JEDER LIEST S U N K O H Überall im Lande ist diese abenteuerliche Roman-Reihe bestens bekannt, und ihr Held, SUN KOH,
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JEDER LIEST S U N K O H Überall im Lande ist diese abenteuerliche Roman-Reihe bestens bekannt, und ihr Held, SUN KOH,
der Erbe des untergegangenen Erdteils Atlantis hat schon vor Jahren Millionen Herzen begeistert. Der Schauplatz der Handlungen ist die ganze Welt! Im Fernen Osten, in den brandheißen Ländern unterm Äquator, im Reiche der Sonnenanbeter, in den Urwäldern und Dschungeln, in den großen Weltstädten und Überseehäfen — überall finden wir SUN KOH, sein beispielloser Tatendrang und seine phantastisch-abenteuerlichen Erlebnisse rauben uns den Atem, wenn wir inmitten bedrohlicher Kämpfe, gigantischer technischer Versuche und in einer grandiosen Auseinandersetzung mit den Gewalten über und unter der Erde stehen. Eine unerhörte Spannung liegt über allem Geschehen. Gleichzeitig aber werden wir mit tausend nützlichen und wissenswerten Dingen aus Nah und Fern, aus Technik, Wissenschaft und Forschung bekanntgemacht. Waa könnte die Herzen unserer lebenshungrigen und wißbegierigen Leser mehr befriedigen? Wen es hinauszieht in die weite Welt, wer Land und Leute in aller Herren Länder kennenlernen will, wer die Lust und die Liebe zum Abenteuer im Blute hat, kurzum, wer SUN KOH — den abenteuerlichen Helden — liebt und verehrt, braucht nur alle 14 Tage bei seinem Buch- oder Zeitschriftenhändler nachzufragen und das neueste Heft in Empfang zu nehmen.
JEDER LIEST SUN KOH
FREDER
VAN
HOLK
Der Friedhof des Atlantik 1. Eine Windhose über dem Atlantik. Ein riesiger Wassertrichter, dessen Spitze auf dem Meer steht und dessen oberster Rand sich mehrere hundert Meter darüber befindet, rast über den Ozean. Über dem Trichter aber wirbelt bis in zehn Kilometer Höhe ein dämonischer Kreisel quirlender Luftmassen um die jagende Achse herum. Was ist das für ein dunkler Gegenstand, der dort in irrsinnigen Spiralen mit herumgerissen wird? Ein welkes Blatt, ein Fetzen Papier? Ein Flugzeug ist es. Die Tragflächen sind abgerissen, der Rumpf ist zerknickt, gequetscht, vom Propeller blieb nur ein Stumpf, der Motor schweigt schon lange. Hundert, zweihundert Kilometer donnert der Wirbel, dann ist seine Kraft gebrochen. Er fällt zusammen, gibt das Flugzeug frei. Wie der Papierflieger eines Kindes stürzt es nieder. Die Kraft des Armes wirft ihn vorwärts und nach oben, dann quirlt es einen Meter herunter, schwebt plötzlich im Gleitflug auf seinen Tragflächen, stürzt wieder senkrecht, gleitet von neuem, stürzt und gleitet, bis es in der Gosse zur Ruhe kommt. So wurde auch der Sturz dieses Flugzeuges aus mehr als 6000 Metern Höhe wiederholt durch lange Gleitflüge unterbrochen und abgeschwächt, obgleich es keine Tragflächen mehr besaß. Aber die langen, offenen Röhren an seinem Rumpf waren zum Teil noch unbeschädigt, und ihre Düsenwirkung zwang das hilflose Wrack immer wieder in den Gleitflug hinein. Atempausen des Todes waren diese Minuten des Schwebens — mehr nicht. Die Maschine war nicht mehr flugfähig, der Motor würde nie mehr arbeiten, die Schwimmer waren abgerissen. Und von unten her blinzelte in tückischer Behaglichkeit der unendliche Ozean, in den das Menschending wie ein Stein hinein versinken mußte. Im Innern der ,Atlantis' befanden sich zwei Männer. Auf dem Steuersitz hockte Sun Koh, der geheimnisvolle Abenteurer, dessen Vergangenheit seltsam verschleiert war und dessen Zukunft im matten Lichte der erstaunlichsten Prophezeiung aller Zeiten lag. Seine Hände umklammerten wie Schraubstöcke die Metallstreben, die zum Glück dem irren Wirbel standgehalten hatten. Sein edles Gesicht war voller Blut, das aus einer Stirnwunde floß. Der jähe Stoß der Riesenfaust hatte seinen Kopf gegen die Apparate geschmettert, hatte ihn für Minuten betäubt. Aber selbst da hatten seine Hände nicht mehr losgelassen. Wie auch immer der Wirbel die Maschine herumtaumeln ließ — sein Körper blieb mit dem Sitz eng verschmolzen, seine zähe, stählerne Kraft bewahrte ihn davor, wie ein Spielball von Wand zu Wand geschmettert zu werden. Dem riesigen Neger Nimba, den die Welt einst als Uberboxcr Jack Holligan gekannt hatte, war es schlechter ergangen. Ihn hatte der erste Stoß im Stehen getroffen. Als Sun aus seiner Betäubung erwachte, fand
er den Neger halb zusammengerollt dicht neben seinen Füßen. Nimba war ohne Bewußtsein, in der nächsten Sekunde würde er wieder hilflos an das andere Ende schmettern. Davor bewahrte ihn sein Herr. Er umklammerte den schweren Körper mit seinen Beinen und ließ ihn nicht wieder los, so ungeheure Anstrengungen das auch erforderte. Und nun ging es zum ersten Male in den Gleitflug hinein. Sun löste Hände und Beine, die schon im Krampf schmerzhaft erstarrt waren. Ein kurzer Umblick sagte ihm genug. Das Flugzeug war nicht mehr gebrauchsfähig. Ein Wunder, daß der Rumpf nicht vollends abgeknickt war. Der Motor sprang natürlich nicht an. Sturz — die Klammern der Glieder schlossen sich rechtzeitig. Schweben. Suns Sorge galt jetzt dem Diener. Mit sicheren Griffen tastete er den Körper ab. Arme und Beine waren nicht gebrochen. Prellungen, Fleischwunden und Schürfungen, vielleicht auch Innere Verletzungen. . Sturz — Gleitflug — Sturz — Gleitflug. Kaum noch zweihundert Meter über dem Ozean. Sun sprang auf. Er durfte nicht hier drin bleiben. Wenn sie so ins Meer stürzten, dann gab es keine Befreiung mehr, dann versanken sie einfach. Die Tür? Sie ließ sich nicht mehr öffnen. Klirr, die Scheiben vollends hinaus. Zur Not konnte man schon zwei menschliche Körper hindurchzwängen. Sturz und wieder Gleitflug, der letzte, denn nun rollten die grünen Wogen kaum mehr als dreißig Meter weiter unten. Und das Gleiten würde diesmal sehr kurz sein. Sun hob den Neger hoch, steckte dessen Beine durch die Öffnung hinaus, schob den Körper nach, ein Blick und ein Schwung, um den Splitterresten der Tragflächen zu entgehen — Nimbas Körper schoß in die Tiefe. Schon taumelte das Flugzeug wieder. Höchste Eile. Die Hände lagen am Rahmen, ein Zug — Suns Körper hechtete hinab. Während das Flugzeug plump aufklatschend versackte, schoß Sun bereits wieder schmal und schnell wie ein Fisch hoch und schwamm mit mächtigen Stößen der Stelle zu, an der sich Nimba befinden mußte. Dort wurde es aber schon lebendig. Pustend, schnaufend und spuckend entleerte Nimba seine Atemwege von dem eingedrungenen Wasser, und als Sun herankam, hatte er auch seine Sprache wiedergefunden. „Herr, wie komme ich denn hier hinein?" schrie er und ließ seine rollenden Augen über das endlose Wasser gehen. „Hineingeworfen habe ich dich", rief Sun voll freudiger Erleichterung zurück. „Ein Wirbelsturm hat uns mitgenommen, das Flugzeug ist weg. Wie fühlst du dich? Schmerzen?" „Pah", schniebte Nimba, „mich juckt's überall, aber kaputt scheint nichts zu sein. Ist's recht weit bis zur Küste?" Sun vermied es, die Frage zu beantworten. „Komm, schwimmen wir in dieser Richtung. Mir war, als ob ich beim Absprung ein Schiff gesehen hätte. Kraft sparen!" Sie schwammen nebeneinander her, in gleichmäßigen, sicheren Stößen. Das Meer rollte in langen, flachen Wogen, trug sie leicht. Ihre Kräfte waren noch verhältnismäßig frisch. Eine Stunde verging. Sun schwamm wie in der ersten Minute, aber Nimbas Atem ging bereits scharf und stechend. Und ringsum nichts als Wasser. Das Land war 8
vielleicht Hunderte oder Tausende von Kilometern entfernt. Ein hoffnungsloser Kampf. Die einzige Chance war ein Schiff. Sun glaubte es gesehen zu haben. Aber war es nicht doch eine Täuschung gewesen? Und wenn nicht, dann konnte es schon längst in unbekannter Richtung davon sein. Die zweite Stunde. Nimbas Glieder waren Blei, seine Schwimmstöße kamen mühsam und erschöpft. Die Lunge war wie ein verätztes Stück Fleisch, und die Augen schlossen sich blind unter dem Salzwasser. Ein anderer hätte schon längst aufgegeben, aber dieser Neger war stark wie ein Riese und zäh wie eine Katze. Er war es gewöhnt, das Letzte aus sich herauszuholen, und er tat es auch jetzt mit verbissener Energie und in einer Art kindlichem Vertrauen auf seinen Herrn, der unermüdlich neben ihm einem unbekannten Ziel zueilte. Sie schwammen um ihr Leben, und Suns Blicke gingen besorgt von dem keuchenden Neger über die Wasserwüste. Die dritte Stunde. „Herr — ich kann nicht mehr", stöhnte Nimba auf. Sun ließ den Körper aus dem Wasser herausschießen. Da, war das nicht ein dunkler Körper am Horizont, ein Schiff? „Ein Schiff vor uns, Nimba, durchhalten!" „Ich kann — nicht mehr. Lassen Sie mich hier, Herr". Sun schwamm an den Neger heran, drehte den völlig erschöpften Körper einfach herum und umklammerte ihn mit seinem linken Arm. „Unsinn, Nimba. Wir schaffen es beide. Ruh dich jetzt aus." Mit erlöstem Seufzer ließ sich der schwarze Riese tragen. Sun hatte nur die eine Hand frei, aber er schwamm im gleichen schnellen Tempo vorwärts. Es war unglaublich, welche Energien in dieser schlanken Gestalt steckten. Die vierte Stunde. Nimba schwamm wieder selbst, nachdem er sich genügend erholt hatte. Fünfhundert Meter vor ihnen ragte der schwarze Rumpf eines kleinen Dampfers aus den Fluten, offensichtlich eines Lastfahrzeugs. Sie waren gerettet. Vorläufig schien man sie allerdings noch nicht bemerkt zu haben. Auch als Sun einen lauten Ruf ausstieß, rührte sich nichts. Es rührte sich überhaupt sehr wenig auf diesem Schiff. Schon eine ganze Weile war es Sun aufgefallen, daß es nicht fuhr, sondern an der gleichen Stelle blieb. Das war immerhin merkwürdig. Hier mitten im Ozean ein Schiff vor Anker, und noch nicht einmal vor Treibanker, sondern vor Grundanker? Hier, wo das Meer Hunderte oder Tausende von Metern tief war? Hatte das Schiff Maschinendefekt? Aus dem Schornstein kam nicht eine Spur von Rauch. Und wo war die Besatzung? Das Schiff wirkte auffallend unbelebt. Und doch — da war jetzt plötzlich ein Mann. Je näher die beiden Schwimmer dem Schiff kamen, um so deutlicher sahen sie, daß dort an der Reling neben dem Fallreep ein Matrose lag. Lang auf dem Bauche ausgestreckt, hatte er das Kinn auf seine ausgebreiteten Arme gestützt und starrte grinsend in die Fluten hinunter. Sonst verriet er mit keiner Bewegung, daß er die Hilfsbedürftigen gesehen hatte und gab sich auch nicht den Anschein, als ob er von ihnen Notiz nehmen wollte. „Hallo!" schrie Sun hinauf. „Ihr schlaft wohl?"
Der Mann rührte sich nicht. Das schien ja ein menschenfreundlicher Kahn zu sein. Kurz entschlossen zog sich Sun auf die unterste Stufe des etwas wackligen Fallreep hinauf und half dem wieder stark erschöpften Nimba aus dem Meer heraus. Dann stiegen sie beide hintereinander nach oben. „Hallo", meldete sich Sun nun zum zweitenmal, „was ist denn . . . ? " Zwei schnelle Schritte, dann stand er neben dem behaglich ruhenden Matrosen, beugte sich nieder . . . Der Mann war tot! Sun wendete den schon in Verwesung übergegangenen Körper um. Das Gesicht war im Schmerz verzerrt, und das hatte von unten wie ein Grinsen gewirkt. In den Mundwinkeln stand trocknes Blut. Nimba hielt sich schwankend an der Reling. Er fröstelte, seine Zahne klapperten. „Es ist unheimlich hier, Herr." Sun schüttelte zwar den Kopf, aber ganz so unrecht hatte der Neger nicht. Unheimlich wirkte vor allem die Stille über dem Schiff. Entweder hatte die Besatzung es verlassen oder sie war tot. Und doch schien der Dampfer noch seetüchtig zu sein. Er war weder sonderlich alt noch morsch. Er hatte offenbar in der letzten Zeit einen Sturm überstanden, doch schien dieser auch keine schweren Beschädigungen hervorgerufen zu haben. Die beiden Männer berieten sich kurz, dann begannen sie planmäßig das Schiff zu durchsuchen. Sie fanden es leer, von Menschen völlig verlassen. Das war die wichtigste Feststellung, die sie machten. Die Boote waren verschwunden. Der Aufbruch mußte in Hast erfolgt sein, darauf deuteten verschiedene Anzeichen hin. Die Maschinen waren kalt, im Maschinenraum stand Wasser. Zu steigen schien es nicht mehr. Rätselhaft! Wie konnte der Dampfer hier auf offener See leck werden, warum waren die Leute so überstürzt geflohen, warum aber gerade dieser eine Mann nicht? In der Kajüte des Kapitäns fanden sie die Lösung, allerdings erst geraume Zeit später. Zuvor wurden sie den grimmigen Notsignalen ihrer Körper gerecht. Nimba, dessen Spürsinn durch seinen Wolfshunger erheblich geschärft wurde, entdeckte genügend Lebensmittel, um eine ganze Mannschaft zu sättigen. Im Handumdrehen wurde er zum Koch. Heißer Tee, Konserven und Biskuits genügten fürs erste. Dann ging der Neger an die Zubereitung einer anständigen Mahlzeit. Sun aber suchte die Kapitänskajüte auf. Unter dem Wandtisch fand er zwei Bücher. Sie waren heruntergefallen oder heruntergezerrt, denn ihre Blätter waren zerdrückt, eingeschlagen und schmutzig. Das größere Buch war das Logbuch des Dampfers „Sven Köping". Sun las die Eintragungen der letzten Fahrt. Das Schiff war mit 26 Mann Besatzung von Oslo ausgelaufen, Ziel Quebeck, Ladung Stückgüter. Tag für Tag hatte sich bei ruhigster See nichts Wesentliches ereignet. Aber dann kam die letzte Eintragung. Sie war offensichtlich in größter Eile eingekritzelt: „46 Grad westl. Länge, 47 Grad nördl. Breite. Wir müssen das Schiff verlassen, da ein Sturm heraufzieht. Die Mannschaft ist bereits in den Booten. Möglicherweise explodieren die Kessel. Vor einer Stunde liefen 10
wir auf eine Untiefe, ein Riff. Der Kielraum ist aufgerissen, das Schiff sitzt fest. Das Wasser dringt in die Kesselräume, die Heizer konnten die Feuer nicht mehr löschen. Jede Minute kann die Explosion erfolgen. Vielleicht kehren wir zurück, wenn es nicht das Schiff zerreißt. Sonst werden wir versuchen, die Küste zu erreichen. Man wird uns nicht glauben, daß wir aufgelaufen sind. Nach der Karte ist das Meer hier vierhundert Meter tief. Gott sei uns gnädig. Kapitän C. Farlan." Die Unterschrift war kaum leserlich, die Angabe der Meerestiefe dick unterstrichen. Ein Stück unter dieser Eintragung stand noch eine weitere von einer andern Hand. In kraftlos zittrigen, großen Kinderbuchstaben stand dort aufgemalt: „Wären wir geblieben — die Boote sind verloren — alles ertrunken — mich hat der Sturm zurückgeworfen — Lunge zerquetscht — bin am Ende —" Ein Ansatz zu einer Unterschrift und Blutflecken schlossen die Tragödie. Der Mann hatte sich nach einem Anfall hinaus an die Reling geschleppt, vielleicht in der Hoffnung, ein fremdes Schiff zu erspähen. Um dem Tode durch die platzenden Kessel zu entgehen, war die Mannschaft geflüchtet und war gerade dadurch in den Tod gerannt, während das Schiff heil blieb. Nachdenklich nahm Sun das zweite Buch zur Hand. Ein nautisches Nachschlagewerk, das anscheinend noch vor kurzem benutzt worden war. Es hatte aufgeblättert unten gelegen, die eine Seite war beschmutzt, am Rande mit einem starken Bleistiftstrich und mit einem großen Fragezeichen versehen. Was hatte der Kapitän in der Aufregung der blitzschnell eingetretenen Katastrophe nachsehen wollen? Sun las die angestrichene Stelle: „Diese Untersuchungen und Messungen haben ergeben, daß auf dem Grunde des Atlantischen Ozeans zwischen der alten und der neuen Welt ein langgestreckter Höhenrücken liegt, der sich wie eine Schlange aus der Gegend von Grönland, mit dem er in Zusammenhang steht, quer durch den Ozean herab bis zur Südspitze Amerikas wälzt, bis er in der Gegend der Insel Tristan da Cunha langsam verflacht und ausläuft. Dieses Gebirge, die atlantische Schwelle, das ungefähr parallel zu den Anden und dem nordamerikanischen Felsengebirge läuft, kann man als Rückgrat und Mittelpunkt der versunkenen Atlantis bezeichnen. Als höchste Punkte dieses Bergrückens ragen heute noch die Azoren, dann zwischen Südamerika und Afrika die Inseln St. Paul, Ascension und Tristan da Cunha einsam aus dem Meer empor; außerdem steigt außerhalb dieses Rückens noch bei Fernando de Noronha, Trinidad und St. Helena Land über die Meeresfläche. Der nördliche Teil zieht sich vom arktischen Plateau aus auf die Küste Südamerikas hin. Er wird nach dem Vermessungsschiff Dolphin-Rücken genannt. An der Küste Brasiliens biegt er plötzlich in südöstlicher Richtung parallel zur afrikanischen Küste ab, um dann von der Insel Ascension an als Challenger-Plateau seine ursprüngliche Richtung wieder aufzunehmen. Madeira, die Kanaren und die Kapverdischen Inseln sind durch ein tiefes Tal von dem Höhenrücken getrennt. Die tiefsten Lotungen ergaben drei Punkte von 5760, 5850 und 6300 Metern, während der Höhenrücken durchschnittlich nur 1800—2600 Meter unter dem Meeresspiegel liegt." Hier war das Fragezeichen. Man konnte sich vorstellen, wie der schwer getroffene Kapitän beim Lesen dieser Zahlen das Buch mit einem Fluch 11
an die Wand warf. Diese Zahlen — und er saß mit seinem flachen Kahn hier fest. Suns Augen gingen unwillkürlich über den folgenden Absatz, der den Schluß des geologischen Kapitels bildete. „Täler, Hügel, Berge und Ebenen wechseln in buntem Reigen auf dem Grunde des Meeres, woraus sich die unumstößliche Tatsache ergibt, daß dieser Teil des Meeresbodens einmal trockenes Land gewesen sein muß. Teile des Bergrückens können freilich durch submarine Hebungen entstanden sein, die ja auch hohe Berge und vulkanische Inseln emporzuheben imstande sind, aber diese Annahme läßt sich doch nicht für alle Erhebungen des Gebirgszuges festhalten. Man fand z. B. 200 Meilen nördlich der Azoren in einer mittleren Tiefe von 3000 Metern zerklüfteten Meeresboden aus glasartiger, basaltartiger Lava vor. Französische Geologen unterzogen diese Funde einer genauen Untersuchung, und Professor Ternier vom Ozeanographischen Institut in Paris stellte fest, daß ein derartiges vulkanisches Gestein sich nur bei sehr schneller Erkaltung an der Oberfläche unter dem Einfluß der Atmosphäre bilden kann, aber nicht auf dem Meeresboden unter dem Druck einer Wassersäule von 3000 Meter Höhe. Wäre dies überhaupt möglich, was aber ausgeschlossen ist, so hätte sich die Lava unter dem Druck des Wassers fächerartig ausgebreitet, niemals aber zerklüftete Gebirgsbildungen hervorrufen können. Diese Tatsache ist also ein gewichtiger Beweis für die Existenz eines atlantischen Kontinents." Sun klappte das Buch säuberlich zusammen. Die sagenhafte Atlantis nahm schon recht greifbare Formen an. 2. Die Tage vergingen. Der Tote war schon lange der See übergeben worden, die Schrammen und Schürfungen der beiden Männer heilten aus. Lebensmittel gab es genug an Bord, so daß die Tage ohne Not vergingen. Solange das Wetter schön blieb, war alles in Ordnung. Fraglich schien nur, ob das Schiff einen Sturm überleben würde. Sun war noch am ersten Tage hinabgetaucht. Seine Untersuchung hatte die Angabe des Kapitäns bestätigt. Das Schiff saß auf Grund, trotzdem die Karten hier keine Untiefen verzeichneten. War der Boden des Meeres in Bewegung? Sun hatte keine Ruhe. In seinem Herzen hockte die Sorge. Er vergaß nicht, daß er von Europa weggeflogen war, um Joan Martini zu retten*), die vielleicht hilflos auf dem Meere trieb. Und nun saß er hier fest. Boote waren nicht mehr vorhanden, aber die beiden Männer machten sich unverzüglich daran, ein stabiles Floß zu bauen. Hier konnten sie nicht ewig bleiben. Das Schiff bot genügend Holz, auch Segeltuch fand sich ausreichend. Wenn ihnen das Glück günstig war, so würde sie der gleichmäßig wehende Passatwind an die Küste Amerikas treiben. Das Floß war fast fertig, als die Rettung von anderer Seite kam. Als sie eines Morgens aus der Kajüte traten, bemerkten sie in geringer Entfernung ein fremdes Schiff. Ihre Notsignale wurden bemerkt, ein Boot stieß drüben ab, und nicht viel später standen sie auf dem Deck des andern Fahrzeugs und schüttelten dem Kapitän die Hand. •) Sun Koh, Band 10: Das Gas des Wahnsinns.
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Kapitän Musgrave war mit seiner Bark ,Betty' von Liverpool nach Halifax auf Neu-Schottland unterwegs. Er war ein großer, starker Mann von höchstens fünfunddreißig Jahren, ein derbes, aber ehrliches und zuverlässiges Gesicht mit hellen, gutmütigen Augen und ewig struppigem, rötlichem Haar. Er war nicht wenig erstaunt, als er die Geschichte der beiden Schiffbi-üchigen hörte. „Auf Grund gelaufen? Schöne Schweinerei. Der alte Seeteufel hat immer neue Überraschungen. Aber nun will ich Sie mit meiner Frau bekanntmachen. Betty, komm her, hast doch höchstens gelauscht." Mit feuerrotem Gesicht trat eine junge Frau in die Kajüte, die neben der mächtigen Gestalt ihres Mannes fast zierlich wirkte. Sie hatte ein angenehmes, offenes Gesicht, in dem sich allerdings jetzt einige Verlegenheit spiegelte. „Aber Joe, ich habe doch nicht gehorcht!" meinte sie vorwurfsvoll. Musgrave legte auflachend den Arm um ihre Schulter. „Nicht, mein Schatz? Woher weißt du dann, daß ich dich gerufen habe? Also das ist meine Frau Betty. Wir sind nämlich gewissermaßen auf unsrer Hochzeitsreise. Eigentlich gehören ja Weiber nicht aufs Schiff, aber Betty wollte es einmal so. Na, und schließlich bin ich ja mein eigener Herr, mir hat niemand dreinzureden." Sun und Nimba machten sich bekannt. Betty Musgrave wagte anfangs unter den bannenden Augen dieses stolzen und edlen Mannes kaum zu atmen und suchte sich krampfhaft der einschlägigen Verhaltungsmaßregeln beim Empfang von Fürsten und Prinzen zu entsinnen, aber dann verlor sie allmälilich unter den freundlichen Worten der melodischen Stimme Suns ihre Scheu. Es wurde recht gemütlich in der Kapitänskajüte. Am nächsten Morgen stellte Musgrave den beiden Schiffbrüchigen Ölzeug zur Verfügung! Sein eigener Bestand und der der sechsköpfigen Mannschaft mußte daran glauben. Die Sachen paßten nicht besonders, aber sie boten genügend Schutz. „Wir kommen jetzt in den Bereich der Nebelbänke", erklärte er. „Sie werden die Kälte und Nässe bald spüren. Wenn es einmal losgeht, wird uns bis Halifax kaum wieder die Sonne scheinen." Sun sah ihn fragend an. „Sind Sie Wetterprophet oder handelt es sich um eine ständige Erscheinung, Herr Kapitän?" „Letzteres, Sir. Ist hier immer so. Der kalte Labradorstrom trifft bei Neufundland auf den warmen Golfstrom. Das gibt das reichste Fischgebiet der Welt, aber auch auf Hunderte von Kilometern eine undurchdringliche Nebelsuppe. Von Kap Charles bis Kap Sable eine einzige Wolke, höchstens daß es aus der Cabotstraße raus ein bißchen aufklart. Gefährliches Gebiet hier, Sir. Ist schon mancher nicht wieder rausgekommen." „Zusammenstöße?" „Will's meinen, auch — da, es geht schon los." Der langgezogene Ruf des Ausgucks meldete voraus eine Nebelbank. Die Männer eilten an Deck. Es war merklich kälter geworden. Der Kapitän behielt recht. Drei Tage lang fuhr man ununterbrochen durch Nebel. Die Positionslampen brannten Tag und Nacht, das Nebelhorn stieß in regelmäßigen Abständen seine schauerlichen Rufe hinaus. Wie feuchte Watte hüllte der dichte Wasserdampf alles ein. In gespenstischer Einsamkeit fuhr das Schiff seine Straße. 13
Musgrave kam kaum von der Kommandobrücke herunter. Sun und Nimba vertrieben sich mühsam die Zeit. Die Tage waren unendlich einförmig und lang. Am vierten Tage wurde die See lebhaft. „Damned", fluchte der Kapitän, „das hat grade noch gefehlt, daß uns jetzt ein Sturm auf den Hals kommt." „Haben Sie dann nicht die meiste Aussicht, daß dieser scheußliche Nebel zerreißt?" fragte Sun, der neben ihm stand. „Schon, schon", knurrte der Schiffer, „wenn ich's auch noch nicht erlebt habe, daß diese Suppe aufklart. Aber wir sind jetzt so dicht am ,Friedhof', daß eine Mütze Wind zuviel unser Leben kosten kann." „Am Friedhof?" Musgrave lachte kurz auf. „Ach so, Sie sind ja Landratten. Die Insel Sable Island liegt vor uns, eine dreimal verfluchte langgestreckte Teufelskralle mit Tausenden von Klippen, Riffen und Schären, die sich weit hinausziehen und einem schon den Leib aufschlitzen, wenn man sie noch gar nicht vermutet. 44 Grad nördlich und 60 Grad westlich, hundert Kilometer vor Halifax liegt diese mörderischste aller Schiffsfallen heimtückisch auf der Lauer. Kein Land weiter ringsum, nur Nebel und wieder Nebel, und natürlich gewöhnlich hinreichend Sturm, um die Schiffe drauf zu treiben. Ich sage Ihnen, hier sind mehr Menschen ersoffen als auf allen anderen Stellen der Erde zusammen. Auf den Klippen von Sable liegen die Trümmer von vieien, vielen Schiffen." „Ja, aber . . . ? " Der Kapitän machte eine unwirsche Handbewegung. „Ich weiß, was Sie sagen wollen. Man hat Leuchtfeuer auf die Insel gesetzt. Vier Türme. Ist eine eigene Sache damit. Einmal sind sie von einer Räuberbande betrieben worden, jahrelang, bevor man dahinter kam. Ein andermal war die ganze Besatzung wahnsinnig, als man sie ablöste. Ein grauenvolles Stück Land dort, öde und einsam, selbst Pflanzen und Tiere wollen nicht drauf leben, obgleich man sich schon die größte Mühe gegeben hat. Ist eben verflucht. Ja, ja, Leuchtfeuer sind schon da, aber man sieht sie nicht immer zur rechten Zeit. An dieser Insel scheitern noch heute Jahr für Jahr viele gute und feste Schiffe." „Unglaublich." Musgrave nickte düster. „Ist schon so. Deshalb nennt das seefahrende Volk diese Insel auch nur ,Friedhof des Meeres'. Sun sah nachdenklich in den Nebel hinaus. „Und warum umgeht man das gefährliche Eiland nicht einfach?" Der Kapitän lachte grimmig. „Man tut's schon. Für die großen Passagers ist die Route gänzlich verboten. Aber was wollen die kleinen Frachter wie unsereiner machen, die nach Halifax hinein müssen? Und dann vergessen Sie nicht, daß hier Fischgebiet ist. Und die Fischgesellschaften nehmen keine Rücksichten, das dürfen Sie glauben. Und unsereiner nimmt keine, weil man nicht einen Umweg von acht Tagen machen will, um sich als Furchthase zu fühlen. Der direkte Kurs geht an Sable Island vorbei, a l s o . . . " Die Nacht sank herab. Der Sturm hatte erheblich an Stärke zugenommen. Er trieb die Barke vor sich her. Der Nebel schlug in schweren Fetzen, aber er wich nicht genug, um klare Sicht zu erhalten. 14
Alle Mann waren auf ihren Posten. Jeder einzelne wußte, daß die Gefahr dicht vor ihnen lag. Die Riffe von Sable Island streckten sich viele Kilometer vor. Man sah sie bei Tage nicht, geschweige denn bei der Nacht. Immerhin hätte man sich bei Tage orientieren können, wenn man die Insel selbst im Auge gehabt hätte. Krampfhaft starrten die Augen hinaus. Wo war das Leuchtfeuer, der einzige Wegweiser, um einer Katastrophe zu entgehen? Würde der Nebel genügend Sicht ermöglichen, würde man es rechtzeitig genug bemerken, um den Kurs zu nehmen? Unaufhaltsam trieb der Sturm. „Leuchtfeuer voraus!" scholl es dumpf vom Ausguck herunter. Endlich — man atmete auf. Das Schiff fiel einen Strich ab, man hatte genügend Abstand von der mörderischen Insel, um ungefährdet vorüberzukommen. Regelmäßig blinkte das warnende Licht des Südturms. Als man näher herankam, konnte man auch das Dauerlicht des zweiten Turms wahrnehmen. Die andern Lichter drangen nicht mehr durch den Nebel. Man brauchte sie nicht, passierte südlich. Alles in Ordnung, freie Fahrt. Mochte der Sturm weiter drücken, um so schneller ging's in den Hafen. Jetzt war man schon ziemlich auf einer Höhe mit dem Leuchtfeuer. Da plötzlich ein furchtbarer Stoß, der den Boden unter den Füßen wegzog, ein ohrenbetäubender Krach, ein nervenzerreißendes Knirschen, Reißen und Splittern, stockende Stille, dann ein Aufbrüllen von Stimmen. „Unmöglich!" ächzte Musgrave mit einem Blick auf das ferne Feuer. Aber dann donnerten seine Befehle auf. Die Leute rannten, blieben erschreckt stehen. Der Steuermann brüllte durch den Sturm: „Zwecklos, Käptn, das Schiff fällt auseinander." „Halts Maul! In die Boote! Achtung!" „Zu spät!" „Joe! Joe!" „Betty! Komm her. Seid ihr verrückt, nehmt wenigstens Schwimmwesten mit! Achtung! Springt!" Innerhalb weniger Minuten spielte sich eine furchtbare Katastrophe ab. Das messerscharfe Riff hatte das in voller Fahrt laufende Schiff tatsächlich einfach der Länge nach aufgeschnitten. Wütend warf sich der Orkan auf das hilflose Wrack, riß es auseinander, drückte es mit haushohen Wogen hinunter. Die Boote konnten nicht mehr frei gemacht werden. So wie sie waren, mußten die Menschen in die brodelnde Tiefe hinabspringen. Vielleicht gelang es ihnen, wenigstens auf diese Weise das nackte Leben zu retten. Sable Island war nicht weit. Aber auf dem Wege dorthin starrten Hunderte solcher messerscharfer Klippen, an denen sich schon Tausende verzweifelter Menschen die Glieder zerschmettert hatten. Und das Meer raste in johlendem Triumph. Neue Opfer! Der Friedhof des Ozeans hatte seinem Namen Ehre gemacht. Sun und Nimba waren dicht hinter dem Kapitän und dessen Frau in die Tiefe gesprungen. Sun hatte auf die stürzenden Körper gezeigt. „Du die Frau und ich den Mann!" Ein Nicken Nimbas — er hatte verstanden. Sie waren beide wieder frisch und schwammen besser als jene beiden. Es würde nichts schaden, ihnen Unter die Arme zu greifen. 15
Musgrave war ein guter Kerl und vortrefflicher Kapitän, aber ein herzlich schlechter Schwimmer trotz seiner Riesenkräfte. Die mächtigen Wellen trugen ihn nicht, sondern schlugen über ihn hinweg und drückten ihn in die Tiefe. Seine Glieder ermatteten bereits nach Minuten, seine Augen wurden blind, er schluckte Wasser. Verzweifelt kämpfte er um sein Leben, verzweifelt und vergebens. Als ihn eine Welle mit dem Kopf gegen ein Riff schleuderte, war es aus mit ihm. Aber bevor er in die Tiefe verschwinden konnte, war Sun heran und lud sich den Riesenkörper auf. Nicht weit von ihm erbarmte sich Nimba der noch tapfer mit dem Element ringenden Betty Musgrave. Jetzt zeigten die beiden Männer, die sich keinen Augenblick aus den Augen verloren, was Schwimmen heißt. Sie stampften nicht mühsam gegen eine übermächtige Gewalt an, sie wurden nicht immer von neuem von den Wellenbergen begraben, sondern sie glitten wie Fische auf der Oberfläche dahin, bald im Tal, bald auf der schaumigen Kimme. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt den Riffen, die verborgen lauerten und sich nur durch feine Brandungslinien verrieten. Hundertmal wichen sie aus, gingen um Zentimeter mit einem energischen Beinstoß am Tod vorbei. Bewunderungswürdig, daß es ihnen gelang. Nimba erwies sich seines Herrn würdig. Und dann kam die Brandung. Nun erst begann der Kampf, das zähe, erbitterte Ringen um jeden Meter. Ein wirbelnder Hexenkessel von Klippen, Wasser und Schaum, mit tausend Armen riß der Tod zurück, das Meer brüllte vor Wut. Jetzt keuchten die Lungen, wurden die Muskeln zu krampfigen Strängen, jetzt spürten die Männer ihre lebende Last. Aber sie kämpften sich durch, sie schafften es. Als erster schoß Sun in das ruhigere Wasser des Strandes hinaus. Knapp hinter ihm folgte Nimba. Minuten später schritten sie dicht nebeneinander auf die felsigen Ufer hinauf. Behutsam legten sie das noch bewußtlose Ehepaar hinter einem Felsblock nieder. Dann brach auch Nimba zusammen. Er war erschöpft von der gewaltigen Kraftleistung. Auch Sun streckte sich eine Weile aus und entspannte den hart beanspruchten Körper. Doch schon nach Minuten erhob er sich wieder und schritt in das Innere der Insel hinein, auf den Leuchtturm zu. Von den Matrosen des Schiffes hatte keiner das Land erreicht. 3. Während Sun über die glatten Felsblöcke vorwärts eilte, grübelte er vergeblich darüber, wie dieses Unheil möglich gewesen war. Musgrave hatte doch genügend weit vom warnenden Feuer des Leuchtturms abgehalten. Die Kletterei in der stockdunklen Nacht war alles andere als ein Ver-' gnügen. Sun atmete auf, als er endlich auf einen schmalen Pfad traf, der in die Richtung des Blinkfeuers führte. Dort waren Menschen. Ein Stück vor dem Leuchtturm bog der Pfad scharf ab. Sun verfolgte ihn und stand nach Überschreitung einer Bodenwelle vor einem langgestreckten einstöckigen Gebäude, einer Art solider Baracke. Mehrere Fenster waren hell erleuchtet, Lärm und Stimmengewirr drang heraus. Das mochte das Unterkunftshaus für die verschiedenen Turmwachen sein. Schien ja ein fröhliches Leben zu herrschen, während draußen die Schiffe barsten und die Menschen mit dem Tode rangen. 16
Sun blickte durch eines der kaum verhangenen Fenster in den Raum hinein. Ein langgestreckter Tisch, daran Männer verschiedensten Alters, würfelnd, rauchend, trinkend und lärmend. Hm, übermäßig vertrauenerweckend sahen die Kerle nicht gerade aus. Waren üble Typen darunter, ausgesprochene Halunkengesichter. Freilich, das beste Material würde sich auch nicht gerade in diese Einsamkeit vergraben, die Staaten waren froh, wenn sie überhaupt genügend Männer fanden. Mit kurzem Entschluß riß Sun die Tür auf und trat in das qualmerfüllte, stickig warme Zimmer ein. „Guten Abend." Mit einem Schlag wurde es totenstill. Die Männer fuhren herum und sprangen auf, wobei ein Teil von ihnen mit verdächtiger Schnelligkeit die Pistole herausriß, dann starrten sie sekundenlang in schweigender Verblüffung auf den Fremden, der trotz seiner zerfetzten und durchnäßten Kleidung einen seltsam hoheitsvollen, gebieterischen Eindruck machte. „Guten Abend", wiederholte Sun Koh, während er lässig kühl in die Pistolenmündungen blickte. „Mir scheint, Sie haben eine merkwürdige Manier, Ihre Gäste willkommen zu heißen." Ein dumpfes Murmeln ging um den Tisch, aber die Waffen senkten sich und verschwanden. Nur einer der Männer hielt seine Waffe weiter auf Sun gerichtet. Er kam mit den schweren, wiegenden Schritten des Seemanns an Sun heran, stellte sich breitbeinig vor ihm auf und setzte ihm die Pistolenmündung auf die Brust. „Nimm mal vor allen Dingen die Hände hoch, aber ein bißchen dalli", knurrte er voll höhnischer Unfreundlichkeit. Sein Gesicht versuchte dabei schadenfroh zu grinsen, aber es gelang ihm schlecht, denn selbst dafür war es zu bösartig. Sun glaubte noch nie in ein abstoßenderes Antlitz geblickt zu haben. Brandrotes Haar, niedrige Stirn, tückische kleine Augen ohne Wimpern, eine plattgedrückte Nase, ein übergroßer widerlicher Mund mit verfaulten Zahnstummeln, die Haut voller Pockennarben und dazu alle Anzeichen von Gemeinheit und Brutalität. Sun rührte sich nicht, nur über sein Antlitz ging ein leichter Schimmer der Verachtung. „Na wird's bald!" brüllte ihn der Mann an. Sun verschränkte langsam die Arme über der Brust und sah den Kerl fest an. Immerhin ein eigenartiger Empfang hier. „Regen Sie sich nicht auf", sagte er eisig. „Ihre Angst vor mir ist u n nötig. Sieht aus wie schlechtes Gewissen, wenn Sie solche Furcht haben." Der Mann sah ihn einen Augenblick sprachlos an, dann brüllte er wütend auf: „Einen Dreck habe ich. Hände hoch o d e r . . . " „Laß ihn doch", mischte sich einer der Zuhörer ein, „er ist sowieso dran. Kannst ihm ja das Vergnügen gönnen." Der Rote zerbiß einen Fluch, aber er ließ die Waffe sinken und bestand nicht mehr auf seiner Forderung. „Frag ihn lieber, wo er her kommt", warf ein andrer hin. Sun musterte noch immer erstaunt die Männer. Wenn das LeuchtturmWächter waren, so hatte man sich bestimmt das übelste Gesindel aus den Staaten zusammengesucht. Aber selbst dann waren diese Bräuche gegenüber Schiffbrüchigen reichlich sonderlich. „Nun?" schnauzte ihn der Rote an, „wo kommst du her?" 17
Ein kühler Blick traf ihn. „Über besonders gute Manieren scheinen die amerikanischen Leuchtturmwächter nicht zu verfügen." Die Männer gröhlten auf, als habe er einen Witz gemacht. ,,Leuchtturmwächter ist gut!" brüllte einer. „Wirst die Wächter bald kennen lernen", schrie ein anderer, „wenigstens das, was von ihnen übrig geblieben ist." Suns Gesicht wurde starr und fest. Jetzt verstand er. Er war ahnungslos in den Schlupfwinkel einer Verbrecherbande geraten, die die Türme in eigener Regie betrieb und sich vermutlich am Strandgut bereicherte. Deshalb also mußte Musgraves gutes Schiff untergehen. Zorn stieg in ihm auf, aber er beherrschte sich und sagte völlig sanft: „Dann entschuldigen Sie, ich habe Sie für die Wächter gehalten." Die Männer lachten höhnisch auf. Der Rotkopf machte wieder einen Versuch zu grinsen und knurrte: „Große Ehre, mein Lieber. Aber nun raus mit der Sprache. Wo kommst du her, was hast du auf dieser Insel zu suchen?" „Ich bin Schiffbrüchiger des Dampfers ,Betty'", gab Sun gelassen Auskunft. „Das Schiff ist auf ein Riff gelaufen und fiel auseinander. Ich habe mich durch Schwimmen ans Ufer gerettet." Der Mann sah ihn mißtrauisch an. „Erzähl uns keine Märchen. Durch die Klippen ist keiner lebendig gekommen. Raus mit der Wahrheit." Sun hob die Schultern. „Wenn Sie mir nicht glauben wollen, so nehmen Sie meinetwegen an, was Sie wollen. Sie sind mir kaum der Mühe wert, Märchen zu erfinden." Der Rotkopf riß drohend die Pistole hoch. „Hund, nimm deine Zunge in Acht. Hast dann eben Dusel gehabt, daß dich das Meer ausgespuckt hat." „Die Streife müßte ihn doch gesehen haben?" rief einer der Männer. „Der Strand ist lang", gab der Rote mürrisch zurück. „Bist du allein oder ist noch jemand draußen?" Sun zögerte nicht eine Sekunde. „Ich bin allein, die andern sind vermutlich ertrunken." „Wirst bald wünschen, daß du es ebenfalls wärst", knurrte der Mann gehässig. „Was hatte euer Kahn geladen?" „Stückgüter. Wie konnte er auflaufen, trotzdem er sich weit genug abhielt?" Der sanfte Ton Suns machte die Leute sicher. „Schafskopf", lachte einer auf, „weil der Südturm außer Dienst ist. Turm zwei sendet seine Lichter." Das hatte Sun wissen wollen. Musgrave hatte zwar Abstand gehalten, aber nicht vom Südturm, den man gar nicht gesehen hatte. Kein Wunder, daß dann das Schiff geradeswegs auf die Klippen gelaufen war. Schurkische Verbrecher. Der Rotkopf wandte sich halb zu seinen Kameraden um. „Gebt mal ein paar Stricke her, w o l l e n . . . " Sun erfaßte den Augenblick. Aus seiner lässigen Haltung heraus wischte blitzschnell seine Hand dem andern die Pistole weg, gleichzeitig drehte er sich herum, riß die Tür auf und stürzte in die Dunkelheit hinaus. Ein, zwei Kugeln zischten über ihn hinweg, die Bande brüllte auf, aber schon hatte 18
Sun die deckenden Felsblöcke erreicht. Die Kugeln, die die herausdrängenden Männer ihm planlos nachjagten, klatschten unschädlich gegen die Steine. Sun jagte in halsbrecherischem Lauf durch das felsige Gewirr. Nimba und das Kapitänehepaar waren in Gefahr, wenn ein Teil der Bande ständig den Strand abstreifte. Sie mußten gewarnt, in Sicherheit gebracht werden, denn daß die Eande nicht viel Federlesens machen würde, stand fest. Elende Schurken! Welche Gemeinheit gehörte dazu, die Schiffe hier absichtlich auflaufen zu lassen, um Beute zu machen. Die Verbrecher mußten unschädlich gemacht werden, das stand fest. Außerdem würde es auch wohl erst dann möglich sein, diesen Friedhof des Ozeans wieder zu verlassen. Die Bande war alarmiert und würde scharf aufpassen. Und sie waren waffenlos. Aber immerhin — drei Mann konnten allerhand schaffen. Unvermindert schnell huschte Sun über die Blöcke. Sie waren feucht, glitschig und kaum zu sehen. Alle Sinne waren aufs Äußerste angespannt. Ein paarmal wäre er um ein Haar bös gestürzt, wenn ihm nicht die vollendete Geschmeidigkeit und Wendigkeit seines Körpers ermöglicht hätte, im letzten Augenblick locker abzurollen oder sich zur Seite zu werfen. Endlich langte er an der Stelle an, an der sie aus dem wirbelnden Wasser herausgeschritten waren. Die Hände formten ein Sprachrohr. „Nimba!" Nichts, kein Ruf kam zurück. Sollten sie noch bewußtlos sein? In vollem Lauf eilte er auf den Felsblock zu, hinter dem die drei liegen mußten. Gebannt blieb er stehen. Sie waren verschwunden. Von Nimba, Musgrave und dessen Frau war nichts mehr zu sehen. Entweder hatten sie sich selbst fortbegeben o d e r . . . ? Seine Stimme übertönte von neuem den Sturm. „Nimba!" „Hände hoch!" brüllte da plötzlich in seinem Rücken eine Männerstimme mit voller Lungenkraft. Sun fuhr herum und blickte in die Mündung eines Karabiners und in das blendende Licht einer Scheinwerferlampe. Den Mann dahinter konnte er nicht sehen, er vernahm nur die Stimme. „Hände hoch!" wiederholte sie barsch. „Lebhaft, sonst knallt's. Deine Kumpels haben wir schon fest. Mach dir keine Hoffnung, haben dich schon eingekesselt." Die Streife. Die Leute hatten ihn hier erwartet, hatten vielleicht die Unterhaltung der drei belauscht und wußten, daß er zurückkommen würde. Ja, sie hatten ihn eingekesselt. Im weiten Halbkreis flammten die Scheinwerfer auf und richteten sich auf ihn. Und hinter den Scheinwerfern belauerten schußbereite Männer seine Bewegungen. Die Fluchtwege zum Lande waren versperrt. Nur an einer Seite war der Kessel weit offen — zum Strand, zum brüllenden Meer, zu den messerscharfen Klippen hin. Sun hob die Hände. Ergab sich das gestellte Wild? Nein. Die Hände kamen blitzschnell, schlugen den drohenden Lauf hoch. Der Schuß knallte in die Luft. Sun wandte sich und jagte in riesigen Sätzen dem Meere zu. Wie ein Pfeil huschte die schlanke Gestalt hinunter. Aber der Versuch war zu verzweifelt. Ringsum standen ein Dutzend Männer, die nur loszudrücken brauchten. Und trotz des Nebels waren die Lampen stark genug, um das Opfer im Lichte zu halten. 19
Schüsse knallten, erst einzeln, dann jagten ganze Salven hinter dem verwegenen Flüchtling her. Er rannte noch immer. Schnellfeuer. Von hundert Kugeln würde doch wenigstens eine treffen. Die Männer stolperten fluchend nach, schossen ununterbrochen. Jetzt war er am Wasser. Aber das würde ihm nichts helfen, es gab kein Entweichen. Vorn raste das Meer auf den Klippen. Schießen — schießen! Da, endlich! Ein gellender Schrei, der selbst das Donnern der Brandung übertönte, der Flüchtling warf die Arme hoch, drehte sich noch halb im Lauf, taumelte, glitt auf dem schlüpfrigen Fels und stürzte in die schaumigen, wirbelnden Wasser. Als die Verfolger mit rauchenden Büchsen von der Klippe aus hinabstarrten, glaubten sie vorn den dunklen Körper herumwirbeln sehen. Kurz darauf verschwand er in der Tiefe. „Erledigt", knurrte der Anführer der Streife befriedigt. „Der spürt die Klippen nicht mehr. Konnte sich der Idiot nicht gefangen geben?" Sein Nachbar lachte roh auf. „Als ob dann was gebessert gewesen wäre? Würde wahrhaftig auch lieber auf diese Weise an einer Kugel verrecken, als im Turm langsam verhungern und von den Ratten aufgefressen zu werden." „Na, wenn schon", gab der Anführer gefühllos zurück, während er seinen Karabiner über die Schulter warf, „das Viehzeug will auch leben. Kommt, wollen uns der drei Leutchen erbarmen. Der Chef wird sich freuen, wenn er die Frau sieht." „Könnte uns auch mal was lassen", knurrte einer halblaut. Der Führer warf einen Blick in die Richtung, aus der die Bemerkung gekommen war. „Halt's Maul, Steve." Stumm schritten sie den Strand hinauf. 4. Die Nacht wich einem fahlen Tag, der die Sonne nicht kennenlernte, und kehrte stockschwarz wieder zurück. In einem kleinen Zimmer der Steinbaracke lagen auf dem Fußboden zwei gefesselte Männer. Kapitän Musgrave starrte seit Stunden in das funzlige Licht der Öllampe an der Decke und horchte in tiefer Besorgnis auf die Geräusche, die ringsum waren. Nimba hatte sich noch nicht gerührt, seitdem man ihn vor fast vierundzwanzig Stunden hier brutal abgeworfen hatte. Ein wuchtiger Kolbenhieb hatte ihn erledigt, als er sich am Strand wehrte. Jetzt endlich begann er sich zu regen. Nach Minuten schlug er die Augen auf und suchte sich zu orientieren. „Nimba!" rief ihn der Kapitän leise an. Der Neger rollte sich etwas herum. „Kapitän Musgrave", stöhnte er. „Was ist geschehen? Mein Schädel brummt entsetzlich. Himmel!" „Wir sind gefangen. Sie wurden niedergeschlagen", flüsterte Musgrave. „Hier treibt eine Verbrecherbande ihr Unwesen." „Und die Leuchtturmwächter?" Der Kapitän lachte bitter auf. „Sind gefangen oder tot. Kein Wunder, daß wir auf Riff liefen. Sie 20
haben den Südturm zum Verlöschen gebracht. Bande verfluchte." „Wo ist Ihre Frau?" „Im Nebenzimmer. Die Bande wartet auf ihren Chef, der vom Festland herüber kommt. Kann mir denken, was er von ihr will. Aber da kennt er meine Betty schlecht. Sie wird ihm die Augen ausreißen. Armes Mädchen, das ist nun unsre Hochzeitsreise." „Und was wird mit uns?" Musgrave spuckte in die Luft. „Eine Kugel in den Rücken oder lebendig vor die Ratten:. Wenn ich recht verstanden habe, will man uns in den Südturm schaffen und verhungern lassen. Warum wir nicht schon längst dort sind, begreife ich allerdings nicht. Jedenfalls wartet man die Ankunft des Anführers ab." „Und — hat sich mein Herr noch nicht wieder bemerkbar gemacht?" Der Kapitän schwieg lange. Dann sagte er leise: „Armer Kerl — Sie müssen es ja doch erfahren. Uns wird's nicht besser gehen. Mr. Koh — ist tot." Der Neger bäumte sich in seinen Fesseln auf. „Tot?" „Ja", bestätigte der andre düster, „die Leute unterhielten sich darüber. Sie haben ihm aufgelauert und ihn gestellt. Er hat sich durchschlagen wollen, ist zum Meer hin geflohen, aber sie waren ihrer zu viele. Eine Kugel hat ihn erwischt. Er ist ins Meer gestürzt und ertrunken, wenn er nicht schon vorher tot war." „Schurken!" stöhnte Nimba. Doch dann wurde er ganz still und schloß die Augen. Minuten vergingen. Dann fragte er leise: „Hat man seinen Leichnam gefunden?" Musgrave schreckte auf. Seine Gedanken waren schon wieder im Nebenzimmer gewesen. „Nein, davon habe ich nichts gehört." Der Neger atmete erleichtert auf. „Dann ist er auch nicht tot", erklärte er bestimmt. Musgrave schwieg. Warum sollte er dem armen Kerl seinen naiven Glauben und seine schwache Hoffnung zerstören? Wieder verging eine lange Zeit. Nimba atmete tief und ruhig. Das dumpfe Gefühl in seinem Kopf schwand allmählich. „Kapitän Musgrave?" „Ja?" „Sind Sie verletzt?" „Nein", kam etwas verwundert die Antwort. „Wir können uns nicht einfach den Ratten vorwerfen lassen. Machen Sie mit, wenn es zum Kampf kommt? Unsere Chancen sind zwar gering, aber vielleicht können wir die Bande überrumpeln." Musgrave knurrte grimmig: „An mir soll's nicht liegen, und wenn es eine Million zu eins steht. Aber wir sind gefesselt." „Ich glaube, ich kriege die Stricke durch. Die Kerle unterschätzen meine Kraft. Will's jedenfalls versuchen." „Nimba!" Der Kapitän schrie es fast in neuer Hoffnung. Minutenlang hörte man weiter nichts als das tiefe, entspannende Ausatmen des Negers. Dann ein pressendes Stöhnen, eine riesige Kraftan21
strengung, ein furchtbarer Ruck. Wieder Stille. Dann abermals nach Minuten das gleiche. „Geschafft!" flüsterte Nimba triumphierend. „Die Stricke sind locker geworden. So, schon ist die Hand frei — ich komme gleich — die andre Hand — nun nur noch . . . " „Achtung!" Nimba ließ sich zurückfallen, warf die Stricke über seine Hände, aber schon wurde die Tür aufgerissen. Ein Mann trat ein, dem zwei andre folgten. Er warf mißtrauische Blicke auf die beiden Gefangenen. „Scheint ja alles in Ordnung zu sein. Aha, das schwarze Schwein ist ja auch wieder munter? Muß einen Schädel aus Eisen haben." „Alles in Butter", brummte der zweite. „Wolltest uns wohl einen Schreck einjagen, Schiefer?" „Quatsch", erwiderte der erste mürrisch. „Irgendwer muß doch hinter der Geschichte stecken. An euern Spuk glaube ich nicht. Will doch lieber mal die Fesseln — ah . . . " Jetzt bemerkte er, daß die Stricke nur noch lose um die Handgelenke des Negers lagen. Mit einem wütenden Schrei der Genugtuung beugte er sich nieder. Aber schon fuhr Nimba hoch. Seine Beine waren noch fest mit Stricken umwunden, aber die Hände waren fast frei. Ein Ruck, die Stricke fielen, die schwarze Faust jagte nach oben und traf wie ein Hammer mit voller Wucht das Kinn des Mannes. Ein entsetzliches Krachen von Knochen, der Körper warf sich nach hinten über und dröhnte auf den Fußboden. Der „Schiefe" stand nie wieder auf. Der Schlag des Überboxers Jack Holligan hatte ihm das Genick gebrochen. Aufbrüllend stürzten sich die beiden andern auf den Neger, obgleich es klüger gewesen wäre, von den Pistolen Gebrauch zu machen, die in den Gürteln staken. Sie bezahlten ihre Unklugheit sehr rasch. Nimba stürzte zwar unter dem doppelten Anprall, aber er brachte trotzdem dem einen ein unheilbares Leberleiden bei, und dem zweiten wischte er ein Dutzend Zähne aus dem Munde. Leider half es ihm nicht viel. Der erste Aufschrei hatte die Bande nebenan alarmiert. Sie stürzte herein, warf sich auf den rasenden Riesen. Die Waffe konnte man ohnehin nicht mehr verwenden, da man sich sonst gegenseitig erschossen hätte. Die Übermacht war zu groß. Nimbas Fäuste mordeten, aber dann traf der Kolben einer Pistole mit voller Wucht seine Schläfe und betäubte ihn. Er brach zusammen, spürte nicht mehr, wie die Stricke nun doppelt und dreifach in sein Fleisch einschnitten, wie die Füße in roher Wut auf ihm herumtraten. Einen Toten und drei Schwerverletzte trug man hinaus — dann funzelte die Öllampe wieder still über den zusammengeschnürten Männern. - - Abermals vierundzwanzig Stunden später. Betty Musgrave saß traurig auf dem einzigen Stuhl des kleinen Zimmers, in dem sie nun schon zwei Tage gefangen saß. Man hatte sich bis jetzt nicht viel um sie gekümmert und sie hatte genug Zeit gehabt, um ihrer Sorge um Joe nachzuhängen. Sie war kein schwächliches Frauenzimmer, aber sie gab sich auch keinen Illusionen über die Absichten dieser Bande hin. Joe war verloren, wenn nicht ein Wunder geschah, war verloren wie sie selbst. Wer weiß, wo er sich jetzt schon befand. Die Tür ging auf. Sie blickte nicht hoch — sicher das Essen. Damit v e r sorgte man sie ja genügend. 22
„Guten Abend, mein Kind", grüßte eine näselnde Stimme mit spöttischem Unterton von der Tür her. Nun wandte sie sich doch um. Das war ein Fremder. War es der Mann, für den sie bisher geschont worden war? Oh, Betty Musgrave täuschte sich über ihre eigene Lage nichts vor. In der Tür stand ein schmächtiger Mann mit unangenehmem, verlebtem Gesicht. Seine Züge waren fast weichlich, aber man ahnte eine harte Grausamkeit dahinter. Um seine Lippen, die durch einen dünnen schwarzen Schnurrbart verziert wurden, lag ständig ein zynisches Lächein. Betty Musgrave sah ihn fest an, gab jedoch keinen Laut von sich. Er trat an den Tisch heran und musterte sie mit aufdringlicher Frechheit. Der jungen Frau fiel es auf, daß dieser Mann einen Anzug trug, der vielleicht für Trafalgar Square in London angebracht gewesen wäre, niemals aber für diese stürmische, rauhe Insel. „So so", nickte der Mann befriedigt, „ist ja ganz nettes Strandgut, was meine Leute da aufgelesen haben. Betty heißt du? Nett, nicht wahr? Ich bin Jim Gregory, mein Schatz." „Ein Flegel sind Sie", sagte Betty deutlich. „Ich wüßte nicht, daß ich Ihnen die Erlaubnis gegeben hätte, mich zu duzen." „Hoho", grinste Gregory, „nur nicht so kratzbürstig, mein Täubchen. Bist wirklich hübsch, Kleine. Dein Alter hat keinen schlechten Geschmack gehabt, als er dich nahm." Sie hätte ihn am liebsten in das widerliche Gesicht geschlagen, aber sie beherrschte sich und fragte verhältnismäßig ruhig. „Wo ist Joe?" Er markierte Erstaunen. „Joe — ach so, das ist dein Liebster? Dem geht's gut, ausgezeichnet." „Sie lügen!" Er lächelte niederträchtig, „Aber nicht doch, Kleine. Übringens wird's ganz von dir abhängen, wie er sich fühlt. Wenn du nicht hübsch brav bist, dann . . . " Er sprach nicht aus, aber sie verstand auch so die Drohung. Ihre Stimme bebte vor Entrüstung: „Sie scheinen ja ein ganz gemeiner Schuft zu sein." Er lachte ungerührt. „Kann sein, aber ich schätze, wirst mich trotzdem zärtlich umarmen. Bin der Schlechteste noch lange nicht. Wenn du Flausen machst, lernst du noch andre kennen. Komm, gib mir einen Kuß." Sie schüttelte sich wie im Ekel. „Mir ist schon von Ihrem Anblick übel genug." Ihre eisige Schroffheit schien ihn zu reizen. Er trat dicht an sie heran, packte sie bei den Schultern und näherte sein Gesicht dem ihren: „Den Stolz werde ich dir schnell abgewöhnen, meine Süße ..."" Dabei wollte er sie küssen, aber bevor er es sich versah, brannte ihre kleine, aber feste Hand wuchtig auf seine Backe nieder. Er fuhr mit einem Wutschrei zurück. Betty Musgrave sprang auf und stellte sich stolz und kampfbereit mit geballten Fäusten hin. Der Kerl sollte was erleben. Gregorys eine Backe war ebenso rot wie die andere bleich. Seine Augen funkelten gefährlich, und seine Stimme zischte förmlich: „Ah, warte, das wirst du mir büßen." Er kam wie ein Raubtier heran. 23
„Ich kratze Ihnen die Augen aus", drohte sie. „Wagen Sie nicht, mich anzurühren, Sie Lump!" „Blödes Weib", knurrte er und sprang auf sie zu. Sie schlug ihm die Fäuste ins Gesicht, aber ihre Kraft reichte nicht im entferntesten aus, um die brutalen Angriffe des Mannes abzuwehren. Zehnmal schüttelte sie ihn ab, sein Gesicht blutete aus verschiedenen Kratzwunden, aber mehr und mehr drängte er sie in die Ecke zurück, wo das Lager stand. Verzweifelt wehrte sie sich, aber ihre Kraft erlahmte bereits, er spürte es, umklammerte mit einem triumphierenden Aufjohlen ihren K ö r p e r . . . Da knallte ein Schuß. Gregory stand einen Augenblick unbeweglich. Sein Gesicht zeigte einen unsäglich erstaunten Ausdruck, seine Hand fuhr nach der Schläfe. Dann brach er zusammen. Tot. Betty Musgrave sah noch mit einem Blick, wie sich die Schläfe des Mannes um ein winziges Loch herum rötete, sah die Fensterscheibe in Trümmern, dann stürzte sie ebenfalls nieder. Eine Ohnmacht hielt ihre Sinne umfangen. Sie sah nicht mehr, wie die Mitglieder der Bande hereinstürmten und hörte nicht mehr die wilden Flüche und die entsetzlichen Verwünschungen, die in dem kleinen Räume widerhallten. * Eine Viertelstunde vorher im Mannschaftsraum der Bande. Um den langen Tisch herum saßen in düsterer Stimmung vierzehn Männer. Der Chef war eben verschwunden. Ein lästerliches Schmutzwort hatte ihm Erfolg gewünscht. „Verfluchte Weibergeschichte", hatte daraufhin einer geknurrt, „sollten uns lieber um ernstere Dinge kümmern." Eine Weile hatte finsteres Schweigen geherrscht. Dann war einer der Männer aufgesprungen und hatte die Faust auf den Tisch gekracht. „Und ich sage euch, auf dieser verdammten Insel spukt's", schrie er und blickte herausfordernd in der Runde herum. „Quatsch", gab der Rotkopf gereizt zurück, „du kommst wohl gerade aus der Sonntagsschule. Spuk? Daß ich nicht lache!" „Was denn sonst? Rede doch, Roter, wenn du eine Erklärung hast. Bist doch sonst nicht aufs Maul gefallen! Seit vorgestern nacht ist der Teufel los. Wir waren ihrer zweiunddreißig. Und wieviel sind wir jetzt? Kaum mehr als ein Dutzend, he? Wo sind die andern hin? Verschwunden, spurlos verschwunden, ohne einen Laut, einen Mucks von sich zu geben. Wo sind sie, he?". Der Rote warf ihm einen tückischen Blick zu: „Haben sich vermutlich in der Luft aufgelöst oder was du dir einbildest. Ich behaupte nach wie vor, daß irgend so ein Hundsfott sich draußen rumtreibt und einen nach dem andern wegfängt." Der ,Schlosser', ein Bankräuber, nach dem verschiedene Polizeipräsidenten erhebliche Sehnsucht hatten, schüttelte bedächtig den Kopf: „War ganz meine Meinung, Roter, aber jetzt kommt mir die Sache doch nicht mehr geheuer vor. Würdest du dich mir nichts dir nichts abfangen lassen? Na, und die andern waren auch nicht von Pappe. Nee, so einfach ist das Ding nicht. Lew ist direkt hinter mir gegangen, direkt auf meinen Hacken, als wir den Chef hergebracht haben. Seine Lampe brannte so hell, daß ich meinen Schatten vor mir sah. Auf einmal war der Schein weg. Ich 24
drehe mich sofort um — Lew ist verschwunden. Kein Schuß, kein Geräusch, kein Laut, nichts. Spurlos weg. Und Lew ist zwei Zentner schwer und fürchtet sich vor Tod und Teufel nicht. Eine Minute später hatten wir alle Felsblöcke in der Umgebung abgesucht. Was war der Erfolg? Der ,scharfe Jonny' verschwand noch obendrein." „Sie sind weggefangen worden", beharrte der Rotkopf. „Wir hätten die Insel schon längst absuchen müssen." „Tu's doch", höhnte die ,Hakennase'. „Bei der Dunkelheit kann sich ein Armeekorps verstecken und du findest es nicht, wenn sie nicht Laut geben." „Ist ja gar keiner da zum Finden", warf der erste Sprecher bedeutungsvoll hin. „Hör auf mit deinem Geistergeschwafel", schrie der Rote grimmig. „Ich wette meinen Hals, daß der blonde Santan dahinter steckt, der vorgestern hier hereingeschneit kam." Einige der Männer murmelten beifällig, aber ebensoviel lachten verächtlich auf. „Du spinnst wohl?" schrie einer von diesen. „Der ist schon längst von den Fischen gefressen. Wir waren dabei, wie er abging." „Ihr müßt's ja wissen", knurrte ein andrer zweifelnd. „Aber selbst wenn er euch genarrt haben sollte, dann kann er nicht unsre Leute so einfach verschwinden lassen. Das brächten zehn von solchen Leuten nicht fertig. Wer von euch schon mal einen Mann umgelegt hat, der weiß, daß das nicht so eins zwei drei und ganz ohne Lärm geht. Und unsere Kameraden sind verschwunden, obgleich sie genau wußten, was los war und ihre fünf Sinne beisammen hatten. Nee, ich denke auch, die Geschichte ist nicht ganz geheuer." „Die Wächter?" fragte einer, aber man spürte, daß er seiner eigenen Vermutung nicht glaubte. Ein höhnisches Gelächter quittierte denn auch seinen Einfall. „Die sind schon lange verhungert oder von den Ratten aufgefressen. Waren wahrhaftig nicht die Kerle danach, uns was zu tun. Hätten sie gar nicht einzusperren brauchen, die würden doch nur in ihrem Turm hocken und vor Angst sterben." „Himmel und Hölle!" fluchte der Rotkopf auf, „es ist zum Verrücktwerden. Fehlte bloß noch, daß sie uns die Wache draußen wegfangen. Will doch gleich mal nach dem Rechten sehen." Er stand auf und öffnete die Tür, die unmittelbar ins Freie führte. Man hinderte ihn nicht. Die Männer waren in einer verzweifelten Stimmung, die ihnen selbst das Unmögliche glaubhaft erscheinen ließ. Es waren hartgesottene Verbrecher, aber das hinderte nicht, daß sie abergläubisch wie ein Segelschiffer waren. Innerhalb von zwei Tagen waren sechzehn Leute spurlos verschwunden, hatten sich gewissermaßen unmittelbar unter den Augen ihrer Kameraden in Luft aufgelöst, ohne einen Laut von sich zu geben — das überstieg die Fassungskraft dieser ebenso primitiven wie rohen Seelen. Hier gab es nur eine Erklärung — Geister. „Hallo!" schrie der Rotkopf hinaus. „Hallo, Jerry! Snyder!?" Keine Antwort. „Damned, was ist denn — Himmel und Hölle, der Südturm!" Hinter ihm drängten die andern Männer hinaus. Über dem letzten Ausruf vergaßen sie, daß die Wache verschwunden war. Ihr Blick ging nach Südwesten. 25
Da zuckten tatsächlich in regelmäßigem Abstand die Blinklichter auf. Der Südturm, der fünfzehn Kilometer weiter südlich die Schiffe warnte, war in Betrieb. „Teufel", brüllte der Rotkopf, „da habt ihr die Lösung, ihr Narren. Die Wächter sind frei. Was war das?" Ein Schuß? Die Männer zuckten zusammen, rissen die Pistolen heraus. Eine wilde Mordgier flammte in ihnen auf. Wenn die Gegner aus Fleisch und Blut waren, dann wollte man ihnen schon zeigen, was eine Harke war. Jetzt ging's los. Der Schuß war aus nächster Nähe gefeuert worden, mußte ein Fenster getroffen haben. „Der Chef!" schrie einer ahnungsvoll auf. Wilde Flüche, der Haufe flatterte zurück, stürzte durch die Räume. Man fand keine Zeit zum Anklopfen, war nicht zartbesaitet. Am Boden des kleinen Gemachs lag der Anführer der Bande — in der Schläfe ein kleines Loch. Neben dem Toten die Frau, deren Kleidung Spuren des Kampfes trug. Die Banditen sahen das zersplitterte Fenster und rasten wieder hinaus. Die Stimme des Rotkopfs gellte Befehle. Wutentbrannt jagten zehn Mann in das Felsengewirr hinein, während die restlichen vier das Haus deckten. Nach zehn Minuten kamen acht Mann zurück. Wieder waren zwei Mann verschwunden, dem unheimlichen, unsichtbaren Feind zum Opfer gefallen. Eine verbissene, mürrische Beratung folgte. Fast einstimmig kam der Beschluß. Man gab auf. Man hatte keine Lust, sein Leben und sein sicheres Bankkonto zu gefährden. Morgen in der Frühe ging es hinüber zum Weststrand, an dem die Motorjacht Gregorys lag. Nur schnell fort von der Insel, von diesem Geisterfriedhof. Nur einer schlug vor, den Südturm anzugreifen und überhaupt erst mal nach dem Rechten zu sehen. Man konnte doch schließlich nicht die Kameraden in Stich lassen. Er verstummte unter dem höhnischen Gelächter der andern. J e weniger sie waren, umso reicher wurde jeder von ihnen! Fort! 5. Als Sun Koh vor den Kugeln der Verbrecher wie ein gehetztes Wild zum Strand hinunterjagte, wagte er zwar das Äußerste, aber er wußte auch, daß seine Schnelligkeit und der Nebel die Schußsicherheit erheblich beeinträchtigen würden. Tatsächlich fühlte er auch nur zweimal — an der Schulter und am Kopf — das kurze, heiße Aufbrennen von Streifschüssen. Sein Todesschrei und sein stürzender Fall ins Meer waren bewußte Täuschung. Vor den Klippen fürchtete er sich nicht, aber er mußte verhüten, daß sich die Kerle hier am Strand festsetzten und ihm den Rückweg abschnitten. Die List glückte. Sun ließ sich hinaustreiben und als er die Lichter der Verfolger am Klippenrand bemerkte, tauchte er hinunter und kam erst ein ganzes Stück entfernt wieder hoch. Dann verschwanden die Banditen, und Sun schwamm an das Ufer zurück. Jetzt überdachte er seine Lage. Nimba, Musgrave und dessen Frau waren gefangen. Es war schwierig, sie aus der starken Bande herauszuholen, noch schwieriger würde es dann sein, die Insel zu verlassen. Waffen hatte er keine, aber die konnte er einem der Männer abnehmen. 26
Sun grübelte lange über diesen Punkt. Ein Plan stieg in ihm auf, wie man der Bande beikommen könnte. Das Gelände war ja äußerst günstig. Und dann mußten doch auch irgendwo die Wächter stecken, wenn sie. noch lebten. Im Südturm? Er mußte wieder in Betrieb gesetzt werden. Dort konnte man schließlich die Gefangenen unterbringen. Sun schlich sich an die Baracke heran und beobachtete die Bande. Man war dort unbesorgt. Ohne die geringste Mühe konnte er von den bergenden Blöcken aus feststellen, wo die beiden gefesselten Männer und die Frau untergebracht wurden. Selbst die laut geführten Gespräche konnte er in Bruchstücken hören. Er nickte befriedigt, als er neben manchem andern Wissenswertem erfuhr, daß die Entscheidung über die Gefallenen erst in zwei Tagen fallen sollte. Nun ging er auf die Suche nach dem Südturm. Zu verfehlen war er nicht, da er sich notwendig am Strande befinden mußte, aber fast eine Stunde harten Laufs war notwendig, bevor er das düstere Rund im Nebel auftauchen sah. Die schwere Bohlentür war verschlossen. Sun suchte sich einen der Steinblöcke aus, von denen genügend in der Nähe herum lagen, und schmetterte ihn mit der ganzen stählernen Federkraft seines Körpers gegen das starke Holz. Nach dem siebenten Wurf gab es nach, die Tür splitterte auf. Es war grauenhaft kühl und still im Turm. Sun lauschte. Irgendwo war ein Wimmern. Er ging ihm nach. Dicht neben der aufwärts führenden Treppe ertastete seine Hand einen mächtigen Felsblock, der hier eigentlich nicht das geringste zu suchen hatte. Licht war nicht vorhanden, es herrschte undurchdringliche Finsternis, aber Sun wußte fast instinktiv, warum man den Block hier hereingewälzt hatte. Er bückte sich, fühlte den Schnitt einer Luke. Jetzt hörte er das Wimmern auch stärker. Ein Anstemmen, ein Ruck — der Block kippte zur Seite um, gab die Luke frei. Sie war nun an dem vorhandenen Ring leicht zu öffnen. Eisige Kälte, Wassergeruch und Verwesungsgestank stiegen gleichzeitig mit stöhnendem Lallen und unbestimmten menschlichen Geräuschen empor. „Hallo, ist jemand unten?" rief Sun hinab. Eine verhältnismäßig kräftige Stimme antwortete in bittrer Qual: „Das wißt ihr doch selbst am besten, verfluchte Bestien!" „Ich gehöre nicht zu den Verbrechern", gab Sun zurück. „Werde euch frei machen. Eine Leiter ist nicht da? Gibt es hier irgendwo Licht und Stricke?" „Licht findet Ihr oben, wenn man es dagelassen hat", kam die gleiche Stimme hoffnungsfreudig. „Stricke sind an unsern Knochen mehr als genug, aber vielleicht findet ihr oben noch was." „Gut, ich komme wieder." Sun stieg die Treppe hinauf. Es war nicht schwer, sich zu orientieren. Einige kleine Wohn- und Schlafräume, fast winzig, außerdem eine Küche und Vorratsräume. Darüber die Blinkstation. Die Bande hatte anscheinend alles so gelassen, wie es war. Mehrere Öllampen waren vorhanden, auch Streichhölzer und ein starkes Tau. Eine Stunde später lag alles, was von den Wächtern noch zu retten gewesen war, oben auf den einfachen Ruhebetten. Sun hatte das Tau oben am Treppenpfosten befestigt und war hinabgestiegen, hatte die Leute heraufgeholt. Es war furchtbar gewesen. Auf dem nackten Felsboden lagen halb im Wasser zwischen langschwänzigen huschenden Ratten, erbarmungswürdig mit Stricken umwunden neun 27
Männer. Vier von ihnen waren tot, zum Teil schon verwest. Die andern waren völlig erschöpft, verhungert und verdurstet. Zwei hatten den Brand in den abgestorbenen Gliedern und würden kaum zu retten sein. Nur drei hatten sich gehalten. Sie erholten sich verhältnismäßig schnell. Der eine von ihnen, ein herkulisch gebauter Mann, konnte sogar leidlich sprechen. „Wir drei waren auf dem Nordturm", berichtete er im Laufe der nächsten Stunde. „Wir rochen den Braten und verteidigten uns. Sie trafen uns nicht unvorbereitet und so ein Turm ist nicht schwer zu halten. Acht Tage konnten wir Widerstand leisten, dann waren unsere Lebensmittel zu Ende. Wir mußten uns ergeben. Man ließ uns erst noch einige Tage in der Baracke liegen, und dann warf man uns gefesselt hier hinunter. Das war vor drei Tagen. Es war die Hölle." „Aha", nickte Sun, „deshalb sind Sie noch verhältnismäßig rüstig, während Ihre Kameraden — hm, wie stark war die Gesamtbssatzung?" „Fünfzehn Mann, Herr. Einige werden sich gewehrt haben und sind erschossen worden. Als wir hinuntergeworfen wurden, waren schon Tote unten. Bei uns hätte auch nicht mehr viel gefehlt." Glücklicherweise befanden sich Lebensmittel im Turm. Auch Kleidungsstücke waren genügend vorhanden, so daß Sun selbst endlich einmal seine nassen Fetzen ablegen konnte. Nachdem er sich der Befreiten angenommen hatte, soweit die Hilfsmittel reichten, führte er mit Al Cracker, dem rüstigsten der drei Nordwächter, ein langes, ernstes Gespräch, bei dem jener allerdings wenig zu sagen hatte. Nur zum Schluß bekräftigte er: „Sie können sich auf mich verlassen, Herr. Wir sind zwar nicht die besten hier draußen, aber an Courage fehlt's uns nicht. Wenn ich's den Hunden gründlich eintränken kann, dann will ich beruhigt sterben — hab mir nie viel aus dem Leben gemacht. Wie Sie das fertig bringen wollen, was Sie da sagten, begreife ich zwar nicht, aber es ist mir gleich. Schaffen Sie mir ein anständiges Schießeisen und den Bestien soll das Lachen vergehen. Aber wenn Sie wollen, meine Fäuste sind auch nicht von Pappe. Nur wird's schon noch einige Stunden brauchen. Aber d a n n . . . " Das war die längste Rede, die Al Cracker je in seinem Leben gehalten hatte, und sie drückte genau seine Absichten aus. Sun Koh verließ den Turm. Eine Stunde später lag er zwischen Baracke und Turm zwei auf der Lauer. Noch war es Nacht. Sein Körper hob sich von den graunassen Blöcken nicht ab. Zwei Männer kamen von der Baracke her, große, kräftige Gestalten, schwerbewaffnet wie jeder der Bande. Sie schritten auf dem Pfade dem Turm zu, um nach den Lampen zu sehen. Ahnungslos gingen sie an Sun vorüber, unterhielten sich ungeniert. Sun ließ sie vorbei. Als er sie zwei Meter vor sich hatte, sprang er wie ein huschender Schatten. Bevor die Männer noch ein verdächtiges Geräusch wahrgenommen hatten, schlugen seine Hände wie Stahlklammern rechts und links in einen Nacken ein und schmetterten die Köpfe mit entsetzlicher Wucht gegeneinander. Blitzschnell brachen die Männer zusammen. Ihr gurgelndes Aufstöhnen zerriß der Sturm. Zwei Stunden später warf Sun die noch immer betäubten Männer in den Felsenkeller des Turms hinunter, nachdem er ihnen alles abgenommen hatte, was von Wert für ihn war. 28
Al Cracker machte große Augen, als Sun mit einem Arm voll Waffen eintrat und von dem ersten Erfolg berichtete. Er war aber wie seine beiden Kameraden noch zu erschöpft, um mit hinausziehen zu können. Sun verließ den Turm zum zweiten Male. Der Tag war angebrochen. Jenseits der Baracke, auf Turm drei zu, entdeckte er eine Streife von sechs Mann, die den Strand absuchte und das zahlreiche Strandgut prüfte. Draußen mußte in den letzten Tagen manches Schiff auf Riffe gelaufen sein, denn hier sah es wüst aus. Einer der Männer brachte eine Kiste heraufgeschleppt. Sie war schwer, er mußte sie absetzen. Er hatte sich noch nicht wieder aufgerichtet, als sich stählerne Finger um seine Kehle spannten und jeden Laut erstickten. Er wollte sich herumwerfen, aber schon umklammerte ein Arm seine Arme, seinen Körper. Es war, als ob ein Schraubstock die Seele herauswürgte. Und der furchtbare Griff an der Kehle ließ nicht nach. Der Verbrecher fühlte sich aufgehoben und davongetragen, dann schwanden ihm die Sinne. Er spürte seinen verquollenen Hals erst wieder, als er in einem stockdunklen Loch mit einem gebrochenen Bein auf eiskalten, nassen Felsen zwischen Ratten lag. Und zum dritten Male verließ Sun den Turm. Er arbeitete mit der Lautlosigkeit eines Geistes, mit der blitzschnellen Gewandtheit eines schwarzen Panthers und mit der Wucht eines Naturereignisses, klug, überlegt und unheimlich präzis, aber doch wie ein Rasender, wie ein Wolf, der immer und immer wieder in eine schutzlose Herde hineinstößt und sich sein Opfer holt. Er mutete seinem Körper Übermenschliches zu, trug stundenlang Lasten, die ein anderer nicht fünf Minuten getragen hätte und verlor doch nicht die Elastizität seines Körpers und die Spannkraft seines Willens. Vierundzwanzig Stunden nach dem Sprung ins Meer lagen sieben Verbrecher unten im Turm, und die Bande war bereits panisch verstört. Sie kam nicht auf den Gedanken — hier lag die größte Gefahr — den schweigenden Südturm aufzusuchen. Sun gönnte seinem Körper einige Stunden Ruhe. Die Bande war bereits so vorsichtig geworden, daß sie in der Nacht kaum mehr aus der Baracke ging. Als Sun am Morgen den Turm zum neunten Male verließ, da schritten an seiner Seite zwei Männer, während der dritte im Turm als Wache zurückblieb. Auch der zweite Begleiter wurde halbwegs zwischen dem Turm und der Baracke zurückgelassen. Er sollte als Verbindungsmann dienen und die eintreffenden Gefangenen zum Turm weiter transportieren. Auf diese Weise ersparten sich die Fänger wenigstens einen Teil des langen Weges. Sun wütete. Drei Mann fing er einzeln in unmittelbarer Nähe der Baracke ab, sechs Mann klappte er förmlich auf einen Schlag. Sechs Mann hoch hatte die Streife die Baracke verlassen und war in Richtung auf den Südturm geschritten. Wollte man ihn nun doch untersuchen? Sie gingen auf dem schmalen Pfade dicht hintereinander, die kurzen, handlichen Karabiner schußbereit in den Fäusten. Einer achtete auf den andern — man war nicht gewillt, sich wegfangen zu lassen. 29
Sun eilte geräuschlos nebenher. Trotzdem er über die Blöcke mußte, kam er so schnell vorwärts wie die Verbrecher. Der Nebel machte ihn unsichtbar, und seine Füße erzeugten keine Geräusche. Ein Stück zurück folgte Al Cracker. Er benahm sich wirklich nicht übel. Eine Stunde lang kamen die Männer ungestört vorwärts. Je mehr sie liefen, desto weniger brauchte man sie zu tragen. Erst als sie fast in den Bereich des Verbindungsmannes gekommen waren, griff Sun an. Der Schlußmann sah einen Schatten an der Seite aufhuschen. Hätte er jetzt noch den Finger am Abzug gehabt wie zu Anfang, dann hätte er vielleicht rechtzeitig durchreißen können. Aber schon schmetterte eine Faust wie ein Riesenhammer gegen seine Schläfe. Er kam nicht zum Zusammenbrechen. Suns Arme griffen zu — der Schatten verschwand mit seinem Opfer hinter dem jenseitigen Block, bevor noch die andern richtig herum waren. Sie sahen nur einen Schatten, schossen aufs Geratewohl. Sun, der schon längst außer Reichweite war, lächelte grimmig. Hier konnten sie schießen, man würde sie in der Baracke nicht hören. Die Verbrecher warfen sich in einem kleinen Kreis zu Boden, legten sich hinter die Felsblöcke. Ihre Füße trafen fast in der Mitte des Kreises zusammen, so eng lagen sie. Nun konnte der Feind kommen. Er kam. Ein Schuß krachte. Einer der Männer ließ mit einem aufheulenden Fluch seinen Karabiner fallen und griff nach seiner zerschossenen Rechten. Die andern blickten wild herum. Aber schon peitschte ein neuer Schuß, und ein zweiter schlenkerte seine Hand. Niemand zu sehen. Ringsum der grauweiße Nebel. Und dann schallte von irgendwoher eine stahlklirrende Stimme: „Laßt eure Waffen fallen und nehmt die Hände in die Höhe, sonst ziele ich auf eine empfindlichere Stelle." Die Männer zögerten nur einen Augenblick, aber dann warfen sie schleunigst die Arme hoch. Gegen den unsichtbaren Feind war nicht anzukommen. Er hatte sie in der Tasche, mußte Augen wie ein Adler und die ruhige Hand einer Statue haben. Der spaßte nicht Aus dem Nebel tauchten zwei Männer auf — Al Cracker und sein Kamerad. Sie hatten genügend Stricke bei sich und begannen unverzüglich die Verbrecher zu binden. Die Füße ließen sie frei. „Ah, ihr Hunde seid's", knurrte einer der Verbrecher und machte eine fragwürdige Bewegung. Er bezahlte sie mit einem durchgeschossenen Arm. „Schont eure Gesundheit", warnte die metallische Stimme, „ihr werdet sie brauchen können." Den Sprecher selbst sahen die Männer erst später, und es trug nicht gerade zur Erheiterung bei, als sie erkannten, daß es derselbe Mann war, den sie tot in die Klippen hatten treiben sehen. Aber das Grausen lernten sie erst im Turm kennen. Als die Bande am Spätnachmittag aufbrach, um Jim Gregory von der Westküste herüberzuholen, bestand sie noch aus sechzehn Mann. Sie war ungeheuer vorsichtig und Sun erlaubte den Wächtern nicht, die Leute niederzuknallen. So kamen sie denn unbehelligt an die Yacht und auch fast wieder zurück. Erst in der letzten Viertelstunde gelang es Sun, einen Schlußmann wegzufangen, und dann, als Gregory dummerweise die Suche 30
befahl, weil er eben die Geschichte zum ersten Male erlebte, konnte er auch noch einen zweiten wegholen. Zehn Mann einschließlich Gregory betraten die Baracke wieder. Die fünf, die die Gefangenen bewacht hatten, atmeten auf. Sie hatten mit einem Angriff gerechnet und hatten sich wirklich nicht allzu wohl gefühlt, obgleich sie hinter festen Steinmauern saßen. 6. Sun lag mit Cracker hinter den Felsblöcken bei der Baracke und wartete, was die Bande unternehmen würde. Der Anführer war tot. Es war ein gewagter Schuß gewesen, durch den Nebel und durch die Scheibe hindurch in das ungewisse Licht hinein zu schießen. Aber die Bedrängnis, in der sich Betty Musgrave befand, hatte keine Wahl gelassen. Würde man sich an den Gefangenen vergreifen? Beim ersten Anzeichen dafür würde es zum Äußersten kommen. Der Kampf war nun zu zweit gegen ein Dutzend nicht mehr aussichtslos. Die beiden Turmwächter zählten ja noch nicht mit. Sie konnten frühestens in zwei Stunden heran sein, wenn sie den Turm gleich verlassen hätten, nachdem das Licht aufgeflammt war. Aber sie sollten es gar nicht tun. Die Lampen waren nicht nur in Betrieb gesetzt worden, um die Schiffe zu warnen, sondern Sun hoffte auch, dadurch die Bande nach Süden, zum Turm hin locken zu können. In dieser Erwartung hatte er sich getäuscht. Die Verbrecher verließen zwar dicht geschlossen die Baracke, aber sie wandten sich westwärts. Also Flucht. Sie hatten sich kaum zwanzig Meter entfernt, als aus dem Haus die hellen Flammen herausbrachen. Die Banditen begrüßten sie mit höhnischem Gelächter. Sun biß die Zähne zusammen. Diese Schufte, deshalb hatten sie also die Gefangenen einfach hier gelassen. Er verstand die Spekulation. Die Verbrecher wußten nun, daß ihr gespenstischer Widersacher Interesse an den Gefangenen hatte. Er würde sie zu retten versuchen. Damit war aber ihr eigener Weg frei. Sie konnten ungestört fliehen, denn immerhin würde es einige Zeit dauern, bis die drei Menschen herausgeholt waren. Oder hofften sie, den Gegner nun im Flammenschein endlich zu Gesicht zu bekommen und ihn niederknallen zu können? Er zögerte keinen Augenblick mehr. „Schießen Sie, sobald die Bande angreift", raunte er Cracker zu und sprang in schnellen Sätzen auf die Baracke zu. Die Verbrecher bemerkten ihn nicht oder kümmerten sich nicht um das, was in ihrem Rücken geschah. Sie stoppten ihren Geschwindschritt nicht ab, verschwanden im Nebel. Sun hieb mit einem Kolbenschlag die Fenster ein und sprang in das Zimmer, in dem sich Betty Musgrave befand. Sie lag noch immer bewußtlos an der Erde. Sun nahm sie auf seine Arme. Einen Augenblick duckte sich sein Körper im Fensterrahmen, dann sprang er hinunter, legte sie nieder. Im nächsten Augenblick klirrten die Fenster des Nachbarzimmers. Nimba und Musgrave wälzten sich am Fußboden und versuchten den Flammen auszuweichen, die überall aufzüngelten. Trotzdem brannten ihre Kleider bereits. Sun riß Nimba hoch, trug ihn zum Fenster und ließ ihn hinaus31
gleiten, dann folgte er mit Musgrave auf den Armen. Schnelle Handgriffe löschten die Flammen, zerschnitten die Fesseln. „Herr", stöhnte der Neger auf, „Gott sei Dank, daß Sie da sind. Die Bande wollte uns bei lebendigem Leibe schmoren lassen." Musgrave erwachte in der frischen Luft aus der leichten Betäubung, in die ihn der Rauch versetzt hatte. „Wo ist Betty?" war seine erste Frage. „Sie liegt neben Ihnen", beruhigte Sun. „Sie ist nur ohnmächtig, es ist ihr nichts geschehen. Hört zu alle beide. Ich muß euch hier allein lassen, bis ihr euch erholt habt. Die Bande zieht ab, nach der Westküste. Sie will die Insel verlassen. Das Schiff ist aber auch für uns die einzige Gelegenheit, fortzukommen, sonst müssen wir unter Umständen noch wochenlang hier liegen bleiben. Ich will versuchen, die Bande unschädlich zu machen, bevor sie die Motoryacht erreicht. Wenn ihr euch wieder beweglicher fühlt, kommt ihr nach. Der Weg ist nicht zu verfehlen, fast genau nach Westen." „Ich komme gleich mit, Herr", rief Nimba und machte einen Versuch, auf die Beine zu kommen. Aber seine mißhandelten Glieder versagten noch den Dienst, das Blut war zu lange gestaut worden. Er brach zusammen. „Laß das", sagte Sun streng, „du mußt dich erst mal durchmassieren. Nur vom Hause müßt ihr fort." Er nahm einen nach dem andern auf und trug sie aus dem Flammenbereich des brennenden Gebäudes. „So", meinte er, „hier ruht euch aus. Waffen lasse ich da. Cracker!" Hinter den Felsblöcken meldete sich niemand. Sun stutzte, eilte dann an den Platz, an dem er den Wächter zurückgelassen hatte. Cracker war verschwunden. Die Waffen, die man für die Befreiten vom Turm mitgebracht hatte, lagen noch an derselben Stelle. War Cracker der Bande gefolgt? Der Mann hatte eine unbändige Wut im Leibe und würde es kaum ertragen, wenn auch nur einer der Bande straflos davon kam. Schon gestern hätte er am liebsten jeden einzelnen abgeknallt. Sun legte die Waffen neben den eifrig knetenden Männern ab und eilte davon. Die Verbrecher hatten immerhin schon einen ganz hübschen Vorsprung gewonnen und ihr Tempo war derart, daß ein normaler Läufer bei diesem Gelände kaum Aussicht gehabt hätte, sie noch zu erreichen. Für Sun war es eine Kleinigkeit, zumal er zunächst den glatten Pfad benutzen konnte. Nach einer Viertelstunde rasenden Schnellaufs traf er tatsächlich auf Cracker, der ziemlich ungeniert ebenfalls auf dem Pfad marschierte. „Ich wollte sie nicht aus den Augen lassen", entschuldigte er sich. „Für Sie drohte ja keine Gefahr mehr und ich wußte, daß Sie schon schnell genug nachgekommen wären, während ich es gar nicht mehr geschafft hätte." „Schon gut", nickte Sun. „Ist die Bande weit voraus?" „Kaum mehr als hundert Meter, wenn wir stehen bleiben, hören wir sie. Haben es sehr eilig. Zu Anfang habe ich mehr auf Deckung als auf Tempo gehalten, weil ich keine Lust hatte, ihnen hier auf dem Wege direkt in die Arme zu laufen, aber die sehen sich nicht um und bleiben nicht stehen." Eine kurze Unterredung über die weitere Verfolgung schloß sich an, bei der Cracker, der jeden Fußbreit des Geländes kannte, allerhand zu sagen 32
wußte. Sun entwickelte seinen Plan, und der Wächter hatte nichts dagegen einzuwenden. Nur in einem Punkte blieb er starrköpfig. „Sie sind zu menschenfreundlich, Herr. Die Kerle haben noch einen ganz andern Tod verdient als den durch die Kugel. Wenn Sie in ihre Hände kämen, würden die nicht viel Federlesens machen. Und glauben Sie sicher — die schießen zurück und nehmen keine zarten Rücksichten, wohin sie treffen." „Das mag richtig sein", räumte Sun ein, „aber schließlich haben wir kein Urteil zu vollstrecken, sondern die Leute nur unschädlich zu machen, das Urteil mag der Richter fällen und der Henker vollziehen." „Das ist mir egal", knurrte Cracker. „Schließlich bleibt es gleich, wie diese Hunde sterben. Aber da ist was anderes: Ich will natürlich nicht gegen Ihren Willen handeln, Herr, aber ich bin nicht ein so sicherer Schütze wie Sie. Ich bin froh, wenn ich meinen Mann überhaupt getroffen habe in diesem Nebel, kann mir nicht erst ausrechnen, ob das im Arm oder Bein oder im Kopf oder Herzen sein soll." „Nun gut, schießen Sie, was Sie können, ich habe vielleicht allzu viel Bedenken. Die Hauptsache ist ja doch, die Leute unschädlich zu machen. Sie werden hier hinten keinen leichten Stand haben. Seien Sie vorsichtig, Cracker. Auch fremde Kugeln treffen. Schießen Sie nur, wenn Sie Ihr Ziel sicher haben." „Keine Sorge, Herr", lächelte Cracker. Er hütete sich wohl, zu verraten, wie sicher er seines Schusses war. Nicht für umsonst war seine Name früher einmal unter den Waldläufern mit Respekt genannt worden. Wenn er sich auch nicht im entferntesten mit diesem fremden Retter messen konnte, dessen Schießkunst an das Unheimliche grenzte, so stand er doch auch seinen Mann. Sun begriff das erst einige Zeit später, als er einige Tote mit auffallend viel Kopf- und Herzschüssen vorfand. Sun verließ jetzt den Weg und jagte wie eine Gemse über die Felsblöcke nach vorn. Er schlug nur einen flachen Bogen, hörte im Überholen fast das scharfe Atmen der vorwärtseilenden Männer. Jetzt hatte er die Spitze erreicht. Schattenhaft undeutlich hoben sich die hastenden Gestalten ab. Sie trugen die Karabiner lose, schußbereit in der Hand, aber ihre gelegentlichen Worte verrieten, daß sie sich bereits ziemlich in Sicherheit fühlten. Ein Schuß krachte. „Verdammt!" Der Vorderste ließ das Gewehr fallen. Die Kette stockte einen Augenblick, Flüche und Verwünschungen brachen auf. „Himmel und Hölle, der Kerl ist über uns. Was ist?" „Pfote kaputt!" „Deswegen brauchst du doch nicht stehen zu bleiben. Los, vorwärts! Wollen wir uns hier wie die Hasen abknallen lassen?" Weiter ging's, aber nur zwei Schritte. Dann ein neuer Schuß. Der Spitzenmann brach zusammen. „Mein Bein! Der Hund hat mir das Bein zerschossen!" „Weiter! .Weiter! Vorwärts! Komm nach! Er will uns den Weg zum Schiff abschneiden! Los doch!" Im Dauerlauf eilten die Männer vorwärts, ließen den Verwundeten einfach liegen. 33
Am Ende des Zuges peitschte ein Knall auf. Ein Aufschrei des Todes — der Schlußmann warf die Arme hoch und brach zusammen. Ein Doppelschuß an der Spitze. Der Vordermann taumelte nieder. Wieder knallte es hinten, und wieder gellte es sterbend auf. „Hinter die Blöcke!" schrie die harte Stimme des Rotkopfs. „Nehmt Deckung, sonst geht ihr alle zum Teufel!" Die Verbrecher warfen sich in dichtem Haufen hinter die Steine und schossen. Sie knallten in die Luft, sahen nichts, nicht einmal einen Schatten, Aber dann hörten sie eine metallisch harte Stimme: „Ergebt euch, sonst werdet ihr zusammengeschossen!" „Verreck!" heulte es zurück und gleichzeitig patschten einige Kugeln gegen die Blöcke, hinter denen der Sprecher liegen mußte. „Verd . . . !" Eine Hand ließ das Gewehr fallen. „Auooh..." Cracker hatte seinen dritten Kopfschuß angebracht. Um ein Haar hätte es ihn selber erwischt. Ein Teil seines Ohres ging davon. „Tod und Teufel", schrie einer der Männer, „das geht nicht so weiter. Wollt ihr Memmen hier liegenbleiben? Auf, fangen wir die Kerle. Los!" Die Verbrecher waren verzweifelt genug, um das Äußerste zu wagen. Sie sprangen tatsächlich auf, — diesmal brachte Cracker noch schnell einen Herzschuß unter, bevor er floh — und stürmten. Auf zwei Seiten befanden sich die Gegner. Die Bande stürzte auf Cracker zu. Man hatte ihn bemerkt, und man hielt ihn für den Gefährlichsten, weil er rücksichtslos Tote machte. Cracker jagte davon, aber er hatte wenig Chancen. Die Bande jagte ihn mit verbissener Wut, hielt selbst mit dem Schießen zurück, wartete, bis er über einen Block hinweg mußte und sich dann seine Gestalt abhob. Sun erkannte die Gefahr. Mit Riesensprüngen jagte er heran, schoß in vollem Lauf, schoß wieder. Magazin leer — fort damit. Ein Sprung, hochgereckt stand er auf einem der Blöcke dicht bei der jagenden Meute, in jeder Hand eine Pistole. „Ho hallo! Hände hoch!" Die Banditen fuhren herum — da war der Feind, deutlich sichtbar, eine Scheibe, auf die man nur loszuknallen brauchte. Die Karabiner fuhren herum, die Pistolen flogen hoch, Feuerstrahlen.... Aber Sun war schneller. Er schoß mit beiden Händen, aber jeder Schuß mit tödlicher Sicherheit. Jetzt gab er keinen Pardon mehr. Wie eine Salve knatterten die Schüsse nieder, überholten die Todesschreie. Nur drei Kugeln kamen hoch, eine riß ihm das Bein auf. Die andern fuhren in die Luft oder blieben im Lauf stecken. Der bronzene Gott schoß. Zehn Sekunden später wirbelten dort unten die Arme durch die Luft. Nur zwei Paar blieben oben, Überlebende, die sich ergaben. Die andern schlugen mit fallenden Körpern hart auf dem Felsen auf. Der Kampf war aus. 34
7.
Weit draußen lag die Yacht, zerrte an ihrem Anker. Der Westwind hatte den dumpfen Schall von Schüssen herübergetragen. Die Wache wenigstens schwor darauf, es seien Schüsse gewesen, aber die andern zweifelten mehr oder weniger daran und erkundigten sich boshaft nach der Alkoholmenge, die sie sich einverleibt hätten. Als die alarmierte Mannschaft, die übrigens einschließlich des Kapitäns nur aus acht Mann bestand, an Deck geeilt war, konnte man nichts mehr hören. War ja auch Unfug. Woher sollten die Schüsse kommen. Fremde waren nicht auf der Insel, also hätte sich höchstens die Bande selbst anknallen müssen. Lächerlich. Eine Stunde später ging der Ruf der Wache abermals über Deck. Lichtsignale am Ufer. Ja ja, das Signal des Chefs. Motorboot hinüber. Ohne Zögern wurde die kleine Pinasse bemannt und hinübergeschickt. Zischend schoß sie davon. Die zwei Mann, die sie bedienten, blickten zu ihrer Überraschung in die Mündung von Karabinern, als sie am Strand anlangten. Widerstandslos ließen sie sich fesseln. Sie durchschauten die Sache nicht im geringsten, ein Fehler, der später erst ausgeglichen wurde. Sun stand mit seinen Getreuen am Strand. Nimba, Musgrave und dessen Frau waren schon bald nach Beendigung des Gefechts eingetroffen. Sie waren noch nicht besonders auf der Höhe, abgesehen von Nimba, dessen zähe Natur die Folgen der Gefangenschaft außerordentlich schnell überwand. Die fernen Schüsse hatten sie hochgerissen und sie hatten nicht eher geruht, bis sie mit Sun zusammengetroffen waren. Man hatte die Toten und Verwundeten vorläufig liegen gelassen und nur in Eile die letzteren entwaffnet. Jetzt galt es vor allem, das Schiff zu sichern, bevor man drüben Verdacht schöpfte. Die beiden Gefangenen waren vollkommen mürbe. Sie hatten ohne weiteres das Signal verraten, mit dem man die Pinasse herüberrufen konnte. Die Yacht selbst sah man nicht, aber das Licht der starken Scheinwerferlampen, die die Verbrecher bei sich geführt hatten, drang leidlich durch den Nebel hindurch. Die Pinasse kam. Nun waren drüben nur noch sechs Mann. Auf der Jacht erwartete man mit Spannung die Rückkehr des Motorbootes. War immerhin eine merkwürdige Sache, daß der Chef jetzt mitten in der Nacht zurückkam, obgleich er bis morgen drüben bleiben wollte. Die Leute starrten von der Reling aus zum Strand hinüber. Es waren nur vier Mann, die andern zwei befanden sich im Innern des Schiffes. Sie merkten nicht, daß dort unten ein Mensch heranschwamm. Sun, dessen schmaler, schlanker Körper wie ein Fisch durchs Wasser glitt, schwamm um die Jacht herum. Ein schmuckes Schiffchen, schmal und schnittig, blendend weiß gestrichen. Sicher entwickelte es eine beträchtliche Schnelligkeit. Die Ankerkette konnte leider zum Hinauftrimmen nicht benutzt werden. Gerade über ihr standen die Männer an der Reling. Ein Tau hing nirgends herunter. Das war übel. 35
In wenigen Minuten würde verabredungsgemäß die Pinasse aus dem Nebel aultauchen. Die Besatzung des Schiffes war kaum dumm genug, um die Männer an Bord zu lassen. Wenn es ihm nicht gelang, vorher hoch zu kommen, dann würde sie mitsamt der Yacht das Weite suchen). Ein Stück über dem Wasserspiegel stand ein Bullauge offen, ein rundes Fenster von knapp einem halben Meter Durchmesser. Das war die einzige Möglichkeit. Sun schnellte sich mit einem Ruck aus dem Wasser hoch. Seine Hände schlugen gegen die glatte Schiffswand, rutschten ab. Vergeblich. Zurück. Zum zweitenmal schoß er heran, schleuderte sich hoch, entlud die gewaltige Spannkraft seiner Muskeln mit der Wucht eines elektrischen Schlages. Sein Körper schnellte wie ein fliegender Fisch heraus, seine Hände griffen zu — gelungen. Er hatte die Fassung des Bullauges erwischt. Aber da — das Pech war über ihm. Während er. noch schlaff und entspannt senkrecht an der glatten Wand hing und tief Atem holte, fuhr der Kopf eines Mannes halb zum Fenster heraus, und eine überraschte Stimme schrie: „Nanu, welches Rindvieh spritzt mir denn hier meine Küche voll?" Sun sah im Auge des Mannes blitzschnell die Erkenntnis der Gefahr aufflammen, als er den Fremden unter sich hängen sah. Ein Ruck, seine Arme rissen ihn hoch. Der Kopf des Mannes fuhr zurück, Suns Kopf schoß nach. Eine wahnsinnige Kraftanstrengung — Sun hechtete durch das Bullauge hinein. Er kam nicht frei durch, aber sein Körper erhielt wenigstens soviel Übergewicht, um in die kleine Küche hineinzustürzen, der Kopf vornweg, während die Beine über die runde Stahlkante schlürfend nachglitten. Der Mann war verdutzt, wich zurück, aber er begriff schneller, als Sun sich aufrichten konnte. Er griff nach einem großen Messer, wollte zustoßen, aber in eben diesem Augenblick rollten Suns Beine herum und trafen ihn so nachdrücklich gegen die Schultern, daß er zum zweitenmal zurücktaumelte. Jetzt stand Sun bereits wieder. Der Verbrecher stürzte sich auf ihn, aber seine Chancen waren nur mehr tausend zu eins. Das Messer klirrte gegen die Wand, während der Mann vor Schmerz aufheulte, und dann traf ihn ein hämmernder Schlag gegen den Unterkiefer. Röchelnd brach er zusammen. Sun lauschte. Kein Alarm. Die Szene war ungehört vorübergegangen. Eine halbe Minute später huschte er auf Deck hinaus. Die vier Männer mußten soeben das Motorboot gesichtet haben. Es kam schweigend herangeschossen. „Pinasse ahoi!" schrie einer der Männer hinunter. Es kam keine Antwort zurück — aus guten Gründen. „Hallo — könnt ihr nicht antworten?" Stumm jagte das Boot heran. Jetzt unterschied man die einzelnen Gestalten. „Teufel", brüllt einer an der Reling auf, „das sind doch nicht unsere Leute!? Verrat! Stop dort unten oder es knallt!" Drei der Männer rissen die Pistolen heraus, schlugen an. 36
„Hände hoch!" gebot Sun in ihrem Rücken mit befehlender Stimme. Die Männer fuhren herum, sahen eine Pistole auf sich gerichtet. Nur Sun wußte, daß die Waffe höchstens als Kinderspielzcug zu gebrauchen war. Sie war völlig durchnäßt. Er hatte sie ja auch nur eingesteckt, um damit zu bluffen. Einen Augenblick sah es aus, als sollte der Bluff mißlingen. „Damned!" fluchte einer der vier und hob den Arm. Aber da knallte von der Pinasse her ein Schuß, der Mann brach zusammen. Cracker hatte zur rechten Zeit bewiesen, daß er seinen Gegner zu treffen wußte. Das genügte. Die drei Männer, die noch standen, hoben schleunigst die Hände und ließen die Waffen fallen. „Was — was ist denn?" Dicht neben Sun fuhr aus der Luke ein Kopf hoch. ,Der sechste Mann der Besatzung versuchte mit rettungslos blödem Gesichtsausdruck die Lage zu begreifen. Ein kurzer Fußtritt Suns schickte ihn unsanft in die Tiefe. Dieser Mann war übrigens der einzige, der sich später aus der Schlinge des Gesetzes herausziehen konnte. Er stellte sich umgehend den neuen Besitzern der Yacht zur Verfügung, eine Waffe wurde nicht mehr bei ihm gefunden, und im übrigen war er eben nur auf einer Privatjacht Maschinist gewesen, ohne sich um die Dinge zu kümmern, die um ihn herum vor sich gingen. Und gegen so viel Harmlosigkeit ist selbst der gewiegteste Staatsanwalt machtlos. Die Pinasse legte am Fallreep an. Cracker und die beiden andern Männer eilten auf Deck und machten die Besatzung unschädlich, während Sun lächelnd die unbrauchbare Pistole über Bord warf. Die Überrumpelten verstanden und quittierten mit wütenden Blicken. Zehn Jahre Zuchthaus t r u gen sie mit Würde, aber daß sie dem Kerl auf einen solchen uralten Trick aufgesessen waren, konnten sie nie vergessen, das wurmte zu sehr. Der Rest war weiter nichts als ein Aufräumen. Die Verbrecher, die im Fundament des Südturms lagen, wurden dort zurückgelassen. Sie sahen das Tageslicht erst wieder, als sie von den Matrosen eines amerikanischen Zerstörers Stück für Stück herausgelotst wurden. Zu der Zeit befand sich ein Teil von ihnen bereits in einem so erbarmungswürdigen Zustande, daß ihnen das drohende Zuchthaus bereits als Paradies erschien. Die Besatzung des Schiffes und die Verwundeten vom Lande wanderten hinreichend gefesselt in das Innere der Yacht hinab. Dort hatten sie bis Halifax genügend Gelegenheit, ihre Verteidigungsgründe zusammenzustellen. Sie halfen ihnen nebenbei bemerkt nicht viel. Staatsanwalt Bowler hatte nun einmal eine Vorliebe dafür, nicht unter zehn Jahre herunterzugehen. Cracker blieb mit seinen beiden Kameraden auf Sable Island. Er wollte vor allem die Türme wieder in Ordnung bringen und dann die Toten bestatten. Erst vierzehn Tage später verließ er nach Eintreffen der Ablösung die Insel und begab sich in den einstweiligen Ruhestand. Irgendein Gönner hatte ihm die Verwirklichung eines Träumchens ermöglicht. Der Ruhestand befand sich nämlich hinter der Theke einer gemütlichen Kneipe. 37
Als der Morgen graute, nahm die Yacht unter Musgraves Führung Kurs auf Halifax. Man erreichte es einige Stunden später. Ein armseliger Reporter, der müßig am Hafen herumschlenderte, machte die größte Reportage seines Lebens. Verschiedene Behörden kamen in helle Aufregung, und manches buntgestickte Sitzkissen in den unterschiedlichen Büros vermißte an diesem Tage die gewohnte, trauliche Wärme. Einige Versicherungskurse zogen wieder an. Halifax hatte seine Sensation. Und als Sun Koh am Abend in einen tiefen, traumlosen Schlaf hineinsank, da gellten draußen die Zeitungsboys durch alle Gassen und ließen sich die druckfeuchten Blätter aus den Händen reißen. Und die Menschen lasen mit dem stillvergnügten Grausen des sicheren Bürgers die peitschenden Schlagzeilen: Falsche Leuchtfeuer auf Sable Island! Erbe von Atlantis kämpft gegen dreißigköpfige Verbrecherbande, schafft Ordnung im Friedhof des Atlantik!
* Die Titel der nächsten Sun-Koh-Erzählungen lauten: 12. Der eisige Blitz 13. Schüsse über Arizona 14. Der Canon des Todes 15. Die schwebende Burg 16. Geschoß auf Abwegen
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