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Buch: Am Ende des 21. Jahrhunderts ist ein Raumschiff in geheimer Mission unterwegs ins Weltall. Das Ziel ist Noah II – ein rätselhafter, der Erde entflohener Raumkörper. Nur wenige Spezialisten und die Besatzung der Raumkugel wissen um die Gefährlichkeit des Auftrags – und Babette, die daheimgebliebene Tochter des Raumpiloten Fourier. Unter den Aufzeichnungen ihres Vaters findet sie 40 Jahre alte Erinnerungen eines Klons, eines genetisch duplizierten Menschen. In der letzten großen Krisenperiode der Erde war dieser Mann aus einem Geheimlabor eines amerikanischen Großkonzerns geflohen, der sich mit Genmanipulierung und der Züchtung willenloser Killer befaßte. Der spannende Bericht seiner abenteuerlichen Flucht beleuchtet nicht nur ein groß angelegtes Verbrecherprojekt, sondern erleichtert auch, Jahrzehnte später, die endgültige Auseinandersetzung mit dem geheimnisvollen Raumkörper Noah II.
Reinhardt O. Hahn / Klaus-Dieter Loetzke
NOAH II Science fiction – Roman
Mitteldeutscher Verlag Halle • Leipzig
ISBN 3-354-00534-3 © Mitteldeutscher Verlag Halle • Leipzig 1989 Lizenz-Nr. 444-300/37/89 • 7004 Printed in the German Democratic Republic Reihengestaltung: Helmut Brade Umschlaggestaltung: Stefan Duda Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30 Best. -Nr. 639 494 9 00600
Prolog Noch immer stand eine Gewitterfront am Horizont. Es dämmerte bereits, und die Luft war rein und klar wie das Wasser eines Bergsees. Von der Schwüle des Tages, vom Chaos des Gewitters, von der gewalttätigen Heftigkeit der Regengüsse war nichts geblieben außer einem Grollen und dem gelegentlichen Aufleuchten in der Ferne. Babette Fourier blickte von der Terrasse aus auf die Stadt. Unterhalb der Anhöhe lag wie in einem Funkenreigen das Zentrum. Immer mehr Lichter gingen an. Plötzlich flammte überall in den Wohnvierteln und in den Außensiedlungen die Straßenbeleuchtung auf. Der Himmel schien noch dunkler zu werden. Babette mußte an ihre Eltern denken. Sie vermißte sie, auch in diesem Augenblick. Sie waren seit dem späten Sommer des Jahres 2081 im interstellaren Raumschiff LYR unterwegs. Voraussichtlich drei Jahre würden bis zur Rückkehr vergehen. Von der Mission des Raumschiffes war Babette nur wenig bekannt. Sie hatte regelmäßig Nachrichten erhalten, aber inzwischen war die Verbindung abgerissen. Sie verließ die Terrasse, betrat den Freizeitraum und legte sich auf die Schwebematte. Seit zwei Monaten war die LYR ohne Verbindung mit der Erde. Vom OBERSTEN PARLAMENT erfuhr Babette Fourier lediglich, eine Überprüfung sei angeordnet, die Angehörigen der Expeditionsteilnehmer müßten sich gedulden, es werde intensiv gearbeitet. Babette fühlte sich allein gelassen. Ihr Blick suchte die Anzeigeleuchten des Hauscomputers. Aus einer kindlichen Laune heraus hatte sie ihm vor Jahren die akustische Informationsübergabe genommen. Seine künstliche Intelligenz durfte sich nur in holographierten Wortstreifen äußern. »Was soll ich tun?« flüsterte Babette.
BITTE MADEMOISELLE FOURIER meldete sich der Computer. Babette berührte die Sensorenleiste. Die dicken Lettern des Worthologramms verschwanden. Für einen Moment war sie versucht, den Computer mit seinem Namen zu ärgern, aber sie unterließ es. Noch immer hielt sie an dem Namen »Caligula« fest, den sie dem Hauscomputer in einer gedrückten Stimmung gegeben hatte – damals, als sie endgültig entschlossen war, sich als Historiker ausbilden zu lassen. Verrückt und lebensunfroh mache dieser Beruf, hatte ihre beste Freundin behauptet und sich dann nach und nach von ihr abgewandt. Die Grundausbildung hatte Babette bereits abgeschlossen. Seit gestern nun wartete der Leiter der Spezialausbildung auf ihre Antwort, für welchen weiteren Weg sie sich entscheiden wolle. Den Ratschlag der Eltern, sie hätte ihn jetzt sehr gebraucht. Erneut glitten die Finger des Mädchens über Symbole der Sensorenleiste. Augenblicklich begann sich das Worthologramm: SIE WÜNSCHEN DEN STERNENHIMMEL BITTE WIR SCHWEBEN IN RICHTUNG LEIER im Panoramagewölbe zu drehen. Danach schien der Freizeitraum beinahe übergangslos, aber für den Blick angenehm, ins tiefste Schwarz zu stürzen. Das Sternenbild Leier raste auf Babette zu. Ihr war, als schwebe sie unwirklich schnell im lautlosen All. Jeden Abend dachte sich Babette auf diese Weise in die Nähe ihrer Eltern. Ein Befehl ließ die LYR, die extra für diesen Flug mit Antiteilchenwerfern ausgerüstet worden war, einer künstlichen Raumkugel nachjagen. Unablässig sandte dieser Flugkörper verwirrende Signale aus. Babette kannte nur einige grobe Daten des Unternehmens. Die geheimnisvolle Raumkugel war vor Jahrzehnten von der erdabgewandten Seite des Mondes gestartet worden und hieß NOAH II. Babette erstaunte immer wieder vor den Ausmaßen der Wega, die weißflammend im Panoramagewölbe abgebildet war. Darunter legte sich ein dickes, schwarzes Worthologramm Caligulas. ENDE DER ANNÄHERUNG
Hellwach saß Babette auf der Matte. Sie schaute noch einmal in die gleißende Helligkeit und löschte sie. Sie überlegte, ob es ratsam sei, zu ihrer Freundin zu gehen, aber sie verwarf diesen Gedanken. Sie blickte zum Videophon. Vielleicht konnte ein Gespräch ihr guttun? Ihr war sehr unbehaglich zumute, und in dieser Stimmung wollte sie niemandem zu einer Last werden. Im stillen hoffte Babette auf Caligulas Hilfe. Sie hoffte, er werde sie nicht enttäuschen. Ein so schlechter Ratgeber war der Computer nicht! Sie berührte die Sensorik. »Caligula, ich muß mich entscheiden, mich für ein spezielles Studium entscheiden. Morgen muß ich meinem Mentor meine Antwort mitteilen.« SIE KENNEN IHRE WÜNSCHE NICHT MADEMOISELLE FOURIER CALIGULA KANN SIE NICHT KONKRET UNTERSTÜTZEN PRÜFEN WIR IHRE VORSTELLUNGEN UND IHR WISSEN DANN WÄHLEN SIE NACH DEM GÜNSTIGSTEN ERFOLGSQUOTIENTEN Babette mußte lächeln. Wie immer vergaß der Hauscomputer im Eifer, daß er selbst den Namen benutzte, den er verabscheute. WIR BEGINNEN MIT DER FAMILIENCHRONIK MIT IHREN IM GEDÄCHTNIS ERHALTENEN ERINNERUNGEN CALIGULA WERTET IHRE GEISTIGEN LEISTUNGEN IHREN WERDEGANG WIR BEZIEHEN DIE PERSÖNLICHEN ERINNERUNGEN IHRER ELTERN IN DIE ANALYSE EIN CALIGULA WIRD DEN ZENTRALSPEICHER ANSCHLIESSEN Aus dem Fußboden hob sich langsam das zweite Wiedergabegerät. Die Raumtonanlage schob sich in die Arretierung neben der kleinen Sitzecke. Beide Geräte wirkten ziemlich klotzig. »Nein«, sagte Babette, »soviel Aufwand brauchen wir nicht zu betreiben, Caligula. Aber ich habe eine Frage: Wie kommst du an die persönlichen Erinnerungen meiner Eltern, sind sie nicht verschlüsselt?«
DER KOMPLEX L 215 IST SEIT 1.7. DES JAHRES FREIGEGEBEN »Ich verstehe«, sagte Babette. Das Hologramm erlosch. Wahrscheinlich hing die Aufhebung der Sperre damit zusammen, daß die Kommunikation mit den Eltern nicht mehr funktionierte. Neugierig geworden, beugte sich Babette zum Holographen vor. Sie war sich nicht Sicher, ob sie nicht doch einen Vertrauensbruch beging, aber nun wollte oder konnte sie ihren Befehl nicht mehr zurückhalten: »Caligula, zuerst eine Übersicht.« Im Holograph schwebten Worthologramme vorüber. Babette beruhigte sich, wußte sie doch, daß ihr nur rubrizierende Worte gezeigt wurden. Außerdem, so stellte sie für sich fest, kannte sie einen großen Teil der Begebenheiten im Leben ihrer Eltern. So ließ sie die Worte vor ihren Augen vorübergleiten, nickte ihnen gewissermaßen bestätigend zu, dachte kurz an einige Erlebnisse, an Familienfeiern, an das Fest anläßlich der Aufnahme in die Gemeinschaft, an die Reise nach Schottland – sie sah die karge Hochgebirgslandschaft vor sich – der letzte Urlaub mit den Eltern – und schreckte dann vor den Worten INFORMATIONEN NOAH II zurück. »Stop! Informationen NOAH II, darüber möchte ich mehr wissen.« VERSORGUNGSPULT DES VIDEOWIEDERGABEGERÄTES STARTEN BITTE REAGIEREN SIE CALIGULA »Wir können beginnen!« Ihr klopfte das Herz. Zögernd lehnte sie sich zurück und blickte zum kuppelförmigen Panoramagewölbe hinauf. Sie wußte, sie setzte sich ungefragt über ein Gebot ihrer Eltern hinweg. Ein Wort würde genügen, den Ablauf im Computer zu stoppen. Sie schwieg jedoch, sie wartete einige Sekunden. Sie dachte nur an eines: Daß
in diesen Informationen die Antwort darauf stecken könnte, ob ihre Sorge um die Eltern gerechtfertigt war. Für das spezielle Studium würde sie sich später entscheiden. Das Panoramagewölbe trübte sich ein, und nur allmählich wechselte das undifferenzierte Grau zu einem beißenden Gelbgrün. Babette Fourier nahm verschwimmende braune Flecken wahr. Endlich erkannte sie Baumstämme, die im Aufnahmebereich einer Videokamera schwankten. Das Bild erfaßte einen Mann. Langsam erlosch das offenbar mißlungene Ausgangsbild, die dritte Dimension baute sich raumfüllend im Panoramagewölbe auf. Computer und Holograph schufen das Bild eines Mannes, der, ernsthaft blikkend, auf Babette zuschritt. Das Hologramm trat nunmehr scharf und deutlich hervor. Der Mann war sicher sehr groß. Er legte einen kleinen Recorder aus der Hand. Er strich mit der Hand über sein lackschwarzes, glänzendes Haar. Eine Strähne fiel sofort wieder in sein Gesicht zurück. Unter seiner durchsichtig erscheinenden Haut zeichneten sich die feinen Adern und Äderchen ungewöhnlich deutlich ab. Der Mann begann zu sprechen. Mein Name ist Arkadij Petrowitsch Carson. Ich bin einer der Zeugen eines Klonierungsexperiments großen Ausmaßes, der einzige Zeuge meiner und ähnlicher Versuchsreihen. Ich habe kein Vaterland und kein Elternhaus, ich habe keine Heimat – ich war Besitz eines Konzerns. Nach meiner gelungenen Flucht und dem Zusammenbruch der FREE STATES haben mich Spezialisten des OBERSTEN PARLAMENTS wochenlang befragt. Ich habe ihnen alles gesagt, was ich über die PHARMA wußte. In diesem Superkonzern wurden, allen Vereinbarungen und Verträgen zum Trotz, die sich um die Sicherung des Friedens in der Welt bemühten, gentechnische Versuche mit Manipulationscharakter an lebenden Menschen durchgeführt. Dort bin ich aufgewachsen. Ich habe auch meine Flucht geschildert. Die Freiheit war für mich ein Schock. Ich brauchte Ruhe. Schließlich hat das OBERSTE PARLAMENT meiner Frau und mir gestattet, uns zurückzuziehen. Seit einem Jahr nun leben wir in der Abgeschiedenheit Indonesiens.
Ruth und ich, wir gehen hier einer dankbaren Tätigkeit nach, weitab vom Menschentrubel. Wir betreuen eines der letzten Naturvölker. In dieser Region hat die große Flutkatastrophe Schäden von unvorstellbarem Ausmaß verursacht. Meine Frau Ruth ist Ärztin. Sie ist in Palembang unentbehrlich. Zu den Fähigkeiten, über die ich verfüge, gehört, daß ich Vielsprachler bin. Damit kann auch ich nützen. Inzwischen habe ich einigen Abstand zu meiner Geschichte gewonnen, aber ich muß immer wieder zurückdenken. Ich kann nicht vergessen. Ich spüre, daß mein Bericht für das OBERSTE PARLAMENT unvollständig ist, nur die halbe Wahrheit enthält. Ich habe mehr von den Umständen meiner Flucht, unserer Flucht berichtet als von mir, mehr von den technischen Bedingungen der PHARMA als von den Wandlungen, die ich erfuhr. Das ist der Grund, der mich drängt, meine Geschichte noch einmal zu erzählen. Ich kann nicht sagen, für wen ich erzähle. Wir haben keine Kinder. Vielleicht für meine Freunde – auch hier in Palembang haben wir Freunde gefunden –, vielleicht für eine spätere Generation. Ich weiß es nicht, aber ich muß von mir erzählen. Noch ist die Bedrohung, die von NOAH II ausgehen kann, nicht beseitigt. Liebe Freunde, bitte, nehmen Sie meinen Bericht entgegen, bei Ihnen ist er gut aufgehoben. Vielleicht wird er eines Tages gebraucht. Ich vertraue Ihnen. Bitte wahren Sie die Geheimhaltung meiner Ausführungen. Die Offenbarung unseres Geheimnisses wäre unweigerlich eine Bedrohung für uns beide. Meine Frau und ich, wir müssen mit Folgen rechnen, denn es existieren heute noch Individuen unterschiedlichster Versuchsreihen, die für das menschenfeindliche System arbeiten. Eine Kolonne reproduzierter Menschen. Sie sind noch unerkannt. Sie selbst wissen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht, daß sie geschaffen wurden, fremden Befehlen unbedingt zu gehorchen. Sie leben mitten unter uns. Ich fürchte, sie können von der Raumkugel NOAH II aus jederzeit aktiviert werden. Auch aus
diesem Grund meiden Ruth und ich jeden Kontakt mit der Öffentlichkeit. Ich habe Informationskristalle, Videofilme und anderes Material gesammelt und diese Vorgänge zu einem dichten Bericht zusammengefaßt. Ich hoffe, es lassen sich Folgerungen zum Thema Klonierung ziehen. Die Kinder der Menschen sind Kinder des Schmerzes und der Liebe. Sie werden erwünscht und ersehnt. Ihre Eltern haben sie gewollt. Das ist sicherlich ein normaler Vorgang. Ich kann es nicht einschätzen, ich habe das nicht erfahren. Ich werde Ihnen erzählen, warum und wozu ich mißbraucht worden bin, wer mich reproduziert hat. Ich bin nicht vollständig. Vielleicht habe ich nicht einmal das Recht, mich als Mensch zu bezeichnen – ich wurde austauschbar, verwechselbar und vielseitig verwendbar hergestellt. Ich habe individuelle Züge, die ich mit anderen teilen muß. Ich verfüge über ein großes Informationsvolumen, das aber genausogut jeder mittelmäßige Computer speichern kann. Ich bin der Entwurf eines Menschen, der »verworfen« werden kann. Ich bin einer von vier Entworfenen. Von mir gibt es vier Gleiche. Betroffen strich Babette Fourier über die Sensorenleiste. Ein zarter Blauton erhellte den Freizeitraum. Das Porträt des Mannes im Holographen fiel zusammen. Babette war ratlos. Inwieweit diese Aufzeichnungen, die recht alt sein mußten und die, exakt gesehen, nicht für sie bestimmt waren, in der gegebenen Situation einen Vertrauensbruch rechtfertigten, mochte sie im Moment nicht entscheiden. Instinktiv spürte sie eine Gefahr, die von diesen Informationen ausging. Ob ihr Vater auch so erschrocken reagiert hatte? Fest stand also vor Jahren schon, daß die Erde immer noch bedroht war, mit Sicherheit auch das interstellare Raumschiff LYR und ihre Eltern. Babette überlegte, ob sie eine Beratungsstunde bei einem Mitarbeiter des OBERSTEN PARLAMENTS beantragen sollte, ob sie es überhaupt durfte. Ihre Eltern waren Genetiker, sicher war für
sie die Gefahr groß. Diesen Gedanken schob sie beiseite. Natürlich waren alle Informationen in der LYR bekannt. Das erklärte auch die geheimnisvollen Vorbereitungen, die den Start des Raumschiffes begleitet hatten. Babette fand keinen ausreichenden Anlaß, eine Konsultation mit Ausnahmecharakter für sich zu rechtfertigen. Auch die ausbleibenden Nachrichten von der LYR waren kein Grund. Von Neugier geplagt, beschloß sie, die künstliche Intelligenz des Hauscomputers durch eine Frage zu provozieren. »Caligula, interessiert dich diese Persönlichkeit Arkadij Carson, und was an ihr interessiert dich?« Sofort stellte der Computer einen freundlich-gelben Wortstreifen in das blaublasse Gewölbe: DAS PSYCHOGRAMM BETREFFENDER PERSÖNLICHKEIT INTERESSIERT CALIGULA UNGEWÖHNLICH INTENSIV DIE PERSÖNLICHKEIT ARKADIJ PETROWITSCH CARSON IST VIELMALIG IST AUSTAUSCHBAR IST ERSETZBAR SIE TRÄGT EINEN NAMEN ÄHNLICHKEIT MIT CALIGULA IST VERBAL VORHANDEN MADEMOISELLE FOURIER ICH ERINNERE SIE WOLLTEN SICH FÜR DIE SPEZIALISIERUNG IHRER AUSBILDUNG ENTSCHEIDEN »Das hat Zeit. Mir gibt deine Agilität zu denken. Laß Arkadij Carson erzählen. Ich möchte wissen, was meine Eltern bewegt hat, sich auf dieses Unternehmen einzulassen. Vielleicht haben wir hier eine der Quellen.« Babette unterdrückte eine bittere Bemerkung. Noch an dem Tag, an dem sie mündig geworden war, zogen die Eltern, wie besprochen, von zu Hause weg in das Vorbereitungscamp. Babettes verständiges Gesicht, es war aufgesetzt gewesen. Doch was konnte ein Computer schon dafür.
Das warme Licht erlosch. Grellgrün erstrahlte das Panoramagewölbe. Babette Fourier sah abschätzend auf Arkadij Carson, der auf einem Baumstamm saß. Seinetwegen hatten ihre Eltern… Er begann zu sprechen. Ich dolmetsche. Ich bin Ruth behilflich, und nicht nur ihr. Mir ist es sehr leicht gefallen, umfangreiche Sprachkenntnisse zu erwerben. Sie waren Bestandteil des Programms einer Ausbildung, die darin gipfelte… Menschen perfekt umzubringen. Seit ich mich kenne, leide ich unter Ich-Verlust. Er begleitet mein Leben wie ständiger Hunger. Man hat mich WIR genannt, später sollte ich Arkadij Petrowitsch Schitschkin sein wie vier andere. Ich war Nelson Haxwell, und heute heiße ich Arkadij Petrowitsch Carson. Meine Frau gab mir ihren Namen. Ich hatte und habe angeblich die Identität eines Menschen und auch dessen Wert, doch ich spüre, mir fehlt etwas Eigenes, das ich nicht benennen kann und das auch mit der Bezeichnung Schicksal nicht erfaßt ist. Es wird die wirkliche Identität des Menschen sein, der ich nicht bin, zu dem ich aber in böser Absicht werden sollte. Ich habe zeitlebens versucht, dieses seelische Verlustempfinden abzulegen. Vielleicht gelang es mir in Streß-Situationen, sonst aber – sonst heiße ich WIR, heiße ich IHR, heiße ich DU. Schon seit meiner Geburt, wenn ich den Prozeß meiner Rekonstruktion so nennen darf, ist es so: Ich bin ein Teil von EUCH. Wir sind vier. Sind wir nur noch zu dritt, ist unser ICH unvollkommen. Meine ersten Gedanken, die ich hatte, waren: Ich bin ein Ich, und Ich aber ist ein Teil von mir, der Persönlichkeit der vier, die sich im Denken, Handeln und Gehorchen einig ist. Eltern kennen wir nicht, nicht im herkömmlichen Sinne. Wir waren Eigentum der PHARMA. Später erfuhr ich, daß der Präsident der FREE STATES unser Pate war. Wir haben ihn nie kennengelernt.
Um uns bemüht haben sich die Ausbilder, die oft unsichtbar blieben und deren Anweisungen uns über Monitor oder über die Miss erreichten. Uns blieb lange unklar, ob man uns von Anfang an programmiert hatte oder ob wir domestiziert werden sollten. Auch wußten wir nicht, welch furchtbare Waffe wir werden sollten. Das Zuhause für uns war die STATION, waren komfortable Bungalows und ein siebengeschossiger Wohnkomplex, der einem Armeeobjekt ähnelte. Links der STATION breiteten sich die weitläufigen Produktionshallen der PHARMA aus. Den Mittelpunkt bildete ein fensterloser Betonklotz von der Höhe eines Zwölfgeschossers. Dieser Betonklotz war lediglich die über dem Erdboden sichtbare Spitze eines gewaltigen Bauwerks. Über eine sorgfältig gesicherte Folge von Schotts und Desinfektionskammern gelangten nur ausgewählte Personen an unzähligen Kontrollgeräten vorbei in ein Bunkersystem, dessen tiefste Räumlichkeiten sich einhundertzwanzig Meter unterhalb der Erdoberfläche befanden. Die wichtigsten Fäden des Multikonzerns führten in den Etagen zwölf bis fünfzehn in wenige Hände. Dort saß das Management des Unternehmens. Wir haben diese Räume nie betreten. Einer meiner Freunde, auch von ihm wußte ich nichts, hat heimlich in der PHARMA die Beratung auf Band aufgezeichnet, in der die Jagd auf mich gestartet wurde. Diese Jagd ist zu einer Lawine geworden, in deren Spur viele Menschen verfolgt und getötet wurden. Sie waren entweder nur zufällig in ein Räderwerk geraten, oder es waren Oppositionelle. Diese Beratung gibt einen Einblick, wie die Gegner beschaffen waren, wie gefährlich sie vielleicht heute noch werden können. In der zwölften Etage des Bunkers berieten acht Spitzenmanager über die nach meiner Flucht entstandene Situation. Unter ihnen der Innenminister, ein Berater des Präsidenten Newman, unseres Paten, und auch die Miss war anwesend. Die Begrüßung wird knapp ausgefallen sein. Man kannte sich, man war auf die Situation vorbereitet. Es galt zu entscheiden.
Alle uns betreffenden Fragen waren stets kurzfristig, effektiv und mit der gebotenen Diskretion behandelt worden. Über uns wurde wie über eine neue Raketenwaffe entschieden. – gefragt oder gehört wurden wir nicht. Diese Beratung jedoch sollte über unsere Existenz entscheiden, über mein Leben und das meiner Brüder. Babette horchte der letzten Bemerkung Arkadij Carsons nach. Sie wunderte sich, daß der Holograph schwarze Puppen agieren ließ. Rundlich und dickbäuchig schlenkerten sie mit den Armen und wackelten mit ihren profillosen Köpfen. »… denn es entspricht nicht den Zielen unseres großartigen Experiments, durch das Auswahlverfahren bestätigt, das Bild des Flüchtigen und sein Signalement über die Massenmedien zu verbreiten.« Babette unterbrach den Vorgang. Computergrafik und Holograph hatten die Puppen konstruiert, um den Inhalt des Gesprächs bildhaft begreifbar darzustellen. Das war offenbar mißlungen. »Caligula, spiele den Informationskristall ohne filmische Umwandlung ab. Mir genügen Arkadij Carsons Porträt und seine Stimme.« ABLAUF VERÄNDERT BITTE Eine starrsitzende Puppe verblaßte, wurde von der Gestalt des Arkadij Carson überlagert, der auf dem Baumstamm saß, vor sich den Mini-Recorder. Babette Fourier legte sich auf die Matte, schloß die Augen und wartete auf die Fortsetzung des Berichts. Die Stimmen aus dem kleinen Tonbandgerät klangen blechern. »Unsere Chancen, ihn zu fassen, sind ohnedies groß. Vorrangige Aufgabe wird es sein, die Beschäftigten und das wissenschaftliche Personal der PHARMA von Gerüchtemachern und Chaoten zu
säubern. Ich werde anweisen, daß noch in dieser Nacht begonnen wird, Teile der Nationalgarde in der Region zu stationieren. Zu Ihrem Vorschlag zurück, Exzellenz: Ich empfehle, den Privatfunk – allerdings mit aller gebotenen Vorsicht – in die Fahndungsaktion einzubeziehen, um die staatstreuen Schichten der Bevölkerung zur zielgerichteten Mithilfe anzuregen. Weiterhin habe ich angewiesen, alle registrierten oppositionellen Gruppen im Mittelwesten verstärkt zu kontrollieren und durch den geeigneten Personenkreis möglichst exakt zu überwachen. Wir müssen überall sein. Falls der Flüchtige von dort aus eine Verbindung zur anderen Seite aufzubauen gedenkt, wird er sofort eliminiert. Entsprechende Order ist bereits ergangen. Danke!« »Es kann falsch sein, wenn der Mann eliminiert wird. Seine Austauschbarkeit ist begrenzt. Er ist Bestandteil der exponiertesten Serie, ist äußerst erfolgversprechend. Wir arbeiten bereits knapp zwanzig Jahre an dieser Serie, der Zufall, der kalkulierte Zufall war auf unserer Seite. Wir sind einem großen Ziel nahe.« »Wollen Sie sich gegen das Projekt NOAH II stellen und es gefährden? Ich persönlich bin dem Präsidenten dafür haftbar. Nein, ich halte den Ausbrecher für sehr gefährlich!« »Darf ich Sie darauf hinweisen, Herr Minister, daß er sich unter keinen Umständen an eine Gruppe oder auch nur an eine einzelne Person wenden wird! Er ist so nicht programmiert. Er ist antikommunikativ – jedenfalls im herkömmlichen Sinne. Er hat ein ausgesprochen elitäres Verhaltensmuster.« »Sie werden Ihren ungeratenen Sohn doch nicht in Schutz nehmen wollen oder ihm nachtrauern, Miss? Zur Sache: Das Verteidigungsministerium stellt zwei verläßliche Spitzenkräfte. Sie werden als Hirn einer Sonderkommission fungieren. Professor, sind diese Leute in der PHARMA angekündigt?« »Das sind sie, Sir! Aber, Sir, wer garantiert die absolute Verschwiegenheit dieser Männer? Wäre es nicht angebracht, sie nach erfolgreichem Abschluß der Fahndung…«
»Der General übernimmt die Garantie, es sind seine Spitzenkräfte. Er allein entscheidet über sie. Sie kennen den General, Professor?« »Jawohl, Sir!« »Herr Minister, mir geht es darum, ihn rein physisch zurückzuhaben. Er ist nicht mehr verwendbar, doch er könnte als Druckmittel gegenüber den drei anderen dienen. Und ich benötige ihn als Material für neue Versuche.« »Sie können ihn, respektive das, was übrigbleibt, zur Nutzung haben, Miss.« »Danke, Herr Minister!« »Ich bitte, meine Meinung im Protokoll festzuhalten: Diese Unglücksfälle und Fehlentwicklungen, diese Irrtümer kosten Geld. Viel zuviel Geld. Wir sollten allmählich unsere Grenzen akzeptieren. Die Gentechnologie frißt uns!« »Sie sind Ökonom. Als Berater des Präsidenten sollten Sie positiver denken. Wir stehen hinter dem Plan – auch der Präsident!« Arkadij Carson schaltete das Tonband aus und wendete sich wieder der Kamera zu. Das war der Auftakt für die Jagd auf mich. Der Kopf des Teams war der Innenminister, doch die Seele dieser Jagd war die Miss. Es ist mir nie gelungen, ihren Namen zu erfahren, obwohl ich sie über Jahre täglich sah, sie beinahe jede Stunde bei uns war. Nur ihre Kenn-Nummer kannten wir. Wir sollten sie Miss nennen. Sie war nicht unsere Mutter. Sehr spät erst sind wir mit dem Wort Mutter, mit der biologischen und sozialen Funktion des Begriffes konfrontiert worden. Trotzdem ist es uns immer fremd und unerklärlich geblieben. Die Miss war nur für uns da. Ständig wachte sie über uns. Wir wußten nur von ihrem Leben bei uns in der STATION. Von einem Leben außerhalb des Sicherheitsbereiches erfuhren wir erst nach und nach und bruchstückhaft. Die Miss kannte jeden von uns vier sehr genau, sie war über alle unsere Eigenheiten informiert.
Babette Fourier unterbrach die Tonwiedergabe. Von den Worten ging eine Drohung aus. Damals mußten die Menschen in großen Zwängen gelebt haben. Viele Politiker und Wissenschaftler in allen Staaten waren stolz auf die internationalen Beschlüsse und Maßnahmen, welche die Sehnsucht der Menschen nach Frieden erfüllen sollten; doch zur gleichen Zeit planten in unterirdischen Büros und Konferenzräumen bedenkenlose Geschäftemacher einen ungeheuerlichen Anschlag gegen den Frieden. Die Bedrohung stieg beinahe fühlbar aus den Jahrzehnten heraus, und Babette glaubte sich wehren zu müssen. Sie bezog sich auch auf das Raumschiff LYR. Zwei Monate ohne Nachricht. Babettes Fragen an das Regionalparlament wurden mit dem Hinweis abgewehrt, sie solle sich nicht sorgen, es sei nichts geschehen, alles bewege sich innerhalb der Norm. Von ihr verlange man ganz besonders Disziplin, da ihre Eltern doch mit an Bord des Raumschiffes seien. Neunzehn Jahre alt war Babette genau an dem Tag geworden, als die LYR mit ihren Eltern startete. Daß ein bewaffnetes Raumschiff ins All geschossen wurde, erregte weltweit Aufsehen. Inzwischen hatten die Tagesereignisse im Interesse der Öffentlichkeit wieder Vorrang. Die ökologische Umgestaltung der Erde – zurück zur Natur – spannte die Kräfte der Menschheit immer noch ein. Für einen Moment fühlte Babette sich versucht, alles Geschehen als unwirklich, als traumhaft abzutun. Doch stärker als jede Unsicherheit fühlte sie den Wunsch nach Wissen, nach Gewißheit…
Teil I Wir, die vier Gleichen, haben über Monate jede unbewachte Sekunde daran verwandt, die Flucht zu planen. Wir haben einen Hibernationsschrank benutzt. Wir haben ihn DIOGENES getauft. Enthaltsam und weltfern, so dachten wir, wird der Weg ins DRAUSSEN beginnen. Unsere Chance war größer geworden, seit wir über DIOGENES verfügten und wußten, daß DRAUSSEN mit Hilfe gerechnet werden konnte. Ein mittlerer Computer lieferte uns die Berechnungen für die Klimatisierung des Innenraumes, für den Luftverbrauch, den Energiebedarf bei hermetischer Abschottung und bei Belastung. Die Nährstoffkonzentrate für vierzehn Tage löteten wir in drei Bierdosen ein. Sie waren in allen Teilen extremen Bedingungen angepaßt und genau ausgewogen: Eiweiße, Kohlehydrate, Fette, Vitamine und Mineralstoffe. Wir versteckten DIOGENES in einer der Sicherheitskammern des Bungalows der Miss. Nur im Zentrum der Kontrolle ist nichts zu sehen, so rechneten wir. Ursprünglich wollten wir losen, wer von uns den Ausbruch wagt. Das haben wir nicht getan – es ist nicht würdevoll, fanden wir, vom Zufall gewählt zu sein. Die Miss hatte uns die Entscheidung abgenommen. Aus einem zweiwöchigen Großtest ging ich als Sieger hervor. Das gab den Ausschlag, da wir vereinbart hatten, daß der Sieger die Flucht riskiert. Unsere Abmachung trafen wir während eines abendlichen Konditionslaufes im Park, bei dem wir uns vor Horchmikrofonen und Videokameras sicher glaubten. Wir waren bereit – jeder von uns hätte seine Kraft oder sogar sein Leben eingesetzt für etwas, das zu benennen wir uns scheuten, auch, weil es schon als Gedanke der Miss gegenüber wie Undank klang. Tag für Tag impfte uns die Miss, immer unserem Alter und unserem jeweiligen Intelligenzgrad entsprechend, ein: Die AUFGA-
BE ist das allein Wichtige in eurem Leben. Darauf bereitet ihr euch vor. Die freie Menschheit wird euch dankbar sein, ewig dankbar. Sicher wußten wir nicht sehr viel, nicht einmal über uns selbst, über absolut identische Vierlinge – schon diese Benennung ist fehlerhaft. Wir haben keine Eltern. Lebende Roboter sind wir aber auch nicht. Wir sind keine Biomaten. Um unsere Thesen aber zu überprüfen, meinten wir, müßte einer von uns mit den Menschen gelebt haben. Vielleicht war das unser anfängliches Motiv, den Ausbruch zu planen. Bis dahin wußten wir nur, wie Menschen sich nicht verhalten. Wir vermuteten, daß sie anders waren, als sie uns dargestellt wurden – nicht so unterlegen, so hilflos, so unvollkommen. Sie waren doch unsere Schöpfer. Ständig beschäftigte uns die Miss. Sie begleitete jeden unserer Schritte. Wir waren noch nicht fähig, zwischen der beherrschenden Macht einer Idee und der Liebe zum Menschen zu unterscheiden. Wir dachten, die Miss opfere sich für uns auf. Wir glaubten, sie sei eine Heilige. Das Gegenteil ahnten wir, unbewußt noch, vielleicht zum ersten Mal, als ich mich an einer Glasscherbe geschnitten hatte. Was aus dem Ritz im Arm tröpfelte, war Blut. Das Blut war rot. Die Miss brachte einen dünnen Gummischlauch und ein Handtuch. Inzwischen war das Blut immer stärker gelaufen. Wir fanden den Vorgang interessant. Die Miss band die Ader am Oberarm ab. »Wir bleiben!« sagte sie zu uns und nahm mich bei der Hand. Neidisch sahen die drei mir nach. Wir gingen zur Wache. Der Uniformierte an der Glasschranke wollte die Miss und mich nicht passieren lassen. Die Miss verlangte, mit der Zentrale verbunden zu werden, sie videophonierte und übergab dem Wachoffizier die Verbindung. Er schaltete die Hochspannung ab und öffnete die Schranke. Wir gingen zur Ambulanz. Der Arzt trug ein Kleidungsstück, das wie ein Kostüm der Miss aussah. Er lachte und erklärte mir, es sei ein Kittel. Ich mußte mich hinlegen. Der Arzt wusch das Blut ab und band den Gummi-
schlauch los. Das Blut rann. Die Miss war unzufrieden mit dem Arzt. Sie sagte, eine Betäubung sei überflüssig. Ich sei schmerzunempfindlich. Der Arzt stach eine Nadel in meinen Arm, dann zwickte er mit einer Zange zwei Metallstäbchen über den Ritz. Er tätschelte meine Wange und sagte, ich sei ein tapferer Junge. »Was ist ein Junge?« fragte ich. Die Miss sagte, ich solle still sein. »Du weißt nicht, was ein Junge ist?« staunte der Arzt. Die Miss unterbrach ihn sofort und sagte, ich sei krank. Sie verbat sich jede Einmischung. Er habe sich an den Wortlaut der Weisung P 2005 zu halten. »Sind Sie fertig?« fragte die Miss. »Mit Ihnen bin ich fertig!« erwiderte der Arzt grob. Der Offizier salutierte diesmal und öffnete die Schranke unverzüglich. Die Miss beachtete ihn nicht. Die drei waren in der Spielecke dabei, den automatischen Grizzli zu demontieren. Sie beneideten mich um die Metallstücke in meinem Arm. »Das sind Klammern«, sagte die Miss am Abend, »und davon kann eine Narbe zurückbleiben.« »Für immer?« fragte ich. »Hoffentlich nicht«, sagte sie. Die Kameras durften wir nicht abdecken, weil wir damit Alarm auslösten. Aber wir wollten unbeobachtet sein. Wir krochen zu viert unter eine Bettdecke. Wir beschlossen, daß ich »die Narbe« bin. Keiner sollte es der Miss verraten. Früh nach dem Zähneputzen mußte ich allein spielen. Die Miss nahm die drei an die Hand. Sie standen in einer Reihe, ohne sich zu streiten, wer die Miss anfassen darf. Nach einer Stunde kamen sie zurück.
Sie hatten zwei Klammern aus Metall am Arm über dem Schnitt, wie ich ihn von der Glasscherbe hatte. Ich fragte: »Habt ihr über die Schmerzen gesprochen?« Sie lachten mich aus. Es machte Spaß, auf mich einzuschlagen – ich lachte und verriet nicht, was »Schmerz« bedeutet. Wir schlugen uns gegenseitig, weil wir vier waren, die alles miteinander teilten und die immer gleich sein sollten. Die Miss war sehr ernst, als sie uns vor Verletzungen warnte. Das sei das AUS in bezug auf die AUFGABE, sagte sie. Die erste Etappe des Ausbruchs war gelungen. Ein Mechanikerteam hatte mich im Hibernationsschrank aus der PHARMA geschleust und, weitab von der Stadt, mitten in der Wüste abgesetzt. Dort würde mich nur finden, wer informiert war, dort sollte ich die ersten Tage der Jagd auf mich allein überstehen. Ich fühlte mich im AUS. Es gab kein Zurück für mich. Das begriff ich erst allmählich: Ein Zurück bedeutete den Tod. Ich war sparsam. Ich habe die Kühlung nur minimal genutzt. Obwohl die Temperatur in DIOGENES auf über zweiundfünfzig Grad Celsius anstieg, habe ich nur zwei Maß Wasser getrunken. Ich hatte die genau berechnete Nährstoffration geschluckt und zwei Masse-Tabletten genommen. Sie füllten den Magen, betrogen ihn, hielten seine Funktion aufrecht. Pünktlich nach Ablauf jeweils einer Stunde wälzte ich mich in eine andere Lage. Ich lag eingepreßt. Jeweils fünf Minuten habe ich die Waden, die Schenkel, die Oberarme, die Unterarme und die Hände massiert. Meine Füße konnte ich nicht erreichen. Bereits sechzehn Stunden war ich allein. Ich redete mit DIOGENES. Ich hatte ihn allein für mich. Er stand mir näher als die Menschen – auch er wurde von ihnen gefertigt. Er war mein Partner. Gegen seinen kleinen Rechner löste ich Schachaufgaben und mathematische Probleme. DIOGENES war ein fairer Partner. Ich vertraute seinen Speichern.
Doch alle Beschäftigungen täuschten mich nicht über die Einsamkeit hinweg. Ein eigenartiges Gefühl – das Empfinden der Ruhe rings um mich. Ich kannte die Einsamkeit von den Überlebensübungen. Dort war das Ausharren-Können zum Ziel erklärt. Das hätte mir nun zugute kommen müssen, aber das absolute Verlassensein war neu für mich. Ich war einmal zwanzig Tage nur auf mich gestellt gewesen, aber ich hatte mich nicht einsam gefühlt. Ich hatte die Nähe der Ausbilder und meiner Brüder gespürt. Mit diesem Test wurde wie in allen ähnlichen Übungen unsere Leistungsfähigkeit überprüft. Immerfort dachte ich an die PHARMA und an das, was dort mein Leben war. Beim Aqua-Test im Trainingsbecken war ich fünfundvierzig Meter weit getaucht. Er erreichte die Fünfzig-Meter-Marke. Die beiden anderen waren schon nach zweiundvierzig und dreiundvierzig Metern wieder aufgetaucht. Die Miss belohnte stets den Sieger. Ich war eifersüchtig auf die fünfzig Meter und auf das Lob der Miss. Sie hatte ihm den Kopf gestreichelt, und ich sah, er hatte sich an sie geschmiegt. Eine Weile danach lag die Miss auf einer flauschigen Decke nahe der Mauer. Der Schatten verschaffte ihr Kühlung. Sie trug einen schwarzen Badeanzug. Sie war schön. Ich hockte mich neben sie. Ich wollte ihre Hand auf meinem Kopf spüren. Deshalb log ich. »Heute bin ich fünfzig Meter weit getaucht, aber ich bin überzeugt, bald werde ich die Fünfundfünfzig-Meter-Marke erreichen. Ich werde mir große Mühe geben, Miss«, sagte ich. »Ich muß täglich üben, darf mich nicht ablenken lassen und werde mich besser beherrschen lernen. Ich werde über die Bibliothek Literatur zu diesem Thema anfordern.« Sie hatte mich sofort durchschaut. »Ich bin schon mit deinen fünfundvierzig Metern einigermaßen zufrieden, aber ich freue
mich über deinen Eifer«, sagte sie. Sie richtete sich auf, sah mich noch einmal prüfend an, und dann streichelte ihre warme Hand über mein Haar. Die drei schwammen im Becken und beobachteten uns. Sie riefen mich. Ich winkte ihnen zu. Beinahe zwei Stunden mußte ich geschlafen haben. DIOGENES klebte an mir. Vielleicht aber war ich es, der an ihm festklebte. Ich nahm den Transmitter der Kühlung höher. Ich war benommen, wie betrunken. Es war Nacht. Ich irrte mich nicht, endlich war es Nacht. Unruhig hatte ich geschlafen. Mit dem biegsamen Glasfiberstab habe ich die Dicke der Sandschicht auf dem Ausstieg gemessen. Ich mußte den pneumatischen Öffner nicht betätigen. Zuletzt hatten wir streng auf Sicherheit gebaut, und da in der Wüste Sandstürme nicht selten auftreten, war damit zu rechnen, daß ich verschüttet werde. Unser Fluchtprogramm war in allen Varianten über den drittgrößten Rechner der FREE STATES gelaufen. Wir hatten die Daten einer Versicherungsgesellschaft eliminiert, diese Bahnen anders codiert und unser Programm durchgespielt. Wir sind gute Schüler gewesen, dankte ich in Gedanken der Miss und den Ausbildern und Trainern. Sie hatten uns beigebracht, wie man in jedes beliebige Kommunikationssystem eindringt und es benutzt. Der Rechner hatte uns den Erfolgsquotienten fünfundsiebzig ermittelt. Demnach war das Restrisiko vergleichsweise gering. Aus der Literatur und von den Ausbildern hatten wir gelernt, daß es Menschen gab, deren Erfolgsquotient beim Lösen einer Aufgabe annähernd Null war, und dennoch setzten sie ihr Leben ein. Meine Chance war dagegen relativ groß. Ich habe das abgefangene Kühlgas durch die bewegliche Düse über die dünne Sandschicht strömen lassen. Der Ausstieg war frei. Kaum hatte ich ihn aber geöffnet, rieselte unaufhaltsam feiner Sand auf mich.
Mein Körper gehorchte mir nur schwerfällig. Wäre ich ein vollwertiger Mensch, hätte ich sicher starke Schmerzen gespürt. Ich fühlte mich jedoch nur benommen. Der Sand ringsum atmete Hitze. Winzige Wellen flimmerten im Dämmerlicht. Meine Augen gewöhnten sich an die Konturen. Ich mußte mir Zeit lassen. Ich erschrak – unmittelbar neben mir rutschte eine Sandlawine in ein Wellental. DIOGENES lag gut getarnt. Ich schloß den Ausstieg, bedeckte ihn jedoch nicht mit Sand, wie ich es im Gedankenexperiment geplant hatte. Ich prägte mir die Positionen und die Konturen der Dünen ein und ging langsam, immer die rechte Seite als Außenfeld, im Kreis. Zu DIOGENES hielt ich immer den gleichen Abstand. Mein Körper gehorchte mir. Ich mußte durchkommen. Ich dachte an meine Brüder. Während der Überlebensübung haben wir mit Puppen trainiert. Sie waren größer und schwerer als wir. Ihre Körper bestanden aus weichem, festem Naturleder. Unsere Aufgabe war einfach: Die Puppe stand im Gelände, saß auf einem Stuhl oder war in einem Gebäude versteckt. Wir mußten uns geräuschlos anschleichen, den Hals mit aller Kraft umfassen und den Kopf ruckartig nach hinten drücken. Mit der freien Hand stießen wir das Messer in die Kehle. Das feststehende Messer mußte im Hals gedreht werden – besonders kam es auf Schnelligkeit und auf Perfektion an. Die Kehle ist ein knorpliges Gebilde. Den hervorspringenden Teil nennt man Adamsapfel. Auch wir haben Kehlen. Die Nachtübungen wurden komplizierter gestaltet. Es waren Hindernisse aufgestellt, die es zu umgehen galt und die, wenn sie berührt wurden, Signale von sich gaben. Verriet sich einer von uns, wurde ein »Nicht bestanden« im Computer-Psychogramm gespeichert.
In der dritten Nacht waren meine Finger klebrig, voller Blut. Das Blut roch schwach. Die drei bestaunten mich, sie hatten kein Blut an den Händen. Auch mein Messer war blutbeschmiert. Die drei behaupteten, ich hätte mich geschnitten, doch das entsprach nicht der Wahrheit. Sie mußten es zugeben, als die Miss kam. Sie beruhigte und streichelte mich. Ich müsse mir keine Gedanken machen, es sei alles in Ordnung. Die Puppe hatte gestöhnt, als ich zustach. Es war mehr ein Gurgeln gewesen. Ich war darauf nicht vorbereitet worden. Ich mußte ständig an den erstickten Laut und an das Blut denken. Ich verbrachte die ganze Nacht im Bad – ich beobachtete das abfließende Wasser. Die Miss sah nach mir, redete mit mir, machte mir Mut. Die drei lagen in ihren Zimmern wach und ärgerten sich. Es war der Neid, der sie einzeln zu mir trieb. Sie fragten mich wieder und wieder, wie es gewesen sei. Ihre Vorstellungen waren falsch. Nach drei Tagen kehrten wir von einer Nachtübung zurück. Die Hände der drei waren voller Blut. Ich stand in der Salzwüste und hatte das Gefühl, in der nächsten Sekunde könnten meine Zähne aufeinanderschlagen und meine Lippen zerbeißen. Ich war ausgekühlt. Den Kreis um DIOGENES hatte ich möglichst groß abgeschritten, um mich zu lockern, um die Blutzirkulation zu beschleunigen. Noch war der Kreis nicht geschlossen. Mein Blick war auf DIOGENES fixiert. Ich ging zu ihm zurück. Die Außenhaut des Hibernationsschranks hatte sich an den unbedeckten Stellen bis auf neunzig Grad Celsius erhitzt – wir hatten das auch getestet und für den Kühlkreislauf genutzt. Ich lehnte mich an DIOGENES. Etwas von seiner Wärme sollte in meinen Körper übergehen. Ich beschloß, den Sand aus meiner Liegestatt zu entfernen, aus den Ritzen, wo er mir die Technik, die Automatik gefährden konnte. Vorher wollte ich die Spuren beseitigen, die ich beim Spaziergang hinterlassen hatte.
Der Sand rieselte unaufhörlich. Quarzkörnchen sirrten leise im Wind – sie regten meine Phantasie an. Ich vermutete ein giftiges Tier, eine Schlange vielleicht oder einen Skorpion. Meine Mundhöhle war trocken. In dieser Wüste kann sich kein Tier aufhalten, erst recht nicht ein Mensch. Babette Fourier schreckte zusammen, strich sich mit der Hand übers Gesicht, als müsse sie trockenen Staub wegwischen. Sie stoppte den Bericht. Das Hologramm erlosch. »Caligula – Getränke, warum sind keine Getränke da?« Der Hauscomputer dirigierte den Magnetboten aus dem Versorgungsraum in Babettes Freizeitzimmer. Auf der Tragfläche stand ein schäumender Fruchtsaft. Als sie das Glas halb geleert hatte, wurden ihr die Worte Arkadij Carsons bewußt. Warum diese Geheimhaltung? fragte sie sich. Zumindest hätten die Eltern ihr diese Informationen nicht vorzuenthalten brauchen. Sie wollte mehr erfahren über diesen Menschen. Sein Bericht erzählte von einem korrupten System, von einer Gefahr, die noch heute ihre Eltern bedrohte. Sie hatte ein Recht darauf, mehr zu erfahren. Sie beugte sich vor, betätigte das Wiedergabegerät selbst. Babette hatte instinktiv ihren Rücken gegen die Wandpolsterung gedrängt. Langsam wurde das Panoramagewölbe sichtbar. Es ähnelte der inneren Kuppel eines Planetariums. »Caligula!« Der Hauscomputer reagierte unverzüglich. Der Holograph projizierte das Porträt Arkadij Carsons. Er begann zu sprechen. DIOGENES hatte sich als mein Feind erwiesen. Ich konnte ihn entlarven. Sicher ist er schon immer mein Feind gewesen. Er hat eine Doppelrolle gespielt. DIOGENES hatte mich zerschunden. Ich fürchtete mich. Meine Haut hing an den Druckstellen in Fetzen, besonders an der Hüfte, an den Kniegelenken, den Ellenbogen, an den Schultern und am
Kopf. Den Medikamentenvorrat hatte ich verbraucht. Der aufdringliche Geruch meines eitrig-brandigen Fleisches ließ den Tag in der hermetischen Enge zur Qual werden. Schon immer hatten wir die Schmerzunempfindlichkeit nicht nur als einen Vorteil, wir hatten sie auch als bedrohlichen Mangel erkannt. Eine erstrebenswerte Fähigkeit für mich wäre gewesen, gegen Gerüche unempfindlich zu sein. Ich träumte davon, mich zu waschen, in einem See mit kristallklarem Wasser zu baden. Ich wollte in der kühlen Flut schweben, mich von den lindernden Wellen tragen und treiben lassen, doch ich mußte in DIOGENES ausharren. Ich hatte mich mit Proxinanti vollgestopft. Wundfieber und eine Blutvergiftung hatte ich also nicht zu befürchten. Was mich ängstigte, war die Wirklichkeit. Ich konnte sie nicht analysieren. Vielleicht fürchtete ich erstmals um mein Leben, mein Leben als Einzelwesen. Ich war allein und hatte das Gefühl, ganz allmählich zu zerfallen. Ich würde den Zerfall nicht aufhalten können. In den Wunden rieb der Sand. Ich hatte Probleme mit der Verdauung. Daß wir nicht daran gedacht hatten: Ein Schächtelchen Pillen – ein Problem weniger. Die konzentrierte Nahrung, die ergänzenden Tabletten, das ist eine Notlösung gewesen, sie konnte die notwendigen Ballaststoffe und die Bewegung nicht ersetzen. Die leistungsstärksten Computer konnten mit ihren Variantenberechnungen immer nur ein elektronisches Spiel bleiben, dem Variantenreichtum der Praxis haushoch unterlegen. Wie viele Fehler mögen uns unterlaufen sein, in welche Situationen würden mich die Abweichungen von der Realität, mochten sie noch so geringfügig sein, noch bringen. Ich war dankbar, schmerzunempfindlich zu sein, denn sonst wäre ich sicher ein Bündel rasender Schmerzen und dem Wahnsinn nahe gewesen. Ich haßte die schwere Uhr an meinem Arm. Unmöglich, daß ihr der Sand hatte etwas anhaben können, und dennoch – sie belog mich. Sie war intakt, aber sie war eine Betrügerin. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte ich noch vier Tage bis zum Termin in dieser sandig-krustigen Einöde ausharren müssen und, was noch
schlimmer war, ich hätte mit meinem Feind DIOGENES leben oder durch ihn sterben müssen. Exakt zählte die Uhr jede vergehende Sekunde. Ich begann, das Genaue, das Gründliche und das Pünktliche zu hassen. Meine Glieder konnte ich nicht mehr massieren. Mit jedem Strich der Hand zum Herzen hin hatte ich ein Gemisch von feinen Härchen, Eiter, Sand und Blut an den Händen. Wieder begann ich mir einzureden, daß die Uhr einen Defekt habe und ich schon länger als einen Monat im Bauch dieses Metalltieres liege. DIOGENES verdaute mich. Noch lebte ich, aber ich wurde langsam und gründlich aufgelöst. Schaum und Gestank würden für kurze Zeit von mir bleiben – und die Uhr. Eigentlich war es interessant, diesem biochemischen Vorgang beizuwohnen. Aber er betraf mich. Ich war verlassen, vielleicht sehnte ich mich unbewußt zurück in die STATION. Dort bin ich nie allein gewesen. Ich wußte zu guter Letzt immer: Ein Team von Ausbildern und Beratern wacht über mich, auch wenn ich sie nicht zu sehen bekomme oder sie nicht erkenne. Wir hatten gefrühstückt, wir waren aufgeregt. Die Miss sah oft zur Uhr. Sie war nervös, sprach mit der Zentrale, jedoch ohne die optische Wiedergabe, und sie sprach leise, damit wir nichts verstanden. Auf dem Tagesplan stand: FAHRSCHULE. Darauf freuten wir uns. Dann kam, verspätet und verlegen, der Fahrer, der unseren Kleinbus fuhr. Er meldete sich über Monitor, und wir sahen seine Angst. Als er vor der Miss stand, knautschte er seine Mütze, und er entschuldigte sich ständig. Wir lachten über sein würdeloses Verhalten. Er war wohl ein freier Mann, doch er war nicht von hohem Wert, und auch seine Aufgabe war gering. Vielleicht gab ihn uns die Miss zum Töten frei. Wir befürchteten, sie würde es nicht tun, und das nur, um es nicht zum Streit unter uns kommen zu lassen. Wir fuhren zum Übungsobjekt. Die Angst des Fahrers vor uns konnten wir riechen. Wir kannten den Weg, der immer auf der
Betonpiste entlang bis zur dritten Kontrolle führte und dann durch den Wald. Die Bäume standen in vollem Laub. Dieser Landstrich war für uns als ökologisches Schutzgebiet getarnt worden. Die Bevölkerung betrat diesen Wald nicht, er galt als Errungenschaft der Ökologie-Bewegung. Es war gesunder, optimal wachsender Wald. Vor dem Gebäude, in dem der Fahrunterricht stattfand, war ein fremder Kleinbus geparkt. Wir waren verblüfft und stießen uns an. Vier Individuen, die etwa so alt wie wir sein mochten und die einander aufs Haar glichen und uns vertraut schienen, standen neben dem Bus und sahen zu uns herüber. Sie hatten Overalls an wie wir, und trotzdem sahen wir die kleinen Brüste. Ihre Gesichter sahen weich aus – beinahe lieb. »Frauen!« »Mädchen, Jungs, das sind Mädchen!« Eine Fremde, eine Frau, trieb ihre Schützlinge in den blauen Kleinbus. Die Mädchen – wir hatten sie nie zuvor gesehen und kannten doch jedes Detail ihrer Gesichter. Sie sahen heimlich zu uns herüber. Eines der Mädchen stolperte beim Einsteigen. »Sie hat mir ein Zeichen gegeben!« »Mir!« »Wollt ihr wohl still sein!« schnauzte die Miss mit der Stimme, mit der sie Strafen zu verkünden pflegte. Augenblicklich schwiegen wir. Wir sahen die Mädchen nicht mehr. Der Bus hatte die Sorte Scheiben wie unser Bus – von außen konnte man nicht hineinsehen. Wir stiegen in unseren Bus ein, fuhren zur Tiefgarage, mußten aussteigen. Die Miss holte uns ab. Mit ihr kam ein Fremder. »Das ist der neue Fahrlehrer«, sagte sie. Wir stiegen in einen schwarzlackierten Personenkraftwagen. Es war unsere erste praktische Übungsstunde. Es galt, die am Simulator erworbenen Kenntnisse in der Praxis anzuwenden.
»Wenn ihr perfekt seid«, sagte die Miss, »werdet ihr in die Stadt fahren. Ihr werdet im normalen Verkehr englische, russische und deutsche Wagentypen fahren – auch den Japaner, der sich den aerodynamischen Verhältnissen je nach Geschwindigkeit anpaßt und vollautomatisch läuft.« Die Teststrecke führte durch den jungen Wald. Sie war reich an Überraschungen verschiedener Schwierigkeitsgrade. Es gab plötzliche Steigungen, Schotterstrecken, Sandfallen, Wasserlöcher. Wir fuhren den schwarzen Wagen voll aus. Der Monitor warnte vor einer Kurve, neunzig Grad. Wir nahmen die Kurve mit Bravour, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln. Der Monitor warnte vor einem Hindernis auf der Fahrbahn. Wir fingen den Wagen gut ab. Hinter uns wirbelte eine zerknautschte Mütze in die Luft. Es war herrlich, zu fahren, aber wir vergaßen die Mädchen nicht, die der Miss so sehr ähnelten. Wenn sie die Töchter der Miss waren und wir – wir wagten nicht, weiterzudenken. Unbedingt mußten wir uns Material über Genetik und über die Ethik des Menschen beschaffen. Wir konnten die Mädchen nicht vergessen. Die Geräte von DIOGENES arbeiteten unaufhörlich, aber ich konnte ihre Signale bald nicht mehr entschlüsseln. Ich tastete nach dem grünglimmenden Sensor – er würde mich von allen Qualen befreien. Zu jeder vollen Stunde würde das winzige Sendegerät zielgerichtet auf der vorgesehenen Frequenz das Signal ausstrahlen, auf das der Doktor oder einer seiner Freunde wartete. Bis Hilfe kam, bis mir jemand beistehen konnte, beschäftigte ich mich mit meinen Erinnerungen. Im Sommer saßen wir freitags abends oft im Garten, im Schatten einer Mauer, die den Sicherheitszaun verdeckte. Stets spürten wir den Ernst dieser Stunden. Sie sollten unserem Leben Halt geben. Wir werteten unsere Leistungen aus und lernten. So wuchsen wir, markiert von diesen Höhepunkten, in die perfekte Beherrschung unserer AUFGABE hinein. Diese Freitagabende hatten die höchste Quote in der Skala unserer Gefühlsmerkfähigkeit.
Wir saßen wie gleichberechtigt im Kreis, auch die Miss – eine lediglich an Jahren reifere Freundin. Wir brannten darauf, ihr einen Bericht über unseren inneren Zustand zu geben. Sie analysierte unsere Informationen und bereitete sie für das Psychogramm auf. Ein kaum zu zähmender Drang zum Reden beherrschte uns. – »Das Unterwassertraining hat meine Kenntnisse wesentlich erweitert. Dort gelten andere Gesetze, das fängt schon bei der Fortbewegung an, bei den optischen Effekten. Ich werde diese Gesetze zielgerichtet auskundschaften.« – »Die Korallenbänke haben Erinnerungen in mir geweckt, unbewußte, die mit den Märchen der frühen Lerndekaden gewisse Ähnlichkeit aufwiesen.« – »Es tut mir leid, Miss, daß ich die Spezialkamera fallen ließ. Ich möchte mein Versagen durch höhere Leistungen ausgleichen.« »Wir vergessen es«, sagte die Miss, »ich habe es bereits vergessen.« – »Ich danke Ihnen, Miss!« – »Die Seminare mit dem Professor, das sind Höhepunkte! Meine Einstellung dazu, was Literatur und was Lohnschreiberei ist, hat sich grundlegend gewandelt. Für mich sind die Worte transparent geworden, durchsichtig wie Glas sogar. Ich sehe die Figuren handeln und leiden. Ich kann unterscheiden zwischen den Krüppeln der Schreiberlinge und den Gestalten der Weltliteratur.« – »Ich bin auf den Begriff ›Satansbraten‹ gestoßen und kann ihn nicht deuten.« – »Ich möchte in die Stadt. Das will ich, und ich begreife nicht, Miss, warum zum Teufel das nicht gehen soll!« Die Miss antwortete nicht sofort. Sie sah uns der Reihe nach in die Augen. Es kam einer Prüfung gleich, und wir mußten Energie aufbringen, uns nicht zu verraten. Darauf warteten wir alle: auf die Entdeckungsreise in die Stadt, ins weite Land. Wir hatten paradiesische Vorstellungen davon.
»Ihr wißt, ihr seid krank. Infolge einer Strahleneinwirkung, einer Schädigung möglicherweise, mutierte euer Organismus. Euer Leben ist in jedem Augenblick gefährdet. Glaubt ihr etwa, alle die Bemühungen und die Ausgaben, die aufgewandt wurden und es in Zukunft noch werden, entbehrten einer gewichtigen Grundlage? Nie habe ich verschwiegen: Die Mutation in eurem Fall wird von Ärzten und Spezialisten als äußerst positiv eingeschätzt. Ihr habt Möglichkeiten in euch, die weit über das Normalniveau hinausragen. Von euch erhofft die Menschheit sich eines Tages Großes. Das schließt Beschränkungen nicht aus, im Gegenteil, mit etwas besonders Wertvollem geht man besonders behutsam um. Man schützt es vor Schaden. Wir verzichten auf den Alleingang, einverstanden?« »Wenn wir eines Tages die Größten werden – einverstanden!« – »Wir beherrschen die zweite Stufe des SchachcomputerProgramms, Miss. Jeder ist fähig, den Computer zu besiegen. Nur die dritte Stufe bereitet uns gegenwärtig Kopfzerbrechen. Doch wir schaffen es. Dann sind wir theoretisch in der Lage, die Großmeister aller Zeiten zu besiegen.« – »Miss, ich habe – von meiner Mutter geträumt!« – »Er lügt!« – »Du lügst!« – »Ich lüge?« – »Bitte, Miss, sagen Sie ihm, daß er lügt!« Die Miss ging nicht auf den Traum und auf unsere Reaktionen ein. Zärtlich streichelte sie dem Lügner übers Haar. Ich spürte einen rasenden Schmerz in mir. Ich verbarg meinen Schmerz und übertönte ihn mit der Frage: »Sind Sie unsere Mutter, Miss?« Alle sahen mich bestürzt an. Ich sah Qual auf den Gesichtern der drei. Die Miss war verlegen geworden. Sie atmete tief. »Nein, das bin ich nicht. Ich bin es ganz sicher nicht, solange solche Fragen aufkommen können. Ich werde bezahlt, sehr gut bezahlt sogar. Ich bezeichne mich trotzdem als Idealistin, und ich
will, daß die Menschheit von der Knechtschaft der Gleichheit befreit wird. Ich wünsche mir, ihr zählt euch ebenfalls zu den Idealisten, nicht zu den Waisenkindern. Ich liebe euch!« sagte sie. Sie war rot im Gesicht. An diesem Freitagabend ließ sie uns die vier Mädchen schicken, die vollkommen gleich aussahen und der Miss derart ähnelten, daß wir bestürzt und tatenlos vor ihnen standen und Befehle erwarteten. Schweigend sahen wir uns an, bis die Mädchen zu lachen begannen. Sie ließen uns stehen. Noch in derselben Nacht brachen wir in das Informationssystem eines fremden Rechenzentrums ein, um zu Hinweisen auf unsere Herkunft zu gelangen: – Am 1. 3. 1980 wurde die erste RETORTENBABYKLINIK geschaffen. Die Spezialisten schlossen von vornherein nicht aus, daß aus überpflanzten Embryonen einige Kinder mit Abweichungen von der Norm geboren werden könnten. Die Transfer-Methode begünstige Mutationen. – In laborbefruchteten Zellen wurden in erhöhter Zahl anormale Chromosomen entdeckt. – Durch künstliche Befruchtung entstandene Embryonen stellten lediglich Zellhaufen dar, sagte Professor S. M. Schneider. Ein auf diese spezielle Verfahrensweise erzeugter Zellhaufen sei kein Individuum, wenn er auch dem Menschen in fast allen Merkmalen gleiche. »Was ist das?« »Ich bin unserer Mutter auf der Spur.« Ich tippte eine neue Textanforderung in den Computer. – Einer unabhängigen Firma ist es gelungen, im Labor gezeugte menschliche Embryonen in Tiere zu transplantieren und diese Embryonen von den Tieren austragen zu lassen. »Finsteres Mittelalter – Kinder aus dem Bauch eines weiblichen Rinds oder eines Delphins!« »Du mußt nicht lesen, was ich lese!«
»Ich möchte bitte mitlesen. Es stößt mich so merkwürdig ab. Und übrigens ist Gen-Beeinflussung international streng verboten.« – Die Embryonentransplantation avanciert gegenwärtig zur aussichtsreichsten Technologie für die Züchtung einer genetischen Elite. »Die theoretische Begründung – Moment…« Ich gab die Forderung ein. – Ausgabeeinheit gesperrt – Ausgabeeinheit gesperrt – Aus… »Warum siehst du mich so merkwürdig an?« »Das wollte ich dich fragen«, sagte ich, doch wir stritten uns nicht. Ich nahm seine Hand in die meine und drückte sie. Wir preßten unsere Hände ineinander wie Verschwörer. Ich verdanke DIOGENES viel. Sein Signalgeber leitete den Rettungshubschrauber der Klinik in D. sicher zu mir. Zehn Tage hatte ich in DIOGENES ausgeharrt, zehn Tage war ich für meine Verfolger nicht zu finden gewesen, hatte ich mich in Sicherheit befunden. Der Hubschrauber landete, wie vorgesehen und vom Signalgeber präzise geführt, in der zehnten Nacht in der Wüste. Ein Professor, eine Ärztin und zwei Sanitäter stiegen aus. Sie schritten ein vorgegebenes Areal ab und fanden endlich DIOGENES, und als sie ihn öffneten, fanden sie mich. »O Gott, dieser Mensch lebt noch!« waren die ersten Worte der Ärztin. Der Hubschrauber flog, nachdem das Team alle Spuren beseitigt hatte, zurück in die Klinik der Stadt D. DIOGENES wurde gleichfalls nach D. geflogen und dort vernichtet. In der Nacht, in der ich geborgen und gerettet wurde, registrierte der Computer in der Einsatzzentrale des Bundesstaates einhundertsiebenundzwanzig Unfalltote. Zweiundsiebzig Leichen waren männlichen Geschlechts. Unter ihnen befand sich ein Mr. Nelson
Haxwell. Er war Friedensnobelpreisträger. Seine außergewöhnliche Persönlichkeit sollte mein Schutzmantel werden. Ich wurde Nelson Haxwell. Die Presseagentur der FREE STATES brachte am Tag darauf in einem lapidar kurzen Bericht, der über die Medien der STATES verbreitet wurde, zum Ausdruck, daß es nationale Ärzte waren, die das Unmögliche vollbracht hatten, die den erklärten Gegner der demokratischen Ordnung der FREE STATES Nelson Haxwell von den Toten auferweckten. Solche Toleranz sei nur in einer wahrhaft freien Demokratie möglich. An diesem Tag noch sagte sich Mrs. E. V. Haxwell offiziell von ihrem Gatten los. Ihre finanzielle Lage gestaltete sich infolge der Trennung positiv. Sie zog drei Tage nach dem Unfall ihres ExGatten, trotz seiner an ein Wunder grenzenden Auferstehung, in den Norden der FREE STATES, nahm dort einen anderen Namen an und war bald darauf in den Datenkarteien nicht mehr auffindbar. Ihre Scheidungsklage bildete eine der Grundlagen für mein zweites Leben. Ich war nicht ihr Mann, ich sah anders aus, aber ich lebte. Babette biß sich vorsichtig in die Hand. Sie hatte das Gefühl, nicht bei sich zu sein, sich in ihren Freizeitraum zurückrufen zu müssen. Sie spürte kaum Schmerz. Vielleicht war sie von der Vorstellung verfolgt, den Weg eines Klons zu begleiten, und das ließ sie nervös reagieren. »Caligula, taste mich ab und gib meine Parameter in den Holographien«, sagte sie und legte sich nieder. Sie mußte daran denken, daß einige der Vorfahren in technischen Geburtsmaschinen entwickelt wurden. Gedanklich konnte Babette keine tragfähige Brükke zu diesen Vorgängen schlagen. Die Miss, der Minister, vielleicht Präsident Newman selbst – sie sind in Wahrheit die Aus-der-ArtGeschlagenen, die Entarteten, so dachte sie. Ihr irrsinniger Machtanspruch hat sie verlockt, Herrscher und Schöpfer zugleich – Gott sein zu wollen.
Babette spürte nicht nur die Gefahr, die von der Raumkugel NOAH II ausging und von der man in der LYR einiges mehr als sie wissen mußte – es war auch das unheimliche Gefühl, daß eine große Anzahl Klons noch mitten unter den Menschen lebte. Alte Leute sicher, aber wie hatte Arkadij Carson gesagt: Eine Kolonne reproduzierter Menschen. Klons, vielleicht mit einem genetischen Code versehen, der ihnen auf Abruf befahl, zu töten – unabhängig von ihrem Willen und eventuell auch noch in der zweiten, dritten oder gar zehnten Generation? Die Wahrscheinlichkeit lag nahe. Babette wollte mehr erfahren und dem Computer den Befehl geben, den Informationskristall weiter abzuspielen, als der mit einem Wortstreifen reagierte: MADEMOISELLE FOURIER CALIGULA MÖCHTE IHRE GÜNSTIGSTE HALTUNG IM HOLOGRAMM ZEIGEN »Danke. Ich will mich sehen!« forderte sie den Computer auf. Im Panoramagewölbe, für das Caligula aus nur ihm bekannten Gründen einen violetten düsteren Hintergrund gewählt hatte, sah Babette sich drehen und gehen. Sie betrachtete sich ausgiebig und suchte Ähnlichkeiten an ihrem Abbild – Ähnlichkeit auch mit einem Klon? Nein, sie hätte nicht sagen können, was sie suchte – etwas Tierhaftes oder Austauschbares womöglich? Ihr Hologramm kam ihr fremd vor. Sie sah sich – eine junge Frau, mit langem, blauschwarzem Haar, blasser Haut und mit dunklen, ausdrucksvollen Augen. Sie war ihm entfernt ähnlich, ihm, dem Mann, der schon als Kind das Morden gelernt hatte. Sie beherrschte mühelos vier Sprachen, sie galt als Sprachtalent. Sie spürte, wie sie fror. Ihre Hand glitt über die Sensorenleiste. Ihr Bild erlosch. Unsinn, dachte sie, wer Ähnlichkeiten mit anderen an sich entdecken will, der findet sie auch. ›Babette‹, schimpfte sie in Gedanken, ›du mußt dich nicht verrückt machen lassen. Du bist in Ordnung, und du hast hart für das Examen der Grundausbildung gearbeitet.‹ Sie lachte still, als lache sie sich ein bißchen aus.
Sie richtete sich auf. Sie mühte sich, die Eindrücke zu ordnen, ihre Gedanken sachlicheren Dingen zuzuwenden. Sie wußte, im Jahre 37 hatte eine globale Katastrophe eingedämmt werden können. Eine Flutwelle war von einer Gruppe Menschen der FREE STATES ausgelöst worden. Präsident Newman und diese von ihm geführte Gruppierung sollte zur Verantwortung gezogen werden, konnte jedoch nicht gefunden werden. In großen Regionen kämpften die Menschen ums nackte Überleben. Ganze Landstriche der nördlichen Halbkugel der Erde mußten geräumt werden. Babette erinnerte sich der sauberen Flüsse und Seen, der grünen Wälder und der gesunden Luft, die sie ein knappes halbes Jahrhundert nach der Flutkatastrophe in Alaska kennengelernt hatte. Alaska, von dem es einmal geheißen hatte, es sei versunken wie einst Atlantis. Sie verglich die Gegenwart mit den Bildern aus der Vergangenheit. Sie begriff das Unglück und die Schönheit ihres zukünftigen Berufes gleichermaßen. Babette ging auf die Terrasse hinaus. Hell schimmerten die Lichterketten im Tal. Babette atmete die frische Nachtluft tief ein. Sie suchte mit Blicken den Himmel ab, als könne sie so den Kontakt zu ihren Eltern herstellen. Sie fand das blasse Bild der Leier, überdachte die ungeheure Entfernung zur Wega, überschlug die 8,1 Parsek in Lichtjahre, rechnete die Lichtjahre in Flugjahre um und kam zu dem verblüffenden Schluß, daß ihre Eltern unmöglich dorthin fliegen würden. Irgendwo, vielleicht im ersten Drittel des Weges, mußte sich die LYR befinden – anders waren die für die Rückkehr angegebenen drei Jahre nicht zu erkennen. Sicher hatte die LYR die Raumkugel mit dem biblischen Namen NOAH II längst erreicht. Die Notrufe, die von der NOAH II seinerzeit gekommen waren, zeigten, daß die Menschen an Bord ihr beabsichtigtes Ziel nicht erreichen konnten. Sie brauchten Hilfe. Wem aber sollte geholfen werden – den geflohenen Generälen und Lobbyisten, Präsident Newman? So alt vermochte kein Mensch zu werden.
Theoretisch steuerte nunmehr schon die dritte Generation der Raumpiloten die NOAH II, diese gigantische Raumkugel. Babette seufzte unwillkürlich. Fragen und Ungewißheiten! Auskünfte konnte weder der Lerntrainer geben, noch waren sie gegenwärtig von den Eltern zu erhalten. Trotz aller Sorgen fühlte sich Babette erfrischt. Fröstelnd betrat sie ihren Freizeitraum, schaute auf das Wiedergabegerät, auf den Holographen, und dann sagte sie betont enthusiastisch: »Gib dir einen kräftigen Schub, Caligula!« Im Panorama-Gewölbe erschien wieder das Bild von Arkadij Carson. Ein kühles, schleimiges Konglomerat hielt meinen Körper und meinen Verstand gefangen. Einmal – es war wie das Auftauchen aus dem Wasser nach einem Sprung aus großer Höhe – sah ich schemenhaft ein über mich gebeugtes Gesicht. Ich wünschte, wieder in mein kühles schützendes Nichts zurückzugleiten, doch das Gesicht hielt mich fest. Nach außen hin zeigte ich keine Anteilnahme. Und dann erwachte ich aus der Ohnmacht. Ich regte mich nicht, aber ich registrierte. Ich lag in einem Bett. Das Bett stand in einem Raum, dessen Wände gefliest waren. Ungewöhnlich geformte Lichtquellen waren an der Raumdecke installiert. – Den Gedanken aber, daß jeden Augenblick die Miss kommen könnte, mir meine Niederlage zu bestätigen, den konnte ich nicht aus meinem Denken bannen. Meine Arme waren mit Lederschlaufen am Bett festgezurrt. Die Lederschlaufen führten zu Metallösen am Bettgestell. Die Arme waren in eine weiße, zähe Paste eingehüllt. Unter den Lederschlaufen lag eine dünne Schicht Verbandmull. Mehrere Schläuche führten in die Armbeuge und in die Venen am Gelenk. Ein Schlauch steckte in meiner Nase. Ich fühlte nichts.
Erneut bemerkte ich das Gesicht. Ich konnte nur das farbig abgehobene Oval erkennen und den Haaransatz. Und mein Geruchssinn verriet zusätzlich die Nähe eines Menschen. »Haben Sie in der PHARMA ein besonderes Präparat ständig einnehmen müssen?« fragte eine Frauenstimme. Es war nicht die Miss. Ich wendete den Kopf hin und her, jedenfalls entsprach die Energie, die ich aufbringen mußte, dieser Bewegung. Ich konnte nur hoffen, verstanden zu werden. Ich spürte die Spannung meiner Gesichtshaut und stürzte zurück in die Halluzinationen. Ein sanfter, kaum spürbarer Schmerz erschreckte mich. Meinen Fall in die Tiefe fing ich durch bewußtes Erinnern ab. Wir fuhren mit dem schweren russischen Wagen in der Stadt umher. Überheblich sahen wir auf die mickrigen Energiewagen herab. An das scheinbar endlose Band nebeneinander und hintereinander fahrender Wagen gewöhnten wir uns nach kurzer Zeit. Auch an die Fahrer, die ihre Wagen nicht unter Kontrolle zu halten vermochten – anders konnten wir uns nicht erklären, warum sie plötzlich und völlig unmotiviert auf eine andere Fahrbahn wechselten, allen Regeln spottend. Wir lösten uns stündlich ab. Erstmals waren wir ohne Fahrlehrer unterwegs. Der russische schwarze Wagen erregte einiges Aufsehen bei den Leuten. Schwarzer Lack und Kraftstoffantrieb blieben gewöhnlich den Regierungswagen vorbehalten. Passanten blieben stehen und sahen uns nach. Einmal winkte ein Kind am Fahrbahnrand, bis es von seiner Mutter unsanft weggezerrt wurde. Uns kam es vor, als verfolge die Miss kein bestimmtes Ziel. Sie ließ uns die Richtung nach Gutdünken wählen und nannte unseren Ausflug eine Fahrt ins Blaue. An der Ecke 147. Straße sahen wir einen Unfall. Zwei Wagen waren aufeinandergeprallt, ein E-Car lag umgestürzt auf der Fahrbahn. Ein Mensch lag daneben, er blutete. Sicher war er nicht mehr zu gebrauchen.
Zu Mittag saßen wir im »Grand City House« in der 32. Straße. Der Oberkellner verhielt sich absolut korrekt. Er beriet uns ausführlich und zuvorkommend. Mit einem dezenten Kompliment lobte er die Miss wegen ihres jugendlichen Aussehens und wegen des tadellosen Benehmens ihrer Söhne. Ihre gebräunte Gesichtshaut gewann ein wenig an Farbe. Wir sahen uns an, ein Lächeln zeigten wir nicht. Beim Dessert entdeckten wir einen rauchenden Menschen. Der Mann saß am Nachbartisch. Wir beobachteten ihn fasziniert. Er sah intelligent aus. Um so unverständlicher war, mit welchem Genuß er das Gift in langen Atemzügen inhalierte. Er sog den Rauch tief in sich ein – wir stellten uns die biochemischen Vorgänge in seinem Körper bildlich vor. Die zartempfindlichen Alveolen der Lungen mußten nicht wiedergutzumachenden Schaden nehmen. Die Miss ermahnte uns. Sie flüsterte, es sei unhöflich, Fremde neugierig zu mustern. Auch fühle sie sich vernachlässigt, sagte sie, und das dürfe man einer Dame nicht antun. Nicht einmal Söhne dürften das. Wir mußten zur Toilette – alle vier. Wir sagten, das sei bei Vierlingen durchaus nicht verwunderlich. Die Miss lächelte. Den Wagenschlüssel aber hatten wir. Wir flüchteten durchs Toilettenfenster. Wir starteten den Wagen, wir fuhren. Wir waren kaum fünfzehn Minuten vom Motel weg, als wir bemerkten, daß uns eine Polizeistreife verfolgte. Wir befanden uns – entgegen unserem Plan – noch im Stadtgebiet. Wahrscheinlich hatten wir die zur Fernstraße führende Einmündung übersehen. Wir saßen in die Polsterung gepreßt – wir fuhren Höchstgeschwindigkeit. Bald waren es drei Polizeiwagen, die uns nachjagten. Sie fuhren nun mit Signalhorn, und die Energiewagen, Transporter und Busse bildeten eine Gasse für die Polizei. Daß sie die Fahrbahn räumten, wirkte sich vorteilhaft auch für uns aus. Natürlich gaben wir nicht auf.
Es war wie die Übung, die einer der Fahrlehrer mit uns durchgespielt hatte. »Ausräumen« hatte er sie genannt. Wir mußten am Simulator die Aufgabe lösen, die vor uns auf der Fahrbahn befindlichen Objekte einzuholen und zu rammen, ohne selbst größeren Schaden zu nehmen. Unser etwas schwerfälliger Wagen lief hochtourig. Er hielt die Geschwindigkeit konstant durch. Wir waren sehr schnell, unser Treibstoff wirkte sich vorteilhaft aus – es war original-arabisches Benzin, nicht das mit Bio-Alkohol gestreckte Gemisch, das es an den Tankstellen der Regierung der Staaten gab. Wir waren erstaunt, in welch kurzer Zeit es der Miss gelungen war, die als träge verschriene Polizei auf uns zu hetzen. Wir fuhren risikofreudig – um überholt zu werden, war unser Wagen zu schnell, war der zwischen den Fahrzeugen gebliebene Streifen zu schmal. Unvermutet tauchte ein kanariengelber Kleinwagen vor uns auf. Wir erwischten ihn seitlich. Es krachte, die Flanke des Kleinwagens wurde aufgerissen, der Fahrer reagierte falsch – er riß die Hände vors Gesicht. Wir fingen unseren Wagen ab, der Motor stöhnte einen Moment, dann lief er wieder auf Vollast. Aus der Einmündung 58. Straße heraus kam uns ein Polizeifahrzeug entgegen. Die Polizei wollte uns abblocken. Ich bremste stark, entdeckte eine Lücke und gab Vollgas. Bald war unser Vorsprung wieder gesichert. Hinter uns stieg eine Rauchwolke auf – mehr konnten wir nicht erkennen. Es war genug – wir verständigten uns. Ich trat voll auf die Bremse. Hinter uns krachte es erneut. Wir lachten – die Polizeiwagen waren aufeinandergefahren. Wir saßen schon eng zu viert in der zweiten Sitzreihe unseres russischen Wagens und warteten. Zuschauer hatten wir leider nur wenige. Die Straßen waren fast leer, nur das ohrenbetäubende Sirenengeheul war zu hören. Die Polizisten stürmten auf uns zu, rissen die Türen auf und hielten uns ihre Waffen vor. Ihr Tun war derart unsicher und unge-
schickt – wären wir bewaffnet gewesen, keiner dieser Männer hätte die nächsten Sekunden überlebt. »Das sind ja Kinder!« schrie ein Polizist. »Wie alt seid ihr?« fragte er. »Vierlinge!« staunte ein anderer. »Hände in den Nacken! Aussteigen!« Die Sirenen verstummten. Wir stiegen aus. Wir wurden abgetastet, überall. Es war demütigend, aber wir behielten die Nerven. Inzwischen stand eine Masse gestikulierender Neugieriger um uns herum. Ständig kamen noch Passanten hinzu. »Was heißt hier Kinder! Verbrechergesindel!« schrie ein alter Mann. »Der Vater hat das Geld dazu, er bezahlt die Leichen!« »Lyncht sie!« rief eine Frau. »Gehen Sie weiter!« brüllte einer der Polizisten. Ein schwarzer Wagen bremste. Ein Offizier stieg aus. Er sprach mit den Polizisten und befahl uns, in unseren Wagen einzusteigen. Er setzte sich ans Lenkrad. Er kam mit der Schaltung nicht zurecht. Er wußte nicht, daß der russische Wagen gekuppelt werden muß. Wir gaben ihm die notwendigen Tips. Inzwischen hatten die Polizisten uns den Weg einigermaßen freigemacht. Der Offizier fuhr ungeschickt mit einem Ruck an. Der Wagen streifte einen alten Mann und warf ihn um. Er war schuld. Warum war er nicht rechtzeitig ausgewichen. Neugierige starrten in unseren Wagen und drohten uns. Wir mußten lachen. Der Offizier fragte, ob wir von der PHARMA seien. Wir gaben die verschlüsselte Antwort. Er nickte uns zu und fuhr ins Stadtzentrum zurück. Auf einem Platz war ein Hubschrauber der Armee gelandet. Der Offizier verließ den Wagen, er näherte sich zwei Männern in Zivil. Er reichte ihnen die Hand. Sie redeten kurz miteinander – uns schien er augenblicklich vergessen zu haben. Die zwei Männer kamen zu uns in den Wagen. Sie musterten uns kurz und nickten sich zu. Sie kannten sich auch mit den Eigenheiten des
Wagens aus. Sie redeten weder mit uns noch miteinander. Vor dem »Grand City House« hielten wir an. Die Miss stieg ein. Wir rückten zusammen. »Habt ihr irgendwelchen Schaden genommen?« fragte sie und musterte uns. Wir senkten unsere Blicke. »Wir sind unversehrt, Miss«, antworteten wir. Sie trug dieses spitzbübische Lächeln im Gesicht, das sie aufsetzte, wenn ihr eine Überraschung gelungen war oder wenn sie uns eine Freude bereitet hatte und wir nicht wußten, wie wir danken sollten. Der fremde Fahrer bog zur Highway ab, die zu der Piste führte, auf der man zum Gelände der PHARMA gelangte. Vor der Glasschranke zur STATION hielt der Wagen. Wir warteten auf die Worte der Miss, auf ihre Wertung. Die beiden Fremden schauten unbeteiligt und schwiegen. Die Miss lächelte. »Heute abend gibt es flambierten Pudding. Ihr mögt doch Pudding?« fragte sie. »Pudding ist unser Lieblingsessen!« riefen wir vierstimmig. Nach dem Abendessen hatten wir mit dem Computer Schach gespielt. Sein mechanisches Vorgehen nach vorgegebenen Grundmustern, die er zahlreich variierte, durchschauten wir längst. Er langweilte uns. Wir ließen uns von ihm Werke der erotischen Literatur überspielen. Wir lasen Seite um Seite vom Monitor ab – wir stoppten den Text. Wir lasen: mit offenem Mund und diesem Kribbeln im Leib, diesem starken, schmerzhaft-dumpfen Drang – und wir schämten uns voreinander. Nie hatten wir es so stark empfunden: Von uns vier waren immer drei zuviel. Jeder wollte für sich sein, ein einzelner, ganz für sich allein und er selbst. Wir störten einander. Verlegen sagte einer: »Fertig? Nächste Partie?« »Fertig!« »Ich will die Miss nackt sehen – nur einmal!«
»Wir sind hier eingesperrt. Die vier Mädchen – erinnert ihr euch! Draußen könnten wir andere Mädchen kennenlernen.« Ich gab ihnen heimlich ein Zeichen. Als ich ihre Aufmerksamkeit hatte, winkte ich, mir zu folgen. Wir begaben uns in den Raum, den die Miss gelegentlich als Küche nutzte. Ich öffnete den Schacht zum Aufzug, über den wir unsere Mahlzeiten erhielten. Die Puddingschalen standen noch da. Wir nahmen sie heraus. Ich zeigte mit dem Finger zum Aufzug. Wir verstanden uns sofort. »Die vier Mädchen hospitieren oft in der Küche.« »Abends ist es heiß dort.« »Bestimmt laufen sie fast nackt herum…« Wir losten, wer der erste sein sollte. Er strahlte. Er mußte sich wie ein Schlangenmensch zusammenrollen, und wir schoben nach. Wir schlossen die Klappe. Ich betätigte den Sensor. Die Mechanik surrte. Matt leuchtete das Befehlsfeld auf: ÜBERLAST! BITTE NUR GEMÄSS VORSCHRIFT BESCHICKEN! Er kroch aus dem engen Käfig. Er las den Text, warf sich zu Boden, trommelte mit Füßen und Fäusten den Belag. Er weinte. Wir verstanden ihn. Auch uns war ein Traum gestorben. Wir waren gewiß: Morgen früh würde die Miss alles wissen, und sie würde mehr wissen, als sie gewußt hätte, wäre sie zugegen gewesen. In der Nacht konnte ich nicht einschlafen, sosehr ich es mir wünschte. Ich sah die vier Mädchen vor mir. Ich verweigerte in einem Alptraum, den ich hellwach erlebte, der Miss den Gehorsam. Ich bekam Furcht. Das Wort KASTRATION durchgeisterte meine Sinne. Allmählich kam ich wieder zu mir. Ich lag in einem Bett. Ich befand mich in der weißgefliesten Intensivstation. Die Konturen der Fliesen, der Beleuchtungskörper und der medizinischen Geräte blieben undeutlich. Ich fühlte mich jedoch gut, und das erstaunte mich. Ich hätte gern gewußt, wie ich hierhergelangt war. Man hatte
mich festgeschnallt. Mir fehlte ein Stück Erinnerung. Ich fragte mich, in wessen Gewalt ich mich befand. Wir sind uns, was den Ausbruch anbetraf, zu jedem Zeitpunkt einig gewesen. Auch über das Ausmaß des Wagnisses waren wir informiert. Ich war nun ein Gefangener, eingeschlossen, wehrlos. Es war dies kein Lernspiel, kein Test, kein Training. Es handelte sich um den Ernstfall – dem Programm völlig entgegengesetzt. Es war der Kampf gegen das Programm ohne eigenes Programm. Wenn sie mich hatten, standen meine Chancen gleich Null – war mein Leben beendet. Vielleicht würde eine Weile mit mir experimentiert, bevor man mich… ich mochte nicht weiterdenken. Wir hatten die Spielregeln überzogen. Dafür kannten sie keine Entschuldigung. Zwar waren die Lederschlaufen nur lose um die Gelenke gelegt, aber herausziehen konnte ich die Hände oder die Füße nicht. »Wie geht es Ihnen? Hören Sie mich? Können Sie mir antworten?« Über mich beugte sich das Oval, ich konnte zwei aufmerksam blickende Augen erkennen, ich sah eine feingeschwungene Nase, sah einen weichen Mund und mußte lächeln. Es war nicht die Miss. »Ich bin Doktor Carson.« Ich hob meinen Kopf an, wenig nur, denn es fiel mir schwer, und ich nickte. »Bitte machen Sie meine Hände frei«, sagte ich, dann sank der Kopf schwer ins Kissen zurück. Wieder wurde ich ohnmächtig. Es war, als falle der Kopf immer tiefer in das Kissen hinein und ziehe den Körper nach, schnell und unaufhaltsam. Mir war zum Erbrechen schwindlig. »Sie müssen mir fest versprechen, daß Sie ganz ruhig bleiben und sich nicht bewegen werden«, sagte die Ärztin. Ihre mitfühlende Stimme hielt meinen Fall auf.
»Sie haben eine neue Haut. Das juckt und schmerzt sicherlich sehr«, sagte sie. Ich wollte ihr mitteilen, ich sei nicht schmerzempfindlich, doch mir versagten sich die Worte. Diese Frau sprach so vertraut mit mir, als kenne sie mich schon immer. Mein Denken in Regelkreisen und Programmen führte bisher immer und fast automatisch zur genauen Festlegung meines Ziels. Nun wollte ich ihr etwas Einfaches, Wohltuendes, dieser Situation Entsprechendes sagen, aber ich erreichte mein Ziel nicht, ich hatte keine Stimme. Sie löste die Schnallen und Schlaufen an meinen Beinen und an meinen Handgelenken. Ich sah ihr zu. Ihre Hand strich sacht über die weiße Schicht, die meinen Arm bedeckte. »Bitte bewegen Sie sich nicht«, wiederholte sie. »Bleiben Sie! Ihre Nähe ist…« »Ja? Ich heiße Ruth Carson. Ich rufe Doktor Taylor.« »Danke«, sagte ich. Bestimmt konnte sie mein Lächeln diesmal sehen. Sie blickte mich an. Ich sehnte mich danach, zu schlafen. Babette Fourier unterbrach den Bericht. Sie mußte etwas tun, um mit ihrer Unruhe fertig zu werden. »Caligula, rufe den Zentralspeicher an. Er muß mir eine Beratung mit einem Mitarbeiter der Abteilung Genetik des OBERSTEN PARLAMENTS sichern. Begründe meine Bitte folgendermaßen: Eine männliche Person, Arkadij Petrowitsch Carson aus Palembang, wahrscheinlich verstorben und vermutlich ein Opfer der Gen-Manipulation, teilte besorgniserregende Einzelheiten über sein Leben mit. Sie beziehen sich auf Experimente mit geklonten Menschen. Sie geben Auskünfte über auf das Töten spezialisierte, noch nicht identifizierte Menschen, die eventuell noch heute existieren. Meine Fragen lauten: Erstens: – liegen Informationen in den Archiven des OBERSTEN PARLAMENTS über diese Vorgänge vor?
Zweitens: – ist genetisch codiertes Programmieren von Menschen über größere Zeiträume hinweg möglich und wirksam? Drittens: – ist der Besatzung der LYR die Gefahr bekannt, die sich aus den Möglichkeiten der Klonierung im schwerelosen Raum ergeben kann? Viertens: – warum ist noch keine Nachricht von meinen Eltern eingetroffen? Danke, Caligula, das dürfte genügen.« Babette wartete. Gespannt schaute sie auf das Panoramagewölbe. Caligula benötigte ungewohnt viel Zeit, um mit der Anfrage durch die verschiedenen Prüfstellen der Computer-Vermittlung bis zum OBERSTEN PARLAMENT zu gelangen. Mehrmals versuchte er sich an einem Bild. Erst blieben nur farbige Schemen, dann flirrten die international üblichen Alphabete in langen Reihen über das Panorama. Die projizierten Buchstabenketten glitten in die unergründliche Bildtiefe des violetten Gewölbes. Bei »P« blieb das Bild stehen. Das »P« trat zurück und wurde durch das Wort »Peru« ersetzt. Es kann nur noch Sekunden dauern, fieberte Babette. Peru hat also in diesem Monat den Vorsitz im OBERSTEN PARLAMENT. Das holographierte Antlitz einer Frau erschien. Sie war älter als Babette. »Ihr Computer meldete unter Ihrer Zielzahl eine dringende Konsultation an. Mein Name ist Ines Romero. Ich bin Mitarbeiterin des OBERSTEN PARLAMENTS, ich leite einen Sektor, der sich mit Öffentlichkeitsarbeit befaßt. Ihre Begründung habe ich gelesen, Mademoiselle Fourier. Würden Sie die Angaben bitte präzisieren – ich stehe zur Verfügung.« Ist diese Frau förmlich oder verschweigt sie mir etwas, fragte sich Babette. Fast bereute sie, sich an die Behörde gewandt zu haben. Aber dann lächelte Frau Ines Romero ermutigend.
»Caligula – er ist mein Hauscomputer«, sagte Babette, »und bitte, entschuldigen Sie seinen albernen Namen. Er hat ihn von mir bekommen, als ich einmal sehr traurig war.« Babette ärgerte sich, noch während sie redete, über ihren Ausrutscher ins rein Private. Um sich zu konzentrieren, sprach sie schneller. »Er speichert einen Bericht, der mehr als vier Jahrzehnte alt ist. Es geht darin um Menschen, genauer gesagt um Klons, bei denen auch Eingriffe in die Gen-Struktur zu vermuten sind.« »Ich darf Sie unterbrechen, Mademoiselle? Diese Informationen sind uns bekannt. Bisher haben wir sie zurückgehalten, um niemanden zu beunruhigen, besonders was den Auftrag der LYR betrifft. Auch den Spezialisten der LYR ist bekannt, welchen Gefahren sie begegnen können, falls sie klonierten Menschen gegenüberstehen, die im All, also unter veränderten Bedingungen reproduziert worden sind. Ich muß Sie aber fragen: Woher haben Sie derartiges Material?« »Die Informationen stammen aus dem privaten Archiv meiner Eltern. Seit zwei Wochen ist die Sperre aufgehoben, ich bin aber erst heute darauf gestoßen, als ich Anhaltspunkte für ihr langes Schweigen gesucht habe. Ich habe Angst um meine Eltern, können Sie das verstehen?« Babette blickte verlegen in die Kamera des Computers. Sie hatte das Gefühl, sich als Laie in eine Angelegenheit einzumischen, an der sicher Dutzende von Spezialisten arbeiteten. »Im Computer ist der private Lebensbericht von Arkadij Carson gespeichert. Ich weiß nicht, wie meine Eltern in den Besitz dieses Berichts gekommen sind und wer sonst ihn kennt.« »Als Gen-Forscher hatte Ihr Vater vor seinem Flug mit dem Raumschiff LYR den gesamten Nachlaß Arkadij Carsons zur Verfügung. Ich bin aber nicht sicher, ob sich der von Ihnen erwähnte zweite Bericht darunter befand. Die Erkenntnisse, von denen im OBERSTEN PARLAMENT ausgegangen wird, stützen sich vor allem auf die Befragungen kurz nach Carsons Flucht aus den
FREE STATES. Das ist die Grundlage – hätte Ihr Vater jedoch Wesentliches erfahren, wüßten wir davon. Uns stellt sich das Problem anders: Ich kann Ihre dritte Frage, ob genetisch codiertes Programmieren von Menschen über längere Zeiträume hinweg wirksam sein kann und wie dieser Code gegebenenfalls aktiviert werden soll, nicht beantworten. Da seit der Flucht von NOAH II alle Versuche mit menschlichem GenMaterial international streng untersagt sind und sich die Forscher daran halten, konnte die mögliche Bedrohung durch NOAH II nur theoretisch überprüft werden. Leider sind auch alle wichtigen Unterlagen der PHARMA vernichtet. Niemand weiß genau, wie weit die Experimente tatsächlich getrieben wurden. Leider also müssen wir davon ausgehen, daß noch immer ein Restrisiko existiert. Die Wahrscheinlichkeit einer akuten Gefahr ist gering, aber nicht auszuschließen.« Die sachlichen Auskünfte irritierten Babette Fourier. Sie mußte sich eingestehen, viel verstand sie nicht von genetischen Problemen. Daß sie eine Gefahr ahnte, die sie nicht genau kannte, das war der Anlaß für ihre Angst. Ines Romero hatte kurz geschwiegen. Nachdenklich äußerte sie: »Es ist möglich, daß damals das mit der Sache befaßte Team des OBERSTEN PARLAMENTS es versäumt hat, die Charakterentwicklung des Arkadij Carson genau zu verfolgen. Es war eine schlimme Zeit damals, in Alaska ging es ums Überleben. Möglich ist jedoch, Veränderungen im Charakterbild von Arkadij Carson hätten uns wichtige Hinweise über Fragen der Resistenz der GenManipulation geben können. Babette, ich akzeptiere Ihre Angst. Ich bitte Sie, den Bericht des Arkadij Carson zu verfolgen und ihn an unseren Zentralspeicher zu übermitteln. Wir bleiben in Kontakt. Ergibt sich Neues, bitte, zögern Sie nicht, mich zu informieren. Ich melde mich, sobald wir die LYR empfangen. Das Raumschiff befindet sich in unmittelbarer Nähe von NOAH II. Es kann sein, daß schnell entschieden werden muß.« Babette fragte: »Haben Sie eine Nachricht von meinen Eltern?«
»Gegenwärtig empfangen wir nur die Positionsdaten. Stellen Sie aber bitte das übliche Kurzporträt über Ihren Alltag zusammen – für Ihre Eltern. Wir sind optimistisch.« »Sie wollen mich trösten!« warf Babette der Frau vor. »Sie haben mich falsch verstanden, Mademoiselle Fourier«, sagte Ines Romero und hob besänftigend die Hand. »Bordsysteme und Besatzung der LYR sind in Ordnung. Ich muß leider einen Termin wahrnehmen. Wir werden in der Beratergruppe Ihren Bericht überdenken. Ich verabschiede mich.« Das Hologramm der Ines Romero verblaßte. Verärgert blickte Babette in das leere Panoramagewölbe. Sie fühlte sich belehrt. »Was sagst du dazu, Caligula – hast du den Dialog verfolgt? Ich habe mich nicht umsonst als Historikerin ausbilden lassen. Eines Tages werde ich in einem der Teams des OBERSTEN PARLAMENTS arbeiten.« Der Computer ging nicht auf Babettes Zukunftsvision ein. Er übermittelte: ICH WERDE IN ABSTÄNDEN VON ZWANZIG MINUTEN DIE AUFZEICHNUNGEN IN EXTRAHIERTER FORM ÜBER ZENTRALSPEICHER AN FRAU INES ROMERO WEITERLEITEN »Einverstanden, darum brauche ich mich also nicht zu kümmern. Danke, Caligula.« Im Gewölbe leuchtete in mildem Grün ein Wortgebilde auf. Es war ein kaum erkennbares DANKESCHÖN des Computers. DARF DER BERICHT WEITERGEFÜHRT WERDEN »Ich warte darauf«, sagte Babette. Sie schloß für einem Moment die Augen, bis sie Arkadij Carsons Stimme hörte:
Der Arzt war dabei, die feinen Metallplättchen, die auch für das Optimo-Lernen und die Wahrheitstests benutzt werden, von meiner Kopfhaut zu lösen. Einmal verwirrten sich die dünnen Drähte, und Doktor Taylor redete leise mit sich selbst. Er verstummte, als er bemerkte, daß ich zu mir gekommen war. »Wir hatten nicht Zeit genug, Sie um Ihr Einverständnis zu bitten, Mister Haxwell«, sagte er. »Es hängt viel von dieser Manipulation ab. Zuweilen muß die Ethik in unserem Beruf auch Opfer bringen.« »Was haben Sie mit mir gemacht?« Ich hatte wohl mehr aus Neugier gefragt – für neue Furcht war ich noch zu schwach. »Entschuldigen Sie bitte! Doktor Eng wird kommen, er wird es Ihnen erklären.« Doktor Taylor legte die Drähte und die elektronischen Meßgeräte zusammen. Er verließ das Zimmer. Die Tür ließ er offen. Der Mann, der kurz darauf hereinkam, beeindruckte mich durch seinen hohen Wuchs, sein seriöses Aussehen. Er blickte mich unpersönlich und streng an. Unvermittelt fragte er: »Sind Sie bereit, auf Fragen zu antworten? Sagen Sie nur, was Ihnen spontan einfällt. Überprüfen Sie den Wahrheitsgehalt Ihrer Antworten nicht. Das ist wichtig für mich! Fühlen Sie sich fähig, mir zu antworten?« »Wo ist Ruth?« »Sie meinen – Doktor Ruth Carson? Sie trifft in etwa zwei Stunden zum Dienst ein. Mein Name ist Doktor Eng.« Ich registrierte seinen Namen. Ich war noch etwas benommen, fühlte mich wie nach einem erholsamen Schlaf. Auf meinen Armen, die nicht mehr gefesselt waren, an den Beinen und Füßen hatte man die weiße Paste durch eine andere, farblose und haltbar aussehende Paste ersetzt. Sicher bedeckte sie meinen gesamten Körper, der eine neue atmende Haut zu haben schien. »Ihr Name!« Seine Stimme war hart und fordernd.
Ich stockte, und in mir sträubte sich alles gegen eine Antwort. Ich schrie heraus: »Haxwell, Nelson!« »Geburtsdatum, Geburtsort, Identitätsnummer!« »Geboren am sechzehnten Dritten zweitausendeins in Stockholm, Schweden. Identitätsnummer 3782 – 40 – 711 572.« Unsinn! hatte ich sagen wollen, doch ich mußte wie gezwungen seine nächste Frage beantworten. »Wohnort, Beruf beziehungsweise Tätigkeit, Familienstand?« »Tuscon, Irazona, – arbeitslos, registriert. Ich suche einen Job. Ich bin verheiratet gewesen«, sagte es aus mir. »Sie hatten einen Unfall mit Ihrem E-Car?« »Ja, Sir, aber es handelt sich bei ›Henriette‹ um eine Neuentwicklung aus Europa – Energie von einer Nuklear-Batterie.« »Sie waren vor fünf Jahren in Brasilien. Sind Sie Kommunist?« »Nein, Sir!« »Danke, das genügt erst einmal. Sie haben gut gelernt. Sie können getrost alle Fragen zu Ihrer Person beantworten, unverkrampft und ohne zu denken. Sie haben genug Text intus.« Er lächelte. Dadurch begann er mir sympathisch zu werden. Seine Stimme klang weicher, geschmeidiger. Sie sagte mir zu. »Nelson Haxwell, 3782 – 40 – 711 572, das bin ich, ja?« »Das sind Sie, von wem, wann und wo immer Sie gefragt werden. Draußen im Schrank hängt Kleidung für Sie, etwas Geld, rund dreitausend Dollar. Das Geld und die Sachen hat Ihre Frau gebracht. Sie ließ sich von Ihnen scheiden. Das wissen Sie zwar, aber es geht in Ordnung, wenn Sie keinen Grund angeben können. Ihr Paß ist verkohlt – die Behörde stellt einen neuen Paß aus. Das haben wir veranlaßt, es ist bei Unfällen üblich so. Infolge der schweren Verbrennungen hat sich Ihr Äußeres geändert, mehrere Operationen haben sogar Ihre ursprünglichen Körpermaße verringert – aber deswegen sollten Sie sich keine Sorgen machen. Sie leben noch, und das ist das wichtigste.«
»Schade, daß sie sich scheiden ließ.« »Wie bitte? Ach so!« Doktor Eng lächelte. »Fühlen Sie sich gut?« fragte er und sah mir ins Gesicht. Er hatte mandelförmige Augen. »Ich könnte jeden Gegner erledigen«, behauptete ich. »Das lassen Sie schön bleiben, Mister Haxwell. Sie sind ein Mensch, nicht einmal Raubtiere töten aus Freude am Töten«, sagte er. Seine Augen verengten sich. »Ein Mensch – Sie haben recht, Doktor Eng, sogar einer der besten Menschen – ich wurde auserwählt.« Ich hatte aus einer Verlegenheit heraus gesprochen, aber was ich geantwortet hatte, beseitigte mein Gefühl nicht restlos. »Wir wissen davon, Mister Haxwell. Nachher wird Doktor Taylor noch einmal zu Ihnen kommen. Ihr Gedächtnis ist noch nicht ganz in Ordnung. Auf Wiedersehen, Mister Haxwell.« Mein Gedächtnis, warum sollte mein Gedächtnis nicht gut funktionieren, überlegte ich. Doktor Taylor kam. Er legte die Metallplättchen am Kopf an, entwirrte die hauchdünnen Drähte und stellte die Elektronik auf. Ich hatte vor, ihm eine Frage zu stellen. Dann versank ich wieder in meinen Dämmerzustand. Die Miss sah mich streng an. Sie hatte erklärt, wir vier Gleichen müßten uns zunehmend daran gewöhnen, voneinander getrennt zu leben. Die drei hatten daraufhin Ferien, jeder an einem anderen Ort. Es hat ihnen gefallen. Sie hatten mit Tieren zu tun, mit exotischen Tieren. Später gaben wir uns Namen, die von unseren unterschiedlichen Erlebnissen abgeleitet waren, doch bald verwechselten wir einander und die Namen, wir wurden wieder eins. Es war auch verboten, daß wir uns Namen gaben. Eine Zeitlang bin ich »Schnee« gewesen, das wußte ich noch. Und ich hatte, wenn ich genau fühlte, eine winzige Narbe und einen pennygroßen Hügel auf dem Kopf.
Die Haare trugen wir alle kurz. Nur ich hatte den kleinen Hügel, nur ich. Die Miss sagte, das Hügelchen werde bald entfernt. Es sei Bestandteil eines Tests, ob ich noch uneingeschränkt für die AUFGABE zur Verfügung stände. Während der Zeit, in der die drei Ferien hatten, mußte ich in die Klinik der PHARMA. Ich wurde am Kopf operiert und mußte Monate in der Klinik bleiben. Die Schwester, die mir zugeteilt war – sie hieß Carla –, war sehr lieb zu mir. Sie nannte mich wegen meiner Körpergröße »Kleiner«, wie es ein Arzt getan hatte, und sie nannte mich »Eierkopf«, weil ich ein ungeheures Wissen hätte, so meinte sie jedenfalls. Sie hatte mir einen Kuß versprochen, aber sie hielt ihr Versprechen nicht. Trotzdem – sie war immer fröhlich, und ich konnte ihr nichts Böses antun. Zur Belohnung für mein geduldiges Ausharren in der Klinik durfte ich mit der Miss für eine Woche nach Kanada fliegen. Es war ein Privatjet, mit dem wir flogen. Ich war »Schnee«. Die Miss erklärte mir, in Rußland gäbe es ebenfalls viel Schnee, über den größeren Teil des Jahres hinweg, und auch die drei müßten Schnee und Winter kennenlernen. Die Miss und ich, wir sind auf Skiern gelaufen. Kanada war ein weites und weißes Land. Während dieser Woche führten die Miss und ich komplizierte Gespräche. Die Miss zeigte mir kanadische Menschen und erklärte, es sei in Kanada nicht üblich, nach dem Einzelleistungsprinzip zu leben und zu verbrauchen – man wolle das Bedürfnisprinzip durchsetzen und versuche angestrengt, Gleichheit für alle zu erreichen. Das Niveau der dort lebenden Menschen war ungleich niedriger als das Lebensniveau der elitären Schichten in den FREE STATES. Diesen Umstand bewirkte das Bedürfnisprinzip, es verhindere, daß der einzelne sein Glück selber mache, daß er seine Fähigkeiten und Vorzüge selbst bestimme. Ein trauriges Land mit bedauernswert traurigen Bürgern, meinte die Miss, ein Land, in dem das Gleich-sein-Müssen jede Schöpferkraft hemme.
Ich fragte oft, warum das so sei – und die Miss beantwortete die Fragen stereotyp immer mit den gleichen Worten: Kommunistische Indoktrination. In Kanada begann ich die Kommunisten zu hassen, weil ich fest davon überzeugt war, daß sie mich von der Erfüllung meiner AUFGABE – die ich näher noch nicht kennen durfte – abhalten wollten, daß sie mir die einmalige Chance, mich auszuprobieren, mißgönnten. Ich würde nicht nur einer von vier Gleichen bleiben müssen, ich wäre ein Gleicher unter unzähligen Gleichen, ohne Zukunft. Nicht wenig von diesem Haß ging – auf eine für mich unerklärliche Weise – auf meine Brüder über. Sie waren mir gleich, ich wollte besser, schneller, stärker, intelligenter und anders sein als sie. Doch ich sprach nicht über diese Gefühle. Dafür redete ich um so lebhafter und deutlicher über meinen Haß gegen die Kanadier. Wenige Wochen nach meiner Entlassung aus der Klinik fand ein neuer Test statt. Wir wurden mit dem Hubschrauber nach zehnstündigem Flug nachts über unbekanntem Gelände abgesetzt. Wir vergruben die Fallschirme sofort. Die Zielstellung lautete, zwei Wochen zu überleben, sich zu ernähren, ohne von der Polizei oder den Einheimischen gefaßt zu werden. Wir hatten keine Papiere bei uns. Diesmal hatten uns die Ausbilder auch keine Waffen zugebilligt, nicht einmal unsere Finn-Messer hatten wir mitnehmen dürfen. Wie wir es schafften, zu überleben und doch wie der unauffällige Stein am Wegesrand, wie der Strauch im Gebüsch zu sein, blieb unserem Leistungsvermögen überlassen. Einer hatte gefragt, wie die Miss uns nach Ablauf der Frist finden würde. Die Miss streichelte über unsere Köpfe. Ich habe gespürt, wie ihre Finger die Narbe auf meinem Hinterkopf fanden. »Ihr werdet gerufen. Immer und überall werde ich euch finden«, sagte sie, »bis in das siebte Glied!« Die Miss hob die Arme. Es sah feierlich aus.
»Wenn euer Pate es will«, sagte sie noch, »wenn ER es will, dann eint euch die AUFGABE.« Ich schämte mich, weil ich gegen ein Kichern-Müssen kaum ankam. Doktor Ruth Carson wäscht die Paste von meiner Haut. Mein Körper ist in diese Paste eingehüllt – unter ihr regeneriert sich meine Haut. Daran erinnere ich mich und an das zwiespältige Gefühl zwischen Wohlbehagen und Scham. »Doktor Eng hat mit mir über Sie gesprochen«, sagte sie. Sie trug eine Lösung auf, die sich mit der Paste zu einer abhebbaren milchigen Emulsion vermischte. Sie hob das Gemisch vorsichtig mit Zellstoff ab, immer wieder tauchte sie den Zellstoff in die Lösung. »Doktor Eng fürchtet, Sie haben kein Vertrauen zu ihm«, führte sie das Gespräch weiter. »Ich glaube, ich kann Sie verstehen«, sagte sie, »aber wir riskieren ebensoviel – wir können ebensowenig zurück wie Sie. Was wir wissen müssen, ist: Sind Sie bereit, zu Ihren Aussagen und zu allen Informationen, die wir von Ihnen bekommen können, zu stehen? Wir bringen Sie in Sicherheit, und wir stimmen unsere Aussagen, die an die Öffentlichkeit gelangen sollen, mit Ihnen ab. Vorläufig jedoch verschweigen Sie bitte gegenüber jedermann Ihre wahre Herkunft. Sie sind durch Namen und Biografie des Nelson Haxwell geschützt.« Sie löste die Pastehaut vorsichtig von meiner Brust, von meinem Bauch und von den Schenkeln. Mein Blut pulste schneller. Ich schloß die Augen. Ich öffnete sie und sah Doktor Ruth Carson an. Sie bemerkt nicht, was in dir vorgeht, dachte ich. Ein schalkhaftes Schmunzeln versteckte sich in ihrem Gesicht, es ließ mich folgern, daß ich mich auch geirrt haben könnte. »Haben Sie das jeden Tag mit mir machen müssen?« fragte ich. »Ich bin Ärztin«, bemerkte sie sehr resolut, und ebenso resolut taten ihre Hände, was zu tun notwendig war. Sie wusch mit ruhigen Bewegungen die Lösung von meinem Körper.
»Zu Ihnen habe ich Vertrauen«, sagte ich. Es kostete mich Kraft, so zu reden, doch es erleichterte mich auch. »Wenn Sie nicht Nelson Haxwell sein müssen, wie nennen Sie sich dann?« fragte sie mich. »Arkadij – Arkadij Petrowitsch.« »Arkadij! Ein schöner Name. Sagen wir du zueinander? Ich bin Ruth.« Mir fiel ein, daß ich nur ein Arkadij Petrowitsch war, daß wir vier waren, daß es noch den fünften Arkadij Petrowitsch gab und daß ich nur meinen Vornamen und den Vatersnamen genannt hatte. »Ich will aussagen. Vielleicht rettet das ihr Leben!« »Das deiner Brüder? – Was wir vermögen, werden wir tun«, sagte Ruth. Sie hatte mich verstanden. Schweigend sahen wir uns an. Langsam begann ich zu begreifen – mein Ausbruch mußte vieles in der PHARMA geändert haben. Ich fühlte mich hilflos, von allen verlassen. Ich war ratlos, war allein, wahrscheinlich so allein, wie man nur sein kann. »Ruth, ich möchte morgen aufstehen.« »Das kann ich nicht erlauben«, sagte sie. »Ich rede mit Doktor Eng, vielleicht übermorgen, und du mußt vorsichtig sein, deine Haut könnte platzen. Möchtest du eine Pause, bevor wir die neue Paste auftragen?« fragte sie. Ich mußte mir vorstellen, wie sie mich einreibt, ich konnte meiner Vorstellungskraft nichts entgegensetzen, ich vermochte nichts dagegen zu tun, daß mir das Blut in den Körper schoß und er aus tausend pulsenden Herzen zu bestehen schien. Eine Spannung war in mir, eine dumpfe Sehnsucht. Ich sah Ruth an und merkte, daß meine Sehnsucht eine Richtung hatte. Sie sah verlegen weg, dann lachte sie leise. Ich redete und redete auf sie ein. Ich wurde mir der Worte erst bewußt, als sie längst ausgesprochen waren. Ich spürte, ich überwand etwas in mir, einen Widerstand. Ich spürte grenzenloses Vertrauen zu Ruth. Das sagte ich ihr. Ich zog sie zu mir herab und küßte sie. Ich weinte und schämte mich dafür, ich fühlte
Schmerz in meinem Inneren. Ich erkannte mich nicht: Ich, der stets gehalten war, nur sich selbst zu vertrauen, ich offenbarte meine Seele, offenbarte mich der ersten Frau, der ich im Draußen, in der Freiheit begegnete. Wir redeten. Ruth beteuerte, sie verstehe mich. Ich sagte: »Ich liebe dich!« Arkadij Carson lächelte in die Kamera. »Ich hatte das Wort Liebe ausgesprochen, lange bevor ich seine volle Bedeutung erfassen konnte.« Babette berührte die Sensorik. Deutlich spürte sie ihre Anteilnahme. Sie begann, diese Ärztin, diese Ruth Carson zu bewundern. Es imponierte ihr, wie sie energisch und verständnisvoll das Leben dieses Mannes zu verändern begonnen hatte. Babette schämte sich ihres Gefühls. Sie überlegte, wie sie diese Sentenz schadensfrei aus dem Berichtsgefüge lösen könnte. »Caligula, die letzte Szene gebe ich nicht zur Übermittlung frei«, bestimmte sie und suchte nach einem besseren Wort als Ersatz für die Kennzeichnung »privat«. CALIGULA MELDET BEDENKEN AN DIE SZENE IST EIN BEWEIS IST KEIN BEWEIS DASS SCHMERZUNEMPFINDLICHKEIT MITTELS EUPHORIE EINE METAMORPHOSE STOFFLICHER PROZESSE ZULÄSST CALIGULA BEDAUERT SEINEN KÖRPERLOSEN SCHMERZFREIEN ZUSTAND DADURCH BLEIBEN CALIGULA WESENTLICHE ERKENNTNISSE VERSCHLOSSEN WEITERHIN MÖCHTE CALIGULA DAVOR WARNEN ANALOGIEN ZWISCHEN KLONS UND MENSCHEN ANZUWENDEN: DIE VIER GLEICHEN KÖNNEN EINGRIFFEN AUSGESETZT GEWESEN SEIN
»Sei bitte still! Liebe und Leid gehören zusammen. Vergiß nicht, die Information zu sperren.« MADEMOISELLE FOURIER LASSEN SIE ARKADIJ PETROWITSCH CARSON WEITER BERICHTEN Dieser scheinheilige Computer, dachte Babette. Sie lächelte über Caligulas Eifer. Seine Worthologramme schillerten in allen Farben und waren kaum lesbar. Babette überlegte, wie stark die künstliche Intelligenz Caligulas belastet werden könnte. Sie mußte sich auf seine Farbskala verlassen. Nur bei roten Farbenäußerungen war die Belastung als hoch einzuschätzen. »Ja, ich gestatte, daß du den Bericht bringst, doch vorher sagst du mir, Caligula, ob das mehrfache ICH die logischen Vorgänge in deinen Kristallen beeinträchtigt.« CALIGULA MÜSSTE ZUM SCHUTZ SEINER INTELLIGENZ EIN EIGENES PSYCHOGRAMM ENTWICKELN Vermutlich bist du schon tüchtig dabei, dachte Babette. »Tatsächlich? Du mußt mir nur noch sagen, ob es maskuline oder feminine Wesenszüge haben wird«, sagte sie. Sie lachte. Der Hauscomputer brachte sich zunehmend selbst in Schwierigkeiten. Sie würde auf ihn achtgeben müssen. Caligula war bemüht, einen Widerwortstreifen zu bilden. Im Gewölbe entstand ein violetter Wirrwarr, der kraklig und zitternd wieder verschwand. »Caligula, du reservierst ab sofort deine Energie ausnahmslos für eine gute Übertragung der Aufzeichnungen. Das erfordert die Höflichkeit dem OBERSTEN PARLAMENT gegenüber. Zweitens beauftragst du bitte den Magnetboten, mir eine umfangreiche Mahlzeit zu liefern. Bis dahin bitte weiter mit dem Bericht.« Dr. Eng kam ins Zimmer, in das Einzelzimmer, in das ich verlegt worden war, und mit ihm kam ein bewaffneter Soldat. Der Soldat stellte sich an der Tür auf. Er verharrte reglos. In seinem Gesicht
spiegelte sich das Bewußtsein einer Aufgabe und die Gelassenheit des Staatsdieners. Doktor Eng untersuchte mich flüchtig. Er beachtete den Soldaten nicht. Ich spürte Dr. Engs Berührungen als etwas Beruhigendes. Als er das Zimmer verließ, ging der Soldat mit ihm. Ich wurde unruhig, weil nichts geschah. Ich beschloß, mich umzusehen, mich zu vergewissern. Ich ging auf den Flur. Auf der Wartebank für die Patienten saßen acht Soldaten. Die Waffen lagen auf ihren Knien. Ich ging zur Toilette. Über meinen Rücken breitete sich ein starkes Spannungsgefühl aus. Ich horchte jedem Laut nach. Mir wurde klar, ich war diesen Männern unter den gegebenen Umständen unterlegen. Einer von ihnen folgte mir. Ich ging langsam, auch, weil mir Dr. Eng mit strengem Unterton in der Stimme nahegelegt hatte, meine Bewegungsfreiheit nicht zum Nachteil der empfindlichen neuen Haut zu mißbrauchen. Der Soldat war mir bis in die Toilette gefolgt, duldete jedoch wortlos, daß ich mich in der Kabine einriegelte. Er war ein schlechter Bewacher. Ich stellte mich ans Fenster, genoß die Luft und blickte hinaus. Unten neben der Auffahrt redeten zwei Besucher mit einem Offizier. Soldaten hielten die Eingänge besetzt. In den Seitenstraßen parkten Kampfwagen. Die Fahrer rauchten und unterhielten sich mit auffällig geschminkten jungen Frauen. Ich schloß das Fenster und verließ die Toilette. Der Soldat folgte mir bis zur Zimmertür. Ich sah mich immer wieder um, sah, daß Schwestern, von Soldaten begleitet, ihren Dienst versahen, blickte in die Stationsküche und in das Ärztezimmer. Ich sah auch dort einen Soldaten auf einem Schemel hocken, aber nirgends konnte ich Ruth entdecken. Ich schloß die Tür zu meinem Zimmer. Der Soldat blieb auf dem Flur zurück. Ich wußte immer noch nicht, ob die Klinik meinetwegen von Militär besetzt war. Ich mußte meine innere Ruhe festigen. Beim Training hatten wir gelernt, daß eine nur scheinbare, nur in der Vorstellung vorhandene Gefahr unbedachte Handlungen auslösen kann, die dann zur echten Gefährdung werden.
Ich verdrängte jede Emotion. Mein Verstand spulte die Faktenreihe meiner neuen Identität ab. Ich bin Nelson Haxwell, 3782 – 40 – 711 572, ich habe gültige Papiere. Meine Vergangenheit ist nicht unbedenklich, muß aber akzeptiert werden. Als Nelson Haxwell habe ich sie so gewollt, wie sie geschah. Meine Frau brachte mir meine Kleidung. Ich bin geschieden. Ich fühlte mich in der Klinik nicht sicher. Die subjektiven Einflüsse verdrängten oft rationale Folgerungen. Fragen zu meiner Person zu beantworten wäre mir nicht schwergefallen, doch sobald ich nachzudenken begann, drängten sich nicht nur die Erinnerungen auf – auch die Emotionen verunsicherten meine Logik. Ich hatte Papiere für eine Vergangenheit, ich hatte den Verstand für eine andere Vergangenheit. Ich befand mich in der Gegenwart, und die hieß für mich vornehmlich: Ruth. Ich trainierte, um mich abzulenken, meine papierne Vergangenheit. Nelson Haxwell, 18 03 2001 in Stockholm, Bürger der FREE STATES. Nirgends wäre ich mehr zu Hause als in Brasilien, aber ich passe nicht in ein ministerielles Büro. Ich beschloß, Dr. Eng zu bitten, mir ein Finnmesser für den Notfall zu besorgen. Ich hätte viele Fragen an den Arzt gehabt, aber ich konnte nicht fragen, solange der Soldat mit ins Zimmer kam. Ich sorgte mich um Ruth. Ich sorgte mich kaum um mich, ich bangte um sie – etwas war vielleicht geschehen, während ich im Zimmer festsaß. Ohne sie schien mir das Sein nichts wert. Ich ging auf den Flur, suchte erneut nach ihr. Mein Soldat folgte mir, kam mir auch in den Fahrstuhl nach. Schweigend standen wir nahe beieinander. Unten in der Halle bat mich ein Offizier um die Entlassungspapiere. Sein Gesicht wirkte eisig, doch er war sehr höflich. Er erklärte mir, auch ein Nelson Haxwell dürfe sich nicht ohne gültige Entlassungspapiere in der Empfangshalle aufhalten, die Situation sei leider so.
»Welche Situation?« fragte ich. Der Offizier winkte ab. Mein Soldat drängte mich nachdrücklich zum Fahrstuhl zurück. Ich gab nach. Schweigend schwebten wir nach oben. Ich sah mich nach Ruth um. Ich fand sie nicht. Ich wollte wieder in mein Zimmer gehen, aber eine fremde Person stellte sich mir in den Weg. Das Auftreten dieses Mannes war fordernd. Er stellte sich mir als mein Vernehmer vor. »Es handelt sich lediglich um eine Befragung, Mister Haxwell. Routine – Sie haben nichts zu befürchten«, sagte die Person. Im hinteren Teil meines Krankenzimmers, an einem separaten Tisch, saß eine Frau hinter einem Aufzeichnungsgerät. »Mister Haxwell, fühlen Sie sich einer Befragung gewachsen?« fragte der Mann. Er trug keine Uniform. Er stellte sich nicht vor. Er wies sich nicht aus. Auch die Protokollantin hatte sich nicht vorgestellt. Ich hoffte, ich sei für die Person ein Nichts, das auf seine Nichtigkeit hin überprüft werden sollte. »Fragen Sie, ich bin okay«, sagte ich. Ganz ruhig wollte ich sein. Ich müßte herausfinden, ob sie auch die Frauen verhören, die Ärzte, dachte ich. Nein, sie haben mich noch nicht identifiziert. Sie würden verdammt anders mit mir umspringen. Die drei in der PHARMA sind sicher gezwungen worden, auszusagen. Sie können ihnen eine Vielzahl von Informationen abgepreßt haben, aber längst gehen wir verschiedene Wege – der Faden ist gerissen. Sie können dem Faden nicht folgen, um mich zu finden. »Name, Vorname, Identitätsnummer!« »Haxwell, Nelson, 3782 – 40 – 711 572.« »Geboren – wo?« »In Stockholm«, antwortete ich. Ich erinnerte mich an Dr. Engs Worte. »Ihr Vater hält sich gegenwärtig wo auf?« »Mein Vater ist Diplomat im auswärtigen Dienst. Wo, das ist mir nicht bekannt. Wir stehen nicht in Verbindung miteinander. Er hat sich von mir losgesagt. Er wollte seine Karriere nicht gefährden.«
»Sie sind verheiratet?« »Meine Frau hat sich scheiden lassen.« »Sie hatten einen Unfall?« »Ich habe versucht, einen Mann aus seinem brennenden E-Car zu bergen. Ich glaube, ich habe es nicht geschafft.« Überdeutlich sah ich ein Bild vor meinen Augen. Ich glaube, es muß sehr schlimm sein, eingeklemmt in einem E-Car zu verbrennen. Die Hand des Mannes griff nach meinem Arm, versuchte, mich in den höllisch heißen E-Car zu ziehen. Ich schreckte aus meinen Gedanken auf. Nie hatte ich das erlebt! Was hatte Dr. Eng mit mir angestellt? »Woher stammt das Geld für Ihr Fahrzeug? Soviel besitzen Sie nicht – es ist ein ausländisches Fabrikat mit atomarem Antrieb.« »Ich habe ein Konto in Schweden.« »Von wem haben Sie das Geld?« »Mein Vater…« Er hatte mich nicht ausreden lassen. »Sie lügen, Mister Haxwell! Ich möchte Sie davor bewahren, uns weiterhin zu belügen. Wir sind informiert, allumfassend informiert. Vor fünf Jahren wurde Ihnen der Friedensnobelpreis verliehen. Die FREE STATES anerkennen begreiflicherweise diesen – diese Belohnung nicht. Warum hat sich Ihr Vater von Ihnen distanziert, Mister Haxwell?« »Unsere Ansichten waren nicht mehr vereinbar.« »Sind Sie Kommunist?« »Ich gehöre keiner verbotenen Organisation an.« »Noch eine Frage, Mister Haxwell: Darf man erfahren, weshalb Sie sich ausgerechnet in dieser gottverlassenen Gegend aufhalten?« »Ich gehe der Geschichte der FREE STATES nach. Die Verfassung sagt…« »Sie forschen sicher in der PHARMA, nicht wahr, Mister Haxwell! Hören Sie auf, zu lügen! Ihre Mutter hält sich in Brasilien auf?«
»Ich habe mich von meiner Mutter distanziert.« »Was mir unverständlich ist, Mister Haxwell, völlig unverständlich. Sie, sogenannter Held des kommunistischen Putsches in Brasilien, sagen sich los von Ihrer Mutter, die im kommunistisch regierten Brasilien Innenminister ist – Sie müssen uns für sehr dumm halten, Mister Haxwell!« »Ich halte Sie nicht für sehr dumm.« »Ein rein persönlicher Rat: Hauen Sie ab, Haxwell! Wir kontrollieren jeden Ihrer Schritte. Gehen Sie nach Moskau, da gehören Sie doch hin, oder?« Ich war unsicher – ich schwieg. Auf diese Frage hatte mich Dr. Eng nicht vorbereitet. Ich wartete, bis die Person und die Protokollantin mein Zimmer verlassen hatten. Ich legte mich auf das Bett. Mußte ich irgendwohin gehören? Mir war gesagt worden, wie ich leben soll, welche Ziele ich zu verfolgen habe – wo ich zu Hause bin, wo, ich hingehöre, das hat mir niemand gesagt. Eine Farm haben sie uns versprochen – ich bin kein Farmer. Ich bin jetzt Nelson Haxwell. Ein Mann ohne Frau. Ein Mann, der sich von seinen Eltern losgesagt hat – als ob das wichtig wäre, Bindung zu Eltern! Haxwell ist nicht gefragt worden, ob er Haxwell sein möchte. Arkadij Schitschkin wurde auch nicht gefragt, ob er einverstanden sei, ein Schitschkin zu werden. Ein falscher, ein Exemplar von vier falschen Schitschkins. Ich mußte Dinge tun, die ein anderer auch tat, ich habe sie so tun müssen, als sei ich der andere, seine Kopie sollte ich sein, einer, der ich nach dem Ausbruch nicht mehr sein darf, wenn ich überleben will. Begriffe wie Heimat oder Vaterland hatten uns nie wirklich berührt. Auch wollten wir nicht wirklich etwas von den Leuten wissen, von dem verschwommenen Etwas, das Volk der FREE STATES genannt wurde. Uns interessierte nur die AUFGABE, die uns die Miss verkünden würde. Auch während der Überlebenstests hielten wir vier zusammen.
Wir hatten uns von Mexiko, wo wir in der Wüste abgesetzt worden waren, in die STATES durchgeschlagen. Wir hatten die Grenzer überlistet, vier von ihnen ausgeschaltet. Nur noch wenige Meilen trennten uns von der STATION, unserem Ziel. Um durch die Wache zu gelangen, mußten wir irgendwie zu den Identitätskarten kommen, die den Beschäftigten als Ausweis dienten. Wir stellten die gestohlenen E-Cars in eine Schneise im Wald. An geeigneter Stelle spannten wir ein Stahlseil schräg über die Betonpiste. Wir versteckten uns und legten das Stahlseil flach auf den Boden. Wir waren verdreckt und fühlten uns auch innerlich schmutzig. Wir hatten gestohlen und Schlingen gelegt, hatten Wurzeln und Kleingetier gegessen. Wir hatten uns eingestanden, daß wir uns nach Ordnung sehnten, Sauberkeit und Ruhe brauchten. Wir gierten nach den Abenden, an denen eine exakte Wertung unserer Leistungen erfolgen würde. Wir freuten uns auf den flambierten Pudding – wir sehnten uns nach den Stunden mit der Miss. Das erste Fahrzeug war einer der kleinen E-Busse. Viel zu spät entdeckte der Fahrer das nun straffgespannte Seil, zu spät bremste er. Wir hörten das scharfe Schurren von Seil und Lack und Blech, hörten ein Krachen. Der Bus verklemmte sich an dem Baum, an dem das Seil befestigt war. Er war aber nicht umgeschlagen und war wie der Baum nur wenig beschädigt. »Frauen, drei Frauen!« »Die Körpermaße sind sehr knapp!« »Weg mit dem Seil!« »Hauptsache ist, sie haben ihre Identitätskarten bei sich.« »Sie sind von der PHARMA, da bin ich sicher!« Wir warfen ein geöffnetes Chromfläschchen in den Bus. Dann schoben wir das Fahrzeug mehr an den Rand der Piste. Für jemand, der vorüberfuhr, war nur noch die unbeschädigte Seite zu sehen. Wir zogen die Frauen aus. Sie waren bewußtlos. Sie trugen
Hosen und kurzärmlige Hemden. Bei der Kontrolle in der Sicherheitszone der PHARMA würde es auf unsere Schnelligkeit und auf den Überraschungseffekt ankommen. Wir wollten uns nicht in letzter Minute einen Punkteabzug für eine Fehlleistung einhandeln. Sehr ähnlich würden wir den Fotos der Frauen auf den Identitätsmonitoren der Wache nicht sein. Plötzlich kam die vollbusige Blonde zu sich – die Wirkung des Betäubungsmittels ließ entweder nach, oder es wirkte bei ihr nicht so stark. Einer schlug mit der Handkante zu. Es knackte unter seiner Hand. Sie fiel in den Sitz zurück. Endlich fanden wir auch die Identitätskarten. Wir waren nun Beschäftigte der PHARMA, jedenfalls wenn wir Glück hatten. Wir hatten aber nur drei Karten. Wir stritten uns, und als der Streit entschieden war, wickelten wir den vierten in eine Decke ein, und dazu lachten wir. Die Miss würde entscheiden müssen, ob auch er seine Aufgabe erfüllt habe. Die Wachmänner am Personaleingang wurden nicht stutzig. Wir wiesen uns aus und hupten, es sollte aussehen, als hätten wir es besonders eilig, in die PHARMA zur Arbeit zu kommen. Einer der Wachtposten winkte seinem Kollegen, uns durchzulassen. Unterdessen öffnete er die Glasschranke. Er ließ das Stahltor beiseite rollen. Wir bogen nicht unmittelbar zur STATION ab. Wir parkten wie abgesprochen etwa zweihundert Meter hinter der Glasschranke. Wir wickelten unseren Vierten aus der Decke. Dann kam uns zugute, daß ein Großtransporter, beladen mit Kühlcontainern, vor uns abbog. Wir preschten hinter ihm durch den Kontrollbereich – wir waren innerhalb der STATION. Die Sirenen brüllten los. Stolz stellten wir uns zur Parade auf, ließen uns in unserem Aufenthaltsraum mit der Zentrale verbinden und meldeten auch den Unfall der drei Frauen an der Piste. »Ihr wart gut, sehr gut!« sagte die Miss. Wir sahen uns um. Erst jetzt hatten wir sie bemerkt. Sie saß dort, wo früher unsere Spielecke gewesen war.
Die Tür wurde aufgerissen. Fünf Wachmänner hielten ihre automatischen Waffen auf uns gerichtet – es waren die Strahler neuen Typs. Die Beklemmung ließ nach, als die Miss den Männern dankte und ihnen sagte, es sei alles in Ordnung. Sie salutierten und verließen den Raum. »Wir haben euren Weg verfolgt und euch mehrmals besucht«, sagte die Miss. »Wirklich, ich bin zufrieden. Die Polizei hat eure Spur nie gefunden, und die Mexikaner waren auf eine Einzelperson aus. Morgen erfolgt die Auswertung. Heute feiern wir – der flambierte Pudding steht bereit.« Wir sprangen auf und tanzten wild wie kleine Jungen. Der Pudding würde uns wieder stark und zufrieden machen. Bis zum Abend ruhten wir aus. Wir sprachen über unseren Alleingang in die Freiheit, wie wir die mehrwöchige Exkursion nannten. Wir staunten noch nachträglich über die naive Hilfsbereitschaft und über die Unzulänglichkeit der Menschen draußen. Unsere Ausbilder und die Miss, sie mußten AUSERWÄHLTE sein. Uns wäre es sonst nicht möglich gewesen, zu glauben, daß ausgerechnet wir ausersehen waren, die Menschheit zu retten. Wovor sollten wir sie retten – vor sich selbst? Drei Tage darauf diskutierten wir philosophische Probleme für die Klausur. Ich hatte mich ausführlich mit dem Thema des Staatswesens befaßt. Es kam zu einem Streitgespräch mit dem Dozenten. »Man müßte«, sagte ich überzeugt, »das Staatswesen reorganisieren und den größeren Teil der Bevölkerung der FREE STATES abschaffen. Ich kenne noch keinen Weg, das Problem effektiv zu lösen, aber ich denke oft darüber nach. Sind wir uns einig: Schon der Ameisenstaat weist infolge strenger Spezialisierung – mit relativer Bedürfnislosigkeit gekoppelt – weitaus größere Effektivität auf als jedes bisher bekannte Gesellschaftsmodell des Menschen. Diese Modelle sind mehr von Menschenhand gebildet denn vom Geist geschaffen. Kann ich in diesem Zusammenhang von schaffendem Menschengeist reden, verknüpfe ich die Bedingungen des
Alltagsmenschen der FREE STATES mit den Anforderungen, die von der Zukunft an die Menschheit gestellt sind? Es ist Wahnsinn oder Utopie, oder es ist beides: Jeder Staat bemüht sich, jedem Individuum eine Vielzahl von Ansprüchen und Interessen einzureden, die über die unbedingt notwendige Lebenserhaltung hinausreichen. Sie alle zu befriedigen ist für die Gemeinschaft mit unangemessen hohen Kosten verbunden – zwangsläufig geht das Staatsgefüge an dieser negativen Bilanz zugrunde. Die AUSERWÄHLTEN werden daran zerbrechen, daß sie ständig das Heer der Unzufriedenen zum Stillhalten zwingen müssen. Das heißt nämlich, den ständig steigenden Bedarf an Waffen und hörigen Menschen bereitstellen zu müssen, um die Herrschaft der AUSERWÄHLTEN zu garantieren. Durch ebendiesen immer größeren Aufwand an Waffen, Polizeimaßnahmen und gesetzgeberischen Einschränkungen fühlt sich die grobe, immer unzufriedene Masse herausgefordert. Sie erhebt sich und leitet den nächsten Rückschritt in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft ein. Die Köpfe rollen, und mit dem Blut im Namen des Fortschritts wird ein neues, noch weniger effektives Staatsgebilde geschaffen. Immer größere Teile der Masse wollen an der Herrschaft partizipieren. Jetzt verstehe ich auch den Kampf der AUSERWÄHLTEN gegen die ANDERE SEITE. Sie verkörpert das Chaos. Wenn auch das Bedürfnisniveau des einzelnen niedrig ist – für die Masse insgesamt ist es, verglichen mit dem der FREE STATES, sehr hoch. Nicht nur der Fortschritt wird so in Frage gestellt, die Ökonomie wird kopfgestellt, das System der Distribution funktioniert nicht.« »Das ist auch meine Auffassung. Der heutige Mensch ist eigentlich nur die Folie, die Ausgangsvorlage des kommenden, des wahren – kurz: des nützlichen Menschen.« »Wie soll er aussehen, der wahre, nützliche Mensch? Den gibt es nicht.«
»Die bisherige Definition, wer oder was ein Mensch ist, sie muß neu überdacht werden, sie ist grob und umfaßt unzulässig Qualität und Ausschuß gleichermaßen.« »Moment, ich lasse mir die Zentrale geben.« Uns war es seit dem zehnten Lebensjahr nicht mehr erlaubt, eine Direktleitung zu den Zentralrechnern zu benutzen. Er gab daher die Code-Nummer unserer Philosophie-Klausur an. Er bat um eine Spur für unseren Computer zur Bundes-Zentral-Bibliothek. Wir lasen den Text gemeinsam nur von einem Monitor ab. Dabei diskutierten wir. Den Scintographen hatten wir ausgetrennt. Wir wollten unsere Gedanken in aller Ruhe entwickeln. Sie sollten in der gegenwärtigen unfertigen Form nicht aufgezeichnet werden. Wir wollten die Miss mit der Qualität unserer ausgefeilten Logik verblüffen. Wir lasen, bis unsere Konzentrationsfähigkeit ein Höchstmaß erreichte. Wir lasen dreißig Zeilen pro Sekunde und waren fähig, den Text zu repetieren. Die Zeilen flogen über den Monitor. Unter »Nützlichkeit« fanden wir auch: »Das Utilitätsprinzip in der Gen-Beherrschung«. Wir arbeiteten uns voran. Bald fanden wir den Weg zu einer Lösung. Es war ein hochbrisanter Text. Er schien eine der Grundlagen unseres Problems zu berühren: »Um ethisch-moralischen und juristischen Barrieren auszuweichen und um die Öffentlichkeit nicht zu beunruhigen, griffen Wissenschaftler der CCB eine Idee aus den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf. Es wurden von ausgesuchtem Spendermaterial Eizellen und Spermien eingelagert. Sie wurden nach Bedarf im artifiziellen Uterus befruchtet, teils aufgezogen, zum größten Teil jedoch wurden die befruchteten Eizellen vorerst zu Tausenden in Embryonenbanken gelagert (77 Grad Kelvin). Mit diesem Material, das man nach dem Auftauen bis zu jedem gewünschten Stadium aufzuziehen in der Lage war, experimentierte die CCB bis zum INTERNATIONALEN VERBOT DER GENMANIPULATION von 2009.« »Fertig?« »Fertig!«
»Da habt ihr die Vision von der nützlichen, gezüchteten menschlichen Ameise.« »Oder von deinen Eltern!« »Hier wird nicht geprügelt! Nicht jetzt.« »Lies!« »Obwohl die verschiedenen Zellverbände der einzelnen Gewebe und Organe im menschlichen Körper ganz unterschiedliche Funktionen ausüben, enthält nach wie vor jede Zelle den diploiden Chromosomensatz, das heißt die gesamte genetische Information, die für die Entwicklung eines Menschen aus einer einzelnen Zelle notwendig ist. In den Zellkernen differenzierter Zellen ist lediglich, im Gegensatz zu befruchteten Eizellen, der größte Teil der genetischen Information blockiert. Spermatogonien, das sind männliche Ursamenzellen, die noch den diploiden Chromosomensatz enthalten, eignen sich zur Gewinnung diploider Zellkerne, die man in kernlos präparierte Eizellen einpflanzen kann, um damit Embryonen zu erzeugen. Diese Methode ist geeignet, große Sätze genetisch identischer Menschen zu rekonstruieren.« Wir sahen uns an, lange und betroffen. So deutlich hatten wir es noch nie gehört. »Das war vor dreißig Jahren?« »Das sind wir!« »Wir, dazu gehöre auch ich.« Wir gaben den Befehl ein, die Fakten mit Beispielen zu belegen. Ein Zeitungstext schob sich über den Bildschirm: »MORNING POST, 20. Januar 2035 (Von unserem Stadtkorrespondenten) Während der gestrigen Mittagsstunden ereignete sich in unserer Stadt ein recht seltsames Vorkommnis. Mrs. E. Bekman stellte wie gewohnt ihren Wagen auf dem Parkplatz der Firma Bekman & Holden ab, da sie verschiedene Einkäufe zu tätigen gedachte. Völlig überraschend entriß ihr ein mit einem orangenen Overall
bekleideter Mann den wertvollen Wildledermantel. Mrs. E. Bekman konnte entkommen, ohne weiteren Schaden zu nehmen. Derartige Überfälle häufen sich in letzter Zeit auch in unserer schönen Stadt. Friedliche Passanten werden ihrer Kleidung beraubt und sind dann schutzlos den Witterungsunbilden preisgegeben. Bezeichnend für den Verfall von Moral und Sitte ist, daß die Überfälle sogar in der City an der Tagesordnung sind und keiner der zahlreichen Passanten die Courage hat, helfend einzugreifen. Die Zeichen häufen sich: Die Nation ist von den Vorstellungen einer sozialistischen Demokratie zerfressen wie von einem schwärenden Geschwür. Es wird Zeit für den Chirurgen, mit harter Hand zu schneiden. Sehr erstaunt war Mrs. E. Bekman, als sie nach zwei Stunden den Dieb immer noch auf dem Parkplatz vorfand. Er hatte den teuren Naturledermantel sorgfältig in gleichgroße Fetzen zerrissen und putzte mit ihnen die Frontscheiben sämtlicher geparkter Wagen. Der in unserer Stadt gut bekannte und allseits geachtete Rechtsanwalt Mr. Sloper verbat sich energisch diese Art Service, kam er doch geradewegs mit dem Wagen aus der Autowäsche. Er wurde vom Täter wortlos, aber sehr entschieden zur Seite gedrängt. Mr. Sloper und Mrs. E. Bekman ließen daraufhin den Mann von einer Polizeistreife in Gewahrsam nehmen. Nach bisherigen Ermittlungen handelt es sich bei dem Festgenommenen um einen taubstummen debilen Patienten einer psychiatrischen Klinik. Es war ihm gelungen, den täglichen Spaziergang im Anstaltsgelände zu einem Ausflug in unsere Stadt auszudehnen.« Eine zweite Notiz erschien auf dem Schirm: »WORKER vom 21. Januar 2035… ist ein weiteres Beispiel für diese Verschleierungstaktik. Der in der MORNING-POST-Ausgabe vom 20.1.35 erwähnte angebliche Insasse einer psychiatrischen Klinik ist in Wahrheit aus der schon erwähnten Abteilung P 3/4 der PHARMA ausgebrochen. In der PHARMA kommen Dinge vor, die das Licht der Öffent-
lichkeit scheuen. Die Untersuchungsorgane wurden von übergeordneter Stelle zu striktem Stillschweigen verpflichtet.« Die dritte Kopie trug den folgenden Text: »MORNING POST vom 17. April 2035 Auf das äußerste erstaunt waren Passanten, die in den Morgenstunden des 16. April in der Hauptgeschäftsstraße unserer Stadt einen Fassadenkletterer an den Fenstern der CITY-CENTRALBANK emporklettern sahen. Mittels Fernglas war erkennbar, daß die offenbar männliche Person an den bloßen Füßen und an den Händen eine Art naturgegebener großflächiger Saugnäpfe besaß, mit deren Hilfe sie sich scheinbar mühelos und ohne Anzeichen von Furcht an den glatten Flächen der Fassade aufwärts bewegte. In Höhe der 35. Etage begann der Mann mit diversen Lappen und einer Reinigungslösung die Fensterscheiben zu putzen. Seine Bewegungen blieben, obwohl er ohne jede Absicherung tätig war, zielstrebig und wie selbstverständlich. Inzwischen bemühte sich eine Einsatzgruppe der Polizei ohne sichtbaren Erfolg, diesen GEBORENEN FENSTERPUTZER zum Verlassen seines Platzes zu bewegen. Von der Straße und vom Gehweg her riefen Bürger unserer Stadt, die in dem Mann einen Selbstmörder vermuteten, er möge endlich springen. Dies lehnte der Mann offenbar ab. Er arbeitete, ohne daß die Polizei und eine Gruppe der Nationalgarde / Terroristenbekämpfung ihn hindern konnten, zwölf Stunden ohne Unterbrechung. An dieser Stelle scheint der Redaktion die Frage angebracht, wie weit die Hilflosigkeit und Unentschlossenheit in der Polizeiführung zum staatsgefährdenden Demokratismus beitragen. Die Zahl der Bürger, deren Stimme nach Zucht und Ordnung ruft, wächst ständig. Der Ruf nach dem Gärtner, der mit dem gesinnungslosen Unkraut aufräumt, es mit eiserner Hand ausreißt, darf nicht ungehört verhallen. Der Fensterputzer wurde festgenommen, und da er nicht nachweisen konnte, in wessen Auftrag er tätig war, wurde er in das Distriktgefängnis überführt. Wir konnten erfahren, daß besagte Person taubstumm ist und zum
Zeitpunkt der Inhaftierung nicht im Besitz einer Identitätskarte war.« Schnell löschten wir die Verbindung. Niemand sollte auf unseren Ausflug in die Bundes-Zentral-Bibliothek aufmerksam werden. »Nein, damit haben wir nichts zu tun. So sind wir nicht!« sagte einer von uns, doch das beruhigte uns nicht. Der Keim des Mißtrauens um unsere Herkunft war endgültig aufgegangen. Babette lehnte sich in ihrem Arbeitssessel zurück. Der Bericht von Arkadij Carson strengte sie an, vieles erschien ihr verwirrend. Trotzdem spürte sie, von diesem Mann ging eine eigentümliche Lebenskraft aus. Nach einer kleinen Pause wandte sie sich an den Computer: »Caligula, das Essen war nicht ausreichend. Beauftrage den Magnetboten, für ein Dessert zu sorgen. Deine Kalkulation war mangelhaft!« CALIGULA SORGT UMGEHEND DAFÜR DASS IHR DEFIZIT AUSGEGLICHEN WIRD MADEMOISELLE FOURIER FRAU INES ROMERO HAT SICH ANGEMELDET ICH STELLE DIE VERBINDUNG HER Ines Romero nickte ihr zu und sagte: »Entschuldigen Sie, Babette, ich habe Sie unterbrochen. Ich muß mit Ihnen sprechen.« »Aber nein, Sie stören mich nicht. Haben Sie eine Nachricht von meinen Eltern?« Babette fragte besorgt. »Nur von der LYR als System. Die Empfangsstationen der ehemaligen Mondbasen nehmen ständig neue Informationen auf. Wir trennen die Daten und Fakten, die uns von der LYR und von der NOAH II erreichen, vom ersten neuen Situationsbericht der LYR-Besatzung selbst. Es wird einige Stunden dauern, bis wir eindeutig sagen können, was geschehen ist. Die technischen Parameter der LYR sind in Ordnung, das können wir mit Gewißheit beurteilen. Vielleicht gelingt es uns, Babette, einige neue Erkenntnisse mit in die Informationen einzugeben, die wir zurücksenden werden.«
Babette hatte zu früh angenommen, der Dialog sei damit beendet. Sie nahm ihre Hand von der Sensorik, doch da sagte Ines Romero: »Uns fehlen Informationen. Haben Sie bemerkt, daß es keinen Zusammenhang gibt?« Das Mädchen zögerte einen Moment. Trotzig klang es, als sie die indirekte Frage nach dem fehlenden Text beantwortete. »Ich finde es wenig würdig, Liebesbeziehungen auseinanderzunehmen und gleichsam unter die Lupe zu legen.« Ines Romero beugte sich ein wenig überrascht vor. Streng sah sie Babette an, die gern das Hologramm mit einer Handbewegung weggewischt hätte, um diesen zwingenden Blicken zu entgehen, doch sie wagte es nicht. »Babette Fourier«, sagte Frau Romero, »im OBERSTEN PARLAMENT wird in den Archiven nach weiteren Informationen geforscht, die die Klons betreffen. Wir teilen deine Besorgnis und stellen neue Überlegungen an, ob es möglich ist, genetisches Programmieren langfristig zu fixieren, und wir denken darüber nach, ob die überfällige Nachricht der LYR eine Reaktion erfordert, und wenn ja, welche Reaktion.« »Ich habe verstanden. Bitte entschuldigen Sie meine Vorbehalte. Die Offenheit und die Zärtlichkeiten wirkten stark auf mich. Ruth Carson, die Ärztin – ich bin von ihr beeindruckt.« »Ich danke dir dafür, daß du aufrichtig bist, Babette.« Ines Romero verabschiedete sich. Ihr Hologramm erlosch. Babette dachte, während sie etwas aß, über die Worte von Ines Romero nach. Was veranlaßte diese Frau, die doch sicher alle nur möglichen Informationen besaß, sich intensiv für den privaten Bericht Arkadij Carsons aus dem Archiv ihrer Eltern zu interessieren? Und in welche Rolle hatte sie ihre Zufallsentdeckung selbst gebracht? Sie begann zu ahnen, daß gerade in den persönlichen Mitteilungen des Klons Arkadij Carson ein wichtiger Schlüssel für neue Erkenntnisse der Gen-Codierung lag.
Obwohl sie müde wurde, gab Babette dem Computer den Befehl, mit dem Bericht weiterzumachen. Auf dem Gewölbe erschien wieder Arkadij Carson. Er saß wie schon im vorangegangenen Teil an einem Gartentisch inmitten einer tropischen Flora. Auf dem Tisch befand sich ein umfangreiches Bündel von Akten und Manuskripten. Teilweise las Arkadij Carson vor, teilweise sprach er, in konzentrierter Erinnerung, frei in die Kamera. »Mister Haxwell, bitte folgen Sie mir zur Strahlenbehandlung«, forderte mich die Schwester auf. Der Soldat war ihr ins Zimmer gefolgt; als sie es verließ, ging er ihr nach, wieder auf den Flur hinaus. Ich blieb auch als Nelson Haxwell verdächtig. Ein unwillig Geduldeter, ein Mann, den sie bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit abschieben oder einsperren würden. Ich wollte eine Nachricht für Ruth hinterlassen. Sie sollte wissen, wo ich mich befand. Aber ich überlegte es mir anders – wir mußten vorsichtig sein. Kein Mensch sollte von uns wissen, es hätte uns schaden können. Ein wehes Angstgefühl peinigte mich. So war das also: Jemand, der sich gebunden fühlt – ein Mensch, der liebt, ist doppelt verwundbar, ist doppelt erpreßbar. Die Schwester hatte vor der Tür auf mich gewartet. Sie ging mir voran. Mein Soldat folgte uns. Wir fuhren zu dritt in den Keller hinunter. »Können Sie mir sagen, ob Doktor Carson heute im Dienst ist? Ich glaube, ich habe einen neuen Verband nötig.« »Bedaure, Mister Haxwell, ich bin nicht auf dem laufenden. Wenn Sie Schmerzen haben, wenden Sie sich bitte an den diensthabenden Arzt«, antwortete die Schwester freundlich. Ich wünschte mir, unverfänglichen Text gesprochen zu haben. Der Soldat war dem Gespräch gefolgt, konnte aber nichts dagegen haben, daß wir redeten. Trotzdem, ich mußte vorsichtig sein. War
ich doch selbst geschult genug, ein Gespräch von etwa Stundendauer exakt gedankenprotokollarisch wiederzugeben. »Warten Sie bitte hier!« Die Schwester übersah den Soldaten, als wäre er nicht vorhanden. Sie wendete sich betont ausschließlich an mich. Ich sah mir die Kryptogramme an, die vor der Strahleneinwirkung warnten. »Bitte, Mister Haxwell, Kabine C«, wies mich die Schwester ein. »Ich hole Sie in einer Stunde hier ab.« Sie ging zum Lift. Eine Sekunde lang wurde der Soldat unsicher, endlich entschied er sich und folgte mir. In der bleiverkleideten Kabine, die nur von einer roten Lichtquelle spärlich erhellt war, zog ich mich, einem Leuchtschriftbefehl gehorchend, bis auf den Slip aus. Mein Soldat wußte wieder nicht, wie er sich verhalten sollte. Seine absolute Schweigsamkeit beeindruckte mich. Eine gelbe Lichtquelle flammte in kurzen Abständen auf, eine Bleiwand glitt geräuschlos zur Seite. Ein schwach beleuchteter Raum lag offen vor uns. Ich ging einige Schritte in den Raum hinein. Mein Soldat blieb bei mir. Eine künstlich verzerrte Stimme, die in meinen Ohren dröhnte und klirrte und deren Herkommen ich nicht ausmachen konnte, befahl: »Haxwell, Nelson, treten Sie in den Schutzraum. Er ist durch die grüne Lichtmarkierung gekennzeichnet. Sehen Sie ihn?« Ich sah ihn. »Ich betrete den Schutzraum!« gab ich laut bekannt. »Mister Haxwell«, redete die grollende Stimme, die nun aus den Bleikammern zu kommen schien, auf mich ein, »Sie haben nichts zu befürchten! Im Schutzraum wird die Strahlendosis auf das der Behandlung dienliche Maß verringert. Bewegen Sie sich nicht. Im Keller herrscht eine absolut tödliche Dosierung als Ausgangsschub. Ich bediene die Strahlenkanone. Sind Sie soweit?« »Ich bin bereit!« rief ich. Ich war nicht sicher, ob ich bei normaler Lautstärke verstanden würde. »Halt!« schrie der Soldat. »Halt! Ich bin Angehöriger der Armee. Sie können mich doch nicht…!«
»Was sagten Sie, Mister Haxwell?« erkundigte sich die Stimme. Nun erkannte ich sie. Ohne Verzerrungen wäre es jene strenge Stimme gewesen, die ich leicht spöttisch in Erinnerung hatte: Vermeiden Sie jeglichen Umgang, der dem ungehinderten Wachstum und der Gesundung Ihrer Haut schaden könnte! Es war Dr. Engs Stimme. Ich reagierte auf den Spaß, den er sich mit dem Soldaten zu machen schien. »Sie irren, ich sagte nichts. Schießen Sie los!« »Halt! Ich warne Sie! Sie vergreifen sich an einem Vertreter der Staatsmacht. Ich bin im Dienst!« brüllte der Soldat. Er hatte sich in der grünglimmenden Dunkelheit vorgetastet und schlug mit dem Schaft seiner Strahlenwaffe gegen die Bleiwand. »Lassen Sie mich heraus, bitte! Ich bitte Sie, lassen Sie mich hier heraus!« Ich hätte ihn für mutiger und besonnener gehalten. Wenn er die Nerven verlor – weit davon entfernt war er nicht –, dann würde Blei schmelzen. An andere Folgen mochte ich nicht denken. Wahrscheinlich teilte Dr. Eng meine Furcht. Es wurde hell im Keller. Der Arzt stand schräg über mir in einer glasverkleideten Kanzel. Ich konnte sein kleines Gesicht mit den mandelförmigen Augen hinter dem Sehschlitz der Schutzkombination erkennen. Eine Bleiwand glitt zurück. Mein Soldat marschierte in strammer Haltung zum Lift. Man soll einen dummen Feind nicht unnötig reizen, dachte ich. Er wird keine Fehler begehen wollen, denn in seiner Dummheit fällt ihm in jeder Situation zuerst eine Dienstorder ein. Dr. Eng blieb schräg über mir in der Kanzel mit den Bedienelementen. Den Schutzhelm hatte er abgenommen. Die Bleiwand glitt vor. Wir waren ungestört. »Besonders wohl fühle ich mich nicht als Nelson Haxwell«, flüsterte ich.
»Sie können normal sprechen. Ich verfüge hier oben über ein ausgezeichnetes Kontrollsystem, das mir jeden Ankommenden und jeden Spitzel signalisiert«, sagte er. »Der Tausch der Identität hat doch durchaus auch positive Aspekte. Die Militärs hassen Nelson Haxwell. Wüßten sie von seinem Tod, könnten sie einen unangenehmen Gegner von ihrer Liste streichen. Durch Sie lebt Nelson Haxwell. Seine Identität ist auch Ihr Schutz.« Dr. Eng war aus der Schutzkombination gestiegen. »Sie gelten in Südamerika als Volksheld«, fuhr er fort. »Der Friedensnobelpreis hat Sie in der Weltöffentlichkeit bekannt gemacht. Die Menschen brauchen Sie. Viele sind geduckt und seelisch gebrochen, sie sind feige und erbärmlich, sie haben Angst – und doch schlummern in ihnen alle entgegengesetzten Eigenschaften. Mit Ihnen kann die Abwehr nicht umgehen, wie es ihren Vorstellungen entspricht. Allerdings wird dieses in die Isolation getriebene System mit jedem Tag bedenkenloser. Wir haben vor, Sie so schnell als möglich an einen sicheren Ort zu bringen. Die notwendigen Verbindungen haben wir aufgebaut. Die Grenzen der FREE STATES zu überschreiten, halte ich jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt für verfrüht. Sie sind uns und den Gegnern zu wichtig – die Überwachung ist zu stark.« »Doktor Eng, ich möchte in der Klinik bleiben.« Ich erschrak vor mir selbst. Vergaß ich die Gefahr, vergaß ich meine Vergangenheit, vergaß ich meine Furcht? Was war ich nur für ein – Mensch? Dr. Eng sah mir aufmerksam ins Gesicht. Seine mandelförmigen Augen blickten freundlich. Erst aus ihnen las ich den Sinn meines Wunsches: Ruth. »Nein«, sagte Dr. Eng. »Sie wissen, daß es um mehr als um Ihr Leben geht.« Ich spürte, wir konnten in einen Streit hineintrudeln, den ich später sicher bedauern und als sinnlos empfinden würde.
»Ich gehe dorthin, wohin auch Ruth Carson geht. Die Manipulatoren haben für mich ein Leben ohne Zufriedensein programmiert«, erklärte ich ihm, »und trotzdem habe ich überraschend ein Stück Erfüllung gefunden. Daran halte ich mich fest.« »Haben Sie mit Doktor Carson darüber gesprochen?« fragte er. »Nein!« Vielleicht waren nicht viel Worte zwischen uns nötig. »Wir werden die Strahlenbehandlung wiederholen müssen«, sagte Dr. Eng. »Sie sind ein schwieriger Patient.« Der Doktor betätigte den Öffnungsmechanismus des Bleikellers. Die Schwester hatte schon auf mich gewartet. Vor dem Lift stand mein Soldat. Er sah schuldbewußt aus, als habe er mich absichtlich allein gelassen. Ein schlechtes Gewissen entsteht also durch Schuldzuwachs im Bewußtsein. So werden natürliche Energien des Verstandes das Opfer von Manipulationen… Mir war es ähnlich ergangen. Für mich hatte es kein schlechtes Gewissen gegeben, ich war im sittlichen Sinne nicht schuldfähig. Für mich, für uns hatte es nur die Tat gegeben, die richtige, von der Miss geforderte Tat – unser Gewissen war die Miss. Babette Fourier starrte vor sich hin. Sie stellte sich die Frage, wie man hätte Arkadij Carson helfen können, der, von Soldaten bewacht und auf Ruth Carson wartend, mit niemandem zurechtkam. »Man müßte mit ihm…«, sagte sie und stoppte den Bericht. Aber sie verwarf den unausgesprochenen Gedanken und rief sich in die Wirklichkeit zurück. »Caligula, ist dir Nelson Haxwell sympathisch?« fragte sie. HAXWELL ALIAS CARSON IST EIN MENSCH CALIGULA IST UM CALIGULAS INTELLIGENZ BESORGT SIE VERTRÄGT SICH NICHT MIT DER INTELLIGENZ DES HAXWELL ALIAS CARSON »Hast du endlich begriffen, Computer? Wenn man auch keine Vergatterung in dich eingebaut hat – es ist dir trotzdem nicht gestattet, sich der Persönlichkeitsstruktur eines Menschen anzunä-
hern, auch nicht der eines Klons. Du hast zu bleiben, der du bist. Das kann vorteilhaft sein: Ich weiß zum Beispiel nicht mehr, was ich gegessen habe.« SIE ASSEN RAGOUT FIN MADEMOISELLE FOURIER »So, aß ich Ragout fin? Sicher aus dem Automaten. Ich weiß nicht, wie es mir geschmeckt hat, das Ragout fin. Sagst du es mir bitte?« ES SCHMECKTE IHNEN SIE HYPOTHETISCH FALSCH AUS Babette mußte über Caligulas Eifer lachen. Das Wortgebilde flimmerte stark und färbte sich allmählich hellrot. Die Belastung stieg. Ein bißchen komisch fand Babette, daß ihr seelenloser Gesprächspartner um den Geschmack eines Essens stritt. Sie berührte die Sensorik. Im Panoramagewölbe strahlte ein BITTE auf. »Ich dachte, du ruhst dich aus«, sagte Babette ironisch. ICH RUHE MICH NIE AUS NIE Babette lachte. Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken, ob die Antwort korrekt war. Hätte Caligula ein Gesicht, müßte er verärgert aussehen und vielleicht ein bißchen verwirrt. Ein verzerrtes Wortgebilde, dunkelrot schimmernd, gab mehrmals ein verräterisches NIE NIE NIE zu erkennen. Nie, dachte Babette Fourier, hätten es meine Altvorderen für möglich gehalten, daß es zur Flutkatastrophe kommen würde. Vielleicht waren noch andere, immer noch wirksame Ungeheuerlichkeiten vorprogrammiert. Was war mit NOAH II, worauf genau waren die vier Gleichen trainiert worden? Soweit sie es vermochte, rief sich Babette die damalige Weltsituation ins Gedächtnis. Oft hatten sie im Studium durchgesprochen: Wie in den späten achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein internationaler Abrüstungsprozeß in Gang gekommen war, wie er
sich schwerfällig und zäh über viele Jahre hingezogen hatte. Als dann auch in den FREE STATES die inneren Spannungen Veränderungen erzwangen, probte eine kleine, aber mächtige Rüstungslobby ihre letzte Chance. In Geheimlabors waren zu Tausenden genetisch manipulierte Killer entstanden, die auf ihren Einsatz warteten. Über die Infiltration von Killertruppen sollte der Krieg ausgelöst werden. Nur weil sich in letzter Minute auch große Teile der Armee gegen diesen Wahnsinn gestellt hatten, kam es zu keinem Angriff. Die Regierung und die Spitzenmanager einiger Superkonzerne, auch die der PHARMA, waren endgültig isoliert, ihr Sturz stand bevor. Dem entzogen sie sich durch die Flucht. In ihrem manischen Haß zündeten sie zuvor noch das Zentral-Lager für Nuklearschrott in Alaska. Eine künstliche Sintflut sollte die Erde heimsuchen. Doch es kam, dank einigen beherzten Menschen, nur zu einer Teilexplosion. Trotzdem waren die Auswirkungen furchtbar. Jeder Mensch auf der Erde kennt die Folgen der Flutkatastrophe. Babette war diese Etappe der Geschichte immer merkwürdig fremd geblieben. Sie konnte sich nicht einfühlen in das, was damals geschah. Erst Arkadij Carsons Worte vermittelten ihr eine Ahnung von dem Maß der inneren Katastrophe, die sich vor vierzig Jahren in den FREE STATES zugetragen hatte. Mir bleibt nur, den weiteren Text anzuhören, dachte Babette. Eine nicht mit dem Verstand zu fassende Angst um ihre Eltern ließ sie auf neue, hilfreiche Erkenntnisse hoffen. Sie bangte, wann endlich der Bericht der LYR sendefertig sein würde, und sie fragte sich, was er über die Eltern aussagen würde. »Caligula, die Zeitansage!« NULL UHR VIERUNDFÜNFZIG »Laß bitte Arkadij Carson sprechen. Sein holographiertes Porträt kann einstweilen wegfallen.« Ein feines Rauschen wurde von der volltönenden Stimme Arkadij Carsons überlagert.
Es war mein Soldat, der höflich geklopft hatte. Er hielt die Tür auf. Frau Doktor Ruth Carson bemerkte diese Aufmerksamkeit nicht – eine Königin überschritt die Schwelle. Ein Hauch streifte mein Gesicht. Körper und Seele begannen mir zu frieren. Der Soldat stellte sich am Fenster auf. Wie ein Plastik-Soldat stand er. Kein Muskel in seinem Gesicht regte sich. Die Waffe schien mit seinem Körper zu verschmelzen. Eiszeit. Ich wurde untersucht. Nackt stand ich vor ihr. Mein Körper war heiß, die Haut konnte mich nicht gegen die Kälte schützen. Die Kälte entströmte ihren Augen. Mir schmerzte das Herz. Selbst ihre Stimme klirrte. »Mister Nelson Haxwell, Sie haben Krebs. Die Befunde sind eindeutig. Der Zustand verschlechtert sich progressiv. Die Strahlenbehandlung muß wiederholt werden.« Mein Soldat bestand nicht aus lebloser Plastik-Masse. In seinem Gesicht zuckte es nervös. Nur sein Blick blieb ausdruckslos. »Sie sind ein störrischer Patient«, tadelte mich Dr. Carson. »Doktor Eng hat mir von Ihrem Starrsinn berichtet. Ich bin enttäuscht. Sie scheinen von der Gefährlichkeit Ihrer Krankheit kein reales Bild zu haben. Wir müssen Sie, sollte sich die Lage verschärfen, in die Peterman-Universitätsklinik fliegen. Ohne Ihr Einverständnis wäre das jedoch nicht sinnvoll. Mister Haxwell, Sie müssen uns vertrauen: Professor Braddok verfügt über die optimalen Bedingungen, auch für den Organaustausch, der bei Ihnen erforderlich sein wird. Ich bitte Sie, uns die Arbeit mit Ihnen nicht zu erschweren.« »Mein Herz müßte ausgetauscht werden«, sagte ich, und so meinte ich es auch, und ich fand mich abscheulich sentimental. Sie ging über meinen Vorwurf hinweg. »Bilden Sie sich nur nicht zuviel darauf ein, eine bekannte Persönlichkeit zu sein, Mister Haxwell! Ich fürchte, die Kampagne in
den Medien, die Berichte über Ihr Leben und über Ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort sind uns Ärzten hier wenig dienlich. Sie sind ein Mensch wie jeder andere auch!« »Sagen Sie das noch einmal!« »Sie sind ein Mensch wie jeder andere«, wiederholte Ruth. »Ich danke Ihnen, Doktor Carson. Werden Sie mich in die Peterman-Klinik begleiten?« Ihre Augen tauten den Eisklumpen, der mein Herz auszukühlen drohte. Nur für eine Sekunde genoß ich die Wärme ihres Blickes, dann wurde mir wieder kalt. »Andere Ärzte werden sich um Sie kümmern – mit besseren Voraussetzungen.« »Nein!« »Was heißt: Nein?« »Ich bleibe hier. Ich beantrage meine Entlassung. Ich finde auch hier eine Aufgabe.« Der Soldat protokollierte eifrig meine Worte. Seine Stirn verriet die Mühe, sich jeden Satz einzuprägen. Sein Pech wird gewesen sein, daß er Äsop nicht kannte, nicht gelesen hatte. Mein Soldat war von niederer Struktur. »Ich hätte Sie für klüger gehalten. Ich glaubte, Sie könnten zwischen Neigung und Aufgabe richtig entscheiden. Sie haben mich enttäuscht, Mister Haxwell!« Dr. Ruth Carson verließ das Zimmer. Der Soldat hielt ihr die Türe auf. Sie schritt über die Schwelle – meine Königin. Ich argwöhnte, meinem Soldaten gehe es trotz seines niedrigen Intelligenzquotienten besser als mir. Zufrieden würde er draußen auf dem Flur stehen. Ausgeglichen und ein wenig dümmlich würde er vor sich hinstarren. Sein Verstand konnte sich anscheinend nur mit seiner Gegenwart beschäftigen. Ich dagegen, ich hatte schon an eine Zukunft mit Ruth geglaubt, Ruth, die mir den Schmerz schenkte, Ruth, die mich ein wenig mehr zum Menschen gemacht hatte, Ruth, die ich liebte.
Woran denkt ein Mensch, der nicht mehr an die Zukunft glaubt? Er wird sich, lehrte uns die Miss, mit seiner Vergangenheit beschäftigen. Das sei unproduktiv, sagte sie, denn das Erinnern an scheinbar glückliche Situationen oder Umstände habe eine krankhafte Struktur, die von der Realität abhebe. So gingen Energien verloren, die man zur Bewältigung der Wirklichkeit benötige – doch andererseits brauchte ich die Vergangenheit, um meine Zukunft daraus abzuleiten – eine Zukunft mit Ruth Carson. Es war schwierig, nichts schien lösbar. Ich wußte noch nicht, daß Ruth mir ein Beistand sein wollte. Ich rekonstruierte weiterhin mein Vorleben, mein Arkadij-Schitschkin-Leben, um mit dem komplizierten Umfeld in der Klinik fertig zu werden. Vielleicht hatte ich unmenschlich gehandelt, früher, und war mir dessen nicht voll bewußt, und Dr. Taylor und Dr. Eng hatten es von mir erfahren. Vielleicht schauderte ihnen vor mir. Sie hatten den Falschen zum Leben wiedererweckt, mich, das MONSTER. Denn das hatten wir nach dem Programm werden sollen: Vier Gleiche, vier MONSTER. Es war ein Foto im Großformat, eine Vergrößerung, die uns die Miss vorgelegt hatte und die sofort Verwirrung in unseren Köpfen auslöste. Es war nur zweidimensional, das Foto. Wir sollten die Aufnahme analysieren. Einer von uns vier stand vor einem altmodischen, geräumigen Bungalow. Er hatte sich ein wenig verändert, verglichen wir uns mit dem fotografischen Abbild. Es galt, den Widerspruch zwischen veraltetem Bildmaterial und uns, den Betrachtern, zu enträtseln. Der Bungalow hatte Erdgeschoß und eine erste Etage – sie war holzverkleidet. Auf dem Dach des Gebäudes waren Sonnenkollektoren einer uns nicht bekannten Bauart installiert. Ringsum war Wald zu sehen – eine Piste führte schnurgerade zur Garage. Der Fotografierte stützte sich auf die Motorhaube unseres schweren russischen Wagens. Der Wagen trug statt des Kennzeichens der FREE STATES ein Schild mit dem kyrillischen Buchstaben P und den Zahlen 001-01. Der Mann hatte ein Jagdgewehr
geschultert. Vor dem Wagen waren zwei erlegte Tiere abgelegt, Skunks konnten es nicht sein – wer jagt Skunks? – aber sie sahen ähnlich aus – entfernt ähnlich. Neben der Garage, auf dem Gartenweg, war eine Staffelei aufgestellt. Vor ihr stand ein Klapphocker. Neben dem Hocker, auf ebener Erde, lag ein Tablett mit einer Flasche und einem Glas. Unter der Lupe erkannten wir aus der Beschriftung in kyrillischen Buchstaben, daß es sich um echt russischen Wodka handelte. Auch der Wald rings um den Bungalow gestattete uns einen Schluß – die Aufnahme war im späten Sommer entstanden. Ratlos betrachteten wir die mächtige Eiche auf dem Foto – ein einzelnes Exemplar, daneben standen in gebührlichem Abstand Birken, deren Rinde sehr weiß war. Ich hatte sofort das Gefühl, daß der junge Mann, dieses Ich, zu mir gehörte. Das könnte ich selbst sein, dachte ich. Trotzdem blieb mir dieser Mensch unglaublich fremd. Ich fühlte mich betrogen, fühlte mich hintergangen, wenn ich auf dieses fotografierte Ich sah. Ich verdrängte das unangenehme Fühlen und sagte: »Es muß doch zu ermitteln sein, wer, wie, wann und wo, dieses Foto gemacht hat! Ich bin beunruhigt. Ich verlange Klarheit, denn schließlich ist einer von uns dabeigewesen.« Keiner reagierte auf meine Worte. Keiner wollte der Mensch auf dem Foto sein. Warum nicht? Was tat sich in unseren Hirnen? Es konnte ein Test sein, eine Intelligenzprobe der Miss – oder mußte einer von uns ein Geheimnis wahren? Ich fürchtete, wir vertrauten einander nicht mehr. »Im Norden – wer war im Norden?« »Schnee – wer hat sich ›Schnee‹ genannt!« »Ich habe es satt! Ich hasse Rätsel, die ich nicht lösen kann, die nur erdacht oder konstruiert wurden, um mich zu verunsichern. Einer von euch hat alle Informationen und grinst in sein informiertes Ich hinein. Wo steckt hier der Witz? Ich kann nicht lachen. Ich möchte das Foto zerreißen.«
»Bitte Geduld! Miss, dürfen wir stören? Wir schaffen es nicht. Eine rationelle Lösung wünschen Sie sicher nicht?« Die Miss nahm den Blick vom Monitor, auf dem sie Text gelesen hatte. »Ihr könnt die Frage vergessen«, sagte sie. »Wir fahren hin. Es ist eure Datsche. Ihr werdet dort eure Ferien verbringen.« Mich hatte sie nicht angesehen – sie hatte auch meine Frage nicht beantwortet. Einer von uns hatte also eine exponierte Position inne. Ich begann dieses Ich zu hassen, mehr und mehr, obwohl mich der Haß niederdrückte. Die Miss hatte gesagt, dieser Zustand sei normal. Wir begännen um den Auftrag zu konkurrieren. »Wieso Datsche?« »Ein anderes Wort für Landhaus, Wochenendhaus.« »Russisch – Datscha!« »Die Birken! Gibt es solche Birken in den nördlichen Bundesstaaten?« »Ist das tatsächlich unsere Feriendatscha, Miss? Es wäre herrlich. Gibt es dort Fische – Forellen? Können wir jagen?« »Bestimmt könnt ihr das«, sagte die Miss nach kurzem Zögern. Ich hatte uns genau beobachtet, jeden. Ich nahm sogar meine Finger zu Hilfe, was mir dann kindisch-unsinnig vorkam. Bei jedem, der eine Frage stellte, hatte ich darauf geachtet, ob er ernsthaft um Information bemüht war oder uns nur täuschen wollte. Das schien aber nicht der Fall zu sein – theoretisch war jeder unwissend, was angesichts des Fotos paradox war. Falls mich einer auf die gleiche Weise getestet hatte, mußte er mich für den Verräter halten. Aber das auf dem Foto war auf keinen Fall Kanada, das war nicht ich! Hatten sie einem von uns eine Gedächtnisspur gelöscht, ihm eine Zeitlang die Erinnerung genommen? Ich fühlte mich wehrlos, ausgeliefert, der Spielball mir unbekannt bleibender Kräfte, von denen ich nur wußte, daß sie als Verbindungsglied zu uns die Miss benutzten. Nur sie wußte über alle Erkenntnisse, die uns betrafen, umfassend Bescheid.
Ich kannte mich selbst nicht. In schlimmen Momenten hielt ich mich für eine Maschine, und ich erschrak und wünschte, ein Mensch zu sein. Ich wußte nichts. Die Miss war scheinbar allwissend. Es gehörte zu ihrer Taktik, uns vorzuführen, daß sie selbst die kleinsten unserer Geheimnisse erfuhr. Daß sie Ereignisse vorausahnte und allen Situationen gewachsen war. Die Miss war die Überlegene. Unser GOTT – eine Frau. Wir waren ihr hündisch ergeben, wir waren bereit, sie über das Meer zu tragen, wir würden jeden ihrer Feinde zerfleischen, oder jeden von uns, einen Bruder – wenn sie es nur wollte. Die Miss hielt ihr Versprechen. Wir flogen gemeinsam in die Ferien. Als wir tatsächlich vor der Datsche standen, stellten wir fest, daß sie zwar alt aussah, aber bis auf den letzten Nagel neu war. Besonders das Holz wirkte alt. Undeutlich waren Spuren einer Manipulation sichtbar, eine Beize hatte die Täuschung beinahe vollkommen werden lassen. Von außen konnte man meinen, die Datsche sei mehr als fünfzig Jahre alt – um so überraschter waren wir, als wir das feste zuverlässige Haus betraten, daß keine Spur auf einen Benutzer schließen ließ. Es war für uns erbaut worden. Die Bäumchen im Garten, die Büsche und Sträucher waren schätzungsweise erst vor einem halben Jahr eingesetzt worden. Sie standen noch im vollen Grün, und die Anordnung auf dem Foto war nachgestellt. Wir waren spätnachmittags angekommen. Hier herrschte beinahe Meeresklima. Es war frisch, ungewohnt feucht und lange nicht so heiß wie im Mittelwesten. Drei Stunden und vierundzwanzig Minuten hatte der Flug gedauert. Es war eine Privatmaschine, die uns nach Nordosten getragen hatte. Mit einem Kleinbus waren wir durch den Wald gefahren, nicht eine Ansiedlung sahen wir – Wald und wieder Wald. Die Straße befand sich in bemerkenswert gutem Zustand. Wir einigten uns ohne Prügelei, wer in welchem Zimmer wohnen und schlafen würde. Jeder hatte seine eigene Küche.
Die Miss, für die auf dem Flughafen ein Wagen bereitgestanden hatte, erklärte uns, sie wohne in der Nähe, bitte jedoch, von Besuchen Abstand zu nehmen. Wir feixten. Die Vermutung lag nahe, sie könnte doch einen Verehrer haben. Wir hatten in einer Analyse herausgefunden, das sei, ihrerseits, ausgeschlossen. Wir wollten auch weiterhin überzeugt bleiben, die Miss sei nicht für einen Mann geschaffen. Unter uns witzelten wir, bis es zu einer feindseligen Stimmung kam. Wir wollten die Miss nicht teilen, nicht mit einem Fremden. Diesen Anspruch konnten wir uns rational nicht erklären. Wir hatten ihn, auch wenn wir ihn nicht äußerten. Wir waren nicht mehr überrascht, als wir den schweren Russenwagen in der Garage entdeckten – mit einer Zulassungsnummer der FREE STATES. Die Miss gab ihn uns frei. Wir schätzten jedoch, es sei ziemlich reizlos, auf einer einsamen Straße beständig unter Bäumen entlangzufahren. Die Aussicht, Fische zu fangen, zumal wir die Angeln ebenfalls gefunden hatten, interessierte uns mehr. Nur das auf dem Foto abgebildete Jagdgewehr blieb noch zu entdecken. Wir hatten richtige Ferien. Wir stellten die Liegestühle im Garten auf. Wir wollten kalte Getränke, also programmierten wir den Hausboy entsprechend. Wir legten uns hin und warteten auf den Erholungseffekt – die Miss hatte davon gesprochen. Es war fast windstill, und es sah ständig bedrohlich nach Regen aus – aber vielleicht mußte das in diesem Landstrich so sein. Wohin wir sahen, erblickten wir Wald – Laubwald. Besonders die Buchen beeindruckten uns. Nach der uralten Eiche suchten wir vergeblich, und nirgends standen Birken. Von dem Problem, das sich hinter unserem Aufenthalt in dieser Idylle verbarg, wollten wir nichts wissen. Wir wollten Ruhe. Was wir wollten, waren nicht Studientexte, nicht thematische Abhandlungen, waren nicht irgendwelche Trainingsprogramme. Die STATION konnte uns gestohlen bleiben.
Ich empfand tiefen Ekel vor allem, was mich an Hochspannungszäune und Kameras, an Wachpersonal oder an Infrarotschirme erinnern konnte. Der Hausboy war defekt. Wir hatten Orangenjuice bestellt – und er schickte eine klapprige Servierraupe mit kaltem Tee zu uns in den Garten. Ich ging ins Haus. »Es liegt nicht am Programm«, gab ich zum offenen Fenster hinaus Bescheid, »es sind mehrere Grundspuren ausgefallen. Aber er kann Rum liefern, in geringen Dosen. Mögt ihr Rum?« Sie wollten Rum, zum Probieren. Ich löste die Sperre, von der ich annahm, sie verursache die Portionierung für den Tee. Der Computer war ein älteres Exemplar aus der UNION, wo Alkohol im allgemeinen gemieden wurde. Plötzlich spuckte die Ausgabeeinheit die Gläser randvoll mit hochprozentigem Rum. Ich roch daran – es warf mich beinahe um. Ich trug die Gläser in den Garten. »Da kannst du gleich HAB-Perlen schlucken, wenn du dich unbedingt ruinieren willst!« sagte einer und schüttete den Alkohol ins Gras. Wir taten es ihm gleich. Ich ging ins Haus zurück. »Ich programmiere ihn auf Kreativität, er soll uns ein symphonisches Werk komponieren«, rief ich zum Fenster hinaus. »Der doch nicht«, rief einer, »der ist doch intellektuell unterbelichtet!« »Laß ihn singen, den Hausboy. Soll er fröhlich sein, das stelle ich mir ganz lustig vor.« Ich benötigte drei Minuten, dann sang der Boy mit tiefer, kratziger Stimme ein altes deutsches Volkslied. Tatsächlich, er war elektronisch behindert. Wir lachten – wir lachten so, daß uns die Tränen in den Augen standen. »Er hat einen elektronischen Klaps!« So ungefähr traf diese Prognose zu. Er hatte keine vernünftigen Strukturen, keine akzeptablen Grundprogramme, er war ein elek-
tronischer Archäopteryx. Wir lachten. Dann fragte einer von uns: »Wer ist der auf dem Foto? Gibt es einen Fünften?« Schlagartig ließen wir das aufgesetzte Lachen. Wir belauerten uns mit Blicken. Nur einer von uns war echt, durfte echt sein. Wenn es einen Fünften gab, war auch der im Weg. Diese Erinnerung beschäftigte mich in der Klinik. Ich suchte nach meiner neuen Bestimmung: ein Mensch, ein freier Mensch zu werden. Ich war immer noch einer von vier, ich war ein Arkadij Schitschkin, ich war der Nelson Haxwell, der ich nicht sein wollte – nicht ohne Ruth Carson. »Mister Haxwell, bitte begleiten Sie mich zur Strahlenbehandlung!« Die Schwester hieß Hayde, sie hielt mich sicher für den tatsächlichen Haxwell. Würde Nelson Haxwell zu ihr sagen: Komm, Hayde, du mußt in der City einen Mann verbinden, komm, Hayde, in die Vorstädte, wir brauchen dich, komm mit in die PapagoReservate, die Kämpfer verbluten!, sie würde Nelson Haxwell folgen. Ich konnte es in ihren Augen lesen. Die Menschen, von denen ich geglaubt hatte, sie lebten einfach so dahin, satt und von den Medien befriedigt, ohne Hoffnung und ohne Ziel, ohne sich zu wehren – sie warteten, warteten auf ein Zeichen. In Kabine C zog ich mich aus. Mein Soldat hatte sich längst die passende Taktik für sein Verhalten der Strahlenkanone gegenüber zurechtgelegt. Mit der Schwester verließ er den Bleikeller. Er entließ sich zeitweilig aus seiner Verantwortung. Die gelbe Lichtquelle flammte auf und erlosch, die Bleiwand glitt beinahe geräuschlos zur Seite. Ich betrat den Behandlungsraum. Über mir in der Kanzel wartete Dr. Eng in der Bleirüstung. Der Kopfhelm bedeckte sein Gesicht. Ich konnte seine Augen nicht sehen. Sicher war er verärgert. Eine verkrampft wirkende Geste bedeutete mir, daß er mich sehen und hören konnte. Ich fühlte mich wie
zerschlagen. Ich hatte nachts nicht schlafen können. Ich mußte immerzu über mich nachdenken. Oft dachte ich qualvoll: Ich bin eine konstruierte Todesmaschine. »Doktor Carson sagte mir, ich sei ein Mensch wie jeder andere Mensch auch. Können Sie ermessen, was diese Worte für mich bedeuten? Falls es zutrifft, habe ich wie jeder Mensch ein Recht darauf, Entscheidungen, die mich betreffen, eigenverantwortlich zu fällen. Ich gehöre mir selbst. Ich bin der Eigentümer meines Lebens – meiner Person. Verstehen Sie mich, Doktor Eng?« Nichts regte sich in der Bleirüstung. Undeutlich konnte ich ein Augenpaar erkennen – es müßten mandelförmige Augen, Schlitzaugen sein. Nein, ich fühlte mich nicht im Recht. »Ich weiß, ich bin im Unrecht. Ich habe Menschen kennengelernt, sie achten gelernt – sie haben viel riskiert für mich, und sie stehen mir auch weiterhin bei. Ich fürchte, nur meine Brüder könnten mich begreifen. Mir hat sich etwas eröffnet, das mich vollkommen überraschte, mich überwältigte. Ich fühle mich als Mensch. Hören Sie, ich kann Liebe empfinden, schmerzhafte, mich bedrängende Liebe, obwohl ich fast schmerzunempfindlich bin. Nachts träume ich und ich schreie vor Schmerz und werde davon wach. Doktor Eng, bitte, versuchen Sie, mich zu verstehen!« Oben in der Kanzel regte sich nichts. »Doktor Eng, ich muß nicht in die Peterman-Klinik. Ich gehe nirgendwohin – ich löse mich zu einem Nichts auf. Sie können es nicht verhindern – Sie werden mir dabei helfen. Nelson Haxwell wird Ihre Klinik geheilt verlassen. Er wird seine Schatten abschütteln. Ich werde mir Papiere verschaffen. Ich werde zu einer schlichten, unbedenklichen Existenz – ich werde in Ihrer Nähe sein, und Sie werden es nicht einmal ahnen. Ich werde nicht vergessen, welche Gründe wir hatten – warum ich aufgebrochen bin. Ich werde aussagen, wenn es die Situation erfordert, und ich werde Sorge tragen, daß niemand Sie verdächtigt.«
»Ich liebe dich«, sagte Ruth. Sie setzte den Helm ab und stieg von der Kanzel. Ich hielt den Atem an. Sie umarmte mich. Wir küßten uns. Wir waren ungestört. Wir waren allein, für eine Stunde fast. Ich fühlte Schmerz, endlich fühlte ich wieder Schmerzen. Babette Fourier erhob sich, die Stimme klang noch nach. Sie haben sich sicher ihr Leben lang gut verstanden, dachte Babette. Sie trat auf die Terrasse hinaus. Bestimmt so gut verstanden wie meine Eltern, überlegte sie und blickte zum Sternenhimmel. Babette nahm sich vor, Ines Romero zu fragen, wann genau die Nachricht auf der Erde erwartet würde und wo sich zu diesem Zeitpunkt das Raumschiff LYR tatsächlich befinden wird. Nur flüchtig sorgte sie sich um Caligula, vertraute dann aber darauf, er werde mit den Daten aus dem Rechenzentrum zurechtkommen. Was mochte sich in der Tiefe des Raums abgespielt haben? Die Nachricht war, wenn sie eintraf, vielleicht um Tage hinter dem Geschehen zurück. Nichts wäre zu ändern, dachte Babette. Alle meine Wünsche verspäten sich. Die geheime Mission… dieses beruhigend-beunruhigende Ungefähr…, sie begriff es erst jetzt. Sie fröstelte und verließ deshalb die Terrasse. Sie setzte sich auf die Matte und rief über die Sensorik den Hauscomputer. BITTE MADEMOISELLE FOURIER »Caligula, ohne meinen ausdrücklichen Wunsch unterbrichst du Arkadij Carson nicht. Ich will alles über ihn wissen.« SOLL DIE WIEDERGABE GEMÄSS IHREM LETZTEN BEFEHL ERFOLGEN »Das steht dir frei. Los geht's!« Babette konzentrierte sich mit geschlossenen Augen auf die Stimme des Klons. Seine Erzählung provozierte Bilder und Szenen.
Mein Soldat hatte nicht angeklopft. Das war ich von ihm nicht gewöhnt. Er riß die Tür auf und verharrte in sehr strammer Haltung. Es war Nachmittag, ich hatte geschlafen und war noch nicht ganz munter. Ein Mann ging an meinem Soldaten vorbei. Er beachtete ihn nicht, und dennoch stand mein Soldat ungewöhnlich gerade. Hinter dem Mann schloß er die Tür. Er ließ uns allein. »Ich möchte mit Ihnen sprechen, Mister Haxwell«, sagte der Mann. Er war ein Militär. Er war zivil gekleidet, aber ich sah es ihm an, ich spürte es. Er nahm sich einen Stuhl. Ich setzte mich auf das Bett. Ich wünschte, er solle zur Sache kommen. Vielleicht war alles schon vorbei? Nein – sie hätten nicht mit mir geredet, wenn es so gewesen wäre. »Oberst Frankowiakowski, Innenministerium«, stellte er sich vor. Er verbeugte sich knapp und exakt. »Ich bin im Auftrag des Innenministers hier. Wir erfuhren von Ihrer Erkrankung. Krebs, nicht wahr? – Offenbar Hautkrebs. Sie sind schlimm dran!« Ich antwortete, so genau wüßte ich das nicht, weil die Ärzte sich mir gegenüber zurückhaltend verhielten, auch was Äußerungen über die Krankheit beträfe. »Wir sind informiert. Ihr Körper ist von bösartigen Melanomen bedeckt, und die werden Metastasen in die Gewebe senden. Es handelt sich um die böseste Form des Hautkrebs. Der Innenminister bietet Ihnen an, noch heute nach Oakland zu übersiedeln. Dort befindet sich das Regierungskrankenhaus des Innenministeriums. Kennen Sie Kalifornien, Mister Haxwell? Verzeihen Sie – welch dumme Frage! Natürlich kennen Sie Kalifornien. Sie waren am Shanta-See dabei?« Er legte eine Pause ein. Ich wußte nicht, ob das ein Verhör sein sollte. Zum Stichwort Shanta-See fiel mir eine Kette eingegebener Erinnerungen ein.
»Vergessen, Mister Haxwell, eine Jugendtorheit, längst vergessene Sünden, ha ha! Wir hätten uns dort begegnen können. Wir standen uns gegenüber, vielleicht sogar persönlich gegenüber. Es war schon eine verrückte Zeit. Ich stand mit meiner RangerEinheit im Sumpf, vor Ihren Leuten. Sie hatten nicht mit uns gerechnet. Sie hatten es auf einmal sehr eilig, davonzukommen. Verzeihen Sie meinen Ausflug in die Erinnerung, Mister Haxwell.« »Sie vergessen die Luft-Boden-Raketen der Hubschrauberstaffel, Oberst Frankowiakowski. Sie waren Grund genug für uns, nicht mehr dazusein.« Er breitete die Beine auseinander. Er zog das linke Hosenbein hoch und zeigte mir eine Narbe in der Wade. »Mein Andenken an unseren Sieg am Shanta-See. Nein, keine Schußwunde – eine Schlange. Eine seltene Vipernart – mein Sanitäter mußte mir das Fleisch um den Biß herum herausschneiden. Natürlich ohne Betäubung. Sie sind nach Brasilien gegangen, oder nach Stockholm zurück? Denken Sie bloß nicht, daß ich Sie aushorchen will – denken Sie das um Gottes willen nicht! Ich habe nur den Auftrag, Ihnen zu versichern, daß der Innenminister Ihnen, Mister Haxwell, die Hand reichen möchte – und wem der Innenminister einmal die Hand reicht, den läßt er nicht fallen, den läßt er nicht mehr los. Sie müssen nur fest zugreifen, Mister Haxwell. In diesem Krankenhaus sind Sie verloren. In Oakland regenerieren unsere Professoren Ihre Haut in wenigen Tagen. Wir beschäftigen Kapazitäten aus aller Welt. Fortschritt in der Medizin, er war schon immer da, er ist nur noch nicht für alle da. Sind Sie bereit, zu uns zu kommen?« »Lassen Sie mich überlegen. Das Angebot ist verlockend. Bitte gehen Sie, ich brauche Bedenkzeit, sagen wir, eine Stunde?« Er verbeugte sich knapp und lächelte mir freundlich zu. Die Bedenkzeit ließ ihn hoffen. Ich wußte, ich würde mich nicht für den Innenminister – nicht gegen Ruth entscheiden. Die Zeit Frankowiakowskis war sicher knapp bemessen. Seine wehmütigen Erinnerungen, mit einem Hauch von Eigenliebe versehen, konnten
Verstellung sein. Ich mochte sie nicht. Meine Erinnerungen an den Shanta-See waren andere. Sie haben politisch-militärischen Charakter. Der Aufstand war spontan, nicht organisiert und koordiniert, und das war sein Kardinalfehler. Drei Monate später wurde Präsident Newman gewählt, und die Konservativen gewannen die Oberhand. Ich saß hellwach auf dem Bett. Plötzlich wurde mir klar, daß ich in die Rolle des Nelson Haxwell hineinwachsen könnte. Ich bin ein genmanipuliertes Wesen. Gegen mich schien der sogenannte normale Mensch nur eine Farce oder zumindest eine sehr schlechte Ausgabe seiner wirklichen Möglichkeiten zu sein. Und trotzdem gelang es Ärzten in diesem zweitklassigen Krankenhaus, meine Denk- und Regelkreise umzustrukturieren. Was hatten Doktor Taylor und Doktor Eng mit mir gemacht? Ich hatte nur zwei Kategorien Menschen gekannt. Die Auserwählten und die Bedürfnisbefriediger. Von beiden hatte ich theoretische Vorstellungen. Natürlich waren mir auch die Gegensätze bekannt, die in einigen unterentwickelten Ländern noch den Alltag beherrschten. Ich wußte vom Kampf zwischen Ausbeutung und Freiheit, zwischen Kapital und Arbeitnehmern. Das ging mich nichts an. Ich hätte eine theoretische Disputation zum Thema halten können, sie wäre ausgeklügelt gewesen, die Beweise logisch, doch mit dem Leben der Menschen hätte sie nichts zu tun gehabt. Ich lebte und dachte in lebensfernen Kategorien. So hatte man uns erzogen, und auf diesem Fundament aufbauend, sollten wir zu Killern werden. Das Töten sollte ein Teil von uns sein. Ich erinnerte mich, es war die vierte Nacht unserer Ferien, wir wollten uns amüsieren, wir hatten den Wagen genommen, um der Langeweile davonzufahren. Das Scheinwerferlicht riß die Dunkelheit gewaltsam auf. Schnurgerade lag die Straße vor uns. Wir glitten durch ein hohes Gewölbe, das die Baumkronen über uns bildeten. Wir schätzten, eine Luftaufnahme via Satellit, sofern sie nicht auf Infrarot basierte, könnte
unsere Existenz auf dieser in keiner Karte verzeichneten Landstraße verschweigen. Gleichmäßig dröhnte der Motor des russischen Wagens in der Nacht. Ohne Übergang endete der Wald. Nur noch Gras und vereinzelte Büsche säumten die Straße. Wir waren vier Stunden unterwegs gewesen, und nichts war passiert. Unsere Stimmung war dem Nullpunkt nahe. Da kam uns aus der Ebene eine Lichtquelle entgegen. Wir hielten. Wir wollten unseren Spaß. Es war das erste Fahrzeug, das uns entgegenkam. Die Straße war zu beiden Seiten von grasbewachsenen Gräben eingefaßt. Eine Siedlung entdeckten wir noch immer nicht – soweit der Blick reichte, sahen wir keinen Lichtschimmer außer dem sich mit hoher Geschwindigkeit nähernden Scheinwerferkegel. Wir schalteten unser Licht aus. Es war ein Motorrad, das auf uns zukam. Ich blieb allein im Wagen sitzen. Sie versteckten sich in den beiden flachen Straßengräben. Das Motorrad wurde neben unserem Wagen angehalten. Zwei Gestalten stiegen ab und bockten das schwere Fahrzeug auf. Es waren Soldaten, sie trugen Lederkombinationen. »Aussteigen!« befahl mir der eine Soldat. Er nahm den Helm ab. Die Motorradbeleuchtung blieb eingeschaltet. »Hände in den Nacken! Keine Bewegung!« Ich stieg aus. Er half nach, zerrte gewaltsam an mir. »Unterlassen Sie das augenblicklich«, warnte ich. »Halts Maul!« schrie er mich an. Der andere Soldat grinste. Sie waren mit den kleinen handlichen Strahlern bewaffnet. Auch bei einiger Übung würde es mindestens drei Sekunden dauern, bis der Strahler einsatzbereit war. Erst die zweite Stufe wirkte tödlich, doch ich unterstellte den Soldaten vorerst keine Tötungsabsichten. Sie machten sich aus einem kleinen Straßenraub einen Spaß. Wenn es also knapp kam, hatte ich etwa zwei Sekunden plus. Es waren zwei Ranger. Ich hatte das winzige Abzeichen mit dem stilisierten Totenkopf aufblitzen sehen. Ich schlug augenblicklich aus der
Drehung heraus zu. Ein Griff, ich hatte den Strahler. Ihre Ausbilder mußten absolute Versager sein. Der andere Ranger, von den Strahlen gestreift, wälzte sich schreiend am Boden. Ich schoß – er blieb still liegen. Alles das hätte noch schneller gehen können, etwas Neues hatte mich bei meinem Handeln gestört – es war etwas wie Haß. Gefühle, lernte ich damals, sind schlechte Ratgeber. Sie verlangsamen die Reaktion. »Wir haben ein Motorrad!« »Ich habe mir schon immer ein Motorrad gewünscht!« Der Soldat im Straßengraben wollte aufstehen. Wir fädelten ihm die Arme aus den Jackenärmeln und schnürten den Mann in seine erstklassige Lederkombination ein. »Ich bin ein Angehöriger der Armee!« rief er. Wir lachten. »Du bist die Schande der Armee. Wenn wir deinem Chef melden, daß du dich von Kindern auf den Rücken legen läßt, wird er sich für alle Zeiten von dir trennen.« Ich drehte mir das Rangerabzeichen aus seiner Uniform. Wenn er in diesem Moment gesagt hätte, er gehöre zum Beraterteam, er wäre vielleicht glimpflicher davongekommen. Ich schlug ihn. Er schrie vor Schmerz laut auf. Wieder mußten wir lachen. Sicher saß die Miss irgendwo vor einem Monitor und verfolgte das Geschehen. Ich trat nochmals zu. Der Soldat wälzte sich im Gras. Wir konnten es uns nicht anders vorstellen – die Miss sah zu. Ich fragte mich, ob sie genauso gelangweilt zusehen würde, ginge es uns einmal sehr schlecht. Ich traute es ihr zu. Immer wieder wurden wir erinnert, daß wir ihre Figuren in einem Spiel waren. Sie war eine kühle Strategin, und sie würde auch Opfer einplanen, falls ihr ein Spielvorteil dafür winkte. »Was wird nun?« »Zurück zur Datscha. Ich nehme das Motorrad.« »Ich!«
»Ich wußte, daß wir uns prügeln müssen!« Ich dachte an den Strahler in meiner Hand. »Müssen wir das?« »Die Strecke ist lang genug. Und wir behalten die Maschine. Wir haben sie rechtmäßig erbeutet. Meint ihr nicht auch, die Miss läßt sie uns?« »Was wird mit diesen Kümmerlingen?« »In ihrem Sturzhelm befinden sich Sende-Signalgeber. Wie werden die ausgelöst?« »Bist du verrückt! Vorsicht! Im Helm ist ein Sprengsatz zur Selbstvernichtung!« »Ich setze ihnen ihre Helme auf. Schon passiert – und die Köpfe sind noch dran.« »Wer weiß, wie lange noch. Kommt, ehe sie uns mit ihren Hubschraubern einfangen. Sie haben Stahldrahtnetze. Im Auswertungsgespräch würde die Miss kein gutes Haar an uns lassen. Kein Lob, keinen Pudding – also schnell weg hier!« Wir warteten gespannt auf die Reaktion der Miss. Aber am nächsten Tag und auch am Abend darauf erwähnte sie den Vorfall nicht. Sie wertete unseren Ausflug nicht – das Motorrad durften wir behalten, über seine Herkunft wollte sie nichts wissen. Wir fürchteten, etwas falsch gemacht zu haben. Ihr war nur unsere Sprachausbildung auf einmal sehr wichtig. Wir paukten russische Dialekte. Der Hausboy aus der UNION hatte ein Kraftfeld rings um die Datscha errichtet. Keine Mücke – weder eine der winzigen Stechfliegen noch ein anderes Insekt belästigte uns –, nicht einmal die braunen Mäuse mit dem schwarzen Aalstrich auf dem Rücken, die es in dieser Gegend massenhaft gab, konnten die unsichtbare Sperre durchbrechen. Die Miss war nach draußen gegangen. Ich folgte ihr. Sie blickte in den Wald, als suche sie dort etwas, schließlich legte sie nachdenklich ihren Kopf in den Nacken. Wir hatten eine schöne Mut-
ter. Nein – die Miss war eine schöne Frau. Ich war achtzehn Jahre alt, ich konnte das einschätzen, glaubte ich. »Langweilen Sie sich«, versuchte ich, ein Gespräch zu beginnen. Sie schüttelte den Kopf. »Zeige mir das Sternbild der Leier«, verlangte sie. »Es steht noch unterhalb des Horizonts, Miss.« Ob sie unter Kopfschmerzen litt? Wir hatten sie allerdings noch nie unpäßlich erlebt. Ich fragte nicht – es wäre gewesen, als täte ich etwas Ungebührliches. Eine andere Frage bedrängte mich: »Ich verstehe nicht, aus welchem Grund wir morgen mit diesem Russen Wodka trinken müssen. Sie selbst haben uns gelehrt, wie schädlich Alkohol auf die Nervenzellen wirkt. Das erinnert mich an die Leute ohne Job, die sich bis zum Verrecken mit diesem BioTreibstoff für die Sportboote betrinken. Und mit einem Trinker, mit so einem Menschen sollen wir uns unterhalten, ein lockeres Gespräch führen?« Die Miss lächelte. »Er ist ein wichtiger Mann. Ein Wissenschaftler – er hat die Freiheit gewählt. Außerdem bietet sich dir die Gelegenheit, deine Sprachkenntnisse zu vertiefen. Er spricht einen seltenen, aber wichtigen Dialekt. Nach seiner sittlichen Auffassung gehört es zur Gastfreundschaft, mit dem Gast zu trinken. Wie du trinkst, ist dir überlassen – hast du mich verstanden?« »Ich habe verstanden, Miss. Danke.« Ich neigte meinen Kopf. Die Miss streichelte meine Wangen. Sie faßte mir unter das Kinn und hob meinen Kopf an. Fest sah sie in meine Augen. »Geh zu den anderen«, sagte sie schließlich. Widerstrebend verließ ich sie. Die drei saßen unter einem Baum. Sie hatten uns beobachtet. Wäre ich in diesem Augenblick im Besitz einer automatischen Waffe gewesen, ich hätte sie alle drei sofort zerstrahlt. Es waren meine Brüder – ich konnte mich selbst nicht verstehen.
»Sie hat gesagt, sie fährt zu ihrem Verehrer«, log ich. Ich wollte bewußt provozieren. Wir hörten, daß ihr Wagen davonfuhr. Das Motorengeräusch bestätigte scheinbar meine Lüge. Schweigend sahen wir uns an. Ich dachte, daß keiner vom anderen wußte, was er dachte. Wahrscheinlich glichen sich unsere Gedanken, aber das wollten wir nicht wahrhaben, weil die ursprüngliche Aufrichtigkeit zwischen uns kaum noch eine Rolle spielte. Am nächsten Abend saßen wir brav und höflich mit unserem Gast am Tisch. Der Mann trank und trank, er forderte uns wiederholt zum Mittrinken auf. Er schimpfte auf die UNION, er verfluchte sie. Wir hatten gut gelernt, aber wenn uns ein Fluch nicht geläufig war, notierten wir ihn. Dann blickte der Russe uns verstohlen an, so, als fürchte er, wir könnten seine Flüche an eine Institution weiterleiten. Es war zum Lachen: Er hatte Angst. Wir gehörten einer Institution, wohnten in einem Institut, hatten unser bisheriges Leben einer Institution gewidmet. Doch solche Ängste kannten wir nicht. Er sprach eine saftige Sprache, fanden wir. Wir tranken Tee, den wir einem archaischen Gefäß entnahmen, das Samowar hieß und aus Gorki stammte. Den Wodka verdünnten wir mit großen Mengen Tee. Der Hausboy, untätig, glomm mit seinen Kontrollämpchen böse zu uns herüber. Die Russen hatten unseren Russen betrogen. Das erzählte der Mann uns mehrmals und mit unterschiedlicher Beweiskraft. Er hatte ein Patent angemeldet, eine Erfindung auf dem Sektor Strahlen-Werkstoff-Aufarbeitung von Plasten. Seine Plaste waren hart wie Diamant, waren besser als Stahl und zehnmal billiger als Holz, sagte er. Sie hatten ihm das Patent bescheinigt, für Ruhm und Ehre, sagte er. Im russischen Teil der UNION gäbe es kein Geld für Patente, es gäbe gesellschaftliche Anerkennung, doch die könne niemand essen oder trinken. Nasdarowje, sagte er, die Welt sei zum Weinen. Eifrig schrieben wir mit. Dieser Mann war ein Original. Ohne wahrhaftige Kenntnisse über eine Nation ist das Erlernen ihrer Sprache ein rein theo-
retischer Vorgang, ungeeignet, die Menschen zu begreifen. Ohne diesen Mann wäre, was wir über das Land erfahren hatten, künstlich geblieben, ein Bilderbuch, überlegte ich. Er fluchte. Er habe ein Haus bei Moskau bewohnt, in einem Vorort – eine alte Villa. Eigentlich sei es ein schönes Haus gewesen, schwärmte er. Er trinke auf sein schönes altes Haus, sagte er. Und wer sein Freund sei, stoße mit ihm an. Wir verstanden nicht immer exakt, was er sagte. In seinem Haus habe ein Drache gewohnt, oben in der Mansarde. Der Drache habe seine Rente verfressen und seine Orden geputzt, was an sich nicht weiter schlimm sei. Aber er habe auch spioniert. Keinen Schritt habe er gehen können im Haus, ohne von der Alten beobachtet zu werden. Vier Anträge habe er geschrieben, an den Obersten Sowjet, um aus der Villa wegzukommen. Er habe es satt gehabt, das Leben unter ständiger Beobachtung. Er habe die Freiheit gewählt, habe sein Patent in die FREE STATES gebracht. Doch hier habe man ihn ebenfalls betrogen, sagte er. Er unterbrach sich und starrte uns an. Wir fanden seinen Sprachstil köstlich. Es war Leben darin. Er begann zu lachen, er lachte, lachte wie verrückt und keuchte dann: »Ihr vier seht aus wie Arkadij Petrowitsch! Ich werde verrückt! Tatsache, jeder von euch sieht so aus wie Arkadij Petrowitsch. Teufel noch eins, wie Arkadij Petrowitsch, der Großpope von Moskau und Umgebung sei mein Zeuge! Verdorren will ich, wenn ich lüge…« Er verbeugte sich viermal vor uns, lachte leiser und leiser, war blaß geworden und sah uns in die Gesichter. Er wischte, sich mit den Händen übers Gesicht und die Augen, als sei er nicht sicher, richtig zu sehen. Wir fragten, wer dieser Arkadij sei. »Ein Maler«, sagte der Russe, »aber er ist der Sohn von Schitschkin, das ersetzt das Talent.« »Wer ist Schitschkin, und warum ersetzt der Vater das Talent?« fragten wir. Wir waren gespannt – er verwirrte uns mit seinem Gerede. Aber er antwortete nicht. Er verdrehte die Augen, fluchte fürchterlich und begann um sich zu schlagen. Es gelang uns nicht,
ihn zu beruhigen. Er erbrach sich und schlug hin. Kriechend bewegte er sich von uns weg. Er benahm sich wie ein Tier auf der Flucht. Das Kraftfeld hielt ihn nicht zurück. Es entließ ihn, oder vielleicht entließ ihn die Miss. Der Russe kroch weiter, und dann blieb er in der Dunkelheit des Waldrandes liegen. Bald würden ihn die Mücken oder andere Insekten umschwirren und stechen. Sicher würden sie ihren Leichtsinn bereuen – sein Blut war vergiftet. Vielleicht hätten wir uns um ihn kümmern müssen, aber wir waren müde und außerdem überzeugt, die Sicherheitsleute der Miss würden bald auftauchen und den betrunkenen Patent-Russen wegräumen. Sie saß am Monitor, die Miss, davon war ich fest überzeugt. Doch es störte mich nicht. Ich wollte beobachtet werden, ich fühlte mich wohl dabei. Ich wollte keine Geheimnisse vor ihr haben, und meine Intimitäten galten sicher als verspielt. Ich freute mich, so klar und rein wie möglich zu sein. Um das Vertrauen der Miss zu mir zu halten und ihm Dauer zu verleihen, wäre ich gern ein gläserner Mensch geworden, so stark war meine Zuneigung zu ihr. Mein Soldat hatte wieder nicht geklopft. Er stand neben dem Türrahmen stramm. Oberst Frankowiakowski trat ein. Er wirkte müde und abgespannt. Er lächelte, was ihm mißlang, und er nahm meine Hand. Ich erkannte in ihm den listigen Gegner. »Nun, Mister Haxwell, anders kann es nicht sein – Sie haben sich für das Leben entschieden!« »Sie sind offen und direkt. Fast tut es mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß ich hierbleiben werde.« »Die FREE STATES brauchen Männer wie Sie. Auch ich war einmal ein zorniger junger Mann. Nein, es ist nicht recht, eine Hand, die in aufrichtiger Freundschaft dargeboten wird, einfach auszuschlagen. Es gibt Milliardäre, Mister Haxwell, die gäben ihr Vermögen her, um in unseren Krankenhäusern behandelt zu werden. Der Mensch hängt am Leben, und wenn er ein treuer Staats-
diener ist oder über sehr viel Geld verfügt, kann er es sich leisten, am Leben zu bleiben. Mister Haxwell, Hautkrebs in Ihrem Stadium ist tödlich. Wir haben die Gegenmittel. Wir schenken Ihnen das Leben, nur müssen Sie sich sofort entscheiden. Überlegen Sie gut, was keiner Überlegung bedarf. Der Innenminister läßt grüßen. Sie haben mit seinem Sohn in Europa studiert, wußten Sie das? Wie lautet Ihre Entscheidung?« »Nein!« »Sie werden Schmerzen haben, Mister Haxwell!« »Auf Wiedersehen!« »Wir werden uns nicht wiedersehen. Sie werden sterben.« Oberst Frankowiakowski verbeugte sich. Er ging zur Tür. Der Soldat stand in tadelloser Haltung da. Der Oberst schritt an ihm vorbei wie an einem Gegenstand. Er tat mir leid, mein Soldat, und ich wunderte mich, daß ich ihn bemitleidete. CALIGULA IST AUF IHRE FRAGE VORBEREITET MADEMOISELLE FOURIER »Wer war Arkadij Petrowitsch Schitschkin?« fragte Babette. CALIGULA LÄSST SICH MIT DEM ZENTRALSPEICHER VERBINDEN ES GAB VIELE SCHITSCHKINS ES GIBT VIELE SCHITSCHKINS VERBINDUNG HAXWELL – SCHITSCHKIN WIRD RECHERCHIERT »Vielleicht erfahren wir Näheres im weiteren Bericht. Bitte halte dich korrekt an die Reihenfolge, Caligula.« Der Hauscomputer ging auf diese Ermahnung nicht ein. Seine emsige Tätigkeit ließ im Holographen ein Muster aus den verschiedensten Farbnuancierungen aufleuchten. CALIGULA KONNTE KEINE DATEN ZU SCHITSCHKIN ERMITTELN CALIGULA FRAGT ÜBER FRIEDENSNO-
BELPREISTRÄGER NELSON HAXWELL CALIGULA HOFFT SICH AUF DIESER SPUR DEM KOMPLEX ZU NÄHERN Ehe Babette ergänzend eingreifen konnte, strahlte das Panoramagewölbe gelbweiß auf. Arkadij Carson begann zu sprechen: Wir haben gern gemalt, wir hatten Spaß daran, zu zeichnen, wir waren auf Farben wild – aber die Miss war stets gegen diese Neigung gewesen. Das hatte sich nun geändert. In der Garage hatten wir gleich zu Anfang vier Staffeleien gefunden. Nun sollten wir sie benutzen. Schon mehrere Tage mußten wir zeichnen. Wir sollten einfache Dinge des Alltags abbilden, eine Tasse, ein Glas, Blumen oder einen Baum. Wir spürten, zeichnen lernt man sicher im unbefangenen Alter leichter. Wir wurden erwachsen, wurden streng gegen uns, und wir hatten Ferien, wir verspürten nicht die geringste Lust, irgendwelche Zeichnungen zu produzieren, die keinem gefielen und für die wir uns voreinander schämten. Ein Maler aus der UNION, früher ordentlicher Professor an der Moskauer Künstlerakademie, unterrichtete uns. Wir konnten sein Vertrauen gewinnen, weil er unsere Umgangsformen schätzte und weil wir seinen russischen Dialekt mühelos beherrschten. »Zu Hause verstand mich mancher Einheimische nicht«, erklärte er. Moskau sei von einem Sprachengewirr beherrscht. Die Miss ging um unsere Staffeleien herum und sah uns zu. Der Vorfall mit dem Betrunkenen hatte sie mißtrauisch werden lassen. »Wir können nicht zeichnen! Ich will nicht!« Er warf den Kohlestift in die Ecke. Dann ärgerte er sich sicher über den Mangel an Beherrschung und hob den Stift wieder auf. »Entschuldigen Sie!« Die Miss lächelte ihr allwissendes Lächeln. »Das ist nicht wichtig«, sagte sie und sah uns der Reihe nach an. »Du mußt ein Gefühl für diese Kunst bekommen. Du sollst mit
dem Handwerk vertraut werden, mit den Feinheiten der Malerei – nicht nur im Kopf, auch im Handgelenk.« »Wozu, Miss, wozu dieser Aufwand?« »Diese Frage möchte ich nicht in Gegenwart unseres Gastes beantworten. Die Malerei gehört zur AUFGABE.« Wir spürten – die Miss war unzufrieden. In letzter Zeit wirkte sie oft nervös. So kannten wir sie nicht. Inzwischen waren wir zu der Ansicht gelangt, ihr Liebhaber sei nur ein Produkt unserer Phantasie. Wir hatten in einer nächtlichen Debatte unser Unterbewußtsein für diese Spekulation verantwortlich gemacht. Wo lag der Schlüssel für ihr verändertes, oft ungerechtes Verhalten? fragten wir uns. Wir beschlossen, ihr wärmer und herzlicher zu begegnen. Es war uns unheimlich, zu wissen, daß sie mindestens siebzehn Jahre ihres Lebens ausschließlich für uns geopfert hatte. So etwas könne nicht mit materiellen Werten aufgewogen werden, davon waren wir überzeugt. Mitunter schien es uns, sie sei wie wir nur für die AUFGABE geboren. Sie sei eine von uns, sie sei wie wir. Wir wollten nicht sehen, daß wir für etwas vorbereitet wurden, für das wir ungefragt programmiert wurden und dessen Konsequenzen wir nicht kennen durften. Meine Kohle war abgebrochen. Ich konnte den Baum nicht auf das Papier bannen. Ich hatte von der Struktur her beginnen wollen. Der Professor hatte uns jeden Arbeitsgang zu erläutern versucht. Immer wieder freute er sich, wie gut wir seine Muttersprache handhabten. Flüche, rügte er mich, seien Sünde. Ich hatte nur einen der Flüche des versoffenen Patent-Russen kopiert, den ich für geistreich hielt. Der Professor legte ein Stück Kohle in meine Hand und ermunterte mich. Die Miss ging uns aus dem Weg. Sie spürte, wenn wir sie nicht besonders mochten. Wir merkten schließlich auch, wenn sie unzufrieden war mit uns. Wir richteten uns nicht mehr grundsätzlich nach ihren Wünschen. Wir hatten herausgefunden, daß wir in einer Art seelischer Symbiose lebten, wir vier auf der einen, die Miss auf der anderen Seite. Wir glaubten, ohne uns bräche ihr Lebenssinn
zusammen. Umgekehrt war es sicher durch mehr Entschiedenheit bestimmt, dieses Abhängigkeitsverhältnis – ohne unsere MissMutter einer fremden, unverständlichen Welt ausgeliefert, würden wir raubend und mordend durch den Mittelwesten ziehen, bis wir überwältigt und getötet würden. Wir konnten nichts und hatten nichts anderes im Sinn, als einander ein gutes Abbild zu sein und auf die AUFGABE zu warten. Wir waren, obwohl zu viert, in der Minderzahl. Hinter der Miss befand sich ein mächtiger Apparat, bestehend aus Trainern, Ausbildern, Computern und Simulatoren. Einmal hatten wir die Macht der Miss ausprobieren wollen. Das geschah nach einem Test im unterirdischen Bunker der STATION. Wir mußten die weißen Kombinationen anziehen, über die nackten Körper – auch die Miss. Sie zeigte uns Embryonen, Mißbildungen, sie zeigte uns aus den Embryonen entstandene MONSTER, und wir diskutierten, ob und warum es ein gutes Werk sei, das, was sich in der Vervielfältigungsphase befand, zu töten. Wir waren fest davon überzeugt, DAS würde sich ausbreiten und den Bestand der Menschheit in Frage stellen. Sie befahl uns, zu töten. Ständig fand sie neue Argumente, uns tiefer in diesen Rausch hineinzureden. Plötzlich bemerkten wir ihre Absicht, und in diesem Moment haßten wir sie. Sie schien uns den MONSTERN ähnlich. Es war, als hätte sie eine sorgfältig verborgene Maske abgelegt und uns ihr wahres Gesicht gezeigt. Es wurde für kurze Zeit zu einer Fratze. Es war für Sekunden viel Ähnlichkeit an ihr mit dem, was sie uns töten ließ. Sie mußte es bemerkt haben. Sie zitterte, mit einem fadenscheinigen Bescheid ließ sie uns allein. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben, aber wir fanden uns im Labyrinth der Flure nicht zurecht. Wir gerieten in einen Gang, in dem elektronisch gesteuerte Container unsichtbaren Orten zustrebten. Auch Abfälle wurden transportiert. Vor einer Glaswand an einer Abzweigung blieben wir stehen. Wir standen vor einem Saal. Uns schien niemand zu bemerken, auch an der gegenüberlie-
genden Wand befand sich eine Glasscheibe, durch die man von innen nicht hindurchsehen konnte. Unmittelbar vor uns lag eine Frau auf einer breiten weißen Pritsche. Ihr Leib war unwirklich aufgedunsen. Sie stöhnte und röchelte. Sie wand sich unter Schmerzen. Dann schrie sie auf und umfaßte mit beiden Händen ihren schweren Leib. Tränen tropften von ihrem Gesicht. Ein Vorhang wurde zurückgeschoben. Eine Krankenschwester näherte sich der Frau und fragte, ob sie Mrs. Barbara Humphrey sei. Auch die Schwester sah uns nicht. Die Frau verlangte nach dem Arzt. Sie stöhnte, sie halte die Schmerzen nicht mehr aus. Ein Arzt erschien. Er las die Karteifolie, las Daten von einem Monitor. Die Schwester fragte, ob geschnitten werden solle. Der Arzt sagte etwas, und als die Schwester auf ihn einredete, sagte er, er habe etwas gegen den Kaiserschnitt, er sei selbst durch eine Schnittentbindung geholt worden. Die Schwester sah vom Oszillographen auf und sagte, das Geborene werde zwei Herzen haben. Unwirsch reagierte der Arzt, er sprach von Kopflosen, von Fünfarmigen. Ein zweiter Arzt trat hinzu. Er stellte sich zwischen die Beine der gebärenden Frau und wartete. Die Frau schrie kurzatmig und stöhnte rhythmisch. Der zweite Arzt trieb die Frucht mit gleichmäßigen Strichen über den prallen Leib nach unten. Eine dunkle schleimverschmierte Masse verließ die Frau. Der Arzt hielt das Baby an den schwachen Beinen hoch und wunderte sich: es müsse ein Irrtum sein, es sei ein kleiner Niggerjunge, er sehe gesund aus. Auch der andere Arzt begutachtete aufgeregt das Kind. Auch er fand es gesund und schien mit diesem Ergebnis nicht gerechnet zu haben. Die Schwester unterbrach die Ärzte mit der Ankündigung, es komme noch ein Kind. Auch sie sah verstört aus. Tränen rannen ihr an der Nase entlang in den Mundschutz. Der eine Arzt meinte, es werde das MONSTERchen sein, aber er irrte sich. Geboren wurde ein weißer Junge, ebenso gesund wie sein Bruder. Die Mutter registrierte erstaunt, aber sehr wach, was geschah. Die Schwester nahm das weiße Baby an sich. Sie schluchzte. Der Arzt, der mit Dr. Cressler angeredet wurde, sagte, es müsse sich um eine
Mehrfachovulation gehandelt haben. Die Zeitpunkte der Eireifung könnten sogar einige Tage auseinander gelegen haben. Er schimpfte auf die Agenten der PHARMA, sie ließen es an Sorgfalt bei den Recherchen fehlen. Die Schwester trug das abgenabelte, desinfizierte und geimpfte weiße Baby vor sich her, selbstvergessen sprach sie mit dem Kind. Auch die Mutter der beiden Jungen weinte. Sie bat Doktor Helmnick, den zweiten Arzt, die Kinder sehen zu dürfen. Sie sagte laut und entschlossen, sie verkaufe die Kinder nicht, sie trete vom Vertrag zurück, sie nähme die fünfhundert Dollar nicht. Sie habe einen Vertrag abgeschlossen, weil ihr gesagt worden sei, der Embryo werde sich zu einer Mißgeburt entwickeln. Sie fragte Doktor Cressler, ob sie jemand zwingen könne, ihre Kinder zu verkaufen. Die PHARMA sei nicht an gesunden Kindern interessiert, sagte Doktor Cressler, nur an Mißgeburten. Er wollte der Krankenschwester den weißen Jungen wegnehmen, aber die Schwester kreischte auf und raffte das Baby an sich. Doktor Helmnick sprang hinzu und führte die Schwester mit hartem Griff durch eine Tür hinaus. Wir waren sicher, daß wir hinter der Scheibe nicht gesehen wurden. Wir vier waren, fasziniert von den Geschehnissen, nicht von der Stelle gewichen. Doktor Helmnick betrat den Operationsraum. Er sagte, die Schwester werde ruhiggespritzt. Sie sei fertig – es sei das erste normale Baby, das sie bei der Geburt erlebt habe. Sie kenne nur die MONSTER. Wir rissen uns von den Spiegeln los. Wir irrten in den Versorgungsgängen umher, bis uns eine Gruppe Sicherheitsbeamter stellte, uns festhielt und die Miss uns abholte. Sie ist sofort mit uns nach oben gefahren. Sie bot uns den flambierten Pudding an, vermutlich hätte sie uns jeden Wunsch erfüllt – wir wollten nicht. Wir brauchten uns nicht zu verständigen. Wir waren derart aufgeheizt und wütend, daß wir eins wurden. Sie lag vor uns auf dem Boden, einer hatte sein Finnmesser an ihrem Hals. Wir knieten auf
ihr. Wir wollten alles von ihr wissen: Wer unsere Eltern sind, was unsere AUFGABE sei, warum wir die Freiheit nur unter Aufsicht kennenlernen durften. Das Messer drang schon in ihr Fleisch. Sie schrie grauenvoll, sie schrie, wir seien Tiere. Sie kannte uns, und sie war nicht schmerzunempfindlich. Sie spuckte uns an. Aber sie beantwortete keine unserer Fragen, und um ihr Leben gebettelt hat sie auch nicht. Es waren zehn Männer, sie schlugen wie verrückt auf uns ein, vielleicht auch, weil sie vergessen hatten, daß wir kaum Schmerz empfinden konnten. Nichts zu spüren war das eine, und zusehen müssen, wie die Brüder durch Schläge entwürdigt wurden, war das andere. Schmerz ist nicht nur eine Funktion des Körpers. Erst durch Ruth habe ich das später begreifen gelernt. Sie ließen endlich von uns ab. Wenn einer von uns einen lebensgefährlichen Schaden davontragen würde, konnte er nur noch als Organspender gebraucht werden, nahmen wir an. Doch die Miss belehrte uns. Sie schrie die Berater an, man müsse uns zerstückeln, alle vier. Unsere Zellkerne hätten lediglich den Wert, einigermaßen intelligente Killer-Unteroffiziere zu rekonstruieren. Für Sekunden waren die Berater unsicher. Sie ließen uns liegen. Vielleicht, weil wir ihnen sicher waren, vielleicht, weil sie sich erinnerten, daß der Präsident der FREE STATES unser Pate war. Endlich waren wir allein. Wir sahen uns lange an. Bisher hatten wir uns als Menschen sehen wollen, wenn auch nicht als Auserwählte. Durch eine Bewährungsprobe, die AUFGABE, würde uns die Chance geboten, zu steigen, dachten wir. Aber es war viel weniger, was wir von uns halten durften. Unser Wert und unser Nutzen war unter Umständen nur der von Makromolekülen. Dieses Erlebnis hatte unser Verhalten zueinander geändert, unser Verhältnis zur Welt – auch zur Miss. Wir hatten vor nichts und niemandem mehr Achtung. In der folgenden Zeit gewöhnten wir alle uns an, zu tun, als sei nichts gewesen. Die Miss, die Berater, die Trainer – unsere un-
sichtbaren Kontrolleure –, sie wollten uns glauben machen, sie hätten den Vorfall vergessen. Aber sie – und wir – vergaßen nicht. Die Miss führte uns die jüngere Ausgabe ihrer selbst zu. Die vier Mädchen, die wir beim Fahrtraining kurz kennengelernt hatten. Die Miss bedeutete uns, wir könnten mit ihnen tun, was wir wollten. Sie ließ uns mit ihnen allein. Ich kann diese Nacht nicht schildern. Wir hätten später nicht sagen können, ob es Liebe oder ob es Haß war, was bewirkte, daß zwei der Mädchen tot waren. Sie waren derart gewaltsam umgebracht worden, daß sogar die Berater erschrocken davor stehenblieben. Die beiden anderen Mädchen waren unversehrt. Sie saßen total verstört in unserer ehemaligen Spielecke und hielten sich eng umschlungen. Ich nehme an, in dieser Nacht hatten sich zwei von uns für die AUFGABE entschieden und zwei gegen sie. Und keiner wußte es vom anderen. Auch die Miss sicher nicht, denn es war uns gestattet worden, die Videokameras zu verdecken. Ich kann über diese Nacht nur sagen, daß ich nicht getötet habe. Es war eine Dreiecksgeschichte zwischen der Miss, die nicht unsere Mutter und auch nicht unsere Geliebte sein konnte, aber ihren Machtanspruch behauptete – der Schmerzunempfindlichkeit, die unsere Gefühle stark herabsetzte – und unserer Sexualität, von der wir angeekelt und enttäuscht waren. Seitdem begannen wir uns, sicher aus ganz verschiedenen Gründen, für die AUFGABE zu interessieren, mehr als je zuvor. Wir strengten uns mehr und mehr an, wir verbissen uns in unsere Zielstellungen. Dazu gehörte auch, daß wir zum Beispiel untereinander konkurrierten, wessen Zeichnungen besser gelängen. Wir gaben es uns nur nicht zu, offiziell wollten wir lieber Ferien machen. Ich hatte mir… zig Bäume angesehen, sie befühlt und berochen, nur um sie am besten zu zeichnen. Ich mußte der Beste sein. Wir saßen vor den Staffeleien. Hinter uns stand die Miss. Hinter ihr standen – symbolisch – die Ausbilder. Und hinter ihnen stand eine namenlose lauernde Macht.
Der Professor malte den Baum, den wir zeichnen sollten. Er malte ihn in Öl, Blatt um Blatt schien sich auf die Leinwand zu legen und das Geäst zu schmücken. Das Ölbild war auf den Umstand konstruiert, daß das menschliche Auge nicht perfekt ist, daß das Wissen um die Struktur und das im Verstand vorhandene Abbild unzähliger Bäume zu einer Einheit verschmelzen. Wir diskutierten darüber, und der Professor hatte zugehört. Er sagte, wenn es so wäre, hätte er sehr schlecht gemalt. Ich ignorierte die Miss – und ich fragte: »Verehrter Herr Professor, ist es die Schitschkin-Schule, in deren Manier Sie malen?« »Nein«, sagte er, »Schitschkin ist der Vorsitzende des Internationalen Verteidigungsrates des europäisch-asiatischen Blocks. Sein Sohn, Arkadij Petrowitsch Schitschkin, besucht zwar die Malakademie, aber er ist wirklich noch zu jung und sicherlich nicht einmal talentiert genug, um eine Schule begründen zu können.« Ich spürte die Hand der Miss auf meinem Arm. Ich bedankte mich höflich für die Auskunft. Ich beherrschte mich wieder. Die Miss hatte ich nicht kommen gehört. »Es sei denn«, fuhr der Professor überraschend fort, »Sie meinen Schitschkin. Er war ein Landschaftsmaler des neunzehnten Jahrhunderts. Und es gab natürlich eine Schitschkin-Schule. Ach, das müßten Sie sehen, ›Der Hochwald‹, ein herrliches Kunstwerk!« »Komm bitte mit!« forderte die Miss mich auf. Sie ließ meinen Arm nicht los. Sie ging mit mir in die Küche. Ich merkte, wie konzentriert sie überlegte. Ich war zu leichtsinnig gewesen, ich hatte zu schnell vergessen. Und – ich war ganz nahe der heißen Spur. Aber diese Frau, sie war nicht meine Verbündete, sie war mein Feind. Sie setzte sich auf einen Hocker. »Es täte dir gut, scharf nachzudenken! Wiederhole genau, welche Frage du dem Russen gestellt hast!« verlangte sie. »Ich fragte: Herr Professor, ist es die Schitschkin-Schule, in deren Manier Sie malen.«
»Du lügst!« Sie hatte sich erhoben. »Du bleibst hier!« sagte sie. Sie ging und kam mit einem von uns zurück. Sie fragte ihn, was genau ich den Professor gefragt habe. Ich sah ihm in die Augen. Die Miss starrte uns feindselig an. Ich sah, wie angestrengt er überlegte. Ich war verloren, wenn er nicht auf meiner Seite war. Wir waren vier Gleiche, aber wir waren verschieden. Die Gedanken, die Überlegungen glichen nur denen des anderen, sie stimmten nicht überein. Mein Blick bettelte ihn um Übereinstimmung. Ich dachte an die getöteten Mädchen. »Du hast nach diesem Maler aus dem neunzehnten Jahrhundert gefragt«, sagte er zu mir. »Du hast meine Frage zu beantworten!« schrie die Miss. Wir waren einer Wahrheit so nahe, daß sie sich vergaß. Sie befahl uns, in der Küche zu bleiben. Ich umarmte ihn. Er hatte mir das Leben gerettet. Abends erzählten meine Brüder, daß auch sie gefragt worden waren. Sie hatten geahnt, um was es ging, und sie hatten mir nicht schaden wollen, vielleicht auch, weil zu befürchten war, die AUFGABE könne durch völlig veränderte Umstände in Gefahr geraten. Später hat die Miss weder Schitschkin noch Schitschkin erwähnt. Am darauffolgenden Tag jedenfalls hatte der Professor vier Malstudenten, wie er sie sich nicht besser wünschen konnte. Er lächelte, und er lobte uns. Wir waren zuvorkommend und eifrig, aber leider nicht talentiert. Die Miss überwachte uns ständig. Wir klierten und spielten mit den herrlichen Farben. Es war eine Form, alle Verkrampfungen zu lösen. Wir hatten Ferien, und darauf bestanden wir. Wir malten Masken und freuten uns daran, uns hinter ihnen zu verstecken. Verkleidet liefen wir im Garten und im Waldstück umher. Einen Tag, nachdem mich Oberst Frankowiakowski besucht hatte, sammelte sich vor der Klinik eine große Menschenmenge.
Zuerst mochten die Soldaten, die eingesetzt waren, die Klinik abzuschirmen, die Demonstration für eine Art karnevalistische Attraktion halten. Ein farbiger Soldat äußerte, es könne sich um den üblichen Rummel vor der Präsidentschaftswahl halten. Newman liebe solche Aufmärsche. Eine Jazzband, fünfzig schwarze Musiker etwa, führte den Zug an. Sie musizierten, daß ihnen der Schweiß über die Gesichter rann. Einer der Offiziere in der Empfangshalle erklärte seinen Leuten lautstark, es handele sich um ein Ablenkungsmanöver der Opposition. »Sie wollen die PHARMA stürmen.« Mit ungläubigen Gesichtern waren die Soldaten seiner Rede gefolgt. Nicht einmal ihnen wäre es gelungen, gewaltsam in das Gelände des Superkonzerns einzudringen. Eine Studentengruppe, eingehüllt in Schwarz-Weiß-Look, bewegte sich zu den Synkopen der Jazzband in einem Totentanz. Die Techniker aus den Strahlerwaffenwerken Newman & Newman bildeten einen geschlossenen, disziplinierten Marschblock. Ihnen folgten die Automateningenieure des Brauereikonzerns Becks. Eine MONSTER-Prozession schloß sich an. Frauen mit Plastikköpfen ohne Mund, mit nur angedeuteten Augen sangen grell. Männer, angetan mit Weichplaste-Extremitäten, gingen gebückt, schlichen dahin, als wolle ein Windhauch sie umwerfen. Einem Klarinettenspieler folgten weißgekleidete Kinder. Die Gesichter der Kinder waren blaugefärbt. Arbeitslose aus den umliegenden Städten hatten sich der Demonstration angeschlossen. Der Zug wollte kein Ende nehmen. Ich war erstaunt über den Einfallsreichtum der Menschen. Es kam mir vor, als sei die Demonstration nach ästhetischen Gesichtspunkten komponiert – stark empfand ich ihre Suggestion. In diesem Moment hatte ich mir gewünscht, wirklich ein talentierter Maler zu sein. Unverhofft löste sich der Demonstrationszug vor der Klinik auf, die Disziplin brach zusammen, Chaos entstand. Die Musiker, die Studenten, Farmer, Ingenieure und die Kinder rannten brüllend an
den verblüfften Soldaten vorbei. Zu Hunderten, sich gegenseitig schiebend und behindernd, drangen sie in die Klinik ein. Unaufhaltsam schob sich ein Menschenstrom in den Haupteingang. Fenster klirrten, Demonstranten stiegen, sich unterstützend, in das untere Stockwerk ein. Ich blickte aus dem Fenster, suchte nach einer Ursache für die Panik, fragte mich, warum sich diese Leute ausgerechnet in eine Krebsklinik retten wollten. In allen Etagen rannten Patienten, Kinder, Arbeitslose, die erschrockenen Krankenschwestern, die Ärzte, Farmer, Offiziere und Soldaten, Studenten und Musiker durch die Säle und Flure. Niemand schien zu wissen, was geschehen war. Ein Offizier brüllte Befehle – sinnlos mit dem Strahler fuchtelnd, hastete er mit der Menge mit. Ehe ich mich versah, wurde ich von Händen ergriffen, in Dekken eingewickelt und weggetragen. Ich wollte schreien, ich ließ es aber bleiben. Noch nie hatte ich mich so wehrlos gefühlt. Ich wurde weitergereicht, die Masse trug mich wie einen Spielball. Mein Gesicht wurde mit einem Hemd verhüllt. Ich schwebte, ich spürte einen starken Luftzug und hörte das ohrenbetäubende Geschrei der Menschen. Ein Transporter vibrierte und brummte unter mir. Ich wurde in eine Ecke gedrängt. Mir wurde die Verkleidung abgenommen, aber ich saß im Dunkel. »Bleiben Sie ruhig, Mister Haxwell, wir holen Sie hier raus!« Ich war sprachlos. Das war sie also, die träge, initiativlose Masse, von der die Miss gesagt hatte, für sie sei nur die Arbeit gut. Der Computer unterbrach den Bericht. Über den Bildschirm lief ein Text: DATEN ZUR BIOGRAPHIE DES NELSON HAXWELL HAXWELL NELSON GEBOREN 18. MÄRZ 2001 IN STOCKHOLM SEINE IDENTITÄT IST UMSTRITTEN
VATER BANKKAUFMANN DIPLOMAT MUTTER KÖCHIN VATER WAR IN BRASILIEN AKKREDITIERT BEIDE ELTERN WAREN POLITISCH AKTIV HAXWELL NELSON HATTE DREI BRÜDER HAXWELLS ENTWICKLUNG VERLIEF IN NORMENGRENZEN SEINE SCHULISCHEN LEISTUNGEN GENÜGTEN NICHT SEIN SOZIALES ENGAGEMENT WAR SCHON FRÜH AUSSERORDENTLICH MIT ACHTZEHN JAHREN WURDE ER VORSITZENDER DER ORGANISATION DIE SICH MIT DER KORRELATION VON NOT UND ÜBERRÜSTUNG AUSEINANDERSETZTE IM JAHRE 2020 WURDE HAXWELL POLITISCH ÄUSSERST AKTIV SIEHE DAZU LITERATUR PAULSON HACK ER WAR MASSGEBLICH AN DEN ABRÜSTUNGSVERHANDLUNGEN IN LATEINAMERIKA BETEILIGT DIE MUTTER WAR EINE FÜHRERIN DER GESELLSCHAFTLICHEN UMBRÜCHE IN BRASILIEN NACH BEENDIGUNG DER KÄMPFE IN BRASILIEN ZOG SICH NELSON HAXWELL INS PRIVATLEBEN ZURÜCK ER SCHRIEB HUNGERTOD ODER NUKLEARES INFERNO IM JAHRE 2036 ERHIELT NELSON HAXWELL DEN NOBELPREIS FÜR FRIEDEN UND ABRÜSTUNG ER WURDE BÜRGER DER FREE STATES SEIT 2037 SPURLOS VERSCHOLLEN
ES GIBT WIDERSPRÜCHLICHE ZEUGENAUSSAGEN WEITERE HINWEISE WERDEN ERWARTET »Danke, Caligula, das genügt vorerst. Zum Fragenkomplex Schitschkin – Schitschkin erhalten wir sicher in den noch verbleibenden Aufzeichnungen die notwendigen Erklärungen. Ich bitte dich, alle Berichte dem OBERSTEN PARLAMENT zu überspielen.« Babette Fourier stand auf und streckte sich. Das stundenlange Zuhören strengte sie an. Sie ging ein paar Schritte, sprang auf der Stelle, absolvierte gymnastische Übungen, um sich zu lockern. Dabei erwartete sie das Hologramm des Computers. Ich kann nicht einschätzen, dachte Babette, was hätte geschehen können, wenn der Plan mit den vier Gleichen gelungen wäre. Wo sind die anderen drei geblieben? Warum ist es Arkadij Carson gelungen, aus dem Labyrinth der PHARMA, aus den FREE STATES zu entkommen? Caligula reagierte nicht. Babette tastete die Raumtonanlage ein, und die Sensoren gehorchten ihrem Befehl, ihre Worte verstärkt wiederzugeben. Er mußte auf ihre Stimme reagieren, der Computer – so war er programmiert. Er antwortete sogar, redete sie ihn im Schlaf an, und das war einer der Gründe, warum sie ihm die Akustik genommen und ihm dafür den Holographen für seine Äußerungen zur Verfügung gestellt hatte. SIND DIE KERNE MEINER NEURONEN ZUR REKONSTRUKTION VON KÜNSTLICHER INTELLIGENZ GEEIGNET ICH ERBITTE ANTWORT MEINE EGO-ELIMINIERUNG MEINE EGOELIMINIERUNG MEINE »Was soll das, Caligula! Deine Neuronen haben kristalline Strukturen. Zellkerne in diesem Sinne hast du nicht – ach, was weiß denn ich! Du äffst Arkadij Carson nach?«
NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN Babette löschte augenblicklich die überhöhte Aktivität des Computers. Das sieht nach Katastrophe aus, dachte sie erschrocken. Sie fand, daß Schwierigkeiten eine vertrackte Neigung zeigen, immer dann aufzutreten, wenn sie am wenigsten gebraucht werden. Allmählich verschwand das violette Worthologramm mit Caligulas Aufschrei. Das Panoramagewölbe verdunkelte sich. Auf die Merkplatte tippte Babette eine Notiz: Den Strukturerhaltungstrieb Caligulas prüfen und verstärken lassen! Der Magnetbotendienst würde diese Information unabhängig vom Hauscomputer zum Zentralspeicher weiterleiten. Eins stand wohl fest: Caligula wurde entschieden zu selbständig. »Caligula, bist du wieder ansprechbar?« BIN VOLL DA BITTE MADEMOISELLE FOURIER Die Lettern flammten in Rot. Der Computer schien seine Aktivität abzubauen. »Ich brauche dich. Sobald eine Nachricht von meinen Eltern kommt, brauche ich dich sogar sehr. Unterlaß die Suche nach einem Psychogramm. Du bist eine Maschine. Deine Intelligenz ist geschützt.« Wirklich, es sah so aus, als überlege der Computer. Im Holographien wirbelte ein sanftes Farbenspiel. Babette ermahnte sich, nicht auch noch auf Caligulas Spielereien einzugehen. Er ist tatsächlich ein Werkzeug, mehr nicht, und Werkzeuge kennen Angst und Grauen nicht. Sie blickte auf das Spiel der Farben. Grün, blau, rot, gelb. Ihr fielen die Augen zu. Babette schlief ein.
Teil II DAS OBERSTE PARLAMENT DRINGEND DAS OBERSTE PARLAMENT Der Summer hatte Babette aus dem Schlaf geholt. Sie war noch nicht ganz bei sich. »Bitte beeile dich, Caligula, ich bin bereit«, sagte sie. Sie seufzte ungewollt. Ihre Eltern, eine Nachricht von den Eltern würde es sein. Das Bild der Ines Romero wurde vom Holographen übertragen. »Guten Morgen, Babette Fourier. Ich möchte dich darauf aufmerksam machen, daß wir in wenigen Augenblicken den Bericht der LYR ausstrahlen werden. Er wurde in der Absicht zusammengestellt, möglichst viele Menschen zur Meinungsäußerung und zur Mitsprache anzuregen. Durch das Treffen mit der Raumstation NOAH II ergeben sich Aufgaben und Entscheidungssituationen, die das OBERSTE PARLAMENT nicht allein regeln kann und darf. Wir haben in den Archiven und mit alten Aufzeichnungen gearbeitet. Babette, die ersten Recherchen ermöglichten tatsächlich, etwa 4000 Zielzahlen und die Namen der dazugehörigen Personen zu ermitteln, die in der Großelterngeneration und teilweise in der Elterngeneration von Klons abstammen. Wir bearbeiten verschiedene Varianten. Wir versuchen, den genetischen Code zu lesen, zu brechen. Eines unserer Teams behauptet, es sei möglich, einen genetischen Eingriff als Erbfaktor dominant festzuschreiben. Wenn das einträfe… Grahams, Professor Grahams meint, der Zeitfaktor sei stärker und verhindere das, falls es überhaupt machbar war.« »Babette, der Bericht von der LYR.«
Babette hatte sich erhoben. Sie war aufgeregt. Das Hologramm von Frau Ines Romero wurde unmittelbar vom bekannten Zeichen der Berichterstattung des OBERSTEN PARLAMENTS abgelöst. Der Sprecher grüßte. Er sei gewiß, betonte er, es gäbe viele Menschen auf der Erde, die sich trotz der Zeitunterschiede für den Bericht der LYR ungeheuer interessierten. Wie aus den Tiefen des Alls kommend, tauchte die Projektion der LYR am Gewölbe auf. Der zylindrische Körper drehte sich, er schien sich zu öffnen. Die Kamera brachte Innenaufnahmen. Ein breiter beleuchteter Gang führte den Betrachter in die Zentrale des Raumschiffes. Zwei Besatzungsmitglieder saßen vor dem Steuerpult. Die Raumkugel NOAH II war auf den Bildschirmen zu sehen, als Ganzes und in Detailausschnitten. Im Halbdunkel der Zentrale stand neben dem Steuerpult der stellvertretende Kommandant des Raumschiffes LYR. Das Hologramm hob diesen Mann hervor, bis er im Mittelpunkt des Panoramagewölbes stand. »Ich bin Lars Wahlhöö«, begann er zu sprechen. »Ich vertrete den Kommandanten Vitali Bykowsky. Er befindet sich mit einer Abordnung an Bord der NOAH II. Bisher steht fest: NOAH II ist, wie vermutet, die auf den Mondbasen gefertigte Raumkugel, die im Jahre 2037, sieben Tage nach Beginn der sogenannten SINTFLUT II gestartet wurde. NOAH II umrundete in einer elliptischen Bahn die Sonne – ähnlich der Bahn eines Kometen. Wahrscheinlich sollten vor Erreichen der größtmöglichen Entfernung vom Zentralgestirn die Triebwerke gezündet werden. Die NOAH II befindet sich etwa 80 AE von der Sonne entfernt, eine gigantische Entfernung für damalige Verhältnisse. Ziel des langandauernden Fluges sollte die WEGA im Sternbild Leier sein. Aus noch nicht bekannten Gründen jedoch wurden die Triebwerke stillgelegt. Seitdem treibt die NOAH II mit sich ständig vermindernder Geschwindigkeit von der Erde weg. Wir haben errechnet, daß die Geschwindigkeit in zweihundert Jahren auf die Größenordnung von Stundenkilometern absinken wird und daß
damit, stagnierend für interstellare Verhältnisse, die NOAH II Jahrmillionen bis zur WEGA benötigen würde. Es gibt Konflikte zwischen der Besatzung der NOAH II und einer weiteren Gruppe, deren Bestimmung wir noch nicht ermitteln konnten. Bestandteil dieser Uneinigkeit ist wahrscheinlich das Abschalten der Triebwerke. Die Ursachen müssen gravierend sein. Wir entschlüsseln den Bordfunk der NOAH II. Dort werden widersprüchliche Auffassungen zur annähernd gleichen Thematik laut. Es kann sich aber auch um zwei voneinander unabhängige Verständigungssysteme handeln. Mir wird gemeldet, unsere Abordnung ist an Bord der Raumkugel NOAH II eingetroffen. Sie hat Aufzeichnungsgeräte mitgenommen: Wir schalten um!« Babette Fourier schrie vor Überraschung auf. Sie sah das Gesicht ihrer Mutter sehr nahe vor sich. Ihre Mutter wandte sich um und widmete ihre Aufmerksamkeit dem Ausstiegsschott des Transportgleiters. Sie war als erste dem Gleiter entstiegen, elf weitere Personen folgten ihr. Die Gruppe sammelte sich in der hermetisch geschlossenen Startrampe der NOAH II. Die Schotts zischten auf. Eine Gruppe unbehelmter Menschen, in goldglitzernde Gewänder gehüllt, trat ihnen entgegen. Monique Fourier gab ein Zeichen. Die zwölf von der LYR entledigten sich der Helme, aber es war nicht ersichtlich, ob es sich um eine höfliche Geste handelte oder ob sie nur zeigen wollten, daß sie in friedlicher Absicht gekommen waren. Der Chef der Abordnung, die sie empfing, ein Mann mit Halbglatze und kugeligem Bauch, hob achtungsgebietend den rechten Arm. Er sagte in einem merkwürdigen Englisch: »Begrüßt seid Ihr, Auserwählte von der Erde, die Ihr unserem Ruf gefolgt seid und kommt, uns beizustehen. Ich bitte, daß die ranghöchste Person einen Schritt vortritt.« Monique Fourier ging in die Raummitte. Zwei Frauen bewegten sich grazil auf sie zu und legten ihr einen glitzernden Umhang um. »Sie werden sogleich der besonderen Ehre teilhaftig, Newman dem Dritten gegenüberzutreten«, sagte der Empfangschef. Er ging
mit kleinen Schritten voran – er schnaufte und sah sich bei jedem zweiten Schritt um, als fürchte er, die Delegation von der LYR könne ihm verlorengehen. Sie befanden sich nun im Zentrum der Raumkugel. Ein geräumiger Saal tat sich vor Babette Fourier im Panoramagewölbe auf. Ihr Blick wurde von einer seltsamen Erscheinung angezogen. Inmitten des Saales saß auf einem viel zu großen Sitz ein Kind. Die Sitzgelegenheit war mit schweren Stoffen drapiert und überdacht. Das Kind, sicher war es ein Junge, schien sich zu fürchten. Die Abgesandten der LYR näherten sich. Anspannung und Neugier waren den Gesichtern anzumerken, aber auch Verblüffung. Bei jedem Gesicht verweilte die Kamera, so daß Babette ihre Mutter nochmals von nahem sehen konnte. Endlich entdeckte Babette auch den Vater. Bei den Bildern, die von der Startrampe übertragen worden waren, war sie nicht sicher gewesen, nun sah sie ihn deutlich. Pierre Fourier wirkte gespannt, aber in seinem Blick glaubte Babette auch etwas wie Trauer zu erkennen. Die Kamera zeigte Newman den Dritten. Erst verschwommen und unscheinbar, dann deutlicher, ganz nahe, hob sich der Thron mit dem Knaben hervor. Oberhalb der Schultern Newmans des Dritten saßen zwei Greifvögel. »Ich werde mit Euch speisen. Nehmt bitte Platz. Ihr seid meine Gäste. Ich möchte mit Euch plaudern.« Der Infant sah sich um. »Bringt mich zur Tafel und beratet mich«, sagte er zu zwei Frauen, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatten. Vom Altersunterschied abgesehen, waren sie einander sehr ähnlich. Sie schoben den Thron mit dem Jungen und den Vögeln zur langen gedeckten Tafel. »Ich begrüße die Astronauten von der LYR. Sie haben unseren Ruf vernommen und verstanden. Sie sind gekommen. Fühlen Sie sich wohl hier auf NOAH II!« sagte Newman der Dritte. Er hob ein Glas, in dem eine grüne Flüssigkeit schillerte. Er trank diese Flüssigkeit aus und beugte sich hastig über eine silberne Schüssel mit Pudding. Newman der Dritte schluckte und löffelte, er störte
sich nicht an den irritierten Blicken der Gäste, die ein Glas mit der schillernd-grünen Flüssigkeit erhalten hatten und denen auf silbernen Tellern grüne Kekse serviert wurden. Auch der Empfangschef watschelte auf seinen kurzen Beinen hastig an die Tafel und nahm Kekse, trank eilig von der grünen Flüssigkeit. Die ältere der beiden Frauen richtete das Wort an die Gäste. »Wir sind seit über vierzig Jahren unterwegs. Wir rechnen nicht mit Ihrer Sympathie, aber wir rechnen mit Ihrer Hilfsbereitschaft. Unser Problem ist, daß die ursprünglich notwendig gewesenen 1300 Besatzungsmitglieder sich infolge unseres Programms der Klonierung verdoppelt haben und daß die jüngere Generation sich aus nicht logischen Gründen weigert, die verbrauchten Alten wie vorgesehen der sanften Einschläferung zuzuführen. Wir, die Auserwählten, reproduzieren uns in begrenztem und bedingtem Maße. Wir sind und bleiben für alle Zeiten 700 Auserwählte. Eine Elite muß auch zahlenmäßig eine Elite bleiben, Elite und Masse sind Antagonismen. Da die Besatzung unrechtmäßig die Kontrolle über den Triebwerksteil unserer Raumkugel ausübt, wird es uns vorerst unmöglich, unserem Plan zu folgen. Unser Ziel ist weiterhin der Sterngroßraum der Leier. Wir werden unser Ziel erreichen. Oh, ich weiß, Sie sind anderer Meinung. Ich möchte Sie jedoch zu einer Exkursion bitten, die Sie von der Erhabenheit unseres Planes überzeugen dürfte.« Die ältere Frau verließ Newman den Dritten, mit dem sie sich mit einem Blick verständigt hatte und der immer noch aß. Sie führte die Gäste von der LYR aus der pompösen Halle, die Tafeln und die daran Speisenden blieben zurück. Ängstlich verfolgte Babette das Hologramm, das sie in Gänge führte, die kühlen unterirdischen Stollen ähnelten. Die Gruppe von der LYR folgte der Frau. Die Kosmonauten schlossen ihre Kombinationen – sicher war es kalt.
»Wir fliegen zur Wega«, erklärte die AUSERWÄHLTE. »Wir gründen eine neue Zivilisation. Wir bevölkern das Weltall – und eines Tages werden unsere Enkel zur Erde zurückkehren, und die Erde wird sie willkommen heißen. Es ist nicht eine Fehlkalkulation in unserem Programm, weshalb wir mit Ihnen Kontakt aufnahmen. Es ist das Chaos der Kreatur, das uns zu schaffen macht. Wir sind gegenwärtig einer harten Belastungsprobe ausgesetzt. Es sind diese 1 300 Besatzungsmitglieder, die uns zuviel sind. Sie halten sich nicht an die interkosmische Disziplin, obwohl wir sie ihnen eingepflanzt haben. Ihr Hörigkeitsverständnis hat gelitten. Theoretisch ist uns die Dauer des Fluges gleichgültig. Wir verfügen über einen unendlichen Bio-Kreislauf – aber eben nur für die im Plan vorgesehene Anzahl Individuen. Wir, die Auserwählten, reproduzieren uns einfach, bis auf mich gibt es uns nur jeweils einmal. Ein Auserwählter wird genetisch dupliziert, sobald er zu alt oder sobald er krank ist. Wir nutzen ausschließlich die Methode der Zellentnahme vom lebenden Objekt, wir sind soweit, falsche Erbinformationen oder altersbedingte genetische Störungen ausspülen zu können. Newman der Dritte bildet eine Ausnahme, es ist testamentarisch bestimmt, daß alle Nachfolger direkt vom Präsidenten der FREE STATES stammen.« Die AUSERWÄHLTE schwieg unvermittelt. Gedankenverloren überblickte sie die kleine Gruppe der Gäste. Sicher war ihr die immer deutlicher an den Gesichtern ablesbare Ablehnung aufgefallen. Sie wies mit ausgestrecktem Arm auf eine Reihe länglicher weißer Truhen. »Ich glaube nicht, daß ich Ihnen Geheimnisse anvertraue. Wir nehmen an, Sie sind informiert. Wir wissen schließlich auch viel mehr über Sie, als Sie vermuten. Wir haben für unsere Sicherheit vorgesorgt.« Sie löste sich von der Gruppe, ging einige Schritte, tippte auf einer Sensorenleiste einen Code ein, forderte dann: »Kommen Sie,
ich zeige Ihnen die einmalige Botschaft, die wir in das Weltall hinaustragen. Dann werden Sie auch begreifen, warum unsere Raumkugel ihren Namen NOAH II wahrhaft verdient. Vom einfachen Hibernationsschrank bis zum technisch perfekten tiefgekühlten Schachtsystem, in dem 77 Kelvin herrschen, haben wir ein Überlebensmilieu geschaffen, in dem Milliarden Zellkerne schlafen. Wir haben die Pflanzenzellkerne aller nützlichen Gewächse der Erde mitgenommen. Wir werden sie in unserer neuen Heimat wecken und züchten. In den Kühlschächten befinden sich alle Zellkerne der Tierarten des Planeten Erde – alle Arten des Bodens, des Wassers und der Luft. Nur der Falke, unser Symbol und das Lieblingstier Newmans des Dritten wird wie ein Auserwählter ständig rekonstruiert. Einige Tierarten mit unangenehmen Verhaltensweisen haben wir für gewisse Experimente mitgenommen. Sie bleiben unter Kontrolle, sie werden unsere neue Heimat nicht bewohnen. Auch wird es in ihr keine Kämpfe zwischen Rassen und Interessengruppen geben. Es wird ein Planet sein, der das in der Bibel beschworene Paradies verwirklicht!« Pierre Fourier war nach den letzten Worten der Frau erregt einige Schritte vorgetreten. Er schüttelte den Kopf, sah dann auf und sagte laut und deutlich: »Ihr Unternehmen ist eine Wahnsinnstat. Für die genetisch Versklavten wird es die Hölle bedeuten. Aber Sie werden Ihr Paradies nicht erleben. Sie sind nicht reif dafür. Nur eine menschlich reife Gesellschaft wäre fähig, auf der Erde und auch im All unter Mühen paradiesische Umstände zu erschaffen.« Abschätzend blickte die AUSERWÄHLTE auf Pierre Fourier. Dann entgegnete sie scharf: »Um Ihre Meinung hat niemand gebeten. Sie zählen nicht. Sie haben die Struktur eines Sklaven. Sie sind eine erzeugte Nicht-Person!« Babette erschrak. Das ist nicht wahr! dachte sie. Monique Fourier war neben ihren Mann getreten und sprach flüsternd, beschwörend mit ihm.
Schweigend folgten die Gäste der AUSERWÄHLTEN durch enge, nur über schmale Gänge verbundene Labortrakte, Lagerräume und Zellen. Überraschend gelangten sie auf diesem Wege wieder in den riesigen Festsaal, der, wenig nutzbringend, den Kostruktionswillen eines gigantomanischen Geistes verriet. Noch immer saßen die Gastgeber von der NOAH II an der Tafel. An der Stirnseite thronte der Knabe Newman der Dritte, zu seinen Schultern die beiden Vögel, neben sich die jüngere AUSERWÄHLTE. Sie säuberte mit einem Tuch seinen Mund. Der Knabe wendete sich Monique Fourier zu. »Ich bin gespannt, wie Sie sich entscheiden werden«, sagte er. Sicher war er darüber informiert, was inzwischen gesprochen worden war. Er bemühte sich, seine herrische Ungeduld zu unterdrücken. Monique Fourier trat einen Schritt vor. Sie hob den. Kopf. Sie sagte: »Werte Anwesende, werte Besatzungsmitglieder der Raumkugel NOAH II! Ich wünschte, von allen gehört zu werden. Wir sind vom Geschehen hier an Bord Ihrer Raumkugel überrascht und betroffen. Wie Sie sich denken können, ist es weder mir noch der Delegation von der LYR möglich, über Ihre Probleme zu entscheiden. Sie müssen selbst den richtigen Weg finden. Wir können nicht voraussehen, ob Sie nicht doch das Vernünftige tun – ich meine, daß Sie zur Erde zurückkehren sollten. Wie wir helfen und uns verhalten werden, müßte eine Entscheidung des OBERSTEN PARLAMENTS der Erde sein. Die Antwort wird einige Zeit brauchen. Wir bitten Sie um Geduld. Wir haben einen Wunsch: Wir möchten, bevor wir an Bord der LYR zurückkehren, das Triebwerksteil der Raumkugel besichtigen. Es ist notwendig, einen Einblick in den technischen Zustand zu haben, wenn wir helfen sollen. Wir müßten uneingeschränkt mit Ihren Technikern reden.« »Niemals!« Newman der Dritte war von seinem Thron heruntergerutscht. Er hob die rechte Hand, auf der sich einer der Falken niederließ.
»Ich durchschaue Sie! Mit den Rebellen wird nicht verhandelt. Jedem, der es wagt, mit diesem Gedanken zu spielen, wird mein Falke das Angesicht zerfleischen!« Seine Stimme kippte über. Er wies zur AUSERWÄHLTEN: »Wissen diese Leute nicht, wen sie vor sich haben! Sagen Sie es ihnen endlich!« Der Knabe Newman der Dritte stampfte mit den Füßen auf. Die jüngere Frau hob ihn auf seinen Thron zurück. Die ältere sagte: »Vermutlich mißverstehen Sie die Lage. Wir verlangen, daß Sie uns diese überzähligen 1300 Einheiten abnehmen. Mit der Rebellion werden wir besser ohne Ihre Einmischung alleine fertig. Wir können uns natürlich gut vorstellen, daß Ihre freundschaftlichen Gefühle uns gegenüber nicht ausreichen, unserer Forderung Nachdruck zu verleihen. Aber Sie sind leider gezwungen, uns zu akzeptieren. Wir haben vorgesorgt: Entweder Sie sind uns zu Willen, oder wir senden eine Nachricht zur Erde, die eine hier nicht zur Debatte stehende Anzahl von Kämpfern decodiert – wenn Sie heimkommen, erkennen Sie Ihre gute alte Erde nicht wieder. Das Chaos wird herrschen, der Freund wird den Freund töten, der Bruder die Schwester, der Vater sein Kind. Begreifen Sie, über wieviel Macht wir gebieten? Überlegen Sie nicht zu lange!« Das Gesicht der Frau glich einer Maske. Die Leute an der Festtafel aßen noch immer, sie schwatzten, sie kicherten, sie waren mit sich beschäftigt. Babette fiel als Vergleich ein, daß ein Kleinstkind ebenso unbeteiligt wäre, würde über seine Zukunft gesprochen. Ihr war, als entdecke sie in den Gesichtern tatsächlich eine erschreckende Diskrepanz, einen Streit von äußerem Erwachsensein und einer in einem frühen kindlichen Stadium stehengebliebenen Entwicklung. Es war ihr vorher sicher nur nicht aufgefallen, weil sie mehr auf ihre Eltern geachtet hatte. Babettes Mutter trat aus dem Kreis der Gäste vor. »Wir danken Ihnen für Ihre Offenheit und für Ihre Gastfreundschaft«, sagte sie. »Wir werden uns an Bord der LYR begeben. Wir teilen Ihnen mit, wie entschieden wurde.«
Monique Fouriers Gesicht verriet nichts von ihren Gefühlen. Sie wirkte ruhig, souverän. Die Gäste verließen den Festsaal. Der dikke Empfangschef begleitete sie. Seine Verbeugungen und Gesten wirkten theatralisch. Babette konnte verfolgen, daß die Gäste den Transportgleiter bestiegen. Sie vermißte aber die vertraute Gestalt ihres Vaters. Babette näherte sich dem Hologramm, stand fast im Gewölbe, entdeckte ihn aber nicht. Sie zählte – neun. Babette prallte vor dem Gesicht des zweiten Kommandanten der LYR, Lars Wahlhöö, zurück. Sie stand unmittelbar vor seinem Mund. Er sagte: »Wir sind mittels der Gravitationsbarriere von NOAH II abgeschirmt. Das ist eine Vorsichtsmaßnahme. Über einen zweiten Informationskanal haben wir von der Besatzung von NOAH II erfahren, daß drei unserer Kosmonauten die Raumkugel nicht verlassen haben. Für unsere Kundschafter wurde ein geheimgehaltener Tunnel kurzzeitig geöffnet. Wir bitten darum, uns Wege vorzuschlagen, wie wir die Probleme lösen können. Zur Diskussion stehen folgende Punkte: – Die Killer müssen decodiert werden. – Sind wir fähig, die Auserwählten zur Einsicht zu zwingen? – Wahrscheinlich sind 2600 Personen nicht mit den Entscheidungen einer anmaßenden Elite einverstanden. Können wir diese Personen, falls sie es wünschen, zur Erde zurückbringen, und wie? – Wie verhalten wir uns, kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Besatzung und den sogenannten Auserwählten? – Wie weit reicht die Verantwortung der Auserwählten für die Vorgänge unter der Bezeichnung »Sintflut II«? Unsere Reserve-Kapazität würde uns erlauben, maximal 500 Personen Aufenthalt in LYR zu bieten. Wir müßten 2100 Personen in den Händen von Abenteurern lassen. Dagegen wehrt sich unser Gewissen. Die Besatzung der NOAH II ist insofern von den Aus-
erwählten abhängig, als es nur den einen Bio-Kreislauf gibt, und der ist im Steuerungsteil in den Händen der Auserwählten. Sobald unsere Kundschafter wieder an Bord sein werden, können wir den nächsten Bericht zur Erde senden. Er wird dann, so hoffen wir, wesentlich neue Erkenntnisse bringen.« Lars Wahlhöö legte das Konzept, von dem er die Stichpunkte abgelesen hatte, zur Seite. Sein Gesichtsausdruck wurde nahezu heiter. »Nun darf ich etwas Erfreuliches mitteilen. Die Besatzung des Raumschiffes LYR hat Grüße für die Familienangehörigen und Freunde auf der Erde vorbereitet. Sie werden in alphabetischer Reihenfolge gesendet.« Babette unterbrach die Übertragung von der LYR, obwohl damit zu rechnen war, daß sie die Grüße der Eltern verpaßte. »Caligula, bitte sofort eine Verbindung zum OBERSTEN PARLAMENT! Eine dringliche Anfrage: Ich muß Frau Romero oder einem der offiziellen Sprecher Wichtiges mitteilen.« Der Hauscomputer setzte alle verfügbare Energie uneingeschränkt ein. Das Worthologramm flammte violett bis ins Kupferfarbene hinein auf. Er war kurzzeitig einer gefährlichen Belastung ausgesetzt. VERBINDUNG MÖGLICH VERBINDUNG ERREICHT meldete er. Im Panoramagewölbe erschien das besorgte Gesicht der Ines Romero. »Bitte, Babette Fourier, sprich konzentriert!« »Ist der ursprünglich von mir vorenthaltene Teil des Berichts schon von Ihren Mitarbeitern ausgewertet worden?« »Das kann ich nicht sagen. Ich müßte mich erkundigen, ich müßte…« Es klang ein wenig heftig und ungehalten, wie Ines Romero reagierte. Sie holte tief Luft und sagte: »Du kannst beruhigt sein, Ba-
bette, die Aufzeichnungen helfen uns, und unsere Erkenntnisse daraus werden als Information an die LYR gehen. Es gibt…« Ines Romero hatte einen Zettel zugeschoben bekommen. »Schalte um, Babette, dein Vater…« In das Hologramm von Frau Romero hinein rief Babette Fourier: »Diese genetisch codierten Killer – die gibt es nicht mehr! Davon bin ich fest überzeugt. Durch die Liebe zu Ruth, durch die Liebe, die er erfahren hat, durch Zutrauen zu den Menschen ist Arkadij Carson ein anderer geworden. Überall muß es solche Menschen gegeben haben, die sich der Manipulierten annahmen. Hören Sie, Frau Romero, die Verhältnisse – unsere Zeit, sie haben diesen Automatismus des Töten-Müssens verändert. Aus der Vererbungslehre wissen wir, daß Merkmale, die nicht dominant sind, allmählich in der Population verblassen. Nein, Frau Romero, die Liebe hat die Killer zu Menschen werden lassen!« Babettes letzte Worte waren an das schwarze Panoramagewölbe gerichtet gewesen. Sie konnte nicht wissen, ob Frau Romero sie verstanden hatte. Sie begann zu weinen. Für einen Moment war ihr, als sei das Hologramm der peruanischen Frau noch vorhanden, doch sogleich überlagerte das Bild des an seinem Arbeitsplatz in der LYR sitzenden Pierre Fourier jeden anderen Schimmer. »… Wir hoffen, daß es dir gutgeht, liebste Babette. Wenn du diese Nachricht erhältst, hat die LYR ihre Mission vielleicht schon erfüllt. Babette, im Computer versiegelt, wartet ein Bericht auf dich. Mit dem Termin Abschluß deiner Grundausbildung haben wir ihn freigegeben. Wenn du ihn kennst, wirst du sicher auch verstehen, weshalb ich deinen Wunsch, Historiker zu werden, so lebhaft unterstützte. Der Bericht könnte dir helfen, dich für eine Spezialausbildung zu entscheiden.
Meine Sendezeit ist um. Mit Worten kann ich nur mangelhaft ausdrücken, was ich für dich empfinde, liebste Babette. Aber nun wartet deine Mutter darauf, mit dir zu reden.« Babette vergaß, daß sie ungehört bliebe, wollte sie alles richtigstellen. Der Gruß des Vaters – sie würde ihn eventuell noch einmal anfordern, falls Caligula versäumt haben sollte, ihn zu speichern. Babette traute ihm das durchaus zu. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie haben sich alle geirrt, dachte sie. Keiner der Verantwortlichen des OBERSTEN PARLAMENTS und der Besatzung der LYR wird damit gerechnet haben, derartige Verhältnisse auf der NOAH II anzutreffen. Doch Babettes Angst war wie weggewischt, als sie das Gesicht ihrer Mutter im Panoramagewölbe sah. »Babette, meine Tochter – jeden Tag denke ich an dich. Sicher fühlst du dich einsamer als wir, immerhin habe ich deinen Vater täglich neben mir. Ich weiß, wie sehr er dir fehlt. Ich schreibe in meinem Tagebuch auf, was ich über all das denke und wie ich fühle, was mir wichtig erscheint. Lach bitte nicht – ich bin nicht altmodisch! Das wichtigste Ereignis unserer Reise ist die Bedrohung, die von der Raumkugel NOAH II ausgeht. Wir rechneten im schlimmsten Fall mit einigen Menschen aus vergangener Zeit, die lebensunwillig und demoralisiert ihr Ende erwarten. Die auf uns angewiesen sein würden. Aber wir wurden durch Raketenbeschuß auf Distanz verwiesen, eine unserer Sendeanlagen war in Mitleidenschaft gezogen – wir müssen auf alles gefaßt sein. In den nächsten Tagen wird sich entscheiden, ob wir helfen können oder was wir tun müssen. Ich werde eine Gruppe leiten, die im Transportgleiter zur Raumkugel fliegen wird. Dein Vater wird dabeisein. Ich bitte dich, daß du dir keine Sorgen machst. Meine Zeit ist gleich um. Ich werde dir meine Tagebücher geben, Babette, sobald wir zu Hause sind. Du glaubst gar nicht, wie ich mich darauf freue. Babette, Liebes, ich wünsche dir gute Tage…«
Das Licht im Panoramagewölbe erlosch. Keine Projektion erfolgte, kein Worthologramm erschien, Stille und Ruhe. Babette starrte abwesend in das halbdunkle Gewölbe und dachte an ihre Mutter, mit der sie sich noch vor vier, fünf Jahren ziemlich oft gestritten hatte. Sie erinnerte sich an das unerschrockene Gesicht der Mutter, als sie der Fremden gegenübergestanden hatte, als sie mit der Gruppe ruhig und gelassen die feindliche Raumkugel verließ. Gefaßt und sicher wird sie den Entschluß des Vaters ertragen haben, heimlich auf NOAH II zu bleiben. Babette dachte an ihre Pflicht, den Text des Carson-Berichts zu verfolgen und dem OBERSTEN PARLAMENT zu übermitteln. Sie berührte die Sensorik. »Caligula, laß mir einen coffeinhaltigen Fruchtsaft bringen!« CALIGULAS KRISTALLINE NEURONENSTRUKTUR IST GEFÄHRDET ICH CALIGULA BITTET VON PARALLELBELASTUNGEN ABSTAND ZU NEHMEN ICH ICH »Verwechselst du dich wieder mit Arkadij Carson?!« BITTE NEIN »Dann also: Start!« Im Gewölbe erschien das Hologramm Arkadij Carsons. Seit meiner Entführung aus der Klinik waren drei Tage und drei Nächte vergangen. Wir befanden uns innerhalb eines Gebäudekomplexes, der einmal eine Farm gewesen sein konnte. Werkstätten und Scheunen sahen verwahrlost aus, das Haus war verfallen. Ruth lag neben mir auf dem verrosteten Feldbett. Ihr ging es nicht gut. Ich hatte die Strapazen gesundheitlich gut ertragen. Ich fürchtete, Ruth könne krank werden. Ich fühlte mich hilflos. Seit ich am zweiten Tag das Stück Plane gefunden hatte, mit dem ich sie zudeckte und von der ein abgerissener Fetzen mir diente, in
den Morgenstunden etwas Wasser zu sammeln, deutete sich bei ihr eine leichte Besserung an. Ich wies sie darauf hin, daß wir unser Verhalten so einzurichten hätten, daß unsere Überlebenschancen möglichst hoch sind. Aber Ruth hörte nicht auf mich, reagierte nicht entsprechend. Sie fürchtete sich, sie hatte ihr Seelenleben nicht unter Kontrolle. Seit wir uns nach meiner Entführung aus der Klinik vor dem Bahnhof trafen, hatte sie Angst. Sie träumte nachts von den Militärs, die den Bahnhof bewachten, sie fürchtete sich vor der überstandenen Fahrt im Expreß, der tote Truppführer im Gepäckwagen erschien ihr in den Alpträumen immer wieder. Selbst wenn Ruth schlief und plötzlich erwachte, ängstigte sie die Dunkelheit. Angst behindert den Verstand. Ein behinderter Verstand verringert die Chancen des Überleben-Wollens. Mitunter war ich nicht sicher, ob meine Gedanken zum Überlebensproblem richtig waren. Vielleicht wußte ich zuwenig. Wovon war Überleben-Wollen abhängig? Von einer Aufgabe etwa, oder von einem Ziel aller, oder von meinen Gefühlen? Noch immer konnten wir nicht auf direktem Wege aus den FREE STATES fliehen. Meine Verfolger hatten mich mit ihrem Computer-Netz identifizieren können und jagten stellvertretend für mich Nelson Haxwell. Nun konnte meine Tarnung zum Verhängnis werden. Trotz der Unruhe im Land war die Kontrolle perfekt. Ruth hatte mich in das einzig sichere Versteck geführt, von dem aus noch ein Fortkommen möglich war. Wir waren vorwiegend nachts marschiert. Wir hatten vermeiden wollen, von den Hubschraubern aufgespürt oder gar angegriffen zu werden. Wir hatten gesehen, wie die Fallschirmjäger mit kleinkalibrigen Luft-Boden-Raketen Menschenjagd betrieben – wir hatten es bis an die Mauern der ausgelöschten Stadt geschafft. Ich begriff die Soldaten nicht. Sie töteten ohne Plan, ohne Vernunft, ohne zu überlegen. Ruth und ich hatten gesehen: In der Ebene töteten sie einen Jungen, der umherirrte. Sie schossen eine Rakete auf ihn ab. Ich erkannte keinen Effekt. Den Expreß hatten
Bomber beschossen. Warum? Weil es möglich war, daß Teilnehmer an der Demonstration vor der Krebsklinik mit ihm flohen? Weil es sein konnte, daß sich Haxwell in einem der Waggons versteckt hielt? Nein, das waren nicht Soldaten, das waren mordsüchtige Killer. Ruth bestritt meine Ansicht. Sie behauptete, die Soldaten hätten Angst um ihr Leben. Die Befehle trieben sie in diesen Wahn, sinnlos zu morden. Nein, Ruth irrte. Sollten diese hirnlosen Soldaten normale Menschen sein, wäre es recht und gut, sie zu vernichten. Und die Miss, deren Lehren ich immer mehr bezweifelte, hätte doch die besseren Argumente. Die Erde wäre verloren, denn, wie die Miss lehrte, sei die ANDERE SEITE noch brutaler. Ich mußte endlich aufhören zu grübeln. Ich nahm einen PlastikBeutel, ich wollte nach Wasser suchen. Ich war oft froh, kein natürlicher Mensch zu sein. An mir und in mir wurde nichts den Zufällen oder einem unkontrollierbaren sozialen Umfeld überlassen. Ich war perfekt, war in Ordnung – in jeder Situation. Ich hatte kein Wasser gefunden. Ruth war aufgewacht. Sie saß gegen die Mauer gelehnt und lächelte mir mühsam zu. Ich fragte sie über die Stadt aus. Sie berichtete, hier an diesem Ort habe sich einmal die ziemlich unbedeutende Stadt Hitchanson befunden. Die Mehrzahl der Einwohner sei in der PHARMA-Filiale beschäftigt gewesen. Vor fünfzehn Jahren sei über der Stadt eine der IdiotenBomben gezündet worden. Sie erklärte mir, die Wirkung dieser Bombe ziele auf den schnellen Abbau der Hirnsubstanz hin. Mit der Bombe sei eine Art Streik beendet worden. Ruth sagte, die Stadt sei für mindestens noch dreißig Jahre strahlengesperrt. »Was haben wir hier zu suchen?« fragte ich. Krank war Ruth schon, sollte sie mir hier sterben! »Wir müssen in diese Stadt«, sagte Ruth. »Hier leben menschliche Wesen, sie werden Gespenster genannt. Genaues über sie ist nicht bekannt. Sie führen keine Steuern ab, sie stellen keine Soldaten, sie
wählen nicht – offiziell gibt es sie nicht. Gerüchte besagen sogar, daß jedes Jahr eine feststehende Summe aus dem Staatshaushalt für sie abgezweigt wird. Die Bewohner der Gespenster-Stadt sollen überwiegend Kranke sein, Strahlenverseuchte, Mutanten, Psychopathen und von der Gesellschaft ausgestoßene Individuen. Hier finden wir Sicherheit und Hilfe. Bitte, du mußt mir vertrauen, Arkadij!« Ruth weiß mehr, als sie mir sagt, dachte ich. Sie bewahrte das Geheimnis. Vor mir? »Du mußt dich ausruhen«, bat sie. »Du wirst mich über die Trümmer und Geröllhalden tragen müssen. Allein schaffe ich es nicht.« Sie sah mich an, als müsse sie wegen ihrer Schwäche um Verzeihung bitten. Wie wenig wir uns kennen, dachte ich und war betroffen. Ich war sicher, ich hätte sie sogar auf die ANDERE SEITE getragen, vorausgesetzt, es diente ihrem Leben. Ich war aufgewühlt, innerlich durcheinander, mit mir zerstritten. Liebe war mehr, als ich je geahnt und kennengelernt hatte. Ich legte mich auf die Plane. Ich warf einen Blick auf die vor uns liegende Wegstrecke. Soweit ich durch den Mauerdurchbruch sehen konnte, war kein Stein in dieser Stadt auf dem anderen geblieben. Die Ursache war weniger gewaltsame Zerstörung als allmählicher Verfall. Keine der Straßen schien begehbar zu sein. Manchmal wirbelte der Wind lange Staubfahnen auf. Die unsichtbare Strahlung ängstigte mich, wenn ich an Ruth dachte. Ich war überzeugt, daß wir hierher verschlagen wurden, weil der ursprüngliche Plan durchkreuzt worden war. Ruth sagte nichts darüber, ob eine andere Variante bestand. Ich würde Kraft sammeln, während ich schlief. Mir ging ein Instrument des militärischen Umgangs, der Befehl, nicht aus dem Kopf. Wir vier Gleichen waren ohne ihn ausgekommen. Es war in unserem Verhalten festgelegt, schwierige Situationen zu ändern, neue Sachverhalte zu erzwingen. Nur die geringste Andeutung eines Wunsches der Miss genügte uns, handelnd in das Leben an-
derer einzugreifen. Ihre Zielvorstellungen und unser Tun stimmten, wie durch eine geheimnisvolle Kraft gesteuert, wunderbar überein. Allein der Hinweis auf den grünen Pudding vermochte uns zu ungeheuren Leistungen anzuspornen. Ich überlegte, ob die Gehirne der Soldaten mit Empfangsgeräten versehen werden, bevor sie zum Einsatz gelangen. Aber die Sensibilität der winzigen Geräte war begrenzt. Die Soldaten wären nur bedingt einsetzbar. Ein Befehl dagegen mußte für diese Kreaturen etwas Großes, Mächtiges sein. Dafür gingen sie, ohne innere Überzeugung, in den Tod, und die Befehlshaber nannten diesen Tod heldisch. Ruth blieb dabei: Angst sei die Grundlage für das Wirken des Befehls. Doch was ist Angst? Wir kannten nur die klar erkennbare, berechenbare Furcht, weil wir ohne Schmerzen waren. Also fehlte mir noch etwas zur Vollständigkeit, außer Liebe und der Gabe, Glück zu empfinden. Mir fehlten Leid und Angst. Erst mit ihnen wäre ich ein Mensch, aber ich wäre dann ebenso winzig wie sie, die Menschen. Was hatte die Miss aus uns gemacht! Ganz unerwartet hatte sich einmal für uns die Chance ergeben, mit denen von draußen in Verbindung zu treten. Wir erkannten wenig Sinn darin, aber unsere Neugier, bedingt durch die hohe Speicherfähigkeit unserer relativ unbelasteten Gehirne, reizte uns, die andere Welt genauer zu erkunden. Vorbereitet darauf hatten wir uns heimlich längst. Die STATION wurde zu eng für uns. Bevor wir als Fallschirmjäger ausgebildet wurden, mußte uns ein Arzt gründlich untersuchen. Er unterhielt sich dabei mit der Miss. Es war ein merkwürdiges Gespräch. Die Miss zeigte keinerlei Interesse, sich mit dem Arzt einzulassen. Sie wollte nicht mit ihm reden. Ihr Hochmut sollte ihm das zu verstehen geben. Der Arzt benutzte sie jedoch unverdrossen als Gesprächspartnerin – die Adressaten seiner Rede waren wir. Wahrscheinlich war er ein unentbehrlicher Spezialist, so daß ihm die Miss das Wort nicht verbieten konnte.
Es gab in der STATION auch nur den einen Computer der neuen Generation, der an das gerade erst von den Japanern entwickelte EEG angeschlossen werden konnte. Deshalb mußten wir mühsam der Reihe nach untersucht werden. Der Arzt redete und redete, und die Miss ärgerte sich. Er habe zwei Söhne, Zwillinge, erzählte er der Miss, sie seien ungefähr im gleichen Alter wie wir. Sie bereiteten sich auf das Studium vor. Er müsse sie baldmöglichst zum alten Kontinent schicken, denn eine gediegene Fachausbildung in den FREE STATES sei nicht möglich – von der Qualität einmal abgesehen, schon allein aus finanziellen Gründen nicht. Trotzdem werde das Studium ein teures Vergnügen, versicherte er der Miss. Es koste seine Familie alle Ersparnisse. Die Zwillinge wollten Ärzte werden, erzählte er. Die Miss schwieg. Während er uns untersuchte, erzählte er von den Besonderheiten des Medizinstudiums. Er diskutierte mit uns ethische Fragen, bestand aber nie auf Antwort. Immer wieder bezog er die Miss ein, und sie schwieg verbissen. Eine Freundin hätten sie auch schon, seine Söhne. Er schien stolz auf sie zu sein. Nein, nein, nicht beide dieselbe! erläuterte er und lachte. Es seien Schwestern. Aber bevor die Söhne das Studium nicht abgeschlossen hätten, rate er von einer festen Bindung ab. Ich lag auf einer Pritsche, fühlte die kühlen Metallplättchen auf meiner Kopfhaut, und ich hörte plötzlich einen exakt gesprochenen Text, der noch einmal wiederholt wurde. Ich konzentrierte mich auf die Worte, gab dabei meinem Gesicht einen unbeteiligten Ausdruck. Der Text erreichte mich auf unüblichem Weg. Er mußte von den Metallplättchen ausgesendet werden und direkt unter Umgehung von Schallwellen auf das Hörzentrum im Gehirn wirken: Siebenhundert Schritte von der Wachstation III entfernt in Richtung Osten – Sonnenaufgang vier Uhr vierundfünfzig – ein loser Stein unten im Sockel der Mauer. Dort liegt eine Nachricht.
Der Arzt beobachtete, während er von den Streichen der Zwillinge erzählte, das Aufzeichnungsgerät. Sicher registrierte er meine erhöhte Gehirntätigkeit. Die EEG-Aufzeichnungstechnik gestattete ihm wahrscheinlich, meine Reaktion einigermaßen vorauszuberechnen. Für Sekunden sah ich ein kleines Erschrecken in seinem Gesicht. Als er mich von den Metallplättchen befreite, sah er mich ruhig und ein wenig fragend an. Ich nickte ihm zu, als bedanke ich mich für die freundliche Behandlung. Wir liefen jeden Abend drei große Runden innerhalb der STATION. Nach einem kurzen, aber heftigen Streit mit der Miss durften wir auch frühmorgens laufen. Sie war bereit, uns zu glauben, weil wir erklärt hatten, es genüge uns nicht, was wir leisteten. Es sei unsere Pflicht, zäh und stahlhart zu werden. Nach einigen Tagen ging die Sonne exakt vier Uhr vierundfünfzig auf. Wir waren zu dem Schluß gekommen, daß die Leute, mit denen der Arzt in Verbindung stehen mochte, uns sehr genau beobachteten und Vorkehrungen der Sicherheitskräfte im Falle eines Verrats bemerken würden. In der angegebenen Entfernung vom Hauptwachgebäude fanden wir in einem Mauerritz einen kleinen Bogen Papier. 4 59 Wir betrachteten die Zahlenkombination. Sicher sollte das Stück Papier als Hinweis dienen, den Ritz in der Mauer als toten Briefkasten zu benutzen. Ich ließ es mir geben. »Es könnte mit der Sonnenaufgangszeit zu tun haben«, vermutete ich. »Dann also in drei Tagen.« Wir waren uns unserer Prognose einigermaßen sicher. Ich zerknüllte das Papier – es zerfiel dabei unvermutet zu feinem Staub. »Das Überwachungssystem hat eine unzuverlässige Stelle. Endlich haben wir eine Verbindung nach draußen!« sagte er.
»Nein, es wird sich kaum um einen Vertrauenstest handeln«, sagte er, »das hieße nämlich, uns vier ohne Wertung zu testen.« »Wir gehen auf das Angebot ein. Ein Verräter unter uns hätte doch keine Chance, den AUFTRAG allein auszuführen. Bis jetzt jedenfalls nicht.« Der Arzt oder die Personen, die uns diesen Zettel zukommen ließen, vermuteten sicher, wir gehörten zum Spezialprogramm der PHARMA, das unter Umgehung des internationalen Genmanipulationsverbots Versuche mit produktionsvorbereitendem Charakter zum Ziel hatte. Unsere Schmerzunempfindlichkeit aber und unsere Fähigkeit, nachts sehen zu können, deuteten auf eine besondere Zielstellung für die Züchtung hin. Für sie kam eventuell nur der Produktionsmensch oder der Elitesoldat in Betracht. Den wahren Stand unserer Ausbildung konnten die draußen nicht kennen. Am vereinbarten dritten Morgen fragten sie uns auf einem Stück Papier: Sind Sie bereit, die Öffentlichkeit der FREE STATES darüber zu informieren, daß an Ihnen menschenverachtende Versuche/Experimente/Manipulationen durchgeführt worden sind? Nur diese Frage, und das Papier rieselte uns wie erwartet als Asche durch die Finger. Unsere Antwort lautete: Von derartigen Versuchen wissen wir nichts. Wir werden für die AUFGABE vorbereitet. Die Erfüllung der AUFGABE bedeutet die Rettung der Menschheit. Von draußen kam am vereinbarten dritten Tag die Forderung: Einer von Ihnen muß die PHARMA verlassen. Wir helfen Ihnen. Folgen Sie dieser Aufforderung bitte. Wir vertreten die Menschheit. Unsere Erwiderung lautete: Wir verstehen Ihre Erregung nicht. Sie müßten informiert sein, da Sie doch die Menschheit vertreten. Wir sind neugierig. Wir benötigen einen Hibernationsschrank und verschiedene Baugruppen. Wir haben einen eigenen Plan. Er ermöglicht das völlige Ver-
schwinden einer Person. Daraufhin erreichte uns die Nachricht: Wir lassen den Hibernationsschrank in die Zentralküche der STATION bringen – wir werden ihn nach Ihren Anweisungen auch wieder herausschaffen. Bitte den Kontakt bis auf Widerruf abbrechen. Ich möchte auf dem Feldbett liegenbleiben, dachte ich. Ich fühlte mich schwach. Bei geschlossenen Augen sah ich eine Schale grünen flambierten Pudding vor mir, aber ich konnte sie nicht erreichen. Ich spürte Ruths warme leichte Hand auf meiner Wange. »Was ist mit dir, Arkadij? Du hast im Traum gestöhnt!« fragte sie mich. »Mir geht es nicht gut. Ich träumte von DIOGENES, von der Wüste. Heiß ist es hier!« »Komm!« sagte Ruth und nahm meine Hand. Mir war schwindlig. Sie führte mich an zerbröckelten Mauern und zerborstenen Häusern entlang. Ich schämte mich – hatte ich sie doch tragen wollen. Vor einem Schacht, der in die Erde hinabführte, blieb sie stehen. »Dort wird es nicht nur kühl sein, dort sind wir auch in Sicherheit. Zweimal ist ein Hubschrauber über uns hinweggeflogen. Ich habe Angst, Arkadij. Die vereinbarte Zeit für den Treff ist längst verstrichen.« Ich schämte mich. Ich küßte sie. Sanft wehrte sie mich ab. »Wir gehen nach unten. Dort kannst du dich ausruhen. Was ist nur mit dir? Vor wenigen Stunden noch warst du stark.« Babette Fourier atmete auf. Sie stoppte den Computer. Schon mehrmals hatte sie sich ertappt, daß sie die nüchterne Distanz zu den Worten verlor. Zumindest fürchtete sie, sollte sie von Ines Romero wegen einer Information gerufen werden, daß sie sehr verstört angetroffen würde. Besonders beeindruckt war sie von Ruth Carsons Zuversicht. Vielleicht gäbe es ohne solche Idealisten
die Erde nicht mehr. Der kritische Verstand untersucht und überdenkt alle Umstände, Situationen, Vorfälle und Zustände – ist aber in außergewöhnlichen Umständen oft gelähmt. »Caligula, bist du bereit?« MADEMOISELLE BABETTE SIE SIND MIT MEINEN NEURONEN SORGFÄLTIG UMGEGANGEN ICH KONNTE VIER EINHEITEN AUFARBEITEN UND DEM OBERSTEN PARLAMENT ÜBERMITTELN Babette überlegte, ob sie den Computer warnen müßte, weil er sich wieder unerlaubt auf Identitätssuche begab. In das aufschimmernde Worthologramm hinein fragte sie: »Wer in dir ist ICH?« RUTH CARSON IST EINE INTERESSANTE PERSÖNLICHKEIT Neben dem Porträt der Ruth Carson schwebte und drehte sich eine Computergrafik, die in Bruchteilen von Sekunden die Gestalt eines Doubles dieser Frau annahm. Babette wollte eine Anweisung über die Sensorik eingeben, aber im Panoramagewölbe wurde der falsche Zwilling von Arkadij Carson verdrängt. Arkadij Carson sprach. Babette fühlte sich von Caligula überrumpelt, doch sie gab nach. Ruth lag neben mir. Sie schlief. Wir befanden uns in einem kellerähnlichen Raum. Das unbestimmte Gefühl, einer Gefahr nahe zu sein, hatte mich erwachen lassen. Von der Decke des Raums kam ein Lichtschimmer, der ausreichte, meine Intuition zu bestätigen. Auf einem Schemel, etwa drei Meter von uns entfernt, saß ein Mensch. Ruhig erhob er sich. Ich konnte ihn nun besser sehen. Er war einige Jahre älter als ich. Sein breites, festes Gesicht verriet indianische Ursprünge. Er trug die Uniform eines Sergeanten der Armee der FREE STATES. Blitzschnell erhob ich mich. »Sie sind hier in Sicherheit«, sagte der Indianer. »Mister Arkadij Petrowitsch, bleiben Sie ruhig, Sie sind bei Freunden. Solange Sie und Mrs. Carson sich in diesem Raum aufhalten, kann Ihnen
nichts geschehen. Lassen Sie sich durch die Uniform nicht beirren. Ich benötige Sie zur Tarnung. Wir bitten Sie, uns zu vertrauen.« Er sprach sehr langsam und akzentuiert. Mir kam es so vor, als wiederhole er einen eingeübten Text. Ruth war aufgewacht. Sie war, im Gegensatz zu mir, nicht überrascht. Vielleicht war ich ohnmächtig geworden im Schacht. Der Indianer nickte Ruth zu, erhob sich und verließ den Raum. Ich hörte, daß vor der Tür metallene Verschlüsse einrasteten. »Man hat uns in Gewahrsam genommen«, sagte ich. Ich zweifelte. »Wir sind durchgekommen, und wir leben, Arkadij. Wir sind auf einem Umweg zu Freunden gekommen. Sie werden uns weiterhelfen«, sagte Ruth, Sie schloß mich in ihre Arme. Sogleich fühlte ich mich sicher und geborgen. Ich war verwundert über die mir unerklärliche Kraft, die in ihr, in ihren Berührungen, in ihren Worten lag. Doch sobald ich das fühlte, wurde ich wieder mißtrauisch. »Wenn es stimmt, was du von den Flüchtlingen erzählt hast, die in der Stadt aufgenommen wurden, können wir uns sicher fühlen. Aber nur vorläufig. Wir müssen vorsichtig sein, Ruth. Seit wir die Klinik verlassen haben, waren wir ständig fahrlässig. Wir haben dem Zufall vertraut, unser Planen und Handeln muß exakter werden. Wir dürfen niemandem vertrauen.« Die Verschlüsse der Metalltür wurden gelöst. Der Indianer trat ein. Er stellte ein Tablett vor uns ab, dann verschloß er die Tür von innen. Er holte einen Strahlenmesser aus der Uniformjacke, blickte darauf und steckte ihn beruhigt wieder weg. »Bitte essen Sie«, forderte er. »Professor Last wird in einer Stunde eintreffen.« Er setzte sich wieder in seine Ecke auf den Schemel. Er verhielt sich nicht wie ein Bewacher. »Essen Sie, und dann ruhen Sie aus«, sagte er. »Mein Name ist Ben«, stellte er sich vor. Ruth schien ihm zu vertrauen. Sie nickte Ben zu. Zu mir sagte sie, sie habe es nötig, sich auszuruhen. Ich glaubte ihr nicht. Sie sah
munter aus, munter und gut. Sie kuschelte sich an mich. Fast reglos blieb sie liegen. Ich genoß ihre Wärme und wagte nicht, mich zu bewegen. Sie schlief ein. Je näher mir Ruth war, desto mehr wurde mir bewußt, wie sehr ich die Miss haßte. Ich war nicht fähig, zu vertrauen, immer witterte ich Betrug. Ruth hatte gesagt, der Haß auf die Miss sei berechtigt, ich müsse jedoch mit ihm fertig werden, dürfe ihn nicht verallgemeinern, und dabei werde sie mir helfen. Ich mußte oft daran denken, wie es nach dem Ausbruch der offenen Feindschaft zwischen der Miss und uns war. Der Riß zwischen uns wurde um so deutlicher, je mehr wir versuchten, zu tun, als sei er nicht vorhanden. Diese Kluft konnte kein freundliches Wort und keine Streicheleinheit der Miss überwinden. Für uns überraschend, stellte sie uns den neuen Mann vor. Er sollte uns den entscheidenden Schritt auf dem Weg zur AUFGABE voranbringen. »Das ist Mr. Hollow. Er wird euch beraten. Er und ich arbeiten künftig zusammen«, sagte die Miss. Der neue Mann schüttelte uns der Reihe nach die Hand. Er sah aus wie ein Schauspieler. Wie einer der Typen, die immerzu hartgesottene Burschen darstellen müssen. Er hatte ein wettergegerbtes Gesicht. Seine Augenbrauen waren buschig. Das leicht vorstehende Kinn deutete auf Energie hin. Seine Wangenknochen waren deutlich ausgebildet, und sein kurzes starres Haar war dunkelblond. Mit diesem Charakterkopf hätte der neue Mann Präsident der FREE STATES werden müssen, wenn nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Karriere an den großen, abstehenden Ohren scheiterte, die den Eindruck vom großen, gerechten und unnachgiebigen Mann ins Lächerliche zogen. Ich erkannte – sein gesamtes Verhalten mußte krampfhaft darauf ausgerichtet sein, der Umwelt zu beweisen, seine Ohren seien normal, und er, Hollow, sei ein harter Mann mit normalen Ohren.
»Hollow«, stellte er sich jedesmal vor. Ohne uns verabredet zu haben, ließen wir ihn kalt abfahren. Wir sahen uns an, die Miss sah uns an. Sie war immerhin der Boß. Zwei drei Worte nur, und es gab diesen Hollow nicht mehr. Aber die Miss schwieg. »Wir wünschen zu erfahren, was in der Nacht geschehen ist«, sagte sie dann. »Du, du, du und du, ihr wart in der STATION im Gelände. Die Wache wurde durch Motorengeräusch alarmiert. Wir nehmen an, es war ein nicht genehmigter Hubschrauber-Einsatz und er hat mit euch zu tun. Ich hoffe, ihr helft uns. Ihr kennt mich: ich erfahre immer, was ich wissen will. Was wißt ihr über den Vorfall?« Sie waren unseren Kontakten nach draußen auf der Spur. Dieser Hollow trat vor. Er sagte: »Es sind Schleifspuren im Park festgestellt worden. Sie brechen an einer Stelle unmittelbar ab.« Er sah jedem von uns ins Gesicht. »Ich gebe1 dir fünf Minuten Zeit. Die Miss und ich, wir warten!« Fünf Minuten können eine lange Zeit sein. Wir redeten kein Wort. Nicht in diesem Raum. »Mitkommen!« schrie Hollow mich an. Die Bedenkzeit war abgelaufen. Ich schob Hollows Hand von meiner Schulter. Ich folgte ihm. Die Miss blieb bei den anderen. Hollow kannte sich vorzüglich in der STATION aus. Er ging zum Lift. Wir sausten abwärts, sehr tief hinunter. In dem Gang, auf den wir hinausgetreten waren, zeigte ein Leuchtpfeil auf die Tür zu den Desinfektionskabinen. Eine Greifhand bemächtigte sich meiner Kleidung. Ich drehte mich um, aber sie war verschwunden, und statt dessen hing die weichgefütterte weiße Kombination an einem Haken. Ich zog mich an. Wir fuhren mit dem Lift weiter nach unten. Hollow führte mich in einen weißgekachelten Raum. Für Sekundenbruchteile blieb ich wie erstarrt stehen. Vor mir standen zwei Riesen. Sie waren etwa ein Drittel größer als ich und erschienen mir ungleich kräftiger. Ihr Gesichtsausdruck war der von naiven, freundlich gesinnten Kindern, oder besser der eines freundlichen
Kindes, denn beide waren gleich. Sie hatten eigentümlich weit hervorstehende Augäpfel. Unruhig suchten ihre Augen alles im Raum zu erfassen oder zu kontrollieren. Nichts schien ihnen zu entgehen. Das sind die Monster, dachte ich augenblicklich. Sie ergriffen mich und streckten mich auf einer Pritsche aus. Ich wurde angeschnallt und erhielt auf Hollows knappe Anweisung eine Injektion. Ich hielt die Monster für debil. Ihr Lächeln brachte mich darauf, es war immer gleichbleibend, und auch ihr Verhalten kam mir sonderbar vor. Sie hatten den Auftrag ausgeführt, nun lehnten sie sich an die weißgekachelte Wand und schlossen die unruhigen Augen. Alle Kraft und Beweglichkeit schien die Riesen verlassen zu haben. Ihr Interesse war erloschen. Bevor ich ohnmächtig wurde, bemerkte ich einen schmalen roten Streifen aus Stoff am rechten Unterarm der Kombination Hollows. Sicher war das ein Rangabzeichen. Hollow verlangte, die Monster sollten mir noch eine Injektion geben. Die Kanüle drang in meinen Arm. Ich sah noch, wie eines der Monster den Raum verließ. Zwei Männer in weißen Kitteln brachten ein elektronisches Gerät. Damit gelangen sie in dein Gehirn, dachte ich, dann fiel ich endgültig in den Schatten des psychopharmazeutischen Verhörs. Richtig wach wurde ich erst wieder, als wir in den Desinfektionsraum zurückkehrten. Ich wußte nicht, was geschehen war und wieviel Zeit vergangen sein mochte. Das kalte Wasser brachte mich ins Wirkliche zurück. Ich zog mich an. Hollow hatte auf mich gewartet. Er faßte nach mir, wie um mich aus dem Raum zu dirigieren. Mein Schlag traf ihn unerwartet. Er stöhnte auf und sackte zusammen. Ich schlug nicht noch einmal zu. Langsam richtete sich Hollow auf. Ich glaubte, er sei fertig, aber ich hatte mich getäuscht. Er schlug präzise zu, und ich war nicht auf den Schlag gefaßt gewesen. Ich krümmte mich. Es handelte sich lediglich um die körperliche Reaktion. Ich schnellte hoch,
beinahe hätte ich über Hollows schreckgeweiteten Blick gelacht, und ich unterließ es, ihn zu erledigen. Er tat mir fast leid. Er war mir gleichgültig. Es läßt sich nichts mehr ändern, dachte ich. Sie saßen immer noch da, und die Miss bewachte sie. Sie sahen mich an. Hollow legte seine zudringliche Hand auf die rechte Schulter des nächsten. »Komm mit!« sagte er. Ich grinste – ich konnte mir gut vorstellen, daß Hollow ein Ohr fehlen könnte, wenn er wiederkäme. Ich berichtete ohne Rücksicht auf die Miss, auf Mikrophone und Kameras, daß sie mir zwei Injektionen verpaßt hatten, um mich zu verhören. Was mich wunderte, war, daß die Miss mich nicht unterbrach oder mir das Wort verbot. Ich sagte, ich könne mich an nichts erinnern. Sollte ich den Doktor verraten haben, dachte ich, bliebe mir nur die Entschuldigung, es nicht willentlich getan zu haben. Es tröstete mich nicht. Wir schwiegen und warteten. Nach etwa einer halben Stunde kam Hollow zurück. Er ließ unseren Bruder von einem der Monster hereintragen. So hätte es mir auch gehen können, dachte ich. Das Monster ließ ihn auf den Fußboden fallen. Er war ohnmächtig. Hollow hielt einen Strahler in der Hand. Seine Nase war unförmig angeschwollen. Er sagte zu uns: »Herhören! Wenn noch einmal einer nach mir schlägt, suche ich mir den erstbesten aus und lasse ihn vor euren Augen zerstükkeln. Er wird als Organspender eingefroren. Bin ich deutlich genug!« Er erhielt keine Antwort. Er war schon deutlich genug – es sah aus, als sei selbst das Monster erschrocken, aber das konnte täuschen. Hollow und das Monster gingen mit dem nächsten zum Lift. Der Ohnmächtige erwachte. Es war nur die Wirkung des Strahlers, die ihn gelähmt hatte. Wir kümmerten uns um ihn. Auffällig war, daß sich die Miss kaum noch einmischte.
Am Abend brachte eine Firma einen neuen Hibernationsschrank. Leute von der Sicherheit überwachten den Transport zur STATION. Wir würden ihn leicht austauschen können – solche Schränke gab es in der STATION. Es war, als kannten wir den an den Ecken abgerundeten Schrank längst. Wir tauften ihn aus der Ferne auf den Namen DIOGENES. Der Doktor – oder wir – oder wir und der Doktor hatten eine Chance. Vielleicht war sogar das Verhör in vielfältige Überlegungen mit einkalkuliert. Nun konnte ich mit ein wenig Glück und mit einigem Verstand die Flucht wagen. So war es vereinbart. Wir vier freuten uns auf das gefährliche Spiel. Es war interessanter als die Spielchen mit Hollow. Am Tag, als wir DIOGENES ausgetauscht hatten, wurden wir voneinander getrennt. Sie mußten ahnen, daß ihnen ein Fehler unterlaufen war und sie etwas von großer Wichtigkeit über uns nicht wußten. Einen Grund für die Trennung nannte man uns natürlich nicht. Drei Tage befand ich mich nun schon in der unterirdischen Anlage der STATION. Irgendwo tief unter mir wußte ich die Sporthallen und das Trainingszentrum der STATION. Ich hatte über Monitor die Aufforderung erhalten, mich jederzeit in einem körperlich und geistig hochaktiven Zustand zu befinden, abrufbar zu sein. Ich war in einem Raum untergebracht, der den Umständen entsprechend eingerichtet war. Eine Liege, Sessel, eingebaute Schränke. Das Essen wurde mir über einen rohrpostähnlichen Kanal zugeschickt. Ich konnte mir nach einer Liste zusammenstellen, was ich wollte. Ich brauchte bloß die entsprechenden Codenummern in den Computer zu geben. Jeder Wunsch wurde mir erfüllt, mit einer Ausnahme – nirgends war die Ziffernfolge für den flambierten grünen Pudding verzeichnet. Ich begriff nun erst richtig, daß die Ermittlungen nochmals und mit äußerster Sorgfalt und allen Mitteln erfolgen würden. Ich hatte zu niemand Kontakt. Nie sah ich einen Menschen. Mich überkam die Sehnsucht nach meinen Brüdern. Um mich herum war kalter Eisenbeton, war Plaste, war Metall. Ich allein war das Lebendige.
Mir war, als dehne sich mein Schädel, als nehme er alles auf, was um mich herum existierte, und zuletzt schien mir, nur der riesige Raum in meinem Kopf sei existent, die Welt sei nicht mehr vorhanden, nur ich sei wahr. Ich schrieb diesen seelischen Zustand einer Mangelerscheinung zu, ich ahnte, daß mir die Substanz fehlte, die uns immerzu nach dem grünen Pudding hatte gieren lassen. Ich war soweit, daß ich mit der Miss gesprochen hätte. Zwanghaft drängte sich mir die Vision auf, Hollow säße mir gegenüber, und ich redete und redete… Ich riß mich aus diesem Zwang – ich reagierte die Wut über meine Schwäche am Plastesessel und an der Betonwand des Raums ab. Ich zerschlug die Klima-Anlage. Ich beruhigte mich. Ich versuchte, meinen Zustand distanziert zu untersuchen. Ich trainierte in der Sporthalle. Ich war allein in der großen Halle, ich trainierte, bis meine Energiereserven völlig aufgebraucht waren. Ich machte mich derart fertig, daß mir nicht mehr bewußt wurde, wie die Tage und Nächte vergingen. Ich wäre verrückt geworden, hätte ich nicht sofort und übergangslos schlafen können. Ich schlief, ich aß, ich trainierte wie wahnsinnig, duschte und schlief. Der Monitor weckte mich, schickte mich in die Tiefe, ließ mich in der Halle trainieren. Ich hatte begriffen, daß es um mein Leben ging. Ich befürchtete, sie würden einen von uns annullieren, um uns zu erpressen. Ich wollte nicht der eine sein. Ich hoffte stets vergeblich, im Zentrum, in der Sportarena oder auf den langen Fluren einem lebenden Wesen, einem Menschen zu begegnen. Ich blieb allein. Wäre nicht der Monitor gewesen, ich hätte mir eingebildet, ich sei der letzte Überlebende einer vergangenen Welt. Ich ließ mein durchschwitztes Dreßhemd auf dem Bunkersportplatz liegen. Es sah aus wie nicht beabsichtigt. Als ich den Lift verließ und, den Lichtpfeilen wie gewohnt folgend, vor der für mich bestimmten Tür stand – keine der Türen trug ein Kennzei-
chen oder einen nach außen hin sichtbaren Öffnungsmechanismus – und eintrat, lag das Dreßhemd auf den Fliesen. Ich zählte die Tage, konnte mich aber verrechnet haben. Ich war bei der Zwanzig angelangt, konnte also annehmen, daß ich mich mindestens zwanzig Tage im Bunkerlabyrinth unter der STATION aufhielt. Ich trainierte mich müde, aß, duschte, schlief, aß, trainierte und fürchtete, verrückt zu werden. Ich war vergessen. Ich gehorchte einem seelenlosen, sinnlos gewordenen Computerprogramm. Ich redete mit dem Monitor. Ich streichelte ihn. Einmal bin ich den Lichtpfeilen nicht gefolgt. Ich irrte in den Fluren umher. Gongschläge von solch einer Wucht wummerten aus versteckten Lautsprechern, daß ich fürchtete, meine Gehirnzellen könnten zerplatzen oder der Verstand würde mir aus dem Kopf gedröhnt. Ich irrte umher, endlich fand ich die Pfeile, ich war ihnen dankbar und ringsum war schmerzende Stille. Ich beschloß, den Monitor zu zerschlagen. Ich nahm mir vor, nicht mehr zu essen. Ich wollte mir den Schädel am Beton einrennen. Mein Gehirn mußte ihnen doch teuer sein! Ich wollte nicht glauben, sie könnten zusehen, wie ich mich zerstörte. Der Monitor schnarrte, bis ich ihn beachtete. Ich sollte trainieren. Ich war jedoch nicht interessiert. Ich legte mich hin. Langgezogen schnarrte der Monitor. Ich zog mir die Decke über den Kopf. Ich verzichtete. Ich hatte gelernt, der Mensch sei fähig, sein Leben, sollte es ihm lebensunwert erscheinen, aus eigenem Willen zu beenden. Diese Lehre war nicht für mich bestimmt gewesen. Sie galt für die anderen, für die Menschen. Der Monitor schnarrte. Ich stand auf. Er schwieg. Ich nahm den Sessel und schlug damit auf den Bildschirm ein. Der Hocker zerbrach. Die Schriftzeichen, die über den Monitor liefen, wiesen mich an, zur Sporthalle hinunter zu fahren. Ich legte mich hin, auf das Schnarren gefaßt. Der Monitor schwieg. Ich rang nach Luft und erkannte noch, daß es ein Gas sein mußte, das mir die Sinne nahm. Als ich zu mir kam, befand ich mich in
einem grell beleuchteten gefliesten Saal. Ich wußte nicht, wie lange ich ohnmächtig war, wieviel Zeit verstrichen sein mochte und was geschah. Das stechende Licht schien aus den Wänden, aus den Fliesen zu kommen. Allmählich ließ meine Benommenheit nach. Pfeile wiesen auf eine Schleuse. Ich ging den Pfeilen nach. Ich war sicher, bald würde ich nicht mehr allein sein. Feuchtkalte sterile Luft wehte mir entgegen. Am Ende der Schleuse befand sich ein Tor, das sich vor mir öffnete. STOLLEN 07 las ich. Mit jedem Schritt wurde mir kälter. Selbst in der warmen weißen Kombination fror ich, doch die Hoffnung, einen Menschen zu treffen, einen Gesprächspartner zu finden, trieb mich weiter, tiefer in den Stollen hinein. Und dann sah ich sie: aufrechtstehende Glasbehälter, wie Särge in Nischen an den Wandseiten gesetzt. Hinter dem Glas standen Menschen in aufrechter Haltung. Sie sahen aus, als lebten sie, aber falls sie lebten, konnte es nicht Leben im üblichen Sinne sein, was in ihnen war. Sie waren nackt, und um sie herum zirkulierte träge eine Flüssigkeit. In einer der Glassäulen stand ein Mädchen. Die Augen waren offen. Es sah aus, als sehe sie mich an. Ihre Haare schwebten in der Flüssigkeit. Ich las: Geschlecht : weiblich Einschläferung: 210927 Serie : 103/68 Funktion : Organspender Testreihe :A2 An jeder der Glassäulen befand sich ein kleines Metallschild mit einer Aufschrift. Die Eingefrorenen waren verschiedenen Funktionen zugeteilt, auch der Funktion von Zellkernspendern. Ich ging durch den Stollen und achtete nicht darauf, ob mir heiß war oder ob ich fror. Ich verstand die Warnung. Ich blieb vor einem Glasbassin stehen. ZELLKERNE las ich neben anderen Daten von dem kleinen ordentlichen Schildchen ab, VERARBEITUNGSSTUFE II. Ein glasiger Brei schwamm im Bassin.
Ich verstand die Drohung bis in die letzte Konsequenz. Ich begann zu laufen. Paradierend standen rechts und links die Toten in ihren Glassärgen. Sie sahen mir nicht nach, und doch verspürte ich ein schmerzhaftes Spannungsgefühl in meinem Rücken, als wäre eine Strahlenkanone auf mich gerichtet. Ich rannte. Dann kam ich wieder zurück aus meinen Traumerinnerungen. »Arkadij Petrowitsch, wachen Sie auf! Professor Last möchte mit Ihnen sprechen. Wachen Sie auf! Sie haben im Schlaf gezittert. Sie sind unterkühlt – wachen Sie auf, Sie müssen sich bewegen, Sie werden sonst krank!« Der Indianer legte seine Hand an meine Stirn und schüttelte ungläubig den Kopf. »Wo ist Ruth?« erkundigte ich mich. Ben wies auf die Stahltür, Ruth schloß sie hinter sich. Er fragte sie, ob es ihr kalt vorkomme im Raum. Ruth sagte, es sei angenehm warm. Sie setzte sich an den Tisch, und dieser Tisch hatte sich vor kurzer Zeit noch nicht im Raum befunden. Ich hatte viel zu fest geschlafen, wenn ich bedachte, daß ich mit dem Liebsten und Teuersten, das ich je besaß, auf der Flucht war – mit Ruth. Auf ein akustisches Zeichen hin war Ben an die Stahltür gegangen. Der Mann, der hereinkam, mußte der angekündigte Professor sein – Professor Last. Er war klein, wenn ich mich oder Ben als Maßstab nahm. Er war ein südländischer Typ, etwa fünfzig, aber er hatte schlohweißes Haar. Er stellte sich vor. Sein Gebiet, sagte er, sei die Vererbungslehre. Er sah mich dabei durchdringend an. »Ich habe in Hitchanson für den PHARMA-Konzern gearbeitet. Ich habe viel gesehen…« Er wies auf Ben. »Ich will dazu beitragen, daß er und seine Brüder in die menschliche Gesellschaft eingegliedert werden können. Wir lernen gemeinsam, wieder natürliche Reaktionen zu empfinden.«
Der Professor beugte sich Ruth zu: »Mrs. Carson, wir haben für Sie und Ihren Schützling einen Weg aus den FREE STATES heraus nach Europa gefunden. Er scheint uns sicher zu sein. Wir müssen Sie bitten, sich mit unseren Bedingungen einverstanden zu erklären. Sie sind unser Gast, bis der Kurier eintrifft, der Sie begleiten wird. Es ist mir eine Ehre, Sie kennengelernt zu haben.« Der Professor hatte sich vom Schemel erhoben und deutete vor Ruth und mir eine Verbeugung an. Deutlich sah ich, daß Ruth errötete, als er sagte: »Ihr Engagement für die Bewohner der Gespensterstadt ist bekannt. Ihre Hauttransplantationen haben einigen unserer Leute geholfen, zu überleben.« »Für mich wäre es interessant, wenn Sie uns in die Geheimnisse der Stadt einweihen würden«, bat ich. Ich war bewußt rücksichtslos, ich hatte gezielt mit dem Thema gebrochen. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, künftig auf Unbekannte angewiesen zu sein. Der Professor ging auf meine Frage ein. »Ich bin mitschuldig – ich war jahrelang an den Versuchen der PHARMA beteiligt. Ich muß blind gewesen sein. Das sagenhafte Gehalt hatte mich verlockt, mehr noch war ich der Anziehungskraft der attraktiven und interessanten Spezialaufgabe, die mir innerhalb der Vererbungsforschung übertragen worden war, erlegen. Sie müssen unsere Situation berücksichtigen, Mrs. Carson, jedes Team bearbeitete nur eine winzige Strecke des Riesenprogrammes, es war für den einzelnen Wissenschaftler unmöglich, alle Mosaiksteine zu einem Bild zusammenzufügen. Wir hielten die Zielstellungen unserer Forschungen für moralisch geklärt und hatten sie, leider zu vertrauensvoll und zu lange, in die Hände der Manager des Konzerns und die der Politiker gelegt. In fast allen Bereichen der Militärtechnik war umfassend abgerüstet worden. Eine Auseinandersetzung mit militärischen Mitteln schien unmöglich. In der Öffentlichkeit war über unsere Forschungen nur bekannt, daß sie der Humangenetik dienen sollten. Wir Forscher glaubten fest daran, daß die PHARMA sich auf große internationale Geschäfte vorbereite. Innenpolitisch schien die Reaktion am Ende ihrer Kräfte zu sein. Doch Sie haben ja selbst erlebt, wieviel Zeit eine
demokratische Umwälzung brauchen kann, welchen Gefährdungen sie ausgesetzt ist. Es fanden sich einige Kollegen, denen dieser Zustand, denen die Abnabelung von aller Verantwortlichkeit für das eigene Tun nicht behagte. Wir wollten das Programm der PHARMA als Ganzes vor Augen haben. Wir taten uns zusammen, fanden Verbündete unter den Technikern und Büroangestellten, bei Leuten, die in Organisationen mitwirkten. Unweit der unterirdischen Labors der PHARMA in Hitchanson ließen wir die Stollen eines verfallenen Bergwerkes ausbetonieren. Dort lagerten wir zu Kontrollzwecken Abertausende Embryonen aus den Entbindungsstationen der PHARMA, wir zogen einen Teil davon auf, meist Mutanten und mit Erbfehlern belastetes Material. Es gelang uns, in den synthetischen Billiglebensmitteln einen gewissen Prozentsatz von Beimengungen nachzuweisen, die gezielt Mutationen hervorriefen – das konnte signifikant ermittelt werden. Diese Nachricht erreichte die Öffentlichkeit, es kam zu einem Prozeß, in dem es der Regierung der FREE STATES gelang, sich vom Verdacht der Mittäterschaft sauberzuwaschen. Die Presse in Europa beleuchtete die Praktiken der PHARMA. Für uns war das Ergebnis eine erste Rechtfertigung für unseren Widerstand gegen den Konzern und seine Auftraggeber. Damals wurden viele Wissenschaftler verhaftet, manche Kollegen verschwanden in den psychiatrischen Kliniken. Wir gingen in den Untergrund. Dann standen wir angesichts der Klonierung einer weiteren und bedeutenderen Ungeheuerlichkeit gegenüber. Die PHARMA war nach unseren Erkenntnissen bereits fähig, dem Staat den dienstbaren, völlig unkritischen Untergebenen und den perfekten Soldaten in beliebiger Anzahl zu liefern.« »Ist Ben ein perfekter Soldat?« fragte ich. Die Art, wie der Professor sprach, eine gewisse kalte Sachlichkeit war es, die mich verführt hatte, ihn respektlos zu unterbrechen. »Ben stammt aus dieser Generation«, fuhr Professor Last unbeirrt fort, »er kann zum Beispiel das Dreifache der Strahlendosis, die
der angeblich normale Mensch ertragen kann, ohne jede Schädigung überstehen. Er kann nachts sehen, und er empfindet fast keinen körperlichen Schmerz. Er ist geistig nur bedingt als erwachsen zu betrachten. Auch fehlt ihm und allen seinen Serienbrüdern, entschuldigen Sie den Ausdruck, die Hemmschwelle, die ihnen das Töten ihrer Artgenossen verbietet. Sie fehlt ihnen ebenso wie der Selbsterhaltungstrieb. Wären sie in die, vorbestimmten Hände gekommen und entsprechend beeinflußt worden, verfügte das Militär damit tatsächlich über den perfekten Killer. Sie können unbesorgt sein, wir konnten Ben und seinen Brüdern helfen, die Schäden sind nicht irreversibel. Die Nachrichten, die aus unseren unterirdischen Labors heraus an die Öffentlichkeit gelangten, veranlaßten den Verteidigungsminister, die Stadt Hitchanson mit der Idiotenbombe zum Schweigen zu bringen. Inzwischen hat die PHARMA eine neue Generation dieser Killer entwickelt. Den Prototyp jedenfalls haben sie schon. Er soll das Ausgangsmaterial für ganze Divisionen der Armee liefern.« Unwillkürlich mußte ich an die beiden Monster denken, und ich dachte über mich und meine Brüder nach. Ich hätte ein paar Worte dazu sagen wollen, aber der Professor wollte sich nicht unterbrechen lassen – unwillig schüttelte er den Kopf. »Die Aufzucht beansprucht etwa sechzehn Jahre, und der Prototyp soll auch noch nicht endgültig getestet sein«, sagte er. Mich störte, wie er über meine Leidensgefährten sprach. Es klang, als rede er über Automaten oder ein neues Waschmittel. Um ihn aus dem Konzept zu bringen, fragte ich, was in Hitchanson nach der Idiotenbombe geschah. Ruth war nicht mit mir einverstanden, ich bemerkte es, aber ich konnte nicht anders. »Es war nicht mehr möglich, zu vertuschen, daß die PHARMA sich über Verbote hinwegsetzte. Die Presse auch des Auslands hatte von Verhaftungen berichtet und druckte Äußerungen von mit der Materie befaßten Wissenschaftlern ab. Hitchanson war zu
einem Zentrum des Widerstands geworden. Weil es einige hundert oder vielmehr Tausende Menschen in der Stadt gab, die über die Gen-Technologie der PHARMA beziehungsweise des Verteidigungsministeriums hätten aussagen können, mußten vierundzwanzigtausend Hirne in Hitchanson gelöscht werden. Die Luftwaffe bedauerte damals den Unfall, erklärte ihn mit einem Fehler in der Computerübermittlung beim Manöver, später mit dem Einfluß der ANDEREN SEITE. Es gab diplomatische Verwicklungen, beinahe wäre um Hitchansons Idioten-Bombe willen der Dritte Weltkrieg ausgelöst worden. Der verantwortliche General, der auf den roten Knopf gedrückt hatte, beging angeblich Selbstmord, als er sich vor einem Gericht verantworten sollte…« »Ich habe Menschen kennengelernt, die halten das Töten für eine nützliche Sache«, sagte ich. Doch der Professor fuhr fort: »Wir in den Stollen und Labors unter der Erde überlebten. Aber über uns wußten wir die verseuchte Stadt, die uns irremachen würde, sobald wir mit ihr in Kontakt kämen. Aus dieser Misere retteten uns Ben und seine Brüder, rettete uns ihre Eigenschaft, unempfindlicher gegen die Strahlung zu sein. Die Legende von der Gespenster-Stadt entstand, wir nahmen Menschen auf, die bei uns Schutz suchten. Oben in der Stadt gibt es zwei ehemalige Stadtviertel, in denen Mutanten leben. Manchmal können wir ein wenig helfen, aber es erscheint oft sinnlos. Ich möchte diese Kreaturen nicht beschreiben. Es ist nicht möglich, sie zu integrieren. Wir leben vorwiegend unter der Erde: Meist sind wir nachts aktiv. Nur Ben und seine Brüder können ohne umfangreiche Schutzmaßnahmen nach oben, bis die Strahlendosis den Grenzwert erreicht. Etwa siebzig Prozent dessen, was wir zum Leben benötigen, stellen wir selbst her. Wir leben bescheiden, aber wir leben wie Menschen.« Professor Last erhob sich. »Kommen Sie«, forderte er. Wir hatten uns ebenfalls erhoben, doch dem Professor fiel ein, die Höhe der Strahlendosis bei uns
müsse gemessen werden, wir dürften keiner Gefahr ausgesetzt werden. »Hier kann die Gefahr nicht groß sein«, sagte ich. Doch dann merkte ich, daß ich nur für mich gesprochen hatte. Auch ich konnte Strahlung in Grenzen ertragen. Ruth war still geworden, und sie schwieg beharrlich. Ich streichelte ihr übers Haar. Sie blickte mich an – vielleicht war ihr meine Geste in diesem Augenblick unangenehm. Ich fühlte mich hilflos. Ich hätte Ruth umarmen mögen, doch etwas, ein Gefühl, das mir fast die Kehle zuschnürte, hielt mich zurück. Babette Fourier unterbrach den Bericht. Sie glaubte sich nun sicher zu sein, daß die erpresserischen Forderungen der AUSERWÄHLTEN der NOAH II kaum eine Chance hatten, und hoffte, dies könne der LYR-Besatzung noch rechtzeitig und glaubhaft übermittelt werden. Die Geschichte des Arkadij Carson war ja nicht nur der Bericht über eine entsetzliche Manipulation, sondern auch ein Zeugnis für den erfolgreichen Widerstand gegen den Mißbrauch menschlichen Lebens. Aus dem, wie Arkadij Carson sprach, wie er sich vor der Kamera bewegte, wie er ehrlich und ohne seine Rolle zu beschönigen gegen seine Vergangenheit ankämpfte, spürte sie die Wandlung dieses Mannes. Das war schwer zu beweisen, aber ihr Gefühl sprach zu seinen Gunsten und gab ihr die Gewißheit, daß er, auch durch die Zuneigung und die Liebe, die er gefunden hatte, genügend Eigenwillen entwickelte. Und wie ihm mußte es in der Folgezeit Hunderten von Klons ergangen sein. Auch die Ereignisse in der Gespenster-Stadt bewiesen das. Genetische Codierung war also reversibel. Nein, NOAH II hatte keinerlei Macht mehr über die Menschen der Erde. Warum waren sich alle bisher darin nicht sicher? Babette dachte an ihre Eltern und an das Raumschiff LYR. Noch eine ernsthafte Aufgabe war zu lösen: 2600 Menschen erhofften
eine Entscheidung. Das Gefühl der Angst um ihren Vater nahm Babette für Sekunden den Atem. Sie legte sich auf die Matte. Mehrmals sprach sie den Computer an. Er reagierte nicht. Sehr laut sagte sie: »Caligula, dein Benehmen ist merkwürdig! Oder eigenwillig? Wenn du meinen Wünschen nicht gerecht wirst, werde ich dich durchchecken lassen, mein Freund. Ich bin unzufrieden.« SIE HABEN KEIN VERTRAUEN ZU DEN COMPUTERN ALLGEMEIN IHNEN FEHLT IM BESONDEREN DAS VERTRAUEN IN MEINE KÜNSTLICHE IN MEINE HERVORRAGENDE INTELLIGENZ Das Gelb seines Worthologramms wies einen giftigen Farbstich ins Rote auf. Caligula war demnach besonders aktiv. »Schalte um. Ich benötige das OBERSTE PARLAMENT.« Im Panoramagewölbe baute der Holograph nach einigen Minuten das Porträt der Ines Romero auf. Als sie merkte, daß die Verbindung perfekt war, lächelte sie. »Wie geht es dir?« »Danke, gut, nur… ich fühle mich einsam, Frau Romero. Ich muß mir alles allein ansehen. Ich habe nur Caligula, und ich fürchte, ich kann mich nicht mehr auf ihn verlassen.« »Verlaß dich niemals auf deinen Computer!« Ines Romero lachte. »Nun ein wichtiges Resultat: Wir haben den von dir ursprünglich weggelassenen Text ausgewertet. Natürlich war dein Hinweis wichtig. Ich habe deine Worte verstanden, nur der Bildkanal funktionierte nicht mehr. Es wird so sein: Die Klons sind resozialisierbar.« Babette berichtete von ihren Gedanken zur Entwicklung Arkadij Carsons. Einen Moment schwiegen die Frauen. Es war, als begriffen beide, was es bedeutete, daß die… zigtausend Killer das Leben auf der Erde nicht mehr bedrohen würden. Wie um ihre Gewißheit zu erhärten, sagte Babette: »Sie können mir glauben, wie erleichtert ich bin.«
Ines Romero nickte. »Die größte Sorge ist uns genommen worden. Leider kommt unsere Überlegung für die Kundschafter von der LYR zu spät. Wir konnten ja nicht damit rechnen, daß die Kosmonauten der LYR erpreßt werden könnten. Jetzt kommt alles darauf an, wie die Besatzungen beider Raumschiffe reagieren. Wir müssen Zeit gewinnen. Ich weiß, wir hätten alle Varianten berücksichtigen müssen. Wir hielten NOAH II für friedlich. Wir sind gutgläubig gewesen, unverzeihlich naiv, Babette.« »Mein Vater, ich habe Angst um ihn.« Babette Fourier ging unruhig um das Hologramm der Ines Romero herum. Sie fragte: »Nicht wahr, die nächste Nachricht von der LYR müßte längst eingetroffen sein? Zwei Stunden nach der ersten Information, so war es angekündigt.« »Du darfst nicht nervös werden, Babette.« »Wir wissen doch nun, mit wem es die Mannschaft der LYR zu tun hat. Ich begreife nicht, warum mein Vater auf der NOAH II geblieben ist.« »Ich kann dazu auch nichts Konkretes sagen. Er hat sich gemeldet, obwohl auch ein anderer Kosmonaut hätte mitgehen können. Vielleicht mußt du es hinnehmen – bist du nicht auch stolz auf ihn?« »Ich weiß nicht«, sagte Babette. »Babette, Mädchen, du bist sehr fleißig. Ohne dich und deine Erkenntnisse aus dem Bericht wären wir wesentlich unsicherer. Sobald ich es ermöglichen kann, komme ich dich besuchen.« »Danke«, sagte Babette. Sie setzte sich auf die Matte und stützte den Kopf in die Hände. Ines Romero verabschiedete sich, aber Babette achtete kaum darauf. Sie dachte an ihre Freundin Beata, viel würde es zu erzählen geben, sie dachte an ihre Mutter, erinnerte sich des Lerntrainers, doch sie kam gegen das Gefühl des Alleinseins nicht an. Bis sie die Eltern wiedersah, würden Jahre vergehen. Bis dahin blieb ihr nur die allmonatliche Bildkonserve mit den
Worten und dem Hologramm der Eltern, vielleicht bald nur noch das ihrer Mutter. Das Porträt der Ines Romero war erloschen. Sie hatte sich ausgeblendet. Ihre letzten Worte hatte der Computer gespeichert. SOBALD ICH ES ERMÖGLICHEN KANN KOMME ICH DICH BESUCHEN versprach das Worthologramm. »Wir arbeiten weiter, Caligula!« befahl Babette. Der Hauscomputer reagierte nur schwerfällig auf ihre Worte. Für Sekunden beneidete Babette ihn um seine gefühllose künstliche Intelligenz, mit der er sich eine Pseudo-Existenz aufbauen und diese wieder verwerfen konnte. Seine Elektronik entwarf Psychogramme von Personen und deutete sie nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit. Babette konnte nicht aus ihrer Haut, kam nicht gegen die Angst um ihren Vater an. Sie mußte lernen, nahm sie sich vor, mit den Ängsten und Nöten zu leben, sie auszuhalten. Caligula, dem sie verboten hatte, sich in das Persönlichkeitsmodell eines Arkadij Carson zu versetzen, identifizierte sich nun wahrscheinlich mit Ben – schuf sich ein neues Phantom. Ganz in Ordnung war er nicht, der Computer. Sie gab ihm einen neuen Befehl. Arkadij Carson erzählte: Der Indianer trug mich in den Schacht zurück. Ich war zu einem Erkundungsgang aufgebrochen, kam aber nicht weit. Ben holte mich ein. Um meine Arme hatte der Indianer einen Riemen geschlungen – er hatte ihn festgeknotet. Er trug mich wie ein ungefüges Paket. »Es tut mir leid«, sagte der Indianer zu Ruth. Er legte mich auf das Feldbett und löste die Schlingen. »Sie können draußen nicht leben – es ist ein Befehl!« »Sie trifft keine Schuld, Ben«, sagte Ruth.
»Ich hasse das Eingesperrtsein. Ich will meinen Brüdern helfen«, sagte ich etwas zu laut. Ruth sah mich lange an. Zu lange, als daß ich ihrem Blick hätte standhalten können. Mir schien, sie bedaure mich. Sie schüttelte den Kopf. »Ich will weg, Ruth. Ich halte es hier nicht mehr aus.« »Arkadij«, sagte Ruth, »es ist nicht so, wie du es dir denkst. Professor Last sorgt sich nur unsertwegen. Er meint, wir seien ein Experiment, dessen Folgen er nicht vorauszusagen wage. Ich hoffe« – sie lächelte – »unsere Kinder werden nicht so aggressiv sein, wie du es zuweilen werden kannst.« Sie hatte meine Eifersucht erkannt. Es fiel mir trotzdem schwer, ihren Worten zu vertrauen – zu oft hatte Professor Last ihr in die Augen gesehen. »Ich sorge mich wirklich wegen meiner Brüder, Ben«, wandte ich mich an den Indianer, um mich zu entschuldigen. »Ich bin nicht Ben, ich bin John.« »Entschuldigung, ich habe Sie mit Ben verwechselt.« John schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich nicht entschuldigen, wir sind uns ähnlich.« »Ich habe drei Brüder«, sagte ich. »Auch wir stimmen korrekt überein.« Wieder konnte ich Ruths Blick nicht standhalten. Sie wußte es, doch ich schämte mich, schämte mich dafür, daß ich mich für einen Austauschbaren hielt. Ich war weder eine komplizierte Maschine noch ein hochqualifizierter Biomat – ich war Arkadij Petrowitsch Schitschkin. Ruth wollte in mir den Menschen sehen. Doch mir fehlte der Glaube daran, daß ich mir gehörte. »Wir sind auch viele Brüder – alle gleich«, sagte John. Wollte er mich trösten? Er schien stolz auf seine Brüder zu sein. »Das Warten wirkt beunruhigend auf mich«, sagte ich. Ich konnte mit niemand darüber reden. Ich mußte an den Bunker unter der Station denken. Oft mußte ich daran denken. »Warten ist besser als tot sein«, erwiderte John.
»Jeder Tag verringert unsere Chancen – meine Brüder warten in den Glassärgen auf mich«, sagte ich, obwohl ich wußte, ich konnte nicht verstanden werden. »Sei nicht so ungerecht«, bat Ruth. Sie sah aus, als sei sie traurig. Sie war enttäuscht, und ich konnte nichts tun, ich konnte auch nicht zu ihr gehen. Ich rollte mich auf dem Feldbett in der Kellerecke zusammen und schloß die Augen. Ich erinnerte mich, einmal hatte ich so gelegen, hatte so die Augen geschlossen und mir gewünscht, nicht mehr zu sein. Nein, ich war ungerecht – der Bunker unter der STATION, das war etwas anderes gewesen, nicht vergleichbar. Ich mußte nur warten, und wer wartet, der hofft auch. John hatte es richtig gesagt! Es ist besser als tot sein. Ich war auf die Leuchtpfeile gestoßen, ihnen folgte ich, sie führten mich aus dem Stollen heraus in einen langen Flur mit vielen Türen bis zu einem Lift, der mich in den Raum brachte, in dem der Monitor auf mich zu warten schien. Der Monitor schnarrte. Gefrühstückt hatte ich, pünktlich wie jeden Morgen nach dem Erlebnis im Stollen, obwohl es in dem ewig grellhellen Bunkerlabyrinth gleichgültig war, um welche Tageszeit es sich handelte. Ich fuhr zur Sporthalle hinunter wie jeden Tag. Ich widersprach nicht mehr. Ich war belehrt. Ich hatte die Drohung verstanden. Vielleicht warteten meine Brüder darauf, geweckt zu werden, und vielleicht war von meinem Verhalten abhängig, was ihnen geschah. Ich wußte es nicht. Ich hatte die Kombination übergestreift und war den Leuchtpfeilen gefolgt. Dann geschah etwas, daß mir der Schweiß ausbrach: Aufwärts trug mich der Lift, nicht abwärts – unaufhaltsam aufwärts! In einer Desinfektionskabine fand ich meine Kleidung. Mir war seltsam zumute. Entscheidendes mußte geschehen sein oder stand
bevor. Mir war, als wäre ich erst gestern in den Bunker hinabgefahren und alles sei nur ein Traum gewesen. Ich fragte mich, ob ich oben meine Brüder wiedersehen würde. Diese Hoffnung trieb mich an. Ich verließ die Kabine. Niemand befand sich auf den langen, in der Ferne zusammenfließenden Korridoren. Ich folgte den Pfeilen, dann fuhr ich weiter aufwärts. Ich kam oben in der STATION an. Ich atmete Luft, die nicht über ungezählte Filter und Stabilisatoren zu mir gelangte. Die Bungalows schienen mich zu erwarten. Gleich würde ich meine Brüder begrüßen – doch niemand kam mir entgegen. Ich war allein und blieb allein. Ich rief, ich schrie. Ich schrie vergeblich. Der Monitor in meinem Bungalow schlug mir in einem Text vor, ich könne im Park trainieren. Warm beschien mich die Sonne. Ich grüßte die Bäume, die Sträucher, ließ mich ins Gras fallen. Ich hob die Arme, als wollte ich den Himmel umfassen. In dieser Stunde begriff ich, wie sehr ich zu dieser Welt gehörte. Ich hätte meine Gefühle nicht erklären können. Ich sah die Natur mit anderen Augen. Erinnerungen an vergangene Jahre bedrängten mich. Ich glaubte auch, die Stelle wiederzuerkennen, an der sich der schmale Spalt im Mauerwerk befunden hatte. Von diesem Ort aus war mein Weg mitbestimmt worden. Aus einem Abenteuer war bitterer Ernst geworden. Ich entdeckte ein mißtrauisches Kamera-Auge. Ich war allein, aber doch nicht allein. Die Sonne stand fast senkrecht über mir. Ich ging noch einmal in die Bungalows meiner Brüder. Es war, als wären wir gestern alle noch beisammen gewesen. Ich duschte. Wieder schnarrte der Monitor. Ich begab mich, dem Befehl folgend, zum Lift. Ich folgte im Korridor den Leuchtpfeilen. Ich wurde ins Labyrinth zurückverbannt. Zweimal mußte ich mich umziehen. Der Monitor in der Kabine gab mir Bescheid, ich hätte zu warten, also wartete ich.
Dann kam er. Ein Mensch, der erste Mensch nach langer Zeit. Ich kannte ihn nicht, hatte ihn nie zuvor gesehen. Er sah über mich hinweg und sagte: »Komm!« Einen Hund hätte er sicher besser behandelt. Ich ahnte, er mußte ein sehr wichtiger Mann sein. Er trat so auf. Er verhielt sich mir gegenüber weder anmaßend noch herrisch – sein Verhalten wirkte kalt und entwürdigend auf mich. Um meine angestaute, Aggressivität schien er sich nicht zu kümmern. Mir blieb nichts anderes, als ihm nachzulaufen. In meinem Nacken saß die Furcht vor der Isolation, die Furcht vor dem Labyrinth. Er ging etwa zwei Schritte vor mir. Er sagte, ohne sich zu mir umzudrehen: »Ich bin Mister Repose. Sie werden sich nach meinen Befehlen richten. Von Ihrer Tüchtigkeit leitet sich mein Wohlwollen ab. Verstehen Sie mich?« »Jawohl!« »Wir gehen zu den Garagen.« Er war nicht die Miss, er war nicht der protzende Hollow; mir schien, er sei so etwas wie die Summe der Trainer und Berater. Er sah wie ein Mensch aus. Ich fühlte mich diesem Mister Repose hoffnungslos unterlegen. Von seinem Blick ging ein geradezu perverses Selbstbewußtsein aus. Ich verleugnete meinen Willen. Ich fügte mich, ich hatte gelernt, ich wartete ab. Repose war sicher damit betraut, mich auf Funktionstüchtigkeit hin zu prüfen, um zu sichern, daß ich die AUFGABE gut lösen würde. Sollte ich nicht perfekt sein, würde ich eingefroren und getötet. Repose ging zur Garage. Ich folgte ihm. Er ließ sich auf dem Beifahrersitz unseres schweren schwarzen russischen Wagens nieder. »Sie fahren in die Stadt, Arkadij Petrowitsch Schitschkin, ich gebe Ihnen unterwegs alle Informationen.«
Ich gehorchte. Ich wunderte mich nicht über die plötzliche Offenheit. Ich hatte keine Chance gegen Repose. Er war kein Hollow, und die Zeit, in der Streiche toleriert wurden, uns die Miss dafür mit dem grünen Pudding honorierte, war endgültig vorbei. Die Blätter der Bäume hatten sich bereits gefärbt. Nach den monotonen Tagen im Labyrinth war es für mich ein unbeschreibliches Gefühl, in den beginnenden Herbst zu rasen, die Geschwindigkeit zu bestimmen, frei zu sein. Von der Piste stieg Nebel auf, er hüllte uns manchmal für Sekunden ein. Ich wußte nur zu gut, daß sich Repose nur verstellte. Er war innerlich ganz Bereitschaft, obwohl es für einen oberflächlichen Betrachter so aussehen mochte, als schliefe er jeden Moment ein. Ich wurde getestet, und das durfte ich keinen Augenblick vergessen. Ich war nicht frei. Aber ich wurde gebraucht, ich war auserwählt. »Zum Flugplatz«, sagte Repose. »Zum Flugplatz«, bestätigte ich. Er sollte mit mir zufrieden sein. Ich verhielt mich wie ein Roboter, und ich dachte daran, daß ich einen Kompaß benötigen würde und woher ich ihn mir beschaffen könnte. Repose ging mit mir durch sämtliche Kontrollen des Flughafens. Ich beobachtete, daß er statt der Tickets nur sein Indikat vorwies. Die Beamten und Offiziere behandelten ihn zuvorkommend. Wir sahen zu, wie der russische Wagen verladen wurde. Die Kennzeichen der FREE STATES waren entfernt worden. Ich verstand: Der Wagen würde bei der AUFGABE eine Rolle spielen. »Zur PHARMA«, sagte Repose etwa eine halbe Stunde später. Wir fuhren mit einem Wagen zurück, der für Repose bereitgestanden hatte und dessen Schlüssel er hatte. Unterwegs sollte ich halten. Wir befanden uns mitten im Wald auf der Piste, die für den öffentlichen Verkehr gesperrt war und die direkt zur PHARMA führte. Repose stieg aus und ging einige Schritte in den Wald hinein. Er ließ sich Zeit. Ich blieb regungslos im Wagen sitzen. Es war zu offensichtlich: Sie warteten mit ihren Strahlern nur darauf, daß ich wegfuhr oder davonlief.
Repose stieg wieder ein. Er ließ sich auf den Sitz fallen. Ich konnte nicht erkennen, ob er erleichtert oder ob er enttäuscht war. Sicher war ich ihm als Person gleichgültig. Ich hatte zu funktionieren. Irgendwo, vielleicht in einem Tiefkühlstollen, war der Ersatz für mich deponiert. So funktionierte ich Tag für Tag, bis zu dem Moment, als Repose sagte: »Töte ihn!« Repose war mit mir ins Labyrinth gefahren. Wir trugen die weißen Kombinationen. Seine Kombination hatte am rechten Ärmel drei rote schmale Streifen. Eine der zahllosen Türen hatte sich für uns geöffnet. Wir betraten einen Raum. Imitierte Fenster, sie waren sehr hoch, sie waren Kirchenfenstern ähnlich. Davor schwere Vorhänge. Ein riesiger Konferenztisch aus Eiche, tiefe Ledersessel. In einer Ecke Videophone, Monitore, ein Rechner. Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann. Er sah uns an. Er erweckte nicht den Eindruck, als ahne er eine Gefahr. »Töte ihn«, sagte Repose. Natürlich war der Mann hinter dem Schreibtisch eine Imitation, wie alles im Raum. Repose verlangte Gehorsam. Ich betätigte den Strahler. Ich sah, wie die grauen Haare verbrannten und die Kleidung zu Asche zerfiel. Es roch unangenehm. Die Imitation hob zur Abwehr die Arme, sie stieß einen Schrei aus. Die Strahlen fraßen sich fauchend in den Körper des Mannes. »Kommen Sie!« sagte Repose. Wir fuhren abwärts. Türen öffneten sich. Wir betraten grell ausgeleuchtete Räume. Die weißen Fliesen an den Wänden – ich glaubte sie wiederzuerkennen. Es war kalt. Repose ging zwei Schritte vor mir, obwohl ich den Strahler trug. »Sie haben getötet. Es war eine der möglichen Varianten der AUFGABE. Wenn Sie sich geweigert hätten, wären Sie nicht geeignet.« Repose sprach, ohne sich um meine Reaktionen zu kümmern. Zwei Schritte ging er vor mir.
Wir gelangten an ein Stahltor. Repose gab den Code in die Sensorik ein. Wir betraten einen Stollen. »Ich werde Ihre Loyalität prüfen«, sagte er. In den Wandnischen standen Glassärge wie im Stollen 07. Vor einem blieb Repose stehen. Er hielt mir die Hand entgegen, ich gab ihm den Strahler. Ich hatte mich im Glassarg erkannt. Ich glaubte, ich könne nicht mehr atmen. Er hob den Strahler. Ich schrie. Das Glas bog sich, es wurde flüssig und spritzte, mit der Zirkulationsflüssigkeit vermischt, umher. Als ich wieder hinsehen konnte, lagen nur noch Schlacken, verbrannte Reste und Splitter auf den Fliesen. Ich hatte nicht zu denken vermocht, und als ich wieder denken konnte, zwang ich ein Bild in mein Hirn: DIOGENES. Ich sah den umgebauten Hibernationsschrank vor mir, und dieses Bild hielt mich davon ab, unbeherrscht zu reagieren. Repose hatte unauffällig den Strahler auf mich gerichtet. Ich zwang mich zu lächeln, ich blickte ihm in die Augen. Er nickte mir zu und lächelte zurück. Es war das erste Mal, daß ich ihn lächeln sah. Wir gingen – Repose zwei Schritte vor mir. Um mich abzulenken, prägte ich mir den winzigen Leberfleck an Reposes Hals fest ein. Er markierte exakt die Stelle, die ich treffen mußte, sobald der Weg zu DIOGENES frei war. Es war, als ließe die Spannung zwischen Repose und mir nach. Ich konnte nur hoffen, er sah in mir den geeigneten programmierten Mann. Er nannte mich einen Kämpfer für die Rettung der Menschheit. Damit ich mir einprägte, wie sehr man mir vertraue, wurde Repose sehr deutlich. Sobald der Auftrag erfüllt sei, würden meine Brüder in den Glassärgen geweckt. Was zerstrahlt wurde, beruhigte mich Repose, sei ein Abbild gewesen, eine gut gemachte kosmetische Dopplung eines der vier Gleichen. Repose versprach, eines Tages würden wir freie Menschen in einem freien Land sein. Repose versprach, daß, wenn die AUFGABE gelöst sei und dadurch, gekoppelt mit anderen Maßnahmen, das politische Antlitz der Erde sich grundsätzlich gewandelt habe,
wir eine Farm mit klonierten Arbeitskräften erhalten würden. Das sei ein Geschenk unseres Paten. Repose lud mich zum Pudding-Essen ein. Im Labyrinth unter der STATION studierte ich immer wieder den Stadtplan von Moskau. Ich kannte theoretisch jede Straße, die wichtig sein konnte, ich kannte alle Parks und Plätze. Ich lernte die Fahrpläne auswendig. Ich lernte die Säle und Ateliers in der Moskauer MalAkademie kennen, fand mich im Kreml zurecht, und ich studierte sorgfältig die Psyche des Mannes, den ich auf Abruf zu töten hatte. Er würde mich nicht erkennen, denn ich würde als sein Sohn vor ihm stehen. Ich kannte sein Protokoll, seine Gewohnheiten und seinen Tagesablauf. Ich kannte den Grundriß und zahlreiche Fotos seines Landhauses, das ich, Arkadij Petrowitsch Schitschkin, zu jeder Stunde betreten durfte. Die Leibwächter würden vor mir strammstehen. Im Doppel der Datscha des Malers Arkadij Petrowitsch Schitschkin hatte ich mit meinen Brüdern mehrere Wochen gelebt. Repose paukte immer wieder mit mir den Zeitplan. Er sollte mich nach Moskau begleiten. Mit dem Hubschrauber flogen wir zur Datscha. Repose eröffnete, ich hätte drei Tage, mich zu regenerieren. Ich mußte an die Miss, an meine Brüder, an den Mal-Professor und das versoffene Patent-Original denken. Ich fuhr mit dem Motorrad, und an der Leichtigkeit, mit der Repose mir das gestattet hatte, erkannte ich, daß und wie exakt ich überwacht wurde. Aber der Alpdruck des Aufwands um meine Person fiel von mir ab. Mit dem Hubschrauber waren wir zum Flugplatz geflogen, einem versteckten Militärflugplatz. Wir nahmen im Senkrechtstarter Platz. Es ging sehr höflich zwischen uns zu. Repose hatte sein Mißtrauen weitgehend verloren und fühlte sich sicher. Noch einmal wurden alle Handgriffe genau durchexerziert. Dann fuhren wir zurück zur PHARMA, und noch in der gleichen Nacht begann meine Flucht.
Ruth streichelte meine Haut, streichelte mein Haar. Sie flüsterte. Ich wußte nicht, ob es Worte der Liebe waren oder Mahnungen, die ich nicht verstand, weil ich nicht aufnahmefähig war. Ich konnte nur immerzu meine Hände ansehen, große, gefährliche Hände. »Ruh dich aus«, sagte Ruth. Noch immer streichelte sie meine Haut. Ein Mensch zu sein, das konnte sicher etwas Großes bedeuten, aber ich fürchtete mich vor meinen Händen. »Alles wird anders«, sagte Ruth. »Wird sich alles ändern?« Ich schlief ein. Es mußten Stunden vergangen sein, als Ruth mich weckte. »Wir müssen gehen! Jim wartet schon auf uns.« Wir folgten dem Indianer, der wie Ben und John aussah. Wir folgten ihm durch lange, miteinander verbundene Gänge und Schächte. Einmal hörte ich deutlich Maschinengeräusche. Die Stimmen, die ich vernahm, hatten alle den gleichen schleppenden Tonfall. Sie sind in großer Anzahl geklont worden, die Bens, Johns und Jims. Daß wir, Ruth und ich, ihnen vertrauen konnten, war ein Verdienst des Teams um Professor Last. Ohne Jims [Ortskenntnis wären Ruth und ich in den unterirdischen Gängen verloren gewesen. Etwa vier Stunden sind wir unter der Gespenster-Stadt entlanggelaufen. Dann, ganz unvermutet, befanden wir uns in einer Untergrundbahnstation. Ein Zug stand bereit. Er schien aus einer anderen Welt gekommen zu sein. Die Untergrundstation war menschenleer. Ruth lächelte mir zu, als könne sie meine Gedanken erraten: »Es ist die Verbindungsbahn zur Gespenster-Stadt.« Jim ließ uns zuerst einsteigen. Die Türen zischten zu, der Zug fuhr ab. Mir erschien das Tempo enorm hoch. Ich nahm an, daß die Stollen absolut sicher waren. Ich konnte keine Spuren von Zerstörung oder Verfall entdecken.
Wir passierten mehrere Stationen ohne Halt. Dann bremste der Zug, hielt, und wir stiegen nach Jim aus. Wahrscheinlich befanden wir uns an der Endstation. Wir folgten dem Indianer. Hinter uns fuhr der Zug aus der Station. Ein Tor schloß sich hinter dem Zug. Die Pneumatik zischte leise, ein Verschluß klickte. Nach einigen wenigen Stufen erreichten wir einen ausbetonierten Bergwerksstollen, der allmählich nach oben führte. Nach einigen hundert Metern knickte der Stollen zur Seite weg und endete übergangslos vor einem Tor. Jim betätigte einen Hebel. Das Tor glitt zurück. Wir betraten ein Gebäude. Durch die langen schmalen Fenster fiel Sonnenlicht. Ein frisch-herber, nicht unangenehmer Geruch schlug uns entgegen. Wir befanden uns in einem langen Stall. »Kühe, richtige Kühe«, rief ich begeistert aus. Ich empfand das Bild als ein Zeichen dafür, daß hier Frieden herrschte. Ich bemerkte, daß Ruth und Jim über mich lächelten. Ich lachte mit ihnen. Ruhig lagen die Kühe in ihrer Einstreu, gemächlich käuten sie wieder. »Befinden wir uns weit von der Stadt entfernt?« fragte ich. »0 ja – wir sind auf einer Farm. Wir haben viele Farmen, und alle diese Farmen werden von meinen Brüdern betreut. Früher hatten sie eine andere Funktion – alle Farmen waren im Besitz der PHARMA.« Ein unangenehmer Gedanke bedrängte mich. Ich wollte mehr wissen, ich fragte: »Wie viele Brüder hast du, Jim?« »Ich habe siebenhundertneunundneunzig Brüder. Früher waren wir mehr. Unsere Züchtung sollte verworfen werden. Wir waren nicht einverstanden. Fünfhundert der Unsrigen gelang die Flucht in die Stollen nicht mehr. Sie wurden eingefangen oder Opfer der Idioten-Bombe. Der wahnsinnige General mit seinem roten Knopf rettete uns das Leben, denn die Sicherheitskräfte mußten ihre Jagd auf uns einstellen.«
Jim berichtete vom Schicksal seiner Brüder. Sie wurden vernichtet, nur die Zellkerne blieben übrig, und wahrscheinlich sind die Monster auf dieser Grundlage gezüchtet worden. Jim stockte, dann sagte er, Professor Last könne sicher besser Auskunft geben. Als wir ins Freie traten, blendete uns die Herbstsonne. Ein Hubschrauber stand für uns bereit. Jim sagte, er werde uns zum Flugzentrum Montorrey begleiten. Aber wir müßten noch auf den Kurier warten. Später flogen wir vom Flugzentrum Montorrey nach Paris. Kurz vor der Abfertigung hatte Ruth eine FREE GAZETTE erstanden. Wir lasen interessiert ein sensationell aufgemachtes Interview. Nie, so war zu lesen, habe es in den FREE STATES, nie habe es innerhalb des Forschungsprogramms der PHARMA Experimente am oder mit dem Menschen gegeben. Die Existenz geklonter Menschen sei lediglich eine Propagandalüge der Feinde der FREE STATES. Der Interviewte war Hollow. Er trug einen gutsitzenden Maßanzug. Er hatte dem Fotografen freundlich zugelächelt. Ich fragte Ruth, wenn es das alles nicht gegeben habe, wer ich dann sei? Meine Enthüllungen haben schließlich mit dazu beigetragen, daß die Newman-Regierung gestürzt wurde. Teile des Militärs verbündeten sich mit der Oppositionsbewegung und übernahmen vorübergehend die Macht. Präsident Newman und seine Leute flohen mit der Raumkugel NOAH II von der erdabgewandten Seite des Mondes ins All. Abrupt löschte der Computer das holographierte Porträt Arkadij Carsons. Im Panoramagewölbe schwankte und flimmerte die Zahl 1 3 0 0. Die einzelnen Ziffern nahmen einen grellen Farbton an, der schnell in violette Farbnuancen überging. Aus der Zahl wuchsen neue Zahlen. Sie vermehrten sich ununterbrochen, als sei der
Holograph eine Gebärmaschine, und alles geschah lautlos und wirkte bedrückend. Stumm brachen die Zahlen auseinander. Eine violette Masse, deren Farbkraft langsam erlosch, schwebte vor Babette Fouriers Augen. Letzte Zahlen drehten sich, zeugten Buchstaben. Die Lettern versuchten, eine Aussage zu formulieren. Die Farbe der Masse hellte auf, wandelte sich in ein glasiges blasses Konglomerat. In den farblosen Brei hinein schrieb der Computer: END LÖ SUNG Der gläserne Berg brach auseinander, zerfiel, dann erlosch auch der Leuchtschirm, der Monitor reagierte nicht mehr. Babette erhob sich von der Liegematte. Im Dunkel stieß sie gegen das Wiedergabegerät, tastete die Formen der Raumton-Anlage ab, um sich zu orientieren. Sie berührte die Sensorik und überlegte, welches Gerät ohne Kopplung mit dem Computer funktionieren könnte. Caligula beherrschte von der Beleuchtung bis zum Magnetboten die gesamte Technik im Freizeitraum. Babette registrierte es das erste Mal ein wenig schmerzlich. Sie nahm sich vor, sich aus dieser Abhängigkeit zu lösen, sobald der Störfaktor im Hauscomputer gefunden und behoben sein würde. Sie fühlte beim Gehen vorsichtig mit dem rechten Fuß, bis sie an das Videophon stieß. Es wurde selten benutzt und stand wohl deshalb abseits im Raum. Babettes Hand glitt über den flachen Bildschirm bis zur Tastatur. Sie betätigte die Wechselsprechautomatik, der Bildschirm strahlte fadweiß auf und erhellte den Freizeitraum mit seinem diffusen Licht. Zufrieden tippte Babette die Ziffernfolge für den Zeitruf ein. Es war acht Uhr elf und Sonntag. Sie vermutete, es habe wenig Sinn, zu dieser Stunde den Computerdienst zu rufen. Babette Fourier setzte sich auf den warmen Fußboden und rekapitulierte, was sie im Fach Computerelektronik gelernt hatte. Ihr fiel aber nur der Selbstreparaturdienst als eine Chance oder zumindest als Notvariante ein.
Sie erhob sich und suchte im schwachen Licht des Bildschirms nach dem Reparatursymbol. Der kleine Kontrollmonitor leuchtete auf. Babette tippte den Befehl für die Durchsicht des Hauscomputers ein und wartete. Es war ärgerlich – hatte sie die Stunden zu diesem Thema im Lerntrainer nur verträumt? Was bedeutete ENDLÖSUNG? Leitete so ein Computer sein Versagen ein? Babette wußte auch, daß es sich um einen historischen Begriff handelte. Es gab Studenten im Institut, die fähig waren, einem Computer die defekten Bauteile auszuwechseln, Babette hatte auch davon gehört, daß die künstliche Intelligenz dieser SonderklasseComputer mit einer Ego-Eliminierung ausgestattet war. Sie war zum Schutz des Menschen eingebaut. Den Computern waren die Kriterien eingegeben, und Babette hatte von keinem Computer erfahren, der diese Prinzipien und Regeln bei Gefahr der Selbstzerstörung übersprungen hätte. Babette überprüfte in Gedanken, ob Caligula ein Kriterium verletzt haben könnte: – sich über seinen Besitzer zu erheben, dessen augenblickliche oder dauernde Schwäche ausnutzend, – sich der Technik der Hauseinrichtung unaufgefordert zu bedienen, – sich einen anderen Computer zu verschaffen oder sich eines Computers zu bedienen. Nein, nichts dergleichen hatte Caligula getan. Auch die beiden letzten Möglichkeiten, die Babette kannte, die eigenmächtige Konferenzschaltung oder die böswillig herbeigeführte Materialermüdung, konnten für den Ausfall ihres Computers keine Erklärung liefern. Der Monitor summte. Babette las: Dem geräteeigenen Selbstreparaturdienst ist es nicht möglich, den Defekt zu beheben. Das Rezeptionszentrum ist kurzgeschlossen. Dabei handelt es sich um einen Primärdefekt, den der
Selbstreparaturdienst sowie der städtische Computerdienst nicht beheben können. Ein Primärdefekt, dachte Babette beunruhigt. Da ist kein Wechseln irgendwelcher Bauteile mehr möglich. Ihr wurde bewußt, daß die Zeit verging, daß Frau Romero die nächsten Informationen von der LYR angekündigt hatte. Babette entschloß sich, doch den städtischen Computerdienst anzurufen. Hastig tippte sie die Ziffernfolge ein. Der Bildschirm des Videophons strahlte farbig auf. Ein Mann nickte ihr zu. Er war bestimmt schon vierzig Jahre alt. Man sah ihm die durchwachte Dienstnacht an. »Bitte stellen Sie sich ein wenig nach links, ich kann nur Ihre rechte Gesichtshälfte sehen. So ist es recht, Sie sind im Aufnahmebereich. Sie brauchen sich doch nicht zu verstecken! Mein Name ist Benoit Freden. Was darf ich für Sie tun, Mademoiselle?« »Fourier, Babette. Fourier – der Hauscomputer hat einen Primärdefekt. Können Sie mir helfen, es ist wichtig!« »Wahrscheinlich nicht. Mein Dienst ist auch in einer Stunde zu Ende. Haben Sie dieses Ergebnis mit dem Selbstreparaturdienst gewonnen, oder ist es mehr Ihr persönlicher Eindruck? Ich meine, ein Primärdefekt – das passiert schließlich nicht jeden Tag. Ein Hauscomputer, da ist der Vergleich mit dem menschlichen Gehirn gestattet, sie sind meist nur teilweise ausgelastet. Hat der Computer die Ego-Eliminierung eingeschaltet?« »Ja, das Rezeptionszentrum ist kurzgeschlossen. Ich verstehe nicht viel davon.« »Es ist, verzeihen Sie den Vergleich, Mademoiselle, als ob ein Mensch verrückt wird über das, was er erlebt hat. So einen Fall hatten wir in unserem Bereich noch nicht. Ist der Computer älter als zehn Jahre?« »Nein, Monsieur Freden, meine Eltern haben ihn bekommen – ein Geschenk des OBERSTEN PARLAMENTS, bevor sie mit der LYR gestartet sind. Und nun verpasse ich den Bericht.«
Eine kleine Pause entstand. Dann sagte der Mann: »Sie heißen Fourier, ja? Eben wurde ein Bericht des OBERSTEN PARLAMENTS angesagt. Der Name Fourier fiel. Hat das mit Ihnen zu tun, Mademoiselle?« »Deshalb bin ich ja so kopflos. Mein Vater befindet sich in einer gefährlichen Situation außerhalb der LYR. Ich habe Angst.« Der Mann überlegte konzentriert. »Wenn Sie etwas Geduld aufbringen, kann ich Ihnen vielleicht helfen. Ich schalte Ihnen vorerst über das Videophon eine gute Verbindung zum Zentralspeicher des OBERSTEN PARLAMENTS. Ich glaube, in Ihrem Fall ist das gerechtfertigt. Sie müssen vor dem Bildschirm Ihres Videophons warten, es wird etwas dauern, und ich frage dann, ob es geklappt hat.« Für eine kurze Zeit blieb der Bildschirm leer. Dann meldete sich Benoit Freden wieder. »Warten Sie, wir haben hier einen tragbaren HochleistungsComputer. Falls der Holograph nicht auch defekt ist, können Sie mit ihm die Aufzeichnungen holographieren. Ich könnte in knapp einer Stunde bei Ihnen sein, mit dem Feierabend wird wohl nichts, ich bringe Ihnen den Computer…« Babette verfolgte die Schaltungen. Viel war von ihr aus nicht zu bemerken. Sie hoffte jeden Augenblick darauf, die mächtige LYR, den Kommandanten Bykowsky oder ihre Eltern zu sehen. Endlich kam ein Bild an. Der stellvertretende Kommandant sprach. Babette konnte sich an seinen eigenartigen Namen erinnern – Lars Wahlhöö. »… zu einer Auseinandersetzung gekommen. Eine Abordnung der NOAH-II-Besatzung wurde von den AUSERWÄHLTEN mit automatischen Waffen getötet. Sie kamen als Parlamentäre, sie waren bereit, zu verhandeln, aber die AUSERWÄHLTEN benutzten sofort die Waffen. Uns ist nicht bekannt, ob unsere Kundschafter entdeckt wurden. Ihr Auftrag lautete, nur beratend tätig zu werden. Kommandant Bykowsky wird unsere nächsten
Schritte entscheiden. Auf Weisungen von der Erde können wir nicht warten. Durch unser Eintreffen hat sich die Kräftekonstellation auf NOAH II grundlegend verändert. Wir haben zu unserer Sicherheit die Schutzschirme aktiviert. Und wir mußten die Antiteilchen-Werfer auf Distanzvernichtung einstellen. Wir senden unsere Berichte aus verständlichen Gründen verschlüsselt. Nun spricht Raumkommandant Bykowsky zu Ihnen. Er und der Leiter der Einsatzgruppe, Pierre Fourier, haben eine Variante zur Rettung der Besatzungsmitglieder der NOAH II gefunden. Ich übergebe!« Babette kauerte vor dem Bildschirm des Videophons. Sie erkannte den Kommandanten sofort wieder. Er saß in einem Sessel in der Steuerzentrale der LYR. Er beobachtete die NOAH II im Panoramagewölbe und sagte: »Die Situation hat sich erneut geändert. Während wir bis vor einer halben Stunde noch langfristige Maßnahmen erwogen haben, veranlaßte das Auftreten einiger Mitglieder der Besatzung der NOAH II vor den AUSERWÄHLTEN und deren brüske Reaktion eine andere Entscheidung.« Babette konnte sich gut erinnern: Hier in ihrem Freizeitraum hatte Kommandant Bykowsky mit ihren Eltern gesprochen. Beide hatten sich entschieden, mit der LYR zu fliegen. Das war lange her: Bykowsky hatte die gesamte LYR-Mannschaft vor dem Start besucht, hatte mit jedem persönlich gesprochen. Die blonden Haare Vitali Bykowskys schienen etwas heller geworden zu sein – das konnte natürlich auch an der Bildwiedergabe liegen. Von diesem Mann ging ein starkes Gefühl der Ruhe aus. »Die Besatzungsmitglieder haben sich im Funktionsbereich der NOAH II verschanzt. Wie Kosmonaut Pierre Fourier mitteilte, sind sie unmittelbar gefährdet, da der Bio-Kreislauf von den AUSERWÄHLTEN unterbrochen wurde. Sie haben sich diese Möglichkeit zur Erpressung nicht nehmen lassen, Achtung vor dem Leben ist von ihnen nicht zu erwarten. Der von Pierre Fourier übermittelte Vorschlag ist nicht ungefährlich. Schon vor
Monaten hat die Besatzung die Querachse zugeschüttet, um einem Überraschungsangriff der AUSERWÄHLTEN vorzubeugen. Es ist vorgeschlagen worden, die Eigengravitation aufzuheben, damit von der LYR aus die stillstehende Raumkugel NOAH II in zwei Teile getrennt werden kann. Ich habe dem zugestimmt. Ich halte es für aussichtslos, sich mit den sogenannten AUSERWÄHLTEN einigen zu wollen. Wir haben den Kosmonauten Pierre Fourier gebeten, uns die wichtigsten Informationen über NOAH II zu geben.« Babette sah die gigantische Raumkugel auf dem Bildschirm ihres Videophons. Die ungeheuren Ausmaße wurden ihr erst dadurch bewußt, daß sie eine Vergleichsmöglichkeit mit der LYR hatte. Die Kamera eines Kommando-Satelliten zeigte die LYR als schlanken Stift, der sich ohne weiteres an die einhundertmal auf der Fläche dieser Kugel verlieren konnte. Babette hörte die Stimme ihres Vaters. Sie erkannte sie, obwohl sie verzerrt klang. Dann sah sie auch sein Gesicht. Das Bild flakkerte. Pierre Fourier sah müde aus. »Der Großkonzern der FREE STATES, die PHARMA, hat vor siebzig Jahren einen Menschentyp zu züchten begonnen, der über eine außerordentliche Merkfähigkeit, aber nur ein geringes schöpferisches Denkvermögen verfügte. Das Selbstbewußtsein wurde durch ein Hörigkeitsbewußtsein ersetzt / Der Mangel an Individualität wurde noch gestützt durch programmatisches Handeln und ein nur pragmatisches Denken. Ein zielbewußter, rücksichtsloser, unschöpferischer Menschentyp sollte entstehen. Alles das, was wir hier antreffen, bestätigt auch die Erkenntnisse, die wir aus einer Serie von Videokassettenaufzeichnungen gewonnen haben. Jahre nach dem Start von den Mondbasen kam es zu einer Revolte an Bord der NOAH II. Die auf der Erde gezüchtete Besatzung hatte mit Mißtrauen die nächste Produktionsserie ihrer selbst verfolgt. Mit Hilfe von verabreichten Zytokinien wurde die Zellteilung angeregt und beschleunigt. Innerhalb kürzester Zeit
bevölkerten 1300 Kinder die Raumkugel. Jedes Kind wurde auf Befehl von seinem Erbgutspender beaufsichtigt, aufgezogen und ausgebildet. Die AUSERWÄHLTEN kontrollierten den Erziehungsprozeß. Diese Kontrolle war anscheinend nur auf Äußerlichkeiten beschränkt. Die neue Generation bedeutete der ersten Generation sehr viel. Sie hatten Eltern-Stelle vertreten, das eingepflanzte Zielsetzungsdenken litt unter der neuen Art Beziehung zwischen den Generationen. Angelegt worden waren sie so, daß sie jede Behinderung ihrer pragmatischen, antisozialen Quasi-Ziele als eine Einengung ihrer Ergebenheit und ihres Hörigkeitsbewußtseins betrachteten. Die Zuneigung zu den Jüngeren überwand diese Sperren. Alle Interessen waren nun auf die zweite Generation gerichtet – die Methodik der AUSERWÄHLTEN richtete sich gegen das System der AUSERWÄHLTEN. Die aus dem Programm gestrichene Menschlichkeit bildete sich neu, gespeist aus den Quellen der Menschenentwicklung. Die Klons stellten sich unter sozialem Aspekt in den Dienst der Klons. Zur Strafe wurde ihnen ein für ihr Wohlbefinden wichtiges Opiat entzogen. Wie wir wissen, enthält der grüne Pudding, den wir auf der Speisetafel in der großen Halle sahen, dieses Opiat. Es suggeriert die Gefühle Liebe, Zuneigung, Geborgenheit. Im Laufe der Zeit hatten einige der Geklonten selbst Kinder auf natürlichem Weg gezeugt und empfangen. Sie begriffen dadurch nachdrücklich, daß ihnen die Nestwärme nur künstlich entzogen worden war. Was ihnen fehlte oder vorenthalten worden war, gaben ihnen unter anderem ihre Kinder zurück.« Für einige Sekunden war der Bildschirm leer. Dann kündigte Kommandant Vitali Bykowsky an, ein gewählter Sprecher der Besatzung der NOAH II werde sprechen. Babette Fourier ertappte sich dabei, in dem Gesicht des jungen Mannes, das auf dem Bildschirm abgebildet wurde, etwas Besonderes zu suchen. Etwas, das ihn unterschied. Aber es war einfach nur das Gesicht eines Menschen, so, wie man Arkadij Carson ebenfalls nicht ansehen konnte, daß er ein Klon war.
Der junge Mann blickte etwas finster drein, aber Babette glaubte, er bemühe sich absichtlich, streng und konzentriert auszusehen. Er sagte: »Liebe Brüder auf der Erde! Wir bereiten eine Umwälzung vor, wir beabsichtigen dabei, mit friedlichen Mitteln auszukommen. Sollte es sein, daß Logik und Vernunft sich nicht durchzusetzen vermögen, sehen wir uns gezwungen, die AUSERWÄHLTEN vor eine Alternative zu stellen, die entweder das Leben oder den Tod für alle bedeuten würde. Eine Wahl haben wir nicht. Die Gegensätze, die zwischen uns und den AUSERWÄHLTEN bestehen, sind unversöhnlich. Wir, die Gezüchteten, sind nichts anderes als Sklaven. Das wollen wir ändern.« Das Bild des Sprechers erlosch. Babette wartete ungeduldig. Schließlich konnte sie auf dem Bildschirm die Raumkugel NOAH II erkennen. Dunkel und drohend schwebte sie im All, einen kreisförmigen Ausschnitt des Sternenhimmels verdeckend. Der Lichtfinger eines Laserstrahls begann nach der Kugel zu tasten, andere Lichtkanäle kamen hinzu – sie konzentrierten sich über der NOAH II. Die Stimme des Kommandanten der LYR erläuterte: »Wir mußten intern unsere Vorbereitungen forcieren. Wir unterstützen die Trennung der Raumkugel in zwei Teile. Diese Maßnahme ist schon seit längerem von der Besatzung der NOAH II vorbereitet worden, sie wird durch unsere Hilfe nur vereinfacht und beschleunigt. Bis auf den Bio-Kreislauf und die Lieferung von Energie im Austausch war diese Trennung schon vorhanden. Endgültig konnte sie noch nicht werden, weil der Besatzung nicht gelungen ist, genügend sauerstoffproduzierende Algenbatterien einzurichten. Pierre Fouriers Einsatzgruppe teilte uns mit, daß die innere Abschottung der Querachse und die Trennung der Segmente bereits vollzogen wurden. Aufgabe der gebündelten Laserstrahlen wird es sein, die Außenhaut, die Streben und Stützpfeiler der Trakte exakt zu zerschneiden. Beide Raumschiffe befinden sich in der
rechnerisch optimalen Ausgangsposition. Die Teilung der Kugel kann nunmehr vollzogen werden.« Babette sah, wie der gleißende Laser langsam und zitternd fiel. Sicher war eine ungeheure Energiemenge nötig, von der verhältnismäßig kleinen LYR aufzubringen, um die Querachse der NOAH II zu trennen. Stetig senkte sich der Laserstrahl. Mit solcher Kraft sind in den Mondbergwerken die ersten Stollen gebrannt worden, erinnerte sich Babette. Wieder vernahm sie die Stimme des Kommandanten Bykowsky. »Wir mußten uns in kurzer Frist zu dieser Maßnahme entschließen, um die 2600 Besatzungsmitglieder zu retten. Bei einem Ausbruch des Konflikts wäre die NOAH II mit allen ihren Menschen verloren gewesen. Allein Sauerstoffmangel und Sperrung der Energiezufuhr hätten unvorhergesehene Folgen gehabt. Inzwischen erfuhren wir, daß es zu bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen sein soll. Vom OBERSTEN PARLAMENT erwarten wir, daß uns gesagt wird, was mit den Pseudo-Unsterblichen geschehen soll. Vielleicht werden sie über Jahrhunderte hinweg zum Sternbild Leier fliegen und in die WEGA stürzen. Wenn sie nicht aufgeben, wird ihnen nicht zu helfen sein.« Mit diesen Worten beendete Vitali Bykowsky seinen Kommentar. Babette konzentrierte sich auf das vom Bildschirm wiedergegebene Geschehen. Der Laserstrahl verharrte nun in der Mitte der Raumkugel. Ähnlich dem Schweif eines Kometen verstärkte sich der Lichtbogen des verdampfenden Materials. Reflexionen überstrahlten den kleinen Bildschirm des Videophons. Grell leuchteten sie auf, und es war, als käme der Laserstrahl zurück. Nun glitzerte der Bildschirm weiß und rauschte übermäßig stark. Das Bild fiel zusammen. Babette konnte lediglich die Stimme des Kommandanten hören: »Ich erbitte sofortigen Rapport, was innerhalb der Raumkugel geschehen ist. Wir stellen die Laser ab!«
Babette sah wieder die NOAH II auf dem Bildschirm. In der Mitte der Kugel glühte ein grellblauer Fleck. Sie vernahm eine Stimme, bestimmt war es die des Sprechers der Besatzung. »Die AUSERWÄHLTEN haben Reflektoren aus keramischem Material in den Verbindungstrakt der NOAH II stellen lassen. Einige meiner Gefährten sind in die Raumanzüge gestiegen. Sie wollen die Querachse stürmen und die Reflektoren beseitigen. Ich versuche, eine Verbindung zu ihnen herzustellen.« Babette konnte sehen, daß etwa ein Dutzend Männer die befestigten Stützpfeiler der Keramikspiegel zerstrahlten. Die Spiegel lösten sich, wirbelten und drehten sich unkontrolliert im All, einige schlugen an den Stahlpfeilern oder an der Außenhaut auf und zerklirrten lautlos. Als die Männer in den Raumanzügen sich zurückziehen wollten, wurde vom Leitzentrum her eine Startrampe geöffnet. Dort befanden sich AUSERWÄHLTE. Einer von ihnen hob, wie befehlend, den rechten Arm. Die Kamera holte das Bild näher. Ein heller Blitz blendete Babette. Danach konnte sie erkennen, wie sich die Schatten duckten. Das war auf der Seite der Besatzung. Die Gestalten in den Raumanzügen schwebten gekrümmt und wie leblos zur Startrampe. Wenn sich nun ihr Vater dort befand? Babette schrie und biß sich in die Knöchel ihrer Finger. Die Aufnahme erlosch. Der Sprecher von NOAH II, der junge Mann, erschien wieder auf dem Bildschirm. Babette konnte nicht verstehen, was er sagte. Mit tränenverschleiertem Blick sah sie, daß die Raumkugel auf dem Bildschirm erschien, daß sich der Laserstrahl senkte. Ohne Verzögerung wurde nun die NOAH II längs der Querachse in zwei Hälften geteilt. Die Teile verharrten, schwebten auseinander. Der Laserstrahl erlosch. Während die eine Hälfte sich gemächlich drehte und sich ins All entfernte, bewegte sich die andere Hälfte der LYR entgegen. Wie erstarrt blieb Babette vor dem Videophon sitzen, als der stellvertretende Kommandant der LYR berichtete, daß die Verbin-
dung zur NOAH II abgerissen sei – zu beiden Teilen. Die Besatzung der LYR ziehe sich zur Beratung zurück, warte aber vordringlich auf Entscheidungen und Unterstützung von der Erde. Sein Bild erlosch. Der Mechaniker vom Computerdienst meldete sich, fragte, ob sie den gesamten Vorgang hätte verfolgen können, und als er keine Antwort erhielt, sagte er, es habe sich eine Frau vom OBERSTEN PARLAMENT gemeldet. Sie müsse unbedingt mit Babette Fourier ein Gespräch führen. Babette nickte wortlos. Ines Romero kam ins Bild. Schweigend sahen sich die Frauen an, bis Ines sagte: »Die Gefahr ist beendet. Von den AUSERWÄHLTEN, auch von den genetisch Manipulierten, droht uns keine Gefahr mehr. Das OBERSTE PARLAMENT will den sogenannten AUSERWÄHLTEN einen Vorschlag unterbreiten, sie zur Erde zurückzuführen und sie zu versorgen. Der Besatzung der NOAH II versuchen wir ein menschenwürdiges Leben unter uns zu ermöglichen. Ein zweites Raumschiff, die LYR II, wird ausgerüstet werden und bald starten, Babette…« Babette Fourier antwortete nicht. Sie saß vor dem Videophon, die Hände hielt sie vor dem Gesicht. Ines Romero schien es nicht mehr zu geben. »Babette, mach dir keine Sorgen um deinen Vater. Wir haben Nachricht über ihn, er ist wieder an Bord. Würdest du mit LYR II mitfliegen wollen? Es wäre möglich.« »Danke«, sagte leise Babette, »vielen Dank, Frau Romero. Ich muß zu meinen Eltern. Wenn Sie für mich bürgen, werde ich mit der LYR II zu ihnen fliegen.« Ende