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»Nackte Gewalt« Santa Fe: Als der Galeriebesitzer Larry Olafson erschlagen wird, bekommen die ermittelnden Polizisten Darrel Two Moons und Steve Katz viel Arbeit: Olafson hatte viele Feinde, entsprechend groß ist der Kreis der Verdächtigen. Bei einer Bestandsaufnahme in der Galerie stellt Olafsons Assistentin fest, dass vier Gemälde fehlen. Die verschwundenen Bilder, von denen Fotos vorliegen, sind Porträts entblößter Kinder, die durchaus als pornographisch bezeichnet werden könnten. Als die Detectives auf einen alten Zeitungsartikel stoßen, beschleicht sie ein furchtbarer Verdacht. Aufs Höchste beunruhigt, fahren sie zum Haus der Malerin. Aber sie kommen zu spät -und ihnen bietet sich ein schreckliches Szenario ... »Denn dein ist die Macht« Boston: Die Polizistin Dorothy Breton wird zu einem Fall gerufen, der mehr als nur Routine für sie ist: Julius Van Beest, der bei einer Schießerei getötet wurde, war ein Klassenkamerad ihres ältesten Sohnes. Und er war der Basketballstar des Colleges, was ihm nicht nur Bewunderung, sondern auch Neid einbrachte. Genau hier scheint auch das Tatmotiv zu liegen. Mehrere Schüler können bezeugen, dass Pappy Delveccio von der gegnerischen Basketball-Mannschaft nach einem Streit auf Julius geschossen hat. Doch die Obduktion ergibt, dass das Opfer nicht an einer Kugel gestorben ist. Und Dorothy findet heraus, dass Julius ein tragisches Geheimnis hatte ... Autoren Sowohl Faye Kellerman als auch ihr Mann Jonathan gehören zu den bekanntesten und erfolgreichsten Kriminalautoren Amerikas. Mit »Nackte Gewalt/Denn dein ist die Macht«, dem ersten gemeinsamen Buch der Autoren, beginnt die Reihe »Doppelmord«, in der Faye und Jonathan weitere gemeinsame Titel veröffentlichen werden. Eine Liste aller lieferbaren Titel der Autoren finden Sie am Ende des Bandes.
Faye und Jonathan Kellerman
Nackte Gewalt Denn dein ist die Macht Zwei Romane in einem Band
Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Double Homicide. Boston: In the Land of Giants / Santa Fe: Still Life« Nackte Gewalt Für unsere Kinder Jesse und Gabriella Kellerman Jonathan und Rachel Kessler liana Kellerman Aliza Kellerman Besonderer Dank an Michael McGarrity, Santa Fe, New Mexico, Polizeichef Beverly Lennen und Detective Sergeant Jerry Trujillo 1 Darrel Two Moons und Steve Katz nahmen gerade ein spätes Abendessen im Cafe Karma ein, als der Anruf kam. Das Restaurant hatte Katz ausgesucht. Mal wieder. Two Moons beobachtete, wie sein Partner äußerst widerwillig das Stück Eden-Yield-Biolamm samt Gemüse-Burrito beiseite schob und in der Jackentasche nach seinem piepsenden Pager tastete. Es war kurz nach halb elf. Vermutlich wieder ein Fall von häuslicher Gewalt im Süden der Stadt. Fünf Wochen hintereinander machten Darrel und Katz jetzt schon die Schicht von vier Uhr nachmittags bis zwei Uhr morgens. Die Schicht für ganz besondere Ermittlungen. Sie waren wegen sich bekriegender Ehepaare gerufen worden, Übergriffen jugendlicher Gangs und diverser durch Alkohol bedingter Probleme. Und alles spielte sich unterhalb des St. Michael's Drive ab, der Santa Fe so teilte, wie die Mason-Dixon-Linie die Nord-von den Südstaaten trennte, und mehr war als nur ein willkürlicher Schnörkel auf dem Stadtplan. In drei Wochen war Weihnachten. Die ersten Dezembertage hatten einen milden Winter verheißen, mit Tagestemperaturen um sieben Grad. Doch vor vier Tagen war es deutlich kälter geworden, nachts bis minus zehn Grad. Der Schnee, der in diesem extrem trockenen Jahr bisher gefallen war, blieb weiß und locker liegen. Die Luft war schneidend kalt. Jetzt konnte man sich bei dieser Schicht nur noch Frostbeulen holen. 3 Zumindest heizten die schrägen Typen, die das Cafe Kar-ma führten, den Laden gut. Es war richtig heiß hier drin. Und Darrel, der ein großer und kräftiger Mann war und dennoch in seinem schwarzen Wollhemd samt schwarzer Krawatte, dem schwarzen Sportjackett aus Kord und der schweren schwarzen Gabardinehose, die in Deutschland geschneidert worden war und die er von seinem Vater geerbt hatte, fast ertrank, schwitzte fürchterlich. Seinen schwarzen Steppanorak hatte er über einen scheußlichen handbemalten Stuhl gelegt, doch das Sportjackett behielt er an, damit man den 45er Dienstrevolver in dem rindsledernen Schulterholster nicht sah. Seine unerlaubte zusätzliche Waffe, eine vernickelte Pistole Kaliber 22, ließ sich mühelos verbergen. Sie schmiegte sich in seinem linken spezialgefertigten Tony-Lama-Cowboystiefel aus Elefantenleder behaglich an seine Wade.
Katz hatte die Sachen an, die er jeden Abend trug, seit das Wetter umgeschlagen war: ein weiches, braun-weiß kariertes Flanellhemd über einem weißen Rollkragenpullover, ausgebleichte Blue Jeans, hohe schwarz-weiße Turnschuhe. Über seinem Stuhl lag dieser bescheuerte graue Wollmantel - typisch New York. Wie konnte er in diesen dünnen Keds aus Segeltuch nur warme Füße haben? Two Moons nippte an seinem Kaffee und aß weiter, bis es Katz schließlich gelang, seinen mittlerweile verstummten Pager aus der Tasche zu befreien. Gegenüber an der Kuchentheke stand die vielfach gepiercte Grufti-Kellnerin, die sie bedient hatte - oder es zumindest versucht hatte -, und starrte in die Luft. Sie hatte ihre Bestellung mit leerem Blick aufgenommen, war dann zu den Kaffeemaschinen gegangen, wo sie, wie die Detectives beobachteten, geschlagene sechs Minuten brauchte, um die Milch für den grünen Chai Latte von Katz aufzuschäumen. Sechseinhalb genau gesagt - die Detectives hatten nämlich die Zeit gestoppt. 4 Sie hatte unentwegt in den Schaum gestarrt, als ob dieser ein großes kosmisches Geheimnis enthielte. Darrel und Katz hatten wissende Blicke getauscht, dann hatte Two Moons eine leise Bemerkung darüber gemacht, was sich im Raum hinter der Theke tatsächlich abspielte. Katz hatte so heftig losgeprustet, dass sein dicker roter Schnurrbart auf- und abhüpfte. Diesen Monat kümmerte sich ein anderes Team um Drogen. Katz betrachtete die Nummer auf dem Pager und sagte: »Einsatzzentrale«. Nach erneutem kurzen Wühlen in einer anderen Tasche zog er ein kleines blaues Handy hervor. Wieder einmal konnten sie nicht zu Ende essen. Two Moons nahm noch rasch ein paar Bissen, während Katz telefonierte. Er hatte das halbwegs Normalste bestellt, was man in dieser Klapsmühle kriegen konnte: einen Pilz-Burger mit nach rauchigem Chili-Aroma schmeckenden hausgemachten Pommes und Tomatenscheiben. Er hatte ausdrücklich gesagt, dass er keine Sprossenkeimlinge wollte, aber sie hatten trotzdem ein Gestrüpp davon auf seinen Teller gelegt. Darrel hasste das Zeug. Es erinnerte ihn an Viehfutter oder an Haare, die man aus einem Kamm gepult hatte. Schon beim bloßen Anblick hätte er am liebsten gespuckt. Er nahm es vom Teller und packte es in eine Serviette, worauf Katz sich sofort darüber hermachte. Wenn es nach Katz ginge, wären sie jeden Abend hier. Darrel musste zwar zugeben, dass das Essen konstant gut war, aber die Atmosphäre war eine andere Sache. Mit seinem gewundenen Zugangsweg, der mit Kieselsteinen und Spiegelglasscherben bestreut war, den Antikriegspamphleten, die in dem winzigen Vorraum an die knallbunten Wände getackert waren, und den wahllos mit Möbeln aus dem Wohltätigkeitsladen voll gestellten, zellenartigen Räumen, in denen es nach Weihrauch roch, war das Karma genau das, was sein Vater, der
Sergeant bei den Marines gewesen war, als »linke gequirlte Hippiescheiße« bezeichnet hätte. Sein Vater hatte sich irgendwann völlig verändert, doch Darrel war seine militärisch geprägte Erziehung nie losgeworden. Ihm war ein Hamburger mit normalen Pommes in einer politisch neutralen Umgebung immer noch am liebsten. Katz hatte endlich jemanden bei der Einsatzzentrale erreicht. Das Büro war aus dem Santa Fe Police Department in ein Gebäude auf dem Land am Highway 14 ausgelagert worden und nun für Polizei und Feuerwehr in der Stadt und im ganzen Bezirk zuständig. Die Stimmen der meisten Mitarbeiter waren ihnen nicht mehr vertraut. Doch diesmal war es anders. Katz lächelte und sagte: »Hey, Loretta, was gibt's?« Dann wurde sein Gesicht ernst, und der dicke, an Kupferdraht erinnernde Schnurrbart senkte sich. »Oh ... Ja, natürlich ... Wo? ... Soll das ein Witz sein?« Er trennte die Verbindung. »Rate mal, Big D?« Darrel kaute heftig auf seinem Burger herum und schluckte. »Ein Serienkiller.« »Halb daneben«, sagte Katz. »Nur ein einfacher Killer. Brutaler Mord auf der Canyon.« Die Canyon Road war eine Gegend mit extrem hohen Mieten ein Stück östlich der Plaza im historischen Bezirk, eine schmale, begrünte, ruhige, schöne Straße mit eingezäunten Wohnanlagen, Galerien und teuren Cafes. Das Zentrum der Kunstszene von Santa Fe. Darrels Pulsschlag beschleunigte sich von vierzig auf fünfzig. »Ein Privathaus, oder? Kann ja um diese Uhrzeit keine Galerie sein.« »Oh doch, eine Galerie, Amigo«, erwiderte Katz, während er aufstand und in seinen bescheuerten grauen Mantel schlüpfte. »Und was für eine Galerie. Der Tote ist Larry Olafson.« 2 Two Moons fuhr. Er hielt das Lenkrad fest mit seinen in Wildlederhandschuhen steckenden Händen umklammert, während der Wagen im Leerlauf den Paseo de Peralta hinunterrollte, die Hauptstraße, die hufeisenförmig um das Stadtzentrum lief. Schnee lag dick und schwer auf den Ästen der Pinien und Wacholdersträucher, doch die Straße war frei. In drei Wochen war Weihnachten, und überall in der Stadt schmückten farolitos mit ihrem gedämpften sepiafarbenen Kerzenlicht die Dächer der Häuser. Wie jedes Jahr waren die Bäume auf der Plaza mit bunten Lichterketten behängt. Noch reichlich Zeit, überlegte Darrel, um in die Geschäfte zu laufen und Geschenke für Kristin und die Mädchen zu kaufen - falls er jemals freibekäme. Und jetzt das. Und ausgerechnet der.
Lawrence Leonard Olafson war vor zehn Jahren über Santa Fe hereingebrochen wie eines dieser plötzlichen Sommergewitter, die am helllichten Tag den Himmel erzittern lassen und die Wüste elektrisieren. Anders als so ein Wolkenbruch im Sommer war Olafson geblieben. Als Sohn eines Lehrers und einer Buchhalterin hatte er mit einem Stipendium in Princeton studiert, einen BA in Finanzwissenschaft mit Nebenfach Kunstgeschichte gemacht und alle erstaunt, als er nicht an die Wall Street ging. Stattdessen nahm er einen untergeordneten Job bei Sotheby's an, wo er als Laufjunge für einen arroganten Spezialisten für amerikanische Malerei tätig war. Dort lernte er, was sich verkaufte und was nicht, dass Kunstsammeln für manche eine Sucht sein konnte, für andere ein jämmerlicher Versuch, sozial auf 6 zusteigen. Er kroch Leuten in den Hintern, holte Kaffee, suchte sich die richtige Sorte von Freunden und stieg rasch auf. Nach drei Jahren war er Abteilungsleiter. Ein Jahr später handelte er einen besseren Vertrag bei Christie's aus und nahm eine Menge reicher Kunden mit. Nach weiteren achtzehn Monaten war er Leiter einer schicken Galerie auf der Upper Madison Avenue, die sowohl europäische als auch amerikanische Kunst verkaufte. Und verschaffte sich noch mehr Beziehungen. Mit dreißig besaß er eine eigene Galerie im Füller Building auf der Siebenundfünfzigsten Straße West, ein gedämpft beleuchtetes Gewölbe mit hohen Decken, wo er Bilder von Sargent, Hassam, Frieseke und Heade sowie drittklassige flämische Blumengemälde an Leute mit altem Geld verkaufte und an solche mit etwas neuerem Geld, die so taten, als gehörten sie zu den Leuten mit altem Geld. Innerhalb von drei Jahren eröffnete er eine weitere Galerie, Olafson South, auf der Einundzwanzigsten Straße in Chelsea. Sie wurde mit einer Soiree eingeweiht, über die Voice berichtete. Bei Musik von Lou Reed übertrumpften sich großkotzige Europäer mit Tränensäcken unter den Augen, Parvenüs mit teurer Privatschulbildung und schnell reich gewordene Besitzer von Internetfirmen mit ihren Angeboten für das, was in der modernen Malerei gerade angesagt war. Mit diesen beiden Galerien machte Olafson ein Vermögen, heiratete eine Konzernanwältin, bekam zwei Kinder und kaufte an der Ecke Neunundsiebzigste Straße und Fifth Avenue eine Zehnzimmerwohnung mit Blick auf den Central Park. Und verhalf sich zu noch mehr Beziehungen. Trotz einiger Fehlschläge. Wie zum Beispiel mit dem Trio von Yosemite-Gemälden von Albert Bierstadt, das an den Erben einer Münchner Bank verkauft worden war und vermutlich von einem weni 6 ger bekannten Maler stammte - Experten tippten auf Hermann Herzog. Oder mit der unsignierten Gartenszene von Richard Miller, die bei einer Nachlassversteigerung in Indianapolis aufgetan und in einer Nacht-und-
Nebel-Aktion an den Erben eines Pharmakonzerns in Chicago weiterverkauft worden war. Dieser präsentierte das Bild voller Stolz in seinem Penthouse auf der Michigan Avenue, bis sich herausstellte, dass die Herkunft des Gemäldes äußerst zweifelhaft war. Es hatte wohl im Laufe der Jahre noch einige weitere Missgeschicke gegeben, doch diese Zwischenfälle wurden vor den Medien geheim gehalten, da die Käufer nicht wie Idioten dastehen wollten. Außerdem war Olafson immer schnell bereit gewesen, die Bilder zurückzunehmen und den vollen Kaufpreis zu erstatten, hatte sich stets aufrichtig entschuldigt und beteuert, dass es sich um einen Irrtum gehandelt hätte. Alles lief glänzend, bis Olafson in die mittleren Jahre kam, ein Alter, wo jeder, der in New York wer war, irgendeine größere, lebensverbessernde, bewusstseinserweiternde spirituelle Veränderung durchmachte. Mit achtundvierzig war Olafson geschieden, hatte keine Beziehung zu seinen Kindern, war rastlos und bereit, neue Horizonte zu erobern. Etwas Ruhigeres. Und auch wenn er niemals seine Galerien in New York aufgeben würde, begann er sich nach etwas zu sehnen, das sich deutlich vom New Yorker Tempo unterschied. Die Hamptons waren auch nicht das Richtige. Wie jeder, der sich ernsthaft mit Kunst beschäftigt, hatte Olafson auch einige Zeit in Santa Fe verbracht, herumgestöbert, Dinge gekauft und bei Gerónimo gespeist. Ein paar unbedeutendere Bilder von Georgia O'Keeffe und einen Henning erstanden, die er alle innerhalb weniger Tage weiterverkaufte. Er genoss das Essen, die Atmosphäre und den Son 7 nenschein, beklagte jedoch, dass es kein wirklich gutes Hotel gäbe. Es wäre schön, etwas Eigenes zu besitzen. Die günstigen Immobilienpreise entschieden die Sache. Für ein Drittel von dem, was er vor zehn Jahren für seine Eigentumswohnung bezahlt hatte, konnte er hier ein ganzes Anwesen kriegen. Er kaufte sich einen Klotz aus Adobeziegeln mit sechshundert Quadratmetern Wohnfläche auf zwei Hektar pflegeleichtem Land in Los Caminitos nördlich von Tesuque. Von der Dachterrasse des Hauses konnte man bis nach Colorado sehen. Alle dreizehn Zimmer richtete er raffiniert ein und begann, die Strukturputzwände mit Kunst zu behängen: einige Taos-Meister und zwei Zeichnungen von O'Keeffe, die er in Connecticut gekauft hatte, damit die Leute was zu reden hatten. Doch zum größten Teil ging er in eine neue Richtung, nämlich Malerei und Skulpturen junger Künstler aus dem Südwesten, die ihre Seele dafür verkaufen würden, dass eine Galerie ihre Werke ausstellte. Durch strategisch geschickte Spenden an die richtigen Wöhltätigkeitseinrichtungen und durch rauschende Feste auf seinem Anwesen festigte er seine soziale Stellung. Innerhalb eines Jahres war er in. Seine äußere Erscheinung trug das ihre dazu bei. Schon in der High School hatte Olafson erkannt, dass seine Größe und seine sonore Stimme
von Gott gegebene Vorzüge waren, die es auszunutzen galt. Er war fast eins neunzig groß, schlank mit breiten Schultern und hatte immer als gut aussehend gegolten. Selbst in jüngster Zeit, wo von seinem Haar nur noch ein weißer Pony und ein ebenfalls weißer Pferdeschwanz übrig geblieben waren, machte er noch eine gute Figur. Ein kurzer, schneeweißer Bart gab ihm etwas Vertrauenswürdiges. Bei Opernpremieren pflegte er zwischen den Reichen zu flanieren, bekleidet mit einem schwar 8 zen Anzug, dazu ein weißes Seidenhemd ohne Kragen, das am Hals mit einem Zierknopf aus Türkis geschlossen war, handgefertigte Clogs aus Straußenleder, die er ohne Strümpfe trug, und eine junge Brünette am Arm, obwohl Letztere Gerüchten zufolge nur Show war. Für ernsthaftere Kontakte bevorzugte der Kunsthändler, wie man munkelte, die zierlichen jungen Männer, die er als »Gärtner« beschäftigte. Santa Fe war immer eine liberale Stadt in einem konservativen Staat gewesen, und Olafson passte perfekt dorthin. Er spendete reichlich Geld für diverse Anliegen, manche populär, andere weniger. In jüngster Zeit hatten die weniger populären überwogen. Olafson war in die Schlagzeilen geraten, nachdem er zum Sprecher einer Umweltorganisation namens Forest Haven geworden war und eine Reihe von Prozessen gegen kleine Rancher angestrengt hatte, die ihre Herden auf staatlichem Grund und Boden weiden ließen. Sein Engagement in dieser Sache hatte für viel Bitterkeit gesorgt. In den Zeitungen erschienen herzzerreißende Artikel darüber, wie sehr sich die Rancherfamilien abrackern müssten, um über die Runden zu kommen. Als man ihn um einen Kommentar dazu bat, hatte Olafson einen arroganten und unsympathischen Eindruck gemacht. Steve Katz kam auf diese Geschichte zu sprechen, während er und Two Moons zum Tatort fuhren. »Ja, ich erinnere mich«, sagte Darrel. »An deren Stelle war ich auch stinksauer.« Katz lachte. »Keinen Sinn für die Heiligkeit des Landes, Häuptling?« Darrel deutete auf die Windschutzscheibe. »Das Land sieht für mich ganz okay aus, Rabbi. Meine Sympathie liegt bei den einfachen Leuten, die hart für ihren Lebensunterhalt arbeiten.« 8 »Meinst du, Olafson hat nicht für seinen Lebensunterhalt arbeiten müssen?«, fragte Katz. »Ist doch egal, was du oder ich darüber denken.« Two Moons schnaubte verächtlich. »Unser Job ist es herauszufinden, wer ihm den Schädel eingeschlagen hat.« Olafson Southwest befand sich auf dem höchsten Punkt eines ansteigenden Grundstücks am oberen Ende der Canyon Road, weit entfernt vom Gourmet-Aroma, das Geronimo verströmte, und von dem gebührenpflichtigen Parkplatz, den die Stadt betrieb, um an den
Geländewagen der Touristen zu verdienen. Das Grundstück war weitläufig und besaß einen alten Baumbestand. Es gab kiesbedeckte Wege, einen Springbrunnen und ein handgeschmiedetes Tor aus Kupfer. Im hinteren Teil stand ein Gästehaus aus Adobeziegeln, doch das Gebäude war dunkel und abgeschlossen, und niemand konnte Katz und Two Moons sagen, ob dort jemand wohnte. Die Galerie bestand aus vier Flügeln mit weiß getünchten Wänden. Dazu kam ein großer rückwärtiger Raum, wo in etlichen schmalen Regalen noch mehr Gemälde und Zeichnungen lagerten. Es mussten Hunderte von Kunstwerken sein. Die Detectives gingen langsam wieder zurück. Dieser ganze helle Putz, die gebleichten Böden und die Halogenlampen zwischen den handbehauenen Deckenbalken, den so genannten vigas, das alles schuf ein seltsames Pseudotageslicht. Katz spürte, wie sich seine Pupillen so stark zusammenzogen, dass ihm die Augen wehtaten. Es hatte keinen Sinn, hier herumzustöbern. Die Hauptattraktion befand sich in Zimmer Nummer zwei. Die Leiche lag so, wie sie gestürzt war, auf dem gebleichten Kiefernboden. Ein großes, scheußliches Stillleben. Larry Olafson lag auf dem Bauch, den rechten Arm unter 9 dem Körper angewinkelt, den linken mit gespreizten Fingern von sich gestreckt. An der Hand waren zwei Ringe, ein Diamant und ein Saphir, und das Handgelenk zierte eine sehr elegante goldene Uhr von Breguet. Olafson trug ein hellbeiges Wollhemd, eine Kalbslederweste, die die Farbe von Erdnussbutter hatte, und eine schwarze Hose. Alle drei Kleidungsstücke waren voller Blut, und auf dem Boden hatte sich eine Blutlache gebildet. Olafsons Füße steckten in halbhohen Wildlederstiefeln. Wenige Schritte entfernt stand eine Skulptur, eine riesige Chromschraube auf einem schwarzen Holzsockel. Katz sah sich die Aufschrift an: Beharrlichkeit. Von einem Künstler namens Miles D'Angelo. Es gab noch zwei weitere Arbeiten von demselben Typ: einen massiven Schraubenzieher und einen Bolzen von der Größe eines LkwReifens. Dahinter ein leerer Sockel: Gewalt. Katz' Exfrau hatte sich für eine Bildhauerin gehalten, doch er hatte schon lange nicht mehr mit Valerie oder einem ihrer neuen Freunde gesprochen, und von D'Angelo hatte er noch nie gehört. Er und Darrel traten nahe an die Leiche heran und betrachteten das, was einst der Hinterkopf von Larry Olafson gewesen war. Gebräunte, kahle Kopfhaut war zu Brei geworden. Der weiße Pony und der Pferdeschwanz waren blutverkrustet und mit Gehirnmasse beschmiert. Das hatte die Haare völlig steif werden lassen und dunkelrot, wie mit blutigem Henna gefärbt. Ein feiner Sprühregen winziger Blutströpfchen war gegen die Wand rechts von Olafson gespritzt. Er musste heftig aufgeschlagen sein. Ein kupfriger Geruch lag in der Luft. Der Schmuck, den Olafson trug, sprach gegen einen Raubüberfall.
Doch Katz schalt sich sogleich, dass das sehr einseitig gedacht war. Olafson handelte schließlich mit richtig teurer Kunst. Es gab ja alle möglichen Arten von Raub. Der leere Sockel ... Dr. Ruiz, der Gerichtsmediziner, hatte Olafson ein Thermometer in die Leber gestoßen. Er sah die Detectives an, dann steckte er das Thermometer in eine Hülle und begutachtete die Wunde. »Maximal zwei bis drei Stunden.« Two Moons wandte sich der uniformierten Beamtin zu, die sie am Tatort empfangen hatte. Sie hieß Debbie Santana und machte diesen Job noch kein Jahr. Zuvor hatte sie als Büroangestellte in Los Alamos gearbeitet. Das hier war ihre erste Leiche, sie wirkte aber ganz okay. Vielleicht war der Umgang mit nuklearem Kram beängstigender. Darrel fragte sie, wer den Fall gemeldet hätte. »Olafsons Hausboy Sammy Reed«, antwortete Debbie. »Er kam vor einer halben Stunde hierher, um seinen Boss abzuholen. Anscheinend hatte Olafson länger gearbeitet, weil er einen Termin mit einem Kunden hatte. Er und der Hausboy wollten um zehn zusammen essen gehen, drüben in der Osteria.« »Hat der Kunde einen Namen?« Debbie schüttelte den Kopf. »Reed sagt, er weiß es nicht. Er ist ziemlich hysterisch, kann überhaupt nicht aufhören zu heulen. Er sagt, die Tür sei verschlossen gewesen, er habe sie mit seinem Schlüssel geöffnet und Olafsons Namen gerufen. Als niemand antwortete, ist er hineingegangen und hat ihn gefunden. Keine Anzeichen, dass jemand gewaltsam eingedrungen ist. Deshalb dürfte seine Geschichte wohl stimmen.« »Wo ist Reed jetzt?« »Im Streifenwagen. Randolph Loring passt auf ihn auf.« Katz sagte: »Es muss also zwischen acht und zehn passiert sein.« 10 »So ungefähr«, erwiderte Dr. Ruiz. »Rechnen Sie vorne noch eine halbe Stunde dazu, also halb acht.« Two Moons verließ den Raum und kehrte einen Augenblick später zurück. »An der Tür steht, dass die Galerie bis sechs geöffnet hat. Olafson muss diesen Kunden für einen ernsthaften Interessenten gehalten haben, wenn er wegen ihm zwei Stunden länger geblieben ist.« »Oder man hat ihn reingelegt«, sagte Katz. »Wie dem auch sei, wenn er geglaubt hat, dass es um viel Geld geht, war er notfalls die ganze Nacht geblieben.« Darrel biss sich auf die Unterlippe. »Der Typ war versessen auf Geld.« Eine so feindselige Bemerkung wirkte angesichts der Situation ziemlich deplatziert. Santana und Ruiz starrten Two Moons an. Dieser ignorierte ihre Blicke und begann, die Bilder an der Wand zu begutachten. Es handelte sich um eine Serie abstrakter Gemälde in Graublau. »Was hältst du davon, Steve?«
»Die sind okay«, sagte Katz. Er kniete immer noch neben der Leiche. Ihn hatte der Ausbruch von Feindseligkeit zwar schon ein wenig überrascht, aber nicht schockiert. Darrel war bereits seit ein paar Tagen ziemlich mürrisch. Doch das würde vergehen. Das tat es immer. Er fragte Dr. Ruiz, was die Blutflecken aussagten. »Ich bin kein Experte für so etwas«, erwiderte Ruiz, »aber da in keinem der anderen Räume Blutspuren sind, können wir wohl davon ausgehen, dass er hier erschlagen wurde. Ein gewaltiger Hieb direkt auf das Occiput - also auf den Hinterkopf. Sieht nach einem einzigen Schlag aus. Ich kann keine Anzeichen für einen Kampf entdecken. Er bekam den Schlag verpasst und krachte auf den Boden.« »Er war sehr groß«, sagte Katz. »Wurde ihm der Schlag von oben oder von unten verpasst?« 11 »Eher aus gleicher Höhe.« »Also muss der Täter ebenfalls groß gewesen sein.« »Das scheint plausibel«, erwiderte Ruiz, »aber ich kann Ihnen mehr sagen, wenn ich ihn aufgeschnitten habe.« »Irgendeine Vermutung bezüglich der Waffe?«, fragte Katz. Ruiz dachte einen Augenblick nach. »Im Moment kann ich nur sagen, dass es etwas Großes und Schweres mit abgerundeten Ecken gewesen sein muss.« Er kniete sich neben Katz und deutete auf die breiige Stelle. »Sehen Sie mal hier. Eine Furche, aber die ist extrem tief. Durch den Aufprall wurde die Schädeldecke zertrümmert. Es sind allerdings keine Splitter zu sehen, wie das bei einem scharfkantigen Gegenstand der Fall wäre. Auch keine Schnittspuren. Was auch immer für ein Objekt benutzt wurde, es hat einen relativ großflächigen Schaden angerichtet und die Splitter ins Gehirn gedrückt. Muss außerdem ganz schön schwer gewesen sein.« »Wie ein Brecheisen?« »Größer. Die Wucht muss ungeheuer gewesen sein.« »Sehr viel Wut«, sagte Darrel. Ruiz stand auf und streckte sich, berührte sein Knie und zuckte zusammen. »Schmerzen, Doc?« »Altwerden ist beschissen.« Katz lächelte und deutete mit dem Kopf auf den leeren Sockel. »Der ist mir auch aufgefallen«, sagte Ruiz. »Könnte schon sein. Wenn dieses Ding genauso schwer ist wie die anderen.« Darrel sagte: »Etwas so Schweres wegzutragen war ja echt heftig. Außerdem gibt es keine Blutspur.« »Wenn das Ding auch verchromt ist«, erwiderte Ruiz, »wäre wohl eh kaum Blut daran haften geblieben, sondern 11 gleich nach dem Schlag wieder abgetropft. Oder unser Mörder hat es abgewischt und mitgenommen.« »Als Souvenir?«, sagte Darrel. Ruiz lächelte. »Vielleicht ist er ein Kunstliebhaber.«
Katz lächelte zurück. »Oder er stand gewaltig unter Strom, voll gepumpt mit Adrenalin, und hat es einfach so mitgenommen und irgendwo in der Nähe weggeworfen.« Darrel sah auf seine Uhr. »Dann wird's Zeit zu suchen.« »Es ist ziemlich dunkel draußen«, sagte Katz, »und ich hab beim Gästehaus keinerlei Außenbeleuchtung gesehen.« »Kein Problem«, konterte Two Moons. »Wir riegeln einfach das gesamte Grundstück ab und besorgen uns ein paar Nachtscheinwerfer. Außerdem sperren wir den oberen Teil der Canyon Road.« Ruiz grinste. »Wenn Sie den oberen Teil der Canyon Road sperren, sollten Sie am besten früh fertig sein.« Was für ein klugscheißerisches Lächeln, dachte Katz, aber das konnte auch Ruiz' Art sein, mit Leichen umzugehen. David Ruiz, ein kleiner, rundlicher, hochintelligenter Mann hispanischer Abstammung, Sohn eines Stuckateurs, hatte mit einem Stipendium an der University of New Mexico studiert, an der Johns Hopkins University seinen Doktor gemacht und anschließend am New York Hospital als Assistenzarzt im Bereich forensische Pathologie gearbeitet. Außerdem war er zwei Jahre unter Michael Baden am gerichtsmedizinischen Institut in New York tätig gewesen. Er und Katz tauschten gerne Geschichten aus New York aus. Der Job in Santa Fe hatte Ruiz in seinen Heimatstaat zurückgeführt. Er wohnte außerhalb der Stadtgrenze auf einer kleinen Ranch in der Nähe von Galisteo, mit Pferden, Kühen, Hunden, Katzen und zwei Lamas. Er hatte eine Frau, die Tiere liebte, und einen ganzen Haufen Kinder. »Spätestens um neun«, fuhr Ruiz fort. »Dann kommen 12 nämlich die ersten Touristen. Wenn Sie dann immer noch die Canyon Road gesperrt haben, werden Sie zum öffentlichen Ärgernis.« »Und ich habe immer geglaubt, ich würde der Öffentlichkeit dienen«, entgegnete Two Moons mit lakonischer Stimme. »Stellen Sie sich das mal vor«, sagte Ruiz. »Noch vor wenigen Stunden war Olafson ein wichtiger Mann. Jetzt ist er auch nur noch ein Ärgernis.« Die Detectives ließen die Techniker die gesamte Galerie und Olafsons Büro nach Fingerabdrücken absuchen. Sofort wurden ungeheure Massen von latenten Fingerabdrücken sichtbar, was beinahe genauso schlimm war, als hätte man überhaupt nichts gefunden. Nachdem alles fotografiert war, streiften sie sich Handschuhe über und untersuchten den Schreibtisch des Kunsthändlers. In der obersten Schublade fand Katz Olafsons Palm Pilot. Jede Menge Namen, von denen er einige wenige kannte. Einschließlich Valeries. Das überraschte ihn. Soweit er wusste, hatte sie ihren Traum, Künstlerin zu werden, begraben und war jetzt halbwegs damit zufrieden, in der Sarah Levy Gallery drüben an der Plaza hochpreisige Pueblo-Töpferwaren zu verkaufen. »Diese Leute haben wirklich Talent, Steve«, hatte sie ihm erklärt, als er mal vorbeigekommen war. »Zumindest bin ich schlau genug, den Unterschied zu erkennen.«
Katz hatte den Eindruck gehabt, dass ihre Augenwinkel ein wenig feucht waren. Aber vielleicht hatte er sich ja getäuscht. Bei Valerie hatte er sich ziemlich häufig getäuscht. Er prüfte seine Handschuhe auf winzige Löcher oder Falten und scrollte weitere Namen auf dem Pilot durch. »Zu viel Zeug«, sagte Two Moons. »Das wird mal wieder einer von diesen Fällen. Lass uns alles eintüten, beschriften 13 und später durchgehen. Wie wär's, wenn wir uns erst mal den Hausboy vorknöpfen?« Sammy Reed war vierundzwanzig, zierlich, schwarz und weinte immer noch. »Ich kann es nicht glauben. Ich kann es einfach nicht glauben.« Er bat darum, aus dem Auto aussteigen und sich ein wenig strecken zu dürfen, was die Detectives ihm erlaubten. Reed trug einen zu großen Tweedmantel im Fischgrätmuster mit schwarzem Samtkragen, der sehr altmodisch aussah. Schwarze Jeans, schwarze Doc Martens, ein Diamantstecker im rechten Ohrläppchen. Während er Arme und Beine streckte, taxierten sie seine Figur. Eins fünfundsechzig in den Doc Martens und etwa fünfundfünfzig Kilo. Als er wieder ins Auto stieg, setzten sich Two Moons und Katz rechts und links von ihm auf den Rücksitz. Das Heizungsgebläse summte in periodischen Abständen, und die Temperatur schwankte zwischen kühl und annehmbar. Reed erklärte schniefend, er wisse nicht, mit wem »Larry« sich so spät treffen wollte. Olafson sprach mit ihm nicht über geschäftliche Dinge. Seine Pflichten als Hausboy bestanden darin, das Anwesen sauber und ordentlich zu halten, ein bisschen zu kochen und sich um den Teich, den Pool und um Larrys Barsoi-Hündin zu kümmern. »Es wird ihr das Herz brechen«, sagte er. »Sie wird todtraurig sein.« Wie um das zu illustrieren, fing Reed wieder an zu weinen. Darrel gab ihm ein Papiertaschentuch. »Der Hund?« »Anastasia. Sie ist sechs. Barsois werden nicht so alt. Und jetzt, wo Larry tot ist... Ich kann kaum glauben, dass ich das gerade gesagt habe. Tot. Oh mein Gott.« 2 5 »Können Sie sich vorstellen, wer das getan haben könnte?« »Nein«, antwortete Reed. »Absolut nicht. Larry wurde geliebt.« »Er war populär?« »Mehr als populär. Er wurde geliebt.« »Trotzdem«, sagte Katz, »gerät man manchmal an schwierige Leute.« »Wenn das bei Larry der Fall war, dann weiß ich nichts davon.« »Er hat mit Ihnen also nicht über geschäftliche Dinge geredet?« »Nein«, sagte Reed. »Das war nicht meine Aufgabe.« »Wer arbeitet denn in der Galerie?« »Nur Larry und eine Assistentin. Larry hat versucht zu rationalisieren.« »Finanzielle Probleme?«
»Nein, natürlich nicht.« Reed schluckte. »Zumindest nicht, dass ich wüsste, und Larry schien sich keine Sorgen zu machen oder so. Ganz im Gegenteil. Er sprach davon, noch mehr Land zu kaufen. Also muss alles gut gelaufen sein.« »Wo wollte er Land kaufen?« Reed schüttelte den Kopf. »Wie heißt die Assistentin?«, fragte Darrel. »Summer Riley.« Katz erinnerte sich, den Namen auf dem Palm Pilot gelesen zu haben. »Wo wohnt sie?« »Im Gästehaus dahinten.« Die Detectives schwiegen, da sich beide fragten, was sich wohl hinter der Tür zum Gästehaus befinden mochte. Schließlich fragte Darrel: »Hat Larry irgendwelche Drohungen erhalten, von denen Sie wissen?« Reed schüttelte den Kopf. 14 »Anrufe, bei denen sofort der Hörer aufgelegt wurde, merkwürdige Post, so was in der Art?« Dreifaches Kopfschütteln. »Nichts Außergewöhnliches?«, fragte Katz. »Besonders während der letzten Wochen?« »Nichts«, beharrte Reed. »Larry führte ein ruhiges Leben.« »Ruhig«, sagte Two Moons. »Ich meine, verglichen mit seinem Leben in New York«, erklärte Reed. »Er liebte Santa Fe. Er hat mir mal erzählt, dass er ursprünglich nur ein paar Monate hier bleiben wollte, aber dann gefiel es ihm so gut, dass er beschloss, es zu seinem Hauptwohnsitz zu machen. Er sprach sogar davon, eine der New Yorker Galerien zu schließen.« »Welche?«, fragte Katz. »Bitte?« »Er hatte doch zwei, oder?« »Ja«, antwortete Reed. »Die in Chelsea.« »Einundzwanzigste West - zeitgenössische Kunst«, sagte Katz. Reeds Augen weiteten sich vor Überraschung. »Sie waren schon mal dort?« »Ich hab früher in New York gewohnt. Mr Olafson dachte also daran, sich zu verkleinern.« »Ich weiß es nicht genau, aber er hat es erwähnt.« »Wann?« »Hmm ... vielleicht vor einem Monat.« »In welchem Zusammenhang?«, fragte Katz. »Wie meinen Sie das?« »Er sprach doch normalerweise nicht mit Ihnen über geschäftliche Dinge.« »Ach so«, sagte Reed. »Nun ja, das war nichts Geschäftliches. Es war mehr... Larry war gut gelaunt, irgendwie... zum 2-7
Reden aufgelegt ... dachte über das Leben nach. Wir saßen auf dem portal - nachts. Als es ein paar Tage so warm war.« »Yeah, vor einem Monat«, sagte Two Moons. Eher vor einem Jahrhundert, in Winterstunden gerechnet. »Wo war ich stehen geblieben?«, fragte Reed. »Veranda«, soufflierte Katz. »Ja, richtig«, sagte Reed. »Auf dem portal. Larry wartete auf sein Essen und trank Wein. Ich hatte Heilbutt in Olivensauce gekocht, dazu Penne mit Pistazien. Nachdem ich das Essen auf den Tisch gestellt hatte, sagte Larry, ich solle mich zu ihm setzen und mitessen. Es war ein langer Tag gewesen. Anastasia hatte irgendwelche Magenprobleme. Larry meinte, ich hätte eine Pause verdient. Also setzte ich mich hin, er schenkte mir Wein ein, und wir plauderten.« Reed seufzte. »Es war eine richtig klare Nacht, ganz viele Sterne. Larry sagte, er spüre eine solche Erhabenheit, wie er es drüben an der Ostküste nie erlebt hatte.« Die Lippen des jungen Manns zitterten. »Und jetzt das. Ich kann es nicht glauben ...« »Eine Galerie schließen«, sagte Katz. »Was hätte das für die Künstler bedeutet, die er vertrat?« Reed versuchte, mit den Schultern zu zucken. Eingekeilt zwischen den beiden Detectives, war das jedoch nicht so einfach. »Ich nehme an, sie würden jemand Neues finden, der sie vertritt.« »Bis auf die, denen das nicht gelingt«, sagte Katz. »So läuft das doch in der Welt der Kunst. Dreierkandidaten gegen Einserkandidaten. Einige wären dann wahrscheinlich von niemandem mehr repräsentiert worden.« Reed starrte ihn an. »Vermutlich.« »Sind Sie Künstler?« »Nein, überhaupt nicht. Ich kann noch nicht mal eine gerade Linie zeichnen. Ich bin Koch. Ich hab eine Ausbildung zum Chefkoch beim CIA - dem Culinary Institute of Ameri 15 ca im Hudson Valley - gemacht, aber meistens nur als einfacher Koch gearbeitet. Ich hab in Restaurants wie Le Bernar-din zum Mindestlohn Hilfsarbeiten in der Küche gemacht. Als Larry mir den Job in Santa Fe anbot, hab ich sofort zugegriffen. « »Wie hat Mr Olafson Sie gefunden?« »Ich hab bei einem Partyservice schwarz gearbeitet, bei einem sehr edlen, aber ich könnte Ihnen Geschichten erzählen ... Jedenfalls gab Larry einen Sonntagsbrunch in der Galerie. Ich bin wohl ganz gut bei den Gästen angekommen. Die geräucherte Ananas und die mit Habanero-Chili gewürzten Shrimps haben auch nicht gerade geschadet.« Ein vages Lächeln. »Er sagte, ihm gefiele mein Auftreten.« »Seit wann arbeiten Sie für ihn?« »Seit drei Monaten.« »Hat es Ihnen gefallen?«
»Es war der Himmel auf Erden.« Reed brach zusammen und schaffte es gerade noch, um ein weiteres Papiertaschentuch zu bitten. Eine weitere halbstündige Vernehmung blieb ergebnislos. Reed stritt ab, dass er eine persönliche Beziehung zu seinem Chef gehabt hätte, aber er war nicht überzeugend. Katz bemerkte, wie Two Moons ihm über den Kopf des Hausboys hinweg einen wissenden Blick zuwarf. Sieh mal im Computer nach, bevor wir ihn laufen lassen. Aber keiner von ihnen glaubte, dass viel dabei herauskommen würde. Als sich herausstellte, dass der Hausboy bis auf einen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens vor zwei Monaten auf dem Highway 25 in der Nähe von Albuquerque nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, überraschte das denn auch niemanden. Reed hatte eine knabenhafte Figur, und um Olafson einen Schlag aus gleicher Höhe auf den 16 Hinterkopf versetzen zu können, hätte er schon auf einer Leiter stehen müssen. Ebenso unvorstellbar war, wie er einen schweren, abgerundeten Gegenstand hätte handhaben sollen. Es wurde Zeit, danach zu suchen. Vermutlich eine weitere Sackgasse. Katz und Two Moons blieben noch anderthalb Stunden, beaufsichtigten die Absperrungen und das Aufstellen der Nachtscheinwerfer und suchten mit drei zusätzlichen uniformierten Beamten und zwei Technikern das Grundstück ab. Ein großer Teil der Mitarbeiter des Santa Fe Police Department war anwesend. Für alle uniformierten Beamten war es der erste Mordfall, und niemand wollte Mist bauen. Man brach das Schloss an der Tür zum Gästehaus auf. Dahinter keine Leiche, nur ein ziemlich unaufgeräumtes Ein Zimmer-Apartment. Persönliche Dinge von Summer Riley: In einer Nachttischschublade fand man ein bisschen Gras und eine Wasserpfeife. In der Küche standen eine Staffelei und ein Farbkasten. Einige wirklich schlechte Ölgemälde krumme, hässliche Frauen in schlammigen Farben - lehnten an den Wänden. Auf dem Bett lag ein Haufen schmutziger Kleidungsstücke. Two Moons fand Summer Rileys Handynummer in Olafsons Palm Pilot, wählte und erreichte ihre Voicemail. Feinfühlig wie er war, hinterließ er ihr die Nachricht, sie solle nach Hause kommen, weil ihr Boss tot sei. Katz war es, der die Mordwaffe fand. Sie lag neben dem Weg, der zum Gästehaus führte, unter einem Wacholderstrauch. Man hatte in keiner Weise versucht, sie zu verstecken. Das Ding war einfach an einen niedrigen Punkt im Garten gerollt. 16 Es handelte sich um einen riesigen verchromten Kugelhammer, so groß wie ein Motorradmotor, auf dem einige blassrosa Streifen zu sehen waren. Wie Dr. Ruiz vorhergesagt hatte, war kaum Blut haften geblieben. An der Kugel klebten allerdings ein paar Gehirnfetzen. Es war genau die große, runde Fläche, die Ruiz beschrieben hatte.
Drei Techniker hatten Mühe, den Hammer einzutüten und zu beschriften. Er war groß und sperrig und wog bestimmt sechzig bis siebzig Pfund. Was bedeutete, dass der Täter sehr stark sein musste, selbst wenn man den Adrenalinschub einrechnete. »Kunst als Mordwaffe«, sagte Darrel. »Gab es nicht mal einen Typ, irgendeinen Maler, der gesagt hat, er wolle ein Bild schaffen, bei dessen Anblick man tot umfällt?« »Nie gehört«, erwiderte Katz. »Das hab ich in einem Kurs gelernt. Der Typ hatte einen komischen Namen. Man irgendwas.« »Man Ray?« »Genau.« »Du hast Kunst belegt?«, fragte Katz. »Kunstgeschichte«, sagte Darrel. »Am College. Weil es ziemlich einfach war.« »Irgendwas gelernt?« »Dass mir wirklich schöne Sachen genauso gefallen wie allen anderen, dass es aber Quatsch ist, so was ernsthaft zu studieren.« »Das ist mit allem so«, sagte Katz. »Gott gibt uns gute Sachen, und wir verkomplizieren alles.« Darrel sah ihn an. »Bist du plötzlich religiös geworden?« »Ich meinte das ... metaphorisch.« »Ach so«, sagte Two Moons. »Nun ja, die große Metapher des heutigen Abends ist wohl >tot wie ein rostiger Nageh. Hast du eine Idee?« 3i »Sein Haus durchsuchen«, erwiderte Katz. »Uns seine Telefonunterlagen besorgen, Summer Riley finden und hören, was sie weiß, mit seiner Exfrau in New York reden oder wo auch immer die ist, mehr über Olafsons Geschäfte herausfinden. Auch über diese Forest HavenGeschichte. Wäre doch interessant zu hören, was die Rancher, die er verklagt hat, zu sagen haben.« »Klingt nach einem wohl durchdachten Plan, Steve.« Sie gingen zum Auto. Darrel sagte: »So wie ich die Sache sehe, werden wir damit genau an den richtigen Stellen nach Feinden suchen. Und ich fürchte, wir kriegen viel zu tun.« Als sie gerade losfahren wollten, sagte einer der uniformierten Beamten: »Seht mal, wer da kommt.« Mit hektisch blinkenden Blaulichtern, die schließlich abgeschaltet wurden, näherte sich rasch ein Streifenwagen. Chief Shirley Bacon stieg aus. Sie trug einen dunkelblauen Hosenanzug aus Strickstoff unter einem langen schwarzen Lammfellmantel. Ihre dunklen Haare waren hoch aufgetürmt und mit reichlich Haarspray versehen, und sie hatte mehr Make-up aufgelegt, als sie je im Dienst trug. Sie war kompakt gebaut und hatte ein aufrichtiges Gesicht, eine achtundvierzigjährige ehemalige Lehrerin, Tochter eines County Sheriffs und Schwester eines Staatspolizisten, eines weiteren Sheriffs und eines Bewährungshelfers. Sie hatte als Kind Geige spielen gelernt, dann Musikunterricht gegeben und als Sekretärin an der Oper gearbeitet, während sie auf etwas Besseres hoffte. Als sie sich mit fünfunddreißig die
Hand brach, nahm sie einen Job als Sekretärin beim Department an. Eins kam zum anderen, und so wurde sie schließlich Polizistin beim Santa Fe Police Department. Da sie klug und tüchtig war, stieg sie rasch auf und wurde im letzten Jahr zum Chief ernannt. Sie behandelte ihre Be 18. arriten mit Respekt, gestattete ihnen, mit den Streifenwagen nach Hause zu fahren, sofern das nicht weiter als sechzig Meilen war, und setzte für sie in einer Zeit, in der überall die Etats gekürzt wurden, eine Gehaltserhöhung durch. Niemand missgönnte ihr irgendetwas, und niemand dachte über ihr Geschlecht nach. Sie kam schnurstracks auf die beiden zu. »Darrel, Steve.« »Heute Abend groß ausgegangen, Boss?«, fragte Katz. »Benefizveranstaltung. The Indian Art Foundation, bei Dr. und Mrs Haskell auf dem Circle Drive. Was ist das hier für eine Geschichte?« Während Katz und Two Moons berichteten, verzog sie immer wieder das Gesicht. »Das könnte in alle möglichen Richtungen gehen. Ich kümmere mich um die Zeitungen. Haltet mich auf dem Laufenden.« Wenige Sekunden später tauchte Lon Maguire, der Vertreter von Chief Bacon, in seinem privaten Truck auf, und kurz danach erschien auch noch Lieutenant Almodovar. Von den Bossen kamen keine neuen Ideen. Aber sie zeigten sich auch nicht nervös oder übten Kritik. Während der drei Jahre, die Katz nun beim Department war, hatte ihn immer beeindruckt, wie wenig dort gelästert wurde und wie wenig offene Aggression man spürte. Das war in New York ganz anders gewesen. Allerdings hatte das NYPD in einer Woche mehr Mordfälle zu bearbeiten, als er hier in drei Jahren erlebt hatte. Chief Bacon winkte ihnen kurz zu, dann wandte sie sich zum Gehen. »Zurück zur Party, Boss?«, fragte Katz. »Bloß nicht, das war so langweilig, wie man's sich nur vorstellen kann«, rief sie ihm im Weggehen zu. »Aber gebt mir nächstes Mal bitte einen einfacheren Grund, mich zu entschuldigen!« 18 Um 2:53 Uhr, fast eine Stunde nach dem offiziellen Ende ihrer Schicht, als sie gerade zum Haus von Olafson fahren wollten, entdeckten sie ein gut aussehendes junges Paar, das vor der Absperrung auf der anderen Seite des Grundstücks stand und mit Officer Randolph Loring sprach. Sie gingen hinüber, und Loring sagte: »Das ist Ms Riley. Sie wohnt dort drüben.« Summer Riley hatte rabenschwarzes Haar, elfenbeinfarbene Haut und eine kurvenreiche Figur, die sie selbst unter ihrer unförmigen Skijacke nicht verbergen konnte. Ihre großen blauen Augen waren so verängstigt wie die eines in die Enge getriebenen Kaninchens. Katz schätzte sie auf Ende zwanzig.
Der mit Jeansklamotten bekleidete junge Mann war groß, dunkel und attraktiv, der typische Latin Lover. Braune, wellige Haare, die ihm über die Schultern fielen, und ein blasses Gesicht mit vorstehenden Wangenknochen. Er wirkte ebenfalls völlig verstört. Das könnte eine Calvin-Klein-Werbung sein, dachte Katz. Sogar die Angst passt. Besonders die Angst. Summer Riley hatte Two Moons' Nachricht nicht abgehört, sondern kam einfach von einem Date zurück. Darrel erzählte ihr genauso unverblümt, was geschehen war, wie er es auf ihrer Voicemail hinterlassen hatte, worauf sie umgehend in die Arme des jungen Mannes sank. Er hielt sie unbeholfen fest. Streichelte mit der Lebendigkeit eines Roboters über ihr Haar. Sein Name war Kyle Morales. Er hatte an der University of New Mexico Tanz studiert und wirkte als Aushilfskraft bei der Flamenco-Show im Radisson Hotel mit. Bis zum Frühjahr nächsten Jahres war er ohne volles Engagement. Katz hatte die Show gesehen. Er hatte allein ganz hinten im Raum gesessen mit dem einen Gin Tonic, den er sich erlaubte, und sich ein wenig ausgeschlossen vom übrigen Pub 19 likum gefühlt, dessen Durchschnittsalter schätzungsweise fünfundsechzig war. Er war von der Vorführung angenehm überrascht gewesen, gute Tänzer, gutes Gitarrenspiel. Das sagte er zu Morales. Dieser bedankte sich, ohne irgendein Gefühl zu zeigen. Als Katz fragte: »Wie wär's, wenn wir mit jedem von Ihnen einzeln reden?«, fügte sich Morales ohne Murren. Darrel führte Summer Riley durch die Absperrung zum Gästehaus, während Katz mit Morales an Ort und Stelle stehen blieb. Es war das zweite Mal, dass Morales mit Summer ausgegangen war. Er hatte sie in einer Bar auf der San Francisco Street kennen gelernt und fand sie »cool«. Er hatte keine Ahnung, wer Lawrence Olafson war, und verstand überhaupt nichts von Kunst. »Das zweite Date also«, sagte Katz. »Beim ersten Mal waren wir nur einen trinken«, erklärte Morales. »Und heute?« »Heute Abend haben wir uns im DeVargas Center eine Komödie angesehen.« »Lustig?«, fragte Katz. »Yeah«, sagte Morales und versuchte noch nicht einmal, ein wenig Begeisterung vorzutäuschen. Ein Tänzer und kein Schauspieler. »Was dann?« »Dann haben wir 'ne Pizza gegessen. Anschließend sind wir hierher zurück.« »Zum ersten Mal bei ihr?« »Sollte so sein.« Seine Stimme klang bedauernd.
So ein Pech, dachte Katz. Jede Chance auf Sex dahin, weil so etwas Unerfreuliches wie ein Mord dazwischengekommen war. 20 Er befragte Morales noch eine Weile und kam zu dem Schluss, dass der Mann nicht besonders helle war. Mal wieder ein Fall von zur falschen Zeit am falschen Ort. »Okay, Sie können gehen.« »Ich dachte, wenn Sie mit ihr fertig sind, könnten wir immer noch was zusammen machen«, sagte Morales. »Sie können natürlich Ihr Glück versuchen und warten«, erwiderte Katz und klopfte auf das Absperrband, »aber aus Erfahrung, Kumpel, kann ich Ihnen nur sagen, es wird ganz schön kalt werden.« Schließlich entschloss sich Morales abzuziehen. Katz ging zu Two Moons und Summer Riley ins Gästehaus. Neben dem bisherigen Durcheinander war nun auch noch alles mit einer Schicht Pulver von der Spurensicherung bedeckt. Die junge Frau trocknete gerade ihre Tränen. Schwer zu sagen, ob sie über die Situation weinte oder wegen Darrels sensibler Vorgehensweise - oder wegen beidem. Darrel sagte: »Ms Riley kann sich niemanden vorstellen, der Mr Olafson etwas hätte antun wollen.« »Er war wunderbar«, schniefte Summer. Darrel schwieg, und die junge Frau fuhr fort: »Wie ich bereits sagte, man sollte wirklich überprüfen, ob Kunstwerke fehlen.« »Raubüberfall«, sagte Darrel mit seiner tonlosen Stimme. »Ist doch möglich«, erwiderte Summer. »Larry ist der Topkunsthändler in Santa Fe, und er hat einige ziemlich teure Bilder in der Galerie.« »O'Keeffe?« »Nein, zurzeit nicht«, sagte Summer defensiv. »Aber wir haben schon einiges von ihr verkauft.« »Was ist denn jetzt an teuren Sachen da?« »Es gibt ein großartiges Indianergemälde von Henry 20 Sharp, einige Sachen von Berninghaus und einen Thomas Hill. Das sagt Ihnen vielleicht nichts, aber es sind sehr wertvolle Bilder.« »Sharp und Berninghaus waren Taos-Meister«, sagte Katz. »Ich wusste allerdings nicht, dass Hill New-Mexico-Bilder gemalt hat.« Summer wich mit dem Kopf zurück, als ob Katz sie angegriffen hätte. »Hat er nicht. Es ist ein kalifornisches Motiv.« »Ach so.« »Die sind sehr teuer. Jeweils sechsstellige Zahlen.« »Und er hat sie in der Galerie aufbewahrt?«, fragte Katz. »Bis auf die, die er mit nach Hause nimmt«, sagte Summer, immer noch am Präsens festhaltend. »Für seinen persönlichen Bedarf?« »Er tauscht die Kunstwerke in seinem Haus immer wieder gegen andere aus. Zum einen, weil er Kunst liebt, und außerdem, damit er Gästen etwas zeigen kann.« »Als Musterbeispiele«, sagte Katz.
Die junge Frau sah ihn an, als hätte er etwas Unanständiges gesagt. »Wo werden denn diese Meisterwerke in der Galerie gelagert?«, fragte Darrel. »Wo alle anderen Bilder auch sind«, erwiderte Summer. »Im Lagerraum. Er hat ein spezielles Schloss und ein Alarmsystem, und nur Larry kennt die Kombination.« »Sie meinen diesen Raum auf der Rückseite des Gebäudes?«, fragte Two Moons. »Der mit den hohen, schmalen Regalen?« Summer nickte. Die Detectives waren einfach hineinspaziert. Die Tür hatte offen gestanden. Katz wurde bewusst, dass er das Schloss noch nicht einmal bemerkt hatte. »Wo finden wir eine Inventarliste?« 21 »Auf Larrys Computer zu Hause«, antwortete Summer. »Ich führe außerdem ein Journal, sozusagen als Back-up. Ich bin echt gut im Organisieren. Das schätzt Larry an mir.« Der Zustand ihres Zimmers sagte zwar etwas anderes, aber man konnte ja nie wissen. Dann dachte Katz: Sie hat noch nicht mal aufgeräumt, bevor sie Kyle Morales mit hierher nahm. Vielleicht hatte sie ja was anderes vorgehabt als er. Er fragte sie nach dem Tänzer. Ihre Geschichte stimmte mit der von Morales überein. »Sie und Kyle wollten also zu Ihnen«, sagte Katz. »Er hat mich nach Hause gebracht«, erwiderte Summer, warf ihre Haare zurück und wurde rot. »Das war alles. Ich hatte nicht vor, ihn wiederzusehen.« »Schlechtes Date?« »Langweilig. Er ist nicht sehr helle.« Ihre Stimme hatte einen metallischen Klang bekommen. Sie konnte bestimmt ziemlich tough sein. »Der Künstler, von dem der Hammer stammt - Miles D'Angelo«, sagte Katz. »Was können Sie mir über den erzählen?« »Miles? Er ist dreiundachtzig und lebt in der Toskana.« »Hatte Mr Olafson irgendwelche Probleme mit ihm?« »Mit Miles?« Summer lächelte süffisant. »Er ist der sanfteste Mann auf Erden. Er hat Larry geliebt.« »Wir müssen uns Ihr Journal ansehen«, sagte Two Moons. »Klar«, erwiderte Summer. »Es ist in der Galerie. In Larrys Schreibtisch.« Die Detectives hatten nichts dergleichen gesehen. Sie kehrten zu Olafson Southwest zurück, und die junge Frau zeigte ihnen, um welche Schublade es sich handelte. Darrel streifte Handschuhe über und zog die Schublade auf. 21 Viele Papiere, aber kein Journal.
»Es ist nicht da«, sagte Summer Riley. »Es sollte aber hier sein.« 3 Um 3 :10 Uhr saß Katz am Steuer des Crown Victoria, und Two Moons hockte schweigend auf dem Beifahrersitz. Sie fuhren die Bishop's Lodge Road in nördlicher Richtung nach Tesuque, einem hinter Bäumen verborgenen Dorf in einer flachen Talmulde. Eine merkwürdige Mischung aus Reiterhöfen, Mobilheimen und Häusern jeder Größe mit schöner Aussicht lag in den Hügeln verstreut, die den Ort umgaben. Die Bevölkerung bestand aus Filmstars und Wirtschaftsbossen, die abwesende Rancher spielten, aus Malern, Bildhauern und Pferdeliebhabern sowie den Arbeitern hispanischer und indianischer Herkunft, die die ursprünglichen Einwohner von Tesuque gewesen waren. Außerdem gab es noch einige sehr sonderbare Einsiedler, die ab und zu auf dem Markt von Tesuque auftauchten, um Biogemüse und Bier zu kaufen, und dann wieder wochenlang verschwanden. Genau das, was Katz für eine brisante Mischung gehalten hätte, doch wie im übrigen Santa Fe war es auch in Tesuque ziemlich ruhig. Der Himmel war ein einziges funkelndes Sternenmeer, und die Luft roch nach Wacholder, Pinien und Pferdemist. Das Haus von Lawrence Olafson lag an einer schmalen unbefestigten Straße weit hinter der Ortsgrenze, am oberen Ende von Los Caminitos, einer noblen Gegend, in der auf Grundstücken von zwei bis sechs Hektar wunderschöne große Traumhäuser aus Adobeziegeln standen. Seit sie die Plaza verlassen hatten, waren sie an keiner ein 22 zigen Straßenlaterne vorbeigekommen, und hier draußen hatte sich die Dunkelheit wie eine dicke, fast mit Händen greifbare Masse über alles gelegt. Selbst mit Fernlicht konnte man das Grundstück leicht verfehlen. Es war nur durch dezente Kupferziffern an einem einzelnen Steinpfosten gekennzeichnet. Katz schoss daran vorbei, setzte zurück und fuhr dann die gewundene Auffahrt hoch, die wegen zahlreicher gefrorener Pfützen ziemlich glatt war. Fast zweihundert Meter schlängelte sich die lange unbefestigte Straße durch einen schneebedeckten Pinienkorridor. Bis zur dritten Kurve war von dem Haus nichts zu sehen, aber als man es schließlich sah, war es unübersehbar. Drei Stockwerke hoch, abgerundete Ecken und vielgestaltige Mauern mit offenbar einem halben Dutzend offener patios und ebenso vielen überdachten portales. Blass und monumental hob sich das Gebäude, das dezent von Mond, Sternen und Sparlampen beleuchtet wurde, von dem hügeligen Hintergrund ab. Es lag mitten in einem Meer von einheimischen Gräsern und Minikakteen, von Zwergfichten und blattlosen Espen, deren Zweige im Wind zitterten. Trotz seiner Größe fügte sich das Haus harmonisch in seine Umgebung ein: Wie eine natürliche Formation thronte es über einer Landschaft aus Sand, Fels und Gestrüpp.
Officer Debbie Santanas Streifenwagen stand vor der Vierergarage, die die unterste Ebene des Hauses bildete. Er war schräg geparkt, so dass er zweieinhalb Garagentore zustellte. Katz parkte das nicht gekennzeichnete Fahrzeug einige Meter entfernt, und er und Two Moons stiegen aus und traten auf den knirschenden Kies. Zwanzig steinerne Treppenstufen führten sie vorbei an einem breiten Band von Sträuchern zu einer massiven Doppeltür, die aus einem Holz gefertigt war, das sehr alt aussah. Die Ränder waren mit dicken Nagelköpfen verziert, und handge 23 schmiedete Eisenbeschläge hielten sie in den Angeln. Über der Tür stand auf einem geschnitzten Brett: ZUFLUCHT. Darrel drückte gegen die Tür, dann traten sie in eine Eingangshalle, die größer war als Katz' gesamte Wohnung. Gefliester Boden, sieben Meter hohe Decke mit einem gläsernen Leuchter, der von Dale Chihuly stammen könnte, apricotfar-bene Strukturputzwände, herrliche Kunst, herrliche Möbel. Am anderen Ende der Eingangshalle ging es eine Stufe hinunter in ein großes Zimmer mit einer noch höheren Decke und mit Wänden, die größtenteils aus Glas bestanden. Officer Santana saß neben Sammy Reed auf einem Gobelinsofa. Reed weinte nicht mehr, sondern war jetzt wie betäubt vor Schmerz. »Nette Bude«, sagte Darrel. »Nehmen wir sie auseinander.« Während der nächsten drei Stunden durchsuchten sie sechshundert Quadratmeter Wohnraum. Sie erfuhren eine Menge über Olafson, aber nichts, was sie in dem Mordfall weiterbrachte. In der Garage stand ein grüner, windschnittiger Jaguar, außerdem ein alter weißer Austin Healey und ein roter Alfa Romeo GTV Den Wagen in der Auffahrt zur Galerie hatte man als Olafsons Land Rover identifiziert. Sie gingen Schränke voller teurer Klamotten durch, größtenteils mit New Yorker Etiketten. Sparbücher und Maklerrechnungen besagten, dass Olafson mehr als solvent war. Schwule und heterosexuelle Pornographie lag ordentlich gestapelt in einer verschlossenen Schublade im Medienraum. Im Arbeitszimmer, dessen Wände mit Leder bespannt waren, gab es viele Bücherregale, aber nur wenige Bücher. Und das waren hauptsächlich Bildbände über Kunst und Inneneinrichtung, außerdem Biographien über Angehörige von Kö4-1 nigshäusern. Die Barsoi-Hündin, groß mit langem weißen Fell, schlief während der ganzen Aktion. Überall war Kunst, viel zu viel, um bei einem einzigen Besuch alles aufnehmen zu können, doch ein Gemälde in dem großen Zimmer fiel Katz besonders auf. Es stellte zwei nackte Kinder dar, die um einen Maibaum tanzten. Die Pastelltöne deuteten einen milden Sommertag an. Die Kinder waren etwa drei und fünf, hatten flauschiges gelbes Haar, den Po voller Grübchen und engelhafte Gesichter. Bei so einem süßlichen
Thema hätte es sich durchaus um Plakatkunst handeln können, doch der Maler war geschickt genug, dem Bild eine ästhetische Qualität zu verleihen. Katz beschloss, dass es ihm gefiel, und sah nach der Signatur. Jemand namens Michael Weems. »Meinst du, wir sollten nach Kinderpornos suchen?«, fragte Two Moons. Das überraschte Katz, entsetzte ihn sogar ein bisschen. Er versuchte, in der Miene seines Partners einen Anflug von Ironie zu entdecken. »Das Auge des Betrachters«, sagte Two Moons und ging zu Olafsons Computer. Der PC ließ sich zwar anschalten, doch der Bildschirm verlangte sofort nach einem Passwort. Die Detectives versuchten es gar nicht erst. Bobby Boatwright, ein Experte für Sexualdelikte, der in der Schicht von zwei bis halb acht arbeitete, kannte sich so gut mit Maschinen aus wie ein absoluter Technofreak. Sollte der sich daran versuchen, bevor sie die Kiste ins Polizeilabor auf dem Highway 14 schickten. Sie zogen die Stecker heraus und brachten den Computer samt Drucker und Akku in die Eingangshalle. Dann hieß es zurück in die private "Welt von Lawrence Olafson. Unter dem Himmelbett im geradezu königlichen Schlaf4z zimmer fanden sie ein Sammelalbum mit gepunztem Ledereinband. Drinnen waren ausgeschnittene Artikel über Olafson. »Was ist das denn?«, sagte Darrel. »Hat er sich vor dem Einschlafen immer vor Augen geführt, wie toll er doch ist?« Sie blätterten das Album durch. Das meiste waren lobhudelnde Artikel aus Kunstzeitschriften, in denen die jüngste Auktion, die neueste Anschaffung oder der letzte, alle Preislimits sprengende Verkauf des Kunsthändlers beschrieben wurden. Aber es gab auch negative Berichte, Gerüchte über Käufe, die sich als Fehlschlag erwiesen, Fragen bezüglich der Authentizität bestimmter Kunstwerke. Warum Olafson diese Artikel aufbewahrt hatte, wussten die Götter. Unter dem Sammelalbum lag ein weiterer Band, kleiner und in billiges grünes Leinen gebunden. Dieser enthielt Zeitungsausschnitte über Forest Haven, einschließlich der News-Press-Geschichte über die kleinen Rancher, gegen die die Gruppe prozessierte. Bart Skaggs (68) und seine Frau Emma (64) wurden besonders hervorgehoben, weil sie unter großen finanziellen Mühen fünfhundert Rinder bis auf Marktgewicht großzogen, indem sie ihre Weiderechte im Carson Forest bei der Bank als Sicherheit für Kredite einsetzten, mit denen sie Futter kauften, den Viehbestand erneuerten und Geräte anschafften. Zwar fraßen die Zinsen jährlich 31.000 Dollar von ihrem Bruttoeinkommen von 78.000 Dollar auf, doch bevor Forest Haven die Skaggs aufgrund des Gesetzes zum Schutz gefährdeter Tierarten verklagt hatte, hatten sie sich irgendwie durchgeschlagen. Die Anklage lautete, dass der Schaden, den die Herde der Skaggs' anrichtete, den einheimischen Bestand an Nagetieren, Reptilien,
Füchsen, Wölfen und Elchen gefährde. Der Richter hatte dem zugestimmt und angeordnet, dass das Paar 25 seine Herde auf 420 Tiere verringern müsse. Eine weitere Eingabe der Gruppe hatte zur Folge, dass diese Zahl auf 280 reduziert wurde. Da sie nun die Hälfte ihrer Herde auf angemietetem Gelände weiden lassen mussten, gerieten die Skaggs in die roten Zahlen. Sie gaben ihre Ranch auf, gingen in Ruhestand und lebten nun von tausend Dollar Sozialhilfe im Monat. »Meine Familie hat seit 1834 auf diesem Land Viehwirtschaft betrieben«, sagte Bart Skaggs. »Wir haben jede Naturkatastrophe überstanden, die man sich vorstellen kann, aber gegen diese verrückten radikalen Umweltschützer sind wir machtlos.« Emma Skaggs wurde als »zu aufgeregt, um einen Kommentar abzugeben« beschrieben. Nach seiner Reaktion auf den Bankrott des Paares befragt, hatte sich der Sprecher und Hauptkläger von Forest Haven ungerührt gezeigt. »Die Natur ist bedroht, und die Natur hat höchste Priorität - vor den eigennützigen Bedürfnissen eines Individuums«, sagte Lawrence Olafson, ein prominenter Kunsthändler mit Galerien in Santa Fe und New York City. »Man kann kein Omelette machen, ohne Eier zu zerschlagen.« Olafson hatte seine Kommentare mit gelbem Marker hervorgehoben. »Ganz schön selbstgefällig«, sagte Darrel. »Die Natur hat höchste Priorität«, sagte Katz. Sie vermerkten das Buch als Beweismittel und nahmen es mit. »Eier zerschlagen«, murmelte Two Moons, als sie das Haus verließen. »Und nun ist ihm der Schädel eingeschlagen worden.« Katz zog die Augenbrauen hoch. Sein Partner hatte eine merkwürdige Art, mit Worten umzugehen. 25 Sie luden den Computer samt Zubehör in den Kofferraum des Wagens, und Katz ließ den Motor warm laufen. »Dieser Typ«, sagte Two Moons. »Der hat ja jede Menge Zeug im Haus, aber etwas fehlt.« »Bilder von seinen Kindern«, sagte Katz. »Bingo. Dass er keins von seiner Exfrau hat, kann ich ja verstehen, aber von den Kindern? Kein einziges Bild? Vielleicht mochten sie ihn nicht. Der Doc hat gesagt, die Umstände am Tatort deuten auf sehr viel Wut hin. Und was kann mehr Wut erzeugen als familiäre Dinge?« Katz nickte. »Wir müssen in jedem Fall die Kinder ausfindig machen. Und auch mit der Ex reden. Sollen wir das tun, bevor oder nachdem wir mit Bart und Emma Skaggs gesprochen haben?« »Danach«, sagte Darrel. »Aber erst morgen. Den beiden hat man übel mitgespielt. Ich möchte sie nicht um« - er sah auf seine Uhr - »vier Uhr achtzehn wecken. Außerdem machen wir längst Überstunden, Partner.«
4 Katz fuhr so schnell, wie die dunklen, kurvigen Straßen es erlaubten, und um 4.45 Uhr waren sie wieder in der Polizeizentrale auf dem Camino Entrada. Nachdem sie Olafsons Computer bei der Spurensicherung abgeliefert hatten, erledigten sie die ersten Schreibarbeiten zu dem Fall, beschlossen, sich um neun zum Frühstück bei Denny's in der Nähe der Polizeistation zu treffen, und fuhren nach Hause. In diesem Monat durfte Two Moons den Crown Vic mitnehmen, und Katz musste sich mit seinem verdreckten kleinen Toyota begnügen. Doch angesichts seines desolaten sozialen Lebens brauchte er kein besseres Auto. 26 Darrel Two Moons fuhr zu seinem Haus im Stadtteil South Capital, zog vor der Tür die Schuhe aus und trotzte einen Moment der Kälte, die sofort in seine Füße kroch, während er die Tür aufschloss und ins Wohnzimmer trat. Ein schönes Zimmer, auf das er sich immer freute, wenn er nach Hause kam, mit dem Kiva-Kamin und den alten gebogenen vigas an der Decke. Das Holz war richtig alt und hatte die Farbe von Melasse. Nicht wie die auf alt getrimmten Balken, die ihm in Olafsons Anwesen aufgefallen waren. Wem machte er hier eigentlich etwas vor? Olafsons Anwesen war einfach unglaublich. Er zog seinen Mantel aus, nahm sich einen Eistee mit Himbeergeschmack aus dem Kühlschrank, setzte sich an den Küchentisch und trank. Durch den Bogendurchgang blickte er in sein Wohnzimmer. Fotos von Kristin, den Mädchen und ihm, die letztes Jahr an Weihnachten im Photo Inn im DeVargas Center aufgenommen worden waren. Fast genau vor einem Jahr. Die Mädchen waren seitdem ganz schön gewachsen. Seine Burg. Genau. Er liebte sein Haus, aber nachdem er in Olafsons riesigem Anwesen herumgelaufen war, kam ihm das hier winzig vor, vielleicht sogar erbärmlich. Hundertachtzig Riesen hatte es gekostet. Und das hatte sich als gutes Geschäft erwiesen, weil South Capital im Kommen war. Als einfacher Polizist hatte er es sich nur dank einer Lebensversicherung und dem Testament und letzten Willen von Sergeant Edward Two Moons geb. Montez, United States Army (LR.), leisten können, in diese Gegend zu ziehen. Danke, Dad. 26 Seine Augen fingen an zu brennen, und er stürzte den Eistee so schnell hinunter, dass er von der Kälte fast Kopfschmerzen bekam.
Mittlerweile musste das Haus fast dreihunderttausend wert sein. Eine gute Investition für jemanden, der es sich leisten konnte zu verkaufen, um sich was Besseres zu kaufen. Ein Typ wie Olafson konnte mit kleinen Häusern handeln wie mit Spielkarten. Hatte gekonnt. Two Moons rief sich Olafsons eingeschlagenen Schädel in Erinnerung und schimpfte mit sich selbst. Sei dankbar für das, was du hast, du Idiot. Er trank den Eistee aus, fühlte sich aber immer noch wie ausgedörrt. Also nahm er sich eine Flasche Wasser und ging damit ins Wohnzimmer. Dort setzte er sich hin, legte die Füße hoch und atmete tief durch in der Hoffnung, einen Hauch von dem Duft nach Wässer und Seife aufzunehmen, den Kristin im Vorbeigehen verströmte. Sie liebte das Haus wirklich, sagte immer, es sei alles, was sie brauche, und sie wolle niemals umziehen. Hundertvierzig Quadratmeter auf einem Grundstück von siebenhundertfünfzig Quadratmetern, das reichte aus, dass sie sich wie eine Königin fühlte. Was eine Menge über Kristin aussagte. Das Grundstück war schön, musste Darrel zugeben. Hinter dem Haus war viel Platz, wo die Mädchen spielen und Kristin ihren Wunsch nach einem Gemüsegarten verwirklichen konnte. Er hatte versprochen, einige Kieswege anzulegen, es bisher aber nicht getan. Bald wäre der Boden gefroren, und die Aufgabe musste bis zum Frühjahr warten. Mit wie vielen Toten mochte er bis dahin noch zu tun haben? 27 Das Geräusch leiser Schritte ließ ihn aufblicken. »Hi, Honey«, sagte Kristin blinzelnd und rieb sich die Augen. Ihr rotblondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, aber einige Strähnen hatten sich gelöst. Ihr pinkfarbener Frotteebademantel wurde von einem engen Gürtel um ihre straffe Taille gehalten. »Wie spät ist es?« »Fünf.« »Oje.« Sie kam zu ihm herüber und strich ihm über die Haare. Sie war halb irisch, ein Viertel schottisch und der Rest Minnesota Chippewa. Das indianische Blut machte sich in ausgeprägten Wangenknochen und mandelförmigen Augen bemerkbar. Augen, die die Farbe von Salbei hatten. Darrel hatte sie bei einem Besuch im Indian Museum kennen gelernt. Sie hatte dort während der Sommerferien als Aushilfssekretärin gejobbt, um Geld für einen Malkurs zu verdienen. Ihre Augen hatten ihn zuerst gefangen genommen, und dann hatte ihn auch der Rest von ihr nicht mehr losgelassen. »Ein Fall?«, fragte sie. »Ja.« Darrel stand auf und nahm sie mit ihren ganzen ein Meter fünfzig in den Arm. Dazu musste er sich weit hinabbeugen. Wenn er mit Kristin
tanzte, bekam er manchmal Rückenschmerzen. Doch das machte ihm nichts aus. »Was für ein Fall, Honey?« »Das willst du gar nicht wissen.« Kristin sah ihn starr mit ihren grünen Augen an. »Wenn ich es nicht wissen wollte, hätte ich nicht gefragt.« Er nahm sie auf den Schoß und erzählte es ihr. »Hast du's Steve gesagt?«, fragte sie. »Was gesagt?« »Dass du mal mit Olafson aneinander geraten bist?« »Ist doch völlig irrelevant.« Kristin schwieg. 28 »Was soll das ?«, sagte er. »Das ist doch schon ein Jahr her.« »Acht Monate«, sagte sie. »Daran kannst du dich erinnern?« »Ich weiß, dass es im April war, weil das in der Woche war, in der wir Ostereinkäufe gemacht haben.« »Acht Monate, ein Jahr, was macht das schon?« »Da hast du sicher Recht, Darrel.« »Lass uns schlafen gehen.« In dem Moment, als sie die Matratze berührte, schlief sie sofort wieder ein, doch Two Moons lag auf dem Rücken und dachte daran, wie er mit Olafson »aneinander geraten« war. Er war ins Indian Museum gegangen, um sich eine Ausstellung anzusehen, in der auch einige Aquarelle von Kristin hingen. Bilder, die sie im Sommer zuvor hinten im Garten gemalt hatte. Blumen und Bäume in einem schönen weichen Licht. Two Moons hielt das für ihre bisher besten Arbeiten und hatte sie gedrängt, sie bei einem Wettbewerb einzureichen. Als sie prämiert wurden, schwoll ihm vor Stolz die Brust. Er ging ein halbes Dutzend Mal während der Mittagspause in die Ausstellung. Zweimal nahm er Steve mit. Steve hatten Kristins Arbeiten auch sehr gut gefallen. Bei seinem fünften Besuch war Larry Olafson mit einem Paar mittleren Alters hereingeschneit - beide von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und beide mit den gleichen bescheuerten Sonnenbrillen. Arrogante Kunstfreaks von der Ostküste. Die drei waren mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Ausstellung gerast. Olafson hatte gelächelt oder eher spöttisch gegrinst -, wenn er glaubte, dass niemand hinsah. Und die ganze Zeit seinen unglaublich coolen Freunden gegenüber abfällige Kommentare abgegeben. Als Olafson an Kristins Aquarellen vorbeikam, hatte 28 Darrel ihn sagen hören: »Hier ist genau das, was ich meine. Abgestanden wie Spülwasser.« Two Moons spürte, wie ihm diesmal auf andere Weise der Brustkorb schwoll. Er versuchte, ruhig zu bleiben, doch als Olafson mit dem Paar auf den Ausgang zuging, sprang er spontan vor und verstellte ihnen den Weg. Er wusste zwar, dass er sich töricht verhielt, konnte sich aber nicht beherrschen.
Als hätte etwas von ihm Besitz ergriffen. Olafson verging das Lächeln. »Entschuldigen Sie.« »Diese Bilder von dem Garten«, sagte Darrel. »Ich finde sie gut.« Olafson strich sich über seinen weißen Bart. »Tatsächlich?« »Ja, das tue ich.« »Das freut mich für Sie.« Two Moons antwortete nicht, rührte sich aber auch nicht von der Stelle. Das schwarz gekleidete Paar wich zurück. Schließlich sagte Larry Olafson: »Da wir offensichtlich unser fachmännisches Gespräch beendet haben, würden Sie jetzt bitte aus dem Weg gehen?« »Was ist an den Bildern so schlecht?«, fragte Two Moons. »Warum haben Sie sie runtergemacht?« »Ich hab sie nicht runtergemacht.« »Das haben Sie wohl. Ich hab es gehört.« »Ich hab ein Handy bei mir«, sagte die Frau. »Ich ruf jetzt die Polizei.« Sie griff in ihre Handtasche. Two Moons trat zur Seite. Olafson ging an ihm vorbei und murmelte: »Banause.« Darrel hatte sich wochenlang wie ein Idiot gefühlt. Selbst als er jetzt daran dachte, kam er sich immer noch blöd vor. Warum hatte er Kristin überhaupt davon erzählt? 29 Weil er mies gelaunt nach Hause gekommen war und die Mädchen ignoriert hatte. Und Kristin ignoriert hatte. Rede, sagte sie immer zu ihm. Du musst lernen, über die Dinge zu reden. Also hatte er geredet. Und sie sagte: »Oh, Darrel.« »Ich hab Scheiß gebaut.« Sie seufzte. »Honey ... vergiss es. Es ist keine große Sache.« Dann runzelte sie die Stirn. »Was ist?« »Die Bilder«, sagte sie. »Sie sind wirklich nicht gut.« Er stellte fest, dass er bei diesen Erinnerungen angefangen hatte, mit den Zähnen zu knirschen, und zwang sich, sich zu entspannen. Er mochte also das Opfer nicht. Das war ihm schon bei früheren Fällen passiert, an denen er gearbeitet hatte, sogar bei einer Menge Fälle. Manchmal erlitten Leute Verletzungen oder noch Schlimmeres, weil sie schlecht oder dumm waren. Steve hatte er die Geschichte nie erzählt. Es gab damals keinen Grund dafür, und jetzt auch nicht. Er würde hart an diesem Fall arbeiten. Irgendwie bewirkte dieser Gedanke, dass er sich besser fühlte. Sergeant Edward Montez war durch und durch Soldat gewesen, und Darrel, sein einziges Kind, war auf Militärstützpunkten von North Carolina bis Kalifornien aufgewachsen und so erzogen worden, dass er einmal in die Fußstapfen seines Vaters treten würde.
Mit siebzehn, als sie gerade in San Diego lebten, erfuhr er, dass sein Vater nach Deutschland versetzt werden sollte. Darrel rebellierte, ging zum nächsten Rekrutierungsbüro des Marine Corps und meldete sich als Freiwilliger. Wenige Tage später hatte man ihn bereits zur Grundausbildung nach Del Mar geschickt. 5i Seine Mutter weinte beim Kofferpacken. Sein Vater sagte: »Ist schon okay, Mabel.« Dann richtete er seine schwarzen Augen auf Darrel. »Die sind zwar ein bisschen extrem, aber zumindest ist es Militär.« »Mir wird es schon gefallen«, erwiderte Darrel und dachte: Was zum Teufel hab ich nur getan! »Wir werden sehen. Sorg dafür, dass du noch was anderes bei denen lernst außer töten.« »Was zum Beispiel?« Darrel rieb sich den gerade erst kahl rasierten Kopf. Der Verlust seiner schulterlangen Haare innerhalb von zehn Sekunden und der Anblick, wie sie in einem Friseurladen in Old Town auf dem Fußboden lagen, brachte ihn immer noch fast zum Ausflippen. »Zum Beispiel irgendwas Nützliches«, sagte sein Vater. »Ein Handwerk. Falls du nicht vorhast, den Rest deines Lebens strammzustehen.« Mitten während seines Militärdiensts starb seine Mutter. Mabel und Ed Montez waren beide Kettenraucher, und Darrel hatte sich immer Sorgen gemacht, sie könnten Lungenkrebs kriegen. Es war jedoch ein Herzinfarkt, der seine Mutter ins Grab brachte, als sie erst vierundvierzig war. Sie saß im Wohnzimmer einer Militärunterkunft außerhalb von Hamburg und sah Wkeel o f Fortune auf dem Kabelkanal der U. S. Army, da fiel plötzlich ihr Kopf nach vorn, und sie rührte sich nie wieder. Ihre letzten Worte waren: »Kauf einen Vokal, du Idiot.« Die Marines gaben Darrel wegen einer dringenden Familienangelegenheit eine Woche Urlaub, dann kehrte er zu seinem Stützpunkt in Oceanside zurück. Er war inzwischen Obergefreiter, bildete Infanteriesoldaten aus und erwarb sich einen Ruf als harter Ausbilder. Das bisschen Weinen, nach dem ihm zumute war, erledigte er für sich allein. 30 Sein Vater verließ die Armee und zog nach Tampa in Florida, wo er von seiner Pension lebte und Depressionen bekam. Ein halbes Jahr später rief er Darrel an und verkündete, er würde nach Santa Fe ziehen. »Warum ausgerechnet dahin?« »Wir sind Santa-Clara-Indianer.« »Na und?« In Darrels Erziehung hatte seine Herkunft keine große Rolle gespielt. Sie war etwas Abstraktes, etwas Historisches. Die wenigen Male, die er seine Eltern danach gefragt hatte, hatten diese einen tiefen Zug aus ihren ungefilterten Camels genommen und gesagt: »Sei stolz darauf, aber lass dich nicht dadurch behindern.«
Nun zog sein Vater gerade deswegen um? Nach New Mexico? Dad hatte die Wüste immer gehasst. Als sie in Kalifornien lebten, konnte man ihn nicht mal dazu kriegen, nach Palm Springs zu reisen. »Wie dem auch sei«, sagte Ed Montez, »es wird Zeit.« »Wofür?« »Zu lernen, Darrel. Wenn ich nicht anfange, etwas zu lernen, schrumpfe ich immer mehr zusammen und sterbe wie eine Motte.« Das nächste Mal sah Darrel seinen Vater, als er seinen Dienst bei den Marines quittierte. Er hatte nämlich beschlossen, dass er wieder mehr Haare auf dem Kopf haben wollte, und sich deshalb kein weiteres Mal verpflichtet. »Komm doch hierher, Darrel.« »Ich dachte an L. A.« »Was willst du denn da?« »Vielleicht studieren.« »Aufs College?«, fragte sein Vater erstaunt. »Yeah.« »Was willst du denn studieren?« 31 »Vielleicht was mit Computern«, hatte Darrel gelogen. Er hatte keine Ahnung, was er tun wollte, wusste nur, dass er die Möglichkeit haben wollte, lange zu schlafen und Mädchen kennen zu lernen, die weder Nutten noch Marine-Groupies waren. Er wollte ein bisschen Spaß haben. »Computer sind eine gute Sache«, sagte sein Vater. »Die Talismane unseres Zeitalters.« »Die was?« »Talismane«, sagte Ed Montez. »Symbole - Totems.« Darrel antwortete nicht. »Es ist kompliziert, Darrel. Komm hierher, hier kannst du auch studieren. Die UNM ist eine gute Uni. Sie hat einen schönen Campus, und es gibt alle möglichen Stipendien für Indianer.« »Ich mag aber Kalifornien.« »Ich hab doch niemanden«, sagte sein Vater. Als Darrel in Albuquerque aus dem Flugzeug stieg und seinen alten Herrn sah, hätte es ihn fast umgehauen. Ed Montez war vom Unteroffizier mit Bürstenhaarschnitt zum großen Häuptling mutiert. Sein grau meliertes Haar war in der Mitte gescheitelt und fiel ihm weit über die Schultern. Es wurde von einem Perlenstirnband gehalten. Er hatte jetzt eine viel längere Mähne, als Darrel zu der Zeit gehabt hatte, als sein Vater sich über ihn lustig machte und ihn einen »gammligen Hippie« nannte. Die Kleidung seines Vaters hatte sich genauso radikal verändert. Keine Polohemden, gebügelten Stoffhosen und blank polierten geschnürten Halbschuhe mehr. Ed Montez trug jetzt ein locker sitzendes Leinenhemd über Blue Jeans und Mokassins. Und er hatte einen dünnen Kinnbart.
Er umarmte Darrel - eine weitere Neuerung -, nahm des32 sen Bordtasche und sagte: »Ich hab meinen Namen geändert. Ich heiße jetzt Edward Two Moons. Solltest du vielleicht auch mal drüber nachdenken.« »Genealogie«, erklärte der alte Mann während der einstündigen Fahrt nach Santa Fe. Bisher war die Gegend flach und trocken, sehr viele brachliegende Flächen entlang des Highways, nur ab und zu ein Indianerkasino. Genau wie in Palm Springs. Höchstgeschwindigkeit fünfundsiebzig Meilen pro Stunde. Darrel hatte kein Problem damit, dass sein Vater neunzig fuhr. Das taten alle anderen auch. Dad zündete sich eine Zigarette an und pustete Qualm durch den Innenraum des Toyota Pick-up. »Interessiert dich das nicht?« »Was?« »Genealogie.« »Ich weiß, was es heißt. Du hast nach deinen Wurzeln gesucht. « » Unseren Wurzeln, mein Sohn. Auf der Fahrt von Florida hierher hab ich in Salt Lake City Station gemacht, bin in diese Mormonenbibliothek gegangen und hab ernsthafte Nachforschungen betrieben. Einige interessante Dinge rausgefunden. Als ich dann hier war, hab ich weitergeforscht, und es wurde immer interessanter.« »Was zum Beispiel?«, fragte Darrel, obwohl er sich nicht sicher war, ob ihn das überhaupt interessierte. Die meiste Zeit warf er verstohlene Blicke zu dem alten Mann hinüber. Edward Two Moons? Wenn er redete, zitterte der Kinnbart. »Zum Beispiel, dass wir in direkter Linie vom Santa Clara Pueblo abstammen. Jedenfalls auf meiner Seite. Deine Mutter war eine Apache und Mohawk, aber das ist eine andere Geschichte. Der muss ich noch nachgehen.« 5 5 »Okay«, sagte Darrel. »Okay?« »Was soll ich denn dazu sagen?« »Ich dachte«, erwiderte Ed, »es würde dich neugierig machen. « »Du hast immer gesagt, das war alles Vergangenheit.« »Ich habe die Vergangenheit schätzen gelernt.« Sein Vater klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen, streckte die rechte Hand aus und packte Darrel am Handgelenk. Hielt fest. Merkwürdiges Gefühl. Der Alte hatte es nie mit Körperkontakt gehabt. »Wir sind mit Maria Montez verwandt, mein Sohn. Wir können unsere Abstammung in gerader Linie bis zu ihr zurückverfolgen, daran besteht kein Zweifel.« »Wer ist das?« »Möglicherweise die größte indianische Töpferin, die es je gegeben hat.« Ed ließ ihn los und drehte seine Hand um. Die Handfläche war grau, wie mit einer Staubschicht bedeckt.
»Das ist Ton, mein Junge. Ich bin seit längerem dabei, die alte Kunst zu erlernen.« »Du?« »Sei doch nicht so überrascht.« Das Einzige, was es bei seinen Eltern an Kunst gegeben hatte, waren Weihnachtskarten, die man in den wechselnden Behausungen mit Tesafilm an die Wände klebte. »Wir ziehen ja ständig um«, hatte seine Mutter ihm erklärt. »Wenn man Löcher in die Wände bohrt, muss man sie wieder zustopfen. Ich mag zwar nicht die Hellste sein, aber ganz blöd bin ich auch nicht.« »Die ganze Prozedur ist wirklich faszinierend«, fuhr sein Vater fort. »Man muss die richtige Sorte Ton finden, ihn ausgraben und mit der Hand formen - wir benutzen keine Töpferscheibe.« 33 Wir? Darrel hielt den Mund. Sie waren jetzt fünfzehn Meilen von Santa Fe entfernt, und die Landschaft hatte sich verändert. Sie waren jetzt deutlich höher, und überall um sie herum ragten ansehnliche Berge in die Höhe. Alles war grüner. Dazwischen standen Häuser in Rosa-, Braun- und Goldtönen, die das Licht reflektierten. Der Himmel war gewaltig und von einem so intensiven Blau, wie Darrel es noch nie gesehen hatte. Eine Reklametafel warb für Duty-free-Benzin im Pojoaque Pueblo. Eine andere verkündete, dass an einem Ort namens Eldorado nach individuellen Wünschen gestaltete Adobehäuser gebaut würden. Nicht schlecht, aber trotzdem nicht mit Kalifornien zu vergleichen. »Keine Töpferscheibe«, wiederholte sein Vater. »Alles wird mit der Hand geformt, und das ist ganz schön schwierig, kann ich dir sagen. Dann kommt das Brennen, und damit wird's erst recht kompliziert. Einige Leute benutzen einen Brennofen, aber ich mach's an einem Feuer im Freien, weil draußen die Geister stärker sind. Man legt ein Holzfeuer an, und die Wärme muss genau richtig sein. Wenn was nicht stimmt, kann alles kaputtgehen. Um verschiedene Farbschattierungen zu erzeugen, benutzt man Kuhmist. Den muss man genau im richtigen Moment aus dem Feuer ziehen und dann wieder reintun - das ist kompliziert.« »Klingt auch so.« »Willst du denn nicht wissen, was ich mache?« »Was machst du?« »Bären«, sagte sein Vater. »Und die werden ganz gut. Sehen halbwegs wie Bären aus.« »Klasse.« Ton, Kuhmist. Freiluftgeister. Die Haare von seinem Vater mein Gott, die waren ja echt lang. War das vielleicht alles nur ein Traum? 33 »Ich lebe, um Bären zu machen, Darrel. All die Jahre, wo ich das nicht gemacht habe, waren vergeudete Zeit.« »Du hast deinem Land gedient.« Ed Montez lachte, zog an seiner Zigarette und beschleunigte den Truck auf fast hundert. »Dad, lebst du in dem Pueblo?«
»Das tat ich gerne. Aber die wenigen Bodenrechte, die wir je in Santa Clara hatten, sind längst verfallen. Doch ich gehe zum Unterricht dorthin. Ist gar nicht so weit zu fahren. Ich hab's geschafft, bei Sally Montez unterzukommen. Sie ist die Ururenkelin von Maria. Großartige Töpferin, hat zwei Jahre hintereinander auf der indianischen Kunstgewerbeshow den ersten Preis gewonnen. Sie benutzt Kuhmist, um eine Mischung aus Schwarz und Rot hinzubekommen. Letztes Jahr hatte sie die Grippe und kriegte es nicht auf die Reihe. Deshalb wurde sie nur lobend erwähnt. Trotzdem ist das alles ziemlich beeindruckend.« »Wo wohnst du denn, Dad?« »In 'ner Eigentumswohnung. Die Rente von der Army reicht für die laufenden Kosten und für noch ein bisschen mehr. Ich habe zwei Zimmer, ist also reichlich Platz für dich da. Und ich hab Kabelfernsehen, weil das mit der Schüssel bei dem vielen Wind nicht funktioniert.« Er brauchte einige Zeit, um sich an das Zusammenleben mit seinem Vater zu gewöhnen - seinem neuen Vater. Edward Two Moons' Zweizimmerwohnung im Süden der Stadt war eher eine Einzimmerwohnung mit einem kleinen Arbeitsraum. Darrel wohnte in einem Raum von zweieinhalb mal drei Metern, dessen Wände von Regalen gesäumt waren und in dem eine Schlafcouch stand, die sich zu einem Doppelbett ausklappen ließ. Die Regale waren voller Bücher, auch das war etwas 34 Neues. Amerikanische Geschichte, Geschichte der Indianer. Kunst. Sehr viel über Kunst. Im Zimmer seines Vaters stand eine Weihrauchpfanne, und Darrel fragte sich kurz, ob der Alte wohl Dope rauchte. Aber der fand es einfach schön, beim Lesen Weihrauch zu verbrennen. Keramikbären waren keine zu sehen. Darrel fragte nicht danach, weil er es gar nicht wissen wollte. Eines war unverändert geblieben: Sein Dad stand jeden Morgen um sechs Uhr auf, auch am Wochenende. Allerdings machte er keine Liegestütze mehr mit einer Hand. Exsergeant Ed Montez begrüßte jeden Tag mit einer einstündigen stillen Meditation. Darauf folgte eine Stunde Bücken und Strecken nach einem der Dutzend Yoga-Videos, die er besaß. Dad ließ sich von Frauen in Trikots Anweisungen erteilen. Nach dem Yoga kamen ein langer Spaziergang und ein halbstündiges Bad, anschließend gab es in der Pfanne geröstetes Brot und schwarzen Kaffee zum Frühstück. Bis dahin war allerdings schon fast Mittagszeit. Um zwei Uhr war der alte Mann bereit, zum Santa Clara Pueblo hinauszufahren, wo die immer gut gelaunte, korpulente Sally Montez in dem Studio im rückwärtigen Teil ihres geräumigen Adobehauses saß und wunderschöne Meisterwerke aus schwarzem Ton mit eingelegten Schmucksteinen anfertigte. Im vorderen Bereich befand sich ein Laden,
den Sallys Ehemann Bob führte. Er war ein Cousin zweiten Grades von Sally, deshalb hatte sie ihren Namen nicht zu ändern brauchen. Während Sally Tontöpfe machte, saß Dad mit gerunzelter Stirn vornübergebeugt an einem Tisch in ihrer Nähe, kaute an seiner Wange herum und formte seine Bären. Ganze Familien von ihnen in diversen Posen. 35 Als Darrel die kleinen Tiere zum ersten Mal sah, hatte er an Goldilocks denken müssen. Doch dann dachte er: Die sehen ja noch nicht mal wie Bären aus. Eher wie Schweine. Oder Igel. Oder etwas völlig Undefinierbares. Dad war kein Meister im Töpfern, und Sally Montez wusste das. Aber sie sagte immer lächelnd: »Ja, Ed, das wird schon was.« Sie machte es nicht wegen des Geldes, Dad zahlte ihr nämlich keinen Heller. Sondern einfach nur, weil sie nett war. Das war Bob auch. Und ihre Kinder. Die meisten Leute, die Darrel im Pueblo kennen lernte, waren nett. Das gab ihm zu denken. Dad erwähnte die Sache mit der Namensänderung erst wieder, als Darrel bereits ein halbes Jahr bei ihm wohnte. Die beiden saßen an einem wunderbaren Sommertag auf einer Bank auf der Plaza und aßen Eis. Darrel hatte sich an der University of New Mexico in Betriebswirtschaft eingeschrieben, im ersten Semester eine 3,6 erzielt, ein paar Mädchen kennen gelernt und Spaß gehabt. »Ich bin stolz auf dich, mein Sohn«, sagte Ed und gab Darrel sein Zeugnis zurück. »Hab ich dir eigentlich jemals erzählt, wo mein Name herkommt?« »Dein neuer Name?« »Mein einziger Name. Das Hier und Jetzt ist das Einzige, was zählt.« Sein Haar war um weitere zehn Zentimeter gewachsen. Der alte Mann rauchte immer noch, und seine Haut sah aus wie uraltes Leder. Aber sein Haar war dick, kraftvoll und glänzend, trotz der grauen Strähnen. Lang genug für einen richtigen Zopf. Heute trug er es geflochten. »An dem Abend, an dem ich mich dazu entschlossen habe«, sagte er, »standen zwei Monde am Himmel. Nicht 35 wirklich, ich habe es nur so wahrgenommen. Wegen des Monsunregens. Ich kochte mir gerade was zum Abendessen, da kam plötzlich so ein Monsunregen. Du hast bisher noch keinen erlebt, wirst du aber irgendwann. Der Himmel reißt einfach auf und wum. Dann regnet es wie aus Kübeln. Es kann ein ganz trockener Tag sein, knochentrocken, und plötzlich ist alles anders.« Er blinzelte, und für eine Sekunde wurden seine Lippen schlaff. »Arroyos verwandeln sich in reißende Sturzbäche. Das ist ganz schön eindrucksvoll, mein Sohn.« Ed leckte an seinem Pecannusseis. »Jedenfalls war ich mit Kochen beschäftigt, als es anfing zu regnen. Ich aß, was ich gekocht hatte, und saß da und fragte mich,
wohin das Leben mich wohl führen mochte.« Er blinzelte erneut. »Ich fing an, über deine Mutter nachzudenken. Ich hab nie viel darüber geredet, was sie mir bedeutet hat, aber du kannst mir glauben, sie hat mir eine Menge bedeutet.« Er wandte sich ab, und Darrel beobachtete die Touristen, die an den indianischen Schmuckhändlern und Töpfern vorbeischlenderten, die in einer Nische des Gouverneurspalastes saßen. Gegenüber auf der anderen Straßenseite standen zahlreiche Verkaufsbuden mit Kunstgegenständen auf der Plaza und ein Musikpodium mit einem Mikrofon, an dem sich Amateursänger versuchen konnten. Wer behauptete denn, dass das Singen von Folksongs eine aussterbende Kunst sei? Oder vielleicht galt das nur für das richtig gute Singen von Folksongs. »Das Nachdenken über deine Mutter machte mich traurig, aber auch ein bisschen high. Nicht so, wie wenn man betrunken ist. Es machte mir Mut. Plötzlich wusste ich, dass es richtig gewesen war, hierher zu kommen. Ich sehe aus dem Fenster, die Scheibe ist ganz nass, und alles, was man vom Himmel sieht, ist tiefes Schwarz und ein großer verschwommener Mond. Nur waren es diesmal zwei Monde - durch das 36 nasse Glas wurde das Licht so gebrochen, dass dieser Eindruck entstand. Drücke ich mich verständlich aus?« »Das nennt man Refraktion«, sagte Darrel. Er hatte Physik als Nebenfach studiert und eine Zwei bekommen. Ed betrachtete seinen Sohn voller Stolz. »Genau. Refraktion. Es waren nicht zwei separate Monde, sondern eher zwei übereinander liegende, die sich zu etwa zwei Dritteln überlappten. Es war schön. Plötzlich hatte ich ganz stark das Gefühl, dass deine Mutter Kontakt zu mir aufnahm. Genauso waren wir nämlich gewesen. Die ganze Zeit zusammen, aber zwei eigenständige Personen, die sich gerade genug überlappten, dass es funktionierte. Wir waren fünfzehn, als wir uns kennen lernten, und mussten warten, bis wir siebzehn waren, damit wir heiraten konnten. Ihr Vater war ein schwerer Alkoholiker und konnte mich auf den Tod nicht ausstehen. « »Ich hab immer geglaubt, dass Großvater dich mochte.« »Er lernte mich allmählich schätzen«, erklärte Ed. »Zu der Zeit, als du ihn gekannt hast, mochte er jeden.« Darrel hatte nur angenehme und erfreuliche Erinnerungen an seinen Großvater. Schwerer Alkoholiker? Was für Überraschungen hatte sein Vater sonst noch für ihn in petto? »Jedenfalls waren die beiden Monde offensichtlich deine Mutter und ich, und in dem Moment beschloss ich, ihr zu Ehren diesen Namen anzunehmen. Hab einen Anwalt hier in der Stadt konsultiert, bin zum Gericht gegangen und hab's gemacht. Was den Staat New Mexico betrifft, ist es damit offiziell und völlig legal, mein Sohn. Und noch wichtiger, für mich ist es etwas absolut Heiliges.«
Ein Jahr, nachdem Darrel zu seinem Vater gezogen war, wurde bei Edward Two Moons ein bilaterales kleinzelliges Lungenkarzinom in der Lunge festgestellt. Der Krebs hatte be6z reits in der Leber gestreut, und die Ärzte sagten, er solle nach Hause gehen und die Zeit genießen, die ihm noch blieb. In den ersten Monaten ging es ihm noch ganz gut, außer dass er an Kurzatmigkeit und einem ständigen trockenen Husten litt. Dad las eine Menge über die alte indianische Religion und schien mit sich im Einklang zu sein. Darrel gab sich entspannt, doch ihm brannten die ganze Zeit die Augen. Der letzte Monat, den sie komplett im Krankenhaus verbrachten, war hart. Darrel saß am Bett seines Vaters und lauschte seinem Atem. Beobachtete untätig die Monitoren und freundete sich mit ein paar von den Krankenschwestern an. Tränen vergoss er nicht, spürte nur einen Schmerz ganz tief im Bauch. Er nahm fünfzehn Pfund ab. Doch er fühlte sich nicht geschwächt. Ganz im Gegenteil, es war, als würde er von einer ungeahnten Reserve zehren. Die letzten beiden Tage seines Lebens schlief Edward Two Moons. Nur einmal erwachte er mitten in der Nacht, setzte sich keuchend auf und wirkte verängstigt. Darrel eilte zu ihm und nahm ihn in den Arm. Versuchte, ihn vorsichtig wieder hinzulegen, doch Dad wehrte sich, wollte sitzen bleiben. Darrel ließ ihn gewähren, und irgendwann entspannte sein Vater sich wieder. Das Licht von den Monitoren gab seinem Gesicht eine leicht grünliche Farbe. Seine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Ton heraus. Er wollte unbedingt etwas sagen. Darrel blickte ihm tief in die Augen, doch zu dem Zeitpunkt sah sein Vater bereits nichts mehr. Darrel hielt ihn ganz fest und legte ein Ohr an die Lippen seines Vaters. Ein trockenes Röcheln kam heraus. Dann: »Veränderung. Mein Sohn. Ist. Gut.« Dann fiel er wieder in tiefen Schlaf. Eine Stunde später war er tot. 37 Am Tag nach der Beerdigung ging Darrel zum Gericht und reichte einen Antrag auf Namensänderung ein. 5 Katz dachte während der Heimfahrt über den Mord an Olafson nach. Sowohl der Doc als auch Darrel hatten von Wut gesprochen, und sie könnten durchaus Recht haben. Aber wenn Wut das Hauptmotiv war, hätte man eher zahlreiche Verletzungen erwartet, nicht einen einzigen massiven Schlag. Ein Einbrecher, der überrascht wurde, würde dazu passen. Der offen stehende Lagerraum ebenfalls. Es könnte zu einer Auseinandersetzung gekommen sein, Olafson erklärte, er würde die Polizei rufen, und wandte dem Schurken den Rücken zu.
Dämliches Verhalten. Olafsons Kommentare hinsichtlich der Klage gegen Bart und Emma Skaggs trieften vor Arroganz. Vielleicht war er zu selbstsicher geworden und hatte den Einbrecher nicht ernst genommen. Der überdimensionale Chromhammer deutete darauf hin, dass der Mörder nicht bereits mit der Absicht gekommen war zu töten. Lag in der Wahl der Waffe etwas Symbolisches - Kunst als Mordwaffe, wie Darrel gesagt hatte -, oder war es reiner Opportunismus gewesen? Katz hatte gelernt, mit Symbolen zu leben. Das kam ganz von allein, wenn man eine Künstlerin heiratete. Eine Möchtegernkünstlerin. Erst die Skulpturen, dann die beschissenen Gemälde. Sei gnädig. Valerie hatte schon Talent. Aber nicht genug. Er verdrängte den Gedanken an sie und wandte sich wieder dem Fall zu. Ihm fiel zwar nichts Neues ein, aber als 38 er zu Hause ankam, den Wagen parkte und in seine Bude ging, dachte er immer noch darüber nach. Das Zimmer war noch so, wie er es verlassen hatte: blitzsauber. Er klappte das Schrankbett herunter, aß eine Kleinigkeit, sah fern und dachte noch ein bisschen nach. Er wohnte in einem dreißig Quadratmeter großen, mit einem Blechdach versehenen Anbau hinter dem Rolling-Stone-Marmor-und-Granitwerk auf dem südlichen Teil der Cerrillos Road. Es gab ein Wohnzimmer und eine Nasszelle aus Fiberglas. Warm wurde es dank eines Heizgeräts, Klimaanlage funktionierte durch Öffnen der Fenster. Er kochte auf einer Elektroplatte und bewahrte seine wenigen Habseligkeiten in einem Stahlspind auf. Aus dem Fenster fiel der Blick auf übereinander gestapelte Steinplatten und Gabelstapler. Eine provisorische Behausung, die dauerhaft geworden war. Oder zumindest halbwegs dauerhaft, denn vielleicht fand er ja doch eines Tages ein richtiges Haus. Zurzeit sah er dafür keine Veranlassung, denn die Miete war minimal, und er brauchte niemanden zu beeindrucken. In New York hätte er für dieselbe Knete noch nicht mal ein Feldbett in irgendeinem Keller bekommen. Er war der mittlere Sohn eines Zahnarztes und einer Hygienikerin, Bruder von zwei weiteren Zahnärzten, in Great Neck bei New York aufgewachsen, ehemaliger Sportler, hatte aber keinen Studienabschluss, das schwarze Schaf einer sich entschieden zur Mittelschicht zugehörig fühlenden Familie. Nachdem er sein Studium an der State University of New York in Binghamton abgebrochen hatte, hatte er fünf Jahre als Barkeeper in Manhattan gearbeitet, war dann ans John Jay College gegangen und hatte einen Abschluss in Strafrechtspflege gemacht. Während der anschließenden fünf Jahre beim New York Police Department war er Streifenwagen in Bedford Stuyve 38 sand, Brooklyn, gefahren, hatte undercover als Drogenermittler gearbeitet, war im Gefängnis eingesetzt worden und schließlich im Revier
Zwo-Vier in der Innenstadt gelandet, wo er für die Westseite des Central Park zwischen Neunundfünfzigster und Sechsundachtzigster Straße zuständig war. Es war schön, so viel im Park zu tun zu haben. Bis es nicht mehr schön war. Er arbeitete weiter nebenbei als Barkeeper und konnte genügend Geld sparen, um sich eine Corvette zu kaufen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wo er sie parken und wann er sie benutzen sollte. An dem Abend, an dem er Valerie kennen lernte, war er gerade in einem Laden im Village damit beschäftigt, lächerliche Früchtemartinis zu mixen. Zunächst war sie ihm nicht besonders aufgefallen. Ihre Freundin Mona hatte ihn angemacht. Damals stand er auf vollbusige Blondinen. Als er später erfuhr, wie durchgeknallt Mona war, war er froh, dass er sich nicht mit ihr eingelassen hatte. Nicht dass mit Valerie alles so toll gelaufen wäre, aber das konnte man nicht darauf schieben, dass sie verrückt war. Bloß ... Schluss mit der Grübelei. Er las eine Weile in einem Taschenbuch, einem Polizeiroman, der keinerlei Ähnlichkeit mit der Realität hatte, die er kannte, doch das war genau das, was er jetzt brauchte. Schon nach wenigen Minuten war er schläfrig, legte das Buch auf den Boden, schaltete das Licht aus und streckte sich. Bald würde die Sonne aufgehen, und um sieben Uhr würden Al Kilcannon und die Arbeiter auf dem Hof der Marmorfabrik rufen und lachen und die Maschinen in Gang setzen. Manchmal brachte Al seine Hunde mit, die wie verrückt kläfften. Katz hatte seine Ohrstöpsel auf dem Nachttisch bereitliegen. Aber vielleicht würde er sie gar nicht benutzen. Vielleicht 39 sollte er einfach aufstehen, sich warm anziehen und ein Stück laufen, bevor er sich mit Darrel bei Denny's traf. In dieser hässlichen Bude hier aufzuwachen konnte deprimierend sein. Er vermisste zwar Valerie nicht, doch er vermisste es, morgens neben einem warmen Körper aufzuwachen. Vielleicht vermisste er sie doch ein bisschen. Vielleicht war er einfach zu müde, um zu wissen, wie er sich fühlte. An dem Abend, an dem sie sich kennen lernten, wurde Mona von irgendeinem Losertyp abgeschleppt, und Valerie blieb allein zurück. Nun, da sie nicht mehr in Monas Schatten stand, war sie irgendwie auffälliger, und Steve betrachtete sie genauer. Dunkle, zu einem Pagenkopf geschnittene Haare, blasses ovales Gesicht, vielleicht zehn Pfund zu viel, aber die waren gut verteilt. Große Augen, selbst aus der Ferne gesehen. Sie wirkte verloren und tat ihm Leid, deshalb ließ er ihr einen Cosmopolitan bringen. Sie blickte zur Bar, zog die Augenbrauen hoch und kam herüber. Die Proportionen stimmten eindeutig.
Sie gingen zusammen in ihre Wohnung im East Village, weil sie ein eigenes Zimmer hatte und er nur einen durch Vorhänge abgeteilten Bereich in einer Zweizimmerwohnung auf der Dreiunddreißigsten, die er mit drei Kumpels teilte. Valerie wirkte weiterhin wie verloren und redete nicht viel, doch beim Sex drehte sie voll auf und liebte wie eine Tigerin. Hinterher nahm sie einen Joint aus ihrer Handtasche. Während sie ihn rauchte, erzählte sie ihm, sie sei Malerin und Bildhauerin, stamme aus Detroit, habe einen Abschluss der New York University und würde bisher von keiner Galerie vertreten, hätte aber schon einige Stücke auf Straßenmärkten verkauft. Darauf erzählte er ihr, was er beruflich mach 40 te. Sie blickte auf die Asche, die von dem Joint zurückgeblieben war, und fragte: »Nimmst du mich jetzt fest?« Er lachte und zeigte ihr seinen eigenen Vorrat. Sie teilten sich das Hasch. Drei Monate später ließen sie sich ganz spontan standesamtlich trauen, womit Katz seine Familie ein weiteres Mal enttäuschte. Valerie ihre Familie ebenfalls, wie sich herausstellte. Ihr Vater war Anwalt. Sie war als Jugendliche in leicht zwielichtige Kreise geraten und hatte ihren Eltern nichts als Probleme bereitet. Zunächst schien diese Art von Rebellion ihre Beziehung genügend zu festigen. Doch schon bald reichte das nicht mehr. Nach einem Jahr gingen sie sich meist aus dem Weg und beschränkten ihren Kontakt auf höfliche Floskeln und gelegentlichen Sex, der immer leidenschaftsloser wurde. Katz gefiel die Polizeiarbeit ganz gut, doch er redete mit Valerie nie darüber, weil Reden nichts brachte und Schilderungen von Gewalt ihre Veganerseele erschütterten. Außerdem kam sie beruflich nicht besonders voran, und die Tatsache, dass er mit seinem Job zufrieden war, half ihr auch nicht weiter. In der Nacht, die alles veränderte, machte er mit einem Exsoldaten namens Sal Petrello als Partner die zweite Hälfte einer Doppelschicht. Es war eine ruhige Nacht. Sie hatten ein paar Jugendliche verfolgt, die offensichtlich irgendwelchen Unfug im Park vorhatten, einem deutschen Touristen zurück zur Fifth Avenue geholfen und waren einem Hinweis auf einen tätlichen Angriff nachgegangen, der sich jedoch als lautstarkes Gezänk zwischen einem Paar mittleren Alters entpuppte. Zehn Minuten vor Mitternacht kam die Meldung, dass nahe Central Park West und Einundachtzigster Straße ein offensichtlich verwirrter Mann nackt herumliefe. Als sie dort hinkamen, fanden sie nichts. Keinen Verrückten, nackt oder sonst wie, keinen der Zeugen, die angerufen 40 hatten, überhaupt keinen Menschen. Nur Dunkelheit und dichtes Laubwerk im Park und die Geräusche vom Verkehr auf der Straße. »Vermutlich eine Falschmeldung«, sagte Petrello. »Irgendwer wollte uns verarschen.«
»Vermutlich«, stimmte Katz ihm zu. Aber er war sich nicht sicher. Irgendwas juckte ihn im Nacken, und zwar so beharrlich, dass er tatsächlich nach hinten griff, um festzustellen, ob da nicht ein Käfer seine Haut erkundete. Kein Käfer, nur dieses Kribbeln. Sie suchten noch fünf Minuten herum, fanden nichts, meldeten die Sache als Fehlanzeige und gingen zurück. Auf dem Weg zum Auto sagte Petrello: »Besser so. Wer will schon was mit Verrückten zu tun haben?« Sie waren fast am Auto, als der Mann plötzlich von irgendwo hervorsprang, sich vor ihnen aufbaute und ihnen den Weg versperrte. Ein großer muskulöser Typ mit kantigem Gesicht und breitem Kiefer, rasiertem Schädel und einem Brustkorb wie ein Bär. Splitterfasernackt. Und erregt. Er schrie und fuhr dabei mit dem linken Arm wild durch die Luft. In der Hand hatte er etwas Glänzendes. Petrello war näher an ihm dran, wich ein Stück zurück und griff nach seiner Waffe, aber nicht schnell genug. Der Typ machte erneut eine heftige Bewegung mit dem Arm. Petrello schrie auf und hielt sich die Hand. »Steve, er hat mich erwischt!« Katz hatte inzwischen die Waffe gezogen. Der nackte Irre kam grinsend auf ihn zu, trat in das durch die Bäume schimmernde Licht der Straßenlaternen. Nun konnte Steve erkennen, was er in der Hand hielt. Ein Rasiermesser. Mit Perlmuttgriff. Rostrot von Petrellos Blut. Katz behielt die Waffe im Auge, während er gleichzeitig einen verstohlenen Blick zu seinem Partner warf. Sal presste 41 eine Hand fest auf die Wunde. Blut sickerte hervor, aber nur langsam. Gut. Sah nicht so aus, als wäre eine Ader verletzt. Sal stöhnte. »Arschloch. Erschieß ihn, Steve.« Der Wahnsinnige bewegte sich auf Katz zu und beschrieb dabei mit dem Rasiermesser kleine konzentrische Bögen. Katz zielte auf sein Gesicht. »Stillgestandenkeinebewegung!« Der Verrückte blickte auf seinen Schritt hinunter. Er war wirklich erregt. Sal schrie. »Erschieß ihn, Steve! Ich sag auch nichts. Mein Gott, ich brauch einen Arzt. Nun erschieß ihn doch endlich, um Himmels willen!« Der Wahnsinnige lachte, den Blick immer noch auf sein steifes Glied gerichtet. Katz sagte: »Leg das Rasiermesser hin. Sofort.« Der Irre senkte den Arm, als wollte er gehorchen. Lachte in einer Weise, die Katz das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Oh Gott«, sagte Sal. Er und Katz starrten ungläubig, als der Verrückte eine rasche hackende Bewegung nach unten machte und ein Organ weniger hatte. Das Department schickte Katz und Petrello zu diversen Psychologen. Petrello machte das nichts aus, weil er trotzdem bezahlt wurde und
ohnehin ernsthaft erwog, den Dienst zu quittieren. Katz hasste es aus allen möglichen Gründen. Valerie wusste, was passiert war, weil es in der Post stand. Diesmal wollte sie anscheinend, dass Steve darüber redete, also tat er es schließlich. »Ist ja widerlich«, sagte sie. »Ich glaube, wir sollten nach New Mexico ziehen.« Zuerst hatte er das für einen Scherz gehalten. Als er merk42 te, dass es ihr ernst war, fragte er: »Wie soll ich das denn machen?« »Tu es einfach, Steve. Wird Zeit, dass du mal ein bisschen spontan bist.« »Was soll das denn heißen?« Valerie antwortete nicht. Sie waren in ihrer Wohnung auf der Achtzehnten Straße West, Valerie schnitt Salat, Katz machte sich ein Cornedbeef-Sandwich. Kaltes Rindfleisch. Valerie hatte nichts dagegen, dass er Fleisch aß, aber sie konnte den Geruch nicht ertragen, wenn es gebraten wurde. Einige Sekunden herrschte frostige Stimmung, dann hörte sie mit dem Hacken auf, kam zu ihm herüber, legte den Arm um seine Taille und berührte seine Nase mit ihrer. Sie zog sich allerdings sofort wieder zurück, als hätten beide die Geste unpassend gefunden. »Lass uns doch mal ehrlich sein, Steve. Mit uns beiden läuft es seit einiger Zeit nicht so toll. Aber ich glaube, das liegt nicht an uns. Es ist die Stadt, die uns unsere Energie raubt. All diese spirituelle Verunreinigung. Was ich an diesem Punkt in meinem Leben brauche, Steve, ist Heiterkeit und keine vergiftete Umgebung. Santa Fe ist heiter. Es ist völlig anders als hier.« »Du warst schon mal dort?« »Als ich auf der High School war, hab ich mit meinen Eltern und Geschwistern dort Urlaub gemacht. Sie sind bei Gap und Banana Republic shoppen gegangen, und ich bin durch die Galerien gerast. Davon gibt es dort Unmengen. Es ist nur eine kleine Stadt, aber es gibt tolles Essen, tolle Clubs und vor allem ganz viel Kunst.« »Wie klein?« » Sechzigtausend.« Katz lachte. »Die wohnen ja hier in einem einzigen Block.« »Genau das meine ich.« 7i »Und wann hast du vor, das zu machen?« »Je eher, desto besser.« »Val«, sagte er, »es dauert noch Jahre, bis ich eine halbwegs anständige Rente kriegen würde.« »Renten sind was für alte und kranke Leute. Du hast immer noch die Chance, jung zu sein.« Was sollte das denn bedeuten? »Ich muss es tun, Steve. Ich ersticke hier.« »Ich werde darüber nachdenken.« »Denk aber nicht zu lange nach.«
An diesem Abend hatte er, nachdem Valerie ins Bett gegangen war, die Website des Santa Fe Police Department im Internet aufgerufen. Ein kleines schnuckeliges Department, das Gehalt reichte allerdings nicht an das beim NYPD heran. Dafür gab es einige nette Dinge. Übernahme auf gleicher Ebene war möglich, und es bestand die Regelung, dass man mit dem Streifenwagen nach Hause fahren konnte, sofern das nicht weiter als sechzig Meilen war. Und ein Stellenangebot für einen Detective. Er hatte in letzter Zeit häufig daran gedacht, sich für einen Detective-Posten zu bewerben, wusste jedoch, dass es sowohl beim ZwoVier als auch in den benachbarten Revieren eine Warteliste gab. Außerdem erzählte Sal Petrello allen, dass Katz vor Schreck erstarrt wäre und dass sie von Glück sagen könnten, dass der Verrückte seinen eigenen Pimmel abgeschnitten hätte und nicht ihre. Er spielte noch eine Weile an dem Computer herum. Holte sich einige Farbfotos von Santa Fe auf den Bildschirm. Schön war das zweifellos. So blau konnte kein Himmel sein, vermutlich hatte jemand an dem Foto rummanipuliert. Eher ein Dorf als eine Stadt. Wahrscheinlich todlangweilig, aber so viele faszinierende 43. Dinge machte er in der großen bösen Stadt auch nicht. Er schaltete alle Lichter aus, ging ins Bett und kuschelte sich an Valerie. Er legte seine Hand auf ihren Hintern und sagte: »Okay, wir machen's.« Sie brummte und schob seine Hand weg. Das meiste, was sie besaßen, war ohnehin Schrott, und was sie nicht auf dem Flohmarkt loswerden konnten, ließen sie da. Nachdem sie ihre Klamotten und Valeries Kunstutensilien zusammengepackt hatten, flogen sie an einem warmen Frühlingstag nach Albuquerque, nahmen sich am Flughafen einen Mietwagen und fuhren nach Santa Fe. Der Himmel konnte tatsächlich so blau sein. Diese ungeheure Weite und die Ruhe drohten Katz in den Wahnsinn zu treiben. Er hielt den Mund. In den letzten beiden Nächten hatte er von dem Wahnsinnigen mit dem Rasiermesser geträumt. In den Träumen war die Sache nicht so glimpflich ausgegangen. Vielleicht musste er wirklich seine Seele reinigen. Sie mieteten ein Haus in der Nähe des St. Francis Drive, nicht weit vom DeVargas-Einkaufszentrum entfernt. Val ging Kunstutensilien kaufen, Steve schaute beim Police Department vorbei. Wirklich ein winzig kleiner Laden. Hinter dem Haus gab es reichlich Parkplätze. Alles ganz relaxed. Und diese Ruhe. Der Boss war eine Frau. Das könnte interessant sein. Er nahm ein Bewerbungsformular mit nach Hause, wo er eine ganz aufgeregte Valerie antraf, die gerade eine große Tüte voller Farbtuben und Pinsel auf dem Klapptisch ausleerte, an dem sie aßen. »Ich bin noch mal in der Canyon Road gewesen«, erzählte sie ihm. »Da gibt es ein Fachgeschäft für Künstlerbedarf. Man sollte ja meinen, die sind teuer, aber die Sachen kosten
44 ungefähr zwei Drittel von dem, was ich in New York dafür bezahlt hätte.« »Ist ja toll«, sagte er. »Warte, das ist noch nicht alles.« Sie begutachtete eine Tube mit Kadmiumgelb und legte sie lächelnd wieder hin. »Während ich warten musste, fiel mir ein Scheck auf, der hinter der Kasse an der Wand klebte. Ein alter Scheck, das Papier ist schon ganz vergilbt. Aus den Fünfzigerjahren. Und rate mal, von wem der war?« »Van Gogh.« Sie starrte ihn wütend an. »Von Georgia O'Keeffe. Sie hat ganz in der Nähe gewohnt, bevor sie die Ranch kaufte. Sie hat ihre Sachen in demselben Laden gekauft wie ich.« Katz dachte: Als ob das was nützen würde. Er sagte: »Das ist ja irre.« »Machst du dich über mich lustig, Steve?«, fragte sie. »Natürlich nicht«, behauptete er. »Ich find das echt cool.« Er war ein schlechter Lügner, und beide wussten das. Es dauerte drei Monate, bis sie ihn verließ. Genau gesagt vierundneunzig Tage. In der Zeit bekam Katz eine Stelle als Police Officer III, und man versprach ihm, ihn nach sechzig Tagen zum Detective zu ernennen, falls sich niemand mit mehr Erfahrung bewarb. »Um ganz ehrlich zu sein«, erklärte er Lieutenant Barnes, »ich hab zwar undercover gearbeitet, aber keine echte Detective-Arbeit gemacht.« »Hey«, sagte Barnes, »Sie waren fünf Jahre in New York. Da kommen Sie ganz bestimmt mit dem Kram zurecht, den wir hier kriegen.« Als er am Tag vierundneunzig nach Hause kam, stellte er fest, dass Valeries Sachen weg waren, und fand einen kurzen Brief auf dem Klapptisch. 44 Lieber Steve, sicher kommt das für Dich nicht überraschend, denn Du bist genauso unzufrieden wie ich. Ich habe jemanden kennen gelernt und möchte mir nicht die Chance entgehen lassen, glücklich zu sein. Du solltest ebenfalls glücklich sein. Sieh es so, dass ich Dir helfen und nicht wehtun will. Ich zahle die halbe Monatsmiete plus Nebenkosten. V . Der Mann, den sie kennen gelernt hatte, war ein Typ, der tagsüber Taxi fuhr und sich als Bildhauer ausgab. So war das nun mal in Santa Fe, hatte Katz rasch gelernt. Jeder war kreativ. Val und Taxi hielten es einen Monat miteinander aus, aber sie hatte keine Lust, zu Katz zurückzukehren. Stattdessen ließ sie sich auf eine Reihe von Beziehungen mit ähnlichen Typen ein, hatte keine feste Adresse und malte ihre scheußlichen abstrakten Bilder. Da sie in einer kleinen Stadt lebten, lief Valerie ihm ständig über den Weg. Die Männer, mit denen Valerie zusammen war, waren anfangs immer nervös, wenn sie Katz kennen lernten. Doch wenn diese Typen merkten, dass Katz ihnen nichts tat, entspannten sie sich und bekamen
diesen verschlagenen und zufriedenen Ausdruck im Gesicht. Katz wusste genau, was das bedeutete: Die Kerle hatten Val als Tigerin erlebt. Er selbst hatte überhaupt keinen Sex, was nicht schlimm war. Seine Libido war gleich null, stattdessen engagierte er sich in seinem neuen Job. Trug eine blaue Uniform, die besser saß als seine NYPD-Klamotten, fuhr viel herum und bekam ein Gefühl für die Gegend, genoss die Gesellschaft diverser Partner, die alles locker angingen, und löste Probleme, die lösbar waren. Es schien zwar töricht, die Miete für eine viel zu große Wohnung zu bezahlen, doch er war zu träge, um sich ernst 45 haft nach etwas Neuem umzusehen. Dann erhielt er eines Nachts die Meldung, dass sich im Rolling-Stone-Marmor-und-Granitwerk ein Eindringling herumtreiben würde. Meist war so etwas falscher Alarm, doch diesmal erwischte er einen Jugendlichen, der sich zwischen den Steinplatten versteckte. Keine große Sache, bloß ein Loser, der einen Ort suchte, an dem er ein bisschen Koks sniffen konnte. Katz verhaftete ihn und übergab ihn dem Drogendezernat. Der Werkseigentümer, ein großer, schwerer Mann mit rötlichem Gesicht namens Al Kilcannon, tauchte in dem Moment auf, als Katz den Jungen abführte. Er hörte Katz sprechen und fragte: »Sind Sie aus der Stadt?« »Aus New York.« »Gibt es eine andere Stadt?« Kilcannon stammte aus As-toria im Stadtteil Queens, war dort mit ein paar Griechen im Marmorgeschäft tätig gewesen. Vor zehn Jahren war er nach Santa Fe gezogen, weil seine Frau sich nach Ruhe und Frieden sehnte. »So bin ich auch hierher geraten«, sagte Katz, während er den Jungen hinten in den Streifenwagen verfrachtete und die Tür zuknallte. »Und gefällt's ihr?« »Als ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe, tat's das.« »Oje«, sagte Kilcannon. »Also eine von diesen ... eine Künstlerin?« Katz lächelte. »Noch einen schönen Abend, Sir.« »Bis demnächst, Officer Katz.« Eine Woche später trafen sie sich an der Theke einer Bar in der Water Street. Kilcannon war schon ziemlich betrunken, aber ein guter Zuhörer. Als Katz ihm erzählte, dass er daran dächte umzuziehen, sagte Kilcannon: »Weißt du was, ich hab da 'ne Bude hinten auf dem Werksgelände. Nichts Besonderes. Mein Sohn hat 45 dort gewohnt, als er auf dem College war und mich nicht ausstehen konnte. Jetzt wohnt er in Boulder, Colorado, und die Bude steht leer. Wir könnten folgenden Deal machen: Zweihundert Dollar im Monat, einschließlich Nebenkosten, und du bewachst das Werksgelände, wenn du da bist.« Katz dachte darüber nach. »Was ist, wenn ich schlafe?« »Dann schläfst du, Steve. Die Hauptsache ist, dass jemand da ist.«
»Mir ist trotzdem nicht ganz klar, was du von mir erwartest. « »Da zu sein«, sagte Kilcannon. »Ein Polizist auf dem Gelände ist eine wunderbare Abschreckung. Park deinen Polizeiwagen so, dass man ihn von der Straße aus sehen kann. Ich hab einen großen Warenbestand. Für mich war das 'ne preiswerte Versicherung.« »Mein Partner und ich wechseln uns ab«, sagte Katz. »Ich kann den Wagen nicht jeden Tag mit nach Hause nehmen.« »Kein Problem, Steve. Wenn er da ist, ist er da. Die Hauptsache ist, du bist da, und jeder weiß es. Ich mach dir keinen Druck, aber es könnte für uns beide eine gute Sache sein. Die Bude hat sogar Kabelanschluss.« Katz trank sein Glas aus. Dann sagte er: »Gut, warum nicht?« Seitdem wohnte er dort, hatte mal einen Möchtegernmarmordieb geschnappt, einen echten Trottel, der sich ohne fremde Hilfe mit Kilcannons letzter Nordland-Rose-Platte davonmachen wollte. Sonst war nichts gewesen außer streunenden Hunden und einer denkwürdigen Situation, als ein trächtiges Kojotenweibchen tatsächlich den weiten Weg von den Sangre de Cristo Mountains hierher gefunden und zwischen zwei Paletten Brasilien-Blau ihre Jungen geworfen hatte. War wohl tatsächlich ein guter Deal für ihn und für Al. Wenn es einem nichts ausmachte, so zu wohnen. 46 Er lag auf seinem Bett und war kein bisschen müde. Er würde den morgigen Tag mit Hilfe des überschüssigen Adrenalins durchstehen und irgendwann am Abend umkippen. Doch er schlief trotzdem ein. Dachte über Valerie nach. Und darüber, warum ihr Name in Larry Olafsons Palm Pilot gestanden hatte. 6 Mit dem Frühstück waren die beiden Detectives rasch fertig. Darrel war früh aufgestanden, hatte sich an den Computer gesetzt und nach der aktuellen Adresse von Emma und Bart Skaggs gesucht. »In Embudo. Die haben eine Zusatznummer, das heißt, dass sie in einem Apartment wohnen«, erklärte er Katz. »Große Umstellung vom Leben als Viehzüchter.« »Embudo ist ganz hübsch«, sagte Katz. »Es ist nur ein Apartment, Steve.« Zorn blitzte in Darrels Augen auf. »Du magst unser Opfer wohl nicht.« Darrel starrte ihn an. Schob seinen Teller von sich. »Lass uns losfahren. Der Highway sollte jetzt angenehm leer sein.« Embudo lag fünfzig Meilen nördlich von Santa Fe, dort wo der Highway auf den tosenden Rio Grande stößt. Ein netter kleiner Ort mit viel Grün, so etwas wie eine Oase in der Hochwüste. Selbst wenn große Trockenheit herrschte, sorgte der Fluss dafür, dass der Boden feucht und die Vegetation üppig blieb. Die Wohnung der Skaggs bestand aus einem Zimmer über einer Garage hinter einem Laden an der Straße, der altmodische Klamotten, Chilis, eingelegtes Gemüse und Yogakasset
47 ten verkaufte. Die Besitzerin des Ladens war eine leicht versponnene weißhaarige Frau Mitte fünfzig mit einem mitteleuropäischen Akzent. Sie sagte: »Die putzen für mich, dafür berechne ich ihnen weniger Miete. Nette Leute. Was wollen Sie von ihnen?« »Wir mögen nette Leute«, sagte Two Moons. Katz betrachtete ein Päckchen mit gemahlenen Chilischoten. Sie waren bei der Landwirtschaftsausstellung im letzten Jahr mit dem blauen Band ausgezeichnet worden. »Die sind gut«, sagte die weißhaarige Frau. Sie trug eine schwarze Yogahose mit einer roten Seidenbluse und ungefähr zwanzig Pfund Bernsteinschmuck. Katz lächelte sie an, legte das Päckchen wieder hin und eilte hinter Two Moons her. »Polizei?« Emma Skaggs öffnete die Tür und stieß einen Seufzer aus. »Kommen Sie rein. Wir finden schon irgendwo ein bisschen Platz für Sie.« Die Wohnung war nicht größer als Katz' Schuppen, mit dem gleichen Heizgerät, zwei Kochplatten und einem Bad im hinteren Teil. Doch die niedrige Decke und die winzigen Fenster, die nachträglich in die offenbar echten Adobewände eingebaut worden waren, gaben dem Ganzen die Atmosphäre einer Gefängniszelle. Man hatte mit kleinen Mitteln versucht, für ein bisschen Behaglichkeit zu sorgen: verschlissene Kissen auf einem alten klobigen viktorianischen Sofa, zerlesene Taschenbücher in einem billigen Büchergestell, abgewetzte, aber hübsch gefärbte Navajo-Läufer auf dem Steinfußboden und etwas Pueblo-Töpferware auf der Theke in der Kochnische. Über dem zugemauerten Kamin hing ein Foto von mageren Kühen, die auf einer gelben Weide grasten. Im Bad rauschte die Toilette, doch die Tür blieb geschlossen. 47 Emma Skaggs räumte Zeitungen von zwei Klappstühlen und bedeutete den beiden Detectives, sich zu setzen. Sie war eine kleine, dürre Frau mit von der Sonne gegerbter Haut, der man ihr Alter ansah. Sie hatte rot gefärbtes Haar, und ihr Gesicht war von unglaublich tiefen Falten durchzogen. Blue Jeans spannten sich über ihren knochigen Hüften, dazu trug sie einen handgestrickten Wollpullover. Drinnen war es nämlich kalt. Sie hatte flache Brüste, und ihre Augen waren grau. »Sie sind wegen Olafson hier«, sagte sie. »Sie haben also davon gehört«, sagte Katz. »Ich sehe fern, Detective. Und wenn Sie etwas Hilfreiches erfahren wollen, verschwenden Sie hier nur Ihre Zeit.« »Sie hatten Streit mit ihm«, sagte Darrel. »Nein«, entgegnete Emma Skaggs. »Er hatte Streit mit uns. Uns ging's gut, bis dieser Dreckskerl auftauchte.« »Sie mochten sich also nicht.«
»Kein bisschen. Wollen Sie 'nen Kaffee?« »Nein danke, Ma'am.« »Aber ich hol mir einen.« Emma ging die zwei Schritte bis zur Kochnische und schenkte sich eine Tasse schwarzen Kaffee ein. Geschirr war in einem Abtropfgestell gestapelt, Dosen, Flaschen und andere Behälter waren ordentlich sortiert, aber trotzdem wirkte der Raum unaufgeräumt. Zu viele Sachen und zu wenig Platz. Die Badezimmertür ging auf, und Bart Skaggs kam, sich die Hände abtrocknend, heraus. Er war breit und o-beinig und hatte einen Bauch, der über seine Rodeo-Gürtelschnalle hing. Er war nicht viel größer als seine Frau, und seine Haut hatte das gleiche verbrannte und ledrige Aussehen, das entsteht, wenn man jahrzehntelang zu viel UV-Strahlung abbekommen hat. Offenbar hatte er die Detectives sprechen gehört, denn er zeigte sich keineswegs erstaunt. 48 »Kaffee?«, fragte Emma. »Ja, klar.« Bart Skaggs kam herüber, hielt ihnen seine wie Sandpapier aussehende linke Hand hin und blieb stehen. Um seine rechte Hand war ein Verband gewickelt. Geschwollene Finger ragten aus der Gaze hervor. »Ich hab ihnen gerade erklärt«, sagte Emma, »dass sie von uns nichts erfahren können.« Bart nickte. »Ihre Frau hat gesagt, dass alles ganz gut lief, bis Olafson auftauchte«, erklärte Two Moons. »Er und die anderen.« Bart Skaggs fuhr mit der Zunge innen an seiner Wange entlang, als versuche er, einen Tabakpriem zu lösen. »Die anderen, das bedeutet ForestHaven.« »ForestHell würde besser passen«, sagte Emma. »Ein Haufen Weltverbesserer, die es keine zwei Stunden im Wald aushalten würden, wenn man sie ohne ihre Handys dort aussetzte. Und er war der Schlimmste.« »Olafson.« »Bis der kam, haben die eigentlich nur geredet. Dann kriegten wir plötzlich eine gerichtliche Verfügung.« Ihre Haut verfärbte sich leicht rosa, und die grauen Augen wurden zornig. »Es war so unfair, dass der arme Junge, der uns die Papiere zustellte, sich entschuldigt hat.« Bart Skaggs nickte erneut. Emma reichte ihm eine Tasse. Er ließ sich auf ein Knie nieder und trank. Über den Rand der Tasse betrachteten seine Augen forschend die Detectives. »Wenn Sie in der Erwartung herkamen, wir würden abstreiten, dass wir stinksauer sind, dann haben Sie Ihre Zeit verplempert«, sagte Emma. »Das tun wir häufiger«, erwiderte Katz. »Kann ich mir vorstellen«, sagte Emma. »Aber wir waren so was nicht gewöhnt. Damals, als man uns noch erlaubte, 8T
eine ehrliche Arbeit zu leisten. Wir waren jede Minute beschäftigt, und das nicht, weil wir es uns in den Kopf gesetzt hatten, reich zu werden. Mit Rinderzucht wird man nicht reich. Haben Sie eine Vorstellung, was heutzutage pro Tier bezahlt wird? Diese ganzen Vegetarier, die Lügen über gutes, gesundes Fleisch erzählen.« Ein weiteres Nicken von ihrem Mann. Starker, schweigsamer Typ? »Trotzdem«, fuhr sie fort, »haben wir es gerne getan. Es ist das, was unsere Familien seit Generationen gemacht haben. Wem haben wir denn damit geschadet, dass unsere Tiere Unkraut und Pflanzen abweideten, die wegen der Brandgefahr eh hätten geschnitten werden müssen? Als würden Elche nicht genau das Gleiche tun. Und als würden Elche nicht ihren Mist in die Flüsse ablassen. Das ist etwas, was wir nie getan haben, egal was manche Leute behaupten.« »Was haben Sie nie getan?«, fragte Darrel. »Das Wasser verschmutzt. Wir haben immer dafür gesorgt, dass die Herde ihr Geschäft abseits vom Wasser erledigte. Wir haben das Land und die Natur geachtet, und zwar mehr als diese Weltverbesserer. Sie wollen eine gesunde Umwelt? Ich sage Ihnen, wie die Umwelt gesund bleibt: durch Viehzucht. Da tun die Tiere, was sie tun sollen und wo sie es tun sollen. Da ist alles am richtigen Platz, so wie Gott es gewollt hat.« »Und Larry Olafson hat alldem ein Ende bereitet«, sagte Katz. »Wir haben versucht, mit ihm zu reden, vernünftig zu reden. Stimmt doch, Barton?« »Ja.« »Ich hab ihn persönlich angerufen«, fuhr sie fort. »Nachdem wir die gerichtliche Verfügung erhalten haben. Er wollte noch nicht mal ans Telefon kommen. Ließ den Anruf von 49 irgendeinem pampigen jungen Schnösel entgegennehmen, der wie eine kaputte Schallplatte immer wiederholte: >Mr Olafson ist beschäftigte Gerade darum ging es uns ja auch. Wir wollten uns weiter mit unserer gottgegebenen Arbeit beschäftigen. Er hatte andere Pläne.« »Haben Sie ihn jemals erreicht?«, fragte Two Moons. »Ich musste rüber nach Santa Fe fahren, in diese Kunstgalerie, die er dort hat.« »Wann war das?« »Vor etwa zwei Monaten, wer erinnert sich schon an so was?« Sie schnaubte verächtlich. »Das nennt man also Kunst. Beschäftigt? Er lungerte da herum und trank schaumigen Kaffee. Ich hab mich vorgestellt und ihm gesagt, dass er einen großen Fehler macht, wir wären nicht die Feinde der Natur oder seine oder von sonst wem. Wir wollten nichts weiter als unsere Rinder auf den Markt bringen, und wir brauchten auch nur noch ein paar Jahre, dann würden wir vermutlich eh in Ruhestand gehen. Also möge er uns doch bitte in Ruhe lassen.« »Hatten Sie tatsächlich vor, in Ruhestand zu gehen?«, fragte Katz. Sie ließ die Schultern sinken. »Es blieb uns keine andere Wahl. Wir sind die letzte Generation, die an Viehzucht interessiert ist.«
Katz nickte verständnisvoll. »Die Kinder haben ihre eigenen Vorstellungen.« »Unserer ganz bestimmt. Ein Sohn, Bart junior. Er arbeitet als Steuerberater in Chicago, hat dort an der Northwestern University studiert und ist geblieben.« »Er verdient gut«, sagte Bart. »Macht sich nicht gern schmutzig.« »Das hat er nie gemocht«, erklärte Emma. »Ist aber ganz in Ordnung.« Ihr Gesichtsausdruck sagte etwas anderes. 50 »Sie haben also Olafson erklärt, Sie brauchten noch ein paar Jahre, bis Sie in Ruhestand gehen könnten«, sagte Two Moons. »Was hat er darauf erwidert?« »Er hat mich angesehen, als war ich ein begriffsstutziges Kind. Hat gesagt: >Das alles ist nicht mein Problem, meine Liebe. Ich spreche für die Natur.Madame