Eckhard Freuwört Norgast
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Bereits vom gleichen Autor erschienen sind die Sachbücher: Vernetzte Sinne. Über Synästhe...
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Eckhard Freuwört Norgast
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Bereits vom gleichen Autor erschienen sind die Sachbücher: Vernetzte Sinne. Über Synästhesie und Verhalten. (ISBN 3-8334-1474-X; Verlag BoD Norderstedt 2004) Böse Hexen gibt es nicht. Versuch einer interdisziplinären Betrachtung des Hexenwesens. (ISBN 3-8334-3183-0; Verlag BoD Norderstedt 2005)
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Eckhard Freuwört
Norgast Ein synästhetischer Fantasy-Roman
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über abrufbar.
© 2005 Eckhard Freuwört Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt ISBN Besuchen Sie auch meine Internetseite unter http://asmodis.heim.at
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Inhalt Vorwort Landkarte von Norgast Kleiner Reiseführer: Norgast für Neuankömmlinge Kapitel 1: Der Intrigant Kapitel 2: Der Findling Kapitel 3: Der Fischer Kapitel 4: Die Bônday Kapitel 5: Drei Prüfungen Kapitel 6: Der weiße Rabe Kapitel 7: Der Geist des Waldes Kapitel 8: Der Stein des Lebens Kapitel 9: Forst der Entscheidung Kapitel 10: Das magische Geflecht Kapitel 11: Anderswelt Anhang I: Making of Anhang II: Kleine Runenkunde
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Der US-amerikanische Physiker Hugh Everett III stellte im Jahre 1957 eine quantenphysikalische Hypothese auf, nach der es unendlich viele Universen gibt, die sich vom Unseren nur minimal unterscheiden. Je weiter sie ‚entfernt‘ sind, desto größer sind auch die Unterschiede. Der Begriff ‚entfernt‘ ist dabei nicht räumlich gemeint. Diese Hypothese steht im Einklang mit allen heute bekannten quantenphysikalischen und kosmologischen Erkenntnissen. Sie wird als Many-WorldsInterpretation, Viele-Welten-Hypothese oder Viele-Historien-Hypothese bezeichnet. Ihr zufolge spaltet sich das Universum mitsamt allen seinen Bewohnern beständig auf - in parallele Tochteruniversen, welche eine unabhängige Entwicklung durchlaufen. Das Aufspalten geschieht immer dann, wenn ein Bewohner eines Universums sich bei seinen Handlungen für eine von mehreren möglichen Alternativen entscheidet. Sehr ferne Paralleluniversen können sich auf Grund der anders verlaufenen Entwicklung in ihren Naturgesetzen drastisch von unserem Universum unterscheiden. Insofern kann jede hier bei uns erdachte Geschichte irgendwo Realität sein - vielleicht auch ‚Norgast‘?
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Vorwort Ich
habe bislang zwei Sachbücher geschrieben. Das Erste, „Vernetzte Sinne - Über Synästhesie und Verhalten (ISBN 38334-1474-X)“, befasste sich mit einer zwar seltenen, nichtsdestotrotz aber sehr realen und auch völlig natürlichen Form von simultaner Wahrnehmung. Das Zweite, „Böse Hexen gibt es nicht - Versuch einer interdisziplinären Betrachtung des Hexenwesens (ISBN 3-8334-3183-0)“, hatte eine möglichst unvoreingenommene und wissenschaftliche Betrachtung des Hexenwesens zum Inhalt. Es zeigte, dass mit den richtigen Naturstoffen so manche Zauberei erklärbar ist. Die Wirksamkeit von Beschwörungen und Ritualen wurde auf den Placebo-Effekt zurück geführt. Magie war überflüssig. Aber es gab vereinzelte Berührungspunkte mit der Synästhesie. Doch gerade weil es im Sachbuch überflüssig war, reizte es mich ungemein, ein Was-Wäre-Wenn-Szenario zu entwerfen, in dem sowohl die Hexenkünste inklusive der Magie wie auch die Synästhesie eine tragende Rolle spielen. Das passende Genre dafür war die Fantasy und ‚Norgast‘ ist die betreffende Geschichte. Sie enthält zahlreiche Elemente aus den beiden Sachbüchern. Hinsichtlich der z. T. mythischen Gestalten habe ich mich überall bedient. Die in der Geschichte dargestellten Beschwörungen, Rituale und teils auch die magischen Techniken kommen von heute praktizierenden (und überwiegend ‚freifliegenden‘, d. h. keinem Coven angeschlossenen) Neo-Hexen. Die Ideen für die Handlung entstammen in erster Linie den Liedtexten der Gruppen Schandmaul, Faun und Blackmore´s Night. Mein ganz großer Dank gebührt daher den Musikern und den modernen Hagias für die unverzichtbare Inspiration. Ohne euch würde es dieses Buch nicht geben! Weitere Anregungen entnahm ich meinen früheren Erfahrungen mit Adventures, in die ich mal ganz vernarrt gewesen bin – D&D, DSA, S&D und wie sie alle heißen. Mein Dank gilt daher auch den damaligen Teilnehmern an den Spielen – wo immer sie sich heute aufhalten mögen. 7
Bei den Beschreibungen einzelner Charaktere und Organisationsstrukturen sind Übereinstimmungen mit tatsächlichen Personen oder Hierarchien beabsichtigt und nicht rein zufällig. Ich habe mich diesbezüglich an meinen Erfahrungen in der Vergangenheit orientiert, so dass es durchaus möglich ist, dass dieser oder jener sich als Romanfigur wiedererkennt. Möge sich den Schuh anziehen wer will! Um die Gruppe Schandmaul zu zitieren: „Rache ist ein süßes Brot!“ Ich hoffe, dass der Leser mit dieser Geschichte ebensoviel Spaß hat wie ich mit dem Schreiben - zumal sich das alles völlig ohne Exposé so nach und nach entwickelte und wie von selbst ‚gewachsen‘ ist. Eckhard Freuwört
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(Lauenau, Winter 2005/06.)
Landkarte von Norgast
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Kleiner Reiseführer: Neuankömmlinge
Norgast
für
Baldur der Zweischneidige König von Norgast und aufgrund seiner magischen Fähigkeiten auch uneingeschränkter Herrscher, sogar über Piraten und Diebe. Inhaber eines miesen Charakters, an einer ‚dissozialen Persönlichkeitsstörung‘ leidend. Ein Intrigant ohnegleichen. Der Volksmund kennt einen treffenden Begriff für so etwas – nämlich ‚Charakterschwein‘. Balum Eine winzige Ansiedlung am schäumenden Wilderfrio (einem der Quellflüsse des späteren Stromes Wilderfrio) fast genau östlich des auf dem Helgebarg-Gipfel befindlichen Opfersteins und am Hang des Helgebarg gelegen. Die Häuser verdienen ihren Namen kaum. Es gibt zusätzlich ein paar kleine Gehöfte von Bauern. Die Menschen dort sind ein eigener Schlag. Sie leben vom Bergbau und von der Köhlerei. Man sagt ihnen nach, dass sie manchmal Flüchtigen Unterschlupf gewähren. Bewok Ein Fischer, auf der Landzunge zwischen Tiedsiepe und Wilderfrio lebend. Bônday In Norgast eine sehr attraktive Hexe unbestimmbaren Alters, die auf der ‚namenlosen Insel‘ in der Tiedsiepe lebt. Man weiß kaum etwas über dieses geheimnisvolle Weib und dennoch werden ihr große magische Kräfte nachgesagt. Sie gehört einem Coven an, welcher über die ganze Welt verstreut ist und der sich nicht nur auf Menschen beschränkt. Dayla Eine Schülerin der Tiedsiepe-Bônday und die Geliebte von Findus. Diekenboog An der Nordküste von Norgast gelegener großer Handelsposten. Zwar größer als die Handelsstadt Torboog, 10
jedoch weniger wichtig und recht unzivilisiert. Diekenboog erlangt nur dadurch einen gewissen Rang, als dass es der Seehafen ist, von dem aus die Steuern der Kaufleute nach Helgenor verschifft werden. Diekenboog ist weitestgehend von einem nahezu unpassierbaren Sumpf umgeben. Fahrende Händler Die fahrenden Händler arbeiten für sich allein. In gewisser Weise stehen sie in Konkurrenz zu den Kaufleuten und sind daher von den Letzteren nicht gerade gern gesehen. Doch das Syndikat duldet sie, denn die Händler bilden nicht nur die eigentliche Infrastruktur des Landes, sondern tragen darüber hinaus auch noch Nachrichten weiter. Außerdem haben sie sich auf die Ansiedlungen und Gehöfte spezialisiert, die für die Kaufleute wenig lukrativ sind. Meist sind die Händler mit einem Pferdewagen und mehreren Packtieren unterwegs. Findus Ein Mann ohne Gedächtnis. Fucunor Eine große Insel im Maar weit nördlich von Norgast. Fucunor gehört nicht zum Norgast-Königreich und ist eine Vulkaninsel, auf der eine Bônday lebt, welche nicht dem gleichen Volk wie die Bônday auf der ‚namenlosen Insel‘ angehört. Haucain Ein dem schroffen, unwirtlichen und als unpassierbar geltenden Itcairn-Gebirge vorgelagertes Bergmassiv, welches das Reich Norgast im Osten begrenzt. Helgebarg Ein rauhes und hohes, in zwei Zinnen mündendes Gebirge westlich der Tiedsiepe. Auf dem südlichen, dem höheren Gipfel, befindet sich seit undenklichen Zeiten ein uralter Opferstein. Niemand weiß, wer wann was dort geopfert hat. Zwischen beiden Gipfeln des Helgebarg führt ein kaum passierbarer Pass, nur wenig mehr als ein überwucherter Trampelpfad, von der Tiedsiepe zur Ansiedlung Sandstedt.
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Helgeboog Die Stadt des Herrschers, auf der Insel Helgenor und am Fuß des Helgenor-Palastes gelegen. Helgenor Sammelname für den Palast des Herrschers, Namensgeber für die ‚Bucht von Helgenor‘ und Bezeichnung der gleichnamigen Insel. Die Insel Helgenor liegt etwa in der Buchtmitte. Aufgrund von warmen Strömungen und Seeklima herrschen dort praktisch das ganze Jahr über angenehme Temperaturen, so dass ständig viele farbenprächtige Blumen gedeihen. Im Westen begrenzt das Ithelge-Gebirge die Bucht, im Süden schließen sich Watt, Sumpf und Wüste an und im Osten steigt das Land zum Helgebarg hin an. Lediglich im Norden befindet sich ein freier Zugang zum offenen Meer, dem Maar. Obgleich es in der Bucht Handelsschifffahrt gibt, wird sie doch von den Piraten beherrscht. Kaufleute Die Kaufleute sind ein lockerer Zusammenschluss sehr mächtiger Händler, welche ein Syndikat leiten. Nach innen hin wird äußerste Disziplin verlangt und nach außen hin lassen sich dadurch Dienstleistungen und Waren monopolisieren. Dies bringt Geld, Schutz und Wohlstand für die Syndikatsmitglieder. Das System lässt jedoch keinerlei Kritik oder Querdenkertum zu; auch ist es durch seine Abgeschlossenheit gegen Kontrollen von außen geschützt. Die mächtigen Händler leben verstreut in allen größeren Städten. Sie unterhalten Handelsbeziehungen durch Seefahrt im Norden und mit Hilfe von Handelskarawanen auf dem Festland, wobei die Karawanen gleichzeitig Geleitschutz für zahlungskräftige Reisende sein können. Ithelge Westliche Grenze von Norgast. Wie der Itcain im Osten - nur höher. Ley Die Leys sind Erdströme - auch als Drachen-, Kraft- oder Sakrallinien bezeichnet - die das magische Geflecht ausmachen. An den Kreuzungspunkten dieser Energielinien finden sich häufig die ‚Seltsamen Orte‘.
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Lyonora Noch eine Schülerin der Tiedsiepe-Bônday. Magisches Geflecht Alle Magie in Norgast beruht auf der Nutzung einer alles durchdringenden, allgegenwärtigen Energieform, welche auch ‚Magisches Geflecht‘ genannt wird. Durch Selbstorganisation bildet das magische Geflecht Linien und Knotenpunkte aus. Nur allzu oft ist die Anwendung von Magie an diesen Stellen besonders einfach oder besonders wirkungsvoll. Die meisten Hexen und Magier sind nahe der Knotenpunkte geboren worden. Malweýn Der mächtigste Zauberer in längst vergangenen Zeiten - heute zwar nicht tot, aber gebannt und dadurch zur Untätigkeit verdammt. Norgast Das Königreich, in dem diese Geschichte spielt. Beherrscht wird es von einem ränkeschmiedenden Magier namens ‚Baldur der Zweischneidige‘. Im Westen und Osten wird das Königreich von den Gebirgen Ithelge und Haucain begrenzt. Die nördliche Grenze bildet das Maar mit vielen vorgelagerten und zu Norgast zählenden Inseln, wo es im Winter bitterkalt ist. Der südliche Teil des Königreiches trägt inoffiziell den Namen Nordergast und gilt als eine große Provinz. Im Süden bilden das Gebirge des Suderhelge und die Wüste die natürlichen Grenzen. Mit dem südlich der Suderhelge gelegenen Land Sudergast gibt es bis auf wenige Handelskarawanen kaum Kontakte. In Ost-West- und in Nord-Süd-Richtung umfasst Norgast jeweils etwa fünfzig Tagesmärsche. Ostboog Westlichste und gleichzeitig eine der größten Städte in Norgast, an der Helgenor-Bucht gelegen. Der Stadtname reicht soweit zurück, dass sich niemand mehr daran erinnern kann, wie es dazu kam. Schriftgelehrte behaupten, dass es auf der anderen Seite des Ithelge noch ein Westboog gegeben haben müsse, sind den Beweis dafür aber bisher schuldig geblieben. Lästerer behaupten, der Name entstand, weil man
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Westboog ärgern wollte, so dass die Westbooger ihren Ort aus lauter Verzweiflung in Sandstedt umbenannten. Piraten Neben Baldur dem Zweischneidigen und den Kaufleuten die eigentliche Macht in der Bucht von Helgenor. Die Piraten teilen sich in zwei Gruppen auf, nämlich See- und Strandpiraten. Die Seepiraten überfallen die Schiffe auf dem Wasser, während die Strandpiraten mit gefälschten Leuchtfeuern Strandungen provozieren. Obgleich beide Gruppen zur gleichen Gilde zählen, sind sie uneins - vor allem auch deshalb, weil die Seepiraten abfällig auf ihre Konkurrenten an Land herabsehen. Baldur jedoch profitiert ob eines geheimen Paktes von beiden Gruppen. Runen Runen sind in Norgast weit verbreitet. Zwar sind sie kein Geheimwissen, aber trotzdem spricht man nur hinter vorgehaltener Hand über sie. Runen dienen der Nennung des wirklichen Namens eines Wesens oder eines Dinges. Die Kenntnis dieses Namens verleiht uneingeschränkte Macht über den Namensträger. Nur sehr wenige Menschen beherrschen daher die Runen. Runen bilden die Grundlage aller Zaubersprüche, da sie in der alten magischen Sprache abgefasst sind. Sandstedt Ein kleines Nest am Wattrand der Helgenor-Bucht, in dem die Leute offiziell vom Krabben- und vom Fischfang leben. Tatsächlich aber ist die Haupteinnahmequelle die Strandräuberei, welche von Baldur dem Zweischneidigen geduldet wird, da er mit den Piraten ein geheimes Abkommen getroffen hat. Schattenreich Sammelbegriff für alle die magiebegabten Völker, die aus dem Blickwinkel der Menschen verschwunden sind: Elfen, Einhörner, Dryaden, Kobolde, Irrlichter, Feen, Najaden, Trolle usw. Sie sind zwar nach wie vor in Norgast präsent, aber sie zeigen sich nur selten.
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Seltsamer Ort Eine Stelle, an der sich verschiedene Welten überlappen, so auch Norgast mit den Anderswelten. Man erlebt seltsame Orte als ein plötzliches, unerklärlich-irritierendes Gefühl, manchmal unheimlich oder gruselig. Man bleibt unwillkürlich stehen und muss tief durchatmen. An solchen Stellen ist der Übergang zu den Anderswelten möglich. Norgast weist mehrere seltsame Orte auf, welche aber nirgendwo verzeichnet sind. Man spricht nur hinter vorgehaltener Hand über sie. Shâgun Ein halb gestaltloser, bösartiger und nebeliger Dämon aus der Unterwelt, welcher vor der Erschaffung der Welt in dem Raum lebte, in dem sich heute Norgast befindet. Er ernährt sich von Seelen. Sirval Eine Stadt südlich des Waldes Bomenhau und etwas kleiner als Ostboog. Wichtiger Handelsposten, da hier die Karawanen von und nach Sudergast ihren Ausgangs- bzw. Endpunkt haben. Entsprechend reich ist Sirval dann auch – so reich, dass in regelmäßigen Abständen mit Gold, Silber und Edelsteinen beladene, schwer bewachte Kutschen nach Diekenboog fahren, um die Reichtümer als von dort aus auf dem Seeweg nach Helgenor zu bringen. Baldur erwartet sie dort als Steuern. Snofork Ehefrau des Tiedsiepe-Fischers Bewok. Ein Kräuterweib, welchem die eigentlichen, magischen Hexenkünste heute unbekannt sind. Doch das war nicht immer so. Tiedsiepe Eine zwischen Helgebarg und Wilderfrio gelegene, seltsame Senke mit sehr vielen Meilen im Durchmesser. Die Senke füllt sich je nach Stand des Mondes mit Wasser oder aber sie fällt trocken und kann dadurch zur tödlichen Falle für Reisende werden. In der Tiedsiepe befinden sich zwei Inseln ohne Namen. Auf der größeren Insel, vom Volksmund auch ‚namenlose Insel‘ genannt, lebt die Bônday. Die etwas kleinere Insel bezeichnen die Anwohner der Senke inoffiziell
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als ‚Insel der Gestrandeten‘, denn für manch einen Wanderer ist sie die letzte Rettung, wenn der Boden der Tiedsiepe das in ihm gespeicherte Wasser plötzlich wieder freigibt. Zusätzlich speist ein Fluss die Tiedsiepe, was im Falle der Wasserfreigabe zum Überlaufen in den Wilderfrio führt. Torboog Nördlichste Stadt in der Helgenor-Bucht; wichtigster Seehafen. Traumtrank Ein dämonisches Gebräu aus Unterweltpflanzen. Dazu gedacht, Menschen in einen Körper und Geist trennenden Schlaf zu versetzen. Der Körper stirbt dabei auf lange Sicht ab und der Geist irrt herum, bis er an einem seltsamen Ort in eine Anderswelt überwechselt. Beim Übergang von Welt zu Welt aber lauern die Dämonen aus der Unterwelt - so auch der Shâgun - auf Nahrung. Die reisende Seele ist eben diese Nahrung... Wilderfrio Größter Strom von Norgast, wird in der Nähe von Balum durch den Zusammenfluß zweier Quellflüsse, nämlich des gelben Wilderfrio und des schäumenden Wilderfrio gebildet. Bis zur Tiedsiepe eher ein gewaltig rauschender und unberechenbarer Wildbach, wird er danach gespeist vom Wasser der Tiedsiepe zum mächtigen, eher träge dahinfließenden Strom. Er mündet in Form eines Flussdeltas in die offene See, Maar genannt. Wüste Die Wüste begrenzt den Süden des Reiches Norgast und der Provinz Nordergast. Diese Landschaft ist vielfältig. Sanddünen sind ebenso vertreten wie staubtrockene Geröllfelder oder Salzflächen. Von Zeit zu Zeit durchzieht ein schneidender, gefährlicher Wind – der Sufon, ein Staubsturm – die Gegend. Der Sufon trägt Sand und Staub mit sich, welcher die Haut abschmirgelt und Wanderer erstickt. Die Wüste ist nur sehr spärlich von Menschen bewohnt. In der Regel wird sie gemieden und nur selten von Handelskarawanen, welche in Sirval ihren Ausgangs- und Endpunkt haben, durchquert. Beherrscht hingegen wird die
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Landschaft von den zwar nicht intelligenten, doch riesigen und blutdürstigen Sandwürmern.
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Kapitel 1: Der Intrigant Man nannte ihn Baldur den Zweischneidigen und das war ein Wortspiel. Baldur – der Name galt als Sinnbild der Gerechtigkeit, als Inbegriff des Guten. Doch keine Münze hat nur eine Seite. Auch bei Baldur gab es eine zweite Seite, eine Dunkle. Doch von der wussten nur die wenigsten Menschen etwas. Baldur der Zweischneidige: Der Name wies einerseits auf seine unübertroffenen Künste im Schwertkampf hin. Andererseits aber machte er auch deutlich, dass es für den siegesverwöhnten Baldur Phasen gab, in denen ihm nichts - aber auch rein gar nichts - gelingen wollte. Letzteres war auf Malweýns Fluch zurück zu führen, aber das wusste niemand außer ihm selbst. Malweýn, der große Zauberer aus längst vergangenen Zeiten. Sein früherer Lehrmeister. Bis Baldur ihn in einem magischen Duell geschlagen hatte. Malweýn war zwar nicht tot - oh nein, soweit reichten Baldurs Kräfte denn doch nicht - aber er war gebannt worden. Dazu verurteilt, für immer und ewig sein Leben als knorriger alter Baum irgendwo im Haucain zu fristen, einem unwirtlichen Gebirge an der Ostgrenze des Königreiches Norgast - Baldurs Königreich! Das Letzte, was Malweýn ihm mit auf den Weg gegeben hatte, war der Fluch, dass Baldur in seinem Leben nichts mehr gelingen sollte. Es war Baldur damals gelungen, diese Kampfmagie fast abzuwehren. Nur eben nicht ganz. Baldur hatte viel von Malweýn gelernt, so auch die Fähigkeit der Gestaltverwandlung und die zum Beschwören von Dämonen erforderlichen Fertigkeiten. Und noch weitaus mehr. Primitive Künste wie Wetter- und Knotenmagie, Offenbarungszauber u. ä. beherrschte er ohnehin im Schlaf. Er war zwar seit jeher der Thronerbe gewesen, doch hatte er sich - um das Land kennen zu lernen – zeitweise auch als einfacher Lohnmagier verdingt. Bis seine Wege die von Malweýn kreuzten. Malweýn sollte sein Lehrer werden; Baldur bettelte den Alten förmlich darum an. Der wollte erst nicht, ließ sich schließlich aber doch erweichen und gab nach.
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Malweýn unterrichtete den Thronerben gut und gründlich. Dennoch waren die Kräfte des Schülers immer denen des Lehrers unterlegen gewesen. Bis zu jenem denkwürdigen Tage, als es ihm gelang, Malweýns Geist mit einem Gebräu aus Schlafkraut, Bockwurz und Venuskappe zu verwirren. Der ideale Zeitpunkt für ein magisches Duell. Eigentlich hatte er Malweýn vergiften wollen, doch der Zauberer war zu stark gewesen. Immerhin aber blieb der Trank nicht gänzlich ohne Wirkung. Denn Baldur war auch ein heimtückischer Ränkeschmied par excellence. Fairness war in seinen Augen etwas für Schwächlinge. Und nun war er der mächtigste Zauberer - wenn man vielleicht mal von der Bônday absah, aber die verließ ja sowieso niemals ihre ‚namenlose Insel’ in der Tiedsiepe. Baldur war sich seiner Macht bewusst. Nichts und niemand konnte ihm etwas anhaben. Und da er ein Meister des Ränkespiels war, wies seine vermeintlich weiße Weste auch nicht den kleinsten Fleck auf. Schön, er war vielleicht nicht gerade beliebt. Aber damit konnte er leben. Gut leben - und zwar auf Kosten anderer. Er war nicht zu bremsen, bis... Ja, bis seine Spione ihm von einem möglichen Konkurrenten berichteten. Einem unwissenden VielleichtKonkurrenten zwar und ohne machtpolitische Ambitionen. Aber auch der sollte mit großer magischer Kraft ausgestattet sein, auch wenn der die nicht anzuwenden wusste. Oder bloß noch nicht? So etwas konnte Baldur natürlich nicht hinnehmen. Der Konkurrent musste weg, musste verschwinden. Schnell und unauffällig. Ein bedauernswerter Unfall sozusagen... Deswegen war Baldur jetzt hier, hier auf der Südspitze des Helgebarg am alten Opferstein. Er zitterte. Aber nicht vor Kälte (obwohl es wirklich grausam kalt war), sondern vor Angst. Es war stockfinstere Nacht und dicke Wolken verdeckten den ohnehin schon unsichtbaren Neumond. Eis und Matschbrocken vom zuvor angetauten Schnee waren allgegenwärtig: Frühsommer auf dem Gipfel. Angesichts der Tatsache, dass ihm manchmal eben alles misslang, wollte er beim Ausschalten seines vermeintlichen, gleichfalls magiebegabten Konkurrenten auf Nummer Sicher gehen. Baldurs Plan sah vor, den Mord von einem Dämon ausführen zu lassen. Genau zu diesem Zweck hatte er den 19
Shâgun beschworen - einen Dämon, der seit der Erschaffung der Welt in den Untergrund verdrängt worden war. Die Beschwörung hatte Erfolg gezeigt. Jetzt stand der Shâgun vor ihm. Eine nicht für Menschenaugen gemachte Gestalt aus einer unwirklichen Unterwelt. Bösartig. Gnadenlos. Kalt. Gierig. Mordbesessen. Und vor allem: Mächtig! Dennoch gab es eine gewisse Art von Geistesverwandtschaft zwischen ihnen; das spürten sie beide. Der Shâgun bestand aus einer Art von schmutzigbräunlich-grauem, halbmateriellem Nebel. Dieser Nebel veränderte beständig seine Form und seine Farbschattierungen, so dass es aussah, als würden sich dort menschliche Eingeweide wie Schlangen oder fette Würmer umeinander ringeln. Abstoßend! Er verströmte einen leicht bitter-süß-fauligen Geruch. Dort, wo das Gesicht hätte sein sollen, befand sich Schwärze. Und in dieser Schwärze bewegte sich etwas noch viel Schwärzeres auf unheimliche, grauenvolle Weise. „Du wagst es, mich zu stören! Was willst du?“ fauchte der Shâgun mit einer Stimme, die klang, als würden Fingernägel über Schiefer kratzen, die einem Zuhörer eine eiskalte Gänsehaut über den Rücken jagte. Baldur schluckte, drängte seine Angst zurück und antwortete „Ich brauche Deine Hilfe. Du sollst jemanden für mich beseitigen.“ Der Shâgun lachte keckernd, nicht unähnlich dem Ruf einer Elster, nur sehr viel unangenehmer. Er wusste längst, warum er gerufen worden war, hatte es aus Baldurs Gedanken entnommen. Dennoch gefiel es ihm, ein wenig mit diesem anmaßenden menschlichen Wurm zu spielen. „So, so, meine Hilfe... - was bietest du mir dafür?“ „Den Geist des Opfers. Er gehört dann dir.“ „Und was sollte mich daran hindern, mir deinen Geist zu nehmen - und zwar jetzt und hier?“ „Meine Macht. Denn wenn ich dich beschworen habe, dann kannst du mir auch nichts anhaben.“ Wieder dieses unangenehm-keckernde, grelle Lachen des Dämons. Diesmal schien es kein Ende nehmen zu wollen, hatte ein Echo. Baldur wurde schwindelig, die Welt begann sich um ihn zu drehen. Instinktiv griff er nach einem nicht vorhandenen Halt, strauchelte. Sein Schutzzauber schien zu versagen. „Menschlein, du hast in deinem Hochmut ja keine Ahnung. Aber deine Respektlosigkeit ist bemerkenswert. 20
Trotz deiner anmaßenden Dummheit schlage ich dir einen Handel vor. Ich werde dir helfen, deinen Widersacher zu beseitigen. Die Ausführung der Tat liegt jedoch letztlich bei dir ganz allein. Bist du erfolgreich, dann nehme ich das Opfer an. Versagst du aber, dann kehre ich irgendwann zurück und werde mich an dir selbst schadlos halten. Falls du nicht auf meinen Vorschlag eingehen willst, dann nehme ich dich gleich mit.“ Baldur hatte von der Stimme eine Gänsehaut bekommen. Seine Zähne klapperten und die Nackenhaare stellten sich auf. Er fühlte, dass er zu weit gegangen war. Er hätte den Dämon niemals beschwören dürfen; er besaß ganz einfach nicht die Kraft, um ihn kontrollieren zu können. Rufen und Kontrollieren waren zwei grundverschiedene Dinge. Eiskalte schwarze, tödliche Finger schienen nach seinem Geist zu greifen. Schnell willigte er in den Vorschlag des Shâgun ein - eine reine Verzweiflungstat. Der Shâgun fuhr eine schleimig-tentakelartige, knotige Hand aus und legte einen kleinen ledernen Beutel auf den Opferstein. „So höre denn, du Wurm. In diesem Beutel befindet sich ein Mittel, aus dem du einen Trank brauen wirst. Weiche die Kräuter in einem Humpen voll von frischem Quellwasser ein. Lass´ sie einen ganzen Tag dort drin. Dann seihe ab und koche das Wasser ein, bis du einen dicken, braunen Sud erhältst. Suche einen der seltsamen Orte auf und gebe diesen Sud dort deinem Opfer. Es wird daraufhin in einen tiefen todesähnlichen Schlaf fallen. Der Geist trennt sich vom Körper, wird mein.“ „Ist das der... der Traumtrank, von dem die alten Magier nur insgeheim und hinter vorgehaltener Hand gesprochen haben?“ „Ja. Er wirft den Geist des Opfers zuerst in eine andere Welt, in ein anderes Leben. Wenn dein Opfer dort stirbt, dann assimiliere ich seine Seele, weil ich die Geistreise selbst verfolgen kann. Die Seele ist mein Festmahl. Ich gebe dir zwei volle Monde Zeit. Wenn dein Opfer bis dahin noch keine Geistreise in die Anderswelt oder direkt zu mir gemacht hat, dann komme ich bei Bedarf auf dich zurück - wenn ich mal wieder hungrig bin...“ Nochmal das grell-unangenehme Keckern, jetzt aber machtvoll verhallend wie in einem unendlichen Raum. 21
Dämonisches Lachen. Ein sich von tief-blutrot nach unerträglich-violett färbender Blitz zuckte auf; eine plötzliche Windböe riss Baldur von den Beinen. Mit dem darauf folgenden Donnerschlag war der Shâgun verschwunden. Alles, was jetzt noch an seine Anwesenheit erinnerte, war der lederne Beutel auf dem Opferstein, der geborstene magische Beschwörungskreis und wie dem Windstoß zum Hohn der bitter-süß-faulige Geruch in der Luft.
Genau sieben Tage später. Baldur befand sich in Sandstedt, einem kleinen Nest von Strandpiraten. Offiziell lebten hier Fischer und Krabbenfischer. Inoffiziell allerdings wurden immer wieder falsche Leuchtfeuer am Strand entfacht, um Handelsschiffe auf dem Wattsockel stranden zu lassen. Nachdem deren Besatzungen erschlagen worden waren, bediente man sich einfach aus den Schiffen. Das war wesentlich gewinnträchtiger als die mühsame Fischerei. Baldur wusste von diesem Treiben, doch er schritt nicht dagegen ein. Vielmehr billigte er es sogar - hatte er doch ein geheimes Abkommen mit der Piratengilde in der Bucht. Die Piraten waren es ja schließlich auch, welche die Bucht von Helgenor beherrschten. Helgenor - das war die große Felseninsel inmitten des Wassers, obenauf sein - Baldurs Norgastpalast, an dessen Fuß die Stadt Helgeboog lag. Ringsherum Wasser, im Süden und Osten ein bei Ebbe breiter Wattsockel und drei Ansiedlungen: Ostboog, Sandstedt und Torboog. Die Ansiedlungen allesamt inoffizielle Piratennester, Ostboog und Torboog jedoch offiziell auch bedeutende Handelsstädte. Nun ja, Handel konnte man eben so und so verstehen. Von jedem aufgebrachten Schiff erhielt er ein Drittel. Das war deutlich mehr, als er den Kaufleuten an Steuern abverlangen konnte und es ergänzte deren Steuerzahlungen obendrein noch, füllte daher seine Taschen ganz beträchtlich. Überhaupt, die Kaufleute: Ein Syndikat, welches seinen Mitgliedern einen gewissen Wohlstand ermöglichte, daher aber deren unkritische Mitarbeit und Verschwiegenheit
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voraussetzte. So war es Baldur unmöglich zu kontrollieren, ob die Steuerzahlungen auch tatsächlich ein Viertel des Gewinns ausmachten. Er bezweifelte das. Da hielt er es nur für recht und billig, sich anderweitig seinen Teil zu holen. Nach seiner eigenen Auffassung war das sogar noch sehr menschenfreundlich - denn es hatte schon schlimmere Herrscher als ihn gegeben. Hier in Sandstedt bewegte er sich inkognito. Er war ein Fremder, von dem niemand Notiz nahm. Jeder misstraute hier jedem - wie im gesamten Reich. Die Leute wussten von seiner Fähigkeit der Gestaltwandlung. Jeder hätte ‚er‘ sein können und ein falsches Wort... Man wusste von seinen Spionen. Es ging das - durchaus zutreffende - Gerücht um, dass Baldur sich jedes Wissen direkt aus dem Kopf anderer Menschen holen könne. So könnte jeder zu seinem Spion werden - gewollt oder ungewollt. Folglich hielt man sich bedeckt. Nichts sagen, nichts hören, nur nicht auffallen. Das war auch ganz gut so, wie Baldur fand. Ein akzeptabler status quo. Es hielt die Leute davon ab, sich gegen ihn zusammen zu schließen. Gegenseitiges, abgrundtiefes Misstrauen war das sicherste Mittel, um seine Regentschaft zu sichern. Angst überall. Auch fand er es ganz angenehm, auf diese Weise niemals Kritik an seinem Führungsstil hören zu müssen. Für ihn ein sehr gutes Klima. Gut, die Leute mochten vielleicht darunter leiden - doch war das nicht deren eigenes Problem? Ihn selbst hatte es jedenfalls noch nie gestört, dass in Norgast niemand lachte oder gar fröhlich war. Im Gegenteil - solchen Lärm hasste er. Womöglich hätten die sogar über ihn gelacht? Baldur hatte hier eine kleine Hütte bezogen und die Miete dafür im voraus entrichtet. Niemand störte ihn. Niemand würde es wagen, ihn zu stören. Er hatte das Gebräu exakt nach den Vorgaben des Dämons hergestellt und in eine winzige, gläserne Flasche gefüllt. Gut verkorkt und versiegelt. Die Flasche steckte gegen das Herausfallen gesichert in einem winzigen ledernen Futteral, welches kleine Schlaufen aufwies. Das Anlegen dieses Futterals erwies sich als der eigentlich schwierige Teil des ganzen Unternehmens. Baldur machte von seiner Fähigkeit zur Gestaltwandlung Gebrauch und verwandelte sich in eine Krähe. 23
Eine Krähe, die ihre liebe Mühe damit hatte, sich die Schlaufen des Futterals über den Kopf zu streifen und das Gewicht mit den Krallen zu tragen. Das war nämlich die einzige Möglichkeit des Transportes über lange Strecken. So bepackt flog der Todesvogel los. Sein Ziel war Balum; selbst bei Luftlinie eine Reise von vielen Tagen. Nur einen halben Tagesmarsch unmittelbar südlich von Balum floss ein namenloser Gebirgsbach in den schäumenden Wilderfrio. Exakt an dieser Stelle begegneten sich vier grundverschiedene Landschaften: das Gebirge, der Wald, der Sumpf und die Wüste. Die Bäume, die dort wuchsen, wiesen eine seltsam verdrehte, korkenzieherartige Form auf. Vereinzelt bildeten sie Ringe in ihren Stämmen aus. Die Wurzeln waren bizarr. Sie erinnerten an hölzerne Schlangenköpfe, schlafende Kinder, ruhende Drachen, im Lauf erstarrte Wildschweine und mehr. Den Sagen zufolge war es ein Zauberwald und die Bäume sollten die Kinder, Wildschweine, Schlangen und Drachen gefressen haben. Es war ein seltsamer Ort. Er wurde von den Menschen gemieden. Wer hierher kam, den gruselte es. Oder er bekam fast schlagartig unmenschlich rasende Kopfschmerzen, sah gleichzeitig auch noch grell-zackige Lichtblitze, welche aber nur im Kopf existierten. Wer erschöpft hier ruhte und es tatsächlich trotz der surrealen hölzernen Gebilde schaffte einzuschlafen, den plagten wahnsinnige Alpträume von verrückten Welten und er fand sich nach dem Erwachen nur schwer wieder zurecht. Wenn er überhaupt wieder aufwachte... Der Ort machte irr und aggressiv. Es war kein Ort für Menschen, dieser seltsame Ort. Und genau hierher hatten Baldur´s Spione sein Opfer, seinen möglichen Konkurrenten gelockt - wobei Baldur sich als ein über wichtige Informationen verfügender, fahrender Händler ausgegeben hatte. Baldurs nichtsahnender Vielleicht-Konkurrent war schon da, als der Zweischneidige selbst eintraf, schwer bepackt mit einem prall gefüllten Leinenbeutel. Saß auf einer oberschenkeldicken Wurzel, die sich erst in Wellen am Boden entlang geschlängelt hatte, bevor sich daraus ein verdrehter Baum erhob. Saß wie die hilflose Fliege im Netz, die auf die sie fressende Spinne wartet. Ahnungslos. Baldur war die 24
Freundlichkeit in Person. Das konnte er gut. Er bot seinem Opfer zu trinken an, denn auch der Frühsommer wartete schon mit beträchtlicher Wärme auf. Sein Opfer trank. Schon nach wenigen Minuten schlief es ein. Der Atem wurde langsamer. Und langsamer. Und noch langsamer... Es war schon fast zu einfach gewesen! Baldur blieb bei ihm. Sammelte zwischendurch trockenes Holz. Als es Nacht wurde, entfachte er damit ein Lagerfeuer. Dann verwandelte er sich in einen Wolf: Zeit für das Abendessen. Und verschwand im Unterholz. Erst im Morgengrauen kam er blutbesudelt zurück. Egal - es war nicht sein Blut. Und den Köhler würde so bald wohl auch keiner vermissen. Er wusch sich im Fluss, kontrollierte sein Opfer. Es schien tot zu sein. Vorsichtshalber wartete er noch eine Nacht und noch eine weitere Köhlermahlzeit ab. Am zweiten Tag war er davon überzeugt, dass der Fremde (dessen Namen er nicht einmal kannte!) tot sein musste. Baldur entnahm seinem Leinenbeutel einen mit Teer und Pech luftdicht versiegelten Leichensack. Hiefte sein Opfer dort hinein. Vernähte den Sack mit reißfesten Fola-Fasern und strich die Nähte grob mit dem mitgebrachtem Pech ein - nur die Fasern selbst nicht. Fola-Fasern waren der ideale Nahtstoff, solange sie nicht mit dem Wasser in Berührung kamen. Im Wasser lösten sie sich nach ein bis zwei Tagen restlos auf. Solange würde der Leichensack mit der darin eingeschlossenen Luft den Wilderfrio hinunter treiben. Dann würde er sein Innenleben freigeben und der Fluss den Toten irgendwo anspülen - oder sogar auf Nimmerwiedersehen verschlucken, was noch besser wäre. Niemand würde den Mord mit ihm in Verbindung bringen können. Seine Weste bliebe weiß. Es klatschte, als er den Sack mit seinem Opfer ins Wasser warf. Baldur lachte und grinste zufrieden. Während er hinterher schaute, dachte er daran, dass diese seine Tat doch wohl eher die Ausnahme war. Klar, wer ihm in die Quere kam, der hatte abzutreten. Normalerweise engagierte er dafür jedoch käufliche Mörder. Doch wenn die Gefahr bestand, dass Magie mit im Spiel sein könnte, dann legte er auch schon mal selbst Hand an. Man konnte ja nie wissen. Und man konnte niemals vorsichtig genug sein! 25
Kapitel 2: Der Findling Langsames Erwachen, Halbschlaf. Schattenhafte Gesichter. Ein Erinnerungsfetzen: Wald. Er war in einem Wald gewesen. Ein Mann hatte mit ihm gesprochen. Sein Gesicht ein weißer Fleck in seiner Erinnerung. Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen, wie im Traum. Nebelhafte Schemen. Vorsichtig bewegte er die Finger. „Er kommt zu sich“ sagte eine keifend-kratzige Frauenstimme. „Wurde auch Zeit“ antwortete brummend ein Mann, leicht gereizt. Endlich öffnete er die Augen, erwachte vollends. Etwas stimmte nicht mit ihm. Er kramte in seinem Gedächtnis, fand dort aber nichts außer einem Namen - Findus. Seine Erinnerung war weg, ausgelöscht. Er wollte sich aufsetzen, umsehen, doch seufzend sank er sofort auf das harte Lager zurück. Schwindel übermannte ihn; der Raum drehte sich vor seinen Augen. Sofort war die Frau bei ihm, stützte ihn. „Langsam“ mahnte sie fürsorglich, was so gar nicht zu ihrer unangenehmen Stimme zu passen schien. Gedanken rasten urplötzlich durch seinen Kopf. Wirre Gedanken – seltsames Zeug. Sachen wie „Autos“, „Flugzeuge“, „Raumschiffe“, „Fernsehen“, „Computer“ und anderes Zeug, das er nicht einordnen konnte. Sinnlose Begriffe, denn die Bilder und Inhalte dazu fehlten ihm. Leere Worthülsen - wie aus einer verwirrenden, anderen Welt. Wie aus einem bösen Traum. Noch verwirrender erschien es ihm, dass sich - während die inhaltslosen Begriffe schon wieder vergessen wurden - eines in seiner Erinnerung festsetzte: Es schien eine Welt zu geben, in der die Sinne getrennt waren. Riechen war dort nur Riechen und der Geruch hatte keine Farbe. Hören war dort ausschließlich Hören und die Geräusche hatten keine Formen. Schmecken war dort einzig Schmecken und der Geschmack hatte keine Oberfläche. Sehen war dort bloßes Sehen und das Sehen hatte keine Töne. Und Fühlen - Fühlen gab´s fast gar nicht mehr, eine Art von mechanisierter Unmenschlichkeit herrschte statt dessen vor. Magie war unbekannt. Eine seltsam-verrückte Welt. Er schien dort gewesen zu sein, aber zum Glück war das vorbei. 26
Endgültig. Ein schlechter Traum. Ein verdammt Schlechter! Findus blickte in den Raum, zum Fenster hin. Draußen herrschte stockfinstere Nacht. Er war hier.
In der Anderswelt. „Exitus“ sagte der Arzt und betrachtete die gleichmäßige Linie auf dem Monitor. „Sie können die Geräte jetzt abschalten“ meinte er zu der Krankenschwester. Er seufzte. Es war immer das Gleiche, vor allem zum Wochenende hin. Die Autobahn war ein Schlachtfeld. Sie nannte sich bloß nicht so. Später rollte man die Leiche aus der Intensivstation heraus. Mit einem Namenszettel am Zeh.
Im Palast von Helgenor. Baldur der Zweischneidige erwachte aus unruhigem Schlaf. Neben ihm im Prunkbett lag seine heutige Gespielin der Nacht und schlief fest, das ebenmäßige, makellose und doch leicht blasse Gesicht mit den blutroten Lippen vom langen, ebenholzschwarzen Haar umrahmt. Gesicht und Lippen bildeten einen erotisch-anregenden Kontrast. „Süß“ dachte er und an den Spaß, den sie miteinander gehabt hatten. Andererseits aber wurde er ihr auch allmählich überdrüssig. „Ob ich sie fortschicke?“ dachte Baldur. Plötzlich setzte er sich auf. Aus den Augenwinkeln heraus nahm er eine Bewegung wahr. „Ein Mörder?“ durchfuhr es ihn. Aufspringen und instinktiv eines der Schwerter, die scheinbar den Wandschmuck bildeten zu ergreifen, war eins. Ein grell-keckerndes Lachen kam als Antwort. Er kannte dieses Lachen genau, würde es nie in seinem Leben mehr vergessen. Aus dem Dunkel schälte sich langsam die neblige Gestalt des Shâgun, Nebel wie sich umeinander ringelnde, wurmartige Eingeweide. Sofort wusste Baldur, dass irgend etwas an seinem Plan schiefgelaufen war. Fürchterlich schiefgelaufen! „Mit dem Schwert kannst du mir nichts anhaben!“ lachte der Dämon und fuhr höhnisch fort: „Er ist nicht bei mir angekommen. Er ist auch nicht mehr in der Anderswelt. Er ist wieder hier. Dafür werde ich mich bei dir bedienen, wenn der Hunger 27
kommt. Es sei denn, du versorgst mich schon rechtzeitig vorher mit Nahrung. Mit Seelen-Nahrung. Wir haben ein Abkommen...“ Hallend-grell-stahlblau-keckerndes Lachen und der Dämon war verschwunden. Ein leicht bitter-süßfauliger, blassrötlich-türkisfarbener Geruch blieb im Schlafgemach zurück. Baldur schlief in dieser Nacht nicht mehr. Er dachte verzweifelt nach. Er musste die verlorene Spur wiederfinden, wenn er sein eigenes Leben retten wollte. Unbedingt. Die Weichen für die Zukunft waren gestellt worden...
Findus sah sich um, gestützt von der freundlichen Alten und ermuntert von ihrem Zahnlückenlächeln. Holz war der vorherrschende Werkstoff in diesem Raum, in dieser kleinen Hütte. Recht roh bearbeitet und mit den deutlichen Abnutzungsspuren aus ungezählten Jahren. Der Raum selbst war klein, wurde von einer Feuerstelle erhellt. Es roch leicht rehbraun nach Rauch und etwas grünsilbergelb nach Fisch. Es war ein einzelner, großer Raum, mit einer durch einen dichten Vorhang abgeteilten Ecke – dahinter vermutlich das Schlafgemach der beiden Alten. Der Rest war ein kombinierter Arbeits-, Koch-, Aufenthalts- und Wohnraum. Zwei Fenster - davon eines mit hölzernen Fensterläden verschlossen - an gegenüberliegenden Wänden und eine Tür nach draußen. Von der Decke hingen geräucherte Fische herunter. Daher wohl auch der Geruch. Ein altes, löcheriges Fischernetz spannte sich quer über die Decke und diente der Aufbewahrung ärmlicher Habseligkeiten. Die Feuerstelle war kaminartig, obwohl Kamin wohl zuviel gesagt war, denn ein Teil des Rauchs wurde immer in die Hütte selbst abgegeben. Alles in allem vermittelte der Raum den Eindruck, als ob hier ein hart arbeitendes Ehepaar schon seit Jahren mehr schlecht als recht sein Dasein fristete. Daher wandte Findus seine Aufmerksamkeit nun den Gastgebern zu. „Wo bin ich?“ fragte er und setzte gleich noch hinzu „Wie lange bin ich schon hier?“ Die Alte antwortete. „Herr, ihr sprecht. Das ist gut. Dann geht es euch wieder besser und ihr werdet sicher wieder gesund. Ihr seid beim Tiedsiepe-Fischer,
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am Wilderfrio. Mein Mann fand euch vor vier Tagen im Fluss und Ihr wart mehr tot als lebendig.“ Der Mann: „Ich kontrollierte meine Reusen, als ich euch im Wasser treiben sah. Ich zog euch raus. Ihr wart beinahe ertrunken und bewusstlos. Mit dem Boot brachte ich euch zu meiner Hütte. Ihr schliefet einen höchst seltsamen Schlaf. Wir dachten schon, ihr würdet nie mehr aufwachen. Bis jetzt. Wie ist euer Name und woher kommt Ihr?“ „Findus - mein Name ist Findus. Glaube ich wenigstens...“ setzte der Findling zweifelnd hinzu. „Ihr glaubt?“ bemerkte die Alte, die Augenbrauen fragend erhoben. „Ja, ich... Mein Gedächtnis. Es ist weg. Ich weiß nichts mehr. Was ist Wilderfrio? Was ist Tiedsiepe?“ „Aber mit dem Wort Fischer könnt ihr etwas anfangen?“ setzte der Mann die Befragung fort. „Ja. Ihr fangt die im Wasser lebenden Tiere und lebt davon.“ „Dann kann euer Gedächtnis nicht gänzlich verloren sein“ folgerte der Mann und bedeutete seiner Frau ihm zu folgen. Sie verschwanden hinter dem Vorhang. So sehr Findus auch die Ohren spitzte, er konnte nun nur noch Bruchstücke von ihrer leise und drängend geführten Unterhaltung vernehmen. Der schwere Stoff verschluckte die meisten Geräusche. „... kaum zu glauben...“ „...vielleicht Recht, bei einem Schlag auf den Kopf...“ „...man nicht heilen, muss von selbst zurück...“ „...bei uns bleiben...“ „...aber nur wenn...“ „...notfalls die Bônday...“ Dann, laut und deutlich: „Weib, was verlangst du noch alles von mir?“ Sichtlich verärgert wurde der Vorhang zurück geschlagen und der Mann tauchte wieder auf. Er sah Findus an. „Wer immer ihr seid - ihr bleibt vorerst bei uns und kuriert euch aus. Vielleicht kehrt euer Gedächtnis ja von allein zurück. Wenn ihr wieder gesund seid, dann dürft ihr bleiben, sofern ihr euch nützlich macht. Andernfalls geht. Versteht das bitte nicht falsch - aber wir haben zuwenig, um noch einen Esser durchzufüttern. Vielleicht vermag meine Frau euch zu helfen. Sie ist recht bewandert in der Kräuterkunde. Jetzt schlaft. Morgen bekommt ihr zu essen und dann sehen wir weiter.“ Der Fischer verschwand wieder hinter dem Vorhang und ließ Findus allein zurück. Findus legte sich zurück auf das harte Lager. Er dachte nach. Was hätte er sonst auch tun sollen? 29
Baldur fand in dieser Nacht keine Ruhe mehr. Zu tief steckte ihm der Schrecken noch in den Knochen. Er überlegte hin und her, was er tun könnte. Als der Morgen graute, hatte er eine Entscheidung getroffen. Er würde mehrere Wege gleichzeitig beschreiten - oder treffender, sogar beschreiten müssen. Denn der Shâgun konnte jederzeit zurück kehren. Die Zeit brannte Baldur daher unter den Nägeln. Er würde sehr schnell und hart handeln müssen, schneller und härter als ihm lieb war. Denn durch die Schnelligkeit bestand die Gefahr, dass er Fehler machte, dass er etwas übersah. Und durch die Härte würde er sich sehr unbeliebt machen. Seine weiße Weste würde Flecke bekommen. Doch Alternativen gab es nicht. Er weckte seine Gespielin der Nacht und scheuchte sie grob mit barschen Worten fort. Dann begab er sich in seinen Arbeitsraum und ließ nach Neville, seinem besten Spion, schicken. „Neville, dein neuer Auftrag hat Vorrang vor allen anderen. Ihr - und damit ist die ganze Gilde der Spione gemeint - habt notfalls uneingeschränkte Mittel zur Verfügung. Findet einen Mann, dessen Aussehen ich nicht kenne. Ich weiß nur soviel: Er ist allein und niemand kennt ihn. Er hat keine Herkunft. Er ist - wo immer er sich auch befinden mag - ein Fremder. Sucht ihn, findet ihn und vor allem: Tötet ihn! Dieser Mann ist sehr gefährlich. Für uns alle. Es kann durchaus sein, dass er über große magische Kraft verfügt. Daher überlasse ich die Wahl der Todesart euch. Passt sie den Umständen an. Geht kein Risiko ein. Er muss sterben! Unbedingt und so schnell wie möglich! Durchsucht das ganze Reich. Nehmt keine Rücksicht auf Unschuldige. Die ganze Gilde hat bis auf Widerruf nur noch diese eine Aufgabe. Und nun geht. Fangt mit der Suche an. Sofort!“ Damit war einerseits Neville entlassen und andererseits begannen die größte Fahndung und der größte Massenmord in der Geschichte Norgasts. Doch daran störte Baldur sich nicht im Mindesten. Er kannte keine Skrupel. Als nächstes rief er einen seiner Diener und ließ nach Mijneer Vankampen schicken. Mijneer
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Vankampen war in Helgenor der Vorsitzende des Syndikats der Kaufleute. Und er war ein Schleimer, wie er im Buche steht. Nach oben hin buckelnd und nach unten hin tretend betrat der Kaufherr schon kurz darauf unterwürfig Baldurs Arbeitsraum. Baldur ließ sich von der falschen Freundlichkeit des Kaufmannes nicht täuschen. Er informierte ihn dahingehend, dass die Kaufleute die Augen nach einem Fremden ohne Herkunft und ohne soziale Kontakte aufzuhalten hätten. Wenn sie den Gesuchten fänden, so sollten sie den Herrscher davon umgehend in Kenntnis setzen und auch gleichzeitig die Gilde der Spione informieren. Nachdem Mijneer Vankampen entlassen worden war, empfing Baldur die Obersten aus der Zunft der Piraten und aus der Zunft der Diebe. „Gesindel“ dachte er, doch es war gut, wenn man auch zu diesem Gesindel seine Beziehungen hatte. Er trug ihnen die gleichen Befehle auf wie zuvor schon Mijneer Vankampen und schickte sie fort. Jetzt blieben ihm nur noch zwei Sachen zu erledigen. Er wusste, dass sein Opfer mit magischer Kraft ausgestattet war. Normalerweise hätte Baldur sich jetzt zurückziehen und meditierend in die Gedanken seiner Untertanen einschalten können, um auf diese Weise den Gesuchten zu finden. Doch wenn der Letztere sich seiner Magie bewusst war, dann würde er sich gegen diese Art der Überwachung zur Wehr setzen. Baldur suchte dann vergeblich. Blieb noch der Paliwi. Dabei handelte es sich um eine kristallene Kugel; eine Hinterlassenschaft der großen Zauberer aus grauen Vorzeiten. Der Paliwi zeigte dem, der ihn zu beherrschen vermochte, jeden echten Magier und jede echte Hexe an. Sollte Baldurs Opfer sich nun aber keiner Magie bedienen, ja sich ihrer nicht einmal bewusst sein, dann würde er dem Paliwi verborgen bleiben. Baldur hielt das für äußerst unwahrscheinlich. Mit dem Paliwi würde er sein Opfer finden. Er holte einen versteckten und mehrfach gesicherten Schlüssel und begab sich in einen geheimen Kellerraum, welcher mitten unter dem Palast lag. Hier flossen viele magische Erdströme zusammen. Ideale Bedingungen. So suchte bald das ganze Reich Norgast nach dem Mann ohne Aussehen, ohne Namen, ohne Herkunft - und auch ohne Gedächtnis, weshalb er
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unauffindbar blieb. Vorerst war das Findus´ Rettung, denn Baldur dachte dabei nicht an Malweýn´s Fluch...
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Kapitel 3: Der Fischer Wie
durch ein Fenster hindurch gesehen erschienen die Bilder im Paliwi. Baldur saß konzentriert vor der Kristallkugel und betrachtete die sich abwechselnden, vorbeifliegenden Landschaften darin. Es waren immer Landschaften mit Menschen - Menschen mit magischen Fähigkeiten. Zauberer und Hexen. Die Anzahl der Magier hielt sich in Grenzen. Den einen oder anderen von ihnen kannte Baldur sogar persönlich. Hier ein Lohnmagier, da ein Wettermagier. Viele nur gering mit Magie begabte Personen, gerade mal zu einem mantrischen Sigillenzauber, spiegelmagischer Evokationen oder der Knotenmagie fähig und kaum mal alles zusammen. Dann aber waren da noch die Hexen. Und ihrer waren es viele - sehr viel mehr, als Baldur in seinen kühnsten Träumen erwartet hätte. Da würde er irgendwann etwas gegen unternehmen müssen. Gut, die Hexen waren nicht organisiert, standen in Konkurrenz zueinander und lebten auch räumlich getrennt. Die Freifliegenden und die in den verschiedenen Coven Organisierten hielten sich in etwa die Waage. Doch schon die schiere Anzahl dieser Personen verursachte ihm Bauchschmerzen. Sie bildeten ein lockeres Netzwerk. Er sah darin eine vage Bedrohung seiner eigenen Macht. Wenn die sich irgendwann einmal gegen ihn verbünden sollten - viele Hunde waren des Hasen Tod. Und Entfernungen würden im Ernstfall wohl kaum ein Hindernis darstellen. Als ob die reine Menge der Hexen noch nicht ausreichen würde, hatten die obendrein auch noch recht ansehnliche magische Kraft. Richtige Macht. Kaum eine, die nicht der Elementarmagie fähig war. Meist zwar nur in Teilen - also die Beherrschung von Wasser oder Erde oder Luft, Wind, Feuer - aber einige konnten alle Elemente beeinflussen und obendrein noch Naturgeister anrufen. Andere beschäftigten sich mit Drachenmagie. Gefährlich. Vor allem für ihn. Noch ein Problem. Und das ausgerechnet jetzt! Der Paliwi zeigte Baldur weiterhin die Bilder von Personen. Doch urplötzlich stoppte die Bildfolge. Zwei 33
bernsteinfarbene Katzenaugen sahen ihn aus dem Kristall heraus an. Augen in einem schwarzhäutigen und von weißblondem Haar umrahmten Gesicht. Das Gesicht einer begehrenswerten Frau. Einer Hexe. Die Augen glühten goldfarben auf, zogen ihn in ihren Bann. Baldur keuchte. Nein - das konnte nicht sein! Seine Kugel konnte ihre Kraft nicht gegen ihn selbst richten! Ein magischer Zweikampf entbrannte. Mit einem Male jedoch erkannte Baldur erschrocken, dass der Angriff gar nicht ihm galt. Jedenfalls nicht ihm persönlich. Die Augen richteten sich von innen her auf den Paliwi. Dieser wurde schmutzig-trüb, grau, matt und glanzlos. Ein unheilvolles Knirschen kündigte das Ende des magischen Gegenstandes an. Sprünge durchzogen die Kristallkugel. Mit einem Wutschrei sprang Baldur auf, versetzte dem Tisch mit dem Paliwi einen Tritt. Der Tisch kippte um; der Paliwi fiel auf den steinernen Boden - und zersprang in tausend Teile! Ein Werkzeug von kaum fassbarer magischer Kraft - einfach vernichtet! Durch jemanden in seinem eigenen Reich; jemanden, den er nicht einmal kannte! Baldur tobte. Erste Anzeichen des Wahnsinns flackerten in seinen Augen. Wutschnaubend und grenzenlos in seinem Zorn auf alles und jeden verließ er den Keller, stürmte in sein Arbeitszimmer. Jeder, der ihn sah, fürchtete seinen Groll und versteckte sich schnell. Im Arbeitszimmer angekommen hatte Baldur sich etwas beruhigt. Aber nur etwas. Blieb noch die zweite Option. Die mentale Kontrolle der Bewohner seines Reiches. Eine Sisyphusarbeit. Aber direkt vor Ort einfacher zu erledigen. Baldur trat zum Fenster. Verärgert verwandelte sich in eine Krähe und flog davon, in Richtung Torboog.
Findus erwachte vom köstlich-orangefarbenen Duft frischen Fladenbrots. Die Alte hatte die restliche Glut aus der Feuerstelle genutzt, um das Brot zu backen. Ein einfaches Brot zwar, nur ein mit Wasser angerührter dicker Teig aus Pflanzensamen und in der glühenden Holzkohle für kurze Zeit gegart, aber dennoch lecker riechend. „Frühstück“ grinste sie und hielt ihm ein Stück des Brotes hin. „Einen
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Moment“ erwiderte er. Findus fand Kleidung neben seinem Lager. Er stand auf und kleidete sich rasch an. Dann ergriff er das ihm noch immer einladend entgegen gehaltene Brot. Er war sehr hungrig. „Wie nennt ihr euch eigentlich?“ fragte er kauend. „Snofork“ entgegnete die Alte und fügte noch hinzu: „Wenn wir jetzt schon unsere Rufnamen kennen, dann können wir uns auch Duzen. Das vereinfacht die Sache.“ Das war so üblich und Findus nickte. Gedanklich war er allerdings schon ganz woanders. Der Begriff „Rufname“ hatte etwas in seinem Kopf in Bewegung gesetzt. „Rufname, Rufname...“ dachte er. Plötzlich war ein Wissen da. Ein Wissen um die Bedeutung von Namen. Jedes Lebewesen, ja sogar jeder Gegenstand in Norgast hatte zwei Namen. Einen Rufnamen und einen echten Namen. Der echte Name war und blieb immer das Geheimnis des Namensträgers. Dieser Name kennzeichnete für den Betreffenden nämlich die Quintessenz der Wahrhaftigkeit seines ureigensten Seins an sich. Der echte Name konnte kaum ausgesprochen, sondern bestenfalls von den dazu befähigten Leuten gedanklich erfasst werden. Er war nur in Form von Runen aufzuschreiben. „Findus - Findus Far-Ur-Rit, Findus Fehu-UruzRaido in der alten magischen Sprache“ dachte er. „Far-Ur-Rit: Alles ist im Fließen bis du dich selbst erkennst und deinem Schicksal vertraust.“ Das war sein ‚echter‘ Name. Die Kenntnis des echten Namens verlieh unbeschränkte Macht über den Namensträger. Er hätte den echten Namen von Snofork wahrscheinlich problemlos erraten können, doch er schreckte davor zurück. Es schickte sich nicht. Vor allem deswegen, weil viele Personen ihren eigenen, echten Namen nicht einmal kannten. Viele Leute suchten meditativ nach ihrem wahren Namen – indem sie sich über einen Stein Gedanken machend in sich selbst versenkten und dann die Welt in einem Staubkorn erfuhren. Ob sie damit erfolgreich waren? Findus wusste es nicht. Er wusste auch nicht, wie dieses Wissen in seinen Kopf gelangt war. War das Magie? Findus saß noch kauend und in Gedanken versunken am Tisch, als die Tür sich öffnete. Schweren Schrittes stapfte der alte Fischer herein, sah Findus an. „Du kannst mich Bewok nennen. Hast du dir inzwischen überlegt, ob du bleiben oder 35
gehen willst?“ Findus blickte auf und entgegnete: „Ich bleibe, wenn ich darf. Vorerst wenigstens.“ Bei sich dachte er dabei: „Wo soll ich auch hin?“ „Gut, komm´ erst einmal wieder zu Kräften. Heute hast du deinen freien Tag. Ab morgen wird mitgearbeitet.“ Polterte der Fischer und fuhr sogleich fort: „Wenn du gegessen hast, dann zeige ich dir die Umgebung. Damit du Dich nicht verläufst. Ist dein Gedächtnis inzwischen zurück gekommen?“ Verlegen schüttelte Findus den Kopf. Aufmunternd grinste Snofork ihn an. „Das wird schon“ meinte sie. Der Fischer stellte einen Krug mit frischem Quellwasser auf den Tisch und sie beendeten schweigend ihre Mahlzeit. Dann gingen Findus und Bewok nach draußen. Als Findus vor die Tür trat, musste er einen Moment lang unwillkürlich stehen bleiben. Zu vielfältig waren die auf ihn einstürzenden Eindrücke. Ein Sommertag, die Sonne war bereits aufgegangen und es würde warm werden. Strahlend blauer Himmel mit wenigen weißen Tupfern darauf. Zahllose Vögel pfiffen, keckerten, sangen, zwitscherten, tschilpten. Geräusche, die in seiner Wahrnehmung wie pfeilähnliche, weiß-silberne Formen vorbeiflogen oder die kreisend auf ihn zukamen. Dazwischen regenbogenfarbene Ringstrukturen, goldgelb-silbrige Linien, satt-grünliche Schlangengebilde, rosa-strukturierte kristalline Formen. Jede Vogelstimme ein anderes Bild vor dem inneren Auge. Ein Universum aus psychedelischen Formen und Farben, aus perfekter Harmonie. Echte Natur im Ursprung des Seins. Etwas von dem er - woher? - wusste, dass er es für sehr lange Zeit hatte missen müssen. Er blendete die synästhetische Wahrnehmung aus und betrachtete die Landschaft. Unmittelbar vor ihm führte ein ausgetretener Pfad zu einem Steg, welcher in einen breiten und träge dahinströmenden Fluss ragte. Am Steg war ein kleines Boot verträut und tanzte sacht auf den leise glucksenden Wellen. Rechts von ihm schien eine Landzunge zu sein, denn weiter in der Ferne spiegelte sich hinter dem Land eine große Wasserfläche. Bewok ließ ihm die Zeit, die er brauchte, bevor der Fischer erläuterte: „Vor dir, das ist der Wilderfrio. Dort oben“ - er wies nach rechts – „trifft der Wilderfrio als Wildbach auf den ‚Schlafenden Arm‘ der Tiedsiepe. Beide vereinigen sich zu 36
diesem Strom.“ „Was ist der ‚Schlafende Arm‘ der Tiedsiepe?“ „Wenn ich Dir das genau erklären könnte... Es ist so: Oberhalb des ‚Schlafenden Arms‘ befindet sich ein riesiger See, die Tiedsiepe. Eigentlich schon eher ein Binnenmeer. Die Tiedsiepe ist ein sehr gefährliches Pflaster. Einmal täglich fällt sie vollkommen trocken und man kann auf dem Grund entlang gehen. Und einmal am Tag füllt sie sich mit Wasser. Aber frage mich nicht, wo das herkommt. Jedenfalls ist es soviel, dass die Tiedsiepe jedes Mal überläuft. Ein Wasserfall speist dann den ‚Schlafenden Arm‘ und er wird reißend. Zu dieser Zeit ein absolut tödliches Gewässer wegen der vielen Strudel und Strömungen. Zur Tiedsiepe-Trockenzeit gut für den Fischfang mit Netzen. Ich habe dort oben noch ein Boot.“ Für den eher wortkargen Fischer war das eine ziemliche lange Rede gewesen. Er verstummte und sah Findus an. Findus nickte zustimmend. Er hatte verstanden. Plötzlich stieg ihm ein vertrauter, dunkelgrau-ausgefranster Geruch in die Nase. „Habt ihr...?“ Der Fischer nickte. „Nur vom Fisch kann man nicht leben. Komm´ mit.“ Bewok bog um die Ecke der Hütte. Findus folgte ihm und fand einen kleinen Pferch vor. Ein Schwein, vier Hühner. Daher der Geruch. Der Stall für die Tiere war im Gegensatz zur Hütte gänzlich aus Schilf gefertigt worden. Bei der Hütte des Fischerpaares bestand nur das Dach aus Schilf und der Rest aus Holz. Doch das Rohr schien der bevorzugte Baustoff zu sein. Bewok bemerkte Findus´ interessierten Blick und erläuterte: „Wir haben hier zwar keine Reichtümer, aber Schilf gibt es im Überfluss. Es wäre eine sinnlose Verschwendung, nicht darauf zurück zu greifen.“ Findus nickte wieder. Logisch - man verwendete, was da war. „Komm´ weiter“ sagte der Fischer und sie umrundeten die ärmliche Hütte, standen jetzt auf der flussabgewandten Seite. Vor Findus´ Augen stieg das Gelände recht steil zu einem dicht bewaldeten Abhang an. „Der Wald liefert uns Brennholz. Auch Holz und Kräuter für das Räuchern der Fische. Hin und wieder kommt mal ein fahrender Händler vorbei und kauft uns ein paar geräucherte Fische ab. Das Geld und das Tauschgut verwenden wir dann für die notwendigen Reparaturen, für Salz, Öl, Honig und sowas. Holz haben wir eigentlich nie genug. Deine erste 37
Aufgabe morgen wird daher darin bestehen, trockenes Holz zu sammeln. So, jetzt mach´ Dich selbst mit der Gegend vertraut. Ich habe zu tun.“ Sprach´s und ging von dannen. Findus sah dem Fischer nach. Blickte danach zum Wald hinauf. Warum eigentlich keinen Waldspaziergang unternehmen? Es musste am frühen Morgen geregnet haben, denn der Boden war nass. Die ersten Schritte. Eine andere Welt. Das hellbraun-weiße Quatschen von Morast unter den Füßen. Er mochte dieses Geräusch, das in ihm ein Gefühl behaglicher Geborgenheit hervorrief. Er genoss die Ruhe. Schräg rechts über ihm waren auf einmal diese Formen zu sehen, die wie versetzt übereinander gestapelte Schubladen aussahen. Sie verblassten und wurden durch einen rotgolden schimmernden, schräg waagerecht verlaufenden, rotweißgoldenen Zapfen ersetzt: Eine Blaumeise. Erst hatte sie auf den Regen geschimpft und dann mit einem Träller ihr Lied angestimmt. Die Blätter an den Bäumen waren noch immer schwer vom Regen. Überall tropfte es. Plitsch-plitsch-platsch. Jedes Tropfengeräusch für sich sah aus wie ein gefaltetes, hellgraues Stück Pergament. Ganze Pergamentberge, die von den Bäumen rieselten. Schön. Und die Gerüche. Eben noch durchdringend rot-süß, so dass alles wie durch einen roten Schleier hindurch aussah. Die Ursache dieses Geruchs vermochte er nicht zu ermitteln. Hinter der nächsten Kurve veränderte sich der Geruch, sah aus wie die Borsten eines Tierfells, braun mit grauen Spitzen, war zimtig. Der Geruch ließ eine Art von kribbelndem Gefühl seinen Rücken hinunter laufen. Es lag ein leichter Nebel über Pfad und Wald, ließ alles unwirklich erscheinen. Er war mutterseelenallein hier, hatte seine Ruhe. Ruhe zum Nachdenken. Doch so sehr Findus sich auch anstrengte - sein Gedächtnis blieb leer. Links von ihm schwarze Flecken; es waren Schritte im nassen Laub des Unterholzes. Irgendwas Schweres, Vierbeiniges. Könnte ein großes Reh sein. Vielleicht aber auch ein Hirsch, wenngleich unwahrscheinlich. Eher ein Wildschwein. Mit denen war nicht zu spaßen, wie er aus Erfahrung wusste. Welcher Erfahrung? Er machte, dass er weiterkam.
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Er ging in Gedanken versunken vor sich hin. Plötzlich ein lauter Perlenvorhang. Der Schrei eines Hähers. Ohne es zu bemerken - da er sich nahezu lautlos bewegt hatte - war er bis auf ein paar Meter an das Tier herangekommen, hatte es aufgescheucht. Der Ruf des Vogels löste ein wahres Echo weiterer Häherschreie aus. Dadurch regnete es synästhetische Perlen. Überall. Silbrig. Aber nicht alle waren rund und nicht alle waren exakt silberfarben. Je nach Tier mal etwas in Länge gezogen, mal mehr ins Gelbliche hinein gehend. Individuell verschieden. Stimmenfingerabdrücke. Die Bäume wurden lichter, ließen den Blick auf einzelne kleine Schönwetterwolken zu. Weiß-blaue Federfetzen spiegelten sich in großen, ockerfarbenen Pfützen, was in ihm eine Art von innerer Stille hervorrief. Darauf fallende Pergamentfaltungen von den Bäumen verursachten Ringmuster, die wie ein helles „Pling-Plong“ klangen. Wieder ein anderer synästhetisch wahrgenommener Geruch, türkis mit tiefblauen Punkten. Von Pilzen, also erdigmuddig. Inzwischen war er schon weit gewandert. Einzelne, verirrte Strahlen der Sonne kämpften sich durch die Baumkronen. Eine wohlige Müdigkeit machte sich in ihm bemerkbar, konnte vom Wandern, vielleicht aber auch von der Orgie verschiedenster synästhetischer Empfindungen kommen. Zeit, allmählich den Rückweg anzutreten. Dazu wählte Findus eine andere Route, orientierte sich am Stand der Sonne. Ging weiter. Schloss die Augen immer wieder für ein paar Schritte beim Laufen, orientierte sich nur nach den Ohren, Gerüchen und den geisterhaften Lichterscheinungen vor seinem inneren Auge. Und haptisch, denn die Sohlen waren ziemlich dünn, so dass er die Steine spüren konnte. Herrlich, denn das hatte was vom Barfußlaufen. Irgendwann fühlte er sich heiter-erschöpft. Musste Kraft tanken. Er legte die Hand an einen Baum, eine Buche, und verharrte. Schloss die Augen und lauschte dem, was der Baum ihm zu sagen hatte. Sah vor seinem inneren Auge den Baum. Wie im Zeitraffer lief jetzt die Zeit rückwärts. Sah in Gedanken, wie der Baum heranwuchs. Wie er Blätter verlor und bildete. Wie er Wind und Wetter, Schnee und Sturm, Regen und Hitze trotzte. Wie er kleiner wurde. Wie sich sein Keim aus der Laubschicht bohrte. Wie sein Keim in der Erde 39
lag. Wie die Buchecker auf die Erde fiel. Wie sie sich an einem anderen Baum aus Mineralstoffen und Flüssigkeiten geformt hatte. Findus öffnete die Augen, nahm die Hand vom Stamm. Sie hinterließ einen dunklen Abdruck auf der Rinde und war schmutzig, aber er fühlte sich mehr als erfrischt, fröhlich, vollkommen locker. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren und hätte unmöglich sagen können, wie lange diese meditativbesinnliche Phase, dieses Die-Natur-Erfahren wohl angedauert hatte. Gegenlicht. Die Sonne verwandelte die Wasserflächen der gigantischen Pfützen in ein gleißendes Gold; fast wie ein Schrei hörte es sich an. Silbrige, metallisch-nasse Vogelstimmen-Ringe ringsum in allen Farbvarianten, aufgelockert durch Ellipsen und vereinzelte, abgeschrägte Polygone. Eine Biegung des Weges, ein neuer Geruch, sattgün. Er vermutete, dass der von dem hier allgegenwärtigen Wurmfarn hervorgerufen wurde, obgleich der Farn selbst noch die hellbraun-gelbliche Farbe vom letzten Herbst aufwies. Über ihm ein Gewirr von dunkelrotgrauen Hohlkugelabschnitten: Das Flattern eines Schwarms von Wildtauben, welchen er unabsichtlich aufgescheucht hatte. In der Ferne der dunkle, rötliche, Hohlnadel-ähnliche Ruf eines Bussards. Wiederholte sich mehrmals. Der bisher nur leichte Nebel wurde dicht, immer dichter, dämpfte die Vogelrufe fast bis zur Unhörbarkeit. Eine reale Traumwelt, ganz für ihn allein - wobei diese Begriffswahl ihm weder als Koan noch als Paradoxon erschien. Eine reale Traumwelt, wo die Natur einen Wert in sich selbst hatte. Dann verließ er den Wald und stand wieder vor der Hütte des Fischers. Ihm war klar, dass er einmal dem Tode entronnen sein musste. Irgend etwas war dabei mit ihm geschehen, hatte sein Denken dauerhaft verändert. Findus betrachtete die Natur jetzt mit anderen Augen, sah das Leben nicht mehr so verbissen. Wozu hinter Reichtümern herlaufen? Es gab wichtigere Werte! Und der Tod hatte für ihn viel von seinem Schrecken verloren... Es war bereits Nachmittag geworden. Auch der Rest des Tages verging sehr schnell.
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Am gleichen Tag in der Stadt Helgeboog. Neville rief die Gilde der Spione zusammen. Gilde war eigentlich ein sehr hochtrabender Begriff für die dreißig Personen umfassende Todestruppe, von denen zwei fehlten, weil sie im Reich unterwegs waren. Trotzdem - jeder aus dieser Gruppe war handverlesen, fürchtete weder Tod noch Teufel und war Neville bis hin zur Selbstaufgabe bedingungslos ergeben. Er war dafür bekannt, dass Gnade ein ihm unbekanntes Wort war. Und er ging immer taktisch klug, heimtückisch, eiskalt, skrupellos und mit äußerster Härte vor. Deswegen war er als Baldur´s blutigster Handlanger bekannt und gefürchtet. Das kam natürlich nicht von ungefähr. Neville zählte zu den Menschen, die ihren eigenen ‚echten‘ Namen kannten. Vor sehr langer Zeit einmal war er sturzbetrunken gewesen und vertraute diesen Namen Baldur an. Neville - „Neville Man-Ehu“ oder „Neville Manaz-Ehwaz“, wie die Magier und Hexen sagen würden: „Fördere das eigene Wohl durch starke Gemeinsamkeit.“ Und wer hatte ihn damals wohl so betrunken gemacht und übte heute Macht über ihn aus? Und mit wem bestand wohl die Gemeinsamkeit? Neville instruierte seine Mannschaft. So sagte er im Zuge seiner Ansprache: „Wir haben uneingeschränkte Mittel zur Verfügung. Das erlaubt es uns, Denunzianten zu belohnen. Versprecht den Leuten eine Belohnung! Geht jedem einzelnen Hinweis nach. Wer auch nur im Verdacht steht, dem Gesuchten geholfen oder gar Unterschlupf gewährt zu haben, der wird verhört. Folter ist zulässig. Vergesst auch die Verwendung der Hungertürme nicht.“ Die Hungertürme waren ein beliebtes Mittel früherer Tyrannen gewesen, um unliebsame Mitmenschen vom Angesicht der Welt verschwinden zu lassen. Diese steinernen Türme waren uralt, rund, mit etwa fünf bis zehn Schritten im Durchmesser und zu hoch, um herausklettern zu können. Sie waren einzeln stehend über das ganze Reich verteilt. Nach oben hin verjüngten sie sich etwas und ein Dach besaßen sie nicht. Nur eine einzige halb mannshohe Tür aus dickem Eichenholz, mit Eisen beschlagen. Keine Fenster. Die Verurteilten wurden in diese Türme gesperrt. Wasser bekamen sie vom Regen. Nahrung nicht. Sie verhungerten elendig oder sie verfaulten bei lebendigem Leib. Wer großes 41
Glück hatte, der erfror im Winter schon nach kurzer Zeit. Neville wusste um die abschreckende Wirkung dieser Türme auf die Bevölkerung. Er gedachte, sie erneut zu gebrauchen. Derweil war Baldur selbst in einem ganz anderen Teil von Norgast aktiv und durchmusterte die Gedanken seiner Untertanen. Mit Wohlwollen sah er die brutale Tätigkeit seiner Spione. Gut – sehr gut sogar. Viele Tote. Viele Seelen. Das würde den Dämon erst einmal beschäftigen und ihm selbst Zeit verschaffen. Die unsichtbare Schlinge um den Hals des Mannes ohne Gedächtnis zog sich langsam aber sicher zu, ohne dass der Letztere etwas davon bemerkt hätte!
Der nächste Tag. Nach einem zwar kärglichen, doch gleichzeitig auch sättigenden Frühstück, nahm der Fischer Findus mit nach draußen. „Sammle am Vormittag Brennholz soviel du finden kannst“ befahl Bewok. Er reichte Findus einen langen und recht schweren messerähnlichen Gegenstand, welcher unschwer als früheres Kurzschwert erkennbar war. Es musste uralt sein. Früher bestimmt einmal sehr wertvoll, hatte es endlose Zeiten und viele Besitzer überdauert. Eine Seite der Klinge war scharf geschliffen und leicht gebogen. Sie glänzte. In die andere Seite waren dicht an dicht grobe Zacken eingearbeitet worden - nachträglich, wie leicht zu sehen war. Bewok erläuterte: „Dein Werkzeug. Die glatte Seite dient als Axt. Mit der gezackten Seite kannst du das Holz sägen. Gleichzeitig dient das Ding zu deiner Verteidigung, falls das nötig sein sollte. Wir haben hier Wölfe, Bären und Luchse. Und Kreuzottern. Das sind Giftschlangen. Aber die bekommst du sowieso nur dann zu Gesicht, wenn du dich leichtfüßig wie ein junges Mädchen bewegst. Normalerweise spüren sie deinen Schritt und flüchten lange bevor du sie siehst. Den Bären gehst du besser aus dem Weg. Das gilt auch für die Wölfe und für Wildschweine.“ Er sah Findus scharf an. „Ich werde vorsichtig sein“ versprach Findus und Bewok machte sich auf den Weg zu seinem Boot. Findus umrundete die Hütte und ging auf dem ihm bereits vom Vortag bekannten Weg in den Wald. Ihm waren gestern schon ein paar etwa armstarke, grau-braune Totholzstämme
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aufgefallen. Er fand sie rasch wieder; fällte sie. Zerkleinerte das Holz auf tragbare Größe und schleppte es zur Hütte, wo er es unter einem Schilfunterstand aufschichtete, so dass es vor dem Regen geschützt war. Armvoll um Armvoll, Fuder um Fuder. Rasch wuchs der Stapel. Unterwegs fiel ihm eine zottig-behaarte hüfthohe Pflanze von abstoßendem Geruch und mit gelblich-weißen, geäderten Blüten auf. „Hundspisswurzel“ stand da plötzlich ein Begriff in seinem Kopf. Diese Pflanze - sie war hochgiftig. Und dennoch... Irgendeinen Zweck hatte sie, das war im klar. Ohne sagen zu können warum, bat er Snofork um zwei alte Tücher und um eine Flasche mit etwas Öl. „Öl?“ fragte sie und „Haben wir nicht.“ Sie überlegte einen Moment, dann „Warte mal. Bewok hat mal versucht, Fischöl herzustellen. Furchtbares Zeug. Stinkt widerlich. Zu nichts zu gebrauchen. Reicht Dir das?“ „Ja, das ist schon in Ordnung“ antwortete Findus. „Willst du mir nicht sagen, wozu du es brauchst?“ „Vielleicht erinnere ich mich an etwas. Wenn´s funktioniert, dann erfährst du das sowieso. Lass´ mir doch mal ein kleines Geheimnis.“ Kopfschüttelnd und unverständliches Zeug vor sich hinbrummelnd gab sie ihm das Gewünschte und Findus zog von dannen. Wieder im Wald sammelte er einen flachen und einen runden Stein. Mit dem Kurzschwert-Werkzeug schnitt er von einem umgestürzten Nadelbaum ein Stück Rinde ab. Nadelbäume lieferten dickere Rinde als Laubbäume, eine gute Unterlage. Dann umwickelte er seine Hände mit den Tüchern und schnitt einige Teile der widerlich riechenden Pflanze ab. Mischte viele der violett geäderten Blütenkelche unter das Pflanzenmaterial. Stück für Stück zerdrückte er es zwischen den beiden Steinen und praktizierte die schmierige Masse in die Ölflasche, welche danach gut verkorkt wurde. Trotzdem er so gut es eben ging die Luft angehalten und sich zum Atemschöpfen immer ein gehöriges Stück zur Seite bewegt hatte, spürte er, wie es ihm schwindlig-leicht im Kopf wurde. Er hatte zuviel von dem Geruch eingeatmet. Aber er war jetzt ja auch fertig. Nur noch die Flasche außen abwaschen. Die Tücher würde er nachher im Fluss reinigen können. Findus reinigte das Äußere der Flasche gerade in einer Pfütze, als er das Gefühl bekam, beobachtet zu werden. 43
Alarmiert blickte er auf. Doch Gefahr bestand nicht. Ein Fuchs war aus dem Unterholz gekommen und kaum zwei Schritte von Findus entfernt stehen geblieben. Er sah Findus an. Findus sah ihn an. Eine ganze Weile betrachteten die beiden einander. In Findus´ Geist regte sich etwas. Er schien die Welt plötzlich irgendwie aus der Fuchsperspektive zu betrachten. Die Gerüche hatten sich auch verändert. Sie waren intensiver und vielfältiger geworden. Eine ganze Geruchswelt. Und Vorsicht war das vorherrschende Gefühl. Daneben aber auch noch ängstliche Neugier. „Willst du denn gar nicht flüchten?“ fragte Findus den Fuchs. Der gab als Antwort eine Art von Maunzen, fast wie bei einer Katze, von sich. Blieb aber wo er war. Findus hatte plötzlich das Gefühl, als wollte Fell durch seine Haut sprießen. Erschrocken stand auf. „Verschwinde“ sagte er unwirsch zu dem Fuchs. Der gab einen wachsgelb-bellenden Laut von sich und verzog sich wieder ins Unterholz. Ein verrücktes Erlebnis! Findus nahm die Flasche und ging zurück; deponierte das Gefäß an einen sicheren Ort außerhalb der Hütte. Dann reinigte er die Tücher im Fluss. Flussabwärts begannen ein paar Forellen zu springen. „Springende Fische...“ dachte er „...ich habe Recht gehabt.“ Er breitete die Tücher nahe der Hütte zum Trocknen aus und informierte Snofork. Danach machte er sich wieder an das Sammeln von Holz. Zu Mittag aßen sie alle drei zusammen. Dann ging die Arbeit weiter. Bewok war am Morgen nicht ganz erfolglos geblieben und hatte ein paar Fische mitgebracht. Nicht gerade viele, aber es würde reichen. Er zeigte Findus, wie die Fische haltbar zu machen waren. Die Tiere wurden ausgenommen, gut gewaschen und für geraume Zeit an die Luft und in die pralle Sonne gehängt, so dass sie gut abtrocknen konnten. Es folgte ein reichliches Salzen. Daraufhin maß der Fischer eine ganz bestimmte Menge von älterem und daher schon richtig durchgetrocknetem Feuerholz ab. Bewok bedeutete Findus, das Holz zu tragen und ihm zu folgen. Sie gingen zu einer nahegelegenen Stelle am Waldrand. Dort befand sich eine steinerne Umfassung mit einer Eisenplatte darüber. Auf der Eisenplatte stand ein kleiner Turm aus Lehm, darüber ein hölzerner Deckel mit innenliegenden Haken.
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Bewok setzte den Korb mit den darin befindlichen Fischen sowie eine geheimnisvolle Holzkiste ab. Der Fischer öffnete die Kiste und Findus warf einen Blick hinein. Was immer er auch erwartete - er wurde enttäuscht. Bewok bemerkte Findus´ Gesichtsausdruck und lachte. „Meine Räucherkiste“ sagte er. „Das hier“ - er wies auf eine Mischung aus getrockneten Schilfblüten, zerkleinerten Schilfstängeln, Holzspänen und kleinen Holzkohlestücken – „ist der Zunder zum Entzünden des Feuers. Das hier“ - nun wies er auf eine andere Kammer in der kleinen Kiste – „ist Holzmehl aus Buche, Eiche und Esche. Pack´ das Feuerholz schon mal unten rein.“ Bewok wies auf die Steineinfassung und half Findus, das seltsame Gebilde zu zerlegen. Findus befolgte neugierig alle Anweisungen. Der Fischer schichtete das Feuerholz etwas um und legte dann einen Zunderrand um und in die Mitte des Holzes. Nun deponierte er die Eisenplatte darüber und stellte den Lehmturm oben auf. Er gab die Holzmehlmischung hinein und verteilte sie gleichmäßig auf dem Boden der eisernen Platte. Dann griff er nach einem Lederbeutel am Gürtel. Er entnahm dem Beutel eine Handfläche voll von krümeligem Material. „Das ist für mich beinahe der wertvollste Rohstoff“ erläuterte Bewok und setzte hinzu: „Eine Mischung von getrocknetem Heidekraut und Treibholz vom fernen Maar. Die geben dem Fisch ein unvergleichliches Aroma.“ Er fügte die Gewürze dem Holzmehl hinzu. Jetzt wurden die Fische in ein Weidengeflecht gegeben und in den Turm eingehängt. Bewok legte den Deckel auf. Ein paar Hände voll nasser Erde dichteten Holz und Lehmröhre gegen die Außenluft ab. „Die Sonne steht gut“ sagte der Fischer und entnahm einem zweiten Lederbeutel ein geschliffenes Glas. Er hielt es derart dicht beim Zunder, dass sich ein grellweißer Lichtfleck bildete. Nicht lange und Rauch kräuselte nach oben. Vorsichtig pustete Bewok, um aus der Glut Flammen zu machen. Bald darauf brannte auch das Feuerholz. „Der Vorgang nennt sich Räuchern“ erklärte er dem ratlos dreinblickenden Findus. „Das Feuerholz verbrennt mit heißer Flamme und heizt die Eisenplatte auf. Die gibt die Hitze an das Holzmehl und an die Gewürze weiter. Die verschwelen und der Rauch konserviert den Fisch für viele Tage. Wenn 45
man ihn danach nochmal an der Luft trocknet, dann kann man ihn sehr lange aufbewahren.“ „Und wie weißt du, wann der Fisch fertig ist? Nimmst du den Deckel ab und siehst nach?“ fragte Findus. „Bloß nicht“ antwortete der Fischer abwinkend „das ist das Schlimmste, was man überhaupt tun kann. Dann entweicht der Rauch. Das Abnehmen des Deckels unterbricht den Räuchervorgang. Macht man das zu früh, dann ist der Fisch unwiederbringlich verdorben.“ Bewok machte eine kurze Pause, bevor er weiter sprach. „Es ist viel einfacher. Ich messe die Menge an Feuerholz ab, die gebraucht wird. Wenn das Holz runtergebrannt ist, dann war der Fisch lange genug in der Tonne.“ Findus nickte. Das klang alles ganz logisch und war leicht nachvollziehbar. Aber etwas anderes ging ihm noch durch den Kopf und ließ seinen Respekt vor Bewoks Fähigkeiten steigen. „Du brauchst die Sonne, um das Feuer zu entzünden?“ fragte Findus den Fischer. Bewok nickte. „Dann musst du aber auch alles andere berücksichtigen. Wie das Wetter wird, bevor du zum Fischen gehst. Rechtzeitig Feuerholz und Kräuter beschaffen. Die Gewürze beim fahrenden Händler eintauschen und mehr noch.“ Bewok nickte wieder. „Das erfordert ein sehr weitsichtiges Vorausschauen - woher weißt Du, was du wann tun musst?“ „Erfahrung“ brummte Bewok nur, setzte leise ein „und Hunger“ hinzu. „Manchmal bringe ich auch glühende Holzkohle mit“ ergänzte er noch, murmelte etwas Unverständliches über ‚unnütze Fragerei‘ und schwieg danach. Das Räuchern zog sich bis zum frühen Abend hin. Bewok löschte die restliche Glut mit etwas Wasser und klaubte die noch brauchbaren Holzkohlestücken heraus – ein wertvolles Gut, denn was übrig blieb, dass würde er später nicht beim fahrenden Händler eintauschen müssen. Zum Schluss bedeckten sie die Feuerstelle mit Erde. Mit dem frisch geräucherten Fisch traten beide den Heimweg an. Dabei wies Bewok gen Himmel und sprach: „Halbmond. Zunehmend. Der fahrende Händler kommt immer um den Vollmond herum. Mit etwas Glück haben wir dieses Mal genug zum Tauschen. Lass´ uns die nächsten Tage versuchen, soviele Fische wie möglich an Land zu bringen und zu räuchern.“ Auf einmal blieb Bewok stehen und sah Findus direkt ins 46
Gesicht. „Was macht dein Gedächtnis?“ fragte er. Findus zuckte mit den Schultern: „Keine Veränderung. Da ist einfach nichts.“ „Ich habe mit Snofork gesprochen. Sie kennt sich mit Kräutern aus und kann Dir vielleicht helfen. Eine Hexe ist sie nicht, denn sie verfügt praktisch über keine magische Kraft. Aber sie kann die Magie anderer Menschen spüren. Und sie sagte, dass deine sehr groß sein wird, wenn du dein Gedächtnis zurück bekommst. Jedenfalls war sie heute unterwegs, um Kräuter für dich zu sammeln. Versuch´s einfach; vertrau´ ihr. Es schadet dir nicht.“ Findus hatte aufmerksam zugehört. Ein zustimmendes Nicken seinerseits bestätigte sein Einverständnis. Sie waren inzwischen an der Hütte angekommen und gingen jetzt hinein. Snofork erwartete sie bereits, doch Essen gab es noch nicht. Jedenfalls nicht für Findus. Sein Magen musste leer sein. Die Fischersfrau hatte tagsüber Kräuter gesammelt und daraus einen Trank gebraut, der Findus´ Erinnerung wiederbringen sollte: Bittersilchesaat, Besenkraut, Plan und Zauberpilze. Alle drei setzten sich an den Tisch, in dessen Mitte eine Kerze wohliges Licht spendete. Für das Fischerpaar gab es das übliche Fladenbrot, ergänzt um Fisch, Eier und Wildkräuter. Für Findus hingegen den Kräutertrank. Snofork erläuterte: „Der Trank soll deine Erinnerung zurück bringen. Ich weiß nicht, ob er funktioniert, aber den Versuch ist es wert. Er wirkt am Besten, wenn du ihn auf nüchternen Magen trinkst. Essen kannst du hinterher, denn der Sud macht hungrig. Was der Trank zutage bringt, das weiß keiner. Der Geschmack ist jedenfalls einfach grässlich. Trotzdem... Ich habe viel Honig hinein gegeben. Es sollte schon gehen. Und nun trink.“ Und Findus trank. Die Alte hatte nicht übertrieben. Der Geschmack war wirklich furchtbar. Nicht lange und eine wohlig-euphorische Müdigkeit erfüllte Findus. Farbige Lichterscheinungen entführten ihn in eine andere Wirklichkeit... ...eine Wirklichkeit, in der er vor dem Naturheiligtum ‚Achestorensten‘ stand. Eine aus dreizehn Felsen bestehende Steingruppe, höher als die höchste Tanne und jeder Felsen einzeln stehend, wie die Perlen auf einer Kette. Es war ein heller, sonniger Tag. Da waren Menschen. Viele Menschen. Fremdartig-bunt gekleidet und lärmend. Findus selbst trug 47
auch so eine fremdartige, nicht natürliche Kleidung aus dem seltsamen Material. Viele Kinder, die herumtollten. Nicht andächtig, nicht nachdenklich, nicht konzentriert. Es gab keine Magie mehr. Beängstigend und erschreckend. Als er das Heiligtum ersteigen wollte, musste er Eintritt bezahlen. Verrückt - an einem Ort des Glaubens und der Andacht! Er spürte die Kraft der Erde, die in seinem Geist ein gelbes Feuer mit blauem Rand entfachte. Ein Feuer, welches immer größer wurde, je näher er den Felsen kam. Eine Treppe war in den Stein gehauen worden, führte einen turmartigen Felsen empor. Er erklomm sie. Die Sonne strahlte ihm direkt ins Gesicht, hier in diesem Treppen-FelsTunnel. Sie schien ihn in eine andere Welt ziehen zu wollen. Eine Art von Feuerröhre drehte sich vor seinen Augen. Es war ein seltsamer Ort, ein Übergang zwischen den Welten. Das Gefühl für die Erdströme veränderte sich, je höher er stieg. Oben war das innere Feuer blau-weiß, drohte ihn zu verzehren. Ihn schwindelte. Er wurde mit magischen Energien förmlich überladen. Nur schien er der Einzige zu sein, dem es so ging. Alle anderen spürten das entweder nicht oder waren zu abgestumpft, zu ‚rational‘. Spirituelle Erfahrung wurde von denen auf eine Art von Magnetsinn im Kopf und auf davon erfasste Magnetfeldanomalien zurückgeführt. Das Naturheiligtum war zur Touristenattraktion verkommen... ...und Findus fand sich in der Fischerhütte wieder, nachdem die Wirkung des Tranks abgeklungen war, verspürte Heißhunger. „An was hast du Dich erinnert?“ fragte Snofork. Findus erzählte ihnen von dem entwürdigten Naturheiligtum. Betreten sahen sich Bewok und seine Frau an. Schließlich sagte Snofork: „Der Trank hat gewirkt, nur nicht so, wie ich es erwartet hätte. Deine Erinnerung ist zweifellos richtig. Aber sie betrifft leider die falsche Welt. Vielleicht eine Welt, die der Unseren ähnlich ist, vielleicht auch erst in ferner Zukunft. Hier nützt dir diese Erinnerung gar nichts. Da kann ich dir leider nicht helfen. Andererseits hast du hier so gearbeitet, als wenn du von dieser Welt wärest. Das passt nicht zusammen. Also - wer bist du?“ Findus wusste keine Antwort. Grüblerisch schweigend blickten sie sich an. „Dich umgibt ein größeres Geheimnis als wir dachten“ drückte 48
Bewok ihrer aller Gedanken aus und schob Findus einen Teller zu. „Iss, und dann gehen wir alle Schlafen. Morgen wartet viel Arbeit auf uns.“ Am nächsten Tag waren Findus und Bewok schon früh draußen. Bewok hatte vor, seine Reusen zu kontrollieren. Der Fischer zeigte Findus deren Standort, indem er auf eine Reihe von auf dem Wasser tanzenden Korkstücken stromaufwärts wies. „Bevor wir fahren, muss ich noch ein paar Kleinigkeiten erledigen. Halte dich aber bereit, es dauert nicht lange“ meinte Bewok und ließ Findus stehen. Findus blickte zum Strom und erinnerte sich an das Kurzschwert. Er holte es und lief zum Waldrand. Schnitt einen gut mannslangen Stock ab und ging damit zum Wasser. Dann schlug er mit dem Holz in Ufernähe immer wieder ins Wasser, während er langsam flussaufwärts ging. „Was treibst du da eigentlich?“ fragte eine Stimme hinter ihm. Findus wandte sich um. Es war Bewok und der guckte ziemlich grimmig, weil er in Findus´ Tätigkeit keinen Sinn sah. „Sieh“ bemerkte Findus „die Fische schwimmen gegen die Strömung und immer in der Nähe des Ufers. Indem ich hier ins Wasser schlage, treibe ich sie in deine Reusen. Hoffe ich wenigstens“ setzte er noch hinzu. „Wollen sehen, ob du Recht hast“ brummte der Fischer, jetzt schon versöhnlicher ob des guten Willens. Sie fuhren mit dem Boot hinaus. Die Reusen waren prall gefüllt. Findus´ Taktik hatte sich als richtig erwiesen. Am Nachmittag wurden wieder Fische geräuchert. Sehr viele. So verging Tag um Tag. Später - der Mond war schon fast voll - eröffnete Bewok dem Findling, dass sie schon nachts würden aufstehen müssen. „Wir dürfen den Strom nicht überfischen, denn er ernährt uns. Aber im ‚Schlafenden Arm‘ der Tiedsiepe müssten noch genügend Fische sein. Es ist ein weiter Weg dorthin. Wir müssen deswegen früh los. Und Netze und Körbe mitnehmen.“ Findus nahm noch etwas anderes mit - nämlich die Flasche mit der Pflanzenbrei-Fischöl-Mischung. Im Verlauf des Vormittags erreichten sie den ‚Schlafenden Arm‘. Im Norden begrenzte ihn eine mehr als doppelt baumhohe Felswand. „Momentan ist das Wasser ruhig“ meinte der Fischer „aber ich weiß nicht so richtig, wieviel Zeit wir haben. Beobachte immer die Felswand ganz genau. Unser Leben hängt davon ab. Sobald sie anfängt, irgendeine Form 49
von Feuchtigkeit zu zeigen, müssen wir schnellstens vom Wasser verschwinden. Dann wird nämlich die Tiedsiepe geflutet und läuft über. Ein gigantischer Wasserfall donnert herunter und verwandelt diese trügerische Idylle in ein tödlich kochendes Wasser mit unberechenbaren Strudeln und Strömungen.“ Noch während er sprach befreite der Fischer ein in einem Weidenhag verstecktes Boot von dem zur Tarnung darüber geschichteten Strauchwerk. „Such´ mal ein paar große Steine zum Zermahlen von Holzkohle“ forderte der Fischer Findus auf. Findus tat wie ihm geheißen und Bewok rührte einen Brei aus Wasser und Kohlenstaub an. „Damit reiben wir uns ein“ befahl der Fischer „denn das schützt gegen den Sonnenbrand.“ So geschützt ruderten sie auf das trügerische Gewässer hinaus. Bewok wollte eben das Netz auswerfen, als Findus ihn am Arm fasste: „Warte einen Augenblick. Ich möchte etwas ausprobieren.“ Sprach´s und verteilte den Inhalt der FischölFlasche in hohem Bogen im Wasser. Der Fischer hatte im Verlauf der vergangenen Tage schon festgestellt, dass Findus zwar kein Gedächtnis mehr hatte, aber dennoch nicht auf den Kopf gefallen war. Er ließ den jungen Mann gewähren. Schon bald begannen die Fische aus dem Wasser zu springen. Kurz darauf schwammen sie bauchoben an der Oberfläche. „Sie sind nur betäubt“ sagte Findus und fügte - unnötigerweise hinzu „Wir müssen sie einsammeln, bevor sie wieder aufwachen.“ Jetzt erst warf Bewok das Netz. Der Fang übertraf alle Erwartungen. Das Boot lag schwer im Wasser, bog sich beinahe unter der Last des Fangs. „Die Felsen“ sagte Findus nur, der seine Aufmerksamkeit nie von der Felswand abgewandt hatte. Die Felswand war dunkel verfärbt. Feucht. „Wir müssen schnellstens zurück!“ ächzte Bewok und sie ruderten wie der Teufel dem Ufer zu. Sie erreichten das Ufer gerade, als aus der Feuchtigkeit mehrere kleine Wasserfälle geworden waren. Nachdem sie das Boot an Land geschafft und entladen hatten, war ein donnernder, tosender Wasserfall entstanden. Der ‚Schlafende Arm‘ der Tiedsiepe hatte sich in ein tödliches Geschäume und Gebrodel verwandelt! Sie füllten zwei Körbe mit den Fischen und jeder von ihnen trug einen Korb als Kiepe auf dem Rücken. Dennoch blieben viele weitere Fische übrig. Findus zog sein Hemd aus 50
und schnitt mit Hilfe seines modifizierten Kurzschwertes zwei lange Baumstangen ab. Er sammelte ein paar Steine. Die Steine legte er in den Saum des Hemdes und umwickelte jeden Stoff-ummantelten Stein mit etwas mitgebrachter Schnur, so dass sich eine Art von Klumpen bildete. Eine Holzstange führte er durch die Hemdsärmel; die andere wurde mit den Stoff-ummantelten Stein-Klumpen verknotet. Auf diese Weise ergab sich eine Trage, mit welcher sie die überzähligen Fische zurück transportieren konnten. Bewok fragte: „Was war das, das du ins Wasser geschüttet hast?“ Findus versuchte es ihm zu erklären, aber der Fischer kannte die Pflanze nicht, schüttelte den Kopf. „Wenn wir zurück sind, dann sprich´ mit Snofork. Sie wird die Pflanze kennen.“ Irgendwann in der Nacht - es war schon spät und der Mond stand hoch am Himmel - erreichten sie die Hütte. Bewok erzählte Snofork, was sich zugetragen hatte. Sie ließ sich von Findus das Aussehen der Pflanze schildern. Dann nickte sie. „Kenne ich. Wir nennen das Tollkraut. Es ist sehr giftig. Woher hast du das Rezept?“ „Es fiel mir so ein“ erwiderte Findus. Snofork sah ihn nachdenklich an: „Das ist ganz zweifellos eine Erinnerung an diese Welt.“ Danach schwieg sie. Vor dem Einschlafen machte Findus sich seine Gedanken. Diese beiden Alten - auf ihre eigene Weise waren sie frei. Sicher, ihr Leben wurde von Sachzwängen diktiert, beispielsweise von dem Sachzwang, für den eigenen Lebensunterhalt sorgen zu müssen. Doch bei wem war das nicht der Fall? Sie hatten ein einfaches, hartes Leben in der Einsamkeit gewählt. Ein Leben, welches er – Findus – zu schätzen gelernt hatte. Und darüber hinaus? Sie besaßen praktisch nichts und hatten daher auch nichts zu verlieren. Sie wussten um ihre Vergangenheit und wenn sie sich entschlossen hätten, alles stehen und liegen zu lassen, dann wäre das von heute auf morgen zu verwirklichen gewesen. Sie konnten anderswo von vorn anfangen. Jederzeit. Auch eine Art von Freiheit. Ob alle Menschen in Norgast so frei waren? Was ihn selbst allerdings von dem Fischerspaar unterschied, war sein Nichtwissen. Woher kam er, wer war er eigentlich und wohin sollte er sich wenden, wenn er diesen Hort der Friedfertigkeit einmal verlassen würde? Was hatte es mit der 51
anderen Welt auf sich? Was meinte Snofork damit, dass er über große magische Kraft verfügte? Viele unbeantwortete Fragen... Am Tag nach dem Vollmond erspähte Bewok in der Ferne einen Pferdewagen. „Der fahrende Händler kommt“ brummte er und an Findus gewandt: „Er kennt dich nicht. Wer weiß, welches Geheimnis dich umgibt. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl deswegen. Am besten ist es, wenn du dich nicht sehen lässt; wenn es dich gar nicht gibt. Also verschwinde für heute und komm´ erst morgen gegen Abend zurück, denn der Händler nächtigt meistens auch hier. Dann wird er von dir nichts bemerken und kann auch nichts ausplaudern.“ Findus war mit dieser Entscheidung Bewok´s zwar nicht einverstanden, doch er fügte sich. Der alte Fischer wusste eigentlich immer ziemlich genau, was er tat. Und er war immer vorsichtig. Vielleicht hatte er ja Recht; vielleicht lebte Bewok nur auf Grund dieser seiner Vorsicht noch. Obwohl es Findus brennend interessierte, etwas über das Norgast außerhalb der Fischerhütte zu erfahren, bekämpfte er seine Neugierde und ging in den Wald. Es gab ein großes Wiedersehens-Hallo, als Bewok und der Händler einander begrüßten. Sie kannten sich ja schon von früher her. Vieles wurde eingetauscht, denn Bewok hatte diesmal viele konservierte Fische zu bieten. „Es war eine vorzügliche Saison“ erklärte er und verschwieg wohlweislich, dass Findus kräftig mitgeholfen hatte, ja dass der Letztgenannte überhaupt existierte. Der Händler gab dem Fischer dafür Öl, Honig, Wachs, Salz, Holzkohle, Tücher, Gewürze und was der Dinge des täglichen Bedarfs mehr waren. Der Tauschhandel und das Feilschen zogen sich bis zum Abend hin. Schließlich waren beide mit dem Geschäft zufrieden. Dann schichteten Bewok und der Händler ein großes Lagerfeuer auf. Setzen es nach Anbruch der Dunkelheit in Brand. Zeit für Nachrichten; Zeit zum Erzählen. „Was gibt es Neues im Reich?“ fragte Bewok. „Schlechte Nachrichten“ antwortete der Händler „sehr Schlechte.“ Nachdenklich fuhr er fort: „Ihr bekommt hier draußen nichts davon mit. Seid froh darüber. Das Reich ist in Aufruhr. Der Herrscher sucht irgend jemanden, den keiner kennt. Baldur hat seine Häscher überall. Jeder hat Angst.“ 52
Der Händler machte eine Pause und stocherte mit einem Stock bedrückt in den Flammen herum. Seufzend fuhr er fort: „Das Leben ist nicht mehr gut. Nicht mehr das, was es mal war. Die Schergen suchen überall. Die Straßen in den Städten hallen vom Geschrei der Gequälten, Gepeitschten und Gefolterten wider. Denunziation wird belohnt. Die Denunziation blüht. Baldurs erbarmungslose Handlanger benutzen die Hungertürme wieder. An Straßensperren finden Kontrollen statt. Es heißt, dass Baldur selbst verkleidet unter den Menschen wandelt. Wer auch nur im leisesten Verdacht steht, irgend etwas mit dem Gesuchten zu tun zu haben, der wird gnadenlos verfolgt und getötet. Ihr kanntet Bauer Mallok?“ Der Händler blickte Bewok an. Der Fischer nickte. Bauer Mallok - ein Ehepaar mit zwei Kindern, ein Junge und ein Mädchen. Sie besaßen ein kleines Gehöft weit stromabwärts auf dieser Seite des Wilderfrio, dort, wo der Strom in das Mündungsdelta überging. Fernab von jeder Ansiedlung. „Nun“ fuhr der Händler fort „den Bauern gibt es nicht mehr. Das hier ist seine Geschichte...“
Ein ärmliches Gehöft irgendwo im Nirgendwo. Hütte, Stall und Pferche für die Tiere. Eine kleine Scheune. Alles aus uraltem, schon grau-rissigem Holz erbaut. Bauer Mallok lebte hier mit seiner Frau und seinen Kindern. Die Tochter war acht Sommer alt; sein Sohn zählte fünfzehn Sommer. Es wäre noch ein Kind dazwischen gewesen, doch das hatte seine Frau verloren. Irgend jemand - vielleicht jemand, der nur seine eigene Haut retten wollte - hatte behauptet, dass Mallok dem Gesuchten Unterschlupf gewähre. Jetzt waren sechs von Baldurs Häschern hier. Sie hatten vier große, zottige schwarze Hunde mitgebracht. Ängstlich stand die Bauersfamilie in der Scheune, umzingelt von Baldurs Handlangern. „Gesindel! Gib´ endlich zu, dass der Gesuchte hier war!“ donnerte einer der Schergen. „Aber wir wissen doch von nichts!“ beteuerte Mallok verzweifelt. Er erblickte blanke Mordlust in den Gesichtern der Fremden. Ein übler Schlag gegen den Kopf schickte ihn zu Boden. Seine Tochter rief „Vater!“ und wollte
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zu ihm hin stürzen. Ein Schwerthieb tötete sie. Die Frau des Bauern schrie auf und bewegte sich auf das blutüberströmte Kind zu. Einer der Hunde sprang auf und zerriss ihr die Kehle. Mallok war inzwischen wieder auf die Beine gekommen und betrachtete geschockt das Gemetzel. Jetzt war ohnehin alles egal. Sein Sohn warf ihm eine Mistgabel zu und wurde dafür gleichfalls sofort von einem Schwerthieb niedergestreckt. Mallok fing die Forke auf, durchbohrte einen der Schergen mit den Zinken und rammte beim Zurückziehen den Stiel einem anderen in den Bauch. Der ging pfeifend zu Boden. Noch ein Streich mit der Forke und ein weiterer Häscher starb. Danach flüchtete Mallok. Er rannte. Rannte um sein Leben. Quer durch einen Hainbuchenwald, die Verfolger und ihre Hunde hinter ihm. Nicht lange und die Hunde stellten ihn, sprangen ihn an, bissen ihn, rissen ihn zu Boden, fügten ihm böse und elendig schmerzende Wunden zu. Dann waren die Schergen heran. Sie rissen den Bauern hoch, fesselten ihn und schleiften ihn ein Stück des Weges hinter ihren Pferden her. Dieser Weg führte zu einem einzeln auf dem Kamm eines Hügels stehenden Hungerturm. „Verrecke dadrin, elendes Geschmeiß!“ Sie warfen ihn hinein und die Tür zu. Er fiel. Hörte vor lauter Schmerzen nur noch von Ferne das Zuschnappen des Riegels. Er lag auf einem muffigen Tuch. Es knackte, als er sich bewegte. Unter dem Tuch ein Skelett. Das Knacken kam von alten, zerbrechenden menschlichen Knochen. Mallok stöhnte schmerzvoll, blickte gequält auf. Ganz oben ein runder Lichtkreis. Der Turm war offen. Der Regen hatte die Wände feucht gemacht. Er würde nicht verdursten. Aber verhungern. Seinen Martyrium dauerte fast einen ganzen Mond lang...
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Kapitel 4: Die Bônday Der fahrende Händler war längst Vergangenheit. Fisch war auf Grund der von Findus verbesserten Fangmethoden genügend da, doch die Hütte musste ausgebessert werden. Zeit, das am Strom wachsende Rohr zu schneiden. „Bewok, schaffen wir das noch?“ rief Findus. „Weiß ich nicht, wir müssen´s versuchen“ kam die gehetzte Antwort. Wie Blei lag die Hitze über dem golden wogenden Schilf. Die Luft flirrte und machte das Atmen schwer. Der Schweiß rann Findus in Bächen am Körper hinab. Aus den ehemals weißen Wetterköpfen war eine bedrohliche Gewitterfront entstanden, ein schmutzig-stahlblaugraues, wetterleuchtendes, drohendes Monstrum am Himmel. Und die Ernte musste unbedingt noch eingebracht werden! Sie arbeiteten mit voller Kraft, schnitten das Rohr, banden es zu Garben. Immer sechzehn Garbenbunde wurden zu einem runden Hocken ausgerichtet. Nur so konnte das Rohr auch dem stärksten Gewittersturm widerstehen - und nur so wäre die Ernte nicht verloren. Verbissen machte Findus weiter. Er hasste diese Arbeit. Das Berühren der Halme löste in seinem Mund immer einen scharfen Geschmack aus, wie nach Pfeffer. Doch die Arbeit musste getan werden. „Autsch!“ Nur ein kurzer Moment der Gedankenlosigkeit. Die Halme konnten messerscharf sein. Den Schmerz nahm er als eine violett-zersplitternde Farbfläche mit golden leuchtenden Kanten wahr. Blut tropfte. Doch zum Glück war es nur ein kleiner Schnitt im Finger. Ärgerlich machte er weiter, so schnell wie möglich. Findus war klar, dass er irgendwie ‚anders‘ war. Wie anders, dass hätte er allerdings nicht konkret sagen können. Er behielt seine Wahrnehmungen für sich. Die Zeiten waren schlecht und wer weiß, wie die Fischersleute in ansehen würden, wenn er offen darüber spräche, dass manche Stimmen ihm wie lichte blaue, dreidimensionale Punkte mit so einem blau transparenten Hauch erschienen oder dass Musik für ihn eine feuerwerksähnliche Farblawine war. Bestimmt erklärte man ihn dann für verrückt! Nein, lieber den 55
Mund halten, tun, als ob nichts wäre und sich nichts anmerken lassen. Schon früh war ihm auf unangenehme Weise deutlich gemacht worden, dass andere Menschen nur sehr selten so intensiv wie er selbst empfanden; irgendwie wusste Findus das, auch ohne Gedächtnis. Die letzten Halme, die letzten Garben, die letzten Hocken. Ein blendend-weißvioletter Blitz zerriss die Hitze. Als der Gewitterregen prasselte, standen Bewok und Findus an der Hüttenwand unter einem kleinen Unterstand. Bewok sah Findus seltsam an und meinte: „Der fahrende Händler sprach davon, dass es in Norgast drunter und drüber geht. Der Herrscher sucht jemanden. Er schreckt dabei auch vor den allerschlimmsten Mitteln nicht zurück. Folter und Mord. Ich bin ziemlich sicher, dass du der Gesuchte bist. Du kannst daher nicht ewig hierbleiben, denn das bringt uns in Gefahr.“ Findus überlegte noch, was er darauf erwidern sollte, als von drinnen Snoforks Stimme erklang „Das habe ich gehört!“ Scheu blickte Bewok zur Hüttenwand. „Manchmal hat die Alte Ohren wie ein Luchs“ kommentierte er vorsichtig die Bemerkung. „Und das habe ich auch gehört!“ erklang noch einmal die keifende Stimme. „Lass´ uns reingehen und dann reden wir“ schlug Findus breit grinsend vor. „Der Junge hat mehr Grips in seinem leeren Kopf als ein alter Fischer in seinem ganzen Leben an Fisch ranschaffen kann!“ kam es von drinnen. Findus´ Grinsen wurde noch breiter. Irgendwie mochte er Snofork und die Art, wie sie sich gab. Bewok seufzte schwer und beide gingen in die Hütte, wo Snofork sie schon erwartete. Nun saßen alle drei an dem kleinen Tisch. Snofork eröffnete das Gespräch mit den Worten „Bewok hat Recht. Du kannst hier nicht ewig bleiben. Aber einfach so fortschicken will ich dich auch nicht. Du bist dem Tode einmal entronnen und wer weiß, ob dir das ein zweites Mal gelingen wird. Aber es gibt jemanden, der dir sicherlich helfen kann.“ Bewok stöhnte, er wusste, worauf seine Frau hinauswollte. „Weib...“ warf er ein. „Schweig´ still!“ fuhr die Alte ihm in die Parade und funkelte ihn scharf an. Auf einmal sah sie viel jünger und obendrein auch noch kraftvoll aus. Findus wurde schlagartig klar, dass es eigentlich Snofork war, die hier das Sagen hatte. Zu Findus gewandt fuhr die Alte 56
fort: „Wenn dir jemand helfen kann, dann nur die Bônday. Bewok wird dich zu ihr bringen. Ihr reist morgen ab.“ Und zu ihrem Mann gewandt sagte sie: „Und ich will keine Widerworte hören!“ Brummelnd fügte sich der alte Fischer. „Es wird eine lange Reise“ wandte sich Bewok an Findus und setzte hinzu „Lass´ uns packen.“ Der Fischer organisierte eine aus Weidenholz geflochtene Kiepe, ein großes Tuch mit Schnüren daran und einen Beutel aus undefinierbarem Stoff. „Du trägst die Kiepe auf dem Rücken und ich nehme den Beutel“ wies er Findus an. Weiter: „In die Kiepe kommt Proviant und sowas rein. Auf dem Rückweg ist sie dann leer. Das Tuch ist wasserdicht. Du trägst es zwischen Rücken und Kiepe, damit es bequemer ist. Es ist gleichzeitig unsere Zeltplane. Vergiss´ dein Schwertwerkzeug nicht. Ich werde ein gutes Messer mitnehmen. Und eine kleine Armbrust, denn wir müssen auch jagen. Wasser finden wir unterwegs. Dann brauchen wir noch eine Feuerbüchse.“ Bewok verschwand einen Moment lang nach draußen und kam kurz darauf mit einer metallenen Dose, welche über Luftlöcher, einen Deckel und einen Henkel verfügte, zurück. „Da kommt glühende Kohle rein; das vereinfacht uns das Entzünden von Lagerfeuern.“ Weitere Ausrüstungsgegenstände für die beiden waren Angelhaken, mehrere Seile von verschiedener Länge, zwei kleine Tücher, ein Beutel mit Zunder, Nähzeug und was der Reiseutensilien mehr sein sollten. Findus kam sich inzwischen ziemlich überrumpelt vor. Tausend Fragen lagen ihm auf der Zunge. Er konnte seine Neugier nicht mehr bezähmen und bestürmte den Fischer: „Wohin gehen wir eigentlich? Wie lange werden wir unterwegs sein? Wo führt der Weg uns lang? Zu wem wollen wir eigentlich? Kennst du den Weg?“ „Zu viele Fragen auf einmal“ brummelte der Fischer und fuhr fort: „Ja, ich kenne den Weg. Wir gehen zur Bônday. Das ist eine sehr mächtige Hexe, die auf der ‚namenlosen Insel‘ inmitten der Tiedsiepe lebt. Wahrscheinlich die machtvollste Hexe überhaupt. Wenn dir jemand helfen kann, dann sie. Das Problem ist nur, dass sie sich nicht im Geringsten für unsere profanen weltlichen Belange interessiert. In der Tiedsiepe gibt es zwei Inseln. Die ‚namenlose Insel‘ der Bônday und vorgelagert die ‚Insel der Gestrandeten‘. Die Insel der Bônday kann nur über die 57
vorgelagerte Insel erreicht werden. Wir müssen zuerst im Wald nahe dem Ufer der Tiedsiepe entlang und ein ganzes Stück nach Norden, so ungefähr sechs bis sieben Tage lang. Erst dann haben wir den Punkt erreicht, von dem aus wir die ‚Insel der Gestrandeten‘ halbwegs sicher erreichen können. Vielleicht finden wir ein Boot; da oben gibt´s eigentlich immer welche. Falls nicht, dann bauen wir uns eben ein Floß.“ Er setzte hinzu: „Ich war schon mal da. Einmal, vor vielen Jahren. Es ist eine anstrengende und gefährliche Reise. Von der ‚Insel der Gestrandeten‘ aus müssen wir dann zu Fuß weiter, was aber nur geht, wenn die Tiedsiepe trocken gefallen ist. Und wir müssen die ‚namenlose Insel‘ binnen einer einzigen Trockenzeit erreichen, sonst ersaufen wir wie die Ratten.“ „Warum warst du schon mal da?“ wollte Findus wissen, doch der Fischer schüttelte nur unwillig mit dem Kopf. Bewok zog es vor, auf diese Frage keine Antwort zu geben. Ging eben niemanden etwas an. Schließlich hatte er auch seine kleinen Geheimnisse. „Wir brauchen noch ein kleines Bündel etwa unterarmlanges und nicht von Knoten unterbrochenes Schilfrohr. Besorg´ es“ wies er Findus an. Findus verschwand, kehrte aber schon bald darauf mit dem Gewünschten zurück. Bewok würde ihm schon mitteilen, wozu das Rohr gut sein sollte. Sie packten weiter, bis es Abend war. Schliefen. Nach einem Frühstück am nächsten Morgen verabschiedeten sie sich von Snofork und brachen schon sehr früh auf. Im letzten Moment drückte Snofork ihrem Mann noch eine Flasche in die Hand. „Für den Notfall oder den Weg zu den Inseln. Es ist ein Trank aus Mondpflanze und Harmalkraut. Sei vorsichtig damit.“ Bewok nickte; er wusste um die Gefahren dieses Gebräus.
Der erste Tag ihrer Reise verging rasch und sie kamen gut voran. Jetzt wurde Findus auch der Sinn des von ihm beschafften Schilfrohres klar: Man tauchte es einfach in das Wasser, welches innerhalb von Wurzelhöhlen oder ähnlichem stand und konnte dann damit trinken. An der Oberfläche oder am Boden befindlicher Schmutz störten auf diese Weise
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nicht mehr. Genächtigt wurde unter einem rasch errichteten Zelt, dessen Boden sie dick mit dem allgegenwärtigen Farn polsterten. In hinreichendem Abstand legten sie brüchiges, trockenes Holz und Laub ringsherum. Das würde rascheln und knacken, falls sich nachts ein Tier oder ein Fremder näherte. Es war warm und weil sie auf ihren Proviant zurückgriffen, konnten sie auf ein Lagerfeuer verzichten. Lediglich die Feuerbüchse brauchte neue Nahrung. Insgesamt verlief die Nacht sehr ruhig. Auch am nächsten Tag schafften sie ein großes Stück des Weges. Sie wanderten in einem vergleichsweise schmalen Waldstreifen, der links und rechts von sumpfigem Gelände begrenzt wurde. Erreichten das Ufer der Tiedsiepe und bewegten sich weiter gen Norden. Irgendwann in der Mittagszeit legten sie eine Rast ein. Bewok saß unter einem Baum und erholte sich, während Findus zum Ufer der Tiedsiepe hinunter ging. Er setzte sich auf einen der hier verstreut herumliegenden Felsbrocken. Müdigkeit durchzog seine Glieder. Schier endlos dehnte sich die weite Wasserfläche vor ihm aus. Sie sah so harmlos aus. Unmöglich zu sagen, ob es steigendes oder fallendes Wasser war. Weit, ganz weit in der Ferne glaubte Findus im Dunst zwei Gipfel in der endlosen Wasserwüste ausmachen zu können. Es war so unirdisch ruhig an diesem Ort... Aus den Augenwinkeln heraus nahm er eine Bewegung wahr. Langsam und vorsichtig drehte er den Kopf in die Richtung. Dort stand ein Wesen - nein, eine Frau, sehr wohlgeformt und nackt dazu - welches ihm nur etwa bis zur Schulter reichte. Ihre Haut war blaugrün und in gewisser Weise irgendwie durchscheinend. Das Wesen verfügte über goldenes Haar und über auffallend große, meergrüne Augen. Sie war eine Najade, ein Wassergeist. Ihre Blicke trafen sich. „Mein Volk kennt dich“ sagte die Najade. „Es hat dir schon einmal geholfen, indem es dich dem Fischer zuspielte. Und es wird dir wieder helfen, wenn Ihr die Tiedsiepe durchquert. Denn du bist unsere Hoffnung.“ Sprach´s zwitschernd mit metallisch-bläulicher Stimmfärbung und verschwand. „War das jetzt Einbildung, eine Reaktion meines überreizten Körpers, oder hat diese Begegnung tatsächlich stattgefunden?“ fragte Findus sich. Beides wäre möglich
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gewesen. Er beschloss, Bewok nichts davon zu erzählen. Womöglich hielte der ihn sogar noch für verrückt. Kurze Zeit später waren sie wieder unterwegs. Nur Findus schien noch nachdenklicher als sonst zu sein. Es dämmerte bereits, als sie auf der Suche nach einem geeigneten Lagerplatz für die Nacht waren. Da plötzlich sahen sie im Wald einen Feuerschein. „Bleib´ ganz still“ flüsterte Bewok. „Ein Lager. Man weiß nie, auf wen man in dieser verlassenen Gegend trifft. Es könnten Vogelfreie sein. Oder Flüchtlinge. Oder Soldaten, Baldur´s Häscher. Manchmal auch Zigeuner. Bei denen gibt´s solche und solche. Das Feuer liegt direkt auf unserem Weg. Wegen des Sumpfes können wir das Lager nicht umgehen.“ Es waren Zigeuner - fahrendes Volk - wie sie feststellten, als sie sich unhörbar an das Lager heranschlichen. Ein Clan von vielleicht einem Dutzend Personen, lärmend und fröhlich, mit Zelten rings um das Feuer. „Von fröhlichen Menschen hat man nichts zu befürchten“ meinte Bewok und wies Findus an, es ihm gleich zu tun. Bewok richtete seine Handflächen nach außen, so dass sofort erkennbar wurde, dass er unbewaffnet war, stimmte ein Lied an und trat aus dem Schatten des Waldes heraus in den Schein des Feuers. Findus tat es ihm nach. Einen Moment lang war Stille, dann wurden die beiden Wanderer freundlich und mit großem Hallo begrüsst. „Wer seid ihr?“ „Woher kommt ihr?“ „Wo wollt ihr hin?“ Tausend Fragen. Man drängte ihnen förmlich Nahrung und Wasser auf, nötigte sie, im Lager zu nächtigen. Zusammen mit dem fahrenden Volk saßen sie um das Feuer herum. Gastfreundschaft wurde sehr groß geschrieben. Doch plötzlich trat Stille ein. Ein alte Frau war aus einem der Zelte gekommen. Uralt, mit einem zahnlosen Lächeln. Sie trug vielfach geflickte, bunte Kleidung. Eigentlich eher eine Art von Umhang aus immer wieder übereinander genähten Lumpen. Ihre Autorität jedoch war spürbar. Von ihr strahlte eine Macht aus, eine Aura, der sich niemand entziehen konnte. Wortlos bedeutete sie Findus, ihr in das Zelt zu folgen. Findus blickte Bewok an, doch der hob nur fragend die Schultern, was soviel wie „Geh´ ruhig“ bedeutete. Findus erhob sich und folgte der Alten. Als er im Zelt verschwunden 60
war, setzte draußen ein leises, heimliches Getuschel hinter vorgehaltener Hand ein. Hin und wieder blickte der eine oder andere verstohlen zu dem Zelt hin, wandte sich aber schnell wieder ab. Im Zelt. Die Alte war ganz unzweifelhaft die Hagia dieses Clans, ja mehr noch, sie führte ihn sogar. Mit einer Handbewegung bedeutete sie Findus, sich zu setzen. Sie selbst setzte sich ihm gegenüber. Flackerndes Kerzenlicht erhellte das Zelt mehr schlecht als recht. Die Alte streckte ihre Hand aus und berührte damit Findus´ Wange. Schloss einen Moment lang die Augen und begann zu sprechen: „Ich sehe dich. In deinem Geist fehlt etwas. Du bist nicht vollständig. Ein Wanderer zwischen den Welten. Du wirst die fehlenden Teile wiederfinden, doch bis dahin ist es noch ein sehr langer und steiniger Weg. Ein Weg, der wichtiger als das Ziel selbst ist. Auf Deinem Weg wirst du Hilfe erhalten - immer dort, wo du sie am wenigsten erwartest. Nimm´ diese Hilfe an. Dir wohnt eine große Macht inne. Dein Weg wird dir helfen, diese Macht zu entfalten. Hör´ auf die richtigen Ratgeber, auf die Leute, die dir helfen werden. Sie gestatten es dir, die Kraft anwenden zu lernen, zu kanalisieren für unser aller Wohl. Wenn du das nicht schaffst, dann wird Norgast auf lange Sicht wohl dem Untergang geweiht sein. Denn du bist unsere Hoffnung.“ „Wieder dieser Satz - genau das hat die Najade auch gesagt“ durchfuhr es Findus. „Deine letzten Worte - ich habe sie heute schon einmal vernommen“ erwiderte Findus. Die Zigeunerin setzte hinzu: „Das wundert mich nicht. Deine Macht ist wie ein loderndes Feuer. Noch ungezähmt und weithin sichtbar für alle Wesen, die der Magie befähigt sind - ganz gleich ob Hexen, Dryaden, Fluss- und Höhlentrolle, der Nöck, Harpyien, Einhörner, Drachen, Najaden und was weiß ich nicht noch alles. Auch die Magier können die dir innewohnende Macht spüren; ganz besonders einer, der dich sucht. Doch vor dem wirst du von allen Magiebegabten abgeschirmt. Noch, denn du weißt deine Kraft nicht anzuwenden. Ein unbedachtes Spielen damit würde dich selbst verbrennen. Das ist bereits einmal geschehen und dadurch wurdest du zum Wanderer zwischen den Welten.“ „Ihr kennt meine Vergangenheit?“ keuchte Findus. „Nein - aber trotz meines doch schon recht hohen 61
Alters kann ich glücklicherweise noch klar denken. Zum Wanderer zwischen den Welten konntest du nur deshalb werden, weil Körper und Geist getrennt waren. Das ist nur mit dem Traumtrank möglich. Den wiederum gibt es nur in der Unterwelt und nur ein Dämon kann ihn auf unsere Weltenebene gebracht haben. Irgend jemand hat daher einen Dämon beschworen. Dazu bedarf es sehr großer magischer Kraft.“ Die Alte schwieg und Findus dachte nach. Da war er wieder, dieser Erinnerungsfetzen - der Wald mit den seltsambizarr verdrehten Bäumen und der Mann, dessen Gesicht ein weißer Fleck war. Dann geschah etwas, mit dem Findus niemals gerechnet hatte. „Die Bônday wird dir helfen, Findus Fehu-Uruz-Raido“ sagte die alte Zigeunerin. In dem Moment, in dem sie seinen ‚echten‘ Namen aussprach und gedanklich fasste, überrollte ihn eine gewaltige magische Woge und er kam sich winzig und hilflos vor. Sein einziger Strohhalm in diesem tobenden Meer aus unbändig-gewaltiger, mörderisch-überschäumender Zauberkraft war die Alte, an die er sich geistig klammerte. Draußen zuckten die Mitglieder des Clans sichtlich zusammen und Bewok wurde es mit einem Mal übel. Mit Schrecken erkannte Findus, dass nur die Alte diese Klammer jemals wieder würde lösen können. Die Hagia lachte. „Ja“ sagte sie „und hüte dich vor allem vor falschen Freunden und vor falschen Ratgebern. Das ist meine ganz persönliche Warnung an dich. Ich bedarf deiner nicht und gebe dich daher wieder frei“ - die magisch-geistige Klammer löste sich sofort und Findus konnte wieder klar denken – „aber du musst dich selbst erkennen und deinem Schicksal vertrauen. Tu was du willst, aber schade niemandem. Dein Weg ist vorgezeichnet und am Ende dieses Weges musst du dich entscheiden, auf wessen Seite du stehen willst. Geh´ jetzt raus zu den anderen, feiere, singe, denn wer weiß, wann du die nächste Gelegenheit dazu haben wirst.“ Noch ganz benommen erhob sich Findus und trat vor das Zelt. Bewok sah ihn fragend an, doch Findus schüttelte nur schweigend den Kopf. Ihm war nicht nach Reden. Auch nicht nach Feiern. Er setzte sich an das Feuer und sah starr in die Flammen. Zu aufgewühlt war er. Er schlief schlecht in dieser Nacht, denn da waren tausend Bilder in seinem Kopf - gerade 62
so, als ob eine Tür aufgestoßen worden war. Als sie am Morgen aufbrechen wollten, füllten die Mitglieder des Clans ihnen die Vorräte wieder auf. Findus sah die alte Zigeunerin nie mehr wieder. Bewok und Findus marschierten los. Gegen Mittag schienen zwei wilde Pferde auf sie zu warten. Als die beiden Wanderer sich ihnen näherten, stellten sie zu ihrem Erstaunen fest, dass es sich nicht um Pferde, sondern vielmehr um Einhörner handelte. Beide Wesen flüchteten nicht, sondern setzten sich sogar hin. Sie stellten sich den Wanderern freiwillig als Transportmittel zur Verfügung. Ein rasender Ritt, beinahe schon wie ein Flug, welcher bis in die hereinbrechende Dämmerung andauerte, schloss sich an. Am Abend verschwanden die Einhörner wieder - so lautlos, wie sie aufgetaucht waren. Findus und Bewok hatten ein Wegstück zurück gelegt, für das sie normalerweise gut und gerne zwei Tage benötigt hätten. Bewok betrachtete Findus befremdet, sagte aber nichts, als sie ihr Nachtlager errichteten. Der nächste Morgen und noch sehr früh. Bewok erklärte: „Ich kenne diese Gegend. Die Einhörner haben uns wirklich sehr weit gebracht. Aber obwohl wir noch Proviant haben, werden wir hier trotzdem jagen müssen. Denn der Wald endet jetzt bald und dann kommt mindestens einen Tag lang nur noch Sumpf. So lange reichen unsere Vorräte nicht.“ Der Tau lastete schwer auf den Wiesenblumen und bog sie, die Blüten noch geschlossen. Von der Tiedsiepe her hörte man das Quaken der Frösche, der Tiere der Erdmutter. Noch war die Sonne nicht aufgegangen; der Wald wirkte gespenstisch im nebligen Dunst. Findus lächelte. Dies war seine Welt und es würde wieder so ein Tag der tausend Wunder werden. Er erbat sich von Bewok die Armbrust. Heute würde er auf Wild treffen und das gäbe ein hervorragendes Festmahl ab! Er spürte es instinktiv. Der blanke Mond leuchtete nur noch matt-blass, wollte sich zur Ruhe begeben und ein erster, verirrter Sonnenstrahl zitterte über eine Pfütze, verwandelte sie in reines Silber. Nachts hatte es gewittert. Jetzt war die Luft klar und rein, erfüllt vom unnachahmlichen Duft des Waldes. Es war wirklich sehr schön hier und dieser rechteckige Glücksmoment hätte ewig anhalten können. Lautlos ging 63
Findus weiter über den moosigen Boden, setzte Fuß vor Fuß und immer darauf bedacht, diese vollkommene Welt nicht durch ein unbedachtes Geräusch zu entweihen. Er sah das leise Warnen eines Rotkehlchens - verschlungene, grüngoldene Bogenformen vor dem inneren Auge mit einem Geruch nach frischgemähtem Gras. Eine Art von ganzheitlichem Erfassen hatte sich seiner bemächtigt und sie bewirkte, dass er Verbindungen sah, welche rein logisch nicht da waren. Er wusste genau, wo sich sein Festmahl in spe aufhielt. Er fühlte es, ohne das Tier sehen zu müssen. Diese Fähigkeit, dieses Erfassen, diese Formen - all das war sein ganz persönliches Geheimnis. Geräusche hatten für ihn schon immer Farben und Formen gehabt, die Oberflächen fein strukturiert, nuanciert und meist nassmetallisch schimmernd, in beständiger Bewegung befindliche Gebilde mit transparent verwehenden ‚Schwuppsen‘. Die Gegenwart anderer Lebewesen fühlte er immer lange bevor er die sehen konnte. Doch das behielt der Jäger vorsichtshalber für sich. Lautlos schlich er weiter, passierte die mit greisen Flechten überwachsenen Kiefernstangen. Sah einen graublauen Schatten kurz auftauchen, wieder verschwinden und lächelte. Vorsichtig nahm er die Armbrust von der Schulter, spannte und entsicherte sie. Zwei Erpel stiegen schnatternd auf, ihre Stimmen räumliche Wabereien, der Auerhahn hatte sie gestört. Findus blieb ganz ruhig sitzen, wartete. Der Hahn wog sich in Sicherheit, gab dieses urtümliche und in einem Zischeln mündende Gackern mit dem Aussehen von auf dem Rand stehenden grauweißen Tassen, welche in Strukturen mit dem Bild von dunkelgelben Federn mündeten, von sich. Dann zeigte er sich. Der Schuss war unhörbar, nur dieses nasse, gedämpfte „Plock!“, als der Bolzen in das feste Fleisch des Tieres einschlug: Getroffen, das Essen war gesichert. Ein Moment der Stille, danach sangen die Vögel wieder schillernde Seifenblasen. Das tonbraune Brummen einer Hummel begrüßte den neuen Tag. Findus brachte den großen Vogel zu Bewok, welcher in der Zwischenzeit für Brennholz gesorgt hatte. Gemeinsam entfernten sie Federn und Innereien, zerlegten das Tier, vergruben die unbrauchbaren Reste um die Fliegen fern zu halten. Bewok entschied, das Fleisch in einem Erdofen zu 64
garen. Er hob unter Zuhilfenahme von Findus KurzschwertWerkzeug eine hinreichend große Grube aus und schickte Findus mit dem Auftrag, große Steine zu sammeln, los. Nachdem Findus zurück war, wurde ein Feuer am Grubenboden entzündet. Als es hell-auflodernd brannte, verschlossen die beiden Wanderer die Grube mit hölzernen Stöcken und darüber gelegten Rinden, oben auf die Steine geschichtet. Irgendwann gab das schwelende Deckelholz nach und die inzwischen schon glühenden Steine fielen in die Grube. Sofort gab Bewok ein paar dünne Rinden über die Steine, fügte den zerlegten Vogel hinzu, überschichtete ihn schnell mit Rinde und Erde und dann warteten sie bis zum Mittag. Als sie die Grube öffneten, war das Fleisch gar und hatte ein köstliches Aroma. Nun erst setzten sie ihre Reise fort. „Wir sammeln am besten ab sofort Fackelholz, denn morgen erreichen wir den Sumpf und dort brauchen wir Feuer.“ Bewok´s Rede duldete keinen Widerspruch. „Frag´ jetzt nicht, ich erkläre es Dir später. Was wir brauchen, ist grünes Holz mit einem dicken und einem dünnen Ende. Für jeden ungefähr vier Fackeln. Heute Abend spalten wir die dicken Enden auf und bringen da trockenes Holz und Kohlestücke ein. Dann tränken wir das mit Öl. Öl habe ich mitgenommen.“ Bewok schwieg wieder und sie gingen weiter. Hielten Ausschau, sammelten das Holz. Gegen Abend erreichten sie das Ende des Waldes. „Hier bleiben wir während der Nacht. Wir entzünden ein großes Feuer. Das hält die Sumpfbewohner fern.“ „Was weißt du vom Sumpf und von seinen Bewohnern?“ fragte Findus den Fischer. „Nicht genug“ antwortete der und fuhr fort - während sie sich beide um das Nachtlager kümmerten – „es gibt verschiedene Pfade da durch. Aber mir ist nur einer bekannt. Wir haben also keine Wahl. Und der Sumpf ist gefährlich. Verdammt gefährlich!“ Später saßen sie vor dem Zelt und bereiteten die Fackeln vor. Bewok erläuterte Findus die Situation. „Es ist so. Der Sumpf hat viele Bewohner. Die meisten von denen - nein, eigentlich sogar alle - hassen uns Menschen. Da sind erstmal die Wolfsratten. Groß wie ein kleiner Hund und sie greifen immer im Rudel an. Sie lieben Menschenfleisch. Wenn sie 65
dich gewittert haben, dann hast du kaum noch eine Chance. Dann gibt es die Morfus. Schleimige Kreaturen, die nicht sehen und nicht hören können. Sie können weder richtig schwimmen noch richtig laufen. Sie kriechen wie ein schmieriger Film über Land und Wasser. Sie sind giftig. Wenn sie Dich erwischen, dann unterkriechen sie Deine Kleidung, bis sie die Haut finden. Sie fangen sofort an, Dich zu verdauen. Du bemerkst das erst, wenn es längst zu spät ist, denn ihr Gift verhindert, dass du durch Schmerzen gewarnt wirst. Durch die Erschütterungen deines Schrittes machst du sie auf dich aufmerksam. Dann sind da noch die Kobolde. Klein wie ein Eichhörnchen und von ungefähr menschlicher Gestalt. Aber sie gefallen sich darin, den Menschen Schabernack zu spielen. Schabernack, der nur allzu oft tödlich endet. Nicht zu vergessen die Irrlichter. Das sind die ruhelosen Seelen derer, die im Sumpf ihr Leben gelassen haben. Des Nachts sind es wandernde Lichter, die dich vom richtigen Weg abbringen. Tagsüber Nebelstreifen, die dir den Blick auf den richtigen Weg verschleiern. Manchmal geben sie menschliche Klagelaute von sich, um dich zum Verlassen des Weges zu bringen. Daneben soll der Sumpf noch andere Kreaturen beherbergen, aber über die weiß ich nichts. Reicht mir auch so. Aber alle haben eines gemeinsam: Sie fürchten das Feuer. Daher die Fackeln. Die brauchen wir auch tagsüber, zur Verteidigung und zur Abschreckung. Kein Ort für Menschen. Deswegen will ich da morgen auch in nur einem Tagesmarsch durch. Eine Übernachtung dort würden wir nicht überleben. Wir müssen früh aufbrechen. Aber trotz allem: Der Sumpf ist faszinierend. Er wird dich nicht mehr loslassen.“ Bewok schwieg und Findus sah nachdenklich in die Flammen. Frühmorgens, noch lange vor Sonnenaufgang. Findus wurde von Bewok geweckt. „Junge, wir müssen los, sonst schaffen wir den Weg heute nicht. Zünde eine Fackel an und halte die anderen griffbereit. Was immer auch geschehen mag - wir müssen unbedingt dicht beisammen bleiben. Jeder für sich allein hat keine Chance. Und noch was - ich weiß ja nicht, was die alte Zigeunerin mit dir angestellt hat. Aber irgendwas war; das haben alle gespürt. Wenn da auch nur ein Funken von irgendeiner Magie in dir sein sollte, dann zögere 66
heute nicht, das einzusetzen.“ „Ich werde es versuchen“ versprach Findus, obwohl ihm bei diesen Worten nicht ganz wohl war. Er dachte an die Worte der alten Hagia; an das, was sie über das unbedachte Spielen mit Magie und über das Verbrennen gesagt hatte. Sie brachen ihr Lager ab und verließen den Wald. Hinter einem schmalen Schilfstreifen wechselten sich grüne Grasinseln - fester Boden! - mit schmutzig-ölig schimmernden Wasserflächen ab. Das Wasser erschien eklig schwärzlich-trüb. Hin und wieder durchbrach eine Sumpfgas-Blase die Oberfläche und verbreitete einen höllischen, fauligen Geruch. Die Pflanzen am Rande der Grasinseln sahen kränklich gelb aus und erweckten den Eindruck, als wollten sie sich halbtot mit allerletzter, schwindender Kraft gegen irgend etwas unbeschreiblich Böses zur Wehr setzen. „Und da wollen wir durch?“ ächzte Findus geschockt. „Nicht wollen, sondern müssen“ korrigierte ihn der Fischer und verfluchte in Gedanken seine Frau. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete den Sumpf. „Es ist deutlich schlechter geworden seit damals, aber halb so schlimm, wenn man die Augen richtig aufmacht. Betrachte mal die Grasinseln. Fällt Dir da nichts auf?“ Und richtig - wenn man genau hinsah: Da war ein schlammig-matschig-morastiger Pfad, welcher die Grasinseln untereinander verband. Der Pfad lag auf ungefähr gleicher Höhe mit der Wasseroberfläche oder nur knapp darüber und war deshalb leicht zu übersehen. „Gehen wir“ sagte Bewok mit einem flauen Gefühl im Magen und sie machten sich auf den Weg. „Die Sumpfbewohner können sich übrigens untereinander nicht ausstehen. Vielleicht gereicht uns das zum Vorteil“ bemerkte der Fischer. Für eine Weile kamen sie recht gut voran, obgleich der Schlamm an ihren Stiefeln klebte und zog und so jeden Schritt zum Kraftakt machte. Doch plötzlich verspürte Findus instinktiv eine gewaltige, fremde Präsenz in seinen Gedanken. Dann erkannte er es. Er ergriff den vor ihm gehenden Bewok und riss ihn im letzten Moment zurück. „Sieh!“ sagte er atemlos und deutete auf den Boden vor ihnen.
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Da war ein etwa zwei Schritte breiter, kaum sichtbarer Schleim über dem Pfad. Rechts von ihnen setzte sich diese leicht zu übersehende Schmiere auf einer großen Fläche im Wasser fort. „Ein Morfu!“ schimpfte Bewok, und: „Den habe ich glatt übersehen!“ Er senkte seine eigene Fackel auf den Schleim. Es zischte, als die Flamme die amorphe Masse berührte und ein unangenehmer, grau-braun zum Würgen reizender Geruch wie nach verbranntem Horn lag plötzlich in der Luft. Wie Wellen kräuselte es den schmierigen Teppich, als sich der Schleim vom Pfad zurück zog und ihnen den Weg freigab. Gleichzeitig war ein tiefes Vibrieren im Boden zu spüren. Wenn die Sumpfbewohner bislang noch nichts von ihrer Anwesenheit gewusst hatten - jetzt waren sie informiert! Findus und Bewok setzten ihren Weg schleunigst fort. Nicht lange und ein leises Wasserplätschern ließ sie aufhorchen und sich suchend umsehen. Da waren sie, wenigstens zwanzig Tiere. Wolfsratten! Sie kamen durch das Wasser, schwammen, erreichten eben den Pfad. Die beiden Wanderer flüchteten sich auf die nächste baumbestandene, etwas größere Grasinsel und erwarteten den Kampf mit dem Rudel. Doch es kam anders. Plötzlich tauchten da am Rand der Grasinsel kleine Gestalten auf, bunt bekleidet und mit erdbraunen, runzligen Gesichtern. Erst nur wenige, dann immer mehr, bis es ihrer Hunderte waren. Sie sangen kaum hörbar und sehr fremdartig in einer unbekannten Sprache. Ihr Gesang schien den Verlauf des Pfades zu beeinflussen. Der Pfad bog sich von der Grasinsel weg, mündete ins Wasser. Und je mehr sie sangen, desto mehr näherte sich das Ende des Pfades auch dem Morfu. Die Wolfsratten folgten dem Pfad. Bis zum Morfu. Bis in ihren eigenen Tod. Nicht eine kam davon. Der Pfad kehrte - als ob nichts gewesen wäre - in seine ursprüngliche Lage zurück und so schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden auch die Kobolde wieder. Nur einer von ihnen winkte Findus zum Abschied noch zu. „Du hast schon eigenartige Freunde“ bemerkte Bewok trocken. Findus erwiderte nichts darauf. Für lange Zeit geschah dann nichts mehr und sie konnten ihre Reise ungehindert fortsetzen. Erst am späten Nachmittag bildete sich eine Art von Dunst. Bewok war sofort alarmiert. 68
„Irrlichter!“ warnte er. Er entnahm dem mitgeführten Beutel ein Seil, welches er erst sich selbst und dann Findus um den Leib schlang, so dass sie nun verbunden waren. „Jeder passt auf den anderen auf!“ kommandierte der Alte. Er erklärte: „Der Dunst wird immer dichter werden, zu einem Nebel, bei dem man im wahrsten Sinn des Wortes die Hand nicht mehr vor den Augen sieht. Den Pfad natürlich auch nicht. Ich werde ihn mit den Füßen ertasten müssen. Ich gehe voran. Falls ich ins Wasser gerate, dann zieh´ mich sofort raus.“ So machten sie es dann auch. Das Irrlicht erzeugte einen immer dichter werdenden Nebel, in dessen Inneren es hin und wieder verlockend aufblinkte. Dazu kamen menschliche Klagelaute, deren Ausstrahlung sich die beiden Wanderer nur schwerlich entziehen konnten. Doch plötzlich kam ein kräftiger Wind auf und zerfaserte das Irrlicht. Es gab widerstandslos auf. Über der Wasserfläche schwebte eine kleine blauhäutige Elfe und lächelte Findus zu. War sie das gewesen? Unbeschadet erreichten beide am späten Abend das Ende des Sumpfes und schlugen ihr Nachtlager auf. Der nächste Morgen brachte eine Überraschung. Am Ufer der Tiedsiepe lag wie angespült ein Boot. Alt und defekt, aber zu reparieren. Das Seltsame daran: Sogar zwei eigentlich nicht zum Boot passende Paddel waren noch da, worüber Bewok sich gebührend wunderte und seine Verwunderung auch deutlich zum Ausdruck brachte. Findus sagte nichts dazu; er dachte an das Volk der Wassergeister. Es gab da so einen Verdacht im seinen Gedanken... Bewok und Findus arbeiteten den ganzen Tag über am Ufer. Gleichzeitig hatten sie Angeln ausgelegt, um ihren schwindenden Proviant durch Fische zu ergänzen. Sie dichteten das Boot ab und versahen es sicherheitshalber mit zwei Auslegern. Letztere entstammten den in der Nähe wachsenden Rigras-Stämmen. Dabei handelte es sich um eine Grasart, welche sehr schnell wuchs und die mehrere Mannslängen erreichen konnte. Die Halme waren dann fast so breit, wie Findus´ Unterarm lang war, dabei aber dennoch relativ dünnwandig und somit auch federleicht. In bestimmten Abständen stabilisierten innere Knoten aus
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Pflanzenmaterial diese seltsamen Halme, so dass natürliche Luftkammern - natürliche Auftriebskörper - entstanden. Bewok sagte: „Das wäre eigentlich das ideale Baumaterial für ein jedes Wasserfahrzeug. Unsinkbar, wenn sich das Material nicht von selbst mit Wasser vollsaugen würde. Aber ein paar Tage hält es durch und so lange werden wir es gar nicht brauchen.“ Sie befestigten die Ausleger mit Hilfe von Querstangen und Seilen an dem Boot. Sollte es trotz der Reparatur zu einem Leck kommen, dann würden die Ausleger das Boot über Wasser halten. Außerdem boten sie einen guten Schutz vor dem Kentern. Abends saßen sie wieder vor ihrem Zelt. Ein Lagerfeuer brannte. Trotz der tagsüber gefangenen Fische rationierten sie die Lebensmittel jetzt: Langsam wurde es eng. „Ich habe die Augen den ganzen Tag lang nicht von der Tiedsiepe genommen“ begann Bewok das Gespräch und fuhr fort „morgen können wir jedenfalls ausschlafen. Erst geraume Zeit nach Sonnenaufgang wird das Wasser zu steigen beginnen. Sobald genug Wasser da ist, um das Boot aufschwimmen zu lassen, gehen wir los. Im Wasser. Einer schiebt das Boot, der andere zieht es. Wenn das Wasser hoch genug steht, dann steigen wir in das Boot und paddeln, soweit wir kommen. Irgendwann wird das Wasser wieder fallen, nämlich am Nachmittag und dann lassen wir das Boot liegen, wo es ist. Wir gehen dann zu Fuß weiter. Bis zur ‚Insel der Gestrandeten‘. Dort wachsen auch viele essbare Früchte, so dass der Proviant nicht unbedingt ein Problem darstellen sollte.“ Findus stimmte zu. Insgeheim fragte er sich allerdings, woher der alte Fischer das mit den Früchten wusste. Welches Geheimnis verbarg er vor ihm? Auch war ihm aufgefallen, dass etwas Bewok zunehmend bedrückte. Nun, er würde wohl von sich aus sprechen, wenn die Zeit dafür gekommen war. Am Vormittag des Folgetages warteten sie, bis das Wasser knapp kniehoch gestiegen war. Bewok nahm einen kleinen Schluck des Trankes, den Snofork ihm zuletzt noch mitgegeben hatte, zu sich. Er reichte die Flasche an Findus weiter. „Trink´ davon, aber nur einen kleinen Schluck – der Trank gibt Dir Kraft. Zuviel macht süchtig und noch mehr tötet“ sagte der Fischer. 70
Sie luden ihre Habseligkeiten in das Boot und machten sich auf den Weg zur ‚Insel der Gestrandeten‘, deren Gipfel schon überdeutlich zu sehen war. Die Insel schien zwar zum Greifen nahe zu sein, doch auf der Wasserfläche täuschten die Entfernungen gewaltig. Ziehend und schiebend kämpften sich beide durch das stetig steigende, gurgelnde und glucksende Wasser vorwärts. Als das Wasser ihnen bis zur Hüfte reichte und jede Bewegung kleine, scharfe Wellen an ihnen hochspritzen ließ, beschlossen sie, das Boot zu besteigen und zu paddeln. Jetzt kamen sie sehr schnell voran. Findus fragte sich, woher wohl das Tempo rührte, bis er vereinzelte kleine grüne Arme und Hände an den Auslegern entdeckte. Er grinste. Ihm wurde schlagartig einiges klar. Langsam, ganz langsam, kamen Fischer und Findling der Insel näher. Dann sank das Wasser wieder. Ebenso langsam und stetig, wie es gestiegen war. Sie machten nun nur noch wenig Fahrt. Die kleinen Hände an den Auslegern waren verschwunden. Findus und Bewok blieben so lange im Boot, bis es Grundberührung hatte. Dann stiegen sie aus, ergriffen ihre wenigen Habseligkeiten und gingen zu Fuß weiter. Zunächst noch durch das Wasser. Die Insel war wieder näher gerückt - aber noch nicht nahe genug. Ein weiter Fußmarsch stand bevor. Irgendwann war die Tiedsiepe völlig trocken gefallen und der Tag begann, sich deutlich seinem Ende zu zu neigen. Findus konnte erstmals den grob-porösen, kalkig-hellen Boden dieses Binnenmeeres aus nächster Nähe betrachten. Das Gestein war wie von Millionen feiner und feinster Kanäle durchzogen, wobei diese Kanäle durchweg in die Tiefe führten. Dazwischen hier und dort ein Fluttümpel mit Tieren darin. Hier und da auch eine Sandfläche. Der Boden war nicht immer horizontal, es gab auch kleine Falten und Verwerfungen, aber im Großen und Ganzen doch ziemlich eben. Wohin war das Wasser wohl verschwunden? „Es scheint einfach im Boden versickert zu sein“ dachte Findus bei sich. Vielleicht würde es bei der nächsten Flut auch einfach wieder aus dem Boden hervor kommen, doch bis dahin war noch lange Zeit. Hingegen würde es nicht mehr lange dauern, bis die Dunkelheit hereinbräche. Wenn sie
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Glück hatten, dann konnten sie just zu dem Zeitpunkt die Insel erreicht haben. Als Findus zufällig zur Seite blickte, sah er eine relativ scharf umgrenzte, weiße Nebelsäule. „Bewok, gibt es hier auch Irrlichter?“ fragte er. „Nein - warum fragst du?“ Findus wies wortlos auf die Nebelsäule. „Verdammt“ stieß Bewok hervor „das ist Geisternebel. Der entsteht durch Luftströmungen zwischen heiß und kalt. Du kannst in so eine Nebelsäule treten und siehst nicht mal mehr Deine eigenen Füße. Verlierst jede Orientierung, obwohl nur zwei Schritte daneben schönster Sonnenschein herrscht. Wir binden uns wieder zusammen, wie im Sumpf und einer achtet auf den anderen. Die Säulen driften nämlich über den Untergrund.“ Gesagt, getan. Nachdem sie eine Seilschaft bildeten, setzten sie die Reise fort. Der auf völlig natürliche Weise über dem Wattboden entstandene Geisternebel konnte ihnen nichts mehr anhaben, konnte sie nicht mehr irritieren. Es wurde dämmrig und die ‚Insel der Gestrandeten‘ war schon beinahe erreicht, als Findus eine kaum auszumachende Verfärbung des Bodens auffiel. Der Nebel war längst wieder verschwunden und auch die Seile hatten sie wieder abgelegt. In der letzten Zeit liefen sie über Sand, der jetzt plötzlich seine winzige Farbveränderung erfuhr. Findus rechnete instinktiv mit Gefahr. „Warte, keinen Schritt weiter“ rief er dem vor ihm gehenden Bewok zu. „Warum?“ drehte der sich erstaunt um. „Ich weiß auch nicht, da ist was, ich habe ein schlechtes Gefühl...“ „So ein Unsinn“ brummte der Fischer unwirsch und stapfte weiter auf die Insel zu. Er kam nicht weit. Eines seiner Beine sank plötzlich bis über´s Knie im Boden ein. Erschrocken ruderte Bewok mit den Armen, versuchte sein Gleichgewicht wieder zu finden. Doch da war Findus schon heran, ergriff ihn unter den Achseln und zog ihn raus. „So eine verdammte... Das ist Treibsand. Du hast gute Augen, Junge.“ „Wir müssen den Treibsand umgehen“ antwortete Findus. Bewok nickte. Es wurde kein allzu großer Umweg, aber als sie endlich die ‚Insel der Gestrandeten‘ erreichten, da war es schon stockfinstere Nacht. Die Gefahr, in der Dunkelheit einfach an der Insel vorbeizulaufen, war groß gewesen. Weil es warm und trocken war, verzichteten sie
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auf das Aufschlagen des Zeltes. Nach einem knappen Abendmahl schliefen beide sofort müde und erschöpft ein. Am Vormittag des Folgetages saßen sie am Strand, warteten darauf, dass das erneut aufgelaufene Wasser zurück ging. Sie sahen zur ‚namenlosen Insel‘ hinüber. Bewok wirkte irgendwie gequält, noch in sich gekehrter als während der letzten Tage. „Wie ist sie?“ fragte Findus. „Wer?“ entgegnete Bewok geistesabwesend. „Die Bônday.“ „Wahrscheinlich auf jeden Fall anderes, als du sie dir vorstellst. Egal, du wirst sie kennenlernen.“ Bewok schwieg wieder. „Wie weit ist es dort hinüber?“ setzte Findus das Gespräch fort. Bewok seufzte: „Wenn man nicht trödelt, dann ist es in einer Trockenzeit gut zu schaffen. Mit ablaufendem Wasser rausgehen und mit auflaufendem Wasser erreichst du ihre Insel. Sag´, willst du nicht lieber allein dort hinüber? Den Weg schaffst du mit links. Ich in meinem Alter bin dir da doch nur hinderlich. Außerdem sind wir quitt. Ich habe dich gerettet und du hast mich gerettet.“ Findus sah ihn nur an, wartete. Bewok wirkte noch gequälter, presste die Lippen aufeinander. „Was würde Deine Frau Snofork dazu sagen?“ fragte Findus. Ein trockenes Schluchzen schüttelte Bewok´s Körper. Findus legte ihm die Hand auf den Arm. „Was...“ „Schon gut, du hast gewonnen“ erwiderte der Fischer kehlig und sprach weiter: „Doch es gibt da etwas, das du vielleicht wissen solltest.“ Bewok suchte einen Moment lang nach Worten und fuhr dann fort: „Ich bin dort drüben absolut nicht willkommen. Ich weiß nicht, was mich erwartet. Es könnte mein Tod sein. Davor habe ich Angst. Die Bônday hat mich auf immer und ewig von ihrer Insel verbannt. Das ist jetzt schon viele, viele Sommer her. Damals war ich jung und unerfahren. Ich glaubte, die Welt aus den Angeln heben zu können. Zu der Zeit lernte ich eine wunderschöne Frau kennen, eine reine Augenweide. Sie war eine Hexe. Eine mächtige Hagia. Wir verliebten uns unsterblich ineinander. Doch ich wollte keine Hexe zur Frau, sondern eine ganz normale Frau, die mir ein treues Eheweib sein würde - ohne weitere Verpflichtungen. Daher bat ich sie, der Hexerei zu entsagen. Doch das ging nicht, denn zur Hexe wird man geboren. Man bekommt die magische Kraft mit in die Wiege gelegt. Die Macht einer Hexe 73
kann nur geschwächt werden. Durch eine noch mächtigere Hexe. Je größer deren Macht ist, desto stärker ist auch die Schwächung. Snofork war damit einverstanden, ihre Kraft aufzugeben. Also ging ich zur mächtigsten Hexe, die es gab - zur Bônday. Ich benutzte den Weg, den wir auch genommen haben. Daher meine Ortskenntnis. Na ja, damals war ich jünger, da ging´s schneller. Diesmal hatten wir Helfer.“ Er sah Findus scharf an. „Helfer aus dem magischen Schattenreich; ich habe es wohl bemerkt.“ Als Findus darauf jedoch nicht reagierte, sprach der alte Fischer weiter: „Ich bat die Bônday. Sie wollte nicht. Ich bettelte, flehte sie an. Ihr ‚Nein‘ konnte ich nicht akzeptieren. Letztlich griff ich sie sogar an, wollte sie durch physische Gewalt zwingen. Es war Wahnsinn und ich war verblendet. Aber ihr imponierte damals meine Entschlossenheit. Entschlossenheit auf der Grundlage meiner grenzenlosen Liebe zu Snofork. Schließlich erfüllte sie mir meinen Wunsch, verwies mich aber ihrer Insel und warnte mich davor, das Eiland jemals wieder zu betreten. Seither ist Snofork nur noch eine reine Kräuterhexe. Ihre einzigen magischen Fähigkeiten bestehen darin, instinktiv die richtigen Kräuter zu finden und Magie bei anderen Personen zu erspüren. So wie bei dir. Wir haben den Verlust ihrer Fähigkeiten beide niemals bereut. Nur manchmal - sehr, sehr selten - strahlt noch für kurze Augenblicke die alte Kraft aus ihr. So wie an dem Tag, als sie unsere Abreise beschloss. Ich befürchte, dass die Bônday mich töten wird...“ Bewok verstummte zitternd. Findus überlegte kurz und fragte dann: „Würde Snofork dich in den Tod schicken?“ „Nein, niemals. Junge, du hast Recht. Ich werde dich begleiten. Komme was da wolle.“ Der Fischer stand auf. „Das Wasser ist weit genug gefallen. Lass´ uns gehen.“ Entschlossen durchquerten sie die trocken gefallene Meerenge zwischen den Inseln.
Viele Stunden später erreichten beide die ‚namenlose Insel‘. Natürlich blieb die Ankunft von Findus und Bewok nicht unbemerkt. Zwei offensichtlich noch junge Frauen kamen auf sie zu, als die Wanderer eben an Land gingen. „Unser
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Empfangskomitee“ brummte Bewok und „ab jetzt wird´s lustig...“. Die beiden Frauen näherten sich den Reisenden. Eine der beiden verfügte über ein beinahe albinotisch blasses und schmales, aber dennoch sehr wohlproportioniertes Gesicht, umrahmt von langen dunkelroten, ja beinahe schwarzen gelockten und sehr gepflegten Haaren. Dies stand in eigenartigem Kontrast zu ihrer blassen Haut und verlieh ihr einen unwiderstehlichen und leicht exotischen Touch. Die andere war im Gegensatz dazu braungebrannt. Sie verfügte über langes goldblondes und glattes Haar. Auch ihre Haut war makellos und sie sah atemberaubend begehrenswert aus. Beide Frauen trugen nur halbdurchsichtige leichte und lange weiße Röcke, unter welchen die beiden Männer die langen, wohlgeformten Beine eher erahnen denn sehen konnten und oben herum gar nichts, so dass ihre vollen Brüste zu sehen waren. Falsche Scham schien ihnen fremd zu sein. Die Frauen trugen als einzigen Schmuck Armbänder, welche aus verschiedenen Edelsteinen bestanden. Mit „Ich bin Lyonora“ wurden die Ankömmlinge von der Rothaarigen begrüsst. „Und ich bin Dayla“ fügte die Blonde hinzu. Letztere wandte sich Findus zu. „Schön, dass du hier bist. Die Bônday erwartet dich bereits sehnsüchtig.“ Sie schwieg und blickte zu Lyonora. Lyonora sah den Alten an: „Tiedsiepe-Fischer Bewok, dir muss von Anfang an klar gewesen sein, dass du hier sehr unerwünscht bist.“ Bewok nickte bekümmert – „Jetzt kommt´s“ dachte er. Doch Lyonora fuhr fort: „Die Bônday verweigert dir daher den Zutritt. Das war nach eurem Zerwürfnis auch nicht anders zu erwarten. Du kannst dir sicherlich denken, warum sie euch nicht persönlich empfängt.“ Bewok nickte verstehend. „Dennoch lässt die Bônday dir danken. Du hast nichts zu befürchten, denn du hast ungeachtet eventueller persönlicher Nachteile eine lange, gefahrvolle und entbehrungsreiche Reise auf dich genommen - um Findus zu uns zu bringen. Die Bônday wird daher für deinen Rücktransport sorgen.“ Mit einer spielerisch anmutenden Handbewegung drehte Lyonora ihr Armband, woraufhin sich ein Lichtstrahl in einem der dortigen Steine fing. In einem Mondstein. Der reflektierte das Licht in einen Topas und letzterer Stein warf den Strahl auf das inzwischen schon wieder steigende Wasser der Tiedsiepe. 75
Urplötzlich lag dort ein kleines, weißes Boot: Mondstein und Topas – die Symbole für Neubeginn und Transformation: Zauberkraft! Lyonora fuhr fort: „Das magische Boot ist für dich. Es benötigt nur etwas Feuchtigkeit unter dem Kiel, um schwimmen zu können. Und es ist sehr schnell. Das Boot wird dich am Ufer der Tiedsiepe absetzen. Am Ufer des Waldes, der unmittelbar hinter deiner Hütte liegt. Danach verschwindet das Boot wieder. Binnen weniger Stunden bist du dann zu Hause. An Bord findest du Verpflegung für einen Tag. Das ist mehr als ausreichend. Als kleines Dankeschön für Deine Bemühungen ist dort auch noch ein ledernes Päckchen. Das ist für dich und für deine Frau bestimmt, doch nur Snofork wird damit umzugehen wissen. In dem Päckchen sind sehr wertvolle Heilkräuter; nur im schlimmsten Notfall anzuwenden. Daher achte darauf, dass das Päckchen nicht nass wird. Richte auch Snofork unsere Grüsse und unseren innigsten Dank aus. Du kannst jetzt gehen.“ Eiskalt abserviert - ein klassischer Rausschmiss. Doch es hätte für Bewok auch viel schlimmer kommen können. Traurig blickte der Fischer zu Findus hinüber, welcher mit den Achseln zuckte. Was hätte der auch schon machen können? Beide gingen aufeinander zu und umarmten sich. Ihnen war klar, dass es durchaus ein Abschied für immer sein mochte. „Pass´ auf dich auf, Junge“ sagte der alte Fischer und fügte hinzu: „Was immer du tust - schade niemandem.“ Findus sah ihn verblüfft an. Hatte sich nicht die Zigeunerin so ähnlich geäußert? Bewok unterdrückte ein Schluchzen und gab seinem Findling noch mit auf den Weg: „Und vergiss´ niemals, welche Anforderungen das einfache Leben an einfache Leute stellt. Sei und bleibe mitfühlend und verständig.“ „Warte“ meinte Findus „da ist noch etwas, was dir gehört.“ Er begann, an dem Kurzschwert herum zu nesteln. „Nein“ sagte Bewok „behalte es. Denke an Snofork und an mich, wenn du es benutzt.“ Er klopfte Findus aufmunternd auf die Schulter, nahm ihr verbliebenes Reisegepäck auf und stapfte zum Boot. Der Fischer kletterte hinein. Sofort setzte sich das magische Gefährt in Bewegung und entschwand schnell über die endlose, spiegelnde Wasserfläche. Findus sah dem Boot so lange nach, bis es 76
seinen Blicken englitten war. Dann erst drehte er sich zu den beiden hinter ihm stehenden Hexen um. „Gehen wir zur Bônday. Sie wartet auf dich“ sagte Dayla mit golden-melodischer, verführerischer Stimme. Die beiden führten Findus auf einem gut ausgebauten Weg über die Insel. Die ‚namenlose Insel‘ war ein Paradies, schien nicht von dieser Welt zu sein. Findus spürte, wie sich hier unglaublich mächtige Erdströme vereinigten. Vögel sangen und zwitscherten; ihre Laute malten kupferne Spiralen, metallischnass-regenbogenfarbene Ringe und grüngolden-gestreifte Bögen in die Luft. Es gab viele Bäume mit einer ihnen innewohnenden magischen Symbolik: Weißdorn – Konzentration und Freiheit, Kiefer - Erleuchtung, Wacholder - Glück, Birke - Neubeginn, Weide – Harmonie mit der Schöpfung, Eibe - Schutz und Fichte - Licht. Allgegenwärtig waren blühende und gleichzeitig Früchte tragende Apfelbäume – inneres Feuer. Und noch etwas fiel Findus auf: Es gab Eichen, auf denen Misteln wuchsen. Extrem ungewöhnlich. Die Insel war ein magischer Ort und die Magie war allgegenwärtig. Stärke und spirituelle Autorität, Freiheit und Erleuchtung, Glück und Harmonie, Licht und Transformation - das alles wurde zu einem inneren Feuer, welches das Rad des Lebens bewegte. Hier und von hier aus in ganz Norgast. Sie erreichten das Zuhause der Bônday. Wenn Findus einen Palast erwartet hatte, dann wurde er enttäuscht. Das Heim der Bônday bestand nur aus einer Ansammlung von Hütten. Allerdings verfügten diese sich perfekt in die Umgebung einfügenden Hütten über eine Ausstrahlung, die jeden Palast in den Schatten stellte. Eine Frau war in einem Kräutergarten beschäftigt. Eine reife, schöne Frau von vielleicht höchstens vierzig Sommern – also etwa doppelt so alt wie Dayla oder Lyonora. Als die drei auf sie zukamen, richtete sie sich auf. Sie war genauso spärlich bekleidet wie die beiden Hexen des Empfangskomitees, sah gleichzeitig aber völlig anders aus: Eine dunkelhäutige Frau mit sehr ebenmäßigen Gesichtszügen, makellos weißen Zähnen und wasserstoffblond gefärbten langen Lockenhaaren, was einen begehrenswerten Kontrast zu ihrer Hautfarbe ausmachte. Ihre Augen waren bernsteinfarbene Katzenaugen - die Bônday. 77
Findus fühlte ihre mächtige Ausstrahlung. War sie ein Mensch? „Willkommen Findus“ sagte sie und fügte hinzu „schön, dass du wieder zurück bist.“ Ein Schock! Die Worte trafen Findus wie ein unerwarteter Schlag in die Magengrube; er strauchelte. Dayla und Lyonora stützten ihn. „...dass du wieder zurück bist... - ...dass du wieder zurück bist...“ Die Worte hallten in seinem Kopf nach. Wieder und immer wieder. Er hatte kein Gedächtnis mehr, aber die Bônday kannte ihn. Ja, mehr noch, er war schon einmal hier gewesen. Hier auf dieser Insel; hier in dieser durch und durch magischen Welt. „Was weißt du über mich? Kennst du meine Vergangenheit? Wer bin ich?“ Die Bônday sah ihn abschätzend an. „Ich weiß fast alles über dich - wer du bist und ich kenne deine Vergangenheit. Jedenfalls in großen Teilen.“ „Dann sag´ es mir doch!“ bettelte Findus. „Nein!“ Das Wort kam glashart und ließ keinerlei Widerspruch zu. Nachdenklich trat die Bônday an ihn heran, legte eine Hand auf seine Schulter und blickte ihm tief in die Augen. Sie sprach: „Du bist für dieses Wissen noch nicht reif genug. Das Wissen würde deinen Geist ruinieren und deinem Handeln die falsche Richtung weisen. Ich habe einmal den Fehler begangen und dir zu früh zuviel verraten. Diesen Fehler werde ich nicht wiederholen! Du erfährst aber alles, wenn die Zeit dafür reif ist. Doch das ist sie noch lange nicht.“
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Kapitel 5: Drei Prüfungen Die Bônday war von Findus ausführlich über den Verlauf der Reise und über seine vorherigen Erlebnisse mit dem Tiedsiepe-Fischer informiert worden; insbesondere auch über das abhanden gekommene Gedächtnis des Findlings. Auch Dayla - welche Findus vom ersten Moment an sehr anziehend fand - und Lyonora waren bei dem Bericht zugegen. Ein paar Schalen mit Lebensmitteln, frisches Quellwasser, verschiedene Tees und ein leichter Wein sorgten für das leibliche Wohl. Inzwischen brach die Dunkelheit herein. „Gut“ beendete die Bônday schließlich das Gespräch, denn es war spät geworden. „Dayla wird dir deine Unterkunft zeigen. Mir ist bekannt, dass ihr beiden Euch früher sehr gemocht habt. Es spricht nichts gegen ihren Besuch bei dir, wenn sie deiner bedarf. Umgekehrt hast du jedoch keinen Zutritt zu den Wohn- und Schlafgemächern von uns Frauen. Geht jetzt alle schlafen. Findus, morgen müssen wir uns unter vier Augen unterhalten. Es geht um deine Zukunft.“ Mit einem Wink waren sie alle entlassen. Dayla führte Findus in eine der Hütten. Er fand dort alles vor, was er benötigte. Nachdem der Findling sich gereinigt hatte ging er schlafen. Wollte er jedenfalls. Doch zuviel war tagsüber auf ihn eingestürmt. Grübelnd lag er in der Dunkelheit noch wach im Bett, als es klopfte. „Ja“ sagte er und Dayla schlüpfte lächelnd herein. Sie trat zu seinem Lager, entkleidete sich – ein sehr verführerischer Körper! - und kroch zu ihm unter die Decke. „Ich habe dich schon lange vermisst“ gestand sie. „Auch du kennst mich von früher?“ „Natürlich.“ Kein weiterer Kommentar ihrerseits. Sie kuschelte sich an ihn und das Verlangen erwachte. Es dauerte nicht lange und sie liebten sich heiß, ekstatisch und phantasievoll. Danach lagen sie wach nebeneinander. „Was denkst du?“ fragte Dayla. „Die Bônday...“ antwortete Findus. „Sie macht einen so weisen Eindruck. Dabei ist sie doch noch so jung, höchstens vierzig Sommer alt.“ Dayla fing an, lauthals und schallend zu lachen. Sie konnte gar nicht mehr aufhören, bis Findus langsam ärgerlich 79
wurde: „Was ist daran so lustig, verdammt noch mal?“ Dayla kicherte schon wieder. Sie blickte ihn an; der Schalk blitzte aus ihren Augen: „Sag´ mal, für wie alt hältst du mich eigentlich?“ „Na ja, vielleicht so zwanzig Sommer.“ Sie lachte erneut. Noch lauter und herzhafter als zuvor. Findus sah sie frustriert an: „Sehr komisch, ja?“ „Entschuldige“ kicherte Dayla „aber das war eben zu lustig. Dein Gedächtnis ist demnach wirklich völlig weg. Du kannst es also gar nicht wissen. Trotzdem...“ Wieder so ein blöder Lachanfall! Doch Dayla wurde wieder ernst: „Ich könnte gut und gerne deine Ur-Ur-Ur-Großmutter und vielleicht noch mehr sein. Die Bônday ist mehr als doppelt so alt wie ich.“ Ernst blickte sie ihn an; in der Dunkelheit sah Findus jedoch nur die Silhouette ihres Gesichts. „Es ist eine Frage der Magie“ sagte Dayla mit rauchiger Stimme. „Natürlich sind wir nicht unsterblich. Aber wenn die Magie in uns stark genug ist - und wenn wir damit umzugehen wissen - dann verlangsamt sich der natürliche Alterungsprozess. Etwa um den Faktor zehn.“ In Findus´ Kopf schwirrte es. Dann wäre Dayla ja zweihundert und die Bônday sogar vierhundert Sommer alt... „Ich will und darf aber der Bônday nicht vorgreifen. Sie wird dir einiges erklären. Morgen. Lass´ uns jetzt schlafen.“ Sie kuschelte sich wieder an ihn. Findus genoss erneut die Berührung durch ihren vollkommenen Körper...
Knarrende Planken. Dichter Nebel. Die Bark des KaufleuteSyndikats lag regungslos auf hoher See, irgendwo zwischen Torboog und den Norgast vorgelagerten Inseln. Kein Lüftchen regte sich. Jeder Atemzug schmeckte nach Seesalz. Jedes verfügbare Stück Tuch war gesetzt worden, doch vergebens. Schwer von der aufgesogenen Feuchtigkeit hingen Segel und Takelage lustlos von Mast und Rah. An Bord döste alles vor sich hin, wartete auf das Ende dieser seltsamen Flaute. Im Logis brannte Licht. Es kam aus einer Luxuskabine. Die Kabine beherbergte nur einen einzigen Passagier: Baldur. Doch der Reihe nach.
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Nach der Zerstörung des Paliwi war Baldur in Krähengestalt wütend abgereist. Er wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. Kreiste ziellos, flog mal hierhin, mal dorthin. Dann fiel ihm der Ort seiner Geburt ein - das Gehöft Nedrheg, etwa auf halber Strecke zwischen Sandstedt und Torboog gelegen. Er wählte Nedrheg zum vorläufigen Ziel. Mit diesem Ort hatte es eine besondere Bewandtnis. Sein Vater Mykyllin, der frühere König und ein großer Zauberer, und seine Mutter Gwylon - eine machtvolle Hexe - befanden sich seinerzeit auf einer Reise durch Norgast, nur begleitet von ihrem Lakaien Ravon. Gwylon war bereits im fortgeschrittenen Stadium schwanger, als sie aufbrachen. Aus unerfindlichen Gründen kam es zu unerwarteten Verzögerungen. Irgendwann war Gwylon hochschwanger und brach in Absprache mit Mykyllin die Reise ab. Machte sich zusammen mit Ravon auf den Rückweg, denn der Thronfolger sollte im Palast von Helgenor geboren werden. Doch so sehr sie sich auch eilten und auf dem kürzesten Weg reisten - sie nahmen sogar den unwegsamen Pass zwischen den beiden Helgebarg-Gipfeln in Kauf - es sollte nicht reichen. Gwylon entband auf einem Bauernhof, nämlich Nedrheg. Und sie überlebte die Geburt nicht. Ravon brachte die tote Mutter und das lebende Kind dann zum Palast. „Sie wollte, dass er den Namen ‚Baldur‘ erhält“ teilte Ravon dem Verwalter Merkyllum mit. Letzterer suchte eine Amme und fand sie schnell. Baldur würde leben. Nun war das Verhältnis zwischen Ravon und Merkyllum nicht eben das Beste. Und als Ravon erneut aufbrach, um die traurige Nachricht vom Tode der Mutter dem König zu überbringen, da wurde sein Schiff von Piraten aufgebracht und er selbst erschlagen. Mykyllin erfuhr daher weder vom Tode seiner Frau noch von der Geburt seines Sohnes. Ja, mehr noch: Er erlitt zufälligerweise einen schrecklichen Jagdunfall, als ihn ein irregeleiteter Speer von hinten durchbohrte. Da es sich um eine Wolfsjagd handelte, war der Speer vergiftet gewesen - wie es bei Wolfsjagden eben so üblich ist. Mykyllin überlebte die Verwundung nicht. Traurig, traurig, traurig... Merkyllum wurde zum Truchsess. Er verwaltete das Reich für Baldur. Und er nahm Baldur´s Erziehung in die Hand. 81
Formte den Jungen nach seinen ganz persönlichen Vorstellungen. Er lehrte ihn, persönliche und später intime Beziehungen zu einflussreichen Personen aufzubauen - um besagte Personen dadurch kontrollieren zu können. Er brachte Baldur bei, immer Freundlichkeit und Charisma raushängen zu lassen - dadurch ließen sie sich alle täuschen. Jede Lüge und jede Hochstapelei wurde anstandslos geschluckt, wenn sie nur charismatisch genug ausgesprochen wurde. Merkyllum machte Baldur klar, wie nützlich es war, andere durch gezielte Fehlinformationen oder durch das Vorenthalten von Information zu diskreditieren – oder zu Fehlern zu verleiten. Wie man Personen gegeneinander ausspielt und wie solche Intrigen garantiert unerkannt bleiben, wenn man die beteiligten Leute nur in rascher Folge austauschte... So funktionierte eben Politik! Baldur wuchs ohne Elternliebe auf. Nur umso bereitwilliger sog er die fragwürdigen Weisheiten seines Lehrers Merkyllum auf, ja, er verinnerlichte dessen Regeln geradezu. Gefühle, Skrupel, Gnade, Mitleid, Vertrauen, Mitgefühl, Schuldbewusstsein - alles Worte, welche ihm seit jeher fremd geblieben waren. Begriffe für Weicheier. Es hatte für ihn nie eine persönliche Belastung dargestellt, den Sinn dieser Worte nicht zu kennen. Er war der Macher, setzte sich durch, orientierte sich nur an seinem eigenen Wertesystem. Baldur allein hatte die Fähigkeit, Macht auszuüben. Nur das war Führungsstärke! Das bekam irgendwann auch Merkyllum selbst zu spüren. Ein Streit zwischen Truchsess und Thronfolger ging voraus. Rein zufällig stürzte Merkyllum dann vom höchsten Turm des Palastes. Wie tragisch... Baldur krönte sich selbst zum König. Engagierte Magier, um sich in der Magie ausbilden zu lassen. Das Wort Liebe assoziierte er nur mit rein physischer, geschlechtlicher Lust. Er hatte viele Frauen. Einige überlebten die Nacht mit ihm, andere nicht. Egal – Menschenmaterial eben. Die Menschen lebten ihm zum Vorteil, denn er war der absolute Herrscher. Baldur fand, dass es sogar ein ausgesprochen sozialer Zug von ihm war, wenn er diese minderwertigen Kreaturen am Leben ließ. Wie viele Bastarde er zeugte, dass wusste er nicht. Es interessierte ihn auch nicht, selbst dann nicht, wenn er seinen Bettgespielinnen die Position einer Königin an seiner 82
Seite in Aussicht gestellt hatte. Was interessierte ihn sein Geschwätz von gestern? Geschmeiß, Abschaum, Minderwertige: unfähig, fordernd und frech... - konnte man so etwas überhaupt als Menschen bezeichnen? War doch deren Problem, wenn sie dahinvegetierten und es nicht schafften, sich Reichtümer zuzulegen! Er war doch nicht für die verantwortlich! Er stand ganz eindeutig über denen! Baldur wurde schnell klar, dass er neben seiner Herrscherinsel Helgenor auch noch einige Stützpunkte auf dem Festland brauchte. Stützpunkte mit jeweils nur wenigen und ihm treu ergebenen Bediensteten. Das Gehöft Nedrheg schien wie geschaffen dafür zu sein. Er kaufte den Besitzern den Bauernhof ab; entlohnte sie reichlich mit Gold und Edelsteinen. Die Bauersleute wollten sich davon in Torboog ein kleines Haus kaufen, um in der Stadt einen ruhigen Lebensabend zu verbringen. Sie reisten ab. Auf dem Weg nach Torboog erfolgte ein Überfall durch Diebe. Später fand man die Leichen der Bauersleute. Brauchte ja niemand zu erfahren, dass Gold und Edelsteine auf verschlungenen Wegen wieder in Baldur´s Schatztruhen landeten... Das ging ja auch niemanden etwas an! Also Nedrheg. Die Krähe flog dort hin, verwandelte sich wieder in die Gestalt Baldur´s. Fernab von anderen Menschen begann er die Sisyphusarbeit der Bewusstseinskontrolle seiner Untertanen. Doch was für Abgründe taten sich da auf! An allererster Stelle standen die Kaufleute. Wer immer Handel treiben wollte, der hatte nur zwei Möglichkeiten: Entweder als fahrender Händler oder als Mitglied im Syndikat der Kaufleute. Alles andere duldeten die Kaufleute nicht. Notfalls wurden Abweichler mit Gewalt und Intrigen auf die richtige Linie zurück gebracht. Die Kaufleute waren in ihrem Handel frei und nur den Handelsherren gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet. Nicht ihm, dem Herrscher, gegenüber! Das Syndikat verhinderte das! Wenn er einen Kaufmann über dessen Gewinne befragt hätte, dann wäre von dem eine falsche Auskunft gekommen. Nur ein anderer Kaufmann wäre befähigt gewesen, den Schwindel aufzudecken - doch die Gilde verbot es, gegen einen anderen Syndikatsangehörigen auszusagen. Eine sich selbst erhaltende, zementierte Struktur. 83
Ein Staat im Staate! Baldur bedauerte es nicht, ganz spezielle und die Kaufleute betreffende Abkommen mit Piraten und Dieben getroffen zu haben. Im Gegenteil - sein Regiment würde noch strenger werden müssen! Dieser Mijneer Vankampen beispielsweise - bisher war Baldur immer der Ansicht gewesen, der Kriecher würde ihm treu ergeben sein. Doch der Kerl war einer der Schlimmsten. Er wirtschaftete ganz massiv in die eigene Tasche und baute sich insgeheim eine private Machtposition auf. „Mal sehen“ dachte Baldur „den säge ich ab. Warte nur, Kerl...“ Er würde ihn kritisieren um der reinen Kritik willen. Ihm schwammige Weisungen erteilen und Gesprächen ausweichen. Die Resultate ließen sich dann so oder so auslegen. Ein unterstelltes Fehlverhalten hier, ein untergeschobener Fehler da, vielleicht noch gewürzt mit ein paar abwertenden Bemerkungen seinerseits... Jedenfalls würde Mijneer Vankampen bald nichts mehr zu melden haben; wenigstens das war schon mal garantiert! Und wenn der sich beschwerte, dann würde der ehemalige Kaufherr in spe einfach ignoriert werden. Es gab genug anderes Menschenmaterial, auf das Baldur getrost zurückgreifen konnte. Der Rest seiner Untertanen war allerdings auch nicht viel besser. Die stöhnten ob der Steuerlast und wegen der schlechten Lebensbedingungen. In deren unwissenden Augen waren es gerade Neville´s Häscher, die ihnen das Leben schwer machten. Undankbares Volk! Im Grunde mussten sie ihm sogar dankbar sein, wenn er sie durch Neville von ihrem unwürdigen Dasein erlösen ließ! Es war ein Fehler - sein Fehler! - gewesen, sie nicht von vornherein hart an die Kandare zu nehmen. Das erkannte Baldur jetzt ganz klar. Nicht, dass er ein Messen mit zweierlei Maß im Sinne hatte. Doch er als Herrscher war es allein, der entschied, wer wie leben durfte. Und wenn die Untertanen murrten, dann ging es ihnen eindeutig viel zu gut! Das würde sich ändern! Außerdem war es im Grunde gar nicht mal sein Fehler gewesen; er hatte eben nur unfähige Ratgeber. Die gehörten ersetzt, und zwar umgehend. Oh ja, er würde aufräumen müssen. Richtig aufräumen. Und dann wehte in Norgast ein anderer Wind! Er war viel zu gutmütig und ließ viel zuviel durchgehen. Fehler machten sowieso 84
immer die anderen und er konnte es dann ausbügeln. Das brachte es mit sich, dass er alles ständig selbst machen musste. War das etwa die Aufgabe eines Königs? Baldur, der Herrscher Norgast´s - von Unfähigkeit umzingelt! Er würde geheime Kontrollen einführen und den Leuten Fallen stellen, schon in allernächster Zeit. Immerhin befriedigte es ihn etwas, dass die Hungertürme sich füllten und dass die Angst einem Aufruhr vorbeugte. „Neville´s Todesschwadron ist dafür zu klein. Die muss unbedingt aufgestockt werden“ dachte Baldur bei sich. Doch soviele Personen er auch mental kontrollierte - den Gesuchten fand er auf diese Weise nicht. Bis sich vor einigen Tagen etwas sehr Unerwartetes ereignete. Eine Erschütterung im Geflecht der Magie, welches die ganze Welt durchzog. Wie die an ein Ufer plätschernden Wellen in einem Teich, nachdem jemand einen Stein hineingeworfen hatte. So etwas passierte nicht von selbst. Da musste es einen Auslöser gegeben haben. War das etwa die Spur, nach der er so verzweifelt suchte? Falls ja, dann war es mit absoluter Sicherheit irgendwo im Land auf der anderen Seite des Helgebarg geschehen. Baldur verwandelte sich umgehend in Krähengestalt und flog sofort nach Torboog. Keine allzu gute Entscheidung: Zuviele Menschen, zuviele Gedanken. Für seine Suche brauchte er Ruhe und Abgeschiedenheit. Da kam ihm die Bark der Kaufleute mit dem Zielhafen Westboog gerade recht. Er schiffte sich ein. Auf dem Meer hätte er die erforderliche Ruhe. Und genau deswegen dümpelte das Schiff jetzt auch ohne Fahrt zu machen vor sich hin. Ein Wort Baldur´s - ein primitiver Wetterzauber - und es wäre sofort weitergegangen. Doch er wollte nicht. Baldur suchte. Gedanklich. Suchte intensiv und fand - nichts! Das er seinem Opfer schon deutlich näher gekommen war, blieb dem Herrscher dank der Fähigkeiten der Bônday verborgen - noch...!
Am Morgen und in Dayla´s Begleitung ging Findus zur Bônday. Sie fanden die Letztere in einem der vielen kleinen Kräutergärten. Die Bônday nickte Dayla dankend zu,
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woraufhin Findus´ neue alte Freundin sich wissend lächelnd entfernte. „Gut geschlafen?“ fragte die Bônday mit einem leicht ironischen Unterton in der Stimme. „Ja, danke, sehr gut“ entgegnete Findus und betrachtete die faszinierende Frau. „Lass´ uns über die Insel gehen. Du wirst Fragen haben. Wenn ich sie dir beantworten kann, dann werde ich das tun. Also frage - aber nicht nach deiner Vergangenheit!“ „Bônday, wer bist du? Gibt es nur eine Bônday? Bist du ein Mensch?“ „Ich war einmal ein Mensch, aber das ist lange her. Ich bin ich. Die Bônday. Es gibt über die ganze Welt verteilt nur ein paar Bôndays. Wir gehören einem Coven - einem Hexenzirkel - an, der in den verschiedenen Ländern die jeweils wohl kraftvollsten Hexen stellt. Man wird mit viel magischer Kraft in sich geboren. Man wächst auf und lernt, diese Kraft zu entwickeln, zu nutzen und zu kanalisieren. In ganz seltenen Fällen wird man zur Auszubildenden - zur Novizin - bei einer Bônday. Wenn die irgendwann einmal stirbt, dann geht ihre Kraft auf einen selbst über. Vorausgesetzt, dass man bei der sterbenden Bônday ist. Die eigene Magie potenziert sich dabei. Und der Körper verändert sich. Die Grundform bleibt erhalten. Wer ein Mensch war, der behält seinen menschlichen Körper. Die Bônday von Fucunor war früher eine Harpyie. Auch sie hat ihren Körper halb Mensch und halb Adler behalten. Aber die Haut verfärbt sich schwarz. Die Haare werden silber- und die Augen bernsteinfarben. Immer.“ Sie lachte. „Beantwortet das deine Frage?“ „Hmmm“ meinte Findus. „Dayla und Lyonora - sie sind deine Novizinnen?“ „Natürlich!“ „Warum zwei?“ „Weil immer die Möglichkeit besteht, dass einer Person etwas passieren kann. Eine von beiden wird mit Sicherheit zur nächsten Bônday werden. Eine kann ich auf Reisen schicken; die andere bleibt bei mir. So wird meine Magie auch dann weiterleben, wenn einer meiner Auszubildenden etwas zustößt.“ Findus nickte verstehend - das war zwar vorausschauend gedacht, aber... „Aber Ihr verlasst die ‚namenlose Insel‘ doch nie. Und was kann einem denn hier schon zustoßen?“ „Das wir ständig hier bleiben, sagen die Leute. Glaub´ nicht alles, was du hörst. Besser noch: Stelle grundsätzlich immer alles infrage! Meine Novizinnen sind häufiger auf 86
Reisen. Das ist auch unbedingt notwendig. Sie müssen ihr zukünftiges Land kennenlernen, ihre Fähigkeiten weiterentwickeln und perfektionieren. Eine Hexe zu sein, bedeutet beständiges Lernen. Lebenslang. Das Lernen endet nie. Aber sie sind niemals gleichzeitig unterwegs.“ „Können eigentlich beide zur Bônday werden oder nur eine?“ „Wenn bei meinem Tode beide zugegen sind, dann prinzipiell auch beide. Doch so etwas geschieht fast nie. Normalerweise springt die Magie nur auf eine, auf die Stärkere, über. Wer das ist, dass weiß ich vorher auch nicht. Ich treffe also keine Wahl, kann niemanden bevorzugen oder zurücksetzen. Das ist auch gut so. Die Magie selbst ist es, die wählt.“ Schweigend gingen sie weiter. Findus dachte nach. „Und was ist mit den Magiern, den Zauberern? Welche Rolle spielen sie? Können sie so stark wie eine Hexe werden?“ fragte er. „Um das zu beantworten, muss ich dir etwas über das Wesen der Magie selbst beibringen. Betrachte es getrost als erste Lektion. Es gab einmal eine graue Vorzeit, die so lange zurück liegt, dass sich heute niemand mehr so richtig daran erinnert. Zu der Zeit waren Hexen und Magier ein und das gleiche, nämlich Zauberleute. Geschlechterunabhängig. Dann kam es zu einem Zerwürfnis. Der Grund war eine Meinungsverschiedenheit über das Wesen der Magie an sich. Die eine Gruppierung glaubte, die Magie sei als Kraft in der Natur vorhanden und man könne sich ihrer beliebig bedienen, denn sie wäre unveränderlich. Egal was man tut, egal, ob man die Magie für niedere Zwecke missbraucht - die Natur wird´s schon richten. Aus dieser Glaubenrichtung wurden die Magier. Die Stärke ihrer Magie stagnierte irgendwann. Ein Magier erreicht sein Machtmaximum und eine Weiterentwicklung ist nicht mehr möglich. Ein Magier kann seine Kraft nicht an einen anderen weitergeben. Normalerweise jedenfalls nicht. Aber es gibt ganz seltene Ausnahmen.“ Die Bônday überlegte kurz und fuhr dann fort: „Die andere Auffassung war die, dass Magie eben nicht ‚immer da ist‘ und nur darauf wartet, genutzt zu werden. Die Magie durchzieht die Welt wie ein Geflecht. Alles und jeden. Sie ist nicht von gleichbleibender Stärke. Sie bildet Inseln höherer Konzentration aus. Mal an einem bestimmten Ort, mal in 87
einem Lebewesen oder in einem Gegenstand. Solche Konzentrationen gilt es zu erhalten und nach Möglichkeit weiter zu reichen. Um die Konzentration an magischer Kraft zu bewahren, ist es aber eben nicht egal, wie die Magie genutzt wird. Eine falsche Nutzung kann die Macht der Magie durchaus schwächen. Eine richtige Nutzung hingegen stärken. Aus dieser Anschauung heraus entstanden die Hexen. Während die Magier sich auf das Geschlecht der Männer beschränken, können sowohl Frauen wie auch Männer Hexen sein. Verstehst du das?“ Findus nickte und stellte die nächste Frage: „Wenn die Magie ein Geflecht ist und wenn sich das an einem Punkt konzentriert, gibt es dann nicht an anderer Stelle eine Schwächung?“ „Klug gedacht“ sagte die Bônday anerkennend. „So ist es tatsächlich. Vor Urzeiten sollen alle Lebewesen einmal in etwa gleiche magische Begabungen gehabt haben. Heute sind es bei uns Menschen nur noch die Magier und wir Hexen. Die meisten Menschen beispielsweise sind der Magie nicht mehr fähig. Sie verloren sie in dem Maße, in dem wir dazugewonnen haben. Bei anderen Völkern ist das nicht so. Du hast die Kobolde, die Irrlichter, das Wasservolk, Elfen und die Einhörner schon kennen gelernt. Dort hat sich das nicht so entwickelt. Die magische Kraft der Menschen muss in grauer Vorzeit einmal so ähnlich ausgesehen haben wie bei diesen Völkern. Mittlerweile aber sind die meisten Menschen so schwach begabt, dass sie die magischen Völker nicht einmal mehr wahrnehmen können und für Sagengestalten halten.“ Findus verstand und wollte mehr wissen: „Du sprachest von dem magischen Geflecht, welches die Welt durchzieht. Wirkt sich nicht die Anwendung von Magie auf das gesamte Geflecht aus? Wenn irgendwo starke Magie zum Einsatz kommt, kann das nicht jedes magiebegabte Wesen spüren?“ „Es ist tatsächlich so und deshalb gerade für dich mit sehr großer Gefahr verbunden. Die Zigeunerin sprach deinen wahren Namen aus und verursachte dadurch ein Beben des Geflechts. Obwohl ich mich nach Kräften bemüht habe, dieses Beben zu unterdrücken, dürfte es deinem Feind wohl kaum entgangen sein, dass ein einschneidendes magisches Ereignis stattgefunden hat.“ 88
„Wer ist denn nun eigentlich mein Feind?“ stellte Findus eine rein rethorische Frage, doch er brauchte die Bestätigung. „Weißt du das denn immer noch nicht?“ kam die Gegenfrage der Bônday. Findus antwortete: „Baldur, der Herrscher“ und die Bônday nickte bestätigend. „Aber warum?“ „Es muss mit deiner Vergangenheit zusammen hängen“ antwortete die Bônday ausweichend. Findus blieb stehen und blickte der Bônday fest in ihre bernsteinfarbenen Katzenaugen. Er sagte nichts. Nur sein Blick war flehentlich-zwingend. Die Bônday seufzte: „Beim letzten Mal lief das so ähnlich ab und da hättest du es fast nicht überlebt. Daher heute nur soviel: Du bist von einer Kräuterhexe aufgezogen worden, bis du etwa zehn Sommer alt warst. Sie war aber nicht deine Mutter. Dann brachte die Hagia dich zu mir und vertraute mir die Geschichte deiner Herkunft an. Jedenfalls soweit sie selbst sie kannte. Viel war das aber nicht; uns ist nur bekannt, dass du von hoher Herkunft sein musst. Ich - nein, wir drei zogen dich weiter auf. Du wurdest zum Problem, denn unser Grundsatz lautet ‚tu was du willst aber schade keinem anderen‘. Allein schon deine bloße Existenz zwang uns aber zum Handeln. Zu einem Handeln, bei dem wir unsere Neutralität aufgeben mussten.“ Sie schwieg. Eine Blaumeise flatterte auf und landete auf Findus´ Kopf. Die Bônday sah das und lachte melodiös-glockenhell. „Das ist auch wieder so ein typischer Fall, du lebendes Problem. Du verfügst über eine gewaltige magische Kraft, weißt sie aber nicht anzuwenden. Die Tiere spüren deine Magie; du ziehst sie an. Du wirst lernen, damit umzugehen. Spürst du die Erdströme hier auf der Insel?“ Er nickte. „Diese Insel ist das Herz von Norgast. Hier läuft alle Kraft zusammen. Hier wirst du lernen. Anfangs zumindest. Wir werden dir helfen, vor allem Dayla. Und das beantwortet auch deine Frage, wer mächtiger ist. Es gibt bei Magiern wie auch bei Hexen machtvolle und machtlose. Es gab einmal einen Magier, der befähigt gewesen wäre, Zauberer und Hagias wieder zusammen zu führen: Malweýn. Baldur hat ihn mit heimtückischen Mitteln ausgeschaltet. Das magische Geflecht bebte damals sehr stark. Aber doch nicht stark genug, um vom Tode eines so Mächtigen zu künden. Wer weiß, was damals mit Malweýn geschehen ist...“ Nachdenklich sah die 89
Bônday auf die Tiedsiepe hinaus. „Irgendwo da draußen lebt er noch in irgendeiner Form.“ Dann schaute sie Findus an: „Lass´ uns zurück gehen. Du hast für heute genug erfahren. Denke erst mal über das alles nach. Und zwar gründlich.“
Nachmittags und unterhalb der Hütten. Sie saßen am Strand: Dayla, Findus und Lyonora. Findus´ Blick schweifte über die weite Wasserfläche. Er dachte nach, wandte sich an Dayla: „Was habt Ihr eigentlich mit mir vor?“ Ein breites Grinsen erschien auf Dayla´s Gesicht und an ihrer Stelle antwortete Lyonora: „Dich in Magie auszubilden natürlich.“ „Aber“ kam Widerspruch von Findus „wenn die Anwendung von Magie das magische Geflecht der Welt zum Schwingen bringt, dann wird das doch Baldur auf mich aufmerksam machen.“ „Nicht, wenn es hier geschieht“ meinte Dayla und fügte hinzu „Du vergisst die Erdströme. Sie sind hier so stark, dass alles andere überdeckt wird. Aufgrund ihrer Stärke sind sie hier aber auch kaum beherrschbar.“ „Was sind eigentlich die Erdströme und wo kommen die her?“ Lyonora: „Die Erdströme sind die Kraftlinien, die in ihrer Gesamtheit das magische Geflecht ausmachen. Es gibt ‚seltsame Orte‘ in Norgast - und natürlich auch auf der ganzen Welt. An diesen Orten sind die Kräfte besonders stark. Man nennt diese Orte daher auch ‚Kraftplätze‘. Sie ermöglichen Astralreisenden den Übergang von einer zur anderen Welt. Wenn du Dir mal eine Landkarte nimmst und alle Orte einzeichnest, an denen Dich so ein unwirklichseltsam-fremdes Gefühl überkommt, dann ergeben sich Muster. Der Mittelpunkt aller dieser Muster liegt hier auf dieser Insel. Hier im Herzen Norgasts.“ Lyonora schwieg wieder. Findus: „Und wie funktioniert Magie nun?“ Dayla schüttelte den Kopf und entgegnete leicht tadelnd „Nicht ‚wie funktioniert Magie‘. Diese Frage kann dir wahrscheinlich niemand beantworten. Höchstens ‚wie kann ich Magie anwenden‘ - das ist dann schon wirklich einfacher.“ „Na gut, also wie kann ich Magie anwenden?“ Lyonora: „Du musst
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lernen, loszulassen. Lernen, auf deine innersten Gefühle zu hören. Sie sind der Schlüssel zu allem.“ Dayla: „Was nimmst du wahr, wenn du einen Vogel singen hörst?“ Findus überlegte einen Moment lang und sagte dann etwas unsicher: „Das ist schwer zu beschreiben. Dafür gibt´s nicht die richtigen Worte.“ Ein vager Erinnerungsfetzen in seinem Kopf: Synästhesie. Erinnerung aus einer Anderswelt. Geistesabwesend fuhr er fort: „Da sind Farben. Formen. Strukturen und Muster. Sie bewegen sich. Je nach Ton mal langsam, mal schnell. Und je nach Lautstärke mal groß und mal klein.“ „Sind das nur farbige Formen oder verspürst du dabei auch Gefühle? Gefühle, die vielleicht nicht aus dir selbst kommen?“ wollte Dayla wissen. „Gefühle“ dachte Findus. Wieder ein Erinnerungsfetzen: metaphorische Synästhesie. „Ääh... ich weiß nicht... darüber habe ich noch nie nachgedacht...“ Findus war jetzt sehr verunsichert. Dayla empfahl ihm: „Mach´ deinen Kopf frei. Vergiss´ alle Ängste, Sorgen, Erwartungen und Wünsche. Lasse deinen Geist treiben. Hör´ in dich hinein. Lass´ einfach alles Weltliche los. Dann konzentriere dich auf deine Wahrnehmungen.“ Findus versuchte es. Die Welt versank um ihn her. Er sah das Wasser der Tiedsiepe und sah es gleichzeitig auch nicht mehr. Er hörte Geräusche und hörte sie trotzdem nicht. Doch die Geräusche malten farbige Muster vor seinem inneren Auge. Jedes Geräusch ein ganz individuelles, anderes, typisches Muster. Eine Schwalbe schimpfte. Laut. Große goldgelbe, ineinander flegende Ellipsen mit metallisch-blauen Rändern und grünlicher Oberflächentextur. Die Gebilde riefen ein Gefühl in Findus hervor. Das Gefühl von Ärger und Protest. Es war ein Gefühl, welches nicht aus ihm selbst kam. Nestförmige Ellipsen. Ärger wegen eines Nestes. Protestierendes Schimpfen. Findus atmete tief durch, sagte: „Die Schwalbe eben. Sie schimpfte, weil sie das aufgelassene Nest eines Spatzen haben wollte. Aber der Spatz kam zurück. Sie muss sich ein neues Nest suchen oder selbst eins bauen. Kann das sein oder bilde ich mir das nur ein?“ Lyonora sah ihn aus großen Augen an. Dann stand sie auf, meinte aufgeregt „Ich sage es der Bônday“ und eilte aufgewühlt fort. Dayla und Findus blieben allein zurück. 91
Dayla betrachtete Findus sehr nachdenklich. Sie meinte: „Du bist wirklich sehr begabt. Was du sagst, ist völlig richtig. Andere brauchen Tage oder viele Monde, um das so zu erfahren und auch noch richtig zu interpretieren. Dir dagegen gelingt es auf Anhieb.“ Beide sahen sich an, schwiegen. Machten sich ihre eigenen Gedanken. „Ist das die Sprache der Tiere, die ich verstehe?“ wollte Findus wissen. Dayla: „Nicht gerade eine richtige Sprache, aber doch, so ungefähr stimmt es schon.“ Schritte näherten sich. Lyonora kam mit der Bônday zurück. Die Bônday sah Dayla an. Dayla nickte. Nonverbale Kommunikation. Wissen ohne die Notwendigkeit, Worte wechseln zu müssen. Gedanklicher Gleichklang. An Findus gewandt sprach die Bônday: „Lyonora hat mir mitgeteilt, was für unglaubliche Fortschritte du binnen kürzester Zeit machst. Und Dayla hat es mir bestätigt. Übe jetzt allein, drei Tage lang. Dann habe ich eine neue Aufgabe für dich - du sollst versuchen, deine Gefühle auf die Tiere zu übertragen.“ Erschrocken blickte Lyonora die Bônday an und Dayla sog scharf die Luft ein. Das bedeutete, die Tiere zu beeinflussen, vielleicht sogar zu beherrschen. Eine sehr seltene Gabe, die nur den allerwenigsten Menschen vorbehalten war. Und wenn, dann erst nach vielen Sommern des intensiven Trainings. Und Findus sollte das jetzt schon machen? Einfach so? Drei Tage lang versuchte Findus, über seine synästhetische Erfahrung die Inhalte des Wahrgenommenen zu erkennen. Es funktionierte immer besser, am Ende sogar schon rein instinktiv und ohne darüber nachdenken zu müssen. Zunächst beschränkte er sich auf Vögel. Bald aber stellte er fest, dass es auf der Insel auch ein paar Katzen gab. Da war es schon schwieriger - vor allem auch deshalb, weil Katzen doch sehr eigenwillige Raubtiere sind. Sie suchten nur die Nähe der Menschen, weil sie ihren eigenen Vorteil darin sahen. Ansonsten akzeptierten sie außer sich selbst niemanden. Sie waren völlig eigenständig. Sie hatten Charakter. Findus erkannte und respektierte das. Auch ihre Wahrnehmung war gänzlich anders. Mehr Geräusche, mehr Gerüche, mehr Berührung. Bessere Augen als beim Menschen. Die Katzen verfügten über ein irgendwie ‚schärferes‘ Weltbild.
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Ganz langsam, geradezu unmerklich, versuchte Findus am dritten Tag, seine eigenen Gefühle auf eine der Katzen zu projizieren - indem er seine eigene synästhetische Wahrnehmung zu manipulieren trachtete. Es gelang ihm zum Teil. Die Katzen waren nämlich wildlebend. Diejenige, die er sich ausgesucht hatte, befand sich auf einer Mäusejagd. Sie unterbrach ihre Jagd. Sehr ungewöhnlich. Setzte sich und drehte den Kopf zu Findus. Blickte zu ihm hinüber. Dann erhob sie sich und glitt geschmeidig auf ihn zu. In einer Entfernung von etwa zwei Mannslängen setzte sie sich wieder. Blickte Findus nochmal an, miaute. Danach sprang sie auf und jagte in großen Sätzen und quer durch eine herrlich bunte Blumenwiese hinter der Maus her - gerade so, als ob sie vergessen hätte, etwas sehr Wichtiges dringend zu erledigen. Ohne dass Findus es bemerkte, war er beobachtet worden. Aus einiger Entfernung hatte die Bônday zugeschaut. Nun trat sie auf ihn zu. „Es ist wirklich erstaunlich, was für unglaubliche Fähigkeiten du an den Tag legst. Nicht nur, dass du es gelernt hast, binnen allerkürzester Zeit die Gedankensprache der Tiere zu erkennen. Du schaffst es bereits, Tiere in deinem Sinne zu beeinflussen. Das können nur die Wenigsten. Und du übst ausgerechnet mit einem Tier, dass als unbeeinflussbar gilt: Mit einer Katze. Respekt. Aus dir könnte glatt eine Bônday werden.“ Die Bônday schmunzelte. Dann fuhr sie fort: „Übe das weiter. Beides. Das Verstehen und das Beeinflussen. Denn was dir dabei noch fehlt, dass ist Erfahrung. Und die musst du dir selbst aneignen. Erfahrung kann dich niemand lehren. Aber lehren können wir dich noch etwas anderes. Das wird Dayla tun. Ab Morgen. Einige magische Techniken. Wenn jemand über magische Kraft verfügt - so wie du - dann bedarf es nur der geeigneten Techniken, um diese Macht auch einzusetzen. Die Techniken funktionieren wie ein Hebel, mit dem du etwas in Gang setzen kannst. Ohne die magische Kraft des Ausführenden sind sie wirkungslos. Mit magischer Kraft sind sie wie ein Focus. Mit magischer Kraft und genügend Erfahrung bedarf es dann sogar irgendwann dieses Focus´ auch nicht mehr. Dann machst du das einfach so.“ Sie schnippte mit den Fingern und ein Regenbogen blitzte am Himmel auf. 93
„Was sind das für Techniken?“ wollte Findus neugierig wissen. „Oh, zum Anfang einfache Grundtechniken: Sigillenmagie, Knotenmagie. Danach dann fortgeschrittenere Verfahren. Spiegelmagie und Runenkunde beispielsweise. Schließlich das Wichtigste von allem, die Elementarmagie. Auch wirst du in diesem Zusammenhang die alte Sprache der Magie erlernen müssen, denn anders kannst du keine wirksamen Zaubersprüche formulieren. Viel Spaß dabei!“ Sie wollte sich umdrehen und gehen, doch Findus´ Wissensdurst war noch nicht gestillt: „Wird er mich dabei nicht entdecken können?“ Schon im Weggehen begriffen drehte die Bônday ihm noch einmal den Kopf zu. Mit einer Stimme, die er wahrnahm wie golden-reifes Korn, welches kurz vor der Ernte nass geworden ist und von unwirklichen Nebelschwaden durchzogen wird, sagte sie: „Nein, denn Lyonora und ich schirmen deine Übungen ab. Du bist hier in Sicherheit.“ Damit ließ sie ihn stehen. „Das verspricht interessant zu werden“ dachte Findus bei sich.
Was er nicht wusste und absolut nicht ahnte war die Tatsache, dass es so unendlich Vieles zu lernen gab. Anfangs nur die Sigillenmagie: Findus lernte es, einen Wunsch auf eine Kernaussage von nur zwei oder drei Worten einzuschränken und diese wenigen Worte in Runenform darzustellen. Unter Daylas Anleitung schrieb er die Runen auf den Sandstrand und strich alle doppelt vorkommenden Zeichen aus. Dann nahm er ein Pergament und malte aus den verbliebenen Zeichen ein mantrisches Bild, womit er seinen Wunsch der Sigille einprägte. Im Anschluss machte Findus seine Gedanken frei - so frei, wie er es getan hatte, als er begann, die Stimmen der Tiere zu verstehen. Das diente dazu, seinen ursprünglichen Wunsch gänzlich aus dem Gedächtnis zu verbannen. Wenn er aus seinem schamanischen Geisteszustand wieder zurück kehrte und sich beim Betrachten des Bildes an seinen Wunsch erinnerte, dann war etwas schiefgelaufen. Wenn der Wunsch weg, aus seinem Gedächtnis gestrichen war, dann war auch alles in Ordnung. Im letzteren Fall wurde das Pergament dann verbrannt... Es
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dauerte recht lange, bis Findus den richtigen Bogen raus hatte. Das mit Abstand Wichtigste dabei war das Erreichen des richtigen Geisteszustandes. Danach allerdings hätte er die Sigillenmagie in jeder Situation anwenden können - und notfalls auch ohne den Focus des Pergaments zu benötigen. Übung macht den Meister. An einem schönen Tag saß Findus am Strand. Er blickte auf die trockene Tiedsiepe hinaus. Irgendwann begann der Boden, sich zu verfärben. Erst nur fleckweise und schleichend langsam. Es war später Nachmittag und der Mond stand bereits weiß und blass am Himmel; parallel dazu versank die Sonne hinter den beiden Helgebarg-Gipfeln. Je höher der Mond stieg, desto mehr Wasser gab auch der Boden der Tiedsiepe frei. Es musste da einen Zusammenhang geben. Findus fragte die Bônday danach. „Es ist wohl so“ antwortete ihm die weise Frau. „Der Mond übt eine seltsame Anziehungskraft aus. Jetzt liegt es aber an dir selbst zu erkennen, warum die sich hier so äußert.“ Wissend lächelnd überließ die Bônday ihn seinen Grübeleien. Findus dachte: „Wenn der Mond eine Anziehungskraft ausübt und ich die nicht spüren kann, dann muss die sehr schwach sein. Wieso aber kann dann eine so gewaltige Wassermenge scheinbar durch nichts bewegt werden...?“ Plötzlich hatte er es. Er sprang auf und rannte zur Bônday. „Die Gegenkraft fehlt“ keuchte Findus, noch atemlos von seinem Lauf. „Winzige Kräfte summieren sich auf und können nur deshalb wirksam werden, weil keine Gegenkraft da ist. Deswegen steigt das Wasser.“ „Du hast Recht“ entgegnete die Bônday und fügte hinzu „und was glaubst du, welchen Einfluß das auf die Magie hat?“ So lernte Findus, wie wichtig es bei den magischen Techniken war, die astronomischen Konstellationen zu berücksichtigen. Warum ein und der gleiche Zauber einmal alle Erwartungen übertraf und ein andernmal nur wenig Wirkung zeigte. Die aufsummierten winzigen Kräfte konnten mit der Magie oder aber dagegen arbeiten, denn auch die Magie selbst bestand aus winzigen aufsummierten Kräften, zu denen es keinen Gegenpart gab. Es lag an den Himmelskörpern, die es zu berücksichtigen galt.
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In besonderem Maße galt das für die Knotenmagie. Den Focus bildete dabei einfach nur eine hinreichend dicke Schnur, in die unter dem Rezitieren eines Zauberspruches ein Knoten gebunden wurde. Anschließend war die Schnur zu vergraben. Eigentlich ganz einfach... ...eigentlich, wären da nicht die Zaubersprüche gewesen. Um die erfolgreich einsetzen zu können, musste Findus die Bedeutung des Futhorks erlernen, sich die Kenntnis der Runen aneignen. Das ging einher mit dem Erlernen der alten magischen Sprache. Fehu oder Far: Der spirituelle Reichtum. In seiner Umkehrung jedoch die geistige Unausgewogenheit, eine Form der Schwäche. Ur oder Uruz: Die Stärke, aber die Schwäche in der Umkehrung. Thurisaz: Die spirituelle Autorität. Othila oder Os: Konzentration und Freiheit. Verlust in der negierten Form. Raido oder Rit: Diese Rune symbolisierte den ewigen Kreislauf des Lebens. Stagnation, Stillstand und Verhärtung, wenn man sich dagegen sträubte. Kenaz oder Kaun: Die Erleuchtung - Wissen und Macht, gepaart mit Verantwortung. Hagalaz oder Haegl: Die Herausforderung. Nauthiz, Noth, Nyd: Das Bedürfnis und die Notwendigkeit, die eigene dunkle Seite zu erkennen. Es waren so viele Runen, so viele Dialekte. Findus schwindelte der Kopf davon. Doch verbissen kämpfte er sich weiter durch seine Lektionen. Isa oder Is: Der Stillstand. Allerdings positiver Stillstand im Sinne von Geduld - etwas, was Findus immer schwerer fiel. Gegenteilig gesehen konnte der Stillstand aber auch Rückschritt bedeuten. Eine Rune mit durchaus negativen Aspekten. Ar, Ansuz oder Ansur: Das Verstehen einer Botschaft. Umgekehrt Unwissen und Voreingenommenheit. Sigel oder Sowelo: Glück, Wahrheit und die Dunkelheit vertreibendes Licht. Die Umkehrung brachte Lug, Trug und Dunkelheit. Tyr oder Teiwaz: Initiation durch neue Einsicht. Schwäche durch Starrköpfigkeit in ihrer negativen Form. Bar, Berkana, Beorc: Neubeginn und neue Abenteuer. Laf oder Laguz oder Lagu: Leben in Harmonie mit der Schöpfung. Gegenteilig Inaktivität und Stagnation. Man oder Mannaz: Akzeptanz des eigenen Schicksals. Gewandelt Pessimismus, Kraftlosigkeit und Entscheidungsschwäche. Yr, Algiz oder Eolx: Innerer Schutz durch Selbstvertrauen. Umgedreht zerstörerische Hast und der Drang, den falschen Ratgebern 96
zu folgen. Ehu - Ehwaz - Eh: Fortschritt durch Loyalität. Negiert Ausnutzung durch Parasiten. Die Anzahl der Runen schien kein Ende nehmen zu wollen. Meist waren sie auch noch durchaus zweideutig, besaßen eine offenkundige und eine verborgene Bedeutung. Zusätzlich noch symbolisierten bestimmte Edelsteine, Pflanzen und Bäume eine Rune. Findus stöhnte. Beispielsweise könnte er mit dem Spruch „Zuru-Uhef-Tir“ - der Umkehrung von Uruz-Fehu-Rit - einen Feind verwirren und zurückweisen. Doch wäre der Spruch mächtiger als jedes Schwert, wenn er dabei mit einem Eichenknüppel drohend unter einer Birke stehen könnte und einen Moosachat in der Tasche hätte. Denn die Eiche stand für Rit, die Birke für Uruz und der Moosachat für Fehu. Wenn dann noch eine günstige Sternkonstellation hinzu käme... Jetzt erst verstand Findus auch den Sinn der Armbänder von Dayla und Lyonora. Das war mehr als nur Schmuck - das waren sehr machtvolle magische Gegenstände! Nachdem ihm das zu Bewusstsein gekommen war, machte er mit neuem Eifer weiter. Gibor, Gebo, Gyfu: Ein spirituelles Geschenk, welches auf einer Art von Tausch beruhte. Fand nur ein Geben und Nehmen ohne Gegenleistung statt, dann stand der Beschenkte in der Schuld des Gebers. Dagaz oder Daeg: Das Gute im Leben - Glück durch Wahrheit und Erfolg durch die Macht des Lichts. Eoh oder Eihwaz: Wandlung und Transformation durch Reifung. Jetzt verstand Findus auch, wie Lyonora das magische Boot für Bewok erschaffen hatte. Der Lichtstrahl war in einen Mondstein, welcher für die Rune Beorc stand, gelangt. Das entsprach einem Neubeginn. Der Mondstein hatte den Strahl in einen Topas, der Eihwaz symbolisierte, reflektiert: Transformation. Damit war aus dem gewandelten Licht etwas Neues entstanden, nämlich Bewok´s Boot. So langsam verstand Findus die Grundlagen der Zauberei. Ingwaz, Ing, Inguz: Das vorantreibende innere Feuer der Inspiration; der persönliche Weg, den man einfach gehen muss! Sein Weg? Gewandelt die reine Führbarkeit - das schiere Mitläufertum ohne Kreativität, ohne Eigeninitiative. Jera und Jara: Die Ernte, der Lohn harter Arbeit. Aber auch die Stärkung von Wissen und Weisheit für die noch 97
kommenden Herausforderungen. Perth, Peord, Pertho: Die zur Entscheidung führende freie Wahl. Das Sich-in-dasSchicksal-Ergeben, die Fremdbestimmung, in umgekehrter Form. Wunjo oder Wynn: Glück durch Ausgewogenheit und Harmonie im Leben. Negiert die Blindheit für das eigene Glück, die ständige Gier nach mehr, nach Neuem. „Harmonie im Leben“ dachte Findus „das ist auch Harmonie mit der Natur. Das Verstehen der Natur und ihrer Kräfte.“ Irgendwie machte es ‚Klick‘ in seinem Kopf, als er das verstand. Er begriff den wohl wichtigsten Grundsatz: „Magie und Natur sind untrennbar miteinander verbunden. Magie ist Natur und Natur ist Magie.“ Dennoch wurde es ein sehr mühsames Lernen, bis er alle Runen in allen magischen Dialekten, ihre pflanzlichen Entsprechungen, ihre Baumentsprechungen und die sie repräsentierenden Steine im Schlaf kannte. Es dauerte sehr, sehr lange. Doch danach beherrschte er die Sprache der Magie und konnte erstmals Magie ganz gezielt anwenden. Dennoch blieb sein ‚echter‘ Name ihm zunächst noch ein Rätsel - Findus Far-Ur-Rit: Alles ist im Fließen bis du Dich selbst erkennst und Deinem Schicksal vertraust. Aber was war sein Schicksal? Und wer war er wirklich? Findus traf die Bônday in Begleitung ihrer beiden Novizinnen an. Er fragte die Bônday. Sie betrachtete ihn lange und nachdenklich. „Du bist jetzt schon vier volle Monde hier und du hast viel gelernt. Sehr viel. Genug, um dich selbst als Lohnmagier durchschlagen zu können. Wenn du deine Kräfte vorsichtig genug einsetzt, dann wird Baldur das gar nicht einmal bemerken. Doch du musst auch noch mehr lernen. Hier auf der Insel geht das nicht. Die überaus starken Erdströme machen das unmöglich. Deswegen reise ab. Übermorgen, auch wenn der Sommer schon beinahe zu Ende ist. Dayla wird dich begleiten. Ihr reist als Paar; du als einfacher Lohnmagier und sie als dein kräuterkundiges Eheweib. Das ist Tarnung genug. Und ihr seid zu zweit. Baldur sucht nur nach einem. Niemand wird euch verdächtigen. Deine Reise wird die Ausbildung vervollständigen, besonders hinsichtlich der Magie der Elementare.“
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Die Bônday sah ihm direkt in die Augen und ihr Blick vermittelte Kraft. „Dayla kann dir das beibringen. Doch sei vorsichtig mit dem magischen Geflecht. Du bist dann nicht mehr abgeschirmt. Deine Kräfte sind groß; setze sie daher nur sehr sparsam ein.“ Das war nun wirklich nicht die Antwort, die Findus eigentlich erwartet hatte und so begehrte er auf: „Aber - was ist mein Schicksal? Und was ist mit meiner Vergangenheit?“ „Beides hängt sehr eng miteinander zusammen. Ein Rätsel, welches du selbst lösen musst. Ich werde dir bei der Lösung helfen, wenn du drei Prüfungen bestehst.“ „Welche drei Prüfungen?“ fragte Findus. Die Bônday, Oberste aller Hexen in Norgast, sagte nur drei Sätze: „Bring´ mir den weißen Raben.“ „Bring´ mir den Geist des Waldes.“ „Bring´ mir den Stein des Lebens.“ Dann wandte sie sich ab. Hilflos sah Findus zu Dayla und Lyonora hinüber, die ihn ausdruckslos betrachteten. Nur um Daylas Mundwinkel spielte ein feines, wissendes Lächeln...
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Kapitel 6: Der weiße Rabe Findus
hatte kapiert, dass erneut eine Reise bevorstand. Doch zuvor fehlten noch einige Vorbereitungen, welche insbesondere seitens Dayla zu treffen waren. So ging sie mit sehr aufmerksamen Augen über die Insel und sammelte hier ein Stück Holz, da einen Stein. Birke für Uruz, Eiche für Thorn, einen Mondstein für Beorc, eine Perle für Laguz, einen Bernstein für Ingwaz und so weiter - bis sie die Grundstoffe für alle vierundzwanzig Buchstaben des Futhorks beisammen hatte. In der ersten Stunde des nächsten Tages fertigte sie aus diesen Materialien Runen für die Reise an - machtvolle, magische Verbündete. Der Zeitpunkt der Herstellung war von ihr ganz bewusst gewählt worden, denn er lud die Runen mit magischer Energie auf. Sie streute etwas Meersalz an das Ufer der Tiedsiepe, sprach ein kurzes Gebet an die Erdgöttin Erce, schloss auch die Idisi mit ein, bestreute die Runen ebenfalls und tauchte jede kurz ins Wasser, um sie spirituell zu reinigen. Es schloss sich eine Räucherung an. Dayla ging sehr sorgfältig vor. Sie füllte eine flache, irdene Schale mit Sand und legte ein Stück glühender Holzkohle darauf. Letzteres bestreute sie mit etwas Harz vom Wicbaum und hielt die Runen dann zum Trocknen und zwecks Räucherung in den aufsteigenden Rauch. Danach führte sie jede der Runen kurz durch eine Kerzenflamme, um ihnen die Energie des Feuers zu schenken. Schließlich breitete sie ihr Werk noch für längere Zeit auf nackter Erde in der Mittagssonne aus, was für eine einzigartige, weitere Aufladung sorgte. Die Runen waren damit den vier Elementaren Wasser, Erde, Luft und Feuer geweiht worden. In der Zwischenzeit war Findus mit Lyonora unterwegs, um Kräuter zu sammeln. Magische Kräuter wie Schwarzdorn, Klee, Brennessel oder Beifuß ebenso wie möglicherweise benötigte Heilkräuter: das Licht der Erde als Anregungsmittel, Alfblut zum Finden der inneren Ruhe, Plan als Schmerzmittel und vieles mehr. Selbst Propolis als Universalheilmittel aus einem Stock von Wildbienen nahmen sie mit – ein nicht ganz 100
ungefährliches Unterfangen, doch sie beruhigten die Tiere auf magische Weise. Ergänzt wurden die Kräuter um zwei kräftige Wanderstöcke aus Eibenholz, dem Symbol für Kraft und Sicherheit. Findus lernte dabei viel über die Kräutermagie. Sie brachten die frischen Kräuter zur Bônday, welche die Substanzen gegen getrocknetes und daher haltbares Material austauschte. Alle Utensilien - Kräuter wie auch die Runen - wanderten in zwei lederne Hirschfellranzen, welche bequem auf dem Rücken getragen werden konnten. Zuletzt wurde noch zweckmäßige Reisebekleidung benötigt. Dayla entschied sich für ein Bilou-ähnliches, seitlich geschnürtes und nicht ganz knöchellanges Kleid, welches ihr genügend Bewegungsfreiheit beim Laufen gestattete. Die Farbe dieses Kleides war ein Fahlblau. Es entsprach damit der Bedeutung der Rune Dagaz und sollte der Trägerin Schutz, Erfolg und Weiterentwicklung durch die Macht des Lichts bescheren. Ein wildledernes Wams für den Oberkörper und ein Umhang mit Kapuze - gegen die Unbilden des Wetters rundeten Daylas Kleidung ab. Findus hingegen trug eine knöchellange Hose aus derben Leinenstoff, dazu einen Gambeson und ebenfalls den Umhang. Seine Farben waren das Schwarz der Rune Pertho und das fahle Gelb der Rune Wunjo. Sie symbolisierten die freie Entscheidung über das eigene Schicksal sowie Glück und Harmonie durch Ausgewogenheit. Neben der magischen Symbolik hatte die Kleidung der Beiden aber auch noch einen ganz profanen Nebeneffekt. Die Farben tarnten nämlich im Wald! Festes Schuhwerk ergänzte ihrer beider Wanderausrüstung. Daylas Waffen waren ihre Runen. Findus hatte noch nicht genug Vertrauen in die Magie. Er nahm zusätzlich das Kurzschwert mit - sein Geschenk von Bewok. Am nächsten Tag, als das Wasser der Tiedsiepe gerade weit genug zum Laufen gesunken war, brachen Dayla und Findus zur ‚Insel der Gestrandeten‘ auf.
Sie gingen schon eine ganze Weile. Dayla schritt zügig aus und Findus stapfte in Gedanken brütend hinter ihr her. Er überdachte sein Verhältnis zu Dayla. Einerseits liebte er sie
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von ganzem Herzen, sehnte sich mit jeder Faser seines Körpers nach ihr. Andererseits aber sprach sie immer so weise, so abgeklärt und das missfiel ihm. Es vermittelte ihm das Gefühl, ein kleiner, unwissender Junge zu sein. Das Gefühl, gegängelt zu werden. Doch er würde es wohl akzeptieren müssen, denn schließlich hatte ja jeder Mensch seine Eigenheiten. Vielleicht änderte sich das irgendwann, vielleicht würde die Weisheit auch ihn einmal besuchen. Das brachte Findus auf eine Frage. Mit raschem Schritt war er neben Dayla. „Sag´“, begann er noch immer etwas missmutig „wo soll ich einen weißen Raben finden?“ Dayla sah ihn an und schüttelte ungläubig den Kopf - hatte er es denn immer noch nicht begriffen? „Wie klingt das Klatschen mit einer Hand?“ lautete ihre Gegenfrage. Findus sah seine Geliebte nur verständnislos an. „Schau´ mal“ fuhr Dayla fort „kann es sein, dass du die falsche Frage gestellt hast? Nicht ‚wo‘ sondern ‚wie‘? Manchmal ist nämlich der Weg an sich wichtiger als das Ziel. Manchmal kannst du nur dann eine Erkenntnis haben, wenn du aufhörst, über das Problem nachzudenken. Deswegen benutzen wir auch kein magisches Boot oder sowas. Du kannst ein Land und seine Bewohner nur dann wirklich begreifen, wenn du es von unten her kennenlernst, wenn du es selbst erfährst. Nur dann wirst du auch dich selbst, wirst du Antworten auf deine Fragen finden. Alles andere ist realitätsfern. Und nur so kann es geschehen, dass der weiße Rabe dich findet...“ Sie schwieg und sie wanderten weiter. Die ‚Insel der Gestrandeten‘ kam langsam näher. „Und warum zur ‚Insel der Gestrandeten‘?“ wollte Findus wissen. Dayla antwortete: „Auf der ‚Insel der Gestrandeten‘ sind die Erdströme nicht annähernd so stark wie auf der ‚namenlosen Insel‘. Obwohl beide Inseln unmittelbar benachbart sind. Das ist eben das Wesen der Magie. Hier sehr stark, unmittelbar daneben aber nur ganz schwach. Wie der Pfad durch den Sumpf. Hier fest, doch nur einen Schritt zur Seite bereits bodenlos. Andererseits ist die ‚Insel der Gestrandeten‘ eben noch der Bônday nahe genug, um uns Schutz zu gewähren, falls etwas Unvorhergesehenes geschehen sollte. Ich werde dich auf der Insel mit der Magie als der allumfassenden, wertfreien Urkraft der Welt vertraut 102
machen. Diese Urkraft ist chaotisch und das magische Geflecht bildet sich durch Selbstorganisation aus eben dem Chaos heraus. Aufgrund der Selbstorganisation kann eine verschwindend kleine Ursache zu gigantischen Wirkungen führen.“ „Das verstehe ich nicht. Wie meinst du das?“ „Hast du schon einmal Wäsche mit Seife gewaschen?“ fragte Dayla. „Natürlich“ entgegnete Findus. „Was hast du dabei gesehen?“ wollte die Hagia wissen. „Schaum, eine bunte Mischung vieler winziger Luftblasen“ war Findus´ Antwort. „Nicht schlecht, aber geht´s vielleicht etwas genauer? Welche Form hatten die Luftblasen?“ „Rund?“ erwiderte Findus fragend, weil er sich an die runde Form großer Seifenblasen erinnerte. „Falsch“ sagte Dayla und fügte erläuternd hinzu: „Eine einzige, große Seifenblase ist natürlich rund. Kommen aber mehrere zusammen, dann kleben sie mit den größtmöglichen Flächen aneinander. Dabei geht die runde Form verloren. Es bilden sich von allein Sechsecke, Waben. Die Seifenblasen organisieren sich selbst zu Waben. Wie in einem Bienenstock. Es ist eine Form, die einerseits der Kugel noch am nächsten kommt und die andererseits die größtmögliche Packungsdichte gewährleistet. Ohne Lücken zwischen den ursprünglichen Kugeln. Die Natur macht es uns vor. Lerne zu beobachten, wirf´ allen Ballast über Bord und dann erkennst du es. Die Magie funktioniert ganz genau so, denn es ist eine natürliche Kraft. Es ist die Kraft der Natur. Beeinflusst du - mit welcher Technik auch immer - nur eine einzige, winzige Strömung des magischen Geflechts, dann beeinflusst du automatisch auch immer das Ganze.“ Findus dachte über das Gehörte nach. Nach einiger Zeit bemerkte er: „Aber - wenn ich grundsätzlich immer alles beeinflusse, dann kann das doch sowohl positiv wie auch negativ, weiße wie schwarze Magie sein. Wie soll ich wissen, welche Auswirkungen mein Handeln hat?“ „Dieses Wissen ist Verantwortungsbereitschaft. Sie macht einen guten Magier aus. Tu was du willst, aber schade niemandem. Das ist der magische Grundsatz. Ohne Verantwortungsbereitschaft kannst du dem nicht genügen.“ Dayla schwieg kurz und fuhr dann fort „Die Richtung der Magie ist lenkbar. Die Auswirkungen eines Tuns zu steuern, verlangt allerdings sehr 103
viel Übung und Können. Verlangt Vorausschauen und Folgenabschätzung. Deswegen setzen die mächtigsten Magier und Hexen ihre Magie auch immer nur äußerst sparsam ein. Sie wissen um die damit verbundenen Gefahren.“ Findus´ Neugier war aber noch nicht befriedigt. „Hmm...“ begann er „...wie passt das mit den Machtkonzentrationen bei der Bônday oder bei Baldur zusammen? Widerspricht sich das nicht, wenn einerseits magische Kraft angehäuft wird und andererseits die Anwendung selbst kleinster Magie zu unabsehbaren Folgen führen kann?“ Dayla blieb kurz stehen und sah ihm in die Augen. „Erstaunlich...“ war ihr Kommentar und „Malweýn hatte vor vielen Jahren ähnliche Gedanken. Aber du hast Recht, ja. Das ist wirklich ein Dilemma. Doch um das aufzulösen, müsste es eine wirklich mächtigste Bônday geben und einen wirklich mächtigsten Magier. Nur beide zusammen könnten einen Teil ihrer Kraft auf das magische Geflecht zurück übertragen. Sie müssten dann aber bereit sein, sich möglicherweise freiwillig von ihrer Macht zu trennen. Die dem Geflecht zurück gegebenen Kräfte kämen allen Menschen zu Gute. Vielleicht würden die dann wieder Elfen, Trolle und Kobolde wahrnehmen können...“ Jetzt war es an Dayla, nachdenklich zu verstummen. Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Gegen Abend erreichten sie die ‚Insel der Gestrandeten‘.
Es war schon spät, als sie ihr Nachtlager aufschlugen. Sie aßen von den mitgebrachten Vorräten. Das Wetter war gut und deswegen verzichteten sie auf ein Lagerfeuer und auf den Zeltaufbau. Lediglich ein bläuliches Flirren huschte vorbei - das Geräusch von Blättern, die durch einen Windstoß raschelten. Mit den Umhängen als Unterlage nächtigten beide eng aneinander gekuschelt im weichem Moos. Irgendwie hatte sich eine Feder zwischen sie verirrt. Findus nahm lächelnd die Feder und reizte damit spielerisch Daylas vollkommenen Körper. Er verstand es, ihre innere Glut zu entfachen. Ihr wurde heiß; sie presste ihre katzenhafte Weiblichkeit an ihn. Findus´ Arme schlossen sich um sie. Sie liebten sich heiß und
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innig, wobei Dayla´s Finger Kratzspuren auf Findus´ Rücken hinterließen. Nachdem er eingeschlafen war, lag sie noch lange wach. Betrachtete sein Profil im Mondlicht. Machte sich Gedanken über ihr Verhältnis zueinander. Ungeachtet ihres jugendlichen Körpers war Dayla alt, erfahren und abgeklärt. Der Endpunkt ihrer magischen Fähigkeiten war schon vor geraumer Zeit erreicht worden. Die nächste Stufe könnte nur noch darin bestehen, selbst zu einer Bônday zu werden. Anders bei Findus. Er war für sie wie ein junger Baum. Noch zart und zerbrechlich, doch auch noch weit vom Höhepunkt seiner Macht entfernt. Sehr weit. Und seine magische Kraft war ohne dass er sich dessen bewusst sein konnte - der ihren jetzt schon fast ebenbürtig. Ein Baum, den es zu hegen und zu pflegen galt, damit er irgendwann einmal seine volle Größe erreichen und sein volles Potenzial ausspielen könnte. Aber war eine derartige Anhäufung von magischer Kraft überhaupt sinnvoll? Waren die von den Magiern und von den Bôndays eingeschlagenen Wege der Machtkonzentration richtig? Dayla zweifelte daran. Jede Konzentration von Magie schwächte das alles umfassende magische Geflecht. Das blieb nicht ohne Auswirkungen. Die magischen Völker, die im Geflecht eine regulierende Funktion innehatten, wurden immer kleiner. Die Menschen wurden immer blinder für die Wahrnehmung der Natur. Zwerge, Kobolde, Dryaden, Najaden, Zentauren, Feen, Wichtel, Elfen, Harpyen - all die wurden von ihnen schon jetzt kaum mehr erkannt. Andere magische Wesen schrumpften. Irgendwann würden sie unsichtbar klein sein und dann im Verborgenen Schaden anrichten. Findus war - ohne es zu wissen - in der Anderswelt bereits mit den entsprechenden Erfahrungen konfrontiert worden. Dort riefen die geschrumpften Wesen Krankheiten hervor. Nur die Geburt von vielen - von sehr vielen! - Menschen könnte das magische Geflecht wieder stärken. Doch diese Energie wäre ohne die regulierende Funktion ungerichtet. Die Folge: Übervölkerung und Chaos! Dayla hatte eine schwache Ahnung davon bekommen, als sie heimlich in Findus´ Gedanken nach dessen Vergangenheit suchte und seine Erlebnisse in der Anderswelt fand. Vor ein paar Tagen. Ihr 105
war eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen. Und genau hier lag das Dilemma: Einzig Findus´ voll entwickelte Fähigkeiten würden dem Herrscher und dem Irrweg der Magier Einhalt gebieten können. Das aber bedeutete Machtkonzentration, bedeutete dauerhafte Schwächung des magischen Geflechts. Ein Teufelskreis. Wer würde ihnen da heraushelfen können? Die Menschen sicherlich nicht. Überhaupt, die Menschen... In dem zeitlosen, unwirklichen Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen tauchten Bilder vor Dayla´s innerem Auge auf. Bilder aus ihrer eigenen Vergangenheit. Bilder von der eisigen Ablehnung, die ihr als Kind ob ihrer Hexenkünste und Seherfähigkeiten immer entgegen geschlagen war. Wie man sie ausgrenzte, nachdem das, was sie vorausgesehen hatte, auch eintrat. Wie man sie ausgrenzte, weil sie den anderen unheimlich erschien! Wie man von ihr erteilte, wertneutrale Auskünfte als selbstbemitleidend und als selbstbeweihräuchernd herabsetzte. Wie man sie Kassandraruferin schimpfte, wenn sie vor den Folgen von Fehlentscheidungen warnte – die dann natürlich auch eintrafen. Wofür man ihr die Schuld gab! Wie sie gezwungen wurde, wider besseres Wissen falschen Anweisungen zu folgen und Fehler zu begehen – die man dann prompt ihr selbst anlastete. Wie man sie zwingen wollte, das, was sie wahrnahm, zu ignorieren. Wie Menschen, denen die ganzheitliche Sicht der Welt abhanden gekommen war, sie aufgrund ihrer umfassenden Wahrnehmung schlichtweg für verrückt erklärten. Wie sie lernen musste, sich zurück zu halten, immer im Hintergrund zu bleiben. Nur nicht auffallen, um keinen Preis der Welt, denn sonst... Wie man sie für dumm hielt, gerade weil sie sich nur selten äußerte - obwohl ihr vieles klarer als ihren Mitmenschen war und obwohl sie sehr viel schneller begriff und vorausschauender dachte als die! Unheimlich, verrückt, dumm und obendrein auch noch von niederer Herkunft - Hexe, Hexe! Einsperren, nur weg mit der! So entstanden Vorurteile. So handelten Menschen – Menschen, die alles besser wussten. Menschen, die von anderer Stelle manipuliert wurden. Damals war der Verdacht in ihr aufgekeimt, vielleicht gar nicht dieser Rasse 106
anzugehören. Bevor es zum Äußersten kam, gelang ihr eines Nachts die Flucht. Lange war sie unterwegs, bis sie auf ein Kräuterweib stieß. Das erkannte sofort, was mit Dayla wirklich los war, was in ihr steckte. Und bildete sie zur echten Hexe aus. Schickte sie irgendwann zur ‚namenlosen Insel’ der Bônday. Seit damals wusste Dayla, was es mit dem lockeren Netzwerk der über ganz Norgast verstreuten Hexen auf sich hatte. Es war - zumindest teilweise - gerade auch ein Anlaufpunkt für die von der menschlichen Gesellschaft Ausgestoßenen. Für die aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten Ausgestoßenen. Für Querdenker. Für Kritische. Für Naturverbundene. Für zukünftige Hexen... Was die Menschen unsicher oder gar verrückt vor Angst machte, war die unbestimmte Ahnung, wie illusionär die Wirklichkeit tatsächlich war - nicht viele konnten das ertragen. Sie lehnten solche Gedankengänge ab. Und sie lehnten gerade auch die Mitmenschen ab, die solche Gedankengänge hatten. Mit diesen Überlegungen schlief sie endgültig ein. Morgen würde sie sich weiter um Findus Ausbildung bemühen. Doch es sollte anders kommen. Ganz anders.
Es war finstere Nacht - der Mond längst untergegangen - als Dayla durch einen halblaut-erstickten Schrei geweckt wurde. Findus wälzte sich neben ihr unruhig hin und her. Ein Alptraum hielt ihn gefangen! Vorsichtig, um ihm zu helfen, versuchte Dayla in seine Traumgedanken einzudringen. Was sie dort fand, erschreckte sie zutiefst. Der violettockerfarbene Geruch von verbranntem Menschenfleisch war plötzlich in ihrem Kopf. Blut, zerstückelte Körper, zerrissene Gliedmaßen, tote Kinder, Feuer und Zerstörung - Mord, namenlose Grausamkeit und Massaker, wohin sie auch sah. Es war unaussprechlich furchtbar! Findus hatte einen divinatorischen Traum. Den Alptraum einer durchaus realen Zeit, vielleicht gar nicht einmal so weit entfernt – denn Baldur´s Häscher waren gnadenlos! Wahrscheinlich sogar sehr nahe. Mit diesem Traum mischten sich quälende Bilder aus der Anderswelt. Verhungernde Kinder hier, maßloser Überfluss da. Verlogene und
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selbstherrliche Herrschende, die den Menschen etwas versprachen und das genaue Gegenteil taten, jeder nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Die jeden Kontakt zu ihrer Realität verloren hatten. Zuviele Menschen, die die Welt zerstörten. Die keine eigene Spiritualität mehr kannten. Schmutz, brennende Wälder, Abfallberge, verseuchte Gewässer. Hektik. Arbeitsbedingungen, welche die Menschen krank machten. Die Menschen gaben den gutsherrenartig Herrschenden nicht mehr den zehnten Teil ab, sondern sogar schon die Hälfte oder noch mehr. Jedenfalls die, die ohnehin schon wenig hatten. Die Wohlhabenden deutlich weniger. Menschen, die ganz offensichtlich manipuliert wurden. Einzelne, die das erkannten – und angreifbar wurden, sobald sie es wagten, etwas zu sagen. Dabei berief man sich auf Gesetze – von den Herrschenden gemacht! Eine Welt, in der die Natur keinen Wert mehr in sich selbst hatte – weil sie kein Geld war. Wo man nur einem vermeintlich sicheren, materiellen Reichtum hinterher lief. Ein Irrweg! Und die Menschen verschlossen die Augen davor, ignorierten die Tatsache, dass man Geld nicht essen kann... Dayla sah es als ihre Pflicht an, Findus aus diesem furchtbaren Traum heraus zu helfen. Sie beugte sich über ihn, versuchte seine Arme festzuhalten, ihn zu wecken. Es ging nicht; er schüttelte sie ab. Doch sie gab nicht auf, besann sich ihrer eigenen magischen Kraft und setzte die ein. Dayla zeichnete die Schutzrune Thorn über Findus in die Luft. Thorn glühte hellrot auf - flackerte dann aber nur kurz und verblasste. Sie versuchte es mit einem hellblau glimmenden Kenaz, gefolgt von Nauthiz, schwärzer noch als die Nacht und murmelte dabei beruhigende Worte. Findus wurde ruhiger. Dayla schickte noch eine silberweiß leuchtende Sowilu-Rune als Dunkelheit vertreibenden Sonnenstrahl hinterher, legte die von ihr vorbereitete Rune auf Findus´ Körper und glaubte, das Schlimmste sei überstanden, als sie ein mächtiger mentaler Schlag traf. Sie taumelte, brach neben Findus zusammen und rollte sich - am ganzen Körper zitternd - schluchzend zur Seite. Röchelte. Etwas Feuchtes. Ihre Nase blutete. Heftig. Sie ließ das Blut laufen. Dayla war zutiefst verwirrt. Ihr war 108
schwindlig. Eine Folge des geistigen Schlages. Findus war um soviel stärker als sie! Eine Vervielfachung seiner magischen Kräfte durch den Traum. Er hatte ihre Bemühungen so einfach und beiläufig abgeschüttelt, wie man eine lästige Fliege verscheucht. Dennoch - gänzlich erfolglos war sie nicht geblieben. Der Nachtmahr ließ Findus los. Er erwachte. Sah Dayla bluten und war sofort bei ihr. „Bist du verletzt? Was ist geschehen?“ Findus war vor Sorge völlig außer sich, aufgeregt, hockte - den üblen Traum schon wieder vergessend - besorgt vor ihr. Dayla schüttelte den Kopf, unfähig zum Sprechen. „Ich...“ begann sie, doch die Stimme versagte ihr. Tränen liefen über ihre Wangen. Sie war völlig durcheinander. Hätte Findus´ nur ein klein wenig mehr Kraft in seinen magischen Schlag gelegt, dann wäre sie jetzt tot. „Du...“ begann sie, schluckte und fuhr fort „...du wolltest das nicht. Es geht schon wieder. Du hattest einen Alptraum. Ein Nachtmahr war über dich gekommen. Und als ich dir zu Hilfe geeilt bin, da traf mich deine Magie. Ich war völlig unvorbereitet...“ Sie verstummte und sah ihn an. „Ich war das?“ Findus grauste es vor sich selbst. Solche Macht konnte er nicht haben, wollte er gar nicht haben! Und doch: In Dayla´s Augen erkannte er, dass sie die Wahrheit sprach. „Ich wollte das nicht“ sagte er mit erstickter Stimme. „Das weiß ich doch“ verzieh ihm Dayla und setzte hinzu: „Aber das wirft alles über den Haufen. Ich kann dich nicht in der Magie der Elementare unterweisen. Noch nicht. Dazu bist du zu unausgeglichen.“ Sie verstummte, senkte den Blick, murmelte: „Du musst zuerst ins Nebeltal, zur Nebelsenke. Morgen. Das ist gefährlich. Ich werde dich hinführen, aber nicht dort hinein begleiten können.“ Jetzt sah sie ihn aus traurigen, klaren Augen an. „Um ganz ehrlich zu sein: Es ist durchaus möglich, dass dies unsere letzte gemeinsame Nacht ist. Du könntest dort sterben. Aber nur dort - und sonst nirgends - kann dir geholfen werden. Ohne die Hilfe würde die Magie dich in einen zweiten Baldur verwandeln und deswegen kann und darf ich dich nicht unterweisen.“ „Ich vertraue dir – und ich liebe dich“ entgegnete Findus und legte seine Wange an die ihre. „Ich werde das Nebeltal überstehen. Danach sehen wir weiter.“ Er küsste sie und eng
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umschlungen legten sie sich erneut schlafen. Die restliche Nacht verlief ereignislos.
In dem Moment, in dem Dayla den magischen Schlag empfing, hob Baldur den Kopf. Wie ein Beute witternder Jagdhund. Er sah hinauf zur Kabinendecke. Wie ein kurzer, aber umso heftigerer Blitz im Geflecht der Magie hatte das ausgesehen. Das war die Spur, nach der er suchte! Ungefähr südlich von hier. Mit einem einfachen Wetterzauber beseitigte er die Flaute. Rauschender Wind füllte knatternd die Segel und die Bark der Kaufleute nahm Fahrt auf. Rasche Fahrt. Der Kapitän konnte den Kurs nach Westboog nicht halten. Zu ungestüm war der Wind. Stattdessen bewegte sich das Schiff jetzt zwischen Untiefen und Inseln hindurch auf Norstedt zu. Norstedt würde als Nothafen dienen müssen. Aber nicht für Baldur. Der hatte jetzt seine Spur! Er würde dort nur das Transportmittel wechseln. Doch es gab noch jemanden, dem die Erschütterung des Geflechts nicht entgangen war. Jemand, der unter Baldur´s Machtkonzentration jetzt schon zu leiden hatte. Jemand, der einem magischen Volk angehörte und der sich direkt unter der Bark befand - verborgen von graugrünen, salzigen Fluten. Es war der Wassermann, auch Nöck genannt. Während die Najaden das Wasser nur bewohnten, beherrschte der Nöck dieses Element an sich. Er warnte die Najaden, die daraufhin panisch seine Gegenwart flohen. Dann setzte der Nöck alles daran, Baldur aufzuhalten. Das Meer gehorchte dem Wassermann... Unglaublich schnell rauschte das Wasser, wurden die Wogen haushoch. Tiefhängende Wolken rasten auf das Schiff zu; der Wind – ohnehin schon bösartig und ohrenbetäubend – wurde zum wüsten Sturm. Zischend wie Schlangen gischten weiß-schäumende giftgrüne Grundseen hoch, wirbelten das Schiff nach Backbord. Ein furchtbarer, harter Grundstoß und „Wasser im Schiff!“ gellte ein im Tosen des Sturmes untergehender Schrei. Der Schiffsboden war eingedrückt worden und die Bark saß auf dem Sand fest. Brecher auf Brecher rissen das Schiff aus dem Sandbett und ließen es
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immer wieder hart aufschlagen, gerade so, als wollten sie den Segler zermahlen. Brechendes Holz und Eisenstücke hagelten auf das Deck, erschlugen die Mannschaft und rissen Löcher. Längst war der Mast gebrochen. Eindringendes Wasser, ruckartige Bewegungen: Das Schiff legte sich auf die Seite! Baldur fluchte unentwegt und auf ordinärste Weise. Das hier war kein normaler Sturm mehr! Da hetzte jemand das Meer gegen ihn auf! Na warte, er würde das nicht vergessen! Das hob er sich für später auf. Jetzt galt es, erst einmal das eigene Leben zu retten. Baldur war es egal, was mit der Besatzung geschah. Waren ohnehin nur Leute minderen Standes. Untere Chargen! Er wechselte seine Gestalt, wurde zur Möwe, zum Sturmvogel. Schraubte sich in dem Inferno aus Sturm, Salz, Gischt und Wellen höher und höher, bis auf den Gipfel der Sturmfront. Wich dabei Blitzen aus, was ihn sehr viel Kraft kostete. Es kostete ihn dann nochmal viel Kraft, die wild tosende Wolke unter seinen Füßen soweit zu verfestigen, dass er sich darauf niederlassen konnte. Dann würde es eben eine Wolkenreise werden! Doch so rasch, wie der Sturm begonnen hatte, ebbte er auch wieder ab. Die Wolke fiel in sich zusammen. Baldur fiel auch - aber noch immer in Möwengestalt. Missmutig schlug er mit den Schwingen. Mit dem Licht der aufgehenden Sonne erreichte er Norstedt. Seine Stimmung war auf dem Tiefpunkt und er selbst völlig erschöpft. Rückverwandlung. Mit magischer Kraft rief er seine Häscher und ließ sich einen ganzen Gasthof reservieren. Dessen protestierende Besitzer wurden kurzerhand von den Soldaten erschlagen. Doch die nur so kurz aufgeblitzte Spur war wieder weg. Jetzt hieß es erneut warten. „Ich hasse das!“ dachte Baldur übellaunig. Doch er war sich sicher, dass etwas geschehen würde. Sehr bald sogar. Und dann wollte er vorsichtshalber nicht allein stehen. Daher ließ Baldur nach Neville und seinen Männern schicken.
Am nächsten Morgen gab Dayla sich sehr wortkarg. Nacheinander wuschen sich Dayla und Findus an einer nahe gelegenen Quelle. Als Findus aufsah, erblickte er einen
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Baumgeist - eine Dryade von geradezu ätherischer Schönheit. „Hab´ keine Angst vor der Nebelsenke“ sagte sie und „trage das hier auf deiner Haut.“ Sie reichte ihm ein ledernes Band mit einem Anhänger daran: Ein in Alraunenform geschnitztes, dunkelblau eingefärbtes Stück Eibenholz, in welches ein Topas vom Aussehen der Rune Eihwaz eingelassen worden war. Das Symbol für Langlebigkeit. „Der Stein wird dich beschützen. Du kannst diese Prüfung bestehen, wenn du an dich glaubst. Denn du bist unsere Hoffnung. Unsere einzige Hoffnung...“ setzte sie noch traurig flüsternd hinzu und verschwand wie ein Nebelhauch im Wind. Findus hängte sich den Stein um, verbarg ihn unter seinem Wams. Dann begab er sich zu Dayla. „Sag´ - was hat es mit der Nebelsenke auf sich? Warum ist sie so gefährlich, dass du nicht mitkommen willst?“ Forschend betrachtete Dayla ihn. „Willst du das wirklich wissen?“ „Ja!“ „Die Nebelsenke ist ein seltsamer Ort. Vielleicht der Seltsamste überhaupt in ganz Norgast. Er ist zwar hier, aber eigentlich befindet er sich nicht in dieser Welt, sondern irgendwo anders. Das Nebeltal - und die umliegenden Berge - werden vom alten Volk bewohnt. Von den Zwergen. Die mögen uns Menschen nicht gerade, weil sie in der Vergangenheit ausgesprochen schlechte Erfahrungen mit uns gemacht haben.“ Dayla hielt inne, überlegte, suchte nach den passenden Worten. „Die Zwerge verfügen über eine sehr starke Magie, die sich nicht aus unserem magischen Geflecht nährt, sondern aus den viel älteren Urkräften der Welt selbst. Aus der Urkraft der Erde, die geordnet und fokussiert dem Leben die Grundlage liefert. Aus der Urkraft des Meeres, die unfokussiert und chaotisch Leben gebärt. Es waren die Zwerge selbst, die die Nebelsenke erschaffen haben - damit sie dort in Ruhe gelassen werden. Normale Sterbliche können die Nebelsenke nicht einmal wahrnehmen. Sie durchwandern lediglich einen Wald wie jeden anderen. Nur magisch begabte Personen erkennen sie als das, was sie wirklich ist. Und die Zwerge mögen keine Besucher. Wer dorthin geht, der tut es nur einmal in seinem Leben. Und ich war schon einmal dort...“ Sie schwieg und blickte Findus vielsagend an.
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Verstehend nickte er. Was immer dort auch auf ihn wartete - mehr oder umfangreichere Auskünfte erhielte er von Dayla wohl nicht. Wahrscheinlich konnte sie selbst nicht einmal abschätzen, was ihm bevorstand. Die Nebelsenke schien individuell unterschiedlich zu wirken. Wortlos wies Dayla den Weg. Sie gingen los, in Richtung auf das Zentrum der ‚Insel der Gestrandeten‘ zu. Es gab keinen Pfad, ging nur bergauf und sie mussten sich ihren Weg selbst suchen - weshalb ihre Wanderung auch recht beschwerlich wurde. Morgens gingen sie los und erst im Verlauf des fortgeschrittenen Vormittags erreichten sie eine Anhöhe, von welcher aus sich ein Tal unter ihnen ausbreitete. Zuerst sah es nur wie ein ganz gewöhnliches, walddurchwachsenes Tal aus. Doch bei genauerem Hinsehen schien die Luft darüber seltsam zu flirren und geradezu unmerklich wandelte sich das Bild. Was blieb, waren bläulichsilbrige Nebel, aus denen dunkle Tannenspitzen ragten: geisterhaft, verzaubert, spukhaft und unwirklich. Irgendwie strahlte der Ort eine feierliche Stimmung aus. Beide, sowohl Dayla wie auch Findus, verspürten eine Art von innerem Feuer. Ein magisches Ziehen ließ Flammen vor dem inneren Auge aufsteigen. Flammen, die sich in der Mitte vereinigten, grell-gelb und an den Rändern silberweiß. Und je näher sie dem Tal kamen, desto mehr näherte sich die Farbe dieser virtuellen Flammen einem heißen Blau. Auf einmal blieb Dayla stehen. „Ich kann nicht mehr weiter“ sagte sie keuchend und „geh´ jetzt allein. Bis zur Talmitte. Da findest du eine Lichtung mit einem blutroten Stein drauf. Was dann passiert kann ich nicht sagen.“ Mit tränenfeuchten Augen blickte sie ihn an: „Geh jetzt - viel Glück!“ „Ich schaffe das schon“ meinte Findus selbstbewusst, küsste seine Geliebte und ging. Dayla blickte ihm aus traurigen Augen nach. Was ihn wohl erwartete? Mit jedem Schritt, den Findus in Richtung Nebelsenke tat, wurde er selbst unwirklicher. Durchscheinender, wie Nebel. Wie eine Welle, die ihn erreichte und als Teil ihrer selbst entführte, von dieser Welt fortzog. Nicht lange und er war Dayla´s Augen entschwunden - in die andere Welt eingegangen. Die Welt des alten Volkes, der Zwerge. Dayla seufzte. Sie würde auf Findus warten. Und 113
wenn es ihr ganzes Leben dauerte! Doch plötzlich sah sie, wie er zurück kam. Erst nur klein und halbtransparent, wurde seine Gestalt mit jedem Schritt auf sie zu fester und größer. Doch Findus schien sich verändert zu haben, denn er wirkte irgendwie anders. Reifer. Stärker. Erfahrener. Abgeklärter. War das noch der Findus, den sie gekannt hatte? Was war passiert?
Für Findus stellte sich die Situation gänzlich anders dar. Noch lange sah er Dayla dort oben auf der Anhöhe stehen, wenn er den Kopf umwandte. Mehrmals winkte er ihr zu, doch sie schien ihn nicht wahrzunehmen - oder nicht mehr? Er setzte den Weg fort, ging in den Wald hinein. Es war ein überaus seltsamer Wald. Die Bäume schienen ein geheimnisvolles Eigenleben zu führen. Wie unter einem schneidenden Wind - der tatsächlich aber gar nicht da war - ruckelten, zuckelten und wackelten die Blätter. Gerade so, als ob sie sich von selbst bewegen würden. Wurzeln veränderten ihre Positionen. Wo eben noch ein Pfad war, da stand im nächsten Augenblick ein undurchdringliches Dornendickicht. Und wo eben noch dichtes Unterholz lag, da eröffnete sich völlig unerwartet ein neuer Pfad. Findus hatte das Gefühl, vom Wald selbst geleitet zu werden. Doch wohin? Und auch der Zeitablauf war irgendwie durcheinander geraten. Als er losging, hatte die Sonne am Mittagshimmel gestanden. Jetzt dagegen neigte sie sich sogar sehr schnell ihrer Nachtruhe zu. Findus war nach seinem eigenen Dafürhalten gar nicht lange unterwegs. Dennoch - die Sonne war untergegangen und der Mond schien, als der Wanderer auf eine Lichtung traf. Im bleichen Mondlicht lag ein großer Stein, ein uralter Opferstein. Er schimmerte rötlich. „Was jetzt?“ dachte Findus. Ihm war kalt. Es war Nacht und die feuchte Kälte des Nebels biss in seine Haut.. Findus setzte sich neben den alten Opferstein, versuchte sich zu sammeln. Zu kalt. Er stand auf, blickte den Stein abschätzend an. Ein Gedanke: „Magie - warum eigentlich nicht?“ Wozu hatte er schon soviel gelernt? Er zeichnete eine Rune in die Luft: „Sowelu erhelle diesen Stein, auf dass er mich wärme“ - ein einfacher Spruch, aber von verblüffender Wirkung. Vom Luftbild der Sowelu-
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Rune zog sich eine gleißende Leuchterscheinung hin zum Opferstein. Der begann zu glühen. Kurz darauf zeigten sich Flammen auf seiner Oberfläche. Der Stein selbst brannte! Erschrocken trat Findus zurück. Die Hitze vertrieb die Kälte - und wie! Nie hätte der Mann ohne Gedächtnis geahnt, wie machtvoll sich sein Handeln auswirken könnte. Es war, als hätte der Wald nur auf die Anwendung der Magie gewartet. Laub knisterte und raschelte. Waldgeister versammelten sich in der Dunkelheit: Feen, Wichtel, Waldelben, Luftgeister, Dryaden, Quellnixen, Elfen und andere Naturwesen. Auch Kobolde waren darunter. Eine Stimme, tief wie der Schoß der Erde selbst, sagte: „Du sterblicher Narr. Was treibt dich her? Sprich schnell!“ Findus aber gelang es nicht, den Urheber dieser Frage ausfindig zu machen. Doch dann lösten sich drei Gestalten aus dem Dunkel. Gestalten von durchaus menschlichem Aussehen, aber ihm höchstens bis zum Nabel reichend. Muskulös, martialisch gepanzert und Kraft ausstrahlend, verkniffene Gesichter mit roten Bärten und ledernrunzlig-braunkupferner Haut. Das mussten die Zwerge sein! Einer von ihnen - anscheinend der Sprecher der drei - trat vor. „Wer bist du und was suchst du hier?“ fragte der Sprecher. „Man nennt mich Findus. Ich bin hier weil...“ Verlegen verstummte Findus und blickte zu Boden, entschloss sich dann aber für schonungslose Offenheit. Er sah wieder auf und sagte mit fester Stimme. „Ich bin hier, weil ich mich selbst und meine Bestimmung suche. Man sagte mir, Ihr könntet mir dabei helfen.“ „Was sagt dir deine Erinnerung hinsichtlich deiner Bestimmung?“ fragte der Zwerg. „Ich habe keine. Mein Gedächtnis ist weg.“ Der Zwerg begann zu lächeln. „Wenn du wirklich der bist, für den du dich ausgibst, dann verfügst du über ein ganz spezielles Schmuckstück.“ Findus zeigte ihm den Alraunen-Topas-Anhänger. Der Zwerg nickte. „Ich fühle, dass du die Wahrheit sprichst. Nun gut. Niemand soll Zweifel an unserer Höflichkeit und Gastfreundschaft hegen. Ich bin Brokk, der Schmied. Das dort...“ - er wies auf die beiden schweigsam hinter ihm stehenden Zwerge – „...sind Gübich der Kämpfer und Bonneführlein, unser Vogt. Dein Kommen wurde uns
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avisiert. Wir werden dir helfen.“ Er schwieg und blickte Findus ernst an. „Doch du bist bewaffnet. So etwas mögen wir bei Gästen gar nicht. Gib´ mir dein Schwert.“ Nur widerstrebend übergab Findus ihm die Waffe. Der nahm Bewok´s Geschenk an sich, zog es aus der Scheide, wog es prüfend und betrachtete es lange. Es wurde totenstill. Eine beinahe schon feierliche Stimmung breitete sich aus. Brokk sprach leise und ehrfürchtig: „Dieses Schwert ist alt. Uralt. Sein Stahl entstammt einem vom Himmel gefallenen Stein. Das härteste Eisen überhaupt. Einst lag ein Zauber auf dieser Klinge. Ein Zauber, der sie befähigte, im Verteidigungsfalle jeden Gegner zu töten. Das Schwert wurde aber missbräuchlich eingesetzt und der Zauber verflog. Woher hast du es?“ Forschend blickte der Schmied Findus an. Der antwortete: „Der Tiedsiepefischer - Bewok ist sein Name - hat es mir vor längerer Zeit geschenkt. Wie es in seinen Besitz gelangt ist, weiß ich nicht.“ Nachdenklich schaute Brokk auf den Stahl. „Du wirst es irgendwann brauchen. Ich werde es dir neu schmieden und mit einem Zwergenzauber versehen. Einem Schwertzauber, mit dem du jede feindliche Waffe abwehren kannst. Doch das wird lange dauern. Mindestens einen Sommer und einen Winter lang. Auch musst du lernen, die Waffe perfekt zu beherrschen. Auch das wird sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Bist du dazu bereit?“ Vorsichtig entgegnete Findus: „Meine Gefährtin wartet außerhalb der Nebelsenke auf mich...“ „Oh, hab´ keine Angst. Hier vergeht die Zeit anders. Für Dayla“ - Brokk lächelte verschmitzt – „wirst du kaum einen Lidschlag lang verschwunden sein. Sie wird dich nicht vermissen.“ „Dann gerne!“ antwortete Findus erleichtert. „Zuerst musst du zu dir selbst finden“ empfahl Brokk und setzte hinzu: „Deswegen werden wir dich jetzt allein lassen. Öffne deinen Geist dem, was dir der Wald zu sagen hat. Höre in dich hinein. Erfahre den Wald, werde eins mit ihm. Lass´ die Welt los und du begreifst, was es mit den Elementaren auf sich hat. Lerne! Ich werde danach rechtzeitig wieder bei dir sein.“ Sprach´s und trat zusammen mit seinen Gefährten wieder in den Schatten der Dunkelheit. Findus blieb allein zurück. Nun ja - nicht ganz allein. Denn um ihn herum waren 116
da ja noch die Naturgeister, flüsternd, wispernd - und unsichtbar. Die Flammen über dem Opferstein waren zusammen gefallen. Dennoch strahlte der Stein eine angenehme Wärme aus. Findus suchte seine Nähe und kauerte sich hin. Zog die Schuhe aus, wollte das nasse Laub auf den nackten Fußsohlen und auf den Handflächen spüren. Eine wohlige Müdigkeit überkam ihn. Findus ließ seine Gedanken schweifen, dachte an gar nichts mehr und machte seinen Kopf frei. Seine Finger und Zehen vermittelten ihm das Gefühl, sich wie Wurzeln in die Erde zu bohren. Hätte es hier und jetzt einen außenstehenden Beobachter gegeben, so wäre der über die Veränderung des Wanderers erschrocken. Es dauerte nämlich nicht lange, und Findus war der menschlichen Welt entflohen. Seine Gestalt ähnelte eher einer alten knorrigen Wurzel mit entfernt menschlichem Aussehen. Findus selbst aber bekam von seiner Veränderung nichts mit. Vielmehr erschien es ihm so, als seien die Naturwesen Schutzgeister. Seine Schutzgeister. Er fühlte die Kraft des Waldes in sich - den ewigen Kreislauf von Leben, Sterben und Wiedergeburt. Wie im Zeitraffer rasten Tage und Nächte, Sonne und Regen, Windstille und Sturm vor seinem geistigen Auge dahin. Er war eins mit den Pflanzen geworden, wusste, wann und warum sie heilsame Stoffe ausbildeten - ihr Schutz gegen das ‚Gefressen werden‘, gegen das ewige Gesetz der Natur. Das war die Grundlage der Kräutermagie! Er sah die Welt mit den Augen der Tiere. Die völlig ungewohnten Farben, nach denen eine Biene sich orientierte. Die seltsamen Töne, die einer Fledermaus den Weg zeigten. Die Welt der Gerüche, die einen Fuchs oder Wolf zur Beute führten. Die Bewegungen der Luft und des Windes, die einem Eichelhäher das Fortkommen ermöglichten. Findus spürte den Ethos des Waldes und des Landes; war Teil des Ganzen. Vision und Wirklichkeit waren für ihn nicht mehr unterscheidbar. Und überhaupt: Was war denn Wirklichkeit? Existierte eigentlich so etwas wie eine ‚richtige‘ Realität? Oder war das nur eine stillschweigende Übereinkunft? War die ‚Wirklichkeit‘ an sich nicht vielmehr einzig durch die Wahrnehmung geprägt?
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Findus erkannte das ursächliche Wesen der Elementare. Das Wasser: Symbol für das Leben. Aber auch für die damit verbundene Wandlung, für das Nachgeben, für Intuition und Säuberung. Symbol für weibliche Emotionalität als Ausgleich für maskuline Härte. Wasser - Flexibilität und Energie vom kleinsten unscheinbaren Tautropfen bis hin zur Urgewalt des ungebändigten Meeres. Die Erde: Sie stand für Geborgenheit, Macht und Festigkeit. War gleichzeitig Fruchtbarkeit, Heilung und Vertrauen. Symbol des Männlichen im Weiblichen. Vom kleinsten Staubkorn bis hinauf zum größten Felsen. Wasser war nichts ohne Erde und Erde war nichts ohne Wasser. Erst beides zusammen bewirkte Lebenskraft, ergab heilende Energien, zog das Negative aus den Lebewesen heraus - wenn sie es nicht verlernten, mit der Erde in Kontakt zu treten. Findus erlangte auf diese meditative Weise die Fähigkeit zur Betrachtung aus der Ferne mit ungerührter Klarheit. Sequenzartig kehrte sein Gedächtnis zurück, fügte sich Puzzlestein um Puzzlestein zusammen. Er sah sich selbst als Säugling, in wärmende Tücher gehüllt und an die Brust eines Mannes mit dem Namen Ravon gepresst, welcher ihn mit scharfem Ritt vor seinem Bruder in Sicherheit brachte. Welchem Bruder? Sah sich sich selbst als Kind, aufgezogen von einem Kräuterweib, durch Gehölz und Dickicht streifend, erste magische Lektion erlernen. Erfuhr, wie sie ihn zur Bônday brachte, wo seine magische Ausbildung fortgesetzt wurde und wie die Bônday die magischen Völker über die ihm innewohnende Macht informierte. Wie er in jugendlichem Leichtsinn von dort ausriss, nur um wenig später den Versprechungen eines falschen Freundes zu folgen. Wie dieser falsche Freund ihn zu einem vermeintlichen fahrenden Händler lockte, der ihn daraufhin vergiftete. Und der Händler war niemand anderes als Baldur höchstpersönlich gewesen! Welches erbärmliche Leben er in der Anderswelt gehabt hatte. Einer Anderswelt, in der er als einer von vielen elendig krepiert und verweht wäre, hätte nicht ein dort tödlicher Unfall seinen Geist urplötzlich zurück nach Norgast geschleudert. Seine damaligen Kenntnisse der Elementare hatten ihm beim Überleben geholfen. Das Elementar der Luft: Lebensenergie, Freiheit, Inspiration und Weite. Grenzenlose 118
Erneuerung. Vom kleinsten Lufthauch bis hin zum wüstesten Tornado. So leicht und ungreifbar und dennoch machtvoll formend. Ein Element, welches man auf der nackten Haut spüren musste, um es zu verstehen. Das Elementar des Feuers: Wärme und Licht, Leidenschaft und Vitalität. Ungezügelt, allesverzehrend und zerstörerisch, wenn man sich seiner nicht zu bedienen wusste. Ein unverzichtbares, aber auch ein furchtbares Element. Schon der allerkleinste Funke konnte - einmal seinen Schranken entlassen - zum verheerenden Waldbrand ausarten. Doch auch ein nützliches Element, half es doch mit innerem Feuer - mit Fieber - gegen Krankheiten und ermöglichte es das Überleben in Winterskälte oder in der Dunkelheit. Findus erkannte ganz klar, dass ein Element nichts ohne das andere war, dass erst ihr Zusammenspiel das Leben an sich ausmachte. Ihm wurde schlagartig bewusst, wie er Wasser und Luft zu einem einfachen Wetterzauber zusammenfügen musste, mit dem sich Regen erzeugen ließ. Wie eine solche Magie, ergänzt um Erde und Feuer zu einem Erntezauber wurde. Wie alles aufeinander aufbaute. Findus begriff instinktiv und aus seinem innersten Gefühl heraus die Elementarkräfte. Begriff, wer er selbst war im Rahmen seiner zeitlosen Meditation. Nur seine Herkunft blieb noch im Dunkel. Doch war die Meditation wirklich zeitlos? Sein Körper regte sich; es war ein strahlender Sommertag. Brokk stand vor ihm und überreichte Findus das neu geschmiedete Schwert. „Ein Jahr ist vergangen“ sagte der Zwerg. „Das ist Gnarp“ führte Brokk aus und wies auf das Schwert. „Es wehrt jede feindliche Waffe ab. Aber nur, wenn du damit umzugehen weißt. Das bedeutet eine lange Lehrzeit.“ Fragend sah er Findus in die Augen. Findus nickte - ja, auch dazu war er bereit. Wenn schon, denn schon. Neugierig zog Findus nun die Klinge aus der Scheide und betrachtete Brokk´s Werk. Die Sägezähne waren verschwunden. Dafür gleißte die Klinge im Sonnenlicht. Sie sah nicht nur sehr scharf aus, sie war es auch. Und sie war auffallend leicht. Viel leichter, als Findus das Schwert in Erinnerung hatte. Eingearbeitete Hohlkehlen dienten jetzt der Gewichtsersparnis. Und die sorgsam-fein eingravierten Runen Uruz, Thurisaz, Isaz, Sowelo, Teiwaz, Dagaz, Eiwaz mit den 119
Bedeutungen von Stärke, Schutz, Hindernis, Sonne, Kriegsgott, Licht und Unsterblichkeit sorgten für magische Kraft. „Ich zeige Dir etwas“ sagte Brokk und griff nach dem Schwert. Findus gab es ihm zurück. Brokk nestelte aus dem Beutel an seinem Gürtel eine Feder heraus. Er warf sie in die Luft. Sacht segelte die Feder nach unten und traf auf Gnarp´s Schneide. Die Feder wurde zerteilt! Brokk reichte ihm Gnarp zurück. „Eine weitere Demonstration. Halte das Schwert ganz still waagerecht in der Luft, wenn ich mit meinem eigenen Schwert zuschlage. Wehre den Schlag einfach nur passiv ab.“ Brokk zog sein eigenes Schwert, holte aus, legte seine ganze Kraft in den Hieb und schlug zu. Traf Gnarp. Dessen Klinge vibrierte. Die Vibration endete noch vor dem Knauf. Dieses Schwert würde seinen Träger im Kampf niemals ermüden! Brokk´s Schwert hingegen war zerbrochen. Gnarp - das war ein Schwert für Könige, unbezahlbar wertvoll! „Morgen beginnt deine Kampfausbildung. Sie dauert mindestens ein weiteres, ganzes Jahr lang. Das wird Gübich übernehmen. Folge mir jetzt.“ Der Zwerg drehte sich um und Findus trabte hinterdrein. Brokk führte ihn in eine Höhle, in den Berg hinein. In das eigentliche Reich des alten Volkes. Zuerst hingen noch bizarr geformte Stalagtiten von der Decke, denen sich Stalagmiten von unten her näherten. Später waren die Steine zu wahren Vorhängen zusammen gewachsen und der Weg wurde beschwerlicher. Das letzte Stück quetschte Findus sich durch einen eigentlich für ihn schon viel zu engen Gang, sich dabei Knie und Hände aufschürfend. Doch plötzlich weitete die Höhle sich wieder, mündete in einen gigantischen Dom. Findus sah andere Zwerge - viele. Auch viele Feuer. Der Berg hallte vom Hämmern seiner Bewohner wieder. Bonneführlein kam auf sie zu und wies Findus einen Schlafplatz an. Eine Zwergenfrau brachte Wasser und Essen. Dann war er allein und schlief einen tiefen Schlaf mit einem seltsamen Traum. Er sah den Berg von innen. Wie sich Wasser durch enge Spalten schlängelte, um die Tropfsteine zu formen. Im Traum begriff Findus, wie Wasser und unscheinbarer Kalk zusammen wirkten, um die Luft atembar zu erhalten – ein ewiges Gleichgewicht. Er sah die Adern mit dem kostbaren 120
Erz, die den Zwergen ihr ureigenstes Leben ermöglichten. Wie tief im Untergrund eine unbändige Glut vom geschmolzenem Gestein brodelte. Er spürte den Geist des Berges in sich. Findus wurde viel zu früh - und wie er fand auch ziemlich unsanft - geweckt. Gübich stand vor ihm. „Deine Kampfausbildung beginnt. Jetzt! Lass´ Gnarp ruhig hier liegen. Du brauchst das Schwert nicht. Noch sehr lange nicht.“ Findus guckte ziemlich überrumpelt, woraufhin Gübich schallend zu Lachen begann. „Was glaubst du denn, was Schwertkampf ist?“ fragte der Zwerg belustigt. „Hau drauf und gib ihm? Nein, mein Junge - das ist eine hohe Kunst, bei der jede Bewegung erlernt und im Schlaf beherrscht werden muss. Wasch´ dich und folge mir danach zum Kampfplatz; wir beginnen mit Stöcken.“ Eine hastige Morgentoilette, kein Frühstück. Gübich wartete ungeduldig, Findus´ Eile spöttisch kommentierend und erwies sich so als unbarmherziger Ausbilder. Auf dem Weg zum Kampfplatz dachte Findus noch, dass er ob seiner eigenen Körpergröße Gübich gegenüber im Vorteil wäre. Aber auf dem Kampfplatz angelangt, wurde er schnell eines Besseren belehrt. Entweder war Gübich gewachsen oder Findus geschrumpft - jedenfalls standen sie sich in Augenhöhe gegenüber. Bei den Zwergen schien alles möglich zu sein. Der Kampfplatz selbst war eine Arena. Am Arenarand bauten sich soeben ein paar Zwerge mit Musikinstrumenten auf. Gübich sagte: „Wir beginnen mit den Grundschritten. Die sind das Wichtigste. Stell´ dir vor, dass du einen fast doppelt mannslangen Stock in der Hand hast und mach´ mir die Schritte nach.“ Er sah zum Arenarand hinüber. „Musik!“ rief er. Die anderen Zwerge begannen mit dem Spielen der Instrumente. Es war eine seltsame Musik, aber nicht unmelodisch. Findus hörte die Töne nicht nur, sondern nahm sie auch optisch vor dem inneren Auge wahr: grüngoldene Bögen, röhrenartige goldennass-schimmernde Wellen, das dunkelrote bienenkorbähnliche Wummern der Trommel, Silberringe von Schellen und vieles mehr. Er konzentrierte sich so auf das Aussehen der Musik, dass er beinahe Gübich´s erste Lektion übersah. Doch was sollte das? Das waren
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Tanzschritte! Weibisch! Sollte Findus damit Baldur später zu Tode langweilen oder zum Totlachen bringen? Unwillig - und unbeholfen - versuchte Findus, Gübich die Schritte nachzumachen. Der wurde sehr ungehalten, schimpfte. „Das ist Mist, Mist und nochmal Mist! Wenn du kämpfen willst, dann müssen die Schritte sitzen. Eine Choreographie, die du im Schlaf beherrscht, ohne darüber nachdenken zu müssen. Wenn du mir nicht glaubst, dann machen wir´s eben auf die harte Tour!“ Am Arenarand lagen zwei Stöcke bereit. Gübich holte sie. Gab einen davon Findus. „Und jetzt pass´ auf!“ sagte der Zwerg. Die Musik setzte erneut ein. Findus wurde von einem Schlag getroffen, versuchte sich zu wehren. Doch sein Gegener war nicht da, war schon ganz woanders. Der nächste Schlag und noch einer und noch einer. Als die Musik endete, war es Findus noch nicht gelungen, selbst auch nur einen einzigen Schlag anzubringen. Zum Ausgleich dafür hatte er zahllose blaue Flecken. „Frühstück!“ verkündete Gübich. Findus stöhnte nur gequält auf. Während sie aßen erläuterte Gübich ihm die Situation. „Im Kampf kommt es darauf an, dem Gegner keine Angriffsfläche zu bieten. Stell´ Dir mal einen Baum vor. Im Sturm überlebt der nur, weil er biegsam ist. Alte und knorrige Bäume brechen. Siegen durch ausweichen. Fairness existiert nicht, denn es geht um Dein Leben. Heldenmut und Sportlichkeit sind vielleicht ganz schön, aber es gibt verdammt wenige alte Helden. Mit dir ist das genauso. Du darfst niemals dort sein, wo dein Gegner Dich vermutet. Dazu dienen die Schritte. Es gibt Grundschritte und Variationen davon. Zuerst lernst du die Grundschritte. Dann die Varianten. Zuletzt üben wir mit den Waffen, sonst ist es zu gefährlich. Hast du das jetzt begriffen?“ „Ja“ antwortete Findus, ziemlich ernüchtert. Ihm tat jetzt schon jeder Knochen weh. Dann ging es weiter. Grundstellung, Grundschritte, Schrittfolgen - auch mit Variationen. Findus übte. Stunden, Tage, ganze Mondumläufe. Wieder und wieder. Er verlor jegliches Zeitgefühl, automatisierte seine Bewegungsabläufe. Später folgten die Übungen mit den Stöcken. Jetzt wurde es schon deutlich komplizierter, mussten doch Füße und Hände unabhängig voneinander bewegt werden. Aber Findus lernte 122
aus seinen Fehlern, lernte aus jeder Blessur. Messerkampf, Axtkampf. Ihm wurde klar, dass immer derjenige mit der längeren Waffe im Vorteil war und er erkannte, was er tun musste, um diesen Vorteil wieder zunichte zu machen. Zuletzt der Schwertkampf: Angriff, Parade, Finte, Stoß und Gegenstoß. Die Steigerung davon: der Zweischwerterkampf. Die Attacke mit unterschiedlichen Waffen: Schwert und Morgenstern, Dolch und Axt. Wehren und Abwehren. Kaum ein Abend, an dem Findus nicht ausgepumpt und ramponiert auf sein Nachtlager sank. Nichts als Übungen tagein tagaus. Irgendwann war im Zwergenland ein ganzer Sonnenumlauf beendet, in Norgast hingegen eine kaum wahrnehmbare Zeitspanne vergangen. Gegen Ende der Ausbildung übte Findus mit einem speziellen Schwert, welches in Länge, Gewicht und Aussehen Gnarp glich - damit er sich an die Waffe gewöhnte. Gnarp selbst kam jedoch nur zum Abwehren von Pfeilen zum Einsatz, denn diese Waffe war einfach zu gefährlich. Irgendwann beherrschte Findus auch die Kampfkunst perfekt, besiegte Gübich. Bonneführlein hatte diesen letzten Kampf genau beobachtet und kam auf Findus zu. „Deine Ausbildung ist beendet. Gübich kann dir nichts mehr beibringen. Deswegen geh´ jetzt zurück zu Dayla. Sie erwartet dich. Brokk wird dich führen.“ Findus dankte den Zwergen überschwänglich und trottete hinter Brokk her. Der Rückweg durch die Tropfsteinhöhle war wesentlich einfacher als der Hinweg. Am Höhleneingang stehend blickte Brokk dem Kämpfer ernst in die Augen. „Es liegt allein an dir, was du aus deiner Kunst und aus dieser Waffe machst. Benutze deine Fähigkeiten niemals zum Angriff, sondern einzig und allein zur Verteidigung. Nur dadurch kannst du einen klaren Kopf bewahren. Und nur mit einem klaren Kopf bleibst du am Leben. Es liegt bei dir allein. Werde mächtig, besiege Baldur und stelle das Gleichgewicht im magischen Geflecht wieder her. Denn andernfalls... ...andernfalls werden wir alle sterben müssen, weil die Magie versiegt.“ Der Schmied drückte ihn an sich, wies nach draußen und sagte „Geh jetzt!“. Findus drückte ihm zum Abschied gerührt die Hand. Er fand keine Worte, hatte einen dicken Kloß im Hals und nickte nur. Dann drehte er sich um und verließ das Nebeltal. 123
Mochte sich die Nebelsenke auch in einer Zwischenwelt außerhalb des Landes Norgast befinden, so blieb Findus´ Ausbildung seitens der Zwerge doch nicht gänzlich ohne Auswirkungen auf das magische Geflecht. Um die Mittagszeit des Tages erspürte Baldur in Norstedt ein schwaches und kurzes Rumoren der Magie. Nicht mal einen Lidschlag lang, doch er war aufmerksam. Seine Spur - er hatte Recht behalten! Südlich von hier. Allerdings konnte niemand abschätzen, welche Macht sein Gegner inzwischen besaß. Deswegen wäre es wohl besser, nicht allein zu gehen. Fieberhaft erwartete Baldur daher Neville´s Ankunft, welche noch einige Zeit auf sich warten ließ. Da die Spur heiß war, gönnte er den Männern keine Pause. Zusammen mit Neville und vier anderen aus der Todesschwadron verließ der Herrscher Norstedt. Zu Pferde, denn Baldur wusste nicht, wo er den Gesuchten finden würde. Sie mussten einfach auf alles und jeden achten. Der Ritt führte flussaufwärts am Wilderfrio entlang - genau auf Bewok´s Heimstatt zu...
Der Findus, der sich Dayla näherte, war muskulöser als der Junge, den sie eben noch gesehen hatte. Er wirkte in sich gekehrt, machtvoller und einfach - reifer. „Was ist mit Dir geschehen?“ flüsterte Dayla. „Ich weiß jetzt, wer ich bin und wo meine Bestimmung liegt. Auch wenn sich meine Herkunft immer noch meiner Kenntnis entzieht. Sag´ - wer ist mein Bruder? Kennst du ihn?“ Dayla schüttelte überrascht den Kopf. „Nein, ich... ...erzähle doch erstmal!“ forderte sie ihn auf. Und Findus berichtete. Alles, vom Opferstein, über seine Erfahrung des Landes an sich, sein Verstehen der Elementarmagie, seine Begegnung mit den Zwergen und über seine Ausbildung durch Gübich. Er zeigte ihr Gnarp. Ehrfürchtig bestaunte Dayla das Schwert, fühlte die ihm innewohnende Macht. „Ich bin also als Säugling von einem Mann namens Ravon zu einer Kräuterfrau gebracht worden, verbrachte dort meine Kindheit und wurde dann zur Bônday geschickt. Sie, du und 124
Lyonora - ihr habt mich in den magischen Techniken ausgebildet. Ich aber riss aus und bin falschen Freunden in die Falle gegangen. Baldur selbst versuchte mich zu töten. Ich weiß alles von damals und über mein Leben in der Anderswelt. Fragt sich nur noch, vor welchem Bruder Ravon mich in Sicherheit gebracht hat.“ fasste Findus zusammen. Fragend schaute er Dayla an. Doch die antwortete: „Von Deiner Herkunft und von einem Bruder weiß ich nichts. Ich glaube, dass Dir da nur die Bônday selbst weiterhelfen kann.“ Nachdenklich schwieg sie und fuhr fort: „Dieses Gift, das Baldur Dir damals gegeben hat... Ich kenne nur ein Gift, das so wirkt. Es nennt sich ‚Traumtrank‘ und wird aus Unterweltpflanzen hergestellt. Wenn Baldur über dieses Gift verfügt hat, dann musste er sich dazu der Hilfe eines Dämons versichern. Der Herrscher ist noch weitaus gefährlicher, als wir dachten. Es ist der Beweis für unsere Vermutungen. Das muss die Bônday unbedingt ganz schnell erfahren!“ Doch es war über Findus Bericht hinweg schon Abend geworden. Sie beschlossen, ihr Nachtlager gleich hier auf der Anhöhe an Ort und Stelle aufzuschlagen und entfachten ein kleines Lagerfeuer. Mit Hilfe eines Tierzaubers lockte Findus ein Kaninchen an. Er tötete es, schlachtete es aus, vergrub die Abfälle und sie brieten das Tier über dem Feuer. „Was tun wir jetzt?“ fragte er Dayla. Die schmiegte sich an ihn. „Lass´ uns alles überschlafen. Morgen sehen wir weiter.“ Sie schliefen miteinander und die Nacht verging ruhig. Am nächsten Morgen verkündete Findus: „Ich werde versuchen, die Elementare in einem magischen Kreis anzurufen. Vielleicht zeigen sie mir ja etwas aus der Zukunft. Das wird uns die Entscheidung erleichtern, ob wir unsere Reise fortsetzen, uns trennen oder zur Bônday zurück kehren sollen.“ Dayla nickte. „Ich helfe dir“ sagte sie und suchte aus ihrem Ranzen etwas Räucherwerk, welches sie ihm gab, und einen silbernen Kelch hervor. „Ich hole Quellwasser“ meinte sie. Findus sah sie dankbar an und machte sich selbst auf die Suche nach einer prächtig blühenden Blume. Nachdem er die gefunden hatte, entnahm er seinem Ranzen eine Kerze. Im Lagerfeuer war noch genügend Glut zum Entzünden von Räucherwerk und Kerze. Mit Hilfe von Gnarp zog er dreimal einen großen Kreis auf den Boden. Dieser Kreis wurde mit 125
jeder Umdrehung auf magische Weise stärker; er stellte einen Platz zwischen den Welten dar. Eine Kontaktstelle zur Astralebene, gleichzeitig Schutz vor bösen Einflüssen bietend. Dann viertelte Findus den Kreis entsprechend den Himmelsrichtungen. Er blickte auf die nach Osten weisende Linie und sprach „Luft - ich rufe Dich!“ Platzierte in Folge das Räucherwerk auf dieser Linie. Findus wandte sich gen Süden. „Feuer - ich rufe Dich!“ Er entzündete die Kerze und stellte sie auf die nach Süden gerichtete Linie. Zum Westen gewandt sprach er mit klarer Stimme „Wasser - ich rufe Dich!“ und stellte den mit Quellwasser gefüllten Kelch auf die zugehörige Linie. Schließlich blickte er nach Norden und vollendete mit „Erde - ich rufe Dich!“ und dem Niederlegen der Blume auf die nach Norden weisende Linie die Anrufung. Er setzte sich in die Kreismitte, zog den Alraunen-TopasAnhänger der Dryade hervor und versenkte seinen Geist meditativ in den Stein. Schneller als er es erwartet hatte stellte sich eine Vision ein. Findus sah eine Sequenz aus einer nicht weit entfernten, möglichen Zukunft: Eine ihm nur allzu vertraute Hütte. Verwittertes Holz mit einem Schilfdach. Die Hütte stand in Flammen. Aus ihrem Innern ertönten die grauenvollen Schreie eines Menschen, der lebendig verbrannt wird. Snofork! Vor der Hütte ein lebloser Körper mit abgeschlagenem Kopf - Bewok. Dessen Boot versenkt, Netze und Reusen zerstört. Das Vieh hingemetzelt. Sechs dunkle Gestalten, die das Refugium des Fischers dem Erdboden gleich machten. Eine dieser Gestalten kam Findus sehr bekannt vor. Der Händler, der ihm den Traumtrank verabreicht hatte. Baldur! Schweißgebadet löste sich Findus aus der Elementaranrufung und brach das magische Symbol, indem er den Kreis zerstörte. Er war verstört. Ging zur Quelle, wusch sich. Atmete tief durch. „Was hast du gesehen?“ wollte Dayla voll von ängstlicher Vorahnung wissen. „Sie sind zu sechst. Sie kommen. Bald. Und Baldur führt sie an. Sie werden Bewok und Snofork töten, wenn wir nichts unternehmen.“ „Sechs sind zu viele. Ich begleite Dich!“ Findus nickte - ja, Dayla würde ob ihrer magischen Kräfte eine große Hilfe sein. „Wir müssen sie zuerst von Bewok ablenken. Kennst du einen dafür geeigneten Ort?“ Dayla überlegte kurz und nickte. „Ja, aber... 126
Der Ort ist sehr gefährlich. Die Menschen meiden ihn.“ „Umso besser, wo ist es?“ „Genau östlich von hier“ entgegnete Dayla, doch Findus schüttelte unwillig den Kopf. „Dort ist doch nur der Sumpf!“ „Ja, und in dessen Verlängerung zum Wilderfrio hin gibt es einen Wald, der den Namen Myrkviör trägt. Dieser Wald ist von Geistern bewohnt. Die Menschen meiden das Gebiet, weil der Wald böse ist.“ „Bring´ mir den Geist des Waldes...“ flüsterte Findus und sah Dayla an. „Meinst du wirklich?“ fragte sie. „Ja. Wir gehen dorthin. Ich werde dann einen Zauber entfachen, den Baldur einfach nicht übersehen kann. Das lenkt ihn von Bewok ab.“ „Wie wollen wir dorthin gelangen?“ „Du beherrscht doch die Kunst der Tierverwandlung?“ Dayla nickte. Natürlich - was für eine Frage! „Kannst du Dich samt Gepäck in ein Tier verwandeln?“ „Ja, das geht. Viele können das nicht. Mich kostet es nur mehr Kraft.“ Versonnen blickte Findus zu einem Baum hinauf. Drei schwarze Krähen saßen dort. Krächzten, flatterten manchmal ziellos herum und amüsierten sich über das, was die Menschen sich selbst vormachten. „Lass´uns fliegen“ schlug er vor, ohne den Blick abzuwenden. Dayla nickte, verwandelte sich in einen Schwan. Strahlend weiß und schön anzusehen. Findus aber sah die Welt mit den Augen der Krähen, verspürte ihre unbändige Freiheit. Auch er verwandelte sich. Seine Kleidung und sein Schwert wurden zum Federkleid. Einem blütenweißen Federkleid, welches auf mächtigen Schwingen saß. Sein Körper hingegen nahm eine Gestalt ganz ähnlich der der Krähen an. Nur größer. Viel größer. Die Gestalt eines Raben. Findus war zum weißen Raben geworden! Rabe und Schwan flogen hinaus in das weite Land, in Richtung des Sonnenaufgangs...
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Kapitel 7: Der Geist des Waldes Die
Reise verlief ereignislos. Sie dauerte beinahe einen ganzen Tag lang. Es war schon spät, als die beiden im Licht der untergehenden Sonne auf einem Grasstreifen landeten. Ein Schwan wurde zu Dayla und ein weißer Rabe verwandelte sich zurück in Findus. Schockiert betrachteten sie die Landschaft. Der Grasstreifen war von dunklem Braun und schlüpfrig, etwa fünfzig Mannslängen breit. Er trennte den Sumpf vom Wald. Der Boden war matschig. Überall standen Pfützen mit schalem, übelriechendem Wasser. Dunstiger Himmel und ein trüber Schleier schien zwischen Land und Sonne zu liegen. Schlangen zischten giftig in schwarz-weißem Gekrissel, wanden sich und flüchteten vor den beiden. Kein schöner Platz zum Übernachten. Erschrocken sah Dayla den Forst an und flüsterte „Er ist so groß geworden - so mächtig...“ Ein Wald, dichter als jedes je zuvor gesehene Gehölz. Fremdartige Pflanzen wucherten. Äste starrten hervor wie Messerspitzen, wechselten sich mit kahlen, verwinkelt-verkrümmten Bäumen von bläulichschwärzlichem Holz ab. Dazwischen wogten Schwaden aus dunklem Dampf. Schleimig-feucht glänzende Blätter und riesige grellbunte, kelchartige Blüten mit Farben, welche dem Auge Schmerzen verursachten und welche Insekten und Vögel fingen - und fraßen! Das Unterholz ein einziger dunkler Schatten, in den hinein sich kein einziger Lichtstrahl verirrte - nacktes Grauen. Findus blickte zu seiner Gefährtin. „Was meinst du damit?“ „Ich kenne diesen Wald von früher her. Aber da war er viel kleiner. Es ist schon sehr lange her. Er wächst. Und wird stärker. Wie ein Geschwür.“ Findus spürte, was sie meinte. „Ja“ entgegnete er „der Wald ist böse. Durch und durch. Eine fremde dunkle Macht wohnt ihm inne. Ich kann sie sehen - grauschwarze Schlieren, die Farben fressen. Eine Macht, die nicht von dieser Welt ist - ein Dämon.“ Und Dayla fügte entsetzt hinzu: „Der Dämon entzieht dem magischen Geflecht die Kraft. Es ist wie ein unersättliches Loch. Früher war es noch nicht annähernd so schlimm, nicht ansatzweise
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so deutlich. Myrkviör ist ein alle Kraft aufsaugender Schwamm. Er fängt Norgast´s Seelen. Irgendwann wird er sich das ganze Land einverleibt haben.“ Findus konnte ihr ansehen, wie schockiert sie war. „Wie sah denn nun eigentlich dein Plan in Bezug auf Baldur aus?“ „Ich wollte, dass er durch den Wald reitet. Das der Wald ihn schwächt. Aber Baldur ist mit einem Dämon im Bunde. Und in diesem Wald wohnt auch ein Dämon; das zumindest ist nun deutlich. Ich wusste das vorher nicht. Zwei Dämonen - entweder sie bekämpfen sich gegenseitig oder aber sie machen gemeinsame Sache. Wir würden beides nicht überleben und auch Norgast würde beides nicht überstehen. Damit ist Baldur zweitrangig geworden.“ „Lass´ uns erstmal das Nachtlager aufschlagen“ meinte Findus „und morgen bei Tageslicht sehen wir weiter.“ Das Aufschlagen des Nachtlagers war leichter gesagt als getan. Die beiden suchten lange, bevor sie ein hinreichend trockenes Stück Grasland fanden. Das Ziehen des magischen Schutzkreises, bestärkt durch ein Bestreuen mit Meersalz, ließ ihre Reserven an magischen Utensilien dramatisch dahinschmelzen. Doch der Kreis war nötig - diente er doch dazu, die Schlangen und die Bosheit des Waldes abzuhalten. Findus wollte ganz auf Nummer Sicher gehen und zeichnete mit den Worten „Vereint mit Erce, Thorn schütze uns!“ eine Schutzrune in die Luft. Die Rune glimmte aber nicht wie üblich auf, sondern verwehte still in einen violetten Dunst, während vom Wald herüber ein unangenehmes Zischen an ihre Ohren drang. Dayla hielt das für ein böses Omen. Nichts ging hier mit rechten Dingen zu. Sie versuchte beinahe vergeblich, ein Lagerfeuer zu entfachen, musste dazu aber letztlich doch auf ihre magischen Hexenkräfte zurück greifen. Doch weil das Holz nicht trocken war und Dayla befürchtete, mit ihren Kräften sparsam umgehen zu müssen, gab das Feuer nur wenig Wärme ab - dafür aber umso mehr an beißendem Qualm. Es würde wohl eine eher unruhige Nacht werden. Dayla und Findus sprachen kurz miteinander und entschieden sich, abwechselnd Wache zu halten. Und so streckte Findus sich zum Schlafen aus. Regelmäßige Atemzüge signalisierten Dayla, dass er Ruhe gefunden hatte. Sie aber starrte grübelnd 129
in das Feuer. Doch nicht lange. Denn plötzlich veränderte sich der Rhythmus von Findus´ Atem! Alarmiert und mit einem Satz kauerte Dayla bei ihm. Selbst in dem schwachen Feuerschein war die wächserne Blaugraufärbung seines Gesichts unverkennbar. Auch seine Lippen wiesen einen bläulichen Schimmer auf. Er röchelte und rang nach Luft. Mit offenen, leblosen Augen starrte der Schlafende in den leeren Nachthimmel. Sein Körper zuckte konvulsivisch. Findus: „Es war seltsam. Ich schlief beinahe augenblicklich und auch genauso schnell stellte sich der Traum ein. Im Traum sah ich zahllose Punkte - nein, bei genauerem Hinsehen Köpfe. Graue Knochenschädel vor einem dunkelbraunroten Hintergrund. Darüber gleißendes weißes Licht. Ich glitt - flog - über die Schädel hinweg nach oben und in das Licht hinein. Badete förmlich darin, verlor jegliches Zeitgefühl. Irgendwann sah ich unter mir meinen Körper liegen und sich in Zuckungen winden. Dayla kniete daneben und führte nur undeutlich erkennbare, hastige Bewegungen aus. Mir war es egal. Mir war auch der Körper - mein Körper! - völlig gleichgültig. Ich brauchte ihn nicht mehr, flog euphorisch immer höher ins Licht. Unerwartet drehte sich von rechts unten eine schwarze Scheibe in mein Gesichtsfeld - schwärzer noch als die schwärzeste Nacht. Wie ein Loch. Und dieses Loch saugte nicht nur das Licht und die Schädel in sich auf - nein, auch ich flog mit gelähmtem Willen immer schneller darauf zu. Es saugte die Lebenskraft aus mir heraus. Doch plötzlich veranlasste mich ein inneres Gefühl, mich umzudrehen. Und ich erblickte in der anderen Richtung einen freundlich und lebensbejahend schimmernden Regenbogen. Unter ihm stand Dayla. Sie streckte mir die Hand entgegen. Ich versuchte, diese Hand zu ergreifen, mich festzuhalten, doch vergeblich. Je mehr ich mich anstrengte, desto schwächer wurde ich. Verloren! Auf einmal wuchs Dayla über sich hinaus, ergriff mich und zog mich zurück. Die Dunkelheit zerriss. Zurück in Sicherheit!“ Dayla: „Findus wurde im Schlaf von einem heimtückischen magischen Angriff überrascht. Ich erkannte die Symptome sofort. Er war auf einer unkontrollierten Astralreise und sein Geist hatte den Körper verlassen. Mehr als fraglich, ob sie je wieder würden zusammenfinden können. 130
Ich handelte so schnell ich konnte, bot alles auf, was ich hatte. ‚Kaunan, nimm´ Dich seiner an und weise ihm mit Deinem Licht den Weg! Sowelo, vertreibe die Dunkelheit und hilf´ ihm damit! Teiwaz, gib´ ihm die Kraft, das durchzustehen! Algiz, schütze dieses Leben! Dagaz, lass´ ihn den Tag erleben! Ihwaz, erinnere Dich seiner und schenke ihm Langlebigkeit!‘ Zu jedem Spruch entnahm ich meinem Ranzen hastig eine der aufgeladenen Runen, zeichnete damit das zugehörige Symbol über Findus´ Körper und legte die Runen auf seine Brust. Zuletzt zog ich Gnarp aus der Scheide, legte es über die Runen und zog Findus´ Alraunen-Eiben-Topas-Anhänger über Gnarp. Erst alles zusammen gab mir die Kraft, ihn geistig zu erreichen - und zu seinem Anker zu werden. Er hatte schon beinahe das Reich des Dämons erreicht. Jetzt aber kehrte Findus zurück. Ich war heilfroh, denn ich hatte nicht nur die Kampfmagie abwehren können, sondern ihm dadurch auch noch das Leben gerettet.“ Findus erwachte kurz, schaute sich einen Moment lang desorientiert um und erblickte die neben ihm hockende Dayla. „Danke!“ sagte er nur noch, dann schlossen sich seine Augen. Der Kopf rollte zur Seite und er fiel in einen tiefen Schlaf. Diesmal ungestört. Dayla wachte über ihn. Im frühen Morgengrauen - Dayla konnte kaum selbst noch die Augen offen halten - erwachte Findus. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. „Schlaf´ du jetzt“ waren seine Worte „denn morgen müssen wir ausgeruht sein.“ Seufzend nickte Dayla. Er hatte Recht und hundemüde war sie auch. Sie legte sich hin. Findus ließ sie bis weit in den Vormittag hinein schlafen. Als Dayla die Augen öffnete, erblickte sie einen neuen, trüben Tag. Kein aufmunternder Anblick. Kurze Zeit später saß sie mit Findus zusammen. Sie sprachen über den magischen Angriff in der vergangenen Nacht. „Weißt du, das kam einfach zu überraschend“ erläuterte Findus. „Ich habe diesen Dämon direkt vor mir sehen können. Er zeigt sich als alles verschlingendes schwarzes Loch. Und die Schädel - das können doch eigentlich nur die Geister von den Toten sein, die ursprünglich mal im Wald umgekommen sind.“ „Und was tun wir jetzt?“ „Es ist Tag. Das ist günstig für uns. Ich glaube, dass ich diesen Dämon unter bestimmten Umständen in seine
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Unterwelt zurück verbannen kann.“ „Wie willst du das anstellen?“ Versonnen blickte Findus zum Wald hinüber. „Nicht ich, sondern wir beide“ korrigierte er sanft und sah ihr fest in die Augen: „Allein kann ich das unmöglich schaffen. Deine Künste sind absolut unverzichtbar. Ein Risiko gibt es dabei natürlich. Wenn wir versagen, dann verschlingt uns der Dämon.“ „Und wenn wir nichts tun, dann verschlingt er über kurz oder lang ganz Norgast und uns beide gleich mit“ ergänzte die Hexe bitter. Eine vertrackte Situation! Findus unterbreitete ihr daraufhin seinen Vorschlag: „Ich habe die Kraft, dieses Loch im magischen Geflecht zu schließen. Doch ohne einen Anker nützt mir das gar nichts. Da verliere ich mich im Nichts. Du hast die Kraft, mein Anker zu sein. Nur du kannst mich von der Astralebene wieder zurück holen. Das hast du letzte Nacht eindringlich bewiesen.“ „Sprich´ weiter“ forderte Dayla ihn auf und Findus fuhr fort: „Wir bereiten uns intensiv auf die Begegnung vor. Durch eine meditative Übung hier im Schutzkreis. Wir haben abnehmenden Mond. Das ist günstig für jede Art von Bannzauber - und wir wollen den Dämon ja bannen. Verbannen. Die Übung wird uns mit magischer Energie aufladen. Gegen Ende der Übung verlasse ich meinen Körper und stelle mich dem Dämon. Es wird deine Aufgabe sein, über mich zu wachen und mir den Weg zu weisen.“ „Du solltest deinen Anhänger in die eine und Gnarp in die andere Hand nehmen. Das gibt dir noch mehr Kraft.“ „Gute Idee“ erwiderte Findus. „Aber“ warf Dayla ein „dann sind da immer noch die Geister der Toten. Selbst wenn es dir gelingt, den Dämon aus dieser Welt zu verjagen, dann bleiben die Toten hier. Mit dir verbunden. Sie können dir durchaus zu Diensten sein. Aber glaub´ mir - schön ist das nicht. Auf die Dauer wird es dich verrückt machen. Die Macht über die Toten ist eine furchtbare Waffe.“ Versonnen vor sich hinblickend murmelte Findus „Bring´ mir den Geist des Waldes...“ Er sah auf. „Ich könnte sie doch auch freigeben, so dass sie ins Totenreich eingehen dürfen“ entgegnete Findus. „So einfach ist das nicht“ antwortete Dayla „denn es muss ein Übergang zum Totenreich da sein. Und den spüre ich hier nicht.“ Schweigen. Beide überlegten. 132
„Hier nicht“ sprach Findus auf einmal „aber ich kenne so einen Ort. Jetzt passt auch alles zusammen. Wir machen Folgendes...“ Detailliert erklärte er ihr seinen Plan. Das würde schwierig werden, aber es war grundsätzlich machbar. Auch das ‚Baldur‘-Problem ließe sich dadurch auf ganz einfache Weise lösen... „Lass´ uns beginnen“ forderte Findus seine Gefährtin auf und fragte „Was nehmen wir?“ „Ich habe einen Mondstein bei mir.“ „Energie und Aktivität - gut!“ Dayla entnahm ihrem Ranzen den Stein und legte ihn in die Mitte des Schutzkreises. Aus Sumpfmoos - dem Symbol für freie und ungebundene Stärke - richtete Findus zwei Sitzmulden her. Dayla setzte sich vor den Stein, Findus sich ihr gegenüber. Sie reichten sich die Hände, hielten zusammen Gnarp und den Anhänger fest und versenkten den Geist in die so herrlich bunte Welt der anderen Wahrnehmung. Da war das Rauschen des Luftelementes, eine verwirbelnd-fraktale Struktur in Dunkelgrau bildend. Der blaugrünliche Geruch eines vom Sumpf herüberwehenden Dunststreifens. Das creme-silberne, rehbraun-durchwachsene und wie ineinander verschlungene Tropfsteine aussehende Quarren und Quaken der Frösche und Kröten. Dazwischen immer wieder das scheinbar allgegenwärtige schwarz-weiße Gekrissel vom Zischen der Schlangen. Halbrund-pastellfarben bunte Farbtupfer: die Rufe der Vögel außerhalb des verwunschenen Waldes. Beide konzentrierten sich auf diese Form der Wahrnehmung und betrachteten dabei den Stein. Erlangten das Wissen um seine Form. Das Wissen um die Form führte zum Wissen um die Formgebung. Das Wissen um die Formgebung führte zum Wissen um die Herkunft. Das Wissen um die Herkunft ließ sie teilhaben an der Urgewalt der Welt... Findus und Dayla öffneten gleichzeitig die Augen. „Bereit?“ fragte Findus. „Ja“ antwortete die Hagia. Dayla entnahm ihrem Ranzen die Algiz-Rune und legte sie in die Kreismitte. Zusammen mit Findus intonierte sie den Gesang „Algiz schütze uns vor dem Dämon des Myrkviör. Algiz leite unseren Weg. Algiz verleihe uns die Macht, den Dämon zu vertreiben.“ Findus schloss die Augen wieder und trennte seinen Geist vom Körper. Es war für ihn zunächst das gleiche Gefühl wie in einem dieser seltsamen luziden Träume, in 133
denen man seinen Körper verlässt und über die Welt fliegen kann. Findus Geist stieg höher und höher - ins Licht. Währenddessen sang Dayla mit glockenheller Stimme ihre Zaubersprüche: „Erce, Erdgöttin und Friedensfürstin, schenke diesem Land Deine Gunst. Gib´ uns goldene Kraft um das zu vertreiben, was hier nicht hergehört. Thorn, wir bitten Dich um Deinen Schutz...“ Ihr Gesang schwang irgendwo im hintersten Winkel von Findus´ Geist mit - ein Spinnweb-artig verwobenes Silbergebilde mit golden funkelnden Tautropfen darauf, Orientierung und Kraftquelle zugleich. Ein Regenbogen manifestierte sich in diesem zeitlosen Kontinuum aus Licht und Findus steuerte auf dessen höchsten Punkt zu. Jetzt sah er auch den Dämon wieder - eine abstoßend schwarze Scheibe, genau wie letzte Nacht. Geleitet durch Daylas Gesangsmuster steuerte Findus jetzt den gesamten Regenbogen auf die schwarze Scheibe zu. „Was du gewesen, sei vergessen. Geh´ zurück dorthin, von wo du gekommen bist“ beschwor er das fremde Etwas und formte den Regenbogen zu einem Kreis, welcher die hässliche schwarze Scheibe einschloss. Nur noch ein unendlich dünn auslaufender Trichterstiel, stabilisiert durch Dayla´s Gesangsspinnweben, verband ihn und den Kreis aus materialisiertem Licht mit seiner Welt - mit Norgast. Der namenlose Dämon geriet in Bedrängnis, wollte den ihn umschließenden bunten Lichtkreis abschütteln. Das Schwarz begann sich zu drehen und in das Blau des Regenbogenkreises hinein zu fressen. Dann in das Grün und in das Gelb. Findus rief im Gegenzug Berkana, Raido und Laguz an. Die Kraft dieser Runen ließ das Rot und Violett des Kreises anschwellen und verdrängte das Schwarz aus dem Gelb. Der Dämon drehte sich schneller und schneller. Die Ränder der dämonischen Scheibe bröckelten und mit jedem Stück, das sich löste, gewann die Regenbogenscheibe an Größe und Leuchtkraft zurück, transformierte seine Energie, bis sie sich schließlich ähnlich einer Irisblende über dem verblassenden Schwarz schloss. Jetzt verblassten auch die Regenbogenfarben und Findus´ Geist schwebte zurück in seinen Körper. Zurück blieb anstelle des Dämons eine Art von grauem Neutrum. Ein Ort, 134
der zwar Bestandteil von Norgast war, an dem es aber kein magisches Geflecht und damit auch keine Magie mehr gab - wie ein Narbengewebe. Findus kannte diese Art von Gewebe schon von der Anderswelt her... Der ganze magische Kampf schien nur wenig Zeit beansprucht zu haben, doch er hatte Findus richtiggehend ausgelaugt. Der öffnete jetzt die Augen und erblickte Dayla. Sah hoch zur Sonne. Die aber stand schon tief. Für Dayla musste der Kampf endlos lange gedauert haben. Ängstlich sah sie ihn an. „Geschafft?“ war ihre bange Frage. „Geschafft ja, aber noch nicht fertig“ erwiderte Findus erschöpft. „Da sind noch die Seelen der Toten“ erläuterte er. Findus schloss die Augen erneut und versetzte sich in den unwirklich-meditativen Zustand zwischen Wachen und Traum - eine der ersten Übungen, die er von der Bônday gelernt hatte. Im Wachtraum - einem von ihm bewusst beeinflussbaren Traum - ließ er seinen Geist ähnlich einem Netz durch den Wald driften und fing die zuvor vom Dämon festgehaltenen Bewusstseinssplitter der Toten ein. Verbittertverängstigte und jetzt orientierungslose Geister, kaum noch klarer Gedanken fähig. Nicht länger an das magische Geflecht gebunden waberten diese Seelen ziellos herum. Nachdem sie von ihm eingesammelt worden waren, erlangte Findus den Wachzustand zurück. Laut befahl er „Geister der Toten - sprecht zu mir!“ Die Antwort war eine dumpf klingende und von überall her kommend scheinende Stimme: „Ich bin der Geist der Toten. Du bist mein Herr. Verfüge über mich!“ Findus lächelte jetzt. „Was ist dein sehnlichster Wunsch?“ „Gib´ uns frei, auf dass wir endlich in das Reich der Toten einkehren können. Weise uns den Weg dorthin.“ „Bald. Ich verspreche es. Doch zuvor habe ich eine Aufgabe für dich. Wir erwarten Besuch“ sagte er „sechs Reiter. Verwirrt sie, wenn sie im Wald sind. Versucht sie aufzuhalten.“ Versonnen blickten er und Dayla zum Wald hinüber. Der Hauch des Bösen war von dort verschwunden. Endgültig. Aber irgend etwas tat sich da - nur was, das hätte keiner von ihnen zu sagen vermocht. Myrkviör war zwar ein Teil von Norgast, aber aufgrund des fehlenden magischen Geflechts irgendwie auch wieder nicht. Was würde aus den dortigen Bäumen und
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Pflanzen werden? Was würde sich dort neu ansiedeln - oder überhaupt ansiedeln können?
Einige Zeit vorher. Sechs Reiter auf dem Weg stromaufwärts am Wilderfrio entlang. Ytarre, Söldner. Weder Tod noch Teufel fürchtend und nie nach dem Grund für einen Befehl fragend. Joritu, Söldner. Narbig, kampferprobt und bösartig. Talieste, Söldner. Ein gefühlloser Schlächter, der sich an den Qualen seiner Opfer weidete. Charlos, Söldner. Das Einzige, was er fürchtete, waren böse Geister, mieses Essen und schlechter Sold. Neville, Kommandeur der Truppe. Ein Spion. Baldur, der Herrscher. Anführer. Kurz nachdem die Sonne den Zenit eben überquert hatte, zügelte Baldur sein Pferd und blieb stehen. Er hob die Hand und bedeutete den anderen damit, still zu sein. Baldur horchte in sich hinein, wie ein witternder Wolf. Er spürte etwas. Er spürte die Spur, nach der sie suchten. Er spürte sein Opfer. Etwas Großes geschah da. Etwas, das im magischen Geflecht nicht bloß ein Rumoren oder Vibrieren hervorrief. Nein, etwas viel Größeres, was das magische Geflecht wie ein Erdbeben durchschüttelte. Um was immer es sich dabei auch handeln mochte - genau das war es! Nun konnte er ihm nicht mehr entkommen! Höchstens einen Tagesritt von hier, exakt in westlicher Richtung! Baldur wies den anderen den Weg, rief „Hüa!“ und gab seinem Pferd die Sporen. Ihr scharfer Ritt durch den Auwald dauerte bis zum Abend. Sie erreichten einen lichten Streifen, wo Baldur sie das Nachtlager aufschlagen und rasten ließ. Morgen - morgen würde er einen Konkurrenten weniger haben... Der nächste Tag. Schon früh brachen die Sechs auf. Baldur kannte nur ein Ziel - die Vernichtung seines Widersachers! Kein Blick nach rechts oder links. Auch nicht auf die überaus seltsamen Gewächse des Waldes. So entging ihnen allen die von den fleischfressenden Pflanzen ausgehende Gefahr. Da es keinen Pfad durch den Myrkviör gab, mussten sie absitzen und sich ihren Weg zu Fuß bahnen. Als Ersten erwischte es Talieste. Er stolperte über eine Wurzel und fiel hin. Ytarre war Zeuge des Sturzes und hätte
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beschwören können, dass die Wurzel seinen Kumpan absichtlich zu Fall brachte. Wie auch immer - kaum, dass Talieste auf dem Boden lag, schoss ein Baum scharfe, spitze Dornen auf ihn ab. Der sonst so gefühllose Söldner schrie, machte etwas von dem durch, was sonst nur seine Opfer zu spüren bekamen. Ranken schossen aus dem Wald hervor und umwickelten ihn, zogen den schweren Mann zu einem der riesigen Blütenkelche. Letzterer stülpte sich über Talieste und schloss sich mit einem unangenehm-fleischigen Schmatzen. Talieste´s Schreie waren nur noch gedämpft zu hören - doch sie hatten nichts Menschliches mehr an sich. Joritu war der Nächste. Der Waldboden gab unter ihm nach und er stürzte in eine gar nicht mal so tiefe Grube. Doch bevor er sich daraus befreien konnte, wimmelte es nur so von Abermillionen an Ameisen, Spinnen und Käfern. Sie zerfetzten den unbeugsamen Mann bei lebendigem Leib. Längere Zeit geschah dann nichts mehr und die vier noch verbliebenen Personen kämpften sich durch den unwegsamen Forst, wiegten sich in falscher Sicherheit. Denn plötzlich waren die Seelen der Toten da. Von Grauen geschüttelt rannte Charlos blindlings los, ins Unterholz hinein. Prallte gegen einen Baumstamm, stürzte und brach sich dabei das Genick. Die Toten jubelten. Mit jedem verlöschenden Leben wurden es ihrer mehr. Ytarre war der Letzte. Sein Schicksal entschied sich, als ein aufgebrachter Eber ihren Weg kreuzte. Die von dem wilden Tier ausgehende Gefahr unterschätzend wollte Ytarre es mit dem Schwert abschlachten. Doch die Hauer des Tieres mit den vierundvierzig scharfen Zähnen waren schneller... Baldur hatte keine Möglichkeit, seine Männer zu schützen. Seine Magie versagte in diesem Wald, stand einfach nicht zur Verfügung. Es gab hier keine Magie! Er war außer sich vor Wut. Macht war seiner Meinung nach dazu da, genossen und zum eigenen Wohl angewandt zu werden. Und hier hatte er keine Macht! Ein ihm völlig unbegreiflicher, ungewohnter Zustand. Gnadenlos trieb er Neville an, ohne zu bemerken, dass der überfordert wurde. „Alles Versager!“ fluchte Baldur und gab noch zahllose weitere beleidigende Äußerungen von sich. Seine Laune war auf dem absoluten Tiefstpunkt angekommen. Er brauchte unbedingt jemanden zum 137
Abreagieren! Er schikanierte seinen Begleiter, kritisierte wild drauflos, ohne konkret zu werden. Neville musste sich Diskreditierungen und Unterstellungen gefallen lassen. Doch da vorn wurde es heller. Baldur spannte seine Armbrust, machte sie schussbereit. Neville – nun ob Baldur´s schmählicher Behandlung gleichfalls wütend - zog seine Doppelaxt. So erreichten beide den Rand des Waldes. Auf der Lichtung standen Findus und Dayla.
Aus den Reaktionen der Toten war es Findus möglich gewesen zu ermitteln, mit wie vielen Gegnern sie es noch zu tun hatten. Zwei gegen Zwei. Rein zahlenmäßig ein ausgeglichenes Verhältnis. Und doch auch wieder nicht. Denn Findus und Dayla standen auf dem Grasstreifen. Sie konnten auf ihre magischen Fähigkeiten zurück greifen. Für die im Myrkviör befindlichen Angreifer stand diese Option nicht zur Verfügung. Ruhig und mit Gnarp in Hand stand Findus im Gras. Ebenso ruhig und gefestigt im Wissen um ihre Macht wartete Dayla neben ihm, nur bewaffnet mit einem Ritualstab aus Eibenholz. Als Baldur und Neville die beiden erblickten, griffen sie sofort und erbarmungslos mit aller Härte an. Neville warf seine Axt auf Dayla. Die aber zeichnete - zu schnell, um den Bewegungen mit dem Auge folgen zu können - mittels des Ritualstabes eine Algiz-Rune in die Luft. Blendend goldenes Licht ging von der Rune aus: Der Axtstiel verbrannte noch im Flug und die Schneide schmolz. Es zischte laut, als das flüssige Eisen auf das nasse Gras tropfte. Baldur hingegen feuerte gleichzeitig seine Armbrust auf Findus ab. Geisterhaft schnell zuckte dessen Hand mit Gnarp darin vor und die Schneide des magischen Schwertes lenkte den tödlichen Bolzen seitlich in den Boden. Mit lauten Schreien, die Schwerter den Scheiden entrissen, stürmten Neville und Baldur jetzt vor. Dayla belegte Neville in kurzer Folge mit Zeitzaubern, die den Spion immer für kurze Momente in der Bewegung einfrieren ließen. Als Folge davon strauchelte er, verlor das Gleichgewicht und fiel. Fiel zwischen die Schlangen. Als er sich wieder erhob, waren seine
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Augäpfel derart verdreht, dass man nur noch das Weiße darin sehen konnte. Eine schwarze Schlange hatte sich in seinem Nacken festgebissen. Eine Kupferfarbene wand sich um seinen Hals und biss ihn eben ins Gesicht. Die langen Giftzähne mit den daraus hervorperlenden, kleinen blassgelben Tropfen funkelten in der Sonne. Eine Grauweiße hing, die Giftzähne noch in seiner Haut verhakt, von seiner Hand herunter. Neville röchelte und fiel. Regte sich nicht mehr - tot! Baldur hingegen stürmte wie ein Unwetter und vor unbändiger Wut laut brüllend auf Findus zu. Schwerter kreuzten sich, blitzend wirbelnde Klingen im Sonnenlicht. Baldur´s Schwert stieß plötzlich aus der Hüfte vor. Wurde von Gnarp abgelenkt. Stoß-Parade-Gegenstoß. Die Kämpfer schenkten sich nichts, verzichteten aber auf den Einsatz von Magie. Baldur, weil er sich ohnehin für den Stärkeren hielt und Findus, weil ihm das nur ein allerletztes Machtmittel sein sollte. Keuchend umkreisten sie einander. Der Kampf legte eine kurze Atempause ein. Plötzlich Finte, Ausfall und erneute Parade. Angriff. Wirbelnder Stahl und Funken der furios aufeinander treffenden Klingen. Findus war von den Zwergen sehr gut ausgebildet worden. Er drängte Baldur zurück. Zurück in den Myrkviör. Kaum aber hatte Baldur einen ersten Schritt rückwärts in den seltsamen Wald hinein getan, da stolperte er über eine merkwürdig verdrehte Wurzel. Oben am Baum brach ein Ast ab und fiel herunter, traf Baldur am Kopf. Der blieb bewusstlos liegen. Der Kampf zwischen dem Herrscher und seinem Opfer war vorbei. Ein Stöhnen, Raunen und Wispern ringsum. Die Geister der Toten versammelten sich, wollten die Seele des Herrschers. „Nein, lasst ihn“ wies Findus sie zurück. Erstaunt blickte Dayla ihn an: „Aber warum?“ „Ich höre die Stimme seines Blutes“ flüsterte Findus kaum hörbar. Er sah seine Gefährtin und Geliebte aus tränennassen Augen an. „Spürst du es denn nicht? Er... ist... mein... Bruder!“ Die Stimme versagte ihm. Dayla schaute perplex auf den Bewusstlosen hinab. Trocken und pragmatisch denkend bemerkte sie: „Dann nenn´ wenigstens seinen richtigen Namen, um ihn an Dich zu binden! Damit er kein Unheil mehr anrichten kann.“ „Nein, er soll seine Chance bekommen. Seine Letzte. Als 139
Blutsverwandter bin ich ihm dazu verpflichtet.“ Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte Findus eine sich nähernde Schlange. „Zurück“ wies er sie an und das Tier gehorchte augenblicklich. „Komm´, hilf´ mir, ihn in den Schutzkreis zu tragen.“ Dayla fasste mit an und sie schleppten Baldur zu zweit in den magischen Kreis hinein. Vorsichtshalber erneuerte Findus den Kreis sogar noch. „Er mag hier liegen bleiben, bis er aufwacht“ sprach der Sieger „und dann tun, was ihm beliebt. Wenn er einsichtig ist, dann weiß er, was getan werden muß. Wenn nicht...“ Findus ließ den Rest des Satzes offen und schwieg vielsagend. Ernst blickte er Dayla in die Augen. „Sag´ - wenn die Bônday von dem Dämon im Myrkviör gewusst hätte, hätte sie Dir dann davon erzählt?“ „Mit Sicherheit“ erwiderte Dayla. „Und du warst völlig überrascht. Dann hat sie davon nicht gewusst. Dann konnte sie auch das mit den Seelen der Toten nicht wissen und ihre Befreiung war nicht meine zweite Prüfung“ folgerte Findus. „Das dürfte richtig sein“ meinte Dayla und setzte hinzu „Was hast du jetzt vor?“ „Unsere Wege trennen sich vorerst. Die Bônday muss informiert werden. Mach´ du das. Ich werde den Balumer Wald aufsuchen und die Seelen der Toten dort freigeben. Danach mache ich mich auf die Suche nach dem Geist des Waldes und nach dem Stein des Lebens. Allein. Wenn ich beides gefunden habe, dann kehre ich zur ‚namenlosen Insel‘ zurück. Warte dort auf mich. Die Bônday sollte sich auf diesen Tag gut vorbereiten. Sie wird mir nämlich helfen müssen, etwas über meine Herkunft zu erfahren. Die letzten Rätsel aus meiner Vergangenheit müssen gelöst werden. Unbedingt!“ Dayla nickte - ja, was er sagte, das war alles logisch und nachvollziehbar. Es war der beste Weg. Sie küssten und umarmten sich zum Abschied. Dayla verwandelte sich wieder in den weißen Schwan und flog nach Westen davon - in Richtung Tiedsiepe.
Findus schaute zum Wald hinüber. Es gab da eine Verbindung... - eine Drachenlinie! Ein vom magischen Geflecht selbst zur Verfügung gestellter Pfad in einer
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unwirklichen Zwischenwelt. Ein Pfad, quer durch alle Landschaften, Lebewesen und Gebäude. Ein zeitloser Pfad. Wer den Eingang zu diesem auch als Ley-Linie bezeichneten Weg fand, der konnte riesige Entfernungen praktisch in Nullzeit zurück legen. Allerdings offenbarten sich derartige Eingänge nur den allerwenigsten Menschen. Vielleicht manchmal den Menschen, die fähig waren, die Welt mit den Augen der Tiere zu sehen und die Gedanken der Tiere zu verstehen. Es bedurfte zum Auffinden schon einer besonderen, sehr seltenen Sensibilität, gepaart mit großer innerer Stärke. Nur Menschen, die über diese Eigenschaften verfügten, vermochten das flüchtige Flirren der Luft oder das seltsame Ziehen beim Reisen zu bemerken, welches vom Münden einer Ley-Linie kündete. Baldur konnte es nicht. Dayla auch nicht – oder nur noch nicht? Findus lächelte. Ja - genau da drüben flirrte die Luft. Kaum wahrnehmbar, wie eine Wärmeschliere und nur allzu leicht zu übersehen. Dort befand sich ein Ort, an dem der Wechsel von Norgast auf eine der Kraftlinien des magischen Geflechts möglich war. Findus trat darauf zu. Er verspürte im Kopf ein schwaches Ziehen, gerade so, als streife ein schwacher Wind an seiner Wange vorbei - nur eben Innen. Findus schloss die Augen und ließ den Ort auf sich wirken. Sah wieder das graue Narbengewebe Myrkviörs. Sah eine vernarbte und bis zum Balumer Wald reichende, hauchdünne, gleichfalls grau-vernarbte Linie. Daneben aber, breit und einladend, lag die Drachenlinie nass-kupfern schimmernd genau vor ihm. Er öffnete die Augen wieder. „Geist der Toten, sprich´ zu mir“ befahl er. „Ich höre dich, Herr“ ertönte es von überall her. „Ihr Toten habt mir im Kampf gegen den Herrscher geholfen“ äußerte Findus „und dafür gebührt euch mein Dank. Sammelt euch. Ich führe euch zu einem Ort, an dem ihr freigegeben werdet. Dort sollt ihr in das Totenreich eingehen und eure ewige Ruhe finden.“ „Herr, wir hören dich und wir danken dir. Wir folgen“ erscholl es zur Antwort. Er schloss die Augen erneut und konzentrierte sich auf die Ley. Findus durchschritt - den Pulk der Toten im Gefolge - die magische Grenze.
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Baldur erwachte. Er war allein. Keine Überlebenden bei seinen Männern. Das kam seiner Einstellung gleichzeitig aber auch sehr entgegen, denn nur so konnte niemand von seiner Niederlage berichten. Die Niederlage - etwas in dieser Art war ihm noch nie zuvor passiert. Und dann auch noch gegen so einen Niemand! Das alles kratzte an seinem Selbstbewusstsein. Gewaltig sogar. Er war unterlegen - und kein Mensch durfte je davon erfahren. Aber was jetzt? Baldur stellte fest, dass er in einem magischen Kreis lag. Gut. Die Magie funktionierte also wieder. Scheu blickte er zu dem seltsamen Wald hinüber. Ein mögliches Rückzugsgebiet, für den Fall, dass der Shâgun ihn angriff. Denn wo keine Magie existierte, da konnte auch ein Dämon nichts ausrichten. Aber nur die allerletzte Möglichkeit des Rückzuges, denn ein Ort zum Leben war dieser Wald ganz gewiss nicht. Dann schon eher zum Sterben... Doch wie sollte es nun weitergehen? Baldur dachte nach und besann sich auf genau das, was er am Besten beherrschte: Intrigen durch Lug und Trug zu sähen, dabei aber selbst immer als das Sinnbild der Gerechtigkeit, als der Inbegriff des Guten dastehend. Hinterlist und Heimtücke - seine liebsten Waffen, die er auch einzusetzen gedachte. Die Verfolgungen mussten sofort eingestellt werden. Das brachte jetzt ohnehin nichts mehr. Er würde die Männer ganz bewusst opfern und es so darstellen, als wären das Rebellen gewesen. Rebellen, die seine Gutartigkeit ausnutzten, um ihm ihre Untaten in die Schuhe zu schieben. Ja, so müsste es funktionieren. Dazu noch die entsprechenden Falschinformationen unter die Bevölkerung bringen - das konnte das Syndikat der Kaufleute erledigen. Baldur würde sich selbst als den strahlenden Helden präsentieren, dem es nur unter Einsatz seines eigenen Lebens gelungen war, die Köpfe der Rebellion auszuschalten. Das hörte sich schlüssig an. Und die Leute glaubten alles, wenn man es ihnen nur oft und laut genug von offizieller Seite sagte. Sogar das Gegenteil von dem, was sie selbst erfahren hatten. Das war schon immer so gewesen und würde wohl auch bis an das Ende aller Ewigkeit so bleiben.
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Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, erhob sich Baldur. Er legte seine Kleidung ab und wechselte die Gestalt. Wurde zur Krähe und flog zurück nach Helgenor. Nicht lange Zeit danach hörten die Verfolgungen auf. Viele der Häscher wurden auf sein Geheiß hin hingerichtet. Die Kaufleute berichteten den Menschen von einer fehlgeschlagenen Rebellion, doch sei jetzt wieder Frieden im Land. Aber was für ein Frieden... Eine Art von Lähmung hatte Norgast ergriffen. Jeder versuchte nur noch, für sich ganz allein zu überleben. Keine Nachbarn halfen sich mehr. Der Frieden war auf Angst und Misstrauen gegründet worden. Jeder gegen jeden, auf das Recht des Stärkeren pochend. Kritische Stimmen verstummten für immer, weil ihre Besitzer plötzlich auf klammheimliche und mitunter höchst seltsame Weise verschwanden. Querdenker wurden verlacht, aus den Städten geprügelt oder gleich erschlagen. Und insgeheim formierte Baldur eine neue Polizeitruppe. Die hatte nur einen einzigen Auftrag: Den Mann zu finden, der für ihn den Staatsfeind Nummer Eins darstellte! Baldur war vielleicht unterlegen, aber nachdem er seinen Widersacher schon einmal erfolgreich vergiftet hatte, stand es damit bestenfalls unentschieden. Die Sache war noch nicht ausgestanden – noch lange nicht! Doch die Suche nach Findus geschah in aller Heimlichkeit und unter massiver Bespitzelung der Bevölkerung. Baldurs eifrigste Zuträger waren die Kaufleute, koordiniert durch den jetzt doch nicht abgesägten Mijneer Vankampen. Für sowas war der alte Schleimer allemal noch gut genug. Und gelangte von den Maßnahmen doch einmal etwas an die Öffentlichkeit, dann wurde das mit Schutzbestrebungen begründet. Mit der Notwendigkeit, den Anfängen zu wehren und rebellische Zellen schon sehr frühzeitig ausschalten zu müssen – eben zum Schutz der Bevölkerung! Baldur hatte doch nur das Wohlergehen seiner Untertanen im Sinn, wie er selbst zynisch erklärte. Damit ließ sich alles begründen - auch das Beschneiden persönlicher Freiräume bei harmlosen Bürgern, auch jedwede Art von ‚vorbeugenden‘ Kontroll-, Überwachungs- und Haftmaßnahmen...
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Zwischenspiel: Dayla war knapp zwei Tage unterwegs, bevor sie die ‚namenlose Insel‘ erreichte. Die Bônday zeigte sich höchst erstaunt darüber, Dayla allein zurück kommen zu sehen. Sie ahnte, dass etwas vorgefallen sein musste. Das Beben im magischen Geflecht hatte sie alarmiert. Im Beisein von Lyonora berichtete Dayla daraufhin von ihrer Reise mit Findus. Sie setzte die beiden über Findus Erfahrungen bei den Zwergen, über das magische Schwert Gnarp, die neugewonnene magische Kraft und über alles Weitere in Kenntnis. Besonders das, was Dayla über die Brüderschaft mit dem Herrscher, den Myrkviör und über den Dämon zu sagen hatte, versetzte die Bônday in helle Aufregung. „Ein solcher Dämon kommt nicht von selbst“ bemerkte die Größte der Hexen Norgast´s und fügte hinzu: „Der muss beschworen worden sein. Vielleicht sogar unbeabsichtigt, so dass er nur ein offen stehendes Tor nach Norgast gefunden hat. Aber wenn das einmal geschehen ist, dann kann es auch öfter passieren. Norgast kann daran zugrunde gehen! Wir müssen unbedingt herausbekommen, wer das getan hat.“ Ernst sah sie ihre beiden Novizinnen an: „Wir werden unsere Neutralität aufgeben und uns einmischen müssen. Es hilft nichts; es geht nicht anders. Wenn das eine Bônday tut, dann betrifft das den ganzen Zirkel und damit auch automatisch alle Bôndays. Ich werde mit den anderen Kontakt aufnehmen.“ An Dayla gewandt setzte sie noch hinzu: „Findus hat Recht damit, dass dem Geheimnis seiner Herkunft jetzt größte Bedeutung beizumessen ist. Bereite du eine Evokation vor. Vergangenheit und vielleicht sogar frühere Inkarnationen von ihm. Die Evokation wird er natürlich selbst durchführen müssen, wenn er kommt. Aber dann sollte es sehr schnell gehen. Verzögerungen können wir uns nicht mehr leisten. Die Lage ist ernster, als ich dachte.“ Und so wurde der gesamte Hexenzirkel alarmiert und die Bônday, Lyonora sowie Dayla warteten sehnlichst auf Findus´ Rückkehr...
Findus überschritt die Grenze zur Ley-Linie. Für einen Außenstehenden hätte es so ausgesehen, als würde seine 144
Gestalt von einem orangenen Licht umspült werden und langsam verblassen. Dann lag Norgast hinter ihm. Um ihn herum die Geister der Toten - gesichtslose Schädel, verirrte Wanderer. Es mussten ihrer Hunderte sein und er war ihr Führer. Eine eigentümliche Stille umfing sie. Kein Laut war hier zu hören. Vor ihm lag ein höchst merkwürdiger Weg in Orange getaucht. Der Zeitablauf war verändert. Die Drachenlinie führte quer durch Norgast, quer durch Bäume, Tiere und Menschen. Auch durch das Innere der Bewohner. Aber alles war in seiner Bewegung erstarrt, wie eingefroren. Für Findus und die Toten hingegen verging Zeit - Reisezeit. Die Kraftlinie veränderte das Empfinden der Reisenden. Sie verfügten schlagartig über eine nie gekannte Einsicht und Klarheit der Gedanken. Sie verfügten über Erkenntnis. Das Wesen der Magie an sich offenbarte sich ihnen. Findus erkannte, dass die Magie in verschiedenen Ausprägungen auftrat und dass eben diese Ausprägungen eines Ordnungsprinzips oder eines Fokus bedurften. Die Ordnungsprinzipien selbst - das waren die Symbole, beispielsweise die Runen, die Steine, die Kerzen, die Ritualstäbe, die Kräuter. Sie variierten je nach Kultur und bewirkten doch alle das Gleiche - nämlich die Bereitstellung eines stofflichen Symbols. Das diente einzig dazu, die eigenen Gedanken derart zu konzentrieren, dass man das magische Geflecht nutzen konnte. Deswegen gab es für ein und die gleiche Art von Magie auch nicht nur ein einziges Symbol, sondern zumeist sogar deren viele. Die magische Kraft musste seitens ihres Benutzers fühlbar sein. Nur dann war es ihm möglich, ein magisches Symbol auch wirksam einzusetzen. Genau deswegen konnte aber die laienhafte, direkte Übernahme fremder magischer Techniken nicht funktionieren. Das wäre wie ein Wagen ohne Pferd gewesen. Das Pferd - das war der die Kräfte erfahrende Benutzer. Der Wagen - das war die Technik an sich: Die Rune, das Ritual, die Beschwörung, der Fluch. Die Dschinns in der fernen Wüste wandten andere Techniken als die Magier und Hexen Norgast´s an. Aber dennoch griffen sie auf die gleichen magischen Grundlagen zurück. Jede Kultur, ja jeder Magier oder jede Hexe entwickelte hinsichtlich der Technik einen ganz eigenen, persönlichen Stil. 145
Abwandlungen davon kamen im Lauf der Zeit zwar auf, aber die beeinflussten die Wirkung der Kräfte nicht. Auf diese Weise wurde der ganz persönliche magische Stil immer ergebnisorientiert eingesetzt und beeinflusste die Selbstorganisation der chaotischen Urkraft. Kleine Ursache und große Wirkung - womit sich ein Kreis schloss: Die Funktionsweise der Magie. Findus erblickte weitere Drachenlinien, alle einander ähnlich - selbstähnlich. In der Anderswelt hätte man das mit dem Fachbegriff ‚fraktal‘ bezeichnet. Zusammen bildeten die Linien Muster. Muster, welche denen überaus ähnlich waren, die er mit seiner anderen Art der Wahrnehmung vor dem inneren Auge immer sah. Muster, die manchmal auch im Lande Norgast einen Abdruck hinterließen - in Form von Bergrücken, Streifen ohne Bewuchs, Hainen mit bestimmten Pflanzen und auf andere Weise. Mit den Toten im Gefolge schritt er die Drachenlinie entlang. Folgte dem orangenen Licht durch das Innere von Bäumen hindurch. Sah deren Jahresringe und deren lebensspendende Säfte. Erstarrte Dryaden dazwischen. Sah tief in der Erde verankerte Wurzeln und die Würmer und die Bodenbewohner ringsum. Sie glitten durch einen scheinbar mittig geteilten Menschen, durchwanderten später eine Hütte, in welcher Findus´ das Fischerpaar Bewok und Snofork zu erkennen glaubte. Sie durchschritten Gewässer, ohne nass zu werden. Sahen bewegungslose Fische und Najaden. Hier und dort gewahrte Findus einen blassen Spalt im allgegenwärtigen Orange - die Ein- und Ausgänge der Drachenlinie. Einen dieser Spalte drückte er mit Gedankenkraft auseinander und trat hinaus. Er war wieder in Norgast. Hier war keinerlei Zeit vergangen. Er befand sich an dem seltsamen und doch so vertrauten Ort südlich von Balum. An dem Ort mit den merkwürdig verdrehten Bäumen - dort, wo Baldur ihn einst vergiftet hatte. „Geist der Toten, sprich zu mir!“ rief Findus. „Herr, ich bin hier“ ertönte die Antwort. „Dieser Ort ist ein Übergang zwischen den Welten. Ihr seid frei. Geht ein in das Totenreich und findet Eure ewige Ruhe!“ „Wir danken dir!“ Ein Rauschen, Raunen und Brausen erhob sich. Es dauerte nicht lange und Findus war allein. 146
Er ließ die Seltsamkeit dieses Übergangs zwischen den Welten - dieses ‚Kraftplatzes‘ - auf sich einwirken. Blickte auf das ihm so wohlvertraute Gehölz. Auf die gnomenhafte Wurzel, aus der sich zwei lange Baumtriebe rechts und links wie Arme nach oben erstreckten. Auf den hölzernen Schlangenkopf. Auf den mannsstarken, korkenzieherartig verdrehten Stamm eines anderen Baumes. Daneben einer mit einem Ring im Stamm. Findus´ Blick verlor sich in der Unendlichkeit. Der Wald verschwamm vor seinen Augen. Stattdessen sah er Punkte. Winzige, vernarbte Punkte von Grau und alle miteinander durch hauchzarte Narbenfäden verbunden. Einer davon führte an der Ley-Linie entlang. Hier war es gewesen. Hier hatte das Unheil seinen Lauf genommen. Hier war der Dämon nach Norgast hinein diffundiert und dann der Kraftlinie gefolgt, um sich schließlich im Myrkviör zu manifestieren. Aber warum war der Myrkviör-Dämon gekommen? Wer hatte ihm den Zutritt ermöglicht? Fragen, die Findus quälten. Fragen, die einer Antwort harrten. Und dann war da noch etwas: Dieser überaus seltsame Ort erschien ihm wie eine Art von dreidimensionalem Spiegel. Spiegel sind schon seltsame Gegenstände. Auf den ersten Blick zeigen sie einem nur das eigene Spiegelbild. Richtig angeordnet und das Licht umlenkend kann man aber mit mehreren Spiegeln auch fremde Orte betrachten. Und wenn man sich erst einmal in der Betrachtung eines Spiegelbildes verliert, dann können noch weitaus merkwürdigere Dinge geschehen - gerade so, als sähe man die Rückseite des Spiegels. Was wäre wohl auf der Rückseite dieses Spiegels, dieses seltsamen Ortes, zu erwarten? Findus entspannte sich, machte seine Gedanken frei und führte eine meditative Übung durch. Ja - da war eine Schwingung. Sie zeigte die Rückseite des Spiegels. Ein Baum. Uralt, verwinkelt, dickborkig und knorrig. Mit einer riesigen Krone, die ihn wie eine Glocke umgab und deren Äste bis zum Boden reichten. Noch merkwürdiger geformt als die Bäume hier. Aber dieser eine Baum war mehr - war der König, der Herrscher des hiesigen Gehölzes. Findus stand auf und trat durch den Spiegel hindurch. Nun stand er in der Glocke, vor diesem einen Baum, in einem gänzlich anderen 147
Wald. Der Wind rauschte und die Vögel sangen. Dies hier mochte durchaus auch noch Norgast sein – nur ein gänzlich anderer Ort. Doch was war das? Um den Baum herum lag ein Bannzauber, wie Findus ihn noch nie erfahren hatte. Findus trat aus der Baumkronen-Glocke hinaus und betrachtete das Gebilde kopfschüttelnd von außen. Unglaublich! Der Bann, der um diesen Baum herum lag, war hier draußen geradezu lachhaft schwach. Kaum zu bemerken und jeder Magienovize oder jede Junghexe hätte den Zauber problemlos aufheben können. Im Innern der Glocke jedoch war der Bann geradezu überwältigend stark. Auf Findus wirkte das wie eine Monsterwelle. Vom Rücken her - also von außen - bis zum Kamm hin nur sacht ansteigend, aber auf der anderen Seite eine vernichtende, unbezwingbare Wand. Um einen solchen Bannzauber zu installieren bedurfte es großer magischer Kraft bei gleichzeitig geringen Kenntnissen der Magie oder aber umgekehrt perfekten Kenntnissen der Magie bei vergleichsweise schwacher Kraft. Oder aber... ...es bedurfte zweier Personen. Eines Magiers, welcher noch nicht auf der Höhe seiner Kunst angelangt war und fremder, mächtiger Hilfe. Beispielsweise dämonischer Kraft! Und genau das war die Verbindung zu dem seltsamen Wald bei Balum, durchfuhr es Findus siedend heiß. Wenn sich dort jemand einer durch und durch bösen Macht bedient hatte, um hier ein Wesen festzusetzen, dann konnte dieses festgesetzte Wesen eigentlich nur gut sein! Findus entschloss sich daher, den Bann aufzuheben. „Berkana und Sowilu, vertreibt die Dunkelheit. Gewährt diesem gefangenen Geschöpf einen Neubeginn.“ Er zeichnete die Runen in die Luft. Beide flammten kurz auf und waren verschwunden. Zunächst geschah gar nichts, so dass Findus schon annahm, sein Befreiungsversuch seie fehlgeschlagen. Doch urplötzlich raschelte es in den Blättern und sie bewegten sich - gerade so, als würden sie von einem Wind, der vom Stamm ausgeht, nach oben auseinander gedrückt werden. Tatsächlich geschah auch genau das. Die Äste bewegten sich nach oben und schrumpften dabei. Die Blätter kehrten in das Holz zurück. Die nun aufgerichtete Baumkrone schrumpfte in den Stamm hinein. Was übrig blieb, war ein knorriger Stamm von 148
entfernt menschenähnlicher Statur. Und auch dieser knorrige Stamm verwandelte sich unaufhaltsam weiter. Bis am Ende ein sehr, sehr alter Mann von machtvoller Ausstrahlung dort stand - ein Magier. „Danke“ sagte der nur. Findus starrte den Magier an. „Wer bist du? Und wo sind wir hier eigentlich?“ fragte er. Der alte Magier begann weise zu lächeln und stellte eine Gegenfrage: „Wer bist du denn, Jüngling, dass du die Kraft hast, mich zu befreien und gleichzeitig zu unwissend bist, um deinen eigenen Aufenthaltsort zu kennen?“ „Man nennt mich Findus. Ich bin von Balum aus hierher gelangt.“ „Von Balum aus, so so... Und wie bist du hergekommen?“ „Über den seltsamen Ort dort im Wald. Er funktioniert wie ein Spiegel. Ich suchte die Rückseite des Spiegels. Dann bin ich durchgegangen.“ „Einfach so, ja? Es gibt da eine ganze Menge, was du mir noch erzählen musst. Jemanden mit einer magischen Kraft wie der deinen gibt es nur selten. Aber dazu kommen wir später, denn ich will nicht unhöflich sein. Du befindest dich hier im Haucain. Ich selbst werde - oder wurde, denn ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, seit ich in die Baumgestalt gesperrt worden bin - Malweýn genannt.“ „Malweýn“ keuchte Findus und blickte den Alten entgeistert an. Dann kam es flüsternd aus seinem Mund „Meine zweite Prüfung... Bring´ mir den Geist des Waldes...“ Der Alte verfügte über sehr gute Ohren. „Wer hat Dir das aufgetragen?“ fragte er. „Die Bônday von der ‚namenlosen Insel‘“ lautete wahrheitsgemäß Findus´ Antwort. Malweýn lächelte versonnen „Meine alte Freundin und Konkurrentin. Es gibt sie also immer noch. Sag´“ er blickte Findus nun direkt an „wer regiert jetzt Norgast?“ „Baldur.“ In den Augen des Alten blitzte es zornig auf. „Baldur. Ausgerechnet! Von allen möglichen Wahrscheinlichkeiten die mit Abstand Allerschlimmste! Dann kann es dem Land nicht gut gehen!“ „Das tut es auch nicht. Norgast heute, das ist jeder gegen jeden. Mord, Folter, Intrigen und Angst. Baldur lebt gut davon. Er hält die Menschen unwissend, versorgt sie mit falschen Informationen und presst aus ihnen heraus, was herauszupressen ist.“ „Und ich wette, die Kaufleute unterstützen ihn dabei nach Kräften.“ „Das mag sein“ mutmaßte Findus „doch davon weiß ich nichts.“ 149
„Wir sollten uns jetzt ganz intensiv miteinander unterhalten“ schlug Malweýn vor und setzte sich. „Erzähl mir alles, was du weißt.“ Und Findus berichtete. Von dem Kräuterweib, das ihn aufgezogen hatte. Von seiner Zeit des Erwachsenwerdens auf der ‚namenlosen Insel‘. Wie er von dort ausgerissen war und wie Baldur ihn vergiftete. Von den Erlebnissen in der Anderswelt. Wie sein Gedächtnis verschwand. Von Bewok und Snofork und von seiner Rückkehr zur ‚namenlosen Insel‘. Von Dayla, seiner Geliebten. Er sprach über die drei Prüfungen, welche die Bônday ihm abverlangte. Erwähnte die Nebelsenke, die Zwerge und Gnarp. Wie er selbst zum weißen Raben wurde. Die ganze Zeit über hörte Malweýn ihm aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen. Nur an der Stelle, als Findus´ Erzählung auf die Geschehnisse um den Dämon im Myrkviör und auf Baldur kam, da wurde der Alte lebendig. „Ich ahnte, daß etwas Schlimmes passieren würde. Baldur hat auch mich seinerzeit vergiftet. Dennoch wäre es ihm niemals möglich gewesen, mich so zu bannen, wie es dann doch passiert ist. Dazu reichte seine Magie einfach nicht aus. Er hat Hilfe beschworen. Dämonische Hilfe. Er war es, der den Myrkviör-Dämon nach Norgast hinein gelassen hat!“ Der alte Zauberer schwieg wieder und Findus setzte seinen Bericht fort. Wie er die Drachenlinie benutzte und wie die Seelen der Toten ihre Ruhe fanden. Wie er hierher gelangt war. Mit den Worten „Und was machen wir jetzt?“ schloss Findus seinen Bericht. „Nicht wir, mein Junge, sondern du. Du ganz allein. Ich für meinen Teil weiß ganz genau, was ich zu tun habe. Deswegen muss ich dich auch entäuschen. Der Geist des Waldes - das bin ganz zweifellos ich selbst. Aber du wirst mich nicht zur Bônday bringen, ganz im Gegenteil. Ich werde die Bônday veranlassen, zu mir zu kommen. Das zwingt sie, ihre sinnlose und gefährliche Einstellung der Nichteinmischung aufzugeben und endlich mal Partei zu ergreifen.“ „Du kennst sie von früher?“ „Oh ja, und wie. Eine weise und schöne Frau, die es versteht, einem Mann die schönsten Freuden zu schenken. Wir standen uns sehr nahe, standen aber auch in Konkurrenz miteinander, haben uns zusammengerauft, geliebt, gehasst, geliebt, gestritten und 150
wieder geliebt. Ich kann nicht ohne sie sein und sie nicht ohne mich. Aber wir beide zusammen - da wird ein kritischer Punkt überschritten und das geht erst Recht nicht gut. Wir sind eben zwei zu selbstbewusste, querdenkende Geister. Manchmal mit gleichen Ansichten. Manchmal aber auch nicht. Und dann knallt´s eben.“ Versonnen lächelnd blickte Malweýn in die Ferne. Ächzend erhob sich der alte Magier. „Gut, dann will ich dich mal in meine Pläne einweihen. Baldur schöpft seine politisch-weltliche Macht aus seinem Reichtum. Nur, dass Norgast selbst kaum Reichtümer zu bieten hat. Geld, Gold, Edelsteine und so weiter - all das stammt aus dem Süden und wird von den Kaufleuten herangeschafft. Unter dem Strich sind sie es, die Baldur´s Herrschaft erst ermöglichen. Eine Situation, die sich im Laufe der Zeit so entwickelt hat. Geld kam zu Geld und irgendwann waren es die mit dem meisten Geld, die nur noch ihnen genehme Herrscher einsetzten. Das Vermögen der Kaufleute kommt aus dem Süden, aus der Gegend um die Suderhelge und aus der Wüste. Karawanen handeln dort mit Lebensmitteln aus Norgast, denn da unten wächst kaum etwas. Gold und Edelsteine sind der Gegenwert. Eingesammelt wird das alles in Sirval am Rande der Steinwüste. Von dort aus werden in regelmäßigen Abständen geheime und schwer bewachte Kutschen nach Diekenboog und Westboog geschickt. Das war schon zu meiner Zeit so und daran wird sich bis heute nichts geändert haben.“ Malweýn schwieg einen Moment und fuhr dann fort: „Der Weg dieser Kutschen führt durch den Bomenhau. Schneidet man Baldur hier den Nachschub seines Reichtums ab, dann schneidet man ihm auch die Lebensader ab. Er hatte mich gebannt, aber meine Macht konnte er nicht brechen. Deswegen war ich zwar bewegungslos, aber nicht untätig. Komm´ mit!“ Der Zauberer trat vor und öffnete wie beiläufig den Zugang zu einer Ley-Linie. Sie traten ein, doch kaum waren sie in dem orangenen Licht, da befanden sie sich auch schon wieder draußen - im Wald von Balum. Hinter ihnen knisterte es und schwarze Funken schwebten für kurze Zeit in der Luft. „Diese Ley ist eben zusammen gebrochen“ meinte Malweýn und erläuterte achselzuckend: „Die Verbindung bestand sowieso nur aufgrund des alten dämonischen 151
Einflusses. Eigentlich müsste ich Baldur dafür sogar dankbar sein. Denn ohne diese künstliche Verbindung wäre mir das hier nie gelungen.“ Malweýn stand da und breitete mit einer weit ausladenden Bewegung seine Arme zum Wald hin aus. „Was meinst du mit ‚das hier‘?“ fragte Findus, der sich neben dem Alten plötzlich wieder ganz klein und unwissend vorkam. Malweýn grinste ihn freudig an. „Was siehst du?“ „Die verdrehten Bäume. Und die seltsamen Wurzeln.“ „Erinnern Dich die Formen der Wurzeln nicht an irgend etwas?“ „Ja schon. Teilweise haben sie entfernte Ähnlichkeit mit Tieren oder Menschen.“ „Es sind Tiere oder Menschen. Und Zwerge und Trolle und Kobolde. Und mehr. Eingefangen und verholzt. Meine Horde, mit der ich Baldur und die Kaufleute zu erledigen gedenke. Die Tiere gehorchen mir ohnehin. Den Menschen und den anderen Wesen werde ich es freistellen, ob sie mich begleiten wollen. Aber ich bin sicher, dass die meisten es tun werden. Sie sind Flüchtlinge und Ausgestoßene. Menschen, die unter Baldur gelitten haben.“ Malweýn intonierte einen für Findus´ Ohren völlig fremdartigen Gesang in einer unbekannten Sprache. Metallisch-bläulich glühendes Licht umspielte den Körper des Alten. Wie von innen heraus leuchtete seine Aura. Von seinen Fingerspitzen aus fuhren grünlich-türkisfarbene Blitze in die Wurzeln und gaben das frei, was darin steckte. Hier einen Menschen, der sich verwundert die Augen rieb. Da eine Schlange. Ein Wildschwein. Und noch viel mehr... Nachdem das alles vorüber war, umfasste die Horde gut fünfzig Mitglieder – Menschen ebenso wie magische Wesen und Tiere. Malweýn sprach zu ihnen, legte ihnen seine Absichten dar. Er beabsichtigte, sie zum Bomenhau zu führen. Quer über das Land; eine Reise von ungefähr der Dauer eines halben Mondes. Nicht einer der Befreiten wollte zurück bleiben. „Nun zu dir“ sagte Malweýn, vor neugewonnener Energie nur so berstend, an Findus gewandt. „Bei der Suche nach dem Stein des Lebens kann ich dir nicht helfen. Es kann durchaus sein, dass es sich um einen realen Stein handelt. Aber es ist genauso gut möglich, dass das nur im übertragenen Sinne gemeint ist. Die Bônday liebte es schon 152
immer, sich einen orakelhaften Anschein zu geben und in Rätseln zu sprechen. Für sie hat das den Vorteil, dass niemand sie auf etwas festnageln kann. Einer unser ältesten Streitpunkte überhaupt. Doch egal. Wie gesagt - ich selbst kann dir nicht helfen. Aber ich kenne jemanden, der sich sein ganzes Leben lang mit der Magie der Steine befasst hat. Es ist ein Dschinn. Er lebt etwa westlich von Sirval, dort, wo Wüste und Suderhelge ineinander übergehen. Gehe dorthin. Bestelle ihm einen schönen Gruß von mir. Er wird Dir sehr wahrscheinlich weiterhelfen können. Ach ja - und er ist manchmal etwas sonderbar, um nicht zu sagen schrullig. Sieh´ es ihm nach.“ Malweýn hob zum Abschied grüßend die Hand und zog, begleitet von seiner Horde, los.
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Kapitel 8: Der Stein des Lebens „Ausgerechnet ein Dschinn!“ dachte Findus am Tag darauf,
lange nachdem Malweýn losgezogen war, und rekapitulierte kurz, was er eigentlich über die Dschinn wusste. Viel war es nicht und es entstammte noch der Zeit seiner Ausbildung bei der Bônday. Aus der Zeit vor dem Verlust seines Gedächtnisses. Erst bei den Zwergen hatte er dieses Wissen zurück erlangt. Danach handelte es sich bei den Dschinn um Geistwesen, die irgendwo zwischen Menschen und Göttern einzuordnen waren. Sie sollten aus rauchlosem Feuer bestehen - was immer das auch sein mochte. Und sie konnten sich in bestimmten Fällen durch Vergeistigung aus einem Menschen entwickeln. Weit im Süden glaubten die Leute, dass ein jeder Zeit seines Lebens von einem Dschinn, den er Qarin oder Gefährte nannte, begleitet wurde. Ob das den Tatsachen entsprach, vermochte niemand zu sagen. Immerhin - starb ein magisch begabter Mensch, dann konnte er im Dschinn aufgehen und zukünftig mit dem eine Einheit bilden. Andererseits aber konnte ein Mensch niemals die Befehlsgewalt über einen Dschinn erlangen. Und genau so, wie es gute wie böse Menschen gab, sollten auch freundliche wie schlechte Dschinns existieren. Nur - selbst mit den Guten war das so eine Sache... Denn allzu oft verloren sie den Kontakt zur Realität oder entwickelten recht seltsame Schrullen. Deswegen tat man gut daran, den Kontakt mit einem Dschinn nicht zu suchen. Sie lebten eben ihr eigenes Leben. Doch selbst dann, wenn der Kontakt absichtlich gesucht wurde, waren die Dschinns häufig nicht zu finden. Es gab welche, die im Boden lebten. Anderen war die Luft eine Heimat. Und schließlich gab es eine letzte, erdgebundene Gruppe. Diese Dschinns lebten in Tieren oder in Gegenständen - Ruinen, Bäumen, Dünen. Heute hier, morgen dort. Nein, einen Dschinn finden konnte man nicht. Vielmehr wurde man selbst von einem gefunden! Nicht gerade rosige Aussichten. Findus seufzte. Er verwandelte sich wieder in den weißen Raben und flog los. Richtung Osten, auf die Wüste zu. 154
Schnell breitete sich sonnendurchglühtes Land unter dem hochfliegenden Vogel aus. Weißes Salz, soweit das Auge reichte. Wie ein liegender und nach oben weisender Haizahn schob sich die Wüste in nordöstlicher Richtung nach Norgast hinein. Doch es war keine einheitliche Landschaft - weit gefehlt, wer das glaubte! Kurz vor dem Erreichen der heißesten Zeit des Tages begann das Land, sich zu wandeln. Unmerklich zunächst, wurde es schnell immer deutlicher, dass das Salz einer Sandfläche wich. Findus blickte auf sanft geschwungene Dünen hinab. Feinster Sand - hübsch anzusehen, solange er ruhig lag. Eine tödliche Gefahr, wenn Wind – der Sufon, wie ihn die Bewohner des Südens nannten - hinzu kam! Zum Glück aber war es windstill und Findus hatte keinen Sandsturm zu befürchten. Doch die Hitze machte ihm zu schaffen, trocknete ihn aus. Er brauchte Wasser. Unbedingt und schnell! Der weiße Rabe hielt Ausschau nach dem Grün von Pflanzen, welches Wasser oder gar eine Oase signalisieren würde, doch er konnte nichts finden. Findus flog weiter - und höher, denn weiter oben war es kühler. Doch damit nahm er ganz bewusst den Nachteil in Kauf, die Wüste nicht mehr in allen Einzelheiten mit den Augen absuchen zu können. So bemerkte er auch erst recht spät, wie sich die Berge der Suderhelge vor ihm aufzutürmen begannen. Er flog tiefer, entdeckte Grün, landete. In einer schattigen Nische fand er nach einigem Suchen sogar Wasser und konnte seinen Durst löschen. Er verwandelte sich in die menschliche Gestalt zurück und blickte sich um. Eine trostlose Mondlandschaft umgab ihn! Hübsch bunt gemusterte Felsen zwar, aber bar jeglichen Lebens. Kahle Berghänge in einem abweisenden, lebensfeindlichen Urzustand. Weiter draußen, zur Sandwüste hin, türmten sich Geröllberge auf - wie Schutt, den spielende Riesen hier abgeladen hatten. Über allem spannte sich, im krassen Gegensatz zur Feindseeligkeit des Landes stehend, ein azurblauer Himmel. Der Ort stimmte. Doch wie, um alles in der Welt, sollte er hier den von Malweýn erwähnten Dschinn finden? Zumal die Sonne sich jetzt bereits neigte? Um sich vor Schlangen und ähnlichem Getier zu schützen, zog Findus mit Gnarp einen magischen Kreis. Fraglich, ob der hier 155
funktionierte. Daher fügte er in den Kreis noch ein Pentagramm mit ein und schlug exakt in der Mitte sein Nachtlager auf. Sein Magen knurrte. Morgen würde er weitersehen.
Findus erwachte noch vor Sonnenaufgang. Ihn fröstelte; es war empfindlich kühl - und er hatte Hunger. Aber nichts zu essen. Wirklich nicht? Sein Blick fiel auf das Grün, welches ihn gestern hierher geführt hatte. Pflanzen. Vielleicht essbar. Und wo Pflanzen wuchsen, da gab es für gewöhnlich auch Insekten. Er kramte eine kleine hölzerne Schale aus seinem Ranzen und schöpfte damit etwas Wasser. Dann ging er zu den Pflanzen hinüber: unbekannte Gewächse. Möglicherweise giftig. Doch das Risiko würde er eingehen müssen. Er untersuchte das Kraut und fand - Ameisen! Vermutlich gab es keinen Ort auf der Welt, den diese kleinen Tierchen nicht besiedelt hatten. Aber egal - das war Nahrung und er spürte, dass er Kraft brauchen konnte. Der einsame Reisende sammelte soviele Ameisen wie er konnte und brach auch einige der grünen Stängel ab. Das alles wanderte zerkleinert in die Schale mit dem Wasser. Unter der Anrufung von Sig´s Kräften erwärmte sich das Wasser zu einer vielleicht nicht gerade wohlschmeckenden, aber doch stärkenden Suppe. Findus leerte alles aus - wer wusste schon, wann er die nächste Mahlzeit bekommen könnte? Doch so ‚ganz ohne‘ waren die Pflanzen nicht, denn schon kurz nach diesem Frühstück füllte sich sein Geist mit einem bemerkenswerten Weitblick. Findus richtete seine Gedanken zur Wüste hin, machte den Kopf frei und verinnerlichte die Macht von Othila. Irgendwann bemerkte er, dass die Sonne schien. Irgendwann stellte er fest: Da draußen war - etwas! Er stand auf, kniff die Augen zusammen und beschattete sie obendrein noch mit der Hand, um nicht vom grellen Sonnenlicht geblendet zu werden. Blickte zur Wüste hinaus. Wie eine Windhose erhob sich dort ein blassgraugelber Schleier vor den Geröllbergen - ein Staubteufel! Und genau der übte eine eigenartige, magische Anziehungskraft aus. Findus wechselte in die Gestalt des weißen Rabens und flog
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hin. Nein - das war kein Staubteufel. Das war eine Staubwolke, hervorgerufen von einem springenden Sandwurm! Sandwürmer: selten, riesig und überaus gefährlich! Diese Tiere erinnerten auf den ersten Blick an einen überdimensionalen, hausgroßen Regenwurm. Doch im Gegensatz zum Regenwurm verfügten sie über ein ausgeprägtes Kopf- und Schwanzende. Das Schwanzende war extrem muskulös und erlaubte ihnen weite Sprünge. Auf diese Weise durchquerten die Tiere Geröllflächen und gelangten in ihren angestammten Lebensraum, den Sand. Dort gruben sie sich mit Hilfe des riesigen, dreieckigen und Tentakellippenbesetzten Mauls ein. Dabei schluckten sie Unmengen von Sand - und zogen alles an Wasser und fleischlicher Nahrung aus dem Sand heraus, was sie zum Überleben brauchten. Sandwürmer verwerteten alles, und zwar vollständig. Auch Mensch und Tier verschmähten sie nicht - ganz im Gegenteil, so etwas deckte ihren Nährstoffbedarf für eine lange Zeit. Sie wuchsen sehr langsam und wurden uralt dabei. Und verdammt groß. Anhand der Größe ließ sich ihr Alter abschätzen. Dieses Exemplar hier vor Findus erreichte die Größe einer typischen Kaufleute-Bark. Es musste Hunderte von Sonnenumläufen alt sein. Schon aufgrund seiner schieren Masse war es praktisch unangreifbar. Ein Sandwurm hier mitten im Geröllfeld - weit weg von jeder Sandfläche. Wie kam der hierher? Das augenlose Tier witterte Findus auf eine nicht erkennbare Weise und rollte sich ähnlich einer angriffsbereiten Schlange zusammen. Es hob den Kopf und öffnete das Maul. Findus blickte in einen fremdartigen Rachen und zog vorsichtshalber Gnarp. Er war auf einen Angriff vorbereitet. Und das Tier - es nieste! Staub und Geröllbrocken - letztere gefährliche Geschosse von der Größe eines Männerkopfes - flogen Findus um die Ohren. Gedankenschnell parierte er mit Gnarp und es gelang ihm, die Steine abzuwehren. Dann eine kurze Stille und der Boden vibrierte. Ein tiefer, dunkler, wolkig-voluminöser, nasskupferfarbener Ton - und ganz entfernt an so etwas Ähnliches wie ein menschliches Lachen erinnernd. Der Sandwurm senkte den Kopf, schien auf etwas zu warten. Hinter Findus ein Geräusch. Alarmiert blickte er kurz über die Schulter nach hinten - und erstarrte. 157
Findus´ Mund öffnete sich, doch kein Geräusch entrang sich ihm. Findus stand nur da und staunte. Die Steine. Die abgewehrten Steine! Sie bildeten eine Form, eine Figur - nämlich : Far-Ur-Rit! Das Untier kannte Findus´ wirklichen Namen! Dann konnte es kein normales Tier sein! War das etwa der schrullige Dschinn, den Malweýn erwähnt hatte? „Wer oder was bist du wirklich?“ rief er dem Tier entgegen. Wieder dieses tief-vibrierende Lachen. Dann löste sich etwas in der Luft Flirrendes aus dem Körper des Tieres. Der Sandwurm blieb liegen, schlief ein und das Flirren schwebte auf Findus zu. „Ich kann mir nur eine Person vorstellen, die mir einen weißen Raben schickt“ standen plötzlich fremde Worte in Findus´ Geist und spöttisch: „Gibt es den alten MöchtegernZauberer immer noch?“ „Meinst du Malweýn?“ „Keinen anderen.“ „Ja, es gibt ihn noch. Oder besser, es gibt ihn wieder. Er trug mir auf, mich nach einem Dschinn umzusehen, der mir helfen kann. Der soll hier in dieser Gegend leben.“ „Ich weiß hier nur von einem Dschinn und das bin ich selbst. Wobei helfen?“ „Bei der Suche nach einem Stein.“ „Was für ein Stein? Erz? Edelsteine? Seltene Kristalle? Reichtum? Das ist es doch, was euch Sterbliche einzig interessiert!“ „Nein, mir ist eine Aufgabe auferlegt worden.“ „Was für eine Aufgabe?“ „Bring´ mir den Stein des Lebens!“ „Wer hat dir diese Aufgabe gestellt?“ Die Stimme des Dschinns in Findus´ Kopf klang plötzlich kalt und schneidend, ernst und schmerzend. Der spöttische Unterton darin war restlos verschwunden. Findus spürte instinktiv, dass er hier an uralte Geheimnisse rührte. Verborgenes Wissen, welches nur einigen ganz Wenigen zugänglich war. Er entschied sich daher wieder für schonungslose Offenheit, wie seinerzeit auch Malweýn gegenüber: „Diese Aufgabe hat mir die Bônday gestellt, die in Norgast auf der ‚namenlosen Insel‘ inmitten der Tiedsiepe lebt - falls dir das etwas sagt.“ „Oh ja, es sagt mir etwas. Sogar sehr viel. Es bedeutet nämlich, dass eine Bônday sich einmischt. Das hat es noch nie gegeben. Nun, mir soll es Recht sein. Ich muss es ja nicht ausbaden. Du wirst den ‚Stein des Lebens‘ hier allerdings nicht finden. Dennoch werde ich versuchen, dir zu helfen. Erschrick´ nicht!“ Das Flirren kam 158
auf Findus zu und durchdrang ihn. Schlagartig wurde ihm unendlich heiß. Jetzt fühlte er am eigenen Körper, was ‚aus rauchlosem Feuer gemacht‘ bedeutete. Ein heißer Schmerz zwang ihn, die Augen zu schließen. Als er sie wieder öffnete, stand er in einer Höhle. Neben ihm flirrte es in der Luft. „Was siehst du?“ klangen fragende Worte in Findus´ Geist auf. Er blickte sich aufmerksam um. Kristalle - da waren Kristalle an den Wänden. Sechseckige pyramidale Kristalle, prismatische Stifte und seitlich aufgewachsene Doppelender, teilweise unterarmlang. Er fühlte sich von dieser natürlich entstandenen, zeitlosen Vollkommenheit seltsam berührt. Der flirrende Dschinn neben ihm leuchtete in der Farbe des Tageslichts und die vom Geist ausgehenden Lichtstrahlen wurden von den Kristallen vielfach und in allen möglichen Farben gebrochen. Wasserklar vom Bergkristall, violett vom Amethyst, goldfarben vom Rauchquarz, rötlich vom Rosenquarz, gelb vom Citrin, blau vom Saphirquarz. Teilweise bildeten sich sternförmige und sich in einem einzigen Punkt schneidende Lichtstreifen oder je nach Blickwinkel unterschiedliche, buntfleckige Farbenspiele. Das hier war eine natürliche Schatzkammer, wie sie bisher nie eines Menschen Auge erblickt hatte. Viel zu vollkommen für den Menschen... Findus schuckte. Er versuchte sich zu artikulieren, doch fehlten ihm angesichts dieses Naturwunders die richtigen Worte. Es ließ sich einfach nicht mit Silben beschreiben, was er sah, was er fühlte. „Du sagst ja gar nichts“ ertönte die Stimme des Dschinns. „Dir hat´s wohl die Sprache verschlagen? Das kann ich verstehen. Und dennoch ist das, was du hier siehst, nur ein schwacher, unvollständiger Abklatsch dessen, was du eigentlich suchst. Der ‚Stein des Lebens‘ ist ein natürlicher Stein. So wie diese Kristalle hier. Aber es ist ein Stein im Stein, ein Kristall im Kristall und darin wieder ein Kristall und so weiter bis hinein in die Unendlichkeit.“ Die Stimme schwieg, ließ Findus die überwältigenden Eindrücke in sich aufnehmen und fuhr kurze Zeit später fort: „Einen solchen Stein gibt es hier nicht. Wenn du ihn siehst, dann wirst du begreifen, was es mit Norgast, den Anderswelten und dem Universum auf sich hat. Wie alles 159
zusammenhängt und welche Rolle der Magie wirklich zukommt. Doch dazu musst du den Stein erst sehen.“ „Wo finde ich ihn?“ fragte Findus tonlos. „Weit weg von hier. Im Norden. Hinter dem Maar. Dort liegt eine Insel namens Fucunor. Auf der Insel gibt es ein paar Hütten, die den Namen ‚Nifelheim‘ tragen. Dort lebt eine Bônday, die eine Harpyie ist. Sie mag keine Fremden.“ Das Flirren umhüllte Findus erneut und nun stand er nicht weit entfernt von seinem letzten Nachtlager. „Mehr Hilfe kann ich dir nicht geben. Viel Glück!“ Das Flirren und die Stimme in seinem Kopf verschwanden. Findus war allein. Allein und sehr nachdenklich...
Wieder in Rabengestalt verwandelt flog Findus los, einen Kurs immer etwas rechts von der Sonne haltend, in Richtung Nordwesten. Er flog sehr lange, bis das Gleißen der Wüste unter ihm verschwand. Erst mit den letzten Strahlen der untergehenden Sonne erreichte er bewaldetes Gebiet und hielt nach etwas ganz Bestimmtem Ausschau. Und nach einigem Suchen fand er es dann auch, nur aus großer Höhe als das zu erkennen, was es war: Ein Netz von Linien mit schwächerem, abweichendem oder gar fehlendem Bewuchs. Ähnlich dem Netz einer Spinne. Das Netz der Norgast durchziehenden Drachenlinien! Er landete im Wald nahe einer solchen Sakrallinie und nahm Menschengestalt an. Wasser gab es hier ganz im Gegensatz zur Wüste zur Genüge, doch der Hunger quälte ihn. Findus suchte einen Eingang zur Ley, welche hier unten am Erdboden absolut nicht mehr auszumachen war. Dabei fiel sein Blick auf ein paar recht große Pilze und sein Hunger meldete sich wieder unüberhörbar. Er kannte diese Art von Pilzen zwar nicht, doch es gab Schnecken, die sich an den Pilzen labten. Der alte Waldläufer-Grundsatz fiel ihm ein: „Pilze, die von Schnecken befallen werden, sind essbar.“ Die anderen mochten vielleicht nicht unbedingt giftig sein, doch sollte man da sehr viel Vorsicht walten lassen. Immerhin - diese Pilze konnten seinen größten Hunger stillen. Er pflückte einige davon, entfernte die Schnecken und benutzte
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Gnarp, um das Pflanzenmaterial zu putzen. Über diese Tätigkeit brach die Dunkelheit herein. Der Reisende aß ungeachtet des leicht bitteren Geschmacks die Pilze roh, so groß war sein Hunger. Doch Schnecken oder nicht - als so ‚völlig wirkungslos‘ erwiesen sich die Pilze dann aber doch nicht. Nicht lange nach der Mahlzeit fühlte Findus eine seltsame, klarsichtige und allumfassende Leichtigkeit der Gedanken. Die Geräusche wurden deutlicher und sein Gespür für alles Magische nahm deutlich zu. Trotz der Dunkelheit fand er daher auch rasch einen ansonsten unsichtbaren Eingang zur Ley. Er trat hindurch und das wohlbekannte orangefarbene Licht umfing ihn. Findus folgte der Drachenlinie durch das bewegungslos erscheinende Norgast. Vorbei an stillstehenden Quellfeen, vorbei an erstarrten Waldelben. In einem breiten Fluss, welchen er trockenen Fußes durchqueren konnte, sah er Reusen mit Fischen und Flusskrebsen darin. „Natürlich - der Wilderfrio!“ durchfuhr es ihn. Und warum sollte er nicht bei seinen alten Bekannten übernachten? Nach der Durchquerung des breiten Stromes suchte der Wanderer daher einen Ausgang aus der Ley-Linie. Er fand auch bald einen und trat hindurch. Stille umfing Findus. Er stand in einem nassen Wald, an dessen Gehölz die fortgeschrittene Jahreszeit bereits unübersehbare Spuren hinterlassen hatte. Hier oben, weiter im Norden, war die Sonne zwar auch schon untergegangen, aber die Dämmerung lag noch über dem Wald. Dichte Nebel, Portale zur magischen Welt der Drachenlinien, wogten hin und her, den Uneingeweihten den Blick versperrend und den Eingeweihten dagegen den Weg weisend. Der Nebel dämpfte jedes Geräusch, erzeugte die Illusion von der Geborgenheit in einer anderen Welt. Findus erkannte diesen Ort sofort wieder. Hier geschah es, dass er seinerzeit dem Fuchs begegnet war. Nicht weit von der Hütte des Fischers. Er machte sich auf den Weg dorthin. Als der Reisende die kleine Hütte erreichte, war es bereits tiefdunkle Nacht. Man konnte die Hand vor Augen nicht mehr sehen. Von drinnen waren vereinzelte, gedämpfte Wortfetzen zu hören. Lautstark klopfte Findus an die Tür. Drinnen plötzliche Stille. Dann eine tiefe, brummige und nur 161
allzu gut bekannte Stimme: „Wer ist dort?“ „Ein müder Wanderer.“ „Und was willst du?“ „Ich suche ein Lager für die Nacht.“ „Wer bist du, dass ich Dir ein Nachtlager gewähren sollte?“ „Jemand, den du aus dem Wilderfrio gefischt hast. Jemand, den du, Bewok, auf Snofork´s Geheiß hin zur ‚namenlosen Insel‘ gebracht hast.“ Nur ein kurzer, überraschter Moment der Stille. Dann erklang ein freudiglautstarkes, zweistimmiges Gebrüll „Findus!!!“ und die Tür wurde ungestüm aufgerissen. Die beiden Alten begrüßten ihn wie einen verlorenen Sohn und bestürmten ihn mit Fragen. „Wie ist es dir ergangen?“ „Wo kommst du her?“ „Wohin willst du, wie lange bist du schon unterwegs?“ „Hast du Hunger?“ „Du musst uns alles erzählen!“ „Was führt dich ausgerechnet in diese Gegend?“ Sie umarmten und drückten ihn dermaßen, dass Findus kaum noch Luft bekam. „Langsam“ wehrte er lächelnd ab und das Fischerpaar trat zurück. „Lass´ dich ansehen“ meinte Snofork und stellte fest „Größer bist du geworden. Und muskulöser. Reifer siehst du aus - und irgendwie auch mächtiger. Und du trägst ein wertvolles Schwert.“ „Sowas zieht Ärger an. Kannst du wenigstens damit umgehen?“ fragte Bewok weniger begeistert und fügte hinzu „Na, komm´ erstmal rein!“ Findus wurde zum Tisch genötigt und Snofork wuselte in Windeseile in der Hütte hin und her, um für ihn ein Abendessen zusammen zu stellen. „Das Schwert“ sagte Findus zu Bewok „erkennst du es denn nicht wieder?“ Er zog Gnarp und legte es auf den Tisch. Wie ein silberner Edelstein funkelte die Klinge im Kerzenschein. Snofork unterbrach ihre Tätigkeit und trat an den Tisch. „Es war immer schon ein Zauberschwert. Jetzt ist es wieder eins“ flüsterte sie. Nur Bewok guckte verständnislos. „Alter Klotzkopf, dein Gedächtnis war auch schon mal besser!“ fuhr dessen Frau ihn an. „Das alte Schwert...-werkzeug?“ fragte Bewok erstaunt. „Genau das“ antwortete Findus. „Woher hattest du es eigentlich?“ „Es hing vor Urzeiten mal in einem meiner Netze, draußen im Fluss.“ „Die Klinge ist neu geschmiedet worden“ stellte Snofork fachmännisch fest. „Von Könnern. Wer har das gemacht?“ „Die Gleichen, die mich im Schwertkampf ausgebildet haben. Die Zwerge“ entgegnete Findus. „Zwerge?“ dröhnte Bewok. 162
„Wo soll es denn hier in Norgast Zwerge geben?“ „Es gibt sie!“ „Na ja“ - Bewok blickte Findus schräg an – „wirst wohl Recht haben. Du hattest ja wohl schon immer seltsame Freunde. Doch jetzt erzähle alles mal der Reihe nach!“ Snofork stellte Essen und Getränke auf den Tisch und Findus berichtete. Alles. An der Stelle, als seine Erzählung auf Baldur und dessen Leute sowie auf die Auseinandersetzung im Myrkviör kam, blickten sich Bewok und Snofork vielsagend an. „Dein Traum war also richtig“ sagte Bewok zu seiner Frau. „Natürlich - wie konntest du nur daran zweifeln?“ Findus sah die beiden fragend an und Bewok erklärte ihm: „Snofork hatte einen Traum, in dem sie die Zukunft gesehen hat. Sechs Reiter, die uns überfielen und töteten. Sie bat mich, alles Notwendige zusammen zu packen und von hier fort zu gehen. Ich habe sie für übergeschnappt gehalten und ihren Traum für eine Narretei.“ „Für die Narretei eines alten Weibes, gib´s zu“ keifte Snofork aufgebracht und fuhr fort „Siehst du jetzt endlich ein, dass ich Recht hatte? Wenn der Junge hier nicht gewesen wäre, dann wären wir jetzt tot!“ Betretenes Schweigen folgte. Um die peinliche Situation zu beenden räusperte Findus sich und setzte seinen Bericht fort. Er erzählte von den Toten, der Ley, Malweýn, seinen Erlebnissen in der Wüste und dass er im Grunde nur auf der Durchreise mit dem Zielpunkt Fucunor war. „Fucunor...“ meinte Bewok versonnen. „Junge, da hast du dir aber was verdammt Großes vorgenommen. Soweit ich weiß, fahren nur ein- oder zweimal im Jahr Schiffe dorthin. Wenn überhaupt. Und um diese Jahreszeit schon gar nicht. Die Schiffsroute beginnt in Torboog mit einem Zwischenstopp auf der letzten unserer vorgelagerten Inseln. Die Insel ist unbewohnt, aber sie hat Süßwasser. Dort ergänzt man die Vorräte vor der eigentlichen großen Reise. Aber wie gesagt: Um diese Jahreszeit bestimmt nicht mehr. Keine Chance!“ Er schwieg. Snofork fügte noch hinzu: „Und eine Drachenlinie kannst du auch nicht benutzen. Keine passierbare Ley führt direkt zu einer Bônday.“ „Und fliegen?“ fragte Findus. „Schlag´ Dir das mal gleich wieder aus dem Kopf“ antwortete Bewok. „Der Weg über das Meer ist weit und gefährlich - selbst für einen 163
weißen Raben. Die Stürme dort oben können Dich schon auf kürzesten Strecken töten. Aber lass´ uns mal überlegen, vielleicht gibt´s noch einen anderen Weg...“ Der alte Fischer dachte angestrengt nach. Snofork sah ihm dabei in die Augen. Plötzlich begann sie zu lächeln. Ein paar Gedanken ihres Mannes waren zu ihr herübergeweht. „Das ist es!“ strahlte sie. „Was?“ wollte Findus wissen. Bewok: „Du machst das so. Erstmal musst du Torboog erreichen. Da gibt´s Kaufleute und da gibt´s Piraten. Beide sind sich nicht grün. Aber es gibt garantiert auch heruntergekommene Kaufleute, die hin und wieder mit den Piraten Geschäfte machen - denn sonst könnten die gar nicht überleben. Ich weiß von den fahrenden Händlern, dass solche Geschäfte immer weit im Norden auf offener See abgewickelt werden. Damit keines Menschen Auge sie bemerkt. Such´ Dir also ein möglichst vergammelt aussehendes Kaufleuteschiff, das weit in den Norden reist. Von dessen Ankerplatz aus fliegst du dann als Rabe nach Fucunor. Auch das wird wohl noch hart genug werden. Aber es ist machbar.“ Snofork ergänzte: „Du heuerst als einer von der Mannschaft an. Als Passagier kannst du nicht reisen, denn das ist auffälliger als ein Leuchtfeuer. Gib´ einen falschen Namen an. Alle auf solchen Schiffen haben Dreck am Stecken und laufen vor irgendwas oder irgendwem weg. Wenn einer von denen auf See verschwindet, dann kräht kein Hahn danach. So eine Person musst du werden. Ich weiß auch schon eine schöne Geschichte für Dich.“ Sie strahlte. „Und welche?“ fragte Findus. „Na, ist doch klar. Du siehst gut aus; bist im besten Mannesalter. Du bist auf der Flucht. Vor dem Mann, mit dessen Frau du´s getrieben hast.“ „Weib!“ schimpfte Bewok aufgebracht. „Nein, lass´“ sagte Findus „die Geschichte hat was. Die ist gut. Das ist glaubhaft.“ „Deine Entscheidung“ knurrte der Fischer. Er gähnte. „Es ist verdammt spät geworden. Du weißt ja, wo dein Bett steht. Und Morgen ist auch noch ein Tag.“ So begaben die Drei sich zur Nachtruhe. Im Verlauf des nächsten Tages meinte Bewok „So wie du aussiehst, kannst du nicht bleiben. Zu auffällig für Torboog. Ich suche dir mal andere Kleidung raus.“ Er verschwand hinter dem die Hütte teilenden Vorhang und kehrte kurze 164
Zeit später mit einem Bündel auf dem Arm zurück. „Hier, das dürfte dir passen. Waldläuferkleidung. Alt und abgetragen zwar, aber sauber. Und vor allem: Frei von Flöhen, Wanzen und anderem Viehzeug.“ Dankbar nahm Findus das Bündel entgegen und zog sich um. Eine dunkle Hose mit etlichen Flicken darauf. Das Kleidungsstück war sicherlich irgendwann einmal von heller Farbe gewesen, doch das lag wohl schon lange zurück. Ein warmes, dunkelgrünes Hemd und darüber ein wärmender, beinahe schwarzer Umhang mit wallender Kapuze. Festeres Schuhwerk, welches ihm sogar passte und wollende Handschuhe - Winterbekleidung. „Gut siehst du aus“ kommentierte Snofork die Wandlung und fügte hinzu „wie ein richtiger Waldläufer.“ „In Torboog wirst du Geld brauchen“ ergänzte Bewok „aber das habe ich leider nicht. Doch manchmal gibt der Wilderfrio noch was anderes frei als Zauberschwerter.“ Er warf einen scheuen Blick auf Gnarp, welches wieder an Findus´ Hüfte baumelte. Mit „Warte einen Moment“ verschwand der Fischer wieder hinter dem Vorhang. Findus hörte ihn in irgend etwas kramen. Dann kam Bewok zurück. In seiner Hand hielt er ein wertvolles Armband. Gold, mit edlen Steinen besetzt. „Das hier dürfte mindestens für etwas Essen und ein paar Übernachtungen im Gasthaus reichen. Feilsche - sonst nimmt dich keiner ernst. Das Teil ist sehr wertvoll.“ Er übergab Findus das Armband und drückte ihn dann an sich. Snofork gab Findus einen Kuss auf die Wange. „Pass´ gut auf dich auf, Junge. Spiel´ nicht mit dem Feuer“. Es war die Zeit des Abschieds...
Am späten Nachmittag machte Findus sich auf den Weg. Zurück in den Wald, zurück zur Drachenlinie. Er fand sie rasch und trat in die Nebenwelt der Magie ein. Folgte der Linie durch Wasser - es war Flut in der Tiedsiepe -, durch Wald und durch die Berge des Helgebarg. Hinter einem Fluss fand sich eine grasbewachsene Ebene mit einem Ausgang. Sollte er die Ley hier schon verlassen? Sein Blick folgte dem magischen Weg. Ja, es schien besser zu sein. Denn irgendwo in der Ferne zerfaserte die Linie im Wasser. Das Meer war
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nicht mehr weit. Der Wanderer betrat Norgast nicht weit von Torboog entfernt in einem kleinen Wäldchen, welches in dieser gräsernen Ebene wie deplatziert wirkte. Doch es bot einen guten Sichtschutz. Ein kleines Problem tat sich allerdings auf. Rings um den Ausgang herum wuchs das Unkraut zum Teil mannshoch. Vorsichtig bahnte sich Findus den Weg hindurch. Dreissigeckige und dadurch nahezu rund wirkende Spinnennetze glänzten silberfarben im Licht der späten Sonne, von angefrorenen Tautropfen in funkelnde Juwelen verwandelt. Sie blieben an seiner Kleidung hängen. Er war empfindlich kalt. Sein Atem kondensierte zu kleinen, gefrierenden Nebelwölkchen. „Eben hoher Norden“ dachte der Reisende. Dornenbewehrte Ranken schienen nach ihm zu greifen. Vorsichtig setzte Findus Fuß vor Fuß in das kniehohe und den Boden verdeckende Gras, denn versteckte Löcher und Steine konnten einen Wanderer schnell zu Fall bringen. Als er das Gehölz hinter sich gelassen hatte, war nicht mehr viel von der Sauberkeit seiner Kleidung übrig geblieben. Jetzt sah er wirklich wie ein waschechter Waldläufer aus! Torboog lag nun schon so nahe, dass er die Stadt mit bloßem Auge sehen konnte. Er marschierte darauf zu und bemerkte das bereits verschlossene, große Stadttor. Neben dem Tor befand sich eine kleine Tür. Lautstark klopfte Findus dort an. Eine Sichtluke wurde zur Seite geschoben. „Wer begehrt Einlass?“ fragte ein mürrisch wirkender Torwächter. „Ein Waldläufer, der ein Nachtlager, ein warmes Essen und etwas Unterhaltung sucht.“ „Waldläufer verirren sich nur selten in die Stadt.“ „Mag sein, aber ich brauche eine Schiffspassage.“ Der Torwächter sah ihn abschätzend an. Waldläufer gehörten nicht unbedingt zu den Personen, die der Stadt Wohlstand und Reichtum brachten. Sie besaßen nichts. Normalerweise waren solche Leute nicht gern gesehen. In sich gekehrt und nachdenklich redeten sie nicht viel, wirkten unheimlich. Andererseits - auf einen Waldläufer war immer Verlass. „Um diese Jahreszeit? So komm´ denn rein“ entschied der Wächter und öffnete das kleine Tor. Findus trat ein; blieb vor dem Wächter stehen. Der betrachtete den Reisenden interessiert. „Suchst du zusätzlich noch eine Unterkunft?“ „Das auch.“ „Gut. Gerade aus hoch 166
und dann die dritte Gasse links. Dort hinein und auf der rechten Seite findest du die Herberge ‚Zum Wohlhabenden Schiffsmann‘. Da kannst du beides finden: Unterkunft und vielleicht auch eine Passage.“ „Sei bedankt“ antwortete Findus und marschierte los, in die fremde, dunkle Stadt hinein. Enge Gassen. Stinkende Gassen. Unrat auf der Strasse. Und quiekende Ratten, die im Unrat nisteten. Nicht gerade sonderlich einladend. Der ‚Wohlhabende Schiffsmann‘ sah noch wesentlich weniger einladend aus. Das Schild hing schief. Die Fenster, durch welche trübes Kerzenlicht sich kraftlos seinen Weg nach draußen bahnte, waren winzig und vom Staub sowie von Spinnweben mit den darin hängenden toten Fliegen völlig verdreckt. „In so einem Gasthaus kann es nur einen Wohlhabenden geben, nämlich den Wirt“ dachte Findus und trat ein. Der Raum war zwar als Saal gebaut worden, aber dennoch klein. Ein säuerlicher Geruch von menschlichen Ausdünstungen hing im Zimmer und schien selbst von den Holzwänden ausgeatmet zu werden. Roh zusammengezimmerte Holzbänke und -tische bildeten neben einer Theke das einzige Mobiliar. Über einer Feuerstelle brodelte in einem Kessel eine dünne Suppe mit undefinierbaren Fleischstücken darin. Ob Hund, Schwein oder Ratte - Findus wollte es lieber gar nicht erst wissen. Im Raum befanden sich an die dreissig Personen, meist Seeleute und teils schon sehr stark angetrunken - was angesichts des säuerlich-dünnen Weines an sich schon eine Leistung darstellte. Streit, Ärger und Aggression lagen förmlich in der Luft. Findus steuerte auf einen überaus fetten und hinter der Theke stehenden Mann zu. „Seid ihr der Wirt hier?“ „Wer will das wissen?“ lautete die unfreundliche Antwort. „Ein Wanderer, der eine Unterkunft, ein Essen und eine Schiffspassage sucht.“ „Ihr?“ „Ja, ich.“ „Ihr seht aus wie ein Waldläufer. Womit gedenkt ihr denn zu bezahlen?“ „Damit“ antwortete Findus und zog den von Bewok stammenden Armreif aus der Tasche. Die Augen des Wirts begannen vor Gier zu glänzen. „Ein Essen, eine Übernachtung“ sagte der. „Vergesst es“ meinte Findus und steckte den Reif wieder weg. „Mit dem Schmuckstück könnte ich eure ganze Herberge kaufen!“ 167
Im Gesicht des Wirtes arbeitete es. Er wollte den Reif. Unbedingt. Sie feilschten. Schließlich einigten sie sich auf maximal einen vollen Mond an Unterkunft und Essen. „Wen kann ich fragen, wenn es um eine Schiffspassage geht?“ wollte Findus wissen. „Wohin wollt ihr?“ „Nach Norden, möglichst weit.“ „Aussichtslos. Das einzige Schiff, das um diese Jahreszeit noch das Nordmeer befährt, ist die ‚Königin von Fucunor‘. Und Schiff ist da wohl zuviel gesagt.“ „Warum?“ „Weil der Kahn ein Seelenverkäufer ist. Der Kapitän - Einauge nennt man ihn - ist zwar ein Kaufmann, aber man munkelt von einer Piratenvergangenheit. Er soll auch heute noch mit den Piraten dunkle Geschäfte machen.“ „Bingo!“ dachte Findus. „Wo kann ich ihn erreichen?“ „Gar nicht. Alle Geschäfte erledigt sein Zahlmeister. Seht Ihr den Kerl mit dem dunkelroten Umhang da hinten am Tisch? Den Dicken? Das ist er.“ In diesem Moment rempelte ein stark Betrunkener Findus heftig an und unterbrach das Gespräch. Der betrunkene Seemann war auf Streit aus und wusste nicht mehr, was er tat. „Wassollndas?“ lallte er lautstark und stierte Findus aus glasigen Augen an. „Willstestreit? Kannstehabn!“ Er zog sein Schwert und schlug zu. Findus war schneller. Gnarp stand in der Luft und parierte die Klinge. Das Schwert des Angreifers zerbrach. Fassungslos glotzte der nur auf das Heft in seiner Hand und stammelte „Das... das...“ Dann wandte er sich an den Wirt und meinte ernüchtert „Gib´ mir noch mehr Wein!“ Der Zwischenfall hatte alle Aufmerksamkeit auf den vermeintlichen Waldläufer und auf den Betrunkenen gezogen. Für einen Moment war es im Saal totenstill geworden. Besonders der Dicke mit dem roten Umhang schaute sehr aufmerksam herüber. „Jetzt oder nie“ dachte Findus und ging auf ihn zu. „Der Wirt meinte, ihr als Zahlmeister der ‚Königin von Fucunor‘ könntet mir weiterhelfen. Ich suche eine Passage nach Norden.“ „Jemanden, der sein Schwert zu handhaben weiß, können wir immer gebrauchen. Wir laufen aber schon morgen bei Flut aus, also kurz nach der Mittagszeit. Kommt früh morgens zum Schiff. Dann sehen wir weiter.“ Findus nickte und verabschiedete sich. Er suchte sich einen Platz in der Gaststube und eine Magd brachte ihm etwas sauren Wein und von dem Essen aus dem Kessel. Es 168
schmeckte auch so, wie es aussah. Die Unterkunft selbst konnte Findus danach erst Recht nicht mehr erschüttern...
Schon der erste Hahnenschrei brachte Findus wieder auf die Beine. Nur fort von hier, fort aus dieser schmutzstarrenden Kaschemme! Er fragte sich bis zum Hafen durch. Es war kalt. Viele Schiffe lagen hier nicht mehr und eine dünne Eisschicht überzog das Wasser. Ein paar Fischerboote. Ein paar zum Winter hin eingemottete Großsegler. Und - ein gehöriges Stück abseits, gerade so, als wolle niemand damit etwas zu tun haben - eine Brigg: Die ‚Königin von Fucunor‘. Das Schiff war dreckig; die Planken sahen stellenweise sogar morsch und angefault aus. Die schlaff von den beiden Masten herunterhängenden Segel schienen nur aus Flicken zu bestehen - Flicken, die ein Einrollen des Tuchs unmöglich machten. Das Schiff wies zwei Aufbauten auf, an Backbord für die Offiziere sowie für die Schiffsleitung und mittschiffs für die Mannschaft. Trotz der noch frühen Stunde herrschte schon ein reges Treiben. Die Mannschaft war mit dem Stauen der Waren beschäftigt. Welcher Waren? Besser nicht danach fragen. Überhaupt, die Mannschaft: Was Findus davon zu Gesicht bekam, machte nicht gerade den besten Eindruck. Irgendwie passte die Meute zum Zustand des Schiffes. Menschen und Schiff ähnelten einander auf geradezu frappierende Weise. Kaufleute sollten das sein? Seltsame Kaufleute! Ein jeder von ihnen sah aus - und benahm sich auch so - als könne er es gar nicht abwarten, so schnell wie möglich von hier fort zu kommen. Gehetzte, misstrauische Blicke allenthalben. Und vermutlich hatte auch jeder von denen einen ganz bestimmten und guten Grund dafür. Leute, die nichts mehr zu verlieren hatten. Die keine Zukunft kannten. Auf seine Frage nach dem Zahlmeister wurde Findus zu dem hinteren Aufbau verwiesen. Er fand die Tür, die er suchte, klopfte und wurde aufgefordert, einzutreten. „Sieh´ an, der Waldläufer von gestern Abend.“ Der Dicke lächelte falsch. „Es war dir also ernst mit dem Anheuern?“ „Ja, das war es“ entgegnete Findus wortkarg. „Warum willst
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du weg?“ Forschend sah der Zahlmeister ihn an. „Will ich das?“ fragte Findus zurück. „Hör´ zu, mein Junge, versuche nicht, mich zu verarschen. Jeder hier an Bord hat Dreck am Stecken, denn sonst wäre er nicht hier. Da machst du keine Ausnahme. Aber wir nehmen auch nicht jeden. Brandstifter, Diebe und Säufer oder sowas brauchen wir hier an Bord nicht. Also?“ Er fixierte Findus. „Nun ja - ich werde verfolgt.“ „Hast du jemanden umgebracht?“ „Nein...“ Findus entschloss sich, noch einen draufzusetzen „...eher im Gegenteil.“ Unverständnis im Gesicht seines Gegenübers. Dann langsames Verstehen und ein breites Grinsen. „Und jetzt ist sie mit dem Kind hinter dir her?“ „Sie nicht. Aber ihr Mann.“ Der Zahlmeister brach in ein brüllendes Gelächter aus. „Das ist gut! Ein Waldläufer, der...“ Vor Lachen blieb ihm die Luft weg. Dann aber beruhigte der Zahlmeister sich wieder. „Warst du schon einmal auf See oder auf einem Schiff? Hast du Erfahrung mit dem Meer?“ Findus schüttelte den Kopf. „Das macht gar nichts“ meinte der Zahlmeister und fuhr fort: „Entweder du bekommst diese Erfahrung oder du stirbst. So einfach ist das. Schon eine kleine Unachtsamkeit kann tödlich sein. Wenn du in das Wasser des Nordmeeres fällst, dann stirbst du augenblicklich durch den Kälteschock. Falls du es aber überleben und rausgefischt werden solltest, dann erfrierst du langsamer. Kein schöner Tod, glaub´ mir! Gut, du wirst Mitglied der Mannschaft. Mädchen für alles. Du bekommst freie Kost und Logis. Am Ende einer erfolgreichen Fahrt kommt noch ein Lohn hinzu, den der Kapitän allein festlegt. Der Kapitän ist für dich so etwas wie ein Gott. Du hast ihn nicht anzusprechen. Gleiches gilt für die Offiziere. Dein einziger Ansprechpartner bin ich selbst.“ Er legte eine kurze Pause ein und sprach dann weiter: „Als Mannschaftsmitglied wirst du in die Gilde der Kaufleute aufgenommen. Bei uns gelten bestimmte Regeln. Ich nenne sie dir jetzt - merke sie dir gut! Zuerst: Die Öffentlichkeit erfährt niemals, wie wir unsere Geschäfte abwickeln und was für Geschäfte wir machen. Wer plaudert, der hat die Konsequenzen zu tragen. Unangenehme Konsequenzen. Sehr unangenehm! Weiter: Nur ein Kaufmann ist befähigt, die Befähigung anderer Kaufleute zu beurteilen, aber kein 170
Kaufmann darf jemals gegen einen anderen Kaufmann aussagen. Der Einzelne ist nichts; die Gilde ist alles. Sollte jemand auf die Idee kommen, von einem Händler übervorteilt worden zu sein, dann muss der Betreffende selbst den Beweis dafür erbringen.“ Der Zahlmeister schwieg und sah Findus an. Findus ergänzte: „Und da er das nicht beurteilen kann und kein Händler gegen einen anderen aussagen darf, dürfte ihm das schwerfallen.“ Breit grinsend meinte der Zahlmeister: „Du kannst ja sogar denken. Ich sehe, wir haben uns verstanden. Hier ist dein Kontrakt, als Namen habe ich ‚Waldläufer‘ eingesetzt. Setze drei Kreuze darunter und dann geh´ nach vorn. Frage nach dem Seehundsjäger; er wird dich einteilen.“ Damit war Findus entlassen. Er suchte den Seehundsjäger, fand ihn und half auf dessen Anweisung hin beim Stauen der Ladung mit. Währenddessen lief die Flut auf. Nachdem die Sonne ihren Zenit überschritten hatte, herrschte ablaufendes Wasser. Findus arbeitete unter Aufbietung aller Kräfte am Ankerspill - der Anker wurde aufgeholt. Es folgte das Loswerfen der Leinen und die ‚Königin von Fucunor‘ ließ sich vom Ebbstrom langsam auf die offene See hinausziehen. Mit dem Land verschwanden auch die einzelnen Nebelfetzen, die noch über dem Wasser gelegen hatten. Wind kam auf, füllte knallend die ächzenden Segel. Es roch nach Salz - nach vielen winzigen, beigefarben-würzigen Polyedern, hellgrünlich und weißgepunktet krisselig mit einem spitzen und tiefoliven Geschmack: Soltwind! Die Brigg machte Fahrt und Findus sah besorgt hinauf zu den mächtigen, geblähten Leinenmassen. Doch die hielten der Brise stand. Das Schiff befand sich in einem besseren Zustand, als sein heruntergekommenes Aussehen vermuten ließ. Kalt war es. Besonders der schneidende Wind kühlte den Körper aus. Sechseckige Schneeflocken tanzen wild in der Luft. Horizontal peitschte der Nordwest Findus die Eiskristalle ins Gesicht, jede Berührung ein winzig kleiner Schmerz in Ultrablau, wie die Flamme eines Schmiedefeuers, aber kalt. Eiskalt und dennoch schön. Tausende und Abertausende von diesen Funken. Wolkig-rauchig-grau mit weißen Punkten durchsetzt wie eine zerfasernde, alte 171
Teppichrolle - aber trotzdem unvergleichlich ästhetisch - lag über allem das rauschende Donnern der ewigen Brandung. Spitz zulaufende, weißlich-blaßgelbe Bögen am Himmel; die Schreie der allgegenwärtigen Möwen. Die Möwen flogen in die Bögen hinein; es sah aus, als würden die Bögen ein Teil von ihnen sein. Neben Findus´ Ohren baute der Wind fauchend wahre gräuliche, kugelige Gebirge auf. Trotz dicker Kleidung drang die quietsch-bonbonrote, schmutzigweißfarben-getüpfelte Kälte langsam durch. Von den mitgerissenen Wassertröpfchen wurde die Kleidung immer feuchter, nasser, kälter. Der Nordwest trieb ihm die Tränen in die Augen; die Gischt flog über ihn hinweg: Das Schiff war auf dem offenen Meer! Die ‚Königin von Fucunor‘ benötigte gegen die Strömung beinahe zwei volle Tage, um die vorgelagerte Insel zu erreichen. Die anrollenden Wellen - bleigrau mit weißen Schaumkämmen, dazwischen treibende Eisbrocken verzögerten die Fahrt und warfen das Schiff immer wieder hin und her, so dass Ausweichkurse nötig wurden. Manch einer wurde seekrank; Findus´ jedoch blieb das zum Glück erspart. Es waren die zwei Tage, während denen er erkannte, dass Malweýn mit seinen Ausführungen zur Rolle der Kaufleute in Norgast richtig lag - und nicht nur das! Was Findus seitens der anderen Besatzungsmitglieder erfuhr, warf ein noch sehr viel schlechteres Licht auf die Gilde als Solche. Die Händler legten aufgrund ihrer Monopolstellung die Ankaufspreise bei den Produzenten fest; sie kauften billig und verkauften teuer - ohne je selbst etwas zu schaffen, ohne jemals selbst irgendwo Hand anzulegen. Sie machten auf Kosten der Erzeuger großen Profit und brachten dem Land Reichtum. Aber darüber hinaus: Sie wurden eben dadurch - durch die Ausnutzung der Bevölkerung - auch entsprechend einflussreich. Und sie waren skrupellos. Sie ‚kauften‘ politisch einflussreiche Personen, um Einfluss auf die Politik zu nehmen: Ratgeber, Lehrer, Erzieher, Bürgermeister, Richter. Letztere reagierten dann in ihrem Sinne und nicht mehr im Sinne der Bevölkerungsmehrheit. Die Kaufleute glaubten sich aufgrund ihres großen Einflusses als über den Gesetzen stehend. Sie scheuten auch nicht davor zurück, mit Verbrechern Geschäfte zu machen, wenn es 172
ihrem Profit diente. Die Verbrecher ‚beschäftigten‘ sich als Letzte in der Kette mit den Leuten, die der Gilde unangenehm waren - immer dann, wenn ein gildeninterner Anschlag auf die körperliche Gesundheit der Betroffenen oder der Versuch, solche Leute zu disqualifizieren nichts gebracht hatte. Die Gildenführer berieten Baldur und Baldur änderte dafür Norgasts Gesetze - zu ihren Gunsten! Eine Hand wäscht die andere! Immer mehr und immer neue Gesetze. Den Menschen wurde dadurch das Denken abgewöhnt. Weitsicht, Folgenabschätzung - wozu denn? Alles war doch von oben her verordnet und reglementiert. Hatte man aber den Bewohnern des Reiches auf diese Weise erst einmal abgewöhnt, sich selbst Gedanken zu machen, dann war das Spiel leicht geworden. Man konnte den Leuten einreden, was sie denken sollten. Man konnte sie Glauben machen, diese oder jene Waren unbedingt kaufen zu müssen, um ihre persönliche Situation zu verbessern. Querdenker wurden seitens des Staates kriminalisiert; sie störten doch nur die Ordnung. Und wer profitierte davon? Natürlich die Gilde! Findus fragte sich, ob Baldur diese Machenschaften überhaupt durchschaute. Vielleicht war gar der auch nur ein Rädchen im Getriebe? Ein wichtiges Rädchen zwar, aber eben nur ein Rädchen. Und damit beliebig austauschbar. Die Fäden im Reich zog nicht der Herrscher. Die zogen andere - nämlich die Kaufherren. Dieses perfide und festgefügte, sich inzwischen selbst stabilisierende System erinnerte Findus an den MyrkviörDämon: Erst langsam eingesickert und dann wuchernd wie ein Krebsgeschwür. Nur war der Dämon leichter zu bekämpfen gewesen, denn es hatte sich um einen erfahrbaren Gegner gehandelt. Die Gilde hingegen bildete eine schwammige, niemals direkt greifbare, allgegenwärtige Masse. Malweýn hatte von einer Lebensader gesprochen und damit vollkommen Recht. Er meinte nur den Falschen. Doch wenn er diese Lebensader abschneiden könnte, dann träfe das automatisch auch die Richtigen! Auf der vorgelagerten Insel wurde Trinkwasser aufgenommen und die Mannschaft beseitigte die Schäden, die sich auf der Herfahrt gezeigt hatten, so gut es eben ging. 173
Findus packte tatkräftig mit an. Dann begann die Fahrt auf das eigentliche Nordmeer hinaus. Das Maar veränderte sich. Anfangs manövrierten sie zwischen Untiefen, brausenden und donnernden Brechern hindurch. Heimtückisch glucksend und gurgelnd fluteten die Wasser rings um das Schiff herum, gerade so, als wollten sie den Kahn mit Mann und Maus hinab in die eisigen Tiefen ziehen. Später schlugen die brausenden Wogen weniger hoch; das Schiff lag ruhiger. Der Wind dreht auf südöstliche Richtung und die Brigg machte schnelle Fahrt gen Norden. Zwei Tage später veränderte sich auch das Meer selbst. „Eisberg voraus!“ erscholl eine Stimme vom Ausguck. Jetzt war es vorbei mit der schnellen Fahrt. Die ‚Königin von Fucunor‘ kreuzte nur noch langsam und vorsichtig durch die Gewässer, zwischen den eisigen Hindernissen hindurch. Abends - die Sonne ging hier oben im Norden nicht mehr völlig unter - erblickten sie im Schatten eines Eisberges ein weiteres Schiff: eine Piratenfregatte! Doch es kam nicht zur Konfrontation, ganz im Gegenteil! Vielmehr blitzen von dieser Fregatte aus Lichtsignale zur Brigg hinüber. Mit Hilfe von Silberspiegeln fingen die Offiziere der ‚Königin‘ Sonnenstrahlen ein und schickten sie zurück - Lichtkommunikation über weite Entfernungen hinweg. Beide Schiffe kamen längsseits. Eine kurze Begrüßung der Schiffsführungen – man kannte einander! - und die auf der Brigg verstauten Waren wurden umgeladen. Es war reine Knochenarbeit. Findus rang nach Atem und blickte in Richtung Norden. Da war etwas, rechts von der Sonne. Kaum sichtbar und nur hin und wieder im Zwielicht kurz rötlich aufglimmend. Der Seehundsjäger gesellte sich zu ihm. „Na, Waldläufer, kannst du nicht mehr?“ „Doch, es geht gleich wieder. Was ist das da im Norden?“ „Das da? Fucunor. Die verwunschene Insel mit ihren feuerspeienden Bergen. Besser nicht hinsehen. Nicht mal drüber sprechen. Komm´, fass´ wieder mit an.“ Er ging erneut zu den Umladearbeiten hinüber, in der Annahme, dass Findus ihm folgen würde. Doch Letzterer blieb allein zurück. Eine gute Gelegenheit! Fucunor in Sichtweite und er war allein! Findus wurde zum weißen Raben und flog hoch in den klaren Himmel hinauf mit Kurs in Richtung Norden. Ein unaufmerksamer 174
Beobachter mochte ihn für einen kleinen Albatros oder für eine sehr große Möwe halten. Es wurde ein sehr langer Flug - denn auf dem Meer können die Entfernungen gewaltig täuschen!
Die Insel Fucunor: Aus Feuer geborenes Eis. Schroffe schwarze, steil aufragende Berghänge, gekrönt von feuerspeienden Kratern in Gelbrot. Schneebedeckte Bergflanken und dichte Wolken weißen Wasserdampfes überall dort, wo sich Feuer und Schnee zu nahe kamen. Zwischen dem Strand und den Vulkanflanken heiße Quellen und Geysire, welche schmale grüne Streifen üppig beheizten und so für eine geradezu überschäumende Vegetation sorgten. Schwarz, Weiß, Gelbrot und Grün inmitten eines silberblauen und von türkis-weißen Eisbergen reichlich durchsetzen Meeres. All das nahm Findus aus der großen Höhe seines Fluges wahr. Und noch etwas sah er: Von einem der Berghänge löste sich etwas. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein sehr großer Vogel. Doch nur auf den ersten Blick. Findus landete nahe einem der Grünstreifen und nahm wieder seine menschliche Gestalt an. Wohin er auch blickte: Berge und die Unendlichkeit der See. Der vermeintliche Vogel landete neben ihm. Es war aber kein Vogel - es war eine Harpyie. Der Unterleib eines Adlers, die Füße in scharfen und langen Raubvogelklauen auslaufend. Der nackte Oberkörper einer wunderschönen Frau, schwarzhaarig und mit leicht schräg gestellten Mandelaugen. Ihre Arme liefen nach hinten in die Schwingen aus, mit denen sie flog und mündeten seitlich in ganz normalen menschlichen Händen. Die Harpyie blickte Findus an. Sie begrüßte ihn mit den Worten: „Wir mögen hier keine Fremden. Auch dann nicht, wenn sie ihre Gestalt wechseln können. Du bist hier nicht willkommen!“ „Das mag durchaus sein, aber ich habe einen Auftrag von der Tiedsiepe-Bônday zu erfüllen. Du bist doch eine Novizin der hiesigen Bônday. Bring´ mich zu ihr!“ entgegnete Findus sehr bestimmt. Perplex sah die Harpyie ihn an. Er kommandierte sie! Doch sie bemerkte noch etwas - nämlich
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die von dem Ankömmling ausgehende magische Kraft. „So komm´ denn mit“ lenkte sie ein und schwang sich in die Lüfte. Findus verwandelte sich wieder in den weißen Raben und flog mit ihr zu einem der Berghänge. Sie landeten und Findus wurde wieder zum Menschen. Vor ihm tat sich ein steinerner Saal auf, in dem sich eine weitere Harpyie aufhielt. Die jedoch war dunkelhäutig mit bernsteinfarbenen Katzenaugen und wasserstoffblond-silbernem Haar: Die Bônday von Fucunor! „Ah, Lanyla - du bringst Besuch mit?“ „Er behauptet, er käme im Auftrag der Tiedsiepe-Bônday.“ „Stimmt das?“ richtete die Fucunor-Bônday nun ihre Frage an Findus. Der bemerkte „Ja und nein. Ich erhielt von der Tiedsiepe-Bônday den Auftrag, nach dem Stein des Lebens zu suchen. Ein Dschinn verriet mir, dass ich ihn hier finden kann.“ „Wie ist Dein Name?“ „Findus.“ „Nun Findus, siehst du hier irgend etwas, das wie ein Stein des Lebens aussieht?“ Findus blickte sich um - vergeblich. „Nein“ gestand er „hier ist nichts. Aber vielleicht auf Deiner Insel. Ich werde eben suchen müssen.“ „Vielleicht auf meiner Insel...“ meinte die Harpyie versonnen. „Du bist hartnäckig. Das erklärt, warum meine Schwester in der Tiedsiepe so große Hoffnungen in dich setzt. Gut. du isst erst einmal und schläfst dich aus. Es dürfte eine anstrengende Reise gewesen sein. Morgen weise ich dir einen Weg. Was danach passiert, dass liegt jedoch ganz allein bei dir.“ Findus nickte. Es wurde ein gutes Essen und das Lager war allemal besser als das auf dem Schiff. Am Vormittag des Folgetages ließ die Bônday nach Findus rufen. „Flieg´ mit mir“ lud sie ihn ein. Beide stiegen auf und flogen über die Insel, vorbei an Schneefeldern und zwischen den grollenden, aktiven Vulkanen hindurch. Irgendwo im Innern von Fucunor landeten sie schließlich. „Siehst du die große Höhle in dem Berg dort drüben?“ fragte die Harpyie. „Ja“ bestätigte Findus. „Wenn es hier irgendwo das gibt, wonach du suchst, dann dort. Aber sei gewarnt. Hüte Dich vor dem Wächter, denn er mag Fremde noch sehr viel weniger als ich. Es liegt alles nur bei dir!“ Sprach´s und erhob sich wieder in die Luft, Findus allein zurück lassend. Der nahm die Warnung sehr ernst. Dennoch - er war schon zu weit gereist, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen. 176
Entschlossen setzte er seinen schon vor langer Zeit eingeschlagenen Weg fort, den Berg hinauf zur Höhle. Findus war noch nicht bei der Höhle angelangt, als eine feurige Lohe den Felsblock vor ihm zerspringen ließ. Die Wucht des Feuers warf den Wanderer auf den Rücken, doch behende stand Findus wieder auf den Beinen, Gnarp bereits wachsam in der Hand. Aus der Höhle bahnte sich ein Schatten seinen Weg ins Freie. Ein riesiger Schatten! Erst als das Geschöpf vollständig draußen war, konnte Findus erkennen, um was es sich handelte. Es war ein gigantischer Drache! Der erdfarbene Reptilienkopf auf jeder Seite von vier spitzen Hörnern umsäumt. Geschuppte, ledrige Haut. Lange und garantiert auch scharfe Zähne. Zwei ledrige FledermausSchwingen, jeweils so lang wie zehn ausgewachsene Menschen. Vier Gliedmaßen mit Krallen, denen man besser nicht zu nahe kam. Ein mächtiger Körper, in einen langen und dünnen, peitschenartigen Schwanz mit einer stachligen Keule am Ende auslaufend. Ein Urtier aus einer längst vergangenen Zeit; einer Zeit, in der die Magie noch sehr viel mächtiger und verbreiteter war als heute! Findus sprang - unsichtbar für den Drachen, wie er hoffte - zur Seite und presste sich in eine Felsnische. Keinen Moment zu früh, denn auf die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte, fiel ein Feuerregen nieder, der seinen Ursprung in den Nüstern des Drachen hatte. Findus überlegte fieberhaft. Rein logisch betrachtet konnte er es mit diesem Untier, mit dieser unbändigen Kraft, niemals aufnehmen. Seine einzige Chance bestand darin, schnell, unsichtbar klein und lautlos zu sein. Und die empfindliche Stelle des Drachen zu treffen. Vermutlich von der Unterseite aus, vermutlich das Herz. Schnell, unsichtbar und lautlos: Das alles hatte Bewok ihm einmal beigebracht, als es darum ging, Forellen mit bloßer Hand zu fangen. „Wo bist du, Sterblicher?“ röhrte der Drachen mit einer Lautstärke, welche die Wände erzittern ließ. Kleine Gesteinsbrocken lösten sich durch den Lärm und prasselten nach unten. Einer davon fiel Findus genau vor die Füße. Schnell bückte er sich und nahm ihn auf. Eine einfache List fiel ihm ein. Er warf den Stein, der mit einem cremeweiß-klackenden Geräusch aufkam. Der Kopf des Drachen ruckte suchend in 177
Richtung auf das Geräusch herum; ein Feuerstoß folgte. Drei, vier lange Sätze und Findus stand unter dem Ungeheuer. Gnarp zuckte hoch und bohrte die Spitze handspannenlang in die ledrige Haut. Schwarzes Drachenblut prasselte auf Findus hernieder, durchnässte ihn völlig, machte ihn - wenn man den Sagen Glauben schenken durfte - unverwundbar. Der Drache hingegen stand still, wie zur Salzsäule erstarrt. Er wusste, dass jede Bewegung seinerseits nun ausreichen würde, um ihm die Schwertspitze bis ins Herz zu treiben. Aber warum machte der Sterbliche dem Kampf kein Ende? Findus stand gleichfalls unbeweglich da, im Regen aus Drachenblut. In seinem Kopf hörte er wieder Brokk´s Worte. „Benutze deine Fähigkeiten niemals zum Angriff, sondern einzig und allein zur Verteidigung“ und auch die Empfehlung der alten Zigeunerin „Tu was du willst, aber schade niemandem.“ „Mach´ endlich ein Ende, oder willst du mich langsam verbluten lassen?“ sagte der Drache resignierend. „Ich will dich gar nicht töten“ antwortete Findus und fügte hinzu „Wir können uns durchaus einigen. Gib´ mir dein Wort, dass du mich nicht mehr angreifst und ich ziehe das Schwert zurück.“ „Das Wort eines Drachen - weißt du, was du da von mir verlangst?“ „Ja. Genau deswegen verlange ich es ja.“ Menschen konnten lügen, konnten Meineide schwören. Drachen nicht. Sie waren um ihres eigenen Lebens willen für immer und ewig an ihr Wort gebunden. Und ein Drachenleben währte sehr viel länger als das Leben eines Menschen. Sogar viel länger als das Leben einer Bônday. Sich einen Drachen zu verpflichten oder ihn gar zum Freund zu haben - etwas Besseres konnte einem Menschen nicht passieren. „So sei es denn, ich gebe dir mein Wort. Ich werde dich nicht mehr angreifen“ lenkte der Drache ein und: „Nenne mich Draconis.“ Findus zog Gnarp zurück und ließ das Schwert in der Scheide verschwinden. Mit einem sanften Schmatzen schloss sich die Wunde im Leib des Ungetüms. Der Blutregen versiegte augenblicklich. „Mein Name ist Findus“ erwiderte er und trat unter dem gewaltigen Leib hervor, um dem Drachen in die senkrecht geschlitzten Pupillen sehen zu können. „Lass´ uns wie zivilisierte Wesen miteinander reden“ schlug Findus vor. „Ein Sterblicher, der sich mit Gewalt einen 178
Drachenschatz aneignen will - nennst du das etwa zivilisiert?“ Findus lächelte. „Darf ich dich darauf hinweisen, dass du mich zuerst angegriffen hast? Aber es geht mir gar nicht um irgendeinen Schatz. Und ich verspreche, nichts aus der Höhle mitzunehmen, zu dem du nicht die Erlaubnis erteilst.“ „Bist du sicher, dass in deinem Kopf noch alles in Ordnung ist?“ spottete Draconis. „Durchaus“ antwortete Findus ernst und fuhr fort „Ich suche einen einzigen Stein. Den Stein des Lebens. Die Bônday sagte, er könnte dort drin sein...“ - Findus wies zur Höhle – „...war sich aber nicht sicher. Lass´ mich hinein und dort suchen. Das ist alles. Mehr will ich nicht.“ Der Drache schüttelte in völlig menschlicher Manier den Kopf. „Unglaublich“ brummte er „einfach unglaublich. Geh´ schon!“ Findus blickte erst den Drachen an und betrat dann die Höhle, die einen tiefgrünlichen Geruch ausstrahlte. Schon kurz hinter dem Eingang fand er das, wovon Draconis gesprochen hatte: den Drachenschatz! Gold, Silber, edle Steine, Münzen, funkelnde Diademe, Messer, Schalen, Perlen, Korallen, seltene Metalle. Und alles nicht das, wonach er suchte - denn alles war von Menschenhand gemacht oder doch zumindest von Menschenhand bearbeitet worden. Der Stein des Lebens hingegen musste mehr sein - mehr als ein Mensch je zu schaffen vermochte. Folglich konnte er nur natürlichen Ursprungs sein, wie der Dschinn es gesagt hatte. Findus untersuchte den Schatz daher nur oberflächlich. Hier ein Blick, da ein Blick. Oh ja, soviel Reichtum würde bestimmt große weltliche Macht verleihen - Macht, die er nicht wollte, die ihn abstieß! Findus fand in dem Haufen von Geschmeide und materiellem Wert nicht das, wonach ihm der Sinn stand. Deswegen wagte er sich tiefer und tiefer in die sich immer weiter verengende Höhle hinein. Ganz hinten am Ende war da auf einmal nur noch ein schmaler Spalt im Fels. Ein Spalt allerdings, aus dem Licht schimmerte. Findus quetschte sich hindurch, das scharfkantige und auf seiner Haut scheuernde Gestein nicht achtend. Und stand urplötzlich in einer kleinen Kammer, deren Wände über und über mit Bergkristallen bewachsen waren. Durch ein kleines Loch in der Decke fiel Licht. Licht, welches von den Kristallen tausendfach 179
gebrochen und reflektiert wurde. Atemberaubend chaotisches Licht. Still und stumm betrachtete er das optische Schauspiel. Sein Blick folgte den verschiedenen Strahlen. Dann plötzlich entdeckte er das Ziel seiner Suche. Es war ein auf den ersten, flüchtigen Blick ganz ordinärer Bergkristall. Ein Doppelender, an einer Längsseite mit der Felswand verwachsen. Doch dieser Kristall wies eine Besonderheit auf. Er war nicht so vollendet rein und klar wie die anderen Steine. Vielmehr hatte sich bei seinem Wachstum immer wieder und wieder irgend etwas Mineralisches auf den einzelnen kristallinen Flächen abgelagert. Danach war er einfach weiter gewachsen und dieses Wachstum führte zum Einschluss der Mineralabscheidung, so dass der Stein nun aussah wie ein Kristall in einem Kristall in einem Kristall und so weiter bis in alle Unendlichkeit – genau wie es der Dschinn beschrieben hatte. Es war eine seltene Form vom Bergkristall - ein Phantomquarz, der Stein des Lebens! Findus vergaß alles um sich herum und ließ seinen Blick über dieses Symbol höchster Vollkommenheit schweifen. Ja, genau das war es! Eine Versinnbildlichung ihrer aller Welt, nein, sogar aller möglichen Welten überhaupt, die Anderswelten mit eingeschlossen! Jede Ebene, jede Kristallfläche stand für den vorgezeichneten Weg einer einzigen Welt. Vom Anfang bis zum Ende. Doch es waren unendlich viele Kristallebenen, folglich auch unendlich viele Welten. Und doch hingen sie alle zusammen, waren sie miteinander verwachsen! Dadurch würde das, was auf einer Ebene geschah, automatisch auch Auswirkungen auf alle anderen Ebenen zeigen müssen. Mal mehr, mal weniger. Mal im Kleinen, dafür aber gerichtet und mal im Großen, dafür aber ungerichtet. Jede Kristallebene entsprach einer statischen, vorgezeichneten Möglichkeit, einer Wahrscheinlichkeit. Welche dieser Möglichkeiten aber schließlich zur individuellen Realität wurde, dass hing einzig und allein vom Verhalten des Ebenenbewohners, von seinem Bewusstsein, von seiner Seele, von seinen Entscheidungen ab. Entscheidung bedeutete nämlich, auf eine andere Ebene überzuwechseln. Zeit, Entwicklung, Evolution - all das entstand erst durch die Wechselwirkung des Bewusstseins mit der Gesamtheit der 180
Welten. Ohne die Berücksichtigung des Beobachters wäre die Beschreibung der Welten weder vollständig noch machbar. Erst der Beobachter selbst ermöglichte überhaupt diese Welten. Der Phantomquarz versinnbildlichte das Wesen aller Welten an sich! Die Findus so wohlbekannten seltsamen Orte - das waren die Übergänge von einer Ebene zur anderen. Und zwar die ‚großen‘ Übergänge, mit denen sich Weltenebenen überspringen ließen. Daneben gab es natürlich noch die Verwachsungspunkte, die ‚kleinen‘ Übergänge. Sie waren unendlich viel zahlreicher und standen für den Verlauf des Lebens. Heute diese Entscheidung, morgen jene: Das bedeutete, heute einen Wechsel in eine benachbarte Welt und morgen in eine andere. In Welten, die der derzeitigen Existenz so frappierend ähnlich waren, dass man sie gar nicht als neue Ebenen zu erkennen vermochte. Jeder Bewohner, jedes Wesen suchte sich so einen chaotischen, unvorhersehbaren Weg durch die verschiedenen Ebenen. Viele Welten - viele Doppelgänger. Der einzelne Geist oder die einzelne Seele verteilte sich auf all diese multiplen Welten in multiple Existenzen. Das Betreten einer neuen Welt führte automatisch dazu, dass der zuvor dort vorhandene, ganz persönliche Doppelgänger auch in eine andere Wahrscheinlichkeit gelangte - wo er wieder einen Doppelgänger verdrängte und so weiter bis in alle Unendlichkeit. Auf diese Weise blieben Energie und Materie für jede Weltebene konstant und erhalten. Insgesamt gesehen jedoch befand sich alles im permanenten Umbruch, generierte dadurch laufend neue Erkenntnisse, neue Erfahrungen - wie das Licht, welches zwischen den einzelnen Kristallebenen eingefangen hin und her gespiegelt wurde. Der Wechsel von einer Ebene zur anderen - für ein Lebewesen wie den Menschen hier ein vielleicht etwas ziehendes Gefühl, dort vielleicht eine kurze Irritation. Ein Messer, welches heute hier lag, lag morgen – auf einer anderen Ebene, in einer anderen Welt - woanders. Oder ein Teller oder ein Becher. Eine Szene aus der Vergangenheit, an die man sich genau erinnern konnte, von der man sicher wusste, dass alles auf genau diese Weise und nicht anders geschehen war. Was dann aber 181
seltsamerweise auf einmal nicht mehr stimmte... Der winzige Moment völliger Irritation, weil der eben noch so wohlbekannte Weg kurzzeitig unendlich fremd erschien. Solche unmerklichen Kleinigkeiten zeigten den Ebenenwechsel an - und wurden übersehen, wurden für eine Unachtsamkeit gehalten. Oder sie äußerten sich als Déjà-Vu. Nur deshalb schien es dem Einzelnen so, als seien die anderen Ebenen unendlich weit entfernt oder nicht existent. Tatsächlich jedoch befand er sich bereits mittendrin, ohne es zu erkennen. Es gab keine absolute Realität – nur einzelne, individuelle Wirklichkeiten. Das, was gemeinhin für ‚real‘ gehalten wurde, beruhte nur auf einer Kommuniktion unter Zuhilfenahme eines kleinsten gemeinsamen Nenners. Wiedergänger – Tote, die auf einmal unvermittelt für kurze Zeit wieder auftauchten - das waren nur irregeleitete Doppelgänger, die sich kurzfristig auf einer für sie falschen Weltenebene befanden. Die das alles definierende und durchziehende, ja lenkende Struktur, der zugrunde liegende Bauplan - das war die Magie selbst! Auf jeder einzelnen Ebene zeigte sich von ihr nur ein winziger Ausschnitt des gesamten Bauplanes, so dass dieser winzige Ausschnitt chaotisch wirken musste. Hier eine Magieanwendung, vielleicht in Form eines durch einen Wetterzauber hervorgerufenen Hagelschauers, da die mächtige Ley-Linie. Über alles gesehen jedoch wies die Magie durchaus eine sehr geordnete Struktur auf - bestimmte sie doch die Konstruktion für alle Weltenebenen! Nur musste man sich - um eben das zu erkennen - von liebgewordenen Vorstellungen lösen. Findus blickte auf. Das Licht war deutlich schwächer geworden. Wie lange hatte er hier gesessen, versunken in die Betrachtung dieses so wunderbaren Steins? Er wusste es nicht. Er fühlte sich wie aus einem langen Schlaf erwachend. Und er hatte Erkenntnis gewonnen. Fundamentale Erkenntnis. Wie sagte doch die Bônday aus der Tiedsiepe? „Bring´ mir den Stein des Lebens!“ Nein - das würde er nicht tun. Der Stein musste hier bleiben. Hier und nirgendwo anders. Nur hier gehörte er hin. Ihn von der Felswand zu lösen wäre ein Frevel sondergleichen gewesen. Findus erhob
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sich und verließ wie im Traum, wie betäubt, die Höhle. Draußen wartete der Drache. „Hast du gefunden, wonach du suchtest?“ wollte Draconis wissen. „Ja“ war Findus´ einsilbige Antwort, noch ganz entrückt von dem so unerwartet Erlebten. „Und was hast du mitgenommen?“ „Gar nichts.“ „Wie - gar nichts? Da drin liegt ein riesiger Schatz! Für sowas tut ihr Sterblichen doch alles!“ „Ich nicht. Der Schatz interessiert mich nicht. Ich habe den Stein des Lebens gesucht. Er gehört nicht zum Schatz, sondern ist Teil der Höhlenwand. Ihn mitzunehmen wäre eine Blasphemie. Er gehört hier her und kann nur hier bleiben!“ Findus schwieg und blickte den Drachen an. „Du warst lange fort“ murmelte Draconis. „Wie lange?“ wollte Findus wissen. „Zwei volle Tage und Nächte. Ich dachte schon, dir sei etwas passiert.“ Zwei volle Tage und Nächte - seltsam! Findus verspürte weder Hunger noch Durst oder Müdigkeit. Dieser meditative Zustand bei der Betrachtung des Phantomquarzes musste sämtliche Lebensvorgänge seines Körpers angehalten haben. Erst jetzt gewahrte Findus auch, dass es Nacht war. Die Nacht des Nordens. Die Sonne als schmale Sichel über dem Horizont, ein helles Dämmerlicht verbreitend. Der über dem Meer stehende Mond und ein über das tiefblau daliegende Wasser wogendes Nebelfeld. Noch immer aufgewühlt setzte er sich. Draconis erkannte, wie tief bewegt Findus war. „Was hast du jetzt vor?“ lautete seine Frage. „Ich muss zurück. Nach Norgast, zur Tiedsiepe. Zur dortigen Bônday.“ „Und wie willst du das anstellen? Dein Schiff dürfte längst über alle Berge sein.“ „Weiß ich noch nicht. Vielleicht in Gestalt einer Robbe oder eines Fisches. Mal sehen.“ Findus schwieg wieder und blickte nachdenklich auf das Meer hinaus. „Magie“ dachte er „das ist der Schlüssel zu allem.“ „Ein weiter und gefährlicher Weg. Weißt du, wenn schon ein Sterblicher kein Interesse an meinem Schatz mehr hat, dann ist es sinnlos, hier noch länger etwas zu bewachen. Was hältst du von Begleitung?“ Überrascht schaute Findus den Drachen an. „Wie meinst du das? Du willst mitkommen? Nach Norgast? Aber ja - warum eigentlich nicht!“ „Ich fliege dich hin. Ein Drachen ist sehr schnell, selbst wenn seine Knochen schon so uralt sind wie die Meinen. Steig´ auf! Bevor die Sonne am 183
Mittagshimmel steht sind wir da!“ Und so wurde Findus zum Drachenreiter...
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Kapitel 9: Forst der Entscheidung Der
Drache und sein Reiter erreichten die Tiedsiepe am späten Vormittag, wobei die sich auf der ‚namenlosen Insel‘ vereinigenden Erdströme auf den Drachen wie ein unübersehbares, astrales Leuchtfeuer wirkten. Draconis´ hohe Körpertemperatur verhinderte zudem, dass der Flugwind Findus zu Eis erstarren lassen konnte. Dennoch war es für den Drachenreiter auch so noch anstrengend genug gewesen. Lyonora bemerkte sie zuerst. Die Novizin sammelte gerade Kräuter im Norden der ‚namenlosen Insel‘, als sie am Himmel einen sich nähernden und dadurch stetig größer werdenden Punkt wahrnahm. So schnell wie möglich informierte sie Dayla und ihre Bônday. Letztere trat ins Freie und suchte den Himmel ab. Ihre Katzenaugen waren schärfer als die eines Menschen. „Das ist ein Drache!“ sagte die Bônday und setzte noch hinzu: „Ich wusste gar nicht, dass es noch welche gibt. Das wird sicherlich interessant! Vielleicht sogar gefährlich...“ Auch Draconis hatte die drei Personen am Boden schon erspäht. „Unser Empfangskomitee wartet bereits“ rief er Findus über die Schulter hinweg zu. „Dann lande irgendwo in ihrer Nähe. Wer weiß, wie sie auf dich reagieren.“ Draconis schüttelte sich vor Lachen und der Flug wurde unruhig. Sein Passagier hatte dadurch seine liebe Mühe, nicht den Halt zu verlieren. „Kannst du dich vielleicht mal wieder beruhigen“ schimpfte Findus, erreichte mit seiner Bemerkung aber genau das Gegenteil. Resignierend hielt er den Mund und nahm sich vor, zukünftig einen fliegenden Drachen nicht mehr zum Lachen zu bringen – zumindest keinen, auf dem er selbst als Passagier mitflog. Wohlbehalten landeten sie kurze Zeit später nicht weit von den drei Frauen entfernt und Findus stieg ab. Er ging auf die Bônday zu. „Findus!“ staunte die. „Ich hätte es mir denken können. Wer sonst würde einen der letzten Drachen oder vielleicht sogar den letzten Drachen Norgasts ausfindig machen?“ „Bônday“ - er begrüßte sie mit einem Kopfnicken und schloss auch Lyonora und Dayla mit ein. „Ich bin zurück von meinem Auftrag. Doch ich habe nur eine der drei Prüfungen bewältigen können.“ „Ja, der weiße 185
Rabe. Dayla erwähnte es bereits. Aber was ist mit dem Geist des Waldes?“ „Malweýn ist wieder frei. Er war in Baumgestalt gebannt worden. Ich bat ihn, hierher zu kommen, doch er verweigerte sich. Er hat eigene Pläne und dürfte in diesen Tagen den Bomenhau erreichen. Mir erschien es, als warte er darauf, dass du ihn besuchst und nicht umgekehrt.“ „Er war schon immer ein alter Sturkopf und daran hat sich wohl nichts geändert. Und was ist mit dem Stein des Lebens?“ „Dabei handelt es sich um einen Phantomquarz in Draconis´...“ - Findus wies mit dem Kopf zum Drachen hinüber – „...Höhle. Der Stein symbolisiert das Zusammenspiel von dieser Welt mit allen Anderswelten, wobei die Magie selbst den Bauplan bildet. Der Stein ist insofern gefährlich, als dass man sich in seiner Betrachtung verlieren kann. Er ist Bestandteil der Höhlenwand. Das ist sein natürlicher, angestammter Platz und nur dort gehört er auch hin. Deswegen ließ ich ihn, wo er ist.“ Die Bônday sah Findus direkt in die Augen. „So betrachte ich denn alle drei Prüfungen als bestanden“ teilte sie ihm formell mit. Dann trat sie auf ihn zu und ergriff seine Hände. „Willkommen zurück!“ sagte sie und ihre Augen blitzten. „Du siehst reifer aus als früher. Und abgekämpft. Und - nimm´ es mir nicht übel - du brauchst auch dringend ein Bad.“ „Ich habe alles gehört“ meldete sich jetzt Draconis mit seiner gewaltigen Stimme aus einiger Entfernung zu Wort. „Er stinkt. Er stinkt nach meinem Blut!“ „Drachenblut?“ fragte die Bônday erstaunt. Findus nickte: „Ich erzähle euch später alles, in Ordnung?“ Die Bônday nickte. „Dann bist du überall da, wo sein Blut dich benetzt hat, unverwundbar. Doch geh´ jetzt. Dayla wird dir helfen. Und ich muss unbedingt ein paar Worte mit deinem neuen Freund wechseln.“ Sie übergab Findus in Dayla´s Obhut und trat zu Draconis, mit dem sich ein leise geführter Wortwechsel entspann. Einige Zeit später – der Tag neigte sich bereits - trafen die fünf am Tiedsiepe-Strand unterhalb der Hütten erneut zusammen. Findus war inzwischen wieder sauber, verpflegt worden und er hatte auch neue Kleidung erhalten. Sie saßen im Kreis und er berichtete, wie es ihm ergangen war. Nachdem er geendet hatte, ergriff die Bônday das Wort. „Ich habe vorhin ausführlich mit Draconis gesprochen. Er ist kein 186
Freund von vielen Worten und bat mich, für ihn zu sprechen. Er hat Findus sein Drachenwort gegeben, dass er ihn nicht angreift. Und Findus hat das nicht ausgenutzt, obgleich es viele andere Menschen in Versuchung geführt hätte. Draconis ist davon tief beeindruckt. Er bietet uns einen Pakt und speziell Findus seine Feundschaft an.“ Sie sah Findus an. Der erhob sich und trat zu dem Drachen hinüber, legte die Hand auf die Nüstern, aus welchen kleine Rauchwölkchen quollen. „Einen besseren Freund kann ich mir nicht vorstellen“ meinte Findus nur. Dayla schmunzelte: „Ihr beide werdet ein unschlagbares Team abgeben.“ Damit waren Pakt und Freundschaft besiegelt. Findus setzte sich wieder. „Gut“ meinte die Bônday „nachdem das nun geklärt ist, kommen wir zum nächsten Punkt. Einem sehr wichtigen Punkt...“ - sie blickte Findus an und fuhr fort – „...nämlich zu deiner Vergangenheit. Du wurdest vor ungefähr dreissig Sommern und noch als Säugling von einem Mann namens Ravon bei einem Kräuterweib abgegeben. Er führte ihr gegenüber damals aus, dass er dich vor deinem Bruder in Sicherheit bringen wollte. Einem Bruder, der einmal große Macht haben würde. Inzwischen wissen wir alle, wer dieser Bruder ist. Baldur, der Herrscher von Norgast.“ Die Bônday seufzte. „Das Kräuterweib zog dich auf. Zehn Sommer lang. Sie spürte eine große Magie in dir und brachte dich deswegen zu uns. Du bliebst knapp zwanzig Sommer lang. Vor etwa einem Sommer bist du dann ohne meine Erlaubnis aufgebrochen, um deine Herkunft selbst zu ergründen. Den Rest kennst du. Es ging schief.“ Die Bônday schwieg und ließ ihren Blick durch die Runde wandern, ließ die Worte wirken. Im Anschluss an diesen Moment der Besinnung fuhr sie fort: „Das bedeutet, dass Findus von königlichem Blut ist. Aber wie? Seine Mutter hatte seinerzeit nur ein Kind und bei dessen Geburt ist sie gestorben. Ein Rätsel. Ein Rätsel, welches wir lösen müssen. Denn wenn Findus vom gleichen Blut ist, dann hat er ebenso einen Anspruch auf den Thron Norgast´s wie Baldur. Und er gäbe sicherlich einen menschlicheren Herrscher ab. Wir müssen also in die Vergangenheit sehen. Es gibt einen Weg, die Vergangenheit noch einmal lebendig werden zu lassen: Die Rückschau durch spiegelmagische Evokation. Ich habe daher, Findus´ 187
Einverständnis vorausgesetzt,“ - er nickte – „Dayla und Lyonora gebeten, alles vorzubereiten. Und Draconis hat sich bereit erklärt, uns mit seiner Drachenmagie zu unterstützen, weil wir zur Zeit keinen Vollmond haben. Damit sollte das Erfahren der Evokation uns allen möglich sein. Es ist bereits stockdunkel. So lasst uns denn beginnen!“ Dayla und Lyonora erhoben sich und holten einen silbernen, etwa halb mannshohen Spiegel, an dessen Rückseite sich ein Ständer befand. Sie stellten den Spiegel auf und richteten ihn genau nach Norden hin aus. Die Bônday steuerte frisches Quellwasser bei, mit welchem der Spiegel sorgfältig gereinigt wurde. Im Anschluss stellte sie eine Kerze rechts vom Spiegel auf und entzündete die. Links vom Spiegel wurde eine Räucherschale mit dem Harz des Wicbaumes beschickt. Dann setzte sich Findus direkt vor den Spiegel, die drei Frauen nebeneinander und etwas hinter ihm. Draconis ließ kleine Flammen aus seinen Nüstern züngeln und ersetzte so das fehlende Licht des Vollmondes. Findus und die Hagias schauten in den Spiegel und entspannten sich, imaginierten ein goldenes Licht in ihrem Innern und erlangten so einen tranceähnlichen, schamanischen Geisteszustand. Nach einiger Zeit löste sich das Spiegelbild auf, verschwand einfach. Stattdessen wirbelten Szenen über den Spiegel. Gesichter, Orte. Irgendwann wurde eine Szene eingefangen. Ein Reiter, der mit einer hochschwangeren Frau auf einem Bauernhof anlangte. Sie war durchnässt. Ihre Fruchtblase war bereits geplatzt. Die Geburt. Zwei Kinder. Zweieiige Zwillinge. Brüder. Der Mann sprach die Frau mit dem Namen „Gwylon“ an. Sie hörten die Worte der Frau: „Ravon, der Erstgeborene soll den Namen Baldur erhalten. Der Zweitgeborene wird Findus genannt. Bringt Findus weg. Versteckt ihn. Ich habe schlimme Vorzeichen gesehen. Ich weiß nicht, ob Mykyllin das Kind erziehen wird.“ Die Mutter überlebte das Kindbettfieber nicht und Ravon brachte Findus zu einem Kräuterweib. Die Szene wechselte. Ein prächtig gekleideter Kaufherr sprach mit einem anderen Mann: „Merkyllum, ihr seid der Verwalter von Norgast. Ihr kümmert euch um die Erziehung des Kindes. Erzieht es in unserem Sinne und ihr werdet es nicht bereuen. Die Gilde wird sich 188
erkenntlich zeigen.“ „Und der König? Mykyllin?“ „Er wird einen bedauerlichen Jagdunfall erleiden...“ Dann waren plötzlich die Spiegelbilder wieder da. Obgleich sie alle noch im Bann des soeben Gesehenen standen, erhob sich die Bônday und löschte Kerze sowie Räucherschale aus. „Ich glaube, wir haben genug gesehen. Findus ist der Sohn von Gwylon und Mykyllin. Einer von zwei Königssöhnen. Damit hat er berechtigten Anspruch auf genau die Hälfte des Reiches Norgast. Der alte König - der ein guter König war! - ist von den Kaufleuten ermordet worden, damit Merkyllum Truchsess werden konnte. Der Truchsess erzog Baldur im Sinne der Kaufleute-Gilde. Ein abgekartetes Spiel profitgieriger Mächte, die immer im Hintergrund bleiben und die sich niemals selbst die Finger schmutzig machen. Die bis heute die einfachen Menschen erfolgreich von Wissen und Bildung ausschließen, um so etwas nur ihrem eigenen Nachwuchs angedeihen zu lassen.“ Sie schwieg, sah Findus an: „Bist du bereit, deinen Teil des Reiches zu beanspruchen, um diese Verhältnisse zu ändern und notfalls darum zu kämpfen?“ „Ja“ antwortete der Angesprochene schlicht. „Gut. Ich für meinen Teil werde meine Neutralität aufgeben und mich einmischen. Draconis, bringe du bitte Findus zu Malweýn. Der Alte hatte schon immer brauchbare Einfälle; er wird wissen, was zu tun ist. Ich selbst mache mit Hilfe meiner Schwestern eine Ley von hier bis zum Bomenhau begehbar. Wenn meine Hilfe erforderlich sein sollte, dann werde ich zur Stelle sein. Dayla, Lyonora - schließt ihr euch mir an?“ Zustimmendes Nicken. „In Ordnung. Bereitet für Findus eine brauchbare Ausrüstung vor, denn im Bomenhau wird schon tiefer Winter herrschen. Draconis, findet das auch deine Zustimmung?“ Zur Antwort entließ der Drache bestätigend eine feurige Loh in die klare Nachtluft.
Der nächste Tag. Draconis und Findus brachen früh auf - Findus dick vermummt aufgrund der zu erwartenden Winterkälte und wieder als Drachenreiter. Obgleich der Drache sehr schnell war, wurde es ein langer Flug gegen den
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Wind. Immer genau in Richtung Osten lag die Tiedsiepe bald hinter ihnen. Nach der Überquerung des Wilderfrio mischten sich erste Schneeflächen zwischen die unter ihnen liegenden Wälder und das Land stieg stetig an - die Nähe der Gebirge Haucain und Itcain machte sich bemerkbar. Irgendwann gegen die Mittagszeit - nur erkennbar anhand einer trübe durch dicke Schneewolken blinzelnden Sonne - erstreckte sich ein großes, tiefverschneites und scheinbar unberührtes Waldgebiet unter ihnen: der Bomenhau. Irgendwo hier mussten sich Malweýn und seine Horde aufhalten. Sie mussten ‚nur‘ noch gefunden werden und Findus war sich sicher, dass Malweýn ein Meister der Tarnung war... „Draconis, kannst du irgendwas erkennen?“ „Nein, nichts. Der Schnee ist überall wie jungfräulich. Vielleicht sind sie noch nicht hier.“ „Sie sind da. Ich spüre es. Aber sie haben sich versteckt. Kein Wunder, wenn man nicht gefunden werden will. Die Horde besteht aus Leuten, die es offiziell gar nicht mehr gibt. Sie sind vogelfrei. Wenn irgendwer jemanden von ihnen erschlägt, dann kümmert sich niemand darum und der Täter geht straffrei aus. Deswegen verstecken sie sich. Drehe mal ein paar Runden über dem Wald, aber so tief wie möglich.“ „Warum - glaubst du, dass du besser sehen kannst als ich?“ „Das wohl nicht gerade, aber wenn wir sie nicht finden können, dann lassen wir uns eben von ihnen finden. Wie gut sie sich auch verstecken, einen tieffliegenden Drachen werden sie wohl kaum übersehen.“ „Gute Idee!“ antwortete Draconis und ging tiefer. Nach einiger Zeit und ein paar Runden über dem ausgedehnten Forst fanden sie eine Lichtung nahe der Felswand, welche den Gipfel des Bomenhau bildete. Draconis landete dort. Nun blieb ihnen nichts weiter übrig, als zu warten. Sie harrten der Dinge, die da kommen sollten und ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Als die Abenddämmerung hereinbrach kam ein Uhu auf einen der Bäume am Rand der Lichtung herabgeschwebt und beobachtete sie unbewegt. Wartete ebenfalls. Findus wurde es langsam zu bunt. „Draconis, du hast doch eine laute Stimme. Ruf´ mal Malweýn, aber so, dass man es im ganzen Wald hört.“ „Malweýn, komm´ endlich raus!“ brüllte der Drache mit orkanartiger Stimmkraft, wobei Findus sich entsetzt die 190
Ohren zuhielt. Zuerst geschah gar nichts. Doch dann schwebte der Uhu von seinem Baum herab und verwandelte sich in einen alten Mann. „Brüll´ hier nicht so rum, Drache - dies ist nicht dein Land!“ tadelte er. „Na endlich!“ meinte Findus. „Ich beobachte euch schon seit geraumer Zeit“ führte Malweýn aus und setzte hinzu „aber Geduld scheint nicht gerade zu euren Tugenden zu gehören. Und einem Drachen trauen nur Verrückte.“ „Sieh´ dich vor, alter Mann, ich kann auch anders!“ wurde Draconis langsam wütend. Findus beobachtete die Situation mit Sorge. Es war nicht gut, einen Drachen zu reizen. „Nun beruhigt euch beide mal wieder“ versuchte er das Verhältnis zu entspannen. „Malweýn, das ist Draconis. Er ist auf unserer Seite. Ich habe sein Drachenwort und ich bin ganz gewiss nicht verrückt.“ „Was hast du? Wie hast du das denn gemacht?“ staunte da der Zauberer. „Später“ winkte Findus ab. „Ich werde dir alles berichten. Wo sind die anderen?“ „Versteckt rings um uns herum.“ „Seid ihr schon lange genug hier, um so etwas wie ein Lager zu haben?“ „Was glaubst du denn - natürlich! Meinst du etwa, ich wäre den ganzen weiten Weg zu Fuß gegangen? Wir haben die nächste passende Ley gesucht und benutzt.“ „Dann lass´ uns zum Lager gehen und da sollten wir miteinander reden.“ „In Ordnung. Es ist nicht weit von hier. Komm´ mit. Aber der Drache passt da nicht rein.“ „Ich warte hier“ knurrte Draconis. Weit war es wirklich nicht bis zum Lager, doch Findus hätte es selbst dann verfehlt, wenn er über den Ort informiert worden wäre. Unmittelbar hinter den Bäumen begann dichtestes Unterholz. Es führte ein Weg hindurch, der sich allerdings nur dem Eingeweihten offenbarte. Auf dem Weg durch das Unterholz machte Malweýn eine beiläufige Bewegung mit der Hand. Ein kurzer Wind kam auf, fegte den Schnee nach oben und ließ ihn wieder hinunterrieseln. Ihre Spuren waren bedeckt und die Schneefläche präsentierte sich so jungfräulich wie zuvor. Gewunden und labyrinthartig mündete der durch sehr hohes, dorniges Gestrüpp führende Weg in eine zwar gut mannshohe, jedoch recht schmale Felsspalte im Massiv des Bomenhau-Gipfels. Hatte man sich durch diese Felsspalte gezwängt, dann stand man im Vorraum 191
einer Höhle - ein Vorraum, der mit einer seltsam anmutenden Menagerie angefüllt war. Wildschweine hausten da neben Füchsen, Luchse neben Wölfen, Dachsen oder Schlangen. Es waren die ehemals gefangenen Tiere aus dem Wald von Balum. Sie waren Malweýn gefolgt. Von dem Vorraum aus führte ein natürlicher, tropfsteinbewachsener Gang in einen großen Dom. Hier lebten die Menschen. Männer, Frauen und Kinder - auch alles ehemalige Gefangene des seltsamen Waldes. Leute, die irgendwann einmal vor Baldur´s Häschern hatten flüchten müssen. Viele Feuer brannten und die Luftverhältnisse in der Höhle bewirkten, dass der verräterische Rauch erst weit durch den Berg geführt wurde, bevor er an gänzlich anderer Stelle austrat. „Unser Reich“ sagte Malweýn und unterstrich seine Ausführungen mit einer ausholenden Bewegung der Arme. „Ich kannte diese Höhle schon vor Urzeiten. Es sind aber nicht alle da. Einige halten draußen Wache, überwiegend die Trolle. Ein paar Kinder sind in Sirval und kundschaften die Routen der Kutschen aus. Und das ist auch gut so. Auf Kinder achtet nämlich keiner. Die werden von den Erwachsenen immer unterschätzt.“ „Die Kutschen...“ murmelte Findus, sah Malweýn an und setzte hinzu: „Zum Teil hast du damit Recht gehabt. Sie sind Baldur´s Lebensader. Aber sie sind auch noch viel mehr. Sie halten die Gilde der Kaufleute an der Macht und die Gilde ist es, die Baldur als Herrscher in ihrem Sinne eingesetzt hat. Das war nämlich so...“ Und Findus berichtete, was er seit ihrer Trennung in Erfahrung gebracht hatte. Sie hatten sich an ein Feuer gesetzt und der alte Zauberer lauschte dem Bericht. Nachdem Findus endete meinte er: „Das ist sehr interessant, doch es ändert im Grunde nichts an meinen Plänen.“ „In gewisser Hinsicht sollte es schon was ändern“ widersprach Findus. „Wie meinst du das?“ „Es stellt sich die Frage, was mit den aufgebrachten Schätzen geschehen soll.“ „Nun, wenn dir ohnehin genau die Hälfte davon zusteht, dann solltest du selbst dir darüber Gedanken machen.“ „Habe ich schon getan. Und auch mit Draconis gesprochen. Auf dem Herflug. Er brachte mich auf eine Idee.“ „Der Drache hat dir Vorschläge gemacht? Na, da bin
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ich aber mal gespannt!“ Der Zauberer misstraute Draconis noch immer. „Draconis´ Vorschlag ist im Grunde nur eine Abwandlung deiner Pläne. Wir haben uns Folgendes ausgedacht: Die Kutschen werden durch Listen aufgebracht. Menschenleben werden geschont, wo immer es geht. Damit die Leute sich daran halten, entlohnen wir sie nach einem Prämiensystem. Wer das Meiste ranschafft, ohne Menschen zu töten oder zu verletzen, der bekommt auch den größten Anteil. Für jeden verletzten oder getöteten Menschen wird der Anteil gemindert. Wer von unseren Leuten im Kampf dauerhaft verletzt wird, der - oder im Todesfalle dessen Hinterbliebene erhält eine lebenslange Grundversorgung. Das zur Motivation unserer eigenen Leute. Von jeder Kutsche nehmen wir nur genau die Hälfte - nämlich den mir allein zustehenden Anteil. Den Rest lassen wir weiter transportieren. Das sollte Baldur nachdenklich werden lassen.“ Findus hielt kurz inne und fuhr fort: „Die gesammelten Reichtümer dritteln wir. Ein Drittel bleibt für uns selbst. Das wird für die Versorgung unserer Leute mehr als ausreichend sein. Die beiden restlichen Drittel aber...“ Findus schwieg. „Ja?“ fragte Malweýn interessiert. „Die Macht der KaufleuteGilde beruht darauf, dass die einfachen Menschen tagtäglich um ihr Überleben kämpfen müssen. Deswegen laufen sie jedem hinterher, der ihnen nur laut genug Besserung verspricht. Die Kaufleute versprechen zwar lauthals Besserung, leben aber nur aufgrund eben dieses Systems sehr gut. Sie sind daher an seiner Erhaltung und keinesfalls an einer Veränderung der Verhältnisse interessiert. Und Baldur ist nichts ohne die Gilde.“ „Weiter“ verlangte der Zauberer. „Wenn wir den Menschen eine Grundversorgung zukommen lassen, dann wird auch der Überlebenskampf entschärft. Die Leute können beginnen, sich Gedanken zu machen. Dadurch finden sie Wahlmöglichkeiten. Alternativen. Sie hören nicht mehr auf jeden, laufen nicht mehr hinter jedem her, der ihnen etwas verspricht. Das wird die Macht der Gilde schwächen.“ „Du willst die verbleibenden zwei Drittel der Schätze also unter den Bewohnern Norgast´s verteilen?“ „Draconis wird das übernehmen.“ „Ausgerechnet! Der Drache wird sich damit 193
einen eigenen Schatz aufbauen!“ „Nein. Das hat er gar nicht nötig - er hat nämlich schon einen. Und den hat er mir zuliebe im Stich gelassen.“ „Dann ist der Drache also wirklich und vorbehaltlos auf unserer Seite?“ „Ist er.“ „So sei es denn. Wir werden deinen Plan in die Tat umsetzen, genau so, wie du es gesagt hast. Es wird aber lange dauern, bis er Wirkung zeigt.“ „Es hat auch lange gedauert, bis die Gilde so mächtig war, wie sie es heute ist!“ Malweýn nickte verstehend. Und so verfuhren sie dann auch...
Sirval: In mehreren Reihen umgaben steinerne, befestigte große Häuser einen riesigen Marktplatz, auf dem das Leben nur so quirlte. Bunte Tücher, vielfarbige und teils prächtig ausgestattete Zelte, lärmende Menschen. Dazwischen Vieh, Waren und fluchende Reiter, denen ein Durchkommen durch das Gewühl kaum möglich war. Häuser und Markt kündeten vom Reichtum der Stadt. Es war allerdings nur der Reichtum einiger Weniger, denn an die Reihen der befestigten Häuser schlossen sich schier endlose, schmale und von mehr oder weniger ärmlich aussehenden Holzhütten dicht an dicht umsäumte Gassen an. Das reinste Labyrinth. Zwischen den steinernen Häusern befand sich ein abgesperrter und streng bewachter Bereich. Hier wurden die Kutschen für den Norden mit Schätzen beladen. Das Mädchen mochte vielleicht ein Dutzend Sommer zählen. Es trug zerlumpte, ärmliche Kleidung, blickte den neben ihr in einer dunklen Ecke stehenden Erwachsenen an. Der nickte. Sie trat auf den Markt hinaus. Schaute hier, schaute dort, wie zufällig. Ein unvorsichtigerweise offen liegen gelassenes Brot wechselte insgeheim den Besitzer. Auf diese Weise näherte sie sich langsam dem abgesperrten Bereich. Hielt sich im Hintergrund, spitzte die Ohren und lauschte. Auf dem für sie unzugänglichen Gelände stand eine Sechsspänner-Kutsche, allerdings ohne Pferde. Ächzende Männer schleppten schwere Kisten dort hinein. Nur Wortfetzen wehten zu ihr herüber. Sie trat näher heran, um besser hören zu können, schlich auf eine der Wachen zu. „Was willst du, Kind?“ herrschte der Gepanzerte sie an.
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„Wasser, Herr. Nur etwas zu trinken. Könntet ihr vielleicht etwas erübrigen?“ „Ich habe kein Wasser. Und jetzt verschwinde!“ „Darf ich euch morgen oder übermorgen noch einmal fragen?“ Mitleidig betrachtete der Wachmann das Mädchen mit dem flehenden Blick aus treuherzigen Kinderaugen. Sie hätte durchaus seine Tochter sein können. „Komm´ übermorgen gegen die Mittagszeit wieder. Dann ist hier weniger los. Bis dahin musst du dich selbst durchschlagen.“ „Ich danke euch, Herr, ihr seid zu gütig.“ Sie verschwand wieder im Gewühl. Kurze Zeit später erreichte sie den Erwachsenen, der noch immer in einer dunklen Ecke auf sie wartete. Beide flüsterten miteinander. Dann drückte der Erwachsene dem Mädchen etwas in die Hand und machte sich auf, die Stadt zu verlassen. Er ging zu Fuß durch die ärmlichen Gassen. Sein Ziel war ein abseits gelegener Hügel. Furchtsam blickte der Mann sich um. Keine Verfolger - gut! Er erklomm den Hügel und entnahm dem Lederbeutel an seinem Gürtel einen kleinen Silberspiegel. Fing damit das Sonnenlicht ein und lenkte es in Richtung Norden. Schickte eine genau bestimmte Folge von Lichtsignalen. Ein kurzes Aufblitzen am Horizont bestätigte ihm den Empfang der Nachricht. Die Kette von Lichtsignalen reichte über Station zu Station von Sirval bis hin zum Bomenhau. „Übermorgen verlässt eine Kutsche Sirval“ sagte Malweýn zu Findus. Der nickte. Sie begannen mit den Vorbereitungen. Viele Wege führten durch den Bomenhau. Doch jetzt im Winter wurde auf Grund der Behinderungen seitens des Schnees nur die alte Handelsstraße benutzt. Auch war der Winter die Zeit der schweren, der besonders wertvollen Transporte, denn der Boden war tief und hart gefroren, so dass die Kutschen nicht im Morast einsinken und stecken bleiben konnten. Die avisierte Kutsche kam denn auch tatsächlich gut zwei Tage später, am sehr späten Abend. Ein Dutzend Gepanzerte begleiteten sie, bildeten die Wachmannschaft. Es geschah kurz hinter der Brücke über einen der Nebenflüsse, welche den Strom Itfrio speisten. Eine Schlange - die um diese Jahreszeit sich eigentlich in der Winterruhe hätte befinden müssen - lag auf dem Weg, als die Kutsche sich näherte. Die Schlange hob den Kopf stoßbereit und zischte angriffslustig. Die Pferde der Kutsche 195
scheuten und gingen dann durch, zogen das schwer beladene Gefährt in ihrer Panik hinter sich her. Den Kutscher schleuderte es vom Kutschbock; er blieb besinnungslos liegen. Fluchend machte sich die Wachmannschaft auf, um die Kutsche zu stoppen. Doch plötzlich erklang ein leises Fauchen und es bildete sich undurchdringlicher Nebel, dichter noch als Watte. Es hatte den im Verborgenen lauernden Draconis´ nur sehr kleiner Flammen bedurft, um den allgegenwärtigen Schnee zu verdampfen. Nebel und Dunkelheit. Als die zwölf Begleiter die Kutsche schließlich fanden, war exakt die Hälfte der Ladung verschwunden - und nirgendwo waren Spuren zu finden! Jede der folgenden Kutschen traf ein ähnliches Schicksal. Mal stoppte ein Wolf oder ein Wildschwein den Transport, mal lag ein schier unüberwindliches Schneehindernis auf der Straße, mal störte ein Luchs die Fahrt und ein andernmal tauchten seltsam singende Kinder zwischen den Bäumen auf und lenkten die Wächter ab. Doch immer blieb der eigentliche Angreifer verborgen und geheim. Niemals wurde ein Dieb auch nur gesehen. Man fand nicht einmal die geringste Spur! Es fuhren binnen eines Mondes immer so um die fünf bis zehn Kutschen von Sirval aus ab. Jede hatte beim Erreichen ihres Ziels nur noch genau die Hälfte der ursprünglichen Ladung. Auch fanden sich kaum noch Bewaffnete, welche bereit waren, die Transporte zu begleiten - glaubte man auf Grund der unsichtbaren Angreifer doch an Geister! Die Schätze häuften sich in Malweýn´s Versteck. Doch nicht für lange. Was nicht an die Horde der Vogelfreien zur Auszahlung gelangte, das wurde von Draconis im Schutz der Dunkelheit verteilt. Ursächlich verteilt an die ausgesprochen armen Leute, die außerhalb der Städte und festen Ansiedlungen lebten und deren Handelspartner die fahrenden Händler waren. So mancher Bauer oder Fischer fand eines schönen Morgens Schmuckstücke oder Geld auf seinem kärglichen Besitz liegend vor und rieb sich ob dieses unerwartet vom Himmel gefallenen Reichtums verwundert die Augen. Nur auf diese Weise konnte es geschehen, dass die fahrenden Händler erstmals so etwas wie einen gewissen Wohlstand erwirtschafteten. Sie wuchsen sich langsam aber 196
sicher zur echten Konkurrenz für die Kaufleute-Gilde aus. Und Konkurrenz belebt das Geschäft! Die Konkurrenz seitens der fahrenden Händler zwang die Gilde, die Preise für ihre Dienstleistungen zu senken. Das wiederum führte dazu, dass den einfachen Menschen mehr Geld zum Leben blieb. Die Gilde jedoch machte gleich in doppelter Hinsicht Verlust - nämlich einerseits durch die gezwungenermaßen preiswerter angebotenen Waren und Dienstleistungen sowie andererseits dadurch, dass ihnen von den Kutschtransporten immer nur die Hälfte blieb. Denn Letzteres hatte sich nicht mehr geändert. Auch abweichende Routen der Kutschen, stärkere Bewachung, Fallen für die Diebe - indem man den Kutschen versteckte Bewaffnete anstelle von Waren mitgab - und ähnliche Maßnahmen waren wirkungslos geblieben. In ihrer Not wandten sich die Kaufherren daher nach Ablauf von knapp sechs vollen Monden an den Herrscher. Und sie fanden bei Baldur offene Ohren! Dem war es nämlich schon aufgefallen, dass seine eigenen Steuereinnahmen drastisch zurück gingen, während das Leben der Bevölkerung immer besser wurde. Ja, mehr noch: Er selbst hatte sogar hier und da schon persönliche Abstriche bei seinem eigenen Lebenswandel in Kauf nehmen müssen - eine untragbare Situation und absolut nicht mehr hinnehmbar! Fragte er seine Berater und Verwalter nach den Gründen des geringen Steueraufkommens, so fiel immer nur ein einziges Wort: „Bomenhau!“ Baldur handelte, und zwar gleich in zweifacher Hinsicht. Einerseits ließ er Bewaffnete und Reiterei in großer Anzahl nach Diekenboog transportieren. Von dort aus würde er zuschlagen und den Bomenhau ausräuchern! Schon sehr bald! Andererseits kannte er aber auch seine Verpflichtungen gegenüber der Kaufleute-Gilde. Baldur erließ ein Gesetz. Ein Gesetz, welches die Berufsausübung in der Bevölkerung stark einschränkte. Ab sofort durfte ungeachtet der Kenntnisse und Befähigungen eines jeden Einzelnen nur noch der selbständig einen Beruf ausüben, der dazu amtlicherseits eine Erlaubnis hatte. Die betreffenden Erlaubnisschreiben stellten Baldurs Hofbeamte aus - oder eben die Kaufleute, da sie überall im Reich präsent waren. Baldur hatte sie dazu ermächtigt. Und es 197
erwies sich natürlich als selbstverständlich, dass nur solche Leute eine Berufserlaubnis erhielten, die dem Herrscher oder den Kaufleuten genehm waren. So mancher Schmied, Schuster, Sattler oder Schneider musste seine Werkstatt schließen und als Arbeiter bei einem Konkurrenten für schlechten Lohn neu beginnen - selbst dann, wenn er handwerklich geschickter als der weiter oben lieber gesehene Konkurrent war. Die fahrenden Händler bekamen generell keine Berufserlaubnis mehr, standen sie doch in Konkurrenz zur Gilde. Als Folge davon blühte im Reich Norgast der Schwarzmarkt. Mancher verdiente sich eine goldene Nase durch den schwunghaften Handel mit gefälschten Papieren – Papiere, die den Besitzern ungeachtet der tatsächlichen und häufig genug gar nicht vorhandenen Kenntnisse erstklassige Fähigkeiten bescheinigten. Fantasiepapiere, die umso eher akzeptiert wurden, je offizieller sie aussahen. Die ein Sprungbrett in die Oberschicht darstellten... Auch nahm die Staatsverdrossenheit zu, denn nur die wenigsten Menschen durften hinsichtlich ihrer Fertigkeiten noch das verwirklichen, was ihnen am Meisten lag. Doch sie waren ja nur Untertanen - dummes Volk in den Augen der Oberschicht und die Gilde profitierte wieder davon. Kurzfristig jedenfalls. Doch aufgrund der so unerwarteten Grundversorgung mit edlen Materialien fragte so mancher einfacher Bewohner sich, ob es denn überhaupt noch erforderlich sei, für schlechten Lohn bei schlechten Menschen zu arbeiten. Wer sich das fragte und über ausreichende Fähigkeiten verfügte, der baute sich insgeheim eine versteckte Werkstatt auf. Wer im Untergrund weiter arbeitete und gefasst wurde, der verlor alles. Sollte der doch sehen, wie er danach verarmt klar kam! Nicht Baldur´s Problem! Es wurde für Baldur damit zum einträglichen Geschäft, seine Bevölkerung erst zu kriminalisieren und dann als Folge davon ganz legal zu enteignen. Dennoch arbeiteten viele im Untergrund weiter. So bot der Schwarzmarkt bald bessere eine Qualität als der offiziell abgewickelte Handel. Weder Baldur noch die Handelsherren bemerkten das. Wie auch - verließen sie doch niemals ihr gesellschaftliches Umfeld. In gewisser Hinsicht hatten sie 198
jeden Kontakt zur Realität verloren und das Volk des Landes unterteilte sich in zwei Klassen: die wirklichkeitsfremde korrupte, hab- und machtgierige Oberschicht sowie die einfachen Menschen, welche diese Oberschicht murrend duldeten – noch! Es gärte gewaltig! Schleichend setzte eine Landflucht ein. Dieser oder jener versuchte verzweifelt und ungeachtet der damit verbundenen Risiken, sein Glück jenseits von Ithelge oder Itcain zu machen. Andere probierten über Wilderbomen nach Sudergast zu gelangen, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Noch andere suchten Rat bei den überall verstreut lebenden Hexen und wurden von denen nach reiflicher Prüfung mit Malweýn´s Horde in Kontakt gebracht. Die Horde der Vogelfreien nahm dadurch gewaltig an Stärke zu und die Hagias dienten als Anlaufpunkte für alle Querdenker und für alle diejenigen, die aus dem menschenverachtenden System auszusteigen gedachten. So sahen die Zustände im Reich Norgast zu Beginn des Sommers aus, als Baldur von Diekenboog aus sein Heer in Bewegung setzte. Ein riesiges Heer, welches den Auftrag hatte, den Bomenhau dicht an dicht zu durchkämmen und gnadenlos jeden zu erschlagen, der dort zu finden war. Der Mordbefehl hatte einen sehr pragmatischen Hintergrund: Es waren in der letzten Zeit nicht mehr so viele Menschen wie zuvor in Norgast verstorben. Das bedeutete aber auch wenig Nahrung für den Shâgun. Der war zwar schon lange nicht mehr aufgetaucht, doch Baldur befürchtete dessen baldiges Erscheinen. Irgendwie fühlte er es! Davor hatte er Angst und diese permanente Angst machte ihn halb verrückt. Denn der Dämon würde kommen, eine reine Zeitfrage! Während Baldur in seinem Palast auf Helegenor weilte, setzte sich auf seinen Befehl hin das Heer in Bewegung. Richtung Süden, Richtung Bomenhau. Allerdings: Sonderlich motiviert waren diese Söldner nicht gerade. Das Gerede über die Geister des Waldes zeigte bei vielen Teilnehmern des Heerzuges abschreckende Wirkung. Da das Gebiet südlich von Diekenboog dicht bewaldet war und niemand genau sagen konnte, wo nun eigentlich der Forst des Bomenhau wirklich begann, kamen sie nur sehr langsam voran - nämlich im Schritt-Tempo, immer einer in Sichtweite des anderen.
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Auf diese Weise durchsuchte eine dichte Menschenkette den Forst vom Norden bis zum Süden. Findus war als weißer Rabe zuerst auf die Bedrohung aufmerksam geworden. Er informierte Malweýn und der ließ seine Gefolgsleute allesamt die schützende Höhle aufsuchen. Mit Hilfe eines Pflanzenzaubers machte er den Zugang gänzlich unpassierbar - alles war jetzt restlos vom Dornengestrüpp zugewuchert. Doch bevor das geschah, musste noch ein Problem gelöst werden, das auf den Namen Draconis hörte. Der Drache passte ja nicht in die Höhle. Doch er verfügte über die Eigenschaft, gänzlich bewegungslos ruhen zu können, so dass ein flüchtiger Betrachter ihn aus der Ferne durchaus mit einem Haufen Felsbrocken verwechseln konnte. Draconis suchte den steinernen Gipfel des Bomenhau auf und legte sich dort nieder. Findus und Malweýn bedeckten ihn zudem mit einer dünnen Schicht von Steinen, Erde und Laub. Sollte jemand dort entlang gehen, so hätte er danach auf dem Drachen stehen können, ohne ihn zu bemerken. Und auch für den Fall, dass Baldur´s Heer die Höhle trotz allem entdeckte, war Vorsorge getroffen worden. In diesem unwahrscheinlichen Falle nämlich würde Draconis auffliegen und alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der Drache hoffte, dass ihm das Auffliegen schnell genug gelingen könne, um den Pfeilen und Bolzen von Langbogen und Armbrüsten zu entgehen. Doch soweit kam es gar nicht erst. Die Menschenkette - ohnehin schon sehr lustlos - zog eher müde vorbei und bemerkte nichts. Wäre ein Magier zugegen gewesen, dann hätte der sicherlich die magischen Einflüsse spüren können - doch es war keiner dabei und so erwies sich Baldur´s aufwändige, teure Aktion als ein einziger Fehlschlag. Ein Fehlschlag, der seinem ohnehin schon sehr angeschlagenen Ansehen noch beträchtlich mehr schadete. Das Aufbringen der Kutschen ging weiter. Doch im Gegensatz zu Baldur lernten Findus und Malweýn aus ihren Fehlern, wurde doch jetzt auch der Norden und damit Diekenboog selbst von der Horde überwacht. Besonders auf ein ganz bestimmtes Ereignis warteten beide gespannt - genau darauf, dass Baldur seinen Palast verließ, um selbst im Bomenhau nach dem Rechten zu sehen. Baldur hatte das 200
ganz und gar nicht vor und wollte stattdessen lieber den ganzen Forst abbrennen lassen – getreu seiner Devise, alles das, was er nicht zu beeinflussen vermochte, einfach zu ignorieren oder zu zerstören. Ignorieren aber schied in diesem Falle aus. Von dem Zerstören jedoch rieten ihm seine Berater dringend ab – denn dann hätte man den Kutschen zukünftig obenrein auch noch einen teuren Versorgungstross mitgeben müssen. Es blieb Baldur folglich nichts anderes übrig, als sich selbst zum Ort des Geschehens zu begeben. Nachdem das Heer nichts gefunden hatte, war ihm schlagartig klar geworden, dass dort im Bomenhau nur Magie mit im Spiel gewesen sein konnte! Und einen vollen Mond nachdem das Heer Höhle und Gipfel passiert hatte, war es dann auch so weit. Ein Lichtsignal kündete von einem Schiff, welches Baldur nach Diekenboog brachte. Findus und Malweýn waren über seine Ankunft schon informiert, noch bevor der Herrscher überhaupt seinen Fuß auf das Land setzen konnte. Und für Baldur´s Erscheinen waren ganz spezielle Vorkehrungen getroffen worden.
Etwa auf halbem Wege zwischen dem Bomenhaugipfel und Diekenboog floss ein Wildbach vom Gebirge ausgehend in den Wilderfrio. Der Bomenhau war an diesem Ort zu einem von Sumpf durchsetzten Auwald geworden. Die beiden Herren des Waldes - Findus und Malweýn - wählten diese Stelle für ihr Treffen mit dem Herrscher sorgsam aus, weil sie weit genug von der Höhle entfernt lag. Galt es doch, die eigenen Leute zu schützen. An diesem Ort nun wirkten sie im Verborgenen mächtige Schutzzauber. Nur eben nicht ganz im Verborgenen, denn einzelne, kurze Schübe von sehr starker Magie gelangten aus dem Wald heraus und versetzten das magische Geflecht in unübersehbare Schwingungen. Einem Außenstehenden gegenüber erweckte dies den Eindruck, als würde etwas praktiziert werden, was unbedingt geheim gehalten werden sollte. Genau das aber war ihr Köder für Baldur!
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Doch der Herrscher ließ sich Zeit. Erst vier Tage nach Baldur´s Ankunft näherte sich ein Reiter langsam dem besagten Gebiet. Findus und Malweýn - beide in Vogelgestalt - sahen ihn schon von Weitem kommen. Nachdem er nahe genug war, landeten beide und nahmen wieder menschliche Gestalt an. Sie erwarteten ihn. Unweit eines baumbestandenen Sumpfes zügelte Baldur sein Pferd. Dort vorn... Da standen zwei Gestalten. Sie kamen ihm zwar bekannt vor, doch aus der Ferne war es ihm noch nicht möglich, irgendwelche Einzelheiten zu erkennen. Egal! Denn schließlich war er ja nicht nur der beste Schwertkämpfer Norgast´s, sondern obenrein auch noch der mächtigste Magier. Ihm konnte keiner etwas anhaben! Das jedenfalls dachte Baldur voller Selbstüberschätzung, als er auf die beiden Gestalten zuritt. Dann irgendwann erkannte er sie! „Mein Widersacher! Und mein greiser Lehrer! Hat er dich befreit, alter Mann? Warst du über all die Jahre hinweg zu unfähig, um das selbst zu bewerkstelligen?“ höhnte Baldur. „Sei vorsichtig Baldur“ warnte Malweýn ihn. Baldur aber grinste nur verächtlich und stieg siegessicher vom Pferd. Mit diesen beiden Maden würde er schon fertig werden! Es wäre doch gelacht, wenn es anders kommen sollte! „Und du, Söhnchen - gerade du traust dich mir noch einmal unter die Augen? Ich habe dich schon einmal besiegt! Du hast keine Chance gegen mich!“ Findus antwortete: „Das beruht auf Gegenseitigkeit. Auch ich habe dich schon einmal besiegt. Im Myrkviör. Und dir dennoch eine neue Chance gegeben. Eine Chance, die du nicht genutzt hast. Schon vergessen - Bruder?“ Das Wort ‚Bruder‘ traf Baldur fast wie ein körperlicher Schlag. Jetzt erst begriff er, begriff, was ihm ein ständig unterdrücktes, inneres Gefühl hatte mitteilen wollen. Dieses Gefühl - die Stimme des Blutes. Seines eigenen Blutes. Ja, jetzt verstand er. Warum sein Plan, Findus zu töten, nicht funktioniert hatte. Warum der Shâgun sich nicht an Findus´ Seele hatte laben können. Weil ihrer beider Geister miteinander verbunden waren. Untrennbar verbunden durch den gemeinsam miteinander geteilten Mutterleib. Doch auch angesichts dieser existenziellen Erkenntnis behielt Baldur´s Selbstsucht die Oberhand. Bisher war er ohne einen Bruder ausgekommen - und dass sogar sehr gut! Er polterte: „Was 202
kümmert es mich, dass du mein Bruder bist? Glaubst du etwa, ich würde dir Norgast überlassen? Träum´ weiter!“ „Danke ab, Baldur“ empfahl Findus. „Niemals! Du stirbst hier und heute!“ Baldur zog sein Schwert, wollte den Kampf - den alles entscheidenden Endkampf. Doch die zu erwartende Konfrontation blieb aus, denn völlig unerwartet lag urplötzlich so ein bitter-süß-fauliger, blassrötlich-türkisfarbener Geruch in der Luft. Ein grellkeckerndes Lachen ertönte und aus der Luft schälte sich langsam eine schwarze Nebelwolke von unaussprechlichem Grauen. Auch der Dämon war durch die Schutzzauber auf diesen Ort aufmerksam geworden! „Ausgerechnet ein Shâgun“ ächzte Malweýn und setzte hinzu: „Den kann man nur bannen, aber niemals beherrschen!“ „Du sagst es, alter Mann“ erklang eine Gänsehaut-erregende Stimme, als würden Fingernägel über Schiefer kratzen. Die Stimme fuhr triefend vor Gier fort: „Und wen haben wir denn hier? Zwei Brüder! Zwei verwandte Seelen - und ich bin hungrig. Sehr hungrig sogar!“ Der Shâgun schwebte im Wissen um die eigene Macht, um die eigene Unverwundbarkeit, auf Findus und Baldur zu. Langsam, als wolle er sich an der Angst, an der Qual seiner ihm sicheren Opfer weiden. Plötzlich knisterte die Luft „Schssstkracks“ in grau-schwarzen, unregelmäßig geformten, zackigen Flecken. Dahinter orangefarbenes Licht und es materialisierten drei Körper: Lyonora, Dayla und die Bônday. „Ich sagte ja schon, dass ich da sein werde, wenn man mich braucht“ meinte die Letztere lächelnd mit ihrer Stimme wie golden-reifes und von Nebelschwaden durchzogenes Korn. Sie reichte Malweýn die Hand. „Du kommst spät - wie immer!“ murrte der, obgleich ihm die große Erleichterung ins Gesicht geschrieben stand. Ihr Körperkontakt bewirkte, dass einer die Gefühle des anderen spüren und darauf eingehen konnte. Seelischer Gleichklang war die Folge und der potenzierte ihrer beider magischen Kräfte. Zwei ernstzunehmende Gegner für den Shâgun! Schnell hoben beide zwei vom Nebeltau des Shâgun benetzte Blätter auf und umschlossen sie fest mit den Händen, streckten die geschlossenen Fäuste vor sich aus. Sie konzentrierten sich darauf und vollzogen zweistimmig 203
singend ein kurzes Weiheritual: „Von nun an seiest du, vom Dämon benetztes Laub, Teil des Shâgun´s. Was mit dir geschieht, das geschehe auch dem Shâgun selbst!“ Der Dämon heulte auf, als er diese Worte hörte und wandte sich umgehend der Bônday und Malweýn zu. Die beiden konnten ihm jetzt wirklich gefährlich werden! Derweil sang die Bônday bereits, blendend helle Runen in die Luft zeichnend, die Worte: „Noth gebe dem Dämon das, dessen er wirklich bedarf. Isaz steuere seine Aktivität. Tyr hilf uns und Laguz dem Land!“ Gleichzeitig griff Malweýn den Shâgun mit Wenderunen an. Mit tiefer sonorer und sicherer Stimme, Sturzrunen zeichnend, intonierte der Alte die Sprüche: „Zuruh destabilisiere dieses Wesen, Zalagah führe ihn zurück in seine angestammte Unterwelt und Othrep beeinflusse seine Kraft, auf dass er für immer dort verbleibe!“ Das Einzige, was der inzwischen schon schrumpfende Shâgun diesen machtvollen Beschwörungen entgegen zu setzen hatte, war rohe Gewalt. Bläuliche Blitze zuckten von dem sich ringelnden Nebelgebilde auf Magier und Hagia zu, ohne jedoch die beiden wirklich erreichen zu können. Stattdessen wurden die Blitze abgelenkt, trafen auf das geweihte Laub! Mit jeder Abwehrmaßnahme brachte der Shâgun sich nur selbst immer stärker in Bedrängnis, denn die beiden nunmehr auf den offenen Handflächen von Malweýn und der Bônday präsentierten Blätter trockneten durch die Blitze sehr schnell aus, rollten sich krümmend zusammen, verfärbten sich erst dunkelbraun, dann schwarz und zerkrümelten schließlich zu Asche, welche zu Boden rieselte. Im gleichen Maße aber verschwand der Shâgun aus Norgast! Unmittelbar vor seinem endgültigen Verschwinden bäumte er sich - vergeblich - noch ein letztes Mal auf und schickte den Baldur so wohlbekannten und unvergesslichen, sich von tiefblutrot nach unerträglich-violett färbenden Blitz aus. Der traf Magier und Bônday. Sie blieben stehen, als sei nichts geschehen und der Shâgun verschwand endgültig in der Unterwelt. Nachdem das geschehen war, brachen beide gleichzeitig zusammen. Noch während Findus zu Malweýn eilte und Lyonora sowie Dayla zur Bônday rannten, erkannte Baldur seine Chance. Hals über Kopf raste er blindlings los, in das 204
Dickicht des Waldes hinein. Fliehen, solange es noch ging; nur weg von hier! Doch aufgrund der sich zwischen den Bäumen erstreckenden Sumpfflächen kam er nicht weit. Noch ehe der Herrscher sich´s versah, war er bis zu den Schultern verschwunden, eingesunken im Morast. Und der Sumpf zog, zog ihn immer weiter hinab! Baldur schrie seine Not hinaus und Findus hörte ihn, blickte auf - doch es war zu spät. Grau-grün-braunes Wasser schloss sich mit gurgelndem Schmatzen über seinem Bruder und nur noch einzelne Luftblasen kündeten vom Ende eines menschlichen Wesens. „Baldur Os-Rit-Mannaz“ rief Findus noch den ‚echten‘ Namen seines Bruders aus: Erreiche dein Ziel, indem du die Herausforderung durch den Kreislauf des Lebens anund dein Schicksal selbst in die Hand nimmst. Ein Beben erfasste das magische Geflecht - just in dem Moment, in dem Baldur´s Geist sich vom toten Körper trennte. Doch da der Körper bereits tot war, fand Baldur´s Seele keinen Anker mehr. Das verurteilte ihn zu einem Dasein als ruheloser Wanderer zwischen den Welten. Doch das Beben im Geflecht führte noch zu einem anderen Effekt. Malweýn erlangte kurz das Bewusstsein zurück, ergriff Findus´ Arm und blickte dem jungen Mann in die Augen. „Ich sterbe“ stöhnte er „nimm´ meine Macht auf. Zum Wohle Norgast´s!“ Findus spürte, wie ihn eine nie gekannte, kraftvoll-magische Woge überlief, wie ihm weiteres Wissen zufloss. Ähnliches geschah bei der Bônday, neben der links und rechts sowohl Dayla wie auch Lyonora knieten. Die Bônday sah ihre beiden Novizinnen nur zufrieden lächelnd an und schloß dann die Augen – für immer. Findus blickte zu ihnen hinüber. Die beiden Frauen schauten auf. Daylas Augen waren verändert - nämlich bernsteingelb! Sie schluchzte. „Wir sollten unsere Toten zuerst bestatten“ sagte Findus etwas hilflos in seiner eigenen Trauer und mit erstickter Stimme. Unisono nickten Dayla und Lyonora. „Wir nehmen die tote Bônday mit zur ‚namenlosen Insel’ und kümmern uns dort um alles“ bemerkte Dayla tonlos und öffnete die Ley-Linie, über die sie gekommen waren. Etwas, das sie früher nicht gekonnt hatte. Erschüttert sah Findus zu, wie die beiden Frauen den toten Körper ihrer
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früheren Herrin dort hinein trugen. „Wir sehen uns später einmal...“ meinte Dayla zum Abschied „...wenn die Zeit reif ist.“ Findus konnte nur nicken, den toten Malweýn noch auf seinem Schoß gebettet.
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Kapitel 10: Das magische Geflecht Ein
paar Tage später. Obgleich die Horde der Vogelfreien vollzählig versammelt war, verlief Malweýn´s Beisetzung in aller Stille. Er wurde tief im Schoß des Bomenhau vergraben - des Waldes, der ihm während seiner Bannung als Baum so lange so nah und gleichzeitig doch so fern gewesen war. Im Anschluss an die Trauerfreier hielt Findus eine kurze Ansprache an die Horde: „Ich beabsichtige, den von Malweýn einmal eingeschlagenen Weg konsequent zu einem guten Ende zu führen. Für Norgast! Ein Herrscher ist nichts ohne seine Untertanen. Nur zufriedene Untertanen sind auch treue Untertanen und nur treue Untertanen stehen zu ihrem Herrscher. Ein Herrscher muss daher immer das Wohlergehen seiner Untertanen im Auge haben. Baldur ist tot und ich als sein Zwilling bin sein legitimer Blutsnachfolger. Baldur hat die Armen ausgequetscht, um es den Reichen zu geben. Er war korrupt und hat alle Besitztümer Norgasts von unten nach oben umverteilt. Profitiert hat davon in erster Linie die Gilde der Kaufleute. Malweýn wollte diesen Trend umkehren. Als Herrscher beabsichtige ich, ganz im Sinne Malweýn´s weiterzumachen, denn wir sind noch nicht fertig. Noch lange nicht! Doch dazu brauche ich Helfer. Ich brauche euch, euch alle!“ Er machte eine Pause und blickte die um ihn herum stehenden Personen an. Neugierige Gesichter. „Wie stellst du dir das denn vor? Was genau sollen wir tun?“ fragte einer seiner Leute und Findus antwortete: „Die Vormänner bitte ich, nach Diekenboog zu gehen und dort auf meine Ankunft zu warten.“ Er wandte sich nun direkt an die Führer der Horde. „Ihr habt eure Führungsqualitäten mehr als bewiesen und solche Leute brauche ich im Palast von Helgenor. Dort sind noch die von Baldur eingesetzten Hofbeamten an der Arbeit. Solange ich neu im Amt bin, können die mir viel erzählen - zugunsten der Kaufleute und zulasten der Bevölkerung. Deswegen benötige ich zuverlässige Personen, die diesen Hofbeamten auf die Finger sehen. Und das sollt ihr sein. Ich werde euch voraussichtlich binnen eines Mondes aus Diekenboog abholen.“ 207
Nun wandte Findus sich wieder an alle: „Ihr anderen aber sollt ausschwärmen und verkünden, dass Baldur´s Herrschaft zu Ende ist. Das sein Bruder der neue Herrscher sein wird. Doch damit noch nicht genug. Ungleich wichtiger ist es, dass ihr weitere zuverlässige Leute anwerbt. Um herauszufinden, wer zuverlässig ist und wer nicht, müsst ihr unbedingt auf das Netzwerk der Hexen zurück greifen. Fragt die Hexen nach geeigneten Leuten! Sie waren schon in der Vergangenheit der Anlaufpunkt für alle Querdenker und sie werden es in der Zukunft erst Recht sein. Auch sind sie die Einzigen, welche die Aufrichtigkeit neuer Leute instinktiv richtig beurteilen können.“ Er schwieg kurz und fuhr fort: „Richtet in jeder Stadt, in jeder Niederlassung, eine Anlaufstelle ein. Ihr erhaltet zur Finanzierung noch etwas von den restlichen Schätzen. Haltet eure Ohren offen und hört auf die einfachen Leute. Registriert Fehlverhalten, Bedrohungen, Korruption und Übervorteilungen. Die Vormänner werden so bald wie möglich wieder an euch herantreten und es wird auch geänderte Gesetze geben.“ Findus blickte in die Runde. „Draconis und ich verteilen noch die restlichen Wertgegenstände unter den Ärmsten der Bevölkerung. Dann statten wir der ‚namenlosen Insel‘ in der Tiedsiepe einen Besuch ab, um uns nach der Bônday zu erkundigen und danach begeben wir uns direkt nach Helgenor. Also - wer von euch macht mit? Wer mitmacht, der hebe seine Hand!“ Nicht eine Hand blieb unten. Man kannte Findus, kannte sein Können, achtete seine Motive. Er hatte bewiesen, dass er für seine Überzeugungen einzutreten wusste und deshalb vertraute man ihm. Taten statt Worte - und das war Ansporn genug. Ein paar Tage später hatte sich die Horde der Vogelfreien aufgelöst. Nach einer kurzen Ausstattung mit Sach- und Wertgegenständen waren die Leute losgezogen, um ihre neuen Aufgaben zu bewältigen - die ehemaligen Führer in Richtung Diekenboog und die anderen in alle Himmelsrichtungen. Auch die Höhle war jetzt leer, denn Draconis´ Flüge brachten die restlichen Schätze unter die Leute. Von Sirval aus fuhren wieder Kutschen nach Diekenboog - doch unbehelligt und gerade so, als sei nie 208
etwas geschehen. Und die Kaufleute freuten sich über ihre Geschäfte, gaben sich vorerst noch der trügerischen Hoffnung hin, dass alles beim Alten bleiben würde. Draconis und Findus saßen jetzt allein auf dem Gipfel des Bomenhau. „Glaubst du wirklich, dass Baldur tot ist?“ fragte Draconis. „Nein“ entgegnete Findus „ich schätze vielmehr, dass es seinen Geist in eine der Anderswelten verschlagen haben wird. Ich glaube aber auch, dass wir hier in Norgast von ihm nichts mehr befürchten müssen.“ „Wieviele Anderswelten mag es wohl geben?“ „Unendlich viele. Sieh´ mal - wenn ich einen Drachen wie dich von vorn betrachte, dann weiß ich, dass es ein Drache ist. Wenn ich dich aber von der Seite oder von hinten sehe, dann weiß ich auch, dass du es bist. In meinem Kopf wird also nicht nur ein eben gesehenes Bild mit etwas schon Vorhandenem verglichen - denn sonst könnte ich dich von hinten oder von der Seite ja gar nicht als Drachen erkennen - sondern es geschieht etwas Neues. Eine Verbindung wird geknüpft und eine Erkenntnis entsteht. Diese Erkenntnis sehe ich als die Geburt einer neuen Welt - einer Anderswelt - an. Und da es unendlich viele Gedanken gibt, muss es auch unendlich viele Anderswelten geben. Vielleicht ist ja Norgast selbst nur irgendwo von irgendwem erdacht und dadurch zu unserer Realität geworden. Für den Betreffenden sind wir dann eine Anderswelt. In welche Anderswelt es Baldur allerdings verschlagen hat, das vermag ich nicht zu sagen.“ Findus schwieg und sah nachdenklich zu Draconis hinüber. Der fragte: „Was hast du jetzt eigentlich ganz konkret mit dem Land vor?“ Offen betrachtete Findus seinen Freund und erwiderte: „Zuerst gehört Baldur´s Berufsbefähigungsgesetz abgeschafft. Jeder soll wieder die Arbeit machen können, die ihm von Natur aus liegt. Nur dann sind die Menschen motiviert und nur dadurch kann es gute Arbeit und in Folge davon einen gewissen Wohlstand für jeden geben. Das Handelsmonopol der Kaufleute-Gilde werde ich auch beseitigen. Jeder soll Handel treiben dürfen. Es ist besser und sehr viel störungsunanfälliger, alles auf vielen kleinen Schultern dezentral zu verteilen, als nur auf einigen wenigen Großen.“
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Findus fuhr fort: „Die kleinen Händler können und sollen sich zusammenschließen. Doch solche Machtkonzentrationen wie in den Händen der Handelsherren darf es nie wieder geben, denn nur dadurch wurde Baldur´s Regime überhaupt erst ermöglicht. Geschäfte können zukünftig sowohl im Tausch wie auch über Geld abgewickelt werden. Von jedem Geldgeschäft beanspruche ich ein Drittel als Steuer. Auch von jedem Besitzstand, der ein gewisses Mindestmaß überschreitet, werde ich mir genau ein Drittel als Steuer nehmen. Davon wird eine Grundversorgung für die Bevölkerung finanziert, so dass niemand mehr Angst haben muss, gänzlich zu verarmen oder gar zu verhungern. Auch wird die Grundversorgung die Menschen flexibler machen - sie müssen dann nicht mehr um ihres Überlebens willen wie Sklaven für irgendwelche Parasiten arbeiten. Sie werden Wahlmöglichkeiten haben.“ „Und darüber hinaus?“ fragte der Drache. „Darüber hinaus werde ich auch das Strafrecht ändern. Es gibt keine Vogelfreien mehr. Jeder Mord wird - ungeachtet des Opfers auch als Mord geahndet werden. Übervorteilung beim Handel und Betrug werden einem Diebstahl gleichgestellt.“ „Wer soll die Einhaltung dieser Gesetze kontrollieren und wer soll Recht sprechen?“ „Ich werde das Reich in überschaubare Bezirke aufteilen. Jeder Bezirk wählt dann für Vollstreckungszwecke auf zwei Sommer einen Büttel. Der wiederum darf Helfer einstellen. Zusätzlich werden Richter und Dorfvorsteher gewählt. Aber auch nur für zwei Sommer und ohne die Möglichkeit einer Wiederwahl, damit es nicht zu Filz und Bestechung kommt. Wer korrupt ist, der verliert alles. Streitigkeiten lassen sich so zwischen den Beteiligten auf der Bezirksebene klären. Im Zweifelsfalle kann eine der Hexen als Beraterin angerufen werden, um die Motive aller und den Gesamtzusammenhang zu prüfen.“ Draconis nickte zustimmend und Findus erläuterte weiter: „Den Bütteln und Richtern mehrerer Bezirke steht ein Vorgesetzter vor. Ich plane, dafür Leute aus der ehemaligen Horde einzusetzen. Weiterhin wird deren Aufgabe darin bestehen, die Steuern zu überwachen, damit niemand heimlich etwas beiseite schafft und so der Allgemeinheit schadet.“ „Und wie willst du das mit größeren Sachen 210
handhaben, wenn beispielsweise eine Handelsflotte oder sowas da ist?“ „Nehmen wir einmal an, ein Handelsherr besitzt drei Schiffe. Dann geht eins davon als Steuer in meinen Besitz über. Er darf es zwar weiterhin benutzen, aber ich habe dadurch ein Mitspracherecht bei jeder Fahrt und bei jedem Besatzungsmitglied. Auch wird das Mitspracherecht auf alle irgendwo für irgendwen arbeitenden Menschen ausgeweitet werden müssen. Denn nur so kann geheimen Absprachen wirkungsvoll entgegen getreten werden.“ „Was machst du mit Baldur´s Söldnern?“ „Wer von denen mir dienen will, der kann das auch tun. Ich werde Söldner brauchen, um den Piraten entgegen zu treten.“ „Ich sehe schon, dass du dir über Norgast´s Zukunft wirklich Gedanken gemacht hast. Wann willst du mit der Verwirklichung beginnen?“ fragte Draconis. „Jetzt sofort. Wir sind lange genug hier gewesen. Fliege mich zur ‚namenlosen Insel‘. Ich brauche Dayla´s Einverständnis für das, was ich vorhabe.“ „Dayla´s Einverständnis? Glaubst du, dass es noch die Dayla ist, die du kanntest?“ „Wir werden sehen“ meinte Findus und sie flogen los, in Richtung Tiedsiepe und der Sonne entgegen.
Die beiden erreichten die ‚namenlose Insel‘ kurz nach Sonnenuntergang, wobei Draconis sich mit seinem Drachensinn wieder am Kreuzungs-Leuchtfeuer der Erdströme orientierte. Von oben her waren in der Dämmerung zwei Personen erkennbar - eine Frau und ein junges Mädchen. Findus riet dem Drachen, bei den beiden zu landen. Am Boden angekommen stieg der Drachenreiter ab. Die Frau, die er gesehen hatte, war ganz zweifellos Lyonora. Sie erwartete ihn. „Lyonora“ sagte Findus und nickte grüßend. Auch Lyonora begrüßte ihn kurz, stellte ihn ihrer Begleitung vor, wies auf das vielleicht ein Dutzend Sommer alte Mädchen und sagte: „Das ist Mona. Sie ist die neue Novizin.“ „Wo ist Dayla?“ Ein irritierter Blick seitens Lyonora, dann: „Warte bitte einen Moment. Ich werde die Bônday informieren.“ „Also doch!“ schoss es Findus durch
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den Kopf. Wie er es schon vermutet hatte. Dayla war zur neuen Bônday geworden! Lyonora verschwand und kam kurz darauf mit einer zweiten Frau zurück. Findus kannte die - und auch wieder nicht. Von der Gestalt her handelte es sich eindeutig um Dayla. Doch ihre Haut war dunkel und das Haar silbern geworden. Bernsteinfarbene Katzenaugen blickten ihn an und eine samtweiche, rauchige Stimme, wie Nebel in einem Kornfeld, sagte: „Ich habe dich noch nicht so früh erwartet.“ „Dayla!“ antwortete Findus erfreut und wollte auf sie zu eilen, doch seine einstige Geliebte schüttelte nur bedauernd den Kopf. „Sag´ bitte Bônday. Dayla existiert nicht mehr.“ Sie war abgesehen von ihrer Erscheinung auf unbestimmbare Weise verändert. Distanzierter. Nicht mehr die Frau von früher. Reifer, erfahrener und mächtiger. Sie war ihm zwar weiterhin wohl gesonnen,. aber sie war nicht mehr seine Geliebte. Sie ging ihren eigenen Weg, einen anderen, älteren Weg. Da hatte sich etwas zwischen die einstmals Liebenden geschoben. Findus spürte das. Die Bônday auch - mit Wehmut. Doch die alten Zeiten waren vorbei. Wohl endgültig. Sie als mächtigste Hagia, er als stärkster Magier. Standen sie jetzt etwa in Konkurrenz zueinander? Oder würden sie zusammenarbeiten können oder gar müssen – wie einst die frühere Bônday und Malweýn? „Wir müssen miteinander reden“ begann Findus und fuhr fort „Wegen Norgast. Wie es weitergehen soll. Ich brauche deine Hilfe.“ Dayla - die Bônday - nickte verstehend. „Komm´ mit“ entgegnete sie und wies Lyonora sowie Mona an, sich um Draconis zu kümmern. Es würde ein Vier-AugenGespräch werden. Wenig später saßen Findus und die neue Bônday beisammen. Der zukünftige Herrscher legte ihr seine Pläne dar, wie er es auch schon gegenüber der früheren Horde und gegenüber dem Drachen getan hatte. Findus bat: „Ohne das Netzwerk der Hexen kommen wir nicht weiter. Norgast braucht die als Berater. Und wo wir schon mal dabei sind: Es wäre wünschenswert, wenn die Nichteinmischungspolitik der Bônday´s der Vergangenheit angehören könnte. Wenn du eine Kontrollfunktion ausübtest.“ „Was für eine Kontrollfunktion?“ wollte die Bônday wissen. 212
„Über mich, über zukünftige Herrscher. Niemand ist unfehlbar. Es ist immer gut, wenn jemand da ist, der einen schon frühzeitig auf mögliche Fehlentwicklungen hinweist. Jemand, der enge Verbindung zum Volk hat. Wie du - durch die Hexen. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass es nie wieder zu so einem Machtmissbrauch wie unter Baldur´s Regentschaft kommt.“ „Eine schwierige Entscheidung“ entgegnete die frühere Dayla, die es sich nicht leicht machte. „Wir sollten das überschlafen. Jeder für sich.“ fuhr sie fort und ergänzte „Morgen sehen wir weiter.“ Beide fanden in der Nacht jedoch wenig Schlaf. Zu schwer wogen die Gedanken. Das Reich musste von Grund auf umgekrempelt werden. Dazu bedurfte es der Hilfe aller. Auch die Bônday sah das ein. Am nächsten Tag teilte sie Findus ihr Einverständnis mit. „Jetzt kannst du mich zum Palast nach Helgenor bringen“ sagte der daraufhin zu seinem Drachenfreund und ihre Reise ging weiter.
Auf einen wochenlang schon unterwegs gewesenen Reisenden wirkte die Insel Helgenor wie eine Verheißung. Zuerst sah er vom Schiff aus, wie sich langsam eine Insel aus dem Dunst des fernen Horizonts schälte. Die Insel wuchs sich zum Berg aus und oben auf thronte der weiße Palast von Helgenor. Zu seinen Füßen kam dann nach und nach die Stadt Helgeboog in Sicht. Der mit einer Palisadenkonstruktion zum Meer hin befriedete Hafen. Die feste Stadt, umgeben von einer imposanten, halbkreisförmigen Stadtmauer aus massivem Stein. Ginge der Reisende an Land, so könnte er feststellen, dass sich an den Hafen Märkte und Handwerkshäuser anschließen. Am einen Stadtrand wären all die zu finden, deren Gewerbe mit Geruchsbelästigungen verbunden ist: die Gerber, die Färber, die Kerzenmacher, die Schmiede sowie das Fleisch und den Fisch verarbeitende Gewerbe. Am anderen Stadtrand fanden sich die Unterkünfte des Stadtvolks. Ein befestigter und gesicherter Weg führte hinauf zum Palast. Findus und Draconis jedoch bot sich ein gänzlich anderes Bild, denn sie kamen ja auf dem Luftweg. Von oben sahen sie
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den Hafen im Sonnenschein liegen. Aufgrund der warmen Meeresströmungen blühte die Insel und Frühlingsduft lag in der Luft. Große Hallen fanden sich in der Stadtmitte; ihre Reihen nur durchbrochen von den zahllosen Schenken, die - wenn man den Leuten denn Glauben schenken wollte sogar frei von Ungeziefer sein sollten. Das Stadtvolk selbst wohnte in hübschen und gepflegten kleinen Häusern. Weiße Häuser, breite Straßen und elegante Torbögen. An den großen Markt am Hafen - der von einer Marktpolizei überwacht wurde - schlossen sich ringsum viele kleinere Märkte an, von oben leicht an den bunten Tüchern der Marktstände erkennbar. Ganz Helgeboog atmete Reichtum und Leichtigkeit aus - was so gar kein Vergleich mit dem Rest des Landes Norgast war. Und über allem: der majestätische weiße Palast des Herrschers. Luxus pur. Die Kunde vom neuen Herrscher war Findus und Draconis schon vorausgeeilt. Die Leute wussten etwas, aber nichts Genaues. Die Kaufleute hingegen hatten sich auf ihre Weise gewappnet. Draconis flog tief. Er zeigte sich den Bewohnern der Stadt und Findus inspizierte sein neues Reich von oben. Einige Pferde scheuten ob des Drachens; Menschen versteckten sich. Aber nicht alle. Findus wies Draconis an, höher zu fliegen, um Schaden zu vermeiden und bat ihn, Kurs auf den Palast zu nehmen. Auch viele der Stadtbewohner und der Soldaten strebten jetzt dorthin, gerade so, als erwarteten sie etwas. Ihren neuen Herrscher. Der von Helgeboog kommende, befestigte Weg mündete auf einen steingefassten Platz vor dem eigentlichen Palast. Dort landeten Drachen und Drachenreiter, warteten auf die Menschen. Und die kamen in Scharen und staunend. Nachdem der Platz sich gefüllt hatte, richtete Findus sich auf Draconis Rücken auf und der Drache sprach mit weithin hallender Stimme: „Ich bringe euch den neuen Herrscher von Norgast!“ Beinahe schlagartig trat Ruhe ein. Zeit für Findus, sich an sein Volk zu wenden. Er betrachtete die aufmerksame Menge vor ihm. Es waren einfache Leute - Fischer, Handwerker, Seeleute, Soldaten. Ein Mann in der vorderen Reihe fiel ihm auf, weil der trotz der milden Witterung einen langen blaugrauen Mantel trug. „Aber jeder so, wie es ihm beliebt“ dachte Findus bei sich. Mit 214
klarer, lauter und volltönender Stimme begann er zu sprechen. „Ich grüße euch! Mein Name ist Findus. Ich bin der Sohn von König Mykyllin und von Königin Gwylon. Baldur war mein Zwillingsbruder. Er ist tot. Er unterlag mir im Kampf.“ Das stimmte so zwar nicht genau, aber Findus hatte nicht vor, hier und jetzt die ganze Geschichte von Baldur´s unrühmlichen Ende zu erzählen. Er schwieg kurz und überlegte sich die nächsten Worte. So entging ihm auch, dass der Mann im graublauen Mantel sich langsam und vorsichtig bückte. Die Kunde, dass Findus hinter den Vorfällen im Bomenhau gesteckt hatte, war ihm selbst lange vorausgeeilt - denn auch die Kaufleute kannten die Kommunikation mit Licht unter Verwendung kleiner silberner Spiegel. Und die Kaufleute hatten sich gewappnet. Sie wussten, was sie erwartete, wenn ein Mann des Volkes die Regierungsgeschäfte übernehmen würde. Das musste unbedingt verhindert werden! Und nicht umsonst hatte man seine Seilschaften, kannte Leute für besondere Gelegenheiten... Der Mantelmann war so ein Jemand für besondere Gelegenheiten. Ein Söldner, dem Auftrag und Auftraggeber völlig egal waren, solange nur der Lohn stimmte. Und der war in diesem Fall hoch. Wenn es ihm gelänge, Findus auszuschalten, dann winkte dem Auftragskiller ein ganzer Beutel mit Gold! Der Mantel hatte nur eine einzige Funktion. Er sollte eine kleine Armbrust und den Gürtel mit dem Spannhaken daran verbergen. Als der Mantelmann sich bückte, geschah dies nur aus einem einzigen Grund - nämlich um die Sehne der Armbrust in den Spannhaken einzuhängen, so dass die Waffe durch das Aufrichten gespannt wurde. Nachdem der Mann wieder gerade stand, knöpfte er langsam seinen Mantel auf. Insheim legte er einen Bolzen in die Schiene der Waffe ein. Die war damit schussbereit. Niemand nahm davon Notiz. Inzwischen aber sprach Findus bereits weiter. „Es gibt sicherlich einige unter euch, die Mykyllin und Gwylon noch gekannt haben. Wie man hört, sollen die beiden ein gutes Herrscherpaar gewesen sein.“ Ein zustimmendes Raunen durchlief die Menge und Findus atmete innerlich auf - er hatte genau den richtigen Ton getroffen. Er fuhr fort: „Gwylon war eine Hexe. Sie sah böse Vorzeichen und ließ 215
mich deswegen nach meiner Geburt in Sicherheit bringen. Daher wurde mein Zwillingsbruder Baldur zum Herrscher - doch er war nur ein Strohmann! Ein Strohmann der Macht im Hintergrund. Einer Macht, der Norgast die heutigen Zustände zu verdanken hat. Seid ihr mit diesen Zuständen zufrieden?“ Ein einstimmiges „Nein!“ schallte ihm entgegen. „Baldur war ein Strohmann für die Gilde der Kaufleute!“ Ein erschrecktes Keuchen, vereinzeltes „Ah!“ und „Oh!“ kamen aus der Menge. Es reichte. Der Mantelmann war eiskalt, als er seinen Mantel zurück schlug, die Armbrust ansetzte, kurz zielte und abdrückte. Ein kurzes leises, erdbraunes „Plock!“ war zu hören - und der eisenbewehrte Bolzen schlug in Findus´ Brust ein. Findus fühlte den Schmerz eines Aufpralls und sah an sich herunter. Da hing ein zerbrochenes Geschoss in seiner Kleidung. Ein Armbrustbolzen. „Ihr könnt ihn nicht töten, denn er hat in meinem Blut gebadet! Er ist unverwundbar!“ dröhnte Draconis. Der Mantelmann fluchte. Er wollte sich umwenden, flüchten, doch die Menschen standen wie eine unüberwindbare Mauer. Böse Blicke trafen ihn. Er erhielt einen Stoß und taumelte in den freien Raum zwischen Findus und den Menschen. Mit zusammen gebissenen Zähnen einen weiteren Fluch murmelnd spannte der Mann noch im Aufrichten seine Armbrust erneut. Mit einer einzigen fließenden Bewegung legte er einen zweiten Bolzen ein, hob die Waffe und drückte wieder ab. Doch der Drache kam ihm zuvor. Draconis entließ seinen Nüstern einen Feuerstoß, welcher den Bolzen noch im Fluge erreichte. Nur noch harmlose Funken segelten auf Findus herab und erweckten den Anschein, als wolle eine höhere Macht den neuen Herrscher erleuchten. Die Menschen traten nach vorn, auf den Söldner zu. Eine bedrohliche Situation. Er schloss mit seinem Leben ab. Dieser eine Anschlag war ein Anschlag zuviel gewesen. Der Letzte in seinem Leben. Doch es war ausgerechnet sein Opfer, welches ihn rettete. „Lasst ihn!“ rief Findus den Menschen zu, die erstaunt stehen blieben. Findus wandte sich nun selbst an den Attentäter: „Nenne mir deinen Auftraggeber und du gehst straffrei aus! Andernfalls überlasse ich dich den Leuten. Es ist deine einzige Chance. Also sprich! Wer gab dir den Auftrag, 216
mich zu töten?“ Eingeschüchtert antwortete der Mann „Mijneer Vankampen.“ „Ein Handelsherr“ erwiderte Findus und wandte sich an das Volk: „Seht ihr? Sie lassen nichts unversucht. Lasst ihn jetzt gehen. Er hat keinen Schaden angerichtet.“ Murrend traten die Menschen beiseite, bildeten eine Gasse. Durch die floh der Söldner, so schnell er konnte. Ein Spießrutenlauf... Möglicherweise wusste der eine oder andere schon von der Rolle, welche die Kaufleute in Norgast´s Politik spielten. Viele hingegen hatten vielleicht nur so ein undefinierbares, nicht näher spezifizierbares Gefühl des Unbehagens, wenn sie an ihr Land dachten. Doch es war gerade dieser missglückte Anschlag, der den Menschen vollends die Augen öffnete. Als Findus weitersprach und seinen Untertanen die Pläne darlegte, die er Draconis´ und Dayla gegenüber geäußert hatte, da schlug ihm unverhohlene Begeisterung entgegen. Ja - die Bevölkerung würde mitziehen! Norgast würde wieder zu einem lebenswerten Land werden! Nach seiner Ansprache begann sich die Menge zu zerstreuen. Die Leute hatten Tätigkeiten, denen sie nachgehen mussten, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Findus und Draconis hingegen wandten sich jetzt dem Palast zu. Die Hofbeamten, die auf der Gehaltsliste der Kaufleute standen, hatten Findus´ Redezeit genutzt, um sich schleunigst aus dem Staub zu machen. Es waren ihrer viele. Die verbliebenen Beamten hingegen waren integer, wie der neue Herrscher rasch feststellte. Nach zwei Tagen ließ er Draconis allein im Palast zurück und suchte nach einer Ley-Linie. Darüber reiste Findus nach Diekenboog. Wie versprochen holte er die Vormänner der Horde ab - seine derzeit wichtigsten Helfer.
Obwohl die Vormänner, die früheren Mitglieder der Horde, die überall verteilten Hagias und die einfache Bevölkerung ihr Bestes gaben, gingen zwei volle Sommer ins Land, bis Findus´ Reformen überall Wirkung zeigten - es war alles andere als einfach, das von Baldur und den Kaufleuten heruntergewirtschaftete Reich wieder zu reorganisieren!
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Baldur´s altes Berufsbefähigungsgesetz und das Handelsmonopol der Kaufleute-Gilde kippten als Erstes. Nach und nach setzte sich die neue Ein-Drittel-Besteuerung durch. So mancher versuchte dabei, wie er es aus früheren Zeiten gewohnt war, ganz selbstverständlich in die eigene Tasche zu wirtschaften - und flog auf, denn Hexen und Büttel nahmen ihre Kontrollfunktionen sehr ernst. Darüber hinaus legten die Büttel den ehemaligen Vormännern gegenüber Rechenschaft ab. Die Vormänner bereisten das Land und immer einer von ihnen war der Vorgesetzte mehrerer Büttel. Doch auch Findus verließ häufig den Palast, um selbst nach dem Rechten zu sehen. Das machte ihn beim Volk überaus beliebt. Irgendwann jedoch florierte alles - wie früher unter Mykyllin und Gwylon. Die Piraten spielten keine Rolle mehr; sie waren besiegt worden – nicht zuletzt unter aktiver Mitwirkung von Draconis. Die kleinen Tauschgeschäfte der einfachen Menschen blieben unbesteuert. Alle größeren Geschäfte hingegen wurden über Geld abgewickelt - und da gab es kein Verstecken, keine Abschreibungen, keine umfangreichen Aufkäufe von Sachwerten, welche letztlich immer nur Einzelnen die Taschen gefüllt hätten. Von jedem dieser Geschäfte ging genau ein Drittel an den Palast nach Helgenor, von wo aus es sofort wieder für die Grundversorgung der Bevölkerung ausgegeben wurde. Niemand musste mehr Hunger leiden. Niemand musste sich von einem Arbeitgeber mehr wie ein Sklave behandeln lassen. Die Menschen bekamen wieder Achtung voreinander und ein Jeder war sorgsam darauf bedacht, diesen Zustand möglichst lange bestehen zu lassen. Einer half dem anderen. Man handelte mit Blick auf die Zukunft. Eines schönen Tages jedoch kam es zu einem Vier-AugenGespräch zwischen Draconis und Findus. Draconis war im Verlauf der letzten Zeit immer schweigsamer geworden - gerade so, als bedrücke ihn etwas. „Was ist los mir dir?“ fragte Findus ihn daher jetzt ganz unverblümt. Er setzte noch hinzu: „Sieh´ dich doch mal um - den Menschen geht´s besser und wir haben in vergleichsweise kurzer Zeit so unheimlich viel erreicht. Das Reich floriert. Und du machst hier einen auf Miesepeter! Also Klartext - was hast du?“ Draconis seufzte. 218
Leise sprach er: „Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst. Wir sind Freunde. Deswegen bleibe ich bei dir. Aber manchmal da...“ Er verstummte. „Da was?“ wollte Findus wissen. „Da sehne ich mich nach den feuerspeienden Bergen zurück. Nach dem Eis und nach den Geysiren. Sogar nach meiner Höhle.“ Der Drache schwieg und der Herrscher sah ihn mitleidig an. „Du hast Heimweh... – das ist schlimm. Dann flieg´ nach Hause. Umgehend. Unserer Freundschaft tut das doch keinen Abbruch. Außerdem kannst du ja jederzeit wiederkommen.“ „Danke. Genau das wollte ich aus deinem Mund hören. Ich selbst hätte nicht darum gebeten. Aber da ist noch etwas.“ „Was?“ „Du hast mir mal von diesem Wald erzählt, in dem es keine Magie mehr gibt.“ „Ja, ich erinnere mich. Das ist der Myrkviör.“ „So etwas sollte es hier in Norgast nicht geben. Es gehört nicht hierher. Nicht in diese Welt. Genausowenig wie die magischen Machtkonzentrationen bei dir und bei der Bônday. Das ist ein falscher Weg. Gebt einen Teil eurer Macht auf. Gebt ihn an das magische Geflecht zurück, so wie Malweýn es früher befürwortet hat. Tut das im Myrkviör, um das magische Geflecht zu reparieren. Versprich´ mir das - bitte!“ Das Letzte hatte der Drache richtiggehend flehentlich vorgetragen. „Das würde ich dir gerne versprechen. Aber das kann ich nicht. Denn diese Entscheidung liegt nicht bei mir allein. Ich selbst würde es sofort tun. Aber die Bônday? Bei unserem letzten Treffen kam sie mir so unsagbar fremd vor...“ „Sie wird es einsehen. Es muss sein.“ Draconis hob den Kopf: „Pass´ auf, ich mache dir einen Vorschlag. Morgen breche ich auf. Ich fliege aber nicht direkt nach Fucunor, sondern erstmal nur über die Berge nach Osten. Zur Tiedsiepe, zur ‚namenlosen Insel’. Dort spreche ich mit der Bônday. Auf die Weise kann ich mich auch gleich selbst von ihr verabschieden. Danach geht´s für mich zurück in den Norden. Irgendwann werde ich wohl mal zurück kommen, um hier nach dem Rechten zu sehen. Du gibst der Bônday ein paar Tage Zeit zum Nachdenken. Danach suchst Du sie persönlich auf und ihr besprecht alles Weitere gemeinsam. Sie wird die Notwendigkeit einsehen.“ Findus nickte. Der Vorschlag war gut und so machten sie es dann auch. Am nächsten Tag 219
verabschiedeten sich die Freunde voneinander - für einen noch nicht absehbaren Zeitraum und Draconis flog in Richtung Helgebarg los.
Findus wartete ein paar Tage ab. Tage, in denen das magische Geflecht vibrierte und bebte. Er nahm an, dass die NorgastBônday zu einem Hexenconvent geladen hatte, dass sie sich auf magische Weise mit den anderen Bônday´s beriet. Nachdem das Geflecht wieder zur Ruhe gekommen war, informierte er seinen Stellvertreter im Palast - einen ehemaligen Vormann - dahingehend, dass er selbst wohl für einige Zeit abwesend sein würde. Findus machte sich darum allerdings keine Sorgen. Das von ihm in Norgast eingeführte soziale System funktionierte. Und ein gutes System bewies seine Qualitäten dadurch, dass es auch ohne eine Führungskraft an der Spitze weiterhin perfekt arbeiten würde. Tragfähige Systeme regeln Störeinflüsse selbst aus. Also machte er sich beruhigt auf den Weg. Später: Ein weißer Rabe über einer schier endlosen Wasserfläche - Findus über der Tiedsiepe und auf dem Weg zur ‚namenlosen Insel’. Diesmal war es die Bônday selbst, die ihn erwartete. Sie begrüßten einander respektvoll. Die frühere Dayla wusste, warum er kam. „Draconis hat mich bereits informiert“ meinte sie. „Wir müssen das Myrkviör-Problem aus der Welt schaffen, auch wenn´s weh tun sollte. Endgültig! Ich habe deswegen bereits mit den anderen Bônday´s konferiert. Sie sind nicht gerade begeistert, aber sie werden mich unterstützen.“ Findus entgegenete lächelnd: „Dein Gespräch mit den anderen Oberhexen war nicht zu überhören. Aber ihr habt Recht. Nur leider habe ich nicht die geringste Vorstellung davon, wie unser ‚Reparaturversuch’ ausgehen wird. Werden wir danach noch magische Kräfte haben? Gibt es danach überhaupt noch Magier, Hagias und Bônday´s?“ Dayla: „Es ist gut möglich, dass wir alle unsere Kräfte einbüßen. Vielleicht nur wir beide; vielleicht aber auch alle. Vielleicht zerfällt auch der Orden der Magier oder das Netzwerk der Hexen. Ja, es ist ein großes Risiko. Aber dein
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Freund bat uns beide, es einzugehen. Und ich finde, wir sollten auf ihn hören.“ Findus nickte. Was sie sagte, das stimmte - leider! „Gut, werden wir mal ganz konkret. Wann soll es losgehen?“ „Sofort“ antwortete die Bônday bestimmt und verwandelte sich in den wohlbekannten weißen Schwan. Auch Findus wurde wieder zum weißen Raben und die beiden Vögel flogen los. Einige Zeit später landeten sie auf der ihnen so wohlbekannten Stelle - dem Grünstreifen, der Sumpf und Wald voneinander trennte. Aber was war das für ein Wald! Gut, die Aura des Bösen war aus ihm verschwunden. Aber das sollte auch schon alles Positive gewesen sein. Kahle, tote Äste reckten sich verdorrt, einsam und verloren in den Himmel. Das ganze Gehölz strahlte den Eindruck von deprimierender Traurigkeit und Trostlosigkeit, von Vergehen und Tod aus. Wie um diesen ersten Eindruck noch zu unterstreichen löste sich eben mit nervenzermürbendem Knirschen ein verfaulter Ast von einem der einstmals so riesigen Bäume und donnerte zu Boden. Kein Vogel sang im Myrkviör. Kein Tier verirrte sich dorthin. Es gab nur vereinzelte winzige Inseln von Grün - einem Grün, das verzweifelt um´s Überleben kämpfte, gerade so, als würde ihm etwas fehlen. Und tatsächlich fehlte dem Wald ja auch etwas - nämlich die Präsenz des magischen Geflechts. „Wie wollen wir vorgehen?“ fragte Findus die Bônday. „Von zwei Seiten“ lautete die Antwort. „Jeder von uns erspürt das magische Geflecht und jeder von uns muss versuchen, von der anderen Seite her dünne Fäden des Geflechts zu sich heran zu ziehen. Irgendwo werden die Fäden sich dann berühren und zusammenwachsen. Hoffe ich wenigstens“ meinte Dayla. „Und dann mehr und mehr Fäden, so dass sich Knotenpunkte bilden. So dass die Kraft des Geflechts einfließen kann“ ergänzte Findus. „Ja, so habe ich mir das vorgestellt.“ „Wer geht wohin?“ „Ich gehe in den Norden, du in den Süden. Wir sollten magische Schutzkreise verwenden. Nicht zum Schutz, sondern um besser in den Kontakt mit der Astralebene zu kommen.“ „Du hast Recht. So machen wir es“ signalisierte Findus sein Einverständnis, verwandelte sich erneut und flog in den Süden. Die Bônday
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begab sich in den Norden. Ein jeder von ihnen würde es spüren, wenn der andere mit der Beschwörung begann. Sie fanden geeignete Plätze. Gingen kreisförmig drum herum, Zaubersprüche murmelnd. Fügten in die Kreise Pentagramme ein, deren oberste Zacke jeweils in Richtung auf den Myrkviör wies - die Zacke würde die Kräfte der Magie bündeln. Findus setzte sich in die Mitte des Pentagramms, zog Gnarp aus der Scheide und versenkte sich in die Runengravuren auf dem Schwert. Die Bônday hingegen zog einen hölzernen und an einem Lederband befestigten, auf nackter Haut getragenen und mit ihrem eigenen Blut bemalten Dagaz-Runenanhänger hervor und versenkte ihren Geist darin. So erreichten beide einen tranceartigen, meditativen Geisteszustand. Innerhalb dieses Zustandes fühlten sie das magische Geflecht, die Linien und Ströme der Lebensenergien. Alles das, was die beiden über ihre Ohren und Augen noch wahrnahmen, erzeugte Gefühle. Die wiederum manifestierten sich gefühlssynästhetisch in Farben und Formen. Man kann sagen, dass beide über die Gefühle, welche das Geflecht in ihnen hervorrief, eben dieses Geflecht in gewissem Sinne auch ‚sahen’. Da waren breite, rote Ströme von ungebändigter, urgewaltiger Energie. Begleitet von gelben und blauen, dünneren Linien, welche die Ströme miteinander verbanden. Hier und da bildete sich eine Art von Strudel und verging wieder. Chaos, aus welchem Ordnung geboren wurde. Zeitlich begrenzt und immer nur in Form von kleinen Inseln. Dort, wo die Ordnungsinseln sich zusammenfanden, da bildete sich durch Selbstorganisation etwas Stabileres heraus. Eine Welt! Das Geflecht durchdrang alles, durchdrang alle Welten. Jede Veränderung hier musste sich überall auswirken. Und sie sahen in diesem erweiterten Bewusstseinszustand den Myrkviör. Ein Loch, eine Fehlstelle, ein Nichts in den allgegenwärtigen Strömen der Lebenskraft. Findus konzentrierte sich auf das ihm gegenüber liegende ‚Ufer’ dieses Nichts und versuchte auf magischem Wege, die ihm nächste gelbe Energiebahn aufzuspalten. Er fühlte, dass sie aus zahllosen kleineren Strömungen und diese ihrerseits bis hinein in alle Unendlichkeit aus kleineren und noch kleineren Bahnen zusammengesetzt war. Und alles war zueinander 222
selbstähnlich, war symmetrisch in verschiedenen Größenordnungen. Die Bônday tat es ihm gleich. Zögerlich nur lösten sich Fäden von magischer Energie aus den gelbfarbenen Strömen. Anfangs unsichtbar klein wuchsen sie zu filigranen, blitzähnlich unregelmäßig gezackten und grünlichen, überaus zarten Streifen heran. Von beiden Seiten her und aufeinander zu. Die ersten beiden hauchdünnen Linien berührten einander. Sofort schwollen sie an, änderten ihre Farbe nach gelblicher, wurden dicker. Am Berührungspunkt bildete sich ein bläulicher Konzentrationsknoten. Es funktionierte! Aber es kostete die beiden auch magische Kraft. Mehr, als sie selbst aufzubieten hatten. Instinktiv und unwillkürlich zapften sie daher andere Kraftquellen an - in Findus´ Fall andere Magier und in Dayla´s Fall andere Bônday´s, welche ihrerseits auf die Kräfte der überall verteilten Hexen zugriffen. Ein von den beiden nicht mehr bewusst zu beeinflussender Automatismus war in Gang gesetzt worden, bei dem sie selbst nur noch kanalisierend auf die ihnen zuströmende Magie wirkten. Und es bedurfte wirklich der mächtigsten Magier überhaupt, um diese Kanalisierung vornehmen zu können - keine anderen als Findus und Dayla wären dazu befähigt gewesen! Linie auf Linie wuchs unregelmäßig zum Knotenpunkt hin. Verbindungen entstanden zwischen den Linien, bildeten neue bläuliche Konzentrationsknoten. Das Loch im Geflecht wuchs zu. Langsam zwar, nur so nach und nach, aber es schloss sich. In Zukunft würde der Myrkviör wieder leben! Und ganz Norgast wäre wieder von der Magie durchdrungen! Die Folgen waren allerdings noch nicht absehbar. Als die Fäden und Knoten sich vollends zu einer - wenngleich inhomogenen - Fläche schlossen, da leuchtete das ganze Geflecht kurz auf. Findus und Dayla sahen noch, wie breite rote Magieströme abrupt ihre Richtungen veränderten und fanden sich unmittelbar darauf sehr unsanft in ihren angestammten Körpern und als normales Wachbewusstsein wieder. Etwas war zuletzt geschehen - aber was? Keiner von ihnen hätte es zu sagen vermocht. Das magische Geflecht war im Umbruch begriffen! Es reagierte chaotisch. Ein winzige Veränderung - hier das Schließen des Loches - führte durch
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Rückkoppelungsmechanismen zu einem Aufschaukeln, zu noch unabsehbaren Folgen! Aktuell erwiesen sich die Folgen für Magier und Hexe jedoch als zweitrangig. Es war Nacht; es stürmte. Beide waren hungrig, nass und durchgefrohren. Wie lange die ganze Aktion gedauert hatte, darüber ließ sich nur spekulieren. Es galt jetzt, sich selbst erst einmal in Sicherheit zu bringen. Findus versuchte, den Sturm zu beeinflussen - es gelang ihm nicht! Nicht mehr! Er suchte nach einer Ley; er konnte die Drachenlinien nicht mehr wahrnehmen. Hinsichtlich seiner magischen Fähigkeiten fühlte er sich leer und ausgebrannt. Schwach. Er schleppte sich torkelnd in Richtung Wald, errichtete mehr schlecht als recht einen primitiven Schutz aus Zweigen und Rinden. Todmüde schlief er auf der Stelle ein. Auch seiner Gefährtin auf der anderen Seite des Waldes erging es keinen Deut besser. Beide waren einfach nur fertig! Parallel zur Manifestierung einer neuen Ordnung im magischen Geflecht nahm die Stärke des Unwetters wieder ab. Am nächsten Morgen hatte es sich bereits verzogen und die Sonne schien. Das Leben kehrte in den Myrkviör zurück. Vögel sangen. Rehe sicherten vorsichtig durch das ihnen unbekannte Unterholz. Noch immer hungrig und fröstelnd versuchte Findus, die Gestalt des weißen Raben anzunehmen. Es funktionierte, obwohl es ihn ungleich viel mehr Kraft als früher kostete. Er flog zu dem Punkt auf dem Grünstreifen, von dem aus sie beide aufgebrochen waren. Eine Frau erwartete ihn dort bereits. Sie hatte das Aussehen einer Bônday - und war doch verändert. Der Herrscher von Norgast landete und verwandelte sich zurück. Vor Schwäche schwankend und stolpernd lief die Frau auf ihn zu. Er fing sie auf. Sah ihr in die Augen, als sie in seinem Arm lag. Sie lächelte. Ihr Mund öffnete sich etwas und sie schaute Findus erwartungsvoll an. Auch die Bônday hatte einen Großteil ihrer Kräfte aufgeben müssen. Aus der Bônday war mit Ausnahme des Aussehens wieder die Dayla von früher geworden. Findus´ Geliebte. Er sah den einladend geöffneten Mund. Sie küssten sich. Lange. Der Rest ist schnell erzählt. Natürlich wirkte sich die Neuorganisation des magischen Geflechts auf ganz Norgast, ja auf die ganze Welt, aus. Wo zuvor magische 224
Machtkonzentrationen gwesen waren, da gab es jetzt zwar immer noch stärkere Magie, aber keine außerordentlich begabten Magier oder Hexen mehr. Je mächtiger ein Magier oder eine Hagia zuvor gewesen waren, desto mehr Kraft war auch eingebüßt worden. Am Schwächsten traf es die in magischer Hinsicht minderbegabten Personen. Doch wo ging die Macht hin? Sie übertrug sich auf die einfachen Menschen. Die wurden schlagartig sensibler, einfühlsamer. Jeder achtete jeden. Und diese neugewonnene Sensibilität öffnete so manchem die Augen. Plötzlich begann man, wieder Kobolde, Feen, Elfen, Einhörner, Fluss- und Höhlentrolle und was der magischen Wesen mehr waren zu sehen. Man berücksichtigte sie und insbesondere ihren Lebenraum bei allen Entscheidungen. Die Menschen wurden vorausschauender. Plötzlich hatte die Natur wieder einen Wert in sich selbst. Das Miteinander wurde groß geschrieben. Doch das magische Geflecht durchzog alle Welten. Seine Neuorganisation zeigte daher auch überall Auswirkungen...
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Kapitel 11: Anderswelt Rückblick - lange Zeit zuvor im Bomenhau. Da standen sie nun: Malweýn und die Bônday gegen den Shâgun. Und ihrer aller Aufmerksamkeit war auf das Duell mit dem Dämon gerichtet. Weder Findus noch Lyonora oder Dayla achteten auf Baldur. Das war seine Chance! Er rannte los, flüchtete. Egal wohin - nur weg von hier und zwar möglichst schnell. Keine Zeit, auf das Gelände zu achten. Das allerdings erwies sich als entscheidender Fehler. Baldur strauchelte und erkannte seinen Irrtum. Schon stand er bis zum Nabel im Sumpf. Panische Befreiungsversuche und das Wasser reichte ihm bis zu den Schultern – dann gab der Boden vollends unter ihm nach. Er versank. Gerbsäuren-gesättigtes, braunes und saures Wasser drang in seine Lungen. Das Ende... Der Körper starb. Baldur´s Geist löste sich vom Körper. Aus seiner neuen Perspektive sah er hinunter. Da war seine sterbliche Hülle, doch sie interessierte ihn nicht mehr. Das, was einmal seinen Körper dargestellt hatte, war ihm jetzt sowas von egal... Stattdessen nahm das vergeistigte Wesen etwas anderes wahr. Weit entfernt. Eine Helligkeit. Kein richtiges Licht, sondern vielmehr so eine Art von ätherischzartem, unwiderstehlichem, cremeweißem Glanz. Das würde sein neues Ziel sein. Er war unendlich neugierig darauf. Der Tod hatte seinen Schrecken verloren. Er stellte nur eine weitere Stufe im Kreislauf des Lebens, in der Entwicklung eines jeden Einzelnen, dar. Langsam trieb Baldur´s Geist auf die lichte Helligkeit zu, welche sich ihm inzwischen als eine Art von hell erleuchtetem Tunnel präsentierte. Ein Tunnel - wohin? Auf jeden Fall aber war es eine Art von Übergang. Eine tiefe, zuversichtliche Zufriedenheit erfüllte ihn. Plötzlich der machtvolle Ruf „Baldur Os-RitMannaz!“ Sein Geist wurde zurück gerissen. Er entfernte sich vom Lichttunnel! So sehr der ehemalige Baldur sich auch anstrengte - es gab nichts, was ihn dorthin zurück bringen konnte. Wie ein Blatt im Wind taumelte sein Geist durch eine unwirkliche Zwischenwelt. Ohne Bezugspunkt, ohne Halt,
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ohne Anker. Baldur´s Seele konnte das Totenreich ob des magischen Rufes nicht betreten. Sie konnte Norgast aber auch nicht verlassen. Niemand hätte sagen können, wie lange dieser seltsame Zustand währte. Irgendwann und irgendwo jedoch fing eine Art von Sog die freie Seele ein. Es geschah an einem dieser ‚seltsamen Orte’ oder ‚Kraftplätze’. Der Sog zog Baldur´s Geist aus Norgast heraus und schleuderte ihn in eine Anderswelt. Eine Anderswelt mit schnellerem Zeitablauf.
Der Junge zählte etwa anderthalb Jahre. Seine Eltern hatten ihn „Bernd“ getauft. Er war krank - totkrank! In Ermangelung einer Impfung gegen Pertussis tobte jetzt die Keuchusten-Infektion in seinem Körper. Die Eltern hielten es zunächst nur für eine böse Bronchitis. Doch als in Folge eines schlimmen Hustenanfalls der Atem aussetzte und sich Bernd´s Lippen bläulich verfärbten, da sahen sie, wie ernst es wirklich um ihn stand. Der Vater versuchte sich in Mund-zuMund-Beatmung, während die Mutter verzweifelt nach einem Rettungswagen telefonierte. Panik! Es war dieser eine unwahrscheinliche Moment. Der Geist des Kindes verließ die sterbliche Hülle. Doch noch war der Körper nicht ganz tot. Und er bot einen Anker. Einen Anker für eine fremde Wesenseinheit aus einer fremden Welt. Das suchende Wesen hatte nahezu alle Erinnerungen verloren, war - nachdem ein Sog es erfasst hatte - auf den Urgrund seines Seins, auf einen reinen Nucleus, reduziert worden. Es ergriff die Chance, krallte sich im Hirn des sterbenden Jungen fest, ersetzte so dessen ursprüngliches Bewusstsein. Der Rettungswagen kam schnell und eine seitens des Notarztes verabreichte Injektion holte Bernd ins Leben zurück. Aber war es wirklich noch Bernd? Der Schock, ihr Kind um Haaresbreite verloren zu haben, veränderte das Leben der Eltern. Sie hätschelten und pflegten Bernd, so gut es eben ging. Als Einzelkind wurde er umsorgt wie ein kleiner König. Auch wenn die Eltern selbst nicht viel besaßen - für ihren Bernd war nichts zu teuer oder zuviel. Er war ihr ein und alles. Nur eins fehlte dem Jungen: Sozialisierung. Wann immer Probleme mit anderen Kindern
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auftauchten, dann mischten sich die Eltern ein. Ihrer Ansicht nach waren es immer die anderen, die für Probleme sorgten, doch niemals ihr abgöttisch geliebter, unschuldiger Bernd. Der Junge wuchs unter diesen Bedingungen auf. Er erlernte niemals ein Miteinander oder Mitgefühl für andere, denn dazu bestand ja überhaupt keine Notwendigkeit. Nein, es schien sogar so zu sein, als ob alle anderen nur für ihn allein da sein müssten. Für Bernd war das selbstverständlich. Es entsprach auch dem ureigensten Verhalten des Wesens, welches Jahre zuvor vom Körper des Jungen Besitz ergriffen hatte. Bernd wuchs auf. Seine schulischen Leistungen waren nicht gerade berauschend; er war bestenfalls schwacher Durchschnitt. Die Eltern kümmerte das nicht. Auch wenn sie Überstunden leisten und all ihren Besitz zu Geld würden machen müssen - für Bernd mussten Privatlehrer her. Seine Leistungen verbesserten sich. Nicht wirklich, aber Privatunterricht schindet nun mal Eindruck und da ließen die regulären Pädagogen dann auch mit sich reden. Nach der Schule machte Bernd eine Lehre als Elektriker. Sein Vater hatte ihm die Lehrstelle besorgt. Doch was der Junge auch tat - im Betrieb eckte er mit seiner Art an. Überall. Da war nämlich der Umgang mit Menschen gefragt und der war ihm fremd. Niemand mochte ihn. Man hielt ihn für ein schleimenden, hinterlistigen Streber. Und genau das war er auch. Er haute seine Kollegen erbarmungslos und ohne Rücksicht auf Verluste in die Pfanne, wenn er sich davon auch nur den kleinsten Vorteil versprach. Wenn es eins gab, was Bernd während seiner Ausbildung wirklich lernte, dann war es die Tatsache, niemals mehr mit ‚so einem Volk’, wie es seine Kollegen und Mitschüler gewesen waren, zu tun haben zu wollen. Er bekniete seinen Vater, ihm ein Studium zu bezahlen, war er doch für Höheres geboren! Sein Vater fühlte sich geschmeichelt - was hatte er nur für einen talentierten Sohn! Er arbeitete, um das Geld heran zu schaffen. Bernd studierte. Lange und ausgiebig. Länger und ausgiebiger, als ein Student normalerweise braucht, nämlich satte achtzehn Semester. Kurz - Bernd machte sich ein schönes Leben auf Papi´s Kosten. Sein Vater überlebte das nicht. Er arbeitete sich zu Tode. Kurz vor der Rente wurde er von einem Herzinfarkt erwischt. 228
Für Bernd´s Leben bedeutete das einen entscheidenden Einschnitt. Er beendete sein Studium mehr schlecht als recht. Als frischgebackener Diplomingenieur, dessen hervorstechendstes Merkmal darin bestand, arrogant zu sein und im Grunde gar nichts zu können, stieß er auf den Arbeitsmarkt. Mit seinen Zeugnissen ließ sich aber kein Staat machen. Also mussten die auf die eine oder andere Weise ‚geschönt’ werden. Doch gute Fälschungen kosteten Geld - viel Geld. Seine Mutter gab es ihm, obgleich sie nie erfuhr, was er damit machte. Auch war es seine Mutter, die von früher her noch einige von Papi´s Kollegen kannte. Sie ließ ihre Verbindungen spielen. Auf diese Weise kam Bernd zu einem Job bei einem Unternehmensberater. Bernd, dessen einzigste betriebliche Kenntnisse aus der nun schon über neun Jahre zurückliegenden Lehrzeit herrührten und der ansonsten nie einen Betrieb von innen gesehen hatte, sollte jetzt andere Unternehmen beraten. Wie konnte das funktionieren? Doch mit sicherem Auftreten und professioneller Rhetorik beeindruckte Bernd seinen Abteilungsleiter. Innerlich frohlockte er - nicht mehr lange, und er selbst würde die Abteilung führen. Aber von oben her. Intrigant und rücksichtslos bahnte er sich auf Kosten seiner Kollegen den Weg in die Chefetage. Eigene Fehler wurden anderen untergeschoben. Er vermied es nach Möglichkeit, selbst etwas zu tun, denn wer arbeitet, der macht auch Fehler. Und Fehler behindern einen Aufstieg. Stattdessen fand er heraus, wer im Unternehmen wirklich das Sagen hatte – und baute persönliche Beziehungen zu den betreffenden Leuten auf. Das brachte ihm Informationen, die er karrierefördernd einsetzen konnte. Absolutes Desinteresse bezüglich der Gefühle anderer, Verantwortungslosigkeit und eine ausgeprägte Missachtung aller sozialen Regeln ebneten ihm den Weg nach oben. Binnen kürzester Zeit saß er in der Chefetage. Wer ihm gefährlich werden konnte, der wurde durch gezielte Fehlinformationen und in Umlauf gebrachte Gerüchte diskeditiert - so lange, bis das Opfer seiner Hasskampagne von selbst ging. Das ersparte es dem Unternehmen, auch noch teure Abfindungen zahlen zu müssen. Bernd hatte es geschafft. Er wurde geachtet. Aber etwas fehlte ihm noch, 229
nämlich soziales Ansehen. Um das zu erlangen, schloss Bernd einen Ehevertrag mit einer Frau, die er schon vor geraumer Zeit einmal kennengelernt hatte. Sie kannte ihn nicht wirklich. Und als sie hinter sein eigentliches Wesen kam, da war es für sie bereits zu spät. Sie war in wirtschaftlicher Hinsicht von ihm abhängig geworden. Um sie dauerhaft an sich zu binden, folgten dann noch zwei Kinder. Kinder, bei denen Liebe durch Geld und Sachwerte ersetzt wurde. Aber das war alles noch nicht das, was Bernd eigentlich wollte. Er saß zwar in der Chefetage, aber es war nicht sein eigenes Unternehmen. Dadurch war es ihm auch nicht möglich, so zu schalten und zu walten, wie er es gerne getan hätte. Ein eigenes Unternehmen musste her! Die Chance dazu bot sich im Rahmen einer Beratung. Es war nur ein kleiner, überschaubarer Betrieb. Bernd schickte dort Leute zur Beratung hin und sprach gleichzeitig mit dem schon in die Jahre gekommenen Geschäftsführer. Er bot sich an, seinen bisherigen job aufzugeben, sich dort einzukaufen und im Unternehmen mitzuarbeiten. Mit dem Fernziel, den Betrieb dann zu übernehmen, wenn dessen Geschäftsführer aus Altergründen ausscheiden würde. Und genau so kam es schließlich auch. Es brauchte ja niemand zu erfahren, dass Bernd das Ausscheiden des Seniors ‚geringfügig’ beschleunigt hatte - indem er den heimlich bei den Kunden schlecht machte. Jetzt besaß Bernd endlich seinen eigenen Betrieb. Ein erfolgreicher Geschäftsmann, sozial integriert durch eine vom Geld zusammen gehaltene Familie, welche ihm diesbezüglich als Alibi diente. Doch das Wesen, welches Bernd´s Körper bewohnte und steuerte, bekam niemals genug. Es fehlte an öffentlichem Ansehen. Folglich engagierte Bernd sich in öffentlichen und karitativen Veinigungen. Geld öffnet eben alle Türen. Auch kam er auf diese Weise in den Kontakt mit Leuten, die ihm auf Grund ihrer Stellung die eine oder andere Gefälligkeit erweisen konnten. Auch das hob ihn über das ‚gemeine Volk’ hinaus und schmeichelte seinem Ego. Er zumindest brauchte nicht mehr lange auf irgendwelche Bearbeitungen zu warten. Was er befahl, dass hatte zu geschehen - und zwar sofort! Gesetze galten für ihn nicht. Da stand er drüber. 230
Diese zweigleisige Vorgehensweise brachte allerdings auch Probleme mit sich. War Bernd jetzt nach außen hin ein geachteteter Wohltäter an der Gesellschaft, so praktizierte er in seinem Betrieb doch genau das Gegenteil davon. Seine Mitarbeiter waren für ihn Verlängerungen seiner Maschinen und seine Maschinen dienten einzig dazu, ihm das Bankkonto zu füllen. Maschinen waren ihm ohnehin lieber als Menschen - die widersprachen ihm nämlich nicht! Mit den Menschen hingegen war das so eine Sache. Im Grunde machten die doch immer, was sie gerade wollten. Und solange das nicht zu seinem unmittelbaren Nutzen geschah war das falsch! Deswegen bedurften die Menschen der Führung, nämlich seiner Führung: knallhart und ohne Rücksicht auf Verluste. Am liebsten hätte er sowieso auf die ganze Mischpoke verzichtet. Nur leider benötigte er sie zur Bedienung seiner Maschinen. Diese Schwächlinge! Wer nicht den gleichen Erfolg wie er selbst vorzuweisen hatte, der war doch im Grunde genommen lebensunfähig. Der bedurfte der permanenten Steuerung, sogar in der Freizeit! Bedingt durch diese Überlegungen scheute Bernd auch nicht davor zurück, Arbeitsverträge abzuschließen, welche die Menschenrechte des Einzelnen einschränkten. Hinzu kam seine betriebliche Überwachung: Da wurden Telefonate abgehört, Post kontrolliert, E-Mails abgefangen und so weiter. Irgendwann ging Bernd gar so weit, in den einzelnen Büro´s Videoüberwachungen einzurichten. Und es sollte bloß mal jemand wagen, dagegen aufzumucken! Der wäre sofort wieder draußen, denn Störenfriede brauchte er nicht. Aus diesem Grund hielt Bernd sich alle Möglichkeiten offen. Da war erstmal die Probezeit seiner Arbeitnehmer. Die wurde soweit wie möglich ausgedehnt, denn dann brauchte er keine Kündigungsfristen einzuhalten. Die meisten seiner Leute wechselten ja im Durchschnitt ohnehin schon nach zwölf Wochen. Egal - es gab ja mehr als genug Arbeitslose! Und wenn jemand tatsächlich mal die Probezeit ‚überlebte’, dann wurde dem danach beizeiten ein Aufhebungsvertrag angeboten. Die Abfindung bei sowas hielt sich immer in Grenzen. Langjährige Mitarbeiter hingegen wurde Bernd auf andere Weise los. Da wurde etwas zusammenkonstruiert - und mit Intrigen kannte er sich gut aus! - was aus seiner 231
Sicht zur fristlosen Kündigung berechtigte. Es sollte mal jemand wagen, dagegen gerichtlich vorzugehen. Bernd würde auf Grund seines finanziellen Vermögens garantiert den längeren Atem haben und er freute sich schon darauf, renitente Niemande wirtschaftlich ‚hinzurichten’. Das machte ihm Spaß. Genauso wie das Fertigmachen von Mitarbeitern. Er lud dann ganz unvermittelt zu einem persönlichen Gespräch. Drohte ganz unverblümt. Schickte die Leute an ihren Arbeitsplatz zurück, ging dorthin und machte sie vor versammelter Mannschaft nochmal fertig. Immer dann, wenn eines seiner Mobbing-Opfer mit Tränen in den Augen und vollständig zerrütteten Nerven vor ihm saß, überkam ihn dieses Gefühl von Allmacht, an dem er sich so gern selbst berauschte. Er hatte Macht; er war besser als die anderen! Er durfte drauflospoltern, wann immer es ihm gefiel. Die anderen nicht. Er allein verfügte über abschließbaren Schreibtisch und abschließbare Büro´s, die anderen nicht. Sollten die anderen doch sehen, wo sie parkten - sein Chefparkplatz, der gut und gern für fünf Fahrzeuge ausgereicht hätte, gehörte ihm allein! Wer es wagte, etwas von ihm zu wollen, der musste erstmal durch´s Vorzimmer kommen. Private Gespräche am Arbeitsplatz waren ebenso verboten wie private Gegenstände. Foto´s der Familie oder sowas - wo kommen wir denn da hin! Verdammte Loserbande! Wer nicht mitzog, der wurde fertig gemacht. Bernd erhob das Mobbing zur Kunst. Ob Telefonterror, Bedrohungen, unsachliche Kritik am Privatleben, die bewusst falsch eingestellte Klimaanlage mit dem beständigen Zug von eiskalter Luft im Nacken, das Verbot von Pausen, Gesprächsverbote, Kontaktverweigerung, Gerüchte, Kränkungen, zotige Angebote, das Messen mit zweierlei Maß und was der Möglichkeiten mehr waren - Bernd spielte diese Klaviatur des Horrors perfekt. Zu seiner eigenen Erbauung. Und wer einmal im Leben mit ihm zusammen geraten war, der hielt zukünftig den Mund. Für immer. Dadurch brauchte Bernd sich auch niemals Kritik anzuhören. Nur manchmal, insgeheim, da zweifelte er an sich selbst. Da fragte er sich, ob ihm nicht irgend etwas fehlte. Denn wenn die anderen über Sensibilität, 232
Einfühlungsvermögen, Liebe, Schönheit, Zuneigung oder so etwas sprachen, dann konnte er nicht mitreden. Er kannte zwar die Worte, aber nicht ihre eigentlichen Bedeutungen. In solchen Momenten des Selbstzweifels betäubte Bernd seine Bedenken durch ausschweifende Vergnügungen: Essen, Alkohol, zügellosen Sex, Kunst und Kultur - völlig egal, Hauptsache ablenkend! Jahrelang übte der angesehene Geschäftsmann sein geheimes Terrorregime aus, während er nach außen hin der Wohltäter an der Gesellschaft blieb. Dann geschah etwas gänzlich Unerwartetes. In Norgast reparierten Findus und Dayla das magische Geflecht, welches sich daraufhin umstrukturierte. Dessen Neuorganisation erfasste auch die Welt, in der Bernd - oder vielmehr das Wesen, welches Bernd´s Körper bewohnte - lebte. Quasi von heute auf morgen gingen die Leute auf die Straßen. Sie organisierten sich. Erkannten die Ausbeutung und die Ausbeuter. Tauschten sich über die Methoden der Manipulation aus, so dass die manipulativen Techniken der so genannten ‚Menschenführung’ plötzlich durchschaubar und damit wirkungslos wurden. Geschäftsleute wie Bernd flogen auf. Bevor aber jemand sich an seinem - auf Kosten anderer erwirtschafteten - Reichtum vergreifen konnte, verkaufte er sang- und klanglos den ganzen Betrieb. Ging ins Ausland, dorthin, wo immer blaues Meer war und wo immer die Sonne schien. Es war schöner Batzen Geld. Das würde für den Rest seines Lebens reichen.
Jahre später. Bernd lebte jetzt allein auf seiner Sonneninsel inmitten des blauen, warmen Meeres. Seine Kinder hatten sich in alle Welt zerstreut. Seine Frau war schon vor vielen Jahren verstorben. Ein Autounfall, wie tragisch! Sein Blick wanderte hinauf zu den Bergen. Zwei Gipfel und auf einem davon stand als Sehenswürdigkeit ein uralter Opferstein. Schon seltsam, wie bekannt einem manchmal etwas vorkam. Déjà-vu. Ihre Bremsen hatten dort oben versagt, weil die Bremsleitungen schlichtweg durchgegammelt waren. Niemand wusste davon, dass er die Leitungen über Monate
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hinweg immer wieder mit hochaggressiven Chemikalien behandelt hatte - immer in der Hoffnung, das naive Weib irgendwann loszuwerden, um endlich wirklich frei zu sein. Doch es hatte hingehauen. Innerlich grinste er. Aber auch in seinem Heimatland schien sich etwas getan zu haben. Die Krise war wohl überwunden worden, denn jetzt fanden wieder Touristen ihren Weg hierher. Scheißtouristen! Gewisse Strände betrachtete Bernd als sein Eigentum. Da hatten die nicht rumzulungern! Mischpoke! Heute auch wieder. Da lag so ein Typ mit zwei Blagen auf einem großen Badetuch. Seine Frau vergnügte sich im Wasser. Der Urlauber las in einem Buch. Der Buchtitel jedoch... Er zog Bernd´s Blick geradezu magisch an. Unwillkürlich blieb Bernd stehen. Trat auf den Mann zu. Der blickte auf. Bernd sah auf das Buch. Dann brach er laut schreiend zusammen... Alle verdrängten Erinnerungen kamen wie eine unaufhaltsame Flutwelle schlagartig zurück. Dayla, Malweýn, der Drache, Findus, die Bônday, Lyonora, der Shâgun, er selbst als Herrscher - sein Geist verwirrte sich. Er wusste nicht mehr, welche Welt die Seine war. Er erkannte sich plötzlich als Baldur und fühlte sich als um seine eigene Welt betrogen. Wusste, dass am Ende seines Weges unausweichlich der Shâgun auf ihn warten würde. Sein Geist wurde mit dem Ansturm von Informationen und Gefühlen nicht fertig, verwirrte und zerrüttete sich zusehends. Baldur-Bernd verlor die Besinnung, fiel in ein Koma, wurde in ein Krankenhaus gebracht. Er erwachte nicht wieder. Einige Wochen später verstarb er. Ein einziges Buch hatte das ausgelöst - ein Buch mit dem Titel ‚Norgast’!
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Anhang I: Making Of Nur wenige Menschen leisten sich den größten Luxus, den es im Leben gibt: Eine eigene Meinung. (Sir Alec Guinnes)
Norgast ist eine rein fiktive Geschichte, welche in einer ebenso fiktiven Welt spielt - frei nach dem Motto ‚Star Wars meets Tolkien‘ (wobei das kein Anspruch sein soll). Doch es ist auch eine Geschichte, die in gewisser Weise das Leben selbst geschrieben hat und daher gibt es Realitätsbezüge. Teilweise zumindest, denn ich habe reichlich auf reale Gegebenheiten und Personen zurückgreifen können. Norgast ist der letzte Band einer Trilogie, die aus zwei Sachbüchern und aus einem Roman besteht. Obgleich jeder Band dieser Trilogie (bestehend aus ‚Vernetzte Sinne - Über Synästhesie und Verhalten‘, ‚Böse Hexen gibt es nicht - Versuch einer interdisziplinären Betrachtung des Hexenwesens‘ und ‚Norgast‘) ein in sich abgeschlossenes, von den anderen Bänden unabhängiges Ganzes bildet, gibt es doch Querverbindungen zwischen den einzelnen Büchern. So benennt ‚Vernetzte Sinne‘ Substanzen, welche die synästhetische Wahrnehmung beeinflussen bzw. für Nichtsynästhetiker überhaupt erst erfahrbar machen. Auch wird am Rande auf einen philosophischen Aspekt der Synästhesiedebatte hingewiesen - nämlich auf die Tatsache, dass unsere Realität immer wahrnehmungsgeprägt ist und es daher so etwas wie eine ‚absolute Realität‘ gar nicht geben kann. ‚Böse Hexen...‘ weist mehrere Berührungspunkte mit ‚Vernetzte Sinne‘ auf, so u. a. hinsichtlich der ‚Hexenmittel‘ und der Charaktereigenschaften früherer Hagias. Auch werden die Querverbindungen aus ‚Vernetzte Sinne‘ aufgegriffen. Norgast schließlich mixt all dies mit einer gehörigen Portion an Fiktion und an Sozialkritik. Synästhetikern sagt man (wenn sie sich denn überhaupt zu erkennen geben) einen mitunter ‚etwas seltsamen‘ Musikgeschmack nach. Mir selbst als Coloured-Hearing-Synnie ist schon mehrfach mitgeteilt worden, dass meine musikalischen Interessen schlichtweg 235
furchtbar seien - das ist gut so und so soll es auch bleiben! Ich selbst nenne das nämlich Vielseitigkeit! Auf Grund meiner synästhetischen Wahrnehmung beurteile ich Musik in erster Linie nach dem Aussehen, in zweiter Linie nach dem Text und erst zuletzt nach der Rhythmik. Ergo findet sich da auch eine ziemliche Bandbreite, welche absolut nicht mit dem kommerziellen Mainstream-Radio-Einheitsgedudele konform geht. Die synästhetisch wahrgenommenen Muster, Farben und Formen sind es auch, welche gedankliche Pirouetten erlauben, welche Zusammenfügungen ermöglichen, auf die man sonst wahrscheinlich gar nicht kommen würde. Das nennen einige Leute dann Kreativität. Aus einer solchen gedanklichen Pirouette heraus ist auch ‚Norgast‘ entstanden - ohne Exposé. Statt dessen kommt der Musik der wichtigste Einfluss überhaupt zu. Die Texte der Musikstücke und die farbigen Formen der Melodien waren es, die das fehlende Exposé ersetzten. Dabei sind mir die Einfälle zur Norgast-Geschichte allerdings nicht in chronologischer Reihenfolge gekommen, sondern durcheinander. Ich habe sie dann wie ein Puzzlespiel zu dem Roman zusammen gesetzt. Den Musikern gebührt daher mein innigster Dank, denn ohne sie wäre die Geschichte ungeschrieben geblieben. Insbesondere haben die nachfolgend beschriebenen Stücke die Story erst ermöglicht.
Kapitel 1: Der Intrigant „Der Tyrann“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und Schwefel“, 2004) „Spielmannsfluch“ von In Extremo (aus dem Album „Verehrt und Angespien“, 1999) Diese beiden Songs lieferten die Grundlage zur Beschreibung von Baldur´s fiesem Charakter und seiner menschenverachtenden Herrschaft. „Waldmär“ von Schandmaul (aus dem Album „Kunststück“, 2005) Der Text dieses Liedes lag Baldur´s Tierverwandlung zu Grunde, als er beim Warten auf Findus´ Tod in Wolfsgestalt die beiden Köhler fraß.
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„Geisterschiff“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und Schwefel“, 2004) Die Strandpiraten sind - neben realer Historie - vom Anfang dieses Liedes abgeleitet worden. „Planet Hell“ von Nightwish (aus dem Album „Once“, 2004) Die Unterweltschilderungen im Text des Songs inspirierten mich hinsichtlich der Figur des Shâgun. Sonstiges: Baldur existiert in gewissem Sinne wirklich, denn ich bin seinem Vorbild im realen Leben begegnet. Es handelt sich um einen Soziopathen. Dieser ist zumindest zeitweise ein erfolgreicher Geschäftsmann, der seinen erfahrenen und humorvollen Partner (hier: Malweýn) mit ziemlich linken Methoden ausbootete und statt dessen auf einen schleimenden und eher unfähigen ‚Chef-Chef-ich-weiß-was‘Streber setzte. Im Roman geht Baldur´s Pakt mit dem Dämon auf Goethe´s ‚Faust‘ zurück. Der Shâgun ist eigentlich nichts weiter als eine Personifizierung der allgegenwärtigen deutschen Steuerbehörden, gemischt mit einer Firma, von welcher der ‚echte‘ Baldur aufgrund gemeinsamer Leichen im Keller gegängelt wird. Die Strukturen vom Syndikat der Kaufleute habe ich beim deutschen Gesundheitswesen abgeschaut, einem Staat im Staate. Einem Syndikat, welchem die ‚Kunden‘ von Unternehmen wie dem o. e. zugeschoben werden. Da ist alles so perfekt organisiert, dass eigentlich niemand mehr diese (zum Nachteil der Patienten) zementierten Strukturen aufzubrechen vermag. Baldur´s Tierverwandlung an sich beruht auf den psychoaktiven Wirkungen der wirklich hundsgefährlichen SolanazeenDrogen. Für die geografische Größe von Norgast legte ich Deutschland zu Grunde. Die Vorlagen für die vorgelagerte Inselkette bilden die ostfriesischen Inseln. Das Vorbild für die Opfersteine des Helgebargs und später in der Nebelsenke war der Opferstein ‚Alte Taufe‘ im Deister, dem nördlichsten deutschen Mittelgebirge. Sandstedt war der Nordsee-Kurort, der sich heute Büsum nennt, bis ins 19. Jahrhundert hinein. Den im Zusammenhang mit einem seltsamen Ort südlich von Balum gelegenen Wald gibt es wirklich. In der Realität befindet er sich nordöstlich der Stadt Rodenberg am Deister und besteht aus den nur in dieser Gegend wachsenden 237
Süntelbuchen - einer Buchenmutation. Das Coverfoto ist dort entstanden. Bei dem Ithelge-Gebirge erinnerte ich mich an die Tour durch die Sierra Nevada. In diesem Kapitel schlägt mein Sachbuch ‚Böse Hexen gibt es nicht’ gleich in doppelter Hinsicht durch - nämlich einerseits mit dem, was machbar ist und andererseits mit dem, was man getrost zum Reich der Fantasie zählen darf. Kapitel 2: Der Findling „Nechein Man“ von Faun (aus dem Album „Zaubersprüche“, 1997) „Sonnenstrahl“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“, 2002) „Reich der Träume“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und Schwefel“, 2004) „Nemo“ von Nightwish (aus dem Album „Once“, 2004) Alle diese Stücke zusammen lieferten mir die Vorlagen für die Figur des Findus, welcher ganz bewusst als Gegenpart zu Baldur angelegt worden ist. „Der Spion“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“, 2002) Das Lied gab mir die Idee für den Spion Neville (auch wenn Schandmaul´s Spion ganz anders aussieht...). Sonstiges: Auch Neville findet sein Vorbild im realen Leben, ist er doch in der Geschäftsleitung von ‚Baldur´s‘ Unternehmen tätig. Der Soziopath hat ihn in der Hand und daher ist er dem Boss geradezu hündisch ergeben. Die Untergebenen werden permanent gemobbt und wie (Lohn-) Sklaven behandelt. Derartige Unternehmen gibt es wohl viele... Das Vorbild für Mijnheer Vankampen ist gleichfalls ein Firmenmitarbeiter - der o. e. ‚Chef-Chef-ich-weiß-was‘-Typ. Letzterer schiebt seine Fehler grundsätzlich immer anderen in die Schuhe, so dass er selbst glänzen kann. Da haben sich zwei Leute gesucht und auch gefunden. Baldurs Verhaltensweise (ich meine natürlich die seines Vorbilds) habe ich im wirklichen Leben tatsächlich erlebt. Kapitel 3: Der Fischer „Egil Saga“ von Faun (aus dem Album „Licht“, 2003) Runen sind ein zentrales Element in der gesamten Geschichte und bilden die Grundlage der - hoffentlich
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nachvollziehbar dargestellten - magischen Techniken. Die Idee dazu entnahm ich diesem Stück von Faun. „Der Fischer“ von Achim Reichel (aus dem Album „Regenballade“, 1978) „American Remains“ von Highwaymen (aus dem Album „Highwayman 2“, 1990) „Unda“ von Faun (aus dem Album „Licht“, 2003) Der Fischer Bewok, das Leben der einfachen Menschen und wie es in diesem Fall durch den Strom Wilderfrio definiert wird - all das kann auf diese drei Tracks zurück geführt werden. „Regenballade“ von Achim Reichel (aus dem Album „Regenballade“, 1978) „Miyama No Sato“ von Tôsha Suihô (aus dem Album „Die Vier Jahreszeiten In Kyoto“, 1983) Findus´ Waldspaziergang beruht auf einer Story, die ich in ähnlicher Form schon an anderer Stelle veröffentlicht habe. Die Schilderung als Solche ist daher authentisch. Nur ging mir damals immer und immer wieder Achim´s Lied im Kopf herum. Und als ich das wieder mal hörte, da dachte ich, dass Findus´ Erfahren des Waldes doch prima passen würde. Und niemand kann solche synästhetischen Erlebnisse besser akustifizieren als Tôsha Suihô mit seiner japanischen Shinobue-Flöte. „Waldmär“ von Schandmaul (aus dem Album „Kunststück“, 2005) Die Begegnung mit dem Fuchs hat es wirklich gegeben. Aber um da was draus zu machen, bedurfte es des Anstoßes durch das Schandmaul-Lied. So wurde es dann zu Findus´ Beinahe-Verwandlung. „Keridwen & Gwion“ von Faun (aus dem Album „Zaubersprüche“, 1997) Der Trank, um den es in diesem Stück geht, bildete die Vorlage für den Findus seitens Snofork verabreichten Erinnerungstrank (nicht jedoch für das Rezept des Trankes!). Für die Bestandteile des Tranks griff ich auf mein früheres Sachbuch ‚Böse Hexen gibt es nicht - Versuch einer interdisziplinären Betrachtung des Hexenwesens‘ zurück. „Das Schloss am Meer“ von Faun (aus dem Album „Zaubersprüche“, 1997) Das Lied war die Vorlage für Baldur in Helgenor. 239
„16th Century Greensleeves“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Past Times With Good Company“, 2002) „Ivory Tower“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Ghost Of A Rose“, 2003) „Herr von Falckenstein“ von Falckenstein (aus dem Album „Feuerstuhl“, 1980) Die Hungertürme und die Geschichte des Bauern Mallok lassen sich auf einen Traum und auf die Texte dieser drei Songs zurück führen. Sonstiges: Ich bin Synästhetiker seit ich mir meiner selbst bewusst bin. Alle geschilderten synästhetischen Erfahrungen sind daher authentisch. Hinsichtlich Findus´ erstem Waldspaziergang habe ich mir ein Plagiat der auf meiner Homepage im Internet veröffentlichten Stories erlaubt und auch viele andere Schilderungen dieser Form der Wahrnehmung sind den dortigen Geschichten entnommen worden. Die Begegnung mit dem Fuchs hat in ähnlicher Form tatsächlich stattgefunden; die spätere Sache mit der Blaumeise ebenfalls und die spirituellen Erfahrungen an ‚seltsamen Orten‘ oder ‚Kraftplätzen‘ gibt es wirklich. Die Hypothese der spirituellen Erfahrung anhand eines Magnetsinns lokalisiert im Schläfenlappen des Gehirns entstammt dem Heft ‚Bild der Wissenschaft‘ vom Juli 2005. Findus´ wirklicher Name ‚Far-Ur-Rit‘ ist ein runenbasierendes Wortspiel mit meinem eigenen Familiennamen. Die von Findus bei den Fischersleuten eingeführten Arbeitstechniken sind authentisch. Teils entstammen sie ‚Böse Hexen gibt es nicht‘ und teils eigenen Versuchen. Den Schilderungen des Outdoor-Lebens nebst Armbrustjagd, Räuchern, Fischfangmethoden usw. liegen meine eigenen Erfahrungen zu Grunde und das Vorbild für die Rigras-Stämme ist schlicht und einfach Bambus. Die im Roman genannten Kräuter gibt es wirklich; ihre Wirkungsmechanismen sind - abgesehen von einigen stilistisch erforderlichen Ausschmückungen - auch authentisch. Die gebräuchlichen Namen dieser Stoffe wurden lediglich durch ihre alten, überlieferten volksmedizinischen Bezeichnungen ersetzt. Auf Mengenangaben habe ich ganz bewusst verzichtet, denn ich will keine Anleitungen zum Missbrauch geben. Aus diesem Grunde sind alle Rezepturen 240
auch nur sehr vage gehalten. Das von Snofork gebackene Fladenbrot trägt real die Bezeichnung ‚Damper‘. Es wurde - genau wie der Erdofen auf der Reise zur Bônday - bei den traditionellen Garmethoden der australischen Aborigines abgeschaut. Baldur´s Kontrollmaßnahme mit dem Paliwi entspricht der regulären (und meist illegalen) betrieblichen Arbeitnehmerüberwachung, wie sie bspw. immer dann möglich ist, wenn sich irgendwo ein vernetzter Rechner mit einem Headset daran befindet. Über das darin befindliche Mikrofon und ein Fernwartungsprogramm kann nämlich jederzeit abgehört werden - was leider auch tatsächlich geschieht, wie mir aus Erfahrung bekannt ist. Der Wilderfrio wird durch den Zusammenfluss zweier Quellflüsse gebildet. Das Vorbild dafür liefern Werra und Fulda, welche sich zur Weser vereinigen. Der Schilderung der Tiedsiepe-Wasserfälle liegen meine Erfahrungen mit den Niagara-Fällen zu Grunde, welche ich auf kanadischer Seite von unten bewundern durfte. Vorbild für die ‚namenlose Insel‘ ist in gewisser Weise der vor Ibiza gelegene, eindrucksvolle Felsen ‚Es Vedra‘. Helgenor entspricht in unserer Wirklichkeit der Blumeninsel Mainau im Bodensee und der Name des Naturheiligtums ‚Achestorensten‘ ist nur ein alter Name für die Externsteine nahe Horn/ Bad Meinberg (dem ehemaligen Nationalheiligtum). Eine besondere Schwierigkeit bei der ganzen Story bestand darin, dass in einer vorwiegend mittelalterlich geprägten Welt praktisch keine normierten Maße und Zeiteinheiten verfügbar sind. Um dem Leser hier eine Vorstellung der Verhältnisse vermitteln zu können, griff ich auf Vergleiche und auf astronomische Faktoren zurück. Letzteres setze die Existenz eines Mondes voraus, woraus sich dann auch Ebbe und Flut sowie das Watt ergaben. Es ist unglaublich schwer, sich eine Welt ganz ohne Uhren vorzustellen und das dann bei der Beschreibung auch noch konsequent durchzuhalten! Kapitel 4: Die Bônday „Gewitter“ von Klaus Schulze (aus dem Album „Klaus Schulze 2001“, 2001) Vielleicht nicht ganz leicht zu erklären. Meine synästhetische Wahrnehmung eines Gewitters und Klaus
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Schulze´s Musikstück sind zwar absolut nicht gleich, doch sie ähneln einander. Sehr sogar. Ich wollte dieses Kapitel mit einer lebendigen Schilderung der Wetterverhältnisse beginnen. Das Stück erinnerte mich an eines meiner unveröffentlichten Manuskripte mit meiner synästhetischen Darstellung eines Gewitters und das habe ich dann verwendet. „Written In The Stars“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Fires At Midnight“, 2001) „Way To Mandalay“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Ghost Of A Rose“, 2003) Eine Reise war von vornherein eingeplant. Aber wie und wohin? Diese beiden Tracks lieferten die Ideen. „Past Time With Good Company“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Under A Violet Moon“, 1999) „Under A Violet Moon“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Under A Violet Moon“, 1999) Eine Reise ohne Zwischenfälle ist langweilig. Warum also nicht die Reisenden auf andere Leute treffen lassen? So wurde aus der ‚Good Company‘ das Zigeunerlager. „Ghost Love Score“ von Nightwish (aus dem Album „Once“, 2004) Und damit die Übernachtung im Zigeunerlager nicht zu einem Besäufnis verkommt, brauchte ich noch irgend etwas Unerwartetes. Dem geheimnisvollen Nightwish-Stück verdanke ich daher die uralte Zigeunerin. „Die Geister vom See“ von Achim Reichel (aus dem Album „Wilder Wassermann“, 2002) Ich hörte Achim´s Song und machte daraus Findus´ Begegnung mit der Najade. „Der Sumpf“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und Schwefel“, 2004) „Wintermoor“ von Aquarell (aus dem Album „Folk Fest“, 1979) Die Norgast zugrunde liegende Landkarte ist schon ein paar Jahrzehnte alt. Ich zeichnete sie vor Urzeiten nur mal so zum Spaß und hörte dabei das Stück von Aquarell. Irgendwie hat die Karte die Zeiten überdauert. Den dort eingezeichneten Sumpf hätte ich aber fast übersehen, wäre da nicht diese Musik gewesen. „Crystal Lake“ von Klaus Schulze (aus dem Album „Klaus Schulze 2001“, 2001) 242
„Graues Meer“ von Falckenstein (aus dem Album „Feuerstuhl“, 1980) Ich habe lange Zeit meiner Kindheit an der Nordseeküste verbracht. Das Gleißen des in der Sonne oder unter Wolken liegenden Wassers und diese Stücke waren einander sehr ähnlich und als ich die Lieder hörte, war mir auch klar, was ich mit der Tiedsiepe machen würde... „Biikebrennen“ von Entrance (aus dem Album „Entrance“, 1985) ...denn auch der Anblick des Watts ist mir sehr vertraut und es gibt kaum ein Musikstück, welches das Empfinden dabei besser wiedergeben kann. So etwas nennt sich metaphorische Synästhesie. „Avalon“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Under A Violet Moon“, 1999) „The Stones Of Avebury“ von Chris Evans und David Hanselmann (aus dem Album „Stonehenge“, 1980) Beides zusammen lieferte die Grundidee für die ‚namenlose Insel‘. „Home Again“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Fires At Midnight“, 2001) Ende einer Reise ins Unbekannte. Wie beschreibt man so etwas? Indem man die Reisenden zurückkehren lässt... „All For One“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Ghost Of A Rose“, 2003) Dieser Song lieferte den Entschluss, die Insel von drei Hexen bewohnen zu lassen... „Dein Anblick“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“, 2002) ...und die müssen ja nicht unbedingt uralt, hässlich und pickelig sein. Es gibt da ja auch genau das Gegenteil! Sonstiges: Für die Bônday und für Dayla haben zwei Neo-Hexen quasi Modell gestanden und Lyonora´s ‚Vorlage‘ ist die frühere Sängerin einer bekannten Gothic-Band. Für meine Beschreibung der Stimme der Bônday habe ich mir das synästhetische Aussehen der Stimme von Candice Night ausgeliehen. Die Augen der Bônday sind meine Reminiszenz an ein liebenswertes Raubtier, bei dem ich immer das Gefühl nicht loswerde, dass es sich Menschen zur Erbauung und Versorgung hält. Die geschilderten magischen Techniken 243
durfte ich dem jeweiligen ‚Buch der Schatten‘ (BdS) der beiden Neo-Hexen entnehmen; ähnliches gilt auch für die Beschreibungen der Magie an sich. Die physikalischen Gegebenheiten der Tiedsiepe sind frei erfunden. Ihren Schilderungen liegen allerdings einerseits das seltsame Wasserspeicherverhalten des maltesischen Kalksteins und andererseits einige meiner früheren, nicht ungefährlichen Erlebnisse im Nordsee-Watt zu Grunde, so u. a. die Sache mit dem auflaufenden Wasser, dem mehrfach erlebten Geisternebel und die Geschichte mit dem Treibsand. Ferner werden wieder authentische Arbeitstechniken geschildert - teils europäischen Ursprungs, teils aber auch von den australischen Aborigines. Zusätzlich wird meine im Ausland gesammelte Erfahrung verarbeitet, dass die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft im Grunde immer genau bei den Menschen am größten ist, die Otto Normalverbraucher gemeinhin vorurteilsbehaftet ablehnt. Kapitel 5: Drei Prüfungen „Der fliegende Holländer“ von Achim Reichel (aus dem Album „Klabautermann“, 1977) Das war die Vorlage für Baldur auf der Kaufleute-Bark. Dessen Aufenthalt dort war eine gute Gelegenheit, den Leser mit dem Hintergrund dieses Fieslings vertraut zu machen. „Der Kurier“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“, 2002) Zu Baldur´s Hintergrund gehörten natürlich Mutter Gwylon und aus dem Kurier wurde Ravon, ihr Diener. Mit der Rolle dieser Figur hatte ich später im Hinblick auf Findus noch etwas vor. „Leb!“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und Schwefel“, 2004) „Shadow Of the Moon“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Shadow Of The Moon“, 1997) „Be Mine Tonight“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Shadow Of The Moon“, 1997) Alle diese Songs inspirierten mich bei der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Findus und Hexe Dayla, welche in Wirklichkeit seine Geliebte ist.
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„Merseburger Zaubersprüche“ von In Extremo (aus dem Album „Verehrt und Angespien“, 1999) Findus´ Lernen der Zaubersprüche findet sich hier wieder. „Die drei Prüfungen“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“, 2002) Findus musste irgendwie wieder von der Insel runter, damit es nicht langweilig wurde. Aber wie? Laut dem Schandmaul-Song zum Lösen von Aufgaben, welche ihm zwecks Erlangung von Selbsterkenntnis gestellt worden sind. Sonstiges: Ich mischte die dem BdS der beiden Neo-Hexen entnommenen magischen Techniken mit der Runenkunde und mit eigenen Naturerfahrungen - einfach schon deswegen, weil es sehr naheliegend war. Schwieriger wurde es bei Baldur - obwohl ich schon mal mit Leuten zu tun hatte, die an einer ‚dissozialen Persönlichkeitsstörung‘ litten, fiel und fällt es mir extrem schwer, mich in deren megaegoistische Denkweise hinein zu versetzen. Ich hoffe dennoch, dass mir das bei Baldur gelungen ist, zumal ich gerade in dem Fall auf das Mobbing-Tagebuch eines der Opfer von seinem Vorbild zurückgreifen konnte. Um es mal klar darzustellen - gegenüber so einem Ekel wie Baldur ist J. R. Ewing (aus der TV-Serie ‚Dallas‘) geradezu ein Heiliger. Kapitel 6: Der weiße Rabe „Frontiers-of-chaos“ von Software (aus dem Album „Chip-Meditation“, 1985) „Mountain Music“ von Eberhard Schoener (aus dem Album „Sky Music/ Mountain Music“, 1984) „Window“ von Jon Lord und Eberhard Schoener (aus dem Album „Windows“, 1974) Schon seit jeher habe ich ein Faible für elektronische Musik und für bestimmte klassische Werke. Vielleicht deswegen, weil ich da als Synästhetiker die Töne noch am klarsten ‚erkennen‘ kann. Wie dem auch sei, über das Internet beklagte sich eine Neo-Hexe, dass sie zwar gerne Fantasy lese, dass es da aber praktisch nur solche ‚Hau-Drauf‘-Stories ohne ‚echte‘ Magie gäbe. Ich rätselte dann herum, wie ich die entsprechenden Beschreibungen einbauen könnte und hörte dabei die o. a. Musikstücke. Die Titel beinhalten durchweg
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Elemente fraktaler Musik. Das erinnerte mich an meine viele Jahre zurückliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen im Bereich der Chaosmathematik und damit war dann eigentlich alles klar. Um zu erklären, wie die Magie in Norgast funktioniert, brauchte ich nur die Gesetzmäßigkeiten der Chaosmathematik zu den magischen Grundlagen zu machen. Und Findus musste das dann lernen. Welche gedanklichen Verrenkungen einem so etwas abverlangt, das war mir ja aus der Erfahrung mit der Mathematik noch gut in Erinnerung. „Shelter From The Storm“ von Manfred Mann´s Earthband (aus dem Album „Soft Vengeance“, 1996) „Halfbreed“ in der Fassung von Shania Twain (aus dem Album „For The Love Of Him“, 1999) Diese beiden Songs inspirierten mich zu dem kleinen Intermezzo über Dayla´s Verhältnis zu Findus und über Dayla´s Kindheit. Wobei die Schilderung aus Dayla´s Kindheit den tatsächlichen Reaktionen der ‚lieben Mitmenschen‘ auf meine eigene synästhetische Wahrnehmung und auf mein früheres Buch ‚Vernetzte Sinne - Über Synästhesie und Verhalten‘ entspricht... „Ghost Story“ von Paice-Ashton-Lord (aus dem Album „Malice In Wonderland“, 1976) „Der Wilde Wassermann“ von Achim Reichel (aus dem Album „Wilder Wassermann“, 2002) Bei den Songs erinnerte ich mich an die norddeutschen Sagen aus meiner Kindheit. Sagen über den Nöck und über Nis Puck. Wenn man mal einen wirklichen Sturm an der Nordsee so richtig aus erster Hand und oben auf dem Deich miterlebt hat, dann versteht man auch diese Sagen. Hier passte das sehr gut, um Baldur das Leben schwer zu machen. „Unda“ von Faun (aus dem Album „Licht“, 2003) „Die Sage“ von der Stern Combo Meissen (aus dem Album „Der Weite Weg“, 1979) Es gab ein Problem. Findus musste im Hinblick auf die unausweichliche, spätere Konfrontation mit Baldur perfekt mit einem Schwert umgehen können. Meine Gespräche mit Schwertkämpfern und Schmieden auf einigen Mittelaltermärkten (und auch eine erste Blutige-AnfängerGrundlektion im Schwertkampf) brachten mich aber zu der Überzeugung, dass da verdammt viel Know How und Übung 246
zugehört. Das geht nicht ‚mal eben so‘. Ich danke diesen Personen daher an dieser Stelle für ihre Mühen mit mir und für ihr Verständnis. Mögen sie es mir nachsehen, wenn ich etwas falsch wiedergegeben haben sollte. Im Roman musste die Schwertkampfausbildung schneller gehen - wesentlich schneller. Wie also schindet man Zeit raus, die man nicht hat? ‚Unda‘ und ‚Die Sage‘ brachten mich auf die Nebelsenke, die dann einem veränderten Zeitablauf unterlag - beliebig viel Zeit für die Vervollkommnung von Findus´ Fähigkeiten. Einflüsse verschiedener Sagen (die nordische Mythologie – und hier insbesondere die Völuspá -, die Sage vom Hübichenstein bei Bad Grund im Harz, die Sage vom Zwerg aus den Schweckhäuser Bergen bei Göttingen u. a.) sind dabei nicht zu übersehen. Insbesondere die Saga der nordischen Götter hat es mir schon seit jeher angetan, zumal sich mein aus Skandinavien stammender Familienname wahrscheinlich auf die Wurzel ‚Frowe Urd‘ (eine der drei Nornen - die für die Vergangenheit Zuständige) zurückführen lässt. Und schließlich flossen in Findus´ Ausbildung zum Schwertkämpfer noch meine eigenen früheren Erfahrungen mit ostasiatischen Kampfkünsten mit ein. „3 Black Crows“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Ghost Of A Rose“, 2003) „Walpurgisnacht“ von Schandmaul (aus dem Album „Kunststück“, 2005) „The Raven“ von Alan Parsons Project (aus dem Album „Tales Of Mytery And Imagination By Edgar Allan Poe“, 1975) Die Tierverwandlung - eine durch Solanazeendrogen hervorgerufene Illusion - findet sich überall in den alten Märchen, Sagen und Überlieferungen. Sie bot meiner Romanfigur eine elegante Möglichkeit, um relativ schnell große Entfernungen zurücklegen zu können. Aber welches Tier? Zunächst dachte ich an die Krähe, aber das erschien mir zu platt - war das doch schon Baldur´s bevorzugte Gestalt. Schandmaul und Alan Parsons Project lieferten die Lösung des Rätsels: einen Raben. Und weiß musste der allein schon deshalb sein, weil diese Farbe eben im westlichen Kulturkreis mit guten Absichten und Reinheit assoziiert wird.
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Sonstiges: Auch hier werden wieder einige magische Techniken (Runen und magischer Kreis), wie sie heute in den einschlägigen Kreisen praktiziert werden, recht detailliert beschrieben. In diesem Kapitel gibt es ganz bewusst heftige Seitenhiebe gegen die ignorante Vorgehensweise und Realitätsferne heutiger Politiker und Wirtschaftsbosse. Macht man das in einem Sachbuch, dann ist man angreifbar. Macht man das aber in einem fiktiven Roman, dann ist das künstlerische Freiheit... Paradox, nicht wahr? Honny soit qui mal y pense! In das Verhältnis zwischen Norgast, der Nebelsenke und der von Findus erfahrenen Anderswelt ist in sehr freier Form die Everett-Hypothese (auch: ‚Viele-Welten‘oder ‚Viele-Historien‘-Hypothese) aus der Quantenphysik mit eingeflossen. Die Ablehnung, die Dayla in ihrer Kindheit seitens ihrer Mitmenschen entgegen geschlagen ist, stützt sich neben persönlichen Erfahrungen nicht zuletzt auch auf gewisse unsachliche Kritiken an meinem Sachbuch ‚Vernetzte Sinne‘ - eben meine ganz eigene Art von Rache an den besserwisserischen Kritikern, die sich abfällig über etwas äußern, bei dem sie schon aus rein biologischen Gründen gar nicht mitreden können! Kapitel 7: Der Geist des Waldes „Salvation On Sand Hill“ von Sammy Hagar (aus dem Album „Marching To Mars“, 1997) Diesem Stück entnahm ich die Idee mit den Schlangen. Da Schlangen im allgemeinen mit negativen Gefühlen assoziiert werden (Warum eigentlich? Die fühlen sich an wie Leder und sind überhaupt nicht glitschig! - Wieder nur so ein paar verdammte Vorurteile!), ergab sich daraus ein wunderbares Stilmittel für eine düstere Stimmung. „Präludium und Fuge g-moll BWV 558“ von Werner Jacob (aus dem Album „J. S. Bach: Die Arnstädter Orgelchoräle“, 1985) Klassisch-sakrale Musik und ganz speziell dieses Stück brachten mich auf den Gedanken, die im Roman dargestellten Beschwörungen und Zaubersprüche durch Abwandlungen der Texte aus einem christlichen Gesangbuch zu realisieren. „Tagelied“ von Faun (aus dem Album „Renaissance“, 2005) „Iyansa“ von Faun (aus dem Album „Renaissance“, 2005)
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Das Bannen des Dämons im Myrkviör wird zwar unmittelbar von Findus durchgeführt, wäre aber ohne Dayla´s Macht im Hintergrund niemals glaubhaft darstellbar gewesen. Letztlich ist dies die große Stunde der Hexe - inspiriert durch zwei Liedtexte. „Regenbogenkinder“ von Godewind (aus dem Album „Regenbogenkinder“, 1989) Dieser Song gab mir die Hinweise zum ‚Wie‘, was das Bannen des Myrkviör-Dämons betraf. „Das Duell“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und Schwefel“, 2004) „Born And Raised In Black And White“ von Highwaymen (aus dem Album „Highwayman 2“, 1990) „Der Albatros“ von Karat (aus dem Album „Albatros“, 1979) Die Anregungen für den Kampf zwischen Findus und Baldur entnahm ich diesen Stücken. „March The Heroes Home“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Under A Violet Moon“, 1999) „Now And Then“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Under A Violet Moon“, 1999) Der Dämon im Myrkviör war die eine Sache - die Seelen der Toten eine andere. Durch die o. a. Songs bin ich überhaupt erst darauf gekommen, die Letzteren eine Rolle spielen zu lassen. Und zwar gleich eine in doppelter Hinsicht wichtige Rolle: Sind es doch die Toten, die den Kampf mit Baldur entscheidend beeinflussen und sind sie es doch auch, die eine Überleitung zu den seltsamen Orten und zur Befreiung Malweýn´s gestatten - womit die zweite Prüfung abgehakt ist. „Das Macht Doch Nichts Das Merkt Doch Keiner“ von Hans Scheibner (aus dem Album „Das Macht Doch Nichts Das Merkt Doch Keiner“, 1979) „Das Narrenschiff“ von Reinhard Mey (aus dem Album „Flaschenpost“, 1998) „Heimatlos“ von Reinhard Mey (aus dem Album „Einhandsegler“, 2000) Als ich noch am Überlegen war, wie ich nun weiter mit Baldur zu verfahren hatte, da hörte ich diese drei durch und durch politischen und nach wie vor topaktuellen Lieder. Damit war dann alles klar, was Baldur´s weiteren Weg betraf. 249
Ähnlichkeiten dieses Weges mit den Schnüffelpraktiken eines gewissen Innenministers, mit dem Vorgehen der Medien und mit den Allmachtsfantasien vom Präsidenten einer gewissen großen Industrienation sind - natürlich! - nur rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt... „Reich der Träume“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und Schwefel“, 2004) Weitab von Raum und Zeit spürst du die Macht, spürst du die Kraft der Ewigkeit - exakt dieser Refrain gab mir den Hinweis mit der Geomantie, mit den Ley-Linien bzw. Drachenlinien. Könnte doch eine sehr bequeme (und schnelle) Art des Reisens sein, wenn man sie zu nutzen versteht. „Dark Chest Of Wonders“ von Nightwish (aus dem Album „Once“, 2004) „Isis“ von Faun (aus dem Album „Licht“, 2003) Beide Stücke behandeln in gewisser Weise das gleiche Thema - nämlich magische Verwandlungen. Das führte zu dem Einfall, Malweýn gebannt in Form eines Baumes auf seine Befreiung warten zu lassen. Diese Idee kam mir schon in einem sehr frühen Stadium - lange bevor ich mit der eigentlichen Geschichte begann. Sonstiges: Das im Roman beschriebene orangefarbene Licht der Leylinien kommt nicht von ungefähr - ihm liegen physikalische und spirituelle Gegebenheiten zu Grunde. Ein Erdentag dauert exakt 23 Stunden und 56 Minuten (was letztlich die Notwendigkeit von Schaltjahren bedingt). Nimmt man den Kehrwert davon, so erhält man eine physikalische Schwingung. In den hörbaren Bereich hinein oktaviert entspricht sie dem Ton ‚g‘ - dem Ton, der insbesondere im buddhistischen Glaubensraum Gebete und Meditationen begleitet. Oktaviert man diesen ‚Erdenton‘ noch weiter, so erhält man die (Licht-) Frequenz von 700nm - ein leuchtendes Rotorange, wie es bspw. buddhistische Mönche bei ihren Roben bevorzugen. Daher stammt dann auch meine Farbgebung des Lichts der Drachenlinien. Kleine Randanmerkung: Oktaviert man das ‚g‘ noch höher, dann erhält man die Eigenresonanz menschlicher DNS - seltsam, nicht wahr? Die Formvorlage für den uralten Baum, in den 250
Malweýn gebannt worden ist, lieferte wieder eine Süntelbuche. Sie wächst unter Naturschutz stehend in meinem Wohnort an sehr versteckter Stelle und widersetzt sich seit Jahren ausgesprochen erfolgreich jedem Versuch, auf einem Foto abgebildet zu werden. Auch hier gibt´s mal wieder Seitenhiebe satt. Die Vorlage für Baldur´s Benehmen lieferte das Verhalten eines gewissen Präsidenten einer gewissen großen Industrienation. Glaubhaften Gerüchten zufolge soll der gewisse Präsident ja primär auf seine Berater Jack Daniels und Johnny Walker hören. Baldur´s nach der Konfrontation mit Findus in Gang gesetzte Maßnahmen haben natürlich nur rein zufällig Ähnlichkeit mit den ‚vorbeugenden Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung‘ eines gewissen Innenministers. Auch das ‚Wie-funktioniertunsere-Wirtschaft‘ bekommt sein Fett ab, weil es ja doch den einen oder anderen der Industrie mehr als dem Volk verbundenen Politiker geben soll - sei es durch Beraterverträge, Seilschaften, Aufsichtsratsposten, Polittourismus, Schmiergelder, Bordellaufenthalte oder wie auch immer. Findus´ Erfahrung beim Bannen des Dämons liegt meine eigene Erfahrung mit einem Nahtod-Erlebnis zugrunde. Allerdings habe ich in der Geschichte vieles aus dieser Erfahrung in sein Gegenteil verkehrt. Kapitel 8: Der Stein des Lebens „Cool Water“ von Marty Robbins (aus dem Album „Gunfighter Ballads And Trail Songs“, 1959) „El Paso“ von Marty Robbins (aus dem Album „Gunfighter Ballads And Trail Songs“, 1959) „A Horse With No Name“ von America (aus dem Album „A Horse With No Name And Other Hits“, 2004) Drei Songs, die in der Wüste spielen. Das brachte mich auf den Gedanken, meine eigenen Wüsten-Reiseerfahrungen zumindest rudimentär in die Geschichte mit einfließen zu lassen. Die Wüste - das ist eine Landschaft, die niemanden unberührt lässt. Karg und lebensfeindlich, aber von immer wieder wechselndem Aussehen. Entweder man will nie wieder hin oder aber die Sehnsucht danach verlässt einen nicht mehr. Bei mir Letzteres.
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„The Jouney“ von Rick Wakeman (aus dem Album „Journey To The Centre Of The Earth“, 1974) „Reise Zum Mittelpunkt Der Erde“ von den Puhdys (aus dem Album „Puhdys [1]“, 1974) Den beiden Vertonungen der gleichnamigen Jules-VerneGeschichte entnahm ich die Idee mit der Höhle und mit den Kristallen. Ich habe ein Faible für Höhlen! „Frigga´s Web“ von Hagalaz´ Runedance (aus dem Album „Frigga´s Web“, 2002) Das Stück brachte mir den Einfall, Findus die Ley´s von oben ähnlich einem Spinnennetz sehen zu lassen. An dieser Stelle gilt mein ganz besonderer Dank einer Person, die sich die Bezeichnung ‚Hagia‘ wirklich ernsthaft verdient hat und die mich schon frühzeitig auf die Musik von Hagalaz´ Runedance aufmerksam machte. „Open Source“ von den Magic Mushrooms (aus dem Album „OpenMusic-Sampler“, 2001) Hier war es zur Abwechslung mal nicht die Musik (obwohl die auch sehr gut ist!), sondern vielmehr der Name der Band, der mich Findus eine kräftigende und bewusstseinserweiternde Pilzmahlzeit servieren ließ. „Chant“ von White Water (aus dem Album „Celtic Abbey“, 1998) „Laguz - Within The Lake“ von Nebelhexe (aus dem Album „Laguz - Within The Lake“, 2004) Beide Titel führten zu dem Einfall, Findus einen Abstecher bei seinen alten Bekannten Bewok und Snofork machen zu lassen. Hinsichtlich der ‚Nebelhexe‘ gilt der o. e. Hagazussa wieder mein spezieller Dank. „Indian Reservation“ von Paul Revere & The Raiders (aus dem Sampler „Nur No. 1 Hits“, 1996) Dem Stück entnahm ich die Anregungen für die Schilderung der miesen Lebensverhältnisse in Torboog. „Exxon Valdez“ von Achim Reichel (aus dem Album „100% Leben“, 2004) Dieser Titel lieferte die Vorlage zur Beschreibung der Mannschaft auf der ‚Königin von Fucunor‘. „Das Narrenschiff“ von Karat (aus dem Album „Schwanenkönig“, 1980) „Das Narrenschiff“ von Reinhard Mey (aus dem Album „Flaschenpost“, 1998) 252
„Rat Race“ von Bob Marley & The Wailers (aus dem Album „Babylon By Bus“, 1978) Die beiden Narrenschiff-Stücke, die absolut gar nichts miteinander zu tun haben, und Bob Marley´s Ausführungen - das waren die Aufhänger zur Beschreibung des Systems der Kaufleute; ergänzt um das, was ich im Laufe meiner Berufstätigkeit so von verschiedenen deutschen Handelsketten mitbekommen habe (insbesondere vom Hochfinanzbereich) und was vom deutschen Gesundheitswesen bekannt ist. „Soltwind“ von Speelwark (aus dem Album „Freut Euch Des Nordens“, 1993) Musik zum Rekapitulieren synästhetischer Erfahrungen - hier flossen meine Empfindungen eines Spätwinters auf Norderney mit ein. „Hamborger Veermaster“ von Achim Reichel (aus dem Album „Dat Shanty Alb´m“, 1976) „Das Störtebekerlied“ von Achim Reichel (aus dem Album „Klabautermann“, 1977) „Herren der Winde“ von Schandmaul (aus dem Album „Kunststück“, 2005) Das waren die ‚Aufhänger‘ für die Seereise und für das Zusammentreffen von Kaufleuten und Piraten. „Twischen Twee Meer´n“ von Godewind (aus dem Album „Schattenspiele“, 2001) Das Lied beeinflusste mich bei der Beschreibung der Insel Fucunor. „Drachenreiter“ von Furunkulus (aus dem Album „Furunkulus – Live“, 2005) „Flug auf dem Glücksdrachen“ von Klaus Doldinger (aus dem Album „Die unendliche Geschichte“, 1984) Zuerst wollte ich Findus so Nibelungen-Siegfried-mäßig den Drachen von Fucunor besiegen lassen, obwohl mir das ziemlich banal erschien. Beim Hören der beiden Titel fiel mir dann aber der Film ‚Dragonheart‘ ein - und warum eigentlich nicht? Lassen wir Findus doch einen Pakt mit dem Drachen schließen. Den Drachen würde ich bestimmt später noch irgendwo verwenden können.
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Sonstiges: Für die Darstellung der Wüste griff ich auf meine Reiseerfahrungen in der Sonora-Wüste im Süden Arizona´s zurück. Bei der Insel Fucunor gibt´s Anklänge an Island. Hier habe ich eigene Reiseerfahrungen vergangener Zeiten mit einfließen lassen. Einerseits hat die Wüste es mir angetan und andererseits muss ich selbst mindestens einmal im Jahr Schiffsplanken unter den Füßen haben. Wüste und See sind mir daher beide vertraut - und einander trotz aller Gegensätze in gewisser Hinsicht auch irgendwo ähnlich. Bei der unrühmlichen Rolle der Kaufleute habe ich mich an sehr realen Gegebenheiten - nämlich am Vorgehen großer deutscher Handelsketten und an der Struktur des deutschen Gesundheitssystems, gestützt durch die Tagespolitik - orientiert. Beides gemischt war es das perfekte und über allen Gesetzen stehende Syndikat, welches nur noch auf die Norgast-Gegebenheiten umgeschrieben werden musste. Das, was als ‚Stein des Lebens‘ bezeichnet wird, symbolisiert auf eine gewisse Weise die Everett´sche Many-WorldsHypothese, welche auch das von mir persönlich bevorzugte Weltbild darstellt. Die Folgerungen daraus sind die Informationen, die Findus bekommt. Kapitel 9: Forst der Entscheidung „In Perfect Harmony“ von Within Temptation (aus dem Album „Mother Earth“, 2003) Um Findus´ weiteren Weg nachvollziehbar zu machen, musste zuerst das Rätsel seiner Herkunft gelöst werden: ‚A little child was born and raised deep in the forest on a hidden place. Mother never saw his face.‘ Exakt das passte auf Findus. „Wat Jeht Uns Die Sintflut Ahn?“ von BAP (aus dem Album „Comics & Pin-Ups“, 1999) Es fehlte noch die Information, wie Baldur zu dem wurde, was er ist. Der Song von BAP lieferte die Begründung: Die Alles-Nur-Für-Uns-Einstellung der Baldur beeinflussenden Finanzmächte im Hintergrund. „Comandante Che Guevara“ von Wolf Biermann (nur als Vinyl-Single erschienen, 1973)
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Findus als Gegenpart von Baldur sollte gerechter als Baldur sein. Ein offener Kampf schied aber aus, um Norgast´s ohnehin schon arg gebeutelte Bevölkerung nicht noch mehr in Mitleidenschaft zu ziehen. Dennoch schwebte mir irgend so etwas Robin-Hood-Ähnliches vor. Die Vorlage zum Guerillakrieg lieferte schließlich der Song, der den von US-Amerikanern erschossenen Arzt Ernesto Guevara de la Serna, genannt ‚Che‘, zum Inhalt hat. „Vogelfrei“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“, 2002) „Die zwei Brüder“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“, 2002) „Free The People“ von den Dubliners (aus dem Album „The Wild Rover“, 1998) Drei Songs inspirierten das, was daraufhin im Forst des Bomenhau ablaufen sollte. Nun sollte Findus allerdings nicht zur billigen Robin-Hood-Kopie verkommen. Als Vorbild für sein Handeln nahm ich deshalb die positiven Aspekte des Walisers Henry Morgan, eines ziemlich blutrünstigen, früheren Karibik-Piraten. Der war daneben aber auch ein genialer Stratege und in gewisser Weise seiner Zeit weit voraus: War er doch trotz aller Brutalität der Erste überhaupt, der für seine Leute so etwas wie ein allgemein gültiges Prämiensystem und eine Art von Sozialversicherung einführte. „Self Portrait“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Under A Violet Moon, 1999) Die düstere Stimmung des Songs bestimmte den doch recht traurigen Showdown im Bomenhau. Sonstiges: Für die Macht im Hintergrund standen der politische Lobbyismus und die Realitätsferne einiger heutiger Großindustrien Pate. Berufsverbote haben in Deutschland eine jahrzehntelange Tradition. Früher offen, heutzutage in verdeckter Form zugunsten der o. e. Großindustrien. Immer getreu dem Motto, dass drittklassige Vorgesetzte nur fünftklassige Untergebene einstellen und dass nur offizielle Papiere die Fähigkeiten eines Menschen beschreiben können – und völlig ignorant bezüglich etwaiger bisheriger Erfolge der Betroffenen. Der Versuch, so etwas zu installieren und die seltsamen Blüten hinsichtlich des sehr realen und lukrativen 255
Handels mit gefälschten Dokumenten spiegeln sich hier wieder. Auch der typisch deutsche - oder sollte ich besser sagen eurokratische? - Verwaltungswahnsinn wird auf´s Korn genommen und liefert die Vorlage dafür, wie Baldur Norgast ‚totverwaltet‘. Das Kriminalisieren der Bevölkerung mit dem sich anschließenden ganz legalen ‚Abkassieren‘ ist bei den Praktiken einiger Stadtverwaltungen abgeschaut worden, welche zu wenig Parkraum in den Innenstädten schaffen und statt dessen lieber Gebühren über Strafmandate einziehen - weil das mehr Einnahmen bringt. Kapitel 10: Das magische Geflecht „Creek Mary´s Blood“ von Nightwish (aus dem Album „Once“, 2004) Obgleich der Song mit dem ‚Trail Of Tears‘ ja eigentlich ein gern verschwiegenes und äußerst trauriges Stück amerikanischer Geschichte behandelt, vermittelt er am Ende doch Hoffnung: ‚Our spirit was here long before you. Long before us. And long will it be after your pride brings you to your end.‘ Dabei fiel mir der Ausspruch Winston Churchills ein, dass Politiker auf die nächste Wahl und Staatsmänner auf die nächste Generation schauen. Ich beschloss, Findus zum Staatsmann zu machen und Norgast umkrempeln zu lassen. „Jim Bridger“ von Johnny Horton (aus dem Album „Johnny Horton‘s Greatest Hits“, 1987) „Leb!“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech & Schwefel“, 2004) Beide Lieder beschreiben, wie auch ‚kleine‘ Leute nur aufgrund ihrer Erfahrung und ohne besondere Qualifikation große Aufgaben zu meistern in der Lage sind. Findus sollte es genauso ergehen... „Die Freie Republik“ von Hannes Wader (aus dem Album „Volkssänger“, 1975) ...aber er würde hart und mit anderen zusammen darum kämpfen müssen, denn von nichts kommt nichts. „Sally-Mary“ von Hans Hartz und Dan McCafferty (aus dem Album „Neuland Suite“, 1985) Das war der Aufhänger für das leicht abgekühlte Verhältnis zwischen Findus und der Bônday.
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„Home Again“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Fires At Midnight“, 2001) Bei dieser Musik kam ich auf den Gedanken, Findus durch Draconis nach Helgenor fliegen zu lassen. „Crowning Of The King“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Fires At Midnight“, 2001) Eine formelle Krönung des Königs schwebte mir zwar nicht vor, aber um Norgast umzukrempeln, musste Findus schon der oberste Herrscher werden. Dazu bedurfte es der Anerkennung aller und die erlangte er, indem er das Attentat überlebte. „Mother Earth“ von Within Temptation (aus dem Album „Mother Earth“, 2003) Der Text dieses Songs veranlasste mich, Findus und die Bônday das magische Geflecht ‚reparieren‘ zu lassen – mit den entsprechenden Auswirkungen auf alle Anderswelten. „Sonne“ von Letzte Instanz (aus dem Album „Ins Licht“, 2005) Und diesem Stück entnahm ich die Anregungen für den Verlauf der ‚Reparatur’. Sonstiges: Zur Beschreibung von Helgeboog beschäftigte ich mich mit den überaus funktionellen Bauprinzipien mittelalterlicher Städte. Helgeboog wurde auf diese Weise zu einer Art ‚Schnittmenge’ der Altstädte von Freiburg i. B., Frankfurt/M., Nürnberg und Brügge. Fehlte noch der politische Teil. Was macht man mit einem Zwei-Klassen-Staat, in dem alle Besitztümer ungerecht verteilt sind? Für den Roman machte ich mir die Sache einfach. Ich blickte mal über Deutschland´s Grenzen hinaus. Und ich nahm mir ein paar Punkte aus den Wahlprogrammen der diversen Politiker – ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit. Und ich sah mir das kroatische Steuersystem an. Dann rechnete ich etwas mit den Zahlen, die das ‚Statistische Bundesamt‘ zur Verfügung stellt. Was soll ich groß sagen – es rechnete sich... Daraus wurde dann (vereinfacht) das Norgast-System. Natürlich gibt es bei einem solchen System Verlierer und Gewinner, nämlich Verlierer in der Oberschicht und Gewinner beim einfachen Volk. Und natürlich werden die Verlierer über ihre Rolle nicht gerade erbaut sein. Doch im Roman war ja jemand an der Regierung, der die Interessen des ‚kleinen Mannes von der Straße‘ vertrat. 257
Gewissermaßen unterscheidet das unsere so genannte Realität von der Fiktion. Bleibt schließlich noch die ‚Reparatur’ des magischen Geflechts. Ihr liegen Schilderungen des Erlebens der metaphorischen Synästhesie zu Grunde. Kapitel 11: Anderswelt „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ von Franz Josef Degenhardt (aus dem Album „Liederbuch“, 1978) Das uralte Schmuddelkinder-Lied war der Aufhänger für die Kindheit des Jungen, der Baldur´s Geist in der Anderswelt beherbergen sollte – und auch der Rest des Songs war in gewisser Weise richtungsweisend. „Boss Man” von Gordon Lightfoot (aus dem Album „Did She Mention My Name“, 1968) Dieses Lied zeigt, wie Chefs Arbeitnehmer behandeln können. Ich verwendete es als Gedankenstütze, um das Bernd/Baldur-Regime zu verdeutlichen. „Leben so wie ich es mag“ von Volker Lechtenbrink (aus dem Album „Leben so wie ich es mag“, 1980) „Reasons To Quit” von Merle Haggard und Willie Nelson (aus dem Sampler „Country Trucker Songs“, 1993) Zwei Tracks, die das Aufbegehren von Otto Normalverbraucher symbolisieren. Im Roman erfolgte dieses Aufbegehren in der Anderswelt als Folge der Reparatur des magischen Geflechts und war der Anlass dafür, Bernd/Baldur aus der Arbeitswelt heraus zu nehmen. „We Are Going To Ibiza“ von Vengaboys (aus dem Sampler „Summer Dreams“, 2001) Normalerweise höre ich mir die Pop-KommerzEinheitsware gar nicht an. Über den Song bin ich daher auch eher zufällig ‚gestolpert’ und dabei kam mir die Idee, Bernd/Baldur seinen Lebensabend auf einer Sonneninsel verbringen zu lassen. „The System Of Doctor Tarr And Professor Feather” von Alan Parsons Project (aus dem Album „Tales Of Mystery And Imagination By Edgar Allan Poe”, 1975) Diesem Stück entnahm ich die Idee, Bernd/Baldur sein Leben mit zerrüttetem Geist beenden zu lassen – wobei aber absichtlich offen gelassen wird, ob er im Moment des Todes noch dem Shâgun zum Opfer fällt. Denn wer weiß
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– vielleicht wird ‚Norgast’ ja wider Erwarten zum Erfolg und dann brauche ich die Figur möglicherweise noch einmal... Sonstiges: Das Schlusskapitel ist in vielerlei Hinsicht authentisch. Da ist noch mal mein eigenes Nahtod-Erlebnis vom Juni 1988. Mit dem beschrieb ich Baldur´s Ende in Norgast. Die Art des Aufstiegs von Bernd/Baldur ist usus in der Arbeitswelt. Sehr viele Unternehmen – mir selbst sind auch einige bekannt – kultivieren geradezu ein Klima, in dem dissoziale Persönlichkeiten gefördert werden. Mit den Folgen, dass man verdiente Mitarbeiter wegekelt und dass drittklassige Vorgesetzte fünftklassige Untergebene neu einstellen: Hauptsache, der Untergebene kann mit seinem Wissen dem Chef nicht gefährlich werden. Die beschriebenen Mobbingund Bespitzelungs-Aktivitäten habe ich selbst erlebt – deutsches Antiarbeitnehmerrecht macht´s möglich. Zudem wurde mir das Mobbing-Tagebuch eines der Opfer von Bernd/Baldur´s realer Vorlage zur Verfügung gestellt: Material im Überfluss. Die Vorlagen für die Sonneninsel im blauen Meer waren Ibiza und Mallorca. Die Erwähnung des Déjà-vu´s ist wieder ein kleiner synästhetisch geprägter ‚Seitenhieb’, denn Déjà-vu´s scheinen bei uns Synästhetikern überdurchschnittlich häufig aufzutreten. Schließlich bleibt noch die Tatsache zu erwähnen, dass viele Mobbing- und Bossing-Opfer in psychischer Behandlung enden. Hier kehrte ich das um, so dass es völlig realitätsfremd mal auf den Verursacher zurück fällt. Und zu allerletzt wird mit dem Auslöser des Ganzen – nämlich dem von Bernd/Baldur erblickten Buchtitel – noch der Kreis zu den Eingangsbemerkungen über Hugh Everett´s quantenmechanische Many-Worlds-Hypothese geschlossen.
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Anhang II: Kleine Runenkunde Weißt du zu ritzen? Weißt du zu raten? Weißt du zu färben? Weißt du zu fragen? Weißt du zu wünschen? Weißt du zu weihen? Weißt du zu schicken? Weißt du zu schlachten? (Runenweissagung aus „Die Edda: Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Gemanen“)
Runen sind eines der zentralen Elemente in ‚Norgast’. Die im Roman dargestellte Magie wird durch Runen ausgeübt. Bei den im Text angeführten Zaubersprüchen steht der Name der Rune für ihre ‚normale’ Bedeutung, während die Bezeichnung rückwärts ausgesprochen die Bedeutung der umgekehrten Rune (der Sturz- oder Wenderune) symbolisieren soll. Um dem Leser diesbezüglich den Einstieg und das Verständnis der seitens der Romanfiguren eingesetzten Magie zu erleichtern, sei hier eine kleine, rudimentäre Runenkunde angeführt. Diese mag vielleicht nicht ganz exakt den historischen Tatsachen entsprechen (einige stilistische Ausschmückungen waren unumgänglich), doch habe ich mich bemüht, so authentisch wie irgend möglich zu bleiben. Runen müssen lt. der nordischen Überlieferungen vor ihrer Verwendung magisch aufgeladen werden, um wirksam zu sein. Dazu gibt es verschiedene Verfahren. Eine noch heute tatsächlich gebräuchliche Methode wurde im Kapitel ‚Der weiße Rabe’ von Dayla angewandt. Normalerweise werden Runen in das entsprechende Holz oder in den zugehörigen Stein, notfalls auch in einen Knochen, geritzt. Alternativ dazu ist aber auch überliefert, dass Runen bspw. mit (dem eigenen) Blut auf Leder gemalt worden sind. Runen wurden sowohl zur Divination (Weissagung) eingesetzt wie auch als Amulett oder als Talisman, u. a. im Rahmen von Ritualen, verwendet. Unter einem Amulett versteht man einen unmittelbar am Körper (z. 260
B. als Kette oder Schmuckstück direkt auf der Haut) getragenen Gegenstand. Talismane hingegen sind als Schmuckstücke an der Kleidung befestigt oder aber als Zierrat von Wohnräumen zu finden (wie bspw. das Hufeisen als Glücksbringer). Sie können allerdings auch auf der Haut getragen werden. Talismane verwendet der Träger meist, um etwas (z. B. Glück oder Schutz) anzuziehen, während Amulette häufig der Abwehr (bspw. von Schaden) dienen. Bei der Divination wurden bzw. werden mit Runen verzierte Gegenstände (Ritualstäbe, Knochen, Steine) geworfen. Beim Runenwurf können drei Zustände erreicht werden, nämlich die korrekt liegende Rune (Begriffsrune), die mit der Bildseite nach unten liegende oder lageunabhängig gleich aussehende Rune (Spiegelrune) und lageverkehrte Runen (Sturz- bzw. Wenderunen). Die Symbolik richtet sich dann nach der Lage. Spiegelrunen bleiben unbeachtet, wenn ihre Bildseite nicht zu sehen ist. Begriffsrunen entsprechen der ursprünglichen, ‚magischen’ Bedeutung (s. u.), während bei Lageabweichungen durch Sturz- und Wenderunen auch eine umgekehrte Symbolik auftreten kann. Auf diese Weise gestattet der Runenwurf einen recht breiten Interpretationsspielraum. Daneben gibt es noch die so genannten Binderunen, welche die Kräfte von zwei oder mehr Runen miteinander kombinieren sollen. Um eine Binderune zu erstellen, wird üblicherweise ein (ggf. mehrachsiges) Kreuz gezeichnet, dessen Achsen mit den einzelnen Runensymbolen zu versehen sind. Eine zu trauriger Berühmtheit gelangte Binderune war bspw. das Hakenkreuz der Nazis, welches zwei Sowelu-Runen in einer Binderune vereinte. Das Runenalphabet selbst wird – abgeleitet von seinen Anfangsbuchstaben - als Futhork oder Uthork bezeichnet. Überliefert sind verschiedene Runenalphabete, nämlich die bei einschließlich Gibor endenden und die etwas umfangreicheren Formen. Man differenziert heute herkunftsbedingt zwischen mindestens sieben (mitunter auch mehr) Futhorks. Die Futhorks unterteilen sich selbst wieder in die Runenfamilien, die Aettir, bei denen i. d. R. meist sieben bis neun Runen ähnlicher oder einander ergänzender Bedeutungen zusammen gefasst sind. Der Zahl Neun kommt 261
dabei noch eine besondere Bedeutung seitens der germanischen Mythologie zu. Nachfolgend ist eine umfangreichere, historisch jedoch nicht gesicherte Form vom Runenalphabet dargestellt, ergänzt um die naturreligiösen bzw. ‚magischen’ Symboliken (soweit bekannt). Bei dem assoziierten Baum und der assoziierten Pflanze dürften die pharmakologischen Wirkungen dieser Naturstoffe bzw. die Tauglichkeit für Werkzeuge u. ä. eine entscheidende Rolle gespielt haben. Für die Symboliken und Bedeutungen gibt es verschiedene Interpretationen. Hier sind die wohl Gängigsten davon aufgeführt. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Far, Fehu, Feoh. Herkunft: Das Rind als Symbol des Wohlstands; nach einer anderen Deutung das Feuer als Symbol für Wärme. Geburtszeitraum: 22.12. – 12.1. Assoziierter Baum: Holunder (volksmedizinisch u. a. gegen Fieber eingesetzt) und Erle (volksmedizinisch u. a. gegen Entzündungen eingesetzt). Assoziierte Pflanze(n): Brennessel (volksmedizinisch u. a. gegen Schwäche eingesetzt). Assoziierter Stein: Moosachat (ayurvedisch zur Förderung der Aufnahmebereitschaft) und Feuergranat (ayurvedisch zur Stärkung der köpereigenen Abwehr). Assoziierte Farbe: Hellrot. Sprachliche Entsprechung: F Begriffsrune: Spiritueller Reichtum, Selbstlosigkeit, Weisheit, Nächstenliebe. Weitergehende Bedeutung: Alles ist im Fließen. Die FeuerRune neutralisiert die Furcht vor Veränderung. Sie bringt Gelassenheit und Mut zur Beständigkeit. Soll als Amulett vor Krankheit und Leid schützen und als Talisman zu finanziellem Erfolg verhelfen. Wenderune: Seelische Störungen und fehlende Ausgeglichenheit. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Ur, Uruz.
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Herkunft: Der Auerochse als Symbol freier, ungebundener Stärke. Geburtszeitraum: 13.1. – 3.2. Assoziierter Baum: Birke (volksmedizinisch u. a. gegen Entzündungen eingesetzt). Assoziierte Pflanze(n): Sumpfmoos (volksmedizinisch u. a. zur Desinfektion und gegen Fäulnis eingesetzt) und Kapuzinerkresse (volksmedizinisch u. a. gegen Gelenkbeschwerden eingesetzt). Assoziierter Stein: Karfunkel (keltogermanisch zur Stärkung von Körper und Geist) und Bergkristall (soll die Harmonie verstärken, Bedeutungsherkunft unbekannt). Assoziierte Farbe: Dunkelgrün. Sprachliche Entsprechung: U Begriffsrune: Ausgeglichene, gerechte Stärke in Kenntnis eigener Schwächen. Weitergehende Bedeutung: Erkenne Dich selbst. Die Rune stärkt die Selbsterkenntnis und schützt vor falschen Entscheidungen. Soll als Talisman die Intuition verbessern und als Amulett vor Fehlentscheidungen schützen. Wenderune: Unausgeglichenheit durch Unkenntnis der (eigenen) Schwächen. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Thorn, Thurisaz, Dorn, Turisaz. Herkunft: Der Dornbusch als Schutzsymbol. Nach einer anderen Deutung auf die Riesen (Thursen) aus der nordischen Mythologie zurück gehend. Geburtszeitraum: 4.2. – 25.2. Assoziierter Baum: Eiche (volksmedizinisch u. a. gegen Entzündungen und Vergiftungen eingesetzt; bekannt für besonders widerstandsfähiges Holz). Assoziierte Pflanze(n): Schwarzdorn, Weißdorn (beide volksmedizinisch u. a. gegen Verdauungsbeschwerden und zur innerlichen Desinfektion eingesetzt), Lauch bzw. Knoblauch (volksmedizinisch u. a. als Tonikum eingesetzt). Assoziierter Stein: Saphir (ayurvedisch zur Nervenstärkung). Assoziierte Farbe: Hellrot. Sprachliche Entsprechung: Th
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Begriffsrune: Macht durch innere Kraft, Wahrheitssuche durch spirituelle Autorität. Weitergehende Bedeutung: Bleibe Dir treu. Die Rune weist den richtigen Weg, indem sie Willen und Tatkraft stärkt. Als Amulett dient sie dem Schutz vor Diebstahl und materiellen Verlusten. Als Talisman lässt sie gute Chancen sofort erkennen und steigert die Antriebskraft. Wenderune: Angst und Feigheit, naive Gutgläubig- und Obrigkeitshörigkeit. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Os, Othila, Othel, Othala, Opala, Opila. Herkunft: Die Verwaltung eines (Erb-) Besitzes. Geburtszeitraum: 26.2. – 20.3. Assoziierter Baum: Weißdorn (volksmedizinisch u. a. als Tonikum eingesetzt). Assoziierte Pflanze(n): Klee (volksmedizinisch u. a. gegen Infektionen eingesetzt). Assoziierter Stein: Rubin (ayurvedisch zur Stärkung von Körper und Geist). Assoziierte Farbe: Tiefgelb. Sprachliche Entsprechung: O Begriffsrune: Konzentration auf die Freiheit, ein Ziel zu erreichen. Weitergehende Bedeutung: Erkenntnisse durch geistige Kraft. Sollte daher bevorzugt bei wichtigen Besprechungen mit geführt werden. Dient darüber hinaus dem Schutz der Gesundheit vor Krankheit, insbesondere in Bezug auf die Atemwege. Dient als Amulett dem Schutz des Körpers und verhilft als Talisman zu überzeugenden Argumenten. Wenderune: Sinnloses (materielles) Streben; Fehler bei anderen suchen. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Rit, Raido, Rad. Herkunft: Das Wagenrad als Symbol für alles Zyklische im Leben. Geburtszeitraum: 21.3. – 12.4. Assoziierter Baum: Eiche (volksmedizinisch u. a. gegen Entzündungen und Vergiftungen eingesetzt; bekannt für 264
besonders widerstandsfähiges Holz) und Holunder (volksmedizinisch u. a. gegen Infektionen eingesetzt). Assoziierte Pflanze(n): Beifuß bzw. Wermut (volksmedizinisch u. a. gegen Verdauungsbeschwerden eingesetzt). Assoziierter Stein: Chrysopras (keltogermanisch zur Abwehr böser Träume und gegen Kummer) und Malachit (als Mittel gegen rheumatische Erkrankungen, Bedeutungsherkunft unbekannt). Assoziierte Farbe: Glänzendes Rot. Sprachliche Entsprechung: R Begriffsrune: Annehmen der Herausforderungen durch den Kreislauf des Lebens. Weitergehende Bedeutung: Vertraue Deinem Schicksal. Bewahrt vor Streitigkeiten und versöhnt durch offene Kommunikation. Soll heimtückische Angriffe bzw. Intrigen und Ränkespiele abwehren. Talisman und Amulett sollen vor Unrecht und Schicksalsschlägen schützen. Wenderune: Sinnlose und furchtsame Abwehr durch Uneinsichtigkeit; Angst vor Neuem und vor Veränderung (verbitterte Stagnation). Runenzeichen: Bezeichnung(en): Kaun, Keno, Ken, Kenaz, Kaunan. Herkunft: Die Fackel als Symbol des Lichtes und der Erleuchtung. Geburtszeitraum: 13.4. – 5.5. Assoziierter Baum: Kiefer (volksmedizinisch u. a. gegen Hauterkrankungen eingesetzt). Assoziierte Pflanze(n): Schlüsselblume (volksmedizinisch u. a. gegen Erkältung eingesetzt). Assoziierter Stein: Blutjaspis (keltogermanisch zur Kreislaufstärkung). Assoziierte Farbe: Hellrot. Sprachliche Entsprechung: K Begriffsrune: Verständnis durch neue Einsichten im Rahmen eines Lernprozesses; verantwortungsbewusste Macht durch Wissen. Weitergehende Bedeutung: Ausgleichende Gerechtigkeit. Fördert alle kreativen Fähigkeiten, verfeinert die Intuition und 265
dient dadurch der Weiterentwicklung. Schützt als Amulett vor Geschäftsbetrug und dient als Talisman der Ideenfindung. Wenderune: Uneinsichtigkeit und Verantwortungslosigkeit. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Hagal, Hagalaz, Haegl, Hagla. Herkunft: Das Hagelkorn als Symbol einer Herausforderung. Geburtszeitraum: 6.5. – 28.5. Assoziierter Baum: Eibe oder Esche, je nach Quelle (Eibe in Vorzeiten als Pfeilgift und Esche volksmedizinisch u. a. als Wundheilmittel eingesetzt). Assoziierte Pflanze(n): Maiglöckchen (volksmedizinisch u. a. bei Herzerkrankungen eingesetzt). Assoziierter Stein: Onyx (keltogermanisch für ein klares Denken). Assoziierte Farbe: Hellblau. Sprachliche Entsprechung: H Begriffsrune: Herausforderungen annehmen und daraus lernen. Weitergehende Bedeutung: Das große Glück. Kraftvollstes Runenzeichen überhaupt, da es die Bedeutungen aller anderen Runen beinhaltet. Als Amulett oder Talisman öffnet es den Weg zu spiritueller Erkenntnis. Wenderune: Lernunfähigkeit und das Zurückweichen vor Herausforderungen. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Noth, Nauthiz, Nyd, Naudiz. Herkunft: Die Not und daraus resultierend das Bedürfnis, Geschehenes zu akzeptieren. Geburtszeitraum: 29.5. – 20.6. Assoziierter Baum: Buche (bekannt für besonders widerstandsfähiges Holz). Assoziierte Pflanze(n): Wiesenknöterich (volksmedizinisch u. a. gegen Verdauungsbeschwerden eingesetzt). Assoziierter Stein: Lapislazuli (ayurvedisch zum Erlangen von Inspiration und Weisheit). Assoziierte Farbe: Schwarz. Sprachliche Entsprechung: N
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Begriffsrune: Man bekommt nicht unbedingt das Erwünschte, sondern das, dessen man bedarf, um daraus zu lernen. Weitergehende Bedeutung: Die große Not. Fordert zur Überwindung des eigenen Schicksals auf. Da die Bedeutung dieser Rune überwiegend negativ ist, wird sie weder als Amulett noch als Talisman verwendet. Wenderune: Ablehnung durch Uneinsichtigkeit; eingeschränkte Sichtweise. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Is, Isa, Eisaz, Isaz. Herkunft: Eis, Symbol für Stillstand durch ein unüberwindliches Hindernis. Geburtszeitraum: 21.6. – 14.7. Assoziierter Baum: Erle (volksmedizinisch u. a. gegen Entzündungen eingesetzt). Assoziierte Pflanze(n): Bilsen (volksmedizinisch u. a. als Schmerzmittel und als Halluzinogen eingesetzt). Assoziierter Stein: Katzenauge (keltogermanisch gegen Erschöpfung). Assoziierte Farbe: Schwarz. Sprachliche Entsprechung: I Begriffsrune: Die Notwendigkeit, sich in Geduld zu üben, bis sich die äußeren Umstände verändern – aber auch ein Bollwerk gegen andere. Weitergehende Bedeutung: Gewinne Macht über Dich selbst. Dient einerseits der Besinnung, indem Vorhaben und Pläne zunächst ‚auf Eis’ (Is) gelegt werden, hilft andererseits aber auch beim Abschütteln von Passivität und Trägheit. Da die Rune den Stillstand symbolisiert, wird sie häufig als Rune von negativer Symbolik angesehen. Dennoch findet sie Verwendung als Amulett oder Talisman. Der Talisman verleiht großes Selbstbewusstsein und das Amulett schützt vor einem Schaden durch Stillstand. Wenderune: Spiegelrune. Eine um 90° verdrehte Lage vermittelt lediglich die abgeschwächte Symbolik. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Ar, Ansuz, Ansur, Ansuz. 267
Herkunft: Durch einen Mund symbolisierte Kommunikation, möglicherweise dem Friedensschluss von Asen und Wanen entstammend. Geburtszeitraum: 15.7. – 7.8. Assoziierter Baum: Esche (volksmedizinisch u. a. als Wundheilmittel eingesetzt). Assoziierte Pflanze(n): Fliegenpilz (volksmedizinisch u. a. als Tonikum und als Halluzinogen eingesetzt). Assoziierter Stein: Smaragd (keltogermanisch gerechtigkeitsfördernd). Assoziierte Farbe: Dunkelblau. Sprachliche Entsprechung: A Begriffsrune: Erkennen der Wahrheit durch das Verstehen einer Botschaft. Weitergehende Bedeutung: Geduldiges Entwickeln. Der Einsatz für die Arbeit an sich selbst ohne die Hilfe anderer wird belohnt werden. Amulett sowie Talisman verleihen große Ausdauer und wandeln Disharmonie in Harmonie um. Wenderune: Keine Antworten durch falsche Fragen und Verblendung. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Sig, Sowelu, Sigel, Sowilo, Sowelo. Herkunft: Lebensspendender Sonnenstrahl, Dunkelheit und Eis vertreibend. Geburtszeitraum: 8.8. – 30.8. Assoziierter Baum: Wacholder (volksmedizinisch u. a. als Allheilmittel eingesetzt). Assoziierte Pflanze(n): Mistel (volksmedizinisch u. a. als Allheilmittel eingesetzt). Assoziierter Stein: Rubin (ayurvedisch zur Stärkung von Körper und Geist). Assoziierte Farbe: Silberweiß. Sprachliche Entsprechung: S Begriffsrune: Glück durch Erleuchtung und das Durchschauen von Täuschung. Weitergehende Bedeutung: Lebenskraft. Gegenpol zur IsRune. Sig verheißt Erfolge, Schöpfungskraft und das Erreichen von Zielen. Das Amulett hilft bei Überlegungen
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zur Lösung von Problemen, indem es einen klaren Kopf bewirkt. Der Talisman wirkt physisch wie psychisch stärkend. Wenderune: Schaden durch Täuschung. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Tyr, Teiwaz, Tir, Tiwaz. Herkunft: Der Kriegsgott, symbolisiert durch einen Speer. Geburtszeitraum: 31.8. – 22.9. Assoziierter Baum: Eiche (volksmedizinisch u. a. gegen Entzündungen und Vergiftungen eingesetzt; bekannt für besonders widerstandsfähiges Holz). Assoziierte Pflanze(n): Salbei (volksmedizinisch u. a. gegen Infektionen eingesetzt; einige Arten auch als Halluzinogen). Assoziierter Stein: Koralle (ayurvedisch zum Besänftigen negativer Gefühle). Assoziierte Farbe: Glänzendes Rot. Sprachliche Entsprechung: T Begriffsrune: Sieg durch Einsicht, überzeugtes Lernen und Wahrheit. Weitergehende Bedeutung: Wiedergeburt. Bedeutete bei den germanischen Kriegern ‚Fürchte nicht den Tod, er kann Dich nicht töten’. Verhilft demjenigen, der gute Absichten hegt, zu Wohlstand und guten Gaben. Dient als Amulett zur Abwehr von bösem Blick, schwarzer Magie und Kampfmagie. Als Talisman verschafft es auch unter schwierigsten Bedingungen Glück und Erfolg. Wenderune: Herausforderungen aus dem Weg gehender, verbohrter alter Narr. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Bar, Berkana, Beorc, Berkanan. Herkunft: Der Busen, Energie, Aktivität und Abenteuer symbolisierend; nach einer anderen Deutung ein Birkenreis. Geburtszeitraum: 23.9. – 15.10. Assoziierter Baum: Birke (volksmedizinisch u. a. gegen Entzündungen eingesetzt). Assoziierte Pflanze(n): Wiesenfrauenmantel (volksmedizinisch u. a. als Mittel bei der Geburtsvor- und –nachsorge eingesetzt). Assoziierter Stein: Mondstein (ayurvedisch beruhigend). 269
Assoziierte Farbe: Dunkelgrün. Sprachliche Entsprechung: B Begriffsrune: Neubeginn durch Vertreibung des Alten und Bösen. Weitergehende Bedeutung: Sein und Vergehen. Die Rune symbolisiert das Entstehen von etwas Neuem, was aber noch nicht ausgereift ist – weshalb man lieber erst einmal alles Weitere abwarten sollte. Daraus können sich dann neue (bessere) Situationen oder neue Bewusstseinsebenen ergeben. Zunächst jedoch heißt es, das Schicksal anzunehmen. Um die positiven Aspekte der Bedeutung dieser Rune wirksam werden zu lassen, ist sie als Amulett oder Talisman immer mit Hagal zu kombinieren. Wenderune: Böse Gedanken; Stillstand durch das Festhalten an überkommenen Werten. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Laf, Laguz, Lagu, Laukaz. Herkunft: Welle für Wasser und Meer, Symbol für Harmonie, nach einer anderen Deutung der Lauch als Aphrodisiakum. Geburtszeitraum: 16.10. – 7.11. Assoziierter Baum: Weide (volksmedizinisch u. a. als Schmerzmittel eingesetzt). Assoziierte Pflanze(n): Lauch (volksmedizinisch u. a. gegen Infektionen und als Tonikum eingesetzt). Assoziierter Stein: Perle (ayurvedisch als Allheilmittel). Assoziierte Farbe: Tiefes Grün. Sprachliche Entsprechung: L Begriffsrune: Harmonie mit der Schöpfung durch seelische Ausgeglichenheit. Weitergehende Bedeutung: Das große Wasser. Laf symbolisiert den Lauf des Leben mit Höhen und Tiefen, wobei die Tiefpunkte als Prüfungen zu verstehen sind. Diese Prüfungen dienen der Reifung und zeigen, welcher Kurs im ‚Meer des Lebens’ einzuschlagen ist, um das richtige Ziel zu erreichen. Wird aufgrund der potenziell negativen Bedeutung nicht als Amulett verwendet. Der Talisman soll Erfolg, glückliche Fügungen und Ansehen anziehen.
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Wenderune: Unausgeglichene Stagnation durch ignorante Inaktivität. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Man, Manaz, Mannaz. Herkunft: Das Verwobene als Schicksalssymbol bzw. die Stellung des Menschen in dem von den Nornen gewobenen Geflecht. Geburtszeitraum: 8.11. – 29.11. Assoziierter Baum: Stechpalme (volksmedizinisch u. a. als Stärkungsmittel bei Infektionen eingesetzt). Assoziierte Pflanze(n): Krapp bzw. Färberröte (volksmedizinisch u. a. gegen Harnwegsleiden eingesetzt). Assoziierter Stein: Granat (ayurvedisch zur Stärkung der köpereigenen Abwehr). Assoziierte Farbe: Blutrot. Sprachliche Entsprechung: M Begriffsrune: Die Entscheidung und das Recht, sein eigenes Schicksal optimistisch in die Hand zu nehmen. Weitergehende Bedeutung: Mehrung. Rücksicht auf andere führt zu Einsichten und Lösungen, welche niemandem schaden und dennoch das eigene Wohl fördern. Schützt als Amulett vor Feinden, Krankheit und negativen Einflüssen. Dient als Talisman der Bewältigung von beruflichen oder partnerschaftlichen Problemen. Wenderune: Verzagen bei Rückschlägen und kraftloser Pessimismus. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Yr, Algiz, Eolx. Herkunft: Elchgeweih, mit dem Elch als kraftvollschützendem Tier. Geburtszeitraum: 30.11. – 21.12. Assoziierter Baum: Eibe (in Vorzeiten u. a. als Pfeilgift verwendet). Assoziierte Pflanze(n): Angelika (volksmedizinisch u. a. als Allheilmittel eingesetzt). Assoziierter Stein: Amethyst (ayurvedisch gefühlsregulierend). Assoziierte Farbe: Gold. 271
Sprachliche Entsprechung: Z Begriffsrune: Überstehen von Gefahren durch Selbstsicherheit. Weitergehende Bedeutung: Täuschung. Yr weist auf gefährliche Irrwege hin, welche sich nur umgehen lassen, wenn man sich seines Lebensweges voll und ganz bewusst ist. Aufgrund des großen Risikos einer eher negativen Bedeutung als Amulett oder Talisman ungeeignet. Wenderune: Fehleinschätzung, übereilte Hast und negative Einflüsse. Man sollte alle Wagnisse meiden. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Ehu, Ehwaz, Eh. Herkunft: Das Pferd als vielseitiger treuer Gefährte. Geburtszeitraum: (keine Zuordnung) Assoziierter Baum: Esche und Eiche (bekannt für besonders widerstandsfähiges Holz). Assoziierte Pflanze(n): Jacobskraut (volksmedizinisch u. a. als Tonikum eingesetzt). Assoziierter Stein: Doppelspat bzw. Eisspat (keltogermanisch zur Schmerzlinderung). Assoziierte Farbe: Weiß. Sprachliche Entsprechung: E Begriffsrune: Überwindung von Hindernissen durch Loyalität gegenüber anderen. Weitergehende Bedeutung: Große Weihe. Gemeinsamkeit macht stark und Positives wird durch Gemeinsamkeit (Ehe, Partnerschaft, Freundschaft) erreicht. Bewahrt als Amulett vor Irrtümern und stärkt Liebe sowie Freundschaft. Als Talisman lässt die Rune instinktiv die richtige Entscheidung treffen, indem Freunde und Feinde offensichtlich werden. Wenderune: Langfristig Erfolglosigkeit durch das Hören auf die falschen Freunde. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Gibor, Gebo, Gyfu. Herkunft: Gekreuzte Schnüre eines Geschenks. Geburtszeitraum: (keine Zuordnung) Assoziierter Baum: Ulme und Esche (volksmedizinisch u. a. gegen Hauterkrankungen eingesetzt). 272
Assoziierte Pflanze(n): Stiefmütterchen (volksmedizinisch u. a. als Liebestrank eingesetzt). Assoziierter Stein: Opal (ayurvedisch harmoniefördernd). Assoziierte Farbe: Tiefes Blau. Sprachliche Entsprechung: G Begriffsrune: Gegenseitigkeit auf der Grundlage von Geben und Nehmen, gerade auch in spiritueller Hinsicht – d. h. Mitgefühl, Verständnis und Liebe zeigen. Weitergehende Bedeutung: Erfüllung. Verhilft dem zu Glück, der selbstlos gibt und schließt dadurch den Kreis von Geben und Nehmen. Stärkt als Amulett die Widerstandskraft gegenüber falschen Freunden und bewahrt vor Ausnutzung. Als Talisman vertreibt die Rune Zweifel und Unsicherheit, indem sie das Selbstbewusstsein stärkt. Wenderune: Spiegelrune von immer gleichbleibender Bedeutung. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Dagaz, Daeg. Herkunft: Stilisiert Mittag und Sommermitte; Symbol für Tag und Licht. Geburtszeitraum: (Keine Zuordnung, wird aber mitunter für den Monat Oktober verwendet.) Assoziierter Baum: Fichte (volksmedizinisch u. a. gegen Infektionen eingesetzt) und Eiche (volksmedizinisch u. a. gegen Entzündungen und Vergiftungen eingesetzt; bekannt für besonders widerstandsfähiges Holz). Assoziierte Pflanze(n): Muskatellersalbei (volksmedizinisch u. a. zur Beruhigung eingesetzt), Majoran (volksmedizinisch u. a. gegen rheumatische Beschwerden eingesetzt) und Wegwarte (volksmedizinisch u. a. gegen Erschöpfung eingesetzt). Assoziierter Stein: Diamant (ayurvedisch verjüngend und öffnend), ersatzweise auch Chrysolit (steht für die Anregung des Immunsystems, Bedeutungsherkunft unbekannt) und Tigerauge (keltogermanisch gegen Erschöpfung). Assoziierte Farbe: Hellblau. Sprachliche Entsprechung: D Begriffsrune: Schutz, Erfolg und Weiterentwicklung durch die Macht des Lichtes. 273
Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt. Wenderune: Spiegelrune. Eine um 90° verdrehte Lage vermittelt lediglich die abgeschwächte Symbolik. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Eiwaz, Eoh, Eihwaz, Iwaz, Ihwaz. Herkunft: Die Eibe als Symbol für Langlebigkeit bzw. Unsterblichkeit. Geburtszeitraum: (keine Zuordnung) Assoziierter Baum: Eibe (in Vorzeiten u. a. als Pfeilgift verwendet). Assoziierte Pflanze(n): Alraune (volksmedizinisch u. a. als Schmerzmittel und als Halluzinogen eingesetzt). Assoziierter Stein: Topas (ayurvedisch entspannungsfördernd). Assoziierte Farbe: Dunkelblau. Sprachliche Entsprechung: Y Begriffsrune: Veränderung durch Abwerfen von Ballast und Akzeptieren von Neuem. Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt. Wenderune: Realitätsferne Ignoranz sich selbst und anderen gegenüber. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Ingwaz, Ing, Inguz Herkunft: Die Vagina als Fruchtbarkeitssymbol. Geburtszeitraum: (Keine Zuordnung, aber mitunter für den Monat September verwendet.) Assoziierter Baum: Primär Apfelbaum (volksmedizinisch u. a. gegen Infektionen und als Potenzmittel eingesetzt), aber ersatzweise auch andere Obstbäume. Assoziierte Pflanze(n): Brunelle (volksmedizinisch u. a. gegen Infektionen eingesetzt) und Farnkraut (volksmedizinisch u. a. gegen Rheumatismus und Wurmerkrankungen eingesetzt). Assoziierter Stein: Bernstein (keltogermanisch vertrauensfördernd), Granit (keltogermanisch als Symbol für Härte und Widerstand) und Jaspis (keltogermanisch zur Kreislaufstärkung). Assoziierte Farbe: Gelb. 274
Sprachliche Entsprechung: Ng Begriffsrune: Zielgerichtete geistige Kraft durch Kreativität und Inspiration. Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt. Wenderune: Spiegelrune. Eine um 90° verdrehte Lage vermittelt lediglich die abgeschwächte Symbolik. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Jera, Jara, Jeran. Herkunft: Die Kornähre als Erntesymbol, ein gutes Jahr symbolisierend. Geburtszeitraum: (keine Zuordnung) Assoziierter Baum: Eiche (volksmedizinisch u. a. gegen Entzündungen und Vergiftungen eingesetzt; bekannt für besonders widerstandsfähiges Holz). Assoziierte Pflanze(n): Rosmarin (volksmedizinisch u. a. als Mittel gegen Schwäche eingesetzt). Assoziierter Stein: Karneol (ayurvedisch gegen Blutarmut und gegen Blutungen). Assoziierte Farbe: Helles Blau. Sprachliche Entsprechung: J Begriffsrune: Sammeln von Wissen und Weisheit als Lohn harter Arbeit – aber auch die Gewissheit, dass noch weitere Arbeit vor einem liegt. Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt. Wenderune: Das Pflegen von Vorurteilen. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Perth, Peord, Pertho, Perpo. Herkunft: Stilisierter Würfelbecher als Entscheidungssymbol. Geburtszeitraum: (keine Zuordnung) Assoziierter Baum: Buche (bekannt u. a. für besonders widerstandsfähiges Holz). Assoziierte Pflanze(n): Eisenhut (in Vorzeiten u. a. als Pfeilgift eingesetzt). Assoziierter Stein: Aquamarin (keltogermanisch gesundheitsfördernd). Assoziierte Farbe: Schwarz. Sprachliche Entsprechung: P
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Begriffsrune: Von niemandem einzuschränkendes Recht auf freie Entscheidung über das eigene Schicksal. Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt. Wenderune: Kraftlosigkeit durch ein Sich-Fügen in das Schicksal, indem unkritisch einem Führer nachgelaufen wird. Runenzeichen: Bezeichnung(en): Wunjo, Wynn Herkunft: Wonnegefühl, steht für Glück und Ausgewogenheit. Geburtszeitraum: (keine Zuordnung) Assoziierter Baum: Esche (volksmedizinisch u. a. als Wundheilmittel eingesetzt). Assoziierte Pflanze(n): Flachs (in Vorzeiten Faserlieferant für Kleidung). Assoziierter Stein: Diamant (ayurvedisch verjüngend und öffnend). Assoziierte Farbe: Gelb. Sprachliche Entsprechung: W Begriffsrune: Glück und Harmonie durch Ausgewogenheit, indem man Probleme löst. Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt. Wenderune: Blindheit für das eigene Glück aufgrund von Vorurteilen oder eingeschränkter Denk- bzw. Sichtweise. Sowohl bei der Verwendung als Glücksbringer (Amulett, Talisman) wie auch bei den sichtbar daliegenden Runen nach einem Runenwurf kommt den Kombinationen der einzelnen Zeichen mitunter noch eine besondere Bedeutung zu. So hebt bspw. ein sichtbares Hagalaz immer die positiven Aspekte der anderen Runen hervor, während ein Noth oder Is die negativen Bedeutungen verstärkt. Negative Is-Einflüsse können durch ein gleichzeitig präsentes Sig wieder aufgehoben werden. Far steht in Kombination mit Ar für Erfolg, Glück und Gesundheit, in Kombination mit Yr für das Freisetzen mentaler Kraft und in Kombination mit Bar als Schutz vor Erschöpfung. Far zusammen mit Hagal soll glückliche Zufälle begünstigen. Überlieferungen zufolge sind Runen nur dann wirksam, wenn sie von keinem Fremden berührt und ausschließlich in einem Lederbeutel aufbewahrt werden. Als Amulett sollen sie nur an einem Lederband oder 276
aber an einer Silberkette auf der nackten Haut getragen eine Wirkung zeigen. Die Runen an sich und die mit ihnen assoziierten Bäume und Pflanzen sind rein nordischen Ursprungs. Sie gehen auf die Bronzezeit zurück (etwa 1000 – 500 v. Chr.). Die assoziierten Steine sind überwiegend auf ayurvedische Einflüsse zurück zu führen, da durch die weitreichenden Handelsbeziehungen der Kelten und Germanen auch indische Glaubensrichtungen mit eingetragen worden sind. Bei den assoziierten Farben (und in Einzelfällen auch Metallen) kommt noch persisches, griechisches, ägyptisches u. a. Glaubensgut hinzu. Alle diese letztgenannten Assoziationen sind jüngeren Ursprungs. Jüngeren Ursprungs sind auch die Verbindungen zwischen Runen und Tarot. So gibt es heute zwischen Runen und Tarotkarten einige Entsprechungen, bspw. Uruz – die Hohepriesterin, Laguz – der Mond, Fehu – der Magier, Ingwaz – der Herrscher usw. Tarot tauchte in Mitteleuropa jedoch erstmals im Jahre 1377 auf und kann daher durchaus als eine Art von Nachfolger des Runenwurfs angesehen werden. Dafür spricht auch, dass die Interpretation eines Runenwurfs und das Tarot-Neunerspiel einander frappierend ähneln.
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Eckhard Freuwört: Vernetzte Sinne - Über Synästhesie und Verhalten ISBN 3-8334-1474-X; Books on Demand GmbH Norderstedt
Inhalt: - Vorwort - Grundsätzliches zur Synästhesie - Medizin und Synästhesieforschung - Berühmte Synästhetiker - Formen und Empfindungen synästhetischer Wahrnehmung - Vor- und Nachteile der Synästhesie - Synästhetische Verhaltensweisen - Synästhetiker im Berufsleben - Synästhetische Parallelen: Linkshändigkeit - Synästhetische Parallelen: Migräne - Synästhetische Parallelen: Hochbegabung - Synästhetische Parallelen: ASW - Synästhetisches Mitteilungsbedürfnis - Synästhetische Visualisierung - Schlusswort
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Eckhard Freuwört: Böse Hexen gibt es nicht. Versuch einer interdisziplinären Betrachtung des Hexenwesens. ISBN 3-8334-3183-0; Books on Demand GmbH Norderstedt
Inhalt: - Einleitung - Zeittafel: Früher und Heute - Die Aufgaben einer Hagazussa - Rituale, Zaubersprüche und der Placebo-Effekt - Verbreitete „Hexen“-Naturstoffe und ihre Wirkungen - Hexen heute - Hexenlaboratorium Küche? - Schlusswort - Danksagung - Verwendete Quellen
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