(HEYNE-ANTHOLOGIEN»)
HEXEN
STORIES
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM H E Y N E VERLAG
M Ü N C H E N
H E Y ...
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(HEYNE-ANTHOLOGIEN»)
HEXEN
STORIES
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM H E Y N E VERLAG
M Ü N C H E N
H E Y N E - A N T H O L O G I E N
Band 37
COPYRIGHT: BUND MIT DEM SATAN (Two For A Bargain) von Dorothy Quick:
Street & Smith; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch
DIE ROTHAARIGE von Hans Kneifel:
Wilhelm Heyne Verlag und Autor
DAS ELIXIER (The Elixier) von Jane Rice:
Unknown Worids; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch
DIE KRUMME JANET (Thrawn Janet) von Robert Louis Stevenson:
Wilhelm Heyne Verlag; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch
HEXENHAMMER von Ernst Vlcek:
Wilhelm Heyne Verlag
DAS AMULETT (The Amulett) von Gordon R. Dickson:
The Magazine of Fantasy & Science Fiction;
übersetzt von Birgit Reß-Bohusch
DAS HEXENEI (Hatchery Of Dreams) von Fritz Leiber:
1961 by Zirf Davis Publishing Company;
übersetzt von Birgit Reß-Bohusch
DIE GALGENPUPPE von Hubert Straßl: Wilhelm Heyne Verlag MEINE HEKATE (My Darling Hecate) von Wyrnan Guin: 1953 by Galaxy Publishing Company; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch NICHTS IST UMSONST (Capital Expenditure) von Fletcher Pratt: 1953 by Future PublicationsInc.; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch DIE HEXE (The Witch) von A. E. van Vogt: A. E. van Vogt; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch Copyright © 1973 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag München
Printed in Belgium 1973
Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München
Gesamtherstellung: Gerard & Cie, Verviers
Inhalt Dorothy Quick Bund mit dem Satan (TWO FOR A BARGAIN)
Seite 7
Hans Kneifel Die Rothaarige
Seite 55
Jane Rice Das Elixier (THE ELIXIR)
Seite 6l
Robert Louis Stevenson
Die krumme Janet
(THRAWN JANET)
Seite 91
Ernst Vlcek Hexenhammer
Seite 105
Gordon R. Dickson Das Amulett (THE AMULET)
Seite 127 Fritz Leiber Das Hexenei (HATCHERY OF DREAMS)
Seite 145
Hubert Straßl Die Galgenpuppe
Seite 161
Wyman Guin Meine Hekate (MY DARLING HECATE)
Seite 171
Fletcher Pratt Nichts ist umsonst (CAPITAL EXPENDITURE)
Seite 191
A. E. van Vogt Die Hexe (THE WITCH) 251
\
Bund mit dem Satan \ von
Dorothy Quick
Ich sah die aus Flicken zusammen gesetzte Bettdecke an. Sie verwandelte das altmodische Himmelbett in ein glanzvolles Ding, würdig eines Königs. Die verschiedenfarbigen Materialien schimmerten im Schein meiner Nacht tischlampe, und die merkwürdige, ru nenartige Stickerei, welche die Flicken zusammenhielt, glänzte wie Sonnen licht auf bewegtem Wasser. Man mochte nicht glauben, daß etwas so Schönes düstere Dinge bergen konnte. Und doch hatte mir Tante Amabel sonderbare Geschichten über sie er zählt; daß eine Hexe sie gemacht habe und daß man durch jeden Flik ken in die Vergangenheit zurückver setzt werden könne, um noch einmal die Geschichte des Menschen zu durchleben, der mit diesem besonde ren Material in Verbindung gestan den hatte. Ich war immer noch skeptisch, ob wohl ich eines Nachts im Schlafe die Hand auf ein blausilbernes Brokat stück gelegt hatte und durch den Raum in einen unheimlichen und schrecklichen Teil der französischen
Geschichte geschleudert worden war. Später ging ich sogar noch weiter zurück, nach Babylon, zu unheimli chen Ereignissen, die ich in einem früheren Leben durchgemacht hatte; was zumindest für mich der Beweis war, daß es so etwas wie die Wie dergeburt gab. Ich betrachtete die Decke. Sie sah harmlos genug aus, und doch schien die Stickerei etwas aussagen zu wol len. Und als ich die goldenen Fäden berührte, war es, als berührte ich et was Lebendiges. Nach Tante Amabel hatte ein Mann mit der Hand auf einem der Flicken geschlafen, und am nächsten Morgen war er wahnsinnig gewesen. Nach ih rem Dienstmädchen, Hester, hatte eine Frau mit der Hand auf einem der Flicken geschlafen und war arn nächsten Morgen tot gewesen! Weder Tante Amabel noch Hester wußten, welcher Flicken Wahnsinn und welcher Vernichtung brachte, aber sie baten mich inständig, kein Risiko einzugehen und die Decke nicht mehr zu benutzen.
DOROTHY QUICK
Aber ich mußte es tun. Ich glaubte nicht, daß es einen Flicken gab, des sen Geschichte für mich entweder Wahnsinn oder Tod enthalten wür de, doch es war ein seltsames, drei eckiges Stück aus einem pergament ähnlichen Material da, das wie Men schenhaut aussah. Ich mußte wissen, was es war - welche Geschichte es beinhaltete —, und meine Neugier war stärker als meine Furcht. Außerdem wollte ich, mehr als alles andere in der Welt, erfahren, ob ich in einem Abenteuer noch einmal den Mann wiedersehen würde, dem ich mich in meiner letzten Vision für alle Zeiten versprochen hatte. Ich kletterte in das hohe Bett, ließ mich tief in die Decken sinken und zog sie bis an den Hals herauf, denn die schottische Luft, die von den Moo ren hereindrang, war sehr kalt. Dann suchte ich den Flicken, auf den ich es abgesehen hatte - diesen harten, ledrigen Flicken, der wie Menschenhaut aussah —, und legte meine linke Hand darauf. Ich zuckte ein wenig zusammen, denn es war, als berühr te ich eine andere Hand. Dann mach te ich schnell, bevor ich mich anders entschließen würde, das Licht aus. Ich wartete im Dunkel, die Hand auf dem Flicken, die Gedanken son derbar wach. Ich wollte einschlafen, damit das Abenteuer beginnen konn te - wenn es überhaupt eines gab -, aber nichts geschah. Nur die kalte
Luft war da, die mir ums Gesicht blies, und das seltsame Gefühl, daß meine Hand auf einer anderen Hand ruhte, ein Gefühl, das auch durch angestrengte Bemühungen der Logik nicht verschwinden wollte. Plötzlich erkannte ich, daß ich nicht mehr den Flicken festhielt, der wie Menschenhaut aussah. Statt dessen berührte meine Hand tatsächlich Haut, echte Haut - eine andere Hand! Wieder einmal hatte ein Abenteuer der Flickendecke begonnen. Ich sah herunter auf zwei Hände mit dünnen, nervösen Fingern, die sich ineinander verschränkten. Es waren die abstoßendsten Hände, die ich je gesehen hatte, leichenähnlich, mit langen spitzen Nägeln, die sich am Ende wie Vogelkrallen krümmten. Bis dahin hatte ich wohl einige schau rige Ereignisse durchlebt, aber die Körper, in denen der Geist von Ali ce Strand - mein Geist - durch den Zauber der Flickendecke gefangen gewesen war, hatten anziehend ge wirkt. Nachdem ich diese abstoßenden Hände betrachtet hatte, wußte ich, daß das diesmal nicht so sein konn te. Ich hatte Angst, die Person, in der ich nun wohnte, ganz zu sehen. Es war eine Frau. Das erkannte ich an der weißen Schürze und dem wei ten schwarzen Wollrock, der um die mageren Knöchel fiel, und an dem Leibchen aus dem gleichen Material.
BUND MIT DEM SATAN
Aber ich konnte nicht sehen, wie alt sie war und von welchem Typ. Die Frau stand am Rand eines Waldes. Überall um sie und hinter ihr ragten hohe Bäume von undurchdringli cher Schwärze auf. Schwarz geklei det, wie sie war, mußte sie nahezu unsichtbar sein, wie sie so mit den Schatten verschmolz. Vor ihr lagen Felder im Sonnenschein da; etwas entfernt stand ein Steinbrunnen mit Stufen, die über ihn hinweg- und auf der anderen Seite hinunterführten. Ich hatte noch nie einen so scharfen Gegensatz zwischen Dunkelheit und Licht gesehen - die hellen, bebauten Felder und die dunklen, drohenden Wälder. Ich fragte mich, ob der Tod so sein konnte - von der Dunkelheit ins Licht tretend. In diesem Augenblick begann die Frau vor sich hinzumurmeln. »Er wird kommen - er wird kommen.« Ihre Stimme klang jung. Vielleicht war es gar keine Frau, vielleicht war es ein junges Mädchen. Die Hände - diese abstoßenden Hände - gaben keinerlei Hinweis auf ihr Alter. Die Haut war fest, faltenlos. Jetzt sehn t|e sich meine Neugier nach einem Spiegel. Wenn ich einen Spiegel hät te, könnte ich mir einen Begriff von Bier Person machen, mit der ich nun so eng verbunden war. Aber es gab keinen, und es war auch in der Nähe nichts, in dem man einen Wider schein sehen konnte.
Ein fröhlicher Gesang erfüllte plötz lich die Stille. Eine Männerstimme, voll und weich, sang etwas von Liebe und Frühling und kündete damit sein Kommen an. Die Hände hörten auf, sich inein ander zu verflechten, und ich spürte eine wilde Freude durch die Adern strömen, die vorübergehend die mei nen waren. Es schien merkwürdig, daß ich ihre Gedanken nicht lesen konnte, aber ich wußte von früheren Erfahrungen, daß ich es nicht konn te, außer zu den seltenen Gelegen heiten großer Gefühlsbelastung. Ob wohl die Gefühle des Körpers, den ich bewohnte, die meinen waren, er kannte ich sie erst, wenn sie erlebt wurden. Ich verstand, daß die Frau - oder das Mädchen - voller Freude war. Ich nahm an, daß sie sich über die Ankunft des Sängers freute, aber ich wußte es erst, als sie rief: »Jo han!« Jetzt sah ich einen Mann die Stufen des Brunnens hinaufkommen. Sein Kopf erschien zuerst, dann sein Kör per, Stück für Stück, bis er schließ lich auf der Brüstung stand und winkte. »Elsbeth, bist du hier?« »Ja, Johan, ja . . . hier am Wald rand.» Begierig die Stimme, begierig das Herz, das heftig in ihrem Busen schlug. Johan eilte die Stufen hinunter und über das Feld. Er war auf eine helle, nordische Weise verblüffend schön.
DOROTHY QUICK
Lichtblondes Haar umgab seinen Kopf wie ein Helm und fiel ihm bis zu den Schultern herab; selbst auf die Entfernung waren seine Augen strahlend blau. Im alten Griechen land wäre er zweifelsohne ein Held der Olympischen Spiele gewesen - er hatte den perfekten Wuchs und die Muskeln dafür. Sein Mund war fest und freundlich, seine Nase gerade. . Er trug einen schlichten braunen Rock mit breitem Kragen und wei ßen Manschetten. Seine Beine steck ten in gestrickten Strümpfen, die Schuhe hatten Silberschnallen, und der Hut, den er in der Hand trug, hatte eine breite Krempe und vorne ebenfalls eine Silberschnalle. Die ganze Kleidung kam mir merk würdig bekannt vor. Ich hatte sie schon oft gesehen - in den Zeitun gen und auf Karten zum Erntedank fest. Einer der Pilgerväter stand leibhaftig vor mir. Ich war in Ame rika zur Zeit seiner Anfänge. Der Mann kam näher. »Guten Tag, Elsbeth Farquar. Ich grüße Euch im Namen Unseres Herrn.« »Wie ich Euch, Johan Rider.« »Kommt aus dem Dunkel, denn ich kann Euch kaum sehen, und ich habe viel zu erzählen.« Erschauernd ging Elsbeth auf ihn zu und hielt die Hände unter die Schür ze. Es war klar, daß sie um die Häßlichkeit ihrer Hände wußte.
Als sie ein Stück näher gekommen
war, warf er sich ins Gras und wink te ihr, sich neben ihn zu setzen.
»Elsbeth, erinnerst du dich, wovon
ich das letzte Mal sprach?«
Elsbeths Herz schlug schneller, so
wie die Flügel einer Motte schneller
flattern, wenn sie gegen das Licht
fliegen.
»Ich erinnere mich.«
Johan wartete, bis sie neben ihm saß,
und legte dann den Kopf auf den
Arm.
»Nun, freue dich mit mir. Die Älte sten haben beschlossen, daß ich ins
heiratsfähige Alter gekommen bin,
und haben ihre Einwilligung gege ben, daß ich mir ein Weib nehme.«
»Oh, Johan . . . Johan!« Elsbeths
Stimme zitterte vor Erregung.
»Ich wußte, daß du dich für mich
freuen würdest, Elsbeth, aber ich hat te keine Ahnung, daß es dich so stark
berühren würde.« Johans Stimme
war klar und ruhig wie ein Wald weiher. »Nun mußt du mir Gottes
Segen für meine Reise nach Boston
wünschen.«
»Nach Boston?« rief sie. »Weshalb gehst du dorthin?«
»Wozu sonst, als um die Hand Von
Priscilla Damen anzuhalten und sie
als mein Weib nach Anesfield heim zuholen?«
Wenn jedes Wort ein Messer in
Elsbeths Herz getrieben hätte, so
BUND MIT DEM SATAN
wäre die Wirkung nicht verheeren der gewesen. »Dein Weib?« murmelte sie. »Aber es kann nicht sein, daß ich recht höre. Du scherzst nur um mich zu hänseln.« Johan war überrascht. »Weshalb sollte ich das, Elsbeth? Ich wollte, daß du als erste von der Verwirkli chung meiner Träume hörst, so wie du als erste die Träume selbst gehört hast.« Beinahe wie in Trance rief Elsbeth: »Aber ich dachte - ich dachte, du hast mir diese Träume erzählt, weil ich zu ihnen gehörte ... weil ich es war, die —« Sie unterbrach sich abrupt. Johan begann zu lachen. »Du dach test, daß ich dich liebte? Daß ich dich heiraten würde? Oh, gewiß nicht. Hast du noch nie in deinen Spiegel geblickt?« Er lachte und lachte. »Jetzt scherzst du, Elsbeth, und es ist ein köstlicher Scherz.« »Es ist ein Scherz, aber nicht so, wie du denkst, Johan. Der Scherz ist mit keiner als mit Elsbeth Farquar getrieben worden. Es ist ein Scherz, daß ich dachte, du liebst mich, weil du freundlich zu mir warst und nicht Wie die anderen meine Häßlichkeit verspottet hast.« Sie lachte - aber ihr Lachen war schrill und fast wie im Wahnsinn. »Ich war eine Närrin, und doch - und doch - du warst so freundlich zu mir . . .« Sie vergrub das Gesicht in den Händen.
Johan hörte zu lachen auf. »Wirklich, Elsbeth, ich wollte dir nicht wehtun. Du warst meine Freun din - und ich ahnte nicht, daß du anders denken könntest. Ich erzählte dir alle meine Gedanken, aber es kam mir nicht in den Sinn, daß du es persönlich nehmen würdest, wenn ich von Liebe sprach . . . ebensowe nig ahnte ich, daß du überhaupt an Liebe denken könntest. Du schienst immer zu verstehen, daß du -« Er unterbrach sich, da er sie nicht noch mehr verletzen wollte. Elsbeth nahm die Hände vom Ge sicht. Langsam, besonnen sprach sie. »Du dachtest, weil ich so häßlich bin, würde ich nicht von Liebe träumen. Nun, ich hätte es nicht getan, doch an dem Tag, als der Junge von Ray nail mich verspottete und du ihm einen Klaps gabst und sagtest, Schön heit käme von innen und nicht von außen, da dachte ich, daß du die Hülle dieses hassenswerten Körpers durchdrungen und meine Seele ge sehen hättest, wie sie in Liebe zu dir erstrahlte. Es schien zu schön, um wahr zu sein, doch dann suchtest du mich auf und sprachst mit mir, .und ich glaubte, du seist nicht so wie die anderen. Ich betete dich an, und mit jedemmal, da wir uns trafen, liebte ich dich noch mehr. Wenn du die Leute schaltest, die sich über mich lustig machten, hätte ich dir die Füße mit meinem Haar trocknen 11
DOROTHY QUICK
mögen. Und nun erzählst du mir, daß alles nur Freundschaft war Mitleid - keine Liebe . . . und daß ich gewußt haben müßte, es könne keine Liebe sein, wenn ich nur einen Blick in den Spiegel geworfen hät te!« »Ganz bestimmt, Elsbeth, es tut mir leid.« »Ganz bestimmt, es sollte dir leid tun. Und es wird dir noch sehr leid tun, dir und deiner schönen Braut aus Boston.« Sie warf den Kopf zu rück, als sei sie eine Schlange, die sich zum Angriff bereit machte. »Geh jetzt, Johan Rider, und sprich nie wieder mit mir, außer du kommst, um meine Gnade zu erflehen.« »Bitte, Elsbeth, du bist überreizt.« Sowohl Johan als auch Elsbeth be nutzten weiterhin das >Euch< und >Ihr< jener Zeit, aber ich ersetzte in Gedanken die Ausdrücke durch die vertrauteren Pronomen. Johan stand auf und streckte die Hand aus. »Ich möchte gern dein Freund blei ben, Elsbeth.« Sie schüttelte den Kopf.
»Zwischen uns kann es keine Freund schaft geben. Ich liebte dich aus gan zem Herzen und aus ganzer Seele,
aber jetzt liebe ich dich nicht mehr.
Statt dessen hasse ich dich, Johan ja, ich hasse dich —, weil du mich als
Prellbock zwischen deiner Einsam keit und der Sehnsucht nach einem
12
anderen Mädchen ausgenützt hast. Du hattest Mitleid mit mir — ja —, und du warst freundlich zu mir, aber das geschah nur, weil du jemand brauchtest, mit dem du von Liebe re den konntest - ein verbotenes Thema in Salem, solange die Ältesten nicht ihre Zustimmung geben. Ich riskierte den Block, um mir deine Träume an zuhören. Ich war eine Närrin . . . eine häßliche Närrin. Aber jetzt bin ich es nicht mehr. Geh und hüte dich vor mir, Johan, denn es heißt, daß mit einer geschmähten Frau nicht zu spa ßen ist. Ich werde mich an dir rä chen und auch an jenen, die nur Häßlichkeit sehen. Ich werde euch allen zeigen, was wahre Häßlichkeit ist.« Johan redete eine Zeitlang auf sie ein, aber sie war unnachgiebig. Schließlich ging er zögernd, bestürzt über das, was er angerichtet hatte. Ihre Drohungen nahm er nicht allzu schwer - das stand deutlich in sei nem Gesicht geschrieben -, aber es war ebenso deutlich, daß ihm das Vorgefallene ehrlich leid tat. Elsbeth beobachtete seinen Rückzug. Als er den Scheitelpunkt der Treppe erreicht hatte, drehte er sich um und winkte. Elsbeth erhob sich aus dem Gras, wo sie immer noch saß, wand te ihm den Rücken zu und ging mit ruhigen Schritten auf den Wald zu. Erst als sie den Schutz der Blätter erreicht hatte, floh sie hinter eine
BUND MIT DEM SATAN
große Ulme. Endlich, als niemand mehr sie beobachten konnte, sah sie zurück. Die grünen Felder erstreckten sich in ihrer Lieblichkeit weithin über die Landschaft, aber in dem grünenden Reich war nirgends die Spur eines Menschen zu sehen. Johan Rider war fort. Elsbeth rannte tief in den Wald. Während des Laufens schüttelte ein trockenes Schluchzen ihren Körper, und ihre Nägel gruben sich tief in die Handflächen. Sie rannte, bis sie eine Lichtung erreichte, wo ein klei ner Teich das Funkeln des Sonnen lichts auffing und es in flüssiges Gold verwandelte. Sie sank auf das Moos daneben, stützte sich auf beide Ell bogen, legte das Gesicht in die Hän de und sah unverwandt in das Kri stallwasser. Sie hatte ihren Spiegel gefunden, und zum erstenmal sah ich ihr Gesicht. Noch nie in meinem Leben und noch nie in den Leben, die ich durch die Flickendecke nachempfunden hatte, war mir solche Häßlichkeit begeg net. Der Mund war groß wie der eines Clowns, mit einem komischen Auf wärtszucken in den Mundwinkeln. Neben ihrer Nase wäre die von Cy rano de Bergerac geradezu ver schwunden. Sie war lang schmal und scharf, mit einem Höcker in der
Mitte und einem breit auslaufenden Ende, das nach oben gebogen war und vergrößerte Nasenlöcher zeigte. Ihr Kinn war spitz, ihre Wangen knochen hoch angesetzt. Die Haut selbst war fleckig und aufgedunsen. Ein dichter Schöpf drahtigen schwar zen Haars war unter eine weiße Lei nenhaube geschoben, unter der es grob und dicht wieder hervorlugte. Nur ihre Augen waren schön - große, leidgeprüfte Brunnentiefen von ka stanienbrauner Farbe -, aber sie ver bargen sich halb unter buschigen Brauen und Wimpern von dem glei chen dichten, drahtigen Haar. Zum erstenmal verstand ich Johan. Es schien unglaublich, daß so ein Ge schöpf auch nur einen Augenblick lang annehmen konnte, ein Mann würde in Liebe an sie denken. Ich hatte Johans Verhalten verurteilt, aber jetzt konnte ich das nicht mehr. Natürlich mußte er gedacht haben, er könnte mit ihr frei über seine Träume und die Liebe sprechen, si cher in der Annahme, daß sie abseits von diesen Dingen stand, während sie - oh, es war mitleiderregend. Ar me Elsbeth! Und sie war jung - jung mit einem Körper, um den sie Diana, die Mondgöttin, beneiden hätte können. Sicher hatten die Götter ihren Spott getrieben, als sie einen perfekten Leib nahmen und ihm einen Kopf und Gliedmaßen gaben, die Karikaturen 13
DOROTHY QUiCK
waren und nicht zu ihm paßten. Was für eine schreckliche Last für ein Mädchen, besonders in einer Zeit, wo es noch keine Schönheitssalons gab. Ich starrte weiterhin auf das Bild im Weiher und mußte zugeben, daß diesem Gesicht auch durch mo derne Methoden nicht hätte geholfen werden können. Elsbeth erkannte es auch. Tränen lie fen ihr über die Wangen. »Keine Hoffnung - es gibt keine Hoffnung. Weshalb wurde ich so verflucht - weshalb? Habe ich nicht gebetet . . . gebetet? Gebete nützen nichts. Der Herr hat mich verlassen, gequält, betrogen. Für mich gibt es keine Hoffnung mehr im Gebet außer . ..« Sie sah ihre Hände an, und ein deutliches Bild zeichnete sich in ihrem Innern ab - ein kleines braunes Buch mit Eselsohren. »Ich habe es nach dem Tod meines Va ters in seiner Truhe gefunden«, flü sterte sie. »Die Hexenlitanei . . . nur einmal habe ich einen Blick hinein geworfen und es dann schnell weg gelegt, aus Angst, eine Sünde zu be gehen, aber es behauptete, Satan kön ne alle Dinge gewähren. Soviel sah ich noch, bevor ich es tief vergrub. Mein Vater war Gelehrter - er kann te geheime Lehren. Vielleicht hat das Buch recht. Ich werde es studieren . . . Ich werde eine Hexe! Ja, hier und jetzt will ich zu Satan beten.« Sie unterbrach sich, entsetzt von ih
ren eigenen Worten. Aber dann wur de sie von fester Entschlossenheit er griffen. Sie benetzte ihr Gesicht, diese ekelerregenden Züge, mit Wasser aus dem Weiher. Dann kniete sie nieder und hob flehend die Hände. »Oh, Satan, Herr der Unterwelt, ich bete zu Dir und bitte Dich, mich in Deine Obhut zu nehmen, mir von Deinem Überfluß und Deiner Weis heit zu geben, so daß ich meine Fein de bezwingen kann - ja, damit Jo han Rider stöhnend vor mir auf den Knien liegt und ich ein Nichts, we niger als ein Nichts, aus dieser Pris cilla mache, die er liebt. Laß mich Rache nehmen an ihnen und allen anderen, die mich verspottet haben. Als Gegenleistung gebe ich für im mer mein früheres Leben auf und weihe mich Dir, Herr und Satan, für jetzt und in alle Ewigkeit. Amen.« Anfangs war ihre Stimme leise und zögernd gewesen, aber gegen Ende war sie stark und trotzig, ohne Scham vor der Gotteslästerung. Nichts geschah - nichts. Die Sonne ergoß sich immer noch in den Wei her, und Elsbeth blieb unverändert. Sie wartete, offensichtlich gefaßt auf einen Blitzstrahl oder zumindest das Erscheinen von Luzifer selbst, aber nichts geschah. Sie beugte den Kopf zu Boden und schrie laut: »Satan, Satan, ich rufe Dich! Nimm meine Seele und mach mich dafür zu einer Hexe. Gewähre meinen Wunsch, auf
BUND MIT DEM SATAN
daß ich dir für alle Zeiten dienen kann.« Immer und immer wieder rief sie. Dann wartete sie. Es geschah immer noch nichts. Endlich stand sie müde auf. »Vielleicht hat er es gar nicht gehört - oder vielleicht habe ich es falsch angepackt. Ich will heimgehen und das Buch zu Rate ziehen, denn ich muß eine Hexe werden . . . nein, ich bin eine Hexe.« Sie warf den Kopf stolz zurück, dann verließ sie lang sam den Wald. Als Elsbeth sich dem Dorf näherte, traf sie einen der Ältesten, der sie lächelnd grüßte. Sie neigte den Kopf. Höflichkeit gegenüber den Ältesten war Gesetz, und sie hatte nicht den Wunsch, in der glühenden Sonne im Block zu sitzen. Zu ihrer Überra schung hielt der Älteste, Cyrus Finch ley, sie an. »Guten Abend, Schwester, du warst -;? wieder in den Wäldern.« »Ja, Vater Finchley.« »Die Ältesten haben im Rat von dir gesprochen. Wir sind der Meinung, daß es nicht sicher für dich ist, dich so weit hinauszuwagen. Ja, bei einer anderen als dir hätten wir es längst verboten.« »Gewiß, Vater, mein Gesicht ist mein Schutz.« Als Elsbeth diese Worte sagte, keuchte sie. Noch ein paar Stunden zuvor wäre sie lieber gestor
ben, als daß sie ihre Häßlichkeit ein gestanden hätte. Nun rühmte sie sich damit. Satan mußte ihr Gebet ge hört und beantwortet haben. Cyrus Finchley war überrascht. »Das sagte ich nicht, Tochter. Die Stadt ist dir dankbar für dein Geschick mit Krautern und würde dich deshalb nicht gern von den Plätzen fern halten, wo du sie findest. Dein Tee hat der Schwester des Gouverneurs das Leben gerettet, so sind wir dir alle zu Dank verpflichtet. Und des halb haben wir einen Beschützer für dich ernannt. Wenn du wieder auf die Suche nach deinen Heilmitteln gehst, wird der alte Fithian Grey da für sorgen, daß du sicher bist.« »Ich danke euch allen von ganzem Herzen, aber ich brauche keinen Be wacher. Die Indianer sind freund lich. Sonst gibt es nichts zu fürch ten.« »Dennoch hätten wir es lieber, wenn Fithian und seine Flinte dich bewa chen.« »Dann soll es so geschehen.« Schließ lich war Fithian alt und senil. Wenn sie irgend etwas tun wollte, das er nicht sehen sollte, würde sie schon mit ihm zurechtkommen. »Noch eines, Tochter. Wir hatten es vergessen, bis Schuyier van Warden sich daran erinnerte - dein Vater, ein sehr gelehrter Mann, hatte viele Bücher. Nun sind einige davon viel leicht nicht für eine Jungfrau geeig 15
DOROTHY QUICK
net. Der Rat möchte diese Bücher untersuchen. Diejenigen, die wir für geeignet erachten, werden dir zurück gegeben - die anderen behalten oder verbrennen wir.« Nun wußte Elsbeth, daß Satan ihr Gebet erhört hatte. Er hatte ihr die se Warnung zukommen lassen, damit sie nicht das Buch verlor, das den Schlüssel zu ihrer Verwandlung in eine Hexe darstellte. Sie lächelte im geheimen. »Da ist eine Kiste, die ich nicht ge öffnet habe. Ich mache mir nichts aus Büchern. Ich kann nicht besonders gut lesen.« Das waren die ersten Lü gen, die sie je ausgesprochen hatte, und sie kamen ihr so leicht über die Lippen, als sei sie Ananias selbst. »Gut, Tochter. Ich komme morgen mit meinem Dienstmann, um die Ki ste zu öffnen, und wenn wir irgend welche zweifelhaften Bücher finden, nehme ich sie mit zum Rat. Guten Tag, Elsbeth Farquar.« »Guten Tag, Cyrus Finchley.« Els beth machte einen kleinen Knicks und eilte weiter. Sicher, sicher hatte Satan ihr Gebet gehört und ihr diese Warnung ge sandt. Als sie die Hälfte der Straße zurückgelegt hatte, erhielt sie eine neue Bestätigung. Eine Gruppe von Kindern quälten ein armes, dürres, kleines schwarzes Kätzchen. Gerade als Elsbeth auf gleiche Höhe mit ihnen kam, riß sich das Kätzchen von sei 16
nen Peinigern los und sprang mit einem wilden Satz in Elsbeths Arme - der nächste ZuSuchtsort vor den Kindern, die es verfolgten. »Gib uns das Kätzchen wieder«, rief der älteste der Jungen. »Nein.« Elsbeth drückte das arme, verängstigte Tier an sich. »Ihr sollt so ein arm.es Ding nicht quälen.« »Die Witwe Aylesford hat es hin ausgeworfen. Sie sagte, eine schwar ze Katze sei nur gut für Hexen, und wir könnten damit tun, was wir wollten.« Ein Freudenfeuer entflammte in Els beth. Sie hatte geflüsterte Erzählun gen von Hexen und ihren Vertrau ten gehört. Der Teufel hatte ihr eine Vertraute geschickt; das hieß, daß sie praktisch eine Hexe war. Sie würde das Kätzchen, wenn nötig, mit ihrem Leben schützen, denn es bedeutete für sie den Beginn des neuen Lebens. So wandte sie sich heftig an die Kin der. »Alles, was atmet, hat ein Recht auf Leben. Das Kätzchen hat nichts Bö ses getan. Ich werde es versorgen. Geht heim zu euren Müttern und betet um Vergebung für eure Grau samkeit. Da -« Sie hielt die Pfote des Kätzchens hoch, die aufgeschun den war und blutete. »Seht, was ihr gemacht habt.« Einer nach dem anderen stahl sich fort. Als sie gingen, faßte der älteste Junge Mut. »Hexen katze, Hexen
BÜND MIT DEM SATAN
katze!« rief er zurück. Der Junge, Thomas, erwartete, daß Elsbeth das Kätzchen bei diesen schlimmen Wor ten fallenlassen würde, und mußte erstaunt feststellen, daß sie das kleine schwarze Ding stattdessen eng an sich drückte und freudig lächelte, als habe sie unerwartet einen Schatz ge funden. Das erste, was Elsbeth tat, als sie ihr winziges, schindelgedecktes Haus er reichte, war, daß sie das Kätzchen versorgte. Sie badete die verletzte Pfote und verband sie mit einem Stückchen weißem Leinen. Dann gab sie ihm eine Schale Milch, die das kleine Ding begierig leerschleckte. Als es fertig war, kam es vorsichtig auf der verbundenen Pfote zu Elsbeth herüber, sprang ihr auf den Schoß und leckte ihr die Hand, als sei es ein Hund und kein Kätzchen. Dann, ebenso vorsichtig, wie es gekommen war, ging es zurück zu dem Kissen, das sie neben die Milch schale gelegt hatte. Dort rollte es sich zusammen und schnurrte sich bald in den Schlaf. Elsbeth saß da und sah auf die Hand, wo die Zunge des Kätzchens sie geküßt hatte, als habe sie sich plötzlich verschönt. »Es hat mich angenommen. Der Ab gesandte Satans hat mir sein Siegel der Zustimmung aufgedrückt.« Na türlich war da, wo die Zunge der
Katze sie berührt hatte, ein roter Fleck. Ein Gefühl der Freude stieg in ihr hoch. In diesem Augenblick verän derte sie sich. Sie war im Laufe von ein paar Stunden von einem Gefühls höhepunkt zum anderen geschwankt - vom verliebten Mädchen zur haß erfüllten Frau. Von einer scheuen, zurückgezogenen Jungfer, die ein einfaches Leben führte, jedermann helfen wollte und an das Gute glaub te, hatte sie sich in einen verbitter ten, sarkastischen Menschen verwan delt, der an das Böse glaubte und Rache haben wollte - nicht nur an Johan, sondern auch an allen ande ren. Eine Welle der Energie durchdrang sie, gepaart mit grimmiger Entschlos senheil Sie konnte es kaum erwar ten, eine Hexe zu sein. Sie mußte das Buch suchen. Sie verriegelte ihre Tür und entzündete eine zweite Kerze. Sie nahm sie, deckte sie vorsichtig mit der freien Hand ab und stieg die Treppe zum Speicher hinauf. Dort angelangt, stellte sie die Kerze auf dem Boden ab und stellte sie un ter einem alten Kissen ab, so daß Vorübergehende nicht erkennen konnten, daß sie auf dem Speicher war. Dann fand sie die Truhe ihres Vaters, zog sie heraus und wühlte fieberhaft ihren Inhalt durch. Die meisten Bücher waren Gelehrtenbän de, die sie überhaupt nicht interessier 17
DOROTHY QUICK
ten. Schließlich fand sie ganz am Boden das Buch, das sie suchte. Es war in ein sonderbares, pergament ähnliches Material gebunden, und auf dem Titelblatt stand: >Das He xenbuchHexenbuch< saß. Der schwarze An diesem Nachmittag ging Elsbeth Schwanz warf seinen Schatten auf in den Wald hinaus, um die Zutaten die gedruckte Seite. für ihren Zauberspruch zu sammeln. Elsbeth studierte den Zauber sorg Während sie dort war, nahm sie gleich fältig, und dann begann sie. Sie Alraune mit, und sie war besonders erfreut, ein Exemplar zu finden, das kochte ihre Zutaten nach Anweisung und fügte ein wenig von ihrem sorg haargenau wie Beelzebub selbst aus
DOROTHY QUICK
sam gehüteten Salz hinzu - denn Salz war in jenen Tagen ein rares Gut und wurde in kleinen Mengen an das Volk verteilt. Als sie die Brühe umrührte, sprach sie die Wor te, die im Buch, standen, und als alles fertig war und der Topf sich abgekühlt hatte, knetete sie den In halt zu einer Kugel. Um diese wik kelte sie ein Haar von ihrem eigenen Kopf.. Dann sang sie: Schrumpft und trocknet dieser Ball,
Komme Unheil auf den Stall.
Seine Kühe sieht er nimmer Gut zu schlimm und schlimm zu
schlimmer. Als sie fertig war, hängte sie die Kugel in ihren Kamin. Sie wußte, daß die Feuerhitze sie schnell aus trocknen würde, und wartete unge duldig darauf, daß ihre böse Tat Früchte trug. Ein paar Tage später schlug sie zum ersten Male in ihrem Leben ein Kind, die kleine Patience Maitland, ein rundliches, goldhaariges Kind von sieben Jahren. Bis dahin hatte Els beth oft mit Patience gespielt und sie beschäftigt, wenn ihre Mutter butterte oder sich einer sonstigen Hausarbeit widmete. Als Patience sie in ihre Richtung eilen sah, dachte sie, Elsbeth wolle mit ihr spielen. Sie hatte keine Ah nung, daß Elsbeth zum Rider-Hof
hinausging, in der Hoffnung, etwas zu hören oder zu sehen, was ihre Neugier wegen der Kühe befriedigte. Klein-Patience lief ihr entgegen und warf beide Arme um Elsbeths Tail le. »Guten Tag, Mistreß Farquar«, sagte sie. »Ich muß Ihnen die neue Puppe zeigen, die mir Master Rider gab, bevor er nach Boston ritt.« Wenn Patience Johan und Boston nicht erwähnt hätte, so hätte Els beth vielleicht ihren Haß vergessen, denn sie hatte das Kind geliebt. Aber die unschuldige Bemerkung war wie ein Funke auf trockenes Holz. »Geh weg. Ich habe keine Zeit für Puppen«, sagte Elsbeth grob und schob das Kind weg. Sie hatte offen sichtlich mehr Kraft, als sie wußte, denn das Kind schrie vor Schmerz auf. Elsbeth blieb nicht stehen, um sie zu trösten. Sie ging weiter. Patience lief hinter Elsbeth her. »Mistreß Farquar, Mistreß Farquar, wenn ich Sie gekränkt habe, dann bitte ich um Verzeihung. Bitte, bitte, kommen Sie zurück und sehen Sie sich meine Puppe an.« Das arme kleine Ding dachte, daß sie etwas falsch gemacht haben muß te. Sie konnte nicht verstehen, daß Elsbeth nicht freundlich wie immer war. Sie packte Elsbeth an der Schür ze, um sie aufzuhalten. Elsbeth hob die Hand. »Geh weg geh weg . . .«
BUND MIT DEM SATAN
»Bitte — b i t t e . . . « Das Kind schluchzte hysterisch. Elsbeth senkte die Hand und schlug Patience hart auf die Wange. »Laß mich in Ruhe.-« Sie riß ihre Schürze los und ging weiter, ohne darauf zu achten, daß das Kind durch das plötzliche Freilassen der Schürze zu Boden gestürzt und auf ihren Fuß gefallen war. Der Knöchel war verstaucht, und sie wurde vor Schmerzen ohnmächtig. Ihre Mutter lief herbei, beugte sich über das Kind und schrie auf: »Mein armes Lamm!« Der schmerzerfüllte Tonfall der Mutter freute Elsbeth, aber im glei chen Moment hörte sie einen ande ren Aufschrei - aus Johan Riders Stall - den Aufschrei eines gequälten Tieres, der wie Himmelsmusik in Elsbeths Ohren klang. Sie stand da und horchte und freute sich an ihrer neu entdeckten Macht. Sie konnte sehen, daß um den Stall allerhand vorging. Leute rannten hin und her, und sie lächelte vor sich hin: »Gut zu schlimm und schlimm zu schlimmer . . .« Die Schreie verstummten. Elsbeth war noch glücklicher. Das bedeutete, daß die Kuh gestorben war. Sie hoff te, daß es die Jersey-Kuh war, auf die Johan so große Stücke hielt. Im gleichen Moment kam Johans Knecht aus dem Stall Elsbeth ging zu ihm.
»Seid ihr hier in Schwierigkeiten?« fragte sie. »Nein, Mrs. Farquar, wir haben Grund zur Freude. Die Jersey-Kuh hat gekalbt. Zwei hübsche Färsen. Zwillinge! Und von seiner Lieblings kuh! Master Rider wird sich freu en.« Eine Schwächewelle überkam Elsbeth. Ihr Zauber hatte nicht gewirkt. Sie murmelte etwas und drehte sich um, in Richtung ihres Hauses. Sie mußte nach der Kugel im Kamin sehen! Sie mußte noch einmal das Buch um Rat fragen. Als sie am Haus der Maitlands vor beikam, rannte der Bruder von Pa tience heraus. »Du bist böse«, .schrie er. »Du hast meiner Schwester wehgetan.« »Es war ihre eigene Schuld. Schlim me Kinder müssen bestraft wer den.« »Nein«, unterbrach eine weiche, sanf te Stimme. »Meine Patience verdient nur Gutes. Ich weiß, daß sie Sie nicht kränken wollte, Elsbeth Far quar. Wollen Sie nicht hereinkom men? Das kleine Ding weint nach Ihnen. Sie liebt Sie so sehr.« Mrs. Maitland streckte die Hand nach Els beth aus. »Wie sie dieses Gesicht lieben kann, verstehe ich nicht, aber sie tut es«, flüsterte der Junge.
Elsbeth hörte es.
»Mein Gesicht ist meine Sache, Tho
DOROTIIY QUICK
mas Matiland, aber da es dir miß fällt, trage ich es anderswohin.« Sie warf ihnen einen giftigen Blick zu und ging, wobei sie dem Jungen Flü che zumurmelte. Sie horte, daß Mrs. Maitland nach ihr rief, aber sie ach tete nicht darauf. Als sie heimkam, rannte das Kätz chen auf sie zu und zeigte ihr deut lich, daß es sich freute, sie wiederzu sehen. Elsbeth drückte es an die Brust. »Du und ich - wir sind eins«, sagte Sie feierlich, und das Kätzchen schnurrte glücklich. Als die Tür verriegelt war, sah Els beth nach der Kugel im Kamin. Sie war trocken und auf die Hälfte ihrer früheren Größe zusammenge schrumpft. Wenn alles mit rechten Dingen zuging, müßte jetzt zumin dest der größere Teil von Johans Herde krank sein. Elsbeth holte ihr Buch heraus. Soweit sie sehen konnte, hatte sie nichts falsch gemacht, nur daß sie die Alraunwurzel nicht bei Vollmond und um Mitternacht ge holt hatte. Natürlich - das war es. Nun, sie würde einen anderen Zau ber versuchen und sich diesmal ver gewissern, daß sie die richtigen Zu taten hatte. Sie war eine Hexe. Sie würde die Attribute einer Hexe erlangen. Sie würde zu Johans Hof hinübergehen und Flüche auf ihn und die Seinen
herabrufen. »Schlimm zu schlimmer« sollte es mit seinen Kühen gehen, mit seinem Land, seiner Braut und ihm selbst. Obwohl der bloße Gedanke an einige der Zutaten sie normalerweise hätte erschauern lassen, dachte sie nun ganz ruhig daran, wie sie sie beschaf fen konnte. Sie schlich in der glei chen Nacht mit dem Kätzchen unter dem Arm ins Freie. Sie wollte es nicht allein daheimlassen, da sie fürchtete, es könnte während ihrer Abwesenheit jammern. In einen dunklen Umhang gehüllt, war sie nahezu unsichtbar. Auf dem Kirch hof würde sie finden, was sie suchte, und sie machte sich unerbittlich dar an, die Dinge zu bescharfen, von de nen das Buch sprach. Jeder meiner Sinne wehrte sich gegen das, was sie tat. Ich, Alice Strand, haßte Elsbeth und die dunk len Mächte, die sie sich zu eigen ge macht hatte. Ich bemitleidete sie auch, denn ich wußte besser als alle anderen, daß ihre Seele durch Johan verwirrt worden war, und doch konnte ich ihm keine Schuld geben. Ich fürchtete auch das, was dabei noch herauskommen konnte. Würde Elsbeth in die völlige Dunkelheit des Teufelsglaubens hinabsteigen und mich mitziehen? Ich wußte, daß es in der Welt Magie gab - und Hexen. Ich hätte nicht Elsbeths Leben durch gemacht, wenn nicht die Zauberdecke
BUND MIT DEM SATAN
die einer Hexe gewesen wäre. Würde Elsbeth die Schwarze Kunst mei stern? Was würde mit mir geschehen? Hier in dem unheimlichen Friedhof war ich voller Furcht. Elsbeth fürchtete sich nicht. Sie voll endete ihre ekelerregenden Aufgaben mit ruhigen Fingern, und als sie den Kirchhof verließ, hatte sie nicht nur die schwarze Katze unter dem Arm. Auf dem Rückweg ging sie durch die Wälder, wo sie ihren Bund mit Sa tan geschlossen hatte. Sie erinnerte sich daran und hielt lange genug an, um niederzuknien und zu ihrem Herrn zu beten. Am gleichen Ort grub sie Alraunwurzel und Bilsen kraut aus. Als sie zurück in die Stadt karrt, stand der Mond niedrig am Himmel. "- Sie ging am Haus der Maitlands vor bei und bemerkte, daß in einem Fen ster Licht brannte. Einige Schritte weiter stieß sie in der Dunkelheit ge gen jemanden. »Aber, aber. Miß Farquar - was machen Sie hier? Hat Mrs. Mait land auch nach Ihnen geschickt?« Es war Dr. Prouty. Elsbeth hielt den Atem an und überlegte schnell. »Nein, in meinem Hause war es so warm, daß ich mich nach frischer Luft sehnte und einen Spaziergang unter nahm. Ist Mrs. Maitland krank?« »Ein Kummer kommt nie allein. Erst < heute nachmittag hat sich Patience böse den Knöchel verrenkt, und nun
ist der junge Tom die Kellertreppe hinuntergefallen und hat sich dei-y Arm gebrochen. Wollen Sie nicht mitkommen, Elsbeth, Sie, die Sie so gut mit Kranken umgehen können?« »Man hat mich nicht rufen lassen und ich werde auch nicht gebraucht, wenn Sie da sind. Außerdem bin ich sehr müde.« Sie konnte kein Haus mit der düsteren Last betreten, die sie unter dem Umhang trug. »Dann gehen Sie heim, Mrs. Far quar, und verlassen Sie nachts Ihr Haus nicht mehr. Es ist unziemlich.« »Ich werde gehorchen.« »Gut - dann werde ich diesmal schweigen. Leben Sie wohl, Elsbeth Farquar.« »Leben Sie wohl.« Sie rannte den restlichen Weg zu ihrem Haus, wo bei sie sich im Schatten hielt, und erst als sie daheim war und die Früchte ihrer nächtlichen Arbeit sicher ver borgen hatte, wagte sie es, sich zu entspannen und Atem zu schöpfen. Am nächsten Tag, als eines der Kin der ihr eine Grimasse schnitt und et was über ihre Häßlichkeit rief, er widerte Elsbeth: »Wenn du glaubst, daß mein Gesicht häßlich ist, so warte nur, wie das deine später aussehen wird.« Der Junge war sprachlos vor Ober raschung und lief weg. Er war noch nicht weit gekommen, als Elsbeth einen Schrei hörte und ihn am Boden
DOROTHY QUICK
liegen sah. Er blutete aus einer Schnittwunde. Er war auf einen scharfen, schartigen Stein gefallen, und ein Hautlappen hing ihm vom Gesicht. Elsbeth wußte, daß er nun bis zu seinem Tode eine Narbe haben würde. Sie lachte. »Sagte ich dir nicht, daß du warten solltest, wie dein eigenes Gesicht einmal aussehen würde!« Das Kind wich nicht vor ihr zurück; statt dessen deutete es auf den Haut fetzen und bat sie, ihm zu helfen. Sie zog die Haut ab und schob sie in die Tasche. Sie dachte, daß sie das Stück vielleicht einmal bei einem Zauberspruch brauchen konnte. Sie beugte sich über den Jungen. »Laß es dir eine Lehre sein, und spot te nicht mehr über mich, sonst werde ich dich noch schlimmer verfluchen.« Der Junge hielt seine breite Man schette ans Gesicht und lächelte ihr durch Tränen zu. »Ich bitte um Verzeihung wegen meines Spottes. Sie sind zu gütig, daß Sie diesen Fetzen weggenommen haben. Ich danke Ihnen.« Elsbeth hörte nicht auf seine Ent schuldigungen. »Ich werde dich noch schlimmer ver fluchen — ich werde dich verfluchen.« Cyrus Finchleys Stimme schaltete sich ein. »Friede, Tochter. Ich hörte die bö sen Dinge, die der Junge von Ihnen sagte.« Er wandte sich an den Bu 24
ben. »Geh jetzt zum Arzt und sieh zu, daß du niemanden mehr ver spottest.« »Ich habe ihn verflucht, und sehen Sie, was geschehen ist«, rief Elsbeth. »Wenn ich wieder fluchen sollte -« »Du bist überreizt, Tochter, >Die Rache ist meinjunger Mann
HANS KNEIFEL
der Tür stehen. In einem Spanisch, das wie eine Maschinengewehrsalve klang, redete die alte Dame auf die Männer ein. Sie grinsten trotz ihrer Müdigkeit; als aus einer Kiste eine Flasche und vier angestaubte Gläser erschienen, breitete sich etwas Ähn liches wie eine gemütliche Stimmung im Zimmer aus, das fünf zu fünf Meter groß war und voller Umzugsgut stand. Tomas nahm die Flasche hoch und staunte über das Etikett. »Dios!« sagte er. »Das Zeug, das ich in Barcelona bis zur Bewußtlosigkeit getrunken habe. Jerez dulce! Schade, daß kein Eis da ist.« Die Gläser wurden geleert, und To mas verabschiedete sich. Es war halb zwei, und er war müde. Die Alte brachte ihn bis zur Tür. »Wenn ich ganz eingerichtet bin, werde ich Sie zum Kaffee einladen, ja? Und vielen Dank für Ihre tüch tige Hilfe. Wie heißen Sie?« »Tomas Fischer, gnädige Frau. Fünf zehnter Stock.« Sie gab ihm die Hand. Sie war leb los und kalt, knöchern. Die scharfen Kanten der Ringe drückten. »Nochmals: besten Dank!« Er nickte, nahm die Jacke in den Arm und sah, wie ihn die Siamkatze prüfend anstarrte. Dann schloß sich die Tür aus Palisanderfurnier. Als Tomas auf den Lift wartete, stellte er fest, daß er eine Gänsehaut hatte.
38
Am Nachmittag des nächsten Tages wurde seine leidlich gute Laune gründlich verdorben. Der Verdacht, daß sich in einer abgeschlossenen Wohnsiedlung von rund tausend Fa milien unbeobachtete Dramen ab spielten, wurde weiter genährt. To mas verließ das Haus, um die täg liche Ration Zigaretten zu holen. »Verzeihen, Herr!« Er drehte sich um. Hinter ihm stand ein Mann, etwa dreißig Jahre alt und mit den typischen Zügen des spani schen Zigeuners. Viel schwarzes Haar, brennende Augen in einem schmalen Gesicht. Der Mann sah aus, als leide er an Schwindsucht. Seine Finger krallten sich um Tomas Arm. »Ja?« Tomas entfernte die Hand und sah unwillig auf die schwarzen Ränder der Fingernägel. »Hier wohnen Fräulein?« Tomas runzelte die Stirn und be trachtete den Mann genauer. Die Schuhe waren ungeputzt, und die Hose wirkte abgetragen und staubig. Der Hemdkragen war vor drei Wo chen weiß gewesen. »Hier wohnen viele Fräuleins.« Tomas deutete auf die zahlreichen jungen Mütter, die ihre spielenden Kleinkinder im Sandkasten beauf sichtigten und über Waschpulver oder über ihre Männer sprachen. »Ja? Fräulein, groß, schlank. Rote Haar, so lang! Grüne Augen. Sie kennen Fräulein?«
DIE ROTHAARIGE
Eine entsprechende Bewegung bei der Hände deutete die Umrisse an. Es schien sich um eine einmalige Dame zu handeln. Der Zigeuner blick te Tomas flehentlich an; er schien auf jedes zustimmende Wort zu warten. »Tut mir leid, aber ich kenne kein Fräulein, die so aussieht. Sie lebt auch nicht in einem dieser acht Häuser, denn ich wohne seit fast zwei Jah ren hier. Ich müßte sie kennen.« Der Zigeuner rührte sich nicht. Sein Gesicht wurde verschlossen, und er breitete mutlos beide Arme aus. »Entschuldigen!« sagte er und wand te sich ab. »Bitte«, sagte Tomas und ging auf den weißen Platten zwischen neuge pflanzten Bäumen und spielenden Kindern bis zum Supermarkt. Er kaufte Zigaretten und eine Zweili terflasche billigen Rotwein und ging wieder zurück. Der schwarzhaarige, hungrig aussehende Mann saß auf einem der Betonwinkel der Beleuch tung und sah Tomas entgegen. Er starrte ihm nach, bis er im Haus ver
schwunden war. Tomas fühlte die Blicke wie Messerspitzen im Rücken. Tomas Fischer ernährte sich von dem Bedürfnis anderer, vor dem Ein schlafen lesen zu wollen; er stellte Unterhaltungsliteratur her. Er ver diente so, wie er schrieb, nämlich mittelmäßig. Schriebe er besser, wür de er vermutlich verhungert sein. Er
konnte sich einen Smoking, einen ge brauchten englischen Sportwagen und gelegentlich - meist in Begleitung von jungen Mädchen - ein teures Essen in einem teuren Lokal leisten. Tomas war groß, schlank und braun äugig. Durch das lange Sitzen vor der Schreibmaschine hatte er ab und zu Kreuzschmerzen. Außer der Be fürchtung, dick zu werden, war er im Augenblick sorglos und glaubte, in der nächsten Zeit einigermaßen gut über die Runden zu kommen. Zwei Tage später, gegen ein Uhr, klingelte es. Er saß im roten Bade mantel am Schreibtisch und las die Zeitung. Tomas ging zur Tür und öffnete. Der Hausmeister stand im Korridor. »Herr Molnar?« »Sie haben doch neulich der alten Dame geholfen, Herr Fischer, ntdit wahr?« »Ja«, erwiderte Tomas mürrisch, »ist sie wieder ausgezogen?« »Im Gegenteil. Ich habe sie eben vor dem Lift getroffen. Sie sollen heute um drei zu ihr zum Karfee kommen. hat sie gesagt. Drei Uhr nachmit tags.« »Na ja«, erwiderte Tomas kurz, »Wohltun bringt Zinsen. Danke, Herr Molnar.« Der Hausmeister nickte und ging. Tomas zog die Schultern hoch. Eine wenig reizvolle Vision tauchte auf: dünner Kaffee in altmodischen Tas 39
HANS KNEIFEL
sen mit Goldrand und Kuchen, der so trocken war, daß er vom Teller sprang. »Gar nicht lustig«, sagte er, »viel leicht kennt sie einen Verleger.« Er ersparte es sich, den obligaten Blumenstrauß zu kaufen, und hoff te, diesen Mangel durch seinen kargen Charme auszugleichen. Zehn Minu ten nach drei Uhr klingelte er. Nie ves Dalmar stand über dem Klingel knopf. Merkwürdiger Name, dachte Tomas, dann klingelte er. Als er hin ter der Tür die trippelnden Schritte der Alten hörte, konnte er einen un deutlichen Schauder nicht UnterdrÜk ken. Die Tür ging auf - und Tomas erschrak bis ins Mark. »Tomas Fischer«, sagte er und räus perte sich. »Verzeihen Sie, ich bin offensichtlich ein Stockwerk zu weit gefahren.« Das Mädchen lächelte ihn an und öffnete die Tür noch mehr. Hinter ihr saß Osiris auf der Schwelle und starrte Tomas regungslos an. »Wenn Sie der junge Mann sind, der meiner Tante beim Umzug geholfen hat, sind Sie hier richtig. Sie schei nen überrascht zu sein?« Tomas ging einen Schritt näher. Es roch stark nach Kaffee, und in der Kanne mußte ein höllisches Gebräu sein. »Einigermaßen, ja. Ich erwartete eine etwas . . . reifere Dame.« »Kommen Sie herein, ich bin die 40
Nichte. Meine Tante ist verhindert. Ich hätte es schlimmer treffen kön nen«, fügte sie hinzu. Hinter To mas schloß sich die Tür. »Nett haben Sie es hier«, sagte er und sah sich im Wohnraum um. Die bleiche Sonne des Herbstnachmittags leuchtete durch die Glaswand und brachte die Farben zur Geltung. Den Boden bedeckte ein beiger Spann teppich, darauf lag ein riesiges wei ßes Ding mit langen Haaren. Es hät ten zusammengenähte Ziegenfelle sein können. Die wenigen Möbel wa ren modern und von erlesener Schön heit. Sie harmonierten mit lederüber zogenen Schaumstoffwürfeln, die ent lang einer Wand eine vier Meter lange Couch bildeten. Auf einem wertvol len Stereoplattenspieler rotierte Stra winskys Weihe des Frühlings. »Ihr Platz ist hier«-, sagte das Mäd chen. Tomas setzte sich vorsichtig in den hochlehnigen Sessel. »Erstaunlich«, sagte er und sah in die grünen Augen des Mädchens. Die Farbe war die der Greisinnenaugen. »Wer oder was ist erstaunlich?« fragte sie. Sie hatte herrliches Haar, das bis knapp zu den Schultern reich te und dessen Farbe zwischen dunkel rot und kastanienfarben schwankte. Über dem rechten Auge begann eine graue Strähne. »Ich dachte an eine weißhaarige Dame und war erstaunt, als Sie öff neten«, sagte Tomas. Sie lachte.
DIE ROTHAARIGE
»Mit Milch und Zucker?« »Wie?« fragte er zerstreut. »Möchten Sie Ihren Kaffee mit Milch und Zucker oder ohne?« Er war verwirrt und löste seinen Blick nur zögernd von dem weißen Totenschädel, der auf einem kostbar gebundenen Buch lag. Dieses Buch wiederum befand sich in einem Fach des weißen Regals. Es war ein außer gewöhnlich kleiner Schädel mit zier lichen Zähnen. »Nette Spielzeuge hat Ihre Tante«, antwortete er, »da ich eine Karaffe mit Cognac sehe, ziehe ich den Kaf fee schwarz vor.« Das Geschirr war hochmodern - fin nisches Design, es war wirklich ech ter Cognac, der Kaffee war teuflisch schwarz und stark, und auf Tomas Teller lag ein Stück fetter Creme torte. »Alte Damen haben gewisse Eigen heiten«, erwiderte das Mädchen. Man muß sie ihnen nachsehen. Mei ne Tante ist andererseits eine Perle von einem Menschen.« Tomas lächelte flüchtig. »Ich zweifle nicht daran, schließlich habe ich die Nichte kennengelernt. Herzlichen Dank!« Er machte eine Geste, die den Tisch umfasste. Die einzigen alten Möbel waren das Tischchen, einige Bilder und kleine Phiolen, die einer mittel alterlichen Alchimistenküche entstam ten konnten. Tomas sah sich um,
dann blickte er wieder das Mädchen an. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Sonst erzähle ich immer dumme Witze und wirke auf meine Art recht unter haltsam, aber im Augenblick bin ich etwas irritiert.« Sie zog sehenswerte Beine in teuren Strümpfen zu sich heran und lehnte gegen das Leder der Sitzbank. »Irritiert? Meinetwegen?« »Auch«, sagte er. »Und tun Sie nicht so, als ob Sie es nicht gemerkt hätten. Gutaussehende Mädchen laden mich selten zum Kaffee ein. Und dazu noch zu einem derart starken Kaffee. Wieviel Pfund nehmen Sie pro Tasse - oder hat Tantchen ihn schnell ge kocht, ehe sie fortging?« Sie schüttelte den Kopf, das Haar flog zurück, und die Antwort hatte er so oder ähnlich erwartet. »Ich habe ihn gekocht. Kaffeekochen gehört zu meinen wenigen Fähig keiten.« Tomas lachte verlegen. »Sie scherzen. Welchen Job haben Sie, wenn ich fragen darf?« »Sie dürfen. Ich vertrete ein Werk, das Spezialkosmetik herstellt. Ich rei se ziemlich viel, und meistens wohne ich in der Zwischenzeit bei Tantchen. Sie sind ein berühmter Schriftstel ler, habe ich von Tante Nieves er fahren?« Tomas winkte mit beiden Händen ab.
HANS KNEIFEL
»Sie hat's von Molnar, dem Haus meister. Er denkt es, weil ich ge wöhnlich erst mittags aufstehe. Aber ich mache selten vor zwei, drei Uhr nachts Schluß.« Ihre Figur war das Atemberaubend ste, das er seit zehn Jahren gesehen hatte. Vorausgesetzt, die Manipula tionen hielten sich in Grenzen. Er abonnierte Playboy, las deutsche Il lustrierte, kannte daher manches und wunderte sich kaum mehr über die Eigentümlichkeiten weiblicher Ana tomie. »Was schreiben Sie?« fragte sie. »Bücher«, antwortete er kurz. »Las sen wir das Thema . . . wenn Sie wieder in Madrid oder Kapstadt aus dem Jet steigen, kaufen Sie eines. Ich schreibe Ihnen dann eine lustige Wid mung hinein. Ihre Tante ist über raschend modern eingerichtet.« Sie betrachtete ihn sehr genau. Und er begann sich wie vor einem Rönt genschirm zu fühlen. Osiris schlich an seinen Beinen vorbei, sprang mit einem virtuosen Satz auf die Couch und rollte sich zusammen. Vier grü ne Augen musterten ihn, während die wilde Musik Strawinsky spielte. Wieder begann er, sich unruhig und unsicher zu fühlen. Er balancierte den Teller auf seiner Hand und spieß te eine kandierte Kirsche auf. »Ich bin es zwar gewöhnt«, scherzte er, »im Rampenlicht zu stehen, aber Ihre Katze und Sie - Sie sollten sich 42
einmal im Spiegel sehen. Ich habe den Eindruck, Sie beide mustern mich ausgesprochen gnadenlos.« Sie lachte laut und herzlich. »Das hat keinen besonderen Grund«, erwiderte sie dann und trank einen Schluck aus ihrer Tasse. »Ich sehe je den sehr genau an, und außerdem ge nieße ich es, mit einem charmanten jungen Mann hier zu sitzen und zu plaudern.« »Verdammt«, sagte er. Das Vokabu lar von Tante und Nichte war fast identisch. »Und ich habe immer ge glaubt, erst bei Damen ab neunund dreißig Chancen zu haben. Sollten Sie die Ausnahme in meinem ver gammelten Leben sein?« Sie zupfte an einem Ohr der Katze, Osiris blinzelte verschwörerisch. »Wer weiß . . .?« sagte sie lächelnd. Jetzt glich sie Mona Lisa, Lucretia Borgia und Cleopatra, trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre. Ihre Haut hatte die Farbe dunklen Honigs, und die Hände waren eine kleine Sensa tion mit langen, golden lackierten Nägeln. Sie trug einen ähnlichen oder sogar denselben Ring wie ihre Tante, auch am Mittelfinger der Linken. Eine Viertelstunde später, nach drei Tas sen Kaffee mit Cognac, hatte Tomas seine Befangenheit überwunden und begann, sich wohlzufühlen. Die an dersartige, aber zwingende Atmo sphäre dieses Zimmers verstärkte
DIE ROTHAARIGE
sich, als es zu dunkeln begann. Dazu kam, daß sich dieses Mädchen ein deutig für ihn interessierte; das war ein sicheres Mittel, auch aus einem Misanthropen Funken zu schlagen. Er erfuhr ihren Namen, sie hieß wie ihre Tante und das, sagte sie, bedeute so viel wie >frischgefallener Schneeprägende Kraft des Normativen< bedeutet. Je mand, der sich einbildet, krank zu sein, wird daran sterben. Die Karneolschildkröte ist für die Familie das Symbol der Unsterblich keit, das Zeichen des Lebens. Keiner, der es verloren hatte, lebte nachher noch lange.« Tomas nahm ihr die Zigarette aus den Fingern und schnippte die Asche ab. »Ich weiß, es gibt solche Abhängig keiten. Wenn du glaubst, die Kar neolschildkröte zu brauchen - ich
HANS KNEIFEL
werde sie dir nicht stehlen. Trotz dem finde ich deinen Busen attrakti ver ohne das runde Ding.« Sie machte zwei aufregende Bewe gungen, und nur die dünne Kette war noch um ihren Hals zu sehen. »Ich trage die Schildkröte dir zuliebe auf dem Rücken«, sagte Nieves. Sie lächelte, und er küßte sie. Er ließ sich zurückfallen auf das warme Leder. »Lassen wir uns die gegenseitigen Verrücktheiten. Wie lange wird es dauern mit uns beiden?« Sie preßte sich eng an ihn. »Solange du willst. Ich sehe keinen Grund, dich mit anderen Männern zu betrügen. Ich war allen meinen Geliebten treu, bis sie starben.« Er grinste ihr ins Gesicht und hielt sie an den Schultern etwas zurück. »Auf deinen Reisen bist du nur Ge schäftsfrau . , . oder Geschäftsmäd chen?« »Nichts anderes. Wenn ich von mei nen Flügen zurückkomme - wirst du auf mich warten? Wirst du da sein, wenn ich anrufe?« Er spielte mit der Kette und strich die graue Strähne aus ihrer Stirn. »Heute, morgen . . . ja. Übermor gen? Vielleicht. Du darfst nicht zu lange wegbleiben, Nieves.« Sie richtete sich auf, ging hinüber zum weißen Regal und nahm etwas aus einer Kassette. Sie öffnete die Hand und zeigte ihm einen Schlüs sel für ein Sicherheitsschloß. 52
»Ich riskiere es, dir zu vertrauen.
Das ist der Schlüssel dieser Woh nung. Benütze ihn niemals, ohne
vorher anzurufen. Benütze ihn, wenn
ich da bin. Versprichst du es mir?«
In dieser Situation hätte Tomas Nie ves alles versprochen außer der Ehe.
Er bemühte sich, den Verstand einzu schalten, überlegte sekundenlang und
erwiderte:
»Ich verspreche es, Nieves, wirk lich.«
»Gut. Hier ist er. Benutze ihn nur,
wenn ich hier bin, niemals sonst.«
Sie versenkte ihn in die Brusttasche
seiner Anzugsjacke.
Es war fast zwei Uhr. Die Nacht eilte
mit Riesenschritten. Sie liebten sich
mit ertrinkender Atemlosigkeit, als
gäbe es kein Morgen. Beide wollten
sie, daß es ein Morgen gäbe. Sie
trennten sich am nächsten Tag gegen
Mittag, nach einem Frühstück, das
Nieves zubereitete, diesmal in einem
roten Hemd aus hauchdünnem Wild leder, unter dem sie nichts trug als
ihre Haut. Tomas fuhr in den Fünf zehnten, las kurz in der Zeitung und
schlief bis abends. Als er in der
Dunkelheit erwachte, kamen die Ge danken, die fürchterlichen Partner der
Vernunft.
Er liebte nicht, er war nicht verliebt
.., er war verzaubert worden. Er
fühlte sich leer, ausgebrannt und er kannte jedenfalls den Begriff >ver fallen< ziemlich genau. Er badete,
DIE ROTHAARIGE
trank eine Kanne Kaffee leer und be endete die letzten fünfzehn Seiten des Manuskripts. Er schaffte es in der Hälfte der sonst üblichen Zeit. Die folgende Woche arbeitete er wie ein Rasender, um zwischen sich und die Nacht mit Nieves einen so gro ßen Abstand zu bringen, der es ihm erlaubte, alles mit kalter Reife zu betrachten. Er schaffte es bis genau zu jenem Abend, an dem er irgend wo eingeladen war und nachts um ein Uhr, die Pelzjacke über dem Smoking, aus dem heißgefahrenen Wagen stieg. Er blieb stehen, starrte die Front des Hochhauses an. ». . . fünf . . . sieben. Was ist das?« Hinter den Schleiern des Vorhanges bewegten sich zwei Schatten. Zwei schlanke, schnelle Schatten mit ru dernden Armen, hastig und schnell. Kein Zweifel - in der kleinen Woh nung ging etwas vor. Langsam ging Tomas näher. Rechts von ihm bildete sich Reif an den schwarzen Ästen der Büsche. Die Lichter unter den Betonwinkeln strahlten böse, die Platten des We ges hatten nasse Fugen. Irgendwo klirrte Glas, und ein Hund bellte. Dann mehrere. Schließlich stimmten die kleinen Pudel, Dackel, Terrier und Spaniels, die in den acht Häu sern lebten, in das Kläffen ein. Ein Fenster wurde aufgerissen, und eine Männerstimme schrie, sich überschla
gend: »Ruhe!« Der Erfolg war gleich Null. Ein höllischer Spektakel brach los. Tomas fühlte in seinem Magen einen harten Klumpen und begann zu laufen. Er rutschte auf den glatten Steinen aus und schloß die Tür auf. Vor dem Lift wußte er, was zu tun war. Er würde zu sich hinauffahren, Nieves anrufen und es zehnmal läu ten lassen, wenn sie nicht abhob. Es war ihre Silhouette gewesen, nicht die der Alten. Keuchend sprang er aus dem Lift, sein Herz schlug wie ra send. Er warf die Jacke achtlos in den Korridor, schloß die Tür und öff nete die andere Tür zum Wohn raum. Sein Telefon stand in einem Stringregal links vor der Glaswand. Er schaltete die Korblampe an und blieb stehen, als habe man ihn in den Magen getroffen. Auf dem Balkon stand Nieves, splitternackt, und jetzt berührte sie die Glastür. Sie öffnete sich, obwohl der Sperrhebel nach oben umgelegt war. Das Mädchen kam ins Zimmer, zitternd vor Angst und Kälte. Hinter ihr blieb die Tür offen. Das Hundegebell war mörderisch laut, dauerte mit unverminderter Heftigkeit an. »Nieves . . . was . . .?« Er umarmte sie flüchtig, trat die Tür mit dem Fuß zu und raste in den Flur. Er hob die Pelzjacke auf und hängte sie um die Schultern des Mäd chens. Tomas sah die Spuren von 53
HANS KNEIFEL
Fingern an den Oberarmen des Mäd chens. »Was ist los?« fragte er, sich müh sam zur Ruhe zwingend. »Der Zigeuner. Er wollte mich ver gewaltigen. Osiris hat ihm das Ge sicht zerkratzt, und dann versuchte er, mir die Schildkröte abzureißen. Ich . . .« Sie öffnete die Hand und hielt ihm das Amulett entgegen. Das Goldkett chen war zerrissen. »Wie kommst du auf den Balkon, Nieves?« fragte er leise. Sie sah ihn ratlos an und schwieg. Er nahm sie vorsichtig bei den Schul tern und zog sie an sich. »Frage mich bitte nicht«, flüsterte sie. »Wenn du mich liebst, frage mich niemals. Nimm alles, wie es ist. Ja?« »Mal sehen«, sagte er und hob sie auf. Er öffnete die Tür mit dem Knie und trug Nieves ins Bad, setzte sie auf den Rand der Wanne. »Du kannst jetzt duschen und mei nen Bademantel anziehen«, sagte er. »Ich bin gleich wieder zurück.« Sie erschrak wieder: Ihr Gesicht wur de unnatürlich bleich. »Wohin gehst du?« »Wenn du mich liebst, frage nie mals«, erwiderte er und grinste grimmig. »Ich bin in fünf Minuten wieder da.« Er ging in den Schlafraum, öffnete das oberste Fach des Schrankes, des sen Vorderseite mit der fotografi 54
sehen Wiedergabe ägyptischer Wand malerien beklebt war und wickelte die kleine Pistole aus der Decke. Er zog den Schlitten zurück, entsicherte die Waffe und zog einen Handschuh an. Dann steckte er die blauschwarze Pistole in die Innentasche der Smo king jacke. Er verließ die Wohnung, fuhr in den siebenten Stock hinunter und ging schnell und geräuschlos auf die Tür zu. Er holte die Waffe her vor, nahm sie in die behandschuhte Rechte und schloß auf. Osiris, der auf dem Ablagebrett saß, sprang auf Tomas' Schulter und schlug seine Krallen in den Schalkragen. »Ruhig, Osiris«, sagte Tomas und stieß die Tür zum Wohnraum auf. »Halt.« Der Zigeuner stand in der Mitte des Raumes, eine leere Flasche in der Hand und starrte Tomas an. Tomas richtete die Waffe auf ihn. »Schnell!« sagte er knurrend. »Die Flasche weglegen, die Taschen aus leeren. Du bist hier kein erwünsch ter Gast!« Wortlos, aber ohne Tomas aus den Augen zu lassen, gehorchte der Mann. Tomas konnte den stechenden Blick der brennenden Augen nicht ertra gen, aber er wartete geduldig. In den Taschen war nichts, das so aus sah, als könne es der Alten oder Nie ves gehören. »Steck den Krempel wieder ein«, sagte Tomas hart, »und dann ver
DIE ROTHAARIGE
schwinde. Wenn ich dich hier in der Nähe des Hauses noch einmal sehen sollte, bringe ich dich um. Damit! Er hob die Pistole und zielte ins Ge sicht des anderen Mannes. Der Zi geuner, der noch jämmerlicher, ver zweifelter und verschmutzter war, drückte sich entlang des Regals zur Tür, glitt durch den Flur und mach te schweigend die Tür hinter sich zu. Tomas wartete, bis er das Geräusch des Lifts hörte, dann legte er die Waffe auf den Tisch. Er warf die Kissen zurück auf die Couch, rich tete die Lampe auf und machte flüch tig Ordnung. Dann nahm er Osiris von der Schulter, schlug das Buch unter dem Totenkopf auf und sah, daß es ein mittelalterliches, vergilb tes Exemplar war, abgegriffen und sicher ungeheuer wertvoll. Die Schrift konnte er lesen, aber nur wenige Brocken Latein verstehen. »Jetzt hast du, Tomas, was du nie mals wolltest«, brummte er. »Mit ten in einer Tragödie drin. Und in was für einer dazu!« Er bedeutete Osiris, ihm nicht nach zulaufen, steckte die Waffe ein und löschte die Beleuchtung. Mit seinem Schlüssel versperrte er die Tür, ging leise zum Lift und fuhr in seine Wohnung hinauf. Nieves saß auf dem Schreibtisch und hatte sich be ruhigt. Das wütende Kläffen der Hunde war vorbei. Wieder lagen Ruhe und
Nebel über den Häusern, über dem
bereiften Rasen und den schwarzen
Ästen. In der Ferne blinkten die
Lichter des Fernsehturmes.
»Ich habe den Zigeuner aus der
Wohnung der Tante entfernt und
ihm versprochen, ihn umzubringen,
wenn ich ihn noch einmal sehe.«
Sie starrte ihn wortlos an, als er die
Waffe aus der Tasche nahm, sie sorg fältig entlud und wieder im Schrank
verstaute.
»Ich bleib heute bei dir«, sagte sie.
»In deiner Arbeitswohnung. In dei nen Funktionsräumen.«
Er nickte.
»Du wirst sie nicht entweihen«, sag te er dann.
Bevor er einschlief - er spürte ihren
Körper an seiner Schulter und an
den Knien -, dachte er nach. Mor gen würde er versuchen, alle Dinge
in ein logisches System zu bringen,
aber er fürchtete, daß sie sich nicht
einfach unterbringen ließen. Er schlief
ein, matt und erschöpft, aber nicht
glücklich. Seine Gedanken suchten
ihn heim und verschafften ihm Träu me, so daß er froh war, sich ihrer nach dem Wachwerden nicht mehr erinnern zu können. Nives Dalmar flog nach Rom, dann nach Zürich; sie war diese Woche nicht in der Stadt. Tomas Fischer arbeitete viel und, wie er hoffte, mit guten Resultaten. Er traf sich am 55
HANS KNE1FEL
Freitag mit einem Abteilungsleiter des Verlags, und sie blieben in einer Bar sitzen, bis es drei Uhr war. To mas, nicht mehr ganz nüchtern, fuhr mit dem Sportwagen mehr als vor sichtig über die eisglatten Straßen, verhinderte mit Mühe eine Kollision und stellte den Wagen dann direkt vor dem Haus ab; durch einen Zu fall gab es einen Parkplatz. Es war bitter kalt. Mit hochgestelltem Mantelkragen ging er auf das Haus zu, wieder war hinter den Vorhängen des Apartments Licht. Er hatte sich diesen Blick schon angewöhnt. Eine sternklare Nacht, ein blasser, hämisch grinsender Mond und eine Sternschnuppe, die den Himmel teilte. Tomas steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte-ihn um. Geräusche . . . dann ein Laut, den er ein einziges Mal in seinem Leben ge hört hatte. Er fuhr herum, erinnerte sich und schloß auf. Dann steckte er den Schlüssel ein, schüttelte verwirrt den Kopf und ging scharf nach rechts. Auf beiden Seiten des Treppenhauses waren weitere, aber weniger breite Eingänge. Er öffnete die Tür und blieb stehen. Dieses Bild kannte er. Er war fünfzig Meter vor der Stelle entlanggegangen, als die nerven kranke Frau aus dem zehnten Stock des Nachbarhauses gesprungen war. Er hatte sich das Geräusch des Auf 56
pralls, mit dem ein menschlicher Körper auf die Steine schlug, unaus löschlich eingeprägt. Vor ihm, vier Meter entfernt, lag ein Mann auf den eiskalten Fliesen. Blut floß aus den Ohren und dem Mund, und Arme und Beine waren so ausgestreckt, daß der Körper ein Kreuz bildete. Vor sichtig ging Tomas näher, kauerte sich hin und überwand seinen Ekel. Er faßte den Kopf am Haar und drehte ihn herum. Es war der Zigeuner — so tot, wie jemand nur tot sein konn te. Sein Gesicht trug undeutlich die verheilten Spuren der Katzenkrallen und ein Muster aus Schnitten, die noch bluteten. Das Gesicht und beim näheren Hinsehen auch .die Hände waren förmlich eine blutige Masse, kreuz und quer zerfetzt. Eine Hand des Toten war offen; die Finger zuckten noch ein wenig. Die andere war zu einer Faust geballt. Tomas richtete sich auf und sah sich um. Niemand war in der Nähe, nur fünf undzwanzig Meter entfernt, nach einem Wiesenstreifen, der Böschung des Baches und einigen schwarzen Baumstämmen, fuhr ein Wagen lang sam über das Eis. »Die Karneolschildkröte ... «, mur melte Tomas. Er zog die Handschuhe wieder an, schüttelte sich vor Kälte und Entset zen und versuchte, die Finger der Faust aufzubiegen. Er schaffte es nach Minuten. Dann hob er den runden
DIE R O T H A A R I G E
Stein hoch, und das zerrissene Gold kettchen rutschte aus dem Loch des
Amuletts. Tomas floh zurück ins
Licht und in die Wärme des Ein gangs, riß die Lifttür auf und starr te in den Spiegel. Er sah ein leichen fahles Gesicht. Seine Finger zitterten,
und am ganzen Körper hatte er
Gänsehaut, fror und schwitzte gleich zeitig. Er steckte das Amulett in die
Hosentasche und öffnete seine Woh nung, darauf gefaßt, Nieves auf
dem Balkon vorzufinden oder im
Zimmer.
»Nichts«, sagte er. Er griff nach dem
Telefon.
5-9-8-8-8-2
Das Freizeichen. Dreimal, viermal.
Dann knackte es in der Leitung, pol ternde Geräusche. Ein Ton, als blase
jemand gegen die Sprechmuschel. To mas runzelte die Stirn. Dann erkann te er die Bedeutung dieses Geräusches.
Es war die Katze, die den Hörer aus
der Auflage geworfen hatte und fau chend vor der Muschel saß. Osiris
fauchte und miaute dann klagend.
Tomas warf den Hörer zurück. Er
blieb einige Sekunden vor der Glas scheibe des Fensters stehen und sah
hinaus, ohne etwas wahrzunehmen.
Was sollte er tun?
In seiner Hand lag der Schlüssel des
Apartments. Der tote Zigeuner ver blutete neben dem Haus . . . Tomas
rannnte hinaus in den Flur, riß die
Handschuhe aus der Manteltasche und
warf die Tür zu. Er rannte hinaus auf den Balkon des Treppenhauses, öffnete die Tür zur Treppe und rannte acht Treppen hinunter. Dann huschte er, die Handschuhe an den Fingern, wie der zurück in die eisige Luft des Bal kons. Drei Blutstropfen waren auf dem Beton zu erkennen, die Spuren von blutenden Händen am Vierkantstahl des Geländers. Tomas öffnete die Tür zum Korridor, drückte rechts den Lichtknopf und sah die Spur, die von der angelehnten Tür der Wohnung bis zu seinen Füßen führ te. Blutstropfen, mindestens fünfzig Stück, unregelmäßig wie die Fährte eines sterbenden Tieres. Er rannte auf Zehenspitzen den Korridor entlang, riß die Tür auf, schloß sie und lehnte sich keuchend mit dem Rücken dagegen. Die Tür zum Wohnraum stand offen, und auf dem Teppich waren Blutflecke. Osiris saß im Regal, neben dem Tele fon, und leckte die Pfoten ab. »Osiris . . .«, flüsterte Tomas. Halb auf der Couch, halb auf dem Teppich, neben einem blutigen Kis sen, lag Nieves. Tomas keuchte auf, ging Schritt für Schritt näher. Es war nicht der Körper, den er kannte, liebte, gestreichelt hatte. Es war ein Etwas, das noch im Tod zu leben schien. Oder lebendig sich verformte. Aus der runzligen Haut der Greisin wurde langsam, in einem Prozeß, der zu beobachten war, der Mädchen 57
HANS KNEIFEL
körper. Das Haar rollte sich lang sam auf, wie eine erwachende Pflan ze. Tomas atmete röchelnd, sein Herz hämmerte wie eine Maschine, die Kehle war trocken. Er zwang sich dazu, näherzugehen. Die Katze, er warf einen schnellen Blick hinüber, saß ruhig da, neben dem herunter geworfenen schwarzen Hörer, und leckte die blutigen Krallen und das blutige Fell sauber. Es schien ihr zu schmecken. »Nieves!« Tomas nahm wie in Trance das Amulett aus der Tasche, machte mit zitternden Fingern einen Knoten in die Goldkette und zog die Kette vor sichtig über den Kopf. Immer mehr Falten verschwanden, es verschwan den auch die Würgemale an der Sei te des Halses, die Tomas sehen konn te. Er blieb einige Zeit stehen, starr und unfähig, etwas zu tun, dann entschloß er sich, zu handeln. Er richtete die Lampe auf und bemerk te, daß hier ein wütender Kampf stattgefunden hatte, ein Kampf um Leben und Tod. Er nahm ein feuchtes Handtuch aus der Küche, streute Reinigungsmittel darauf und spähte durch die Spionlinse der Tür. Der Korridor war dunkel. Eine Mi nute später hatte er, fieberhaft ar beitend, die Blutspuren beseitigt. Als er den Korridor entlangsah, bemerk te er kaum noch die Spuren seiner Tätigkeit. 58
Zurück in die Wohnung, die Tür zu. Der Lappen verschwand in der Kü che, im Spülwasser, das Tomas auf drehte. Dann legte er den Hörer zu rück, nahm die Katze aus dem Fach und blieb stehen. Was war geschehen? Er versuchte zu rekonstruieren. Der Zigeuner hatte es verstanden, sich Eintritt zu verschaffen. Er mußte sich auf die alte Dame gestürzt ha ben, mit nur dem Ziel, ihr das Fa milienamulett vom Hals zu reißen. Nieves Dalmar hatte sich gewehrt, weil es um ihr Leben ging. Zuerst hatte der Zigeuner ihr das Amulett abgerissen, dann war Osiris über ihn gekommen. Zu diesem Zeitpunkt mußte Nieves entweder tot gewesen sein oder niedergeschlagen. Dann war der Zigeuner mit der Katze, die ihm das Gesicht und als er sich wehrte auch die Hände zerfleischte, hinaus auf den Korridor gerast, durch die Tür .. . und hinaus auf den Balkon. Entweder hatte er es nicht gemerkt, oder er war am Ende seiner Kräfte oder seines Weges gewesen. Er war über die Brüstung gesprungen. »So war es«, sagte Tomas mit aus gedörrten Lippeni Bis jetzt war sein Verstand beschäf tigt gewesen. Jetzt, da dieses Pro blem gelöst schien, sah er sich wieder mit der Person konfrontiert. Nieves Dalmar. Lebte sie, oder war sie tot? Oder
DIE ROTHAARIGE
war das, was er sah, nicht das Mäd chen, nicht die alte Dame? Die plötz liche Erkenntnis dessen, was es - sie - wirklich war, ließ ihn taumeln. Er zwang sich, hinzusehen. Die Ver wandlung von einer fünfundsechzig jährigen Frau zu einem Mädchen von fünfundzwanzig bot ein derart fas zinierendesund abstoßendes Bild, daß Tomas noch immer nicht begriff. Was konnte er tun? Nichts mehr. Er hatte der . . . der Hexe, ja, das war es, ihr Amulett zurückgegeben, hatte die Spuren beseitigt, hatte das Tele fon wieder aufgelegt. Alles, was jetzt geschah, entzog sich seiner Kontrolle. »Das war es, Osiris«, flüsterte er und mußte sich räuspern. »Sag ihr, daß ich hier war.« Er schaltete das Licht aus, legte den Schlüssel auf den Tisch, drehte auch die Beleuchtung im Flur ab und ver ließ die Wohnung. Vorsichtig und lautlos schloß er die Palisandertür. Langsam ging er hinaus auf den Bal kon und kletterte nach oben. Er ver mied es, über die Brüstung zu blik ken. In seiner Wohnung fiel er in einen Sessel, goß sich ein Glas voll Whisky ein und trank es in drei Zü gen aus. Nieves, die Hexe. Schlagartig fielen ihm zahllose Äuße rungen ein, bildete sich ein dunkles Netz verwirrender Assoziationen. Tomas war bleich, schwitzte, obwohl
er fror, und die Hände zitterten noch immer. Er zog die nassen Handschuhe aus. Ich blieb bei den Männern bis zu ihrem Tod. Der Schädel, das Zau berbuch, sogar der Hexenmantel in moderner Version. Es war atembe raubend logisch in einer Art Logik der Verrücktheit. Das Amulett, alt wie die Sumerer. Die Verwandlung - Tante Nieves und das Mädchen. Der Rabe, die Katze namens Osiris, die eigentümliche und beziehungs volle Musik. Der Job und die Rei sen: Vertreterin von kosmetischen Produkten. Unter der Wucht des plötzlichen Erkennens schüttelte sich Tomas. Nieves, überraschend und völlig nackt auf seinem Balkon . . . »Es gibt nur eine Frau . . .«, flü sterte er wie im Fieber. Die Alte und das Mädchen waren ein und dieselbe Person. Und . . . dieses unbegreifliche Etwas - war es noch ein Mensch? - lag dort unten und verwandelte sich. Ver mutlich in eine junge, begehrenswerte Frau, denn Tomas hatte ihr das Amulett zurückgegeben, die Karne olschildkröte. »Ich war«, hatte sie gesagt, »allen meinen Liebhabern treu bis zum Tod.« Tomas schluckte. Er wartete nun, ge lähmt und voller Schrecken. Er glaub te, ein exotisches Gift durch seinen Kreislauf rasen zu fühlen. Worauf wartete er eigentlich? 59
HANS KNEIFEL
»Ja ... worauf warte ich?« fragte er sich. Er wußte es nicht. Aber er begann zu ahnen, daß ihn unsichtbare Ket ten an dieses alterlose Zwitterwesen zwischen Greisin und Mädchen fes selten, das dort unten, weit unter ihm, durch Betonschotten und Böden getrennt, eine erstaunliche Wandlung durchlief. Was erwartete ihn? Er wußte es nicht. Es begann ihm zu grauen. Jetzt erfuhr er am eigenen Leib, was er oft beschrieben hatte: Der Klumpen in seinem Magen löste sich auf und überschwemmte seinen Körper mit Übelkeit. Er lief schnell
60
ins Bad und übergab sich. Was im mer ihn erwartete - es war sinnlos, den Versuch des Entkommens zu wa gen. Zum erstenmal in seinem Leben fühlte Tomas Fischer nackte, brutale Furcht. Er lehnte die schweißbedeck te Stirn an die Fensterscheibe und sah die Lichter unter sich wie durch einen Nebel. Die Angst hatte ihn gepackt. Seine Zähne schlugen aufeinander, und er wartete, voll bleichen Entset zens. Plötzlich würde sie wieder auf dem Balkon stehen, ihm lächelnd entgegengehen und ihre Krallen in seine Schultern schlagen. Sie würde ihm treu bleiben bis zu seinem Tod.
Das Elixier von
Jane Rice
Es nahm alles in Cläre Holloways Kellerbar seinen Lauf. Die Dinge neh men gern in Cläre Holloways Kel lerbar ihren Lauf. Cläre Holloways Kellerbar ist nun mal so. Und Cläre Holloway ist auch so. Sie hat einen untrüglichen Sinn für das Ausgefal lene, was zweifellos in gewissem Maße ihren Erfolg als Antiquitäten händlerin erklärt. Ich meine damit, daß die meisten An tiquitätenhändler sich normal kleiden, benehmen und einen normalen Preis aufschlag für ihre alten Rollenbetten und ihre schundigen grünen Glasfla schen nehmen. Cläre Holloway klei det sich so, wie >Bolero< klingt, wenn Sie mich verstehen - an der Stelle, wo die Musik raffiniert in ein Tempo überwechselt, bei dem man sich auf die Hinterbeine stellen und jemand seine gesellschaftlichen Bindungen um die Ohren schlagen möchte. Ihr Be nehmen hat alle Eigenschaften eines Märzsturmes an einer belebten Kreu zung beim ersten Winterschlußver kaufstag. Dementsprechend ist ihr Preisaufschlag bei alten Rollenbet
ten und schundigen Glasflaschen mit den Grundstückspreisen während des Florida-Booms vergleichbar. Ihr Keller spiegelt ihre Persönlich keit bis aufs i-Tüpfchen wider. Er ist einfach das Letzte. Er hat eine Bar an einer und einen Sodawasser-Aus schank an der anderen Seite. Er hat innen eine Grube mit Bratspieß und einen kleinen, gut eingedämmten Bach, an dem nichts fehlt, nicht die Strudel, nicht die bemoosten Steine und auch nicht der Biber - ebenfalls klein und reichlich träge und unge mein scharf auf gefüllte Oliven und - nun, das müßte reichen, um Ihnen das richtige Bild zu geben. Es ist die Art von Gesellschaftszimmer, in dem einfach alles vorkommen kann - und oft genug ist das auch der Fall. Es regt einen an. Mich je denfalls. Ich kann hingehen, fest ent schlossen, mich wohlerzogen und da menhaft zu benehmen, und es endet unweigerlich damit, daß ich auspro biere, wie viele Tischtennisbälle in meinen Mund passen, oder daß ich gracie Allen imitiere, wie sie Baby 61
JANE RICE
Snooks imitiert, wenn sie Grade Allen imitiert - ist das klar!!? Oder sind Sie ebenso verwirrt wie ich? Cläre führt mich in ihrer Liste ein ladbarer Leute, nicht meiner Schau spielkunst wegen und auch nicht, weil ich zufällig nebenan, auf der an deren Seite unserer verstädterten, weltmüden Hecke lebe, sondern aus dem einfachen Grund, weil ich letz tes Jahr unabsichtlich der Mrs. Dig gots-Marksbury die Windpocken an drehte, als sie aus Versehen in meine Wohnung platzte und auf allen vie ren nach echten Holzwurmlöchern in meinem gebeizten Fichtenschreibtisch suchte, bevor sie entdeckte, daß der Schreibtisch blitzneu war, frisch vom Fließband - daß sie im falschen Haus war - und daß ich ganz und gar aus rosigen Pusteln bestand. Ich kenne Cläre nicht sehr gut (und vielleicht darf ich an dieser Stelle ein inbrünstiges >Gott sei Dank!< ein fügen), und ich könnte ebensogut versuchen, mich mit einem Gewitter sturm anzufreunden, doch ich bin von beiden fasziniert. Ich würde um nichts in der Welt eine ihrer Parties versäumen. Sie sind für mich die Angostura-Tropfen in einem Manhat tan-Cocktail, und so war mein >Re pondez-sil-vous-plait< ein erfreuli ches JA, als die >Ehre meiner An wesenheit bei ihrem HalloweenFez erbeten wurde. Ich gab also meine Zusage wie der 62
berühmte Blitz und beschloß, der Linie des geringsten Widerstandes folgend, als Hexe zu gehen. Eliza, Ebenholzjuwel, das sie ist, stemmte, als sie von dem beabsichtig ten Kostüm erfuhr, die Hände in ihre mehr als breiten Hüften und sagte; »Hmmph!« Eliza ist seit vierzehn Jahren bei mir und betrachtet mich mit voreinge nommenen Augen. Abwechselnd sind diese Augen streng, mißbilligend oder mahnend, hin und wieder auch nach sichtig, aber immer voreingenommen. Für Eliza ist jede Frau, die mit zwei undvierzig noch keinen Mann er wischt hat - mit Betonung auf dem >erwischtein hoffnungsloser Fall< hängt ganz verloren am Ende, nicht wahr? Jedenfalls sagte Eliza: »Hmmph!« Ich sagte: »Der Wäscheschrank muß neu mit Papier ausgelegt werden, und hast du schon bemerkt, was für einen herrlich braunen Schimmer das Silber bekommt, und als Abendessen
DAS ELIXIER ;
würde ich Apfelpastete vorschlagen.«
Zwecklos.
»Hmmph«, sagte Eliza. »Eine Hexe.«
>Eine Hexe«, wiederholte ich.
»Nun hören Sie, Miß Amy -«
»Eliza, ich streite nicht mit dir. Eine
Hexe.«
»Miß Amy, ich lasse nicht -«
»Eine Hexe, Eliza.« »Hmmph. Schön, alles was ich dazu zu sagen habe -« »Ist schon zuviel, Eliza.« »— ist folgendes: Wenn Sie schon die Möglichkeit haben, eine -« »Hast du nicht gehört, Eliza? Die Sache steht fest.« »— Maske aufzusetzen und tolle Klei der anzuziehen, sollten Sie doch ver nünftig sein.« »Eliza!« Eliza seufzte. »Ja, Ma'am«, sagte sie und machte sich kopfschüttelnd auf den Weg, wobei sie vor sich hin murmelte: »Keine Vernunft. Über haupt kei-ne Vernunft.« An der Tür drehte sie sich um. »Ich könnte Sie so toll wie diese Madame Pompi dor oder Königin Victrola herrich ten.« »Eine Hexe«, sagte ich fest. »Ja, Ma'am.« Sie watschelte hinaus und sagte kein Wort mehr, aber sie errang einen moralischen Sieg, in dem sie das Schrankpapier zu kurz schnitt, das Silber in den grünen Filzschächtelchen verstaute und statt Apfelpastete Brotpudding machte.
Doch als Halloween herannahte, war ich eine herrliche Hexe. Ich muß allerdings zugeben, daß ich Elizas Standpunkt einsah, als ich mich im Spiegel betrachtete. Eliza lieh mir ihren Besen und das Röstblech, das noch die größte Ähnlichkeit mit einem Hexenkessel hatte, und sie ließ sich sogar dazu herab, mir auf die Beine zu helfen und mich abzustau ben, als ich über den Besen stolperte und die Vordertreppe hinunterfiel. Unten landete ich als ein wirres Häufchen aus schwarzem Umhang, Silberschnallenschuhen und spitzem Hut — der von dem Elastikband meines Doppelkinn-Massage-Geräts festgehalten wurde und mit Alumi niumfolie-Sternen, Monden und ka balistischen Symbolen beklebt war. Sie winkte mir angeekelt zum Ab schied nach, als ich um die Grenzhecke herumging, und beschränkte sich auf zwei kurze »ts ts« anstelle des »Hmmph«. Ich bin die ewige Zufrüh-Kommerin. Es ist eine alte Gewohnheit, die sich schon während meiner Entwicklungs jahre abzeichnete, als ich fünf Meilen weit durch den neuenglischen Win ter zur Schule gehen mußte. Damals entdeckte ich, daß ich, wenn ich eine halbe Stunde zu früh kam, mein Hinterteil vor dem dicken Ofen auf tauen und ungeniert an meiner wol lenen Unterwäsche kratzen konnte. So kam ich als erste bei Cläre Hollo 63
JANE RICE
way an - nicht um mich zu kratzen mascheekatze und den mit Feldfrüch oder aufzutauen, sondern - na. Sie ten dekorierten Keller gründlich in spiziert hatte, beschloß ich, die War werden es bald genug sehen. tezeit auszunützen, indem ich mir in Ich klingelte, und Parkins ließ mich meinem Röstblech-Kessel einen He hinein, und gemeinsam rutschten wir xentrunk braute. die Treppe in den Keller hinunter. Ich mixte uns ein tolles Ding. Einen Nicht mit Absicht, wohlgemerkt. Es tüchtigen Spritzer (etwa eine Gallo war wieder der Besen, doch Parkins verriet nicht einmal durch ein Mus ne) Sprudelwasser, einen halben Li kelzucken, daß das nicht seine nor ter Gin, ein paar Bällchen Schokola male Fortbewegungsweise war, wenn deneis, vier Cherryphosphate; etwas Wermut, eine ordentliche Portion er auch »SQUONK!« sagte, als wir unsere Stegreif-Rutschpartie began und eine Spur türkischen Honig; nen, und »UFF«, als wir unten a n- einen Schuß Rye und einen Schuß kamen. Wonach er aufstand, seine Bourbon, dazu eine Handvoll Puff mais, damit die Sache Substanz be Brille zurechtrückte, seine Manschet ten schloß, die Zähne zu einem ei kam. Ich rührte immer wieder mit meinem Besenstiel um und erfand sigen Lächeln entblößte und — unter ein paar Worte, die dem Augenblick sichtbarer Verdrängung des Impul ses, mir das Röstblech um die Ohren entsprachen. Etwas wie »Igeisquigel hoppalopp igittsch«, wenn ich mich zu schlagen - mich allein ließ. recht erinnere, und die Teufelchen Ich bin gern mir selbst überlassen. rutschten näher heran und flüsterten: Wenn ich allein bin, kommen neu »Koste es. Los! Koste es.« gierige kleine Teufelchen an die Ober »Sehe ich so blöd aus?« flüsterte ich fläche und stochern und schnüffeln zynisch zurück. und stecken ihre Nasen in die un »Ja«, zischten sie. »Koste es. Los!« gewöhnlichsten Dinge. Ganz selten »Hört zu«, sagte ich, »dieses Elixier bringen sie mich mal in schwierige ist für Mrs. Diggots-Marksbury, die Situationen, wie damals im Museum, mit den Holzwurmlöchern. Und als sie mich in diese Ritterrüstung jetzt laßt mich zufrieden.« steckten und nicht mehr heraushol »Angsthase!« ten, oder damals, als sie mich über »Blödsinn!« redeten, beim Wettbewerb der Sport »Selber Blödsinn! Zimperliese!« lerschau mitzumachen und - ach, las »So ein Quatsch.« sen wir das. Es ist eine lange Liste. »Du traust dich nicht.« Auf alle Fälle, als ich, mir allein »Ach, verschwindet doch!« überlassen, den Kürbis, die Papier 64
DAS ELIXIER
Und ob du dich nicht traust!« »Verschwindet!« »Traust du dich, einen Kupfercent vom Auge eines Toten zu holen?« »Ich werde nicht -« »Aber Amy Parrish! Wir schämen uns. Wir schämen uns richtig. Bei einer Herausforderung flachliegen! Also -« »Ich liege nicht flach. Ich stehe ganz kerzengerade da.« »Du weißt, was wir meinen.« »Trotzdem, ich werde einfach nicht -« »Wir schämen uns. Das ist es. Wir sind gedemütigt. Wie sollen wir je wieder die Köpfe oben tragen? Also, Amy Parrish, wir schämen uns zu Tode.« »N-a j-a, wenn ihr es so auslegt . . .«
»Jetzt spricht die Vernunft aus dir.«
»Nur einen Schluck.«
»Braves Mädchen.«
»Nur einen ganz kleinen Schluck.«
»Zum Teufel, halte endlich den
Mund und lasse Taten sprechen!«
Ich klaute mir eine Mickymaus-Tas se, stellte sie aber wieder ab und
nahm statt dessen eine Art Becher
- angeschlagen, mit einem Sprung, schwarz und zerbrechlich aussehend, aber tres, tres hexenhaft. Ich um kreiste den Topf mit dem Wiesoll mansnennen wie ein Jagdhund, der skeptisch ein Stachelschwein umschnüf felt, holte einen Schluck des Trankes heraus und bot ihn dem Biber an.
Der Biber zog sich hastig unters Was ser zurück. Das hätte mich warnen sollen. Aber das war nicht der Fall. Ich roch prüfend an dem Getränk, überlegte noch einmal und schluckte es schließlich, indem ich mir die Nase zuhielt. Was danach geschah, ist ein schreck liches kaleidoskopähnliches Durch einander. Jeder Nerv meines Körpers zog sich zu einem Doppelknoten zu sammen, und mein brennender Ma gen versuchte durch meine verbrühte Speiseröhre hochzuklettern, aber das ging nicht, weil meine Speiseröhre sich angsterfüllt an meinem Rückgrat festhielt, das wie ein Hundeschweif wedelte. Schwach erinnere ich mich, daß ich den Becher fallenließ, um mir an die Kehle zu fassen, und daß ich dabei gegen den Kessel stieß, dessen Inhalt sich überall verteilte. Ich nahm den Besen auf, in der Absicht, damit in meinem Nahrungszufuhr kanal zu stochern und die Verstop fung zu lösen, und dann hüllte mich Dunkelheit ein. Es war eine turbulente, wirbelnde Dunkelheit, durchbrochen von grel len kleinen Lichtpunkten, die sich auf lösten und wieder zusammenflossen und bei dem Lärm, der durch die Schwärze auf mich eindrang, in alle Richtungen stoben. Im Vergleich da zu war eine Kesselfabrik wie ein im Dämmerlicht gesungenes Wiegenlied. Explosion krachte auf Explosion, 6?
JANE RICE
während donnernde Sturzwellen rei nen, unverfälschten Lärms über mich hinwegschäumten, vermischt mit gel lenden, dämonischen Schreien, deren Echo sich endlos fortpflanzte - be täubende Wellen, die sich auf einem höllischen Teich direkten, ungedämpf ten Schalls ausbreiteten. Jemand, den ich nicht sehen konnte, begann ein Feuerwerk abzubrennen, während sein ebenfalls unsichtbarer Bruder meinen Schädel im Rhyth mus zu einem Sperrfeuer aus Kano nen, Artillerie, Gewehren, Leucht spurgeschossen und ein paar strate gisch plazierten Mill-Bomben gegen die Wand der Dunkelheit schlug. Sie haben sicher gehört, daß Caruso ein Glas anzuschlagen pflegte, den Ton auffing und ihn so lange in das arme Ding hineinsang, bis es in Scherben zersprang. Dieses Glas war ich. Als der verrückte Lärm sich aus breitete und wuchs, hatte ich das Ge fühl, daß ich heftig in alle Richtungen auseinanderfliegen würde. Er wuchs und wuchs und wuchs zu einem un glaublichen Umfang und einer un glaublichen Verstärkung, und eben, als ich den kritischen Punkt erreichte, hörte er auf. Mit einemmal. Und da nach fiel ich. Wie die Feder, die in jedem Sprichwort vorkommt, fiel ich durch Riesengewölbe schwarzen Raumes, und während ich mich zu erinnern versuchte, ob Fallschirm springer mit den Armen oder mit 66
den Beinen ruderten, um aus dem Trudeln herauszukommen, landete ich. Bums. Es war kein schlimmer Auf prall, verglichen mit der Geschwindig keit, in der ich gefallen war. Im Ge genteil, es war einer der angenehmsten Aufpralle, mit denen ich je aufgeprallt war, und ich bin im Laufe meines Le bens schon des öfteren aufgeprallt. Ich öffnete die Augen und sah in einen sternenerfüllten Himmel. Ich streckte die Hände aus und tastete um mich und hätte vor Freude wei nen mögen, als meine Finger auf Gras und Zweige und guten, festen Boden trafen. Es störte mich nicht und machte mich nicht im gering sten stutzig, daß ich in freier Land schaft auf dem Rücken lag, obwohl ich eigentlich in Cläre Holloways Kellerbar hätte sein müssen. Ich dachte nicht einmal daran. Ich schloß nur wieder die Augen und konzen trierte mich darauf, Elizas Brotpud ding schön zusammenzuhalten. Schließlich setzte ich mich auf und sah verschwommenen Blickes um mich. Ich schien mich am oberen Ende eines Hügels zu befinden, und unter mir war eine Stadt, die sich offensichtlich zur Nachtruhe begeben hatte. Von der Größe und dem Man gel an Neonröhren schloß ich, daß es nicht gerade eine Großstadt war und daß sie ein schönes Stück von mei nem gewöhnlichen Standort entfernt sein mußte.
DAS ELIXIER
Ich wunderte mich, ein wenig see krank und mit einem Schluckauf, wie ich hierhergeraten sein konnte. War ich kreischend aus Cläres Kellerbar bis hierher gerannt - oder hatte Par kins meine zeitweilige Unpäßlichkeit ausgenützt, um mich und meinen är gerniserregenden Besen aus dem We ge zu schaffen, ohne es den anderen gegenüber zu erwähnen? Litt ich an Gedächtnisschwund? War ich tot? WAR ICH TOT! Meine Lethargie verschwand überaus plötzlich! Ich sprang hoch und puffte auf mich ein wie ein Gorillamännchen wäh rend der Paarungszeit. Ich fühlte mich in Ordnung. Ein wenig wacke lig, aber aus einem Stück. Aber wür de sich ein Geist nicht auch ganz in Ordnung fühlen? Schluck. Das Bruchstück eines Kindergarten verses fiel mir ein.
Heim ging das Weiblein im Dunkel
allein.
Hoch sprang das Hündchen und bellt'
ihr hinterdrein.
Es bellt' ihr hinterdrein, und sie be gann zu schrein:
Ich bin es nicht, ach, laß mich bitte
sein!
Ach, du liebe Güte! Aber es war gar nicht so unvernünf tig. Wenn ich ich war, mußte ich nur in diese Stadt hinuntergehen und ein Telefon ausfindig machen. Wenn wenn ich nicht ich war Aber ich weigerte mich, diesen Ge
dankengang weiterzuverfolgen, und
begann resolut den Hang hinunterzu steuern, stolperte über meinen Besen stiel und vollführte das, was man in
der Fliegersprache eine Bruchlandung
nennt. Danach war ich sehr erleich tert. Gewiß würde kein Gespenst
flach auf seiner/ihrer Schnauze lan den. Außer - außer es hatte noch
keine Übung. Bah! Aber es war ein
reichlich blutleeres Bah, das kann
ich versichern.
Ich packte mir eilig den Besenstiel,
rappelte mich hoch, bis ich wieder
auf meinem Fahrgestell stand, und
erreichte das Ende des Hügels in
Nullkomma nichts. Fast. Ich lehnte
mich gegen ein Schild und pustete
und schnaufte, bis mir die Idee kam,
das Schild anzusehen.
Auf dem Schild stand SALEM.
Ich schloß die Augen, zählte bis zehn
und öffnete sie wieder. Auf dem
Schild stand immer noch SALEM. Aber
ganz offensichtlich konnte es nicht
Salem sein. Salem befindet sich in
Massachusetts. Ich grinste wissend
vor mich hin und mutmaßte, daß
es zur Verwirrung der Autofahrer
von einem jener kleinen zahnlücki gen Jungen aufgestellt worden war,
die an Halloween überall aus dem
Boden zu schießen schienen. Wenn
ich geahnt hätte, was mich erwartete,
hätte ich aus mir hinaus gegrinst und
wäre den Hügel wieder nach oben
gerannt.
JANE RICE
So aber ging ich lässig in das Dörf chen und die Hauptstraße entlang, wobei ich den Besen über der Schul ter trug. Ich hatte schon schönere Ortschaften gesehen. Über allem lag ein Hauch von Alter, der auf düstere, unerbitt liche Art bezauberte. Die Häuser wa ren steif und ordentlich und sonst nkhts, und die Läden sahen altmo disch und mufflig aus, und alles war fest verrammelt. Ich konnte nichts finden, was auch nur entfernte Ähn licheit mit einem Drugstore hatte, und allmählich fühlte ich mich etwas unbehaglich. Es war so still, und ich sah keine Lichter, und die Stadt war >tot< - wie eine Geisterstadt - oder zumindest hatte sie einen Starr krampf erlitten, von dem sie sich noch nicht erholt hatte. Als ich dann tatsächlich die Stimmen hörte, spitzte ich die Ohren wie ein Jagdhund und rannte dann glücklich in ihre Richtung. Tatsächlich drang ein Spalt Licht aus einer Tür, und ein knarrendes Schild darüber ver riet mir, daß sich hier die Taverne zum Blauen Eber befand. Genau das Richtige, dachte ich. Ein Telefon und vielleicht ein paar Spiel automaten, um sich die Zeit zu ver treiben, bis ein Taxi kam und mich heimholte. Außer natürlich, ich war nicht ich oder ich lag in Wirklich keit vergiftet auf dem Boden von Cläre Holloways Kellerbar, während 68
meine Überreste umherschweiften . . . Ach, Unsinn. Ich drückte die Klinke hinunter, schob die Tür auf und trat ins In nere. Ich sah lange Tische und Bän ke, eine Holzbalkendecke und ein Regal mit Krügen, für die Cläre ihre Großmutter verkauft hätte, dazu einen riesigen Kamin. Und es roch herrlich nach Bier, Rauch und Holz. Ich setzte mein Missionslächeln auf und ging auf eine Gruppe von Män nern zu, die offensichtlich auf dem Weg zu einem Maskenball hier halt gemacht hatten oder zumindest der gleichen Loge angehörten. Sie trugen alle merkwürdige Kleider, die mehr oder weniger gleich aussahen, und hatten Perücken auf. »Könnten Sie mir bitte sagen, wo hier das Telefon ist?« fragte ich strahlend. Wenn ich gefragt hätte: »Könnten Sie mir sagen, wie ich hier zur näch sten Nudistenkolonie komme?« hät te die Wirkung nicht verblüffender sein können. Sie hörten schnurstracks zu reden auf, ihre Münder standen offen, und sie glotzten mich an. Ein Mann mit sei denem Wams schien seinen Adams apfel verschlucken zu wollen. »Das Telefon«, sagte ich. »T-e-l-e f-o-n. Ich möchte ein Taxi anru fen.« Der Mann, der seinen Adamsapfel zu verschlucken versuchte, stand auf,
DAS ELIXIER
deutete auf mich und wollte etwas |, sagen, aber er schaffte es nicht. So schnappte er nur nach mir. Da ich dachte, das sei vielleicht das Erken nungszeichen seiner Loge, schnappte ich ebenfalls nach ihm und steckte als Dreingabe meine Daumen in die Oh ren, um mit den restlichen Fingern Winke-winke zu machen. Als nächstes hörte ich ein Stampfen wie bei einer Rinderherde, die in Pa nik ausgebrochen ist, und ich war allein mit den Krügen und Tischen und den schweren Eichenbalken, von denen durch die Erschütterung Staub auf mich herabrieselte. Es geschah so schnell, daß ich - Nun, waren Sie schon mal mit jemand in einer Drehtür, der es eilig hatte? Man wird sozusagen ins Freie gespuckt. Ich jedenfalls landete rittlings auf einer umgekippten Bank, den Um hang über dem Kopf und eine Hand in einem Bierkrug vergraben. Draußen konnte ich Stimmen hören, und ihr Geschrei hatte fast etwas von einer Hundemeute an sich. Wäh rend ich über die Launenhaftigkeit der Menschheit nachdachte, befreite ich mich aus den Falten des Umhangs und machte mich daran, den Krug von meiner Hand zu lösen. Der Satz »Ich hoffe, alle Ihre Kinder werden einmal Akrobaten« ist mir immer als besonders grausamer Fluch vor gekommen - nach kurzer Zeit kam ich zu der Erkenntnis, daß es einen
weit grausameren Satz gab: »Ich hoffe, alle Ihre Kinder tauchen später ein mal ihre Hände in einen Bierkrug.« Ich stemmte, ich zerrte, ich ruckte. Ich versuchte es langsam und vor sichtig. Ich rüttelte mit Gewalt. Ich versuchte ihn zu drehen. Volle fünf Minuten schwitzte und schuftete ich, während ich den Schmelz meiner hinteren Backenzähne zermalmte. Ich hob die Stimme zu meinem Schöpfer, nicht im flehenden Gebet, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, sondern in einem wutentbrann ten Ultimatum. Schließlich klemmte ich das Ding zwischen die Beine, ruckte mit Macht daran, und meine malzumspülte Hand kam mit einem lauten »Plop« frei wie ein Champagnerkorken, beglei tet von guten zehn Unzen schäu menden Bieres. Genau in diesem Mo ment flog die Tür auf, und meine Freunde, die Perücken, standen mit einem Bataillon Stadtleuten vor mir. Mir ist jetzt klar, daß ich wie ein weiblicher Boris Karloff mit Tollwut ausgesehen haben mußte, aber da mals wußte ich nur, daß ich müde, wütend und schaumtropfend war, daß an einem Knöchel ein großes Stück Haut fehlte und daß ich heim woll te. Ich krümmte die Finger, um das Blut wieder zum Zirkulieren zu bringen, und die Menge verschwand vom Ein gang. Es war eine bunte Narrenge 69
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Seilschaft, die sich hauptsächlich mit Nachtmützen und Harzfackeln ver kleidet hatte, und sie konnten mir gestohlen bleiben. Mein Sinn für Karneval war längst dahin. Ich stand auf, immer noch mit ge krümmten Fingern, und fragte: »Hö ren Sie, wo ist denn hier ein Tele fon?« Zumindest begann ich, das zu fragen. Ich kam bis zu »Hören Sie bit te, o bitte< sagen. Das ist dämlich. Wer sind Sie? Was machen Sie hier? Was mache ich hier? Wer ist für diese Sache verantwortlich? Wie heißt die se gräßliche Stadt? Wer waren all die Leute? Haben sie den Verstand verloren? Los, reden Sie! Oder haben Sie keine Zunge?« Die blauen Augen wurden, soweit das ging, noch größer und blauer. »Ich - ich .. .« Sie begann zu wei nen. Große runde Kullertränen. Sie sah hübsch dabei aus. Ein todsiche rer Test für weibliche Schönheit. Ich kramte in meiner Tasche herum und holte ein Taschentuch hervor. »Hier«, sagte ich. »Putzen Sie sich die Nase.« Wenn ich ihr eine schwar ze Spinne angeboten hätte, so wäre ihr Entsetzen kaum größer gewesen. Sie zog sich gerade so weit in die Ecke zurück, daß sie nicht durch die Mauer ging. »Hören Sie«, sagte ich, »was ist denn mit Ihnen los? Und was ist mit den anderen los? Was zum - Ach,
lassen wir das. Was ist mit Ihnen
los?«
»Bitte, verhext mich nicht!«
»Sie verhexen?«
»Ja. Bitte. O bitte, ver- . . .«
»Wollen Sie endlich mit dem >bitte,
o bitte< aufhören? Es ist Wahnsinn. Was soll der Quatsch mit dem Ver hexen?« »Es würde nichts nützen«, sagte das Mädchen händeringend. »Wirklich nicht. Man wird uns ohnehin hängen. Es wäre Verschwendung. Verhext mich nicht!« »Weshalb, du grüne Neune, soll aus gerechnet ich Sie verhexen?« fragte ich erschöpft. »Ihr seid eine Hexe.« »Ich bin eine was?« »Eine Hexe. Und Hexen können -« »Uns HÄNGEN!« unterbrach ich schrill, als ich die ganze Bedeutung ih rer Worte verstand. »WOFÜR denn?« »Weil wir Hexen sind.« »Einen Moment mal«, sagte ich. »Das verstehe ich nicht. Fangen wir noch einmal von vorne an. Wer sind Sie? Wie heißen Sie?« »Prudence Symonds.« »Freut mich. Sie kennenzulernen. Ich bin Amy Parrish - hoffe ich. Ist das hier ein Gefängnis?« »Ja.« »Also gut. Und weshalb hat man Sie nun hier eingesperrt?« »Sie behaupten, daß ich Martha Tal cott die Blattern angehext habe.« ?i
JANE RICE
In diesem Moment schwamm ich aus meinem Nebel. Die Art, wie sie Blat tern sagte, wo jeder andere Pocken gesagt hätte, gab meinem Hirn einen sanften Schubs, und es lief wieder auf einem halben Zylinder. »Sie meinen Pocken?« »Ja - Blattern.« »Na ja, das war unvorsichtig von Ihnen. Aber weshalb war diese ko mische Martha nicht geimpft? Man sollte lieber die Leute vom Gesund heitsamt ins Gefängnis stecken und nicht Sie.« Prudence Symonds sah mich an, als spräche ich einen Dialekt, den nur Mooskäfer und die Bewohner von Oz verstanden. Sie zupfte an einer Rockfalte und schien zu zittern. »Wollten Sie zu einem Kostümfest?« fragte ich und deutete auf ihr Kleid. »Kostüm? Aber das sind meine nor malen Kleider!« Normale Kleider. Blattern. Die ko
mischen, engen Häuser. Die muffi gen Läden. Die Perücken. Keine Te lefone. Keine Elektrizität. Das Schild - SALEM. Der Hexentrank, den ich gemixt hatte. Hexen, aufhängen, He xen! Ich war wie eine Hexe geklei det. Konnte es sein, daß -? Absurd. Unmöglich. Phantastisch. »Prudence«, sagte ich, und meine Stimme klang, als hätte ich sie durch ein Seihtuch gequetscht. »Wie heißt diese Stadt?« »Salem.« 72
»Salem was?« »Nun, Salem in Massachusetts.« Ich feuchtete die trockenen Lippen mit einer ebenso trockenen Zunge an. »Ist das ... ist das ... welches Jahr haben wir?« Ein paar verwirrte Falten zeigten sich auf Prudence Symonds' Stirn. »Ihr meint - das Datum?« »Ja.« »SJSchzehnzweiundneunzig.« »Was sagten Sie?« »Sechszehnzweiundneunzig.« »Das hatte ich auch verstanden«, stammelte ich dümmlich. Und ganz unerwartet wurden meine Knie wab belig, und ich setzte mich abrupt, wobei ich sogar das Stöhnen vergaß. Der Hut kippte mir in den Schoß, und ich saß einfach da und betrach tete die Galaxis aus silbernen Ster nen, Monden und Symbolen, die ihn zierten. »Gütiger Himmel«, sagte ich. »Du großer Tag eines großen Morgens. Heiliger jubelnder Jehoshaphat!« »Bitte, o bitte«, sagte Prudence Sy monds, die sich in ihre Ecke drückte und versuchte, sie um sich zu zie hen. Schön, so war das also. Bis dahin oder besser bis dorthin - hatte ich immer geglaubt, daß ich einer jener tüchtigen Menschen war, die >mit einer Krise wachsen. Ich hatte mir ein Bild zurechtgelegt, wie außer ordentlich sicher ich mich in Notfäl
DAS ELIXIER
len verhalten konnte. In diesem Bild gab ich gewöhnlich die Befehle, um ging kühn die Bürokratie und arbei tete in allen Richtungen gleichzeitig, »während jene mit geringeren Befähi gungen mein Handeln mit Ohs und Ahs bewunderten und hin und wie der in Beifallsstürme und Bravorufe ausbrachen. Hah! Und pfui! Als jemand, der mit der Krise wuchs, war ich eine einmalige Niete, obwohl ich tatsächlich in allen Richtungen zugleich arbeitete. Ich warf mich mit der Selbstaufgabe einer Salome gegen das Gitterwerk und die Wände und schaffte es sogar, mit dem Kinn bis ans Fenstergitter zu kommen. Ich gab auch einige Befehle, als der Ge fängniswärter herbeilief, um den Tu mult zu begutachten. Sie waren je doch ein Mischmasch aus abgerissenen Sätzen, beginnend mit einem Zitat aus den Menschenrechten und endend mit der Forderung, daß man mich sofort freilassen müsse, da ich erst in zweihundert Jahren auf die Welt käme. Der Wärter übergoß mich mit Wasser. Jene mit geringerer Befähi gung waren Prudence Symonds und eine unterernährte, schnurrbärtige Maus, deshalb blieben die Ohs und Ahs aus. Die Maus zog sich hastig in ihr Loch zurück, und Prudence saß einfach da und sah mich zitternd an. Und nach einer Weile saß auch ich da und sah mich zitternd an. Ich überlegte und überlegte und
überlegte - vom ersten Schluck des Elixiers, wenn man es so nennen kann, in Cläre Holloways Kellerbar bis zur Episode mit den Perücken und meiner folgenden Einkerkerung. Ich sagte: »Das kann nicht wahr sein.« Ich sagte: »Solche Dinge gibt es nicht.« Ich sagte: »Amy Parrish, du muß weg von hier!« Ich sagte: »!!!++? ± ± !!!+ + « Während ich das » ! ! ! + - ^ ? + + !!!++« sagte, wurde der einsame Sonnenstrahl verdunkelt, und als ich meinen Hals nach oben drehte, entdeckte ich, daß ein kleines Ding mit Häubchen, Schürze, Kragen, gestärktem Unter rock, Knöpfen, Schnallen, Biesen, Zwickeln und Falten zu uns herein starrte. Aus der Art der Gewänder, die es trug, schloß ich auf ein Mäd chen. Es hatte sich die Backen mit Äpfeln vollgestopft und polierte ei nen neuen auf dem Ärmel, um ihn sofort hinterherzuschieben, sobald sich wieder Platz bot. Es kauerte da und schnitt Grimassen zu uns her ein und aß seinen Apfel - wobei es die Kerne gekonnt durch die Gitter stäbe spuckte -, und als es fertig war,
warf es uns das Kerngehäuse nach
und kicherte.
»Geh weg«, sagte ich. »Du bist ein
ungezogenes Mädchen.«
»Und ihr seid Hexen«, sagte sie.
»Beide. Nyaaah!«
»Man sollte dich versohlen, mein
Fräulein.«
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»Man sollte euch hängen,« Sie deu tete mit dem Zeigefinger auf uns und streckte die Zunge heraus. »Und man wird es auch tun«, fuhr sie fort. »Hört ihr? Hängen, hängen, hängen!« »Geh weg!« »Ich mag nicht, und ihr könnt mich nicht vertreiben. Hängen, hängen. Ihr werdet hängen, hängen, hängen, hängen. Hexen, Hexen, häßliche alte Hexen, Hexen, Hexen, Hexen.« »Ich verhexe dich«, sagte ich grim mig und krümmte die Finger wie »Oonga, das hypnotische AugeYipee!< Ausdruck verlieh. Im Gegenteil. Sie kniete nieder und betete zum Herrn, daß er >die sün dige Befriedigung aus ihrem Herzen reißen und ihre Seele von den Flek ken unheiliger Freude reinigen solle< und daß er >ihre frevelhafte Dank barkeit auslöschen solleBlatternbei stehendem Zug die Toilettenspülung nicht benutzen< sagen konnte, war der Saal leer. Ich blieb aus Respekt vor den vier zig Pfund Ketten, die man hübsch um mich drapiert hatte, stehen. Ich konnte sie nicht gut aufheben und damit davonrennen, denn sie war an einem Haken im Boden befestigt. So stand ich einfach da, während sich Richter Pynes Blutgefäße erweiter ten, bis sie kurz vor dem Platzen 79
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waren, und der Gerichtsdiener Was ser über die Ohnmächtige schüttete. (Seine Mutter war wohl von einer SpringSut erschreckt worden. Ich haben selten jemand mit so einer Manie fürs Wasservergießen gese hen.) Die Ohnmächtige kam wieder zu sich und nahm ihr Gejammer da auf, wo sie es abgebrochen hatte, und Prudence Symonds warf mir einen starren Blick zu und fragte: »Mich heiraten? Sie meinen - er - ich - weil . . . das heißt -« »Genau«, sagte ich. Es bleibt ein kurzer Moment zur Orientierung, während Richter Pyne seine Blutgefäße unter Kontrolle bringt und Prudence Symonds ihn ansieht wie eine Schüssel mit Ge fängnissuppe und der Gefängniswär ter zur Vorsorge einen neuen Eimer Wasser holt und die Ohnmächtige ihre Wehklage wiederaufnimmt und ich an Houdini und Jiu-Jitsu und die doppelten Kuchen denke, die Alice im Wunderland knabberte. Ich muß eines sagen - in Richter Pyne hatte Charity Beatitude einen liebenden Vater. Als ihm klar wur de, welche Aussichten seine Charity B. hatte, wurde er totenblaß und stand kurz vor dem Koller. Ich lächelte ihn beruhigend an Und sagte: »Keine Sorge. Sie wird sich daran gewöhnen. Sobald sie Fliegen essen und auf einem Lilienblatt sit zen kann, ist nichts mehr dabei.« 80
»Sie wird schon grün«, kreischte der sterbende Schwan. »Und sie sagt, daß sie schreckliche Schmerzen hat.« Das überraschte mich gar nicht, wenn ich an ihre Vorliebe für Äpfel dach te. Aber ich sagte: »Das sind die Warzen, die sich bilden. Ich lasse sie immer von innen nach außen wach sen. Es werden Prachtdinger sein. Jede Warze wie eine Rosette geformt, Patent angemeldet .« »Wir dürfen keinen Augenblick ver lieren«, kreischte John Matthew, jagte von seinem Podest, packte mich am Arm und rannte mit mir zur Tür. Weiter ging ich nicht, denn die Kette holte mich zurück. »Schlüssel, Schlüssel«, brüllte er den Gefängniswärter an. »Schlüssel. Macht dieses - macht dieses verflixte macht es los!« »Einen Moment«, sagte ich. »Nicht so schnell. Was ist hier los? Wollen Sie, daß ich Ihre Tochter wieder von dem Zauber befreie? Ist es das?« »Stillhalten«, sagte der Gefängnis wärter. »Ich kann das hier nicht aufmachen, wenn Sie so zappeln.« »Wenn Sie sie nicht befreien«, sagte J. M. Pyne zu mir, »lasse ich einen Pfahl durch Ihr schwarzes Herz boren. Verstehen Sie? Verstehen Sie?« »Hören Sie mal, Sonny«, sagte ich zum Gefängniswärter, »schließen Sie noch nicht auf.« »Er hat es befohlen. Halten Sie still,
DAS ELIXIER
hören Sie«, sagte der Gefängniswär ter zu mir.
»Schnell«, sagte J. M. zum Gefäng niswärter. »Verflixt noch mal,
schnell!«
»Sie will nicht stillhalten«, sagte der
Gefängniswärter vorwurfsvoll zu J.
M. »Schließen Sie nur auf«, sagte ich zum Gefängniswärter. »Sie werden ja sehen.« »Wi-wie meinen Sie das?« sagte der Gefängniswärter zu mir. »Schnell«, kreischte J. M. uns beide an. »SCHNELL!« »Ich meine, daß ich Sie verhexen werde, Freundchen«, sagte ich finster zum Gefängniswärter. »Ich habe ein paar tolle Dinge zur Auswahl. In drei Farben. Strangulier — Purpur, Würge-Rosa oder Abmurks-Rot.« Das brachte ihn zur Vernunft. So fort. Er schlich sich in sichere Entfer nung und begann zu zittern wie Espenlaub. Oder wie rote Grütze? Jedenfalls erweckte er ganz eindeu tig den Eindruck, daß er unter verti kalen Verwerfungen litt. Pyne gab ihm eine Kopfnuß, riß ihm die Schlüssel aus der Hand und startete einen gezielten Angriff auf meine Kette. »Ich erlöse Ihre Tochter unter einer Bedingung«, sagte ich. »Und hören Sie mich zu Ende an, bevor Sie mich losmachen, sonst wird es Ihnen leid tun. Sehr, sehr leid tun.«
Es funktioniert. Sicher, er fummelte einen Moment lang an der Kette her um, aber als ich ihn an die Warzen erinnerte, gab er auf. Ich muß ge stehen, daß er einen ziemlichen Kampf mit sich austrug, bevor er es tat aber er tat es. Ich legte ihm die Be dingungen in kurzen Sätzen vor, und er akzeptierte sie, obwohl er einen noch schlimmeren Kampf als zuvor ausfocht, und er sah Prudence Sy monds dabei an, als sei er der Ar menier, der kurz vor dem Verhun gern stand, und sie das fürstliche Abendmenü. Die Bedingungen waren: zwei ge sattelte Pferde, Mark Talcott, Geld und drei Stunden Vorsprung, wofür Charity Beatitude nicht mit Schwimmhäuten herumhüpfen mußte. Die Pierde kamen, herbeigeführt von einem Stallknecht, der, wäre er ein paar Jahrhundert später geboren worden, Abbott und Costello über flügelt hätte. Er stolperte zweimal über die eigenen Füße, verlor bei nahe die Hose und brachte es irgend wie fertig, den Hut fest über die Ohren zu schieben, bis J. M. ihn auf meine Anweisung hin verjagte. Ich will Ihnen die rührende Szene ersparen, die entstand, als Mark und Prudence wiedervereint wurden. Sie würden entweder weinen oder Übel keit empfinden - je nach Ihrer ro mantischen Anlage. Also, machen wir es kurz und schmerzlos. 8l
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Das Geld sah komisch aus, aber es schien eine ganze Menge zu sein, und so war ich nicht kleinlich. Und die drei Stunden. Ach ja, die drei Stunden. Bis sie um waren, hätte ich mein bestes Korsett, einen Satz Reifen und einen Zentnersack Zuk ker als Ersatz gegeben. Sie müssen wissen, zur Versicherung meines gu ten Glaubens beharrte ich darauf, in Ketten zu bleiben, während Mark und Prudence in einen anderen und weniger hexengierigen Teil des Lan des zogen. Drei Stunden gaben ihnen einen ziemlichen Sicherheitsvor sprung. Es war die einzige Lösung. Ich war überzeugt davon, daß J. M. Pyne in dem Augenblick, in dem ich mein Abrakadabra über Charity B. sprach, einen Gesinnungswechsel er leiden würde, und daß man Pru dence, wäre sie anwesend, und Mark, wäre er anwesend, und mich, die in folge des Abrakadabras notgedrun gen anwesend sein mußte, sofort pak ken und doppelt denunzieren würde. Daher ich in Ketten. Es machte einen guten Eindruck. Einen viel besseren, als wenn ich es mir im Hause der Pynes bequem gemacht und J. M. die Möglichkeit gehabt hätte, Charity B. in natura zu besichtigen und fest zustellen, daß sie Verdauungsschwie rigkeiten anstelle von Froschsucht hatte. Es kostete allerhand Arbeit, Mark und Prudence auf ihre Pferde zu be 82
kommen. Prudence stemmte sich fest in den Boden, weil sie bei mir blei ben wollte, und Mark wollte eben falls bei mir bleiben und J. B. die lebenden Teufel aus dem Leib rei ßen, aber schließlich überzeugte ich sie auf einfache Weise, indem ich Prudence zuflüsterte, daß sie keine Angst haben sollte, weil Hexen nun mal gewisse Kräfte besäßen, und daß sie ihre erste Tochter Amy nennen sollte. Dann flüsterte ich Mark zu, daß er sich wieder abkühlen könne, »weil ich persönlich dafür sorgen würde, daß die Pynes zur Schnecke gemacht wurden«, und wenn er je einen Sohn haben sollte, müsse er ihn Parrish nennen. Dann fügte ich hinzu, daß es besser wäre, wenn sie jetzt gingen, bevor die Dorfbewohner kä men und wieder alles zum Scheitern brachten. Prudence umarmte mich und zer quetschte eine Träne an meinem Ge sicht und versicherte heftig, daß ich eine >nette< Hexe sei. Sie gingen, bevor ich es richtig wahrnahm, denn ich war zeitweise von dem Kuß aus geschaltet, den Mark Talcott mir auf die Lippen geschmatzt hatte. Wenn ich so an die zwanzig Jahre jünger gewesen wäre - puh! Wenn es Ihnen nichts ausmacht, ge hen wir über die folgenden drei Stunden leichten Schrittes hinweg. Es muß genügen, wenn ich sage, daß ich nach Ablauf der Zeit - die Minuten
DAS ELIXIER
vergingen wie große, graue, faule, langsam dahinzockelnde Elefanten, die einander an den Schwänzen fest hielten - eine neue Theorie über Geopolitik entwickelt hatte, das Ein maleins neunzigmal rückwärts und vorwärts hergesagt hatte, sechs Fra genkomplexe für >Sie fragen - wir antworten« ausgedacht hatte und im Geiste die Gliederung für einen Gru selroman zusammengestellt hatte, in dem J. M. P. erschossen, erstochen, gehängt und vergiftet wurde, und die Mörderin - ich - nicht nur öffent lich gelobt wurde, sondern eine Bron zeplakette und eine Reise nach Hol lywood - inklusive Taschengeld erhielt. Während ich so beschäftigt war, schickten die Dorfbewohner eine Ab ordnung, um ausrichten zu lassen, daß sie meine sofortige Beseitigung ohne Gerichtsverhandlung empfah len, wobei besagte Beseitigung mit tels eines Pfahles und ein paar ent zündeter Holzscheite taut de suite erfolgen sollte - noch touter de suite, wenn es ging -, und wo, zum Kuk kuck, seien Prudence Symonds und Mark Talcott? John Matthew schickte sie zu den Dorfbewohnern zurück, um ihnen auszurichten, daß die Situation voll kommen unter Kontrolle sei und sie sich bis auf weiteres bereithalten soll ten - aber daß ich unter keinen Um ständen irgendwie belästigt werden
durfte, bis er das Zeichen dazu gäbe. Und mit Prudence Symonds und Mark Talcott würde man sich zur gegebenen Zeit schon noch beschäf tigen. Als die Abordnung ab geordnet war, erklärte er, daß Mark und Prudence selbstverständlich in Ruhe gelassen würden und daß er nie das Zeichen geben würde, hahahahaha. Und ich sagte, natürlich, hahahahaha, denn er sei ein Ehrenmann, und außerdem würde es äußerst komisch aussehen, wenn er sich >zufällig< in eine Eidechse mit Schuppenrücken verwandeln sollte. »Hahaha«, sagte er. »Hahaha«, sagte ich. Der Gefängniswärter holte wieder einen Eimer Wasser, um die Ohn mächtige zu sich zu bringen. So wurde ich unter keinen Umstän den irgendwie belästigt, als J. M. Pyne und ich uns in der dämmrigen Stunde X auf den Weg machten, um Charity B. wieder zu einem Men schen werden zu lassen. Die Straßen waren sämtlich verlassen, wenn auch hier und da ein paar Türen einen Spalt offenstanden, manche Jalousie diskret um einen Zoll hochgezogen war und mancher Vorhang um eine Spur verrutscht war. Das Haus der Pynes war wie ein Christbaum erleuchtet, als wir an kamen, und angefüllt mit göttlichen Antiquitäten und stöhnende Die 83
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nern - weniger göttlich, da sie meist laufende Nasen und zitternde Kinne hatten. Man schob mich hastig nach oben und in ein Schlafzimmer, und jemand im Bett kreischte los, als ich kam, und versuchte sich unter den Decken zu verkriechen. Der Jemand war Cha rity B., und sie war grün wie ein schimmliger Socken. Ich sagte: »Bula, bula«, und sie kreischte wieder und verkroch sich so weit unter der Decke, daß sie un ten wieder herauskam, dann kreisch te sie noch einmal und rutschte wie der nach oben. J. M. begann zusammen mit den Die nern zu stöhnen und flehte mich zwischen dem Stöhnen an, etwas zu tun - etwas zu tun - etwas zu TUN. Ich tat etwas. Schließlich hatte Cha rity B. ihre Lehre bekommen, und Bauchschmerzen sind nichts Ange nehmes, und außerdem konnte J. M. die Sache durchschauen, was von Nachteil für mich war, denn ich wollte einen schönen Vorsprung vor den Pfählen und Scheiterhaufen Sa lems gewinnen. Deshalb präparierte ich ein Brech mittel. Ich ließ unzählige Gläser und Becken kommen und schüttelte trau rig den Kopf, weil weder Eisenhut noch giftige Nachtschatten im Hause waren, doch ich versicherte, daß ich im Notfall auch Salz, Soda und 84
Senkörner mit einem besonderen Ge sang verwenden könnte. Salz, Soda und Senfkörner wurden geliefert, und während ich einem zitternden Diener das größte Becken in die Hände drückte, damit er es vor Cha rity B. hielt, sang ich Beschwörun gen auf Teufel-komm-raus. »LirumlarumLöffelstiel«, summte ich tief vor mich hin. »Didihidi«, kreischte ich. »Romdomromdo m, ja raj'ara«, knurrte ich. »RAH!« Ich füllte eine Tasse mit Salz, Wasser und Senfkörnern, fügte einen tüch tigen Schuß Soda hinzu, und als es aufschäumte, gellte ich: »Brause, brause, ohne Pause«, und schüttete das Zeug Charity in den Schlund. Das Ergebnis war genau das, was ich erwartet hatte. Sie hatte wohl einen Viertelscheffel Äpfel gegessen. Langsam wich die grünliche Farbe aus ihrem Gesicht, sie sank mit einem zufriedenen Seufzer zurück und schlief prompt ein. »Ist sie - ist sie - wird sie - sie wird doch nicht?« stammelte J. M. Pyne. »Nein«, sagte ich, »sie wird nicht. Ich habe sie noch rechtzeitig er wischt, alter Knabe. Jetzt liegt es an Ihnen, den Handel zu erfüllen.« »Ja«, sagte er. »Natürlich.« Er tupf te sich die Stirn ab, glättete sein Wams und sah mich nachdenklich an. »Sind Sie auch ganz sicher, daß sie nicht -?« Ein schlauer Gesichtsaus
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druck machte sich auf seinen Zügen breit. »Absolut«, sagte ich, und ein außer ordentlich schlauer Gesichtsausdruck machte sich auf meinen Zügen breit. »Wir - wir sind also in Sicherheit?« »Richtig«, zirpte ich, »außer ich ent schließe mich, das da zu verwen den -« Ich streckte die Hand aus und entwurzelte gekonnt ein Haar büschel von seinem Schädel - so un gefähr das letzte, das er noch besaß. »Au!« Der außerordentlich schlaue Gesichtsausdruck wich einem Blick, gemischt aus Schmerz und Besorgnis. Ich hob das Büschel dicht vor seiner Nase hoch. »Vergessen Sie nicht die Eidechse mit dem Schuppenrücken, die ich mir aufgespart habe. Mit Ihrem Namen darunter.« Ich ließ das Büschel in meiner Tasche ver schwinden und grinste ihn unverfro ren an. »Oh«, sagte er. Und nach einer lan gen Pause: »Also gut. Folgen Sie mir.« Wir waren die Hälfte der Treppe hinuntergestiegen, als die Vordertür mit einem Knall aufflog und eine Frau, die mit steifem Arm ein Kind hinter sich herschleppte, hereinrann te. Ein Blick auf das Kind verriet mir, daß das >BlatternÄpfel< in mein traumvernebeltes Gehirn eindrang. Ich kam mit einem schweren Sturz zur Erde und hörte mir den Rest von Mrs. >BlatternBlatternHängegebüschGebüsch< ver deckt, nach der anderen blickte es auf unfreundliche, vermoorte Berg kuppen, die in den Himmel ragten. Schon bald nach Herrn Soulis' Amts antritt wurde es von allen, die sich etwas auf ihre Umsicht einbildeten, in der Dämmerung gemieden; und die ehrsamen Hausväter schüttelten, wenn sie in der Dorfschenke zusam mensaßen, die Köpfe bei dem Ge danken, spät abends an dieser nicht geheuren Gegend vorbeizumüssen. Ein Ort vor allem war es, um es ge nauer zu sagen, der ihnen besonde res Grauen einflößte. Das Pfarrhaus stand zwischen der Landstraße und
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der Dule, mit je einem Giebel nach den beiden Seiten; die Rückfront ging nach dem Kirchspiel Balweary hinaus, das fast eine halbe Meile ent fernt lag, und vorne nahm ein öder, von einer Dornenhecke umgebener Garten den Raum zwischen Fluß und Straße ein. Das Haus hatte zwei Stockwerke mit je zwei großen Räu men. Es stand nicht unmittelbar am Garten, sondern an einem Gäßchen oder Durchgang, der einerseits in die Straße mündete und andererseits durch die hohen Weiden und Holun derstauden begrenzt wurde, welche den Fluß säumten. Und dieser Weg streifen war es, der bei den Pfarr kindern von Balweary einen so schlechten Ruf genoß. Der Pastor ging ihn oft in der Dunkelheit, manchmal laut stöhnend, so inbrün stig waren seine stummen Gebete. Nur wenn er nicht daheim und die Pfarrhaustür verschlossen war, dann wagten es die mutigeren unter den Schulbuben, ihre Anschleichspiele an diesen berüchtigten Ort zu verlegen. Daß ein rechtgläubiger Mann Gottes mit tadelfreiem Charakter von einer solchen Atmosphäre des Grauens um geben war, setzte die wenigen Frem den, welche der Zufall oder eine ge schäftliche Angelegenheit in jenes un bekannte, abseits gelegene Gebiet führte, stets in Erstaunen und ver anlaßte sie zu neugierigen Fragen. Aber selbst unter den Leuten der 92
Gemeinde ahnten viele nichts von den merkwüdigen Begebenheiten, die sich in Herrn Soulis' erstem Amts jahr zugetragen hatten. Und von je nen, die genauer Bescheid wußten, waren einige von Natur aus zurück haltend und andere scheu, wenn es um diesen besonderen Vorfall ging. Nur ab und zu erwärmte sich einer der älteren Leute über seinem drit ten Becher und erzählt mutig, war um der Pastor so sonderbar aussah und so einsam lebte. Vor fünfzig Jahren, als Herr Soulis nach Balweary kam, war er noch ein junger Mann - ein energischer Bur sche, wie die Leute sagten - voller Buchwissen und ganz groß in der Auslegung der Heiligen Schrift, aber, wie das be; einem so jungen Mann nur natürlich war, ohne praktische Erfahrung in der Religion. Die jün geren Leute waren sehr angetan von seinem klugen Mundwerk. Aber die älteren, besonnenen, ernsten Männer und Frauen fühlten sich gar zum Gebet veranlaßt; für den jungen Mann, von dem sie glaubten, er schwätze sich selbst etwas vor, und für die Gemeinde, die wahrschein lich noch übel mit ihm fahren würde. Es war noch vor den Tagen der Ge mäßigten - die Pest komme über sie; aber mit den bösen Dingen geht es wie mit den guten - beide kom men schön langsam, Schritt für Schritt. Und es gab sogar damals
DIE KRUMME JANET
schon Leute, die sagten, die Univer sitätsprofessoren wären ganz von Gott verlassen, und die jungen Bur schen, die bei ihnen studierten, täten besser daran, sich wie ihre Vorfahren zur Zeit der Verfolgung ins Torf moor zu setzen, die Bibel unter den Arm geklemmt und den Geist des Ge bets im Herzen. Darüber jedenfalls, daß Herr Soulis zu lange auf der Universität gewesen war, bestand kein Zweifel. Er plackte und mühte sich um viele Dinge, nur nicht um das, was nottat. Einen Haufen Bü cher brachte er mit - mehr als je zu vor in der ganzen Umgebung gese hen worden waren; und der Fuhr mann hatte seine liebe Not mit ih nen, denn um ein Haar wären sie alle miteinander im Teufelsmoor zwischen hier und Kilmackerlie er soffen. Gewiß, es waren Bücher Got tes, zumindest nannte man sie so. Aber die ernsthaften Leute wollten nicht einsellen, daß man so viele brauchte, wenn doch die ganze Bi bel in der Falte eines Plaids Platz hatte. Dann saß er auch noch den halben Tag und die halbe Nacht dar über - was doch kaum schicklich war - und schrieb einfach; und zuerst fürchteten sie, er würde seine Pre digten ablesen, doch dann stellte sich heraus, daß er selbst ein Buch schrieb, und das gehörte sich nun ganz gewiß nicht für einen seines Alters und seiner geringen Erfahrung.
Nun, jedenfalls mußte man ihm ein altes, ehrbares Frauenzimmer suchen, das ihm die Pfarre in Ordnung hielt und das Essen kochte; und da emp fahl man ihm eine alte Vettel - Ja net M'Clour hieß sie - und unter nahm tatsächlich nichts dagegen, als er sie anstellte. Zwar rieten ihm viele ab, denn für die anständigen Leute von Balweary war Janet mehr als verdächtig. Vor langer Zeit hatte ein Dragoner sie mit einem Bankert sit zenlassen. Sie war seit vielleicht drei ßig Jahren nicht mehr bei der Beich te gewesen; und Kinder hatten ge sehen, wie sie im Dunkel auf Key Loans vor sich hinmurmelte, und das war eine merkwürdige Zeit und ein merkwürdiger Ort für eine gottes fürchtige Frau. Immerhin hatte der Gutsherr persönlich Janet dem Pa stor vorgeschlagen, und damals wäre auch einem Pastor kein Weg zu weit gewesen, um der Herrschaft zu schmeicheln. Sagten ihm die Leute, daß Janet mit dem Teufel im Bunde stünde, dann war das seiner Meinung nach nichts als Aberglaube, und hielt man ihm die Bibel vor und die Hexe von Endor, so hämmerte er ihnen ein, daß diese Tage vorbei wären und der Teufel durch Gottes Barm herzigkeit in Ketten läge. Nun, all, es sich in der Gemeinde herumsprach, daß Janet M'Clour als Dienstmagd ins Pfarrhaus kom men sollte, da waren die Leute über 93
ROBERT LOUIS STEVENSON
sie und ihn ziemlich wütend; und einige Weiber hatten nichts Besseres zu tun, als zu ihr hinzurennen und ihr alles vorzuhalten, was man von ihr wußte, von dem Soldatenbankert bis zu den beiden Kühen von John Tamson. Janet sprach für gewöhn lich nicht viel, und die Leute ließen sie ihre eigenen Wege gehen, ohne sie zu grüßen. Aber wenn sie einmal loslegte, dann konnte sie mit ihrem Mundwerk den Müller taub machen. Nun, diesmal ging sie hoch, und es gab keinen Klatsch in Balweary, den sie nicht aufwärmte und jedem un ter die Nase rieb. Sagte jemand ein Wort, wußte sie gleich zwei darauf; bis zu guter Letzt die Weiber auf sie losgingen und ihr die Kleider vom Leibe rissen und sie durch das Dorf zur Dule schleppten, um zu se hen, ob sie eine Hexe wäre oder nicht, ob sie schwimmen konnte oder ertrinken würde. Das Weibsstück kreischte so laut, daß man sie bis ans >Hängegebüsch< hören konnte, und sie kämpfte für zehn. Mehr als eines der Weiber trug die Spuren ihrer Krallen noch Tage danach. Und ge rade, als es am wildesten herging, wer mußte doch (um seiner Sünden willen) vorbeikommen, wenn nicht der neue Pastor! »Weiber«, sagte er (und er hatte eine laute Stimme), »ich befehle euch im Namen des Herrn, sie loszulas sen.« 94
Janet rannte zu ihm hin - sie war halb verrückt vor Angst -, klammerte sich an ihn und bat ihn um Christi willen, sie vor den Klatschweibern zu schützen, und die wiederum er zählten ihm alles, was man von ihr wußte, und vielleicht noch etwas mehr. »Weib«, sagte er zu Janet, »ist das wahr?« »Kein Wort davon stimmt«, erwi derte sie, »so wahr ich vor Gott stehe und so wahr mich Gott er schaffen hat. Bis auf das Kind«, sag te sie, »war ich meiner Lebtag ein ehrsames Weib.« »Willst du«, sagte Herr Soulis, »im Namen Gottes hier vor mir. Seinem unwürdigen Diener, dem Teufel und seinen Werken abschwören?« Nun, es schien, als er das verlangte, grinste sie so, daß alle, die es sahen, erschraken, und man konnte hören, daß ihr die Zähne im Munde klap perten; aber es gab nur den einen oder den anderen Weg, und so hob Janet die Hand und schwor vor allen dem Teufel ab. »Und jetzt«, sagte Herr Soulis zu den Weibern, »macht, daß ihr heim kommt, alle miteinander, und bittet Gott um Verzeihung.« Und er reichte Janet den Arm, ob schon sie wenig mehr als ein Hemd anhatte, und führte sie durch das Dorf bis zu ihrer Haustür wie eine richtige Dame, und dabei kreischte
DIE KRUMME JANET
und lachte sie, daß es ein Skandal war. In dieser Nacht versanken viele nach denkliche Leute lange im Gebet, doch als der Morgen kam, war ganz Bal weary von einer solchen Furcht be fallen, daß sich die Kinder versteck ten und sogar die Mannsleute nur verstohlen hinter den Türen hervor sahen. Denn Janet kam durch das Dorf - sie oder nur ihr Abbild, das konnte keiner sagen -, und ihr Hals war verrenkt, so daß ihr Kopf nach einer Seite hing wie bei einem Ge henkten, und ein Grinsen stand auf ihrem Gesicht wie bei einer Leiche, die noch nicht fürs Grab zurechtge macht worden war. Nach und nach gewöhnten sie sich daran und starr ten sie sogar an, um zu sehen, was eigentlich mit ihr los war. Aber von dem Tag an konnte sie nicht mehr wie ein Christenmensch sprechen, sondern sabberte und klickte mit den Zähnen, als wären sie eine Schere; und von jenem Tag an kam der Na me Gottes nie wieder über ihre Lip pen. Hin und wieder versuchte sie es, aber es wollte nicht gelingen. Die jenigen, die am meisten wußten, sag ten am wenigsten. Aber sie nannten das Ding nie Janet M'Clour, denn ihrer Meinung nach war die alte Ja net inzwischen in der tiefsten Hölle. Dem Pastor jedoch war nicht zu ra ten, noch zu helfen. Er predigte über nichts anderes als die Grausamkeit
der Leute, die daran schuld wäre, daß Janet einen Schlag abbekommen hätte. Er schalt die Kinder, die sie ärgerten, und noch am selben Abend holte er Janet ins Pfarrhaus und lebte dort ganz allein mit ihr unter dem >HängegebüschHängegebüsch< im Schüt ze des Schwarzen Berges befindet sich ein Stück eingefriedetes Land mit einem Eisentor, und es scheint, daß dort in den alten Tagen der Friedhof von Balweary lag, den die Papisten geweiht hatten, ehe das Licht der Gnade über unserem Kö nigreiche schien. Das hier war nun der Lieblingsort von Herrn Soulis, und er saß oft dort und überdachte seine Predigten, und es war in der Tat ein friedliches Plätzchen. Nun, als er eines Tages über die öde Kuppe des Schwarzen Berges kam, sah er erst zwei, dann vier, dann sieben Ra ben immer rund um den Friedhof fliegen. Sie flogen tief und schwer fallig und krächzten einander im Fluge zu, und es war Herrn Soulis 96
klar, daß etwas Ungewöhnliches sie aufgescheucht hatte. Angst bekam er nicht so leicht, und so ging er direkt auf die Mauer zu. Und was fand er dort? Einen Menschen oder zumin dest das Abbild eines Menschen, der da drinnen auf einem Grab hockte. Er war groß und schwarz wie die Hölle, und seine Augen waren son derbar anzusehen. Herr Soulis hatte schon oft genug von schwarzen Män nern erzählen gehört, aber der hier hatte etwas so Furchtbares an sich, daß ihn das Grauen packte. So heiß ihm war, jetzt fuhr ihm ein kaltes Schaudern bis ins Mark; aber dennoch sprach er den Schwarzen an und sagte: »Mein Freund, bist du hier fremd?« Der schwarze Mann erwiderte kein Wort. Er stand auf und schlurfte hastig auf die andere Mauer zu. Doch dabei sah er sich in einem fort nach dem Pastor um, und der Pastor starrte ihm nach, bis der schwarze Mann einen Augenblick später über die Mauer wegsprang und in den Schutz der Bäume lief. Herr Soulis rannte hinter ihm her, weshalb, das wußte er kaum. Doch er war schon ganz erschöpft von dem Spaziergang und dem heißen, un gesunden Wetter; und so schnell er auch rennen mochte, er konnte den schwarzen Mann nur einen Moment lang zwischen den Birken sehen, bis er am Fuß des Berges angelangt war, und da erblickte er ihn noch einmal,
DIE KRUMME JANET
wie er hüpfend und springend über die Dule zum Pfarrhaus hinüber ging. Herrn Soulis gefiel es ganz und gar nicht, daß dieser furchterregende Kerl so tat, als fühlte er sich im Pfarrhaus von Balweary zu Hause. Und er rannte noch schneller und mit nassen Schuhen durch den Bach und den Weg hinauf, aber, Deibel, da war kein schwarzer Mann zu se hen. Er trat auf die Straße hinaus, aber da war keiner. Er sah sich im ganzen Garten um, aber nein, nir gends ein schwarzer Mann. Schließ lich drückte er die Klinke herunter, ein wenig ängstlich, was nur natür lich war, und ging ins Pfarrhaus. Und da stand Janet M'Clour mit ihrem schiefen Hals vor ihm und war nicht gerade erfreut, ihn zu se hen. Und ihm fiel später immer ein, daß er, als er sie jetzt ansah, das gleiche kalte, tödliche Grauen spür te. »Janet«, sagte er, »hast du einen schwarzen Mann gesehen?« »Einen schwarzen Mann?« fragte sie. »Gott behüte uns! Sie .sind wohl nicht gescheit, Herr Pastor. In ganz Balweary gibt es keinen schwarzen Mann.« Aber ihr müßt verstehen, das sprach sie nicht deutlich, sondern knautschte es hervor wie ein Pferd mit dem Zaumzeug im Maul. »Nun, Janet«, sagte er, »wenn hier
kein schwarzer Mann war, dann habe ich den Bösen selbst gesehen.« Und er setzte sich wie einer im Fie ber, und die Zähne klapperten in seinem Mund. »Pfui!« sagte sie. »Sie sollten sich was schämen, Herr Pastor«, und gab ihm einen Schluck von dem Brandy, den sie immer bei sich hatte. Darauf ging Herr Soulis in sein Stu dierzimmer zu seinen vielen Büchern. Es war eine lange, niedrige, finstere Stube, zum Sterben kalt im Winter und nicht einmal im Hochsommer sonderlich trocken, denn das Pfarr haus stand dicht am Wasser. So setz te er sich, und er dachte an alles, was sich ereignet hatte, seit er in Bal weary war, und an seine Heimat und die Tage seiner Kindheit, als er barfüßig über die Hänge gelaufen war. Und der schwarze Mann ging ihm immer im Kopf umher wie der Kehrreim eines Liedes. Und je mehr er dachte, desto mehr dachte er an den schwarzen Mann. Er Versuchte zu beten, doch es kamen ihm nicht die rechten Worte; und, so erzählt man sich, er versuchte an seinem Buch zu schreiben, aber auch das wollte ihm nicht gelingen. Zuweilen dachte er, der schwarze Mann stünde an seiner Seite, und er war von Schweiß bedeckt, kalt wie Brunnen wasser. Dann kam er wieder wie ein Christenmensch zur Besinnung und machte sich aus alledem nichts. 97
ROBERT LOUIS STEVENSON
Am Ende ging er ans Fenster und starrte hinunter in das Wasser der Dule. Die Bäume stehen dort un heimlich dicht, und das Wasser un ter dem Pfarrhaus ist tief und schwarz. Und da stand Janet mit hochgeschürzten Röcken und wusch die Wäsche. Sie drehte dem Pastor den Rücken zu, und er merkte kaum, was er da anschaute. Dann drehte sie sich um und zeigte ihr Gesicht. Herr Soulis wurde von dem gleichen kalten Schaudern erfaßt wie schon zweimal an diesem Tage, und ihm fiel das Gerde der Leute ein, daß Janet schon längst tot sei und ein Gespenst in ihrem kalten Leib um ginge. Er zog sich ein wenig zurück und beobachtete sie mit scharfen Au gen. Sie stampfte auf der Wäsche herum und summte vor sich hin und - Gott verzeih uns, aber es war ein schreckliches Gesicht. Manchmal sang sie lauter, aber kein Mensch, der aus einem Weibe geboren war, konnte die Worte ihres Liedes verstehen. Manch mal sah sie auch schräg nach unten hin, doch da gab es nichts für sie zu sehen. Da ging dem Pastor ein Gru seln durch den Leib bis auf die Kno chen; und das war eine Warnung des Himmels. Aber Herr Soulis schalt sich selbst, wie er später sagte, weil er so schlecht von einem armen kran ken alten Weib dachte, das nur ihn zum Freunde hatte. Und er sprach ein kurzes Gebet für sich und sie 98
und trank ein wenig kaltes Wasser - denn essen mochte er nicht - und ging in der Dämmerung in sein küh les Bett. Diese Nacht wird Balweary nie ver gessen, die Nacht des siebzehnten August siebzehnhundertzwölf. Es war zuvor heiß gewesen, wie ich schon erzählte, aber in dieser Nacht war es heißer denn je. Die Sonne ging zwischen drohend aussehenden Wolken nieder. Es wurde kohl schwarz; kein Stern, kein Windhauch. Man konnte die Hand vor den Au gen nicht sehen, und selbst die alten Leute warfen die Decken vom Bett und rangen nach Luft. Bei all den Dingen, die ihm im Kopf herumgin gen, war es höchst unwahrscheinlich, daß Herr Soulis viel zum Schlafen kommen würde. Er lag da und wälz te sich herum, und das gute, kühle Bett, in das er gekrochen war, erhitzte ihn bis auf die Knochen. Mal schlief er und mal wachte er; mal hörte er die Uhr schlagen, und mal jaulte ein Köter im Moor, als ob jemand gestorben wäre. Mal dachte er, Ge spenster flüsterten ihm was ins Ohr, und mal sah er Irrlichter im Zimmer. Er kam zu dem Schluß, daß er krank sein müßte, und krank war er, wenn er auch nicht wußte, was ihm fehlte. Schließlich ging ihm ein Licht auf, er setzte sich im Hemd an den Bett rand und dachte noch einmal über den schwarzen Mann und Janet nach.
DIE KRUMME JAN ET
Er wußte nicht, wie er auf die Idee kam - vielleicht, weil er kalte Füße hatte -, aber es dämmerte ihm mit einem Male, daß zwischen den bei den eine Beziehung bestand und daß eines von ihnen — oder auch beide — ein Gespenst war. Und just in diesem Moment hörte man aus Janets Zim mer, das neben seinem lag, ein Füße getrampel, als ob Männer rauften, und danach einen lauten Krach. Und dann jagte ein Wind um alle vier Ecken des Hauses; und zuletzt war alles wieder still wie in einem Grab. Herr Soulis fürchtete sich weder vor Menschen noch vor dem Teufel. Er suchte seine Zünderschachtel und brannte eine Kerze an, und in drei Schritten war er an Janets Tür. Sie war nicht verschlossen, und so stieß er sie auf und sah mutig hinein. Es war ein großes Zimmer, so groß wie das des Pastors, und es war mit schweren, gediegenen alten Möbeln eingerichtet, denn er hatte keine an deren. Da war ein Himmelbett mit alten Vorhängen und ein herrlicher Eichenschrank, vollgestopft mit den Gottesbüchern des Pastors, die man hierher gebracht hatte, damit sie aus dem Wege waren. Ein paar alte Lum pen von Janet lagen hier und da auf dem Boden verstreut, aber von Janet war nichts zu sehen, ebenso wenig wie von den Spuren eines Kampfes. Er ging hinein (und es gibt kaum einen, der ihm dahin gefolgt
wäre), sah sich um und horchte. Doch es gab nichts zu hören, weder im Pfarrhaus noch in der ganzen Ge meinde Balweary, und nichts war zu sehen außer den langen Schatten, die sich um die Kerze drehten. Und dann klopfte dem Pastor das Herz mit einemmal ganz wild und blieb ste hen, und ein kalter Wind blies ihm durch das Haar. Was für ein schlim mer Anblick war das für den ar men Mann! Denn Janet hing an einem Nagel neben dem alten Ei chenschrank. Der Kopf lag wie im mer auf der Schulter, die Augen wa ren starr, die Zunge hing ihr aus dem Mund, und ihre Fersen waren glatt zwei Fuß über dem Boden. »Gott sei uns allen gnädig!« dachte Herr Soulis. »Die arme Janet ist tot.« Er trat einen Schritt näher an die Leiche heran; und dann schlug ihm das Herz wie wild gegen die Rippen. Sie hing - durch welche Zauberei, steht einem Menschen schlecht zu ur teilen an - an einem einzigen Nagel und an einem einzigen Wollfaden, wie man ihn zum St rümpfestopfen benutzt. Es ist abscheulich, wenn man nachts mit solchen Ausgeburten der Finster nis allein sein muß, aber Herr Sou lis war stark im Herrn. Er drehte sich um, verließ das Zimmer und verschloß die Tür hinter sich. Stufe um Stufe ging er die Treppe hinun 99
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ter, mit bleischweren Gliedern, und er stellte die Kerze auf den Tisch am Fußende der Treppe. Er konnte nicht beten und nicht denken, er triefte von kaltem Schweiß, und er hörte nichts als das Poch-poch-poch seines eigenen Herzens. Vielleicht stand er eine Stunde so da, vielleicht auch zwei, er achtete nicht darauf, als er plötzlich im oberen Stockwerk eine leise, unheimliche Bewegung hörte. Füße gingen in der Kammer, in der die Leiche hing, hin und her. Dann wurde die Tür geöffnet, obwohl er genau wußte, daß er sie verschlossen hatte. Und dann hörte man einen Schritt auf dem Treppenabsatz, und ihm schien es, als schaute die Leiche über das Geländer zu ihm hinunter. Er nahm wieder die Kerze (denn das Licht wollte er nicht entbehren), und so leise er nur konnte, ging er geradewegs aus dem Pfarrhaus bis zum Ende des Gäßchens. Es war im mer noch stockdunkel. Die Kerzenflamme brannte ruhig und hell wie in einem Zimmer, als er sie auf den Boden stellte. Nichts regte sich, nur die Dule gluckste und sabbelte durch das Tal, und jene unheimlichen Schritte kamen im Pfarrhaus die Treppe hinuntergetappt. Er kannte sie nur zu gut: Es waren Janets Füße, und mit jedem Stückchen, das sie näher kam, kroch ihm die Kälte tie fer in die Eingeweide. Er empfahl seine Seele dem Herrn, der ihn er 100
schaffen und erhalten hatte. »Und, o Gott«, sagte er, »gib mir in die ser Nacht die Kraft, gegen die Mäch te des Bösen anzukämpfen.« Inzwischen kamen die Schritte durch den Hausgang auf die Tür zu. Er konnte eine Hand die Wand ent lang tappen hören, so als müßte sich das scheußliche Wesen den Weg er tasten. Die Weiden rüttelten gegen einander und stöhnten, ein langge zogener Seufzer kam über die Berge. Die Flamme der Kerze wurde hin und her geworfen. Und da stand der Leichnam der toten Janet, in dem grobgewebten Kleid und der schwarzen Haube, den Kopf wie immer auf der Schulter, und das Grinsen im Gesicht - lebend, hättet ihr gesagt; tot, wie Herr Soulis genau wußte - auf der Schwelle des Pfarrhauses. Es ist sonderbar, daß die Seele des Menschen an einen so vergänglichen Leib gefesselt ist; der Pastor aber sah dies, und es brach ihm nicht das Herz. Sie blieb nicht lange dort stehen. Sie bewegte sich weiter und kam lang sam auf die Stelle zu, wo Herr Sou lis unter den Weiden stand. Das gan ze Leben in seinem Körper, die ganze Stärke seines Geistes glänzten in sei nen Augen. Es schien, als wolle sie sprechen, fände aber keine Worte, und sie machte ein Zeichen mit der linken Hand. Es kam ein Windstoß
DIE KRUMME JANET
wie das Fauchen einer Katze. Die Kerze ging aus, die Weiden kreisch ten wie Menschen; und Herr Soulis wußte, jetzt ging es um Leben oder Tod. »Hexe, Gevatterin, Teufelin!« schrie er. »Ich befehle dir bei der Macht Gottes, hebe dich hinweg - wenn du tot bist, ins Grab - wenn du ver dammt bist, in die Hölle.« Und in diesem Augenblick schlug Gottes Hand aus dem Himmel her ab das Ungeheuer auf der Stelle. Der alte tote, entweihte Leichnam des Hexenweibes, der so lange nicht im Grab ruhen konnte und von den Teufeln umhergetrieben wurde, loh te auf wie Zunder und sank in Asche auf dem Boden zusammen. Schlag auf Schlag folgten der Donner und
der klatschende Regen. Und Herr Soulis sprang über die Hecke des Gartens und rannte auf das Dorf zu, wobei er einen wilden Schrei nach dem anderen ausstieß. Am gleichen Morgen sah John Chri stie den Schwarzen Mann am großen Heidegrab vorbeigehen, als es sechs schlug. Vor acht zog er an der Pferde station von Knockdow vorbei, und kurze Zeit später sah ihn Sandy McLellan rasch den Hang von Kil mackerlie hinunterhüpfen. Es gibt kaum einen Zweifel daran, daß er es war, der so lange in Janets Kör per wohnte; aber nun war er end lich fort, und seitdem hat der Teufel uns in Balweary nie mehr heimge sucht.
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Hexenhammer von
Ernst Vlcek
Um das befangene Schweigen zu bre chen, das sich nach dem ersten Le bensschrei des Neugeborenen einge stellt hatte, sagte ich lächelnd: »Es ist ein Prachtjunge. Sieben Pfund schwer und kerngesund.« Aber weder Dr. Lauriel, der das Baby immer noch in seinen Armen hielt, noch der Vater, der mit seinen sieben Söhnen das Bett der frischge backenen Mutter umstand, reagierten. Nur in den Altbauer, der sich bisher abwartend im Hintergrund gehalten hatte, kam Leben. »Das Hexenmal!« kreischte er und wies mit seinem gichtigen Zeigefinger auf ein großes Muttermal an den Lenden des Babys. Der Kindesvater und seine sieben Söhne bekreuzigten sich, die Mutter stöhnte qualvoll auf. Ich hatte eine scharfe Zurechtweisung für den Alten auf den Lippen, aber Dr. Lauriel gebot mir mit einer Handbewegung Schweigen. »Warten Sie im Wagen auf mich«, bat er. Ich bedachte den Ausgedinger noch mit einem letzten wütenden Blick,
dann stürmte ich grußlos ins Freie und setzte mich in Dr. Lauriels altem Lieferwagen auf den Fahrersitz. Ich mußte zehn Minuten warten, bis der betagte Landarzt herauskam, dessen Stelle ich in Kürze übernehmen soll te. Er nahm umständlich im Beifah rersitz Platz, ich startete und legte den Gang ein. »Wohin?« »Nach Hause«, sagte er. »Es ist schon spät, machen wir morgen weiter.« Während der Heimfahrt sprachen wir kein Wort. Das war mir recht, denn es erforderte einige Konzentra tion, den vielen Schlaglöchern des holprigen Feldweges auszuweichen. Außerdem wollte ich Ruhe haben, um Ordnung in meine Gedanken bringen zu können. Als wir eine Viertelstunde später Dr. Lauriels Haus am Fuße des Strigen berges, etwas außerhalb des Dorfes, erreichten, war mir noch immer nicht wohler. Deshalb sagte ich ihm, er solle schon alleine das Abendbrot zu sich nehmen, ich wolle noch ein wenig durch die Gegend streifen. 103
ERNST VLCEK
Er hielt mich am Jackenärmel zu rück und sah mir ernst in die Augen, als er sagte: »Ich habe Ihnen von Anfang an gesagt, daß die Leute hier schrullig und aberläubisch sind, Her bert. Und trotzdem sind Sie schok kiert?« Ich zögerte, dann entschied ich mich zu einer ausweichenden Antwort. »Nicht schockiert, nur etwas durch einander, Ihre Warnung hat mich nicht genügend vorbereitet. Ich wuß te bis jetzt nicht, wie abergläubisch die Leute hier sind.« Dr. Lauriel stemmte sich auf seinen Gehstock, kräuselte die Lippen und nickte wissend. »Tja«, seufzte er dann, »es war wahrscheinlich mein Fehler, ich hätte Sie besser vorbereiten sollen. Aber wissen Sie, wenn man schon so lan ge hier ist und Land und Leute ken nengelernt hat, dann sieht man alles mit anderen Augen. Wenn ein Bauer mich von seinem Hof jagt, weil er statt eines Arztes einen Hexenaus treiber zu konsultieren wünscht, dann nehme ich das nicht mehr tragisch. Das passiert einem hier eben mal hin und wieder.« Er spielte damit auf ein Ereignis vom Vormittag an, als wir zu einem Ge höft hinausgefahren waren, weil die Bäuerin angeblich mit Fieber zu Bett lag. Aber der Bauer hatte uns gar nicht erst bis zu ihr vorgelassen. Dr. Lauriel sprach weiter. 104
»Striga und Umgebung sind von der Zivilisation abgeschlossen. Das war schon immer so, und es wird wahr scheinlich noch eine Weile dauern, bis sich das ändert; und bis dahin wer den sich alle, die hier ansässig wer den wollen, an die hiesigen Gebräu che gewöhnen müssen.« »Ich werde mich nicht diesen mittel alterlichen Anschauungen unterwer fen, eher gehe ich in die Stadt zu rück«, sagte ich heftig. »Das werden Sie dann wohl tun müssen, Herbert«, entgegnete er be dächtig. »Aber ehe Sie einen Ent schluß fassen, sollten Sie einiges be denken, das für die Bevölkerung spricht. Die Abgeschiedenheit Stri gas und die Wirren nach den beiden Kriegen haben es diesen einfachen Leuten nicht gestattet, sich der rasch fortschreitenden Entwicklung anzu passen. Dazu kommt noch, daß die ses Land von einem Fluch befallen zu sein scheint. Tiere und Menschen werden häufiger als anderswo von Krankheiten heimgesucht, der Boden ist unfruchtbar - und wenn dann ein mal die karge Ernte vor der Tür steht, kommen Gewitter und vernich ten das Korn.« »Die Bauern sollten sich dann aber mehr mit ihren Feldern als mit Nachtspuk, Teufelskult und Zauber rei beschäftigen«, hielt ich entgegen. Er schüttelte den Kopf. »Das ist kein Gegenargument. Der Mentalität die
HEXENHAMMER
ser Menschen entspricht es mehr, Krankheiten und Mißernten den He xen und anderen bösen Mächten zu zuschreiben. Und wenn man lange genug in Striga war und selbst einige seltsame Dinge geschehen sah, die sich mit Vernunft und Logik nicht erklä ren lassen, dann ist man geneigt . . .« »Was ist dann?« sagte ich spöttisch. »Sprechen Sie ruhig aus, daß Sie ebenfalls von dem Hexenwahn ange steckt sind. Ich habe es schon bemerkt, als Sie bei den Jochgrabens das Neu geborene mit dem >Hexenmal< in Händen gehalten haben. Sie schickten mich hinaus, damit ich Ihre Anord nungen nicht hören konnte. War es nicht so? Was verschreiben Sie denn Ihren Patienten bei anderen Gele genheiten? Knoblauch und Kruzifixe gegen Dämonen an Stelle von Medi kamenten?« Er atmete schwer, seine wässerigen Augen blickten mich traurig und ent täuscht an. Plötzlich hatte ich Mitleid mit ihm und bereute meine heftigen Vorwürfe. Ich hatte ganz einfach nicht das Recht, so mit ihm zu spre chen. Dr. Lauriel war sehr hilfreich und zuvorkommend. Er hatte mich ge stern, bei meiner Ankunft in Bergho fen, mit dem Auto vom Bahnhof ab geholt, mich in seinem Haus aufge nommen und sogar angeboten, mir seine Praxis zu fairen Bedingungen zu überlassen. Heute hatte er den
ganzen Tag dafür geopfert, mich bei seinen Patienten einzuführen. Er hatte sich diese Behandlung nicht verdient. »Entschuldigen Sie, Dr. Lauriel, ich habe mich gehen lassen . ..« »Ich nehme es Ihnen nicht übel«, meinte er; aber ich mußte ihn doch sehr getroffen haben, das merkte ich ihm an. »Ihre Jugend verbietet es Ihnen, an das Übernatürliche auch nur zu denken. Streifen Sie ruhig et was durch die Gegend, das kühlt den Kopf.« Er kam mir älter und gebeugter vor als bei unserer ersten Begegnung, wie er da auf sein Haus zuging. Schon während meines Studiums stand es für mich fest, daß ich später einmal aufs Land gehen würde. Als ich dann meinen Doktor der Medi zin gemacht hatte, änderte ich mei nen Entschluß nicht. Ich stellte es mir als deprimierend vor, in irgend einer Ordination zu hocken und Pa tienten wie am Fließband abzuferti gen oder in einem Krankenhaus Leu te zu behandeln, zu denen ich nie eine innere Beziehung bekommen würde, weil sie kamen und gingen, genasen oder starben. Deshalb griff ich zu, als ich von der freiwerdenden Stelle in Striga erfuhr. Mir war von Anfang an klar, daß mein Verdienst nur den Bruchteil dessen ausmachen würde, was ich in der Stadt bekommen hätte. Auch 105
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vor den anderen Unannehmlichkei ten, mit denen ich zu rechnen haben würde, verschloß ich mich nicht. Die Leute auf dem Lande sind Neue rungen gegenüber mißtrauischer als Stadtmenschen, und wenn sie sich erst einmal an das Gesicht und die Methoden eines Arztes gewöhnt ha ben, war eine Umstellung nicht leicht für sie. Ein junger Arzt würde es besonders schwer haben, ihr Vertrau en zu gewinnen. Mit all dem hatte ich gerechnet, mich darauf vorbereitet und war schließ lich zu der Überzeugung gelangt, daß ich damit fertig werden würde. Aber zu diesen Schwierigkeiten kam nun noch etwas anderes dazu - die Leute von Striga und Umgebung waren von einem finsteren Aberglauben be sessen. Das hatte ich bereits erkannt, obwohl ich erst vierundzwanzig Stunden hier war. Vielleicht würde ich mich, wie Dr. Lauriel, im Laufe der Jahre damit abfinden. Vielleicht könnte ich da gegen sogar erfolgreich ankämpfen. Aber - wollte ich das überhaupt? Wäre es nicht besser, gleich morgen abzureisen? Jedenfalls mußte ich meine Entscheidung schnell treffen, noch bevor ich in Striga zu fest Fuß gefaßt hatte. Ich wog die Möglichkeiten gegenein ander ab, während ich in der Däm merung den schmalen Waldpfad ent langschlenderte. In die eine Waag 106
schale legte ich die Stadt, das ein tönige Krankenhauspraktikum und das Warten auf eine neue Chance, in die andere die angestrebte Unab hängigkeit, den zuvorkommenden Dr. Lauriel, aber auch den Aber glauben der zukünftigen Patienten. Ich hatte noch immer keine Entschei dung getroffen, als ich an den klei nen ruhigen Waldsee kam. Eine lange Weile stand ich da und starrte auf die spiegelglatte Wasser fläche hinab. An meine Probleme dachte ich in diesem Augenblick nicht, sondern kostete das Bild geheiligter Einsamkeit vollkommen aus und hielt mit der Welt den Atem an. Eine Bewegung an der Stelle, wo die Büsche bis fast an den See her anreichten, riß mich aus meiner Be trachtung. Ein Tier, ein Reh, das hier seine Tränke hatte? Nein, es war ein Mensch, eine Frau in einem Bauernkittel, der ihr bis zu den Knöcheln hinunterreichte. Der Zauber des Augenblicks war für mich dahin, ich wollte mich wieder abwen den und den Rückweg antreten, weil mir nichts ferner lag, als einem Mäd chen beim Baden zuzusehen. Aber dann war etwas an ihrem Gebaren, das mich unschlüssig innehalten ließ. Sie setzte sich auf den mit einem Nadelteppich belegten Boden und holte etwas aus ihrer Schürze. Mich fröstelte unwillkürlich, und das rief mir ins Bewußtsein, daß es für ein
HEXENHAMMER
Bad eigentlich viel zu kalt war. Was Sie hatte das Ufer erreicht, als ich tat dieses Mädchen oder diese Frau noch zwanzig Schritte von ihr ent dann also hier? Wollte sie nur ein fernt war, stieß sich mit den Füßen wenig nachdenken oder mit offenen ab und verschwand, ohne einen Laut von sich gegeben zu haben, im Was Augen träumen wie ich eben? ser. Aber dagegen sprach ihr ganzes Ver halten. Sie wirkte irgendwie ange Kurz darauf war ich an Ort und spannt, ihr Oberkörper war steif, Stelle, und während ich meine Schuhe mit den Händen machte sie schein abstreifte, erschien der Mädchenkör per wieder an der Oberßäche. Zu bar sinnlose Bewegungen, die aber doch Zweckmäßigkeit erkennen lie erst tauchte der gekrümmte Rücken ßen. Jetzt zögerte sie ein wenig, wo auf, dann schnellte der Kopf heraus, bei sie ihre linke Hand bei den Fü und ich sah ein jugendliches Gesicht, ßen beließ, legte ihre Rechte dazu umrahmt von tropfnassem dunklen und krümmte ihren Körper durch, Haar. Der Mädchenkörper trieb leicht wie eine Feder auf dem Wasser. bis ihr Kopf ganz weit vorne war und sie mit dem Gesicht Hände und Sie geht nicht unter, dachte ich noch, dann sprang ich kopfüber in den See. Füße berühren konnte. Ich wurde aus ihrem Verhalten im Mit einigen schnellen Zügen erreich te ich die Lebensmüde, die sich voll mer noch nicht klug. Jetzt richtete sie ihren Oberkörper kommen ruhig verhielt, faßte sie um auf, zog die Hände aber von den die Brust und schwamm mit ihr zu rück zum Ufer. Füßen nicht zurück. Es hatte den Wieder an Land, löste ich zuerst ihre Anschein, als umklammere sie den Fesseln und ließ sie dann in meine rechten Fuß mit der linken Hand und Jacke schlüpfen. Während ich selbst den linken Fuß mit der rechten Hand vor Kälte am ganzen Körper zit - in dieser Stellung rutschte sie die terte, saß sie ruhig da, die Beine an Böschung hinunter zum See. den Körper gepreßt, die Knie fest Und mit einemmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Sie hatte umschlungen. sich selbst gefesselt und wollte sich »Das wäre beinahe schiefgegangen«, sagte ich zähneklappernd und das Leben nehmen! Ich setzte mich augenblicklich in Be schwang mir zur Erwärmung die wegung und entledigte mich noch im Arme um den Körper. Sie blickte zu mir auf, und ein Laufen meiner Jacke. »Halt! Halt! Nicht!« schrie ich, aber leicht spöttisches Lächeln lag um ihre Lippen, als sie sagte: »Sie brauchen es war schon zu spät. 107
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sich gar nicht so als Lebensretter aur zuspielen. Ich wäre auch ohne Sie nicht abgesoffen. Sie haben ja ge sehen, daß ich obenauf geblieben bin.« Nach der Kälte des Wassers war ihre Stimme und Ausdrucksweise der zwei te Schock für mich. Sie war hübsch, unleugbar eines der schönsten Mäd chen, dem ich je begegnet war, aber irgend etwas war in ihren Augen, das nicht zu ihrem Aussehen passen wollte — ihr Blick war debil und stumpfsinnig, aber auch noch etwas anderes lag darin, über das ich mir nicht klar werden konnte. Ein seltsames Wesen; offensichtlich ein wenig beschränkt, aber dennoch faszinierend. Sie können hier nicht sitzen bleiben, sonst holen Sie sich doch noch den Tod, dem Sie so knapp entgangen sind«, sagte ich und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. »Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause.« Meinen hilfreichen Arm ignorierend, erhob sie sich. Als sie stand, schlüpfte sie mit plumpen, ungrazilen Bewe gungen aus meiner Jacke und warf sie mir zu. »Da haben Sie Ihren Fetzen, ich brauche-ihn nicht.« Mit diesen Wor ten wandte sie mir den Rücken zu und wollte davongehen. »Halt«, rief ich ihr nach, »zum Dorf geht es da lang.« »Ich wohne aber dort«, sagte sie, 108
ohne sich umzudrehen, und deutete mit ihrem Arm in Richtung Strigen berg. Ich sah ihr eine Weile nach, beob achtete ihren burschikosen unbeküm merten Gang, und wurde mir erst darüber klar, daß ich diese Bekannt schaft vertiefen wollte, als sie zwi schen den Bäumen zu entschwinden drohte. Ich rannte ihr nach. »Haben Sie denn keine Angst, al leine durch den Wald zu gehen?« erkundigte ich mich, nachdem ich sie erreicht hatte. Sie schien vorgehabt zu haben, mich zu ignorieren, denn sie tat, als sei ich Luft, während sie den steiler wer denden Pfad hinanstieg. Aber meine Frage dürfte sie umgestimmt haben. Amüsiert sagte sie: »Ich fürchte nichts, man fürchtet sich vor mir. Haben Sie denn keine Angst?« »Eigentlich nicht«, lachte ich. »Dann sind Sie ganz schön dumm.« Das war eine ernstgemeinte Feststel lung. »Sie waren ja dabei, als ich im Wasser schwamm und nicht unter ging.« »Wenn ich mich vor Ihnen gefürch tet hätte, dann hätte ich Ihnen wahrscheinlich nicht das Leben geret tet.« »Einen Dreck haben Sie!« brauste sie auf; ich zuckte unwillkürlich zusam men. »Ich wollte mich nicht ersäufen und wäre auch ganz bestimmt nicht
HEXENHAMMER
abgesoffen. Ich habe die Hexenprobe gemacht, weil ich herausfinden wollte, was wahr an dem ist, was die Leute tuscheln. Und ich habe die Probe be standen. Ich bin geschwommen, des halb bin ich eine Hexe.« Sie sagte es in einem so ernsten Ton fall, daß es schon wieder lächerlich klang. Aber ich hütete mich, ihr mei ne Skepsis oder gar meine Heiterkeit ^i zu zeigen. »Ich fürchte mich dennoch nicht vor Ihnen«, sagte ich. Sie blieb stehen und betrachtete mich Stirnrunzelnd. »Sie sind wohl nicht von hier?« »Aus der Stadt.« »Das dachte ich mir fast. Und Sie fürchten sich wirklich nicht vor He xen?« Ich lächelte. »Ganz und gar nicht.« Sie kam zu mir, zog meinen Kopf mit einem kräftigen Ruck zu sich her ab und küßte mich wild und unge schickt auf den Mund. Ich mußte mich förmlich mit Gewalt aus ihrer Umarmung befreien. »Ich habe schon lange keinen Bur schen mehr getroffen, der mir gefiel«, keuchte sie, und ihre Augen lebten. »Morgen, wenn es dunkel wird, tref fen wir uns wieder hier.« »Aber. . .« »Morgen bekommst du mich!« Schrill lachend rannte sie davon. '? Dr. Lauriel saß schon beim
Früh
stück, als ich am nächsten Morgen in die Küche hinunterkam. Die Be grüßung fiel etwas kühl aus, und das Eis zwischen uns brach auch nicht, als ich ihm gegenüber am Tisch Platz genommen hatte und er über das heutige Programm sprach. Ich aß lustlos, während ich versuchte, den Worten Dr. Lauriels Aufmerksam keit zu schenken. Er hatte vor, mich am Vormittag mit einigen weiteren Patienten der näheren Umgebung bekanntzuma chen; für den Nachmittag war eine zwanglose Zusammenkunft im Rat haus von Striga geplant, an der der Pfarrer, der Bürgermeister, der Ma gister und zwei oder drei einfluß reiche Bauern der fünfhundert See len zählenden Gemeinde teilnehmen würden. Dr. Lauriel versicherte mir, daß die genannten Herren keineswegs vor hatten, mich auf Herz und Nieren zu prüfen, sondern mich eben nur kennenlernen wollten. Zum Schluß sagte er: »Das hat na
türlich nur dann einen Sinn, wenn Sie in Striga bleiben wollen.« »Ich werde bleiben«, hörte ich mich sagen. Die Visite am Vormittag verlief ohne Zwischenfälle; kein einziges Mal wur de uns die Tür gewiesen, und wir brauchten uns auch kein übertriebe nes Gejammer, vonwegen krankem Vieh oder unfruchtbarem Boden, an 109
ERNST VLCEK
zuhören. Deshalb hatte ich Dr. Lau riel im Verdacht, daß er für diesen Tag nur solche Patienten ausgesucht hatte, die weniger abergläubisch wa ren als andere. Um die Mittagszeit kamen wir zu rück nach Striga und kehrten in dem einzigen Gasthaus ein, das direkt auf dem Hauptplatz lag. Der Wirt, ein kleiner rundlicher Mann mit einer Glatze, begrüßte uns mit überschäu mender Freundlichkeit, nahm unsere Bestellung auf und brachte bald dar auf das Bier und die gewünschten Speisen. »Wohl bekomm's«, sagte er, wischte sich die schwitzenden Hände an der Schürze ab und zog sich zurück in seine Privaträume. Wir waren die einzigen Gäste. Dr. Lauriel versuchte, eine harmlose Konversation in Gang zu bringen, aber meine einsilbigen Antworten lie ßen ihn diesen Versuch bald aufge ben. Er mußte gemerkt haben, daß ich mit meinen Gedanken ganz woanders war, und obwohl er mich nicht nach meinen Sorgen auszufragen begann, spürte ich instinktiv, daß er vor Neugierde fast vergehen mußte. Als ahne er etwas von meinem nächtli chen Erlebnis . . . Der Hauptplatz war nur wenig be lebt. Einige spielende Kinder tollten herum. Ein Ochsenkarren ratterte langsam über das unebene Kopfstein pßaster. Vor der geschlossenen Apo 110
theke unterhielten sich zwei uralte Weiber. An einem Fenster, von einem der einstöckigen Fachwerkhäuser, er schien eine dickliche Frau und schrie den Kindern irgend etwas zu. Vor dem Fleischerladen wurde ein Last wagen beladen. Ein alter Mann mit einer langen Pfeife lehnte an den ge schlossenen Läden des Lebensmittel geschäfts und ließ sich von der Sonne bescheinen, während Dr. Lauriel und ich zum Haus des Bürgermeisters gingen. Ich hatte schon gestern festgestellt, daß alle Geschäfte geschlossen hatten und daß sich auf dem Hauptplatz, dem einzigen Treffpunkt des Dorfes, kaum Menschen aufhielten. Es war, als liege Striga im Sterben und keiner seiner Bewohner wolle irgend etwas dagegen unternehmen. Dieses dump fe Gefühl wurde ich auch nicht los, als wir das Bürgermeisteramt betra ten, wo uns fünf alte Männer bereits erwarteten. Dr. Lauriel machte mich mit ihnen bekannt. Der Bürgermeister war ein kleines verhutzeltes Männchen mit einem knochigen Gesicht, in dem die riesige Hakennase mit den kleinen stechenden Äuglein um die Vorherr schaft zu kämpfen schien. Der Magi ster hatte einen Buckel und zeigte mir die Lücken in seinen gelben Zäh nen, als er mich falsch angrinste. Der eine Bauer hieß Köhler, hielt sich betont gerade und wirkte noch am
HEXENHAMMER
rüstigsten; er gab mir mürrisch die Hand. Der andere würdigte mich keines Blickes - es war der alte Jochgraben, der seinem neugeborenen En kel ein Hexenmal angedichtet hatte. Sie alle brachten mir unverhohlenes Mißtrauen und offene Abneigung entgegen. Nur der Pfarrer, ein klei ner Mann mit einem rosigen Gesicht, bildete eine erfreuliche Ausnahme. Aber trotz der Freundlichkeit, mit der er mich begrüßte und mir einen Sitz an dem großen Tisch anbot, glaubte ich nicht, daß sich etwas an der frostigen Atmosphäre ändern würde. Mit dieser Vermutung behielt ich recht, obwohl sich auch Dr. Lauriel bemühte, mich bei den anderen be liebt zu machen. Die Unterhaltung drehte sich vorerst einmal um das schlechte Wetter, die karge Ernte und die an Schwind sucht leidende Gemeindekasse. Ich fragte mich im stillen, was ich dem nach bei dieser Besprechung zu su chen hatte. Aber das Gesprächsthe ma wechselte, und die Männer dis kutierten verschiedene Maßnahmen durch, um der allgemeinen Misere beizukommen, und ich wurde ein paarmal um meine Meinung gefragt. Ich gab ausweichende Antworten, sagte, daß ich in diesen Dingen nicht bewandert sei und dachte im übrigen an das seltsame Mädchen, das ich im Wald getroffen hatte.
»Die mageren Jahre dauern jetzt schon zu lange an«, sagte der Bür germeister. »Wir müssen wieder ein mal etwas unternehmen.« Dabei sah er Dr. Lauriel fest an. »Ja«, meinte der unsicher, »wir müs sen uns überlegen, was wir tun könn ten ...« »Da gibt es nichts zu überlegen«, unterbrach ihn Jochgraben. »Es hilft nur eines«, stimmte der Magister zu. Der Pfarrer räusperte sich. »Was ist denn. Hochwürden«, er kundigte sich der Magister. »Haben Hochwürden vielleicht Bedenken?« Der Pfarrer blickte von einem zum anderen, dann sagte er: »Ich kann eure gotteslästernden Reden nicht länger mehr dulden. Entweder ihr hört sofort damit auf, oder ich ziehe mich zurück.« »Aber damals«, sagte Jochgraben, »damals warst du nicht so zimper lich.« »Gott hat uns alle dafür gestraft!« , »Ja, aber weil wir nicht ganze Ar beit gemacht haben.« Mit hochrotem Kopf sprang der Pfarrer auf und ging wortlos aus dem Raum. »Ihr seid Hitzköpfe«, tadelte Dr. Lauriel. »Jetzt habt ihr ihn verär gert. »Na, wenn schon. Wir werden auch ohne den Pfaffen fertig«, rechtfer tigte sich Jochgraben. »Jetzt brauchen 111
ERNST VI.CEK
wir nur noch diesen Kindskopf da loswerden . . .« »Alfons!« Dr. Lauriel sprang auf gebracht von seinem Stuhl. Ich erhob mich ebenfalls. »Lassen Sie nur«, sagte ich, »ich wollte ohnehin an die frische Luft.« Froh darüber, daß mir eine Ent scheidung abgenommen worden war, verließ ich das Rathaus. Länger hät te ich das alberne Greisengeschwätz nicht mehr ertragen. Der Hauptplatz lag wie ausgestor ben da, die spielenden Kinder, der Mann mit der Pfeife und der Last wagen waren verschwunden, die Ge schäfte hatten immer noch geschlos sen. Von der kleinen Kapelle kam das schüchterne Geläute einer Glocke. Sie läutete fünfmal, und ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, daß es tatsächlich erst fünf war. Demnach verblieben mir noch zweieinhalb Stunden bis zur Dämmerung. Das brachte mich auf die Idee, den Pfarrer aufzusuchen und ihn ein we nig nach seiner Meinung über die Dorfbewohner auszuhorchen. Von ihm würde ich auch etwas über das Mädchen vom Strigenberg erfahren können. Ich verließ den Hauptplatz über die staubige Seitenstraße, die nach kaum zweihundert Metern in einen schma len Fußpfad überging. Hier stand das letzte Haus, danach kam eine von 112
Unkraut überwucherte Wiese, auf der einige magere Kühe weideten. Die Kapelle stand auf dem Gipfel einer kleinen Anhöhe, über deren Hänge sich Kreuz an Kreuz des idyllischen Gottesackers reihte. Als ich zu dem schmiedeeisernen Tor in der Fried hofsmauer kam, mußte ich zu meiner Überraschung feststellen, daß es ab geschlossen war. Ich rief nach dem Pfarrer, aber er gab kein Lebenszei chen von sich. Da ich wußte, daß je mand hier sein mußte, der den Glok kenzug betätigt hatte, wiederholte ich mein Rufen einige Male. Aber es war umsonst, niemand zeigte sich. Etwas enttäuscht kehrte ich um und strebte dem Strigenberg zu. Ich ließ mir Zeit, machte einen großen Bo gen um das Dorf, wich oft vom Weg ab und rastete ein paarmal. Aber ich erreichte den Waldsee trotzdem noch sehr früh. Ich setzte mich ans Ufer und beobachtete die rötlich verfärbte Sonne, wie sie hinter den Wipfeln der Nadelbäume verschwand, noch einmal durch den Wald blinzelte, um dann endgültig hinter dem Strigen berg unterzugehen, »Morgen bekommst du mich«, hatte mir das Mädchen zum Abschied zu gerufen. Es schien ihr damit ernst ge wesen zu sein. Es lag nun an mir, ihr schonend beizubringen, daß an ein Verhältnis zwischen uns beiden nicht zu denken war. Aber vielleicht, beruhigte ich mich
HEXENHAMMER
dann wieder, meinte sie ihre Worte
gar nicht so ernst, sondern hatte sie
nur gesagt, um den Anschein von
Anrüchigkeit zu erwecken.
Plötzlich, ohne daß ich ein Geräusch
gehört hatte, schob sich etwas vor
meine Augen und preßte sich mir
fest gegen die Lider.
»Rate, wer da ist«, wurde mir ins
Ohr geflüstert. Ich erkannte ihre
Stimme sofort, obwohl sie sie ver stellte.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich.
»Rate.«
»Hm . . . der Waldhüter?«
Sie lachte.
»Bei uns gibt es keinen Waldhüter.«
»Bist du etwa ein Wurzelweib?«
»Beinahe erraten.«
»Dann - kannst du nur die kleine
Hexe von gestern sein.«
»Jawohl!« Sie ließ meine Augen los,
zog mich mit einem kräftigen Ruck
zu Boden und beugte sich über mich.
»Genau das bin ich, die Hexe von
gestern.«
Und sie küßte mich. Es dauerte eine
Weile, bevor ich mich aus ihrer Um armung befreien konnte. Ich richtete
mich auf und schob sie auf Armes länge von mir fort. Dann betrachtete
ich sie.
»Was glotzt du so?« erkundigte sie
Sich mißtrauisch.
»Nur so, ich will sehen, ob du dich
seit gestern verändert hast.«
»Und?« »Du hast dich verändert.« Doch diese Veränderung gereichte ihr nicht gerade zum Vorteil, aber das sagte ich ihr nicht. Sie trug ein silbernes Flitterkleid, das um einige Nummern zu groß war, Pumps mit dicken hohen Absätzen und eine schwarze Stola, außerdem war sie über und über mit falschem Schmuck behangen; auf den Wangen trug sie millimeterdick Rouge, und die Lip pen hatte sie grellrot bemalt. Sie sah aus wie ein Clown, aber es war nicht zum Lachen. »Wie gefalle ich dir?« Sie zupfte an dem Kleid, und ihre großen, kindli chen Augen starrten mich erwar tungsvoll an. »Recht schick«, sagte ich und hoffte, daß sie meine Lüge nicht durchschau te. »Von wo hast du die Kleidung und die Schminke?« Sie warf den Kopf zurück. »Aus der Klamottenkiste meiner Tanten. Ich hab's mir-ausgeborgt, weil sie es oh nedies nicht mehr brauchen. Nur den Umhang«, sie deutete auf die Stola, »habe ich Tante Frieda abgenom men, aber sie wird schon nicht frie ren.« »Sagtest du, daß du bei deinen Tan ten wohnst?« »Nein.« Sie sah mich erstaunt an. »Meine drei Tanten wohnen bei mir.« »Das verstehe ich nicht.« Sie seufzte. »Stellst du dich aber 113
ERNST VLCEK
dumm! Ich werde es dir erklären. Meine Tanten, Frieda, Lore und Hei di, sind gelähmt. Sie können sich überhaupt nicht rühren und hocken nur stumm und starr da. Ich muß sie füttern, waschen und niederlegen und anziehen und ihnen Geschichten erzählen. Und ganz richtig im Kopf sind sie auch nicht - ich meine, daß sie schon vorher recht einfältig ge wesen sein mußten, bevor das mit ihnen passierte, denn sonst wäre es nicht so weit gekommen. Aber, nein, sie mußten .. . Jedenfalls siehst du, sind sie auf mich angewiesen und nicht ich auf sie. Deshalb wohnen sie bei mir. Verstehst du?« Ich nickte gedankenverloren. »So«, fügte sie abschließend hinzu, »jetzt ist Schluß damit. Reden wir von was anderem.« Sie versuchte ein verführerisches Lä cheln und reichte mir ihre Hand. Ich ergriff sie. Während sie mich lang sam zu sich zog, versuchte ich mir das erbärmliche Leben vorzustellen, das dieses junge Mädchen inmitten der drei gelähmten Frauen führen mußte. Mir kam der Gedanke, daß sie womöglich nicht wirklich be schränkt, sondern nur ein Opfer ih rer Umgebung war. »Und du bist ganz alleine mit ihnen?« fragte ich. Wahrscheinlich klang meine Stimme um eine Spur zu mitfühlend, denn sie sagte: 114
»Ich will nicht bemitleidet werden.« »Aber du verdienst Anerkennung. Nicht jeder könnte eine solche Auf opferungsbereitschaft aufbringen wie du.« »Pah, Aufopferungsbereitschaft«, schnaufte sie. Was soll ich denn anderes tun? Alle weichen sie mir aus, weil ich eine Hexe bin. Ich habe nur meine Tanten.« »Die Dorfbewohner sagen, du seist eine Hexe?« fragte ich vorsichtig und lächelte dabei, um die Bedeutung meiner Frage herabzumindern. »Sie sagen es mir nicht, zumindest nicht ins Gesicht, weil sie Angst ha ben. Aber sie weichen mir aus.« »Du hast keine Freunde in Striga?« Sie lächelte maliziös. »Doch, manch mal stiehlt sich einer der Burschen von zu Hause fort und . . .« »Das meinte ich nicht. Ich dachte an jemanden, der dich wirklich gern hat. Eine Freundin, einen Freund.« »Ich verhexe sie, dann sind sie mei ne Freunde.« »Aber du mußt doch jemanden ken nen, der aus eigenem Antrieb zu dir kommt und dich um deinetwillen mag - jemand, der dasselbe für dich tun würde, wie du für deine Tanten tust.« »Du meinst eine Freundschaft?« Langsam schüttelte sie den Kopf. »Nein, eine Freundschaft habe ich nicht.« Ich drückte ihre Hand.
HEXENHAMMER
»Jetzt hast du eine.« »Dich?« »Ja.« »Oh . . .« Trotz der Schminke im Gesicht und ihrer großen hervortre tenden Augen strahlte sie Schönheit aus. »Ich kann es noch gar nicht glauben Du liebst mich, ohne daß ich dich erst behexen muß?« »Ich biete dir meine Freundschaft an«, erklärte ich, um keine Mißver ständnisse aufkommen zu lassen. »Das hat mir noch niemand gesagt.« Noch ehe ich mich versah, hatte sie mich wieder umarmt, ließ sich zu rücksinken und zog mich über sich. Ich spürte, wie mich ihre Nähe er regte, und es wäre in diesem Augen blick leicht gewesen, der Versuchung nachzugeben und sich von der auf flammenden Leidenschaft mitreißen zu lassen. Aber ich behielt meine Vernunft. Ich wäre mir nachher schmutzig vorgekommen, wenn ich die Situation ausgenützt hätte. »Hör auf damit«, stieß ich hervor, nachdem ich von ihren Lippen losge kommen war. Ich versuchte sie fest zuhalten, aber sie schien tausend Ar me zu haben, löste sich immer wie der aus meinem Griff und wand sich wie eine Schlange. Mir blieb kein anderer Ausweg, als sie durch einen leichten Schlag zur Besinnung zu bringen. Es half. Ihr Körper sackte in sich zusammen. Ihre Augen klärten sich,
wurden groß wie immer. Wahrend sie sich mit der linken Hand über die geschlagene Wange fuhr, schob sie mich mit der anderen von sich. Langsam richtete sie sich auf. Ich wollte etwas sagen, aber meine Stimme gehorchte nicht. Außerdem erkannte ich, daß Worte hier nicht geholfen hätten. Ich hatte sie gede mütigt, hatte das, was sie unter Freundschaft verstand, abgewiesen, hatte wahrscheinlich ihre letzte Hoff nung auf ein anderes, besseres Leben mit einem einzigen Schlag zerstört. Jetzt weinte sie haltlos. »Sei verflucht«, sagte sie mit erstick ter Stimme, »sei verflucht wie die an deren.« Es blitzte, gleich darauf rollte ein urgewaltiger Donner über den Stri genberg, und es begann in Strömen zu regnen. Das Mädchen, dessen Namen ich noch nicht einmal kannte, aber von dem ich wußte, daß es dringend Hilfe brauchte, war wie vom Erdboden verschwunden. Ich war bis auf die Haut durchnäßt, als ich Dr. Lauriels Haus erreichte. In der Küche brannte noch Licht, aber ich kümmerte mich vorerst nicht darum, sondern ging in den primi tiven Waschraum und befreite meinen Oberkörper von den nassen Kleidern. Dann trocknete ich mich ab und rub belte mir den Kopf halbwegs trocken. 115
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Kaum war ich damit fertig, da ging die Tür auf, und Dr. Lauriel stand darin. Er hielt eine Tasse in der Hand, die verheißungsvoll dampfte. »Ich habe mir gedacht, daß Sie vom Regen überrascht werden würden«, sagte er. »Deshalb habe ich Tee auf gestellt.« Dankbar nahm ich die dampfende Tasse und machte einen vorsichtigen Schluck. Ich verbrühte mir zwar den Mund, aber der heiße Tee wärmte mich innerlich wenigstens ein bißchen auf. »Nehmen Sie doch meinen Schlaf mantel«, schlug Dr. Lauriel vor. »Dann können wir in die Küche ge hen, dort ist es gemütlicher.« Ich nickte, stellte die Tasse ab und schlüpfte in seinen Schlafmantel. Er war vorausgegangen und saß schon an dem rohgezimmerten Tisch, die Teekanne und eine halbvolle Flasche doppeltgebrannten Slibowitz vor sich, als ich in die Küche kam. Er sah mich unschlüssig an, benetzte sich die Lippen, sagte aber nichts. »Sie wollen mit mir sprechen?« er kundigte ich mich, um ihm den An fang leichter zu machen. »Ja«, bekannte er. »Ich wollte es schon heute vormittag tun, aber es kam immer etwas dazwischen. Wir sollten ein offenes Wort miteinander sprechen, Herbert.« Ich schlürfte den Tee und fühlte, wie schön langsam meine Lebensgeister zurückkehrten. »Warum nicht«, 116
meinte ich dann. »Was haben Sie also auf dem Herzen, Doktor?« »Es geht mich ja nichts an, was Sie mit Ihrer Freizeit anfangen, Her bert«, druckste er herum. «Es geht mich überhaupt nichts an, wo Sie sich herumtreiben. Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Aber ich fühle mich irgendwie verantwortlich für Sie, deshalb möchte ich verhindern, daß Sie eine Dummheit begehen. Ich muß Sie warnen . . .« »Sie müssen mich warnen?« wieder holte ich erstaunt. »Fassen Sie das nicht falsch auf«, sagte er schnell. »Es hat schon ge nügend Mißverständnisse zwischen uns gegeben, ich möchte nicht neue heraufbeschwören. Ich warne Sie, weil ich zu wissen glaube, wo Sie gestern und heute nacht waren.« »Hm«, machte ich nur. Er würde schon von selbst die Katze aus dem Sack lassen. Er tat es auch. »Sie haben sich, wahrscheinlich voll kommen ahnungslos, im Wald her umgetrieben«, erzählte er mit sol cher Überzeugung, als hätte er mich beobachtet. »Sie wollten alleine sein mit sich und Ihren Gedanken, um sich in Ruhe Ihre Lage überlegen zu können. Aber daraus wurde nichts. Plötzlich sahen Sie sich einem Mädchen gegenüber, das alles daran stetzte. Ihnen den Kopf zu verdrehen. Sie fanden das Mädchen etwas selt sam, vielleicht ein wenig beschränkt,
HEXENHAMMER
deshalb wahrten Sie Distanz - oder auch nicht, aber das ist nicht so wich tig. Auf jeden Fall wollten Sie das Mädchen wiedersehen, denn Sie wa ren auf eine unerklärliche Art von ihr fasziniert. Sie trafen sich heute nacht wieder mit ihr!« Der letzte Satz war eine einzige An klage. »Sie sind sehr nahe an die Wahr heit herangekommen«, gab ich ver blüfft zu. »Woher wissen Sie das alles? Sind Sie mir nachgeschlichen?« Er schüttelte den Kopf und lächelte wissend. »Das habe ich nicht nötig. Denn es ist immer wieder das glei che. Jeder, der sich des Nachts in der Nähe des Strigenberges aufhält, begegnet irgendwann dem Mädchen.« »Vielleicht sprechen wir nicht von demselben Mädchen.« »•Doch, wir meinen beide Adalethe Grön.« »Adalethe Grön ... Ich kannte bis her noch nicht ihren Namen.« Dr. Lauriel sah mich fest an. »Vergessen Sie ihn sofort wieder«, sagte er eindringlich. Ich lachte auf und fragte dann mit beißendem Spott: »Hegen Sie etwa die Befürchtung, sie könnte mich ver hexen?« »Sie können es tatsächlich so aus sprechen, daß man sich närrisch und albern vorkommt, überhaupt nur diese Möglichkeit in Betracht gezogen zu haben«, meinte er bedauernd.
»Ich will Sie nicht zu überzeugen
versuchen, daß dieses Mädchen über natürliche Fähigkeiten besitzt. Ich bin
mir selbst nicht ganz sicher. Aber
nehmen Sie meine Warnung trotz dem an. Adalethe ist es nicht wert,
daß man sich ihrer annimmt.«
»Sie ist krank«, sagte ich heftig,
»und braucht Hilfe.«
»Sie ist krank«, bestätigte er, »aber
ich glaube nicht, daß sie sich heiren
lassen will. Halten Sie sich von ihr
fern, Herbert. Mehr kann ich Ihnen
nicht sagen.«
»Warum so geheimnisvoll, Doktor?«
»Die Wahrheit würde Sie .schockie ren.«
»Sie glauben also, ich sei in das Mäd chen verliebt?«
»Sie wären nicht der erste, der ihr
verfallen ist.«
»Hören Sie mal, Doktor«, erklärte
ich erbost. »Sie hat mir gesagt, daß
sich schon oft Burschen aus Striga
davongeschlichen haben, um bei ihr
ein Abenteuer zu suchen. Sie hat
das so freimütig erklärt, daß ich über zeugt bin, sie hat sich überhaupt nichts
dabei gedacht. Verstehen Sie, Adale the erfaßt das Unmoralische ihres
Tuns gar nicht. Sie ist nicht intelli gent genug, um sich Gedanken dar über machen zu können. Ich glaube,
es wäre das Beste, sie von hier fort zuschaffen und in eine Anstalt zu
geben.«
»Sie scheinen das wirklich ernst zu
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ERNST VI.CEK
meinen, aber - Adalethe ist durch und durch verderbt, sie kann nicht geheilt werden. Das hat sie ... ge erbt.« »Geerbt? Von wem? Los, Doktor Lauriel, machen Sie nicht so lange Umschweife, reden Sie schon.« Er blickte verstohlen zur Uhr. »Also gut«, seufzte er und schenkte sich und mir ein Glas Slibowitz voll. »Ich werde Ihnen die ganze Ge schichte erzählen«, sagte er, nach dem er sein Glas geleert hatte; er wartete, bis ich meinen Slibowitz ebenfalls getrunken hatte, dann füll te er mein Glas. wieder. »Aber ich werde mich kurz -fassen, weil ich in wenigen Minuten Besuch bekomme.« »Wer besucht Sie denn noch um die se Zeit?« erkundigte ich mich. »Der Bürgermeister - äh - und die anderen kommen noch auf einen Sprung vorbei.« »Na, dann werde ich mich recht zeitig auf mein Zimmer zurückzie hen.« Mir war, als atme er auf. Er begann zu erzählen: »Auf dem Strigenberg steht ein altes Blockhaus, das seit urdenklichen Zeiten unbe wohnt war. Man munkelte, daß dort früher eine Hexe gehaust habe, des halb getraute sich niemand, das Block haus zu benützen. Vor zwanzig Jah ren geschah es, daß ein Bauer, der sich zufällig in der Nähe aufhielt, Rauch aus dem Schornstein steigen 118
sah. Als sich der verängstigte Mann auf den Rückweg zum Dorf machte, begegnete er drei hübschen jungen Frauen, die Wurzeln und Beeren einsammelten. Sie sagten, daß sie nun die neuen Bewohner des Blockhau ses seien, und jeder aus dem Dorf, der Lust auf Abwechslung habe, kön ne zu ihnen heraufkommen. Und von da an war es aus mit der Ruhe und Ordnung in Striga. Die Männer aller Altersstufen kamen auf den Strigenberg, um sich Abwechs lung zu erkaufen. Die drei Dirnen kümmerte es nicht, daß sie Unfrie den, Haß und Neid säten. Sie lachten mich damals nur aus, als ich sie auf suchte und darauf aufmerksam mach te, daß die Männer von Striga ihret wegen Haus, Grund und Familie ver nachlässigten. Noch nie vorher oder nachher wurde ich so gedemütigt wie damals, Her bert. Das schwöre ich Ihnen. Diese drei Frauen waren durch und durch böse, aber das hinderte die männli che Einwohnerschaft trotzdem nicht daran, weiterhin an den ausschwei fenden Orgien auf dem Strigenberg teilzunehmen. Das blieb schließlich für eine der drei Dirnen nicht ohne Folgen, sie erwartete ein Kind ...« »Adalethe!« warf ich ein. »Jawohl.« »Aber sie sagt, alle drei wären ihre Tanten.« »Weil sie nicht weiß, wer nun wirk
HEXENHAMMER
lieh ihre Mutter ist. Wir haben das auch nie in Erfahrung gebracht. Denn während der letzten sechs Schwan gerschaftsmonate lebten sie zurückge zogen und ließen niemanden zu sich. Erst als Adalethe geboren war, hol ten sie sich wieder ihre willigen Op fer aus dem Dorf. Vier Jahre lang ging das noch so weiter, dann er hielten sie von Gott ihre gerechte Strafe. Niemand weiß genau, wie es geschah, aber wir vermuten, daß ein Blitz einen Baum fällte, der die drei Hu ren unter sich begrub. Adalethe war damals kaum älter als vier Jahre, trotzdem gelang es ihr - wie, das wird ebenfalls für immer ein Ge heimnis bleiben —, die drei Verwun deten ins Blockhaus zurückzuschaffen. Adalethe pflegt ihre >Tanten< seit damals, die nun bis an ihr Lebens ende gelähmt und taubstumm sind.« Mich fröstelte. Es war eine schaurige Geschichte, aber sie konnte wahr sein. »Deshalb habe ich gesagt. Adale the habe das Nymphomanische ge erbt.« »Trotzdem«, sagte ich überlegend, »glaube ich, daß sie krank ist. Stel len Sie sich nur vor, welchen Schock sie mit vier Jahren bekommen mußte, als sie ihre drei Tanten hilflos unter einem Baum begraben liegen sah. Sie als Arzt müssen doch erkennen, daß man ihre Veranlagung nicht einfach als Vererbung abtun kann.«
»Ich habe Ihnen die Geschichte er zählt«, entgegnete Dr. Lauriel kühl. »Es steht Ihnen nun frei, sich eine eigene Meinung zu bilden. Aber ich möchte es nicht verabsäumen. Ihnen noch einmal dringendst zu raten, Adalethes Veranlagung nicht medi zinisch erklären zu wollen.« Ich öffnete den Mund, um noch et was zu sagen, aber da wurde an der Türglocke gezogen. »Ich glaube«, sagte ich und erhob mich, »ich werde Ihrem Besuch lie ber ausweichen. Gute Unterhaltung, Dr. Lauriel.« »Gute Nacht, Herbert.« Ich ging auf mein Zimmer hinauf. Aber nichts lag mir ferner, als zu Bett zu gehen. Ich schlüpfte in trok kene Kleider, zog mir den Regen mantel an und schlich mich dann auf Zehenspitzen aus dem Haus. Erst jetzt, nachdem Dr. Lauriel die Hin tergründe ein wenig beleuchtet hatte, konnte ich mir einigermaßen vor stellen, wie kompliziert Adalethes Seelenleben sein mußte - und wie sehr ihr mein unüberlegtes Verhal ten schaden konnte. Ich glaubte, schnell handeln zu müs sen, wenn ich ihr helfen wollte. »Komm nur herein, Herbert.« Die Worte trafen mich wie Peitschen hiebe. Ich war mehr als zehn Meter von der Blockhütte entfernt und wollte sie von meinem Versteck hin 119
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ter einem dichten Strauch beobach ten. Es hatte zu regnen aufgehört, die Wolkendecke war aufgerissen und gab den Vollmond frei. Ich war lange durch den Wald ge irrt, bevor mir seltsame Geräusche, die sich dann als unverständlicher Singsang herausstellten, den Weg zur Blockhütte gewiesen hatten. Aus dem Schornstein kam Qualm, und die dichten Hecken rundherum warfen dunkle Schatten, die zu leben schie »Traue dich nur, Herbert«, drang Adalethes Stimme wieder aus der Hütte. »Meine Tanten und ich ha ben dich bereits erwartet.« Hatte sich dort nicht gerade jemand in die Büsche geschlagen und war im Wald verschwunden? Ich kam mir übertölpelt vor, als ich mein Versteck verließ und auf die halb offenstehende Tür zuschritt. Ein schmaler flackernder Lichtstreif fiel heraus. Zögernd drückte ich gegen die Tür, die knarrend nach innen schwang. »Na, wie gefällt es dir bei uns?« fragte Adalethe vom Kamin her, wo sie in einem eisernen Topf rührte. Sie trug ein altes, zerschlissenes Ne glige, durch das ihre weiße Haut hindurchschimmerte. Ihr schwarzes Haar fiel ihr unordentlich auf die Schultern, ihr Gesicht war hektisch gerötet. Ich konnte nicht sagen, was ich hier 120
zu sehen erwartet hatte, aber alle meine unklaren Vorstellungen wur den von der Wirklichkeit übertrof fen. Die Blockhütte hatte nur einen ein zigen Raum. In der einen Ecke, ge genüber dem Eingang, befand sich der bereits erwähnte offene Kamin; über einigen brennenden Holzscheiten stand ein eisernes Dreibein, an dem der Topf hing. Gleich daneben be fand sich ein einfaches Lager aus Rei sig und Stroh; dort hockten, gegen die Wand gelehnt, drei uralte, ge schlechtslose Wesen. Der flackernde Schein des Kaminfeuers spielte auf ihren toten, leeren Gesichtern, in de nen nur die Augen zu leben schienen - aber selbst diese waren starr und blicklos geradeaus gerichtet. Ich konnte meinen Blick nicht von den drei Alten wenden; sie zogen mich in ihren Bann, obwohl sie sich weder bewegten noch Geräusche ver ursachten. Ihre stille, gespenstische Anwesenheit genügte, um die Auf merksamkeit auf sich zu lenken. Das also waren die drei alten, gelähmten Tanten Adalethes. Welche von ihnen war ihre Mutter? Endlich riß ich die Augen von ihnen los. Es gab nichts Außergewöhnliches mehr in dem Raum zu sehen. Eine große, eisenbeschlagene Truhe stand noch da, ein Tisch, einige Sessel und eine alte, aus den Fugen geratene An richte. Erwähnenswert wäre viel
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leicht auch noch die unbeschreibliche Unordnung, die herrschte. Aber das hatte auf die Atmosphäre keinen Einfluß, sie wurde vom Schein der züngelnden Flammen, vom Gestank, der aus dem Kochtopf kam, und von den drei scheinbar leblosen Wesen geprägt. Ich fühlte mich von ihnen beobachtet, obwohl ihre Blicke durch mich hindurchgingen. »Wie gefällt es dir bei uns?« er kundigte sich Adalethe wieder., Ich versuchte, meine Befangenheit abzuschütteln, aber es gelang mir nicht. In meinem Kopf war ein dumpfes Dröhnen, und auf meine Glieder legte sich eine bleierne Mü digkeit. »Du bist mir nicht mehr böse. Ada lethe?« Sie fuhr herum. »Woher weißt du meinen Namen?« »Von . . . von Dr. Lauriel«, ant wortete ich irritiert. »Wir haben über dich gesprochen. Er hat mir auch sonst noch einiges erzählt, das mir dazu verholten hat, deine schwere Lage besser zu verstehen.« Sie lachte abfällig. »Ich kann mir schon vorstellen, was Dr. Lauriel über mich zu erzählen wußte. Er haßt mich nämlich, weißt du, aber ich hasse ihn noch mehr! Viel mehr. Deshalb koche ich jetzt einen Liebes trank, damit er mir hörig wird. Alle werden sie mir hörig werden und meine Liebe wollen.«
»Können wir nicht . . .« Meine Bei ne wurden schwer, und ich ließ mich auf einen Sessel fallen. »Können wir nicht vernünftig miteinander reden, Adalethe? Ich möchte dir doch hel fen, nichts anderes, nur dir helfen.« »Nichts anderes?« fragte sie anzüg lich und lachte schrill - dabei beugte sie den Kopf weit zurück. »Ha, ha, ha! Er will nichts anderes. Aber bald wirst du es wollen, Herbert. Riechst du ihn noch nicht, meinen Liebes trank?« »Beende diesen Unfug und höre mir zu!« forderte ich, aber meine Stim me klang sehr verloren. »Warum willst du dir und mir andauernd weismachen, du seist eine Hexe. Hat dir das Erlebnis . .. damals so hart zugesetzt?« Wieder lachte sie schrill. Es klang ge mein und ordinär. Ich spürte daß sie knapp vor der entscheidenden Krise stand. Es würde nicht leicht sein, sie zur Vernunft zu bringen, aber wenn mir das überhaupt ge lingen würde, dann in den nächsten paar Minuten. Ich war kein Psy chiater, und ich wußte, daß ich un ter Umständen mehr schaden als nüt zen konnte. Doch das Risiko mußte ich auf mich nehmen. Adalethe konnte jeden Augenblick geistig voll kommen zusammenbrechen. »Warum spielst du uns etwas vor, Adalethe«, sagte ich in leichtem Konversationston. »Du bist ein voll 121
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kommen normales Mädchen, nur eben ein wenig durcheinandergera ten.« »Das habe ich auch lange geglaubt.« Für einen Moment klang ihre Stim me verträumt, aber dann fand sie in jene Gegenwart zurück, die sie wie eine Mauer um sich aufgebaut hatte. »Ich wollte denen nicht glauben, die sagten, ich sei eine Hexe. Aber jetzt weiß ich, daß sie recht haben. Ich habe die Hexenprobe gemacht - und du hast mit eigenen Augen gesehen, daß ich nicht untergegangen bin.« »Das läßt sich wissenschaftlich er klären«, sagte ich, meine Zunge war schwer und trocken. »Du hast die Luft angehalten, deshalb bist du wieder an die Oberfläche getrieben.« Ihr Lachen konnte einen verrückt machen. »Aber die anderen Dinge lassen sich nicht erklären. Die Miß ernten, das kranke Vieh, die vielen Fehlgeburten, die habe ich auf dem Gewissen! Und ich werde noch mehr tun. Ich werde es ihnen heimzahlen, daß sie mich immer verachtet haben.« »Du darfst dir solche Dinge nicht einreden . . .« Sie unterbrach mich. »Und hat nicht augenblicklich ein Gewitter einge setzt, als ich dich im Wald verfluchte? Hast du mich dann weggehen gese hen? Natürlich nicht, weil ich un bemerkt verschwinden kann. Ich ken ne deinen Namen, obwohl du ihn mir nicht gesagt hast, und ich habe 122
dich sofort in die Hütte gerufen, als du dich angeschlichen hast. Das alles kann nur eine Hexe.« »Jetzt habe ich dich bei einer Lüge ertappt«, sagte ich triumphierend. »Denn ich habe gesehen, wie sich je mand von deinem Haus fortgeschli chen hat. Wahrscheinlich einer von deinen Liebhabern aus dem Dorf; der hat dir meinen Namen verraten.« Wieder stieß sie ihr aufreizendes La chen aus. »Was bist du klug, Herbert, und scharfe Augen hast du auch. Es war tatsächlich einer bei mir, der sich ein wenig die Zeit vertrieben hat. Macht es dich nicht eifersüchtig?« Sie stand in einer vulgären Stellung vor mir, das Neglige vorne geöff net, und lachte mich aus. Ich wich ihrem Blick nicht aus. »Adalethe«, sagte ich eindringlich, aber ich wußte nicht mehr, ob es mir meine Müdigkeit erlaubte, überzeu gend zu sprechen, »ich möchte wirk lich nichts anderes als dir helfen. Du bist krank, glaube es mir.« »Verrückt, meinst du, nicht wahr?« Ich schüttelte den Kopf; es machte mich ganz schwindlig. »Ich meine krank. Du leidest psy chisch, weil du mit einem bestimm ten Erlebnis nicht fertigwerden kannst. Wahrscheinlich hast du es verges sen. Aber wenn du dich erinnern könntest .. .« »Ich erinnere mich«, rief sie, plötz
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lieh vollkommen hysterisch. »Ich er innere mich an jede Einzelheit ge nau!« »Dann erzähle mir, was damals ge schah.« Sie kam ganz dicht zu mir, daß ich ihren betäubenden Atem riechen konnte. Ihre Hand wies auf die drei geschlechtslosen Wesen, die regungs los auf dem Reisiglager hockten. »Du willst wissen, was sie mit ihnen gemacht haben?« »Sie?« erkundigte ich mich verwirrt; vor meinen Augen und in meinem Kopf begann sich alles zu drehen. »Was sie getan haben? Hat nicht ein Blitz einen Baum gefällt . . .?« Ich glaubte, sie würde wieder hyste risch auflachen, aber sie spuckte nur abfällig aus. »Das sagt der geschätzte Dr. Lau riel. Aber es war ganz anders, und er weiß es. Ich auch, denn ich mußte zuschauen, als die ganze Bande her einkam und meine drei Tanten halb totprügelte. Ich war vier Jahre, aber ich habe alles gesehen. Nie werde ich vergessen, wie sie mit den Prügeln über meine Tanten herfielen. Und ich weiß auch noch genau, was sie sagten. >Wir zerschlagen eure Beine, damit ihr nicht mehr ausschwärmen könnt, um Unheil anzurichten sag ten sie. >Wir schneiden euch die Zun ge heraus, damit ihr keine Zauber sprüche mehr sprechen könntWir tre
ten euch die verdammten Schädel ein, damit ihr nicht mehr an Hexe rei denken könnt !< Sie waren alle vermummt, aber später erkannte ich einen von ihnen an der Stimme. Es war Dr. Lauriel. Immer, wenn die anderen eine ihrer abscheulichen Ta ten ausgeführt hatten, schrie er: >So steht es im Hexenhammer! So steht es im Hexenhammer !< Und als dann alles vorbei war, ka men sie zu mir . . .« Während sie erzählt hatte, hatte sie sich ganz fest an mich gepreßt, hilfs bedürftig, nach Wärme und Gebor genheit suchend. In diesem Augen blick war ich immer noch davon über zeugt, daß sie ein psychisch außer ordentlich leidendes Wesen war. Zum Teil stimmte das, aber ich erkannte gleich darauf, daß noch etwas ande res mitspielte. Plötzlich riß sie sich von mir los und stellte sich in geduckter Haltung in mitten des Raumes auf. »Sie kamen zu mir«, erzählte sie weiter, »und fragten mich höhnisch, ob ich verbrannt werden wolle. >Na, du Ausgeburt des Satans, willst du brennen?< fragten sie. Ich schrie da mals. Sie ließen mich in Ruhe. Aber einer von ihnen sagte immer wieder: »Sie ist vom Teufel selbst gezeugt. Sie muß brennen. Sie muß brennen . . . brennen . . . brennen . . .« Adalethe brach zusammen. Schnell war ich bei ihr. Als ich sie auf 123
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meinen Schoß bettete, schlug sie die Augen auf. Ihr Mund verzog sich zu einem höhnischen Grinsen. »Mich hat tatsächlich der Teufel ge zeugt!« »Wir müssen schnell von hier fort«, sagte ich drängend. »Warum?« »Weil . . .« Ich versuchte erst gar nicht, es ihr zu erklären, denn es hätte zu lange ge dauert. Jede Sekunde konnte kost bar sein. Vielleicht bildete ich mir selbst alles nur ein, aber wenn Ada lethes Erzählung auf Wahrheit be ruhte, dann schwebte sie in höchster Lebensgefahr. Wenn die Bewohner von Striga tatsächlich zu solch einer Greueltat fähig gewesen waren, dann würden sie sie vielleicht auch wiederholen. Ich erinnerte mich der Andeutungen, die während der heutigen Versammlung im Rathaus gemacht worden waren. Andeutungen darüber, daß der Grund für die Mißernten und Krank heiten darin zu suchen sei, weil >da mals< nur halbe Arbeit geleistet wor den war. Jetzt kannte ich die ganze Geschichte und wußte, wovon die Rede gewesen war. Der Wunsch nach einer raschen Ab hilfe war laut geworden . . . und der Bürgermeister, der Magister, Jochgraben und Köhler mußten dann beschlossen haben, sich heute abend be; Dr. Lauriel zu treffen ... 124
Es war mit dem Verstand nicht zu fassen, aber alles deutete darauf hin, daß eine kleine verschworene Grup pe dieser abergläubischen Gemeinde vor hatte, nun >ganze Arbeit< zu lei sten. »Adalethe, aufstehen«, drängte ich. »Wir müssen sofort weg von hier.« »Komm und küsse mich. Lange und heiß!« Ich spürte, wie sich ihr heißer Atem auf mein Gesicht legte. In dem Koch topf begann es zu brodeln, und die Luft wurde immer stickiger. Ich versuchte. Adalethe auf die Arme zu nehmen, aber sie war zu schwer. Ich hatte keine Kraft mehr. »Sie können jeden Augenblick kom men, und du weißt, daß sie vor nichts zurückschrecken.« »Hole den Liebestrank.« »Adalethe!« ». . . den Liebestrank ... Er ist be reits gar . . . « Ihre Augen waren halb geschlossen das war das letzte, das ich von ihr wahrnahm. Plötzlich bekam ich einen harten Schlag gegen den Hinterkopf und fiel schwer auf Adalethe. Ich hatte nicht vollkommen die Besinnung ver loren, denn ich konnte alles wie aus weiter Ferne hören, nur sehen konn te ich nichts; vor meinen Augen tanz ten bunte Kreise, die nur einmal von einer blendenden Helle verdrängt wurden.
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20. Jahrhundert wies er strikt von sich. Als ich die Schuldigen beim Na men nannte, erfuhr ich, daß sie alle beim großen Waldbrand ums Leben gekommen waren. Es gab keine Zeu gen mehr, die meine Aussagen bestä tigen konnten. Dr. Lauriel, der Bürgermeister, der Magister, Köhler und Jochgraben » . . . so wirst du angeklagt. Und wie waren verbrannt - sie hatten ihre Schuld gesühnt. Ich hätte mich da die beiden Inquisitoren . . .« mit zufriedengeben können, aber an »Wo ist die Fackel?« dererseits wollte ich Gewißheit über »... Institoris und Sperger die Hin die Ereignisse am Strigenberg erhal richtung in ihrem Hexenhammer festgelegt haben, wird es geschehen ten. Gedächtnisschwund und Wahn vorstellung waren keine zufrieden Adalethe Grön . . .«
stellende Erklärung für mich. »Nehmt den jungen Doktor bei den
Und schließlich wollte ich beweisen, Beinen, und schaffen wir ihn hin daß ein unschuldiges Mädchen als aus.«
Hexe verbrannt worden war. Als Ich glaubte, einen vermummten
meine Verbrennungen geheilt waren, Mann zu sehen, der sich mit der
fuhr ich nach Striga. Bei meiner An einen Hand auf einen Stock stützte
kunft empfing mich das schüchterne und mit der anderen eine Fackel
Geläute der Kirchenglocke, und au schwang.
».. . Brennen sollst du Hexe, bren genblicklich erinnerte ich mich daran, daß der Pfarrer von den Hexenaus nen.«
treibungen gewußt hatte. Der Chor rief: »Brenne, brenne,
Aber zu diesem Zeitpunkt wollte ich brenne!«
Dann schien die ganze Welt in Flam die näheren Umstände von Adale men aufzugehen ... und ich lief um thes Tod nicht mehr aufdecken. Als ich mich in Striga umblickte, kam mein Leben . . .
mir der Verdacht, daß sie vielleicht Niemand wollte meine Geschichte doch eine Hexe gewesen war. Denn glauben. Der Krankenhausarzt be das Dorf war nach ihrem Tod auf hauptete, es handle sich um Wahn geblüht, die Geschäfte hatten geöffnet, vorstellungen, die der Schock ausge der Hauptplatz war von lebensprü henden Menschen bevölkert - es löst hatte. Eine Hexenverbrennung im
Ich hörte Stimmen, konnte verste hen, was sie sagten; jemand schrie die ganze Zeit über markerschüt ternd. Adalethe? »Bindet sie am Kamin fest.« »Wie es einst Papst Innozem der Achte in seiner Bulle niederlegte . . .« »Schütte das Benzin nicht beim Feu er aus!«
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herrschte ein Trubel, wie er vor eini gen Wochen noch undenkbar gewe sen wäre. Dr. Lauriel hatte nicht recht gehan delt, obwohl er den Menschen von Striga zu einem glücklicheren Leben
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verholten. Da er aber seine Strafe schon bekommen hatte, war es besser die Vergangenheit ruhen zu lassen. So ging ich fort und kam nie wieder nach Striga zurück
Das Amulett von
Gordon R. Dickson
Er hatte den Jungen da hinten am Geräteschuppen zu fest geschlagen das war es. Er hatte etwas früher von ihm ablassen sollen, aber es hatte Spaß bereitet, den kleinen Anfänger in die Mache zu nehmen. Zuviel Spaß; der Kleine hatte sich so richtig zart und weich angefühlt - es war wie eine Katzenbalgerei gewesen, und er hatte sich so hineingesteigert, und dann war es zu spät gewesen. Es war nur ein rotznasiger Bengel von fünf zehn gewesen, der den Ausreißer ge spielt hatte, aber die Eisenbahner bullen würden das, was von ihm übrig war, noch vor Morgengrauen dort hin ter dem Geräteschuppen finden. Deshalb hatte Clint den erstbesten ausfahrenden Güterzug am Rangier bahnhot geschnappt, anstatt die Bahn nach Norden abzuwarten. Nun, da sich der Güterzug im Hinterland des Ozark-Gebietes verlor, sprang er in einer langsamen Kurve aus dem Wagen. Das wirre, wilde Gras des heißen Missouri-Sommers fing den Aufprall seines Körpers ab, als er die Böschung hinunterrollte.
Er kam unten an und setzte sich auf. Der Güterzug ratterte über ihm vor bei und verschwand. Er war ein we nig durchgeschüttelt, mehr nicht. Er grinste in die Stille des Spätnachmit tags, in der nur das Surren der In sekten zu hören war. Man mußte schon ein junger, kräftiger Kerl sein, um von einem fahrenden Güterzug zu springen. Hinauf kam jeder alte Stromer. Er betrachtete seine klotzi gen Oberarme, braungebrannt, glatt und muskulös wie sie waren, mit de nen er sich mühelos von der weichen, krümeligen Erde abstützen konnte; und er lachte laut auf, wie er so auf dem warmen Gras saß. Er fühlte sich plötzlich zum Schnur ren wohl. Zum Schnurren wohl. Das war sein Spezialausdruck, wenn alles gut gelaufen war. Er, die Katze, war wieder mal auf den Pfoten gelandet und konnte sich im nächsten Hinter hof umsehen. Wie würden die An geführten diesmal aussehen? Er stand auf, streckte sich grinsend und warf einen Blick auf das kleine Tal vor ihm.
GORDON R. OICKSON
Am Fuß des Bergrückens war es mehr eine kleine Höhlung als ein echtes Tal. Der Hang, mit Zwerg kiefern bedeckt, rührte steil nach un ten und lief ganz plötzlich in ein fla ches Stück gepflügten Ackerbodens aus, in dem sich harte kurze Getrei dehalme zeigten. Eine kleine braune Hütte stand an einem Ende des Fel des, von seinem Platz aus schäbig an zusehen, und im Hof hackte eine alte Frau mit knöchellangem, schwarzem Rock und brauner Strickweste Holz. Er konnte das Blitzen ihrer Axt in der klaren Luft erkennen, auch wenn sie weit entfernt war, und gleich da nach kam das >Hackein Freund Mada lyns»Will Olsen, ich will dir helfen. Ich kenne ein schreckliches Ge heimnis. Die Hexen warten nicht, bis du auspackst. Ihr Werk ist bereits begonnen. In einem Kellerraum steht ein Galgen und in der seidenen Schlinge baumelt eine Puppe, die dein Haar trägt. Dein Haar, Will Olsen! An den Beinen der Puppe hän gen kleine Gewichte, die die Schlinge langsam festerziehen ... bis du er stickst. Es fehlen noch zwei Gewichte, Will Olsen. Nur zwei. Noch ist es Zeit! Verbrenne die Namen und geh fort von hier. Um Madalyns willen,
DIE GALGENPUPPE
geh fort von hier. Ein Freund Mada lyns !da drüben