Nachtredaktion von Otto Bonhoff
Copyright © Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale), 1975 Das gleichnamige Bühnenstück d...
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Nachtredaktion von Otto Bonhoff
Copyright © Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale), 1975 Das gleichnamige Bühnenstück des Autors, das diesem Roman zugrunde liegt, wurde 1973 vom Fernsehen der DDR uraufgeführt. Umschlag: Rolf F. Müller Diese Ebook-Fassung ist nur für den privaten Gebrauch und nicht für den Verkauf bestimmt. Sie wurde an einigen Stellen an die Erfordernisse der Darstellung auf einem Palm angepasst.
Der Autor Der am 21. Februar 1931 in Leipzig geborene Schauspieler, Schriftsteller und Journalist Otto Bonhoff ist am 7. Januar 2001 nach langer schwerer Krankheit verstorben. Bonhoff wurde nach einem Studium als Theaterschauspieler Volontär bei den Thüringer Nachrichten, später arbeitete er als freier Journalist und Autor. Seit 1961 schrieb er Erzählungen, Romane, Hör- und Fernsehspiele. Besonders erfolgreich waren seine in Zusammenarbeit mit Herbert Schauer entstandenen Romane Schatten über Notre Dame (1966), Über ganz Spanien wolkenloser Himmel (1971) und Das unsichtbare Visier (1973). Das 1973 uraufgeführte Bühnenstück Besuch aus dem Nebel veröffentlichte er 1974 auch als Roman - sein einziger Beitrag zum phantastischen Genre. Darin nehmen außerirdische Raumfahrer aus dem Andromedanebel nach anfänglichen Mißverständnissen Kontakt zu den Erdbewohnern auf. Anleihen bei Erich von Dänikens These prähistorischer Erdbesucher sind unverkennbar. Otto Bonhoffs literarisches Hauptschaffen lag aber eindeutig auf dem Gebiet der Abenteuer-, Spionageund Kriminalliteratur. Bibliografie: Auf eigene Gefahr Schloss ohne Schlüssel Die Mannequins des Herrn Cordage (1972) Besuch aus dem Nebel (1974) Patentraub auf der 'Valentin' Nachtredaktion (1975) Zusammen mit Herbert Schauer: Schatten über Notre Dame (1966) Über ganz Spanien wolkenloser Himme l (1971)
sowie die Reihe »Das unsichtbare Visier«:
Das unsichtbare Visier (1973) Das Geheimnis der Masken Depot im Skagerrak Sieben Augen hat der Pfau Quelle im Internet: http://www.epilog.de/Person/B/Bon/Bonhoff_Otto_1931.ht m
1 Die beiden Männer am Fenster haben keinen Blick übrig für die gleißende weiße Pracht vor den Scheiben. Sie schauen auch nicht auf den Schreibtisch hinab. Dessen tintenfleckige, lederbezogene Platte ist vollgepackt mit handgeschriebenen Manuskripten und langen Papierstreifen, auf denen sich andere Artikel bereits in druckreifen Satz verwandelt haben. Das sind sogenannte »Fahnen«. Dann liegen noch Zeitungen da, aus denen Nachrichten ausgeschnitten und auf weiße Blätter geklebt wurden, um für die Zeitung neu gesetzt zu werden, die in diesem Hause entsteht. Scheren sind da. Leimtöpfe, Bleistifte und rote Tinte - viel rote Tinte -, um Fehler anzustreichen und zu berichtigen. Und vor allem Unmengen beschriebenen Papiers! Aber die beiden Männer haben nur Augen füreinander und sehen sich an - wie man tut, wenn etwas sehr Wichtiges und Außergewöhnliches zu bereden ist. »Seht ihr wirklich keine andere Möglichkeit?« fragt der Ältere gerade und dreht nervös an einer der aufwärts gerichteten Schnurrbartspitzen. Dieser Mann ist hier zu Hause; er steht ohne Sakko da und hat die Weste geöffnet. In der Druckerei ist es warm. »Keine andere Möglichkeit«, erwidert der Mann neben ihm schnell und bestimmt. Julian Marchlewskis Gesicht ist vom Frost gerötet und sieht dadurch frisch und gesund aus. Während er den Mantel öffnet, spricht der Besucher schon weiter: »Du kennst doch unsere Redaktion! Nein, die Leipziger Volkszeitung ist denkbar ungeeignet.« Das will Hermann Rauh, dem hemdsärmligen Älteren, nicht einleuchten. »Warum eigentlich?« fragt er zurück. »Bei euch gehen Hunderte von Leuten ein und aus. Einer mehr oder weniger fällt da nicht auf. Er wäre nur ein Fremder unter anderen.« Marchlewski schüttelt beharrlich den Kopf. »Die Gefahr ist zu groß. Weißt du, wie viele Spitzel unter den Unbekannten sind?« Er winkt ab und schließt so, daß es keinen Widerspruch duldet: »Ein so lieber Gast darf nicht im
geringsten gefährdet werden. Er muß in Leipzig sicher sein.« »Achtung!« unterbricht ihn der Drucker. Sofort geht eine Wandlung vor sich. Wie auf Vereinbarung beugen sich beide Männer über den Schreibtisch. Hermann Rauh stüzt die Hände darauf und wirkt in der geneigten Haltung entspannt. Plötzlich macht er etwas Alltägliches, nicht besonders Aufregendes. Er ist ein Zeitungsmann, der einem Berichterstatter gewohnheitsmäßig sagt, daß sein Artikel zu lang und deshalb in der vorliegenden Fassung nicht zu gebrauchen ist. Dergleichen erklären Redakteure tagtäglich so oft, daß es ihnen wie von selbst über die Lippen geht. »... und abgesehen von der übermäßigen Länge, mein Bester, kommt Ihr Artikel auch nicht als Aufmacher in Frage. Da habe ich schon einen recht gut geschriebenen Beitrag über das Wachsen der Arbeiter-Turnbewegung in diesem Jahr. Den kann ich nicht schieben; er ist ganz auf den Jahreswechsel zugeschnitten. Radsport geht höchstens auf Seite drei, im Keller, und dann auch nur auf die Hälfte gekürzt.« Marchlewski spielt augenblicklich mit. Er schiebt den Hut weit aus der Stirn, so daß er verwegen auf dem Hinterkopf sitzt, und wirft beleidigt hin: »Meinetwegen auch im Keller! Dabei hätte es die rote Kavallerie durchaus verdient, mal an hervorragender Stelle gewürdigt zu werden. Immerhin ist es ihr gelungen, auf dem Radsportplatz bei Lindenau festen Fuß zu fassen, und diesen Platz glaubten die bürgerlichen Vereine ganz allein in Anspruch nehmen zu können. Aber bitte! Wieviel muß 'raus?« Jetzt ist er völlig der Journalist, der seine Bemühungen und Einsichten seitens der Redakteure niemals anerkannt findet. Mit vielgeübtem Gewohnheitsgriff zieht er einen schwere n metallenen Vierfarbenbleistift aus der oberen Westentasche und dreht die rote Mine heraus. »Das Schlachtfest kann beginnen. Genosse Rauh!« »Der Keller auf Seite drei ist ein hervorragender Platz, mein Bester!«
Die Worte, die hin- und hergehen, sind so vertraut und geläufig, daß sie an Emma und Paul vorüberfließen wie eine längst gekannte, gewöhnliche Melodie. In der Tat gehören sie in der Schreibtischecke der Druckerei Rauh & Pohle zu den Selbstverständlichkeiten. Die Ecke, in der das Möbel mit dem hohen Aufbau und dem Telefon steht, dient der kleinen »Arbeiter-Turnzeitung« als Redaktion und Buchhaltung zugleich. Der Eindruck, daß dort eine Schriftleitung arbeitet, wird noch verstärkt durch das Nagelbrett an der Wand. Auf die Nägel sind Fahnen mit den Bürstenabzügen schon gesetzter Artikel, Zeitungsausschnitte und auch ganze Seiten des hier hergestellten Blattes gespießt. Wenige Schritte von dem Schreibtisch entfernt und bis auf diese Ecke den ganzen Raum beherrschend, befindet sich die Druckerei. Hier sind die Bereiche der journalistischintellektuellen und der unmittelbaren materiellen Produktion, die beide in der fertigen Zeitung eine innige Verbindung eingehen und miteinander verschmelzen, nicht auseinandergerückt und getrennt wie in den vielstöckigen, repräsentativen Verlagshäusern, an denen die wohlhabende Messestadt so reich ist. Hier wurde das alles auf bescheidener Fläche zusammengedrängt. Aber hier entsteht auch nicht Meyers Konversationslexikon in Prachtausgaben mit Lederrücken und Goldschnitt, hie r thront nicht Brockhaus; hier wird eine Sportzeitung für Arbeiter geschrieben, redigiert, gesetzt, umbrochen und gedruckt. Das geschieht nicht im Zentrum der Messestadt, sondern draußen in Probstheida, das in diesem Jahre 1900 noch außerhalb der Leipziger Vororte liegt. Hier ist die städtische Straßenbahn mit einer ihrer längsten Linien, der Grimmaischen Straße folgend, am Südfriedhof vorüber bis in das ländliche Dorf vorgestoßen. Die zwei, die hereingetreten sind, haben sich an der Tür nicht aufgehalten, die an der einen Längswand der Druckerei hinaus auf die Straße führt. Sie gingen gleich weiter zur Schmalwand gegenüber jener, an der der Schreibtisch steht. Die zweite Schmalwand in ihrer ganzen Breite ist verstellt durch die metallblanke, gewichtige
Schnellpresse, die den Stolz von Rauh & Pohle bildet. Diese Maschine von Koenig & Bauer und der dazugehörige Gasmotor der Leipziger Firma Mansfeld sind in der Tat Schmuckstücke - nicht nur, weil sie tadellos gepflegt wirken. Moderneres gibt es kaum. Diese Seite ist das Besondere an der Druckerei. Alles übrige findet sich in anderen auch - an der Straßenwand die schrägen Schriftkästen, in denen, nach Buchstaben geordnet, die Lettern liegen. Darüber hängen von der Decke herab Petroleumlampen. Der Tür zur Hauptstraße gegenüber befindet sich eine andere, durch die man über den Hof zum Wohnhaus gelangt. An dieser Wand stehen eine einfache Abzieh- und eine amerikanische Tiegel-, eine sogenannte »Boston«-Presse. Mit ihrer Hilfe werden kleinere Druckaufträge ausgeführt, wie sie das tägliche Brot solcher Druckereien bilden - Familienanzeigen, Visitenkarten, Briefbogen und Werbezettel. Dann ist noch da neben dem Schreibtisch der blechbeschlagene Mettage-, der Umbruchtisch, auf dem die Satzspalten zum gefälligen Bilde der Zeitungsseite zusammengesetzt, »umbrochen« werden. Ja, und der Ofen ist dort. Er sieht so aus, als habe der Bauherr den ganzen Betrieb um ihn herum angeordnet. Mitten im Raum stehen eine gewaltige quadratische Esse und vor ihr ein wahres Ungetüm von Kanonenofen. Es ist wacker eingeheizt worden. Das rotglühende Eisen rings um das Ofenmaul verrät es. Sobald sie das Paket Druckbogen, das sie gemeinsam hereintrugen, ordentlich auf einen Stapel gleichartiger Pakete neben der Schnellpresse gelegt haben, tritt Emma an das Ofenungetüm heran, hält ihm die frostklammen Hände entgegen und haucht dann darauf. Sie genießt die Wärme und bietet ihr auch das Gesicht dar. Pauls Blick geht zum Fenster und hinaus zu dem flachen Rollwagen. Auf ihm liegen weitere Papierpakete. Der Stoß ist schon erheblich kleiner geworden, dem Himmel sei Dank, aber ... »Worauf wartest du denn?« drängt er ungeduldig und wischt mit dem Handrücken einen Tropfen von der Nase. »Wir haben es bald geschafft.« »Mir ist kalt«, murmelt sie kläglich.
»Schwitzen kannst du im Sommer«, knurrt er zurück. »Ach, mit Mädchen ist aber auch gar nichts anzufangen.« Nun fällt ihm ein, daß zum Naseputzen ein Taschentuch wohl doch geeigneter sei als der Handrücken, und er zieht ein großes buntkariertes heraus und schneuzt sich geräuschvoll. Nebenbei bemerkt er, daß Emma vor Kälte zittert, und da tut ihm seine Schroffheit leid, und er sagt nachsichtig: »Na, schön, dann bleib eben hier am Ofen. Ich mache das auch allein.« Er, ein lang aufgeschossener, magerer Junge mit einem Sattel von Sommersprossen auf seiner Nase, ist kaum wieder draußen, da bestimmt Hermann Rauh tadelnd: »Emma! Für einen allein ist es zu schwer. Und ich habe zu tun, wie du vielleicht siehst.« Sie schneidet eine Grimasse und mault: »Mußte das blöde Papier gerade heute geholt werden?«, aber sie wartet keine Antwort ab, die doch nur ein väterliches Machtwort wäre, sondern folgt Paul. Ziemlich lustlos geht sie ihm nach, doch sie geht. Sobald die Tür hinter ihr geklappt hat, ändert sich die Haltung der Männer am Fenster neuerlich. Der Artikel bleibt liegen, wie er liegt. Marchlewski und Rauh setzen ihr Gespräch an genau dem Punkt fort, wo sie es vorhin bei des Druckers »Achtung!« abbrachen. »Hermann! Wir haben hin und her überlegt«, nimmt Marchlewski seinen Faden wieder auf. »Die Leipziger Volkszeitung kommt nicht in Frage, ich sagte es schon. Laß einen einzigen Genossen, der die illegale Zeitung nach Rußland bringt, an der Grenze gefaßt werden, und laß die Geheimpolizei auch nur den kleinsten Hinweis auf Leipzig als Druckort finden, dann kommen die Detektive folgerichtig bald zur LVZ, und alles fliegt auf.« »Und zur Arbeiter- Turnzeitung kommen sie nicht, wie? Sobald sie die Spur bis an die Pleiße zurückverfolgt haben, bleibt es gehupft wie gesprungen, wo gedruckt wird. Dann bietet eine Druckerei so wenig Sicherheit wie die andere.«
Marchlewski schüttelt den Kopf. »Das siehst du falsch.« Er läßt es nicht bei der Behauptung. Er begründet sie. »Es ist eine Zeitung in russischer Schrift, in kyrillischen Lettern gesetzt. Folgerichtig - um das Wort noch mal zu gebrauchen - wird die Geheimpolizei die Druckereien aufsuchen, die für Rußland arbeiten und kyrillische Lettern besitzen. Die Herren Schnüffler sind schließlich stolz darauf, daß sie logisch zu denken vermögen.« Ein kleines Lächeln spielt um seine Mundwinkel. »Hast du jemals Aufträge aus Petersburg erhalten?« »Spaßvogel!« Mehr gibt es von Seiten Rauhs auf diese Frage nicht zu sagen, und es ist genau die Antwort, auf die sein Gast gewartet hat. »Auf dich fällt also kein Verdacht. Du hast ideale Voraussetzungen für den konspirativen Druck.« Sein Blick sucht den des Druckers und hält ihn fest. »Oder willst du nicht, Hermann? Dann lege die Karte auf den Tisch!« Rauh antwortet nicht gleich. Er wendet den Kopf, er läßt die Augen durch sein kleines Reich wandern und ist sich im selben Moment bewußt, daß »sein kleines Reich« schlecht gedacht wäre. Handelte es sich darum, hätte sich die ganze Diskussion schon erübrigt. Dann würde er nicht zögern. Aber... Es hängt mehr an dieser Druckerei als Hermanns persönliche Existenz. Wenn die Pressepolizei mit der Feststellung konspirativen Drucks in Probstheida eine willkommene Handhabe zu gerichtlicher Belangung Rauhs und zur wenigstens zeitweiligen Schließung seines Unternehmens fände ... Arbeitersportzeitungen im kaiserlichen Deutschland kann man mit der Lupe suchen, und außerdem: Die »AT« war niemals allein Objekt zur Befriedigung des journalistischen und verlegerischen Ehrgeizes ihres Besitzers. Daß ihm die Arbeit für sie und mit ihr Spaß macht, bleibt unbestritten, doch die Hauptsache ist das nicht. Die »Arbeiter-Turnzeitung« entstand als Kampfinstrument der Klasse, der sich Rauh zugehörig fühlt; sie entstand, als die Organe seiner Partei verboten, verfolgt und unterdrückt wurden wie die SPD selbst; sie entstand, weil es damals nur möglich war, durch Zeitungen Arbeiter
zusammenzuschließen und zu ihnen zu sprechen, wenn diese Blätter sich als Sprachrohre von Turner- oder Gesangsvereinen, von Berufsvereinigungen oder Bildungszirkeln tarnten. Viel Klugheit und List waren und sind noch nötig, sie über die Klippen der verschnörkelten Paragraphen des Reichspressegesetzes und anderer Maulkorbbestimmungen hinwegzusteuern, und der kleinste Fehler vermag sie zu Fall zu bringen. Dies unter dem Schild der Legalität und des Rechts. Das in diesem Jahr in Kraft gesetzte Bürgerliche Gesetzbuch, das BGB, ist ein Gesetzbuch zur Zementierung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, ein Gesetzbuch daher gegen die Arbeiterklasse... Nein, Blätter wie die »ArbeiterTurnzeitung« balancieren nach wie vor auf einem schmalen Grat, und wenn er, Rauh, hier in der Druckerei Rauh & Pohle, für die er seit dem Ausscheiden seines ehemaligen Teilhabers aus dem Betrieb im Sommer des zur Neige gehenden Jahres 1900 allein verantwortlich ist, illegale, von der Zensur nicht genehmigte Drucke ausführt... Wie er das noch denkt, schämt er sich seiner Überlegungen schon. In den schweren Jahren des Sozialistengesetzes - was wäre aus der deutschen Sozialdemokratie geworden ohne die Solidarität der Genossen in anderen Ländern? Ohne den Druck des »Sozialdemokrat« in der Schweiz, ohne finanzielle Unterstützung durch klassenbewußte Arbeiter anderer Länder? Ohne die sechzehntausend Mark beispielsweise, die Wilhelm Liebknecht 1886 auf einer Vortragsreise durch Nordamerika unter den Augen von Spitzeln und doch unbemerkt sammelte? Hat er, Hermann Rauh, vergessen, daß ohne Solidarität...? Er räuspert sich und erwidert auf Marchlewskis Frage etwas verlegen: »Es muß doch überlegt werden, oder...? Und überhaupt: Wie soll ich eine russische Zeitung setzen? Wie denkst du dir das?« Er deutet zu den schrägen Schriftkästen hinüber. »Sieh dir doch meine Lettern an! Die Alte Schwabacher... Die Unger-Fraktur.. Andere Schriften habe ich nicht!«
Unwillkürlich schaut Julian Marchlewski in die gewiesene Richtung, aber er blickt an den Kästen vorüber zum Fenster hinaus. Als er unterwegs nach Probstheida war, schneite es noch. Starkes Schneetreiben gab es nicht. Ein dünner Schleier senkte sich fast zögernd auf die Straße nieder, senkte sich nieder aus einer hier und da schon aufgerissenen Wolkendecke, die einen glasklaren, lindblauen Winterhimmel freigab. Breite Sonnenbahnen brachen durch die Spalten und stellten helle Lichtbalken in die lautlos herabsinkende weiße Pracht. In der Stadt hantierten die Hausmeister sogleich beflissen mit Schneeschiebern und Streusand, während die Geschäftsleute hinter Ladenfenstern hervor wohlwollend den Flockenflug beobachteten. Es sind nicht einmal mehr vierzehn Tage bis Weihnachten - da erinnert Schnee die Vergeßlichen, daß es Zeit ist, an Geschenke zu denken. Schnee vor dem Christfest fördert den Umsatz. Inzwischen hat ein leiser Wind die Wolken geschäftig noch mehr auseinander geschoben. Nun überwiegt am Himmel das leuchtende Blau, und auf der Dorfstraße vor der Druckerei - »Hauptstraße« nennt sie sich selbstbewußt glitzert der Schnee wie ein riesenhaftes, aus Märchen entlehntes Edelsteinfeld. Lediglich den Hühnern, die draußen herumspazieren, gefällt es gar nicht. Als ob sie kalte Füße bekämen, ziehen sie mal das eine, mal das andere Bein an den Leib und blicken mit herumruckenden, schief gehaltenen Köpfchen recht skeptisch in die Welt. Nach Emma und Paul ausschauend, nimmt Marchlewski zunächst nur das Mädchen wahr. Emma steht neben dem Rollwagen und bemüht sich, in seiner Mitte liegende Papierpakete an den Rand der Ladeplatte heranzuziehen. Sie muß dazu ihre ganze Kraft aufbieten. Als er sie so sieht, denkt Marchlewski flüchtig, daß sie den Lebensabschnitt erreicht habe, in dem Mädchen anfangen, zu Frauen zu werden, ohne sich dessen noch recht bewußt zu sein. Die warme Jacke, die sie über das knöchellange Kleid gezogen hat, diente ihr wohl bereits im vorigen Winter. Sie ist eng geworden. Gerade deshalb läßt sie
deutlich erkennen, wie sich Emmas Hüften gerundet haben, daß an die Stelle des »Kinderspecks« eine schmale Taille getreten ist und daß hier ein schlankes Mädchen von graziler Anmut heranwächst. Auch über der Brust spannt die Jacke jetzt sehr. Auf einmal wirkt Emma Rauh viel erwachsener als der gleichaltrige schlaksige Lehrling mit den vielen Sommersprossen. »Wo steckst du denn?« hört er sie rufen. Jetzt taucht Paul Thomas hinter dem Rollwagen hervor und hat einen Schneeball geformt, mit dem er Emma trifft. Er bückt sich sogleich nach einem zweiten, einem dritten und fordert sie fröhlich und jungenhaft auf, mitzutun, sich zu wehren und zurückzuwerfen. Da werde ihr schon warm werden! Und nachdem sie sich erst abgewandt und »Aufhören! Aufhören!« gerufen hat, greift sie dann doch in den Schnee und wirft zurück. Im Nu ist die schönste Schneeballschlacht rund um den Rollwagen herum im Gange. Emma bleibt dem Lehrling durchaus nichts schuldig. Marchlewski schmunzelt. Am liebsten würde er mittun. »Du wirst russische Lettern beko mmen«, versichert er Rauh bestimmt. »In ausreichender Menge ...« »Kyrillische Lettern sind mir vollkommen fremd, Julian.« Der Gast wendet sich wieder zu Rauh. »Das wissen wir, und davon sind wir natürlich ausgegangen. Grundsätzlich sagst du ja?« »Ohne große Worte, Julian: Ja. Wenn die russischen Genossen unsere Hilfe brauchen und wenn ihr meint, ich wäre der richtige Mann . . . Ich bin nicht erst seit gestern Mitglied der Partei.« Ganz offensichtlich nimmt die sachlich und unpathetisch gegebene Zusage eine Last von Marchlewskis Schultern. Lebhaft weiht er Rauh nunmehr in Einzelheiten ein. »Kurz und knapp, Hermann: Der« - er zögert eine Sekunde, ehe er ein vertrautes Wort gebraucht, das ihm in diesem Zusammenhang zu klein und schwach zu sein scheint -, »der Redakteur der Zeitung kommt illegal aus
München. Es wäre mir nicht lieb, wenn er während seines Hierseins zwischen der Stadt und Probstheida pendeln müßte. Kann er bei dir bleiben?« »Das ist die geringste Sorge. Natürlich bringe ich ihn unter. Besser, wenn er nicht auf die Straße muß. In diesem Dorf kennt beinahe jeder jeden, und ein Fremder fällt auf dem Lande leicht auf.« »Gut! Was den Satz in der dir fremden kyrillischen Schrift angeht: Vor Herrn Meyer aus München meldet sich ein polnischer Genosse bei dir, der recht gut deutsch und fließend russisch spricht. Er wird sich Werner nennen, Werner Nusperli. Ein Schweizerdegen ist er, ein Mann also, der Schriftsatz und Druck gleichermaßen beherrscht.« Nun lächelt Rauh. »Du mußt einem Buchdrucker nicht erklären, was sich hinter der Berufsbezeichnung Schweizerdegen verbirgt, Julian. Arbeitet er nachts?« »Selbstverständlich nachts! Man muß ihn nicht sehen, braucht nicht von ihm zu wissen, klar? Deine Leute ...?« Rauh wendet sich flüchtig zum Fenster. Es fällt ihm nicht ein, die draußen anhaltende Schneeballschlacht zu unterbinden. »Paul ist ein guter Junge. Aber wissen muß er es nicht.« »Deine Tochter...?« ».... ist so klein nicht mehr. Ich würde mich notfalls auf sie verlassen. Doch es ist gar nicht gesagt, daß sie überhaupt etwas merkt. Sie schläft wie ein Murmeltier. Und meine Frau .. . Für Ilse lege ich die Hand ins Feuer. Sie geht mit durch dick und dünn, das ist ausprobiert. Genosse Meyer wird sicher sein und sich wohl fühlen.« »Fein! Er ist uns ein besonders lieber Gast, Hermann.« Einen Augenblick lang sieht es aus, als dränge es ihn, mehr über den Mann zu sagen, der hier auf den schönen deutschen Namen »Meyer« hören wird und illegal nach Leipzig kommt, um eine insgeheim zu druckende Zeitung für Rußland zu redigieren. Aber er schweigt. Julian Marchlewski hat so oft konspirative Disziplin üben müssen,
daß er, so voll ihm das Herz auch sein mag, seine Zunge zu zügeln und fest im Zaum zu halten weiß. So wiederholt er nur: »Ein besonders lieber Gast... Ein wundervoller Mensch... Wenn du ihn kennengelernt hast, wirst du mir zustimmen.« Rauh dringt nicht in ihn. Er erkundigt sich nicht einmal, wie es kam, daß die Genossen in Leipzig ihn und seine kleine Druckerei für die Herstellung einer geheimen fremdsprachigen Zeitung empfahlen. Weil sie ihm vertrauen - das ist das eine; das ist schön und macht stolz. Ansonsten... Dafür gibt es eine Reihe höchst einfacher Erklärungen. Wenn Genosse Meyer aus Bayern kommt... In Bayern, in Nürnberg nämlich, fand im Vorjahr 1899 der Bundesturntag des Arbeiterturnerbundes statt, über den die »Arbeiter-Turnzeitung« selbstverständlich ausführlich berichtete. Auch die »Leipziger Volkszeitung« war in Nürnberg vertreten, war vertreten durch den Rauh gut bekannten Redakteur Adolf Braun, um es genau zu sagen, und zweifellos hatte Braun während seines Aufenthaltes in Bayern Verbindung zu vielen dortigen Genossen. Falls man in Nürnberg mit der Frage nach einer geeigneten Druckerei an ihn herantrat und falls er diese Frage nach der Rückkehr in seiner Redaktion wiederholte ... Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Bruno Schönlank oder auch Julian Marchlewski selbst kennen als die journalistische Garde der Sozialdemokratie im Königreich Sachsen die verläßlichen Druckereien genau, auf die sich die Partei im ideologischorganisatorischen Kampf stützen kann. Außerdem gab Marchlewski eben zu verstehen, daß ihm Genosse »Meyer« persönlich bekannt sei. Das wäre eine zweite Möglichkeit. Daran, daß »Meyer« nicht Meyer heißt, zweifelt Rauh keine Sekunde. Er will eine Zeitung für Rußland machen... Daß er zu diesem Zwecke nach Leipzig kommt, würde auch einen Sachsen nicht wundern, der keinen persönlichen Bezug zum graphischen Gewerbe hat. Die Messestadt genießt seit langem den ehrenvollen Ruf eines Zentrums der »Schwarzen Kunst«, und nirgendwo im deutschsprachigen Raum nennt das Adreßbuch in solcher Ballung die Namen berühmter Verlagsgesellschaften und
Buchdruckereien wie hier. In Leipzig werden Druckaufträge in beinahe allen lebenden und toten Sprachen der Erde ausgeführt. Wer zur Messe kommt, um den Koran drucken zu lassen, findet dazu ebenso aufgeschlossene und leistungsfähige Geschäftspartner wie ein anderer, der Nihongis klassische »Japanische Annalen« oder ein altrussisches Heldenepos in der Originalsprache publiziert zu sehen wünscht. Wohin, wenn nicht nach Leipzig, sollte sich jemand wenden, der Druckereien sucht, die kein »Unmöglich!« kennen? Sich mit solchen Anliegen nach Leipzig zu wenden, ist die natürlichste Sache der Welt. Wenn Julian Marchlewski die Einzelheiten nicht preisgeben will oder kann, die des Genossen Meyers Entscheidung für die Pleißestadt bestimmten, er, Hermann Rauh, wird danach nicht fragen. Sicher ist dieser Entschluß reiflich und gut erwogen worden. Draußen auf der Straße gehen Frauen mit weihnachtlich verschnürten Paketen vorüber, schwatzend und gut gelaunt. Sie haben in der Stadt eingekauft, viele Schaufenster besichtigt und irgendwo in einem Café zum »Schälchen Heeßen« süßen Kuchen genascht. Baumkuchenzeit... Wer kann da vorübergehen? Und die Zuckerbäcker halten wahre Wunderwerke aus Marzipan bereit, von den leckeren Stollen mal ganz zu schweigen ... Die Bauern Probstheidas sind wohlhabend und von besitzstolzer Behäbigkeit, sie können sich etwas leisten. Die nahe große Stadt ist ein gefräßiger Abnehmer der vor ihren Toren wachsenden landwirtschaftlichen Erzeugnisse, einerlei, ob es sich um Fleisch handelt, um Milchprodukte, Eier oder Brotgetreide. Freilich sieht das Stadtvolk gelegentlich überheblich auf das rustikale Landvolk nieder, aber die Bauern bleiben ihnen nichts schuldig. Würden denn die feinen Stadtdamen, die reichen Verleger und die übermütigen Studenten, deren hochtrabende Diskussionen man so wenig versteht, als ob sie chinesisch redeten, würden sie nicht verhungern, wenn nicht die Menschen an der Endhaltestelle der Straßenbahn in schwerer Arbeit den Boden aufbrächen, Saat in ihn legten und mit ihrem Schweiß deren Reifen sicherten?
Emma kennt die Frauen, die an der Druckerei vorbeigehen, und macht artig ihren Knicks. Täte sie es nicht, würde dieses Versäumnis in Kürze in Gestalt einer mütterlichen Rüge auf sie zurückschlagen. Hier draußen sind doch alle miteinander bekannt. Frau Rauh erführe mit Gewißheit, daß Emma es letzthin an Höflichkeit fehlen lasse. Das Mädchen mag keine »Gardinenpredigt«. Auch Paul Thomas grüßt. Er hat die Mütze in der einen Hand, in der anderen aber noch einen fertigen Schneeball, den er nun bedauernd anblickt. »Hast du genug abgekriegt und kneifst, Emma?« Sie zuckt die Schultern und klopft sich den Schnee von Jacke und Kleid. »Püh!« sagt sie überlegen und fährt gleich ein wenig von oben herab fort: »Ich bin bloß klüger als du. Wenn wir nicht bald mit dem Papier erscheinen, können wir etwas erleben. Ich kriege ja höchstens einen Katzenkopf, weil es mein Vati ist, aber du bist der Lehrling - dir hält er 'ne Standpauke.« Sie sieht ihn an und tritt auf ihn zu. »Halt still! Du bist ganz voll Schnee.« Er dreht sich hin und her, damit sie ihn abklopfen kann. Mit offenkundigem Wohlwollen sieht er unterdessen in ihr helles, offenes Mädchengesicht mit den fröhlichen Augen und der ein wenig vorwitzigen Stupsnase, die im Vergleich zu dem weich geschwungenen Mund ein bischen zu klein wirkt. Dieser Mund ist ausgemacht schön und entblößt, wenn Emma lacht, makellos weiße, gut gewachsene Zähne. »Für ein Mädchen bist du ziemlich in Ordnung. Ehrenwort!« fühlt er sich mit jungenhafter Sprödigkeit zu sagen bemüßigt. Am liebsten würde er jetzt an ihrem schweren langen Zopf ziehen, aber das wagt er dann doch nicht. Als habe er sich mit der Andeutung eines Kompliments schon etwas vergeben, spricht er hastig weiter: »Zu deinem Vater kannst du dir eigentlich gratulieren. Die Meister, bei denen andere Jungs sind ... Dagegen ist er Gold. Manche brauchen einen Lehrling bloß zum Ausfegen und damit sie wen zum Verprügeln haben. Das hat er noch nie gemacht. Aber jetzt bin ich sauber.
Komm, wir schieben die Pakete erst mal an den Wagenrand. Dann müssen wir sie nur noch herunternehmen.« »Wenn wir gedruckt haben«, sagt Rauh drin am Schreibtisch, »wie kommt die Zeitung von hier weg und nach Rußland hinein?« »Wir sind dabei, das zu organisieren«, versichert Marchlewski, »es so zu organisieren, daß die Einfuhr ins Zarenreich lautlos und störungsfrei verläuft.« Der Drucker findet es richtig, daß sein Gast dies besonders betont. »Wird auch bitter notwendig sein, Julian. Sowohl die zaristische als auch unsere Königlich Sächsische Geheimpolizei rotieren doch, wenn sie eine illegale, von keiner Zensur gegängelte und entschärfte Zeitung entdecken. Ein solches Blatt ist für sie, was das berühmte rote Tuch für den Stier darstellt - die schlimmste Herausforderung.« »Was ausnahmsweise für sie spricht! Sie wissen, welche Waffe die Presse, unsere Presse ...« Er bricht ab, weil Frau Rauh eilig über den Hof läuft und in die Druckerei tritt. Sie hat sich nicht einmal Zeit gelassen, ein Tuch umzunehmen. »Guten Tag, Genossin Rauh«, grüßt Marchlewski sie. Sie, eine unmerklich Fülle ansetzende Mittdreißigerin mit hochgestecktem blonden Haar, gibt ihm flüchtig eine große, kräftige Hand. »Tag! Auf der Hauptstraße kommt die Polizei mit einem Motorenwagen. Ich habe sie von der Mansarde aus gesehen. Sie muß ja nicht zu uns wollen, aber ich dachte, es ist besser . . .« Marchlewski nickt. »Ich bin zu bekannt bei den Herren. Sie brauchen mich hier nicht zu sehen. Sonst fragen sie sich am Ende, was ich hier draußen will, und wenn sie erst einmal den Zipfel eines Verdachts haben. ..« Er winkt ab. »Komme ich unbemerkt 'raus?« »Nach hinten durch den Garten«, antwortete Rauh knapp. »Ich bringe dich.«
»Du bleibst hier und beschäftigst sie«, bestimmt seine Frau. »Ich zeige dem Genossen Marchlewski den Weg. Kommen Sie!« Er knöpft bereits seinen Ulster zu und drückt den Hut in die Stirn, womit er gleich nicht mehr der landläufigen Vorstellung von einem rasenden Reporter entspricht. »Es bleibt dabei, Hermann?« Der Drucker gibt ihm die Hand. »Wie besprochen, ja«, erwidert Rauh ruhig. »Ich erwarte Werner Nusperli und Genossen Meyer. Wir werden das Kind schon schaukeln.« Frau Rauh faßt Marchlewski am Arm. »Sie könnten auf die Idee kommen, in den Hof zu fahren. Dann sollten wir weg sein.« »Das sind wir doch schon.« Jetzt endlich beschäftigt sich Hermann Rauh wirklich mit dem auf dem Schreibtisch liegenden Artikel. Er zieht sich den Stuhl heran und setzt sich, und während er Zeile für Zeile liest, tastet seine Rechte, ohne daß er hinsieht, nach einem Rotstift. Der Beitrag ist wirklich viel zu lang.
2 Seit der Motorenwagen aus dem Königlichen Polizeiamt in die Harkortstraße einbog und sich auf den Weg nach Probstheida machte, hat jeder Schutzmann kameradschaftlich-achtungsvoll gegrüßt, an dem er mit der bemerkenswerten Geschwindigkeit von etwa vierzig Stundenkilometern vorüberratterte. Ebensooft tippte der Mann flüchtig mit der behandschuhten Rechten an die Hutkrempe, der in Zivil neben dem Uniformierten am Rechtssteuer sitzt. Er friert natürlich in dem offenen Zweisitzer, der wie eine leichte Kutsche ohne Deichsel aussieht, denn daß der Zweizylinder-Viertakt -Motor seine fünf Pferdestärken genau unter dem Sitz erzeugt, wirkt auch nicht erwärmend. Aber da er über diesen Motorenwagen aus einer Fabrik am Fuße der Wartburg in Eisenach verfügen darf, würde der Zivilist neben dem Fahrer um nichts in der Welt mit Pferden fahren. Einen der wenigen Motorenwagen nehmen zu können ist ein Privileg, das beispielsweise die Beamten der gewöhnlichen Sicherheitspolizei nicht besitzen. Dafür haben sie auch bloß mit ganz gewöhnlichen Kriminellen zu tun. Die Schutzleute grüben, weil ihnen das Fahrzeug verrät, daß hier die sogenannte »hohe«, die politische Polizei im Einsatz ist. Das ist jene von der Obrigkeit weit höher geschätzte und deshalb auch großzügiger ausstaffierte Einheit, der die Verfolgung politischer Umtriebe, die Kontrolle des Vereinsund Versammlungswesens, die Pressezensur und - kurz - der innere Schutz des Staatsganzen und der monarchistischen Staatsordnung obliegen. Wo sie auftaucht, gehört es sich für einen kleinen Schutzmann einfach, Front zu machen und Gesinnung zu zeigen. Der leichte Wagen ist mit drei Mann natürlich überlastet. Es fährt noch ein zweiter Zivilist mit. Auf dem schmalen Notsitz gegenüber der Bank hockend, wirkt er einigermaßen unglücklich und atmet auf, als das Gefährt endlich am Ziel ist und unmittelbar neben dem Plattenwagen mit den Papierpaketen hält. Er steigt sofort ab
und reckt sich verstohlen — ein untersetzter Vierziger mit verschlossenem, kantigen Gesicht und einem kurzgestutzten Oberlippenbart, der über die Mundwinkel herab reicht und dem Manne etwas Melancholisches, Kummervolles gibt. Er ist nicht der Tonangebende in der Wagenbesatzung. Das zeigt er sogleich, indem er bescheiden beiseite tritt und aus den Taschen seines unansehnlich gewordenen walnußbraunen Ledermantels Tabaksbeutel und -pfeife zieht, als ginge ihn das alles hier nichts an. Er ist gleichsam nur Staffage und unwichtig. Wichtig ist der andere Zivilist, der neben dem Chauffeur saß und jetzt ebenfalls absteigt. Ein schwerer, mit Hamsterfell gefütterter Ulster verleiht dem zehn Jahre jüngeren eine Breite, die der Fahrer nicht besitzt. Er überragt den im Ledermantel, der eine englische Reisemütze mit oben zusammengebundenen Ohrenklappen trägt, um Kopfeslänge. In seinem schmalen, ausdruckslosen blassen Gesicht brennen rot die Narben von Säbelhieben. Der Herr hat auf dem Paukboden einer schlagenden Studentenverbindung gestanden; er ist Akademiker. Sein Schnurrbart drückt im Gegensatz zu dem seines Begleiters Schneid und strammen Optimismus aus; die Spitzen sind nach oben gezwirbelt. Er streicht noch einmal darüberhin, als er Paul hingerissen ausrufen hört: »Ich werde verrückt! Eine richtige Motorenkutsche! Ist die schön!« Emma teilt seine Begeisterung nicht. »Findest du?« fragt sie skeptisch. »So'n Ding ohne Pferde sieht dumm aus. Als fehle etwas.« Da wird der Lehrling ernsthaft böse. »Typisch Mädchen! Von nichts Ahnung, aber über alles reden!« Damit wendet er ihr brüsk den Rücken zu. Der Akademiker sieht keine Notwendigkeit, die Jugendlichen zu grüben. Er erkundigt sich knapp: »Ist Herr Rauh im Hause?« Emma knickst. »In der Druckerei. Hier, bitte!« Der Mann mit den Schmissen geht zur Tür; der andere im Ledermantel folgt ihm wie sein Schatten. Er bleibt am Eingang stehen und setzt nun endlich die inzwischen gestopfte Pfeife in Brand. Seine Augen,
graugrüne Katzenaugen von unsteter Behendigkeit, mustern die Setzkästen, die Maschinen, verweilen beim Nagelbrett und schätzen die Druckerei mit unpersönlichem, sachlichen Interesse ein. Der Akademiker, schon mitten in dem um den Ofen gruppierten Raum, räuspert sich vernehmlich. Es ärgert ihn offenbar, daß der Mann am Schreibtisch nicht gleich Notiz von ihm nimmt und sich erst jetzt sehr gelassen nach dem Besucher umdreht. »Herr Rauh?« »Ja?« Recht gemütlich klingt das, aber der Drucker steht doch auf und kommt ein paar Schritte näher, was dem anderen Gelegenheit gibt, eine Legitimation vorzuweisen und seinen Namen zu nennen. »Kriminalpolizei. Referendar von Kopp.« Hermann Rauh reagiert, als seien solche Besuche bei ihm alltäglich. Er nickt gelassen. »Was kann ich für Sie tun, Herr Referendar?« »Bloße Routinesache. Ich bin gehalten, in den Druckereien Satzproben der vorhandenen Schriften einzuziehen. Für kriminaltechnische Vergleiche, verstehen Sie?« Der Drucker denkt nicht daran, es dem ungebetenen Gast so leicht zu machen. »Nein«, erwidert er entwaffnend naiv. Referendar von Kopp merkt die Absicht und ist verstimmt. »Hauptsache, wir verstehen das«, weicht er kurz angebunden einer exakteren Erklärung aus. An Rauh vorüber tritt er zum Nagelbrett und deutet auf ein dort hängendes Exemplar der letzten Nummer der »ArbeiterTurnzeitung«. »Ihr Produkt?« »Meins!« bestätigt der Drucker. »Wenn Sie Wert darauf legen, zeige ich Ihnen gern die pressepolizeiliche Genehmigung...« Es zuckt um die Mundwinkel des Referendars.
»Ich kenne die Zeitungsliste«, wehrt er von oben herab ab und nimmt die Zeitung vom Nagel. »Welche der vorhandenen Schriften enthält dieses Blatt?« »Alle.« Von Kopp reicht die »Arbeiter-Turnzeitung« über die Schulter nach hinten, ohne sich umzuwenden, und läßt sie los. Sie fällt nicht, denn der andere ist rechtzeitig da und übernimmt sie. »Reichert? Sie verstehen ja wohl etwas davon . ..« Rauh hat durchaus den Eindruck, daß das keine Übertreibung ist, denn der Untersetzte im Ledermantel und mit der englischen Reisemütze geht mit dem Blatt an die Setzkästen und hebt einzelne Lettern heraus. Er scheint in der Lage zu sein, zu beurteilen, ob Kegel, Schriftgröße und bild übereinstimmen. Rauhs geschulter Blick sieht sogleich, daß der Geheimpolizist sachkundig und zielstrebig hantiert und der »Schwarzen Kunst« nicht fremd gegenübersteht. Er tut etwas Geläufiges, Vertrautes; er tut es mit einer Art gleichgültiger Selbstverständlichkeit. Dadurch wirkt er plötzlich gefährlich und erstaunlich überlegen. Unversehens erzeugt diese Feststellung in Hermann Rauh eine starke Abneigung gegen den Kriminalwachtmeister mit dem melancholischen Bart, ja, das ausgeprägte Gefühl der Feindschaft. Dieser Reichert hat zweifellos vor zehn Jahren, in der Zeit des Sozialistengesetzes, seine Sternstunden gehabt. Er hat vielleicht durch Schriftvergleiche Druckereien aufgespürt, in denen die in die Illegalität gezwungene Partei insgeheim Flugblätter und Agitationsmaterialien herstellte. Mit einemmal ist das alles wieder sehr nah und gegenwärtig, ist die innere Spannung wieder da, die Rauh damals unzählige Male miterlebte und die fast schon ein wenig in Vergessenheit geriet. Der Drucker atmet tief ein und strafft sich. Nach außen hin verliert er seine Gelassenheit nicht. Kriminalreferendar von Kopp, kraft akademischen Grades auf dem Weg zu höheren Kommandostellen der Polizei, macht Konversation. »Reichtümer sammeln Sie hier nicht, wie?«
Rauh ist zu erfahren im Umgang mit den bewaffneten Erzengeln der monarchistischen Staatsordnung, um sich durch den verbindlichen Plauderton täuschen zu lassen. Der bestimmt ihn vielmehr zu besonderer Vorsicht. Beamte wie dieser Referendar sind keine Schwätzer und beherrschen ihr Handwerk mit gefährlicher Sicherheit. Wenn sie ein solches Gespräch führen, verfolgen sie damit einen Zweck. Der Drucker bleibt spröde und abweisend. »Sind Sie aus Leipzig nach Probstheida herausgekommen, um mich das zu fragen?« Wenn von Kopp die Reserviertheit des anderen erkennt, überspielt er sie geschickt. Er lacht unbekümmert und amüsiert. »Bei der Kälte? Nee! Ich kann mir Schöneres vorstellen, Herr Rauh! Wirklich! Ist überhaupt 'ne tolle Aufgabe für einen diplomierten Kriminalisten - Schriftproben sammeln! Doch wenn das Vaterland, das teure, Opfer fordert...« Er sagt das mit einer bestechenden Portion Ironie, die einer Anbiederung gleichkommt und neuerlich auszudrücken scheint, das alles sei ja nicht ernst zu nehmen, aber er fährt im gleichen Ton fort, übergangslos: »Sie erledigen hier auch Ihre Auslandsaufträge, nicht wahr?« »Nein«, pariert Rauh und denkt sachlich, der Überrumplungsversuch sei nicht schlecht aufgebaut worden. »Sondern wo?« »Wir sind weder Brockhaus noch das Bibliographische Institut, sondern eine kleine Arbeitersportzeitung. Wir haben keine Auslandsaufträge.« Es sind fast die gleichen Worte, die er gegenüber Marchlewski gebrauchte, aber jetzt klingen sie ganz anders. »Auslandsaufträge wären lohnend, Herr Rauh.« Der Drucker nickt. »Sicher«, bestätigt er trocken. »Deshalb verteilen die großen Druckereien sie ja unter sich.« Von Kopp läßt nicht locker. Er wird deutlicher, behält jedoch den verbindlichen Plauderton bei. »Es gibt auch bescheidenere Aufträge. Eine kleine Broschüre, ein paar Handzettel... Gut bezahlt... Die
Steuerfahndung Seiner Majestät braucht nichts davon zu wissen. Das Leben ist kostspielig; Geld schändet nicht. Manche Auftraggeber spekulieren auf eine solche Gesinnung, bauen ihre Angebote darauf auf ... Wir verstehen uns?« »Nein. Solches Ansinnen hat nie jemand an mich herangetragen. Ich wäre selbstverständlich auch nicht darauf eingegangen«, antwortet Rauh eisig. Jetzt dreht er den Spieß um, nun fragt er selbst. »Brauchen Sie die Schriftproben solcher Drucke wegen? Hat es welche gegeben?« Der Referendar stutzt. Auf einmal schwingt unverhohlen Drohung in seiner Stimme. »Wir sind völlig Herr der Lage, lieber Herr Rauh! Völlig! Uns entgeht so schnell nichts.« Dann kehrt er zum Plauderton zurück, scheint die eben gezeigte Schärfe vergessen machen zu wollen. »Wir leben in einer wilden Zeit und auf heißem Boden. Leipzig wimmelt zum Beispiel von russischen Studenten und russischen Emigranten. Umstürzlerische Elemente darunter, Anarchisten ... In Rußland haben sie vor Jahren den Zaren zu ermorden versucht, in Italien in diesem Sommer den König ... Sie sind überall gleich. Und außer den Anarchisten haben wir überhaupt Umstürzler jeder Couleur in der Stadt, jeder Farbe ... Muß ich Ihnen als einem Zeitungsmann doch wohl nicht erzählen!« Er hält die Hände über den Ofen. »Und das alles will sich mitteilen, seine Maximen und Ideen verbreiten, Anhänger werben und Geworbene bei der Stange halten .. . Zeitungen machen, die wirken wie Schlangengift... Seiner Majestät, unserem allerhöchsten Herrn, wäre es außerordentlich fatal, wenn etwa das gute Verhältnis des sächsischen Hofes zum Zaren durch aufrührerisches Material getrübt würde, das ausgerechnet aus der Messestadt nach Rußland gelangte!« Von Kopp sagt das alles ein wenig in den Ofen hinein, dessen Wärme ihn magisch anzieht. Dies wirkt, denkt Rauh amüsiert, als vermute der Kriminalist das Zentrum geheimen Drucks ausgerechnet in seinem harmlosen Heizkörper. Der Referendar schließt: »Unter solchen Aspekten heifjt es für
uns, sehr aufmerksam zu recherchieren, zu aspektorieren, zu kombinieren .. .« »Diesmal verstehe ich Sie, Hochwohlgeboren«, räumt der Drucker ein, und indem er die Anrede gebraucht, die ausschließlich Adligen gegenüber verwandt wird bürgerliche Würdenträger sind nur »Wohlgeboren« -, errichtet er eine deutliche Trennwand zwischen sich und dem Besucher aus dem Königlichen Polizeiamt. Der setzt neu an und erkundigt sich in einem Ton, als vergewissere er sich einer absoluten Selbstverständlichkeit: »Das kyrillische Alphabet kennen Sie natürlich?« Daraufhin verzichtet Rauh auf alle Verbindlichkeit. »Wenn Sie glauben, ich hätte russische Lettern in einem Schuhkarton unter dem Bett, warum suchen Sie sie nicht?« Geschlagen gibt sich von Kopp nicht. Er lacht wieder, lacht, als wäre ein prächtiger Witz gemacht worden. »Hübsch gesagt! Ich habe durchaus Sinn für Humoriges, lieber Herr! Nur - zu mißtrauen ist mein Beruf. Wissen Sie, wie unsere verehrten Kollegen bei der Ochrana sagen, der russischen Geheimpolizei? Sie sagen: Traue Gott dem Allerhöchsten und Seiner Majestät dem Zaren, unserem Gebieter, aber sonst niemandem auf der Welt. - Ein kluges Wort, Herr Ra uh, ein sehr kluges Wort. Trotzdem - Lettern unter dem Bett. . . Alles hat seine Grenzen. Ich halte Sie nicht länger auf.« Er dreht sich zu seinem Wachtmeister um. »Sind Sie immer noch nicht fertig. Menschenskind?« Der Untersetzte im Ledermantel schaut noch nicht einmal auf. »Gleich, Herr Referendar, gleich . . .« »Beeilen Sie sich!« Damit lüftet von Kopp, gegen Rauh gewandt, flüchtig den würdigen halbsteifen Hut - Leipzigs Arbeiter nennen diese Art Kopfbedeckung den »Arbeitgeberhut« - und geht ohne ein weiteres Wort hinaus zum Wagen. Rauh tritt näher an die Setzkästen heran, und da fühlt sich Reichert bemüßigt, beiläufig zu bemerken: »Ganz schön abgequetscht, Ihre Schriften. Gut wiederzuerkennen. Alles, was recht ist...«
Das ist eine merkwürdige Art von Lob für nicht mehr neue Lettern. Der Drucker hat sofort eine steile Unmutsfalte über der Nasenwurzel, aber er schweigt. Draußen wird Paul Thomas nicht müde, das Fahrzeug aus einer Fabrik in der Wartburgstadt Eisenach zu bewundern. Geradezu verliebt streichelt er über die Drahtspeichenräder, den Benzinbehälter hinter dem Sitz und die beiden messingblanken Karbidlampen. Der schnauzbärtige Fahrer, der seinen Platz nicht verlassen hat, läßt ihn herablassend gewähren. Wer, wenn nicht er, weiß, daß ein Automobil etwas Besonderes, Bestaunenswertes ist? Er sitzt da, als gelte ihm selbst die Ehrfurcht, die Paul dem Wagen zollt. »Ob er sehr schnell fährt? Was meinst du?« Mit seiner Frage ist er nun freilich bei Emma an der denkbar falschen Adresse. Sie kann daraufhin nur die Schultern heben. »Ich weiß nicht. Wer hat schon ein Automobil in Probstheida?« »Richtig schön sieht es aus!« Von Kopp ist eine Weile stummer Beobachter der hingerissenen Begeisterung des Jungen, zwirbelt seinen Bart auf und hat schmale, nachdenkliche Augen. Sein blasses, von den als Standessymbol gehätschelten Narben der Säbelhiebe entstelltes Gesicht zeigt keine Regung, doch auf einmal sagt der Referendar mit unvermittelter herablassender Freundlichkeit: »Mit dem Wagen kommt auch das beste Pferdegespann nicht mit, mein Junge. Wir fahren vierzig Stundenkilometer, und da entgeht uns keiner. Pferde können nicht dauernd galoppieren - wir dagegen halten unser Tempo, solange wir Benzin haben.« Das fasziniert Paul. Seine Jungenphantasie mit ihrer schwärmerischen Sehnsucht nach Abenteuern erhält durch diesen Besuch einen kräftigen Anstoß. Allein das schöne Auto mit dem uniformierten Polizisten am Steuer regt sie an und beschwört tausend Bilder von lockenden Erlebnissen in einer »großen« Welt herauf, die Paul nur aus billigen Kolportageromanen kennt und die ihm eben deshalb
bewundernswert und bedeutsam erscheint, weil er sie bloß aus zweiter Hand und auf weite Entfernung vorgeführt erhält. Träume von Reisen in eine schillernde Ferne, zur Pyramide des Sonnengottes, zu den Pyramiden, in Prärie und Savanne, durch die Wüste von Bagdad nach Stambul, in fremde Städte, Träume von männlicher Bewährung und aufregenden Heldentaten .. . Ein erfülltes, ein herrlich erregendes Leben... Paul ist zu jung, um zu begreifen, daß seine Lieblingsschriftsteller ihm eine vollkommene, intakte und aufs beste eingerichtete Welt vorgaukeln, weil sie selbst in eben dieser Welt mit derlei Literatur recht gut leben. Für Paul mischt sich Erlesenes mit dem, was er nun sieht, und da in der Kolportage Geheimpolizisten als die Hüter der angeblich gottgewollten und unveränderlichen Ordnung logischerweise stets strahlende Helden ohne Furcht und Tadel sind, ist für den Jungen der erste Geheimpolizist, der ihm leibhaftig gegenübersteht, auch ein solcher Held - ein freundlicher und leutseliger Held überdies. Das entspricht Pauls Vorstellungen so sehr, da§ er ganz glücklich und aufgeregt ist. »Einfach toll!« sprudelt er hervor. »Einmal dabeisein können . .. Detektiv zu sein, das ist bestimmt viel spannender als Buchdrucker.« Da der Referendar diese Huldigung mit lächelndem und vielsagendem Wohlwollen hinnimmt, faßt er sich ein Herz und fragt weiter: »Müssen Sie sich auch manchmal verkleiden, Herr? So, wie der Fremde aus Indien oder der Held im Buschgespenst?« »Na, es kommt schon vor«, geht von Kopp schmunzelnd auf den vorgegebenen Ton ein. »Allerdings kann ich es nicht so perfekt wie deine Privatdetektive und schon gar nicht so gut wie der Mann im Buschgespenst. Das gebe ich zu.« Pauls Sympathie wächst noch. »Sie kennen die Bücher?« »Beide, ja.« Dabei läßt es der Referendar bewenden und sagt in forscher Kameradschaftlichkeit, die verbindet : »Da wir also die gleichen Bücher lesen.. . Was hältst du davon, wenn ich dem Wachtmeister befehle, dich mal durch Probstheida zu fahren?«
»Das wäre ...« Die Aussicht allein macht Paul atemlos. »Ich kann gar nicht sagen, was das wäre.« Von Kopp nickt, als sei es das Alltäglichste von der Welt. »Abgemacht! Sobald wir hier fertig sind ...« Paul hat ausgemacht verliebte Augen. »Sie sind richtig in Ordnung, Herr. Wie ein Detektiv sein muß.« In der Tat erscheint ihm dieser Vertreter des Polizeiamtes weitaus imponierender und geheimnisumwobener als die Privatdetektive aus der Auskunftei Schimmelpfeng im Stadtzentrum. Er, Paul, ist im Sommer manchmal neugierig an dem Büro am Blücherplatz vorbeigestrichen, um Männer zu sehen, die den Helden seiner Lieblingsbücher entsprachen. Schimmelpfengs Rechercheure haben ihn bitter enttäuscht. Das waren Dutzendgestalten in Staubmänteln, mit Aktentaschen unter dem Arm. Ein Automobil besaßen sie auch nicht, nicht einmal ein Motorrad von der Art, wie sie die Leipziger Firma Hildebrand & Wolfmüller baute und sogar nach Frankreich exportierte. Nein, sie sahen bloß abgehetzt und eilig aus und sprangen, ohne sich umzusehen, in die Wagen der in der Innenstadt bereits elektrifizierten Straßenbahn. Die ist zwar für Provinzonkel eine Attraktion, aber doch jedem zugänglich und nichts so Besonderes wie ein Motorenwagen. In diesem Augenblick entzieht Paul den Staubmänteln vom Blücherplatz seine Sympathie und konzentriert sein Wohlwollen auf den Geheimpolizisten, der ja denn wohl doch ein anderer Kerl ist, wie schon das Automobil verrät.. . Frucht seines Umdenkens ist das großartige Angebot : »Wenn ich Ihnen mal helfen könnte, Herr ...« »Wir müssen endlich das Papier hineinbringen, Paul«, meldet sich Emma plötzlich. In ihrer Stimme ist eine Spur von Tadel und deutlicher Mißbilligung, ja, von so kaum verhohlener wissender Überlegenheit, daß von Kopp überrascht aufsieht. Dieses hübsehe junge Mädchen wäre, das spürt er sofort, nicht in dem Netz zu fangen, das er erfahren nach dem Jungen auswirft. Weder eine Fahrt mit der Kutsche ohne Pferde noch ein Appell an die Neugier auf unalltägliche Erlebnisse können sie locken; es ist, als
durchschaue sie auf eine angesichts ihrer Jugend erstaunlich erwachsene Weise sein Spiel. Kaum verborgen, drückt ihre Haltung offen abweisende Feindseligkeit aus. Unangenehm berührt, findet von Kopp in Emma jäh ihren Vater wieder und fragt sic h wütend, woher dieses junge Ding eine solche Klarsichtigkeit nimmt. Schon fürchtet er, Paul werde ihm entgleiten, ehe er ihn in der Hand hat. Doch Paul widerspricht: »Jetzt stören wir bloß«, und Emma weiß darauf nur mit einem schnippischen: »Ich will nicht anfrieren. Sieh nachher zu, wie du fertig wirst« ins Gebäude zu laufen. Da zuckt der Junge verächtlich die Achseln. Der Kriminalreferendar lächelt entspannt, als er es sieht. Er zieht ein saffianledernes Etui aus der Tasche und entnimmt ihm ein Zigarillo, während er behutsam ansetzt: »Vielleicht könntest du mir wirklich helfen, Junge. Wenn du möchtest.. .« »Klar, daß ich will!« erklärt der Lehrling spontan. Dann erst, ganz unvermittelt, wird ihm bewußt, daß der bewunderte Geheimpolizist sicher nicht zufällig gerade in die Druckerei Rauh & Pohle kam. »Sie glauben doch nicht etwa, daß Herr Rauh Schlechtes tut?« fragt er merklich abgekühlt und erschrocken. »Er ist als Meister einer von den guten.« Von Kopp erkennt den sich anbahnenden Stimmungsumschwung des Jungen augenblicklich und weiß ihn geschmeidig abzufangen. Auf einmal reizt es ihn, diesen Paul Thomas Wachs in seinen Händen werden zu lassen, ihn zu seinem Werkzeug zu machen, ihn nach seinem Belieben zu formen und sich dadurch selbst an diesem Halbwüchsigen zu beweisen. Das ist ein Spiel, das er liebt und das er schon viele Male gewonnen hat, das ihn immer von neuem reizt und erregt. »Ich denke, Herr Rauh ist ein hilfsbereiter und zugänglicher Mensch. Oder?« beginnt er sehr weich. Paul nickt erfreut. »Da gibt es kein Oder.« Der Referendar scheint das erwartet zu haben. Als spreche er mit einem Gleichgestellten, der sein volles und uneingeschränktes Vertrauen besitzt, fährt er ohne
Herablassung sehr ernst und beinahe ein wenig traurig fort: »Siehst du! Ein solcher Mensch läßt sich, wenn an seine Hilfsbereitschaft appelliert wird, leicht in Dinge hineinziehen, die ihm nur schaden können. Zum Beispiel könnte er sich breitschlagen lassen, irgendwelche Druckaufträge von Ausländern auszuführen. Texte, die er nicht einmal lesen kann... Du und ich, wir beide wüßten, daß er einfach mißbraucht worden wäre, aber das Königliche Gericht, wenn es dahinterkäme ... Du liebe Güte!« Dieser Stoßseufzer läßt Paul besorgt fragen: »Würde es das anders sehen?« »Und ob! Es wäre gle ich zur Hand mit Geheimbündelei, Vorbereitung zum Hochverrat, staatsgefährdendem Nachrichtendienst, Landesverrat - und das sind sehr unfreundliche Paragraphen!« Er sieht befriedigt, wie sehr er den Jungen beeindruckt, und nutzt das aus. »Weil Herr Rauh so gutmütig ist, müßte hier jemand ein bißchen auf ihn aufpassen und uns vertraulich verständigen, sobald es aussieht, als solle er mißbraucht werden. Wir würden rechtzeitig zugreifen und könnten das Schlimmste verhüten.« Paul reibt sich nachdenklich seine sommersprossige Nase. Selten hat er sich so wichtig und zugleich so ernstgenommen und erwachsen gefühlt. Nein, er hat diese Geheimpolizisten von Anfang an richtig eingeschätzt. Was treiben die Staubmäntel von Schimmelpfeng mit den steifen Hüten denn schon? Paul weiß es aus einem Illustriertenbericht: Sie sammeln im Auftrag ihrer Klienten Angaben über die finanziellen Verhältnisse, die Kreditfähigkeit und Kreditwürdigkeit von Dritten, stellen in der Stille Material über Geschäftsbeziehungen und -gebaren der Konkurrenz wie der Geschäftspartner ihrer Kunden zusammen und ermitteln den Verbleib unbekannt verzogener säumiger Schuldner, um im Auftrag fremde Außenstände einzuziehen. Das sind die gewöhnlichen Aufgaben einer Auskunftei, hieß es in dem Bericht, aber Paul war unglaublich enttäuscht und verbittert, als er das Büro am Blücherplatz so aller Romantik entkleidet sah. Krediterkundung im Inund Ausland, Ermittlung von Leuten,
die sich mit Schulden aus dem Staube machten, Feststellung der Mitgift einer künftigen Gattin durch Beauftragte des innig verliebten Bräutigams - genauso sahen diese Staubmäntel mit den Melonen und Aktentaschen aus! Er, Paul, ist bei dem Geheimen mit dem Automobil vor einer ungleich abenteuerlicheren Schmiede. Bei dem Manne mit den Mensurschmissen geht es um große und wirklich aufregende Sachen - unter Geheimbündelei und Hochverrat fängt der wohl gar nicht erst an! Allein der Klang dieser Worte läßt einen schon erschauern. Und zu ihm, Paul, spricht er wie zu seinesgleichen! Eine Auszeichnung, das . .. »Ich würde also nicht nur Ihnen, sondern auch Herrn Rauh nutzen... Ist es so?« »So ist es. Natürlich müßte alles ganz insgeheim geschehen.« »Das versteht sich. Ich bin doch nicht von gestern.« Von Kopp entschuldigt sich und schleicht gleichsam in diesen Jungen hinein, den er lesen kann wie ein aufgeschlagenes Buch, dessen Text klar und geradlinig ist und Winkelzüge und Schnörkel nicht kennt. Hier, glaubt der Referendar, hat er leichtes Spiel. Er hat bereits kompliziertere und verschlungenere Charakt ere zu seinen Werkzeugen, zu brauchbaren Informanten der »hohen«, der politischen Polizei gemacht. »Ich sage es auch nur vorsichtshalber, Paul. Wenn etwas ist, mein Junge«, er nimmt eine Visitenkarte heraus, die in zierlichem Stahlstich nur seinen Namen und die Telefonnummer des Königlichen Polizeiamtes trägt, und gibt sie dem Lehrling, »hast du hier meinen Fernsprechanschluß. Gehst einfach mal auf die Post und rufst mich an. Dann treffen wir uns.« »Verlassen Sie sich auf mich! Paulchen hat Augen wie ein Luchs, wenn er nur will.« Der Referendar vergißt nicht, daß er einen Halbwüchsigen vor sich hat, dessen Sehnsüchte und Träume in vielem noch kindlich, einfach und leicht zu befriedigen sind und dessen Unbefangenheit schnell kritiklose Dankbarkeit gebärt.
»Na, dann hopp, junger Mann! Aufgesessen! Fahren Sie eine kleine Runde, Wachtmeister, und nehmen Sie uns dann an der Straße auf, die wir gekommen sind.« Der Wachtmeister begreift zwar nicht, warum diesem Bengel eine solche Wohltat zuteil wird, aber er ist gewohnt, zu gehorchen, zuverlässig und blind zu gehorchen. Das tut er bereits drei Jahre lang. Also dreht er behende das Handrad neben dem Sitz, mit dem der Anlasser betätigt wird, und nach knallenden Fehlzündungen springt der Motor brav an. Paul fühlt sich wie ein kleiner König, als der Chauffeur die Handbremse löst und mit ihm durch Probstheida fährt. Alle Leute, die das Gefährt sehen, bestaunen es natürlich. Sie fahren an der weiträumigen Kunstund Handelsgärtnerei vorüber, die nicht zuletzt des nicht sehr weit entfernten Südfriedhofs wegen ganzjährig für ihre Besitzer eine wahre Goldgrube ist. So dahinzurollen, das ist wie ein Märchen. »Ein herrlicher Motor!« schwärmt Paul. Der Wachtmeister sieht sogleich aus, als habe er die Maschine persönlich erfunden. »Der Hubraum beträgt siebenhundertvierundsechzig Kubikzentimeter«, erklärt er herablassend. »Etwa tausend Umdrehungen in der Minute ... Wir haben selbsttätige Einlaßund seitlich stehende Auslaßventile, eine Schlangenrohr-Wasserkühlung und Schmierung mittels Tropfölern. Einen Oberflächenvergaser ... Die Kraftübertragung erfolgt über eine Konuskupplung durch ein Dreiganggetriebe, das mit dem Achsantrieb zusammengebaut ist...« Paul versteht nichts, aber er findet es wunderbar. Kriminalreferendar von Kopp bläst behaglich blaue Rauchringe in die klare, jetzt windstille Winterluft. Nicht einmal die Kälte vermag sein blasses Gesicht ein wenig zu röten und den Säbelhiebnarben ein bißchen von ihrer aufdringlichen Sichtbarkeit zu nehmen. Von Kopp ist sehr zufrieden mit sich. Er hebt das spitze Kinn und sieht herrischer und viel härter aus, als er sich Paul Thomas darstellte. Als ob dieser Mann plötzlich ein ganz anderer wäre... Er wendet sich, da hinter ihm die Tür der Druckerei
klappt, gelassen um. Der Kriminalwacht meister im walnußfarbenen Ledermantel und mit der englischen Reisemütze tritt heraus. Er hat die letzte Nummer der »Arbeiter-Turnzeitung« unter den Arm geklemmt und streift eben die von der sorgenden Gattin eigenhändig gestrickten Fingerhandschuhe über. »Es sind wirklich nur diese beiden Schriften vorhanden, Herr Referendar«, meldet er. »Da bin ich ganz sicher.« Von Kopp raucht genießerisch weiter. »Haben Sie etwas anderes erwartet? Ist doch in allen den kleinen Klitschen dasselbe - nur deutsche Lettern!« Er stellt den Kragen seines schönen Ulsters hoch, während er gelassen fortfährt: »Aber das kann sich über Nacht ändern!« »... und wir greifen trotz aller Schriftvergleiche ins Leere«, brummt Reichert aufsässig. Die Jagd nach Satzproben, ein Steckenpferd seines Chefs, hängt ihm nachgerade zum Halse heraus. »Meinen Sie?« klingt es sehr von oben herab zurück. »Sollten hier fremde Lettern auftauchen, werden wir es erfahren, glaube ich.« Der Referendar setzt sich in Bewegung, und sein Wachtmeister stapft brav neben ihm her, ohne nach dem Wagen zu fragen. Weiß doch der Himmel, was sich sein hochwohlgeborener Herr mit den anstrengenden wissenschaftlichen Vorstellungen von Kriminalistik nun wieder ausgedacht hat! Da muß man als einfacher Mann, der das Handwerk schlic ht von der Pike auf lernte, ja auf alles gefaxt sein! Hermann Rauh sieht die beiden Geheimen in Richtung Kirche davongehen, hört hinter seinem Rücken Ilse vom Hof her hereintreten - er kennt den Schritt seiner Frau ganz genau - und sagen: »Julian ist ungesehen durch den Garten weggekommen. Auf der anderen Seite stand keine Polizei.« »Gut so! Sie sind ahnungslos« »Aber deshalb nicht ungefährlich!« warnt sie. »Sie schnüffeln herum wie Foxterrier und sind auch so angriffslustig wie die.«
Noch immer können die Rauhs die beiden Beamten beobachten - den kleineren Untersetzten im Ledermantel und mit dem Schleifchen der hochgebundenen Ohrenklappen auf der Mütze und den Großen mit dem Homburger Hut und im Hamsterfellmantel, der ihn breiter erscheinen läßt, als er ist. Sie bilden ein etwas ungewöhnliches Paar. Geradezu auffällig muten sie nicht an. Wäre die Straße nicht just so leer, würden sie in der Menge aufgehen und von ihr aufgesogen werden. »Sie haben ja wohl auch Grund, besorgt zu sein«, wirft der Drucker nachlässig hin. »Nicht einmal der königlich sächsischen Politischen Polizei kann auf die Dauer entgehen, wovon Emigranten und Studenten aus Rußland in Leipzig sprechen. Sie haben nur ein großes Thema: die Veränderung der Verhältnisse im Zarenreich und letztlich den Sturz des Despotismus ... Und unser König in Dresden nennt den Zaren seinen lieben Bruder! Eine Schande ist das.« Rauh nimmt seine Frau an den Schultern und zieht sie ein wenig zu sich heran. »Nun, wir werden diese Schande wenigstens zu einem kleinen Teil abbauen.« Willig folgt sie seinen Händen und schmiegt sich unbefangen an ihn. Das ist beiden eine liebe, vertraute Geste, die sich in den Jahren ihrer Ehe nicht abgenutzt, die nicht an Wärme verloren hat. »Sei vorsichtig, Hermann. Julian hat mir in großen Zügen gesagt, worum es geht.« »Angst?« Darauf antwortet sie nicht direkt. »Der kleinste Fehler kann alles zunichte machen. Und die russischen Genossen vertrauen uns. « Er verschränkt die Arme hinter ihrem Rücken. »Das geht schon in Ordnung! Ob die Geheimen herumziehen oder nicht - auch wir haben den Kopf nicht bloß, um den Hut darauf zu setzen.« Der Druck seiner Arme wird fester. »Und du hilfst mir ja. Wie immer...« Sie tippt ihm flüchtig auf die Nase. »Mach keine Sprüche! - Das Zimmer für Herrn Meyer aus München richte ich gleich her. Was meinst du: Ob er sich freut, wenn ich
ihm unseren Samowar hineinstelle? Vielleicht fühlt er sich dann ein wenig wie zu Hause in Rußland ...« »Du bist lieb«, sagt er. »Darauf würde ein Mann nie kommen. Tu's!« Er läßt sie zögernd los und tritt einen Schritt zurück. Auch seine Frau ist ein wenig verlegen und ordnet rasch ihr Haar, obwohl es da gar nichts zu ordnen gibt. Tatsächlich, sie ist errötet wie ein ganz junges Mädchen. Emma kommt aus dem Haus herüber, hat sich ein Brot geschmiert und kaut ihre »Bemme« mit gutem Appetit. »Schön, daß es dir schmeckt«, begrüßt sie ihr Vater trocken. »Noch schöner wäre, wenn du erst deine Arbeit zu Ende geführt hättest. Oder ist alles Papier drin?« »Fast alles, Vati.« »Und der Rest?« Das verwirrt sie nicht. »Allein schaffe ich es nicht.« »Wo ist Paul?« »Ich petze nicht«, weist sie es zwar zunächst weit von sich, Auskunft zu erteilen, sagt aber dann doch, und es klingt lustig und Verständnis heischend: »Weißt doch, wie die Bengels sind mit ihrer Schwärmerei für Technik. Er ist um das Polizeiautomobil herumgestrichen wie die Katze um den Milchnapf, und da haben sie ihn ein Stück mitfahren lassen. Er kommt gleich wieder.« »Also bringt den Rest herein, ehe es dunkel wird.« Sie versichert, das würden Paul und sie auf alle Fälle tun, und läuft auf die Straße hinaus. Sie tut dies vermutlich vor allem aus der Erkenntnis heraus, daß das der sicherste Weg ist, väterlichem Tadel auszuweichen. Frau Rauh entgeht nicht, daß ihr Mann besorgt an seinem Schnurrbart dreht. Diese unbewußte, Gewohnheit gewordene Geste gilt ihr als untrügliches Zeichen dafür, daß ihn etwas beschäftigt. Sie fragt ihn. »Dieser Schnüffler von und zu sah, weiß Gott, nicht aus, als wäre er der Mensch, der einem Jugendlichen unbedingt eine Freude machen würde. Er gab sich verbindlich, ja, aber seine Verbindlichkeit war glatt und falsch. Was kann er von Paul wollen?«
»Weiß der Junge etwas?« beantwortet sie die Frage sachlich mit einer anderen. »Nichts.« »Er will dem Lehrling auf den Zahn fühlen, was denn sonst? Wenn ihm Paul nichts sagen kann, wird er enttäuscht sein. Das ist gar nicht schlecht.« Sie hängt sich bei ihm ein und zieht ihn dem Hof zu. »Komm, jetzt trinken wir beide erst einmal eine Tasse Tee.« Rauh sträubt sich nicht. Auf der Strafe stochert Emma ziemlich lustlos mit den Schuhspitzen in der weisen Pracht herum, bis Paul zurück ist. Er kommt in vollem Lauf die Straße heruntergerannt und sprudelt gleich aufgeregt hervor: »Wärst du bloß mitgekommen! Phantastisch, sage ich dir! Das ist etwas anderes als die olle Straßenbahn mit den müden Gäulen! Sollte ich einmal in der Lotterie gewinnen, wenn ich groß bin - so ein Wagen ist meiner!« Er setzt sich mit Schwung auf den Rollwagen, als wäre der die Motorenkutsche aus dem Königlichen Polizeiamt gegenüber dem Reichsgericht im Leipziger Zentrum. »Unser Fahrgestell besteht aus einem Stahlrohrrahmen, mit dem die Hinterachse starr verbunden ist. Die Vorderräder werden durch eine HalbelliptikQuerblattfeder, der hintere Aufbau wird durch C-Federn abgefedert. Mit der Handkurbel regieren wir die über Spurstangen betätigte Achsschenkellenkung. Wir haben eine fußbetätigte Handund zwei handbetätigte Außenbandbremsen auf der Hinterachse. So, jetzt drehe ich den Anlasser. Komm, Emma! Einsteigen zur Probefahrt!« »Das Papier muß 'rein!« stört sie seinen phantasievollen Höhenflug. Paul läßt die Hände in den Schoß sinken. »Warum hat bloß kein Mädchen Sinn für ein richtiges Männerspielzeug?« Er winkt resignierend ab und steigt ernüchtert vom Rollwagen herunter, der wieder nichts mehr ist als ein simples Gefährt zum Papiertransport. »Schön, bringen wir das Papier 'rein!«
Während der Stapel neben der Maschine anschwillt, kann sich Emma die Erkundigung nicht verkneifen: »Was hast du denn mit den Geheimen geredet?« Jetzt ist Paul einsilbig. »Ach, nichts Besonderes.« »Willst du es mir nicht sagen?« Er zuckt die Achseln. »Kümmert dich ja doch nicht...« Das erscheint ihm selbst zu schroff. So weicht er aus: »Vom Wagen eben und so. Er ist wassergekühlt, und für die Schmierung sorgen Tropföler. Funktionieren sie nicht, kann er festfressen. Der Oberflächenvergaser...« Das wollte Emma nicht hören. »Hör auf, du Oberflächenvergaser, du ... Sonst schreie ich um Hilfe.« Er sieht sie sehr von oben herab an. »Habe ich ja gewußt. Konnte doch nicht anders sein.« Sie haben das letzte Papierpaket auf den Stapel gepackt, und da Hermann Rauh gerade aus dem Wohnhaus zurückkommt, wendet Paul dem Mädchen den Rücken zu und meldet: »Das ganze Papier ist drin, Meister.« Der Drucker wirft einen Blick aus dem Fenster. »Und der Wagen? Bring ihn weg, Emma.« Paul weist er an: »Du nimmst deinen Winkelhaken und setzt den Keller für Seite drei. Radsport rote Kavallerie. Und denke daran, daß wir hochdeutsch und nicht sächsisch setzen. Zur Not liegt da ein Duden, wenn du glaubst, im Manuskript Fehler zu finden.« Der Lehrling grinst ganz unverhohlen, während er das Manuskript entgegennimmt, über das sich sein Meister und der Besucher mit dem Hut im Nacken vorhin beugten und das natürlich nicht aus Julian Marchlewskis Feder stammt. Das ahnt Paul Thomas selbstverständlich nicht. Er sagt vergnügt: »Kapiert, Meister! Die harten und die weichen B und D, ich weiß.« Er legt das säuberlich handgeschriebene Manuskript an den Rand des Setzkastens, ergreift den Winkelhaken und stellt ihn mittels des Schiebers flink auf die Breite der Kolumne, der Zeitungsspalte, ein. Schnell und geschickt beginnt er zu arbeiten. Er reiht von links nach rechts kopfstehende einzelne Lettern zu Silben und Worten zusammen, trennt sie durch das Einfügen von Ausschlußstücken, sogenanntem Blindmaterial, und bringt
mit dessen Hilfe die Zeile auf die vorgegebene Breite. Unter die dergestalt »ausgeschlossene« Zeile kommt eine Regierte, das ist ein dünner Bleistreifen, und dann beginnen die Griffe in den Setzkasten von neuem. Paul beherrscht das Buchdruckeralphabet längst; in den Fächern des Setzkastens sind die Lettern nämlich nicht in der Reihenfolge des gewöhnlichen Alphabets, sondern so eingeordnet, daß die am häufigsten gebrauchten — e, a, d, n, o, m - auch am bequemsten zu erreichen sind. Rauh nimmt ebenfalls, nachdem er den ledernen Lendenschurz umgebunden hat, der seit Gutenbergs Zeiten der Arbeitsanzug der Männer der »Schwarzen Kunst« ist, seinen metallenen Winkelhaken und setzt. »Wir sind ein wenig im Verzug, Paul«, bemerkt er nebenher. »Morgen kommt noch ein Bericht von den Ringern, und dann rückt auch schon der Andruck heran.« Der Junge schaut nicht auf. »Das schaffen wir. Wie wir gebaut sind ...« Während Rauh selbst unglaublich rasch setzt und mit großem Tempo Zeile an Zeile reiht - noch ist sogar bei großen Tagesblättern der schnelle Maschinensatz nicht allgemein, und kleine Zeitungen werden nach wie vor vom ersten bis zum letzten Wort im Winkelhaken von Hand gesetzt -, beobachtet er Paul mit freundlichem Vergnügen. Der Junge hat etwas gelernt. Seine Arbeit besitzt bereits Rhythmus und Fluß, ein wenig von jener unbewußten schönen Bewegungsharmonie, die es zu einem Genuß macht, einem erfahrenen Schriftsetzer zuzuschauen. Dazu fehlt Paul Thomas freilich noch eine Menge, doch es ist ja nie und nirgends ein Meister vom Himmel gefallen. »Du hast Fortschritte gemacht«, sagt Rauh anerkennend. »Ich freue mich darüber.« »Ach, wenn ich es so schnell könnte wie Sie ...«, wehrt der Junge ab und kriegt doch vor Freude rote Ohren. »Kannst du auch, wenn du erst so lange im Beruf stehst wie ich.« Paul findet es schön, so erwachsen mit dem Meister zu sprechen, während sie arbeiten. Auch das hat er schon gelernt - konzentriert den handgeschriebenen Reportertext
in den Winkelhaken zu übertragen und dabei nebenher von etwas ganz anderem zu reden. Letter um Letter fügt sich in den Winkelhaken zu Wörtern und ganzen Sätzen; in Pauls Winkelhaken zu einem Artikel über Leipzigs Arbeiterradsportler, in Rauhs zu einem über die Entwicklung der Arbeiterturnbewegung im Jahre 1900, das seinem Ende entgegengeht und dessen hervorragendes Sportereignis die II. Olympischen Sommerspiele in Paris waren. Unterdessen hat Emma ohne sonderliche Hast den Handwagen in den Schuppen bugsiert und ist auf die Straße hinausgeschlendert. Mit »Hallo «und »Hussa« jagt von der Kirche her ein Pferdeschlitten vorüber. Die Glöckchen am Geschirr der vorgespannten Schimmel klingeln lustig und herausfordernd. Aus den Nüstern der Tiere weht der Atem in kleinen Dampfsäulen. Da haben wohl die Söhne eines wohlhabenden Bauern - er muß wohlhabend sein, wenn er solche Pferde halten kann - Verwandte von der Straßenbahnendstelle abgeholt und kutschieren sie nun in halsbrecherischer Fahrt in Richtung Liebertwolkwitz. Emma sieht dem Schlitten nach, bis ihn die Straßenbiegung ihren Blicken entzieht. Und wenn Paul noch so sehr von Motorenkutschen schwärmt - für sie ist ein Gefährt mit lebensprühenden, rassigen Pferden davor viel schöner als ein ratternder Wagen, der einen üblen Geruch verbreitet. Wirklich muß gerade eine Straßenbahn aus der Stadt angekommen sein, denn wieder gehen Menschen mit prallen Einkaufstaschen und Paketen die dörfliche Hauptstraße hinunter. Emma zuckt zusammen, als sie plötzlich angesprochen wird. »Pardon«, sagt ein Mann und behält höflich den Hut in der Hand. »Die Druckerei der Arbeiter-Turnzeitung ...?« Das Mädchen hat diesen Mann nie zuvor gesehen. Er ist ihr auch in der Gruppe der Ankömmlinge nicht aufgefallen; er war überhaupt nic ht zu bemerken. Auf einmal ist er da wie aus dem Boden gewachsen - ein kräftig gewachsener Mann mittleren Alters mit abfallenden Schultern. Dichtes, dunkles, straff nach hinten gebürstetes
Haar, das eine hohe, glatte Stirn beinahe rechtwinklig rahmt. Weit auseinander stehende, ruhige Augen. Ein schmaler, waagerechter Mund, dessen Oberlippe von einem zum Dreieck gestutzten kurzen Schnurrbart verdeckt wird. Ein rundes und dennoch energisches Kinn. Etwas an der Sprache des Fremden klingt ungewohnt und fremd, ohne daß Emma sogleich sagen könnte, was. Sie fühlt sich geschmeichelt, weil der Mann den Hut noch immer in der Hand behält, als spreche er mit einer Dame. Mit ihrem schönsten Knicks erwidert sie: »Ja, hier. Wollen Sie meinen Vater sprechen?« Der Fremde lächelt erfreut. »Ah, Fräulein Tochter? Ist mir sehr angenehm. Wenn Sie Herrn Vater sagen möchten, Werner wäre erfreut, ihn einen Augenblick zu sehen, Werner Nusperli.« Jetzt weiß das Mädchen, was ihr ungewohnt erschien! Der Mann spricht deutsch wie ein Auslä nder, zwar nicht wie ein Ausländer aus einem der vielen deutschen Staaten inmitten des Kaiserreichs, sondern eben wie aus einem Land mit ganz anderer Sprache. Es befriedigt sie, das zu erkennen. »Sehr gern«, sagt sie artig. »Aber wollen Sie nicht hereinkommen, Herr Nusperli?« Der Mann erfaßt mit raschem Blick, daß in der Druckerei mehrere Leute weilen. »Ich bin recht eilig, verzeihen Sie. ..« »Dann hole ich ihn heraus.« Schon auf dem Wege, dreht sie sich noch einmal um und sagt schnell und etwas verlegen: »Aber Sie können ruhig du sagen. Ich bin noch nicht so alt.« Erst nach dieser Erklärung, die ihrerseits eine Sympathiekundgebung ist und auch als solche verstanden wird, denn der Fremde dankt mit einer Verbeugung, geht sie hinein und bittet den Vater hinaus, weil da ein eiliger und sehr netter Herr Nusperli... Rauh legt behutsam den mit Satz gefüllten Winkelhaken ab und tritt vor die Tür. »Guten Tag. Ich bin Hermann Rauh.« »Werner. Werner Nusperli. Guten Tag, Genosse.«
Für einen Augenblick vereinen sich ihre Hände in festem Druck. So begrüßen sich Menschen, die miteinander verbunden sind. Fremde nicht. »Genösse Marchlewski hat mich angemeldet. Mein Beruf ist Schweizerdegen.« »Ja. Aber Sie sollten nachts kommen. Eben war Polizei hier.« »Ich gehe wieder und kehre zurück, wenn Dunkelheit niederkommt. Nur brauche ich Handwagen.« Nun, da alles in Fluß geraten ist, gibt es für Rauh kein Zögern, keine Unsicherheit mehr. »Der Handwagen steht dort im Schuppen. Wenn Sie durch den Garten nach hinten gehen, kommen Sie auf die andere Straße und müssen nicht hier vorn... Ich zeige es Ihnen.« »Besser nicht. Ich finde Handwagen allein, und ich habe gesagt, daß wir nur paar Worte wechseln würden. Nicht gut, unnütz Verdacht zu erregen. Bis heute nacht!« Er zieht wieder den Hut und geht durch die Toreinfahrt in den Hof - ein unscheinbarer Mann in einem bescheidenen Wintermäntelchen, wie sie um diese Zeit auf allen Straßen hundertfach zu sehen sind. Rauh hat, als er ihm einen Augenblick lang nachsieht, das gute Gefühl, daß man auf diesen Mann Häuser bauen könnte und daß es schön wäre, ihn in der Stunde der Gefahr neben sich zu wissen. Unversehens teilen sich dem Drucker eine starke Erregung mit, Freude am Kampf und Bereitschaft, sich einzusetzen. Auch um ein gutes Jahrzehnt jünger fühlt er sich, wieder zurückversetzt in die Jahre, in denen die Partei, illegal kämpfend und von den Geheimpolizisten und Gendarmen aller deutschen Könige und Fürsten gehetzt, die Aufhebung von Bismarcks Sozialistengesetz erzwang. Tage des Sieges ... Und wenn sich bei den Reichstagswahlen 1890 doppelt so viele Wähler für die Sozialdemokratie entschieden wie zuvor, so war das nicht zuletzt ein Sieg derer, die mit geheimer Arbeit in verdunkelten Druckereien unermüdlich gegen die Verteufelung der Partei durch die Anhänger des »Eisernen Kanzlers«, für die wahrheitsgemäße Unterrichtung und Aufklärung breitester
Bevölkerungskreise gerungen hatten. Nach dem Wahltag hatte Friedrich Engels triumphierend erklärt: »Der 20. Februar 1890 ist der Anfang vom Ende der Ära Bismarck.« Seit jenem Tage ist die Partei die stärkste auf deutschem Boden, und daß Otto von Bismarck im März des gleichen Jahres aus allen seinen Amtern scheiden mußte, war ein Sieg der Arbeiterklasse über ihren erbittertsten Feind. Sie hatte ihn hinweggefegt. Wie nah das auf einmal wieder ist! Aber als er in die Druckerei zurückkehrt, sagt Hermann Rauh ruhig und im Alltagston: »Mach nachher einen Bürstenabzug, Paul! Ich lese abends Korrektur.« Unwissend bringt Emma die Rede gerade auf das, was ihr Vater in den Hintergrund zu drücken wünscht. »Wer war der Mann, Vati?« Seine Stimme hält die vorgetäuschte Beiläufigkeit fest. »Wir haben uns mal irgendwo kennengelernt. Netter Kerl. Fragte nach dem Gemeindeamt... Na, nun weiß er Bescheid.« Das Thema ist damit abgetan. Rauh sieht auf seine Taschenuhr, murmelt etwas von Kundenbesuchen eines größeren Druckauftrages wegen, bindet den Lederschurz ab und geht ins Haus hinüber, um Mantel und Hut zu nehmen. Alltag ... Emma tritt neben Paul an den Setzkasten. »Warum bist du stumm wie ein Fisch? Rede doch!« »Jetzt nicht«, murrt er. »Mann, ist das ein verzwickter Text!« Und mit raschem Seitenblick: »Lenke mich bloß nicht ab, du!« Emma mault, aber dann legt sie den Kopf zurück und wippt auf den Zehenspitzen. Überlegen wirft sie hin: »Der Ausländer wußte viel besser als du, was sich gegenüber einer Dame schickt.« Nun grinst er. »Wo ist denn hier 'ne Dame?« Der Rippenstoß, den er daraufhin fängt, ist in der Tat alles andere als damenhaft. Eine kräftige, ans Zupacken gewohnte Mädchenfaust führt den Knuff recht spürbar aus. »Scheusal! Er hat sogar den Hut in der Hand behalten und mich mit Sie angesprochen. Das würde dir nie einfallen.«
»Nee«, bestätigt er schnell versöhnt und gemütlich. Der komplizierte Satz ist gerade beendet. Der folgende erfordert ungleich weniger Konzentration. »Von wem schwatzt du eigentlich, Emma?« »Na, von dem Mann der eben da war.« »Wieso war der ein Ausländer? Er sah doch ganz normal aus.« Emma lehnt sich an den Setzkasten, verschränkt die Arme und bewegt den Oberkörper wie ein Pendel hin und her. »Er sprach ein bißchen um die Ecke, weißt du. Wirklich nur ein bißchen, aber eben doch. Als bereite es ihm Mühe, die Worte aneinander zu hängen. Es klang anders, aber hübsch.« Paul Thomas läßt den Winkelhaken sinken und reibt sich die Nase. Er reibt sie lange, gerade so, als habe er sich in den Kopf gesetzt, die vielen Sommersprossen wegzureiben. Sein Gesicht verrät nicht, was in ihm vorgeht, aber seine glatte Jungenstirn überzieht sich mit Falten, die da nicht hinpassen. Auf einmal sagt er, und die Frage hat eine bemühte Interessenlosigkeit, die schlecht gespielt ist und mangelnde Übung in derlei Künsten verrät: »Aber dein Vater sprach von ihm als von einem alten Bekannten. War er denn mal im Ausland?« »Wozu denn?« erwidert sie arglos. »Kommst du vom Mond? In Leipzig kannst du jeden Tag eine Masse Ausländer kennenlernen. Nicht nur während der Messe. Das weiß jedes Kind.« Geradezu entwaffnend überzeugend ist das, aber Pauls Lust zum Detektivspiel hat Nahrung bekommen. Er sieht, gleichsam aus dem Nichts aufgetaucht, vor sich das, was seine Lieblingslektüre gern eine »heiße Spur« nennt. Vielleicht können die von Paul aus der Liste seiner Günstlinge gestrichenen Staubmäntel aus Schimmelpfengs Leipziger Büro ihre Überraschung gegenüber Dritten mannhaft verbergen, wenn sie plötzlich am Strande von Ahlbeck den Hochstapler entdecken, der einen messestädtischen Pfeffersack mit ungedecktem Scheck
betrog; vielleicht vermag Herr von Kopp keine Miene zu verziehen, wenn er auf die Fährte eines anarchistischen Bombenschmeißers stößt - Paul hat sich weniger in der Gewalt. »Ist ja aufschlußreich!« dehnt er. »Zu deinem Vater kommen Ausländer ...« Darin schwingt Triumph. Er entgeht Emma nicht, aber sie kann sich keinen Reim darauf machen. »Wie meinst du denn das?« fragt sie verdutzt. Sein Fehler ist ihm schon bewußt geworden. Jetzt setzt er eine so undurchdringliche Miene auf wie die sagenhafte Sphinx vor Theben. »Ach, nur so«, erwidert er, und das klingt neuerlich ganz falsch. »Laß mich in Ruhe. Siehst doch, daß ich arbeiten muß.«
3 Längst ist Mitternacht vorüber. Es schneit, und dieser stille, unaufhörliche Flockenfall, der dicht und lautlos niedergeht, gibt der Nacht eine seltsame tiefe Verschwiegenheit. Er engt den Gesichtskreis stark ein. Freistehende Häuser muten an wie verloren in einer unendlichen weisen Weite, wie ganz auf sich gestellt, wie abgeschieden von aller Welt. Spielerisch verwandelt der Schnee das alltägliche Erscheinungsbild der Dinge. Die Gebäude setzen hohe weifte Kappen auf und scheinen zu wachsen. Auf dürren Baumästen lagern sich Flockenschichten und geben ihnen ein bedeutsames, kräftiges Aussehen. Auch die Bäume wachsen, wachsen nach der Windseite zu in die Breite und legen einen schimmernden Wintermantel an. Straßen und Gehwege werden übergangslos eins, die Bordsteine verschwinden. Die Chaussee, die von Probstheida aus nach Leipzig führt und dabei das Restaurant »Napoleonstein« berührt - von hier aus befehligte Bonaparte während der Schlacht am 18. Oktober 1813, der »Völkerschlacht«, seine Truppen -, die Chaussee verschmilzt vollends mit Feldern und Wiesen. Atemlos ist die Stille. Es schneit. Leipzig selbst ist um diese Stunde so verschlafen wie seine Vororte. Auch der kleine Bayrische Bahnhof wirkt müde und blinzelt gleichsam nur mit einem Auge in die Nacht. Sie erhält durch den Schnee eine eigenartige schwache Helligkeit. Schlafen darf der Bahnhof nicht. Der wegen starker Verwehungen auf der Strecke verspätete Nachtzug aus München ist noch nicht herein. Übernächtigte Menschen, die auf liebe Ankömmlinge warten, harren seiner Ankunft. Es halten auch die Droschkenkutscher aus, die sich lohnende Fahrten versprechen. Die wenigsten von ihnen nennen eines der Elektromobile ihr eigen, die seit nunmehr siebzehn Jahren schon in Deutschland wie in Frankreich und in Großbritannien in Gebrauch sind. Ihre leise schnurrende,
fast lautlose Fahrt gilt als ausbündig vornehm. Aber teuer sind sie, teuer! Und die Leistung der Bleiakkumulatoren ist nicht besonders ... Die Mehrzahl der Kutscher hängt ihren Gäulen Futtersäcke um und Decken über, wickelt sich im Wageninneren in Schaffelle oder tritt in den Wartesaal, mit einem Grog für innere Erwärmung zu sorgen. Wach sind in dieser Nacht auf dem Bayrischen Bahnhof vor allem die Beamten der Eisenbahn. Sie arbeiten am tickenden Telegrafen und im Stellwerk. Sie unterhalten in zuverlässiger Disziplin die lodernden Feuer, die an allen Weichen brennen und deren Vereisen verhindern, und sie sind auch als Bahnpolizei zur Stelle, wenn randalierende Zecher die Station für ein Dauerrestaurant halten, in das bloß endlich ein bißchen Leben gebracht werden müßte. In dieser Nacht fassen auf dem Bayrischen Bahnhof Detektive der gewöhnlichen, von der »hohen« politischen mit milder Herablassung betrachteten Sicherheitspolizei einen Taschendieb, der sich auf Wartesäle spezialisiert hat und bereits seit Wochen sein Unwesen treibt. Eine Streife der »Sitte« nimmt zwei »Damen« mit, die in den Verdacht geraten, »Provinzonkel einholen« zu wollen, ohne den polizeiärztlichen Segen für dieses Gewerbe zu besitzen. Wie sie schimpfen, ist schon sehr gekonnt. Draußen hantiert ein Geschwader Besen und Wischlappen schwingender Reinigungsfrauen in einem bereitgestellten Zug, und ein Eisenbahner leuchtet mit der Handlampe auf die Achse und klopft die Bremsen ab. Unter dem Wasserkran schnauft eine kleine Lokomotive, als ob sie Asthma hätte. Die tröstliche Mitteilung, der Schnellzug sei nun gemeldet, von einem jungen Beamten fröhlich und munter in den schläfrigen Wartesaal gerufen, bringt ein wenig Bewegung auf den Bayrischen Bahnhof. Die Harrenden reiben sich den Schlaf aus den Augen und beeilen sich, aus dem abgestandenen Tabakrauch hinauszukommen in die kalte Frische des Bahnsteigs. Sie belebt und ermuntert. Auch Julian Marchlewski tritt hinaus und atmet tief. Die Hände in den Manteltaschen, schlendert er den Bahnsteig auf und ab - gelangweilt wie die anderen,
mißgelaunt wie die anderen. Wer schlägt sich schon gern eine Nacht um die Ohren? Er unterscheidet sich nicht von seinen Mitleidenden, und doch ist er hellwach, aufmerksam und voller Beobachtungsfreude. Sein Hin und Her, so zufällig es wirkt, dient der Feststellung, ob da jemand ist, der sich müht, ihn bei der spärlichen Beleuchtung nicht aus den Augen zu verlieren. Er lächelt entspannt, als er keine der sattsam bekannten Typen mit den betont ausdruckslosen Gesichtern entdeckt, die er in seinem bisherigen Leben zur Genüge kennenlernte. Weder der Typ ist da, der sich seriös-bürgerlich und wohlanständig gibt und der gefährlichste ist, noch der Typ mit der naßforschen, sportlich-schneidigen Note, der sich als Tennischampion oder Herrenreiter verkleidet, und auch jener Typ nicht, der abgewetzt und erbärmlich wirkt und sein zwielichtiges Gewerbe für einen Judaslohn ausübt. Die polizeiliche Informationskette scheint diesmal versagt zu haben, scheint wirksam getäuscht worden zu sein. Einen Mann mit Marchlewskis Erfahrungen im politischen Kampf verführt eine solche Feststellung nicht zur Unvorsichtigkeit. Auch, als er jetzt vor dem Zeitungswagen stehenbleibt - es sind Leute auf dem Bahnsteig, ein Zug wird kommen, ein anderer fahren, und da ist der Zeitungshändler natürlich zur Stelle -, versäumt er nicht, die Blicke wie zufällig schweifen zu lassen. Der fliegende Händler bietet bereits die Blätter vom Tage an, druckfeucht noch, eben aus der Maschine gekommen, gerade angeliefert. Das gilt allerdings lediglich für die in Leipzig hergestellten Zeitungen. Die »Dresdener Nachrichten« sind noch nicht da und liegen in der Ausgabe von gestern aus. In Wirklichkeit ist das kein Verlust, denn das Blatt aus der Residenzstadt spielt im politischen Leben Sachsens keine hervorragende Rolle. Den selbstbewußten Leipzigern erscheint es selbstverständlich, daß das offizielle, amtliche Organ des Königreichs ihre »Leipziger Zeitung« ist. Sie sagen gern, daß Dresden mit seinen herrlichen Schlössern und seiner malerischen Lage an der Elbe genau richtig sei als Sitz des Monarchen, daß aber der Herzschlag dieses industriellen, dieses Maschinenzeitalters am
stürmischsten und deutlichsten bei ihnen an der Pleiße pulse. Deshalb ... Julian schmunzelt. Die Herausgeber der »LZ« betonen gern, daß ihr Blatt Zeitungsgeschichte gemacht habe; es gehört zu den ältesten deutscher Zunge und erscheint seit 1660. »Stimmt«, denkt Marc hlewski. »Man merkt ihr das Alter am. Verteufelt senil wie diese ganze Monarchie .. .« Dann sind das »Leipziger Tageblatt« da, die »Leipziger Neuesten Nachrichten«, die immer noch stramm Bismarck- Kurs steuern und nicht begreifen können oder wollen, daß sie die überholte Politik von vorgestern propagieren, und auch die »Leipziger Volkszeitung« ist pünktlich ausgeliefert worden. Marchlewski hat sie bereits in der Tasche. Er war bis zum Andruck während der ersten Stunden des jungen Tages in der Redaktion und hat nach dem hastigen Bemühen, in letzter Minute die späten Depeschen und Telefonberichte auf den Nachrichtenseiten unterzubringen, eines der ersten aus der Maschine kommenden Exemplare mitgenommen. Kein Journalist, der das nicht täte! Nach der Eile der Schlußredaktion will er in Ruhe prüfen und einschätzen können, ob seine Arbeit gut war. Julians Blick geht gerade flüchtig auch über die illustrierten Blätter - die Berliner »Gartenlaube« ist da, die im deutschsprachigen Raum den absoluten Auflagenrekord hält, und die Leipziger »Illustrierte Zeitung«, der selbst das Lexikon »vortreffliche Leistungen artistischer Natur« bescheinigt -, als, zischend und in Dampf gehüllt, endlich der Schnellzug aus München in den Bayrischen Bahnhof einfährt. Er kommt so schnell herein, als wolle er durch seinen lärmenden Auftritt die Verspätung vergessen machen. Nun sprühen ganze Funkenkaskaden von den Bremsen, blockierende Räder kreischen über die stählerne Schienenstraße der Eisenbahn, und dann steht der Zug und stößt Dampffontänen aus seinen Ventilen. Über den Bahnsteig rumpelt ein gelber Karren zum Postwagen. Fremd sehen die Waggons aus in ihrem Kleid aus verharschtem Schnee und mit den Fenstern voller
Eisblumen, in die Geduld und Langeweile da und dort winzige Gucklöcher gehaucht haben. In die Abteile hineinsehen kann man nicht. Julian versucht nicht erst, die lange Wagenreihe abzulaufen. Er bleibt neben dem Ausgang stehen, die Hände in den Manteltaschen, die »LVZ« unter den Arm geklemmt. Daß er die vorübergehenden Reisenden mustert, fällt nicht auf. Das tun andere auch. Im übrigen ist ihm der Mann, den er erwartet, persönlich bekannt. Er würde ihn unter Tausenden erkennen. Er erkennt ihn nicht; er zuckt regelrecht zusammen, als die vertraute Stimme dicht neben ihm fragt: »Ach, verzeihen Sie bitte! Wenn Sie mir sagen könnten, wie ich zur Straße komme?« Es ist ein leises, belustigtes Lachen in der Stimme, gerade so, als mache dem Sprechenden die Verblüffung Marchlewskis Spaß. Der schaut noch einmal um sich, doch es kann wohl nicht anders sein: Diese Stimme kommt aus dem Munde eines Mannes, der höchstens in der kleinen, zierlichen Statur dem Erwarteten entspricht. Aber der ist jung, und dieser hier hat die Mitte des Lebens beträchtlich überschritten. Graumeliert zeigt sich der üppige Vollbart, der nach altväterlicher Mode in zwei Spitzen ausläuft, graumeliert auch das offensichtlich noch ungelichtete Haupthaar, das unter dem Schlapphut hervorquillt. Die Augen kann Julian nicht sehen, denn die Gläser des Kneifers, von dem ein Seidenband herabhängt, reflektieren blitzend das Lampenlicht. Alles in allem würde man sagen: Ein reisender Oberlehrer vielleicht oder ein Anwalt aus der Provinz auf dem Wege zu einer Verhandlung ... Ein reputierlicher Mann, gewiß, jedoch eben nicht der Erwartete. Da macht er eine Handbewegung, die mit einem Schlage Marchlewskis Zweifel beseitigt. Es ist eine bloße einladende Geste in Richtung des Bahnhofsvorplatzes, aber sie hat etwas so Typisches, Zwingendes, daß sie überzeugt. Nicht, daß sie etwas Theatralisches hätte, eine große Pose wäre — sie ist einfach voll ausgeführt und hat Energie. Und dazu sagt die bekannte Stimme, dies immer noch belustigt:
»Nun, wie ist es, lieber Freund? Wollen wir den Morgen hier erwarten, oder gehen wir?« »Natürlich gehen wir!« Marc hlewski nimmt dem alten Herrn den kleinen Koffer ab, obwohl er sein Gepäck beharrlich selbst tragen will. »Willkommen in Leipzig! Wir alle sind stolz. Sie bei uns zu haben, und glücklich, daß wir helfen können.« Der Strom der Reisenden ist noch nicht abgerissen. In ihm treten sie hinaus auf den Bahnhofsvorplatz. Hier rasseln jetzt Räder, surren ganz leise die Elektromobile und ist der vom Schnee gedämpfte Hufschlag der Droschkenpferde vernehmbar. Die Kutscher haben sich nicht verrechnet. Die Eingetroffenen haben es eilig, nach Hause oder ins Hotel zu kommen, auf jeden Fall in die Federn, und manche wollen bis ans andere Ende der Stadt. Lange Fahrten, hoher Lohn ... Drei, nun bloß zwei Wagen stehen noch da. Julian zögert. »Wollen wir nicht... ? Wäre der Zug pünktlich gewesen, hätten wir die letzte Straßenbahn nehmen können. Jetzt ist Betriebsruhe. Die erste fährt in einer halben Stunde.« Der Vollbärtige mit dem Kneifer nickt. »Prächtig, ganz prächtig! So können wir ein Stück laufen. Still sitzen mußte ich nun lange genug; ja, ich würde mir recht gern ein wenig die Beine vertreten. Wenn es Ihnen nicht zu beschwerlich ist, heißt das.« »Aber ich bitte Sie, Genösse ...« Der andere unterbricht ihn. »Meyer, lieber Freund, Meyer aus München. Dem Paß zufolge Privatgele hrter.« Er spricht akzentfrei deutsch, nur ein wenig hart und gelegentlich mit Kehllauten, wie es die russischen Emigranten tun. Bloß muß man bei ihm sehr genau hinhören, um das wahrzunehmen. Leipziger könnten, wenn sie nur selten Berührung mit Bayern haben, seine Aussprache durchaus für eine bajuwarische halten, die ja, am singenden sächsischen Dialekt gemessen, unglaublich hart ist.
»Lassen Sie uns an den Schienen entlang bis zur nächsten oder übernächsten Straßenbahnhaltestelle vorausgehen«, fährt Meyer fort. Nach wie vor schneit es. In diesem Flockenwirbel sind die Männer so gut wie allein. Schemenhaft tauchen manchmal einzelne Arbeiter vor ihnen auf, die mit weit in die Stirnen gedrückten Mützen vorüber eilen, einmal ein mißgelaunter Streifenschutzmann — aber diese Begegnungen haben etwas traumhaft Unwirkliches, fast Gespenstisches. »Wie sieht es bei Ihnen in München aus?« fragt Marchlewski leise. »Wir brennen vor Ungeduld auf die Zeitung. Daß es nun soweit ist — wunderbar! Die heißesten und sehnsüchtigsten Wünsche haben mich nach Leipzig begleitet. Ich bin selbst sehr glücklich, warum sollte ich es leugnen. Kommt Genösse Blumenfeld voran?« »Seit seiner Ankunft arbeitet er Nacht für Nacht. Übrigens nennt sich Joseph Blumenfeld hier Werner Nusperli.« »Ein Schweizer Paß, ich weiß. Sein wirklicher Name steht in den Suchlisten der Ochrana an zu auffälliger Stelle. Es wäre mir sehr lieb, wenn ich ihn in Leipzig sicher und bei freundlichen Menschen untergebracht wüßte.« »Dafür ist gesorgt«, versichert Julian. »Er wohnt bei Karl Pinkau, einem unserer Reichstagsabgeordneten. Da ist es, als wäre er bei seinem Bruder.« »Fällt es auf, wenn er das Haus verläßt oder betritt?« »Kaum, Genosse Meyer. Karl Pinkau ist im Zivilberuf Lichtbildner. Die verschiedensten Menschen gehen Tag für Tag in sein Atelier, um ihr Konterfei mittels Foto für die Nachwelt zu erhalten. Die Nachbarn sind an das Kommen und Gehen gewöhnt und achten nicht mehr darauf. Aus diesem Grunde haben wir uns für Pinkaus Wohnung entschieden.« Der andere nimmt für Sekunden den Kneifer ab und massiert mit Daumen und Zeigefinger die schmerzende Nasenwurzel.
»Wenn es einen Teufel gäbe, sollte er den holen, der dieses Gerät erfunden hat«, stöhnt er unvermittelt. »Es verändert seinen Träger prächtig, nun ja, aber wenn man nicht daran gewöhnt ist, bereitet es einem Höllenqualen.« Nichtsdestotrotz setzt er den Kneifer sofort wieder auf, nachdem er ihn noch vom Schnee gereinigt hat. »Es ist mir lieb, zu hören, daß Blumenfeld ..., daß Werner in guter Obhut ist.« Sie stapfen weiter durch den hohen Schnee. »Wir haben gedacht, es sei am besten, wenn Sie direkt in der Druckerei wohnen und gar nicht auf die Straße gehen müssen. Genosse Meyer.« Meyer winkt ab. »Nur, wenn es überhaupt keine Schwierigkeiten macht! Meinetwegen ke inerlei Umstände, darum bitte ich sehr herzlich. Es ist genug, wenn wir dort drucken können.« »Hermann Rauh freut sich, Sie gleich im Hause unterzubringen. Es bietet am meisten Sicherheit.« »Das gewiß.« Eine Haltestelle liegt schon hinter ihnen, und bis jetzt läßt sich keine Straßenbahn hören. Also gehen sie in stillschweigendem Einverständnis weiter zur nächsten. Meyer fährt fort: »Es ist gut, glaube ich, daß wir uns alle darüber klar sind, wie gefährlich das Vorhaben besonders für die Leipziger Genossen ist. Einerseits können Sie hier natürlich geradezu ideale Druckmöglichkeiten aufbieten - widersprechen Sie nicht; jeder Publizist, der sein Fach versteht, beneidet Leipzig um sein graphisches Gewerbe -, aber andererseits sind Sie gerade hier auch den Nachstellungen einer Geheimpolizei ausgesetzt, die durch ständige Berührung mit Ausländern ganz ungewöhnlich gut trainiert ist. Die preußische arbeitet mit den plumpen alten Stiebereien, ist überheblich und zu sehr von der eigenen Vortrefflichkeit überzeugt, um ernsthaft durchschlagende Erfolge zu erzielen; die bayrische ... Bis jetzt hat sie unsere Arbeit nicht gestört, ahnt vielleicht nicht einmal von ihr. Zuviel Bier, wissen Sie . .. Hier dagegen ... Wir werden die erste Nummer in Leipzig drucken, wenn uns das Glück nicht in letzter Minute verlädt, aber zugleich unsere Suche nach
einem Druckort mit möglichst geringem Risiko für unsere Freunde fortsetzen.« »Die Genossen hier sind mit Begeisterung bei der Sache, und alles andere als furchtsam.« Meyer nickt. »Um so mehr Grund für uns, uns um sie zu sorgen, lieber Freund. Menschen sind uns kostbar, denke ich, denn wäre es anders, würden wir nicht danach streben, ihr Leben reicher und gerechter einzurichten. Nein, nein, wir werden in Leipzig drucken, solange wir keine andere Möglichkeit sehen, und wir werden es voller Dankbarkeit und voller Bewunderung für den Mut von Ihnen allen tun, aber wir wollen mit diesem Mut und dieser Bereitschaft zur Tat nicht leichtfertig umgehen. Auf keinen Fall!« Er wechselt das Thema. »Werden wir so rechtzeitig ankommen, daß ich Werner noch sprechen kann? Ich habe ein paar Änderungen mitgebracht, die ich gern eingefügt sähe. Eine stärkere Anknüpfung an die unmittelbaren praktischen Erfahrungen meiner Landsleute anstelle von etwas allgemeinem Gerede, an dem sich - leider! — unerfahrene und ihrer Aufgabe nicht gewachsene Kommunisten zu unserem Schaden gelegentlich ergötzen ... Eichenholzfeuer statt Strohflammen, verstehen Sie?« Das versteht Julian nur zu gut. »Wir kommen noch gut hin«, sagt er und schweigt dann, denn an der Haltestelle, die sie erreichen, steht eine Gruppe Menschen. Gleich darauf nähert sich der müde Trab des Straßenbahnvorspanns. Aus dem Flockenwirbel schälen sich die Lampen des Wagens heraus. Die beiden Männer steigen mit den übrigen Wartenden ein. Die erste Bahn ist stark besetzt; Sitzplätze sind nicht mehr frei. »Wir müssen nachher umsteigen«, sagt Marchlewski leise. »Diese Linie kehrt in einem Bogen in die Stadt zurück und schneidet die in unser Dorf bloß. Folgen Sie mir nur, wenn ich mich zum Ausstieg dränge.« Meyer nickt. Als der Kutscher aufmunternd mit der Peitsche knallt und der schwerfällige Wagen anruckt - es ist ein Phänomen, daß Pferde auf der Schiene das Vierfache des Gewichts bewegen können, das sie auf der Straße
fortbringen -, stehen der Gast aus München und Julian unter den schaukelnden Lampen wie Menschen, die einander nicht kennen und sich nur eben flüchtig auf dem Weg zu einer Haltestelle begegnet sind. Eine Begegnung, wie sie die Großstadt zu jeder Stunde zu Tausenden bereit hält... Dennoch haben sie auch in dieser Minute Gemeinsames. Beider Gedanken eilen der langsam dahinrollenden Bahn voraus, eilen ihr in gleicher Richtung voran und sind schon in der kleinen Druckerei.
4 Immer ist es Ilse Rauh, die morgens als erste das Wohnhaus verläßt und in die Druckerei hinübergeht. Sie wird früh wach und liebt es, den jungen Tag mit munteren Augen zu begrüben. Es hat sich so eingespielt, daß sie in der Druckerei aufwischt und sauber macht, während Hermann duscht und sich rasiert, und daß sie hernach Kaffee trinken und frühstücken, bis die Arbeit beginnt. Wie immer über Nacht ist die Druckerei abgeschlossen, aber als Frau Rauh öffnet, empfangen sie Wärme und Lampenlicht. Hinter sorgsam verhängten Fenstern steht Werner im Lederschurz und mit dem Winkelhaken in der Hand vor einem Setzkasten, der Paul Thomas und auch seinen Meister in arge Verlegenheit bringen würde. Nicht nur, weil sie die fremden Lettern nicht kennen, sondern auch, weil dieser Kasten mehr Fächer hat als die ihnen vertrauten. Die kyrillische Schrift hat mehr Zeichen als die lateinische. Werner reihte schon viele Zeilen an Zeilen und Zeilen zu Kolumnen. Es ist bereits eine Menge ausgeschlossener Text da, der auf seinen Umbruch wartet. Nebenbei sorgte der Mann, der in den Listen der Ochrana Joseph Blumenfeld, hier jedoch Werner Nusperli heißt, dafür, daß das Feuer im Ofenungetüm nicht ausging. Nur die Asche muß herausgenommen werden. »Guten Morgen, Genosse Werner«, sagt Frau Rauh. »Ach, du liebe Güte! Nun habe ich trotz aller Vorsicht ein Fußbad gemacht.« Sie denkt praktisch; mit großer Selbstverständlichkeit bringt sie jetzt immer, wenn sie aufwischen kommt, eine Riesentasse extra starken Kaffees mit herüber. Der Genosse hat die ganze Nacht gearbeitet er braucht einfach eine Aufmunterung seiner Lebensgeister. Es entgeht ihr nicht, daß der Schweizerdegen tiefe Schatten um die Augen hat, die ihn im Zusammenwirken mit den sprießenden Bartstoppeln sehr übernächtigt wirken lassen. »Werden Sie eigentlich niemals müde?« Er sieht sie freundlich an. »Guten Morgen. Habe keine Zeit, jetzt müde zu sein. Nachher im Bett - kein Toter schläft tiefer.« Er nimmt ihr die Tasse ab und trinkt in
kleinen Schlucken. Auf den Trunk hat er schon gewartet, und das freut Ilse. »Kaffee ist wieder ein Gedicht.« Die gewohnte Arbeit geht ihr flink von der Hand. Die Druckerei ist auch ihr Reich. Sie kennt hier alle Winkel, besonders aber die, in denen sich Staub und Schmutz mit besonderer Vorliebe niederlassen. »Kommen Sie denn gut voran?« fragt sie über die Schulter hinweg. »Was Satz angeht - ja«, erwidert er bereitwillig. »Was ganze Zeitung angeht — nein.« Und mit einem Stoßseufzer erklärt er sofort, woran das liegt: »Unsere Genossen sind wie alle Journalisten. Immer denken sie, Zeitung hat Gummiseiten und dehnt sich noch ein bißchen, wenn Text nur gut ist. Aber Zeitungsseite ist uneinsichtig und dehnt sich nicht. Also: Alle Artikel zu lang. Gehen nicht 'rein.« »Und nun?« »Habe schon Telegramm an vereinbarte Adresse geschickt, daß Herr Meyer sofort kommen und Rotstift mitbringen muß. Sonst geht es nicht weiter. - Marchlewski wird sich melden, sobald Antwort da ist. Die geht an ihn. Sie verstehen?« »Ja.« Sie tritt neben ihn und schaut neugierig auf den Winkelhaken. Längst hat sie gelernt, kopfstehenden Satz so mühelos zu lesen wie ein Fachmann. »Schade, daß ich nicht verstehen kann, was Sie da setzen.« . »Ich werde versuchen, zu dolmetschen, wenn wir fertig sind. Das da« - und für einen Augenblick ist in seiner Stimme eine stolze Freude, ist in ihr Genugtuung -, »das da wird Funke sein, der in Rußland das Feuer der Revolution entfacht. Sehr gut.« »Wie nennen Sie die Zeitung?« Er legt eine Reglette ein und beginnt mit der nächsten Zeile. »Wie ich gesagt habe: der Funke. Auf russisch: Iskra. Der Name ist das Programm.« Beinahe vorsichtig formen ihre Lippen das fremde Wort nach und lauschen seinem Klang. »Iskra... Das klingt gut.« Und übergangslos: »Es dämmert schon. Dabei haben wir die Zeit der langen Nächte.«
Nun erscheint auch Hermann Rauh in der Druckerei, rasiert und ausgeschlafen, mit blanken Augen. »Morgen! Wir müssen wegräumen. Bis jetzt hat niemand etwas bemerkt. So soll es auch bleiben.« »Muß es bleiben. Genosse Rauh, muß es bleiben!« Wieder ist eine Zeile ausgeschlossen, und nun tritt Werner an den blechbeschlagenen Tisch heran und hebt den neuen Satz aus dem Winkelhaken auf das »Schiff« hinüber, auf dem bereits lange russische Kolumnen stehen. »Schiffe« heißen Blechplatten mit drei Randleisten, auf denen sowohl Satz bereitgestellt wird als auch später die Zeitungsseiten umbrochen werden. Sie sind nur ein weniges größer, als es die fertige Zeitungsseite ist. »Ausbinden?« erkundigt sich Rauh sachlich und hat schon eine Kolumnenschnur zur Hand, die er um den neuen Satz legt, festzieht und mit einer Schlinge schließt, die ebenso haltbar wie leicht zu lösen ist. Das Ausbinden der Kolumnen verhindert das Auseinanderfallen der einzelnen Lettern, des Blindmaterials und der Regletten bei einer Erschütterung des »Schiffes«, durch die alle Arbeit zunichte gemacht werden würde. »Räumt ihr den Setzkasten weg«, drängt Ilse Rauh. »Ich nehme das Schiff. Es ist heute spät geworden.« Als Werner besorgt zufassen will, lacht sie ihm übermütig ins Gesicht: »Keine Angst! Wenn man so lange mit einem Buchdrucker verheiratet ist, unterläuft einem die Todsünde nicht mehr, den Satz zu quirlen.« Sie faßt das Schiff mit beiden Händen an den Längsseiten und zieht die Schmalseite mit der Randleiste an den Leib. Die offene Schmalseite muß beim Tragen leicht aufwärts zeigen, dann hält man die Blechplatte sicher. Der Drucker beobachtet sie mit unverhohlenem Vergnügen. Auch dieser ihrer Anteilnahme an seiner Arbeit wegen liebt Hermann Rauh Ilse. Sie ist ihm mehr als ausschließlich Frau; sie ist ihm ein lieber, besser: ein geliebter Kamerad, der in schönen wie in Tagen der Prüfung verläßlich und mithandelnd an seiner Seite geht. »Mach die Tür auf, Hermann!«
So geht sie in den Hof hinaus, wo der verschließbare Futterkasten unter den Kaninchenställen - ein bißchen Vieh hält in dem Dorf jeder - tagsüber das Ergebnis nächtlichen Fleißes verbirgt. Ein unscheinbareres Versteck als dieses läßt sich kaum denken, und es hat außerdem den Vorzug, äußerlich unverändert zu bleiben und das vertraute Bild des Hofes nicht anzutasten. Hier haben auch die Setzkästen mit den kyrillischen Lettern in Werners Abwesenheit ihren Platz. Rauh schiebt ein niedriges Fahrtischchen - auch Eisenblech - neben den Setzkasten. »Also los!« Sie spucken beide in die Hände, ehe sie nach dem Kasten greifen. Ihn herunterzuheben erfordert ihre ganze Kraft, denn der Kasten ist wie für die Ewigkeit aus schwerem Holz gefertigt, und die darin verteilten Lettern haben in der Masse ein schreckliches Gewicht. Unversehens röten sich die Gesichter der Männer vor Anstrengung, die Stirnadern schwellen an, und der Atem geht schwer. Aber mit Zähigkeit wuchten sie den Kasten hoch. »Vorsehen!« keucht Rauh. »Jetzt absetzen!« Er holt tief Luft. »Seit wir das machen, weiß ich ganz genau, wie schwer die Schwarze Kunst ins Gewicht fällt.« Sie schmunzeln beide und schieben den Fahrtisch der Tür zu. Er läuft auf Eisenrädern; so bewegen sich die übereinander gestellten Kästen leicht. Da schlägt das Telefon auf dem Schreibtisch an. Der schrille, durchdringende, lärmende Glockenton springt derartig unerwartet und grell in die stille Druckerei, daß die Männer zusammenzucken wie unter einem Peitschenhieb. Sie sehen zum Telefon hin und sich an, und unversehens ist viel schlecht verborgene Unruhe da, sorgen sie sich. »So früh?« Hermanns Stimme ist auf einmal rauh und belegt. Werner hält ihn am Ärmel fest, als der Drucker zum Apparat laufen will. »Halt! Nicht so schnell! Wäre dies normaler Tag, Hermann Rauh wäre noch nicht in Druckerei. Er würde in der Küche stehen, um sich beim Rasieren zu schneiden. Frau Rauh würde sauber machen, Klingel hören, zum Haus
hinüberrufen. Dann erst kommt Meister selbst und ist schlecht gelaunt. Noch kein Kaffee getrunken, verstehen Sie?« Der Drucker schluckt. »Kapiert. Ich habe keine Ahnung, wer mich zu so nachtschlafender Zeit...« Die Telefonklingel lärmt weiter. »Jetzt!« bestimmt Werner. »Ruhig bleiben. Genosse! Und wenn es kein guter Freund ist - sich sehr über frühe Störung wundern. Ich bringe Manuskript in Sicherheit.« Das Telefon schrillt. Rauh steht daneben. Er zögert jedoch abzuheben. »Ein guter Freund ... Glauben Sie, eine Warnung vor der Polizei... ?« Werner Nusperli rafft die handschriftlichen Manuskriptseiten zusammen, schiebt sie hastig unter die Weste und zieht den Rock über. »In Rußland und auch bei uns in Polen ist die Geheimpolizei nicht so höflich, ihre Besuche vorher anmelden zu lassen. Kommt wie der Blitz aus heiterem Himmel, schneller, als Freunde zusehen und warnen können.« Der Drucker schneidet eine Grimasse .»Im Königreich Sachsen eigentlich auch.« Der Fernsprecher läutet stur weiter, bis Rauh endlich doch die Hörmuschel abnimmt und sich zum Sprechtrichter neigt. »ArbeiterTurnzeitung, Buchdruckerei Rauh & Pohle. Hermann Rauh. - Ja, Fräulein, in Probstheida, Hauptstraße achtundvierzig. Stellen Sie durch, bitte!« Er legt flüchtig die Hand auf den Trichter und erklärt dem Schweizerdegen und auch seiner gerade zurückkehrenden Frau: »Leipzig.« Rauh beugt sich wieder hinab: »Ja? Hier spricht Hermann Rauh. Wer, zum Kuckuck, holt mich da vor Tag ... ?« Werner nickt zufrieden. Das ist die normale Reaktion eines Menschen, der mit sich und einer hohen politischen Polizei in bestem Einvernehmen lebt und ruhig schläft. Trotzdem atmet auch Nusperli erleichtert auf, als er Rauh sagen hört: »Du? Was ist denn? - Ja, ic h verstehe. - Nein, nein, wir haben alles vorbereitet. — In Ordnung, und Dank
für den Anruf. Wir sehen uns ja gleich.« Er hängt auf und läutet ab. »Bedankt er sich, kann es nichts Schlimmes sein«, schlußfolgert Werner trocken. »Im Gegenteil, es ist eine gute Nachricht«, versichert der Drucker. »Wenn wir nicht schon alle überreizt wären, hätten wir damit rechnen müssen. Marchlewski war es. Der erwartete Gast und er sind an der Ecke Ostplatz/JohannisAllee und kommen mit der nächsten Bahn. Den direkten Anschlußzug haben sie vorsichtshalber vorbeifahren lassen.« Er nimmt die Uhr heraus und läßt den Deckel aufspringen. »Wahrscheinlich steigen sie jetzt bereits ein, Julian und ...« »... und der Genosse mit dem dicken Rotstift!« ergänzt seine Frau heiter. »Damit der Funke ohne Verzögerung fliegt... Schön!« Zu dritt schieben sie den Fahrtisch hinaus in den Hof und mitsamt dem Setzkasten ins Versteck, dessen Vorhängeschloß Rauh dann noch einmal auf Festigkeit prüft. Die »Stallhasen« im Obergeschoß des Stalles erschreckt sein Rütteln sehr. Sie hoppeln ängstlich in die hintersten Ecken, bewegen die Löffel und haben sehr aufgeregte Näschen. Nachher nimmt der Drucker den Schneebesen und beseitigt umsichtig die tief in die weiße Decke gegrabenen Fahrspuren. So bereitwillig der Schnee sie aufzeichnete, so willfährig verdeckt er sie wieder. Die drei kehren in die Druckerei zurück. Die Fenstervorhänge bleiben noch zugezogen und lassen den niedrigen Flachbau in Steinwurfentfernung vom Wohnhaus nächtlich verträumt erscheinen, aber der Schlüssel im Schloß der Außentür wird herumgedreht und verriegelt den Eingang nicht mehr. Als von der Straße her die Klinke niedergedrückt wird, gibt er nach. Ein Schwall kühle, frische Winterluft weht herein. Mit ihr kommen der vollbärtige Herr Meyer und Julian Marchlewski. Auch Werner ist von dem Gast aus München echt überrascht. Einen Augenblick lang steigen seine Brauen verblüfft in die Höhe und verweilen dort, doch dann sinken sie herab. Nun ist es Zufriedenheit, die den
Gesichtsausdruck des polnischen Schweizerdegens prägt. Er akzeptiert Herrn Meyer. »Guten Morgen, Genossen«, sagt Julian in das neugierige Schweigen. »Hier bringe ich euch Genossen Meyer. Das ist die Familie Rauh, das ...« »Wir kennen uns», unterbricht der Besucher. Die Art, wie er Ilse Rauh, ihrem Mann und nun Werner Nusperli die Hand zur Begrüßung gibt, wischt anfängliche verlegene Fremdheit sofort hinweg. »Werner sagt mir gewöhnlich, daß meine Artikel zu lang sind. Dann beweise ich ihm, daß man kein Wort streichen kann, ohne der Sache zu schaden. Zum Schluß knirsche ich mit den Zähnen und mache genau das, was er verlangt — ich streiche. Dabei nehme ich mir immer vor, beim nächstenmal disziplinierter zu arbeiten. Ich fürchte, ich fürchte, ich habe wieder nicht Maß gehalten.« Jetzt, da er den Hut abgesetzt hat, sehen alle, daß das graumelierte Haar des »Privatgelehrten« in der Tat dicht und voll ist - ganz erstaunlich und selten bei einem Mann dieses Alters. Werner nimmt seine Worte sogleich auf. »In München haben wir ausgerechnet: Petitsatz kompreß. Aber Leipziger Genossen konnten nur Petitschrift auf Borgiskegel beschaffen. Petit ist acht Punkte hoch, Borgis neun. Und außerdem läuft die Schrift breiter, als wir dachten.« Meyer seufzt. »Womit bereits gesagt ist, daß es viel herauszunehmen gilt. Ich verstehe.« »Sehr viel!« bestätigt Werner. »Tausende von Druckzeichen, habe ich mitgeteilt. Nicht einmal Leipzig hat Gummiseiten.« Meyer hebt ergeben die Hände. Er wird sich der Notwendigkeit fügen. Ilses Sinn ist wieder einmal auf das Naheliegende gerichtet. »Legen Sie erst einmal ab. Genosse Meyer. Ich mache Ihnen einen Kaffee. Bitte, kommen Sie hinüber in die Wohnung. Dort ist es doch gemütlicher.« Der Gast zieht den Mantel aus, hebt wieder seinen Kneifer von der Nase und massiert die schmerzenden Druckstellen. Seine Augen, endlich sichtbar unter den
hochgezogenen dunklen, dichten Brauen, sind sehr ruhig, sehr forschend und klug. Sie weichen den Blicken der anderen nicht aus, sondern suchen sie vielmehr, halten sie fest und mühen sich, sie zu ergründen. Dabei ist ihnen viel gewinnende Freundlichkeit und Wärme eigen. »Kaffee nehme ich dankend an«, erwidert er. »Aber wenn wir ohne Gefahr noch ein wenig hierbleiben könnten ...?« »Das geht«, versichert Rauh. »Paul, mein Lehrling, ist so schnell nicht zu erwarten. Bis dahin...« »Dann bringe ich den Kaffee hierher«, beschließt seine Frau und ist schon auf dem Wege ins Wohnhaus. Meyer hat seinen Sakko geöffnet und die Daumen in die Ärmellöcher der Weste gehängt. So geht er, die Einrichtung der kleinen Druckerei genau und sachkundig musternd, durch den bescheidenen Raum mit den weißgetünchten Wänden. »Hier also ...«, sagt er mehr zu sich selbst als zu den anderen. »Ich habe mir unterwegs auszumalen versucht, wie sie denn aussehen wird, die Druckerei, in der die erste Iskra erscheint.. .« Als sei er mindestens Rauh eine Erklärung schuldig, wendet er sich unvermittelt zu diesem um. »Verstehen Sie, bitte: Ich habe den Plan dieser Zeitung lange Jahre hindurch wie ein geliebtes Kind gehegt und gepflegt. Ic h verbinde mit ihr untrennbar meine ganze Lebensarbeit. Die erste gesamtrussische marxistische Zeitung . .. Hier bei Ihnen also ...« »Und Sie sind nicht enttäuscht? Alles sehr bescheiden, bei Lichte betrachtet...« Er meint es so, wie er es sagt; er kokettiert nicht mit falscher Bescheidenheit. Freilich, die Druckerei der »Leipziger Volkszeitung« mit ihrem vergleichsweise hochmodernen Maschinenpark ist das nicht. Das weiß Meyer, und ein solcher Vergleich liegt ihm auch fern. »Wieso? Alles ist angemessen und zweckmäßig und deshalb schön.« Er führt den Gedanken noch weiter. »Nicht zuletzt erscheint mir schön, daß es eine Arbeiterzeitung im Geburtslande von Karl Marx, in Deutschland ist, die dem russischen Proletariat hilft, seine
revolutionäre Theorie durch die Iskra zum geistigen Allgemeinbesitz der Arbeiter und Bauern zu machen.« »Wir fassen das als eine Verpflichtung auf«, erklärt Rauh ein wenig hilflos. Große Worte sind nicht so sehr seine Sache. Er ist ein kluger Kopf, gewiß, jedoch nicht gewohnt, in so weiträumigen Zusammenhängen zu denken, wie sie Meyer mit Selbstverständlichkeit herstellt. Deshalb sagt er rasch: »Genosse Werner hat in den letzten Nächten schon eine Menge abgesetzt. Die Fahnen sind oben in Ihrem Zimmer. Sie werden dort ungestört arbeiten können.« »Darauf freue ich mich.« Marchlewski schaltet sich ein. »Ohne den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun«, beginnt er, und es drängt ihn, den Gast zu unterrichten, daß die Genossen in der Messestadt es bei der Beschaffung der Druckerei nicht bewenden ließen. »Wir sind in Leipzig dabei, den Versand zu organisieren. Wir denken an verschiedene Postämter ...« »... unter denen natürlich nie das Postamt Probstheida sein darf!« fordert Meyer schnell und zupackend mit einer erstaunlichen Fähigkeit, präzise und konzentriert auf ein neues Thema einzugehen und danach schöpferisch an seiner Beratung teilzunehmen. »Natürlich nicht!« bestätigt Julian bereitwillig. »Um eventuelle Recherchen der Ochrana und der sächsischen Geheimpolizei zu erschweren und den Druckort der Zeitung zu verschleiern, sollen die Pakete zunächst an Deckadressen in Belgien und in der Schweiz gehen, von wo aus ...« »... von wo aus«, unterbricht ihn Meyer lebhaft, »zuverlässige Genossen die Expedition nach Rußland übernehmen. Das ist durchdacht und klug.« Er lehnt sich mit dem Rücken an einen Setzkasten, stützt die Hände hinter sich auf, biegt den Oberkörper ein wenig zurück und hat ein Lächeln. »Sehen Sie, liebe Genossen, einen solchen Ruf geniest Ihre Partei: Wenn bei uns in Rußland eine im Ausland gedruckte revolutionäre Zeitung auftaucht, tippt auch der letzte Ochrana-Spitzel im ersten Dienstjahr auf einen deutschen Druckort. Ein wunderbarer Ruf - auch wenn er uns zu ein paar Umwegen zwingt. ..« Eine Pause entsteht.
Der Gast streicht sich über die hohe, gewölbte Stirn, als wolle er einen Anflug von Müdigkeit vertreiben. Was er in München sah und nun hier in Probstheida erlebt, zeigt ihm mit großer Klarheit, wie weit und schwer der Weg noch ist, der vor den Menschen in Rußland liegt. Sie stehen am Anfang, ganz am Anfang, und es nimmt nicht wunder, daß ihnen der Lebensstandard und die beruflichen Möglichkeiten ihrer deutschen Klassenbrüder märchenhaft und beinahe unglaublich vorkommen, was gelegentlich in der natürlich überspitzten Behauptung gipfelt, deutsche Arbeiter lebten durch die Bank wie Kapitalisten. Auch die Ergebnisse des erbitterten und opferreichen Kampfes der SPD - auch gegen Revisionismus und Opportunismus in den eigenen Reihen — müssen bei russischen Genossen wahrhaftig diesen Eindruck entstehen lassen. »Leider besitzen wir nicht genug Adressen«, unterbricht Marchlewski die schweifenden Gedanken des Gastes, bietet Werner einen Stumpen an und nimmt selbst einen. Der Schweizerdegen besitzt einen »Tausendzünder«. Beide Männer beugen sic h über das Flämmchen. Meyer ist sofort wieder bei der Sache. »Adressen habe ich bei mir.« Er löst sich vom Setzkasten, geht durch die Druckerei und lacht unbekümmert, als er lebhaft erzählt: »Um ein Haar wären sie verloren gewesen; fast hätte ich sie selbst vorsichtshalber vernichtet. Das war auf meiner letzten Reise zur Beschaffung von Anschriften, unmittelbar vor meiner Fahrt in die Schweiz. Plötzlich ist die Ochrana da! Womit ich ihren Verdacht weckte - wer weiß es! Jedenfalls sind die beiden Kerle flink und so gut gedrillt, daß ich nichts wegwerfen, nichts vernichten kann. Selbst in der Droschke halten sie mich den ganzen Weg über an beiden Ellenbogen fest. Ich gab das Material verloren.« »Aber Sie retteten es?« erkundigt sich Rauh gepackt. Meyer wiegt den Kopf. »Sagen wir besser: Gerettet wurde es durch eine Nachlässigkeit der Ochrana. Sie maß nämlich der alten Rechnung in meiner Tasche keine Bedeutung bei, und auf diese Rechnung hatte ich mit unsichtbarer chemischer Tinte die Adressen geschrieben.
Hätte man sie in das Polizeilaboratorium gegeben ...« Er hebt die Schultern. »Glück war es, nicht Verdienst.« Ilse Rauh kehrt zurück und setzt ein Tablett auf den blechbeschlagenen Umbruchtisch. Gleichsam ohne Übergang beherrscht der aromatische Duft starken Kaffees die kleine Druckerei. »Ach, diese Männer!« seufzt die blonde Frau tadelnd. »Da stehen sie und reden, und nicht einer denkt daran, daß unser Gast von der Reise müde sein könnte und sich vielleicht setzen möchte! Den Schreibtischstuhl hierher, Hermann!« Während er schuldbewußt den Sessel herüberrückt, deutet sie einladend auf ihr Gebräu. »Trinken Sie, Genosse Meyer! Er ist stark und wird Ihnen guttun.« Der Gast setzt sich gehorsam und greift mit spürbarem Bedürfnis nach der Tasse. »Sehr liebenswürdig. Er duftet wunderbar. Vielen Dank!« Er will das dampfende schwarze Getränk zum Munde führen, doch da beschlagen die Kneifergläser so, daß Meyer das Gefäß nur noch wie durch einen Nebel sieht. Er nimmt den Kneifer ab, läßt ihn am Seidenband baumeln und wiederholt den Versuch. Plötzlich stellt er die Tasse wieder hin. »Zu heiß?« erkundigt sich Ilse teilnahmsvoll. Meyer schüttelt heftig den Kopf. »Nein. Zu struppig. Der Bart, meine ich.« Er holt tief Luft und sprudelt dann mit einer Art komischer Verzweiflung hervor; »Hol's der Teufel, aber Herr Meyer zu sein macht das Leben sehr schwer. Esse ich Suppe - das meiste hängt in meinem Bart! Trinke ich Kaffee — die Hälfte verfängt sich in diesem Ungetüm! Das war schon während der Bahnfahrt eine Qual!« Sich mit einer seiner schnellen, energischen Gesten umwendend, die so typisch für ihn sind, sucht er Julian mit den Augen. »Was meinen Sie, Genösse Marchlewski: Muß ich hier unter Kampfgefährten diesen schrecklichen Wangenwärmer tragen?« Werner antwortet, und seine Stimme hat etwas Flehendes: »Könnte sein, jemand kommt...« Diese Möglichkeit schließt der Drucker aus, ohne sofort zu erkennen, worum es eigentlich geht. »Vor
Arbeitsbeginn erscheint niemand. Wir bringen den Genossen Meyer rechtzeitig aufs Zimmer.« Ilse Rauh versteht nicht recht, warum der Gast, Werner und auch Marchlewski belustigt schmunzeln, als sie hilfbereit vorschlägt: »Wenn Sie sich schaben möchten - in der Küche drüben ist Hermanns Rasiermesser nebst Seife und Pinsel. Auch heißes Wasser ist da.« Meyer hält das Lächeln fest. »Verbindlichen Dank, aber ich habe den Vorzug, in diesem Fall kein Messer zu benötigen.« Länger hält er es nicht aus. Zwei schnelle Griffe, und er hält den üppigen Vollbart und auch das dichte Haupthaar, das sich als Perücke entpuppt, in den Händen. Die Verwandlung ist so groß, daß Rauh mehrmals schluckt und seine Frau erschrocken die Hände vor den Mund nimmt. Statt des würdigen Privatgelehrten fortgeschrittenen Alters sitzt vor ihnen ein Dreißigjähriger mit kleinem blondem Oberlippen- und Spitzbart. Der mächtige Schädel, von einem kurz geschorenen Haarkranz umgeben, hat sich sehr früh gelichtet. Der Gast fährt rasch mit der Hand darüberhin und zeigt angesichts der Verblüffung des Ehepaares Rauh eine beinahe schuldbewußte Miene. Dann aber sagt er burschikos und offensichtlich erleichtert: »So weit Herr Meyer! Machen wir uns noch einmal bekannt: Uljanow, Wladimir Iljitsch. Der nun mit Genuß Kaffee trinken kann ...« Jetzt steht dem Trinken nichts mehr im Wege. »Prächtig, Genossin Rauh! Wirklich!« Werners Augen lachen. Er hat die jähe Demaskierung mit unverhohlenem Vergnügen verfolgt, und es ist, als könne er sich nun nicht satt sehen an dem vertrauten, ihm seit langem bekannten Gesicht. Marchlewski teilt seine Begeisterung keineswegs. »Gefährlich, was Sie tun, Wolodja«, urteilt er knapp. Das bestreitet Uljanow gar nicht. »Aber angenehm! Sie ahnen nicht einmal, wie angenehm«, erwidert er ein bischen kleinlaut. »Sehen Sie mich, bitte, nicht so böse an! Wenn ich das Haus verlasse, dann nicht ohne Bart, Haar und Kneifer, die drei Zierden eines standesbewufiten Privatgelehrten. Einverstanden?«
Julian schweigt. Werner reifjt das Gespräch an sich und führt es auf eine andere Ebene. »Waren Sie in Paris bei Plechanow, Wladimir Iljitsch?« Auch nach der Lüftung der Maske sprechen sie weiter deutsch miteinander, um die Rauhs nicht auszuschließen. Uljanow läßt die Diskussion über Bart und Perücke sogleich fallen, die ihm unwichtig und nebensächlich erscheint. Was Werner anspricht, das ist viel näher und vordringlicher. Voller Spannkraft springt er auf. »Ja, und da wäre der Funke beinahe erloschen, ehe er nur zu glimmen begann. Mit Ach und Krach habe ich die Zustimmung zur Herausgabe erhalten. Diese Leute, die das Beste auf untaugliche Weise wollen, das Verhältnis der Klassenkräfte falsch begreifen und letztlich von uns verlangen, wir dürften die liberale Bourgeoisie nicht mit dem roten Gespenst des Sozialismus schrecken! Leugnen die revolutionäre Rolle der Bauernschaft und fordern die Orientierung des Proletariats auf die Bourgeoisie ... Was für ein Unsinn! Ach, was für ein Unsinn aus dem Munde von gescheiten Leuten mit unbestrittenen Verdiensten!« Er winkt ab und setzt neu an: »Sie türmen einen Berg von Wenn und Aber vor sich auf und sehen nur eines nicht: Worauf es ankommt! Denn worauf kommt es an? Nun, es kommt darauf an, die vielen zerstreuten kleinen marxistischen Zirkel und Gruppen zusammenzuschließen zu einer konsequent revolutionären, zu einer einheitlich handelnden Kampfpartei! Unsere Iskra kann ..., nein, unsere Iskra muß Organisator und geistiger Führer dieser sich formierenden Kraft werden. Einfach und logisch ist das, sollte man denken, aber Plechanow.. . Ach!« Doch er gibt sich dem Arger nicht hin. »Können wir Anfang Januar erscheinen. Genosse Rauh?« »Unbedingt!« versichert der Drucker überzeugt. »Sobald Werner mit dem Umbruch fertig ist, arbeitet unsere Schnellpresse nur für Sie.« Uljanow freut sich. »Wunderbar!« Er ist jetzt nahe dem Fenster und lupft den Vorhang einen Spalt. Es schneit immer noch, als wolle dieser weiße Niederschlag niemals
aufhören, aber nun hat eine graue Helligkeit von großer Monotonie das nächtliche Dunkel abgelöst. Irgendwo über den unaufhörlich sinkenden Flocken muß eine kraftlose Wintersonne den Horizont erklommen haben und langsam höher steigen. »Es wird Tag«, sagt Wladimir Iljitsch, »ja, und der Rotstift will arbeiten.« »Ich bringe Sie hinauf in Ihr Zimmer« erbietet sich Ilse Rauh. »Es ist geheizt und wird bald schön warm sein.« Zweifellos hat sie Feuer gemacht, während vorhin das Kaffeewasser auf dem Herd stand. »Kommen Sie!« »Sofort.« Er nimmt sein Köfferchen und wirft den Mantel über die Schulter. Doch dann dreht er sich noch einmal zum Mettagetisch zurück und stopft Perücke, Bart und Kneifer in die Taschen. »Ich darf Herrn Meyer nicht vergessen, sonst zankt Marchlewski mit mir. Er hätte sogar recht.« Werner räuspert sich. »Auf den Fahnenabzügen in Ihrem Zimmer stehen Zahlen«, erklärt er mit einem Unterton, der unheilverkündend klingt. »So viel muß 'raus, Wladimir Iljitsch. Es handelt sich um Zeilen, nicht um Buchstaben.« Uljanow nickt gefaßt. »Ich verspreche, einsichtig zu sein.« Damit folgt er Frau Rauh. Marchlewski setzt den Hut auf. »Es wird Zeit für mich. Du weißt, wo ich zu erreichen bin, Hermann. Und achtet auf ihn, ich bitte euch sehr.« Der Drucker hält ihn am Ärmel fest. »Nur eines noch, Julian! Das ist doch nicht etwa derselbe Uljanow, der die Geschichte des Kapitalismus in Rußland geschrieben hat?« »Derselbe, Genosse Rauh!« antwortet Werner rasch. »Er schrieb das Buch in Sibirien, in der Verbannung am Ende der Welt. Warum sollte er es nicht sein?« »Ich hatte ihn mir älter vorgestellt. Eine so großartige und kenntnisreiche wissenschaftliche Arbeit... Da erwartet man einen Mann mit reicher Lebenserfahrung.« »Lebenserfahrung und Reife sind nicht unbedingt eine Frage des Alters. Mancher gewinnt beides nie, mancher sehr früh«, widerlegt ihn Julian. »Er ist auch der Uljanow,
der in Petersburg die marxistischen Zirkel zum Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse zusammenschloß. Du mußt davon gehört haben. Wir haben ausführlich vom Amoklauf der Ochrana gegen den Kampfbund berichtet.« »Ich weiß, ich weiß. Jetzt, da du mich daran erinnerst ...« Rauh dreht seine Schnurrbartspitzen hoch und sucht Julians Blick. »Was ich tun kann, das geschieht. Verlaß dich darauf.« Sie trennen sich mit festem Händedruck. Werner Nusperli nimmt seinen Mantel und schließt sich gleich an. Gemeinsam gehen die beiden Männer hinten hinaus durch den Garten und erreichen auf Umwegen und aus unterschiedlicher Richtung getrennt die Straßenbahn. Sie ist um diese Zeit voll besetzt. So nahe der großen Stadt gelegen, ist Probstheida längst kein reines Bauerndorf mehr. Viele Einwohner erreichen von hier aus Leipziger Fabriken und Handwerksbetriebe. Sie benutzen die Bahn immer zur gleichen Zeit, und Werner achtet sehr darauf, seine eigene Fahrzeit von Tag zu Tag zu ändern. So bleibt er ein zufälliger Passagier, ein Besucher vielleicht, und niemand kommt auf die Idee, in ihm einen neuen Nachbarn zu sehen, mit dem man schwatzen könnte und den seine Aussprache verraten hätte. Den Schaffnern ist der wortkarge Reisende gleichgültig. Tagtäglich und Stunde um Stunde begegnen sie einer Vielzahl fremder Gesichter.
5 Hermann Rauh zieht die Fenstervorhänge auf. Die Lampen läßt er brennen. Sie werden den ganzen Tag über leise zischen, denn bis zum späten Abend wird es nicht richtig hell werden. Der Himmel scheint einen unerschöpflichen Vorrat an Schnee zu besitzen und damit die ganze Erde zudecken zu wollen. Der Drucker sieht kopfschüttelnd hinauf, ehe er sich anschickt, das Kaffeegeschirr auf dem Metagetisch zusammenzuräumen und auf dem Tablett zu vereinen. Er ist noch dabei, als Emma aus dem Wohnhaus herüberkommt und auf ihn zuläuft, um ihm den GutenMorgen-Kuß zu geben. Von klein an kennt sie es nicht anders. »Was ist denn los, Vati?« fragt sie gleich lebhaft. »Wer läuft da um diese Zeit im Hause herum, und überhaupt...« Ihr Blick entdeckt die Tassen .»Warum steht hier soviel Geschirr?« Nun erweist es sich als gut, daß Julian Marchlewski die Frage des Verhaltens gegenüber dem Lehrling und Emma bereits bei ihrer ersten Besprechung aufwarf. Der Drucker hat Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie er seiner Tochter gegenübertreten kann und will. So sagt er jetzt ohne Verlegenheit und mit großer Selbstverständlichkeit: »Daß Schritte im Haus sind und daß hier Geschirr steht, das träumst du nur, mein Mädel.« »Quatsch!« protestiert Emma entrüstet. »Ich bin wach und weiß, was ich höre und sehe.« Rauh lächelt. »Aber du wirst gleich selbst sagen, daß es ein Traum war. Bestimmt!« Er setzt sich und streckt die Hände nach ihr aus. »Komm mal zu mir und höre zu.« Er streicht ihr übers Haar und sagt ernst: »Also, dann laß uns jetzt mal vernünftig reden. Glaubst du, daß ich krumme Wege gehe?« Ein noch prüfenderer, suchender Blick trifft ihn. Dann wiegt Emma auf einmal die Worte sorgsamer ab: »Ihr werdet wissen, was ihr tut. Und daß es nicht anders geht.«
In diesem Augenblick erscheint sie ihm überraschend erwachsen und fraulich und in der Tat kein bißchen verspielt. »Ich habe längst die alten Zeitungen durchstöbert, die auf dem Boden liegen. Die Tribüne, bei der du Redakteur warst... Und zusammengebundene Stöße der Blätter, die illegal hereingebracht wurden, als die Partei verboten war. Den Sozialdemokrat vor allem. Du hast damals auch ... Ja?« »Ja«, bestätigte Rauh, ohne ein Aufheben davon zu machen, daß er ein Glied in der Kette der »Roten Feldpost« von Motteier war, die während des Sozialistengesetzes die illegal in der Schweiz gedruckte Parteipresse zuverlässig in die Hände der Genossen brachte und sie dadurch zusammenhielt in den harten Stunden der Bewährung. Auch Korrespondenzen hat er geschrieben und gelegentlich beigesteuert zur Spalte »Die eiserne Maske«, in der Spitzel und Achtgroschenjungen der politischen Polizei bloßgestellt und dadurch unschädlich gemacht wurden. Von der »Roten Feldpost« haben Ilse und er Emma erzählt, aber sie hielten es nicht für nötig, ihre eigene Mitwirkung anders als am Rande zu erwähnen. Warum? Andere Genossen hatten unter schwereren Bedingungen mehr getan als sie. Nun erriet Emma offensichtlich die Zusammenhänge zwischen den alten Zeitungen, die schon gelb werden und Geschichte sind, und den Erzählungen der Eltern. Sieh mal an! Und er hat gedacht, sie lebe unbekümmert und fröhlich dahin und man müsse noch warten, bis man bei ihr Verständnis für das eigene kampferfüllte und gar nicht immer leichte Leben finden würde. Sie steht energisch auf und streicht sich mit einer raschen Bewegung den langen Rock über den Schenkeln glatt. »Alles klar, Vati. Von den Schritten habe ich geträumt, und das Geschirr stand nie hier. Von einem Gast weiß ich nichts.« Aber die Neugier ist doch ein wenig stärker als ihre bekundete Bereitschaft zu schweigsamer konspirativer Hilfe. »Es ist ein Arbeiterführer, der in Leipzig unerkannt bleiben muß, nicht wahr?«
Der Drucker bestätigt das mit einem Kopfnicken. »Ich glaube, wir werden einmal sehr stolz darauf sein, daß er hier bei uns gearbeitet hat, Emma. Aber wenn du dich nicht in der Gewalt hast und auch nur ein unbedachtes Wort verlierst...« Jetzt ist sie beinahe beleidigt. »Wer bin ich denn?« verwahrt sie sich gegen eine solche Zumutung. »Glaubst du, daß ich die Typen von der Geheimpolizei anhimmle? Bin ja nicht Paul. Ich verliere den Verstand nicht, bloß, weil jemand wie Graf Koks von der Gasanstalt im Motorenwagen daherkommt. Da kannst du ganz sorglos sein. Oberflächenvergaser... Nee!« Sie schüttelt sich und hat auf einmal wieder den heiteren Ton: »Glaubst du, daß wir den noch einmal großkriegen?« Hermann Rauh tritt zur Tochter und legt ihr den Arm um die Schulter. Auf ihre Frage antwortet er sehr schlicht: »Er weiß noch nicht, wohin er gehört. Deshalb zu ihm kein Wort, hörst du? Zu niemandem ein Wort.« Emma hält ihm die Hand hin. »Zu niemandem.« Rauh schlägt fest ein. »Also — ich verlasse mich auf dich!« »Kannst du auch, Vati.« Das Versprechen hat ihrerseits eine gewisse Feierlichkeit, doch die hebt sie sofort selbst auf mit einem burschikosen: »Na, dann will ich das Zeug mal 'rausschaffen, ehe der Oberflächenvergaser kommt.« Sie nimmt das Tablett mit dem Geschirr auf und bringt es hinüber ins Wohnhaus. An der Druckereitür begegnet ihr die zurückkehrende Mutter, hält bereitwillig den Flügel auf und geht dann rasch auf Hermann zu. »Sie hat das Geschirr«, sagt sie besorgt. »Emma steckt voller Neugier. Was hast du ihr verraten ?« »Die Wahrheit, Ilse. Erst einmal einen Teil davon.« Sie sucht seinen Blick. »Und du glaubst, daß sie ...?« »Sie ist unsere Tochter und kein Kind mehr«, erwidert er langsam und mit einem Unterton glücklichen Stolzes. »Das hat sie mir eben sehr deutlich klargemacht. Hält sie dieser Belastung nicht stand, haben in erster Linie
wir versagt.« Sehr überzeugt schließt er: »Ich glaube, sie hält stand.« Ilse genügt das nicht. »Glaubst du, oder bist du sicher?« Ohne zu zögern geht er einen Schritt weiter. »Ich bin sicher.« Seine Frau erwidert nichts. Sie tritt an eines der Fenster an der Straßenfront und schaut zum Himmel. »Der Tag wird schön ...« Rauh bindet den Lederschurz um und nimmt seinen Winkelhaken. »Das Frühstück lassen wir besser ausfallen, Ilse. Paul ist gewohnt, daß ich schon hier bin, wenn er kommt, und für ihn muß alles unverändert wirken. Ich komme nachher mal 'rüber, einen Happen essen.« Er beginnt zu setzen. »Übrigens warst du morgens nie in der Druckerei, wenn der Junge aufkreuzte ...« »Ich gehe schon«, sagt sie einsichtig, doch dann bleibt sie noch einmal bei ihm stehen. »Herr Meyer wollte nicht schlafen. Er ist gleich an die Arbeit gegangen«, erzählt sie. »Über den Samowar freut er sich.« »Ist der in Betrieb?« »Natürlich habe ich ihn mit Holzkohle bestückt und angeheizt. Was dachtest du denn?« »Paul...«, sagt Rauh und deutet zum Fenster hinaus. Der Lehrling kommt munter und eilig die Hauptstraße herunter. »Ich bin schon weg.« Paul Thomas trifft sie nicht mehr an, als er mit einem Hauch Morgenkühle hereinwirbelt und gleich die etwas eng gewordene Joppe ablegt, in deren Tasche er seine Schirmmütze stopft. Der Schirm hat längst einen Bruch, es kommt nicht mehr darauf an. »Guten Morgen, Meister«, ruft er fröhlich und bindet schon den Lederschurz um. »Bis Mittag bin ich mit dem Radsport fertig, wetten?« Paul nimmt seinen Winkelhaken und tritt an den Setzkasten heran, auf dem das Manuskript liegt. Es liegt so
da, wie er es gestern zurückließ. In der Tat wirkt die Druckerei unverändert und trägt keine Spuren der nächtlichen konspirativen Arbeit. Alles ist so, wie es der Lehrling auch gestern sah. Hermann Rauh ertappt sich dabei, daß er diesen Sachverhalt noch einmal mit kritischem Blick überprüft, während er scheinbar gelassen der gewohnten Tätigkeit nachgeht. Er ist zufrieden. Nichts ist da, was die Neugier des Jungen, eine unerwünschte und unter Umständen folgenschwere Neugier, erwecken könnte. Heimlich atmet Rauh auf. In diesem Moment schnuppert Paul und fragt überrascht: »Alle Wetter! Wonach riecht es denn hier so gut?« Hermann Rauh hält sekundenlang die Luft an. Jetzt... Aber er hat sich in der Gewalt. Ohne eine Miene zu verziehen, mit gänzlich unveränderter Stimme wirft er trocken hin: »Wahrscheinlich nach Druckerfarbe, wie immer. Das ist nun mal für unsereinen der schönste Geruch der Welt.« Paul schüttelt den Kopf. »Nee, viel besser!« Seine vorwitzige, mit Sommersprossen gesattelte Nase schnüffelt immer noch eifrig, und dann verkündet der Junge stolz: »Ich hab's! Nach Kaffee riecht's! Und unheimlich stark muß der gewesen sein - die reinste Wucht!« Vorwurfsvoll fährt er fort: »Und mir sagen Sie immer. Sie hätten einen schwachen Magen und dürften gar keinen Mokka trinken ... Mokka war das aber mindestens.« In den Worten ist ein gewisser wohlmeinender Tadel, der besorgte Anteilnahme an der Gesundheit des Meisters einschließt und Rauh ein wenig rührt, so ungelegen ihm diese Fürsorge kommt. Er tritt sogleich auf die Brücke, die ihm der Junge ahnungslos baut. »Hast recht, mein Junge«, erwidert er freundlich und hat das unangenehme Gefühl, daß das alles furchtbar falsch und aufgesagt klingt. »Alter schützt vor Torheit nicht, Paul. Ich arbeite schon eine Weile, weil ja soviel anliegt, und ich war müde. Jetzt geht es wieder.«
Wenn er denkt, die Gefahr damit gebannt zu haben, irrt er sich. Paul ist noch nicht beruhigt, und er ist es nicht, weil ihm sein fein entwickeltes Riechorgan eine weitere ungewöhnliche Besonderheit dieses Morgens signalisiert. »Und geraucht haben Sie auch!« fährt er verblüfft fort. »Ich kenne Sie ja nicht wieder, Meister!« Die Stumpen von Marchlewski und Werner... Daran hat der Drucker nicht gedacht. Erst jetzt, da Paul davon spricht, wird ihm der Tabakgeruch im Raum um das Ofenungetüm herum bewußt und gegenwärtig. Der muß in der Tat befremden und auf nächtlichen Besuch hinweisen, da Rauh selbst Nichtraucher ist. Hätte er doch bloß daran gedacht, zu lüften! Der Tabakgeruch ist nicht so mühelos zu erklären wie der nach Kaffee. »Jetzt geht deine Phantasie mit dir durch«, behauptet Rauh und wundert sich, daß Paul die Hilflosigkeit der Ablenkung nicht spürt. Er muß also im Grunde arglos sein, ganz arglos. »Mach da weiter, wo du gestern aufgehört hast. Sonst schaffst du es nicht bis Mittag.« Das klingt abschließend, aber der Junge bleibt hartnäckig. »Meine Nase ist zuverlässig«, verteidigt er seine Feststellung. »Wenn sie sagt, hier ist geraucht worden, dann ist hier geraucht worden, und wenn Sie mich schlagen. Hundertprozentig!« Rauh weiß nicht recht ob er lachen oder weinen soll. Es ist eine so seltsame, kindliche Mischung von Spiel und Ernst in Pauls Auslassungen, und neben der Gefährlichkeit steckt darin so viel liebenswerte Unbekümmertheit... »Deine Sorgen möchte ic h haben, Paul, und 'n Hauptgewinn in der Landeslotterie! Was denkst du, wie gut es mir gehen würde!« Der Lehrling lacht mit, ist jedoch noch immer nicht von dem Gleis abzubringen, auf dem er seit seinem Eintreffen fährt. »Oder war jemand hier?« setzt er gleichsam neu an. »Wo Sie doch eingefleischter Nichtraucher sind?« »Das ist es!« erwidert Rauh mit aller Ironie, die er in seine Stimme zu legen vermag und die ihm der Junge auch
sofort abnimmt. Rauh hat den Winkelhaken fester gefaßt. Nein, auf die bisherige Weise darf das Gespräch nicht weitergehen. Er muß ihm ein schnelles und eindeutiges Ende bereiten, und das erreicht er nicht mit halben Eingeständnissen, die den Forschungsdrang Pauls nur aufstacheln. Seinerseits muß er in die Offensive . »Mein ehemaliger Kompagnon ist dagewesen. Pohle kam extra aus seinem Winterurlaub in der Sächsischen Schweiz zurück, um in der Druckerei eine seiner fürchterlichen schwarzen Zigarren zu paffen.« Paul fühlt sich auf die Schippe geladen und nicht ernst genommen, und auf einmal ist er auch gar nicht mehr so sicher, daß er tatsächlich Tabakgeruch ... Der Ofen raucht manchmal ein bißchen, wenn der Wind auf die Esse drückt, und der Meister treibt so offenkundig seinen Spaß, daß der Junge beleidigt mault: »Jetzt nehmen Sie mich auf den Arm! Hm, vielleicht ist es wirklich nur Kaffeeduft und ein wenig Ofengas... Doch der Kaffee war Mokka, hm?« »Kluges Kind!« bestätigt Rauh obenhin und verbirgt sein neuerliches Aufatmen. »Du bist ein kluges Kind.« »Aber bei Ihnen Lehrling zu sein ist schwerer, als ich gedacht habe«, murrt er. Innerlich wurmt es ihn gewaltig, daß ihm seine gute Nase, auf die er so stolz ist, einen derartigen Streich gespielt und ihn lächerlich gemacht haben soll. Oder hat er sich gar nicht geirrt? Will der Meister etwas verbergen? Unwillkürlich schaut Paul zu seiner Joppe hinüber. In deren Tasche steckt eine Visitenkarte in zierlichem Stahlstich. »Königlich Sächsische Sicherheitspolizei, Polizeiamt Leipzig« steht neben dem Wappen der Messestadt, und etwas tiefer: »Überreicht durch Adelhelm von Kopp, Kriminalreferendar.« Dazu der Telefonanschluß. Sollte er jetzt nicht eigentlich davon Gebrauch machen? Das ist eine schwerwiegende Frage, auf die sofort eine Antwort zu finden schlechterdings voreilig wäre. Paul muß erst noch gründlich mit sich zu Rate gehen. Abgewogen will das werden, hin und her gedreht, nach allen Seiten geprüft und untersucht...
Paul kommt sich sehr klug und weise vor, als er sich auf den unheilschwangeren Satz beschränkt: »Sie machen mir langsam Sorgen, Meister ...« Rauh legt eine Reglette an und beginnt mit der nächsten Zeile. »Tröste dich, mein Junge! Mir scheint, das beruht auf Gegenseitigkeit.« Und in diesem Augenblick sprechen nun beide wirklich die lautere und unverfälschte Wahrheit...
6 »Here in!« sagt Kriminalreferendar von Kopp laut und scharf, denn die Tür besitzt ein honoriges Lederpolster, das schwer einen Laut nach draußen dringen läßt. Gleich darauf steht Wachtmeister Reichert im Zimmer. Er hat den walnußbraunen Ledermantel über dem Arm und seine Reisemütze in der Hand. Jetzt, da sein Kopf unbedeckt ist, zeigt er eine extrem kurz geschorene ergrauende Haarbürste, die über der Stirn weit zurückweicht und da und dort wie ausgefranst wirkt. »Ich melde mich ab«, sagt Reichert knapp. »Zum Treff mit dem Gewährsmann aus dem Kreis der russischen Studenten. Haben Herr Referendar dazu noch Befehle? Der Treff findet im Kaffeebaum statt. ..« »... und ich wollte hinkommen und den Burschen erst mal beschnuppern, ich weiß«, schließt von Kopp lebhaft an. »Ein andermal, Reichert. Es ist etwas dazwischengekommen. Machen Sie es wie immer.« »Dann gestatten Sie, mich zu entfernen?« »Warten Sie!« erwidert von Kopp. »Haben Sie Geld für den Herrn?« »Das übliche, ja. Ordnungsgemäß von der Rechnungsabteilung empfangen. Wir zahlen ihn immer in der zweiten Dekade des Monats aus.« Der Referendar steht auf und kommt um den großen Schreibtisch herum. »Heute kriegt er nichts. Erfinden Sie eine Ausrede und vertrösten Sie ihn auf morgen, klar? Treffen Sie eine neue Verabredung.« Reichert steht unbeweglich. »Der junge Mann ist ziemlich nervös, Herr Referendar«, gibt er zu bedenken. Die Entscheidungen seines Vorgesetzten zu tadeln steht ihm nicht zu. Er trägt seine Einwände im Ton einer sachlichen Feststellung vor. »Er lebt in ständiger Furcht, seine Kommilitonen könnten von der Zusammenarbeit mit uns erfahren. Dann würde nicht nur der Informationsfluß versiegen, sondern auch die hübsche Nebeneinnahme, die
wir ihm zukommen lassen. Der junge Herr lebt in Leipzig auf großem Fuße.« »Dafür soll er auch was tun! Dieses Polizeiamt ist kein Wohltätigkeitsunternehmen, zum Teufel! Ich will ihn morgen sehen! Arrangieren Sie das!« »Wie Sie befehlen!« Nun will er sich abermals zum Ausgang wenden, doch diesmal hält ihn von Kopp mit einer Handbewegung zurück. »Sagen Sie mal, Reichert«, fängt er unerwartet vertraulich neu an. »Sie sind sich des Burschen doch sicher, wie? Nicht, daß er uns an der Nase herumführt und Türken baut... Erfundene Berichte ...« Der Kriminalwachtmeister strafft sich unwillkürlich. »Ich darf erinnern: Er lieferte eben jene Berichte über Diskussionen zwischen seinesgleichen und den aus Rußland hierher geflüchteten Herrschaften, die höheren Ortes so wohlwollend vermerkt wurden. Dies nicht zuletzt, weil die darin gegebenen Charakteristika vollkommen mit denen übereinstimmten, ja, sie sogar in wertvoller Weise ergänzten, die wir aus Petersburg erhielten. Die Königliche Polizei konnte auf diese Art ausführliche Nachrichten über neue Verbindungen der Emigranten zu ihren bei uns studierenden Landsleuten an die Ochrana weiterleiten und sozusagen Vorwarnung geben. Die fraglichen Studiosi sind daraufhin bei Reisen nach Hause erfolgreich unter Observation gestellt und in einzelnen Fällen der Vorbereitung zum Hochverrat überführt worden. Noch zu Zeiten Ihres hochwohlgeborenen Vorgängers im Amt, des Herrn Kriminalrats ... Auf Grund dessen glaube ich an der Treue unseres Informanten zu Thron und Altar nicht zweifeln zu müssen.« Er räuspert sich und schließt: »Es sieht nicht aus, als wäre seine Angst vor einer Entdeckung gespielt.« Der Referendar ist an eines der in ihrer Höhe streng und kühl anmutenden Fenster getreten, trommelt mit den Fingerkuppen auf die Scheiben und sieht über die Harkortstraße hinweg zum Reichsgericht hinüber. Dessen prunkvoll-hochmütiger Prachtbau mit seiner protzigen
Weiträumigkeit wurde nach siebenjähriger Bauzeit vor fünf Jahren endlich fertiggestellt. Unten auf der Straße herrscht mäßiger Verkehr. Auch so wirft das Weihnachtsfest seine Schatten voraus - erstaunlich viele Offiziere sind dienstfrei und auf dem Wege zu Einkäufen. Leipzig ist Garnison des 106., des 107. und des 134. sächsischen Infanterieregiments und beherbergt die Kommandos der 24. Infanteriedivision, der 47. und 48. Infanterieund der 24. Kavalleriebrigade der Königlich Sächsischen Armee im Rahmen des Reichsheeres. Es mangelt im Stadtbild nie an den bunten Uniformen - besonders die der Husaren sind bei den Mädchen beliebt -, doch jetzt erscheinen sie in auffälliger Häufung in Damengesellschaft, wie sic h bei dem gegebenen Anlaß von selbst versteht. »Ein schrecklich unruhiges und aufsässiges Volk, diese Russen«, bemerkt von Kopp plötzlich. »Hat dauernd die Faust seines Herrn im Nacken, und trotzdem ... trotzdem ... Das ist doch schlimm.« Noch immer wendet er sich nicht um. Seine Stimme wird eine weitere Spur vertraulicher, intimer, als er sich erkundigt: »Sie sind länger in diesem Dezernat als ich, Reichert, sind sozusagen ein alter Hase. Unter uns: Können wir was verbockt haben?« Ohne Aufforderung steht der Wachtmeister bequemer. Ganz deutlich spürt er nun eine gewisse Unruhe seines Vorgesetzten, der besorgt ist. Er kennt den Ehrgeiz von Kopps und seinen Willen, Karriere zu machen, und er begreift sofort, daß es einen Anlaß geben muß für die ungewohnte Vertraulichkeit des adligen Herrn mit den Säbelhiebnarben. »Warum sollten wir?« fragt Reichert zurück und weiß dabei geschickt den Eindruck unziemlicher Neugier zu vermeiden. »Gibt es Vorhaltungen solcher Art, Herr Referendar?« Von Kopp zündet sich ein Zigarillo an. »Ich weiß nicht«, sagt er in den Qualm der ersten Züge hinein. Das Zigarillo ist offenbar zu fest gewickelt worden; der Referendar muß lange drücken und kneten, um mit rechtem Genuß rauchen zu können. »Besuch vom Innenministerium
ist angemeldet. Ke ine Ahnung, was die Herren aus Dresden wollen! Sie haben das Amt nur wissen lassen, daß der Verantwortliche für russische Angelegenheiten zu ihrer Verfügung stehen müsse. Ich überlege hin und her...« »Das hatten wir früher auch schon«, unterbricht der Wachtmeister beruhigend. »Dann gab es gewöhnlich neue Informationen, die sofortige Recherchen und Rückfragen nötig machten und deshalb bei einem Kurier in den falschen Händen gewesen wären. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es diesmal etwas anderes ist. Herr Referendar haben vollkommen recht, den Vertrauensmann morgen noch einmal in Reichweite wissen zu wollen. Falls es neue Instruktionen gibt... Ich treffe eine Verabredung für morgen früh; verlassen Sie sich ganz auf mich.« Der walnußfarbene Ledermantel, der früher einmal schön gewesen sein muß, wird ihm schwer; er legt ihn verstohlen von einem Arm auf den anderen. »Gestatten Sie jetzt, zu gehen?« Von Kopp nickt ihm zu. »Machen Sie sich auf den Weg. Ich halte große Stücke auf Sie, Reichert, große Stücke. Das wollte ich mal gesagt haben.« »Danke gehorsamst, Herr Referendar.« Als er draußen den Mantel anzieht und die Mütze aufsetzt, hat der Kriminalwachtmeister ein kleines, zufriedenes Schmunzeln. Ein bischen Vertraulichkeit mit einem hohen Chef kann nie schaden und zahlt sich gemeinhin aus. Dieser Vormittag fängt vielversprechend an, und wenn nun noch der junge Herr aus Rußland... Der sitzt bestimmt schon im »Kaffeebaum« nahe der Thomaskirche, hat seinen auffälligen und überall bewunderten Hund, einen Barsoi, bei sich und wird später jedem erzählen, er sei in dem Café gewesen, in dem Bach zu seiner berühmten Kantate »O wie schmeckt der Coffee süße ...« angeregt worden sein soll. Thomaskirche und »Kaffeebaum« sind vom Polizeiamt aus bequem zu Fuß zu erreichen. Reic hert legt einen Schritt zu. Drinnen im großen Zimmer mit der gediegenen, ansehnlichen Möblierung, die im Falle von Kopps die »gehobene Laufbahn« bereits vorwegnimmt, bleibt der Referendar am Fenster stehen, raucht, wippt auf den
Zehenspitzen und ist durch die tröstlichen Worte des Wachtmeisters nur halb beruhigt. Die klangen alle sehr gut, zweifellos, aber... Es wäre etwas anderes, wenn es nicht um die russischen roten Teufel ginge; man muß bei denen doch auf alles gefaßt sein! Er fühlt sich recht hilflos, der hochwohlgeborene Herr mit den Mensurschmissen. Die sagen jedem, daß er nicht furchtsam ist und über die blanke Klinge hinweg mehr als einmal das Weiße in den Augen eines Gegners sehr nahe gesehen hat. Das hier, findet er jetzt, ist um ein Vielfaches entnervender und zermürbender - dieser lautlose Kampf gegen einen nicht nur meist unsichtbaren, sondern auch klugen, leidenschaftlichen und entschlossenen Feind. Das Zigarillo ist weit heruntergebrannt, als es endlich klopft. Noch ehe er »Herein!« sagen kann, fliegt die Tür auf. Sie bleibt offen, und von Kopp sieht, daß seine Beamten nebenan alle stehen und eine Haltung angenommen haben, als sei der Polizeidirektor persönlich erschienen. Es tritt jedoch lediglich ein Adjutant des Mächtigen ein, gefolgt von einem Manne in Zivil, den man hier nie sah. Es mufj sich um eine bedeutende Persönlichkeit handeln, denn der Adjutant hat den Helm auf, den Säbel an der Seite und gibt sich so zackig, wie es nur irgend möglich ist. Zweifellos hat dies die scharfblickenden Detektive draußen bewogen, sich aufzubauen. Die silbernen Sporen an den Zugstiefeln des Leutnants klirren leise, als er die Hacken zusammenklappt. Der Polizeioffizier denkt nicht daran, mit einer Meldung zu beginnen; er fängt vielmehr damit an, dem Fremden von Kopp vorzustellen, und dadurch ist eindeutig klargelegt, wer hier etwas zu sagen hat. »Herr Kriminalreferendar von Kopp, der Leiter des politischen Dezernats hiesigen Amtes ...« Der Leutnant macht eine halbe Wendung ins Zimmer. »Herr Referendar, ich habe die Ehre, Ihnen Herrn Oberst Subatow, Hochwohlgeboren, vom Sonderkorps der Gendarmen Seiner Majestät des Zaren aller Reußen zuzuführen. Hochwohlgeboren ist sowohl von der Reichsregierung als auch vom Königlichen Innenministerium in Dresden mit
weitestgehenden Vollmachten ausgestattet.« Halbe Wendung zurück, neuerlich das Klingen der Sporen... »Herr von Kopp wird mich in der Adjutantur verständigen, sobald Hochwohlgeboren zu gehen wünscht. Herr Oberst!« Die weiß behandschuhte Rechte fliegt an den Helm, der Fremde geruht zu nicken, und der Leutnant klirrt hinaus. Adelhelm von Kopp schluckt. Der Besucher hat noch kein Wort gesagt; er steht nur da und blickt aus der Höhe von nicht viel weniger als zwei Metern auf ihn nieder — ein schöner schlanker Mann mit ovalem Gesicht, das durch den schwarzen Kinnbart noch länger wirkt. Fast schwarz sind auch die Augen des Geheimpolizisten aus dem fernen Sankt Petersburg, und wenn der Referendar bisher aufgrund seiner Damenbekanntschaften dunkle Augen für besonders warm und zärtlich hielt - diese besitzen den kalten Glanz geschliffenen Heliotrops. Gerade diesen Halbedelstein mag von Kopp überhaupt nicht. Er blickt zur immer noch offenen Tür. Sein Stellvertreter, der hagere Kriminalsekretär Schneider, steht ihr draußen am nächsten, und ihm ruft er zu: »Dolmetscher, Schneider! Schnell!« Oberst Subatow hebt, Einhalt gebietend, die rechte Hand. »Nicht nötig! Ich spreche gut Deutsch. Sagen wir: ausreichend.« Er streckt dem Referendar eine schlanke, sehnige Rechte entgegen. »Erfreut, Sie kennenzulernen, Herr von Kopp. Man hat Sie mir in Dresden sehr empfohlen. Der richtige Mann für mich, hieß es.« Na, das läßt sich zumindest nicht schlecht an. Man lächelt, man klappt die Hacken, man verbeugt sich. »Danke verbindlichst, Herr Oberst! Bitte, ablegen zu wollen.« Und im gleichen Atemzug nach draußen: »Schneider, Kaffee, Kognak! Und unsere Akte über den Russischen Akademischen Verein sowie alles, was wir über die Emigranten in Leipzig haben. Es pressiert!« Dazu den in eine herrische Geste gekleideten Befehl, endlich die Tür zu schließen... Sofort wieder verbindliches Lächeln für den Gast.
Der nimmt seine schmale, saffianlederne Mappe mit einem eingeprägten Adelswappen, legt ohne Hast seine Handschuhe und seine Pelzmütze darauf - Persianer natürlich - und reicht dieses Tablett mit größter Selbstverständlichkeit dem Referendar, damit der es halte. Von Kopp ist nicht gewohnt, wie ein Kellner behandelt zu werden, doch er findet sich geschmeidig in die ungewohnte Situation, bewahrt das Lächeln und legt das »Tablett« auf den Schreibtisch, während sich Subatow aus dem pelzgefütterten Mantel schält und diesen an den Garderobenständer hängt, der einen Schandfleck für das ganze Zimmer bildet. Dann geht er, mit zwangloser Geste das lackschwarze Haar glättend, ans Fenster und schaut hinaus. »Verfügen Sie ganz über mich, Herr Oberst!« dienert von Kopp hinter ihm. »Es ist mir eine Ehre, einmal mit der berühmten Ochrana zusammenarbeiten zu dürfen. Man hört in Sachsen Wunderdinge von Ihren Erfolgen!« Er deutet einladend auf die Rauchecke. »Dort, wenn ich bitten darf.« Subatow dreht sich um. Wieder verwirrt es den Referendar, daß es ihm nicht gelingt, das Alter dieses Mannes zu schätzen. Das versuchte er bereits vergeblich, als ihn der Adjutant hereingeleitete. Der hohe Rang des Fremden und die Souveränität, mit der er die Szene beherrscht, scheinen einen älteren Mann auszuweisen, die Elastizität und Geschmeidigkeit seiner Bewegungen einen jüngeren. Von Kopp könnte sich vorstellen, daß dieser Oberst täglich ein paar Stunden reitet und eine oder zwei weitere mit einem eigenen Fechtmeister verbringt, um körperlich auf der Höhe zu bleiben. Leisten kann er sich das sicher — der Referendar denkt neidvoll an gelegentliche Zeitungsberichte über den märchenhaften Reichtum des hohen russischen Adels. Sein eigenes Vermögen dagegen ach, du liebe Güte! Die ganze Verwandtschaft konzentriert ihre Bemühungen darauf, ihn endlich standesgemäß, das heißt einträglich, zu verheiraten ... Der Oberst sieht ihn an. »Was die Erfolge betrifft: Wir arbeiten, mehr nicht. - Da drüben? Das Reichsgericht?« »Ja.«
»Würdig«, urteilt Subatow, ehe er mit einer lässigen Geste Handschuhe und Persianerkappe von seiner Mappe fegt und mit dieser auf den angebotenen Ledersessel zugeht. Er hat durchaus untertrieben, als er eingangs sagte, er spreche ausreichend Deutsch. Er spricht es grammatikalisch vollkommen richtig und mit reichem Vokabular, aber es kostet ihn offenkundig Mühe, eine Mühe, der er sich mit gleichbleibender konzentrierter Selbstzucht unterzieht. Er erlaubt es sich einfach nicht, in der fremden Sprache zu schludern und auf Nachsicht zu rechnen. So drückt er sich, langsam und angestrengt mit einem harten, überdeutlichen Akzent redend, unpersönlich korrekt aus. Sie nehmen beide Platz. Von Kopp meint, daß nun genug Höflichkeiten gewechselt sind und daß es Zeit ist, zur Sache zu kommen. »Herr Oberst«, setzt er an, »weilen vermutlich im Reich, um die Zusammenarbeit zu verbessern und zu vertiefen sowie engere Kontakte herzustellen?« Subatow zieht erst einmal eine fremdartige Zigarettenpackung aus der Jackentasche, einen rechteckigen Karton, der auf dem Deckel in Golddruck den Zarenadler und eine russische Umschrift zeigt. Der Oberst öffnet und bietet von den Papirossi an. Von Kopp faßt neugierig zu, beobachtet, wie Subatow die Papphülse knifft, vollzieht die Handgriffe exakt nach und hat auch schon sein Feuerzeug heraus, den Gast zu bedienen. »Auch!« bestätigt der Offizier der Ochrana nun. »Aber nur am Rande. Nach Leipzig bringt mich eine - wie sagt man? - heiße Spur.« »Ach ja?« bekundet der Referendar sein Interesse. Subatow raucht, lehnt sich zurück, schlägt die langen Beine übereinander und zieht, die Zigarette zwischen den Zähnen, seine Mappe zu sich heran, deren vergoldetes Schloß - oder ist dieses Schloß aus purem Gold gefertigt? er aufschnappen läßt. »Ich bin hier, mit Ihrer Hilfe einen Fischzug zu tun. Sie könnten, glaube ich, einen großen Fisch für mich fangen, Herr Referendar.« »Ich bin ganz Ohr.« Von Kopp beugt sich vor.
Mit einer Taschenspielergeste legt der Oberst eine Porträtfotografie auf die Marmorplatte des Rauchtisches. »Sie kennen diesen Mann?« Ein junges, ein kluges, ein energisches Gesicht mit wachen Augen ... Oberlippen- und Kinnbart... Stark gelichtetes blondes Haupthaar ... »Im Augenblick...«, dehnt von Kopp. »Wer ist das?« »Uljanow«, erklärt der andere, ohne die Stimme zu heben. »Mit Vor- und Vatersnamen Wladimir Iljitsch. Dreißig Jahre alt. Inhaber eines Diploms ersten Grades der Juristischen Fakultät der Universität zu Sankt Petersburg. Bereits seit dem Verlassen des Gymnasiums, das ihn übrigens für besondere Leistungen mit einer goldenen Medaille ehrte, auf unserer Liste unzuverlässiger Untertanen. Das war siebenundachtzig.« Subatow braucht, um dies darzulegen, keine Notizen. Er hat alle Daten, Ortsnamen und Details im Kopf; er könnte zu jeder beliebigen Tag- und Nachtzeit darüber referieren. Das tut er mit gleichbleibender kalter Sachlichkeit, den Kopf jetzt zurückgelegt, den Blick der schwarzen Augen wie träumerisch auf den Kronleuchter an der Stuckdecke des Dienstzimmers gerichtet. »Im gleichen Jahre wurde er an der Juristischen Fakultät der Kasaner Universität immatrikuliert. Exmatrikuliert, verhaftet und für ein Jahr im Dorfe Kokuschkino unter Polizeiaufsicht gestellt, im Dezember gleichen Jahres wegen Beteiligung an einer hochverräterischen Studentenzusammenkunft... Wieder in Kasan und seit neunundachtzig in Samara, schafft er es, sich das ganze Universitätspensum als Autodidakt im Selbststudium anzueignen und in Sankt Petersburg das Diplom als Externer zu erwerben. Ein Diplom ersten Grades, wie ich schon erwähnte.. .« »Gefährlicher Mann, das!« bemerkt von Kopp. »Erstaunliche Leistung als Externer... Ich bin selbst Jurist und kenne die Klippen ... Und ein solcher Kopf ist als Roter...?« Der Oberst streift ihn mit einem flüchtigen, nicht sehr schmeichelhaften Blick. »In der gleichen Zeit studierte er die Werke von Marx und Engels. Beweis: Ein Exemplar
des sogenannten Manifest der Kommunistischen Partei in Uljanows Handschrift, zweifellos von ihm selbst übersetzt und kommentiert. Des weiteren gibt es Versammlungsberichte, in denen Uljanow erwähnt wurde. Das Sonderkorps glaubt sicher zu sein, daß die marxistischen Zirkel, die zweiundneunzig in Samara entstanden, sein Werk waren. Das eindeutige Bekenntnis zu Marx und die Propagierung von dessen revolutionärer Philosophie verrieten ihn.« Subatow unterbricht seine Darlegungen nur, um eine neue Papiros zu nehmen und sich von dem Referendar Feuer geben zu lassen. Er hält auch ihm die Packung hin, doch von Kopp lehnt dankend ab; diese Marke ist ihm zu stark. »Im August dreiundneunzig kam Uljanow nach Sankt Petersburg«, fährt der Ochrana-Mann fort. »Wieder geheime Zirkel... Druckschriften, die auf Kopiergeräten vervielfältigt wurden - in seinem glänzenden Stil geschrieben und von bemerkenswerter Überzeugungskraft... Sie gingen bis nach Moskau, nach Nishni-Nowgorod, nach Wladimir, Kiew und Riga. Dort fand man diese gelben Heftchen, wie sie von unseren Leuten genannt wurden, bei Haussuchungen und Razzien. Dazu zweifellos Kontakte mit dem Pöbel, mit Arbeitern, mit Fabrikleuten und Individuen aus den Armenvierteln... Als wir ihn später verhafteten, machte er keine diesbezüglichen Aussagen, aber einfache Leute, die wir ebenfalls faßten und die auch nichts von Kontakten wissen wollten, gebrauchten Argumente, wie er sie publizierte und selbst gebrauchte. Das bedeutet, Herr Referendar, daß er persönlich Arbeiterzirkel geleitet hat, Zirkel, wie sie vor vier Jahren beim Streik der dreißigtausend Petersburger Textilarbeiter eine entscheidende Rolle spielten.« Er blickt nun endlich von Kopp wieder an. »Wie er zu wirken pflegt, zeigt dieses Beispiel besonders gut. Die Zirkel arbeiteten und operierten, als stehe er persönlich an ihrer Spitze.« »Tat er das nicht?« Ein kurzes Zucken ist um die Mundwinkel des Obersten. »Er konnte nicht, weil wir ihn schon Ende
fünfundneunzig verhaftet hatten. Im Zusammenhang mit der Vorbereitung einer illegalen Zeitung. Er ging dafür nach Sibirien. Seit seiner Rückkehr weilt er im Ausland fortgesetzt hochverräterisch handelnd mit dem erklärten Ziel des Sturzes der Monarchie und der Errichtung der Diktatur des Proletariats durch eine sozialistische Revolution.« Der Gast aus der Zarenresidenz deutet wieder auf die Porträtfotografie. »Uljanow, Wladimir Iljitsch... Ich, Herr Referendar, habe im Jahresbericht des Sonderkorps der Gendarmen betont, daß es jetzt in der Revolution keinen Größeren gibt als diesen Uljanow. Ich stehe zu meinem Wort.« Adelhelm von Kopp betrachtet das Bild und erinnert sich, daß Subatow sagte, er sei nach Leipzig gekommen, um mit seiner Hilfe einen »großen Fisch« zu fangen. »Und dieser Uljanow soll in der Messestadt ...?« Der Oberst schnippt einen Tabakkrümel vom Ärmel des Cutaways aus teuerstem schwarzen Tuch. Ja, der hochwohlgeborene Herr trägt den Besuchsanzug der »feinen Welt«, den dunklen Schwalbenschwanz zum gestreiften Beinkleid, und seine Krawattennadel ziert ein hochkarätiger Brillant. »Ich denke, daß er herkommen wird oder schon hier ist. Und daß man ihn in Leipzig abfangen könnte - ganz ohne Aufhebens, ganz ohne Zeugen. Um ihn direkt dorthin zu schaffen, wohin wir seinen älteren Bruder gebracht haben.« Da er mit Recht annimmt, das gebe seinem Gegenüber nichts, erläutert er knapp: »Er war an einem Attentatsversuch gegen Seine Majestät beteiligt. Alexander Uljanow wurde daraufhin in Schlüsselburg hingerichtet. Er hat einen schnellen Tod gehabt, Herr Referendar.« Wie er das sagt, mit welcher Gelassenheit und Selbstverständlichkeit... Er ist wahrhaftig ein bedeutender und mächtiger Mann, dieser Oberst... Von ihm kann man lernen, viel lernen. Es klopft, und nun endlich erscheint Kriminalsekretär Schneider mit einem Tablett, auf dem er Kaffee und Kognak balanciert, sowie mit einem Aktendeckel unter dem Arm. »Sie erlauben« , murmelt er. Es kostet ihn Anstrengung, die
Getränke auf den Tisch zu bringen, ohne etwas zu verschütten. Die »Acta« - so steht in kalligraphischen Schnörkeln auf ihrem Deckel - legt er vor von Kopp hin. »Die befohlenen Papiere ...« »Sie können gehen, Schneider.« Der Referendar wartet, bis sein Untergebener sich entfernt hat, und füllt dann die Gläser. »Ich darf mir gestatten, Herr Oberst... Auf einen Erfolg!« Zu von Kopps Verblüffung steht Subatow auf und zwingt ihn dadurch, sich gleichfalls zu erheben. Sehr kommersmäßig, wie sie es als Korpsstudenten bei Trinkgelagen aus feierlichem Anlaß taten, trinken die beiden Herren mit abgezirkelten Bewegungen einander zu. Als sie die Gläser abgestellt haben und wieder sitzen, erkundigt sich der Oberst mit einer Kopfbewegung zu der »Acta«: »Was ist das?« »Russen in Leipzig ...« Subatow verliert sogleich jegliches Interesse. »Unergiebig, Herr von Kopp! Er war früher noch nicht hier.« »Da wäre ich nicht so sicher«, warnt der Leiter des politischen Dezernats. »Sie erwähnten doch eben, er halte sich seit seiner Rückkehr aus der Verbannung im Ausland auf ...« »Und?« Wieder hat der Oberst dieses mokante, dieses überlegene Lächeln, das sich auf besseres Wissen gründet. Er lehnt sich neuerlich weit zurück, verschränkt die Arme vor der Brust und beginnt: »Ihr Dichter Schiller läßt in Don Carlos sagen: Das Seil, an dem er zappelte, war lang, doch unzerreißbar ... Wo er sein mochte, war ich auch... - Der Inquisitor- Kardinal.« Von Kopp macht es sich bequem und müht sich um eine andächtige Miene. Aha, man demonstriert seine Bildung. Das scheint weiter östlich ja überhaupt beliebt zu sein! denkt er. Den »Don Carlos« habe ich natürlich gesehen und gut gesehen — die Bühnen der reichen Messestadt können sich solche Theatergötter als Gäste holen wie Joseph Kainz, dem man schließlich nachrühmt, kein deutscher Komödiant vor ihm habe je als Ferdinand oder als Don Carlos die unerschöpfliche Wahrheit und
Schönheit der Klassiker so aufblühen lassen wie er. Ist mir alles geläufig, was du da erzählst, aber wenn es dir Spaß macht, dich zu produzieren ... Der Referendar zuckt förmlich zusammen, als nach dem Zitat ohne Umschweife die praktische Nutzanwendung kommt: »Wie der Inquisitor von Carlos sprach, kann die Ochrana von Uljanow sprechen.« Der Oberst erbringt auch sofort den Beweis für seine Behauptung. Zupackend führt er aus: »Erste Station: die Schweiz. Jetziger ständiger Aufenthalt: München in Bayern. Zwischendurch hin und wieder Reisen mit zum Teil — leider! — unbekanntem Ziel. Aus München wieder verschwunden seit der ersten Dezemberdekade. Verschwunden gleichsam unter den Augen meiner Leute, doch nach Meinung meiner Agenten nicht für dauernd.« Insgeheim tut von Kopp seinem Gast Abbitte. Nein, der ist alles andere als ein Schwätzer. »Und Sie meinen, daß er jetzt hier...« Subatow steht auf, bedeutet dem Referendar durch eine Handbewegung, er möge ungeniert sitzen bleiben, und geht durchs Zimmer. Vom Fenster her antwortet er: »Uns wird zugetragen, daß eine Gruppe im Ausland lebender russischer Emigranten eine illegale Zeitung herauszugeben plant. Wir kennen die Namen. Der Redaktion im Dunkeln gehören an Uljanow, Axelrod, Martow, Plechanow, Potressow, Sassulitsch ... Dazu Madame SmidowitschLeman als Sekretärin.« Plötzlich stören den Mann im Cutaway seine noch auf dem Schreibtisch liegenden Handschuhe und die Persianermütze. Er ergreift sie und geht damit zum Garderobenhaken, die Kappe aufzuhängen und die Handschuhe darauf zu packen. Wie beiläufig setzt er seinen Bericht fort: »Jeder einzelne dieser Männer schreibt eine Feder, die das zarentreue und gutgemeinte, leider aber niemanden bewegende Geschwätz der allerten Tagesschriftsteller etwa vom Grazdanin, von der Birzevyja Vedomosti oder vom Sanktpetersburgskija Vedomosti als gegenstandslos vom Tisch fegt. Nun, diese Zeitungstitel sagen Ihnen wohl nichts ...« »In der Tat, Herr Oberst.«
Subatow nickt. Das hat er nicht anders erwartet. »Die Redaktion im Dunkeln, von der ich spreche, ist eine weit auseinandergezogene. Ihre Mitglieder hausen in Zürich, in Paris und München. In München die Smidowitsch-Leman und Uljanow.« Der Oberst wendet sich wieder in den Raum zurück und geht auf den Schreibtisch zu, hinter dem das Bildnis eines uniformierten alten Mannes mit mächtigem Backenbart hängt, das Bildnis des Königs. »Er ist der führende Kopf, ist Redacteur-en-chef. Folgt damit seinem Vorbild Marx. Die Neue Rheinische Zeitung, Sie wissen ...« Nun ändert er die Richtung und kehrt an den Rauchtisch zurück. »Uljanow hat die Revolution zu seinem ausschließlichen Beruf gemacht. Wir sind uns darüber klar, daß er ein außergewöhnlich begabter, hochtalentierter Journalist ist. Das läßt uns der von der Ochrana erwarteten Zeitung mit Besorgnis entgegensehen.« Er schließt abrupt. »Wir haben alle diese Leute seit langem auf unserer Liste und lassen sie nicht aus den Augen.« Von Kopp ist ehrlich hingerissen. Er vermag sich auszumalen, welche und wieviel Arbeit geleistet werden mußte, damit der Oberst hier in dieser Weise referieren kann. »Großartige Recherchen!« anerkennt er begeistert. Subatow ist nicht der Mann, der Schmeicheleien schätzt und sich gern im Glanz von schon Geleiste, tem sonnt. Lieber untertreibt er. »Nichts Besonderes!« wehrt er ab, während er sich wieder setzt. »Fleißarbeit. Ziemlich aufwendig allerdings und kostspielig. Zum Glück erfreuen wir uns der verständnisvollen Gnade Allerhöchstdesselben, unseres kaiserlichen Herrn, und der Einsicht Höchst Seiner Regierung, daß für die Gewährung der inneren Sicherheit des heiligen Rußland kein Preis zu hoch ist.« »Beneidenswert!« verbeugt sich der Referendar. Diesmal greift er zu, als der Gast erneut die PapirosPackung herüberreicht. »Verbindlichen Dank!« »Ich muß nicht sagen«, kommt der Oberst wieder unmittelbar zur Sache, »wie gefährlich eine Zeitung wie die geplante werden kann. Sie haben da Erfahrungen. Ihr Sozialistengesetz war gut, aber es zerbrach nicht zuletzt am Sozialdemokrat. Das Blatt hielt den Pöbel zusammen. Wir
wünschen nicht, daß ein russischer Sozialdemokrat überhaupt erst erscheint.« Beinahe ohne Tonwechsel schient er dann die Behauptung in den Raum: »Uljanow wird seine Zeitung in Leipzig drucken.« Von Kopp ist eben dabei, seine Kaffeetasse zum Munde zu führen. Die Sicherheit, mit der Subatow spricht, läßt ihn die Tasse zurücksetzen und nach Beweisen fragen. Wieder hat der Oberst aus Sankt Petersburg das mokante Lächeln. Heiliger Georg! denkt er. Ist dieser Mann schwerfällig! Daß er hier die russischen Angelegenheiten bearbeitet, ohne wenigstens unsere Sprache zu beherrschen und die Petersburger Presse lesen zu können - das ist auch nur in Deutschland möglich! Schrecklich kleinkariert und ohne Atem, das Ganze! Doch laut sagt er mit unwandelbarer Verbindlichkeit: »Ich kann logisch denken, Herr Referendar. Uljanow muß eine Druckerei finden, die kyrillische Schrift besitzt. Wo im Deutschen Reich, frage ich Sie, hat man solche Lettern? Natürlich am ehesten in Leipzig, dem Mekka des Buchdrucks! Hinzu kommt... Es ist ja kein Geheimnis, daß man dieses Königreich selbst in Berlin, in den Kreisen der Re ichsregierung, das rote Sachsen nennt. Ich habe erfahren, daß man in Preußen eben deshalb Ihre Landsleute nicht mag. Aber Uljanow ... Ihn und seinesgleichen muß das Schimpfwort naturgemäß mit Sympathie für Ihre Heimat erfüllen. Sachsen ist die Schmiede, die er braucht, sein Blatt herzustellen. Hier findet er am leichtesten Gesinnungsbrüder, die ihm seine Zeitung bereitwillig drucken.« Er bläst einen dünnen Rauchfaden an Adelhelm von Kopp vorüber, der durch die Nennung ihm peinlicher Epitheta, die dem Namen seines Vaterlandes anhängen, unangenehm berührt ist, greift seinerseits nach der Kaffeetasse und trinkt. »Wie gehen Sie hierzulande gegen insgeheim produzierte Zeitungen vor?« Der Referendar ergreift bereitwillig die Gelegenheit, auszuführen, daß im Königreich Sachsen nicht weniger forsch gegen aufrührerische Presseerzeugnisse vorgegangen werde als etwa in Preußen. Hier wie dort, erklärt er, biete das Reichsgesetz über die Presse die rechtliche Handhabe. Paragraph sieben beispielsweise . .. Da ist in bezug auf
periodische Druckschriften verfügt worden, daß jedes Stück einer solchen Veröffentlichung Name und Wohnort des verantwortlichen Redakteurs zu nennen hat - dem entsprechen fremdsprachige konspirative Blätter schon aus dem Grunde nicht, weil ihre Redakteure gemeinhin nicht die in Paragraph acht verbindlich festgelegten Voraussetzungen erfüllen. Paragraph acht nämlich bestimmt, daß der verantwortliche Redakteur eine verfügungsfähige, im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte befindliche Person sein muß, die im Deutschen Reich ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder Wohnsitz hat. Das treffe ja nun wohl auf Russen nicht zu ... Angewandt werden könne mit Leichtigkeit auch der Paragraph neun. Der Paragraph neun verlangt, da§ von jedem Stück, sobald die Expedition beginnt, ein unentgeltliches Pflichtexemplar an die Polizeibehörde des Ausgabeortes zu liefern ist. Den Paragraphen neun jedoch muß eine revolutionäre Zeitung umgehen, damit die Zensur sie nicht unter Heranziehung jener anderen Paragraphen des Reichsgesetzes über die Presse beschlagnahmt und verbietet, die öffentliche Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze des Staates, Aufreizung zum Klassenkampf, Beleidigung von Einzelpersonen und Institutionen, Gotteslästerung, Verrat von Staatsgeheimnissen und vieles andere mehr unter Strafe stellen. Jeden dieser Sachverhalte erfüllen konspirative Blätter von der ersten bis zur letzten Seite. Nun, und am Rande könnte man auch das Gesetz über das Postwesen des Deutschen Reiches ins Spiel bringen, das die Post allein berechtigt, periodische politische Druckerzeugnisse zu befördern und zuzustellen ausgenommen die Verteilung in einem Umkreis von zwei Meilen rund um den Verlagsort. Und die Redakteure fremdsprachiger Zeitungen arbeiteten ja mit Gewißheit nicht an einem Lokalanzeiger ... Das Pressegesetz jedoch schließt von vornherein die Möglichkeit aus, der Post diesen Vertrieb zu übertragen ... »Die Gesetzgeber wußten, wo Bartel den Most holt!« schließt von Kopp zufrieden. »Man hat seine Erfahrungen mit unerwünschten Gazetten, nicht wahr, und den Leuten, die sie machen. Wenn Sie mich fragen: Mir sind Zeitungsschreiber von jeher aus tiefster Seele verhalt, weil
Aufsässigkeit ihre Natur ist. Schwärmer, die glauben, mittels des Tintenfasses die Welt verbessern zu müssen; Intellektuelle ohne Staatsräson; von einer eingebildeten Mission Besessene ...« Er winkt verächtlich ab und schweigt. Oberst Subatow, Hochwohlgeboren, streicht seinen gepflegten schwarzen Bart. Jetzt ist sein Lächeln wohlwollend. Zum erstenmal goutiert er diesen jungen Mann, der bisher einigermaßen unbedarft wirkte. Der beherrscht zweifellos seine Mittel, der hat in Kolleg und Seminar nicht geschlafen, und der zeigt vor allem eine erfreulich handfeste, keineswegs von des Gedankens Blässe angekränkelte monarchistische Gesinnung. Man kann mit ihm rechnen. Der Offizier vom Sonderkorps der Gendarmen nickt. Nein, es ist nicht Zeitverschwendung, mit diesem Referendar zu sprechen. Er hat ihn geprüft und für gut befunden. »Es ist naheliegend, daß Uljanow nach Leipzig kommt«, nimmt er seinen Faden wieder auf. »Deshalb habe ich diese Reise gemacht.« »Sehr zwingend, was Herr Oberst da entwickeln! Und bestechend überzeugend, bei Lichte betrachtet ...« Subatow schmunzelt. »Dasselbe, lieber Freund, habe ich in Dresden schon einmal gehört. Von Ihrem Innenminister. Exzellenz geruhte angesichts des Verschwindens von Uljanow aus München auch zu bemerken, daß keine Zeit zu verlieren wäre.« So gestärkt und bestätigt, macht es sich Adelhelm von Kopp bequem, lehnt sich gemütlich an und verschränkt die Hände im Schoß. »Deckt sich vollkommen mit, meiner eigenen Meinung! Höchste Eisenbahn, zu handeln!« Der Oberst zieht unmerklich die Brauen hoch und erreicht allein dadurch, daß sich der Referendar wieder strafft. »Wollen Sie dann nicht sofort Ihre Maßnahmen treffen, lieber Freund?« Der andere schluckt, fühlt sich überrumpelt und wagt doch nicht, zu bitten, man möge ihm als dem Dezernatsleiter die Entscheidung überlassen, was getan und gelassen wird. Er stammelt etwas, was wie ein »Mit Ihrer
gütigen Erlaubnis...« klingt, und greift fürs erste nach der Porträtfotografie. »Diese Aufnahme ...?« fragt er verlegen. »... steht zu Ihrer Verfügung! Also ...« Hinter dem Besucher steht das Innenministerium Seiner Majestät. So schnellt von Kopp bereitwillig hoch, geht zur Tür und ruft scharf ins Vorzimmer: »Kriminalsekretär Schneider! Alle! Sofort!« Das bringt Bewegung in den kleinen Raum, der ungeachtet der Tatsache, daß hier fünf Männer ihre Arbeitsstätte haben, gegenüber von Kopps Büro bloß ein Loch darstellt. Dieses Loch ist vollgestellt mit Aktenböcken und tintenfleckigen alten Tischen, auf denen traurig verbeulte Thermosflaschen, überfüllte Reklameascher und handschriftlich verfaßte Berichte in trostlos grauen Heftern herumliegen. Neben der Flurtür befindet sich eine Meßlatte, in einem Regal daneben stapeln sich alte Bände des vom Königlich Sächsischen Polizeirat Dr. Urban redigierten »Eberhardts Allgemeiner Polizei-Anzeiger« mit fortlaufend numerierten Steckbriefen, Täterbildern und Signalements in Fahndung stehender Personen. Eine wahrhaft trostlose Lektüre, dieses Blatt, aber die Beamten des operativen Dienstes verbringen viele Stunden damit, sich die Porträts einzuprägen, neben denen kein blaues Kreuz lakonisch mitteilt, dieser Fall sei erledigt. Polizeialltag ... Sie haben gerade zweites Frühstück gemacht und die mitgebrachten Butterbrote aufgegessen, und der Kriminalwachtmeister Bertram ließ sich wieder einmal des langen und breiten darüber aus, welche Entwicklungschancen man hätte, wenn man sich zum Dienst in den Kolonien melden und auch genommen würde. Da herrscht Bedarf - zu Neuguinea, Togo, Kamerun, DeutschSüdwest- und Deutsch-Ostafrika sowie Kiautschou ist in diesem Jahr Samoa gekommen, und allerwegen hört man, daß die »lieben Schwarzen« und »lächelnden Gelben« in Wahrheit so lieb und lächelnd nicht seien, wie Reiseberichte sie hinstellen. Ohne »Schutztruppen«, Marineinfanterie und zuverlässige Polizeiorgane kämen die Eingeborenen wohl noch öfter auf die Idee, eigentlich auch ohne weiße Herren leben zu können. Da könne man sich als Polizeimann von
einigem Schneid auszeichnen. Nur leider ... Sachsens und der anderen Bündnispartner Truppen waren gut, 1870/71 die Köpfe hinzuhalten und dann Spalier zu stehen, als Bismarck den Preußenkönig zum Kaiser lancierte, aber in den Kolonien haben die Preußen lieber allein die Finger im Pflaumenmus. Eine Schande eigentlich ... Es ist nicht uninteressant, Bertram zuzuhören. Der redet besonders von Samoa, als wäre er schon dagewesen, habe hinter der hufeisenförmigen, hauptsächlich aus Korallenriffen gebildeten Bucht mit dem Hafen von Apia den vulkanischen Vaea-Berg gesehen und sei am Strande unter Brotfruchtbäumen spazierengegangen. Heute hat er sogar ein Kästchen Stereobilder und einen zusammenklappbaren Betrachter mitgebracht, um den Kollegen sein Traumparadies näherzubringen, aber gerade, als er auspacken will, scheucht sie von Kopps Kommandoruf auf und beendet das zweite Frühstück abrupt. Sie springen auf, sie nehmen hastig ihre Sakkos von den Stuhllehnen und drängen ins Allerheiligste. Oberst Subatow sieht bei diesem eiligen Eintritt der Männer noch recht gut, daß sie ausnahmslos rohlederne Schulterhalfter auf der Weste tragen und daß aus den Halftern die Kolben der nicht eben kleine Dienstrevolver ragen. Er ist weit davon entfernt, hieran Anstoß zu nehmen. Im Gegenteil - das berührt ihn anheimelnd. Der Referendar demonstriert unbändigen Tatendrang. »Fahndung, meine Herren!« verkündet er energisch. »Gesucht wird der zur Zeit im Deutschen Reich lebende Uljanow, Wladimir Iljitsch. Dreißig Jahre alt. Rechtsanwalt...« »... und seit rund zehn Jahren als marxistischer Journalist tätig!« fällt ihm Subatow mit erhobener Stimme ins Wort, um das Wesentliche hervorzuheben. »Dank der deutschen Herkunft seiner Mutter spricht er Ihre Sprache fließend. Das erschwert die Suche nach ihm und erleichtert es Uljanow, hierzulande unterzutauchen. Er hat Bücher und Broschüren zersetzenden Inhalts publiziert, ist der fortgesetzten Aufreizung zum Klassenkampf überführt ...«
»Strafbar nach dem Reichspressegesetz, Herrschaften!« schaltet sich von Kopp wieder ein, und gehorsam wenden sich alle Köpfe für einen Augenblick ihm zu, ehe sie zu dem sitzen gebliebenen großen Mann aus der Fremde zurückschwenken. »... und der Herausgabe und der Expedition einer illegalen aufrührerischen Zeitung von Leipzig aus hinlänglich verdächtig«, spricht Subatow seinen Satz zu Ende, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. »Also ...«, reißt der Referendar die Einweisung wieder an sich und zieht die Nutzanwendung seiner vorhin dargelegten theoretischen Kenntnisse. »Strafverfolgung nach Paragraph sieben, acht, neun und anderen des Reichspressegesetzes sowie Gesetz über das Postwesen des Deutschen Reiches, Postzwangsparagraphen. Schneider!« Er reicht dem vortretenden hageren Kriminalsekretär die Porträtaufnahme. »Dies sofort zur Fotoabteilung! Reproduktion. Mindestens zwei Dutzend Abzüge. Marsch!« »Wird umgehend erledigt...« »Bertram!« Und als der sportlich trainiert wirkende Samoa-Liebhaber in seinem unternehmungslustigen Golfanzug mit der knappen Kniebundhose zu karierten Kniestrümpfen einen Schritt vor tut und die Hacken klappt, befiehlt er: »Die Bahnhöfe nehmen Sie sich vor! Vor allem den Bayrischen; dort kommen die Münchner Schnellzüge an. Berücksichtigen Sie bei Ihren Erkundigungen, daß Uljanow schon hier sein kann. Sie behalten die Bahnhöfe bis auf Widerruf im Auge. Ab!« Erneutes Hackenklappen, scharfe Wendung ... Kriminalwachtmeister Koch wird als nächster aufgerufen und bemüht sich verzweifelt, den Bissen hinunterz uschlucken, den er noch im Munde hat. Er läuft rot an bei dem vergeblichen Versuch und hofft nur, er werde nichts sagen müssen. Koch ist ein fetter, kleiner Mann mit pomadeglänzendem Haar und Schnurrbart, bewegt sich jedoch mit der würdevollen Geschmeidigkeit einer überfütterten Hauskatze. Auf der Straße würde man ihn für einen Grand-Hotel-Kellner oder für den Seniorverkäufer einer Parfümerie im Zentrum halten. Ihm wird aufgetragen,
bei den Droschkenkutschern und Elektrowagenfahrern zu recherchieren, die ihren Stand vor dem Bayrisches Bahnhof haben, und bei den Schaffnern der dort vorüberführenden Straßenbahnlinie. Sodann soll er systematisch die Hotelportiers befragen. »Dito die Pensionsinhaber, einschließlich der billigsten und unbedeutendsten«, schärft ihm von Kopp ein. »Sie besonders! Oder ist Uljanow auf Rosen gebettet?« Die Frage geht an Subatow, der mit einem verächtlichen Lächeln erwidert: »Welcher Berufsrevolutionär ist das? Er wird billiges Quartier nehmen.« »Wie ich sage, Koch!« wendet sich der Referendar wieder an seinen Mann. »Wer ihn gesehen hat, wird sich mit Sicherheit erinnern. Für einen Dreißigjährigen besitzt der Herr erstaunlich gelichtetes Haar. Benutzen Sie das! Gehen Sie.« Koch klappt die Hacken nicht. Mit einer verbindlichschmierigen Verbeugung, die seinen Chef jedesmal von neuem ärgert, gibt er zu verstehen, daß er verstanden hat. Koch ist heilfroh, als er endlich wieder draußen ist. Der immer noch nicht verschluckte Bissen quillt im Munde. Der Kriminalwachtmeister speit ihn angewidert in den Papierkorb und greift nach Mantel und Melone. Bertrams Sportmütze und sein karierter Havelock — der Mantel ohne Ärmel, aber mit einer hüftlangen Pelerine — sind bereits weg. Im Büro des Dezernatsleiters wartet nur noch ein Mann auf Befehle, ein Oberlehrertyp mit beherrschtem, klugen Gesicht und einem Kneifer am Seidenband. Er blickt so sorgenvoll drein, als habe er in der Oberprima lateinische Kommentare zu Cäsars »Gallischem Krieg« zu zensieren. Das ist Wolter, Kriminalwachtmeister Wolter. Er erhält den Auftrag, sich die graphischen Großbetriebe der Messestadt vorzunehmen, die kyrillische Lettern besitzen. Mit Hilfe der Betriebsingenieure soll er, soweit möglich, Fehlbestände im Schriftvorrat suchen, und mit Hilfe der Hauskorrektoren, die der Sprache mächtig sind, vorliegenden Neusatz daraufhin untersuchen, ob die Arbeiter an Setzmaschinen und -kästen nicht nebenbei und insgeheim Texte absetzten, die durch
keinen offiziellen Druckauftrag gesegnet sind. Da hat man in Leipzig schon die tollsten Sachen erlebt... »Aber ich habe«, versichert der Referendar seinem Gast beruhigend, »bereits ein beinahe lückenloses Verzeichnis der in unserer Messestadt vorhandenen deutschen, lateinischen und auch fremden Schriften erarbeitet, Herr Oberst. Eine wahre Sisyphusleistung, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, doch sie befähigt uns, immer an der richtigen Stelle anzusetzen.« »Sehr tüchtig«, anerkennt Subatow, »und nachahmenswert. Mein Kompliment! Man hatte in Dresden recht. Sie zu empfehlen.« Adelhelm von Kopp bedankt sich mit einer leichten, wiederum sehr kommersmäßigen Verbeugung von vollendeter Eleganz, ehe er Wolter losschickt. Der zieht zweimal die Hacken zusammen, einmal vor dem Fremden, einmal vor dem Referendar. Er legt Wert auf gute Umgangsformen. Dabei übertreibt er das Militärische nicht und wirkt auch keineswegs komisch. »Brauchbarer Mann«, denkt Subatow. »Exakt richtig für dieses Dezernat!« Der brauchbare Mann, schon nebenan, steckt noch einmal den Kopf herein. »Sofern Uljanow, Wladimir Iljitsch, in unserem Gesichtskreis auftaucht - befehlen Sie, zuzugreifen?« Der Referendar sieht fragend zum Oberst, und weil der kaum merklich mit den Augen verneint, erwidert er: »Unterstehen Sie sich. Ich wünsche fürs erste ausschließlich Observation, aber eine Observation, der kein Schritt und nicht einmal eine Handbewegung Uljanows entgeht, selbst die allerallgemeinste Geste nicht. Dazu Verbindungen, Anlaufstellen, Kontakte - die alten Leute vom Außendienst wissen schon. Ich werde laufend informiert! Ist das klar?« »Das ist klar, Herr Referendar.« Die Tür klappt. Adelhelm von Kopp reibt sich unternehmungslustig die Hände. »Ich könnte mir vorstellen, daß Uljanow zu seinem Leipziger Klüngel Kontakt aufnimmt. Zu Emigrantenfamilien, zum Russischen Akademischen Verein ...«
»Wenn er nicht sogar dort unterkriecht. Das ist auch eine Möglichkeit«, nimmt Subatow die Bemerkung lebhaft auf. »In dieser Richtung haben Sie noch keine Befehle erteilt.« »Dafür«, schmunzelt der Referendar und besitzt Oberwasser, »ist vorgesorgt. Für diese Strecke besitze ich einen ausgezeichneten Mann. Einen Wachtmeister Reichert. Er kontaktiert gerade mit einem russischen Studenten. Wir haben unter denen wie unter den Emigranten natürlich VLeute.« »Natürlich«, entgegnet der Oberst in einem Ton, der Verwunderung über die betonte Erwähnung einer solchen Selbstverständlichkeit auszudrücken scheint. »Wenn in diesen Kreisen etwas anläuft«, beeilt sich von Kopp daher, fortzufahren, »müßte es mit dem Teufel zugehen, wenn es uns nicht zugetragen wird. Reichert ist gerade dabei, die V-Leute zu erhöhter Aktivität anzuspornen. Er sorgt auch dafür, daß wir gezielte Aufträge ohne Zeitverlust morgen an sie weitergeben können.« »Sehr begabt!« lobt der Ochrana-Mann und greift neuerlich nach der Papiros-Schachtel. Seine Fingerkuppen sind gelb von Nikotin; er raucht gleichsam pausenlos. Der Referendar reicht Feuer und setzt sich wieder. »Ich tue, was ich kann und was sich im Rahmen unserer Möglichkeiten machen läßt«, versichert er. »Sofern Uljanow kommt oder schon hier ist, werden wir ihn nach allen Regeln der Kunst feststellen und einkreisen. Den Rest, Herr Oberst. ..« Subatow nickt. »... überlassen Sie mir! Was sollen Sie sich auch noch mit unseren russischen Roten belasten, nicht wahr? Sie haben da, glaube ich, im eigenen Lande genug zu tun.« Diese Bemerkung zu deuten fällt dem Referendar einigermaßen schwer. Klingt sie nicht gar, als tadle der Oberst ein nach seiner Meinung vielleicht zu lasches Vorgehen der hiesigen »hohen« Polizei gegenüber allem, was nicht fest zu Thron und Altar steht? Na, der hat gut kritisieren! In seinem eigenen Reich ist noch kein Otto von Bismarck, als er gerade für alle Ewigkeit im Sattel zu sitzen
schien, durch eine Arbeiterpartei aus dem Verkehr gezogen worden ... Daran kann man nicht einfach vorbeigehen.
7 Im »Kaffeebaum« nahe der Thomaskirche haben sie einen Edison-Phonographen. Hin und wieder zieht ihn der Oberkellner persönlich auf. Dann klingen, aus einer rotierenden Walze hervorgelockt, Weihnachtslieder durch das intime Café. Das besitzt immer noch die behagliche, anheimelnde Gemütlichkeit, die wohl seinerzeit den Thomaskartor Bach gern hier verweilen ließ. Womöglich bevorzugte auch er den Vormittag für eine besinnliche Kaffeestunde; da ist die Zahl der Gäste klein; da kann man ungestört den eigenen Gedanken und Plänen nachhängen, in aller Ruhe Zeitung lesen oder sich unterhalten, ohne der Nachbarn am anderen Tisch wegen leise sprechen zu müssen. Es liegt in Kriminalwachtmeister Reicherts Natur, daß er dann und wann mit schnellem Rundblick die anderen Gäste mustert und mißtrauisch prüft, ob da nicht jemand ist, der ihn und seinen jungen Informanten beobachtet und insgeheim registriert, wie viele süße Törtchen, welche Berge von Schlagsahne und wie viele Kannen Kaffee jener zu Lasten des Verfügungsfonds eines königlichen Polizeiamtes verzehren darf. Aber nein, sie beide werden wohl nicht observiert. Da sitzt in der Nähe eine würdige Matrone, die anscheinend die Fräulein Töchter von der Bahn abgeholt hat - zwei geradezu mondän gekleidete junge Damen. Die eine plappert mit viel Prusten und Lachen von Nichtigkeiten des vornehmen Internats, aus dem sie und die Schwester wohl eben kommen. Die andere, ältere tuschelt mit einem Fähnrich im knappsitzenden lindblauen Rock der sächsischen Gardereiter. Sie überläßt ihm willig ihre schönen schlanken Hände und hat einen feinen, erregten Glanz in den Augen. Der Verlobte vermutlich, zur Begrüßung extra aus Dresden angereist... Ein Stück hin sind zwei distinguierte Herren, vielleicht Universitätslehrer, in die ernsthafte Diskussion über ein vor ihnen liegendes illustriertes Blatt vertieft. Sie streichen ihre Vollbärte, rücken an dünn gefaßten Brillen
und wären sicher unangenehm berührt, wenn sie wüßten, daß der unscheinbare Mensch mit der wie ausgefransten Haarbürste dort, Reichert, mit intuitiver Sicherheit errät, worüber sie sprechen. Dazu bedarf es keiner hellseherischen Begabung; der Kriminalwachtmeister kennt die Zeitschrift und sieht, welche Seite aufgeschlagen ist. Es handelt sich um die »Nové ilustrované listy«, die in Prag und Brno erscheint, und das Gespräch kreist offensichtlich um das Bild, das darstellt, wie der Burenführer Paulus Krüger sich in diesem Monat nach seiner Ankunft in Marseiile im Hotelzimmer von drei Lichtbildnern für die Presse fotografieren ließ. Er sitzt da, ein schwerer, massiger Mann mit wallendem weisen Bart, in einem Sessel, ein Jüngerer steht neben ihm, und gleichsam im Halbkreis vor ihnen haben die Fotografen ihre Apparate aufgebaut. Kriminalwachtmeister Reichert kennt das Bild. Reichert klopft die erkaltete Asche aus dem Pfeifenkopf - denn er ist ein eingeschworener Pfeiferaucher und konstatiert mit Genugtuung, daß er trotz gedanklicher Abschweifungen behalten hat, was der Informant unterdessen sagte. Es ist alles Übung. Der Kriminalwachtmeister zieht die Bambushülse von der Kopierstiftspitze, die er vor dem Schreiben gewohnheitsmäßig mit der Zunge anfeuchtet, und macht ein paar Notizen. Immer, wenn er etwas zu Papier gebracht hat, klappt er den Deckel des Taschenblocks wieder zu, als fürchte er ständig eine Einsichtnahme durch Unbefugte. »Das war umsichtig«, urteilt Reichert, als habe er ununterbrochen aufmerksam zugehört. »Sofern es jetzt ein allgemeiner Trend unter den Emigranten und Studenten ist, Herrn Marx anzubeten, müssen Sie das natürlich mitmachen, sonst kommen Sie da nicht voran.« Er kratzt sich hinterm Ohr und schüttelt ein wenig den Kopf. »Aber das ist neu, wie? Wie kommt es denn, daß die alte Grüppchenbildung nicht weiterzugehen scheint? Es sah doch aus, als würden sich die Herrschaften glücklicherweise niemals zusammenfinden ... Kippen etwa gar die Volkstümler um, bei denen Sie bisher ...?« Der Student rülpst dezent hinter der vorgehaltenen
Hand. Dann lehnt er sich zurück, schlägt die Beine übereinander und erklärt: »Der Stamm ist selbstverständlich bei der Stange geblieben. Aber die anderen ... Kaum noch Neuzugänge, verstehen Sie? Alles in allem eine rückläufige Tendenz... Ich habe noch rechtzeitig die Kurve gekriegt, als ich mit den Kommilitonen ging, die neuerdings die Volkstümler-Thesen als blanken Hohn deklarieren. Sie kennen ja diese Thesen: Die Bekämpfung der Selbstherrschaft ist unnötig. Die Regierung Seiner Majestät steht patriarchalisch über den Klassen und wird den einfachen Menschen helfen. Man muß lediglich die an sich wohlgesonnenen Behörden zu einigen Reformen veranlassen, um zu verhindern, daß das tüchtige Bäuerlein und damit die Mehrzahl meiner Landsleute mehr und mehr bei den Großbauern verschulden und in Abhängigkeit von ihnen geraten. Und so weiter... Nun, man tendiert jetzt dazu, das als ein Wunschdenken zu disqualifizieren, das von der rauhen Wirklichkeit ad absurdum geführt wird. Die so sprechen, sind noch die Gutwilligen.« »Und die Böswilligen?« »Die Böswilligen«, nimmt der Student das Stichwort auf, »behaupten, daß die Volkstümler in ihrer heutigen Form ausschließlich die Interessen der reichen Kulaken und damit der Oberschicht in den Dörfern vertreten, daß sie also falsche Volksfreunde sind. Das ist ein vernichtendes Urteil, Herr Reichert! Vergessen Sie nicht, daß all die Grüppchen, von denen Sie sprachen, letztendlich durch die Behauptung Anhänger finden, daß sie nach einer Besserung der Lebensverhältnisse unserer russischen Menschen streben. Diese Besserung liegt der Mehrzahl der Intellekt uellen meiner Heimat am Herzen - so fremdartig das für deutsche Ohren klingen mag.« Darauf geht der Kriminalwachtmeister nicht ein. Er blättert in seinem Block vor- und rückwärts und erinnert sich früherer Gespräche mit dem Informanten. »Ich dachte bisher«, dehnt er, »daß gerade die Volkstümler mit Leichtigkeit ihre Anhänger... Sie erschrecken die Leute nicht mit Gedanken eines Umsturzes von Grund auf, sie knüpfen
an an das, was den Leuten jahrhundertelang eingehämmert wurde und ihnen in Fleisch und Blut überging, an den Glauben, an die väterliche Güte Seiner Majestät, an die Möglichkeit von Reformen ... Und nun auf einmal...?« Der Studiosus — Mediziner ist er übrigens — zuckt die Achseln. Er hat eine Zigarre bestellt und wählt nun sachverständig in der geöffneten Kiste, die ihm der Oberkellner zuvorkommend darbietet. Erst, nachdem er eine Virginia entnommen und bedächtig den in sie eingezogenen Strohhalm entfernt hat, erwidert er: »Das ist ein Prozeß, lieber Herr, der schon eine ganze Weile schwelte. Daß er mir eine Zeitlang verborgen blieb - nun, ich habe keine politischen Ambitionen, wie Sie wissen; ich kümmere mich um das alles nur, um Ihnen gefällig zu sein und weil das Salär sehr schmal ausfällt, das ich von daheim erhalte ... Immerhin bin ich aber dahintergekommen, was diese Bewegung auslöste.« Er beugt sich zu der auf dem Tisch brennenden Kerze, raucht seine Zigarre an und spricht dann sofort weiter: »Das waren die von einem gewissen Uljanow, Wladimir Iljitsch, in einem Buch zur Geschichte des Kapitalis mus in Rußland dargelegten Erkenntnisse. Blendender Kopf übrigens, brillante Feder... Seiner Meinung, daß die Volkstümlerbewegung aus einer revolutionären zu einer liberalen Richtung geworden sei, schließen sich mehr und mehr Kommilitonen an. Ebenso seiner These, daß die allgemeindemokratischen und von ihm als achtbar bezeichneten Forderungen der ursprünglichen Volkstümlerbewegung heute nicht mehr von den Volkstümlern, sondern - und das exakter, tiefer und weiter, als diese es jemals vorhatten - nur von den Marxisten vertreten würden, und zwar im politischen Kampf der Arbeiterklasse im engsten Bündnis mit der Bauernschaft. Zumindest leuchtet jedem ein, daß die Arbeiter weder Grund noch das Bedürfnis haben können, die Interessen der Kulaken zu vertreten - sogar mir!« Er scheint diese Bemerkung für einen guten Witz zu halten, denn er lacht. »Und das will schon etwas bedeuten«, bestätigt der Kriminalwachtmeister mit so viel Verbindlichkeit, wie er
eben aufzubringen vermag. »Es hätte nichts geschadet, wenn Sie ein wenig eher...« Er bricht gleich wieder ab, schüttelt verdrossen den Kopf und schaut traurig der Matrone zu, die samt ihrer Begleitung zum Aufbruch rüstet. Mama und die ältere Tochter haben bereits die Mäntel an, der jüngeren hilft der Fähnrich eben höflich in den ihren. Dann nimmt er aus den Händen des Oberkellners den eigenen Mantel, die schneidig gekniffte Mütze und seinen Kavalleriesäbel entgegen. Das Trinkgeld muß enorm gewesen sein - seine Höhe wird aus Häufigkeit und Tiefe der Verbeugungen des Oberkellners annähernd erkennbar. Und draußen steht auch bereits eine wartende Droschke ... Er räuspert sich, leckt abermals die Kopierstiftspitze an und zwingt sich zu fortgesetzter Sachlichkeit. »Wenn ich Sie recht verstehe, ist also die Anhängerschar des Herrn Struve gewachsen. Nicht uninteressant ...« Gerade so wünscht der Studiosus seine Ausführungen nicht verstanden zu sehen. Nein, zu Herrn Struve und seinen »legalen Marxisten« seien die Kommilitonen nicht übergegangen, widerspricht er. Allein, daß die »legalen Marxisten« in Rußland offizielle Zeitungen und Zeitschriften haben dürften, mache sie den Emigranten aufs höchste verdächtig und als Träger eines revolutionären Gedankens unglaubwürdig. Die Russen in Leipzig schlössen sich mehr und mehr der scharfsinnigen Argumentation des besagten Uljanow an, die sogenannten legalen Marxisten seien in Wahrheit verkappte Wegbereiter des Kapitalismus, die die Volkstümler und deren Eintreten für die Kleinproduktion angreifen, weil sie diese als einen Hemmschuh auf dem Wege zur vollen Entfaltung der Industrieproduktion betrachten. Uljanow sehe in den Struve-Leuten eine Gruppe, wie es ähnliche auch in westeuropäischen Ländern gäbe - eine Gruppe, die sich als Marxanhänger ausgibt, dieses Aushängeschild jedoch dazu benutzt, die Lehre von Marx zu entstellen und sie des revolutionären Inhalts zu berauben. »Dieser Richtung treten Uljanows Anhänger unversöhnlich entgegen«, schließt der Informant. »Für sie sind, wenn ich das richtig sehe, die
Grundlagen des Marxismus nun einmal die Lehre von der sozialistischen Revolution und der Diktatur des Proletariats. Struves Forderung, unsere Kulturlosigkeit anzuerkennen und beim Kapitalismus in die Lehre zu gehen, lehnen sie rundheraus ab. Es ist eine andere Richtung, wie ich meine. Eine gefährlichere, wie ich überzeugt bin.« Der Kriminalwachtmeister unterstreicht den notierten Namen - Uljanow, Wladimir Iljitsch. »Kaum vorstellbar«, murmelt er, »daß dieser Mensch es durch ein Buch geschafft hat, diese Umstrukturierung zu erreichen. Durch nichts als ein Buch ...« »Man sagt mir, er sei ein großer Publizist. Er behaupte nicht, er beweise. Und überzeuge durch die unantastbare Logik seiner Kommentare. Nun wünschen sie sich nichts sehnlicher, als ihn einmal hier zu haben und mit ihm disputieren zu können. Na, wenn er nur halb so gut redet, wie er schreibt, steckt er sie alle in die Tasche. Dann können Sie, lieber Herr, statt Russischer Akademischer Verein und Emigranten gleich die Partei Uljanows sagen. Die wenigen anderen zählen dann nicht mehr.« »Und wird er kommen?« erkundigt sich Reichert mit so farbloser Gleichgültigkeit, daß diese einen geübteren Spitzel als den angehenden Mediziner hellhörig machen müßte. Aber dem sagt der falsche Ton nichts. Er erzählt bereitwillig, es sei wohl versucht worden, Uljanow einzuladen, doch ob eine Antwort erfolgt sei, ob eine Zusage gekommen wäre ... Er, der Student, habe erst kürzlich die Volkstümler verlassen ... »Recherchieren Sie das! Recherchieren Sie das unbedingt!« bestimmt der Kriminalwachtmeister. Wichtig ist, daß er, Reichert, seinem Referendar Neuigkeiten aufzutischen weiß, die die Stellung des künftigen Kriminalrats vorteilhaft beeinflussen und damit auch seine eigene Position. Was er heute erfahren hat, wird das Innenministerium wohlwollend zur Kenntnis nehmen und es dorthin weiterleiten, wo man etwas damit anzufangen weiß. »In diesem Sinne also«, sagt er. »Sie würden auf Dankbarkeit rechnen können, wenn Sie schon bis morgen
etwas wüßten. Gegebenenfalls würde ich mich bewogen fühlen, Ihre - hm, Aufwandsentschädigung angemessen zu erhöhen ...« *** Sie sind allein in der kleinen Druckerei, Ilse Rauh und ihr Mann. Hermann hat die Nickelbrille aufgesetzt, die er zum Lesen fast immer und zum Setzen meist benutzt, hat sich am Schreibtisch niedergelassen und redigiert die letzten Beiträge für die »Arbeiter-Turnzeitung«. Es sind zumeist kurze Berichte über die Arbeit einzelner Arbeitersportverbände, in einer schlichten, schmucklosen Sprache geschrieben, in knappen Sätzen und manchmal unbeholfen formuliert. Das ist nicht wichtig, dem kann Rauh abhelfen. Wichtig sind die Inhalte der Meldungen Nachrichten von organisatorischen und sportlichen Erfolgen, von gewachsenen Mitgliederzahlen und festem Zusammenhalt. Darauf kommt es an. Durch ihre Weitergabe verbindet die »AT« die einzelnen Verbände, schließt sie enger zusammen, macht sie zu einer Gemeinschaft. Während Hermann in seiner blauen Arbeitsjacke so sitzt, geht Ilse leise durch die Druckerei. Paul Thomas ist nicht da, den hat der Meister mit Aufträgen hinausgeschickt, und Emma macht sich drüben im Haushalt nützlich. Auf diese Weise ist hier Gelegenheit für ein paar ordnende Handgriffe. Rauh hebt flüchtig den Kopf. Er kennt seine Ilse; er weiß, daß ihre augenblickliche Beschäftigung nur ein Vorwand ist. »Schieß los!« sagt er in die Stille hinein. »Wo drückt dich der Schuh?« Sie geht gleich zu ihm und versucht nicht zu bestreiten, daß er recht hat. »Unser Gast...«, beginnt sie lebhaft. »Wie ihr ihn alle behandelt, das macht mich neugierig. Marchlewski, Nusperli und du... Haben wir das Buch, von dem ihr gesprochen habt?« »Nein«, bedauert er sofort. »Leider... Ich bekam es nur leihweise für ein paar Tage, und da war es schon so zerlesen, daß es eigentlich bloß noch aus fliegenden Blättern bestand. Es ging von Hand zu Hand, weißt du ...« »Schade.«
Hermann redigiert Artikel, streicht, stellt um, formuliert einen Satz neu, schüttelt manchmal unzufrieden den Kopf und fängt noch einmal von vorn an. Und lächelt, als seine Frau unvermittelt fragt: »Weißt du nichts, womit wir ihm eine besondere Freude machen könnten?« Das ist so ihre Art, Anteilnahme und Bewunderung auszudrücken. *** Zu guter Letzt hat Oberst Subatow, ehe er sich mittels eines Motorenwagens des Polizeiamtes in sein Hotel begab, Adelhelm von Kopp ein - wie er sagte - bescheidenes Erinnerungsgeschenk überreicht. Der Referendar sah darin richtig ein Zeichen wohlwollender Anerkennung seitens des mächtigen Mannes aus den Reihen der Ochrana, fühlte sich erhoben und geehrt und brachte das in gewählten Worten gebührend zum Ausdruck. Als er das handlange saffianlederne Etui öffnete, verschlug es ihm allerdings die Rede. Von solchen kaum spannenlangen, aber voll funktionstüchtigen Miniaturrevolvern aus den Werkstätten der Büchsenmacher in Tallin hat von Kopp schon gehört; Waffensammler wiegen solche Wunderwerke handwerklicher Präzisionsarbeit geradezu mit Gold auf - und Subatow reichte das Etui herüber, als trenne er sich bestenfalls von einer Packung Zigaretten seiner Lieblingssorte! Ein ungewöhnlicher Mann, wahrhaftig. Der Referendar ließ sich noch einmal Kaffee kochen. Nun raucht er mit Genuß eines seiner Zigarillos, fühlt sich wohl und sucht die winzige Waffe zu ergründen. Ganz einfach ist es nicht, die Patronen von der Dicke einer starken Bleistiftmine in die kleine Tro mmel zu bringen, aber es gelingt. Gleich hier im Büro einen Probeschuß zu tun, verkneift sich von Kopp — die niedlichen Dinger sollen eine verblüffende Durchschlagkraft besitzen. Gut gelaunt nimmt er den Telefonhörer ab, als die Klingel des Apparates anspricht, und gut gelaunt meldet er sich. Sein Gesicht erhält, sobald am anderen Ende der Leitung die ersten Worte gefallen sind, sofort einen konzentrierten, ja, lauernden Ausdruck.
»Woher sprichst du denn, Paul?« erkundigt er sich. »So? Na, dann faß dich ganz kurz und sage nur das Wichtigste, damit du in deinem Postamt nicht auffällst. Wir treffen uns lieber irgendwo ...« Das Telefonat endet rasch. Adelhelm von Kopp schmunzelt spöttisch, als er abhängt, abläutet und die Vorzimmerklingel betätigt. Fast augenblicklich tritt der hagere Kriminalsekretär Schneider ein. »Die Aufnahmen sind gemacht. Sie wässern gerade«, meldet er. »Die Personenbeschreibung wird auf Schreibmaschinen getippt, weil das schneller geht. Sobald ich das Material habe, schwärmt die ganze Einsatzgruppe aus.« Der Referendar nickt ihm zu und erklärt gönnerhaft, solche Organisationsarbeit wisse er bei einem so gewissenhaften und korrekten Manne in den besten Händen. »Nun mal etwas anderes, Schneider. Ich brauche bis heute abend die letzten Nummern der Allgemeinen Automobil-Zeitung. Erscheinungsort ist die k. u. k. Residenzstadt Wien. Das Blatt wurde erst in diesem Jahr gegründet.« Der Sekretär sieht ihn interessiert an und fragt, ob der Herr Referendar die Absicht habe, sich einen Wagen... Von Kopp schüttelte den Kopf. »Halten Sie mich für verrückt? Pferd bleibt Pferd, wenn Sie mich fragen. Aber ich habe da einen Autonarren unter meinen Informanten, und kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.« Schneider blickt auf das Saffianlederetui auf dem Schreibtisch und versichert, es werde alles prompt erledigt werden. »Noch etwas!« hält der Referendar ihn zurück, als sich der Sekretär schon zum Gehen wendet . »Der Einkauf geht zu Lasten des Verfügungsfonds, wie sich am Rande versteht.« »Wie sich versteht!« wiederholt Schneider trocken.
8 An diesem Abend dunkelt es noch früher als sonst im Dezember. Es schneit wieder, und die tiefziehenden Wolken beschneiden das letzte Tageslicht. Die Gaslaternen in der Probstheidaer Hauptstraße zeichnen zischend kleine gelbe Inseln auf die Schneedecke. Um die Glaskörper der Gaszylinder herum wirbeln die Flocken so dicht, daß sie förmlich eine Mauer um die Lampen stellen. Die tagsüber festgetretenen gefegten Wege versinken im Schnee. Den treibt ein mäßiger Wind auch gegen die erleuchteten Fenster der umliegenden Bauerngehöfte und der nahen Großgärtnerei und hängt ihn davor wie einen schirmenden Vorhang, der die Geborgenheit geheizter Räume noch abgeschiedener und stiller macht. Die Straßen veröden schnell. Noch bringt die Pferdebahn Arbeiter aus Leipziger Fabriken nach Hause, noch laufen eilige Frauen zum Kaufmann, eine vergessene Besorgung in letzter Minute nachzuholen, aber sie alle halten sich nicht auf und gehen, auf dem kürzesten Wege unter schützende Dächer zu gelangen. Im Sommer hat man Zeit für einen gemütlichen Schwatz vor der Haustür und im behaglichen Schatten der Straßenbäume. Dann macht es Freude, den Tauben zuzuschauen, die sich in einer letzten bogenförmigen Runde zum blauen Himmel erheben, ehe sie für die Nacht in ihre Schläge heimkehren, doch jetzt... In diesen rauhen Monaten lockt nichts so sehr wie die eigenen vier Wände. Paul Thomas hat sich - darauf legt der Meister Wert nach getanem Tagwerk die Hände gewaschen und schlüpft in seine Joppe, als Emma aus dem Wohnhaus herübergelaufen kommt und vor das Nagelbrett tritt. Sie beide sind allein in der kleinen Druckerei, Hermann Rauh ist schon hinübergegangen. Emma sucht in den Fahnenabzügen herum und nimmt dann einen vom Nagel. »Vati will noch einmal hineinsehen, weißt du«, wirft sie hin. »Da gibt's wohl einen Absatz, der ihm gar nicht gefällt.«
»Du liebe Güte!« seufzt Paul. »Dann setze ich den Quatsch morgen noch mal.« Er nimmt seine Pudelmütze heraus und zerrt sie sich über den strubbligen Haarschopf. »Machs gut, Emma! Ich brause ab!« Sie hat Lust, noch ein bißchen zu stänkern. »Hast es heute aber eilig! Sieht ja aus, als hättest du eine neue Detektivgeschichte zu Hause.« Damit kann sie ihn nicht ärgern. Er sieht sie überlegen an. »Stimmt sogar genau! Eine Studie in Scharlachrot, ganz toll! Das ist mal ein Held, sage ich dir! Sherlock Holmes heißt er. Über ihn müßte es noch viel mehr Bücher geben. Wenn du magst, pumpe ich dir dieses.« Er weiß gleich, daß es falsch war, ihr das gutgemeinte Angebot zu machen. Pro mpt hebt sie die Schultern und entgegnet schnippisch: »Wenn du nichts anderes hast...« und geht, die Fahne schwenkend, zur Tür. »Gans!« knurrt er leise und böse. Sie hat es trotzdem gehört und wendet sich um. »Was war das?« erkundigt sie sich katzenhaft freundlich und kommt kampflustig einen Schritt näher. Paul steht schon wie auf Kohlen und hat keine Zeit zu verlieren, erst recht nicht mit solchen Kindereien; wie er ein wenig von oben herab denkt. Auf ihn warten wichtigere Angelegenheiten. »Ganz schön kalt heute, wollte ich sagen«, kriegt er hastig die Kurve. »Wenn du mich nur einmal ausreden ließest. ..« Er geht demonstrativ auf den Ausgang zu. »Bis morgen.« Sie bedauert, daß aus dem schönen Streit nichts wird. Einen letzten Versuch unternimmt sie noch, doch der fällt ziemlich schwach aus. »Bis morgen! Und schlaf bloß nicht ein über dem Schmöker.« Dem weiß er zu begegnen: »Es ist ja keine Liebekleine-Mädchen-Geschichte, Emma.« Damit ist er draußen. »Blöder Bengel!« ruft sie hinter ihm her und wendet sich ins Haus. Wenn schon aus dem schönen Streit nichts
geworden ist - daß sie wenigstens das letzte Wort gehabt hat, das tröstet ein wenig. Paul geht pfeifend die Hauptstraße hinunter, auch er recht zufrieden mit sich und gut gelaunt. Dazu kommt, daß ihn die frühe Dunkelheit mit den gelben Lichtflecken der Laternen wie ein Abenteuer berührt. Jetzt kann er sich schön einen erregenden Gang ins Ungewisse ausmalen, Schritte, von denen jeder Unerwartetes bringt, und im Unsichtbaren eine geheimnisvolle, eine schweigend lauernde Gefahr. Unternehmend stellt er den Kragen der Joppe hoch und geht ein wenig breitbeiniger - so, wie Leute tun, die vor Kraft kaum noch laufen können. Ja, und es würde ihn kein bischen wundern, wenn plötzlich eine gutgekleidete Dame aus einem Haustürschatten auf ihn zutreten und mit rührender Hilflosigkeit sagen würde: »Ich weiß nicht mehr ein noch aus, Sir! Helfen Sie mir, oder ich bin verloren ...« Und dabei müßten über ihr wunderschönes Gesicht Tränen rinnen. Genauso fangen die Geschichten oft an, die er liebt. Es trifft ihn wie ein Schlag, als da plötzlich eine Stimme ist, die unmittelbar neben ihm sagt: »Herr Thomas! Paul!« So sehr war der Junge in die bunten Phantasiebilder eingesponnen, daß er auf den Mann nicht geachtet hat, der hier auf und ab ging, als wolle er eben vor dem Heimgehen etwas frische Luft schöpfen. Selbst wenn er ihn gesehen hätte, wäre Pauls Aufmerksamkeit schnell wieder erloschen. Ein begüterter Bürger, ein Rentier vielleicht, hätte er gedacht, der auf seine beschauliche Weise den Tag beschließt. Die karierten Knickerbockers, die pelzgefütterte Windjacke, die flotte Reisemütze. . . Erst, als er den Fremden näher betrachtet, erkennt ihn Paul an den Säbelhiebnarben und dem zwischen den Zähnen gehaltenen Zigarillo. »Herr von Kopp?« fragt er überrascht. »Wahrhaftig, ich hätte Sie nicht erkannt...« Der Referendar nickt. »Wir haben doch neulich von Verkleidungen gesprochen. Da siehst du, wie einfach das ist, im Dunkeln noch dazu - ein anderer Anzug, und schon läufst du an mir vorbei!«
»Das geschieht mir nur einmal! Bestimmt!« versichert Paul mit einer Beschämung, die sich mit Bewunderung paart. »Von Ihnen kann man eine Menge lernen. Aber wir wollten uns doch im Restaurant...« »Lieber nicht, mein Junge«, geht der Referendar sofort darauf ein. »Hast du nicht gewußt, daß dort heute eine Versammlung der SPD-Ortsgruppe stattfindet? Ich habe es gerade im Vorbeigehen gelesen. Diskussion über die revisionistischen Theorien eines gewissen Eduard Bernstein... Dein Chef wird auch hingehen. Wenn er uns zusammen sieht, macht er es dir vielleicht unmöglich, ihm zu helfen. Er könnte sich gegängelt fühlen, und wer mag das schon?« Der Lehrling beißt sich auf die Lippen. Er muß wahrhaftig noch viel lernen. Daß er nicht auf diese Versammlung aufmerksam wurde... Zu dumm! Rasch und verlegen erwidert er: »Wir lassen ihn besser ahnungslos. Sobald wir zupacken, wird er schon merken, daß es zu seinem Besten geschieht.« »Wie?« fragt der Referendar und ist sich für die Dauer eines Augenblicks nicht klar, ob das nicht nackter Hohn ist, ob ihn der Junge nicht verspottet. Doch nein, diese Augen sehen ihn so offen und eifrig an, daß er nicht fürchten muß, durchschaut zu sein. Nein, nein, diesen Bengel kann er nach Belieben formen, der ist Wachs in seinen Händen. »Ja, natürlich zu seinem Besten!« bestätigt er im Brustton der Überzeugung. »Es war umsichtig von dir, mich anzurufen und mich von deiner Wahrnehmung zu unterrichten. Mit dieser Nase kannst du etwas werden! Ganz erstaunlich! Da muß ich dir ein Kompliment machen.« Paul Thomas strahlt. »Meine Meldung nutzt Ihnen, ja?« »Noch nicht viel«, schränkt Adelhelm von Kopp vorsichtig ein. »Daß es morgens nach Kaffee und Nikotin roch, das ist noch zuwenig.« Damit der Junge nicht enttäuscht in seinem Eifer nachläßt, hält er es für geraten, genau zu erklären, was er meint, und den Tadel in einen Ansporn umzumünzen. »Würde ich Rauh auf diesen Hinweis
hin zur Rede stellen, er brauchte nur zu sagen, am Vorabend habe ihn ein Kunde besucht und es wäre seither nicht gelüftet worden. Aus und vorbei, Paul!« »Müßte er nicht sagen, wer bei ihm war?« Das klingt ziemlich kleinlaut. Von Kopp beantwortet die Frage mit einer anderen. »Falls er etwas verbergen wollte, glaubst du nicht, daß er Freunde besitzt, die ihm zuliebe schwindeln würden?« »Aber...«, setzt der Junge an und bricht gleich ab. »Was?« »Nichts.« Der Referendar ist Psychologe genug, um zu fühlen, daß sich Paul in dieser Sekunde vor ihm verschlieft, daß da ein Gedanke ist, der seinen, von Kopps, Plänen mit dem Jungen zuwiderläuft. Er muß ihn unterbrechen und entkräften, wenn er sein Spiel nicht verlieren will. »Ich bin überzeugt«, sagt er unvermittelt sehr eindringlich, »daß du das Zeug zu einem Detektiv hast, wie er im Buche steht...« »Ihr Ernst?« öffnet sich Pauls verschlossenes Gesicht wieder. »Mein voller Ernst! Ich besitze den Blick dafür«, betont der Referendar nachdrücklich, »und wenn du dich bewährst... Die königliche Geheimpolizei hat immer Bedarf an tüchtigen Agenten, vor allem an Leuten mit Spezialkenntnissen. Denke an den Wachtmeister, der bei mir war! Den im Ledermantel... Der hat mal Schriftsetzer gelernt wie du, ist als Kavalleriegefreiter siebzig/einundsiebzig bei den Feldjägern eingesetzt worden und kam schließlich, weil ihm die Polizeiarbeit gefiel, zu uns. Mit seinen Kenntnissen hat er sich vom einfachen Polizeidiener bis zum Wachtmeister hochgearbeitet. In meinem Dezernat ist er geradezu unentbehrlich geworden. Wir brauchen auch in Zukunft gute Leute. Ich bin DiplomKriminalist, Paul, Akademiker... In Kürze werde ich Kriminalrat sein, ein mächtiger Mann. Und ich vergesse niemanden, der mir geholfen hat.« »Sie sind gut zu mir«, murmelt Paul Thomas dankbar und angerührt.
»Bloß eines vertrage ich durchaus nicht«, hakt der Referendar geschmeidig ein, ohne schärfer zu werden oder auch nur die Stimme zu heben. »Wer mit mir arbeiten will, darf keine Geheimnisse vor mir haben. Was wolltest du sagen?« Paul sieht weg. »Ich kenne die Männer, die zu Herrn Rauh kommen«, beginnt er zögernd. Immerhin spricht er. »Natürlich nur vom Sehen, jedoch — das sind keine Lügner. Sie sind freundlich und... eben ganz einfach Leute, auf die man sich verlassen kann. Und die sollen...? Das will mir nicht hier hinein!« Er schlägt sich mit der flachen Hand an die Stirn, daß es klatscht. Adelhelm von Kopp sieht ihn an. Mit eins hat er das Gefühl großer Ohnmacht, hat er einen unbändigen Haß auf diese Menschen, die seine Feinde sind und ungeachtet aller Nachstellungen immer neue andere an sich ziehen — einfach durch ihr Auftreten und Tun, ohne materielle Vorteile bieten zu können und ohne mehr zu haben als den unerschütterlichen Glauben an und ihre Einsatzbereitschaft für eine Art Zukunft, die zu verhindern und der einen Riegel vorzuschieben der Referendar hoch besoldet wird. Auch dieser Junge steht - ungewollt und unbewußt zum Glück schon unter ihrem Einfluß und hat für sie etwas Entscheidendes: Vertrauen. So leicht, wie sich der Referendar das Spiel dachte, ist es bei aller jungenhaften Naivität Pauls also doch nicht; der Bengel hat Instinkt, und wenn er sich den entfalten läßt... Es kostet von Kopp Mühe, nicht aufbrausend und hoffärtig zu antworten. Beherrscht erwidert er: »Weil sie so sind, würden sie Rauh decken, Paul! Sie meinen, ihrem Freunde zu helfen; sie tun es im guten Glauben, und dabei bedenken sie nicht, daß es schwerlich gelingt, uns zu hintergehen. Wir haben die Macht, und wir haben gelernt, sie gegen jede Art Pöbel zu behaupten. Wenn wir zuschlagen, schlagen wir hart zu. Davor wolltest du deinen Meister bewahren, weil du ihn magst. Du magst ihn doch, nicht wahr?«
Die seltsame Mischung aus unverhohlener Drohung und vorgetäuschter Sorge um Hermann Rauh beeindruckt Paul. So schnell kann er Drohung und scheinbare Anteilnahme an seinem verehrten Meister nicht trennen; er hört nur das heraus, was seine eigene Haltung rechtfertigt. Er nickt. »Detektive wie du und ich lassen sich nicht blenden«, knüpft von Kopp sogleich an diese Zustimmung an. »Wir, du und ich, übersehen die Dinge besser. Das ist wohl klar.« Weil es schmeichelhaft ist, die Lage besser zu übersehen als der Meister, steigt Paul auf dieses Brett. »Klar, ja. Herrn Rauhs Freunde wissen gar nicht, was für einen schlechten Dienst sie ihm erweisen. Die haben ja keine Ahnung, worauf er sich unter Umständen einläßt.« Nach einer grüblerischen Pause fährt er fort: »Warum lassen Sie nicht einfach Ihre Leute aufpassen, wer nachts in der Druckerei einund ausgeht?« So beschäftigt ist Paul Thomas mit dem diplomierten Detektiv, so dieser mit seinem Ringen um den Jungen, daß sie beide des Mannes nicht achten, der an ihnen vorübergeht - katzenhaft leise auf Gummisohlen und so bescheiden-zurückhaltend in seiner Art, sich zu geben, daß es leicht ist, ihn zu übersehen. Werner Nusperli ist auf dem Wege zu nächtlicher Arbeit in der kleinen Druckerei. Er hat die Straßenbahn verlassen und läuft, ohne zu zögern, ja, scheinbar sogar, ohne nach rechts oder links zu blicken, wie eben Menschen gehen, die einem vertrauten Ziel zusteuern und nichts zu verheimlichen haben. Die Selbstverständlichkeit seines Handelns ist es, die ihn unauffällig macht. Nusperli erkennt Paul, aber seine Füße treten weiter den Schnee mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks. Da ist nicht die kleinste Geste, die verrät, daß hier kein Fremder vorübergeht. Niemand könnte auch mehr vermuten, daß die Druckerei Rauh & Pohle das erklärte Ziel war. Der Schweizerdegen aus Polen läßt sie liegen, als ginge sie ihn nichts an. Nur aus den Augenwinkeln heraus nimmt er
wahr, daß Frau Rauh gerade sorgsam die Fenstervorhänge zuzieht. Sie schließen vollkommen dicht. Aus der Ferne wirkt das wohl, als würden die Lampen über den Setzkästen eine nach der anderen gelöscht, als ziehe nächtliche Ruhe in Redaktion und Druckerei der »Arbeiter-Turnzeitung« ein. Wenn er jetzt ins Dunkel des Durchgangs zwischen Wohnhaus und Druckerei träte, würde das vermutlich unbemerkt bleiben, doch Nusperli geht kein Risiko ein. Er umgeht den Häuserblock und nähert sich von der Gartenseite her. Dieser Weg ist weiter, erscheint aber heute angemessener und sicherer. Kopp fährt fort: »Überlege mal! In Leipzig, da wäre eine solche Observation keine Schwierigkeit. In der Großstadt kennt einer den anderen nicht. Hier in Probstheida weiß beinahe jeder, wer jeder ist, und wenn sich da tagelang Fremde um die Druckerei herumdrückten ... Sie würden auffallen, und wenn sie schlau wie Füchse wären. Was meinst du, weswegen ich mich ein bißchen verkleidet habe?« Er schüttelt den Kopf, faßt den Jungen an beiden Schultern und sagt sehr eindringlich: »Nein, Paul, hier kann nur einer unauffällig feststellen, ob etwas, und wenn ja, was bei Hermann Rauh los ist. Du!« »Ich?« Der Griff des Referendars wird noch fester. »Du! Das ist deine Bewährungsprobe, Junge, und du hast das Zeug dazu, sie zu bestehen. Ich weiß es.« Paul schluckt. Bis in den Hals hinein schlägt ihm das Herz. So hat noch niemand mit ihm gesprochen, soviel Verantwortung noch niemand auf seine Schultern gelegt. Erregend, belastend und schmeichelhaft ist das zugleich. Ehrenvoll vor allem, glaubt der Junge. Unwillkürlich schaut er zur Druckerei zurück. Wie in tiefem Schlaf liegt sie da, lichtlos und still. Nichts regt sich da ... In diesem Augenblick ordnet Wladimir Iljitsch Fahnenabzüge auf dem Schreibtisch Rauhs. Manche sehen schlimm aus. Hier und dort ertrinkt das schwarze Schriftbild fast im hellen Rot der Korrekturen und Striche. Uljanow hat
sehr gründlich gelesen und ist dem Satzfehlerteufel zu Leibe gegangen. Wo er der Überlänge wegen kürzen mußte, hat er sich bemüht, den gleichen Kommentar oder dieselbe wichtige Information, sofern sie unerläßlich ist und nicht wegfallen darf, kürzer und präziser zu fassen. Bei alledem arbeitete er mit der Disziplin eines Journalisten, der das langwierige Handsatzverfahren kennt und deshalb durch sorgfältige Arbeit am Manuskript nachträglichen »Schönheitsreparaturen« und zeitraubendem Neusatz zuvorkommt. Werner Nusperli hat keinen Grund zu knurren. Nusperli steht neben Uljanow, als der seinen Stift zu den Papieren legt und dann den Sakko auszieht, um ihn ordentlich über einen Stuhl zu hängen. So, hemdsärmlig in der Weste, arbeitet er am liebsten. »Schon gut, schon gut, lieber Freund«, sagt Uljanow. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Natürlich mußten Sie hintenherum kommen, wenn jemand nahe der Tür stand. Das versteht sich doch.« Er tritt ans Fenster, lupft den Vorhang ein wenig und späht hinaus. Es ist nicht viel zu sehen, nur tiefe, undurchdringliche, von fallenden Flocken verschleierte Dunkelheit. »Weitergegangen... Fangen wir also an.« Werner Nusperli bindet das Leder vor. »Der Mann war sehr gut angezogen«, wirft er nebenbei hin. »Teurer Sportanzug. Kein Arbeiter.« Uljanow belächelt die Besorgnis des Schweizerdegens nicht. Er erwidert sachlich: »Auch Angehörige der sogenannten besseren Kreise sind manchmal auf Auskünfte eines Proletariers angewiesen. Wir wollen arbeiten.« Ilse Rauh ist noch in der Druckerei. »Ich helfe Ihnen, den Wagen ...«, erbietet sie sich. »Das kommt gar nicht in Frage! Werner und ich erledigen das aufs beste. Hm, allerdings ... Da der Hausherr heute verhindert ist - würden Sie die Güte haben, für uns beide Schmiere zu stehen?« »Für Sie beide jederzeit. Genosse Uljanow!« Das macht den Männern Spaß. Sie lachen.
Gemeinsam treten sie in den Hof hinaus. Die Männer gehen, wobei Nusperli den Fahrtisch mitnimmt, zur Behausung der »Stallhasen«. Die Schriftkästen lassen sie im Versteck; sie laden heute nur Schiffe auf, auf denen ausgebundener Satz steht. »Machen wir erst einmal den Umbruch weiter«, schlägt der Schweizerdegen vor. »Die Korrekturen arbeite ich anschließend - wenn noch genügend Zeit bleibt.« Er ist der Fachmann; Uljanow läßt ihn gewähren und hilft, den Fahrtisch ins Gebäude zurückzuschieben. Mit der Tilgung der Spuren brauchen sie sich nicht aufzuhalten, die beseitigen die fallenden Flokken ohne ihr Zutun. Ilse steht unterdessen im Schatten des Durchgangs und beobachtet die Straße, die verödet wirkt. Weder Schritte noch Stimmen lassen sich hören. Besänftigend, beruhigend mutet dieses friedvolle Schweigen an. Frau Rauh geht zurück und teilt mit, daß sie nichts Auffälliges wahrgenommen hat. Weil ihr Angebot, Tee zu bereiten, dankend angenommen wird, begibt sie sich anschließend ins Wohnhaus. Uljanow und Nusperli bleiben allein in der Druckerei. Der Schweizerdegen wuchtet die Schiffe auf den Umbruchtisch. Auf einigen unterschiedlich großen steht ausgebundener Satz in langen Kolumnen. Auf anderen zeichnen sich schon die Zeitungsseiten ab. Die angelegten Stege, die der Schrift seitlich Halt geben, markieren die Seitengröße - 30 mal 44,5 Zentimeter. Die gleichen Stege verwendet Hermann Rauh auch für die »ArbeiterTurnzeitung«. Dennoch ist der optische Eindruck - und das wird beabsichtigt - ein völlig abweichender. Die »ArbeiterTurnzeitung« nämlich erscheint im halben Format, das heißt. Rauh bringt auf dem gleichen Schiff, das er quer stellt, zwei Zeitungsseiten nebeneinander unter; er benutzt dieselben Stege zur Querbegrenzung. Nusperli umbricht im Hochformat und hat auf dem gleichen Schiff eine große Seite. Die Schmalseite des Schiffes ist ihm mit dem Rand zugekehrt, der fertige Zeitungskopf kopfstehend an ihn herangezogen. Der in Versalien, in Großbuchstaben, gesetzte Titel wird links gerahmt von den Worten
»Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei« und rechts von dem Leitwort »Aus dem Funken wird die Flamme schlagen«. Darunter steht auf beiden Seiten »No. 1« und in der Mitte »Dezember 1900«. Links oben beginnt unter der Schlußleiste des Kopfes der richtungweisende Leitartikel des Blattes: »Die nächsten Aufgaben unserer Bewegung«. Wladimir Iljitsch selbst hat ihn geschrieben, und Werner Nusperli wundert es nicht, daß er, als er zu streichen anfing, hier am unbarmherzigsten vorging. Das ist bezeichnend für die hohe Achtung, die Uljanow vor der Arbeit anderer hat. Den strengen Maßstab, den er an sie anlegt, benutzt er eher noch gesteigert zur Wertung der eigenen. Das Gewohnheitsrecht der Redakteure, die eigenen Beiträge zuletzt und am schonendsten zu kürzen, ist für ihn gegenstandslos. Was er von anderen verlangt, ist er selbst als erster zu leisten bereit. Zwei Spalten laufen mit dem Leitartikel voll, und es gibt noch einen kleinen Überlauf in die dritte. Fünf Zeilen ... Soweit sind sie. Uljanow tippt mit der stumpfen Seite seines Stiftes auf ausgebundenen Satz auf einem der kleinen Schiffe. »Dies schließt an. Axelrods schöne Würdigung des verstorbenen Wilhelm Liebknecht... Mit Umlauf auf die nächste Seite.« Er nimmt die entsprechende Fahne zur Hand und deutet auf einen roten Querstrich. »Bis hierher, Genosse Werner. Den Rest in der nächsten Nummer als Fortsetzung. Es ist ein zu guter Beitrag; es wäre barbarisch, ihn zusammenzustreichen. Bis hierher also.« Werner öffnet die Kolumnenschnur und hebt den Satz auf das andere Schiff, immer so viel, wie er mit einer Fingerspanne nehmen kann. Es sieht leicht und unkompliziert aus, zwischen zwei Regletten Hunderte einzelner Lettern so zusammenzupressen, daß sie nicht auseinanderfallen, aber in Wahrheit ist das ein Kunststück, das fertigzubringen Erfahrung und Übung voraussetzt. Wladimir Iljitsch beobachtet es mit Vergnügen. Er hat eine ganz naive, ungekünstelte Bewunderung für alles Fertige, Vollkommene, sei es ein Buch, ein Gemälde oder eine manuelle Verrichtung; er besitzt die Gabe, sich darüber
ohne Vorbehalte und rückhaltlos freuen zu können - neidlos, durch das Erlebnis bereichert. »Bis hierher«, bestätigt Nusperli und hat schon die entsprechende Stelle im Satz entdeckt. »Gut! Durch die Teilung gewinnen wir den Platz, den wir brauchen.« Jetzt ist auch er ganz bei der Sache und verschwendet keinen Gedanken mehr an den Lehrling Paul Thomas, den er mit einem Fremden in Knickerbockers auf der Hauptstraße sah. Die beiden stehen immer noch in der Hauptstraße, nur an einer anderen Stelle. »Wie stellen Sie sich das vor?« erkundigt sich der Lehrling gerade atemlos und Rat suchend. Adelhelm von Kopp zieht ein Gesicht, als wäre, was er Paul zumutet, das Einfachste und Selbstverständlichste von der Welt. »So gefällst du mir wieder! Ganz einfach: Du kehrst später noch einmal zurück. Wenn du in die Druckerei gehst, findet niemand etwas dabei. Du konntest zum Beispiel etwas vergessen haben und es holen wollen.« »Das geht«, urteilt Paul. »Es ist sogar schon vorgekommen.« Ja, dieser Idee gewinnt er Geschmack ab. Sie ist abenteuerlich genug, mit ihrer Lockung alle Bedenken in den Hintergrund zu drücken. Denn die Szenerie, die die Vorstellung heraufbeschwört, gleicht; beinahe bis aufs Haar einer, die in seinen Lieblingsbüchern zum Ende hin sehr oft beschrieben wird. Auch da stößt der Held gewöhnlich furchtlos eine Tür auf und steht unerwartet, strahlend und untadlig inmitten in der Höhle des Löwen, am Ausgangspunkt rätselhafter und schier unüberschaubarer Ereignisse. Alle ziehen die Köpfe ein, alle ducken sich und brechen fast zusammen unter der niederschmetternden Erkenntnis des Entdecktseins; bloß der Held... Herrje, so dazustehen und dann Herrn Rauh in großmutiger Güte sehr mild dartun zu können, daß er, Paul Thomas, sich zu des Meisters Vorteil und zu keinem anderen Zweck sonst die Nacht um die Ohren schlägt...!
»Na also!« freut sich der Referendar, und er freut sich noch mehr, als Paul daraufhin mit schöner Selbstverständlichkeit mitteilt: »Ich besitze sogar einen Schlüssel.« »Noch besser!« Denn dieser Tatbestand erspart es ihm, von Kopp, den Jungen im Gebrauch eines Dietrichs zu unterweisen. »Herr Rauh vertraut mir. Er ist manchmal für die Arbeiter- Turnzeitung unterwegs, und damit ich dann 'rein und 'raus kann... Es macht mir keine Schwierigkeiten, in die Druckerei zu kommen.« »Phantastisch! Triffst du auf Menschen - du mußt eine glaubwürdige Erklärung zur Hand haben. Eine Legende, wie wir sagen. Na, das weißt du sicher. Vor allem darfst du ja nicht kleinlaut und ertappt wirken; die Leute glauben beinahe alles, wenn es nur mit der nötigen Festigkeit und Sicherheit vorgebracht wird. Warum solltest du auch kleinlaut sein, nicht wahr? Du bist doch dabei, ein gutes Werk zu tun. Findest du dagegen die Druckerei leer... Sieh dich in aller Ruhe um, zieh die Schubkästen auf, blicke in den Papierkorb! Achte auf fremdsprachiges Material und überhaupt auf alles, was nach Flugblatt, Broschüre oder anderer Zeitung als Rauhs AT aussieht. Du nimmst nichts mit, Paul, gar nichts, aber du prägst dir genau ein, wo es verborgen ist.« Von Kopp zieht noch einmal an seinem kurz gewordenen Zigarillo, bläst den Rauch genießerisch durch die Nase und wirft den Stummel dann in den Schnee. Er verschwindet in ihm, die Flocken decken ihn augenblicklich zu. Der Referendar kommt Paul mit einem kameradschaftlichen Rippenstoß. »Hast du den Mut dazu? Ich denke, daß das ein Abenteuer nach deinem Geschmack ist.« Der Junge schaut zur Druckerei. »Soll ich gleich ...?« fragt er voller Tatendrang. »Es ist alles dunkel.« Von Kopp folgt seinem Blick. Seine Augen verweilen bei den erleuchteten Fenstern des Wohngebäudes. »Später!« bestimmt er. »Später, wenn sie im Haus schlafen...«
Das leuchtet Paul ein. »Ich rufe Sie hinterher gleich an«, verspricht er. Auch diesen Vorschlag mißbilligt der Referendar. Er schüttelt nachdrücklich den Kopf. »Nein! Sicher findet die Post in Probstheida nichts dabei, wenn du am hellen Tage einmal mit Leipzig telefonierst. Das kann dir dein Chef aufgetragen haben. Aber wenn du mitten in der Nacht kommst, fällt das bestimmt auf und weckt Neugier.« Er lächelt aufmunternd. »Wir haben einen langen Arm, Paul. Nichts zu überstürzen ist eine unserer Stärken. Machen wir es lieber so: Ich komme morgen um die gleiche Zeit hierher. Lieber noch eine Stunde später. Dann meldest du dich zum Rapport.« Paul kommt sich ganz dazugehörig vor. Er legt die Hand an einen gedachten Schirm seiner Pudelmütze und entgegnet stramm: »Wie Sie befehlen!« Dann kehrt er doch wieder zum alten vertraulichen Ton zurück, der für Fragen wie die folgende angemessener wirkt als der militante: »Erscheinen Sie wieder in 'ner Maske? Sportlicher Spaziergänger mit Knickerbockers wie heute, oder ...?« Von Kopp geht darauf ein. »Wirst du schon sehen, Paul, wirst du schon sehen. Außerdem habe ich morgen vielleicht ein paar Beamte in der Hinterhand...« »Wenn es nur schon morgen abend wäre!« seufzt der Junge sehnsüchtig. »Hinterher wird mir Herr Rauh aber dankbar sein.« »Na, und wie!« Im Brustton der Überzeugung wird das behauptet. »Genug für heute! Auf mich wartet noch Arbeit, und du...« Er zieht unter der Windjacke mehrere längsgekniffte Nummern der Wiener »Allgemeinen Automobil-Zeitung« hervor. »Da mit dir die Zeit bis zum Einsatz nicht lang wird, Paul! Autogeschichten... Übrigens: Wenn du dich bewährst und zu uns kommst, dann kann es durchaus sein, daß du mal selbst so eine Motorenkutsche steuerst. Da steht irgendwo, daß Benz vor fünf Jahren angefangen hat, Spezialfahrzeuge zu konstruieren Lieferwagen, Autobusse, Droschken und so was. An anderer Stelle ist die Rede von der Ausprobierung erster motorisierter Einheiten bei den französischen
Herbstmanövern. Ich wette, daß es bald auch besondere Wagen für uns gibt, vielleicht ein fahrbares Büro für Vernehmungen und zur Protokollierung von Recherchen unmittelbar am Tatort oder ein rollendes Laboratorium für den Erkennungsdienst... Das wäre doch etwas, hm? Natürlich kämen auf einen solchen Wagen Männer, die auch Freude an ihm hätten. Solche wie du.« Blanke Augen hat Paul und viele bunte Träume, deren Verwirklichung auf wunderbare Weise sehr nahe zu rücken scheint. Die Hürden, die zwischen dieser Verwirklichung und ihm noch stehen, wird er schon nehmen. Natürlich kann die Polizei nicht jeden auf ein so herrliches Fahrzeug der Zukunft setzen, wohin käme sie denn da? Jedoch er ist ja nicht jeder. Er hat die Möglichkeit, sich zu bewähren, und er wird sich bewähren! Das wäre ja gelacht! Sie gehen nach verschiedenen Richtungen auseinander - Paul Thomas in Richtung der elterlichen Wohnung, der Referendar nur bis in die nächste Nebenstraße. Dort steht im Dunkeln und ohne Licht der Motorenwagen, den man in Eisenach seit zwei Jahren mit gutem Verkaufserfolg in Serie baut. Er wirkt jetzt völlig verändert, weil der Fahrer des Schneefalls wegen das schwere schwarze Lederverdeck - »Patentverdeck« sagen die Fachleute - aufgebaut und hochgeschlagen hat. So sieht der Motorenwagen mehr denn je wie eine abgestellte Kutsche aus, deren mißtrauischer Besitzer außer den Pferden auch die Deichsel mit in den Hof nahm. Er steht schon eine Weile - auf dem Dach liegt spannenhoch eine leuchtende weiße Schneekappe. Der uniformierte Fahrer hat sich so weit zurückgelehnt, daß er gar nicht wahrzunehmen ist. Kriminalwachtmeister Reichert, der sich neben ihm niederließ, steht jetzt auf und wechselt zum Vordersitz, um dem Referendar Platz zu machen. Reichert hat den Kragen des walnußbraunen Ledermantels hochgestellt, die Ohrenklappen seiner englischen Reisemütze heruntergeklappt und unter dem Kinn zugebunden - er sieht verändert aus. Nur die Tabakspfeife verrät seine Identität.
»Ins Amt!« befiehlt Adelhelm von Kopp. »Nun wollen wir mal sehen, ob unsere Aktivitäten von Erfolg gekrönt sind. Haben Sie in der Harkortstraße mit unseren Leuten gesprochen. Reichert?« »Leider nicht«, bedauert der Wachtmeister. »Als ich kam, fuhr der Wagen gerade los, Sie abzuholen. Da dachte ich ...« »Schon gut. Hatte unser Studiosus medicinae Neuigkeiten?« »Eine Menge, He rr Referendar.« Der Motor ist kalt geworden während der Wartezeit. Der Fahrer muß das Handrad, das den Anlasser betätigt, mehrfach drehen, ehe das trockene Rattern der Maschine einsetzt. Während sie warmläuft, geht der Uniformierte nach vorn, die Karbidlampen anzuzünden. Sie greifen mit kalkigen, seltsam bleichen Lichtfingern in Schneetreiben und Dunkelheit. »Zum Beispiel?« erkundigt sich von Kopp angeregt.
9 Nusperli führt die von Druckerschwärze feuchte Rolle über das Schiff, das er auf die Abziehpresse gehoben hat. Die ausgebundenen Lettern der fertigen ersten Seite, stumpf bisher, glänzen nun. Mit geübtem Griff legt der Schweizerdegen einen Bogen darauf und faßt nach dem Handstück der Walze. Über das Papier hinweggehend und dieses auf das Schiff pressend, erzeugt sie den Abzug. Uljanow begleitete Werner vom Umbruchtisch hierher. Er ist noch ein paar Schritte weitergegangen und steht jetzt so, daß er die in ihrer Sauberkeit matt glänzende Schnellpresse in ganzer Größe übersehen kann. »Genau dieselbe stand in Sankt Petersburg«, sagt er unvermittelt leise. »Genau dieselbe! Wir hatten sie bereits in Augenschein genommen und waren verliebt in sie. Erinnern Sie sich noch? Vor fünf Jahren ... « Nusperli ist mit dem ersten Abzug unzufrieden. Der hat zuviel Farbe abgekriegt und wirkt verschmiert. Er fertigt einen neuen an. Nebenher sieht er flüchtig, wie Uljanow behutsam über das gußeiserne Gestell der König & BauerMaschine streicht. »Die Rabotscheje Delo, die nie erschien«, erwidert er. »Sie hatten einen guten Leitartikel geschrieben, Wladimir Iljitsch. Über die historischen Aufgaben der russischen Arbeiterklasse, wenn ich nicht irre ...« »Sie irren sich nicht. Die Beiträge für die erste Nummer lagen vor. Da kam die Ochrana.« Der zweite Abzug ist gut, aber er findet nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit Nusperlis. Da sind die Erinnerungen... »Sie erschien bei Wanejew, Haussuchung halten ... Es war auch im Dezember, Wladimir Iljitsch, in einer Nacht wie dieser. Die Nacht vom achten zum neunten ...« »Ja.« Bilder sind wieder lebendig, die ein halbes Jahrzehnt zurückliegen und die das Gedächtnis festhält für alle Zeit, unauslöschlich... Sie hatten, die Mitglieder des Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse, die
»Rabotscheje Delo« geplant und ihr Erscheinen vorbereitet mit eben der Aufgabenstellung, die nun der »Iskra« zugedacht ist. Alle Manuskripte waren erarbeitet und vom Redaktionskollegium gebilligt worden. Uljanow sieht sich am Abend jenes achten Dezember von Wanejew weggehen und spürt noch einmal den festen Händedruck des Genossen, der voller Freude auf die Zeitung war, zuversichtlich ... In den nächsten Tagen sollte der Druck beginnen. Aber der Spitzeldienst des Sonderkorps der Gendarmen hatte die Augen offengehalten. In der gleichen Nacht noch schlug die Ochrana zu. »Die Türen splitterten plötzlich«, hört er Nusperli hinter seinem Rücken sagen. »Auf einmal war alles voller Kerle, die mit Nagant-Revolvern herumfuchtelten ...« Uljanow nickt. »Die Ochrana-Leute waren aufgeregter als wir, ist Ihnen das nicht aufgefallen? Sie fürchteten uns mehr als wir sie.« »Eben deshalb sah es aus, als würden ihre Knallbüchsen jede Sekunde losgehen. Als man Sie wegschleppte, Wladimir Iljitsch, und Sie dann in die Verbannung schickte, in dieses verfluchte, sibirische Dorf fünfhundert Kilometer von der nächsten Bahnstation entfernt...« Uljanow wendet sich um, lehnt an der Maschine und hat die Daumen in den Ärmellöchern der Weste. »Wie Sie sehen, hat mich Schuschenskoje nicht umgebracht. Verehrtester. Man kann überall arbeiten, solange man einen Füllfederhalter, Papier und Bücher besitzt. Ich hatte das alles und so viel zu tun, daß mir nicht Zeit, blieb, mich zu bedauern.« Es klingt, als mache ihn des Schweizerdegens liebevolle Anteilnahme an seiner Person verlegen. »Ich schrieb einiges, Genosse Werner, und darunter manches, was nun unserer Iskra zugute kommt.« Seine Gedanken sind noch in Sankt Petersburg. Wie fotografische Momentaufnahmen reproduzieren sie Szenen und Situationen ... Die verschneiten, granitgefaßten Ufer der Newa ... Mit den in blau-weißem »russischen Barock« gehaltenen prunkvollen Adelspalästen im Rücken sieht man hinüber zu
den düsteren, gedrungenen Mauern und Kasematten der Peter-Pauls-Festung, über denen der spitze, vergoldete Turm der Kathedrale nadelgleich hoch in den Himmel sticht... Nachts spiegeln sich in den Wassern des breiten Stroms die Flammen der Fackeln, die auf den Mauern entzündet werden, sobald die Nacht niedersinkt ... Könnten nicht Verzweifelte versuchen, über den Fluß hinweg den Gefangenen Hilfe zu bringen, die die politische Justiz auf der Festung einkerkerte?... Bis ans andere Ufer herüber scheinen »Wer da?« und Parole zu klingen, wenn die Offiziere der Wache die in dichter Folge stehenden Posten inspizieren ... Besonders eng stehen die Soldaten dort, wo ein Tor zum Fluß und auf eine Anlegestelle hinausführt. Manchmal legen hier nachts, unter Segeln schwerfällig manövrierend, Binnenschiffe an, die beim Morgengrauen schon weit stromaufwärts gefahren sind. Ungesehen, verborgen im Dunkel der Nacht werden Verurteilte in die Verbannung gebracht... Viele auf Nimmerwiedersehen ... Der Landweg in die Festung, die geschützstarrende Einfahrt, die die Polizeidroschke passiert... Der Gang durch die Wachstuben der Gardetruppen, die die militärische Besatzung stellen ... Immer gehen ein Geheimpolizist oder ein Gendarm voraus, der mit der Linken seinen Kavalleriesäbel festhält, und immer bietet sich dann das gleiche Bild: Die Wache ist an der Wand entlang angetreten, »Ganze Abteilung kehrt!« wurde befohlen, und der Verhaftete, der hinter ihr vorübergeführt wird, sieht nur Rücken in grobem Uniformtuch und geschorene Hinterköpfe. Lediglich die vom Volke gehaßten Gendarmen des Sonderkorps in Uniform und in Zivil erblicken sein Gesicht... Keiner der zur Fahne gepreßten Soldaten kann den Inhaftierten erkennen, keiner nach draußen Nachricht geben von seiner Einlieferung ... Schritte in knirschendem Schnee ...
Das Kommandantenpalais links, rechts die Kathedrale, geradezu die schwerbewachte kaiserliche Münze, die die Goldrubel schlägt. .. Wendung nach links, schmale Durchgänge, Gendarmerieposten mit aufgepflanztem Bajonett, lichtlose Gassen zwischen Gefängnismauern mit vergitterten Lichtlöchern... Der kahle Steinfußboden der kalten Zelle, in der ein unverrückbares Eisenbett steht und in der es einen in der Wand verankerten Tisch gibt, sonst nichts... Auch Alexander ist hier gewesen, der geliebte Bruder, dem Wladimir Iljitsch bewundernde Verehrung bewahrt, wenngleich er den von ihm gewählten Weg des individuellen Terrors nic ht gutheißt... Die endlosen Verhöre dann ... Wie hieß er doch, dieser Oberstleutnant in seiner maßgeschneiderten Uniform, neben dem der beisitzende Staatsanwalt in seinem Bratenrock grau und unscheinbar wirkte? Filatjew, ja ... Nun, viel Freude hat der Herr Oberstleutnant mit ihm, Wladimir Iljitsch Uljanow, nicht gehabt, obwohl er sich darauf vorbereitet hatte, einen diplomierten Juristen zum Sprechen zu bringen, der ihn auf jeden Formfehler, auf jede unerlaubte Verhörtaktik aufmerksam machen würde. Es gelang ihm nicht, den Häftling zu einer einzigen Aussage zu bewegen, die über das hinausgegangen wäre, was die Ochrana durch ihre Ermittlungen bereits wußte... Alles hatte sie nicht recherchieren können ... Von seiner, Uljanows, Arbeit in den marxistischen Zirkeln der Industrieviertel jenseits der Newskaja und der Narwskaja Sastawa, besonders im Stadtteil WassiljewskiOstrow, besaß sie kaum mehr als eine Ahnung und erfuhr auch nichts, als sie auf den Busch klopfte... Prächtig, wie fest die Front des Schweigens war, mit der die Arbeiter den erfahrenen Spitzeln des Sonderkorps entgegentraten! Oberstleutnant Filatjew versuchte vergeblich, mit besonders ausgeklügelten Fragen eine Bresche in die Wand des Schweigens zu schlagen - er machte Uljanow ungewollt eine Freude mit dem, was dieser
zwischen den Zeilen der mageren Protokolle zu lesen wußte, die ihm zur Unterschrift vorgelegt wurden ... Ein gutes Gefühl, zu wissen, daß die Genossen in den großen Werken vergleichsweise ungefährdet weiterarbeiten konnten... Genossen, denen er das wissenschaftliche Rüstzeug gab; Genossen, die unter seiner Anleitung zu Führern der künftigen Revolution heranwuchsen und die in den Zirkeln fortführen, was er begann - Kalinin und Poletajew in den Putilow-Werken, Babuschkin in der Semjannikow-Fabrik, Schelgunow im Obuchow-Werk, und ... und ... Nein, es gab keinen Grund, in der Zelle zu zweifeln... Nichts war verloren ... Jäh Verfinstert sich Uljanows Gesicht. Er denkt wieder an Wanejew. Er ist wie so viele vor ihm ein Opfer dieser barbärischen kalten Zelle geworden. Gehalten in endlos ausgedehnter Untersuchungshaft, erlag er vor einem Jahr der Schwindsucht. Bis zu seinem Tode gelang es der Ochrana nicht, ihn zum Reden zu bringen. Wladimir Iljitsch löst sich von der Schnellpresse der Leipziger »Arbeiter-Turnzeitung«, geht zu Werner Nusperli und nimmt ihm den Abzug der ersten Seite ab. Der glänzt noch feucht. Uljanow trägt ihn zum Schreibtisch. »Was die gesamtrussische marxistische Zeitung angeht«, sagt er über die Schulter, »so haben wir durch die Haussuchung damals fünf Jahre verloren. Aber diese Maschine da wird laufen!« Nusperli nimmt das Schiff auf und bringt es zurück zum Umbruchtisch. »Falls nicht auch hier die Türen splittern und diesmal Kerle mit deutschen Revolvern fuchteln! Weiß der Teufel, Wladimir Iljitsch, ich male mir das eigentlich aus, seit wir hier Nachtredaktion machen. Wenn sie uns auch diese Druckerei wegnehmen...« »... werden wir eine dritte und zur Not auch eine vierte suchen und finden!« fällt ihm Uljanow ins Wort. »Unsere Partei braucht die Zeitung - also wird sie sie haben! Weil unsere Idee nur zur materiellen Gewalt werden kann, wenn sie die Massen ergreift! Wir müssen sie an die Massen heranbringen. Einfach und logisch!« Mit dem Rotstift in der
Hand sucht er nach versteckten Zeilen. »Wenn ich mich jemals in der Illegalität sicher fühlte, dann hier.« Vom Hof her tritt Ilse Rauh ein. Auf einem Tablett bringt sie Tee in Gläsern, ein paar Scheiben Zitrone dazu und Zucker. Neugierig beugt sie sich dann über den Abzug der Seite eins. »Kommen Sie gut voran. Genosse Uljanow?« »Ja. ganz prächtig!« versichert er, »Ich denke, daß wir morgen den ersten Durchgang drucken können.« »Die erste und die letzte Seite, ja«, bestätigt Nusperli vom Umbruchtisch her. »Bis zum Morgengrauen habe ich auch alle Korrekturen gemacht.« Er arbeitet jetzt an der letzten Seite, hebt Satz auf das große Schiff herüber und nimmt die Ahle, den Pfriem, zur Hand, um ein Stück Blindmaterial nach unten zu drücken, das hochsteht. Es hat als pechschwarzes Rechteck mitgedruckt und nach Meinung des Schweizerdegens den Abzug verschandelt. »Alles läuft wie am Schnürchen, Genossin.«
10 Rote Ohren kriegt Paul, ja, er hält den Atem an angesichts der Sensationsberichte, die die »Allgemeine Automobil-Zeitung« mit flotten Pressezeichnungen illustrierte und die vielleicht noch nie einen so dankbaren und begeisterungsfähigen Leser fanden wie in dieser Abendstunde. Ihretwegen läßt Paul Thomas sogar die berühmte »Studie in Scharlachrot« des Sir Arthur Conan Doyle unaufgeschlagen. Er hat die elterliche Wohnung heute ganz für sich allein - Vater arbeitet Schicht, und Mutter ist zum Geburtstag einer Freundin gegangen. Es ist still in der Wohnküche; nur der weiße Regulator an der Wand tickt monoton, und die Seiten knistern, wenn der Junge umblättert. Seine lebhafte Phantasie zeigt ihm bunt und lockend, was er liest. Die mit leichter Feder gezeichneten Bilder, die herausragende Momente festhalten, beginnen zu leben. Paul ist dabei, als 1894 das erste Autorennen der Welt startet und einhundertundzwei Fahrzeuge für den Wettlauf auf der Strecke Paris- Rouen gemeldet werden. Fünftausend Franc sind von der veranstaltenden Zeitung »Le Petit Journal« für denjenigen ausgesetzt, der das leistungsfähigste Familienfahrzeug des neuen, eines technischen Zeitalters zum Siege führt. Hm, über ein leistungsfähiges »Familienfahrzeug« sind die Konstrukteure offenbar sehr unterschiedlicher Meinung, über Fortbewegungsmittel mit der vorgegebenen Zielstellung scheinen die Ansichten äußerst geteilt zu sein, denn was da zu den Vorläufen herandampft, knattert, schnurrt und rasselt... Achtunddreißig Benzinkutschen stellen sich, aber ihnen stehen gegenüber neununddreißig rauchspeiende Dampfwagen von der Größe ausgewachsener Lokomotiven, fünf Wagen, die durch ein aufzuziehendes Federwerk angetrieben werden, eine Reihe höchst komplizierter und wenig vertrauenerweckender Wasserdruckoder preßluftgetriebener Vehikel und fünf Elektroautos. Dies sind, als sie leise schnurrend und ohne stinkende Abgase
vorfahren, sofort die erklärten Lieblinge von Publikum und Jury. Ihnen werden alle Chancen gegeben, alle Vorschußlorbeeren gezollt. Sie sterben an der geringen Leistungsfähigkeit der Bleiakkumulatoren schon während der Vorläufe, und mit ihnen gibt so mancher andere Traum eines stolzen Erfinders seinen Geist auf. Als am 22. Juli der Chefredakteur von »Le Petit Journal« den Startschuß aus einem Revolver krachen läßt, gehen nur noch einundzwanzig Fahrzeuge auf die 126 Kilometer lange Strecke. Sie liefern sich einen harten sportlichen Kampf, die vierzehn überlebenden Benzinkutschen und sieben konkurrenzfähigen Dampfwagen. Bis zur letzten Minute bleibt unentschieden, wer in diesem Wettstreit ohne Beispiel den Sieg davontragen wird. Sechs Fahrzeuge bleiben auf der Strecke. Nur zwei der Dampfwagen erreichen die Linie, aber - einer von ihnen überquert sie, einem urzeitlichen Drachen ähnlich, als erster! Trotzdem geben die Veranstalter den Preis zu gleichen Teilen den jungen Automobilfirmen Peugeot und Panhard & Levassor - denn der Dampf wagen ist nach genauer Prüfung doch nicht als »Familienfahrzeug« anzusprechen. Dennoch stößt er auch 1895 beim nächsten Rennen diesmal geht es auf der Strecke Paris-Bordeaux-Paris schon über 1200 Kilometer - noch unheilverkündend Dampf aus zischenden Ventilen. Aber diesmal wird er auf die Plätze verwiesen; der erste Dampfwagen keucht erst mit einundvierzig Stunden Rückstand zum Sieger durchs Ziel! Sieger ist der Benzinkutschenkonstrukteur Emile Levassor, der die Strecke mit einer rasanten Nonstop-Fahrt von 48 Stunden und 47 Minuten meistert, das heißt mit einem Durchschnittstempo von 24,5 km/h. Levassor sollte ursprünglich in Bordeaux von einem Werkfahrer abgelöst werden, aber da der gute Mann die Ankunft seines Chefs verschlief, stärkte der sich kurz mit einer kräftigen Mahlzeit, trank, da die staubige Strafe ja Durst macht, eine Flasche Rotwein aus und fuhr weiter.
Ein Jahr später, 1896, erliegen auf der 1 750 Kilometer langen Strecke Paris-Marseille-Paris alle vier gestarteten Dampfwagen Witterungsunbilden. Bei strömendem Regen und orkanartigem Wind bleiben sie ausnahmslos auf der Piste. Unbestrittene Sieger sind zwei Panhard-Automobile mit Daimler-Motoren. Wiederum zwei Jahre später, 1898, wird das große Rennen Paris-Amsterdam-Paris gefahren, und danach ist überhaupt keine Rede mehr von Dampfwagen. Die Benzinkutsche behauptet endgültig und scheinbar für alle Zeiten unschlagbar das Feld. Nur noch geduldet, führt selbst das vielgeliebte Elektromobil lediglich ein Schattendasein neben ihm, wird zum Stadtfahrzeug und beschränkt sich auf Gütertransporte im Nahbereich. Seltsamerweise scheint es unmöglich zu sein und zu bleiben, den schon 1859 von dem französischen Physiker Plante erfundenen Bleiakkumulator zu verbessern und ihn leichter und leistungsfähiger zu gestalten. Die großen Fahrten, von denen Paul Thomas hingerissen liest, werden ausschließlich mit Benzinfahrzeugen - man nennt das Automobil nunmehr auch »die Benzine« - bestritten. Eine solche »große Fahrt« hat beispielsweise der Chefredakteur der »Be rliner Morgenpost« gemacht. In Nummer 31/1899 seines Blattes berichtete er stolz, wie er mit seiner Frau und vorsichtshalber! - einem Chauffeur von Berlin nach Paris fuhr. Dies ausgerechnet mit einem einsitzigen Tricycle, einem 15-PS-Dreirad, an das ein zweisitziger Anhängewagen gekoppelt wurde. Zwar mußte dem Gefährt bei Bergauffahrt mittels der Pedale etwas »Steigungshilfe« geleistet werden, aber das kleine Ding aus der Pfälzischen Nähmaschinen- und Fahrräderfabrik in Kaiserslautern überstand die Reise glänzend und rechtfertigte vollauf das Vertrauen, das der unternehmungslustige Chefredakteur ihm entgegenbrachte. Einmal eine solche Fahrt mitmachen! denkt Paul sehnsüchtig. So ein Stück der bunten weiten Welt sehen anhalten und weiterfahren nach Belieben, Bilder in Muße genießen, an denen die Eisenbahn unaufhaltsam
vorüberrast, Entdeckungen machen und Geheimnissen nachspüren, wo immer die Lust daran und die eigene Entscheidung den Anstoß dazu geben... Geheimnissen... Das Wort, das durch seine Gedanken geht, erinnert ihn, daß es Zeit ist, die Wiener Blätter erst einmal beiseite zu legen, Joppe und Mütze zu nehmen und die Druckerei zu durchsuchen. Er zieht sich ein wenig lustlos an; viel lieber würde er weiterlesen, aber wie steht er morgen vor seinem mächtigen Gönner aus dem Königlichen Polizeiamt Leipzig, wenn er nicht gehalten hat, was er versprach ... Also trabt er los, und den ganzen Weg über malt er sich aus, wie es wäre, könnte er mit einem solchen Tricycle, wie es der preußische Journalist benutzte, die gleiche Reise tun. Er, Paul Thomas, würde natürlich keinen Chauffeur brauchen; er würde selbst fahren, weil es doch herrlich sein muß, so eine lärmende Maschine zu steuern und zu beherrschen. Allein möchte er freilich auch nicht starten, weil es sicher schöner ist, sich über Gesehenes unterhalten und einander auf Sehenswertes aufmerksam machen zu können. Doch da ließe sich schon jemand finden. Der Chefredakteur der »Berliner Morgenpost« nahm einfach seine Frau mit - nun, er wäre geneigt, in seiner großherzigen Art Emma Rauh einzuladen, ihn zu begleiten. Da würde sie wenigstens mal sehen, was für ein Kerl er ist, ein ganzer Mann nämlich, und vielleicht aufhören, »Oberflächenvergaser« als Schimpfwort zu verwenden. Ein Oberflächenvergaser — das Tricycle hat ebenfalls einen solchen - stellt doch eine ff-Erfindung dar! Wie man sieht, kann man damit von der Spree bis an die Seine und zurück gelangen. Was, zum Kuckuck!, will sie denn mehr? An sich ist sie ein gut zu leidendes Mädchen, die Emma; ja, manche der ehemaligen Schulkameraden bezeichnen sie als ausgesucht hübsch - aus unerklärlichen Gründen ärgert es Paul, wenn sie über Emma reden —, nur ihre Einstellung zur modernen Technik ... Die muß er irgendwie umkrempeln, da hilft nun alles nichts ... Ehe er sich dessen versieht, hat er die Hauptstraße erreicht. Menschenleer und verödet liegt sie, da, in den
Bäumen knackt der Frost, und wenn Paul an den Laternen vorübergeht, hört er in der Stille das leise Zischen der Gasflammen. Es schneit nicht mehr; aufkommender Wind hat Löcher in die vorhin dichte Wolkendecke geblasen. Eisig und kalt blicken aus unendlicher Höhe unzählige Sterne herab, und das gewaltige Firmament scheint ferner gerückt zu sein als je zuvor. Wer hinaufschaut, möchte den Atem anhalten angesichts so abweisender, so hochmütiger Pracht. Da ist die kleine Druckerei, in tiefe Schatten gehüllt, lichtlos und verlassen. Auch die zur Straße weisenden Fenster des Wohngebäudes sind dunkel. Das verstärkt den Eindruck völliger Leere. Paul tritt näher. Auf einmal bemächtigt sich seiner eine leise Beklemmung. Ein Schamgefühl ist da. Als ihm der Meister den Schlüssel anvertraute, hat er nicht geahnt, daß sein Lehrling den nutzen würde, die Geheimnisse des Hauses auszuspähen. Er gab ihn ohne Argwohn her. Und nun kommt der Junge wie ein Dieb in der Nacht... Noch eine andere Vorstellung drängt sich auf und ärgert. Plötzlich malt sich Paul aus, daß vielleicht die von ihm nicht mehr geschätzten Privatermittler der Auskunftei Schimmelpfeng manchmal zum Zwecke diskreter Krediterkundung so vor einem Betrieb stehen mögen wie jetzt er. Merkwürdigerweise sieht er sie in sommerlicher Szenerie, bei rauschendem Regen, angetan mit den gummibeschichteten schwarzen Mackintosh-Wettermänteln, die bei jedem Schritt so eklig rascheln ... Steife runde Hüte haben sie auf und einer wie der andere die Schnurrbartspitzen hochgedreht... Gekommen sind sie natürlich mit einem Elektromobil, sehr lautlos und vornehm, aber was sie wollen ... Die spitzen Nasen in Dinge und Papiere stecken, die sie eigentlich nichts angehen, gar nichts... Wie er vorhat! »Ich tue es nicht gegen Herrn Rauh, sondern für ihn!« redet er sich Mut ein und erschrickt vor der eigenen Stimme. Zugleich ärgert er sich seiner Feigheit wegen. Er ist schon ein Detektiv - du liebe Güte! Lachen wird man über ihn... Erst groß erklären, er wolle dem Meister helfen, und dann ...
Bloß das nicht! Wie will er Herrn Rauh beistehen, wenn er jetzt nicht sein Herz fest in beide Hände nimmt und... Natürlich erfordert das mehr Mut, als er noch vor ein paar Stunden dachte, doch eine Memme... Nein, eine Memme war er nie! Er kann und er wird es beweisen. Zunächst einmal klaubt er Schnee auf, formt ihn zu einem weichen Ball und wirft den gegen eines der Druckereifenster. Mal sehen, ob es ein Echo gibt... Gibt es keines, weiß er wenigstens, daß bei Rauh & Pohle niemand ist. Erfolgt eine Antwort, kann er sich darauf einrichten, beim späteren Eindringen eine Ausrede stottern zu müssen. Nein, nicht stottern! Forsch soll er auftreten, hat der Referendar gesagt, und der muß es wissen. Es bleibt alles still und dunkel. Hinter den verhängten Fenstern erschrickt Ilse Rauh so, daß sie zusammenzuckt. »Was war das?« Auch die Männer haben das Klatschen vernommen und aufgeschaut. »Als habe jemand ans Fenster geklopft«, sagt Werner Nusperli. Auf einmal ist seine Stimme belegt und voller Besorgnis. Uljanow legt den Rotstift hin, legt ihn hin mit einer lautlosen, behutsamen Geste, die sehr beherrscht und unnatürlich konzentriert wirkt. »Erwarten Sie Besuch?« erkundigt er sich ruhig. Ilse Rauh schüttelt heftig den Kopf. »Niemanden. Gäste würden die Haustür benutzen. Um diese Zeit...« Wladimir Iljitsch greift nach dem Sakko, den er ohne Hast, jedoch unverzüglich anzieht. »Genossen?« Wieder verneint die blonde Frau. »Telefonieren vorher. Das ist so vereinbart.« Sie streicht sich mehrfach erregt über die Schenkel. Es bleibt unklar, ob sie den langen Rock glätten oder Schweiß wegwischen will, der in ihren Handflächen plötzlich aus den Poren tritt. Dann macht sie einen Schritt auf die Außentür zu. »Ich schaue mal nach.« Uljanow faßt ihren Arm und hält ihn fest. »Nein!« bestimmt er, und erstaunlicherweise klingt seine Stimme
noch ebenso ruhig wie zuvor. »Nach außen hin ist alles dunkel. Hier darf niemand sein.« Ilse sieht ihn ratlos an. »Wir müssen doch wissen ...« Nusperli ist lautlos zur Tür gegangen. Er lauscht, aber er hört nichts. »Kann sein, es ist nur etwas vom Dach gefallen«, vermutet er. Unverkennbar wünscht er sich, es möge so sein. Draußen ist Paul jetzt überzeugt, daß er freie Hand hat. Daß die Druckerei leer zu sein scheint, dünkt ihn nicht die schlechteste Lösung. Zumindest macht es alles wesentlich leichter. Er geht heran, hat seinen Schlüssel heraus und will ihn ins Schloß einführen. Das gelingt nicht. Es wurde von innen zugesperrt, und der Schlüssel steckt. »Mist!« schimpft der Junge leise und kramt in den Hosentaschen nach seinem Taschenmesser. Wenn es ihm gelingt, den steckenden Schlüssel damit so weit zu drehen, daß der Bart in die Senkrechte gerät, kann er ihn anschließend in die Druckerei hineinstoßen und das Schloß frei machen. Er hockt sich hin und beginnt zu popeln. »Da ist doch wer!« Ilse Rauh... »Das Licht!« sagt Wladimir Iljitsch, und Nusperli versteht sofort. Er schraubt die Glühstrümpfe der Lampen über Setzkästen und Mettagetisch herunter. Nur das Licht auf dem Schreibtisch bleibt. Allein brennend, verändert es mit bizarren Schlagschatten das Bild der kleinen Druckerei auf merkwürdige Weise. »Bis er den Schlüssel heraus hat, das dauert nicht lange«, warnt der Schweizerdegen dabei. Ilse Rauh schluckt. »Schnell!« drängt sie. »Zum Hof hinaus und durch den Garten ...« Uljanow rührt sich nicht. »Ist es Geheimpolizei, hat sie das Grundstück umstellt«, hält er trocken dagegen. »Gehen Sie sofort hinüber und ins Bett, Genossin Rauh! Sofern man uns gegenüberstellt, kennen Sie uns nicht. Sie wissen nicht, wie wir hereingekommen sind. Sie haben uns nie gesehen. Ist das klar?« Ilse hebt das Kinn. »Ich verleugne Sie nicht.«
»Doch! Ihr Mann besitzt für heute abend ein Alibi alle Versammlungsteilnehmer bezeugen es. Und wenn man Sie aus dem Haus holen muß, kann niemand beweisen, daß Sie nicht fest geschlafen haben. Ich bitte Sie sehr...« Aber sie zögert immer noch, gleichermaßen tapfer und unbedacht, liebenswert und unklug zugleich. Da fährt er nach einem raschen Blick zur Tür fast flehend fort: »Genosse Rauh und Sie haben diese Druckerei aufgebaut, um den Arbeiterturnern eine eigene Zeitung zu geben und sie unabhängig zu machen von den hurra-patriotischen kaisertreuen Blättern der bürgerlichen Vereine. Das ist mir gesagt worden, und ich kann mir ausmalen, wieviel Schweiß und Mühe hier drin stecken. Sie müssen es retten helfen! Geben Sie der Pressepolizei keine Handhabe! So gehen Sie doch!!!« In diesem Augenblick fällt der Schlüssel aus dem Türschloß. Es gibt ein mißtönendes Klirren, als er auf dem Steinfußboden landet. Jetzt ist keine Zeit mehr zu verlieren. Ilse erkennt das und fügt sich. Blitzschnell erreicht sie die Tür zum Hof, macht unhörbar auf und hinter sich zu und jagt ins Haus. Sie wird nicht angerufen, und es gibt kein Geräusch. Nusperli steht wieder lauschend an der Außentür. »Keine Stimmen, Wladimir Iljitsch«, sagt er gepreßt in russischer Sprache. »Ein Mann, höchstens zwei... Offenbar bloß Spürhunde und kein ganzes Kommando ...« Uljanows beherrschtes, in seiner Selbstzucht wie versteintes Gesicht hellt sich auf, hat jäh viel entschlossene Kühnheit. »Wir brauchen die Iskra. Jetzt, nicht erst nach weiteren fünf Jahren«, erwidert er. Auch Wladimir Iljitsch bedient sich nun seiner Muttersprache. »Also, Genosse Werner ...« Schon während dieser Worte hat er mit raschen Griffen Manuskripte und Fahnen an sich genommen und in den Sakko gestopft. Der Schweizerdegen fährt sich nervös mit der Zungenspitze über die spröde gewordenen Lippen und ist doch froh, daß eine Entscheidung fällt, daß er nicht mehr
tatenlos stehen und abwarten muß. Wenn Uljanow bloß nicht so ungeschützt wäre ... »Deckung, Wladimir Iljitsch!« raunt er und zieht sich selbst hinter den Setzkasten neben der Tür zurück. Uljanow begreift sofort, daß er recht hat, und tritt hinter die quadratische Esse des Ofenungetüms. Keinen Augenblick zu früh, denn in dieser Sekunde schließt Paul Thomas von außen auf, tritt mit forscher Unbekümmertheit ein und drückt die Tür hinter sich zu! Das Licht auf dem Schreibtisch verblüfft ihn. Er bleibt unsicher stehen, doch da alles still und niemand zu sehen ist, geht er auf Zehenspitzen weiter. Paul erreicht den Umbruchtisch. Die Schiffe mit Zeitungsseiten im ungewohnten Hochformat fallen ihm sofort auf. Er beugt sich darüber und pfeift leise durch die Zähne. Fremde Schrift... Wie Kriminalreferendar von Kopp geargwöhnt hat... Ob er, Paul, einfach einen Abzug herstellt? In der Harkortstraße haben sie bestimmt jemanden, der die ihm unbekannten Schriftzeichen entziffert... Der Lehrling schaut zur Abziehpresse. Dann hätte von Kopp ein handfestes - wie sagt man doch? - Indiz! Und wäre gewiß des Lobes voll... Unbemerkt in seiner Lautlosigkeit, hat Werner Nusperli die Außentür erreicht und sich breitbeinig von ihr aufgebaut. Jetzt gibt, er Uljanow durch Gesten zu verstehen, er möge den anderen Ausgang besetzen; dann wäre der Junge zwischen ihnen und es gebe kein Entkommen mehr für ihn. Wladimir Iljitsch verneint mit einem knappen Kopfschütteln. Hinter der Esse hervortretend, sagt er nun in freundlichem Plauderton: »Ich fürchte, das kannst du nicht lesen. Soll ich es dir übersetzen?« Paul fährt erschrocken herum. Es hätte nicht viel gefehlt, daß er aufschreit. Das Blut steigt ihm ins Gesicht, als er die zurechtgelegte Erklärung für sein Hiersein von sich gibt. Jetzt, da er sie braucht, kommt sie ihm unglaublich kläglich und an den Haaren herbeigezogen vor: »Ich... Ich bin der Lehrling. Ich habe etwas liegenlassen und will es mir holen. Sonst nichts...« Er erinnert sich, daß er nicht wie ein ertappter Sünder dastehen soll, und nimmt
sich zusammen. Nicht kleinlaut zu wirken war leichter empfohlen, als es sich umsetzen läßt, aber Paul versucht es wenigstens. »Wer sind Sie eigentlich?« fragt er und: »Was tun Sie hier?« Der schlanke Mann mit dem klugen, weit über sein Alter hinaus reifen Gesicht lächelt und nickt. »Diese Fragen besitzen eine gewisse Berechtigung«, anerkennt er bereitwillig und kommt unbefangen näher. »Machen wir uns also bekannt. Meyer.« Erst jetzt bemerkt Paul den zweiten Mann in der Druckerei. Er nimmt ihn wahr und erkennt den Besucher von neulich wieder, als Nusperli sich zur Tür wendet und hinausgeht. Nun schließt er die Tür von außen. Dem Gesichtskreis von Paul entzogen, macht der Schweizerdegen ein paar Schritte in die Dunkelheit. Deren Stille dünkt seine gereizten Sinne trügerisch und voll lauernder Gefahr. Nusperli sucht die Umgebung der Druckerei und dann auch des Hauses vorsichtig ab - stets auf den Zusammenstoß mit Auftraggebern des Jungen gefaßt. Dem Lehrling bleibt keine Zeit, an ihn zu denken. Der Mann ihm gegenüber, dieser mittelgroße schlanke Mann mit dem Querbinder und im dezenten dunklen Zweireiher, beansprucht seine ganze Aufmerksamkeit. Warum das so ist, was von diesem Herrn Meyer ausgeht, das ihn fesselt, berührt und verlegen macht, könnte er nicht sagen, aber er ist ganz im Banne dieser Persönlichkeit. Deren Vorstellung erwidert er mit dem korrektesten Diener seines bisherigen Lebens. Instinktiv fühlt er, daß dieser Mann der größere und wichtigere der nächtlichen Druckereibesucher ist. »Thomas. Paul Thomas«, nennt er seinen Namen. »Aber ein Sachse sind Sie nicht, das hört man.« »Ach ja?« fragt Uljanow zurück und hat auf einmal ein recht vergnügtes, ansteckendes Lachen. »Ic h kann dir nicht einmal widersprechen.« Er wird sofort wieder ernst. »Nun, und um deine Frage Nummer zwei zu beantworten: Du bist in die Nachtredaktion einer Zeitung gekommen.« Sie stehen dicht am Umbruchtisch. Der Lehrling weist auf die Schiffe. »Was ist das für eine ulkige Schrift?«
»Kyrillische Lettern. Russisch«, erklärt Wladimir Iljitsch sachlich. »Petit auf Borgiskegel.« Vertrautes... So geläufig, daß Paul mit aller Fachkenntnis seiner Buchdruckerlehre beinahe mechanisch zustimmt: »Acht Punkte auf neun, ja...« Er räuspert sich und sieht direkt in die klugen, weit auseinanderstehenden Augen des Fremden. »Weiß das der Meister?« Uljanow hält dem Blick ruhig stand. Er weicht ihm nicht aus, sondern sucht ihn sogar. »Siehst du ihn?« Es sind Pauls Augen, die nicht standzuhalten vermögen. Dem Lehrling ist, als schaue ihm dieser Herr Meyer bis ins Herz. So senkt er die Lider, dreht sich zum Umbruchtisch und zeichnet mit dem Finger die Randleisten des nächststehenden Schiffes nach. »Sie sollten nicht hier sein, Herr Meyer«, sagt er leise über die Schulter. Es klingt mehr nach einer dringlichen Bitte als nach einem Vorwurf. »Wissen Sie überhaupt, wie tief Sie ihn reinreiten. Das da ist doch staatsgefährdend ...« Ganz flüchtig zucken die Brauen Uljanows in die Höhe und sinken wieder herab. Das ist eine Frage, doch sie erreicht den Jungen nicht. Wladimir Iljitsch schüttelt unmerklich den Kopf, hängt die Daumen in die Ärmellöcher der Weste, hebt sich ein wenig auf die Zehenspitzen. Was geht in diesem Lehrling vor? »Aha!« quittiert Uljanow das »staatsgefährdend« und erkundigt sich, für den Jungen ganz überraschend, lebhaft: »Was ist dein Vater, Paul?« »Werkzeugmacher«, antwortet er verblüfft. »Und natürlich Sozialdemokrat wie Herr Rauh. Daher kennen sie sich, und deshalb darf ich hier lernen.« Wladimir Iljitsch lehnt sich an den Umbruchtisch. »Also stehen wir vor einem schweren Problem«, sagt er unvermittelt in einem Ton, der der eines vertraulichen Gesprächs unter Freunden ist. »Du hast etwas gegen staatsgefährdende Arbeit wie unsere.« Er nickt Paul zu. »Ja, ich räume ein, daß es unser Ziel ist, den in Rußland bestehenden Staat zu stürzen und an seine Stelle die
Diktatur des Proletariats zu setzen. Daraus haben wir nie und nirgendwo ein Hehl gemacht.« Er stößt sich vom Mettagetisch ab, streicht mit dem Zeigefinger glättend über den Bart auf der Oberlippe und fährt plötzlich sachlich fort: »Du bist dagegen. Es muß schwer für dich sein, unter lauter Feinden zu leben.« Das kommt überraschend. »Ich habe keine Feinde«, glaubt Paul richtigstellen zu müssen. »Und überhaupt begreife ich kein Wort.« Uljanow lehnt sich wieder an den Tisch und verschränkt die Arme vor der Brust. »Dein Vater ist Sozialdemokrat wie Herr Rauh, das habe ich doch richtig verstanden?« Und da der Junge bloß nickt und nicht versteht, wohin das soll, spricht er weiter: »Du weißt, daß Reichskanzler Otto von Bismarck vor Jahren die Partei verboten hat, der Herr Rauh und dein Vater angehören natürlich um seinen, den imperialistischen deutschen Staat zu schützen?« »Das sind olle Kamellen«, wehrt der Lehrling ab. »Was hat das damit zu tun?« Wladimir Iljitsch lächelt. »Gleich! «erwidert er freundlich. »Willst du dich nicht setzen? Da ist auch noch Tee. Nimm dir!« Paul setzt sich auf den Schreibtischsessel und will gleich wieder aufspringen, als er Herrn Meyer nach einem Stuhl gehen sieht, der ein wenig verloren in Ofennähe steht, doch der Fremde wehrt mit einer Handbewegung ab, trägt das Sitzmöbel heran und nimmt dem Jungen gegenüber Platz. Uljanow spricht vorgebeugt, gerade so, als wolle er den trennenden Zwischenraum überbrücken und möglichst engen Kontakt herstellen. »Wie schätzt du das ein«, beginnt er. »Von achtzehnhundertachtundsiebzig bis -neunzig war das Sozialistengesetz in Kraft. Keine Arbeiterversammlung und keine Parteizeitung waren erlaubt. Die Genossen trafen sich insgeheim. Sie druckten heimlich ihre Zeitungen und erreichten, daß trotz aller Verbote und trotz allen Polizeiterrors bei jeder Reichstagswahl mehr Stimmen für ihre staatsgefährdende Partei abgegeben wurden. Wie,
meinst du, haben die Genossen Rauh und Thomas gewählt?« Paul schweigt verwirrt, verwirrt durch die nun schon erkennbare Nutzanwendung, die der Fremde aus Geschichten zieht, die der Junge in der Familie und von Freunden der Eltern oft gehört hat - so oft, daß sie ihn langweilten und daß er sie als überlebt beiseite schob. Er begriff zwar, daß sie für die Älteren ein wichtiges Stück ihres Lebens und kostbare Erinnerungen waren, die sie bewahren und über die sie immer wieder sprechen, aber für ihn... Was können sie ihm bedeuten? Die Zeit des Sozialistengesetzes liegt für ihn schon in weiter Ferne, und er hat sie - achtzehnhundertundneunzig ein fünfjähriges Kind - nicht bewußt erlebt. Er lebt in einer ganz anderen Ära, heute ist alles anders als damals, und die »ollen Kamellen«... Mögen die Älteren davon reden, wenn es ihnen Spaß macht. Was gehen sie mich an, dachte er. Und nun ... Uljanow beugt sich weiter vor. »Ich frage noch weiter, Paul. Wer hat für die verfolgte Partei geworben? Die im Ausland heimlich gedruckten Zeitungen zugestellt? Flugblätter verteilt? Geldsammlungen durchgeführt, weil Zeitungen und Flugblätter nun einmal Geld kosten? Wer, glaubst du? Denkst du, sie haben nicht Mann für Mann gewußt, daß sie sich - wie sagst du? - reinreiten? Sie taten es trotzdem, Paul, und nicht, daß sie es taten war eine Schande, sondern die Verhältnisse sind schändlich gewesen, die sie zwangen, so zu arbeiten. Alles, was sie bis vor zehn Jahren machten, war staatsgefährdend, aber sie haben den deutschen Arbeitern damit Rechte und Freiheiten erkämpft, um die Proletarier in aller Welt sie beneiden.« Er lehnt sich zurück und streicht wieder über seinen Oberlippenbart. »Man muß sich schämen, einen solchen Vater zu haben, wie?« »Quatsch!« murmelt Paul und versteht, was ihm der Fremde sagen will. Daß nämlich der heutige Tag das Ergebnis des gestrigen ist und nicht denkbar wäre ohne die gestrigen Taten, Erkenntnisse und Erfolge. Daß, wer nicht anknüpft an das Gute, das er brachte, wer es nicht weiterführt und sogar das Gegenwärtige losgelöst vom
Vorhergegangenen sieht, leicht in Irrtümer verfällt, sich blenden läßt und somit das schon Erreichte neu in Frage stellt, ja, es verrät... »Vati ist prima«, wehrt er sich gegen den Vorwurf, der ihn traf und dessen Berechtigung er widerwillig anerkennt, »und Herr Rauh auch.« Wladimir Iljitsch lächelt. »Darin sind wir uns vollkommen einig. Es klang nur vorhin anders. Trinke doch!« Der Tee ist fast kalt geworden, ist nur noch lauwarm, aber Paul trinkt mit großen Schlucken. Ganz trocken ist ihm der Hals, und es tut auch gut, sich für eine Minute an dem Glas festhalten zu können. Uljanow weiß, was in dem Jungen mit der sommersprossengesattelten Nase vorgeht, einem netten und liebenswerten Jungen, der in dieser Nachtstunde vielleicht zum erstenmal gezwungen wird, ernsthaft über sich selbst und die Welt nachzudenken, in der er lebt. Der unter Umständen zum erstenmal ahnt, daß es nicht genügt, diese Welt und ihre Annehmlichkeiten hinzunehmen und zu genießen, sondern daß diese Welt so gut oder so schlecht ist, wie er selbst sie tätig zu machen hilft, daß sie ein Engagement, daß sie Einsatz verlangt... Wenn er, Uljanow, ihm beistehen kann, zu einer brauchbaren Nutzanwendung seiner Erkenntnis zu gelangen, wäre dies, trotz der Verzögerung des »Iskra«-Umbruchs, keine verlorene Stunde. »Wollen wir einmal annehmen«, fährt er fort, »die Genossen Rauh und Thomas spazierten jetzt durch jene Tür herein in unsere Nachtredaktion. Was meinst du? Würden sie sich auf Grund ihrer Erfahrung an unsere Seite stellen, oder würden sie der königlich sächsischen Polizei helfen, uns dem Sonderkorps der Gendarmen auszuliefern, das in Rußland staatsgefährdende Handlungen verfolgt?« Die Nennung der königlich sächsischen Polizei trifft Paul. Herr Meyer kann doch gar nicht wissen, daß er, Paul... Der Lehrling ertappt sich jetzt dabei, daß er nicht mehr geneigt ist, Herrn von Kopp, Hochwohlgeboren, so uneingeschränkt als seinen Gönner zu betrachten wie zuvor. Genau besehen, fühlt er sich sogar von ihm hinters Licht
geführt und vor einen Karren, gespannt, vor den er wohl eigentlich nicht gehört und der ihm nun auch, nachdem Herr Meyer mit ihm gesprochen hat, ziemlich schäbig und unrühmlich erscheint. Hm, geradezu beschämend, wie wenig Zeit und wie wenige Worte Herr Meyer brauchte, ihm das klarzumachen. Er, Paul Thomas, muß doch mit Blindheit geschlagen gewesen sein! »Sie haben eine Art, mit einem zu reden...«, sagt er deshalb mit ehrlicher Bewunderung. Wladimir Iljitsch übergeht das. »Du bist jung, Paul«, stellt er warmherzig fest. »Das Leben liegt vor dir. Du mußt etwas daraus machen. Wenn du es verschenkst und bunten Seifenblasen nachläufst - schade darum! Wenn du an die Seite deines Vaters und des Genossen Rauh trittst, wirst du freilich Stürme erleben und dich bewähren müssen. Aber du wirst sagen können: Mein Leben ist gut, denn ich stehe auf der Seite derer, denen die Zukunft gehört. - Das steht bei dir, Paul Thomas.« In einer jähen Aufwallung möchte der Junge dem Manne, den er heute unter so abenteuerlichen Umständen zum erstenmal sieht und der ihm doch wie jemand vorkommt, den er seit langem kennt und vertraut, alles erzählen - wie das schöne Auto kam, wie von Kopp an seine Freude am Detektivspiel anknüpfte, wie er ihn herumfahren lief?, und ... und ... Aber er bringt kein Wort über die Lippen. Er schämt sich seiner Instinktlosigkeit zu sehr; er möchte nicht, daß Herr Meyer schlecht von ihm denkt. In einer Stunde vielleicht oder in zweien... Uljanow steht auf und geht ein paar Schritte in die Druckerei hinein. »Die Wahl deiner Freunde kann dir niemand abnehmen.« Er dreht sich um und erklärt lächelnd, gerade so, als müsse er um Verständnis und Nachsicht werben: »Ja, und nun müßten wir eigentlich weiterarbeiten. Ich halte dich auf. Du hast noch gar nicht an dich genommen, was du holen wolltest.« Was Paul schon halb entschlossen war mitzuteilen, bleibt sein Geheimnis. Der Junge läuft zu seinen Arbeitssachen und kramt verlegen darin herum. Es ist nichts da, dessen Abholung die Rückkehr in den Betrieb ernsthaft
rechtfertigen könnte. Um überhaupt etwas zu nehmen, steckt er rasch das kleine Etui mit seinem Kamm und dem Taschenspiegel ein. Den braucht er, wie Emma einmal boshaft verlauten ließ, um von Zeit zu Zeit seine Sommersprossen nachzuzählen. Es könnte ja eine verlorengegangen sein... Zum Glück ist der Fremde ohne Mißtrauen und achtet nicht darauf, was er an sich nimmt. Paul geht hin, zum Abschied die Hand zu geben. »Werden Sie Herrn Rauh sagen, daß ich ...?« erkundigt er sich bedrückt. Der Fremde versteht ihn. »Es bleibt unter uns«, verspricht er, und der Lehrling ist gewiß, daß er sein Versprechen hält. »Ein Gespräch unter Männern, das niemand etwas angeht. Einverstanden?« Der Junge schlägt kräftig in die dargebotene Rechte ein. »Danke! Mit Ihnen möchte ich stundenlang reden.« Wieder liegt ihm seine Geschichte auf der Zunge, doch in diesem Augenblick kehrt Nusperli zurück und sieht so verschlossen und böse aus, daß dem Lehrling die Worte im Halse steckenbleiben. Er schweigt. »Ein andermal vielleicht«, erwidert Wladimir Iljitsch. »Es wird spät, und die Nacht ist viel zu kurz. Du weißt doch, wieviel Mühe eine Zeitung macht.« »Und ob!« bestätigt er fachmännisch. »Viel Glück, Paul!« »Auf Wiedersehen«, sagt der Lehrling, als er an Werner Nusperli vorübergeht. Der Schweizerdegen gibt den Gruß nicht zurück, er tritt vielmehr, als die Tür klappt, hastig zu Uljanow und fragt vorwurfsvoll mit vor Erregung heiserer Stimme: »Wie konnten Sie ihn gehen lassen, Wladimir Iljitsch?!« Uljanow hat wieder die Daumen in den Ärmellöchern der Weste und hebt sich auf die Zehenspitzen. Den Kopf zurücklegend, erwidert er ruhig und fest: »Sehr einfach, lieber Genosse! Das ist ein junger Arbeiter, und wir sind nicht die Ochrana. In der Tat: So einfach ist das.« Nusperli kommt näher. »Ich habe seine Spuren im Schnee verfolgt«, berichtet er. »Die des Mannes, mit dem er vorhin stand,
endete bei den Abdrücken von Gummireifen. Solche haben nur teure Motorenwagen, und Motorenwagen ..... Seine Stimme wird flehend: »Sie müssen sofort abreisen, Wladimir Iljitsch! Sofort!« Uljanow sieht ihn wortlos an, wendet sich dann auf dem Absatz um und geht zum Schreibtisch. Er zieht den Sakko aus und hängt ihn ordentlich über die Stuhllehne. Dann greift er wieder nach dem Rotstift. »Was ich muß, Genosse Werner«, entgegnet er trocken im Ton einer sachlichen Feststellung, in der mehr Tadel liegt als in einem offenen Vorwurf, »was ich muß, ist, die Iskra druckfertig zu machen. Allein deshalb nämlich bin ich nach Probstheida gekommen.« Er deutet zur Außentür und sagt ungeduldig: »Nun schließen Sie endlich ab, und nehmen Sie Ihre Ahle zur Hand! Die letzte Seite, wenn ich bitten darf...«
11 Merkwürdigerweise sprechen sie am Spätnachmittag des nächsten Tages in der zum Hof hinausführenden Mansarde mit den Großvatermöbeln, die Uljanow im Hause Rauh bewohnt und die auf altertümliche Weise gemütlich ist, über alles andere eher als über das, was Julian Marchlewski eigentlich hergeführt hat. Daran sind die Zeitungen schuld, die Nusperli allabendlich mitbringt. Für deren Beschaffung ist Wladimir Iljitsch besonders dankbar. Sich vielseitig, gründlich und genau zu informieren bildet ihm ein tägliches Bedürfnis; er kann nicht sein ohne diesen ständigen engen Kontakt mit dem Geschehen in der Welt. Die überregionalen großen Blätter machen das herannahende Jahresende unübersehbar. Sie resümieren bereits, sie rufen noch einmal ins Gedächtnis, was die vergangenen zwölf Monate brachten. Den Krieg der Briten gegen die Burenrepublik Transvaal sahen sie in anhaltende Partisanenkämpfe übergehen, und ein vierundvierzigjähriger Psychologe namens Freud erregte mit einem Buch über Traumdeutung weltweite Aufmerksamkeit. Oscar Wilde und Sullivan wurden durch den Tod von der irdischen Bühne abberufen und leben in ihren Dichtungen weiter, und seit der römischen Uraufführung im Januar feiert Puccinis »Tosca« in den Opernhäusern Europas rauschende Erfolge. Am Ende des 19. Jahrhunderts haben die sozialistischen Parteien der »Alten Welt« und Nordamerikas etwa dreihunderttausend Mitglieder und fast viereinhalb Millionen Wähler; die rechtsstehenden Zeitungen registrieren erschreckt zweihundertundsieben sozialistische Parlamentsabgeordnete in zehn Ländern, breite sozialistische Propaganda, Sammlung und zunehmende Organisiertheit des Proletariats ... Neben den Meldungen stehen überall riesige Anzeigenplantagen, steht geballte Werbung für Geschenke zu Weihnachten, für das Fest des Friedens, der Freude und des Glücks. Überstrahlt es denn jetzt nicht alles mit Kerzenglanz und schimmerndem Engelshaar, mit Zuckerwerk an Tannenzweigen und mit schweren Stollen?
Vorfreude in Kinderaugen, Heimlichkeiten hinter verschlossenen Türen ... Die Welt ist intakt, und von China spricht man nicht. In China nämlich krachen heute und auch am Weihnachtsfest Schüsse aus deutschen Infanteriegewehren; heute und am Weihnachtsfest schärfen dort deutsche Kavalleristen am Schleifstein ihre Säbel zur Attacke, wie man es sie in den heimischen Garnisonen lehrte. Ob die Offiziere, Maate und Matrosen auf den Großkampfschiffen der Ersten Division des deutschen Panzergeschwaders ihre Weihnachtspost pünktlich erhalten, ist fraglich. Sie und die siebzehntausend Mann des »Ostasiatischen Expeditionskorps« des deutschen Kaiserreichs sind in der Ferne, seit die Erste Division der Kriegsmarine am 9. Juli aus Kiel auslief. Sie zog aus, die Ermordung des Berliner Gesandten von Ketteler in Peking am 20. Juni furchtbar zu ahnden - so furchtbar, wie es die kaiserliche Majestät am 27. Juni forderte. Da schrie Allerhöchstderselbe den in Bremerhaven zusammengezogenen Soldaten zu: »Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht..., so möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!« Diese »Hunnenrede«, wie die Journalisten sie treffend nannten, ist durch die gesamte Weltpresse gegangen als bezeichnend für die Geisteshaltung des Monarchen an Deutschlands Spitze, als so recht »teutonisch«. Aber Nachrichten darüber, wie buchstäblich das Expeditionskorps den erteilten Befehlen Folge leistet, fließen spärlich. Uljanow machte eine entsprechende Bemerkung, als Marchlewski eintrat. Es liegt nahe, daß China-Meldungen Wladimir Iljitsch heute besonders berühren - vor ihm auf dem Tisch liegt sein Kommentar »Der China- Krieg« für die »Iskra«-Innenseiten, und er hatte, als der Besucher kam,
eben seine Füllfeder in der Hand, um eine gerade gestrichene Passage durch eine knapper gefaßte zu ersetzen. Unerwartet lebhaft nahm Julian Marchlewski das Thema sofort leidenschaftlich auf. Seine Redaktion hat versucht, durch eigene Recherchen dem gezielten Schweigen der bürgerlichen Nachrichtenagenturen zu begegnen. Gar nicht einfach, heimgekehrte Soldaten zu finden, die zu sprechen bereit waren; gar nicht leicht, die tief eingeschliffene Furcht vor Verfolgungen wegen Geheimnisverrats zu überwinden ... Aber darüber verliert der Besucher in der Mansarde kein Wort. Das ist Pressealltag und gewöhnliche Begleitmusik der Erarbeitung von Nachrichten. Marchlewski hat ein langes Gespräch mit einem Soldaten gehabt, der schwerverwundet auf einem der Versorgungsschiffe zurückkehrte. Er berichtete erschütternde Einzelheiten vom brutalen Vorgehen des Expeditionskorps gegen den »Boxeraufstand«. Was er sagte und was Marchlewski nun wiedergibt, überrascht Uljanow nicht - er brandmarkt in seinem Ko mmentar zwar das Wüten der zaristischen Soldateska, denn davon vor allem müssen seine Leser in Rußland wissen,-doch die Kontingente der »Vereinigten Armeen« der Kolonialmächte im Reich der Mitte sind alle vom gleichen Schlag. Überdies wurde zu ihrem Oberbefehlshaber ausgerechnet der preußische General von Waldersee bestimmt, ein berüchtigter Bluthund... Der Verwundete hatte Marchlewski geschildert, wie nicht zuletzt das Erlebnis fortgesetzter Massaker den besten unter den Soldaten nach und nach die Erkenntnis dämmern ließ, daß man sie wohl doch nicht nur in den Fernen Osten geschickt hatte, die dem teuren Vaterland durch die Ermordung eines Diplomaten zugefügte Beleidigung zu ahnden und zu rächen. Dafür - meinten die, die noch nicht dem Blutrausch erlagen oder in stumpfer Gleichgültigkeit den militärischen Vorgesetzten das Denken überließen - war genug Blut geflossen, wenn nicht schon zuviel. Ging es jetzt nicht vielmehr darum, über das vom Deutschen Reich als Kolonie gepachtete Kiautschou hinaus
die ganze Provinz Schantung und den Hafen Tschifu in die Gewalt zu bekommen? Schantung ist unglaublich reich an Bodenschätzen, Tschifu wäre für den Überseehandel ebenso wichtig wie als Marinestützpunkt zur Eskalation der Kolonialpolitik ... Wofür schlagen sich unter dem Befehl des hochwohlgeborenen Herrn von Waldersee die Soldaten sieben weiterer Staaten, denen doch kein Diplomat umgebracht worden ist? fragte sich der Verwundete. Schlagen sich die russischen Soldaten nicht für die einträglichen Eisenbahnprojekte in der Mandschurei? Die Briten nicht für die Wirtschaftsinteressen ihrer Millionäre im Yangdsi-Tal? Die Franzosen nicht für ebensolche in Yünnan? Die Japaner nicht für die Vorherrschaft ihres Kaisers und seiner Bankiers in Korea? Die Soldaten Amerikas nicht für die sogenannte Hay-Doktrin, die das riesige »Reich der Mitte« zum »offenen Land« erklären möchte, offen nämlich für jede ausländische Kapitalanlage und damit für jede Art Ausbeutung? Der Soldat, mit dem Marchlewski gesprochen hat, wurde zunächst wie seine Kameraden von der Welle nationalistischer Empörung über den Anschlag in Peking und vom Rachegeschrei der kapitalistischen Presse mitgerissen, als man seine Einheit nach China einschiffte. Er hat lange und eigentlich bis zum Ende seiner Behandlung in einem Feldlazarett auf fremder Erde gebraucht, bis er Zusammenhänge zu ahnen und zu begreifen begann, über die nachzudenken er vorher keine Zeit und nicht das Bedürfnis zu haben glaubte. Die Einsicht, daß die IhotuanBewegung, die Europa den »Boxeraufstand« nennt und, verteufelt, in Wahrheit eine patriotische Tat und zutiefst gerechtfertigt ist, weil sie der imperialistischen Ausbeutung der Heimat entgegentritt, diese Einsicht bezahlte er teuer. Sehr teuer... Und täglich bezahlen andere deutsche Männer sie ebenso teuer oder sterben, ohne zu ihr zu gelangen, in einer Fremde, die sie nichts angeht. Zu Hause jedoch preisen die Zeitungen das Fest des Friedens und empfehlen auf Anzeigenseiten Geschenke für glückliche Stunden, für Stunden, die ganz der Familie gehören und der Freude ...
In diesem Jahr gibt es besonders entzückende Geschenkideen. Beispielsweise hat da eine Firma, die Modelleisenbahnen herstellt, den wunderbaren Einfall gehabt, einen »Katastrophenzug« zu bauen. Man braucht nur einen Zusammenstoß herbeizuführen, und Lokomotive und Wagen zerfallen sehr realistisch in Trümmer und Bruchstücke, die sich natürlich wieder zusammensetzen lassen. Man kann damit Eisenbahnkatastrophe spielen, sooft man nur will. Und wenn man ein paar kleine Puppen zwischen die Trümmer legt, sieht es ganz echt aus! Der »Boxeraufstand« ist fast ganz aus den Blättern verbannt, von ein paar Klagen über den »hartnäckigen Fanatismus der gelben Aufrührer« abgesehen ... Es weihnachtet doch. Marchlewski weiß Schreckliches vom Wüten der Kolonialsoldateska zu sagen. Das Gespräch hat ihn aufgewühlt und bewegt. Er muß es wiedergeben, wiedergeben voller Empörung und Zorn. Die »Hunnenrede« trägt furchtbare Frucht in Asien. Wladimir Iljitsch, am Tisch sitzend, den Kopf in die Hand gestützt, unterbricht ihn mit keinem Wort. Er ist ein aufmerksamer, konzentrierter Zuhörer. Erst, als Marchlewski geendet hat, sagt er: »Sie sind darangegangen, China auszurauben, wie man einen Leichnam ausraubt, und als dieser vermeintliche Tote Widerstand zu leisten versuchte, fielen sie wie wilde Tiere über ihn her, indem sie ganze Dörfer niederbrannten, wehrlose Einwohner, Frauen und Kinder im Amur ertränkten, niederschossen und auf die Bajonette spießten ...« Er muß nicht hinzufügen, daß der gewöhnliche Imperialismus so in China sein Gesicht auf eine ungeschminkte und typische Weise zeigt; das wissen sie beide. Ebenso klar ist ihnen, daß es gilt, ihren Lesern dieses entlarvte Gesicht des gewöhnlichen Imperialismus ins Bewußtsein zu bringen und sie darauf aufmerksam zu machen, wobei erklärt werden muß, wieso und warum sich in ihm das Wesen eines räuberischen Systems enthüllt. Auch darin sind sich die beiden Männer ohne Erklärung
einig; sie sind erfahrene politische Journalisten und gewohnt, zu beweisen, nicht zu behaupten. Nur der Beweis überzeugt. Uljanow notiert einige Zeilen auf dem breiten weißen Rand des Urmanuskripts. Er schreibt sehr klein und eng, unglaublich diszipliniert und zuchtvoll. Wie Leute schreiben, die sich über jede aufs Papier gebrachte Silbe Rechenschaft ablegen ... Die Sätze, die er suchte und im Augenblick des Eintretens von Marchlewski nicht fand, jetzt hat er sie. »Sie sind darangegangen, China auszurauben, wie man einen Leichnam ausraubt...« Das trifft es! Sehr gut versteht Wladimir Iljitsch die Erregung seines Gastes. Der fühlt und erlebt die Erkenntnisse des verwundeten Soldaten jetzt nach, vollzieht sie neu. Wirklich: Gerade am deutschen Beispiel ließe sich präzise der Mechanismus »moderner« Kolonialpolitik demonstrieren - erst werden Kolonien erworben und versklavt. Der zwangsläufig beginnende Volkswiderstand gegen die Versklavung bietet den Vorwand zum militärischen Eingreifen. Die »Strafexpedition« folgt den Gegnern über die ursprünglich abgesteckten Grenzen der Kolonie hinaus und erweitert sie unter allen Umständen mit der Begründung, das sei zur Ausrottung der Unruheherde und zum Schutz der Kolonie unerläßlich. Nicht genug damit, fordert das Kaiserreich jetzt von China eine finanzielle Entschädigung für die Kosten des ihm »durch die Mordtat in Peking« aufgezwungenen (!) Krieges. Und da es just siebzehntausend gut gedrillte Soldaten im Lande und vor der Küste die Stahlkolosse der Ersten Division des Panzergeschwaders hat... Schon ist es im Reichstag offenes Geheimnis, daß die Geldmittel dem weiteren Ausbau der Kriegsflotte dienen sollen, und Seemacht gilt als Garant für Erfolg im imperialistischen Ringen um die Neuaufteilung der Welt, im Ringen um das größte Stück aus dem Kolonialkuchen. Wurde nicht England zur Weltmacht, als es die Meere beherrschte? Und hat nicht schon Wallenstein festgestellt, daß der Krieg den Krieg ernähren müsse? Der
Kolonialkrieg in China soll der Ausweitung von Kolonialkriegen die finanzielle Basis geben ... Wladimir Iljitsch legt seine Füllfeder auf den runden Tisch mit der Häkeldecke, steht auf und tritt zu Marchlewski ans Fenster. Die Sonne geht früh unter. Sie sinkt in einem kalten, blassen Rot, das für morgen neuerlich klirrenden Frost verheizt. Zwischen den langen Schatten der Gebäude glitzert körnig der Schnee. So weit von hier aus das Auge schweift, regt sich im Augenblick nichts. Das verstärkt den Eindruck einer tiefen Müdigkeit der vom vergangenen Sommer erschöpften Natur, den Eindruck auch einer friedvollen, ruhigen Zeit ohne Angstträume und Tränen. Alles wirkt aufs beste geordnet, sauber und klar. »Dreimal werden wir noch wach. Heißa, dann ist Weihnachtstag ...« Das Bild da draußen trügt. Marchlewski zieht seinen Vollbart glättend durch die Hand. Übergangslos wechselt er das Thema. »Ich hatte kurz nach Mittag ein Interview. Auch Ostasiens wegen, aber erfolglos«, setzt er neu an. »Als ich in die Redaktion zurückkehrte, wartete in der Tauchaer Straße der Genosse auf mich, der uns gelegentlich Beiträge über russische Angelegenheiten schreibt. Soweit sie sich aus den tendenziösen Berichten der hier erhältlichen Petersburger Blätter herausdestillieren lassen ... Der Genosse ist Emigrant.« »Was hat er gebracht?« erkundigt sich Uljanow sofort lebhaft. »Neuigkeiten von Interesse? Sie haben doch seinen Artikel bei sich?« Marchlewski schüttelt den Kopf. »Es besteht Vertrauen zwischen uns«, erklärt er nur, statt ein Manuskript aus der Brusttasche zu ziehen. »Er wollte mir eine Beobachtung mitteilen und hat nicht gefragt, ob ich den Grund für das kenne, was er sah. Ich habe infolgedessen keine Antwort geben müssen.« Wladimir Iljitsch schaut ihn prüfend von der Seite an, hat die Daumen in den Ärmellöchern der Weste und hebt sich ein wenig auf die Zehenspitzen. »Also?« ermuntert er knapp.
Der Redakteur nimmt einen Stumpen heraus und setzt ihn in Brand. »Er wird plötzlich beobachtet«, meldet er besorgt. »Sobald sich ihm der Verdacht aufdrängte, hat er die Probe gemacht - Spaziergänge an wenig belebter Stelle und dergleichen, na, Sie wissen schon. Ein Schatten ging mit, da ist er ganz sic her. Natürlich ließ sich der Genosse nichts anmerken, aber er warnte seine Freunde. So kamen sie dahinter, daß auch diejenigen überwacht werden, die unter den Leipziger Russen die konsequentesten Marxisten, sind, Emigranten wie Studenten... Dies, obwohl es zur Zeit keinen unmittelbaren Anlaß für forcierte Aufmerksamkeit der Geheimen gibt.« Um Uljanows Mundwinkel zuckt es. »Das Jahr geht zur Neige«, bemerkt er, »und das Sonderkorps der Gendarmen muß seinen Bericht machen, der ihm als Arbeitsgrundlage für neunzehnhundertundeins dient. Es wird bei seinen lieben Freunden im Ausland angefragt haben, was die Menschen tun, die aus dem Völkergefängnis des Zaren entkommen sind. Da die Polizei in Sachsen zwar eine andere Montur trägt, aber doch unter der gleichen Kappe steckt, beeilt sie sich, der Bitte ihrer Brüder im Geiste zu willfahren. Um so besser, wenn sie nichts Besonderes zu melden weiß! Da läßt die Wachsamkeit nach.« »Wir müssen fürchten, daß das alles Ihnen gilt«, hebt Marchlewski die Stimme. »Offenbar sucht man Sie in Leipzig.« »Da überschätzen Sie nun wohl doch die Aufmerksamkeit, die einem einfachen Journalisten entgegengebracht wird, lieber Marchlewski. So sehr ich Ihnen Ihre freundliche Sorge um mich danke, in diesem Falle...« »Unter dem Siegel der Verschwiegenheit ist den Genossen von befreundeten deutschen Nachbarn verraten worden, daß die Geheimpolizei bei denen nach Besuchern fragte. Auch nach kürzlich aufgetauchten Schlafgästen bei Emigranten und Studenten. Ein Foto wurde gezeigt, und nach der Beschreibung bildete es Ihr Konterfei ab.
Irgendwie muß durchgesickert sein, daß und mit welchem Ziel Sie München verlassen haben.« »Ach ja?« Wladimir Iljitsch streicht nachdenklich über den Bart auf der Oberlippe. »Nun, immerhin - das scheint meiner Einschätzung der Lage zu widersprechen, und selbstverständlich sind mir diese Aktivitäten gar nicht recht. Trotzdem besteht kein Grund zur Beunruhigung, glaube ich. Man hat zum Glück nicht viel ermittelt. Sonst würde man mich nicht vor der falschen Schmiede suchen. Den deutschen Genossen und vor allem der Druckerei droht offensichtlich noch keine Gefahr. Das ist mir sehr lieb.« Ganz flüchtig denkt er an diesen Paul Thomas, an den Jungen, der letzte Nacht plötzlich hereinschneite. Doch er spricht nicht davon. Er hat dem Lehrling versprochen, über ihre Begegnung zu schweigen. Der Junge gab das Versprechen zurück. Außerdem - bloßer Zufall, daß Paul Thomas etwas vergessen hatte und es holen kam! Uljanow wischt die Erinnerung beiseite. »Haben Sie unser Gespräch auf dem Wege vom Bayrischen Bahnhof zur Straßenbahn noch im Gedächtnis? Ich sagte damals, meine ich, daß wir die Genossen hier nicht mehr gefährden wollen, als unabdingbar ist.« »Eben das«, bestätigt Marchlewski. Wladimir Iljitsch nickt ihm zu. »Ich gestehe, daß ich während der Reise mit dem Gedanken gespielt habe, mich mit dem Russischen Akademischen Verein in Verbindung zu setzen. Es gibt da kluge Köpfe, die unserer Sache treu ergeben sind. Vielleicht könnte ich ihnen bei der Auseinandersetzung mit dem Gegner helfen... Ich habe den Gedanken aufgegeben. Für diesmal aufgegeben. Genosse Marchlewski! Ich werde mit den Freunden in Leipzig ein andermal sprechen. Jetzt... Ich müßte fürchten, daß die leider recht rührige sächsische Geheimpolizei auch nach Probstheida findet, wenn sie meine Spur in der Messestadt erst einmal aufgenommen bat. Das hieße jedoch, unsere Iskra zu gefährden, und die Zeitung hat den Vorrang. Wenn ich wiederkomme. wird das nur der Diskussion wegen geschehen.« Er wendet sich um und geht in die Mansarde hinein. »Danke für die Warnung! Was mich angeht - ich
erleichtere es den Spitzeln vor den Türen der Genossen nicht, zu recherchieren, daß gegenwärtig in ihrer Stadt tatsächlich etwas Besonderes geschieht, daß jetzt die russischen Angelegenheiten entscheidend in Fluß gebracht werden! Da seien Sie unbesorgt.« Uljanow läuft zum Samowar, gibt Teesud in Gläser und brüht ihn auf. »Daß die deutschen Genossen nicht beobachtet werden ... Ist das sicher?« »Ja«, antwortet Marchlewski ohne Bedenken. »Von Ihrer Anwesenheit wissen außer Mehring und mir nur die Rauhs und Nusperlis Wirt, Karl Pinkau. Da der IskraBriefwechsel über seine Adresse geht... Keiner der Genannten hat etwas Verdächtiges bemerkt, ich habe mich erkundigt. Ich lege für jeden von ihnen die Hand ins Feuer.« Wladimir Iljitsch reicht ihm ein Glas Tee. »Wir drucken heute an. Zwei Seiten im ersten Durchgang. Wollen Sie sich das ansehen? Die Premiere sozusagen ...« »Leider...«, bedauert Marchlewski. »Ein unaufschiebbarer Termin, den ich persönlich wahrnehmen muß. Ihnen brauche ich doch nicht zu erklären, wie es bei einer Tageszeitung zugeht.« »Nein.« Der Redakteur schlürft vorsichtig das heiße Getränk. »Auf alle Fälle drücke ich Ihnen heute nacht von Herzen die Daumen, Wladimir Iljitsch. Ich weiß. welche große Stunde das für Sie ist. Was für ein Erlebnis ...« Er räuspert sich und fährt verständnisheischend fort: »Wenn Sie ein wenig später anfangen müssen, das ist meine Schuld. Hermann Rauh wollte die seit langem für heute angesetzte Besprechung mit Vertretern der Pressekommission des Turnerbundes und des Arbeiter-Rad- und Kraftfahrerbundes am liebsten absagen, aber ich habe widersprochen. So gibt es keine Fragen nach dem Warum.« »Vollkommen richtig. Wissen Sie, wer da ist?« »Pinkau für die Turner. Er wird sich übrigens um die Expedition der Iskra kümmern. Und Max Purschwitz für die Fahrer. Ein Buchdrucker, arbeitet in einem der größten graphischen Betriebe ... Purschwitz ist ein Mann, der nicht nur Vertrauen geniest, sondern bei den Leipziger Genossen
ausgesprochen beliebt ist. Seiner geradezu unverwüstlichen Fröhlichkeit wegen... Nun, sobald die Besprechung beendet ist, geht die Zeitung in Druck.« Uljanow lächelt. »Wenn Sie wüßten, wie ungeduldig ich jetzt schon bin... Das reinste Lampenfieber ...« Marchlewski setzt das Teeglas ab und nimmt einen tiefen Zug aus seinem Stumpen. »Erfüllen Sie mir eine große Bitte, Wladimir Iljitsch?« »Jede, lieber Marchlewski!« »Da wir also wissen, daß in Leipzig schon Fotografien herumgezeigt werden, die Ihr ungeschminktes Gesicht abbilden - gehen Sie als Uljanow nicht mehr auch bloß über den Hof! Seien Sie Meyer, wenn Sie diese vier Wände verlassen! Perücke, Bart und Kneifer - ich beschwöre Sie!« Wladimir Iljitsch seufzt. Dann streckt er dem Redakteur plötzlich mit herzlicher Dankbarkeit die Rechte entgegen: »Ich verspreche es! Es ist mir wirklich unangenehm, daß ich Ihnen fortgesetzt Kummer bereite dieses höchst unbequemen, unseligen Herrn Meyer wegen! Ich werde mich bessern.«
12 Bei der Sache ist Paul Thomas nicht. Mechanisch zieht er den langen Schwungarm der Bostonpresse herunter und schiebt ihn in die Senkrechte zurück. Das ist schwere Arbeit. Der Junge muß dabei seine ganze Körperkraft einsetzen. Die Bewegung des langen Hebels läßt die Farbwalze über den Tiegel mit der Druckerfarbe gehen und führt sie anschließend über ausgebundenen Satz in einer Form. Dann schließt sie die Presse und drückt den Satz gegen eingelegtes Papier. Das wird dadurch bedruckt. Paul arbeitet mit Emma zusammen. Sie reicht ihm ein Blatt zu, wenn er durch Heben des Schwungarms die Druckvorlage eingewalzt und die Presse geöffnet hat. Er legt es mit der Rechten an und zieht mit der Linken den Hebel herunter, nimmt den Druck heraus und gibt ihn Emma. Auch sie setzt beide Hände ein - mit der einen reicht sie Paul Blatt um Blatt,- mit der anderen türmt sie Druck auf Druck. Sie sind eingespielt, es geht schnell und fließend. Wer ihnen zusieht, der mag gern glauben, daß mancher Gründer einer kleinen Druckerei mit einer solchen Bostonpresse und einem einzigen Schriftkasten begonnen hat. Diese Meister haben dann wahrhaftig mit ihrer Kraft und ihrem Schweiß den eigenen Handwerksbetrieb aufgebaut. Auch bei Rauh & Pohle fing es nicht viel anders an. Ein Stoß postkartengroßer Drucke liegt schon da. Es sind Werbezettel, die der seit 1893 in Leipzig bestehende Arbeiter-Radund Kraftfahrerbund »Solidarität« in Betrieben und in den von Werktätigen besuchten Ausflugsgaststätten verteilen will, am Auensee beispielsweise. Ein mitreißender Aufruf zum Mitmachen und Adressen, bei denen sich Interessenten melden können, stehen darauf. Sie umgeben eine schwungvolle Zeichnung, die einen Rad- und einen Kradfahrer zeigt, welche sich ein ungleiches Rennen zu liefern scheinen. Paul schenkt dem Druck kaum Beachtung. Wenn er darauf blickt, dann nur, um festzustellen, ob er genug Farbe hat oder ob der Tiegel neu beschickt werden muß. Seine
Gedanken sind bei der Begegnung mit von Kopp, die ihm nachher bevorsteht. Sie wird unter anderen Vorzeichen stattfinden als die vorhergegangenen. De r Lehrling hat gestern nach dem Zusammentreffen mit diesem Herrn Meyer lange nicht schlafen können; er ist auf seltsame Weise aufgewühlt und bewegt gewesen. Am Fenster stehend und hinausschauend in kaltes Mondlicht auf glitzerndem Schnee, hat er versucht, einen Teil seiner Träume und die von dem Kriminalreferendar geweckten Hoffnungen zu retten, einen Mittelweg zu finden zwischen dem greifbar nahen »Traumberuf« eines Detektivs der königlich sächsischen geheimen Polizei und dem ihm erschreckend klar gewordenen unbeabsichtigten und dennoch schon fast vollzogenen Verrat an seinem Vater und dessen Freunden. Es gibt keinen Mittelweg. Keinen. Er muß Fleisch oder Fisch sein. Verräter oder Feind der Spitzel. So kurz sein Gespräch mit Herrn Meyer war und so wenig es sein Problem direkt berührte - es brachte entscheidende Denkanstöße und gab den Überlegungen einen festen Ausgangspunkt. Er kann es hin und her wenden und drehen, so sehr er will, in dem Gesagten war so viel Logik, so viel einfache und unwiderlegbare Wahrheit, daß Paul sich ihm nicht mehr entziehen kann. Auch nicht mehr entziehen will, und darauf kommt es an. Natürlich schrak er vor dieser Erkenntnis zurück und sträubte sich dagegen, natürlich suchte er ihr, die so unbequem ist, zu entrinnen und ein bißchen wenigstens von dem großen Abenteuer zu retten, das ihn lockte. Es lockt nicht mehr, nachdem er die Vorzeichen erkannt hat, unter denen es ihm von Kopp wie einen Köder hinwarf. Dazu ist er sich zu gut. Wenn er nur die Wahl hat zwischen dem Wohlwollen des adligen Kriminalbeamten mit Hochschulbildung und der Anerkennung durch den Vater, Herrn Rauh und die Menschen, mit denen sie umgehen, dann - wählt er die Achtung der letzteren. Dann zieht er lieber bis an sein Lebensende den schweren Schwungarm der Bostonpresse, als daß er im Polizeiauto fährt und gerade von denen gehaßt und gemieden wird, die er als lauter und
ehrlich kennengelernt hat. Er gehört zu ihnen. Das ist ihm letzte Nacht klargeworden, besser: Es ist ihm überhaupt erst bewußt geworden. Bisher war es so selbstverständlich, daß er darüber nicht nachdachte. Nun schiebt er die »hohe« Polizei mit ihren geheimnisvollen verborgenen Registraturen und Karteien gedanklich in dieselbe Schublade, in der bereits die berühmteste und älteste Auskunftei des deutschen Sprachraums mit ihren zwei Stockwerken voller Rechercheuren, Bibliothekaren und Archivaren sowie nicht minder geheimen Informationsspeichern liegt. Unter den von Herrn Meyer präzise dargelegten Vorzeichen - und der gesunde Menschenverstand anerkennt ihre Wahrhaftigkeit taugt das eine davon so wenig wie das andere für einen Leipziger Arbeiterjungen. So sehr ihn der schöne Wagen des politischen Dezernats der Polizei und selbst die bei der großen Auskunftei vermuteten, leise schnurrenden Elektrowagen auch mit neugieriger Sehnsucht erfüllen mögen ... Deren Erfüllung müßte zu teuer erkauft werden. Dazu ist Paul nicht bereit. Die letzte Nacht hat ihn über das Spiel mit der Versuchung hinauswachsen lassen, hat ihn darüber hinweggebracht. Leider ist mit dieser Einsicht noch nicht alles getan. Wenn er die verabredete Begegnung mit von Kopp nicht wahrnimmt, schöpft der Referendar bestimmt Verdacht. Und dann ... Nein, er muß hingehen und alles aufheben, was er selbst unbedacht eingerührt hat. Davor fürchtet er sich ein wenig; das wird so leicht nicht werden. Dieser hochwohlgeborene Spürhund ist kein Dummer; schlau und gefährlich ist er vielmehr. Ob er, Paul, die Männer bei Herrn Rauh um Unterstützung bittet, um einen guten Rat? Er bringt es nicht fertig. Wie stünde er da vor ihnen ... Und außerdem: Er hat diese Suppe eingerührt - seine Sache allein ist es auch, glaubt er, sie wegzukippen. Allein seine! Ist er sich das nicht schuldig? Wie sehr er die anderen einschließlich des verehrten Herrn Meyer damit in Gefahr bringt, wird er erst begreifen, wenn alles vorüber ist. Im Augenblick hat er soviel Klarheit noch nicht. Er zieht den Schwungarm der Bostonpresse an sich heran und stößt ihn
zurück, gibt manchmal frische Farbe auf den Tiegel, nimmt von Emma Papier, sieht den Stoß neben der Maschine wachsen und weiß noch immer nicht, was er dem adligen Herrn Kriminalreferendar sagen will. Paul ist wütend auf sich selbst. Er druckt so schnell, daß das Mädchen neben ihm verwundert den Kopf schüttelt. Da muß ihm ja der Atem ausgehen! Sie staunt, wieviel Kraft er hat. Der Atem geht ihm nicht aus. Um den Schreibtisch herum dauert die Besprechung Rauhs mit Pinkau und Purschwitz an. Hermann Rauh sagt gerade, die Hand auf dem säuberlich geschriebenen Themenplan, der vor ihm liegt, sachlich zu Pinkau: »Nicht zufrieden, Karl?« Der Fotograf ist ein untersetzter, ruhiger Mann mit ergrauendem, glatt nach hinten gekämmtem Haar und waagerechtem, von Bartwichse gesteiften Schnurrbart. Er wirkt sehr beherrscht, sehr korrekt und sehr vertrauenerweckend. Seine Augen sind hell und freundlich, können aber überraschend und beinahe übergangslos hart und entschlossen blicken. Dann haben sie ein bischen von blankem Stahl. Paul Thomas hat den Leipziger Reichstagsabgeordneten der SPD nie ohne das Gepäckstück gesehen, das er selbst heute mitbrachte und das neben seinem Stuhl steht. Dieser kleine Lederkoffer, der sich mittels eines Riemens auch umhängen läßt, birgt Pinkaus Lieblingskamera, einen klobigen Plattenapparat mit doppeltem Auszug, einen Rollfilmansatz dazu, Negativmaterial, Beutelblitze und ein pistolenartiges Gerät. Damit kann bei ungenügendem Licht Magnesiumpulver gezündet werden, die »Sonne in der Tasche«... Die Pinkau kennen, meinen mit gutmütigem Spott, sobald Karl diesen Koffer einmal nicht bei sich trage, wäre er mit Sicherheit krank. Die Fotografie ist nicht nur sein Broterwerb, sie ist ihm auch Leidenschaft. »Das Verhältnis gefällt mir nicht ganz«, erwidert er. »Wenn ich mir deine Themenliste ansehe, Hermann manche Sportarten kommen einfach zu kurz. Darunter solche, die bei den Genossen beliebt sind.«
»Aber genau!« nimmt Max Purschwitz das Stichwort sofort lebhaft auf. Er ist ein beweglicher, fröhlicher Hüne in Kniebundhosen, mit offenem Jungengesicht, dichtem, harten Haar und einem kleinen, modisch gestutzten Oberlippenbart, der ihm etwas Verwegenes gibt. »Ich fahre Rad. Wir weinen beinahe vor Rührung, wenn uns die AT mal eine Meldung widmet. Eine ganz kleine.« Er zeigt zwischen Daumen und Zeigefinger Raum für bestenfalls fünf Zeilen Petitsat z. »Und dann auch noch an unauffälligster Stelle...« »In der neuen Nummer habt ihr einen ganzen Keller; nun gib mal nicht an!« wehrt sich Rauh. Pinkau lächelt. »Max ist Partei und übertreibt. Ich dachte eigentlich an die Kraftfahrer. Um die kümmert sich die Zeitung kaum, und das ist falsch. Denke an die Hildebrand & Wolfmüller-Motorradfabrik, Hermann! Sie hat zeitweilig mehr Leute beschäftigt als Daimler und Benz zusammen. Dort arbeiten viele Genossen, und ihr Produkt ist für Arbeiter erschwinglich, leichter erschwinglich wenigstens als ein teures Automobil... Denke mal an sie!« Der Drucker sieht verstohlen auf die Uhr. Du liebe Güte, die Zeit rennt! »Gemacht«, sagt er ohne Begeisterung. »Ich wäre nicht darauf gekommen.« Purschwitz lacht vergnügt. »Was meinst du, warum wir eine Pressekommission gebildet haben. Alter? Drei wissen nun mal mehr als einer.« Rauh drängt ein wenig abrupt zum Ende der Beratung. »Ja, wenn es dann weiter nichts gibt...« Dem Fotografen rutscht ein unüberlegtes: »Hast du noch was vor?« heraus. Dann denkt er an den beziehungsvollen Blick auf die Uhr und weiß Bescheid. »Ach so!« fährt er rasch fort. »Spät geworden... Nur mal sehen, ob da noch etwas ist.« Er zieht sich den Plan heran - so neu wirkt der nun nicht mehr, hier und dort wurden Bleistiftnotizen hinzugefügt - und überfliegt ihn. Emma ist das stumme Arbeiten leid. »Achte auf deine Ohren, Paul!« neckt sie. »Die werden schon wieder immer länger.«
Er zieht und schiebt den Schwungarm im gleichen Rhythmus weiter. Dabei verkündet er abweisend: »Quatsch!« Das Mädchen reicht Papier zu und nimmt Druck um Druck ab. »Aber Herr Pinkau hat Automobil gesagt«, stichelt sie. »Oberflächenvergaser... und so.« Paul reißt sich aus seinen Überlegungen heraus. So ganz nebenbei hat er einiges verstanden und kann daher mit Würde richtigstellen: »Herr Pinkau redete von Motorrädern.« Nun ist er wieder der alte. Gegen seine fortgesetzte Liebe zu Motorfahrzeugen an sich spricht ja nichts. »Du, Motorräder sind auch prima. Das da auf dem Zettel ist so eines. Sie verkaufen sie bis nach Frankreich, und es sind sogar schon welche nach Amerika ausgeführt worden.« »Ich habe mehrere fahren sehen«, verrät sie. Als der Lehrling sie mißtrauisch anschaut, weil doch aus diesem Munde eine wertungslose Äußerung in Sachen Motorisierung ungewohnt ist, kommt auch bereits das dicke Ende nach: »Mit Mutti, und da hat Mutti gesagt, das wären Familienvätervernichtungsmaschinen.« Paul holt tief Luft. »Wenn ich nicht so'n höflicher Mensch wäre, würde ich jetzt etwas von mir geben«, murmelt er - hilflos angesichts einer so tragischen Fehleinschätzung von Wunderwerken der Technik, in einem Jahr mit 'ner Weltausstellung noch dazu! Dem ist er nicht gewachsen, gegen soviel Bosheit kommt er nicht ernsthaft an. Diese Mädchen...! Er geht darüber hinweg. Plötzlich hat er eine Idee. Dem Gespräch der Männer am Tisch zufolge besitzt nicht bloß die Polizei Fortbewegungsmittel mit OttoMotoren ... »Ob ich mal hingehe?« »Bist du lebensmüde?« fragt Emma erschrocken. Sie denkt, was sie sagt. Die Worte komme n wie aus der Pistole geschossen. Jetzt mischt sich Max Purschwitz ein. Er hat sich, während Pinkau den verbesserten Plan prüft, umgedreht und mit einem vergnügten Schmunzeln dem Streit an der Bostonpresse gelauscht.
»Warum eigentlich nicht, Paul?« ermuntert er in einem Ton, als wolle er ausdrücken: »Wir Männer müssen gegen das Weibervolk zusammenhalten!« Er fährt in seiner zupackenden, unkomplizierten Art gleich fort: »Ich nehme dich mal mit. Die Knatterfritzen sind im selben Lokal wie wir. Mitfahren lassen sie dich bestimmt, und wenn es dir Spaß macht und du willst dabeibleiben ...« Da vergißt der Lehrling zum erstenmal, den Schwungarm der Bostonpresse zu betätigen. Die Farbwalze bleibt auf halbem Wege zum Tiegel hängen. »Und Sie vergessen das auch nicht, Herr Purschwitz?« bittet er und ist atemlos vor Freude. Purschwitz lacht. Er lacht eigentlich immer, und die starke, ungekünstelte Fröhlichkeit, die in diesem Lachen liegt, hat etwas unglaublich Mitreißendes, Ermunterndes und Optimistisches. »Na, hör mal! Unter uns Buchdruckern...! Warte, ich schreibe dir gleich das Lokal auf und wann wir uns treffen.« Er zieht die Blechhülse von seinem Bleistift und greift in den Papierkorb, um einen weggeworfenen alten Fahnenabzug herauszunehmen und auf ihn die Notiz zu schreiben. Der Papierkorb ist übervoll - wie Papierkörbe eben sind, wo mit Papier gearbeitet wird. Der Zufall will es, daß Purschwitz am Rande in den Korb faßt und einen Abzug von ganz unten heraufholt. Er muß sogar ein wenig reißen, weil sich der Streifen im Geflecht festgeklemmt hat und offensichtlich beim letzten Ausleeren hängenblieb. Der Radsportler kennt solche mit roten Korrekturzeichen übersäten Abzüge; er ist nicht neugierig darauf, was da steht; er streift es nur gewohnheitsmäßig mit flüchtigem Blick. Dabei stutzt er. Nur eine Sekunde lang gibt er das zu erkennen, ehe er sich wieder vollkommen in der Gewalt hat. Dann legt er die Fahne - Schrift nach unten - vor sich hin, als habe er von Anfang an vorgehabt, das zu tun. Er zieht einen zweiten alten Abzug aus dem Korb und kritzelt auf ihn die Angaben für Paul. Der Junge hat seine Arbeit wieder aufgenommen. Er strahlt jetzt.
»Das wäre was!« schwärmt er Emma vor. »Weißt du, in ganz neuen Romanen fahren Detektive auch gelegentlich Motorrad. Sie setzen die modernste Technik ein, sozusagen, und ...« Das Mädchen unterbricht ihn mit einem Seufzer. »Als du hier angefangen hast, bist du ein so netter Junge gewesen! Seit du diese Detektivschmöker liest...« Sie winkt ab. »Oberflächenvergaser ...« »Au!« mischt sich Karl Pinkau launig ein. »Ich lese auch gern Krimis. Emma. Und ein Junge... Ein Junge muß einfach Freude an Abenteuern haben und sie am liebsten alle selbst erleben mögen. Sonst ist er nicht gesund. Abenteuer locken gar zu sehr, nicht wahr, Paul?« »Ja«, erwidert der Lehrling dankbar und hat jetzt Emma gegenüber Oberwasser. »Da hast du es! Und Herrn Pinkau kannst du leiden... Möchten, Sie sich auch manchmal verkleiden und mit 'nem Revolver in der Tasche ...?« Der Fotograf lächelt nicht einmal. »Nicht mehr, Paul«, antwortet er sachlich und wiegt genau ab, was er sagt. »Weil Sie schon älter sind, ja?« »Nein«, klingt es sofort zurück. »Es gibt nach wie vor Abenteuer, die mich reizen. Ich möchte ein Haifischangeln in der Karibischen See fotografieren und am allerliebsten eine Expedition im Freiballonkorb mitmachen, so eine, wie sie Jules Verne beschrieben hat - davon träume ich manchmal. Aber die Abenteuer, die du meinst - nein. Weil die Leute, die sich hierzulande von Amts wegen verkleiden und mit Revolvern herumlaufen dürfen, unsere Feinde sind. Sie bespitzeln die, die dir und mir und uns allen Vorbilder sind, und sie schreiben jene auf schwarze Listen, die in den Fabriken am entschiedensten die Interessen ihrer Kollegen vertreten. So schön das Abenteuer ist - vor allem muß man wissen, wem es nutzt und wohin man selbst gehört. Oder?« Karl Pinkau nimmt mit solcher Selbstverständlichkeit an, Paul müsse wissen, wohin er gehört, daß der Junge beschämt die Lider senkt und wegsieht. Auf einmal ist alles wieder da. Er rettet sich in einen Griff nach dem leeren Farbeimer und die Worte:
»Die Farbe, Meister ...« »Morgen!« wehrt Rauh ab. »Hast genug getan. Schluß für heute.« Emma häufelt geschäftig die Werbezettel und stößt sie zurecht. Paul fühlt noch immer die Augen Pinkaus auf sich gerichtet, fühlt, daß eine Antwort erwartet wird, und weicht ihr aus: »Also kein Abenteuer?« Der Fotograf steht auf und geht zu ihm. »Kein solches, Paul! Auf dieses warten wir besser, bis wir bestimmen können, zu wessen Nutzen sich Detektive verkleiden und Revolver nehmen. Aber Abenteuer ... Abenteuer gibt es trotzdem mehr als genug für uns. Selbst wenn wir niemals in einer Freiballongondel mitfliegen dürfen.« Der Lehrling ist nicht überzeugt. »Wo denn? Vielleicht hier an der Bostonpresse?« Nun lächelt Pinkau doch einmal. »Richtig betrachtet ja. Was Genosse Rauh hier druckt - und vor allem natürlich die Arbeiter-Turnzeitung -, hilft Arbeitern, zusammenzufinden und sich ihrer Kraft bewußt zu werden. Stehst du ihm dabei zur Seite. dann verhinderst du, daß die Zeitungen der bürgerlichen Vereine Menschen blenden, die zu uns gehören, Menschen, die uns zu schade sind, ihre Körper für die Kriege des Kaisers zu stählen. Menschen, deren Kraft die Klasse braucht... Ist das kein Abenteuer? Und ein gutes noch dazu?« Hermann Rauh dauert das alles zu lange. Er nimmt demonstrativ noch einmal seine Uhr heraus und läßt den Deckel springen. »Sofern du also nichts mehr hast, Karl...« Er steht auf. Auch Purschwitz schnellt hoch. Er geht zum Lehrling und übergibt ihm seine Niederschrift. »Wir treffen uns dort, Paul! Es wird dir gefallen. Es sind Leute da, die dir Abenteuer erzählen können, daß einem das Herz lacht! Sogar Abenteuer, in die Karl Pinkau verwickelt war.« »Und Sie?«
Purschwitz ist beinahe traurig, antworten zu müssen: »Ich hatte noch kein Rad. Leider...« Er wird sofort wieder lebhaft. »Das war nämlich so: Als die Partei verboten war, hatten es die Genossen im Reichstag natürlich schwer. Karl war damals schon Abgeordneter, aber wie sollte er zu Informationen kommen? Woher das Material für Anfragen nehmen, mit denen er die arbeiterfeindliche Regierungspolitik bloßstellen konnte? Die Genossen wurden doch verfolgt.« »Und Sie nicht?« fragt Paul Thomas den Abgeordneten verwundert. Der will zu einer Antwort ansetzen, aber Max Purschwitz ist in Schwung. »Laß mich reden, Karl! - Da hatten sie sich was Feines ausgedacht. Sie verboten die Partei, aber sie hielten sich an die parlamentarischen Spielregeln und tasteten die Fraktion im Reichstag nicht an. Sie dachten wohl, eine Fraktion ohne Partei sinkt zur Bedeutungslosigkeit herab, weiß nichts mehr zu sagen und stirbt ohne Aufhebens. Zum Pech dieser Herren war die Fraktion nie ohne Partei, denn die Partei lebte in der Illegalität weiter. Die Fraktion hatte immer etwas zu sagen. Reichstagsabgeordnete genießen Immunität, Paul, sie sind unantastbar, und die politischen Schnüffler fürchten sie sogar, weil die Schnüffler immer damit rechnen müssen, daß ihre krummen Touren im Reichstag geschildert werden.« Paul hört sehr aufmerksam zu. »Wie konnten sie davor Angst haben? Wo die Partei und ihre Zeitungen verboten waren ...« Purschwitz wiegt den Kopf. »Aber die gesamte übrige Presse ist im Reichstag. Die großen in- und ausländischen Nachrichtenbüros haben Korrespondenten da. Und: Auch unter den Abgeordneten und Journalisten anderer Parteien sind Freunde oder einfach Menschen, die die Willkür der Polizeidiktatur à la Bismarck nicht billigen und deren Zeitungen, die ja nicht verboten sind, mit Sicherheit in die breiteste Öffentlichkeit hinaustragen, was die Abgeordneten der verfolgten Partei zu enthüllen wußten! Sofern sie eben etwas zu enthüllen hatten! Du siehst, Informationen waren lebenswichtig; ohne sie hätten die Abgeordneten schlecht
Parteipolitik machen können. Die Reichstagstribüne hätte ihnen nichts genutzt. Was im Reichstag gesagt wird, erfährt mit Sicherheit alle Welt. Auch aus diesem Grunde waren die stets anwesenden Journalisten Herrn von Bismarck ein Greuel; er haßte und beschimpfte sie bei jeder Gelegenheit. Kleine Lehre, Paul: Hüte dich dein Leben lang vor Politikern, die die Presse fürchten und ihre Macht nutzen, die fortschrittlichen Zeitungen zu knebeln. Sie haben Grund dazu, und schon der Versuch der Reglementierung öffentlicher Meinung charakterisiert sie.« Er räuspert sich und spricht gleich weiter, lockerer jetzt: »Also, jedenfalls ging es um Informationen für die nach dem Willen des eisernen Kanzlers isolierte Fraktion. Einmal gab es in Zwickau einen Streik, gerade am Vortag einer Reichstagssitzung. Karl brauchte Unterlagen darüber, schnell, und sicher, und in Zwickau und Umgebung wimmelte es natürlich von Spitzeln. Trotzdem hat er sein Material gekriegt! Am nächsten Morgen war es in Berlin. Unsere Radfahrer, Paul, die rote Kavallerie... Sie hatte eine regelrechte Stafettenfahrt organisiert, um das in Zwickau gesammelte Material zu befördern. Ein Gewaltritt selbstverständlich, aber Karl konnte auspacken! Eine Welle der Empörung ging durch das ganze Reich. Hätten wir damals schon Motorradfahrer gehabt...« Er pfeift vergnügt das »Turner, auf zum Streite!« und schließt abrupt: »Da hätte Karl seine Rede in aller Ruhe vorbereiten können. Die Knatterfritzen sind nun mal schneller als wir.« Paul Thomas hört sehr aufmerksam zu. Vor allem ist da ein Umstand, der ihn fasziniert und den er begierig aufgreift. »Sie sind doch noch im Reichstag, Herr Pinkau?« »Bin ich!« »Und die Polizei fürchtet Sie immer noch?« Der Fotograf wiegt den Kopf. »Mich persönlich sicher nicht«, erwidert er trocken, »aber dafür um so mehr die Fraktion, der ich angehöre, und die Tribüne, die ihr zur Verfügung steht - das Parlament.« Der Junge atmet tief ein. Ein Gedanke taucht auf, der einen Anflug von Verwegenheit besitzt, aber ihn zuversichtlich macht. Auf einmal glaubt er zu wissen, wie er
mit Adelhelm von Kopp fertig werden kann, ja, es reizt ihn sogar, seine Idee zu erproben. Er vertraut ihr. Deshalb verkündet er abrupt: »Na, prima! Also. dann werde ich mal gehen. Wiedersehen! Danke für den Zettel, Herr Purschwitz ...« Unerwartet und ungewohnt schnell ist er draußen. »Aufgeweckter Junge!« urteilt Pinkau und nickt dem Radsportler zu. »Ja, Max ...« Doch Purschwitz denkt nicht daran, zu gehen. Er steht so fest wie eine Eiche. »Augenblick noch! Jetzt, wo wir allein sind...« Dabei schaut er zu Emma hin. Rauh versteht, daß Max ein Gespräch unter sechs Augen wünscht, und bittet seine Tochter: »Wir haben noch etwas zu bereden, Mädel...« Sie geht sofort. Der Drucker fragt: »Was hast du?« Auf dem Absatz macht Purschwitz kehrt, geht zum Schreibtisch und hebt den beiseite gelegten Fahnenabzug hoch. »Das! Seit wann besitzt du kyrillische Lettern, Hermann? Was machst du damit? Möchtest du uns etwas erklären?« Pinkau, der ja unterrichtet ist, will eingreifen. doch er kommt nicht hinaus über ein: »Max, das ist...« Max unterbricht ihn. »Entschuldige, aber ich habe Hermann gefragt.« Rauh ist überrumpelt. Er weiß nichts vorzubringen als ein ungeschicktes: »Nichts, Max, gar nichts... Herrje, hier war ein Kollege, mit dem zusammen ich gelernt habe, und der ist jetzt in einer Druckerei, die Bibeln für Rußland herstellt. Er wollte mir einfach mal zeigen, wie das aussieht.« Sie ist gar nicht so schlecht, diese Ausrede, denn Rauh darf davon ausgehen, daß Max kein Wort Russisch kann, nur taugt sie eben nicht gegenüber einem Buchdrucke r. »Bibeln?« stößt der sofort zurück. »In kleinem Petitsatz? Und mit der Schriftbreite? Ich fresse einen Besen, wenn das keine Zeitungsspalte ist, wie sie im Buche steht.«
Rauh bockt. »Weiß ich, was sie in Rußland für Bibeln haben?« entgegnet er entwaffnend naiv. »Jedenfalls hat er mir die Fahne gezeigt und sie dann in den Papierkorb geworfen. So war es.« Purschwitz - er ist plötzlich sehr ernst und ganz ohne die gewohnte Fröhlichkeit - faltet die Fahne pedantisch zusammen. »Ich kenne ein paar russische Emigranten. Denen werde ich das mal zeigen. Was hältst du davon?« »Misch dich nicht ein, Max«, sagt Pinkau seltsam rauh. »Das ist allein Hermanns Sache.« Er streckt fordernd die Hand nach dem Abzug aus, doch Purschwitz schiebt den in die Tasche. »Nein!« beharrt er. »Wir haben zu Hermanns Unterstützung eine Pressekommission gebildet, weil uns die AT am Herzen liegt. Auf seine Bitte hin! Nun haben wir das Recht, uns um diese Druckerei und den Genossen Rauh zu sorgen. Wenn dies zu einer Zeitung gehört, mit der er den Genossen drüben wirklich helfen kann - nichts dagegen! Da würde ich ihm sofort beistehen. Aber... Weißt du, daß er nicht einem Agent provocateur aufgesessen ist, den ihm die Polizei auf den Hals gehetzt hat? Du weißt doch, wie sie einen 'reinlegen! Um einen Vorwand zur Schließung einer roten Druckerei und zur Verhaftung eines Druckers von uns zu bekommen, beschaffen sie sogar kyrillische Schrift und geben eine illegale Zeitung in Auftrag.« Rauh und Pinkau sehen sich an. Sie besprechen sich mit Blicken. Rauh ist unsicher, weiß nicht genau, was tun... Da ergreift der Reichstagsabgeordnete kurz entschlossen die Initiative. Das hier muß ein Ende haben, und er weiß, wen er vor sich hat. »Bleib auf dem Teppich, Max«, fängt er trocken an. »Es hat seine Richtigkeit. Ich hab's gewußt und mitgeholfen. Es ist eine russische Zeitung, und sie hilft den Genossen drüben. Wenn du uns beistehen willst: Hilf bei der Expedition! Allein schaffe ich den Versand schlecht.« Purschwitz schaut von einem zum anderen. Prüfend. Sehr abwägend. Dann hellt sich sein Gesicht auf und bekommt den fröhlichen Mut zurück, für den es bekannt ist.
Max lacht wieder, zieht den Fahnenabzug heraus, zerreißt ihn in winzige Fetzen und streut diese in den Papierkorb. »Ihr seid mir welche! Erst gar nichts - und schließlich die volle Ladung!« »Du mußt nicht mitmachen, Max«, sagt Pinkau. »Bloß schweigen mußt du. Daß du das kannst, weiß ich.« Genauso darf man Max Purschwitz nicht kommen. »Unsinn! Natürlich bin ich dabei.« Nach seiner Meinung ist damit alles gesagt, was gesagt werden muß. Die Sache ist klar, nun kann man ans Praktische denken. Er hält ihnen freimütig die Hand hin und fragt, während sie nacheinander einschlagen: »Einen Buchdrucker mehr brauchst du nicht zufällig?« Gerade jetzt kommt Ilse Rauh herein und zieht die Fenstervorhänge zu. Im Lampenlicht schimmert ihr blondes Haar. Kräftig und gesund sieht sie aus in der hellen Bluse und dem langen dunklen Rock. Es paßt zu ihr, daß sie bis auf den schmalen Ehering keinen Schmuck trägt. Der stünde ihr nicht. »Guten Abend allerseits!« grüßt sie heiter. »Zufrieden mit dem Radsportartikel, Max?« Er lacht: »Man ist ja bescheiden ...« Hermann gibt ihm einen Rippenstoß. »Könntest mir helfen, die Schnellpresse einzurichten.« Er freut sich. Fremden hätte er Märchen aufgetischt, ohne eine Miene zu verziehen, darauf war er vorbereitet. Aber dem da... Na, das wäre nicht gut gegangen. Nicht zuletzt deswegen nicht, weil er diesen jungen Kollegen schätzt und achtet. »Gemacht!« stimmt Purschwitz zu und geht mit größter Selbstverständlichkeit, sich eine Buchdrukkerschürze von dem Haken zu holen, an dem das Arbeitszeug hängt. »Werner Nusperli sagt, heute ist Andruck?« erkundigt sich Pinkau unterdessen. Auch Hermann legt den Lederschurz an. »Der aufregendste, den ich je erlebte, Karl! Lach nicht, mir ist ein bißchen feierlich zumute ...«
Pinkau dreht sich zu seiner Tasche um. »Ein Jammer, daß ich das nicht fotografieren kann! Die Kamera habe ich ja immer bei mir, aber...« Er wendet sich seufzend zurück. »Untersteh dich, Karl!« droht Rauh, doch er lächelt dabei. Das ist Pinkau, wie sie ihn alle kennen und mögen. »Ich tue es dpch nicht«, verspricht er brav, »obwohl es der Fotograf Pinkau dem Genossen Pinkau manchmal ganz schön schwer macht. Ein so herrliches Motiv; ein Ereignis von vielleicht historischer Bedeutung - und kein Bild davon!!! Scheiß-Konspiration...« Damit hat er seinem Herzen Luft gemacht. Nun ist es gut, nun fügt er sich der eigenen Einsicht in die gebieterische Notwendigkeit strikter Geheimhaltung. Von der Straße her tritt Werner Nusperli ein - lautlos wie immer. Er wird erst bemerkt, als er in der kleinen Druckerei steht und grüßt. Nusperli stutzt zwar, als er Purschwitz' ansichtig wird, doch da die anderen seine Anwesenheit als richtig betrachten und ihn wie einen der Ihren behandeln, stößt er sich nicht daran. »Noch hier, Karl?« fragt er zuerst seinen Wirt. wartet jedoch keine Antwort ab, sondern wendet sich an Rauh. »Was hat der Lehrling heute wieder, Genosse? Hab' ihn von weitem gesehen. Hüpft herum, als hätte ihn ein Floh gebissen. Ist er hier«, er tippt sich an die Stirn, »ganz richtig?« »Er freut sich aufs Motorradfahren«, antwortet Pinkau mit väterlicher Wärme. »Was ein richtiger Junge ist...« Der Drucker nickt seiner Frau zu. »Ilse, würdest du unseren Gast herüberbitten?« Ilse blickt zu Max. »Aber...«, setzt sie bedenklich an. Da erklärt er: »Pinkau ist eingeweiht, und Purschwitz hilft uns jetzt auch.« Sie ist schon an der Tür, als er noch sagt: »Ilse! Emma soll ihren Mantel nehmen und sich ein bißchen auf der Straße umtun.« »Gut.« Sie geht. Inzwischen hat sich auch Nusperli zur Arbeit umgezogen. »Ich hole die Schiffe«, ruft er Rauh und Purschwitz zu, die jetzt beide an der Schnellpresse sind.
13 Aus der Harkortstraße kommend, hat der Motorenwagen des politischen Dezernats des Polizeiamts für die königlich sächsische Kreis- und Amtshauptmannschaft Leipzig, den größten Kreis des Königreichs Sachsen, die Pferdebahn überholt und Probstheida erreicht. Wieder ist das kleine Automobil - es mißt in der Länge zwei Meter dreißig und in der Breite einen Meter fünfundzwanzig - mit vier Männern voll besetzt. Keiner von ihnen kann in den engen Raum zwischen den einander zugekehrten Sitzbänken noch die Beine bewegen. Bei solcher Kälte wirkt sich das recht unangenehm aus; man fühlt förmlich, wie der Frost an den Waden emporkriecht und sich in sie einkrallt. Kriminalreferendar Adelhelm von Kopp denkt in Anbetracht dieser Wahrnehmung mit einer gewissen Ironie an die Bemerkung des russischen Informanten, es wäre doch schade, wenn ein Winter kein richtiger knackiger Winter wäre. Von Kopp weiß nicht, was der ausländische Student unter einem »richtigen« Winter versteht und bei welcher Schneehöhe und wieviel Minusgraden der für ihn anfängt ihm genügt dieser hier. Übrigens: Die mit der Geldübergabe an den Informanten verbundene konkrete Aufgabenstellung hat bislang kein Ergebnis gezeitigt. Der künftige Mediziner aus Sankt Petersburg fand keinen Hinweis darauf, daß der in Fahndung stehende Uljanow schon in der Messestadt weilt. Eine glatte Fehlanzeige! Von Kopp hat Kriminalwachtmeister Reichert angewiesen, dem Spitzel keine Ruhe zu geben und ihn dazu zu bringen, daß er tut, was nur irgend in seiner Macht steht. Seither kommt Reichert kaum noch aus dem alten walnußbraunen Ledermantel heraus. Außer dem Referendar befördert der uniformierte Chauffeur des Motorenwagens heute den hageren Kriminalsekretär Schneider, dessen schmale Schultern sich unter einem viel zu dünnen Mäntelchen verbergen, und jenen Detektiv Weiter, der das Aussehen und auch das Gehabe eines würdigen und etwas weltfremden Gymnasiallehrers hat. Sein steifer Hut, sein Kneifer und der
distinguierte dunkle Gehpelz mit Kaninchenfellkragen passen genau in dieses Bild. Von Kopp beugt sich nach vorn. Er läßt sich von Schneider Feuer für sein Zigarillo reichen und erklärt: »Sie beide setze ich früher ab. Der Junge und vor allem Rauh kennen Sie nicht; Sie können unbesorgt in die Nähe der Druckerei kommen. Halten Sie sich zunächst in einigem Abstand vom Wagen auf. Wenn der Bengel etwas hat - und das Kerlchen besitzt eine für einen Anfänger erstaunliche Spürnase -, dann weise ich Sie ein. Das heißt, daß Sie sich wie die Kletten an Leute hängen müssen, die früher oder später weggehen werden. Ich bitte mir eine Klasseobservation aus! Sobald Sie unterwegs sind, rufen Sie mich an, sooft Sie nur Gelegenheit dazu finden. Ich schicke Ihnen daraufhin Ablösung und - wenn nötig - Verstärkung.« »Sehr liebenswürdig«, murmelt Weiter und lüftet sogar den Hut. »Ich darf jedoch vielleicht bemerken, daß mich noch nie jemand abgeschüttelt hat, den ich beobachtete. In aller Bescheidenheit gemeldet... Ich brauche nur Ablösung.« Schneider reibt sich frierend die klammen Hände. »Ich kann mir nicht vorstellen«, brummt er mißgelaunt, »daß ausgerechnet in dieser kleinen Klitsche hier draußen ...« »Warum nicht?« fragt von Kopp und wird unversehens scharf. »Wir gehen, das ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, jeder Spur nach, zumal, wenn es die bisher einzige ist, die wir besitzen. — Halt!« Es hat neuerlich gefroren. Der Wagen rutscht und dreht sich ein wenig, als ihn der uniformierte Fahrer bremst. Er steht schließlich ein bißchen schräg auf der Straße und greift mit seinen bleichen Lichtfingern zum Bürgersteig auf der anderen Seite hinüber. »Ab durch die Mitte, Herrschaften!« sagt der Referendar aufmunternd in das monotone, gleichmäßige Rattern der Maschine hinein. »Sie wissen Bescheid! Ich wünsche gute Jagd und fette Beute, meine Herren! Mir auch.«
Die beiden steigen ab, steifgefroren und dadurch ungeschickt, und verschwinden sofort im Dunkel zwischen den Laternen, die wie in jeder Nacht leise vor sich hin zischen. Von Kopp streckt verstohlen die Beine aus. Das tut gut! »Weiter!« befiehlt er. »Gleiche Stelle wie gestern.« Der Chauffeur schaltet bereits.
14 Natürlich steckt auch eine Portion Lokalpatriotismus in der bewundernden Achtung, mit der Max Purschwitz die Druckmaschine behandelt - der Erfinder der Schnellpresse nämlich, Friedrich König, hat vor mehr als einem Jahrhundert in der Leipziger Offizin von Breitkopf & Härtel die Buchdruckerkunst von der Pike auf gelernt. Wo anders auch sonst als in der Messestadt, nicht wahr? Zwar bauen seine und des Mechanikers Andreas Bauer Erben in ihrer Fabrik im ehemaligen Prämonstratenserkloster Oberzell bei Würzburg längst auch viel größere Maschinen als die von der Buchdruckerei Rauh & Pohle gekaufte Zweifarbenrotationsmaschinen für Tageszeitungen beispielsweise, die zwölf- bis dreizehntausend sechzehn-, zwölf- oder zehnseitige Gazetten in der Stunde ausspeien -, aber... sie und ihre Konstrukteure sorgen weiterhin aufmerksam dafür, daß nicht nur die Großbetriebe technisch auf der Höhe sind. Sie liefern auch den kleinen Handwerksbetrieben Apparate, die es erlauben, selbst relativ umfangreiche Aufträge gut und schnell auszuführen. Die König & Bauer in Probstheida ist dafür ein schlagender Beweis. Rauh und Purschwitz geben Druckerschwärze in den Farbebehälter, während Werner Nusperli alias Joseph Blumenfeld die Satzformen, die Schiffe, auf dem »Karren« befestigt. Der Karren ist jener Teil der Schnellpresse, der während des Drucks vor- und rückwärts gleitet. Er geht dabei unter der Farbwalze und dem Druckzylinder hin und her, wobei erstere den Satz einfärbt und letzterer den Druck abgibt. Es sind drei erfahrene Fachleute am Werke. Sie sind schnell mit den ersten Vorbereitungen zu Ende. Purschwitz geht ans entgegengesetzte Ende der Maschine, ans Schwungrad, mit dessen Hilfe diese Schnellpresse auch von Hand betrieben werden kann. »Na, Max, dann dreh mal!« sagt Rauh und legt einen einzelnen Bogen aufs Auflegebrett. Purschwitz bringt das
große Rad in Schwung. Zahnräder greifen ineinander. Transportbänder laufen über Rollen. Aus dem Farbekasten gelangt über Duktor und Hebewalze Druckerschwärze auf einen sogenannten »Nacktzylinder«. Der wiederum überträgt sie auf Massewalzen, und unter denen geht nun der Karren mit den Satzformen hindurch. Die waren eingangs schwarz und stumpf; jetzt glänzen sie und haben etwas seltsam Leuchtendes - eine ganz neue, lebendige Schönheit. Gle ichlaufend mit der Bewegung des Karrens erfolgt die des Papiers. Es gleitet vom schrägstehenden Auflegebrett auf die Druckwalze und wird von ihr hinabgezogen zur eingeschwärzten Satzform. Die Walze preßt das Papier darauf. Nunmehr bedruckt und von der sich drehenden Druckwalze weiter mitgenommen, gerät es auf die Transportbänder und letztlich den Bogenausleger. Der klappt nach hinten und bringt dabei den Bogen, ihn umkehrend, mit der bedruckten Seite nach oben auf den Auslegetisch. Der Karren gleitet zurück, und alles könnte von vorn beginnen. Doch Rauh bestimmt: »Halt!« Purschwitz hört zu drehen auf, und Nusperli hat schon den Bogen in der Hand. Der sieht furchtbar aus. Nicht nur, daß er ungleichmäßig bedruckt wurde - das liegt am erst anlaufenden Einschwärzen der Massewalzen -, zwischen den Schriftzeilen gibt es die Abdrücke hochstehender Stege und Regletten, und da und dort mutet es an, als wäre die Satzform wellig. Sie werfen nur einen kurzen Blick darauf und wissen, was zu tun ist. Hermann Rauh macht den Farbkasten auf. Werner Nusperli greift zur Ahle, um die »Spieße« wegzudrücken. Dann legt er ein Brett auf den ungleich hohen Satz und ebnet diesen durch Hammerschläge aufs Holz. So werden die Lettern nicht beschädigt. Hundertmal, tausendmal geübte Handgriffe sind das, die flink und kenntnisreich vollzogen werden. Purschwitz hebt indessen einen Stoß des neulich von Emma und Paul hereingeholten Papiers auf die Holzplatte hinter dem Auflegebrett. Nachher wird Ilse Rauh anlegen und Bogen um Bogen in die Schnellpresse geben — da sie das auch beim Druck der »Arbeiter-Turnzeitung« tut, ist ihr
der erforderliche Rhythmus in Fleisch und Blut übergegangen -, aber der ritterliche Max meint, es könne nicht schaden, ihr die kraftzehrende Arbeitsvorbereitung abzunehmen. Er bringt es überdies einfach nicht fertig, dabeizusein und sich nicht nützlich zu machen. Dazu ist er keineswegs der Mann. Er wird das Schwungrad noch mehrfach betätigen müssen, ehe alles in Ordnung ist und ehe sie wirklich andrucken können. Immer gestaltet sich die Einrichtung zeitraubend. Wenn die Maschine nachher läuft, läuft sie. Fortdruck ist leicht. Daß der Buchdruckeralltag in dieser Nacht erregender und besonders ist, liegt nicht an der Technik. Was und unter welchen Umständen sie heute drucken, das ist das Außergewöhnliche, das Große. Eben dies macht die Einrichtung der vergleichsweise kleinen König & Bauer wichtiger und unvergeßlicher, als es für Max die gewohnte Vorbereitung der riesigen Rotationsdruckmaschine für Illustrationen wäre, die das Bibliographische Institut eigens zur Herstellung von »Meyers Konversations-Lexikon« bauen ließ — die Einrichtung eines wahren Wunderwerks der polygraphischen Industrie. Jene Rotation setzt drucktechnisch einen Meilenstein, denkt Purschwitz; die auf der kleinen König & Bauer hier gedruckte »Iskra« aber wird Weltgeschichte machen! Und er ist dabeigewesen ... Er pfeift wieder sein Lieblingslied, den Marsch »Turner, auf zum Streite!« Unterdessen übergibt Karl Pinkau am Schreibtisch dem vollbärtigen, kneiferbewehrten Herrn Meyer mit dem üppigen Haupthaar Briefe, die zum Teil russische Marken und im Stempelbild den Zarenadler, zum anderen bayrische Marken und Stempel zeigen. »Heute angekommen. Genosse Meyer! Ich dachte mir: Noch drucken Sie nicht; vielleicht muß das eine oder andere sogar gleich in die Nummer eins«, sagt Karl Pinkau. Meyer nimmt den Brieföffner, der die Form eines Degens hat, und schlitzt die Umschläge auf. »Und es weckt nicht Verdacht, daß Sie plötzlich mehr Post als früher bekommen?« erkundigt er sich dabei. »Sie sind durch die
Entgegennahme der Iskra-Materialien nicht gefährdet?« Auf den ersten Blick verraten die langen Briefe ihren wahren Inhalt nicht. Die Texte wirken belanglos oder zumindest doch zu intim, um für einen anderen als den Empfänger bedeutsam sein zu können. Sie erzählen wortreich hübsche und auch verdrießliche Episoden aus dem privaten Bereich, aus der unmittelbaren Sphäre von Leuten, die die alte Kunst des Briefeschreibens noch pflegen und ihre Wahrnehmungen, Gedanken und Empfindungen druckreif zu formulieren lieben. Dies nicht zuletzt, um selbst zu tieferer Einsicht hinsichtlich des behandelten Gegenstands zu gelangen und sich Klarheit über ihn zu verschaffen. Wenn die Zensur diese Post öffnete, fand sie nichts zu beanstanden. Meyer muß erst ein Schwämmchen in eine bekannte Lösung tauchen und damit den freien Raum zwischen den jetzt sichtbaren Zeilen bestreichen, damit die ihm zugedachten, mit chemischer Tinte geschriebenen Nachrichten wie aus dem Nichts hervortreten und verwendbar werden. Auch das gehört zu illegaler Pressearbeit. Es genügte ja nicht, daß einer der Genossen zufällig oder durch einen Hinweis von bestimmten Vorfällen erfuhr, daß er Andeutungen nachging, Augenzeugen fand, Details und exakte Fakten recherchierte - dies alles anonym und ohne die Hilfe eines Tür und Tor öffnenden Presseausweises — und daß er das Ergebnis seiner Ermittlung zu Papier brachte. Mindestens ebensoviel Mühe mußte er darauf verwenden, seine Meldung oder seinen Bericht dergestalt zu kaschieren, daß dieser durch die engmaschigen Fangnetze des Sonderkorps der Gendarmen ins Ausland schlüpfen konnte. Jeder der von Pinkau übermittelten Briefe aus Rußland hat einen abenteuerlichen Weg zurückgelegt, um jetzt in Uljanows Händen sein zu dürfen. Mit denen aus München verhält es sich ähnlich. Selbst sie bergen ihr Geheimnis noch; Frau Smidowitsch-Leman hat sie nachgesandt, ohne sie zu präparieren. Das war umsichtig. Daß sie auch einen persönlichen Brief an Wladimir Iljitsch nach Leipzig weiterleitete, freut ihn. Er hat eine starke und innige Sehnsucht nach Nadeshda
Konstantinowna, seiner jungen Frau, und gewiß ist es kein Zufall, daß er sich in Probstheida stets an sie erinnert fühlt, sooft er Frau Rauh sieht. Freilich sind die beiden Frauen äußerlich und was den Grad ihrer Bildung angeht, sehr weit voneinander entfernt, aber eines haben sie gemeinsam, die robuste Probstheidaer Handwerkersgattin und die noch mädchenhafte Lehrerin aus einer Sonntagabendschule hinter dem Petersburger Newski-Tor - sie sehen das Leben mit wachen Augen an und setzen ihre Kraft dafür ein, es zu verändern. In den nächsten Monaten wird Nadeshda an die Stelle von Frau Smidowitsch-Leman treten und in der »Iskra«- Redaktion mitarbeiten. Uljanow freut sich darauf. Es ist jetzt sechs Jahre her, daß sie sich kennenlernten und zueinander fanden. Seine junge Frau mit dem klaren, stolzen Gesicht brachte damals ihre Schüler in die von ihm geleiteten Zirkel, sie arbeitete mit ihm gemeinsam im »Kampfbund«, Schuschenskoje in Sibirien sah sie an seiner Seite, und... und ... Wie sollte er ihre Schrift nicht auf den ersten Blick erkennen! Dieser Brief gibt ihm keine Rätsel auf, während die anderen... Wessen Schriftzüge sind das? »Sie haben wirklich keine Schwierigkeiten, Genosse Pinkau?« wiederholt er seine Frage noch einmal. Der Fotograf winkt bagatellisierend ab. »Seien Sie unbesorgt! Ich erhalte eine Unmenge Post. Allein die Briefe meiner Wähler .... Dazu ein Wust von Werbeprospekten der Fotoindustrie und Zuschriften von Berufskollegen in aller Welt, mit denen ich interessante Veröffentlichungen über die Lichtbildnerei austausche... Außerdem bin ich bei einem Zeitungsausschnittdienst auf alle Artikel über Ballonfliegerei abonniert; das ist so ein Steckenpferd von mir. Ich glaube, ich habe die lückenloseste Sammlung aller Publikationen über den Versuch des schwedischen Ingenieurs Andrée, zusammen mit zwei Begleitern im Freiballon den Nordpol zu überfliegen. Siebenundneunzig, vor drei Jahren... Wie Sie wissen, sind die drei seither spurlos verschollen. Ein Unternehmen, das mich von Anfang an fasziniert hat. Kühn, das Projekt. Man gab ihm wenig Chancen, aber wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, mit meiner Kamera daran
teilzunehmen, ich wäre mitgeflogen, trotz allem...« Er hat ein kleines, verlegenes Lächeln und winkt ab, ehe er schließt: »Benutzen Sie ruhig weiter meine Adresse.» »Danke!« erwidert der maskierte Wladimir Iljitsch herzlich. Er schiebt die Briefe in ihre Umschläge zurück. Die Schriften hat er erkannt; er weiß jetzt, wer geschrieben hat. »Vielen Dank! Das«, und er legt die Hand auf die Kuverts, »ist sehr wichtig. Unsere Redaktion braucht ständig engsten Kontakt zu ihren Lesern. Unsere Genossen in Rußland müssen von ihren Erfahrungen berichten - in der Rubrik Briefkasten. in unserer Spalte Aus der Partei und in den Briefen aus Fabriken und Werken. Unter anderem ... Wir brauchen tausend, zehntausend Augen in Rußland, um von hier aus die echten Bedürfnisse der Menschen erkennen und darauf eingehen zu können.« Karl Pinkau nickt und denkt nicht mehr an sein Steckenpferd. Er ist ganz bei der Sache. So viel weiß er vom Wesen der fortschrittlichen Arbeiterpresse, daß er abzusehen vermag, inwieweit gerade die enge Verbindung zwischen ihren Lesern und ihr sie befähigt, die Wahrheit über das Zeitalter aufzuspüren und gültig zu publizieren ergründet und festgestellt an der Basis, verallgemeinert aufgrund einer Fülle gleichlautender Informationen, auf das Wesentliche zurückgeführt durch wissenschaftliche Analyse und von der Erkenntnis vorstoßend zur Anleitung zum Handeln ... Ein vollkommen neuer Pressetyp! Genau betrachtet, ist er dem was die bürgerliche Zeitungswissenschaft als »letzten Schrei« kreiert. exakt entgegengesetzt. Der »letzte Schrei« sind Blätter wie August Scherls »Berliner Lokalanzeiger« von 1883, William Randolph Hearsts »San Francisco Examiner« von 1885, in Paris »Le Journal« von 1892. in England Lord Northcliffs »Daily Mail« von 1895 und in Preußen Leopold Ullsteins »Berliner Morgenpost« von 1898. Der »letzte Schrei« sind Zeitungen für Menschen, die »zu letharg und in den meisten Fällen zu ignorant und dumpf« sind, etwas zu lesen, was ihnen »ernsthafte geistige Anstrengungen« abverlangt. Statt dessen bieten sie erregende Schlagzeilen, sensationelle Bilder und spritzige Glossen.
Die Presse dieses Stils erscheint in Riesenauflagen und hat Legionen Leser. Deren Griff nach Zeitungen, die anstelle der Information die billigste Unterhaltung gesetzt haben. Scheint beinahe die schlechte Meinung des Mister Hearst vom Menschen zu rechtfertigen. Zu lesen, was aus seiner Sudelküche und den Sudelküchen von seinesgleichen kommt, das strengt nicht an, ja, ist gelegentlich sogar amüsant. Und dann die vielen Fotos! Die könnte sich der hohen Klischeekosten wegen eine Arbeiterzeitung kaum leisten... Was Pinkau von Herzen bedauert. Die Lektüre der »Iskra« wird, denkt er, Arbeit sein, aber keine vertane Zeit. Sie wird den Leser fordern, doch sie wird ihm damit beweisen. daß sie ihn achtet und auf seine Klugheit vertraut. Auf seinen festen Willen, nicht nur die Oberfläche zu betrachten, sondern den Grund und das Wesen der Dinge zu begreifen — nicht bloß zu begreifen, sondern von der Wurzel auf zu ändern, zu verbessern. Die »Iskra« unterhält nicht und rasselt nicht mit den Schellen einer Narrenkappe; sie arbeitet und verlangt Mitarbeit. Würdiger findet das Karl Pinkau, ehrenwerter und nützlicher. Daß es auch um ein Vielfaches schwerer und nur unter Gefahren zu machen ist, weiß der Dreißigjährige ihm gegenüber aus langem zähen Kampf um seine Zeitung, die erste gesamtrussische marxistische Zeitung, besser als jeder andere. Daß er nicht müde geworden ist, nicht mutlos ... Karl Pinkau betrachtet den jungen Mann in der' Maske eines ergrauten Privatgelehrten aus dem Königreich Bayern mit Bewunderung. Viel mitfühlende Zärtlichkeit liegt in seinem Blick. Ein ganz Großer ist dieser Meyer für ihn ... Doch er deutet auf die Briefe und fragt sachlich: »Sie werden das noch hier in Leipzig redigieren, nicht wahr?« Meyer nimmt den Kneifer ab und massiert die schmerzenden Druckstellen an der Nase. Er schüttelt den Kopf. »Nein. Ich müßte schon fort sein - eigentlich. Alle Striche sind gemacht, alle Artikel für die restlichen Seiten maßgerecht. Was zu tun bleibt, schafft Werner Nusperli allein. Ich müßte schon fort sein, wie gesagt. Nur: Ich
möchte sie sehen, die erste Seite der Iskra, den Andruck... Feucht von Farbe, wie er aus der laufenden Maschine kommt... Zu meiner Rechtfertigung denke ich, daß es jedem Journalisten so geht wie mir.« Er lächelt verständnisheischend. ehe er sich zu Hermann Rauh wendet: »Wie steht es, bitte?« An der Maschine beugen sie sich über einen weiteren Probeabzug. »Gleich sind wir soweit!« versichert der Drucker. »Ein paar Minuten noch ...«
15 Beinahe unmerklich hat es jetzt auch in dieser Nacht wieder zu schneien begonnen, ganz sacht, auf eine zurückhaltende, nahezu stille Weise. Die Flocken fallen nicht dicht, sie gleiten einzeln und tändelnd nieder und verlieren sich auf der vorhandenen Schneedecke, ohne sie merklich zu erhöhen. Das hat etwas Unwirkliches, das erinnert an Illustrationen zu alten Märchen. Dabei ist es nicht sehr kalt. Emma Rauh kann ruhig an einem Baum lehnen und die Straße entlang schauen, ohne zu frieren. Sie hat eine warme Pudelmütze auf, gestrickte Fäustlinge an und den Kragen des eng gewordenen Mantels hochgestellt. Es macht ihr Spaß, daß Paul Thomas sie nicht wahrnimmt. Er trödelt in der Nähe der kleinen Druckerei herum, und erst nach einer ganzen Weile erscheint es Emma merkwürdig, daß er nicht daran denkt, nach Hause zu laufen. Ist es nicht, als warte er auf wen? Dieses Schneebälleformen, dieses Weiße-Punkte-anMauern-Klatschen, dieses Hin und Her ohne erkennbares Ziel - das muß ein Zeitverkürzen sein. Wirkt Paul nicht auch ungewohnt fahrig und auf besondere Art gereizt? Das Mädchen beißt sic h auf die Lippen. Erregung teilt sich ihr mit und die Ahnung einer noch nicht erkennbaren, aber in der Luft liegenden Gefahr. Vielleicht wäre es gut, hinüber zu Vati zu laufen und ihm ihre Wahrnehmungen zu schildern ... Das geht nicht mehr. Emma ist, als sie aus dem Hause kam, auf die andere Seite der Hauptstraße gegangen. Wenn sie jetzt zurück will, gerät sie mit Sicherheit in den Gesichtskreis des Lehrlings. Er hat sie noch nicht ausgemacht; sie hat diesen Baum gleichsam hinter seinem Rücken erreicht und ihn dann erst bemerkt, und nun ... Motorengeräusch ist da. Das grelle Licht zweier Karbidlampen nähert sich aus der Richtung der Kirche, und während Emma sich hinter dem Baum ganz dünn und schlank macht, um nicht gesehen zu werden, rattert mit aufgesetztem Verdeck der wohlbekannte Eisenacher Wagen
der politischen Polizei vorüber und hält etwa hundert bis hundertfünfzig Meter von der Druckerei entfernt. Seine Maschine verstummt. Die Karbidlampen brennen weiter. An der Emma zugekehrten Heckseite glimmt, von Laternenlicht getroffen, hellrot ein »Katzenauge«. Ein Mann steigt ab - in Knickerbockers, mit einer breitgepolsterten Windjacke und mit einer flachen englischen Tellermütze. Er wechselt auf die andere Seite hinüber und trifft sich mit Paul, der ihm entgegenläuft. Emma ballt die kleinen Fäuste. Sie atmet tief ein und bedenkt sich selbst mit den schlimmsten Schimpfworten. So klar ist der Sachverhalt, so eindeutig - und sie, die Paul sicher am besten kennt von allen im Hause, hat nicht längst begriffen, daß die königlichen Schnüffler Pauls Schwärmerei für Detektive, eine kritiklose und undifferenzierte Schwärmerei, erkannt und ausgenutzt haben! Warum haben sie ihn mit ihrem stinkenden Vehikel fahren lassen, warum unter vier Augen mit ihm gesprochen? Hätte sie nicht stutzig werden müssen, als er so ausweichend auf ihre Frage antwortete, worüber sie redeten? Mußte sie das nicht hellhörig machen? Hätte und müßte... Sie hatte und mußte nicht; sie hat Vati trotz ihres feierlichen Versprechens nicht geholfen, und jetzt steht sie da mit dem unguten bohrenden Gefühl, versagt zu haben und einer Katastrophe zusehen zu müssen. Nein, sie kommt nicht ungesehen hinüber. Fieberhaft überlegend, denkt sie daran, ums Viertel zu rennen und von der Gartenseite her ... Wenn die Hauptstraße bloß nicht wie ausgestorben wäre! Die Angst, ihre Schritte könnten gehört werden, bannt Emma an ihren Platz. Die Tränen schienen ihr in die Augen, aber sie bleibt. In der Tat ist die Stille so tief, daß das Mädchen jedes Wort versteht, das Paul und der Mann in den Knickerbockers sprechen. »Du bist pünktlich. Aus dir kann etwas werden«, hört sie den Ankömmling feststellen und erkennt ihn an der Stimme. Das ist dieser hochwohlgeborene Oberspitzel mit dem hochmütigen, kalten, von Mensurschmissen verunstalteten Gesicht. Emma haßt ihn.
»Wollten Sie nicht Leute mitbringen?« erkundigt sich der Lehrling. So ein Lump! »Hätte zuviel Aufhebens gemacht, mein Junge.« Dem Mädchen geht durch den Kopf, was Hermann Rauh einmal sagte: »Die Herrschenden brauchen den Verrat, aber die Verräter verachten sie!« Mehr als sie sie sieht, ahnt sie die beiden Männer, die ebenfalls aus Richtung der Kirche heranschlendern und im Dunkeln stehenbleiben. Eine Zigarre glimmt dort, zwar in der hohlen Hand gehalten, aber von Emmas Beobachtungsposten aus doch hin und wieder sichtbar. Jetzt kann das Mädchen erst recht nicht mehr weg. Mit Bitterkeit denkt sie, in seiner Blindheit habe Paul Menschen, die ihm vertrauen und ihn schätzen, an Kerle verraten, die ihn nicht einmal einiger Offenheit für wert halten. Es verblüfft sie, daß der Lehrling aus Herzensgrund und aufatmend erwidert: »Gott sei Dank!« »Was heißt das?« fragt der Referendar sofort und fügt enttäuscht hinzu: »Ist nichts?« Emma horcht auf. »Nichts, Herr von Kopp«, schüttelt Paul traurig seine Bommelmütze. Kleinlaut fährt er fort: »Ich hätte Ihnen so gern eine tolle Meldung gemacht, aber es gibt nichts zu melden. Ich war letzte Nacht drin, wie wir es besprochen hatten, doch da gab es nichts Verdächtiges. Leider nicht.« Das Mädchen begreift, daß der Junge bewußt die Unwahrheit mitteilt. Jede Nacht arbeitet der geheimnisvolle Besuch in der Druckerei, und wenn Paul dagewesen ist... Der Referendar zieht hastig an seinem Zigarillo und wirft es dann, kaum erst angeraucht, achtlos in den Schnee. »Daran, daß du dein Bestes getan hast, zweifelt kein Mensch«, versichert er. Eine Pause tritt ein, ehe er sich noch einmal vergewissert: »Wirklich nichts? Bei deiner hochprima ff-Nase - nichts?« »Nichts...« Fest und vorbehaltlos... »Überlege noch einmal ganz ruhig!« drängt von Kopp trotzdem. »Was du neulich wahrgenommen hast, muß einen
Grund haben, nicht wahr? Mokkaduft. Tabakrauch, der abgestanden und kalt war ...« Daß es nun brenzlig werde, denkt Emma beklommen. Da hat sich der Bengel offenbar verplappert. Ob er da wieder herauskommt... »Ach, der!« winkt Paul ab. »Der ist morgen früh auch wieder vorhanden.« Wie um zu erklären, warum es mit der einst so betonten Wahrnehmung nichts auf sich hat, erläutert er: »Die Leute von der Pressekommission der Arbeiter- Turnzeitung hocken zusammen. Ihr Jahresabschlußbericht, wissen Sie ...« Er verteidigt sich gleich: »Woher sollte ich das wissen? Ich bin bloß Lehrling, mir sagt keiner was.« Das Mädchen hinter dem Baum kann sich nur wundern, wie gut der Kriminalrefere ndar informiert ist. Das Stichwort »Pressekommission« veranlaßt ihn nicht zu Rückfragen; es ist ihm vielmehr geläufig. »Die Pressekommission der AT...«, dehnt er und zählt an den Fingern her: »Rauh selbst... Dieser radfahrende Buchdrucker Purschwitz, Max ... Etwa auch der wildgewordene Fotograf, der rote Reichstagsabgeordnete?« »Herr Pinkau? Ja, der auch«, bestätigt Paul geradezu zufrieden, so zufrieden, als habe er selbst den Fotografen in die Pressekommission delegiert. »Die drei. Und die Meisterin versorgt sie alle mit Kaffee und Bemmen.« Er sieht sein Gegenüber neugierig an. Ein bißchen gespielt wirkt die Ehrfurcht, mit der er fragt: »Woher wissen Sie denn, wer in der Kommission ist?« Emma bemerkt den falschen Ton sehr wohl und hat eine große Freude daran. Von Kopp ist zu beschäftigt, auf ihn zu achten. »Wir ziehen die Hosen nicht mit der Kneifzange an, mein Junge«, winkt er ab und bleibt bei der Sache: »Das machen sie da drin seit mehreren Tagen, sagst du?« »Ja. Sie haben Massen von Papier vor sich. Sie nennen das Reli-, Riwi-... Irgendwas mit sion.« »Revision?« »Genauso! Revision. Das haben sie voriges Jahr auch getan.«
Der Referendar nimmt die Mütze ab und streicht sich mehrmals glättend mit der Hand übers Haar. »Und das konnte dir nicht ein bißchen früher einfallen?« knurrt er ohne Begeisterung. Paul Thomas steht dort drüben wie ein fleischgewordenes Häufchen Unglück. »Ich wollte doch so gern einmal ein erfolgreicher Detektiv sein und 'ne große Sache aufdecken, einen richtigen knalligen Fall...«, bekennt er zerknirscht. In dieser Sekunde möchte ihn Emma küssen. Der hat ja das Herz auf dem richtigen Fleck, der ist ja klug und verläßlich! Die Hüter der monarchistischen Ordnung so kaltblütig aufs Glatteis zu führen - Junge, Junge! Paul Thomas kommt sich durchaus nicht großartig vor. Er zittert vielmehr vor Furcht. Was ist, wenn der Referendar ihn durchschaut? Hätte er, Paul, doch bloß den Mund aufgemacht, als noch Zeit dazu war und an der richtigen Stelle! Jetzt... Von Kopp deutet die Niedergeschlagenheit des Jungen auf seine Weise anders. Sie bestimmt ihn, an sich zu halten und den nun einmal gewonnenen Informanten nicht bei dessen erstem Mißerfolg so vor den Kopf zu stoßen, daß er für immer die Lust verliert. Ein Fehlschlag gleich am Anfang, das ist schlimm, da muß man Fingerspitzengefühl aufbringen. So ärgerlich der Hieb ins Wasser ist - er basiert auf einem Eifer, den es warm zu halten gilt. Man wird ihn ein andermal bitter nötig haben... Das rote Gespenst geht um in Europa ... Der Referendar nimmt sein Etui heraus und ein neues Zigarillo. Das erleichtert es ihm, sich zu beherrschen. »Damit hätten wir aber einbrechen können«, sagt er undeutlich in die ersten Züge hinein. »So eine Pleite...« »Wollen Sie nicht mal 'reingehen und sich überzeugen?« Für Emmas Geschmack ist das ein wenig zuviel Spiel mit dem Feuer, ein bißchen zu unverfroren. Aber gleich darauf begreift sie, daß Paul in Wahrheit den Referendar so gut kennt, wie der seinerseits ihn zu kennen glaubt. Sie versteht jetzt auch Pauls abendliches Interesse für die
Darlegung der Bedeutung der parlamentarischen Tribüne für die Partei. Er wendet konsequent und mutig an, was er an neuem Wissen erwarb. »Den Teufel werde ich tun!« braust von Kopp nun doch auf. »Du ahnst ja nicht, wie dieser Pinkau das aufblasen würde! Ich sehe schon die Schlagzeilen: Geheimpolizei immer mal wieder auf Gespensterjagd! Verwechselt in typischer Verbohrtheit legale Pressekommission mit waffenstarrendem Geheimbund! Na, und dann die Fragen: Auch nach Bismarck Tür und Tor offen für blindwütigen Polizeiterror? Wer schützt die Ordnung vor den Ordnungshütern? - Die Herren von der Linken sind doch da nicht fein.« Er schüttelt heftig den Kopf. »Bei einer erfolgreichen Aktion sagt kein Mensch etwas, aber wenn wir grundlos eindringen ... Da sei Gott vor!« Von Kopp faßt Paul an beiden Schultern und zwingt ihn so, ihn anzusehen. »Kein Ortsfremder dabei, kein Ausländer? Ich könnte es darauf ankommen lassen, Paul!« Paul denkt nicht ohne Hohn, daß der ehrgeizige Referendar es krampfhaft vermeiden wird, sich möglicherweise zur Zielscheibe öffentlichen Spotts zu machen. Doch er hält mit aller Treuherzigkeit, die er aufzubringen vermag, dem Blick stand. »Keiner, Euer Hochwohlgeboren«, erwidert er fest, ohne zu zögern. »Keiner da, der nicht hingehört.« Das, meint Emma, ist sogar die lautere Wahrheit. Der Referendar läßt ihn los und tritt einen Schritt zurück. »Komm beiseite, sie müssen uns nicht erst bemerken und sich aufs hohe Pferd setzen.« Er legt dem Lehrling sogar den Arm um die Schulter und führt ihn in Richtung des Wagens weg, während er tröstet: »Sei nicht traurig, Paul! Zähne zusammenbeißen, weitermachen! Augen offenhalten! Aufgeschoben ist nicht aufgehoben! Wenn hier doch mal was geschieht - auf dich ist Verlaß, oder?« Paul Thomas strahlt ihn an, und in diesem Augenblick fällt ihm das nicht einmal schwer. »Genau wie
heute, Herr Referendar!« versichert er im Brustton der Überzeugung. »Genau wie heute!« Der Bucbdruckerlehrling Paul Thomas hat seinen Weg gefunden. Stark und glücklich fühlt er sich nun und zugehörig zu Menschen, deren Gemeinschaft Geborgenheit und Zuversicht gibt. Paul Thomas ist von Herzen froh. »Schön!« nickt Adelhelm von Kopp und hat schon den Fuß auf dem Tritt des »Wartburg«-Motorenwagens. »Also dann: Für heute geordneter Rückzug! Los!« Flüchtiger Händedruck ... Jäh einsetzendes Maschinengeräusch ... Abfahrt... Ein Stück hin hält das Automobil noch einmal an. Erst jetzt bemerkt Paul die beiden Geheimen, die im Dunkeln standen. Da ist er recht erschrocken, aber als die beiden zugestiegen sind und als der Wagen vollbesetzt davonrattert, vollführt der Junge einen Luftsprung und dreht eine lange Nase hinterher. Emma duldet es nicht länger in ihrem Versteck. Über die Strafe hinweg läuft sie auf Paul zu und sprudelt hervor: »Ich habe alles gehört. Mann, hast du die verladen!« Nur schwer findet sie den alten Ton wieder, und beinahe klingt es zärtlich, ihr: »Obwohl sie doch einen so schönen Motorenwagen haben...« Er lacht sie an. »Ich weiß nicht, ich finde Motorräder viel besser. Du, vielleic ht fahre ich wirklich bald auf einem mit!« Dann nimmt er Sie am Arm. »Komm, laß uns ein Stück laufen!« Sie widerstrebt spröde. »Ich muß 'rein.« Paul hält sie fest. »Störst bloß!« warnt er. »Da drin ist Nachtredaktion, und Herr Meyer hat alle Hände voll zu tun.« Sie schluckt schwer. »Das weißt du?« »Wir haben miteinander geredet, so unter Männern ... Wie er mit mir gesprochen und was er gesagt hat - mein Lebtag vergesse ich das nie, du. Kommst du nun mit oder nicht?« Etwas ganz Liebes möchte sie ihm da tun. Weil er auf ihr: »Paul, du bist ja Klasse!« gleich jungenhaft verlegen abwinkt und »rauhe Schale« zeigt, sucht und findet sie eine andere Möglichkeit, ihm verständlich zu machen, wie sehr
sie ihn heute mag: »Gehen wir! Nun erkläre mir bloß endlich mal, was das eigentlich ist, ein Oberflächenvergaser!« Es verschlägt ihm die Rede, aber dann versteht er. »Natürlich, gern!« strahlt er. »Also, daß du's weißt, der Oberflächenvergaser besteht aus einem großräumigen Benzinbehälter. Über dem Kraftstoff ist eine durc h das Lufteintrittsrohr gehaltene Platte angebracht, damit es nicht hineinregnet. Unter dieser Platte streicht die vom Rohr angesaugte Luft über das Benzin hinweg. Dabei vermischt sie sich mit ihm und gelangt so als Gasgemisch in den Zylinder. Ganz einfach, Emma ...« Sie sind schon ein gutes Stück von der kleinen Druckerei entfernt. Dort läuft bereits lärmend der Gasmotor. Die Schnellpresse ist fertig eingerichtet. Ilse Rauh steht schon auf erhöhtem Tritt neben der Platte, auf die Max Purschwitz vorsorglich Papier stapelte. Von diesem Tritt aus greifen sich die Bogen leichter. Hermann Rauh wischt sich mit einem öligen Lappen die von Druckerschwärze eingefärbten Hände ab. Er schaut zu Meyer hin. Auch die anderen tun das - Ilse und Pinkau, Purschwitz und Nusperli. »Wir können«, meldet der Drucker, und Feierlichkeit schwingt in seiner Stimme mit. »Wollen wir?« Nusperli räuspert sich. »Das ist eine besondere Stunde, eine große«, sagt er verhalten. »Nun endlich ... Möchten Sie der Zeitung ein Wort mit auf den Weg geben?« Wladimir Iljitsch hat den Kneifer abgenommen, hat die Daumen in den Ärmellöchern der Weste und hebt sich auf die Zehenspitzen. Jetzt legt er den Kopf zurück. »Ja«, sagt er knapp. »Möge mit deinem Erscheinen, Iskra, die Schlußperiode der Schaffung der marxistischen Partei in Rußland beginnen! Mögest du die Morgendämmerung der großen sozialistischen Revolution ankündigen! Möge sich bald vollziehen, was wir als Motto neben deinen Namen setzten: Aus dem Funken wird die Flamme schlagen. - Und nun, Genossen ...« Einen Hebel legt Hermann Rauh herum. Der breite Treibriemen, der die Kraft des Gasmotors auf die
Schnellpresse überträgt, gerät in Bewegung. Schon gibt Ilse den ersten Bogen aufs Auflegebrett. Schon schiebt sich der Karren unter den Massewalzen hindurch und nimmt der Satz Farbe an. Schon zieht die Druckwalze den Bogen mit und preßt ihn innig auf die Satzform, ehe sie ihn auf die Transportbänder trägt. Schon fährt der Karren zurück und wieder vor, ist neuerlich Papier angelegt und sind die Zahnräder in ständiger Bewegung. Der erste Druck - untadlig - geht von Hand zu Hand. Er wird betrachtet und für gut befunden. Viel Freude ist auf einmal in der kleinen Druckerei, viel unbändige Freude. Behutsam schiebt Hermann Rauh den Hebel weiter. Wie er das tut, beschleunigt sich die Fahrt des Karrens, drehen sich die Walzen schneller und verkürzt sich die Zeit zwischen dem Anlegen zweier Bogen mehr und mehr. Bis die König & Bauer, der Stolz der »Arbeiter-Turnzeitung« und ihres Druckers in Probstheida bei Leipzig, mit voller Leistung arbeitet... In schnellem Rhythmus schwingt nun der Bogenausleger und stapelt die gedruckten Doppelseiten der »Iskra« auf den Auslegetisch. Größer wird der Stoß, immer größer.
Nachbemerkung Noch ein Dreiviertel Jahrhundert nach dem ersten Erscheinen der historischen Leninschen »Iskra« erhält der Dokumentarist, der auf den Spuren der ersten gesamtrussischen marxistischen Zeitung an ihrem Druckort recherchiert, einen überzeugenden Eindruck von der strengen Beachtung konspirativer Regeln bei der Herstellung der Nummer 1 in Leipzig-Probstheida. Bis heute nämlich gelang es bemühter und aufwendiger historischer Forschung nicht, die Geschehnisse jener denkwürdigen Tage im Dezember 1900 lückenlos und bis ins kleinste Detail zu rekonstruieren. Vieles davon dürfte für immer in einen undurchdringlichen Schleier der Geheimhaltung gehüllt sein. Der Schriftsteller, der sich anschickt, jenen Dezember nachzugestalten, weil er in ihm ein bewahrenswertes Kapitel internationaler Arbeitersolidarität geschrieben sieht und weil er überdies der festen Oberzeugung ist, daß ihm das Leben selbst und insbesondere die kampferfüllte Geschichte der Arbeiterbewegung fesselndere und bewegendere Stoffe zu liefern vermögen als die blühendste Phantasie, dieser Schriftsteller sieht sich bei seiner Arbeit genötigt, verbürgte und belegte einzelne Fakten mit behutsamer Hand zu verbinden und sie zu einem Ganzen zu verweben. Dazu bieten Quellen zur Zeitgeschichte und das aus Briefen und Zeugnissen hervortretende oder von der marxistischen Geschichtswissenschaft bereits erarbeitete Charakterbild einzelner Beteiligter mannigfache Handhaben, so daß der Autor am Schluß seiner Arbeit sagen kann, daß zwar die zu anschaulicher, emotional betonter Gestaltung entwickelte Fabel weitgehend erfunden, die erzählte Geschichte jedoch wahr ist.