Helen D. Boylston Carol – Nichts wird einem geschenkt
Endlich ist Carol Schauspielerin, auch wenn sie nur auf einer Pro...
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Helen D. Boylston Carol – Nichts wird einem geschenkt
Endlich ist Carol Schauspielerin, auch wenn sie nur auf einer Provinzbühne spielt. Vieles geht drunter und drüber - ganz anders, als sie es sich vorgestellt hat.
Berechtigte Übersetzung aus dem Amerikanischen von Edith Gradmann Der Titel der Originalausgabe lautet: »Carol in Repertory« Little, Brown and Company, Boston Umschlag von Sita Jucker Alle Rechte der deutschen Ausgabe vorbehalten © Benziger Verlag Zürich, Köln 1970/1977 ISBN 3 545 32137 1 Gesamtherstellung: Salzer-Ueberreuter, Wien Printed in Austria
1 »Haltet ihr auch wirklich die Augen offen oder schnattert ihr nur?« murrte der Fahrer des betagten Fords. Im Wagen saßen sechs Passagiere: drei Mädchen, zwei Burschen und ein Hund – ein Scotchterrier namens Wilfred. Der Scottie schlief, die andern spähten ungeduldig durch die schmutzigen Fenster und redeten alle durcheinander. »Wir gucken wirklich ganz genau, Keith«, protestierte Carol Page. »Oder meinst du, wir sollten Wilfred wecken, damit er auch noch hilft.« Keith Macdonald grinste. Er war ein gutaussehender Bursche, neunzehn Jahre alt, mit einem dicken blonden Schöpf, einer geraden Nase und einem erstaunlich festen Kinn. »Ach, hör doch auf!« sagte er und fuhr zu seinem Auto gewandt fort: »Los, Mutter Courage! Endspurt! Es dauert nicht mehr lange.« Mutter Courage keuchte, die Kotflügel bebten. Auf beiden Seiten flogen die Mauern und Büsche nur so vorbei, die Felder dahinter zogen langsam vorüber, und die blauen Berge im Hintergrund rührten sich nicht von der Stelle. »Wie eine Filmszenerie«, bemerkte eine leicht heisere Stimme vom Rücksitz her. »Natürlich, der Herr Hilfsregisseur!« erwiderte Keith. »Wie wär’s, Horodinsky, wenn du dich auch an der Suche nach Richards’ Sommertheater beteiligen würdest?« »Nur immer mit der Ruhe, Mac. Sobald wir in die Nähe kommen, wird es genügend Wegweiser geben.« Michael Horodinsky, der seine erste Stelle als Hilfsregisseur antreten sollte, war ein häßlicher, knochiger Mann, Mitte zwanzig, mit rabenschwarzem Haar, hohen Wangenknochen und dunklen schräg stehenden Augen. Er saß gelassen auf dem Rücksitz. Ganz im Gegensatz zu dem aufgeregten Mädchen neben ihm. Ellen Gregg war achtzehn Jahre alt, rundlich und quicklebendig. Sie redete unaufhörlich, die blauen Puppenaugen waren rund vor Aufregung. »Es heißt, das Haus sei ein schauerlicher Kasten, aber das Theater sei prima. Und auf jeden Fall lernen wir dort einen Haufen Stars kennen. Ich habe noch nie eine richtige Berühmtheit gesehen – außer Miss Marlowe natürlich. Und an die haben wir uns ja mit der Zeit gewöhnt. Findet ihr nicht auch? Da wir sie doch täglich im Stuyvesant-Theater sahen?« »Es sind alles Menschen aus Fleisch und Blut, sogar Phyllis
Marlowe«, sagte Nan Walton, das Mädchen auf dem Vordersitz. Sie war ungefähr gleich alt wie Keith und hatte ein schmales, kluges Gesicht und blonde Haare. »Aber mach dir nichts draus«, fuhr sie fort. »Wir Eleven existieren für diese Herrschaften kaum. Nur Carol wird sich mit ihnen abgeben müssen.« Carol Page, so dachte Nan, war nicht ausgesprochen hübsch; schön waren ihre grünen, weit auseinanderliegenden Augen und die glänzenden, langen Haare. Aber sie war so lebendig, so interessiert an ihrer Umwelt, daß sie alle andern damit ansteckte. Selbst den gelassenen Mike riß sie mit. In der Theaterschule hatten die beiden zuerst unentwegt gestritten, aber diese Feindschaft schien während jener zwei total verrückten Tage und Nächte im April eines natürlichen Todes gestorben zu sein. Damals hatten die beiden die Schüleraufführung des Stuyvesant-Theaters vor einem Fehlschlag gerettet und in einen Erfolg verwandelt. »Carol«, fragte Nan plötzlich, »hast du denn gar keine Angst? Ich würde mich vor einem richtigen Engagement zu Tode fürchten, auch wenn es nur an einem Sommertheater ist.« »Und ob ich Angst habe«, antwortete Carol leichthin. »Doch am allermeisten fürchte ich, daß wir das Theater überhaupt nicht finden. Da wir die ganze Gegend vergeblich …« »Was ist das hier?« schrie Ellen. Das waren zwei Torpfosten – von oben bis unten mit Reklamezetteln von Richards’ Sommertheater beklebt. Keith wendete den Wagen. »Herrlich, Kinder! Wir haben’s geschafft! Vorwärts, Mutter Courage!« Und Mutter Courage gehorchte. Von Richards’ Sommertheater war vorderhand nur das Dach zu sehen. Nach etwa einem halben Kilometer teilte sich die Straße. Rechts führte ein Kiesweg zum Parkplatz neben dem weißgeschindelten Theater, das in der riesigen, ehemaligen Scheune untergebracht war. Keith fuhr auf der linken Abzweigung bis vor ein Herrenhaus aus dem vergangenen Jahrhundert. Das Haus war riesig, schiefergrau, geschmacklos. Ein dreistöckiges Gebäude, verschwenderisch mit Giebeln, Türmen, Kaminen und Kuppeln ausstaffiert, und ringsherum zog sich eine Terrasse, die wie eine Rüsche wirkte. Dunkle Kiefern reichten fast bis zu den Kaminen hinauf. Der Rasen vor dem Haus war mit bläulichen Rhododendronbüschen eingefaßt. Hinter dem Haus sah man das Meer. Als Keiths kleiner Wagen hustend anhielt, roch es nach Meer und Kiefern und Farn. Carol war beeindruckt.
Ein bißchen unsicher starrten die fünf auf die düstere Tür. »Zu diesem Haus gehört ein stürmischer grauer Tag«, meinte Carol. »Wer geht zuerst hinein?« In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und ein Junge mit zerzausten dunklen Haaren kam heraus. Er trug alte Baumwollhosen von undefinierbarer Farbe und ein ehemals rotes Hemd. Ihm folgte ein großes, rundliches Mädchen. Sie schritt in vollendeter Haltung in ihrer farbverschmierten Bluse und mit bis zum Knie aufgerollten Blue jeans die Stufen hinunter. »Hallo, ihr dort!« sagte sie mit tiefer Stimme. »Wer seid ihr?« »Wir kommen vom Stuyvesant-Theater in New York«, erwiderte Keith. »Drei Eleven, eine sogenannte Schauspielerin und ein RegieAssistent oder Hilfsregisseur.« Das Mädchen lachte. »Danke«, sagte sie. »Pete und ich sind das Empfangskomitee. Das hier ist Pete Gregory, und ich heiße Rosalinde Hingham, unter Freunden Rose genannt.« Carol Page unterdrückte ein erstauntes »Wie?«, und da es den andern die Sprache verschlagen hatte, begann sie hastig, ihre Kollegen vorzustellen, hoffend, daß Ellens Quietscher nicht aufgefallen sei. Während der höflichen Begrüßung stellte Carol mit einem Blick über die Schulter fest, daß Ellen gegen einen Lachkrampf kämpfte. Carol kannte ihre Freundin, und es war ihr klar, daß sofort etwas geschehen müsse, damit Ellen dieses reizende Mädchen mit dem unmöglichen Namen nicht mit ihrem hysterischen Gelächter kränkte. Wilfred, der Scottie, zeigte sich als Helfer in der Not. Er hatte die Ankunft verschlafen. Aber jetzt, durch die unbekannten Stimmen geweckt, sprang er auf den Rücksitz: dort konnte er sehen, was vor sich ging. »Schau doch«, sagte Pete Gregory, »schau doch, Rose! Ein Scottie! Wie reizend!« »Er heißt Wilfred«, erklärte Carol, während sie der tomatenrot angelaufenen Ellen drohende Blicke zuwarf. »Hoffentlich macht es nichts aus, daß ich ihn mitgebracht habe. Ich konnte es nicht über mich bringen, ihn zu Hause zu lassen. Als ich letzten Winter in New York war, hat er zehn Tage lang nichts gefressen.« Ellen beruhigte sich allmählich. »Natürlich macht es nichts«, erwiderte Rose. »Kein Mensch wird etwas dagegen haben. Ich selbst besitze fünf Dackel und einen Spaniel. Und der einzige Grund, weshalb ich die Hunde nicht mitgenommen habe, ist, daß mir sechs Hunde doch ein bißchen übertrieben schienen. Ich vermisse sie entsetzlich.« Sie wandte sich
an Wilfred. »Hallo, junger Mann, gefällt’s dir hier?« Wilfred schaute sie kritisch an und begann mit seinem Stummelschwanz zu wackeln. »Aha«, sagte Rose, »ich habe eine Eroberung gemacht. Bei einem Scottie will das etwas heißen.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Eure Namen weiß ich zwar noch alle, aber ich bringe sie noch nicht mit den entsprechenden Gesichtern zusammen. Nehmt’s mir nicht übel. Als erstes: wollt ihr Mädchen mit mir kommen? Pete, nimm dich der Herren an.« Die fünf folgten Pete und Rose Terrassenstufen hinauf in eine riesige Halle, die die ganze Höhe des Hauses einnahm. Rechts führte eine breite Treppe zu den Galerien im ersten und zweiten Stock hinauf. Diffuses Licht fiel durch ein getöntes Glasfenster auf die Treppe. Die Holzdecke in etwa sechs Meter Höhe war mit geschnitzten Lilien und pausbäckigen Putten verziert. In der Mitte der Halle standen auf dem roten Marmorboden ein roher Holztisch, zwei Küchenhocker und an der Wand ein Garderobenständer mit einem Spiegel. Darüber hing ein Trauerkranz aus roten Wachsblumen und schwarzen Blättern. Durch die offenen Türen sah man links in ein dunkles Wohnzimmer und in ein ebenso dunkles Eßzimmer, rechts waren zwei düstere kleine Büros. »Puh!« sagte Keith, nachdem er die ganze Pracht eingehend studiert hatte. »Grauenhaft, nicht wahr?« stimmte Rose bei, »aber man gewöhnt sich daran.« Pete grinste. »Der Kranz ist meine Idee«, sagte er stolz. »Ich finde, er paßt farblich genau zum Fenster hinter der Treppe und vertieft die allgemeine Stimmung ungemein.« »Die Stimmung braucht keineswegs vertieft zu werden«, meinte Rose. »Es ist ein Wunder, daß wir nicht allesamt an galoppierendem Trübsinn leiden.« Mike stand ein wenig abseits von den andern, knochig und steif. Seine Schlitzaugen begannen zu zwinkern, als er Carol sah, die zum bunten Fenster hinaufschaute und dabei ganz unbewußt einen opferbereiten, märtyrerhaften Ausdruck annahm. »Aufpassen, Carol!« rief Mike. »Fang nicht an dahinzuwelken, nur weil dir das hier der gegebene Ort dafür scheint.« Nan und Ellen gaben sich alle Mühe, ihr Lachen zu verbeißen. Keith grinste ganz unverhohlen. Sie kannten Carols Neigung, sich von jeder Umgebung oder Situation beeinflussen zu lassen.
Carol lächelte. Rasch drehte sie sich um, warf die Haare zurück und funkelte Mike an. Ihre Miene verfinsterte sich. »Ich habe den Eindruck«, sagte sie mit eisig-süßer Stimme, »daß dieser Ort hier wie geschaffen ist für einen Mord. Und vergiß nicht«, setzte sie drohend hinzu, »daß ich äußerst sensibel bin.« Rose Hingham schluckte. »Nicht schlecht, das kann man wohl sagen.« »Danke«, erwiderte Carol. »Ich …« »Genug jetzt, Carol!« rief Mike. »Spiel dich nicht länger auf.« »Und du halt gefälligst den Mund!« zischte Carol, während Pete und Rose von einem zum andern starrten und versuchten, hinter diese Beziehung zu kommen. Schließlich meinte Rose: »Wie ist’s, wollen wir gehen?« Die Gruppe setzte sich gehorsam in Bewegung, und Rose fügte hinzu: »Die Mädchen wohnen im ersten Stock, die Herren im zweiten. Das klingt zwar nach Ritterlichkeit, in Tat und Wahrheit haben die dort oben Sonne und den Ausblick aufs Meer, und uns bleiben Düsternis und Kiefernäste.« Im ersten Stock blieb Rose mit den Mädchen stehen. »So, und jetzt wollen wir mal sehen«, sagte sie. »Wer ist Nan Walton? Wir haben nämlich eine Elevin hier, Ruth Alder, die Sie kennt. Sie hat schon nach Ihnen gefragt.« »Ja natürlich. Wir sind in die gleiche Schule gegangen.« Rose musterte Nan: »Walton, groß – blond, grünes Band im Haar – scheint nett zu sein.« »Und wie nett«, erwiderte Nan. »Sie haben ja keine Ahnung.« Sie lachten. Rose wandte sich dann an Carol. »Miss Page, Ihr Zimmer liegt dort drüben. Sie wohnen mit Orchid Wynton zusammen. Richtige Schauspielerinnen wohnen nur zu zweit im Zimmer und nicht zu viert wie die Eleven.« Ellen Gregg schaute bittend zu Carol hinüber, und diese sagte schnell: »Hören Sie, Miss Hingham, würde es irgend jemand stören – ich meine, muß ich mit einer anderen Schauspielerin zusammen wohnen? Ellen und ich sind so aneinander gewöhnt. Wir sind miteinander aufgewachsen und haben im vergangenen Winter in New York zusammen gehaust und …« »Aber keine Spur«, erwiderte Rose und bekam dafür einen dankbaren Blick von Ellen. »Das ist ganz gleich. Wäre es Ihnen recht, zu mir ins Zimmer zu kommen – und Ihnen, Miss Walton, auch? Ich bin noch ganz allein. Und Sie sehen alle aus, als ob Sie Spaß verstünden. Außerdem würde ich schrecklich gern mit dem
Scottie zusammen wohnen. Und mit Orchid ist es ohnehin …« »Fein!« sagten die drei Mädchen. Carol fragte sich, was wohl mit Orchid sei. Nan betrachtete Rose erstaunt. »Sind Sie Elevin?« fragte sie. »Ich hätte nicht gedacht …« »Ja natürlich. Ich komme jeden Sommer her. Ich gehöre sozusagen zum Inventar.« Rose ging den Korridor entlang und öffnete die Tür zu einem hohen Zimmer, in dem vier Betten, vier verschrammte Nachttischchen, drei Stühle von ungewissem Alter und vier kleine, wacklige Schreibtische standen. »Wählt eure Betten aus. Nur das hier nicht. Das gehört mir.« Rose setzte sich auf ihr Bett, während Nan, Ellen und Carol die anderen Betten belegten und auszupacken begannen. »Haben Sie nie versucht, ein Engagement zu bekommen, Miss Hingham?« fragte Ellen. Rose lächelte. »Bis jetzt noch nicht. Ich habe ein paar kleine Angebote ausgeschlagen, aber wenn dieser Sommer vorbei ist, nehme ich vielleicht doch eines an. Wissen Sie, ich bin erst drei Sommer lang Elevin gewesen – und vor einer Woche habe ich mein Schlußexamen im College gemacht.« Jetzt mischte sich Carol ein. »Aber wenn Sie doch Schauspielerin werden wollen, dann verstehe ich nicht …« »Ich weiß. Sie verstehen nicht, warum ich keine der Chancen ergriffen habe und die Schule Schule sein ließ. Aber das hängt mit meinem Charakter zusammen. Ich brauche zu allem Zeit. Es ist nicht gut für mich, irgend etwas zu übereilen. Und wenn ich etwas angefangen habe, dann mache ich’s auch fertig. Das ist der Grund dafür, daß ich in der Schule geblieben bin und hier mein Dasein als Elevin friste.« »Aber, das …« »… das ist gegen jegliche Theatertradition; das wollen Sie doch sagen.« »Ja. Ist es nicht besser, so früh wie möglich anzufangen, und alles anzunehmen, was sich bietet?« »Für die meisten wahrscheinlich schon. Aber nicht für mich. Ich muß es auf meine Art machen. Jetzt erzählen Sie mir aber doch ein bißchen von sich«, bat Rose. Nan berichtete, daß sie New Yorkerin sei und sich einfach zum Theater hingezogen fühle. Ellen erklärte, daß sie sich schon immer gewünscht hatte, Schauspielerin zu werden. Ihre Familie sei zwar
nicht sehr entzückt darüber gewesen, aber das sei gar nichts gegen die arme Carol, die eine entsetzliche Zeit mit ihrem Vater, dem Richter Page, durchgemacht habe, der sie absolut aufs College schicken wollte. Worauf Carol sofort versicherte, daß ihr Vater nur ihr Bestes im Sinne gehabt hätte. Die ganze Sache sei nur deshalb so dramatisch gewesen, weil ihr Entschluß so plötzlich gekommen wäre, und sie ihn mit der Stuyvesant Theaterschule sozusagen überrumpelt hätte. »Und wenn mein Bruder nicht gewesen wäre, und …« Schließlich hielt sich Rose beide Ohren zu. »Aufhören«, bat sie. »Ihre Familiengeschichten interessieren mich nicht. Ich möchte wissen, welches Ihre Fächer beim Theater sind. Von Ihnen weiß ich es, Miss Page, und auch wie gut Sie in der Elevenvorstellung gewesen sind. Ich weiß auch, daß alle andern gut waren, aber ich …« »Ellen«, sagte Carol, »ist für Komödien besonders geeignet, und Nan spielt dramatische oder Charakterrollen, und Keith …« »Keith«, wurde sie von Nan unterbrochen, »spielt ebenfalls Charakterrollen. Er hat wirklich ein ausgesprochenes Talent und …« »Welcher ist Keith?« fragte Rose, »und welcher ist der berühmte Horodinsky?« »Ach Mike«, sagte Nan, »das ist der Große, Knochige mit den schrägen Augen.« »Du meine Güte!« Rose war verblüfft. »So sieht er wirklich nicht aus. Das heißt, er soll doch ein Genie sein … Die Revue der Reinigungs- und Färbereiarbeiter-Gewerkschaft hatte doch einen Riesenerfolg. Horodinsky wurde von den Kritikern über den grünen Klee gelobt. Wie ist er denn eigentlich?« fragte sie Carol. Ellen kicherte. »Carol dürfen Sie das nicht fragen. Sie hat sich den ganzen Winter lang mit ihm gestritten.« »Das ist jetzt alles vorbei«, sagte Carol. »Wir streiten nicht mehr so oft wie früher. Ab und zu macht er mich rasend, aber als Regisseur ist er großartig. Schlimm ist nur sein Minderwertigkeitskomplex. Er hat seinerzeit in einer kleinen Konfektionsfirma gearbeitet. Nach dem Erfolg bezahlte ihm die Gewerkschaft ein Studienjahr am Stuyvesant. Ich ›als Tochter aus gutem Hause‹ ging ihm auf die Nerven. Ich hatte keine Geldsorgen und war auch sonst ziemlich überheblich. Das ist alles, aber wie gesagt, er ist ein wirklich großartiger Regisseur, und ich bewundere ihn sehr.« »Und er bewundert dich ebenfalls, ganz gleich, was er sagt oder tut«, sagte Ellen. Sie wandte sich an Rose. »Sie hätten sehen sollen,
wie die beiden geschuftet haben, um unsere Vorstellung zu retten. Durch einen Unfall wurden unsere Dekorationen zerstört, und wir sollten vor einem richtigen Publikum spielen.« »Ich weiß. Das hat Mr. Richards uns erzählt.« Rose stand auf. »Aber ich will jetzt gehen, damit Sie sich in Ruhe einrichten können. Ich hole Sie dann später ab, um Ihnen das Theater zu zeigen und alles, was dazu gehört. Was ist denn das? Wo haben Sie das her? Kennen Sie Jane Sefton?« Carol hatte eine große Photographie der berühmten Schauspielerin aus dem Koffer genommen. Auf der rechten unteren Ecke stand: Für Carol mit den besten Wünschen für eine erfolgreiche Zukunft. Jane Sefton. »Toll!« sagte Rose. »Eigentlich kenne ich sie ja nicht richtig«, erklärte Carol. »Sie hat mich einmal mit ihrem Auto mitgenommen. Ich wußte aber gar nicht, daß sie es war. War das eine komische Geschichte! Ich muß sie Ihnen einmal ausführlich erzählen. Später habe ich Jane Sefton in der Candida gesehen, und nach der Vorstellung schenkte sie mir die Photographie. Sie war bezaubernd.« »Toll!« wiederholte Rose. »Wissen Sie eigentlich, daß Jane Sefton diesen Sommer eine Woche lang bei uns spielt – mit ihrer eigenen Truppe?« »Was?« »Jawohl! Also dann, auf später.« »Ach, Carol«, seufzte Ellen schließlich. »Stell dir vor, es gäbe eine kleine Rolle in ihrem Stück, für die sie keine Darstellerin mitbrächte – und du könntest sie bekommen!« Carol erwiderte nichts. Aber ihre Gedanken rasten. Wenn eine solche Möglichkeit besteht, dann muß ich die Rolle haben. Ich muß, ich muß.
2 Einige Zeit, nachdem Rose das Zimmer verlassen hatte, ging auch Nan. Carol und Ellen waren allein. Sie packten fertig aus und zogen sich um. Keine hörte Rose, als sie zurückkehrte und unter der Tür stehen blieb. Ellen saß mit untergeschlagenen Beinen auf ihrem Bett, ziemlich rundlich in ihren weißen Shorts. Geistesabwesend spielte sie mit Wilfreds Schwänzchen. Carol, in einem beigen Polohemd und grünen Jeans, stand vor dem Spiegel und fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar. Weshalb, sagte sie zu sich, während sie kritisch ihre Nase musterte, weshalb soll ich eigentlich Angst vor der Zusammenarbeit mit erfahrenen Schauspielerinnen haben? Schließlich habe ich im Stuyvesant auch als ein Niemand angefangen. Und am Ende hat mich Mr. Richards als beste von allen für sein Sommertheater engagiert. Wenn ich erst einmal mit der Arbeit hier begonnen habe, wird sich’s zeigen, was ich kann. Ellen, die sie vom Bett aus beobachtete, sagte plötzlich: »Ich wollte, ich wäre eine Schönheit wie Jane Sefton. Du nicht auch?« »Niemals!« erwiderte Carol. Am Stuyvesant hatte man immer behauptet, sie hätte ein gutes Theatergesicht: beweglich, empfindsam, ausdrucksvoll. Ein Gesicht, das sich ständig veränderte, aus dem man genau das Gesicht machen konnte, das man brauchte. Das, dachte Carol, war viel wichtiger als eine Schönheit zu sein. Carol war mittelgroß, auch das war gut. Größer machen konnte man sich leicht mit Absätzen und sonstigen Hilfsmitteln. Aber wenn man richtig groß war wie Nan, dann gab es keine Möglichkeit, sich kleiner zu machen. Hier würde sie mit Berufsschaupielern zusammenarbeiten, können – in einem echten Theater spielen. Sie würde die Möglichkeiten haben zu zeigen, was sie konnte. Carols Augen funkelten vor Aufregung. Sie legte den Lippenstift auf den Tisch und wandte sich nach Ellen um. Da entdeckte sie Rose Hingham unter der Tür. »Hallo«, sagte Rose, »was ist geschehen? Haben Sie gerade ein Engagement am Broadway bekommen?« »Noch nicht«, erwiderte Carol vergnügt. »Aber was nicht ist, kann noch werden.« Ellen ließ Wilfreds Stummelschwänzchen los und stand auf.
»Lassen Sie sich von Carols Launen nicht irritieren«, sagte sie. »So ist sie immer: himmelhoch-jauchzend-zu-Tode-betrübt. Da kommt kein Mensch mit. Sollen wir Sie jetzt begleiten, Miss Hingham?« Rose nickte. »Aber hören Sie doch auf, mich Miss Hingham zu nennen. Alle nennen mich Rose, mein Vorname ist fürchterlich. Wir jüngeren duzen uns alle.« Die Mädchen waren sofort einverstanden und folgten ihr die düstere Treppe hinunter und dann durch eine Seitentür aus dem Haus. Von hier führte ein Pfad unter den Kiefern zu einer Wiese ganz nah beim Strand, auf der einige Gestalten ausgestreckt im Gras lagen. Ab und zu wehte der Wind Wortfetzen herüber. »Sie studieren ihre Rollen«, sagte Rose mit erhobener Stimme, um gegen das Geräusch der Brandung aufzukommen. »Oh!« rief Ellen entzückt. »Heißt das, daß wir tatsächlich auf diesem herrlichen Platz hier lernen können?« »Warum nicht? Aber du darfst dir nicht allzu große Hoffnungen machen. Eleven haben hier nicht viel Gelegenheit, auf der Bühne zu stehen. Es sei denn in Massenszenen. Du wirst den größten Teil des Sommers mit Kulissenmalen und Stundennehmen verbringen.« Doch als sie Ellens enttäuschtes Gesicht sah, fügte sie rasch hinzu: »Aber glaub mir, du wirst einen Mordsspaß dabei haben. Und vielleicht kannst du doch hie und da in einer kleinen Rolle auftreten. Außerdem ist es sehr nützlich zu wissen, wie ein Bühnenbild entsteht. Und was dabei möglich und was unmöglich ist.« Carol war ihnen einige Schritte vorausgelaufen. Jetzt drehte sie sich um. »Rose«, sagte Carol und stellte die Frage, die ihr am meisten am Herzen lag, »bekommt irgend jemand von uns eine Rolle in Jane Seftons Stück?« »Ja, ja«, antwortete Rose. »Ich glaube, es gibt ein paar kleine Rollen für uns.« Carol ging jetzt neben ihr, und nach kurzem Schweigen meinte sie zögernd: »Glaubst du, daß ich eine Chance habe, eine davon zu bekommen?« »Das kann ich beim besten Willen nicht sagen. Es hat da eine winzige Rolle für ein junges Mädchen – aber Orchid Wynton ist unsere erste Naive, und wenn sie die Rolle haben möchte, hat sie natürlich den Vorrang. Doch es ist leicht möglich, daß sie ihr zu klein ist. Aber bei Orchid weiß man eben nie …« »Oh«, sagte Carol, und ihre gute Laune erhielt einen merklichen
Dämpfer. Doch sie faßte sich schnell. Sie würde mit dieser Orchid sprechen. »Ist das die Orchid, mit der ich das Zimmer hätte teilen sollen?« »Ja«, erwiderte Rose kurz. Inzwischen waren sie zu einem Schuppen gekommen, aus dem man es hämmern hörte. Dahinter erhob sich die große, grau geschindelte Scheune, das Theater, mit weißen Tür- und Fensterrahmen. Weiter hinten war der Parkplatz zu sehen. Sie statteten zuerst dem Schuppen einen Besuch ab. Im Freien bemalten drei Mädchen eine große, auf Holzleisten aufgezogene Leinwand mit hellblauer Farbe. Unter einem Baum arbeiteten zwei zerzauste junge Leute mit einer elektrischen Säge, während ein rundliches Mädchen mit Sonnenbrand auf der Nase Nägel in eine zweite aufgezogene Leinwand trieb. Nicht weit von ihr entfernt waren zwei Burschen und ein anderes Mädchen mit einem dritten, diesmal auf dem Gras liegenden Leinwandstück beschäftigt. Jeder von ihnen pinselte an einer andern Ecke und jeder mit einer andern Schattierung Blau. Beim Näherkommen entdeckte Carol, daß die Malerei auf der Leinwand sich in eine zerfallende Hausfassade verwandelte – Balken, Steine, Mörtel, Spinnweben und tiefer Schatten. »Wie wird denn das gemacht?« fragte sie. »Das ist alles schon vorgezeichnet nach einem in kleinem Maßstab hergestellten Original. Jede Farbe hat ihre eigene Nummer. Die besonnte Seite der Balken zum Beispiel ist mit einer Drei markiert. Das ist die Farbe, die man dafür nehmen muß. Während die Schattenseite Nummer sieben braucht, ein bräunliches Schwarz, oder Nummer fünf, was tiefschwarz bedeutet, und so weiter.« »Das scheint Spaß zu machen«, meinte Carol nachdenklich. »Das tut’s. Besonders seit Joe Lanier die Werkstatt unter sich hat und gleichzeitig als Zeichner, Maler und Schreinermeister wirkt.« Sie wurde durch einen Ausruf von Ellen unterbrochen, die staunend vor einer herrlichen Barocktreppe stand, die mitsamt einem geschnitzten Geländer und rotem Läufer neben dem Schuppen ins Nichts hinaufführte. »Die haben unsere Eleven ganz allein gezimmert«, sagte Rose stolz. Im Innern des Schuppens hämmerten und sägten noch mehr Eleven. »Das ist der Platz«, sagte Rose zu Ellen, »wo du wahrscheinlich
die besten Jahre deines Lebens verbringen wirst. Ich mache euch jetzt nicht mit jedem einzelnen bekannt, aber Joe Lanier müßt ihr unbedingt sofort kennenlernen. Er wird nämlich dein Boß sein, Ellen. Er ist schon seit Jahren jeden Sommer hier. Berühmter Künstler. Letztes Jahr hatte er eine große Ausstellung in einer bekannten New Yorker Galerie.« Wo sie vorbeikamen, nickten ihnen die Eleven freundlich zu, um sich sogleich wieder ihrer Arbeit zu widmen. Ellen war höchst interessiert, und Carol spürte fast so etwas wie Neid. Sie waren alle so tätig, und alle wußten, wo sie hingehörten. Morgen würden Ellen, Nan und Keith ebenfalls hier arbeiten und reden und lachen, sich von der Sonne bräunen lassen und Coca trinken. Keith war bereits da, um sich zu orientieren. Carol hatte ihn drinnen im Schuppen gesehen. »Joe!« rief Rose, und ein Mann kam irgendwo aus dem dämmrigen Hintergrund. Er war klein, dunkel und vierschrötig, und seine Bekleidung bestand aus Farbflecken, Blue jeans und Tennisschuhen. »Hallo, Rose«, sagte er herzlich. »Wen bringst du da? Noch mehr Malergehilfen?« »Das ist Joe Lanier – und das hier Ellen Gregg und Carol Page. Nur die eine ist Elevin. Du kannst dir also deine Rede ersparen. Miss Page ist unsere neue zweite Naive.« Joe Laniers Blick glitt rasch über Carol hin, um dann mit offensichtlichem Wohlgefallen an Ellen hängenzubleiben. »Joe ist ein Sklaventreiber«, sagte Rose. »Mir soll’s recht sein«, erwiderte Ellen vergnügt. »Braves Mädchen«, lobte Joe. Und damit war der Fall für ihn erledigt. »Hätten Sie Lust hereinzukommen und sich umzuschauen, Miss Page?« Sein höflicher Ton schloß Carol aus der heiteren, eifrigen, farbverschmierten Gemeinschaft aus. »Wir haben keine Zeit, Joe«, sagte Rose. »Wir müssen zum Theater hinüber. Miss Page hat Mr. Richards noch nicht gesehen. Kommt also, los.« Als sie sich entfernten, rief ihnen Joe noch nach: »He, Rose, ist unsere Primadonna schon wieder da?« »Nein. Aber sie wird für heute abend erwartet.« Joe schnitt eine Grimasse, und Rose verzog den Mund. »Wer ist unsere Primadonna?« fragte Ellen. »Orchid Wynton – geborene Lizzie Jones.« »Aha«, sagte Ellen, und Carol dachte, daß Orchid Wynton auf
jeden Eindruck zu machen schien, mit dem sie in Berührung kam. Ihr Name fiel bei jeder Gelegenheit, und seine Wirkung auf Rose war höchst merkwürdig. Jedesmal zog sie sich in sich selbst zurück und bekam einen ganz schmalen Mund. Die drei Mädchen gingen über die Wiese zum Theater hinüber. Als sie dann die Eingangshalle durchquerten, atmete Carol schneller. Wie dumm, sich zu wünschen, noch einmal Elevin zu sein. Sie war Schauspielerin, und ihr Platz war im Theater. Rose öffnete eine Flügeltür, und die Mädchen betraten den Zuschauerraum: ein großer, brauner Saal, der mit roten Sesseln bestuhlt war, die langsam zu einer großen, tiefen Bühne hinunterführten, auf der sich verschiedene Gestalten bewegten. Man hörte Stimmen und Gelächter. Carols Augen leuchteten vor Befriedigung, als ihr der undefinierbare Geruch des Theaters entgegenschlug – dieses Gemisch aus Staub, Schminke und Farbe mit einer Beimischung von Hanf und Seil. »Nicht schlecht für ein Sommertheater. Findet ihr nicht auch?« sagte Rose. »Es ist herrlich«, antwortete Carol. Auf der einen Seite der Bühne redete eine schwarzhaarige Frau ernsthaft auf einen jungen Burschen ein, der mit den Füßen scharrte. Direkt hinter ihnen hockte ein älteres weibliches Wesen traurig in sich zusammengesunken auf einem Stuhl und starrte konzentriert ins Leere. Leise vor sich hinmurmelnd wandelte ein sehr tüchtig aussehendes Mädchen über die Bühne. Es trug einen Strandanzug und machte sich im Gehen Notizen auf einem Briefumschlag. Ganz im Hintergrund kroch, ein Meterband hinter sich herziehend, ein glatzköpfiger Mann auf allen vieren über den Boden. »Und bitte, Bill«, sagte die schwarzhaarige Frau, »sorgen Sie dafür, daß ich im zweiten Akt einen höheren Stuhl bekomme. Ich kann mich unmöglich schluchzend auf dieses niedrige Ding da werfen. Das sieht ja aus, als ob ich mit dem Fallschirm vom Himmel herunterkäme.« Carol lächelte. »Wer ist das?« fragte sie. »Aldred Dean. Sie ist unsere Salondame, und sie ist ein Schatz. Die dort auf dem Stuhl ist Miss Bartlett, die Komikerin.« Miss Dean sah keineswegs wie eine Salondame aus. Sie war hübsch, doch ein bißchen ungepflegt und ohne jeglichen Glanz. Und Miss Bartlett hätte man sich ebenso gut hinter der Theke eines Metzgerladens vorstellen können. »Bill Dolan«, sagte Rose, »ist unser Inspizient. Und das Mädchen
im Strandanzug ist eine Elevin im zweiten Jahr. Sie ist als RegieAssistent eingesprungen, bis euer Freund Mike anfängt. Der Herr mit der Glatze und dem Meterband ist Al Edwards, der Requisitenchef.« Carol betrachtete Al Edwards mit plötzlicher Zuneigung. Der Requisitenchef im Stuyvesant war einer ihrer besten Freunde gewesen. »Soll ich dich Miss Dean vorstellen?« »Ja, gern.« Sie ging mit Rose und der nun nachdenklichen Ellen den Mittelgang hinunter, nach Kräften bemüht, jung, anziehend und gelassen zu scheinen. Sie bewegte sich mit der ihr angeborenen Grazie und schritt die Stufen zur Bühne hinauf, genau wie man sie’s gelehrt hatte. Die Sache hatte nur einen Haken: Miss Dean schaute gar nicht nach ihr hin. Und Miss Bartlett ebensowenig. Rose überquerte die Bühne und blieb dann stehen. »Alfred, das hier ist Carol Page, unsere zweite Naive – und Ellen Gregg, eine der neuen Elevinnen.« Bill Dolan nickte geistesabwesend, Miss Dean kehrte sich freundlich zu den drei Mädchen um und sagte zu Carol: »Es wird nett sein, mit Ihnen zusammen zu arbeiten. Wahrscheinlich haben Sie schon ein bißchen Theatererfahrung?« »Ja, ich war letzten Winter Elevin beim Stuyvesant, und ich …« »Aha! Das ist fein. Phyllis Marlowes Schüler erhalten einen guten Unterricht, so daß es nicht allzu schwer für Sie werden dürfte – und wir helfen Ihnen alle gern.« »Danke schön, Miss Dean«, stammelte Carol. Carol war enttäuscht. Anscheinend hatte keiner von ihnen jemals etwas von ihren Leistungen am Stuyvesant gehört. Dann machte sie sich auf die Suche nach Mr. Richards. Er war in der Vorhalle. Ein kahler, kleiner, dicker, rosiger Mann, der viel besser in sein Theater hier paßte als in das Büro am Times Square, wo Carol ihren Vertrag unterzeichnet hatte. Auch er war freundlich. »Ich hoffe«, sagte er zu Ellen, »daß es Ihnen gefallen wird. Wir erwarten von unseren Eleven, daß sie eine Menge bei uns lernen und sich eine gesunde Farbe zulegen. Und Sie, Miss Page, werden sich bestimmt ausgezeichnet in unser Ensemble einfügen.« Carol murmelte, sie hoffe, ihn nicht zu enttäuschen. »Nein, sicher nicht. Davon bin ich überzeugt«, sagte Mr. Richards. »Aber natürlich liegt es bei Ihnen, wie weit Sie’s bringen.« Autsch! dachte Carol. Laut aber sagte sie, sie wolle ihr Bestes tun. Worauf Mr. Richards die Unterhaltung mit der Bemerkung
beendete, Carol möge am nächsten Tag in sein Büro kommen, wo er ihr eine Rolle geben würde. »Und beim Nachtessen sehen wir uns ja dann.« Und sie sahen ihn auch beim Nachtessen. Aber das war auch alles. Die Schauspieler und Eleven saßen an zwei langen Tischen, während Mr. Richards mit seiner Familie und dem kaufmännischen Direktor einen kleinen Extratisch hatte. Carol saß mit Keith, Mike, Nan und Ellen an einem der langen Tische. Rose hatte sie einer ganzen Menge Leute vorgestellt, von denen nicht einer ihren Namen kannte, und hatte sich dann zu ihren eigenen Freunden gesetzt. Carol war froh, wieder bei den alten Stuyvesantianern zu sein. Die kannten und mochten sie. Für die war sie keine unbekannte Null. Plötzlich spürte sie Nans Ellbogen in den Rippen. »Wer ist die Alte dort drüben?« fragte Nan. »Die glotzt dich unentwegt an.« Carol blickte auf und in die Augen einer etwas fülligen Frau mit ergrauenden Dauerwellen und zu viel Rouge auf den Wangen. Sie musterte Carol eingehend. »Sind Sie die zweite Naive?« fragte sie. »Ja. Ich bin Carol Page. Guten Tag.« »Guten Tag, liebes Kind. Ich bin Bertha Adamson. Ich spiele die Mütterrollen.« Dann wandte sie sich an die übrigen am Tisch. »Hat sie nicht den gleichen strahlenden Blick wie die arme Alice Wilson, unsere zweite Naive vom letzten Jahr?« »Soll – das – heißen, daß sie gestorben ist?« fragte Carol erschrocken. »Aber nein, Kindchen. So schlimm ist’s wieder nicht. Ich habe sie im Frühling in New York getroffen. Da hatte sie endlich eine Stelle als Maniküre gefunden. Das arme Ding. Sie sah einfach schrecklich aus. Die letzten Wochen hatte sie nur noch von Suppe und Brot gelebt.« »Und was ist«, fragte Carol schwach, »mit der zweiten Naiven vom vorletzten Jahr geschehen?« »Ach, Muriel. Die hat’s gut getroffen, wirklich. Sie ist bei einer Hörspielfolge am Radio beschäftigt. Das einzig Schlimme ist, daß sie dabei so viel weinen muß. Und sie mag sowieso Radio nicht. Sie hat schrecklich Angst, daß die Rolle eines Tages gestrichen wird. Denn ein Engagement ist schließlich doch ein Engagement. Und besser als gar nichts.« Miss Adamson hielt inne, um Luft zu holen, und Keith Macdonald, der rechts von Carol saß, murmelte leise: »Keine Angst, Kindchen, ich verspreche dir, daß ich dich jede Woche im Heim für
abgewrackte Naive besuche.« Er schwieg plötzlich, weil die andern ebenfalls zu reden aufgehört hatten. Köpfe wandten sich zur Tür und Stühle wurden gerückt. »Hui!« sagte Keith vernehmlich. Carol wußte sofort, daß das Mädchen, das da in einer so gekonnten Pose auf der Schwelle des Speisezimmers stand, Orchid Wynton war: goldblondierte Locken, eine Wolke von hellblauem Chiffon, lange, auffallend schöne Beine. Man hörte eine Menge männlicher Begeisterungsrufe und ein paar Frauenstimmen, die »Oh, Orchid« zirpten. Carol erwartete, Orchid mit königlicher Herablassung lächeln zu sehen – und war angenehm enttäuscht. Orchid lächelte, aber sie lächelte gänzlich unaffektiert – erfreut über den begeisterten Empfang. »Hallo, meine Lieben«, sagte sie und wirbelte durch den Raum, um Mr. Richards mit töchterlicher Zuneigung zu umarmen. »Es ist herrlich, wieder hier zu sein«, rief sie Mrs. Richards zu, und dem kaufmännischen Direktor klopfte sie auf die Schulter. Dann als sie ein paar Meter entfernt Miss Dean erblickte: »Aldred – Liebling!« Wieder wirbelte sie herum und streckte Miss Dean beide Hände entgegen. Mr. Park bekam einen Extragruß. »Und wo«, fragte sie dann munter, »sitze ich?« Die Antwort war überwältigend. »Kommen Sie zu mir!« »Nehmen Sie meinen Stuhl!« Selbst Mike hatte sich von seinem Platz erhoben. Der einzige Mensch im ganzen Raum, der still und gelassen weiter gegessen hatte, war Miss Adamson, die jetzt vor sich hinmurmelte: »Na, da sieht man’s mal wieder.« »Was sieht man wieder?« fragte Carol höflich. »Was man mit Training nicht alles erreicht. Dieses Mädchen hat keine Spur Phantasie. Aber sie hat eine bewundernswerte Technik – sogar darin, wie man in einen Speisesaal rauscht.« Carol lächelte – wurde dann aber sofort wieder ernst. Es stimmte. Orchid war eine perfekte Schauspielerin. Ihre Schritte, ihre Bewegungen, ihre Worte – das war alles genau aufeinander abgestimmt. Was bleibt da noch für mich? dachte Carol. Bei einer so hervorragenden ersten Naiven? Es fiel ihr plötzlich auf, daß Mike und Keith sie so merkwürdig, ja fast mitleidig, anblickten. Und beide lächelten viel zu schnell, als sie ihren Blick erwiderte. »Mach dir nur keine Sorgen, Page«, sagte Mike schroff.
3 In dieser Nacht schlief Carol traumlos und tief. Selbst Wilfreds Versuche, die Bettmitte für sich zu erobern, störten sie nicht. Sie wurde um acht Uhr durch das Rauschen der Brandung geweckt. Die Luft im Zimmer war würzig und kühl. Carol streckte sich. Als sie sich aufsetzte, blickte sie in die lachenden Augen Rose Hinghams im Bett gegenüber. »Hallo«, sagte Carol verschlafen und schob Wilfred an den Bettrand. »Stehen wir jetzt auf oder was?« »Das könnten wir eigentlich. Von sieben bis neun gibt’s Frühstück. Aber wehe, wenn du einmal dreißig Sekunden später erscheinst. Mrs. Melier läßt dich dann nicht einmal mehr dran riechen.« »Wer ist Mrs. Meiler?« »Die Haushälterin. Sie ist entfernt mit den Leuten verwandt, denen früher das Haus gehörte. Schauspieler sind ihr eigentlich unsympathisch.« Die Mädchen lachten. Carol streckte den Fuß aus und stieß an Ellens Bett, um sie zu wecken. Mit dem Erfolg, daß sich Ellen nur noch tiefer in ihre Kissen verkroch. »Hallo, Ellen!« rief Rose fröhlich. »Du solltest wirklich aufwachen. Ihr habt heute morgen Stunden, du und Nan.« »Was für Stunden?« fragte Ellen schlaftrunken. »Aussprache und Ballett und vielleicht auch ein bißchen Schminken.« Ellen stöhnte. »Das haben wir doch alles schon am Stuyvesant gelernt.« »Ich weiß. Wenn du keine Lust hast, brauchst du nicht zu gehen. Aber es wäre keine schlechte Idee, dich dort ziemlich regelmäßig zu zeigen. Man lernt doch noch immer was dazu. Außerdem hast du mehr Chancen, wenn man einmal eine Elevin für eine kleine Rolle braucht. Die ersten Stunden beginnen um zehn Uhr. Und nach dem Mittagessen arbeitet ihr den ganzen Nachmittag an den Bühnenbildern.« Ellen stöhnte wieder. Aber sie setzte sich wenigstens auf. »Nimmst du keinen Unterricht mehr?« fragte sie Rose. »Nicht mehr regelmäßig. Ich bin schon so lange hier, daß ich alles in- und auswendig kenne. Aber Mr. Richards gibt mir manchmal eine winzige Rolle, und dabei lerne ich eine ganze
Menge.« »Und was geschieht mit mir?« fragte Carol und fühlte sich plötzlich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. »Wir werfen zuerst einmal einen Blick hinter die Bühne und dann schaust du am besten bei den Proben zu.« »Ich spiele im ersten Stück gar nicht mit?« »Ich glaube nicht«, antwortete Rose. »In dem Stück gibt es nur eine Naive, und die spielt natürlich Orchid. Aber im nächsten bist du auch dabei. Wahrscheinlich wird dir Mr. Richards heute oder morgen die Rolle geben, damit du sie studieren kannst.« Carol schluckte ihre Enttäuschung hinunter. Sie hatte gehofft, sofort mit der Arbeit zu beginnen, um den anderen zu zeigen, was sie konnte. Langsam stand sie auf und begann sich anzuziehen. Dann fragte sie: »Wann ist Jane Sefton hier?« »In der zweiten Juliwoche. Wir haben vorher zwei eigene Stücke. Warum fragst du?« »Ach nichts. Ich wollte es nur wissen.« Nach dem Frühstück gingen Carol und Rose zum Theater hinüber, begleitet vom begeisterten Wilfred, der außer Rand und Band war. »Du hast einen blendenden Gang«, sagte Rose. »Hast du das am Stuyvesant gelernt?« »Ich fürchte, der ist angeboren.« »Du Glückspilz«, meinte Rose. Sie beobachtete Wilfred, der im feuchten Gras immer wieder auf die Nase fiel. Dann sagte Carol: »Bitte erzähl mir ein bißchen von Orchid!« Rose zögerte. »Was möchtest du wissen?« »Ach, einfach alles, was man wissen muß, wenn man mit jemand zusammen arbeiten soll.« Rose blieb auf der Zufahrt zu dem Theater stehen, und Carol ebenfalls. »Ich klatsche nicht gern. Mir wäre lieber, du würdest deine eigenen Erfahrungen mit Orchid machen. Aber vielleicht ist das Orchid gegenüber nicht ganz fair.« Carol schwieg erwartungsvoll, und nach einem Augenblick fuhr Rose fort: »Du kannst es glauben oder nicht, ich mag Orchid gern. Und du wirst sie auch mögen. Sie ist gutmütig – meistens wenigstens. Sie ist hilfsbereit und lebhaft und unterhaltend. Im Grunde genommen ist sie ein lieber Kerl. Aber sie hat eine schwere Jugend gehabt, und das sollte man bei einem Urteil über sie nie vergessen. Seit ihrem fünften Jahr steht sie auf der
Bühne. Ihre Kindheit hat sie größtenteils beim Varieté verbracht, wo sie von allen – einschließlich ihrer Mutter – ausgebeutet wurde.« »Aber nein!« rief Carol entsetzt. »Jawohl! Sie hat eine ziemlich schlechte Meinung von ihren Mitmenschen und deshalb das Gefühl, vor allen Dingen zuerst einmal für sich selber sorgen zu müssen. Man kommt großartig mit ihr aus – solange man ihr nicht im Weg ist. Ich bin überzeugt, daß sie sich selber nicht für egoistisch hält. Sie glaubt einfach, daß jedermann so ist. Sie hat nicht die geringste Liebe zum Theater. Für sie ist es einfach ein Broterwerb. Sie würde lieber in einem minderwertigen Kassenschlager spielen als in einem wirklich guten Stück, das kein Geld einbringt.« »Die Arme«, sagte Carol leise. Rose lächelte plötzlich. »Ich bin froh, daß du’s von dieser Seite siehst«, sagte sie. »Weil du sonst keine gute Zeit mit Orchid hättest. Und Verständnis hilft enorm.« »Ich verstehe. Vielen Dank«, sagte Carol, die jedoch keineswegs so richtig verstand. Sie merkte wohl, daß Rose sie vor irgend etwas zu warnen versuchte. Aber wovor? Doch da Rose sich anscheinend auf keine näheren Erklärungen einlassen wollte, ließ Carol das Thema fallen. Sie rief nach Wilfred. »Darf er eigentlich mit hinein?« »Selbstverständlich, wenn er sich während der Proben ruhig verhält.« »Das ist kein Problem. Sobald er alles gründlich beschnüffelt hat, beginnt er sich zu langweilen und schläft ein.« Rose ging voran und führte Carol durch eine Seitentür in das Untergeschoß und die Garderoben. Das waren kleine Verschläge mit je einem Spiegel, einem Toilettentisch, einem Küchenstuhl und ein paar an die Wand geschraubten Kleiderhaken. Hinter den Garderoben lagen die Magazine für die Bühnenbilder und die Requisitenkammern. Alles war abgenutzt, doch sauber und gut gepflegt. Mr. Richards hatte recht, sein Theater war eines der besten Sommertheater. Er hatte ein erstklassiges Ensemble, Eleven und Gäste. Wenn nötig, kam er auch ohne große Namen aus. Andererseits ließ er sogar ein ganzes Stück mit Bühnenbildern, Truppe und Star aus New York kommen, wie jetzt im Fall Jane Seftons. Er hatte gute Stücke auf dem Programm. »Ich glaube, hier wird’s mir gefallen«, sagte Carol beglückt und ihr Gesicht wurde warm und lebendig. »Es muß aufregend sein, ein eigenes Theater zu besitzen. Mr. Richards ist sicher schrecklich stolz
darauf?« Rose lächelte. »Das ist er wirklich. Und er würde sich umbringen, wenn er schließen müßte.« »Warum sollte er schließen müssen? Mit den vielen Hotels in der Umgebung hat er während der Saison sicher immer ein volles Haus.« »Das schon. Unser Billettverkauf ist im allgemeinen recht gut. Natürlich gibt’s bessere und schlechtere Zeiten. Aber das ist nicht alles. Das Dorf kann uns nicht ausstehen. Und wenn es darauf ankommt, werden sie uns zum Schließen zwingen.« »Das Dorf? Was hat das Dorf damit zu tun?« »Ja, verstehst du, das Theater gehört zum Ort, und wir zahlen eine Menge Steuern, genauso wie alle die Leute, die hier in der Umgebung ihre Sommerhäuser haben. Diese Leute sind aber bei den Abstimmungen im Winter nicht hier. Es könnte also vorkommen, daß an einem schönen, kalten Wintertag das Dorf Winasset eine Versammlung einberuft, um über die Schließung unseres Theaters abzustimmen, weil wir ein öffentliches Ärgernis sind.« »Aber sind wir das denn?« »Das kommt auf den Standpunkt an. Die vielen Autos, die durch das Dorf fahren, machen einen Höllenlärm.« »Aber bringen wir nicht auch viel Geld ins Dorf?« »Sicher. Das hat uns bis jetzt auch gerettet. Die Kaufleute nehmen alle für uns Partei.« »Und warum mag man uns nicht?« Rose lachte, doch ihre Augen blieben ernst. »Weil Charlie Marsh, der Gemeindepräsident, sich einbildet, das Theater sei ein Sündenpfuhl. Er ist einer der wenigen wirklich reichen Farmer und sehr einflußreich. Außerdem besitzt er eine fünfzehnjährige Tochter. Letztes Jahr ist sie mit einem Wanderzirkus durchgebrannt und war schon fast in Kanada, bevor Charlie sie erwischte. Jetzt sitzt sie immer im Café herum, um unsere Gäste sehen zu können, und schreibt Liebesbriefe an den armen Howard Millan, unseren jugendlichen Helden.« »Du lieber Himmel!« »Ja. Und das ist der Grund, weshalb Charlie das Dorf aufhetzt, mit der Behauptung, wir verdürben die Jugend von Winasset. Und wehe, wenn wir ihm irgendeinen wirklichen Grund geben würden; dann wären wir im Handumdrehen erledigt. Komm, wir gehen hinauf. Ich glaube, die Probe fängt an.« Nachdem Carol im Zuschauerraum einen Platz gefunden hatte,
ging Rose zu Joe Lanier in die Werkstatt. Wilfred schaute sich zuerst gründlich um, beschwerte sich dann ein wenig über den kalten Boden, verschwand schließlich durch eine offene Seitentür und streckte sich draußen in der Sonne aus. Carols Aufregung hatte sich gelegt. Sie erwartete wenig von dieser Probe. Es war die erste – und erste Proben sind immer gleich. Die Probe heute bildete keine Ausnahme. Auf der düsteren Bühne standen gerade so viele Versatzstücke, daß die Schauspieler für den ersten Akt die Entfernungen abmessen und Text und Bewegungen miteinander abstimmen konnten. Bill Dolan und Mike stürmten in der bekannten Art aller Inspizienten dazwischen. Es gab die üblichen Diskussionen und das übliche Stühlerutschen, das gewohnte Hämmern hinter der Bühne, dem man Einhalt gebieten mußte. Die einzigen Farbflecken waren Miss Deans roter Pullover, Orchid Wyntons blauer Trainingsanzug und Mr. Richards’ rosige Glatze. Er stand nahe bei der Bühne im Zuschauerraum, machte sich Notizen und nickte freundlich, wenn einer der Schauspieler sich zu ihm herabbeugte und mit ihm sprach. Alle sagten kameradschaftlich George zu ihm, und er machte keinerlei Anstalten, richtig Regie zu führen, nur hie und da schlug er einem der Schauspieler vor, irgendwo anders zu stehen oder zu sitzen. Er war stets höflich, doch Carol hatte das Gefühl, daß er, wenn nötig, energisch durchgreifen würde. Carol beobachtete Orchid voller Interesse. Sie war viel zu beeindruckt von der Meisterschaft der ersten Naiven – selbst bei dieser ersten, formlosen Probe –, um zu merken, wo die Grenzen des Mädchens lagen. Sie erkannte nicht, daß Orchids Gewandtheit reine Routine war. Carol verspürte deshalb eine ganz ungewohnte Schüchternheit, als Orchid während einer Pause in den Zuschauerraum hinunterkam. Sie fühlte sich geschmeichelt. »Du bist Carol Page, nicht wahr?« sagte Orchid. »Gehört der Scottie dir? Mein Leben lang habe ich mir einen Hund gewünscht und nie einen bekommen.« »Wie schrecklich. Warum nicht?« »Theaterleben. Da kann man keine Hunde brauchen. Es sei denn, man ist ein Star und hat eine Zofe. Ich hasse Leute, die sich einen Hund halten und sich dann nicht genügend um ihn kümmern.« »Ich auch. Du hast in vielen Stücken gespielt, nicht wahr?« »Ich bin in vielen Varietés aufgetreten. Ich war ein Wunderkind. Aber seit man mir erlaubt hat, erwachsen zu sein, habe ich ein paar Rollen in Musicals gehabt. Und jeden Sommer komme ich hierher.
Und im Winter Wanderbühnen. Vorletzten Winter habe ich eine Rolle in Gaslicht gehabt. Hast du das Stück gesehen?« »Nein. Schade. Das hätte ich mir gern angeschaut.« Orchids Augen waren sanft und schön. »Wenn du das als Kompliment gemeint hast, dann bist du ein Schatz.« »Ich meine es ganz ehrlich. Ich glaube, du bist eine großartige Schauspielerin. Und was kam dann?« »Ja, dann hat mir ein Agent einen Vertrag in Hollywood verschafft. Ich bin erst vor kurzem zurückgekommen.« »Und war es schön?« rief Carol. »Was hast du gespielt?« Orchids Lachen klang vergnügt. »Das übliche Zeug, das man als Unbekannter bekommt. Ein Film, der Die Leute von Madison hieß, und dann noch ein paar kleinere Rollen in zweitklassigen Streifen. Und dann war mein Vertrag abgelaufen, und ich war froh. Das Varieté ist schlimm, aber der Film ist noch viel schlimmer.« Carol fragte sich, ob Orchids Meinung von Hollywood eine bessere gewesen wäre, wenn sie mehr Erfolg gehabt hätte. Aber Rose hatte recht: Orchid war ein nettes Mädchen. Sie war fröhlich, aufrichtig, freundlich und unterhaltend. Und sie schien eine schlimme Zeit hinter sich zu haben. »Weißt du übrigens, daß Jane Sefton übernächste Woche hierher kommt?« fragte Carol impulsiv. »Natürlich. Und was ist schon dabei? Sie bringt ja alle ihre Leute mit. Oder nicht?« »Ja. Bis auf ein paar Massenszenen. Und dann gibt es da, wie mir Rose Hingham gesagt hat, noch eine Rolle für ein junges Mädchen. Ein paar Zeilen in einem Auftritt mit der Sefton. Und ich habe mich gefragt …« Carol schluckte, »… ich habe mich gefragt, ob du das übernehmen willst?« »Warum? Das lohnt sich doch nicht. Jede Elevin kann das.« »So klein ist die Rolle nun doch wieder nicht«, erwiderte Carol, die um jeden Preis fair sein wollte. »Und es ist eine wunderbare Möglichkeit, mit der Sefton in Kontakt zu kommen.« Verächtlich rümpfte Orchid die Nase. »Es ist wirklich nicht der Mühe wert, sich damit herumzuplagen. Und Kontakte brauche ich keine. Ich kenne jeden Produzenten am Broadway seit meinem achten Lebensjahr.« »Oh!« sagte Carol etwas enttäuscht, daß ihre Großzügigkeit nicht besser gewürdigt wurde. »Kennst du Jane Sefton auch?« »Nein«, erwiderte Orchid gleichgültig. »Ich kenne genug andere Stars. Sie sind alle gleich.« »Aber nicht Jane Sefton!« rief die entsetzte Carol. »Sie ist ganz
anders. Sie …« Mr. Richards rief die Darsteller auf die Bühne. Orchid erhob sich und lächelte Carol freundlich zu. »Warte nur«, sagte sie, »bis du so lange wie ich beim Bau gewesen bist. Du wirst es auch noch merken.« Doch Carol hörte nicht mehr zu. Sie war viel zu sehr mit dem aufregenden Gedanken beschäftigt, mit Jane Sefton spielen zu dürfen. Mr. Richards würde sicher nichts dagegen haben. Bei nächster Gelegenheit mußte sie mit ihm darüber sprechen. Wenn nur ihre Eltern zu der Vorstellung kommen könnten. Das würde eine Aufführung werden! Durch eine ungewöhnlich lebhafte Debatte auf der Bühne wurde sie aus ihrem Tagtraum gerissen. Bill Dolan und Mike sowie sämtliche Schauspieler beteiligten sich eifrig daran. Selbst Mr. Richards war auf die Bühne geklettert und musterte nachdenklich das Mobiliar. Sie diskutierten über eine Szene, in der Aldred Dean die Bühne überqueren und sich auf die Armlehne eines Sessels setzen mußte, in dem der erste Liebhaber saß. So wie die Möbel jetzt standen, war das nicht möglich, ohne über den Kaffeetisch zu springen. Doch konnten weder der Tisch noch die Sessel umgestellt werden, ohne nicht auch andere Möbelstücke zu verrücken, was jedoch ungünstig für die folgenden Szenen war. Miss Dean, die bei der Aufführung ein Abendkleid mit Schleppe tragen würde, beugte sich nieder und zog ein nicht vorhandenes Abendkleid bis über die Knie hinauf. Die ebenso nicht vorhandene Schleppe wickelte sie ein paarmal ums Handgelenk. Dann nahm sie einen Anlauf, sprang über den Kaffeetisch und landete mit einem gekonnten Bühnensturz auf der anderen Seite. »Seht ihr’s jetzt ein«, sagte sie lachend, »daß ich mich hier in den Scherben des Kaffeegeschirrs wälzen würde?« Alle stimmten in ihr Lachen ein, und Mr. Richards fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ja«, sagte er nachdenklich und wandte sich dann an Bill Dolan. »Was halten Sie davon, Bill?« »Keine Ahnung. Könnte man die Szene nicht einfach streichen?« »O nein, mein Lieber«, sagte Miss Dean und stand auf. »Das ist eine meiner besten.« Carol sprang auf und eilte hinter, die Bühne. »Mike!« flüsterte sie aus den Kulissen. »Was ist los?« »Unten im Requisitenlager habe ich ein grün-goldenes Sofa gesehen – mit Seitenlehnen. Es stand ganz hinten, von allem möglichen Krimskrams verdeckt. Die Farben passen genau zu den
Möbeln hier, und es ist breiter als der Kaffeetisch. Ich weiß, daß es …« »Red doch keinen Unsinn«, brummte Mike automatisch. Und dann: »Halt mal! Das war’s!« Er wandte sich an Mr. Richards. »Miss Page sagt, daß im Requisitenlager ein grüngoldenes Sofa steht.« Und dann erklärte er Carols Idee. »Natürlich. Sie hat recht. Es ist groß genug«, bestätigte Mr. Richards. »Lassen Sie’s holen, damit wir’s ausprobieren können.« Das Sofa war genau das richtige für die Szene. Miss Dean lächelte Carol freundlich zu, und Mr. Richards bedachte sie mit einem anerkennenden Kopfnicken. Carol blieb, wo sie war, und fühlte sich schon ganz dazugehörig. Und als Mr. Richards ein wenig später fast in sie hineinrannte, hatte sie ihre ganze Schüchternheit verloren. »Wie gefällt es Ihnen bei uns?« fragte er väterlich. »Großartig. Es ist ein herrliches Theater.« »Ja, es kann sich wirklich sehen lassen«, sagte er geschmeichelt. »Ich freue mich, daß Sie sich wohl fühlen bei uns. Und im nächsten Stück habe ich eine gute Rolle für Sie. Haben Sie sie schon in meinem Büro geholt?« »Nein, noch nicht, aber …« »Also, dann gehen Sie. In ein paar Tagen können Sie sie mir vorlesen.« »Vielen Dank«, sagte Carol, und dann, ihren ganzen Mut zusammennehmend: »Mr. Richards, darf ich Sie noch etwas fragen? Es dauert nicht lange.« »Aber natürlich.« »Es handelt sich um Miss Seftons Stück. Ich habe gehört, daß es da eine Rolle für ein junges Mädchen gibt. Nur ein paar Zeilen, eine Elevenrolle eigentlich. Miss Wynton legt keinen Wert darauf, im Gegensatz zu mir.« Hinten in den Kulissen war Orchid aufgetaucht und blieb stehen, als sie ihren Namen hörte. »Möchten Sie das wirklich gerne spielen?« sagte Mr. Richards. Er strahlte zufrieden. »Das ist fein. Ich hatte mir nämlich schon vorgenommen, daß ich es Ihnen geben wollte.« »Wunderbar!« rief Carol entzückt. »Das ist herrlich!« Mr. Richards blickte sie nachdenklich an. »Ihre Begeisterung freut mich. Mit Jane Sefton zu spielen ist keine Zeitverschwendung. Sie ist eine Künstlerin, und zwar eine ganz große. Eine talentierte Anfängerin kann von ihr auch in einer kurzen Szene eine Menge lernen.« Er hielt inne und strich sich mit der Hand über den Schädel. »Und dann
kommt noch etwas dazu. Die Sefton fördert junge Schauspieler. Sie hat ziemlich viele Stücke in ihrem Repertoire, und sie hat schon manchem jungen Menschen zu einem Start verhelfen. Sie könnte vielleicht auch Ihnen einmal sehr nützlich sein.« Er wandte den Kopf. »Ja? Was ist, Bill?« Bevor Carol ihm danken konnte, war Mr. Richards verschwunden. Hinter Carol, im Schatten verborgen, stand Orchid Wynton regungslos. Ihr Gesicht zeigte einen merkwürdigen Ausdruck: so als ob sie immer noch lausche, mit einer Mischung von Überraschung und Härte.
4 Carol genoß ihre neue Umgebung. Sie gewöhnte sich an die morgendliche Kälte im Theater, in dem es erst gegen Mittag warm wurde, und an die harten Stühle. Höfliche fremde Gesichter wurden allmählich bekannte und freundliche und verbanden sich mit Namen. Die Eleven und das Ensemble nahmen sie als Kollegin auf und ernannten Wilfred zum Maskottchen des Theaters. Wenn sie nicht gerade am Strand oder in den Dünen ihre Rolle studierte, unternahm sie lange Spaziergänge. Am Abend saß sie plaudernd mit den andern auf der Terrasse. In diesen Tagen zeigte sich keine Gelegenheit mehr zu einer Unterhaltung mit Orchid; denn Orchid war entweder bei den Proben oder von Freunden umringt, oder sie hatte irgendwo eine Verabredung. Doch aus der Entfernung nickte ihr Orchid immer freundlich zu. Aber auch Carol war selten ohne Begleitung. Howard Millan, der im allgemeinen den jugendlichen Liebhaber spielte, war in der Eröffnungspremiere ebenfalls nicht beschäftigt und half Carol beim Rollenstudium. Er war ein schlanker Bursche von zwanzig Jahren mit einer verwegenen Landstreichermähne, intelligent und ziemlich nervös, ein recht guter Schauspieler, der Carol manchmal an ihren Bruder Phil erinnerte. Howard besaß einen eigenen Wagen, und sie waren schon zweimal in ein nahegelegenes Seebad gefahren, wo sie getanzt, heiße Würstchen und Popcorn gegessen und sich im Scheibenschießen geübt hatten. Nach dem zweiten Ausflug hatte Mike mit Carol gesprochen. Sie studierte auf der Wiese ihre Rolle, während Ernest, der Hilfsgärtner, in immer engeren Kreisen das Gras um sie herum mähte. »He, du!« rief Mike unvermutet. Er ließ sich neben ihr auf den Boden fallen, mit seinen eckigen Schultern und abstehenden Ohren und vortretenden Wangenknochen. »Wie geht’s?« »Gut, gut«, sagte Carol, ohne aufzublicken. »Es ist eine ganz leichte Rolle.« »Laß mich mal sehen.« Er nahm die Blätter auf und las sie durch. »Hm«, sagte er. Sie sprachen kurz über das Stück, das eine Variation des alten Themas vom reichen, verwöhnten Mädchen war, das sich in einen armen Mann verliebte. Miss Dean würde das Mädchen spielen, und
der Mann war ein Gast. Carol und Orchid sollten die beiden jüngeren Schwestern der Heldin spielen. Sie hatten verschiedene Szenen zu zweit und eine große mit dem Gast, Freeman Threnody. »Ich weiß nicht genau«, sagte sie zu Mike, »ob ich gespannt auf Mr. Threnody bin oder nur gräßliche Angst vor ihm habe.« »Na, laß es mich wissen, wenn du dich entschieden hast.« Carol lachte, wurde aber gleich wieder ernst. »Mike, ich werde mit Jane Sefton spielen, wenn sie kommt.« Mike stieß einen Pfiff aus. »Fein, Carol. Du wirst eine Menge dabei lernen, was dir bestimmt nichts schaden kann. Und wenn du ungefähr hundert Jahre lang fleißig arbeitest, wird vielleicht sogar noch einmal eine Schauspielerin aus dir.« »Danke«, sagte Carol ironisch. »Du verdrehst mir noch den Kopf.« Mike grinste. »Weil wir gerade vom Kopf verdrehen reden: was ist mit dir und dem jungen Millan los? Hast du die Liebe entdeckt?« Carol lachte laut. »Was paßt dir an Howard nicht? Oder meinst du, ich sei zu unreif, um mit einem jungen Mann auszugehen?« »Du bist reif genug, um zu wissen, daß man nicht zwei Dinge auf einmal tun kann. Eine richtige Schauspielerin zu werden, ist Arbeit genug.« »Was man von einem Tanz mit Howard nicht gerade behaupten kann.« Mike brummte. Ernest war ihnen mit seinem Rasenmäher inzwischen so nah auf den Leib gerückt, daß es ungemütlich wurde. Der alte Mann murmelte laut vor sich hin. »Was sagte er?« fragte Mike. »Daß wir weggehen sollen.« »Gut«, Mike stand auf und zog Carol in die Höhe. »Ich muß ins Theater hinüber. In zwei Tagen ist Premiere.« Mike verschwand, und Carol zog sich in die Schaukel auf der Terrasse zurück, wo ihr der Rasenmäher nichts mehr anhaben konnte. Mike mußte tatsächlich eine hohe Meinung von ihrer Begabung haben, dachte sie befriedigt. Er hegte ebensowenig zärtliche Gefühle für Carol wie sie für ihn. Und zwischen ihnen, das wußte sie genau, würde es niemals eine andere Bindung geben als die gemeinsame Liebe zu ihrem Beruf. Wenn er sich also über ihr Privatleben aufregte, so konnte das nur bedeuten, daß er sie für talentierter hielt, als sie gedacht hatte. Carol ließ das Manuskript fallen und dachte über die kommende Premiere nach. Nur noch zwei Tage. Premieren waren etwas
Schreckliches. Immer ging alles schief. Und die Schauspieler befanden sich an der Grenze der Hysterie. Die Proben für das zweite Stück, Feine Leute, in dem Carol zum ersten Mal auftrat, sollten diesmal erst am Dienstagmorgen beginnen. Carol stützte den Kopf in die Hände. Wie merkwürdig, dachte sie, man sollte doch meinen, daß man sich mit der Zeit an Premieren gewöhnt. Aber kein Mensch tat es. Und je länger man beim Theater war, desto schlimmer fühlte man sich an einem Premierenabend. Vielleicht war es besser, morgen nicht zu der Kostümprobe zu gehen. Kostümproben waren auch etwas Gräßliches. Und diesen Vorsatz führte sie auch aus. Sie ging mit Keith, Nan, Ellen, Rose und Howard Millan zum Strand. Alle spürten die Spannung bis in die Fingerspitzen. Als sie um halb fünf ins Haus zurückkehrten, sahen sie Miss Dean aus dem Kellergeschoß kommen. »Wie ist’s gegangen?« fragte Howard. »Ach, das übliche Irrenhaus. Wie führen immer einen Kampf mit den Versatzstücken. Aber es steht zu hoffen, daß wir zum Schluß doch Sieger bleiben.« Es sollte sorglos klingen. Doch ihre Lider zuckten nervös, und ihre Stimme war flach vor Aufregung. Howard zog sich zurück. »Aber nach der Kostümprobe läßt sich wirklich noch nichts sagen«, bemerkte Rose. Niemand antwortete darauf. Der Montag war ein herrlicher Tag. Klar und warm mit einem sanftblauen Himmel und ruhigem Meer. Am Nachmittag ging Carol mit Ellen nach Winasset. Und die beiden Mädchen blickten von einem Hügel auf das schläfrige Dorf hinunter und beneideten es um seine Ruhe. »Keiner dort unten«, sagte Ellen bitter, »wird vom Stuhl aufstehen und zu unserer Aufführung kommen.« »Ich weiß. Eigentlich sollte man meinen, sie wären stolz auf uns, anstatt uns zu verabscheuen. Wenn sie nur wüßten, daß wir ebenso schwer arbeiten wie sie!« Carol schwieg. Beide dachten an den Tumult, den sie zurückgelassen hatten: Telephonanrufe, alle in letzter Minute. Mr. Richards, der versuchte, mit einem Dutzend Leute gleichzeitig zu sprechen. Al Edwards, der Requisitenmeister, von dem die unmöglichsten Dinge gewünscht wurden. Selbst der Parkplatz war in Aufruhr, denn dort bekamen ein paar Burschen aus der Elevengruppe Anweisungen, wie sie am Abend die Autos zu dirigieren hatten. Als Carol und Ellen zurückkehrten, war alles ruhiger. Doch die Ruhe war so trügerisch, daß ihnen der Tumult noch lieber gewesen
war. Und die Stunden vor dem Abendessen zogen sich endlos hin. Bei Tisch glänzten verschiedene Ensemblemitglieder durch Abwesenheit. Miss Dean, so hieß es, ruhe sich aus. Mr. Park, der Hauptdarsteller, nahm ein Sonnenbad am Strand – auf ausdrücklichen Wunsch allein. Miss Bartlett, die Komikerin, lag in einem Liegestuhl hinter dem Haus und stopfte einen Apfel nach dem andern in sich hinein. Orchid war nirgends zu sehen, ebensowenig Geoffrey Wellford, der jugendliche Held. Nach dem Essen gingen Carol und Ellen zum Theater hinüber, mit dem Vorsatz, Rose am Billettschalter ein wenig zu helfen. Sie fanden sie, gelassen wie gewöhnlich, am Telephon, wo sie wegen einer Abbestellung verhandelte. Sie warteten eine Weile. Dann, da man ihrer Hilfe offensichtlich nicht bedurfte, gingen die beiden Mädchen wieder hinaus und blieben unentschlossen vor dem Haupteingang des Theaters stehen. »Carol«, sagte Ellen plötzlich, »dort kommen sie.« Der erste Wagen war um die Kurve gebogen. Ihm folgten andere. Zuerst noch in großen Abständen, dann einer hinter dem andern. Die Burschen auf dem Parkplatz schwenkten ihre Taschenlampen, und Staub und Abgase mischten sich mit dem Duft des gemähten Grases. »Immerhin«, sagte Carol, »es kommen wenigstens Leute!« In der Eingangshalle schwirrte es nur so, und der Billettschalter mit der unbeirrbaren Rose war hinter den festlich gekleideten Leuten nicht mehr zu sehen. Carol hatte das Gefühl, vor lauter Spannung nicht mehr atmen zu können. Sie fühlte sich für alles persönlich verantwortlich, und der Gedanke, das Stück könne dem Publikum womöglich nicht gefallen, war ihr unerträglich. Am Stuyvesant hatte sie eine ganze Reihe Premieren erlebt, doch bei keiner hatte sie sich derartig aufgeregt. Phyllis Marlowe war eine der besten Schauspielerinnen im ganzen Land, und sich ihretwegen Sorgen zu machen, wäre von einer Elevin fast eine Anmaßung gewesen. Aber hier war Carol selber ein Mitglied des Ensembles. Die Sorgen des Ensembles waren auch die ihren. Aldred Dean war wirklich eine nette Person, aber so erfahren war sie auch noch nicht. Mr. Park war ohnehin nicht überwältigend. Orchid hatte eine schreckliche Kindheit hinter sich. Geoffrey Wellford war nicht imstande gewesen, einen Bissen zu essen. Und Miss Bartlett hatte einen richtig bemitleidenswerten Eindruck gemacht, wie sie so die Äpfel, einen nach dem andern, verschlungen hatte. Wütend starrte Carol die Zuschauer an. Wehe, wenn es ihnen
einfallen sollte, das Stück schlecht zu finden! Die Lichter erloschen, das Publikum räusperte sich erwartungsvoll; am Saum des Vorhanges strahlten die Rampenlichter auf. Jedes Geräusch verstummte. Dann hob sich der Vorhang. Auch diesmal war Carol überrascht über die Veränderung auf der Bühne. Das Bühnenbild, jetzt richtig ausgeleuchtet, war nicht mehr nur eine triste Ansammlung von eingetopften Zedern und schäbigen Balkonmöbeln vor einem gemalten Hintergrund. Es war eine richtige Landhausterrasse. Miss Bartlett erwies sich als überlegen, gewandt und sehr witzig. Mr. Park, mit dem Carol immer den Gedanken an Arzneiflaschen und Pillendöschen verband, hatte plötzlich eine erstaunliche Ausstrahlung, während die fröhliche, gutmütige Orchid rührend zerbrechlich, sehnsüchtig und bemitleidenswert wirkte. Dann kam der Auftritt von Miss Dean, und Carol war ehrlich überrascht. Sie wußte genau, daß Miss Dean eine gute Schauspielerin war, aber auf das bezaubernde Geschöpf, das nun auf die Bühne geschlendert kam, war sie nicht gefaßt. Die Bewegungen waren harmonisch. Jede Geste hatte einen Sinn. Die Stimme war klar, die Aussprache deutlich, und in den Worten schwang ein Unterton mit, wie man ihn in den Proben nie gehört hatte. Nach dem ersten Akt mischten sich Carol und Ellen unter das Publikum. Obgleich man das Stück zu schätzen schien, kamen Carol die aufgeschnappten Gesprächsfetzen ein wenig gönnerhaft vor, was sie empörte. So nahm sie es auch jener Dame bitter übel, die zu einer Freundin sagte: »Für ein Sommertheater ist es ja wirklich nicht schlecht. Aber wenn man die New Yorker Vorstellung gesehen hat, kommt es einem doch ziemlich farblos vor.« Carol drehte sich wütend nach der Sprecherin um. In diesem Augenblick tauchte Ellen wieder auf. »Alle Leute lachen und amüsieren sich.« »Wenn es ihnen gefällt, warum sagen sie’s dann nicht deutlich?« fragte Carol. »Wofür halten sie sich denn eigentlich? Ich möchte einen von ihnen sehen, der so was könnte.« Ellen zuckte nur ergeben die Schultern über Carols Wutausbruch. Dann nahmen sie wieder ihre Plätze ein. Als die Aufführung zu Ende war, eilten die beiden Mädchen schnurstracks hinter die Bühne und in Orchids Garderobe hinunter. Orchid war am Abschminken. Mit einer weißen Cremeschicht auf dem Gesicht lächelte sie ihnen freundlich zu. »Du warst prima.«
»Danke. Das ist wirklich lieb von euch«, sagte sie geschmeichelt. »Ich bin schrecklich froh, daß alles so gut geklappt hat. Ich fürchtete schon, meine beste Szene ruiniert zu haben. So ein Blödsinn. Da saß doch ein Mann in der ersten Reihe und blinzelte mir ständig zu. Ich hatte die größte Mühe, nicht herauszuplatzen.« Carol dachte, daß es wohl mehr als eines blinzelnden Mannes in der ersten Reihe bedurfte, um Orchid aus der Fassung zu bringen. Und sie beneidete sie um ihre Gelassenheit. »Du hast wirklich großartig gespielt«, sagte sie und fügte seufzend hinzu: »Ich wollte, ich hätte etwas von deiner Technik.« Orchid blickte auf. »Was ist mit deiner Technik? Bist du nicht zufrieden?« »Natürlich nicht. Ich habe noch so wenig Routine.« »Das ist schade«, meinte Orchid mitleidig. »Und ich hatte den Eindruck … aber mach dir deshalb keine Sorgen. Das kommt schon mit der Zeit.« Sie hielt inne, wischte sich sorgfältig das Kinn ab und sagte dann, ohne Carol anzusehen: »Da wir in den Feinen Leuten so viele gemeinsame Szenen haben, könnten wir sie doch zusammen studieren. Ich hätte Zeit. Vielleicht kann ich dir helfen.« »Würdest du das tatsächlich tun? Das wäre wunderbar, und ich wäre dir schrecklich dankbar dafür. Aber glaubst du nicht, daß du dich dabei zu Tode langweilst?« »Es langweilt mich bestimmt kein bißchen«, erwiderte Orchid herzlich. »Ich wüßte nicht, was ich lieber täte.« Sie strahlte Carol an.
5 Der klare, warme Montag war für lange Zeit der letzte schöne Tag gewesen. Als Carol am Dienstag erwachte, lag dichter Nebel, der das Rauschen der Brandung dämpfte. Von den Kiefern tropften Silberperlen. Ihre Kleider fühlten sich feucht an. »Du würdest gescheiter deine Manchesterhosen und einen Pullover anziehen«, riet Rose. »Im Theater wird’s ziemlich ungemütlich sein.« »Aber die sind uralt, und …« »Und der große Freeman Threnody kommt heute morgen.« Rose klopfte Carol beruhigend auf die Schulter. »Nur keine Angst. Dem sind deine Kleider ganz egal. Der denkt nur an seine eigenen.« »Glaubst du?« sagte Carol zweifelnd. Freeman Threnody fuhr trotz des Nebels in einem offenen, roten Sportwagen vor. Carol war enttäuscht. Zwar war er noch immer schlank, doch das Gesicht sah aus wie eine Wachsmaske, die in der Nähe einer Kerze geraten war. Die ehemals schmale Nase hatte sich verdickt, und das markante Kinn war doppelt vorhanden. Die Probe begann sofort. Tische, Stühle und Sofas waren mit Kreidezeichen auf dem Boden markiert. Carol, ihr feuchtes Manuskript umklammernd, wartete nervös darauf, dem großen Mann vorgestellt zu werden. Sie merkte rasch, daß sie nicht nervös zu sein brauchte. Mr. Threnody schüttelte ihr die Hand und sagte automatisch: »Es ist mir ein besonderes Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen«, und wandte sich sofort wieder Mr. Richards zu. Die Probe war wie alle ersten Proben: lang, mit vielen Unterbrechungen und Diskussionen. Carol hatte mit ihrem Text keine Schwierigkeiten. Doch sie fühlte sich gehemmt. »Nicht chargieren, Carol«, sagte Mr. Richards freundlich. »Vergessen Sie nicht, daß Sie ein durchtriebener fünfzehnjähriger Fratz mit einem geschliffenen Mundwerk sind. Wir spielen jetzt noch nicht. Wir proben nur den Text, besprechen die Auftritte und Abgänge und den zeitlichen Ablauf der Szenen. Entspannen, Carol, entspannen.« Carol entspannte sich, so gut sie konnte. Bis fünf Uhr. Dann ging sie zusammen mit Orchid durch den Nebel ins Haus zurück. »Was für ein widriger Tag«, sagte Orchid. »Hättest du Lust, mit mir in mein Zimmer zu kommen? Wir könnten noch ein bißchen proben – für uns allein.« Carol stimmte begeistert zu und verbrachte
die Stunde vor dem Nachtessen zwischen Orchids himmelblauen Taftkissen und Plüschbären. Orchid war nicht nur unterhaltend, sondern auch ausgesprochen hilfsbereit. »Das Dumme beim letzten Akt ist«, beklagte sich Carol, »daß ich neben meiner eigenen auch alle anderen Rollen auswendig lernen muß.« »Du meine Güte! Warum?« »Ich muß ab und zu einen Satz sprechen; dazwischen ist viel Dialog von den andern. Es ist langweilig, dauernd dieser ganzen Unterhaltung zu folgen, damit ich meinen Einsatz nicht verpasse.« »Aber lern doch, um Himmels willen, keine fremden Rollen und folge nicht dem Dialog auf der Bühne. Du kommst sonst ganz durcheinander. Besonders wenn wir das Stück eine ganze Woche lang jeden Tag spielen. Lerne nur deine eigenen Zeilen und höchstens die drei letzten Wörter von dem Satz, auf den du wartest. Verlaß dich ruhig auf die andern. Mit der Zeit reagierst du automatisch auf diese drei oder vier letzten Wörter. Du hörst sie, und etwas macht klick in dir, und schon setzt du mit deinem Text ein. Du mußt gar nicht an den Text der andern denken.« Carol war verblüfft. Am Stuyvesant hatte man sie gelehrt, ein Stück als Ganzes zu betrachten und ernsthaft über die Rollen der andern nachzudenken. Aber wahrscheinlich hatte Orchid recht. Feine Leute war reine Unterhaltung und hatte keinerlei tieferen Sinn. Bestimmt war es gescheiter, sich nur auf die Stichwörter zu konzentrieren. »Danke vielmals«, sagte sie. »Das scheint mir eine glänzende Idee.« »Das ist’s auch, glaub mir nur.« Während der ganzen Woche probten sie zusammen vor dem Nachtessen, und Carol bemühte sich, ihre Stichwörter zu lernen. Und dann begann der Regen. »Ich wollte, ich wäre in New York«, murrte Orchid. Sie ging zum Fenster und starrte auf die tropfenden Kiefern. »Ich bin ein Stadtmensch und hasse das Land und die Sommertheater – alle andern Theater übrigens auch.« »Da tust du mir aber leid«, erwiderte Carol teilnahmsvoll. »Es muß schrecklich sein, seinen Beruf zu hassen. Ich liebe das Landleben, und das Theater ist das Höchste für mich.« »Warte nur, bis du einmal so lange wie ich dabei gewesen bist! Dann wird’s dir auch ganz schön zum Hals heraushängen. Habe ich dir jemals von meinen Anfängen beim Theater erzählt?« Carol schüttelte den Kopf. »Es war grauenhaft«, begann Orchid. »Ich war das jüngste
Mitglied einer Akrobatengruppe.« »Akrobaten?« »Ja, Akrobaten! Ich war fünf Jahre alt und die Krönung des Aktes. Zuerst warfen sich diese Kerle einmal eine Zeitlang gegenseitig durch die Luft. Dann wickelten sie sich in rosarote Tücher und bauten sich aufeinander auf, und – ungelogen – von außen sahen sie tatsächlich wie eine Rose aus. Und was meinst du, kam dann aus der Mitte heraus?« »Doch nicht etwa du?« »Doch ich, ganz in Gelb, auf einem kleinen Brett, das sie in die Höhe hoben. Ich sang ein Lied und tanzte dazu.« Orchid machte ein paar Schritte und sang mit schriller Kinderstimme: »Ich bin das kleine Mädchen, das im Herzen der Rose wohnt …« »Aber nein!« rief Carol. »Aber doch! Man sollte meinen, die Zuschauer hätten ihr Geld zurückverlangt. Aber du kannst mir’s glauben oder nicht, sie waren begeistert.« »Hattest du denn wenigstens Freude daran?« »Freude!« Orchids Mund verwandelte sich in einen dünnen Strich. Ihre Augen wurden hart. »Freude!« wiederholte sie. »Wir gaben drei Vorstellungen am Tag und spielten in jedem zehntrangigen Theater im ganzen Land. Meine Tage verbrachte ich in Eisenbahnzügen oder Garderoben. Und dabei immer die Todesangst, einer von diesen Idioten könnte das Brett fallen lassen. Freude!« »Aber warum mußtest du …« Carol hielt verwirrt inne. »Es war die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Mein Vater war ein regelrechter Windhund, und meine Mutter einfach zu faul, sich selber Arbeit zu suchen. Es war bequemer, einen gutbezahlten Kinderstar in der Familie zu haben.« Carol war entsetzt. »Lebt – deine – Mutter noch?« »Natürlich. Gesund und munter. Und ich sorge noch immer für sie. Wenn auch nicht in dem Stil, den sie sich wünscht. Komm, wir proben noch einmal deinen zweiten Auftritt.« Im Theater gingen die Proben gut voran. Und obwohl man Carols Rolle kaum besonders anregend nennen konnte, lernte sie eine Menge dabei. Vor allem über Ablaufregie in Lustspielen, wo es auf Sekunden ankam. Am Sonntag, als das Bühnenbild aufgebaut war, geriet Carol in Schwierigkeiten. Es handelte sich um eine Szene, in der sie und Orchid sich übertrieben und ironisch höflich gegenüber
dem Hauptdarsteller zeigen mußten. Die Versatzstücke waren leicht verschoben worden. Auf der einen Seite der Bühne – die ihr jetzt plötzlich viel größer vorkam – goß Carol eine Tasse Tee ein und fragte übertrieben höflich: »Zitrone oder Milch?« während auf der andern Seite Orchid dem Gast eine Zigarette aus einer pompösen Silberdose anbot. Mit der Tasse in der linken Hand hatte Carol die Bühne so rasch zu überqueren, daß sie Mr. Threnody den Tee reichen und gleichzeitig seine Zigarette mit einem Feuerzeug anzünden konnte. Sie versuchte es einige Male, doch es wollte nie richtig klappen. »Sie müssen rascher gehen«, sagte Mr. Richards. »Der ganze Effekt hängt vom richtigen Zeitpunkt ab. Freeman, stellen Sie sich doch ein bißchen näher zur Mitte. Und jetzt noch einmal, Carol, schnell!« Mr. Threnody machte einen Schritt zur Mitte hin, und Carol beeilte sich. Doch Mr. Richards hob die Hand. »Nein, so geht’s nicht«, sagte er. »Carol, Sie sehen aus wie ein Stafettenläufer beim Endspurt.« Er schüttelte den Kopf. »Jetzt hab ich’s«, sagte er schließlich. Er kletterte auf die Bühne hinauf, starrte mit höchster Konzentration auf den Boden und zog dann einen Kreidestrich ein wenig rechts von der Mitte. »Nun, Carol«, sagte er, »versuchen Sie’s mit ein paar Tanzschritten und einer Drehung hier, so daß Sie genau vor Freeman zu stehen kommen. Das sieht ganz natürlich aus, und es ist unverschämt, was genau zu der Rolle paßt.« Carol probierte es, und nach einigen Versuchen klappte es. Auch Mr. Threnody war zufrieden. »Aber passen Sie auf«, warnte er sie lachend. »Füllen Sie die Tasse nicht zu sehr, damit Sie mir das ganze Zeug nicht über die Hose gießen.« Carol fand ihn eigentlich recht nett. Die Premiere fand am Montagabend statt. Das Ensemble probte während des ganzen Tages, bis sogar Mr. Richards ein wenig gereizt wurde, so daß er einmal fast unliebenswürdig zu Carol sagte: »Zum Publikum, Carol, und nicht von ihm weg.« Die Probe endete um fünf Uhr, und Carol lief durch einen Regenschauer ins Wohnhaus hinüber, wo sie ihren mitfühlenden Zimmergenossinnen versicherte, daß sie viel zu müde sei, um auch nur eine Spur von Lampenfieber zu haben. Sie solle sich hinlegen und ausruhen, riet Rose. Und gehorsam legte Carol sich aufs Bett. »Es ist einzig und allein die Geschichte mit der Teetasse, vor der
ich Angst habe«, erklärte sie den Mädchen. »Drei Tanzschritte – eine Drehung – Threnody die Tasse reichen – und das Feuerzeug anknipsen. Ich sage es mir immer wieder und wieder vor. Tanzschritt – Drehung – Teetasse – Feuerzeug. Aber angenommen, es geht schief?« »Sei doch nicht so blöd«, sagte Ellen. »Du hast es den ganzen Nachmittag lang ausgezeichnet gekonnt. Ich habe dich beobachtet. Du hast es mindestens hundertmal gemacht. Ich dachte, Richards höre überhaupt nicht mehr mit der Probe auf.« »Du hast das gedacht? Stell dir einmal meinen Zustand vor. Als er endlich mit mir fertig war, hatte ich überhaupt kein Gefühl mehr in den Beinen. Ach Ellen, ist es wirklich erst sechs Uhr? Ich weiß nicht, wie ich dieses gräßliche Warten noch aushalten soll.« Aber sie hielt es doch aus und brachte es sogar fertig, das Nachtessen herunterzuwürgen, das ihr Nan auf einem Tablett ins Zimmer brachte. Als sie sich um acht Uhr an ihren Toilettentisch setzte, war sie so aufgeregt, daß ihre Hände zitterten. Während des Schminkens redete sie sich selber gut zu und sagte: »Schließlich bist du doch eine Schauspielerin. Du spielst ein paar Szenen mit einem berühmten Star. Gleich bist du fertig, um auf die Bühne zu gehen. Jetzt fehlt nur noch der Puder. Ich bin eine Schauspielerin«, murmelte sie immer wieder. »Ich bin eine Schauspielerin.« Aber der Zuspruch nützte nicht viel. Als sie Mike rufen hörte: »Noch fünf Minuten bis zum Beginn«, war ihr beinahe schlecht vor Angst. Sie wußte nicht, wie sie die Treppe hinauf kam, und sie war wie betäubt, als sie wartend in den Kulissen stand und den Inspizienten »Hauslichter« sagen hörte. Auf der Bühne wurde es schlagartig ganz ruhig, und dann vernahm man Bill Dolans Stimme wieder. Beherrscht und deutlich: »Vorhang hoch.« Der Vorhang schwebte in die Höhe und gab den Blick auf ein unbekanntes Publikum frei, das nur verschwommen erkennbar war. Irgend jemand hinter ihr sagte: »Es ist kein volles Haus, aber es ist nicht schlecht, wenn man an das Hundewetter draußen denkt.« Jetzt war Miss Dean auf der Bühne, und ihre vertraute Stimme gab Carol ein wenig Sicherheit. Sie hörte die Zuschauer lachen – und dann noch einmal. Hinter Carol raschelte es, und ein bekanntes Parfüm stieg ihr in die Nase. Orchid stand neben ihr – ruhig und gelassen. Carol beneidete sie. Orchid war nicht verkrampft. Sie hatte keinen Eisklumpen im
Magen, keine feuchten Hände. Miss Dean sagte: »Er spielt Tennis mit den Mädchen.« Und auf diese Worte hin schwebte Orchid auf die Bühne. Carol folgte ihr. Die Rampenlichter blendeten. Orchids Stimme sagte die wohlbekannten Sätze, auf die ihre eigene Stimme Antwort gab. Jetzt war es nicht mehr schwierig. Und als Carol einen Ton von arroganter Hochnäsigkeit in ihre Stimme legte, flüsterte Miss Dean neben ihr: »Gut gemacht, Carol, bravo.« Carol holte tief Luft und entspannte sich. Nun wagte sie sogar, einen Blick über die Rampe hinaus zu tun. Miss Dean ging jetzt ab. Carol und Orchid hatten eine kurze Szene zusammen, und dann kam – ein wenig schwerfällig für einen Liebhaber – Mr. Threnody aus den Kulissen. Aus dem Zuschauerraum scholl Applaus herauf. Carol spürte, wie sie sich wieder verkrampfte. In einer Minute war die Sache mit der Teetasse fällig. Sie ging zum Tisch. Sie goß den Tee ein: »Zitrone oder Milch?« fragte sie und nahm sich vor, keine Angst zu haben. Sie hatte diese Tanzschritte und die Drehung so oft gemacht, daß es gar nicht schiefgehen konnte. Orchid bot ihm die Zigarette an. Jetzt dachte Carol. Und die Tasse in der linken, das Feuerzeug in der rechten Hand, überquerte sie die Bühne: Tanzschritt – Drehung – Teetasse – Feuerzeug. Dann blieb sie verwirrt stehen. Sie stand nicht vor Mr. Threnody. Fast wäre sie in Orchid hineingerannt. Orchid machte einen Schritt seitwärts, vom Publikum weg. Die Szene war ruiniert. Mit zitternder Hand reichte Carol Mr. Threnody den Tee, doch damit sie ihm die Zigarette anzünden konnte, mußte er dem Publikum den Rücken zuwenden, und das Gelächter, mit dem sie gerechnet hatten, blieb aus. Es gab nur hie und da ein leises Kichern. Der Auftritt nahm seinen Fortgang. Mr. Threnody warf ihr einen mißbilligenden Blick zu. Was hatte sie getan? Es mußte diese Drehung gewesen sein. Anscheinend war sie dabei aus der Richtung geraten, so daß sie nun den Star dazu zwang, mit dem Rücken gegen das Publikum zu sprechen – eine unverzeihliche Sünde. Carol war sich deutlich des Verbrechens bewußt, das sie begangen hatte. Nach dem Fallen des ersten Vorhangs wurde es ihr entsprechend deutlich unter die Nase gerieben. »Na ja, mit der Zeit werden Sie schon noch begreifen. Vorausgesetzt, daß Threnody Sie so lange am Leben läßt.« Besagter Herr rauschte mit einem beleidigten Gesicht an Carol vorbei und würdigte sie keines Blickes. Doch Miss Dean trat zu ihr
und legte ihr den Arm um die Schultern. »Kommen Sie, nehmen Sie’s nicht zu schwer. Wir wissen alle, daß es nur ein dummer Zufall war. Und wenn Threnody nicht so ein eitler Gockel wäre, hätte er einen Witz darüber gemacht. Und wenn er ein besserer Schauspieler wäre, hätte er mit einem Schritt die Situation gerettet. Was ist eigentlich geschehen? Ich war zum Umziehen in meiner Garderobe.« »Ich weiß es nicht«, sagte Carol kläglich. Als die Vorstellung vorbei war, besprach Mr. Richards mit Carol die Szene. »Im großen ganzen haben Sie Ihre Sache recht gut gemacht«, sagte er. »Aber was ist denn in dieser Szene mit dem Feuerzeug passiert? Ich dachte, wir hätten alles genauestens geprobt.« »Ich weiß selber nicht, wie es passiert ist.« »Na schön, morgen früh proben wir die Sache noch einmal. Und dann sehen wir, daß wir’s in Ordnung bringen. Ich werde Freeman erklären, daß Sie nicht viel Routine haben, und daß die ganze Geschichte ein dummer Zufall war. Er ist ziemlich empfindlich in solchen Dingen.« Am Morgen probten sie die Szene, und jedesmal machte Carol ihre Sache ausgezeichnet, mehr als automatisch. Sie konnte es im Schlaf. Es war völlig ausgeschlossen, daß ihr noch einmal ein Fehler unterlaufen würde. Am Abend war Carol ihrer Sache so sicher, daß sie bei Mr. Threnodys Auftritt fast keine Nervosität mehr verspürte. Mr. Richards war wirklich ein guter Lehrer. Er hatte ihr das Gefühl für die Entfernung beigebracht und den zeitlichen Ablauf ihrer Bewegungen. Sie war ganz sicher, daß sie diese Szene nie mehr verderben konnte. Trotzdem beschloß sie, während ihrer Drehung über die Schulter zu schauen. Dann würde sie ganz sicher am richtigen Platz landen. Während ihres Dialoges mit Orchid war Carol zuversichtlich. Sie wußte, daß Mr. Richards in den Kulissen stand und sie beobachtete. Mr. Threnody trat auf. Carol goß den Tee ein und ergriff das Feuerzeug, während Orchid Zigaretten anbot. Dann, als Mr. Threnody nach einer Zigarette griff, begann Carol ihren Weg: Schritt – Schritt – Schritt – Drehung. Während der Drehung wandte sie den Kopf – und sah. Orchid stand ihr im Weg. Sie war nur einige Zentimeter von ihrem Platz gewichen. Und das war zufällig geschehen, daß das Publikum nichts gemerkt hatte, ebensowenig wie Mr. Threnody, der hinlänglich damit beschäftigt war, sich eine Zigarette zu nehmen und gleichzeitig dem Publikum sein markantes Profil darzubieten. Doch die kleine Bewegung genügte, daß Carol einen Schritt seitwärts tun mußte, was Mr. Threnody dazu zwang,
dem Publikum den Rücken zu drehen. Carol warf einen verzweifelten Blick in die Kulissen. Dort, wo Mr. Richards gestanden hatte, war nun niemand mehr. So gut sie konnte, spielte Carol die Szene zu Ende. Als das Stück beendet und der letzte Vorhang gefallen war, wartete Mr. Richards in den Kulissen auf sie. Diesmal war er gar nicht liebenswürdig. »Unerfahrenheit hin oder her«, sagte er. »Ich verstehe nicht, daß Sie so den Kopf verlieren können, sobald Sie dem Publikum gegenüberstehen. Während der Proben haben Sie diese Szene doch perfekt gespielt.« »Ich verstehe es auch nicht«, sagte Carol. »Aber jedesmal scheine ich in Orchid hineinzurennen. Ich glaube, sie steht ein wenig zu nahe.« »Ich werde dafür sorgen, daß sie sich ein wenig mehr entfernt und Ihnen genügend Platz läßt. Aber daß mir das nicht noch einmal vorkommt, Carol. Threnody trifft sonst der Schlag.« Carol ging in ihr Zimmer und warf sich schluchzend auf ihr Bett. »Carol, Schäfchen«, sagte Ellen beruhigend. »Das ist doch nicht das Ende der Welt. Glaub mir, morgen machst du’s bestimmt richtig. Und dann ist alles wieder gut.« »Ellen hat ganz recht«, sagte Nan. Rose war weniger überzeugt. »Du rennst also immer in Orchid hinein?« »Ja. Und das ist so merkwürdig.« »Was habe ich dir gesagt. Gib acht auf Orchid. Ich möchte wissen, was sie diesmal im Sinn hat.« »Ich bin sicher, daß sie gar nichts im Sinn hat«, erwiderte Carol hitzig. »Sie war einfach reizend zu mir.« »Wenn Orchid etwas anstellt, so hat das noch lange nichts mit persönlichen Dingen zu tun. Ich bezweifle nicht, daß sie dich mag. Aber Threnody könnte ich glatt erwürgen. Wenn der nicht immer nur an sich selber denken würde, sondern dich ein wenig beobachtet hätte, so wäre er dir einen Schritt entgegengekommen und alles wäre in bester Ordnung gewesen.« »Ich bin überzeugt, daß Orchid es nicht mit Absicht getan hat«, beharrte Carol. Rose zuckte die Achseln. »Meinetwegen, wie du willst. Und da Mr. Richards mit ihr spricht, wird es wahrscheinlich kein drittes Mal passieren.« Es passierte auch nicht mehr, und Orchid entschuldigte sich mit entwaffnender Liebenswürdigkeit. »Es tut mir so entsetzlich leid«,
sagte sie. »Ich merkte es gar nicht. Warum hast du mir denn am Montagabend nichts gesagt? Dann hätte ich mich doch ein Stückchen weiter weg gestellt.« »Weißt du, ich verstand gar nicht, was nicht stimmte. Aber jetzt ist ja alles gut. So etwas kommt wahrscheinlich immer einmal vor.« Carol hatte keine Schwierigkeiten mehr mit dieser Szene. Und als sie am Mittwoch mit den andern zusammen vor den Vorhang trat, hätte sie am liebsten vor Erleichterung laut gesungen. Orchid und Carol hatten noch eine zweite Szene mit Mr. Threnody. Das war im dritten Akt, als sie ihre Meinung über ihn geändert hatten, und ihn nun zur Heirat mit ihrer Schwester drängten. Es war dies die Szene, in der Carol sich auf ihre Stichworte konzentrierte, da der größte Teil der Unterhaltung von Orchid, Threnody und Miss Barlett bestritten wurde. Orchids System, sich auf die letzten drei oder vier Wörter zu verlassen, war sehr vernünftig. Carol merkte, daß, sobald das Stichwort fiel, etwas in ihr klickte. Und alles ging glänzend. Stets war sie bereit. Das einzige Mal, wo sie zögerte, war, als sie dem Dialog auf der Bühne aufmerksam folgte. Orchid hat recht gehabt, dachte sie dankbar. Die Donnerstagvorstellung verlief glänzend. Zwar waren des schlechten Wetters wegen nur wenige Leute erschienen. Es war Freitag abend – diesmal war das Wetter gut – und das Haus fast ausverkauft, als etwas anderes passierte. Und zwar in der Szene zwischen Miss Bartlett, Orchid und Mr. Threnody. Die Szene näherte sich ihrem Höhepunkt mit scharfen Worten zwischen Orchid und Mr. Threnody, während Miss Bartlett, als aufgeregte Mutter, sie anflehte, doch ein wenig leise zu sein. Das ging so eine Weile hin und her, bis Orchid anklagend sagte: »So und gerade jetzt ist sie mit diesem Avery Sanders ausgegangen, und Sie rühren keine Hand.« Das war der Augenblick, in dem Carol auf die Bühne treten und unverschämt zu flöten hatte: »Versuchen Sie doch mal, einen Finger zu rühren. Es ist wirklich keine Hexerei, wenn man weiß, wie’s gemacht wird.« Mr. Richards hatte sie vor diesem Satz gewarnt. Sie hatte die Neigung zu unterspielen, wenn sie sarkastisch sein sollte. Carol dachte gerade noch einmal darüber nach, als auf der Bühne eine plötzliche Stille eintrat. Miss Dean, die hinter Carol in den Kulissen stand, gab ihr einen Stoß. Doch Carol hatte ihr Stichwort noch nicht gehört, und als sie nun auf der Bühne stand, versuchte sie
verzweifelt, sich an die zuletzt gefallenen Worte zu erinnern. Orchid hatte nichts von Fingern gesagt. Und es war das Wort Finger, auf das Carol sich verließ. Verwirrt blickte sie um sich. Was hatte Orchid denn gesagt? Das Schweigen war entsetzlich. Dann hörte sie die Souffleuse zischen: »Versuchen Sie doch mal, einen Finger zu rühren.« Carol hörte sich den Satz stammeln, doch sie war zu verwirrt, um sich an den ganzen Text zu erinnern. Es gelang ihr noch, hinzuzufügen: »Es ist wirklich keine Hexerei« – dann blieb sie stecken, ohne Mr. Threnody sein Stichwort zu bringen. Ein routinierter Schauspieler hätte keine Schwierigkeiten gehabt, die Szene geschickt weiterzuspielen. Aber Mr. Threnody war mindestens ebenso verwirrt wie Carol. Er murmelte etwas in seinen Bart und stürmte von der Bühne. Er rannte sofort zu Mr. Richards, und Carol sah ihn leidenschaftlich auf diesen einreden. Mr. Richards schaute verärgert zu ihr hinüber, und nach dem letzten Vorhang bat er sie, auf ihn zu warten. »Ich habe mit Ihnen zu reden.«
6 Mr. Richards war sehr freundlich zu ihr. Er schob ihr einen Stuhl hin. Dann setzte er sich ebenfalls. Carol wartete, sie konnte kaum atmen. Ihr Gesicht war kreidebleich. Ihre Hände fühlten sich eiskalt an. Als sie so verzweifelt vor ihm saß, wurde Mr. Richards’ grimmiges Gesicht besorgt. Er blickte auf das erschütterte junge Mädchen und räusperte sich. »Ich weiß, daß Sie keine Routine haben, Carol«, sagte er freundlicher als er beabsichtigt hatte. »Ich habe es auch nicht erwartet. Aber ich dachte, Sie hätten Talent. Und das glaube ich auch heute noch.« Er hielt inne. Und als Carol nichts erwiderte, zog er ein großes Taschentuch hervor und wischte sich damit über den Kopf. »Mit ein bißchen mehr Erfahrung wird bestimmt noch eine recht gute Schauspielerin aus Ihnen«, fuhr er fort. »Und Sie bekommen diesen Sommer noch viele Rollen von mir. Aber mit Unerfahrenheit kann man schreckliche Dinge anrichten und ein Stück total ruinieren. Und es mit einem Gast zu verderben, ist eine üble Sache. Das kann ich mir nicht leisten. Wir haben einen schlechten Sommer, und das nächste Stück ist der Höhepunkt der Saison.« »Was meinen Sie damit, Mr. Richards«, stammelte Carol. »Ich meine«, sagte er unbehaglich, »daß ich Sie mit der Rolle in dem Sefton-Stück enttäuschen muß. Unter andern Umständen hätte ich’s noch einmal mit Ihnen gewagt. Aber bei dieser schlechten Saison und bei Jane Sefton kann ich mir kein Risiko leisten. Weder mit Ihnen noch mit irgendeiner Elevin. Orchid muß die Beß in den Lustigen Weibern spielen, ob ihr nun die Rolle zu klein ist oder nicht. Es tut mir schrecklich leid, Carol.« Sie wußte, daß er die Wahrheit sagte. Er sagte noch andere Dinge – freundliche, tröstende, die Carol kaum hörte, und an die sie sich später auch nicht mehr erinnerte. Als die Unterredung beendet war, lief sie hinaus und verwünschte ihr Schicksal, das sie in dieses Theater verschlagen hatte. Hätte sie nur auf ihren Vater gehört und wäre ins College gegangen. Als sie die Haustüre öffnete, hörte sie Stimmen und Gelächter aus dem Wohnzimmer. Langsam stieg sie die Treppe hinauf und war schon fast oben, als sie Rose in Orchids Zimmer sprechen hörte. »Meine Liebe, ich habe es gemerkt«, sagte Rose. »Du hast das
falsche Stichwort gegeben. Oder vielleicht nicht? Du hast keine Hand rühren gesagt, statt keinen Finger. Und das, nachdem du der Kleinen beigebracht hast, nur auf die letzten drei Worte zu achten. Das war ein perfider Trick, Orchid. Ich hatte keine Ahnung, was du im Schilde führtest, bis Mr. Richards sagte, daß er Carol die Rolle der Beß in den Lustigen Weibern wegnehmen und sie dir geben werde.« Orchids Antwort klang weder erbost noch beschämt. Sie klang erfreut. »Hat er das wirklich gesagt? Um so besser! Ich hatte Angst, ich würde es ihm anbieten müssen, die Rolle zu übernehmen.« »Von Anstand und Kollegialität hast du anscheinend noch nie etwas gehört.« »Es ist leicht, anständig zu sein, wenn es nichts kostet«, erwiderte Orchid ungerührt. »Aber kein Mensch denkt daran, anständig zu sein, wenn es um die eigenen Interessen geht.« Carol versuchte ihre Zimmertür so leise wie möglich zu öffnen. Doch Orchid hatte sie gehört und lief schnell in den Gang hinaus. »Carol«, sagte sie unbefangen, »hoffentlich bist du mir nicht böse. Als du mich wegen der Rolle fragtest, war es mir noch nicht richtig klar, daß es für mich ein Glücksfall sein könnte. Ich weiß, es ist gemein, sie dir wegzunehmen. Aber was soll ich denn anderes tun, nachdem mir das bewußt wurde?« Carol war verblüfft. Sie hatte erwartet, daß Orchid sich geschickt herausreden würde. Aber keine Rede davon. Für sie gab es nur einen Gesichtspunkt, und das war der eigene. Und sie erwartete auch noch Verständnis dafür. Wie konnte man gegen eine solche Gesinnung aufkommen? Am liebsten hätte ihr Carol die Tür vor der Nase zugeschlagen. Statt dessen ertappte sie sich zu ihrem Entsetzen dabei, daß sie die Rolle der Großmütigen spielte. »Schon gut«, erwiderte sie, »ich wünsche dir viel Vergnügen dabei.« Jetzt tauchte Rose hinter Orchid auf. »Carol hat gehofft, aus der Arbeit mit der Sefton einiges lernen zu können.« »Ja, ich weiß, ich weiß«, rief Orchid. »Es tut mir schrecklich leid. Aber für sie ist es keine Notwendigkeit, Schauspielerin zu sein. Sie möchte es nur gerne. Sie braucht niemand damit zu ernähren. Sie wird noch genügend Gelegenheiten bekommen. Aber ich kann’s mir nicht leisten, irgend etwas dem Zufall zu überlassen. Vielleicht verschafft mir diese Rolle ein besseres Engagement.« Sie wandte
sich an Carol. »Kindchen, wenn du dich erst einmal auskennst in dem Beruf, dann kann dir so etwas nicht mehr passieren.« Carol starrte sie zuerst sprachlos an und lachte dann laut heraus. »Orchid, du bist eine unmögliche Person.« Orchid grinste. »Ich weiß.« Carol lachte noch, als sie die Schlafzimmertür hinter sich schloß. Aber einen Augenblick später ging das Lachen in Schluchzen über, zum Entsetzen von Nan und Ellen, die im Zimmer auf sie gewartet hatten. Die beiden Mädchen schauten sie ängstlich und mitleidig an. Am nächsten Morgen behandelten die andern Carol wie eine Ladung Dynamit, die jeden Moment explodieren konnte. »Wie geht es dir? Fühlst du dich besser?« fragte Ellen nervös. Carol dachte nach. »Ich kann dir noch nicht genau sagen, wie es mir geht«, erwiderte sie, »Aber ich glaube, besser. Wenn ich die Rolle auch fürs Leben gern gehabt hätte, so bin ich doch froh, daß ich sie nicht verloren habe, weil ich eine hoffnungslos unbegabte Schauspielerin bin.« Nan und Ellen waren erleichtert, daß sich Carol anscheinend beruhigt hatte, und fragten, ob sie etwas für sie tun könnten. Vielleicht das Frühstück ans Bett servieren? »Nein, nein, ich stehe auf.« »Nach dem Frühstück wirst du dich gleich besser fühlen«, sagte Ellen tröstend. Und Carol fühlte sich besser. Ausnahmsweise regnete es einmal nicht, die Luft roch nach Kiefern und Meer. Mr. Richards gab ihr gleich nach dem Frühstück eine neue Rolle in dem Stück Großstadtkinder, das nach Miss Seftons Gastspiel Premiere hatte. »In dem Stück ist Kathleen Morrow unser Gast«, sagte er, »und die Rolle, die ich Ihnen da gebe, ist ziemlich wichtig.« Er lächelte ihr zu. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Kathleen und Harold Park können Sie aus jedem Schlamassel herausziehen, in das Sie geraten.« Das war zwar keine schmeichelhafte Rede, doch die Rolle wog alles auf. Carol las sie durch und stellte befriedigt fest, daß sie eine scharfzüngige Sekretärin zu spielen hatte, ein Mädchen von mindestens fünfundzwanzig Jahren. Sie hatte genug von den schnippischen Teenagern, und diese neue Rolle hier war eine willkommene Abwechslung. Carol zog sich auf eine Couch im Wohnzimmer zurück und studierte ihre Rolle. Nach einiger Zeit tauchte Howard Millan auf. »Hättest du Lust auf einen Spaziergang?« fragte er. Carol war begeistert. Sie legte ihre Rolle beiseite und stand auf.
Trotz des beißenden Windes gingen sie über eine Stunde den Strand entlang. Bei der Rückkehr fanden sie die hagere Mrs. Meiler in der Halle, welche die Post sortierte und jeden Brief mißbilligend betrachtete. »Ein Brief für Sie, Miss Page. Und für Sie auch, Mr. Millan.« Carol vertiefte sich in die witzigen Schilderungen, die ihre Mutter von einer faden Einladung gab. »Hör nur einmal, Howard! – Howard, was ist los?« Howard starrte bestürzt auf den offenen Brief in seiner Hand. Sein Gesicht war weiß, die Lippen bläulich. »Was ist denn?« wiederholte Carol. Howard blickte sie an und steckte den Brief in die Tasche. »Was?« sagte er vage. »Nichts, gar nichts. Entschuldige mich. Ich habe vergessen, Geoffrey etwas zu sagen.« Er verschwand. Erst beim Mittagessen sah ihn Carol wieder. Sein Zustand hatte sich noch nicht gebessert. Er war noch immer grau-weiß und reagierte kaum, wenn er angesprochen wurde. Zerstreut schob er das Essen auf seinem Teller hin und her. Im Laufe des Nachmittags hüllte feuchter Nebel das Theater immer dichter ein. Mr. Threnody war verärgert. »Ich persönlich sehe ja nicht ein«, teilte er Mr. Richards gereizt mit, »weshalb wir heute abend die Vorstellung nicht ausfallen lassen können. In diesem Nebel wagt sich kein Mensch vor die Haustüre.« Mr. Richards’ rundes Gesicht erstarrte. »Freeman«, sagte er, »und wenn nur ein einziger Mensch kommt, findet die Vorstellung statt.« Rund zwanzig Personen erschienen. Sie wurden gebeten, sich in die ersten beiden Reihen zu setzen. Die Schauspieler waren unlustig. Jeder Schwung fehlte. Selbst Miss Adamson reagierte zögernd auf ihre Stichworte. Orchid schwebte durch das Stück wie ein blutloses Gespenst, und Mr. Threnody war mehr als hölzern. Nur Miss Dean bemühte sich, wie vor einem vollen Haus zu spielen. Carol erinnerte sich an einen Glatteis-Abend im Stuyvesant. Bevor der Vorhang hochging, hatte Miss Marlowe mit ihren Darstellern gesprochen – mit den jungen hauptsächlich –, den älteren brauchte man so etwas nicht mehr zu sagen. »Und vergeßt nicht«, hatte sie gemahnt, »daß das heute eine ganz besondere Vorstellung ist. Jeder von diesen Leuten da unten beweist mit seinem Kommen, wie sehr er das Theater liebt. Es bedeutet ihm mehr als trockene Füße oder ein warmes Zimmer. Sonst wäre er nicht hier. Ihr schuldet diesen Menschen die beste Vorstellung, die ihr zustande bringt.« Carol überlegte. Die Leute dort unten hatten sich heute abend durch
einen Nebel durchgekämpft, der nicht nur unangenehm, sondern auch gefährlich war. Selbstverständlich schuldeten ihnen die Schauspieler dafür Dank. Und Carol gab ihr Bestes. Miss Deans Augen funkelten sofort voller Einverständnis. Es war ein aufregender Abend. Jedesmal, wenn gelacht wurde, wußte Carol, daß es ihr oder Miss Dean galt. Sie war sich auch bewußt, daß sie wirklich gut spielte. Seit der Margaret damals in Lieber Brutus hatte sie nicht mehr diesen direkten persönlichen Kontakt mit dem Publikum gespürt. Nach dem Ende der Vorstellung legte ihr Miss Dean den Arm um die Schultern und sagte: »Was sind Sie doch für eine reizende kleine Person. Und hören Sie endlich auf, mich Miss Dean zu nennen. Sagen Sie doch Aldred zu mir.« Errötend ging Carol in ihre Garderobe hinunter, setzte sich an den Toilettentisch und öffnete die Creme-Dose. Vergangene Nacht war sie verzweifelt gewesen – heute nacht war sie erregt und glücklich. Nichts hatte sich verändert – und doch war alles anders. Wahrscheinlich kommt es daher, dachte sie, daß Theaterspielen für mich das ein und alles ist. So lange ich Theater spielen kann, werde ich niemals ganz unglücklich sein. Sie tupfte sich gerade Creme aufs Gesicht, als sie Nans Freundin, Ruth Alder, draußen hörte. »Carol!« rief sie und klopfte an die Tür. »Carol!« »Herein«, sagte Carol. Ruth war atemlos und ein bißchen wirr. »Carol, hör zu. Du weißt doch, der Nebel. Ich meine, wir haben Jane Sefton doch erst morgen früh erwartet. Aber sie hat am Radio gehört, daß wir hier Nebel bekommen. Und da fuhr sie schnell noch heute abend los. Und Carol, stell dir vor, sie hat im Zuschauerraum gesessen.« Carol keuchte. »Als Threnody das hörte, ist er fast in die Luft gegangen. Und jetzt schwänzelt er die ganze Zeit um Miss Sefton herum. Genau wie Orchid. Und …« Sie wurde durch ein zweites Klopfen unterbrochen. »Darf ich hinein?« fragte Jane Sefton.
7 »Sie haben mich einmal in meiner Garderobe besucht, um mir zu sagen, daß Ihnen meine Vorstellung gefallen hat. Aus dem gleichen Grund komme ich jetzt zu Ihnen«, sagte Jane Sefton. Carol gab sich alle Mühe, das Gefühl von Unwirklichkeit zu überwinden. »I – ich danke Ihnen«, stammelte sie. »Nichts zu danken.« Jane Sefton warf der sprachlosen Ruth einen Blick zu. »Würden Sie so gut sein und Mr. Richards sagen, daß ich noch ein paar Minuten hier unten bleibe. Darf ich mich setzen, Carol?« Carol sprang auf und fegte die Kleider vom zweiten Stuhl herunter. Miss Sefton setzte sich. »So«, sagte sie, »Sie haben also wirklich die Bühne gewählt? Sind Sie glücklich?« »O ja.« »Das habe ich mir gedacht. Ihre Leistung heute abend war wirklich gut. Sie haben die Rolle mit Liebe gespielt, und das hat das Publikum gespürt.« »Ich … ich … genau das habe ich nämlich versucht. Ich fand es so bewundernswert von den Leuten, bei einem solchen Wetter zu kommen.« Die ausdrucksvollen dunklen Augen blickten Carol anerkennend an. »Mit dieser Einstellung werden Sie Genugtuung und Befriedigung beim Theater finden. Es gibt viel zu viele Schauspielerinnen, die sich einbilden, das Publikum sei ihnen zu Dank verpflichtet.« Carol zögerte. »Ich … Miss Sefton, dürfte ich Sie etwas fragen?« »Natürlich, schießen Sie los.« »Ich … es fällt mir so schrecklich schwer, gleichmäßig zu spielen. Ich meine, manchmal scheine ich ganz gut zu sein – und dann bin ich wieder miserabel. Und das beunruhigt mich. Was kann man dagegen tun?« »Arbeiten, Carol, arbeiten. Jeder von uns hat am Anfang damit gekämpft. Sie müssen sich immer und immer wieder bemühen. Nach einer Weile lernen Sie’s dann schon. Wieviel Training haben Sie gehabt? Sind Sie noch Elevin?« »O nein«, sagte Carol stolz. »Ich bin die zweite Naive des Ensembles. Wissen Sie, das war so –« Und sie erzählte von ihrem Winter im Stuyvesant Theater, und wie sie die Margaret in Lieber
Brutus gespielt hatte. Und wie das Bühnenbild in letzter Minute zerstört worden war. Jane Sefton beobachtete Carol beim Sprechen: das lebhafte Mienenspiel, die Intelligenz, die aus den großen, grünen Augen sprach. »Und so kam es«, beendete Carol ihre Erklärung, »daß Mr. Richards Mike und mir ein Engagement für den Sommer anbot.« »Das freut mich. Und Ihren Freund Horodinsky möchte ich auch gern kennenlernen. Man hat mir schon von ihm erzählt.« »Er ist wirklich brillant«, sagte Carol. »Und er ist so versessen aufs Theater, daß nichts anderes auf der Welt für ihn zählt.« »Das ist auch richtig. So muß es sein. Sonst lohnen sich all die Anstrengungen und Enttäuschungen nicht. Hoffentlich läßt er sich durch nichts vom Theater abtrünnig machen. Wenn ich bedenke, was man mir schon alles von ihm erzählt hat, so scheint er eine große Zukunft vor sich zu haben.« »Oh, Mike wird sich durch nichts und niemand vom Theater abtrünnig machen lassen«, sagte Carol überzeugt. »Hoffentlich.« Es entstand eine Pause. Und dann fragte Miss Sefton: »Wer spielt eigentlich die Beß in meinem Stück? Sie?« Es dauerte eine Weile, bis Carol antworten konnte. Für die Rolle war es zu spät. Jetzt konnte sie’s Orchid heimzahlen. Und warum auch nicht? Das würde Orchid eine Lehre sein. »Ja, das ist nämlich so, Miss Sefton«, begann Carol und zögerte dann. Die Worte wollten und wollten nicht heraus. Und dann sagte sie: »Mr. Richards hat die Rolle anderweitig vergeben. Er hatte Angst, es würde vielleicht nicht alles klappen. Ich brauche doch noch sehr viel Übung. Ich … ich habe beim Zusammenspiel mit Mr. Threnody verschiedene dumme Fehler gemacht. Und …« »Ich verstehe, Carol. Das tut mir leid. Aber Sie müssen sich nicht grämen.« Miss Sefton erhob sich. »Ich bin Ihnen so dankbar, daß Sie gekommen sind«, sagte Carol. »Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Das war …« »Ruhig, Kindchen. Es war mir ein Vergnügen. Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute.« »Ich komme zu allen Ihren Vorstellungen«, sagte Carol stürmisch. Miss Sefton küßte sie zum Abschied auf die Wangen. Dann drehte sie sich um und öffnete die Tür. Auf der Treppe standen ungefähr zwanzig Personen, um Miss Sefton zu begrüßen.
Stolz und glücklich beobachtete Carol von der Schwelle aus alle die Aufmerksamkeiten, die man der berühmten Schauspielerin entgegenbrachte. Daher entging ihr auch Orchids mißtrauischer Blick. Orchids Begeisterung für Miss Sefton war reichlich übertrieben, und Mr. Threnody gebärdete sich, als ob er der gefeierten Schauspielerin nächstens vor die Füße fallen wollte. »Es ist uns eine hohe Ehre«, raspelte er, »daß Sie sich unser Stück angesehen haben. Und wie hat’s Ihnen gefallen?« Jane Sefton lächelte. »Ausgezeichnet. Es muß ein Vergnügen sein mit der blendenden Unterstützung, wie Sie sie hatten, zu spielen. Es ist so schwierig – finden Sie nicht auch – vom Musical auf Sprechrollen zu wechseln. Ich kann es Ihnen gut nachfühlen, wie dankbar Sie für Aldred Dean als Partnerin waren. Sie ist eine hervorragende Schauspielerin.« Fein! dachte Carol, das hat gesessen. Aldred Dean, die ein wenig abseits stand, errötete vor Freude. Eine Stunde später begleitete Mr. Threnody Jane Sefton zu ihrem Wagen, wo er sich mit einem Handkuß von ihr verabschiedete. Seine Miene ließ allerdings vermuten, daß er sie am liebsten in die Finger gebissen hätte. Dann, als die Limousine davongerollt war, wandte er sich zu der Versammlung auf der Treppe und fragte Carol: »Wie lange kennen Sie Jane Sefton schon?« »Oh«, sagte Carol lässig, »schon sehr lange, Mr. Threnody.«
8 Carol verbrachte eine hektische Woche mit den Proben zu Großstadtkinder. Trotzdem versäumte sie keine von Jane Seftons Aufführungen. Die Proben waren zwar anstrengend und außergewöhnlich lang, vom technischen Standpunkt aus aber keineswegs schwierig. Orchid spielte diesmal ja nicht mit. Dafür hatte Mike eine kleine Rolle. Wenn er sie gelegentlich anknurrte, fühlte sie sich in die alten Zeiten zurückversetzt, nur nahm sie seine Bemerkungen, die sie früher immer so verärgert hatten, heute ungerührt hin. Er hatte kein Wort darüber geäußert, daß sie ihre Rolle in Miss Seftons Stück verloren hatte. Wenn Mike wollte, konnte er sehr taktvoll sein. »Am Sonntag hast du’s gut gemacht«, bemerkte er nur trocken. Am dritten Tag der Proben gesellte sich Ellen zu ihnen. Sie erhielt eine winzige Rolle ohne Text, die eigentlich für Ruth Alder bestimmt gewesen war. Carol hatte sich in Mr. Richards nicht getäuscht. Wenn es um eine Aufführung ging, kannte er kein Erbarmen. Ruth hätte eine Schauspielerin darstellen sollen, die alle Bühnenagenturen heimsucht. Ihre einzige Aufgabe bestand darin, immer im ungeeigneten Moment wortlos zu erscheinen oder abzugehen und dabei geheimnisvoll zu lächeln. Ruth besaß das Äußere für die Rolle. Sie war hübsch und hatte einen graziösen Gang. Doch nach zwei Tagen schüttelte Mr. Richards den Kopf. »Es tut mir leid, Kindchen«, sagte er, »aber so geht’s nicht. Der Auftritt stimmt einfach nicht. Harold, können Sie mir jemand anders vorschlagen?« Mr. Park machte ein unglückliches Gesicht. »Hm. Ja, George. Sie sieht nicht gerade gut aus, aber da könnte man mit Garderobe und Schminke nachhelfen. Im Grunde genommen ist sie Komikerin.« »Also los, Mann, wer ist es?« »Miss Gregg.« »Miss Gregg? Meinetwegen. Irgend jemand soll sie holen. Aber schnell.« Die arme Ruth verschwand, und Ellen nahm ihren Platz ein. Mr. Richards erklärte ihr die Rolle, nannte ihr die Stichwörter und sagte: »Geht in Ordnung, Herrschaften. Wir wollen noch einmal bei Mikes Auftritt beginnen.« Ellen war viel zu glücklich, um Angst zu haben. Als ihr Stichwort fiel, rauschte sie über die Bühne, mit jeder
Bewegung den Egoismus und die Einbildung dieser Person ausdrückend, die in ihrer Ichbezogenheit immer und überall stört und die Menschen aus der Fassung bringt. Mr. Richards strahlte. »Bravo«, sagte er kurz. »Die Rolle gehört Ihnen.« Und dann zu Miss Morrow: »Bereit, Kathleen? Also, dann anfangen, Carol.« Es war eine glückliche Woche, denn wenn Carol auch viel weniger aus den täglichen Proben lernte als sie aus Mr. Threnodys Unzulänglichkeiten oder Orchids Intrigen gelernt hatte, so profitierte sie doch eine Menge, indem sie Jane Sefton beobachtete. Sie ist wunderbar, dachte Carol. So etwas gibt es kein zweites Mal. Mein Gott, wenn ich auch so eine große Schauspielerin wäre! Aber selbst Jane Sefton gelang es nicht, Mr. Richards Sommertheater zu füllen. Das Wetter war neblig und regnerisch, und immer mehr Sommergäste packten ihre Koffer und reisten ab. Die Einnahmen gingen immer mehr zurück. Mr. Richards vertiefte sich stundenlang in die Buchhaltung und beriet sich mit Bill Matthews, dem kaufmännischen Direktor und Werbefachmann. Das Resultat dieser Beratungen wurde am Donnerstagabend bekanntgegeben. Beim Nachtessen bat Mr. Richards das ganze Personal – Ensemble und Eleven –, nach der Mahlzeit im Wohnzimmer auf ihn zu warten. Dort hielt er eine kurze Rede. »Wie Sie alle wissen«, begann er, »haben wir infolge des schlechten Wetters die miserabelste Saison seit langem, ja, es ist sogar die schlechteste Saison seit fünfzehn Jahren, seit ich das Theater besitze. Ich habe vorhin mit Joe Gunner, dem Besitzer des Hotels Atlantik gesprochen, und er sagt, sein Haus sei so leer, daß man das Gruseln bekommen könne. Und den andern Hoteliers geht es ebenso. Nun haben Billy, und ich die Lage miteinander besprochen, und Billy hat einen Plan ausgeheckt, der uns vielleicht hilft. Er wird euch davon erzählen.« Billy Matthews stand auf, und Carol bemerkte, daß die älteren Mitglieder der Truppe ihn irgendwie ablehnend betrachteten – nicht gerade feindlich, aber so, wie man eine junge Wildkatze mustert, deren Gefährlichkeit man noch nicht abschätzen kann. Billy ließ sich nicht beirren. Selbstsicher schaute er in die Runde und begann: »Nun, Herrschaften, ich möchte mich heute mit Ihnen über unsere Dorfbewohner unterhalten. Das mag seltsam klingen, aber ich meine es ernst. Unsere Dorfbewohner sind wohl brave Leute, aber sie haben einen Fehler: sie gehen nicht ins Theater. Warum
eigentlich nicht? Natürlich kenne ich ein paar junge Leute, die zu unseren Aufführungen kommen. Aber es sind nur wenige. Dabei könnten wir unser Theater mit den Bewohnern von Winasset und mit den Leuten aus den umliegenden Farmen jeden Abend reichlich füllen. Und warum kommen sie nicht? Weil wir ihnen fremd sind, das ist alles. Sie wissen nicht, daß Theaterleute genauso Menschen sind wie alle andern auch. Aber wenn sie das einmal begriffen haben, wenn sie uns persönlich kennen und sich für uns interessieren, ja, vielleicht sogar ein bißchen stolz auf uns sind, dann ist alles in Ordnung.« Er hielt inne und schaute sich aufmerksam um. »Nun habe ich folgende Idee«, fuhr er dann weiter fort: »Am Samstagabend gibt der Frauenverein ein Wohltätigkeitsessen im Gemeindehaus. Sie brauchen Geld für neue Kirchenstühle. Jetzt habe ich mir gedacht, daß ein paar von euch doch Billetts kaufen und zum Essen gehen könnten. Das gäbe den Leuten eine Gelegenheit, euch kennenzulernen.« Carol fand die Aussicht nicht sehr verlockend, doch die Idee an sich war gar nicht so schlecht. Die andern Mitglieder des Ensembles waren der gleichen Meinung. »Natürlich gehen wir hin«, sagte Miss Bartlett. »Sie kochen gut hier in der Gegend.« Man hörte ein allgemeines Gemurmel der Zustimmung. Dann stand Howard Millan auf. »Mr. Richards«, sagte er verlegen, »Sie wissen, daß ich alles für Sie tue, was mir möglich ist. Aber das ist ausgeschlossen. Ich kann nicht zu diesem Essen gehen. Ich – ich habe meine Gründe.« Mr. Richards fragte: »Ja, was ist denn los, Howard? Bekommt Ihnen die hiesige Küche nicht?« »Das ist es nicht, Mr. Richards. Es handelt sich um die kleine Marsh. Ich möchte Sie nicht damit behelligen, Sir. Aber ich habe ein paar sehr unangenehme Briefe von ihrem Vater bekommen.« »Von Charlie Marsh?« »Ja. Verstehen Sie, letztes Jahr verschaffte sich die Kleine eine Photographie von mir. Sie hatte sie unterm Kopfkissen liegen. Und ihr Vater fand sie dort. Er schrieb mir, wenn ich mich jemals in der Nähe seiner Tochter blicken ließe, schlüge er mich blau und grün. Und ich glaube nicht«, fügte Howard mit einem matten Lächeln hinzu, »daß damit dem Theater besonders gedient wäre.« »Nein, das glaube ich auch nicht«, stimmte Mr. Richards bei. »Aber nehmen Sie es nicht tragisch, Howard. Das beweist einmal
mehr, wie beliebt Sie sind.« Alle lachten, und Howard atmete erleichtert auf. Fast alle Mitglieder des Ensembles gingen zum Essen. Es gab gebratenes Huhn und Apfelkuchen. Carol unterhielt sich pflichtgemäß mit ein paar Mädchen aus dem Dorf, aber zu einem Erfolg wurde der Abend nicht. Mike hatte ganz recht, als er auf dem Heimweg bemerkte: »Ich glaube nicht, daß wir einen großen Eindruck auf sie gemacht haben. Sie nahmen unser Geld, und sie gaben uns dafür etwas zu essen. Aber das war auch alles.« »Mir gegenüber waren die Mädchen sehr mißtrauisch«, erwiderte Carol. »Nicht daß sie unfreundlich gewesen wären, aber sie getrauten sich kaum, den Mund aufzumachen.« »Na«, meinte Billy Matthews am Sonntag, »es ist noch zu früh. Heute kann man noch nicht sagen, ob es ein Erfolg war oder nicht. Aber wir haben noch einen Trumpf in der Hand. Nächsten Samstag machen sie ein Dorffest. Es gibt einen Umzug mit der Dorfmusik und geschmückte Wagen und sonst noch allerhand. Und wir machen bei dem Umzug mit. Zuerst dachte ich, wir steuern einen Wagen mit Plakaten bei, aber jetzt ist mir etwas Besseres eingefallen. Es scheint, daß sie hier in der Gegend besonders gute Melonen züchten. Ich persönlich mache mir nicht viel aus Melonen, doch alle Leute im Dorf sind schrecklich stolz auf ihre Spezialität. Und so dachte ich mir, unser Beitrag zum Umzug soll eine Ehrung der Melone sein.« Carol gähnte. Es war ermüdend, Bill lange zuzuhören. Gelangweilt blickte sie im Saal umher. »George und ich haben es gründlich besprochen«, fuhr Billy fort. »Und wir kamen zu folgendem Schluß: Die größte Wirkung erzielen wir, wenn eine unserer jungen Damen, in Melonenblüten gehüllt, auf einem Pferd beim Umzug mitreitet. Wir erküren sie zur MelonenKönigin von Winasset.« Die ganze Gesellschaft brach in schallendes Gelächter aus. Billy machte ein beleidigtes Gesicht. »Glauben Sie mir«, sagte er, »ich war Reklamechef für einige der größten Produzenten am Broadway. Ich kann Ihnen versichern: Diese Idee ist ein Schlager. George ist ganz meiner Meinung. Wir haben unseren Beitrag bereits angemeldet, und das Pferd ist auch schon gefunden. Der Milchmann hat einen Schimmel, den er uns leihen will.« Rose fragte: »Und wer ist die Glückliche? Spannen Sie uns doch nicht so auf die Folter, Billy.« »Na, Sie sind’s nicht, Rose. Sie sind zu blond. George und ich
haben an eine Brünette gedacht. Als Kontrast zu den Melonenblüten. Wir haben uns alle Möglichkeiten durch den Kopf gehen lassen und haben uns für –« Er hielt inne. »Wir kamen zum Schluß, daß sich Carol Page ausgezeichnet dafür eignen würde.« Stille trat ein, dann, wie auf ein Kommando klatschten alle. Alle – außer Carol. Sie versuchte aufzustehen. Und als der Aufruhr sich langsam legte, gelang es ihr, ein entsetztes, jämmerliches »Wer – ich?« hervorzubringen. »Jawohl«, erwiderte Billy strahlend, »Sie.«
9 Der Pferderücken war warm, weich und glatt. Carol kauerte auf ihrem Vierbeiner und wartete auf den Beginn des Umzuges. Wie sie Billy Matthews verwünschte! Die ganze Woche über hatte sie gehofft, daß es am Freitag regnen würde. Und die ganze Woche über hatte es geregnet, oder es war zumindest neblig gewesen. Dann kam der Freitag, mit blauem Himmel und kaltem Wind. Und nun saß sie hier auf diesem Biest, ohne Sattel und ohne Decke, die sie wenigstens vor dem Herunterrutschen hätte bewahren können. Der Milchmann hatte eine Decke angeboten, doch Billy Matthews hatte sie abgelehnt. »Eine Decke!« rief er ganz entsetzt. »Wollen Sie denn den ganzen Eindruck verderben? Schauen Sie sich doch dieses herrliche Tier an, und überlegen Sie, wie sich eine Decke auf diesem strahlend weißen Rücken ausnehmen würde.« »Ich könnte sie ja ganz schmal zusammenfalten«, hatte der Milchmann gemeint. »So auf dem nackten Fell wird es für die junge Dame ziemlich unbequem sein.« »Für wen? Für Carol? Da kennen Sie unsere Carol schlecht. Sie tut nichts lieber, als ohne Decke zu reiten. Habe ich nicht recht, mein Kind? Und jetzt: hinauf, Melönchen!« Billy und der Milchmann hatten sie gemeinsam auf den breiten, weißen Pferderücken gehißt, wo sie nun in einem grünen Baumwollkleid thronte, das teils mit natürlichen, teils mit künstlichen Melonenblüten besteckt war. Ein Kranz echter Melonenblüten schmückte ihr dunkles Haar. Der Milchmann führte das Pferd auf die Straße und sagte zu Carol: »Mein Jerome ist ein gutes aber dummes Tier und ein wenig eigensinnig. Er ist von der Milchtour her gewohnt, vor jedem Haus in der Hauptstraße anzuhalten. Sie werden ihn wahrscheinlich ein bißchen antreiben müssen. Wenn Sie einmal das letzte Haus hinter sich haben, geht er ganz brav von selber weiter.« »Gibt es irgend etwas, vor dem er sich fürchtet?« fragte Carol ein wenig nervös. »Der? Aber ich bitte Sie, Miss, der hat gar nicht genügend Verstand, um sich vor irgend etwas zu fürchten. Das einzige, was der überhaupt kennt, ist die Milchroute und den Weg nach Hause. Wegen ihm brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Und
wenn er sich ganz unmöglich benimmt, ziehen Sie ihm eins über.« Carol hatte ihren Platz in der Mitte des Umzugs. Vor und hinter ihr stellten sich die geschmückten Fahrzeuge auf. Leiterwagen, Lastund Personenautos, alle mit Fahnen und Wimpeln dekoriert. Carol wartete geduldig auf dem ebenso geduldigen Jerome, bis endlich ganz weit vorne die Dorfmusik einen Militärmarsch zu blasen begann. Der Umzug setzte sich in Bewegung. Jerome trottete folgsam mit, nur hie und da blieb er schläfrig stehen. Doch hob er bei Carols ungeduldigem Zungenschnalzen jedesmal wieder gehorsam die Beine. Auf den Gehsteigen standen dicht gedrängt die Leute vom Dorf, kleine Buben rannten leichtsinnig zwischen den Wagen hindurch auf die andere Seite. Die Theaterleute waren ebenfalls da. Carol sah unterwegs immer wieder Gruppen von teilnahmsvoll grinsenden Gesichtern. Orchid winkte ihr zu. Mike, der mit Bill Dolan und Joe Lanier zusammenstand, begrüßte sie überschwenglich. Aldred Dean und Miss Bartlett lächelten ihr zu. Mit einem Male fühlte sich Carol beinahe fröhlich. Es ist ja alles nur halb so schlimm, dachte sie, wenn mir nur der Wind nicht so durch Mark und Bein ginge. In einer blütenweißen Flanellhose tauchte plötzlich Howard Millan vor ihr auf. Er blickte sie mit ehrfurchtsvoller Bewunderung an. Seine Bemerkung allerdings, die er, als sie an ihm vorbeizottelte, machte, war nicht ganz so ehrfurchtsvoll. »Wer spielt hier eigentlich die Hauptrolle?« fragte er. »Du oder das Pferd?« Carol wagte nicht zu antworten, doch ihre grünen Augen blitzten ihn rachsüchtig an. Jerome hatte inzwischen seine Rastpausen aufgegeben und ging nun flott im Schritt. Fast zu flott, fand Carol. Sie klammerte sich an seine Mähne, um nicht herunterzurutschen. Plötzlich machte Jerome eine überraschende halbe Wendung, als ob er zurückgehen wolle. Die schmale, verwinkelte Straße hinter ihm wimmelte von Pfadfindern und Kriegsveteranen. Selbst Jerome merkte, daß hier an ein Umkehren nicht zu denken war, so trabte er wieder vorwärts, ohne daß Carol ihn antreiben mußte. Ja, er schlug sogar jetzt ein Tempo ein, das Carol gar nicht gefiel. Mit blähenden Nüstern und wehender Mähne trabte er dem Ausgang der Gasse zu. An der Ecke bog der Umzug nach links auf den Kirchplatz. Carol atmete auf. Jetzt würde auch Jerome um die Ecke biegen, und dann war diese ganze lächerliche Geschichte vorbei. Doch sie hatte sich getäuscht. Jerome bog zwar um die Ecke,
aber nicht auf den Kirchplatz. Er wandte sich nach rechts, und in scharfem Trab ging er einen kleinen Fußweg hinab und hinaus ins offene Feld. Ratlos klammerte sich Carol an seine Mähne. Die Zügel waren ihr entglitten, und sie wagte nicht, die Mähne loszulassen, um nach ihnen zu greifen. Nur jetzt nicht herunterfallen, dachte sie, sonst trampelt er auf mir herum. Sie hörte Rufe hinter sich. Aber die feuerten Jerome nur noch zu höheren Leistungen an. Und sie konnte sich nicht einmal wehren, da sie die Zähne fest zusammenpreßte, um sich nicht auf die Zunge zu beißen. Carol hatte während ihrer Schulzeit Reitunterricht genommen und war fest überzeugt, nicht herunterzufallen. Deshalb war sie jetzt auch mehr verärgert und beleidigt als ängstlich. Aber Jerome bekam es jetzt immer eiliger, obgleich ihr völlig unklar war, wohin er eigentlich wollte. Die Rufe hinter ihr wurden leiser, und Jerome trabte weiter bergab. Das Feld ging in ebenes Schwemmland über. In der Ferne tauchte das Meer auf, um gleich darauf wieder hinter den Dünen zu verschwinden. Jetzt donnerte Jerome plötzlich über einen hölzernen Steg. Dieser Steg führte direkt auf einen niederen, verwahrlosten Damm, der ungefähr einen halben Meter über dem Schwemmland parallel zum Meer verlief. Jerome verlangsamte endlich sein Tempo, und Carol gelang es, die Zügel zu fassen. Hier auf dem Steg konnte sie ihn nicht wenden. Dazu war er zu schmal. Aber auf dem Damm da vorne bestand eine Möglichkeit. Der Damm war ziemlich breit und schien früher einmal als Straße gedient zu haben. Doch Carol hatte sich noch einmal getäuscht. Auf dem Damm angelangt, hatte Jerome es nun zwar nicht mehr so eilig, doch bei jedem Versuch, die Zügel stärker anzuziehen, rutschte Carol wieder nach vorne auf seinen Hals. Er war zu dick und zu glatt, als daß sie ihn mit den Beinen hätte umklammern können. Und außerdem zeigte er auch keinerlei Neigung anzuhalten. Das Meer lag links von Carol und das Schwemmland rechts von ihr. Mitten im Schwemmland befand sich ein tiefer Tümpel. Die Flut hatte das Wasser zurückgelassen. Ziemlich weit oben auf der Düne war ein Farmhaus zu sehen, doch hätte man ihr Rufen dort nie gehört. Dazu war die Entfernung zu groß. Sie versuchte, Jerome wieder in die Richtung zu lenken, aus der sie gekommen waren. Doch Jerome schien fest entschlossen, den
einmal eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. Und wenn man ihm das vorwärts nicht erlauben wollte, dann eben rückwärts. Er ging rückwärts, und zwar vom Damm herunter und immer tiefer ins Schwemmland hinein. Verzweifelt blickte Carol über die Schulter und entdeckte mit Schrecken, daß sich Jerome ausgerechnet auf den Tümpel hin bewegte. Sie preßte dem halsstarrigen Tier die Fersen in die Weichen und brüllte es an. Doch Jerome ließ sich nicht beirren. Er trottete rückwärts, bis er plötzlich zu stolpern begann. Unter seinen Hufen stieg modriger Geruch von aufgewühltem Schlamm auf. Was in den nächsten anderthalb Minuten geschah, konnte Carol später nicht mehr sagen. Sie hatte das dunkle Gefühl, daß Jerome nun doch etwas nervös geworden sei. Sie hörte ihn aufgeregt schnauben. Schlamm spritzte auf und besudelte sie, Jerome konnte plötzlich keinen Schritt mehr machen. Er stand bis zum Bauch im Schlamm. Bestürzt und durchnäßt, war Carol jetzt plötzlich heilfroh über die Wärme, die Jeromes dicker Leib ausströmte. Alles schien darauf hinzuweisen, daß sie ewig lang würde hier bleiben müssen, denn kein Mensch kam jemals auf die Idee, diesen Damm zu benützen. Und vom Dorf her konnte man sie nicht sehen, denn der steile Uferrand verhinderte die Sicht. Tränen der Angst und Verzweiflung füllten Carols Augen. »Wahrscheinlich denken alle, du hättest mich zu einem kleinen Spazierritt entführt«, sagte sie leise zu Jerome. »Hier werden sie uns bestimmt nicht suchen.« Und dann fuhr sie in einer Mischung von Panik und Wut fort: »So tu doch etwas, du großer, fetter Blödian, du. Steh doch nicht nur einfach so herum.« Aber Jerome, mit dem merkwürdigen Gleichmut seiner Rasse, rührte sich nicht mehr, und Carol seufzte laut auf. »Ziemlich kühl, finden Sie nicht auch?« sagte plötzlich eine Männerstimme. Überrascht und unendlich erleichtert blickte Carol in die Höhe und sah auf der hohen, nach dem Dorf zu gelegenen Böschung einen Mann stehen. Er war groß und nach den weißen Haaren zu schließen, die unter seinem Filzhut hervorschauten, ungefähr sechzig Jahre alt. Sein Gesicht war gefurcht und braun, und seine Augen, obgleich von einem kalten Blau, zwinkerten im Augenblick ganz freundlich. »Was soll ich tun?« fragte sie ihn mit kindlichem Vertrauen. »Noch ein bißchen warten. Hilfe ist unterwegs. Wir holen Sie schon heraus und diesen dämlichen Jerome auch.« Er überlegte kurz.
Dann sagte er erklärend: »Ich würde ja zu Ihnen hinüberwaten und Sie von dem Pferderücken herunterholen. Aber mit meinem und Ihrem Gewicht zusammen bleiben wir genauso stecken wie dieses vertrackte Vieh. – Hallo, junger Mann, wo kommen Sie denn her?« Es war Howard. Er keuchte. Seine weiße Flanellhose war über und über beschmutzt. Seine Krawatte war abhanden gekommen, ebenso sein linker Schuh. »Ich bin quer durch das Schwemmland gerannt, Sir. Carol, fehlt dir nichts? Bist du nicht verletzt?« »Nein, verletzt nicht, aber ich friere mich zu Tode.« Bevor Carol oder der Farmer ihn stoppen konnten, warf Howard auch noch seinen zweiten Schuh weg, sprang von der Böschung herunter und watete entschlossen durch den Schlamm auf Carol zu. Bei ihr angekommen, zog er seinen Blazer aus und reichte ihn Carol hinauf. »Hm«, meinte der Farmer, »Sie scheinen ja allerhand für die junge Dame übrig zu haben?« Und dann, als Howard dunkelrot anlief: »Nur keine Aufregung. Ich weiß, es geht mich nichts an. Es war auch nicht bös gemeint.« »Danke, Sir. Aber was machen wir jetzt?« »Wir holen von daheim ein paar Bretter und Nägel und Schaufeln. Die junge Dame hat ja nun Gesellschaft.« Carol drehte schnell den Kopf und sah, daß die meisten Dorfbewohner und fast alle Schauspieler den Damm entlanggeeilt kamen. »Ihr Männer geht über die Brücke und in mein Haus«, rief der Farmer. Als Howard schlammverschmiert die Böschung hinaufkletterte, sah er Mike mit Geoffrey Wellford und Billy Matthews inmitten der Bauern und Fischer zum Farmhaus laufen. Als Carol Billy Matthews sah, stieg heißer Zorn in ihr auf. Sie wurde aber rasch abgelenkt, denn nun kamen auch noch Frauen und Kinder auf den Damm und ermutigten sie, auszuharren. Orchid war auch da und Aldred Dean und Miss Bartlett und Miss Adamson. Orchid war blaß vor Aufregung. Und es war keine Mache. Das konnte Carol sehen. »Carol«, rief sie. »Du Ärmste. Das ist ja gräßlich.« Carol lachte. »Ich sehe wohl nicht gerade wie eine Melonenkönigin aus, nicht wahr?« Eine der Farmersfrauen schimpfte: »Dieser verflixte Gaul ist schon das Dümmste, was es gibt. Steht einfach da und rührt sich nicht von der Stelle.« Aldred Dean wandte sich an die Frau. »Gibt es denn keine Möglichkeit, sie herunterzuholen?«
»Nein«, sagte Rose Hingham, »dieser Schlamm ist zäh wie Leim.« »Da haben Sie recht«, rief eine andere Bäuerin. »Sie bleiben besser hier sitzen, und warten, bis unsere Männer Sie herunterholen. Dazu reicht ihr Verstand vielleicht gerade noch.« Aldred Dean mußte lächeln, und auch die Frau kicherte. Dann brachen alle auf dem Damm in Lachen aus. Man überbot sich mit Vorschlägen, wie Carol zu retten wäre. Es herrschte eine ausgelassene Fröhlichkeit. »Wie kann man Jerome jemals hier herausbekommen?« fragte Carol plötzlich. »Machen Sie sich nur um das Biest keine Sorgen«, rief eine grauhaarige kleine Frau. »Die Männer schaufeln den Schlamm um seine Beine weg und führen ihn dann über die Bretter. Dieses einfältige Vieh. Es geschähe ihm ganz recht, wenn er für immer dort bleiben müßte.« »Schau, Carol«, rief Ellen plötzlich, »dort kommen sie.« Ein langer Zug von Männern, mit grauen Brettern beladen, kam über das Schwemmland herübergetrampt. Sogar Mr. Park war dabei, bepackt mit einem Sack voll Nägeln und zwei langstieligen Schaufeln. Mr. Park und zwei Buben hatten den Auftrag, das Werkzeug von der Böschung herunterzureichen. Die andern Männer zogen ihre Jacken und Schuhe aus, kletterten zu dem Tümpel hinunter und stapften in den tiefen Schlamm. Die Schauspieler arbeiteten Schulter an Schulter mit den Dorfbewohnern, die plötzlich Respekt vor dem Theatervolk bekamen, das so geschickt mit Hammer und Säge umzugehen verstand. Carol bemerkte, daß Howard mit dem großen, grauhaarigen Farmer zusammen schaffte, und daß sie, beide bis zu den Hüften im dicken, kalten Schlamm, bei der Arbeit vergnügt miteinander lachten. Die lange hölzerne Rampe war in erstaunlich kurzer Zeit zusammengenagelt. Sie lag flach auf dem Schlamm und reichte von Jeromes unsichtbaren Vorderbeinen bis zur Höhe der Böschung. Es war eine breite, solide Rampe, die sogar den dicken Jerome zu tragen vermochte. Doch schon lange bevor es soweit war, hatte der alte Farmer die zitternde, verfrorene Carol vom Pferderücken heruntergehoben. Er bat dann Howard, Carol auf die Böschung hinaufzuführen. »Kommen Sie aber dann bitte wieder zurück«, fügte der Bauer hinzu. »Sie sind wirklich eine brauchbare Hilfe für uns.
Sie können Ihre Angebetete ruhig den Frauen überlassen. Die sollen das Mädchen in mein Haus bringen. Meine Frau wird für alle heißen Kaffee machen. Am besten geht jemand zum Theater und holt trockene Kleider für Miss Page!« »Das besorge ich!« rief Orchid und eilte davon. Erst als Carol wohlig durchwärmt und trocken in dem großen Farmhaus saß, ereignete sich die große Wendung – ganz einfach so. Eine alte Frau hatte Carol in der Küche gründlich abfrottiert, während Aldred Dean die Tücher und die trocknen Kleider für sie hielt. Dann war man gemeinsam in das große, nach Lavendel duftende Vorderzimmer gegangen, und dort hatte dann die alte Frau gesagt: »Ihr Leute seid eigentlich ganz nett, wenn man euch erst näher kennt.« Carol lächelte und schaute die Frau dankbar an. »Wie wär’s, wenn Sie sich heute oder morgen einmal unser Stück ansehen würden?« fragte sie. »Ich glaube, es würde Ihnen gefallen. Und mir wäre es eine große Freude, für Sie zu spielen. Ganz allein für Sie, weil Sie so nett zu mir sind.« Schweigen. Dann sagte die alte Frau: »Warum eigentlich nicht? Ich komme. Sie sind nicht nur ein liebes Ding, ich glaube, Sie sind auch klug. Und wahrscheinlich eine gute Schauspielerin. Na, ihr andern? Wie wär’s? Ich gehe. Wer von euch kommt mit?« Etwas zögernd stimmten die andern zu. Da ertönte plötzlich das Getrampel nasser Männerfüße hinter ihnen. Als erste erschienen Howard und der große Farmer, um den Anwesenden mitzuteilen, daß jetzt auch Jerome gerettet sei. Später, als alle andern gegangen waren, saßen Carol und Howard noch mit dem Farmer beim Küchenherd. Der Bauer blickte Howard anerkennend an. »Ihr Freund«, sagte er zu Carol, »ist gar nicht so schwach, wie er aussieht. Übrigens weiß ich ja noch gar nicht, wie Sie heißen?« »Mein Name ist Howard Millan.« »Und meiner ist Charlie Marsh«, erwiderte der andere gedehnt. Es entstand ein langes, betroffenes Schweigen, das Howard endlich mit den Worten brach: »Meines Wissens habe ich Ihre Tochter überhaupt noch nie gesehen, Mr. Marsh. Also kann ich sie auch kaum verführen, meinen Sie nicht auch?« »Richtig«, antwortete Charlie zögernd. »Da haben Sie eigentlich recht. Und mit der Zeit wird sie hoffentlich einmal vernünftig werden.« Er klopfte seine Pfeife aus, stand bedächtig auf und reichte Howard die Hand. Mit einem Zwinkern seiner stahlblauen Augen
sagte er: »Und schließlich hat mich ja die Garbo auch nicht verführt, trotz aller Briefe, die ich ihr in meiner Jugend schickte.«
10 Es war am gleichen Freitag, den sie später immer Jeromes Freitag nannte, als Carol auf einmal etwas einfiel. Sie saß in ihrer Garderobe und dachte über die mißliche finanzielle Lage des Theaters nach. Billy Matthews, so überlegte sie, hatte mit seiner Theorie über die Leute von Winasset vielleicht recht, doch seine praktischen Anregungen hatten sich nicht bewährt. Die gemeinsame Anstrengung, sie und Jerome aus dem Schlamm zu befreien, hatte zwar die feindliche Einstellung der Dorfbewohner geändert, und da und dort hatten sich sogar freundschaftliche Beziehungen angebahnt. Aber dies allein füllte den Zuschauerraum noch lange nicht, und würde es auch in Zukunft nicht tun. Ellen, die gerade oben im Zuschauerraum gewesen war, hatte bei ihrer Rückkehr berichtet, daß nur sehr wenige Einheimische gekommen seien. »Dieser Charlie Marsh sitzt in der vordersten Reihe«, sagte sie. »Aber er ist ganz allein und hat weder seine Frau noch sein Goldstück von Tochter mitgebracht. Und die alte Frau ist da, Carol, die dich in der Küche bei den Marshs abgetrocknet hat. Weißt du, die mit den hellen Augen.« »Und sonst ist niemand aus dem Dorf gekommen?« »Doch ungefähr sechs. Und noch ein paar Sommergäste.« »Das ist alles?« »Bis jetzt ja. Und die Vorstellung fängt gleich an.« Carol beendete ihr Make-up, schlüpfte in das Kleid, das sie im ersten Akt zu tragen hatte, und ließ sich dann, die Augen halb geschlossen, nachdenklich auf einen Stuhl sinken. Ellen lief nervös auf und ab. »Ich glaube«, meinte Carol schließlich, »daß sie heute abend auch nur gekommen sind, weil sie’s uns versprochen haben. Aber gibt es denn gar kein Mittel, das sie dazu bringen könnte, freiwillig zu kommen und zwar gern und jeden Abend? Hat Richards Eintrittsgeld von ihnen verlangt?« »Nein! Aber so großzügig kann er auch nicht immer sein. Und wenn wir ihnen ständig Freibilletts geben, ist uns ja auch nicht geholfen.« Carol starrte die Puderdose auf dem Toilettentisch an, als ob sie die Lösung sämtlicher Probleme enthielte. »Wo ist Mike?« fragte sie plötzlich.
»Wahrscheinlich überprüft er noch einmal die Beleuchtung. Warum?« Carol stand auf. »Weil ich ihn etwas fragen muß«, sagte sie vage. »Bis nachher also.« Sie ließ Ellen allein in der Garderobe und stieg nachdenklich die Treppe hinauf. Mike befand sich in dem kleinen Werkzeugraum hinter der Bühne und sah murmelnd einen Stoß Rechnungen durch. »Hallo«, sagte er zerstreut, als Carol auf die Schwelle trat. Und dann erstaunt: »Was ist denn los mit dir? Bist du unter die Schlafwandler gegangen?« Carol hörte gar nicht hin. »Mike«, fragte sie atemlos, »woran sind die Menschen am meisten interessiert?« »An sich selber«, antwortete Mike prompt. »Und was kommt dann?« »Alles, was sie gut kennen, glaube ich.« »Menschen oder Dinge?« »Beides gleich, wahrscheinlich.« Carol reckte sich. »Schau mal, Mike. Richards versucht sich etwas auszudenken, womit er die Einheimischen hierher locken könnte. Und du hast jetzt gerade selber gesagt, daß die Leute am meisten an ihrer eigenen Person und an ihren Bekannten interessiert sind.« »Na und?« erwiderte Mike nervös. »Ich habe mir gerade überlegt, ob Richards die Leute aus dem Dorf nicht als Statisten engagieren könnte. Da würde die ganze Umgebung sich drängen, um sie zu sehen. Und alle miteinander hätten einen Heidenspaß. Und unseren Stücken würde es auch nicht mehr viel schaden, so wie die Dinge im Moment stehen.« Mike pfiff zuerst leise und anerkennend, dann runzelte er aber die Stirn. »Das machen sie ja doch nicht«, sagte er. »Diese Leute arbeiten schwer, um sich ihr Leben zu verdienen. Die haben keine Zeit für Proben. Vielleicht kämen sie ein- oder zweimal, aber öfter sicher nicht.« »Sie würden ja gar nicht so viel proben müssen. Nicht für die Massenszenen. Das ist ja doch mehr oder weniger nur ein Herumstehen in Kostümen. An der richtigen Stelle zu lachen, und im Chor „Oh“ zu sagen, das ist schnell gelernt. Und wenn sie eine Massenszene verpatzen, was ist da schon dabei? Dem Publikum, das sie sehen will, ist das ganz egal.«
Mikes Augen wurden groß und rund. »Du könntest vielleicht recht haben«, sagte er schließlich. »Allen Leuten macht es Spaß, sich zu verkleiden. Und wer spielt sich nicht gern vor seinen Freunden auf?« Er steckte seine Papiere in die Tasche. »Komm, Carol, wir gehen Richards suchen!« »Sprich du mit ihm, Mike. Der Vorhang geht gleich auf.« Sie trennten sich, und Carol ging aufgeregt in die Kulissen, um auf ihren Auftritt zu warten. Orchid stand bereits dort und lugte auf die spärlichen Zuschauer hinab. »Wieder viel zu wenig, wie gewöhnlich«, teilte sie Carol mit. »Was für ein Hundeleben. Ich kann nicht verstehen, wie sich ein Mensch freiwillig danach drängt, sein Brot mit Theaterspielen zu verdienen.« Carol verschluckte die Erklärung, daß es sich für die meisten, die zur Bühne gingen, um etwas anderes als ums Brotverdienen handle. Statt dessen fragte sie teilnahmsvoll: »Warum machst du denn nicht Schluß damit, Orchid?« »Weil das Theater das einzige ist, worin ich mich wirklich auskenne. Aber glaub mir, ich würde den nächsten besten Mann heiraten, der ein gemütliches Heim und nichts mit dem Theater zu tun hat.« »Du meine Güte!« Carol versuchte, nicht schockiert zu sein. »Soll das heißen, daß du heiraten würdest, nur um zu Geld zu kommen oder zu einem Heim?« »Geld? Nein. Das Geld ist mir nicht so wichtig. Aber ein Heim. Das ist was anderes. Das ist Sicherheit. Aber das verstehst du ja doch nicht, weil du immer in Sicherheit gelebt hast. Aber was mich angeht, so ist mir jeder Ehemann recht, der mir regelmäßig eine anständige Lohntüte in eine nette Drei-Zimmer-Wohnung bringt, wo es nicht nach Schminke stinkt.« »Aber Orchid.« »Das findest du schrecklich, nicht wahr? Aber das ist es nicht. Der Bursche wäre gar nicht so übel dran, wie du glaubst. Ich würde ihm eine recht gute Ehefrau sein. Nein, eine sehr gute sogar. Und Kinder habe ich auch gern. In Hollywood habe ich mir ein bißchen Geld gespart, mit dem man ein kleines Geschäft eröffnen könnte.« Das gedämpfte Licht in den Kulissen ließ Orchids Gesicht weicher erscheinen. Es vertuschte die Verbitterung in ihren Zügen und die Härte des verkniffenen Mundes. Hier im Schatten sah sie so hübsch und zerbrechlich aus wie ein Kind. Carol blickte sie mitleidig an. »Aber du bist doch so hübsch«,
sagte sie. »Du hast doch sicher schon eine Menge Heiratsanträge bekommen?« Orchid lachte: »Natürlich. Es hat schon viele Männer gegeben, die plötzlich den unwiderstehlichen Drang verspürten, mich zum nächsten Standesamt zu schleppen – aber alle hatten sie mit dem verdammten Theater zu tun. Wenn ich nur einen kennen würde, der den Beruf an den Nagel hinge – oder noch besser, überhaupt nichts davon wüßte. Das wäre das richtige. Halt, das war mein Stichwort.« Carols eigenes Stichwort fiel ein paar Sekunden später, und sie trat vors Rampenlicht, wo sie mit Beifall begrüßt wurde. Der Beifall war weder besonders laut noch besonders anhaltend, und er kam von einer bestimmten Seite. Wie nett von ihnen, dachte Carol mit einem raschen Lächeln nach dieser Seite hin. Und dann, als sie sich an das Licht gewöhnt hatte und sehen konnte, wer dort saß, blickte sie auf eine Reihe mit wettergegerbten Bauerngesichtern, und sie lächelte noch einmal – genau in die Augen der alten Frau, die vor Freude errötete. Als Carol nach dem Ende ihres ersten Auftrittes wieder hinter die Bühne kam, suchte sie vergebens nach einem Zeichen von Mike oder Mr. Richards. Sie waren nirgends zu sehen und tauchten auch während der beiden Pausen nicht auf. Carol sah sie erst, als der Schluß Vorhang gefallen war und sie plötzlich zusammen mit ein paar Einheimischen in den Kulissen auftauchten. Mr. Richards’ Gesicht bestätigte Carol, daß ihre Idee Anklang bei ihm gefunden hatte und daß nun der Moment der Verwirklichung gekommen war. Der anerkennende Blick, den er ihr zuwarf, war höchst schmeichelhaft. »Sehen Sie sich nur überall gründlich um«, drängte Mr. Richards seine Gäste. »Sie können hingehen, wohin Sie wollen.« Die Gesellschaft teilte sich sofort in eine Männer- und eine Frauengruppe. Die Frauen betrachteten die Möbel und die Bilder und betasteten das Material der Vorhänge und der Kissenbezüge. Carols alte Frau hatte gerade einen der tiefen, weichen Sessel ausprobiert. Nun drehte sie sich ihr zu und musterte interessiert ihr Make-up. »Na so was, Miss Page. Aus der Nähe betrachtet sehen Sie beinahe komisch aus. Aber gut gespielt haben Sie wirklich. Ich war ganz stolz darauf, Sie zu kennen.« Die Männer hatten sich inzwischen für das Schaltbrett, die Vorhangmechanik und die Konstruktion des Schnürbodens
interessiert, während die Mitglieder des Ensembles in ihrer Nähe standen und darauf warteten, vielleicht irgendwie behilflich zu sein. »Wozu dienen eigentlich diese Stricke?« fragte Charlie Marsh und blickte in die Höhe. »Das sind die Züge für die Hängestücke«, erklärte Mike. »Möchten Sie sich einmal unser Stellwerk ansehen?« Dann erklärte er ausführlich, was ein Stellwerk ist. »Hätten Sie Lust, es einmal selber zu bedienen?« Charlie Marsh drückte und drehte begeistert. Lichter flammten auf und erloschen, und bunte Scheinwerferkugeln verfolgten die kreischenden Frauen rings um die Bühne. »Man könnte meinen«, erklärte Mrs. Sitters, die bei Carol stand, »diese Männer wären noch mitten in den Flegeljahren.« »Jetzt hör mal, Sara«, setzte Charlie Marsh gerade an, als Mr. Richards mit ein paar Schritten mitten auf der Bühne Aufstellung nahm. Die Schauspieler zogen sich rasch in den Hintergrund zurück und blickten erwartungsvoll zu ihm hinüber. »Darf ich Sie bitten, mir für einen Moment Ihre Aufmerksamkeit zu schenken«, wandte sich Mr. Richards an die kleine Gruppe der Dorfbewohner. »Erstens möchte ich Ihnen noch einmal herzlich danken für die Rettung unserer Miss Page heute nachmittag. Und zweitens möchte ich Ihnen gern einen Vorschlag machen.« Die Mienen um ihn herum wurden sofort unzugänglich. »Miss Pages Abenteuer im Tümpel«, fuhr er fort, »habe ich mir bestimmt nicht freiwillig ausgesucht, um mit Ihnen Bekanntschaft zu schließen. Aber nachdem es nun einmal geschehen ist, kann ich nicht sagen, daß ich’s bedaure, denn es hat verschiedene Mißverständnisse aufgeklärt. Und es hat uns, wie ich hoffe, zu Freunden gemacht.« Er hielt nachdenklich inne, und Carol fand, daß er heute noch mehr als sonst wie ein großes rosiges Kaninchen aussah. »Wir sind Nachbarn«, fuhr er fort, »und dieses Theater gehört zu Ihrem Ort. Und es könnte noch viel mehr dazugehören.« Wieder machte er eine Pause und räusperte sich. »In unserem nächsten Stück«, fuhr er fort, »und in allen folgenden, bis auf eines, gibt es eine Menge Statistenrollen, bei denen kein Wort zu sprechen ist, und die auch nicht viele Proben erfordern. Würde es Ihnen vielleicht Freude machen, diese Rollen zu übernehmen? Mit uns zu spielen?« Die Dorfbewohner blickten einander sprachlos an. Dann wandten sie sich ganz automatisch ihrem Gemeindepräsidenten zu. »Was soll das heißen?« fragte Charlie Marsh schließlich. Mr. Richards machte keine Winkelzüge. »Wir haben eine
schlechte Saison gehabt«, bekannte er offen. »Und wir brauchen Ihre Hilfe. Wenn Sie bei uns mitspielen, werden Ihre Freunde und Nachbarn Sie in Ihren Rollen sehen wollen. Und das wird uns von großem Nutzen sein.« Er räusperte sich wieder, nun ein wenig geniert. »Es ist mir leider unmöglich, jedem einzelnen von Ihnen eine Gage zu zahlen. Aber ich glaube, daß Sie sehr viel Spaß bei der Sache hätten. Und es gibt eine Möglichkeit, Ihnen für Ihre Hilfsbereitschaft zu danken. Am Ende der Saison werden wir drei Tage lang ein Stück spielen, das Sie selber bestimmen können, und der Reinerlös dieser Aufführungen geht an Ihre Kirche.« Als Carol Mikes Seitenblick sah, wußte sie, daß dieser letzte Vorschlag von ihm stammte. Und dieser Vorschlag war gut. Auf Charlie Marshs Zügen zeigte sich fast so etwas wie ein Lächeln. »Sie sind wenigstens ehrlich«, sagte er. »Und das rechnen wir Ihnen hoch an. Aber gerade jetzt sind wir mitten im Heuen und haben keine Zeit für –« »Ach, hör doch auf, Charlie«, unterbrach Mrs. Sitters ihn mit einem Glitzern in ihren klugen alten Augen. »Am Abend gehst du doch nicht heuen. Und die Kirche braucht Geld. Du weißt genausogut wie wir alle, daß das Pfarrhausdach frisch gedeckt werden muß. Und außerdem bist du ja selber gar kein so übler Schauspieler. Erinnere dich doch noch an die Zeit, als du den Stauffacher gespielt hast. Du machtest dich wirklich gut auf der Bühne. Das sagten alle.« Charlie Marsh brummte. Aber die Schmeichelei hatte ihren Zweck nicht verfehlt. Und noch bevor er antworten konnte, fügte Mrs. Sitters vergnügt hinzu: »Ich mache mit. Und was ist mit dir, Elvy?« »Das könnte vielleicht ganz lustig werden«, meinte Elvy. »Ich bin dabei. Wie ist’s aber mit den Nachmittagsvorstellungen?« »Ach«, erwiderte Mr. Richards sofort, »darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wenn Sie am Nachmittag nicht kommen können, haben wir ja noch immer unsere Eleven.« Zwei der Männer, von ihren begeisterten Frauen nach vorne geschoben, erklärten sich ebenfalls bereit mitzumachen. Und da sie sich nun einmal hatten hinreißen lassen, waren sie entschlossen, Charlie Marsh gleichfalls zum Mitspielen zu bewegen. »Los, komm doch«, drängten sie. »Es tut nicht weh. Du bist doch bei den Weihnachtsspielen immer so gut gewesen. Viel besser als wir alle.« »Na ja«, sagte Charlie und gab sich alle Mühe, nicht zu zeigen,
wie stolz er über die Komplimente war. Und so kam es, daß Carol, als sie am Montagabend in den Kulissen stand, mehr Schritte im Zuschauerraum hörte als in manchen Wochen vorher. Die Schritte hörten sich anders an als das leichte Schuhwerk der Städter. Es war der feste, solide Schritt der Landbewohner, an unebene Geflügelhöfe und frisch gepflügte Äcker gewöhnt. Auch die Stimmen klangen anders: befangener und leiser. Carol dachte über diese Unterschiede nach, als sie jemand hinter sich spürte. Sie drehte sich um und erkannte nach einigem Zögern Charlie Marsh. Er trug die Uniform eines Nationalgardisten aus dem 18. Jahrhundert: roter Rock, enge weiße Hosen, schwarze Kniestiefel und einen breiten aufgeschlagenen Hut. Dazu eine Perücke mit einem Zopf. Er machte einen erstaunlich vornehmen Eindruck. »Du lieber Himmel«, lachte Carol. »Sie sehen ja blendend aus, Mr. Marsh.« Der große Farmer grinste. »Hm«, sagte er, »was meinen Sie, wenn die Garbo mich so gesehen hätte? Vielleicht hätte sie mir doch Antwort auf meine Briefe gegeben?«
11 Carol mochte Bill Dolan gern und wünschte ihm ganz bestimmt nichts Böses, und doch fiel es ihr schwer, seine üble Erkältung nicht als einen Akt der Vorsehung zu betrachten. Das Gesicht in ein Kissen vergraben, lag sie auf dem Sofa des großen, altmodischen Wohnzimmers und dachte über Bills Erkältung und die Geheimnisse der letzten Tage nach. Das Manuskript eines Stückes ruhte ungeöffnet auf ihrem Schoß. Sie war viel zu abgespannt, um zu studieren, und in ihrer Schläfrigkeit zogen die Bilder der letzten Ereignisse ganz automatisch an ihrem innern Auge vorbei. Das Ensemble hatte schon ungefähr die Hälfte der vorgesehenen Aufführungen von Karussell gespielt. Das Theater war jeden Abend recht gut besetzt gewesen. Die Einwohner von Winasset waren begeistert, ihre Freunde, Nachbarn und den Gemeindepräsidenten auf einer richtigen Bühne, in echter Theateraufmachung zu sehen. Das war etwas Neues und Ungewohntes, über das man reden konnte. Belustigt hörte man sich die Geschichten über die Abenteuer und Mißgeschicke auf und hinter der Bühne an. Und Mr. Richards wurde verschiedentlich auf der Straße von Leuten angesprochen, die ihm mit gespielter Gleichgültigkeit anboten, eine kleine Rolle in seinem Theater zu übernehmen. Auch der Ton im Theater selber hatte sich geändert. Schauspieler, Bühnenarbeiter und Eleven waren guter Laune. Sie hatten wieder ein Publikum, für das zu arbeiten sich lohnte. Ein Publikum, das mitging, denn den Winassetern fehlte es weder an Klugheit noch an Humor. Selbst das Wetter hatte, nach dem Auszug der Sommergäste, versucht, alles Geschehene wiedergutzumachen, und war jetzt strahlend schön. Wenn es so bliebe, dachte Carol, würden wieder mehr Sommerfrischler kommen und mehr Touristen, und dann wäre das Theater wieder richtig voll. Carol, eingespannt wie alle andern in den Rhythmus von Proben und Vorstellungen, war vollkommen glücklich. Immer wieder fiel ihr das Kompliment ein, das Mr. Richards ihr vor einigen Tagen gemacht hatte. Dösend lag sie auf ihrem Bett und dachte an die freundlichen Worte. »Sie und Mike«, hatte Mr. Richards an jenem Montagabend zu ihr gesagt, »haben dem Theater einen großen Dienst erwiesen. Es war ein Glück für uns alle, daß ausgerechnet Sie das Opfer dieses Pferdeungeheuers
wurden.« »Soll das heißen, daß außer mir niemand so dumm gewesen wäre, in solche Schwierigkeiten zu geraten?« »Nein, das bestimmt nicht! Ich will damit nur sagen, Carol, daß Sie sehr charmant sind. Sie gefallen diesen Leuten, und weil Sie ihnen gefielen, fanden sie auch uns andere nicht mehr so schlimm. Sonst wären sie ja auch nicht zur Freitagabend-Vorstellung gekommen. Und dann hätten Sie auch nicht diesen Geistesblitz gehabt.« »Teilweise war es aber auch Mikes Idee. Ich habe vielleicht den Anstoß gegeben. Aber er hat etwas Positives daraus gemacht.« »Ich weiß. Mike ist äußerst begabt. Karussell ist eine schwierige Aufgabe für den Inspizienten, und Bill Dolan sagte mir, er bewähre sich glänzend.« Carol dachte gerührt an Bill Dolan. Der Arme war krank. Am Abend zuvor war er verschnupft und heiser beim Abendessen erschienen. Trotz seines empörten Protestes hatte Mrs. Meiler ihm ein Thermometer in den Mund geschoben und festgestellt, daß er über 39 Grad Fieber hatte. Daraufhin schickte sie ihn sofort ins Bett. Nun lag die ganze Verantwortung für den Ablauf von Karussell auf Mikes Schultern. Aber Mike hatte seine Sache ausgezeichnet gemacht. Darüber waren sich alle einig. Carols Augen fielen zu. Sie war eingeschlafen, bevor ihr einfiel, daß sie bei ihrem Rückblick auf die vergangenen Ereignisse eine Kleinigkeit vergessen hatte. Es war wirklich nur eine Kleinigkeit. Ein Satz von Orchid. Aber wichtig war es trotzdem. Orchid war von Mikes Tüchtigkeit sehr beeindruckt. »Dieser Horodinsky ist ein tüchtiger Mensch«, hatte sie Carol auf dem Weg in die Garderobe hinunter erklärt. »Ich mag Leute, die überall anpacken können.« »Ja, er ist tüchtig«, stimmte Carol ihr zu. »Es scheint, daß er alles kann, was ihn interessiert. Bevor er zum Theater kam, war er ein hervorragender Schneider.« »Schneider? Ich habe immer gemeint, er sei Lastwagenchauffeur oder so etwas ähnliches gewesen.« »Nein. Er weiß alles, was man in einem Konfektionsbetrieb wissen muß. Bestimmt hätte er einen Haufen Geld verdient, wenn er dabei geblieben wäre. Aber ich glaube, Mike liegt nichts an Geld. Das einzige, was ihn interessiert, ist das Theater.« »Hm«, hatte Orchid nachdenklich gesagt und war am Fuß der Treppe stehen geblieben. Und dann: »Ich habe etwas vergessen. Ich
muß noch einmal hinauf.« Sie war die Treppe hinaufgelaufen, und Carol hatte nicht weiter über dieses Gespräch nachgedacht. Das war gestern abend gewesen. Glücklich in dem Gefühl, daß sich alles für alle zum besten gewendet habe, schlief Carol am folgenden Tag auf dem Sofa ein. Sie schlief ungefähr eine Stunde und wurde dann durch Stimmen aus der Halle geweckt. Das klingt wie Orchid und Mike, dachte sie ohne besonderes Interesse. Sie gähnte und packte verschlafen ihre Siebensachen zusammen. Als sie in die Halle hinaustrat, waren die beiden schon nicht mehr dort. Carol war keine schlechte Beobachterin, und sie war auch ziemlich neugierig, wenn es sich um Kollegen handelte. Aber seit sie Mike kannte, war er viel zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt, um noch Zeit für Mädchen übrig zu haben. Mike fühlte sich wohl hier. Also dachte sie nicht weiter über sein Privatleben nach. Erst am Samstag begann sie zu merken, daß etwas in der Luft lag. Es war ein strahlend warmer Sommertag, und Carol sonnte sich mit Keith, Nan Walton und Rose gemütlich am Strand. »Habt ihr eigentlich schon daran gedacht«, fragte Rose plötzlich, »daß bei der Kostümprobe morgen nur drei Personen benötigt werden?« »Warum sollen wir daran gedacht haben?« erwiderte Keith. »Weil wir nämlich, wenn das Wetter so bleibt, ein Picknick am Strand machen könnten. Fast alle, die wir dabei haben wollen, sind morgen frei. Wir könnten ein Feuer machen und unser Nachtessen kochen –« »Das wäre fein!« Nan richtete sich auf. »Ich habe mich schon so an die Kälte gewöhnt, daß ich gar nicht mehr weiß, was man bei schönem Wetter alles machen kann. Wen wollen wir dazu einladen?« Rose dachte nach. »Ellen natürlich«, sagte sie, »und wir vier und Mike und Ruth und Pete Gregory. Wir könnten auch Aldred fragen. Sie ist so nett, und sie sagt nie, wir seien ihr zu jung. Und Howard und Geoffrey und –« »Und Orchid«, fügte Keith hinzu. Er hatte einiges übrig für Orchids blonden Charme. Rose zweifelte. »Ich glaube kaum, daß sie kommt. Sie macht sich nichts aus Picknicks. Sie sagt, sie hätte es in ihrem Leben schon unbequem genug gehabt und verspüre nicht die geringste Lust, sich so etwas freiwillig anzutun.« »Aber fragen könnten wir sie trotzdem«, drängte Keith. Sie trafen Orchid auf der Bühne, wo sie sich kurz vor der Nachmittagsvorstellung mit Mike unterhielt. Mike lachte gerade – so
vergnügt und herzlich, daß Carol staunte. Mike lachte selten laut. Keith erzählte ihnen von dem Picknick, und Mike war hell begeistert. »Bill ist wieder ganz gesund«, sagte er, »und ich bin überzeugt, daß ich mich freimachen kann. Wir könnten Kartoffeln in der Asche braten. Das habe ich seit meiner jüngsten Jugend nicht mehr gemacht.« Rose wandte sich an Orchid. »Kommst du auch?« Orchids Augen wurden groß unter den langen Wimpern. »Liebend gern«, antwortete sie überraschend. »In der Asche gebratene Kartoffeln sind das beste, was es gibt. Wir könnten Würstchen kaufen, und ein paar von uns könnten Muscheln suchen. Ich helfe dir, eine Liste zu machen von allem, was wir brauchen.« Nach der Nachmittagsvorstellung half sie so heiter und vergnügt, daß Rose nur so staunte. »Nächstens meldet sie sich noch bei den Pfadfinderinnen«, sagte Rose am Abend zu Carol. »Ich verstehe das nicht. Was glaubst du, was sie im Sinn hat?« »Ich weiß es nicht. Aber irgend etwas geht da vor. So viel ist sicher.« Das Rätsel blieb ungelöst bis zum folgenden Nachmittag, wo Howard Millan es am Strand mit einer einzigen Bemerkung klärte. Die Gesellschaft hatte sich vor der Sonne in eine kleine Felsbucht zurückgezogen. Ellen, Geoffrey und Keith waren auf Muschelsuche und ziemlich weit von ihnen entfernt. Rose packte die Körbe aus, Nan und Carol breiteten die Tischtücher aus. Die andern sammelten Treibholz für Mike, der einen Holzstoß baute. Wie schön doch der Strand um diese Zeit war, dachte Carol gerade, als sie eine Stimme ganz in ihrer Nähe hörte, die wie eine kleine Silberglocke klang. »Es ist erstaunlich, Mike«, sagte Orchid, »wie gut du einen Scheiterhaufen bauen kannst. Auf einer einsamen Insel wärst du der richtige Mann.« »Ich habe noch ein paar trockene Späne mitgebracht«, sagte Mike erklärend, »sonst brennt die Sache nicht gut.« »Du denkst aber auch an alles.« Carol drehte sich um. Mike haßte Banalitäten. Wenn er jetzt eine scharfe Antwort gab, war das ganze Picknick verdorben. Aber Mike war ganz und gar nicht irritiert. Er sah glücklich aus. Orchids plumpe Schmeichelei schien ihm sogar zu gefallen. Er hielt in seiner Arbeit inne, um Orchid, die an seinen Lippen hing, den Aufbau eines Scheiterhaufens zu erklären. Carol starrte die beiden
leise beunruhigt an. »Orchid ist aber mächtig hinter deinem Freund her«, sagte Howard Millan plötzlich hinter ihr. »Er ist nicht mein Freund«, erwiderte Carol, »das weißt du ganz genau. Er ist nur – ach, schon gut, lassen wir das! Sei nett und schnauf mir nicht direkt in den Nacken.« Carol bemerkte den verletzten Ausdruck in Howards Augen nicht. Denn gerade in diesem Augenblick kam Wilfred keuchend angewatschelt, um sich – eine wandelnde Sandwolke – auf sie zu stürzen. »Paß doch aufs Essen auf!« jammerte Nan. »O Carol, jetzt steckt er seinen Schwanz in die Gurken.« Als man schließlich Gurken und Hundeschwanz wieder voneinander getrennt hatte, war Howard verschwunden. Die Muschelsucher kamen durch den Sand herangestapft. »Wir haben kaum etwas gefunden«, sagte Keith. »Bin ich froh, daß ich mein Leben nicht mit Muschelsuchen verdienen muß.« Mit einem Blick auf Orchid, die sich über Mike beugte, fügte er hinzu: »So ein langer, knochiger Kerl sollte man sein! Der strotzt ja vor Tüchtigkeit. Kein Wunder, daß alle Frauen auf ihn fliegen.« »Ich bleibe dir treu«, versicherte ihm Carol, doch sie war erstaunt über die Bitterkeit in seiner Stimme. Sie erzählte später Ellen von dem Vorfall. »Weißt du’s denn nicht?« erwiderte Ellen. »Er ist eifersüchtig auf Mike. Und ehrlich gesagt, finde ich es auch geschmacklos, wie Orchid sich Mike an den Hals wirft.« »Aber was hat sie denn damit im Sinn?« erwiderte Carol nachdenklich. »Wieso ausgerechnet Mike? Er ist weder elegant noch schön. Er kann nicht tanzen oder was sonst. Und er hat nichts anderes im Kopf als das Theater. Orchid sagt doch selbst, daß sie einen Mann heiraten will, der mit dem Theater nichts zu tun hat. Wieso also Mike?« »Vielleicht ist er einfach nur ein Stück mehr in ihrer Sammlung.« »Vielleicht hast du recht«, sagte Carol verblüfft. Im Verlauf des Picknicks wuchs ihre Verwunderung noch. Orchid, die sonst jede Arbeit haßte, schnitt Brot, stellte die Teller und Tassen auf, reichte die Bestecke weiter und erging sich in wortreicher Begeisterung über Mikes Tüchtigkeit in praktischen Dingen. Bis sich Mike, der im allgemeinen alles andere als galant war, benahm wie – um Nans Ausdruck zu gebrauchen – Herr Knigge persönlich. Er brachte Orchid die besten Sandwiches, briet ihre Würstchen und gab sich nicht eher zufrieden, bis er auch noch Senf
für sie aufgetrieben hatte. Und als sie für kurze Zeit ihre Aufmerksamkeit Keith zuwandte, blickte Mike mürrisch und verbissen vor sich hin. »Kinder, Kinder«, flüsterte Nan Rose zu, »den Mike hat’s gepackt.« Rose staunte ebenso sehr wie Carol. »Ich verstehe einfach nicht, was sie eigentlich will. Aber auf jeden Fall macht sie ihm die tollsten Avancen. Kommt, wir wollen aufräumen. Es wird kalt. Carol, sitzt du vielleicht auf meinem Pullover?« Carol reichte ihr den Pullover. Erst jetzt, als sie aufblickte, bemerkte sie die Nebelwand. »Rose, schau, der Nebel kommt!« rief sie erschrocken. Nun starrten sie alle auf die vom Meer her rasch näherziehende Wand, die grau im Zwielicht schimmerte. Die Mädchen beeilten sich, die Körbe einzupacken, und die Burschen warfen noch rasch das letzte Holz ins Feuer, um den Abschied mit einer lodernden Flamme zu feiern. Niemand sprach vom Heimgehen. Als alles verpackt war, setzte man sich wieder ums Feuer und schaute gefesselt dem Naturschauspiel zu. Aldred Dean war die einzige, die sich beklagte, doch lachte sie dabei. »Bis wir heimkommen, sind wir völlig verschimmelt«, sagte sie. »Nicht bei dem Feuer, das Mike so meisterhaft aufgebaut hat«, erwiderte Orchid und zog den großen Burschen näher zu sich heran. Keiner erwiderte etwas darauf, und es entstand ein langes Schweigen. Der Mond stieg rund und rot über der Nebelbank empor. Mike war es schließlich, der das Schweigen brach. »Genau das ist’s«, sagte er langsam und bedächtig, »was Bill für die Möwen braucht. Nebel muß er haben. Alles muß in Nebel gehüllt sein, der in Schwaden über das Deck zieht. Und der im Mondlicht irisiert.« Er dachte einen Augenblick nach. Carol spürte einmal mehr, daß Mike einzig und allein fürs Theater lebte. Ohne das Theater hatte die Welt für ihn keinen Sinn. »Die Toneffekte sind eine leichte Sache«, fuhr er fort. »Gedämpft und ein leises Echo von allen Seiten. Wenn wir einen aluminiumgrauen Hintergrund nehmen, geht das gut mit dem Nebel zusammen. Aber das Schiffsdeck müßten wir ein wenig kleiner machen. Ich muß so lange probieren, bis ich dieses diffuse Licht richtig herausgebracht habe. Aber es bleiben uns ja noch drei Wochen Zeit.« Er schwieg und studierte das echte Mondlicht auf dem echten Nebel. »Dampf?« meinte er. »Oder vielleicht zerstäubtes
Öl?« Aldred Deans Stimme wirkte nicht als Unterbrechung. Sie setzte nur seine Gedanken fort. »Nein, kein Öl«, sagte sie. »Das ruiniert die Kleider und das Make-up. Aber Dampf –« Aber Orchids Stimme war eine Unterbrechung. Sie klang hart und voll absichtlicher Schärfe. »Mir ist kalt«, sagte sie. Alle Gesichter wandten sich ihr zu. Carol sah, daß Mikes Begeisterung wie weggewischt war. »Keith, mein Schatz«, sagte Orchid, »würdest du mir deine Jacke leihen?« Mike richtete sich auf. »Hier, nimm meine«, sagte er. Doch Keith war schon aufgesprungen, zog seine Jacke aus und legte sie beflissen um Orchids Schultern. »Komm, ich knöpfe sie dir auch zu«, meinte er. »Rücke doch näher ans Feuer. Hier, setz dich auf meinen Platz.« »Wie lieb von dir«, sagte Orchid herzlich. »Aber ich glaube, es ist besser, ich gehe jetzt heim. Ich bin ein wenig müde. Kommst du mit und hilfst mir über die Felsen?« »Hallo, warte doch einen Augenblick!« Mike war nun ebenfalls aufgesprungen. »Ich bringe dich nach Hause.« Keith grinste. »O nein, mein Lieber, das tust du nicht«, begann er gerade, als Orchid aufstand und, Mike mit einem kalten Blick musternd, laut sagte: »So lange du so verrückt auf das Theater bist, und ich so genug davon habe, bleibst du besser hier.« Carol zuckte zusammen. Orchid hängte sich bei Keith ein und ging. Die andern blieben verdattert beim Feuer sitzen. Dann, auf einmal, redeten alle durcheinander. Rose flüsterte Carol ins Ohr: »Aha, darauf will sie also hinaus. Und jetzt weiß er’s.« »Das wird ihr nie gelingen«, erwiderte Carol. »Mike wird das Theater niemals verlassen. Nie.« Der Klang ihrer eigenen Worte gab ihr Vertrauen, und sie lachte. Dann blickte sie zu Mike hinüber. Er stand noch immer auf der gleichen Stelle – unbeweglich, regungslos. Carols Herz zog sich zusammen. »Orchid weiß genau, was sie will«, sagte Rose.
12 »Du wirst es ja sehen«, versicherte Rose Carol auf dem Weg zum Frühstück. »Orchid wird heute engelhaft sein. Nicht etwa, weil sie klug, sondern weil sie zufrieden ist.« »Wieso?« »Weil sie Mike ihren Willen aufdrängen will. Und weil sie ihm das klargemacht hat. Und weil sie überzeugt ist, daß ihr das auch gelingt. Orchid kennt ihre Stärke. Nur ihre Dummheit kennt sie nicht.« »Ich kann sie nicht verstehen«, sagte Carol. »Sie lügt und betrübt ihre Mitmenschen, aber sie macht kein Hehl daraus. Sie hält es für ihr gutes Recht.« »Dann verstehst du sie also doch. Denn das ist die Erklärung für Orchid. Sie weiß gar nicht, wie dumm und abscheulich sie sich benimmt. Sie versucht gar nicht, sich zu verstellen. Nicht einmal bei Mike.« »Aber wie steht’s mit ihm? Ich kann nicht glauben, daß er –« »Mike wird sich genauso benehmen wie jeder andere verliebte Mann. Er wird gekränkt sein und ihr dann verzeihen.« »Aber er wird nie im Leben das Theater aufgeben.« Rose zuckte die Achseln. »Vorläufig wird er ihren Worten gar keinen großen Wert beimessen. Er glaubt, es sei ihr nicht Ernst damit. Oder er hofft, es ihr noch ausreden zu können.« »Und wird sie sich’s ausreden lassen?« »Nein.« Carol blickte Rose nachdenklich an. »Woher kommt es, daß du so viel Menschenkenntnis hast?« fragte sie. »Du bist doch kaum älter als ich.« Rose zögerte. Dann sagte sie ruhig: »Meine Eltern sind geschieden. Mein Vater hat inzwischen dreimal wieder geheiratet, und meine Mutter zweimal. Ich bin in beiden Haushaltungen aufgewachsen.« »Oh«, sagte Carol verlegen. »Es tut mir leid, Rose. Das habe ich nicht gewußt.« »Schon gut. Eigentlich ist es sogar ganz interessant. Ich meine, sie waren immer alle nett zu mir. Und ich habe eine Menge dabei gelernt.« »Das glaube ich dir gern.« Als die beiden das Eßzimmer betraten, saßen Ellen und Nan an
Mikes Tisch. Keith, der mit Mike zusammenwohnte, kam selten zum Frühstück. Und an diesem Morgen war Carol froh, daß er nicht da war, denn einen Augenblick später erschien Orchid unter der Tür. Mike blickte nicht auf. Als Orchid an ihm vorbeiging, klang sein guten Morgen sehr gleichgültig. »Hallo, mein Lieber«, begrüßte ihn Orchid. Es tönte fröhlich und vergnügt. Sie setzte sich ihm gegenüber und strahlte ihn mit ehrlichem Zutrauen an. Mike versuchte, sie so gelangweilt wie möglich anzuschauen. Es gelang ihm aber nicht ganz. Orchid wandte sich an die andern. »Das wird aber nächste Woche einen tollen Zulauf geben«, sagte sie. »Nicht zu glauben, daß Richards einen solchen Schmachtfetzen wie die Kameliendame aufs Programm setzt. Und dazu noch mit dieser alten russischen Komödiantin in der Hauptrolle. Fünfzig ist die mindestens. Mike, mein Freund, wie wär’s, wenn du auch mal andere Leute an die Zuckerdose ließest?« Diesmal war ihr Blick halb lachend, halb zärtlich und von einreißendem Charme. So muß man’s machen, dachte Carol. Mike hatte ganz unbewußt gelächelt, und sein Gesicht hatte sich entspannt. Beflissen reichte er ihr den Zucker und hob die Serviette auf, die ihr unter den Tisch gefallen war. »Was hast du gegen die Kameliendame?« protestierte Carol. »Ich mag das Stück. Miss Marlowe hatte es im Stuyvesant oft auf dem Programm, und ich habe mir jedesmal die Augen ausgeheult dabei.« »Und so was nennt sich unsere Carol dann ein Vergnügen«, brummte Mike, der endlich seine Stimme wiedergefunden hatte. »Eine wirklich gute Schauspielerin«, erklärte Rose, »kann aus der Kameliendame eine grandiose Sache machen. Und Madame Orliana ist phantastisch.« »Ich wollte, ich könnte mitspielen«, sagte Carol sehnsüchtig. »Freust du dich, die Nichette zu spielen, Orchid? Es muß begeisternd sein, mit der Orliana zu arbeiten. Ich werde keine einzige Probe verpassen.« Orchid zuckte die Achseln, und Mike sagte rasch: »Pete Gregory hat heute morgen ihr Auto schon vor dem Hotel stehen sehen. Ein Straßenkreuzer, kilometerlang. Er sagt, wenn sie so glanzvoll ist wie ihr Wagen, ist er bereit, sich für bares Geld ein Billett für die Vorstellung zu kaufen.« »Na, Richards könnte wahrscheinlich auf den Glanz verzichten«, sagte Orchid maliziös. »Madame ist nämlich für ihr cholerisches Temperament berühmt. Und ich wette, es gibt schon bei der ersten
Probe einen Krach. Paß nur auf, Mike, Regie-Assistenten hat sie ganz besonders auf dem Strich.« »Hübsche und naive kleine Schauspielerinnen vielleicht auch«, erwiderte Mike vergnügt, und beide lachten. Nach dem Frühstück begaben sich sämtliche Schauspieler und auch alle Eleven, die sich vom Unterricht freimachen konnten, ins Theater. Sie warteten auf die Ankunft von Madame Orliana. Mr. Richards marschierte nervös im Mittelgang auf und ab und blickte auf die Uhr. Er rannte hinter die Bühne, kam wieder hervor, lief in die Halle und kehrte wieder zurück. Gerade wollte er wieder in die Kulissen gehen, als hinten im Zuschauerraum die Haupttür stürmisch aufgerissen wurde. Alles drehte sich um. Madame Orliana rauschte als erste herein: eine zierliche, dunkelhaarige Person mit kalkweißem Gesicht und großen schwarzen Augen. Trotz der Augusthitze war sie in einen Zobelmantel gehüllt und trug einen kleinen Pekinesen im Arm, dessen runde Kulleraugen zornig über dem dicken Pelzärmel funkelten. Hinter der Orliana kam eine Zofe mit einem kunstvoll emaillierten Schminkkasten in der Hand. Die Nachhut bildete ein livrierter Chauffeur, der eine Kamelhaardecke trug. »Hui!« flüsterte Rose. Mr. Richards eilte den Mittelgang hinauf und küßte zur größten Belustigung der Zuschauer Madame die Hand. »Ma chère Madame«, lispelte er, »wir sind so glücklich, Sie bei uns zu haben.« »Mein lieber George«, erwiderte Madame Orliana mit tiefer Altstimme und hartem russischen Akzent. Carol fragte sich, wie das Publikum auch nur eines ihrer Worte verstehen würde. Mr. Richards stellte ihr die Mitspieler der Kameliendame vor. Er begann mit Mr. Park, zu dem Madame liebenswürdig sagte: »Wir werden es nett zusammen haben in diesem herrlichen Stück, in dem mir jedesmal das Herz fast bricht.« »Bestimmt, Madame«, erwiderte Mr. Park erfreut. Der Chauffeur hatte die Kamelhaardecke über einen Sitz in der ersten Reihe gebreitet, und als die Vorstellungszeremonie beendet war, nahm Madame Orliana ihren kleinen teefarbenen Hund und setzte ihn auf die Decke. »So, Toto«, sagte sie, »jetzt bleibst du schön hier sitzen und bist ganz brav. Und schaust mir bei der Arbeit zu. Ja?« Carol griff automatisch nach Wilfreds Halsband hinunter, obwohl sie im
Grunde genommen keine Angst vor einem Zwischenfall mit dem Pekinesen hatte. Kleine Hunde ließ Wilfred immer in Frieden. Sein Ehrgeiz war, eine dänische Dogge in Fetzen zu reißen. Jetzt lag er unter Carols Sessel und hob nicht einmal den Kopf. Madame Orliana nahm ihren Turban ab und übergab ihn der Zofe. Die Zofe half ihr aus dem Zobelmantel und reichte ihn dem Chauffeur. Madame war für die Arbeit bereit. Und ihre Zuschauer staunten. Unter dem luxuriösen Pelzmantel waren ein abgetragener gelber Pullover und ein ausgebeulter Tweedrock zum Vorschein gekommen. »Na also, George«, sagte sie munter, fuhr sich mit den Händen durchs Haar und rollte die Ärmel hoch. »Fangen wir gleich an!« Sie fing an. Und zwar in einer Art, in der Carol sofort die sowohl intelligente als auch routinierte Schauspielerin erkannte. Die Orliana orientierte sich zuerst über die Aufstellung der Möbel, dann besprach sie die Regie des Stückes und machte einige gescheite Vorschläge dazu. Ihr russischer Akzent fiel Carol jetzt kaum mehr auf. »Aber sie ist doch Russin?« fragte Carol Rose. »Ja, ja. Sie ist in Rußland geboren, und sie hat früher in Moskau gespielt. Aber sie ist schon seit langen Jahren in Amerika, und sie kann diesen Akzent jederzeit ablegen. Je nach Bedarf.« Carol nickte und wandte sich wieder der Bühne zu. Sie war so aufmerksam, daß sie den leichten Plumps nicht hörte und auch nicht das leise Trippeln von zierlichen Pfoten auf dem Mittelgang. Plötzlich entstand ein Tumult unter ihrem Sitz. Wilfred knurrte wütend, und Toto bellte schrill und laut. Geistesgegenwärtig griff Carol unter ihren Stuhl und hob den Pekinesen vom Boden hoch. Madames Zofe und der Chauffeur stürzten sich auf sie. Madame selber stieß einen Schrei aus und kam den Mittelgang heraufgerannt. Carol stand sprachlos vor Entsetzen. Nur Wilfred bewahrte eine gekränkte Ruhe. Er trottete in den Mittelgang hinaus, ließ sich dort nieder und musterte Toto vorwurfsvoll. Die Zofe entriß Carol den Hund. Der kleine Engel, so erklärte sie ihrer Herrin, habe sich so aufgeregt. Sie hätte ihm nur für einen Augenblick den Rücken gekehrt – und in diesem Moment sei er angegriffen worden. »Es – es tut mir entsetzlich leid«, stammelte Carol. Sie hatte sofort erkannt, daß es völlig nutzlos war, der Orliana zu versichern, was für ein ruhiges, gutmütiges Hundetier ihr Wilfred war. Madame drückte den wutschnaubenden Toto an ihren Busen. »Sei ruhig, mein Armer«, sagte sie. »Hat er dich gebissen?« Sie untersuchte ihn geschickt und schaute dann auf Wilfred hinunter.
»Aber es ist ja gar nicht Toto, der verwundet ist!« rief sie. »Es ist ja der dort. Schauen Sie nur, er blutet aus der Nase.« Carol schaute hinab und sah gerade, wie Wilfred sich einen großen roten Tropfen von der Nase leckte. Sie machte sich jedoch keine Sorgen um ihn. Der war bestimmt bald wieder in Ordnung. »Ich bin überzeugt, daß Toto nicht verletzt ist«, versicherte sie Madame. »Wilfred macht so etwas nicht. Ich meine, er greift nie kleinere Hunde an. Auf alle Fälle schaffe ich ihn gleich hinaus.« »Aber nein. Er muß doch nicht hinaus. Toto war doch der Schuldige. Toto ist ein Bösewicht. Zur Strafe muß er jetzt im Auto warten.« Sie übergab den Pekinesen der Zofe und wandte sich Wilfred zu. »Du bist wirklich ein anständiger kleiner Kerl, Wilfred. Gehen Sie, Kind. Verbinden Sie ihn und bringen Sie ihn dann wieder zurück.« Gehorsam machte Carol kehrt und führte Wilfred hinaus. In ihrem Zimmer schmierte sie ihm, statt eines Verbandes, ein wenig Heilsalbe auf die Nase. Denn einen Verband über der Nase hätte er sich wahrscheinlich sofort wieder heruntergezerrt. Als sie zurückkam, saß Madame in einem Sessel der vordersten Reihe, und Toto war verschwunden. Madame winkte Carol zu sich heran. »Setzen Sie sich zu mir mit Ihrem Hund«, kommandierte sie. Carol rutschte vorsichtig neben Madame Orliana und versuchte, die fürchterlichen Grimassen zu übersehen, die Keith und Howard ihr hinter Madames Rücken schnitten. »Sie spielen in dem Stück nicht mit?« fragte Madame. Carol schüttelte den Kopf. »Ich kam nur, um mir die Probe anzusehen. Ich liebe die Kameliendame, und ich bin gespannt darauf, wie Sie die Rolle auffassen.« »Haben Sie das Stück schon oft gesehen?« »O ja. Ich war Elevin im Stuyvesant Theater.« »Bei Phyllis Marlowe? Wissen Sie, daß sie eine meiner besten Freundinnen ist? Sie ist eine ganz große Schauspielerin. Aber ich sehe die Camilla ganz anders als sie.« »Sie hat uns immer gesagt, daß eine Schauspielerin aus der Camilla alles machen kann, was sie will«, erwiderte Carol. »Gerade deshalb ist es ja so eine interessante Rolle.« »Ja, und Phyllis sieht die Camilla als eine zerbrechliche Blume. Tapfer, aber von Anfang an zum Untergang bestimmt. Ich sehe die Camilla als eine schöne Frau mit einem starken Herzen in einem zerbrechlichen Leib.« »Ja, sie war stark«, meinte Carol. »Sonst hätte Armand sie nicht
so geliebt. Kranke Leute müssen stark sein, wenn man etwas anderes als Mitleid für sie empfinden soll.« Madame schaute Carol aufmerksam an. »Sind Sie Elevin hier?« fragte sie plötzlich. »Nein, ich bin die zweite Naive.« Mr. Richards, der bis jetzt mit Bill Dolan diskutiert hatte, tauchte neben ihnen auf. »Madame Orliana«, sagte er, »würden Sie –« Madame winkte schnell ab. »Einen Augenblick, George. Wer spielt die Nichette?« »Miss Wynton, unsere erste Naive. Sie ist sehr zuverlässig und sehr begabt.« Madame Orlianas Stimme wurde plötzlich herrisch. »Ich will sie lesen hören«, erklärte sie. »Und die Kleine da möchte ich ebenfalls hören.« Carol holte tief Luft. Halb aus Hoffnung für sich selbst, halb aus Mitleid für Mr. Richards. Er war in einer schwierigen Lage, denn die Orliana war eine berühmte Schauspielerin, und sie hatte keine eigene Truppe mitgebracht. Es war seine Pflicht, Madame die passenden Mitspieler auszusuchen. Und wenn er auch noch so fürchten mochte, daß Carol ihn wieder im Stich lassen würde, so war es doch Madames gutes Recht, jemanden zu genehmigen oder abzulehnen. Wenn sie jedoch Carol wählte, und sie dann während der Vorstellung versagte, dann würde die Orliana bestimmt Mr. Richards dafür verantwortlich machen. »Hm«, begann er und warf Carol einen unglücklichen Blick zu. »Und zwar möchte ich jetzt gleich die Lesung hören«, erklärte die Schauspielerin. Da es aussichtslos war, mit einer Frau zu streiten, die im heißesten Hochsommer einen Pelzmantel trug, gab Mr. Richards nach. »Gut«, erwiderte er und winkte Orchid zu. Sie kam nach vorne. »Madame möchte Sie gern die Nichette lesen hören«, erklärte er. »Haben Sie das Manuskript da?« Orchid warf Carol einen raschen Blick zu und lächelte dann bescheiden. »Aber gern«, sagte sie in dem gleichen ehrerbietigen Ton, den alle der Orliana gegenüber annahmen. »Was soll ich lesen, Madame?« »Die Szene im zweiten Akt. Haben Sie jemand, der Ihnen die Stichworte geben kann?« Rose wurde herbeizitiert. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, ging Orchid auf die Bühne hinauf. Sie kannte die Rolle bereits auswendig. Das Lesen würde ihr keine Mühe bereiten. Einen
Augenblick stand sie ruhig da. Ihr blondes Haar und das weiße Leinenkleid hoben sich hell vom dunklen Bühnenhintergrund ab. Sie sah jung und reizend aus. Aber Carol hatte den harten Zug um Orchids Mund bemerkt, und auch nicht das eisige Funkeln der blauen Augen war ihr entgangen. Orchid war gut. Wenn sie sich Mühe gab, war Orchid immer gut. Und jetzt gab sie sich Mühe. Denn ob sie nun das Theater liebte oder nicht, auf keinen Fall würde sie sich eine solche Gelegenheit entgehen lassen. Ihre Aussprache war klar, ihre Worte sinngemäß betont. Ihre Nichette war schlicht und unkompliziert. Carol überlegte schnell. Sie hatte die Rolle noch nie gelesen und wußte nur, daß sie sich auf die Erinnerung an die im Winter gesehenen Vorstellungen verlassen mußte. Es hatte keinen Sinn, technisch perfekt sein zu wollen, warnte sie sich selbst. Ich muß mich in den Charakter der Rolle einfühlen. Nichette war Camillas beste Freundin, und Miss Fane, die die Rolle im Stuyvesant gespielt hatte, hatte sie etwas derb und laut dargestellt, was am besten zu Miss Marlowes zerbrechlicher Camilla paßte. Doch Madame Orlianas Camilla würde zweifellos Schwung und ein gewisses Ungestüm haben. Daher mußte die Nichette als Gegensatz anders gespielt werden. Carol hatte nur wenige Minuten zum Nachdenken. Die Szene war kurz, und sie hatte sich kaum ihr eigenes Bild von der Nichette zurechtgelegt, als Orchid schon fertig war. Sie sprang graziös von der Bühne herunter und drückte Carol das Manuskript in die Hand. Jetzt oder nie. Denk nicht an Madame. Denk nicht an Orchid. Denk nur an die Nichette. Deine eigene Nichette. Carols Knie zitterten, als sie oben auf der Bühne stand, und sie spürte eine kalte Leere in der Magengrube. Ich muß mich entspannen. Carol holte noch einmal tief Luft und begann dann zu lesen. Ein wenig stockend zuerst, doch bald wurde sie ruhig. Aus ihren Augen leuchtete die Liebe Nichettes für Gustave, und dennoch lag besorgte Zärtlichkeit für Camilla in ihrer Stimme. Als sie über ihre Heirat mit Gustave sprach, geschah dies weder mit Miss Fanes trockener Geschäftsmäßigkeit noch mit Orchids überraschter Befriedigung. Sie sprach gelassen, mit ruhiger Sicherheit. Als sie fertig war, schaute sie Madame Orliana an. Die lächelte. Doch ihre Worte richtete sie zuerst an Orchid. »Sie sind sehr gewandt, meine Liebe«, sagte sie. »Ich bin erstaunt, daß man in
Ihrem Alter schon so viel Routine haben kann. Die Kleine dort –« Sie zeigte zu Carol hinüber. »Diese Kleine hat noch lange nicht die Erfahrung wie Sie. Doch bei Ihnen besteht alles nur aus Technik. Alles ist rein äußerlich. Aber der Kleinen da kommt es von Herzen. Kommen Sie her, Kindchen.« Verwirrt kletterte Carol von der Bühne herunter. Sie hatte also nicht übertrieben! Sie hatte es richtig gemacht! Madame Orliana war zufrieden! Aber daß es ihr von Herzen kam, war zu gräßlich. Carol wußte, was das für sie zu bedeuten hatte. Für den Rest ihres Lebens würde sie abgestempelt sein. He, Carol, kommt’s heute bei dir wieder von Herzen? Als sie sich der Diva näherte, warf sie ganz unbewußt einen Blick auf die Gesichter im Hintergrund des Zuschauerraums. Kein Mensch grinste. Alle blickten sie aufmerksam an. Carol blieb vor Madame Orliana stehen, die ohne die geringste Spur von russischem Akzent zu ihr sagte: »Sie spielen meine Nichette. Sie haben noch viel zu lernen, und es wird harte Arbeit für Sie geben, aber ich glaube, gerade das wird Ihnen gefallen.« »Ich danke Ihnen, Madame«, erwiderte Carol. »Es wird mir bestimmt sehr gefallen. Und ich bin schrecklich glücklich über die Rolle.« Sie zögerte und schaute sich unbehaglich nach Orchid um. Orchid lächelte. Es lag keinerlei Groll in ihren Augen. »Geht in Ordnung, Carol«, sagte sie. »Gratuliere. Eins zu null.« Bevor Carol antworten konnte, mischte sich Mr. Richards ein. Ungeduldig und ein wenig nervös fragte er: »Wollen wir jetzt nicht anfangen, Madame?« »Aber natürlich, George. Warum nicht? Mir ist diese ganze Verzögerung unverständlich.« Die Probe begann mit dem üblichen Lesen der Rollen, den langen Diskussionen und den Pausen für das Aufstellen der Versatzstücke. Als Carol plötzlich merkte, daß sie für eine Weile gar nicht gebraucht wurde, ging sie zu Howard hinunter, der ebenfalls wartend in der vordersten Reihe saß. »Hoffentlich«, flüsterte sie Howard zu, »seid ihr vorhin an Lachen nicht fast erstickt.« Howard blickte sie ernsthaft an. »Warum denn?« fragte er. »Ich gebe zu, daß es ein bißchen komisch klang, wie sie es sagte, aber wir haben alle verstanden, was sie meint. Man kann in eine Rolle nicht wie in einen Mantel schlüpfen. So wie es Orchid tut. Es muß von innen heraus kommen. Und bei dir ist das so.« Errötend fügte er hinzu: »Offen gestanden bin ich fest überzeugt, daß einmal eine wirklich große Schauspielerin
aus dir wird.« »Oh, Howard!« Mehr brachte Carol nicht heraus.
13 Die Woche mit den Proben für die Kameliendame verlief ohne große Zwischenfälle. Madame war bei der Arbeit höflich, pünktlich und geduldig. Carol sah mit jeder Probe mehr, daß die Orliana eine große Künstlerin war. Jede Bewegung, jede Betonung, jede Pause hatte ihren Sinn und gehörte zur Charakteristik der Rolle. Madame war zwar unerhört lebhaft, doch hatte sie ihr Temperament immer unter Kontrolle. Carol wurde nicht müde, ihr zuzusehen und zu studieren, wie sie den Kontrast zwischen Camillas körperlicher Schwäche und seelischer Stärke zu gestalten vermochte. Alles in allem war es eine glückliche Woche. Wenn die Sorge um Mike nicht gewesen wäre. Orchid spielte nicht in der französischen Komödie, die zur Zeit auf dem Programm stand. Und da sie auch in der Kameliendame nichts zu tun hatte, verfügte sie über reichlich Zeit. Sie machte guten Gebrauch davon. »Wenn du Orchid suchst«, sagte Keith eines Tages bitter, »dann brauchst du nur nach Mike zu rufen. Die zwei sind ja die reinsten Siamesischen Zwillinge. Was stellt sie sich eigentlich vor?« Mit Mike verhielt es sich so: Wenn Orchid ihn auch nicht von seiner Arbeit abhalten konnte, ja nicht einmal von den Gedanken daran, so schien er doch im übrigen wie betäubt. Sobald Orchid nicht in seiner Nähe war, lief er wie ein Schlafwandler herum. In ihrer Gegenwart war er so fröhlich, wie man ihn sonst noch nie gesehen hatte. »Man kann überhaupt nichts dagegen tun«, stöhnte Carol bei Ellen. »Wir könnten einen hübschen großen Felsblock auf ihren Kopf fallen lassen.« »Das würde sie wahrscheinlich nicht einmal merken. Aber sprechen wir nicht von ihr. Es ist schon herrlich, daß alles andere momentan so nett und friedlich ist.« Mit dem Frieden war es jedoch bald vorbei. Für Carol mit der Kostümprobe am Sonntagabend, für die andern am Montag früh. Wenn Carol später an diese Tage zurückdachte, fragte sie sich oft, ob der Zufall im Leben tatsächlich eine so wichtige Rolle spielt. Denn wenn es an diesem Abend kein Gewitter gegeben hätte, hätte Mikes Zukunft sich nicht so entwickelt, wie sie es dann tat. Auch diejenige von Carol nicht. Im Grunde genommen wurde das Leben sehr vieler Menschen durch dieses Gewitter entscheidend verändert. Es begann kurz nach dem Abendessen. Der Tag war erstickend heiß gewesen, ohne auch nur eine Spur von Wind. Am späten Nachmittag
hatten sich die Gewitterwolken zu ballen begonnen. Als die Darsteller der Kameliendame nach dem Nachtessen ins Theater hinübergingen, lag ein unheimliches graues Zwielicht über der Gegend. Carol hatte ihr Kostüm angezogen und ihre Haare in Nichettes kleine Löckchen gelegt, als ein kühler Luftzug Regengeruch in ihre heiße kleine Garderobe blies. Einen Augenblick später trommelte schon der Regen aufs Dach. Carol selber mochte Gewitter gern, Wilfred allerdings liebte sie weniger. Sie nahm ihn daher in die Kulissen mit, anstatt ihn wie gewöhnlich unten in der Garderobe zu lassen. Der Regen rauschte so laut, daß die Schauspieler kaum ihre eigenen Worte verstanden. Dann, gerade als Camilla die Hand hob und Die Polka, Gaston, die Polka rief, zuckte ein greller Blitz. Es zischte leise und sämtliche Lichter gingen aus. Carol mochte solche Zwischenfälle. Sie gehörten zu einem Sommertheater. Trotz ihres Mitleids mit Wilfred, der sich in der Dunkelheit zitternd in ihre Arme schmiegte, genoß sie die nächsten zehn Minuten. Erschreckt verstummten die Schauspieler für einen Augenblick. Dann hörte Carol, das Donnerrollen übertönend, Madames befreiendes Lachen. »Wollen wir weitermachen, George?« Mr. Richards lachte ebenfalls. »Nur einen Augenblick«, rief er. »Mike holt gleich Kerzen.« Geoffrey hatte gerade wieder einmal sein beliebtes irres Gelächter zum besten gegeben, als Mike, begleitet von einem Donnerschlag, mit den Kerzen zurückkehrte. Die Mädchen kreischten, Wilfred bellte, und irgend etwas fiel krachend zu Boden. Mike zündete die Kerzen an und stellte sie vor den Rampenlichtern auf den Boden. Doch als die letzte Flamme angezündet war, leuchteten plötzlich die Rampenlichter wieder auf. Begleitet vom allgemeinen Gelächter, zog Mike sich in die Kulissen zurück. Dort stieß er gegen Carol, als habe er sie nicht gesehen. Die Probe ging weiter. Doch das Gewitter auch. Carol, die auf einmal Orchid in den Kulissen entdeckte, drückte ihr den zitternden Wilfred in den Arm und lief wieder auf ihren Platz, um auf ihr Stichwort zu warten. Es war eine lange Probe. Als der letzte Vorhang fiel, und die tote Camilla in Nichettes Armen lag, war es schon nach Mitternacht. Müde stand Madame Orliana auf. »Gut gemacht, kleine Nichette«, sagte sie zu Carol. Und dann – völlig überrascht: »Es regnet ja noch immer.« Auch Carol hatte das Gewitter vergessen und Wilfred dazu. Als sie sich nun auf die Suche
nach ihm machte, hatte sie ein schlechtes Gewissen, denn Orchid war sicher schon längst nach Hause gegangen. Hinter der Bühne war weder von Orchid noch von Wilfred etwas zu sehen. Carol eilte in die Garderobe hinunter. Die meisten Mitspieler waren schon dort und schminkten sich lachend und schwatzend ab. Carol blieb an der Tür von Aldred Deans Garderobe stehen. »Haben Sie zufällig Orchid gesehen?« fragte sie. »Ich habe ihr Wilfred in Obhut gegeben. Er fürchtet sich so vor dem Donner.« »Er ist ihr durchgegangen«, erwiderte Aldred. »Ich habe nur noch gesehen, wie sie ihn in den Kulissen einzufangen versuchte.« »Arme Orchid«, sagte Carol. »Wie lange ist das her?« »Ein paar Minuten.« In diesem Augenblick trat Orchid ein. Sie war ganz aufgeregt. »Es tut mir schrecklich leid, Carol«, sagte sie. »Wilfred ist davongelaufen. Es gab einen schrecklichen Donnerschlag, und weg war er. Ich habe ihn überall gesucht.« »Mach dir keine Sorgen«, tröstete Carol sie. »Er wird sich unter irgendeinem Schrank verkrochen haben. Es tut mir leid, daß er sich so schlecht benommen hat.« »Ach, hör doch auf. Der arme Kerl. Ich hatte solches Mitleid mit ihm. Er zitterte am ganzen Körper.« »Nimm’s nicht tragisch. Ich werde ihn schon finden«, versicherte Carol ihr. »Er schätzt es sehr, wenn man ihn sucht.« Sie kleidete sich so rasch wie möglich um und eilte dann die Treppe hinauf, um hinter den Versatzstücken und Kisten und unter den Kommoden und Schränken zu suchen. Hoffentlich mußte sie nicht das ganze Theater auf den Kopf stellen, um ihn irgendwo hervorzuzerren. Denn wenn Wilfred so verängstigt war, kam er nie, wenn man ihn rief. Carols schlimmste Befürchtungen bewahrheiteten sich. Aus einer finsteren Ecke hörte sie ein leises Rascheln, das hinter einem Stoß Versatzstücke hervorzukommen schien. »Wilfred?« rief sie. Die Antwort war ein dünnes, knisterndes Geräusch. »Sei brav, Schatz. Ich komme.« Carol ließ sich auf Hände und Knie nieder und begann langsam hinter die Versatzstücke zu kriechen. Sie hatte Wilfred schon fast erreicht, als sie hinter sich Schritte hörte. Mr. Richards’ Stimme sagte in müdem aber zufriedenem Ton:
»Ich habe mich heute nachmittag in Mikes Vorschlag für die Möwen vertieft. Er ist gut, Bill. Der Bursche kann wirklich etwas.« »Ja«, erwiderte Bill Dolans Stimme. »Ich dachte mir, daß es Ihnen gefallen würde.« Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer der Kameliendame und knipste eine einzelne Glühbirne an. Einen Augenblick herrschte Schweigen. Inzwischen war es Carol gelungen, Wilfred am Halsband zu erwischen. Als sie den verängstigten Hund an sich zog, hörte sie Mr. Richards wieder. »Eccles will diesen Herbst in San Franzisko mit den Möwen eröffnen. Er hat mir heute morgen wegen des Datums telegraphiert. Sie werden dort einen Assistenten brauchen, Bill. Wollen Sie Mike mitnehmen?« Carol vergaß, daß sie lauschte. Wie wunderbar für Mike. Abgesehen davon natürlich, daß er seiner Begabung nach eigentlich Regisseur war. Aber das würden sie bei Eccles Wanderbühne nach einer Weile schon merken. Und schließlich war es ja auch ganz gleich, wie man anfing, so lange man nur auf dem richtigen Weg war. Bill antwortete: »Mir ist’s recht. Ich könnte ihn gut brauchen. Es kann auch gar nichts schaden, ihn noch eine Weile unter den Händen zu haben. Mit der Zeit ist er dann versiert genug, selber eine Inspizientenstelle zu übernehmen.« »Abgemacht«, erwiderte Mr. Richards herzlich. Man hörte ein Scharren. »Ist das die Stelle? Könnte man es nicht reparieren, ohne das Versatzstück herauszunehmen?« Während Mr. Richards noch auf Bills Antwort wartete, fügte er hinzu: »Ich werde morgen früh mit Mike über das Angebot sprechen. Eccles will so rasch wie möglich –« Er wurde von Orchid unterbrochen, die von der Treppe hertönte. »Entschuldigen Sie, Mr. Richards, aber ich hörte gerade zufällig, was Sie zu Mr. Dolan sagten. Es hat keinen Sinn, Mike Horodinsky diese Stelle anzubieten. Nach Beendigung der Sommersaison verläßt er das Theater.« »Sind Sie sicher?« fragte Mr. Richards. Er schien überrascht, aber nicht sonderlich betroffen. Und Carol dachte wütend, daß Mike auch nur einer unter vielen für ihn sei. »Ganz sicher«, antwortete Orchid. »Zufällig weiß ich’s genau. Er will wieder zur Konfektion zurück. Es ist schon alles beschlossen.« Es gab eine Pause. Carol zerrte Wilfred hinter sich her, kroch betäubt hinter den Versatzstücken hervor. Als sie aufstand, hörte sie Mr. Richards mit resignierter Stimme sagen: »Das ist zu dumm. Dann müssen wir die Stelle Al Wendall geben. Am besten telegraphiere ich ihm gleich
morgen früh.« Orchid fügte noch einen Nachsatz hinzu. »Es – es tut mir leid«, sagte sie zögernd, »daß ich ein wenig voreilig gesprochen habe. Mike – wollte es Ihnen natürlich selber sagen.« »Ach, schon gut.« Als Carol mit dem zitternden Wilfred auf dem Arm aus der Dunkelheit auftauchte, sah sie Orchid zufrieden die Treppe hinuntergehen. Mr. Richards und Bill Dolan hatten sich wieder umgedreht und prüften eine Latte an einem der Versatzstücke aus dem Bühnenbild der Kameliendame. Sie hatten offensichtlich gar nicht bemerkt, daß Orchid ihnen ihre Verlobung mit Mike mitgeteilt hatte. Denn etwas anderes konnte das soeben Gesagte gar nicht bedeuten. Orchid hatte erreicht, was sie wollte. Sie hatte ihre sehnlichst gewünschte Sicherheit. Und Mike mußte dafür zahlen mit allem, was aus ihm noch hätte werden können. Sie hatte ihn vernichtet. Und da standen diese beiden Männer und nahmen die Mitteilung gleichgültig hin. Mike als Persönlichkeit war ihnen völlig gleichgültig. Sie konnten ihn gut brauchen. Das war alles. »Gute Nacht«, sagte Carol eisig, als sie an ihnen vorbeiging. Die beiden blickten auf und lächelten müde. »Gute Nacht, Carol.«
14 Mike und Orchid sprachen mit niemandem über ihre Verlobung. Nach allem, was vorgefallen war, kam es Carol nicht einmal merkwürdig vor. Sie hatte nicht erwartet, daß Mike es ihr persönlich sagen würde. Ihre Beziehungen hatten sich stets auf das rein Berufliche beschränkt. Aber sie war bestürzt. Wieso konnte Mike das Theater aufgeben? Wie konnte ein Mensch, der sich so dem Theater verschrieben hatte, etwas Derartiges tun? Was hatte Orchid ihm auf die Länge als Ersatz zu bieten? War irgend etwas dieses Opfer wert? Carol grübelte, fand aber keine Antwort auf diese Fragen. Einige Tage später unterhielt sie sich mit Keith, und ihr wurde einiges klarer. Aber in der Zwischenzeit hatte sie zu viel zu tun, um über Mike nachzudenken. Montag abend sollte die Premiere der Kameliendame stattfinden. Doch vorher, am Montagmorgen, verwandelte sich das Theater in ein Irrenhaus. Mr. Clarick und Mr. O’Toole trafen mit ihrer Truppe an jenem Morgen ein. Carol hatte nicht viele Gedanken an sie verschwendet, da sie reichlich mit ihrer Arbeit für die kommende Premiere der Kameliendame beschäftigt war. Gleichzeitig wollte sie ja noch die Technik der Orliana studieren, um möglichst viel zu profitieren. Rose erinnerte sie erst wieder an die kommenden Ereignisse. »Diesen Trubel werden wir hoffentlich auch noch überstehen«, hatte sie geseufzt. »Du meinst Clarick und O’Toole – Songs und Tänze und Tingeltangel?« »Mach dich nicht lustig über sie, Carol. Sie sind nicht mehr beim Varieté. Sie sind jetzt Produzenten. Und merken Sie sich, Miss Page, beim Theater spricht man nicht respektlos von Produzenten. Hoffentlich sind die beiden nur nicht so anspruchsvoll wie die Orliana. Ein Exemplar dieser Sorte reicht mir.« Clarick und O’Toole waren noch tausendmal schlimmer als Madame. Sie stifteten nichts als Aufregung, Verwirrung und Unsicherheit im Theater. Sie brachten eine Revue, die Geld muß rollen hieß, und beabsichtigten, erst bei Richards alles endgültig zusammenzustellen. Nebenrollen sollten dabei teilweise von Mr. Richards’ Ensemble übernommen werden. Es war der erste Versuch der ehemaligen Varietégrößen, selber etwas zu produzieren, und das
Wagnis zerrte sichtlich an ihren Nerven. Mr. Richards erklärte Carol, daß sie beim Chor mitzuarbeiten habe. »Aber ich kann doch gar nicht tanzen«, jammerte Carol. »Und ich habe auch noch nie auf der Bühne gesungen. Ich –« »Sie werden’s schon lernen. Wir zeigen Ihnen ganz genau, was Sie machen müssen«, sagten Clarick und O’Toole. Aber kein Mensch konnte herausfinden, was Clarick und O’Toole wirklich wollten. Sie waren bläßliche, kleine Herren, die sich ständig das Gesicht mit einem Taschentuch abwischten und nein, Herzchen, nein, nein, nein! riefen. Wir wollen noch einmal beim zweiten Takt beginnen. Sie schickten und empfingen ununterbrochen Telegramme und stimmten mindestens zwanzigmal am Tage ein verzweifeltes Klagelied an. Selbst Madame Orliana war entsetzt, als sie ins Theater kam und sah, was vorging. »Ich habe es schon von weitem gehört«, sagte sie. »Es tönt wie das Trompeten von zwei wütenden Elefanten.« Orchid allerdings war in ihrem Element. Sie konnte in dieser Revue tanzen, sie durfte einen Song zum besten geben, und sie sah reizend aus. Immer wenn Clarick und O’Toole sie anschauten, entspannten sich ihre Gesichter ein wenig. »Sie sind gut, Baby«, versicherte ihr O’Toole. »Wenn die Hauptrolle nicht schon vergeben wäre, dann nähme ich Sie.« Er wischte sich den Schweiß vom Gesicht und fügte hinzu: »Am liebsten würde ich Sie auf der Stelle heiraten. Was halten Sie davon? Das wär’s doch.« Mike, der sie beobachtete, lächelte voller Stolz. Doch sein Lächeln verflog, als er Orchid liebenswürdig aber nachdrücklich antworten hörte: »Nein, mein Bester, nicht um alles in der Welt. Nie in meinem Leben heirate ich einen Mann aus dem Showbusineß, und wenn ihm der halbe Broadway gehört.« »Wie kann man nur so etwas sagen?« erwiderte O’Toole gekränkt. »Es ist ein herrliches Leben, und Sie sollten sich das noch einmal gründlich überlegen.« »Da gibt’s nichts zu überlegen«, antwortete Orchid, und Carol, die Mikes verzerrtes Gesicht sah, dachte: Es ist ihm gräßlich, das Theater zu verlassen. Ach, wenn doch nur noch irgend etwas passieren würde. Aber es kam ihr nichts in den Sinn, was zu Mikes Rettung passieren könnte. Im nächsten Moment fielen Clarick und O’Toole gemeinsam über Carol her. »Um Himmels willen, bleiben Sie doch im Takt«, schrien sie. Carol seufzte. Wie sie diese Revue haßte. Schließlich wurde sie von ihrem verzweifelten Versuch,
gleichzeitig mit zwölf anderen Mädchen die Beine in die Luft zu schwingen, erlöst. »Sie müssen Carol jetzt freigeben«, befahl Mr. Richards. »Sie spielt heute abend bei der Premiere mit und muß sich ausruhen. Sie ist diese Art Arbeit nicht gewöhnt.« So gelang es Carol, wenigstens für diesen Tag zu entkommen. Doch als sie am Abend zum Theater hinüberging, schmerzte sie jeder Muskel. Als sie sich schminkte, hatte sie den Eindruck, ihre Hände seien aus Blei. Die Premiere der Kameliendame verlief soweit gut. Es ärgerte Carol nur, daß in der Sterbeszene ihre Beine vor Müdigkeit zitterten. Madame Orliana merkte es, als sie sich an sie lehnte. »Armes Kind«, flüsterte die tote Camilla, und Carol, die auf einem Bein kniete und Madame tragen mußte, verlor vor Schreck fast die Balance. Als der letzte Vorhang gefallen war, lachte Madame Orliana vergnügt. »Ich glaube, Sie sind wirklich ganz und gar bei der Sache. Für Sie war meine Camilla tatsächlich tot. Deshalb hatten Sie einen solchen Schock, als sie zu reden anfing.« Carol lachte ebenfalls. Aber dann sagte sie ernst: »Sie waren wirklich tot, Madame. Und höchst eindrücklich. Ich habe sehr viel aus der Arbeit mit Ihnen gelernt.« Aus Madames Gesicht strahlte eine unverhohlene Befriedigung. »Das ist gut. Das freut mich. Aber glauben Sie nur ja nicht, daß Sie von diesen verrückten kleinen Kerlen mit ihrer Revue nichts lernen können. Tanzen, singen, die Leute unterhalten, das bedeutet auch allerhand. Man kann von allen Leuten lernen, Kind.« Carol gab sich die größte Mühe. Aber es war schwer. »Das kann ich dir sagen«, versicherte sie Nan nach der Probe am nächsten Nachmittag: »Chorgirls verdienen ihr Geld sauer. Und jetzt summe doch bitte einmal die Melodie von Hoppla, holla und schau mir einen Augenblick zu, damit du mir sagen kannst, ob ich diesen Schritt richtig mache.« Die beiden Mädchen saßen auf der hinteren Terrasse. Carol stand auf und begann gewissenhaft die gelernten Schritte auszuführen. Sie konzentrierte sich ganz auf den Rhythmus und die Stellung ihrer Füße. »Das ist falsch«, sagte eine Stimme. Carol und Nan fuhren herum und sahen Ernest, den Hilfsgärtner, auf seinen Rechen gelehnt. Seine Augen funkelten. »Das ist falsch«, wiederholte er. »Sie dürfen nicht jeden Ihrer Schritte belauern, wie ein Hund seinen Knochen. Sie können doch tanzen. Lassen Sie Ihre Beine nur selbständig machen. Lockern Sie die Knie und die Knöchel.
Schleudern Sie die Beine aus den Hüften heraus. Warten Sie, ich zeig’s Ihnen.« Er lehnte seinen Rechen an die Mauer und kletterte, eine Melodie vor sich hinsummend, zu ihnen auf die Terrasse hinauf. Hier führte er den verblüfften Mädchen perfekte Tanzschritte vor. »Der Schritt ist nicht neu«, erklärte er. »Der ist älter als ich selbst. Und ich habe viel dümmere Mädchen als Sie gekannt, die ihn im Handumdrehen lernten. Versuchen Sie’s noch einmal. Eins-zwei-drei-schleifen. Dum-ta-ta-schleifen. So ist’s recht.« »Ja, aber Ernest«, rief Carol, »jetzt kann ich’s ja!« »Natürlich. Das ist doch keine Kunst. Als ich Sie zum ersten Mal laufen sah, dachte ich mir, das Mädchen ist die geborene Tänzerin.« »Danke«, sagte Carol so freundlich, daß Ernest errötete. Dann fragte sie neugierig: »Aber woher wissen Sie das alles?« Er reckte sich und seine blauen Augen blitzten vergnügt. »Wissen Sie«, sagte er, »wenn ich sie alle so bei der Arbeit sehe, dann denke ich mir oft: Ernest, denen könntest du einen ganz netten Schock versetzen, wenn du ihnen erzählen würdest, wer ihnen das Gras da schneidet.« Befriedigt rieb er sich die Hände. »Keiner von Ihnen weiß, wer oder was ich bin. Sie denken, ich bin einfach so ein alter Bursche hier aus der Gegend. Habe ich recht? Wissen Sie was? Ich habe zehn Jahre lang beim Varieté gearbeitet. Das waren noch Zeiten damals!« »Du meine Güte! Ernest!« riefen die beiden Mädchen wie aus einem Mund. »Jawohl. Ich bin in allen Großstädten Amerikas aufgetreten. Steptänzer und Jongleur.« »Jongleur?« »Ja. Ja. Ich hatte gerade ein Engagement im Palace in New York, als ich Rheumatismus bekam.« »Und dann?« fragte Carol atemlos. »Na, da war ich zuerst einmal eine Zeitlang krank, und dann kam der Tonfilm, und das Varieté war nicht mehr sehr gefragt. So ging ich lieber nach Winasset zurück. Und da bin ich.« »Aber vermissen Sie das Showbusineß denn nicht?« »Nein«, sagte Ernest ein wenig zögernd. »Mein Leben möchte ich mir nicht mehr damit verdienen. Aber ich glaube, für eine einzelne Revue würde ich mich schon noch einmal engagieren lassen.« In Carol stieg Mitleid hoch. »Haben Sie das Jonglieren weiter geübt?« fragte sie. »Natürlich.
Die Kinder hier haben Freude daran.« »Weiß Mr. Richards etwas davon?« Ernest schüttelte den Kopf. »Aber warum, Ernest? Warum haben Sie ihm nie davon erzählt?« »Er hat mich ja nicht danach gefragt«, antwortete Ernest mit einfacher Würde, ergriff seinen Rechen und verschwand um die Hausecke. »Der arme alte Kerl«, sagte Nan schließlich. »Ja. Er sehnt sich danach, wieder einmal vor einem Publikum aufzutreten. Obwohl ich nicht verstehen kann, wie ein Mensch auf die Idee kommt, sich Tanzen als Lebensberuf auszusuchen. Wenn ich nur an meine Muskeln denke –« Carols Stimme war ganz matt vor Erschöpfung. Nan legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter. »Mir geht’s genauso«, sagte sie. »Aber mach dir nichts draus. Man gewöhnt sich an alles.« Und sie gewöhnten sich tatsächlich. Die steifen Gelenke lockerten sich. Und was keiner für möglich gehalten hätte: am Freitag wurden die Proben für Geld muß rollen geradezu erträglich. Verglichen mit den ersten, konnte man sie fast friedlich nennen. Aber dann fiel die Welt von Clarick und O’Toole wieder in Trümmer. »Was sollen wir tun?« jammerten sie. »Was machen wir jetzt?« Mr. Richards erkundigte sich nach ihrem Kummer. Wegen eines Kulissenumbaus ergab sich eine fünfminütige Pause, bei der niemand das Publikum unterhalten konnte, weil keiner der Solisten verfügbar war. »Na und?« fragte Mr. Richards. »Warum lassen Sie das Publikum nicht fünf Minuten warten? Meiner Ansicht nach werden die Leute es überleben.« »Warten!« wandte sich Clarick zu O’Toole. »Er sagt, wir sollen sie warten lassen! Einfach dasitzen und warten!« »Ja, das sagt er«, stimmte O’Toole ihm bei. Wobei seine Stimme vor Entsetzen um eine Oktave tiefer rutschte. Die beiden Männer wandten sich von Mr. Richards ab und musterten suchend die Truppe. Da trat Carol aufgeregt einen Schritt nach vorne. »Mr. Richards«, rief sie, »wir haben jemand. Wir haben Ernest. Den Hilfsgärtner.« »Ernest?« »Ja. Er war zehn Jahre lang beim Varieté. Er kann tanzen und jonglieren.« Mr. Richards lachte. Aber liebenswürdig. »Verwechseln Sie ihn nicht mit jemand anders?«
»Nein – es ist wahr. Er hat mir am Donnerstagnachmittag diesen schwierigen Schritt beigebracht.« »Ernest hat Sie das gelehrt?« Carol nickte. Aber Mr. Richards hatte seine Zweifel. »Ich glaube nicht, daß er genügt, Carol. Er ist zu alt. Er kann nicht mehr –« »Das ist uns völlig egal!« schrie Clarick. »Schaffen Sie ihn her! Wenn er nur ein paar Figuren tanzen kann.« »Also schön, Carol«, sagte Mr. Richards. »Gehen Sie und schauen Sie, ob Sie ihn finden.« Begeistert rannte Carol hinaus. »Ernest!« rief sie. »Ernest, kommen Sie schnell!« Als sie keine Antwort bekam, eilte sie zum Holzschuppen hinüber. Sie riß die Tür auf. »Ernest! Sie müssen kommen! Schnell! Im Theater brauchen Sie einen Fünf-Minuten-Füller.« Ernest fiel die Axt. aus der Hand. Wortlos folgte er Carol. Das runzlige Gesicht war dunkelrot unter der Sonnenbräune. Im Theater wartete das ganze Ensemble gespannt, bis Ernest im blauen Overall den Mittelgang herunterkam. Er ging ein bißchen steif, aber voller Würde. Mit stoischer Ruhe blieb er vor Clarick und O’Toole stehen. »Sie sind Steptänzer?« fragte Clarick. »Ja. Ich war’s einmal.« »Okay, Mann. Gehen Sie dort hinauf und zeigen Sie Ihre Nummer. Was für eine Melodie brauchen Sie dazu?« »Hm«, sagte Ernest. »Ich nehme an, Sie kennen den Silbermond?« »Charlie«, brüllte O’Toole, »spiel den Silbermond für ihn.« Charlie schlug auf dem Flügel ein paar Töne an, und Ernest lauschte. »Langsamer«, sagte er dann bestimmt. Charlie begann wieder. »So ist’s recht.« Ernest wandte sich an Clarick. »Dazu mache ich meine Jongleurnummer.« »Schon recht, schon recht. Fangen Sie nur endlich an.« »Ich habe nichts zum Jonglieren.« »Ja, natürlich. Was wollen Sie?« »Tennisbälle wären gut. Sechs.« »Tennisbälle!« brüllte O’Toole. Es entstand eine Pause, bis irgend jemand in aller Eile Tennisbälle aus dem Wohnhaus brachte. Ernest nahm sie, kletterte auf die Bühne und nickte Charlie zu. Ernest war groß und schlaksig. Doch seine Schritte waren exakt
und fehlerfrei. Die Bälle stiegen in die Luft und fielen genau dort herab, wo Ernest gerade stand. Sie bewegten sich mit ihm. Leicht und beschwingt tanzten sie ihren eigenen Tanz zu der Musik, während Ernest scheinbar ohne jede Anstrengung tanzte. Als er fertig war, blieb er stehen und schaute abwartend auf Clarick und O’Toole. Clarick legte nachdenklich den Kopf zurück. »Können Sie einen altmodischen Slowfox?« Ernest sah ihn mißbilligend an. »Junger Mann, ich habe Onestep getanzt, bevor Sie auf der Welt waren.« Clarick wandte sich an den Pianisten. »Okay, Charlie. Spiel ihm den Rosa Pantoffel.« Der Rosa Pantoffel war eine der besten Melodien der Show, und Ernest lauschte aufmerksam. »Das ist ein guter Song«, sagte er. »Spielen Sie gleichmäßig. Zuerst rasch und beim zweiten Refrain langsamer.« Er tanzte wieder einen beschwingten altmodischen OneStep. Mit dem langsameren Tempo des zweiten Refrains ging er in einen Charleston über. Sein Kopf sank zwischen die Schultern. Die langen Arme und Beine, ja selbst sein Rücken, schienen ohne Knochen und nur zufällig miteinander verbunden. Doch während der ganzen Zeit steppten seine Füße, unabhängig von allen andern Gliedmaßen, die verschiedensten Variationen der Musik. Sie trugen seinen ruckenden, zuckenden Körper über die Bühne und wieder zurück – hin und her – bis die Musik schließlich endete. Clarick und O’Toole blickten Ernest fast mit Ehrfurcht an. »In meiner frühesten Kindheit«, sagte Clarick träumerisch, »hat mein Vater das ganz genauso gemacht. Ich erinnere mich noch, als ob es gestern gewesen wäre.« Er stand auf. »Hören Sie«, rief er, »wenn Sie diese Silbermond-Nummer während des Umbaus machen wollen, und diesen Knochenrapplertanz in dem Rosa-Pantoffel-Bild, dann sind Sie für die kommende Woche engagiert.« O’Toole starrte seinen Partner an. »Eine Woche!« heulte er. »Siehst du’s denn nicht, wenn uns der Himmel pures Gold beschert?« Er rannte den Mittelgang hinauf zu Ernest. »Hören Sie, Mister, wenn Sie wollen, können Sie bei uns arbeiten, so lange diese Narrenhaus-Show läuft.« »Abgemacht!« sagte Ernest. Er strahlte und sah wieder jung aus. »Abgemacht!« wiederholte er. Carol, die ihn vom Mittelgang her beobachtete, fühlte sich selber glücklich und leicht. Nun hatte Ernest sein ersehntes letztes Engagement bekommen. Aber sie war doch
etwas verwundert, wieso O’Toole derartig begeistert von ihm war. Im Grunde genommen war Ernest doch nichts anderes als ein altmodischer Steptänzer. Was war denn so Besonderes an ihm? Erst bei der Premiere von Geld muß rollen verstand Carol den Grund. In der Rosa-Pantoffel-Szene bildete sie mit elf anderen Mädchen in altmodischer Aufmachung den Hintergrund für einen strahlenden Musical-Star im Kostüm der 20er Jahre. In dieser Szene tanzte auch Ernest. Seine Kunst war authentisch, sie stammte tatsächlich aus den 20er Jahren. Dies verlieh der Szene überraschende Echtheit. Ernest bewegte sich mit der Schwerelosigkeit eines Blattes im Wind. Beifall brauste aus dem Publikum herauf. Wieder und wieder wurde er auf die Bühne gerufen. Bis er mit todernstem Gesicht, doch mit strahlenden Augen die letzte Hälfte seines Tanzes wiederholte.
15 Die letzte Aufführung der Kameliendame war beendet. Madame Orliana hatte sich ebenso dramatisch verabschiedet, wie sie Einzug gehalten hatte. Die Premiere für Geld muß rollen und die erste Probe für die Möwen sollten am Montag stattfinden. Doch heute wollte niemand ins Bett, obwohl sie alle todmüde waren. Erstens war die Nacht zu schön, um sie zu verschlafen, und zweitens brauchte man am nächsten Morgen nicht gar so früh aufzustehen. Man saß gemütlich beisammen, wanderte durch den Garten oder unterhielt sich auf der Terrasse. Carol war zu müde, um viel zu reden, doch sie genoß es, herumzuschlendern und die kühle frische Nachtluft einzuatmen. Sie setzte sich in eine Ecke der Terrasse, die Hände um die Knie geschlungen, den schmerzenden Rücken gegen eine der Säulen gelehnt. So fand sie Keith. Er ließ sich neben ihr auf den Boden fallen und stützte schweigend den Kopf in die Hände. Carol blickte auf ihn hinunter. Sie sah sofort, daß er unglücklich war. »Was ist mit dir?« fragte sie schließlich. »Ach – allerhand.« Carol zögerte einen Augenblick. »Keith«, fragte sie dann, »ist es wegen Orchid?« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht. Aber nicht so, wie du glaubst. Es war ja nie etwas Ernsthaftes zwischen uns. Es gab einmal eine Zeit, wo ich große Stücke von ihr hielt. Aber das war falsch.« Er lachte unglücklich. »Ich glaube, ich bin so verbittert, weil ich mich derartig in ihr getäuscht habe.« »Keith«, sagte Carol zögernd, »glaubst du, daß sie Mike wirklich liebt?« »Das ist schwer zu wissen bei Orchid. Ich bin ja nicht unbedingt ein großer Frauenkenner, aber ich glaube, sie liebt ihn, soweit sie imstande ist einen andern Menschen zu lieben. Und das heißt, daß sie ihn besitzen will. Und zwar ganz.« »Aber woher kommt es, daß sie eine solche Macht über ihn hat? Mike hängt mit allen Fasern am Theater, und er weiß seit langem, daß er, wenn er Orchid haben will, das Theater aufgeben muß. Dabei ist er doch nicht der Mann, der auf eine dumme, aber hübsche Puppe hereinfällt.« »Nein, das ist er nicht. Aber vergiß nicht, daß Mike keine Schönheit ist. Orchid ist wahrscheinlich das einzige wirklich
hübsche Mädchen, das sich je in ihn verliebt hat. Außerdem haben beide eine harte Jugend hinter sich, und er bildet sich vielleicht ein, sie könnten einander für diese schwere Zeit entschädigen.« Carol dachte nach. »Aber«, sagte sie nach einem Augenblick, »ich verstehe immer noch nicht. Mike weiß doch genau, daß es ihr nichts ausmacht, sogar die eigene Großmutter zu betrügen.« »Er weiß es, und er weiß es auch wieder nicht. Er weiß, daß sie auf alles pfeift, was wir in der Sonntagsschule gelernt haben. Aber er glaubt, daß das nicht ihr Fehler ist. Er bewundert sie sogar, daß sie kein Hehl daraus macht. Er glaubt, daß sie damit Mut und Charakter beweist und im Grunde genommen aufrichtig und ehrlich ist.« »Stimmt«, sagte Carol. »Und das ist sie auf ihre Art ja auch.« Keith brummte. »Natürlich«, sagte er sarkastisch, »so ehrlich wie ein Fuchs im Hühnerstall. Mike bildet sich ein, daß sich Orchid ihm gegenüber nie unfair benehmen würde. Er glaubt, er sei in diese Ehrlichkeit mit einbezogen – oder so etwas Ähnliches.« »Aber vielleicht ist das tatsächlich so.« Keith zuckte die Schultern. »Vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber glaube mir, wenn sie je auf den Gedanken kommen sollte, auch ihn zu betrügen, und er es merkt – dann prost Mahlzeit.« »Es ist ein Jammer«, murmelte Carol. »Wenn man an seine Zukunft denkt.« »Es ist noch viel mehr als ein Jammer«, erwiderte Keith düster. »Aber ich gehe jetzt besser schlafen. Auf morgen also.« Nachdem Keith verschwunden war, saß Carol noch eine Weile nachdenklich da. Dann ging auch sie zu Bett, und ihr letzter Gedanke war: Hoffentlich geschieht vor Ende der Saison noch irgend etwas, um Mike zu retten. Das Ende der Saison war allerdings nicht mehr weit. Noch zwei Wochen im August und eine im September, und dann noch die drei Vorstellungen, die man zugunsten der Kirchengemeinde von Winasset gab. Geld muß rollen war ein großer Erfolg. Die Möwen wurden geprobt, und dann kam die Premiere. Mike hatte nichts anderes mehr im Kopf als Dampfröhren, Ventile und den Spengler. Sein Nebel war ein Erfolg und ebenso das Stück. Orchid benahm sich die ganze Zeit über tadellos. Auch Keith war vergnügt, solange man die Möwen spielte. Er hatte eine kleine Sprechrolle in dem Stück und versicherte jedermann, bei der nächsten Gelegenheit spiele er den Hamlet. Doch obwohl Carol so sehr wünschte, geschah nichts, was Mike die Augen über Orchid hätte öffnen können. Und Anfang September
hatte Carol die Hoffnung aufgegeben. »Es ist aus mit ihm«, sagte sie eines Nachmittags zu sich selbst. »Warum mache ich mir eigentlich solche Sorgen um ihn? Schließlich will er’s ja so haben.« Ihre Gedanken wurden von Howard Millan unterbrochen. »Was ist los mit dir, Carol?« fragte er. »Du siehst aus wie zehn Tage Regenwetter. Hast du keine Lust, zu dieser Tanzerei zu gehen?« »Ach, Howard, es tut mir leid. Ich glaube, die Luft macht mich so schläfrig.« Sie saßen auf der Terrasse und warteten auf die anderen Mitglieder des Ensembles. Man wollte gemeinsam zum Fünf-UhrTee ins Seehotel gehen. Carol und Howard befanden sich unter den ersten, die bereit waren. Die andern kamen jetzt nach und nach aus dem Haus. Die Mädchen trugen duftige Sommerkleider, die Burschen weiße Hosen und blaue Blazer. Mike war auch da, lang und schlaksig wie immer. Neben ihm stand Orchid. Sie trug ihr blondes Haar hochgesteckt und sah in ihrem blaßblauen Organdykleid sehr zierlich aus. Im oberen Stockwerk wurden Stimmen laut. Jemand schrie und schimpfte. Carol stutzte. Aber wahrscheinlich war es nur eine der üblichen Auseinandersetzungen. Doch plötzlich wurde die Terrassentür aufgerissen, und Ruth Alder stand mit tränenüberströmtem Gesicht auf der Schwelle. »Dort ist es ja!« rief Ruth. »Sie hat’s genommen! Orchid, das ist mein Kleid!« Hinter ihr Rose, rot vor Zorn. Orchid drehte sich zu ihr um und lächelte liebenswürdig. »Ach, Ruthchen, natürlich. Ich habe dich überall gesucht. Ich hatte überhaupt nichts mehr anzuziehen. Und dann sah ich dieses Kleid hier auf deinem Bett liegen. Da habe ich’s mir halt ausgeborgt. Ich weiß doch, es macht dir nichts aus.« Sie war gelassen, sicher und sehr charmant. Ruth war siebzehn, schüchtern und sehr gehemmt. »Aber Orchid«, sagte Ruth schwach. »Ich – ich wollte es doch selber tragen. Es ist ganz neu. Meine Mutter hat es mir geschickt, und –« Orchid war zerknirscht. »Es tut mir ja so leid. Wenn ich das nur gewußt hätte. Aber du warst wirklich nirgends zu entdecken. Und jetzt ist nicht mehr genügend Zeit, mich umzuziehen. Wir wollten gerade gehen. Es tut mir entsetzlich leid, Herzchen.« Sie nahm Mikes Arm und zog ihn die Treppe hinab. Roses Stimme war leise, doch deutlich. »Orchid, das ist Ruths
Kleid. Und sie will es selber tragen.« Orchid wandte sich um. »Aber, Rose«, sagte sie geduldig, »ich habe wirklich keine Zeit mehr, etwas anderes anzuziehen. Ich habe Ruth ja schon gesagt, daß es mir schrecklich leid tut.« Rose richtete sich hoch. Ihre blauen Augen blickten ernst. »Trotzdem ist und bleibt es Ruths Kleid. Und sie will es haben. Ich glaube, es ist besser, du gehst hinauf und ziehst dich um, ob du Zeit hast oder nicht.« Schweigend blickte Orchid in die feindlichen Gesichter ringsum. Ihre Finger krallten sich in Mikes Arm. Dann lachte sie. »Ach du lieber Himmel«, sagte sie, »mach doch nicht so ein Getue wegen eines geborgten Kleides.« »Geborgt?« fragte Rose. »Du meinst wohl geklaut. Du weißt genau, daß du Ruth nicht mehr in die Augen sehen kannst, wenn du ihr dieses Kleid nicht schleunigst zurückgibst. Schon lange genug hast du dir rücksichtslos alles angeeignet, was du bekommen konntest, Orchid. Aber diesmal –« »Jetzt ist’s genug!« Mikes rauhe Stimme übertönte Rose. »Was verstehst du schon davon, wenn man etwas haben möchte. Du hast immer alles gehabt, was du haben wolltest. Du und deine verwöhnte Sorte. Keine zehn Minuten könntest du das Leben führen, das Orchid geführt hat. Dazu fehlt dir der Mut.« Er schaute auf die zarte Gestalt hinab, die sich an seinen Arm schmiegte, und sein Gesicht wurde weich. »Ärgere dich nicht über sie«, sagte er tröstend. »Sie können dir ja nicht das Wasser reichen. Geh jetzt hinauf und gib Ruth das dumme Kleid zurück. Wir gehen nicht zu der Tanzerei. Du und ich wir gehen woanders hin und unterhalten uns dort für uns allein.« Dann, als Orchids Augen in Krokodilstränen schwammen, gab er ihr einen zärtlichen, doch festen Stoß. »Sei doch nicht so albern«, sagte er. »Geh schon, los!« Orchid blickte Mike rasch an, raffte sich zusammen und ging ins Haus. Als die andern abfuhren, wartete Mike noch immer auf sie. Obwohl seine Abschiedsworte kurz waren, schien er niemandem etwas nachzutragen. Nicht einmal Rose. Carol blickte sich noch einmal nach ihm um, bevor sie zu Howard in den Wagen stieg. Mike saß auf der Liebesschaukel auf der Terrasse, die großen Hände um die Knie geschlungen. Sein Ausdruck war gleichzeitig verträumt und eigensinnig. Als der Wagen jetzt anfuhr, fühlte Carol sich merkwürdig beunruhigt – fast besorgt. Obwohl das Orchester ausgezeichnet war, Howard sich den ganzen Abend bemühte, hielt
diese Unruhe an. Carol war froh, als die Zeit zum Heimgehen nahte. Wie gewöhnlich versammelte man sich auf der Terrasse, um auf das Nachtessen zu warten. Doch Mike und Orchid fehlten. Niemand erwähnte den peinlichen Vorfall. Gerade als Mrs. Meiler in der Tür erschien, um zu melden, daß es angerichtet sei, tauchten die beiden Arm in Arm auf. Orchid strahlte, und als sie sich der Terrasse näherte, griff sie nach Mikes Hand. »Wartet alle noch einen Augenblick«, rief sie. »Wir haben eine Neuigkeit für euch.« Alle warteten. »Wir haben uns verlobt«, sagte Orchid. »Wir heiraten bald. Gerade vorhin haben wir’s beschlossen. Ist das nicht fein?« Carol beteiligte sich nicht an dem Gratulationsgestürm. Wie versteinert blieb sie unter der Tür stehen. Gerade vorhin hatten sie’s beschlossen? Dann war also Orchid in der Gewitternacht noch gar nicht mit Mike verlobt gewesen. Damals, als sie gesagt hatte, er würde das Theater verlassen? Sie hatte ihm absichtlich die große Chance verdorben, nur um ihn ja nicht zu verlieren. Nun hatte sie es tatsächlich erreicht. Sie war vor nichts zurückgeschreckt – und nun gehörte er ihr. Orchids Stimme weckte sie. »Na, Carol, willst du uns nicht gratulieren?« »Wie bitte?« fragte Carol idiotisch. »Ja, natürlich. Ich hoffe, daß ihr sehr, sehr glücklich werdet.« Sehr, sehr glücklich – ohne das Theater – armer Mike. Die Speisezimmertür wurde geöffnet, und Mr. Richards trat auf die Terrasse heraus. »Was ist denn los?« fragte er überrascht. »Mrs. Meiler verliert gleich die Geduld.« Mike grinste über das ganze Gesicht. »Ich fürchte, wir sind für den ganzen Rummel verantwortlich, Mr. Richards. Ich – wir – Orchid und ich wir haben uns nämlich verlobt.« Mr. Richards zeigte sich der Situation gewachsen. Er gab Orchid einen Kuß und schüttelte Mike beide Hände. Er schien hocherfreut. »Fein, fein«, sagte er väterlich. »Mein lieber Mike, ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen Glück. Ich wartete schon die ganze Zeit darauf, daß Sie’s mir sagen. Ich dachte, Sie würden’s nie über die Lippen bringen.« Mikes Gesicht lief rot an. »War es denn so deutlich zu erkennen?« Mr. Richards lachte. »Nein, nein. Das kann man eigentlich nicht
behaupten. Aber ich weiß, daß Orchid heiraten will. Und als sie mir vor einiger Zeit erklärte, es hätte keinen Zweck, Ihnen einen Job bei der Wanderbühne anzubieten, da konnte ich mir ungefähr denken, wie der Hase lief. Aber nachdem Sie selber nie den Mund aufmachten –« »Vor einiger Zeit? Einen Job?« Mikes Stimme klang verblüfft. »Ja, ja. Ich habe dann aber die Stelle anderweitig vergeben. Sie wollen ja nicht länger beim Theater bleiben, nicht wahr?« »Ja, Sir, das stimmt. Aber das habe ich gerade jetzt erst beschlossen.« Orchid unterbrach liebenswürdig, doch bestimmt das Gespräch. »Sie müssen sich irren, Mr. Richards. Ich habe Ihnen das auf keinen Fall gesagt. Mike hat sich ja erst vor einer Stunde entschieden.« Mr. Richards stand einen Augenblick nachdenklich da, als ob er in seinem Gedächtnis suche. »Ich bin ganz sicher, daß ich mich nicht täusche«, sagte er schließlich. »Es war in der Nacht der Kostümprobe für die Kameliendame. Als die Beleuchtung versagte. Bill Dolan war bei mir, und wir sprachen davon, Mike nach San Franzisko zu schicken.« Orchids Stimme klang ein bißchen nervös. »Wirklich«, sagte sie, »das kann nicht ich gewesen sein, weil ich’s ja damals noch gar nicht wußte. Das muß Ihnen jemand anders gesagt haben. Es waren doch noch eine Menge anderer Leute da.« »Ja«, sagte Mike, »wer eigentlich noch?« Mr. Richards war bereit, mit sich reden zu lassen. »Hm«, machte er, »wie war das doch? Bill und ich sahen uns einen Riß in einem der Versatzstücke an. Und ich erinnere mich noch, daß Carol mit ihrem Hund von irgendwo hervorgekrochen kam.« Orchid blickte Carol erstaunt an. Dann flog ein Leuchten über ihr Gesicht. »Es könnte vielleicht Carol gewesen sein«, fuhr Mr. Richards fort. »Aber irgendwann tauchte Orchid auf, und ich habe den Eindruck, daß sie es war, die … Haben Sie mit Carol darüber gesprochen, daß Sie das Theater verlassen wollen, Mike?« »Ich habe kein Wort darüber gesagt. Zu keinem Menschen«, erwiderte Mike. Orchids Gesicht hatte sich entspannt. Sie sprach jetzt mit einer gelassenen, Alles-in-bester-Ordnung-Stimme. »Dann muß es Carol gewesen sein. Aber das ist heute ja ganz egal. Wollen wir nicht
hineingehen? Ich bin einfach am Verhungern.« »Einen Augenblick, bitte!« Mikes Stimme klang scharf. »Diese Geschichte möchte ich doch genau wissen. Carol, bleib doch bitte noch einen Augenblick hier.« »Na schön, Sie machen das wohl am besten untereinander aus«, sagte Mr. Richards hastig, und mit einer auffordernden Handbewegung ging er den andern voran ins Haus. Die Gesellschaft folgte ihm zögernd. Zum Schluß stand Carol ganz allein auf der Terrasse. Orchid und Mike standen nebeneinander auf den Treppenstufen und blickten sie mit harten Augen an. Carol wartete. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Unwillkürlich streckte sie wie schutzsuchend die Hand nach der Mauer aus. »Carol«, sagte Mike, »hast du Mr. Richards erzählt, ich wolle das Theater verlassen?« »Nein«, erwiderte Carol und war überrascht, daß sie überhaupt ein Wort herausbrachte. »Aber ich hörte, wie Orchid es ihm sagte. Ich dachte damals, ihr wärt bereits verlobt. Genau wie Mr. Richards auch.« »Aber wir waren es noch nicht«, sagte Mike nachdrücklich. »Ich hatte Orchid auch noch nicht gesagt, daß ich das Theater verlassen würde.« »Aber was sollte mir denn daran gelegen sein, daß du das Theater verläßt?« »Das weiß ich nicht«, gab Mike zu. »Ich verstehe es überhaupt nicht. Wer in aller Welt hat einen Grund, so etwas zu tun?« »Oh, das kann ich dir genau sagen«, fuhr Orchid dazwischen. – »Sie hat einen Grund. Sie ist eifersüchtig, weil du schneller vorwärts kommst als sie. Sie würde alles tun, um dir deine Karriere zu verderben, alles.« Carol schaute Orchid wie versteinert an. »Das ist lächerlich«, sagte sie und versuchte, leise und ruhig zu bleiben. »Das ist lächerlich!« kreischte Orchid. »Ich bin lächerlich, weil ich dich durchschaue? Weil ich Mike die Augen geöffnet habe über das, was du ihm antun wolltest?« Beifallheischend blickte sie nach Mike. Als sie aus seiner Miene ersah, daß er noch nicht restlos überzeugt war, steigerte sie sich noch weiter in ihre Geschichte hinein. »Du brauchst gar kein solches Gesicht zu machen«, gellte ihre Stimme. »Sie ist nicht das, wofür du sie hältst. Sie ist eine Schlange,
sage ich dir. Eine falsche, niederträchtige Schlange. Sie hat gewußt, daß das die Chance deines Lebens war. Sie hat gewußt, daß sie dich nächstes Jahr zum Inspizienten der Wanderbühne machen wollten. Und deshalb hat sie …« »Was?« Mikes Stimme übertönte ihr hysterisches Gezeter. »Woher weißt du das? Und wenn du’s gewußt hast, warum hast du mir’s nicht erzählt?« »Weil ich … ich …« Orchid zögerte. »Glaub, was du willst, Mike«, sagte Carol ruhig. Sie warf den Kopf zurück, drehte sich um und schritt hoch aufgerichtet über die Terrasse und dann um die Ecke des Hauses.
16 Ziellos rannte Carol durch die Dünen und zum Strand hinunter. Sie war noch ganz benommen von der häßlichen Szene auf der Terrasse. Die Tränen, die sie nun nicht mehr zurückhalten konnte, liefen ihr übers Gesicht. Der Sand war kühl und trocken. Carol warf sich schluchzend nieder und vergrub den Kopf in den Armen. Mike, den sie schätzte und bewunderte, Mike, mit dem sie sich ständig stritt, und dem sie restlos vertraute, dieser Mike war bereit gewesen zu glauben, daß sie ihn verraten könnte. Er hätte es geglaubt, wenn Orchid nur ein wenig klüger gewesen wäre. Carol hatte bis jetzt immer geglaubt, daß Anständigkeit und Ehrlichkeit über Egoismus und Intrigen siegen müßten. Wie sehr hatte sie sich getäuscht! Hilflos schluchzte sie in sich hinein. In ihrer Verzweiflung hörte sie die Schritte im Sand nicht und merkte gar nicht, daß sie nicht mehr allein war. Bis sich ein Arm um ihre Schultern legte, und Howard Millans Stimme beruhigend sagte: »Carol, Liebling, weine doch nicht. Sie ist’s nicht wert. Wirklich.« Carol wandte ihm das tränennasse Gesicht zu. »Es – es tut mir leid«, stotterte sie. »Ich – nimmst du’s mir übel, wenn ich noch ein bißchen für mich bleiben möchte?« Besorgt blickte Howard sie an. »Ich möchte dich nicht gern allein lassen«, sagte er. »Ich möchte nicht, daß du über irgend etwas weinst, was diese Person gesagt hat.« Carol lächelte schwach. »Es ist möglich, daß ich einfach nur dumm und unerfahren bin und die Welt nicht kenne. Vielleicht muß man so sein wie sie, um vorwärts zu kommen, skrupellos und hart.« Howard lachte. »Du kannst nicht hart und skrupellos sein, selbst wenn du Unterricht darin nimmst und täglich zwei Stunden übst. Das ist ja einer der Gründe, warum ich dich so gern habe. Weißt du eigentlich, daß ich dich liebe, Carol?« Carol war so überrascht, daß sie sogar zu weinen vergaß. »Aber nein«, sagte sie ehrlich erstaunt. »Nein, Howard. Warum – das ist doch –« Sie hielt inne und versuchte einen leichteren Ton anzuschlagen. »Ich bin offensichtlich heute nicht ganz auf der Höhe«, meinte sie dann. »Fast hätte ich gesagt: Das kommt so plötzlich.«
»Bei mir ist es gar nicht plötzlich gekommen«, erwiderte Howard. »Das erste Mal, als ich dich sah, deine glänzenden Haare und deine grünen Augen, da sagte ich mir: Millan, das ist das schönste Mädchen, das dir je zu Gesicht gekommen ist.« Er küßte sie zärtlich. »Bitte – nein«, stotterte Carol. »Ich mag dich wirklich gern, Howard, aber ich habe dir doch gesagt, daß ich heute nicht ganz auf der Höhe bin. Ich habe Angst.« »Du brauchst keine Angst zu haben.« Howard bemühte sich, auf ihren leichten Ton einzugehen. »Das ist verboten hier.« Er hielt inne. Er versuchte verzweifelt ernsthaft und zugleich so ironisch wie möglich zu sein. Dann ließ er sich im besten Stil der Jahrhundertwende vor Carol auf die Knie nieder. »Carol, willst du mir erlauben, fortan dein Beschützer zu sein?« »Wieso? Was habe ich denn zu befürchten?« »Ach, die Rolle liegt mir nicht«, sagte Howard und gab seine Haltung auf. »Schau, Carol«, fuhr er fort, »ich habe recht gute Zukunftsaussichten. Ich besitze ein winziges Vermögen, und mein Agent hat mir schon verschiedene Engagements für den Winter in Aussicht gestellt. Ich kann dir nicht gerade den größten Luxus bieten, aber – Carol, Liebling, willst du mich nicht heiraten, bitte.« Carol blickte in Howards liebes, gütiges Gesicht. Ihr wurde angst und bange. Er schien so jung und so hilflos. Howard tat ihr unendlich leid. Es mußte grauenhaft sein, jemanden zu lieben und nicht wiedergeliebt zu werden. Um keinen Preis durfte sie ihn durch ihre Abweisung kränken. »Verflixt noch mal«, sagte sie, »das kommt wirklich so plötzlich.« Sie lachten beide, und Carol fühlte sich schon ein wenig besser. Sie hoffte, die Sache abbiegen zu können, ohne ihn allzu sehr zu kränken. »Schau, Howard«, sagte sie mit einer Mischung von Wärme und Nüchternheit, »ich bin erst achtzehn und du höchstens einundzwanzig. Ich glaube, keiner von uns sollte vorläufig ans Heiraten denken.« Es lag Trauer in seinen Augen, und Carol wechselte schnell den Ton. Schmeichelnd sagte sie: »Außerdem bist du der Idealtyp für junge Mädchen und wirst dich in den nächsten dreißig Jahren vor Liebeserklärungen nicht retten können. Ich schlage vor, wir besprechen die Sache wieder, wenn du einen Bauch und eine Glatze hast.« Howard lächelte schwach.
»Bei genauerer Überlegung«, sagte er, »habe ich auch nicht unbedingt Lust, mein Leben lang Verehrer von deiner Garderobentür wegzuscheuchen. Also warten wir besser, bis wir beide alt und lahm sind und im Rollstuhl sitzen.« Er küßte sie leicht auf die Stirn. »Du bist ein prächtiges Mädchen, Carol.« »Und ich finde dich schrecklich nett«, sagte sie aufrichtig. Schweigend saßen sie da und lauschten auf das Rollen der steigenden Flut. »Hoffentlich hast du dich jetzt ein bißchen über diese OrchidGeschichte beruhigt?« fragte Howard nach einer Weile. »Völlig.« »Fein. Da habe ich doch wenigstens ein wirksames Mittel entdeckt, um Mädchentränen zu stillen. Millans Wunderkur gegen Aufregungen.« »Das ist aber eine ziemlich gefährliche Kur«, meinte Carol. »Irgendwann wird dich einmal eine beim Wort nehmen.« »Ich werde sie nur bei ethisch hochstehenden Weiblichkeiten ausprobieren«, versicherte er. Er hatte das Gleichgewicht wiedergefunden. »Hättest du Lust, mit mir nach Winasset zu gehen? Wir könnten zusammen essen, und um acht wären wir wieder zurück.« Carol schüttelte den Kopf. »Wenn’s dir nichts ausmacht, bleibe ich lieber noch ein bißchen hier. Aber geh du nur. Es tut dir sicher gut.« »Ich befolge stets die Wünsche meiner Damen«, sagte Howard und stand auf. Einen Augenblick ließ er seine Hand auf ihrer Schulter liegen. »Denk noch ein wenig über mich nach. Ja?« Er ging auf die Dünen zu, kehrte dann aber noch einmal um. »Carol, als Mann, der dir soeben sein Herz und seine Hand angeboten hat, darf ich dich noch etwas fragen?« »Natürlich.« »Wie stehst du zu Mike? Bist du in ihn verliebt?« »Aber nein, Howard. Glaub mir, ich bin in keinen Menschen verliebt.« »Danke, Carol. Also, vergiß nicht, daß ich immer da bin, wenn du mich brauchst.« »Du bist so lieb«, sagte Carol gerührt. Dann ging er. Und Carol, die Arme um die Knie geschlungen, saß da und schaute dem Küstendampfer nach, der weit draußen vorbeifuhr.
Sie war in keinen Menschen verliebt, und sie wollte nicht heiraten. Schritte knirschten auf dem Sand, schwere, schlurfende Schritte. Doch als Carol sich umwandte, war es schon zu dunkel, um zu erkennen, wer kam. Carol zuckte zusammen. Wer mochte das sein? Sie holte tief Luft und rief laut: »Hallo?« Die Stimme, die ihr aus dem Dunkel antwortete, war heiser und Carol nur zu bekannt. »Um Himmels willen, Carol, war das nötig, so davonzulaufen? Hierher, wo man dich kaum finden konnte?« »Hallo, Mike«, erwiderte Carol ruhig. Er kam zu ihr hin und setzte sich neben sie. »Was ist los?« fragte Carol und rieb sich den Knöchel. »Wenn du die Wahrheit herausgefunden hast und mich jetzt so lange anbrüllen willst, bis du glaubst, du hättest dich entschuldigt – oder wenn du mit mir streiten willst – ich bin zu müde. Ich bringe kein Wort mehr heraus.« »Na endlich! Du hast immer viel zu viel geredet. Aber vielleicht gestattest du, daß ich jetzt etwas sage. Ich wollte dir nämlich mitteilen, daß unsere Verlobung gelöst ist.« »Wirklich, Mike?« sagte Carol so ruhig sie konnte. »Warum?« Er zuckte die Schultern. »Du und ich, wir streiten uns die ganze Zeit, Page. Aber wir haben beide das gleiche Gefühl für das Theater. Wir könnten vielleicht sogar auch ohne das Theater leben, aber dann müßten wir eine Menge anderer Dinge haben als Ersatz.« »Aber du warst doch bereit, ohne das Theater zu leben. Du wolltest –« »Ich weiß«, erwiderte Mike langsam. »Das war, weil ich glaubte, daß – ach, zum Teufel damit. Ich war verrückt auf das Mädchen. Ich dachte, sie sei genau mein Typ. Nicht so großzügig wie du, Page. Vielleicht auch nicht so klug. Aber mit beiden Füßen auf dem Boden – und ehrlich auf ihre Art.« »Ja, das ist sie – auf ihre Art.« »Aber das ist nicht meine Art. Und dafür werde ich nicht meine Zukunft opfern.« »Aber Mike, man hört doch nicht auf, jemanden zu lieben, nur weil er etwas tut, was man nicht mag.« »Das stimmt. Aber man kann sich überlegen, ob man gewillt ist, seine ganze Laufbahn dafür zu opfern. Es handelt sich hier nicht mehr um Gefühle, sondern darum, wie man sein Leben gestalten will.« Er hielt inne und starrte auf das dunkle Meer. Dann fuhr er mit rauher Stimme fort: »Ich habe Orchid gesagt, daß ich sie immer noch
heiraten will, aber daß ich auf keinen Fall das Theater verlassen werde.« Mike lachte bitter auf. »Sie hat mich nicht gerade ins Gesicht geschlagen, aber als sie mit mir fertig war, kam es mir fast so vor.« Carol überlegte hin und her, ob sie Mike eine persönliche Frage stellen dürfe. Die erste, seit sie ihn kannte. »Bist du sehr unglücklich, Mike?« Er zuckte die Schultern. »Ja. Aber jetzt kann mich wenigstens niemand mehr daran hindern, mich freiwillig zu Tode zu hungern.« »Was meinst du damit?« »Ich meine, daß ich nach New York zurückgehe und versuche, ein Engagement am Broadway zu bekommen.« Der Broadway – das Unerreichbare! Das lockende Ziel! Für Anfänger unmöglich! Sogar schwierig für Leute mit Namen. Carol war mehr als erstaunt. Etwas, was sie zumindest für die nächsten Jahre nicht in Betracht gezogen, wovon sie nicht einmal zu träumen gewagt hatte, stand jetzt plötzlich vor ihr. Klar und deutlich. »Broadway«, sagte Carol langsam. »Es wird schwierig werden, Mike. Aber vielleicht können wir uns ab und zu in eine Brotrinde teilen.« Brüsk wandte er sich ihr zu. »Ja«, sagte Carol, und ihre Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. »Natürlich. Ich gehe auch.«
17 Die Saison war vorüber, und man spielte die letzte Vorstellung von Karussell, dem Stück, das die Dorfbewohner sich für ihre Wohltätigkeitsaufführung ausgewählt hatten. Carol und Mike wollten am nächsten Nachmittag abreisen. Carol fuhr nach Hause, um an der Verlobungsfeier ihrer Schwester teilzunehmen. Mike reiste nach Cape Cod. Mr. Richards hatte ihm einen Brief für den dortigen Direktor mitgegeben. Das sieht Eleanor wieder einmal ähnlich, dachte Carol, ihre Verlobung so ungelegen wie möglich zu feiern. Sie hätte wirklich noch ein paar Tage warten können. Dann hätte ich nicht die letzte Aufführung von Karussell versäumt und die Abschiedsparty, die Mr. Richards für die ganze Truppe gibt. Außerdem muß ich jetzt mit dem Zug fahren, statt vergnügt mit allen andern in irgendeinem Auto. Aber das war nun einmal nicht zu ändern. Wehmütig, weil es das letzte Mal war, stieg Carol die Treppe zu den Kulissen hinauf. Sie reiste ab, und morgen würde Nan ihre Rolle übernehmen. In den Kulissen stieß sie auf Charlie Marsh. Charlie spielte leidenschaftlich gerne im Karussell. Nun stand er wieder hier in seinen weißen Pluderhosen, dem scharlachroten Rock und der gepuderten Perücke. Er kam sich wie ein König vor. Als Carol ihn so majestätisch, die Hand am Degenknauf, über die Bühne stolzieren sah, fiel es ihr plötzlich schwer, das Sommertheater zu verlassen. Jedesmal, wenn Charlie auftrat, applaudierten die Dorfbewohner, und obwohl er mißbilligend auf sie hinunterblickte, spürte Carol, wie sehr es ihm schmeichelte. »Ach, da sind Sie ja, Miss Page«, sagte er, als er nach einer Szene Carol in den Kulissen traf. »Ich habe gehört, Sie fahren schon früher weg. Sie werden mir fehlen.« »Sie mir auch, Mr. Marsh. Aber ich hoffe, daß wir uns nächstes Jahr wieder hier treffen.« »Fein. Kommen Sie nächstes Jahr wieder hierher?« »Ich glaube. Mr. Richards hat mich engagiert.« »Das freut mich riesig«, sagte Mr. Marsh befriedigt. Er ging wieder auf die Bühne hinaus, während Carol auf ihr Stichwort wartete. Der Sommer war wirklich herrlich gewesen, dachte sie. Jetzt war bald alles vorbei. Schon hatte sich die ganze Atmosphäre verändert.
Nach der Sicherheit dieses Zwölf-Wochen-Kontraktes sahen sich die Schauspieler nun der ungewissen Wintersaison gegenüber. Der Konkurrenz in der Stadt. Noch keiner von ihnen wußte genau, was er tun würde, außer Geoffrey Wellford, der mit den Möwen nach San Franzisko ging, und Keith, der sich für die Schauspielabteilung der Universität Yale angemeldet hatte. Und Ernest natürlich, der begeistert mit Clarick und O’Toole abgereist war, um weiterhin in Geld muß rollen aufzutreten. Aber sonst hatte niemand ein Engagement. Orchid wollte nach New York und würde dort wahrscheinlich eine Stelle finden. Sie hatte es meistens nicht schwer. Ellen wollte mit Carol nach New York. Sie war zuversichtlich, da Clarick und O’Toole ihr gesagt hatten, sie solle sich doch gelegentlich bei ihnen melden. Auch Rose würde in New York sein. Ihre Mutter wohnte dort. Sie hatte beschlossen, den Sprung zu wagen und sich um ein Engagement zu bemühen. Und wenn es nur als Statistin sein sollte. Howard war der einzige von Carols näheren Freunden, der nicht an den Broadway dachte. Er ging nach Boston, um dort eine Rolle in einer Uraufführung zu übernehmen. Sogar Aldred Dean, die eine bekannte Schauspielerin war, schloß die Möglichkeit nicht aus, den ganzen Winter in den Vorzimmern der Agenten verbringen zu müssen. Wenigstens hatte sie dies gesagt. Carol war aber überzeugt, daß sie sehr bald etwas finden würde. Du meine Güte, dachte Carol, wie komme ich eigentlich dazu, es zu wagen? Ein leises Jaulen riß sie aus ihren Gedanken. An diesem letzten Abend hatte sie Wilfred erlaubt, in den Kulissen zu sitzen. Es mußte jemand über ihn gestolpert sein. Carol drehte sich schnell um. Orchid stand vor ihr. Eine Sekunde herrschte gespannte Stille. Seit der peinlichen Szene hatten sie nicht mehr miteinander geredet. Bei den Proben und beim Essen hatten sie sich zwar öfters getroffen, doch Orchid mied Carol offensichtlich. Und Carol hatte auch keine Lust, mit Orchid zu reden. Sie war überzeugt, Orchid hasse sie seit jenem Abend, als sie Mike die Wahrheit gesagt hatte. Sie hoffte inständig, die Saison gehe zu Ende, bevor Orchid Gelegenheit zu einer weiteren Szene fände. Und jetzt stand sie da. »Es tut mir leid«, sagte Carol. »Was tut dir leid? Daß ich Wilfred auf den Schwanz getreten bin, oder daß du mir meine Zukunft vermasselt hast?« »Es tut mir leid, daß Wilfred dir im Weg gesessen ist«, erklärte
Carol fest. Orchid starrte sie einen Augenblick mit harten Augen an. Dann brach sie zu Carols Überraschung in ein ehrliches, aufrichtiges Lachen aus. »Ach, Carol!« rief sie. »Vielleicht ist es gar kein so schlechter Trick, die Wahrheit zu sagen. Die Leute glauben einem sogar.« Sie lachte noch immer und schwatzte fröhlich weiter. Carol stutzte einen Augenblick, dann lachte sie mit. »Orchid, du bist unmöglich«, sagte sie. Carol fiel jener Abend wieder ein, als Orchid zugegeben hatte, ihr die Rolle in Jane Seftons Stück weggeschnappt zu haben. »Nein, das bin ich nicht«, sagte Orchid schnell. »Ich will nur endlich aus dem Showbusineß heraus, das ist alles. Es hat nichts mit dir und mir zu tun, außer daß du mir dabei im Weg bist.« »Aber ich habe dir doch gar nichts getan.« »Nein. Aber du und Mike, ihr habt die gleiche Einstellung zum Theater. Jedesmal wenn er dich sieht, erinnert er sich wieder daran. Aber trotz allem habe ich dich eigentlich immer gut leiden können, Carol.« »Ich dich auch.« Zu ihrer eigenen Verblüffung merkte Carol, daß sie es ehrlich meinte. »Na schön, dann ist ja alles in Ordnung«, sagte Orchid erleichtert. »Da ist dein Stichwort, Carol.« Carol eilte auf die Bühne und sagte ihre Zeilen. Und dann war Schluß. Dann war fertig gespielt für diesen Abend – und für den Sommer. Aber sie wartete, um sich noch gemeinsam mit den andern vor dem Vorhang zu zeigen. Unter den dunklen Kiefern gingen sie dann zusammen nach Hause. Das Einpacken verschob Carol auf den nächsten Morgen. Das hatte Zeit. Als sie in ihrem hellen, nach Meer duftenden Zimmer stand, blickte sie nachdenklich auf die Photographie ihrer Eltern. Vielleicht würde auch Phil nach Hause kommen. Über das Wochenende bestimmt. Und er würde sie wieder Kindchen nennen. Phil glaubte an die Zukunft seiner kleinen Schwester. Sie waren von jeher Freunde gewesen. Sie würden es auch immer bleiben. Aber Eleanor? Warum vertrug sie sich nur so schlecht mit Eleanor? War die Ältere zu herrschsüchtig, oder sie, die Jüngere, zu rebellisch? Ich weiß es nicht, dachte Carol. Aber ich bin ja auch älter geworden, und vielleicht verstehen wir uns jetzt besser. Carol schlief ein. Am nächsten Morgen packte sie in aller Ruhe, zog dann ihr rotes
Reisekostüm mit der weißen Bluse an und nahm den widerstrebenden Wilfred an die Leine. Auf der Terrasse drängte sich das ganze Ensemble, um ihr Lebewohl zu sagen. Howard brachte sie in seinem Wagen zur Bahn. Mike hatte sie nach dem Abschied nicht mehr gesehen. Er war wohl mit einem anderen Auto zur Station gefahren. Sie machte sich keine Sorgen um Mike. Im Zug würden sie bestimmt wieder aufeinandertreffen. Am Bahnhof kam er ihr prompt entgegen. Er nahm Wilfred bei der Leine und brachte den empörten Hund zum Gepäckwagen. Als er zurückkam, hatte sich das halbe Ensemble unter Carols Wagenfenster versammelt. Carol lachte übers ganze Gesicht. Mit ihren dunklen Haaren und den klaren, grünen Augen sah sie bezaubernd aus. Eine Spur Furcht vor der unbekannten Zukunft und ein wenig Heimweh nach dem eben zu Ende gegangenen Sommer machten ihr Gesicht noch weicher und hübscher. Mike musterte Carol mit den Augen des Theaterfachmanns und war zufrieden. Er lächelte in sich hinein, als er sich durch die versammelten Kollegen drängte. Alle wollten ihm zum Abschied noch einmal die Hand drücken. »Leb wohl, Mike.« »Auf Wiedersehen, alter Kumpane.« »Wir sehen uns am Broadway, Kleiner.« »Sorg dafür, daß Carol beim Aussteigen nicht ihre Handtasche und den Koffer vergißt.« Mikes Augen blitzten, und sein knochiges Gesicht rötete sich vor Freude. »Ach, seid doch endlich still«, begann er gerade, als plötzlich, klein und zierlich, Orchid vor ihm stand. Mike erblaßte, als er in ihre blauen Augen blickte, die jetzt ernst und ehrlich zu ihm aufsahen. Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Leb wohl, Mike! Und es tut mir leid.« Mikes Stimme versagte. Er blickte sie nur wortlos an. Rings um sie herrschte plötzliches Schweigen. Carols Stimme erlöste ihn aus dem Bann. »Mike«, rief sie, »komm endlich! Es wird Zeit! Wir haben noch eine weite Reise vor uns.«