1. „Land ho! Land Steuerbord voraus!" Wie ein Trompetensignal schmetterte die Stimme des zwanzigjährigen Moses Bill übe...
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1. „Land ho! Land Steuerbord voraus!" Wie ein Trompetensignal schmetterte die Stimme des zwanzigjährigen Moses Bill über die Decks der „Isabella". Köpfe wurden gehoben, in die schläfrigen Männer geriet Bewegung. Tropische Hitze brütete über
dem Schiff, nur gemildert von der stetigen Brise, die die Segel füllte, die Galeone raumschots über das tiefblaue Wasser trieb und der Crew Zeit gab, das süße Nichtstun zu genießen. Nicht einmal der Rudergänger brauchte sich anzustrengen. Der Wind wehte gleichmäßig, als wolle er die Menschen vergessen lassen, daß es so etwas wie Böen überhaupt gab.
4 Das Kielwasser der „Isabella" wirkte wie mit dem Lineal gezogen. Soweit wäre alles in schönster Ordnung gewesen, wenn das süße Nichtstun nicht eine weniger süße Seite gehabt hätte: die Langeweile. Philip und Hasard, die achtjährigen Zwillingssöhne des Seewolfs, vertrieben sich die Zeit, indem sie immer neue Streiche ausheckten, bis ihnen der Profos mal wieder die Kehrseiten verdrosch. Hasard junior hatte sich bestens von seiner Verletzung erholt. Der Kutscher, Koch und Feldscher auf der „Isabella", schlich mit Leichenbittermiene herum, weil der Mangel an handfesten Problemen, die debattiert werden konnten, zu völlig unberechtigten Nörgeleien an seinem Essen führte. Old O'Flynns Gespenstergeschichten waren nach einhelliger Meinung auch nicht mehr das gleiche wie früher. Sogar Ed Carberrys Flüchen fehlte der wahre Schwung. Heute zum Beispiel hatte er sich nur ein einziges Mal zu der Drohung aufgerafft, jemandem die Haut in Streifen von einem gewissen edlen Körperteil zu ziehen - nämlich Blacky und Luke Morgan, die sich über die tiefgründige Frage in die Haare gerieten, wie man bei den Kakerlaken Männlein und Weiblein auseinanderhalten könne. Jetzt waren es die Zwillinge, die diese Frage aufgegriffen hatten und zum Zwecke ihrer Erforschung in der Kombüse auf Kakerlaken-Jagd gingen. Der Kutscher schimpfte wie ein Rohrspatz über die Unterstellung, in seiner Kombüse seien Kakerlaken zu finden. Luke Morgan und Stenmark zogen ihn prompt mit finsteren Mutmaßungen über den Inhalt seiner Suppenkessel auf.
Und der Seewolf, der auf dem Achterkastell stand und den makellos blauen Himmel betrachtete, hatte den Verdacht, daß gleich wieder der Profos dazwischenfahren würde, um zu verhindern, daß sich die Streithähne eine herzerfrischende Keilerei lieferten. Land in Sicht! Das war genau die richtige Medizin. Selbst Ben Brighton, der immer ruhige und beherrschte Bootsmann der „Isabella", grinste erleichtert, als er den grünlichen Buckel Steuerbord voraus über der Kimm sah. Eine Insel bedeutete Abwechslung, auch wenn man nicht behaupten konnte, daß es in letzter Zeit an Inseln gemangelt hätte. Dieser Teil des pazifischen Ozeans war voll davon. Viele gleichen sich, aber manch eine hatte schon eine Menge Überraschungen geboten. Und irgendwo, vermutlich in nicht allzu weiter Ferne, mußte auch noch jener geheimnisvolle, unentdeckte Kontinent Australien liegen, von dem niemand mit Sicherheit sagen konnte, ob er nicht doch nur eine Legende war. Unten auf der Kuhl drängten sich die Männer am Steuerbord-Schanzkleid. Auch die Zwillinge hatten die Kakerlaken-Jagd aufgegeben, enterten ein Stück in die Wanten und spähten nach Nordwesten. Über ihnen schaukelte der Schimpanse Arwenack auf einer Webleine. Der Papagei Sir John flatterte aufgeregt herum und bewies wieder einmal, was er seinem speziellen Freund Ed Carberry alles abgelauscht hatte. „Land ho! An die Brassen und Fallen, ihr lahmen Säcke! Quergestreifte Affenärsche Steuerbord voraus!" „Halt den Schnabel, du Mistvieh!" schnauzte der Profos. „Ramm das Schott dicht, du Enkel
einer triefäugigen Gewitterziege", krächzte der Papagei. „Da soll doch dieser und jener dreinfahren!" empörte sich Carberry. „Wasch dir die Füße, du Hering!" konterte der Vogel total unlogisch, und die Crew kommentierte den Wortwechsel mit einer donnernden Lachsalve, zumal der Profos automatisch auf seine Zehen blickte und im nächsten Moment in einem Ton losfluchte, als wolle er den Himmel zum Erröten bringen. Sir John plusterte sich ob der allgemeinen Aufmerksamkeit. Er hatte noch mehr auf Lager, aber er wurde von Bill übertönt, der von seinem luftigen Ausguck im Großmars aus weitere Meldungen brachte. „Deck! Auslegerboot Steuerbord voraus. Ist gerade hinter einer Landzunge der Insel erschienen!" Hasard zog das Spektiv auseinander und setzte es ans Auge. Die Insel rückte heran: ein unregelmäßiger Kegel, von sattgrüner Vegetation überwuchert. Perlmuttfarbener Sand säumte eine tief eingeschnittene Bucht, die in einer felsigen Landzunge auslief. Aus dem Schatten dieser Landzunge löste sich tatsächlich ein Auslegerboot mit dem typischen, seltsam geformten Katamaran-Segel. Minuten später folgten ihm ein zweites, dann ein drittes und viertes Boot. Undeutlich erkannte Hasard die halbnackten braunhäutigen Gestalten: fast drei Dutzend Eingeborene, die aufmerksam zur „Isabella" spähten. Ihr Kurs lag etwa parallel zu dem der Galeone. Doch der ranke Segler holte rasch auf, und es dauerte nicht lange, bis auch mit bloßem Auge Einzelheiten zu erkennen waren.
5 „Ha!" schrie Donegal Daniel O'Flynn junior, der die schärfsten Augen an Bord hatte. „Was heißt hier Ha, du Wanze?" grollte der Profos. „Hast du Brotfrüchte auf den Klüsen, Ed? Eine Südsee-Lady! Und was für eine! Gegen die hat die rote Lou aus der ,Bloody Mary' 'ne Figur wie ein Großsegel bei Flaute!" Auch das noch, dachte der Seewolf erschüttert. Was Dan O'Flynn meinte, war klar: ein Großsegel bei Flaute ließ jegliche Rundung vermissen. Und die braunhäutige Südsee-Lady, die da vorn in dem ersten Katamaran kauerte, hatte alle Rundungen, die wichtig waren, was nicht zu übersehen war, da ein Grasrock und ein Blumenkranz eine ziemlich unzureichende Bekleidung darstellten. „Mannomann", seufzte Smoky, der Decksälteste, verzückt. „Verdammt, verdammt", murmelte der rothaarige Schiffszimmermann Ferris Tucker und hatte ein gewisses Glitzern in den Augen. „Was ist denn mit euch los?" erkundigte sich Philip junior respektlos. „Habt ihr noch nie 'n paar Insulaner gesehen, oder wie?" Wahrscheinlich, überlegte Hasard senior, wurde es Zeit, seinem Nachwuchs bei Gelegenheit ein paar Einsichten in gewisse Aspekte der menschlichen Natur zu vermitteln. Oder doch nicht? Bei den Gauklern, mit denen sie bis zu ihrem siebenten Lebensjahr herumgezogen waren, hatte es eine bauchtanzende Lady namens Suleika gegeben, die keine Lady gewesen war. Und das Talent der Zwillinge, immer genau das aufzuschnappen, was nicht für ihre Ohren bestimmt war, konnte sich sehen lassen. Hasard verschob die Frage.
6 Denn inzwischen hatte auch er die ren, hatte Smoky die braunhäutige Südsee-Lady etwas genauer be- Lady bereits erreicht. trachtet - als Kapitän mußte man Daß er einen Arm um ihren Körper sich schließlich orientieren - und da- schlang und sie sozusagen abbei festgestellt, daß Grasrock und schleppte, war nach Hasards MeiBlütenkranz der Schönen reichlich nung völlig überflüssig: schließlich zerrauft wirkten. Sie sah nicht so sah jeder, daß die Lady schwimmen aus, als befinde sie sich freiwillig auf konnte wie ein Fisch. dem Auslegerboot. Als sich die „IsaDie Insulaner heulten vor Wut. bella" jetzt näherte, glaubte der SeeBlitzartig änderten sie den Kurs, wolf, in den großen, dunklen Augen hielten auf die „Isabella" zu und einen deutlich flehenden Ausdruck fischten unterwegs ihre schwimzu erkennen. menden Genossen auf. Smoky erAuch den anderen entging das reichte mit ein paar letzten kräftigen nicht. Stößen die Galeone. Blacky und Blacky verzog grimmig das Ge- Luke Morgan hatten inzwischen eine sicht. Sam Roscill kippte fast außen- Jakobsleiter ausgebracht, und der bords, weil er sich dermaßen den Deckälteste ließ mit galanter Geste Hals verrenkte. Luke Morgan wink- der Lady den Vortritt. te lebhaft, und die Südsee-Lady proDie braunhäutige Schöne konnte duzierte ein Lächeln, bei dem ein nicht nur schwimmen wie ein Fisch, Eisberg aufgetaut wäre. sondern auch klettern wie eine KatIm nächsten Moment sprang sie ze. auf, federte in den Knien und hechEs dauerte nur Sekunden, bis sie tete mit einem eleganten Sprung ins sich über das Schanzkleid schwang. Wasser. Smoky folgte dichtauf, und im selben Kein Zweifel: sie schwamm auf die Augenblick erreichten die Ausleger„Isabella" zu. Sekundenlang waren boote der Eingeborenen die „Isabeldie Eingeborenen in dem Ausleger- la". boot verblüfft. Dann erhob sich ein Mit Gebrüll versuchten sie, aufzuwildes Wutgeschrei, und zwei von entern. den braunhäutigen Gestalten spranDie Seewölfe sahen sie sich an. gen dem Mädchen nach. Speere und Keulen, registrierte HaUnd noch jemand sprang: nämlich sard. Nicht gerade eine Art von Bewaffnung, wegen der man gleich Smoky, der Decksälteste. Bei ihm fiel der Sprung nicht so Klarschiff zum Gefecht machen elegant aus, aber dafür wühlte seine mußte. bullige Figur sehr eindrucksvoll das Während Smoky die Südsee-Lady Wasser auf. Die beiden Männer, die in Sicherheit brachte, ballten Ferris der Südsee-Schönen nachschwam- Tucker, Ed Carberry und ein halbes men, um sie zurückzuholen, wurden Dutzend anderer erwartungsvoll die etwas langsamer. Smokys klotzige Pranken. Gestalt gebot Respekt. Zumindest Die Angreifer veranstalteten ein ließ sie es geraten erscheinen, sich Geschrei, mit dem sie sich wahrdie Sache noch mal durch den Kopf scheinlich selbst zur Weißglut anstagehen zu lassen. Die beiden Eingebo- cheln wollten. Die Seewölfe fanden renen taten das offenbar. Bevor sie Weißglut in diesem Fall übertrieben: mit ihren Überlegungen fertigwa- mittelmäßiger Ärger genügte. Aber
7 es war keiner von der Crew, der das Gefecht eröffnete, sondern Arwenack, der Schimpanse. Der Affe hatte so seine Erfahrungen. Wenn auf eine bestimmte Art gebrüllt wurde, konnte das nur heißen, daß im nächsten Moment die Fetzen flogen. Arwenack war ein kluges Kerlchen und verstand es durchaus, Freund und Feind auseinanderzuhalten. Wenn die Fetzen flogen, pflegte er sich in die Wanten zurückzuziehen. Wohlgemerkt mit einem soliden Belegnagel bewaffnet. Der erste Angreifer, der sich über das Schanzkleid schwingen wollte, verspürte einen dumpfen Schlag, der aus dem Nichts zu erfolgen schien, und kippte wieder außenbords. Einen zweiten Mann riß er mit. Das Wasser klatschte. Ferris Tucker beugte sich ungeduldig vor, weil ihm die Sache zu lange dauerte. Der dritte Mann schob soeben den Kopf über das Schanzkleid, doch nur für Sekunden, bis ihn die mächtige Faust des rothaarigen Schiffszimmermanns erwischte. Es war ein Hammerschlag von oben nach unten, und der kostete nicht nur den Getroffenen das Bewußtsein, sondern räumte zugleich die Jakobsleiter leer. Die Seewölfe rieben sich die Fäuste und warteten. Philip Hasard Killigrew schüttelte den Kopf. „Einholen!" schrie er. „Einholen, ihr hirnrissigen, dreimal kalfaterten Decksaffen!" nahm Carberry den Befehl auf. Ferris Tucker und Luke Morgan griffen zu und holten die Jakobsleiter ein. Da sie herzhaft Zugriffen, wurden gleich noch drei, vier von den heulenden Eingeborenen ins Wasser geschüttelt. Sie paddelten herum und schnitten grimmige Ge-
sichter, aber da sie keine Flügel hatten, gab es keine Chance mehr für sie, an Bord zu gelangen. „Deckung!" schrie Dan O'Flynn, der mit seinen scharfen Augen Gefahren immer etwas früher erkannte als andere. Diesmal war seine Warnung überflüssig, da die Seewölfe schon von selbst in die Deckung des Schanzkleids tauchten. Ein Hagel von Lanzen zischte heran, die die Männer in den Auslegerbooten mit verzweifelter Wut geschleudert hatten. Der blonde Stenmark, dem fast die Zehen durchbohrt wurden, vollführte einen Luftsprung und fluchte. Batuti, der hünenhafte Gambia-Neger, blickte kopfschüttelnd auf die Waffe, die sich neben ihm in den Mast gebohrt hatte, zog sie heraus und schleuderte sie zurück ins Wasser. „Bist du verrückt, du schwarzer Affe?" fauchte Ferris Tucker aufgebracht. „Selber verrückt, rothaariges Riesenaffe", knurrte Batuti. „Lanze hat schweres eiserne Spitze, also sie sinkt. Klar?" In solch schauderhaftes Englisch fiel Batuti nur noch zurück, wenn er sich ärgerte. Ferris Tucker schnaufte und spähte über das Schanzkleid. Die Eingeborenen, die im Wasser schwammen, kletterten gerade wieder in die Auslegeboote, triefend und vermutlich fluchend, obwohl die Seewölfe das bei der fremden Sprache nicht so genau unterscheiden konnten. In aller Eile wurden die Boote gewendet. „Ruhmloser Rückzug", meldete Luke Morgan. „Schade!" Seine Ansicht wurde allgemein geteilt. Niemand hätte etwas gegen einen handfesten Kampf einzuwenden ge-
8 habt. Aber dafür hatten sie jetzt eine Sammlung fremdartiger Lanzen an Bord, für die sich vor allem die Zwillinge brennend interessierten. Und eine fremdartige, leichtbekleidete Lady, die triefend auf der Kuhl stand und Smoky, den Decksältesten, offensichtlich als ihren Lebensretter anhimmelte. Philip Hasard Killigrew kletterte vom Achterkastell ebenfalls auf die Kuhl hinunter. Daß er innerlich stöhnte und sich versucht fühlte, sämtliche Schutzheiligen der englischen Seefahrt anzurufen, wußte nur er selber.
„Nur Wind weiß", erklärte sie philosophisch. „Von Großes Donnerer jetzt nur noch Kopf übrig, Schrumpfkopf für Tauschhandel." „Heiliger Bimbam", murmelte Smoky. Hasard fuhr sich mit dem Handrücken über das Kinn und warf einen Blick auf seine Söhne, die die Südsee-Lady fasziniert und völlig unerschüttert betrachteten. „Der große Donnerer lebt also nicht mehr?" vergewisserte sich der Seewolf. „Lebt nicht mehr." Nuami nickte. „Er mit uns wohnte auf kleiner Insel, was heißt Mond-Insel. Kam mit Boot * auf Insel, weil Schiff gesunken war. Nahm Nuami zur Frau, Muña, Luana ..." „Ich - Nuami." Die Aufzählung der Namen ging Die Perle der Südsee legte die Hand auf die Brust und lächelte. Ha- weiter. Die Augen der Zuhörer wursard war einigermaßen verblüfft, den immer größer. „D-das sind ja zehn!" stotterte genau wie die Männer. „Sie sprechen Englisch?" fragte er. Luke Morgan ungläubig. „Zehn", bestätigte Nuami unge„Ja - gelernt von Großes Donnerührt. „Großer Donnerer guter rer." Mann. Aber Krieger von Nachbarin„Wovon?" fragte Smoky perplex. erschienen, brachten Großes Nuami, klatschnaß, aber unüber- sel Donnerer und machten sehbar bildhübsch, schenkte ihm ei- Schrumpfkopfumaus ihm. Und nen tiefen Blick aus großen schwar- sie erschienen noch einmal unddann entzen Glutaugen. führten Nuami. Aber Nuami ist ih„Von Großes Donnerer", wieder- nen entwischt. Breites braunes Mann holte sie geduldig. „Schöner Mann! wie Felsen hat sie gerettet." Guter Mann mit gutes Donnerrohr." Dabei strahlte sie wieder Smoky Smoky, der sich offenbar Nuamis an. besonderer Wertschätzung erfreute, Der schluckte verwirrt. Daß sie kratzte sich verständnislos am Kopf. Hasard grinste, weil er ungefähr be- mit „breites braunes Mann wie Felgriff, um was es ging. Das „gute Don- sen" ihn meinte, hatte er inzwischen nerrohr" mußte ein Gewehr sein, begriffen. Aber mußte sie deshalb dem der „Große Donnerer", ein gleich auf Tuchfühlung gehen, seine schiffbrüchiger Engländer vermut- breite Brust streicheln und ihn mit schwärmerischen Blicken bedenlich, seinen Spitznamen verdankte. „Und wo steckt der Große Donne- ken? Nicht, daß er etwas gegen Tuchfühlung mit schönen Südseerer?" erkundigte sich der Seewolf. Die braunhäutige Schönheit brei- Ladys gehabt hätte. Aber so vor aller Augen... tete die Arme aus.
9 „Ich nehme an, daß Sie auf Ihre Mond-Insel zurückmöchten", sagte Hasard. „Ist das weit von hier?" „Nicht weit. Halbe Stunde mit Schiff. Ihr mich werdet hinbringen?" Hasard nickte. Nuami strahlte. „Ihr dort willkommen", versicherte sie. „Wir werden großes Fest feiern. Viele hübsche Mädchen für Freunde von breites braunes Mann wie Felsen." Nicht viel fehlte, und Hasard hätte sich an den Kopf gegriffen. Das wurde ja immer schöner! Und seine Männer grinsten sich eins, als seien Weihnachten, Ostern und drei Faß Rum auf einen Tag gefallen. Aber es half alles nichts: wenn sie die Perle der Südsee nicht an Bord behalten wollten, mußten sie die Mond-Insel ansteuern, wo die vielen hübschen Mädchen auf die „Freunde von breites braunes Mann wie Felsen" warteten. Wahrscheinlich, dachte der Seewolf, hatte Smoky noch nie so viele erklärte Freunde gehabt wie in diesen Minuten. * Eine Viertelstunde später war die „Mond-Insel" bereits in Sicht. Ihren Namen hatte sie zweifellos der Sichelform zu verdanken. Die Bucht zwischen den Landzungen, die die beiden Spitzen der Sichel bildeten, bot einen erstklassigen Ankergrund, und nach einer weiteren Viertelstunde lag die „Isabella" dort so sicher wie in Abrahams Schoß. Das Ankermanöver hatte allerdings schon mal besser geklappt. Zwei Dutzend braunhäutige Insulaner standen am Strand, winkten und schwenkten Blumenkränze zur Begrüßung. Bis auf einige Ausnahmen bestand die ganze Gruppe aus
leichtbekleideter, bildhübscher Weiblichkeit. Der Profos mochte brüllen, fluchen und toben: die Männer verrenkten sich die Hälse mehr nach dem Empfangskomitee, denn nach dem Ankergeschirr. Ben Brighton, der neben Hasard an der Schmuckbalustrade des Achterkastells stand, seufzte schicksalsergeben, obwohl auch der ruhige, besonnene Bootsmann nicht verleugnen konnte, daß er ein gewisses Funkeln in den Augen hatte. „Das wird ja ein tolles Fest", sagte er trocken. „Ich fürchte, wenn du sofort wieder ankerauf gehen läßt, bricht eine Meuterei aus." Hasard nickte grimmig. Aber er plante ohnehin nicht, gleich wieder ankerauf zu gehen. Schließlich konnte man die wartenden Damen nicht beleidigen. Und die Männer brauchten ohnehin mal wieder eine Abwechslung. Hier, auf diesem winzigen Eiland der SalomonInseln, herrschte daran offenbar kein Mangel, und daß die SüdseePerlen, deren heißgeliebter „großer Donnerer" zum Schrumpfkopf verarbeitet worden war, dem männlichen Besuch sehr wohlwollend gegenüberstanden, ließ sich deutlich an ihren strahlenden Gesichtern ablesen. Der Seewolf, Ben Brighton, Ed Carberry und Smoky begleiteten Nuami an Land. Letztere wich nicht von der Seite des Decksältesten und ließ keine Gelegenheit aus, die Wange an seine Schulter zu legen oder ihm tief in die Augen zu blicken. Smoky hatte schon rote Ohren. Die anderen feixten, aber kaum daß sie einen Fuß auf den Strand gesetzt hatten, kriegten sie auch ihren Teil. Nuamis wortreicher Erklärung in ihrer Heimatsprache folgte allge-
10 meiner Jubel. Eine bildschöne, samthäutige Insulanerin mit träumerischen Rehaugen stellte sich vor Hasard auf die Zehenspitzen, hängte ihm ihren Blumenkranz um, wodurch ihre eigene Bekleidung noch etwas leichter wurde, und küßte ihn, ehe er recht wußte, wie ihm geschah. „Ich Luana", sagte sie. „Du schöner Mann!" „Ich Muna", zwitscherte eine ihrer Freundinnen, und im nächsten Moment war auch Edwin Carberry bekränzt. Der Profos schluckte erschrocken, und seine Ohren wurden genauso rot wie bei Smoky, als die Schöne hingebungsvoll sein zernarbtes Rammkinn streichelte. Die Dame, die sich Ben Brightons annahm, hieß Cori und stand ihren Geschlechtsgenossinnen um nichts nach. Jede einzelne dieser SüdseePerlen war eine Schönheit, und diejenigen, die noch kein Opfer für Kranz und Kuß gefunden hatten, winkten zur „Isabella" hinüber und hatten sehnsüchtige Augen. Es stand fest, daß der „große Donnerer" zu seinen Lebzeiten ein beneidenswerter Mann gewesen war. 2. Über den Feuergruben am Strand drehten sich Wildschweine am Spieß. Kawa-Schalen und Rumflachen kreisten, einer der Männer, die noch nicht die Flucht vor den kriegerischen Kannibalen der Nachbarinsel ergriffen hatten, schlug das Tomtom. Außer diesen wenigen männlichen Insulanern hatte nur der Damenflor des „Großen Donnerers", bis heute der Bedrohung getrotzt. Und sie waren fest entschlossen, auch in Zukunft hierzubleiben. Die Feinde hatten
zwar den Kopf des „Donnerers" erwischt, aber nicht sein Donnerrohr, und das erschien den Südsee-Perlen zu ihrer Verteidigung ausreichend. Das Lob des Dahingeschiedenen wurde überhaupt sehr ausgiebig gesungen, wenigstens zu Anfang. Dann allerdings handelten die samthäutigen Schönen nach dem Gesetz des praktischen Menschenverstandes, der ihnen sagte, daß es ein toter „Donnerer" nicht mit höchst lebendigen Seewölfen aufnehmen konnte. Luana schmiegte sich an Hasard und verstand plötzlich kein Englisch mehr, als er ihr zu erklären versuchte, warum er nicht die Nachfolge des verblichenen Paschas antreten könne. Nuami versorgte Smoky mit Rum, kraulte sein Haar, himmelte ihn an und sorgte dafür, daß seine Ohren ihre rote Farbe behielten. Der bullige Decksälteste war ein ernsthafter Mann und - außer in einem handfesten Kampf - jeder Übertreibung abhold. Ganz so viel Anbetung hätte er seiner Meinung gar nicht zu sein brauchen. Daß ihn die schwarzhaarige Perle der Südsee „stark wie einen Felsen" nannte, ließ er sich ja noch gefallen. Aber „schön wie eine Blume" - das ging wirklich zu weit. Dan O'Flynn lehnte vergnügt an einem Palmenstamm und hatte nichts dagegen, daß die Ladys sein blondes Haar mit blumigen Redewendungen bedachten. Ed Carberry beschimpfte Sir John, den Ara-Papagei, weil der Vogel mit seiner Vorliebe für saftige Flüche einfach nicht wußte, wie man sich in Gegenwart von Ladys zu benehmen hatte. Muna kraulte indessen das zernarbte Rammkinn des Profos. Sam Roscill, der drahtige früherere Karibik-Pirat, erzählte seiner Schönen eine Gesichte, bei der er
11 Hände und Füße zu Hilfe nehmen mußte. Der blonde Stenmark und der rothaarige Ferris Tucker erfreuten sich ganz besonderer Gunst. Kein Zweifel: die Perlen der Südsee machten die Seewölfe reihenweise schwach. Hasard fand, daß es allmählich Zeit wurde, etwas zur Hebung der allgemeinen Moral zu unternehmen. Er teilte Big Old Shane und Old O'Flynn ein, um an Bord die Ankerwachen abzulösen, und schickte die Zwillinge mit. Die beiden protestierten, doch es nutzte ihnen nichts. Kinder hatten um diese Zeit in den Kojen zu liegen, kriegen sie zu hören. Ihrer Meinung nach konnte da ruhig mal eine Ausnahme gemacht werden, zumal sie überhaupt nicht müde waren. Aber alles Reden half nicht: Big Old Shane packte sie kurzerhand am Schlafittchen und beförderte sie ins Boot, das sie unbarmherzig vom Ort des Festgeschehens entfernte. Dort hatte die schöne Nuami Smoky inzwischen zu einem Mondscheinspaziergang überredet. Der Decksälteste erinnerte jetzt gar nicht mehr an einen Felsen - oder allenfalls an einen schwankenden. Kawa, Rum und Nuami waren etwas
zu viel des Berauschenden gewesen. Smoky hatte Schlagseite. Ein Nebelschleier lag über seinen Augen und verwischte die Umgebung. Er verstand nicht mehr so genau, was ihm Nuami zärtlich zuflüsterte, und der Einfachheit halber nickte er zu allem. Daß ihn die braunhäutige Schöne in das kleine Dorf führte, wunderte ihn nicht weiter: wahrscheinlich wollte sie es ihm zeigen. „Sehr hübsch", murmelte er, obwohl er nur noch ziemlich verschwommen etwas sah. Als er sich wenig später in einer der Hütten wiederfand, wußte er nicht ganz genau, wie er hereingelangt war. Nuami wollte offenbar mit ihm allein sein. Prächtig, prächtig, dachte er. Aber was wollte dieser komische Kerl mit der Kette aus Haifisch-Zähnen hier? Der Medizinmann, vermutete Smoky. Oder der Dorf- Schane. Nuami tuschelte mit ihm in ihrer Heimatsprache. Der Alte nickte, Nuami griff nach Smokys Hand, fuchtelte ihm mit einer weißen Blüte vor der Nase herum, und wenn er sie richtig verstand, forderte sie ihn auf, ihr die Blume hinter das Ohr zu stekken. Smoky fand Nuamis Ohr sehr
12 hübsch, mit oder ohne Blume. Etwas ungeschickt befolgte er ihren Wunsch, da er Blume und Ohr doppelt sah und ein paarmal danebengriff. Was dann noch kam, daran konnte er sich später nicht mehr so genau erinnern. Der Medizinmann murmelte lange Sprüche, die Blüte spielte eine Rolle - und Smoky ließ alles geduldig über sich ergehen, da er sich sagte, daß man Sitten und Gebräuche anderer Leute respektieren solle. Als sie wieder zurück in Richtung Strand spazierten, wirkte Nuami sehr zufrieden. Smoky hatte sich von dem Zwischenspiel in der Hütte eigentlich etwas ganz anderes versprochen, aber seine Gedanken waren nicht mehr klar genug, um darüber zu grübeln. Allmählich, fand er, wurde es Zeit, mal wieder einen zu zwitschern. Dann konnte man ja zusehen, daß man eine volle Buddel ergatterte, Nuami einen weiteren MondscheinSpaziergang vorschlagen... An diesem Punkt wurden seine Träumereien jählings unterbrochen. Irgendwo ertönte ein schriller, tremolierender Schrei. Andere Stimmen fielen ein, wurden zum gellenden Kriegsgeheul, und in der nächsten Sekunde schien auf der Insel die Hölle loszubrechen. * Die Kannibalen der Nachbarinsel griffen an - diesmal nicht, um Mädchen zu entführen, sondern um Köpfe zu erbeuten: die Köpfe von Weißen, die als Tauschmittel besonders begehrt waren. Ganz plötzlich waren sie da. Ein Schwarm von Auslegerbooten schoß hinter einer vorspringenden Klippe
hervor und legte im nächsten Augenblick bereits an. Das Kriegsgeschrei, mit dem sich die Wilden selbst anfeuerten, trug weit über das Wasser, und auf der „Isabella" waren Philip und Hasard wie der Blitz an Deck. Big Old Shane brüllte dem alten O'Flynn zu, die „dreimal verdammte Drehbasse" klarzumachen, damit man die Katamarane zu Treibholz verarbeiten könne. Dans Vater hatte zwar ein Holzbein und ging an Krükken, aber er war ein Kerl aus Granit und Eisen und konnte immer noch mit jeder „dreimal verdammten Kanone" fertigwerden, daß es eine Pracht war. Außerdem hatte er Unterstützung. Die Zwillinge brachten den Culverinen und Drehbassen der „Isabella" hingebungsvolles Interesse entgegen. Jetzt fanden sie endlich einmal Gelegenheit, Lunten und Wischer vorzubereiten und zu beweisen, daß sie durchaus kräftig genug waren, um Pulver und Blei zu mannen. Sie fanden das viel spannender als das Fest am Strand. Noch lieber wären sie allerdings dort drüben dabeigewesen. Da flogen nämlich jetzt die Fetzen. Die Kanibalen stürmten dem Festplatz am Strand zu, und in ihr Kriegsgeschrei mischte sich ein donnerndes „Arwenack" von den Seewölfen. Lanzen flogen. „Deckung!" schrie Hasard, packte die erschrockene Luana und riß sie mit, als er sich in den Sand fallen ließ. Eine Sekunde später sprang er schon wieder auf und überzeugte sich mit einem raschen Rundblick, daß niemand durchbohrt worden war. Die Angreifer hatten wohl geglaubt, mit ihren rumbeseligten Opfern leichtes Spiel zu haben. Was die Menge des konsumierten Rums be-
13 traf, lagen sie mit ihrer Schätzung nicht einmal so weit daneben. Aber das gellendes Kriegsgeschrei genau die richtige Medizin war, um sämtliche Seewölfe schlagartig zu ernüchtern, konnten sie schließlich nicht wissen. Sie begriffen es im nächsten Augenblick. Da wurde ihnen dann auch klar, daß es ein schwerer Fehler gewesen war, ihre Lanzen zu schleudern, statt für den Nahkampf aufzubewahren. Eine Chance, die Waffen wieder aufzuheben, erhielten sie nicht. Die Seewölfe gingen ihrerseits zum Angriff über, und schon ihr dröhnendes „Arwenack" genügte, um den Insulanern die Haare zu Berge stehen zu lassen. Der Kutscher schnappte sich einen leeren Bratspieß. Die anderen bückten sich nach den herumliegenden Lanzen, da für sie kein Anlaß bestanden hatte, schwer bewaffnet bei einem Fest zu erscheinen. Die meisten Angreifer mußten sich inzwischen mit Keulen begnügen, also benutzten auch die Seewölfe wie auf eine geheime Verabredung die erbeuteten Lanzen als Schlaginstrumente. Immer noch unter gellendem Kriegsgeschrei prallten die Fronten aufeinander. Diejenige der Insulaner geriet sofort ins Wanken. Ihre Angriffswelle brandete zurück und verlor entschieden an Wildheit. Hasard pickte sich den Anführer der Horde heraus und bediente ihn mit einem sauberen rechten Haken, der ihn im Überschlag rückwärts zwischen seine Kumpane beförderte. Der Kutscher wehrte mit dem Bratspieß eine der letzten Lanzen ab, die daraufhin zu Bruch ging. Die schweren Keulen, die die Angreifer schwangen, waren als Waffen
durchaus nicht zu verachten, hinterließen beachtliche Beulen und eine Menge blauer Flecke, doch das stachelte den Kampfgeist der Getroffenen erst so richtig an. Die Südsee-Schönen hatten sich zurückgezogen, aber nur, um eilends ihr „Donnerrohr" herbeizuschaffen. Smoky begegnete ihnen, als er gerade durch das Gestrüpp brach und den Palmengürtel erreichte. Nuami begann sofort, aufgeregt mit ihren Gefährtinnen zu schnattern. Smoky warf einen wilden Blick in die Runde, um sich schon mal einen Gegner auszusuchen. Der wurde ihm im nächsten Augenblick sozusagen auf dem Tablett serviert. Der hatte sich nämlich eine rechte Gerade von Edwin Carberry eingefangen, torkelte rückwärts und landete in Smokys Armen. Smoky drehte ihn herum, stufte ihn als halb bewußtlos ein und vollendete das Werk mit einem nahezu sanften linken Haken. Da er den Burschen nicht in seinem Rücken haben wollte, schleuderte er ihn dorthin, wo er hergekommen war. Das Kriegsgeheul der Angreifer klang schon merklich gedämpfter, da die Insulaner ihren Atem anderweitig brauchten. Schritt für Schritt zogen sie sich zurück. Die Seewölfe setzten nach. Die meisten von ihnen hatten die ungewohnten Lanzen längst wieder weggeworfen und verließen sich auf ihre Fäuste. Die Tatsache, daß sie so mir nichts, dir nichts auf den klaren Vorteil einer tödlichen Waffe verzichteten, war vollends dazu geeignet, die Angreifer zu verwirren. Das donnernde Krachen, das im nächsten Moment von der „Isabella" herüberdröhnte, untergrub endgültig die Kampfmoral der Insulaner. Der erste Schuß aus der achteren
14 Drehbasse zerlegte eins der Auslegerboote in Einzelteile. Erschrocken warfen die Angreifer die Köpfe herum. Diesmal wirkte ihr Geschrei überhaupt nicht mehr wild und kriegerisch, sondern eher entsetzt. Daß sie ihre Gegner unterschätzt hatten, mußte ihnen inzwischen klar sein: mit dieser Bande rasender Teufel war trotz der Übermacht nicht f ertigzuwerden. Jetzt kam die Gefahr hinzu, daß ihnen der Fluchtweg abgeschnitten wurde. Wie von Schnüren gezogen wandten sich die Köpfe wieder den Seewölfen zu, dann noch einmal den treibenden Trümmern des Bootes, und jählings verwandelte sich das Rückzugsgefecht in überstürzte Flucht. Immerhin hatten ein paar der Insulaner noch den Mumm, die Bewußtlosen einzusammeln und mitzuschleppen. Die Seewölfe wollten die Verfolgung aufnehmen, weil sie gerade so schön in Schwung waren, doch auf Hasards Zeichen hin blieben sie zurück. Auch von der „Isabella" fiel kein weiterer Schuß. Die Angreifer hatten sich blutige Köpfe geholt und waren schon zum zweitenmal eindeutig zurückgeschlagen worden damit mochte es vorerst genug sein. Nur noch einmal krachte es: die schöne Nuami hatte das „Donnerrohr" abgefeuert. Eins der Katamaran-Segel trug ein sauberes Loch davon, und das schien auch Nuami zu genügen. Die Insulaner gingen in ihre Boote, als seientausend Teufel hinter ihnen her. So ähnlich fühlten sie sich wahrscheinlich auch, als sie mit ihren Fahrzeugen wieder hinter der vorspringenden Klippe verschwanden. Es verstand sich von selbst, daß nach diesem kurzen, aber heißen
Kampf noch einmal gründlich die trockenen Kehlen befeuchtet werden mußten. Das Fest ging eine Weile weiter, ein Zählappell hätte ergeben, daß immer mal wieder der eine oder andere Teilnehmer verschwunden war. Aber schließlich verabschiedete man sich. Die Männer strebten den Booten zu, und nur Smoky registrierte etwas verblüfft, daß zwei von den Südsee-Schönheiten seine Arme ergriffen und entschlossen schienen, ihn nicht gehen zu lassen. Cori und Muna, wie er feststellte. „Du mitkommen", sagte Cori. „Du in Hütte von Nuami", sagte Muna. „Nee", lehnte Smoky ab. „Das geht nicht. Wäre mir ja ein Vergnügen, aber..." „Du Nuamis Mann", erklärte Muna ernsthaft. „Waaas?" fragte Smoky erschrokken. „Du Nuamis Mann! Stammältester euch hat verbunden, jetzt ihr Mann und Frau. Du in Nuamis Hütte. Klar?" Smoky war nur eins klar: daß da etwas ganz gewaltig schiefgelaufen sein mußte. Er, der Decksälteste der „Isabella", hatte sich - benebelt, wie er gewesen war - mit einer Südsee-Schönheit verheiraten lassen? Das gab es nicht! Smoky als unfreiwilliger Ehemann, damit würde ihn die Crew noch in hundert Jahren aufziehen. Er durfte gar nicht daran denken. „Komm", drängte Muna. „Du Nuami nicht warten lassen", flötete Cori. „Nein!" stöhnte Smoky. „Das - das ist alles ein Mißverständnis, das ..." „Nix Mißverständnis", sagte Cori. „Du Nuamis Mann", bekräftigte Muna.
Beide versuchten, ihn mit sanfter Gewalt in Richtung Dorf zu entführen, und Smoky, den sonst so leicht nichts umwarf, verlor die Fassung. „Nein, verdammt!" fluchte er, riß sich los und wandte sich eilends zur Flucht. Die Bootsbesatzung, die auf ihn wartete, empfing ihn mit Gelächter. Natürlich wurde nicht mit Bemerkungen über Smokys offensichtlich unwiderstehliche Schönheit gespart. Der Decksälteste stöhnte abgrundtief und versprach, dem nächsten, der den Mund auftat, die Zähne in den Hals zu rammen. Im Augenblick war er in einer Stimmung, in der er sich eher die Zunge abgebissen hätte, als den wahren Sachverhalt aufzuklären. 3. Die Seewölfe wollten erst am nächsten Morgen ankerauf gehen, nicht ohne sich noch einmal von den freundlichen Eingeborenen zu verabschieden, das verstand sich von selbst. Hasard hatte versprochen, ein paar weitere „Donnerrohre" zurückzulassen, damit sich die Ladys in Zukunft wirksamer gegen die Übergriffe ihrer räuberischen Nachbarn verteidigen konnten. Aber die Ladys zeigten sich nicht. Auf der Insel blieb alles still, und dieses abweisende Schweigen brachte Smoky schließlich dazu, sich die Sache mit der unfreiwilligen Hochzeit noch einmal von Nuamis Standpunkt aus zu überlegen. Sicher war die Perle der Südsee beleidigt. Sie konnte ja auch nicht ahnen, daß er, Smoky, die ganze Zeremonie erstens nicht mehr richtig wahrgenommen und zweitens aus purer
15 Höflichkeit mitgespielt hatte. Das mindeste war, daß man den Ladys die Sachlage erklärte. Selbst wenn man damit die Notwendigkeit heraufbeschwor, anschließend eine Menge Spötter zur Räson zu bringen. Der Seewolf war reichlich verdutzt, als sein Decksältester erschien, schon wieder mit roten Ohren, und ziemlich weitschweifig an einer Geschichte herumdruckste, in der von der schönen Nuami, von Rum literweise, einer weißen Blüte und einem Dorfältesten die Rede war. Die Pointe dieser Geschichte hatte allerdings die Qualität eines Hammerschlags. Hasard holte tief Luft. „Du hast was?" „Äh - also ..." „Du hast dich allen Ernstes mit Nuami verheiraten lassen." „Nein!" rief Smoky verzweifelt. „Nicht allen Ernstes, das ist es ja gerade!" „Treibt man damit vielleicht Scherze?" „Nein! Ich hatte doch keine Ahnung! Ich - verdammich, ich hab doch noch nicht mal - na ja ..." Mit „na ja" meinte er zweifellos jene Tätigkeit, der sich im allgemeinen ein frisch getrauter Ehemann in der Hochzeitsnacht hingibt. Fatal, dachte Hasard. Der Rest der Crew fand es eher vergnüglich. Dan O'Flynn war der erste, der loskicherte. Luke Morgan fiel ein, Sam Roscill, Blacky, Bill - und dann dauerte es nicht mehr lange, bis die ganze Galeone unter einer donnernden Lachsalve erzitterte. Der Seewolf seufzte. „Beiboot klarmachen!" befahl er. „Ed, such acht Mann aus! Dan, du gehst in den Frachtraum und holst ein paar nette Geschenke für die Ladys. Vielleicht schaffen wir es, ihnen
16 zu erklären, daß Smoky kein Heiratsschwindler, sondern nur ein Idiot ist." Smoky schnaufte erbittert, aber er sparte sich den Kommentar. Daß nach dem Schaden der Spott nicht ausbleiben würde, war sowieso klar. Während sie zum Strand hinüberpullten, stellten Dan O'Flynn, Gary Andrews und Stenmark genußvoll Mutmaßungen darüber an, was geschehen würde, wenn sich Nuami uneinsichtig zeigte. Die einhellige Meinung ging dahin, daß Smoky dann wohl auf der Insel bleiben müsse - um den Rest seines Lebens damit zuzubringen, einen neuen Stamm zu gründen. Im Dorf trafen sie zunächst nur den Medizinmann an, der ihnen mit ziemlich unterkühlter Miene entgegentrat. Erst als sich das Palaver allzu mühselig gestaltete, erschienen Nuami und ihre Gefährtinnen, die mehr Gelegenheit gehabt hatten, sich von dem „Großen Donnerer" Englisch beibringen zu lassen. Nuami warf Smoky teils schmachtende, teils anklagende Blicke zu. Hasard redete mit Engelszungen, wobei ihn Luanas sanfte Umgarnungsversuche entschieden irritierten. Schließlich flüchtete er mit Nuami und dem Medizinmann in dessen Hütte, und dort zog sich das Palaver weiter in die Länge. Schließlich hatte Hasard den Eindruck, die Perle der Südsee begreife allmählich, daß die Sache mit der Hochzeit ein fataler Irrtum gewesen sei. Er atmete erleichtert auf. Aber er konnte ja auch nicht ahnen, daß sich draußen inzwischen das nächste Verhängnis anbahnte. *
Die Kannibalen von der Nachbarinsel hielten es mit der Weisheit, daß eine verlorene Schlacht nicht unbedingt einen verlorenen Krieg bedeutet. Der Schrecken war ihnen gewaltig in die Knochen gefahren, doch andererseits lockte reiche Ausbeute. Ein großes Palaver wurde abgehalten, das Tamtam der Kriegstrommel sorgte für die richtige Stimmung. Der Medizinmann warf Orakelknochen, und schließlich verkündete Mbuku, der schwergewichtige Stammeshäuptling, daß man einen neuen Versuch unternehmen werde. Der offene Angriff war gescheitert, jetzt hieß das Gebot der Stunde List und Schlauheit. Im Schutz der Morgendämmerung hatten sich die Auslegerboote an die Nordseite der Mond-Insel herangepirscht, an den äußeren Bogen der Sichel. Eine winzige Bucht nahm die Boote auf, zwischen den mächtigen Luftwurzeln von Mangroven lagen sie erstklassig versteckt. Zwei Dutzend wilder brauner Gestalten gingen an Land und versteckten sich, um zunächst einmal abzuwarten, bis sie sicher waren, daß niemand ihr Auftauchen bemerkt hatte. Eigentlich hätte auf dem höchsten Punkt der Insel ein Wachtposten stehen sollen. Aber für eine junge, hübsche Südsee-Lady gab es schließlich wichtigere Dinge, als auf einem Felsen zu hocken und eine leere Wasserfläche zu betrachten. Dinge wie zum Beispiel eine Hochzeit und ein ausgerissener Ehemann. Heute morgen jedenfalls fesselte Nuamis Mißgeschick die allgemeine Aufmerksamkeit. Außerdem gab es da noch ein paar männliche Wesen mit besonders schönen blonden Haaren, die man
17 vielleicht doch noch dazu bringen konnte, die schmerzliche Lücke zu schließen, die der Tod des „Großen Donnerers" gerissen hatte. Nuamis Gefährtinnen dachten im Moment an alles mögliche, nur nicht an die Gefahr, daß ihre Feinde nach der vernichtenden Niederlage von gestern noch einmal zurückkehren könnten, und so geschah es, daß die Eindringlinge unbemerkt und unbehelligt blieben. Diesmal waren sie entschlossen, es gar nicht erst auf einen offenen Kampf ankommen zu lassen. Aber das brauchten sie auch nicht, da ihnen die Beute freiwillig in die Arme lief. * Dan O'Flynn, Gary Andrews und Stenmark hatten keinen Grund, den Kawa abzulehnen, den ihnen Muna, Cori und Luana gegen den unvermeidlichen Nachdurst anboten. Dan, Gary und Stenmark waren alle drei hellblond, und in den Augen der Insulanerinnen wurden sie an männlicher Schönheit nur noch von dem Riesen mit den eisblauen Augen und dem rothaarigen, hünenhaften Schiffszimmermann übertroffen. Aber der blauäugige Riese verhandelte mit dem Stammesältesten, Ferris Tucker war an Bord geblieben also hielten sich die drei braunhäutigen, samtäugigen Grazien an das, was sie hatten. Dan, Gary und Stenmark fanden, daß der Kawa etwas anders schmeckte als am Abend zuvor. Sie schoben es auf die Nachwirkungen des Besäufnisses. Aber Kawa war ein frisches, nur leicht alkoholisches Getränk, und daß sich in den Köpfen der drei Männer fast schlagartig alles mögliche zu drehen
begann, konnte nun wirklich nicht mehr an dem Rum von gestern liegen. Es lag am Saft einer ganz bestimmten Pflanzenart, den die drei Schönen ihren Opfern in den Kawa gemogelt hatten. Nicht, um sie zu vergiften, beileibe nicht. Man wollte nichts anderes, als sie den Freuden der Liebe im allgemeinen und dem paradiesischen Leben eines Familienvaters in der Südsee im besonderen etwas geneigter zu stimmen. Dieses Ziel erreichten Muna, Cori und Luana sehr schnell - vor allem, was den ersten Teil betraf. Dan O'Flynn, Gary Andrews und Stenmark fühlten sich den Freuden der Liebe plötzlich sehr geneigt. Das waren sie zwar auch sonst, aber diesmal lähmte die Droge ihren Willen, verzerrte die Situation zu einem Bild paradiesischer Heiterkeit, die keinerlei Pflichten kannten, und machte es ihnen schlichtweg unmöglich, der dreifachen weiblichen Lockung zu widerstehen. „Wir in Schatten gehen", wisperte Luana. „Schönes kühles Schatten von Wald", schwärmte Cori. „Und schönes weiches Polster von Moos in schönes grünes Schatten", versprach Muna. Die Männer stimmten zu. Sie sprachen ziemlich schleppend, das Gemurmel des hageren Gary Andrews, bei dem die Droge am schnellsten wirkte, klang schon leicht irre, doch den drei Grazien war das egal. Wenn sie ihre Opfer erst einmal richtig umgarnt, bestrickt und schwachgemacht hatten, würden die bestimmt nicht mehr daran denken, die Insel zu verlassen. So war es schließlich auch dem „Großen Donnerer" ergangen. Der
18 hatte zuerst auch Tag und Nacht geschuftet, um sich ein Boot zu bauen. Aber es war nicht besonders viel Zeit ins Land gegangen, bis er zuerst in den Nächten nicht mehr schuftete und dann überhaupt nicht mehr, weil er Besseres zu tun hatte. Er war nämlich ein Genußmensch gewesen, ein etwas phlegmatischer noch dazu. England hin, Heimat her - er gelangte zu der Überzeugung, etwas besseres als die Mond-Insel mit dem Damenflor, der ihn verhältschelte, könne ihm das Leben überhaupt nicht mehr bieten. Daß er als Schrumpfkopf enden würde, hatte der arme Kerl ja nicht ahnen können. Auch Dan O'Flynn, Gary Andrews und Stenmark ahnten nichts Böses. Dabei war die Gefahr für ihre Köpfe so nahe, daß sie sie längst gewittert hätten, wäre da nicht der hinterlistig präparierte Kawa gewesen. Die Perlen der Südsee hatten ihre Opfer bis an eine einsame Bucht im Norden der Insel gelockt. Dort schwärmten Luana, Cori und Muna zunächst einmal aus, um geeignete Schauplätze für die Freuden der Liebe zu finden. Ihr Kichern und Tuscheln erinnerte an munteres Gezwitscher. Dan O'Flynn hatte verklärte Augen, obwohl er sich nicht ganz sicher auf den Beinen fühlte. Gary Andrews lehnte sich an einen dicken Baumstamm. Stenmark, der große Schwede, grinste dämlich. Aber da die anderen genausowenig klar im Kopf waren wie er selber, fiel es niemandem auf, der sich darüber amüsieren konnte. „F-feine Ladys!" schwärmte Gary mit schwerer Zunge. „Zucker!" stimmte Dan O'Flynn zu und verdrehte die Augen. Stenmark besann sich auf eine
passende Formulierung, um dem Lobgesang eine weitere Steigerung zu geben. Er kam nicht mehr dazu. Denn was sich im nächsten Moment ringsum im Gebüsch erhob, klang nach allem anderen, nur nicht nach Liebesgeflüster. Der Kriegsschrei der Kannibalen war unverkennbar. Eine wilde Horde brach aus dem Dickicht hervor. Dan O'Flynn, Gary Andrews und Stenmark blickten sich erstaunt um. Dann durchdrang die rauhe Realität die berauschende Wirkung der Droge, aber da war es schon zu spät für jede wirksame Gegenwehr. Die drei Seewölfe kämpften wie leibhaftige Teufel, die die Hölle ausgespuckt hatte, weil sie dem Oberteufel unheimlich waren, doch es nutzte ihnen nichts. Ihre Gegner waren zu zahlreich. Sie wurden eingekreist, ein Teil der Meute fiel ihnen in den Rücken - und gegen die Keulen, die ihnen hinterrücks über die Schädel geschlagen wurden, waren selbst Kämpfer wie Dan, Gary und Stenmark machtlos. Im Blitztempo wurden sie in eins der Auslegerboote gezerrt. Die drei Mädchen, die vom Lärm angelockt herbeiliefen, konnten den entschwindenden Kannibalen nur noch nachstarren. * Nuami lächelte schmerzlich. „Gut", seufzte sie. „Verstanden. Breites Mann wie Felsen kann nicht bei Nuami bleiben, weil wird gebraucht auf großes Schiff. Schade." Hasard nickte. Die Behauptung, daß die „Isabella" ohne ihren Decksältesten spätestens beim nächsten Sturm in die Tiefe fahren würde, war die letzte Rettung
19 gewesen. Alle anderen Argumente hatten nichts gefruchtet. Denn daß es Männer gab, die sich lieber auf den sieben Weltmeeren den Wind um die Nase wehen ließen, statt sich für den Rest ihres Lebens unter Palmen von Südsee-Schönheiten verwöhnen zu lassen, das wollte nicht in Nuamis hübsches Köfpchen. Ob sie ihre Ambitionen allerdings endgültig aufgegeben hatte oder nicht, wagte Hasard nicht zu entscheiden. Gleichviel: in spätestens einer Stunde würden sie ohnehin ankerauf gehen. Das glaubte er jedenfalls. Draußen rief er sofort zum Aufbruch. Dann dauerte es nur noch ein paar Minuten, bis er bemerkte, daß Dan O'Flynn, Stenmark und Gary Andrews fehlten. Der Profos brüllte ihre Namen, daß es über die ganze Insel dröhnte - vergebens. Nur die Vögel scheuchte er auf. Ihr schrilles Gezeter mischte sich mit Carberrys Flüchen, der die drei Verschwundenen mit allen Strafen bedrohte, die das Leben zur See, zu Lande und in der Hölle bereithielt. Dann, als der Profos mal Luft holen mußte, war in einiger Entfernung Geschrei zu hören, und Minuten später erschienen Muna, Luana und Cori auf der Bildfläche. Sie schnatterten aufgeregt durcheinander, aber am Sinn ihres Berichtes gab es keinen Zweifel. Dan O'Flynn, Gary Andrews und Stenmark waren in die Hände der Kannibalen gefallen und hatten alle Aussichten, das traurige Schicksal des „Großen Donnerers" zu teilen. 4. Dan O'Flynn kehrte als erster ins
Bewußtsein zurück. Ihm war erbärmlich schlecht, sein Schädel schmerzte, im Mund hatte er einen widerlichen, pelzigen Geschmack, der ihn an die letzte Schale Kawa erinnerte. Irgend etwas mußten diese sanftäugigen Hexen da hineingemixt haben, das nicht hineingehörte - zu dieser Feststellung reichte es bei Dan schon wieder. Im ersten Augenblick dachte er, die Crew habe ihn eingesammelt und pulle ihn zur „Isabella" zurück. Aber in diesem Fall hätte er das Klatschen der Riemen und das dröhnende „Hool weg! Hool weg!" von Ed Carberry gehört. Statt dessen hörte er das Knarren einer Takelage, und als er die Augen öffnete, sah er eine Menge nackter schwarzer Füße, die auf jeden Fall nicht seinen Kameraden gehören konnten. Die Eingeborenen! Schlagartig erinnerte er sich an den brutalen, blitzschnellen Überfall. Oder vielleicht war er gar nicht so blitzschnell erfolgt. Vielleicht waren Gary, Stenmark und er nur jämmerlich langsam gewesen wegen der Droge, die ihnen die Perlen der Südsee in den Kawa gemixt hatten. Ob die drei Mädchen ebenfalls in Gefangenschaft geraten waren? Dan hob den Kopf und riskierte einen schnellen Blick. Vor sich, ebenfalls von schwarzen Füßen eingekeilt, lagen Stenmark und Gary halb übereinander. Ob sie verletzt waren, konnte Dan nicht erkennen. Einer seiner Bewacher hatte die Bewegung bemerkt und machte ihm nachdrücklich klar, daß er sich still verhalten solle: er klopfte ihm nämlich mit der Faust auf den Schädel. Dan stieß sich die Nase am Bootsboden, und für eine Weile wurde es wieder dunkel um ihn. Als er von neuem aufwachte, hörte
20 er Garys Stimme, der irgend jemandem eine unfeine Aufforderung zuzischte und sich des langen und breiten über Herkunft und Moral der Mutter des Betreffenden ausließ. Den störte das nicht weiter, da er es nicht verstand. Trotzdem empfing auch Gary eine neuerliche Narkose. Dan schäumte vor Wut, aber vorerst riß er sich zusammen, genau wie Stenmark, der nur flüsternd verkündete, daß er jeden einzelnen dieser Bande in kleine Stückchen schneiden würde, und das sehr langsam. Dan dachte in diesem Zusammenhang an die makaberen Ernährungsgewohnheiten seiner Gegner, und ein eiskalter Schauer kroch ihm über den Rücken. Die Aussicht, als Schrumpfkopf zu enden, war schlimm genug. Aber als Abendbrot eines Kannibalen-Stammes ... Dan spürte am Rollen der Dünung, daß sie sich einer Insel näherten. Diesmal bezwang er seine Neugier. Wenn sie aus der teuflischen Falle je wieder heraus wollten, mußten sie ihre Kräfte schonen. Und sich alle paar Minuten aufs Haupt schlagen zu lassen, war da wirklich nicht die beste Methode. Im Augenblick hatte es ohnehin keinen Zweck: nur ein Narr wäre auf die Idee verfallen, ohne Waffen gegen eine Übermacht von zwei Dutzend Kriegern zu kämfpen, zumal eine Flucht sinnlos war, solange sie keine Chance hatten, ein Boot zu ergattern. Später, vertröstete sich Dan O'Flynn. Wenn man sie sofort töten wollte, hätte man das gleich bei dem Überfall tun können. Ein wenig Zeit blieb ihnen bestimmt noch, und sobald sie sich etwas erholt hatten, würde sich schon alles finden. Die Kannibalen zogen die Ausle-
gerboote auf den Strand ihrer Insel und trieben die drei Gefangenen hoch. Daß sie sie zu diesem Zweck mit Lanzenspitzen piekten, war nach Dans Meinung eine ausgesprochene Gemeinheit. Er brauchte seine ganze Beherrschung, um nicht einem der wilden, bemalten Kerle an die Gurgel zu springen. Aber angesichts von zwei Dutzend drohend erhobener Waffen wäre das Wahnsinn gewesen, also ließ sich Dan zähneknirschend neben Stenmark und Gary Andrews den Strand hinauftreiben. Zehn Minuten Marsch durch den dichten Regenwald brachte sie ins Dorf der Kannibalen. Es war ein weites Rund von Hütten, aus denen Frauen und Kinder lugten, mit einem Platz, dessen Mitte eine große, jetzt kalte Feuerstelle bildete. Glücklicherweise lagen nirgends Überreste der letzten Mahlzeit herum. Aber dafür baumelte von den Dächern einiger Hütten deutlich und unübersehbar das, was den Reichtum der Bewohner darstellte: Köpfe! Dan warf Gary und Stenmark einen Blick zu und stellte fest, daß sie beide genauso blaß um die Nase waren, wie er es auch bei sich selbst vermutete. „Mahlzeit", murmelte Stenmark. Er wurde prompt noch etwas blasser, als ihm ein giftiger Blick von Gary Andrews den makaberen Doppelsinn der Bemerkung zu Bewußtsein brachte. Die drei Männer wurden weitergetrieben. Quer über den Dorf platz, auf eine Reihe von vier, fünf niedrigen Ställen zu. Für Ställe jedenfalls hielten sie es. Oder eher noch für Käfige. Massive Käfige mit dicken Holzstäben und schweren Riegeln, die so sinnreich angebracht waren, daß man sie von innen nicht erreichen
21 konnte. Dieser Umstand war es, der Dan stutzig werden ließ. Haustiere pflegten schließlich keine Riegel zu öffnen, falls es sich nicht gerade um dressierte Affen handelte. Ganz davon abgesehen waren die Käfige leer und enthielten nichts, was darauf hingewiesen hätte, daß sie normalerweise Haustiere beherbergten. „Mahlzeit", wiederholte Stenmark. „Auf sie mit Gebrüll", stieß Dan durch die Zähne. Auch Gary Andrews gab mit einem kurzen Nicken zu verstehen, daß er begriffen hätte. Wenn sie sich in diese verdammten Käfige sperren ließen, waren sie geliefert. Dann blieb ihnen nur noch, sich im buchstäblichen Sinne des Wortes den Kopf darüber zu zerbrechen, ob man sie roh oder gebraten verspeisen würde. Da war es schon besser, mit fliegenden Fahnen unterzugehen. „Achtung!" zischte Dan. „Klar zum Gefecht! Jetzt!" Alle drei handelten gleichzeitig. Dan ließ sich tief in die Hocke sakken, schnellte wieder hoch, wirbelte dabei um die eigene Achse und rammte die Lanze, deren Spitze eben noch seinen Rücken gekitzelt hatte, von unten mit der Schulter. Der Kannibale stieß einen überraschten Laut aus, der im nächsten Moment zu einem Gurgeln entartete. Da hatte ihm Dan nämlich die Faust in den Magen geschlagen, entriß ihm die Lanze und hämmerte den Schaft mit Schwung auf den nächstbesten Schädel. Stenmark hatte ebenfalls eine Lanze erobert, packte sie in der Mitte und handhabte sie so, daß er mit Schaft und Spitze gleichzeitig zuschlagen konnte. Gary Andrews, ungewöhnlich hager, aber auch ungewöhnlich kräftig
und zäh, trat einem seiner Gegner die Beine weg, räumte die beiden nächsten mit einem Sensenhieb aus dem Weg und rannte Nummer drei einfach über den Haufen. „Arwenack!" brüllte Dan, während er wild nach allen Seiten hieb, um sich den Weg zum Waldrand freizukämpfen. Stenmark blieb dicht hinter ihm. Einen Augenblick sah es fast so aus, als würden sie es schaffen. Aber das lag nur daran, daß die Kannibalen den Eindruck hatten, in ihrer Mitte sei aus heiterem Himmel ein Wirbelsturm ausgebrochen, und einfach zu überrascht waren, um sofort zu reagieren. Nach ein paar Sekunden allerdings brandete ihr Wutgeheul auf, daß den Flüchtenden die Ohren gellten. Sie waren schnell, aber sie waren mit dem Gelände nicht vertraut, während die Eingeborenen jeden Fußbreit Boden kannten. Sie holten rasch auf und waren gar nicht darauf angewiesen, ihre mörderischen Lanzen zu schleudern. Der Vorsprung der Seewölfe schmolz, und schon nach ein paar Schritten spülte die Übermacht wie eine Woge über sie weg. Zum zweiten Male an diesem lausigen Tag sanken sie in tiefe Bewußtlosigkeit. Daß sie in die stabilen Käfige geworfen und eingesperrt wurden, spürten sie schon nicht mehr. * „Diese Idioten!" fauchte Edwin Carberry erbittert. „Wenn ich die in die Finger kriege, ziehe ich ihnen die Haut in Streifen ..." „Halt die Klappe, Ed", sagte der Seewolf gereizt. „Du hast doch gehört, daß die Mädchen ihnen irgend-
22 ein berauschendes Zeug in den Kawa geschüttet haben, also kannst du ihnen nichts vorwerfen. Ganz abgesehen davon, daß wir alle heilfroh sein können, wenn wir überhaupt noch Gelegenheit erhalten, ihnen etwas vorzuwerfen." Hasards Stimme klang rauh dabei, genau wie die des Profos'. Ringsum waren nur bleiche, angespannte Gesichter zu sehen. „Diese Hexen!" knirschte Carberry. „Diese ..." „Luana und Muna und Cori nicht Hexen", protestierte Nuami. Sie war hinzugezogen worden, weil sie sich mit den Gewohnheiten der Kannibalen auskannte und am besten Englisch sprach. „Luana und Muna und Cori nur wollten Liebe", fuhr sie fort. Aber es klang schuldbewußt und ziemlich kleinlaut. „Du bist also sicher, daß man unsere Freunde nicht sofort töten wird, Nuami?" vergewisserte sich der Seewolf. „Ganz sicher", sagte Nuami. „Sie zu mager." Hasard schluckte. „Wie bitte?" „Sie zu mager. Sie erst werden gut gefüttert für viele Wochen. Dann großes Fest." Der Seewolf fühlte ein gelindes Würgen in der Kehle. Seine Söhne, zeigte ihm ein Seitenblick, hatten grünliche Gesichter. Er konnte es nicht ändern. Mit zusammengebissenen Zähnen wandte er sich an Ben Brighton und Big Old Shane. „Es hat keinen Zweck, mit der ,Isabella' zu der Insel der Kannibalen zu segeln", stellte er fest. „Sie könnten Gary, Dan und Stenmark als Geiseln benutzen oder sie aus purer Wut umbringen." „Also warten wir die Dunkelheit ab?" fragte Ben Brighton rauh. Hasard nickte. „Wir nehmen die
Pinasse. Acht Mann müßten ausreichen, ein größerer Trupp würde nur auffallen." Big Old Shane, der frühere Schmied und Waffenmeister der Feste Arwenack, strich zweifelnd über seinen grauen Vollbart. „Die Wilden sind gewaltig in der Überzahl", gab er zu bedenken. „Stimmt, Shane. Aber wir brauchen die ,Isabella' manövrierfähig und gefechtsklar. Sobald nämlich der Tanz losgeht, wird die alte Tante heransegeln und von See her angreifen." „Hm. Bist du sicher, daß ihr euch dadurch die Kerle vom Leib halten könnt?" Hasard grinste. „Allein dadurch nicht. Aber ich habe vor, ein paar von unseren chinesischen Feuerwerkskörpern mitzunehmen. Könnt ihr euch ungefähr vorstellen, wie die Dinger auf abergläubische Kannibalen wirken?" Durch die Reihen der Männer ging ein erleichtertes Aufatmen. Wie die chinesischen Feuerwerkskörper auf eine Horde von Kannibalen wirken würden, das konnten sie sich sogar sehr gut vorstellen. Mit diesen knallenden, heulenden, in allen Regenbogenfarben leuchtenden, dabei aber ganz harmlosen Dingern hatten sie schon oft gute Erfahrungen gemacht. Wenn man es geschickt anfing, konnte man damit einen Gegner dermaßen in Schrecken versetzen, daß selbst eine große Übermacht kopflos auseinanderlief, weil sie glaubte, die Hölle sei ausgebrochen oder der Weltuntergang stehe bevor. Nuami, die Perle der Südsee, verstand zwar nicht, wovon die Rede war, aber da die Männer jetzt plötzlich spürbaren Optimismus ausstrahlten, erschien auch auf ihrem
Gesicht ein schüchternes Lächeln. Sie warf Smoky einen sehnsüchtigen Blick zu, bevor sie von Bord ging. Aber der Decksälteste hielt es mit der Weisheit des gebrannten Kindes, das das Feuer scheut - in diesem Falle Nuamis Feuer. Smoky klarierte hingebungsvoll die Nagelbank des Großmastes, obwohl es da gar nichts zu klarieren gab, und Nuami enterte seufzend über die Jakobsleiter ab, um sich von Blacky und Bill zurück zum Strand pullen zu lassen. Die beiden bemühten sich zwar auch eifrig, ihren mehr oder weniger ausgeprägten Charme spielen zu lassen, aber gegen „breites braunes Mann wie Felsen", ihren Lebensretter, hatten sie in Nuamis Augen offenbar keine Chancen. Die Perle der Südsee seufzte, und als sie zur „Isabella" zurückblickte, glänzten ihre Augen immer noch sehnsüchtig. Trotz der Sorge um ihre Gefährten kamen Bill und Blacky nicht umhin, den hübschen Anblick der SüdseeSchönen zu genießen. Aber was in diesen Sekunden hinter Nuamis glatter brauner Stirn vorging, das konnten die beiden Seewölfe nicht einmal ahnen. * Gary Andrews benutzte einen unfeinen Ausdruck. Stenmark wiederholte ihn und schmückte ihn mit einem noch unfeineren Beiwort. Dan O'Flynn hätte auch noch einiges beizutragen gehabt, aber er preßte nur grimmig die Zähne zusammen. Es hatte keinen Zweck, zu fluchen. An den Tatsachen änderten sie damit überhaupt nichts, und die Tatsachen waren niederschmetternd.
23 Die drei Männer kauerten, durch dicke Stäbe voneinander getrennt, in drei stabilen Holzkäfigen, in denen sie nicht einmal aufrecht stehen konnten. Die Riegel waren so angebracht, daß sie sich von innen nicht öffnen ließen. An jedem einzelnen Gitterstab hatten sie ausgiebig gerüttelt, jeden Winkel ihres Gefängnisses hatten sie genau untersucht, doch sie gelangten nur immer wieder zu dem Ergebnis, daß sie keine Chance hatten, sich aus eigener Kraft zu befreien. Die Kannibalen hatten sich auf dem Dorfplatz versammelt und brieten Wildschwein über dem wieder ent-
fachten Feuer. Es war Wildschwein. Die Seewölfe hatten gesehen, wie es abgehäutet wurde. Halbnackte, bemalte Gestalten hockten um die Feuerstelle, und ab und zu maßen die Krieger ihre Gefangenen mit bewundernden Blicken. „Jedenfalls haben wir ihnen gewaltigen Respekt eingeflößt", stellte Gary Andrews fest. „Na und?" knurrte Dan. „Um so sicherer werden sie uns verspeisen. Die meisten Kannibalen, tun das bekanntlich nicht, um satt zu werden, sondern weil sie glauben, daß auf diese Weise die Tugenden der besieg-
24 ten Feinde auf sie übergehen." „Dann lassen sie dich bestimmt am Leben", sagte Stenmark trocken. „Oder hast du vielleicht irgendwelche Tugenden aufzuweisen?" Dan grinste schief. Naßforsche Redensarten waren immer noch die beste Methode, mit dem kalten Gefühl fertigzuwerden, das ihnen im Genick saß. „Gary werden sie bestimmt nicht fressen", behauptete Dan. „Der ist viel zu mager und ..." Er unterbrach sich. Vom Feuer her watschelte eine schwergewichtige braunhäutige Frau auf die Käfige zu. Sie balancierte Fleischstücke auf grünen Bananenblättern, grinste breit und entblößte schadhafte Zahnstummel. Geschickt schob sie je eine Riesenportion Wildschweinbraten durch die Gitter jedes Käfigs. Was sie dabei sagte, war zwar nicht zu verstehen, aber leicht als Aufforderung zum Essen zu deuten. Gary Andrews sagte schon wieder ein unfeines Wort. Dan ignorierte das Würgen in seiner Kehle. „Wir müssen bei Kräften bleiben", knurrte er. „Und wenn du die Augen schließt, schmeckt das Wildschwein hier auch nicht anders als gestern abend auf der Mond-Insel." So war es. Sie aßen schweigend, stellten fest, daß der Geschmack vorzüglich war, und fühlten sich anschließend wesentlich besser. Die fette alte Frau watschelte schon wieder herbei. Diesmal servierte sie getrocknete Datteln, Kokosnuß-Stücke und geschälte Bananen. Die drei Seewölfe verzehrten auch noch den Nachtisch, spülten ihn mit Kokosmilch herunter und hatten danach wenigstens einen Teil ihres Optimismus wieder-
gefunden. Irgendwie würden sie es schon schaffen, wieder zu entwischen. Im Flüsterton schmiedeten sie Pläne, entwickelten immer neue Strategien und verwarfen sie wieder. So leicht ließen sich die Schwierigkeiten nicht bewältigen. Vor allem nicht die eine große Schwierigkeit in Gestalt der dicken Holzstäbe, die ihre Bewegungsfreiheit auf knapp zwei Squareyards begrenzten. Der Optimismus erhielt einen gelinden Knacks, und zwar in dem Augenblick, in dem auf dem Dorfplatz zwischen einigen Männern eine endlose Feilscherei anhob, bei der es offenbar um den Tausch eines Schrumpfkopfes gegen diverse Tonwaren ging. Dan O'Flynn war froh, daß er die Worte nicht verstand. Die Gesten sprachen ohnehin deutlich genug. Die Qualität des Kopfes, speziell des langen braunen Haars, wurde in allen Tonlagen gepriesen. Schließlich war der Tausch zur allseitigen Zufriedenheit perfekt. Dan schluckte und warf seinen Gefährten einen Blick zu. Gary Andrews kaute an der Unterlippe. Stenmark rieb sich den Nacken, als müsse er sich davon überzeugen, daß sein eigener Kopf noch fest auf den Schultern saß. Eine halbe Stunde verging, dann watschelte schon wieder die dicke Frau auf die Käfige zu. Diesmal schleppte sie Tongefäße mit einer undefinierbaren Suppe. Der Geruch war leicht ranzig, offenbar hatte der Koch nicht an Fett gespart. Dan, Gary und Stenmark schüttelten einhellig die Köpfe. Nicht nur wegen des ranzigen Geruchs, sondern weil sie schlicht und einfach satt waren. Die dicke Frau schob die Näpfe
25 durch die Gitterstäbe, lächelte und schnatterte etwas in ihrer Heimatsprache. Es klang nach freundlicher Überredung. Sie erntete nur neuerliches Kopfschütteln, aber Dan O'Flynn kam ein Gedanke, bei dem ihm etwas mulmig zumute wurde. „He", murmelte er. „Ja?" „Merkt ihr was? Ich glaube, die wollen uns regelrecht mästen!" „Du spinnst", knurrte Gary Andrews. „Na also, du Hering", meinte Stenmark zwei Minuten später, als die unberührten Näpfe wieder aus den Käfigen genommen wurden. Die beiden machten sich ausgiebig über Dans verrückte Gedankengänge lustig. Aber nach weiteren fünf Minuten verging ihnen der Humor. Denn da erschien die dicke Frau wieder auf der Bildfläche, diesmal mit einem geflochtenen Korb, der mit einer Art Gebäck gefüllt war: fetttriefenden Fladen, die nach Meinung der Seewölfe ungefähr so appetitlich aussahen wie Pflaumenpudding mit Kakerlaken-Einlage. Jedem wurden fünf Stücke davon in den Käfig geschoben, diesmal wieder auf einem frischen grünen Bananenblatt serviert. „Ich glaube, Dan hat recht", murmelte Stenmark erschüttert. „Du meinst, die wollen uns tatsächlich mästen?" fragte Gary Andrews mit belegter Stimme. Die zuerst einladenden, dann beschwörenden Gebärden der dicken Frau ließen wenig Zweifel daran. Sie redete schnell und viel. Wahrscheinlich pries sie den unübertrefflichen Wohlgeschmack der fettigen Fladen, doch damit hätte sie auch bei ausgezeichneten englischen Sprachkenntnissen nicht überzeugend wirken können.
„Nein, Danke, Madam", sagte Dan O'Flynn sarkastisch. Stenmark vollführte ein paar beredte Gesten. Gary Andrews grinste schief. „Bei mir werden die Typen ihr blaues Wunder erleben", behauptete er. „Ich kann essen, was ich will, ich habe noch nie eine Unze zugenommen." „Du hast auch bestimmt noch nie wochenlang in einem Käfig gesessen", mutmaßte Dan. „So ganz ohne Schufterei und Bewegung ..." „Hab ich doch! Im Gefängnis von Bristol. Da hatte ich einen saublöden Gendarmen in die Bai geschmissen", fügte er hinzu, um zu dokumentieren, daß es ein durchaus ehrenhafter Grund gewesen war, der ihn dermaleinst hinter Gitter gebracht hatte. Die Unterhaltung verstummte. Denn inzwischen hatte sich die dikke Frau einen der Krieger zur Unterstützung geholt. Dessen fast nackter Körper war mit Fett eingerieben, er hatte ein wildes, bemaltes Gesicht, rollte mit den Augen und gab lange Tiraden von sich, die schon nicht mehr freundlich überredend, sondern eher drohend klangen. Da er immer wieder auf die gebakkenen Fladen wies, bestand am Sinn seiner Rede kein Zweifel. Ebenso unzweifelhaft war der Sinn der Geste, mit der die Seewölfe antworteten: Kopfschütteln. Sie waren satt. Sie dachten nicht daran, sich mästen zu lassen. Und wenn die lausigen Kannibalen sie dazu zwingen wollten, konnten sie es ja mal versuchen. Sie versuchten es tatsächlich. Ausgerechnet bei Gary Andrews, der mit seiner ungewöhnlich hageren Statur natürlich am wenigsten ihrem Ideal entsprach. Ein halbes Dutzend Krieger baute sich rings um
26 den Käfig auf. Die dicke Frau öffnete die Tür. Gary blieb nicht viel anderes übrig, als sein Gefängnis zu verlassen, da die Burschen bequem mit ihren Lanzen durch das Gitter pieken konnten. Sofort hängten sich drei, vier von den Kannibalen an die Arme des hageren blonden Mannes: schließlich hatten sie vorhin erlebt, daß er wie der Teufel kämpfen konnte. Gary knirschte mit den Zähnen und blähte erbittert die Nasenflügel. Seinem mörderischen Blick war anzusehen, daß er nicht im Traum daran dachte, sich hier etwa wie ein widerspenstiger Säugling füttern zu lassen. Oder wie eine Gans, die für St. Martin gestopft wird - dieser Vergleich paßte wohl besser. Dan O'Flynn und Stenmark hielten den Atem an. Sie sagten sich, daß nicht viel passieren könne, da die Kannibalen vorerst Wert auf lebendige Opfer legten, aber ganz sicher waren sie ihrer Sache natürlich nicht. Die dicke Frau versuchte es noch einmal im Guten. Lächelnd entblößten sich ihre Zahnstummel, hielt Gary Andrews einen der fetttriefenden Fladen vor die Nase und sagte etwas, das geradezu mütterlich klang. „Rutsch mir den Buckel herunter", knurrte Gary. Was er bestimmt nicht wörtlich meinte, weil das bei dem Gewicht der Lady gefährlich für seine Wirbelsäule geworden wäre. Der stämmige Krieger, der jetzt den Fladen übernahm, würde es bestimmt nicht im Guten versuchen. Gary wußte es. Und da er keinen Wert darauf legte, daß ihm der Duft des obskuren Backwerks in die Nase stieg, handelte er, noch bevor der Kerl ihm zu nahe geriet. Seine Arme saßen wie in Schraub-
stöcken fest. Seine Beine waren frei. Blitzartig riß er den rechten Fuß hoch und knallte seinem Gegner den Stiefel unter das Handgelenk. Der fettige Fladen flog im Bogen durch die Luft. Daß er einem der Kannibalen aufs Auge klatschte, war purer Zufall. Der Bursche heulte auf vor Wut und wollte die Lanze hochreißen, um den Täter zu durchbohren, doch sofort fielen ihm ein paar seiner Kumpane in den Arm und bewiesen damit, daß sie das Opfer tatsächlich am Leben lassen wollten. Um so besser, dachte Gary Andrews bei sich. Auch Dan und Stenmark atmeten auf, obwohl immer noch die Frage offen war, wieviel sich die Kanibalen gefallen lassen würden. Gary jedenfalls war entschlossen, sich überhaupt nichts gefallen zu lassen. Aus schmalen Augen beobachtete er, wie ein zweiter Krieger den Fladen aus dem Staub fischte. Jetzt glänzte das Ding nicht mehr vor Fett, sondern wirkte wie gepudert. Ein Tritt in die Kniekehlen ließ Gary auf die Knie brechen, so daß er nicht mehr treten konnte. Was nicht bedeutete, daß er sich jetzt füttern ließ. Seine Gegner unterschätzten ihn. Er war hager, aber zäh. Und ziemlich kräftig. Jedenfalls kräftig genug, um sich aufzubäumen, nach vorn zu werfen und die Kerle, die ihn festhielten, ein Stück mitzureißen. Sein blonder Langschädel bohrte sich in die Magengrube des Kannibalen, und als er den Kopf zurückriß, erwischte er auch noch die Hand des Burschen. Zum zweitenmal flog der Fladen durch die Luft. Diesmal landete er in Dan O'Flynns Käfig. Und Donegal Daniel junior packte ihn, schleuderte
27 ihn gezielt zurück und jubilierte innerlich, als das unappetitliche Ding am Kopf des nächststehenden Kriegers zerplatzte. Die Eingeborenen unternahmen noch zwei weitere Versuche. Beim erstenmal gelang es einem von ihnen tatsächlich, dem Opfer einen halben Fladen in den Mund zu stopfen, doch nur mit dem Erfolg, daß Gary ihm das Zeug sofort aufs Auge spuckte. Beim zweitenmal ertönte ein schriller Schrei: Gary war zwar kein Kannibale, aber das hatte ihn nicht gehindert, jemanden in den Finger zu beißen. Dieser Jemand schlenkerte kreischend seine Hand, Gary bäumte sich so wild auf, daß noch drei weitere Krieger hinzuspringen mußten, um ihn festzuhalten. Danach gab es ein kurzes, heftiges Palaver, und die Mehrheit entschied offenbar, daß man genauso gut versuchen könne, einen Panther zwangsweise zu füttern. Gary Andrews wurde wieder in seinen Käfig geworfen. „Na also", brummte er zufrieden. Aber er wußte genau wie die anderen, daß auch die erfolgreiche Gegenwehr ihre Lage nicht groß gebessert hatte. 5. Glutrot versank die Sonne im Westen. Die Dunkelheit folgte schnell, mit fast gewaltsamer Plötzlichkeit, wie immer in diesen Breiten. Die Männer, die ungeduldig darauf gewartet hatten, atmeten erleichtert auf. Längst war die „Isabella" gefechtsklar und auf alle Eventualitäten vorbereitet. Die Seewölfe kannten sich aus, sie
hatten ihre Erfahrungen mit wilden Stämmen, die sich durchaus nicht scheuten, eine ausgewachsene Galeone mit ihren Auslegerbooten anzugreifen. In diesem Fall hofften die Männer sogar darauf, daß das passieren würde, da der Angriff auf die Insel von See her ohnehin nur als Ablenkungsmanöver gedacht war. Sollten die Kannibalen ruhig einen Enterversuch unternehmen. Die Seewölfe hatten reiche Übung darin, Angreifer Vierkant außenbords zu befördern, und für den Stoßtrupp würde es dann um so einfacher sein, die Gefangenen in dem Eingeborenendorf zu befreien. Blacky, Pete Ballie und Big Old Shane fierten die Pinasse ab. Acht Mann gingen an Bord des großen Beiboots. Der Seewolf, der eine kleine, aber wirkungsvolle Sammlung von chinesischen Feuerwerkskörpern zusammengestellt hatte, Batuti, der riesige GambiaNeger, dem die Natur für dieses nächtliche Unternehmen eine Tarnfarbe mitgegeben hatte, Ed Carberry und Smoky, Ferris Tucker, dessen feuerroter Haarschopf eine Mütze verbarg, Bob Grey mit seinem besonderen Talent, lautlos und präzise Messer zu schleudern, schließlich Matt Davis und Jeff Bowie, die beide - der eine links, der andere rechts gefährlich scharfgeschliffene stählerne Hakenprothesen trugen und damit schon so manchem angriffslustigen Wilden einen heiligen Schrekken eingejagt hatten. Eilig wurde der Mast der Pinasse aufgerichtet. Ein schwarz eingefärbtes Segel hatte schon bei vielen ähnlichen Aktionen gute Dienste geleistet. Wie jedesmal, wenn sich das dunkle Tuch über ihnen blähte, fühlten sich die Männer an den Schwarzen Segler
28 erinnert und fragten sich unwillkürlich, wohin es den „Eiligen Drachen über den Wassern" wohl inzwischen verschlagen haben mochte. Manchmal begannen sie dann ausgiebige Gespräche über die Schlangen-Insel, die ihnen fast zur zweiten Heimat geworden war, oder über die legendären Riesenläuse, die der Wikinger Thorfin Njal angeblich unter seinem Helm züchtete. Aber in den meisten Fällen lag Spannung in der Luft, wenn die Pinasse nächtlicherweise unter dem schwarzen Segel lief, und speziell heute hatte die kleine Gruppe absolut keinen Sinn dafür, in Erinnerungen zu schwelgen. Hasards gedämpfte Kommandos klangen durch die Dunkelheit. Das Beiboot löste sich aus dem Windschatten der Galeone, das Segel füllte sich, sie nahmen Fahrt auf. Der Mond stand als schmale Sichel am Himmel, Myriaden von Sternen glitzerten wie Brillanten auf schwarzem Samt und spiegelten sich gleißend im Wasser. Die Nacht war nicht dunkel genug, um alles mit ihrem bergenden Schatten zu decken, doch die Männer wußten, daß auch das unruhige Spiel von Schwärze und huschenden silbrigen Flecken es ihren Gegnern fast unmöglich machen würde, sie vorzeitig zu bemerken. Mit halbem Wind manövrierte die Pinasse aus der Bucht, rundete das westliche Kap und ging auf Nordkurs. Allerdings nur für eine knappe Seemeile, dann ließ Hasard von neuem anluven. Hoch am Wind liefen sie Südwestkurs. Zwei lange Kreuzschläge noch, dann konnten sie die geheimnisvolle Insel der Kannibalen anliegen, und zwar aus einer Richtung, aus der die Eingeborenen wohl
am wenigsten einen Angriff erwarteten. Auf der „Isabella" hatte indessen Ben Brighton das Kommando übernommen. Ruhig und gelassen wie immer gab er seine Kommandos. „An die Brassen und Fallen! Hoch mit dem Anker! Hurtig, hurtig!" Die Männer flitzten. Natürlich war die Galeone mit elf Mann, also nur der Hälfte der Crew, hoffnungslos unterbemannt, doch auf West-Nordwest-Kurs mit raumem Wind würde sie wie Samt und Seide laufen und keine Schwierigkeiten haben. Einem Seegefecht war sie so natürlich nicht gewachsen: die elf Mann hatten nur je zwei Hände, und das genügte nicht, um Segel und Kanonen gleichzeitig zu bedienen. Aber ein Seegefecht stand ihnen ja auch nicht bevor. Ein paar schöne krachende Kanonenböller würden genügen, um die Kannibalen auf ihrer Insel hinreichend zu erschrecken. „Aus dem Grund!" meldete Blacky, der den Stand der Trosse beobachtet hatte. „Hißt Fock und Besan!" ertönte Ben Brightons Stimme. „Anbrassen! Wir müssen höher an den Wind, sonst brummen wir auf die Landzunge!" „Anbrassen!" ließ sich die heisere Stimme des alten O'Flynn vernehmen. „An den Wind mit dem Kahn, ihr lahmen Saftsäcke! Hopp-hopp, oder glaubt ihr Stinte, der alte Carberry sei der einzige, der euch die Haut in Streifen abziehen und an die Kombüse nageln kann - he, ho?" „Das muß ,Was, wie?' heißen, du alter Hering!" rief der Kutscher. Und aus der luftigen Höhe des Steuerbord-Hauptwants meldete sich Sir John, der Papagei, und krähte völlig unlogisch etwas von „Backbordkanonen Feuer", und „Längsseits gehen und entern" dazwischen.
29 „Der Vogel scheint Sehnsucht nach te schwesterlich den Arm um die den Spaniern zu haben", sagte der Schultern der anderen. Coris schwarze Augen funkelten. Kutscher kopfschüttelnd. „Du etwa nicht?" fragte Blacky, für „Nuami ist selbst schuld, wenn sie den ein Spanier, oder ruhig auch ein dem breiten, schönen Mann nachkleiner Verband, den man rupfen weint, statt ihn zu gewinnen." konnte, durchaus zu den schönen „Aber er läßt sich nicht gewinnen", Dingen des Lebens zählte. gab Muna zu bedenken. „Phh", stieß der Kutscher hervor. „Nicht freiwillig", sagte Cori. „Aber „So ein paar Spanier frühstücke ich denkt an den großen Donnerer! Wäre doch im Vorübergehen. Wenn man er freiwillig bei uns geblieben, wenn nur nicht wegen jeder mickrigen wir nicht sein Boot angebohrt und kleinen Kriegsgaleone gleich das seinen Kompaß vergraben hätten?" Kombüsenfeuer löschen müßte." Schweigen. Blacky wollte antworten, doch Ben Luana seufzte. Muna seufzte. Nur Brightons Stimme fuhr dazwischen, Nuami hatte plötzlich ein eigentümund in den nächsten Minuten waren liches Glitzern in den dunklen sie vollauf beschäftigt, die „Isabella" Glutaugen. um die felsige Landzunge zu manö„Wir können nicht die ,Isabella' anvrieren. Wenig später nahmen sie mit bohren", stellte sie fest. raumem Wind Kurs auf die Kanni„Und hier auf der Insel würden die balen-Insel. Aber sie liefen immer anderen Nuamis Mann finden", noch unter Fock und Besan. Denn sie nahm Luana den Faden auf. wollten die Pinasse nicht überholen, „Aber es gibt viele Inseln unter und deshalb konnten sie sich mit ge- dem Himmel", spann Cori das Garn mächtlicher, extrem langsamer weiter. Fahrt begnügen - einer Fahrt, die Jetzt hatten sie plötzlich alle vier Luke Morgan respektlos als „Nacht- jenes spekulative Glitzern in den topf-Segeln" einstufte. Augen, das von wirbelnden GedanBill hatte den Platz im Großmars ken, kühnen Plänen und genialen eingenommen und spähte aufmerk- Ideen sprach, mit deren Hilfe man sam über das dunkle, von gleißenden das Problem vielleicht doch noch lösen konnte. Reflexen getupfte Wasser. Die Zwillinge schaukelten in Ge„Wir helfen dir, Nuami", versprach sellschaft des Schimpansen Arwe- Luana feierlich. nack auf einer Webleine der Luv„Wir sind deine Schwestern, wir wanten und hofften inständig, daß es lassen dich nicht im Stich", bekräfaufregende Abenteuer hageln wür- tigte Muna. de. Sie steckten die Köpfe zusammen, Und hoch oben auf einer Hügel- spannen weiter an ihren Plänen, und kuppe der Mond-Insel kauerten vier dabei flüsterten sie, als fürchteten braunhäutige, sanftäugige Südsee- sie sich davor, daß der Wind die WorSchönheiten und blickten sehnsüch- te an die falschen Ohren tragen köntig der entschwindenen „Isabella" ne. nach. * Nuami seufzte. „Arme kleine Nuami", meinte Luana in ihrer Heimatsprache und leg„Mann, du kitzelst mich!" be-
30 Schwerte sich Stenmark. „Schnauze, du Stint", sagte Dan O'Flynn gelassen. „Rück lieber mal ein bißchen. Verdammt, ich möchte wissen, wie tief die Kerle diese blöden Knüppel in den Boden gerammt haben!" „Buddel weiter, dann wirst du es erfahren", riet Stenmark trocken. Er lehnte mit dem Rücken an der Trennwand zwischen den beiden Käfigen. Einen Arm hatte er locker um den Holzpflock geschlungen, der die Achse der beiden Gittertüren bildete. Auf diese Weise deckte er Dan halbwegs gegen die Sicht vom Feuer her, und die Kannibalen konnten zumindest vorerst nicht beobachten, was der junge Mann tat. In Dans Stiefel hatte ein kleines Messer gesteckt - nur so für alle Fälle. Damit buddelte er jetzt. Der Käfig hatte nämlich keinen hölzernen Boden, die dicken Gitterstäbe waren von denen der Tür abgesehen - einfach tief ins festgestampfte Erdreich gerammt worden. Sehr tief, wie Dan inzwischen wußte. Die schmale, biegsame Messerklinge war ein denkbar ungeeignetes Werkzeug. Graben konnte man damit überhaupt nicht. Dan stieß das Messer einfach immer wieder in den Boden, stocherte und rüttelte ein bißchen und scharrte die aufgelockerte Erde dann mit den Händen zur Seite. In zwei Stunden nicht gerade schweißtreibender, aber entnervender Arbeit hatte er auf diese Weise ein anderthalb Handspannen tiefes Loch gebuddelt. Allmählich gewann er die Überzeugung, daß die Eingeborenen versucht hatten, mit den verdammten Gitterstäben bis zum Mittelpunkt der Erde vorzudringen. Vorerst jedenfalls war noch kein Ende abzuse-
hen. Dan arbeitete geduldig weiter und warf ab und zu einen prüfenden Blick zu den Kannibalen hinüber, die um das Feuer kauerten, unter dumpfen, gutturalen Gesängen die nackten Oberkörper wiegten und offenbar die fette Beute feierten. Oder vielmehr die magere Beute, verbesserte sich Dan O'Flynn in Gedanken. Fett sollten sie ja erst noch werden. Irgendwie erschien Dan die Situation merkwürdig bekannt. Wahrscheinlich hatte er eine ähnlich Geschichte als Junge von seinem Großvater gehört, den Old Donegal, sein Vater, immer als das schwärzeste Rabenaas bezeichnete, das je die Meere befahren hatte. Oder nein: es war seine Grandma gewesen. Und jetzt fiel Dan auch wieder ein, wovon die Geschichte gehandelt hatte. Von einer alten Hexe nämlich, die ebenfalls ein Opfer in einen Stall sperrte und zwecks Verzehr mästete. Und dieser ausgekochte Bursche hatte sie dann mit einem cleveren Trick hereingelegt. Wie war das noch gewesen? Irgend etwas mit Hühnerknochen. Und dann spielte auch noch ein Mädchen mit, das die Hexe mit ihren kannibalischen Gelüsten sozusagen in die eigene Pfanne gehauen hatte. Dan seufzte und schüttelte den Kopf. Hier gab es weder Hühner noch ein Mädchen, und einen Kannibalenstamm konnte man nicht mit einer lächerlichen Hexe vergleichen. Die praktische Nutzanwendung der Geschichte war gleich Null. Aber woher, zum Teufel, mochte ausgerechnet Grandma O'Flynn gewußt haben, daß es notwendig sein konnte, ihre sieben Enkelsöhne mehr oder weniger schonend auf die Möglichkeit vorzubereiten, eines unschö-
31 nen Tages Kannibalen in die Hände zu fallen? Dan gab die nutzlosen Überlegungen auf und buddelte weiter. Inzwischen lief ihm doch der Schweiß über die Stirn. Mit zusammengebissenen Zähnen tastete er an dem Holzpflock entlang. Täuschte er sich, oder konnte er jetzt die untere Kante fühlen? Er hielt den Atem an, wühlte noch heftiger, trieb sich ein paar Holzsplitter unter die Haut, dann wußte er, daß er sich nicht geirrt hatte. „Es klappt!" stieß er hervor. Stenmark wandte den Kopf. „Kannst du das Ding lockern?" „Ich denke schon. Aber erst muß ich noch etwas tiefer graben." „Dann beeil dich, verdammt!" Dan O'Flynns Augen funkelten wütend. Aber er sparte sich den Kommentar, den er auf der Zunge hatte, weil er seinen Atem anderweitig brauchte. * Wie ein schwarzer, unregelmäßig geformter Buckel tauchte die Insel aus dem vagen Sternenlicht. Die Pinasse lag hoch am Wind. Hasard hatte bereits den schmalen Einschnitt einer Bucht entdeckt, die sie anliegen konnten. Er fragte sich, ob die Kannibalen Wachtposten aufgestellt hatten. Normalerweise taten sie das sicher nicht: die SüdseeSchönen von der Mondinsel waren keine Gegner, vor denen sich ein kriegerischer Stamm fürchten mußte. Im Augenblick allerdings konnte es sein, daß die Eingeborenen von ihren sonstigen Gewohnheiten abgingen. Aber falls tatsächlich Wachtposten da waren, würden sie vermutlich nach der „Isabella" Ausschau
halten und nicht nach einem winzigen Beiboot. Fast lautlos glitt die Pinasse wenig später in die schmale, tief eingeschnittene Bucht. Der Kiel knirschte über Sand, die Männer sprangen ins seichte Wasser und zogen das Boot mit vereinten Kräften hoch auf den Strand. Sie bemühten sich dabei, so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen. Minutenlang blieben sie stehen und lauschten, doch außer dem Glucksen und Gurgeln der Wellen und dem Rauschen der Palmwedel im Wind war nichts zu hören. Trotzdem hatte der Seewolf ein unangenehmes Kribbeln in der Magengrube. Er spürte, daß etwas nicht stimmte, so wie er auf See einen bevorstehenden Wetterumschwung zu wittern vermochte. Sein Blick glitt über den Palmengürtel und suchte die Finsternis des dichten Waldes dahinter zu durchdringen. Die anderen verharrten schweigend hinter ihm. Schließlich zuckte er mit den Schultern. „Wenn es Wachtposten gibt, dürften sie dort oben zwischen den Felsen stecken. Wir umgehen die Anhöhe, dann werden wir ja sehen, ob sie uns entdeckt haben oder nicht." Ed Carberry nickte, verzichtete ausnahmsweise auf sein gewohntes Gebrüll und vollführte nur eine ausholende Geste. Sie setzten sich in Bewegung. Auf den ersten Blick wirkte das Dickicht fast undurchdringlich, doch sie kannten sich aus und wußten aus Erfahrung, daß es dort, wo das dichte Laubdach die Sonnenstrahlen abhielt, meist nur noch dünne abgestorbene Zweige gab, die das Vorwärtskommen kaum erschwerten. Geduckt robbten sie durch diese
32 finstere Höhle, in die nur ab und zu ein Mondstrahl wie ein silberner Pfeil stach, und nach wenigen Minuten erreichten sie einen der Schweinepfade, die das Unterholz durchzogen. Hier konnten sie wieder aufrecht gehen. Der Pfad wand sich am Hang entlang und führte über eine Lichtung, wo felsiger Boden den Baumwurzeln keine Nahrung gab. Wieder blieb Hasard stehen und lauschte. Ringsum waren die leisen, vielfältigen Geräusche der Nacht lebendig Geräusche, die sich nur schwer auseinanderhalten ließen. Der Seewolf drehte den Kopf und warf Batuti einen Blick zu. Der schwarze Mann aus Gambia hatte noch die unverbildeten Instinkte, die zum Überleben in der Wildnis nötig waren. Und die Art, wie er jetzt die Augen rollte, verriet deutlich, daß ihn diese Instinkte gewarnt hatten. Er öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch er kam nicht mehr dazu. „Achtung!" schrie Hasard. Im selben Moment sahen auch die anderen die Lanzen, die sich aus dem Dunkel des Waldsaums lösten, das Funkeln der Lichtreflexe auf den eisernen Spitzen. Der Seewolf wirbelte herum und stieß Ed Carberry gegen Smoky, so daß beide gemeinsam zu Boden gingen. Batuti, der ebenso schnell reagierte, hechtete mit ausgebreiteten Armen auf die anderen zu und brachte das Kunststück fertig, drei Mann gleichzeitig mitzureißen. Nur Bob Grey stand noch, doch der zählte ohnehin zu den Flinksten, Geschicktesten der Crew und schaffte es, sich schnell genug fallen zu lassen. Wieder einmal stieß der Lanzenangriff der Kannibalen ins Leere.
Jetzt, in der Dunkelheit, konnten die Angreifer nicht genau erkennen, ob ihre Opfer ausgewichen oder durchbohrt zu Boden gesunken waren. Mit Geheul brach eine Gruppe von vier, fünf bemalten Wilden aus den Büschen. Mit triumphierendem Geheul, das jedoch schon im nächsten Moment in Schreckensgeschrei umschlug. Wie die Kastenteufel schnellten die vermeintlich Toten vom Boden hoch. Acht Seewölfe gegen vier Kannibalen - das war kein Kampf, nicht einmal ein Geplänkel, das ähnelte eher einer Möwenjagd mit Siebzehnpfünder-Culverinen. Die Eingeborenen prallten zurück. Einen Herzschlag lang wußten sie offenbar nicht recht, ob sie fliehen oder standhalten sollten, doch bevor sie sich entschlossen, rollte der Angriff über sie weg wie eine Woge. Es dauerte nur Sekunden, bis vier bewußtlose Kannibalen am Boden lagen. Die Seewölfe beeilten sich, die Burschen zu fesseln, damit sie ihnen nicht in den Rücken fallen konnten. Hasard zog die Unterlippe zwischen die Zähne. „Der Lärm ist garantiert in dem Dorf gehört worden", sagte er gedehnt. „Und jetzt?" fragte Smoky begierig. „Auf sie mit Gebrüll?" „Halt bloß die Klappe", drohte Carberry. „Ein Laut, und ich zieh dir ..." „Smoky hat recht", sagte Hasard knapp. „Wir müssen sofort handeln. Und wir müssen dafür sorgen, daß auch die ,Isabella' so schnell wie möglich angreift." Die anderen nickten nur. Mit einer ruhigen Bewegung zog der Seewolf die sächsische Reiterpistole aus dem Gürtel, um die vereinbarten Signalschüsse abzugeben.
Herr B B aus Augsburg schrieb uns: „Als eifriger und begeisterter Leser Ihrer zwei Serien „SEEWÖLFE" und „Perry Rhodan" wende ich mich in zwei Punkten an Sie. 1. Zu diesen zwei Superserien kann ich Sie nur beglückwünschen! Es gibt zwar viele Leute, die derartige Lektüren als Schund bezeichnen, ich selbst kann mich dieser Meinung aber absolut nicht anschließen! Diese beiden Serien sind für mich das Allerbeste auf dem Markt! 2. Beim Versand der „SEEWÖLFE" muß Ihnen anscheinend ein kleiner Lapsus passiert sein, denn statt der Nummer 162 verschickten Sie die Nummer 169. Als leidenschaftlicher Sammler kann mir das natürlich nicht sehr willkommen sein. Daher eine große Bitte: Könnten Sie mir diese Nummer 162 und vielleicht auch die Nummern 104 und 105 per Nachnahme zuschicken? Dafür schon jetzt meinen allerherzlichsten Dank... PS.: Hoffentlich gehen diese beiden Serien (vor allem die „SEEWÖLFE") noch recht lange weiter!" Besten Dank, lieber Herr B ! Wir werden uns anstrengen, daß die „SEEWÖLFE" keinen „Schiffbruch" erleiden. Sie werden es nicht, wenn wir durch Leserbriefe sowohl positive als auch negative Kritik erhalten. Die positive Kritik beweist uns, daß unser „Kurs" richtig ist, die negative, daß wir „Kollisionskurs" steuern, und bei einem solchen Kurs kann man immer noch das Steuer herumwerfen, nicht wahr? Unsere Bitte an alle Leser: Schreiben Sie uns - wir müssen auch
mit der Kritik leben, nur so erfahren wir, ob der richtige Kurs anliegt. Der Brief von Herrn Busch ist uns auch deswegen willkommen, weil er das Problem anspricht, ob Heftromane Schund seien. Nun, was die „SEEWÖLFE" betrifft, bemühen wir uns, dem Leser auch Wissen zu vermitteln, was man wohl keineswegs mit Schund abtun kann. Wir bringen den geschichtlichen Hintergrund zur Zeit der SEEWÖLFE, wir entführen den Leser in' die Neue Welt und auf die sieben Weltmeere, wie sie sich dem Menschen der damaligen Zeit darstellten, wir bringen dem Leser Bräuche und Sitten fremder Völker nahe - und schließlich lassen wir ihn das Abenteuer Seefahrt erleben, ganz abgesehen davon, daß wir ihn am Ende der Romane in die „Seemännische Sprache von A- Z" und in der Seemanns-Kiste in diverse Details der damaligen Seefahrt einführen. Ist das Schund? Was meint der Leser dazu? Punkt 2, den Herr B anspricht, ist das Versandproblem. Da passieren schon mal Pannen, für die aber nicht die Redaktion der „SEEWÖLFE" verantwortlich zeichnen kann. Bitte wenden Sie sich in solchen Fällen an die Versandabteilung in 7550 Rastatt, Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus. Sie wird bemüht sein, Ihre Wünsche zu erfüllen.
Für heute grüßt Sie herzlich Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren.
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6. Die Galeone lag beigedreht außer Sichtweite der Insel. Die Takelage knarrte, Rahen und Blöcke ächzten, Wellen plätscherten gegen den Schiffsrumpf. Sonst war es still, denn Ben Brighton hatte gedroht, jedem eigenhändig das Fell zu gerben, der auch nur laut atmete. Die Männer warteten. Schweigend und sprungbereit standen sie auf ihren Posten, und als sie - nach einer Ewigkeit, wie es ihnen erschien - das Peitschen von zwei rasch hintereinander abgefeuerten Schüssen hörten, ging ein spürbares Aufatmen durch die Reihen. Ziemlich früh, dachte Ben. Aber er hielt sich nicht damit auf, über diesen Punkt nachzugrübeln. Seine Befehle hallten über die Decks, und Minuten später rauschte die „Isabella" unter Vollzeug auf die Insel der Kannibalen zu. Der unregelmäßige Buckel über der Kimm wurde rasch größer. Schon war die Barre zu sehen, die eine weitgeschwungene Bucht abschirmte, der Pulk der Auslegerboote, die auf dem flachen, im Mondlicht fahl schimmernden Strand lagen. Ben Brighton überzeugte sich mit einem Blick, daß Al Conroy, der schwarzhaarige Stückmeister, die Bugdrehbasse klar zum Schuß hatte. Die Crew behauptete, daß Al fähig sei, mit so einer Drehbasse einer Fliege ein Auge auszuschießen. Tatsache war, daß er ungewöhnlich gut damit umgehen konnte, aber diesmal hatte er es gar nicht nötig, seine Fähigkeiten zu beweisen. „Feuer, Al!" befahl Ben Brighton knapp. „Ein paar Kugeln zwischen die Boote. Kleinholz, wenn ich bitten
darf!" „Aye, aye", sagte Al Conroy grinsend. Dabei peilte er bereits an dem langen, schwenkbaren Rohr entlang, drückte die Lunte in die Zündpfanne, und im nächsten Moment löste sich donnernd der erste Schuß. Die Bugdrehbasse der „Isabella" spuckte Feuer und Blei, und das dröhnende Echo breitete sich auf dem Wasser aus wie Donnerrollen. * „Schnell!" zischte Dan O'Flynn. Aus schmalen Augen starrte er zu den gestikulierenden, aufgeregt durcheinanderschreienden Eingeborenen hinüber. Irgend etwas hatte sie schon vor Minuten aufmerksam werden lassen: der Schrei eines Nachtvogels vermutlich, der so täuschend echt nachgeahmt worden war, daß die Gefangenen in ihren Käfigen nichts bemerkt hatten. Sie begriffen nur, daß etwas Ungewöhnliches vorging, und sie waren froh, daß sie den Holzpflock zwischen den Türen von Dans und Stenmarks Käfigen schon einigermaßen gelockert hatten. Mit ein paar kräftigen Rucken konnte es vielleicht gelingen, ihn auszubrechen, und dann würde die ganze Konstruktion zusammenfallen. Zunächst allerdings waren die Eingeborenen zu aufmerksam gewesen. Sie hatten geflüstert und immer wieder zu den Gefangenen gesehen, doch das änderte sich schlagartig, als irgendwo an der Nordseite der Insel rasch hintereinander zwei Schüsse fielen. Die Seewölfe triumphierten. Alle drei hatten Hasards sächsische Reiterpistole erkannt, sie wuß-
ten, daß die Befreier nah waren. Die Kannibalen schienen sich nicht recht darüber einigen zu können, was sie von der Sache halten sollten. Sie palaverten, redeten, wurden immer aufgeregter, und am Ende schienen sie sich darauf zu einigen, einen Spähtrupp loszuschicken. Zur Verwirklichung dieses Planes kam es nicht mehr. Die „Isabella" verhinderte es. Wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel dröhnte das Krachen der Drehbasse über die Insel, und auch das Splittern und Bersten von Holz war deutlich zu hören. Die Boote, dachte DanO'Flynn. Zu der gleichen Schlußfolgerung gelangten offenbar auch die Kannibalen. Ein vielstimmiger Wutschrei ertönte, und die ganze Horde raste wie vom Teufel gehetzt über den Pfad, der zu der Bucht führte, in der ihre Boote lagen. Das war der Augenblick, in dem Dan O'Flynn sein „Schnell!" zischte. Stenmark war bereits aufgesprungen. Gary Andrews ebenfalls, doch er konnte von seinem Käfig aus nur zusehen. Der große Schwede und der schlanke, drahtige Dan packten den Holzpflock, spannten die Muskeln und stemmten sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen. Sie wußten, daß sie in der Tat schnell sein mußten. Das Dorf war durchaus nicht leer. Zwar hielten sich jetzt nur noch Frauen, Kinder und Alte in der Nähe auf, aber wenn die Alarm schlugen, würden die Krieger nur wenige Minuten brauchen, um zurückzukehren. „Hooo ruck!" keuchte Dan. „Hooo ruck! Hooo ..." Beim dritten „Ruck" knirschte die ganze Käfigkonstruktion und erbebte in ihren Grundfesten. Beim vierten Versuch rutschten
37 Stenmarks gegen den festgestampften Boden gestemmten Füße ab, der Pflock schnellte ein Stück zurück und klemmte Dans Schulter ein. Der junge Mann fluchte wild. Stenmark keuchte eine Entschuldigung, während er sich schon wieder gegen den Holzpflock stemmte. Noch einmal versuchten sie es mit vereinten Kräften, mobilisierten ihre letzten Reserven - und diesmal schafften sie es. Holz splitterte. Der Pflock brach an der Stelle, wo er mit der Dachkonstruktion der Käfige verbunden war. Knirschend und krachend rissen die beiden Gittertüren aus ihren Verankerungen, und Dan und Stenmark, die sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen geworfen hatten, kugelten über den staubigen Boden des Dorfplatzes. Dans Ohren dröhnten. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß das nicht von dem Sturz herrührte, sondern von dem fernen Kanonendonner, der über die Insel rollte. Geschrei brandete auf. Wutgebrüll, Schreckensgeheul, dann das Geräusch rennender Füße. Auch die Frauen und Kinder des Dorfes kreischten erschrocken und flohen zwischen die Hütten, als ihnen klarwurde, daß die Gefangenen ausbrachen. Aber es war zweifellos nicht der Lärm aus dem Dorf, der die Krieger zur Rückkehr veranlaßte, sondern die panische Furcht vor den Kanonen der „Isabella". Dan O'Flynn sprang auf, stand mit zwei Schritten vor dem dritten Käfig und öffnete den Riegel. Gary Andrews schlüpfte ins Freie. Die drei Männer verharrten kurz, lauschten mit angehaltenem Atem. Ihre Augen funkelten triumphierend, obwohl sie sehr genau wußten, daß es dafür noch etwas zu früh war.
38 Die Kannibalen würden nur wenige Sekunden brauchen, um das Dorf zu erreichen. Sie würden die Verfolgung aufnehmen, es würde zum Kampf kommen, und wie der ausging, stand noch lange nicht fest. „Los!" zischte Dan. Eilig warfen sie sich herum und liefen in die Richtung, aus der sie vorhin die beiden Signalschüsse gehört hatten, während sich hinter ihnen das Geschrei der Kannibalen zu wilder Wut steigerte. * Unter Hasards Führung hatte der kleine Trupp die Anhöhe erreicht. Mit fliegenden Fingern baute Smoky das Gestell zum Abschießen der chinesischen Feuerwerkskörper auf. Die anderen begannen bereits, sich leise und geschickt den Hang hinunterzuarbeiten. Vor Minuten war der erste Schuß aus der Drehbasse der „Isabella" gefallen. Jetzt trug der Wind von der anderen Seite der Insel einen wahren Höllenlärm herüber. Was im einzelnen geschah, ließ sich nur nach dem Gehör nicht genau feststellen, aber Hasard rechnete ohnehin damit, daß es nicht ohne Kampf abgehen würde. Zwei Atemzüge später zischte hinter ihnen die erste Rakete in den Himmel. Fauchend und heulend raste sie dahin, zog eine Feuerspur hinter sich her und zerplatzte dann zu zahllosen Feuerkugeln, die - in allen Regenbogenfarben leuchtend - auf den Wald hinunterregneten. Ein paar Sekunden lang war es still auf der Insel jene Stille, wie sie einem vernichtenden Sturm vorausgeht. Dann schickte Smoky die zweite Rakete auf die Reise, und in ihr Zischen mischte sich das jähe Aufheulen der Kannibalen,
die dem Schauspiel in panischem Entsetzen zusahen. Hasard und seine kleine Gruppe begannen zu laufen. Immer noch hörten sie das Geschrei der Kannibalen, näher jetzt, so daß die schrillen, sich überschlagenden Töne nackter Angst deutlich zu erkennen waren. Hasard bezweifelte inzwischen, daß sich die Eingeborenen wirklich zum Kampf stellen würden. Sie waren in Panik. Das Feuerwerk erschien ihnen wahrscheinlich als Wirken irgendwelcher höllischer Dämonen. Auf der anderen Seite der Insel dröhnte die Drehbasse der „Isabella" und die Kannibalen mußten das Gefühl haben, in einer tödlichen Falle zu sitzen. Jetzt hatte die Kanonade aufgehört. Die erste Rakete war das Zeichen gewesen. Die Galeone würde die Insel umrunden und der Pinasse entgegensegeln. Ohrenbetäubendes Krachen unterbrach Hasards Gedanken. Das Feuerwerk näherte sich seinem Höhepunkt. Jaulend und fauchend fuhren die glühenden Kugeln durch die Luft, blaue, rote und grüne Schlangen zischten, ein Regen vielfarbiger Funken ging über dem Eingeborenendorf nieder. Das Geschrei entfernte sich wieder, Zeichen dafür, daß die Kannibalen blindlings die Flucht ergriffen. Die Seewölfe hasteten weiter, und erst Minuten später blieb Hasard ruckartig stehen, weil vor ihnen Schritte durch die Büsche brachen. Die Schritte von drei Männern. Zu den Kannibalen gehörten sie bestimmt nicht, die hätten sich nicht in diese Richtung gewagt, schon gar nicht zu dritt. Mit funkelnden Augen rief Hasard den alten Schlachtruf der Seewölfe, und nach einer halben
39 Sekunde der Verblüffung antwortete ein dreistimmiges „Arwenack" aus der Dunkelheit des Dickichts. Im nächsten Augenblick stürmten Dan O'Flynn, Gary Andrews und Stenmark auf die kleine Gruppe ihrer Kameraden zu. „Ha, ihr Teufelsbraten!" schrie Carberry begeistert. „Beim geschwänzten Höllenfürsten, ihr seht aus, als hättet ihr den halben Kannibalenstamm ausgerottet! Mann, und ich dachte schon, sie hätten euch inzwischen gefrühstückt." „Wir waren ihnen nicht fett genug", sagte Dan grinsend. „Der einzige, der kannibalischen Gelüste entwickelte, war Gary, als er einem der Kerle fast den Finger abbiß." „Waaas?" staunte der Profos. „Sie wollten ihn füttern. Aber da hatten sie sich etwas zu viel vorgenommen, diese..." „Wollt ihr hier Wurzeln schlagen?" fuhr Hasards Stimme dazwischen. „Kehrt marsch, aber ein bißchen plötzlich." „He! Ich dachte, wir würden den Burschen noch ein bißchen auf die Finger klopfen." Es war der lange blonde Stenmark, der das sagte. Hasard warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Du hast wohl einen Sonnenstich? Sie sind mehr als fünfzig, Mann! Schnell jetzt!" Sie warfen sich herum und liefen den Weg zurück, den sie gekommen waren. Über der Insel leuchtete immer noch das prächtige Feuerwerk: Smoky gab sich alle Mühe, den Kannibalen ein Schauspiel zu liefern, das sie im Leben nicht mehr vergessen würden. Er runzelte die Stirn, als er die Gruppe auf sich zulaufen sah, dann erkannte er Gary, Stenmark und Dan und grinste breit. Noch einmal
schoß er eine der Raketen ab, ein besonders eindrucksvolles Exemplar, das kreisende Feuerröder regnen ließ, und während sie schmetternd in der Luft zerplatzte, packte Smoky hastig das Abschußgestell zusammen. Fünf Minuten später schoben sie die Pinasse ins Wasser. Der Wind, gegen den sie vorher mühsam angekreuzt waren, trieb sie jetzt raumschots aufs offene Wasser. Kaum hatten sie sich aus dem Schatten der Insel gelöst, da sahen sie Steuerbord voraus bereits die im Mondlicht schimmernden Segel der „Isabella". Auf der Insel herrschte eine geradezu gespenstische Stille, als die Pinasse längsseits ging. Die Männer enterten auf, die drei befreiten Gefangenen wurden mit endlosem Schulterklopfen, herzhaften Rippenstößen und freundschaftlichen Flüchen begrüßt. Und natürlich mußten sie eine Menge Spott über sich ergehen lassen. Daß sie sich von drei Perlen der Südsee derartig hatten mattsetzen lassen, das würden sie in Zukunft wohl noch oft zu hören kriegen. Hasard schlug seinem Bootsmann auf die Schulter. Ben Brighton grinste und spähte aus schmalen Augen zu der Insel hinüber. „Glaubst du, daß die Kerle einen Enterversuch unternehmen werden?" erkundigte sich der Seewolf. Ben Brightons Grinsen wurde noch breiter. „Glaube ich nicht", sagte er trokken. „Dazu müßten sie sich nämlich erst mal neue Boote bauen. In nächster Zeit werden die Burschen wohl keine Gelegenheit mehr finden, friedliche Nachbarn zu überfallen." *
40 Ohne weitere Zwischenfälle erreichte die „Isabella" die Mondinsel. Hasard war entschlossen, den Perlen der Südsee die versprochenen „Donnerrohre" auszuhändigen trotz des folgenschweren, aber nicht böse gemeinten Streichs, den sie Dan, Stenmark und Gary gespielt hatten und dann schleunigst ankerauf zu gehen. Diese sanftäugigen Ladys waren jederzeit für eine neue Überraschung gut. Und der Seewolf fand, daß sie von Überraschungen aller Art vorerst genug gehabt hatten. Der Damenflor durchkreuzte seine Absichten. Eine Abordnung kam mit einem Auslegerboot längsseits. Cori, Luana und der alte Schamane enterten mit feierlich-ernsten Gesichtern an Bord. Zweifellos hatten sie ein Problem, das sie mit dem Kapitän der „Isabella" besprechen wollten. Um Brauch und Sitte Genüge zu tun, ließ Hasard spanischen Wein als Willkommenstrunk servieren. Amüsiert stellte er fest, daß der Medizinmann einen ausgesprochen guten Schluck hatte. Danach allerdings wurde es weniger amüsant. Was der Schamane wortreich von sich gab und Cori etwas mühsam ins Englische übersetzte, drehte sich immer noch um die fatale „Hochzeit", Man hatte eingesehen, daß der arme Smoky einem Mißverständnis erlegen war, das wohl. Aber Nuamis Mann sei er trotzdem, erklärte der Schamane. Und wenn man nicht wolle, daß die bedauernswerte Nuami für den Rest ihres Lebens entehrt sei und keinen anderen Gefährten mehr finden könne, dann müsse Smoky die Blume von ihr zurücknehmen, und sie in einer feierlichen Zeremonie „verstoßen", so wie es das
Stammesgesetz verlange. O Heimathafen, dachte der Seewolf erschüttert. Denn genau wie die anderen kannte er inzwischen solche und ähnliche Rituale. Vor allem wußte er, daß sie stets mit einem rauschenden Fest verbunden waren, da die meisten Südsee-Insulaner nun einmal Feste liebten. Doch da half wohl alles nichts. Schließlich wollte man nicht daran schuld sein, daß Nuami für ihr Leben entehrt war. Smoky hatte sich heiraten lassen, jetzt mußte er wohl oder übel auch bei der „Scheidung" mitspielen. Man sah ihm an, daß er sich viel lieber in ein Bohrwurm-Loch verkrochen hätte, um sich erst wieder zu zeigen, wenn die Mond-Insel hinter der Kimm versunken war. 7. Die Seewölfe fanden die Aussicht erfreulich, Smokys „Scheidung" mit einem weiteren Fest zu feiern. Diesmal gingen Ed Carberry und Blacky Ankerwache. Die Zwillinge mußten zu ihrer maßlosen Erbitterung wieder mal an Bord bleiben. An der Gerechtigkeit der Welt hatten sie schon beim letztenmal gezweifelt. Jetzt fluchten sie auf Türkisch, weil sie sich in Edwin Carberrys Nähe auf Englisch nicht recht trauten, und waren in der Stimmung, eine Meuterei anzuzetteln. Am Strand nahm indessen die Zeremonie ihren Anfang. Eine ziemlich lange, komplizierte, undurchsichtige Zeremonie, in deren Verlauf Nuami Smoky die weiße Blume zurückgab und der Decksälteste dem Medizinmann einen langen, unverständlichen Sermon nach-
41 sprechen mußte. Danach war er immer noch nicht geschieden. Cori als Dolmetscherin erklärte den nächsten Schritt. Während die anderen feierten, müsse das Paar bis zum Morgengrauen allein in Nuamis Hütte ausharren, um auf diese Art zu beweisen, daß es tatsächlich willens sei, sich zu trennen. So verlange es der Brauch - und dem Brauch mußte selbstverständlich Genüge getan werden. Smoky stöhnte schicksalsergeben. Hasard warf seinem Decksältesten einen scharfen Blick zu. Einen Blick, der sämtliche Höllenstrafen versprach für den Fall, daß der Scheidungs-Delinquent auch nur einen einzigen Schluck Kawa trinken oder sich etwa doch noch einmal von der schönen Nuami umgarnen lassen würde. Smoky hatte noch vom letztenmal die Nase voll. Er war entschlossen, stark zu bleiben wie der Felsen, mit dem ihn Nuami in ihrer blumigen Sprache immer verglich. Ganz gleich, was sie anstellte, sie würde sich vergeblich bemühen. Er, der Decksälteste der „Isabella", der schon mehr Stürme und Schlachten überstanden hatte, als er zählen konnte, er war ja wohl noch fähig, den Verführungskünsten einer schönen Südsee-Lady zu widerstehen. Finster entschlossen marschierte er hinter Nuami über den schmalen Pfad, der zum Dorf führte. Dabei starrte er stur auf seine Füße. Denn jede andere Blickrichtung war gefährlich. Sobald er den Kopf hob, gerieten Nuamis wohlgeformte Beine in sein Blickfeld, die herausfordernd schwingenden Hüften, die den Grasrock rascheln ließen, der schlanke Rücken, über den das lange
schwarze Haar fiel. Mannomann, dachte Smoky verzweifelt. Eine ganze Nacht mit dieser Perle der Südsee in einer Hütte, das war seiner Meinung nach eine ausgesuchte Folter. Und dann dieser verdammte Blumenkranz, der bei jeder Bewegung verrutschte! Und Nuamis vordere Anatomie! Und überhaupt! Oh, Himmel! Das war zu viel, das würde er nie überstehen! Er unterdrückte ein Stöhnen und hielt sich an dem Gedanken fest, daß ihm der Seewolf den Kopf abreißen würde, wenn er diese sogenannte Scheidung verpatzte. Vor ihm führte der Pfad unter den dicken Ästen eines Baums entlang. Laub raschelte, doch das tat es ständig, da auch hier ein leichter Wind wehte. Smoky starrte immer noch auf seine Füße, um den Anblick von Nuamis bezaubernden Rückfront zu vermeiden, und deshalb entging ihm die Bewegung in dem Blätterdach über ihm. Als er aufmerksam wurde, war es zu spät. Etwas fiel auf ihn nieder. Smoky riß erschrocken den Kopf hoch, sah etwas über sich, das den vagen Eindruck von grünen Schlangen erweckte, und wollte mit einem unterdrückten Schrei ausweichen. Er schaffte es nicht. Blindlings schlug er um sich. Seine Arme verfingen sich irgendwo, er taumelte zu Boden, und es dauerte Sekunden, bis er begriff, daß er sich in einem riesigen, aus Lianen geflochtenen Netz verheddert hatte. Ein Netz, das jemand von oben über ihn geworfen hatte! Muna, Cori und Luana! Jetzt sprangen die drei Grazien von den untersten Ästen des Urwaldriesen. Smoky fluchte, spuckte Gift und
42 Galle und kämpfte verzweifelt, um sich aus dem tückischen Lianengeflecht zu befreien, doch er schaffte es nicht schnell genug. Luana hielt plötzlich eine massive hölzerne Keule in den zarten Händen. „Armes schönes Mann", flötete sie bedauernd. Dabei holte sie weit aus und drosch Smoky mitleidlos die Keule über den Schädel. * „Gemein ist das", schimpfte Hasard junior. „Hundsgemein ist es", bekräftigte der kleine Philip. Sie hatten sich vor der schnöden Welt in den Großmars zurückgezogen. Auf dem Achterkastell gingen Ed Carberry und Blacky Ankerwache. Ihrer Meinung nach lagen die beiden Jungen längst in den Kojen, und Hasard und Philip legten Wert darauf, sie bei dieser Meinung zu belassen. Nach Schlafen war ihnen nämlich überhaupt nicht. Die Sache mit der Kannibalen-Insel hatte sie schwer enttäuscht: nicht einmal das kleinste bißchen Kampf war dabei herausgekommen. Und jetzt durften sie wieder nicht dabeisein. Obwohl sich da drüben doch etwas so Interessantes abspielte! Etwas, das mit Smoky zusammenhing, der sich verheiratet hatte und nun wieder geschieden werden mußte, bevor er auf die „Isabella" zurück konnte. „Du, Philip", murmelte Hasard. „Hmm?" „Der Profos glaubt, wir schlafen, oder?" „Hmm!" „Meinst du, jemand würde merken,
wenn wir heimlich zu der Insel schwimmen und heimlich zurückkehren?" „Hmm", wiederholte Philip, und diesmal klang es sehr interessiert. Aus schmalen Augen spähte er zum Strand hinüber, wo immer noch die Feuer loderten. Einzelheiten waren nicht zu erkennen. Und Philip hätte doch gern dabei zugeschaut, wie so eine Scheidung unter Südsee-Insulanern vor sich ging. „Wir könnten zur Landzunge schwimmen und uns von der Rückseite der Insel anpirschen", meinte Hasard nachdenklich. „Hmm", murmelte Philip zweifelnd. „Wenn uns der Profos erwischt, gibt's was mit dem Tauende." „Hast du etwa Angst?" spöttelte Hasard. „Ph", machte Philip wegwerfend, wenn auch nicht sehr überzeugend. Das Tauende in der Hand des Profos war durchaus respekteinflößend, und man konnte hinterher jedesmal ein paar Tage nicht sitzen. Wenn sie entgegen dem ausdrücklichen Befehl das Schiff verließen und erwischt wurden, war ihnen das Tauende so sicher wie der Sonnenaufgang am nächsten Morgen. Philip fand die Aussichten für seine Kehrseite ziemlich düster, aber er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als das zuzugeben. „Also was ist?" fragte Hasard. „Bist du dabei?" „Klar bin ich dabei", versicherte Philip. „Dann los. Aber leise! Wenn der Profos uns auf der Jakobsleiter erwischt, kriegen wir nur das Tauende und kein bißchen Spaß." Philip nickte nur. Geschmeidig schwangen sich die beiden Jungen über die SegeltuchVerkleidung der Plattform und glitten an den Wanten hinunter. Vor-
44 sichtig schlichen sie über die Kuhl, spähten immer wieder zum Achterkastell hinauf, doch im Augenblick zeigte sich weder Ed Carberry noch Blacky an der Schmuckbalustrade. Hasard schwang sich als erster über das Schanzkleid und enterte an der Jakobsleiter ab. Philip folgte ihm dichtauf. So lautlos wie möglich ließen sie sich ins dunkle Wasser gleiten, stießen sich ab und begannen zu schwimmen. Minuten später hatten sie bereits die Landzunge erreicht. Daß sich an Bord der „Isabella" gerade in diesem Augenblick Blacky ins Mannschaftslogis begab, um sich etwas zu holen, konnten sie nicht ahnen. * Smoky erwachte mit einem mächtig brummenden Schädel, was er nicht begriff, weil er ganz genau wußte, daß er keinen einzigen Schluck Rum getrunken hatte. Im ersten Augenblick glaubte er, im Logis der „Isabella" in seiner Hängematte zu liegen. Er glaubte das, weil sein Körper sacht hin und her schaukelte. Doch dann spürte er die Fesseln an Armen und Beinen, das dichte, aus Lianen geflochtene Netz, das seinen ganzen Körper umgab, und schlagartig erwachte die Erinnerung an die letzten Minuten vor der Ohnmacht. Mühsam öffnete er die Augen, um sich Klarheit über seine Lage zu verschaffen. Das Ergebnis war niederschmetternd. In dem verdammten Lianennetz steckte er hoffnungslos fest. Und er wurde getragen: Nuami, Mu-a, Cori und Luana schleppten ihn mit vereinten Kräften über die Insel. Sie keuchten dabei, auf ihrer brau-
nen Samthaut glitzerten winzige Schweißtropfen wie Perlen, aber sie schafften es, den schweren Mann in beachtlichem Tempo weiterzuschleppen. Diese Hexen! Diese hinterlistigen Bestien! Smoky knirschte einen Fluch und bäumte sich jählings auf. Die heftige Bewegung brachte die vier SüdseeLadys aus dem Tritt und kurz daruaf auch aus dem Gleichgewicht. Smoky wand sich, strampelte mit den gefesselten Beinen, und die Perlen der Südsee ließen ihn notgedrungen fallen. Smoky stöhnte, weil sein mißhandelter Kopf gegen eine Wurzel stieß
45 und er die sprichwörtlichen Engel singen hörte. Als sich der Nebel vor seinen Augen verzog, beugte sich Nuami über ihn. Ihre schlanken Finger tasteten durch die Maschen des Netzes und streichelten Smokys Wange. „Armes Liebling", murmelte sie. „Du dicke Beule am Kopf. Aber ging nicht anders. Du nicht freiwillig bei Nuami bleiben. Und Nuami dich brauchen. Du auf Platz von Großes Donnerer." „Nein!" stöhnte Smoky verzweifelt. „Doch", sagte Nuami unerbittlich. „Und jetzt du friedlich, nicht mehr treten und dich wehren, sonst noch einmal Keule auf Kopf. Du verstanden?" Daran gab es nichts mißzuverstehen. Smoky sagte sich, daß ein zweiter Keulenschlag seine Chancen nur vermindern konnte, und fand sich vorerst damit ab, von vier bildhübschen Südsee-Grazien als hilfloses Bündel einem ungewissen Schicksal entgegengetragen zu werden. 8. Philip Hasard Killigrew lächelte höflich, hörte den endlosen Erzählungen des alten Medizinmanns zu und gab sich seinen eigenen Gedanken hin. Schon vor einer geraumen Weile war ihm aufgefallen, daß nicht nur Nuami und Smoky, die ScheidungsKandidaten, verschwunden waren, sondern auch Muna, Cori und Luana. Wollten die drei Grazien etwa einen erotischen Großangriff auf den bedauernswerten Decksältesten starten, um ihn doch noch herumzukriegen, die Nachfolge des legendären „Großen Donnerers" anzutreten.
Hasard unterdrückte ein Grinsen. Ausgerechnet Smoky mußte so etwas passieren. Ed Carberry zum Beispiel hätte die Ladys schon allein mit seinen wüsten Blicken in die Flucht geschlagen. Oder ihnen angedroht, er werde ihnen die Haut in Streifen und so weiter ... Bei Luke Morgan, Sam Roscill und einigen anderen wäre zu befürchten gewesen, daß sie der Versuchung nicht hätten widerstehen können. Dazu war Smoky zu ernsthaft und pflichtbewußt. Und um sich den Damenflor energisch vom Hals zu halten, war er viel zu höflich, jedenfalls der holden Weiblichkeit gegenüber. Wenn die Perlen der Südsee tatsächlich noch einmal versuchten, ihn herumzukriegen, fühlte er sich sicher ganz scheußlich in der Falle, schwitzte Blut und Wasser und wußte nicht, was er tun sollte. Hasard überlegte schon, ob er nicht vielleicht Verstärkung schicken sollte, doch er kam nicht mehr dazu. Dan O'Flynn war es, der ihn darauf hinwies, daß auf der „Isabella" das Dinghi abgef iert würde. Im nächsten Moment enterte die bullige Gestalt des Profos über die Jakobsleiter. Das winzige Boot schaukelte unter Ed Carberrys Gewicht. Er ließ sich auf die Ducht fallen, knallte die Riemen in die Dollen und begann, wie besessen zu pullen. Irgend etwas stimmte nicht. Die Seewölfe sprangen auf und liefen zum Wasser, der Medizinmann, die restlichen Südsee-Schönen und die wenigen Männer folgten ihrem Beispiel. Minuten später sprang Ed Carberry ins seichte Wasser, zog mit geübtem Schwung das Dinghi auf den Sand und holte tief Luft. „Bist du vom wilden Affen gebissen?" erkundigte sich Dan O'Flynn respektlos.
46 „Dir ziehe ich die Haut vom Hintern, du Laus!" knurrte Carberry. Aber es klang nicht besonders wild, und der Profos wirkte ziemlich zerknirscht, als er sich Hasard zuwandte. „Deine Söhne, Sir! Sie sind ausgerissen. Blacky hat's zufällig bemerkt, als er sich was aus dem Logis holen wollte. Tut mir leid, aber ..." Hasard preßte kurz die Lippen zusammen. „Es braucht dir nicht leid zu tun", unterbrach er knapp. „Du warst als Ankerwache eingeteilt, nicht als Kindermädchen. Die beiden sind alt genug, um zu verstehen, was Borddisziplin ist." Carberry nickte. Daß auf einem Schiff ein neun oder zehn Jahre alter Moses fuhr, war durchaus nichts besonderes. Daß so ein Schiffsjunge zu gehorchen hatte, verstand sich von selbst. Nur mit dem Unterschied, daß auf den meisten anderen Schiffen der Moses wie der letzte Dreck behandelt wurde, mehr Prügel als Essen bezog und schlimmer als ein Sklave schuften mußte, während die Zwillinge auf der „Isabella" ein vergleichsweise paradiesisches Leben hatten. „Trotzdem sind sie weg", sagte Ed Carberry trocken. „Seid ihr sicher, daß sie sich nicht nur versteckt haben, um euch einen Streich zu spielen?" „Ganz sicher. Erstens wäre das ziemlich blödsinnig gewesen, weil wir ihr Verschwinden ja nur rein zufällig bemerkt haben. Zweitens haben wir gesucht. Und wenn wir sie gefunden hätten, wäre das Geschrei bestimmt bis hierher zu hören gewesen", fügte er grimmig hinzu. Letzteres war ganz sicher ein Irrtum: die beiden Jungen pflegten eine fällige Abreibung ohne einen Muckser hinzunehmen.
Diesmal war eine Abreibung fällig. Wenn es um einen dummen Streich ging, da konnte man schon mal ein Auge zudrücken, zumal stets mindestens die Hälfte der Crew zur Stelle war, um ein gutes Wort für die Missetäter einzulegen. Aber Befehl war Befehl, und was die notwendige Disziplin betraf, da verstand der Seewolf keinen Spaß. Von dieser Disziplin konnte nicht nur das Leben der Kinder, sondern die Sicherheit des ganzen Schiffs abhängen. Wer das nicht begreifen konnte oder wollte, der mußte dann eben die Folgen tragen. Der Seewolf holte tief Luft. „Wir durchkämmen die Insel", ordnete er an. „Und wenn wir die Bengel erwischen, bist du an der Reihe, Ed. Verfall nur nicht auf den Gedanken, dir erst noch einen Haufen fauler Ausreden anzuhören." „Aye, aye, Sir", brummte Carberry. Es klang schon gar nicht mehr so grimmig. Der wüste narbengesichtige Profos der „Isabella" hatte im Grunde ein weiches Herz. Aber das würde ihn bestimmt nicht daran hindern, seines Amtes zu walten.
Die Zwillinge waren naß wie gebadete Katzen, aber sehr zufrieden. Von der Landzunge hatten sie einen weiten Bogen geschlagen, um sich von der Rückseite der Insel aus an den Ort des Geschehens heranzupirschen. Zeuge der Zeremonie zu werden, bei der Smoky das Ehejoch weider abstreifte, das er sich versehentlich eingehandelt hatte, war ihnen inzwischen, gar nicht mehr so wichtig. Das Unternehmen als solches bereitete ihnen Spaß. Nächtlicherweise über eine unbe-
47 kannte Insel zu pirschen, sich anzu- starrten die beiden Jungen auf die schleichen, das angenehme Prickeln Szene und fragten sich, ob sie hier im Nacken zu spüren, das von der wirklich Zeugen einer Ehescheidung Gefahr des Entdecktwerdens her- nach Art der Salomon-Inseln wurrührte - das waren Dinge, die die den. Sie bezweifelten es. Aber sie warHerzen zweier achtjähriger Jungen teten, bis der Trupp an ihnen vorbeihöher schlagen ließen. Ihre Augen leuchteten auf, als sie gezogen war, bevor sie den Mund nach einer Weile Geräusche hörten. auftaten. „Glaubst du, das sein komisches Sie waren einem schmalen Pfad gefolgt, jetzt schlugen sie sich eilig Ritual?" hauchte Philip und fiel vor seitwärts in die Büsche. Reglos blie- Aufregung wieder in sein schauderben sie in der Deckung verfilzter haftes Englisch von früher zurück. Schlingpflanzen kauern und lauschHasard erging es nicht besser. „Nix ten. Ritual! Ich glaube, Frau will Smoky behalten für Ehe. Jetzt sie ihn brinSchritte, kein Zweifel! Die Schritte von mehreren Men- gen weg, um zu verstecken." „Wir hinterher?" schen, auffallend langsam, schleppend, mühsam. Philip und Hasard „Jawohl", sagte Hasard gefaßt waren schlaue Kerlchen und hatten was sich auch in seinem Englisch in ihrem abenteuerlichen Leben eine ausdrückte. „Wir werden sie verfolMenge Erfahrungen gesammelt. Sie gen und sehen, wo sie ihn hinbrinbegriffen sofort, daß da ein schwerer gen." Gegenstand über den Pfad geLautlos verließen die beiden Junschleppt wurde, und wechselten ei- gen ihr Versteck. nen erstaunten Blick. Auf nackten Sohlen huschten sie Zwei Minuten vergingen, dann er- über den Pfad. Schon nach wenigen schien die kleine Karawane im Schritten hatten sie die vier Perlen Blickfeld der Zwillinge. der Südsee mit ihrer menschlichen Vier braunhäutige, schwarzhaari- Last wieder im Blickfeld. Wie Schatge Südsee-Ladys, nur mit Grasrök- ten folgten sie ihnen, bis sie eine kleiken und Blumenkränzen bekleidet. ne Bucht an der Nordseite der Insel Da die Ladys schwer zu schleppen erreichten. Dort wurde das verhatten, verrutschten die Kränze schnürte Bündel in den Sand gewordauernd und gaben beachtliche Aus- fen, und zwei der Südsee-Ladys blicke frei. Aber Philip und Hasard zerrten ein leichtes Auslegerboot waren noch nicht in dem Alter, in aus seinem Versteck. dem sie sich sonderlich für weibliche Der Decksälteste der „Isabella" Anatomie interessiert hätten. bäumte sich auf und fluchte. Sie interessierten sich für das ver„Was soll das?" knirschte er. „Was schnürte Bündel, das die vier Gra- habt ihr mit mir vor, ihr verdammzien in einem großen, aus Lianen ge- ten Hexen, ihr ..." flochtenen Netz transportierten. Nuami glitt neben ihn und lächelte süß. „Smoky!" „Wir dich bringen auf Insel paar Philip flüsterte den Namen nicht, er formte ihn nur mit den Lippen. Seemeilen östlich von hier", zwitAuch sein Bruder hatte den Decksäl- scherte sie. „Dort deine Leute dich testen erkannt. Völlig verblüfft nicht finden. Du Nuamis Mann. Du
49 wirst sein König auf Mond-Insel." „Ich will aber nicht sein König auf Mond-Insel!" schrie Smoky verzweifelt, ohne zu merken, daß er unwillkürlich in Nuamis Sprachstil verfiel. „Ich bleiben Decksältester von - oh, verdammt! Das kann doch nicht dein Ernst sein!" „Nix Ernst! Großes Vergnügen! Du noch merken. Nuami wird sorgen, daß du hast schönes Leben, genau wie Großes Donnerer." „Ich bin aber nicht Großer Donnerer. Ich will nicht, kapierst du das nicht? Ich will nicht!" „Großes Donnerer wollte zuerst auch nicht", sagte Nuami ungerührt. „Später er hat gemerkt, Leben mit Nuami und Schwestern von Nuami sehr schön. Du wirst auch merken." „Nein! Nein, ich ..." „Du jetzt still. Sonst Schlag auf Kopf, du verstehst?" Smoky verdrehte die Augen und gab ein paar Flüche von sich. Völlig neuartige Flüche, bei denen der Teufel in der Hölle errötet wäre und die sich die Zwillinge getreulich einprägten. Laut würden sie sie allerdings nicht von sich geben, das war zu gefährlich für ihre Kehrseiten. Aber man konnte sie zum Beispiel dem Papagei Sir John beibringen oder... Sie hörten auf, darüber nachzudenken, und beobachteten gespannt, wie Smoky auf das Boot verfrachtet wurde. Die Perlen der Südsee richteten das Segel auf. Wind fuhr hinein und füllte es, der Katamaran glitt über das Wasser und war Minuten später jenseits der Bucht verschwunden. Philip und Hasard wechselten einen Blick. „Und jetzt?" fragte Philip. „Rennen wir zum Strand und schlagen Alarm?"
Hasard überlegte. Natürlich mußten sie Alarm schlagen, das war gar keine Frage, auch wenn sie sich dadurch verrieten. Schließlich ging es um Smoky, da spielte ein bißchen Dresche nur eine Nebenrolle. Aber Hasard junior hielt es doch für angebracht, die Sache so zu gestalten, daß das Donnerwetter nicht sofort und mit voller Wucht über sie hereinbrach. „Wir schwimmen zurück zum Schiff", schlug er vor. „Mister Carberry und Blacky werden Alarm schlagen. Dann gibt es erst mal eine große Aufregung, Smoky wird gerettet, und hinterher wird man uns vielleicht vergessen." Und vor allem, aber das sagte er nicht, enthob sie diese Lösung der Notwendigkeit, als erstes ausgerechnet ihrem Vater unter die Augen zu treten. In solchen Situationen war Philip Hasard Killigrew nämlich in erster Linie der Kapitän der „Isabella", und Hasard und Philip waren in erster Linie Schiffsjungen. Und der Blick, mit dem der Seewolf Disziplinlosigkeiten quittierte - vor diesem Blick hatten schon ganz andere Reißaus genommen. „Also dann", sagte Philip junior matt. Die beiden kehrten um, schlüpften wieder ins Gebüsch und marschierten den Weg zurück, den sie genommen hatten. Eigentlich hätten sie sich beeilen sollen. Aber in einer Situation, in der sie sich viel lieber ein Loch gebuddelt hätten, um sich zu verkriechen, wäre das wohl ein bißchen viel verlangt gewesen. 9. Blacky stand auf dem Achterka-
50 stell und suchte aufmerksam mit den Die Schwimmbewegungen der Augen die Insel ab. Die Feuer am Strand brannten Zwillinge wurden merklich langsalangsam herunter. Ein paar Fackeln mer. Daß man ihr Verschwinden bebewegten sich in der Dunkelheit, ab und zu waren die Stimmen der Män- merkt haben mußte, war ihnen ner zu hören, die sich untereinander schon klargeworden, als sie einen verständigten. Große Aufregung Blick zur Insel zurückgeworfen hatherrschte eigentlich nicht. Auf der ten. Der leere Strand und die Fackeln Insel konnte den Kindern nicht viel sprachen deutlich genug. Jetzt wapassieren, so daß die Suchaktion ren sie auch noch von Bord der „Isabella" erspäht worden. Der Signalmehr eine Frage des Prinzips war. Blackys Blick glitt über die dunkle, schuß dröhnte ihnen recht bedrohleicht bewegte Wasserfläche, dann lich in den Ohren. Sie sprachen es nicht aus, aber sie hofften beide, daß stutzte er plötzlich. Aufmerksam kniff er die Augen Blacky und nicht der Profos an Bord zusammen. In der leichten Dünung, zurückgeblieben war, weil sie sonst die von den Spiegelbildern der Ster- nämlich erst gar keine Gelegenheit ne wie mit Quecksilber-Tropfen ge- erhalten würden, mit ihren Neuigtupft wirkte, hatte er einen dunklen keiten von ihrer Missetat abzulenSchatten wahrgenommen. Nein, ken. zwei Schatten! Sie hielten mit gleich„Mist", murmelte Hasard und mäßigen Bewegungen auf die Galeo- spuckte etwas Wasser aus. ne zu, und ein paar Sekunden später „Kann man nichts machen", meinte konnte Blacky deutlich die Köpfe Philip schicksalsergeben. von zwei Schwimmern erkennen. Sehr langsam und widerwillig schwammen sie weiter. Daß dies ein Philip und Hasard! Diese Rübenschweinchen, dachte taktischer Fehler war, ging ihnen Blacky belustigt. Wahrscheinlich erst auf, als drüben am Strand die hatten sie gemerkt, daß nach ihnen Beiboote ins Wasser befördert wurgesucht wurde, und wollten nun ret- den. Jetzt schwammen sie wie die Teuten, was noch zu retten war. Viel nutzen würde es ihnen nicht, in solchen fel, aber jetzt konnten sie nicht mehr Dingen verstand der Seewolf absolut verhindern, daß sie die Jakobsleiter keinen Spaß. Na ja, auf jeden Fall gleichzeitig mit den Booten erreichkonnte man jetzt die Suchaktion ab- ten. Ihr Vater saß im Bug und sah gar brechen. Blacky grinste leicht, als er die nicht wütend aus, was nichts Gutes Steinschloß-Pistole aus dem Gürtel ahnen ließ. Ed Carberry hatte das zernarbte Rammkinn vorgeschoben zog. Im nächsten Moment peitschte der und schleuderte fürchterliche Blicke, vereinbarte Signalschuß durch die doch die kannte man schließlich. Dan Stille, und wenig später begannen O'Flynn und ein paar andere mußten sich die tanzenden Fackeln auf der sich ein Lächeln verbeißen. Aber das Insel wieder in Richtung Strand zu besagte nichts. Die allgemeine Lage war zweifellos so geartet, daß man bewegen. sich am besten auf dem Meeresgrund * verkrümelt hätte, um frühestens
52 nächstes Jahr wieder aufzutauchen. Hasard junior holte tief Luft. „Wir haben ..." begann er hervorzusprudeln. „Aufentern!" befahl Hasard knapp. „Aber es ist wichtig! Wir haben ..." „Aufentern!" Gegen diesen Ton gab es keinen Widerspruch. Die beiden enterten auf. Oben nahm sie Blacky in Empfang und packte je einen triefenden Zwilling im Genick. „Wir haben ..'." begann Hasard junior wieder. „Ruhe!" donnerte der Profos, der sich gerade über das Schanzkleid schwang. „Ihr beiden haltet jetzt die Klappe, bis ihr gefragt werdet! Ohne Erlaubnis das Schiff verlassen, was, wie? Das ist ja wohl die Höhe! Da kriegt ja der Leibhaftige Magenschmerzen, da..." In diesem Ton ging es weiter, während der Rest der Crew auf der Kuhl erschien. Ed Carberrys donnernde Strafpredigt war einfach nicht zu unterbrechen. Und dann folgte der unvermeidliche Satz: „Her mit dem Tauende!" „Halt!" prostestierte Hasard junior. „Hört doch erst mal zu, wir ..." „Ruhe!" wetterte der Profos. „Ihr wollt euch wohl drücken, was, wie? Das hab ich gern!" „Phh!" gab Hasard junior trotzig von sich. Daß sie sich drücken wollten, konnten sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Wenn man ihnen nicht zuhörte - na bitte! Sie wechselten einen Blick, und dann hüllten sie sich in würdevolles Schweigen, bis sie weg hatten, was sie im übrigen durchaus als verdient empfanden. „Könnt uns jetzt vielleicht mal jemand zuhören?" fragte Hasard junior giftig.
„Nein", sagte der Profos entschieden. „Ihr marschiert jetzt in die Vorpiek. Und wenn ihr morgen früh wieder erscheint, könnt ihr meinetwegen reden, bis ihr Fransen am Mund habt. Ab mit ihnen, Blacky!" Die Zwillinge wechselten einen weiteren Blick. „Phh", wiederholte Hasard. „Wie Sie meinen, Mister Profos, Sir", sagte Philip höhnisch. Dann schwangen sie herum und marschierten ab - tief gekränkt und in dem Bewußtsein, daß die anderen ihren schweren Fehler schon noch einsehen würden. * Ein paar Minuten später pullten Ed Carberry, Sam Roscill und Bob Grey zum Strand zurück. Im Osten graute bereits der Morgen, und das hieß, daß Smoky nun endlich aus seiner mißlichen Lage erlöst werden konnte. Die Eingeborenen, die noch am Strand zurückgebieben waren, bestätigten das. In Nuamis Hütte würde der Medizinmann sozusagen das letzte Wort haben. Dann war dem geheiligten Brauchtum endgültig Genüge getan. Der alte Schamane ging voran. Die Seewölfe und der Schwarm der etwas übernächtigten Südsee-Schönen folgten ihm. Ed Carberry stellte fest, daß weder Luana noch Muna noch Cori dabeiwaren, doch er sah keinen Anlaß, sich über diese Tatsache den Kopf zu zerbrechen. Wahrscheinlich hatten sich die drei Grazien zurückgezogen, weil sie sich immer noch wegen ihres Attentats auf Dan O'Flynn, Gary Andrews und Stenmark genierten. So sah das jedenfalls der Profos. Daß die drei Perlen durchaus nicht zerknirscht und schuldbewußt waren, sondern
im Gegenteil längst ein neues Attentat unternommen hatten, konnte er nicht ahnen. Selbst als sie Nuamis leere Hütte betraten, gingen seine Gedanken nicht sofort in diese Richtung. Er sah sich um, runzelte die Stirn und schob sein Rammkinn vor. Der Medizinmann und die Südsee-Schönen schnitten überraschte Gesichter und fuchtelten mit den Händen, um zu dokumentieren, daß sie nicht begriffen, was los war. Sam Roscill grinste frech. Seinen funkelnden schwarzen Augen war anzunehmen, was er dachte: daß es der Decksälteste wohl doch nicht geschafft hatte, Nuamis verführerischem Anblick die ganze Zeit über zu widerstehen. Allerdings leuchtete ihm nicht ganz ein, warum sich die beiden dann aus der schönen gemütlichen Hütte weggerührt hatten. Der Profos fand das ebenfalls rätselhaft. Davon abgesehen glaubte er nicht daran, daß sich Smoky irgendeine Eskapade geleistet hatte, die nach den letzten Ereignissen unverantwortlich gewesen wäre. Nicht Smoky! Dem konnte es zwar mal passieren, daß er - zumal nach einem ordentlichen Quantum Rum - in irgendeinen Schlamassel stolperte. Aber wenn er die Lage überblickte und wußte, um was es ging, dann war er die Zuverlässigkeit selber. Edwin Carberry stemmte die Fäuste in die Hüften. „Er ist weg", sagte er überflüssigerweise. „Und Nuami ist auch weg", setzte Bob Grey hinzu, obwohl das jeder sehen konnte. Der Profos durchbohrte ihn mit einem Blick. „Was glaubst du, was ich gerade sagen wollte, du Hirsch? Außerdem sind Luana, Cori und Muna
53 verschwunden. Und zwar waren sie schon eine ganze Weile weg, als wir anderen noch am Strand herumsaßen. Na? Dämmert es?" Es dämmerte. Sam Roscill kratzte sich am Kopf, Bob Grey rief sich mit dem Handrükken über das Kinn. Ed Carberry fuhr zu dem Medizinmann und den Südsee-Ladys herum, die unwillkürlich einen Schritt zurückwichen. „Wo steckt er?" knurrte der Profos. „Wo, zum Teufel, haben diese Hexen ihn hingebracht?" Der alte Schamane warf abwehrend die Arme in die Luft und sprudelte Beteuerungen in seiner Heimatsprache hervor. Die SüdseeSchönen schworen - in gebrochenem Englisch, aber deshalb nicht überzeugender - überhaupt nicht zu wissen, von was die Rede sei. Wenn man ihnen nicht glaube, könne man ja die Insel durchsuchen, versicherten sie treuherzig - und damit stand für die Seewölfe schon mal fest, daß sie ihren Decksältesten hier vermutlich nicht mehr finden würden. Und wo dann? Laut Seekarten bestanden die Salomonen aus einer verdammten Menge großer, kleiner und kleinster Inseln. Sollte man die etwa alle absuchen? Ed Carberrys Gedanken beschäftigten sich mit den eventuellen Erfolgsaussichten. Dabei wurde sein Blick so mörderisch, daß der Medizinmann mit seinem Anhang schleunigst das Weite suchte.„Hiergeblieben!" brüllte der Profos, doch seine Donnerstimme führte nur dazu, daß sich die Flüchtenden noch mehr beeilten. Binnen Sekunden waren sie in alle Himmelsrichtungen auseinandergestoben. Das Dorf lag leer im Licht des erwachenden Morgens. Leer - und so still, wie es überhaupt sein konnte,
54 wenn drei Seewölfe lauthals um die Wette fluchten. Aber vom Fluchen wurde die Sache nicht besser. „Bob, du signalisiert zur ,Isabella' hinüber", bestimmte Carberry. „Sam und ich fangen schon mal an, das Dorf zu durchsuchen. Diesen Südsee-Engeln traue ich nicht mehr über den Weg! Die haben uns vielleicht nur erzählt, wir könnten uns überall umsehen, weil sie hofften, daß wir es dann nicht tun würden." Bob und Sam nickten nur. Das war immerhin eine Möglichkeit. Bob Grey schwang herum und beeilte sich, wieder in Richtung Strand zu laufen. Sam Roscill und der Profos gingen indessen daran, zunächst einmal die Hütten in der unmittelbaren Nachbarschaft zu inspizieren. Es dauerte nicht lange, bis sie Verstärkung erhielten. Die Suchaktion, die Blackys Signalschuß vorhin unterbrochen hatte, wurde mit neuem Ziel von vorn begonnen. Nur die Eingeborenen beteiligten sich diesmal nicht. Die hatten sich irgendwo versteckt, und nach Meinung der Seewölfe ließ das auf ein ziemlich schwarzes Gewissen schließen. Der Teufel hole den Großen Donnerer, dachte Philip Hasard Killigrew erbittert. Wenn der Bursche sich hier nicht als Pascha eingenistet hätte ... Aber es war sinnlos, diesem Unbekannten die Schuld in die Schuhe zu schieben. Abgesehen davon konnte der Teufel den Großen Donnerer ohnehin nicht mehr holen, weil er ihn schon vorher geholt hatte, und das auf eine ziemlich schaurige Art. Die Seewölfe durchkämmten jeden Winkel der Mond-Insel vergebens.
Smoky blieb verschwunden. Und mit ihm Nuami und Luana, Cori und Muna. Die Wahrscheinlichkeit war groß, daß sie sich auf eine andere Insel abgesetzt hatten, und diese niederschmetternde Erkenntnis ließ die Stimmung endgültig unter den Gefrierpunkt sinken. 10. Die Vorpiek der „Isabella" war ein ziemlich unangenehmer Aufenthaltsort. Fest stand, daß mit diesem finsteren, stinkenden Loch keiner der Rübenkeller konkurrieren konnte, in die möglicherweise widerspenstische Knaben an Land gesperrt wurden. Aber Philip und Hasard Killigrew hatten schon in iher Landratten-Zeit in einer Umgebung gelebt, in der man mit widerspenstigen Knaben nicht gerade sanft umging. Die Verbannung in die Vorpiek konnte die Zwillinge also nicht besonders schrecken. Sie waren beleidigt. Man hätte sie wenigstens zu Wort kommen lassen müssen, das wäre, wie sie fanden, das mindeste gewesen. Manchmal war es mit den Erwachsenen schier zum Verzweifeln. Aber bitte! Wenn sie nicht zuhören wollten - sollten sie doch sehen, wie sie fertigwurden. „Jetzt ist Smoky bestimmt schon auf der anderen Insel", mutmaßte der kleine Philip. „Jawohl", sagte Hasard im Tonfall zufriedener Schadenfreude. „Smoky ist weg, und die anderen werden suchen, bis sie schwarz sind. Eigene Schuld! Geschieht ihnen recht!" „Hmm", meinte Philip zweifelnd. „Etwa nicht?" fragte Hasard streitlustig.
55 Die Zwillinge hatten ihre eigene, erfolgreich ausprobierte Methode, der Gefangenschaft in der Vorpiek zu entwischen. Dazu brauchten sie nur ihre Entermesser, die stabil genug waren, um damit eine Bodenplanke zu lockern. Durch das schmale Loch konnten sie, geschickt, wie sie waren, in die Bilge hinuntersteigen. Dort wäre jeder erwachsene Mann hoffnungslos stekkengeblieben und vermutlich abgesoffen - aber den beiden artistisch geschickten Jungen fiel es nicht schwer, sich ein Stück unmittelbar über dem Kiel vorwärts zu schlängeln und dann in Höhe des Gangs vor der Vorpiek eine weitere Bodenplanke zu lockern, die es gestattete, wieder nach oben zu steigen. Wie gesagt: sie hatten das schon einmal praktiziert. Damals in der ersten Zeit auf der „Isabella", als es ihnen noch schwerfiel, einzusehen, daß man eine verdiente Strafe gefälligst ohne Murren hinzunehmen hatte. Jetzt gingen sie zum zweiten Male ans Werk. Es war mühselig, die Planke zu lockern. Sie brauchten eine Weile, und anschließend würde der Zimmermann Arbeit haben, weil die Nägel natürlich nicht mehr faßten. Aber dafür, fanden die Zwillinge, konnte man sie ja nun wirklich nicht zur Verantwortung ziehen.
„Schon. Aber Smoky kann doch nichts dafür, oder?" „Hmm", meinte diesmal Hasard. Für eine Weile verfielen sie in düsteres Brüten. Sehen konnten sie sich in dem finsteren Loch nur schemenhaft. Sie hockten auf der Gräting, die Hände um die Knie geschlungen. Eigentlich hätten sie es beide vorgezogen zu stehen. Aber da keiner es als erster aussprechen wollte, hatten sie sich mannhaft auf ihre lädierten Kehrseiten niedergelassen. „Du, Hasard", sagte Philip nach einer Weile. „Ja?" „Wir müssen was unternehmen. Sonst wir sind schuld, wenn Smoky was zustößt." „Ha! Die anderen sind schuld! Sie haben uns überhaupt nicht zugehört, sie..." „Wir hätten es Blacky sagen können. Klar, wir waren zu wütend. Aber wenn du bist wütend, du gehst ja auch nicht hin Schiff anbohren oder Mast absägen, oder?" „Stimmt!" rang sich Hasard nach kurzem innerem Kampf zur höheren Weisheit durch. „Also brechen wir jetzt aus der Vorpiek aus, wie wir's schon einmal getan haben, und ..." „... und wenn wir an Deck erscheinen, schnappt uns Profos, und es setzt was." „Ja", sagte Philip. „Aber das ist „Himmel, Arsch und Wolkenegal. Smoky ist wichtiger." bruch", sagte Philip Hasard Killi„Stimmt", wiederholte Hasard. Dabei kam er sich sehr heroisch grew. Er sagte es sehr leise und sehr akvor. Obwohl es, ganz nebenbei, mit zentuiert, und die Männer, die sich dem edlen Märtyrertum ohnehin halb so wild war. Wenn sie an Deck inzwischen wieder auf der Kuhl vererschienen, würde diese Frechheit sammelt hatten, zogen erschrocken dem Profos erst mal die Sprache ver- die Köpfe ein. Der Seewolf fluchte schlagen - lange genug, um ihm eine bei weitem nicht sooft wie die meisten anderen. Wenn er doch fluchte, ganze Menge zu erzählen.
56 dann fluchte er meist laut und wütend. Und wenn er leise und akzentuiert fluchte, dann klang das so, daß der Teufel den Schwanz eingezogen hätte und dem Gevatter Tod vor Schreck die Sense aus der Hand gefallen wäre. Ben Brighton fuhr sich ratlos mit allen fünf Fingern durch das dunkelblonde Haar. Ed Carberry kratzte ausgiebig sein zernarbtes Kinn. Big Old Shane strich über seinen grauen Vollbart, die anderen hätten einen unbeteiligten Beobachter in diesen Sekunden sicher mehr an eine verlorene Hammelherde erinnert, denn an die tatkräftige Crew der „Isabella". Nicht einmal Dan O'Flynn, sonst stets mit dem Mundwerk vorn, konnte sich in diesem Fall zu einem Kommentar entschließen. Reden war sinnlos. Jedenfalls solange nicht über eine geniale Idee geredet wurde - und die hatte niemand. Smoky war verschwunden. Der Medizinmann verstand plötzlich kein Englisch mehr, die SüdseeSchönen beteuerten ihre Unschuld, Drohungen und Versprechungen nutzten nichts, Gewalt konnte man schlecht anwenden. Also würde den Seewölfen wohl nichts anderes übrigbleiben, als tatsächlich die Salomonen nach ihrem Decksältesten abzusuchen. Ausgerechnet Bill war es, der sich als erster mit den Tatsachen abfand. „Ich - ich glaube, wir können uns auf die unbewohnten Inseln in unmittelbarer Nähe beschränken", sagte er etwas unsicher. „Ha!" schnaufte Carberry. „Du abgebrochener Riese meinst wohl..." „Er hat recht", sagte Hasard knapp. „Und je eher wir mit der Suche anfangen, desto besser. Ben, Shane ..." Weiter gelangte er nicht. Denn im selben Augenblick sprang
geräuschvoll das Schott zum Vordeck auf. Philip und Hasard spazierten heraus. Die Hände in den Hosentaschen, die Nasen in die Luft gereckt - genauso, wie sie das schon einmal getan hatten. Nur daß sie diesmal nicht zum AchterdeckSchott durchmarschierten, sondern stehenblieben, sehr aufrecht natürlich, und herausfordernd in die Runde blickten. Daß sie tropfnaß waren und nach Bilgewasser dufteten, spielte bei so einem imponierenden Auftritt kaum eine Rolle. Allerdings genossen sie diesen Auftritt nur solange, bis Edwin Carberry tief Luft holte. Da nämlich mußten sie sich beeilen, wenn sie noch was sagen wollten. „Wir wissen, wo Smoky steckt", verkündete Hasard junior. „Haben wir auf der Insel beobachtet", setzte Philip Junior hinzu, „Jawohl!" Der Profos atmete wieder aus. Die anderen starrten ziemlich verblüfft auf die beiden Jungen, und jetzt endlich erhielten sie Gelegenheit, ausführlich zu berichten. Danach blieb es für ein paar Sekunden still. „Und warum, zum Teufel, habt ihr mir das vorhin nicht gesagt?" knirschte Blacky schließlich. „Weil Mister Carberry Maulhalten befohlen hatte", erklärte Hasard junior. „Und weil wir erst überlegen mußten, ob bei dieser Lage Befehlsverweigerung gerechtfertigt ist", fügte Philip Junior hinzu. „O verdammt!" stöhnte Carberry. „Und das konntet ihr euch nicht zufällig ein bißchen schneller überlegen, ihr Läuseknacker, ihr ..." „Doch, Mister Profos, Sir! Überlegen ging schnell. Nur eine Bodenplanke in der Piek loszureißen, ging
57 nicht so schnell. Und durch die Bilge kriechen ging auch nicht so schnell. Schließlich sind wir ja im Moment nicht richtig in Form, Mister Profos, Sir." Edwin Carberry verdrehte die Augen und fand keine Worte. Der Seewolf unterdrückte ein Grinsen. Er sah die Erleichterung auf den Gesichtern der anderen, und dann beeilte er sich, die Männer aufzuscheuchen, weil sie nämlich drauf und dran waren, die Zwillinge als Helden des Tages zu feiern. Das wäre nach Hasards Meinung denn doch etwas übertrieben gewesen. „Klar zum Ankerlichten!" dröhnte seine Stimme über die Kuhl. „Wir laufen unter Fock und Besan aus der Bucht und gehen auf Ostkurs. An die Brassen und Fallen, aber ein bißchen plötzlich!" * Das winzige Eiland bestand aus ein paar Felsen, etwas Sand, zwei Dutzend Palmen und einem Wäldchen, das sich um die einzige Quelle angesiedelt hatte und einen reichlichen Vorrat an Früchten bot. Eine einzelne Hütte auf der Lichtung unmittelbar an der Quelle gehörte ebenfalls zum Idyll. Und eine schöne, behagliche Hängematte, die zwischen zwei Palmenstämmen hing und zu Mußestunden im kühlen Schatten einlud. Smoky war aber nicht nach Mußestunden zumute. Außerdem fand er es grotesk, mit gefesselten Armen und Beinen in dieser Hängematte zu schaukeln. Daran konnte auch die Anwesenheit von drei schönen Isulanerinnen nichts ändern. Im Gegenteil: er empfand die Art, wie sie ihn behandelten, als böswilligen Hohn.
Luana kraulte sein Haar. Nuami versuchte - vergeblich - ihn mit zerkleinerten Früchten zu füttern. Cori fächelte ihm mit einem Palmenwedel Luft zu. Und Muna hielt unterdessen Wache, damit niemand die Idylle störte. Smokys Blick wanderte zu der Muskete des „Großen Donnerers", die an der Hütte lehnte. Ob sie den Burschen wohl auch erst zum Paket verschnürt hatten, bevor er sich bequemte, den König der Mond-Insel zu spielen? Na ja, vielleicht hatten sie das nicht nötig gehabt. Der „Große Donnerer" war offenbar ein Schiffsbrüchiger gewesen, der froh sein mußte, mit dem Leben davongekommen zu sein. Außerdem spielte die Frage überhaupt keine Rolle. Smokys wegen hätte sich die halbe Menschheit danach drängen können, den König der Mond-Insel zu spielen. Er, der Decksälteste der „Isabella", wollte auf sein Schiff zurück, und damit basta! Er redete wie mit Engelszungen, doch es nutzte nichts. Die Ladys schienen entschlossen, ihn den ganzen Tag in der Hängematte zu wiegen. Und vielleicht auch noch morgen, übermorgen - der Himmel mochte wissen, wie lange. Eintönig war die Sache zu allem Übel auch noch. Das änderte sich erst, als plötzlich ein schriller Alarmschrei aus der Richtung von Munas Aussichtsposten zwischen den Felsen erklang. Die drei restlichen Grazien wechselten erschrockene Blicke. Sie wurden so blaß, wie das bei ihrer goldbraunen Haut überhaupt nur möglich war. Smoky spürte ein gelindes Kribbeln in der Magengrube. Ihm schwante Schlimmes, und Nuamis nächste Worte bestätigten
58 seine Befürchtungen. Die Kannibalen griffen an. Irgendwie mußte es ihnen gestern nacht gelungen sein, die vier Grazien bei ihrem heimlichen Tun zu beobachten. Zwar hatte der Beschuß von der Drehbasse der „Isabella" nur zwei Boote heilgelassen, doch die faßten immer noch ein Dutzend Männer, also genug, um eine kritische Situation heraufzubeschwören. Smoky verzog das Gesicht. „Und jetzt?" erkundigte er sich grimmig. „Würdet ihr mich freundlicherweise losbinden, oder wollt ihr ganz allein mit eurem Donnerrohr gegen zwölf Männer kämpfen?" Die Perlen der Südsee beratschlagten. Die Gefahr dünkte ihnen groß, daß sie ihren zukünftigen MondinselKönig, einmal der Fesseln ledig, später nicht wieder bändigen konnten. Aber dann, als sie in einiger Entfer-
nung das Kriegsgeschrei der Kannibalen hörten, entschlossen sie sich doch, lieber nicht auf Smokys männlichen Schutz zu verzichten. Sekunden später war er frei, schnappte sich das Donnerrohr und enterte zu den Felsen auf, um sich einen Überblick zu verschaffen.
Tatsächlich lagen zwischen der Mond-Insel und dem winzigen Eiland, von dem die vier Südsee-Schönen gesprochen hatten, nur wenige Seemeilen. Die „Isabella" segelte mit raumem Wind unter Vollzeug nach Osten. Inzwischen stieg die Sonne über die Kimm, tauchte Himmel und Meer in Glut, und mitten in diesem roten Leuchten schien der schwarze Kegel der Insel plötzlich wie eine gespenstische Vision zu schwimmen.
59 Noch eine halbe Stunde, schätzte der Teufel seine Hand im Spiel hatte. der Seewolf. Die rote Glut erlosch, Als die „Isabella" leicht nach Backdie Sonne kletterte höher und ließ bord herumschwang, um die Norddas Wasser in grellem, hartem Licht seite des Eilands zu erreichen, waren die beiden Drehbassen am Bug schon gleißen. Dan O'Flynn war in den Großmars feuerbereit. Die langen Läufe von geentert, weil er die schärfsten Au- Musketen ragten über das Steuergen an Bord hatte. Er spähte zu der bord-Schanzkleid, und selbst die Insel hinüber und versuchte, eine Zwillinge hatten die Hände um die Spur von Smoky und den vier Süd- Griffe ihrer kleinen Entermesser geschlossen, als wollten sie demonsee-Ladies zu entdecken. Da er die Pflichten eines Ausgucks strieren, daß sie nicht untätig bleiben kannte, vernachlässigte er auch die würden, wenn es galt, Smoky vor Rundum-Sicht nicht. Deshalb ent- dem Appetit der Kannibalen zu retging ihm nicht, was die vier Grazien ten. auf ihrer Insel etwa um dieselbe Zeit Der erste Schuß allerdings fiel in hellen Schrecken versetzte. nicht an Bord der „Isabella". Wie ein zorniger Schwan rauschte „Auslegerboote Backbord voraus!" Hasard preßte die Lippen zusam- die Galeone vor dem Wind auf die men, enterte ein Stück in die Besan- Nordseite der Insel. Hasard ließ etwanten und zog das Spektiv ausein- was anluven, um parallel zur Küste ander. Auch er konnte die Boote zu drehen, und gleichzeitig Segel deutlich erkennen: zwei Katama- wegnehmen, weil er die beiden Ausrane, jeweils mit einem halben Dut- legerboote schließlich nicht rammen zend kriegerischer braunhäutiger wollte. Bei den ersten Kommandos Gestalten besetzt. Rasch glitten sie warfen die Eingeborenen die Köpfe auf die Insel zu, und im nächsten Mo- herum - und gleichzeitig blitzte es ment waren sie hinter der Landzun- grell zwischen den Felsen der Insel auf. ge verschwunden. Die Kugel klatschte in eins der KaDer Seewolf sprang wieder auf das tamaran-Segel. Achterkastell. „Arwenack!" wehte Smokys Stim„Abfallen!" peitschte seine Stimme. „Klar bei Bugdrehbassen. Hand- me etwas dünn herüber. „Arwenack!" folgte die donnernde feuerwaffen klarmachen!" „Hopp-hopp, ihr Rübenschweine!" Antwort von der „Isabella" - und das tobte der Profos los. „Ein bißchen war zu viel für die eben noch anplötzlich, ihr lahmen Säcke, oder griffslustigen Kannibalen. wollt ihr riskieren, daß die KannibaSie hatten mit einem einzelnen len unseren Decksältesten fressen, Mann und vier sanften Südseewas, wie?" Schönheiten als Opfer gerechnet. Jetzt glitt eine große Galeone auf Es hätte der Flüche nicht bedurft: die Männer standen längst auf ihren sie zu, bemannt mit einer Crew, die Posten. Ein Dutzend schlecht be- aus höllischen Dämonen bestehen waffneter Eingeborener in zwei Ka- mußte, da nur höllische Dämonen tamaranen stellten wahrlich keine Feuer regnen lassen konnten. Der fürchterliche Bedrohung dar. Aber Schock, den die Angreifer auf ihrer die Seewölfe wußten zu gut, was pas- Heimat-Insel erlebt hatten, steckte sieren konnte, wenn der Zufall oder ihnen noch tief in den Knochen. Wie-
60 der einmal schlug ihr wildes Kriegsgeschrei in noch wilderes Entsetzensgeheul um. In panischer Hast wendeten sie ihre Boote und versuchten verzweifelt, Abstand zu gewinnen. Smoky mußte ganz schön wütend sein, denn er schickte ihnen noch ein paar Musketenkugeln hinterher. Hasard verzichtete darauf, die Boote in Fetzen schießen zu lassen: sie waren keine Gefahr mehr. Während sie kleiner und kleiner wurden, drehte die „Isabella" bei und ging vor Anker, und wenig später pullten der Seewolf, Ed Carberry und Ben Brighton mit dem Dinghi an Land. Dort hatten sich inzwischen Smoky und seine vier Grazien eingefunden. Vier schuldbewußte, tieftraurige Grazien, denen endgültig klargeworden war, daß sie auf einen geeigneten Nachfolger für den '„Großen Donnerer" wohl noch eine Weile warten mußten. Und ein zerknirschter, ziemlich verbiesterter Smoky, denn er empfand es als höchst blamabel, daß er sich von den Perlen der Südsee wie ein Hering in einem Netz hatte fangen lassen. Diese Einzelheiten erfuhren die Seewölfe allerdings erst später. Die vier Schönen wollten mit ihrem Auslegerboot nach Hause zurücksegeln. Hasard war das auch lieber so: nach allem, was hinter ihnen lag, hielt er es für geraten, um die Mond-Insel einen weiten, wirklich sehr weiten Bogen zu segeln. Drei „Donnerrohre", mit der nötigen Feierlichkeit überreicht, würden dafür sorgen, daß die Perlen der Südsee sicher zurückfanden und daß sie sich auch in Zukunft wirksam gegen ihre kriegerischen Nachbarn verteidigen konnten. Smoky, der sich als Beinahe-König
der Insel besonders verpflichtet fühlte, steuerte noch den guten Rat bei, in Zukunft nicht mehr so sträflich den regelmäßigen Wachtörn zu vernachlässigen. Die vier Grazien versprachen es, und dann schlug endgültig die Stunde des Abschieds. Nuami vergoß ein paar Tränen. Luana stellte sich auf die Zehenspitzen, küßte Hasard aufs Kinn und reckte sich, um ihm ihren Blumenkranz um den Hals zu hängen. Ed Carberry empfing den von Muna, und Ben Brighton konnte nicht verhindern, daß sich Cori seiner annahm. Vier bekränzte Seewölfe gingen schließlich in das Dinghi, vier nicht mehr bekränzte Perlen der Südsee winkten ihnen wehmütig nach. Jetzt trugen sie nur noch ihre Grasröcke, und das führte natürlich dazu, daß die Männer an Bord der „Isabella" lange Hälse kriegten und von Carberry erst einmal kräftig zusammengedonnert werden mußten, bevor sie sich bequemten, das Boot hochzuhieven. Der Höflichkeit wegen blieben die Blumenkränze, wo sie waren, bis das winzige Inselchen nur noch ein Umriß über der Kimm war. Smoky zerrupfte vor lauter Verlegenheit die Blütenblätter, während er widerwillig berichtete, wie er den Perlen der Südsee im buchstäblichen Sinne des Wortes ins Netz gegangen war. Daß er nach diesem Schaden nicht mehr für den Spott zu sorgen brauchte, verstand sich. Der wurde ihm reichlich zuteil, aber er war darauf vorbereitet und trug es mit Fassung. Der Seewolf stand neben Ben Brighton auf dem Achterkastell. Sein schwarzes Haar flatterte im Wind, die eisblauen Augen waren zusammengekn if f en.
61 „Weißt du, was ich mir jetzt wünsche?" knurrte er. „Was?" fragte Ben Brighton. „Einen Spanier!" sagte Hasard grimmig. „Eine richtige spanische
Kriegsgaleone, die Feuer und Blei spuckt. Oder meinetwegen auch einen handfesten Sturm. Alles - nur keine Blumenkränze mehr und keine heiratswütigen Südsee-Perlen..."
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 205
Die Lepra-Inseln von Fred McMason Es war alles ganz anders als sonst in diesem Meer, in dem eine Insel der anderen folgte. Die „Isabella" segelte in einer lauwarmen Brise. Der Himmel war teils blau, zum Horizont hin aber leicht dunstig. Vom Wasser stieg brühwarme Luft auf. Philip Hasard Killigrew griff sich an die Stirn und fand, daß seine Haare feucht waren. Die Luft um ihn herum war wie von einem unbekannten Gift gesättigt, und er wurde das Gefühl nicht los, daß etwas Schreckliches in dieser merkwürdigen Atmosphäre lag. Er blickte zu den verstreuten Inseln hinüber und fand sie schrecklich und schön zugleich. Visionen von Fieber, Gift, Pest und Krankheiten zogen an ihm vorbei...
Die seemännische Sprache von A-Z Schwertfall
Schwertkasten
Schwert-Zugvogel
Schwichten
Schwimmdock
Fall, mit dem das Schwert aufgeholt bzw. weggefiert wird. Das Schwertfall wird über eine Talje geschoren, deren holende Part (siehe dem) meist so angebracht ist, daß sie der Steuermann gut erreichen kann. Schotklemmen oder andere Beschläge ermöglichen es, das Schwertfall in jeder beliebigen Position zu fixieren und damit auch den Gesamttrimm der Jolle auf den verschiedenen Kursen zu beeinflussen. Auf Kursen mit achterlichem Wind wird das Schwert mittels des Schwertfalls aufgeholt. sitzt über dem Schwertschlitz im Kiel und nimmt das Schwert auf, das in ihm drehbar aufgehängt ist oder als Steckschwert einfach hineingesteckt ist. Der Schwertkasten muß so hoch gebaut sein, daß er über die Wasserlinie reicht. Noch besser ist ein Schwertkasten bis nahezu Deckshöhe, der es erlaubt, eine vollgeschlagene Jolle zu lenzen, ohne daß Wasser durch den Schwertschlitz nachläuft. Bei den meisten Jollentypen ist der achtere obere Teil des Schwertkastens mit dem Reitbalken (siehe dem) verbunden, der ihm mehr Stabilität verleiht und im übrigen auch meist mit den Schotklemmen für das Schwertfall versehen ist. Einheitsklasse des DSV mit reger Regattatätigkeit, aber auch ideal als geräumiges Wanderboot. Der Schwert-Zugvogel wurde wie der ihm ähnliche KielZugvogel von Ernst Lehfeld entworfen und ist ein Knickspanter. Er wird in Kunststoff, Vollholz oder Sperrholz ausgeführt und kann auch als Ausbauschale geliefert werden. Die Maße: Länge über Alles: 5,80 m, Breite: 1,88 m, Tiefgang mit Schwert: 1,10 m, Gewicht: 250 kg, Segelfläche: 15 m2. Das Segelzeichen ist ein stilisierter Zugvogel. zwei bereits gespannte Taue mittels einer Leine - der Schwichtleine -, die im Zickzack von einem Tau zum anderen führt, zusammenziehen und dadurch noch mehr spannen. ein aus Schiffbaustahl hergestellter Schwimmkörper mit einem U-förmigen Querschnitt. Zum Eindocken eines Schiffes werden seine Bodenpontons und Seitenkästen geflutet, bis bei genügender Tiefe das
Schwimmfähigkeit
Schwimmkompaß
Schwimmweste
Schiff einfahren kann. Dann wird wieder gelenzt, das heißt, leergepumpt, bis sich Dock und Schiff so weit heben, daß sich die Docksohle über Wasser befindet. Jetzt kann am Rumpf des Schiffes gearbeitet werden. Fluten und Lenzen werden vom Dockmeister überwacht. ist der Auftrieb eines Schiffes größer als sein Gewicht, dann ist es schwimmfähig - anders ausgedrückt: ein Körper ist entweder leichter als das von ihm verdrängte Wasser, dann schwimmt er, das heißt, er taucht nur so weit ein, daß das Gewicht des verdrängten Wassers, also sein Auftrieb gleich seinem Eigengewicht ist, oder aber er ist schwerer als das von ihm verdrängte Wasser, dann sinkt er. Wasserdichte Schotten, Auftriebstanks und Auftriebskörper garantieren die Schwimmfähigkeit. auch Fluidkompaß genannt, ein Magnetkompaß (siehe dem), dessen Kompaßkessel mit einer nicht gefrierenden Flüssigkeit gefüllt ist, die dazu dient, die Schwingungen der in ihr schwimmenden Kompaßrose zu dämpfen. Schwimmkörper, der seinem Träger genügend Auftrieb verleiht, um sich lange Zeit mit dem Kopf über Wasser zu halten. Voraussetzung dafür ist, daß die Schwimmweste nach den SOLAS-Bestimmungen (Internationales Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See) ohnmachtssicher sein muß. Das heißt, sie muß den Körper im Wasser in einer Lage stabilisieren, die verhindert, daß er gemäß seiner Gewichtsschwerpunkte - vornüber im Wasser hängt, wobei Mund und Nase unter Wasser wären. Aus der Vielzahl der im Handel angebotenen Schwimmwesten erfüllen erschreckend wenige diese Voraussetzung. Testberichte in Segelsportzeitschriften geben darüber genaue Auskunft. Schwimmwesten gehören zur Sicherheitsausrüstung an Bord jedes Schiffes. Bei Regatten, vor allem Seeregatten, müssen sie angelegt werden, wenn es vorgeschrieben bzw. das Wetter härter wird. Jollensegler tragen Schwimmjacken, die zwar keine vollwertigen Schwimmwesten darstellen, aber für einen Kurzaufenthalt im Wasser ausreichend sind.