Kultur mindestens auf zwei Wurzeln zurückführen: in ihrem Prothesen-Charakter zeigt sie den Dienst an der Selbstbehauptung des Einzelnen und der Rasse; in ihrem Unnützen die gewaltigste Entfaltung und Beleuchtung der Lust. Die ist nicht so einsilbig wie das Wort; hätte der Plural nicht einen noch verkleinernderen Klang, man spräche besser nur von Lüsten. In ihnen ist der Mensch: Mensch. Durch sie unterscheidet er sich mehr vom Tier als durch's Maschinen-Bauen. Körper und Seele bringen sie hervor. Neben den Seel-Sorgern fehlen die Leib-Sorger. Die Kultur ist nur dort himmlisch, wo sie Ausfluß einer Lust, das Empfangen einer Lust ist. Eine Kultur, die keine Lust schenkt (in dieser Lustlosigkeit ist sie klassenlos), ist nur noch ein Haufen von Büchern, Noten und Bildern, welche Schulkindern bittere Medizin verabreichen – und tatsächlich giftig sind, weil sie belasten. Die Erwachsenen prunken damit, daß sie Lebertran eingelöffelt bekommen haben – und laufen zur Massen-Kultur über. Sie ist der dankenswerte Ersatz für eine Kultur der differenzierten Lust, die es kaum noch gibt. Besser eine unzulängliche Befriedigung als gar keine. Besser ein anregender Pornograph als ein mausetoter Klassiker. Die Tradition, die nicht vergnügt macht, ist ein Hindernis. Die Bildungs-Hamsterei ist gefährlicher als der Analphabetismus.
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Was zur Ausübung eines Berufs gelernt werden muß, ist zu rechtfertigen; es steht im Dienst der Selbstbehauptung. Was an einer Kultur wertvoll ist neben der Kollektion von Krükken für den Invaliden, ist nur eins: was die Herzen höher schlagen läßt – durch welchen Sinn auch das Glück eintreten mag. Seit Adam und Eva die größte, begehrteste Lust des Menschengeschlechts entdeckt haben, ist sie Ursprung vieler hymnischer Stunden geworden. Der Feldzug gegen diesen Beginn des Menschen-Paradieses ist wahrscheinlich ebenso alt wie es selbst. Der Front-Abschnitt, der die letzten zweihundert Jahre am besten charakterisiert, ist: Contra Obscoenum. Fünf: Neben dem Factum brutum: dem Nicht-aus-der-Welt-Wollen ... neben dem göttlichen Überschuß: den Lüsten ... das Factum humamum: Mit-Leid, Mit-Freude Vom Menschen her gesehen ist die ewige Anarchie unterhalb der vergänglichen Ordnungen die Wahrheit; von »Gott« her können nur Blinde sehen. Deshalb bauen die Utopisten, welche eine Zukunft verabsolutieren, ebenso auf Sand, wie die Traditionalisten, welche die ewige Wahrheit in irgendeinem Überkommenen sehen. Wer sich an der Hoffnung gütlich tut, weicht ebenso aus wie der Schwärmer für ein vergangenes Paradies. Friedrich Schlegel schrieb unser Motto nieder: »Mit dem Wissen nimmt das Nicht-Wissen in gleichem Grade zu oder vielmehr das Wissen des Nicht-Wissens«. Das gilt nicht für den Ausbau des Transportwesens zum Mond. Aber zum Beispiel für die Enthüllung des Univers. Es ist für den Betrachter gar nicht uni, eher eine Unordnung, die aus tausend lokalen Ordnungen besteht. Auch der Einzelne und seine Gesellschaft sind weder natürlich noch unnatürlich geordnet. Unter bestimmten Aspekten findet man
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begrenzte Zusammenhänge. Wo Platons Psychologie und Marx' Soziologie Der Zusammenhang sein wollen, sind sie Köhlerglauben. Und dort, wo sie das sind, ist sowohl der Oberherr aller Idealisten als auch der aller neueren Materialisten: Sinnen-feindlich; denn Sinne hat nur ein Einzelner, weder das Kollektiv noch der objektive Geist. Soma-Sema, der Leib – das Grab der Seele, von Platon bis zu Kant und den Seinen das zentrale Dogma in vielerlei Variationen, ist beim idealistischen Materialisten Marx nicht so ausgesprochen da. Aber an ihren Früchten ... In der bolschewistischen Zuspitzung, die in diesem Fall legitim ist, gibt es eine Lust über allen Lüsten: die Pflicht. Sie hat weder Augen noch Ohren und kein Geschlecht. Wer nicht ein Ich-bin-die-Wahrheit ist, wird auch die Lust nicht verabsolutieren. Aber die neue Einschränkung unterscheidet sich von den tausend zuvor, daß sie nur schweren Herzens preisgibt. Wer weiß, daß der Einzelne um so besser ist, je mehr er genießt, wird in vielen Verboten, die im Namen des Gemeinwohls ergehen, nichts sehen als eine gedankenlose oder sinnvolle Grausamkeit, eine Verkrüppelung, eine Entmenschlichung. Hierher fallen alle Maßnahmen gegen die sogenannten sexuellen Perversionen, gegen die sogenannte literarische und bildliche und komponierte Unanständigkeit. Diese Ukase ergehen immer im Namen Gottes oder seines Deputierten: der Kirche, der Gesellschaft. Über das, was der Herr im Himmel will, gehen die Meinungen auseinander; ebenso über das, was der Gemeinschaft abträglich ist. Der Kitt, der sie zusammenhält, würde von keiner Aufhebung irgendeines Verbots irgendeiner Unanständigkeit zersetzt werden. Die Einehe (zum Beispiel) lebt von ganz anderen Mächten als von der Heiligkeit und den nüchterneren, aber drakonischeren Ehe-Gesetzen: zum Beispiel von inniger Freundschaft, von gemeinsamem Nachwuchs, von materieller Partnerschaft und Gewohnheit. Diese Bindungen wurden weder von der alten Neigung zur Abwechslung noch von der
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neuen Unabhängigkeit der Frau und schon ganz und gar nicht von dem Marquis de Sade und dem Japaner Tanizaki' zerstört. Wären die Bande so schwach, daß die stattlichen staatlichen Wachhunde ernsthaft (nicht nur symbolisch) hätten eingesetzt werden müssen, dann wären die Bewachten und die Bewacher zerrissen worden. Unendlich viel, was als angebliches Fundament der Gesellschaft zitternd geschützt wird, ist nichts als ein angelerntes, für selbstverständlich gehaltenes Benehmen im Dienste genau erkennbarer Interessen. Auch Irrtümer und Mißgeburten haben diese Sitten in die Welt gesetzt. Das echte Fundament liegt tiefer. Neben dem Factum brutum (neben; denn die Verbindung kennen wir nicht) ist das Factum humanum. Man hat durch die Jahrhunderte versucht, das Eine auf das Andere zu reduzieren. So kamen die ewigen Platoniker und die ebenso ewigen Darwinisten in die Geschichte und verließen sie nicht mehr; man war immer auf klare Verhältnisse in diesem recht wolkigen Dasein aus. Daß Mit-Gefühle keine sehr starken Wurzeln haben, gemessen an der elementaren Macht des Hungers, sagt nichts gegen ihre Ursprünglichkeit. Daß die Denk-Lust nur in wenigen mehr als eine kaum existierende Flamme ist, daß der dei amor intellectualis selbst bei einem Spinoza kaum die Glut des amor nicht-intellectualis zu irgendeiner Partnerin im Schlittschuh-laufen erreicht, besagt nicht, daß die gemäßigtere Lust nur ein Derivat der stärkeren ist. Auch der große Freud mußte das schließlich einsehen. Er kam mit der einen libido nicht aus. Alle Ableitungen, welche das Univers auf eine Eins auszurichten suchen, sind gescheitert; und selbst die Zwei ist nur eine bescheidenere Eins. Es ist möglich, eine Strecke Wegs zurückzublicken: wer den Ursprung zu benennen wagte, betrog sich und die andern. Nachdem das erste Buch Mose (und die »Phänomenologie des Geistes«, das Heilige Buch unserer Elite), nachdem auch die zoologische Anthropologie und die Lehre vom Einzelnen als Ebenbild der Gesellschaft
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viel zur Erhellung (und Verdunkelung) beigetragen haben, wird das vierte Bild vom Menschen jene vernachlässigten Züge einzeichnen, die durch das Studium des entmythologisierten Ebenbilds zu gewinnen sind – ein Ebenbild, dessen Urbild völlig unbekannt ist. In theologisch und metaphysisch verfärbten Bezeichnungen wie Sünde, Scham, Reue, Demut, Seligkeit ... ist Menschliches enthalten, das bisher nur selten aus der moralisch-politischen und unmoralisch-politischen Verflechtung gelöst worden ist. Es war der große Schopenhauer, der das Gemeinsame, das die Einzelnen verbindet, besser erfaßte als irgendwer vor ihm innerhalb der langen europäischen Tradition. Dies war frühzeitig als ein nicht-materielles Element aufgespürt und sehr schnell als eine Art von Gott vernebelt worden; doch exakt läßt sich über das vorsokratische Jahrhundert nichts sagen. Die Einheit wurde dann als Welt-Vernunft, als Gottes-Kindschaft, als das gemeinsame Lumen Naturale in den vielen differenten menschlichen Naturalia gedeutet; erst Schopenhauer fand im gemeinsamen Schicksal vor Not und Tod das einigende Band. Er entdeckte eine Verbundenheit zwischen den Geschiedenen: das Mit-Leid. Hätte er noch die (allerdings weniger ausgebildete) Mit-Lust, Mit-Freude gefunden, dann wäre er der überzeugendste Deuter des Menschen geworden. Aber noch er lebte außerhalb der schmalen epikuräischen Überlieferung. Seine Furcht vor den Sinnen war so mächtig, daß er den Heiligen, den radikalsten Asketen, als Utopie verlockend machte – und so einer der lautesten Eiferer gegen die Freuden des Geschlechts wurde. Aber er hatte gefunden, was der Erfahrung näher war als jene vergöttlichte Vernunft, die gar nicht existiert außer als Sammelbegriff für unzählige Vernünfte; etwas, was eine haltbarere Brücke zwischen Ich und Du ist als diese Gerechtigkeit, die nur konstruiert werden kann, wenn man den besonderen Fall außer acht läßt. Allein in der Solidarität vor dem Leid und in dem Seid-Umschlungen (was nicht bedeutet: seid umschlungen Lumina Naturalia, sondern Seid-umschlungen
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Millionen Menschen-Leiber und Menschen-Seelen, mit den dazugehörigen Lüsten und Unlüsten) – allein in diesem nicht pflichtmäßigen, sondern vor irgendwem oder von irgendwas angelegten Über-sich-hinaus-fühlen, findet der Einzelne die nicht von außen gezogene Grenze seiner legitimen, köstlichen Selbst-Bezogenheit. Wer diese Wonnen und Schmerzen, die eigenen und die ändern, herabsetzt, macht aus dem Menschen eine Spezialität von Lebewesen zur Konstruktion von Götzen und AtomWaffen; im besten Fall zu Hamstern, die Vorratskammern anlegen – Bibliotheken, Museen: von deren Vorrat die Späteren nur spärlich Gebrauch machen. Und was da als Bildungs-Pflicht gegen sich selbst, als Sorge um den nationalen Kultur-Standard, als Vorsorge für die »Bildung« der nächsten Generation sich geltend macht, ist immer gegen den Gegenwärtigen gerichtet. Die Sinne aber haben nur Gegenwart. Auch deshalb zieht man Vergangenheit, Zukunft und Ewigkeit vor. Das Obszöne aber durchstößt den Schutzgürtel »Scham« und stellt den Sinnlichsten der Sinne ins grelle Licht. Wegen dieses Durchstoßens, wegen dieses Verletzens wird es als unmoralisch angeprangert. Mit Recht? Max Scheler bemerkte: »Gerade darauf ist das obszöne Verhalten gerichtet, daß jene Verletzung des Schamgefühls, und zwar auch des eigenen, noch gefühlt und empfunden, und zwar lustvoll empfunden wird.« Sie ist die denkbar menschenfreundlichste Verletzung. Die verletzende Obszönität ist, in dieser Parallelisierung zur Selbst-Verletzung, nicht einmal innerhalb der »Was du nicht willst, daß man dir tu ...« Es ist ein unfreundlicher, furchtsamer Spruch dies »Das füg' auch keinem andern zu«. Die Gerechtigkeit ist eine nicht sehr liebenswürdige Zaun-Abgrenzung. Aber schon ihr Motto schließt das Obszöne aus. Ausgeschlossen werden kann es nur vom Mit-Gefühl, welches sehr human der herrlichen Ich-Zentriertheit seine Grenze setzt – weil eben das Ich umfassender ist als Ein-Meter-sechzig in der Länge ... Umfang Fünfundneunzig.
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Wer diese Aura um den soliden Ich-Kern nicht sieht, ist lebensgefährlich kurzsichtig. Sechs: Obszön ist kein Faktum, sondern eine brauchbare Scheuche. Contra Obscoenum ist die jüngste Phase im Kampf gegen den ältesten Gegner: den unverkrüppelten Adam Aber ebenso gefährlich ist, wer das Gebot verletzt: Du sollst die Freiheit eines Ich nicht unnütz beschränken. Es geht nicht darum, ob irgendein laszives Wort gedruckt werden darf oder nicht; man kann gewiß auch ohne auskommen. Es geht nicht darum, ob gar nicht zweideutige Eindeutigkeiten Ovids lateinisch erscheinen oder übersetzt; sollen die Neugierigen Latein lernen! Es geht nicht einmal darum, ob das Werk des Marquis de Sade nach hundertfünfzig Jahren der Welt zugänglich gemacht wird; wer will, wird es sich schon verschaffen. Und D. H. Lawrence hat mehr geschrieben als die »Lady«; auch wer sie liebt, wäre nicht verschmachtet, wenn sie weitere dreißig Jahre nicht auf den Markt gekommen wäre. Es gibt im Kampf für die Freiheit, obszön zu sein, einen Vorder- und Hinter-Grund. Was diskutiert wird: Pornographie, Cine"ma cochon, erotische Welt-Literatur, L'art risque hat verdeckt, daß es allein um den zurechtgestutzten Adam geht. Wer schrieb und schreibt dem Alten die Fafon, selig zu werden, vor? Die Blick-Richtung dieser Zeit geht auf die Herren, welche in ihren Interessen die Untertanen verkrüppeln; und auf die Ideologie-Zauberer zu Diensten. Als Universal-Methode ist dies Vorgehen recht unzulänglich. Angenommen, die SexualMoralen wurzelten in den Vorschriften irgendwelcher Ausbeuter (aber hier liegt nur eine einzige Wurzel), sie konnten sich immer nur halten durch den Terror, den die Ausgebeuteten unterstützten. Die Sinnen-Feindlichkeit wird nicht nur
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von oben dirigiert, auch von unten mitgemacht: im Namen der Scham. In ihr wurde das Gebot zum Instinkt. Sie ist ein Produkt aus verschiedenen Ingredienzien. Ein Tabu 'kann so fest eingerammt sein, daß das Rühren an ihm sehr schmerzhaft wird; als Beispiel wurde hier die Geschichte der mohammedanisch-kommunistischen Fliegerin in der SowjetUnion berichtet. Scham kann dann auch verkappte Mißgunst sein; man gönnt einem anderen nicht, was man selbst (aus diesem oder jenem Grunde) nicht haben kann. Scham ist am seltensten Heuchelei. Die Zeit Molieres ist vorbei. Man überschätzt die Kraft zur Lüge. Des Menschen Teil ist die Verlogenheit. In einem Gespräch über Pornographie sagte ein Hollywood-Regisseur entrüstet (in der Vorstellung, seinem Siebzehnjährigen könnte eine lockere Geschichte in die Hand fallen): man denkt doch bei solch einem Jüngling an eine Edeltanne. Das war nicht Hypokrisie, sondern Gedankenlosigkeit im Verfolg gelernter Sprüche, die nie mit der eigenen Realität konfrontiert wurden. Er weiß, daß weder Hollywood noch die vielen anderen Menschen-Verschleißer der Erde Edeltannen produzieren; will zugleich business äs usual und den Sohn im Paradies. Verlogenheit ist die Fähigkeit, als split personality, also auf ehrliche Weise, unehrlich zu sein. Die Interessen der jeweils Herrschenden sind nicht unschwer zu durchleuchten. Weniger sind ihre Partner zu durchdringen: zum Beispiel der Mob und die verkrüppelte Elite des »Reigen«-Prozesses und ihre Epigonen, die HollywoodGranden mit Edeltannen-Komplex; Hollywood ist kein Ort, sondern eine Lebensform: Groß-Leben plus strengste Moral. Die Schulbuch-Unterscheidung zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten hat viel Einsichten gebracht und viele verbaut. Und die Schulbuch-Unterscheidung zwischen Sinnen-Feindschaft und Sinnen-Verehrung hat verdeckt, daß dies SomaSema tausend Varianten hat, die oft so subtil sind, daß sie wie ihr Gegenteil aussehen. Jeden Sonntag kann man in irgendeinem hochliberalen Blatt irgendeinen Domprediger le-
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sen, der »Von der Macht der Sinne« handelt, als wäre er geradezu ein Zwillingsbruder des Epikur. Wenn man aber das Ganze nicht überfliegt, wenn man vorsichtig von Satz zu Satz vorrückt, so prägt sich ein: »Die Macht der Sinne wird zur Übermacht, sobald einer auf sein Recht als Maisch –ich meine das Recht des Gewissens – verzichtet, welches ein Recht der Natur ist und gleichzeitig der Anspruch eines Höheren an den Menschen, Herr und Gebieter seiner Sinne zu sein.« Diese Kuriosität, nur eine der hunderttausend Masken des Soma-Sema, nur ein einziges Untersuchungsobjekt unter Millionen gleich hübschen, provoziert folgende Fragen: wo wird die Macht der Sinne zur Übermacht? (Übten die Mädchen auf Casanovas Sinne eine Macht aus oder eine Übermacht?) Was ist »das Recht als Mensch«, das als »Recht des Gewissens« definiert wird? (Das Gewissen kann man erfahren ... aber kaum »das Recht des Gewissens«.) »Das Recht des Gewissens« wird als »Recht der Natur« bezeichnet. Hier wird offenbar Sinai, Naturrecht und Reichsgericht schlicht zusammengeworfen; dreifach genäht hält besser. Wogegen? Soviel wird mobilisiert gegen die Sinne, die offenbar kein Recht haben. Ja, es wird vom »Anspruch eines Höheren an den Menschen« geredet, »Herr und Gebieter seiner Sinne zu sein«. Wenn der Mensch ein Herr sein darf, so immer nur gegen einen Knecht: die Sinne. In diesem bildschönen Bild vom »Höheren« (dem Oberherrn), der den Menschen als Unter-Herrn bestätigt, wo es gilt, den Sinnen zu gebieten, hat man die folgenreichste Klassen-Diktatur der Weltgeschichte: zwei hierarchisch gestufte Herren und die ewigen Proleten – die Sinne. Die Proleten wurden nie so eingehend biographiert wie die Herren. Wer kennt die Zahl der Sklaven? Man hat immer nur bis Fünf gezählt. Und es ist nie ins allgemeine Bewußtsein gedrungen, wie sehr auch hier die Oberen und die Unteren verbandelt sind. Wo ist die eherne Grenze zwischen Religiös-Moralischem und Biochemischem? Man hat längst entdeckt, daß das hebräische Speise-Ritual als höchst nützliche
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Diät in die Welt kam. Aldous Huxley hat nachgewiesen, wieweit religiöse Praktiken des Mittelalters dieselben mystischen Resultate zeitigten, die heute mit Hilfe von chemischen Substanzen erreicht werden. Dennoch wird unentwegt die Oberwelt Mensch und die Unterwelt Mensch auseinandergehalten. Die Obszönitäts-Prozesse brachten nur lauter an den Tag, was tägliche Praxis ist. Sie wird von niemand stärker verschleiert als von den Liberalen. Ihr Postulat von der Harmonie der zwei Seelen setzt schon die Trennung voraus: das Gewissen und der »Erdenrest, zu tragen peinlich« sollen auf anständige Weise versöhnt werden. Dieser satanisierte Erdenrest wurde von den Biedermännern mit großer Suada weginterpretiert – bis zur L'affaire Sade. Sieben: Es gibt keine feineren und weniger feinen Amores, aber unhumane. Oder L'affaire Sade Die Affaire »Justine« (verboten 1814, im Todesjahr des Marquis de Sade), die Affaire »Juliette« (verboten 1815) ... hat eine ebenso lange Geschichte wie die Affaire »Lucinde«—und ist noch blamabler. »Der göttliche Marquis«, wie man ihn in berechtigtem Trotz nannte, ist eine der schlechtest behandelten Personae des Welt-Theaters; während die französischen Schuljungens hinter den Kulissen von Generation zu Generation seine Stellen weitergaben. Er bewog einst ein Mädchen, sich auszuziehen; und versohlte ihr dann (zu seinem Vergnügen) das Hinterteil. Das war gar nicht schön, weil es nicht auch ihr Vergnügen war. Dann belohnte er sie fürstlich, und wenigstens das bereitete ihr Vergnügen. Die Zeitgenossen aber machten aus der berühmten Episode ein Greuelmärchen: er habe sie tranchieren wollen, in wer weiß wieviele Schnipselchen. Dann schenkte er einigen Dirnen, vor denen er und sein Die-
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ner sich in ihrer Männlichkeit spreizten, aufmunternde Bonbons. Die Mädchen bekamen Bauchschmerzen, keine wurde ernstlich krank. Die Zeitgenossen aber machten ihn zum Giftmischer. Er schwängerte einige Dorfmädchen und brannte mit der Schwester seiner Frau durch. Mit alledem wurde er für die Polizei und nicht nur für sie ein mauvais sujet. Und als er, vierundsiebzig Jahre alt, in großartiger Vorwegnahme jüngster Therapien, die Geistesschwachen, unter denen er eingesperrt lebte, durch Theater-Aufführungen kurieren wollte: indem er sie agieren ließ ... machte der Chef der KrankenKaserne eine Eingabe gegen die Umtriebe dieses Unholds. Mehr als ein Drittel seines langen Lebens saß er im Gefängnis, vor allem auch, weil er eine böse und einflußreiche Schwiegermama besaß. So war ihm viel Zeit zum Denken und Schreiben gegeben. Er hinterließ ein umfangreiches Werk und wurde unentwegt verboten, bis in diese Tage. 1954 begann der Pariser Verleger Jean-Jaques Pauvert, zum ersten Mal das gesamte Werk herauszugeben und zum ersten Mal Sade zu drucken mit Angabe eines Verlags – und wurde angeklagt. Abermals berief sich der Kläger auf die Guten Sitten (1956 gehörte nun auch Baudelaire zu den Guten) und die lebende Garde des angeklagten Toten darauf, daß die Zahl der Exemplare gering, der Preis hoch sei, daß vor allem Ärzte und Universitäten diese Bücher kauften, daß man ihr Obszönes von ihrem Bedeutenden trennen müsse (womit man das Obszöne abermals preisgab) – und daß erstklassige Leute sich zu Sade bekannten: Lamartine und Baudelaire und Swinburne und Lautreamont und Apollinaire, der ihn den freisten Geist genannt hatte. Nietzsche und Freud wurden als VulgärSadeisten bezeichnet. Und abermals umgingen der gewandte, belesene Anwalt Maurice Gar§on und die Zeugen für den Marquis: die Herren Jean Cocteau, Andre" Breton, Jean Paulhan, George Bataille – das zentrale Thema: welche Lüste beseelten den seligen de Sade? wurden in seinen Lesern mobil gemacht? sind schlecht -
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und weshalb? sind gut – und weshalb? Und gerade darüber hätte sich der Ankläger gern (und mit Recht) unterhalten. Man kann viel Richtiges über Monsieur de Sade sagen, ohne zum Kern zu kommen, der wichtiger ist als er oder ein anderer Autor: welche amores sind zuzulassen und welche nicht? Das Achtzehnte Säkulum, von hundert Vorurteilen befreit und deshalb nicht ohne Grund ziemlich übermütig, experimentierte lustig in der Phantasie herum – mit allem, in dem man zu Recht oder zu Unrecht das Fundament jeder Gesellschaft sah. Diese Möglichkeiten (das Reich aller Experimentierer), die Sade in Theorie und Darstellung umsetzte, gehörten mindestens zur Wirklichkeit zeitgenössischer (und nicht nur zeitgenössischer) Velleitäten. »Das volle Glück des Menschen liegt in seiner Einbildungskraft«, schrieb er; »man kann sich nur selig preisen, wenn man allen seinen Kapricen nachgibt.« Wahrscheinlich waren auch der Verfasser des Romans »Gefährliche Liebschaften« und Retif de la Bretonne nicht nur groß im Ausdenken, sondern ebenso Paschas im Reich der Phantasie. De Sade war sowohl ein radikaler Begriffs-Konstrukteur als auch ein Prinz in den Märchen, die er schuf. Es ist unter anderem auch wahr, was Jean Cocteau zu Protokoll gab (in dieser Wahrheit ein Herz und eine Seele mit dem Ankläger): daß der göttliche Marquis kein göttlicher Erzähler war, sondern eher, gut und gerne, ein Langweiler. Er wiederholt sich bis zum Überdruß: sowohl in den höchst unanständigen Fabeln als auch in den ebenso anrüchigen Theorien, mit denen er sie komplettiert. Aber ist dieses richtige Urteil während eines solchen Prozesses nicht eher eine nicht zu mutige Ablenkung vom Thema? Das aber lautete: ist dies alles im Menschen angelegt, was da in »Les 120 journees de Sodome« ausgebreitet wird? oder ist es nur eine Häufung gräßlicher Abirrungen? Zum Thema gehörte auch die These des Klägers: das Sinnliche sei eben monoton, daher diese unerträglichen Repetitionen. Niemand ging auf diese Halb-Wahrheit ein. Der angeklagte
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Tote, hätte man zugeben sollen, hat mit der Pornographie das Eine gemein: er isoliert, was nie isoliert vorkommt. Es gibt keinen Sex, losgelöst von tausend Alltäglichkeiten und Feierlichkeiten, die nicht das geringste mit ihm zu tun haben. Erst in den Legierungen ist er ein mächtiges Element. Langweilig ist nicht das Sinnliche (wie die Tugendwächter angeben), sondern die Häufung des artificiell Isolierten. Die Vielfältigkeit des sexuellen Genusses, die de Sade großartig offenbarte, zeigt nur deshalb nicht den Reichtum, weil sie nicht zugleich die Mannigfaltigkeit der sexuell bestimmten Realität offenbart. Die Monotonie eines, der von einer Entdeckung besessen ist, charakterisiert ihn; nicht ein schriftstellerisches Manko oder gar ein moralisches. War er ein Spezialist? Seine ausweichenden Freunde suchten ihn so zu stilisieren. Lange vor den Sexologen der letzten hundert Jahre, sagte man richtig, habe er diese Begierden in größter Fülle und Unverblümtheit ausgebreitet. Das wurde im Prozeß mit vielen Lobstrichen versehen; sogar der Kläger war nicht abgeneigt, diese Leistung anzuerkennen. Wäre aber de Sade nichts gewesen als das, dann sollte ihm in der Geschichte dieser Forschungen ein Denkmal gesetzt werden: dem großen Vorläufer. Doch ist der Versuch, ihn in die Historie der Wissenschaft abzuschieben: Abteilung Sexuelles oder Parasexuelles oder Pathologisches, nur eine Leisetreterei. Hätte ein medizinischer Verlag diese Bücher als Quellen-Studium für Ärzte herausgegeben, niemand hätte die Ausgabe des M. Pauvert angetastet. Aber dann wäre de Sade wirklich lebend begraben worden. Denn er war viel mehr als ein Vorläufer. Und mehr als ein Sitten-Schilderer, auch so eine fromme Bezeichnung. Die Liste dessen, was er alles war, ist lang: ganz offenbar ein Hungriger, dem siebenundzwanzig Jahre Gefängnis wahrscheinlich einen Wolfshunger angehext haben; auch ein Sadist (vielleicht von Hause aus); auch ein romantischer Utopist mit dem Ewige-Umarmung-Komplex; auch, wie viele seiner Zeitgenossen, ein leidenschaftlicher Entlarver – und Übertreibung
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gehörte immer dazu. Wahrscheinlich ist er so vehement in seiner Demaskierung gewesen, weil die aggressive Scheinheiligkeit sein Leben vernichtet hatte. Und wer an dem Wort »krankhaft« hängt, dem mag auch konzediert werden, daß seine phantastische Sexual-Wut nicht innerhalb der üblichen Grenzen blieb; vor allem in der Glorifizierung der Grausamkeit. Was heute akademisch als Destruktions-Trieb eingereiht wird und immer schon in seiner Affinität zum Sexuellen erkannt worden ist, wurde bei Sade zur Verherrlichung des SexualMords. Sein Übermensch ist die Erfüllung in der Qual und dem Tod des sexuellen Partners. Lange vor Nietzsche sah er im Mit-Leid nichts als die Impotenz fleischloser Betbrüder. An diesem Punkt hätte man Größe und Verranntheit voneinander sondern sollen. Stattdessen schwenkte man ein – sagen wir: auf die fromme Linie der Flaubert-Verteidigung. Jean Paulhan erzählte zur Entlastung des Marquis (und seines Verlegers) die rührende Geschichte: ein Mädchen, das den Göttlichen las, fand ihn gar nicht göttlich, sondern teuflisch, glaubte ihm aber und ging ins Kloster. So erhebende Wirkungen hat die Lektüre der »Crimes de l'amour«? Oder sollte nur dem Präsidenten des Kreuzverhörs seine Frage suggeriert werden: ist das ein schlechtes Resultat? Damit war man wieder auf der bewährten Chaussee. In demselben Sinn, in dem (haarscharf ein Jahrhundert zuvor) plädiert worden war: diese »Madame Bovary« sei eine heilsame Lektüre, weil alle Madames nun sähen, wohin man kommt, wenn man sich mit einem Herrn einläßt, mit dem man nicht verheiratet ist ... meinte Jean Paulhan: in den Werken Sades läge »un danger eminement moral«. Diese höchst moralische Gefahr ist wahrscheinlich das Groteskeste, zu dem es die fortschrittlichen Rückschrittler je gebracht haben. Dabei kann de Sade, wie niemand anders, die wichtigste Lektion erteilen, wenn man von der Kindergarten-Alternative: Obszön und deshalb zu verurteilen – Obszön, aber bedeu-
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tend ... endlich läßt. Apollinaire prophezeit, daß Sade, im Neunzehnten Jahrhundert kaum beachtet, das Zwanzigste beherrschen wird. Es sieht nicht so aus; die Voraussetzung wäre, daß man ihn nicht für seine Menschlichkeit verdammt, und daß man aus seiner Unmenschlichkeit lernt – und außerdem sollte ein gescheiter Schriftsteller ihn so redigieren, daß er lesbar wird. Seine Menschlichkeit lag darin, daß er eine kleine Provinz im Reiche des Sex für das nahm, was sie ist: einen Pferch. Seine Menschlichkeit lag in der Entgrenzung. Sein Unhumanes aber war in dem alten Philosophen-Eifer: mit einem Prinzip durchzugehen bis ans Ende der Welt. Die Verabsolutierung der Grausamkeit ist die übliche Perversion des Doktrinärs: eine beträchtliche Einsicht für mehr zu nehmen als das. Er war besessen wie jeder Entdecker, dem seine Entdeckung alles bisher Entdeckte und Unentdeckte verdeckt. Er identifizierte den Menschen mit der totalen Sexualität und sie mit der Mitleidlosigkeit, weil schon er (wie später Nietzsche) in den MitGefühlen nichts als körperliche und geistige Impotenz sah. Er kann viel lehren. Es war gut, die Grenzen der überkommenen Sexual-Moral zu überschreiten. Aber er verirrte sich in die Gleichsetzung von Sexualität und Gewalt, in eine neue Enge. Diese Gleichung ist eine Unwahrheit. Durch sie hat er kräftiger als jemand e contrario ins Licht gestellt: den amor hominis sexualis. Auch das Abschreiten der Holzwege führt weiter auf dem Weg. Die amores schließen auch die Liebe zur Destruktion ein und ihre sexuelle Praxis. Sie ist eine Fixation neben vielen anderen; und unhuman wie jede, weil sie arretiert mit einem Nicht-weiter. Sie ist aber vor allem unhuman, weil sie das Factum humanum ignoriert. Wenn man schon auf das feindliche Wort Obszön nicht verzichten will, reserviere man es für Dionys und seine Mänaden – dort, wo sie Liebenden Gewalt antun.
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Namen-Register Abaelard, Peter 298 Acton, W. 46 Alexander der Große, König von Makedonien 87 Aloysius von Gonzaga 255 Anaxagoras 282 Appollinaire, Guillaume 395, 399 Apulejus, Lucius 39, 106, 151, 317 Aretino, Pietro 38, 49, 318, 376 Aristophanes 31, 151 Aristoteles 320 Artois, Graf 131 Aspasia 282 Augustinus 47, 57, 278, 298, 325, 358, 361 Augustus, römischer Kaiser 38, 265 Aurevilly (siehe Barbey d'Aurevilly) Bach, Johann Sebastian 240 Bacon, Francis 320 Balzac, Honore de 117, 123, 152, 158, 332, 342, 343 Barbey d‘Aurevilly, Jules 153 Barnum, Phineas Taylor 57, 165, 167, 188 Bataille, George 395 Baudelaire, Charles 27, 28, 39 f., 153 f., 220, 252, 258, 318, 333. 334, 395 Baxter, Frank 355, 356, 357, 363 Beardsley, Aubrey 31, 321 Beecher, Henry Ward 193 Béranger, Pierre Jean de 146, 159, 160 Bergson, Henri 288, 342 Bernus, Alexander von 35 Blake, William 286 Blei, Franz 46, 48, 139 Bloch, Iwan 21, 23 Boccaccio, Giovanni 24, 49, 204, 349
Borne, Ludwig 105 Bossuet, Jacques Bénigne 139 Bourke, John Gregory 35l Bowdler, Thomas 183 Bradtke, von 213, 241, 242, 261 Brandes, Georg 33, 324 Brantôme, Pierre de Bourdeille, Seigneur de 46, 49, 146 Brecht, Bertolt 45, 147 Brentano, Clemens 29 Breton, André 395 Brunner, Emil 202, 232 f., 348, 370, 376 Büchner, Georg 141, 184, 220 Bunyan, John 286 Burckhardt, Jacob 100 Byron, Lord George 42 Caesar, Gajus Julius 87 Casanova, Giacomo 50, 317, 322, 373, 376, 393 Cato, Marcus Portius 15 Catull, Gajus Valerius 35 Cendrars, Blaise 365 Chaix d'Est-Ange, Gustave 157, 163, 164 Chamberlain, Houston Stewart 245 Chaucer, Geoffrey 49, 358 Chenier, André 143 Chorier, Nicolas 38 Cicero, Marcus Tullius 16, 381 Claflin, Tennessee 192 Claflin, Victoria 192 f. Cleland, John 33 Cocteau, Jean 395, 396 Coleridge, Samuel Taylor 54 Comstock, Anthony 57, 165 f., 231, 232, 233, 235, 239, 240, 244, 248, 257, 258, 268, 269, 280, 345, 346, 347, 348, 370, 376 Comstock, Maggie 185
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Conradt, Heinrich 36 Cooper, Gary 189 Corregio, Antonio 31, 248 Cotta, Johann Friedrich 33 Couturier, Delphine 123, 124 Cozzens, James Gould 353 Dante Alighieri 158 Darrieux, Danielle 310 Daudet, Alphonse 200 Defoe, Daniel 49 Delamare, Eugene 123 Descartes, René 320 Deutz, Rupert von 136, 137 Dickens, Charles 54, 55 Diderot, Denis 73 Dilthey, Wilhelm 67, 98, 100, 110 Diodor 36 Dionys 184 Doren, Carl van 126, 134 Dostojewski, Fedor Midiailowitsch 42, 45, 342 Douglas, Lord Alfred 16, 306 Dreiser, Theodore 200 Dumas, Alexandre (fils) 152 Durrell, Lawrence 49, 316, 323, 345, 363, 365 Eakins, Thomas 352 Ebert, Friedrich 213 Ebner, Margaretha 137 Eckermann, Johann Peter 89, 256 Elisabeth I., Königin von England 320, 321 Ellis, Albert 313 Ellis, Havelock 15, 204 Emerson, Ralph Waldo 350 Epikur 111, 297, 298, 367, 380, 381, 393 Erasmus, Desiderius (Gerhard Gerhards) 337 Eugenie, Kaiserin der Franzosen 125, 196 Eysoldt, Gertrud 253 Falk, Johannes Daniel 114 Faulkner, William 316, 323 Fichte, Johann Gottlieb 52, 65, 80,97,276 Fielding, Henry 55 Fitzgerald, Francis Scott 328 Flaubert, Gustave 31, 39 f., 102, 122 f., 244, 247, 252, 258, 270, 339, 358, 398
Foch, Marchal 356 Forster, E. M. 25, 133, 142, 143, 269, 286, 292, 309 Forster-Larrinaga, Roben 261 France, Anatole 171 Frank, Reinhard 261 Franklin, Benjamin 32, 52, 319 f. Franz von Sales (Francois de Sales) 139 Franz I., König von Frankreich 342 Freud, Sigmund 44, 54, 57, 58, 59, 69, 82, 108, 161, 222, 274, 291, 331, 351, 354, 371, 372, 374, 380, 381, 385, 388, 395 Friedell, Egon 380 Friedländer, David 97 Friedrich II., König von Preußen 119, 385 Friedrich Wilhelm II., König von Preußen 119 Gandhi, Mohandas Karamchand 170, 171, 332, 337, 338 Garçon, Maurice 395 Gardiner, Gerald 277, 278, 290, 298, 303 Gautier, Theophile 125 Genet, Jean 43 George, Stefan 156, 157 Gervinus, Georg Gottfried 86 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 86 Goebbels, Joseph 240 Goethe, Johann Wolfgang 32, 33, 41, 50, 51, 59, 63, 65, 67, 68, 73, 79 f., 87 f., 95, 101, 105, 113, 114, 119, 148, 202, 215, 238, 239, 244, 246, 251, 256, 258, 274, 325, 331, 341, 371 Goldmann, Emma 326 Goncourt, Edmond de 139 Goncourt, Jules de 139 Gosling, Robert 27 Goya y Lucientes, Francisco Jose" de 17 Grabbe, Christian Dietrich 248, 333 Grant, Ulysses Simpson 196, 200 El Greco (Dominikus Theotokópulos) 317 Griffith-Jones 273 f. Grillparzer, Franz 210 Grimm, Jacob 14, 369
404
Grimmeishausen, Hans Jakob Christoph von 317 Grunow, Eleonore 110, 111 Guillois, Ambroise 141 Guyon, Jeanne Marie Bouvier de la Motte-G. 136 Harden, Maximilian 192 Harris, Frank 32, 69, 203, 282 Hartmann, Nicolai 370, 371 Hauptmann, Gerhart 248 Haym, Rudolf 100 Hebbel, Friedrich 53, 210, 248 Heidegger, Martin 370, 371 Heine, Heinrich 66, 81, 121, 256 Heine, Wolfgang 102, 250 f., 290, 358 Heinrich IV., König von Frankreich 342 Heinse, "Wilhelm 86 Heloise 298 Hemingway, Ernest 323, 328, 353 Herder, Johann Gottfried 94 Herdmenge, Lola 261 Herodot 136 Herz, Henriette 71, 105, 114 Heyse, Paul 212 Hindenburg, Paul von 225 Hitler, Adolf 33, 209, 211, 212, 217, 235, 240, 242, 244, 353, 354 Hölderlin, Friedrich 240, 328 Hofmannswaldau, Christian Hofmann von 82, 83, 86 Hofmannsthal, Hugo von 65, 382 Hogarth, William 31, 248 Homer 39, 44, 151 Hoover, Edgar 313 Horaz, Quintus Flaccus 38, 85, 265 Hugo, Victor 123 Humboldt, Wilhelm von 94 Hunold, Christian Friedrich 84 Husserl, Edmund 370, 371 Huxley, Aldous 317, 348, 357, 365, 394 Huysmans, Joris-Karl 46 Jahn, Friedrich Ludwig (Turnvater) 212 James, William 288, 336 Jean Paul (Jean Paul Friedrich Richter) 94 Jeanne d'Arc 192
Jefferson, Thomas 345, 364 Jones, Ernest 57, 108 Jonson, Benjamin 320 Joyce, James 21, 31, 143, 316, 341, 346, 363 Kafka, Franz 354 Kaiser, Georg 154 Kant, Immanuel 23, 42, 52, 75 f., 105, 119, 239, 240, 244, 254, 285, 326, 387 Kapp, Wolf gang 210 Kerouac, Jack 335 Kerr, Alfred 232, 255 f., 305 Kierkegaard, Sören 79, 335, 354 Kinsey, Alfred 72, 131, 197, 276, 363, 375 Klaar, Alfred 260 Kleist, Heinrich von 210, 306, 333, 334, 354 Klemens von Alexandrien 46, 373 Kock, Paul de 160 Köster, Albert 258 Kotzebue, August von 97 Kraus, Karl 97 La Bruyere, Jean de 79 Lachmann, Karl 14 Lafayette, Marie Joseph de Motier, Marquis de 131 Lafayette, Marie Madeleine Pioche de la Vergue, Comtesse de 146, 319 Lagarde, Paul Anton de 245 Lamartine, Alphonse de 142, 143, 150, 395 Lamennais, Hugues F61icit6 Robert (de la Mennais) 149 Lane, Sir Allen 308 Langbehn, Julius (der Rembrandtdeutsche) 245 Lautreamont (Isidore Lucien Ducasse) 395 Lawrence, D.H. 29, 39 f., 143, 161, 263, 265 f., 315, 316, 371, 391 Leconte de Lisle, Charles-MarieRene" 151 Leo X., Papst 213 Leo XIII., Papst 18, 39 Lessing, Gotthold Ephraim 36, 52, 53, 246 Lichtenberg, Georg Christoph 41 Liebermann, Max 130
405
Lilienstern, Rühle von 306 Lincoln, Abraham 200 Lindner, Robert 27 Liszt, Franz 261 Livius, Titus 16 Lohenstein, Daniel Caspar von 84, 86 Loyola, Ignatius von 174 Ludendorff, Erich 225, 238 Ludwig XL, König von Frankreich 49 Ludwig XVI., König von Frankreich 131 Lüttwitz, Walther von 210 Lukian 317, 318 Luther, Martin 47, 59, 213 MacLeish, Archibald 283 Maecenas, Gajus 35 Mailer, Nonnan 305 Maintenon, Francoise d'Aubign^, Marquise de 136 Makart, Hans 202 Malebranche, Nicole 140 Malinowski, Bronislaw 76 Mann, Heinrich 233, 281 Mann, Thomas 51, 238, 246, 317, 340, 341 Margaret Rose, Prinzessin von Großbritannien und Irland 276 Margarete von Navarra (Marguerite d'Angouleme) 146 Maria von Portugal 38 Maria Theresia, Kaiserin von Österreich 213, 221 Marie Antoinette, Königin von Frankreich 131 Martial, Marcus Valerius 35, 53 Martin V., Papst 47 Marx, Karl 77, 120, 354, 358, 380, 381, 387 Matisse, Henri 342, 353 Maupassant, Guy de 282 McCarthy, Joseph R. 165, 167 Mechthild von Magdeburg 137 Mencken, Henry Louis 181 Mendelssohn, Moses 70 Merim^e, Prosper 152 Metternich, Klemens, Fürst von 66 Miller, Henry 31, 40, 41, 56, 72, 107, 143, 161, 200, 205, 308, 315 f., 371, 375 Milton, John 365
Moliere (Jean Baptiste Poquelin) 90, 158, 370, 392 Moltke, Helmuth von 192 Montaigne, Michel Eyquem, Seigneur de 57, 321, 342, 343, 367 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de la Brede et de M. 145 Morgan, LP. 33, 194 Mozart, Wolfgang Amadeus 105 Müller, Klara 227, 245, 254 Münsterberg, Hugo 222 Musset, Alfred de 32, 33, 146, 159, 160, 269 Mutzenbacher, Josefine 34 Nabokov, Vladimir 29 Napoleon III., Kaiser der Franzosen 125, 131, 134, 146, 196 Nicolai, Friedrich 120 Nietzsche, Friedrich 70, 82, 100, 106, 240, 256, 287, 318, 327, 336, 354, 360, 380, 395, 398, 399 Novalis (Friedrich Freiherr von Hardenberg) 45, 65, 92, 103, 243, 335 Oppenheim, Hermann 222 Orlik, Emil 44, 241, 245 Orwell, George 316, 365 Ovid, Publius Naso 14, 16, 35, 37, 39, 49, 106, 203, 299, 391 Page, William 352 Pankhurst, Emmeline 191 Paulhan, Jean 395, 398 Paulus 17, 47 Pauvert, Jean-Jaques 395, 397 Pepys, Samuel 50, 359 Perikles 282 Perles, Alfred 49, 323, 341 Petronius Arbiter 35, 39, 46, 49, 86, 106 Petrus 157 Pfühl, Ernst von 306 Pinard, Ernst 126 f., 261, 262, 280, 285 Pius II., Papst 18 Platon 39, 44, 59, 105, 151, 184, 254, 282, 352, 381, 384, 387 Poggio, Gian Francesco 47, 49 Pound, Ezra 357, 365 Pyrrhon 380
406
Rabelais, Francois 38, 39, 49, 146, 200, 299, 317, 331, 349, 370 Raleigh, Sir Walter 320 Ramsey, G. V. 26 Ranke, Leopold von 98 Ravel, Maurice 353 Read, Herbert 315 Rembrandt, Harmensz van Rijn 39, 44, 241, 245, 246 Rétif de la Bretonne, Nicolas Edme 41, 42, 396 Roosevelt, Theodore 165, 346 Roswitha von Gandersheim 248 Rousseau, Jean-Jacques 317, 319, 325, 326, 335, 354 Rowlandson, Thomas 31 Rubens, Peter Paul 31, 99
Schröder-Devrient, Wilhelmine 33, 269 Senard 102, 126, 132 f., 252, 253, 358 Shakespeare, William 19, 39, 41 f., 53, 54, 76, 183, 204, 215, 248, 249, 250, 268, 333, 359 Shapiro, Karl 316 Shaw, George Bernard 167, 273, 371 Shegard, Richard R. 165 Simmel, Georg 383 Sloan, John 352 Smith, Bradley R. 347 Smith, Elazar 347 Sokrates 146, 282, 383 Sophie, Großherzogin von Sachsen-Weimar 32 Sotades 15 Spengler, Oswald 98 Spinoza, Baruch de 388 Stablo, Wilibald von 136 Steffens, Henrik 67 Stein, Charlotte von 101 Stendhal (Henri Beyle) 217, 244, 247 Stirner, Max (Kaspar Schmidt) 326 Strabo 36 Strauß, Richard 31 Strindberg, August 70, 248 Suidas 318 Swinburne, Algernon Charles 395 Tacitus, Cornelius 16 Tanizaki, Junichiro 388 Teller, Probst 97 Tertullian, Quintus Septimus Florens 47, 182, 183 Thackeray, William 122 Therese von Jesus 136 Thomas von Aquino 47, 298, 341 Thomasius, Christian 14 Thoreau, Henri David 330, 336 Tieck, Ludwig 65 Tizian (Tiziano Vecelli) 248 Tolstoi, Leo Nikolajewitsch, Graf 338, 339, 342 Torquemada, Juan de 195 Train, Georg Francis 195, 196, 197 Treitschke, Heinrich von 245 Twain, Mark (Samuel Clemens) 32, 55, 320 f. Uris, Leon 317 Usener, Hermann 140
Sadis, Hans 369 Sack, Friedrich 114 Sade, Donatien-Alphonse-Francois, Marquis de 286, 287, 288, 319, 388, 391, 394 f. Sainte-Beuve, Charles-Augustin 41, 141, 142, 146, 152, 153 Sandburg, Carl 316 Savonarola, Girolamo 94 Schaper, Friedrich 258 Schefer, Max 370, 371, 390 Schelling, Friedrich Wilhelm 65, 93 Schelling, Karoline (geb. Michaelis, verw. Böhmer, gesch. Schlegel) 70, 93, 101, 103 Schiller, Friedrich 41, 42, 52, 65, 67, 75, 81, 89, 94 f., 138, 211, 248, 337 Schlaikjer, Erich 240 Schlegel, August Wilhelm 65, 67, 91 f., 101 Schlegel, Dorothea (geb. Mendelssohn, gesch. Veit) 70, 71, 92, 97 Schlegel, Friedrich 29, 39, 41, 54, 65 f., 121, 123, 193, 221, 236, 287, 289, 336, 386 Schleiermacher, Friedrich 56, 65, 67, 98, 102 f., 130, 134, 193, 216, 279, 358 Schnitzler, Arthur 29, 41, 97, 102, 143, 161, 209 f., 335 Schopenhauer, Arthur 22, 70, 112 f., 354, 380, 389 Schreber, Johannes David 20 Schreker, Franz 31
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Vanderbilt, Cornelius 192, 194 Vanderlyn, John 352 Victoria, Königin von England 54, 107, 276 Villedieu, Louise 27, 28 Virgil, Publius Maro 35 Voltaire (Franfois-Marie Arouet) 146, 148, 248 Wagner, Richard 238, 245, 261, 263, 316 Wagner, Siegfried 238 Walzel, Oskar 101 Webster, Noah 169 Wedekind, Frank 70 Weigand, Wilhelm 222 Weininger, Otto 70, 79 West, Rebecca 268, 278, 292, 309
Whitman, Walt 330, 336, 360, 363 Wieland, Christoph Martin 85, 86, 92, 106, 317 Wilde, Oscar 16, 108, 133, 204, 306 f. Wilhelm II., deutscher Kaiser 211, 228, 259 Wilson, Edmund 357 Wilson, Thomas Woodrow 188 Witkowski, Georg 254 Woolsey, John M. 21 Wordsworth, William 268 Yeats, William Butler 311 Zille, Heinrich 203 Zola, Emile 200, 244, 247, 322
408