NUR AUGEN FÜR SIE
Leandra Logan
1326 18 1/02
Gescannt von Almut K.
1. KAPITEL In Grace North' Küche stand ein gr...
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NUR AUGEN FÜR SIE
Leandra Logan
1326 18 1/02
Gescannt von Almut K.
1. KAPITEL In Grace North' Küche stand ein großer dunkelhaariger Fremder. Und ... schnitt Zwiebeln. Grace blieb wie angewurzelt auf der Türschwelle ihres Hauses stehen, über die Schultern eine große Umhängetasche, den Schlüsselbund in einer Hand. Sie blinzelte ungläubig. Manchmal kam zwar unerwartet Besuch, wenn sie gerade nicht da war, und ihr Bruder, der nebenan wohnte, schloss dann auf. Aber zumindest dem ersten Eindruck nach hatte sie weder diesen Mann noch seine Zwiebeln je gesehen. ,,Hallo?" fragte sie vorsichtig. Der Mann hielt inne und streifte sie mit einem. unbeteiligten Blick - das hübsche gerötete Gesicht, lebhafte grüne Augen, die kastanienbraune Lockenpracht und das Trägerkleid, unter dem. sie ein knappes, pinkfarbenes T-Shirt trug. Um seine Lippen spielte jetzt ein anerkennendes Lächeln. "Du siehst wunderbar aus, Grace." Das Gleiche hätte Grace auch von ihm sagen können. Und nicht zu knapp. Unter den abgetragenen Jeans und dem ausgeblichenen roten T-Shirt zeichnete sich eine sehnige, schlanke Figur ab. Er war perfekt rasiert und trug das kurze schwarze Haar sorgfaltig geschnitten. Die tiefe verführerische Stimme und die glitzernden blauen Augen taten den Rest, um Grace umzuhauen. Umhauen war das richtige Wort. Als ihr plötzlich klar war, wer da vor ihr stand, machte ihr Herz einen Satz. Es war Kyle. Kyle McRaney. Offenbar war er sich der Wirkung seiner Erscheinung überhaupt nicht bewusst, denn er wandte sich wieder den Zwiebeln auf dem Hackbrett zu, wobei die starken Muskeln seines Oberarms sich aufregend bewegten. Grace holte tief Luft und wuchtete ihre Tasche auf den Tisch. Nur keine Sorge. Diese absolut unwahrscheinliche Szene war nur ein Traum, in dem mal wieder ihre Jugendliebe die Hauptrolle spielte. Seit Kyle vor sieben Jahren unvermittelt verschwunden war, kam das häufiger vor. Also suchte Kyle vermutlich ein weiteres Mal ihre Gedanken heim. Seltsam, bisher war er in ihren Gedanken jedoch nie älter geworden und weder frisch rasiert noch gut frisiert gewesen. Aber so sah er eigentlich noch besser aus. Was würde dieses Mal passieren? Leidenschaftliche Liebesspiele auf dem Tisch? Dem Sofa? Dem Bett? Sie spürte schon jetzt seine Berührungen auf ihrem Körper. Und nun redete die Traumgestalt erneut. „Ich dachte nicht, dass du so früh kommst." Sie zog ihre fein geschwungenen Augenbrauen hoch. „Und ich dachte nicht, dass du überhaupt je wiederkommst, Kyle." ,,Natürlich nicht. Es sollte ja auch eine Überraschung werden. Eigentlich wollte ich fertig sein, bevor du wieder da bist." Er zwinkerte ihr zu. „Aber trotzdem, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag." Ach, so war das also. Jetzt fantasierte sie sich schon ihr eigenes Geburtstagsgeschenk zusammen. ,,Michael versicherte mir, ich hätte in deiner Küche freie Bahn, weil du mindestens zwei Stunden weg wärst." Als er jetzt ihren Bruder erwähnte, rieb Grace sich die Schläfen. In diesen Träumen hatte Michael nichts zu suchen. Sie zwickte sich in den Arm. Au! Das tat ja wirklich weh! Es war also kein Traum. Kyle war wirklich da. Herangereift zur Perfektion, besser aussehend denn je. Sie schüttelte den Kopf und lehnte sich mit einer Hüfte an den Tisch. ,,Wie alt wirst du heute überhaupt, Gracie?" fragte er beiläufig. „Zwanzig?" ,,Vierundzwanzig", korrigierte sie ihn.
,,Tatsächlich." Nachdenklich starrte er in die Luft. „Nun, das ist alt genug, um ...“ Sie lächelte. „Sagen wir einfach, es ist alt genug." Lachend warf er den Kopf zur ück. Wie leicht es ihm offensichtlich fällt, wieder wie fr üher in die Rolle des großen Bruders zu schlüpfen, dachte Grace. Es erinnerte sie daran, wie damals alles geendet hatte: Weil sie zu dumm gewesen war, zwischen einem echten Flirt und einer Neckerei zu unterscheiden, war sie für lange Zeit im Land der gebrochenen Herzen gelandet. Im Rückblick schien es auch ihr unwahrscheinlich, dass sich ein Mann, der frisch vom College kam, in ein albernes Schulmädchen von siebzehn Jahren hätte verlieben sollen. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie jetzt einen kühlen Kopf bewahren musste. Auch wenn immer noch die Hoffnung in ihr nagte, während sie beobachtete, wie Kyle sich durch den Berg Zwiebeln arbeitete. Sein Ringfinger war leer. Hatten er und Libby sich etwa getrennt? Nie hatte sie begriffen, was die beiden aneinander fanden. Die schmale, stille Libby Anderson schien von Anfang an nicht die Richtige für den lebhaften Kyle zu sein. Die beiden hatten sich damals in ,Amelia's Bistro’ kennen gelernt, dem Restaurant von Libbys Großeltern, Amelia und Andy, die nach dem Tod ihrer Eltern für sie sorgten. Eine Romanze zwischen den beiden schien so abwegig, dass Grace, als sie zufällig mithörte, wie Kyle Michael anvertraute, dass er mit seiner Braut auf und davo n laufen wollte, dachte, sie sei die Auserwählte. Noch im Morgengrauen hatte sie am Fenster gesessen, wo sie die ganze Nacht auf ihn gewartet hatte, und hatte in ihr Taschentuch geweint. Nur Michael und ihre beste Freundin Heather hatten damals von ihrer Torheit erfahren. Kurz darauf waren Kyle und Libby sangund klanglos nach Chicago gezogen. Kyles Abwesenheit hatte den Schmerz etwas gedämpft und Grace ermöglicht weiterzuleben. Jetzt konnte sie kaum glauben, dass er zur ück sein sollte und wie damals Hoffnungen in ihr weckte. Sie durfte sich nicht wieder in sein Netz locken lassen. Immerhin konnte er ja immer noch verheiratet sein. Vielleicht trug er den Ring nur nicht, weil er gerade kochte. „Also, Kyle", sagte sie und holte tief Atem, „du bist sicher nicht extra wegen meines Geburtstags hier. Du und Libby, ihr seid bestimmt wegen etwas anderem ...“ "Libby ist nicht mehr da", unterbrach er sie schlicht. Mit einem bemühten Lächeln fügte er hinzu: „Was mich betrifft, bin ich für immer zurückgekehrt. Ich will hier bleiben und den Auenblick leben und in diesem Augenblick mache ich mein Spezialchili nur für dich." Es wäre besser, wenn dies wirklich ein Traum. wäre, fand Grace. Ohne sich anmerken zu lassen, wie durcheinander sie war, ging sie zur Küchenzeile. Auf dem Herd stand ein großer Topf, in dem ein roter Eintopf brodelte. „Wie sieht's aus?" Sie roch anerkennend daran. „Es ist noch ein bisschen früh fürs Mittagessen." „Ist ja auch noch nicht fertig. Du wirst schon sehen." ,,Und wann?" Sein gleichmütiger Gesichtsausdruck wurde etwas weicher. ,,Michael will nicht, dass ich etwas verrate." So war das also. Anscheinend versuchte ihr Bruder schon wieder, sich in ihr Leben einzumischen. Seiner Ansicht nach lebte sie im ständigen Chaos, angefangen bei ihrem Design-Atelier über ihren Mangel an hausfraulichen Fähigkeiten bis hin zu ihrem Geschmack, was Männer betraf. Grace zählte die wenigen Informationen zusammen, die sie hatte. Kyle war ein fantastischer Koch, der gelegentlich gegen Bezahlung für verschwenderische Partys ihrer Eltern gekocht hatte. Sein Studium hatte er sich ebenfalls auf diese Weise finanziert und nebenbei alles Mögliche in „Amelia's Bistro" erledigt. Aber was hatte das mit heute zu tun? Michael wusste doch genau, dass heute Abend eine Dinnerparty im Haus der Familie am Minnetonka-See stattfinden sollte.
„Ich glaube nicht, dass ich dir zu nahe trete, wenn ich sage, dass deine Küche eine Katastrophe ist", stellte Kyle fest. „Bei deinen Vorräten hier könnte ja keine Maus überleben. Abgelaufene Dosen, stumpfe Messer. Wenigstens die Gerate sind ganz gut. " Er nahm das Schneidbrett, schabte die Zwiebeln in den Topf über der offenen Flamme und rührte um. „Dieser Gasherd zum. Beispiel ist viel besser als jeder elektrische." ,,Wieso denn?" Grace stellte sich neben ihn und legte ihm die manikürten Finger auf den Arm. „Eine echte Flamme sorgt für schnelle und gleichmäßige Hitze.“ Das war nicht gelogen. Sie schloss die Auge n und überließ sich ihren erotischen Träumen. Der heiße Pfefferdampf drang ihr glühend in die Poren. Plötzlich schienen Kyles breite Schultern den schmalen Gang zwischen Anrichte und Herd völlig auszufüllen, Raum und Zeit verschmolzen ineinander. Es kostete sie große Mühe ihn anzusehen und dabei ruhig zu bleiben. Ihre Hand auf seinem Arm zu lassen, während er sie erstaunt ansah. Aber es gelang ihr. „Möchtest du mal probieren?" fragte Kyle neckend. ,,Gern." Leise vor sich hin pfeifend holte er aus einer Schublade einen Löffel und hielt ihn dicht vor ihre Augen. „Ist dir bewusst, dass du nicht einmal ein komplettes Gedeck hast?" „Ist das so schlimm?" "Das könnte man leicht herausfinden." Mit einer Hand umfasste er ihr Kinn, mit der anderen tauchte er den Löffel in das Chili und hielt ihn ihr vor den Mund. „Puste erst", wies er sie an, damit du dir nicht die Zunge verbrennst." Vor Aufregung zitternd, probierte sie. Das Chili war dickflüssig und gehaltvoll, wenn auch etwas schä rfer, als sie es gewohnt war. Sie keuchte auf, und winzige Schweißperlen traten ihr auf die Stirn. Kyle legte den Löffel neben den Topf, ohne den Blick von ihr zu wenden. „Macht riesig Spaß", stellte er fest, „dich wieder zu ärgern." „Du und Michael wart immer so zu mir", beschwerte sich Grace. „Ständig habt ihr über mich gelästert. „Das klingt ja ganz gemein." ,,War es auch! " Mit seinen rauen Fingern streichelte er sanft über ihre Wange. „Nun, es macht sicher nichts, wenn ich dir ein bisschen was verrate. In gewisser Weise bin ich Michaels Geburtstagsgeschenk für dich. Sein Ton war unmissverständlich provozierend. Doch wenn er dachte, er könnte sich immer noch Scherze mit ihr erlauben, hatte er sich getäuscht. Mit der Fingerspitze berührte Grace sein Schlüsselbein und fuhr die Linie bis zu seinem Hals nach. Kyle direkt auf den Mund zu küssen war einfach zu verlockend. „Na dann herzlichen Glückwunsch für mich", sagte sie heiser. Indem sie ihm eine Hand in den Nacken legte, zog sie ihn zu sich herab, bis sich ihre Lippen federleicht berührten. Die Haustür wurde zugeschlagen. „Grace, was zum. Teufel machst du da mit ihm?" Auf Michael North' Stimme hin fuhren die beiden auseinander. Grace drehte sich langsam zu ihrem Bruder um. „Ich kann mit meinem Geschenk doch machen was ich will, nicht wahr?" fragte sie keck. Michael grinste breit. Er war etwas größer als seine Schwester und trug einen dunkelblauen Gabardineanzug. „Er sollte dir doch nichts verraten! " „Mike", unterbrach Kyle seinen Freund und sah sich suchend im Raum um, „was ist denn übrigens mit..." Michael sah zum. Fenster hinaus. „Keine Sorge, draußen vor der Tür." Kyle seufzte erleichtert. „Was ist draußen vor der Tür?" erkundigte Grace sich misstrauisch.
„Gar nichts." Michael stellte sich vor die Tür, um seiner Schwester den Weg zu versperren. „Das ist ein Geheimnis. Du wolltest also die ganze Show vermasseln?" bemerkte er in Richtung Kyle. „Noch nicht. Aber sie war gerade dabei, es aus mir herauszuquetschen. " Grace klopfte mit der Fuß spitze auf den Holzboden. „Jungs, meine Geduld hat bald ein Ende." „Schwesterchen, du wirst begeistert sein. Kyle ist das Geschenk für die Frau, die schon alles hat." Ihr Herz machte einen gefä hrlichen Satz. „Und das heißt?" „Ich habe ihn angestellt, damit er dich bekocht und endlich mit dem Chaos in deiner Küche aufräumt." ,,Wie bitte?" Grace war sprachlos. ,,Ganz richtig. Kyle wird dein persönlicher Chefkoch - drei ganze Monate lang. Heute wird er dir die erste Kostprobe seiner Künste geben." Kyle war also nur hier, weil Michael ihn angestellt hatte. Innerlich war Grace tief beschämt. Von der Rolle des verführerischen Vamps sank sie wieder zu dem dummen kleinen Mädchen herab, das sie mal gewesen war. Aber was hatte sie erwartet? Einen Ausbruch der Leidenschaft? Dass Kyle gestand, sie sei viel besser als Libby? Grace schalt sich für ihre närrischen romantischen Vorstellungen. „Ich kann gut far mich selbst sorgen, danke", versicherte sie den beiden. „Ich glaube, wenn du dich erst mal an das Essen - und an mich - gewöhnt hast, wird es dir auch schmecken", erlaubte sich Kyle zu bemerken. Sollte sie etwa sein neuer Broterwerb werden, seine neue Karriere? Das Letzte, was Grace von Kyle gehört hatte, war, dass er Manager eines schicken Restaurants im Zentrum von Chicago war. Was mochte passiert sein? Was war aus seinem Traum von einem eigenen Restaurant geworden? „Und das willst du jetzt beruflich tun?" konnte sie nicht umhin zu fragen. „Er hat große Pläne", antwortete Michael fröhlich an Stelle des Freundes und warf noch einen weiteren Seitenblick nach draußen. „Kyle ist auf Amelia Andersons Einladung hier. Sie möchte ,Amelia's Bistro' neu eröffnen und bietet ihm eine Beteiligung an." „Wie schön." Grace bedachte Kyle mit einem aufgesetzten Lächeln, um ihre Verwirrung zu verbergen. Die Andersons waren damals so sehr gegen die Verbindung ihrer Enkelin mit Kyle gewesen, dass das junge Paar fliehen musste, um zu heiraten. Selbst als Andy starb, waren die beiden nicht auf der Beerdigung erschienen. Und jetzt war außerdem noch die Ehe mit Libby zerbrochen. Was sollte also die eiserne Amelia dazu gebracht haben, ausgerechnet Kyle eine Chance zu geben? „Das sind ja aufregende Neuigkeiten", meinte sie. „Das Lokal ist doch seit einigen Jahren geschlossen, nicht wahr?" „Seit Andys Tod", bestätigte Michael. „Aber Amelia wird älter und braucht Geld, also hat sie sich entschieden zu verkaufen. Und sie fand, dass Kyle der richtige Mann sei, um dem Laden ,,Neues Leben einzuhauchen." „Sie scheint ja ziemlich flexibel zu sein", bemerkte Grace. „Es ist tatsächlich wie ein Wunder", erklärte Kyle.“Und Mike hat sich freundlicherweise erboten, als stiller Teilhaber mit einzusteigen, um mir beim Abzahlen zu helfen", fügte er dankbar hinzu. „Noch ein Wunder." Das Dingdong der Türglocke an der Hintertür unterbrach ihn. Michael ging hin und öffnete die Tür einen Spalt. „Hey, wir kennen uns doch, oder?" „Ja", piepste ein kleines Stimmchen. „Willst du reinkommen?" „Ja.“
Hinter Michael trat ein kleines Mädchen mit einem cremefarbenen Kätzchen auf dem Arm ein. Grace klatschte vor Freude in die Hände. „Ist das euer Geheimnis?" „Genau das, was du bestellt hast, Schwesterchen. Eine reinrassige Himalaja -Langhaarkatze. Geliefert vom süßesten Mädchen der Welt." Grace musterte das Kind eingehend. In dem kurzen rosafarbenen Kleidchen sah es wirklich süß aus. Die schwarzen Locken ringelten sich über der Stirn und reichten bis zum Kinn, die Augen waren außergewöhnlich blau. Impulsiv breitete Grace die Arme aus. „Darf ich das Kätzchen haben?" „Morgen", sagte das Kind bockig. „Vielleicht." Grace war vor den Kopf gestoßen. „War das bis jetzt dein Kätzchen, Liebes?" „Nein." „Ist das schon wieder ein Trick, Michael?" Während Grace ihrem Bruder einen finsteren Blick zuwarf, schoss das Mädchen an ihr vorbei zwischen Kyles Beine. „Mein Kätzchen, Daddy. Sag's ihr." Grace blieb der Mund offen stehen. „Du hast eine Tochter, Kyle?" „Ganz recht." Stolz schwang er das Mädchen vom Boden hoch, während sich auf seinen gereiften Zügen Besorgnis und Zä rtlichkeit mischten. Die Kle ine kuschelte sich eng an ihn, ohne das Kätzchen loszulassen. „Das ist Grace, Button", erklärte Kyle sanft. „Ich habe dir von ihr erzählt, erinnerst du dich noch?" Das Kind verbarg das Gesicht an Kyles rotem T-Shirt. „Nein." „Mike ist ihr Bruder. Ihr beide habt das Kätzchen gerade erst bei ihm abgeholt." Button schüttelte den Kopf und regte sich nicht. Über den Kopf seiner Tochter wandte Kyle sich an Grace. „Tut mir Leid. Button hatte es in der letzten Zeit nicht leicht. Nein ist ihre Lieblingsantwort." Kyle stellte Button wieder auf den Boden. ,,Gib jetzt bitte Grace das Kätzchen." „Nein, Daddy, nein." Sie tänzelte über den Boden. „Betsy!" wiederholte er etwas bestimmter. „Bitte! " Grace kniete sich auf Augenhöhe mit dem Mädchen. Schließlich reichte es ihr mit einem eisigen Blick das Kätzchen. „Vielen Dank, Betsy, äh, Button." „Button ist ihr Kosename", erklärte Kyle. Grace streichelte das lange Haar der Katze. „Heute ist mein Geburtstag, und ich habe mir ein Kätzchen so sehr gewünscht." Button blieb unbeeindruckt. „Wie alt bist du?" Button knetete ihre Hände und hielt schließlich drei Finger hoch, während sie den vierten zur Hälfte abbog. „Dreieinhalb also. Ein großes Mädchen." Button taute etwas auf und fing an, sich in der Küche umzusehen. „Ist deine Mom zu Hause?" Grace richtete sich auf. „Meine Mom lebt nicht hier." „Warum?" „Weil sie selbst ein schönes Haus hat." „Meine Mom ist im Himmel", flüsterte Button ehrfürchtig. Grace erstarrte. Kyle hatte gesagt, Libby sei nicht mehr da, aber ... daran hatte sie nicht gedacht. „Es war ein Autounfall", erklärte Kyle leise. Grace rang nach Luft. ,Oh nein! Genau wie ihre Eltern vor Jahren?"
„,Nicht ganz. Sie hatten das Glück, sofort zu sterben. Libby lag mehrere Wochen im Koma, aber es bestand nie viel Hoffnung. Die inneren Verletzungen waren zu schwer." Grace, die sonst immer eine Antwort parat hatte, fehlten die Worte. Das war ja wirklich eine Geburtstags überraschung.
2. KAPITEL „Auf dich, Geburtstagskind! Michael rückte näher zu Grace, reichte ihr ein Glas Champagner und stieß augenzwinkernd mit ihr an. „Danke." Sie ließen die Blicke über die festliche Abendgesellschaft im Salon des Elternhauses schweifen. Wie immer nutzten ihre ve möge nden Eltern, Victor und Ingrid, eine Familienfeier dazu, geschäftliche und gesellschaftliche Verbindungen zu pflegen. „Und, gefällt dir mein Geschenk?" fragte Michael. „Das Kätzchen ist zauberhaft! „Und was ist mit dem Zauberkoch?" „Müssen wir jetzt darüber reden?" murmelte Grace unwillig, ohne ihr Partylächeln aufzugeben. “Es ist ziemlich plump, mir gerade Kyle aufzuhalsen." Michael wippte auf den Fersen. „Ehrlich gesagt, ich dachte, ihr hättet beide euren Spaß dabei." Diese Bemerkung besänftigte Grace' Arger keineswegs. „Nicht nur hast du das Ganze bei mir zu Hause veranstaltet, du bist dann auch noch fröhlich davongezogen. Ich wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte, allein mit den beiden", fauchte sie. „Grace stürzte den Rest Champagner hinunter und ließ die Ereignisse von heute Morgen erneut Revue passieren. Sollte sie Michael in die aufwühlenden Gefühle einweihen, die sie Kyles wegen hatte? Wusste sie überhaupt selbst, was sie fühlte? Gegen Kyles Eindringen in ihre Privatsphä re gab es handfeste Gründe. Grace wollte nicht, dass sich irgendjemand in ihr Leben einmischte. Und jetzt kam ihre große Liebe zur ück, und das nur zu dem Zweck, um ihre Küche umzuräumen! Außerdem war Grace nicht an Kinder in ihrem Haus gewöhnt. Button war der reinste Tornado: Sie machte mit ihren Schuhen auf dem teuren Holzfußboden schwarze Gummistreifen und ließ ihr Spielzeug überall herumliegen. Selbst ein Kassettenrecorder mit eigener Musik war darunter. Kyle behauptete, das Mädchen könne ohne Musik nicht einschlafen, aber davon, dass das Kind je schlief, war bislang nichts zu bemerken gewesen. Grace hatte all ihre Kraft zusammengenommen, aber nach zwei Stunden reichte es. Sie schützte eine Verabredung vor und floh. Schönes Geburtstagsgeschenk - man hatte sie aus ihrem eigenen Haus gejagt! „Vielleicht hast du Recht", lenkte Michael ein. „Ich habe mich ebenso gefreut, nach all den Jahren endlich wieder etwas von ihm zu hören. Als er anrief und mir von seinem Plan erzählte, war ich sofort begeistert. Er wollte dich eigentlich vorher fragen, aber ich dachte, wieso sollen wir dir nicht einen Streich spielen, halt so wie damals." „Wie lange ist er überhaupt schon wieder zurück?" Michael blickte zur Decke. „Oh, drei Wochen, ein paar Tage hin oder her. Hey, du willst Kyle doch hoffentlich keine Abfuhr erteilen, oder?" „Ich weiß noch nicht genau, was ich mit ... seinen Diensten anfangen werde." Ihr unsicherer Tonfall verriet mehr, als ihr lieb war.
Michael durchschaute sie prompt. „Das darf aber keine Rache dafür werden, dass er damals statt mit dir mit Libby auf und davon ist! Komm schon, er weiß ja noch nicht mal, dass dir etwas an ihm gelegen hat. Außerdem hast du inzwischen auch mindestens ein halbes Dutzend Herzen gebrochen. Erzähl mir nicht, dass du immer noch etwas für Kyle übrig hast. Oder etwa doch?" Sie hob abwehrend die Hand. „Vielleicht hättest du es dir genauer überlegen sollen, bevor du ihn mir ins Haus gesetzt hast." „Na gut, ich hätte an deine Gefühle denken sollen. Aber er braucht das Geld und wollte es auf keinen Fall geschenkt haben. Komm schon, der Mann will dir doch nur das Essen kochen und etwas Ordnung in deinen Haushalt bringen. Lass ihn einfach machen. " „Gut, ich überleg' s mir. Jedenfalls lasse ich mich nicht noch mal abservieren. Von niemandem." Sie schwiegen und betrachteten die Gäste, während ein Kellner ihre Gläser neu füllte. „Hey, sieh mal an", bemerkte Michael plötzlich, „dein neuester Verehrer ist auch da." Grace' Miene verdüsterte sich, als sie den Mann unter dem Türbogen sah, dem ihr Vater einen Arm um die Schultern gelegt hatte. „Dickie Trainor! Ich wusste gar nicht, dass Mom und Dad ihn auch eingeladen haben." Inzwischen hatte sich Ingrid zu Dickie und Victor gesellt, und die drei lachten herzlich über irgendeine Bemerkung. „Ich wünschte, sie würden nicht so einen Tanz um ihn machen", beklagte sich Grace. „Tja, kaum hast du ihn ein paar Mal getroffen, schon sehen sie den zukünftigen Schwiegersohn in ihm." „Das ist wohl noch etwas zu fr üh." Sie seufzte resigniert. Mit Dickie Trainor hatte alles so harmlos begonnen. Der Künstler, mit dem sie sich vorher traf, entsprach nicht den Vorstellungen ihrer Eltern, deshalb hatten sie für Grace als Begleitung zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung Dickie verpflichtet, einen viel versprechenden Rechtsanwalt. Ein Opernbesuch folgte, dann ein Basketballspiel mit seinen Anwaltskollegen und einige Dinnerpartys. Bisher jedoch bewegte sich alles in unverfänglichen Bahnen. „Pass auf, hier kommt Daddy mit dem Fang des Jahres", machte Michael sich lustig, als sich die beiden Männer näherten. ,,Der hat richtig gut angebissen." „Jetzt gibt's kein Entkommen mehr, junger Mann", bemerkte Victor und klatschte Dickie auf den Rücken. „Hallo, Grace." Dickie küsste sie auf die Wange. „Tut mir Leid, dass ich erst jetzt komme, aber ich hatte noch einen wichtigen Termin in der Kanzlei. Du siehst heute Abend bezaubernd aus", bemerkte er und ließ den Blick über ihre Kurven in dem engen roten Kleid schweifen. Grace wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Ihr war klar, dass sie sich Dickie nicht selbst ausgesucht hatte, aber vielleicht würde sich ja auf lange Sicht doch etwas zwischen ihnen entwickeln. Auch wenn ihre künstlerische Ader und sein Anwaltspragmatismus nicht zusammenzupassen schienen. „Ich habe mit Heather und Nate einen Termin zum Tennisspielen verabredet. Komm, wir suchen sie. " Er nahm sie an der Hand und bahnte sich mit ihr einen Weg durch die Menge. Sie fanden Heather und Nate Basset auf der Terrasse mit Blick auf den Lake Minnetonka, wo das frisch verheiratete Paar den prächtigen Sonnenuntergang bewunderte. „Hallo, Geburtstagskind!" rief Heather und wand sich aus Nates Armen. „Du bist auch bald wieder dran", neckte Grace ihre Freundin und umarmte sie. „Nur einen Monat nach mir." Nate schüttelte ihr die Hand. Ebenso wie Dickies waren seine Hände schmal und gepflegt. Grace musste daran denken, wie Kyle mit seinen großen rauen Händen die Küche aufgeräumt hatte. Doch solche Gedanken führten nirgendwohin. Kyle war nicht mehr der strahlende Ritter von früher, sondern hatte inzwischen genauso wie alle anderen sein Päckchen zu tragen.
Während sich die Männer unterhielten, flüsterte Heather in Richtung Grace: „Michael hat mir gesagt, dass du jetzt einen Küchenjungen hast. Hört sich scharf an. Ich kann's gar nicht erwarten, mehr darüber zu erfahren!" Das Fest war wie immer prachtvoll, das Büfett üppig. Trotzdem hatte Grace lieber im kleinen Kreis gefeiert, mit Menschen, denen wirklich etwas an ihr lag. Gegen elf Uhr brachen die Gäste auf. Grace verabschiedete sie persönlich an der Tür, bis nur noch Dickie da war, den Ingrid drängte, in der Bibliothek noch einen Brandy zu trinken. „Auf meine reizende Tochter!" Victor stand mitten im Raum und hob sein Glas. „Auf ein langes Leben!" Die anderen klatschten, als er Grace einen Kuss auf die Stirn gab. Mehr an Zärtlichkeit war von einem Mann wie ihm nicht zu erwarten. Ungewollt tauchte vor Grace' innerem Auge wieder Kyle auf. Sie war fasziniert davon gewesen, wie ungezwungen und liebevoll er mit seiner kleine n Tochter umgegangen war. Alle ließen sich in die weichen Ledersessel fallen, als sich Grace daranmachte, ihre Geschenke zu öffnen. Von Dickie bekam sie eine Perlenkette, die sie auf einem Einkaufsbummel mit ihm vor einigen Wochen bewundert hatte. Grace war hin- und hergerissen zwischen Dankbarkeit und einem erstickenden Gefühl. „Und wie gefällt dir das Geschenk deines Bruders? Das kannst du ja schwerlich zurückgeben", meinte Ingrid, während sie einen Seidenschal näher in Augenschein nahm. „Du meinst Kyle McRaney?" Grace schluckte schwer und vermied Dickies fragenden Blick. „Das überlege ich mir noch. Natürlich nur, wenn Michael den Kassenzettel noch hat." „Er ist wieder in der Stadt, nicht wahr?" mischte Dickie sich ein. „Will er nicht das Bistro der Andersons kaufen?" „Woher weißt du das?" fragte Michael. Dickie zuckte beiläufig die Schultern. „Habe ich irgendwo gehört. In der Stadt spricht sich so etwas schnell herum, wie du weißt. Jeder kennt ,Amelia's Bistro', und alle wissen, dass Kyle Amelias Schwiegerenkel ist." „Dass du dich an ihn noch erinnerst", wunderte sich Michael. „Du warst doch selten dort." „Ich gehörte nie zu dem Publikum, das dort gern gesehen war", bemerkte Dickie steif, der früher ein unbeliebter Außenseiter gewesen war. „Ich war zwar einige Male dort, aber es war mir zu dunkel und zu laut. Außerdem hatte ich keine Lust, mich wegen meiner Pickel hä nseln zu lassen." „Oh, damit ist es aber doch lange vorbei", tröstete ihn Ingrid. „Ja, aber bis es so weit war, hatte ich meinen Spitznamen Mr. Pocke schon weg. Aber was soll's. Was hat Kyle denn mit Grace' Geburtstag zu tun?" „Sieht so aus, als ob er eine Art Koch ist", erwiderte Victor. „Michael hat ihn für drei Monate engagiert, damit er bei Grace kocht.“ „Kyle war Manager eines Restaurants, Vater", erinnerte ihn Michael, „und er hat einen Hochschulabschluss wie du." Es fiel ihm nicht schwer, seinen alten Freund vor den kritischen Augen seiner Eltern zu verteidigen. „Seit dem College träumt er davon, ein eigenes Restaurant zu haben, und jetzt hat er mit dem Bistro endlich die Chance. Amelia will es ihm verkaufen. " „Kyle hat es sicher nicht le icht gehabt", warf Ingrid ein. „Ich erinnere mich, dass sein Vater die Familie verließ, als du gerade ins College kamst. Wenn ich mich nicht irre, ist seine Mutter kurz darauf verschwunden." „Ja, es war hart für ihn. Sein alter Herr hatte hohe Wettschulden, und seine Mutter ging fort, weil sie nicht für diese Schulden belangt werden wollte. Zum Glück war Kyle damals zu jung, um haftbar gemacht zu werden, aber danach musste er allein zurechtkommen. “ „Was für ein umwerfendes Geschenk, Grace", mischte Dickie sich wieder ein und hielt Victor sein leeres Glas hin, der es wieder füllte. „Endlich gesundes Essen bei dir zu Hause!“
Nicht zum ersten Mal hatte Grace das Gefühl, dass Dickie zu weit ging. Und an Michaels Gesichtsausdruck sah sie, dass er dasselbe dachte. Aber wie vorauszusehen, sprangen ihre Eltern sofort darauf an. „In der Tat, Dickie könnte auch von den Mahlzeiten profitieren", pflichtete Ingrid ihm bei. „Ich mache mir nämlich Sorgen, Grace, ob du wirklich kochen kannst." Victor warf seiner Frau einen Blick zu. „Ich möchte nur an diese Phase mit den Stäbchen erinnern." „Das ist doch lächerlich", protestierte Grace. „Du hast Gunther und mich doch nur ein einziges Mal erlebt. Wir haben eben experimentiert ..." Ingrid wandte sich zu Dickie um und wirkte so empört, als hätte sie Grace damals beim Kamasutra ertappt. „Sie saßen im Schneidersitz auf dem Boden, summten und aßen aus Holzschalen!" „Gunther hatte Geburtstag", erklä rte Grace mit erhobenem Kinn. „Es ist eben nett, wenn man an so einem Tag tut, was einem Freude macht." Ihre Anspielung verfehlte bei allen die Wirkung, auß er bei Michael, der ihr ein spöttisches Grinsen zuwarf. Langsam hatte Grace genug. Sie täuschte ein Gähnen vor. „Es war ein wunderbarer Geburtstag. Danke euch allen." „Willst du schon nach Hause?" fragte Ingrid. „Ja. Die Geschenke nehme ich ein anderes Mal mit." „Ich kann dich fahren", erbot sich Dickie. „Ist schon in Ordnung. Ich bin selbst mit dem Wagen da, bleib nur hier." „Ja, mein Sohn", fiel Victor ein. „Du hast noch nicht mal eine Zigarre geraucht. Außerdem will ich mehr über deinen aktuellen Fall wissen." „Also, Grace?" Mic hael tat arglos. „Können wir darauf zählen, dass du Kyles Dienste annimmst?" Wir? Grace biss die Zä hne zusammen. Er hatte auch noch die Stirn, sie hier vor den Eltern und Dickie in Verlegenheit zu bringen. Es war wirklich höchste Zeit zu verschwinden. Grace stand auf und verabschiedete sich. Während sie die Perlenketten einpackte, warf sie ihrem Bruder ein süß liches Lächeln zu. „Nun, Dad, vergiss nicht, dir von Michael die neuesten Nachrichten erzä hlen zu lassen. Er investiert gutes Geld, damit Kyle sich das Bistro leisten kann. Ist das nicht aufregend?" „Ist das wahr, Sohn?" Victor wandte den silberhaarigen Kopf seinem Sohn zu und paffte wie eine Lokomotive den Rauch aus. ,,Ohne vorher in dieser wichtigen Angelegenheit Rücksprache mit mir zu halten?" Michael wurde rot. „Ich bin fast dreißig! Und wenn du das Geld deinen Kindern überträgst, dann gehö rt es ihnen auch. Frag das Finanzamt." Grace zwinkerte ihm zu, während Victor zu einer Standpauke über richtiges Investieren ansetzte. Grace hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Langsam fuhr sie die Stra8e am Lake Minnetonka entlang, froh darüber, der Familie entkommen zu sein. Eigentlich hatte sie Dickie nicht bloßstellen wollen, indem sie sein Angebot, sie nach Hause zu fahren, ausschlug. Aber ihre Familie würde ihn mit Zigarren und Alkoholika bedienen, bis sein Selbstwertgefühl wieder hergestellt war. Nicht so gut wie Sex, aber mehr, als er von den Norths erwarten konnte. Bisher waren sie und Dickie noch nicht zusammen im Bett gewesen. Aber das hatte nicht an Dickie gelegen, schließlich war ihr in letzter Zeit nicht entgangen, dass er ihre Beziehung gern vertieft hätte. Aber sie hatte keinerlei Interesse. Als sie zu Hause in Edina angekommen war, bemerkte sie zu ihrer Überraschung einen vertrauten schwarzen Jeep auf dem Gehweg - und daneben einen Wagen der Sicherheitsstreife mit blinkendem Blaulicht. Sie parkte rückwärts in der Auffahrt und stieg aus. „Ben! Hallo!“
„Guten Abend, Miss North." Der Mann, der regelmäßig in der Gegend Streife fuhr, tippte an den Schirm seiner grauen Uniformmütze. Grace zog den Schal enger um ihre bloßen Schultern, denn die Abendluft war kühl. „Nehmen Sie gerade einen bösen Einbrecher fest?" „Scheint mir eher ein ziemlich harmloser Bursche zu sein." „Harmlos?" fragte sie zweifelnd. „Nun, er weiß, dass Sie in Minnetonka waren. Und er weiß, dass Sie Geburtstag haben. Sogar einen Kuchen hat er dabei." Ein kurzer Blick in den Jeep ließ sie Kyle erkennen, der eindeutig froh war, sie zu sehen. Verlegen trat sie in ihren hochhackigen Schuhen von einem Fuß auf den anderen. „Du wolltest mir extra einen Kuchen bringen?" Er rieb sich das Kinn. „Ja." „Wow. “ „Eigentlich wollte ich dir nicht begegnen", gestand er. „Michael hatte mir einen Schlüssel vom Haus gegeben, und ich wollte den Kuchen nur schnell reinstellen und wieder verschwinden." „Nun, dann komm rein." Ben räusperte sich. „Ich schlage vor, dass Sie vorher Ihren Wagen noch ordentlich in der Einfahrt parken, Mister." „Ja", pflichtete ihm Grace bei. „Mach das." „Zum Glück bist du gerade gekommen!" Kyle gesellte sich in der Garage zu Grace. „Keine Sorge. Ben hätte einfach meine Eltern angerufen, dann wäre die Sache geklärt gewesen." „Das wäre dir vielleicht peinlich gewesen", meinte er. „Ich habe deine Eltern seit meiner Rückkehr noch nicht gesehen. So ein Auftritt hatte keinen guten Eindruck gemacht." Grace warf ihm ein mitleidiges Lächeln zu, schloss die Garagentür mit der Fernbedienung und winkte Kyle ins Haus, wo sie in der Küche das Licht anschaltete. „Meinst du nicht, dass dein Kätzchen aufwacht?" Grace deutete auf das leere Körbchen neben der Spülmaschine. „Sie schläft lieber in meinem Bett." Vor Kyles innerem Auge tauchte ein deutliches Bild auf: er in Grace' Bett. Erschrocken vermied er ihren Blick, stellte stattdessen den Kuchen auf den Tisch und hob den Deckel ab. Darunter erschien eine selbst gebackene zweistöckige Schokoladentorte, die oben mit einem „K" und einem sehr wackeligen ,,B" verziert war. Grace hielt den Atem. an. „Die ist ja absolut großartig!“ „Ja, absolut." Kyles Blick lag nicht auf der Torte, sondern auf ihren Brüsten. Himmel hilf, in diesem Kleid sah Grace wie eine Sexgöttin aus. Zum ersten Mal in seinem Leben war Kyle auf eine schläfrige Katze eifersüchtig. Grace nahm den Schal ab und trat an den Tisch. „Ich habe schon seit Jahren keine so schöne Geburtstagstorte bekommen. Dass du dir meinetwegen diese Mühe gemacht hast!" „Button hat mitgeholfen", brachte er hervor. „War keine große Sache." Tatsächlich war die Idee mit der Torte spontan gewesen und sollte einfach ihren Vertrag besiegeln. Er bemerkte, dass Grace ihn mit vor der Brust verschr änkten Armen etwas genauer in Augenschein nahm. Nachdem Button nicht davon abzubringen war, den Mixer zu betätigen und ihn von oben bis unten mit Teig bespritzt hatte, trug er jetzt ein graues T-Shirt und seine ältesten Jeans. Und trotzdem sah er in ihren grünen Augen Hunger, Freude und Verlangen aufleuchten. Bei ihm war es natürlich, wenn er nach einem ganzen Jahr ohne Sex unter solchen Umständen wieder Lust spürte, aber Grace? Sicher würde sie ihrer Fantasie doch nicht gerade bei ihm freien Lauf lassen ... oder doch?
Es fiel ihm schwer, ein unverfängliches Gesprächsthema zu finden. „Wie war denn deine Party?" Nie zuvor hatte er sich darüber Gedanken gemacht, ob Grace einen Freund hatte oder nicht, doch als sie vorhin allein erschienen war, war er unendlich erleichtert gewesen. Grace zuckte die Schultern und setzte sich auf einen Stuhl am Tisch. „So wie immer. Alles in allem, Kyle, wirst du feststellen, dass du hier nicht allzu viel verpasst hast." Kyle setzte sich neben sie, stützte einen Ellbogen auf den Tisch und schaute Grace an. „Zum Beispiel habe ich verpasst, dass du erwachsen geworden bist." Sie warf ihm einen ungnädigen Blick zu. „Ich war nicht gerade ein Baby, als du weggingst." „Vermutlich nicht", lenkte er ein. „Aber ich war schon mit dem College fertig, und du noch nicht alt genug zum Wählen. Irgendetwas muss in der Zeit doch passiert sein." Sie verzog keine Miene. „Jetzt darf ich wählen gehen." Er lachte. „Immer noch schlagfertig. Aber im Ernst, erzähl mir mal.“ „Was willst du denn wissen?" „Etwas, damit ich den Anschluss wieder finde und das Gefühl bekomme, hierher zu gehören." Sie seufzte. „Nun, Michael und ich wohnen hier in diesem Haus seit meinem Abschlussjahr in St. Catherine's. Ich habe ein Diplom in Theaterwissenschaften, aber meine Liebe gehört dem Modedesign. Ich arbeite für Privatkund innen und die Theater in der Gegend, weil es mir viel Spaß macht, Kostüme zu entwerfen. “ „Weit weg also von den Bilanzbüchern des North-Imperiums. Und was tust du sonst? Ziehst du immer noch mit Heather Crain herum?" „Aber sicher. Auch wenn sie jetzt Heather Basset heißt. Sie hat Nate geheiratet, der inzwischen Immobilenmakler ist.“ „Sieh mal an! Dabei dachte ich immer, du wärst diejenige, die die Herzen aller Männer bricht. " Er hatte an sie gedacht? Das waren ja Neuigkeiten. „Nun ja. Ich bin noch nicht so weit." Ernüchtert fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. „Mir geht es nicht anders." Liebevoll sah sie ihn an. „Das mit Libby tut mir Leid." „Ja.“ „Es muss schwer sein, Button allein großzuziehen." „Amelia wird eine große Hilfe sein, auch wenn sie schon bald achtzig wird. But ton hat neuen Schwung in ihr Leben gebracht. Dieser Herausforderung will sie sich unbedingt stellen." Vor Grace' innerem Auge tauchte die breitschultrige Frau mit den tiefen Falten um die Augen und dem grau melierten Pferdeschwanz auf. „Ja, sie wirkte immer sehr handfest", sagte sie nachdenklich. „Wie hast du überhaupt wieder Kontakt mit ihr aufgenommen? Das muss doch sehr schwer gewesen sein." „Der Anfang war wirklich sehr schwierig. Als Libby starb, wusste Amelia gar nicht, dass sie eine Urenkelin hatte." Es fiel ihm schwer weiterzusprechen. „Libby hatte ja keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie, und Amelia fiel aus allen Wolken. Aber nach Libbys Beerdigung in Chicago besuchte sie uns regelmäßig, und irgendwann fragte sie mich, ob ich nicht das Bistro hier neu eröffnen wolle." Kyle hing seinen Erinnerungen nach. „Sie will der Familie damit eine zweite Chance geben." Grace streichelte seine Hand. „Es war sicher schrecklich für euch, Libby zu verlieren." „Vielleicht hätte ich diese Katastrophe verhindern können. Im Rückblick gibt es Dinge, die ich anders hätte machen können. Aber die Zeit kann man nicht zurückdrehen." Er schlug die Hände zusammen, als wollte er die trüben Gedanken vertreiben. „Aber wir kommen vom Thema ab. Eigentlich wollte ich mit dir noch meinen Stundenplan festlegen. Ich würde gern Montag, Mittwoch und Freitag kommen. Vielleicht so gegen Mittag, je nachdem, was ich koche. Ich verspreche, dir nicht zu sehr auf die Nerven zu gehen", fügte er scherzend hinzu.
„Ha! Du hast immerhin schon meine Küche umgekrempelt." „Nur zu deinem eigenen Besten, vertrau mir", scherzte er. Sie trommelte mit den Fingern auf den Tisch. „Du glaubst wohl, ich falle immer noch auf eure alten Tricks herein, was?" „Dieses Mal wirst du nur davon profitieren, ich schwör's dir." Sie lächelte schwach, als er ein weißes Papiertaschentuch wie eine Friedensfahne schwenkte. „Irgendwie glaube ich das nicht." „Um es noch mal zu sagen", meinte er leise, „wenn du es noch nicht gemerkt haben solltest, Grace, ich bin so froh, dass ich diesen Job habe. Ich muss das Geld irgendwie verdienen, und wenn es mit Arbeit für dich ist, freut es mich umso mehr." „Ich helfe dir gern jederzeit", sagte sie zögernd. „Wobei du möchtest ... " Ihr Mund wurde trocken. Seine blauen Augen leuchteten auf. „Bei allem?" Ihr Herz schlug Alarm. „Woran denkst du?" „Wenn du dich mit Tapeten auskennst ... Im Bistro muss tapeziert werden, und wenn es darum geht, das richtige Design auszusuc hen, bin ich garantiert der Falsche." „Oh." Sie stand schon wieder auf Treibsand. „Nun, ich glaube, da kann ich helfen. Vielleicht habe ich eine Stunde Zeit für dich. " „Du bist die Beste." Er erhob sich. „Am besten gehe ich jetzt. Außer, du möchtest die Torte heute noch anschneiden." „Sehr gern", gab sie zurück, „wenn ich bloß meine Messer fände.“ „Das waren vielleicht mal Messer, Gracie. Inzwischen sind es nur noch stumpfe Stahlklingen mit gesprungenen Holzgriffen", tadelte er. „Du solltest sie nicht in die Spülmaschine tun." „Na dann. Auch egal." Mit einem schelmischen Grinsen tauchte sie einen manik ürten Finger in die sahnige Schicht. Kyle war entsetzt. „Das hast du aber nicht zu Hause gelernt!“ „Im Sommerlager. Hast du es mal gemacht?" Er wollte protestieren, aber im selben Moment fand er Grace' Finger voller Schokocreme auf seiner Unterlippe wieder. Mit ernsthafter Miene begann sie, die Creme um seine Mundwinkel zu verteilen. „So. Jetzt müssen wir schon nicht abspülen." Kyle ergr iff ihr Handgelenk. „Hast du das mit den Jungs im Lager auch gemacht?" „Interessiert dich das?" Lachend befreite sie sich aus seinem Griff, und auch Kyle brach in Lachen aus, bis sie sich beide vor Vergnügen schüttelten und Grace plötzlich an Kyles Brust landete. Ihr Lachen erstarb. Das war ihre Chance. Ihm den Kuss zu rauben, der ihr immer versagt geblieben war, sogar heute Morgen, als Michael hereingestürmt kam. Ohne groß nachzudenken, stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um Kyle zu küssen. Kyle legte eine Hand an Grace' Hinterkopf und presste seine teigbeschmierten Lippen an ihre. Ihre Lippen waren wunderbar weich und warm. Er war versucht, seine Zunge in ihren Mund zu tauchen, als ihm wieder einfiel, wen er vor sich hatte. „Um Himmels willen, Grace." Schwer atmend ließ er sie los und betrachtete sie entsetzt. „Das war..." Frech lächelte sie ihn an . „… viel besser als jedes Sommerla ger.“ „Ich würde es eher einen Unfall nennen." Grace war zu stolz, um das unerwidert hinzunehmen. „Ich würde eher sagen, ein nettes Experiment. Und jetzt hol sofort ein Messer, und schneid den Kuchen an!" Die Spannung 1öste sich, und während Kyle ein Messer holte, öffnete Grace den Kühlschrank. „Das glaube ich einfach nicht! Du hast Milch eingekauft!" „Schokoladentorte ohne Milch geht nicht", erklärte er.
Grace nahm zwei Teller und Gläser aus dem Schrank. Fachmännisch schnitt Kyle zwei Stücke aus der Torte und legte sie auf die Teller, bevor sie es sich an dem kleinen runden Tisch gemütlich machten. Kyles Züge wurden weicher. Er berührte eine kastanienbraune Locke an Grace' Schläfe. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute mit dir noch aus deinem Geburtstag hinausfeiere. „Mmmm..." Das Gefühl von Kyles rauer Hand auf ihrem Gesicht war köstlich. Sie lehnte sich wie ein Kätzchen gegen seine Finger. Aber daraus konnte einfach nichts werden. Kyle war hier, weil Michael ihn engagiert hatte, für sie zu kochen. Er war seit einem Jahr verwitwet, musste ein kleines Madchen großziehen und hatte eine Menge Sorgen. „Also, dann ruf ich dich morgen früh wegen der Tapete an", sagte er hastig. „Oh. Richtig. Wie du willst. Wann du willst." „Das hört sich aber gar nicht nach der Gracie an, die ich kenne." Sie seufzte resigniert. Als ob er sie auch nur im Geringsten kennen würde. Es war fast ein Uhr morgens, als Kyle in die Straße in Golden Valley einbog, wo Amelia wohnte, und seinen Wagen in der engen Einfahrt parkte. Als er über den schattigen Rasen ging, bemerkte er Licht hinter dem Vorhang des Wohnzimmers. Wahrscheinlich war Amelia wieder vor dem Fernseher oder beim Stricken eingeschlafen. Er schloss die Tür auf und betrat das kleine Wohnzimmer. Amelia saß im Lehnstuhl, das lange graue Haar offen auf den Schultern, und strickte mit klappernden Nadeln an einem Handschuh für Button. „Du warst lange weg." Prüfend sah sie ihn über die Gläser ihrer Lesebrille hin an. Kyle seufzte und hängte seinen Sweater an die Garderobe. Er wusste, dass sie sich bemühte, ihn nicht zu bevormunden, aber es war trotzdem manchmal anstrengend mit ihr - alte Gewohnheiten waren eben nicht leicht zu brechen. „Grace tauchte auf, bevor ich wieder verschwinden konnte", erklärte er. „Also haben wir ein bisschen Kuchen gegessen und meinen Stundenplan besprochen." Und dann hat sie mich geküsst, so süß und heftig, dass ich gar nicht mehr wusste, was los war, fügte er im Stillen hinzu. Er fühlte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Hoffentlich fiel es Amelia nicht auf. Als er sich umsah, entdeckte er Button schlafend im Pyjama auf dem Sessel am Fenster. „Was ist denn das?" Er ging zu ihr. „Ich wollte sie in ihr Zimmer tragen, aber sie ist zu schwer. Da habe ich ihr eine Decke übergelegt und ein Kissen unter den Kopf geschoben." Kyle hob das Kind mit Leichtigkeit auf und setzte sich mit ihm auf den Stuhl neben Amelia. „Warum kann sie nicht wie andere Kinder einfach ins Bett gehen?" fragte er besorgt. Amelia schüttelte den Kopf. „Du sagtest, du wärst in einer Stunde zur ück, und sie hat dir geglaubt. Sie wollte auf dich warten." „Oh." Er schluckte und strich Button eine schwarze Strähne aus dem Gesicht. „Du bist ihr Ein und Alles", schalt ihn Amelia. „Kleine Kinder glauben eben, was man ihnen sagt.“ Er rieb sich hilflos die Stirn. „Da hab ich wohl einen Fehler gemacht.“ „Nun ja", lenkte sie ein. „Du kannst einfach nicht alles richtig machen. Und? War der Kuchen ein Erfolg?" fragte sie. „Ja." Er drückte Button an sich und roch an ihrem duftenden Haar. „Grace hat sich sehr gefreut.“ Nachdenklich hob Amelia die Nadeln wieder auf. „Ich erinnere mich gut an sie. Sie ist immer ins Bistro gekommen, wenn du da warst. Quirlig war sie, hübsch mit rotbraunen Locken, Sie schien verrückt nach dir."
Tatsächlich? Kyle hob die dunklen Brauen. Amelia schien seine Reaktion nicht zu bemerken. „Ihre Eltern kenne ich nicht besonders gut. Sie kamen ein paar Mal ins Bistro, um Grace abzuholen. Schienen mir eher von der kühleren Sorte." „Sie sind sehr zurückhaltend", bestätigte Kyle. Er überlegte sich seine Worte genau. Victor und Ingrid waren nie unhöflich zu Ihm gewesen, aber er hatte den Verdacht, dass er nicht ganz ihren Ansprüchen genügte. Mit gerunzelter Stirn prüfte Amelia die Maschen. „Versteh mich nicht falsch. Ich halte die Norths für ans tändige Leute. Aber du solltest immer daran denken, dass sie einfach zu einer anderen Schicht gehören." „Immerhin können wir dankbar sein, dass Michael sich am Bistro beteiligt", meinte Kyle. „Er wird ein guter Partner sein. Und die Arbeit bei Grace verschafft mir mehr Zeit mit Button und ein gutes Taschengeld. Übrigens, damit du Bescheid weiß t, wir haben Montag, Mittwoch und Freitag ausgemacht." Amelia stopfte ihr Strickzeug in einen Beutel und nahm die Beine von dem Fußschemel. „Ich habe an diesen Tagen auch Termine. Wie soll das gehen? Ich müsste etwas absagen…“ „Nein, das musst du nicht", widersprach er entschieden. „Wir haben ausgemacht, dass du abends und am Wochenende auf Button aufpasst, während ich im Bistro arbeite. Die Wochentage gehören dir, ganz egal, was passiert." Button rührte sich und schlug die Augen auf. „Bist du wieder da?" Sie schlang ihrem Vater die Arme um den Nacken. „Natürlich." Sie drückte ihre kleine Nase an sein Gesicht. „Bist du nicht im Himmel, Daddy." „Keine Sorge, Button", schaltete sich Amelia ein, „dein Vater wird auf absehbare Zeit nicht in den Himmel gehen. Er hat nur Grace den Kuchen gebracht, das weißt du doch." Kyle drückte seine Tochter fest und tauschte einen besorgten Blick mit Amelia. Seit Libbys Tod hatte Button immer wieder Angst, dass auch er für immer fortgehen könnte. „Den Kuchen hast du ganz toll gemacht. Grace findet ihn wunderbar." Sie reckte das Kinn. „Wie geht's Kitty?" „Kitty hat tief geschlafen, genauso wie du." „Meine Kitty", flüsterte sie störrisch, dann sank sie wieder in den Schlaf. Kyle holte erleichtert Luft. „Das ist ja noch mal gut ge gangen." Amelia bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. „Sei nicht traurig. Es ist nicht deine Schuld, dass dir das Schicksal so schlechte Karten ausgeteilt hat. Die meisten Väter können sorglos ein paar Stunden verschwinden, ohne dass ihre Dreijährige n sie für immer abschreiben. Wir werden schon damit klarkommen." Hoffentlich hat sie Recht, dachte Kyle.
3. KAPITEL Als Michael am nächsten Morgen in seinen dunkelgrünen Porsche stieg, traf er auf Grace, die in der Garage neben ihrem silbernen BMW stand. Sie trug aquamarinfarbene Caprihosen und ein passendes gestreiftes kurzes Top, über dem Arm hatte sie ihre Arbeitstasche und einen melonenfarbenen Nähkittel. „Was machst du denn schon so früh?" fragte Michael. „Normalerweise kommst du samstags doch nicht vor Mittag aus den Federn." „Nun, ich habe einiges zu erledigen, daher musste ich heute fr üh raus." „Steht Kyle auch auf deiner Liste?"
„Wie?" „Sein Jeep stand doch gestern Nacht vor dem Haus." Grace trat näher an die offene Tür und blinzelte in die Sonne. „Den hast du gesehen?" „Ja. Erst jammerst du auf deiner Party über ihn, und dann rollst du ihm den roten Teppich aus." Sie lächelte verträumt. „Ich habe meine Meinung eben geändert. Er hat mir eine umwerfende Torte gebracht! Selbst gebacken." „Hast du eigentlich nicht verdient, nachdem du Dad gepetzt hast, dass ich in das Bistro investiere." „Ich wollte es dir heimzahlen, dass du gestern so gemein zu mir warst. Kaum ist Kyle wieder da, seid ihr ganz das alte eingespielte Team und behandelt mich wie ein kleines Kind. Außerdem hätte Vater es sowieso bald herausgefunden." Sie tätschelte ihm die Schulter. Dann warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Ich muss jetzt wirklich …“ „Was machst du denn für Kyle? Vielleicht Babysitten?" „Nein!" protestierte sie. „Button kann mich nicht ausstehen. “ „Oh, du solltest ihr eine Chance geben. Bei mir hat sie zuerst auch gefremdelt, aber inzwischen sind wir dicke Freunde." „Nein. Kyle braucht Beratung für die Tapete, und ich habe versprochen, ihm ein paar Muster zu zeigen." Das Handy in ihrer Tasche klingelte. „Entschuldige ... Hallo, Dickie ... Nein, ich habe die Verabredung zum Tennis nicht vergessen, aber ich muss zuerst noch etwas im Bistro erledigen ... Ja, es geht voran. Michael?" Sie warf ihrem Bruder einen Blick zu. „Er ist gerade hier. Meine Meinung? Wozu?" Während sie zuhörte, machte Michael eine abwehrende Handbewegung. „Ich bin doch etwas überrascht, Dickie ... Ja, ich werde es mit ihm besprechen. Wir sehen uns um vier." Sie scha ltete das Gerät ab und warf es in die Tasche zurück. ,,Dickie will in Amelias Bistro investieren?" Michael machte ein unzufriedenes Gesicht. „Das hat er gestern Abend vorgeschlagen, als du schon weg warst." „Seltsam." „Vielleicht will er einfach angeben. Aber ich finde, es ist keine gute Idee. Kyle kämpft schon genug mit seinem Stolz, was Amelia betrifft. Das Letzte, was er sich wünscht, ist noch ein weiterer Investor." „Zu viele Köche verderben den Brei?" „So ähmlich." „Es sollte kein Problem sein, Dickie das mitzuteilen." „Wirklich? Ist dir noch nicht aufgefallen, dass er sich der Familie immer mehr aufdrängt? Das geht mir langsam auf den Wecker. Sei ein bisschen vorsichtig." Erst musste sie sich über Kyle belehren lassen, und jetzt gab ihr Michael wegen Dickie gute Ratschläge. Grace hatte nicht vor, auf irgendetwas davon zu hören. Sie stupste ihren Bruder an. „Ich muss jetzt los. Wir sehen uns nachher im Bistro beim Tapetenaussuchen!" „Mike?" Kyle war überrascht, als Michael durch die Eingangs tür in Amelias Bistro trat. „Ja." Michael North ließ die Tür hinter sich zufallen. Der Raum. wirkte kühl und leer, ganz anders als in den Glanztagen des Bistros. War es ein Fehler gewesen, Geld in diesen Laden zu stecken, ohne ihn sich vorher anzusehen? Nein, es war die richtige Entscheidung. Er glaubte an Kyle, und außerdem hatte das Bistro eine gute Lage in der City nahe der Universit ät. Michael sah sich um. „Eine Menge alte Erinnerungen hier drin." Kyle, der mit einem Tapetenablösegerät auf einer Leiter stand, folgte dem Blick seines alten Freundes. „Ja, wir waren oft hier."
„Aber es hat alles ein schlechtes Ende genommen." Als er Kyles Gesicht sah, beeilte er sich hinzuzufügen: „Tut mir Leid. Es muss schlimm sein, an Libby zu denken, besonders hier, wo alles anfing." „Ist schon gut." Kyle rieb sich die Schläfen. „Der alte Andy war in Ordnung, solange ich nur Barmixer war, noch nicht Libbys Freund. Der Krach zwischen Libby und ihren Großeltern war so heftig, dass sie nicht mal zu seiner Beerdingung kommen wollte." Kyle verlagerte das Gewicht auf der Leiter. „Ich versuche, das jetzt alles wieder gutzumachen. Auch Amelia gibt sich Mühe, obwohl es nicht einfach für sie ist, dass Libby tot ist. Aber sie schlägt sich tapfer, was Button betrifft. Ich habe zurzeit keine allzu großen Ansprüche. Wenigstens du hast zu mir gehalten." „Das ist doch selbstverständlich. Was glaubst du, schaffen wir die Eröffnung Anfang August?" „Ich denke schon. Größere Arbeiten sind eigentlich nicht fällig, es dreht sich hauptsächlich um die Inneneinrichtung, die modernisiert werden muss. Wegen der Tapeten habe ich mich schon ein wenig umgesehen. Aber bevor ich mich endgültig entscheide, will ich unbedingt Grace' Meinung hören." „Sie wird dir die Entscheidung schon abnehmen", warnte Michael ihn lächelnd. „Sie ist immer noch genau so starrsinnig wie früher." Kyle legte eine abgelöste Tapetenbahn zur Seite. Es fiel ihm schwer, die erwachsene Grace mit den Erinnerungen an den frechen Teenager von damals in Einklang zu bringen. Und die neuen Seiten ihrer Beziehung zueinander. Gestern Abend war er hin und weg gewesen, als sie ihm in diesem roten, perlenbesetzten Kleid Lust auf mehr gemacht hatte. Und dann dieser Kuss. Ein neckischer Geburtstagskuss, der zu einer samtige n schokoladigen Ekstase wurde. Er hatte sich in dem Moment vollkommen vergessen, und allein die Erinnerung daran machte ihn schwach. Wahrscheinlich war das Ganze nur ein harmloser Flirt, ganz zufällig und nicht mehr als ein elektrisches Knistern. Der Gedanke beruhigte ihn. Er reichte Michael das Ablösegerät und nahm selbst einen Spachtel zum Abkratzen der Tapete zur Hand. „Ich kann nicht leugnen, dass sie Mumm hat. Frauen wie Grace wissen, was sie wollen. Und sie bleiben auch dabei." Im. selben Moment kam Grace herein, beladen mit zwei schweren Tapetenmusterbüchern und dem melonenfarbenen Arbeitskittel über ihren Caprihosen. „Wenn man vom Teufel spricht!" rief Kyle im Scherz. „Wenn ihr mich ärgern wollt, gehe ich gleich wieder! " warnte sie. „Nein, nein, entspann dich." Kyle ließ Michael auf der Leiter stehen, während sich eine Tapetenbahn über Michaels Kopf zusammenfaltete. Bis Michael sich befreit hatte und von der Leiter gestiegen war, hatten Grace und Kyle sich mit den Musterbüchern an den Tresen gesetzt. Grace warf einen Blick zu ihrem Bruder, der an sich herumzupfte. „Du solltest dich mal sehen, so voller Kleister und Papierresten." „Kyle sieht ganz genauso aus!" protestierte er. „Aber irgendwie steht es ihm besser." Kyle lachte auf. „Ihr seid immer noch wie früher! Ah, es tut so gut, wieder da zu sein. Ich hätte nie weggehen sollen." Einen Augenblick lang fragte sich Grace, wie das Leben ausgesehen hätte, wenn sich Kyle in sie statt in Libby verliebt hatte und in der Stadt geblieben wäre. Aber das ist nur Gedankenspielerei, schalt sie sich. Er hat eben Libby gewählt und Button mit ihr bekommen. Button. Die Kyle mit ihrem Temperament ganz für sich beanspruchte. Hundertprozentig Papas Liebling. Grace hatte noch nie über Kinder nachgedacht. Und die widerspenstige Button sprach nicht gerade ihre mütterlichen Instinkte an. Wahrscheinlich tauchte sie gleich irgendwo hier auf und machte eine Szene. Grace sah sich um, fand aber keine Spur von ihr.
„Wo ist denn deine Tochter?" „Button? " Sein Gesicht leuchtete auf. „Heute bleibt sie bei Amelia. Sie kümmert sich prima um sie." „Das glaube ich." Die Vorstellung, wie die stämmige Amelia mit Button fertig wurde, amüsierte sie. Immerhin sprang das Kind dann nicht hier herum und lenkte sie ab. Und Kyle würde sich allein auf sie konzentrieren. Selbst jetzt lag seine Hand merkwürdig vertraut auf ihrer Schulter. „Grace, du starrst jetzt schon eine ganze Minute auf dieses Muster hier", bemerkte Kyle. „Unsinn", erwiderte sie barsch. „Ich habe vorhin im Laden schon einiges ausgesucht." Sie blätterte durch das Musterbuch und zeigte ihm ihre Vorschläge. Die meisten waren in hellen Farben gehalten und unauffällig gemustert. „Diese Streifen gefallen mir", erklärte Kyle. „Was meinst du dazu, Michael?" Michael lehnte sich an den Tresen. „Mir gefällt das eierfarbene da mit dem Muster. Und die Oberfläche scheint abwaschbar zu sein." Nach äl ngeren Diskussionen entschieden sich die drei dafür. „Jetzt müssen wir noch ausmessen", sagte Grace, „um zu wissen, wie viele Rollen wir brauchen. Dann fahre ich zur ück in den Laden und bestelle sie." Kyle strahlte. „Du bist wunderbar." „Du wärst noch wunderbarer, wenn du uns erst noch dabei helfen würdest, die Tapete hier abzulösen", schlug Michael vor. Sie hielt ihm ihre lackierten Fingernagel und die funkelnden Ringe entgegen. „Mit diesen Händen?" Kyle fasste Grace ungläubig an den Handgelenken. „Sind die echt?" „Die Steine schon", sagte Michael trocken. „Ich glaube, er meint die Nägel." Grace fühlte Schmetterlinge im Bauch, als Kyle mit den Daumen über ihre glänzenden Fingerspitzen strich. „Die sind teilweise echt." „Machst du sie selber?" „Manchmal." „Glaub ihr nicht", fuhr Michael dazwischen. Kyle riss sich zusammen. „Tut mir Leid, wenn wir dich beleidigt haben, Gracie. Wir brauchen dich. Wir wollen dich. Wir lieben dich." Das Letzte hatte er natürlich nicht so gemeint. Aber es waren die Worte, nach denen sie sich schon so lange gesehnt hatte. Die Schmetterlinge tanzten immer wilder. Grace holte ein Maßband aus der Tasche ihres Arbeitskittels und maß die Ecken des Raumes aus, wahrend die Männer ihre Arbeit fortsetzten. Um sich die Arbeit etwas zu erleichtern, warf Kyle die Jukebox an, und bald sangen sie zu dritt die Melodien ihrer Jugend mit. Erst als die Musik plötzlich abbrach, bemerkten sie, dass sie Gesellschaft bekommen hatten. Alle drehten sich um. An der Jukebox stand ein Mann mittleren Alters mit einem schmalen Gesicht. Ernst betrachtete er das Trio. Sie starrten ihn an. Einen Augenblick lang schien es ihnen, als seien sie in die Vergangenheit versetzt worden, denn der Mann glich erschreckend dem früheren Bistrobesitzer Andy Anderson. „Jerome?" fragte Kyle. „Ja, Kyle. Erzähl mir nicht, du hättest mich nicht erwartet." Kyle blickte Jerome Anderson fest ins Gesicht. Weder hatte er ihn erwartet, noch wusste er den Grund für seine Feindseligkeit. „Mike, Grace, das ist Amelias Neffe, der Sohn von Andys Bruder Frank." Michael reichte dem Mann die Hand. „Ich bin Michael North. Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet."
„Ich lebe schon seit langem an der Westküste", erklärte Jerome kurz, ohne Michaels Hand zu ergreifen. „Ich bin hier, weil mir zu Ohren gekommen ist, dass Amelia das Bistro verkaufen will." „Was hat das mit dir zu tun, Jerome?" fragte Kyle. „Als Andy starb, ging sein Erbe doch auf Amelia über." Der ältere Mann war ungehalten. „Nun, mein Vater Frank und mein Onkel Andy waren gleichberechtigte Partner in diesem Laden." Kyle musste sich bemühen, ruhig zu bleiben. „Soweit ich weiß, hat Andy ihn schon vor Jahrzehnten ausbezahlt." „Nun, wenn das der Fall ist, würde ich gern Beweise sehen." „Haben Sie schon mit Amelia darüber gesprochen?" fragte Grace. Jerome warf Kyle ein seltsames Lächeln zu. „Sie beha rrt darauf, dass Andy meinen Vater ausbezahlt hat, aber sie hat kein Dokument, mit dem sie das belegen könnte." „Und was sagt Frank dazu?" wollte Michael wissen. „Nichts. Er hat einen Schlaganfall erlitten und ist in einem Pflegeheim. Ich bin befugt, die Rechte meines Vaters zu vertreten", fuhr Jerome fort. „In seinen Unterlagen konnte ich nirgends etwas über einen Ausgleich finden." Kyle konnte es kaum fassen. „Andy hat immer gut von Frank gesprochen. Ich bezweifle, dass deinem Vater diese Masche gefallen würde." Jerome gab sich den Anschein der Ruhe, obwohl er die Zähne zusammenbiss. „Mag sein. Aber ich kenne meinen Vater. Mit Andy hat er höchstens eine mündliche Vereinbarung getroffen und sich mit ein paar hundert Dollar zufrieden gegeben." „Andy war ein ehrlicher Mann!“ „Ein gewiefter Geschäftsmann, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich hisst. Mach dir nichts vor, Kyle, ohne schriftliche Beweise bist du aufgeschmissen." „Was willst du von mir, Jerome?" fragte Kyle direkt. „Ich bin mir noch nicht sicher. Hier geht es schließlich um viel Geld." Er neigte den Kopf. „Vielleicht akzeptiere ich eine Auszahlung, oder vielleicht bietest du mir eine an. Vielleicht entscheide ich mich auch, mit dir gemeinsam den Laden zu führen. Ich weiß noch nicht." „Das ist doch lächerlich! Das hier ist mein Traum! Was mich am Leben hält …“ Kyle brach ab. „Lass es dir gesagt sein, ich habe nicht die Absicht, meine Arbeit hier aufzugeben", fuhr er mühsam beherrscht fort. Jerome triumphierte. „Mach ruhig so, wie du meinst. Vergiss nur nicht, dass das Bistro immer noch zum Teil Frank gehört." Damit drehte er sich um und ging. Mit einem verzweifelten Fluch ließ Kyle sich auf einen Barhocker sinken und verbarg das Gesicht in den Händen. Grace legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. „Wir finden schon eine Lösung.“ „Das glaube ich kaum. Egal, was man tut, der Vergangenheit kann man scheinbar nicht entkommen." Kyle legte die geballten Hände auf den Tresen. Grace sprach ihm Mut zu. „Es gibt doch bestimmt irgendwo Unterlagen über den Verkauf." „Es gab tatsächlich ein Dokument. Andy hat es im Safe hinten im Büro aufbewahrt. Aber es ist bei einem Einbruch verschwunden, mitsamt dreitausend Dollar in bar, einigen Ringen sowie einer kostbaren Münzsammlung mit Kennedy Halfdollars." Grace verschlug, es die Sprache. „Hier ist mal eingebrochen worden?" Das gab der Geschichte ja eine ganz neue Wendung. „Seltsam, dass Amelia dich nicht davor gewarnt hat, dass Jerome Ansprüche erheben könnte. Die Sache ist schließlich wichtig. “ Kyle warf ihr einen müden Blick zu. „Wahrscheinlich dachte sie, dass das für mich kein Problem darstellen würde." „Was meinst du damit?"
Kyle seufzte auf. „Amelia denkt, ich hätte den Einbruch abgezogen. Wahrscheinlich hofft sie, dass ic h die Unterlagen herausrücke und endlich der Geschichte ein Ende mache, wenn Jerome mich konfrontiert." Grace staunte. „Das sieht aber gar nicht nach Amelias Art aus, nicht mit dir darüber zu sprechen. Sie ist doch immer so direkt." „Als sie mir angeboten hat, nach Hause zu kommen, stellte sie klar, dass sie über die Vergangenheit nicht reden will." „Trotzdem sollte sie wissen, dass du nicht der Dieb warst!" Michael wanderte im Raum auf und ab. „Selbst wenn ich wetten würde, dass sie sich jetzt wünscht, du hättest die Unterlagen tatsächlich in deinem Besitz." „Ach, sie hat mich doch von Anfang an nur deswegen beschuldigt, weil es ihr so am besten in den Kram passte", brach es aus Kyle heraus. „Sie dachte, wenn sie mich bei Libby anschwärzt, würde Libby mich verlassen. Wie der Vater, so der Sohn, sagte sie. Ich wäre ja sowieso ein Tunichtgut wie er und hätte wahrscheinlich das Geld gestohlen, um seine Schulden zu bezahlen." Er schlug auf den Tresen. „Aber Libby glaubte nie, dass du der Dieb warst", tröstete ihn Michael. „Nein. Aber die Geschichte war der endgültige Auslöser für unsere Flucht nach Chicago, um dort einen Neuanfang zu machen. Bis zu diesem hässlichen Vorfall waren wir uns damit noch gar nicht sicher gewesen." Kyle seufzte wieder. „Wenigstens schenkte mir die Polizei mehr Glauben als die Andersons. Schließlich hätte es jeder der Angestellten sein können." „Konnte man denn gar nicht herausfinden, wer es war?" fragte Grace. „Vielleicht gibt es im Polizeiprotokoll einen Hinweis." Kyle lächelte schwach. „Die Polizei hat den Fall gründlich untersucht. Alle Verdächtigen sind vernommen worden." Michael schlug Kyle auf die Schulter. „Wir kriegen das schon irgendwie hin." „Nun, wenn ihr mich fragt, ich glaube, dass Jerome auf diese Tour nur an Geld kommen will", stellte Grace fest. „Nicht eine Sekunde lang glaube ich, dass ihm an dem. Bistro wirklich etwas liegt. Schließlich hat er sich auch bisher nicht darum gekümmert. Es sieht mir eher danach aus, als wollte er jetzt das schnelle Geld machen. " Sie holte tief Luft. „Kyle, zieh nicht so ein Gesicht. Schlimmstenfalls bedeutet das, dass wir dem Kerl einen Scheck ausstellen. Ich meine, ich werde ihn ausstellen", verbesserte sie sich. Kyles Gesicht verdüsterte sich. Im Grunde wusste er, dass Grace Recht hatte, aber dass diese reiche junge Frau mit einer bloßen Unterschrift alle seine Probleme lösen wollte, gefiel ihm nicht. „Weißt du, nicht alles kann man mit dem Scheckbuch der Norths aus der Welt schaffen!“ „Aber in diesem Fall..." „Kyle, am besten sprichst du zunächst noch mal mit Amelia über den Diebstahl", mischte sich Michael ein. „Jerome wird so schnell keinen Cent von mir oder irgendwem bekommen. Habt ihr überhaupt eine Vorstellung davon, wie schwierig alles zwischen Amelia und mir ist? Ein falsches Wort, und alles geht hoch wie Dynamit. Und dann müssten Button und ich wieder von vorne anfangen, und zwar ohne das Bistro. Und Button hätte von neuem das Gefühl, verlassen worden zu sein." „Also ist meine Idee die bessere", beharrte Grace. „Vergesst es!" Kyle richtete sich auf. Was, wenn Jerome wirklich im Bistro mitmischen wollte? Was, wenn es sein eigentliches Ziel war, Kyle auszubooten und den Laden selbst zu übernehmen? Es war fast vier Uhr, als Grace nach Hause kam. Als sie in die Einfahrt bog, sah sie Dickie Trainors schwarzen Jaguar auf der Straße stehen. Grace winkte Dickie zu, der am Wagen lehnte.
„Na endlich!" rief er. „Ich habe dir gesagt, dass es knapp werden könnte." Als sie die Haus tür aufschloss, gesellte er sich zu ihr. In der Küche stellte Grace ihre Sachen auf einem Stuhl ab. „Ich gehe noch schnell duschen.“ Als sie in ihren frischen weißen Tennissachen erschien, aß Dickie gerade ein dickes Stück von ihrer Geburtstagstorte. „Die ist ja ausgezeichnet." Er klapperte mit der Gabel an den Tellerrand. „He, mal langsam! Das ist meine Torte!“ „Von wem ist sie denn?" „Von Kyle McRaney, meinem persönlichen Küchenchef." Dickie ließ das letzte Stück auf der Zunge zergehen. „Er fährt alles auf, was er zu bieten hat, nicht wahr?" Grace' Gedanken schweiften zurück zum vergangenen Abend. Die Vertrautheit, die sie mit Kyle erlebt hatte, machte sie glücklich und hungrig nach mehr. Auch wenn der heutige Tag eher unglücklich verlaufen war. „Du behältst diesen Knaben doch, oder?" wollte Dickie wissen. „Wie bitte?" „Diesen Kyle. Wird er regelmäßig hier sein?" So unsicher sie sich fühlte, was Kyle betraf, hoffte sie das von ganzem Herzen. Der exklusive Meadowlark Country Club, wo die Norths seit langem Mitglieder waren, befand sich einige Meilen entfernt von Grace' Haus. Am Eingang überließ Dickie seinen Sportwagen einem Angestellten, dann gingen sie ins Hauptgebäude und meldeten sich an, wo man ihnen mitteilte, die Bassets seien schon auf dem Platz. Auf dem Weg zum Court begegneten sie einigen Gästen, die gestern auf der Geburtstagsparty gewesen waren. Grace freute sich über die bewundernden Blicke, die viele Frauen dem gut aussehenden blonden Mann an ihrer Seite zuwarfen. Es hatte vielleicht doch Vorteile, mit jemandem aus den eigenen Reihen auszugehen. Draußen sahen sie gleich die Bassets, die ihr Spiel unterbrachen, um die beiden zu begr üßen. „Das ist nicht fair, sich schon warm zu spielen", beschwerte sich Grace. „Wir sind immer noch dabei, das gestrige Abendessen abzuarbeiten", verteidigte sich Nate. „War ein tolles Büfett." „Also, wer spielt mit wem zusammen?" fragte Heather fröhlich. „Jungs gegen Mädchen?" Sie spielten drei Sätze, als die Männer einen Tiebreak erzielten. Bevor sie alle in die Bar gingen, um etwas zu trinken, frischten die beiden Frauen in dem geräumigen Waschraum ihr Make-up auf. Heather nahm sich eine Spange aus dem Haar und schüttelte es über die Schultern. „Meine Güte, ich kann mich nicht erinnern, wann ich Dickie Trainor das letzte Mai gesehen habe, ich meine, vor der Party gestern Abend. Habt ihr eine Romanze?" „Wir haben uns erst ein paar Mal getroffen", erklärte Grace. ,,Was hältst du von ihm?" Heather sah sie über den Spiegel an. „Sein Äußeres ist ein Pluspunkt, aber er scheint mir etwas zu konservativ für dich. Eben wieder ein Kandidat, den deine Eltern ausgegraben haben. “ „Ich weiß." Grace stieß einen Seufzer aus, während sie ihren Lippenstift nachzog. „Ich sollte lieber meine eigenen Ziele hinterfragen. Was will ich überhaupt?" „Und? Glaubst du, dass Dickie wirklich Potenzial hat?" „Nicht unbedingt. Aber ich bin schon froh, dass meine Eltern zur Abwechslung mal zufrieden sind. Warte, bis du die Perlenkette siehst, die er mir zum Geburtstag geschenkt hat." „Dann scheint es ja schon ziemlich ernst zu sein."
Grace runzelte zweifelnd die Stirn. „Vielleicht. Aber weiter hat er sich noch nicht vorgewagt. Er ist nicht mal eifersüchtig auf Kyle, der bei mir ein- und ausgeht." Heather betrachtete sie prüfend. „Und, hatte die große Liebe über die lange Zeit Bestand?" Grace öffnete ihre Rougedose und tupfte sich Farbe auf die Wangen. „Du meinst meine kindische Verliebtheit von damals?" „So könnte man es auch ne nnen. Immerhin wolltest du ihn damals heiraten." „Der Mann hat einiges durchgemacht. Jetzt muss er eine Feuer speiende Dreijährige allein erziehen. Von einem Herzensbrecher ist er zu einem zahmen Vater geworden, der bei seiner Schwiegermutter lebt." „Außerdem hat er ein ziemlich kantiges Wesen, meinst du nicht?" „Das zumindest steht ihm recht gut", fügte Grace hinzu. „Aber kannst du dir vorstellen, dass er hier in diesem Club Tennis spielt?" Grace' grüne Augen wurden schmal. „Willst du mich ärgern?" Heather ließ ihre strahlend weißen Zähne blitzen. „Ich will nur sagen, dass es immerhin eine Möglichkeit ist." Sie gesellten sich wieder zu den Männern, die bereits vor Cocktails und einer Platte mit gefüllten Pilzen saßen. Zu Grace' Erstaunen sprachen sie gerade von Kyle. „Er kann wunderbar koche n", meinte Dickie. „Zum Glück hat Grace das Geschenk angenommen." Er wandte sich an Grace, die sich neben ihn setzte. „Hast du Kyle eigentlich gesagt, dass ich in das Bistro investieren möchte?" Grace probierte einen Pilz. „Noch nicht", antwortete sie diplomatisch. Zu ihrer Überraschung kommentierte Nate: „Glaub mir, Dickie, von dieser Geschichte solltest du lieber die Finger lassen." Nate nippte an seinem Manhattan. „Zufällig ist der Sohn eines der früheren Besitzer vor einiger Zeit in unserer Immobilienagentur vorbeigekommen. “ „Was wollte er von dir?" fragte Grace interessiert. „Er hat sich ein bisschen erkundigt", behauptete Nate wichtig, „nach dem Wiederverkaufswert. Und dass er sich vielleicht an uns wenden würde, wenn die Zeit reif sei." Grace umschloss ihr Glas fester. Vielleicht hatte sie ja doch Recht, was Jerome Anderson anging. Vielleicht erstrebte er tatsächlich einen Verkauf des Bistros, um an Geld zu kommen. Wenn Kyle das Bistro renovierte, würde das nur den Verkaufswert erhö hen. Kyle arbeitete Jerome damit sozusagen in die Hände. Nate holte weiter aus und berichtete von dem Diebstahl und den fehlenden Unterlagen bezüglich der Auszahlung. „Alles liegt jetzt bei Amelia Anderson", schloss er. „Aber Amelia tut, was sie für das Beste für sich und Kyle hält", widersprach Grace. Nate gab nicht nach. „Selbst wenn Kyle für den Diebstahl verantwortlich war?" „Aber das stimmt nicht!" Grace merkte, dass sie laut geworden war, und nahm sich zusammen. „Wenn es wirklich Kyle war, könnte er die besagten Unterlagen vermutlich wiederbeschaffen. Er hätte von Anfang an gewusst, wie wertvoll sie waren, und sie nicht weggeworfen. An deiner Stelle wäre ich nicht so sicher, diesen Auftrag zu bekommen", warnte sie Nate. „Das kann man nie wissen." Nate schwieg und nippte an seinem Drink. Heather brach die unangenehme Stille, indem sie sich an Dickie wandte. „Und was sagt der Rechtsanwalt dazu?" „Die Sache könnte schließlich vor Gericht landen", entgegnete er verdrossen. „Vielleicht sollte ich lieber doch nicht investieren. Ich weiß nicht." Grace seufzte. Sie fragte sich, ob es auf der Welt noch egoistischere Männer gab als diese beiden. Und ob das die Gesellschaft war, mit der sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte.
4. KAPITEL
Am nächsten Morgen erwachte Grace vom Klingeln an der Haustür. Halb blind ohne Kontaktlinsen, tastete sie nach ihrer Brille auf dem Nachtkästchen und tappte dann barfuss zur Tür. Sie öffnete die Tür und blinzelte ins Sonnenlicht. Kyle stand vor ihr. „Hallo." „Selber hallo. Ich habe dich doch nicht geweckt, oder?" „Naja. Doch." Sie unterdrückte ein Gähnen und fuhr sich mit den Fingern durch die verstrubbelten Locken. Er drückte die Tür auf. „Los geht's, Schlafmütze. Es ist Montag, neun Uhr morgens, Zeit zum Kochen! Natürlich nur, wenn du mich noch haben willst." Seine verführerische Stimme ließ ihre Knie weich werden. Grace lehnte sich an den Türrahmen, um nicht umzufallen. „Gilt immer noch. “ Er stützte einen Arm an den Türrahmen. „Du rollst mir nicht gerade den roten Teppich aus." Schlaftrunken rieb sie sich die Augen. „Bevor ich nicht Kaffee getrunken habe, bin ich wenig begeisterungsfähig." „Wenn das mit der Geschichte am Samstag zu tun hat..." „Ich wollte dich nicht beleidigen, als ich dir das Geld angeboten habe." Sie sah ihn schlaftrunken an. „Ich dachte, ich könnte dir helfen. Hast du über das nachgedacht, was ich dir gestern geschrieben habe?" „Ja." Er verdrehte die Augen. „Sieht dir ähnlich, mir so ein dramatisches Telegramm. zu schicken. " „Es schien mir das Beste zu sein, dich schnellstmöglich wissen zu lassen, dass Jerome bei Nate war." „Ich schätze deine Sorge, aber das ändert überhaupt nichts. Ich habe Jerome noch nie getraut und glaube, dass er nichts Gutes im Sinn hat. Aber bevor mir nicht eine zündende Idee kommt, muss ich wohl oder übel einen Kompromiss mit ihm erreichen." „Also hast du noch immer nicht mit Amelia über seine Forderung an dich gesprochen?" „Nein", entgegnete er fest. "Aber sie hat ein Recht zu wissen ...“ "Alles zu seiner Zeit! Nimms mir nicht übel, Grace, aber das geht ein wenig zu weit." "Okay, okay." "Ich bin hier, um für dich zu kochen, erinnerst du dich?" Er stupste ihr an die Nase. "Außerdem solltest du nicht in dieser Aufmachung an die Tür gehen." "Nun, ähm ..." Sie beäugte ihn durch ihre schief aufgesetzte Brille. "Das ist ein ganz normales Schlafshirt", gab sie schließlich zurück. "Außerdem hast du mich so schon oft gesehen." "Ja, früher. Als du noch ... ein Teenager warst." Kyle wirkte plötzlich unsicher. Grace schob sich die Brille auf der Nase gerade, um diesen Augenblick zu genießen, doch leider rammte sich plötzlich ein Miniaturfußballer mit Pferdeschwänzen, die über den Ohren abstanden, in ihre Beine. Button hob ihr Mondgesicht. "Ich bin auch da." Grace lächelte schief. "Natürlich." Sie schloss die Tür hinter den beiden und baute sich im Flur auf, eine Hand in die Hüfte gestützt. "Ich dachte nur, du bleibst bei deiner Großmutter, das ist alles." "Meine Urgroßmutter." Unsicher legte sie einen Finger auf die Lippen. "Oder meine Großurmutter? Daddy?" "Einfach Grandma, das reicht schon", erklärte Kyle seiner Tochter. "Wo ist Kitty?" fragte die Kleine und sah sich mit großen Augen neugierig um. Grace gähnte und strich sich übers Haar. "Ich weiß nicht genau. " Button sah Grace mit unverhohlener Kritik an. "Das ist doof. Arme Kitty. " Grace gab nicht nach. "Ich habe dem Kätzchen noch gar keinen Namen gegeben."
"Aber ich", beharrte Button. "Es heißt Kitty." "Das sehen wir noch." Button trat auf Grace zu und zupfte an dem Spitzensaum ihres Nachthemdes. "Hast du da eine Hose drunter?" "Jetzt ist es aber genug." Sie wischte Buttons Finger beiseite und warf Kyle einen irritierten Blick zu. "Ich glaube, ich ziehe mich besser an." Er zwinkerte. "Gute Idee." Button sah ihr nach. "Diese Frau ist ja ganz unordentlich, Daddy." Kyle musste lächeln. Tatsächlich wirkte Grace verschlafen und schlecht gelaunt, aber er musste zugeben, sie war sehr sexy. Und das Schlafshirt stand ihr verdammt gut. Und sie wusste es auch, und zwar ganz genau. Unglaublich, dass es bisher noch kein Mann geschafft hatte, ihr Herz zu erobern. Aber sie würde natürlich auch nicht jeden beliebigen Mann nehmen. Es müsste jemand sein, der ihrer starken und lebhaften Persönlichkeit Paroli bieten konnte. Er vielleicht? Bloß nicht. Kyle hatte in seinem Leben keinen Platz für eine neue Romanze. Die Beziehung mit Libby hing ihm immer noch nach, und ihr plötzlicher Tod hatte Selbstzweifel und Nachdenklichkeit ausgelöst. Und er musste an Button denken, außerdem war da noch Amelia. Sich mit ihr wirklich auszusöhnen erforderte Zeit und Energie. Grace war mittlerweile in ihr Schlafzimmer geflüchtet, hatte die Tür hinter sich verriegelt und lehnte sich von innen dagegen. Wie sollte sie diese Invasion je überleben? Indem sie die Sache objektiv betrachtete? Professionell? Das galt vielleicht für Kyle! Aber dieses freche Kind! Nur verständlich, dass Amelia sich weigerte, sich dieses Kind die ganze Zeit aufzuhalsen. Jedenfalls war sie jetzt hellwach. Sie zog sich das Schlafshirt aus, um wie jeden Morgen ein Bad zu nehmen. Aber unmöglich konnte sie sich jetzt entspannen, wenn sie nicht wusste, was die beiden in ihrem Haus anstellten. Nein, sie würde das Bad auf den Abend verschieben. Aus einer Kommode holte sie Unterwäsche, dann betrat sie den begehbaren Kleiderschrank, der fast schon ein Zimmer für sich darstellte. Auf den Kleiderstangen hingen Unmengen von Kleidungsstücken für jede, erdenkliche Gelegenheit, in den Fächern befanden sich ungezählte Accessoires und vor allem Schuhe. Nachher kam Kundschaft, daher entschied sie sich für eine schlichte Hose und ein weißes TShirt, über das sie einen Arbeitskittel mit vielen Taschen zog, in denen sie Maßband, Nadeln und andere Utensilien unterbringen konnte. Im Spiegel fand sie, dass sie nicht gerade einen erhebenden Anblick bot. Immerhin war das Glitzern vorhin in Kyles Augen ein zuverlässiger Indikator dafür, dass er sie durchaus wahrgenommen hatte. Vielleicht sollte sie sich unter den gegebenen Umständen doch einen harmlosen Flirt leisten. Schließlich konnten sie sich jetzt mehrere Wochen lang nicht aus dem Weg gehen. Und die Chance, dass Kyle McRaney sie interessant finden könnte, war doch ihr absoluter Teenietraum gewesen. Am Ende entschied sie sich für eine schicke gelbe Leinenhosen sowie ein pfirsichfarbenes Oberteil und zog den Kittel wieder aus. Grace fand Kyle und Button in der Küche. Sie spielten mit dem Kätzchen, das in seinem Körbchen lag. Als sie eintrat, richtete Kyle sich auf, Button dagegen rückte näher an den Korb und legte eine Hand besitzergreifend auf das cremeweiße Fell des Tieres. Kyle nahm Grace am Ellbogen und führte sie etwas zur Seite. "Ist es dir nicht recht, wenn ich Button mitbringe?" fragte er leise. „Ich habe sie nur nicht erwartet, das ist alles", erwiderte Grace ruhig. "Kommt sie immer mit?" Kyle wirkte etwas schuldbewusst. "Nun ja." "Was will sie denn die ganze Zeit hier machen?"
"Ach, sie hat einen Haufen Spielzeug. Und Kitty ist ja auc h noch da." "Ich brauche aber Ruhe zum Arbeiten", stellte Grace klar. „Im oberen Stockwerk ist mein Studio. Oft kommen Kunden..." Ihre Gedanken schweiften ab, als sie sein After Shave wahrnahm. Kyles Blick war so ernst. Kannte sie jemanden mit so blauen Augen? Sein buntes Arbeitshemd wirkte im Vergleich dazu blass. "Amelia ist zwar eine Hilfe", sagte er leise, "aber ich muss mich auch nach ihren Terminen richten. Ich garantiere dir, dass Button sich benehmen wird. So, wie es für eine Dreijährige eben möglich ist. Ich sage ihr, dass sie nicht in dein Studio gehen darf." Grace lächelte schwach und wusste sie nicht, ob sie das trösten sollte. „He, wir hören euch nicht", piepste Button dazwischen, das Kätzchen auf dem Schoß. "Ihr müsst lauter reden." Kyle lachte, und zu ihrer eigenen Überraschung stimmte Grace mit ein. "Also geht das in Ordnung, Grace? Wir beide im Doppelpack?" "Habe ich dir je etwas abgeschlagen?" Kyle verstand nicht, was sie damit meinte. "Ich habe für heute folgenden Plan", begann er ausweichend. "Ich mache einen Rostbraten, das ist meine Spezialität." "Ich kann's kaum erwarten", flötete Grace. "Aber zuerst gibt es Frühstück. Setz dich, ich mache dir Toast." "Und Kaffee." "Und frisch gepressten Saft", ergänzte er. Eine Weile später klopfte es. Eine Frau um die fünfzig spähte durch die Fliegentür. „Ah, Mitzi! " Grace bat sie herein. Die stämmige Frau trat ein, im Schlepptau zwei Mädchen und einen Jungen von ungefähr acht Jahren. "Guten Morgen, Grace!“ trällerte sie. "Ich hoffe, wir sind nicht zu früh dran“. Grace versicherte ihr, dass sie pünktlich waren. "Mitzi, Tony, Rachel und Kristin, das sind mein Freund Kyle und seine Tochter Betsy." "Button", korrigierte die Kleine. Sie nahm die Kinder interessiert in Augenschein. "Spielen wir zusammen?" "Du bist ja süß!" strahlte Mitzi und beugte sich zu ihr hinunter. "Ich wünschte, das ginge, Miss Button, aber Grace näht uns heute Kleider." Sie richtete sich wieder auf und wandte sich an Kyle. "Diese jungen Leute hier sind in meiner Schauspielklasse im Gemeindezentrum. Wir führen bald Cinderella auf." Theatralisch hob sie die Hände. "Als Musical mit viel Gesang und Tanz. Es wird sehr aufregend." "Ich kenne das Bilderbuch", piepste Button dazwischen. Sie zog Kyle am T-Shirt. "Die singen doch gar nicht. Oder, Daddy?" Kyle räusperte sich. "Nun ja, ich glaube, mich willst du lieber nicht singen hören. Aber zum Glück kann man die Geschichte ja auch erzählen." Die anderen lachten. Grace durchsuchte die Taschen ihres Arbeitskittels und hängte sich das Maßband um den Hals. "Nun, ich glaube, wir fangen am besten gleich an. Ihr kennt den Weg ja schon. Kommt mit." Die vier folgten Grace vorneweg die Treppe hinauf ins obere Stockwerk. Das Designstudio erstreckte sich über das ganze Geschoss. Grace hatte zwischen den beiden Schlafzimmern eine Flügeltür einbauen lassen, damit der Raum weiter wirkte, und Oberlichter sorgten für die optimale Nutzung des Sonnenlichts. Der Boden war gekachelt, die Wände hatte sie selbst gestrichen. Mitzi schnatterte die ganze Zeit, und die Kinder passten auf, nicht auf Entwürfe zu treten oder gegen Bügelbretter oder Ankleidepuppen zu stoßen. Überall lagen Schachteln mit Garn und Scheren sowie Berge von Stoffbahnen, dazwischen stand eine Nähmaschine. Grace sah in ihr Notizbuch. Ohne den Blick zu heben, deutete sie in eine Ecke des Raums. "Kristin, mit deinem Ballkleid fangen wir an. Du kannst dich da hinter dem Paravent
umziehen. Tony, Rachel, das wird etwas dauern. Wenn ihr mögt, geht doch runter und holt euch was zu trinken..." Sie unterbrach sich, als sie hörte, wie die Kinder kicherten. Zwischen den Beinen der Kinder sah sie einen vertrauten Kopf hervorlugen. Grace nahm den Bleistift aus der Blockhalterung und zielte damit auf Button. "Hey, Kle ine!" Als die Kinder bemerkten, dass es Grace ernst war, rückten sie ein wenig von Button ab. "Was denn?" fragte sie. Um Grace' Mundwinkel zuckte es. "Ich möchte wissen, was du hier oben zu suchen hast." "Aber du hast doch gesagt, wir sollen mitkommen." Grace schüttelte die Locken. "Damit waren aber nur die großen Kinder gemeint." Button schob die Unterlippe vor. "Bitte!" Die anderen Kinder mischten sich ein und versprachen aufzupassen, dass Button keinen Unsinn machte. Grace gab nach. "Na gut. Aber setz dich zu Mitzi und sei brav." Mitzi, die gerade eine halb fertige Weste in Augenschein nahm, ließ sich auf einen Sessel fallen und breitete ihre dicken Arme aus. "Na schön. Komm her, mein Küken." Erst als er das Frühstück zubereitet hatte, me rkte Kyle, dass Button verschwunden war. Ungehalten durchsuchte er die Räume im Erdgeschoss und rief nach seiner Tochter. Es war ihm unangenehm, in jedem Zimmer nachzusehen, aber es musste sein, sollte Button sich irgendwo verstecken. Grace' Wohnzimmer stand voll mit Lederstühlen, Tischchen mit zerbrechlichen Vasen und Nippes. In einem anderen Zimmer fand er einen Fernseher, Bücherregale und kleine kunstvolle Statuetten, aber keine Button. Vor der Schlafzimmertür hielt er inne. Kein Zutritt für Männer, dachte er. Jedenfalls nicht ohne Einladung. Er seufzte. Was für eine Idee ... Er schüttelte die Gedanken ab. Er musste nachsehen, schließlich suchte er seine Tochter. Nichts hätte ihn auf die Luxussuite vorbereiten können, die sich hinter dieser Tür eröffnete. Satin und Leinen überall, in creme- und minzefarbenen Tönen gehalten. Flauschige Teppiche. Ein riesengroßes Bett voller Spitzen und Kissen. Und ein in den Schrank eingebauter riesiger Fernseher. Aber auch in diesem bestaunenswerten Ensemble fand sich keine Spur von seiner Tochter. Wahrscheinlich war Button nach oben gelaufen, und mit den schlimmsten Befürchtungen stieg Kyle die Treppe hinauf. Es war offensichtlich, dass Grace Button nicht besonders mochte, war auch kein Wunder, nachdem Button sich wirklich gab, nett zu ihr zu sein. Ohne, dass die anderen ihn bemerkten, lugte er in den hellen farbenfrohen Arbeitsraum, wo ihn eine friedliche Szenerie überraschte: Mit einer Glasperlenkrone auf dem Kopf saß Button brav neben Mitzi, muckste sich nicht im Geringsten und beobachtete, wie Grace um eins der Mädchen schwirrte und ihm das Schimmernde jadefarbene Kleid absteckte. Grace bewegte sich graziös wie eine Tänzerin. Kein Wunder, nach all den Tanzstunden, zu denen Michael oder er sie früher gefahren hatten. Damals war Grace ein dünner Teenager gewesen, aber nun war sie herangereift. Deutlich zeichneten sich unter dem Kittel ihre vollen Brüste ab, und die geschwungenen Hüften füllten die eng anliegenden Hosen gut aus. Kyle fühlte seine Erregung erwachen. Groß war das Verlangen, Grace an sich zu pressen und mit den Händen ihre Kurven nachzufahren. Er wurde nachdenklich. Grace hatte alles und konnte sich alles kaufen. Trotzdem musste das Leben doch auch für sie noch Herausforderungen bereithalten, die nicht mit einem Scheck beglichen werden konnten. Unter der Oberfläche musste mehr sein als Designerkleidung und Nagellack. Zu gern wollte er es herausfinden.
Kyle war sicher, dass Amelia hinter dem Vorhang stand, als er bei Sonnenuntergang mit Button nach Hause zurückkehrte. Er öffnete die hintere Wagentür, um Button aus dem Kindersitz zu heben. „Auf den Schultern tragen, bitte, Daddy", zirpte Button und hielt sich an ihm fest. Er seufzte, als sie die Ärmchen fest um seinen Nacken schlang. Er liebte das, und unter solchen Umständen konnte er seiner Tochter nichts abschlagen. Voller Freude trabte er mit seiner johlenden Tochter auf den Schultern über den Rasen. „Amelia, wir sind wieder da! " rief er gut gelaunt, als er Amelia am Küchentisch entdeckte, wo sie Coupons ausschnitt. "Alle aussteigen! " verlangte Kyle, hob Button über seine Schultern und setzte sie vorsichtig auf dem Boden ab. "Da bist du wieder!" Amelia war erleichtert, strich sich die Schürze glatt und breitete die Arme aus. Manchmal war Button ihr gegenüber immer noch etwas schüchtern, aber den Stolz, jetzt eine Großmutter zu haben, konnte sie nicht verhehlen. Sie lehnte sich gegen Amelia. "Hi, Grammy." Amelia strich ihr den Pony aus der Stirn. "Erzähl Grammy, was du erlebt hast." Buttons Augen leuchteten. "Ich hab mit Kitty gespielt. Und Cinderella gesehen." Amelia war erstaunt. "Wirklich?" "Diese Frau hat ihr ein schönes Kleid gemacht." "Du meinst wohl Grace?" Button sprudelte ihre Erlebnisse hervor, zu denen Kyle ab und zu Ergänzungen machte. "Das ist ja alles schön und gut", befand Amelia, "aber hast du auch deinen Mittagsschlaf gehalten?" "Nein. Die anderen aber auch nicht." "Dann gehen wir heute früh ins Bett, nicht wahr?" Button dachte nach. Sie steckte einen Finger in den Mund und sah zu Kyle hoch. "Wo ist mein Buch über Cinderella? Ich will eine Gutenachtgeschichte." "Oje, Liebling." Kyle fuhr sich über die rabenschwarzen Haare. Beim Umzug hatte er nur das Nötigste behalten, und viele Bücher von Button waren so zerfleddert gewesen, dass er sie weggeworfen hatte. "Nun, ich kauf dir neue Bücher. Bald..." Button schmollte. "Ich will die Geschichte aber jetzt hören!" Sie stampfte mit dem Fuß auf. "Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende", versuchte Kyle zu scherzen. "Ich glaube, sie hat auch keine Mommy gehabt. Und sie hatte böse Schwestern. Ganz böse." Amelia zog die grauen Augenbrauen zusammen und stellte nüchtern fest: "Du musst leider bis morgen warten, denn die Läden haben schon zu." "Nein! " Button wand sich aus Amelias Armen und schoss wütend durch die Küche. Bevor sie etwas umstoßen konnte, griff Kyle nach ihr und schwang sie hoch. Sie zappelte in der Luft mit den Füßen. "Böse-böse-böse!“ "Hey, beruhig dich wieder", flehte Kyle. Aber es war nicht leicht, so hart zu bleiben, wenn eigentlich er Schuld hatte. Button fehlten schon so viele Dinge - Libby, die vertraute Umgebung, Spielkameraden. Verdammt, er hätte die Bücher aufheben sollen. Das hätte er sich gleich denken können. Es war wirklich nicht leicht, ein guter Vater zu sein. Amelia war nicht besonders erfreut über Buttons Vorstellung. "Möchtest du sofort ins Bett gehen?" "Nein", erwiderte Button frech, hörte aber wenigstens auf zu zappeln. Kyle stellte sie wieder auf den Boden. Wie schwer es doch war, ein Kind aufzuziehen! Es schien ihm manchmal eher, als würde Button ihn und Amelia erziehen anstatt umgekehrt. „Vielleicht können wir dir die Geschichte aus dem Gedächtnis erzählen", schlug Amelia vor. Kyle war erschöpft. "Das könnte schwierig werden." Button hatte eine Idee. "Ruf Gwace an, Daddy! Sie weiß, wie die Geschichte geht."
Kyle lehnte sich mit einer Hüfte an die Anrichte, verschränkte die Arme vor der Brust und sah zur Decke. Er war sicher, dass Grace für heute von ihnen beiden genug hatte. "Ich bin eher dafür, dass wir bis morgen warten", sagte er ausweichend. "Oh, ruf sie doch an", ermutigte Amelia ihn zu seiner Überraschung. " Grace ist nett, sie wird es schon verstehen." "Na gut." Er holte sich das Tele fon heran, das neben dem Brotkasten stand, und wählte Grace' Nummer. "Ich will telefonieren", erklärte Button. Kyle setzte sich mit dem Apparat an den Tisch, Button kletterte auf den Stuhl neben ihn und nahm den Hörer. Beim zweiten Läuten hob jemand ab, und Kyle schaltete auf Mithören. "Hallo? Gwace?" "Hier ist ihre Mutter", tönte es aus Hörer. "Und wer bist du?" "Button", sagte sie schüchtern. "Was? Wer?" "Hier ist Kyle McRaney", sprach Kyle in den Hörer. "Button ist meine Tochter. Sie möchte Grace etwas fragen." "Oh! Tut mir Leid, aber Grace hat gerade zu tun. Wir gehen heute Abend in ein Konzert. Vielleicht kann ich euch helfen." "Wegen Cinderella", begann Button. "Cinderella?" fragte Ingrid ungläubig. Button legte nervös einen Finger auf die Lippen. "Wie geht die Geschichte? Mit der bösen Mom? Und den Schwestern?" Ingrid gab einen unwilligen Laut von sich. "Ich weiß nicht mehr genau. Eine Fee war ihre Patin, und sie hatte eine böse Stiefmutter. Auf einem Ball hat sich der Prinz in sie verliebt." "Verklebt?" "Nein, Kind, nein." Ingrid schwieg. "Grace weiß so etwas besser als ich, glaube ich. Aber wir müssen jetzt gehen. Vielleicht kann sie dich ein anderes Mal anrufen." Button ließ den Kopf hängen. "Oh." "Also, auf Wiederhören." Es klickte in der Leitung. Kyle stützte das Gesicht in den Händen, als Button aus der Küche rannte. "Grace, stell dich nicht so an. Ich habe doch nichts Böses getan. " Eine Stunde später war Grace mit ihrer Mutter auf der Fahrt ins Konzert. Sie machte sich Vorwürfe. "Wir hätten Button zurückrufen sollen." „Dann hätten wir uns verspätet", wandte Ingrid ein. "Außerdem hast du mir nicht den Eindruck gemacht, dass du heute sehr glücklich über dieses Kind gewesen wärst." Grace seufzte. Es stimmte, sie hatte sich tatsächlich etwas über Button geärgert, aber der Tag hatte auch schöne Momente gehabt. Die kleine Button war so begeistert von den Kindern gewesen. Grace fragte sich besorgt, wie sie Ingrids Abfuhr wohl aufgenommen hatte. Am Ordway, wo das Konzert stattfand, zerstreuten sie sich im Foyer, und Grace traf auf Michael. "Sieh mal, da drüben ist Dickie", machte sie ihren Bruder aufmerksam. "Mit einer sehr gut aussehenden Frau." Michaels Interesse flammte auf. "Wo?" Etwas entfernt stand Dickie in einem schwarzen Anzug, neben sich eine junge Frau mit hüftlangem Haar in einem königsblauen Kleid. Michael pfiff leise. "Sieh mal einer an, höchstens zweiundzwanzig." „Na, so was, jünger als ich und allein mit Dickie unterwegs! Wo ist bloß ihr BeschützerBruder?" "Du scheinst ja nicht gerade traurig." „Ganz im Gegenteil. So habe ich ein bisschen Luft zum Atmen.“ Zu ihrem Erstaunen näherte sich die junge Frau. "Grace North?" fragte sie unsicher.
"Ja." Grace lächelte und stellte ihren Bruder vor. "Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir eine Minute Ihre Aufmerksamkeit zu schenken?" fragte sie mit einem Blick auf Michael, der den Wink verstand und verschwand. "Ich bin Haley Evers." Sie drehte sich so, dass sie Dickie im Auge behalten konnte. Sie sprach schnell. "Ich arbeite bei Frazer und Dupont für Di... Mr. Trainor." "Sie müssen sich nicht entschuldigen", entgegnete Grace freundlich. „Es ist doch nett, dass er Sie mitgenommen hat." „Ja, aber..." Dickie hatte sie erspäht und kam heran. "Wusste gar nicht, dass du auch hier bist, Grace. Kennt ihr beiden euch?" "Haley hat sich gerade vorgestellt", erklärte Grace. Dickies Miene war undurchdringlich. "So?" "Grace hat letztes Jahr für meine Schwester ein Kleid für den Fasching in New Orleans entworfen. Ich wollte gerade erzählen, dass es einen Preis gewonnen hat." "Das freut mich." Sie unterhielten sich über belanglose Dinge, bis Haley sich verabschiedete. Sie wollte mit den anderen Sekretärinnen nach dem Konzert noch weggehen. Grace hatte ein seltsames Gefühl. Was hatte Haley wirklich von ihr gewollt? Nach dem Konzert bestand Dickie darauf, sie nach Hause zu fahren. "Darf ich noch reinkommen?" fragte er im Auto vor ihrer Haustür. "Nur kurz. Vielleic ht ist ja noch etwas vom Mittagessen deines magischen Chefkochs übrig?" Grace lächelte. Natürlich wollte Dickie mehr von ihr, und um Ihn nicht zu verletzen, erteilte sie ihm so nett wie möglich eine Abfuhr. "Heute ist ein Wochentag, Dickie. Wir müssen beide morgen arbeiten." Er legte die Fingerspitzen an ihre Wange. Grace hatte nie einen Gedanken daran verwandt, wie weich sie waren, aber jetzt, wo sie Kyles raue Hände kannte, kam ihr der Unterschied zu Bewusstsein. Dickies Berührung fühlte sich angenehm an, aber bei Kyle knisterte es richtig zwischen ihnen. "Ist irgendwas?" fragte Dickie. "Nein, ich bin nur müde." Sie stieg aus. "Bemüh dich nicht, ich finde allein zur Tür." Sie schlug die Wagentür zu und ging den Weg zum Haus hinauf. Als sie später im Bett lag, konnte sie lange nicht einschlafen, sosehr sie sich auch bemühte. Langsam stahl sich Button in ihre Gedanken. Ob sie wohl hatte einschlafen können, nachdem Ingrid sie so abgefertigt hatte? Dieser Vorfall veranlasste sie, eine seltsame Solidarität mit dem Kind zu empfinden. Gleich morgen würde sie etwas unternehmen, Zufrieden hob sie Kitty aus dem Bett, die es sich dort bequem gemacht hatte, und schlief fest ein.
5. KAPITEL "Da vorn ist es", sagte Heather und deutete voraus. "Bieg rechts ab." Grace bremste und lenkte ihr silbernes Cabrio um die Kurve. "Schön, dass dir dieser Umweg zum Golden Valley vor unserem Lunch nichts ausmacht." "Kein Problem. Ich musste nur die Reservierung etwas verschieben. " Heather winkte in die andere Richtung. "Hier nach links." Grace ließ den Blick über die stille baumbestandene Straße wandern. „Jetzt kommt mir die Gegend bekannt vor. Früher war ich ein paar Mal mit Michael bei den Andersons. Ich werde das Haus bestimmt wieder erkennen." Sie zögerte. "Ich weiß allerdings nicht, ob es so eine gute Idee war herzukommen."
Heather rückte ihre Sonnenbrille zurecht. "Nun, es schadet sicher nicht, wenn du dich für deine Mutter entschuldigst, auch wenn sie das eher selbst tun sollte." "Aber vielleicht mache ich damit alles nur schlimmer. Ich habe doch überhaupt keinen Draht zu Button und keine Erfahrung mit so etwas. Vielleicht drehen wir doch lieber wieder um, und ich warte bis morgen?" Heather drückte den Arm ihrer Freundin. "Komm, das schaffst du schon! Außerdem ist es sowieso zu spät. Wenn das da vorne nicht Kyle ist, muss es ein göttergleicher Traummann sein." Grace war wie gebannt von dem Anblick. Fünfzig Meter vor ihnen stand Kyle mit nacktem Oberkörper und schnitt auf dem ulmenbestandenen Gehweg die Hecke. Unter der gebräunten Haut sah sie seine schweißglänzenden Muskeln arbeiten. Die ausgebleichten Jeans saßen ihm tief auf den Hüften, und als Kyle sich vorbeugte, ragte ein weißer Saum darüber hinaus. Grace konnte nicht verbergen, wie aufregend sie ihn fand. "Ich hatte keine Ahnung, was da so alles unter seinem T-Shirt passiert!" Heather ließ einen leisen Pfiff ertönen. "Ich würde Nate um nichts in der Welt tauschen, aber er sieht unter seinem Hemd nicht so aus." Sie warf einen Blick zu Grace. "Du hast doch hoffentlich ein paar schmutzige Gedanken?" "Rede keinen Unsinn." Heather ließ sich nicht beeindrucken. "Wenn da keine Funken zwischen euch fliegen würden, würdest du nicht so reagieren." "Es gibt Funken", gab Grace widerwillig zu. "Aber er ist sehr zurückhaltend. Sicher hat er viel zu viele Sorgen, um überhaupt an eine Beziehung zu denken. Selbst wenn ich ... nun, wenn ich es wollte." "So, so." Ihre Freundin beäugte Kyle weiterhin durch die Windschutzscheibe. "Kann ich mir denken. Sogar ohne dieses Beweisstück da unterhalb seines Gürtels …“ "Heather! " Grace musste lachen. "Was denn? Ich versuche doch nur, deine Fantasien für dich auszuleben. "Das gelingt dir ganz gut." Kyle sah Grace' Wagen sofort. Unfreiwillig machte sein Herz einen Satz. Was wollte sie hier? War sie so verärgert über Buttons Anruf, dass sie persönlich kam, um sich zu beschweren? Das Auto näherte sich langsam, und er spürte genau, dass sie ihn längst hinter ihrer schicken Sonnenbrille erspäht hatte. In seinem Magen regte sich ein seltsames Gefühl. Aber kein schlechtes. Das gewisse Knistern war seit Libbys Tod aus seinem Leben verschwunden gewesen, und in den letzten Monaten hatte er sich immer taub gestellt, wenn Frauen ihm Signale gegeben hatten. Doch mit Grace hatte sich das geändert. Ihre Lebendigkeit erinnerte ihn wieder daran, dass er ein Mann war. Sie parkte den Wagen am Rand des Gehwegs, so dass Kyle einen Blick hineinwerfen konnte. Und was er sah, ließ ihn scharf einatmen. Die wilden Mähnen zweier Frauen, die eine kastanienbraun, die andere goldblond, reflektierten das Sonnenlicht. Sie trugen knappe Tops, die ihre hohen Brüste betonten, und bei genauerem Hinsehen enthüllten sich ihm endlos lange Beine in weißen Shorts. Kyle musste an die Sommer seiner Jugend denken, als es nur Ferienjobs, den Strand und die Mädchen gab. Wenn er diese Zeit doch wiederbeleben könnte, nur für einen Tag. Mit einer erwachsenen Grace an seiner Seite. Er verscheuchte diese unmögliche Fantasie aus seinen Gedanken und konzentrierte sich auf das Schauspiel, das man in dieser Gegend, wo hauptsächlich Senioren wohnten, selten zu Gesicht bekam. Hinter einigen Fenstern bewegten sich bereits die Vorhänge. Bemüht ruhig sagte Kyle: "Hallo, meine Damen." "Selber hallo-!" säuselte Heather verführerisch. "Wie geht's dir, Grace?" fragte er heiser.
"Gut", erwiderte sie freundlich. Unsicher kreuzten sich ihre Blicke. Das war ja noch schwerer, als sie gedacht hatte. Wahrscheinlich kam gleich noch Amelia aus dem Haus. "Ich ... äh ... bist du allein zu Hause?" Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. "Dienstags spielt Amelia immer Bridge. Sie unternimmt ziemlich viel. Button und ich versuchen, uns da nicht einzumischen." "Wie nett von euch", bemerkte Heather fröhlich und stieß Grace heimlich in die Rippen. Widerwillig öffnete Grace die Fahrertür und stieg aus. "Button ist drin und holt mir ein Glas Limonade", erklärte Kyle. "Das ist aber nett", flötete Heather. "Grace lobt sie in den höchsten Tönen." Kyles ungläubiger Blick verletzte Grace. Schließlich war nicht sie, sondern ihre Mutter gemein zu Button gewesen. Am Besten kam sie gleich auf den Punkt. "Kyle, wie du dir wahrscheinlich schon gedacht hast, möchte ich mich für Ingrid entschuldigen." Das hatte er nicht erwartet. "Das ist doch nicht nötig." "Doch", beharrte sie. Er legte die Heckenschere weg. "Nun ja. Ingrid hat Button tatsächlich aufgeregt." „Es tut mir wirklich sehr Leid." An ihrem Ton hörte er, dass es ihr ernst war. "Button kann mich sowieso nicht leiden, und jetzt das ...“ "Button kann dich sehr wohl leiden. Sie muss sich nur an dich gewöhnen." Verlegen rieb er sich den Nacken. "Sie will mich eben nicht mit anderen Leuten teilen." "Das kann man ihr auch nicht zum Vorwurf machen", entfuhr es Grace. Errötend fügte sie hinzu: "Ich meine, du bist schließlich ihr Ein und Alles." "Ich versuche ihr trotzdem beizubringen, dass sie nicht alles für sich allein haben kann. Schließlich soll keine verzogene Prinzessin aus ihr werden." Grace nahm die Sonnenbrille ab, so dass er ihre funkelnden smaragdgrünen Augen sehen konnte. "Willst du damit sagen, dass ich eine verzogene Prinzessin bin? Pass nur auf! " Sie klopfte ihm auf die Brust. Der dumpfe Ton erschreckte sie beide. Grace konnte nicht widerstehen und bewegte die flache Hand über seine schweißglänzende Haut. Unter der Berührung klopfte Kyles Herz laut. Einen kurzen Moment lang hielten ihre Blicke einander gefangen. Dann zog Grace schnell ihre Hand zurück. Aber zufällig mag ich es ab und zu ganz gern, verwöhnt zu werden", erklärte sie. "Heute bin ich jedoch eher in Geberlaune." „Sie zeigte auf ihre Umhängetasche. "Ich habe Button ein Buch über Cinderella mitgebracht." "Kommt gar nicht in Frage!" Grace wurde ungehalten. "Jedes Mal, wenn ich etwas sage, musst du widersprechen!" "Bevor er antworten konnte, kam Button aus dem Haus gelaufen. "Hey, Daddy!" Sie trug ein volles Glas und hielt eine Hand um Schutz gegen Überschwappen darüber. "Vorsichtig, Button. Nicht so schnell!" "Limonade", sagte sie, als sie ihren Vater erreicht hatte. "Mmm, gut." Sie schleckte sich die Finger ab. "Danke, Liebling." Kyle stürzte die Flüssigkeit in einem Zug hinunter. Button sah prüfend zu Grace hoch. "Was macht Gwace hier?" "Sie wollte dich besuchen. Es tut ihr Leid, wie ihre Mom gestern zu dir am Telefon war." Button ging an den beiden vorbei und deutete ins Auto, wo Heather noch saß. "Bist du ihre Mom?" Von dieser Unterstellung war Heather wenig begeistert. "Das fehlte noch, du Zwerg. Ich bin genauso alt wie Grace! " Kyle lehnte sich über Button. "Button, das ist Heather. Sie und Grace sind beide vierundzwanzig." Button machte große Augen. "So alt?"
"Themenwechsel", meinte Kyle und reichte seiner Tochter das Glas. "Wie wär's, wenn wir den beiden auch etwas Limonade anbieten?" "Aber wir haben keine mehr!“ "Oh doch. Mit anderen zu teilen macht Spaß, nicht wahr?" Zögernd wandte sich Kyle an Grace. "Wollt ihr reinkommen?" "Sehr gern", erwiderte Heather anstelle ihrer Freundin und stieg aus dem Wagen. Kyle führte die Frauen ins Haus. "Ich wasche mir nur kurz die Hände. Setzt euch doch." Er verschwand im Flur. Grace und Heather sahen sich in dem stillen kühlen Haus um. Im Wohnzimmer dominierten alte dunkle Möbel, dort standen ein Schaukelstuhl, ein Sofa mit Samtbezug und ein Couchtisch. Es sieht fast genauso aus wie damals, dachte Grace. An der Wand hingen dieselben Fotos. Sie trat näher heran. Die Anderson-Familie lachte sie an, es gab viele Bilder von Libby, als Kleinkind bis zu Bildern aus der High-School- Zeit und vom College. Nur Kyle war nirgends auf den Bildern zu sehen. "Amelias Erinnerungen", murmelte Kyle ihr plötzlich ins Ohr, während er ihr dezentes Parfüm wahrnahm. Grace sah ihn an. Er trug jetzt ein baumwollenes Karohemd, das ihm sehr gut stand. Seine heisere Stimme schnürte ihr das Herz zusammen. Plötzlich erkannte sie, wie schrecklich es für ihn gewesen sein musste, Libby so früh zu verlieren, und wie bewundernswert es war, dass er an den Ort zurückgekehrt war, wo er früher so unwillkommen gewesen war. Grace hob ein Bild von Button in einem vergoldeten Rahmen hoch. "Die Ähnlichkeit zwischen Libby und deiner Tochter ist erstaunlich. " Kyle räusperte sich. "Ja, das haben wir letzte Woche im Fotostudio machen lassen." "Wieso bist du nicht drauf?" Heather klopfte ihm auf den Arm. "Hey, ich wette, du bist richtig fotogen." Kyle lachte über das Kompliment. Als sich Button zwischen seine Beine drängte, verstrubbelte er ihr das Haar. "Komm, wir holen die Limonade gemeinsam." Zusammen gingen sie in die Küche, wo Kyle vier Gläser aus einem Schrank nahm. "Toll", murmelte Heather und berührte den Ofen, als wäre er ein kostbares Museumsstück. "Der muss doch mindestens dreißig Jahre alt sein!" "Fünfundzwanzig", korrigierte er. "Ich weiß es genau, denn ich habe ihn erst neulich repariert, genauso wie den Kühlschrank." Heather blinzelte ihm zu. "Du bist der Handwerker im Haus, wie?" Button krabbelte auf einen Stuhl und goss unbeholfen aus einem Plastikkrug Limonade in die Gläser. "Mein Daddy kann alles." "Das glaube ich." Heather nahm ein Glas aus dem Limonadesee auf dem Tisch. Kyle wischte den Tisch ab, dann tranken sie schweigend. "Machst du viel selbst?" fragte Grace. Er hob die Hände und ließ die Finger spielen. „Ja. Damit." Grace ließ ihren Gedanken freien Lauf. Bilder von Kyles Händen, mit denen er sanft ihre Brüste berührte und sie am ganzen Körper streichelte, tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Sie musste ihren ganzen Willen zusammennehmen, um diese Fantasie zu verscheuchen. Am besten konzentrierte sie sich auf den Zweck ihres Besuchs. Sie nahm ihre Tasche und holte ein großes Bilderbuch heraus. "Button, das ist für dich." Button kreischte glücklich auf und rutschte vom Stuhl. „Für mich?" Grace nickte und reichte der Kleinen das Buch, das sie begeistert entgegennahm. Kyle beobachtete die beiden. Grace wirkte zufrieden und schien sich über Buttons Begeisterung zu freuen. Er schöpfte neue Hoffnung, dass die beiden vielleicht doch noch Freundschaft schlossen. "Sollen wir es zusammen lesen?" fragte Grace.
"Erst als Gutenachtgeschichte", entschied Button. "Mit Grammy.“
"Oh." Grace lächelte gezwungen.
"Warum legst du das Buch nicht auf deinen Nachttisch, Liebes?" schlug Kyle vor.
"Okay, Daddy."
"Ich würde gern mal dein Zimmer sehen", mischte sich Heather fröhlich ein.
"Warum?"
"Einfach so!"
Als ihr Vater ermutigend nickte, winkte Button ihr, und gemeinsam verließen sie die Küche.
"Gracie, es tut mir Leid ..." Kyle machte eine hilflose Geste. "Amelia liest Button jeden
Abend etwas vor. Daran hat sie sich jetzt einfach gewöhnt." "Ist schon in Ordnung. Wirklich." Kyle spürte allerdings, dass das nicht stimmte. Er schob die Hände in die Hosentaschen und suchte nach passenden Worten. "Es ist sehr nett, dass ihr den weiten Weg zu uns gemacht habt. Morgen sind wir ja wieder bei dir. Du hättest doch mit dem Geschenk bis dahin warten können." "Ich fand es besser, wenn Button das Buch so bald wie möglich bekommt. Eine Nacht ohne Cinderella schien mir genug. Außerdem war es eins meiner eigenen Kinderbücher. Ich hole mir dort manchmal Anregungen zum Schneidern." Er war froh über den Themenwechsel. "Mit dem Design- Atelier ist es dir richtig ernst, nicht wahr?" "Natürlich! Wundert dich das etwa?" "Ich dachte, es wäre nur ein Hobby. Es is t ja nicht so, dass du wirklich arbeiten müsstest. " "Ohne Arbeit wäre ich aber sehr unzufrieden", gab sie zurück. "Ich mache, was mir gefällt. Obwohl ich zugeben muss, dass es eher eine Spielerei ist. Aber versteh mich nicht falsch, meine Sachen kommen sehr gut an." "Nun, gratuliere." Er stieß mit seinem Glas an ihres und trank einen Schluck. "Aber lohnt es sich denn?" "Manchmal sind Zeit und Mühe wertvoller als Geld", entgegnete sie. "Na ja, ich habe eher den Eindruck, dass dir materielle Dinge trotzdem sehr wichtig sind." Ihre geschwungenen Brauen zogen sich zusammen. "Zum Beispiel?" "Na ja, Schuhe, Kleider, ein größer Fernseher …“ Grace war irritiert. "Woher willst du das wissen?" Verdammt, das hatte er jetzt von seiner großen Klappe. "Ich habe gestern nach Button gesucht", gestand er. "Auch in deinem Schlafzimmer." „In meinem Schlafzimmer?" "Überall. Ich habe mir Sorgen gemacht, dass sie Unsinn treibt. " "Sie war oben bei uns, Kyle! " Grace stand auf und ging durch die Küche. "Ich kann einfach nicht glauben, dass du in mein Schlafzimmer gegangen bist! Wahrscheinlich hast du auch noch in meinem Kleiderschrank gewühlt!" "Button liebt Kleiderschränke, daher dachte ich, sie …“ Schuldbewusst brach er ab. Grace kochte. Damit war Kyle eindeutig zu weit gegangen. "Das ist wirklich unglaublich!" "Ich habe nur einen Blick hineingeworfen und bin wieder verschwunden. " Sie rollte die Augen. "Das kann ich mir kaum vorstellen." Er machte eine beschwichtigende Armbewegung. "Na schön, ich habe mich eben umgesehen." "Meine privaten Räume sind kein öffentliches Museum!" "Nein, sie wirkten auch eher wie eine Broadway-Show." "Das ist überhaupt nicht witzig." "Wie kann ich es wieder gutmachen?" "Überhaupt nicht!"
Er dachte einen Moment nach. "Ich weiß was: Du darfst dafür auch mein Schlafzimmer sehen", bot er schelmisch an. "Wie bitte?" Grace warf ihre kastanienfarbene Mähne über die Schultern zurück. "Das wäre doch ein guter Ausgleich, oder nicht?" Grace war empört. Wollte er seinen Fauxpas vielleicht mit einem plumpen Witz aus der Welt schaffen? Mit Schlafzimmerwitzen? Mühelos war es ihm gelungen, das Band zu zerreißen, das sie mühsam zwischen ihnen geknüpft hatte. Ihre Blicke sprühten Feuer. "Danke sehr für die verlockende Einladung. Vielleicht ein anderes Mal. " Sie ging in den Flur. „Heather!" "Grace!" rief er ihr hinterher. "Sei, doch nicht sauer!“ "Oh, doch. Heather! Wir gehen!" Heather lugte aus einem Zimmer am Ende des Flurs. "Schau dir zuerst noch Buttons Zimmer an", drängte sie. "Na gut. Immerhin nett, wenn man dazu eingeladen wird", bemerkte sie sarkastisch. Der Raum war liebevoll eingerichtet. Button stand erwartungsvoll in der Mitte, um ihre Schätze zu präsentieren: einen Korb voller Spielzeug und eine Kommode, die mit Schachteln voll gestopft war. "Da sind die Sachen von meiner Mom drin", "erklärte sie stolz. Dann ließ sie sich auf den Futon fallen, der in einer Ecke stand. "Das ist ein echtes Bett", piepste sie. "Ganz flach. Kann man gar nicht draufspringen." Sie schüttelte den Kopf, so dass die schwarzen Haare flogen. "Und das ist meine Lampe." Sie knipste den Schalter an, und die gemalten Kätzchen auf dem Lampenschirm leuchteten auf. "Kitty gefällt das bestimmt", bemerke sie schlau. "Sehr schön", lobte Grace. Plötzlich erschien Kyle in der Tür. Er wirkte etwas gestresst, was Grace befriedigt zur Kenntnis nahm. "Honey, du weißt doch, dass Kitty zu Grace gehört. Und außerdem hat Grammy eine Katzenhaarallergie. "Allagie", wiederholte Button und blies die Luft so stark aus, dass sich ihr Pony hob. "Das versteht sie noch nicht", sagte Kyle zu den beiden Frauen. „Ja, wir müssen alle noch viel lernen." Grace konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. Sie wartete auf eine Antwort, aber Kyle blieb still. "Nun, wir gehen jetzt. Viel Spaß mit dem Buch, Button." "Danke", piepste die Kleine. Mit erhobenem Kinn ging Grace an Kyle vorbei aus der Tür. "Also, Michael, was hältst du davon?" Michael stampfte ungeduldig durch Grace' Studio und sah nervös auf die Uhr. "Der Faden ist schon der richtige. Näh doch einfach, Grace!" Grace, die bei ihrer Nählampe am Tisch saß, das Hemd ihres Bruders auf dem Schoß, warf ihm einen wütenden Blick zu. "Ich meine nicht deine zerrissenen Manschetten, sondern meinen Zusammenstoß mit Kyle." "Das mit dem Schlafzimmer war doch nur ein doofer Witz." Offenbar schien Michael nichts an Kyles unverschämtem Vorschlag zu finden. Wütend stieß Grace die Nadel durch den Stoff. „Außer, dass eine Frau es nicht leiden kann, wenn ein Mann ohne ihre Erlaubnis in ihrem Schlafzimmer herumschnüffelt." "Grace, wahrscheinlich war es ihm peinlich, und da hat er versucht, sich mit einem Witz aus der Affäre zu ziehen." "Vielleicht", überlegte sie. "Männer sagen manchmal die dämlichsten Sache n, wenn sie nicht mehr weiterwissen." Sie ließ die Nadel sinken. "Vielleicht sollte ich ihn anrufen." "Lass ihm etwas Zeit. Er hat viel um die Ohren. Du bist nicht Kyles einzige Sorge", winkte er ab. Sie rückte ihren Stuhl zurück. "Er ist auch nicht me ine einzige Sorge!"
"Du tust aber, als wäre es so!"
"Und wenn ich nicht anrufe, oder er einfach nicht mehr kommt?"
"Er wird schon kommen. Schließlich habe ich ihn im Voraus bezahlt. Er muss."
Grace hielt ihm das Hemd entgegen. "Ich könnte dir die Ärmel zunähen. "
Erschrocken sprang er auf. "Wag das nicht! Das war ein teures Hemd! "
"Dann hör auf, so mit mir zu reden."
"Na gut." Michael hob das Kätzchen hoch, das ihm um die Beine strich, und setzte es sich
auf den Schoß. "Hast du schon einen Namen für sie?" Er streichelte ihr langes Haar. "Von mir aus können wir bei Kitty bleiben", murmelte Grace. Ihr Bruder lachte. "Button macht das schon richtig. Erst bestimmt sie über den Namen deiner Katze, dann bringt sie dich dazu, dich für Mutters Abfuhr zu entschuldigen." "Wir müssen eben alle Kompromisse machen." Sie schüttelte ihren Lockenkopf. "Ich hoffe nur, Mutter wird sich gegenüber ihren eigenen Enkeln etwas geduldiger zeigen, falls und wenn die Zeit kommt." Sie nahm eine Schere und schnitt den Faden ab. "Bitte. So gut wie neu." "Danke. Reg dich nicht so auf, was Kyle betrifft. Wenn du mich fragst, ich glaube, dass er dich noch immer als die Kleine von damals sieht. Wenn du das akzeptierst, gibt es keinen Grund mehr, dich so in die Sache hine inzusteigern." Grace glühte. Das mochte seine Meinung sein, sie dagegen war anderer Ansicht. Es gab etwas zwischen ihr und Kyle. Etwas heißes. "Oh, nimm dein Hemd und verschwinde!" "Sicher. Aber ..." Er schenkte ihr ein bezauberndes Lächeln. '"Könntest du es noch bügeln?" Sie stand auf und schwenkte drohend das Hemd. "Unglaublich! Zu deinem nächsten Geburtstag werde ich dir eine Haushälterin schenken!" Als Kyle abends in der Küche über den Plänen für das Bistro saß, lockte ihn Amelias monotone Stimme beim Vorlesen zu Buttons Zimmer. Doch als er die beiden so vertraut zusammensitzen sah, traute er sich nicht, zu stören, und blieb vor der Tür stehen. Das harmonische Bild der beiden zusammen auf dem Futon schnürte ihm die Kehle zu. Das verdankte er Grace, denn sie hatte Button das Buch geschenkt. Sie war bemerkenswert einfühlsam. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt heute Nachmittag, wo alles schief gegangen war und sie einen Wutanfall bekommen hatte. Kyle lehnte den Kopf an den Türrahmen im Flur und rieb sich die Stirn. Wie hatte er nur vorschlagen können, ihr sein Schlafzimmer zu zeigen? Weil er sie dort am liebsten haben wollte? Zweifellos brachte ihn die Vorstellung von Grace in seinem Schlafzimmer ziemlich aus dem Konzept. Ob es ihm gefiel oder nicht, die sexuelle Spannung zwischen ihnen war von dem Moment an da gewesen, als er in ihrer Küche Zwiebeln geschnitten hatte. Ein Blick und ... wumm! Wie naiv zu denken, dass sie immer noch wie der schlaksige Teenager von damals war. Kyle hatte sich sehr bemüht, sich wegen Libby nicht zu viele Vorwürfe zu machen. Es war vorbei. Sie war tot. Aber wenn er an Grace dachte, konnte er es nicht vermeiden, Vergleiche mit Libby anzustellen. Überraschenderweise gleichen sich die beiden überhaupt nicht. Libby war immer ausgeglichen gewesen, nicht so quirlig, überschwänglich und launenhaft. Grace dagegen war keine Frau, die irgendetwas für sich behielt. Eher explodierte sie wie eine geschüttelte Champagnerflasche. Und das gefiel ihm. Außerdem hatte auch Button solche Tendenzen, daher sollte er sich sowieso daran gewöhnen. "Hey, Daddy!"
"Hi! " Schüchtern betrat er das Zimmer. "Ich wollte euch zwei nicht stören."
"Was hat denn der Installateur gesagt?" fragte Amelia.
"Hauptsächlich, dass die Kosten für die Ro hrverlegung um einiges höher ausfallen werden,
als ich gedacht hatte."
„Aber du bist immer noch überzeugt davon, dass du es schaffst, oder? Immerhin ist dieses Projekt etwas ganz Neues für dich." Das stimmte keineswegs. Schließlich hatte er jahrelang im Management eines Restaurants gearbeitet, aber unter Amelias zweifelndem Blick fühlte er sich immer wie ein Anfänger. Eigentlich hatte er vorgehabt, heute Abend mit ihr über Jerome Andersons Forderungen zu sprechen, doch jetzt verwarf er den Gedanken. Immerhin schien ihm der Gedanke, dass der Dieb das Papier noch hatte, möglich, wenn auch unwahrscheinlich. Wie gern hätte er das mit Grace besprochen! Stattdessen hatte er schlüpfrige Witze gemacht. Wenn er Grace jetzt anrief, würde sie sich bestimmt wieder so aufregen, dass sie ihn zu guter Letzt noch feuerte. Button unterbrach seine Gedanken. "Schau dir mal mein Buch an, Daddy." Er ließ sich auf dem Futon zwischen Amelia und Button nieder und ließ sich von Button die Bilder zeigen. Amelia sah über Buttons Kopf zu Kyle. "Wie nett von Grace, Button das Buch zu schenken." Als sie Grace' Namen hörte, hob Button den Kopf. "Wo ist Kitty? Wollen wir anrufen?" Kyle stöhnte auf. "Auf keinen Fall." "Du fährst doch morgen wieder zu Kitty und Grace", tröstete Amelia. "Und zu den Kindern", ergänzte Button zufrieden.
6. KAPITEL Grace begrüßte Vater und Tochter am Mittwochmorgen an der weit geöffneten Tür. "Kommt rein!" Kyle brachte ein vorsichtiges Lächeln zu Stande, während er beladen mit zwei großen Papiertüten voller Lebensmittel eintrat. Grace schien ganz normal, sogar fröhlich. "Wir sind leider etwas spät dran. Wir mussten ziemlich lange im Supermarkt anstehen." "Ich wollte Süßigkeiten", beschwerte sich Button. "Und hab keine gekriegt." Grace ging voraus in die Küche. "Das nächste Mal kauf ihr welche. Du kannst sie mir ja auf die Rechnung setzen." Kyle stellte die Tüten auf der Anrichte ab. "Ums Geld geht es nicht. Button bekommt schon genug Süßigkeiten. Sie macht es sich zum Prinzip, mich den ganzen Tag deswegen zu löchern." Er stützte sich an der Spüle auf und sah zur Decke. "Hör mal, Grace, ich möchte mich für gestern entschuldigen. Mir war es peinlich, in dein Schlafzimmer gehen zu müssen, und ich wusste, dass es nicht richtig war. Dumm von mir, das nicht gleich zu sagen." "Mir tut es auch Leid", lenkte sie ein. "Schließlich hätte es ja tatsächlich sein können, dass Button irgendwo Unsinn macht." "Es wird nicht wieder vorkommen. Ich habe ihr gesagt, dass sie nur in der Küche oder im Wohnzimmer spielen soll. Schließen wir wieder Frieden?" "Ja." Grace war unendlich erleichtert, dass Kyle die Sache zur Sprache gebracht hatte. Sie ging ins Wohnzimmer, wo Button schon ihre Spielsachen auf einer Decke verstreut hatte. "Wann kommen die Kinder?" fragte die Kleine. "Heute kommen sie nicht", erklärte Grace ruhig. Enttäuscht sah Button auf. "Warum nicht?" "Sie haben andere Dinge zu tun. Genau wie ich. Sie kommen erst wieder, wenn ich ihre Kostüme fertig habe." Grace nahm einen Leinenblazer und ihre Arbeitstasche vom Stuhl. "Versprichst du mir das?" „Ja. Aber jetzt muss ich los." "Hast du einen Termin?" fragte Kyle.
Sie prüfte, ob sie alles Nötige eingepackt hatte. "Ja, ich habe eine Kundin in North Oaks. Ein Kleid für eine Brautmutter." Sie warf sich den Blazer über, der gut zu dem quadratischen Halsausschnitt ihres schicken Kleides passte. Kyle fand, dass sie darin umwerfend aussah. Grace hatte das Gefühl, von seinen Blicken förmlich durchbohrt zu werden. "Ist irgendwas? Habe ich einen Fleck auf dem Kleid?" "Äh, nein", stotterte er. Du bist bezaubernd. Perfekt. Einfach unwiderstehlich, fügte er im Stillen hinzu. "Sehe ich gut aus?" "Du siehst anders aus als sonst, wenn du zu Hause arbeitest", entgegnete er ein wenig unbeholfen. Sie warf einen Blick in den Spiegel im Eingang und lockerte einzelne Strähnen in ihrer Lockenpracht. "Stimmt. Es ist ja auch ein Kundentermin. Ich werde einige Entwürfe zeigen und die Details besprechen. Zu Hause berechne ich die Kosten, und wenn die Kundin damit einverstanden ist, bekomme ich eine Anzahlung und kann loslegen. Aber erst einmal kaufe ich..." "Diamanten?" Ihre Augen wurden schmal. "Normalerweise nur Eiscreme." "Eiscreme?" fragte Button dazwischen. "Das mag ich auch." Grace lächelte zu Button hinab, die brav auf ihrer Decke spielte. "Dann bringe ich welche mit, wenn ich wiederkomme." "Als Nachtisch", schlug Kyle vor. "Wenn du zum Mittagessen wieder zurück bist." "Das dürfte klappen. Aber jetzt, muss ich wirklich los." Sie schlüpfte in rote hochhackige Schuhe und ging in die Küche. "Übrigens, Button, lass die Sachen aus Glas bitte stehen, wo sie sind." "Ja, ja", erwiderte die Kleine fröhlich. "Die gefallen mir sowieso nicht." Kyle seufzte entschuldigend. "Kindermund.“ Lachend ve rließ Grace das Haus. Er stellte den Kassettenrecorder mit Buttons Lieblingsliedern an und ging in die Küche. Unweigerlich musste er ein Lied mitsummen, während er das Essen zubereitete. Alles schien wieder in Ordnung. Nach Grace' gestrigem Ausbruch hätte er nicht erwartet, dass sie sich so schnell versöhnen ließe. Mit ihr war es wie auf einer Achterbahn. Er reagierte auf jedes Auf und Ab ihrer Launen mit seinem ganzen Wesen. Und heute, jetzt in diesem Moment, schien ihm das Leben leicht und wunderbar. Einige Zeit später läutete es an der Tür. Kyle trocknete sich schnell die Hände ab, bevor er die Tür öffnete. Vor der Fliegengittertür stand ein Mann im Anzug. "Hallo. Ist Grace zu Hause?" "Sie ist nicht da. Kann ich etwas ausrichten?" "Ich bin Dickie Trainor." Der blonde schlanke Mann kam herein. "Sie sind Kyle McRaney, nicht Wahr?" „Ja.“ Abgelenkt von dem Bratenduft, hielt Dickie die Nase in die Luft und ging in Richtung Küche. "Was gibt's denn heute?" "Steak in Burgundersoße mit Reis." Anerkennend wandte sich Dickie zu Kyle. "Sie hat ja der Himmel gesandt. Grace ist eine schreckliche Köchin. Abgesehen davon hat sie auch nie etwas im Haus." Dickie machte die Ofentür einen Spalt auf und sog den Duft ein. "Das sieht absolut köstlich aus. Ich rieche frisch gemahlenen Pfeffer. Mmmm.“ "Danke." Dickie wandte sich wieder Kyle zu. "Grace hat mich sicher erwähnt." "Nein, das kann ich nicht behaupten."
Das warf den Besucher für einen Moment aus der Bahn. "Aber ich dachte ... Sind Sie sicher?" "Ganz sicher. Obwohl mir Ihr Nachname bekannt vorkommt. Wir kennen uns von früher, oder?" "Äh, nicht wirklich." Dickie erholte sich schnell. "Nein, ich dachte, Grace hätte Ihnen von meinem Angebot erzählt." Button kam mit ihrem Recorder hereingeschossen. "Daddy, du musst zurückspulen." Beim Anblick von Dickie Trainor hielt sie inne. "Button, das ist Mr. Trainor. Ein Freund von Grace." Buttons abschätziger Blick verunsicherte Dickie etwas, worüber sich Kyle insgeheim freute. "Das brauchen wir nicht", erklärte er seiner Tochter. " Wir drehen die Kassette einfach um, dann kannst du die andere Seite hören." Er nahm seiner Tochter das Gerät ab. Dickie Trainor sah sie an wie ein seltsames Insekt. "Von dir habe ich schon gehört."
Button streckte die Unterlippe vor und schwieg.
"Hier bitte, Honey." Kyle reichte ihr den Recorder.
Wortlos verschwand Button mit dem Gerät.
"Sie ist aber empfindlich."
Kyle lächelte dünn. "Sie ist erst drei."
"Ich kenne mich mit Kindern nicht aus, fürchte ich. Nun zu meinem Angebot, McRaney ... "
"Ich bin als Koch schon ausgebucht, danke", lehnte Kyle brüsk ab.
"Nein, nein, ich will mich an dem Bistro beteiligen."
"Unmöglich."
"Das mag Ihnen so vorkommen, wenn man bedenkt, welchen Ärger Sie gerade wegen der
Besitzrechte haben, aber..." "Was wissen Sie davon?" Dickie schien sich nicht ganz wohl in seiner Haut zu fühlen. Er lockerte seine Krawatte. "Ich weiß nur, was Grace und Nate Basset erzählt haben. Wir haben im Club zusammen Tennis gespielt, wissen Sie..." In Kyles Gehirn begann es zu arbeiten. Dickie Trainor war dabei gewesen, als Nate Grace und Heather erzählt hatte, dass ihm Jerome Anderson einen Besuch abgestattet hatte? Er kochte bei der Vorstellung, dass die vier seine Angelegenheiten besprachen. "Sind Sie auch Immobilienmakler?" "Nein, Rechtsanwalt. Meine Familie ist seit dreißig Jahren mit den Norths bekannt."
Kyle interessierte nur, wie gut dieser Dickie Grace kannte. Offenbar ziemlich gut.
Mit einem begehrlichen Blick auf den Ofen stellte Dickie sich wieder an den Herd. "Ich
hoffte, Grace hier zum Mittagessen anzutreffen. Wann kommt sie wieder?" "Das weiß ich nicht genau." "Es wäre ihr bestimmt recht, wenn ich mitesse." Die Möglichkeit existierte. Es sah ganz so aus, als nähme dieser Typ hier eine Position ein, die über Kyles Angestelltenstatus hinausging. Wahrscheinlich hatte Kyle gar kein Recht, ihn hinauszuwerfen. Nein, das wäre zu unhöflich. Kyle räusperte sich und versuchte, seinen Ärger herunterzuschlucken. "Bedienen Sie sich ruhig." Wie Kyle befürchtet hatte, kannte sich Dickie in der Küche aus. Ohne Zögern griff er in die Schublade, wo Grace früher das Besteck verstaut hatte. "Versuchen Sie's in der Schublade unter dem Geschirrschrank", wies Kyle ihn an. "Interessante Neup latzierung. “ "Es ist praktischer, wenn man das Besteck beim Herd hat." "Sie sind der Experte hier." Dickie holte sich einen Teller und lud sich eine Portion auf. Dickies Begeisterung über das Essen ließ Kyle ziemlich kalt.
Grace hatte mit keinem Wort erwähnt, dass sie einen Freund hatte oder auch nur einen Tennispartner. Und seine größte Sorge war, dass dieser Dickie Trainor in Grace' heiligem Schlafzimmer willkommen sein könnte. Bei der Vorstellung von Grace in Dickies dürren Armen biss er die Zä hne zusammen. Verdammt, das ging ihn zwar nichts an, aber seine Selbstbeherrschung stand gerade schwer auf dem Prüfstand. Dickie saß am Küchentisch und ließ es sich schmecken. "Mmm. Das ist ja noch besser als die Geburtstagstorte. Sie sind ein Meisterkoch!" Grace hatte dem Typ auch noch von seinem Kuchen abgegeben? Nach dem intimen Abend, an dem sie mit ihm selbst davon gegessen hatte? Kyle fühlte sich, als hätte er eine Ohrfeige erhalten. Nur durch heftiges Topfschrubben, Aufräumen und Messerschärfen gelang es ihm, etwas von seinem Ärger abzulassen. Wer hätte je gedacht, dass er sich wegen Grace so aufregen könnte? Nun, wenn er eine neue Beziehung suchen würde, wäre sie ... seine erste und einzige Wahl. Aber die bloße Idee war schon absurd. Grace fand bestimmt etwas Besseres als einen gescheiterten Witwer mit Kind. Aber trotzdem, musste es ausgerechnet Dickie Trainor sein? Eine halbe Stunde später erschien Grace. "Oh! Dickie!“ "Hi, Grace." Dickie sprang auf und versuchte sie zu küssen. Gerade noch rechtzeitig drehte sie ihm ihre Wange hin. "Was machst du denn hier?" "Es sollte eine Überraschung werden. Ist ein Mittagessen draus geworden. Schmeckt fantastisch." Grace ärgerte sich über Dickies Besuch. Schließlich war ihre Beziehung noch nicht so weit, dass er sich solche Überraschungen hätte leisten können. Er schien sich bereits wie zu Hause zu fühlen, außerdem störte er Kyle bei der Arbeit. "Ich habe heute viel zu tun, Dickie", sagte sie. "Du hättest vorher anrufen können." Kyle konnte seine triumphierende Miene nicht verbergen. "Setz dich doch, Gracie, und iss", mischte er sich ein. "Gut." Trotzdem brachte sie es nicht übers Herz, Dickie sofort hinauszuwerfen, sondern lud ihn noch zu einer Tasse Kaffee ein. "Was macht Button?" fragte sie Kyle. "Sie hat vor einer Stunde etwas gegessen und schläft jetzt auf ihrer Decke." "Können wir dann diesen höllischen Lärm abstellen?" beschwerte sich Dickie. "So kann sie besser schlafen." Grace fand das Gedudel auch nicht angenehm. "Wir können es ja ein bisschen leiser stellen", schlug sie vor. "Sicher. Kein Problem." Kyle verließ die Küche. Doch die Decke im Wohnzimmer war leer. Button war weg. "Button! " rief Kyle. Die anderen beiden kamen bereits herbeigelaufen. "Kyle, sieh oben nach", riet Grace. "Ich suche hier unten." Die Tür zum Schlafzimmer stand verdächtig angelehnt. Grace schwang sie auf und trat ein. "Button?" Das Licht im begehbaren Kleiderschrank brannte. Button saß inmitten von einem Haufen Schuhe, Socken und Hüte und schwatzte fröhlich mit Kitty, die es sich auf einem Berg Unterwäsche bequem gemacht hatte. Mit glühendem Gesicht sah sie zu Grace hinauf. "Hallo, Grace. Hast du mir Eiscreme mitgebracht?" "Komm sofort aus meinem Schrank heraus", befahl Grace und drohte mit dem Finger. Button gehorchte, ohne Grace' nachschleifendes Kleid oder die viel zu großen Pumps auszuziehen, in denen sie steckte. Dickie kam herein. "Hey!" schrie er. "Was soll das!" Mit einem entsetzten Quietschen versteckte sich Button hinter Grace. "Sie hat meine Perlenkette um!"
Grace spürte, wie sich Button an ihren Beinen festklammerte. Sie trug tatsächlich die Halskette, die Dickie Grace zum Geburtstag geschenkt hatte. "Das sind immer noch meine Perlen, Dickie." „Ja, aber... das geht doch nicht!"
Button sah ihn aus großen Augen an. "Das ist ein ekliges Monster!“
"Frechheit! " polterte er. "Du machst hier Ärger! Spielst mit den Sachen anderer Leute!"
Als Grace nichts dazu sagte, steigerte sich seine Stimme zu einem hohen gequetschten
Singsang. "Willst du das noch länger mit ansehen?" Eigentlich fühlte sich Grace ganz ähnlich, wie Dickie sich benahm, verärgert und entsetzt. Aber sie hatte nicht vor, genauso zu reagieren wie er. Sein Ausbruch schien ihr übertrieben und peinlich, davon wurde schließlich nichts besser. Und es gab ihr Auftrieb, dass Button bei ihr Schutz suchte. "Sie ist doch nur ein Kind", meinte sie schließlich. "Wir müssen es ihr nachsehen." "Aber dass sie hier einfach so mit deinen Sachen spielt! Nicht mal ich darf hier in dein Schlafzimmer! Kyle kam gerade rechtzeitig, um Dickies letzte Worte noch zu hören. Tief atmete er den Parfümduft aus dem Zimmer ein und genoss die Genugtuung, dass auch Dickie hier keinen Einlass fand. "Die Perlen sind ja noch heil, Dickie", beruhigte ihn Grace.
"Aber sie sind nicht zum Spielen da!"
"Sehr richtig." Grace drehte sich zu Button um und hob ihr die Kette über den Kopf.
"Es wird nicht wieder passieren", sagte Kyle entschuldigend.
Grace bemerkte ihn erst jetzt. "Ich dachte, du hättest ihr ihre Grenzen erklärt, Kyle."
"Habe ich auch."
"Du hast gesagt, ich soll schön spielen, Daddy", meinte Button. "Das mach ich doch."
"Aber nur in der Küche und im Wohnzimmer, Button."
"Aber Gwace hat auch mein Zimmer gesehen."
Dickie gab einen entnervten Ton von sich. "Keine Kochkunst der Welt kann das hier
aufwiegen..." "Niemand hat Sie nach Ihrer Meinung gefragt", schnitt Kyle ihm das Wort ab. "Hey, Jungs, das ist mein Haus!" rief Grace. "Die Einzige, die hier etwas zu sagen hat, bin ich." Kochend vor Wut, nahm sie die Perlen und hängte sie Dickie um den Hals. "Hier, bitte sehr. Da hast du deine Perlen! Und jetzt geh bitte." "Aber Grace! " stotterte Dickie. "Ich will sie doch nicht zurückhaben." „Tut mir Leid. Du bist gekommen, ohne dass ich dich eingeladen hätte, und hast deinen Aufenthalt hier längst überzogen!" Sie packte Dickie an den schmalen Schultern und schob ihn Richtung Haustür. "Hier dürfen keine Jungs rein!" rief ihm Button aus sicherer Entfernung hinterher. "Nur mein Daddy! " Insgeheim erleichtert, trat Kyle zur Seite und versuchte, seine Schadenfreude nicht zu deutlich zu zeigen. Die jedoch fand gleich darauf ein abruptes Ende, als Grace wiederkam. "Dasselbe gilt für dich, Kyle. Raus. Geh mit Button in die Küc he." "Und das Mittagessen?" fragte er hilflos. Sie deutete auf den Kleiderschrank. "Erst muss ich dieses Chaos wieder in Ordnung bringen." Kyle winkte seiner Tochter und ging widerwillig in die Küche, wo Dickie noch stand. Er hatte an der Tür auf Kyle gewartet. "McRaney, tut mir Leid, dass ich das Kind angeschrieen habe." "Schon gut.“
„Ich bin Kinder nicht gewöhnt. Und die Perlen sind wirklich wertvoll."
"Kein Problem. Passen Sie auf, die Kette passt nicht besonders gut zu der Krawatte. " Er zwinkerte. "Eins von beiden sollten Sie ablegen." Grace hatte sich währenddessen auf die Kante ihres Bettes fallen lassen. Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Wenn ihr vorher jemand gesagt hätte, dass sich durch Kyles Rückkehr die Ereignisse in ihrem Schlafzimmer überstürzen würden, hätte sie eine ganz andere Vorstellung dabei gehabt. Plötzlich spürte sie einen leichten Druck auf dem Nacken. Kyle? Sie blinzelte durch die Finger und sah Button neben sich. Den pinkfarbenen Chiffonschal hatte sie immer noch um den Hals, das Blümchenkleid schleifte ihr um die Füße. "Nicht weinen", sagte das Kind. Grace legte die Hände auf die Knie. "Ich weine nicht, ich versuche mich nur zu beruhigen." "Is doch nix kaputtgegangen." Wahrscheinlich tröstete Kyle das Kind mit ähnlichen Worten. "Du hättest mich fragen sollen, bevor du hier rein bist." "Daddy sagt, dass man teilen soll." Grace lächelte. "Das stimmt, Teilen ist eine gute Sache. Die Arbeit kann man auch teilen. Du kannst mir beim Aufräumen helfen. Sag Daddy Bescheid, dann komm wieder, und hilf mir." Eine halbe Stunde später kam Grace zurück in die Küche. Kyle putzte gerade den Schrank unter der Spüle. "So, jetzt hätte ich gern Mittagessen. Button sieht sich ein Bilderbuch auf meinem Bett an." "Hat sie beim Aufräumen geholfen?" ,Ja. Hat ihr einen Mordsspaß gemacht, die Schuhe zu sortieren und einzuräumen." "Tut mir Leid, dass sie alles durcheinander gebracht hat." "Vielleicht überlegt sie es sich das nächste Mal besser. Jetzt weiß sie ja, wie lange es dauert, die Sachen wieder aufzuräumen.“ "Sie wird sicher weiterhin ihre Nase in deine Sachen stecken, Sie findet dich interessant." "Wirklich?" „Ja, ganz faszinierend." „Und deswegen musst du lächeln?" „Ja. Aber ich dachte gerade an Dickie mit der Kette um den Hals und sein Gequieke wegen Button ..." Er rollte die Augen. „Warum will er in mein Bistro investieren? “ "Hat er dir davon erzählt?“ „Ja. Wieso hast du mir nichts davon gesagt?" "Ich habe es einfach vergessen. Außerdem haben Michael und ich ihm schon eine klare Absage erteilt. Aber er kann recht hartnäckig sein. Ich hätte mir denken können, dass er dich selbst deswegen ansprechen wird." "Er ist anmaßend und egoistisch." "Oh, Kyle. " Grace schlug ihm leicht auf den Arm. "Hatte ich jemals einen Freund, der dir zugesagt hat?" "Gute Frage. Wollen mal sehen." Kyle starrte aus dem Fenster durch die Blenden der Jalousie. "Da gab es diesen dürren Kerl, Josh Kramer, der dir verschlüsselte Nachr ichten geschrieben hat, die kein Mensch lesen konnte. Dann ein Austauschstudent, Niles Grainger, der behauptete, der 82. in der englischen Thronfolge zu sein. Und nicht zu vergessen der Dichter, Bruce Milestone, der ohne Unterlass die herzzerreißendsten Verse verfasste. Kein Einziger von ihnen war jemals gut genug für dich." Er erinnerte sich immer noch an die Namen. Grace trommelte mit den Fingernägeln auf den Tisch und versuchte ihre Stimme zu kontrollieren. "Wer wäre denn gut für mich, Kyle? Was für ein Mann ... " Eine pikante Frage. Kyle räusperte sich verlegen. "Ein netter, solider Typ, würde ich sagen. Anständig, hart arbeitend. Einen, den du hoffentlich erkennst, wenn du ihn siehst."
"Wird er mich denn erkennen?" "Bestimmt, es sei denn, er ist ein Vollidiot! "Na ja, hoffen wir mal, er ist wenigstens halbwegs bei Verstand", scherzte sie. "Vielleicht ist das nicht ganz richtig formuliert", widersprach er vorsichtig. "Oh, ich weiß nicht. Es zählt der Gedanke. Und ich kann mir sehr gut denken, was du gerade denkst." Grace stellte sieh auf die Zehenspitzen und küsste Kyle sanft auf die Lippen. Kyle dagegen war gerade gar nicht nach Sanftheit zu Mute. Vor unerfülltem Verlangen legte er eine Hand an Grace' Kopf und umfasste mit der anderen ihre Hüfte, um ihren verführerischen Körper an sich zu ziehen. Dann vertiefte er seinen Kuss zu einer fast unerträglichen Intensität und drängte seine Zunge zwischen ihre Zähne. Grace entfuhren kleine Laute. Sie genoss den Geschmack und das Gefühl seiner Zunge, während er ihren Mund erkundete. Ihre Dickie mit der Kette um den Fantasie war Wirklichkeit geworden: Kyle küsste sie leidenschaftlich und schmiegte besitzergreifend die Hände an ihre Kurven. Selbstvergessen legte sie ihm die Arme um den Hals und presste sich noch stärker an Kyle. Heftig atmend gab er ihre Lippen frei, um sie auf die Schläfen und die Wangen zu küssen und um sanft an ihrem Ohr zu knabbern. Grace blickte mit leuchtenden Augen zu ihm auf. "Was hältst du jetzt von meinem Geschmack in Be zug auf Männer?" Er brachte ein unsicheres Lächeln zu Stande. Wenn er nicht wenigstens versuchte, Grace zu. erobern, würde es ein anderer tun, und er würde sich sein Leben lang Vorwürfe machen. Trotzdem fühlte er sich verpflichtet, sie zu warnen. "Mit allem, was ich am Hals habe, Gracie", murmelte er, "bin ich nicht gerade der aufregendste Typ." Sie legte einen Finger auf das Grübchen in seinem Kinn. "Hier unterschätzt aber jemand seine Küsse ganz gewaltig." Er umfasste ihre Hand. "Bitte sei ernst. Amelias Vorurteile, Jeromes Forderungen, Buttons Erziehung und dann noch das Bistro - das alles lässt mir nicht gerade viel Zeit für persönliche Dinge. Ihre Zuversicht war unerschütterlich. "Ich kann dir helfen, wenn du mich lässt." "Dass du mir bei der Einrichtung hilfst, ist eine Sache, aber es wäre unfair, dich mit den anderen Dingen zu belasten, die nur mich angehen. Außerdem bin ich es inzwischen gewöhnt, alles allein zu machen." "Wir leben doch fast schon miteinander", widersprach Grace. "Ich weiß nicht, was falsch daran sein soll, unsere Beziehung zu vertiefen. Aber ich werde mich dir nicht aufdrängen", versicherte sie ihm, als sein Blick unsicher flackerte. "Nein?" Er ließ die Finger durch die kastanienbraunen Locken an ihrer Stirn gleiten. "Okay, Prinzessin. Wenn du es mit meinen Sorgen aufnehmen willst: Gestern Abend hätte ich fast mit Amelia über die Geschichte mit Jerome geredet, aber sie zweifelt schon an meinen Fähigkeiten, das Bistro überhaupt zu betreiben. Das war ein kalter Guss für mich, also habe ich es gelassen, mit ihr über den Diebstahl und das fehlende Dokument zu sprechen." "Lass es uns mal von Jeromes Sicht aus angehen. Hast du schon überlegt, die Leute ausfindig zu machen, die zur Zeit des Diebstahls im Bistro waren? Vielleicht erinnern sie sich an etwas, das für uns nützlich wäre. Es wäre zwar nur ein Versuch, aber vielleicht steckt dieses Schriftstück ja doch noch irgendwo." "Daran dachte ich auch schon. Die Zeugenliste könnte uns weiterhelfen. Ich habe bereits heute Morgen bei der Polizei angerufen, um einen Blick auf den Bericht zu werfen, aber der zuständige Beamte lehnte ab", erzählte er resigniert. Grace' Augen leuchteten auf. "Du hast Glück, denn deine Prinzessin kennt dort jemanden." Hoffnungsvoll hob er die Braue n. "Wirklich?" "Ja, Chief Windom Milestone höchstpersönlich, den Vater des Dichters Bruce, von dem wir vorhin sprachen. Ich könnte ihn anrufen."
"Das wäre nett." Kyle war erleichtert. "Ich sehe inzwischen nach Button. Er ging zu Grace' Schlafzimmer wo seine Tochter auf einer pastellfarbenen Tagesdecke zwischen lauter Kissen auf dem Bett saß und in einem Bilderbuch blätterte. "Daddy! " Freudestrahlend streckte sie die Anne nach ihm aus. Kyle trat nur ungern über die verbotene Schwelle. Er setzte sich auf die Bettkante und strich Button übers Haar. „Geht's dir gut, mein Liebling?" Vorsichtig lehnte er sich ans Kopfende an und konnte nicht widerstehen, die Füße hochzulegen. Mit dem riesenhaften Fernseher vor sich fühlte er sich wie in einem Luxuskino. Button tätschelte sein Bein. "Ich will auch so ein Zimmer, Daddy.“ Er seufzte zufrieden. "Vielleicht irgendwann, wenn wir im Lotto gewinnen." "Irgendwann, du Spion", klang Grace' fröhliche Stimme von der Tür her, "wird dir in diesem Schlafzimmer etwas ganz Schreckliches zustoßen!" Die Vorstellung brachte ihn zum Lächeln. "Hast du Milestone erreicht?" „Er hat morgen um zwei Uhr Zeit. Geht das bei dir?" "Sicher." "Wir gehen gemeinsam hin." Dann kam sie näher. "Du hast ja deine Schuhe auf meiner Decke! " empörte sie sich und schob Kyles Beine vom Bett. "Schau dir an, was du da für Dellen gemacht hast!" Als sie sich vorbeugte, um die Decke glatt zu streichen, flüsterte er ihr ins Ohr: "Diese Dellen sind noch gar nichts, Honey." Button strahlte Grace an. "Stimmt. Die sind gar nix."
7. KAPITEL "Grace! Schön, Sie mal wieder zu sehen." Chief Windom Milestone streckte Kyle und Grace an seiner Bürotür die Hand entgegen. "Danke, dass Sie sich Zeit für uns nehmen", sagte Grace und stellte ihm Kyle vor. Hinter ihnen schloss Milestone die Tür und ließ die beiden vor seinem Schreibtisch Platz nehmen, bevor er sich selbst in seinen Sessel dahinter setzte. "Wie geht's Ihrem Design-Atelier, Grace?" erkundigte er sich freundlich. "Sehr gut, danke. Was macht Bruce?" "Er ist vor kurzem in Maryland zum Detective befördert worden. Außerdem hat er einen Gedichtband veröffentlicht. Ich finde die Gedichte sehr gut. Viele sind noch von Grace inspiriert", vertraute er Kyle an. "Es war schlimm für ihn damals, aber er hat sie trotzdem in guter Erinnerung behalten." "Völlig verständlich", sagte Kyle feierlich. Zu verständlich. Für seine Verhältnisse steigerte sich seine Eifersucht bedenklich. Milestone wandte sich der Akte auf dem Tisch zu und schlug sie auf. "Ich habe mir den Bericht mal angesehen. Damals hatte ich nichts mit der Untersuchung zu tun, aber ich erinnere mich an den Fall, weil ich mit den Andersons befreundet war. Frei heraus gesagt, ich frage mich, was ihr nach sieben Jahren noch damit wollt." "Sicher wissen Sie, dass ich damals als der Hauptverdächtige galt", begann Kyle sachlich. Milestone sah ihn milde an. "Sie wurden freigesprochen. Hier liegen zwar ausführliche Vorwürfe von Seiten Amelias vor, Aussagen über die Schulden Ihres Vaters, die zerrüttete Ehe Ihrer Eltern. Sie vermutete Rache, weil es genau in der Nacht geschah, als man Sie feuerte. Nur Sie selbst wissen, wie viel davon der Wahrheit entspricht."
"Der einzige Grund, warum sie mich gefeuert hat, war, dass ich in ihre Enkelin verliebt war. Sie deswegen zu bestehlen, das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ich bin unschuldig", beharrte Kyle. Durchdringend sah Milestone ihn an. "Warum lassen Sie die Sache nicht einfach auf sich beruhen?" "Das geht nicht, Windom", schaltete sich Grace ein und erzählte ihm von Kyles Plänen mit dem Bistro und von Jeromes Forderungen. Der Beamte blätterte durch die Akte. „Ja, hier steht, dass dieses Dokument fehlte." "Wenn wir es bekommen könnten, wäre Jerome aus dem Spiel", erklärte Grace. Milestone zwinkerte ihr zu. "Möchten Sie Detektiv spielen, Grace?" "Windom, wir möchten nur die Liste der Zeugen durchsehen. “ "Und dann?" "Wir haben nicht vor, jemanden vors Gericht zu bringen", sicherte Kyle. "Wir wollen die Leute nur fragen, ob nicht jemand etwas Merkwürdiges bemerkt hat." "Das ist bereits vor sieben Jahren passiert, und nichts ist dabei herausgekommen." „Ja, aber irgendjemand muss es gewesen sein. Und vielleicht hat er oder sie das Dokument noch und rückt es jetzt heraus", versuchte Grace es erneut. "Nun, ich könnte mir höchstens vorstellen, dass ihr Glück hättet, wenn ihr euch mit einem Brief an die Zeugen wendet. „Aber macht euch lieber nicht zu viel Hoffnungen. Das Dokument war dem Dieb wahrscheinlich unwichtig, und er hat es weggeworfen. Bei dem Raub ging es um die wertvollen Sachen." Er sah auf die Akte. "Bargeld, Ringe, eine Münzsammlung." "Sie geben uns doch die Liste, Windom?" drängte Grace. "So würde ich das nicht sagen", meinte er und erhob sich. "Aber ich muss noch etwas holen", fügte er mit einem bedeutsamen Blick auf die Akte hinzu. "Fühlt euch ganz wie zu Hause, ich bin gleich wieder da." Im selben Augenblick, als er verschwunden war, stürzte sich Kyle auf die Akte und suchte die entsprechende Seite heraus. Es war alles da, Namen und Telefonnummern. Grace nahm sie an sich. "Da hinten steht ein Faxgerät. Ich mache schnell eine Kopie." Als Windom wiederkam, war alles erledigt. "Hier ist ein Band mit den Gedichten von Bruce für Sie", sagte er zu Grace. "Oh, danke, Windom." Sie küsste ihn auf die Wange. "Danke für alles." Hinter seiner rauen Art war er geschmeichelt. "Seid aber vorsichtig - und plaudert nichts aus!" Sie nickte. "Wenn Ihre Frau mal ein neues Abendkleid braucht, rufen Sie an. Ich bin Ihnen etwas schuldig." "Ein Grace-North-Original würde Kimberly bestimmt gefallen." Er schüttelte Kyle die Hand. "Schön, Sie kennen gelernt zu haben, Kyle. Viel Glück." "Danke." Als sie schon fast aus der Tür waren, rief er sie noch ein letztes Mal zurück. "Und besuchen Sie Bruce' Website. Sie steht in dem Buch. Er würde so gern mal wieder was von Ihnen hören." Draußen blieben sie stehen. Kyle steckte die Hände in die Hosentaschen und schaute in den strahlend blauen Himmel hinauf. "Das machst du doch nicht, oder, Grace?" "Was denn?" "Bruce Milestones Website anklicken." Kyle schien ernsthaft beunruhigt. Kein schlechtes Zeichen, dachte Grace zufrieden. "Mal sehen. Vielleicht." "Und was machst du jetzt mit dem Buch?" fragte er wie nebenbei.
"Lesen natürlich." Lachend steckte sie es in ihre Handtasche. "Ich freue mich schon. Vielleicht erkenne ich sogar einige Gedichte wieder." "Hast du Zeit für einen Drink?" fragte Kyle zögernd. "Wenn du nicht zu beschäftigt bist." "Überhaupt nicht. Ein paar Straßen weiter ist ein nettes Lokal. Gehen wir da hin." Zu dieser Zeit am Nachmittag war das Lokal nicht stark besucht. Die beiden setzten sich, und Kyle bestellte ihren Lieblingssoftdrink. Grace war gerührt. "Dass du dich daran erinnerst." Kyle spürte ein warmes Gefühl in seinem Bauch. Wenn Grace ihn manchmal so ansah, mit einem Blick voller Sehnsucht in ihren grünen Augen, hatte er das Gefühl, als seien sie schon lange miteinander vertraut. Es war nicht seine Sache, Gefühle zu äußern, aber er wo llte es wenigstens versuchen. "Du gehst mir ganz schön nahe, Gracie", gestand er sanft. Sie beugte sich vor. "Wie meinst du das?" Ihre ahnungslose Frage verunsicherte ihn. "Ich weiß nicht. Ich komme auf merkwürdige Gedanken. Ich könnte dir Gedichte vorlesen, wenn ich welche geschrieben hätte." Sie lachte, während die Getränke kamen. "Du bist ja nur neugierig, weil du glaubst, dass in Bruce' Buch etwas über mich drinsteht. Wir sollten uns jetzt doch lieber mit der Zeugenliste befassen." Grace holte das Papier aus der Handtasche und legte es so auf den Tisch, dass sie es beide lesen konnten. "Sieh mal! Nate war in der betreffenden Nacht da. Und Michael auch." "Da stehen eine Menge Leute, von denen ich schon lange nichts mehr gehört habe. Bekannte, Kollegen." Er fuhr sich durchs Haar. "Ich hoffe, wir schrecken da niemanden unnötigerweise auf." "Es muss aber sein." "Wir sollten einen Serienbrief verfassen und an die Leute verschicken. Am besten machen wir das bei Michael im Büro, denn er hat einen Computer. Ich wollte ihn nachher sowieso von der Arbeit abholen, weil später der Bodenleger ins Bistro kommt. " "Ich komme mit", entschied Grace. "Dann können wir gemeinsam überlegen, was wir schreiben." Das North-Imperium hatte seinen Sitz im zwölften Stock eines eleganten Bürogebäudes. Grace ging voran aus dem Lift und öffnete die Glastür, auf der in goldenen Lettern der Familienname stand. Michaels Sekretärin, Sue Meier, goss gerade die Pflanzen auf dem Fensterbrett, als die beiden eintraten. "Hallo, Grace! " Sie setzte die Gießkanne ab. "Ihr Bruder telefoniert gerade. Ich sage ihm Bescheid, dass Sie da sind." Michael empfing die beiden einen Augenblick später. Er tippte noch schnell etwas am Computer und wandte sich dann seinen Besuchern zu. "So eine Überraschung! Ihr beide?" Sie berichteten von ihrem Besuch bei Windom Milestone und dem Plan, einen Rundbrief an die Zeugen zu versenden. Michael war beeindruckt. "Und jetzt wollt ihr den Brief hier am Computer schreiben und ausdrucken." "Ganz richtig, Brüderchen. Wir sagen dir, was drinstehen soll. Gesucht: Informationen zum Einbruch in Amelia's Bistro." Sie kritzelte die Worte auf ein Blatt Papier. "Fünfhundert Dollar Belohnung für die Wiederbeschaffung eines verlorenen Dokuments." "Fünfhundert?" wiederholte Kyle. "Das geht auf mich", gab Grace zurück und konzentrierte sich wieder auf den Text. "Wir sollten garantieren, dass wir keine Fragen stellen und es nicht an die große Glocke hängen." "Das finde ich fair", stimmte Kyle zu. "Obwohl ich nicht begeistert bin von der Idee, dem Dieb auch noch eine Belohnung zu geben." "Das müssen wir in Kauf nehmen. Was für eine Kontaktadresse sollen wir angeben?" fragte Grace.
"Am Besten die vom Bistro", fand Kyle. In zehn Minuten hatten sie den Text fertig, dann gab Grace ihrem Bruder die Zeugenliste. Er gab einen erstaunten Laut von sich. "Ich bin auch auf der Liste?" "Waren Sie nicht an dem Abend im Bistro?" brummte Kyle im Tonfall von Columbo. "Meine Güte, dann streich dich eben raus", bot Grace großzügig an. "Vielen Dank, Prinzessin", schmollte Michael. "Hey, und was ist mit Nate Basset? Soll ich ihn auch herausnehmen? Die Tatsache, dass er deine beste Freundin geheiratet hat, macht ihn noch nicht zum Knacki. " "Sehr freundlich." Grace lächelte dünn. "Nate hat, mit Jerome Anderson zu tun. Er wusste, dass Jerome Forderungen erheben würde, und ist offenbar ganz wild drauf, die Provision für den Wiederverkauf des Bistros einzustreichen. " "Oh." Michael war erstaunt. "Ich gebe Sue die Liste, dann kann sie die Adressen prüfen und einen Serienbrief erstellen." Damit verließ er den Raum. Grace stand auf und schmiegte sich an Kyle. "Jetzt brauche ich eine Umarmung." Er schloss sie in seine Arme und gab ihr noch dazu einen Kuss, der sie vollkommen dahinschmelzen ließ. Bis sich plötzlich mitten in ihrem leidenschaftlichen Kuss die Tür öffnete und Victor North auf der Schwelle stand. "Vater!" Die beiden fuhren auseinander. "Nun. Kyle." Victor holte erst mal Luft. "Ich wollte Sie gerade im Namen der Norths begrüßen, da Sie wieder in der Stadt sind, aber wie es aussieht, hat Grace das schon übernommen." "Guten Tag, Mr. North. " Victor trat näher. "Das Projekt mit dem Bistro hört sich interessant an." „Ja, ich bin sehr froh darüber, dass Michael Teilhaber sein will…“ „Meine Kinder haben mir unmissverständlich klargemacht, dass sie auch ohne meine Zustimmung Geschäfte abschließen. Sieht aus, als hätten Sie nun beide dazu verführt." "Aber Vater! " Grace errötete. "Ich wollte euch nur kurz begrüßen. Kommt doch irgendwann zum Abendessen vorbei." Damit drehte er sich um und ging. Als Grace am Abend in ihrem Studio arbeitete, klingelte das Telefon. Auf der Anzeige erkannte sie die Nummer ihres Vaters. "Hallo, Dad", sagte sie in den Hörer, nachdem sie abgenommen hatte. "Wie geht's? Hast du gerade zu tun?" "Ich arbeite an einem Kleid für ein Theaterstück im Gemeindezentrum. " Ihr Vater zögerte. "Was ich heute gesehen habe, hat mich überrascht. Du und Kyle ... " "Weil wir uns geküsst haben? Es ist dein gutes Recht, erstaunt zu sein", erwiderte sie sachlich. "Genauso wie ich das Recht habe, mir meine Freunde selbst auszusuchen." "Ist er wirklich dein Freund?" "Nicht offiziell. Noch nicht. Immerhin ist er fast die ganze Zeit hier." "Oh ja, dieser Kochjob. Aber wer hätte je gedacht, dass ... Und was ist mit Dickie?" "Ich kann es dir auch gleich sagen: Mit Dickie wird es nie etwas Ernstes sein." "Aber Mutter und ich hatten zu Beginn einen ganz anderen Eindruck "Das ist teilweise meine Schuld", gab Grace zu. "Ich dachte wirklich, ich könnte ihn lieben, aber ich hätte es nur euretwegen getan. Zwischen Kyle und mir dagegen ist alles so natürlich. Bei Dickie habe ich das Gefühl, dass wir uns nie wirklich verstehen." Grace atmete tief ein. Es fiel ihr schwer, ihrem Vater das zu erklären. "Dickie hat Karriere gemacht, er ist Anwalt in einer guten Kanzlei! Und ich finde, dass man sich sehr gut mit ihm unterhalten kann", versuchte Victor es erneut. "Aber ich muss das Jawort sprechen, nicht du. Hast du schon vergessen, dass er neulich auf dem Konzert mit einer anderen Frau am Arm aufgetaucht ist?"
"Das war seine Sekretärin, Miss Evers. Das ist, wie wenn Michael Sue mitbringt. Dickie hat dich doch sogar nach Hause gefahren. "Gib's zu, Dad, eine Sekunde lang hast du gedacht, dass du Dickie doch nicht so gut kennst, wie du denkst. Ich konnte es dir doch ansehen." Sie diskutierten noch eine Weile, aber Grace nahm es gelassen, denn sie kannte diese Gespräche. Und es war gut, die Sache end lich geklärt zu haben. Als sie an ihren Arbeitstisch zurückkehrte, musste sie wieder an Haley Evers denken. Sie fragte sich, was Dickies Sekretärin vor dem Konzert eigentlich von ihr gewollt hatte, bevor Dickie dazwischenkam. War sie in Dickie verliebt und sah Grace als Konkurrenz an? Arme Haley. Vielleicht sollte sie ihr sagen, dass sie das Feld längstgeräumt hatte.
8. KAPITEL Grace stellte fest, dass sie es kaum erwarten konnte, bis Button am Freitagmorgen kam. Trotz der Zweifel an ihrer komplizierten Freundschaft freute sie sich schon, dem Kind eine gute Nachricht erzählen zu können. "Heute kommen die Kinder! " quietschte Button begeistert und klatschte in die Hände. "Ja", bestätigte Grace. "Die nächste Anprobe ist fällig. Da hast du den ganzen Morgen jemanden zum Spielen." Button rannte an Grace vorbei zu Kyle und schlang ihm die Arme um die Beine. "Daddy, die Kinder kommen!" Kyle lachte. "Das ist toll, mein Liebling. Und ich finde es sehr nett von Grace, dass sie dich mit ihnen spielen lässt." Er drehte Button herum. "Sag ihr das." "Danke, Gwace! " Grace zog lachend an Buttons Pferdeschwanz. "Gern geschehen." Button raste zu Kitty, die es sich auf dem Fensterbrett bequem gemacht hatte, und erzählte ihr die Neuigkeiten. "Also, was steht heute auf dem Speisezettel?" wandte sich Grace an Kyle und zwickte ihn scherzhaft ins Kinn. "Nun, ich denke da an eine Kräuterquiche mit Pilzen. Und vielleicht gibt es danach einen Kuchen, weil du so ein Engel bist." Gut gelaunt zog er sie in seine Arme und küsste sie auf die Nasenspitze. "Mmm ... eine himmlische Belohnung." "Danke, dass du Button diese Freude machst. Mein Glück hängt so sehr von ihrem ab", flüsterte er. "So sind Väter eben." "Steht dir gut, Daddy." Er zog sie näher. "Und ich habe den Verdacht, dass ich nicht mehr der Einzige bin, der unter Buttons Bann steht. Gestern schien es mir noch, als hättest du es nicht eilig, die Kinder herzubestellen." "Vielleicht habe ich das Buttons wegen arrangiert", deutete Grace an, während sie über seinen Hals strich. "Dickies Empörung wegen der Perlen gestern hat sie durcheinander gebracht. Außerdem drängt es mit den Kostümen langsam. Mitzi macht sich schon Sorgen." "Du bist die Größte." Er versicherte sich, dass Button gerade nicht hersah, und senkte den Kopf, um Grace einen Kuss zu stehlen. Mitzi und die Kinder waren kaum eine Viertelstunde bei Grace, als rund um das Sofa ein "Restaurant" entstanden war. Kristin, Rachel und Button spielten fröhlich mit Kitty, während Grace das Kostüm von Tony anpasste. "Hallo, alle zusammen! " Kyle kam herein. "Wie läuft's? Ich muss ins Bistro, um mit dem Bodenleger das Parkett auszusuchen. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich heute mit Button eine Stunde eher gehen. Das Essen ist fer..."
"Nein, Daddy, nein! " Button sprang auf. "Wir spielen." Sie zog Kristin an sich. "Ich bin die Kellnerin. Im Restorang." Kristin lächelte. "Kann sie nicht hier bleiben? Wir passen auf sie auf." Kyles Blick traf Grace'. Es schien ihm, als wäre sie unsicher, aber vielleicht bildete er sich das nur ein. Besonders, wenn sie so strahlend lächelte. "Button kann gern bleiben, wenn es ihr nichts ausmacht." Jetzt war es an Kyle, unsicher zu sein. "Also, Schatz, willst du wirklich hier bleiben?" "Bitte, Daddy.". Kyle gab es auf. "Na gut. Dann bis später." Als er später anrief, hörte er über dem fröhlichen Lärm kaum Grace' Stimme. "Bei euch geht es ja zu wie im Zirkus!" "Stimmt. Wir haben gerade eben die Quiche aufgegessen. Die Kinder spielen wieder. Wie ist es bei dir?" "Nicht so gut. Das Parkett, das ich haben wollte, ist nicht mehr am Lager. Mike und ich müssen im Baumarkt ein anderes besorgen, wenn der Bodenleger gleich anfangen soll. Das wird etwas dauern. " "Nur zu", ermunterte ihn Grace. "Mit Button ist alles okay. Sie amüsiert sich prächtig." "Na gut, wenn du meinst." "Ganz sicher." Grace hängte ein und winkte Rachel zur Nähmaschine. "Probieren wir dein Kleid noch ein letztes Mal." Bevor sie die Anprobe beendet hatte, war Button friedlich auf dem Sofa eingeschlafen. Nach der Verabschiedung der Kinder ging Grace zurück in ihr Studio und betrachtete das schlafende Engelchen. Sie stellte sich vor, wie es wäre, eines Tages vielleicht für ihre eigenen Kinder zu sorgen und von ihnen so heiß geliebt zu werden, wie Button Kyle liebte. Der Gedanke bewegte sie tief. Einige Zeit später rührte sich Button und rieb sich die Augen. "Hallo, mein Schlafmützchen", sagte Grace von der Nähmaschine her. Button wirkte verwirrt. "Wo sind die anderen?" "Sie sind schon nach Hause gegangen." "Huh?" "Tut mir Leid, Button." "Daddy! " Buttons gellender Schrei zerriss Grace fast das Trommelfell. Erschrocken unterbrach sie ihre Arbeit und stand auf. "Daddy ist noch nicht wieder da, Honey." "Er ist unten", erklärte Button stur. Grace trat vorsichtig näher, um sie nicht zu verängstigen. "Nein, er kommt später. Ich passe auf dich auf." Button kletterte vom Sofa und stürmte nach unten. Voller Angst eilte Grace hinterher. "Daddy! " rief Button mit tränenerstickter Stimme. "Versteckst du dich, Daddy? Im Himmel?" Verzweifelt folgte Grace dem Kind, das jeden Raum im Erdgeschoss durchsuchte. Schließlich wieder im Wohnzimmer angelangt, presste sie sich die Hände auf den Bauch. "Daddy, oh, mein Daddy! " "Er kommt bald zurück", tröstete Grace. "Er soll aber jetzt kommen!" ,Aber ich bin doch da", versuchte sie es. "Ich will aber meinen Daddy! " Grace sah voraus, was jetzt kommen würde. Button raste samt Kitty in Grace' begehbaren Kleiderschrank und warf krachend die Tür hinter sich zu. Leise klopfte Grace an. "Button, komm doch da raus." "Nein."
"Dann mach wenigstens das Licht an." "Nein." Aber zu Grace' Erleichterung leuchtete der Lichtstreifen unterhalb der Tür auf. Sie drehte am Türknopf. "Geh weg!" Mit laut klopfendem Herzen ging Grace in ihrem Schlafzimmer auf und ab. Was sollte sie tun? Die Minuten verrannen wie Stunden. Erneut klopfte sie an die Tür. "Bitte hör auf zu weinen." "Will meinen Daddy! " schluchzte Button. Was habe ich bloß falsch gemacht? fragte sich Grace. Mit tränenerfüllten Augen griff sie zum Telefon auf dem Nachtschränkchen, um das Bistro anzuwählen. Natürlich ging nur der Anrufbeantworter an - es wäre ja ein Wunder gewesen, wenn Kyle bereits wieder dort gewesen wäre. Sie begriff, dass sie diese Sache selbst in die Hand nehmen musste. Sie wandte sich wieder zum Schrank. "Button …“ "Hol meinen Daddy!" "Das kann ich nicht. Komm da raus, Button, oder ich muss deine Großmutter anrufen." Button antwortete nicht. Nervös ging Grace zurück zum Telefon und suchte Amelias Nummer heraus. Mit zitternden Fingern wählte sie. Nach mehrmaligem Klingeln ertönte Amelia Andersons Stimme. "Mrs. Anderson? Hier ist Grace. Grace North. Ich störe Sie ungern, aber ich habe hier gerade einen kleinen Notfall ..." Grace musste nicht lange auf Amelia warten. Und den Moment, als die alte Frau mit dem Gehstock aus dem Taxi stieg, würde sie nie vergessen. War das dieselbe Frau, die noch vor zehn Jahren rauflustige Schüler aus ihrem Bistro geworfe n hatte? Die fassweise den ganzen Abend lang Bier gezapft hatte, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten? Die Realität war nicht zu leugnen: Amelia Anderson war in den letzten zehn Jahren gealtert und nur noch ein Schatten ihrer selbst. Grace schämte sich, sie gerufen zu haben, als die alte Frau langsam den Weg zum Haus hinaufhumpelte. Sie öffnete die Tür. "Guten Tag, Amelia." "Sie sind ja weiß wie eine Wand, junge Dame! Ist meine kleine Button daran schuld?" "Ja", stotterte Grace. "Wegen meines Anrufs ... Ich wollte nicht …“ Amelias strenger Blick hielt sie davon ab, einen Kommentar zu ihrem Zustand abzugeben. "Nun, ich wollte Sie nicht stören." "Wenn Kyle Ihnen den Eindruck vermittelt haben sollte, dass ich mit diesem Kind nicht zurechtkäme, hat er Unsinn erzählt. Großen Unsinn! " "Nein, nein", versicherte Grace wahrheitsgemäß. "Kyle hat gar nichts gesagt." Wie üblich. Warum hatte er ihr nicht erzählt, dass Amelia inzwischen so gebrechlich war? "Nun gut, Grace, ich stehe zu Ihrer Verfügung." Amelia lächelte tapfer. "Obwohl ich Sie warnen muss, denn wenn es darauf ankommt, hört sie meist nur auf ihren Vater." "Nun, auf mich jedenfalls hört sie überhaupt nicht." Amelia zuckte die gebeugten Schultern. "Wo ist sie denn?" Nervös deutete Grace in Richtung Schlafzimmer. "In meinem Kleiderschrank." "In Ihrem Kleiderschrank?" Grace zeigte Amelia den Weg. Ja. Keine Sorge, es ist ein begehbarer." Sie deutete auf die Tür. "Button?" rief Amelia. "Ich bin's, Grandma. Komm da..." Bevor sie ihren Satz beenden konnte, öffnete sich die Tür, und Button stürmte nach draußen in Amelias Arme.
Amelia legte dem weinenden Kind eine Hand auf den Kopf. "Du hast uns ganz schön erschreckt, Button." Grace hörte ihren Worten an, wie stolz sie darauf war, dass Button sofort herausgekommen war. "Aber jetzt ist alles gut. Grandma ist da." "Daddy", schluchzte Button. "Er ist weg!" "Du weißt doch, dass Daddy manchmal weg muss." Amelia trocknete ihr die Wangen mit einem Taschentuch. "Grace hat doch auf dich aufgepasst." "Bleibst du da, Grammy?" "Ich werde mich nicht vom Fleck rühren." Grace bemerkte, dass Amelia ziemlich erschöpft war. "Sollen wir uns ins Wohnzimmer setzen?" schlug sie vor. "Ich mache uns einen Tee." "Das wäre nett", nahm Amelia das Angebot an. "Komm mit, Button. Aber lass bitte das Kätzchen hier." Button sah zu Grace. "Allagie", stellte sie pragmatisch fest. Als Grace mit einem Tablett zurück ins Wohnzimmer kam, saß Amelia auf dem Sofa, und Button wirbelte schon wieder fröhlich um sie herum, als sei überhaupt nichts geschehen. "Will mit deinen Schuhen spielen", rief sie und reckte das Kinn vor. Grace fasste das Tablett fester. "Du willst wieder zurück in meinen Schrank?" „Ich mach auch nichts kaputt." "Ich glaube, Grace mag es nicht, wenn du mit ihren Sachen spielst", kam Amelia ihr zu Hilfe. Das konnte man so sagen. Andererseits hatte Button bereits sogar ihre Unterwäsche begutachtet, es war also ohnehin schon egal. "Nur zu", meinte sie daher. "Aber sei artig, und lass die Tür offen. " "Ja." Button sauste davon. Amelia sah sich um. "Nett haben Sie sich eingerichtet." Grace stellte das Tablett auf den Couchtisch und schenkte erst Amelia ein, dann sich selbst und lehnte sich schließlich zurück. "Es tut mir Leid, dass ich Sie holen musste. Ich wusste nicht, was ich tun sollte." Amelia hatte sich inzwischen etwas entspannt. „Kinder in diesem Alter wissen oft nicht, wo sie sind, wenn sie aufwachen", erklärte sie. "Und bei Button ist es extrem schlimm, seit Libby verstorben ist. Kyle stellte danach manchmal Kindermädchen an, wenn er keine Zeit hatte. Es war sehr schwer für die Kleine, sich immer wieder an neue Personen zu gewöhnen." Sie nippte an ihrem Tee. "Deshalb ist sie völlig auf ihren Vater konzentriert." "Kyle hat mir nicht erzählt, dass sie so schwierig ist, gab Grace zu. "Es wäre hilfreich gewesen, wenn ich das vorher gewusst hätte." „Ja, er macht wenig Worte", pflichtete ihr Amelia bei. "Lieber nimmt er die Dinge selbst in die Hand. Er ist immer noch traurig über Libbys Tod und macht sich Vorwürfe, selbst nach einem Jahr" Grace mochte nicht an Kyle zusammen mit Libby denken, daher wechselte sie das Thema. "Kyle hat erzählt, dass Sie viel unternehmen." Amelia wurde lebhaft. „Ja, als Witwe muss man sehen, wo man bleibt. Nach Andys Tod wollte ich das Bistro nicht allein weiterführen. Ich habe lieber meine sozialen Kontakte erweitert. Und jetzt ist Button die größte Zerstreuung in meinem Leben. Kinder sind eine solche Bereicherung. Mit Button fühle ich mich jünger, auch wenn es traurige Umstände sind, die uns zusammengeführt haben. Libby war so ein viel versprechendes Mädchen. Wir beide hätten mehr Zeit miteinander gebraucht, um uns besser kennen zu lernen und zu verstehen." Grace war erstaunt, wie sehr sich die Blickwinkel doch unterschieden. Sie wusste, dass Libby mit ihren Großeltern ständig im Streit gelegen hatte, aber bei Amelia hörte es sich an, als wäre alles eitel Sonnenschein gewesen. Wahrscheinlich lag es daran, dass Libby jetzt tot war.
Das Klingeln der Türglocke unterbrach ihre Unterhaltung. Grace stellte ihre Tasse ab. "Entschuldigen Sie mich einen Moment." Als sie die Tür öffnete, stand Dickie vor ihr. "Dickie! " Sein blondes Haar leuchtete in der Sonne. "Darf ich reinkommen?" "Ich habe gerade Besuch. Amelia Anderson ist da. Sein Lächeln gefror. "Ich will dir nur die Perlen zurückgeben." Er hängte sie ihr um den Hals. "Danke." Grace war es unangenehm, ihn so vor der Tür stehen zu lassen. "Komm doch rein." "Nein, ist schon in Ordnung." Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. "Ich schaue später noch mal vorbei." Grace verbarg die Kette unter ihrem Pullover, ging zurück ins Wohnzimmer und wunderte sich, warum Dickie so schnell wie wieder abgezogen war. Dachte er, sie hätte Amelia von dem Vorfall mit Button erzählt, so dass er ihr lieber nicht begegnen wollte? „Das war Dickie, ein Freund. Er möchte - wie Michael - in das Bistro investieren. “ Amelia rückte sich stolz die Kissen zurecht. "Es ist ja auch eine gute Gelegenheit. Eigentlich wollte ich schon nach Andys Tod verkaufen, aber irgendetwas hat mich davon abgehalten. Doch als ich von Button erfuhr, erwachte mein Interesse an dem Laden von neuem. Sie ist ja sozusagen die Erbin. Wenn ich nicht das Geld bräuchte, würde ich Kyle den Laden umsonst überlassen, aber so ist es leider nicht. Wenn etwas übrig bleibt, werde ich es für Button anlegen." Gerührt von Amelias Warmherzigkeit, war Grace drauf und dran, die Sache mit Jerome und den Diebstahl anzusprechen. Aber sollte sie das ohne Kyles Wissen tun? So impulsiv sie war, Grace entschied sich, diese Granate lieber nicht zu zünden. Wenig später holte Amelia Button aus dem Schlafzimmer, die ohne Murren gehorchte. "Können Sie uns vielleicht ein Taxi bestellen?" fragte Amelia, "während Grace dem Kind die Schuhe anzog. "Nicht nötig. Ich fahre Sie nach Hause." "Das ist aber nett. Stimmt's, Button, da fahren wir gern mit?" Button nickte. "Sie sind sehr großzügig", fügte Amelia hinzu. "Vielen Dank übrigens für das CinderellaBuch. Wir lesen jeden Abend darin, nicht wahr, Button?" „Ja. Danke, Gwace." Button lächelte schüchtern, während Grace ihr die Schuhe zuband. Sie hielt einen kurzen Moment inne. Diese dankbaren Worte aus Buttons Mund gefielen ihr. Und wenn sie nicht aufpasste, könnte sie sich sogar daran gewöhnen. Kaum hatte Grace die beiden an ihre Haustür gebracht und war auf dem Weg zurück zu ihrem Wagen, bog Kyles Jeep hinter ihnen auf die Einfahrt ein. Sie begegneten sich auf halbem Weg. "Was ist denn hier los?" fragte er. "Oh Kyle, warum hast du mir nicht gesagt, dass Button sich manchmal aufregt, wenn sie geschlafen hat?" Er erschrak. "Sie ist bei dir eingeschlafen?" "Ja.“ „Und ist sie jetzt okay?" „Ja! Aber sie hat sich im meinem Schrank eingeschlossen, so dass ich Amelia zu Hilfe holen musste. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie sich so schwer tut ..." "Button ist in dem Trubel einfach eingeschlafen?" "Ist das alles, was dir dazu einfällt? Kyle, das waren heute zu viele Überraschungen für mich. Ich hatte ziemlichen Ärger. Wenn du mir mehr vertrauen würdest, hätte ich mit der ganzen Situation besser umgehen können." Schuldbewusst sah er sie an. "Es war eine gute Idee, Amelia anzurufen. Sie ist zwar nicht mehr die Schnellste, aber sie hat es sicherlich genossen, helfen zu können. Und was Button
betrifft, macht sie jeden Tag irgendeinen Unfug. Sei stolz darauf, dass du es so gut hingekriegt hast." Unzufrieden verschränkte Grace die Arme vor der Brust. "Und warum komme ich mir dann so unfähig vor?" "Ich denke, erst wenn du diejenige bist, die sich im Kleiderschrank einsperrt, muss ich mir Sorgen machen." Tröstend strich Kyle ihr übers Haar. Dabei bemerkte er die Kette, die Grace immer noch um den Hals trug. "Dickie ist also auch wieder im Spiel?" Seine Finger berührten leicht ihr Schlüsselbein. Grace schauderte. "Hast du erwartet, dass er vom Erdboden verschwindet?" "Man kann ja noch Hoffnungen haben." "Er kam vorbei, als Amelia da war, aber er wollte nicht reinkommen. Amelia und ich haben uns jedenfalls über das Bistro unterhalten, und sie sagte, wie froh sie über die Wiedereröffnung sei. Fast hätte ich ihr von unserer Briefaktion und Jerome erzählt Kyle erschrak. "Du hast ihr doch nichts gesagt, oder?" "Nein." Ein erleichterter Seufzer entfuhr ihm. "Grace, das ist meine Sache. Es gibt Dinge, die ich allein erledigen möchte, okay?" "Nicht ganz." Ihr enttäuschter Gesichtsausdruck tat ihm weh. Er küsste Grace auf die Stirn. "Bitte versteh, es ist nicht persönlich gemeint." Grace widersprach ihm nicht. Aber sie war überzeugt, dass Kyle sich selbst etwas vormachte. Wenn sich ein Mann und eine Frau so küssten wie sie, dann war alles zwischen ihnen persönlich. Und irgendwann würde sie ihm das auch beweisen. „Button ist schon im Bett." Kyle sah von seiner Zeitschrift auf, als Amelia das Wohnzimmer betrat. "Schon?" Amelia stützte sich auf ihren Gehstock. "Du musst mit ihr reden." Kyle war hilflos. "Was soll ich ihr denn sagen? Dass sie nicht des Mal, wenn ich weg bin, einen Anfall kriegen kann?" Er stemmte sich aus dem Sessel hoch. "Hi, Dad", sagte Button fröhlich, als er in ihr Zimmer kam. „Ich will auch einen großen Fernseher in meinem Zimmer!“ "Irgendwann, mein Schatz." Er setzte sich neben sie auf den Futon. "Liest du mir was vor?" Er rieb sich die Schläfen. "Gleich. Aber erzähl mir erst, was du heute erlebt hast." Button kuschelte sich an ihn. "Ich habe geweint." Kyle war verblüfft über ihre direkte Antwort. "Warum hast du denn geweint, Button?" "Ich bin aufgewacht. Und du warst weg. Da hatte ich Angst." Kyle strich ihr über die Stirn. "Button, es gab doch keinen Grund, Angst zu haben. Grace war doch da." "Aber ich will, dass du da bist." "Das ist schön, aber wir können nicht immer zusammen sein. eh muss manchmal weggehen und Dinge erledigen. Du wolltest doch bei Grace bleiben, weil sie deine Freundin ist. Da musst du doch nicht weinen." Button richtete sich auf und sah ihn aus klaren Augen an. "Bist du böse, Daddy?" "Nein, wieso denn." "Und Gwace?" "Ich glaube nicht. Sie hatte nur genauso viel Angst wie du, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte." "Oh. Na gut, Daddy. Dann weine ich nicht mehr. Was macht sie denn jetzt?" "Grace? Keine Ahnung." Button nickte überzeugt. "Sie spielt mit ihren Schuhen."
Kyle lächelte und griff nach dem Buch auf dem Nachttischchen. "Zeit für unsere Geschichte." „Es war tatsächlich möglich, dass Grace nach diesem schweren Tag wie Button schmollend in ihrem Kleiderschrank saß.
9. KAPITEL Es überraschte Grace nicht besonders, als am Sonntag Michael vor der Tür stand. "Seit wann kommst du nicht einfach rein?" rief sie von drinnen. "Ich habe beide Hände voll!" Grace öffnete ihm die Tür. Er hatte eine riesige Kuchenschachtel und einen Umschlag dabei. Sie nahm ihm die Sachen ab und öffnete die Box. "Mmm. Das ist aber nett!" Michael schenkte sich an der Kaffeemaschine eine Tasse Kaffee ein. "In dem Umschlag ist ein Musterbrief. Sue hat die Briefe gestern fertig gestellt und zur Post gebracht." Grace nahm den Brief aus dem Umschlag und las ihn zufrieden durch. "Ich rufe sie an und bedanke mich." Michael suchte im Kühlschrank nach Milch. "Schön, dass man hier drin jetzt alles findet. Kyle ist der Größte, stimmt's?" Sie zuckte die Schultern. "Ich habe ihn seit Freitag nicht mehr gesehen. Heute ist Sonntag." "Weißt du, ich muss dir sagen, dass ich mich getäuscht habe, was deine Chancen bei Kyle betrifft. Da ist doch etwas zwischen euch." "Was für eine sensible Beobachtung. Wie kommst du denn plötzlich darauf?" "Ich hatte keine Wahl. Kyle hat sein Interesse sehr deutlich geäußert und mir Löcher in den Bauch gefragt, als wir im Baumarkt waren." "Zum Beispiel?" wollte Grace wissen. "Oh, alles Mögliche, über deine Ziele, deine Arbeit, deine Freunde. Kurz gesagt, er wollte herausfinden, welche Männer dein Typ sind." "Nun, dafür dass er Geheimnisse besser als der CIA für sich behält, ist er ja ziemlich neugierig." Michael lehnte sich über Kittys Korb und streichelte ihr das Fell. "Freut mich, dass du gemerkt hast, dass er sich ein bisschen verändert hat." "Natürlich! Wir haben uns schließlich alle verändert. Und ich in sicher, dass ich seine Geheimnisse bald lüften werde." Sie henkte sich Kaffee nach und lehnte sich an die Anrichte. "Davon bin ich überzeugt. Eine North gibt schließlich nicht auf.“ Schweigend trank Grace ihren Kaffee, als sie plötzlich Wasser plätschern hörte. "Hey, hast du draußen den Schlauch angestellt?" "Na ja, das muss ich wohl erklären." Sein schuldbewusster Blick gefiel Grace gar nicht. Sie lief in den Garten, um nachzusehen. Zwischen ihren Gartenstühlen stand ein aufgeblasenes Kinderschwimmbecken von anderthalb Metern Durchmesser, darin ihr tröpfelnder Gartenschlauch. "Der Mann im Laden sagte, wenn man das Wasser langsam einlaufen lässt, wird es schneller warm", erklärte Michael. "Wir wollten als Kinder doch immer so ein Becken, weißt du noch?" Grace fehlten die Worte. "Das war vor zweiundzwanzig Jahren. Inzwischen hab ich diese Phase längst hinter mir. Ich bin kein Kleinkind mehr. Was soll das?" Michael strahlte. "Wo du doch gerade von Kleinkindern sprichst ... " Grace drohte ihm mit dem Finger. "Ich weiß genau, worauf du hinaus willst! Dein Kuchen, die schnell erledigte Briefaktion, dein Geständnis, dass Kyle sich tatsächlich für mich interessiert - alles hat einen Zweck. Es geht um Button, ich weiß es ge nau. “
Michael holte Luft. "Die Tapete für das Bistro ist geliefert worden. Wir würden heute gern tapezieren. Und ich dachte, du könntest in der Zeit auf Button aufpassen. Der Pool gefällt sicher euch beiden." Ihr Blick füllte sich mit Panik. "Michael, du hast keine Ahnung, was am Freitag hier passiert ist!" "Doch. Ich habe Amelia getroffen, die in höchsten Tönen von dir schwärmte." "Warum kann denn nicht sie auf Button aufpassen?" "Sie hat irgendeine Verabredung. Bitte", flehte er. "Ich habe schon etliche Jungs von früher zusammengetrommelt, die uns helfen. “ "Ihr seid doch eine echte Verschwörerbande!“ "Nur ich", versicherte ihr Michael. "Kyle war absolut dage gen, dich darum zu bitten." "Was?" Prompt war Grace beleidigt. "Als könnte ich das nicht! Das glaubt er doch, oder?“ "Und, bist du so nett?" Michael sah auf die Uhr. "Ich habe ihm gesagt, er soll mich hier abholen." Tatsächlich kamen Kyle und Button ein paar Augenblicke später. Kyle war es unangenehm, dass Michael für ihn gesprochen hatte, und er war froh, als Grace ihm Michaels Musterbrief zeigte. "Vielleicht bekommen wir morgen schon erste Reaktionen. Ich weiß nur nicht, warum Jerome sich nicht mehr meldet", meinte er hoffnungsvoll. „Jetzt warten wir erst mal ab", tröstete ihn Grace. "Bis zur Eröffnung wissen wir hoffentlich mehr. Vielleicht kann man Jerome ja wegen Erpressung vor Gericht bringen." "Ich will nur, dass er mich in Ruhe lässt", sagte Kyle leise. "Ich möchte meine Energie in Dinge stecken, die sich lohnen. Button zum Beispiel." Button. Grace berührte Kyles muskulösen Arm und nahm ihren Mut zusammen. "Kyle, nimm es nicht persönlich, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Button hier allein bei mir bleiben will.“ "Daddy! Schau mal!" rief Button.
Kyle drehte sich um. "Was denn, Honey?"
"Da draußen ist ein Schwimmbecken! “
Michael, der neben ihr stand, tat überrascht. "Ach du liebe Güte, du hast Recht! Das müssen
wir uns näher ansehen!" Alle vier gingen in den Garten. Das Becken war fast voll, so dass Grace den Wasserhahn abdrehte. Michael steckte die Hand ins Wasser und spritzte Button voll. Als sie vor Freude quietschend um den Pool rannte, schmolz Grace dahin. Kaum zu glauben, dass eine bunte Plastikwanne voller Leitungswasser so viel Begeisterung hervorrufen konnte. Vielleicht überlegte sie es sich doch anders. "Willst du hier bleiben und mit mir spielen?" fragte sie vorsichtig. Kyle warf ihr einen dankbaren Blick zu, bei dem ihr fast das Herz stehen blieb. "Komm her, Schatz." Er kniete sich nieder, und Button lief in seine Arme. "Du kannst hier bleiben, wenn du magst, und in dem Pool spielen." "Du auch, Daddy?"
"Später. Mike und ich müssen erst im Bistro die Tapete an die Wände kleben."
"Ich will mitkommen."
"Aber hier hast du bestimmt mehr Spaß."
"Kommt Grammy auch?"
"Nein, nur du und Grace."
Sehnsüchtig starrte Button das Becken an, dann drehte sie sich zögernd zu Grace.
"Es wird sicher sehr lustig", ermunterte Grace das Mädchen.
Button dachte nach, den Finger an den Lippen. "Okay. Ich bleibe hier."
Glücklich drückte Kyle sie an sich und flüsterte ihr ins Ohr. „Erinnerst du dich noch, was du
Grace heute sagen wolltest?"
Die Kleine wandte sich zu Grace. "Hab keine Angst vor mir, Gwace." Kyle war erschrocken. "Aber doch nicht das, Button! “ Button war sich keiner Schuld bewusst. "Was denn, Daddy?" "Das mit dem Schrank", sagte er ihr vor. "Oh. 'tschuldigung, dass ich mich in deinem Schrank versteckt hab." "Am besten vergessen wir das Ganze." Grace warf Kyle einen schiefen Blick zu. "Also glaubt ihr, ich habe Angst vor euch, wie?" Kyle suchte verlegen nach einer Antwort, während Michael Button über den Kopf strich. "Denk mal, wir arbeiten, und ihr amüsiert euch hier wie die Fische im Wasser!" "Button hat doch gar keinen Badeanzug dabei, oder? Am besten kaufen wir noch einen", schlug Grace vor. Kyle rief Button zu sich. "Also fahrt ihr erst in die Stadt und kauft dort einen Badeanzug. Aber verfallt nicht in einen Kaufrausch." Er fischte in seiner Hosentasche nach seinem Schlüsselbund. "Hier ist der Schlüssel zu Amelias Haus. Wenn aus irgendeinem Grund etwas sein sollte, kannst du Button hinfahren. " Grace war ungehalten, dass Kyle schon wieder Zweifel an ihren Fähigkeiten aufkommen ließ. "Wir werden uns bemühen", bemerkte sie sarkastisch. "Hier war ich schon mal", verkündete Button, als sie mit Grace auf das Einkaufszentrum zusteuerte. "Mit Daddy." "Es ist ganz wichtig, dass du nicht wegläufst, Button, wie bei Daddy." Wortlos schob Button eine Hand zwischen Grace' Finger und zog sie in Richtung der Einkaufswagen. "Daddy fährt mich immer da drin rum." Grace setzte sie auf den Klappsitz. "Aber langsam, schließlich wollen wir niemanden umfahren." Button war begeistert von dem großen Supermarkt. Bis sie in der Kinderabteilung anlangten, war der Wagen schon fast voll. Grace suchte ein halbes Dutzend Badeanzüge in Buttons Größe heraus, und Button wählte einen weiß- gelb gestreiften mit Rüschenrand. Vor eine m Spiegel hielt Grace ihn ihr vor. "Mir gefällt der auch am besten." Dann griff sie zu einem Strohhut und setzte ihn dem Kind auf. "Der ist auch schön. Magst du ihn?" "Ja." Button deutete auf einen Korb mit Plastiksandalen. Schau mal, Flipflops! " „Oh ja, die brauchen wir natürlich auch. Und eine Sonnenbrille. Da drüben sind welche. Toll, mit Blümchen rund um die Gläser, wie bei einer Löwenzahnblüte!“ "Nimmst du auch welche?" Grace setzte sich eine der lustigen Brillen auf. "Na klar!" Sie luden die Sachen in den Einkaufswagen, und Button beschloss, zu Fuß weiterzugehen. Als sie in die Spielwarenabteilung kamen, rannte Button voraus. "Da sind Spielsachen!" "Warte!" rief Grace erschrocken, aber zu ihrer Erleichterung gehorchte Button sofort. Wahrscheinlich guckten die Leute schon, fürchtete Grace, aber für sie war diese Art von Verantwortung eben neu. Besser, sie reagierte etwas übertrieben, als dass Kyles Tochter plötzlich verschwunden war. Auch Grace fand die bunten Dinge verlockend. "S chau mal, Button, hier sind Sachen, die wir für den Pool brauchen können. Ein aufblasbarer Ball, Schwimmenten, ein Eimer und eine Schaufel. " "Okay." Button lud alles in den Wagen. "Schau, da ist ein Einkaufswagen für Kinder!" Grace fand ihn nicht allzu teuer. "Na gut. Aber jetzt gehen wir besser, bevor wir noch den ganzen Laden leer kaufen." Als sie zurück in Grace' Garten waren und Button ihre Badesachen angezogen hatte, rieb Grace das Kind mit Sonnencreme ein. "So, das reicht. Dann wollen wir mal das Wasser testen.
Bewaffnet mit den Spielsachen, stiegen sie in das Becken. Button schauderte unfreiwillig, aber Grace merkte, dass es nicht vor Kälte war, sondern vor Aufregung. Sie selbst setzte sich ins Wasser und entspannte sich. "Ah, das tut gut." Button ließ sich ebenfalls langsam ins Wasser gleiten. "Tut gut.“ Grace stupste die Schwimmenten an, die sich auf dem Wasser im Kreis drehten. "Schau mal, wie die schwimmen!" Die beiden waren so mit den Spielsachen beschäftigt, dass sie die Besucherin erst sahen, als ihr Schatten über sie fiel. "Mom! " Grace richtete sich auf. "Was machst du denn da?" "Ich spiele mit meiner Freundin Button. Kyles Tochter", erklärte sie. Button beschirmte ihre Augen mit der Hand und sah zu der elegant gekleideten großen Frau auf, die vor der Sonne stand. Dann schmiegte sie sich an Grace. "Oh ja, Betsy. Wir haben doch telefoniert", erinnerte sich Ingrid. "Wegen Cinderella." "Mom, was machst du hier?" "Nun, ich war im Club Golf spielen und dachte, ich schaue kurz vorbei, das ist alles." Sie beugte sich herunter. "Du bist schüchtern, nicht wahr?" fragte sie Button. "Mom", murmelte Grace, "Button hat Angst vor dir." "Lächerlich." "Du warst doch so kurz angebunden am Telefon. Sie ist erst drei. " Ingrid wunderte sich. "Aber ich wollte dich nicht erschrecken, Betsy." "Meine Mom ist immer sehr nett zu meinen Freunden", erklärte Grace bedeutungsvoll. "Und weil sie jetzt weiß, dass du meine Freundin bist, wird sie sehr nett zu dir sein." "Nun, ich ..." Ingrid räusperte sich. "Setz dich doch", ermunterte Grace sie und deutete auf die Gartenstühle unter dem Sonnenschirm. "Und nimm dir etwas zu trinken." Ingrid setzte sich auf einen der Stühle und sah Grace und Button beim Spielen zu. Bei aller Distanz, die ihre Mutter zeigte, merkte Grace genau, dass sie fasziniert war von ihrer neuen Freundschaft mit Button. Ja, sie beneidete sie vielleicht sogar ein wenig. Sie konnte nicht widerstehen, ihre Mutter ein wenig aufzuziehen. "Mom, würdest du mir bitte einen Gefallen tun?" "Was denn?" "Bitte gib mir den Ball, der auf dem Tisch liegt. Oh, könntest du ihn bitte vorher aufblasen?" Ingrid nahm den Plastikball und zögerte. "Da ist ein Ventil, in das man blasen muss." "Ich weiß! " Ingrid nestelte an dem Ball herum, dann blies sie. Und blies. Fasziniert beobachteten Grace und Button, wie sie unter ihrer Sonnenbräune immer röter wurde. Schließlich hatte sie den regenbogenfarbigen Ball ganz aufgeblasen und warf ihn ins Wasser. Button fing ihn auf. "Sehr gut!" applaudierte Grace. Ingrid wirkte zufrieden mit sich. "Wo ist Michael heute?" erkundigte sie sich, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war. "Er und ein paar Jungs von früher helfen Kyle beim Tapezieren. " "Wirklich! Wenn ich das gewusst hätte! Dickie wäre sicher auch gern dabei gewesen." Grace rümpfte die Nase. "Er hat doch nie richtig dazugehört." Sie spürte, dass Button verstand, um wen es ging. Hoffentlich brach sie nicht gleich in Tränen aus. "Brauchst du etwas, Button?" fragte sie. "Ich muss mal.“ Grace musste grinsen: die letzte und beste Ausrede für alles. "Dann komm. Gehen wir rein." Als Grace allein wiederkam, stand Ingrid in der Küche. "Wo ist die Kleine geblieben?" "Sie ruht sich kurz auf meinem Bett aus."
"In dem nassen Badezeug?" "Ich habe sie in zwei Handtücher gewickelt. Außerdem gehen wir bestimmt gleich wieder ins Wasser." "Ich sehe schon, du hast alles im Griff", stellte ihre Mutter fest. "ich muss sagen, dass mich diese Freundschaft überrascht Du hast dich bisher nie sonderlich für Kinder interessiert." "Sie gehört zu Kyle. Und ich hatte auch wirklich erst Schwierigkeiten, aber sie ist einfach süß. Ich wusste nicht, wie bereichernd ein Kind sein kann." Grace hatte nicht die Absicht, Ingrid Näheres darüber zu erzählen, was es sie gekostet hatte, so weit mit Button zu kommen. Ingrid ging zum Küchentisch, um die Blumen in der Vase zu arrangieren. Auf dem Tisch lag immer noch der Musterbrief, den Grace vergessen hatte wegzuräumen. Jetzt war es zu spät, und Ingrid wollte wissen, um was es sich handelte. "Das ist eine lange Geschichte. Kyle versucht, den Diebstahl von Andy Andersons Safe aufzuklären." "Und du willst ihm dabei helfen?" Grace hob das Kinn. "Ja." Ingrid lachte auf. "Es ist immer dasselbe. Unglücksraben ziehen dich an! Und genau das ist wahrscheinlich dein Problem mit Dickie. Er braucht deine Unterstützung nicht, sondern ist eine Erfolgsstory für sich." "Das stimmt, Mom. Dickie ist einfach zu perfekt für mich. Ich brauche einen geräderten Mann am Rande des Abgrunds. Zum Beispiel Kyle. " Misstrauisch sah sie ihre Mutter an. "Und ich hoffe nicht, dass auch du glaubst, dass er der Schuldige ist, oder?" Ingrid wand sich. "Nein, weder dein Vater noch ich denken, dass er Unrecht getan hat. Außer seinen familiären Umständen und seinem notorischen Mangel an guter Kleidung fanden wir immer, dass er gute Manieren hat und einigermaßen intelligent ist. Aber mach du nur. Wenn du ihm erst aus der Patsche geholfen hast, wird die Anziehung schon vergehen. So ist es doch immer.“ "Dieses Mal bestimmt nicht." "Wollen wir wetten?" schlug Ingrid vor. "Wenn ich gewinne, verabredest du dich mit einem Mann meiner Wahl oder wieder mit Dickie - falls er dich dann noch haben will." Grace lächelte zuversichtlich. "Und wenn ich gewinne, möchte ich, dass du Kyle und Button mit offenen Armen in unseren Kreis aufnimmst." Ingrid zögerte. "Und sie als Teil der Familie betrachte?" "Nein, mehr noch", erwiderte Grace. "Als meine Familie." Ingrid erblasste leicht unter ihrem Make- up. "Wie du meinst. Abgemacht. " Als Grace auf sein Klingeln hin nicht öffnete, ging Kyle ums Haus herum in den Garten. Er konnte kaum glauben, was sich ihm für ein Bild bot: Einträchtig lagen Grace und Button neben dem Pool auf zwei Liegen, in Badekleidung und mit identischen Kindersonnenbrillen auf der Nase. Die Mädels beim Spielen. Friedlich und ohne einen Kratzer. Seine ganzen Sorgen waren unnötig gewesen. Grace hatte alles im Griff. Grace spürte, dass jemand gekommen war, und setzte sich auf. Sie lächelte Kyle an, der in kurzen Hosen und T-Shirt vor ihr stand, eine Baseballkappe in der Hand. "So, so, Daddy ist wieder da." Bei dem sinnlichen Tonfall in ihrer Begrüßung machte Kyles Herz einen Sprung. Sein Blick glitt über Grace' gebräunte Kurven, die in dem winzigen Bikini verlockend zur Geltung kamen. "Noch ein paar Stunden, und du hast mein Kind in einen Engel verwandelt", neckte er sie. "Wir kommen bestens miteinander aus." Kyle fielen die ganzen Spielsachen ins Auge, die rund um den Pool verteilt lagen.
"Es hat gar nicht viel gekostet", verteidigte sich Grace, als sie sah, wie er die Stirn runzelte. "Und noch nie habe ich für so wenig Geld so viel Spaß gehabt." Kyle hob abwehrend die Arme. "Ich weiß gar nicht, wieso ich überhaupt zurückgekommen bin." Grace biss sich auf die Unterlippe. "Button ist eingeschlafen, daher finde ich es ganz gut, dass du wieder da bist." "Stimmt." Er zog sich das T-Shirt aus, warf es auf einen Stuhl und kam zum Pool, um sich auf dem Rasen auszustrecken. Dann schob er sich die Baseballkappe über die Augen. "Ah, tut gut, sich ein bisschen auszuruhen", murmelte er. "Seid ihr mit dem Tapezieren fertig geworden?" ,Ja. Wir waren zu mehreren, daher ging es ganz schnell." Grace gesellte sich zu Kyle auf den Rasen und spritzte ihm ein wenig Wasser auf die Brust. Zu ihrer Enttäuschung reagierte er nicht. Unter dem Mützenschirm blieb sein Gesicht bewegungslos, sein Körper ruhig. Um ihn aus der Reserve zu locken, setzte Grace ihm nacheinander die Gummienten in verschiedenen Anordnungen auf die Brust und berührte dabei wie zufällig immer wieder seine Brustwarzen. Lange lag er reglos so da, bis er plötzlich in einer schnellen Bewegung ihr Handgelenk packte und sie zu sich hinabzog. Seine nackte Haut glühte an ihrer. Mit einem leisen Seufzer schob Grace ihm die Kappe vom Gesicht und sah, dass seine Augen vor Verlangen leuchteten. Nie war ihm Grace hübscher erschienen, trotz der ziemlich albernen Sonnenbrille. "Du möchtest wohl Unsinn machen, was?" "Nichts lieber als das." Spielerisch berührte Grace mit den Lippen seinen Mund, wobei ihr die Sonnenbrille von der Nase fiel. Er legte sie beiseite, dann umfasste er ihren Kopf, um Grace näher an sich zu ziehen. Grace schauderte, als sie seine festen Muskeln an ihrem ganzen Körper spürte. Wenn Kyle tatsächlich ein Unglücksrabe sein sollte, wie Ingrid behauptete, hatte er zumindest ein solides Fundament! Auch wenn sich dieses Fundament im Augenblick hob, und zwar genau in der Mitte. Kyle begehrte sie also. Es schien der ideale Zeitpunkt, ihn wissen zu lassen, wie sehr sie eine solche Intimität willkommen hieß. Sie löste ihre Lippen von seinem Mund, stützte die Unterarme auf seinen Brustkorb und blickte ihm direkt in die verträumten blauen Augen. "Ich wünschte, wir wären jetzt auf einer einsamen Insel", murmelte sie, "an einem weißen Sandstrand." Mit einer Hand umfasste er ihren kaum bekleideten Po. "Ich wäre schon mit einer Freikarte für dein Schlafzimmer zufrieden. “ "Vielleicht hast du Glück. Aber nur, wenn du aufhörst, dich über meine Einrichtung lustig zu machen." "Das ist alles?" zog er sie auf, bevor er wieder ernst wurde. „Ich fürchte jedenfalls, hier draußen kommen wir nicht weit. Schließlich müssen wir an Button denken. Überhaupt ist das alles deine Schuld." „Wie bitte?" "Du überfällst mich einfach aus heiterem Himmel! Ich sollte dich bei der Babysittervereinigung anzeigen! " "Was, du großer ..." Als sein Brustkorb zu beben begann, begriff sie, dass es ein Scherz war, denn Kyle konnte sich kaum halten vor Lachen. Grace zahlte es ihm heim, indem sie ihn an der Nase zog. "Autsch! " "Daddy?" piepste Button. "Was machst du da?" Kyle sah über den Beckenrand hinweg zu seiner Tochter, die sich auf der Liege aufgerichtet hatte und durch ihre Blümchenbrille hindurch zu ihnen herübersah. Mit einer schnellen
Bewegung hob er Grace von sich weg, rollte sie in das Planschbecken und ließ sich hinterher fallen. "Wir schwimmen, Button! Komm auch rein!“ Kreischend vor Begeisterung warf sich Button mit in den Pool zu den Erwachsenen. Nachdem sie ausgiebig zusammen geplanscht hatten, zogen Grace und Kyle die Liegestühle in die Sonne, um sich zu trocknen, während Button weiterspielte. Später gab es Abendessen. Obwohl es nur aus Hot Dogs und Nudeln mit Tomatensoße bestand, sagte Grace nicht Nein, weil es Buttons Lieblingsgericht war und das Kind den ganzen Tag so brav gewesen war. Nach dem Abwasch legte Kyle die Füße auf einen Küchenstuhl. Grace erschien in der Tür zum Wohnzimmer. "Daddy, Button lässt dir mitteilen, dass sie jetzt fernsieht, aber jederzeit bereit ist, nach Hause zu gehen." Seufzend betrachtete Kyle sie. "Ich sehe schon. Jetzt bist auch du hörig." "Hörig? Wem?" "Button. Du tanzt bereits nach ihrer Pfeife. Kaufst ihr Sachen und isst sogar ihr zuliebe Hot Dogs." "Die sind gar nicht so schlecht, wenn sie richtig heiß sind." Sie schlenderte zu ihm und biss ihn sanft in den Nacken. "Und ich glaube, es gibt nichts, was du nicht heiß machen kannst." Er schob eine Hand unter ihr knappes Frotteejäckchen und streichelte ihre Haut und den Ansatz ihrer Brust. "Wie wär's, möchtest du mit mir heute Abend die Fortschritte im Bistro besichtigen? Wir könnten ein paar alte Songs auf der Jukebox spielen. Oder tanzen, wie früher." "Erinnerst du dich wirklich daran, dass wir zusammen getanzt haben?" "Sicher." Er ließ seine Hand zu ihrer Hüfte gleiten. "Damals warst du zwar dürr wie eine Zaunlatte. Aber dein Parfüm war unwiderstehlich. " Sie legte sich die Hand aufs Herz. "Bei einem solchen Charmeur könnte keine Frau Nein sagen."
10. KAPITEL Grace und Kyle wollten sich um zehn Uhr am Bistro treffen. Nachdem Kyle zu Hause alles erledigt hatte, wartete er an seinem Jeep vor dem Bistro, bis Grace in ihrem BMW vorfuhr. "Hallo", begrüßte sie ihn. "Selber hallo." Einen langen Augenblick sahen sie sich an. Grace trug ein trägerloses korallenfarbenes Sommerkleid, Kyle hatte sich für gebügelte helle Leinenhosen sowie ein blassblaues Hemd entschieden. Eine erwartungsvolle Spannung knisterte zwischen den beiden. Kyle bot Grace den Arm, und eingehakt schlenderten sie in der warmen Nacht zum Liefereingang, wo er aufschloss und Grace den Vortritt ließ. "Du hast eine nette Tapete ausgesucht", sagte Kyle, als sie den Gästebereich betraten. "Der eierfarbene Ton und die raue Oberfläche machen den Raum hell, ohne aufdringlich zu sein." Mit verschränkten Armen durchschritt Grace das Bistro und besichtigte danach die kleine Küche mit den neuen chromglänzenden Geräten. Eine weitere Tür führte in Andys ehemaliges Büro. Als Teenager war sie niemals dort gewesen. Es war klein und mit einem Schreibtisch, einem Sofa sowie einigen Stühlen eingerichtet. Sie vermutete den Safe hinter einem der Wandbilder und entdeckte ihn hinter einem Meeresmotiv über dem Schreibtisch. Geistesabwesend drehte sie am Kombinationsschloss. Kyle folgte ihr. "Hey, du bist ja die gebotene Spürnase. Komm, wir trinken was."
Grace folgte ihm zurück in den Gästebereich. Kyle hatte das Licht gedämpft, so dass die Einrichtung aus Holz und Messing in einem leichten Goldton schimmerte. Auf dem Tresen standen zwei Champagnergläser, dazu eine Flasche Champagner. Kyle öffnete die Flasche und schenkte ein. Sie stießen an, dann nahm Grace ihr Glas und schlenderte über die kleine Tanzfläche zur Jukebox. "Da sind ja immer noch die alten Lieder drauf." Kyle stellte sich neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Manche Platten stammen sogar noch aus den Sechzigern.“ Grace nippte an ihrem Champagner und stellte ihn oben auf die Jukebox. "Hast du Kleingeld dabei?" "Wir brauchen keins. Ich habe sie manipuliert, damit die Handwerker Musik haben." Grace drückte ein paar Knöpfe, und ein alter Song klang durch den Raum. Auch Kyle stellte sein Glas ab und nahm Grace in die Arme. Langsam begannen sie, sich im Takt der Musik zu bewegen. "Weißt du, wenn ich es mir genau überlege, könnte ich es gewesen sein", scherzte Grace. "Wie?" "Ich könnte der Dieb sein." "Ganz bestimmt." Er ließ sie eine Drehung machen. „Überleg mal. Ich hätte mich leicht ins Büro schleichen können erst durch die Küche, dann durch die Tür zum Gästebereich wieder hinaus." "Komm schon." "Das gefällt dir wohl nicht? Ich mag die Idee, der Albtraum deiner schlaflosen Nächte zu sein." "Tut mir Leid, aber das kauf ich dir nicht ab. Du hattest einfach kein Motiv. Schon damals warst du reich genug, um dir alles zu leisten." Sie legte ihm die Hand gegen die Brust. "Nicht alles." Wie meinte sie das? Langsam schwang er sie herum und verbarg das Gesicht in ihren weichen duftenden Locken. Grace hatte doch alles, was eine einflussreiche Familie zu bieten hatte. Selbst Verehrer waren immer genug vorhanden gewesen. "Weißt du, du bedrohst bereits meine ganze Seele, wenn dich das tröstet, nicht nur meine Träume", klärte er sie auf. "Du schleichst dich nicht nur in Buttons Herz, sondern auch in meins. Und meine Arbeit bei dir ist schon längst mehr als ein bloßer Job." "Klingt doch nach einem guten Anfang." Langsam tanzten sie weiter, während allmählich das Feuer zwischen ihnen emporzulodern begann. Grace hob den Kopf, um Kyle aufs Kinn zu küssen. Die Welt stand für ihn still. Entflammt umfasste er Grace' Schultern und senkte seinen Mund über ihren. Grace legte den Kopf zurück, um seinen Kuss zu begrüßen, einen Kuss voller sinnlicher Intensität. Endlich, nach all diesen Jahren, geschah es: Kyle hatte nur Augen für sie, und er wollte sie lieben. Grace ließ die Hände, die sie ihm bereits um die Taille gelegt hatte, tiefer gleiten und presste Kyle an den Hüften einladend gegen ihren Bauch. Fast schmerzhaft vertiefte sich ihr Kuss. Kyle erforschte mit der Zunge ihren Mund und weckte ihre Sinne zum Leben, während sich Grace ihm ganz hingab und jede Bewegung, jeden Geschmack, jede Empfindung genoss. Stöhnend löste Kyle seine Lippen von ihren. "W enn ich an dich in diesem Bikini denke ... und dieses Kleid hier ... wie hält es überhaupt?" "Zauberei", scherzte sie. Er lächelte. "Und sonst?" "Nun, ein sehr langer Reißverschluss sorgt dafür, dass es da bleibt, wo es ist." In ihren Augen flackerten grüne Flammen. "Aber wenn du ihn aufmachst..." Hastig bewegte Kyle die Hände über ihre Schultern, suchte den Verschluss und zog ihn nach unten. Das Kleid fiel zu Boden, und darunter trug Grace ... absolut nichts.
"Grace ..." Kyle wagte kaum zu atmen. In dem schwachen Licht konnte er den Blick nicht von ihren Körper wenden. Ihre Haut wirkte dunkel wie Honig, selbst an den Stellen, die der Bikini am Nachmittag verborgen hatte. Es schien ihr nicht das Geringste auszumachen, dass er sie ansah. Fast war es zu viel für ihn, wie sehr sie sich ihm auslieferte und welches Vertrauen sie ihm schenkte. „Tanz mit mir", wisperte sie verführerisch und schlang die Arme um seinen Nacken. Es war verrückt, mit einer nackten Prinzessin zu tanzen, aber Kyle konnte es nicht abwarten, Grace an sich zu spüren. Aus der Jukebox erklang eine sinnliche Ballade, und während er Grace in den Armen hielt, streichelte er mit den Händen über die samtweiche Haut an ihrem Po und ihren Brüsten. "Ich will mich auch ausziehen", drängte er. "Jetzt sofort." "Warte, ich helfe dir." Grace lachte leise und knöpfte langsam sein Hemd auf. Sie quälte ihn absichtlich, nur um ihn eine Ahnung davon zu vermitteln, wie sehr sie gelitten hatte. So lange schon wollte sie das hier tun. Jahre hatte sie gewartet, für ihn dagegen konnten es im Vergleich nur Minuten sein. Wenigstens ein bisschen Rache musste sein. Als sie langsam seinen Gürtel lockerte, verlor Kyle die Geduld. Er schwang sich Grace über die Schulter, trug sie ins Büro und legte sie aufs Sofa. Grace sah ihm erwartungsvoll zu, während er sich zu Ende auszog. Sie gab einen leisen Laut von sich, als er völlig nackt und erregt vor ihr stand. Er trat auf das Sofa zu. "Nun, wo waren wir doch gleich?" flüsterte er Grace ins Ohr. Grace war im siebten Himmel, als er begann, sie zärtlich zu lieben, und dabei ihre heißesten Träume übertraf. Er liebkoste ihre Brüste, nahm nacheinander deren Knospen zwischen die Lippen und erregte sie sanft mit seinen Zähnen. Mit seiner großen rauen Hand streichelte er ihren Bauch und ließ die Finger in den weichen Locken spielen. Dann tauchte er zwei Finger tief in ihre empfindsamste Stelle und bewegte sie so langsam, dass Grace sich Kyle immer verlangender entgegendrängte. "Ich warte schon so lange auf dich", stieß er rau hervor, als sie endlich den Höhepunkt erreichte. Wenn du nur wüsstest, wie viel länger ich auf dich gewartet habe, war ihre stumme Antwort. Unfähig, sich noch länger zurückzuhalten, bewegte Kyle die Finger tiefer in ihrer verzehrenden feuchten Hitze. Grace veränderte ihre Stellung und schlang ihre Beine um seine Hüften. Kyle presste sich stöhnend an sie, und als er seine Erregung nicht mehr ertragen konnte, griff er zu seinen Kleidern und holte ein kleines Päckchen aus der Hosentasche. "Ich mache das", keuchte Grace. Sie riss das Päckchen mit den Zähnen auf, und Kyle sah in höchster Erregung zu, wie sie den Schutz über seine Männlichkeit rollte. Innerhalb von Sekunden befand er sich im siebten Himmel, nachdem er in Grace eingedrungen war. Wieder und wieder bewegte er sich auf ihr, bis auch er explosionsartig seine Erfüllung fand. Danach lagen sie eng umschlungen und befriedigt nebeneinander. "Ich gäbe etwas, wenn ich deine Gedanken lesen könnte", flüsterte Grace nach einer Weile. „Nun, ich glaube, ich möchte das gleich noch mal machen", erklärte er verführerisch. Grace rollte sich auf ihn. "Mit ein paar Variationen …“ Als Grace sich am Montagnachmittag am Küchentisch die Nägel manikürte, klopfte es an die Tür. „Herein!" Heather und Nate Basset erschienen. "Hallo, ihr beiden!" begrüßte Grace das Paar und fürchtete Schlimmes: Nate hielt den Rundbrief in der Hand. "Nate hat gerade Mittagspause, da dachten wir, wir kommen kurz rüber, um dieses Missverständnis zu klären", erläuterte Heather. "Ist Kyle da?" „Ja. Er repariert im Keller gerade den Thermostat. Kyle! " rief sie in Richtung Treppe. Kurz darauf erschien Kyle mit Button, die sich bei Grace auf den Schoß setzte. "Komm ich jetzt dran?" fragte sie keck und hielt ihr ihre kurzen Fingerchen hin.
"Bitte. Wie wär's mit Purpur?" Gekonnt betupfte sie Buttons Nägel. "So, jetzt puste ein wenig, damit der Lack trocknet." Damit stellte Grace sie auf den Boden. "Geh doch ein bisschen fernsehen, dann kannst du die Hände still halten, bis die Nägel trocken sind. Aber pass auf, dass du nirgends ankommst." Als die Erwachsenen allein in der Küche waren, setzte sich Heather neben Grace an den Küchentisch und faltete den gelben Brief auf. "Also, was soll das? Ich meine, Nate hat doch nichts damit zu tun! " "Er wurde damals als Zeuge bei der Polizei vernommen, Heather", erklärte Grace. "Weil er in der fraglichen Nacht da war, haben wir ihm einen Brief geschickt." "Das stimmt", bemerkte Nate steif. "Und an dem Abend ging es tatsächlich darum, etwas zu klauen. Ich war neu auf dem College, und um die Älteren zu beeindrucken, sollten wir in einer Reihe von Bars und Grills in der Stadt etwas mitgehen lassen, ihr wisst schon, Aschenbecher, Gläser und so weiter. Aber mit dem Safediebstahl habe ich nichts zu tun." "Wir wollen nur alle Möglichkeiten prüfen", erklärte Kyle sachlich. "Beim Tennis letzte Woche hast du aber erzählt, dass Jerome Anderson dich kontaktiert hat", beharrte Grace. "Du weißt genau, dass er uns die Sache mit dem Bistro erschweren will." "Ich habe eben ein bisschen angegeben. Wenn ich den Auftrag hätte, wäre das für jeden Immobilienmakler eine große Sache." Er schwieg kurz. "Ihr glaubt doch nicht etwa, dass ich die Verkaufsurkunde gestohlen habe! Dass ich sie die ganzen Jahre aufbewahrt habe und jetzt mit Jerome Anderson unter einer Decke stecke!“ "Der Brief war nicht so persönlich gemeint, wie ihr vielleicht denkt", beruhigte Grace die beiden. "Alle, die in der betreffenden Nacht da waren, haben einen bekommen." Das schien Heather etwas zu erleichtern. "Na gut. Nate, vielleicht regen wir uns unnötig auf. Sie wollen nur wissen, ob du etwas gesehen hast, was du nicht der Polizei erzählt hast." Nate senkte den Blick. "Ja, da gibt es etwas. Ich hatte zu viel Angst, der Polizei zu erzählen, dass ich damals fast in Andys Büro gegangen bin, um etwas ganz Spektakuläres mitgehen zu lassen ... " Heather schrie leise auf. "Davon hast du mir nie etwas erzählt!" "Und, hast du etwas gesehen?" forderte Kyle. "Na ja, eine der Kellnerinnen ging hinein. Ich habe sie nicht genau gesehen, aber sie hatte dunkle Haare." Nate atmete tief ein. "Was Jerome Anderson betrifft", fuhr er fort, "ist es ein Zufall, dass er sich an mich gewendet hat. Aber hin oder her, die Geschichte ist es nicht wert, unsere Freundschaft aufs Spiel zu setzen. Ich entschuldige mich, dass ich die Sache im Tennisclub so laut herausposaunt habe. Jerome hat sich nur oberflächlich nach dem Stand der Dinge erkundigt, um zu erfahren, was das Bistro ungefähr wert sein könnte. Er wollte mich nicht gegen euch aufhetzen. " Kyle lächelte, auch wenn er noch nicht vollständig überzeugt war. "Danke, dass du uns das erzählt hast." Er schüttelte Nate die Hand. "Viel Glück bei euren Nachforschungen." Als Kyle am späten Nachmittag eine französische Zwiebelsuppe zubereitete, klingelte das Telefon. Grace versuchte, den hektischen Worten des Mannes am Apparat folgen. "Es ist dein Bodenleger", informierte sie Kyle. "Er sagt, im Bistro rennen sie ihm gerade die Türen ein." Kyle nahm den Hörer. "Mort? Ja, ich bin's. Was ist los? Gut, ich komme sofort." Er hängte ein. "Wegen des Briefes sind einige frühere Angestellte gekommen." Grace runzelte die Stirn. "Vielleicht sollte ich meinen Termin im Gemeindezentrum lieber absagen." "Bitte nicht. Button freut sich schon so auf die Probe zu Cinderella. Ihr fahrt dahin, und ich regle das im Bistro allein."
Mort wartete bereits auf Kyle. "Ich habe sie alle im Büro untergebracht." Der schwere Mann drohte Kyle mit dem Finger. "Dass mir keiner mehr auf das Parkett trampelt! Es muss noch einen Tag liegen, bevor es begehbar ist." Kyle salutierte leicht und machte sich auf ins Büro. Als er hereinkam, erhob sich ein Stimmengewirr. "Hallo zusammen." Er überblickte die Gesichter und erkannte alte Bedienungen, einen Koch und einen Barmixer. "Lange nicht gesehen. " Iris, die ehemalige Chefkellnerin, erhob sich von ihrem Stuhl. Die stämmige Frau hatte den gleichen Kommandoton an sich wie vor zehn Jahren. "Nun, Junge, wir Gauner konnten deiner Einladung zur Wiedersehensfeier nicht widerstehen." „Wie bitte?" Sie winkte mit einem gelben Zettel. "Wie kannst du es wagen, uns des Diebstahls zu beschuldigen?" "Das tue ich doch gar nicht!" "Und was soll das dann sein? Das würden wir gern erfahren, nicht wahr?" Zustimmendes Gemurmel erhob sich, dann senkte sich Schweigen über die Gruppe. "Besonders ich möchte es wissen", hörte man eine kühle Stimme. „Die Menge teilte sich, um den Blick auf Amelia freizugeben, die hinter dem Schreibtisch in Andys altem Sessel saß. Kyle erblasste. "Amelia! " "Ganz recht. Was um Himmels willen hast du vor? Und wie konntest du mir das verheimlichen? Du lebst doch mit mir unter einem Dach!" "Ich wollte dir nicht unnötig Sorgen bereiten", erklärte er. Iris trat vor. "Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie verhindert, dass du uns als Diebe beschimpfst, das kann ich dir sagen." Ihr starkes Parfüm nahm ihm fast den Atem. "Ich hatte nicht vor, irgendjemanden von euch zu beschuldigen. Ich hoffte nur, eine Antwort zu finden." Iris ergriff in der allgemeinen Unruhe wieder das Wort. "Einige von uns könnten die fünfhundert Dollar Belohnung gut gebrauchen, aber alles, was wir wissen, haben wir bereits damals der Polizei erzählt." Kyle hob beschwichtigend die Arme. "Okay, okay. Es tut mir Leid, wenn ich euch beleidigt haben sollte. Ich versuche doch nur, das Richtige zu tun. Und wenn alles so wird wie geplant, wäre ich nur zu glücklich, alle von euch hier wieder einzustellen wenn ihr möchtet." Es dauerte eine Weile, bis er die Menge beruhigt hatte. Als alle fort waren, setzte sich Kyle zu Amelia ins Büro. "Was zum Kuckuck geht hier eigentlich vor?" fragte sie unwirsch. Nervös rieb er sich den Nacken, bevor er ihr alles erzählte. "Du hättest noch am gleichen Tag zu mir kommen sollen", warf Amelia ihm vor. „Du hast gesagt, du wollest nicht über die Vergangenheit reden." „Das hast du wohl etwas zu wörtlich genommen. Ich selbst habe von der Sache bereits vor einiger Zeit von Jeromes Anwalt gehört, einem Mr. Richmond, glaube ich, denn dieser Gauner hat ja nicht den Mumm, mir selbst ins Gesicht zu lügen. Er sagte, wenn ich kein Papier über die Auszahlung hätte, sollten wir Jerome das Bistro besser überlassen." "Und was hast du getan?" "Ich habe ihn rausgeworfen." "Weil du dachtest, ich hätte die Unterlagen", folgerte Kyle. "Nun ja", gab sie unwillig zu. "Als du damals mit Libby zusammen warst, machte ich mir eben Sorgen um sie. Andy und ich dachten, dass du nicht der richtige Mann für sie seist. Aber ich habe meine Meinung inzwischen geändert, und das meinte ich auch damit, dass wir die Vergangenheit hinter uns lassen sollten. Und ich kann dir sagen, dass ich stolz auf dich bin, wie du Button großziehst."
"Danke, Amelia." Sie stand auf. "Und? Hast du mir nichts zu sagen?" "Doch. Du bist die Beste", sagte er froh und umarmte die gebrechliche alte Frau liebevoll. "Ich weiß auch nicht, was wir wegen Jerome tun sollen", gestand sie. "Aber wenigstens haben wir uns jetzt mal richtig ausgesprochen. Das tut gut." Eine Stunde später fuhr Kyle ins Gemeindezentrum zur Probe von Cinderella. Button saß seitlich auf der Bühne und sah dem Geschehen zu, und Kyle setzte sich in den dunklen Zuschauerraum neben Grace und berichtete leise von den Ereignissen. Sie freute sich, dass er und Amelia sich ausgesprochen hatten. "Viel weiter sind wir aber trotzdem nicht. Ich gäbe etwas dafür, wenn alles geklärt wäre, bevor wir das Bistro eröffnen. Sonst stiehlt uns Jerome am Ende noch die Show", fürchtete Kyle. Grace richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Bühne und machte sich Notizen. Hier und da mussten noch Details an den Kostümen verändert werden. "Jerome ist ein mieser Schuft. Versteckt sich hinter einem Anwalt." Kyle ballte die Hände. "Mieser Schuft ist noch milde gesagt." Grace legte ihm eine Hand auf die Faust. "Reg dich trotzdem nicht so auf. Ich möchte dich nämlich heute Abend gern zu mir einladen, da will ich mir nicht die Stimmung verderben lassen." "Du lädst mich ins Zauberland ein? Wirklich?" "Tu nicht so geschockt, McRaney." "Aber du wolltest dein Schlafzimmer doch unbedingt ein Geheimnis bleiben lassen." Ihre grünen Augen funkelten. "Ich glaube kaum, dass ich nach der letzten Nacht noch etwas vor dir zu verbergen habe." Spätnachts - nach ihrem Liebesspiel - lagen sie einander in den Armen. Grace' Gedanken schweiften zum Bistro. "Kyle, wieso versuchen wir nicht, direkt mit Jeromes Anwalt Kontakt aufzunehmen? Vielleicht weiß er gar nicht, was für eine miese Geschichte das ist und dass die Verkaufsurkunde sogar im Polizeibericht erwähnt ist." "Möglich. Aber Amelia erinnert sich nicht mehr genau an den Namen des Anwalts." "Überhaupt nicht?" "Doch, sie glaubt, er hieße Mr. Richmond. Ja, genau so." Als Grace stutzte, tippte er ihr an die Stirn. "Bist du da, Gracie?" Sie brauchte einen Moment, um sich wieder zu sammeln. "Hast du morgen Zeit? Am frühen Nachmittag vielleicht? Wir könnten Amelia bitten, dass sie ausnahmsweise auf Button aufpasst." "Was hast du denn vor?" "Noch nichts Konkretes. Ich habe da nur so eine Ahnung, die ich überprüfen möchte." Grace hatte sich mit Kyle für den folgenden Nachmittag im Plato Building verabredet. "Was machen wir hier?" fragte Kyle, während sie gemeinsam zu den Aufzügen gingen. "Dickie besuchen." "Aber warum?" Die Aufzugstür öffnete sich. Grace zog Kyle an der Hand hinter sich hinein und drückte auf den Knopf mit der Zwanzig. „Was wollen wir bei Dickie?" beharrte Kyle. "Glaubst du, er kann uns als Anwalt dabei helfen, Jeromes Anwalt umzustimmen?" "Das werden wir sehen." Sie spannte die Schultern unter ihrem maßgeschneiderten Jackett, ihre Entschlossenheit und Unbeugsamkeit war deutlich zu spüren.
Als der Lift im zwanzigsten Stockwerk hielt, stürmte Grace in den Korridor zur Linken durch eine Glastür mit dem Firmennamen von Dickies Kanzlei. Sie meldete sich an der Rezeption an. „Ich möchte gern mit Haley Evers sprechen, der Sekretärin von Mr. Trainor." Sie nannte ihren Namen, und die Empfangsdame telefonierte. "Miss Evers erwartet Sie." "Danke. "Im Laufschritt ging Grace zu Haleys Büro, Kyle im Schlepptau. "Lass mich nur machen." "Ich gebe mir Mühe. Aber vielleicht wird es dir noch Leid tun, dass du mich nicht an einem Stuhl hier draußen festgebunden hast. " Haley Evers saß vor ihrem Computer. Als Grace und Kyle eintraten, hörte sie zu tippen auf. "Dickie ist beim Mittagessen." "Ich möchte mit Ihnen sprechen, Haley." Nervös warf die Sekretärin sich das braune Haar über die Schulter. "Ach so?" Grace setzte sich in einen Stuhl gegenüber. "Zuerst mal über den Abend bei dem Konzert neulich, wo wir uns kennen gelernt haben. " "Ja, als wir über das Kostüm für meine Schwester..." "Das spielt jetzt keine Rolle", unterbrach Grace sie. "Hatten Sie damals ein Date mit Dickie oder nicht?" Haley sank etwas zusammen. "Ja." "Sie hätten mir das sagen können. Es hätte mir nichts ausgemacht." Die Sekretärin bedachte Kyle mit einem Seitenblick. "Das glaube ich auch. Aber Dickie hatte mir gesagt, ich solle den Mund halten, er würde schon wissen, wie er Sie anpacken müsse.“ „Mich anpacken?" "Ja. Es tut mir so Leid, Grace. Es ist alles so schnell passiert. Als er Sie sah, wollte er mich so schnell wie möglich loswerden. Ich weiß, dass meine Schwester viel von Ihnen hält, also versuchte ich, Ihnen wenigstens einen Wink zu geben..." "Dann kam Dickie dazu, und Sie haben gekniffen." ,Ja. Dickie hat gleich am nächsten Tag klargestellt, wie es läuft: Entweder halte ich mich von Ihnen fern, oder er wirft mich raus.“ "Was genau wollten Sie mir denn an dem Abend sagen?" „Mein Job ... " „Ich beschaffe Ihnen einen besseren Job bei North, wenn Sie wollen", versprach Grace. "Einen, wo Sie nicht schikaniert werden, außer, Sie gehen gern mit Dickie aus." "Er ist unmöglich! Ein richtiges Großmaul." Haley wandte sich angeekelt ab. "Können Sie mir wirklich einen anderen Job verschaffen?" "Bestimmt." Grace lehnte sich über den Schreibtisch. "Also, was wollten Sie mir an dem Abend sagen?" Haley holte tief Atem. "Dass Dickie Sie unter Vorspiegelung falscher Motive ausführt - aus geschäftlichen Gründen. Ich weiß nichts Genaues, aber er hat einem seiner Partner versprochen, er könnte an Sie und Ihren Bruder rankommen, wenn es sein müsste.“ Im selben Augenblick trat Dickie ein, glatt wie immer, in einem grauen Sommeranzug. "Grace! " Er tat überrascht. "Mr. Pocke", begrüßte sie ihn. Das brachte ihn für einen Moment aus der Fassung. "Das ist aber nicht sehr nett." "Nein, keineswegs. Vielleicht sollten wir uns wieder siezen, Mr. Richmond Rainor." Er lachte gekünstelt. "Ich verstehe nicht, was hier los ist." Grace sprang auf. "Vergiss es, Dickie, das Spiel ist aus." Dickie warf Haley einen bösen Blick zu, und die Arme duckte sich regelrecht hinter ihren Computer. "Lass sie aus dem Spiel", forderte Grace. "Das geht nur dich und mich sowie eine alte Frau namens Amelia etwas an."
Kyle rückte etwas näher. In seinen Augen funkelte es gefährlich. "Mich nicht zu vergessen." „Fällt mir schwer", versuchte Dickie zu scherzen. "Sie werden noch zu einem richtigen Ärgernis." Er schüttelte den Kopf. "Also hat sich das alte Mädchen daran erinnert, dass ich in Jeromes Namen bei ihr war? Ich hätte gewettet, dass sie dachte, mein Nachname sei Richmond." „Es war ein bisschen anders", stellte Grace klar. "Als ich den Namen Richmond hörte, musste ich nur eins und eins zusammenzählen. Du wusstest vor mir, dass Kyle wieder da war. Jerome tauchte genau dann im Bistro auf, als wir die Tapete aussuchten. Nur wenige wussten, dass wir dort waren, und du warst einer davon. Und dann der Tag, als du mir die Perlen zurückgebracht hast. Du wolltest nicht hereinkommen, als du hörtest, Amelia sei da. Ich vermutete, es sei wegen der Geschichte mit Button." Grace holte tief Luft, bevor sie der Wahrheit endgültig ins Auge blickte. "Das ist für keinen von uns angenehm, aber du hast dich zu konkreten Zwecken mit mir verabredet. Du hast mich benutzt, um Informationen für Jerome Anderson zu bekommen!" Dickies Augen wurden schmaler. "Ja." Grace schlug mit der Hand auf den Schreibtisch. "Oh, Dickie! Wieso?" "Es geschah eher zufällig." Dickie tat, als müsste er nachdenken. "Eines schönen Tages kam Jerome Anderson in mein Büro. Er wollte wissen, wie es mit den Rechten seines Vaters auf die Hälfte des Bistros aussähe, denn er hatte Wind davon bekommen, dass Amelia an Kyle verkaufen wollte. Soweit Jerome wusste, war Kyle bereits in der Stadt, und Michael beabsichtigte, sich an dem Projekt zu beteiligen. Die Sache wäre ein großer Fang für die Kanzlei gewesen, also begann ich, mich mit dir zu verabreden, um mehr herauszufinden. Alles lief nach Plan, denn du hattest keinen Schimmer, dass Kyle wieder da war. An deinem Geburtstag war längst alles in Gang." "Hat es niemanden in dieser Kanzlei interessiert, dass Jeromes Vater vielleicht schon vor Jahren seine Rechte verkauft hatte? Dass die Urkunde verloren gegangen sein könnte?" Dickie sah sie mitleidig an. "Wir sind eine Anwaltskanzlei, Grace. Natürlich könnte diese Möglichkeit bestehen, aber wir hätten trotzdem versucht, Jeromes Interessen durchzusetzen." "Was ist mit Nate Basset?" fragte Grace. "War auch er nur ein Zufall?" "Nein. Ich habe Jerome zu ihm geschickt, um den ungefähren Wert des Bistros zu erfahren. Und das war ganz praktisch, denn so fiel der erste Verdacht auf Nate. Er hat ja sogar selbst von der Begegnung mit Jerome erzählt. Wirklich schade, dass alles aufgeflogen ist, bevor ich mit dir im Bett war, Grace." Instinktiv machte Kyle eine Bewegung auf den anderen Mann zu, aber Grace stellte sich schützend vor Dickie. "Wir brauchen ihn lebendig. Vorerst jedenfalls. Dickie, erzähl uns doch noch, was Jerome jetzt plant." Dickie hob verunsichert die Hände aneinander. "Nun, er hat sich noch nicht entschieden. Ich sollte zunächst prüfen, was ihr aus dem Laden macht, so dass bei einer Auszahlung ein gutes Sümmchen für Jerome herausspringt. " Grace ging ein weiteres Licht auf. "Kein Wunder, dass du unbedingt dafür warst, dass Kyle für mich kochte. So hattest du direkten Kontakt zu ihm." Dickie zuckte die Schultern. "Ja. Und wenn er mich als Mitinvestor akzeptiert hätte, hätte ich sogar Zugang zu allen Unterlagen gehabt." "Du hast dir so viel Ärger eingehandelt, Dickie, ich kann es nicht fassen." "Hey, der Laden ist viel Geld wert, viel mehr, als Amelia dafür haben will. Und Jerome ist reich, meine Kanzlei hätte also Grund zur Freude gehabt." Grace kochte. Sie ballte die Hände. "Du hast dich überhaupt nicht verändert, Dickie." "Wenn das das Schlimmste ist, was dir dazu einfällt.“ „Ja, das ist das Schlimmste, was es dazu zu sagen gibt." Sie winkte Kyle und verließ mit ihm das Büro.
"Ich wünschte, ich hätte ihn früher durchschaut", klagte sie, als sie später durch die Straßen von Minneapolis gingen. "Ich weiß nicht, ob das viel geändert hätte", tröstete Kyle sie. Während sie an einer roten Fußgängerampel stehen blieben, bemerkte sie, dass ein leichtes Lächeln auf Kyles Lippen lag. "Wieso hast du so gute Laune?" "Ich habe eine Sorge weniger." "Und die wäre?" "Dickie Trainor ist aus dem Rennen." "Oh." Grace errötete. "Soweit ich weiß, war er niemals drin." Es wurde grün, und sie überquerten die Straße. Auf einer Parkbank setzten sie sich. Kyle nahm Grace' Hände in seine. "Mach dir nichts aus Dickies Betrug. Er ist zu blöd, um deinen wahren Wert zu erkennen und der liegt viel höher als der jedes Klienten oder jeder Gehaltserhöhung." Er drückte ihre Hände. "Du weißt, dass du mir sehr viel bedeutest, Grace. Aber ich hatte immer Zweifel, ob du mich auch willst. Ich wusste nicht, ob du nicht vielleicht auf einen Mann aus deinen eigenen Kreisen Wert legst." Er schüttelte den Kopf. "Dickies Abgang war ja ziemlich spektakulär. Deinen Eltern wird dazu kaum etwas einfallen." Grace lachte. "Stimmt. Aber das werden sie schon verkraften. Was mich viel mehr beunruhigt, ist die Tatsache, dass wir das Dokument immer noch nicht wieder gefunden haben. Die Eröffnung des Bistros findet bereits in einer Woche statt, und ich glaube nicht, dass Jerome die Segel streicht, nur weil wir Dickie haben auffliegen lassen." „Aber wir lassen uns auch nicht unterkriegen. Mike hat bereits einen Anwalt herangezogen, also sind wir vorbereitet, wenn Jerome zum Angriff übergehen sollte." Grace lächelte. "Ich kann die Eröffnung gar nicht erwarten. Es wird sicher grandios." "Ich will alle Jungs einladen, die mitgeholfen haben." "Und was ist mit der Frau, die mitgeholfen hat?" Seine blauen Augen verdunkelten sich. "Ich werde dich an diesem Abend verwöhnen. Du wirst meine Prinzessin sein." Grace schauderte vor Erregung, als er mit den Lippen die ihren streifte. "Hast du dir überhaupt schon überlegt, was du anziehst?" "Nein. Ich glaube, ich habe gar nichts Ordentliches." "Nun, das können wir ändern. Hier in der Nähe gibt es ein paar gute Läden. Komm, wir suchen dir einen tollen Anzug aus."
11. KAPITEL Als Kyle und Button am Mittwochmorgen kamen, führte Grace sie gleich in ihr Atelier im oberen Stockwerk. "Ich habe etwas für Button", erklärte sie. Button sauste neugierig voran. In der Luft lag ein schwacher Geruch nach Acrylfarben, obwohl die Fenster weit offen standen und der Deckenventilator rotierte. Von einem Kleiderständer auf Rollen nahm Grace ein kleines T-Shirt am Bügel. "Ich habe deiner Tochter ein T-Shirt bemalt. Vorsicht", warnte sie die beiden, "es ist noch ein bisschen feucht." Kyle nahm den Bügel, dann musste er lachen. Auf der Vorderseite war ein großer roter Kreis gemalt, und darunter stand "Panic Button". Button zog ihren Vater am Hosenbein. "Was steht da, Daddy?" "Da steht ,Panic Button', Liebes." "Und was ist da dran so lustig?" Er stupste sie auf die Nase. "Weil du manchmal ziemliche Panik auslöst."
"Und ist das gut?"
"Mir macht es nichts aus."
Button klatschte in die Hände. "Darf ich es anziehen?"
"Erst morgen. Es muss noch trocknen und gewaschen werden", versprach Grace.
Kyle wirkte etwas verlegen. "Grace, ich bin ein bisschen unter Zeitdruck mit der
Vorbereitung der Eröffnung. Außerdem erwarte ich eine Lieferung Geschirr." Er hielt die Hände hoch. "Aber keine Sorge, ich koche erst noch für dich." "Nein, geh nur, und regle das", schlug sie vor. "Ich habe noch genug im Kühlschrank. Button kann hier bleiben, wenn sie will. Ich muss zwar arbeiten, aber das dürfte kein Problem sein." Sie wandte sich an Button. "Wenn du schön spielst." Kyle war offensicht lich erleichtert. "Du bist Gold wert. Ich rufe dich nachher an."
"Und wir gehen zu McDonalds", juchzte Button.
"Du magst McDonalds lieber als Daddys Essen?" Kyle war empört.
„Natürlich, Daddy."
Stöhnend wandte sich Kyle zum Gehen.
Grace arbeitete eine Weile, während Button mit Kitty spielte und dann ihren Einkaufswagen
aus der Ecke holte. "Gehst du in den Supermarkt?" fragte Grace. "Nein, heute kauf ich Schmuck." "Aber nicht aus meinem Schmuckkästchen, oder?" meinte Grace misstrauisch. Button nickte. "Doch. Aber ich bezahl auch." Sie holte ihren kleinen Plastikgeldbeutel. "Da ist Geld drin." Sie klopfte auf den Couchtisch vor Grace. "Hier." "Na gut." Grace seufzte und widmete sich wieder ihrer Näharbeit. Doch als echte Münzen auf dem Tis ch klimperten, sah sie erschrocken auf. Fassungslos starrte sie die Münzen an. Es war genau die Sorte, die vor vielen Jahren aus Andy Andersons Safe verschwunden waren. Ihr Puls schlug heftig. "Button, wo hast du dieses Geld her?" "Aus meinem Zimmer" Sie kam zu Grace und setzte sich ihr auf den Schoß. Grace legte das Stück Stoff beiseite, an dem sie arbeitete. "Weiß dein Daddy davon?" "Hab ich ihm nicht gesagt." "Und Grandma?" "Das ist mein Geld. Von meiner Mom! Von Libby? Grace wusste nicht, was sie denken sollte. Auf alle Fälle musste sie etwas unternehmen, also griff sie zum Telefon und wählte Kyles Nummer im Bistro. Dummerweise ging nur der Anrufbeantworter an. "Kyle, hier ist Grace. Es ist etwas passiert. Button hat unter Libbys Sachen etwas gefunden, wonach wir suchen. Ich fahre jetzt mit ihr nach Hause und sehe mir das näher an. Komm bitte dorthin, sobald du kannst." Eilig zog sie sich Sandalen an, schnappte ihre Handtasche und schnürte Button die Schuhe.
Das Kind war beleidigt. "Wohin gehen wir?"
"Wir fahren zu dir nach Hause", entgegnete sie bemüht fröhlich und sah nach, ob sie den
Ersatzschlüssel für Kyles Zuhause bei sich hatte. "Komm jetzt." Grace schob sie aus der Tür. Bei Amelias Haus angekommen, klingelte sie, doch als niemand öffnete, nahm sie den Schlüssel. "Jemand zu Hause? Amelia? ... Deine Grandma scheint nicht da zu sein", stellte sie drinnen fest. "Und jetzt, Button, zeig mir, wo du. das Geld gefunden hast. " "Warum?"
Grace dachte nach. "Wir spielen Bank."
"Wie geht das?"
"In Geschäften gibt es Essen, und in der Bank gibt es Geld", erklärte Grace.
"Okay!" Button rannte in ihr Zimmer, Grace folgte. In ihrem Zimmer zerrte Button einen
Karton aus dem Schrank.
"Warte, ich helfe dir." Grace nahm ihr den Karton ab und stellte in auf den Boden. Das waren doch Libbys Sachen. War Libby am Ende der Schlüssel zu dem Diebstahl? "Moms Sachen." Button wühlte glücklich durch den Karton. "Das Geld war da drin." Sie zog einen gelben Sportbeutel heraus. Grace setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden. "So einen Beutel habe ich schon lange nicht mehr gesehen." Genauer gesagt, seit sehr vielen Jahren nicht mehr. Damals waren diese Beutel im Sonderangebot bei einer Drogeriekette zu. haben gewesen. Sie hatte auch einen gehabt und erinnerte sich jetzt, dass er ein Geheimfach enthielt. Mit ihren kleinen Fingern zog Button den Reißverschluss auf. Grace schrie fast auf, als ein leeres Münzalbum zum Vorschein kam, in dem vermutlich die Kennedy Halfdollars gewesen waren. Button kramte weiter. "Hier ist noch mehr Geld." Mehrere Hundertdollarscheine fielen in Grace' Schoß. Grace' Gedanken überschlugen sich. Die Antwort auf alle Fragen lag hier vor ihr in diesem zerknautschten Beutel! "Lass mich mal sehen", bat sie bemüht ruhig und fischte mit Buttons Erlaubnis weiter in dem Beutel, bis sie ein Schmuckkästchen mit den verlorenen Ringen zu Tage förderte. Sie schob es zurück. Die ganzen Jahre über waren die gestohlenen Sachen der Andersons in diesem Beutel versteckt gewesen. Warum hatte Libby das getan? Und wo war die Verkaufsurkunde? Grace suchte gründlich. Nichts. Dann fiel ihr Blick auf das Münzalbum. Sie blätterte es durch. Zwischen zwei Seiten lag ein Blatt Papier. Sie entfaltete es und las den Inhalt. Es war das gesuchte Dokument! Plötzlich fiel ihr Blick auf die Tür, wo Kyle stand und die Szene betrachtete. "Kyle! " Aufgeregt stand sie auf. "Du wirst nicht glauben, was passiert ist.“ Sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich. „Grace, komm bitte. Nimm die Sachen mit.“ Button stemmte die kleinen Hände in die Hüften. „Aber Daddy, das sind meine Sachen!“ „Du bekommst sie wieder, aber erst muss ich mit Grace sprechen. Bleib einfach kurz in deinem Zimmer.“ Grace packte die Sachen, die sie entdeckt hatte, und gemeinsam gingen sie in die Küche, wo sie den Beutel auf dem Küchentisch ausleerte. Kyle setzte sich und las das Dokument, während Grace ihre Aufregung nicht verbergen konnte. "Das hätte ich nicht von Libby gedacht", entfuhr es ihr. Mit versteinerter Miene ging Kyle die Sachen durch, bis sich seine Augen langsam mit Tränen füllten. Grace wollte ihn trösten. "Hast du ihre Sachen nie durchgesehen, nachdem sie..." "Nein! Ich habe einfach alles zusammenräumt." Er rieb sich das Gesicht. "Wenigstens kann uns Jerome jetzt nichts mehr anhaben." Doch Kyle schien ihr nicht im Mindesten dankbar zu sein. "Und was machen wir jetzt? Grace, du bist einfach hier reingestürmt, ohne mit mir zu reden. Was, wenn Amelia dich ertappt hätte? Wie hättest du ihr erklärt, dass es ihre eigene Enkelin war, die sie abgezockt hat, bevor sie auf und davon ist?" Darüber hatte Grace noch nicht nachgedacht. "Keine Ahnung. " "Es ist das Beste, wenn ich ihr gar nichts davon sage. Und Button darf auch nichts ausplaudern." "Du willst es Amelia verheimlichen?" "Wozu sollte ich sie verletzen? Niemand hat etwas davon, wenn ich es an die große Glocke hänge, dass es ihre Enkelin war! " Damit konnte Grace sich jedoch nicht abfinden. "Das halte ich aber für falsch!"
"Du hast doch keine Ahnung! Du warst nie verheiratet, weißt nichts davon, wie es ist, Verantwortung zu übernehmen. Du bist noch nie so tief verletzt worden ..." "Woher willst du das wissen? Ich mag erst vierundzwanzig sein, aber das heißt nicht, dass ich noch nichts durchgemacht habe!" widersprach sie ungehalten. "Du doch nicht, Grace! Du warst immer die behütete Tochter aus gutem Hause." Er schüttelte den Kopf. "Ich habe mir immer wieder eingeredet, dass es egal ist. Du hast so viele andere wunderbare Qualitäten, bist so offen und warmherzig. Aber ich habe unsere Chancen falsch eingeschätzt." Ihr Hals zog sich zusammen. "Was soll denn das heißen?" In seinem Blick spiegelte sich Bedauern. "Du musst erst erwachsen werden, Grace. Ich kann nicht zulassen, dass du dich so in meine Familienangelegenheiten einmischst." Wütend sprang sie auf und reckte das Kinn. "Oh, ich verstehe! Jetzt, wo alle deine Probleme gelöst sind, wenn auch nicht von dir selbst, spielst du wieder den einsamen Wolf. Schön. Aber ich darf dich darauf hinweisen, dass du bisher meine Unterstützung recht gern in Anspruch genommen hast. Und dich an mir schadlos gehalten hast - in jeder Hinsicht." Mit diesen Worten stürmte sie aus dem Haus. "Hey, Gracie! Grace öffnete ihrem Bruder die Tür. "Hallo, Michael." Er besah sich seine Schwester von oben bis unten. Ihre Locken waren zerzaust, ihre Augen rot gerändert. Sie war noch im Bademantel. "Du siehst ja schrecklich aus!" "Vielen Dank." Unter Tränen erzählte sie ihm, was vorgefallen war. "Wow, das Dokument ist aufgetaucht, und er hat mir nicht Bescheid gesagt? Er muss sich schrecklich fühlen." "Und was ist mit mir?" Sie schnäuzte sich. "Wie kann er so gemein sein? Ich wollte ihm nur helfen!" "Er war nicht besonders nett, das kann man sagen", lenkte Michael ein. "Aber überleg mal. Die Erkenntnis, dass Libby die Schuldige ist, musste ein Schock für ihn sein, schließlich waren sie über sieben Jahre verheiratet. Und da kommst du und enthüllst schonungslos die Wahrheit. Seine Gefühle sind wahrscheinlich völlig durcheinander geraten." Sie zog die Nase hoch. "Mag sein. So habe ich das noch nicht gesehen. " "Vielleicht solltest du ihn anrufen." Grace' Temperament flammte wieder auf. "Nach so einer Abfuhr ist es ja wohl an ihm, sich zu melden!" "Denk einfach drüber nach." "Kyle, du bist ja zu Hause!" "Gerade gekommen." Er lächelte Amelia an, die im Flur auf ihren Stock gestützt stand. "Button ist schon ins Bett gegangen. Wir kommen immer besser miteinander aus." Die alte Dame ging ins Wohnzimmer und setzte sich in ihren Lehnstuhl, um ihr Strickzeug aufzunehmen. "Warte noch", bat Kyle. "Ich muss dir etwas zeigen." Er setzte sich ihr gegenüber. Amelia studierte den Umschlag mit Kyles Namen, den er ihr auf den Schoß legte. "Was ist das?" Mit zittrigen Fingern zog sie das Dokument heraus. "Gütiger Himmel, wo kommt das her?" Er wich ihrem Blick nicht aus. "Ich weiß nicht genau. Ich habe es auf dem Schreibtisch im Bistro gefunden. Es gehen gerade so viele Arbeiter dort ein und aus, jeder könnte es ge wesen sein." Ihre Augen hinter den Brillengläsern schimmerten. "Das ist ein echtes Wunder." Er schenkte ihr ein Lächeln. "Ohne Zweifel."
"Dann hatte die Briefaktion doch Erfolg", meinte sie nachdenklich. "Und es war doch einer der Adressaten der Dieb." "Schwer zu sagen." "Und, hast du schon Jerome angerufen?" Kyle machte eine abwehrende Handbewegung. "Nein, diese Ehre gebührt dir, Amelia." "Danke. Das nehmen ich gern an." Sie steckte das Dokument wieder in den Umschlag. Als Kyle aufstehen wollte, stoppte sie ihn. "Halt." Er erstarrte. "Button hat mir erzählt, dass sie Geld bei Libbys Sachen gefunden hat." Kyle wählte seine Worte vorsichtig, denn er wusste nicht, wie viel Button noch ausgeplaudert hatte. "Ja, ich glaube, es war Geld, das Libby wie üblich für mein Geburtstagsgeschenk zurückgelegt hatte." Er machte erneut einen Versuch aufzustehen, doch Amelia hinderte ihn daran. "Button hat mir auch erzählt, dass du auf Grace wütend bist." Kyle atmete tief durch und überlegte seine Worte genau. "Wir hatten einen kleinen Streit. Grace hatte sich bereit erklärt, auf Button aufzupassen, aber dann sind sie beide hierher gefahren. Als ich gesehen habe, wie sie in Libbys Sachen stöberten, wurde ich sauer. So etwas macht man einfach nicht." „Ich könnte mir vorstellen, dass Button dabei die treibende Kraft war." Er verschränkte die Finger. "Das spielt keine Rolle. Grace ist zu weit gegangen! " Amelia nahm ihr Strickzeug auf und begann zu stricken. Während die Nadeln klapperten, sagte sie, ohne aufzusehen: "Es ist ganz normal, dass du dich aufregst. Aber alles in allem hat es, glaube ich, nicht viel mit Grace zu tun. Du trauerst immer noch, daher haben dich Libbys Sachen, die du so lange nicht mehr gesehen hast, so aus der Fassung gebracht. Und Grace war gerade da, also hast du ihr die Schuld gegeben." Sie sah ihn über die Ränder der Brille hinweg an. "Könnte das sein?" "Ich werde drüber schlafen." Am Freitag war Grace ein echtes Nervenbündel. Sie wachte früh auf. Angst und Erwartung quälten sie, was Kyle unternehmen würde. Er sollte heute für sie kochen. Aber ob er kommen würde? Er kam nicht. Wie konnte er nur wegbleiben? Aber tief in ihrem Inneren wusste sie es. Er war immer noch verletzt über ihr Verhalten. Doch ihr tat es auch weh! Zä hlte das gar nichts? Zum ersten Mal in ihrem Leben erkannte Grace, dass sie den ersten Schritt tun musste, um ihren Traum nicht für immer zu verlieren. Immerhin drehte es sich um Kyle, den Mann, den sie schon so lange liebte. Sie hatte so viel in ihre Be ziehung investiert, und sie glaubte immer noch fest daran, dass sie füreinander bestimmt waren. Am besten war es wohl, einfach unangemeldet bei ihm aufzutauchen und zu sehen, was passierte. Amelia öffnete ihr die Tür. Grace setzte ein Lächeln auf und holte tief Luft. "Hallo, Amelia. Ist Kyle da?" "Nein, er ist beim Friseur und wollte dann noch einige Besorgungen machen. Er hat viel zu tun, morgen ist ja die große Eröffnung. Kommen Sie doch rein", lud Amelia sie ein. "Der Anzug, den Sie für Kyle ausgesucht haben, ist wirklich schön", lobte Amelia, als sie ins Wohnzimmer traten. "Button! Grace ist da!" Button erschien sofort. Sie trug zwei Haarspangen, lief auf Grace zu und umarmte ihre Beine. "Gwace!" Diese liebevolle Begrüßung trieb Grace die Tränen in die Augen. "Schau, Liebes, ich habe dein T-Shirt mitgebracht."
Beim Anblick des T-Shirts zog sich Button sofort ihr orangefarbenes aus. "Ich ziehe es gleich an." Mit Amelias Hilfe zog sie es sich über, dann verschwand sie wieder in ihrem Zimmer. "Nett, dass Sie ihr extra ein T-Shirt gemacht haben", meinte Amelia. "Bitte setzen Sie sich." Als Grace zögerte, fügte sie hinzu: "Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen." Bei dieser Drohung sank Grace wie von selbst auf die Couch. Amelia nahm in ihrem Lehnstuhl gegenüber Platz. "Schauen Sie mich nicht so an. Kyle ist böse auf Sie, nicht ich. Von mir hat er seine Lektion schon erhalten. Er ist viel zu empfindlich. Er hat überreagiert, und ich habe ihm die Meinung gesagt. Hat richtig Spaß gemacht, bringt die Pumpe in Schwung." Grace lächelte schwach. Was meinte Amelia? Hatte Kyle seine Meinung geändert und ihr alles erzählt? Amelia sprach weiter. "Ich finde nichts Schlimmes daran, wenn Button die Sachen ihrer Mutter anschaut. Sie bekommt sie ja doch irgendwann mal. Und so viel Geld, wie Button behauptet, kann es ja nicht gewesen sein, wenn Libby es nur für ein Geburtstagsgeschenk für Kyle gedacht hatte." Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. "Dass Kyle Ihnen Buttons Neugier zum Vorwurf macht, ist absurd. Er muss lernen, mit seiner Trauer um meine arme Enkelin umzugehen." Ganz eindeutig hatte Kyle Amelia nichts von Libbys Diebstahl erzählt, sondern irgendetwas erfunden. Endlich begriff Grace, dass es so tatsächlich das Beste zu sein schien. Jedes Mal, wenn die alte Dame Libby erwähnte, leuchteten ihre Augen auf. Den Glauben an ihre Enkelin durfte man ihr auf keinen Fall nehmen. "Aber genug davon", beschloss Amelia. "Das wollte ich Ihnen gar nicht mitteilen. Glauben Sie es oder nicht, das gestohlene Dokument ist wieder aufgetaucht!" "Nein!" Grace versuchte Überraschung zu heucheln. "Doch. Jemand hat es gestern im Bistro hingelegt. Das war bestimmt wegen Ihrer Briefaktion. Ich bin Ihnen so dankbar für Ihre Hilfe." "Gern geschehen. Und, haben Sie schon mit Jerome Anderson Kontakt aufgenommen?" "Nein, aber wenn ich es mir überlege, könnte ich es genauso gut auch jetzt tun, wo Sie hier sind." Amelias Lebensgeister erwachten. "Haben Sie Lust? Ich freue mich schon, sein Gesicht zu sehen. “ Amelia rief Jerome an, und eine Stunde später stand er mit Dickie vor der Tür. Grace öffnete. Die beiden wirkten wenig erfreut. "Grace! " rief Dickie entsetzt aus. "Also ist das doch dein Auto auf der Auffahrt!" "Wir würden gern mit Amelia sprechen", erklärte Jerome förmlich. "Bringen Sie die beiden rein! " flötete Amelia von drinnen. Die Männer folgten Grace ins Wohnzimmer, wo Amelia sie in königlicher Haltung empfing. "Was gibt es denn, Tante Amelia?" schnappte Jerome. "Meine Herren, darf ich Ihnen das hier präsentieren?" Umständlich reichte sie Grace den Umschlag. Die Spannung im Raum knisterte förmlich. Unbehaglich traten die Männer von einem Fuß auf den anderen und tauschten alarmierte Blicke, als Grace das Papier in lesbarer Entfernung auffaltete. "Lass mich mal sehen", forderte Dickie und wollte es ihr wegnehmen.
"Du siehst es sehr gut", schnappte sie zurück und nahm es wieder an sich.
Jerome stöhnte auf. "Wo kommt das her?" wollte er wissen.
"Das geht dich nichts an", erwiderte Amelia fröhlich.
Dickie war resigniert. "Ich fürchte, der Krieg ist vorbei."
"Das kann man so sagen. “
Alle drehten sich um. Kyle stand in der Tür zur Küche. Er trug eng sitzende Jeans und ein T-
Shirt, unter dem sich seine Muskeln deutlich abzeichneten. Die frisch geschnittenen Haare
verstärkten noch seine finsteren Gesichtszüge. Als er eintrat, drückte sich Jerome in Richtung Haustür. "Schon recht, Jerome, verzieh dich ganz schnell. Und nimm deinen Wauwau gleich mit." Dickie richtete sich auf und nestelte an seiner Krawatte. "Warten Sie im Wagen auf mich." Jerome zögerte nicht länger. Dickie dagegen wandte sich kühn an Grace. "Ich wollte sowieso mit dir reden." Sie übergab Amelia das Dokument. "Worüber?" "Ich habe nachgedacht." Er schwieg kurz. "Können wir nicht noch mal ganz von vorne anfangen?" "Was soll das denn?" forderte sie. "Unsere Beziehung war doch nur zum Schein! Du hast mich nur als Sprungbrett für deine Karriere benutzt! " Er presste sich die Finger an die Schläfen. ja, zuerst habe ich es wirklich aus beruflichen Gründen getan. Aber seit du nicht mehr da bist, merke ich, wie sehr du mir fehlst. Ich will dich nicht verlieren. Unsere Kinder werden es einmal gut haben." Schweigen senkte sich über den Raum. Das war mehr oder weniger ein Heiratsantrag. Kyles Herzschlag setzte einen Moment aus. Richmond Trainor war ein erstklassiger Widerling, aber hatte er vielleicht doch die besseren Karten? Hatte Kyle seine eigenen Chancen durch den Streit mit Grace verspielt? Grace schwieg einen Augenblick fassungslos, bevor sie in schallendes Gelächter ausbrach. "Heb dir deine Phrasen für den Gerichtssaal auf, Dickie." "Du zweifelst an meiner Ehrlichkeit?" "Damit kannst du höchstens meinen Vater beeindrucken. Aber ich bin auf der Suche nach der wahren Leidenschaft." "Vielleicht sollten wir ein paar Tage Abstand ..." "Redezeit vorbei, Dickie", unterbrach Kyle ihn schroff und schob ihn zur Tür. "He, McRaney, was machen Sie da?" "Platz schaffen für meine eigene Entschuldigung." Er öffnete die Tür und drängte Dickie nach draußen. "Ich nehme die besten Teile Ihrer Rede und füge noch etwas Eigenes hinzu." "Was sollte ein Affe wie Sie da hinzuzufügen haben?" Kyle grinste. "Leidenschaft. Wiedersehen", sagte er leise und schlug die Tür hinter Dickie zu. "Nun, das war eine Leistung, Kyle." Hinter ihm humpelte Amelia an ihrem Gehstock herein. "Den Spaß konnte ich mir nicht verkneifen." "Sie sind weg." Sie sah aus dem Fenster. "Und jetzt macht ihr beiden sicherlich einen kleinen Spaziergang." Grace wollte schon protestieren. "Sie sind doch hier, um mit Kyle zu reden, oder?" "Nun …“ "Und Kyle, waren wir nicht gestern der Meinung, dass du dich besser bei Grace entschuldigst?" "Na ja, nicht..." "Sei still. Gestern habe ich den ganzen Tag darauf gewartet, aber nichts ist geschehen! Stattdessen kam diese nette Frau hierher und hat auch noch ein Geschenk für Button mitgebracht." Als sie ihren Namen hörte, kam Button mit ihrem neuen T-Shirt hereingestürmt. "Guck mal, Daddy!" Kyle bedachte die Frauen mit einem erschöpften Blick. "Ich finde, ihr solltet alle so ein Panic-Button-Shirt tragen." Er nahm Grace am Arm und zog sie nach draußen, wo sie die baumbestandene Straße hinunterschlenderten. Kyle holte tief Luft. "Grace, ich habe gestern falsch reagiert. Ich finde zwar immer noch, dass du zu weit gegangen bist, aber ich hätte es nicht so sagen dürfen."
"Es stimmt schon, ich bin manchmal einfach zu direkt", gestand Grace. "Deine Notlügen gegenüber Amelia mussten einfach sein. Es war nicht sehr feinfühlig von mir, was ich getan habe. Schließlich muss es ein Schock für dich gewesen sein zu erfahren, was Libby getan hat." „Ja, es war schrecklich, besonders, weil ich es von dir erfuhr. Ich hatte plötzlich nichts mehr im Griff." Am Ende der Straße drehten sie wieder um. Grace nahm seinen Arm. "Oh, Kyle. Ich wollte nur deine Sorgen mit dir teilen. Aber es war nicht leicht, mit Button zurechtzukommen, und ich hatte immer solche Angst, etwas falsch zu machen." "Wir hätten mehr miteinander sprechen sollen", gab er zu. "Damals, als ich Libby heiratete, war ich noch jung und bildete mir ein, ihr großer Held sein zu können. Wenn wir uns stritten, schoben wir es auf die Umstände. Ich dachte sogar an Scheidung, aber dann kam Button, und das verbesserte unsere Beziehung wieder. Als ich von Andys Tod hörte, wollte ich wieder hierher zurückkehren, doch Libby wollte nichts davon wissen. "Weil sie es war, die den Safe ausgeräumt hatte." "Ja. Und weil sie wusste, dass die Andersons auf ewig mir die Schuld in die Schuhe schieben würden." Kyle versagte die Stimme. "Dann hatte Nate vielleicht doch Recht, als er sagte, er hätte eine dunkelhaarige Kellnerin im Büro gesehen." "Ich hätte doch nie gedacht, dass es Libby gewesen sein könnte!“ "Immerhin versucht Amelia jetzt, dir keine Vorwürfe mehr zu machen", tröstete Grace ihn. "Fühlst du dich jetzt besser?" "Ich glaube schon. Aber es ist nicht leicht, über das alles zu sprechen." Sie blieb stehen. "Nun, auch ich habe dir ein Geheimnis mitzuteilen. “ Seine Züge hellten sich auf. "Ja?" "Aber erst morgen bei der Eröffnung." "Warum nicht gleich?" "Weil ich erst meinen Mut zusammennehmen muss.“ "Dann bin ich also nicht allein." "Nein, Darling. Wenn es nach mir geht, dann wirst du nie mehr allein sein." Kyle küsste sie zärtlich. "Wollen wir noch eine Runde drehen?" "Warum?" "Weil die alten Leute hier hinter ihren Büschen und Vorhängen stehen und dich beobachten. Als du mit Heather hier warst, gab es einen Riesenwirbel. Ich habe ihnen versprochen, dass ich sie nicht enttäuschen würde, wenn sich jemals wieder die Gelegenheit böte." Grace nahm es mit Humor. "Nun, Daddy, ich würde sagen, das kann nicht schaden." Am Eröffnungsabend des Bistros trug Grace das rote Perlenkleid. Kyle stand an der Bar, als sie mit Amelia und Button eintrat. Alle drei sahen umwerfend aus, Amelia in einem schlichten schwarzen Kleid, die Kleine ganz in Weiß. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge. Als Grace sah, wie er sich in seinem schicken Anzug und dem weißen Hemd gewandt durch die Gäste schlängelte und hier und da alten Bekannten zur Begrüßung auf den Rücken klopfte, begriff sie, dass er wieder zu Hause war. Endlich hatte Kyle Frieden mit sich gefunden. "Hey, hier war wohl jemand einkaufen, was?" begrüßte er das Trio, indem er Button hochschwang und Amelia einen Kuss auf die Wange gab. Amelia wirkte um zehn Jahre jünger. "Das hat Grace selbst geschneidert! Ihre Nähkünste sind wirklich außergewöhnlich!" Button fasste ihrem frisch rasierten Vater ins Gesicht. "Ich bin auch außergewöhnlich." Die Erwachsenen kicherten, und Kyle und Grace tauschten einen Blick. Beide wussten sie nun, dass alles in Ordnung gekommen war.
"Hallo, alle zusammen!" Michael im Smoking gesellte sich zu den vieren. "Was halten Sie von Ihrem alten Laden, Amelia?" "Wunderbar", schwärmte Amelia. "Die neue Einrichtung sieht viel besser aus. Und ihr habt ja tatsächlich die alte Crew wieder eingestellt." "Alle, die wollten", versicherte Kyle ihr augenzwinkernd. "Amüsier dich gut, Amelia. Es ist immer noch dein Bistro, denn den Namen haben wir nicht geändert." "Es gehört der ganzen Familie", korrigierte sie. Grace' Eltern kamen dazu. "Gute Arbeit, Kyle", beglückwünschte Victor ihn. "Das muss man Ihnen lassen." Grace wandte sich an Ingrid. "So, Mom, zu unserer Wette. Jetzt hast du den Beweis dafür, dass Kyle aus der Patsche ist. Und er langweilt mich trotzdem nicht im Mindesten. Höchste Zeit also, dass du deine Rolle als Heiratsvermittlerin aufgibst." Ingrid lächelte über den Rand ihres Martiniglases. "Weder dein Vater noch ich werden dir widersprechen. Ich würde sogar sagen, mit Kyle wirst du dich nie langweilen." Sie trank einen Schluck. "Leider muss ich zugeben, dass Dickie ein hoffnungsloser Fall ist - traurig, aber wahr." "Wenn Sie uns entschuldigen", bat Kyle, "ich möchte mit meiner Frau tanzen." Button klammerte sich an ihn. "Okay, Daddy." Er gab ihr einen Kuss auf die Nase. "Du kommst gleich dran. Aber erst tanze ich mit Grace." "Komm, Button", sprang ihm Michael bei. "Ich habe noch keine Tanzpartnerin." Fröhlich schlang Button die Arme um seinen Nacken. Kyle nahm Grace in die Arme und schwebte mit ihr auf die kleine Tanzfläche. Langsam bewegten sie sich eng aneinander geschmiegt zur Musik. "Die Songs sind ganz neu", bemerkte sie. "Wo ist denn die alte Jukebox?" „Im Büro. Keine Sorge, ich behalte sie. Ich hoffe nur, dass das der Frau, die ich heirate, auch gefällt." Sie legte das Gesicht an seinen Hals. "Oh Kyle, ich würde dich schon allein wegen der Jukebox heiraten." "Das würdest du tun? Mich heiraten?" Sie sah ihn mit klaren Augen an. "Natürlich." "Buttons Mutter sein?" "Das wäre sozusagen mehr, als ich vorhatte", gestand sie ihm. "Weißt du, es war nämlich nie meine Absicht, jemand anderen zu heiraten. Erinnerst du dich daran, dass ich dir ein Geheimnis sagen wollte?" "Erinnern? Ich kann es kaum erwarten!" "Nun ... " Er zog die dunklen Brauen zusammen. "Komm schon, Gracie.“ "Oh, Kyle, ich liebe dich, seit ich dich kenne", brach es aus ihr hervor. "So sehr, dass ich damals in der Nacht, als du mit Libby abgehauen bist, dachte, ich sei deine Auserwählte.“ "Wirklich?" "Ja. Ich war so eifersüchtig auf Libby, auf jedes Mädchen, das dich ansah." Er küsste sie auf die Stirn. "Ich muss sagen, dass ich es in letzter Zeit mit Dickie und diesem Poeten auch nicht gerade leicht hatte." "Dickie ist Schnee von gestern. Und das Buch von Bruce kann ich wegwerfen." "Bloß nicht! Ich will es lesen. Ein Mann wie ich kann durchaus Nachhilfe in Poesie gebrauchen." Grace lachte. "Sieh es dir doch heute Abend an. Es liegt auf meinem Nachtschränkchen." "Das klingt wie eine Einladung." Sie lächelte schelmisch. "Und unter dem Kopfkissen ist eine Überraschung. Zwei PanicButton-Shirts für große Mädchen und Jungs. "
"Du kannst auf mich zählen." Er drückte sie liebevoll an sich. "Du liest Gedichte vor, während ich den Knopf drücke", scherzte er. Grace sah mit verträumtem Blick zu ihm auf. "So prosaisch bist du ja gar nicht." "Ich liebe dich, Grace North."
"Und ich liebe dic h, Kyle. Ich habe dich immer geliebt."
Und damit tanzten sie in eine glückliche Zukunft.
- ENDE –