Nur gute Freunde? Anne McAllister
Julia 1455
13 2/2001
scanned by suzi_kay
1. KAPITEL Rhys Wolfe wünschte sich nich...
17 downloads
632 Views
605KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nur gute Freunde? Anne McAllister
Julia 1455
13 2/2001
scanned by suzi_kay
1. KAPITEL Rhys Wolfe wünschte sich nichts sehnlicher, als heiß zu duschen, ein kühles Bier zu trinken und vierundzwanzig Stunden zu schlafen - und zwar genau in dieser Reihenfolge. Es war sechs Uhr morgens. New York erwachte gerade: Busmotoren dröhnten, Autos hupten - und er wollte nichts wie ins Bett. Er hatte keine Vorstellung, wie spät es war. Seit Stunden war er unterwegs gewesen und fiel vor Müdigkeit beinahe um. Während er das schmiedeeiserne Tor unterhalb der Treppe auf schloss, die zu seinem Apartment in dem roten Sandsteinhaus mit Garten führte, blickte er vorsichtig nach oben zu dem Apartment, das über seinem war. Ob Mariah schon wach war und auf der Lauer lag? Als hätte sie die ganzen letzten neun Wochen damit verbracht, am Fenster zu stehen und auf ihn zu warten. Als würde sie sich etwas aus ihm machen. Rhys öffnete die Tür zu seinem Apartment. Aber genau das war das Problem: Sie machte sich etwas aus ihm. Mariah und er waren Freunde. Oder zumindest waren sie das einmal gewesen. Rhys war sich nicht sicher, was sie jetzt waren. Er legte seinen Matchbeutel ab, zog die Tür hinter sich zu und lehnte sich erschöpft dagegen. Zwei Monate lang war er nicht mehr zu Hause gewesen. Seit ... Seit er morgens neben Mariah aufgewacht war. Seiner reizenden Nachbarin, seiner guten Freundin Mariah.
Sonst zog es ihn immer nach Hause, und er freute sich darauf, sich von der Verantwortung und den Anstrengungen seiner Arbeit in einer Feuerbekämpfungs-Spezialeinheit zu erholen. Normalerweise konnte er es kaum erwarten, Mariah anzurufen und sich zu erkundigen, was sie in den letzten Wochen getan hatte. Seufzend begann er, sein Hemd aufzuknöpfen. Diesmal hatte er nicht die geringste Lust, sich bei ihr zu melden. Er wusste nicht, was er zu ihr sagen sollte. Das ist das Problem, wenn man mit Frauen schläft, die einen wirklich gern haben, dachte Rhys. Es machte alles kompliziert und führte dazu, dass sie sich überzogene Hoffnungen machten. Zum Beispiel auf eine Beziehung. Oder eine Heirat. Nein. Entschlossen schüttelte Rhys den Kopf und ging ins Badezimmer. Mariah wusste genau, wie er übers Heiraten dachte. Sie hatte oft genug seine Meinung darüber gehört. Er, Rhys Wolfe, wollte keine Ehe, keine Beziehung, keine Verantwortung. Das alles hatte er bereits hinter sich. Und er wollte es nicht noch einmal erleben. Das erklärte er jeder Frau deutlich, die sich vielleicht Hoffnungen machte. Man würde ihm also nicht vorwerfen können, dass er sie nicht gewarnt hatte. Die Frauen, die mit Rhys Wolfe ins Bett gingen, wussten genau, woran sie waren. Sex mit Rhys war aufregend und spannend und unverbindlich. Und er hatte nie mit einer Frau geschlafen, die mehr erwartete als das. Das war die wichtigste der Regeln, die er zum Selbstschutz vor acht Jahren aufgestellt und nie gebrochen hatte. Bis vor neun Wochen. Nachdem Jack gestorben war. Jack. Er hatte gerade das erste Mal mit ihm zusammengearbeitet. Der fröhliche und mutige Jack, ein erfahrener Feuerwehrmann, der von allen bewundert wurde und unverwundbar zu sein schien.
"Lucky Jack" nannten ihn die anderen Mitglieder der international bekannten Spezialeinheit, die bei Bränden auf Bohrinseln und nahe Ölquellen eingesetzt wurde. "Ich gehe mit Jack", hieß es immer bei riskanten Einsätzen, "Jack hat immer Glück." Aber vor zehn Wochen, auf einer Bohrinsel in der Nordsee, hatte Jack das Glück verlassen. Es war ein Einsatz, wie sie ihn schon hundert Mal erlebt hatten. Alle hatten sorgfältig gearbeitet, niemand war unvorsichtig gewesen. Rhys konnte sich immer noch nicht erklären, warum es passiert war. Vielleicht war Jacks Zeit gekommen. Fünf Tage später war Rhys von der Beerdigung seines besten Freundes nach Hause gekommen, voller Wut und Verzweiflung. Jacks Verlust war schlimm genug, aber noch schlimmer waren die Erinnerungen, die in Rhys hochgekommen waren. Erinnerungen an ein anderes Feuer, eine andere Beerdigung die von Sarah, vor acht Jahren. Von Sarah, seiner Frau, seiner Jugendliebe. Sarahs Zeit war noch nicht gekommen, dachte Rhys. Sie hätte nicht sterben müssen. Wenn er damals zu Hause geblieben wäre, statt wie besessen zu arbeiten und Überstunden zu machen, wäre Sarah jetzt noch am Leben - und ihr ungeborenes Kind auch. Damals hatte Rhys im Familienunternehmen gearbeitet und allen - seinem Vater, seinem älteren Bruder Dominic - beweisen wollen, dass er, der direkt vom College kam, genauso hart und so viele Stunden arbeiten konnte wie sie. An jenem Tag war er nicht einmal zum Abendessen zu Hause gewesen. Stattdessen hatte er weitergearbeitet und Sarah nur kurz angerufen, um ihr zu sagen, dass sie nicht auf ihn warten solle. Das hatte sie auch nicht getan. Der Arzt hatte ihr Ruhe verordnet, und so war sie früh schlafen gegangen. Aber zuvor musste sie noch eine Kerze angezündet haben. "Ich lasse Licht für dich brennen", hatte sie ihm erklärt.
Als das Feuer ausgebrochen war, hatte sie bereits geschlafen. Und sie war nie wieder aufgewacht. In dieser Nacht hatte er sie und das Kind verloren. Und nichts, was er tat, konnte sie zurückbringen. Irgendwann hatte er gelernt, das zu akzeptieren. Doch den Schmerz und die Schuld trug er weiterhin mit sich. Rhys hatte den Familienbetrieb verlassen und sich zum Feuerwehrmann einer Spezialeinheit ausbilden lassen, wofür sein Vater keinerlei Verständnis gezeigt hatte. "Dadurch wird Sarah auch nicht wieder lebendig", hatte er gesagt. Das wusste Rhys, doch er verspürte das Bedürfnis, immer und immer wieder gegen das Feuer zu kämpfen, das ihm seine Frau genommen hatte. Er war ein sehr guter Feuerwehrmann - konzentriert, entschlossen und furchtlos. So versuchte er seine Schuld wieder gutzumachen. Und in den acht Jahren, die seit Sarahs Tod vergangen waren, war Rhys langsam darüber hinweggekommen. Er hatte sich ein neues Leben aufgebaut und lebte jetzt in einem Apartment in der West Side, weit weg von dem Wohngebiet in der East Side, wo er mit Sarah gelebt hatte. Er hatte sich einen neuen Bekanntenkreis aufgebaut. Aber heiraten würde er nie wieder. Er wollte nie wieder eine Frau an sich heranlassen und so lieben, wie er Sarah geliebt hatte. Der Schmerz, den man ihm zufügen könnte, wäre zu groß. Nie wieder würde er das zulassen. Rhys hatte Freunde und ab und zu eine Geliebte. Doch nie hatte er eine Geliebte, mit der er gleichzeitig befreundet war. Bis zu jenem Tag, als er von Jacks Beerdigung kam. Der Schmerz und die Erinnerungen hatten ihn überwältigt. Und die ahnungslose Mariah hatte bei ihm Licht brennen sehen und an seine Tür geklopft. Er versuchte, nicht an das zu denken, was danach passiert war. Seit mehr als zwei Monaten verdrängte er diese Erinnerung.
Rhys wollte sich nicht daran erinnern, wie sie ihn in den Armen gehalten, ihn geküsst und getröstet hatte und er - ein selbstbewusster, unabhängiger Mann - sich an sie geklammert hatte wie ein Kind. Auch daran, wie sehr er sie begehrt und gebraucht hatte, dass er sie geküsst und berührt hatte, wollte er sich nicht erinnern. Mariah hatte sich ihm voller Leidenschaft hingegeben. Rhys biss die Zähne zusammen. Er durfte nicht daran denken. Denn jedes Mal, wenn er es tat, begehrte sein Körper sie von neuem. Doch er würde nicht zulassen, dass es noch einmal passierte. Mariah war ihm sehr wichtig - als gute Freundin. Er würde verhindern, dass mehr daraus würde. Rhys konnte sich noch gut daran erinnern, wie erschrocken er darüber gewesen war, neben Mariah aufzuwachen. Nach Sarah hatte er nie eine Frau in seinem Bett schlafen lassen. Es bedeutete zu viel Nähe. Als er damals aufgewacht war, lag Mariah eng an ihn gekuschelt, die Wange an seiner Schulter und einen Arm um ihn geschlungen. Er hatte kaum gewagt, sich zu bewegen. Aber er hatte fortgemusst, und er wollte sie auf keinen Fall wecken. Denn er wusste nicht, was er zu ihr sagen sollte, wenn sie neben ihm aufwachen würde. Rhys hatte die ganzen vergangenen neun Wochen darüber nachgedacht, und er wusste es noch immer nicht. Er hoffte darauf, dass ihm spontan etwas einfiele, wenn er sie sehen würde. Mariah wusste, wie er über all dies dachte, und mit ein wenig Glück würde sie das Ganze mit einem kleinen Scherz und einem Lächeln abtun. Vielleicht würde sie ihm sagen, dass es nichts zu bedeuten hatte. Und er hätte so den Kopf aus der Schlinge. Vielleicht würde sie das wirklich tun. Sie war eine tolle Frau: großzügig, tolerant, verständnisvoll. Rhys mochte sie sehr. Er mochte sie vor allem deswegen, weil sie ganz anders war als Sarah.
Mariah war groß und gertenschlank, aber stark, Sarah dagegen hatte zart und zerbrechlich gewirkt. Mariah empfing die Welt mit offenen Armen, während Sarah vorsichtig und zurückhaltend gewesen war und Entscheidungen und Verantwortung lieber ihm überlassen hatte. Sie hatte kurzes blondes Haar gehabt. Mariahs Haare waren lang und kastanienfarben. Er erinnerte sich, wie sich seine Hände in jener Nacht darin verfangen hatten. Rhys schüttelte den Kopf und bemühte sich, an Mariah als eine gute Freundin zu denken. Sie hatte nie angedeutet, dass sie mehr sein wollte, und genau deshalb hatte Rhys sich in ihrer Gegenwart immer so wohl gefühlt. Sie war immer nur eine gute Freundin gewesen. Er hatte sie kennen gelernt, als sie bei ihrem Einzug alle Nachbarn zu einem Essen auf ihrer Terrasse eingeladen hatte. Mariah war die beste Nachbarin, die man sich nur wünschen konnte - man konnte mit ihr über alles reden, und sie war immer gut gelaunt. Er liebte es, mit ihr zu joggen, ins Kino zu gehen oder ein neues Restaurant auszuprobieren. Diese Freundschaft wollte er nicht aufs Spiel setzen. Und Mariah will das vermutlich auch nicht, dachte er, gähnte und fuhr sich durch das ungekämmte Haar. Zumindest hoffte er das. Wenn ich geduscht und geschlafen habe, rede ich mit ihr, schloss er. Er würde ihr sagen, wie viel ihm ihre Freundschaft bedeutete und dass er so weitermachen wollte wie zuvor. Und dann würde er sie anlächeln und fragen: "Kommst du mit aufs Empire State Building?" Dann würde sie wissen, dass zwischen ihnen alles wieder so war wie früher. Vor drei Jahren hatte Mariah herausgefunden, dass sie, die aus Kansas stammte, bereits auf dem Empire State Building gewesen war, während Rhys, der in New York geboren war, noch nie dort gewesen war. Sie sagte ihm, dass er dies unbedingt nachholen müsse. Und er hatte immer wieder abgelehnt. Einmal, zwei Mal, ein Dutzend
Mal. Schließlich hatte sie ihn, als sie spätabends nach einem Kinobesuch auf dem Weg nach Hause waren, beim Arm gegriffen und förmlich zu einem Taxi geschleift. "Du bist ja verrückt", hatte er gesagt. Aber sie hatte darauf bestanden. "Du musst es einfach gesehen haben", hatte sie entgegnet, "es ist unglaublich schön," Und sie hatte Recht gehabt. Weil es schon so spät war, waren außer ihnen nicht mehr viele Leute dort. New York erstreckte sich glitzernd und funkelnd bis zum Horizont, als hätte ein Riese unzählige Diamanten verstreut. Es war ein atemberaubender Anblick, und Rhys bedauerte, dass er sich dies so lange hatte entgehen lassen. "Was habe ich dir gesagt?" Mariah sah Rhys an. "Du hattest tatsächlich Recht", erwiderte er. Und er war es gewesen, der darauf bestanden hatte, noch länger zu bleiben und auf dem Dach umherzuwandern, bis sie schließlich hinausgeworfen wurden. Seitdem waren sie häufig wieder dort gewesen. Fast jedes Mal, wenn er zu Hause war. Nur das letzte Mal nicht. Rhys atmete tief ein, als er sich daran erinnerte, was sie das letzte Mal getan hatten. Dann schob er die Erinnerung beiseite. Es war nicht mehr von Bedeutung, es war vorbei. Dieses Mal würden sie wieder aufs Empire State Building steigen. Er warf einen sehnsüchtigen Blick zum Kühlschrank, in dem kaltes Bier bereitstand. Doch er beherrschte sich, denn er wusste, dass er es viel mehr genießen würde, wenn er erst sauber wäre. Rhys musste den Staub und Schmutz eines ganzen Monats im Mittleren Osten abschrubben, außerdem Ruß und Asche vom Feuer. Natürlich hatte er auch während des vergangenen Monats regelmäßig geduscht, aber ohne viel Erfolg. Er zog sich aus und ging nackt über den Flur zum Badezimmer. Rhys drehte die Dusche auf und genoss das heiße Wasser, das auf ihn herabströmte. Während der Arbeit duschte
er gern kalt, doch sobald er zu Hause war, brauchte er heißes Wasser - je mehr, desto besser. Es dauerte eine Weile, bis all der Schmutz und Ruß des Feuers abgewaschen waren. Noch länger würde es dauern, bis er sich endlich von den Erinnerungen an die Flammen befreien könnte - und bis er zu dem normalen Leben zurückfinden würde, das den meisten Leuten so selbstverständlich war. Langsam fühlte Rhys sich besser. Pfeifend seifte er seinen durchtrainierten Körper ein. Als das von ihm herabströmende Wasser wieder sauber aussah, nahm er ein Handtuch und trocknete sich ab. Er putzte sich die Zähne und fuhr sich über die stoppeligen Wangen. Seit fünf Tagen hatte er sich nicht mehr rasiert - jetzt konnte er auch noch zwölf weitere Stunden damit warten. Rhys rubbelte sich das kurze dunkle Haar trocken. Während er sich das Gesicht abrieb, trat er, noch immer nackt, aus dem Badezimmer - und stieß mit etwas Weichem zusammen. "Was ...?" begann er, wich erschrocken einen Schritt zurück und nahm das Handtuch vom Gesicht. "Mariah?" fragte er ungläubig. Die letzte Person, die er hier erwartet hatte - und die letzte, die er im Moment sehen wollte -, stand an der Tür zu seinem Schlafzimmer und trug nichts als ein kurzes hellblaues Nachthemd. Ihre Haare waren verwuschelt, und ihr Gesicht sah blass aus. Sie schien ebenso erschrocken wie er zu sein und blickte ihn starr an, während sie einen Arm voller Kleider an sich presste. "Was, um alles in der Welt, tust du hier?" fragte Rhys. Genau das wollte Mariah ihn auch gerade fragen. Merkwürdige Geräusche hatten sie geweckt. Zuerst hatten sie zu ihrem Traum gepasst: Schritte, laufendes Wasser. Doch dann hatte jemand gepfiffen, und sie war aufgewacht. Einen Augenblick lang hatte sie wach gelegen, bis ihr klar wurde, dass das Pfeifen nur eins bedeuten konnte: Rhys war wieder da!
Sie war schnell aufgestanden, hatte ihre Kleider zusammengerafft und wollte rasch in ihre eigene Wohnung zurück. Dort würde sie sich anziehen und versuchen, sich zu beruhigen. Dann würde sie wiederkommen, um mit ihm zu sprechen. Stattdessen war sie in ihn hineingerannt, als er gerade aus dem Badezimmer kam und nur ein Handtuch trug - über dem Kopf! Sie hatten sich starr angesehen, als er das Tuch vom Gesicht nahm und endlich seine Blöße damit bedeckte. Mariah schluckte. "Es tut mir Leid, ich wollte dich nicht so überrumpeln. Ich habe nur ... Du hast immer gesagt, ich könnte dein Apartment benutzen, wenn du nicht da bist... wenn ich Gäste habe." Sie verhaspelte sich. Warum musste er aber auch so unerwartet zurückkommen! "Meine Cousine Erica ist mit ihrer Familie zu Besuch ... aus Emporia. Ich wollte ihnen lieber meine Wohnung überlassen." Und ich konnte ja nicht ahnen, dass du heute zurückkommen würdest, fügte sie insgeheim hinzu. Rhys lächelte und sagte betont fröhlich: "Natürlich kannst du jederzeit mein Apartment benutzen. Geh ruhig wieder ins Bett, ich kann auf dem Sofa schlafen." "Nein." Mariah wollte nicht schlafen, sie wollte mit ihm reden und reinen Tisch machen. Aber nicht jetzt. "Das kommt gar nicht infrage. Ich sehe dir doch an, dass du todmüde bist. Du brauchst dein Bett selber. Und ich wollte sowieso gerade aufstehen. Ich ziehe nur noch schnell die Wäsche ab, bevor ich gehe." Dann drehte sie sich um und hastete ins Schlafzimmer. Mariah spürte, dass Rhys sie beobachtete, und wünschte, sie hätte Zeit gehabt, sich anzuziehen. Das Nachthemd reichte ihr kaum bis zu den Oberschenkeln. Aber vielleicht bemerkte Rhys das gar nicht. Sie machte sich nichts vor: Als Rhys vor wenigen Wochen mit ihr geschlafen hatte, hatte es ihm vermutlich nichts bedeutet. Auch wenn sie sich das noch so sehr gewünscht hatte!
Plötzlich bemerkte sie, dass Rhys versuchte, an ihr vorbei zu seinem Kleiderschrank zu gelangen, um sich etwas zum Anziehen zu holen. "Entschuldigung", sagte sie und wurde rot vor Verlegenheit, "ich werde dir aus dem Weg gehen." Sie versuchte, Rhys nicht anzusehen, während er sich schnell anzog. Es fiel ihr schwer, denn er hatte einen tollen Körper: schlank und muskulös. Sie atmete tief ein und griff nach einem frischen Bezug. Ihre Hand zitterte. "Du brauchst das Bett nicht frisch zu beziehen, das kann ich selber machen. Und es ist wirklich in Ordnung, dass du hier übernachtet hast. Dafür habe ich dir doch den Schlüssel gegeben. Wir sind ja schließlich Freunde, nicht wahr?" Zumindest waren wir das einmal, dachte Mariah. Sie wusste nicht, was sie jetzt waren. "Wenn ich gewusst hätte, dass du heute zurückkommst, hätte ich nicht hier übernachtet", sagte sie und strich das Laken glatt. "Warum nicht?" Sie wollte lieber später darüber reden, wenn sie sich beruhigt hätte und gefasster wäre. Aber wenn er darauf bestand ... "Du weißt genau, warum nicht." "Wegen dem, was zwischen uns passiert ist", erwiderte Rhys kühl und scheinbar ungerührt. Mariah nickte. "Wir sollten darüber reden." Allerdings, dachte sie. "Ich weiß, wie du darüber denkst über..." "Ja", unterbrach er sie hastig, "genau wie du. Warum sollten wir unsere Freundschaft aufs Spiel setzen? Es war eben ein Ausrutscher. Vergessen wir das Ganze, und machen wir so weiter wie bisher." Mariah blickte ihn starr an. Eine leichte Übelkeit überkam sie, und plötzlich wurde ihr kalt.
"Zwischen uns muss sich deswegen nichts ändern", fuhr Rhys fort. "Wir waren doch Freunde - wir sind Freunde", korrigierte er sich. "Und daran hat sich nichts geändert." "Nein, aber ..." "An unserer Freundschaft wird sich nichts ändern. Es wird nicht wieder passieren. Mariah, ich weiß, dass du mich nur trösten wolltest, weil du dachtest, ich brauchte ..." Er verstummte. Er wollte nicht zugeben, dass er sie wirklich gebraucht hatte. "Es ging mir nicht gut. Jacks Tod - und dann die Beerdigung ..." Aber Mariah wusste, dass Jack nur der Auslöser gewesen war. Rhys Schmerz war tiefer gewesen und hatte mit der Erinnerung an Sarah zu tun gehabt, seiner Frau, über die er nur sprach, wenn er zu viel getrunken hatte. Sarah, die einzige Frau, die er je geliebt hatte. Rhys atmete tief ein. "Du wolltest mich trösten, und ich ... hätte nicht tun sollen, was ich getan habe. Ich war nicht ganz bei mir. Ich habe die Situation ausgenutzt und gegen meine Vorsätze verstoßen." "Vorsätze?" "Ich schlafe nicht mit Frauen, mit denen ich befreundet bin." Rhys fuhr sich durchs Haar. Sie sah ihm an, wie erschöpft er war. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden. "Ich hätte nicht mit dir schlafen sollen." Er bemühte sich, kühl und sachlich zu klingen. "Das macht alles nur kompliziert. Ich will nicht, dass sich zwischen uns etwas ändert. Es war ein Fehler." In Rhys' Augen war ihre Liebesnacht also ein Fehler gewesen. Sie hätte es wissen müssen. "Das war es allerdings", erwiderte Mariah, bemüht gelassen. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr seine Worte sie verletzten.
Rhys lächelte und hielt ihr die Hand hin. "Wir sind also immer noch Freunde?" Mariah antwortete nicht und nahm auch nicht seine Hand. Sie blickte ihn nicht an und versuchte, wieder das zu werden, was er in ihr sehen wollte: seine gute Freundin. Sein Kumpel. Rhys ließ die Hand sinken und fragte nochmals: "Sind wir noch Freunde?" Sie sammelte ihre Sachen zusammen und presste sie an sich. Schließlich nickte sie. "Ja", brachte sie mühsam hervor. "Toll", sagte Rhys erleichtert. Mariah ging eilig an ihm vorbei zur Wohnungstür. Noch immer war ihr kalt und übel. Sie drehte sich zu ihm um: "Aber es wird nie wieder so sein wie früher." Er zog fragend die Augenbrauen hoch. "Aber warum nicht? Du hast doch gesagt..." "Ich bin schwanger, Rhys. Ich bekomme ein Kind von dir."
2. KAPITEL Mariah hatte nicht erwartet, dass er begeistert wäre. Besser als jeder andere kannte sie Rhys' Einstellung zum Thema "Familie". "Kein Interesse", sagte er ganz unverblümt, als sie sich erst ein paar Monate kannten und zum ersten Mal über dieses Thema sprachen. Er war mit ihr zur Hochzeit ihrer Freundin Lizzie gegangen. Als das Gespräch auf das Thema "Ehe" kam, blockte Rhys ab. "Ich war einmal verheiratet, das genügt", stellte er kompromisslos fest. Damals wusste Mariah noch nichts über seine Vergangenheit, und seine Heftigkeit erstaunte sie. Viele ihrer männlichen Bekannten standen den Verpflichtungen und angeblichen Fesseln der Ehe sehr skeptisch gegenüber, doch ihre Ablehnung wirkte weniger unwiderruflich. "Und wenn du eines Tages der richtigen Frau begegnest, sagst du ihr dann, dass sie verschwinden soll?" neckte sie ihn. "So weit wird es nie kommen", entgegnete Rhys. "Ich werde es nicht zulassen." Sie war also vorgewarnt. Und trotzdem verliebte sie sich in ihn. Sie kannte ihn, seit sie vor drei Jahren das Apartment über seinem in dem Sandsteinhaus gekauft hatte. Sie hatten sich unterhalten, zusammen gegessen, gelacht, gespielt. Und Mariah
hatte gemerkt, dass er genau der Mann war, nach dem sie sich immer gesehnt hatte. Aber sie sagte es ihm nie. Denn als sie merkte, dass sie sich in ihn verliebt hatte, wusste sie schon, dass er an einer Beziehung nicht interessiert war. Und sie verlangte nie mehr von ihm, als er zu geben bereit war. Seit drei Jahren war sie seine beste Freundin, die er zum Joggen abholte oder die er fragte: "Hast du Lust, dir den brasilianischen Film im Lincoln Plaza anzusehen?" Sie tranken gemeinsam Bier im McCabe's, einer Kneipe in der Nachbarschaft, oder sie probierten ein schickes neues Restaurant aus, besuchten eine Ausstellung oder gingen zu einem Baseballspiel der Yankees. Sie war der einzige Mensch, mit dem er je auf dem Empire State Building gewesen war. Rhys hatte ihr vorgeschlagen, Jack irgendwann einmal mitzunehmen. Aber das würde jetzt nie mehr passieren. Vielleicht würden auch sie beide nie mehr dorthin gehen. Mariah hatte Rhys angesehen, wie erschrocken er gewesen war. Ablehnung, Ärger und Schmerz hatten sich auf seinem Gesicht gespiegelt. Ihre Hoffnung, dass er seine Meinung ändern würde, wenn sie ihn mit der Tatsache konfrontierte, dass sie schwanger war, hatte sich zerschlagen. In sieben Monaten würde sie Rhys' Kind zur Welt bringen - ob es ihm gefiel oder nicht, ob er das Kind wollte oder nicht. Denn sie wollte es. Sie hatte genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken, und sie war sich dessen nun ganz sicher. Allerdings hatte sie an jenem Abend vor neun Wochen, als sie Rhys' Apartment betrat, weder geplant noch damit gerechnet, schwanger zu werden. Sie war einfach neugierig gewesen - und besorgt. Mariah wusste, dass man nie genau sagen konnte, wann Rhys zu einem Feuereinsatz musste und wann er zurückkommen würde. Als Mitglied einer Spezialeinheit musste er von einem
Tag auf den anderen um die halbe Welt reisen, wann immer ein Brand auf einer Bohrinsel oder an einer Ölquelle außer Kontrolle geriet. Es machte ihm nichts aus. "Wozu soll ich zu Hause bleiben?" hatte er einmal gesagt. "Mir gefällt meine Arbeit." Wenn er nicht bei einem Einsatz war, verbrachte er viel Zeit damit, überall auf der Welt Menschen in der Feuerbekämpfung zu trainieren und auszubilden. Mariah wusste nie, wann Rhys zurückkommen würde - bis es an ihrer Tür klopfte und er sie mit einem strahlenden Lächeln fragte: "Wollen wir aufs Empire State Building, Lady?" Als sie an jenem Abend bei ihm Licht hatte brennen sehen, war sie überrascht gewesen, denn er war erst eine Woche vorher nach England abgereist. So früh kam er sonst nicht zurück, und sie hatte Angst, dass etwas nicht in Ordnung war. Mariah klopfte bei ihm, und als er nicht aufmachte, schloss sie die Tür auf. Er hatte bei ihr einen Schlüssel hinterlegt, damit sie nach dem Rechten sehen könnte. Sie rief seinen Namen, aber er antwortete nicht. Wenn er nicht da war, schaltete sich in seinem Apartment eine Lampe an und nach einem bestimmten Zeitraum wieder aus. Doch die Lampe, die sie von der Terrasse aus brennen gesehen hatte, war die in seinem Schlafzimmer gewesen, das zum kleinen Garten hinausführte. Wieder rief sie nach ihm: "Rhys? Bist du da?" Dann sah sie seinen Matchbeutel, und vor Freude schlug ihr Herz schneller wie immer, wenn er zurückkam. Mariah war immer überglücklich, ihn wieder zu sehen. Dass ihre Gefühle für ihn noch weiter gingen, darüber wollte sie lieber nicht nachdenken. Sie war fest entschlossen, das, was sie beide hatten, nicht aufs Spiel zu setzen, indem sie zu viel von ihm verlangte. Die Schlafzimmertür stand offen, und der Schein der Lampe spiegelte sich auf dem polierten Holzfußboden. "Rhys?" Nach
kurzem Zögern ging sie hinein und dann weiter durch die offen stehende Tür in den Garten. Es war bereits spät in der Nacht, und die Jalousien bewegten sich leicht in der kühlen Abendluft. Lächelnd ging sie hinaus und erwartete, ihn draußen zu finden, wie er zum Himmel emporsah, die Sterne betrachtete und die Stille genoss. Oft hatten sie dort zu später Stunde gemeinsam gesessen und sich über Gott und die Welt unterhalten. Rhys tat das gern, denn es half ihm, abzuschalten und sich zu entspannen. Vielleicht würden sie das auch jetzt wieder tun, wenn er nicht zu müde war. Sie sah Rhys im Mondlicht im Garten sitzen, in einem der Adirondack-Stühle. Seine Wangen sahen hohl aus, sein Mund war zusammengekniffen. Neben ihm standen ein fast leeres Glas und eine Flasche Whiskey. Normalerweise trank Rhys nichts Hochprozentiges, höchstens einmal ein kühles Bier, wenn es sehr heiß war. "Rhys?" Er rührte sich nicht, und Mariah dachte schon, er würde schlafen. Aber dann sah sie, wie es in seinem Gesicht zuckte und seine Finger sich um die Armlehnen des Stuhles verkrampften. Langsam hob er die Lider und wandte sich zu ihr um. Es war zu dunkel, um seinen Gesichtsausdruck zu erkennen. Doch Mariah bemerkte, wie Rhys sich bewegte - wie ein alter Mann. Schnell ging sie zu ihm. Sie merkte ihm sofort an, dass etwas nicht in Ordnung war. Rhys war nicht erschöpft, er war voller Schmerz und Trauer. Mariah kniete sich neben ihn und nahm seine Hand. Sie war eiskalt. "Was ist passiert, Rhys?" Eine Zeit lang blickte er sie nur starr an und schwieg. Dann sagte er: "Jack." Es traf sie wie ein Schlag. Sie verstand sofort. Mariah war Jack mehrere Male begegnet. Mit seiner charmanten Art war ihr der gut aussehende Ire auf Anhieb
sympathisch gewesen. Er war fröhlich und übermütig - das genaue Gegenteil von Rhys. Laut Jack waren die beiden "wie Tag und Nacht". Und doch verstanden sie sich und waren einander so nahe wie Brüder. Seit Beginn ihrer Ausbildung war Jack Rhys' bester Freund gewesen. Sie waren unzertrennlich. Als Mariah den Schmerz in Rhys' Augen sah, begriff sie. Er brauchte nicht mehr zu sagen. Sie legte die Arme um ihn und drückte ihn an sich. Wortlos legte Rhys ebenfalls die Arme um sie. Er klammerte sich an sie wie ein Ertrinkender. Mariah spürte seine Tränen und merkte, wie er von lautlosen Schluchzern geschüttelt wurde. Sie wusste nicht, wie lange sie dort draußen so gesessen hatten. Irgendwann waren sie ins Haus gegangen. Und irgendwann war ihre Umarmung nicht mehr nur Trost, und Rhys sehnte sich nach etwas, das nur sie ihm geben konnte. Vielleicht hätte Mariah nicht weitergehen sollen. Denn sie hatte sich mehr unter Kontrolle als er, sie hätte sagen können, dass sie nicht weitergehen sollten. Doch wenn Mariah ehrlich war, musste sie zugeben, dass auch sie nicht dazu in der Lage gewesen war - schon seit Monaten, seit Jahren nicht mehr. Denn so lange liebte sie ihn schon. Also sagte sie nicht, dass er aufhören solle, als seine Lippen ihre fanden, als seine Hand unter ihre Bluse glitt, als er ihr die Shorts ausgezogen hatte und sie gemeinsam auf sein Bett gesunken waren und Trost beim Körper des anderen gefunden hatten. Sie wollte gar nicht, dass er aufhörte. Sie wollte die Nacht mit ihm verbringen, ihn lieben, für ihn da sein. Sie wollte Rhys. Sie hatte gehofft - in jener Nacht und in den vergangenen neun Wochen -, dass sich aus dieser Liebesnacht etwas Tieferes entwickeln würde. An ein Baby hatte sie dabei nicht gedacht. Natürlich hätte sie verhüten müssen. Aber sie hatte nicht geahnt, dass etwas Derartiges zwischen ihnen passieren würde. Nie hätte sie damit gerechnet, dass Rhys und sie miteinander
schlafen würden. Sie war ebenso überrascht gewesen wie er. Aber sie bereute es nicht. Vielleicht sollte ich es bereuen, dachte sie jetzt, während sie langsam die Treppe zu ihrem Apartment hinaufging. Aber das tat sie nicht. Ihr tat nur Leid, dass Rhys das, was passiert war, noch immer als Fehler betrachtete. Sie wusste nicht, wie sie ihn vom Gegenteil überzeugen sollte. Aber irgendwie musste sie es schaffen. Und sie würde es schaffen. Doch im Moment konzentrierte sie sich darauf, nach Hause zu kommen, bevor die morgendliche Übelkeit sie überkam. "Was wolltest du damit sagen, du ...?" Rhys verstummte und blickte die junge braunhaarige Frau starr an, die soeben Mariahs Tür geöffnet hatte. "Wer sind Sie denn?" "Ich bin Mariahs Cousine Erica", antwortete sie und lächelte nervös. "Und Sie müssen Rhys sein." "Woher wissen Sie das?" Wusste sie es etwa auch schon? Hatte Mariah bereits alle eingeweiht, bevor sie es ihm gesagt hatte? Erica schluckte. "Ich habe nur geraten. Mariah hat gesagt, Sie wären gerade nach Hause gekommen. Sie sagte, es würde Ihnen nichts ausmachen, wenn sie in Ihrem Apartment schläft..." Ihrem Blick nach zu urteilen, schien sie das zu bezweifeln. Allerdings ließ er auch in keiner Weise darauf schließen, dass sie etwas über Mariah und ihn und das Kind wusste. Rhys fühlte sich ein wenig erleichtert. "Natürlich macht es mir nichts aus", erwiderte er kurz angebunden. "Also, wo ist sie?" Er war ihr sofort nachgelaufen, als er wieder klar hatte denken können. Er war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Er musste sie missverstanden haben. Mariah konnte doch nicht wirklich gesagt haben, dass sie ein Kind von ihm bekam! Oder etwa doch? "Sie ist im Badezimmer und duscht, glaube ich."
Rhys ballte die Hände zu Fäusten. "Dann warte ich, bis sie fertig ist." Entschlossen ging er an Erica vorbei ins Wohnzimmer. Er war wütend auf Mariah. Wie konnte sie ihm so etwas sagen und ihn dann völlig verblüfft stehen lassen? Er konnte es immer noch nicht fassen. Sie war schwanger? Von ihm? Mit finsterem Blick sah er sich nach etwas um, an dem er seinen Frust auslassen konnte. Am liebsten hätte er etwas gegen die Wand geschmettert. Aber er konnte nichts finden. Mariahs Apartment sah anders aus als sonst. Normalerweise war es ordentlich und sehr gemütlich, doch nun lagen überall Dinge herum. Es sah so aus, als hätten sich Außerirdische hier breit gemacht. Außerirdische mit Kindern. Der Boden war übersät mit Spielzeug, und über allen Stühlen hingen Kleidungsstücke. Nirgends konnte man sich hinsetzen. Das Sofa war ausgezogen, so dass jemand darauf schlafen konnte. Ein kleiner Junge im Schlafanzug hatte sich dort ausgestreckt und starrte auf den Fernseher, wo gerade ein Zeichentrickfilm gezeigt wurde. Er sah Rhys nur kurz und sehr desinteressiert an und wandte sich dann wieder dem Trickfilm zu, in dem jemand gerade einen Hasen mit einem Holzhammer auf den Kopf schlug. Das Tier sah genau so aus, wie Rhys sich fühlte. War Mariah wirklich schwanger? Immer wenn er daran dachte, zog sich ihm der Magen zusammen. "Tyler, mach bitte Platz für Mr.... für Rhys. Das ist mein Sohn Tyler", fuhr sie an Rhys gewandt fort. "Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten, solange Sie warten? Mariah sagte zwar, Sie würden jetzt schlafen gehen, aber ..." Schlafen gehen? Mariah hatte ihm mitgeteilt, dass sie ein Kind von ihm bekam, und sie erwartete, dass er danach in aller Ruhe schlafen gehen würde? Das konnte sie doch nicht ernsthaft glauben!
"Nein, keinen Kaffee", lehnte er ab. Seine Nerven waren sowieso schon zum Zerreißen gespannt. Nervös ging er auf und ab. Plötzlich ertönte aus dem Schlafzimmer das Schreien eines Babys. Rhys fuhr zusammen. "Was, um alles in der Welt, war das?" "Das war Ashley", antwortete Erica fröhlich. "Mein Mann Jeff wickelt sie gerade. Er musste diese Woche zu einem Seminar in New York, und da sind wir einfach alle mitgekommen." Sie goss Kaffee in zwei Becher und reichte Rhys einen, als hätte er dies nicht gerade abgelehnt. Vielleicht sehe ich so aus, als musste ich mich stärken, dachte er grimmig. Und in der Tat fühlte er sich auch so. "Mariah ist Tylers Patentante", erzählte Erica. "Sie hat ihn schon seit einer Ewigkeit nicht mehr und Ashley noch nie gesehen. Deshalb wollten wir sie gern wieder einmal besuchen. Mariah und Sierra kommen so selten nach Hause, sie fehlen uns sehr! Nun ja, Sie wissen ja, wie Familien sind", sagte sie schließlich und lächelte strahlend. "Nein, weiß ich nicht", erwiderte Rhys barsch. Erica blinzelte irritiert. Rhys wünschte, Mariah würde endlich aus dem Badezimmer kommen. Wie konnte sie ihm das nur antun! Er hielt den Kaffeebecher umklammert und wippte nervös auf den Hacken vor und zurück. "Haben Sie keine Familie?" Das klang, als würde sie ihn bemitleiden. Er warf ihr einen finsteren Blick zu. Er wollte kein Mitleid. "Ich habe zwei Brüder", erwiderte er kurz angebunden. "Das ist doch schön", sagte Erica und lächelte. "Sind Sie in New York aufgewachsen?" Rhys fuhr sich durchs Haar. Wieder ging er unruhig von einem Ende des Zimmers zum anderen, wobei er einen Bogen um das herumliegende Spielzeug und die Kleidungsstücke
machte. Er hatte keine Lust, höfliche Konversation zu machen, während Mariah sich im Badezimmer versteckte! Schließlich hatte er genug vom Warten. Er stellte den Becher so heftig ab, dass der Kaffee herausspritzte. "Ich muss jetzt gehen. Sagen Sie Mariah, dass sie zu mir herunterkommen soll, weil ich dringend mit ihr sprechen muss." Mariah bezweifelte, dass sie wirklich hören wollte, was Rhys ihr mitzuteilen hatte. Sie hatte gehofft, dass eine warme Dusche und eine Hand voll Cracker sie seelisch auf das Gespräch mit ihm vorbereiten würden, aber das war nicht der Fall. Sie versuchte sich zu beruhigen, indem sie sich die Haare flocht. "Er hat nach dir gefragt", berichtete Erica mit unverhohlener Neugier. "Er wollte unbedingt mit dir sprechen." Mariah war klar, was ihre Cousine vermutete. Wenn es doch nur so wäre! "Ich gehe später runter und rede mit ihm", erwiderte sie betont gelassen. Später, wenn sie sich beruhigt hätte und sich in der Lage fühlte, mit Rhys zu sprechen. "Er sieht toll aus", schwärmte Erica. "Warum hast du noch nie von ihm erzählt?" "Da gibt es nicht viel zu erzählen." "Ihm scheint sehr viel an dir zu liegen." "Nicht so, wie du denkst." "Schade", sagte Erica. "Ist er schwul?" Mariah verschluckte sich. "Was?" "Wenn er es nicht ist, warum ist er dann nicht an dir interessiert? Du bist Single, siehst toll aus, bist intelligent und hast noch alle deine Zähne. Was könnte er sich mehr wünschen?" "Das ist schon mehr, als er will", antwortete Mariah. Erica beugte sich so nahe zu ihr, dass Mariah ihre Sommersprossen im Spiegel sehen konnte. "Was?" Sie schüttelte den Kopf. "Nicht so wichtig." Als sie ihre Haare fertig geflochten hatte, setzte sie sich aufrecht hin. Sie fühlte sich ein wenig besser. Zumindest hatte sie nicht mehr das
Gefühl, sich übergeben zu müssen. Ihre morgendliche Übelkeit war einer der Gründe, warum sie in Rhys' Apartment geschlafen hatte. Sie wollte nicht, dass Erica es bemerkte und sich etwas zusammenreimte. Niemand wusste bisher, dass sie, Mariah, schwanger war. Sie hatte es Rhys zuerst mitteilen wollen. Und jetzt? fragte sie sich. Jetzt wusste er es ja. Doch sie konnte sich nicht dazu überwinden, Erica davon zu erzählen. Sie würde zu viele Fragen stellen. Und wenn sie diese nicht beantwortete, würde sie mit Argusaugen beobachtet werden. Sie war einfach noch nicht bereit, darüber zu sprechen. Wenn Rhys sich gefreut hätte, wenn er sie angestrahlt und vor Freude herumgewirbelt hätte, so wie Gibson es bei seiner Frau, Mariahs Freundin Chloe, getan hatte, als sie ihm offenbarte, dass sie schwanger sei ... dann könnte Mariah es kaum erwarten, es allen zu erzählen. Aber Rhys hatte sie nur entgeistert angeblickt. Er hatte entsetzt ausgesehen. Ihr zog sich das Herz zusammen. Sie atmete tief ein. "Geh runter, und sprich mit ihm", forderte Erica sie auf. "Frag ihn, ob er mit uns aufs Empire State Building kommen will." Mariah schnaufte unhörbar. Sie konnte sich gut vorstellen, was Rhys zu diesem Vorschlag sagen würde! "Er begleitet dich doch sonst immer, nicht wahr?" beharrte Erica. "Ja." "Dann möchte er uns bestimmt begleiten." "Aber er ist gerade erst nach Hause gekommen." "Fragen schadet doch nicht." "Na gut, ich werde ihn fragen." "Was fragen?" wollte Jeff wissen, der gerade mit der acht Monate alten Ashley auf dem Arm hereinkam. Er reichte Erica das Baby und küsste sie. Sie blickten einander liebevoll an, und
Mariah verspürte einen Stich im Herzen. Sie wollte auch so geliebt werden. "Mariah soll ihren gut aussehenden Freund fragen, ob er auch mit zum Empire State Building kommen will", erklärte Erica. "Mariah hat einen Freund?" Jeff zog die Augenbrauen hoch. "Er ist nur ein guter Freund, nichts weiter", erwiderte Mariah schnell. "Und er sieht ziemlich toll aus", fügte Erica hinzu. "Ich weiß, dass du keinen Mann brauchst, Mariah, aber manchmal ist es nett, einen um sich zu haben." Mariah stimmte ihrer Cousine insgeheim zu. Sie wusste nicht, warum ihre gesamte Familie davon überzeugt zu sein schien, dass sie kein Interesse an Männern hätte. Vielleicht lag es daran, dass sie die vergangenen acht Jahre damit verbracht hatte, wie eine Besessene zu arbeiten. Jetzt, mit einunddreißig, war sie eine erfolgreiche Journalistin und arbeitete für ein bekanntes, landesweit erscheinendes Lifestyle-Magazin. Sie hatte wenig Zeit gehabt, sich nach einem Partner umzusehen. Mariahs Chefin hielt sie für äußerst begabt, und ihre Kollegen bewunderten sie. Die Menschen, über die sie schrieb und die häufig schon schlechte Erfahrungen mit der Presse gemacht hatten, waren begeistert von ihr. Mariah Kelly war bei den Reichen und Schönen mit Abstand die beliebteste Journalistin und viel erfolgreicher, als das ehrgeizige und fleißige junge Kleinstadtmädchen, das sie einmal gewesen war, es sich in seinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Doch trotz allem fehlte ihr etwas. Sie wollte nicht den Rest ihres Lebens ohne einen Mann verbringen. Und zwar ohne einen ganz bestimmten. Den einzigen, den sie liebte. Rhys. Mariah atmete tief ein. Sie konnte es nicht ewig vor sich herschieben. Irgendwann würde sie mit ihm reden müssen. Bitte, lieber Gott, flehte sie in Gedanken, hilf mir. Rhys wusste einfach nicht, was er mit seinen Händen tun sollte. Er schob sie in die Hosentaschen und ließ alle Knöchel
nacheinander knacken. Dann fuhr er sich durchs Haar. Zu guter Letzt ließ er die Hände wieder in die Hosentaschen gleiten und wandte sich zu Mariah um. Wie konnte sie nur so ruhig auf dem Sofa sitzen, während er nervös hin und her ging und überlegte, wie er das Chaos beheben sollte, das so plötzlich über sein Leben hereingebrochen war? "Du wusstest doch, dass ich keine Familie will." Es klang wie ein Vorwurf. Er versuchte, sich seine Anspannung nicht anmerken zu lassen. Unter seinen Arbeitskollegen war er dafür bekannt, dass er sich nie aus der Ruhe bringen ließ, auch wenn er unter Stress stand. Aber jetzt drehte sich alles in seinem Kopf. Mariah nickte. "Ja, ich weiß, wie du darüber denkst... was du darüber gesagt hast. Und ich ... ich verstehe das. Aber ..." "Wie konntest du dann ...?" "Du warst auch daran beteiligt!" Mariah hatte Mühe, die Beherrschung nicht zu verlieren. Rhys ballte die Hände zu Fäusten. "Verdammt, das weiß ich doch! Ich ..." Er schloss die Augen und versuchte, ruhig zu bleiben. Doch es gelang ihm nicht. Dann blickte er Mariah unvermittelt an. Sie sah aus, als hätte er ihr einen Schlag versetzt. Vermutlich empfand sie es auch so. Doch ihm ging es wie ihr. Er fühlte sich, als wäre er in eine Falle geraten. Er musste sich damit abfinden, dass genau das passiert war, was er nie gewollt hatte. "Ich habe nicht damit gerechnet", murmelte er. Was für eine Untertreibung! "Meinst du, ich hatte damit gerechnet?" "Natürlich nicht, das habe ich nicht gesagt. Für dich ist es sicher genauso schlimm wie ..." "Nein!" fiel sie ihm ins Wort. Ungläubig sah er sie an. "Nein?"
Mariah schüttelte den Kopf. "Zugegeben, zuerst war ich sehr erschrocken, denn ich hatte mir nie vorgestellt, auf diese Weise schwanger zu werden." Sie lächelte wehmütig. "Aber jetzt ist es anders. Ich freue mich." "Du willst das Kind?" Ungläubig blickte Rhys sie an. "Aber du ... du hast Karriere gemacht, bist berufstätig!" "Viele Frauen haben Kinder und arbeiten trotzdem. Warum nicht auch ich?" "Aber du hast mir nie erzählt, dass du Kinder willst!" "Du hast mich auch nie danach gefragt." Fassungslos sah Rhys sie an und schüttelte den Kopf. "Das ergibt alles keinen Sinn", sagte er. Er musterte sie eindringlich und fragte sich, ob er sie jemals wirklich gekannt hatte. In den drei Jahren, die sie sich kannten, hatte sie nie auch nur die kleinste Andeutung gemacht, dass sie daran interessiert sei, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Genau deshalb hatte er sie so gemocht! Abgesehen davon, dass man mit ihr viel Spaß haben konnte und dass sie eine interessante Gesprächspartnerin und ein wundervoller Mensch war. Rhys fühlte sich ausgetrickst. "Hast du ..." Er brachte den Vorwurf nicht heraus. Doch sie wusste, was er hatte sagen wollen. Wütend blitzte sie ihn mit ihren sonst so sanften Augen an. "Nein, ich habe nicht geplant, schwanger zu werden, und wenn du das auch nur einen Moment lang ernsthaft geglaubt hast, kannst du mir gestohlen bleiben!" Sie drehte sich um und stürmte aufgebracht davon. Rhys eilte ihr nach, hielt sie am Arm fest und drehte sie zu sich herum. Sie standen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Er spürte ihren Atem auf seiner Haut, und ihre Brüste, die sich hoben und senkten, berührten ihn fast. Er erinnerte sich daran, wie sie ihn in jener Nacht berührt hatte und wie weich Mariah sich angefühlt hatte.
Er ließ ihren Arm los, trat einen Schritt zurück und versuchte, sich zu beruhigen. "Ich habe das nicht wirklich geglaubt", sagte er. "Ich bin nur ...", er fuhr sich nervös durchs Haar, "... ich war einfach nicht darauf vorbereitet." Sie wollte etwas sagen, doch er hob die Hand, um nicht unterbrochen zu werden. "Es ist nicht so, dass ich nicht über das nachgedacht habe, was passiert ist. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass das passieren würde." Und so unwahrscheinlich das auch klang, es war tatsächlich so. Vielleicht lag es daran, dass, wann immer er seit Sarahs Tod mit einer Frau geschlafen hatte, diese immer vorbereitet gewesen war. Sie hatten gewusst, woran sie waren, und keine Familie gründen, sondern Spaß haben wollen. Rhys warf Mariah einen Blick zu, doch sie sah ihn nicht an. Sie blickte, die Arme vor der Brust verschränkt, aus dem Fenster. Unwillkürlich ließ er den Blick von ihrem Gesicht nach unten gleiten, um festzustellen, ob man ihr schon ansah, dass sie schwanger war. Er konnte nichts erkennen und erinnerte sich daran, dass auch Sarah nach neun Wochen noch nichts anzumerken gewesen war. Ihr Bauch war nur ganz leicht gewölbt gewesen, als sie ... als sie gestorben war. Die Kehle zog sich ihm zusammen. Die Erinnerung an Sarah schmerzte ihn. Er zwang sich, ruhig und distanziert zu bleiben, so, wie er sich seit Sarahs Tod immer verhalten hatte. Er lebte wie in einer Glaskugel und ließ nichts an sich heran. Nur so konnte er mit ihrem Tod fertig werden. Rhys schluckte und atmete tief ein. Dann sagte er langsam und entschlossen: "Ich will nicht heiraten." Mariah warf ihm einen kurzen Blick zu. "Ich habe dich auch nicht darum gebeten." Er blinzelte verwundert. "Du hast mir erzählt, dass du schwanger bist", erwiderte er vorwurfsvoll.
Sie zuckte die Schultern. "Weil du das Recht hast, es zu erfahren. Wenn du mit dem Baby - und mit mir - nichts zu tun haben willst, ist das in Ordnung." "Verdammt, nichts ist in Ordnung! Du bist schwanger!" Vergeblich bemühte sich Rhys, Haltung zu bewahren. "Ja, und ich werde dieses Kind bekommen. Und ich freue mich darauf, Mutter zu werden." Sie blickte ihn trotzig an. "Aber ich zwinge dich nicht, Vater zu sein, Rhys." "Daran lässt sich ja auch nichts mehr ändern." "Du bist nur biologisch gesehen der Vater." Das war schon mehr als genug für Rhys. Er ballte die Hände zu Fäusten und versuchte, sich zu beruhigen. "Ich werde dich finanziell unterstützen. Dir und ...", es fiel ihm schwer, das Wort auszusprechen, "... und dem Baby wird es an nichts fehlen. Aber mehr kann und werde ich nicht tun. Hast du das verstanden?" Er rechnete damit, dass Mariah eine Diskussion beginnen oder ihn beschimpfen würde. Oder dass sie ihm sagte, wie egoistisch er sei. Doch sie tat nichts dergleichen. Sie ging zur Tür, drehte sich zu ihm um und sagte scheinbar unbewegt: "Wie du willst, Rhys. Selber schuld." Sie fuhren zum World Trade Center. Es sei noch höher als das Empire State Building, hatte Mariah ihren Gästen erzählt. Und wenn sie von einem Wolkenkratzer aus den Ausblick genießen wollten, sollten sie gleich zum höchsten fahren. "Vom World Trade Center ist man in der Lage, fast direkt auf die Freiheitsstatue herunterzublicken", erklärte sie. "Man sieht den Battery Park und kann die Manhattan Island vom Südende aus betrachten. Danach können wir zum Beispiel ins Indianermuseum gehen, die Saint Paul's Church besichtigen oder den restlichen Nachmittag in South Street Seaport verbringen." Mariah klang ruhig und gelassen, als sie all diese Möglichkeiten aufzählte.
"Du brauchst uns nicht zu überzeugen", sagte Jeff fröhlich. "Schlag einfach etwas vor." "Dann fahren wir zum World Trade Center", beschloss Mariah. Nicht zum Empire State Building. Das hätte sie nicht ertragen. Sie brachte es fertig, sich nicht anmerken zu lassen, was in ihr vorging. Für diese schauspielerische Leistung hätte ich einen Oscar verdient, dachte sie ironisch. Nicht nur dafür, dass sie mit ihrem Besuch eine Sightseeingtour machte, sondern auch dafür, dass sie, als Rhys die Beherrschung verloren hatte, ruhig geblieben war und sich nicht von ihrer Verzweiflung hatte überwältigen lassen. Wozu hätte sie auch mit ihm streiten oder ihm Vorwürfe machen sollen? Sie wollte ihn nicht davon überzeugen, sich für sie - und das Kind - zu entscheiden. Er musste es freiwillig tun. Sie wusste, dass er es irgendwann tun würde. Sie hoffte es. Er brauchte nur noch etwas Zeit. Mariah hatte sich den ganzen Tag lang zusammengerissen und wirkte gelassen, sogar als Erica immer wieder betonte, wie schade sie es finde, dass Rhys nicht mitgekommen sei. "Er war einfach zu müde", erklärte Mariah. Und obwohl ihre Cousine den ganzen Nachmittag nachgebohrt und Fragen über Rhys gestellt hatte, war Mariah ruhig geblieben. Erica und Jeff waren so fasziniert von den Sehenswürdigkeiten, die Mariah ihnen zeigte, Tyler stellte so viele Fragen, und Ashley benötigte all die Aufmerksamkeit, die acht Monate alte Babys nun einmal benötigten, dass niemand bemerkte, wie verkrampft Mariahs Lächeln bisweilen war. Vom World Trade Center aus hatten sie einen fantastischen Ausblick. "Man sieht sogar das Empire State Building", stellte Jeff fest. Mariah konnte sich jedoch nicht dazu überwinden, einen Blick darauf zu werfen. Stattdessen blickte sie starr in Richtung Staten Island. Doch dann musste sie daran denken, wie sie und Rhys einmal mit der Fähre hinübergefahren waren. Sie durfte jetzt nicht an
ihn denken. Sonst hätte sie ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle. Sie würde sich den Kopf zerbrechen und verzweifeln. Es fiel ihr schwer, sich von diesen Gedanken loszureißen und sich auf die schöne Aussicht zu konzentrieren. "Ich passe ein bisschen auf Tyler auf", sagte sie zu Jeff und Erica, um ihnen Gelegenheit zu bieten, den Ausblick genießen zu können. "Komm, Ty, gönnen wir deiner Mom und deinem Dad mal ein bisschen Ruhe." Tyler war die perfekte Ablenkung. Er stellte ihr Tausende von Fragen - und keine einzige davon über Rhys. "Wie haben sie die denn auf die Insel gebracht?" wollte er wissen und zeigte auf die Freiheitsstatue. "Oder ist sie da drüben erst errichtet worden? Wie werden Wolkenkratzer gebaut? Haben sie auch Keller? Wie funktionieren Fähren? Haben sie auch so ein Gummiband wie das Boot, das Daddy für die Badewanne gebaut hat? Warum hat das Schiff da drüben so große Segel? Warum sind nicht alle Häuser so hoch wie dieses? Warum wohnst du nicht in so einem großen Haus, Mariah?" Mariah hatte kaum geantwortet, da stellte Tyler ihr schon die nächsten Fragen. Aber sie konnte es nicht verhindern, dass sie selbst sich welche stellte. Würde ihr Kind auch so neugierig sein? Würde es auch so quirlig sein wie Tyler oder so ruhig und friedlich wie die kleine Ashley? Würde es ihre braunen Haare haben oder die tiefschwarzen des Mannes, der ihr so deutlich erklärt hatte, dass er keine Kinder wolle? Mariah verdrängte den Gedanken. Sie überlegte, welche Augenfarbe das Baby wohl haben würde - grau wie ihre oder blau wie die des Mannes, der sie heute Morgen so wütend angesehen hatte? Schützend legte sie die Hände auf ihren Bauch, als wollte sie das Baby vor Rhys' wütendem, vorwurfsvollem Blick schützen. "Hast du Bauchweh?" fragte Tyler.
Mariah rang sich ein Lächeln ab. "Nein", erwiderte sie, "ich bekomme nur langsam Hunger und dachte gerade, dass ein Eis jetzt genau das Richtige wäre. Möchtest du auch eins?" "Na klar", sagte Tyler begeistert. Rhys schlief den ganzen Tag lang. Als er aufwachte, fühlte er sich noch schlechter als vorher. Einen Moment lang wusste er nicht mehr, warum. Doch dann fiel es ihm ein. Es konnte nicht wahr sein. Er drehte sich auf die Seite und stöhnte leise, bevor er die Augen öffnete und sich daran erinnerte, dass Mariah das letzte Mal neben ihm gelegen hatte, als er hier geschlafen hatte. Er hatte es noch so lebhaft in Erinnerung, dass er das Begehren im ganzen Körper spürte, wenn er nur daran dachte. Das durfte er nicht zulassen! Rhys schlug die Decke zurück, stand auf und ging ins Badezimmer. Dort drehte er das kalte Wasser auf und hielt den Kopf unter den Strahl. Er wusch sich das Gesicht, putzte sich die Zähne und rasierte sich. Dann ging er in die Küche und kochte Kaffee. Rhys dachte daran, wie er am Tag zuvor nach Hause gekommen war und sich nervös gefragt hatte, ob Mariah und er jene Nacht würden vergessen können. Das wird wohl kaum möglich sein, dachte er sarkastisch. Es wäre wohl besser, wenn sie ihre Freundschaft nicht weiterführen würden und nichts mehr miteinander zu tun hätten. Natürlich würde er sie vermissen, aber die Dinge hatten sich eben geändert. Vielleicht wird Mariah wegziehen, dachte er hoffnungsvoll. Für ihre Arbeit war es nicht erforderlich, dass sie in der Stadt lebte. Im letzten Sommer hatte sie in Hamptons gelebt, während ihr Apartment renoviert worden war. Vielleicht würde sie ganz dorthin ziehen. Dann brauchten sie einander nicht mehr zu sehen. Er würde seine Pflicht tun und jeden Monat einen Scheck an ihre neue Adresse schicken. Sicher würde Mariah nicht darauf bestehen, dass er mehr tat als das. Sie hatte nicht mit ihm gestritten, kein Wort gesagt und Verständnis gehabt.
Rhys atmete tief ein und fühlte, wie die Anspannung nachließ, die er verspürt hatte, seit sie jenes verhängnisvolle Wort gesagt hatte: schwanger. Er fühlte sich jetzt viel besser. Rhys bewegte die Schultern. Er war entspannt und ausgeglichen, wie ein Boxer, der nach einem K.O. wieder auf die Beine kam. Er konnte damit umgehen und würde einfach so weitermachen wie bisher. Rhys trank den Kaffee aus, nahm seinen Matchbeutel und ging in den Keller, wo er seine sämtlichen Kleidungsstücke in die Waschmaschine gab, wie er es immer tat, wenn er von einem Einsatz nach Hause kam. Er hatte das Bedürfnis; alles sauber zu haben. Sauber und ordentlich. Unter Kontrolle. Rhys stellte die Waschmaschine an und ging dann, wie immer unmelodiös pfeifend, nach oben. Er griff nach dem Telefonhörer und hielt plötzlich inne. Er hatte Mariah anrufen wollen, um sie zu fragen, ob sie gemeinsam Lunch essen wollten. Manches würde eben nicht mehr so sein wie früher. Aber an den wirklich wichtigen Dingen wird sich nichts ändern, erinnerte er sich selbst. Er würde weiterhin frei und ungebunden sein. Genau, wie er es wollte.
3. KAPITEL Am Samstag reisten Mariahs Gäste ab. "Vielen Dank, dass du uns so lange ertragen hast." Erica umarmte Mariah noch einmal. Das Taxi, das sie zum Flughafen bringen sollte, stand schon bereit, "Es war sehr schön bei dir." "Nichts zu danken", erwiderte Mariah. Auch für sie waren es schöne Tage gewesen - zumindest bis zu einem gewissen Grad. Erica, Jeff und ihre Kinder hatten sie auf Trab gehalten und davon abgelenkt, zu viel nachzudenken - und zwar darüber, was Rhys wohl gerade tat und ob er sich langsam mit dem Gedanken anfreunden konnte, dass sie schwanger war. Die ganze Woche hatte sie nichts von ihm gehört. Sie hatte damit gerechnet, dass Rhys verärgert wäre oder schmollen würde - eine Zeit lang. Aber nicht, dass er sie ignorieren würde. Doch genau das tat er. Sie waren doch Freunde! Freunde ließen einander nicht einfach so fallen! Mariah hatte ihn weder gesehen noch irgendetwas von ihm gehört. Sie hatte Entschuldigungen für sein Verhalten gefunden und sich eingeredet, dass er nicht vorbeikommen und mit ihr über alles reden wollte, solange Erica da war. Sie machte ihm daraus keinen Vorwurf. Schließlich musste er über vieles nachdenken. Sie wusste, dass es nicht einfach für ihn war, und sie erwartete nicht, dass er sich so liebevoll um sie kümmern würde,
wie Finn sich um ihre Freundin Izzy gekümmert hatte, als diese schwanger gewesen war. Und ebenso wenig erwartete sie, dass Rhys ihr einen Heiratsantrag machen würde. Noch nicht. Aber tief in ihrem Herzen hoffte sie darauf. Zumindest hoffte sie, ihn bald wieder zu sehen. Doch er ließ sich die ganze Woche nicht blicken. Am Abend vor Jeff s und Ericas Abreise lud sie ihre Schwester Sierra und einige Freunde zum Dinner ein, die ihre Cousine während ihres Besuchs kennen gelernt hatte: Finn und Izzy MacCauley, Gib und Chloe Walker und Sam und Josie Fletcher. Sie alle kannten Rhys. Wenn sie ihn nicht einlud, würde Sierra fragen, warum er nicht da sei. Also hatte sie ihn auch eingeladen. Er war nicht zu Hause, deshalb hinterließ sie eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter. Sie sagte sich selber, dass sie ihn nicht unter Druck setzte, sondern ihn lediglich wie einen Freund behandelte. Als sie am nächsten Morgen vom Einkaufen zurückkam, hatte er ihr aufs Band gesprochen. "Danke für die Einladung, aber ich habe schon etwas anderes vor." Seit wann drückte er sich ihr gegenüber so höflich und kühl aus? Normalerweise hätte er fröhlich gesagt: "Ich schaff's leider nicht zum Dinner, komme nach, wenn ich zurück bin." Mariah war beunruhigt. Alle anderen Gäste waren gekommen, und alle fragten nach Rhys. "Er hatte schon etwas anderes vor." Mariah wiederholte wörtlich, was Rhys gesagt hatte, und versuchte, nicht sarkastisch zu klingen. Trotzdem zogen Finn und Izzy fragend die Augenbrauen hoch. Chloe sah Mariah überrascht an, und Sam fragte: "Ist er bei einem Einsatz?" "Etwas Besseres kann man doch gar nicht vorhaben!" bemerkte Gib.
"Bestimmt kommt er noch", meinte Sierra optimistisch. "Wahrscheinlich irgendeine Familienangelegenheit, aus der er sich nicht ausklinken konnte." Das war möglich, doch Mariah bezweifelte es. Mit seiner Familie verbrachte Rhys nicht viel Zeit. Nur ab und zu ging er mit seinen Brüdern Angeln. Jedenfalls kam er auch später nicht vorbei. Mariah fühlte sich leer und war unruhig. Doch wieder sagte sie sich, dass er noch Zeit brauche. Als sie sich von ihrer Cousine verabschiedete, während das Taxi bereitstand, sah sie, wie sich das schmiedeeiserne Tor öffnete, das zu seinem Apartment führte. Ihr Herz begann heftig zu schlagen. Sie umarmte Erica und sagte: "Besucht mich bald wieder!" "Du solltest mal wieder nach Hause kommen", erwiderte Erica und nahm Jeff Ashley ab. "Irgendwann tue ich das", versprach Mariah und hörte, wie Rhys hinter ihr das Tor schloss. "Oh, hallo, Rhys!" begrüßte Erica ihn. Mariah drehte sich um und sah, wie er ihrer Cousine flüchtig zulächelte. "Wir fahren wieder nach Hause", fuhr Erica fort. "Schade, dass du gestern nicht zum Dinner kommen konntest." Rhys lächelte wieder höflich, erwiderte jedoch nichts. Er trug seine Sportsachen und wollte offensichtlich joggen gehen. Normalerweise würde er Mariah den Arm um die Schultern legen und sie auffordern: "Zieh dich schnell um, ich warte solange auf dich." Doch nun blieb er auf Abstand und sah sie nicht einmal an. Sie schluckte und wandte sich wieder zu Erica um. "Kommt gut nach Hause. Auf Wiedersehen, Ty, auf Wiedersehen, Jeff." Sie gab Ashley einen Kuss auf die Wange, und das Baby quietschte vor Vergnügen. Aus dem Augenwinkel sah Mariah, wie Rhys sich näherte. Er war nur noch wenige Meter von ihr
entfernt. Dann öffnete er das hüfthohe Tor, das auf den Bürgersteig führte, und ging hinaus. Er war weder stehen geblieben, noch hatte er sie angesehen. Die Tür des Taxis fiel ins Schloss. "Bye, Mariah!" riefen Jeff, Erica und Tyler fröhlich. "Bye!" Mariah winkte, als das Taxi losfuhr. Dann blickte sie dem Mann nach, der auf den Park zuging. "Wiedersehen", sagte sie leise. Und sie meinte nicht Erica, Jeff, Tyler oder Ashley. Rhys hielt sich ihr fern. Er flog für einige Tage nach Colorado zu seinem Bruder Nathan, der als Fotograf arbeitete. Dann fuhr er übers Wochenende nach Montauk zu seinem anderen Bruder Dominic, der Geschäftsmann war. Und immer wenn er wieder nach Hause kam, begegnete er Mariah. Sie versuchte offenbar nicht, ihm aus dem Weg zu gehen. Sie lächelte ihn an, sah ihn mit ihren großen grauen Augen an, die er noch gut aus jener Nacht in Erinnerung hatte, als sie sich geliebt hatten. Und trotz allem hatte er den Wunsch, es wieder zu tun. Aber noch mehr als das wollte er jeden Gedanken an sie verdrängen. Wenn er zu Hause war, sah er sie jeden Tag. Auf der Terrasse beim Blumengießen, während er in seinem Garten war. Auf der Treppe mit Mrs. Alvarez, die über ihr wohnte. Und ihre Unterwäsche hängte sie vor ihrem Fenster zum Trocknen auf. Das machte ihn fast verrückt. Er konnte Mariah meiden, ihr aus dem Weg gehen. Aber dem Anblick ihrer BHs und knappen Höschen konnte er nicht entgehen. Hatte sie sie immer draußen zum Trocknen aufgehängt? Rhys' Blick blieb an einem pfirsichfarbenen Slip hängen, den er ihr in jener Nacht ausgezogen hatte. Fast hätte er sie angerufen und sie aufgefordert, nicht die ganze Nachbarschaft in Aufruhr zu versetzen. Er verspürte plötzlich keine Lust mehr, im Garten zu bleiben. So schön war das Wetter auch nicht. Er kam zwar gerade von
einem Einsatz in einem Land, wo es kaum Grün gab, und konnte sich deshalb nichts Schöneres vorstellen, als seine Pflanzen zu gießen. Doch das würde eben warten müssen - bis Mariah Kellys frivole Unterwäsche getrocknet und von der Leine genommen war. Er ging ihr aus dem Weg. Anders konnte man Rhys' Verhalten nicht beschreiben. Mariah war Journalistin und lebte davon, die Dinge zu durchschauen und beim Namen zu nennen. Er ging ihr aus dem Weg. Nicht nur, dass er nie mehr bei ihr anklopfte, er wechselte sogar die Straßenseite, wenn er sie sah. Sie wich ihm jedoch nicht aus. Mariah hatte den Tatsachen immer ins Gesicht geblickt und war nie vor etwas davongelaufen. Und das tat sie auch jetzt nicht. Wenn sie Rhys auf sich zukommen sah, ging sie weiter. Und wenn er, um ihr nicht zu begegnen, schnell in einem Geschäft verschwand, versuchte sie, den Schmerz hinunterzuschlucken, und setzte ihren Weg fort. Sie fuhr fort, ihre Wäsche aufzuhängen oder ihre Pflanzen zu gießen, wenn er im Garten war. Sie winkte ihm sogar zu. Und wenn er sie ignorierte oder so tat, als würde er sie nicht hören, redete sie sich ein, er würde immer noch über alles nachdenken. Und sie glaubte es sogar. Aber langsam wurde sie es müde, zu warten. Das war einer der Nachteile daran, zu Hause zu arbeiten: Es gab einfach zu viele Möglichkeiten, Rhys zu begegnen. Fast kam es ihr so vor, als würde sie den ganzen Tag nur herumsitzen und darauf warten, von ihm vor den Kopf gestoßen zu werden. Vielleicht sollte sie wieder einmal eine Zeit lang von zu Hause weggehen und einen Artikel über einen Prominenten schreiben. In letzter Zeit hatte sie solche Aufträge nicht angenommen, weil ihr Magen so unberechenbar gewesen war. Allerdings wusste sie nicht, wie lange ihre Chefin Stella es noch akzeptieren würde, dass sie diese Arbeiten ablehnte. Sie
wusste noch nicht, dass Mariah schwanger war. Niemand wusste es - außer Rhys. Bald würde sie es allen erzählen müssen. Abends klingelte das Telefon. Inzwischen hatte Mariah die Hoffnung aufgegeben, dass es Rhys sein könnte - nun, zumindest fast. Aber inzwischen rannte sie nicht mehr sofort zum Apparat, sondern ließ es drei Mal klingeln, bevor sie den Hörer abhob. Es war Stella. "Ich habe ein Interview für dich!" "Ein Interview? Wo? Wann? Ich weiß nicht, ob ich im Moment wegkann", erwiderte Mariah vorsichtig. "Diesmal wirst du müssen. Es ist eins mit Sloan Gallagher." "Sloan Gallagher? Aber er gibt doch nie Interviews!" Der weltberühmte Schauspieler lebte sehr zurückgezogen und war als Exzentriker bekannt. Seit Jahren hatte er keine Interviews gegeben. Man wusste nicht einmal, wo er lebte. "Er wohnt in Sand Gap, Montana. Und du sollst das Interview führen", berichtete Stella. "Aber warum ausgerechnet ich? Ich habe ihn doch nie um ein Treffen gebeten!" "Er möchte sein neues Image pflegen, und deshalb hat er zugestimmt. Er findet dich fair. Und außerdem hat er deine Artikel über Gavin McConnell gelesen und war sehr beeindruckt. Deshalb hat er bei uns angerufen." "Er hat bei dir angerufen?" "Ja, ob du es glaubst oder nicht", antwortete Stella. Auch sie klang beeindruckt. "Du sollst auf seine Ranch kommen, wenn die Rinderherden eingefangen und gebrandmarkt werden. Damit du ihn so kennen lernen und porträtieren kannst, wie er wirklich ist, und nicht, wie man ihn in Hollywood gern sehen würde. Du solltest etwa eine Woche einplanen." "Eine ganze Woche?" "Das war sein Vorschlag. So viel Zeit willst du dir doch sicher nehmen, oder?"
Mariah dachte nach. Und wenn sie nun auf Sloan Gallaghers Ranch wäre und sich ständig übergeben müsste? Wenn sie aber zu Hause bliebe, würde sie sich doch nur den Kopf über Rhys zerbrechen. "In Ordnung", stimmte sie zu, "ich fahre hin." Wo er auch hinsah, begegnete Rhys Mariah. Doch auf einmal war sie nirgends mehr zu entdecken. Insgeheim war Rhys sehr erleichtert. Er goss seine Pflanzen und freute sich, Mariah nicht auf ihrer Terrasse zu sehen. Er unterhielt sich sogar eine halbe Stunde lang mit Mrs. Alvarez auf der Treppe und genoss die Tatsache, dass Mariah nicht da war. Auch am nächsten Tag begegnete er ihr nirgends. Vermutlich war sie weggefahren, weil sie an einem Artikel arbeitete. Sie war häufig ein oder zwei Tage lang nicht in der Stadt, wenn sie jemanden interviewte, der außerhalb New Yorks lebte. Manchmal fuhr sie nach Hamptons, manchmal nach Greenwich, Martha's Vineyard oder Bucks County. Sie arbeitete für ein landesweit erscheinendes Magazin, doch meistens interviewte sie Menschen, die im Nordosten lebten. Normalerweise erzählte sie ihm, wohin sie fuhr. Mrs. Alvarez wusste es bestimmt. Er würde sie fragen. Nein, das würde er nicht tun! Es war ihm ganz egal, wo Mariah steckte. Es interessierte ihn nicht im Geringsten. Sie waren schließlich immer nur Freunde gewesen. Und jetzt waren sie ... nicht einmal mehr das. Rhys riss sich zusammen und versuchte, nicht mehr an Mariah zu denken. Vielleicht würde er sich am nächsten Tag kurz bei ihr melden - nett und unverbindlich. Er wollte es sich ja auch nicht völlig mit ihr verderben, sondern nur auf Abstand bleiben und um jeden Preis vermeiden, dass sie sich emotional an ihn band. Aber Mariah kam weder am nächsten Tag nach Hause, noch am übernächsten. Als Rhys sie bereits fünf Tage lang nicht mehr gesehen hatte, wurde er nachdenklich. Mrs. Alvarez würde es ihm bestimmt
sagen. Sie würde ihm einen viel sagenden Blick zuwerfen und erwidern: "Sie ist in East Hampton und interviewt diesen unglaublich gut aussehenden Schauspieler" oder etwas Ähnliches, in der Hoffnung, ihn eifersüchtig zu machen. Sie war der Ansicht, Rhys und Mariah wären "füreinander geschaffen". Das war natürlich Unsinn. Er war für niemanden geschaffen und wurde auch nie eifersüchtig. Als er Mrs. Alvarez traf, brummelte er nur kurz eine Begrüßung. Sie saß auf der Treppe und wartete auf einen Lieferanten. Rhys gefiel der Blick nicht, den sie ihm zugeworfen hatte - durchdringend und neugierig. Hatte Mariah ihr etwa schon von dem Baby erzählt? Mariah war immer noch nicht zurück. Aber sicher würde sie bald wiederkommen. Wie sie wohl in ein paar Monaten aussehen würde, wenn sich ihr Bauch schon gerundet hätte? Bei diesem Gedanken stolperte Rhys auf der Treppe und fiel beinahe hin. Schnell verdrängte er den Gedanken an Mariah. Es war ihm egal. Er wollte es gar nicht wissen. Sarah war im vierten Monat schwanger gewesen, als ... Nein! Auch daran wollte er nicht denken. Er beschleunigte sein Tempo, überholte einen Fußgänger und spurtete los. Diesmal joggte er nicht, er rannte. Als er eine Stunde später zurückkam, saß Mrs. Alvarez noch immer auf der Treppe. Rhys war verschwitzt und außer Atem. "Sie rennen ja, als wäre der Teufel hinter Ihnen her", bemerkte sie. Genauso fühle ich mich auch, dachte Rhys. Am Abend des achten Tages war Mariah wieder da. Rhys kam gerade vom Laufen zurück, als sie aus dem Taxi stieg. Er rannte zu ihr und packte sie am Arm. "Wo bist du die ganze Zeit gewesen?" fragte er, bevor er nachdenken konnte. Mariah blickte ihn starr an. Sie sieht müde aus, dachte Rhys. Und ziemlich überrascht.
Schnell ließ er ihren Arm los und trat einen Schritt zurück. "Man hat schon nach dir gefragt", erklärte er. Mariah zog verwundert die Brauen hoch. "Wer hat gefragt?" "Chloe." Das stimmte zwar nicht ganz, war aber durchaus möglich. Chloe Walker hatte im letzten Jahr in Mariahs Apartment gewohnt, während es renoviert wurde und Mariah in Hamptons war. In dieser Zeit war Chloe einige Male mit Rhys ausgegangen. Im letzten Herbst hatte sie dann, anstatt nach Iowa zurückzugehen und ihren Verlobten zu heiraten, Gibson Walker geheiratet, den Fotografen, mit dem sie in New York zusammenarbeitete. Chloe war ebenfalls schwanger und ihr Bauch bereits stark gerundet. Rhys war vor einigen Tagen bei "Zabar's" im wahrsten Sinne des Wortes in sie hineingerannt. "Schade, dass du neulich nicht auch bei Mariah warst", hatte sie gesagt. Und er hatte irgendetwas Unverständliches gemurmelt. In Wirklichkeit war er in einen Jazzclub in Soho gegangen, um nicht zu Hause zu sein, als Mariahs Gäste kamen. Er hatte nicht all ihre gemeinsamen Freunde treffen und so tun können, als wäre nichts geschehen. Er wollte keine Fragen beantworten, falls sie schon etwas wüssten. Und falls nicht, hätte er sich ebenfalls unwohl gefühlt. "Wir sehen uns dann ein anderes Mal", hatte Chloe fröhlich gesagt. "Wenn das Baby auf der Welt ist, laden wir euch alle ein. Grüß Mariah von mir." Das war doch fast so, als hätte sie nach Mariah gefragt. "Sie sagte, sie hätte seit dem Dinner bei dir nicht mehr mit dir gesprochen", berichtete Rhys Mariah. "Und sie wollte wissen, wo du bist." "Ich war in Montana, um einen Artikel zu schreiben", erwiderte Mariah. Das überraschte ihn. Normalerweise fuhr sie für ihre Arbeit nicht so weit von zu Hause weg. Er hätte gern mehr darüber erfahren. Er hatte es immer sehr interessant gefunden, wenn sie
ihm von ihren Interviews mit all den Reichen und Schönen erzählte. Besser als jeder andere konnte Mariah sich in andere Menschen hineinversetzen und sie ihm nahe bringen. Aber er fragte nicht nach. Stattdessen nahm er ihren Koffer. "Ich trage ihn dir hoch", sagte er kurz angebunden. Der Koffer sah schwer aus, und in ihrem Zustand sollte sie ihn sicher nicht allein transportieren. Schweigend schloss sie das Tor auf, doch nach einer Weile begann sie, von dem Interview zu erzählen. Als Rhys den Namen Sloan Gallagher hörte, zog er die Brauen hoch, denn er wusste, dass der Schauspieler sonst nie Rede und Antwort stand. Er hätte gern erfahren, wie sie den ebenso berühmten wie exzentrischen Hollywoodstar dazu überredet hatte, mit ihr zu sprechen. Aber er ging nur schweigend hinter ihr die Treppe hinauf. Dabei hatte er Mariahs Po die ganze Zeit direkt vor den Augen. Und als sie oben ankamen, war er außer Atem. Mariah wandte sich zu ihm um. "Nicht mehr in Form?" fragte sie. Rhys gab keine Antwort. Keuchend trug er den Koffer in die Wohnung. "Danke." Mariah lächelte ihn an. "Möchtest du ein Glas Wasser?" Sie klang fröhlich, als wäre nichts passiert. Er schüttelte den Kopf. "Nein." Dann ging er zur Tür. "Ich muss los." Sie blinzelte verwundert, und ihr Lächeln verschwand. "Bis dann", murmelte Rhys und eilte die Treppe hinunter, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Sie hatte sich solche Hoffnungen gemacht. Als Mariah weggefahren war, hatte sie geglaubt, dass es für sie beide hilfreich wäre, wenn sie eine Zeit lang nicht da wäre und ständig auf ein Zeichen von ihm warten würde. Sie würde nicht jedes Mal zusammenzucken, wenn das Telefon klingelte. Und er hätte Zeit, sich mit der neuen Situation auseinander zu setzen.
Mariah war davon ausgegangen, dass er dies inzwischen getan hatte. Sie hatte sich darauf gefreut, ihn bei ihrer Rückkehr in die Arme zu schließen und sich mit ihm zusammen zu freuen. Sicher war es nicht der beste Weg, eine Familie zu gründen, aber gemeinsam würden sie es schaffen. Und als er angerannt gekommen war und ihren Koffer ergriffen hatte, hätte sie ihn am liebsten umarmt. Zum Glück habe ich es nicht getan, dachte sie bitter. Sonst würde sie sich jetzt wahrscheinlich vor Wut darüber ohrfeigen, dass sie sich nicht besser unter Kontrolle gehabt hatte. Denn ganz offensichtlich hatte Rhys bisher in keiner Weise akzeptiert, dass er Vater wurde. Ebenso wenig schien er den Wunsch zu haben, an dem Wunder dieses neuen Lebens teilzunehmen. Vielleicht würde das nie passieren. Zum ersten Mal ließ Mariah diesen Gedanken zu. Doch sofort wehrte sie sich innerlich dagegen. Sie liebte Rhys und wollte einfach nicht glauben, dass er ihre Liebe - und ihr gemeinsames Kind zurückweisen würde. Immerhin hat er gesagt, dass er mich finanziell unterstützen will, erinnerte Mariah sich. Und vermutlich hatte er das wirklich vor. Allerdings war das ihre geringste Sorge. Mariah war zwar nicht reich, aber sie verdiente gut, was sich auch nach der Geburt des Kindes nicht ändern würde. Sie wollte Rhys' Geld nicht. Sie wollte ihn. In ihrem Leben - und im Leben des Kindes. Aber sie würde nicht darum betteln. Wann immer Mariah ihn sah, lächelte sie ihm zu und sprach kurz mit ihm, wenn sie sich zufällig auf der Treppe begegneten. Und sie wartete weiterhin auf ein Zeichen von ihm. "Eine Party für Babys?" fragte Rhys und ließ fast den Telefonhörer fallen. "Für wessen Baby?" "Natürlich für Chloes", erwiderte Izzy MacCauley fröhlich. "Wer bekommt denn sonst noch ein Kind?"
Rhys beruhigte sich wieder. "Männer feiern keine Babypartys", erklärte er Izzy, die ihn gerade eingeladen hatte. "Das ist etwas für Frauen." "Blödsinn", entgegnete Izzy. "Gib und Finn kommen auch und Sam Fletcher." Rhys wusste, dass sie ein Nein nicht akzeptieren würde, und gab nach. "Na gut", lenkte er ein, "ich komme." "Toll. Du kannst ja mit Mariah fahren." "Das geht nicht!" "Warum nicht?" "Weil...", fieberhaft suchte Rhys nach einer Ausrede, "... weil ich mit meinem Bruder angeln gehe und noch nicht weiß, wann ich wiederkomme." "Okay", sagte Izzy, "Hauptsache, du kommst überhaupt. Ich fand es schon schade, dass du neulich bei Mariah nicht mit dabei warst." "Hm", erwiderte Rhys nur. Dummerweise erzählte er Dominic beim Angeln von der Babyparty. " Es macht gar nichts, wenn ich spät nach Hause komme", meinte Rhys. "Ich muss nicht unbedingt dabei sein." Hoffentlich bin ich zu spät zurück, um noch hinzugehen, dachte er. Aber Dominic grinste. "Eine Babyparty? Das solltest du dir nicht entgehen lassen!" Er sorgte dafür, dass sie rechtzeitig zurück waren, und erklärte sich sogar bereit, den Fisch einzufrieren, damit Rhys zu den MacCauleys fahren konnte. Rhys warf ihm einen finsteren Blick zu und ließ sich beim Rasieren und Duschen viel Zeit. Sollte er wirklich hingehen? Und wenn Mariah es schon allen erzählt hatte? Als Rhys bei den MacCauleys ankam, waren bereits alle anderen Gäste da. Firnis und Izzys Nichten Tansy und Pansy öffneten die Tür und führten ihn auf die Terrasse, wo etwa ein Dutzend anderer Menschen lachte und sich angeregt unterhielt. Doch Rhys sah nur eine Person. Mariah.
Eigentlich waren es zwei, denn sie saß auf der Hollywoodschaukel und ließ Izzys zehn Monate alten Sohn Crash auf ihrem Schoß auf und ab hüpfen. Beide lachten, und sie sah aus wie ... wie eine Mutter. Rhys war überrascht. Er hatte sich Mariah noch nie als Mutter vorgestellt, sie zwar schon einige Male mit Kindern zusammen gesehen, aber sich nie ausgemalt, wie es wäre, wenn sie selber Kinder hätte. Und jetzt ... jetzt starrte er sie an, bis sie es bemerkte. Schnell sah er weg. "Möchtest du etwas trinken?" fragte Finn. "Bier oder Eistee?" "Bier", murmelte Rhys. Fast hätte er nach Whiskey gefragt. Er trank sein Getränk und ging Mariah aus dem Weg. Offensichtlich hatte sie bisher niemandem erzählt, dass sie schwanger war. Alle scharten sich um Chloe, strichen ihr über den Bauch und erinnerten sich an die Zeit, als Izzy so dick gewesen war. Und niemand verlor ein Wort darüber, dass Mariah in wenigen Monaten ebenso dick sein würde. Schnell verdrängte Rhys diesen Gedanken und stürzte sein Bier hinunter. "Möchtest du noch eins?" fragte Finn. "Ja", erwiderte Rhys. Er unterhielt sich mit Finn und Gib und erzählte ihnen von seinem Besuch bei seinem Bruder Nathan in Colorado. Finn beneidete Nathan, der als Natur- und Landschaftsfotograf arbeitete. Auch er und Gib gingen dem gleichen Beruf nach, hatten sich aber auf anderen Gebieten spezialisiert. Rhys redete auch mit Sam Fletcher und Dämon Alexakis, beides Geschäftsmänner und Freunde von Izzy und Finn. Er sprach mit Tansy, Pansy und Izzy. Und den ganzen Abend lang beobachtete er Mariah. Sie sah einfach toll aus. Sie hatte ein Leuchten in den Augen, das ihm sofort aufgefallen war, als er sie mit Finns und Izzys Baby im Arm gesehen hatte, und ging sehr behutsam mit Crash um, dem es zu gefallen schien.
Es ist gut, dass sie so geschickt im Umgang mit Babys ist, dachte Rhys, denn in ein paar Monaten wird sie selber eins haben. Dann nahm Finn ihr Crash aus den Armen und sagte: "Du brauchst mal eine Pause, er hat dich jetzt lange genug beansprucht." "Es macht mir nichts aus", antwortete Mariah. "Das würde es aber, wenn du dich ständig um ihn kümmern müsstest", erwiderte Finn. Rhys fiel auf, wie Recht er damit hatte. Finn und Izzy kümmerten sich gemeinsam um die Zwillinge, um Crash und den zweijährigen Rip. Sam und Josie Fletcher machten es mit ihrem Sohn Jake genauso. Und auch Gib war immer für Chloe da und umsorgte sie, so gut er konnte. Rhys wurde nachdenklich. Es war nicht gut, dass Mariah ganz auf sich allein gestellt war. Auch sie würde Unterstützung benötigen. Es reichte nicht aus, ihr jeden Monat einen Scheck zu schicken. Allein würde sie das Kind nicht aufziehen können. Den ganzen Abend hatte Rhys nicht ein einziges Mal mit ihr gesprochen. Er hatte sich mit allen anderen Gästen unterhalten außer mit Chloe, wie Mariah später auffiel. War er gegen schwangere Frauen allergisch? Mariah versuchte, sich nicht darüber den Kopf zu zerbrechen und so zu tun, als machte ihr das alles nichts aus. Es fiel ihr schwer. Besonders als sie sich verabschieden wollte und Izzy Rhys fragte: "Gehst du auch?" Rhys schüttelte den Kopf. "Nein, ich bleibe noch." Izzy sah erstaunt aus. "Ich brauche keine Begleitung", sagte Mariah schnell und bedankte sich bei Finn und Izzy für die Einladung. Dann umarmte sie Chloe und Gib noch einmal, wünschte ihnen alles Gute und verabschiedete sich von den anderen Gästen - außer von Rhys, den sie nicht einmal ansah. Mariah wusste nicht, ob Chloe oder Izzy es bemerkten. Es war ihr egal. Sie fuhr nach Hause und ging sofort ins Bett.
Aber sie konnte nicht einschlafen. Unruhig warf sie sich hin und her. Sie strich sich über den Bauch und dachte an das Kind. Bisher existierte es vor allem in ihrer Vorstellung, denn noch spürte sie nichts von ihm. Bald aber würde sie so aussehen wie Chloe und in etwas mehr als einem Jahr selber ein Kind in Crashs Alter haben. Einen kleinen Menschen, der ganz und gar auf sie angewiesen war. Würde sie es schaffen? Könnte sie gut genug für ihn sorgen? Natürlich wäre sie dazu in der Lage. Doch jetzt, als sie allein in ihrem Bett lag und nicht schlafen konnte, fiel es ihr schwer, das zu glauben. Am nächsten Tag, an einem warmen, sonnigen Nachmittag, gelang ihr das schon besser. Sie arbeitete gerade an einem Artikel, als es an der Tür klingelte. Das war bestimmt Mrs. Alvarez, die einkaufen gegangen war und versprochen hatte, ihr Milch mitzubringen. Doch als Mariah die Tür öffnete, stand Rhys davor. "He." Sie lächelte ihm zu, aber inzwischen war sie vorsichtig geworden. Rhys lächelte ebenfalls. Vielleicht hat er nach dem gestrigen Abend noch einmal darüber nachgedacht, wie es wäre, Vater zu sein, überlegte sie. Vielleicht war das der Auslöser gewesen, und er hatte nur gewartet, bis er unter vier Augen mit ihr sprechen konnte. Rhys fuhr sich durchs Haar und trat nervös vom einen Fuß auf den anderen. Dann sagte er: "Ich möchte mit dir reden. Hast du einen Augenblick Zeit?" Sie nickte. "Möchtest du dich setzen? Ich kann uns einen Eistee machen." "Nein, danke." Rhys ging zum anderen Ende des Zimmers und wandte sich dann zu ihr um. "Ich habe nachgedacht", begann er, "über dich und ... das Baby."
Sie nickte ihm ermutigend zu, und er fuhr fort: "Es hat mich nachdenklich gemacht, Gib und Chloe, Finn und Izzy und Sam und Josie zusammen zu sehen." Mariahs Herz begann, heftig zu schlagen. Wieder nickte sie. "Egal, was man alles Positives über allein Erziehende hört, ich glaube, dass ein Kind beide Eltern braucht." Er blickte erst zu ihr, dann auf seine Füße und dann zum Fenster. "Ja", sagte Mariah, " das glaube ich auch." "Finanzielle Unterstützung allein reicht nicht", fuhr Rhys fort. "Du brauchst jemanden, der auch sonst für dich da ist." Gott sei Dank, dachte Mariah. Endlich! Er kratzte sich den Nacken. "Darüber habe ich nachgedacht. Ich kann dich finanziell unterstützen, aber das andere ist auch wichtig." Er warf ihr einen raschen Blick zu. Mariah sah ihn verständnislos an. Jetzt sag es doch endlich, dachte sie. "Worauf willst du hinaus?" Rhys schob die Hände in die Hosentaschen und wippte auf den Fersen vor und zurück. "Na ja, wie gesagt, es ist wichtig, dass beide Elternteile da sind. Und auch du wirst jemanden brauchen. Deswegen dachte ich ... du solltest versuchen, einen Mann kennen zu lernen." Mariah sah ihn ungläubig an. "Ich wollte dir nur sagen, dass ich nichts dagegen habe, wenn du ... einen netten Typ triffst und mit ihm eine Beziehung anfängst. Oder heiratest." Er sah sie an, als erwartete er, dass sie sich bei ihm bedankte. In Mariahs Kopf drehte sich alles, und sie brachte kein Wort heraus. Sie konnte einfach nicht glauben, dass er das wirklich gesagt hatte. "Ich meine, du bist doch eine tolle Frau, Mariah. Du bist hübsch, intelligent und sensibel. Du könntest jeden Mann bekommen, den du möchtest, auch wenn du schwanger bist. Sag ihm, dass er sich um das Geld keine Gedanken zu machen braucht. Das übernehme ich."
Mariah zwang sich, ruhig zu bleiben. "Also", sagte Rhys, "was denkst du darüber?" Sie riss die Wohnungstür auf. "Ich denke", sagte sie mit unterdrückter Wut, "dass du zur Hölle fahren kannst, Rhys Wolfe! Verschwinde!"
4. KAPITEL Als ob sie einfach mit dem Lasso losziehen und sich einen Mann einfangen würde! Wenn es nach Rhys ginge, sollte sich also ein wildfremder Mann um sie und das Kind kümmern. Wie konnte er es wagen, ihr so einen Vorschlag zu machen? "Du weißt genau, dass ich Recht habe, Mariah", hatte Rhys noch gesagt, als sie die Tür hinter ihm zuschlug und ihn dabei nur knapp verfehlte. Als Antwort hatte sie ein Buch gegen die Tür geschleudert, während er die Treppe hinunterging. Dann hatte sie ihn mit sämtlichen Schimpfwörter bedacht, die ihr einfielen. Schließlich war sie in Tränen ausgebrochen. Es war das erste Mal gewesen, dass sie weinte. Seit Mariah entdeckt hatte, dass sie ein Kind erwartete, war sie krank vor Sorge, und oft war sie von Panik ergriffen. Doch geweint hatte sie nie. Bis jetzt. Das kommt von den Hormonen, redete sie sich ein. Sie weinte nicht wegen Rhys. Er war es nicht wert. Aber immer noch liefen ihr die Tränen über das Gesicht, Tränen der Wut und der Verzweiflung. Sie weinte, weil sie sich umsonst Hoffnungen gemacht hatte. Als die Tränen versiegt waren, trocknete Mariah sich die Augen und putzte sich die Nase. "Reiß dich zusammen", ermahnte sie sich. Sie richtete sich auf und blickte in den Spiegel. Sie sah eine einunddreißigjährige Frau mit vom Weinen fleckigem Gesicht, verquollenen Augen, roter Nase und
zerzaustem langem Haar, die alles andere als hübsch aussah. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Anblick irgendeinen Mann begeistern würde. Rhys wusste nicht, wovon er redete. Wenn sie wirklich so intelligent war, wie er sagte, dann hätte sie sich niemals in diese Lage gebracht. Und sensibel? Da hatte er vielleicht wirklich Recht. Hätte sie ihn damals nicht trösten wollen, würde sie jetzt nicht sein Kind erwarten. Nein, berichtigte sie sich. Nicht sein Kind. Mein Kind. Er wollte das Baby ja nicht. Mariah legte die Hand auf ihren Bauch und sagte zärtlich: "Es sieht so aus, als müssten wir uns allein durchschlagen, Kleines." Wieder kamen ihr die Tränen, doch sie lächelte tapfer. Sie blickte in den Spiegel und war plötzlich voller Stolz, denn sie sah mutig und zuversichtlich aus - und stark. Sie blieb lange vor dem Spiegel stehen. Und während sie dort stand, wurde ihr klar, dass es viele Menschen gab, die für sie da waren: ihre Freunde, ihre Familie. Sie alle würden sie unterstützen. Sobald sie sie einweihen würde. Noch bevor sie sich dazu entschließen konnte, stattete ihre Schwester Sierra ihr am nächsten Morgen unangekündigt einen Besuch ab. Mariah war früh aufgestanden, fest entschlossen, ihr Leben zu ändern. Und obwohl der Arzt ihr gesagt hatte, dass die Morgenübelkeit bald aufhören würde, fand sie sich kurze Zeit später im Badezimmer wieder. Mit einer Tasse Tee und einer Packung Crackers war Mariah wieder ins Bett gegangen, wo sie bis kurz vor elf Uhr blieb. Sie las, machte sich Notizen für einen Artikel und beschimpfte insgeheim ihr ungeborenes Kind. Da klingelte es an der Tür. Einen Moment lang überlegte sie, ob es wohl Rhys wäre, doch dann redete sie sich ein, dass es ihr egal sei. Noch immer fühlte sie sich etwas schwach. Wenn die Übelkeit sie wieder übermannte, würde sie auf seine Schuhe zielen. Sie öffnete die Tür.
"Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt", sagte Sierra und betrachtete Mariahs zerzaustes Haar und das weite T-Shirt, das sie als Nachthemd benutzte. "Du siehst ja noch wilder aus als ich." Sierras lila gefärbte Haare standen zu Berge, und sie trug ein hautenges Top und eine überweite Hose. Doch im Gegensatz zu Mariah wollte sie so aussehen. "Ich arbeite", log Mariah, "ich habe mir nur noch nicht die Haare gebürstet." "Und dich angezogen", ergänzte Sierra, die kein Wort davon glaubte. Sie ging an ihrer Schwester vorbei ins Wohnzimmer und sah sie mit unverhohlenem Interesse an. "Langsam kriegst du richtig volle Brüste", meinte sie anerkennend. "Was? " Instinktiv verschränkte Mariah die Arme vor der Brust und blickte ihre jüngere Schwester starr an. Sie fragte sich, warum diese mitten am Vormittag einfach so bei ihr hereinplatzte. Sicher nicht, um ihre Brüste zu betrachten! Sierra hatte eine Papiertüte dabei, deren Inhalt merkwürdig roch. Mariah verspürte wieder eine leichte Übelkeit. Sierra zuckte die Schultern. "Vielleicht kommt es mir auch nur so vor, weil ich dich so selten in einem weiten T-Shirt und ohne BH sehe, aber ich glaube wirklich, dass deine Oberweite größer geworden ist. Wird ja auch langsam Zeit", fuhr sie unverblümt fort. "Wie alt bist du jetzt? Zweiunddreißig?" "Einunddreißig", berichtigte Mariah sie frostig. "Ist ja auch egal. Auf jeden Fall kann ich mir Hoffnungen machen, dass ich da auch noch zulege", erwiderte Sierra und blickte widerwillig an ihrem fast völlig flachen Oberkörper hinab. "Wie hast du das gemacht?" "Ich ..." Ich muss ihr darauf keine Antwort geben, dachte Mariah. Was war das nur für ein widerwärtiger Geruch? "Und warum trägst du keinen BH?" wollte Sierra jetzt wissen. "Bist du unter die Feministinnen gegangen und hast dein Interesse für Politik entdeckt?"
Mariah seufzte nur. "Ich habe mir einfach nicht die Mühe gemacht, einen anzuziehen, weil ich sowieso hier bleiben wollte." "Das ist einer der Vorteile, wenn man zu Hause arbeitet", sagte Sierra. "Darum beneide ich dich wirklich. Und um deinen Brustumfang." Mariah fühlte sich schwach und hielt sich an einem Stuhl fest. "Warum bist du eigentlich hier?" "Wir sind gerade mit einem Shooting hier in der Gegend fertig", erklärte Sierra fröhlich. "Und weil wir uns schon länger nicht mehr gesehen haben, dachte ich, wenn ich schon mal hier bin, kann ich auch bei dir vorbeikommen. Ich habe uns bei O'Toole's Lunch besorgt." Sie drückte Mariah die Papiertüte in die Hand. "Dein Lieblingsessen." O nein, dachte Mariah, bitte nicht... "Corned Beef", fuhr Sierra strahlend fort. Ihr Lächeln verschwand, als Mariah die Tüte fallen ließ und zum Badezimmer stürzte, wo sie sich von den Crackern und dem Tee verabschiedete. "Mariah? Ist alles in Ordnung?" Sierra hämmerte gegen die Badezimmertür. Mariah lehnte sich gegen die Badewanne und ließ die Stirn auf die Knie sinken. Ihr war immer noch schwindelig. "Hast du Grippe?" fragte Sierra besorgt, die vor der Badezimmertür stand. "Warst du deswegen noch im Bett?" "Nein." Mariah atmete tief durch. Dann wusch sie sich das Gesicht und putzte sich die Zähne. Mir geht es gut, redete sie sich ein. Diese Übelkeit war etwas ganz Normales. Aber sie konnte nicht aus dem Badezimmer kommen, bis ... "Könntest du vielleicht die Tüte mit dem Corned Beef nach draußen bringen?" "Okay." Sie hörte Sierras Schritte.
Mir geht es gut, wiederholte sie, um ihren Magen zu beruhigen. Sie öffnete die Tür, als Sierra gerade mit gerunzelter Stirn zurückkam. Eindringlich betrachtete sie Mariah. "Was ist los?" fragte Mariah schließlich. Sierra schüttelte ungläubig den Kopf. "Dein großer Brustumfang ... das weite T-Shirt... deine Übelkeit. Mariah, bist du etwa schwanger?" Mariah verschränkte die Arme vor der Brust. "Und wenn ja?" fragte sie trotzig. "O nein!" Sierra fielen fast die Augen aus dem Kopf. "Du bist also wirklich schwanger." "Na und? Was ist daran so schlimm?" "Nichts! Ich hätte nur nie gedacht, dass du ..." Wieder schüttelte Sierra den Kopf. "Du warst immer ..." Sie verstummte, aber Mariah wusste auch so, was sie hatte sagen wollen. Du warst diejenige in der Familie, die nie etwas falsch gemacht hat. Du hast dich immer an die ungeschriebenen Gesetze gehalten. Und das war tatsächlich so gewesen. Für Revolten und Regelüberschreitungen war die Jüngere der Kelly-Schwestern zuständig gewesen. Wenn man von einer der beiden erwartet hätte, in die Lage zu geraten, in der sich Mariah jetzt befand, dann von Sierra. "Tja", sagte Sierra und grinste breit, "daran werden wir uns wohl erst gewöhnen müssen. Wer ist denn der glückliche Vater?" "Darüber will ich nicht reden" "Wie bitte?" Sierra blickte sie starr an. "Hast du es ihm gesagt?" "Ja." "Und?" Mariah zuckte die Schultern und sagte gespielt gleichgültig: "Er hat kein Interesse."
"Was ist denn das für ein Idiot...?" "Er ist kein Idiot! Na ja, vielleicht ist er das doch." Ganz sicher sogar. "Er hat nur einfach keine Lust, die Vaterrolle zu übernehmen." "Daran hätte er früher denken sollen", sagte Sierra bissig. " Ich will nicht darüber reden." "Aber..." "Nein, Sierra." Sierra wollte etwas entgegnen, unterließ es dann aber. Schließlich erkundigte sie sich: "Wissen die anderen es schon?" "Nein, ich habe es niemandem erzählt. Außer ihm ... und dir." Darüber musste Sierra eine Weile nachdenken. Besorgt fragte sie: "Du hast doch wohl nicht vor, das Baby ...? "Nein! Ich will dieses Kind auf jeden Fall bekommen! Und ich werde es auch behalten. Das stand für mich von Anfang an fest." Mariah warf ihrer Schwester einen empörten Blick zu. "Ich habe das auch nicht wirklich geglaubt", versicherte Sierra ihr schnell. Dafür kannte sie ihre Schwester zu gut. Sie kratzte sich etwas ratlos am Kopf, dann atmete sie tief ein. "Also gut", sagte sie grinsend, "ich wollte schon immer Tante werden. Wie kann ich dir helfen?" Mariah spürte, wie ihr die Tränen kamen. "Das hast du schon", flüsterte sie und schloss ihre Schwester in die Arme. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie wichtig ihr Sierras Unterstützung war. "Danke." "Nichts zu danken. Du hast mir doch auch immer geholfen." Mariah hatte sich immer dafür eingesetzt, dass Sierra so sein konnte, wie sie es wollte: dass sie sich die Haare rosa oder lila färben und neonfarbene Oberteile und übergroße Hosen und dazu DocMartens tragen durfte, während alle anderen in Kansas in Jeans herumliefen. Sierra trat einen Schritt zurück und betrachtete ihre große Schwester. "Man sieht schon etwas", meinte sie nachdenklich. "Es sind nicht nur die Brüste, du bekommst auch einen Bauch.
Außerdem hast du so ein Leuchten an dir." Sie lächelte. "Wann ist es denn soweit?" "In sechs Monaten." "Ein Weihnachtsbaby! Mal wieder eine neue Ausrede, um Weihnachten nicht nach Hause zu fahren. Mom und Dad müssen herkommen." "Meinst du, das würden sie tun?" Ihre Eltern lebten auf einer Ranch und machten normalerweise einen weiten Bogen um New York. "Worauf du dich verlassen kannst. Du weißt doch, wie sehr sich Mom Enkelkinder wünscht." "Aber unter diesen Umständen ..." "Sie sind doch immer froh, wenn wir gesund und glücklich sind. Sie werden sich wahnsinnig über das Kind freuen. Natürlich kommen sie", versicherte Sierra ihr. Und Mariah glaubte ihr. Ihre Eltern waren einfach einmalig. Und so war sie voller Hoffnung, dass sie das Kind sofort ins Herz schließen würden. "Gibt es etwas, was du essen kannst?" wollte Sierra wissen. "Wir haben heute Morgen um fünf mit der Arbeit begonnen, und ich bin schon halb verhungert." Mariah lächelte. "Und meinetwegen hast du deinen Lunch weggeworfen." "Nicht weiter schlimm. Hast du Cracker und Erdnussbutter?" Sierra war bereits auf dem Weg in die Küche. "Ich ernähre mich fast ausschließlich von Crackern", erwiderte Mariah. "Der Arzt sagt, dass die Übelkeit bald aufhören wird, und es ist auch schon besser geworden." Sie setzte sich an den Tisch, während Sierra Cracker mit Erdnussbutter bestrich und einen roten Apfel in Scheiben schnitt. Mariah nahm einen Cracker und trank dann einen Schluck Ginger Ale. Als sie einen zweiten Cracker aß, atmete Sierra, die sie besorgt beobachtet hatte, erleichtert auf.
"Kommst du heute Abend mit Jeremy und mir zu dem Spiel der Yankees?" Sierra hatte jeden Monat einen anderen Freund. Zurzeit war es Jeremy, der Sportler und Broadway-Stars managte. "Jeremy hat vier Karten für die besten Sitzplätze im ganzen Stadion", lockte sie. "Hm, ich weiß nicht..." "Du kannst jemanden mitbringen. Wie wäre es denn mit dem Vater des Kindes?" "Nein." "Na gut. Dann frag doch Rhys, ob er mitkommen möchte." "Nein!" Mariah verschluckte sich augenblicklich, und Sierra musste ihr auf den Rücken klopfen. "Alles in Ordnung?" fragte Sierra. "Warum willst du Rhys nicht fragen? Er ist doch schon öfter mitgekommen." Mariah schnappte nach Luft. "Ich möchte einfach nicht ... dass er mitkommt." "Ich dachte, ihr wärt..." Sierra verstummte plötzlich und betrachtete ihre Schwester eindringlich. Mariah versuchte, sie zu ignorieren, und zuckte die Schultern. "Ich möchte es einfach nicht." "Na gut", erwiderte Sierra. "Dann eben nicht Rhys. Ich lasse dir die beiden Tickets da. Du kannst mitbringen, wen du willst." "Ich kenne niemanden ..." "Dann eben nicht", schnitt Sierra ihr das Wort ab. "Aber du kommst auf jeden Fall mit." "Ich..." Sierra sah ihre Schwester mit jenem entschlossenen Blick an, an den Mariah sich nur allzu gut aus ihrer Kindheit in Emporia erinnerte. Wag es ja nicht! Sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Als Sierra nach Hause ging, traf sie Rhys auf der Treppe. Mariahs Schwester war Rhys schon immer sympathisch gewesen, obwohl er froh darüber war, dass Mariah, was sie
selbst anbetraf, nichts von neonfarbenen Oberteilen, Doc Martens und lila Haaren hielt. Er lächelte ihr zu. "He, Sierra, wie geht's?" Anstatt zu antworten, trat sie ihm gegen das Schienbein. "Du Schuft!" fuhr sie ihn an. Der Nachteil von Rhys Garten-Apartment war, dass er zwangsläufig alles mitbekam, was passierte. Als er zum Beispiel nach dem Spiel der Yankees die Nachrichten im Fernsehen sehen wollte, bemerkte er, dass mehrere Leute nach oben zu Mariahs Wohnung gingen. Er hörte eine Frau lachen. Das war eindeutig Mariah. Sie klang immer so ausgelassen und glücklich, wenn sie lachte. Die zweite Frau erkannte er als Sierra. Dann war da noch eine männliche Stimme, die vermutlich Sierras Freund zuzuordnen war. Es war nett von Sierra, ihre .Schwester mit zu einer Verabredung zu nehmen. Bei diesem Gedanken fiel Rhys sein letztes Zusammentreffen mit Mariahs Schwester wieder ein, und er rieb sich das Schienbein. Er vernahm, wie Sierra etwas von "home-run" sagte, und dann war Mariahs Stimme zu hören: "Unglaublich. Fantastisch." Sie waren also beim Spiel gewesen. Und Mariah hatte ihn nicht gefragt, ob er mitkommen wolle. Nicht dass er das von ihr erwartet hätte. Er war froh, dass sie es nicht getan hatte. Aber früher hatten sie solche Dinge gemeinsam gemacht. Und immerhin war er es gewesen, der sie zu ihrem ersten Spiel der Yankees mitgenommen hatte. Und jetzt ging sie einfach ohne ihn! Sei doch froh, sagte eine innere Stimme. Vielleicht würde sie ja einen anderen Mann kennen lernen, einen, in den sie sich auf den ersten Blick verliebte und der sie vom Fleck weg heiraten würde. Rhys gefiel der Gedanke nicht so sehr, wie er eigentlich sollte.
Mariah war froh, dass sie Sierra zu dem Spiel begleitet hatte. Es hatte sie abgelenkt. In den drei Monaten, seit sie wusste, dass sie schwanger war, hatte sie sich vor allem auf ihre Arbeit konzentriert. Ab und zu hatte sie sich mit Chloe zum Lunch getroffen oder war mit Finn und Izzy zum Dinner ausgegangen, aber ansonsten war sie sehr wenig unter Leute gekommen. Selten konnte sie sich wirklich entspannen und ganz sie selbst sein, denn insgeheim hatte sie immer darauf gewartet, dass Rhys seine Meinung ändern würde. "Du verschwendest deine Zeit, wenn du auf Rhys wartest", hatte ihr Sierra plötzlich während des Spiels erklärt. "Wenn du willst, sage ich ihm mal die Meinung." Mariah lachte - zum ersten Mal seit Monaten. "Wenigstens habe ich seinem Schienbein schon ein kleines Andenken verpasst", fuhr Sierra fort. Mariah sah sie ungläubig an, dann musste sie wieder lachen. "Im Ernst?" "Natürlich", erwiderte Sierra leicht empört. "Ich frage mich, wie ich ihn jemals nett finden konnte." "Immerhin will er mich finanziell unterstützen", wandte Mariah ein. "Das musste er laut Gesetz sowieso", sagte Sierra. "Du solltest dir einen Besseren suchen." "Der Meinung ist Rhys auch." "Er hat dir geraten, du sollst dir einen anderen Mann suchen?" Sierra konnte es nicht fassen. Mariah nickte. Auch sie konnte es immer noch nicht glauben. Wenn Sierra etwas machte, machte sie es richtig. "Rhys hat Recht", verkündete sie, als sie am nächsten Abend bei Mariah erschien. "Ich habe eine Liste mit passenden Männern für dich zusammengestellt." "Was? Wovon redest du?" "Davon, dass du einen Mann kennen lernen solltest." "Ich will aber gar keinen!"
"Blödsinn. Es sind alles tolle Typen", erklärte Sierra und verdrehte die Augen. "Und ganz wild darauf, deine Bekanntschaft zumachen." Maria wurde misstrauisch. "Was hast du vor?" Sierra machte ein unschuldiges Gesicht. "Ich? Gar nichts. Ich will dir nur helfen." Mariah nahm ihr die Liste aus der Hand und ließ den Blick über die Namen gleiten. "Was sind das für Männer?" Sie kannte nicht einen einzigen. Waren es vielleicht lauter Exfreunde ihrer kleinen Schwester? "Einfach Männer, die ich kenne", erwiderte Sierra betont gelassen. "Heute Abend sind wir mit Damien zum Dinner verabredet. Morgen kannst du dich mit Kent zum Lunch treffen, und Brandon geht mit dir am Samstag zu einem Konzert in der Carnegie Hall..." "Moment mal!" protestierte Mariah. "Ich setze lediglich Rhys' fabelhaften Vorschlag in die Tat um", sagte Sierra lammfromm, aber ihre Augen funkelten. "Ach komm, Mariah, du wirst dich bestimmt gut amüsieren!" "Aber ich will nicht..." "Ich weiß, du willst Rhys", unterbrach Sierra sie. "Aber ihn kannst du offensichtlich nicht bekommen. Also solltest du dich anderweitig umsehen, glaub mir." "Aber..." "Bitte, Mariah", flehte Sierra und sah ihre ältere Schwester eindringlich an. Ihr Blick war ernst, und in ihren Augen sah Mariah all die Zuneigung und Freundschaft, die ihre Schwester für sie empfand. Sie nickte. "Also dann", sagte Sierra, "sei um sieben fertig. Wir wollen Damien nicht warten lassen." Natürlich hatte er ihr geraten, öfter auszugehen. Aber er hatte nicht gemeint, dass sie das jeden Abend tun sollte! Er war davon ausgegangen, dass sie am Abend nach dem Spiel der Yankees zu Hause bleiben würde. Rhys kannte Maria.
Sie hatte einen großen Freundeskreis, aber sie schlug sich nicht die Nächte um die Ohren. Zumindest hatte sie das bisher nicht getan. Jetzt hatte sich das grundlegend geändert. Jedes Mal, wenn Rhys Mariah sah, ging sie mit einem anderen Mann aus. Zuerst dachte er, es handele sich um Sierras derzeitigen Freund - sie hatte ja einen ziemlichen Verschleiß. Aber dann bemerkte er, dass Sierra schon seit längerer Zeit immer von demselben langhaarigen Mann begleitet wurde. Als er Mariah geraten hatte, jemanden kennen zu lernen, hatte er nicht gemeint, dass sie sich mit der gesamten New Yorker Männerwelt vergnügen sollte. Schließlich wusste sie kaum etwas über diese Typen - womöglich waren es Vergewaltiger oder gar Mörder! Außerdem kam sie immer erst sehr spät nach Hause. Halb zehn! Elf Uhr! Sollte sie in ihrem Zustand nicht viel schlafen? Er jedenfalls schlief sehr wenig und lief unruhig in seinem Apartment hin und her, bis sie nach Hause kam. Er musste für eine Weile wegfahren. Als sein Bruder Nathan anrief und ihn für eine Woche nach Vancouver einlud, sagte er sofort zu. Nathan hatte sich als Natur- und Landschaftsfotograf einen Namen gemacht. Er war ungebunden und frei - freier, als Rhys es je gewesen war, denn er hatte nie geheiratet. Nathan machte Fotos für Artikel und schrieb Bücher. Für seine Aufnahmen war er bereits um die ganze Welt gereist. Ebenso wie Rhys hatte er eines Tages aufgehört, in dem Familienbetrieb zu arbeiten. Niemand wusste genau, warum. Rhys fand das in Ordnung. Auch er behielt sein Privatleben lieber für sich. Er und Nathan trafen sich in Vancouver. Sie verbrachten mehrere Tage an der Küste von Vancouver Island, dann mieteten sie ein Boot und fuhren zu einigen der kleineren Inseln. Sie schliefen in Schlaf sacken auf dem Boden und ernährten sich von Konserven. Rhys genoss diese Tage in vollen Züge. Und wann immer er an Mariah dachte, schob er den Gedanken an sie rasch beiseite.
Leider war die Woche viel zu schnell vorbei. Nathan flog zurück nach Paris, wo er lebte, wenn er nicht gerade arbeitete, Rhys fuhr zurück nach New York. Doch anders als sonst freute er sich nicht darauf, nach Hause zu kommen. Ich komme ja auch nicht von einem Einsatz zurück, sondern aus dem Urlaub, erinnerte er sich selber. Und worauf sollte er sich auch freuen? Darauf, Mariah jeden Tag mit einem anderen gut aussehenden Mann zu sehen? Nein, danke! Also rief er direkt vom Flughafen aus bei seinem anderen Bruder Dominic an. Dieser leitete das Familienunternehmen und steckte normalerweise bis über beide Ohren in Arbeit, denn er versuchte, seinem Vater zu beweisen, dass er durchaus in der Lage war, sich genauso gut oder sogar besser um das Unternehmen zu kümmern als er. Das war auch tatsächlich der Fall, nur wollte der alte Herr das nicht einsehen und mischte sich nach wie vor in die Geschäfte seines Sohnes ein. Rhys war mehr als überrascht, als Dominic sofort seinem Vorschlag zustimmte. "Angeln gehen? Warum eigentlich nicht? Jetzt gleich?" "Wenn es dir recht ist..." "Ich hole dich morgen früh um sieben ab." Jetzt, da er wusste, dass er am nächsten Morgen wieder wegfahren würde, fiel es Rhys leichter, nach Hause zu kommen. Er verbrachte den Abend damit, seine Wäsche zu waschen, und verspürte nicht die geringste Lust, Mariah mit einem ihrer Männer auf der Treppe zu sehen. Am nächsten Morgen erwachte er früh und war bester Laune, als Dominic ihn abholen kam. "Wir werden tonnenweise Fische fangen", versprach Dominic ihm grinsend. "Ich habe mich gewundert, dass du einfach so Urlaub nehmen kannst."
Sein Bruder zuckte die Schultern. "Ich musste mal raus. Der alte Herr wird in letzter Zeit immer lästiger." "Ich dachte, er überlässt es jetzt dir, die Geschäfte zu führen?" Wieder zuckte Dominic die Schultern. Nach einer längeren Pause erwiderte er: "Er hat schon wieder eine Frau gefunden." Rhys zog die Brauen hoch. "Dad?" fragte er ungläubig. Rhys' Mutter war gestorben, als er acht gewesen war. Und seit ihrem Tod hatte Douglas Wolfe, sein Vater, keine andere Frau angesehen. "Was willst du damit sagen, er hat eine Frau gefunden? Will er etwa wieder heiraten?" Dominic warf ihm einen finsteren Blick zu. "Nein, nicht er, sondern ich soll es!" Mit einer Hand fuhr er sich durchs Haar. "Ständig stellt er mir irgendwelche Frauen vor. Er will unbedingt, dass ich heirate." Dominic war einmal verlobt gewesen, aber die Braut hatte ihn am Hochzeitstag sitzen gelassen. Und selbst heute, zwölf Jahre später, vermied Rhys es immer noch, in Gegenwart seines Bruders das Thema "Ehe" zu erwähnen. Doch nun versuchte Douglas Wolfe offensichtlich, seinen ältesten Sohn um jeden Preis zum Heiraten zu bewegen! "Er will mir schon wieder eine Frau aufdrängen", beschwerte sich Dominic. "Warum tut er das?" "Weil er nächsten Monat siebzig wird und sich langsam steinalt fühlt. Er befürchtet, dass unsere Familie ausstirbt, und will endlich Enkelkinder haben." Er seufzte gequält. Wenn unser Vater wusste, dass Mariah schwanger ist, wäre er außer sich, dachte Rhys. Dann würde er vermutlich ihn vor den Altar zerren. Schweigend fuhren sie weiter, beide tief in Gedanken - an begangene Fehler, an zerstörte Träume.
"Ich werde mich nicht kleinkriegen lassen", sagte Dominic nach einer Weile. "Nein", stimmte Rhys ihm zu. Ich mich auch nicht, dachte er. Die beiden Brüder verbrachten fünf wunderschöne Tage miteinander. Sie fuhren mit dem Boot hinaus und angelten, und abends wanderten sie am Strand entlang. Sie unterhielten sich über Baseball und die besten Köder. Keiner von ihnen sprach jedoch über Frauen oder über ihren Vater. Es war herrlich. Rhys fühlte sich stark und zuversichtlich. Er zuckte nicht einmal zusammen, als Dominic ihm vorschlug, Mariah von dem riesigen Fang etwas abzugeben. "Deine Nachbarin würde sich bestimmt über ein paar Fische freuen", hatte er gesagt. Als Rhys aber abends bei ihr klopfte, war sie offensichtlich nicht zu Hause. Wütend stand Rhys mit dem Fisch in der Hand vor ihrer Tür und wartete, doch niemand machte auf. Mrs. Alvarez kam die Treppe herauf. "Mariah ist ausgegangen", sagte sie lächelnd. "Mit Kevin." Wer, zur Hölle, war Kevin? "Sie kommt sicher erst spät nach Hause." "Wie spät?" "Das weiß ich nicht. So spät, wie man eben kommt, wenn man sich gut amüsiert", erwiderte sie fröhlich. Rhys blickte ihr finster nach, als sie die Treppe zu ihrem Apartment hinaufstieg. Er sah auf die Uhr. Es war bereits zehn. War das nicht spät genug? Er ging in sein Apartment und legte den Fisch in den Kühlschrank. Dann blätterte er sein Adressbuch durch. Er war gereizt und unruhig und wollte sich ablenken. Schließlich kannte er jede Menge Frauen. Sicher hatte eine von ihnen Lust, spontan etwas zu unternehmen. Carrie? Annie? Shauna? Teresa? Er entschied sich für Teresa und rief sie an. Und natürlich wollte sie mit ihm ins Kino gehen - und die Nacht mit ihm verbringen.
"Bleib doch noch", lud sie ihn ein, als er sie nach dem Film nach Hause gebracht hatte. Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn neckend. Rhys trat einen Schritt zurück. "Ich bin ziemlich geschafft", sagte er ausweichend. "Vielleicht ein anderes Mal?" Sie presste sich an ihn. "Wann immer du willst, Süßer." Als er nach Hause kam, brannte bei Mariah noch Licht. Dabei war es doch schon fast ein Uhr! Und schwangere Frauen brauchten viel Schlaf. Oder nicht? Morgen, wenn er ihr den Fisch brachte, würde er ein ernstes Wort mit ihr reden.
5. KAPITEL "Ach, du bist es." Es war halb neun. Mariah lehnte sich gegen den Türrahmen. Sie trug Shorts und ein weites T-Shirt und sah blass und erschöpft aus. "Na, war es eine lange Nacht?" fragte Rhys bissig. Er wusste nicht genau, wann sie nach Hause gekommen war, aber als er um zwei Uhr schlafen gegangen war, hatte bei ihr noch Licht gebrannt. Mariah wirkte übermüdet - und nicht gerade erfreut über seinen Besuch. Auch Rhys war nicht besonders froh, sie zu sehen - nicht in diesem Zustand. "Du siehst furchtbar aus", sagte er unverblümt. "Vielen Dank." "Du würdest nicht so aussehen", belehrte er sie, "wenn du dich öfter ausruhen würdest. Du solltest nicht immer die Nächte durchfeiern." Sie blickte ihn erstaunt an, brachte aber kein Wort heraus. "Du brauchst mehr Schlaf, Mariah. Mindestens acht Stunden. Und vor allem solltest du nicht ständig ausgehen und Alkohol trinken ..." "Das tue ich auch nicht!" "... und außerdem musst du auf eine gesunde Ernährung achten. Hier." Er hielt ihr die Plastiktüte mit dem Fisch hin. "Dom und ich waren zum Angeln, und wir haben Unmengen
von Fisch gefangen. Da sind ziemlich viele Fettsäuren drin, genau das, was du brauchst." Mariah wurde blass. Mit weit geöffneten Augen blickte sie den Fisch an. Sie könnte sich wenigstens bedanken, dachte Rhys verärgert. Plötzlich presste sie sich die Hand auf den Mund und stürzte zum Badezimmer. "Was, zum Teufel ...?" Verblüfft ging Rhys ihr nach, doch sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu. "Was ist denn ...? Oh." Als er Mariah würgen hörte, verstand er plötzlich, warum sie so elend ausgesehen hatte. "Verdammt", murmelte er. "Bin gleich wieder da", sagte er etwas lauter. Er rannte nach unten in sein Apartment, legte den Fisch in den Kühlschrank und wusch sich schnell die Hände, um den Fischgeruch loszuwerden. Dann eilte er wieder nach oben. Die Badezimmertür war immer noch geschlossen. "Mariah?" Keine Antwort. Rhys ging unruhig auf und ab. Woher hatte er denn wissen sollen, dass ihr immer übel wurde? Musste sie sich etwa jeden Morgen übergeben? Er klopfte an die Badezimmertür. "Mariah? Alles in Ordnung?" Endlich hörte er, wie der Wasserhahn aufgedreht wurde, und schließlich öffnete Mariah die Tür. Noch immer war sie aschfahl, aber diesmal sagte Rhys nichts. Er wollte sie stützen, überlegte es sich dann aber anders und schob schnell die Hände in die Hosentaschen. "Geht es dir wieder gut?" "Oh, mir geht es fantastisch, danke der Nachfrage", antwortete Mariah ironisch. Wütend sah sie ihn an und ging dann an ihm vorbei ins Schlafzimmer. Er folgte ihr. "Ich wusste es nicht. Du glaubst doch nicht etwa, dass ich das mit Absicht getan habe?" Sie legte sich aufs Bett und bedeckte die Augen mit ihrem Arm.
Verlegen wippte Rhys auf den Fersen vor und zurück. "Kann ich etwas für dich tun?" "Ich finde, du hast schon mehr als genug getan", erwiderte Mariah bissig. Es machte ihn verrückt, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Er setzte sich neben sie aufs Bett, aber sie wandte ihm den Rücken zu. Rhys nahm ihre Hand und drehte Mariah zu sich um. Vergeblich versuchte sie, ihm die Hand zu entziehen. Ihre Wangen waren jetzt leicht gerötet, vermutlich, weil sie verärgert war. Eine Zeit lang blickten sie einander starr an. Mariah sah ausgezehrt aus, von dem Leuchten, das er neulich bemerkt hatte, war nichts zu sehen. "Möchtest du ein Glas Wasser trinken?" "Nein." "Du solltest aber etwas trinken. Kann ich dir etwas anderes bringen?" Sie seufzte. "Im Kühlschrank ist noch Ginger Ale." "Ich hole es dir." "Ich brauche deine Hilfe nicht." Aber Rhys achtete nicht darauf, ging in die Küche und schenkte ein Glas Ginger Ale ein. Mariah hatte sich halb aufgerichtet und gegen das Kopfteil des Bettes gelehnt. Er reichte ihr das Glas und sah zu, wie sie trank. "Hör auf, mich anzustarren", sagte sie nach einer Weile. Aber es gelang ihm nicht. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal aus der Nähe betrachtet hatte. Er war überrascht, wie zerbrechlich sie aussah. Früher hatte sie so nie gewirkt. "Hör endlich auf damit", verlangte sie verärgert. "Entschuldigung", murmelte er und wandte den Blick ab. Er ging vom einen Ende des kleinen Zimmers zum anderen. Aber es gab dort nichts, was ihn interessierte und was er hätte
betrachten können. Außer Mariah. Er wandte sich wieder zu ihr um. "Geht es dir jetzt besser?" "Ja, danke", sagte sie kurz angebunden. "Du brauchst mir keine Gesellschaft zu leisten." Rhys ignorierte die Aufforderung, sie allein zu lassen, und fragte: "Musst du dich jeden Tag übergeben?" "Nur wenn mir jemand rohen Fisch vors Gesicht hält. Oder Corned Beef", erwiderte sie und fügte zur Erklärung hinzu: "Sierra hat mir neulich Letzteres zum Lunch mitgebracht. Wir haben stattdessen Cracker mit Erdnussbutter gegessen." "Soll ich dir ein paar Cracker bringen?" "Ich habe keinen Hunger." "Aber du musst etwas essen", entgegnete Rhys. Mariah sah nicht nur zerbrechlich aus, sondern auch ganz dünn. Auch das hatte er noch nie erlebt. "Eigentlich solltest du doch zu- und nicht abnehmen, oder?" "Ich verliere kein Gewicht mehr." "Nicht mehr?" Sie zuckte die Schultern. "Am Anfang schon. Das passiert, wenn einem häufig übel wird." "War das bei dir der Fall?" Rhys löcherte sie förmlich mit seinen Fragen. "Zeitweise. Der Arzt wollte mir ein Mittel dagegen verschreiben, aber das wollte ich nicht. Ich will nicht mehr Medikamente einnehmen, als ich unbedingt muss. Meistens komme ich auch ganz gut damit zurecht, und die Übelkeit hat in letzter Zeit nachgelassen. Besonders wenn ich morgens später aufstehe und alles etwas langsamer angehe." "Ich dachte nur ... sonst bist du immer früh aufgestanden", verteidigte sich Rhys, der ein schlechtes Gewissen hatte. "Und ich dachte, du würdest dich über den Fisch freuen." "Vielen Dank", sagte Mariah. Es klang, als meinte sie es ernst. Sie blickte Rhys an, der verlegen von einem Fuß auf den
anderen trat. "Du brauchst nicht hier zu bleiben, Rhys. Das ist nur Morgenübelkeit, ich werde nicht daran sterben." "Ich weiß", versicherte er schnell. Auch Sarah hatte darunter gelitten, und er hatte sich große Sorgen um sie gemacht. Das Telefon klingelte. "Oh, Kevin! Hallo! Ich bin gerade erst aufgewacht." Sie gähnte herzhaft. "Ja, ich fand es auch toll. Heute Nachmittag?" Sie blätterte ihren Terminkalender durch, "Ja, das wäre toll. Also bis dann! Bye." Sie lächelte, als sie auflegte. Rhys kannte dieses Lächeln. Doch jetzt galt es nicht mehr ihm, sondern diesem Kevin. "Einer von deinen Männern?" fragte er bissig. "Was? Ach so. Ja, das könnte man wohl so sagen." "Meinst du wirklich, dass es dir gut genug geht, um dich heute Nachmittag mit ihm zu treffen?" platzte er heraus. Mariah nickte langsam. "O ja, ganz sicher." Er warf ihr einen finsteren Blick zu. "Dann lasse ich dich jetzt wohl besser allein. Vielleicht geht es dir ja, wenn Kevin erst da ist, wieder so gut, dass du dir deinen Fisch abholen kannst." Dann wandte er sich um und schlug die Tür hinter sich zu. Kevin würde sich totlachen, wenn er das hörte. Alle Frauen schwärmten für Kevin Maguire. Er war mit Abstand der attraktivste Mann unter Mariahs Kollegen - und der einzige, mit dem sie noch nie ausgegangen war, denn er wechselte seine Begleiterinnen so schnell wie Sierra ihre Haarfarbe. Mit Kevin hatte Mariah letzte Nacht bis morgens um drei zusammengesessen und an einem Artikel gearbeitet. Sie hätte nie gedacht, dass ausgerechnet Kevin mit einer schwangerer Frau ausgehen würde. Sie hatte ihm nachmittags erzählt, dass Rhys annahm, er sei ihr neuer Freund, und war verwundert gewesen, als er ihr daraufhin vorgeschlagen hatte, mit ihr auszugehen. "Ich bin noch nie mit einer Schwangeren ausgegangen", sagte er und grinste. "Außerdem würdest du mir damit einen Gefallen
tun. Sämtliche Frauen, mit denen ich mich bisher abgegeben habe, waren ganz wild darauf, zu heiraten. Bei dir ist das nicht so", erklärte er ihr. Kevin war Mariah immer sympathisch gewesen, und mit Sicherheit war es angenehmer und unterhaltsamer, mit ihm zum Dinner zu gehen als mit einem der Männer von Sierras Liste. Sie hatte also zugestimmt. Als er gegangen war, hatte sie ihre Entscheidung jedoch schon fast bereut - bis sie Rhys mit einer Frau im Garten sah - einer üppigen Blondine im Bikini. Kevin hatte ein kleines Restaurant an der East Side ausgesucht, und dort unterhielten sie sich angeregt über Gott und die Welt. Er war nicht nur sehr attraktiv und charmant, sondern auch nett und ein interessanter Gesprächspartner. Als er sie nach dem Essen nach Hause brachte und sie fragte, ob sie noch einmal mit ihm ausgehen würde, stimmte Mariah sofort zu. "Wie wäre es mit morgen?" "Einverstanden." Wozu sollte sie zu Hause herumsitzen und Trübsal blasen? "Das war ein sehr netter Abend", sagte Kevin, und Mariah fragte sich, ob er sie wohl küssen würde. Er hatte den ganzen Abend nicht den kleinsten Annäherungsversuch gestartet. Aber er grinste nur und zwinkerte ihr zu. "Gute Nacht, Mariah." "Gute Nacht, Kev." Am folgenden Abend besuchten sie nach dem Dinner einen Jazzclub, am dritten Abend sahen sie sich einen Film an. In der Woche darauf gingen sie im Park spazieren und danach zum Pavillon vor dem Lincoln Center. Im Büro waren sie die Sensation. Kevin, der früher mit jeder Frau nur ein- oder zweimal ausgegangen war und sich dann der nächsten zugewandt hatte, verbrachte plötzlich fast seine gesamte Freizeit mit Mariah. "Was hast du, was wir nicht haben?" wurde Mariah häufig neidisch gefragt.
Ich bin schwanger, hätte sie am liebsten erwidert. Aber das war sicher nicht die Antwort, die sie hören wollten. Inzwischen wusste Mariah, warum Kevin sich nicht binden wollte. "Ich habe schon eine Freundin", hatte er ihr einmal mit einem bitteren Lachen erzählt. "Zu Hause in Cincinnati. Aber sie ist noch unentschlossen und will sich nicht binden. Deswegen möchte sie, dass wir beide auch andere Leute kennen lernen." Um seinen Mund zuckte es leicht. "Aber alle Frauen, mit denen ich ausgehe, sind auf eine Beziehung aus. Also gehe ich einoder zweimal mit ihnen aus, und das war's. Für mich bist du also geradezu ein Geschenk des Himmels." Sie hatte also einen Freund. Schon seit längerer Zeit ging Mariah immer wieder mit demselben Mann aus. Und nicht gerade selten - fast jeden Abend! Eigentlich sollte ich darüber froh sein, dachte Rhys. Und das war er ja auch. Schließlich war nun alles genau so, wie er es wollte. Er wollte, dass Mariah jemanden kennen lernte, der zu ihr stand und für sie da sein würde. Einen Mann also, der ihr Cracker ans Bett brachte und ihr den Rücken massierte, der später mit ihr zu Elternabenden gehen und ihrem Kind das Autofahren beibringen würde. Genau das wollte er. Aber Rhys wollte auch sicher sein, dass Mariahs Freund bereit war, all dies zu tun. Er sah sehr gut aus, das musste man ihm zugestehen: Er hatte schwarzes Haar, markante Gesichtszüge, war muskulös und groß. Mindestens fünf Zentimeter größer als er. Na ja, vielleicht sind es auch nur ein oder zwei, dachte Rhys und richtete sich auf. Mariahs neuer Freund musste etwa so alt sein wie er. Er kleidete sich leger, aber gepflegt und stilvoll. Einen Schlips trug er nie, wahrscheinlich war er kein Geschäftsmann. Dominic hatte immer einen Anzug und eine Krawatte an. Vielleicht war er einer dieser Aussteiger? Ein Schmarotzer, ein Gigolo womöglich, der ahnungslose Frauen ausnutzte? Am
Ende war er sogar arbeitslos? Wie sollte er, Rhys, das nur herausfinden? Er kannte ja noch nicht einmal seinen Namen! Rhys überlegte fieberhaft hin und her. Er erwog, Sierra zu fragen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder, als er an ihr letztes Zusammentreffen dachte. Er könnte Izzy oder Chloe anrufen. Aber auch das war keine gute Idee. Er hatte Izzy letzte Woche beim Einkaufen getroffen, und obwohl sie normalerweise sehr gesprächig war, hatte sie ihm nur einen merkwürdigen Blick zugeworfen und kaum ein Wort gesagt. Chloe war ihm bei Zabar's über den Weg gelaufen. "Rhys, wie konntest du nur?" hatte sie entsetzt gefragt. Es wussten also alle Bescheid. Er könnte es ihnen erklären, aber eigentlich war das eine Sache, die nur ihn und Mariah etwas anging. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als Mariah selber zu fragen. Ja, er würde sie direkt fragen, ihr mitteilen, dass er sich Sorgen mache. Je länger Rhys darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm die Vorstellung. Also wartete er, bis Kevin gegangen war - nach Mitternacht, dachte er verärgert. Sobald er die Tür ins Schloss fallen hörte, kämmte er sich die Haare, stopfte sich das Hemd in die Hose und stieg die Treppe zu Mariahs Apartment hoch. Auf sein Klopfen hin öffnete sie fast sofort die Tür. "Hast du etwas vergessen ...? Oh." Ihr Lächeln erstarb. "Was willst du?" "Ich will wissen, wie er heißt." Sie sah ihn ungläubig an. "Was? Wer?" Rhys wies mit dem Kopf auf die Treppe, die Kevin kurz zuvor hinuntergegangen war. "Dein neuer Freund." Mariah sah ihn erstaunt an, ihre Wangen wurden rot. "Wie bitte?" fragte sie eisig. "Du hast mich schon richtig verstanden. Ich will wissen, wie Mr. Loverboy heißt. Und ob man ihm über den Weg trauen kann - schließlich ist er fast ständig bei dir! Was weißt du eigentlich über ihn? Hat er überhaupt eine Arbeit?"
"Verschwinde, Rhys." Sie wollte die Tür schließen, doch er schob schnell seinen Fuß dazwischen. "He, warte mal!" "Wie kannst du es wagen? Wie kommst du dazu, mich über etwas auszufragen, was dich rein gar nichts angeht?" "Ich bin immerhin dein Freund ..." "Freund?" Mariah schnaufte verächtlich. "Du willst weder mit mir noch mit dem Baby etwas zu tun haben und denkst immer noch, wir wären Freunde? Das kannst du nicht im Ernst glauben." "Ich will doch nur dein Bestes!" "Oh, sicher", erwiderte Mariah sarkastisch. "Ich möchte nicht, dass dich jemand ausnutzt..." "Ich habe genug von dir, Rhys. Verschwinde!" Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen die Tür, um sie zu schließen. Er wollte nicht, dass sie sich wehtat, und zog den Fuß zurück. Mit einem lauten Knall fiel die Tür ins Schloss. "Na gut", sagte er betont gelassen. "Dann heirate ihn doch! Ist mir doch egal." Dann drehte er sich um und lief die Treppe hinunter. "Dann heirate ihn doch!" Immer wieder hatte Mariah insgeheim die Szene mit Rhys durchgespielt. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass er das wirklich gesagt hatte. Zuerst hatte er alles über Kevin wissen wollen, und dann sagte er ihr im Weggehen, sie solle ihn heiraten! Das ergab doch überhaupt keinen Sinn! Nichts, was Rhys sagte oder tat, ergab Sinn. "Das ist wirklich merkwürdig", sagte Sierra. "Vielleicht hängt er doch mehr an dir, als er zugeben möchte." Noch vor einem Monat hätte auch Mariah Rhys' Verhalten als sicheres Zeichen dafür gewertet, doch mittlerweile wusste sie gar nicht mehr, was sie glauben oder hoffen sollte. Sie war sich nicht einmal mehr sicher, ob sie überhaupt noch etwas hoffen sollte.
"Ich kenne wirklich ein paar ganz tolle Typen, mit denen du dich mal treffen solltest", versuchte Sierra sie zu überreden. "Letzte Woche habe ich zum Beispiel einen bei einem Shooting im Central Park kennen gelernt. Er trug nur einen G-String und sah einfach fantastisch aus." Mariah rang sich ein Lächeln ab. "Vielleicht ein anderes Mal." Sierra blickte sie an. "Du hängst immer noch an diesem Idioten, stimmt's?" "Sieht ganz so aus", gab Mariah widerstrebend zu, denn schließlich erwiderte Rhys ihre Gefühle in keiner Weise. Oder doch? Rhys war froh, von zu Hause wegzukommen. Sobald er am Flughafen war, verspürte er eine unendliche Erleichterung. Er atmete tief durch. Sobald ein paar hundert Meilen zwischen ihm und New York liegen würden, hätte er sein inneres Gleichgewicht wieder gefunden. Er war auf dem Weg nach Houston, wo er an einem Spezialseminar teilnehmen würde. Danach wäre er endlich wieder er selber. Wenn er beruflich unterwegs war und andere Männer ausbildete oder, besser noch, an einem Einsatz teilnahm, konnte er sich ganz auf das konzentrieren, was er tat. Dann gab es für ihn nichts als die Gegenwart, und er konnte alle anderen Gedanken ausblenden. Zumindest war das früher immer so gewesen. Jetzt sah er im Flugzeug eine schwangere Frau und musste sofort an Mariah denken. Im Zeitungsständer entdeckte er die Zeitschrift, für die Mariah schrieb. Einer ihrer Artikel wurde auf der Titelseite angekündigt. Rhys erinnerte sich daran, wie sie an dem Bericht gearbeitet hatte. Mariah schien ihn geradezu zu verfolgen. Um sich abzulenken, kaufte Rhys eine SportFachzeitschrift, eine Wochenzeitung und einen Krimi.
Die Berichte über Baseball und Tennis waren nicht gerade spannend, ebenso wenig wie der Krimi - außerdem war die Hauptfigur eine schwangere Frau. Abends nach dem Seminar mietete er sich ein Auto und fuhr zum South Padre Island. Aber wieder musste er an Mariah denken, denn früher hatte er seine Freizeit immer mit ihr verbracht. Er fragte sich, ob ihr wohl noch immer morgens übel wurde. Und ob dieser Kevin immer noch Tag und Nacht bei ihr wäre. Am Ende der Woche war er froh, zum nächsten Seminar fahren zu können. Aber Santa Barbara bot auch nicht mehr Ablenkung als Houston. Rhys fragte sich plötzlich, ob er den Hahn in der Küche zugedreht hatte. Natürlich hatte er das! Er würde doch nicht weggehen und das Wasser laufen lassen! So etwas würde ihm nie passieren. Oder etwa doch? Er könnte Mariah bitten, in sein Apartment zu gehen und nachzusehen. Tolle Idee. Könntest du mal nachsehen, ob das Wasser seit zehn Tagen läuft? Aber wenn er es jetzt tatsächlich hätte laufen lassen, würde er den Rest seines Lebens damit verbringen, die horrende Wasserrechnung abzubezahlen. Er wählte also Mariahs Nummer. Mariah wirkte überrascht. "Rhys? Warum rufst du an? Ist etwas nicht in Ordnung?" "Nein", sagte er kurz angebunden und kam sich albern vor. "Es ist nur ... Der Klempner sollte vorbeikommen und etwas am Waschbecken in der Küche reparieren. Ich dachte, du ... du könntest vielleicht kurz runtergehen und nachsehen, ob alles in Ordnung ist." "Na gut, ich tue es", erwiderte sie. "Lass dir ruhig Zeit, ich melde mich wieder." In zehn Minuten musste sie es gut geschafft haben, dachte er. Und bei der Gelegenheit könnte er unauffällig erfragen, wie es ihr gehe.
"Es sieht nicht so aus, als wäre der Klempner schon da gewesen", berichtete Mariah, als er erneut anrief. "Zumindest sind keine neuen Teile eingebaut worden." "Vielen Dank, dass du nachgesehen hast", sagte Rhys und wechselte das Thema. "Wie ... wie geht es dir?" "Mir?" Seine Frage schien sie zu erstaunen. "Gut." "Wird dir immer noch schlecht?" "Nein." "Dann geht es dir jetzt also wieder besser?" Was für eine tolle Unterhaltung! "Ja, viel besser." Rhys wusste nicht mehr, was er noch sagen sollte. "Ich bin froh, das zu hören. Vielen Dank noch einmal. Bis dann." Du meine Güte, hatte er sich blöd angestellt! Wozu hatte er überhaupt angerufen? Was hatte es ihm genützt? Nichts. Rein gar nichts. Aber merkwürdigerweise konnte er in dieser Nacht besser schlafen. Das Baby in ihrem Bauch wurde zusehends größer. Als sie im vierten Monat war, passten Mariah ihre Jeans und Shorts nicht mehr - sogar dann nicht, wenn sie den Reißverschluss offen ließ. Chloes Bauch war im vierten Monat nicht annähernd so rund gewesen. Was war nur los? Abends aß sie mit Chloe und Gibson. Chloes Baby konnte nun jeden Tag kommen. Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, um trotz ihres Umfangs eine bequeme Sitzposition zu finden. "Ich brauchte erst lange nach dem vierten Monat Umstandskleider", sagte Chloe verwundert und betrachtete Mariah. Dann strich sie sich über den Leib. "Lange dauert es nicht mehr. Na Kleines, bist du so weit?" fragte sie das Baby in ihrem Bauch. "Was? Geht es los?" fragte Gibson erschrocken und sprang auf.
"Nein, noch nicht", beruhigte Chloe ihn lächelnd und nahm seine Hand. "Ich sage dir schon rechtzeitig Bescheid." Gibson atmete tief ein und setzte sich wieder. Er trank einen Schluck Bier und sagte zu Mariah: "Das macht sie die ganze Zeit. Sie weiß genau, wie aufgeregt ich bin - und sie findet das auch noch lustig!" Mariah musste lächeln. Es war lustig - und rührend zugleich. Ihr wurde immer warm ums Herz, wenn sie Gibson und Chloe und Finn und Izzy zusammen sah. Es war so viel Liebe und Harmonie zwischen ihnen. Finn und Gibson waren beide ehrgeizig und einander sehr ähnlich, ihre Frauen dagegen absolut verschieden - Izzy war verträumt, Chloe dagegen sehr praktisch veranlagt. Und doch waren beide Paare glücklich. Weil sie einander liebten. Um diese tiefe, gegenseitige Liebe beneidete Mariah sie. Sie lächelte wehmütig. Zu Hause angekommen, musste sie wieder an Rhys denken. Ihr war immer noch nicht klar, warum er bei ihr angerufen hatte. Dieses ganze Gerede über den Klempner! Wollte Rhys etwa kontrollieren, was sie tat? Beim Klingeln des Telefons schreckte Mariah aus dem Schlaf hoch. Sie sah auf den Wecker: Fünf Uhr siebenundvierzig. "Es ist ein Junge!" jubelte Gib. Erleichtert ließ Mariah sich in die Kissen zurücksinken. "Dreitausendeinhundertzwanzig Gramm schwer, vierundfunfzig Zentimeter groß. Die wenigen Haare, die er schon hat, sind blond. Und er hat Chloes Augen - sie sind veilchenblau!" Mariah lachte leise. "Er wird der Schwarm aller Mädchen sein!" Gib lachte ebenfalls. Er klang, als hätte er geweint. "Erst mal muss er noch etwas wachsen." "So lange werde ich aber nicht warten. Ich komme nachher vorbei und sehe ihn mir an. Wie geht es Chloe?"
"Gut." Er schien sehr erleichtert. "Sie war einfach großartig. Ich bin beim Zusehen schon fast gestorben, und sie hat noch nicht einmal mit der Wimper gezuckt - als ob Kinderkriegen die einfachste Sache der Welt wäre." Mariah hörte dem stolzen Ehemann und Vater zu und musste lächeln. Sie war sicher, dass Chloe mehr als einmal mit der Wimper gezuckt hatte und dass die Geburt für sie keinesfalls die einfachste Sache der Welt gewesen war. Allerdings bezweifelte sie nicht, dass ihre Freundin sich großartig gehalten hatte, und sie war froh, dass auch Gib sich dessen bewusst war. Aber schließlich liebte er Chloe über alles. Als Chloe im Jahr zuvor nach Iowa zurückgegangen war und er geglaubt hatte, sie würde Dave heiraten, war Gib am Boden zerstört gewesen. Jetzt war er überglücklich. "Sie sind wunderschön", erzählte er Mariah. "Alle beide." "Ich werde sie nachher besuchen", erwiderte Mariah. "Herzlichen Glückwunsch, Gib." Nachdem sie aufgelegt hatte, griff Mariah nach einem Kissen und drückte es an sich. Andere Frauen können sich im Bett an ihren Mann kuscheln, dachte sie wehmütig. Sie musste sich mit einem Kissen begnügen. Andererseits gab es viele allein erziehende Frauen, die ausgezeichnet zurechtkamen. Warum nicht auch sie? "Wir zwei halten zusammen", versprach sie ihrem Baby. "Gemeinsam werden wir es schon schaffen." Dabei strich sie sich zärtlich über den Bauch. Plötzlich bemerkte sie eine leichte Bewegung und zuckte erschrocken zusammen. Und wieder spürte sie es! "O nein!" Sie setzte sich kerzengerade hin, warf die Decke beiseite, legte sich beide Hände auf den Bauch und wartete eine ganze Weile, aber nichts passierte. Und dann war es wieder da. Eine ganz zarte Bewegung, wie von den Flügeln eines Schmetterlings. Mariah lachte auf und war mit einem Mal überglücklich. Sie fühlte sich nicht mehr allein. Unter Tränen
lächelte sie. "Ach Rhys", sagte sie leise, "du hast ja keine Ahnung, was du verpasst." Am Nachmittag fuhr Mariah zum Krankenhaus. Sie freute sich darauf, Brendan Gibson Walker, diesen neuen kleinen Menschen, kennen zu lernen. Er schlief in einem kleinen Bettchen in Chloes Zimmer und nuckelte an seiner Faust. Mariah beugte sich über ihn und betrachtete ihn. Seine Augenfarbe konnte sie nicht definieren, aber er hatte die hellen Haare seiner Mutter und die Nase seines Vaters. "Er ist wunderschön", sagte sie den stolzen Eltern. "Gib hat schon fast hundert Fotos von ihm gemacht", erzählte Chloe lachend. "Wozu hat man denn sonst eine Kamera?" verteidigte sich ihr Mann. Er zwinkerte Mariah zu, dann sah er seine Frau voller Liebe und Zärtlichkeit an. Wehmütig dachte Mariah daran, dass auch Rhys einmal ähnlich für eine Frau empfunden hatte. Ihr zog sich die Kehle zusammen, und sie schluckte. Sie beschloss, nicht daran zu denken, sondern sich lieber mit Gib und Chloe über die Geburt ihres Sohnes zu freuen. Brendan öffnete die Augen und gähnte. "Du meine Güte", sagte Mariah leise, "ihr werdet alle Mühe haben, die Mädchen von ihm fern zu halten." "Er ist bildhübsch, nicht wahr?" stimmte Chloe ihr zu. "Würdest du ihn mir bitte bringen?" Behutsam hob Mariah Brendan aus seinem Bettchen. Er war so winzig, so hilflos. Angstvoll fragte sie sich, ob sie wohl für einen kleinen Menschen würde sorgen können, der so abhängig von ihr war. Sie reichte ihn Chloe, die ihn an die Brust legte, wo er sofort zu trinken begann. Fasziniert betrachtete Mariah Mutter und Kind, als sie wieder eine Bewegung in ihrem Bauch verspürte.
Sie stieß einen überraschten Laut aus, und Gib und Chloe wandten sich zu ihr um. "Tritt das Baby dich schon?" fragte Chloe. Liebevoll betrachtete sie ihren Sohn. "Das konnte er auch ganz gut." "Es ist noch kein richtiges Treten", erwiderte Mariah. "Vermutlich ist es noch zu klein." "Ich war völlig überwältigt, als ich das erste Mal gemerkt habe, wie Brendan sich bewegt hat", sagte Gib. "Erst von da an war er für mich real." "Kein Wunder, ich war ja auch diejenige, der die Kleider plötzlich nicht mehr passten und der jeden Morgen schlecht wurde", erinnerte Chloe ihn. Die beiden lächelten sich an. Mariah blieb noch eine Weile. Dann stand sie auf, um zum Arzt zu gehen. "Zur Vorsorge. Heute wird eine Ultraschalluntersuchung gemacht." "Dann siehst du dein Kind ja heute zum ersten Mal", stellte Gib fest. Daran hatte Mariah noch gar nicht gedacht. Als sie das Zimmer verließ, lächelten Gib und Chloe sich immer noch liebevoll an. Noch nie war Rhys so froh darüber gewesen, ein Großfeuer löschen zu dürfen. Es hatte ihm nichts ausgemacht, mitten in der Nacht geweckt und von Santa Barbara nach Alaska geschickt zu werden. Im Gegenteil - er war froh über die Ablenkung und konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit, um seine Gedanken von Mariah abzulenken. Doch er konnte nicht verhindern, dass er nachts von ihr träumte. Rhys war gereizt und wütend auf sich selber. Er wollte nicht an sie denken, sondern sie vergessen! Aber es gelang ihm nicht. Das liegt daran, dass ich mir Sorgen um sie mache, redete er sich ein. Wenn er sicher wüsste, dass Kevin für sie und das Kind sorgen konnte und wollte, wäre er beruhigt. Aber er musste erst noch herausfinden, ob das der Fall war.
Rhys sah auf die Uhr. In New York musste es jetzt vier Uhr nachmittags sein. Schnell wählte er Mariahs Nummer, bevor er es sich anders überlegen konnte. Das Telefon klingelte lange, doch schließlich wurde der Hörer abgenommen. "Hallo?" meldete sich Mariah atemlos. "Ich bin es, Rhys", sagte er kurz angebunden. "Bist du gerade erst nach Hause gekommen?" "Ich ... ja ..." Sie verstummte. Er wartete, doch sie sprach nicht weiter. "Mariah? Alles in Ordnung?" "Ja." Toll, dachte Rhys, wieder so ein unglaublich spannendes Gespräch. Dann sagte Mariah plötzlich: "Ich habe heute gespürt, wie sie sich bewegen, Rhys." Sie schien völlig überwältigt zu sein. "Der Arzt hat heute eine Ultraschalluntersuchung gemacht, und da habe ich die beiden gesehen!" Erschrocken fragte Rhys: "Was willst du damit sagen?" Sie lachte - ein nervöses, aber glückliches Lachen. "Es sind Zwillinge!"
6. KAPITEL Zwillinge? Rhys war sprachlos. Er hatte eigentlich nur wissen wollen, ob dieser Kevin bereit und in der Lage war, dem Kind ein guter Vater zu sein. Und jetzt waren es auf einmal zwei Kinder? Rhys schnappte nach Luft. Zwillinge? Er konnte es nicht fassen. "Woher weißt du das?" fragte er heiser. "Ich habe es dir doch erzählt, ich habe sie bei der Ultraschalluntersuchung gesehen! Es war unglaublich. Sie haben sich bewegt ..." Mariah klang immer noch atemlos. Rhys konnte sich das nicht vorstellen, sosehr er es auch versuchte. Es hatte ihm völlig die Sprache verschlagen. "Ich habe erst erkannt, dass es zwei sind, als der Arzt mich darauf aufmerksam gemacht hat. Es war einfach überwältigend, sie zu sehen. Rhys?" fragte sie, als er nichts erwiderte. "Ja?" Er musste sich setzen. "Rhys, bist du nicht...? Nein, natürlich nicht." Plötzlich klang Mariah nur noch müde und resigniert. "Ich wünschte ..." Sie verstummte. Hätte er nur nicht angerufen! "Geht es dir gut?" "Ja, natürlich", erwiderte sie kurz angebunden. "Warum meldest du dich eigentlich?" "Was? Ach, nur so", antwortete Rhys schnell. Er konnte wohl kaum fragen, ob Kevin bereit war, wie ein Vater für das Kind zu
sorgen - jetzt, da er wusste, dass es zwei sein würden! "Ich bin seit drei Tagen in Alaska. Inzwischen haben wir das Feuer hier unter Kontrolle und ... na ja, ich dachte einfach, ich melde mich mal bei dir." Sie sagte nichts. Als ihm das Schweigen unangenehm wurde, fragte er: "Du denkst doch daran, meine Tomaten zu gießen, oder?" "Keine Angst, Rhys, ich vergesse deine Pflanzen nicht." Sie klang eisig. Wieder entstand eine Pause. Dann sagte Mariah: "Es hat geklingelt, ich muss jetzt auflegen." Bestimmt Kevin, dachte Rhys, doch er traute sich nicht zu fragen. "Gut. Pass auf dich auf, Mariah." "Ja", erwiderte sie kurz angebunden. Dann legte sie auf. Rhys saß eine Weile bewegungslos neben dem Telefon und grübelte. Zwillinge? Er konnte es immer noch nicht fassen. Er, der keinerlei Bindungen oder Verpflichtungen wollte, würde der Vater von zwei Kindern sein? Nein! Er blickte starr auf das Telefon. Vielleicht hatte er gar nicht bei ihr angerufen und das Ganze nur geträumt? Mehr als drei Wochen lang versuchte Rhys, sich einzureden, er habe das Ganze nur geträumt. Als der Einsatz in Alaska beendet war, wurde er nach Venezuela beordert. Bisher hatte es ihm nie etwas ausgemacht, wohin er geschickt wurde oder wie lange die Einsätze dauerten. Doch jetzt war er unruhig und aufgeregt, was ihn ungemein ärgerte. Er wollte sich keine Sorgen machen, er wollte frei und ungebunden bleiben! Dennoch wollte er nach Hause, um sich zu vergewissern, dass jemand für Mariah sorgte. Dann würde es ihm endlich besser gehen. Nach Venezuela wollte sein Chef ihn zu einem Einsatz in der Nordsee überreden. Zum aller ersten Mal lehnte Rhys ab und flog mit dem ersten Flugzeug nach Hause. Als er frühmorgens
ankam, fühlte er sich völlig erschöpft. Und wie immer wünschte er sich nichts sehnlicher, als ein kaltes Bier zu trinken und zehn Stunden zu schlafen. Doch zuerst musste er mit Mariah sprechen. Sie sah überrascht aus, als sie die Tür öffnete. Auch er war überrascht. Seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, war ihr Bauch unglaublich rund geworden. Sie sah aus, als würde sie unter dem T-Shirt einen Medizinball mit sich herumtragen. Ansonsten schien sie jedoch nur aus Haut und Knochen zu bestehen. "Du meine Güte, isst du denn gar nichts?" "Was? Doch, natürlich ... He, was hast du vor?" Rhys war bereits auf dem Weg in die Küche, wo er den Inhalt des Kühlschranks inspizierte. Käse, Eier, Sellerie, Paprika, Joghurt. Karnickelfutter, dachte er angewidert. "Dir wird nicht mehr übel, oder?" "Nein, aber ..." "Gut. Ich besorge uns ein schönes Steak. Komme gleich wieder." Er ging zur Tür. "Rhys!" Sie lief ihm hinterher. "Es ist halb zehn! Was erlaubst du dir eigentlich? Du kannst doch nicht einfach so in mein Apartment kommen und ..." "Und ob ich das kann", entgegnete er gelassen. "Hast du Kartoffeln?" "Nein, ich ..." "Dann bringe ich welche mit." Rhys fuhr zum Broadway und kaufte Steak, Kartoffeln - und Bier. Er nahm sich nicht die Zeit, zu duschen oder sich zu rasieren, sondern ging gleich wieder zu Mariah. "Das ist absolut nicht nötig", protestierte sie, als er sich mit seinen Einkäufen an ihr vorbei ins Apartment schob. "Doch, ich denke schon", widersprach Rhys. Er kannte sich in ihrer Küche gut aus und begann gleich mit dem Kochen. "Du
kannst schon mal den Tisch decken", rief er ihr über die Schulter zu. "Ich habe gerade gefrühstückt!" "Ich aber nicht." Rhys begann, die Kartoffeln zu schälen. Er hatte mit ihr geschlafen, und jetzt traute er sich kaum, sie anzusehen und sich so mit den Folgen ihrer Liebesnacht auseinander zu setzen. Er wollte nicht einmal daran denken. Mariah hatte den Tisch fertig gedeckt. Rhys spürte, dass sie ihn beobachtete. Am liebsten würde er alles ungeschehen machen, was zwischen ihnen vorgefallen war. Aber das war unmöglich. Er würde für sie sorgen, darauf achten, dass sie regelmäßig aß. Er würde für sie da sein, bis sie die Schwangerschaft überstanden hatte. Und dann? Dann würde er nichts mehr für sie tun können. Mariah verstand Rhys einfach nicht. Er war missmutig und entschlossen zugleich. Und ganz offensichtlich wünschte er sich, ganz woanders zu sein. "Geh weg", hatte sie ihm gesagt. An dem Morgen, als er unrasiert, mit zerzaustem Haar und Ringen unter den Augen in ihr Apartment gestürmt war, hatte sie ihn sicher zehn Mal aufgefordert, nach Hause zu gehen. Seitdem hatte sie es sicher ein gutes Dutzend Mal wiederholt. Er hatte nicht geantwortet oder reagiert. Und er war nie verschwunden. Offensichtlich dachte er, sie würde ohne ihn nicht zurechtkommen. "Ich brauche dich nicht", hatte sie erklärt, als er am dritten Abend hintereinander pünktlich um sechs auf ihrer Schwelle stand, um das Dinner zu bereiten. "Natürlich brauchst du jemanden", entgegnete er. "Wo ist eigentlich dieser Kerl?" "Wer?" "Dieser Kevin", sagte Rhys verächtlich.
"Er ist diese Woche in Cincinnati." Kevins Mädchen hatte ihrem Herzen endlich einen Ruck gegeben - oder zumindest hoffte er das. Er hatte Urlaub genommen und war nach Hause gefahren. "Zwei Kinder waren ihm wohl zu viel, was?" sagte Rhys verächtlich. "Ich habe noch nicht mit ihm darüber gesprochen", antwortete Mariah wahrheitsgemäß. "Das solltest du aber." "Damit du dich nicht mehr um mich zu kümmern brauchst?" Schweigend sah er sie an. "Du brauchst jemanden, der für dich da ist", brachte er schließlich heraus. Mrs. Alvarez lächelte ihm strahlend zu und nickte ermutigend, Wann immer er ihr auf dem Weg zu Mariahs Apartment über den Weg lief. Mariah dagegen schien weit weniger erfreut über seine Hilfsbereitschaft zu sein. Fast schon hatte er das Gefühl, sie wäre ihn gern los. Nichts lieber als das, dachte er. Wenn nur endlich dieser Kevin seinen Platz einnehmen würde! Eines Abends rief Rhys bei Mariah an, um ihr zu sagen, dass er heute einmal nicht für sie kochen, sondern sie stattdessen ins Restaurant einladen würde. Eine männliche Stimme meldete sich. "Hallo? Mit wem spreche ich?" "Mit wem spreche ich denn?" wiederholte Rhys bissig. "Kevin Maguire", erwiderte die Stimme nach einer kurzen Pause. "Und ich spreche mit...?" "Rhys Wolfe", antwortete er eisig. "Sagen Sie Mariah, dass ich sie um halb sieben zum Dinner abhole." "Das wird nicht notwendig sein. Mariah lässt ausrichten, dass sie und ich heute Abend zusammen essen gehen." "Was?" fragte Rhys entgeistert. Doch Kevin hatte bereits aufgelegt.
Wie konnte sie sich einfach mit diesem Kerl zum Dinner verabreden? Schließlich hatten er, Rhys, und sie seit seiner Rückkehr jeden Abend zusammen gegessen. Sie hatte ihm zwar gesagt, dass Kevin nur eine Woche lang fort sei, aber trotzdem ... Mit finsterem Blick sah Rhys Kevin und Mariah nach, als sie das Haus verließen. Er beschloss, wach zu bleiben, für den Fall, dass Mariah ihn anrufen würde, wenn Kevin mit ihr Schluss machte. Sie kam erst nach Mitternacht zurück, wie er verärgert bemerkte. Kevin war schon vor mehr als einer Stunde nach Hause gegangen, und noch immer hatte Mariah nicht angerufen. Auch am nächsten Morgen meldete sie sich nicht. Schließlich hielt Rhys es nicht länger aus und wählte ihre Nummer. "Was hat er gesagt?" fragte er ohne weitere Erklärungen, als sie den Hörer abnahm. "Wie bitte?" "Was hat dein Loverboy dazu gesagt, dass du Zwillinge erwartest?" "Er war begeistert." Rhys runzelte die Stirn. "Es hat ihn nicht abgeschreckt?" "Hattest du das gehofft?" "Nein!" Nach einer Weile sagte Mariah: "Dann kannst du ja jetzt beruhigt sein." Und dann legte sie auf. "Ich kann so oft vorbeikommen, wie du möchtest", bot Kevin ihr an. Sein Mädchen war sich zwar inzwischen fast sicher, dass er der Richtige war, doch sie zögerte noch immer. Mariah legte ihm die Hand auf die Schulter. "Es wird alles gut werden, sie braucht einfach noch Zeit", versuchte sie ihn zu ermuntern. Ihr war bewusst, wie wenig überzeugend das ausgerechnet aus ihrem Mund klingen musste. Kevin und sie verbrachten fast jeden Abend zusammen. Sie hatte es sich angewöhnt, nicht mehr zu Hause zu schreiben,
sondern im Büro - weil ihr, wie sie Kevin erzählte, sonst die Decke auf den Kopf fiele. Vor allem aber wollte sie Rhys nicht begegnen. Denn obwohl die Vernunft ihr sagte, dass sie allein zurechtkomme und ihn nicht brauche, sehnte sie sich nach ihm, wann immer sie ihn sah. Das feucht-heiße Wetter während der so genannten Hundstage machte ihr besonders zu schafften. Kein Hund, der etwas auf sich hält, geht bei dieser Hitze auf die Straße, dachte Mariah, Als Mariah sich eines Nachmittags bei über vierzig Grad im Schatten nach Hause schleppte, wünschte sie, sie wäre nicht zu Mooney Vaughans Probe in die Carnegie Hall gegangen. Mooney Vaughan, einer der berühmtesten Jazztrompeter Amerikas, hatte ihr vorgeschlagen, sich am Nachmittag mit ihr zum Interview zu treffen. Und da Mariah wusste, dass Kevin den ganzen Tag über zu tun hatte, und sie nicht allein zu Hause bleiben und womöglich Rhys über den Weg laufen wollte, hatte sie zugestimmt. Doch als sie am späten Nachmittag mit dem Bus nach Hause fuhr, bereute sie fast ihre Entscheidung. Der Bus blieb in einem gigantischen Verkehrschaos stecken, und natürlich war die Klimaanlage kaputt. Schließlich stieg sie aus und ging zu Fuß weiter. Als Mariah klar wurde, dass es viel weiter nach Hause war, als sie gedacht hatte, sah sie sich nach einem Taxi um, doch nicht ein einziges hielt an. Also marschierte sie langsam weiter. Zu Hause angekommen, war sie am Ende ihrer Kraft und musste sich auf die Treppe setzen, um sich auszuruhen. Plötzlich stand Rhys vor ihr. "He." Er sah frisch aus - und sehr attraktiv. Mariah fühlte sich dagegen verschwitzt und unansehnlich. Sie warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu und schloss dann die Augen. ' "Alles in Ordnung?" Sie öffnete die Augen nicht. "Nur ein bisschen kaputt", erwiderte sie kurz angebunden und spürte plötzlich eine kühle Hand auf der Wange. "Was machst du ...?"
Rhys nahm ihre Hand und zog Mariah hoch. "Komm." "Rhys!" protestierte sie, als er sie die Treppe hinunter und zu seinem Apartment führte. Als sie die angenehme Kühle der Klimaanlage auf ihrer erhitzten Haut verspürte, wehrte sie sich jedoch nicht mehr. Eine Minute konnte sie ja bleiben. "Setz dich." Er brachte sie zum Sofa und legte ihre Beine auf den Couchtisch. "Möchtest du etwas trinken? Wasser? Eistee? Saft?" "Wasser bitte." Sie versuchte, nicht so erschöpft zu klingen, wie sie sich fühlte. Innerhalb einer Minute hielt sie ein Glas mit Wasser und Eiswürfeln in der Hand. Sie sieht aus, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen, dachte Rhys. Zufällig hatte er gerade am Fenster gestanden, als sie nach Hause gekommen war. Sogar aus der Entfernung war ihm sofort aufgefallen, wie rot ihr Gesicht war und wie ungewöhnlich langsam sie sich bewegte. Als sie sich auf die Treppe gesetzt hatte, war er sofort zu ihr gerannt. "Du solltest besser auf dich aufpassen", sagte er. "Allein heute Nachmittag haben schon zweihundertsiebenundvierzig Leute einen Hitzschlag bekommen. Und ich möchte nicht, dass du Nummer zweihundertachtundvierzig wirst. Ich hole dir noch Wasser", fügte er hinzu, als er bemerkte, dass sie ihr Glas ausgetrunken hatte. Mariah versuchte aufzustehen. Doch Rhys versperrte ihr den Weg. "Du solltest noch ein bisschen sitzen bleiben. Oder wartet dein Loverboy auf dich?" Sie zuckte die Schultern. "Nein, Kevin kommt erst später vorbei." Vielleicht. Eigentlich war er sich nicht sicher gewesen, ob er überhaupt Zeit haben würde. Aber das brauchte Rhys ja nicht zu wissen. "Ich will dir nicht zur Last fallen." "Das wirst du aber, wenn du auf der Treppe in Ohnmacht fällst." "Ich werde doch nicht in Ohnmacht..."
"Ich habe heute Nachmittag einen Riesentopf Chili gekocht", fuhr er fort, ohne ihre Einwände zu beachten. "Wir könnten es zusammen essen." "Kevin..." "Kommt erst später. Und du siehst aus, als hättest du Hunger. Du musst mehr essen, Mariah. Und, mal ehrlich - hast du wirklich Lust, jetzt die ganze Treppe hinaufzugehen?" Mariah zögerte. Sie wollte sich nicht wieder Hoffnungen machen, die dann doch nur enttäuscht würden. "Du liebst doch Chili", unterbrach Rhys sie in ihren Gedanken. "Und dazu gibt es Salat. Mit Tomaten - frisch aus meinem Garten!" Verdammt, dachte sie, ich hasse es, wenn du so nett zu mir bist. "Und zum Nachtisch Schokoladeneis." Er wusste genau, dass sie nicht widerstehen konnte. "Schon gut", gab sie sich seufzend geschlagen. "Du hast gewonnen." Er lachte jungenhaft. "Möchtest du noch etwas trinken? Ein Bier?" "Nein, ich trinke keinen Alkohol." "Ach so, natürlich." Rhys betrachtete Mariahs Bauch, wandte den Blick aber schnell wieder ab, als könnte er den Anblick nur schwer ertragen. "Dann hole ich dir ein Glas Eistee." "Vielen Dank", sagte sie höflich. Bleib auf Distanz, ermahnte sie sich insgeheim. Sie faltete die Hände über dem Bauch und lächelte Rhys an. Sie sieht aus, als würde sie beim Zahnarzt im Wartezimmer sitzen, dachte Rhys wütend, als er in der Küche das Essen vorbereitete. Wie kam sie dazu, so unbeteiligt zu tun? Aber eigentlich konnte ihm das nur recht sein. Genau das wollte er doch. Oder?
Er schenkte Mariah Eistee ein und nahm für sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Nachdenklich rührte er das Chili um. Hatte er unbewusst vielleicht absichtlich zu viel gemacht, weil er sie zu sich zum Essen einladen wollte? Darüber mochte er gar nicht weiter nachdenken. Er trank einen Schluck Bier. Vielleicht hätte er lieber etwas Hochprozentigeres nehmen sollen. "Mit Zitrone, ohne Zucker?" rief er. Mariah antwortete nicht. Es war auch nicht nötig, denn er wusste genau, wie sie ihren Eistee am liebsten trank. Er nahm das Glas und ging ins Wohnzimmer. Mariah war eingeschlafen. Rhys betrachtete sie. Sie lag auf dem Sofa, die Augen geschlossen, die Arme über den Bauch gebreitet. Rhys lächelte und trat einen Schritt näher. Im Schlaf sah Mariah zart und verletzlich aus. Sie wirkte sehr jung, fast wie ein Kind. Jedenfalls nicht alt genug, um in wenigen Monaten Zwillinge zu bekommen! Zwillinge! "Großer Gott", sagte Rhys bei diesem Gedanken, und Mariah schreckte hoch. "Oh!" Schnell setzte sie sich aufrecht hin und faltete wieder die Hände über dem Bauch. "Entschuldigung ... ich ... die Hitze ... ich bin ein bisschen müde und da ..." Sie verstummte. "Hier ist der Eistee." Er reichte ihr das Glas und setzte sich dann ihr gegenüber in einen Sessel. "Wo warst du eigentlich heute? Bei einem Interview?" "Ja." Sie trank einen Schluck Tee und lehnte sich zurück. "Mit Mooney Vaughan." "Wow." Rhys war beeindruckt. Er und Mariah waren einmal gemeinsam bei einem Auftritt des bekannten Musikers in der Carnegie Hall gewesen. Er erinnerte sich, dass sie danach auf dem Empire State Building gewesen waren, noch ganz erfüllt von der Musik. Es war eine sternklare Nacht gewesen ... Er zwang sich, nicht mehr daran zu denken. "Hat er dir etwas vorgespielt?"
Mariah nickte lächelnd. "Ja. Das war wunderschön. Er ist genau wie seine Musik", fuhr sie fort. "So viel Energie, so viel Begeisterung. Er hat schwere Zeiten hinter sich, hat seinen Sohn und seine Frau verloren. Und dann sein Drogenproblem ... Aber er war so glücklich und ausgeglichen, gar nicht verbittert oder zynisch. Man merkte ihm den Schmerz an, wenn er über die Vergangenheit sprach, aber gleichzeitig war er voller Hoffnung." Mariahs sanfte graue Augen leuchteten, als sie es erzählte. Sie lächelte. Rhys kannte dieses Lächeln nur zu gut. Seit drei Jahren war es Teil seines Lebens, hatte ihn beruhigt und getröstet. Plötzlich lachte Mariah leise. Es klang sehr glücklich, und Rhys blickte überrascht auf. "Was ist denn?" Sie legte die Hände auf ihren gewölbten Leib. "Er hat meinen Bauch geküsst", erzählte sie. "Er sagte, das würde Glück bringen. Und dann hat er für die Babys ... für uns ... ein Lied gespielt." Mariah schluckte, und dann nahm ihr Gesicht einen ernsten Ausdruck an. Sie stellte das leere Glas auf den Tisch und wollte aufstehen. "Ich sollte wohl besser gehen", murmelte sie. Rhys verstellte ihr den Weg. "Nein", entgegnete er sanft, aber bestimmt. "Ich möchte, dass du bleibst." Sie sah ihn an. Ihre Blicke begegneten sich. "Bitte bleib hier, Mariah." Mariah blieb. Sie blieb, obwohl sie wusste, dass es ein Fehler war, denn in Rhys' Gegenwart würde sie nie ihre Hoffnungen aufgeben und aufhören, von all dem zu träumen, was sie nie bekommen würde. Doch wie immer, wenn er sie mit seinen tiefblauen Augen ansah, war sie wehrlos gewesen. Also blieb sie, und sie aßen gemeinsam. Rhys legte eine CD von Mooney Vaughan auf, die genau zu ihrer Stimmung passte
überglücklich im einen, wehmütig und melancholisch im nächsten Moment. Es gelang Mariah nicht, gelassen und distanziert zu bleiben, und sie bezweifelte, dass sie Rhys gegenüber wohl jemals gleichgültig werden könnte. Dafür kannte sie ihn schon zu gut und liebte ihn zu lange. Seit drei Jahren versuchte Mariah, gegen ihre Gefühle für Rhys anzukämpfen. Sie sagte sich, dass sie sich wacker hielt. Die Abende mit Kevin hatten ihr geholfen, sich abzulenken und mit anderen Dingen zu beschäftigen. Doch an Mariahs Gefühlen für Rhys hatte sich nichts geändert. Und auch Rhys' Gefühle hatten sich nicht geändert, dessen war sie sich sicher. Er war immer noch er selbst: unterhaltsam, witzig und klug - zumindest solange er sich entspannte und vergaß, was zwischen ihnen passiert war. Dass sie seine Kinder unter dem Herzen trug. Und immer wenn sein Blick ihren Bauch streifte, zog er sich zurück. Dann wusste Mariah, dass er sich erinnerte - nicht nur daran, dass sie von ihm schwanger war, sondern auch an das, was in der Vergangenheit lag: Erinnerungen an ein anderes Baby, an Menschen, die er geliebt hatte und die er nicht loslassen konnte. Mariah war den Tränen nahe, doch sie weinte nicht. Sie wechselte das Thema und versuchte, Rhys abzulenken. Und irgendwie überstand sie den Abend. Sie bedankte sich für das Essen und dafür, dass Rhys ihr die Tasche nach oben trug. "Pass auf dich auf, Mariah", sagte er. "Versprochen", erwiderte sie. "Bis bald", fügte sie gelassen hinzu, als wären sie wieder gute Freunde. Und vielleicht waren sie das auch. Doch nachts lag Mariah in ihrem Bett wach und weinte. Am nächsten Morgen konnte Rhys Mariah nirgends entdecken. Nicht dass er nach ihr gesucht hätte. Er saß nur deshalb am Fenster, weil das Licht dort hell genug war, so dass er das Kreuzworträtsel in der Times lösen konnte. Er sah, wie
Mrs. Alvarez vier Mal die Treppen hoch- und hinunterstieg. Dann sah er die Gillespies, die über Mariah wohnten, ihre Putzfrau und dann Consuelo, Mrs. Alvarez' Cousin. Aber Mariah war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich mal wieder mit Kevin unterwegs, dachte Rhys mürrisch und versuchte, sich auf sein Kreuzworträtsel zu konzentrieren. Schließlich gab er es auf. Er ging in seinem Apartment auf und ab und dann in seinen kleinen Garten, wo er einige reife Tomaten pflückte. Als er ein Geräusch hörte, drehte er sich um. Mariah war auf der Terrasse und hängte Wäsche auf. Sie war allein - keine Spur von Kevin. "He!" rief er ihr zu. "Ich bringe dir ein paar Tomaten vorbei." Er wartete nicht auf eine Antwort, ging zurück in sein Apartment und füllte eine Tüte mit Tomaten. Als Mariah ihm die Tür öffnete, drückte er ihr die Tüte in die Hand. "Eigentlich sind es mehr deine als meine ... Wenn du sie nicht immer gegossen hättest..." Schalkhaft fügte er hinzu: "Du hast ihnen das Leben gerettet!" "Erst rette ich ihnen das Leben, und jetzt soll ich sie essen? Findest du das nicht grausam?" "Das ist eben das Schicksal aller Tomaten." Sie sahen einander an, ohne etwas zu sagen. "Heute siehst du... wieder besser aus", sagte Rhys in die angespannte Stille hinein: "Nicht, dass du gestern nicht auch toll ausgesehen hättest", versicherte er ihr schnell. "Aber ..." Er verstummte. "Gestern habe ich furchtbar ausgesehen und mich auch so gefühlt. Vielen Dank für die Tomaten", erwiderte Mariah. Sie machte keine Anstalten, ihn hereinzubitten. Plötzlich zuckte sie zusammen. "Oh!" "Was ist los?" Sie lächelte. "Er ... oder sie ... hat mich getreten." Rhys blickte ihren Bauch an. Mariah zog das T-Shirt glatt. "Sieh doch mal."
Fasziniert beobachtete Rhys, wie die Bauchoberfläche sich ganz leicht bewegte. "Es sieht merkwürdig aus, nicht?" Rhys brachte kein Wort heraus. Plötzlich wurde er von Erinnerungen überwältigt. Als Sarah zum ersten Mal gespürt hatte, wie das Baby sich bewegte, hatte sie seine Hand genommen und auf ihren Bauch gelegt. "Spürst du es, Rhys?" hatte sie ihn aufgeregt und glücklich gefragt. Die Hand auf ihren Bauch gepresst, hatte er gespannt gewartet. Doch das Baby war noch zu klein gewesen, seine Bewegungen nicht zu erkennen. Enttäuscht hatte Rhys den Kopf geschüttelt. Sarah hatte ihn in die Arme genommen und getröstet. "Bald wirst du es spüren können, ganz bestimmt!" hatte sie ihm versichert. Aber es sollte nie passieren. Eine Woche später war Sarah tot gewesen. Rhys wandte den Blick von Mariahs Bauch ab. "Ich muss los." Die Vergangenheit ließ ihn nicht los, und die Erinnerungen zerstörten all die schönen Momente, die sie und Rhys erleben könnten. Am liebsten hätte Mariah die verdammten Tomaten aus dem Fenster geworfen. Oder Rhys in den Hintern getreten. Aber sie konnte ihm nicht einmal böse sein. Sie wusste, was er durchgemacht hatte, und verstand seine Trauer. Als Rhys ihr mit tränenerstickter Stimme von Sarah und dem Baby erzählt hatte, hatte sie den Schmerz in seinen Augen gesehen. Wie konnte sie jemandem böse sein, der einen solchen Verlust erlitten hatte? Und doch empfand sie es als ungerecht. Schließlich war es nicht ihre Schuld, dass Rhys die Frau, die er liebte, und sein ungeborenes Kind verloren hatte! Aber sie war schuld daran, dass er nun wieder Vater wurde.
"Ich bin es nicht allein", murmelte Mariah trotzig. Aber wenn sie an jenem Abend nicht zu ihm gegangen wäre ... wenn sie ihn nicht in die Arme geschlossen hätte ... wenn sie ihn nicht so geliebt hätte ... Plötzlich trat eines der Babys sie. Und sie erinnerte sich, dass es zu spät war, sich darüber Gedanken zu machen. Sie strich sich über den Bauch. "Ich bin froh, dass ihr da seid", versicherte sie ihren ungeborenen Kindern. "Und ihr dürft mich ruhig treten, wenn es nötig ist, mich daran zu erinnern."
7. KAPITEL Rhys flog zu seinem nächsten Einsatz. Gleich am nächsten Tag hatte er seinen Chef angerufen. "Werde ich irgendwo gebraucht?" Er packte eilig seine Sachen zusammen, und noch vor Mitternacht war er auf dem Weg in die Türkei. Nachdem er bereits drei Tage dort war, rief er Dominic an, um ihm zu sagen, dass er heil angekommen sei. "Wo bist du? In der Türkei? Und warum rufst du mich an?" Ja, warum eigentlich? Das hatte er, Rhys, noch nie getan. "Weil... hm ... nur für den Fall, dass etwas passiert ... mit Dad, meine ich", erwiderte Rhys stockend. "Du meinst, falls ich ihn erwürgen sollte?" "Ist er so schlimm?" "Schlimmer. Jede Woche stellt er mir eine andere Frau vor. Er bringt sie sogar mit ins Büro. Ich komme schon gar nicht mehr zum Arbeiten. Vielleicht sollte ich mich selber mal nach einer umsehen." "Zum Heiraten?" "Vielleicht", antwortete Dominic zu Rhys' Überraschung. "Wenn wir einander mögen würden. Kennst du vielleicht eine allein stehende Frau, die infrage käme?" "Nein." "Das glaube ich nicht. Ein Draufgänger wie du muss doch an jedem Finger zehn haben." "Keine, die du heiraten könntest."
"Wie steht es denn mit deiner Nachbarin?" "Mariah?" Plötzlich war Rhys sehr angespannt. "Ja, genau. Sie würde den alten Herrn zum Schweigen bringen. Ich hätte nichts dagegen, sie zu heiraten." "Nein!" Rhys' heftige Reaktion machte Dominic sprachlos. Nach einem kurzen Schweigen sagte er: "Aha, so ist das also." "Nein, es ist nicht, wie du denkst", widersprach ihm Rhys schnell. "Es ist nur ..." Er verstummte, denn er konnte nicht gut zugeben, dass sie schwanger war - dann würde Dominic fragen, wer der Vater sei. Womöglich würde Dominic es sogar fertig bringen, ihrem Vater alles zu erzählen, um sich selbst ein wenig aus der Schusslinie zu rücken! "Ich finde nur, dass Mariah etwas Besseres verdient hat als eine Vernunftehe." "Und du hast gar kein Interesse an ihr?" "Für mich gibt es nur eine Frau." Wieder entstand ein Schweigen. Dann sagte Dominic: "Sarah ist jetzt schon so lange tot, Rhys. Und sicher würde sie nicht wollen ..." "Ich habe kein Interesse", unterbrach Rhys ihn barsch. "Und ich habe keine Lust, darüber zu reden." "Schon gut", erwiderte Dominic beschwichtigend. "Du brauchst mir nicht gleich den Kopf abzureißen." "Dann lass mich damit in Ruhe. Und vergiss Mariah." Dominic soll sich von Mariah fern halten, dachte Rhys. Doch warum er so heftig reagiert hatte, als sein Bruder über sie gesprochen hatte, darüber wollte er lieber nicht allzu genau nachdenken. Rhys war fort. Einfach so. Gestern war er noch da gewesen, und jetzt war er einfach weg. Zuerst hatte Mariah gedacht, er würde ihr wieder aus dem Weg gehen. Doch dann bemerkte sie, dass seine Tomaten schon
seit einiger Zeit nicht mehr gegossen und die Jalousien nie hochgezogen wurden. Er war also weg. Zur Hölle mit ihm, dachte Mariah wütend und vertiefte sich in ihre Arbeit. Sie hatte den Artikel über Mooney Vaughan fertig geschrieben und ihrer Chefin Stella gesagt, dass sie jeden Auftrag annehmen würde. Zwei Tage später rief Stella an. Kurze Zeit darauf fuhr Mariah nach Cape Cod, um Simon Hollingworth zu interviewen, einen bekannten Designer und Architekten, der zahlreiche moderne Gebäude an der Ostküste gebaut hatte. Sie sah sich das Projekt an, an dem er derzeit arbeitete. Dann reiste sie nach Block Island, Maine und Virginia, um andere seiner Bauten zu besichtigen. Sie war fasziniert, und für viele Stunden gelang es ihr, Rhys aus ihren Gedanken zu verdrängen. Wieder zu Hause angekommen, versuchte sie, sich ins Schreiben zu vertiefen. Es fiel ihr schwer, und nicht nur wegen Rhys. Ihr mittlerweile sehr großer Körperumfang machte es ihr schwer, bequem am Computer zu sitzen. Außerdem entwickelten die Babys eine unglaubliche Aktivität und fingen an, Mariah zu treten, wann immer sie sich zum Arbeiten an den Schreibtisch setzte. Sie machte lange Spaziergänge, um sie zu beruhigen. Manchmal begleitete Kevin sie, und sie unterhielten sich über seine Freundin, die Babys oder die Artikel, die Mariah gerade schrieb. Über Rhys sprachen sie nie. Sie versuchte, nicht an ihn zu denken. Doch sie konnte nicht ständig arbeiten oder spazieren gehen. Irgendwann musste sie auch einmal schlafen. Aber das fiel ihr schwer, denn die Babys schienen es sich in den Kopf gesetzt zu haben, die Nächte mit Kickboxen zu verbringen. "Du siehst völlig kaputt aus", sagte Sierra bei einem ihrer Besuche. "Und klapprig - wie ein Halloween-Gespenst."
"Vielen Dank! Wie kann ich denn klapprig sein, wenn ich für drei esse?" "Das mag vielleicht für deinen Bauch gelten - er sieht aus wie ein gestrandeter Wal. Du selbst bist furchtbar dünn. Schade, dass Rhys die beiden nicht eine Weile mit sich herumschleppen kann." Offensichtlich wollte Sierra wissen, wie es mit Rhys stand. Mariah ging jedoch nicht darauf ein. Als sie keine Antwort bekam, wurde Sierra deutlicher: "Hast du mal wieder etwas vom Vater der Babys gehört?" "Er ist bei einem Einsatz." "Aber hat er wenigstens angerufen? Hat er überhaupt eine Ahnung, wie schlecht du aussiehst?" "Von mir weiß er es jedenfalls nicht!" "Also hat er sich nicht gemeldet." Sierra kannte ihre ältere Schwester gut genug, um das herauszuhören. Sie sah Mariah an. "Vielleicht solltest du etwas weniger arbeiten." "Nein." "Warum nicht?" "Von irgendetwas muss ich ja schließlich leben!" "Rhys..." "Ich will kein Geld von Rhys! Außerdem liebe ich meine Arbeit, und ich weiß, dass viele Leute sich auf meine Artikel freuen. Das hat Stella mir gerade erst gestern bestätigt." "Wann kommt Rhys wieder?" Mariah zuckte die Schultern. "Ich weiß es nicht, und es interessiert mich auch nicht." "Jemand sollte wirklich ein bisschen Verstand in eure hübschen Köpfchen hineinprügeln", sagte Sierra unverblümt. "Ihr benehmt euch einfach idiotisch! Rhys will nichts mit seinen eigenen Kindern zu tun haben, und du lässt ihm das auch noch durchgehen! Die Babys ..." "Denen geht es gut. Und jetzt hör damit auf. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen - du klingst ja schon wie Mom!"
Normalerweise hätte dieser Vergleich Sierra zum Schweigen gebracht. Doch diesmal hatte Mariah damit kein Glück. "Mom macht sich also auch Sorgen um dich? Na, damit hat sie ausnahmsweise einmal Recht!" Solange Rhys arbeitete, musste er nicht nachdenken. Und nach der Arbeit war er meistens so müde, dass er nur noch ein Bier mit einem seiner Kollegen trank und dann erschöpft ins Bett fiel. Und jede Nacht hatte er diese Träume. Rhys träumte von Sarah und ihrem gemeinsamen Leben. Glückliche Erinnerungen an die Kindheit, ihre Verlobung, den Tag ihrer Hochzeit überwältigten ihn, sobald er einschlief. Und immer wenn er aufwachte, fühlte er sich einsam und verspürte Sehnsucht. Doch noch schlimmer war es, wenn er von Mariah träumte wie sie ihm zärtlich zulächelte und ihn berührte. Im Traum begehrte er sie mit seinem Herzen und seinem Körper, und er streckte die Arme nach ihr aus, um sie an sich zu ziehen. Aber dann sah er wieder Sarah vor sich, wie sie sich immer weiter und weiter von ihm entfernte. Und an dieser Stelle wachte er jedes Mal auf. Mariah war müde. Sie war nicht nur müde, sondern am Ende ihrer Kräfte. Gemeinsam mit Sierra hatte sie diese Woche den Raum, der als Kinderzimmer dienen sollte, tapeziert und gestrichen. Sie hatte zwei Kinderbetten und eine Wickelkommode gekauft und Gardinen genäht. Doch Mariah war nicht wegen der körperlichen Anstrengung oder auf Grund des Schlafmangels müde, sondern weil sie sich Tag und Nacht Sorgen machte. Sie hatte Angst, dass sie nicht in der Lage sein würde, allein für die Babys zu sorgen. Wie sollte sie arbeiten, wenn die beiden Kinder erst einmal auf der Welt wären? Nun, spätestens in sechs Wochen würde es sich zeigen.
Noch brauchte sie sich nicht um die Babys zu kümmern, doch nach der Geburt würde sie sie mehrmals am Tag stillen müssen. Und auch wenn die Kickboxer ihr den Schlaf raubten, so waren sie doch jetzt zumindest noch ruhig. Später würden sie schreien. Sie würde sie besänftigen und wickeln, Wäsche waschen, einkaufen, Mahlzeiten zubereiten, das Apartment putzen müssen - all das neben ihrer Arbeit. Und würde sie dann überhaupt noch reisen können? Wie sollte sie mit den Babys nach Martha's Vineyard oder nach Newport fahren? Wie sollte sie das alles nur schaffen? Mariah war krank vor Sorge. Rhys hatte ihr zwar angeboten, sie finanziell zu unterstützen, doch obwohl sie ihm dankbar dafür war, konnte sie das nicht annehmen. Sie wollte allein für sich und die Kinder aufkommen. Doch sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte. Um wenigstens etwas vorzusorgen, arbeitete Mariah so viel wie möglich. Und Stella war begeistert. "Je mehr Artikel, desto besser!" ermunterte sie Mariah. "Ich werde sie aufheben und nach und nach veröffentlichen." Und so stürzte sich Mariah in ihre Arbeit, während die Babys weiter Kickboxen übten. Es war ein ungewöhnlich warmer Tag im November. Mariah hatte tagsüber auf ihrer Terrasse gearbeitet, und abends kam Kevin, um sie zum Dinner abzuholen. Sie hatte am Vortag einen Pianisten interviewt, der im sechsten Stock eines ehemaligen Lagerhauses wohnte. Da der Fahrstuhl kaputt war, hatte sie mitsamt ihrer Tasche und dem Kassettenrekorder die Treppen hinaufsteigen müssen, und noch jetzt tat ihr der Rücken weh. An diesem Morgen hatte sie arbeiten wollen, aber die Babys hatten wie wild um sich getreten und sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Schließlich hatte Mariah sich um die Blumenkästen gekümmert und dann einen Spaziergang gemacht. Doch sie traten nach wie vor um sich.
"Möchtest du vielleicht lieber zu Hause bleiben?" fragte Kevin, als er Mariah abends abholen kam. "Nein, es geht schon", erwiderte sie. Es würde ihr gut tun, auszugehen. Zumindest war es besser, als hier zu bleiben und sich den Kopf zu zerbrechen, während die Babys in ihrem Bauch einen Riverdance aufführten. Sie gingen in ein kleines, ruhiges italienisches Restaurant. Mariah versuchte sich darauf zu konzentrieren, was Kevin ihr erzählte. Doch sie hatte starke Rückenschmerzen und konnte nicht sitzen. Dann spürte sie auf einmal ein Ziehen im Unterbauch. "Alles in Ordnung?" fragte Kevin. Mariah nickte. Irgendetwas stimmt nicht mit den Kickboxern, dachte sie. Sie stand auf und ging zur Toilette, wo die Kontraktionen regelmäßig alle drei Minuten auftraten. Zitternd kehrte sie nach zehn Minuten zum Tisch zurück. "Was ist los?" fragte Kevin besorgt. "Ich glaube, die Babys kommen." "Nein", sagte Mariah entschlossen. Sie blickte ihre Schwester grimmig an und sagte es noch einmal. Seit Sierra am vorigen Abend zu ihr und Kevin ins Krankenhaus gekommen war, hatte sie es immer und immer wieder gesagt. "Nein, Sierra, ich weiß nicht, wo Rhys ist. Ich weiß auch nicht, wie man ihn erreichen kann. Und ich will ihn auch gar nicht benachrichtigen!" "Aber du musst es tun", entgegnete Sierra. Sie stand neben Mariahs Bett und blickte ihre ältere Schwester an, während diese versuchte, an schöne und beruhigende Dinge zu denken, um sich zu entspannen, wie der Arzt es ihr geraten hatte. Doch unter Sierras strengem Blick war das nicht so einfach. "Wozu sollte es gut sein, wenn ich es ihm erzähle?" erwiderte Mariah. "Außerdem würde er es gar nicht wissen wollen. Er will sich bestimmt nicht damit auseinander setzen, wenn mir oder
den Babys etwas passiert." Sie seufzte. "Ihm ist so etwas schon einmal passiert", fügte sie erklärend hinzu. Sierra wusste nichts von Sarah und dem Baby. Rhys wollte nicht, dass sie, Mariah, es jemandem erzählte, und bisher hatte sie auch keinen Grund gehabt, sich diesem Wunsch zu widersetzen. Aber Mariah wusste, dass Sierra ihr keine Ruhe lassen würde. Also erzählte sie ihr in knappen Worten von Rhys' Frau und dem Baby, das sie erwartet hatte, von ihrem Tod, für den Rhys sich noch immer verantwortlich fühlte, und dass es ihm deshalb unmöglich war, die Vergangenheit zu vergessen. "Deshalb möchte Rhys sich nicht an jemanden binden." Mariah lächelte schwach. "Das ist keine Entschuldigung. Für mich ist er immer noch ein verdammter Egoist", beharrte Sierra und ging aufgebracht im Zimmer hin und her. "Dass er seine Frau verloren hat, rechtfertigt noch lange nicht, dass er sich dir gegenüber wie ein Schuft verhält." "Du verstehst das nicht", erwiderte Mariah verzagt. "Allerdings nicht!" Sierra war wütend. "Du brauchst jemanden, der für dich sorgt - und nicht umgekehrt!" "Ich sorge ja auch gar nicht für Rhys. Ich habe lediglich gesagt, dass ich ihn nicht brauche! Ich brauche niemanden", erwiderte Mariah beschwichtigend. Sie versuchte, ruhig und entspannt zu klingen. Doch Sierra nahm ihr das nicht ab. "Blödsinn", sagte sie unverblümt. "Du brauchst unbedingt Ruhe und Erholung - und jemanden, der dich verwöhnt." Wieder wanderte sie umher. "Du machst mich nervös", erklärte Mariah. "Warum verschwindest du nicht und lässt mich in Ruhe schlafen?" Sierra blieb unvermittelt stehen. "Entschuldigung." Sie sah zerknirscht aus. "Du hast Recht. Versuch zu schlafen. Ich bin im Zimmer nebenan, wenn du mich brauchst." "Du musst nicht hier bleiben."
"O doch. Und du solltest jetzt besser schlafen, denn ich habe keine Lust, mich mit dir darüber zu streiten." Mariah wusste, wann sie nachgeben musste. Sie lächelte, während Sierra ihr einen Kuss gab. Als ihre Schwester das Zimmer verlassen hatte, betete Mariah, dass mit den Babys alles in Ordnung sein möge. Seit Kevin sie am vergangenen Abend ins Krankenhaus gefahren hatte, hatte sie darum gebetet. Man hatte ihren Arzt gerufen, der sie mit gerunzelter Stirn untersucht hatte, während Mariah ihn, blass und mit angstvoll geöffneten Augen, beobachtet hatte. "Ist mit mir ...? Ist mit den Babys ...?" Schließlich hatte der Arzt sie über den Rand seiner Brille hinweg ernst angesehen und gesagt: "Sie sollten sich von nun an lieber schonen, meine Liebe." "Das werde ich", versprach sie schnell. "Aber ... ist mit den Babys alles in Ordnung?" "Ja. Wir müssen nur dafür sorgen, dass die Wehen aufhören." Er hatte darauf bestanden, dass Mariah bis zum nächsten Tag zur Beobachtung im Krankenhaus blieb. Sie hatte die ganze Nacht vor Sorge kein Auge zubekommen und vergeblich versucht, sich zu entspannen. Kevin hatte Sierra angerufen, und die beiden hatten die Nacht an Mariahs Bett verbracht. Gegen Morgen wurden die Kontraktionen immer schwächer und unregelmäßiger. Der Arzt war zufrieden, als er Mariah noch einmal untersuchte. Dann sah er sie streng an und sagte: "Von jetzt an müssen Sie besser auf sich aufpassen." Mariah versprach es ihm. "Eine ganze Woche Bettruhe. Wenn es Ihnen dann besser geht, können Sie wieder aufstehen. Aber Sie dürfen sich auf gar keinen Fall überanstrengen." "Versprochen." Doch der Arzt gab sich damit nicht zufrieden. "Wie ich höre, arbeiten Sie sehr viel." Das hatte er sicher von Sierra erfahren.
"Ich werde damit aufhören." "Ich weiß, wie schwer das fällt", fuhr der Arzt fort. "Aber Sie müssen sich wirklich schonen. Ruhen Sie sich aus. Schlafen und essen Sie viel. Dann brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen." "Wolfe? Telefon für dich", hörte Rhys eine Stimme im Dunkeln sagen. In Singapur war es mitten in der Nacht. Oder war er in SaudiArabien? Taiwan? Es würde ihm sicher wieder einfallen, wenn er erst einmal richtig aufgewacht wäre. Dann erinnerte er sich, wo er war. In der Türkei. Wer, um alles in der Welt, sollte ihn hier anrufen? Mariah? Er stürzte aus dem Bett und den dunklen Flur entlang. "Danke, Blake", murmelte er und ging zum Telefon. "Mariah?" fragte er, ohne sich zu melden. "Fast", hörte er Dominic antworten. Rhys umklammerte den Hörer und hielt die Luft an. "Was ist passiert? Ist sie ...?" "Ihr geht es wieder gut." Erleichtert atmete er aus und lehnte sich gegen die Wand. "Aber warum rufst du dann an? Woher weißt du ...?" "Ich hatte netten Besuch." "Von Mariah?" "Nein, von ihrer Schwester. Du hast mir nicht gesagt, dass Mariah schwanger ist", fuhr Dominic vorwurfsvoll fort. "Und ebenso wenig wusste ich, dass du ... nun, nicht ganz unbeteiligt daran bist." "Was ist mit ihr los?" "Sie hatte Wehen und musste ins Krankenhaus, aber ..." "Was? Jetzt schon? Geht es ihr gut?" "Ja, es geht ihr gut", beruhigte Dominic ihn. "Sie musste die Nacht über im Krankenhaus bleiben, aber jetzt ist sie wieder zu Hause. Der Arzt meinte, sie solle es als Warnung verstehen und sich von nun an schonen."
"Das sollte sie allerdings", murmelte Rhys. Hatte er ihr das nicht die ganze Zeit gesagt? "Sie soll im Bett bleiben und die Beine hochlegen. Diese lilahaarige Furie glaubt allerdings nicht, dass Mariah das tun wird." "Du hast mit Sierra gesprochen? In deinem Büro?" "Ich würde eher sagen, dass sie mit mir gesprochen hat", berichtigte Dominic ihn. "Besser gesagt, sie hat mir eine Standpauke gehalten, nachdem sie durch das Vorzimmer gerast war und meine Sekretärin über den Haufen gerannt hatte. Dann hat sie nach meinem Schlips gegriffen und mir gedroht, einen bestimmten Körperteil damit zu strangulieren, wenn ich nicht umgehend dafür sorgen würde, dass du deine verdammte Pflicht tust: nach Hause zu kommen und dich um ihre Schwester zu kümmern." "Wow. Ich bin schon auf dem Weg", fügte er hinzu. "Freut mich zu hören, Dad", sagte Dominic lakonisch und legte auf. Dad, hatte Dominic gesagt. Rhys hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Ihn beschäftigte nur noch, wie er auf dem schnellsten Wege zu Mariah kommen konnte. Seinem Chef teilte er mit, es handele sich um einen Notfall in der Familie. Dann nahm Rhys die nächste Maschine nach London. Von dort aus flog er weiter nach New York. Rhys hatte keine Ahnung, wie spät es war. Ohne nachzudenken, stieg er aus dem Taxi, ließ seine Tasche vor seiner Wohnungstür fallen und rannte die Treppe hinauf. Dann hämmerte er wie wild an Mariahs Tür. Als niemand öffnete, geriet er in Panik. War sie etwa im Krankenhaus und bekam doch schon die Babys? Würden sie bei einer so verfrühten Geburt wohl überleben können? Würde Mariah das überstehen? Wieder hämmerte er gegen die Tür. "Mach, verdammt noch mal, auf!" Endlich hörte er, wie aufgeschlossen wurde. Er
erwartete, Sierra zu sehen, doch es war Mariah. "Was machst...?" Rhys schob die Tür auf und ging hinein. Mariah trug Shorts und ein weites Sweatshirt. Seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, war ihr Bauch noch runder geworden. "Warum bist du nicht im Bett und ruhst dich aus?" fragte er vorwurfsvoll. Verärgert blickte sie ihn an. "Irgendein Idiot hat wie wild geklopft", erwiderte sie trocken. "Ich dachte, Sierra wäre bei dir. Wie kommt sie dazu, dich einfach allein zu lassen?" "Wie bitte?" "Du gehst jetzt wieder ins Bett", kommandierte Rhys, indem er sie zum Schlafzimmer zog. "Du brauchst absolute Ruhe." "Wer sagt das?" "Sierra. Und der Arzt. Und mein Bruder." "Dominic?" Ungläubig sah sie ihn an. "Was hat er damit zu tun?" "Er hat mich angerufen, weil Sierra gedroht hat, ihn zu entmannen, wenn er mich nicht informieren würde." "Ich bringe sie um!" "Nein, das wirst du nicht tun. Du darfst dich nicht körperlich anstrengen. Und jetzt leg dich endlich hin." Seufzend gab sie nach. "Hör auf, mich herumzukommandieren", sagte sie. "Ich wünschte, Dominic hätte dich nicht angerufen." "Es war ganz richtig, dass er es getan hat", widersprach Rhys, nachdem Mariah sich aufs Bett gesetzt hatte. "Und jetzt tu, was ich gesagt habe." "Ich will nicht." Ohne auf ihren Protest zu achten, hob er ihre Füße aufs Bett und ließ sich dann neben sie sinken. "Rhys!"
"Hm?" Er legte einen Arm um sie, um zu verhindern, dass sie wieder aufstand. "Was tust du hier eigentlich?" "Ich kümmere mich um dich", murmelte Rhys. Er war todmüde. Mariah versuchte, sich zu befreien. "Ich brauche niemanden", entgegnete sie. "O doch." Er drehte sich auf die Seite und zog Mariah an sich. Sie fühlte sieh gut an. Plötzlich wurde er getreten. Er schrak zusammen. "Was, um alles in der Welt...?" "Du hast sie gedrückt, das mögen sie nicht", sagte Mariah. "Sie? Was? Oh!" Er lockerte seinen Griff und legte ihr eine Hand flach auf den Bauch. Dann spürte er sie wieder. Die Babys. Seine Babys. Schnell verdrängte Rhys den Gedanken. Darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Er war jetzt bei ihr. Das war genug. "Tun sie das immer?" flüsterte er. "Nicht immer. Manchmal schlafen sie auch." "Gut." Er schmiegte sich an sie. "Gott sei Dank." "Rhys!" Doch er war bereits eingeschlafen.
8. KAPITEL Er war eingeschlafen! Rhys war in ihr Apartment gestürzt, hatte sie praktisch gezwungen, sich hinzulegen, und war dann einfach neben ihr eingenickt! Mariah betrachtete Rhys, der den Arm noch immer um sie gelegt hatte. Er sah erschöpft aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Wie lange war er wohl unterwegs gewesen? Und wie kam es, dass er von Gott weiß welcher abgelegenen Ecke dieser Erde hierher kam, um sie, Mariah, herumzukommandieren - obwohl er doch nichts mit den Babys zu tun haben wollte? Er hatte doch wohl nicht wirklich geglaubt, dass Sierra ernst machen und seinen Bruder entmannen würde? Bei diesem Gedanken musste Mariah lächeln. Sie kannte Dominic. Er war nicht leicht einzuschüchtern - nicht einmal von einer Furie mit lila Haaren. Vielleicht steckte Dominic hinter all dem. Das war durchaus möglich, denn er hatte einen ausgeprägten Familiensinn. Mariah wusste, dass er vor langer Zeit sogar fast seinem Vater zuliebe geheiratet hätte. Dominic nahm Familienangelegenheiten sehr ernst. Und er war wohl der Meinung, dass Rhys dies auch tun sollte. Offensichtlich teilte Sierra diese Meinung. Mariah konnte sich nicht erklären, woher ihre Schwester Rhys' Bruder kannte. Aber sie wusste, dass Sierra Himmel und Erde in Bewegung
setzen konnte, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Sie seufzte. "Hm?" murmelte Rhys schlaftrunken und legte Mariah einen Arm um die Taille - als würde sie zu ihm gehören. Die Kehle zog sich ihr zusammen. "Verdammt", sagte sie leise, "warum musstest du zurückkommen?" "Schlafen ..." Rhys war wieder eingenickt. Sie seufzte, lehnte sich zurück und schmiegte sich an ihn. Seine Hand glitt von ihrem Bauch zu ihren Brüsten. Mariah führte sie an ihre Lippen und legte sie wieder auf ihren Bauch. Dann schlief sie ein. Mit dem ersten Sonnenstrahl wachte Rhys auf. Das passierte ihm häufig, wenn seine innere Uhr aus dem Gleichgewicht gebracht war. Er wusste nicht, wo er war, bis er sich umdrehte und mit einem warmen, weichen Frauenkörper zusammenstieß. Er öffnete die Augen ein bisschen, und plötzlich fiel ihm alles wieder ein: Wie Dominic ihn angerufen hatte, wie er überstürzt abgereist war. Und wie er schließlich am vergangenen Abend hier angekommen war. Er war so froh gewesen, sie gesund und munter anzutreffen. Obwohl er es nicht wollte, hatte er sich Sorgen um sie gemacht. Und das würde er auch weiterhin tun, bis die Babys auf der Welt waren und Mariah wieder ein normales Leben führen konnte. Danach würde er wieder frei sein. Doch bis dahin musste er sich um sie kümmern. Er betrachtete Mariah, die schlafend neben ihm lag. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und sah blass und erschöpft aus. Sie machte sich zu viele Sorgen, arbeitete zu hart und mutete sich allgemein zu viel zu. Das hatte zumindest Dominic gesagt. Von nun an würde er, Rhys, für sie sorgen. Er würde seine Pflicht erfüllen, genau wie er es versprochen hatte. Danach würde er wieder gehen. "Ich verstehe nicht, warum du überhaupt mit zum Arzt kommen willst", grummelte Mariah. Sie versuchte gerade, sich
die Schuhe anzuziehen - kein leichtes Unterfangen, wenn man vor lauter Bauch nicht einmal seine Füße sehen konnte! Sie warf Rhys einen verärgerten Blick zu und hoffte, er würde sie allein lassen. Doch natürlich dachte er nicht daran. Schon als sie aufgewacht war, hatte er im Sessel neben dem Bett gesessen und sie die ganze Zeit beobachtet. Warum konnte er nicht einfach verschwinden? Warum kümmerte er sich jetzt, siebeneinhalb Monate nachdem sie entdeckt hatte, dass sie schwanger war, aus heiterem Himmel plötzlich so rührend um sie - ganz so, als machte er sich Sorgen? Und obwohl sie sich nichts so sehr wünschte, als dass Rhys sich endlich entschloss, zu ihr zu stehen, so sollte er dies doch aus den richtigen Gründen tun: weil er sie liebte und für sie und die Babys da sein wollte - für immer. Doch Rhys' plötzliche Fürsorge hatte andere Gründe. Er hatte es Mariah bereits erklärt. "Du brauchst mich", hatte er gesagt. Und er hatte ihr einfach nicht glauben wollen, dass es nicht stimmte. Vielleicht kann der Arzt ihn überzeugen, dachte Mariah hoffnungsvoll. Doch als sie eine Stunde später dort waren, merkte sie schnell, dass sie auf den nicht zählen konnte. Tatsächlich schienen er und Rhys ihr Leben noch komplizierter machen zu wollen. Der Arzt war erfreut, Rhys kennen zu lernen. Das wurde aber auch Zeit, sagte sein Blick, als Rhys sich ihm als der Vater der Kinder vorstellte und seine Besorgnis äußerte. Zu Beginn der Schwangerschaft hatte der Arzt Mariah nach dem Vater der Kinder gefragt, und als sie erwidert hatte, dass sie die Kinder nicht mit ihm aufziehen würde, hatte er nicht weiter nachgehakt. Es schien ihm zu gefallen, dass Rhys die Rolle des Beschützers spielte. Nachdem er Mariah untersucht hatte, rief er Rhys ins Behandlungszimmer und erklärte ihm alles. "Sie braucht absolute Ruhe, um einer Frühgeburt vorzubeugen", sagte der Arzt zu ihm, als wäre Mariah nicht
anwesend. "Sie darf keine Treppen steigen, keine Leitern hochklettern, keine schweren Einkäufe tragen. Sie sollte sich ausruhen und sich bedienen lassen - vierundzwanzig Stunden am Tag." "Das werde ich nicht tun", protestierte Mariah. "Ich werde mit ihr zum Haus meines Bruders auf Long Island fahren", erzählte Rhys dem Arzt über ihren Kopf hinweg. Das ist genau das Richtige für sie: keine Treppen, direkt am Strand, und das nächste Krankenhaus ist nur zehn Minuten entfernt." "Ich werde nicht mit dir nach Long Island fahren", sagte Mariah empört. "Das klingt ausgezeichnet", bemerkte der Arzt. "Dort wird sie sich ausruhen können. Und ich passe auf, dass sie keine Dummheiten macht", fuhr Rhys fort. "Die größte Dummheit, die ich jemals begangen habe ..." begann Mariah aufgebracht, doch Rhys schnitt ihr das Wort ab. "Es war nett, Sie kennen zu lernen. Haben Sie vielen Dank." Er schüttelte dem Arzt die Hand. "In zwei Wochen möchte ich sie zur nächsten Untersuchung hier sehen." "Aber ich ..." sagte Mariah, doch der Arzt war bereits gegangen. "Ich werde auf keinen Fall mit dir zum Haus deines Bruders fahren", wandte sie sich aufgebracht an Rhys, als sie auf die Straße traten. "Aber natürlich wirst du das." Mariah hatte keine Lust, sich mit Rhys zu streiten. Schweigend fuhren sie zurück. Mariah stieg aus dem Taxi und dann schnell die Stufen hoch, während Rhys bezahlte. Wenn er unbedingt mitkommen will, kann er auch die Kosten dafür übernehmen, dachte sie missmutig. Als sie gerade die Tür zu ihrem Apartment aufschloss, packte Rhys sie am Arm. "Hast du nicht gehört, was der Arzt angeordnet hat?"
"Du meinst, als ihr beiden über meinen Kopf hinweg geredet habt?" "Er sagte, du sollst keine Treppen steigen." "Aber ich wohne nun einmal im ersten Stock!" "Nicht mehr." "Wie bitte?" Sie sah ihn entgeistert an. "Du darfst keine Treppen steigen. Und deshalb werden wir nach Long Island fahren." "Ich nicht..." "Ich dachte, du willst die Babys behalten!" "Und ob ich das will!" Schützend legte Mariah die Hände auf ihren Bauch. "Dann hör endlich auf, so dickköpfig zu sein. Du kannst nicht so weiterleben wie bisher, Mariah." "Das heißt aber noch lange nicht, dass ich von jetzt an im Haus deines Bruders leben muss." "Natürlich könntest du auch im Hotel wohnen." Was für eine alberne Idee! "Nein, aber ich könnte Chloe fragen ..." "Chloe und Gib haben genug damit zu tun, sich um ihre Kinder zu kümmern." "Finn und Izzy..." "Müssen auch Treppen steigen." "Sierra ..." Rhys hielt es nicht für nötig, darauf etwas zu entgegnen. Mariah wusste ebenso gut wie er, dass Sierras Dachwohnung wohl kaum infrage kam. "Du bist nicht für mich verantwortlich", sagte sie trotzig. Rhys blickte auf ihren Bauch. "Ich habe dich in diese Lage gebracht, Mariah", erwiderte er bestimmt. "Und ich werde das gemeinsam mit dir durchstehen." So, wie er es ausdrückte, klang es, als wäre ihre Schwangerschaft eine Katastrophe. Vermutlich empfindet er das auch so, dachte Mariah.
Er hob ihr Kinn an und blickte ihr in die Augen. "Tu es für die Kinder, Mariah." Die Kinder. Seine Kinder. Bald würden sie das Einzige sein, was ihr noch von ihm bleiben würde. Sie atmete tief ein und seufzte. "Na gut." Rhys rief Dominic an, um ihm zu sagen, dass er das Haus brauche. Es war das Haus, in dem sie alle groß geworden waren und das Dominic vor zwei Jahren von seinem Vater gekauft hatte, als dieser nach Florida gezogen war. Angeblich hatte er sich zur Ruhe setzen wollen, aber er tauchte häufiger in New York auf als früher, als er noch der Geschäftsführer von Wolfe Enterprises gewesen war. Doch wenn er jetzt in der Stadt war, wohnte er in einem Apartment am Sutton Place. Sein Bruder erklärte sich sofort bereit, das Haus zur Verfügung zu stellen. "Geht es ihr gut?" "Ja", antwortete Rhys kurz angebunden. "Sie braucht nur viel Ruhe, sie erwartet Zwillinge." "Da wird sich unser alter Herr aber ..." "Der wird gar nichts, denn du wirst ihm nichts verraten." "Du willst also nicht zu ihnen stehen?" "Hast du den Eindruck, das würde ich nicht tun?" "Na ja, wenn der alte Herr es nicht erfahren soll..." ' "Ich werde es ihm schon irgendwann sagen." Wenn ich mir sicher bin, dass er mich nicht zwingt, sie zu heiraten, fügte Rhys in Gedanken hinzu. Denn darauf würde es mit Sicherheit hinauslaufen, wenn es nach seinem Vater ginge. Und er, Rhys, wollte sich nicht binden. "Wie du meinst", sagte Dominic missbilligend. Rhys wies Mariah an, in sein Apartment zu gehen und sich auszuruhen. "Ich packe inzwischen deine Sachen." Sie protestierte, gab dann aber nach. Rhys war erleichtert. "Sieh dir etwas im Fernsehen an, oder schlaf ein bisschen", schlug er vor. "Wir fahren erst nach der Rushhour los." "Ich könnte inzwischen etwas kochen."
"Nicht nötig. Bestell einfach etwas", entgegnete er. "Setz dich hin, und leg die Beine hoch, wie der Arzt es gesagt hat." Erst als Mariah mit der Fernbedienung im Schoß auf dem Sofa saß, ging Rhys nach oben in ihr Apartment. Ohne Mariah wirkte es verlassen. Rhys ging ins Schlafzimmer und nahm Kleider aus dem Schrank und der Kommode. Er suchte die weitesten Sweatshirts heraus und packte ihren Morgenmantel ein, außerdem einen Wollmantel und eine warme Jacke, denn es war bereits November, und an der See würde es frisch sein. Als er die Jacke aus dem Kleiderschrank nahm, fiel sein Blick auf ein rotes, tief ausgeschnittenes Seidenkleid, an das er sich gut erinnerte. Mariah hatte es Weihnachten auf einer Party bei Finn und Izzy getragen. Rhys ließ die Hand leicht über den weichen Stoff gleiten. Ihm fiel ein, wie er Mariah berührt hatte, als sie miteinander tanzten, und wie ihm aufgefallen war, was für eine attraktive Frau sie war. Er erinnerte sich daran, ihr in den Ausschnitt geblickt zu haben, nahm das Kleid aus dem Schrank und betrachtete es nachdenklich. Es war sehr figurbetont, und er konnte sich kaum noch vorstellen, dass es Mariah einmal gepasst hatte. Würde sie es je wieder tragen können? Es war seine Schuld, dass sie so rund geworden war. Noch einmal ließ Rhys die Finger über die Seide gleiten. Dann schüttelte er den Kopf. Eigentlich müsste sie ihn dafür hassen. Dass sie ihn nicht besonders mochte, war ja offensichtlich. Seit er nach Hause gekommen war, war Mariah schlecht gelaunt gewesen. Allerdings war das bei ihrem Zustand ja auch nicht weiter verwunderlich. Er müsste wieder gutmachen, dass er sie in diese Lage gebracht hatte. Auf sie aufpassen, wie der Arzt gesagt hatte, dafür sorgen, dass sie sich ausruhte und erholte, damit die Babys nicht zu früh zur Welt kamen. Und dann? Weiter wollte er nicht denken.
Mariah war es nicht gewohnt, so verwöhnt zu werden. Sie war es nicht gewohnt, dass man sie bediente, ihr vor dem Schlafengehen heiße Milch und morgens das Frühstück ans Bett brachte. Aber genau das tat Rhys. Dominics Haus lag auf einem mit Gras bewachsenen Hügel an der Südküste von Long Island. Es war ein niedriges, mit Schindeln gedecktes Haus und mit einer Terrasse, von der aus man aufs Meer und auf den Strand blicken konnte - ein altes, gemütliches Zuhause, das gar nicht zu Dominic, dem ehrgeizigen Geschäftsmann, zu passen schien. Rhys erzählte Mariah, dass er hier aufgewachsen sei. Daraufhin sah sie sich interessiert um, obwohl sie sich insgeheim ermahnte, es nicht zu tun. Rhys wollte sich nicht an sie binden, und sie wollte nichts über ihn erfahren, wodurch sie ihn noch mehr lieben würde. Doch es war nicht so einfach, das zu vermeiden, besonders da er versuchte, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Er richtete das größte Schlafzimmer für sie her, in dem früher seine Eltern geschlafen hatten. Ihr Hochzeitsfoto hing noch immer an der Wand. Mariah betrachtete es, und gegen ihren Willen wünschte sie ... Sie riss sich zusammen und versuchte, sich nicht genauer umzusehen oder Rhys um etwas zu bitten; Doch er schien ihre Gedanken lesen zu können. Er nahm Dominics Kleidung aus den obersten Schubladen der Kommode und räumte Mariahs ein. Er hatte einen ganzen Stapel Bücher mitgebracht, die er im Wohn- und in Mariahs Schlafzimmer zusammengesucht hatte. "Ich war mir nicht sicher, welche du schon gelesen hast", erklärte er, indem er die Bücher neben ihr aufbaute. "Deshalb habe ich alle mitgebracht." Mariah bedankte sich lächelnd. Er reichte ihr die Fernbedienung und zeigte ihr, wie sie funktionierte. Dann erklärte er ihr die Sprechanlage. "Wenn du
irgendetwas brauchst, drück einfach auf diesen Knopf. Ich kann dich dann im ganzen Haus hören." Erstaunt sah sie ihn an. "Du brauchst dich nicht von der Stelle zu rühren." Er lächelte. "Ich werde wahnsinnig werden, wenn ich mich den ganzen Tag nicht bewege", erwiderte sie. Rhys dachte kurz nach und sagte dann: "Du darfst nachmittags auf die Terrasse gehen, wenn die Sonne scheint." "Vielen Dank", murmelte Mariah. "Möchtest du etwas essen?" Sie hatten in der Stadt beim Chinesen gegessen, aber das war bereits eine Weile her. Mariah sah ihn prüfend an und überlegte, wie weit er wohl gehen würde. "Pizza mit Anchovis, kanadischen Bacon und Sauerkraut?" Rhys schluckte. "In Ordnung." Sie hatte keine Ahnung, wie er es angestellt hatte, aber eine halbe Stunde später klingelte es an der Tür, und kurze Zeit darauf kam Rhys mit einer Pizza, zwei Tellern und zwei Gläsern Milch ins Zimmer. Die Pizza war genau so, wie sie sie bestellt hatte. Mariah staunte. Sie staunte noch mehr, als Rhys drei große Stücke davon aß und anschließend sein Glas Milch in einem Zug leer trank. Mariah schaffte zwei Stücke und wischte sich dann die Finger an der Serviette ab. "Trink deine Milch", ermahnte Rhys sie. "Abends trinke ich sie gern warm", erwiderte sie aus reiner Boshaftigkeit. Und tatsächlich stand Rhys auf, brachte das Glas in die Küche und kam kurze Zeit später mit einem Becher warmer Milch wieder. Eigentlich mochte Mariah gar keine warme Milch, doch das konnte sie natürlich nicht zugeben. Zufrieden streckte sie sich
auf dem Bett aus, trank in kleinen Schlucken und fühlte, wie Wohlgefühl und Müdigkeit sie überkamen. Sie nahm die Fernbedienung und zappte die verschiedenen Programme durch, wobei sie, nur um Rhys zu ärgern, die Sportsendungen ausließ. Er saß einfach da und beobachtete sie mit einem leichten Lächeln, ganz so, als würde er sie durchschauen und genau wissen, warum sie das tat. Es war fast wieder wie früher - bevor Mariah schwanger geworden war. Während der nächsten Tage verbrachten sie viel Zeit miteinander. Gemeinsam lösten sie das Kreuzworträtsel in der Times, sahen alte Fotoalben an oder lasen sich gegenseitig etwas vor. Rhys verstand nicht, warum Mariah sich so für die Bilder aus seiner Kindheit interessierte, doch zu jedem hatte er etwas zu erzählen. Sie sahen sich alle Alben an - alle bis auf das von seiner Hochzeit. Stattdessen zeigte er Mariah Fotos, auf denen er mit seinen Brüdern Football und Baseball spielte oder auf den Bahamas Sandburgen baute oder schwamm. Er erzählte ihr von dem Haus, das sich seine Eltern dort gekauft hatten. Es hatte vorher einem alten Kapitän gehört. Als Journalistin interessierte sich Mariah brennend für solche Geschichten und hörte aufmerksam zu. Noch nie hatte Rhys so viel über sein Leben erzählt. Es machte ihm ganz offensichtlich Spaß, denn Mariah war eine gute Zuhörerin. Und jeder einzelne Tag, an dem sie entspannt war und keine vorzeitigen Wehen bekam, war ein Gewinn für die Babys. Das hatte der Arzt ihm gesagt. Rhys hatte Mariah das große Schlafzimmer gegeben, weil man vom Fenster aus auf den Strand und das Meer blicken konnte und es ein eigenes Bad gab. Eigentlich hatte er vorgehabt, am anderen Ende des Hauses zu schlafen, doch stattdessen zog er in Dominics Büro, das direkt gegenüber von Mariahs Zimmer lag. Dort gab es zwar nur ein Sofa, aber das reichte ihm. Er kam ohnehin kaum zum Schlafen.
Er war zu sehr damit beschäftigt, bei Mariah nach dem Hechten zu sehen. Jede Nacht stand er vier oder fünf Mal auf, ging über den Flur zu ihr und sah nach, ob sie schlief. War das nicht der Fall, fragte er sie, ob er ihr etwas bringen oder sonst etwas für sie tun könne. "Soll ich dir einen Becher heiße Milch bringen?" Doch aus irgendeinem Grund hatte sie nach dem ersten Abend nie wieder welche gewollt. "Dann kannst du vielleicht besser einschlafen", versuchte er sie Nacht für Nacht zu überzeugen, doch jedes Mal lehnte sie ab. "Ich könnte es, wenn die beiden es auch endlich täten", sagte Mariah zu Rhys, als sie in der dritten Nacht in ihrem Zimmer auf und ab ging. Er konnte ihre Silhouette im Mondlicht sehen die zerzausten Haare, den gerundeten Bauch - und dachte daran, wie aufregend sie vor einem Jahr in dem roten Kleid ausgesehen hatte. Doch auch jetzt fand er sie anziehend, wenn auch auf eine andere Art. Damals hatte er sie als sehr sexy empfunden, jetzt wirkte sie weiblicher. Vor einem Jahr hatte er sich danach gesehnt, sie zu küssen. Und auch jetzt gingen seine Gedanken in eine ähnliche Richtung. Vorsichtshalber blieb er im Türrahmen stehen. "Treten sie dich?" "Das tun sie fast immer. Aber manchmal schaffe ich es, sie zu beruhigen." ' "Wie?" "Indem ich mir den Bauch reibe." Sie musste lachen. "Das klingt merkwürdig, aber für die Babys ist es wahrscheinlich so, als würde man ihnen den Rücken massieren." Ihm wurde plötzlich heiß. Du solltest dich schämen, ermahnte Rhys sich. Eine schwangere Frau zu begehren, die sicher andere Dinge im Kopf hatte. Trotzdem fragte er: "Möchtest du, dass ich ... dir den Rücken massiere?" Sag Nein, flehte er insgeheim. Bitte sag Nein! "Das wäre toll", erwiderte Mariah.
Pass auf, was du dir wünschst', hatte Mariahs Mutter oft gesagt, ,denn irgendwann geht es in Erfüllung.' Vor einer halben Stunde - sie hatte sich unruhig im Bett von einer Seite auf die andere gedreht und sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass jemand ihr den Rücken massierte - schien es ausgeschlossen, dass sich dieser Wunsch erfüllen würde. Und hätte ihr jemand prophezeit, Rhys würde ihr genau das anbieten, hätte sie nur laut gelacht. In den drei Tagen, die seit ihrer Ankunft vergangen waren, war Rhys einfach wundervoll gewesen. Er hatte sie umsorgt, war aufmerksam und zuvorkommend gewesen, ganz so wie der Rhys von früher, in den sie sich verliebt hatte. Doch der hatte sie nie berührt - bis auf jene eine Nacht. Jetzt sagte er ein bisschen heiser: "Leg dich hin, und dreh dich auf die Seite." Mariah gehorchte, war aber alles andere als entspannt. Nervös spürte sie, wie sich die Matratze bewegte, als Rhys sich hinter ihr auf das Bett setzte. "Hast du genug Platz?" "Ja." Mariah hörte die Wellen draußen an den Strand schlagen. Doch das Rauschen wurde fast übertönt vom heftigen Klopfen ihres Herzens. Eines der Babys trat sie erneut. "Au", murmelte sie. "Traktieren sie dich wieder?" fragte Rhys. "Ja." Sie griff nach seiner Hand und legte sie auf ihren Bauch. Wieder traten die Babys zu. Rhys erstarrte. Mariah fragte sich, ob sie einen Fehler begangen hatte. Vielleicht würde er sich jetzt zurückziehen und sie allein lassen? Doch Rhys ließ die Hand, wo sie war. Und als eines der Babys sich wieder bewegte, begann er, Mariah sanft zu massieren. Sie zuckte zusammen.
Augenblicklich zog er seine Hand weg. "Entschuldige." Sie befürchtete schon, er würde jetzt endgültig gehen. Doch er blieb. Er umfasste ihre Schultern und begann, mit beiden Daumen ihren Körper zu bearbeiten. Mariah seufzte. Und sofort hielt Rhys inne. "Alles in Ordnung?" "Ja. Hm..." "Was soll ,hm' bedeuten?" "Es bedeutet, dass es sich gut anfühlt." Das war eine starke Untertreibung. Es war nicht nur gut, es war wundervoll. Der Druck von Rhys' sanften, aber kräftigen Fingern brachte Mariah dazu, sich zu entspannen. Sie ließ sich in die Kissen sinken und stöhnte zufrieden. Plötzlich hielt Rhys inne. "Geht es dir gut?" "Ja. Es ist einfach himmlisch." Er massierte weiter, und sie merkte, wie er näher an sie heranrückte. Mariah schloss die Augen. Sie atmete tief ein und aus, ihre Schultern lockerten sich, ihre Verkrampfungen begannen sich unter Rhys' kundigen Fingern zu lösen. Sie hätte für immer so liegen bleiben können. Es war sehr still im Raum, und Mariah hörte, dass Rhys so schnell atmete, als wäre er gerannt. Sie wünschte, sie könnte ihn sehen, doch es war bereits dunkel. Sie blieb liegen und gab sich ganz seinen Händen hin. Auch die Babys hatten sich beruhigt. Und dann plötzlich stand Rhys auf und ging zur Tür, die er fast lautlos hinter sich schloss.
9. KAPITEL Das war die reine Folter gewesen! Was, um alles in der Welt, hatte er sich nur dabei gedacht, als er Mariah anbot, ihr den Rücken zu massieren? Wenn er auch nur geahnt hätte, dass es ihn erregen würde, sie einfach nur zu berühren, hätte er diesen Vorschlag nie gemacht. Aber, dachte Rhys, als er aus dem Haus ins Freie trat, wer hätte auch vorhersehen können, dass eine schwangere Frau ihn derart erregen würde? Rhys wusste, er würde nicht einschlafen können. Er stapfte durch den Sand zum Wasser. Seit seiner Liebesnacht mit Mariah vor acht Monaten hatte er nicht mehr mit einer Frau geschlafen. Irgendwie hatte er nicht einmal viel daran gedacht. Doch jetzt war er voller Verlangen - nach Mariah. Er sehnte sich mit Leib und Seele nach ihr. Rhys stürzte sich ins Wasser und tauchte unter einer Welle hindurch, in der verzweifelten Hoffnung, das eiskalte Wasser würde seine Leidenschaft abkühlen. Dann schnellte er wieder empor - doch nicht die plötzliche Kälte ließ ihn zitternd und erschrocken wieder auftauchen. Er hatte jemanden seinen Namen rufen hören. "Rhys!" Er fuhr herum. "Was zum ... Mariah?" Er wollte seinen Augen nicht trauen. Doch es war tatsächlich Mariah, die auf ihn zukam. Er sah ihre Silhouette vor dem hell erleuchteten Haus. Sie hatte offensichtlich Mühe, das Gleichgewicht zu halten.
Rhys rannte auf sie zu. "Was, zum Teufel, machst du hier draußen? Du solltest im Haus bleiben!" Wenige Zentimeter von ihr entfernt, blieb er stehen und sah sie vorwurfsvoll an. Sie erwiderte seinen Blick. "Und du solltest nicht allein schwimmen gehen." Mit zittriger Hand fuhr er sich durchs Haar. "Du meine Güte, ich bin doch gar nicht geschwommen ..." Mariah betrachtete seinen Körper, von dem noch das Wasser rann, und entgegnete ironisch: "Tatsächlich nicht? Dann habe ich mir das wohl nur eingebildet." Sie standen einander so nah gegenüber, dass Rhys die Wärme ihres Körpers spürte. Noch einen Schritt weiter, und er würde mit ihrem Bauch zusammenstoßen. Mariah wich nicht einen Schritt zurück. Ihr Gesicht war vom Mondlicht erhellt, ihr dunkles Haar wehte im Wind, und Rhys dachte, dass sie die schönste Frau war, die er je gesehen hatte. Ein starkes Verlangen ließ ihn erschauern. "Ist dir kalt?" Mariah reichte ihm ein Badetuch. Rhys blickte sie schweigend an. Er nahm das Tuch und trocknete sich rasch ab. Dann bemerkte er, dass sie noch etwas anderes in der Hand hielt. "Was hast du da?" Sie senkte den Blick. Dann reichte sie ihm einen der Rettungsringe, die am Zaun neben dem Haus hingen. "Du wolltest mich retten?" Sprachlos sah er sie an. "Wenn es nötig gewesen wäre." Ihre Stimme klang ruhig und gelassen, doch ihre Hand zitterte. "Du liebe Güte", murmelte Rhys, legte sich das Badetuch um die Schultern und nahm ihren Arm. "Komm jetzt. Du solltest eigentlich schon lange im Bett liegen und schlafen." Bei dem Gedanken, was Mariah hätte passieren können, zitterte er. "Du musst absolut verrückt sein", schimpfte er. "Das sagst gerade du", erwiderte sie. Doch sie ließ sich bereitwillig von ihm stützen, als sie zum Haus zurückgingen.
Rhys spürte ihren warmen Körper dicht an seinem, und sein Verlangen wuchs. Doch er zwang sich, nicht daran zu denken, und hielt Mariah fest, bis sie wieder im Haus waren und sie nicht mehr zitterte. Erst dann ließ er sie los. "Tu das nie wieder", sagte er ernst. "Und du auch nicht", antwortete sie heftig. Schweigend blickten sie sich an. "Wenn du ..." begann Mariah, aber sie sprach den Satz nicht zu Ende. Doch er wusste auch so, was sie hatte sagen wollen, und verstand ihre Angst. Er wollte sie beruhigen, ihr sagen, dass nichts passieren konnte. Doch er schwieg. "Schlaf jetzt, Mariah." Fast hätte sie sich lächerlich gemacht. Nein, das war noch zu milde ausgedrückt. Sie hatte sich lächerlich gemacht. Sie war Rhys mit einem Rettungsring nachgelaufen, als wäre sie überhaupt in der Lage gewesen, ihm im Notfall das Leben zu retten! Mariah wusste nicht, warum sie gleich das Schlimmste befürchtet hatte. Doch als Rhys ihr Schlafzimmer verlassen hatte, hatte sie seinen Schritten gelauscht und gehört, dass er ins Wohnzimmer und von dort aus nach draußen gegangen war. Neugierig war sie aufgestanden und ihm nachgegangen, und als sie ihn dann über den Strand zum Wasser hatte laufen sehen, war sie in Panik geraten. Vor Schreck hatte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Und wenn er nun ...? hatte sie sich angstvoll gefragt. Dann hatte sie ein Badetuch und diesen albernen Rettungsring ergriffen und war ihm schnell gefolgt. Wenn sie nur daran dachte, wie lächerlich sie sich gemacht hatte, wurde sie immer noch rot vor Scham. Sie musste sich zusammenreißen und damit aufhören, immer das Schlimmste zu befürchten.
Mariah hörte Rhys über den Flur gehen und betete inständig, er würde in seinem Schlafzimmer verschwinden. Doch stattdessen klopfte er an ihre Tür. "Bist du noch wach?" Sie überlegte, ob sie sich schlafend stellen sollte. Doch dann antwortete sie: "Ja." "Ich habe dir heiße Milch gemacht." Rhys zögerte, dann trat er ein und stellte den Becher auf dem Nachttisch ab. "Danke." Rhys stand da, ohne etwas zu sagen, und sie spürte seinen Blick auf sich ruhen. "Ich hatte nicht vor ... du hättest dir keine Sorgen zu machen brauchen, Mariah." Sie schluckte. Dann nahm sie den Becher und führte ihn an die Lippen. Ihr war die Kehle wie zugeschnürt. "Ich weiß." "Du hättest ..." Er verstummte. Sie hörte, wie er nervös die Knöchel seiner Finger knacken ließ. "Du darfst dich nicht so aufregen, Mariah. Du musst dich wirklich schonen" sagte er dann ernst und klang ehrlich besorgt. Mariah nickte nur. "Ja", brachte sie mühsam heraus. "Gut. Dann also Gute Nacht, Mariah." Rhys ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Sie hielt den Becher umklammert und kämpfte mit den Tränen. Ich wünschte ... dachte sie verzweifelt, ohne auf ihre warnende innere Stimme zu hören. Und irgendwann schlief sie ein. Am folgenden Tag entschied Rhys, dass Mariah eine Veränderung brauchte. "Du merkst nichts von irgendwelchen Wehen, oder? Dann ist es Zeit, dass du mal ein bisschen Abwechslung geboten bekommst." In Wirklichkeit war er der Meinung, dass das Haus trotz seiner Größe vielleicht nicht genug Platz für sie beide bot. Nach dem letzten Abend war die Atmosphäre zwischen ihnen gespannt, zu viele Gedanken waren nicht ausgesprochen
worden. Und es war, zumindest von seiner Seite aus, viel zu viel Verlangen im Spiel. Deswegen hatte Rhys beschlossen, dass es für sie beide besser war, einmal der Enge des Hauses zu entkommen, um etwas mehr Abstand voneinander zu gewinnen. Er führte Mariah zum Auto und fuhr mit ihr die Küste entlang. In den Sommermonaten wäre eine solche Spazierfahrt die reinste Tortur gewesen, denn dann stauten sich auf den Straßen die Autos der Städter, die für einige Stunden Sonne, Strand und Meer genießen wollten. Doch um diese Jahreszeit waren die Straßen fast leer. Es war ein schöner, klarer Herbsttag, der Himmel war strahlend blau, und über den Strand wehte ein kühler Wind. Da die Babys sich ruhig verhielten und Mariah versichert hatte, dass es ihr gut gehe, fuhren sie bis nach Montauk. Mittags aßen sie in einem kleinen Restaurant in der Nähe des .Strandes. Nach dem Lunch schlenderten sie durch den Ort und betrachteten die Auslagen. Ein Spielzeugladen hatte ein Schaufenster voller Teddybären in allen Größen und Formen. Mariah entdeckte einen Bären mit einem äußerst dicken Bauch und musste lachen. "Mama Bär", sagte sie. "Ich weiß genau, wie ihr zu Mute ist. Sieh mal", fuhr sie fort und zeigte auf zwei kleinere Bären, die in einem Segelboot saßen und beide dieselben Matrosenmützen trugen, "Zwillingsbären!" Es gab einen Arzt, einen Lehrerbären und Rad fahrende Bären. "Da drüben!" Mariah zupfte Rhys am Ärmel und deutete in die hintere Ecke des Schaufensters. Dort saß ein Bär mit einer Leiter. Er trug gelbe Gummistiefel, einen dazu passenden Hut und einen gelben Regenmantel. "Ist der nicht toll?" Mariah lächelte ihn strahlend an. Ihre kindliche Freude ließ Rhys' Herz einen Schlag aussetzen.
"Ja", stimmte er ihr heiser zu. Dann nahm er ihre Hand. "Komm. Du darfst dich nicht überanstrengen, außerdem haben wir eine lange Rückfahrt vor uns." Er war ein wenig besorgt, dass er Mariah zu viel zugemutet hatte. Doch an diesem Tag verspürte sie nur leichte, unregelmäßige Kontraktionen. Während der Rückfahrt schlief sie, und als sie zu Hause waren, bestand sie nicht wie sonst darauf, ihm beim Dinner zu helfen. Er lobte sie dafür. "Ich versuche, besonders brav zu sein", erwiderte sie und lächelte schalkhaft. "Damit wir bald wieder so etwas Schönes unternehmen." Am folgenden Tag fuhren sie zu einem nahe gelegenen Hafen, spazierten den Kai entlang und betrachteten die Boote. Rhys erzählte ihr, dass er und Dominic früher manchmal eines gemietet hatten und zum Angeln hinausgefahren waren. "Bist du schon einmal gesegelt?" wollte Mariah wissen. "Als Kind habe ich das oft getan. Es ist toll." "Während meiner Kindheit in Kansas sind wir nie gesegelt", sagte Mariah und lächelte. Rhys lächelte ebenfalls. "Tatsächlich?" Es war ein sonniger, fast windstiller Tag, nur eine leichte Brise war zu spüren. "Hättest du Lust, eine Stunde segeln zu gehen?" fragte Rhys. "Können wir das denn?" fragte Mariah und strahlte vor Begeisterung. "Natürlich." Wer hätte dazu schon Nein sagen können? Mariah konnte sich nicht erinnern, jemals etwas so Schönes erlebt zu haben. Sie hatte nicht geglaubt, dass es Rhys tatsächlich gelingen würde, jemanden zu finden, der ihnen für nur eine Stunde ein Segelboot vermietete. Doch irgendwie hatte er es geschafft. Sie musste auf Rhys' Anweisung hin eine Schwimmweste anziehen, bevor sie mit einem kleinen Boot zum Anleger gebracht wurden, an dem sie auf das Segelboot umstiegen. Es
kostete Geduld und mehrere Versuche, bis Mariah von Bord des einen Bootes zum anderen gelangte. Doch schließlich schaffte sie es und sah voller Vorfreude zu, wie Rhys das Hauptsegel hisste. "Kann ich dir behilflich sein?" bot sie an. "Ja", erwiderte er, "rühr dich nicht von der Stelle, und steh mir nicht im Weg herum." Also blieb sie sitzen und sah ihm dabei zu, wie er die notwendigen Vorkehrungen traf. Schließlich blähten sich die Segel im Wind, und das Boot bewegte sich langsam aufs Wasser hinaus. "Oh!" Mariah war begeistert. "Das ist einfach toll!" Sie strahlte ihn an. Rhys, eine Hand am Steuer, die andere am Ruder, erwiderte ihr Lächeln. Sie fuhren im Zickzackkurs durch den Hafen. Mariah lehnte sich zurück und genoss das warme Sonnenlicht und den Wind in ihrem Haar. Auch Rhys schien es zu genießen. Er sieht jünger und entspannter aus, dachte sie. So wie früher. "Es ist so ruhig", sagte sie. Die Stille wurde nur durchbrochen vom leisen Flattern der Segel und von den kleinen Wellen, die gegen das Boot schlugen. Wieder lächelte Mariah ihn an. "Danke, Rhys." "Nichts zu danken." Obwohl sie nicht lange auf dem Wasser blieben und den Hafen nicht verließen, genoss Mariah alles in vollen Zügen. Sie fühlte sich erholt und glücklich, als sie wieder zum Anleger zurückkehrten. Auf der Rückfahrt im Auto gähnte sie herzhaft. "War das zu anstrengend?" erkundigte Rhys sich besorgt und leicht schuldbewusst. Mariah schüttelte den Kopf. "Nein, ganz und gar nicht", erwiderte sie schläfrig, "es war einfach perfekt."
Lebe für den Moment, hatte ihre Mutter ihr immer geraten. Und an einem Nachmittag wie diesem fiel ihr das nicht schwer. Izzy rief an. Sie und Chloe wollten eine Party für die Babys organisieren. "Aber ich kann nicht nach New York kommen", sagte Mariah. "Kein Problem", entgegnete Izzy fröhlich, "dann kommen wir eben zu euch." "Izzy und Chloe wollen eine Babyparty für uns veranstalten", erzählte Mariah Rhys am Abend. Er sah nicht gerade begeistert aus. "Es ist doch Tradition", erwiderte Mariah. "Um das bevorstehende Ereignis zu feiern", fügte sie erklärend hinzu. Rhys nickte nur. Mariah befürchtete, dass Rhys irgendeinen Vorwand finden würde, um am kommenden Samstagnachmittag nicht anwesend zu sein, den Izzy und Chloe für die Feier vorgesehen hatten. Die ganze Woche über schien er nervös zu sein. Einige Male telefonierte er - mit seinem Chef, wie Mariah vermutete, und sie rechnete bereits damit, dass er plötzlich ganz dringend zu einem Brand am anderen Ende der Welt aufbrechen würde. Doch als sie ihn am Abend vor der Feier fragte: "Du fährst doch jetzt nicht weg, oder?" antwortete er fast entrüstet: "Natürlich nicht! Ich habe dir doch gesagt, dass ich bei dir bleibe, bis die Babys auf der Welt sind." Bis die Babys auf der Welt sind. Und dann ...? Lebe für den Moment, ermahnte sie sich. Es tat Mariah gut, all ihre Freunde wieder zu sehen. Izzy und Chloe hatten alle eingeladen: Sam und Josie Fletcher, Mariahs Verlegerin Stella, Lindy und Gert, zwei ihrer Mitarbeiter, Dämon und Kate Alexakis, Mrs. Alvarez, die Gillespies,. die über ihr wohnten, weitere Nachbarn und Kollegen, Rhys' Bruder Dominic und natürlich Sierra und Kevin.
Mariah freute sich sehr, Kevin zu sehen. Er hatte sie mehrmals angerufen, doch bis auf einmal hatte sie immer geschlafen. Jetzt nahm sie ihn in die Arme und drückte ihn liebevoll an sich. "Du siehst toll aus", sagte er lächelnd. "So rund und gesund wie ein Walfisch." Sanft strich er ihr über die Wange. "Nein, im Ernst - du siehst wirklich viel besser aus. Läuft alles gut mit Rhys?" Mariah lächelte ebenfalls. "Ja", antwortete sie. Und das war die Wahrheit - besser als im Moment würden die Dinge nie stehen. "Und wie geht es dir?" Er lächelte wehmütig. "Es sieht so aus, als wäre ich wieder Single." Mariahs Lächeln verschwand schlagartig, und sie legte ihm die Hand auf den Arm. "Du wirst jemand anders kennen lernen, Kev." "Mariah!" Rhys nahm plötzlich ihren Arm und zog sie mit sich. "Izzy braucht deinen Rat." Ehe sie begriff, was geschah, hatte er sie bereits durch das halbe Wohnzimmer bugsiert. Sie konnte sich nur rasch umdrehen und Kevin zuwinken. "Später ..." formte sie mit den Lippen. Doch auch dann hatte sie kaum Gelegenheit, sich in Ruhe mit ihm zu unterhalten. Sie musste Geschenke auspacken, und es wurden lustige Spiele gespielt und Unmengen von Kuchen und Eis gegessen. Mariah öffnete die vielen Mitbringsel und war begeistert von den niedlichen Strampelanzügen und Windelhöschen, den Deckchen, dem Kinderwagen und den beiden Hochstühlen. Als Izzy Rhys aufforderte, Mariah beim Auspacken zu helfen, schüttelte er den Kopf. Stattdessen stand er gegen die Wand gelehnt da und sah ihr zu. Zu ihrer Überraschung fand Mariah auch ein Päckchen von ihm. Neugierig und erstaunt blickte sie ihn an. Dann öffnete sie das Geschenk. Es war Mamabär aus dem Spielzeugladen in Montauk.
"Damit dir immer jemand Gesellschaft leistet", hatte Rhys auf die Karte geschrieben. Mariah sah auf und ihn an. Er erwiderte ihren Blick. Sie drückte den Bären an die Brust. "O Rhys, vielen Dank." Noch immer sahen sie einander an. "Weißt du schon, was du bekommst? Jungen oder Mädchen oder von jedem eins?" fragte Kate Alexakis, und der Bann war gebrochen. Mariah fühlte sich noch leicht benommen und schüttelte den Kopf. "Keine Ahnung." Der Arzt wusste es, aber sie hatte nicht gewollt, dass er es ihr sagte. "Habt ihr schon Namen für sie?" wollte Chloe wissen. Mariah sah Rhys an. Er schien ebenso interessiert wie die anderen Gäste. Wieder schüttelte sie den Kopf. Sie wollte diese Entscheidung nicht allein treffen, denn es waren auch Rhys' Kinder. "Ihr solltet euch besser damit beeilen", meinte Finn. "Die besten Namen sind schon vergeben - Tansy, Pansy, Rip, Crash ..." Er grinste. "Wir werden gute Namen finden", versicherte Mariah. Wieder warf sie Rhys einen Blick zu. Sie bemerkte, dass auch Dominic seinen Bruder prüfend betrachtete, und wünschte, sie hätte Gelegenheit, einmal mit ihm über Rhys zu sprechen, um mehr über ihn zu erfahren und ihn besser verstehen zu können. Später wurde auf der Terrasse gegrillt. Es war kühl und bewölkt, so dass alle Gäste, bis auf die, die sich um den Grill kümmerten, im Haus blieben. Der Abend wurde in ebenso fröhlicher und guter Stimmung verbracht wie der Nachmittag. Auch die Babys waren in Hochstimmung - sie schienen förmlich auf- und abzuhüpfen. Nach dem Dinner zuckte Mariah ein paar Mal zusammen und gab einen leisen Schmerzenslaut von sich. Rhys, der sich gerade mit Finn unterhielt, stand sofort auf und kam zu ihr. "Alles in Ordnung?"
"Ja, natürlich. Mir geht es gut", versicherte sie ihm. Doch Rhys glaubte ihr nicht. "Du solltest dich besser hinlegen." "Aber die Party ist doch in vollem Gange!" "Das lässt sich ja leicht ändern", erwiderte Rhys. "Alle mal herhören! Das Fest ist jetzt zu Ende, Zeit, um nach Hause zu gehen!" "Rhys!" protestiere Mariah. Doch er achtete nicht auf sie. "Mariah muss sich jetzt ausruhen. Mariah, verabschiede dich von deinen Gästen." Er nahm sie bei der Hand und zog sie auf die Füße. "Rhys! Du brauchst wirklich nicht..." begann sie. Aber Izzy und Finn und Chloe und Gib zogen sich bereits ihre Mäntel über, und auch die anderen Gäste brachen auf. Sierra ging als Letzte. Sie umarmte Mariah. "Alles in Ordnung mit dir?" "Ja, mir geht es gut. Ehrlich." "Gut. Rhys kümmert sich wirklich gut um dich." "Er kommandiert mich ganz schön herum." Sierra zuckte die Schultern. "Er macht es genau richtig, finde ich." Sie warf ihm einen fast liebevollen Blick zu. "Ich glaube, er hat es endlich begriffen." Mariah blickte Rhys an, der gerade die, Geschenke in Finns Auto verstaute, damit sie zu Mariahs Apartment gebracht werden konnten. "Glaubst du wirklich?" fragte sie atemlos. Sie betete inständig, dass es wahr wäre. "Sonst würde er dich nicht so aufopfernd umsorgen und so streng bewachen wie ein Bodyguard", erwiderte Sierra trocken. "Und wenn er erst mal die Babys zu Gesicht bekommt..." Rhys schlug den Kofferraum von Finns Wagen zu. Dann kam er zu ihnen und nahm Mariahs Arm. "Gute Nacht, Sierra." Das klang eindeutig wie ein Befehl.
Sierra grinste und salutierte. Dann sah sie Mariah an. "Na, was habe ich dir gesagt?" Rhys schickte Mariah sofort ins Bett. Er würde sich ums Aufräumen und um den Abwasch kümmern und in Kürze nach ihr sehen. Auch wenn sie es sich nur widerstrebend eingestand, war Mariah so müde, dass sie ohne Widerworte in ihr Schlafzimmer ging. Die beiden Kickboxer schienen sich gerade völlig zu verausgaben und traten wie wild um sich - und vermutlich traten sie sich auch gegenseitig. "Ihr werdet bei der Geburt voller blauer Flecken sein, wenn ihr so weitermacht", ermahnte Mariah die beiden. Sie lag im Bett, als Rhys zur Tür hereinkam. "Alles in Ordnung?" fragte er. Sie nickte. "Ja, danke. Rhys", sagte sie, als er wieder gehen wollte, "könntest du mir einen Gefallen tun und mir meinen Teddy bringen?" Überrascht sah er sie an, doch dann brachte er ihr den Bären. Mariah schloss das Plüschtier in die Arme und blickte Rhys an. "Vielen Dank." Er erwiderte nichts und nickte nur. "Es war eine schöne Feier, nicht wahr?" Wieder nickte er. Mariah rieb ihre Wange am weichen Fell des Teddys. "Könntest du mir vielleicht... den Rücken massieren?" Er schluckte. "Wenn du es möchtest." "Ja, bitte." Rhys fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und machte für einen kurzen Moment die Augen zu. "Ich schließe eben noch ab, dann komme ich wieder." Mariah drehte sich auf die Seite und wartete auf ihn. Als er wiederkam, machte er das Licht aus und setzte sich neben sie aufs Bett. Sie spürte, wie seine Finger sich mit sanftem, aber kräftigem Druck an ihrer Wirbelsäule entlangarbeiteten. Unter
den rhythmischen Bewegungen entspannte sie sich und kam zur Ruhe. "Rhys?" Er fuhr hoch und wusste im ersten Moment nicht, wo er war. Dann wurde ihm klar, dass er wohl neben Mariah eingeschlafen sein musste, einen Arm um sie gelegt. Es war mitten in der Nacht. Verwirrt fuhr er sich durchs Haar. "Entschuldigung. Brauchst du etwas? Geht es dir gut?" "Mir geht es gut." Sie schluckte. "Aber... ich glaube, jetzt geht es wirklich los." Sie lachte nervös. "Ich habe die ganze letzte. Stunde hindurch gezählt. Die Wehen sind stark und ganz regelmäßig. Ich glaube, es ist so weit - die Babys kommen."
10. KAPITEL Sie wollten ihn nicht mit ihr kommen lassen. Sie sagten, er habe keinen Kurs absolviert und wisse nicht, wie man eine Frau bei der Geburt unterstützen müsse. "Aber ich bin Feuerwehrmann und gehöre einer Spezialeinheit an. Ich werde das schon hinkriegen!" Rhys war wütend. "Aber sie hat schon eine Begleitperson", entgegnete die Frau bei der Notaufnahme, die die Anmeldeformulare ausfüllte. "Und wer ist das?" fragte Rhys. Wenn es dieser verdammte Kevin wäre, dem würde er ... "Sierra", sagte Mariah leise, die neben ihm in einem Rollstuhl saß. Sie war sehr blass und atmete flach. Doch der Griff, mit dem sie seine Hand umklammert hielt, seit sie zu der eine Stunde dauernden Fahrt nach New York aufgebrochen waren, war äußerst kräftig. Er drückte ihr die Hand und fragte sie dann: "Möchtest du, dass Sierra mitkommt?" Sie sah ihm in die Augen und schüttelte den Kopf. "Nein. Ich möchte dich bei mir haben." Ich möchte dich bei mir haben. Eigentlich hätte ihn dieser Satz abschrecken müssen, doch er empfand ihn als Ansporn. Rhys war es gewohnt, in Notsituationen konzentriert zu arbeiten. Diesmal war es eine besondere Herausforderung - und eines der eindrucksvollsten und bewegendsten Erlebnisse seines Lebens.
Mariah war der bewundernswerteste Mensch, den er kannte. Schon immer war Rhys fasziniert gewesen von ihrer Wärme, ihrer Fröhlichkeit und Offenheit. Er hatte sie als einen positiven, optimistischen Menschen gekannt, und gemeinsam hatten sie viele schöne Dinge erlebt. Jetzt war Mariah wie ein Fels in der Brandung - entschlossen und unbezwingbar. Der Arzt erklärte ihr, dass die Babys zu früh kämen und noch klein und deshalb besonders anfällig seien. "Je weniger Schmerzmittel wir benötigen, desto besser für die Kinder", sagte er. "Es könnte sonst sein, dass ihre Herzen und Sinnesorgane geschädigt werden." Mariah hörte ihm zu, während sie weiter Rhys' Hand umklammert hielt. "Ich schaffe es ohne", versicherte Mariah ihm. Dann wandte sie sich an Rhys. "Erzähl mir etwas." Sie unterhielten sich über alles, was ihnen einfiel - über Mariahs Kindheit auf der Farm in Kansas, über Rhys' Jugend in New York, über die Streiche, die er und seine Brüder anderen gespielt, und die Dummheiten, die Sierra und Mariah angestellt hatten. Rhys konnte ihr ansehen, wenn die Wehen stärker wurden und der Schmerz sie überwältigte. Er streichelte ihr den Rücken, massierte ihr die Füße, gab ihr Eiswürfel zum Zerbeißen. Die Wehen wurden immer stärker, die Abstände zwischen ihnen immer kürzer. Mariah zitterte. Sie atmete tief ein und umklammerte seine Hand. Sie sahen einander in die Augen und atmeten im selben Rhythmus ein und aus. Mariah gab nicht nach. Sie schien aus einer unerschöpflichen inneren Quelle immer neue Kraft zu sammeln. Die ganze Zeit über - Minuten, die ihm wie Stunden vorkamen - kämpfte sie tapfer und unnachgiebig. 'Rhys' Aufgabe bestand darin, ihr Mut zu machen, damit sie durchhalten würde. Er saß am Kopfende des Bettes, ihre Hand in seiner. Gemeinsam zählten sie und atmeten ein und aus.
"Du machst das gut", lobte er sie. "Sehr gut." Er kam sich vor wie ein Cheerleader, der sie lediglich anspornte, während sie die eigentliche Arbeit allein machte. Aber sobald er schwieg, befahl sie ihm fortzufahren. "Rede mit mir, verdammt noch mal! O nein", rief sie, als wieder eine Wehe ihren Körper durchfuhr. "Entschuldigung ... ich ... ich breche dir die Finger ..." Rhys war das egal. Er bemerkte es gar nicht. "Mach weiter", ermunterte er sie lediglich. "Ich muss jetzt pressen", sagte sie verzweifelt. "Du musst einatmen", befahl Rhys. Woher er das wusste, war ihm selbst nicht klar. Aufgeregt läutete er nach der Krankenschwester. "Irgendetwas passiert. Bitte tun Sie etwas!" Mariah umklammerte noch fester seine Hand. Die Schwester untersuchte sie eilig. "Ja, jetzt ist es so weit", stellte sie fest und rief den Arzt. "Endlich", sagte Rhys erleichtert. Doch er irrte sich, wenn er glaubte, dass Mariah das Schlimmste bereits hinter sich hatte. Es war fast unerträglich, sie so leiden zu sehen, ohne etwas für sie tun zu können. "Pressen", ermunterte sie der Arzt, während Rhys ihr die Stirn trocknete. "Ja, so ist es gut. Sehr gut. Jetzt halten. Warten bis die Wehen wieder anfangen. Gut, Mariah. Und noch einmal. Fester, fester!" Seine Stimme wurde lauter. "Durchhalten, Mariah!" Ihr Gesicht war rot vor Anstrengung, und sie zitterte am ganzen Körper. Sie biss sich auf die Lippe, während sie Rhys' Finger fast zerquetschte. Ihr Blick suchte seinen. "T... tut mir Leid." "Ganz ruhig", erwiderte er. "Mir sollte es Leid tun. Ich habe dich in diese Lage gebracht." "Sag ... so was ... nie ... wieder", keuchte sie. "Ja!" rief der Arzt in diesem Moment aus und hielt einen winzigen Säugling hoch. "Ein Mädchen!"
Mariah weinte und lachte zugleich. "Geht es ... geht es ihm gut?" fragte sie atemlos, während sie beobachtete, wie die Krankenschwester sich um das Baby kümmerte. "Alle Finger und Zehen sind dran", antwortete der Arzt. "Und sie atmet normal. Dr. Oates wird sie gleich gründlich untersuchen. Sie ist wirklich ein schönes Baby, nicht wahr, Dad?" Er nahm der Schwester das Neugeborene ab und hielt es so, dass Rhys es sehen konnte. Überwältigt betrachtete Rhys seine Tochter - ein winziger, aber vollkommener Mensch mit großen Augen, die nach jemandem zu suchen schienen. Er war wie benommen und brachte kein Wort heraus. Der Arzt übergab das Baby dem Kinderarzt, der gerade ins Zimmer gekommen war. "Aber wir haben ja erst die Hälfte geschafft, nicht wahr? Sie machen das sehr gut, Mariah. Sind Sie bereit?" Rhys spürte, wie ihre Finger sich wieder fest um seine schlössen. Sie lächelte tapfer. "Ich bin bereit." Er wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, das Ganze noch einmal durchzustehen, aber sie schaffte es, und nur wenige Minuten später erblickte ein zweiter dunkelhaariger Säugling das Licht der Welt. "Herzlichen Glückwunsch!" sagte der Arzt. "Sie haben eine Tochter und einen Sohn." Aber Rhys hatte nur Augen für Mariah. Ihre Lider zuckten, und sie zitterte am ganzen Leib - vor Erschöpfung und vor Anstrengung. "Alles in Ordnung?" fragte Rhys besorgt. Sie lächelte ihm zu, während ihr Tränen übers Gesicht liefen. "Ja, mir geht es gut." Sie drückte so leicht seine Hand, als wäre sie am Ende ihrer Kräfte - was vermutlich auch der Fall war. "Was halten Sie davon, wenn Sie sich Ihre Kinder ansehen, während wir uns um Mariah kümmern?" schlug der Arzt Rhys vor.
Rhys fühlte sich benommen und nahm gar nicht richtig wahr, was um ihn her passierte. Wie ein Schlafwandler ging er zu dem Kinderarzt und sah zu, wie er erst das eine, dann das andere Baby untersuchte. Die Schwestern wuschen die Kleinen, zogen ihnen etwas an und wickelten dann jedes Kind in eine Decke - in eine rosa und eine blaue. Die Babys schrien und fuchtelten mit ihren winzigen Ärmchen herum. Aus dem Augenwinkel sah er, dass der Arzt sich immer noch um Mariah kümmerte. Auf einmal war sie so ruhig und lag fast bewegungslos da. "Mr. Kelly?" sprach ihn der Kinderarzt an. Rhys blinzelte überrascht, als ihm klar wurde, dass er gemeint war. "Wolfe", berichtigte er, "ich heiße Wolfe." "Oh, entschuldigen Sie. Wir hatten nur den Namen Ihrer Frau. Ihre Tochter und Ihr Sohn werden während der ersten vierundzwanzig Stunden in den Brutkasten gelegt. Das ist lediglich eine Vorsichtsmaßnahme", beruhigte er Rhys lächelnd, "weil sie etwas zu früh zur Welt gekommen sind. Es scheint ihnen sehr gut zu gehen. Sie sind zwar klein, aber kräftig. Der Junge wiegt genau fünf Pfund und das Mädchen vier Pfund und vierhundert Gramm. Bitte kommen Sie kurz mit, damit wir die nötigen Daten aufnehmen können." Rhys beantwortete alle Fragen wie im Schlaf. Noch immer konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Immer wieder sah er Mariah, wie sie vor Schmerz und Anstrengung zitterte und unablässig kämpfte. Wo war sie jetzt? Man hatte ihn einfach hinausgeschickt, noch bevor der Arzt sie fertig untersucht hatte. Wie ging es ihr? Er musste unbedingt wissen, wie es ihr ging! "Wo ist... wo ist meine Frau? Ich muss ... zu meiner Frau!" Wenn alle anderen Mariah als seine Frau bezeichneten, konnte er es ebenso gut auch tun. "Wir sind gleich fertig, Mr. Wolfe", erwiderte die Schwester. "Nur noch vier Fragen."
"Zimmer 411", sagte man ihm eine Minute später, als Rhys aus dem Zimmer stürzte. "Sie hat schon nach Ihnen gefragt." Er eilte den Gang entlang. Mariah lag mit geschlossenen Augen im Bett, alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Rhys trat näher, um zu horchen atmete sie überhaupt noch? Er stieß gegen den Nachttisch. Mariah öffnete die Augen. "Hallo." Sie klang heiser und erschöpft. "He." Rhys rückte noch näher und strich ihr das Haar aus der Stirn. Maria war schöner als je zuvor, und ihr Gesicht strahlte eine Stärke aus, die er an ihr noch nie bemerkt hatte. "Du warst wundervoll", sagte er. Mariah lächelte und streckte eine Hand nach ihm aus, und er schloss die Finger um ihre. Sie fühlten sich weich und etwas zu kühl an, und er rieb ihre Hände, um sie zu wärmen. "Sie sind wunderschön", erwiderte sie sanft. "Die Babys. Danke, Rhys." Er blickte sie verständnislos an. Mariah führte seine Hand an die Lippen und küsste sie ein letztes Mal. Dann sammelte sie all ihre Kraft und tat das Schwerste, was sie je in ihrem Leben getan hatte. "Danke", wiederholte sie leise. "Danke für die Babys. Für alles. Du brauchst nicht hier zu bleiben, Rhys. Du kannst gehen." Und er ging. Denn das hatte er schließlich die ganze Zeit gewollt - wieder frei und unabhängig sein. Einen Scheck ausstellen, aber sich nicht binden. Er wollte sich nicht binden. Hatte er das nicht selbst gesagt? Er fuhr nach Long Island und packte seine Sachen. Von New York aus rief er seinen Chef an. "Ich bin einsatzbereit", sagte er. "Schicken Sie mich, wohin Sie wollen." "Können Sie das nächste Flugzeug nach Indonesien erreichen?" fragte sein Chef. Und ob er das konnte. Vorher fuhr Rhys zum Krankenhaus, um ein letztes Mal seine winzigen Babys zu sehen. Inzwischen standen ihre Namen an den Bettchen: Stephen und Elizabeth. Schöne, solide Namen,
dachte er. Er wollte Mariah sagen, dass ihm die Namen gefielen, und ihr das Geschenk geben, das er mitgebracht hatte. Aber als er durch die Glastür in ihr Zimmer blickte, sah er, dass sie Besuch hatte: Finn und Izzy waren da, Mariahs Chefin Stella, Sierra und Kevin. Rhys gab einer Krankenschwester das Päckchen. "Bitte vergessen Sie nicht, es ihr zu geben. Ich muss dringend weg." Mariah hatte genug Unterstützung. Sie brauchte ihn nicht. Doch er brauchte sie. Er brauchte sie - und die Babys. Es verging kein Tag, an dem er nicht an sie dachte. Kein Tag? Eigentlich dachte er ständig an sie. Rhys versuchte, an Sarah und das ungeborene Baby zu denken, um gegen seine Gefühle für Mariah und die Babys anzukämpfen. Doch es gelang ihm nicht. Sie alle waren in seinem Herzen: Mariah, Elizabeth und Stephen - und Sarah und ihr Baby. Und während er gegen das Feuer ankämpfte, wurde ihm klar, dass er gegen seine Gefühle machtlos war. Er liebte sie. Er sehnte sich nach ihnen, er sehnte sich danach, nach Hause zu kommen. Er wollte Mariah anrufen, wollte wissen, wie es ihr ginge, ob sie etwas brauchte, ob sie ihn brauchte. Aber er hatte Angst, dass sie es nicht tat. Sie war so stark, so unabhängig. Sie hatte während der Geburt seine Hand umklammert, und doch hatte sie alles ohne seine Hilfe getan. Als alles überstanden war, hatte sie seine Hand geküsst und ihm für die Babys gedankt. Doch dann hatte sie ihn gehen lassen. "Verdammt, Mariah", murmelte Rhys. Schon hundert Mal hatte er sie in Gedanken gefragt: Liebst du mich? Könntest du mich je lieben? Aber er konnte ihr diese Frage nicht am Telefon stellen. Er musste sie sehen und ihr in die Augen blicken. Dann würde er die Antwort wissen, egal, was sie sagen würde. Weihnachten in Kansas war nicht zu vergleichen mit Weihnachten in New York. Keine Menschenmengen, keine
aufwändig dekorierten Schaufenster, kein riesiger Tannenbaum im Rockefeller Center. Mariah vermutete, dass der Baum auch dieses Jahr da war. Doch sie war nicht da. Sie war nach Hause gefahren, zusammen mit Sierra, Elizabeth und Stephen. Sierra wollte nach einer Woche wieder nach New York zurück. Mariah und die Kinder würden bleiben. "Du kannst gern zwei oder drei Monate bleiben - solange du willst", hatten ihre Eltern ihr angeboten. Sie hatten Mariah mit offenen Armen empfangen - und ihre beiden wunderschönen Enkelkinder. Mariah war ihren Eltern zutiefst dankbar - für ihre Liebe, ihre Unterstützung, ihre Bereitschaft, ihr zur Seite zu stehen - auch wenn die Zwillinge mitten in der Nacht gefüttert werden müssten oder krank würden. "Ich werde immer besser", hatte sie ihrer Mutter erzählt. Vor einer Woche war sie aus dem Krankenhaus entlassen worden und hatte sich langsam auf die neue Situation eingestellt. Dann und wann fand sie sogar die Zeit, ein wenig zu arbeiten, mal fünfzehn Minuten, mal eine Stunde. "Du machst das ganz großartig", versicherte ihr ihre Mutter. "Babys machen viel Arbeit, und du hast gleich zwei, um die du dich allein kümmerst." Ihre Mutter hatte Mariah keine Vorwürfe gemacht. Sie schien nur ein wenig traurig. Sie hatte sich mit Fragen zurückgehalten und lediglich wissen wollen, ob Mariah den Vater der Kinder geliebt habe. Das hatte Mariah und tat es noch immer. Sie sehnte sich nach Rhys, und nachts träumte sie von ihm. Wenn sie ihre Babys auf dem Schoß wiegte, erzählte sie ihnen von ihrem Vater. "Euer Daddy ist ein guter Mensch", sagte sie leise. "Er ist stark und mutig. Vielleicht werdet ihr irgendwann ..." Am Tag, bevor sie New York verließ, war Rhys' Bruder Dominic mit einem Arm voller Geschenke vorbeigekommen
mit Stofftieren und einem Jahresgutschein für einen Windelservice. Mariah hatte ihm Stephen auf den Arm gegeben, der geschrien und ihn nass gemacht hatte. Dominic hatte reagiert wie ein echter Mann - er hatte Stephen an Sierra weitergegeben. Nachdem er gegangen war, hatte Mariah mit den Tränen kämpfen müssen. Dominic hatte sie an Rhys erinnert, denn er sah ihm sehr ähnlich. Sierra hatte nur verächtlich gesagt: "Und er benimmt sich auch genau so. Wenn du mich fragst, sind sie beide Versager." "Nein." Mariah hatte ihr widersprochen. Rhys wusste eben, wo seine Grenzen waren. Er war wieder zu einem Einsatz im Ausland geflogen, aber sie wusste nicht, wohin. Das hatte sie nie gewusst, doch vielleicht sollte sie dieses Mal versuchen, es herauszufinden, nur für den Fall... Vielleicht hätte er es ihr gesagt, wenn er sie vor seiner Abreise noch gesehen hätte. Aber sie hatte nicht einmal gewusst, dass er im Krankenhaus gewesen war, bis ihr eine Schwester das Päckchen gebracht hatte. "Das ist für Sie", erklärte sie. "Ihr Mann hat es abgegeben." "Mein ...?" Mariah sprach das letzte Wort nicht aus. Überrascht nahm sie das Päckchen und las die beiliegende Karte. "Zwillinge", stand nur darauf - und dann Rhys' Unterschrift. Es waren die beiden kleinen Bären mit dem Segelboot. Mariah schluckte, dann kamen ihr die Tränen. Sie setzte die Stofftiere auf den Nachttisch im Kinderzimmer. Hinter ihnen saß beschützend Mama Bär. Jedes Mal, wenn Mariah vorbeiging, strich sie ihr sanft über das Fell. Auch jetzt tat sie es wieder, als sie zu Elizabeth ging, die aufgewacht war und leise wimmerte. Wenn sie es schaffen würde, sie zu stillen, bevor Stephen wach wurde, brauchte ihre Mutter ihn nicht mit der Flasche zu füttern. Mariah versuchte, möglichst darauf zu verzichten und sie beide zu stillen, was
jedoch äußerst schwierig war, wenn beide Babys gleichzeitig Hunger hatten. "Ganz ruhig, kleine Lady", beruhigte sie ihre Tochter. "Nur noch einen Moment." Sie knöpfte ihre Bluse auf. Inzwischen konnte sie mit dem Still-BH bereits viel besser umgehen als zu Anfang. "Ich werde immer besser", lobte sie sich. Diese Worte waren eine Art Mantra für sie geworden. Irgendwann, da war Mariah ganz sicher, würde sie alles allein bewerkstelligen können. Irgendwann würden sie drei ohne Hilfe anderer zurechtkommen. Sie setzte sich in den Schaukelstuhl und legte sich Elizabeth an die Brust. Das Baby blickte zu ihr auf und begann zu trinken. Mariah strich der Kleinen übers Haar. Es war seidenweich und sehr dunkel - dunkler als ihrs. Es glich dem von Rhys. Es klingelte an der Haustür. Sierra und ihr Vater waren unterwegs, um den Weihnachtsbaum zu kaufen. Aber Mariahs Mutter war in der Küche, sie würde die Tür öffnen. Sämtliche Bekannte aus Emporia waren bereits da gewesen und hatten die Zwillinge bewundert. Und Mariah hatte nichts dagegen, sondern war dankbar für das Interesse und die Anteilnahme, die man ihr entgegenbrachte. Sie war froh, wieder zu Hause zu sein, und überlegte, wer dieses Mal geläutet haben könnte. Nur wenig später wurde die Tür behutsam geöffnet, und ihre Mutter blickte ins Zimmer. "Du hast Besuch." "Wer ist es denn?" Die Tür ging weiter auf. "Ich." Rhys trat ein. Mariahs Herz begann, wie wild zu klopfen, und ihr stockte der Atem. Ungläubig blickte sie ihn an. Rhys? Hier? "Aber ..." Ihre Mutter stand noch im Türrahmen. Sie lächelte. Dann schloss sie die Tür und ließ sie allein.
Rhys sah fantastisch aus - durchtrainiert und sonnengebräunt. Er trug Jeans und einen Pullover, sein dunkles Haar war voller Schneeflocken. "Rhys!" Mariah lächelte, doch sie blieb sitzen, da sie noch immer das Baby stillte. Aber selbst wenn sie Elizabeth nicht auf dem Arm gehabt hätte, wäre sie ihm nicht entgegengegangen. Sie hatte Angst, dass sie ihn dann nie mehr würde loslassen können. Einmal war sie stark genug gewesen, ihn gehen zu lassen. Doch ein zweites Mal würde sie es nicht fertig bringen. "Was für eine Überraschung!" Sie versuchte, fröhlich zu klingen, konnte jedoch ihre Nervosität nicht überspielen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. "Warum bist du ...?" Nein, das konnte sie nicht fragen. "Wie nett, dass du uns einen Weihnachtsbesuch abstattest!" Das klang schon besser - höflich, aber unverbindlich. "Ich bin nicht hergekommen, weil Weihnachten ist", erwiderte Rhys. Zu Mariahs Erstaunen klang er genauso nervös wie sie selber. Mit großen Augen blickte sie ihn an. Rhys schluckte. Er hatte ein Weihnachtsgeschenk mitgebracht, das er so fest umklammert hielt, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Aber warum dann ...? wollte sie fragen. Doch noch bevor sie es aussprechen konnte, antwortete er bereits. "Ich bin hergekommen, um dir zu sagen, dass ich dich liebe." Mariah erstarrte. Überwältigt sah sie ihn an. Sein Blick war unglücklich und angstvoll. Ihretwegen? Rhys zerdrückte fast das Päckchen. Er sah ihr in die Augen, und sein Blick schien sie zu durchdringen. "Ich weiß, dass du mich nicht brauchst, Mariah. Und nach allem, was ich getan habe, kann ich nicht erwarten, dass du mich liebst, aber ..." "Aber ich liebe dich." Das Schönste zu Weihnachten war für Mariah immer die feierliche Stille gewesen. Stille, Erwartung und Hoffnung. In diese Stille hinein hörte sie, wie Rhys tief einatmete. Dann
durchquerte er mit drei großen Schritten das Zimmer und kniete sich vor ihr auf den Boden. Er schloss sie und Elizabeth in seine Arme, barg das Gesicht an ihrem Hals und weinte. Auch Mariah weinte. Tränen fielen auf Elizabeth, und Mariah legte ihre Wange an Rhys' weiches Haar und flüsterte: "Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich." Und auch Rhys sagte es. Als er sich schließlich wieder aufrichtete, sahen sie einander an und lächelten. Dann trockneten sie sich gegenseitig die Tränen. Rhys blickte Elizabeth an, die die ganze Zeit über ungerührt weitergetrunken hatte und jetzt ihren Vater neugierig betrachtete. "Sie ist unglaublich groß geworden", bemerkte Rhys beeindruckt. "Sie wiegt schon fast sechs Pfund", erwiderte Mariah stolz. Am anderen Ende des Zimmers machte sich jetzt Stephen bemerkbar, der gerade aufgewacht war. Mariah legte sich Elizabeth, die ein Bäuerchen machen musste, an die Schulter. "Könntest du mir bitte Stephen bringen?" Nach kurzem Zögern nickte Rhys. Mit unbeholfener Zärtlichkeit nahm er seinen Sohn aus dem Bettchen und überreichte ihn vorsichtig Mariah. Er deutete mit dem Kinn auf Elizabeth und schien sich zu fragen, wie sie es schaffen würde, Stephen zu stillen, während sie das andere Baby ebenfalls auf dem Arm hatte. "Lass uns tauschen", forderte sie ihn auf und reichte ihm geschickt seine kleine Tochter, die Rhys fest an seine Brust drückte. "Du musst ihr ein bisschen auf den Rücken klopfen", erklärte Mariah. "Sie muss noch ihr Bäuerchen machen. Hier, leg dir dieses Tuch auf die Schulter." Während Stephen zu trinken begann, tat Rhys, was Mariah gesagt hatte, und platzte fast vor Stolz, als Elizabeth tatsächlich
ein kaum hörbares Bäuerchen machte. "Hast du das gehört? Ich habe es geschafft!" Er lachte. Auch Mariah lachte, während ihr wieder die Tränen kamen. Rhys ging langsam mit seiner Tochter auf dem Arm im Zimmer auf und ab, während Mariah Stephen stillte. Sie waren ein Team. Kurze Zeit später steckte Mariahs Mutter den Kopf zur Tür herein. Sie lächelte glücklich. "Genau so soll es sein", sagte sie und verschwand, um ihrem Mann und Sierra die gute Nachricht zu überbringen. Mariah zeigte Rhys, wie die Babys gewickelt wurden. Diesmal kamen ihm die Kinder nicht groß vor, aber er schien zwei linke Hände zu haben, als er mit Windeln und Puder hantierte. "Ich musste es auch erst lernen. Mit der Zeit wirst du besser werden", versicherte sie ihm. "Ganz bestimmt", versprach Rhys. Gemeinsam betrachteten sie dann andächtig ihre beiden Kinder. Mariah spürte, wie Rhys' Finger sich um ihre schlössen und sie festhielten. "Was ist in dem Päckchen?" fragte sie. Er reichte es ihr. "Mach es auf." "Muss ich nicht bis Weihnachten warten?" "Nein, bitte pack es jetzt gleich aus." Nervös und mit fahrigen Bewegungen riss sie das Papier auf und öffnete die Schachtel. Es war der Bär mit den Gummistiefeln und dem gelben Regenmantel. In der Tasche seines Mantels steckte ein Zettel. Mariah zog ihn heraus. Ein Ring lag dabei. Auf dem Zettel stand: Willst Du meine Frau werden? Sie wandte sich zu Rhys um und reichte ihm den Ring. Verwirrt blickte er erst den Ring, dann sie an.
Sie streckte ihm die Hand entgegen, und aus ihren Augen leuchtete ihre ganze Liebe, als sie ihn bat: "Bitte steck ihn mir an." Als sie sich das erste Mal geliebt hatten, waren Schmerz und Verlust der Auslöser gewesen. Auch wenn sie es damals noch nicht gewusst hatten, hatte ihre Liebe nicht nur zwei, sondern drei Menschen ein neues Leben geschenkt - denn sie hatte Rhys von den Schatten der Vergangenheit befreit. Dieses Mal, schwor Rhys sich, würde er sich ganz auf Mariah einlassen. Er würde sie mit zärtlicher Leidenschaft lieben, sanft und behutsam mit ihr umgehen und ihr zeigen, wie sehr er sie liebte. Als der Arzt sagte, dass sie sich nicht mehr zu schonen brauche, bat Rhys seine Schwiegereltern, auf die mittlerweile acht Wochen alten Babys aufzupassen, während er sich mit Mariah davonmachte. "Wohin fahren wir?" wollte sie wissen. "Was hast du mit mir vor?" Rhys lachte nur. Er hatte schon vor längerer Zeit Erkundigungen eingeholt und Pläne geschmiedet. Er hatte, mitten in der Wildnis, ein winziges Häuschen gefunden. Ganz einfach ausgestattet und meilenweit vom nächsten Dorf entfernt, wie geschafften für zwei Liebende, die nicht viel brauchten außer einander. "Vertrau mir", erwiderte er und nahm ihre Hand. Das Häuschen war noch einfacher ausgestattet, als Rhys es in Erinnerung hatte. Der Wind pfiff über die Hügel, und die ersten Schneeflocken stoben durch die kalte Abendluft. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen? "Es ist wundervoll", sagte Mariah begeistert. Sie umarmte ihn und küsste ihn auf die Wange. Er wandte sein Gesicht, so dass sie ihn auf den Mund küsste. Wie ausgehungert erwiderte er ihren Kuss.
"Du machst Feuer", schlug Mariah vor, "ich beziehe das Bett." "Das ist schon fertig", erwiderte Rhys. Er war bereits am Morgen hier gewesen, hatte alles vorbereitet und die Sektgläser sowie die Zutaten für das Dinner hergebracht, das er für Mariah kochen wollte. Doch jetzt war er gar nicht hungrig. "Möchtest du etwas essen?" fragte er. Mariah legte die Hände auf seine Brust. "Ich will nur dich", antwortete sie. Sie schafften es kaum bis zum Bett. Das Feuer würden sie später machen. In ihnen brannte bereits das Feuer der Leidenschaft. Unter der warmen Daunendecke erkundeten sie einander. Rhys' Körper war fest und muskulös, Mariahs weich und anschmiegsam. Rhys küsste ihren Mund, den Hals, ihre Brüste. Mit beiden Händen liebkoste er sie überall. Er hatte Mariah gertenschlank in Erinnerung, aber auch wohl gerundet, als sie mit ihrer beider Kinder schwanger gewesen war. Jetzt war ihr Körper weich und verführerisch, bereit für ihn. Mariah zog ihn an sich und umgab ihn mit ihrer Wärme. Sie küsste ihn, und mit ihrer Liebe heilte sie endgültig die Wunden der Vergangenheit. Das Feuer machten sie später. Viel später. Dann kochten sie und tranken Sekt. Schließlich kuschelten sie sich wieder in die Decke, und Mariah legte den Kopf auf die Brust des Mannes, den sie liebte. Während sie einen Finger über seine nackte Haut gleiten ließ, spürte sie, wie Rhys erschauerte. Dann strich sie mit dem Fuß an seiner Wade entlang, bis zur Innenseite seines Oberschenkels. Rhys seufzte lustvoll. "Du willst wohl Ärger", sagte er und biss sie sanft ins Ohr. "Meinst du?" Ihr Fuß wanderte noch weiter nach oben, und auch ihre Hände waren nun in Bewegung. Rhys stöhnte auf.
"Hm ..." flüsterte er und hielt ihre Hände fest. "Und du bekommst ihn auch." Er drehte sie auf den Rücken und drang in sie ein. Später, nachdem sie ihre Leidenschaft gestillt hatten und gemeinsam in die lodernden Flammen blickten, schloss sie ihn in die Arme. "Du warst einfach wundervoll", sagte sie. "Du bist wundervoll. Ich liebe dich." Rhys setzte sich auf und sah sie mit seinen dunklen Augen an. "Und ich liebe dich", erwiderte er, beugte sich zu ihr und küsste sie voller Leidenschaft. "Und das Feuer unserer Liebe wird nie erlöschen."
-ENDE