Marion hat viel getan, um mit Tom, der aus einer piekfeinen Familie kommt, mitzuhalten. Doch das Happy-End ist anders al...
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Marion hat viel getan, um mit Tom, der aus einer piekfeinen Familie kommt, mitzuhalten. Doch das Happy-End ist anders als erwartet...
1985 by CORA Verlag
Band 48 (92) 1985
Scanned & corrected by SPACY Diese digitale Version ist FREEWARE und nicht für den Verkauf bestimmt -1-
1. KAPITEL „Blattläuse!“ stieß die rotgesichtige Frau erregt hervor. „Meine ganzen Begonien sind voller Blattläuse!“ Marion Johnson, das Mädchen am Informationstisch der kleinen Bibliothek in River Bend, verstand erst gar nicht, was die aufgebrachte Frau wollte. Ob sie vielleicht Bücher über Gartenpflege suchte? „Wir haben eine ganze Abteilung mit Gartenbüchern“, erklärte Marion freundlich und erhob sich. „Diesmal werde ich sie ausrotten!“ schimpfte die Frau. „Ein für allemal!“ Marion führte sie zu der Abteilung Gartenpflege. Im Nu hatte sie ein paar Bücher über Schädlingsbekämpfung und speziell über Begonien herausgesucht. Die Rotgesichtige ließ sich schnaufend und schimpfend an einem der Tische nieder und begann zu blättern. Marion war eine begeisterte Leseratte und liebte Bücher über alles. Sie hatte vor Freude einen Luftsprung gemacht, als sie den Ferienjob hier in der Bücherei bekommen hatte. Die Räume mit den unzähligen Bücherregalen waren ihr von klein auf vertraut. Bereits als Siebenjährige hatte sie hier ihr erstes Buch ausgeliehen. Trotzdem war sie ganz schön aufgeregt gewesen, als sie im Juni mit der Arbeit begonnen hatte. Doch jetzt, nach gut einem Monat, waren ihr alle Aufgaben in der Bibliothek bestens bekannt. Es machte Marion Spaß, den Leuten bei der Auswahl von Büchern zu helfen und sie zu beraten. Selbst wenn es um Blattläuse ging, so wie jetzt.
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Langsam schlenderte Marion zu ihrem Platz in der Nähe des Eingangs zurück. Es war einer dieser endlos langen Sonnabendnachmittage, an denen in der Bücherei nur wenig los war. Da gab es nie viel zu tun. Schon gar nicht an einem so herrlichen Sommertag wie diesem. L.W. und Laurie K., ihre beiden besten Freundinnen, vergnügten sich jetzt bestimmt im Schwimmbad. Jeff, Laurie K.s neuester Schwarm, vollführte wahrscheinlich wieder tolle Kunststücke im Turmspringen, um die Mädchen zu beeindrucken. Und Laurie K. tat sicherlich so, als interessiere sie sich überhaupt nicht dafür, obwohl sie insgeheim stolz auf Jeff war. L. W. mit ihren roten Haaren und der hellen, empfindlichen Haut nahm wohl wie immer ihr zwanzigminütiges Sonnenbad und suchte dann Schatten unter einem Sonnenschirm. All die anderen räkelten sich währenddessen wohlig in der Sonne, hörten Musik und genossen die Ferien. Wie gerne wäre Marion jetzt auch im Schwimmbad gewesen! Traurig dachte sie daran, daß ihre Arbeit hier leider einen großen Nachteil hatte. Die wenigen männlichen Wesen, die die Bücherei betraten, waren entweder schon weit über sechzig oder noch nicht einmal zehn Jahre alt. Marion hatte bestimmt nicht erwartet, hier viele Jungen kennenzulernen. Trotzdem träumte sie insgeheim davon, daß eines Tages irgendein aufregender Typ in ihrem Alter hereinschneite und sich auf der Stelle unsterblich in sie verliebte. Vielleicht interessierte er sich für moderne Literatur oder Architektur, und sie konnte ihm bei der Auswahl der Bücher behilflich sein. „Du bist sehr nett“. würde er dann sagen, „und du siehst toll aus. Komm, laß uns zusammen irgendwo hingehen...“ Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Das einzige männliche Wesen weit und breit war im Moment der alte Mr. Jones. Wie gewohnt schnarchte er hinter einer Ausgabe der -3-
Zeitschrift „Wall Street Journal“ leise vor sich hin. Dabei sackte er immer weiter in sich zusammen und fiel fast vom Stuhl. Im letzten Augenblick erwachte er jedoch, setzte sich wieder zurecht, raschelte geschäftig mit der Zeitung und schielte kurz zu Marion hinüber. Sie lächelte ihn an. Er nickte freundlich und vertiefte sich dann wieder in die Seiten. Mr. Jones war so eine Art Dauergast. Er kam jeden Tag, um die Zeitungen zu studieren und dabei einzuschlafen. Mrs. Francis, die Leiterin der Bibliothek, hatte Marion gleich zu Anfang erklärt, was es mit Mr. Jones auf sich hatte. Er war ein pensionierter Rechtsanwalt, der ab und zu zum Spaß an der Börse spekulierte. Er erwies sich als äußerst liebenswürdig und zuvorkommend, ein richtiger Kavalier alter Schule, der sehr viel Wert auf ein korrektes Äußeres legte. Das Wichtigste war jedoch, daß er der Bibliothek regelmäßig größere Summen zur Anschaffung neuer Bücher zukommen ließ. Deshalb, so fand Mrs. Francis, durfte er hier ruhig ein bißchen vor sich hindösen und auch schnarchen. „Entschuldige bitte...“ Die Stimme eines Jungen riß Marion aus ihren Gedanken. Sie sah auf - und glaubte zu träumen. Noch nie hatte ihr ein Junge gegenübergestanden, der so unverschämt gut aussah. Er hatte lockiges braunes Haar, blaue Augen, und er lächelte sie an. Verwirrt stand Marion auf. „Ja?“ „Kannst du mir sagen, wo ich hier Biographien finde?“ Marion hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Dabei kannte sie so ziemlich alle Schüler hier in der Gegend. „Ich suche etwas über Albert Einstein“, erklärte er. „Muß ich da bei den Biographien oder in der Physik-Abteilung gucken?“
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„Wahrscheinlich bei den Biographien. Warte, ich zeige dir, wo du sie findest.“ „Ich will dich nicht stören. Sag mir einfach, in welche Richtung ich gehen muß.“ „Aber ich helfe dir gern. Komm mit.“ Lächelnd führte sie ihn zu dem Regal, in dem die Biographien und Autobiographien berühmter Persönlichkeiten standen. Wie gut, dachte sie, daß ich heute meine neue gelbe Bluse und meine weiße Hose angezogen habe. Die Bluse paßte so gut zu dem schulterlangen braunen Haar und den grünen Augen. Marion blieb vor einem Regal in der Ecke stehen und zeigte auf die Bände über Einstein und fragte: „Suchst du ein bestimmtes Buch?“ „Nein, eigentlich nicht. Ich will am Abercrombie-College einen Kursus über die historische Entwicklung der Naturwissenschaften belegen. Und da dachte ich, ich besorge mir mal ein paar Bücher, die ich zur Einführung lesen kann.“ Aus der Traum, dachte Marion enttäuscht. Abercrombie war ein kleines Privat-College etwas außerhalb der Stadt. Und wer schon aufs College ging, interessierte sich sicher nicht im geringsten für ein fünfzehnjähriges High-School-Mädchen. „Hast du es denn schon mal in der College-Bibliothek versucht?“ fragte sie. Er hatte ein Buch aus dem Regal genommen und sich in das Inhaltsverzeichnis vertieft. „Was? Wie? Oh. Ja, das habe ich. Aber ich kam hier gerade vorbei, und da dachte ich, ich schau mal, was ich noch auftreiben kann. Dieses Buch hier ist zum Beispiel hochinteressant. Kennst du es?“ Marion schüttelte den Kopf. Er schlug das Buch wieder auf und überflog die erste Seite. Marion musterte ihn verstohlen. Er war auffallend groß und schien viel an der frischen Luft zu sein, denn er war braungebrannt. Die dunklen Locken waren an -5-
den Schläfen von der Sonne ausgeblichen. Er trug eine abgeschnittene, kurze Jeans und ein blau-weiß gestreiftes Sporthemd. „Könntest du mir noch zeigen, wo ich etwas über Physik finde?“ Er sah von seinem Buch auf. Marion spürte, wie sie rot wurde. Ob er bemerkt hatte, daß sie ihn so unverhohlen anstarrte? „Ja, gern.“ Sie versuchte, ihre Stimme möglichst gleichgültig klingen zu lassen. „Hier drüben. Denkst du an etwas Bestimmtes?“ „Danke, ich werde einfach mal ein bißchen stöbern.“ „Okay. Wenn du Hilfe brauchst...“ Sie wandte sich zum Gehen. „Oh! Wow!“ rief er begeistert. Marion drehte sich verwundert um. „Ihr habt hier ja ,Die Physiker'! Nach diesem Buch suche ich schon lange. Es geht darin um die berühmtesten Physiker und ihre Entdeckungen und...“ Er hielt inne und sah sie an. „Du hältst mich jetzt bestimmt für ziemlich sonderbar, stimmt's? Einstein und Physik und all so'n Zeug...“ Marion lächelte und schüttelte den Kopf. „Nein, gar nicht. Weißt du, hier kommen eine Menge sehr merkwürdiger Leute her.“ Plötzlich wurde ihr bewußt, was sie da gesagt hatte. Verlegen schaute sie zu Boden und errötete. „Tut mir leid, so habe ich das natürlich nicht gemeint. Ich wollte nur sagen, daß...daß...“ „Keine Sorge, ich hab' schon verstanden.“ Er strahlte sie an. Marion atmete erleichtert auf. „Ich heiße übrigens Tom Stearns.“ „Marion Johnson.“ Sie schwiegen und wußten offensichtlich beide nicht so recht, was sie noch sagen sollten.
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Marion hörte Stimmen hinter sich. Eine Frau und ein kleiner Junge standen am Informationstisch. „Oh, es gibt Arbeit für mich“, sagte sie schnell. „Nett, dich kennengelernt zu haben.“ Eilig drehte Marion sich um und ging zu ihrem Platz zurück. Tom Stearns. Mehrmals wiederholte sie in Gedanken diesen Namen. Wie gut, daß sie heute nicht mit ihren Freunden zum Schwimmen gegangen war. Wie gut, daß sie ausgerechnet hier in der Bücherei einen Job bekommen hatte. Sie lächelte der Frau mit den Blattläusen zu, die immer noch vor sich hinmurmelte und las. Dann wandte sie sich an die Frau mit dem kleinen Jungen. „Kann ich Ihnen helfen?“ fragte Marion. „Wir wollten uns erkundigen, ob Sie auch Bücher über Raketen haben. Bill, mein Sohn, ist ganz verrückt nach allem, was mit Raketen zu tun hat.“ „Hallo, Bill!“ Marion nickte dem Kleinen freundlich zu. Er war ungefähr sieben Jahre alt. „Wir haben eine Menge Bücher über Raketen.“ In der Kinderbuchabteilung suchte sie mit gezielten Griffen ein paar Bildbände heraus. „Schau mal, Bill, in diesem Buch findest du alles über die Geschichte des Fliegens. Und hier ist ein Buch über die NASA, die Weltraumbehörde. Und sieh mal, hier haben wir sogar ein ganzes Buch über Raumfähren.“ Bill hatte große Augen bekommen und griff begeistert nach dem Band. „Nimm doch einfach alle diese Bücher mit an den Tisch dort drüben, und dann schaust du dir in Ruhe an, welche du mit nach Hause nehmen möchtest. „ „Vielen herzlichen Dank“, sagte die Mutter. Marion fuhr Bill freundschaftlich durch die blonden Locken. Er bemerkte es kaum, denn er war schon ganz und gar in die Bildbände vertieft.
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Marion freute sich immer wieder über die strahlenden Kinderaugen, wenn sie die richtigen Bücher herausgesucht hatte. Es machte ihr Spaß, in den Kleinen die Begeisterung fürs Lesen zu wecken. Beinahe hätte sie darüber Tom Stearns vergessen. Suchend sah sie sich um und stellte dann erleichtert fest, daß er immer noch bei den Physik-Büchern stand. Er hatte seine Umhängetasche auf den Boden gestellt und lehnte lässig an einem der Regale, mit dem Rücken zu Marion und völlig in seine Bücher vertieft. Er sieht nicht nur umwerfend aus, dachte sie, sondern ist auch intelligent. Das fand sie sehr wichtig. In ihrer Klasse war sie die Viertbeste, und sie konnte sich noch genau daran erinnern, daß L.W. sie einmal beiseite genommen hatte, um ihr einen Rat zu geben. „Marion“, hatte sie damals verkündet, „du zeigst nach außen hin viel zu offen, wie intelligent du bist. Damit vergraulst du jeden Jungen.“ „Und du?“ hatte Marion erstaunt zurückgefragt. L. W. war nämlich die Zweitbeste in der Klasse. „Bei mir ist das etwas anderes. Aber du redest ununterbrochen über Bücher und Literatur...Das vertreibt den nettesten Jungen!“ Diese Worte hatten Marion lange Zeit sehr zu schaffen gemacht. Schließlich war sie zu dem Ergebnis gekommen, daß die Jungen, für die ein Mädchen sich absichtlich dümmer machen mußte, wohl ohnehin keinen Pfifferling wert waren. Deshalb blieb sie lieber so, wie sie war.
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Marion sah auf die Uhr. Es war zehn vor zwei. Mrs. Francis mußte jeden Augenblick vom Mittagessen zurückkommen. Dann würde sie selbst zur Pause gehen müssen. Hoffentlich gelang es ihr, vorher noch kurz mit Tom zu sprechen. Bill und seine Mutter kamen an den Buchungstisch. „Na, hast du dir ein paar schöne Bücher ausgesucht?“ fragte sie. Der Junge nickte und schob ihr die Bücher zu. Marion nahm die Lesekarte der Mutter und notierte die Buchnummern. „Und nochmals vielen Dank“, sagte die Frau beim Gehen. „Nächste Woche kommen wir wieder und holen neue Bücher.“ Marion sah ihnen nach, wie sie durch die große Glastür hinausgingen. Dabei bemerkte sie den braunen Hund, der vor dem Eingang angebunden war, ein Irish Setter. Er wedelte freudig mit dem Schwanz und versuchte, Bills Gesicht abzulecken. Der Junge streichelte ihn respektvoll, offensichtlich etwas eingeschüchtert von dem großen Tier. „Oh! Wie ich sehe, hat Max einen kleinen Freund gefunden.“ Marion fuhr wie elektrisiert herum. Hinter ihr stand Tom. Das war schon das zweite Mal heute, daß er sie so überraschte. Lächelnd beobachtete er Bill und den Hund. „Ist das deiner?“ „Ja. Er liebt Kinder“, antwortete er. „Ein herrliches Tier!“ Sie schauten zu, wie die Frau mit dem Jungen weiterging. Max, der Hund, machte es sich wieder mitten vor der Eingangstür bequem. Marion wandte sich schließlich wieder Tom zu. Er hatte sich drei dicke Wälzer ausgesucht. „Damit werde ich erstmal genug zu tun haben“, lachte er. „Dann brauche ich jetzt deine Lesekarte.“
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Einen Augenblick war er überrascht, dann wurde er verlegen. „Tut mir leid“, sagte er. „Ich habe noch keine Lesekarte. Daran habe ich gar nicht gedacht. „ Hilfesuchend sah er sie an. „Macht nichts. Dann füllen wir jetzt eben ein Anmeldeformular aus, und, du bekommst die Lesekarte in der nächsten Woche.“ „Danke.“ Marion holte ein Anmeldeformular aus der Schublade. „Also...wohnst du hier in River Bend?“ Tom nickte. „Bist du über achtzehn Jahre alt?“ „Ich bin siebzehn.“ Marions Herz machte einen kleinen Sprung. Dann besuchte er also doch noch nicht das College! „Wenn du noch nicht achtzehn bist, müssen deine Eltern die Anmeldung unterschreiben. Tut mir leid, es ist nun mal Vorschrift.“ Bedauernd sah sie ihn an. Tom fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Wir sind gerade erst hierher gezogen. Ich habe sehr oft die Bibliothek in Boston benutzt, und da dachte ich, ich könnte die Karte...“ Marion durfte während ihrer Arbeitszeit eigentlich keine längeren Privatgespräche führen. Aber weil im Augenblick sowieso alles leer war, beschloß sie, heute einmal eine Ausnahme zu machen. Tom erzählte Marion, daß er mit seinen Eltern erst vor kurzem aus Boston nach River Bend gezogen war. Sein Vater war der neue Präsident des Abercrombie-College, deshalb konnte Tom dort auch Kurse belegen. Im Herbst wollte er dann ganz normal die Oberstufe der High School besuchen.
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Aufmerksam hörte Marion ihm zu und ermunterte ihn immer wieder, weiterzusprechen. Er erzählte von Boston und dem merkwürdigen Gefühl, aus so einer lebhaften Stadt in den verschlafenen Mittleren Westen zu ziehen. Während er sprach, fiel Marion auf, daß er gar nicht so schüchtern und unsicher war wie viele andere Jungen in seinem Alter. Was er sagte, klang echt und überzeugend, und er schaute ihr beim Sprechen offen in die Augen. Seine Stimme war warm und tief. Wahrscheinlich war er schon als Kind sehr viel mit Erwachsenen zusammengewesen, mit seinem Vater vielleicht und dessen Kollegen. Er hatte offenbar schon früh gelernt, sich ohne Scheu zu äußern und zu bewegen. Marion vermied es, auf die Uhr zu sehen, aber sie wußte, daß Mrs. Francis jeden Augenblick zurückkommen mußte. „Ich glaube, ich gehe jetzt besser“, meinte Tom. „Ich möchte dich nicht länger von der Arbeit abhalten.“ „Ach, das macht doch nichts. Wir haben nur Anweisung bekommen, während der Öffnungszeiten keine allzu langen Privatgespräche zu führen. Was deine Bücher betrifft, kann ich sie dir ja einfach bis Montag zurückstellen. Wenn deine Eltern die Anmeldung unterschrieben haben, kannst du sie dir gleich Anfang der Woche abholen.“ „Prima.“ „Ich hefte einen Zettel mit deinem Namen daran und stelle sie hier in das Regal mit den Vorbestellungen.“ Sie nahm ein Stück Papier und bat ihn, seinen Namen zu buchstabieren. „S-t-e-a-r-n-s“, diktierte er. Nur allzu gern hätte Marion auch erfahren, wo er wohnte, welche Schule er besuchen würde und auch sonst noch so allerlei. Aber sie traute sich nicht zu fragen und blieb statt dessen lieber kühl und geschäftsmäßig. Sie band die drei - 11 -
dicken Wälzer mit einem Gummiband zusammen, schob den Zettel mit dem Namen dazwischen und stellte das Paket in das Regal hinter dem Tisch. „Ja, also dann, vielen Dank“, sagte Tom. Er zögerte und schien noch etwas sagen zu wollen. Marion wartete mit angehaltenem Atem. „Du heißt Marion, nicht wahr? Marion Johnson?“ Sie nickte und hoffte inständig, daß er noch etwas sagen würde. Vielleicht: „Wollen wir uns nicht heute abend treffen?“ Oder noch besser: „Du bist sehr nett, und du siehst toll aus. Komm, laß uns zusammen irgendwo hingehen...“ Aber er fuhr sich nur mit den Fingern durchs Haar. „Gut, dann also bis Montag.“ „Ich werde am Nachmittag hier sein“, sagte sie mit möglichst gleichgültiger Stimme. Tom warf seine Tasche über die Schulter, hob kurz die Hand und ging zur Tür. Max, der braune Hund, sprang an ihm hoch, wedelte mit dem Schwanz und vollführte einen wilden Freudentanz. Tom beugte sich zu ihm hinunter und kraulte seinen Kopf. Dann winkte er Marion durch die Glastür noch einmal zu. Sie winkte zurück. Einen Moment lang verschwand Tom aus ihrem Blickfeld, dann kam er mit einem sehr teuer aussehenden Rennrad zurück. Max trottete brav neben ihm her. Marion schaute ihnen nach, bis sie in eine Seitenstraße einbogen und nicht mehr zu sehen waren. Nachdenklich drehte sie sich zum Regal um und strich zärtlich mit dem Finger über den Zettel mit Toms Namen.
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2. KAPITEL Auf dem Heimweg hätte Marion Luftsprünge machen können vor Glück. Was für ein aufregendes Gefühl, einen Jungen wie Tom kennengelernt zu haben! Sie stürmte in ihr Zimmer, warf schwungvoll die Bücher aufs Bett, die sie sich aus der Bibliothek mitgebracht hatte, und holte sich das Telefon aus dem Flur. „In einer halben Stunde gibt es Abendbrot“, hörte sie ihren Vater aus der Küche rufen. „Okay, Dad!“ Marion schloß schnell ihre Zimmertür hinter sich, ließ sich aufs Bett fallen und wählte mit fliegenden Fingern die Nummer von Laurie K., um ihr von der großen Neuigkeit zu berichten. Ängstlich lauschte sie auf das Tuten in der Leitung. Hoffentlich war Laurie K. zu Hause! Marion ließ es dreimal läuten, viermal, fünfmal...nichts! Warum nahm nur keiner ab? Sechsmal, siebenmal...keiner da! Enttäuscht legte sie auf. Aufgeregt wählte sie L.W.s Nummer. Es tutete einmal, zweimal...“Hallo?“ L. W.s Mutter meldete sich. Marion versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen. „Kann ich bitte L.W. sprechen?“ „Marion?“ „Guten Tag, Mrs. Wilson. Ist L.W. zu Hause?“ „Sie steht gerade unter der Dusche. Ich werde ihr sagen, daß du angerufen hast.“
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Marion bedankte sich und legte auf, kurz davor, zu explodieren. Sie konnte ihre Begegnung mit Tom unmöglich noch länger für sich behalten. Wem konnte sie nur davon erzählen? Ihrem kleinen Bruder Todd, der im Wohnzimmer fernsah? Nein, dachte sie. Sie kam zwar in letzter Zeit etwas besser mit ihm aus, doch so gut war ihr Verhältnis nun auch wieder nicht. Mom arbeitete leider noch. Und Dad? Unmöglich, jetzt zu ihm in die Küche zu stürmen und ihm zu erklären, daß sie heute den Jungen kennengelernt hatte, von dem sie schon so lange geträumt hatte. Sicher, sie konnte mit ihren Eltern über alles reden, doch was Jungen betraf, hatte es bisher noch nicht allzuviel zu erzählen gegeben. War es überhaupt klug, mit den Eltern über dieses Thema zu sprechen? Nein, lieber sollte sie nochmal versuchen, Laurie K. zu erreichen. Leider wieder vergeblich. Nach dem sechsten Klingeln ließ Marion den Hörer sinken. Wie konnte Laurie K. es wagen, ausgerechnet jetzt nicht zu Hause zu sein? Und warum mußte L.W. gerade in diesem Augenblick auf die absurde Idee kommen, zu duschen? Jetzt, wo Marion die beiden so dringend brauchte, wo sie so darauf brannte, jemandem mitzuteilen, wie Tom sie angelächelt und ihr zum Abschied zugewinkt hatte! Seufzend ließ sie sich in die Kissen zurücksinken. Eines der Bücher, die sie mitgebracht hatte, bohrte sich unsanft in ihre Rippen. Unwillig erhob Marion sich wieder, brachte das Telefon ins Treppenhaus zurück und machte es sich dann im Schneidersitz auf dem Bett bequem, um sich die Bände näher anzusehen. Das erste Buch trug den Titel „Irish Setter-Aufzucht und Pflege“. Auf dem Einband prangte das Foto eines Hundes, der genauso aussah wie Max. Das zweite Buch war noch fast neu und in eine durchsichtige Plastikhülle eingebunden. Der Titel
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war „Boston - Geschichte und Gegenwart.“ Das dritte und dickste Buch hieß „Die Physiker.“ Nachdem Tom am Vormittag die Bücherei verlassen hatte, hatte Marion beschlossen, sich ein bißchen zu informieren. Sie war der Meinung, daß man sich mit Büchern hervorragend auf fast alle neuen unbekannten Situationen des Lebens vorbereiten konnte. Da die Bibliothek am Sonntag geschlossen blieb, merkte bestimmt niemand, daß sie „Die Physiker“ einfach mitgenommen hatte. Sie wollte das Buch auch gleich am Montagmorgen wieder zurückstellen. Wenn Tom dann am Nachmittag käme, könnte sie beiläufig erwähnen, daß sie sich den dicken Wälzer einmal näher angesehen hatte. Vielleicht beeindruckte ihn das ein bißchen. Außerdem gab es dann etwas, worüber sie miteinander reden konnten. Marion wußte zwar noch nicht viel von Tom, aber Irish Setter und Boston waren doch schon mal Hinweise, denen man nachgehen konnte. Marion hörte, wie der Wagen ihrer Mutter in die Einfahrt einbog. Ein paar Minuten später steckte Mrs. Johnson den Kopf zur Tür herein. „Hallo“, sagte sie. „Wie war's heute?“ „Hallo, Mom. Der Tag war super! Und bei dir?“ „Viel Arbeit“, antwortete Mrs. Johnson. „Dein Vater sagt übrigens, daß in zwei Minuten das Essen fertig ist. Ich ziehe mich nur noch rasch um.“ Sie verschwand in Richtung Schlafzimmer. Marions Mutter arbeitete als stellvertretende Geschäftsführerin in einem kleinen Juweliergeschäft im Einkaufszentrum. Sie hatte viel Spaß an ihrem Beruf, den sie vor fünf Jahren wieder aufgenommen hatte, weil die Johnsons auf das Geld angewiesen waren. - 15 -
Liebevoll stellte Marion die drei Bücher auf ihr Nachtschränkchen. „Toms Bücher“ hatte sie sie getauft. Zärtlich strich sie über den dicken Physik-Wälzer und ging dann hinunter in die Küche. Weil ihre Mutter samstags arbeiten mußte, hatte es sich so ergeben, daß der Vater an diesem Tag kochte. Er war ein guter Koch, der die Familie gern mit allerlei Spezialitäten verwöhnte. Auch heute duftete es wieder verführerisch aus der Küche. Es sollte Spaghetti mit einer besonderen Fleischsoße geben. Marion spürte auf einmal, daß sie einen Bärenhunger hatte. Der Tisch im Eßzimmer war schon gedeckt. Ihr Vater stand in der Küche am Herd und rührte mit einem Kochlöffel eine riesige Portion Soße um. Ohne die Arbeit zu unterbrechen, drehte er sich zu seiner Tochter um und gab ihr einen Begrüßungskuß auf die Wange. „Na, hungrig?“ „Schon fast verhungert!“ Er lächelte und schaltete den Herd aus. Marion ließ sich auf einen Stuhl sinken und sah zu, wie der Vater knusprig-heiße und himmlisch duftende Knoblauchbrote aus dem Backofen nahm. Unvermutet streckte Todd einen Kopf zur Küchentür herein. „Was soll ich jetzt noch tun?“ „Das Brot aufschneiden und es auf den Tisch stellen“, antwortete der Vater. „Hallo!“ begrüßte Todd seine Schwester. „Na, wie geht's Marion, der großen Bibliothekarin?“ „Prima! Und wie geht's Todd, dem Ekel?“ Todd strafte sie mit einem vernichtenden Blick und schnitt das Brot in Stücke. Marion lehnte sich bequem im Stuhl zurück und dachte nicht im Traum daran, auch mitzuhelfen. Am Sonnabend, wenn
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die beiden Frauen arbeiteten, waren Kochen und Küchendienst Männersache. Marion gefiel diese Regelung sehr. Todd legte das Brot in einen Korb und brachte ihn ins Eßzimmer hinüber. Er wurde bald vierzehn und schoß in der letzten Zeit so schnell in die Höhe, daß man ihm beim Wachsen fast zusehen konnte. Schon jetzt war er so groß wie sein Vater, mit dem er sehr viel Ähnlichkeit hatte. Marion beobachtete die beiden beim Hantieren in der Küche. Beide hatten dunkles, gewelltes Haar und braune Augen. Todd würde bestimmt einmal ein sehr attraktiver Mann werden. Im Moment wirkte er jedoch noch etwas ungelenk und schien fast ausschließlich aus Händen, Füßen, Beinen, Armen und Ellenbogen zu bestehen, mit denen er überall anstieß. Es gab Augenblicke, da fand Marion ihn unwahrscheinlich nett, dann ganz in Ordnung, meistens jedoch unausstehlich. Es konnte ganz schön anstrengend sein, einen zwei Jahre jüngeren Bruder zu haben. Erst in letzter Zeit kamen sie manchmal richtig gut miteinander aus. Marions Vater goß die Fleischsoße in eine große Schüssel. „Es kann losgehen, Marion“, sagte er, während er einen Riesenberg Spaghetti auf eine Platte häufte. Todd trug die Schüssel mit der dampfenden Soße vorsichtig ins Eßzimmer hinüber, kam dann zurück und holte die Spaghetti. „Salat, Brot, Spaghetti, Soße...“, zählte der Vater auf. „Fehlt noch was? Wie sieht es mit Getränken aus, Todd?“ Stehen schon auf dem Tisch. „Gut. Das wär's dann wohl“, stellte der Vater zufrieden fest. Er verbeugte sich in gespielter Ritterlichkeit vor seiner Tochter und geleitete sie an seinem Arm ins Eßzimmer.
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Während des Essens erzählte Marions Mutter von ihren Erlebnissen im Juweliergeschäft, der Vater berichtete von der Autoreparatur und Todd von seinem Baseball-Verein. Wie gern hätte Marion von Tom erzählt! Aber sie hielt doch lieber ihren Mund. Als der Vater sie nach ihrer Arbeit in der Bücherei fragte, berichtete sie von der Frau mit den Blattläusen, dem Jungen mit den Raketen und von Mr. Jones. Dann fiel ihr plötzlich etwas ein. „Wißt ihr eigentlich, wo mein Fahrrad geblieben ist?“ fragte sie. „Dein Fahrrad?“ Todd schien aus allen Wolken zu fallen. „Ich dachte, du findest Radfahren albern?“ Marion tat, als hätte sie die Bemerkung ihres Bruders überhört. Dabei hatte Todd recht. Vor drei Jahren hatten Marion und ihre Freunde nämlich beschlossen, daß Fahrräder nur etwas für kleine Kinder seien. „Ich dachte nur, daß es nett wäre, mal wieder ein bißchen durch die Stadt zu radeln“, erklärte sie. Marion hatte ihr chromblitzendes grünes Rad, das sie zu ihrem zehnten Geburtstag bekommen hatte, immer sehr geliebt. Jetzt konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, wann sie es zum letzten Mal gesehen hatte. „Steht es denn nicht in der Garage?“ fragte der Vater. „Nein“, antwortete die Mutter, „ich glaube, es ist im Keller, im Lagerraum.“ „Das halte ich nicht aus'„ rief Todd und verdrehte die Augen. „Marion will wieder radfahren'„ In diesem Augenblick klingelte das Telefon. „Ich gehe ran'„ Todd sprang auf und rannte hinaus. Marions Herz begann zu klopfen. Ob es Tom war? Sollte er tatsächlich im Telefonbuch Seite für Seite die Eintragungen durchprobiert haben, um ihre Nummer herauszufinden? Johnson war schließlich ein sehr häufiger Name.
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„Wir sind gerade beim Essen“, hörte sie Todd sagen. „Ich sage ihr, daß du angerufen hast.“ Es war eine der eisernen Regeln der Johnsons, sich nicht beim Essen stören zu lassen. Todd kam wieder ins Eßzimmer zurück. „Eine deiner Freundinnen“, sagte er zu Marion. „L.W.“ Marion schaufelte, so schnell sie konnte, das Essen in sich hinein und entschuldigte sich dann. Im Laufschritt stürmte sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer und wählte die Nummer von L. W. L.W. nahm sofort ab, und endlich konnte Marion ihre Neuigkeiten loswerden. In allen Einzelheiten berichtete sie, wie sie Tom kennengelernt hatte. L. W. hörte gespannt zu und stellte ab und zu ein paar Fragen. Dann kamen ihre üblichen Einwände. „Hört sich ja alles toll an, Marion, aber...“ Marion zog eine Grimasse und hielt den Hörer einen halben Meter vom Ohr weg. Sie konnte sich schon denken, was jetzt kam. Als sie den Hörer wieder ans Ohr legte, sagte L.W. gerade: „...er scheint ja wirklich umwerfend zu sein, aber ihr habt euch doch nur kurz gesehen. Er hat dich nicht eingeladen, sich nicht mit dir verabredet oder...“ „Du bist ein richtiger Spielverderber“, fiel Marion ihr ins Wort. „Tom ist absolut super, und er wird sich bestimmt in mich verlieben. Ich weiß es!“ L.W. wechselte das Thema. „Du hättest Jeff heute im Schwimmbad erleben sollen. Er hat sich benommen wie Superman persönlich.“ Marion lächelte. In sportlicher Hinsicht war Jeff wirklich absolut Spitze. Beim Football und in seiner BasketballMannschaft war er ein echter Star, nur leider ein bißchen begriffsstutzig. Irgendwie nicht besonders helle, obwohl er
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sonst wirklich nett war. Außerdem sah er nicht halb so gut aus wie Tom. „Und weißt du schon das Neueste?“ fuhr L. W. fort. „Er hat sich für heute abend nicht mit Laurie K. verabredet!“ „Nanu! Wie kommt denn das?“ „Keine Ahnung. Laurie K. ist ganz verzweifelt. Aber mir ist das ganz recht, dann sind wir heute abend endlich wieder mal unter uns. Wie in alten Zeiten. Ohne Jungen.“ Die beiden Mädchen beschlossen, am Abend vielleicht ins Kino zu gehen und dann bei L. W. zu übernachten. Marion sagte ihren Eltern Bescheid, während L. W. am Telefon wartete. Dann verabredeten sie, daß L.W. um halb acht vorbeikommen sollte, um Marion abzuholen. Unter der Dusche dachte Marion über ihre beiden Freundinnen nach. Sie konnte sich nicht erinnern, wann und wie sie sich eigentlich angefreundet hatten. Es mußte irgendwann in der sechsten Klasse gewesen sein. Merkwürdig, daß sie zwei Freundinnen mit demselben Vornamen hatte. Beide hießen Laurie. L. W.s richtiger Name war Laurie Wilson, und Laurie K. hieß Laurie Kaynor. Da dies anfangs am Telefon immer zu Verwechslungen führte, hatte Marions Vater irgendwann damit begonnen, Laurie Wilson Laurie W. zu nennen. Daraufhin hatte Laurie Kaynor beschlossen, sich in Zukunft nicht nur am Telefon, sondern auch sonst Laurie K. nennen zu lassen. Laurie W. wollte nach einer Weile sogar nur noch mit L.W. angesprochen werden, und alle fanden, daß das sehr gut zu ihr paßte. Laurie K. dagegen blieb weiterhin Laurie K. Marion zog sich frische Sachen an und machte sich ein bißchen zurecht. - 20 -
Sie glaubte zwar nicht, daß ihr Tom heute noch begegnen würde, aber man konnte ja nie wissen... Punkt halb acht war sie fertig und ging hinunter ins Wohnzimmer. Da hörte sie L.W. auch schon draußen hupen. Sie verabschiedete sich von den Eltern und lief hinaus. In der Einfahrt stand das kleine rote Auto ihrer Freundin, das diese zum sechzehnten Geburtstag bekommen hatte.*1) L.W. hatte das Verdeck des neuen Cabrios zurückgeklappt. Laurie K. saß bereits auf dem Beifahrersitz. Marion warf ihre Tasche und ihren Schlafsack schwungvoll auf den Rücksitz und stieg dann selbst ein. Kaum waren sie losgefahren, erzählte Marion Laurie K. auch schon von ihrer Begegnung mit Tom. „Tut mir leid, daß ich diesen herzzerreißenden Liebesroman unterbrechen muß“, mischte sich L.W. nach einer Weile ein, „aber vielleicht kann mir eine von euch sagen, was wir heute abend eigentlich machen wollen.“ Kino kam leider nicht in Frage. Es gab nur einen langweiligen Schmachtfetzen und einen anstrengenden Problemfilm. Deshalb beschlossen sie, einfach nur so ein bißchen herumzufahren, um zu sehen, ob irgendwo etwas los war. Plötzlich hatte Laurie K. einen Einfall. „Sagt mal, wo wohnt eigentlich dieser Tom?“ Marion mußte zugeben, daß sie es nicht wußte. „Wir können doch einfach bei der Telefonauskunft anrufen“, schlug L.W. vor. „Die sagen einem nur die Nummer, aber nicht die Adresse“, wehrte Marion ab, nicht gerade begeistert von L. W.s Plan.
* In den Vereinigten Staaten kann man bereits mit 16 Jahren den Führerschein machen.
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„Das laß nur meine Sorge sein,“ L.W. parkte vor einer Telefonzelle, suchte nach Kleingeld und wählte die Nummer der Auskunft. Marion war ihr gefolgt. „Ja, hallo, ich brauche Ihre Hilfe“, hörte sie L.W. sagen. Es geht um eine Nummer in River Bend. Ich suche jemanden, der ganz neu hierhergezogen ist. Der Name ist Stearns.“ Sie buchstabierte. „Ja? Sie haben eine Eintragung in der St. Louis-Straße?“ Sie warf Marion einen bedeutungsvollen Blick zu. Die St. Louis-Straße gehörte zu den teuersten Wohngegenden in ganz River Bend. „Ich weiß, daß Sie eigentlich keine Adressen herausgeben dürfen“, fuhr L.W. fort, „aber unsere Freunde wohnen erst ganz kurz hier, und wir kommen von außerhalb, von Boston, und wollten ihnen einen Besuch abstatten. Es sollte eine Überraschung sein... Nr. 327? Haben Sie recht herzlichen Dank,“ L. W. legte auf und sah sich triumphierend um. „St. Louis-Straße“, sagte Laurie K., als alle wieder im Auto saßen, „das klingt ja sehr vielversprechend.“ L. W. fuhr sofort los. Marion war die ganze Angelegenheit nicht so recht geheuer. Am liebsten wäre sie ausgestiegen und hätte hier auf ihre beiden Freundinnen gewartet, doch L.W. dachte nicht im Traum daran, anzuhalten und sie abzusetzen. Andererseits interessierte es Marion natürlich auch, zu sehen, wie Tom so lebte. Sie beschloß, sich tief in die Polster des Rücksitzes zu verkriechen und nur ganz kurz mal aus dem Fenster zu schielen. Schon bald bogen sie in die St. Louis Straße ein. L.W. fuhr jetzt nur noch im Schrittempo und versuchte, die Hausnummern zu entziffern. „Seht mal! Es ist die alte Reynolds-Villa!“ rief Laurie K. aufgeregt. Tatsächlich. Die Hausnummer stimmte. Die Reynolds-Villa war eine traumhaft schöne Altbau-Villa aus der viktorianischen Zeit. Sie stand auf einem riesigen - 22 -
Eckgrundstück, das von einem alten, schmiedeeisernen Zaun umgeben war. „Ihr macht euch keinen Begriff davon, was so ein Haus kostet!“ rief Laurie K., deren Mutter bei einem Immobilienmakler arbeitete. „Wie teuer ist es denn?“ wollten L.W. und Marion wissen. „So ganz genau kann ich das auch nicht sagen“, gab Laurie K. zu, „aber meine Mutter sagte einmal, die Villa sei so teuer, daß sie große Schwierigkeiten hätten, einen Käufer dafür zu finden.“ Die Mädchen waren inzwischen am Ende der Straße angelangt. „Los, fahr noch einmal vorbei“, bat Laurie K. L.W. wendete und fuhr zurück. Marion hatte vor lauter Aufregung ganz vergessen, sich zu verstecken. „Fahr doch mal die Seitenstraße entlang“, schlug sie vor. L.W. bog in die kleine, ruhige Seitenstraße ein. Im Erdgeschoß des vornehmen Hauses brannte Licht, offenbar im Eßzimmer. Auch im zweiten Obergeschoß waren zwei Fenster beleuchtet. „Da steht sein Fahrrad!“ rief Marion plötzlich. „Da vorne, neben der Garage.“ „Sein Fahrrad?“ riefen die beiden Mädchen auf dem Vordersitz wie aus einem Mund. „Nun ja, er kommt aus Boston“, erklärte Marion entschuldigend. „Da fahren fast alle Leute mit dem Rad.“ „Was für eine romantische alte Villa!“ Laurie K. betrachtete verträumt das große Gebäude, bis es aus ihrem Blickfeld verschwunden war. „Das war toll“, fand L. W. „Und was machen wir jetzt?“ ' „Jetzt fahren wir mal zu Jeff“, rief Marion. Als ausgleichende Gerechtigkeit, fügte sie in Gedanken hinzu.
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„Tolle Idee!“ L. W. war sofort begeistert und fuhr zu dem Wohnviertel, in dem Jeff lebte. Im Haus seiner Eltern brannte zwar Licht, aber Jeffs Auto stand nicht in der Einfahrt. „Ich versteh' das nicht! Wo kann er nur stecken? Er hat mir nicht gesagt, daß er heute abend etwas vorhat“, klagte Laurie K. „Vielleicht fährt er nur ein bißchen in der Gegend herum, wie wir auch“, tröstete Marion sie. „Wer weiß, vielleicht treffen wir ihn später noch.“ Sie begannen mit ihrer üblichen Rundfahrt: McDonald's, Dog n' Suds, Pancake House, aber nirgends war etwas los. Auch von Jeff weit und breit keine Spur. Sie versuchten es noch einmal bei ihm zu Hause, vielleicht war er in der Zwischenzeit zurückgekommen. Doch die Einfahrt war immer noch leer. Als nächstes war die Südstadt dran. Im Schrittempo fuhr L. W. die Parkplätze der Pizza-Hütte ab, des Fish-and-ChipsRestaurants, des Burger King. Nichts. Keine Spur von Jeff oder irgendwelchen anderen Freunden. „Wie ausgestorben“, stellte Laurie K. fest. „Was ist denn heute abend bloß los? Wo stecken sie alle?“ Marion hatte insgeheim gehofft, Tom doch noch irgendwo zu treffen. Aufmerksam hatte sie in alle Autos geschaut, ob sie vielleicht einen Jungen entdeckte, der ihm ähnlich sah. Was Tom in Boston abends wohl unternommen hatte? Und vor allem, womit vertrieb er sich in River Bend am Wochenende die Zeit? . L.W. wendete und fuhr in Richtung Einkaufszentrum, das am entgegengesetzten Ende der Stadt lag. Es war relativ klein und bestand nur aus wenigen Geschäften. Das nächste, richtig große Einkaufszentrum befand sich in Alton, fünfzehn Meilen entfernt.
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Als sie langsam am Bowling-Zentrum vorbei über den mit Zigarettenkippen übersäten Parkplatz rollten, versuchte Marion sich zum erstenmal in ihrem Leben vorzustellen, wie River Bend wohl auf einen Fremden wirken mochte. Früher hatte sie sich nie Gedanken über ihre Heimatstadt gemacht. River Bend war für Marion immer die nette kleine Stadt gewesen, in der sie geboren und aufgewachsen war. Aber mußte jemand wie Tom, der aus einer so faszinierenden Stadt wie Boston kam, es hier inmitten der endlosen Kornfelder nicht langweilig und häßlich finden? Mußten die neuen Schnellrestaurants, die Tankstelle und das kleine Einkaufszentrum auf einen Fremden nicht billig und spießig wirken? Für Marion waren all diese Dinge bisher immer ganz selbstverständlich gewesen. Sie hatte nie darüber nachgedacht, ob River Bend langweilig oder hinterwäldlerisch war. „Na, du sagst ja gar nichts mehr?“ Laurie K. drehte sich zu Marion um. „Alles in Ordnung?“ „Klar.“ Ob Marion ihren Freundinnen von ihren Gedanken erzählen sollte? Sie beschloß, es lieber nicht zu tun. Laurie K. würde sie bestimmt für verrückt erklären, und für L.W. war River Bend nichts weiter als eine Stadt wie jede andere auch, die sie bald verließ, um aufs College zu gehen. Auch der Parkplatz hinter dem Kino war fast leer. Die beiden Filme kamen also auch bei anderen Kinofans nicht besonders gut an. Die drei Mädchen hielten auch hier vergeblich nach den Autos ihrer Freunde Ausschau. Jeffs Wagen war ebenfalls nicht zu sehen. „Laß uns doch mal zur Dairy-Bar fahren“, schlug Laurie K. vor. L.W. wendete und fuhr wieder zurück. Die Dairy-Bar war eine kleine Eisdiele, die nur im Sommer geöffnet hatte. Aber auch hier war absolut nichts los. Auf dem Parkplatz standen
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nur zwei Autos. In einem saß eine Frau mit vier schreienden Kindern, im anderen ein älteres Paar, das Eis schleckte. „Wird heute irgendwo eine Fete gefeiert, von der wir nichts wissen?“ fragte L.W. „Nein“, antwortete Laurie K., „ich habe heute nachmittag nochmal nachgefragt. Es läuft nichts Besonderes.“ Damit mußten sie sich wohl abfinden. Laurie K. stieg aus und ging in die Eisdiele, um für ihre Freundinnen und sich Eis zu holen. Wenig später kam sie zurück. „Hey“, rief Laurie K., als sie wieder einstieg, „schaut mal, da kommt Jonathan!“ Ein roter Wagen bog auf den Parkplatz ein. „Hey, Jonathan!“ schrie Laurie K. und winkte. Der Junge hob lässig die Hand und stieg aus. „Hi! Hi, Marion.“ Sie begrüßten sich. „Was machst du denn hier in der Stadt?“ wollte Laurie K. wissen. „Ich bin übers Wochenende nach Hause gekommen.“ Jonatnan hatte einen Ferienjob in einem Basketball-Camp bekommen. Dieses Trainingslager wurde jeden Sommer acht Wochen lang von der Illinois-Universität in Urbana veranstaltet. Jonathan war mächtig stolz darauf, daß ausgerechnet er den Job eines Trainers bekommen hatte. „Na, wie geht's denn so?“ fragte Laurie K. „Och, ganz gut. Außer daß ich mir wie eine Art Babysitter vorkomme. Das Durchschnittsalter der Jungen ist zwölf.“ „Aber ist es nicht toll in einem richtigen Studentenwohnheim zu leben?“ Laurie K. war fasziniert. „Ja, das ist schon irre“, antwortete Jonathan. Dann wandte er sich an Marion. „Macht es dir Spaß, in der Bibliothek zu arbeiten?“ „Ja, riesig!“ Marion lächelte ihn an. Sie fühlte sich etwas unbehaglich in seiner Gegenwart. Im letzten Winter war sie ab - 26 -
und zu mit ihm ausgegangen. Jonathan war damals ein großer Star. in seiner Basketballmannschaft, und Marion hatte ihn zu allen seinen Spielen begleitet. Sie hatte sogar ein Buch über Basketball gelesen, um die Regeln zu verstehen. Jonathan gefiel ihr, und sie hatte es genossen, mit ihm zusammen zu sein. Er war unkompliziert und verstand Spaß. Sie fand es gut, daß er kein Angeber war, obwohl er wirklich gut Basketball spielte. Leider hatte Marion sich dann unsterblich in einen älteren Schüler verliebt und Jonathan wieder aus den Augen verloren. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sie zum erstenmal geküßt hatte. Das war nach einem Basketballspiel auf einer Fete bei L.W. gewesen. Sie hatten vorher PeperoniPizza gegessen. Marion hatte die Augen geschlossen und versucht, sich ganz auf den Kuß zu konzentrieren, doch sie mußte ununterbrochen an Peperoni-Pizza denken. Nach dem Kuß hatte Jonathan sie zärtlich an sich gedrückt. Das war ein schönes Gefühl gewesen, und trotzdem hatte sie die PeperoniPizza nicht vergessen können. Laurie K. war der Meinung, daß Jonathan immer noch ziemlich verliebt in Marion sei, und diese fühlte sich deshalb ein bißchen schuldig. Es war ihr unangenehm, daß sie damals ihre Schwärmerei für diesen älteren Schüler so offen gezeigt hatte und Jonathan aus dem Wege gegangen war. „Hast du Jeff heute schon gesehen?“ fragte Laurie K. „Ja, heute nachmittag“, antwortete Jonathan. Jeff und er waren Kumpel. Marion wußte jedoch, daß Jonathan seinen Freund manchmal etwas oberflächlich fand. „Jeff ist bestimmt irgendwo hingefahren, wo er sich im Spiegel bewundern kann“, bemerkte L.W. ironisch. Laurie K. drehte sich zu ihr um und streckte ihr die Zunge heraus. „Was habt ihr denn heute noch vor?“ wollte Jonathan wissen. - 27 -
„Ach, immer dasselbe“, antwortete L.W. in gespielter Verzweiflung. „Nach der großen Liebe Ausschau halten und sie doch nicht finden.“ „Ja, das kenne ich“, sagte Jonathan seufzend und warf Marion einen bedeutsamen Blick zu. „Ich glaube, wir fahren dann mal wieder“, meinte Marion unbehaglich. „Ja, ich will auch wieder los.“ Jonathan sah sie traurig an, verabschiedete sich und stieg wieder in seinen Wagen. L.W. ließ den Motor an und fuhr los. „Jonathan sieht wirklich sagenhaft gut aus“, stellte Laurie K. nachdenklich fest. Sie drehte sich nach hinten um. „Und er ist noch immer ganz schön verknallt in dich, Marion.“ Marion sagte nichts darauf. „Was ist denn mit euch beiden?“ „Das weißt du doch“, antwortete Marion. „Everett ist dazwischengekommen.“ „Dabei hat der sich nicht das geringste aus dir gemacht.“ L.W. bog schwungvoll in die Hauptstraße ein. „Wenn du da mal nicht den größten Fehler deines Lebens gemacht hast“, meinte Laurie K. Everett Barnes war Klassensprecher und der Star der Schulversammlungen. Er war groß und schlank und hatte die traurigsten Augen, die Marion je bei einem Jungen gesehen hatte. Im letzten Frühjahr hatte sie sich unsterblich in ihn verliebt. „Hat er dich denn überhaupt jemals richtig angesehen?“ fragte L.W. Marion überlegte. „Ja, zweimal glaube ich. Einmal gleich nach der Schulversammlung und einmal in der Eingangshalle.“ Everett hatte sie jedoch nie eingeladen oder sie gefragt, ob sie mit ihm gehen wollte.
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„Er wirkte auf mich so erwachsen“, erklärte Marion „und irgendwie einsam.“ „Einsam bist du gewesen, nicht er“, bemerkte L.W. spitz. Ab heute nicht mehr, dachte Marion. Jedenfalls hoffte sie das sehr. Die drei Mädchen fuhren noch ein letztes Mal bei Jeff vorbei. Das Haus lag jetzt völlig im Dunkeln, nirgends brannte mehr Licht. Aber das Garagentor stand noch immer weit offen, und Jeffs Auto war nicht da. „Na, das war ja ein tolles Abenteuer“, seufzte L.W. Die drei Mädchen beschlossen, nach Hause zu fahren und diesen trostlosen Abend zu beenden.
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3. KAPITEL Am Montagmorgen zog Marion sich bestimmt viermal an und wieder aus. Sie konnte sich einfach nicht entscheiden, was sie tragen sollte. In den einen Sachen fand sie sich zu aufgetakelt, in den anderen viel zu lässig. Verzweifelt rief sie Laurie K. an, die in den Ferien im Geschäft ihrer Eltern mithalf, und klagte ihr ihr Leid. „Nimm doch die rosa Bluse“, schlug Laurie K. vor. „Ich finde, in der siehst du immer aus wie Scarlet O'Hara. Und dazu deine weiße Hose. Fertig.“ „Die weiße Hose habe ich am Sonnabend schon angehabt.“ L.W. überlegte einen Augenblick. „Dann nimm den weißen Rock.“ „Wirkt der nicht ein bißchen zu fein?“ „Nein, finde ich überhaupt nicht.“ „Ich weiß nicht so recht...“ Marion zögerte. „Los, du machst das jetzt“, drängte Laurie K. „Wenn er dich in dieser Aufmachung nicht auf der Stelle fragt, ob du mit ihm gehen willst, dann laß ich ihm höchstpersönlich die Luft aus den Reifen seines Fahrrads!“ Marion kicherte und legte auf. Sie zog die rosa Bluse und den Rock an und begutachtete sich dann kritisch in dem großen Spiegel an ihrer Schranktür. Sie mußte zugeben, daß sie wirklich ganz gut aussah. Aufgeregt und viel zu früh machte sie sich schließlich auf den Weg zur Arbeit. Sie war schon um halb zwölf in der Bücherei, obwohl sie eigentlich erst um zwölf anfangen mußte. - 30 -
Sie stellte ihre Tasche hinten ins Büro und ging zu ihrem Platz gleich neben dem Eingang. Toms Bücher standen noch im Regal. Rasch legte Marion „Die Physiker“ dazu. Um ganz sicher zu gehen, daß sie Tom nicht verpaßt hatte, sah Marion unter den Neuanmeldungen nach. Ja, Toms neue Lesekarte lag noch da. Erleichtert ließ sich Marion auf ihren Stuhl sinken. Angestrengt versuchte sie, nicht die ganze Zeit an Tom zu denken. Es war jedoch vergebliche Mühe. Nach einiger Zeit betrat Mr. Jones die Bücherei, wie immer in Anzug und Krawatte, auf dem Kopf einen nagelneuen Strohhut. „Guten Tag, Miß Johnson“, grüßte er freundlich. „Sie sehen heute aber ganz besonders hübsch aus.“ „Danke. Und Sie macht der neue Hut um Jahre jünger.“ „Finden Sie? Vielen Dank.“ Der alte Herr beugte sich vertraulich zu ihr hinunter. „Täusche ich mich, oder liegt heute ein ganz besonderer Glanz in Ihren Augen? Könnte es sein, daß Sie sich verliebt haben, Miß Johnson?“ Marion wurde rot. Sah man ihr das wirklich so deutlich an? „Aha“, fuhr Mr. Jones fort, „wie ich sehe, habe ich mit meiner Vermutung ins Schwarze getroffen. Und wer ist der Glückliche?“ Unwillkürlich mußte Marion lächeln. Mr. Jones war so herrlich altmodisch und liebenswürdig. Man konnte ihm einfach nicht böse sein. „Sagen Sie's auch niemandem weiter?“ fragte sie. „Ich schwöre auf meinen neuen Hut, daß ich schweigen werde wie ein Grab.“ „Er wird heute nachmittag herkommen.“ „Ist es etwa der Held mit dem zweirädrigen Streitwagen und der riesigen Bulldogge?“ Woher er das wohl weiß? überlegte Marion und nickte. - 31 -
„Ein sehr sympathischer junger Mann. Offenbar sehr begabt. Ich glaube, er interessierte sich für...“ „Physik“, ergänzte Marion. „Ah, Physik. Hervorragend. Nun, meine Liebe, ich werde nach Ihrem Adonis Ausschau halten.“ Er blinzelte ihr verschwörerisch zu. „Wenn ich nicht vorher wieder einschlafe“, fügte er verschmitzt hinzu. „Diese Wirtschaftsberichte ermüden mich immer sehr.“ Er drehte sich um und ging hinüber zu seinem Stammplatz bei den Zeitungen. Marion schaute ihm zu, wie er sich das Wall Street Journal heraussuchte. Ein netter alter Herr, dachte sie lächelnd. In diesem Augenblick trat Mrs. Francis zu Marion und trug ihr auf, ein paar neue Bücher zu katalogisieren. Marion folgte ihr nach hinten ins Büro. Entsetzt sah sie die riesigen Bücherstapel, die sie bearbeiten sollte. Das nannte Mrs. Francis also ein paar Bücher! Ausgerechnet heute! „Für diese Neuzugänge müssen Karteikarten ausgefüllt werden“, erklärte Mrs. Francis. „Du weißt ja, worauf du dabei achten mußt.“ Und damit ließ sie Marion mit den Bücherstapeln allein. Marion kochte vor Wut. Warum mußte das jetzt gemacht werden? Warum mußte sie ausgerechnet heute im Büro hocken? Sie würde bestimmt den ganzen Nachmittag brauchen, um alle diese Bücher zu katalogisieren. Mißmutig ließ sie sich an der Schreibmaschine nieder und machte sich seufzend an die Arbeit. Marion begann mit dem kleinsten Stapel, schlug das erste Buch auf, spannte eine Karteikarte in die Schreibmaschine und begann zu tippen. Für jedes Buch mußten drei verschiedene Karten ausgefüllt
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werden, eine für die Titelkartei, eine für die Verfasserkartei und eine für das Schlagwortregister. Wie besessen hämmerte Marion auf die Tasten, wild entschlossen, so schnell wie möglich fertig zu werden. Aber was, wenn Tom bis dahin schon wieder fort war? Ob er nach ihr fragen würde? Oder ob er einfach seine Bücher und die neue Lesekarte abholte und wieder verschwand? Vielleicht machte sie sich ja auch wieder mal viel zu große Hoffnungen. Schließlich war nichts zwischen ihnen passiert. Sie hatten sich nur kurz unterhalten, weiter nichts. Wahrscheinlich hielt er sie einfach nur für eine freundliche Bibliothekarin, die ihm geholfen hatte, die richtigen Bücher zu finden. Marion überdachte noch einmal jede Einzelheit ihrer Begegnung. Immerhin hatte Tom sich nach ihrem Namen erkundigt. Er schien doch sehr interessiert gewesen zu sein. Oder täuschte sie sich da? Konnte es sein, daß sie in sein Verhalten viel zu viel hineininterpretierte. War das anstrengende Studium des dicken Physik-Wälzers ganz umsonst gewesen? Ein kurzes Gespräch und ein Lächeln waren schließlich noch lange kein Zeichen von Liebe. Aber wie er sie angesehen hatte... Marion versuchte, sich wieder auf die Karteikarte in der Maschine zu konzentrieren. So etwas Dummes, jetzt hatte sie nicht aufgepaßt und die letzten drei Karten völlig falsch ausgefüllt. Alles nur wegen Tom, dachte sie seufzend, als sie die Karteikarten zerriß und eine neue einspannte. Emsig arbeitete sie weiter. Die Tür zur Bücherei stand offen, und Marion versuchte, auf die Stimmen zu achten, die ab und zu zu ihr hereindrangen. Immer wenn sie das Klappen der Eingangstür hörte, lehnte sie sich zurück und spitzte die Ohren. Einmal dachte sie, sie hätte die Stimme der Frau mit den Blattläusen gehört. Wenig später vernahm sie, wie Mr. Jones - 33 -
mit Mrs. Francis flirtete, ganz Kavalier alter Schule. Mrs. Francis war Witwe. Ihr Mann war schon seit vielen Jahren tot. Wäre es nicht hübsch, dachte Marion, wenn sie sich mit Mr. Jones ein bißchen anfreunden würde? Dann wären die beiden nicht mehr so allein. Gegen drei Uhr durfte sie zur Pause gehen. Sie hatte noch nicht einmal die Hälfte des Bücherberges bewältigt. Erschöpft stand sie auf und streckte sich. Dann sah sie an sich herab. War der Rock auch noch nicht zu zerknautscht vom langen Sitzen? Nein, es ging noch. Sie zupfte die Bundfalten zurecht und ging hinaus. Rasch sah sie sich zwischen den Regalen um. Von Tom keine Spur. Marion ging in den Waschraum, fuhr sich mit der Bürste durchs Haar und begutachtete sich kritisch im Spiegel. Ja, es war noch alles in Ordnung. Sie ging zurück in die Bücherei. Während ihrer fünfzehnminütigen Pause lief Marion gewöhnlich zu einem Imbißstand gleich um die Ecke und holte sich eine Kleinigkeit zu essen. Manchmal machte sie ein paar Besorgungen oder kaufte sich eine Illustrierte, die sie in der Bücherei dann durchblätterte. Heute ging sie jedoch zu den Regalen mit den Romanen und tat so, als schaute sie nach neu eingetroffenen Büchern. Dann schlenderte sie betont langsam in die Kinderabteilung hinüber und räumte dort ein bißchen auf. Doch als sie merkte, daß sie von hier aus den Eingang nicht sehen konnte, lief sie schnell zu den Zeitungen und tat so, als suchte sie ein bestimmtes Magazin. - 34 -
Mr. Jones ließ seine Zeitung sinken und winkte ihr zu. Marion sah ihn fragend an. Er schüttelte den Kopf. Also hatte er Tom auch noch nicht gesehen. Die Minuten zerrannen, und die Pause war im Nu um. Es war Zeit, sich wieder an die Arbeit zu machen. Marion war nach einer Weile so in ihre Karteikarten vertieft, daß sie das Geräusch hinter sich nicht bemerkte. Erst als sie ein Räuspern hörte, fuhr sie herum. Mr. Jones stand in der Tür und lächelte sie verschwörerisch an. Er zeigte zum Eingang und ahmte die Bewegungen eines Radfahrers nach. Marion sprang auf. „Danke“, flüsterte sie. Mr. Jones nickte ihr aufmunternd zu und verschwand. Plötzlich merkte Marion, wie aufgeregt sie war. Sie hatte auf einmal ganz weiche Knie. Was sollte sie bloß sagen? Was würde er sagen? Ob er sie überhaupt sprechen wollte? Vielleicht sollte sie noch einmal kurz in den Spiegel schauen. Nein, dazu war es jetzt zu spät. Aufgeregt ging sie hinaus in die Bücherei. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie Tom sah. Er stand an einem der Regale und blätterte in einem Buch. Verwirrt stellte Marion fest, wie unwahrscheinlich gut er aussah. Sie schaute zur Eingangstür. Lang ausgestreckt lag Max davor. Was nun? Einfach zu Tom hinübergehen und Hallo sagen? Oder zurück ins Büro und die ganze Angelegenheit vergessen? Sie konnte sich nicht entschließen. Es war einfach umwerfend, ihn hier leibhaftig vor sich zu sehen. Er wirkte so erwachsen, so vertrauenerweckend. Marion fand, daß er wie ein typischer Junge von der Ostküste aussah, lässig und selbstbewußt. Während Marion ihn gedankenverloren beobachtete, hob Tom plötzlich den Kopf und sah genau zu ihr herüber. Auf seinem Gesicht erschien ein warmes Lächeln.
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„Hallo“, rief er, „da bist du ja. Ich habe mich schon gewundert, wo du steckst... „ Marions Herz machte vor Freude einen Sprung. „Ich war im Büro und habe neue Bücher katalogisiert.“ „Und ich dachte schon, du wärst heute gar nicht hier.“ Er hatte also tatsächlich an sie gedacht! Sie hätte tanzen können vor Freude, zwang sich jedoch, ganz cool zu bleiben. „Hat das mit deinen Büchern geklappt?“ fragte sie. „Ja, alles klar.“ Er zeigte auf eine große Ledertasche, die auf einem der Tische lag. „Und hier meine Lesekarte für die RiverBend-Bibliothek!“ Er suchte in seiner Hosentasche, zog das kleine Kärtchen heraus und hielt es stolz hoch. Marion fragte sich, ob sie den Physik-Wälzer erwähnen sollte. Der trockene Stoff war nicht gerade sehr fesselnd gewesen. Trotzdem hatte sie sich dazu gezwungen, etliche Abschnitte des Buches durchzuackern. Eine ganz schön anstrengende Arbeit. „Ich habe mal ein bißchen in ,Die Physiker' hineingeschaut“, sagte sie so beiläufig wie möglich. „Wirklich?“ „Nur ein wenig“, gab sie zu. „Aber den historischen Teil fand ich sehr interessant.“ „Ja, faszinierend, nicht wahr? Die Beschreibung der einzelnen Wissenschaftler und wie sie dazu kamen, ihre großen Erfindungen zu machen und...“ Tom war nicht mehr zu bremsen, doch Marion konnte nur mit einem Ohr zuhören. Sie war in seiner Nähe so verwirrt, daß sie sich nur schwer auf seine Worte konzentrieren konnte. Seine Augen leuchteten vor Begeisterung, und er unterstrich seine Sätze mit lebhaften Gesten. Wie gebannt starrte Marion auf seine schlanken Hände.
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Sie bemerkte deshalb nicht gleich, daß er verstummt war und sie nun lächelnd beobachtete. Hoffentlich hatte sie nicht gelangweilt ausgesehen! „Ach, ich könnte den ganzen Tag über Physik und so'n Zeug reden“, schwärmte er. „Du mußt mich bremsen, wenn es dir zuviel wird.“ „Nein, nein, ich finde das sehr interessant. Es ist toll, jemandem zuzuhören, der etwas davon versteht.“ „Ja, aber ich weiß, daß es auf die Dauer auch sehr anstrengend sein kann.“ Konnte ein Junge wie Tom jemals anstrengend sein? Marion lächelte. „Und ich will dich nicht länger aufhalten“, sagte er dann. „Du hast bestimmt zu tun.“ Nein, dachte Marion verzweifelt, bitte noch nicht! Tom fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Also dann... nochmals vielen Dank für deine Hilfe.“ Marion drehte verlegen an einem Knopf ihrer Bluse. „Gern geschehen.“ „Ich freue mich, dich kennengelernt zu haben.“ „Ja, ich auch.“ Zögernd wandte sich Marion zum Gehen. „Marion?“ Sie drehte sich erwartungsvoll um. „Nochmals vielen Dank für alles.“ „Ist schon in Ordnung. Also dann...mach's gut.“ „Ja, du auch.“ Marion ging langsam zurück in das kleine Büro. Das war's also! Hatte er noch etwas sagen wollen zum Schluß und sich nur nicht getraut? Fast hatte es sich so angehört. Marion beschloß, noch einmal zurückzugehen, und ihm eine zweite Chance zu geben. Vielleicht hatte er es sich inzwischen überlegt. Auf jeden Fall wollte Marion sehen, ob er ihr beim Hinausgehen noch einmal zuwinkte.
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In diesem Augenblick merkte sie, wie Mrs; Francis mißbilligend zu ihr herübersah. Seufzend ging sie zurück ins Büro. An der Tür schaute sie noch einmal zum Eingang hinüber, doch alles, was sie sah, war ein Stückchen von Max' rotem Fell. Seufzend ließ sich Marion wieder an der Schreibmaschine nieder. Wie hatte sie sich nur einbilden können, Tom würde sie einladen? Oder sich etwas aus ihr machen? Er hatte bestimmt eine ganz tolle Freundin in Boston, die dort auf ihn wartete. Das gab es doch gar nicht, daß ein Junge, der aussah wie Tom, keine feste Freundin hatte. Wer war schon Marion Johnson? Eine dumme kleine Bibliothekarin aus der Provinz! Ach, was soll's, dachte sie. Er war einen Versuch wert gewesen, doch jetzt konnte sie ihn wohl abschreiben. Nie geriet sie an den Richtigen. Aber wer weiß, vielleicht klappte es beim nächsten Mal. Immerhin mußte Tom in spätestens zwei Wochen wiederkommen, um die ausgeliehenen Bücher zurückzugeben. Doch nein, es war dumm, sich schon jetzt wieder Hoffnungen zu machen. Energisch schob Marion den verführerischen Gedanken beiseite und spannte entschlossen eine neue Karteikarte ein. Es kam ihr jedes Mal vor wie eine kleine Ewigkeit, bis sie die drei Karten für ein Buch fertighatte und es beiseite legen konnte. Aber allmählich wurden die Stapel doch kleiner. Das Telefon läutete. Gewöhnlich nahm Mrs. Francis alle Gespräche entgegen, so daß Marion sich um das Klingeln nicht weiter kümmerte. Ein paar Augenblicke später läutete jedoch der Apparat auf ihrem Schreibtisch. Verwirrt nahm sie den Hörer ab. „Ein Gespräch für dich, Marion“, hörte sie Mrs. Francis sagen.
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Es war zwar erlaubt, sich hier in der Bibliothek privat anrufen zu Iassen, aber das kam bei Marion nicht allzu oft vor. Wahrscheinlich war es ihre Mutter, oder vielleicht L. W. „Hallo?“ „Marion?“ Es war Tom! „Tut mir leid, daß ich dich schon wieder bei der Arbeit störe...“ „Das macht nichts“, versicherte sie rasch. „Ich will morgen vormittag mit Max in den Park hinausfahren, und da dachte ich...also...ich wollte dich eigentlich fragen, ob du nicht Lust hast mitzukommen.“ „O ja, gerne.“ Hoffentlich hörte er nicht, wie laut ihr Herz klopfte. „Toll! Dann werde ich dich um zehn Uhr abholen. Oh, ich weiß ja noch gar nicht, wo du wohnst. Marion nannte ihm ihre Adresse und beschrieb ihm den Weg. „Gut. Dann also bis morgen.“ Marion verabschiedete sich und legte auf. Dann konnte sie nicht länger an sich halten. Mit angezogenen Knien wirbelte sie auf ihrem drehbaren Bürostuhl im Kreis herum, bis ihr schwindelig wurde. Er wollte sich mit ihr treffen! Er schien sie nett zu finden! Jipeeh! Zwar sollte es nur in den Park gehen, aber immerhin, besser als gar nichts. Alles weiteres würde sich , schon noch finden. Plötzlich hörte sie hinter sich ein Räuspern. Sie dachte sofort schuldbewußt an Mrs. Francis und fuhr herum. In der Tür stand Mr. Jones. Er hielt einen Daumen in die Höhe und sah sie fragend an. Am liebsten wäre Marion ihm vor Freude um den Hals gefallen und hätte ihm einen dicken Kuß auf die Wange gedrückt, doch das traute sie sich nicht. Statt dessen nickte sie nur strahlend und signalisierte ihm mit ebenfalls erhobenem Daumen: „Alles okay.“ - 39 -
Er lächelte und setzte seinen steifen Strohhut auf. Grüßend tippte er mit der Hand an die Hutkrempe und verschwand. Tom wollte sie morgen abholen! Morgen früh! Marion sah auf ihre Armbanduhr. Es war jetzt vier Uhr. Noch achtzehn Stunden!
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4. KAPITEL Marion schaute vorsichtig durch die Vorhänge am Wohnzimmerfenster, als Tom sie am nächsten Morgen abholen kam. Er fuhr einen Jeep! Einen richtigen bronzefarbenen Jeep! Sobald der Wagen hielt, sprang Max vom Rücksitz und tollte ausgelassen herum. Tom schwang sich elegant vom Fahrersitz, und Marions Herz klopfte bis zum Halse, als sie ihn sah. Er trug eine Sonnenbrille, und sein Haar war vom Fahrtwind zerzaust. Um den Hals hatte er lässig einen blauen Schal geschlungen. Marion fand, daß er bei seinem Aussehen mühelos in jedem Film hätte mitspielen können. Sie zog vorsichtig wieder die Gardinen vor und wartete, bis es klingelte. Nach dem zweiten Läuten machte sie auf. „Hi!“ Tom strahlte sie mit seinem unwiderstehlichen Lächeln an. „Hi! Ich bin gerade fertig. Wir können los.“ Sie ließ die Haustür hinter sich ins Schloß fallen. „Hallo, Max!“ Fröhlich begrüßte Marion den großen braunen Hund. Sie kraulte ihm den Kopf und streichelte ihn. Max kläffte aufgeregt und sprang schwanzwedelnd um sie herum. „Er ist ganz aus dem Häuschen“, sagte Tom. „Wahrscheinlich hat er längst gemerkt, daß wir in den Park fahren.“ Er öffnete die Beifahrertür des Jeeps, damit Marion einsteigen konnte. Max quetschte sich auf den Rücksitz und Tom nahm hinter dem Lenkrad platz. - 41 -
Marion war ziemlich verlegen und wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie wollte sich nicht gleich beim erstenmal anmerken lassen, wie sehr sie sich darüber freute, mit Tom etwas zu unternehmen. Wenn sie aber andererseits zu gelangweilt oder zu schweigsam wirkte, lud Tom sie bestimmt nicht wieder ein. „Ist das dein Auto?“ fragte sie in der Hoffnung, ein Gespräch in Gang zu bekommen. „Tom manövrierte den Jeep von der Einfahrt auf die Straße zurück und fuhr in Richtung Stadtrand. „Er gehört meiner Mutter“, erklärte er, „aber ich fahre meistens damit. Wir brauchen ihn im Winter in Vermont, wo wir ein kleines Ferienhäuschen haben.“ Max streckte seinen Kopf zwischen den beiden Sitzen nach vorn, und Marion streichelte sein seidiges Fell. „Ich glaube, er mag dich sehr“, lachte Tom. Sie fuhren gerade die Hauptstraße entlang, da entdeckte Marion L.W. auf dem Gehsteig. Sie winkte. L.W. blieb wie angewurzelt stehen und schob verwundert ihre Sonnenbrille hoch, um besser sehen zu können. Vor Staunen vergaß sie, den Mund zuzumachen, als sie ungläubig dem Jeep nachsah. „ Wer war das denn?“ wollte Tom wissen. „Eine meiner besten Freundinnen. Sie heißt Laurie Wilson, aber wir nennen sie alle L.W.“ Marion erzählte von L.W. und von Laurie K., und wie die beiden zu ihren merkwürdigen Spitznamen gekommen waren. Während sie sprach, verschwand ihre anfängliche Nervosität rasch. Tom war aber auch wirklich ein guter Zuhörer. Er schien sich richtig für Marions Freundinnen zu interessieren. Marion entspannte sich und begann, den sonnigen Morgen zu genießen. Der Himmel war strahlend blau, und es war angenehm warm.
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Der Park lag etwas außerhalb der Stadt, inmitten einer sanften Hügellandschaft mit mächtigen alten Eichen. Es gab einen kleinen romantischen See und jede Menge Auslauf für Max. Tom parkte den Jeep im Schatten eines Baumes. Max hatte sofort begriffen. Er sprang hinaus und lief ausgelassen über den Rasen, die Nase immer dicht am Boden. Als Marion ausgestiegen war und sich nach Tom umschaute, sah sie, daß er eine weiße Frisbee-Scheibe in der Hand hatte. „Kannst du damit umgehen?“ fragte er und warf ihr die tellerartige Scheibe zu. Marion fing sie geschickt auf und ließ sie zu Tom zurücksegeln, der sie lässig mit einer Hand griff. „Nicht schlecht“, lachte er. „Tja, mein Leben besteht eben nicht nur aus Büchern und der Bibliothek.“ „Woher kannst du das denn so gut?“ „Todd, mein kleiner Bruder, war mal ein großer FrisbeeFan. Ich habe mir bei ihm ein paar Tricks abgeguckt.“ Marion stürmte los. „Wirf!“ rief sie. Tom warf ihr die weiße Scheibe in elegantem Bogen zu. Marion sprang hoch und streckte sich, um sie zu fangen, griff jedoch ins Leere. „Ich bin ein bißchen aus der Übung“, lachte sie. „Übung kannst du haben“, rief Tom und schleuderte die Scheibe zu ihr zurück. Das Spielen und Laufen machte so großen Spaß, daß Marion schnell wieder in ihrer alten Form war. Sie fing und warf die Scheibe nach kurzer Zeit wieder wie ein Profi. Dann wurde Tom übermütig. Er warf die Frisbee-Scheibe hoch in die Luft, fing sie hinter seinem Rücken wieder auf, - 43 -
schleuderte sie unvermutet zu Marion. Oder er fing den runden Teller unter seinem hochgestreckten Bein und warf ihn so auch wieder zurück. Nach einer Weile hielt er inne und pfiff nach Max. Der Hund bellte in der Ferne und kam wie der Blitz aus einem Wäldchen am Rande des Parks herausgeschossen, um in einem atemberaubenden Tempo über die Wiese zu seinem Herrchen zu stürmen. „Hier, alter Junge, fang!“ rief Tom Ihm zu und ließ die Frisbee-Scheibe sehr flach über den Boden segeln. Max stürzte ihr entgegen und fing sie mit dem Maul auf. Stolz rannte er damit zu Tom. Als er jedoch noch ein paar Meter von ihm entfernt war, ließ er sich auf den Rasen sinken, legte die Scheibe vor sich ab und sah Tom und Marion erwartungsvoll an. Sein Schwanz wedelte aufgeregt hin und her. „Das Problem ist, ihm die Scheibe jetzt wieder abzujagen“, erklärte Tom. „Komm, Max, hierher!“ rief Marion. „Bring mir die Scheibe!“ Sie klatschte in die Hände. Max knurrte nur, nahm die Scheibe wieder zwischen die Zähne und wich Marion geschickt aus, als sie sie ihm wegnehmen wollte. „Du willst wohl spielen, was?“ lachte Tom. Er sprintete auf ihn zu, aber natürlich war Max viel schneller. „Komm, fangen wir ihn“, rief Marion. Gemeinsam stürmten sie hinter Max her, aber es war ein aussichtsloses Unterfangen. Völlig außer Atem blieb Marion schließlich stehen. Da kam Max ganz unerwartet zu ihr und legte ihr die Frisbee-Scheibe wie eine Trophäe vor die Füße. „Guter Hund!“ lobte Marion und kraulte ihm den Kopf, während sie mit der anderen Hand nach der Scheibe griff. So spielten sie über eine Stunde zusammen. Sie versuchten, die Scheibe immer so hoch zu werfen, daß Max sie nicht - 44 -
bekommen konnte, doch der war zu schlau und zu gewandt. Er sprang hoch in die Luft, fing die Scheibe mitten im Flug und weigerte sich dann, sie wieder herzugeben. Marion machte einen kleinen Moment Pause und beobachtete Tom und den Hund. Tom lachte und sprach mit Max wie mit einem guten Kumpel, und Max fiepte und bellte zur Antwort, als ob er jedes Wort verstünde. Tom bewegte sich mit der Geschmeidigkeit und Kraft eines Athleten. Marion überlegte, was für eine Sportart er in Boston wohl ausgeübt haben mochte. Nach einer Weile kam Max übermütig auf Marion zugestürmt. Sie versuchte, ihm so geschickt wie Tom auszuweichen, aber sie stolperte und landete auf dem weichen Rasen. Besorgt kam Tom zu ihr herübergelaufen und half ihr wieder auf die Beine. Sie standen dicht voreinander, und Tom schaute sie lange schweigend an, ohne ihre Hand loszulassen. „Danke“, stammelte Marion schließlich. Sie sah verlegen auf ihre Schuhe hinunter und machte sich von ihm los. „Oh, ich glaube, unser bester Spieler hat genug vom Sport“, lachte Tom und wies auf Max. Der hatte es sich im Schatten eines Baumes bequem gemacht und versuchte, ein Stück aus der weißen FrisbeeScheibe herauszunagen. „Er hat recht“, antwortete Marion. Sie ließ sich mit Tom ebenfalls unter dem Baum nieder, um etwas zu verschnaufen. „Sind die Bücher gut, die du dir ausgeliehen hast?“ Nur schweigend neben Tom zu sitzen, hielt Marion nicht aus. Es machte sie irgendwie nervös. „Ja, ganz toll. Besonders das über Einstein.“ Er fuhr sich mit der rechten Hand durchs Haar. „Was liest du denn im Moment so?“ Es war das erste Mal, daß ein Junge, mit dem sie ausging, sie danach fragte, was sie zur Zeit las. Sollte sie ihm von Edith - 45 -
Wharton erzählen? Ob er sie dann für langweilig hielt? Nein, dachte sie, eine Junge, der über Einstein liest, findet das bestimmt nicht langweilig. Sie erzählte ihm, daß Mrs. Francis ihr geholfen hatte, eine Liste von guten Büchern zusammenzustellen, die sie in diesem Sommer lesen wollte. Als erstes hatte Marion mit den Romanen von Edith Wharton begonnen. „Gelesen habe ich nur ihren letzten Roman“, antwortete Tom. „Aber ich weiß gut über sie Bescheid.“ „Mir haben ganz besonders ,Die Jahre der Unschuld' gefallen. Darin wird das gesellschaftliche Leben im New York des neunzehnten Jahrhunderts beschrieben,“ Marion erzählte weiter, wie angenehm sie es fand, so eine Leseliste zu haben, und daß sie sehr gern las. „Es ist einfach toll, beim Lesen Spaß zu haben und gleichzeitig noch etwas dabei zu lernen“, erklärte sie. Tom nickte. „Stimmt. Aus diesem Grunde habe ich übrigens auch diesen Kursus am College belegt. Und natürlich auch, weil ich hoffe, dort ein paar interessante Leute kennenzulernen.“ „Hast du nicht manchmal Heimweh nach Boston?“ „Doch, manchmal schon. Ich habe schließlich meine ganze Kindheit dort verbracht.“ „Dann hast du dort bestimmt auch viele Freunde?“ „Ja. Aber jetzt im Sommer sind die sowieso alle nicht da. Sie machen Ferien bei ihren Eltern in New York oder auf Rhode Island. Dort wohnt übrigens auch Malcolm, mein bester Freund, Wir sind miteinander zur Schule gegangen und waren auch sonst sehr viel zusammen. Du wirst ihn mögen. Vielleicht kommt er mich im August besuchen, dann mußt du ihn unbedingt einmal kennenlernen.“ Marion senkte den Blick, Wollte Tom nur einfach nett zu ihr sein, oder war es ihm wirklich wichtig, daß sie seinen besten Freund kennen lernte? Und wie mochte dieser Malcolm sein? So wie Tom? Er mußte - 46 -
schwer in Ordnung sein, wenn er Toms bester Freund war. Tom erzählte weiter, daß er vorher eine Privatschule in Massachusetts besucht hatte. Marion kannte niemanden, der auf eine richtige Privatschule gegangen war. In River Bend gab es nur die öffentliche High School. Solange wohnten alle Schüler zu Hause bei den Eltern. Und auch danach dachten die meisten nicht im Traum daran, in einer fremden Stadt zu studieren. Sie suchten sich eine Hochschule in der Nähe. Die paar, die es sich leisten konnten, gingen auf das private Abercrombie-College. Ob Tom deshalb so selbstsicher und erwachsen wirkte, weil er eine Privatschule besucht hatte? Nachdenklich zupfte Marion Grashalme aus dem Rasen. „Wie ist das so? Auf einer Privatschule, meine ich?“ „Ich fand es ganz gut. Wir hatten erstklassige Lehrer, der Unterricht war interessant, und die meisten Mitschüler waren sehr nett. Und wie ist die High School hier in River Bend?“ Marion hatte sich über ihre Schule bisher kaum Gedanken gemacht, Wie sollte man einem Außenstehenden erklären, was einem so selbstverständlich war? Womit fing man an? Vielleicht mit meinem Lieblingsfach, dachte Marion, mit Englisch. Sie erzählte Tom, wieviel Spaß der Englischunterricht machte und wie begeistert sie von ihrem Lehrer, Mr. Bridges, war. Dann berichtete sie von der Schülerverwaltung, von der letzten Schulversammlung und schließlich von der BasketballMannschaft. „Hast du nicht Lust, da mitzumachen? Oder willst du lieber in die Football-Mannschaft?“ Tom verzog das Gesicht. „Klingt nicht gerade verlockend.“ Marion war verwirrt. Hatte er sich denn in Boston nicht für Basketball und Football interessiert?
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„Es gab auch in Boston eine Art Football-Mannschaft“, erklärte er, „Aber die war nie besonders gut, Am besten war die Rugby-Mannschaft.“ „Rugby?“ „Ja, Rugby. Kennst du das etwa nicht?“ „Doch, doch“, versicherte Marion schnell, „ich habe schon davon gehört,“ „Das ist so eine Art Mittelding aus Football und Sokker, schnell wie Sokker, aber mit sehr viel hartem Gerangel wie beim Football. Ich habe in der Rugby-Mannschaft mitgespielt, und war sogar ganz gut.“ Das war ihm so herausgerutscht, und jetzt schien es ihm ein bißchen peinlich zu sein. Aber Marion fand nicht, daß er eingebildet geklungen hatte. „Ich habe auch sehr viel Squash gespielt“, fuhr er fort, „Allerdings nicht im Verein, nur so zum Spaß. Und viele meiner Freunde haben gesegelt, Malcolm zum Beispiel,“ Das klang ja alles wie aus einem Roman! Rugby, Squash, Segeln! Was machte so ein toller Junge nur hier in diesem verschlafenen River Bend? Marion fühlte sich auf einmal ganz klein und unbedeutend. Mußte sie ihm nicht wie ein dummes kleines Mädchen vom Lande vorkommen, das jeden Augenblick in einem altmodischen Trachtenkostüm aufkreuzen. konnte, um ihn in die Volkstanzgruppe einzuladen? Na ja, räumte sie dann ein, ganz so schlimm war es sicherlich nicht, Aber einem Jungen aus Boston mußte hier in River Bend schon alles sehr merkwürdig vorkommen. „Malcolm hat ein hübsches Segelboot“, berichtete Tom weiter. „Es liegt auf Nantucket Island, wo seine Eltern ein Sommerhaus besitzen. Da haben wir fast jeden Sommer auf dem Wasser verbracht. Vor zwei Jahren sind wir von dort die ganze Küste entlanggesegelt bis nach Maine. Das war einfach irre!“ - 48 -
Marion hörte gebannt zu und versuchte, all die Neuigkeiten zu verdauen. „Segelst du auch?“ fragte er unvermittelt. Marion mußte lächeln. Ob überhaupt irgend jemand aus River Bend segeln konnte? Sie konnte es sich nicht vorstellen. „Nein“, sagte sie. „Aber ich glaube dir, daß das großen Spaß macht.“ „Und ob! Es wird mir hier richtig fehlen.“ Er ließ seinen Blick über die seidige Wasseroberfläche des kleines Sees gleiten. „Gibt es denn an der Schule hier eine RugbyMannschaft?“ „Nein, noch nicht. Aber du kannst ja eine gründen.“ Tom lächelte. „Und du willst hier wirklich zur Schule gehen?“ fragte Marion nach einer Weile ungläubig. „Ich möchte schon. Aber meine Eltern sind noch nicht ganz dafür. Ich muß noch einmal mit ihnen reden.“ Ein Gefühl der Angst beschlich Marion. Sollte sie Tom etwa wieder verlieren? Jetzt, wo sie ihn gerade erst kennengelernt hatte? Sie hatte es sich so schön vorgestellt, den Winter gemeinsam mit Tom zu erleben. Ruhig, sagte sie sich, ganz ruhig. Erst einmal abwarten. Bloß noch keine großen Pläne machen. „Ich glaube, dir wird die Schule hier gefallen“, sagte sie. „Wir haben einen sehr fähigen Chemie-Lehrer, und es gibt zwei oder drei ganz ausgezeichnete Physik-Kurse.“ Max war aufgestanden und kam jetzt zu ihnen. Zärtlich stubste er sein Herrchen mit der Nase an. Tom streichelte ihn, noch ganz in Gedanken versunken. „Ich glaube, Max hat im Wald sämtliche Kletten gepflückt, die es nur gibt“, sagte er plötzlich.
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Er befahl Max, sich hinzulegen, und Marion half ihm, die stacheligen kleinen Kugeln aus dem seidigen Fell des Hundes zu zupfen. „Hast du eigentlich ein Fahrrad?“ fragte Tom nach einer Weile. Marion antwortete wahrheitsgemäß, daß sie seit einer Ewigkeit nicht mehr geradelt war. „Die Leute hier mögen Fahrräder nicht besonders, was?“ „Nur die kleinen Kinder“, antwortete sie und wurde rot. „Ich versteh' schon.“ Er warf eine Handvoll Kletten zur Seite. „Ich war in Boston Mitglied in einem Fahrrad-Club. Wir haben zusammen tolle Radtouren gemacht. Oft waren wir das ganze Wochenende über unterwegs. Im letzten Sommer war ich mit dem Fahrrad sogar zwei Wochen in der Schweiz.“ „In der Schweiz? Wirklich?“ „Ja. Wir sind in Deutschland losgefahren und dann ein langes Tal entlang bis weit in die Alpen hinein. Es war einfach irre!“ Marion hörte schweigend zu, als er ihr die herrliche Alpenlandschaft beschrieb. Verstohlen musterte sie ihn von der Seite. Es war wirklich der faszinierendste Junge, den sie je getroffen hatte. Jonathan war zwar auch nett, aber er sah nicht annähernd so gut aus wie Tom. Am liebsten hätte sie sich zu ihm hinübergebeugt und ihn geküßt. Ob er dann geschockt wäre? Es käme auf einen Versuch an. Aber sie wußte nur zu gut, daß sie viel zu feige dazu war. Daß ein Junge, der so gut aussah wie Tom, sich ernsthaft für sie interessierte! Für die kleine Marion Johnson! Kaum zu glauben, aber vielleicht stimmte es ja trotzdem. Sie seufzte. Es war so herrlich, hier mit ihm im Schatten des Baumes zu sitzen und ihm zuzuhören.
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Auf einmal bemerkte Marion, daß Tom aufgehört hatte zu reden und sie lächelnd ansah, „Hallo“, sagte er freundlich. „Was? Tut mir leid. Ich habe einen Augenblick nicht zugehört, glaube ich.“ „Woran denkst du?“ Marion betrachtete verlegen das glänzende braune Fell des Hundes. „Das sage ich dir lieber nicht.“ „Komm, sag schon.“ „Ach, ich habe nur daran gedacht, was für ein herrlicher Tag heute ist.“ „Das ist alles?“ Sie sah ihn an. „Ja, ich glaub' schon.“ Ihre Blicke trafen sich, und Marion lief ein Schauer über den Rücken. Es war, als ging ein geheimnisvoller Zauber von seinen Augen aus. Wie zufällig berührten sich ihre Hände auf Max' Rücken. Schnell zog Marion ihre Hand zurück. Auch Tom richtete sich hastig auf und nestelte verlegen an seinem Halstuch. Beide sahen auf die idyllische Hügellandschaft und schwiegen betreten. Marion wußte nicht, was sie sagen sollte. Endlich brach Tom das Schweigen. „Was macht man denn in River Bend so am Abend?“ „Och, alles mögliche“, antwortete sie und erlangte allmählich ihre Sicherheit wieder zurück. „Ins Kino gehen, Feten feiern, tanzen, umherfahren.“ „Umherfahren?“ „Ja. Mit dem Auto durch die Straßen fahren und sehen, was läuft.“ „Im Ernst?“ „Ja, wieso? Man guckt, wer noch unterwegs ist, trifft sich mit Freunden auf den Parkplätzen, unterhält sich, hört, was es Neues gibt...Hast du das noch nie gemacht?“
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„Nein. In Boston fährt man nicht einfach so herum. Jedenfalls nicht, wenn man nicht unbedingt muß.“ „Was macht man denn in Boston am Abend?“ „Auch ins Kino gehen oder zu Freunden. Malcolms Großmutter hat uns ab und zu mit in die Oper genommen, oder wir sind mit meinen Eltern in ein Symphoniekonzert gegangen, haben Museen besucht...Hört sich sehr langweilig an, nicht wahr?“ Marion schüttelte den Kopf. „Im Winter sind wir Skilaufen gewesen“, fuhr er fort. Sie glaubte zu träumen. Nicht nur Rugby, Squash und Segeln, nein, auch noch Symphoniekonzerte, Opern und Skilaufen! „Gibt es eigentlich irgend etwas, das du nicht machst?“ fragte sie verwirrt. „Wie meinst du das?“ „Na, ich meine all diese kulturellen Veranstaltungen und diese verrückten Sportarten“, stammelte sie verlegen. „Ach, halb so wild.“ Er winkte ab. „Das ist doch nichts Besonderes.“ Wie kann man es nur in River Bend aushalten, dachte Marion, wenn man an so ein Leben gewöhnt ist? „Hast du nicht doch Lust, abends mal ein bißchen herumzufahren?“ fragte sie nach einer Weile. „Es wird dir bestimmt gefallen.“ „Ja, gerne.“ Er sah auf seine teure Armbanduhr. „Aber ich glaube, jetzt müssen wir so langsam los. Es ist schon fast eins.“ Wo war bloß die Zeit geblieben? Die drei Stunden waren wirklich wie im Fluge vergangen. Tom schlug vor, an ihrem nächsten freien Tag gemeinsam eine Radtour zu unternehmen. „Es soll einen unwahrscheinlich schönen Weg den Mississippi entlang geben“, meinte er, „in der Nähe von Alton.“
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Marion kannte diesen Radweg, war ihn jedoch noch nie gefahren. „Das Problem ist nur, daß beide Reifen meines Rades platt sind“, erklärte sie. „Keine Sorge, ich werde dein Fahrrad heute abend einfach mit zu mir nehmen und es in Ordnung bringen.“ Sie wollte protestieren, aber er duldete keinen Widerspruch. „Es macht mir wirklich nichts aus. Ich mache das gern. Wann hast du denn mal einen freien Tag?“ „Am Freitag.“ „Prima. Dann hole ich dich gleich morgens ab. Wir fahren mit dem Wagen dorthin, wo der Radweg anfängt, und dann radeln wir ganz gemütlich den Mississippi entlang. Weißt du übrigens, daß ich diesen Strom noch nie in meinem Leben gesehen habe?“ „Dann müssen wir unbedingt hin!“ Tom gab ihr zum Abschied die Hand. „Also, dann! Ich glaube, es wird am Freitag ganz toll.“
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5. KAPITEL Marion sah auf die Uhr. Tom mußte jeden Augenblick da sein. Ärgerlich zerrte sie an dem weißen Halstuch. Warum saß es bei ihr nicht so lässig wie bei Tom? Sie hatte sich für die Radtour heute weiße Shorts und ein blaues T-Shirt mit U-BootAusschnitt angezogen. Ein Halstuch wäre gerade das Richtige dazu, aber irgendwie sah es bei ihr immer langweilig aus. Dann hatte sie eine Idee. Sie nahm das Tuch, rollte es ganz schmal zusammen, schlang es sich zweimal locker um den Hals und verknotete es im Nacken. Das war's! Zufrieden musterte sie sich im Spiegel und lief dann eilig die Treppe hinunter. Schnell überprüfte sie noch einmal den Inhalt des kleinen Rucksacks. Sie hatte lange gezögert, was sie zum Picknicken mitnehmen sollte. Schließlich kannte sie Tom kaum und wußte nicht, was er gern aß. Doch das Einfachste war vielleicht auch in diesem Fall das Beste. Also hatte sie sich für Sandwiches mit Käse und Schinken entschieden, dazu ein paar besonders schöne Weintrauben, saftige Pflaumen, einige Dosen Fruchtsaft und zum Knabbern ein paar Schokoladenriegel mit Mandeln. „Marion? Machst du mir auch ein Sandwich?“ hörte sie Todd aus dem Wohnzimmer rufen. Ihr kleiner Bruder hatte es sich vor dem Fernseher bequem gemacht und sah sich seine Lieblingsserie an. „Mach es dir selbst'„ „Bitte“, quengelte er, „mach du es! Deine Sandwiches sind die besten auf der ganzen Welt.“ - 54 -
Marion sah ihn spöttisch an. Es war nun wirklich keine Kunst, ein Sandwich zu belegen, das konnte er gut selbst machen. „Ach bitte, Marion! Du bist doch so nett. Die netteste Schwester in ganz River Bend. Außerdem habe ich dir auch meinen Rucksack geliehen.“ „Na, gut. Unter einer Bedingung.“ Todd sah sie mißtrauisch an. „Nein, vergiß es! Ich mache mir mein Sandwich dann lieber selbst.“ „Versprich mir, daß du mich vor Tom nicht bloßstellen wirst.“ „Ach, Marion! Wann habe ich dich jemals bloßgestellt?“ „Na, so ungefähr alle zwanzig Minuten.“ „Keine Angst. Ich verspreche es dir.“ Eilig belegte Marion noch ein Sandwich und brachte es ihrem Bruder ins Wohnzimmer. Wenig später klingelte es. Todd sprang auf, um zu öffnen. „Hi!“ hörte Marion ihn sagen. „Du bist bestimmt Tom.“ „Richtig. Und du mußt Todd sein.“ „Stimmt.“ Todd hielt die Wohnzimmertür auf und ließ Tom eintreten. Marion fand, daß Tom wieder umwerfend aussah. Er trug sein gelbes Hemd und glänzende schwarze Shorts, wie ein richtiger Radsportler. „Wow!“ staunte Todd. Er war offensichtlich von Toms Aufmachung schwer beeindruckt. „Du siehst aus wie die Radrennfahrer im Fernsehen. Wo hast du denn die tolle Schirmmütze her?“ Staunend betrachtete er Toms Rennfahrermütze aus weißem Baumwollstoff mit italienischer Aufschrift. „Willst du auch so eine?“ fragte Tom. „Ja!“ Todds Augen leuchteten. „Zu Hause habe ich noch eine ganze Menge davon. Ich kann dir ja mal eine mitbringen.“
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Marion wußte, was Todd nun fragen würde. Sie hielt den Atem an. „Wann?“ „Wenn ich Marion das nächste Mal abholen komme.“ „Echt stark! Danke!“ Marion hatte inzwischen den Rucksack geholt. Tom nahm ihn ihr ab. „Ein nettes Haus habt ihr“, sagte er. „Ein bißchen chaotisch, findest du nicht?“ „Ich find's ganz gemütlich.“ Todd begleitete sie noch hinaus und sah zu, wie sie in den Jeep stiegen. „Wiedersehen, Tom“, rief er. „Paß auf, daß meine Schwester nicht vom Fahrrad fällt!“ Marion warf ihm drohende Blicke zu, doch Tom lachte nur und winkte noch einmal kurz, bevor er losfuhr. Hinten im Jeep lagen die beiden Fahrräder. „Nett von dir, daß du mein Rad geflickt hast“, bemerkte Marion, „aber daß du es auch noch geputzt hast, war doch wirklich nicht nötig.“ „Hat mir aber Spaß gemacht.“ Sie wußte nicht, was sie noch sagen sollte. Es gab soviel, was sie Tom gerne mitgeteilt hätte, zum Beispiel wie toll er aussah und wie sehr sie sich auf den Tag mit ihm gefreut hatte. Aber sie brachte kein Wort über ihre Lippen. „Hast du nicht Lust, eine Kassette einzulegen? Schau doch mal im Handschuhfach nach, ob du etwas findest, was dir gefällt.“ Sie öffnete das Fach und sah die Kassetten durch. Ein paar waren mit alten Beatles-Songs bespielt, es gab eine von den Doors und drei Kassetten mit der Aufschrift „Tosca“. Tosca? Was mochte das sein? Eine neue Band? Sie hatte diesen Namen nie gehört, traute sich aber nicht zu fragen. Statt dessen nahm sie ein Band von den Beatles und stellte den Kassettenrecorder an. Schön, mal wieder die Stimmen der vier Jungs aus Liverpool zu hören!
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Schon bald war Alton und der Anfang des Radweges erreicht. Tom stellte den Jeep ab und lud die Räder aus. Sein Rennrad war vorn am Lenker mit einer orangeroten Nylonpacktasche ausgerüstet. Am Rahmen hing eine Plastikflasche mit Wasser. Inzwischen war die Sonne herausgekommen, und Marion hoffte, daß die letzten dunklen Wolken am Himmel bald auch noch verschwinden würden. Der Mississippi glitzerte im Sonnenschein. Es waren ein paar Ausflugsboote unterwegs, und zahlreiche Segelboote kreuzten auf dem Wasser. „Ich glaube, der Radweg ist insgesamt zwanzig oder dreißig Meilen lang. Wollen wir einfach fahren, solange wir Lust haben? Wenn wir müde sind, machen wir eine Pause und picknicken.“ Marion war einverstanden. Tom schulterte den Rucksack, und sie schwangen sich auf die Räder. Der asphaltierte Radweg schlängelte sich zwischem dem Fluß und dem grün bewachsenen Steilufer dahin. Sie hatten ihn ganz für sich allein und fuhren nebeneinander. Wie herrlich, dachte Marion, wieder einmal so durch die Natur zu radeln. Sie merkte, wie sich der Frieden und die Stille ringsum auf sie übertrugen. Der Radweg war ziemlich eben, ohne besondere Steigungen und Schwierigkeiten. Marion war ganz froh darüber, denn für eine anstrengende Querfeldein-Fahrt fühlte sie sich noch nicht fit genug. Manchmal entfernte sich der Weg etwas vom Ufer, und sie fuhren durch dunkle, schattige Wäldchen, um wenig später wieder an den Fluß zu kommen, der im warmen Sonnenschein lag. Im Gebüsch hörte man hin und wieder das Rascheln kleiner Tiere. Sonst war außer dem Singen der Vögel weit und breit kein Laut zu hören. Sie waren schon eine ganze Weile schweigend nebeneinander hergefahren, als Tom plötzlich - 57 -
dicht zu Marion herankam und einen Arm um ihre Schulter legte. „Schön, mit dir hier entlangzuradeln“, sagte er und lächelte sie auf seine unwiderstehliche Art an. Marion hätte beinahe die Kontrolle über ihr Fahrrad verloren. „Oh, habe ich dich so sehr aus der Fassung gebracht?“ Er blinzelte sie verschmitzt an. „Nein, nein“, beeilte sie sich zu sagen, „überhaupt nicht. Ich finde es auch herrlich hier.“ Er ließ sie los, und sie radelten weiter. Nach anderthalb Stunden schlug Tom vor, eine kleine Rast zu machen. Sie stiegen ab, lehnten die Räder an einen Baum und streckten sich. „Hey, ich habe eine Idee.“ Er zeigte zu den Felsen hinauf. „Wollen wir nicht das Ufer hinaufklettern und dort oben picknicken?“ Marion nickte begeistert. Er nahm die Packtasche von seinem Lenker, und sie begannen, das Steilufer zu erklimmen. Das war gar nicht so einfach, denn es war an einigen Stellen so steil, daß sie nur mit Mühe Halt fanden. Endlich erreichten sie den Vorsprung, auf den Tom vorhin gezeigt hatte. Der Sims war mit weichem grünem Gras bewachsen. Tom breitete die kleine Decke aus, die er mitgebracht hatte. Der Ausblick von hier oben war einfach überwältigend. Der Strom glitzerte wie ein breites goldenes Band in der Sonne. Er schien mindestens zehn Stockwerke weit unter ihnen zu liegen. Marion hatte gar nicht gemerkt, daß sie so hoch geklettert waren.
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„Von hier kann man ja fast bis ans Ende der Welt gucken“, stellte sie staunend fest. „Das sieht irre aus. Schau mal, wie klein die Segelboote von hier oben wirken.“ Sie ließen sich nieder und schauten auf den Mississippi hinunter. Zärtlich legte Tom seinen Arm um Marion. Sie erschauerte unter seiner Berührung. Ob er sie küssen würde? Sie sehnte sich danach, hatte aber gleichzeitig auch ein bißchen Angst davor. „Hast du Hunger?“ fragte Marion unvermittelt und bereute es im selben Moment, den Zauber gebrochen zu haben. „Ich könnte einen ganzen Bären vertilgen! Oder zumindest eine knusprige kleine Bibliothekarin.“ Übermütig begann er, an ihrer Schulter zu knabbern. „Wie wär's statt dessen mit einem Sandwich mit Käse und Schinken?“ lenkte Marion schnell ein. Sie hatte auf einmal das Gefühl, vorsichtig sein zu müssen. Es war schließlich nicht ganz ungefährlich, in dieser Abgeschiedenheit mit einem Jungen allein zu sein, den sie kaum kannte. Wer weiß, dachte sie, vielleicht ist er von den Mädchen in Boston viel größere Freizügigkeit gewöhnt. Sie konzentrierte sich darauf, das Picknick möglichst appetitlich auf der Decke auszubreiten und reichte ihm ein dickes Sandwich. Während sie aßen, erzählte ihr Tom alles mögliche über Segelboote. Zwischendurch bewunderten sie immer wieder den Strom unter sich. Tom sagte, daß er den Mississippi auf seine Art mindestens so beeindruckend fände wie den Atlantik. „Ein leckeres Picknick!“ lobte er, nachdem er auch den letzten Krümel seines Schokoriegels mit großem Appetit verzehrt hatte. Plötzlich spürten sie dicke Tropfen, und von einer Minute auf die andere begann es zu regnen. Sie hatten die dunklen Regenwolken vorher gar nicht bemerkt. - 59 -
„Halb so schlimm“, lachte Tom. Er öffnete seine Packtasche und zog einen riesigen Regenumhang heraus. Rasch entrollte er ihn, gab eine Ecke Marion zum Festhalten und zog das weite Cape dann wie ein schützendes Dach über ihre Köpfe. Die Regentropfen trommelten laut auf dieses improvisierte Zelt. Tom legte seinen Arm um Marions Taille und zog sie ganz nah zu sich heran. Marion schloß die Augen und sog den Duft von feuchter Erde und nassem Laub ein. Sie genoß es, Toms Wärme neben sich zu spüren, und lehnte sich glücklich an seine Schulter. So wie jetzt müßte es immer sein, dachte sie. Dieser Augenblick dürfte nie vorübergehen. Als sie nach einer ganzen Weile die Augen wieder öffnete, bemerkte sie, daß Tom sie unverwandt ansah. „Du siehst sehr hübsch aus“, sagte er leise. Einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, in seinem Blick zu versinken. Er ließ den Regenumhang los und spielte mit einer ihrer Locken, die sich aus ihrem lustigen Pferdeschwanz gelöst hatte. Dann hob er vorsichtig ihr Kinn und küßte sie sanft. Marion schloß die Augen. Sie hatte das Gefühl, zum erstenmal in ihrem Leben einen richtigen Kuß zu bekommen. Vergessen war der Regen und der Umhang. Sie ließ das Cape los, schlang die Arme um seinen Nacken und streichelte ihn. Der weite Umhang umschloß sie wie eine schützende Hülle. Sie schienen ganz allein auf der Welt zu sein. Es dauerte lang, bis Tom sich von ihren Lippen löste. Marion öffnete die Augen und sah ihn an. „Kannst du mir sagen“, flüsterte er an ihrem Ohr, „wo ich hier Biographien finde?“ Sie lächelte. „Vielleicht.“
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Er küßte sanft ihr Ohr und zog sie noch ein wenig enger an sich, während er mit der anderen Hand zärtlich ihren Nacken streichelte. „Ich glaube, es hat aufgehört zu regnen“, sagte er nach einer Weile. Er hob eine Ecke des Capes ein wenig an und blinzelte hinaus. „Tatsächlich. Die Sonne scheint sogar schon wieder ein bißchen.“ Marion schob den Umhang zurück. Welch ein Anblick! Der Regen hatte alles blank gewaschen, und die Regentropfen, die noch an den Blättern hingen, funkelten in der Sonne. Es roch herrlich frisch nach Gras und dampfender Erde. Tom reichte ihr seine Hand. „Weißt du übrigens, daß ich dich am liebsten damals schon in der Bücherei geküßt hätte?“ fragte er. „Ich dich auch“, gab sie leise zu. „Meinst du, wir sollten es nochmal versuchen?“ Lächelnd sah er sie an. Marion schlang die Arme um seinen Hals und spürte im selben Moment seine warmen Lippen auf ihrem Mund. „Marion, die Bibliothekarin“, murmelte er dann und drückte seine Wange in ihr Haar. Aneinandergelehnt drehten sie sich um und schauten auf den Strom. „Was für ein herrlicher Sommertag“, seufzte Marion. „Sommertag, Sommertag“, rezitierte Tom, „das herrlichste Wort in unserer Sprache.“ „Klingt schön. Von wem stammt das?“ „Von Henry James. Habe ich irgendwo gelesen. Ich glaube, in einem Brief, den er an Edith Wharton geschrieben hat.“ Daß er ausgerechnet Edith Wharton erwähnen mußte, ihre Lieblingsschriftstellerin! Marion bewunderte ihn immer mehr. „Warum schaust du so merkwürdig?“ fragte er überrascht, „Ach, nichts, Es ist nur... ich mag Edith Wharton sehr gern...“ - 61 -
Er zögerte. „Ich glaube, wir sollten jetzt besser aufbrechen. Wir haben noch einen ziemlich langen Rückweg vor uns.“ Sie packten die Reste ihres Picknicks zusammen und machten sich an den Abstieg. Gestärkt schwangen sie sich wieder auf die Räder und fuhren den Weg zurück. Marion fühlte den frischen Fahrtwind auf ihrem Gesicht und war glücklich, Wenn ihr jemand vor ein paar Wochen vorausgesagt hätte, daß sie heute hier mit dem Fahrrad entlangradeln würde und dabei sogar noch Spaß hätte, sie hätte ihn bestimmt für verrückt erklärt, Als sie wieder im Jeep saßen und nach River Bend zurückfuhren, fragte Tom, ob sie Opern mochte. „Ich verstehe nicht allzu viel davon“, gestand sie. „Ich eigentlich auch nicht, aber ich habe zu Hause einiges mitbekommen, Im Handschuhfach liegen zwei Kassetten, ,Tosca', gesungen von Pavaretti, Hast du nicht Lust, davon mal ein Stück zu hören?“ Das bedeutete „Tosca“ also! Nein, von Opern hatte Marion wirklich nicht den leisesten Schimmer. Sie suchte die Kassette heraus und schob sie in den Recorder. Eine klare Tenorstimme ertönte aus den Lautsprechern, die Melodie war sanft und süß und zugleich unendlich traurig. „Das ist eine italienische Oper“, erklärte Tom. „Von Puccini. Eigentlich sollte man nicht gerade am Ende beginnen, aber ich wollte, daß du diese berühmte Arie einmal hörst. Sie wird fast am Ende der Oper gesungen, wenn der Typ sich von Tosca verabschiedet, kurz bevor sie sich dann umbringt. „ Er drehte den Ton etwas lauter. „Paß auf, jetzt kommt es,“ Es folgte eines der schönsten Gesangsstücke, das Marion je gehört hatte. Sie gab sich ganz den wehmütigen Klängen hin und spürte richtig, wie ihr die Musik unter die Haut ging.
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„Stark, nicht wahr?“ fragte Tom, als die Arie zu Ende war. Sie nickte, unfähig, etwas zu sagen. Tom spulte das Band zurück, und sie hörten die Arie noch ein zweites Mal. „Ich habe nie gewußt, daß Opernmusik so schön sein kann“, sagte Marion schließlich. „Ist auch längst nicht alles so schön wie gerade diese Arie.“ Tom überrascht mich immer wieder aufs Neue, dachte Marion, als sie schließlich in die Einfahrt ihres Elternhauses einbogen. Er weiß soviel und ist so gebildet, und dabei überhaupt nicht arrogant und überheblich. Bei ihm gehörte offenbar alles wie selbstverständlich mit dazu. Marion beobachtete ihn, wie er ihr Fahrrad auslud. „Ich fand es unwahrscheinlich schön heute“, sagte sie zum Abschied. „Ich auch. Das sollten wir unbedingt nochmal machen.“ „Ja, von mir aus gern.“ „Ich rufe dich dann an“, rief er und schwang sich wieder in den Jeep. Als Marion ins Haus lief, hatte sie das Gefühl, auf Wolken zu schweben. Es war niemand daheim. Sie stellte den Rucksack in die Küche und bemerkte, daß sie immer noch die Arie vor sich hinsummte. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Es war L.W. „Kann ich gleich bei dir vorbeikommen?“ fragte sie. „Ja, klar. Gibt es irgendwas Besonderes?“ „Ja, große Neuigkeiten.“ „So? Was denn?“ „Über die Stearns!“
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„Neuigkeiten über die Stearns?“ Marions Herz schlug schneller. „Wart's ab. Ich bin gleich bei dir.“ L.W. hatte schon eingehängt. Wenig später stand sie vor der Tür. „Du weißt, daß ich keinen Tratsch mag“, sagte sie zur Begrüßung und ließ sich völlig außer Atem auf dem Sofa nieder. „Aber das hier kann ich dir nicht vorenthalten.“ „Was ist denn los?“ fragte Marion, zappelnd vor Ungeduld. „Keine Angst, nichts Schlimmes.“ L. W. machte es sich im Schneidersitz bequem. „Also, paß auf: Mrs. Middleman arbeitet bei dem Immobilienmakler, der den Stearns die Villa verkauft hat. Sie ist mit meiner Mutter befreundet, und sie hat eine ganze Menge über die Stearns in Erfahrung gebracht. „ Marion wurde immer ungeduldiger. L.W. berichtete, daß Mrs. Stearns aus einer sehr alten, angesehenen Bostoner Familie stammte. Sehr vornehm und sehr reich, so richtig High Society. Auch Mr. Stearns stammte aus einer sehr betuchten Familie, hatte jedoch während der Wirtschaftskrise einige Verluste hinnehmen müssen. Marion wußte, daß die Stearns eine Menge Geld hatten, aber daß sie so reich waren, hätte sie sich nicht träumen lassen. „Mr. Stearns soll ein bekannter Wissenschaftler sein“, fuhr L.W. fort. „Er hat in England studiert, in Oxford und an der Harvard-Universität. Bis vor kurzem war er Leiter des historischen Seminars eines kleinen Privat-Colleges in der Nähe von Boston. Dann hat man ihm den Präsidenten-Posten hier in Abercrombie angeboten, und diesen tollen Job konnte er sich natürlich nicht entgehen lassen. Dabei soll Mrs. Stearns es ganz und gar nicht gut gefunden haben, von Boston weg in die Provinz zu ziehen.“ „Wow!“ Marion kam aus dem Staunen nicht wieder heraus. „Mrs. Middleman hat gesagt, Mrs. Stearn sei an sich ganz nett,
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aber sehr distanziert. Ihr Mann dagegen soll ganz umgänglich sein. Und weißt du, was das Tollste ist?“ L.W. machte eine dramatische Pause. „Sie haben das Geld für die sündhaft teure Villa bar auf den Tisch gelegt! Was sagst du nun? Es soll sich um eine sechsstellige Summe handeln!“ „Ich bin sprachlos!“ Marion versuchte, all die Neuigkeiten zu verdauen. „Ich hatte ja keine Ahnung, daß Tom aus so einer Familie stammt...Er wirkt immer so lässig und so cool...“ „Und gar nicht eingebildet“, warf L.W. ein. Marion nickte geistesabwesend. „Er ist so gebildet und weiß so viele Dinge, von denen ich keine Ahnung habe. Aber ich dachte, das käme daher, weil er auf einer anderen Schule war und in einer großen Stadt lebte...“ „Jedenfalls hast du dir da einen tollen Freund angelacht. Wie war denn eure Radtour?“ Marion war immer noch völlig verwirrt. „Was? Ach so, die Radtour. Super!“ Sie erzählte L.W. in allen Einzelheiten von dem Kuß und von der Heimfahrt bei Opernmusik. „Hört sich toll an. Ach, ich wünschte, ich fände auch endlich mal einen Jungen, der nicht nur andauernd über Basketball spricht. Und der ein Fahrrad hat“, fügte sie lächelnd hinzu. „Bestimmt. Du mußt nur Geduld haben.“ „Hoffentlich hast du recht. Laurie K. hat ihren Jeff, jedenfalls hin und wieder. Und du hast jetzt Tom.“ „O vorsichtig. Ich bin erst zweimal mit ihm ausgewesen. Das muß noch nicht allzuviel bedeuten.“ L.W. sah auf die Uhr. „Du, ich muß jetzt wieder los.“ Sie erhob sich. Marion brachte sie zur Tür. „Also dann! Mach's gut.“ „Ja, du auch.“ Marion sah ihrer Freundin nach und schloß dann die Tür. Sie konnte das alles noch gar nicht so richtig glauben. Heute - 65 -
nachmittag war alles so einfach und klar gewesen, und nun hatte sie erfahren, daß Tom zur sogenannten besseren Gesellschaft gehörte, daß er eben aus besseren Kreisen stammte. Bessere Kreise? Hier in River Bend war sie damit nie in Berührung gekommen.
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6. KAPITEL „Bist du aber heute früh auf!“ Mrs. Johnson sah Marion verwundert an. Sie wollte gerade zur Arbeit fahren und hatte nicht damit gerechnet, ihre Tochter schon so früh in der Küche zu sehen. „Ich will Tom helfen, sein Zimmer neu zu streichen.“ „Und was ist mit deinem Job in der Bibliothek?“ „Ich habe heute meinen freien Tag.“ Die Mutter sah sie über die Kaffeetasse hinweg nachdenklich an. „Marion“, sagte sie schließlich, „ich möchte kein Spielverderber sein, aber ich finde es nicht sehr schön, daß du mit Tom den ganzen Tag in seinem Zimmer allein bist.“ „O Mom! Wir wollen sein Zimmer streichen!“ „Trotzdem. Sind denn seine Eltern zu Hause?“ „Ich glaube, seine Mutter wird da sein.“ „Du kannst ihm ja helfen, die Farben einzukaufen. Aber wenn seine Mutter dann nicht da ist, möchte ich doch lieber, daß du wieder nach Hause kommst.“ „Aber Mom! Du kennst Tom doch, du weißt doch, daß er in Ordnung ist.“ „Ja, ich fand ihn sehr sympathisch. Aber trotzdem...“ „Mom! Du tust ja bald so, als ob wir vorhätten...“ „Was?“ „Ach, nichts. Schon gut.“ „Ich habe einfach Angst um dich.“ „Hast du denn gar kein Vertrauen zu mir?“
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„Natürlich vertraue ich dir.“ Die Mutter umarmte Marion freundschaftlich und gab ihr einen Kuß auf die Wange. „Mir gefällt nur einfach die Vorstellung nicht, daß meine Tochter den ganzen Tag über allein mit einem Jungen auf dessen Zimmer ist.“ Mrs. Johnson nahm ihre Handtasche und ging zur Tür. „Und nun versprich mir, daß du nicht dort bleibst, wenn Toms Mutter nicht zu Hause ist.“ „Ja, Mom, ich verspreche es.“ „Danke. Dann bis heute abend also.“ Kurz darauf hörte Marion die Tür ins Schloß fallen. Mist, dachte sie wütend. Ich bin fünfzehn, fast sechzehn, und darf noch nicht einmal einen Nachmittag allein mit meinem Freund verbringen. Ärgerlich schüttete sie sich ein paar Cornflakes in eine Schüssel und goß Milch darüber. Nach dem Frühstück nahm sie noch schnell eine Dusche, machte sich ein wenig zurecht und schlüpfte in eine alte, verwaschene Jeans und ein verblichenes T-Shirt. Dann setzte sie sich auf die Stufen vor dem Haus und wartete auf Tom. Wieder einmal dachte sie darüber nach, wie es zugehen konnte, daß ein so gutaussehender Junge wie Tom ausgerechnet sie zur Freundin genommen hatte. Jetzt gingen sie schon zwei Wochen miteinander, und Marion fand, daß es die glücklichsten Wochen ihres Lebens waren. Tom hatte sie zu einer Kunstausstellung nach St. Louis sowie zu einem Filmabend im Abercrombie-College mitgenommen und sie in ein japanisches Restaurant zum Essen eingeladen. Marion hatte das Gefühl, durch Tom in eine ganze neue Welt eingeführt zu werden, eine Welt, in der alles fremd und aufregend war. Mit Jonathan war sie immer nur zu irgendwelchen Basketball-Spielen gegangen und hinterher dann höchstens mal in eine Pizzeria oder einen Western-Film. - 68 -
Gleichzeitig war sie aber auch erleichtert darüber, daß es heute nur darum ging, Toms Zimmer zu streichen. Dabei konnte man nicht allzuviel falsch machen, und es fiel nicht so auf, daß man nichts von der Malerei des siebzehnten Jahrhunderts verstand, nichts von moderner Kunst oder der Nouvelle Cuisine. In diesem Augenblick kam Tom mit seinem Jeep um die Ecke gebraust. Wie immer trug er kurze Jeans und ein RugbyHemd. Er mußte Unmengen von diesen gestreiften bunten Hemden besitzen. Sobald der Wagen stand, sprang Max vom Beifahrersitz und stürmte Marion entgegen. Sie kraulte ihm zur Begrüßung ausgiebig den Kopf. Dann lief sie zum Jeep. „Hallo, Marion! Finde ich echt super, daß du mir helfen willst.“ Sie stieg ein, und er fuhr los. „Oh, ich mache solche Arbeiten sehr gerne.“ „Hast du denn gar keine Angst, so ganz allein mit mir auf meinem Zimmer?“ Er sah sie mit furchterregender Miene an. „Ich werde meine Ehre bis zum letzten Blutstropfen verteidigen“, lachte Marion. Liebevoll legte er den Arm um sie. „Keine Sorge, bei mir bist du absolut sicher. Außerdem ist meine Mutter auch den ganzen Tag zu Hause.“ Sie atmete erleichtert auf. Dann brauchte sie ihr Versprechen Mom gegenüber also nicht einzulösen. Gemeinsam wählten sie in einem Farbgeschäft blaß blaue Farbe für Toms Zimmer aus und fuhren dann zu ihm nach Hause. Marion bekam ein ganz flaues Gefühl im Magen, als sie daran dachte, daß sie nun Toms Mutter vorgestellt werden sollte. Sie atmete noch einmal tief durch, ehe sie Tom ins Haus
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folgte. Zuerst führte er sie in eine riesige Küche, die aussah wie aus einem Magazin für schöneres Wohnen. „Mom“, rief Tom laut, „wir sind da!“ Wenig später betrat Mrs. Stearns die Küche. Sie war eine große, schlanke Frau. Das schmale Gesicht mit den hohen Wangenknochen wurde von kurzen blonden Haaren eingerahmt. Sie hatte die gleichen Augen wie Tom. Obwohl sie Hosen und eine schlichte Hemdbluse trug, wirkte sie überaus elegant. Kleine goldene Ohrringe und eine schimmernde Perlenkette unterstrichen diesen Eindruck. „Du bist also Marion.“ Mrs. Stearns lächelte freundlich, wirkte aber irgendwie reserviert. „Nett, daß du Tom beim Streichen helfen willst. Weißt du, eigentlich haben wir von einem Maler gerade erst alles renovieren lassen, aber Tom gefiel die Farbe, die ich für sein Zimmer ausgesucht hatte, nicht, darum will er sie jetzt überstreichen.“ „Ist Dad auch hier?“ unterbrach Tom seine Mutter. „Ja, in der Bibliothek.“ Eine Bibliothek! Marion glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Sie hatten zu Hause ein paar Bücherregale im Wohnzimmer, die Stearns hatten eine Bibliothek. „Ich möchte ihm Marion vorstellen.“ „Habt ihr gerade über mich gesprochen?“ klang eine tiefe Stimme aus der Eingangshalle. Man hörte Schritte, dann betrat Mr. Stearns die Küche. Er war größer als sein Sohn und hatte das gleiche dichte, dunkle Haar. Die grauen Schläfen standen ihm ausgezeichnet, genauso wie der kurze Vollbart, der sein Gesicht umrahmte. Eine echte Persönlichkeit, dachte Marion. Tom machte sie miteinander bekannt. „Ich habe gehört, du arbeitest in einer Bibliothek“, begann Mr. Stearns das Gespräch. „Ein interessanter Job, nicht wahr?“ - 70 -
„Ja, es macht mir großen Spaß“, antwortete Marion. Sie fühlte sich in Gegenwart von Toms Eltern unsicher und beklommen. Die beiden waren so anders als ihre eigenen Eltern oder die ihrer Klassenkameraden. Glücklicherweise drängte Tom, sofort mit der Arbeit anzufangen. „Wir freuen uns, daß Tom hier in River Bend so schnell Freunde gefunden hat“, sagte Mrs. Stearns. „Du bleibst doch sicher zum Mittagessen, nicht wahr, Marion?“ Marion nahm dankend an. Dann folgte sie Tom hinauf in die zweite Etage. Im Treppenhaus fielen ihr große Ölgemälde auf. Was für ein faszinierendes Haus! Am liebsten hätte sie sich in aller Ruhe ein wenig umgesehen, doch Tom ließ ihr keine Zeit dazu. Erst in Toms Zimmer konnte sich Marion umschauen. Die Wände des großes Raumes waren in einem hellen Beige gestrichen. Tom hatte die Möbel offenbar schon ausgeräumt, denn außer einem Schreibtisch stand nichts mehr darin. Marion bemerkte ein Schwarzweißfoto auf dem Tisch und daneben eine kleine Farbfotografie. Das kleinere Foto zeigte eine Gruppe von Jungen in Sportkleidung mit einem silbernen Pokal. Auch Tom war auf dem Bild zu erkennen. „Das ist meine Rugby-Mannschaft in Boston“, erklärte er. „Wir haben in der letzten Saion den ersten Platz gemacht.“ Das Schwarzweißfoto zeigte Tom und Max. Tom war gerade dabei, eine Frisbee-Scheibe zu fangen, und Max war mitten im Sprung und versuchte, Tom zuvorzukommen. „Ein tolles Foto“, rief Marion begeistert. „Hat mein Bruder Randolph geschossen. Er ist ein begeisterter Amateurfotograf.“ Sie unterhielten sich eine Weile über ihre Geschwister, und Tom holte ein Fotoalbum aus dem Schreibtisch und zeigte ihr - 71 -
seine Brüder. Der jüngste sah aus wie eine kleinere Ausgabe von Tom. Für das Foto hatte er offenbar versucht, ernst auszusehen, doch der lausbübische Ausdruck in seinen Augen war unverkennbar. „Er ist vierzehn“, erklärte Tom „und der Klügste in unserer Familie. Er hat gerade seinen High-School-Abschluß gemacht...“ „Was? Mit vierzehn?“ . „Ja, Im Herbst wird er auf der Harvard-Universität anfangen zu studieren. Jetzt in den Sommerferien macht er gerade eine Art Vorbereitungskursus.“ „Wow! Nicht schlecht,“ „Er ist wirklich überdurchschnittlich begabt, Vor allem in Mathe,“ „Und dein älterer Bruder?“ „Edward ist zwanzig und besucht eine Musikschule in Manhattan, Er ist Cellist. Zur Zeit studiert er allerdings in England, Streichmusik, Vivaldi, Dowland und so.“ Marion kannte Dowland nicht, glaubte aber, von Vivaldi schon einmal etwas gehört zu haben. „Kommst du mit Edward gut aus?“ fragte sie. Sie meinte, eine leichte Zurückhaltung in Toms Stimme gespürt zu haben, als er von seinem großen Bruder gesprochen hatte. „Ja, doch, wir kommen ganz gut miteinander aus. Aber ich finde, er ist zu ernst, er hat überhaupt keinen Sinn für Humor. Gut, Musik ist eine ernste Angelegenheit, aber trotzdem. Randolph ist mir lieber.“ „Er sieht sehr pfiffig aus.“ „Ist er auch.“ Marion schwieg eine Weile. Eine beeindruckende Familie, diese Stearns, dachte sie. Alle waren so gebildet und beschäftigten sich mit außergewöhnlichen Dingen, und sie
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schienen genau zu wissen, was sie wollten. Lauter Persönlichkeiten. „Eine tolle Familie seid ihr“, sagte sie schließlich. „Ja, sehr toll.“ Eine Spur von Sarkasmus lag in seiner Stimme. „Warum sagst du das so abwertend?“ „Na ja, manchmal ist es ganz schön anstrengend. Alle sind andauernd mit irgendwelchen wichtigen Sachen beschäftigt. Musizieren, studieren... Manchmal möchte ich einfach in Ruhe gelassen werden und von alledem nichts mehr sehen. Nur mit dem Jeep hinausfahren, der Sonne entgegen. Oder einfach im Wald sitzen und den Vögern zuhören...“ So hatte Marion ihn noch nie reden hören. Sie war erschrocken über die Bitterkeit in seiner Stimme. Sein unerwarteter Ausbruch schien ihm peinlich zu sein. „Tja, so haben wir alle unsere Träume“, versuchte sie ihn zu trösten, „Wenn ich zum Beispiel Agatha Christie lese, möchte ich auch immer in einem dieser gemütlichen englischen Dörfer leben. Ich male mir aus, wie es wäre, den ganzen Tag über viel Zeit zu haben, Tee zu trinken und rätselhafte Kriminalfälle zu lösen wie die alte Miß Marple.“ Er sah nachdenklich vor sich hin. „Aber die Wirklichkeit sieht anders aus“, fuhr Marion fort. „Du wirst bestimmt mal ein großer Physiker.“ Er lächelte und gab sich einen Ruck. „Heute bin ich erstmal Maler.“ Zärtlich küßte er ihre Wange. „Ich freue mich jedenfalls, daß du hier bist.“ Nur zu gern hätte sie ihn umarmt und geküßt, ihm gesagt, daß er sich wegen seiner Familie nicht weiter den Kopf zerbrechen sollte, daß er in ihren Augen der Größte war und sie ihn sehr gern hatte. Aber sie dachte an das Gespräch mit ihrer Mutter am Frühstückstisch. - 73 -
„Komm“, sagte sie und zeigte auf die Farbeimer, „laß uns anfangen.“ Tom machte sich daran, mit der Rolle die Decke zu weißen, während Marion, die besser mit dem Quast umgehen konnte, die Wände in Angriff nahm. Im Radio lief eine gute Mischung aus Rock'n Roll und Oldies der sechziger und siebziger Jahre, und die Arbeit schritt zügig voran. Die Zeit verging wie im Flug, und Marion und Tom waren mit dem ersten Anstrich fast fertig, als Toms Mutter zum Essen rief. Marion sah der Mahlzeit mit gemischten Gefühlen entgegen, versuchte sich aber einzureden, daß es schon nicht so schlimm werden würde. ,;Hast du Lust, dir vor dem Essen noch kurz das Haus anzusehen, Marion?“ fragte Mrs. Stearns, als sie in die Halle hinunterkamen. „O ja, gern.“ Toms Mutter führte sie zuerst in die große Bibliothek. Die dunklen Holzregale an den Wänden des hohen Raumes reichten bis unter die Decke und waren gefüllt mit wunderschönen, in Leder gebundenen Büchern. Das dunkle Grün der stuckverzierten Decke harmonierte mit der Farbe des kostbaren Teppichs vor dem Kamin. Eine wuchtige, lederbezogene Couch und zwei Ohrensessel luden vor dem Feuer zum gemütlichen Sitzen ein. „Dies ist eigentlich mehr eine Art Wohnzimmer.“ Mrs. Stearns zeigte auf die Sitzgarnitur. „Wir richten für meinen Mann noch ein richtiges Arbeitszimmer in einem der anderen Räume ein.“ Marion wäre gern noch länger in der gemütlichen Bibliothek geblieben, um sich all die schönen Bücher etwas näher - 74 -
anzusehen, doch Mrs. Stearns führte sie weiter in das geräumige Eßzimmer. Hier waren die Wände mit blaßgrüner Seide bespannt. In der Mitte des Zimmers stand ein riesiger Mahagonitisch mit acht dazu passenden Stühlen. „Der Kronleuchter stammt noch aus dem Haus meiner Großmutter Remmington in Boston“, erklärte Toms Mutter mit Stolz in der Stimme. „Er paß gut hierher, nicht wahr?“ „Er ist wunderschön!“ rief Marion begeistert. „Und nun das Wohnzimmer!“ verkündete Tom. Marion blieb in der Tür stehen und staunte. Ein solches Zimmer hatte sie in einem Privathaus noch nie gesehen. Es war mit alten Orientteppichen ausgelegt und mit wunderschönen antiken Möbeln eingerichtet. Sessel und Sofas waren mit glänzendem Brokat bezogen. Es gab einen reich verzierten Sekretär, Tische und Tischchen mit Schnitzereien und Einlegearbeiten, ja sogar einen kleinen Konzertflügel. An den Wänden hingen alte Ölgemälde, und überall standen wertvolle chinesische Vasen. Am meisten wurden die Blicke jedoch von dem riesigen Ölgemälde angezogen, das neben dem Kamin hing. „Das ist Großmutter Remmington“, erklärte Mrs. Stearns, die Marions Blick gefolgt war. „Es ist ein echter Sargent.“ „Ein was?“ fragte Marion unsicher. Mrs. Stearns zog mißbilligend eine Augenbraue in die Höhe. „Das Bild wurde von John Singer Sargent gemalt. Großmutter war damals dreißig.“ Die Frau auf dem Bild saß auf einem niedrigen Stuhl. Sie trug ein silbrig schimmerndes Ballkleid. Der Maler hatte es verstanden, jede kleinste Fältelung des kostbaren Stoffes nachzuzeichnen, der wie ein glitzernder Wasserfall von der Taille der Frau zu Boden floß. „Sargent war ein sehr berühmter Porträt-Maler“, erläuterte Tom, als wäre das das Selbstverständlichste auf der Welt. - 75 -
„Großmutter hat ihre gesamte Kunstsammlung dem Museum in Boston vermacht“, ergänzte Mrs. Stearns. „Aber ich habe darauf bestanden, daß zumindest dieses Bild hier in der Familie bleibt.“ „Es ist wunderschön!“ Marion fand einfach keinen besseren Ausdruck dafür. „Sie haben es hier sehr gemütlich“, fügte sie etwas unsicher hinzu. „Danke schön. Aber jetzt seid ihr sicher hungrig. Laßt uns in die Veranda gehen und eine Kleinigkeit essen.“ „Kann ich Ihnen etwas helfen?“ fragte Marion. „Nein, vielen Dank. Annie macht das schon.“ Marion wurde rot. Wie hatte sie nur annehmen können, daß Mrs. Stearns selbst kochte? Natürlich hatte sie eine Köchin und ein Hausmädchen. Tom half erst seiner Mutter, Platz zu nehmen, und rückte dann für Marion den Stuhl zurecht. Verlegen faltete Marion ihre Serviette auseinander und nahm einen Schluck Wasser aus dem funkelnden Kristallglas. Die Küchentür öffnete sich, und eine ältere, rundliche Frau brachte eine große Platte herein. „Oh! Artischocken! Meine Leibspeise!“ rief Tom begeistert. Mrs. Stearns lächelte. „Weil Marion so nett ist, dir beim Streichen zu helfen, habe ich Annie gebeten, uns heute etwas besonders Gutes zu machen. Ich hoffe doch, daß du Artischocken magst, Marion.“ „Ja, sehr gern.“ Marion versuchte, ihrer Stimme einen überzeugenden Klang zu geben. Warum gab es nicht einfach Spaghettis? Oder Pizza? Oder eine Suppe? Warum mußten es ausgerechnet Artischocken sein? Unauffällig beobachtete sie Tom von der Seite, um herauszufinden, wie man die grünen Dinger aß. Es war gar nicht so schwer, wenn man den Trick erstmal beherrschte. Man mußte die kleinen Blättchen abzupfen, in die Sauce tunken und - 76 -
dann das kleine, eßbare Stückchen am Ende mit den Zähnen abknabbern. Schmeckte gar nicht schlecht. Marion schaffte es ohne daß ihr ein Mißgeschick passierte. Mrs. Stearns plauderte währenddessen über Boston und River Bend. Sie erkundigte sich bei Marion nach der High School hier am Ort und schien die Antworten des Mädchens sehr interessant zu finden. Dann erzählte sie von einer Gemäldeausstellung, die demnächst in Chicago stattfinden sollte. Dort sollten auch einige Monets aus dem Besitz der Großmutter gezeigt werden. „Großmutter Remmington hat vor allem Impressionisten gesammelt“, erklärte Tom. Marion nahm sich im Stillen vor, im Herbst unbedingt einen Kursus in Kunstgeschichte zu besuchen. Es war ihr peinlich, zugeben zu müssen, daß sie von Monet nichts weiter wußte, als daß er gemalt hatte. Doch sie lächelte und nickte höflich und tat so, als fände sie es sehr interessant, Mrs. Stearns über die unterschiedlichen Kunstrichtungen reden zu hören. Dann kam Toms Mutter auf eines ihrer Lieblingsthemen zu sprechen, auf altes chinesisches Porzellan. Marion verstand nur noch Bahnhof, als Mrs. Stearns über die verschiedenen chinesischen Dynastien sprach, über Glasuren und Pokalmotive. Wieder blieb Marion nichts anderes übrig, als stumm dazusitzen und ab und zu zu lächeln. So konnte das nicht weitergehen. Sie beschloß, das Gespräch auf Themen zu lenken, mit denen sie sich besser auskannte. Vielleicht war es taktisch klug, auf Edith Wharton zu sprechen zu kommen. In einem passenden Augenblick erwähnte Marion ihre Lieblingsschriftstellerin und die Romane, die sie von ihr kannte. - 77 -
„Ich finde nur, daß ihre Ansichten über die Gesellschaft der damaligen Zeit leider ziemlich altmodisch sind und nicht besonders zutreffend“, wandte Mrs. Stearns ein. Marion wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie lächelte hilflos. Mrs. Stearns legte ihr Besteck beiseite. „Großmutter Remmington hielt persönlich nicht allzu viel von ihr.“ Marion war überwältigt. „Was? Sie kannte Edith Wharton?“ „Ja. Sie hat sie in Newport und in Paris hin und wieder getroffen.“ Das gab Marion den Rest. Sie fühlte sich plötzlich unsäglich klein und dumm. Am liebsten hätte sie sich in eine Ecke verkrochen und sich unsichtbar gemacht. Sorgfältig legte sie die Serviette zusammen. Dieses Mittagessen mit Toms Mutter war eine einzige Katastrophe, dachte sie verzweifelt. Sie hatte das Gefühl, sich fürchterlich blamiert zu haben, und das ausgerechnet vor Mrs. Stearns! Sicher, Marion hatte kein Glas umgestoßen und keine Gabel fallengelassen. Aber sie spürte trotzdem ganz deutlich, daß sie vor Mrs. Stearns völlig versagt hatte. Hilfesuchend sah sie Tom an. Der lächelte ihr freundlich zu, war wie immer locker und selbstbewußt und schien von ihrem Unbehagen nicht das Geringste zu spüren. Glücklicherweise schlug er schon bald vor, wieder an die Arbeit zu gehen. „Deine Großmutter muß ja eine außergewöhnliche Frau gewesen sein“, sagte Marion zu ihm, als sie wieder allein waren. „Ja, das war sie wohl. Sie starb aber schon vor meiner Geburt. Mom hat Ihr sehr nahe gestanden, glaube ich.“ Unbekümmert begann er, einen bekannten Oldie aus dem Radio mitzusingen. Marion pinselte sorgfältig hellblaue Farbe um den Fensterrahmen herum und beobachtete ihn. So konnte das nicht weitergehen, beschloß sie noch einmal. Es mußte - 78 -
etwas geschehen. Sie mußte versuchen, sich dieser neuen Welt, in der Tom lebte, anzupassen. Sie konnte unmöglich weiter so vor sich hinleben, ohne zu wissen, wie man Artischocken aß, was es mit Monet und chinesischem Porzellan auf sich hatte und all den anderen Dingen, die für Tom und seine Mutter so selbstverständlich waren. Gleich am Sonnabend wollte sie anfangen. Da hatte sie frei und würde sich als erstes ganz neu einkleiden.
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7. KAPITEL „Hey, Marion!“ rief Todd auf dem Flur. „Bist du schon auf?“ Er öffnete die Tür zum Zimmer seiner Schwester und schaute hinein. Marion lag noch im Bett, „Mom ist schon zur Arbeit, Dad spielt Tennis, und ich komme um vor Hunger.“ „Du kommst immer um vor Hunger“, erwiderte Marion ungnädig. „Ich brauche eben viele Nährstoffe. Ich wachse noch.“ Sie sah ihn zweifelnd an. „Komm, steh auf“, bettelte er, „Laß uns zusammen Frühstück machen.“ Marion spürte plötzlich, daß sie ebenfalls einen Bärenhunger hatte. „Okay“, antwortete sie, stand auf und zog sich ihren Bademantel über, „Was willst du denn essen?“ „Am liebsten Blaubeerpfannkuchen, gebratene Eier, Wurst und Schinken, frischen Orangensaft...“ „Wie wär's mit Rührei und Schinken?“ unterbrach sie seine Aufzählung. „Toll!“ „Gut, dann fange ich mit dem Schinken an, und du bereitest die Eier vor.“ „Das ist ein Angebot.“ Sie gingen zusammen in die Küche hinunter. „Du magst ihn sehr, nicht wahr?“ fragte Todd unvermittelt, während er die Eier in die Rührschüssel schlug.
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Marion drehte den zischenden Schinken in der Pfanne um und sah ihren Bruder überrascht an. Zum erstenmal fiel ihr bewußt auf, daß er eigentlich gar nicht mehr so klein war. Er war ihr bereits über den Kopf gewachsen und sah schon fast erwachsen aus. Aus dem kleinen Jungen war, ohne daß sie es bemerkt hatte, ein richtig ernstzunehmender Typ geworden, Also konnte sie es wohl wagen, seine Frage ganz offen zu beantworten. „Ja“, sagte sie nach einigem Zögern, „das stimmt.“ „Er scheint auch schwer in Ordnung zu sein“, meinte Todd und verquirlte die Eier mit einem Holzlöffel. „Das ist er auch. So ganz anders als die anderen Jungen.“ „He, meinst du, daß er mich mal mit in den Park nimmt, um mit dem Hund zu spielen?“ Todd war auf einmal wieder ganz der kleine Junge. „Das hat mir gerade noch gefehlt“, stöhnte Marion. „Mein kleiner Bruder als Aufpasser.“ „Komm, sei kein Frosch! Ich möchte so gern mal mit dem Jeep fahren“, bettelte Todd. „Sag ja, Marion! Oder ich gieß dir die zerschlagenen Eier über den Kopf!“ Halb im Spaß und halb ernst hielt er die Schüssel über ihren Kopf. „Das traust du dich nicht!“ „Wetten, daß? Vergiß nicht, daß ich größer bin als du!“ Er hielt die Schüssel bedenklich schräg. „Stopp! Ich bin so hungrig, daß ich keine Lust habe, mit den Eiern noch- mal ganz von vorn anzufangen. Ich werde Tom fragen, aber ich kann dir noch nichts versprechen.“ „Irre!“ Er drückte ihr die Rührschüssel in die Hand. „Du machst jetzt die Eier und ich den Toast.“ Wenig später saßen sie im Wohnzimmer auf dem Teppich, vertilgten Berge von Rührei mit Schinken und amüsierten sich über Todds Lieblingsserie im Fernsehen.
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„Mann, ist das albern!“ stöhnte Marion, konnte sich aber selbst vor Lachen kaum halten. Nach einer Weile sah sie auf die Uhr. „Oh, ich muß mich fertigmachen. Laurie K. kommt gleich und holt mich ab.“ Zu ihrer Überraschung bot Todd sich ganz von selbst an, die Küche allein aufzuräumen. „Danke, das ist nett“, antwortete Marion erfreut und stellte ihren Teller in die Spüle. „Du bist doch nicht so ein Scheusal, wie ich immer dachte. Es kann richtig nett sein, einen kleinen Bruder zu haben.“ „Na klar!“ Todd nickte nachdrücklich. Marion erhob sich auf Zehenspitzen, und gab ihm ganz spontan einen Kuß auf die Wange. Das kam für ihn völlig überraschend, und für Marion nicht minder. Verlegen lief sie hinaus und stürmte in ihr Zimmer, um sich anzuziehen. „Und danke für das prima Frühstück“, rief Todd ihr hinterher, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. Wenig später hörte Marion die Hupe von Laurie K.s Auto. Sie lief hinaus und schwang sich auf den Beifahrersitz. Auf dem Weg zum Einkaufszentrum berichtete Laurie K. ausführlich von ihrem gestrigen Abend mit Jeff. Sie hatte sich wieder einmal mit ihm versöhnt und schwärmte nun in den höchsten Tönen. Begeistert erzählte sie, daß sie ihn zu einem Basketball-Spiel nach St. Louis begleitet hatte und daß sie anschließend noch irgendwo essen waren. Jeff hatte ihre Hand gehalten, ihr gestanden, daß er sie liebte, der Mond hatte so romantisch geschienen und so weiter:.. Marion überlegte noch, was die Freundin wohl mit „und so weiter“ gemeint haben könnte, doch Laurie K. war schon zum nächsten Thema übergegangen. „Ich habe eine Postkarte von Jonathan bekommen“, verkündete sie strahlend. - 82 -
„Er schreibt, daß er sehr viel zu tun hat, weil er jetzt noch eine zweite Jugendgruppe trainiert. Er scheint River Bend aber sehr zu vermissen. Und er bat mich, dich zu grüßen.“ „Grüß ihn wieder.“ „Warum schreibst du ihm nicht selbst einen Brief?“ „Wozu? Mach du das doch!“ „Mach' ich auch. Aber glaub mir, mit Jonathan begehst du einen großen Fehler. Er ist ein so netter Typ.“ „Ja, das ist er, aber ich habe doch nun einmal Tom.“ „Richtig. Aber deshalb kannst du trotzdem ein bißchen nett zu Jonathan sein...nur einfach so, für alle Fälle. Man kann ja nie wissen...“ „Was kann man nie wissen?“ „Ach, ich meine nur so...“ Laurie K. sah in den Rückspiegel und fuhr auf den Parkplatz des Einkaufszentrums. „Für den Fall, daß es mit Tom und dir mal nicht mehr so gut klappt.“ „Wieso soll es mit uns nicht mehr klappen?“ „Was weiß ich...es kann doch alles Mögliche passieren.“ „Nichts wird passieren“, antwortete Marion ärgerlich und stieg aus. Gemächlich bummelten die beiden Mädchen durch das Einkaufszentrum. Laurie K. wollte nach neuen Jeans Ausschau halten und ansonsten nur ein bißchen herumgucken. Marion dagegen wußte genau, was sie wollte. Sie steuerte in einem der Kaufhäuser zielstrebig auf die Abteilung mit College-Kleidung zu. „Was willst du denn hier?“ Laurie K. starrte entgeistert auf all die braven und ziemlich langweiligen Sachen. „Ich brauche ein paar Klamotten“, antwortete Marion betont lässig und begutachtete einen Ständer mit Hemdblusen im Oxford-Stil. „Mensch, sehen die trostlos aus! Sowas paßt doch gar nicht zu dir!“ „Wieso? Ich will eben mal was anderes ausprobieren.“
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„Kann ich helfen?“ Marion drehte sich zu der freundlichen jungen Verkäuferin um. Ihr fiel sofort deren Frisur auf. Die Frau trug das Haar schulterlang wie Marion selbst. Es war jedoch nicht in der Mitte, sondern an der Seite gescheitelt und wurde von einer goldenen Spange zurückgehalten. Toll sieht das aus, dachte Marion, wie bei einem richtigen College-Mädchen. Das wollte sie sich merken. „Ich suche ein paar Blusen“, antwortete sie. „Und zwar eine weiße und eine dunkelblaue.“ Die Verkäuferin suchte ihr die passende Größe heraus. „Langweilig“, fand Laurie K., als die Freundin die weiße Bluse anprobierte, „todlangweilig!“ Marion betrachtete sich kritisch im Spiegel. Sie sah in der Bluse wirklich ganz anders aus als sonst. Aber nicht schlecht, fand sie. „Ich will mir endlich mal ein paar zeitlose Stücke zulegen“, verteidigte sie sich. „Die Blusen gefallen mir, ich nehme beide.“ Auch von den weiteren Anschaffungen der Freundin war Laurie K. alles andere als begeistert. Marion suchte noch einen blaßgelben Pulli aus und einen schlichten marineblauen Rock. Als sie auch noch einen karierten Wickelrock anprobieren wollte, drohte Laurie K., ihr die Freundschaft aufzukündigen. „Das ist der häßlichste Rock, den ich je gesehen habe.“ „Stimmt“, mußte Marion zugeben. „Sehr toll sieht der wirklich nicht aus. Als nächstes sah sie sich nach einem Paar Schuhe um. In der Schuhabteilung probierte Marion flache, weinrote CollegeSchuhe an. Laurie K. ließ sich fassungslos in einen der Sessel sinken. „Was ist bloß los mit dir, Marion? Bist du unter die Popper gegangen?“ Marion antwortete nicht, sondern begutachtete die - 84 -
Schuhe im Spiegel. „Nun sag schon! Stehst du neuerdings auf College-Look?“ „Na und? Was ist denn daran so schlimm?“ „Nichts ist daran schlimm. Es paßt nur überhaupt nicht zu dir.“ Laurie K. zeigte auf ein Paar lustiger gelber Sandalen mit flachem Absatz. „Sowas steht dir viel besser.“ Marion rümpfte die Nase. Die Sandalen paßten überhaupt nicht zu der neuen Marion, in die sie sich verwandeln wollte. Die College-Schuhe waren viel teurer, als sie gedacht hatte, aber sie entschied sich trotzdem, sie zu nehmen. In einer der Boutiquen des Einkaufszentrums suchte Laurie K. nach Jeans. Sie entdeckte eine violette Hose aus dünnem Baumwollstoff, die ihr wie angegossen paßte. Die gleiche Hose gab es auch noch in einem blassen Grün. „Na, die ist doch genau richtig für dich, Marion“, rief Laurie K. begeistert. „Nein, vielen Dank, ich brauche eigentlich keine Hose mehr. Aber warte mal, diese hier werde ich doch noch anprobieren.“ „Die?“ Fassungslos starrte Laurie K. auf die khakifarbenen Bermudas, die Marion in der Hand hielt. „Ja, warum nicht? Sowas trägt man jetzt.“ „Mensch, damit siehst du aus wie eine altmodische Pfadfinderin.“ Marion probierte die Bermudas an und kam damit aus der Umkleidekabine. „Die beuteln ja entsetzlich!“ „Ach was, die müssen so locker sitzen“, wehrte Marion ab. „Die passen unwahrscheinlich gut zu meinen neuen Blusen und den neuen Schuhen.“ „Findest du nicht, daß du es ein bißchen übertreibst? Laß uns bloß hier rausgehen, bevor du noch mehr von diesen Scheußlichkeiten kaufst.“ - 85 -
Marion bezahlte die Bermudas. Bepackt gingen sie zum Wagen zurück. Auf dem Heimweg war Laurie K. sehr schweigsam. „Weißt du“, sagte sie schließlich nachdenklich zu Marion, „er wird dich bestimmt nicht besser finden, nur weil du dich anders anziehst.“ „Das hat auch gar nichts mit Tom zu tun. Ich will nur einfach mal was Neues ausprobieren.“ „Hauptsache, du wirst dir selbst nicht untreu.“ „Keine Angst!“ „Tom ist wirklich schwer in Ordnung, finde ich. Aber er ist so anders.“ „Was meinst du damit?“ „Na, ja, Typen von der Ostküste sind eben anders als die Typen hier in Illinois.“ „Stimmt, aber das gefällt mir ja gerade so an ihm.“ Marion wußte, daß Laurie K. sehr an ihrer Heimat hing. Sie neigte leicht dazu, Leuten zu mißtrauen, die nicht aus River Bend kamen. „Mrs. Stearns kommt oft zu meinen Eltern in den Laden“, erklärte Laurie K. „Sie ist immer sehr freundlich, aber ich werde bei ihr das Gefühl nicht los, daß wir für sie keine gleichwertigen Gesprächspartner sind, sondern eben nur...Verkäufer.“ Marion wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte. Die Kaynors waren eine alteingesessene und angesehene Familie in River Bend. Sie hatten ihr Geschäft schon fast fünzig Jahre lang. „Sie ist einfach nur viel zurückhaltender als die meisten Leute hier aus River Bend“, antwortete sie ohne rechte Überzeugung. Sie fühlte sich etwas unbehaglich. Einerseits hätte sie von Laurie K. gern mehr Unterstützung bekommen, was ihre äußere Verwandlung durch die neue Kleidung betraf. - 86 -
Andererseits konnte sie schlecht Mrs. Stearns verteidigen, wenn diese ihre beste Freundin und deren Eltern überheblich behandelte. „Jeff und ich gehen übrigens heute abend zu dem großen Sportfest. Hast du nicht Lust, mit Tom mitzukommen?“ Laurie K. wollte offenbar das Thema wechseln. „Wir haben leider schon Karten für einer Theateraufführung.“ „Was?“ „Das Stück heißt ,Der Kirschgarten'.“ „Was ist das denn? Ein Musical?“ „Nein, ein russisches Theaterstück.“ „Puh!“ „Es wird am Abercrombie-College aufgeführt. Tom hat die Karten besorgt: „ Das große Sportfest fand jeden Sommer im Park statt, und der Erlös kam den Basketball-Mannschaften zugute. Marion war bisher jedesmal hingegangen und hatte sich prächtig amüsiert, doch Tom sollte sich nicht bei einem solchen Kleinstadt-Ereignis langweilen. „Du machst in letzter Zeit nur noch so hochgestochene Sachen in deiner Freizeit“, bemerkte Laurie K. mißbilligend. „Wieso? Ich finde es herrlich, endlich mal was anderes!“ „Ich gehe jedenfalls zum Sportfest.“ „Kannst du noch kurz an der Bücherei halten?“ „An der Bücherei? Zieht es dich sogar an deinem freien Tag dorthin?“ „Ja, ich will mir ein paar Sachen ausleihen.“ „Gut, dann setze ich dich hier ab. Ich habe Mom nämlich versprochen, ihr noch ein bißchen im Laden zu helfen.“ „Okay.“ Marion stieg aus. „Nett, daß du mit zum Einkaufen warst.“
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„Mach's gut. Und ruf mich an, falls du heute abend doch mitkommen willst“, rief Laurie K. und gab Gas. Marion winkte Mrs. Francis zu, die am Informationstisch saß, und ging dann schnurstracks zur Plattenabteilung durch. Sie stellte ihre Päckchen ab und sah die Schallplatten durch. Überrascht und verwirrt stellte sie fest, daß es viel mehr Opernaufnahmen gab, als sie gedacht hatte. Für welches Stück und welchen Sänger sollte man sich da nur entscheiden? Hilflos starrte Marion auf all die Platten. In diesem Moment kam Mr. Jones auf sie zu. „Guten Tag“, grüßte er freundlich. „Ich dachte, Sie hätten heute Ihren freien Tag.“ „Habe ich auch. Ich bin nur kurz hier, um mir ein paar Platten auszuleihen.“ „Opern?“ Mr. Jones hob erstaunt eine Augenbraue. Marion nickte. „Es wird Zeit, daß ich mich einmal näher damit befasse, aber ich habe keine Ahnung, womit ich anfangen soll,“ Mr. Jones kam ein bißchen näher und bemerkte die ToscaPlatten in Marions Hand. „Das ist nicht schlecht für den Einstieg“, fand er. „Ein bißchen langatmig in der Mitte, aber das Ende ist herrlich.“ Marion lächelte. „Ich weiß, das Ende habe ich vor ein paar Tagen schon gehört.“ „Ich fürchte nur, es ist ganz andere Musik als all das, was man heutzutage so hört,“ Er blinzelte ihr verschmitzt zu. Marion mochte den alten Herrn sehr gern. Seit dem Tage, als er ihr geholfen hatte, Tom nicht zu verpassen, bestand so etwas wie eine heimliche Verschwörung zwischen ihnen. „Lassen Sie mal sehen“, überlegte Mr. Jones. „Ich schlage vor, mit einer der bekannteren Opern anzufangen. Hier...wie wäre es mit der ,Zauberflöte' von Mozart? Ja, und dann vielleicht noch ,La Boheme',“ Er reichte Marion die Alben, die - 88 -
ein ganz schönes Gewicht hatten. „Damit werden Sie für den Anfang beschäftigt sein“, lächelte er. „Gehe ich recht in der Annahme, daß ein bestimmter junger Mann ebenfalls an Opern interessiert ist?“ „Stimmt“, gab Marion zu. „Deshalb dachte ich, es könnte nicht schaden, wenn ich mich auch ein bißchen...“ „Nein“, antwortete Mr. Yones gütig, „schaden kann es bestimmt nicht. Aber lassen Sie's langsam angehen. Man muß sich erst daran gewöhnen.“ Marion dankte ihm für seine Hilfe und sah ihm nach, wie er langsam wieder zu seinem Stammplatz bei den Zeitungen hinüberging. Ob sie noch ein Buch über chinesisches Porzellan mitnehmen sollte? Sie wollte Mrs. Stearns so gern gefallen. Wenn sie sich mit ihr über ihr Lieblingsthema unterhalten könnte, wäre sie vielleicht etwas freundlicher zu ihr, etwas weniger distanziert. Rasch hatte Marion einen wunderschönen Bildband über altes chinesisches Porzellan herausgesucht. Er enthielt unzählige farbige Abbildungen und war sehr anschaulich. Ja, den wollte sie unbedingt mit nach Hause nehmen. Sie ging zu Mrs. Francis und fragte nach dem Buch über John Singer Sargent, das sie bei einer anderen Bücherei über die Fernausleihe bestellt hatte. Es war inzwischen eingetroffen. Mrs. Francis trug die Ausleihnummer auf den Karten ein und schob Marion die Platten und Bücher über den Tresen. „Arbeitest du an einem dieser Themen?“ „Auf eine gewisse Art schon“, antwortete Marion lächelnd.
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Obwohl es Marion von der Bibliothek nach Hause nicht weit hatte, war sie heilfroh, als sie mit all ihren Paketen endlich dort ankam. Ihr Vater war in der Küche dabei, das Mittagessen vorzubereiten. „Was ist denn mit dir los?“ fragte er erstaunt. „Hast du die ganzen Geschäfte leergekauft?“ „Nein, nur ein paar Sachen“, antwortete sie und gab ihm einen Begrüßungskuß. „Und ich habe mir in der Bücherei noch ein paar Bücher und Platten ausgeliehen.“ „Mit dem Essen dauert es noch eine Weile. Soll ich dir vorher schon eine Kleinigkeit machen?“ „Nein, danke“, rief Marion und stürmte die Treppen hinauf in ihr Zimmer, Erleichtert warf sie ihre neuen Errungenschaften aufs Bett und rieb sich die schmerzenden Arme. Sie hatte schon unterwegs beschlossen, gleich als erstes „Tosca“ aufzulegen. Vorsichtig zog sie die erste Platte aus der Hülle und schaltete den Plattenspieler ein. Dann schloß sie die Tür zu ihrem Zimmer um in aller Ruhe ihre neuen Sachen anprobieren zu können. Gutgelaunt packte sie die Blusen aus und zog eine davon über. Dann schlüpfte sie in den marineblauen Rock und in die weinroten College- Schuhe. Fertig! Sie bewunderte sich im Spiegel ausgiebig von allen Seiten. „Aber merkwürdig ist es schon“, stellte sie nachdenklich fest und betrachtete das fremde Spiegelbild. „Vielleicht hat Laurie K. doch recht! Es wirkte irgendwie langweilig.“ Sie öffnete die Knöpfe an den Manschetten der Hemdbluse und krempelte die Ärmel zweimal um. Besser! Dann wickelte sie den neuen blaßgelben Pullover aus und legte ihn sich lässig über die Schultern. Die Ärmel band sie vorn locker zusammen. Ja, wirklich viel besser! Jetzt noch ein bißchen Schmuck.
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Marion öffnete ihre kleine Schmuckschatulle und suchte nach etwas Passendem. Sie besaß eine ganz ansehnliche Sammlung von Ketten, Ohrringen und Ringen, weil ihre Mutter in einem Schmuckgeschäft arbeitete und alles verbilligt einkaufen konnte. Nach einigem Überlegen entschied Marion sich für eine schlichte goldene Kette und Ohrclips mit einer kleinen Perle. Wieder schaute sie prüfend in den Spiegel. Enorm, was so ein bißchen Schmuck doch ausmachte! Aber das Haar? Ihr fiel wieder die junge Verkäuferin aus dem Laden ein, in dem sie die Blusen gekauft hatte. Schnell holte Marion eine Bürste und machte sich einen Seitenscheitel. In ihrer Nachttischschublade fand sie eine Spange, mit der sie das Haar an der Seite feststeckte. Auch der Pony wurde ganz aus dem Gesicht gebürstet. Als Marion wieder vor dem großen Spiegel stand, war sie selbst verblüfft über die Veränderung. Sie hatte sich in einem völlig anderen Menschen verwandelt. In ihren Augen sah sie nun aus wie ein teuer gekleidetes College-Mädchen aus gutem Hause, das gerade mit ihrem Segelboot eine Partie auf dem... wie heißt doch gleich der Fluß, der durch Boston floß? Richtig, der Charles. Ein Mädchen also, das eine Segelpartie auf dem Charles machte. Doch dann kamen ihr Zweifel. Hatte sie nicht ein bißchen übertrieben? War die Veränderung nicht zu kraß? Würde sie Tom auffallen? Hoffentlich fand er sie jetzt nicht zu damenhaft, zu vornehm. Aber nein, tröstete Marion sich, Tom kannte bestimmt in Boston sehr viele Mädchen, die sich so anzogen. Er würde es bestimmt ganz normal finden. Und sie sah ja in diesem Aufzug wirklich gut aus. Fasziniert betrachtete sie sich im Spiegel. Erst jetzt gelang es ihr, sich auf die Musik zu konzentrieren. Eine hohe weibliche Stimme sang eine lange Arie. Irgendwie gefiel Marion die Musik - 91 -
nicht annähernd so gut wie an dem Nachmittag mit Tom im Jeep. Genaugenommen klang sie sogar ziemlich schrill und schrecklich langweilig, Nun ja, Mr. Jones hatte ihr ja angekündigt, daß man sich an Opernmusik erst gewöhnen müsse. Es klopfte, und Todd steckte seinen Kopf zur Tür herein, „Was ist denn das für ein entsetzliches Gequietsche?“ „Todd'„ rief Marion aufgebracht. „Ich habe dir schon hundertmal gesagt, daß du warten sollst, bis ich ,herein' sage!“ „Ich dachte, du liegst im Sterben oder dir sei etwas ganz Schreckliches zugestoßen! Was hat die Musik zu bedeuten?“ „Das ist eine Oper!“ „Du meinst eine dieser unwahrscheinlich dicken Frauen, die in unmöglichen Kostümen stecken und in den höchsten Tönen jaulen?“ „Nein! Was du hörst, ist ,Tosca'.“ „Von mir aus. Jedem das Seine, aber zwing mich bitte nicht, dieses Zeug mit anzuhören.“ Er begann demonstrativ, ein Liedchen vor sich hinzupfeifen. „Hau endlich ab'„ fauchte Marion. Ihr Bruder konnte manchmal wirklich nervig sein. „Schon gut, Aber wieso hast du dich so komisch verkleidet?“ „Verkleidet? Liebster Bruder, ich habe mir ein paar neue Sachen gekauft. Und jetzt verkrümel dich endlich und laß mich in Frieden,“ „Du siehst darin mindest zwanzig Jahre älter aus!“ „Arrrr!“ Marion wollte sich auf ihn stürzen. „Okay, okay“, beschwichtigte er sie. ..Ich soll dir ja nur sagen, daß das Essen in fünf Minuten fertig ist. Es gibt Hackbraten.“ Er war schon fast aus der Tür. „Und du weißt doch, das beste am Hackbraten ist, daß...“
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Marion knallte ihm die Tür vor der Nase zu, Todd öffnete sie wieder und fuhr fort „...daß man ihn hinterher kalt auf Brot essen kann,“ Grinsend verschwand er. Marion drehte den Schlüssel im Schloß um. Von außen rüttelte Todd an der Tür. „Mit Ketchup und Senf!“ rief er. „Womit habe ich das verdient?“ stöhnte Marion, ging zum Plattenspieler und schob den Regler auf volle Lautstärke. Ihr Bruder war manchmal wirklich unmöglich. Erschöpft ließ sie sich aufs Bett sinken, doch lange ertrug sie die durchdringende Sopranstimme nicht, die aus den Lautsprechern kam. Ärgerlich machte sie die Musik wieder leiser. Bewundernd drehte sie sich noch einmal vor dem Spiegel und sagte sich, daß ihr die neuen Sachen wirklich gut standen und auch zu ihr paßten. Rasch zog sie wieder ihre alten Sachen an und räumte die Einkäufe in den Schrank. Dann lauschte sie wieder intensiv der Musik. Es war anstrengend, sich ganz darauf zu konzentrieren. Was es bei den Stearns wohl heute zu essen gab? Wahrscheinlich wieder irgendein ausgefallenes Feinschmecker-Menü. Bei den Johnsons würde in ein paar Minuten das Lieblingsessen der Familie auf den Tisch kommen: Hackbraten mit Kartoffelpüree und Mais und zum Nachtisch Schokoladenpudding. Und Todd hatte leider wieder mal recht. Es gab nichts Göttlicheres als ein Sandwich mit kaltem Hackbraten und Senf. Marion stellte den Plattenspieler ab und schob die Platte wieder in die Hülle zurück. Sie beschloß, es für heute genug sein zu lassen. Opern konnte man wohl doch nur häppchenweise genießen, wenn man nicht daran gewöhnt war. Morgen wollte sie es mit der „Zauberflöte“ versuchen.
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8. KAPITEL Marion legte zum zweiten mal „Die Zauberflöte“ auf. Diese Oper gefiel ihr besser als „Tosca“. Die Musik war melodischer, und die Singstimmen klangen nicht so schrill. In der Bücherei hatte Marion sich noch ein Buch mit dem Titel „101 Geschichten zu berühmten Opern“ besorgt. Sie hatte darin über das Leben von Mozart und Puccini nachgelesen und eine Menge über deren Opern gelernt. Je mehr sie über die Komponisten und ihre Werke wußte, desto besser verstand sie die Musik. Trotzdem spürte Marion, daß sie immer noch alles andere als eine Opernliebhaberin war. Sie fand es ganz schön mühselig, sich durch die trockenen Bücher zu kämpfen und die endlos langen Opern anzuhören. Das Buch über den Maler John Singer Sargent hatte sie inzwischen auch gelesen und stellenweise sogar recht interessant gefunden. Auf einer der letzten Farbseiten hatte sie eine Abbildung des Porträts von Mrs. Remmington entdeckt. Darunter stand: „Cecilia Thorndike Remmington. Gemalt 1910. Im Privatbesitz.“ Es war das erstemal, daß Marion eine Familie kennengelernt hatte, die ein so wertvolles altes Bild besaß. Das trug nicht gerade dazu bei, den Abstand zwischen ihr und den Stearns und vor allem Mrs. Stearns zu verringern. Sie betrachtete sich in dem großen Spiegel. Tom hatte ihre neue Garderobe offenbar sehr gut gefallen, auch die neue Frisur hatte er sehr hübsch gefunden. Trotzdem war Marion immer noch im Zweifel, ob sie nicht doch ein bißchen zu weit gegangen war. Marion Johnson, fragte sie sich, hast du das - 94 -
alles im Grunde nicht doch nur gemacht, um dich zumindest äußerlich den Stearns anzupassen? Doch in was für einer Welt lebte diese Familie eigentlich? War es nicht die von River Bend, jetzt, wo sie aus Boston hierhergezogen war. Und sie, Marion selbst? Gehörte sie zu dieser Welt dazu? Woher hatte Tom nur diese Selbstsicherheit? War er so selbstbewußt, weil er aus einer vornehmen Familie kam? Er wußte immer sehr genau, was er wollte und was gut für ihn war, ganz anders als Marion. Kam diese Überlegenheit von seinem reichen Elternhaus? Immerhin brauchten die Stearns sich keine Gedanken zu machen, wie sie die Miete, das Auto und das Schulgeld für die Kinder bezahlen sollten. Kein Wunder, daß sie Zeit hatten, sich um chinesisches Porzellan und wertvolle Antiquitäten zu kümmern. Marion bürstete sorgfältig ihr Haar. Woher mochte es kommen, überlegte sie, daß einige Leute sich für Kunst und Kultur interessierten, andere dagegen überhaupt nicht? Vielleicht waren diese Bereiche von so grundlegender Bedeutung, daß jeder die Pflicht hatte, sich darum zu kümmern, unabhängig von seiner Herkunft und seinem Einkommen? In der Bücherei fühlte Marion sich manchmal ganz überwältigt von all dem Wissen, das dort in den Regalen angehäuft war. Es faszinierte sie, daß alle großen Ideen und Erfindungen der Menschheit in Büchern nachzulesen waren. Trotzdem war das Lesen bisher für sie nur so eine Art Zeitvertreib gewesen, so wie ihre Freundinnen Zeitschriften lasen oder Baskettballspiele verfolgten. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu. Die neue Marion Johnson war gestern abend jedenfalls ein großer Erfolg gewesen, obgleich des Theaterstück sich zwar als recht langatmig
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erwiesen hatte. Sogar Tom hatte zugegeben, daß es durch die Übersetzung aus dem Russischen viel verloren hatte. Das Telefon klingelte. Marion wollte hingehen, doch Todd war ihr anscheinend schon zuvorgekommen. „Telefon!“ rief er wenig später die Treppe hinauf. Marion legte die Bürste beiseite und lief hinunter. „Na, hast du dich von der Theateraufführung gestern schon wieder erholt?“ hörte sie Tom fragen. Marion lief ein Schauer über den Rücken, wie immer, wenn sie unvermutet seine Stimme vernahm. „Ich 'glaube schon. Und du?“ „Ich habe geduscht, das hat geholfen.“ „Hast du heute nicht deinen Kursus am College?“ „Ist ausgefallen. Ich habe den ganzen Tag frei.“ Marion machte es sich auf dem Wohnzimmerteppich bequem und spielte mit der Telefonschnur. „Hast du nicht Lust, heute irgend etwas zu unternehmen?“ fragte er. „Ich habe noch nichts Besonderes vor“, antwortete Marion, obwohl das nicht ganz stimmte. Eigentlich wollte sie sich mit L.W. treffen und mit ihr zum Schwimmen gehen. „Wie ich im Wetterbericht gehört habe, soll es heute ja unheimlich heiß werden.“ „Ja, ein richtiger IlIionis-Sommertag. Daran mußt du dich gewöhnen.“ „Hat mein Vater auch gesagt.“ „Ist aber gut für die Getreidefelder.“ „Das Korn wächst hier doch sowieso schon so schnell, daß ich nachts von dem Lärm aufwache.“ Marion lachte. Dann überlegte sie, ob Tom Lust hatte, mit ins Schwimmbad zu kommen. Sie gab sich die größte Mühe, möglichst viel von seiner Welt kennenzulernen, warum sollte - 96 -
er da nicht auch einmal ein bißchen über das Alltagsleben hier in River Bend erfahren? Außerdem hatte er außer Laurie K. und L. W. noch keinen ihrer Freunde kennengelernt. Das mußte anders werden. „Laß uns doch zum Schwimmen gehen“, schlug sie kurzerhand vor. „Prima. Gute Idee. Wollte ich bei dem Wetter auch vorschlagen. Wann soll ich dich abholen kommen?“ „Wie wäre es mit ein Uhr?“ Dann fiel ihr Todds Bitte ein. „Ach, übrigens, hättest du was dagegen, wenn wir Todd mitnehmen? Er will unbedingt mal in deinem Jeep mitfahren.“ „Na klar, warum nicht? Also, dann bis nachher.“ Marion legte auf und lief in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Sie schlüpfte in ihre Shorts und zog ein luftiges Sonnentop an. Rasch machte sie das Bett und räumte ein bißchen auf. Sie sammelte die schmutzige Wäsche zusammen und brachte sie nach unten. Todd lag bäuchlings auf dem Wohnzimmerteppich und sah fern. Die Küche und das Wohnzimmer waren ein einziges Chaos. Alles lag durcheinander. Es war Marion ein Rätsel, wie ein vierzehn Jahre alter Junge zwei Räume in so kurzer Zeit in solche Unordnung bringen konnte. „Hier sieht es ja aus wie in einem Schweinestall“, stöhnte sie. „Pst, still“, fuhr Todd sie an. „Der Typ da ist gerade dabei, das Rennen zu gewinnen.“ Gebannt starrte er auf den Bildschirm. „Aber es ist höchste Zeit, hier ein bißchen Ordnung zu schaffen. Das ganze Frühstücksgeschirr steht noch herum, und ich wette, daß du dein Bett noch nicht gemacht und dein Zimmer noch nicht aufgeräumt hast. Außerdem bist du diese Woche dran, den Rasen zu mähen.“ Todd rollte sich auf den Rücken und drückte sich ein Kissen über die Ohren. „Mensch, Marion“, stöhnte er, „zieh endlich ab und laß mich in Ruhe.“ - 97 -
„Weißt du, wer am Telefon war? Tom! Wir wollen nachher gleich zum Schwimmen fahren.“ „Na, toll. Endlich Ruhe hier.“ Marion stieß ihren Bruder leicht mit dem Fuß an. „Wenn du im Jeep mit zum Schwimmbad fahren möchtest, dann widmest du dich jetzt besser deinen Pflichten.“ Das Kissen flog zur Seite, „Ehrlich?“ „Ehrlich.“ Todd sprang auf und stürmte in die Küche, um ein Tablett für das schmutzige Geschirr zu holen. Marion verstaute alles in der Geschirrspülmaschine. Die Eltern sorgten dafür, daß alle häuslichen Pflichten gerecht aufgeteilt wurden. Im Sommer wechselten sich Marion und Todd wochenweise damit ab, den Rasen zu mähen und morgens das Haus aufzuräumen seit die Mutter wieder arbeitete. Diese Woche war Marion mit dem Innendienst an der Reihe. Sie hörte, wie Todd draußen den Rasenmäher anließ, Der Junge braucht immer erst einen Anstoß, um auf Trab zu kommen, dachte sie kopfschüttelnd. Als die Arbeit getan war, machte Marion schnell noch ein paar Sandwiches für sich und ihren Bruder. Einträchtig ließen sie sich dann vor dem Fernseher nieder und warteten auf Tom Punkt ein Uhr klopfte es. Todd sprang auf und öffnete. „Hi Todd“ grüßte Tom. „Wie geht's?“ „Prima.“ „Hier, ich hab' dir was mitgebracht.“ Tom reichte ihm eine weiße Schirmmütze, wie sie Radrennfahrer tragen,
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„Wow!“ Todd nahm die Mütze und setzte sie auf. „Wie sehe ich aus?“ „Stark! Aber du mußt den Schirm nach oben drehen,“ Tom bog den weißen Mützenschirm hoch. „So, siehst du?“ Todd reckte sich und versuchte, sich im Glas eines Bilderrahmens an der Wand zu spiegeln. „Mensch, toll! Danke, Tom!“ „Hallo, Tom“, unterbrach Marion. „Mich kennst du wohl gar nicht mehr, was?“ Tom strahlte sie in seiner unwiderstehlichen Art an. „O hallo, Marion! Gehst du heute etwa auch zum Schwimmen?“ In gespieltem Ärger warf sie mit ihrer Badetasche nach ihm. Er wich geschickt aus und lachte. Marion hätte ihm so gern einen Kuß gegeben, doch sie genierte sich vor ihrem Bruder. „Fahren wir nun los oder nicht?“ fragte Todd ungeduldig. Tom hielt ihm die Tür weit auf. „Bitte, nach Ihnen!“ Marion und Todd zogen Tom mit hinaus zum Jeep. „Hey, wo steckt denn Max?“ Suchend sah Marion sich um. „Der sitzt daheim neben der Klimaanlage. Dem ist es heute draußen viel zu heiß.“ Todd kletterte auf den Rücksitz, und Marion nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Dann fuhren sie los. Todd beugte sich zwischen den Sitzen nach vorn. „Sag mal, Tom, magst du dieses ganze Opernzeug ehrlich gern?“ „Warum?“ „Weil Marion diesen Quatsch in letzter Zeit andauernd hört. Sie geht uns ganz schön auf die Nerven damit.“ Marion hatte Tom erzählt, daß sie sich einige Opern auf Platte angehört hatte. Sie hatten sich eine ganze Weile über die „Zauberflöte“ unterhalten. Jetzt hätte sie ihren Bruder erwürgen können. Er verpatzte wirklich alles! - 99 -
Doch Tom lachte nur. „Mein Bruder ist Musiker, weißt du, und meine Mutter liebt Opern. Deshalb höre ich solche Musik ständig, ob ich will oder nicht. Dir scheint sie ja nicht besonders zu gefallen.“ „Brr, grauenhaft!“ Todd schüttelte sich. „Dieses Geplärre und Gekreische! Und alles womöglich noch auf italienisch.“ „Dir fehlt eben das rechte Musikverständnis“, wies ihn Marion halb im Ernst und halb im Spaß zurecht. Sie drehte sich um und zog Todd die Mütze bis weit über die Augen hinunter. „Nimm dich in acht!“ Todd schob die Mütze wieder hoch. Marion schaltete das Radio ein und hoffte, ihren Bruder damit zum Schweigen zu bringen. Sie drehte am Senderknopf, bis heiße Rockmusik ertönte. „Das ist schon besser“, stellte Todd zufrieden fest. „Hey, Tom, wie schnell fährt diese Kiste eigentlich?“ Tom bog schwungvoll um eine Ecke. „Nicht besonders schnell. Es ist eben ein Geländefahrzeug, kein Rennwagen.“ Todd beherrschte das Gespräch während der ganzen Fahrt zum Schwimmbad. Marion hätte sich mit Tom gerne weiter über Opern unterhalten und über das Buch über chinesisches Porzellan, das sie gelesen hatte, doch ihr Bruder ließ sie nicht ein einziges Mal zu Wort kommen. Außerdem wußte sie, daß es unmöglich war, in Todds Gegenwart ein vernünftiges Gespräch zu führen. „Was ich übrigens noch sagen wollte...“ Tom nutzte geschickt eine kleine Pause in Todds Redeschwall. „Malcolm kommt mich bald besuchen. Erinnerst du dich? Mein Freund aus Boston.“ „Der Typ, mit dem du immer segeln warst?“ „Genau der. Er ist auf dem Wege nach Kalifornien, und da will er hierfür eine Woche Station machen.“ „Wann kommt er denn?“ - 100 -
„Nächste Woche. Ich freue mich schon unwahrscheinlich, ihn wiederzusehen. Du mußt ihn unbedingt kennenlernen“, sagte Tom. „Ich glaube, er wird dir gefallen.“ „Da ist Jake!“ schrie Todd plötzlich, als sie beim Schwimmbad einen Parkplatz suchten. Jake war sein bester Freund. Er stand am Eingang und wartete offenbar auf Todd. Der sprang auf und winkte wie ein Besessener. „Jake!“ brüllte er immer wieder. „Hey, Jake!“ Er schien vor Stolz fast zu platzen, weil er in einem richtigen Jeep mitfahren durfte. Jake kam ihnen träge entgegen, und gemeinsam gingen sie ins Schwimmbad. „Komm, Tom“, sagte Todd drinnen, „ich zeig' dir, wo du dich umziehen kannst.“ Marion hatte sich den Badeanzug bereits zu Hause angezogen. Sie schloß ihre Kleider in eines der Schließfächer ein und ging hinaus, um auf Tom zu warten. Wenige Minuten später kam Tom. Wie toll er aussah! Groß und schlank und trotzdem durchtrainiert! Marion war richtig stolz, einen so gutaussehenden Freund zu haben. Gleichzeitig war sie ein klein wenig aufgeregt bei dem Gedanken, ihn nun allen ihren Freunden vorstellen zu müssen. „Auf geht's!“ sagte Tom und nahm ihre Hand. Er schien auch ein wenig nervös zu sein, und das gab ihr ein Gefühl der Überlegenheit und Stärke. Sie führte ihn zu der Seite des Swimmingpools, an der sich ihre Clique immer traf. „Hei, Tom!“ grüßte L.W. und sah kurz von ihrer Illustrierten auf. „Hallo“, antwortete er. „Was macht dein Japanisch?“ Er hatte L.W. nämlich geholfen, einen Studenten aus Abercrombie zu finden, der ihr zweimal in der Woche Japanischunterricht gab. L.W. hatte sich in den Kopf gesetzt, - 101 -
später Japanologie zu studieren und Geschäftsführerin in einer großen japanischen Computerfirma zu werden. „Langsam geht's voran“, erwiderte sie lachend; „ganz langsam!“ Tom wandte sich an Laurie K. „Hallo! Wie geht's dir?“ Marion war stolz auf Tom. Er schien mit allen gut zurechtzukommen. Laurie K. machte ihn mit Jeff bekannt. Die beiden Jungen gaben sich die Hand, und Marion bemerkte, wie sie sich abschätzend musterten. Tom war größer als Jeff, aber Jeff war kräftiger. Warum sich Jungen nur immer als Konkurrenten betrachten mußten, überlegte Marion. Aber dann fiel ihr ein, daß es bei Mädchen nicht viel anders war, nur daß sie es nicht so offen zeigten wie Jungen. Sie machte Tom mit Mary, Debbie und Monica, Len, Cliff und Mark bekannt. Tom wirkte entspannt und liebenswert. Er lächelte offen in all die neuen Gesichter und wiederholte die neuen Namen, um sie sich einzuprägen. Schließlich fanden sie noch zwei freie Liegestühle und legten ihre Handtücher darüber „Komm, gehen wir schwimmen“, schlug Tom vor. „Geh du schon vor“, antwortete Marion und ließ sich auf die Liege sinken, „Ich setz' mich erst noch ein bißchen in die Sonne.“ Tom ging zum Pool und sprang mit einem gekonnten Kopfsprung ins Wasser: Im Nu hatte er den gegenüberliegenden Beckenrand erreicht, vollführte eine elegante Unterwasserwende und schwamm auf dem Rücken wieder zurück. Ob es irgend etwas gibt, das Tom nicht perfekt kann? überlegte Marion. L.W., die wie gewöhnlich im Schatten lag, schob ihre Sonnenbrille hoch. „Mensch, irre“, flüsterte sie bewundernd, während sie Tom beobachtete.
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Marion fand das auch, aber es gefiel ihr, das nochmal aus fremdem Munde bestätigt zu hören. Tom schwang sich aus dem Wasser auf den Beckenrand und kam wieder zu ihnen herüber. Tropfnaß setzte er sich auf den Liegestuhl neben Marion. Ohne aufdringlich zu wirken, nahm er sofort an der Unterhaltung teil, als gehörte er schon lange mit zur Clique. Er kannte zwar die meisten überhaupt nicht, und fast alle Namen, die fielen, waren ihm neu, doch er nahm alles interessiert auf und machte lustige Bemerkungen dazu. Marion hatte insgeheim befürchtet, er könnte aus Unsicherheit zu viel über Boston, Rugby und Segeln erzählen. Aber er erwähnte dies alles nur, wenn er direkt danach gefragt wurde und schien sich ansonsten nicht die Spur unsicher zu fühlen. Im Gegenteil, er unterhielt sich offenbar prächtig. Dann erhob sich Jeff von seinem Handtuch. „Hey, Tom, wie fandest du denn das Spiel der Cardinals gegen Montreal?“ „Hab' ich nicht gesehen.“ „Was? Das hast du nicht gesehen?“ Jeff warf Laurie K. einen bedeutungsvollen Blick zu. „Mensch, das war wirklich toll, was die Jungs da geleistet haben!“ „Glaube ich gerne“, erwiderte Tom freundlich. „Hast du denn das Rückspiel gesehen?“ Tom schüttelte bedauernd den Kopf. „War auch nicht annähernd so gut“, erklärte Jeff. „Aber was meinst du denn zum Spiel gegen Pittsburgh?“ Tom lächelte nur. „Sag bloß, das hast du auch nicht mitgekriegt?“ fragte Jeff ungläubig. „Hey, Marion, was hast du denn hier für einen Typen angeschleppt? Interessiert er sich denn überhaupt nicht für Baseball?“
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Marion wußte nicht, was sie erwidern sollte. Sie hatte mit Tom bisher noch nie über Baseball gesprochen. Hier in River Bend waren alle Fans der Cardinals, weil St. Louis, die Heimatstadt dieser Mannschaft, ganz in der Nähe lag. „Tom ist doch gerade erst hierhergezogen“, sagte sie schließlich. „Das darfst du nicht vergessen, Jeff.“ „Na, ich weiß nicht so recht...“ Jeff schüttelte bedenklich den Kopf. Kein Cardinals-Fan zu sein, schien ihm höchst verdächtig. Angestrengt überlegte Marion, wie sie die Situation retten könnte. „Ich war eigentlich immer für die Red Sox“, erklärte Tom, „aber seit dem Umzug...“ Jeff ließ seine Muskeln spielen. „Nimm dich in acht! Hier in der Gegend ist man für die Cardinals!“ Er ging hinüber zum Sprungturm, aufgebläht wie ein Kampfhahn. Die anderen nahmen ihre Unterhaltung wieder auf. Marion war wütend. Warum mußte Jeff hier so eine Show abziehen? „Tut mir leid“, flüsterte sie Tom zu, „aber Jeff ist manchmal unausstehlich.“ „Ist schon okay“, erwiderte er leise, „ich mag Baseball, nur hab' ich mich in letzter Zeit nicht allzu viel darum gekümmert.“ Marion ergriff seine Hand. Zärtlich erwiderte er den Druck ihrer Finger. Jeff setzte seine Show indessen am Pool fort. Er stolzierte herum und scherzte herablassend mit ein paar jüngeren Schülern, die ihn offenbar sehr bewunderten. Alle Blicke ruhten auf ihm, als er ein paar mittelmäßige Sprünge vom Turm zeigte. Jedesmal spritzte das Wasser hoch auf. Schließlich kam er wieder zurück und legte sich auf sein Handtuch neben Laurie K. Er schien mit sich und der Welt sehr zufrieden zu sein. Tom beugte sich zu Marion hinüber. „Soll ich's ihm mal zeigen?“
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„Wie meinst du das?“ flüsterte sie verständnislos. „Ich bin ein ziemlich guter Turmspringer.“ „Worüber tuschelt ihr so?“ fragte L. W. leise. „Über Jeff?“ „Ich habe nur gesagt, daß ich auch ein paar Sprünge machen will“, antwortete Tom harmlos und erhob sich. Er ging zum Sprungturm und stellte sich an. Als er an der Reihe war, lief er zunächst vor bis zum äußersten Rand des Sprungbretts und wippte versuchsweise ein paarmal und auf und ab, um die Federung des Brettes zu testen. Dann trat er zurück und konzentrierte sich zwei Sekunden lang. Er nahm Anlauf, sprang kraftvoll ab und vollführte einen gekonnten Salto mit anderthalbfacher Drehung. Sein Körper glitt so elegant ins Wasser, daß die Oberfläche sich nur wenig bewegte. Als er sich auf den Beckenrand schwang, blinzelte er Marion zu. Dann kletterte er wieder auf den Turm und sprang noch einmal. Marion fand seine Leistung olympiareif. Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Woher konnte Tom nur so gut turmspringen und tauchen? Sie sah ihm bewundernd zu, wie er auf der Leiter die höchste Plattform des Sprungturms erklomm, groß, schlank und athletisch. Wieder einmal konnte sie nicht begreifen, daß ein so gutaussehender Junge wie Tom sich für sie interessierte. Gerade balancierte er auf Zehenspitzen auf dem äußersten Ende des Sprungbretts und bereitete sich auf einen Salto rückwärts vor. Kraftvoll stieß er sich ab und flog durch die Luft. Jeden Muskel seines Körpers schien er hundertprozentig unter Kontrolle zu haben. Seine Haltung war vorbildlich. Elegant drehte er sich in der Luft und tauchte fast geräuschlos in das Wasser. Ringsum vernahm Marion ein bewunderndes Murmeln.. Sie schaute zu Jeff hinüber. Der tat so, als interessiere ihn das alles
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nicht. In Wirklichkeit ließ er Tom jedoch nicht aus den Augen und verfolgte jede seiner Bewegungen. Tom sprang noch einmal und kam dann zur Clique zurück. Marion sah, wie Jeff sich auf seinem Handtuch zurücklegte und die Augen schloß. Laurie K. beugte sich zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Wie stolz war Marion, einen Freund wie Tom zu haben! Es war allerdings schade, daß er sich mit Jeff nicht allzu gut verstand, doch das würde sich vielleicht auch noch ändern. Todd kam begeistert auf Tom zugestürzt. „Mensch, irre! Daß du so gut springen kannst!“ „Danke“, wehrte Tom bescheiden ab und schüttelte sich das Wasser aus den Haaren, bevor er sich neben Marion niederließ. „Wo hast du denn das Kunstspringen gelernt?“ wollte L. W. wissen. „Ich habe ein paarmal in den Sommerferien an einem Trainingslager teilgenommen. Da haben sie uns allerhand beigebracht.“ „Dann warst du bestimmt in einer Wassersportgruppe an deiner Schule.“ „Nein, Turmspringen gab es da nicht.“ Tom lehnte sich vertraulich zu L.W. hinüber. „Willst du die Wahrheit wissen?“ Er wußte offenbar genau, wie man L. W. nehmen mußte. Natürlich wollte sie immer die Wahrheit wissen. Ob er ihr etwas über Jeff verraten wollte? Marion war gespannt, was er ihrer Freundin eröffnen würde. „Natürlich“, antwortete L.W. gespannt. „Vor jedem Sprung habe ich eine mordsmäßige Angst“, gestand Tom ganz offen. „Ich springe nur, um mir zu beweisen, daß ich es kann.“
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Marion staunte. Sie fand dieses Eingeständnis genauso bewunderungswürdig wie die Überwindung der Angst beim Sprung vom höchsten Brett. Beides erforderte viel Mut. „Kennst du nicht auch Situationen, in denen es dir ähnlich geht?“ fragte Tom L.W. Sie nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe. „Nein“, antwortete sie dann, „ich tue nur Dinge, die getan werden müssen.“ Plötzlich stand Jeff neben ihnen. „Ein paar gute Sprünge hast du da vorgeführt“, sagte er zögernd. „Danke.“ Marion hielt die Luft an. Wollte Jeff schon wieder Streit? „Bei mir klappt das nie so richtig“, fuhr Jeff fort. „Würdest du mir mal ein paar Tricks beibringen?“ Tom blinzelte ihn gegen die Sonne an. „Klar. Los, komm.“ Marion atmete erleichtert auf und beobachtete, wie die beiden zum Sprungturm gingen. L.W. sah Tom nach und seufzte tief. „Meinst du, daß es von seiner Sorte noch ein paar mehr gibt?“ fragte sie Marion. „'Ich glaube nicht.“
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9. KAPITEL „Roboter!“ sagte Bill und sah Marion erwartungsvoll an. „Roboter“, wiederholte Marion nachdenklich und erhob sich. „Ich glaube, darüber müßten wir einiges haben. Komm, wir schauen mal, ob wir was für dich finden.“ Bill lief ihr voraus zur Kinderbuchabteilung. Seit einiger Zeit erlaubte seine Mutter ihm, allein in die Bibliothek zu kommen. Marion zog ein paar Bücher aus dem Regal. „Hier, wie wäre es damit? Die Roboter aus dem Film ,Krieg der Sterne'?“ „Das ist ja Artoo!“ rief Bill begeistert, als er das Titelbild sah. „Stimmt. Und die Roboter R2-D2 und C-3PO führen dich durch dieses Buch.“ Der Junge hörte ihr aufmerksam zu. „Noch mehr Bücher über Roboter findest du hier.“ Marion zeigte auf eine Reihe von Büchern im Regal. „Du kannst sie dir ja mal in Ruhe ansehen.“ Sie hielt es für wichtig, daß die Kinder auch lernten, sich selbst in der Bücherei zurechtzufinden. „Wenn du mich brauchen solltest, du findest mich dahinten am Tisch.“ „Danke.“ Bill blätterte schon gespannt die Bücher durch. „Bitte. Gern geschehen.“ Sie fuhr ihm freundschaftlich durch den blonden Schopf und ging dann an ihren Platz zurück. Ja, die Arbeit hier in der Bibliothek machte wirklich Spaß. Vor allem über Bills Besuche freute Marion sich immer ganz besonders. Es war toll zu sehen, wie er sich zu einer richtigen - 108 -
Leseratte entwickelte. Nachdem sein Wissensdurst über Raketen gestillt war, hatte Marion ihm Flugzeuge vorgeschlagen, danach Eisenbahnen. Mit den Robotern würde er nun auch eine ganze Weile beschäftigt sein. Aber was konnte man ihm danach anbieten? Den Weltraum vielleicht. Oder Computer. Bill war zwar erst acht Jahre alt, aber schon sehr verständig für sein Alter. Wer weiß, vielleicht würde aus ihm später mal ein berühmter Erfinder oder Ingenieur. Vielleicht sollte sie ihm als nächstes ein Buch über die großen Erfindungen der Menschheit vorschlagen. Dann wurde Marion aus ihren Gedanken gerissen, weil es in der Bibliothek viel zu tun gab. Eine Dame suchte etwas über Eugene O'Neill, den berühmten amerikanischen Schriftsteller. Marion suchte ihr zwei Bücher mit Kritiken heraus und zeigte ihr, wo sie die Stücke selbst finden konnte. Dann kam ein Student, der sich informieren wollte, wie man zu einer Studienbeihilfe oder Stipendien kam. Marion zeigte ihm einige Ratgeber, die sich mit diesem Gebiet befaßten. Gerade wollte sie sich eine kleine Ruhepause gönnen, da wandte sich eine schlanke junge Frau mit feinen Gesichtszügen an sie. „Ich suche etwas über Mexiko“, sagte die Frau mit sanfter Stimme. „Einen Reiseführer?“ „Nein.“ „Bildbände?“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Romane?“ „Ich suche etwas, das mir die Atmosphäre, die Farben dieses Landes vermittelt.“ Sie unterstrich ihre Worte mit anmutigen Handbewegungen. „Es kann aber auch etwas über Südamerika im allgemeinen sein.“ Marion war ratlos. „Ich verstehe nicht so recht, was Sie meinen.“ - 109 -
„Ich möchte meine Träume in Tanz umsetzen. Wissen Sie, ich habe von Mexiko geträumt, und nun möchte ich daraus einen Tanz machen.“ Neugierig schaute Marion die ungewöhnliche Frau an. Sie sah tatsächlich aus wie eine Tänzerin. Vielleicht war sie auch eine Choreographin. „Es gibt einige Romane über die Azteken“, erklärte Marion. Ihr waren wieder ein paar Bücher eingefallen, die Mrs. Francis ihr sehr empfohlen hatte. „Oder Sie könnten etwas von Marquez lesen, dem großartigen südamerikanischen Schriftsteller, der den Nobel-Preis bekommen hat.“ „Ja, vielleicht.“ Die Frau schien noch nicht so richtig überzeugt zu sein. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen einmal unsere Kartei. Sie schauen am besten im Schlagwortregister unter Mexiko nach.“ Marion führte die Frau zu den Karteikästen, zog die Schublade mit dem Buchstaben „M“ heraus und gab der Fremden einen Bleistift und einen Zettel. Dann zog sie sich eilig zurück. Manchmal, wenn die Wünsche zu sehr aus dem Rahmen fielen, war es das beste, den Leuten zu zeigen, wo sie sich informieren konnten, und sie dann allein zu lassen. Marion tat das nicht allzu oft, aber bei dieser Traumtänzerin wußte sie sich einfach keinen anderen Rat. Vor dem Regal mit den Gartenbüchern blieb Marion stehen. Zerstreut ordnete sie einige Bücher, die nicht In alphabetischer Reihenfolge standen. In Gedanken war sie bei der Frau mit den Blattläusen auf den Geranien. Sie hatte sich seit ihrem ersten Besuch noch nicht wieder in der Bücherei blicken lassen. Marion nahm deshalb an, daß ihr Kampf gegen die kleinen Plagegeister endlich zum Erfolg geführt hatte und sie nun wieder in einer heilen Welt ohne Blattläuse lebte. Automatisch mußte Marion auch an ihre erste Begegnung mit Tom denken, wie aufgeregt und nervös sie vor ihrem ersten Treffen im Park - 110 -
gewesen war, und was für einen traumhaften Monat sie seitdem verlebt hatte. Schwer vorstellbar, daß sie noch vor vier Wochen unruhig im Büro gesessen und Karteikarten getippt hatte, wahrend sie darauf wartete, daß ein bestimmter Tom Stearns in die Bücherei käme und seine Bücher abholte. Seit sie ihn kannte, hatte sich so viel verändert. Schon allein ihr Äußeres hatte nur noch wenig Ähnlichkeit mit der Marion von damals. Heute trug sie eine weiße Hemdbluse, den neuen dunkelblauen Rock und die College-Schuhe. Ihr Haar war an der Seite gescheitelt und wurde von einer kleinen goldenen Spange aus dem Gesicht gehalten. Zufrieden spiegelte sie sich in der großen Glastür. Ja, sie sah wirklich aus wie eine Bostoner Studentin aus gutem Hause. Aber es war nicht nur das Aussehen. Marion Johnson hatte sich auch innerlich verändert. Sie wußte jetzt einiges über die Maler Monet und Sargent, konnte sich an Gesprächen über Opern beteiligen, und sie kannte, sich ein wenig mit chinesischem Porzellan aus dem achtzehnten Jahrhundert aus. Marion lächelte bei dieser Bestandsaufnahme. Sie wußte zwar noch nicht genau, was sie mit ihrem Wissen über das alte chinesische Prozellan anfangen sollte und ob sie sich jemals trauen würde, hierüber ein Gespräch mit Mrs. Stearns anzufangen, doch das störte sie nicht weiter. Immerhin war das Buch ganz interessant gewesen, und das Lesen hatte Spaß gemacht. Gutgelaunt strich Marion ihr braunes Haar zurück. Plötzlich kam ihr alles leicht und einfach vor. Sie hatte das Gefühl, daß sie alles erreichen konnte, wenn sie es nur wollte. Und das hatte sie nur Tom Stearns zu verdanken. Tom. Sie seufzte. Seit drei Tagen hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Sein Freund Malcolm war inzwischen angekommen und Tom hatte gestern nur kurz angerufen und sich entschuldigt. Er hatte ihr erzählt, - 111 -
was Malcolm und er alles vorhatten und daß dabei keine Zeit für ein Treffen mit ihr bliebe. Nun gut, hatte sie gedacht, Malcolm bleibt schließlich nur eine Woche. Danach hatte sie Tom ja wieder ganz für sich allein. Natürlich war sie traurig, Tom so lange nicht zu sehen, aber sie verstand, daß die beiden Freunde sich nach einer so langen Trennung eine Menge zu erzählen hatten. Ein wenig enttäuscht war Marion auch., daß sie Malcolm bisher noch nicht kennengelernt hatte. Aber es war ein ganz merkwürdiges Gefühl. Einerseits war sie sehr gespannt darauf, den Jungen endlich vor sich zu sehen, von dem ihr Tom so viel erzählt hatte. Andererseits sah sie dem Treffen aber auch mit sehr gemischten Gefühlen entgegen. In diesem Augenblick öffnete sich die Eingangstür. Automatisch hob Marion den Blick. Es war Tom! Und der Junge neben ihm mußte Malcolm sein! Er war kleiner als Tom und hatte dunkel blondes Haar, braune Augen, eine lange, dünne Nase und ein energisches Kinn. Marion fand, daß er ganz gut aussah, wenn auch lange nicht so gut wie Tom. Ob die beiden ihretwegen hergekommen waren? Oder wollte Tom nur ein paar Bücher ausleihen? Marion spürte, wie die Aufregung in ihr stieg. Malcolm holte eine braune Hornbrille hervor, setzte sie auf, schaute sich interessiert in der Bücherei um und steckte die Brille dann wieder ein. „Da bist du ja!“ Tom hatte Marion endlich entdeckt. „Hi'„ begrüßte er sie lächelnd. „Marion, das hier ist Malcolm. Und das ist Marion Johnson.“ „Marion!“ rief Malcolm lachend. „Hallo, hallo'„ Er schüttelte ihr die Hand. „Alles, was ich in den letzten drei - 112 -
Tagen von Tom gehört habe, war Marion, Marion und nochmals Marion,“ Marion wäre beinahe rot geworden. „Von dir habe ich auch schon eine Menge gehört.“ „Eine nette kleine Bücherei habt ihr hier.“ „Danke.“ „Muß ich meinem Vater mal erzählen“, sagte Malcolm. „Interessiert er sich für Bibliotheken?“ „Und wie! Mein Großvater hat für die Harvard Universität eine Bücherei gestiftet, das Gebäude und ich weiß nicht was noch alles. Und mein Vater behält das alles so'n bißchen im Auge.“ Tom sah seinen Freund lächelnd an. Marion spürte, wie gern er Malcolm hatte. „Sag mal, hast du heute abend Zeit?“ fragte Tom. „Es ist nämlich so“, mischte sich Malcolm ein, „daß ich mit einer Freundin meiner Großmutter in St. Louis gesprochen habe, und die hat mir Karten für das große Beethoven-Konzert heute abend geschenkt. Ich weiß, daß wir dich jetzt praktisch damit überfallen, aber wir dachten, daß du und deine Freundin L.W. vielleicht...“ „Glaubst du, L.W. würde mitkommen?“ fragte Tom. Er fuhr sich verlegen mit der Hand durchs Haar. „Und du, du hast doch Lust, nicht wahr?“ „Ja, hört sich sehr verlockend an“, antwortete Marion. „Ich kann L.W. ja gleich mal anrufen und fragen.“ „Super!“ Malcolm war begeistert. „Es handelt sich übrigens um ein Open-Air-Konzert“, erklärte Tom. „In St. Louis. Wir müssen so gegen sechs losfahren. Meine Mutter will uns einen großen Picknickkorb zurechtmachen.“ Marion überlegte. Bis um fünf mußte sie noch hier in der Bücherei arbeiten. Dann hatte sie gerade noch genug Zeit, nach - 113 -
Hause zu laufen und sich umzuziehen. „Gut, dann rufe ich L.W. jetzt an.“ Sie ging nach hinten in das Büro. Glücklicherweise war in der Bücherei im Augenblick nicht viel los. „Sie spielen übrigens Beethovens Neunte“, rief Malcolm ihr noch nach. „Du hast sie bestimmt schon tausendmal gehört, aber es wird sicher trotzdem ganz nett.“ L.W. hatte noch nichts Bestimmtes vor und war einverstanden, mit nach. St. Louis zu kommen. Rasch lief Marion in die Bücherei zurück und berichtete, daß alles klar sei. „Na, prima.“ „Super!“ „Aber jetzt müssen wir weiter“, erklärte Malcolm. „War nett, dich kennengelernt zu haben.“ „Wir holen dich dann um sechs ab, okay?“ Tom strahlte sie an. Marion sah den beiden nach, wie sie durch die Glastür hinausgingen. Es war alles so schnell und überraschend gekommen. Ein Beethoven- Konzert! Ausgerechnet! Was wußte sie schon von Beethoven? Absolut nichts! Nachdenklich ging sie in die Schallplattenabteilung und suchte sich eine Aufnahme der Neunten Symphonie heraus. Hoffentlich schaffte sie es, sich in der Pause einiges davon anzuhören. Punkt drei Uhr schnappte sich Marion die Platte und setzte sich in die; Musikkabine. Während sie dem ersten Satz der Symphonie lauschte, las sie die Rückseite der Plattenhülle. „Ludwig van Beethoven, Geboren 1770, Gestorben 1827. Er komponierte neun Symphonien, mehrere Klavierkonzerte und zahlreiche andere Musikstücke.“
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Staunend erfuhr Marion, daß Beethoven zum Schluß so taub geworden war, daß er nicht einmal mehr den Applaus des Publikums hatte hören können, als die Neunte uraufgeführt wurde. Verrückt, dachte sie, daß man komponieren kann, obwohl man kaum noch etwas hört. Leider war ihre Pause schnell vorbei. Marion entschloß sich, die Platte mit nach Hause zu nehmen und sie beim Umziehen zu Ende zu hören. *
Der Nachmittag verging wie im Flug. Eine Minute nach fünf stürmte Marion aus der Bücherei. Sie lief nach Hause, erzählte Ihren Eltern, was sie vorhatte, und ging dann schnell unter die Dusche. Um fünf vor sechs war sie fertig. Sie hatte sich heute abend besonders schön gemacht. Aus dem Lautsprecher tönte der zweite Satz der Beethoven-Symphonie. Marion wollte die Minuten bis zu Toms Ankunft noch nutzen. Punkt sechs läutete es an der Tür. Marion stellte den Plattenspieler aus, und öffnete. Ihre Eltern saßen im Wohnzimmer und taten so, als läsen sie die Abendzeitung. In Wirklichkeit hatten sie mit dem Abendbrot extra noch etwas gewartet, um Tom begrüßen zu können. Sie hatten ihn zwar schon kennengelernt, mußten aber wohl trotzdem ihre typische Elternrolle spielen und ihr Amüsiert-euch-schön, ihr Fahrtvorsichtig und das unvermeidliche Kommt-nicht-so-spätwieder, loswerden. Marion führte Tom ins Wohnzimmer. Ihre Eltern ließen wie erwartet ihre Ermahnungen vom Stapel. Natürlich versicherte Tom ihnen, daß sie sich keine Sorgen zu machen bräuchten, und dann ging es endlich los.
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Auf dem Weg zum Auto überlegte Marion, ob sie später als Mutter wohl auch so sein würde. Wahrscheinlich ja. Man konnte wohl nichts dagegen tun, Eltern machten sich nun einmal Sorgen um ihre Kinder. Tom legte zärtlich den Arm um sie. „Du siehst toll aus!“ Marion schmiegte sich eng an ihn. „Danke,“ „Du siehst immer toll aus, finde ich.“ Er öffnete für sie die Tür einer großen schwarzen Limousine. „Wir fahren heute übrigens mit dem Wagen meines Vaters. Ich fand, der Jeep paßt nicht zu Beethoven.“ „Hi-ho, Marion!“ Malcolm begrüßte sie fröhlich vom Rücksitz. Vor dem Haus von L.W. stieg Malcolm aus, um sie zu holen. Als endlich alle vier im Wagen saßen fuhren sie los in Richtung St. Louis. „Nicht schlecht!“ Malcolm musterte L.W. anerkennend von oben bis unten. „Tom hat mir erzählt, daß du hübsch bist, aber er hat nicht gesagt, daß du so super aussiehst!“ „Danke“, erwiderte L.W. trocken. Marion hoffte, daß die beiden sich an diesem Abend gut verstehen würden. „Sie sieht nicht nur gut aus, sondern ist auch schwer in Ordnung“, erklärte sie und drehte sich zu Malcolm um. „Man versucht eben sein Bestes“, lachte L.W. „L.W. ist auch unheimlich klug“, bemerkte Tom und blinzelte ihr im Rückspiegel zu. „Sag doch mal was auf japanisch, L.W.“ „Mal überlegen... ja, jetzt weiß ich was: Sony!“ Tom lachte. „Mitsubishi“, antwortete er. „Toyota“, mischte sich Marion ein. „Honda!“ rief Malcolm. Alle mußten lachen. „Seht ihr, es ist gar nicht so schwer, japanisch zu sprechen“, meinte L.W. Dann wandte sie sich an Malcolm. „Gefällt es dir hier in Illinois?'„ - 116 -
„Ich find's super! Leider kann ich nur noch drei Tage bleiben. Dann geht's weiter nach Kalifornien, einen Kumpel besuchen. Duck heißt er...“ „Duck?“ „Die Abkürzung von Duckworth“, erklärte Tom. „Duckworth?“ fragte Marion verwundert. „Ist das der Voroder Nachname?“ „Der Vorname natürlich“, antwortete Malcolm ungeduldig. „Ja, und danach fliege ich dann nach Australien.“ „Nach Australien?“ „Ja. Mein Vater hat dort geschäftlich zu tun, darum düse ich kurz mal rüber, um ihn zu besuchen. Meine Schwester Duffy, die zur Zeit in China ist, will auch hinkommen. Aber bei ihr kann man im voraus nie so genau sagen, ob sie tatsächlich kommt oder nicht.“ „Malcolm will in Australien segeln“, sagte Tom. „Genau. Aber den tollsten Segeltörn aller Zeiten hast du leider verpaßt, Stearns. In Bar Harbor war es absolut super!“ Marion wußte nicht einmal, wo Bar Harbor lag. Tom schien Gedanken lesen zu können. „Das ist in Maine“, erklärte er. „Malcolms Großmutter hat dort ein Sommerhaus.“ „Genau. Großmutter verbringt den Sommer immer in ihrem Häuschen in Bar Harbor.“ Tom lächelte Marion verschmitzt zu. „Häuschen ist gut. Es ist in Wirklichkeit eine riesige Villa.“ „Wie groß ist denn das sogenannte Häuschen?“ wollte L.W. wissen. Marion war froh, daß L.W. sich danach erkundigte. Sie selbst hatte sich nicht getraut, danach zu fragen. „So genau weiß ich das gar nicht. Ich glaube, die Räume hat noch nie jemand gezählt. Vielleicht sind es vierundzwanzig. Oder achtundzwanzig.“ Marion war sprachlos. Daß es so etwas gab! Ein Sommerhaus mit über zwanzig Zimmern. - 117 -
„Malcolms Großmutter ist eben eine sehr vornehme Dame“, sagte Tom. „Ach, komm, Stearns“, winkte Malcolm ab. „Sie war doch immer sehr nett zu dir. Vor allem, seit sie erfahren hat, daß deine Großmutter eine Remmington war.“ Tom lachte. „Tja, es hat eben seine Vorteile, aus einer guten Familie zu kommen.“ „Die Segeltörns waren jedenfalls immer stark“, stellte Malcolm zufrieden fest. „Ihr reist wohl sehr viel?“ fragte L.W. „Tja, also...“ Malcolm spielte mit seiner Hornbrille. „Mutter ist im Augenblick in Florida. Großmutter bereitet ihre alljährliche Reise nach Indien vor... ja, eigentlich sind wir alle immer sehr viel unterwegs.“ L.W. sah Marion bedeutungsvoll an, doch diese wich dem Blick schnell wieder aus. Sie wollte nicht, daß Malcolm etwas bemerkte. Der hatte sich wieder an L.W. gewandt. „Du mußt mir unbedingt von eurer Schule erzählen. Wie sieht es denn am Mary I. heute so aus?“ „Am Mary I.?“ L.W. sah ihn ratlos an. „Marion und L. W. gehen hier in River Bend zur öffentlichen High School“, erklärte Tom schnell. Erst jetzt fiel Marion ein, daß Malcolm wahrscheinlich das Mary Institut meinte. Das war eine vornehme private Mädchenschule in St. Louis. „Oh!“ Malcolm zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. „Ihr geht wirklich hier zur Schule? Und wie ist es?“ L.W. erzählte ihm knapp das wichtigste von ihrer Schule. „Sowas sollten wir auch mal ausprobieren, Stearns“, meinte Malcolm belustigt. „Hört sich irre an.“ „Ich werde ab Herbst auch auf diese Schule gehen“, antwortete Tom. „Das habe ich dir doch schon erzählt.“
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„Hör mal, Marion“, rief Malcolm und beugte sich zu ihr vor, „das mußt du ihm unbedingt ausreden. Eure High School hier mag ja ganz gut sein, aber ich finde, Tom sollte auf jeden Fall weiter in Massachusetts zur Schule gehen. Das hier ist nichts für ihn.“ „Willst du das nicht lieber Tom überlassen?“ fragte L.W. ärgerlich. „Mir gefällt es hier in River Bend“, erklärte Tom. „Und ich möchte hier auch richtig leben. Das heißt, daß ich auch die Schule kennen lernen möchte.“ Malcolm wollte etwas einwenden, doch Tom stoppte ihn. „Nicht jetzt“, sagte er fest. „Wir reden später darüber.“ Der Freund lehnte sich wieder zurück und erzählte L.W., daß seine Familie zu den ältesten in Boston gehörte. „Tja, die Simpsons sind eine alteingesessene Familie“, schmunzelte er. „Anders als die Remmingtons. Die gibt es ja erst seit ein paar hundert Jährchen.“ Tom lachte. „Stimmt. Verglichen mit euch sind wir richtige Parvenus.“ Marion hatte Tom noch nie so reden hören. Sie wußte auch nicht genau, was das Wort „Parvenu“ bedeutete. Nachdenklich blickte Marion aus dem Fenster. Ob Malcolm nur Eindruck schinden wollte? Oder ob das alles ganz selbstverständlich für ihn war? Er kam ihr vor, wie jemand von einem anderen Stern, einem Stern, auf dem die Leute Sommerhäuser mit vierundzwanzig Zimmern hatten, eben mal nach Australien, China oder Indien düsten. Wie sonderbar das alles war. Marions Familie lebte erst seit wenigen Generationen in Amerika. Ihre Großväter waren einfache Farmer gewesen, die irgendwann aus England oder aus Deutschland eingewandert waren. Wie es wohl sein mochte, aus einer Familie zu stammen, deren Namen man über Jahrhunderte zurückverfolgen konnte? - 119 -
Sie sah Tom von der Seite an. Er konzentrierte sich ganz auf die Straße. In was für einer Welt mochte er in Boston gelebt haben? „Na, du bist ja so ruhig geworden?“ unterbrach er leise ihre Gedanken. Ob es ihr jemals gelänge, zu seiner Welt Zutritt zu bekommen? Sie wußte es nicht. Zärtlich betrachtete sie Toms Profil und seine schmalen Hände. Was sollten all die Gedanken? Es genügte einfach bei ihm zu sein. Mehr wollte sie nicht. Liebevoll legte sie ihm die Hand auf den Arm. Er sah sie lächelnd an. Wenig später erreichten sie St. Louis, suchten einen Parkplatz und stiegen aus. Tom holte einen riesigen Picknickkorb aus dem Kofferraum und reichte Malcolm eine Decke. Dann nahm er Marion bei der Hand, und sie gingen zum Eingang des großen Parks. Kaum hatten sie das Tor passiert, da entdeckte Marion Mr. Jones in der Menge. Die Frau an seiner Seite kam ihr ebenfalls sehr bekannt vor. War das nicht...? ' Tatsächlich, es war Mrs. Francis! Wie schön. Marion freute sich aufrichtig für die beiden und winkte, aber sie wurde in dem Gedränge nicht bemerkt. Sie nahm sich vor, ihnen später kurz hallo zu sagen. Auf dem sanft ansteigenden Gelände, das wie ein natürliches Amphitheater wirkte, war schon eine Menge los, aber sie fanden doch noch ein Plätzchen für ihre Decke. „Bloß nicht so weit nach vorn“, meinte Malcolm. „Da ist die Akustik nicht gut.“ „Nein, natürlich nicht“, stimmte L.W. mit einem ganz merkwürdigen Blick zu. Marion beobachtete die Freundin von der Seite. Was mochte in ihr vorgehen? Sie hatte gehofft, daß L.W. sich mit Malcolm gut verstehen würde. Dummerweise hatte Malcolm während der ganzen Fahrt nur von sich selbst und von seiner Familie - 120 -
gesprochen. L. W. hatte zwar meist höflich zugehört, doch Marion hatte kein gutes Gefühl dabei gehabt. Aber sie beschloß, sich über Malcolm kein vorschnelles Urteil zu bilden, auch wenn er an diesem Abend etwas arrogant und langweilig wirkte. Sie machten es sich alle auf der Decke bequem und genossen die Herrlichkeiten, die aus dem Picknickkorb zum Vorschein kamen. Es gab sehr leckere Pastete, knuspriges französisches Weißbrot, kalte geräucherte Forelle, knackigen Salat und zum Abschluß einen köstlichen Käse. „Oh, ich glaube, es geht los“, verkündete Malcolm, als sie gerade mit dem Essen fertig waren. Sie sahen nach vorn zur Bühne. Tatsächlich, die Musiker nahmen ihre Plätze ein. Schnell verstauten Tom und Marion die Reste ihres Picknicks im Korb. Der Dirigent betrat die Bühne. Er sprach kurz mit dem ersten Geiger, hob die Arme, und die Musik begann. Es war inzwischen dämmrig geworden. Die langsame weiche Melodie schwebte durch den Park wie eine sanfte Sommerbrise. Tom legte den Arm um Marion und zog sie enger an sich. Sie fühlte sich wie auf Wolken. So müßte es immer sein: ein köstliches Abendessen, wundervolle Musik und Tom. Langsam steigerte sich die Musik. Marion schloß die Augen und gab sich ganz dem Zauber des Abends hin. Sie spürte den Stoff von Toms Hemd an ihrer Wange, seinen Arm um ihre Schulter, seinen ruhigen Atem. Und zu alledem diese wunderbare Musik. Zärtlich strich Tom ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie sah ihn an. Dann spürte sie seine Lippen auf ihrem Mund. „Sieh mal an“, hörte sie Malcolm sagen, „die beiden können nicht mal bis zum zweiten Satz abwarten.“ Tom mußte lachen und ließ sie los. - 121 -
Früher wäre Marion so etwas schrecklich peinlich gewesen, doch jetzt machte es ihr nichts aus. Sie kuschelte sich wieder an Toms warme Schulter. Die Musik verstummte, und einige Zuschauer begannen zu klatschen. Marion wollte auch applaudieren, aber Tom nahm ihre Hände und hielt sie fest. „Nein, nicht jetzt! Zwischen den einzelnen Sätzen wird nicht geklatscht, nur am Ende.“ Marion spürte, wie sie rot wurde. Warum hatte sie das bloß wieder nicht gewußt? Der letzte Satz der Neunten Symphonie von Beethoven war dann einfach umwerfend. Marion glaubte, noch nie etwas so Schönes gehört zu haben. Ein großer Chor war auf die Bühne gekommen und hatte sich hinter den Musikern aufgestellt. Das musikalische Hauptthema, immer wieder aufgenommen und variieren im ersten Teil der Symphonie, klang jetzt mit den Chorstimmen einfach überirdisch schön. Dann war es zu Ende. Benommen saß Marion zwischen der begeistert applaudierenden Menge. So etwas hatte sie noch nie erlebt! Sie klatschte aus Leibeskräften. Auf dem Heimweg klang die Melodie noch lange in Marion nach. „Das war wunderschön“, sagte sie, zu Malcolm gewandt. „Noch einmal vielen Dank, daß du uns eingeladen hast.“ „Keine Ursache. Aber ich fand den Dirigenten zwischendurch etwas lahm.“ Marion wußte nicht, was sie darauf sagen sollte. „Was meinst du, Stearns?“ fragte Malcolm. „Ich fand, er hat seine Sache gut gemacht.“ „Mir gefällt die Neunte von Bernstein dirigiert, wesentlich besser“, winkte Malcolm ab. „Bei ihm hat alles mehr Farbe, ist viel lebhafter, findest du nicht auf, L.W.?“
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„Du hast recht“, antwortete L.W. mit merkwürdiger Betonung. „Er versteht es, die Schattierungen klarer herauszuarbeiten, bei ihm ist wesentlich mehr Power und Ausdruckskraft dahinter.“ „Genau! Du sagst es!“ rief Malcolm begeistert. Marion staunte. Woher, um alles in der Welt, kannte L.W. die Neunte Symphonie von Beethoven, daß sie so sachkundig darüber reden konnte? Nachdenklich schaute sie aus dem Fenster. Die anderen unterhielten sich noch weiter über das Konzert. Marion bedauerte, nicht mit Tom allein dort gewesen zu sein. Außerdem spürte sie genau, daß L.W. sich in Malcolms Gegenwart nicht besonders wohlfühlte. Sie schien kurz vor einem Wutausbruch zu stehen. Malcolm dagegen, der fast ununterbrochen wie ein Wasserfall redete, schien nicht einmal zu ahnen, daß er Marion und L.W. mit vielen seiner Bemerkungen verletzte. Merkwürdig, daß zwei so unterschiedliche Jungen wie Tom und Malcolm so gute Freunde waren. Marion sah Tom an. Er hob eine Augenbraue und schien fragen zu wollen, ob irgend etwas nicht in Ordnung war. Als Marion lächelnd den Kopf schüttelte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu. Marion nahm sich vor, sich über Malcolm nicht weiter den Kopf zu zerbrechen. Sie wollte lieber an das herrliche Konzert denken und an Toms zärtlichen Kuß. Behaglich lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und sah hinaus auf die dunklen Felder, bis sie River Bend erreichten.
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10. KAPITEL „Mensch, ist das ein eingebildeter Angeber“, fauchte L. W. in den Telefonhörer. „Ich. habe noch nie so einen aufgeblasenen Hohlkopf kennengelernt. Die ganze Zeit hat nur davon geredet, wo er schon überall war, wo er noch hin will, wie toll seine Familie ist...“ Marion telefonierte schon seit zehn Minuten mit ihrer Freundin. Noch nie hatte sie sie so aufgebracht erlebt. „Dieser alberne Simpson Malcolm Edgington soll von mir aus hingehen, wo der Pfeffer wächst“, schimpfte L.W. weiter. „Hoffentlich läuft er mir nicht noch mal über den Weg!“ „Er heißt Malcolm Edgington Simpson.“ „Ist mir völlig wurscht.“ „Tut mir leid, daß der Abend für dich so schrecklich war.“ „War er ja gar nicht. Die Musik war toll, das Picknick war köstlich, Tom ist nett. Wenn nur dieser unmögliche Typ nicht gewesen wäre...“ Marion versuchte, L.W. etwas von Malcolm abzulenken. „Ja, die Musik war stark, nicht wahr?“ „Und wie. Ich wundere mich allerdings, daß du überhaupt was davon mitbekommen hast. Du warst doch die ganze Zeit mit Tom beschäftigt.“ Marion lächelte. „Und ich habe nicht gewußt, daß du soviel von klassischer Musik verstehst. Woher wußtest du denn soviel über Bernstein?“
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„Ich weiß überhaupt nichts über ihn. Aber dieses Gequassel von Malcolm ging mir auf den Wecker. Da hab' ich eben auch mit ein paar Floskeln um mich geworfen, und schon war er beeindruckt.“ „Es hörte sich wirklich so an, an verstündest du eine Menge davon.“ „Nicht die Bohne. Aber dieser blöde Typ...“ L.W. wurde wieder ärgerlich. „Da geht er mit den beiden hübschesten Mädchen aus ganz River Bend aus und langweilt uns den ganzen Abend mit seinem blöden Gerede.“ Ob er wohl zwei Mädchen aus Boston ebenso behandelt hätte? überlegte Marion. „Glaubst du, er ist immer so?“ fragte L.W. „Oder wollte er bloß Eindruck schinden?“ „Ich glaube, er ist immer so. Es ist eben seine Art.“ „Schrecklich! Aber sag mal, was machst du heute nachmittag so?“ Marion sah aus dem Fenster. Es war einer der ganz wenigen verregneten Sonntage in River Bend. „Ich hoffe, daß Tom sich noch meldet“, antwortete sie. „Willst du etwa noch einen Abend mit diesem Malcolm verbringen?“ fragte L.W. ungläubig. Marion hatte das Gefühl, Toms besten Freund ein wenig in Schutz nehmen zu müssen. „Er kann ja nichts dafür, daß er so merkwürdig ist“, antwortete sie. „Er ist nicht nur merkwürdig. Ich finde er ist ein ziemlich übler Typ.“ L.W. zögerte einen Moment, dann wurde sie ganz ernst. „Ich bitte dich, Marion, sei bloß vorsichtig.“ „Wie meinst du das?“ „Na ja...so nett Tom sonst auch ist, mit Malcolm zusammen ist er ganz anders, finde ich.“ Marion wollte widersprechen, doch L.W. ließ sie nicht zu Wort kommen. „Ich weiß, daß Tom schwer in Ordnung ist“, - 125 -
fuhr sie rasch fort. „Seit du ihn kennst, hast du dich ganz schön verändert. Meistens zu deinem Vorteil. Und er scheint dich auch wirklich zu mögen, aber ich habe das Gefühl, daß dieser Malcolm keinen guten Einfluß auf ihn hat.“ „Wieso? Was willst du damit sagen?“ „Menschen wie Malcolm mit viel Geld und vornehmer Abstammung können manchmal sehr herzlos sein. Sie leben in ihrer eigenen Welt.“ „Aber Tom ist nicht so!“ „Ich weiß, ich weiß“, beschwichtigte L.W. „Aber hüte dich vor Malcolm, sage ich dir nur. Ich traue ihm nicht.“ „Na, gut.“ Marion war zwar nicht ganz überzeugt, respektierte aber die Meinung der Freundin. „Ich muß jetzt Schluß machen“, sagte L.W. „Wir fahren heute zu meiner Großmutter zum Essen.“ „Okay. Also dann bis zum nächsten Mal.“ Marion legte auf. Nachdenklich starrte sie auf das Telefon. Ob L.W. recht hatte? War es möglich, daß der Unterschied zwischen Tom und ihr doch zu groß war? Daß er ihrer eines Tages überdrüssig wurde? Nein, so weit wollte sie es nicht kommen lassen. Sie wollte an sich arbeiten, sich ändern, ihn mit ihrer Intelligenz und ihrer Anpassungsfähigkeit immer wieder aufs Neue beeindrucken. Marion fuhr zusammen, als das Telefon erneut klingelte. Diesmal war es tatsächlich Tom. „Malcolm und ich haben heute nachmittag nichts Besonderes vor“, sagte er. „Hast du nicht Lust, herzukommen und mit uns Scrabble zu spielen?“ „O ja, gern.“ „Meinst du, daß L.W. auch Lust hat?“ „Die fährt heute zu ihrer Großmutter“, antwortete Marion schnell. „Schade. Malcolm findet sie sehr nett.“ - 126 -
Das kann nicht Toms Ernst sein, dachte Marion. „Dann komme ich dich also in zwanzig Minuten abholen. Ist das okay?“ „Ja, prima. Bis dann!“ Marion ging ins Wohnzimmer, um ihrer Mutter Bescheid zu sagen. Todd lag auf dem Teppich und schaute sich ein Baseballspiel im Fernsehen an, Als er seine Schwester sah, stutzte er. „Was ist denn mit dir los? Du siehst ja aus wie eine Pfadfinderin. Fehlt nur noch ein Rucksack und ein Schmetterlingsnetz!“ „Ph! Mit dir rede ich doch nicht über Mode! Du hast ja keine Ahnung, was gut aussieht.“ In diesem Augenblick hörte sie Toms Jeep schon draußen vorfahren. „Ich gehe dann also! Bis später!“ Sie lief hinaus. Tom hatte wegen des Regens das Verdeck seines Wagens hochgeklappt. Das Trommeln der Regentropfen auf dem imprägnierten Stoff erinnerte Marion an den kurzen Schauer unter Toms Regencape während der Radtour. Wie schön wäre es, jetzt mit Tom ganz allein hinauszufahren! „War toll gestern abend, nicht?“ fragte er. „Ist Malcolm nicht ein netter Kerl?“ „Ja, doch...“, antwortete Marion ohne rechte Überzeugung. „Mir hat es gestern auch sehr gut gefallen.“ Tom war bester Laune. Er erzählte ihr während der ganzen Fahrt, wie toll er es fand, mit Malcolm zusammenzusein und wie sehr er den Freund vermißt hatte. Ob er sich vielleicht ein ganz falsches Bild von Malcolm machte? Marion wußte, daß Tom ihn schon von klein auf kannte. Vielleicht hatte er nicht genügend Abstand zu seinem
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Freund, um dessen Fehler zu bemerken. Oder war Malcolm vielleicht ganz anders, wenn er mit Tom allein war? Tom parkte den Jeep direkt vor dem Eingang der Villa. Es goß immer noch in Strömen, und sie liefen rasch ins Haus. Mr. und Mrs. Stearns waren in der Küche. „Hallo, Marion!“ Mr. Stearns erhob sich und kam strahlend auf sie zu. „Nett, dich mal wieder bei uns zu sehen.“ Mrs. Stearns lächelte nur kühl. Tom führte Marion gleich weiter in den Wintergarten, wo Malcolm in einem der weißen Korbsessel saß und in einer Sonntagszeitung las. „Hi-ho, Marion“, grüßte er in seiner betont munteren Art. „Na, wie geht's?“ Er warf die Zeitung demonstrativ in die Ecke. „Großvater kannte den Gründer dieses Käseblatts“, sagte er mit wichtiger Miene, und ich muß sagen, es ist seitdem nicht ein bißchen besser geworden. Wie haltet ihr es hier nur ohne die New York Times aus?“ Marion versuchte, höflich zu bleiben. „Ich schaue immer in der Bibliothek hinein“, erwiderte sie, obwohl das gar nicht stimmte. „Na, ja, besser als gar nichts“, meinte Malcolm geringschätzig. „Kommt, laßt uns eine Partie Scrabble spielen“, lenkte Tom ab. Sie machten es sich an einem der weißen Korbtische bequem und begannen zu spielen. Tom und Malcolm waren mit sehr viel Witz und Ehrgeiz bei der Sache. Tom gewann das erste Spiel, Marion die beiden nächsten. „Nicht schlecht“, stellte Tom fest. „Du hast es uns ganz schön gezeigt.“ Marion wollte erwidern, daß sie einfach nur Glück gehabt hatte, bremste sich aber noch rechtzeitig. „Ich kann euch ja noch mal eine Möglichkeit zur Revanche geben“, erklärte sie statt dessen gnädig. - 128 -
„Nein, vielen Dank.“ Malcolm winkte gelangweilt ab. „Ich habe im Augenblick die Nase voll vom Scrabbeln.“ Er erhob sich und sah aus dem Fenster. Es regnete immer noch. „Was für ein ekliger Tag heute.“ Marion entschuldigte sich und ging ins Badezimmer. Als sie zurückkam, hielt sie vor der Tür des Wintergartens einen Moment inne. Sie hörte, wie Malcolm drinnen gerade über sie sprach. „Tom, ich finde, ein Mädchen wie Marion ist nicht der richtige Umgang für dich.“ Marion spürte, wie sie erstarrte. „Du redest schon genauso wie meine Mutter“, hörte sie Tom sagen. „Marion ist ein unwahrscheinlich nettes Mädchen.“ „Trotzdem hat deine Mutter recht.“ Malcolm schien zu zögern. „Natürlich weiß ich, das Marion nett ist. Ich kann dich ja .verstehen, Tom. Du warst neu hier in der Stadt, kanntest keinen Menschen, und da ist dir eben diese kleine Bibliothekarin über den Weg gelaufen.“ Tom antwortete etwas, das Marion nicht verstehen konnte. „Aber stell sie dir doch bloß mal in Boston vor!“ fuhr Malcolm fort. „Stell dir mal vor, du mußt sie all den Typen von unserer Schule vorstellen!“ „Na und? Wieso nicht? Marion ist doch okay!“ „Findest du?“ „Und ob!“ Immerhin, dachte Marion mit klopfendem Herzen, Tom hält zu mir und läßt sich von diesem Malcolm nicht irre machen. „Du kannst ja nichts dafür, daß deine Eltern hierher in die Provinz gezogen sind.“ Malcolm sprach jetzt in beschwörendem Ton. „Aber deshalb mußt du dich doch noch lange nicht mit einer kleinen Farmerstochter einlassen.“ „Hör auf!“ rief Tom. „Ich verbiete dir, in diesem Ton von Marion zu reden.“ - 129 -
„Ich sage dir das nur als dein Freund. Einer muß dir ja mal den Kopf zurechtsetzen!“ „Hat Mom dich dazu beauftragt?“ „Ja, sie hat mit mir kurz darüber gesprochen“, gab Malcolm zu. Marion stürzte zurück ins Badezimmer. Wie konnte dieser arrogante, eingebildete Malcolm es wagen, sie hinter ihrem Rücken so schlecht zu machen? Wie kam er dazu, einen Keil zwischen sie und Tom zu treiben? Am schlimmsten war, daß Toms Mutter genauso dachte. Darum war sie also immer so kühl gewesen. Plötzlich sehnte sich Marion danach, in ihrem Zimmer allein zu sein. Sie wollte Tom sagen, daß sie Kopfschmerzen hatte. Keine sehr gute Ausrede, aber das war ihr jetzt ganz egal. Nur weg von hier. Weg von diesem Haus und diesem schrecklichen Malcolm. Schnell! Irgendwie schaffte Marion es, sich von Malcolm zu verabschieden und in den Jeep zu steigen. Auf der Heimfahrt war sie sehr still. „Alles in Ordnung?“ Tom schaute sie besorgt an. „Ach, es geht mir nicht besonders gut.“ „Aber im Scrabbelspielen bist du wirklich stark!“ Sag mir doch, daß das alles nicht wahr ist, flehte Marion innerlich. Nimm mich in die Arme, halt mich ganz fest und sag mir, daß alles Unsinn ist, was dieser verdammte Malcolm da von sich gegeben hat. „Malcolm bleibt übrigens noch bis Mittwoch“, hörte sie Tom sagen. „Wir haben noch eine Menge vor zusammen.“ Er hielt vor dem Haus ihrer EItern. „Aber vielleicht können wir beide ja Mittwoch abend etwas zusammen unternehmen.“ Er ahnte also nicht, daß sie von dem Gespräch etwas mitbekommen hatte. Und es war ihr unmöglich, ihm zu gestehen, daß sie vor der Tür gelauscht hatte. Immerhin tröstete - 130 -
es sie ein wenig, daß Tom sie trotz der gemeinen Sprüche seines Freundes wiedersehen wollte. „Ja, gern“, antwortete sie und stieg aus. „Dann also gute Besserung. Ich rufe dich an!“ Marion lief ins Haus. Alles war still, es war niemand da. Ihre Eltern waren bei Freunden zum Essen eingeladen, und Todd schlief bei seinem Freund Jake. Das war Marion ganz recht. Sie wollte jetzt ganz allein sein. Am liebsten hätte sie geweint, laut geschrien und mit den Fäusten gegen die Wand getrommelt. Und vor allem diesem eingebildeten Malcolm Edgington Simpson ein paar kräftige Fußtritte versetzt. Aber sie versuchte, sich zusammenzureißen. Ruhelos lief sie von einem Zimmer ins andere. Das Wohnzimmer! Vor zwei Jahren hatten sie es vollständig neu eingerichtet. Bisher hatte Marion den taubenblauen Teppichboden und die modernen italienischen Möbel immer sehr gemocht, doch heute sah sie plötzlich alles mit anderen Augen. Sie verglich die Einrichtung mit dem Wohnzimmer der Stearns, und war sich auf einmal nicht mehr ganz sicher, ob ihr der vertraute Raum hier noch gefiel. Wirkte er wirklich modern und geschmackvoll? Oder war er im Grunde nicht billig und langweilig? Nein, dachte Marion, ich tue meinen Eltern Unrecht. Die beiden haben sich bei der Einrichtung unseres Hauses so viel Mühe gegeben, weder Zeit noch Geld gescheut, um alles gemütlich und schön einzurichten. Das Wohnzimmer war hübsch. Davon wollte Marion sich auch von den Stearns nicht abbringen lassen. Müde ließ sie sich auf das Sofa sinken. Sie war es satt, hatte die Nase voll von diesem Malcolm, von den Stearns, den Remmingtons, von John Singer Sargent, Beethoven und all diesem Kram...
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Marion wachte vom Klingeln des Telefons auf. Draußen war es dunkel. Einen Augenblick lang wußte sie nicht, wo sie war. Dann fiel ihr wieder ein, daß sie auf dem Sofa im Wohnzimmer eingeschlafen sein mußte. Schlaftrunken tappte sie in die Küche und nahm den Hörer ab. „Hallo!“ Es war Tom. „Wie fühlst du dich?“ „Besser.“ „Ich hab' mir Sorgen gemacht.“ „Ach, ich hab' wohl ein bißchen zuviel Scrabble gespielt.“ Sie versuchte, möglichst unbeschwert zu klingen. „Laß uns doch mal überlegen, was wir Mittwoch abend machen wollen.“ Marion atmete erleichtert auf. Er mochte sie also immer noch, obwohl Malcolm sie so schlecht gemacht hatte. „Sag du doch mal, worauf du Lust hast“, schlug er vor. „Immer nur Konzerte und dieser ganze kulturelle Kram sind mir langsam über.“ Die Gedanken in Marions Kopf überschlugen sich. Sie freute sich unheimlich darauf, endlich einmal etwas anderes mit ihm zu unternehmen als bisher. Irgend etwas ganz Normales. Aber was? Es mußte etwas so Tolles sein, daß Tom diesen blöden Malcolm darüber vergaß. Kino vielleicht? Oder ein spannendes Basketballspiel? Dann hatte sie eine Idee. „Wir fahren einfach in der Stadt herum, so wie die meisten es hier abends machen.“ „Toll!“ Toms Stimme klang ehrlich begeistert. „Wann wollen wir uns treffen.?“ „Am besten, du holst mich gegen neun ab.“ „Okay. Dann bis Mittwoch.“ „Ja. Mach's gut!“
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Marion legte auf und ging in ihr Zimmer. Malcolms beleidigende Worte taten noch immer sehr weh, aber nach Toms Anruf fühlte sie sich jetzt doch ein bißchen besser. Sie mußte ihn unbedingt wiedersehen. Sie brauchte ihn, mochten seine Eltern von ihr denken, was sie wollten. Für Marion verging die Zeit viel zu langsam. Endlich war es Mittwoch, und Tom kam sie mit dem Jeep abholen. Er küßte sie zur Begrüßung. „Ich habe dich vermißt, Marion.“ „Ich dich auch, Tom.“ „Wohin fahren wir zuerst?“ „Vielleicht zur Dairy Bar. Mal sehen, ob wir dort schon jemanden treffen. Aber eigentlich ist es noch ein bißchen früh.“ Und wirklich, auf dem Parkplatz stand nur ein einziges Auto, das Marion nicht kannte. „Gut, dann geht's weiter auf der großen Rundfahrt“, sagte sie. „Zu Fish'n Chips, bitte.“ Der Parkplatz dort war absolut leer, doch gerade, als sie wieder auf die Straße fahren wollten, rauschte ein roter Sportwagen vorbei. „Schnell, hupe!“ rief Marion. „Das ist L.W.!“ Tom drückte zweimal kräftig auf die Hupe. L. W. bemerkte den Jeep, wendete und kam zum Parkplatz zurück. „Oh, Christopher Ralston ist bei ihr!“ erklärte Marion, als sie den Jungen auf dem Beifahrersitz erkannte. L.W. parkte neben dem Jeep. Marion machte Tom und Christopher miteinander bekannt. „Na, wie geht's Malcolm?“ fragte L.W. „Er ist heute nachmittag wieder abgereist.“ - 133 -
„Sehr schön!“ stellte L. W. befriedigt fest. „Ich wollte sagen, ich freue mich, daß alles so gut geklappt hat“, setzte sie schnell hinzu. „Was habt ihr beide denn heute abend vor?“ „Marion macht mich in den Freuden des ziellosen Herumfahrens bekannt“, antwortete Tom lachend. „Wird auch höchste Zeit“, fand L.W. „Aber wir müssen weiter.“ Sie ließ den Motor an. „Vielleicht sehen wir uns später noch mal.“ „Das ist ja sehr interessant“, stellte Marion fest, als sie wieder allein waren.“ „Was denn?“ Tom schaute sie verständnislos an. „Na, das mit Christopher. Er ist eigentlich sehr schüchtern. Aber ich finde, er paßt zu L.W.“ Tom lächelte. „Und was jetzt?“ „Da hier in der Gegend offenbar nichts los ist, laß uns rüber in den anderen Stadtteil fahren.“ „Okay, du bist der Boß. Du bestimmst, wo's langgeht.“ Marion dirigierte ihn auf den Parkplatz der Pizza-Hütte, doch da war nur wenig Betrieb. „Ich habe ja gleich gesagt, daß es noch ein bißchen zu früh ist. Die Leute holen sich ihre Pizza meistens erst auf dem Heimweg ab.“ Als nächstes fuhren sie zu Burger King. Dort trafen sie jedoch nur ein paar müde aussehende Erwachsene an und ansonsten lauter junges Gemüse, die Mitglieder einer Basketball-Jugendmannschaft. Auf dem Parkplatz von A & W herrschte gähnende Leere. „Laß uns doch mal beim Kino gucken“, schlug Marion vor. „Da müßten, wir jetzt eigentlich ein paar Typen treffen.“ Tom wendete und fuhr in die angegebene Richtung. Von den Autos auf dem Kino-Parkplatz waren Marion ein paar bekannt, aber es lohnte sich nicht, anzuhalten. Es schien wieder mal nicht allzu viel los zu sein. „Sieht ja ziemlich trostlos aus“, fand Tom. - 134 -
„Stimmt. Aber man muß trotzdem überall mal gucken. Für alle Fälle.“ „Was meinst du damit?“ Marion war einen Augenblick lang verwirrt. „Na, ja“, sagte sie dann zögernd, „für den Fall, daß irgendwo etwas Interessantes passiert. Daß man entdeckt, daß sich irgendwo zwei heimlich verabredet haben. Oder daß man plötzlich jemanden trifft, den man eine Ewigkeit nicht gesehen hat. Oder...“ Es war schwer, einem Außenstehenden zu erklären, was den enormen Reiz dieses Umherfahrens ausmachte. „Und vor allem, um die Zeit totzuschlagen und sich zu amüsieren.“ „Aber das kann man doch genauso gut zu Hause machen, oder?“ „Nein, das ist nicht dasselbe. Komm, wir fahren wieder zurück ans andere Ende der Stadt. Da ist jetzt bestimmt mehr los.“ Als sie auf die Straße bogen, fuhr gerade Jeff in seinem Wagen vorbei. „Schnell“, rief Marion, „fahr ihm nach!“ „Wem?“ „Na, dem Wagen da vorn! Das sind Jeff und Laurie K.!“ Tom gab Gas, die Reifen quietschten. Eine grauhaarige Dame in einem Kleinwagen fühlte sich belästigt, hupte und rief ihnen etwas zu. Marion lächelte Tom verschwörerisch an. Jeff war drei Wagen vor ihnen. „Da, die fahren zu McDonalds! Ihnen nach!“ rief Marion aufgeregt. Sie bogen auf den großen Parkplatz und stellten sich neben den alten Straßenkreuzer. „Hallo, Jeff!“ Marion winkte. „Hallo, Marion! Wie geht's?“ Auch Laurie K. beugte sich aus dem Fenster und winkte. „Na, gibt's was Neues?“ erkundigte sich Jeff. - 135 -
„Nicht viel“, antwortete Marion. „Und bei euch?“ „Auch nichts. Wir fahren nur so herum.“ Sie stiegen alle aus und lehnten sich an Jeffs Wagen. „Hast du das irre Spiel der Cardinals gesehen?“ wandte sich Jeff an Tom. Marion richtete sich auf. Suchte dieser Jeff etwa schon wieder Streit? Sie dachte, dieses Thema sei ein für allemal erledigt gewesen. Und nun fing dieser Typ schon wieder mit Baseball an. „Ja, das war stark, nicht?“ antwortete Tom zu ihrem großen Erstaunen. Und ehe sie sich's versah, waren die beiden Jungen in eine erregte Diskussion über das letzte Spiel vertieft. Marion erzählte Laurie K. indessen, daß sie L.W. mit Christopher Ralston gesehen hatten. Das war überhaupt das Wichtigste am Umherfahren: Jeder hielt jeden mit dem neuesten Tratsch auf dem Laufenden. „Ist das wahr?“ Laurie K. wollte es kaum glauben. „Das ist die Gelegenheit für sie. Darauf hat sie schon lange gewartet, glaube ich. Vielleicht klappt es ja mit den beiden.“ Plötzlich bemerkte Marion, daß Jonathans Wagen auf den Parkplatz bog. Was machte der denn hier in River Bend? Er parkte und kam zu ihnen herüber. „Hey, Jonathan!“ rief Jeff. „Ich wußte gar nicht, daß du wieder im Land bist.“ „Ich bin auch nur noch heute abend hier, dann muß ich wieder zurück zu meinen Jungs. Hallo, Marion!“ Er strahlte sie an. Sie spürte, wie sie langsam nervös wurde. Wie würden sich Jonathan und Tom verstehen? Laurie K. machte sie miteinander bekannt. Marion sah, daß Jonathan Tom abschätzend musterte. Tom dagegen blieb ruhig, da er nicht wußte, was es mit dem anderen Jungen auf sich hatte. - 136 -
„Toller Jeep!“ stellte Jonathan bewundernd fest. „Ist das deiner?“ „Nicht ganz. Eigentlich gehört er meiner Mutter.“ „Gefällt es dir hier in River Bend?“ Marion wußte, daß Laurie K. Jonathan von ihrer Freundschaft mit Tom erzählt hatte. Er schien bestens informiert zu sein. „Ja, ich find's schön hier.“ „Du kommst aus Boston, nicht?“ Tom nickte. Laurie K. beugte sich zu Marion. „Wie hast du denn Tom dazu gekriegt, mit dir umherzufahren?“ fragte sie leise. „Ich hab's ihm einfach nur vorgeschlagen.“ „Wurde auch Zeit“, fuhr Laurie K. fort, „daß er nach all diesem kulturellen Kram mal was Anständiges unternimmt.“ Marion sah Tom an. Er unterhielt sich immer noch angeregt mit den beiden anderen Jungen. Wie gut er aussah! Sie war richtig stolz, einen Freund wie Tom zu haben. In diesem Augenblick hielt noch ein Wagen neben ihnen. Mary, Debbie und Monica stiegen aus. Marion machte sie mit Tom bekannt. Er hatte sie bereits im Schwimmbad gesehen und sprach mit ihnen wie mit alten Freunden. Als Debbie schließlich begann, mit ihm zu flirten, fand Marion es besser, aufzubrechen. „Ich will noch zu einer Fete“, sagte Jeff. „Wollt ihr nicht mitkommen?“ „Nein, eigentlich nicht“, antwortete Marion. „Wir fahren lieber noch ein bißchen herum,“ Sie starteten und fuhren weiter durch die Stadt. Tom schien über irgend etwas nachzudenken. Er war sehr schweigsam. „Woran denkst du?“ fragte Marion und sah ihn von der Seite an. Und ganz plötzlich hatte sie Angst vor seiner Antwort. Fast bereute sie die Frage schon.
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„Nein, nein, es ist nichts weiter“, sagte Tom schnell. „Ich habe nur gedacht...nein, es ist nicht weiter wichtig.“ „Willst du nicht darüber sprechen?“ Er schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf die Straße. „Ich habe nicht gewußt, daß wir so viele Parkplätze abklappern müssen“, sagte er nach einer Weile. „Macht es dir denn keinen Spaß?“ „Doch, schon, aber ich hatte mir irgendwie mehr davon versprochen...“ „Was denn zum Beispiel?“ „Ich weiß auch nicht. Ich hatte es mir irgendwie spannender vorgestellt.“ Ob Tom sich langweilte? Natürlich kannte er die meisten Typen aus der Stadt nicht. Für ihn waren alle Autos fremd, und deshalb machte ihm bestimmt alles nur halb soviel Spaß wie ihr und den anderen „Eingeweihten“. Ganz allmählich beschlich Marion das Gefühl, daß der Abend ein Reinfall war. Aber sie mochte sich so schnell nicht geschlagen geben. „Oh, es ist manchmal durchaus spannend“, verteidigte sie sich. „Manchmal kriegt man zum Beispiel mit, wie zwei Streit miteinander haben. Oder wie zwei, die miteinander gehen, sich trennen. Dann hört man sich an, was beide Seiten zu sagen haben, und muß vielleicht versuchen zu schlichten. Bei Laurie K. und Jeff ist das oft der Fall.“ Je eifriger Marion auf Tom einredete, desto klarer wurde ihr, wie dumm das alles in seinen Ohren klingen mußte. „Manchmal hat auch einer der Typen zuviel getrunken“, fuhr sie zaghaft fort. „Dann müssen wir ihn überreden, den Wagen stehenzulassen, und uns um ihn kümmern. Ihn nach Hause bringen...“ Tom hatte aufmerksam zugehört, sagte aber nichts.
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Marion überlegte fieberhaft. Die meisten ihrer Freunde waren heute abend auf der Fete, von der Jeff gesprochen hatte. Ob es gut war, jetzt mit Tom noch hinzufahren? Oder ob ihm das auch nicht gefiel? „Hey.“ Tom riß sie aus ihren Gedanken. „Wir haben den Parkplatz von Dog 'n Suds ausgelassen.“ Er wendete und fuhr zurück. „Bist du hungrig?“ „Nein, noch nicht. Und du?“ „Auch noch nicht.“ „Wir könnten noch mal zu McDonalds fahren“, schlug sie mit einem letzten Hoffnungsschimmer vor. „Da ist jetzt bestimmt allerhand los.“ „Willst du wirklich?“ „Wenn du willst.“ „Vielleicht sollten wir es für heute abend gut sein lassen.“ Marion sah auf die Uhr. Es war erst elf! „Ich bin ziemlich müde“, fuhr Tom fort. „Die Woche mit Malcolm war doch recht anstrengend.“ Die Gedanken schwirrten durch Marions Kopf, doch ihr fiel so schnell nichts ein, womit sie ihn umstimmten konnte. Sie verstand das einfach nicht. Es hatte doch die ganze Zeit so ausgesehen, als ob er sich gut unterhalten hätte. Oder täuschte sie sich? Ohne ein weiteres Wort wendete Tom und fuhr zurück zu Marions Haus. War der Abend wirklich so schlimm für ihn gewesen? Wenn er doch etwas sagte! Diese Schweigen war unerträglich. Vor dem Haus ihrer Eltern stellte er den Motor ab und schaltete das Licht aus. Dann wandte er sich ihr zu. „Hast dich auch wacker geschlagen“, sagte sie in gespielt munterem Ton. „Wenn du die ganzen Typen hier genauer kennst, wird es dir bestimmt noch mehr Spaß machen.“
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Er beugte sich zu ihr und küßte sie. Für einen kurzen Augenblick hielt er sie in seinen Armen und strich ihr zärtlich übers Haar. Dann wandte er sich abrupt ab und stieg aus. Er brachte sie noch bis an die Tür. „Also dann, bis zum nächsten Mal. Ich rufe dich wieder an.“ „Gute Nacht.“ Marion schloß die Tür auf und schlüpfte ins Haus. Nach der tollen Woche mit Malcolm war es wohl ein Fehler gewesen, ihn einfach nur zum Umherfahren überredet zu haben. Zu dumm, daß ausgerechnet heute abend so wenig losgewesen war. Wenn wenigstens irgend etwas Spannendes oder Lustiges passiert wäre! Sie seufzte und begann sich auszuziehen. Es ist nun einmal geschehen, dachte sie, und ein verdorbener Abend wird nicht gleich die ganze Freundschaft ruinieren. Beim nächsten Mal wollte sie alles wieder gutmachen. Trotzdem hätte Marion nur zu gern gewußt, was in Toms Kopf vorgegangen war. Warum hatte er nicht darüber sprechen wollen? Es war das erste Mal seit ihrem Kennenlernen, daß er ihr fremd und unnahbar erschienen war.
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11. KAPITEL Es war an einem schönen Sommerabend im August, als Tom um neun Uhr abends unverhofft bei Marion anrief. „Ich muß unbedingt mit dir reden“, sagte er. „Kann ich noch bei dir vorbeikommen?“ Marion spürte, wie ihr Herz vor Schreck schneller schlug. „Was ist denn los, Tom?“ „Ich möchte am Telefon nicht so gern darüber sprechen. Kann ich zu dir kommen?“ „Ja, klar! Meine Eltern haben allerdings gerade Besuch, und Jake ist auch da...Vielleicht ist es doch besser, wenn wir nicht hier bleiben und du mich nur abholen kommst.“ „Gut. Ich bin in fünf Minuten da. Okay?“ „Okay.“ Beklommen legte sie auf. Seine Stimme hatte so ungewohnt ernst geklungen. Was mochte nur los sein? Ob es etwas mit ihr zu tun hatte? Hatte sie in ihrer Verliebtheit womöglich nicht gemerkt, daß etwas zwischen ihnen nicht in Ordnung war? Sie hatten sich ein paar Tage lang nicht gesehen, weil er mit seiner Abschlußarbeit für den Abercrombie-Kursus beschäftigt gewesen war. Marion ließ die letzten Wochen im Geiste noch einmal Revue passieren. Gab es irgendwelche Hinweise dafür, daß er sich mit ihr zusammen nicht mehr wohlfühlte? Ihr fiel beim besten Willen nichts ein.
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Seitdem Malcolm nach Kalifornien weitergereist war, hatten sie sich prächtig verstanden und viel Spaß zusammen gehabt von dem Abend, an dem sie mit dem Auto umhergefahren waren, einmal abgesehen. Aber danach hatten sie noch eine herrliche lange Radtour gemacht, ein Picknick im Park veranstaltet, waren mit Max herumgetollt und ins Kino gegangen. Es hatte einfach alles gestimmt zwischen ihnen, und Tom war so gutgelaunt und ausgeglichen wie immer gewesen. Nervös sah Marion in den Spiegel. Ja, das Make-up war noch in Ordnung. Eilig nahm sie ihre Handtasche, sagte ihren Eltern Bescheid und ging hinaus, um vor dem Haus auf Tom zu warten. Ein Auto näherte sich, doch Marion achtete nicht darauf, denn es war nicht der Jeep. Wo mochte Tom nur bleiben? Die fünf Minuten waren längst um. Da erst bemerkte sie, daß es sich bei dem Auto, das nun neben ihr hielt, um die große Limousine von Mr. Stearns handelte. Am Lenkrad saß Tom. Hilfsbereit hielt er ihr die Tür auf. „Hallo“, sagte sie mit gespielter Sorglosigkeit. Dabei sah er sehr ernst aus. „Tut mir leid, daß ich dich so unerwartet überfalle.“ „Och, das macht nichts. Ich hatte nicht Bestimmtes vor heute abend.“ Er gab Gas und fuhr los. Marion fühlte sich hundeelend. Sollte sie abwarten oder ihn geradeheraus fragen, was Sache war? Sie konnte diese unerträgliche Spannung keine Minute länger aushalten. Er sah sie von der Seite an. „Können wir nicht irgendwo hinfahren und etwas trinken? Ich möchte nicht beim Fahren mit dir reden.“ Sie nickte. - 142 -
„Fahren wir zu A & W?“ Marion war einverstanden. Er zog sie an sich und gab ihr einen kurzen, flüchtigen Kuß. Doch das beruhigte Marion nicht. Im Gegenteil, sie fühlte sich immer unbehaglicher. Schweigend fuhren sie auf den großen A & W-Parkplatz. Glücklicherweise war nicht viel Betrieb. „Willst du eine Cola?“ fragte er. Marion wollte keine Cola. Sie wollte Tom. Und sie hatte das schreckliche Gefühl, daß sie dabei war, ihn zu verlieren. „Nein...ja“, stotterte sie. Tom lehnte sich aus dem Fenster und bestellte über die Sprechanlage zwei Colas. Sie warteten, ohne ein Wort zu sagen. Nach wenigen Minuten, die Marion wie eine Ewigkeit vorkamen, brachte ihnen ein Mädchen die Getränke ans Auto. Marion kannte das Mädchen aus der Schule. Es lächelte Tom an, als es das Tablett hereinreichte. Er strahlte zurück, gab ihr ein paar Münzen und bat sie, das Wechselgeld zu behalten. „Danke“, sagte sie und lehnte sich in das offene Fenster. „Hallo, Marion.“ „Hallo!“ „Wie geht's dir?“ „Gut... und dir?“ „Auch gut. Freust du dich schon wieder auf die Schule?“ Marion hatte das Gefühl, sich nicht mehr länger beherrschen zu können. Wie lange wollte dieses Mädchen sie noch aufhalten? Sie mußte endlich erfahren, was Tom ihr sagen wollte. „Ja, ich freue mich. Also dann bis demnächst.“ Das Mädchen verabschiedete sich und machte Marion noch schnell ein Zeichen, als wollte es sagen: „Was für ein toller Typ!“
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Nachdem Tom Marion die Cola gereicht hatte, wurde er wieder ernst. „Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll“, begann er zögernd. „Bitte, sag es einfach so, wie es ist.“ Er holte tief Luft. „Ich gehe wieder an meine alte Schule zurück.“ Marions erste Reaktion war ein erleichtertes Aufatmen. Er will nicht mit mir Schluß machen, jubilierte sie innerlich. Dann erst wurde ihr klar, was er da gesagt hatte. Er ging fort von hier. „Aber ich dachte, du wolltest hier in River Bend auf die High School gehen“, stammelte sie verwirrt. „Wollte ich auch. Und ich will auch noch. Aber meine Eltern bestehen darauf, daß ich an die Ostküste zurückgehe.“ „Warum denn?“ „Sie sind der Meinung, daß die Schulen dort besser sind... und daß es besser ist, wenn ich so kurz vor dem Studium nicht mehr die Schule wechsele. Außerdem glauben sie, daß ich hier in River Bend keine richtige Ausbildung kriege...“ „Die Schule hier ist nicht schlecht. Weigere dich doch einfach zurückzugehen.“ Marion wollte eigentlich fest und überzeugend sprechen, doch sie brachte die Worte nur leise und ziemlich kläglich hervor. „Habe ich ja versucht. Seit Malcolm weg ist, streite ich mich fast täglich mit meinen Eltern. Es ist schrecklich.“ Malcolm! Dieser arrogante Typ! Steckte er womöglich dahinter? „Warum hast du mir nie davon erzählt?“ „Ich konnte einfach nicht. Ich wollte nicht, daß du dir unnötig Sorgen machst... und ich wollte uns unsere letzten Tage nicht verderben.“ „Du hättest es mir sagen müssen!“ Das war es also gewesen. Darüber hatte er so oft nachgegrübelt. Er hatte mit sich gekämpft, ob er hierbleiben - 144 -
oder an seine alte Schule zurückgehen sollte. „Weshalb wolltest du eigentlich hier in River Bend zur Schule gehen?“ „Ich dachte, es wäre gut für mich, auch mal etwas anderes als bisher kennenzulernen, von meiner Familie und ihrer Welt einmal Abstand zu bekommen...“ Ob er sich innerlich gegen die Remmingtons auflehnte? Marion mußte wieder an das kurze Gespräch in seinem Zimmer denken, als sie die Wände gestrichen hatten. Konnte es sein, daß er von der vornehm-überheblichen Art seiner Familie die Nase voll hatte? „Aber wir können doch weiterhin miteinander gehen“, versuchte sie es verzweifelt. „Du kommst doch an den Feiertagen und in den Ferien bestimmt nach River Bend zu deinen Eltern. Und ich kann dich vielleicht auch mal besuchen. Wir können uns schreiben...“ „Nein, Marion, das möchte ich nicht. Ich will nicht, daß du dich an einen Jungen bindest, der so weit weg lebt.“ „Aber das macht mir nichts aus!“ Tom senkte den Blick und sah auf seine Hände auf dem Lenkrad. „Die Zeit wird auch sehr schnell vergehen“, flehte Marion. „Ein Jahr ist so schnell um. Und im nächsten Sommer bist du schon wieder hier. Das Schuljahr geht immer so schnell vorbei.“ Er lehnte sich zurück und sah sie offen an. „Das ist gerade der Punkt, über den ich mit dir reden will: Ich halte nicht viel von einer Freundschaft über eine so große Entfernung hinweg. Das kann nicht gutgehen.“ Er holte tief Luft. „Ich finde es deshalb besser, wenn wir uns nicht mehr treffen, Marion. Jedenfalls nicht so wie bisher.“ Also doch. Aus. Schluß. Ende. Seine Worte klangen in ihr nach. War das alles überhaupt wahr? Oder träumte sie? „Du willst also mit mir Schluß machen?“ - 145 -
„Wir müssen vernünftig sein. Ich weiß, daß unsere Freundschaft keinen Sinn mehr hat. Sie würde an der großen Entfernung sowieso zerbrechen. Glaub mir, Marion, ich kenne das. Ich habe sowas schon mal erlebt. Im vorigen Jahr war ich mit einem Mädchen befreundet, das in Manhattan zur Schule ging. Es war zum verrückt werden, wirklich. Ich fand es schrecklich, so weit von ihr weg zu sein, ich haßte es, immer allein sein zu müssen. Ich haßte die viel zu kurzen Besuche...und überhaupt alles.“ „Aber bei uns wird das ganz anders sein...“ „Nein, es endet immer auf die gleiche Art. Du möchtest gern zum Tanzen gehen, zum Football und zum Basketball. Ich hätte auch Lust, ab und zu mal auszugehen. Doch wir hätten beide die ganze Zeit nur schreckliche Schuldgefühle...und wir wären sehr einsam.“ „Ach, Tom...“ „Doch, glaub mir. Ich habe das ja alles schon mitgemacht.“ „Warum hast du mir von diesem Mädchen aus Manhattan nie erzählt?“ „Ich fand es nicht weiter wichtig.“ Marion hatte plötzlich einen gräßlichen Gedanken. „Wirst du sie wiedersehen?“ „Nein.“ „Hast du ein anderes Mädchen kennengelernt?“ „Nein, es gibt kein anderes Mädchen.“ Sie sah ihn an und versuchte, sich sein vertrautes Gesicht noch einmal in allen Einzelheiten einzuprägen. Wie sollte sie bloß ohne ihn leben? Wenigstens die drei Worte wollte sie ihm noch sagen, die ihr auf den Lippen lagen, seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Sie hatte bisher nur noch nicht gewagt, sie auszusprechen. „Ich... ich...“ - 146 -
Toms Gesicht wurde abweisend und verschlossen. Er spannte die Hände so kräftig ums Lenkrad, daß die Knöchel weiß hervortraten. „Ich habe dich sehr gern, Marion“, unterbrach er sie. „So gern, wie ich noch nie ein Mädchen vor dir gehabt habe. Aber...es hat wirklich keinen Zweck.“ „Können wir es denn nicht wenigstens versuchen?“ „Nein!“ Dieses Nein klang so entschlossen und endgültig, daß Marion in Tränen ausbrach, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, nicht zu weinen. Sie griff nach ihrer Tasche und kramte darin herum. „Im Handschuhfach sind Papiertaschentücher“, sagte Tom. „Laß uns fahren“, bat sie leise und reichte ihm die ColaFlasche zurück. Sie hatte nicht einen einzigen Schluck daraus getrunken. Tom startete und fuhr los. Er sah angestrengt geradeaus. Sein Gesicht war blaß und verschlossen. Marion trocknete ihre Tränen und putzte sich die Nase. Glücklicherweise war es dunkel. Sie rutschte so weit zur Tür hinüber, wie nur möglich. Zwischen Tom und ihr schienen plötzlich Welten zu liegen. Die Fahrt nach Hause schien eine Ewigkeit zu dauern. Als Tom endlich vor dem Haus ihrer Eltern hielt, mußte Marion wieder an die vornehme Welt denken, in der er und seine Familie lebte. Das Wissen, daß hinter ihrer Verzweiflung und ihrem Unglück nur Toms Eltern steckten, ließ eine ohnmächtige Wut in ihr aufsteigen. Vor allem Mrs. Stearns wollte ihren Sohn wohl von River Bend fern halten. Und dieser blöde Malcolm natürlich. - 147 -
Tom stellte den Motor aus. Er rührte sich nicht. Marion sah erst ihn an, dann schaute sie zum Haus ihrer Eltern. Ein gemütliches Zuhause, dachte sie. Im Wohnzimmer und im Schlafzimmer der Eltern brannte Licht. „Es ist wegen mir, nicht wahr?“ fragte sie. „Wie meinst du das?“ Zum ersten mal seit ihrem Aufbruch bei A & W sah er sie an. „Wegen meiner Herkunft, nicht? Weil wir einer anderen Gesellschaftsschicht angehören, oder?“ „Wie kommst du denn darauf?“ „Wir sind eben grundverschieden.“ Es kostete sie große Überwindung, diese Worte auszusprechen. „Ich verstehe nicht viel von all den Dingen, mit denen deine Eltern sich umgeben. Und wir haben auch nicht so viel Geld wie ihr...“ „Du scheinst zu glauben, daß ich mich für etwas Besseres halte!“ „Nein“, erwiderte Marion. Sie spürte, wie der Ärger in ihr hochstieg. „Du nicht. Aber dieser Malcolm!“ „Tut mir leid, wenn du diesen Eindruck von ihm hast.“ Jetzt, wo der Name gefallen war, konnte Marion sich nicht mehr bremsen. „Steckt Malcolm hinter dieser ganzen Sache?“ „ Wohinter?“ „Na, daß du wieder an deine alte Schule zurückgehst und mit mir Schluß machst?“ „Er freut sich natürlich, daß ich zurückkomme.“ All der Ärger und die Wut, die Marion so lange zurückgehalten hatte, brachen auf einmal aus ihr heraus. „Ich wette, er ist auch sehr erfreut darüber, daß du mit der dummen kleinen Farmerstochter endlich Schluß gemacht hast“, rief sie aufgebracht. Alle Farbe wich aus Toms Gesicht. „Du hast es also gehört?“ - 148 -
„Ja.“ „Tut mir leid, Marion, aber Malcolm hat das nicht so gemeint. Er...“ „Er hat es sehr wohl so gemeint. Und deine Mutter ist derselben Ansicht.“ „Nein, er...ich...bitte...können wir nicht aufhören, uns darüber zu streiten?“ „Von mir aus!“ „Kann ich dich morgen anrufen?“ „Nein!“ Marion stieg aus und lief zur Haustür. Während sie nach dem Schlüssel kramte, hörte sie Tom den Wagen starten. Bitte, flehte sie stumm, komm zurück und sag mir, daß alles gar nicht wahr ist. Daß alles nur ein böser Traum war! Dann hörte sie, wie der Wagen sich entfernte. Marion schloß die Tür hinter sich und rannte hinauf in ihr Zimmer. „Ich bin wieder da!“ rief sie kurz durch die geschlossene Schlafzimmertür ihrer EItern. Hoffentlich merken sie meiner Stimme nichts an, dachte sie. „Aber ich bin ziemlich müde. Gute Nacht.“ Dann schloß sie sich in ihrem Zimmer ein. Ihr Kopf dröhnte. Sie fühlte sich wie benommen, unfähig, auch nur den Lichtschalter zu betätigen. So stand sie ein paar Minuten in der Dunkelheit und starrte vor sich hin. Schließlich machte sie Licht, hängte ihren Rock und ihre Bluse auf einen Bügel, schlüpfte in ihr bequemes Nachthemd und setzte sich aufs Bett. Ob sie Laurie K. anrufen sollte? Es wäre tröstlich, ihre Stimme zu hören. Marion sah auf die Uhr. Kurz nach zehn. Wie hatte sich ihr Leben doch in einer einzigen Stunde verändert! Sie schlich leise ins Treppenhaus und holte sich das Telefon in ihr Zimmer. - 149 -
Laurie K. nahm schon nach dem dritten Läuten ab. „Kannst du nicht noch ein bißchen zu mir kommen?“ fragte Marion. „Was ist denn los?“ Marion konnte kaum noch weitersprechen. Sie schloß die Augen und zwang sich, die schrecklichen Worte über die Lippen zu bringen. „Zwischen Tom und mir ist es aus.“ „Jeff ist gerade hier. Ich schmeiß' ihn nur eben raus und bin dann sofort bei dir.“ „Ich möchte euch nicht stören.“ „Spinnst du? In ein paar Minuten bin ich bei dir.“ Marion setzte sich wieder aufs Bett und blätterte in dem Buch, das auf ihrem Nachttisch lag. Doch es war ihr unmöglich, sich zu konzentrieren. Da hörte sie ein leises Klopfen an der Tür. Es war ihre Mutter. „Ich wollte noch kurz gute Nacht sagen. War es schön mit Tom?“ „Ja, alles in Ordnung.“ Marion senkte schnell den Blick und hoffte, daß die Mutter ihre Tränen nicht bemerkte. „Was hast du, Marion?“ „Nichts.“ „Hast du dich mit Tom gestritten?“ „Nein, wir haben uns nicht gestritten. Wir... wir haben uns getrennt.“ Tröstend legte ihre Mutter den Arm um sie. „Willst du mir nicht erzählen, was los war?“ „Ach, Mom“, schluchzte Marion, „er geht zurück nach Massachusetts. Und er will mich nie mehr wiedersehen.“ „Und du?“ „Ich möchte nicht, daß er mit mir Schluß macht.“ „Massachusetts ist weit weg, und...“ Wenn sie jetzt sagt, daß es bestimmt besser so ist, kriege ich einen Schreikrampf, dachte Marion. „Laurie K. kommt gleich“, sagte sie schnell, um das Thema zu wechseln. - 150 -
Die Mutter gab ihr einen Gutenachtkuß. „Denk daran, daß wir dich sehr lieb haben, Marion. Wenn du uns brauchst, sind wir immer für dich da.“ Leise verließ sie das Zimmer. Wenig später kam Laurie K. „Tom ist ein riesengroßes Rindvieh!“ sagte sie statt einer Begrüßung finster und umarmte Marion freundschaftlich. „Es tut mir so leid für dich. Was ist denn bloß passiert?“ Marion berichtete ihr alles von Anfang an. Es tat ihr gut, mit der Freundin reden zu können. „Das ist wirklich zu dumm“, sagte Laurie K. schließlich. „Ich weiß, wie gern du ihn hattest, und er schien dich auch sehr zu mögen.“ „Was ich nicht verstehe, ist, warum er mich nicht mehr sehen will. Wir könnten doch weiterhin befreundet bleiben, auch wenn er wieder zur alten Schule geht.“ „Denk doch mal an Mary. Weißt du noch, wie es war, als ihr Freund nach Colorado ging, um dort zu studieren? Wie deprimiert und traurig Mary die ganze Zeit war? Und die Enttäuschung, als Gregory Weihnachten nicht nach Hause kam, weil er lieber Ski laufen wollte?“ Marion wußte noch sehr gut, wie schlimm der letzte Winter für Mary gewesen war. „Und denk mal an Steve, wie gerne er mit Mary ausgegangen wäre. Aber sie hat sich nicht getraut, weil sie ja ihren Freund in Colorado hatte.“ Laurie K. machte es sich an Marions Schreibtisch bequem. „Und Mary hat die ganze Zeit in Panik gelebt, daß Gregory in Colorado mal mit einem Mädchen ausgehen könnte. Nein, es gibt wirklich Schöneres, Marion, glaub mir.“ „Aber Tom und ich, wir hätten es geschafft.“ „Ich weiß nicht...“ „Er mag mich doch! Er hat mich doch gern!“ - 151 -
„Trotzdem! Du hörst das bestimmt nicht gern, aber ich finde es auch besser, daß ihr Schluß gemacht habt.“ Marion erhob sich und ging an ihren Schreibtisch. Geistesabwesend betrachtete sie die Fotos, die darauf standen. In einem schmalen Silberrahmen war das Foto, auf dem Tom und Max mit der Frisbee-Scheibe spielten. „Ich weiß nicht, was ich machen soll“, sagte sie mit belegter Stimme. Sie fühlte einen dicken Kloß im Hals. „Soll ich mich noch einmal mit ihm treffen? Immerhin ist er noch eine Woche lang hier.“ „Nein, Marion, es lohnt sich nicht. Es ist aus. Damit mußt du dich abfinden. Wenn du meinen Rat hören willst, überschlafe das Ganze erst einmal. Und wenn du dann meinst, du mußt ihn nochmal wiedersehen, dann tu, was du nicht lassen kannst. Aber mache dir keine falschen Hoffnungen.“ Marion öffnete eine Schreibtischschublade und nahm ein anderes Foto von Tom heraus. Ob sie sich jemals damit abfinden konnte, ohne ihn zu sein? Sie drehte das Bild um und schob es unter einen Stapel alter Hefte zurück. Dann schloß sie zögernd die Schublade. Als sie sich wieder zu Laurie K. umwandte, liefen ihr Tränen über die Wangen. Die Freundin nahm sie tröstend in den Arm. „Komm“, sagte sie, „wir gehen irgendwo eine Cola trinken, ja?“ „Nein, vielen Dank. Ich möchte lieber hierbleiben.“ „Hast du nicht Lust, heute nacht bei mir zu schlafen?“ „Nein, ich glaube nicht.“ Marion brachte die Freundin noch zur Tür. Laurie K. sah sie prüfend an. „Wenn du mich brauchst, du kannst mich jederzeit anrufen.“ „Okay. Mach ich.“ Laurie K. lächelte Marion aufmunternd zu, bevor sie die Tür hinter sich schloß.
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Plötzlich fühlte sich Marion schrecklich müde und erschöpft. Sie ging auf ihr Zimmer zurück, löschte das Licht und vergrub sich tief in die Kissen. Schlafen, dachte sie, nur noch schlafen...
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12. KAPITEL Am nächsten Morgen wachte Marion spät auf. Trotzdem konnte sie sich nicht entschließen aufzustehen. Sie starrte zur Decke, während sie angestrengt versuchte, nicht an Tom zu denken. Erst jetzt wurde ihr so richtig klar, daß wirklich Schluß war zwischen ihnen. Es klopfte leise an der Tür. „Kann ich reinkommen?“ hörte sie Todd vorsichtig fragen. „Von mir aus.“ Ihr Bruder ließ sich auf der Bettkante nieder. „Alles klar?“ „Ich glaub' schon.“ Todd zögerte einen Augenblick. „Tut mir leid“, sagte er dann. „Hat Mom dir schon alles erzählt?“ „Ja. Magst du darüber reden?“ „Nein, eigentlich nicht.“ „Hey, wie wäre es mit einem leckeren Frühstück?“ Er sprang auf. „Ich hab' noch keinen großen Hunger. Vielen Dank.“ „Wirklich nicht?“ Sie schüttelte den Kopf. „Na gut, dann nicht. Also bis nachher.“ Er ging hinaus und ließ die Tür offen. Marion wollte ihm hinterher rufen, ließ es dann aber sein. Ihr war heute alles gleichgültig. Todd kam bald darauf wieder zurück. Er trug ein Tablett mit lauter leckeren Sachen. Verlegen sah er sie an. - 154 -
„Ich weiß, daß du noch keinen Hunger hast, aber ich dachte...“ Marion traute ihren Augen nicht. Offensichtlich hatte Todd schon alles vorbereitet gehabt, als er sie fragte, ob sie hungrig sei. Wie nett er sein konnte! Und beim Anblick all der appetitlich angerichteten Sachen meldete sich bei ihr auch der Hunger. Sie setzte sich im Schneidersitz hin und glättete die Bettdecke. Todd stellte das Tablett vor ihr ab. „Mensch, ist ja toll! Ich glaube, ich habe doch Hunger, wenn ich das hier alles so sehe! Danke, Todd!“ Sie sah zu ihrem Bruder auf, der sie verlegen anlächelte. „Gute Appetit“, sagte er. „Wollen wir nicht noch irgendwas Schönes zusammen unternehmen? Zum Schwimmen gehen oder so? Ich könnte dir auch mein neues Video-Spiel zeigen.“ „Nett von dir, aber ich hab' noch was zu erledigen heute.“ Todd ging zur Tür. „Sag Bescheid, wenn du fertig gefrühstückt hast. Dann hole ich das Tablett wieder ab.“ „Du bist super! Danke, Bruderherz.“ Erstaunt sah sie ihm nach, als er hinausging und die Tür hinter sich schloß. Was für einen netten kleinen Bruder ich doch habe, dachte sie. Dann mußte sie lächeln. Nein, klein konnte sie ihn nicht mehr nennen, das war nun wirklich nicht mehr angebracht. Beim Anziehen versuchte Marion erneut, die Gedanken an Tom beiseite zu schieben. Vergeblich. Deshalb beschloß sie, schon etwas früher zur Bücherei zu gehen, um nicht trübsinnig daheim herumzuhängen. Mrs. Francis bat Marion, für den Schulanfang in der Kinderbuchabteilung einen Sondertisch einzurichten. Es war das erste Mal, daß sie diese verantwortungsvolle Aufgabe ganz allein übernehmen durfte. - 155 -
Sie beschloß, den Tisch zu einer Art Informationsstand zu machen, und suchte etliche besonders ansprechende Ratgeber, Wörterbücher und Lexika heraus, die sie alle übersichtlich anordnete. Mrs. Francis lobte sie sehr für die Auswahl der Bücher und auch für die Art, wie sie den Büchertisch gestaltet hatte. Als nächstes mußte ein Riesenstapel zurückgegebener Bücher wieder in die Regale einsortiert werden. Marion lud alles auf einen kleinen Rollwagen und begann mit dem Einordnen. Das war zwar auf die Dauer etwas eintönig, doch Marion erledigte auch diese Arbeit gern. Sie fand, daß man dabei sehr viele neue Bücher kennen lernen und eine Menge über die einzelnen Sachgebiete erfahren konnte. Deshalb nahm sie sich immer viel Zeit dafür und sah jeden Band genau an. Sie unterbrach ihre Arbeit, als ein kleines Mädchen sie ansprach. „Ich brauche Bücher über Hunde. Mein Dad hat mir einen kleinen Hund geschenkt.“ „So? Was für ein Hund ist es denn?“ „Ein Irish Setter.“ Marion führte das Mädchen in die entsprechende Abteilung. Während sie das Buch „Irish Setter - Aufzucht und Pflege“ heraussuchte, kämpfte sie mit den Tränen. „Oh, schauen Sie mal, der Hund hier auf dem Titelbild“, rief das Mädchen begeistert, „der sieht genauso aus wie meiner!“ Plötzlich sah Marion wieder Tom vor sich, wie er mit Max herumtollte. „Das Buch nehme ich.“ Ungeduldig streckte das Mädchen die Hand aus. Marion schluckte.
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„Du mußt es von der Dame da vorne noch eintragen lassen“, sagte sie mühsam, „dann kannst du es mit nach Hause nehmen und alles über Irish Setter nachlesen.“ „Danke.“ Das Mädchen wandte sich zum Gehen. Marion drehte sich zum Fenster um und versuchte krampfhaft, ihre Tränen hinunterzuschlucken. „Alles in Ordnung?“ hörte sie hinter sich eine Stimme. Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen und drehte sich um. „Ja, Mr. Jones.“ Sie versuchte zu lächeln. Der alte Herr tätschelte ihr mitfühlend die Wange. „Aber wer wird denn hier weinen?“ Er holte ein blütenweißes, gestärktes Taschentuch aus seiner Brusttasche und reichte es ihr. Marion trocknete sich das Gesicht und putzte ihre Nase. Sollte sie dem netten alten Herrn erzählen, was geschehen war? Er schaute sie so teilnahmsvoll an, und auf einmal sprudelte alles aus ihr hervor. „Ach, Sie Ärmste“, meinte er als sie fertig war. „Ich glaube, Sie können jetzt eine schöne Tasse Tee gebrauchen. Warten Sie hier. Ich werde mit Mrs. Francis sprechen, dann machen Sie mal eine kurze Pause.“ Mr. Jones flüsterte kurz mit Mrs. Francis, dann nahm er Marion fürsorglich beim Arm und führte sie in ein nahegelegenes Cafe. Er dirigierte sie in eine ruhige Ecke und bestellte zwei Tassen Tee mit Zitrone. „Ich fürchte, da haben Sie schon in sehr jungen Jahren ein sehr altes Problem kennenlernen müssen“, begann Mr. Jones. „Ein Problem, für das man noch keine Lösung gefunden hat und für das es, so fürchte ich, auch keine Lösung gibt.“ Er lächelte Marion mitfühlend an. „Was meinen Sie?“ „Nun, bisher sind Sie wahrscheinlich nur mit Menschen zusammengetroffen, die aus derselben sozialen Schicht - 157 -
stammten wie sie. Die Stearns sind aus einem anderen Holz geschnitzt, und Sie müssen wissen, daß die gesellschaftlichen Unterschiede in Boston so wichtig und so groß sind wie nirgends sonst in Amerika.“ Er drückte den letzten Tropfen Saft aus der Zitronenscheibe in den Tee. War es wirklich das? Lebten Tom und sie in zu verschiedenen Welten? War die Kluft zwischen ihnen wirklich unüberwindbar? „Es tut mir leid, daß Sie diese bittere Erfahrung schon so früh machen mußten“, fuhr Mr. Jones fort. „Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte Tom niemals kennengelernt“, überlegte Marion laut. Mr. Jones lächelte. „Das möchte ich doch sehr bezweifeln. Sie haben sicherlich ganz zauberhafte Stunden zusammen verbracht, oder?“ Er griff nach ihrer Hand. „Sie sind noch jung“, sagte er, „die Welt steht Ihnen offen. Lassen Sie sich von Menschen wie Mrs. Stearns und diesem Malcolm nicht verunsichern.“ Das ist leicht gesagt, dachte Marion. Den ganzen Sommer über hatte sie versucht, so zu werden wie die Stearns. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß es vielleicht wichtiger war, herauszufinden, was sie selbst wollte, was für sie selbst das Beste war. „Ich glaube, wir sollten wieder zurückgehen“, meinte Mr. Jones und sah auf seine Taschenuhr. „Ich habe Sie schon viel zu lange von Ihren Pflichten ferngehalten.“ Er erhob sich. „Ich bin Ihnen sehr dankbar“, sagte Marion. „Ich weiß gar nicht, wie...ich meine...“ „Ist schon in Ordnung“, wehrte er ab und nahm ritterlich ihren Arm. Schweigend gingen sie in die Bücherei zurück. In Marions Kopf wirbelten die Gedanken nur so durcheinander. War es wichtig, ob die Johnsons einer uralten Familie - 158 -
entstammten? War es von Bedeutung, ob sie ein Ölgemälde ihrer Großmutter besaßen, das von einem berühmten Maler gemacht wurde? Oder ob Mrs. Johnson chinesischen Vasen sammelte? Sicherlich nicht. Als sie die Bücherei erreichten, stand L.W. davor und hielt nach Marion Ausschau. „Hallo“, rief sie erleichtert, „da bist du ja!“ Besorgt sah sie ihre Freundin an. „Alles in Ordnung? Ich habe mit Laurie K. gesprochen, und die hat mir erzählt...“ „Ja, alles in Ordnung.“ „Komm, ich fahr' dich nach Hause. Du hast ja bald Feierabend. Möchtest du weiter über Tom sprechen?“ „Ich weiß nicht so genau. Im Moment kommt mir alles ganz unwirklich vor.“ Marion half noch rasch mit, die Bücherei zu schließen. Dann verabschiedete sie sich von Mr. Jones und Mrs. Francis und stieg zu L.W. ins Auto. Wenig später saßen die beiden Mädchen in L.W.s Zimmer, und Marion berichtete von Toms Telefonanruf und allem, was sich danach ereignet hatte. Sie spürte, daß es ihr guttat, darüber zu reden, das linderte ein klein wenig den Schmerz. L.W. nahm einen Schluck von ihrer Diätbrause. „Ich habe dir ja gleich gesagt, daß du dich vor diesem Malcolm hüten sollst“, sagte sie. „Der ist es gar nicht wert, daß du dir seinetwegen so viele Gedanken machst.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Tom ist wirklich in Ordnung. Er hatte auch einen ganz guten Einfluß auf dich, fand ich. Aber...“ „Aber was?“ L.W. kaute nachdenklich auf ihrem Daumen.“...aber ich hatte trotzdem den Eindruck, daß du all diese Veränderungen
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nur seinetwegen vorgenommen hast und nicht, weil du selbst sie wolltest.“ „Aber ich wollte wirklich anders werden!“ „Ich weiß. Wir wollen alle anders werden, wenn wir uns verlieben. Ganz klar, daß man sich dann plötzlich für Dinge interessiert, die einem vorher völlig gleichgültig waren. Mir gefällt auch, wie du dein Haar jetzt trägst, und wie du dich kleidest. Aber sei mal ehrlich: Ist das wirklich noch Marion Johnson?“ Marion fühlte sich auf einmal müde und leer. „Wer ist das überhaupt, Marion Johnson?“ fragte sie. „Wie kannst du nur sowas fragen?“ L.W. wurde richtig wütend. „Überleg doch mal: wenn du nicht schon vorher ein irres Mädchen gewesen wärst, hätte sich doch ein Typ wie Tom niemals für dich interessiert! Irgendwas muß er doch an dir gefunden haben!“ „Meinst du?“ „Na, klar!“ „So habe ich das noch gar nicht gesehen. Malcolm hat gesagt...“ „Hör bloß auf mit diesem Malcolm!“ „Aber... „ „Kein Aber! Tom hat deine Vorzüge genau gesehen, und darum mochte er dich und ich finde ja auch, daß du soweit ganz in Ordnung bist, auch wenn du deine Nase zu oft in Bücher steckst.“ L.W. brachte Marion nach Hause und schlug ihr vor, am Abend zusammen ins Kino zu gehen. Marion lehnte ab. Sie wollte jetzt unbedingt allein sein, um noch einmal in Ruhe über alles nachzudenken. Nach dem Abendessen legte Marion ihre Lieblingsplatte auf und machte es sich auf dem Bett bequem. Die Gespräche mit - 160 -
L.W., Laurie K. und Mr. Jones hatten ihr sehr geholfen, die Dinge klarer zu sehen. Jeder hatte sie auf einen anderen Punkt hingewiesen: Laurie K. auf die Schwierigkeiten, mit einem Jungen zu gehen, der weit entfernt wohnte; Mr. Jones auf die gesellschaftlichen Unterschiede, und L.W. hatte ihr Selbstwertgefühl wieder aufgerichtet. Trotzdem wußte Marion, daß sie sofort ja sagen würde, wenn Tom jetzt anriefe, um sich mit ihr zu verabreden. Oder doch nicht? Im Grunde ihres Herzens war sie sich darüber im klaren, daß alles aus war, daß sie die schöne Zeit nicht wieder zurückholen konnte. Tom war ein unwahrscheinlich netter Junge, aber er ging zurück an die Ostküste, in eine andere Welt. Marion dagegen blieb in River Bend, jedenfalls bis sie mit der High School fertig war. Und sie wußte jetzt, daß sie hierher gehörte. An diesem Nachmittag war in der Bücherei nicht allzu viel los. Marion hatte es sich am Informationstisch bequem gemacht und sah den Katalog mit den neuen Kinderbüchern durch. Sie schrak auf, als plötzlich jemand vor ihr stand. „Ich habe zu Hause noch diese Bücher gefunden“, sagte Tom und schob zwei dicke Wälzer über den Tisch. Marion bemerkte sofort, daß er beim Friseur gewesen war. Die ausgeblichenen Strähnen an den Schläfen waren radikal gekürzt. Ansonsten sah er aus wie an dem Tag, an dem er das erste Mal in die Bücherei gekommen war. Marion schien es eine Ewigkeit her zu sein. „Die Termine für die beiden sind überzogen“, stellte sie kühl fest. „Ich weiß.“ „Das macht vierzig Cents.“ - 161 -
Tom kramte in seinem Geldbeutel. Ihre Hände berührten sich, als er ihr die Münzen reichte. „Der Sommer mit dir war unheimlich schön“, sagte er leise. Marion sah ihm einen Augenblick in die Augen. Dann wandte sie sich ab und legte das Geld in die Kasse.
- ENDE -
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