Talon Nummer 22 „Nacht der Wahrheit“ von Thomas Knip
er gekommen war. „Decke meinen Rücken“, raunte er Nefer im Vorbeigehen leise zu. Der Ägypter nickte so unmerklich, dass Talon sich zuerst nicht sicher war, ob er ihn tatsächlich verstanden hatte. Zwischen seinen Soldaten bildete sich eine Öffnung, durch die der hochgewachsene Mann mit den rotbraunen Haaren den Weg zum Fluss suchte. Stimmen des Unmuts klangen hinter ihm auf. Die ersten Männer machten ihrer Wut lautstark Luft. Talon konnte ihre Worte nicht verstehen. Der Dialekt dieser Gegend war ihm völlig fremd. Dann jedoch hörte er, wie Nefer mit seiner sonoren Stimme auf die Dorfbewohner einredete. Der Klang der Worte wirkte gleichermaßen fest wie auch beschwichtigend. Für Talon war es ein gewagtes Spiel, das Nefer betrieb. Die Ägypter hatten das Moment der Überraschung auf ihrer Seite gehabt. Doch sie waren den Männern im Dorf zahlenmäßig deutlich unterlegen. Wenn es dem Hauptmann nicht gelingen sollte, die wütende Menge zu besänftigen, rechnete er sich keine große Chance für ihre Flucht aus. Inzwischen hatte er das Ufer des ruhig dahinplätschernden Flusses erreicht. Auf der anderen Seite lagen stromabwärts noch immer die Körper der beiden toten Frauen. Talon betrachtete sich das Gesicht des Mädchens in seinen Armen. Selbst jetzt waren Linien voller Schmerz und Anspannung in die jungen Gesichtszüge eingegraben. Er konnte nur erahnen, was in ihr vorging. Talon wollte so schnell wie möglich in den Schutz des Dschungels eintauchen. Der Wortwechsel hinter ihm wurde leiser, doch er hielt immer noch an.
Der Hauptmann der ägyptischen Soldaten übersah die zur Dankbarkeit angebotene Hand geflissentlich. Er bedachte Talon mit einem wütenden Seitenblick, während er den Atem gepresst zwischen den Lippen ausstieß. Der Schweiß lief in Bächen über die getönte Haut und ließ sie im Licht der späten Nachmittagsonne dunkel glänzen. In seiner Rechten hielt er das halblange Schwert fest umklammert. Die breite Spitze zitterte leicht. Er hatte dem Mann aus dem Dschungel nur mit größter Mühe folgen können und versuchte sich die Schwäche, die der Gewaltmarsch verursachte, nicht anmerken zu lassen. Weder gegenüber Talon noch gegenüber den wütenden Dorfbewohnern, die seinen Soldaten mit unterdrückter Wut gegenüberstanden. Sollte die Verfolgung die Männer angestrengt haben, so ließen es sich die Ägypter nicht anmerken. Ihre dunklen Augen leuchteten vor Entschlossenheit. Sie folgten jeder Bewegung der bewaffneten Männer vor sich, unter denen sich die ersten Anzeichen von Unruhe breit machten. Die halbmondförmigen Klingen der langen Speere waren in einer Linie auf die Bewohner des Dorfes gerichtet. Talon spürte die wachsende Anspannung, die in beiden Gruppen zunahm. Es würde nicht mehr lange dauern, bis eine der Parteien einen unüberlegten Schritt tat und damit ein Blutbad anrichten konnte. Unvermittelt ging er vor der bewusstlos am Boden liegenden Nayla in die Knie und hob sie an. Er legte sie über seine ausgestreckten Arme, den blutbesudelten Kopf der jungen Frau an seine rechte Schulter gelegt. Langsam, mit gleichmäßigen Bewegungen, drehte er sich um und schritt auf die Richtung zu, aus der
2
blauen Augen nach vorne und legte das Mädchen auf der oberen Kante der Böschung ab. Er atmete tief durch und drehte sich um. Dieses Mal akzeptierte der ägyptische Hauptmann die ausgestreckte Hand, die sich ihm entgegenstreckte. Ohne auch nur einen Anflug von Nachgiebigkeit zu zeigen, sah er sich mit harter Miene um, als er neben Talon stand. Der Dschungel war an dieser Stelle licht bewachsen. Es würde nicht weiter schwer fallen, einen Weg zurück zur Kolonie zu finden. In der Ferne war das heisere Kreischen mehrerer Affen zu hören, die zwischen den Baumkronen umherturnten. Talon erschlug eine Mücke auf seinem linken Unterarm und griff nach Nayla, die das Bewusstsein bisher noch nicht zurückerlangt hatte. Doch umgehend legte ihm Nefer seine prankenhafte Hand auf die Schulter und zog ihn von dem Mädchen zurück. „Wir werden sie bändigen, bevor wir unseren Weg fortsetzen“, erklärte er ihm, ohne Talon dabei anzusehen. Sein Blick war auf seine Männer gerichtet, die sich in geordneter Formation zurückzogen und den Fluss bereits zu mehr als der Hälfte durchquert hatten. Der Druck seiner Hand verstärkte sich. „Hättest du Sekhmet nicht gefunden, hätte ich dich eigenhändig erschlagen“, presste er mit unterdrückter Wut zwischen den Lippen hervor. „Diese Expedition leite ich, und solche Eigenmächtigkeiten dulde ich nicht!“ Die Worte kamen leise und schneidend. Talon begegnete dem Blick des Hauptmanns. Er erwiderte nichts auf die ausgesprochene Drohung. „Ich zähle nur zehn Männer“, entgegnete er stattdessen. „Was ist mit den anderen beiden geschehen?“ Für einen Augenblick war Nefer über die gelassene Art verwirrt, doch dann lächelte er finster. „Ich habe sie mit dem Bruder des Mädchens zum Tempel zurückgeschickt. Dort wird man für ihn sorgen“, kam die orakelhafte Antwort. „Und nun kümmern wir uns um Sekhmet.“
Offensichtlich gelang es dem ägyptischen Hauptmann tatsächlich, die Dorfbewohner von ihrem nur mehr als verständlichen Wunsch auf Rache abzuhalten. Das kühle Wasser des Flusses umspielte seine Füße. Er atmete laut hörbar auf. Die kräftezehrende Verfolgung zeigte ihre Spuren, doch die Kälte brachte etwas Ruhe in seinen Körper zurück. Noch bevor er das andere Ufer erreicht hatte, hörte er hinter sich das gleichmäßige Geräusch von aufeinander schlagenden Metallplatten. Offensichtlich war an Nefer ein Diplomat verloren gegangen, schoss es Talon in einem Anflug von Sarkasmus durch den Kopf. Er durchquerte den Fluss und wandte sich am anderen Ufer nach den Männern um. Zwischen den vereinzelt stehenden hoch aufschießenden Bäumen, die das Dorf zum Fluss hin begrenzten, zeichneten sich die Umrisse der Ägypter ab, die sich mit langsamen Schritten zurückzogen. Talon konnte die Anspannung in den Gesichtern der Männer selbst aus dieser Entfernung deutlich erkennen. Noch immer hielten die Soldaten die Speere wie einen Schutz vor sich und deckten damit Nefer vor möglichen Angriffen. Er selbst hatte seine Augen mit einem undeutbaren Blick auf Talon gerichtet und durchschritt nun den Fluss. Das bronzene Kurzschwert hielt er auch weiterhin angespannt in seiner rechten Hand. Mit der linken bedeutete er dem Mann wortlos, der das Mädchen scheinbar mühelos in seinen Armen hielt, sich über die steile Böschung hinweg einen Weg in den Dschungel zu suchen. Über das verzweigte Gestrüpp aus teilweise alten, lange abgestorbenen Wurzeln tastete sich Talon vorwärts. Er musste Nayla halb über die Schulter legen, um sich mit der linken Hand an herabhängenden Lianen festzuhalten. Sie knarrten bedenklich in ihrer losen Verankerung, während er sich nach oben zog. Eine von ihnen löste sich mit einem peitschenden Knall und torkelte wie eine leblose Schlange durch die Luft zu Boden. Schnaufend warf sich der Mann mit den
3
den schlichten Bronzehelm abnahm und sich den Schweiß von seinem kahl geschorenen Kopf abwischte. „Damit habe ich euch beide besser im Blick“, fügte er lakonisch hinzu und setzte sich den Helm wieder auf. Nefer machte sich offensichtlich keine Gedanken mehr um die Dorfbewohner, denn er gab seine knappen Befehle in aller Ruhe und stärkte sich zwischendurch mit etwas Wasser aus einem Schlauch Ziegenleder. Talon sprach ihn auf seine Bedenken an. Der Hauptmann setzte den Schlauch ab und bedachte den hochgewachsenen Mann mit einem Seitenblick. „Das ist eine Sache zwischen dem Dorf und uns“, kam die unwirsche Auskunft. Doch dann fügte er hinzu. „Wir haben ihnen versprochen, sie dafür für eine Generation in Ruhe zu lassen. Keine Mädchen, keine Sklaven.“ Talon konnte bei dieser Erklärung die Unruhe, die in dem Mann wütete, förmlich spüren. Er hatte Zugeständnisse machen müssen, die seine Befugnisse wohl bei weitem überschritten. Nur, um das Mädchen lebend zu bekommen. Nefer nahm einen weiteren Schluck Wasser und warf das Ziegenleder dann unvermittelt zu Boden. Er rief seinen Männern zu, sich zum Aufbruch fertig zu machen und bedeutete dann Talon mit der Spitze seines Schwertes, Nayla aufzunehmen und vor ihm zu laufen. Dieser folgte dem Befehl ohne Erwiderung und hob die junge Frau hoch. Sie stöhnte leise. Unter ihren geschlossenen Lidern tanzten die Augen hin und her, ohne dass sie aus ihrer Ohnmacht zu erwachen schien. Talon biss die Zähne zusammen und schenkte dem Ziehen in seinem Rücken keine Beachtung. Die Anstrengungen der letzten Tage forderten immer mehr ihren Tribut. Auch wenn das Mädchen kaum mehr wiegen mochte als fünfzig Kilo, so spürte er ihr Gewicht deutlich. Er lehnte sie etwas gegen seine rechte Schulter, um die Belastung besser zu verteilen. Die
Sie zogen sich etwas tiefer in den Schatten der breiten Stämme der Urwaldriesen zurück, deren Blätter sich weit über ihnen in einem dunkelgrünen Meer aus umhertanzenden Facetten verloren. Die Soldaten hatten inzwischen die Böschung erklommen. Sofort versammelten sie sich um ihren Hauptmann und drängten Talon ohne Gewaltanwendung, aber dennoch bestimmt, ab. Einer von ihnen reichte Nefer einen kleinen Beutel. Dieser entnahm einen schlanken Gegenstand, der leise schepperte, und kniete sich neben dem bewusstlosen Mädchen nieder. Talon erkannte zwei Handfesseln aus grob beschlagenem Kupfer, die kaum dicker waren als zwei schmückende Armreifen. Doch zwischen ihnen waren mehrere Fäden gewoben, deren unwirklichen, hellen Glanz er selbst aus dieser Entfernung erkennen konnte. Er hörte die beschwörenden Formeln, die Nefer in einem leisen Ton vor sich hinmurmelte, während er Nayla die Fesseln anlegte. Alles in Talon drängte ihn dazu, sich einfach umzudrehen und die Flucht zu versuchen. Das hier war nicht sein Kampf. Er war nur durch einen dummen Zufall in diese Geschichte geraten. Doch er unterdrückte den Wunsch, denn er wollte nicht zulassen, dass dem Mädchen und seinem Bruder etwas geschah. Nicht, wenn er es verhindern konnte. Sein Atem ging durch die Erregung, die in ihm tobte, schneller. Er betrachtete Nefer mit glühendem Blick, wie er sich vom Boden erhob und Erdbrocken von seinen Knien wischte. Ein knapper Befehl erfolgte, und die Männer öffneten ihre Reihe. Der Hauptmann winkte den Weißen zu sich her. „Sie ist nun gebunden“, erklärte er Talon. „Mit diesen Fesseln sind die Kräfte Sekhmets in ihrem Körper im Zaum gehalten.“ Er richtete seinen Blick auf den Mann, der ihn um eine halbe Kopfhöhe überragte. „Du wirst sie zum Tempel tragen“, kam die Anweisung, während er
4
dem feuchten Untergrund hallten vielfach von den Wänden wider. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Stumm setzten sie ihren Weg fort. Noch bevor sie das Ende der Schlucht passiert hatten, konnten sie bereits die ersten Lichter aus den einfachen Lehmhütten am Rande des Talkessels erkennen. Der Anblick belebte die Männer offensichtlich, denn ihr Gang war plötzlich wieder von Leben erfüllt. Talon nahm es mit einem nachdenklichen Blick zur Kenntnis. Er kannte das Gefühl nicht mehr, nach Hause zurück zu kehren. Wohin er sich wenden sollte, wenn das alles hier vorbei war, darüber hatte er sich bis jetzt noch keine Gedanken gemacht. Er wusste, dass er zu Shion zurückkehren musste, um die Kräfte Eser Krus wieder aufzuhalten. Doch das war nicht mehr als eine Verpflichtung; eher ein Auftrag, als die Erwartung, an einen bekannten Ort zu kommen. Die Gedanken an die Zeit danach erfüllten ihn mit zunehmender Unruhe. Die Bedeutung um seine Vergangenheit, deren Erinnerung tief in ihm verschüttet lag, wurde ihm immer bewusster, je weiter sie zurücklag. Gedankenversunken folgte er den Ägyptern die Hauptstraße entlang zum Tempelbau, der sich in der tiefblauen Dämmerung schattengleich abhob. Die ersten Sterne glitzerten über ihm. Ihr Licht waberte im Dunst, der selbst zu dieser Stunde die noch warme Abendluft erfüllte. Zahlreiche brennende Ölbecken aus Kupfer erhellten die weiß verputzte Außenmauer des Tempels. Das flackernde Licht zuckte lautlos im leichten Wind umher. Der Geruch von nur unzureichend raffiniertem Petroleum hing in der Luft. Nefer gab einem der Männer den Befehl, voraus zu laufen. Der Mann bestätigte nur kurz und hastete dann die menschenverlassene Straße entlang und eilte die breiten Stufen des Tempels empor. Talon konnte sehen, wie er sich mit zwei Gestalten unterhielt, die den Eingang zu dem heiligen Bereich bewachten, und dann durch das offene Tor im Inneren
gefesselten Hände lagen eng aneinander gelegt in ihrem Schoß. Im Schatten der Kuhle wirkte das Licht der Fäden, die in die Schnüre eingewoben worden waren, wie ein lebendiges Feuer. Das zerrissene, weiße Kleid aus einfachem Leinen, das den dunkelhäutigen Körper des Mädchens nur noch notdürftig bedeckte, stand von Dreck und getrocknetem Blut. Talon nahm sich die Wunden, die Nayla hatte, in Augenschein. Doch ein kurzer Blick zeigte ihm, dass selbst die frischesten, die ihr von den Dorfbewohnern zugefügt worden waren, bereits jetzt von einem festen Schorf abgedeckt wurden. Sekhmet ließ offensichtlich nicht zu, dass ihre Trägerin ohne weiteres starb. Zwei Männer bildeten die Vorhut und suchten der Gruppe einen Weg durch das dicht stehende Unterholz, das im einsetzenden Dämmerlicht des späten Nachmittags kaum noch zu erkennen war. Talon gab sich einen Ruck und folgte ihnen, auch wenn eine Ahnung der kommenden Ereignisse eine immer größer werdende Unruhe in ihm aufkommen ließ. Es dauerte gut zwei Stunden, bis sie die Felswand erreichten, die die Kolonie der Ägypter von der Außenwelt abschirmte. Der Blick der Männer mochte noch immer von ungebrochener Entschlossenheit zeugen, dennoch konnte Talon an ihren müden Bewegungen sehen, dass auch sie am Rande ihrer Kräfte waren. Der Anblick beruhigte ihn ein wenig, denn er war sich bis jetzt nicht sicher gewesen, ob er hier gewöhnlichen Menschen gegenüberstand. Die Sonne sank nun rasch. Lange Schatten legten sich über den Erdboden. Aus den Kronen der Bäume drangen nur noch vereinzelt Geräusche zu ihnen durch. Selbst die Tiere stellten sich auf den beginnenden Abend ein. In dieser dunstüberzogenen Dämmerung legten sich die kalten, gewundenen Steinwände der engen Schlucht, die den Fels durchschnitt, mit einer fühlbaren Masse auf die Männer. Die Schritte auf
5
die Ereignisse nur noch zu reagieren vermochte. Ärger stieg in ihm auf. Ärger, der sich auf den halbnackten Mann konzentrierte, der vor ihm am unteren Ende der Treppe stand. Und auf das Mädchen in seinen Armen, das diese unkontrollierbare Situation erst heraufbeschworen hatte. Die Götter mochten sie verfluchen … – er selbst hatte es schon längst getan. Einer der Priester unterhielt sich in einem flüsternden Ton mit Nefer, der etwas abseits seiner Männer stand. Der Hauptmann hörte aufmerksam zu und schlug sich dann mit der rechten Faust leicht auf die linke Brust. „Talon, übergib das Mädchen nun den Priestern“, klang seine Stimme durch die Dunkelheit. „Sie wissen, was zu tun ist, und werden sich um die Auserwählte kümmern.“ Misstrauisch betrachtete der hochgewachsene Mann den Ägypter und sah, wie sich vier der in einfache weiße Leinenröcke gekleideten Männer ihm näherten. Sein Blick ging hoch zu Menasseb, der die Lage wie ein Habicht aufmerksam überblickte. Ihm war klar, dass er nicht viel mehr tun konnte, als zu gehorchen. Es gab keinen konkreten Anlass für eine Bedrohung, doch die Stimme seines Instinkts rief in ihm eine Unruhe hervor, die er nur schwer bändigen konnte. Die vier Priester nahmen ihm Nayla mit einem Ausdruck der Erleichterung und der Freude ab. Zwei von ihnen ergriffen sie bei den Knöcheln, die anderen beiden bei den Oberarmen. Keiner von ihnen wäre aufgrund seiner Statur in der Lage gewesen, sie alleine zu tragen, und so schulterten sie das besinnungslose Mädchen zu viert. Die übrigen Priester drehten sich um, sobald die Gruppe an ihnen vorbei die Treppe nach oben emporstieg, und schlugen ihre Handflächen gegeneinander. Talon zuckte zusammen. Das klirrende Geräusch kleiner metallener Zimbeln erfüllte den Platz. Gleichmäßig schlugen
verschwand. Der Hauptmann befahl der Gruppe, am unteren Ende der Treppe anzuhalten. Von einer erwartungsvollen Ungeduld erfüllt blickte er zum Eingang des gedrungenen Gebäudes. Minuten lang verharrte er scheinbar regungslos. Nur seine Augen behielten die Umgebung wachsam im Blick. Talon ließ seinerseits den Ägypter keine Sekunde aus den Augen. Noch immer hielt er die junge Frau auf den Armen, die sich nun unruhig in ihrer Umklammerung hin und her wälzte. Dennoch blieb sie in einem Dämmerzustand gefangen, aus dem sie nicht erwachte. Ein kurzer Ausruf ließ Talon in seinen Gedanken inne halten. Am oberen Ende der Treppe waren mehrere schlicht gekleidete Priester erschienen, die sich zu beiden Seiten des trapezförmigen Türeinlasses versammelten. Während sie über die Treppenstufen auf die Soldaten zukamen, schälte sich der massige Körper des Hohepriesters aus dem Dunkel des Tempels. Menasseb raffte die blaue Robe um seinen Körper und wirkte scheinbar teilnahmslos. Doch seine dunklen Augen verfolgten lebendig und aufmerksam das Geschehen, das sich ihm bot. Er hätte nicht zu glauben gewagt, dass es dem Fremden tatsächlich so schnell gelingen würde, die Trägerin der Auserwählten Ras, der Unvergleichlichen und Einzigartigen, zu finden und zurück zu bringen. Der Hohepriester war sich nicht sicher, was er mit dem Weißen machen sollte. Sekhmet schien ihre schützende Hand über ihn zu halten. Zu häufig hatte sie ihn bisher lebend davonkommen lassen. Also würde er selbst es nicht wagen, etwas zu tun, was die Göttin erzürnen mochte. Er hatte durch die beiden Soldaten, die mit dem Jungen zurückgekehrt waren, von dem Vorfall am Ausgang der Schlucht erfahren. Die Situation begann für ihn undurchschaubar zu werden. Und das war ein Umstand, den Menasseb nicht bereit war, hinzunehmen. Er fühlte, wie er zu einem Zuschauer wurde. Zu einem, der auf
6
Holztür verschlossen. Einer der Männer schlug mit dem Knauf seines Schwerts mehrmals gegen das Holz. Nach wenigen Augenblicken wurde von innen ein Riegel hörbar zur Seite geschoben, und die Tür öffnete sich einen Moment später mit einem leisen Knarren. Eine Wache, der die ständige Arbeit in diesen dunklen Räumen tiefe Schatten unter die Augen beigebracht hatte, stand abwartend am Eingang. Der gebeugt stehende Mann hielt in seiner Linken eine flackernde Pechfackel, von der sich immer wieder glimmende Stücke verbrannten Tuchs lösten, die zischend auf dem sandbedeckten Boden verloschen. Talon wurde klar, dass er hier in eine Art Verlies gebracht wurde. Dicke Mauern aus schweren, nur grob bearbeiteten Steinquadern rahmten den schmalen Gang ein, der in regelmäßigen Abständen durch massive Türen unterbrochen wurde. In einer Nische auf der linken Seite lagen auf dem Boden ein paar Essensreste auf einem Holzbrett und eine umgekippte Kalebasse, deren Inhalt eine Pfütze auf dem Sand bildete. Nefer erklärte der Wache mit kurzen Worten die Lage und verlangte nach einer freien Zelle. Die müde Erwiderung des Wächters, dass es davon hier mehr als genug gäbe, überging er kommentarlos. Er packte Talon am Oberarm und zog ihn mit sich. In der engen Umgebung behinderten sich die Männer bei ihren Bewegungen gegenseitig. Einen Moment lang wägte der Mann aus dem Dschungel seine Chancen ab. Doch der harte Druck in seiner linken Hüfte unterbrach alle Überlegungen. „Denk nicht einmal daran“, zischte ihm der Hauptmann zu und drückte zur Unterstreichung seiner Worte die Spitze seines Kurzschwerts schmerzhaft in Talons Haut. Voller unterdrückter Wut fixierten dessen Augen den ausdrucklosen Blick des Ägypters. Hatte er den Mann bisher noch vielleicht respektiert und als jemanden gesehen, der seine Aufgaben zu erfüllen versuchte, so betrachtete er ihn nun als
die Männer das einfache Musikinstrument im Takt, während sie die junge Frau in den Tempel begleiteten. Es war ein unwirkliches Bild, das sich dem Mann aus dem Dschungel bot. Solche Szenen hatte er früher als kleiner Junge in altertümlichen Filmen gesehen, voller Faszination für eine längst vergangene Zeit … Die schwere Hand Nefers riss ihn abermals aus seinen Gedanken. „Komm“, sagte dieser nur und schob Talon gleichzeitig in die gewünschte Richtung. Sie führte links am Haupteingang des Tempels vorbei in einen Seitenweg, der durch die wenigen Pechfackeln nur spärlich erhellt war. Talon wurde von einem halben Dutzend Männer flankiert, die in deutlich schwererer Montur gepanzert waren als jene, die er heute auf der Suche nach Nayla begleitet hatte. Neben dem Speer mit der sichelförmigen Klinge trugen sie alle ein Kurzschwert kampfbereit in der Hand. An eine Flucht brauchte er unter diesen Umständen nicht zu denken. Wütend knirschte er mit den Zähnen. „Wohin bringt ihr mich?“, richtete er seine Frage an den Hauptmann, ohne ihn anzusehen. „Oder wollt ihr mich einfach umbringen? Jetzt, da ihr das Mädchen habt, bin ich für euch nicht mehr von Bedeutung, richtig?“ Er konnte das Gesicht des Ägypters in der Dunkelheit kaum noch erkennen. Nur vereinzelt blitzten schmückende Teile der Rüstung im Lichtschein auf. „Es ist nicht an uns, über dein Leben zu entscheiden“, ließ sich Nefer mit der Antwort Zeit. „Für heute nehmen wir dich in Gewahrsam. Der Rest wird sich zeigen.“ Es blieb bei dieser knappen Aussage. Keiner der Männer sprach noch ein Wort. Das dumpfe Geräusch der Sandalen auf festgetretenem Boden war das einzige, was die Männer auf ihrem Weg in einen abgelegenen Bereich des Tempelbezirks begleitete. Vor einem kaum erkennbaren Eingang blieben sie stehen. Er wurde durch eine mit metallenen Streben verstärkte
7
flache Schüssel war mit einer milchigen, zähen Flüssigkeit gefüllt. Zusätzlich lag am Rand ein abgerissenes Stück Fladenbrot. Er schob sein Misstrauen bei dem eigenartigen Geruch der Suppe – zumindest hielt er es dafür – beiseite und trank die Schale mit wenigen Schlucken leer. Den zähen Rest wischte er mit dem Brot auf. Als der folgende Abend anbrach, hörte Talon die Unruhe auf dem kleinen Gang. Kurz darauf öffnete sich die Tür seiner Zelle, und Nefer trat mit zwei gepanzerten Soldaten ein. Zwei weitere von ihnen hielten am Eingang Wache, um den Gedanken an eine Flucht erst gar nicht aufkommen zu lassen. „Menasseb will, dass du an der Prozession teilnimmst“, erklärte ihm der Hauptmann. Er gab mit einem Fingerzeig den beiden anderen Männern einen Befehl, die augenblicklich damit begannen, Talon zu fesseln. Es waren schwere Ketten aus Bronze, die über Kreuz seinen Oberkörper umschlossen. Offensichtlich hatten es diese Ägypter nie erlernt, Eisen zu gewinnen. Dennoch waren die einzelnen Glieder widerstandsfähiger, als Talon es vermutet hätte. Er bedachte Nefer nur mit einem Blick stummer Verachtung, während seine Hände auf den Rücken gelegt wurden und sich zwei Schellen um seine Handgelenke schlossen. Eine weitere Kette führte zu einem Ring, der seinen rechten Knöchel umfasste. Das linke Bein blieb frei. Doch die Fesseln waren so eng gezogen, dass es Talon unmöglich gewesen wäre, zu entkommen. Bei jedem Schritt musste er das rechte Bein nachziehen. Der Hauptmann schob ihn aus der Zelle hinaus. Zusammen nahmen sie den gleichen Weg zurück, der sie gestern Abend zum Verlies geführt hatte. Das Gewicht der Ketten setzte Talon zu. Als sie das untere Ende der breiten Treppe erreicht hatte, musste er keuchend stehen bleiben und holte für mehrere Augenblicke tief Luft. Nefer nahm darauf nur wenig
Gegner. Den er, wenn nötig, töten würde … Sie passierten die zweite schwere Tür, als durch das dicke Holz Rufe nach außen drangen. Talon glaubte in der Stimme Senmu, den Bruder von Nayla, zu erkennen. Wenigstens hatten sie ihn bisher am Leben gelassen. Doch welches Schicksal sie ihm zugedacht hatten, war ihm genauso unklar wie sein eigenes. Er sah keinen Sinn darin, zu versuchen, mit dem Jungen Kontakt aufzunehmen. Und so überhörte er die Rufe wie auch das schwache Pochen gegen das Holz. Vor der nächsten Tür auf der gegenüberliegenden Seite blieben sie stehen. Der Gang endete keine zehn Meter weiter hinten, dennoch verlor sich das Licht in ihm wie in einem endlos tiefen Schlund. Der Wächter zog einen Bolzen aus dem metallenen Riegel und schob die Sperre mit einem kräftigen Ruck nach hinten. Die Tür schwang schwerfällig nach innen. Abgestandene Luft drang den Männern entgegen. Durch eine kleine Luke am anderen Ende des vollkommen leeren Raums drang etwas Licht in die Kammer. Der Boden war mit altem, längst verblichenem Stroh ausgelegt. Ohne Widerstand betrat Talon die Zelle und drehte sich zu Nefer um. „Wenn ihr mich schon am Leben lasst, dann gebt mir wenigstens etwas zu essen und zu trinken“, verlangte er von dem Ägypter. Dieser lächelte dünn und machte dem Wächter ein Zeichen, der dieses mit einem missbilligenden Blick quittierte und nickte. Dann schloss sich die Tür vor seinen Augen und ließ ihn in der Dunkelheit der Kammer zurück. Talon verbrachte den gesamten folgenden Tag in der kleinen Zelle. Durch das spärlich einfallende Licht konnte er nachverfolgen, wie die Zeit verstrich. Er hatte unruhig ein paar Stunden geschlafen, bis er durch den Wächter geweckt worden war, der durch eine kleine Klappe in der Tür eine Schale in die Kammer schob. Die
8
Nefer flankiert. Die anderen Soldaten hielten sich etwas im Hintergrund. Vielleicht war es ihnen nicht erlaubt, sie so weit in den Tempel zu begleiten. Doch sie würden zur Stelle sein, sollte Talon einen Fluchtversuch wagen. Den lang gezogenen Raum, den sie nun betraten, hatte er letztes Mal nur beim Vorübergehen kurz betrachten können. Ein Säulengang rahmte die vier Seiten der kleinen Halle ein, und nur hier schützte eine niedrige Decke vor den Witterungseinflüssen. Der innere Bereich des Raums war nach oben hin offen. Hinter den breiten Rauchfahnen, die von den Ölbecken aufstiegen, war das sternenüberflutete Dunkel der einbrechenden Nacht zu erkennen. An den beiden Längsseiten der Halle kauerten Priester am Boden, deren monotoner Gesang in gleich bleibendem Rhythmus auf- und abschwoll. Die begleitende Musik erklang aus dem Hintergrund, ohne dass Talon jemand hätte sehen können, der Instrumente benutzte. Am gegenüberliegenden Kopfende stand Menasseb, der Hohepriester. Er war mit nicht mehr bekleidet als einem schlichten Leinenrock, der vorne mit einem fächerartigen Muster in Falten gelegt worden war. Der massige Mann sah Talon erwartungsvoll an. Hinter ihm erhob sich das in Sandstein gehauene Relief eines Frauenkörpers mit einem stilisierten Löwenkopf – Sekhmet –, das gut drei Meter an Höhe messen mochte. Jetzt erst entdeckte der Mann aus dem Dschungel die beiden Schemen, die regungslos in blendenden Schein der Feuerbecken verharrten. In einem von ihnen erkannte er Nayla, die offensichtlich bei Bewusstsein war. Auch die andere Gestalt war eine junge Frau. Doch sie kauerte etwas abseits im Halbschatten einer Säule. Ihm war immer noch nicht klar, warum ihn der Priester hier haben wollte. Und es war müßig, sich Gedanken darüber zu machen. Als Menasseb sah, dass Nefer mit Talon den Innenbereich betreten hatte,
Rücksicht und schob ihn die einzelnen Stufen hinauf. Aus dem Inneren der vorderen Halle drang bereits ein dumpfer Singsang nach draußen, der durch einfache, rhythmische Klänge begleitet wurde. Auch jetzt wurde der Eingang zu dem Gebäude durch zwei Wächter gesichert, die in voller Rüstung ihren Dienst versahen. Schwere Schilde schützten ihren gesamten Oberkörper. Die kleine Gruppe wurde von mehreren niederen Priestern empfangen. Sie führten die Männer durch die Eingangshalle zu einem kleinen Außenbereich, in dem ein flaches, an den Rändern durch reich verzierte Kacheln geschmücktes Wasserbecken lag. Kurz noch hatte Talon einen Blick auf den hinteren Tempelbereich werfen können, der im Halbdunkel der wenigen entzündeten Ölbecken lag. Doch er hatte nicht mehr erkennen können als helle Schemen, die sich leicht hin und her bewegten. Zwei Priester führten ihn zum Rand des Beckens. Einer von ihnen holte ein sauber gefaltetes Tuch aus feinstem Leinen hervor, während der andere aus einer fein ziselierten Schöpfkelle Wasser aus dem Becken auf den Stoff goss. Daraufhin wurde Talon vom Kopf abwärts mit dem Tuch gereinigt. Immer wieder wurde neues Wasser nachgegossen, wenn der Stoff zu trocken wirkte. Talon vermutete, dass diese Reinigung kultische Gründe hatte. Gleichzeitig drangen aber auch die Lebensgeister zurück in seinen erschöpften Körper. Ein leichter Windhauch legte sich kühlend auf seine feuchte Haut. Es mochte gut eine Viertelstunde gedauert haben, bis die Priester die Reinigung beendet hatten. Im Hintergrund hatte der Mann aus dem Dschungel erkennen können, dass sich Nefer mit seinen Soldaten dem gleichen Ritual unterzogen hatte. Offenbar durfte niemand den inneren Bereich des Tempels ohne eine gründliche Waschung betreten. Während zwei der klein gewachsenen Priester voraus gingen, wurde Talon von
9
die frische Abendluft den Rauch rasch auflöste. Menasseb streckte die Arme zu beiden Seiten aus und führte sie dann ganz langsam über seinem Kopf zusammen. „Du hast der Göttin mit all deiner Kraft gedient, Kind“, setzte er fort, „doch es ist nun an der Zeit, dass du die Verantwortung abgibst. Lasse die Entbehrungen der irdischen Mühsal hinter dir und kehre zurück in den Schoß von Osiris.“ Talon sah, wie teilnahmslos das Mädchen die Rede aufnahm. Er befürchtete, dass sie bereits unter Drogen gesetzt worden war, bevor sie zu dieser Zeremonie gebracht wurde. Ein leichtes, inhaltsleeres Lächeln löste sich von den jungen Lippen. „Es ist an der Zeit, die Aufgabe abzugeben“, hörte er die Worte. „Gib dich hin, damit Sekhmet von neuem leben kann!“ Talons Augen wurden zu dünnen Schlitzen. Er versuchte mit aller Macht, seinen Kopf zu klären. Erneut trat der dienstbare Priester vor, und dieses Mal hob Menasseb einen schlanken, dunklen Gegenstand empor. Die geschliffene Klinge aus schwarzem Obsidian leuchtete mit einem rötlichen Glanz im Licht des Feuers. Der Mann aus dem Dschungel zerrte an seinen Ketten. „Nein!“, brüllte er dem Hohepriester entgegen. Doch die Männer ließen sich nicht aus ihrem Ritual herausreißen. Unbeirrt folgten sie ihren Vorgaben und ließen ihren Gesang anschwellen. Eine kalte Klinge legte sich an Talons Hals. Sein Kopf wurde nach hinten gerissen. „Wage es nicht, die Zeremonie zu stören“, zischte ihm Nefer mit unmissverständlicher Kälte zu. „Du wirst diese Nacht nicht überleben“, stieß Talon heiser hervor. Der Hauptmann lächelte nur schwach. „Wir werden sehen“, antwortete er ihm knapp und zog den rotbraunen Haarschopf weiter nach hinten. Nur noch aus den Augenwinkeln konnte Talon das Geschehen beobachten.
wandte er sich um und schenkte den beiden Männern keinen Blick mehr. Die Hand des Hauptmanns legte sich auf Talons Schulter und drückte ihn langsam, aber bestimmt zu Boden. Widerwillig sank der hochgewachsene Mann auf die Knie. Der Hohepriester näherte sich dem steinernen Relief und streckte die Arme empor. Im gleichen Augenblick schwoll der Gesang der Priester an. Er klang fast wie ein nicht enden wollender, klagender Laut, der sich in seiner Schwere über die gesamte Szenerie legte. Menasseb trat auf Nayla zu, die den Priester aus großen Augen anblickte. Talon konnte im Schatten, den der Körper des Mannes auf das Gesicht des Mädchens warf, die Verzweiflung und die Furcht erkennen, die die junge Frau durchlebte. „Nayla, du bist die Trägerin von Sekhmet, der von Ra Geliebten, der Erleuchteten, der Unerreichten und Unbezwingbaren“, dröhnte die Stimme des Mannes durch die Nacht, untermalt durch den Singsang der Priester. „Du warst auserkoren, ihrem unsterblichen Geist als Gefäß zu dienen. Durch dich sollte sie wieder auf Erden wandeln. Doch dein Leib ist ihrer unermesslichen Macht nicht gewachsen.“ Ein Priester trat durch einen Seitengang ein, verbeugte sich tief und streckte Menasseb ein Tablett entgegen. Der Hohepriester entnahm ein handtellergroßes Gefäß, aus dem weißer Rauch aufstieg. Der betäubende Geruch nach Weihrauch umhüllte die beiden jungen Frauen. Menasseb stimmte nun in den Gesang der Priester ein und zeichnete mit der rauchenden Schale aus Alabaster komplexe Muster in die Luft. Seine Stimme schwoll dabei an und überlagerte deutlich die der übrigen Männer. Mit leicht schwerfällig wirkenden Bewegungen reichte er das Gefäß zurück an den wartenden Priester. Talon vermutete, dass im dem Gefäß neben Weihrauch auch noch weitere Rauschmittel brannten. Denn selbst er spürte einen leichten Schwindel, obwohl
10
Aus der Fratze, die kaum noch etwas Menschliches an sich hatte, löste sich ein wütendes Knurren. Das Blut lief weiterhin über die gelblichen Reißzähne und verschmierte das dichte Fell. Torkelnd, doch voller Kraft, erhob sich das Wesen, das gerade eben noch das zarte Mädchen gewesen war. Die bernsteinfarbenen Augen richteten sich hasserfüllt auf den Hohepriester, der die wenigen Stufen vom Podest nach unten gestolpert war. Doch die Löwin wandte sich nicht gegen ihn. Mit einer Schnelligkeit, der das Auge kaum zu folgen vermochte, bohrten sich ihre Pranken tief in den Körper des anderen jungen Mädchens und rissen ihn der Länge nach auf. Dunkel schoss das Blut aus der gewaltigen Wunde. Menasseb brüllte auf. Er kam wieder auf die Beine und stolperte auf Nayla zu, die den toten Leib der jungen Frau aus den Armen der entsetzten Priester gerissen hatte und wie eine leblose Puppe zur Seite schleuderte. Seine Hand griff nach dem Messer, das nur wenig von ihm entfernt lag, doch noch in der Bewegung veränderte sich der ausgestreckte Arm. Die Haut verlor an Farbe, Flecken zeigte sich auf der brüchigen Oberfläche. Der Hohepriester richtete seine matten Augen, die tief eingefallen in den Höhlen lagen, auf das Löwenwesen. Nayla war kraftlos zu Boden gesunken und hielt sich eine Pranke gegen die Wunde auf ihrer Brust. Mit jedem verstreichenden Augenblick verloren ihre Gesichtszüge mehr und mehr von der Fremdartigkeit. Das Antlitz des jungen Mädchens war nun wieder deutlich zu erkennen. Kurz noch hob es den Oberkörper an, dann kippte es tot zur Seite. Menasseb hustete. Blutiger Auswurf löste sich aus der brüchigen Haut seines aufgerissenen Hals. Er bekam kaum mehr mit, wie die Priester um ihn herum aufgesprungen waren und an ihren eigenen Körpern denselben Verfall erlebten. Ein Brüllen, das aus der Tiefe der Erde emporzusteigen schien, erklang aus dem
Menassebs Stimme war inzwischen in einem unverständlichen Murmeln untergegangen. Zwei Priester hatten sich hinter Nayla postiert und hoben sie nun langsam an. Sie war ungefesselt, dennoch wehrte sie sich keinen Moment. Mit verständnislosem Blick folgte die junge Frau den Bewegungen des Hohepriesters. Blitzartig stieß die Klinge herab. Sie bohrte sich tief in die Brust des Mädchens, aus dessen Kehle sich nun ein qualvoller, lang gezogener Schrei löste. Talon biss die Zähne zusammen und sah hilflos zu, wie das Blut aus der tiefen Wunde schoss. Ein roter Faden löste sich aus einem Mundwinkel und lief die dunkle Haut hinab. Nayla taumelte zu Boden. Schattengleich tauchten hinter ihr zwei weitere Priester auf, die das andere Mädchen fest in ihrem Griff hielten. Nur undeutlich schälten sie sich aus dem Rauch, den die Ölbecken verbreiteten. „Sekhmet!“, brüllte Menasseb auf, „nimm dieses unser Geschenk als deine neue Trägerin an. Schließe erneut den Bund und verschone uns vor deiner göttlichen Rache!“ Die Augen des zweiten Mädchens wechselten wild zwischen dem Obsidianmesser und dem sterbenden Körper vor seinen Füßen hin und her. Langsam, schwerfällig schüttelte es den Kopf, als weigere sich alles in ihm, das Geschehene zu akzeptieren. Naylas Körper zuckte konvulsivisch am Boden. Der Gesang der Priester verlor sich in einem kreischenden Singsang. Menasseb beugte sich vor, um sich Nayla zu betrachten. Doch plötzlich zuckte er zurück. Die Klinge löste sich aus seinen Fingern und fiel klirrend auf den steinernen Boden. Er taumelte einen Schritt zurück. „Nein …“, entfuhr es seinen Lippen kaum hörbar. Die junge Frau stützte ihren tödlich verletzten Körper auf. Mit jedem verstreichenden Augenblick gewann ihr Körper an Masse. Lange, helle Haare legten sich wie ein Teppich auf die Haut.
11
zu werden. Nervös hob und senkte sich der Brustkorb des Mannes. Er wartete darauf, dass die Pranken jeden Moment zustießen. Doch der zerfließende massige Körper des Löwen beugte sich nur langsam über ihn. [Du bist keiner von ihnen], stellte eine hohle Stimme fest, die überall und nirgends zu sein schien. [Du bist … einer … keiner – von uns …], ergänzte die Stimme schwerfällig. Eine Pranke zuckte vor, und Talons Bewusstsein versank in einer tiefen Dunkelheit.
steinernen Relief. Nebelfetzen lösten sich aus Naylas verdreht daliegender Gestalt. Sie sammelten sich zwischen den beiden Feuerbecken und gewannen mehr und mehr an Substanz. Krallenbewehrte Pranken formten sich aus den diffusen, verwehenden Schlieren. Der weit aufgerissene Rachen eines Löwen wurde sichtbar. Seine dolchartigen Zähne stachen aus der unauslotbaren Tiefe des Nebels deutlich hervor. Obwohl Menassebs Körper weiter zerfiel, spürte er, wie die Kälte der Furcht in ihm emporstieg. Glühende Augen, die aus einem inneren Feuer heraus zu brennen schienen, richteten sich auf ihn. Er wusste, er hatte versagt. Der eingefallene Leib des Hohepriesters sackte in sich zusammen. Sekhmet hatte keine lebende Trägerin erhalten. Sie war wieder aus der Welt des Körperlichen gerissen worden. Menasseb schloss die Augen und formte die Lippen zu einem letzten Gebet. Er erlebte nicht mehr, wie der nebelhafte Löwenkörper auf ihn herabstieß und seinen mumifizierten Leib wie trockenes Laub zerfetzte. Das Wesen wütete unter den sterbenden Anwesenden. Schreie voller Furcht und Todesahnung hallten durch den Saal. Talon spürte, wie der Griff an seinem Kopf nachließ. Polternd fiel das bronzene Schwert zu Boden. Etwas hinter ihm knirschte wie brüchiges, altes Pergament. Der Mann aus dem Dschungel drehte sich in seinen Fesseln so gut es ging um und konnte Nefers dunkle Augen erkennen, die sich in den bluterfüllten Höhlen panisch auf ihn richteten. Noch einmal fuhr seine rechte Hand hoch, doch in diesem Augenblick zerriss eine schattenhafte Pranke den ausgemergelten Körper. Talon stieß den Atem gepresst zwischen den Lippen hervor. Eine unwirkliche Stille erfüllte den Saal. Fast hypnotisiert richteten sich seine Augen auf die glühenden Pupillen, die sich aus den weißen Schlieren schälten. Der Rachen waberte wie verwehender Rauch. Die Augenblicke schienen zu Ewigkeiten
Epilog: Die beiden Männer standen mit gesenkten Köpfen vor dem schlichten Steingrab. Das war das einzige, womit sie Nayla noch ehren konnten. Als Talon erwacht war, schien der helle Tag bereits durch das offene Dach des Tempels. Seine Fesseln waren auf unerklärliche Weise gelöst worden. Taumelnd war er auf die Beine gekommen und hatte den Weg aus dem Gebäude gesucht. Überall lagen Reste von Körpern verstreut, als ob uralte Gräber aufgebrochen worden waren, deren Leichname man nun verteilt habe. Talon hatte sich an Senmu, den Bruder Naylas, erinnert, und er hatte feststellen wollen, ob wenigstens dieser noch lebte. Er hatte die Tür zum Verließ mit einem schweren Pflug aufstoßen müssen, denn die Tür war von innen verschlossen, und dann den jungen Mann befreit. Er wirkte mitgenommen und stark geschwächt. Den Tod seiner Schwester nahm er fast teilnahmslos mit einem stummen Nicken auf. Gemeinsam bargen sie den toten Körper und bestatteten ihn unter diesen Umständen so gut wie möglich. Talon wollte dem jungen Mann zum Trost die Hand auf die Schulter legen, doch dieser wehrte sie ab. „Nein, es ist gut“, setzte er an. „Es ist vorbei. Ich werde jetzt nach Hause gehen und meiner Familie erklären, dass Nayla
12
tot ist.“ Er warf Talon einen müden Blick von der Seite zu und raffte dann die wenigen Habseligkeiten zusammen, die er die für Reise mitnehmen wollte. Der Mann aus dem Dschungels sah ihm nach, bis er mit der Felswand des Talkessels verschmolz, dann machte er sich selbst auf den Weg. Kurz nach warf er einen Blick auf das Grab und hoffte, dass das Mädchen nun seine Ruhe finden mochte. Sekhmet war nach dieser Nacht verschwunden. Er war noch einmal in den Tempel zurückgekehrt,
um seine Waffe zu finden. Doch nachdem er lange Zeit erfolglos nach ihr gesucht hatte, hatte er Nefers bronzenes Kurzschwert an sich genommen. Er griff sich einen halbleeren Wasserschlauch und füllte ihn an einem Ziehbrunnen auf, dann richtete auch er seine Schritte auf die Schlucht, die ihn aus diesem verlassenen Tal führte. Einer von uns … keiner von uns … die ganze Zeit waren Talons Gedanken von diesen Worten erfüllt. Es war an der Zeit festzustellen, wohin er gehörte.
Fortsetzung folgt in Talon Nummer 23 „Die Verfemten“
© Copyright aller Beiträge 2005 by Thomas Knip. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung. Kontakt unter
[email protected] . Talon erscheint als eBook kostenlos auf www.talon-abenteuer.de
13