Arbeitsgruppe „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“ Mythos Mitte
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Arbeitsgruppe „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“ Mythos Mitte
Arbeitsgruppe „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“
Mythos Mitte Wirkmächtigkeit, Potenzial und Grenzen der Unterscheidung ‚Zentrum/Peripherie‘
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17971-1
Inhaltsverzeichnis
Vorwort .......................................................................................................... 9 Einleitung: Mythos Mitte ............................................................................... 11 1. Teil: Territoriale Zentren und Peripherien Christine Schmid, Christine Unrau
1. Zentrum und Peripherie als geographisch lokalisierbare Einheiten ........... 25 2. Zentrum und Peripherie – ein Charakteristikum von Hochkulturen? ......... 27 3. Monozentrische Reiche und polyzentrische Poliswelt ............................... 33 4. Weltsystem und Dependenz ....................................................................... 37 5. Globale Peripherien, globale Zentren? ....................................................... 45 6. Territoriale Zentren und Peripherien – Hierarchie der Räume ................... 51 Exkurs: Koloniale Umschreibung der Zentrum/Peripherie-Differenz und der Völkermord in Ruanda (Anne Härtel) ............................................ 55 2. Teil: Ideelle Zentren und Peripherien Justus Heck, Sebastian Neubauer, Svenja Reinke
7. Von territorialen zu ideellen Zentren ......................................................... 69 8. Der Bruch mit der ‚natürlichen‘ Ordnung .................................................. 73 9. Über ideelle Zentren bei Franz Kafka ........................................................ 81
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Inhaltsverzeichnis
10. Theoretische Konturierung ideeller Zentren ............................................ 89 11. Ideelle Zentren als Ordnungsstifter in der Moderne ................................. 101 3. Teil: Das Individuum als Zentrum Andreas Bischof, Mario Schulze, Hanna Steffen
12. Das Individuum und der Verlust des Zentrums ........................................ 105 13. Emile Durkheim: Vom Kult des Individuums zur Vergottung des Kollektivs ................................................................................................. 107 14. Georg Simmel: Die widerspruchsvolle Individualisierung in einer versachlichten Welt .................................................................................. 111 15. Moderne Gesellschaft als Intervention ..................................................... 115 16. Die Flucht ins Normale ............................................................................ 117 4. Teil: Bürgerliche Rechte als Zentrum moderner Gesellschaften Alexander Hirschfeld, Uta Lehmann
17. Bürgerliche Rechte als integrative Mitte der Gesellschaft ....................... 135 18. Zentrum und Peripherie in modernen Nationalstaaten ............................. 137 19. Émeutes in den Banlieues – der Weg ins Zentrum? ................................. 149 20. Die Émeutes als Konflikt um das Zentrum .............................................. 165 5. Teil: Zentrum und Peripherie innerhalb funktionaler Teilsysteme Lukas Becht, Johannes Geng, Alexander Hirschfeld
21. Funktional differenzierte Gesellschaft als polyzentrisches Sozialsystem 171 22. Luhmanns systemspezifisches Konzept von Zentrum und Peripherie ..... 173
Inhaltsverzeichnis
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23. Zentrum und Peripherie im System der Massenmedien – Der partizipative Online-Journalismus und die Realität der Massenmedien 2.0 .................................................................................... 185 24. Zentrum und Peripherie im politischen System der Gesellschaft ............. 195 25. Die Dezentralität des Zentrums in der polyzentrischen Gesellschaft ....... 209 6. Teil: Die vergessene Peripherie: Sozialer Wandel und gesellschaftliche Marginalisierungen Lukas Becht, Alexander Hirschfeld, Mario Schulze
26. Gesellschaftliche Randlagen und sozialer Wandel ................................... 213 27. Soziale Bewegungen, sozialer Wandel und Marginalisierung im Kontext funktionaler Differenzierung ..................................................... 215 28. Die Jugendbewegung: Ein Beispiel für soziale Bewegungen und ihren Weg von der Peripherie ins Zentrum ........................................................ 221 29. EU-Flüchtlingslager in Polen: Ein Beispiel für soziale Randlagen an der Peripherie zwischen Inklusion und Exklusion .................................... 237 30. Systemübergreifende Peripherie und die Ambivalenz des Zentrums ....... 249 Schluss: Mythos Mitte revisited ..................................................................... 251
Anhang 1: Franz Kafka: Vor dem Gesetz ...................................................... 265 Anhang 2: Online-Recherche auf www.abnehmen-mit-genuss.de................. 267 Zu den Autoren .............................................................................................. 269 Abbildungsverzeichnis ................................................................................... 271 Literaturverzeichnis........................................................................................ 273
Vorwort
Dieses Buch ist dezentral entstanden. Das heißt, es hat weder in einem Autor, noch in einem Entstehungsort eine Mitte. Stattdessen zeichnet dafür ein Autorenkollektiv verantwortlich, welches sich über ganz Deutschland verteilt und aus einer soziologischen Arbeitsgruppe des 2. Geisteswissenschaftlichen Kollegs der Studienstiftung des deutschen Volkes hervorgegangen ist. Dennoch handelt es sich nicht um einen Sammelband aus einzelnen, hermetisch voneinander getrennten Aufsätzen, sondern um eine gemeinsame Abhandlung zur Leitdifferenz ‚Zentrum/Peripherie‘. Als verbindendes Moment fungierten dabei der gemeinsam während der Kollegs erschlossene Theoriefundus sowie die Fragestellung nach dem Erklärungspotenzial dieser Unterscheidung. Den Grundstein für die Überlegungen des Buches und den Zusammenhalt der Gruppe legten Alois Hahn und Hans-Georg Soeffner durch ihr immenses Wissen und die freundschaftliche Begleitung. Wir danken ihnen dafür. Zu Beginn war die Arbeitsgruppe darauf angelegt, „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“ analytisch fruchtbar zu machen, und dabei auf das Oberthema des Kollegs „Von den Rändern her denken – die Peripherie und das Periphere“ hinzuarbeiten. Dank der Offenheit und Kreativität des Arbeitsprozesses war aber schnell eine Erweiterung des Blicks auf soziologische Theorie, Literatur und andere Herangehensweisen etabliert, die es uns ermöglichte, die unterschiedlichen Fächerhorizonte und Interessenschwerpunkte produktiv einzubringen. Auch diese Dezentralität wird in diesem Buch abgebildet. Nicht zuletzt der offenen Konzeption der ‚Institution Geisteswissenschaftliches Kolleg‘ und dem Einsatz von Klaus Heinrich Kohrs, Inga Scharf und Thomas Ludwig seitens der Studienstiftung des deutschen Volkes ist dies zu verdanken. Sie brachten uns für je eine Woche an Orten zusammen, die sich durch geistige und räumliche Abgeschiedenheit ausgezeichnet für die Arbeit an der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie eigneten – im November 2007 in Kröchlendorff im ost-brandenburgischen Landkreis Uckermark, im April 2008 in Eisenach, im Oktober 2008 im Kloster Schöntal, Hohenlohe, und schließlich in Bad Honnef bei Bonn. Ein Ausflug nach Prenzlau, einer Stadt auf der Suche nach einem Zentrum; eine Foto-Safari durch die Peripherien Eisenachs; der Besuch der Kunsthalle Würth, einem kulturellen Zentrum fernab der Kultur-
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hauptstädte Europas; und ein sommerliches Abendessen in einem Bad Godesberger Garten förderten auf nicht-theoretischem Wege die Gruppendynamik, die es brauchte, um unser Autorenkollektiv für dieses Buch zu integrieren. Wir danken deshalb der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius für die finanzielle Förderung des Geisteswissenschaftlichen Kollegs. Aufgrund der räumlichen Verstreutheit der Autoren und Autorinnen waren wir ganz besonders auf Anlässe und Orte des Zusammentreffens und der Kommensalität besonders angewiesen. Deshalb danken wir Erika Hahn für ihren Einsatz während eines „Wintersdorfer Suppenseminars“ zu den Frühschriften Karl Marx‘ im Juli 2008 nahe der Grenze zu Luxemburg; Annette Soeffner für die Begleitung auf einer Israel-Reise im März 2009 und die anschließende Gastfreundschaft. Die zweiwöchige Reise nach Israel wurde dankenswerterweise durch die Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes DAAD ermöglicht, wobei wir auch dem Institut für Deutsche Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem, Moshe Zimmermann, der Universität Haifa und einer Gruppe palästinensischer Studierender danken möchten. Besonders hervorzuheben sind schließlich die Kursteilnehmer_innen, die sich nicht durch Textfragmente an diesem Buch beteiligen konnten, deren Diskussionsbeiträge sich in dem Buch aber indirekt wiederfinden: Valerie M. Wolf, Carolin Peschel, Ania Zymelka, Daniel-Pascal Zorn sowie Kathleen Piskol. Dem unermüdlichen Sebastian Brand verdanken wir überdies ein äußerst kritisches Lektorat aller Texte. Für einen Vortrag inklusive eingängiger Diskussion danken wir Jürgen Link, dessen Analyse des Normalismus im vierten Teil des Buches aufgegriffen wird. Schließlich ist dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen und namentlich Dana Giesecke sowie Sonja Fücker dafür zu danken, dass wir dort zwei ungestörte Redaktionstreffen im September 2009 und April 2010 abhalten konnten, auf denen das vorliegende Buch seine Gestalt und seine thematische Mitte erhalten hat. Oktober 2010 Arbeitsgruppe „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“
Einleitung: Mythos Mitte
„In der Mitte aller Dinge / wohne ich, der Sohn des Himmels. / Meine Frauen, meine Bäume, / Meine Tiere, meine Teiche, / Schließt die erste Mauer ein. / Drunten liegen meine Ahnen: / Aufgebauscht mit ihren Waffen, / Ihre Kronen auf den Häuptern, / Wie es einem jeden ziemt, / Wohnen sie in den Gewölben. / Bis ins Herz der Welt hinunter / Dröhnt das Schreien meiner Hoheit. / Stumm von meinen Rasenbänken, / Grünen Schemeln meiner Füße, / Gehen gleichgeteilte Ströme / Osten-, west- und süd- und nordwärts, / Meinen Garten zu bewässern, / Der die weite Erde ist. / Spiegeln hier die dunkeln Augen, / Bunten Schwingen meiner Tiere, / Spiegeln draußen bunte Städte, / Dunkle Mauern, dichte Wälder / Und Gesichter vieler Völker. / Meine Edlen, wie die Sterne, / Wohnen rings um mich, sie haben / Namen, die ich ihnen gab, / Namen nach der einen Stunden, / Da mir einer näher kam, / Frauen, die ich ihnen schenkte, / Und den Scharen ihrer Kinder; / Allen Edlen dieser Erde / Schuf ich Augen, Wuchs und Lippen, / Wie der Gärtner an den Blumen. / Aber zwischen äußern Mauern / Wohnen Völker meine Krieger, / Völker meine Ackerbauer. / Neue Mauern und dann wieder / Jene unterworfnen Völker, / Völker immer dumpfern Blutes, / Bis ans Meer, die letzte Mauer, / Die mein Reich und mich umlagert“ (Hofmannsthal 1897).
Antike Großreiche, der Durchschnittsmensch und führende Vertreter staatstragender politischer Parteien haben eines gemeinsam: Sie sehen sich in der Mitte der Gesellschaft. Hier entfaltet der Kaiser von China mit den Worten, die ihm Hugo von Hofmannsthal in den Mund gelegt hat, eine bilderreiche Beschreibung seines Reiches, das sich in konzentrischen Mauerkreisen um ihn als ‚Mitte aller Dinge‘ legt – über ihr der Himmel, unter ihr die kaiserlichen Ahnen. In den Augen des selbsternannten Himmelssohns ist die Ferne das noch zu Beschreibende, denn ringsum sind die Bezeichnungen und Namen, die Aufgaben und Identitäten bereits vergeben. Bis zu den geographischen Rändern ist das Kaiserreich bekannt. Und zwar deshalb, weil „die Grenzen dort liegen, wo das Zentrum sie sieht, unabhängig davon, wie an der Peripherie die nachbarschaftlichen Kontakte ausfransen“ (Luhmann 1997a: 668). Es sind zugleich die Gegenden, wo keine ‚Edlen‘ mehr wohnen, sondern Krieger, Bauern und jene, mit jedem der konzentrischen Kreise immer ‚dumpferen‘ Völker. Die Peripherie wird in dieser Perspektive von der Mitte her bestimmt. Sie ist weit entfernt, untergeordnet und im Vergleich zum Zentrum erscheint sie als minderwertig. So entfaltet sich der Mythos einer ‚Mitte‘, die aufgrund ihrer Ausstrahlung und Macht, aufgrund ihrer sozialen Zusammensetzung und ihres Glanzes etwas ganz Besonderes ist. Hier wird deutlich, dass Zentrum und Peripherie keinesD. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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wegs nur räumliche Strukturmuster sind, sondern vielmehr eine soziale Konstellation darstellen, die durch eigentümliche Austauschverhältnisse, Differenzierungen und Abhängigkeiten gekennzeichnet ist. Dafür steht Hofmannsthals Gedicht, in dem es vordergründig um die räumliche Weite des Reiches geht, im Hintergrund jedoch vom ‚Schreien der Hoheit‘, den ‚geschenkten Kindern‘ und ‚dumpfen Völkern‘ die Rede ist. Und schließlich finden sich bis in die pluralistische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts Indizien für die Virulenz und die soziale Brisanz des scheinbar vormodernen Beschreibungsmusters ‚Zentrum/Peripherie‘: Global Cities (Sassen 1991) als kapitalistische Schaltzentralen, Entwicklungsländer als abgehängte Peripherien; zentrale Wert- und Normenkomplexe, Durchschnitts- und Mittelwerte als Orientierungskriterien, und nicht zuletzt die Vorstellung, dass sich in Staat und Politik als Zentrum der Gesellschaft sozialer Wandel, Partizipation und Wohlfahrt realisieren lassen. Dieses Buch fragt, woraus sich die Strahl- und Anziehungskraft jenes Mythos ‚Mitte‘ speist und welche Dimensionen er in Gestalt des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie annimmt. Denn das historisch anmutende Gefüge von Kaiser und Untertan, Himmelssohn und ‚dumpfen Völkern‘, von Mitte und Rand weist darauf hin, dass nur innerhalb der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie die ‚Mitte‘ ihre prägende Kraft entfalten kann. Dies gilt bis in die Wirklichkeit und das Alltagswissen der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts hinein, da in ihr ebenso wie in den Versuchen ihrer theoretischen Rekonstruktion im Rahmen der soziologischen Theorie, die Wirkmächtigkeit dieser Unterscheidung zum Tragen kommt. Unsere erkenntnisleitende Hypothese lautet schließlich, dass die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie in Gestalt von sechs zentralen Dimensionen ihre Wirkmächtigkeit entfaltet, nämlich territorial, ideell, am Individuum, juridisch-politisch, funktional, und in Bezug auf soziale Inklusion bzw. Exklusion. Dabei zeigen sich sowohl auf theoretischer als auch praktischer, normativ-regulativer Ebene das Potenzial und die Grenzen der Unterscheidung in Zentrum und Peripherie, Mitte und Rand: In der modernen Gesellschaft und ihrer theoretischen Beschreibung lässt sich eine Ambivalenz im Umgang mit dieser Unterscheidungsform ausmachen, die darin besteht, dass Auflösungen von Zentren bzw. Dezentralisierungen mit stabilen Konstruktionen von Zentren bzw. Zentralisierungen einhergehen. Deshalb beruht die Wirkmächtigkeit des ‚Zentrums‘ oder der ‚Mitte‘ darauf, dass diese(s) gleichsam mythisch überhöht wird, weil durch den Widerpart der Peripherie im selben Moment stets die Alternativen sichtbar werden. Mythen auf ein Charakteristikum archaischer Gesellschaften zu beschränken, ist unserer Ansicht nach ebenso fährlässig, wie sie lediglich als ideologische Legitimationsnarrative politischen Handelns (vgl. Münkler 10.8.2010: 8) zu klassifizieren oder gegen das wissenschaftliche Denken auszuspielen. Stattdes-
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sen wird hier unter Mythos im Anschluss an Malinowski in erster Linie eine „außerordentlich komplexe kulturelle Realität“ (Gulian 1981: 21) verstanden. Einerseits soll damit keineswegs das Marx’sche Basis-Überbau-Theorem auf den Kopf gestellt werden, dass etwa der Mythos die soziale Wirklichkeit vorwegnehme und zur Gänze strukturiere. Vielmehr schreibt auch die soziale Wirklichkeit den Mythos als historisches und kontextabhängiges Phänomen fort und fortwährend um (vgl. Gulian 1981: 7-17). So verfügt die rationalisierte Moderne ebenfalls über einen Fundus an mythischen Denk- und Ordnungsmustern, die – verschleiert und ‚renaturalisiert‘ von ihrer Selbstverständlichkeit und scheinbarer ‚Alternativlosigkeit‘ – nicht mehr in den Blick geraten. Dieser Verdacht löst andererseits einen wissenschaftlichen Reiz aus, vor dem aufgrund der Irrationalität und Unschärfe des Mythos gleichsam noch vor der eigentlichen Beschäftigung mit dem Thema ‚Zentrum und Peripherie‘ gewarnt werden muss: Der hier unternommene Versuch einer Diskussion verschiedener Dimensionen und Ausdeutungen des Zentrum-Peripherie-Modells ist letztlich selbst eine Fortschreibung des Mythos ‚Mitte‘. Allerdings wird anhand verschiedener Dimensionen der Wirkmächtigkeit der Zentrum-Peripherie-Unterscheidung dessen Verständnis dezentriert. Vor diesem Hintergrund sind die Leitfragen der einzelnen Kapitel insofern als wissenssoziologisch zu verstehen, als sie das Vorhandensein und die Formen des Denkmusters Zentrum und Peripherie in ihren unterschiedlichen Facetten und Ausprägungen, z.B. in territorialer oder funktionaler Hinsicht nachzeichnen. Die Trias Wirkmächtigkeit, Potentiale und Grenzen dient allen Kapiteln als übergeordnete Fragerichtung, die – je nach Fokus – unterschiedliche Perspektiven aufzeigt. Unter Wirkmächtigkeit der Unterscheidung nach Zentrum und Peripherie wird auf der einen Seite die Reichweite innerhalb der soziologischen Theorie verstanden sowie die lebensweltliche Orientierungsleistung der Unterscheidung auf der anderen Seite. Es geht also um den Grad theoretischer Ausformulierung, während zugleich der Niederschlag in institutionellen und handlungsrelevanten Sinnstrukturen thematisiert wird. Zweitens geht es uns darum, die Potenziale der Theoriefigur herauszustellen, für historische wie zeitgenössische empirische Projekte bzw. Phänomene zu nutzen und durch diese zusätzliche Anschaulichkeit die Fruchtbarkeit des Denkens in den Kategorien ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ auszuloten. Drittens sollen die Grenzen unseres Vorhabens, die ‚Einsatz- und Diagnosefähigkeit‘ der Leitunterscheidung nicht unter den Tisch fallen. Die „Polyvalenz des Mythos“ (Gulian 1981: 17) verleitet zu minutiöser Begriffsarbeit, und der Versuch soziale Wirklichkeit entlang der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie zu fassen, macht eben auch immer wieder auf Unzulänglichkeiten in der Beschreibung aufmerksam. Die erste und
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nächste Grenze einer Beschreibung ist in diesem Sinne immer schon das vorangegangene oder nächste Buchkapitel. Soziologisch halten wir es allerdings für nicht wirklichkeitsadäquat, diese ‚Polyvalenz‘ in einer Einstimmigkeit aufgehen zu lassen, und sind deshalb auch in der Darstellungsform und inhaltlichen Konzeption des Buches nicht am Ziel der Einheitlichkeit orientiert. Unsere Ausführungen beanspruchen vielmehr, polyvalent zu sein, und zwar im Wortsinne wirkmächtig in mehrfacher Beziehung. So, wie gemäß der medizinischen Sprache ein Serum ‚polyvalent‘ gegen verschiedene Erreger oder Giftstoffe wirkt, so untersuchen wir von vielfältigen Zugängen und Beispielen her die verschiedenen Dimensionen der Wirkmächtigkeit der Unterscheidung in ‚Zentrum/Peripherie‘. Zu einer abschließenden, einstimmigen Beantwortung der Frage nach der Gestalt der Mitte der Gesellschaft werden wir dabei nicht finden. Schließlich ist gerade der Verlust eines eindimensionalen Blickwinkels auf die soziale Mitte eine der entscheidendsten Erfahrungen der ‚Moderne‘. Wolfgang Eßbach (2009) zufolge legt der theoretische Radikalismus des 20. Jahrhunderts eindrücklich davon Zeugnis ab, dass es die ausgeglichene und neutrale Mitte zwischen den radikalen Kritiken von Rechts und Links nicht mehr gibt. Zugleich reklamiert jeder einzelne der radikalen Theoretiker für sich, die Wurzel, den Kern oder das Zentrum der modernen Gesellschaft bzw. ihres Übels erfasst zu haben. Die daraus folgende Pluralität und Polarität, in der sich jene ‚Wurzel des Übels‘, aber auch der integrative, ‚gute‘ Kern der Gesellschaft auflöst, ist Ausdruck einer tiefgreifenden Rationalitätskrise zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Es gibt keine Mitte mehr im Sinne einer gemeinsamen Rationalitätsgrundlage, und die Überzeugung, dass die Welt letztlich durch eine einheitliche Sicht bzw. Theorie zu begreifen sei, trägt nicht mehr. Das Bild, welches Eßbach infolgedessen als Kartographie der sozialen Zusammenhänge bemüht, ist nicht mehr der Wurzelbaum – jene unterirdische Spiegelung der oberirdischen Verhältnisse, bei der alles von einem Hauptstamm ausgeht. Es ist das von Gilles Deleuze und Felix Guattari (1977; 1992: 11-42) aufgegriffene „Rhizom“: eine zentrumslose, wuchernde, chaotische Vielheit. Auch wenn wir dieses Bild für unsere Gesellschaft nicht revidieren, so gehen wir doch gleichzeitig von einer anhaltenden Wirkmächtigkeit von Zentren und Zentrumsvorstellungen aus. Deshalb bietet sich bezüglich unserer Argumentation, unseres Themas und der Gesellschaft, die wir dabei vor Augen haben, der Begriff der Polyvalenz an, weil er die Ambivalenz von Zentrum und Zentrumslosigkeit gleichsam potenziert, sie aber als Mehrdimensionalität eines Sachverhaltes in sich aufnimmt. Unterschiedliche Grenzbereiche sozialen und soziologischen Wissens erschließen die einzelnen Kapitel dabei insofern, als sie auf Artefakte und Texte
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vergangener Hochkulturen, literarische Zeugnisse, historisches und empirisches Material sowie auf verschiedene Konzepte der soziologischen Theorie zurückgreifen. Dies trägt der Mehrdimensionalität vertretener und vertretbarer Standpunkte hinsichtlich der Leitunterscheidung Rechnung. Durch ihren Theorienpluralismus verhindert die Diskussion verschiedener Deutungen zudem eine neue (theoretische) ‚Zentralisierung‘. Stattdessen geht es darum, eine Debatte und weitere Ausarbeitung der Begriffe ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ zu reflektierten, analytisch gehaltvollen soziologischen Konzepten anzustoßen und voranzutreiben. Die quasi-empirischen Anwendungsbeispiele innerhalb der jeweiligen Teile des Buches dienen schließlich primär dazu, die Fruchtbarkeit und den möglichen Ertrag einer solchen theoretischen Weiterentwicklung aufzuzeigen. Die Untersuchung sozialer Wirklichkeit anhand der Leitunterscheidung von Zentrum und Peripherie hat dabei unserem Verständnis nach drei grundlegende Entscheidungen zu treffen: Erstens geht es um die Frage, welchen Status man den Forschungsobjekten zuschreibt bzw. auf welcher (erkenntnistheoretischen) Ebene man sie ansiedelt: Bezieht sich die Unterscheidung auf materielle oder ideelle Vorstellungen von Zentren? Je nachdem, wie man auf die Frage antwortet, gelangt man einmal zur Bedeutung territorialer Auffassungen und Manifestationen von Zentralität, ein anderes Mal zur Idee einer Mitte selbst, die Vorstellungen diffuser Gesellschaftlichkeit ein Ordnungsprinzip entgegenzusetzen versucht. Zweitens ist zu entscheiden, was primärer Gegenstand der Untersuchung sein soll. Zwei Analyseeinheiten haben eine herausragende Bedeutung in der gegenwärtigen Sozialforschung erlangt, und sie verhalten sich zwar nicht notwendig gegensätzlich, aber durchaus komplementär zueinander: das Individuum einerseits und das System (im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie) bzw. soziale Strukturen andererseits. Moderne Gesellschaften, wie immer man sie im Einzelnen auch verstehen möchte, sind darin sowohl durch die herausragende Stellung des Individuums gekennzeichnet als auch durch ihre hohe funktionale Differenzierung, der die einzelnen sozialen Systeme Rechnung tragen. Drittens scheint uns von weitreichender forschungspraktischer und theoretischer Bedeutung, zu klären, ob und welche Prozesse die Leitdifferenz begleiten und durch sie in Gang gesetzt werden. Auf der einen Seite finden wir hier Mechanismen der Integration in soziale Zusammenhänge, die auf einer grundlegenden Ebene durch Teilhaberechte geregelt werden, auf der anderen Seite Mechanismen des Ausschlusses und der Marginalisierung sozialer Gruppen, die beständig stabilisiert und herausgefordert, d.h. zwischen sozialen Gruppen verhandelt werden. Die von uns gewählten Zugänge zur Unterscheidung Zentrum/Peripherie ergeben sich mithin aus diesen drei basalen Entscheidungen.
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Im ersten Teil argumentieren wir dafür, dass selbst in Zeiten globaler Vernetzung und der damit gemeinhin verbundenen Schrumpfung des Raumes räumliche Differenzierungsformen wirkmächtig bleiben. Den Ausführungen liegt dabei die Annahme zugrunde, dass sowohl Zentren als auch Peripherien lokali-sierbare Einheiten sind, die auf einer Karte visualisiert werden können. Aus-gehend von Friedrich Tenbruck und seiner These, dass die Entstehung von Zentrum und Peripherie ein Merkmal von Hochkulturen sei (vgl. Tenbruck 1986: 264-268), werden im 2. Kapitel babylonische und altisraelische Texte daraufhin befragt, was sie über die räumliche Manifestation der „charismatischen Qualitäten der kosmischen Ordnung“ (Eisenstadt 1982: 103) aussagen. Diese stark auf ein Zentrum fokussierten Hochkulturen werden im dritten Kapitel mit der griechischen Poliswelt und deren räumlicher Ordnung der Kommunikation und Partizipation konfrontiert. Anschließend gehen wir zum gegenwärtigen kapitalistischen Weltsystem über, indem wir in Kapitel 4 die räumliche Dimen-sion der Zentrum/ Peripherie-Differenz um den Aspekt strukturell-ökonomischer Abhängigkeiten erweitern. Schließlich werden vor diesem Hintergrund in Ka-pitel 5 die Global Cities thematisiert, die als gegenwärtige territoriale Zentren eingestuft werden können (Sassen 1991: 3-5). Dabei zeigt sich unter anderem, dass es unmöglich ist, territoriale Zentren ohne einen (religiösen, politischen oder wirtschaftlichen) Funktionsbezug zu thematisieren. Genauso wenig lässt sich die Wirkmächtigkeit territorialer Zentren in Gestalt von Städten und räum-lichen Hierarchien im 21. Jahrhundert ignorieren. Es muss jedoch in Rechnung gestellt werden, dass Zentrumssetzungen (Macht-)Interessen und diskursiven Vorstellungen genügen, die umso zwingender erscheinen, als sich in ihnen politische, religiöse und normative Vorstellungen zu einem unentwirrbaren Amalgam verdichten. Die kolonialen Bemühungen Europas auf dem afrikanischen Kontinent im frühen 19. Jahrhundert legen eindrücklich Zeugnis davon ab, wie an der geographischen Peripherie derartige Vorstellungen soziales Handeln mit grausamen Folgen strukturieren können. In Form eines Exkurses, der den Übergang zum zweiten Teil des Buches bildet, möchten wir dies exemplarisch an den Deutungsmustern, die dem ruandischen Völkermord zugrundeliegen, aufzeigen. An diesem Punkt zeigt sich bereits, dass eine Deutung von Zentrum und Peripherie, die sich allein auf materiell-geographische Manifestationen derselben stützt, nicht erschöpfend ist. Im zweiten Teil des Buches wird daher der Hypothese nachgegangen, dass für Beschreibungen der modernen Welt zunehmend Formen der Differenzierung wichtiger werden, die sich eher auf einer ideellen denn auf der territorialen Ebene ansiedeln lassen. Indem zunächst in Kapitel 8 die für ‚westliche‘ Gesellschaften deutungsmächtige historiographische Diagnose eines epistemologischen Bruchs beleuchtet wird – eine ‚Epochenschwelle
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1800‘, einhergehend mit den Nachwirkungen der Französischen Revolution – stellt sich die Frage, inwiefern neue Ordnungsmuster (oder auch: ideelle Zentren) dem Zerfall der weltanschaulichen Einheit entgegen wirken. Gegenstand der Analyse sind literarische Zeugnisse wie z.B. Bonaventuras Nachtwachen oder Franz Kafkas Türhüterlegende. Denn die Literatur hat dank ihres besonders sensiblen Gespürs für soziale Umbrüche den Orientierungs- und Sinnverlust der Neuzeit am frühesten thematisiert. Auch Kafkas Erzählung Vor dem Gesetz entwirft anhand ihrer Symbolik deutliche Konturen einer materiell schwer fassbaren sinnstiftenden Instanz (Kap. 9). Im Anschluss und mit direktem Bezug zur Kafka-Interpretation werden jene Konturen eines ideellen Zentrums mithilfe eines diskurstheoretischen und machtanalytischen Vokabulars weiter theoretisiert (Kap. 10). Nachgezeichnet wird einerseits, wie ideelle Zentren auf den Ebenen von Diskursen, Interaktion und materiellen Arrangements sichtbar werden, und andererseits, wie sich die Zentren in den neuen Ordnungen der bürgerlichen Welt des 18. und 19. Jahrhunderts niederschlagen (Kap. 11). Wo von sozialer Differenzierung und dem gesellschaftlichen Wandel hin zur Moderne die Rede ist, sollte vom Individuum nicht geschwiegen werden. Im dritten Teil des Buches rückt daher das Individuum als zentrale Analysekategorie moderner Gesellschaften in den Fokus der Aufmerksamkeit. Es werden die Konsequenzen erkundet, die sich für das Individuum aus der Differenzierung sozialer Lebensbereiche ergeben (Kap. 12). Dabei kann auf klassische soziologische Studien von Max Weber (1864-1920), Emile Durkheim (1858-1917) und Georg Simmel (1858-1918) zurückgegriffen werden, denn ihre Analysen zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung verbinden sich traditionell mit einer Verwunderung über das Hervortreten des Individuums. Die Potenzierung individueller Eigenarten wird aber von diesen Theoretikern nicht schlichtweg konstatiert, sondern gilt zumeist als ein Problem – schließlich scheint der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet. Denn mit der Individualität wächst auch das Bewusstsein darüber, was man selbst alles nicht ist. Es kommt die Frage auf, wie bei all den Unterschieden gesellschaftliche Integration möglich sein kann. Die Antworten auf dieses Problem sind zumeist ambivalent: Das Schwanken Durkheims zwischen dem Kult des Individuums und der Vergottung des Kollektivs ist eine der vorgestellten Antworten (Kap. 13), Simmels Hinweis auf die Zerrissenheit der Seele des modernen Menschen die andere (Kap. 14). Den Abschluss dieses Teils bildet der Versuch, in Kapitel 15 und 16 anhand der Denkfigur des Durchschnittsmenschen darzustellen, dass Gesellschaften in Folge der zunehmenden Individualisierung auch ausgefeilte Techniken entwickelt haben, einen Standard fest- und durchzusetzen, an dem sich die Individuen orientieren können: Die Mitte, welche die Integration der Gesellschaft leistet, ist hier nichts anderes als der mittlere Wert, der Durchschnitt, das Normale, welches seine Autorität aus
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der Wiedererlangung transzendentaler Sicherheit bezieht, in der jeder sofort „seine prädestinierte Lücke in der göttlichen Ordnung der Statistik“ (Link 1997: 168) zugewiesen bekommt. Während die Versicherung kollektiver Identität in den Grenzen des Normalismus eine stets fragile Teilhabe verspricht – was als normal wahrgenommen wird, unterliegt der Verteilung selbst und ihrer diskursiven Bestätigung –, haben moderne Gesellschaften auf mannigfaltige Weise versucht, der Desintegration ihrer Mitglieder entgegenzuwirken. Eine der folgenreichsten Entwicklungen stellt dabei die Organisation von Individuen in Nationalstaaten dar. Der Begriff der Gesellschaft verweist dementsprechend zumeist auf eine geographisch, ideell, aber auch staatlich begrenzte Einheit. Das ‚Gravitationszentrum‘ dieser Bestimmung stellt das Konzept der Staatsbürgerschaft dar, das die Zugehörigkeit zu und Teilhabe an politischen, legalen und sozialen Rechten kollektiv und verbindlich regelt. Diese Dimension der Zentrum/Peripherie-Differenz behandelt der vierte Teil des Buches. Im Rückgriff auf Talcott Parsons wird danach gefragt, inwieweit Staatsbürgerschaft als konstituierendes Modell einer gesellschaftlichen Mitte fungiert (Kap. 17 und 18). Dass formalrechtliche Anerkennung darin nicht notwendig mit sozialpolitischer Anerkennung zusammenfällt, die Marginalisierung/Randständigkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen gegenüber einem vorgestellten Zentrum parallel dazu verläuft, soll in Kapitel 19 zu den Pariser Vorstadtunruhen dargestellt werden. Daran zeigt sich, dass Stigmatisierungsprozesse, die auf extralegalen Ebenen verlaufen, die integrative Wirkung der Bürgerrechte nachhaltig herausfordern. Als Ausdruck dieser Dynamik interpretieren wir in Kapitel 20 die Émeutes des Jahres 2005, die von französischen Staatsbürgern ausgingen, denen die Integration in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen verwehrt geblieben ist. Die damit bereits angesprochene funktionale Differenzierung der Gesellschaft problematisieren wir schließlich im fünften Teil des Buches ausführlicher. Hier nehmen wir soziale Systeme zum Gegenstand, um zu verdeutlichen, wie in ihnen die Unterscheidung Zentrum/Peripherie analytisch fruchtbar zu machen ist. Das Ungenügen einer eindimensionalen Zuordnung der beiden Kategorien in Form der Staatsbürgerschaft verweist auf die Notwendigkeit, Zentrum und Peripherie in einer funktional differenzierten Gesellschaft vom Standpunkt der, mit Luhmann gesprochen, verschiedenen Systeme aus zu betrachten. Damit aber wird die Perspektive notwendig polyzentrisch aufgebrochen, wie Kapitel 21 argumentiert. Wir verdeutlichen diesen Perspektivenwechsel zunächst theoretisch anhand von Niklas Luhmanns Systemtheorie und deuten im selben Atemzug die Konsequenzen an, die dies für die Soziologie sowie das Funktionieren von Gesellschaft hat (Kap. 22). Anschließend wenden wir uns zwei Anwendungsbeispielen zu, die illustrieren sollen, wie auf der Ebene von einzelnen Sub-
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systemen der Gesellschaft die Unterscheidung in Zentrum und Peripherie funktional durchschlägt: In Gestalt der in jüngster Zeit immer stärker aufkommenden Konkurrenz zwischen professionellem Online-Journalismus und der partizipativen journalistischen Formate, wie Blogs, Chats, Foren und Twitter lässt sich erstens innerhalb des Systems der Massenmedien eine Unterscheidung in Zentrum und Peripherie ausmachen (Kap. 23). Für die damit verbundenen und bisher sowohl in der Soziologie als auch in den Medien- und Kommunikationswissenschaften kaum verstandenen Phänomene bietet die Systemtheorie also einen vielversprechenden analytischen Zugang an. Zweitens widmen wir uns im 24. Kapitel dem politischen System der Gesellschaft, dessen Ausdifferenzierung als Ergebnis einer Zentralisierung des sozialen Mediums Macht verstanden werden kann. Für das Zentrum/Peripherie-Verhältnis bedeutet dies, dass sich zumindest die diskursive Vorstellung von Politik bzw. Wohlfahrtsstaat als Zentrum der Gesellschaft bis heute durchgehalten hat. In einer funktional differenzierten Gesellschaft allerdings erscheint der Staat nur noch als Zentrum des politischen Systems, demgegenüber sich periphere Organisationen ausbilden und ebenfalls an der politischen Entscheidungsfindung teilhaben. Wir versuchen schließlich in Kapitel 25, die theoretischen Überlegungen, das Beispiel der Massenmedien und die angedeutete Dekonstruktion des Mythos vom Staat als ‚Mitte‘ der Gesellschaft im Sinne einer gesellschaftsweiten Dezentralisierung des Zentrums auszudeuten. Infolgedessen gehen wir davon aus, dass auch soziale Integration nicht mehr – wie im Falle der Staatsbürgerschaft – von einem Zentrum ausgehen kann. Prozesse des Ausschlusses und der sozialen Marginalisierung sowie Versuche, alternative Themen und Strukturen im Medium des sozialen Protests in die Zentren der Funktionssysteme zu tragen, verschwinden damit jedoch nicht von der Bildfläche. Sie sind vielmehr Elemente und Prozesse einer leicht vergessenen, aber dennoch nicht übersehbaren Peripherie, der wir uns am Ende des Buches im sechsten Teil zuwenden. Wir argumentieren ausgehend von zwei theoretischen Kapiteln (26 und 27), dass periphere Phänomene der sozialen Inklusion/Exklusion sowie soziale Bewegungen Verknüpfungen, Vermischungen und Überschreitungen von Systemgrenzen herstellen, die in letzter Instanz zu einer gesellschaftsweiten Peripherie führen können. Ob und inwiefern damit zwangsläufig eine Komplementärform mit entsprechender Reichweite verbunden ist, erörtern wir anhand zweier konkreter Beispiele: Erstens verfolgen wir den Weg der historischen Jugendbewegung aus der Peripherie des Erziehungssystems in andere Funktionssyteme und schließlich deren Vordringen bis ins Zentrum des totalitären Diskurses des NS-Regimes (Kap. 28). Auf den ersten Blick völlig anders gelagerte Prozesse einer eigentümlichen Kombination aus Einschluss und Ausschließung lassen sich anhand des Beispiels von EU-Flüchtlingslagern be-
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Arbeitsgruppe „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“
obachten. Zweitens analysieren wir in Kapitel 29 das System der Flüchtlingslager auf polnischem Territorium als Beispiel dafür, dass in jenen Organisationen, in denen die Gesellschaft über die Exklusion ihrer Mitglieder aus einzelnen Subsystemen entscheidet, funktionale und lebensweltliche Grenzen unscharf und mithin gar annulliert werden. Die damit verbundenen drastischen Konsequenzen für Körper und Identität von Flüchtlingen können wir nur andeuten, da unser Fokus im letzten Kapitel auf den Konsequenzen für die Zentrum/Peripherie-Differenz und die Persistenz eines Mythos der gesamtgesellschaftlichen ‚Mitte‘ liegt. Inwiefern aber alle Kapitel sich an dieser Frage abarbeiten, fassen wir im Schlusskapitel zusammen, das aus diesem Grund ‚Mythos Mitte revisited‘ zum Titel hat. Der Schluss trägt dafür Sorge, dass die im Folgenden in der dargestellten Reihenfolge diskutierten Theorieperspektiven und Begriffsfassungen ihre Polyvalenz nicht verlieren, sondern sie in konzentrierter Form noch einmal entfalten können. Schließlich spiegelt sich darin ebenso wie im gesamten Buch die interne Differenzierung der Soziologie selbst wider. Während die Wissenschaft von der Gesellschaft zu Anfang des 20. Jahrhunderts darum bemüht war, als wissenschaftliche Disziplin einen eigenen Gegenstandsbereich und eine spezifische Methode zu etablieren, ist die Soziologie heute ein anerkanntes akademisches Fach. Einigen konnte man sich indes weder auf einen Gegenstandsbereich noch auf eine Methode. Das Grundlegende der soziologischen Erfahrung ist die Unmöglichkeit, mit einer Theorie den Gegenstandsbereich und dessen Bearbeitung für das gesamte Fach verbindlich festzulegen. Gewiss wird die Kommunikation innerhalb des Faches sowie mit anderen Disziplinen durch Theorien- und Methodenvielfalt erschwert. Auch unser Buch enthält, abgesehen von dem Bezug auf die Klassiker und etwaiger Gemeinsamkeiten, nur wenige theorieinterne Aspekte, die die unterschiedlichen Theorieschulen miteinander verbinden. Allerdings versuchen wir gerade mit der genuin abstrakten Zentrum/ Peripherie-Differenz konkurrierende Theorievorstellungen und erfahrbare Phänomene miteinander ins Gespräch zu bringen. Gemäß dem Bild des Rhizoms haben also neben der modernen Gesellschaft weder die Soziologie noch unser Buch einen einheitlichen (theoretischen) Wurzelkern, aber die verbindenden Fäden bestehen aus der Zentrum/PeripherieDifferenz, von der wir annehmen, dass sie sich in den lebensweltlichen Zusammenhängen der Gesellschaft und in den Theorien über sie wiederfindet; und die wir deshalb als eine ‚soziale Differenzierungsform von hoher kultureller Plausibilität‘ verstehen. In Anbetracht der Komplexität des soziologischen Gegenstandsbereichs erscheint der daraus hervorgehende Theorienpluralismus also nicht als Nachteil, sondern als Voraussetzung der Variierbarkeit verschiedener Begriffe und Aussagensysteme. Für uns dienen ausreichend instruktive und notwendig abstrakte
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Begriffe schließlich nicht mehr nur dazu, ein bestimmtes Phänomen zu beschreiben. Vielmehr vermögen sie, eine je spezifische Strukturiertheit verschiedener Sachverhalte hervorzuheben. Diese Strategie einer forschungs-pragmatisch vorteilhaften Verknüpfung zwischen unterschiedlichen Theorie- und Fachrichtungen scheint in Zeiten unübersichtlicher interner Differenzierung und der Möglichkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit wichtiger denn je. Gelöst werden damit jedoch keineswegs die ‚Differenzen‘ der verschiedenen Theorietraditionen. Es ist eben sinnvoll, die Sphäre der Kultur, wie sie etwa Weber vorschwebt, und die soziale Differenzierung im Sinne der soziologischen Systemtheorie vielleicht als konträr, nicht aber als kontradiktorisch zu behandeln. Setzt die Wirklichkeitswissenschaft Soziologie ihre Erkenntnismittel ‚Gegenstandsangemessen‘ ein, lässt sich so ein ‚differenziertes‘ Bild sozialer Wirklichkeit nachzeichnen.
1. Teil: Territoriale Zentren und Peripherien Christine Schmid, Christine Unrau Exkurs: Anne Härtel
1. Zentrum und Peripherie als geographisch lokalisierbare Einheiten
Babylon, Jerusalem, Delphi und New York: Sitz des Gottes Marduk, Geburtsort verschiedener Religionen, Orakelstadt, finanzielle Kommandozentrale. Was haben diese Orte gemeinsam? Sie alle spiel(t)en in verschiedenen Epochen und Regionen die Rolle von Zentren, denen komplementäre Peripherien gegenüber standen, beziehungsweise stehen. Die Einheiten, deren Zentren diese Orte waren, und die Gründe für ihre zentrale Rolle werden jedoch von verschiedenen theoretischen Konzepten unterschiedlich gedeutet. Dabei besteht die Gemeinsamkeit der in diesem Kapitel betrachteten Konzepte aus unterschiedlichen Epochen und theoretischen Kontexten darin, dass sie Zentrum und Peripherie als geographisch lokalisierbare Einheiten verstehen. Diese Einheiten definieren sich zwar über nicht-geographische Kriterien, könnten jedoch auf einer Landkarte abgebildet werden. Dieser Wesenszug aller hier aufgeführten Beispiele und theoretischen Konzepte ist gleichsam der rote Faden des Textes, an dem sich die Argumentationen aufreihen. Ein Zentrum kann kartografisch als Punkt, Linie oder Fläche dargestellt, in mannigfachen Farben gezeichnet und mit diversen Attributen belegt werden. Die Karte selbst kann unterschiedlichen Maßstabes, thematisch oder topologisch organisiert, sowie interaktiv oder historisch sein. Die hier abgebildeten Karten visualisieren Varianten territorialer Zentrum- und Peripherieverständnisse. Dabei wird die Bandbreite der Konzeptionen deutlich. Darüber hinaus können Widersprüche, Konflikte und Spannungen zwischen verschiedenen Verständnissen von Zentrum und Peripherie mithilfe der Karten aufgedeckt werden. Karten sind Medien, die keineswegs eindeutig und wahr Wirklichkeit abbilden. Sie tragen die Intentionen der Autor_innen in sich und sind demnach immer nur eine Möglichkeit der Abbildung. Durch eine knappe Gegenüberstellung und Kontextualisierung verschiedener Karten versuchen wir den Anspruch der Karten auf Deutungshoheit zu relativieren. Im Folgenden werden zunächst Beispiele vorachsenzeitlicher und achsenzeitlicher1 Zentrums- und Peripheriekonzeptionen diskutiert, in denen die Stadt 1 Karl Jaspers bezeichnet mit ‚Achsenzeit’ die Zeitspanne zwischen 800 und 200 v. Chr. Während dieser Zeit fanden in verschiedenen Weltregionen voneinander unabhängige geistige Durchbrüche
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zum Zentrum erhoben wird. In Kontrast zu diesen monozentrischen Entwürfen werden wir anschließend die antike polyzentrische Polis-Welt untersuchen. In dieser gewinnt das Fehlen eines unstrittigen politischen Machtzentrums besondere Bedeutung. Darauf folgt die Darstellung verschiedener – historischer und aktueller – Interpretationen von Zentrum und Peripherie, die sich primär auf ökonomische Strukturen beziehen und diese zur Ursache einer Ausdifferenzierung in Zentrum und Peripherie erklären. Hierbei verschiebt sich der Bezugsrahmen der jeweiligen Beispiele von der nationalen oder regionalen hin zu einer globalen Ebene. Auf die Erörterung von Bewegungen, die sich der Auflösung der ZentrumsPeripheridifferenz verschrieben haben, folgt eine Präsentation und Problematisierung der Global Cities als neuen Zentren eines Weltmarktes. Das Motiv der Stadt als Zentrum zieht sich also durch den gesamten ersten Teil des Buches. Durch die Auswahl der betrachteten Beispiele versuchen wir der großen historischen und geographischen Reichweite von territorialen Zentrum und Peripheriekonzeptionen gerecht zu werden. Dass dabei nie umfassend analysiert, sondern immer nur angedeutet und exemplifiziert werden kann, liegt auf der Hand. Ziel dieser ersten sechs Kapitel ist es also, das Potenzial und die Grenzen der theoretischen Leitdifferenz Zentrum/Peripherie in Bezug auf ihre territoriale Dimension herauszuarbeiten.
statt, wie z.B. die Erfahrung einer Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz, die Kritik am Mythos und die Entwicklung von Kriterien zur Bewertung des Status Quo. So wirkten in dieser Zeit die Philosophen und Dramatiker in Griechenland, Zarathustra im Iran, Buddha in Indien, Konfuzius und Laotse in China und die Propheten in Israel (vgl. Jaspers 1956: 14-18).
2. Zentrum und Peripherie – ein Charakteristikum von Hochkulturen?
In der territorialen Differenzierung von Zentrum und Peripherie, genauer in der Durchbrechung des Lokalitätsprinzips, sieht Friedrich Tenbruck (1986) den entscheidenden Schritt, der den Übergang von der primitiven Gesellschaft zur Hochkultur markiert. Darunter versteht er den Prozess der Ausgliederung von Funktionen wie Herrschaft, Kriegsführung, Religion und Wirtschaft aus ihren genuinen lokalen Einheiten. Wurden diese Funktionen in primitiven Gesellschaften innerhalb der noch nicht ausdifferenzierten, lokalen Einheit ausgeübt, werden sie im Zuge der Entwicklung zu einer Hochkultur aus dieser herausgelöst und auf einen übergeordneten Apparat übertragen. Die lokalen Einheiten, wie Stamm oder Dorf, verlieren somit ihre Autarkie und werden abhängig von einem Zentrum. Ausgehend vom Zentrum, in dem sich die Spitzen des Apparates versammeln, können dann Befehle an die lokalen Peripherien erteilt oder umgekehrt Nachrichten von ihnen entgegengenommen werden (vgl. Tenbruck 1986: 264-268). Es handelt sich also um eine wechselseitige – aber nicht gleichberechtigte – Abhängigkeit von Zentrum und Peripherie, was Tenbruck anhand der Funktion der Stadt verdeutlicht: „Die Stadt ist in diesem Sinne das sichtbarste Pendant zur Ausgliederung der Funktionen aus den lokalen Einheiten. Sie ist zwar äußerlich lokales Gebilde, aber doch von einer neuen Ordnung; denn strukturell ist sie das Zentrum einer Teilgesellschaft, die die nach Funktionsverlust unvollständigen lokalen Einheiten komplettiert, so wie sie auch andererseits von jenen komplettiert wird“ (Tenbruck 1986: 266).
Beispiele für Kulturen mit dieser territorialen Struktur von Zentrum und Peripherie sind Sumer, Ägypten, China, die griechischen Stadtstaaten, Rom, die europäischen Staaten der frühen Neuzeit oder die mittel- und südamerikanischen Großkulturen (vgl. Tenbruck 1986: 267). Interessanterweise kreist auch eines der ersten Zeugnisse der Hochkultur überhaupt, das ursprünglich sumerische Gilgamesch-Epos um die herausragende Bedeutung der Stadt und feiert seinen Helden als Erbauer der Mauer Uruks und des großen Tempels:
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Christine Schmid, Christine Unrau „Des wehrhaften Uruk Mauer er erbaute/ Des geweihten Eanna reines Heiligtum/ Schau seine äußere Mauer, deren Gesims wie Kupfer scheint/ Blick auf die Innenmauer, die ohnegleichen ist“ (1. Tafel, I, 9-11, zitiert nach Mumford 1979: 80).
Laut Lewis Mumford sind gerade die Mauer und der Tempel die beiden Hauptelemente der „städtischen Implosion“ (ebd.), wobei der Tempel die Verortung des Heiligen sichtbar machte, während die Mauer „den Unterschied zwischen den Menschen drinnen und denen draußen betonte – zwischen dem freien Feld, das den Heimsuchungen durch wilde Tiere, räuberische Nomaden und feindliche Truppen ausgesetzt war, und der rings umschlossenen Stadt, wo man selbst in Zeiten der Kriegsgefahr mit dem Gefühl äußerster Sicherheit arbeiten und schlafen konnte“ (Mumford 1979: 77).
Innerhalb der Stadt wurde die Konzentration von Funktionen durch die baulichen Monumente des Tempels und des Marktplatzes repräsentiert, z.B. in Athen durch Akropolis und Agora. In Rom findet sich mit dem Forum, das eine Art Kombination von Agora und Akropolis darstellt, eine noch stärkere lokale Konzentration verschiedener Tätigkeiten: Menschen fanden sich hier ein, um „einzukaufen, zu beten, oder zu plaudern oder als Zuschauer oder Redner an öffentlichen Geschäften oder privaten Prozessen teilzunehmen“ (ebd.: 261). Insofern lag auf dem Forum Romanum „der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens nicht nur der Stadt Rom, sondern des Reiches“ (ebd.). Auch Shmuel Eisenstadt benutzt in seiner Analyse von Gesellschaften unterschiedlichster Epochen und Regionen ein Konzept von Zentrum und Peripherie, das territoriale Dimensionen mit einschließt. Bei seiner Definition von Zentrum geht er zunächst von den Überlegungen Edward Shils’ aus (vgl. Eisenstadt 1982: 51). Dieser versteht unter dem Zentrum einer Gesellschaft ihr zentrales Wertsystem, genauer das Zusammenspiel der Werte, die den ökonomischen, politischen, kirchlichen Eliten einer Gesellschaft als Bewertungs- und Handlungsmaßstab dienen (vgl. Shils 1975: 3-4).2 Während Shils also keine territoriale Zentrums- und Peripheriekonzeption zugrunde legt, weist Eisenstadt darauf hin, dass die Zentrumsbildung mit der Institutionalisierung bestimmter „Orte oder Bereiche oder Symbole“ einhergeht, „die zur Steuerung des Strebens nach sozialer und kultureller Ordnung und nach Partizipation an dieser Ordnung besonders geeignet erscheinen“ (Eisenstadt 1982: 103). Äußere Manifestationen für die Kristallisation der Zentren als unabhängige und klar definierte Einheiten sieht auch Eisenstadt im Bau von Tempeln und Palästen. Er betont jedoch, dass die Errichtung solcher Gebäude nicht auf die 2
Siehe hierzu ausführlicher Kapitel 18, Abschnitt 1.
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Zentren imperialer Systeme beschränkt war. Als die entscheidenden Merkmale von Zentren in imperialen Gesellschaften nennt Eisenstadt stattdessen die Fähigkeit des Zentrums, die Peripherie zu durchdringen, die Abgrenzung der dort versammelten Eliten gegenüber den sozialen Einheiten der Peripherie und deren Fähigkeit, ihre eigenen Symbole und Kriterien der Rekrutierung und Organisation zu entwickeln (vgl. Eisenstadt 1982: 103). Auf patrimoniale Gesellschaften, zu denen Eisenstadt beispielsweise das mongolische Großreich Dschingis Khans zählt, trifft dies hingegen nur in weit geringerem Maße zu (vgl. ebd.: 109). Dem entspricht die Tatsache, dass etwa im mongolischen Reich das Zentrum immer dort lag, wo sich der Khan mit seinem umherziehenden Hoflager gerade aufhielt: „Das Zentrum mongolischer Herrschaft war das Zelt des Herrschers, in dem die zur Ausübung und Delegierung der Macht nötigen Informationen zusammenliefen“ (Conermann 1997: 63).
Eine Struktur mit beweglichen Zentren wies auch das mittelalterliche Reich seit der Frankenzeit auf, das zwar eine Vielzahl nachgeordneter Zentral-Orte, aber keine Hauptstadt besaß, sodass laut Ehlers (2007b: 17) „wenn nicht von einer Unfähigkeit, so doch wohl vom fehlenden Willen beziehungsweise der fehlenden Kraft der ostfränkischen-deutschen Könige gesprochen werden [kann], ein Zentrum zu entwickeln, das transpersonalen und überdynastischen Bestand hatte [...].“
In den zentralisierten bürokratischen Reichen hingegen lag die besondere Rolle zentraler Orte laut Eisenstadt auch darin begründet, dass sie die „charismatischen Qualitäten der kosmischen Ordnung“ verkörperten, die sich gemäß dem Weltbild dieser Kulturen in der Gesellschaft widerspiegelten (vgl. Eisenstadt 1982: 103). Ähnlich interpretiert auch Mumford die spezifische Differenz zwischen Dorf und Stadt: „Solcher heiligen Macht beraubt, hätte die antike Stadt nicht mehr sein können als ein Haufe gebrannten Lehms oder Steine ohne Gestalt, ohne Zweck und Ziel; denn ohne solche kosmische Überhöhungen konnte der einfache Mann ebenso gut oder gar besser im Dorfe leben. Sobald aber das Leben einmal religiös als eine Nachahmung der Götter vorgestellt war, wurde die Stadt des Altertums ein Abbild des Himmels und blieb dies bis in die römische Zeit hinein“ (Mumford 1979: 81).
Auch hierfür liefert die Mythologie der frühen Hochkultur Babylons ein Beispiel: Der babylonische Schöpfungsmythos Enuma Elish (Lambert 1967), der nach dem Aufstieg Babylons zur wichtigsten Stadt des Zweistromlandes entstanden ist, vermittelt ebenfalls die zentrale Rolle des Stadtgottes Marduk. Darüber hinaus schildert der Mythos, wie gleichzeitig mit der Gründung Babylons die Ordnung des Gottesdienstes unter den Menschen etabliert wird. Die Stadt reprä-
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sentiert also alle Dimensionen der kosmischen und politischen Ordnung (vgl. Leidhold 1990). Die folgende Abbildung zeigt die auf eine Tontafel eingravierte ‚babylonische Weltkarte’, möglicherweise die älteste Weltkarte überhaupt. Es handelt sich dabei um eine Kombination aus Bild und Text. Während der Text Bezüge sowohl zum Gilgamesch-Epos als auch zum Enuma Elish aufweist, zeigt die Karte die Welt aus der Vogelperspektive mit Babylon und Assyrien im Zentrum, umgeben von zwei konzentrischen Kreisen, die den Ozean aus Salzwasser darstellen. Die Stadt Babylon ist dabei besonders groß abgebildet und anhand des durch die Stadt fließenden Flusses Euphrat gekennzeichnet (vgl. Pongratz-Leisten 2001: 274-276).
Abb. 1: Babylonische Weltkarte; Quelle: British Museum, Mark Anthony Balucan (als public domain verfügbar unter URL: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Baylonianmaps.JPG).
Während Babylonien und der kosmologische Mythos Enuma Elish einer vorachsenzeitlichen Kultur angehören, ist der Wandel in der politischen und religiösen Bedeutung des Zentrums Jerusalem für das Volk Israel ein Beispiel für die Innovationen der Achsenzeit. Die Veränderungen in der Interpretation Jerusalems lassen sich anhand der Prophetenworte nachvollziehen: Die heilige Stadt verkörpert hier nicht mehr nur den Sitz der göttlichen Präsenz und der politischen Ordnung einer partikularen Einheit, sondern verweist auf Transzendenz und Universalität: Vor der Landnahme war das Zelt, in dem sich die Bundeslade befand, der Ort der Begegnung mit Gott. Nach der Landnahme und der Eroberung Jerusa-
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lems durch David wurde die Bundeslade hingegen nach Jerusalem und dann in den von Davids Nachfolger Salomon erbauten Tempel gebracht. Daraufhin setzte sich theologisch die Vorstellung vom Tempel auf dem Berg Zion als dauerhafte Wohnstätte JHWHs bei seinem Volk durch. Besonders in den Büchern Samuel und Könige kommt zum Ausdruck, dass in Jerusalem der heilige Ort wie das Volk Israel selbst „zu Ruhe gekommen ist“ (vgl. Schreiner 1963: 296-297). Bei den Propheten Jesaja und Ezechiel wird dann die Bedeutung Jerusalems als geistiges Weltzentrum und als Zentrum der Heilserwartung betont: Am Tempel wird Gottes Gerichtshandeln beginnen und hier wird sein Heilshandeln am Ende auch zum Ziel kommen (vgl. Weinfeld 1987: 254; Baltzer 1971: 29). Kritik an einer Fixierung auf die Präsenz Gottes im Jerusalemer Tempels findet sich hingegen bei Jeremia: „Vertraut nicht auf die Lügenworte: 'Der Tempel JHWHs, der Tempel JHWHs, der Tempel JHWHs ist dies!' Nun vertraut ihr auf die Lügenworte. Nicht war: Stehlen, ehebrechen, falsch schwören und dann kommt ihr und tretet vor mich hin und sagt ‚Wir sind gerettet.’ Geht doch zu meiner Stätte in Schilo und seht, was ich ihr getan habe“ (Jer 7, 4-5).
Jeremia verweist hier auf die Zerstörung des Tempels von Schilo, die im 11. Jh. v. Chr. tatsächlich stattgefunden hatte und warnt, dass das Gleiche auch mit Jerusalem geschehen könnte. Die Kritik zielt dabei auf die Bedeutung der inneren Haltung und des Verhaltens, die wichtiger ist als die Kultstätte, eine typisch achsenzeitliche Entdeckung: „Die kultische Gegenwart JHWHs wird für seine Verehrer und Verehrerinnen nur zum Segen, wenn sie dieser Gegenwart durch ihr ethisches Verhalten entsprechen. Der Akzent liegt auf der Inkompatibilität zwischen der Gegenwart JHWHs und dem Verhalten der Jerusalemer Bevölkerung, das nicht Segen, sondern nur Fluch bewirken kann“ (Keel 2007: 644).
Nach der Zerstörung des ersten Tempels beginnt die prophetische Theologie die Fixierung auf Jerusalem als Wohnstätte Gottes noch radikaler in Frage zu stellen, etwa, wenn es bei Deuterojesaja heißt: „So spricht der HERR: Der Himmel ist mein Stuhl und die Erde meine Fußbank; was ist's denn für ein Haus, dass ihr mir bauen wollt, oder welches ist die Stätte, da ich ruhen soll?“ (Jes 61,1). Statt eines speziellen Ortes werden die Worte der Propheten oder die Zuwendung zu Armen und Unterdrückten zu Möglichkeiten der Begegnung mit Gott (vgl. Höffken 1998: 246). In der Geschichte des Volkes Israel sorgte also letztlich die theologische Reflexion dafür, dass die Fixierung auf Stadt und Tempel als Sitz Gottes, des Königs und der Ordnung relativiert wurde, ohne dass Jerusalem seine besondere Rolle verlor. Die Bedeutung der Stadt als Abbild des Kosmos verschwand jedoch nie völlig, sondern wurde im Laufe der Säkularisierung der Gesellschaft ergänzt
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durch die Rolle als „Sitz von Recht und Gerechtigkeit, Vernunft und Billigkeit“ (Mumford 1979: 57). Denn um gegen irrationales Brauchtum oder Gewalt Recht zu bekommen, muss man den Schutz des Gerichtshofes in der Stadt aufsuchen (vgl. ebd.).3 Verbunden mit der Funktion der Stadt als Repräsentantin der Ordnung und Abbild des Kosmos ist ihre Bedeutung als der Ort, an dem das Potential des menschlichen Lebens am besten entwickelt werden kann: „Außerdem bedeutete das Leben in der Stadt, im Anblick der Götter und ihres Königs, die Erfüllung der äußersten Möglichkeiten, die das Leben bot“ (Mumford 1979: 57).
So schwärmt bereits das Gilgamesch-Epos vom „mauerbewehrten Uruk/ Wo die Leute in festlichen Gewändern prangen, wo jeder Tag zum Festtag wird“ (1. Tafel, V, 6-8, vgl. Mumford 1979: 80). Obwohl es sich hier sicherlich um eine Übertreibung handelt, kommt doch zum Ausdruck, dass die neuen Formen des städtischen Gemeinwesens Muße und Entspannung ermöglichen oder zumindest in Aussicht stellen. Entfernt erinnert dieser Ausspruch bereits an den berühmten Satz des Aristoteles, wonach die Polis zwar um des Überlebens willen entstand, dann aber um des guten Lebens willen fortbesteht (Politik, I, 2, 1253a). Auch im hochmittelalterlichen Kaiserreich, das ja, anders als das ägyptische, babylonische oder römische Reich, keine Hauptstadt besaß, blieb der Mythos von der Stadt als Ort der Verwirklichung menschlicher Freiheit durchaus bestehen: ‚Stadtluft macht frei’ bedeutete nicht nur, dass der Unfreie in der Stadt für seinen Dienstherrn unauffindbar wurde und nach einem Jahr und einem Tag Aufenthalt auch nicht zurückgefordert werde konnte, sondern wurde zu einem bis heute gebräuchlichen Wort, das die Möglichkeiten der Stadt zum Ausdruck bringt.
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In Kapitel 9 und 10 wird anhand von Kafkas Türhüterlegende gezeigt, wie diese Hoffnung enttäuscht und ad absurdum geführt werden kann.
3. Monozentrische Reiche und polyzentrische Poliswelt
Der Ursprung der Stadt als klar von der Peripherie getrenntem Zentrum war nach Mumford (1979: 117) also religiöser Natur, und alle ihre schöpferischen Tätigkeiten waren an die Religion gebunden. Damit ging eine starke Monopolstellung der Priester einher: „Die sakralen Botschaften, die in den Sternen oder den Eingeweiden von Tieren geschrieben standen, in Träumen, Halluzinationen und Prophezeiungen, fielen in die besondere Zuständigkeit der Priester. Dieser hatten lange alle schöpferischen Kräfte monopolisiert und die Gestalt der Stadt war Ausdruck dieses Monopols“ (ebd.).
Allerdings gibt es in der Geschichte eine bedeutende Ausnahme von dieser Regel, nämlich die polyzentrische Welt der griechischen Poleis. Während Eisenstadt die Ähnlichkeit dieser „exzeptionellen Stadtstaaten“ mit den imperialen Gebilden feststellt (vgl. Eisenstadt 1982: 58), hebt etwa Christian Meier die Einzigartigkeit der griechischen Poliskultur aufgrund der fehlenden Zentralgewalt hervor: Denn gerade diese „politische Schwäche“ (Meier 1993: 58) bedeutete laut Meier die Abwesenheit einer Instanz, die in anderen Gesellschaften viele Bereiche des Lebens monopolisiert: „Dadurch fehlte den antiken Gemeinwesen ein ganz wesentliches Element, mit dem wir heute nahezu selbstverständlich rechnen: Monarchien und – für die Neuzeit: – staatliche Zentren dieser Art pflegen ja vielerlei an sich zu ziehen und zu vermitteln. Nicht nur Steuern, sondern auch Denken, Fühlen und Handeln nehmen sie in Anspruch, ziehen es in gewissem Umfang von den Einzelnen ab, um sich selbst damit anzufüllen und das Ganze von sich abhängig zu machen“ (ebd.).
So gab es beispielsweise keine Monopole auf die leicht zu erlernende Schrift oder eine Instanz, die darüber entscheiden konnte, was veröffentlicht werden durfte und was nicht (vgl. Meier 1993: 125). Positiv formuliert sorgte das Fehlen eines Machtzentrums während der Anfangsphase der griechischen Kulturbildung für einen großen Handlungsspielraum des Einzelnen, der auch genutzt wurde: „Der Beginn der intensiven Phase der griechischen Kulturbildung ist dadurch ausgezeichnet, dass in ihm die politischen Zentralgewalten, insbesondere die Monarchien, schwach waren. Die ungeheuren Handlungsmöglichkeiten, die Freiheit, viel ausrichten zu können, die enorme Ausweitung des Horizonts, der Kenntnisse, der Mittel und Spielräume – all dies wurde von re-
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Christine Schmid, Christine Unrau lativ Vielen über ganz Griechenland hin wahrgenommen, praktiziert und zum eigenen Vorteil ausgebeutet“ (Meier 1980: 61).
Eine besonders wichtige Rolle für die Besonderheit der griechischen Kultur spielte laut Meier dabei die Tatsache, dass sich in den verschiedenen Poleis eine unabhängige Intellektuellenschicht entwickeln konnte, die nicht an Königshöfe oder Tempel gebunden war: „So wurde ihr Denken nicht nur Sache dienstbarer Spezialisierung, zum Mittel, die Überlegenheit der Herrschenden und die Abhängigkeit der Beherrschten zu steigern. Sie konnten sich nicht nur an die Inhaber der Macht, mussten sich vielmehr oft genug – wie Solon – an alle Bürger der Stadt wenden“ (Meier 1993: 172).
Dafür, dass sich dieses nicht als Teil einer Machttechnik sondern zur allgemeinen Orientierung genutzte Denken zu einem Stil verfestigte, war jedoch laut Meier ein intellektuelles Ambiente notwendig, in dem Sachverstand, Kenntnis und Einsicht in die Zusammenhänge die entscheidenden Kriterien waren (vgl. Meier 1987: 110-111). Für die Entstehung eines solchen Ambientes spielte die Orakelstadt Delphi eine entscheidende Rolle, die nicht nur als Anlaufstelle für bestimmte Ratschläge, sondern vor allem auch als Treffpunkt und Kommunikationsplattform diente: „Die in Delphi vermittelte, wenngleich nicht nur an Delphi gebundene Kommunikation aber war die Vorbedingung für die Beschleunigung und Vervielfältigung der unter den Griechen erzielten Erkenntnisse, zugleich für die geistige Auseinandersetzung und die gegenseitige Vergewisserung, schließlich für die Autorität des griechischen Denkens. In ihr gewann die griechische Intelligenz ihren Rang, ihren Ort in der Gesellschaft, ihre Unabhängigkeit, sowie ihre Eigenart“ (ebd.: 111).
Delphi übernahm also für die Ägäiswelt durchaus die Funktion eines Zentrums, aber eben nicht als Sammelpunkt der Macht, sondern als „Umschlagplatz für Ideen und Probleme“ (Meier 1993: 54). Die Struktur der griechischen Poliswelt war also in zweierlei Hinsicht völlig anders als die der römischen Zivilisation und anderer imperialer Hochkulturen: Es gab dort erstens kein unumstrittenes geographisch definiertes Machtzentrum und zweitens keine Konzentration der Teilhabe am politischen Prozess auf einen minimalen Teil der Bevölkerung. Den grundsätzlichen Unterschied zwischen der griechischen Poliswelt und den imperialen Kulturen in Bezug auf die Art der Zentrum/Peripherie-Beziehungen thematisiert auch der Politikwissenschaftler Wolfgang Leidhold (2002). Er betont dabei vor allem den Aspekt der Kommunikation und der Partizipationsmöglichkeiten. Zunächst stellt er fest, dass vor der Entwicklung moderner Massenmedien nur auf der lokalen Ebene intensiv, schnell und wechselseitig kommuniziert werden konnte. Diese intensive Form der Kommunikation ist aber
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– so Leidhold weiter – gerade die Art, in der Regeln ausgehandelt werden, d.h. ohne Massenmedien kann der politische Prozess nur nach dem Paradigma der Gesprächsrunde stattfinden (vgl. Leidhold 2002: 157-158). Sobald der lokale Horizont überschritten wird, wie es etwa in den frühen Großreichen der Sumerer, Babylonier oder Inkas der Fall ist, wird genau diese Form der Kommunikation hingegen unmöglich: Dann können Regeln nur noch weitergegeben werden, nachdem sie bereits getroffen wurden und die Weitergabe erfolgt in Form einer Befehlskette. Diese Situation beschreibt Leidhold folgendermaßen: „Die Regelung aber wird im Zentrum getroffen, und nicht ‚unterwegs‘ oder am Ziel. Aussendung und Sammlung geschehen nach dem Modell der Kette, wie etwa in der Boten- oder Befehlskette […]. Die älteren Kommunikationsverhältnisse ordnen sich als ein Zentrum in dem gehandelt und als eine Peripherie, welche ‚an die Kette gelegt‘ wird. An der Kette zu liegen heißt: nicht an der politischen Partizipation teilnehmen zu können“ (ebd.: 158).
In diesem Zusammenhang verweist Leidhold darauf, dass die Griechen alle Ordnungen, die ein größeres Gebiet als das der Polis umfassten, pauschal mit dem Begriff „Basileia“ bezeichneten und als unpolitisch beurteilten (vgl. ebd.: 159). Durch die Entwicklung von Massenkommunikationsmitteln und durch die Beschleunigung des Transports konnte jedoch eine großräumige Ordnung entstehen, in der die Partizipation der Peripherie möglich wurde. Den Beginn dieser Entwicklung sieht Leidhold im Buchdruck und der Verbesserung von Schifffahrt und Wegebau. Ab dem 19. Jahrhundert führt die Nutzung von Medien, die die Zeitverzögerung beseitigen, zu einem weiteren Wandlungsprozess, der zwei Phasen beinhaltet: In einer ersten Phase begünstigt die Entwicklung des Rundfunks die Wiederkehr einer starken Zentrale, die sich die Kontrolle über die Massenmedien sichert. Diese Massenmedien, die typischerweise keinen Rückkanal haben, schwächen demnach die Partizipation der Peripherie und begünstigen möglicherweise auch das Auftauchen totalitärer Herrschaftsformen. In liberalen Gesellschaften gibt es zwar kein Monopol in der Kommunikation, aber auch hier verläuft ein Bruch durch die politische Öffentlichkeit, und zwar zwischen der Gruppe jener, die die – privaten – Medien besitzen, und derer, die sie nur nutzen. Erst in einer zweiten Phase, die vor allem durch die Perfektionierung der Netzwerke im Internet charakterisiert ist, kann laut Leidhold diese Begünstigung der Zentrale wieder verschwinden (vgl. ebd.).
4. Weltsystem und Dependenz
Eine Interpretation des Zusammenhangs von Zentrum und Peripherie, die sich nicht auf Partizipation und Kommunikation, sondern auf weltweite ökonomische Strukturen bezieht, findet sich bei Immanuel Wallerstein. Sein Analysegegenstand ist das moderne Weltsystem, das nach seiner Charakterisierung größer ist als jede juridisch definierte, politische Einheit, und dessen Teile vor allem durch ökonomische Beziehungen miteinander verbunden sind (Wallerstein 1974: 15). Die historischen Anfänge dieses Weltsystems erkennt er in der fortschreitenden Angleichung von Preisen seit Beginn des sechzehnten Jahrhunderts. Im Zuge dieser Preisangleichung wuchsen mehrere zuvor getrennte Systeme – der christliche Mittelmeerraum, das flandrisch-hanseatische Handelsnetzwerk, die Gebiete östlich der Elbe und Teile der Neuen Welt – zu einem System zusammen (vgl. Wallerstein 1974: 68-74?). Dann, ab ca. 1550 konzentrierten sich laut Wallerstein die industriellen Aktivitäten, die zunächst auf einer Achse zwischen Flandern und der Toskana verteilt waren, auf Nordwesteuropa (vgl. Wallerstein 1974: 226). Gleichzeitig kristallisierte sich das moderne Weltsystem in seiner seither vorherrschenden Form heraus: „The new system was to be the one that has predominated ever since, a capitalist worldeconomy whose core-states were to be intertwined in a state of constant economic and military tension, competing for the privilege of exploiting (and weakening the state machineries of) peripheral areas, and permitting certain entities to play a specialized, intermediary role as semiperipheral powers“ (Wallerstein 1974: 196).
Wallerstein beschreibt folglich eine Form kapitalistischer Weltwirtschaft, deren Kernstaaten untereinander um das Privileg konkurrieren, die peripheren Gebiete auszubeuten und gleichzeitig ihre Staatsapparate zu schwächen. Die territoriale Ausdifferenzierung in Zentrum und Peripherie beruht dabei maßgeblich auf Arbeitsteilung: Arbeiten, die speziellere Kenntnisse und eine höhere Kapitalausstattung verlangen, werden nur in den zentralen Gebieten ausgeführt (Wallerstein 1974: 350).4 In der Peripherie werden demgegenüber Güter produziert, die nur gering qualifizierte Arbeitskräfte und wenig Kapitalausstattung erfordern: 4 Diese Produktionsweise wird heute mit dem Begriff „humankapitalintensiv“ (Kulke 2004:85) umschrieben.
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Christine Schmid, Christine Unrau “The periphery of a world economy is that geographical sector of it wherein production is primarily of lower-ranking goods (that is, goods whose labour is less well rewarded) but which is an integral part of the division of labour, because the commodities involved are essential for daily use” (Wallerstein 1974: 301).
Die Bipolarität von Zentrum und Peripherie erweitert Wallerstein um die Komponente der Semiperipherie. Sie steht in vielfacher Hinsicht zwischen Kernstaaten und Peripherie, z.B. im Hinblick auf die Komplexität der ökonomischen Aktivitäten, die Stärke der Staatsmaschinerie oder die kulturelle Integrität. Strukturell kommt ihr die Aufgabe zu, den politischen Druck, der auf das Zentrum ausgeübt wird, umzulenken und so das Zentrum zu entlasten (vgl. ebd.: 349). Außerhalb der Peripherie verortet Wallerstein die Außenarena, mit der ein Weltsystem zwar Handelsbeziehungen unterhält, die aber nicht Teil des Systems ist, da die gehandelten Waren – vor allem Luxusartikel – nicht essentiell für den täglichen Gebrauch sind (Wallerstein 1974: 349). Die hohe Stabilität des modernen Weltsystems mit seiner dreifachen Differenzierung in Peripherie, Semiperipherie und Zentrum erklärt Wallerstein vor allem dadurch, dass es gerade nicht von zentralen politischen Autoritäten sondern von den Marktkräften aufrechterhalten wird: „Since a capitalist world-economy essentially rewards accumulated capital, including human capital, at a higher rate than „raw“ labour power, the geographical maldistribution of these occupational skills involves a strong trend toward self-maintenance. The forces of the marketplace reinforce them rather than undermine them. And the absence of a central political mechanism for the world-economy makes it very difficult to intrude counteracting forces to the maldistribution of rewards” (ebd.: 350).
Die ökonomische und soziale Kluft zwischen den Gebieten des Weltsystems wird laut Wallerstein daher immer größer. Allerdings verweist er darauf, dass bestimmte Regionen ihre Position innerhalb des Weltsystems entweder verbessern oder verschlechtern können, beispielsweise, wenn sie ihre Rolle als Kernstaaten verlieren und zur Semiperipherie ‚absinken’ oder durch die Expansion des Weltsystems von einem Teil der Peripherie zur Semiperipherie werden (ebd.). Ein anderer Zweig der Weltsystemtheorie, bekannt als Dependenz- oder Dependencia-Theorie, konzentriert sich auf die Gründe der aktuellen Unterentwicklung der ‚Dritten Welt’. Diese sehen die Dependenztheoretiker – wie die Bezeichnung schon nahe legt – vor allem in der Abhängigkeit der „peripheren Satelliten“, d.h. der Entwicklungsländer, von den „Metropolen“, d.h. der Industrieländer (Frank 1972a: 26). André Gunder Frank, einer der Begründer der Dependenztheorien, gibt in Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika eine funktionale Erklärung des globalen wirtschaftlichen Ungleichgewichtes und der damit einhergehenden Aufteilung in Dritte und Erste Welt (vgl. ebd.: 10-14).
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Dabei ist, wie auch bei Wallerstein, die weltweite Dominanz kapitalistischer Strukturen der Ausgangspunkt seines Ansatzes. Laut Frank bilden materielle Faktoren und ökonomische Strukturen die Grundlage weiterführender politischer und sozialer Entwicklung. Das heißt, der politische und soziale Fortschritt folgt auf den ökonomischen und ist von diesem abhängig (vgl. Hout 1993: 55-57). Einseitig ausbeuterische Handelsbeziehungen, die laut Frank die einzig mögliche Form von Handelsbeziehung im Kapitalismus darstellen, hemmen demnach sekundär die politische, soziale und kulturelle Entwicklung eines Staates. Die dominierenden Gebiete bereichern sich auf Kosten der wirtschaftlich abhängigen. Da Wachstum innerhalb eines festgelegten Territoriums, beispielsweise eines Staates, für Frank nur eine finite Größe sein kann, verlagert sich die Ausbeutung immer weiter in periphere Gebiete (vgl. Frank 1969). Letztendlich sind es also ausbeuterische Beziehungen, die zu einer Unterentwicklung eines Staates führen und damit die Entstehung von globalen Zentren und Peripherien begründen. Offenbar konzentriert sich Frank in seiner Dependenztheorie auf den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Abhängigkeit und Entwicklung. Dieser spiegelt sich im Wohlstand wider und macht einen Nationalstaat zur Peripherie oder zum Zentrum, zum Satelliten oder zur Metropolis. Die Peripherie ist damit wesentlich durch ihre wirtschaftliche Abhängigkeit, den daraus resultierenden geringen Wohlstand sowie die kulturell, sozial und politisch defizitäre Entwicklung, charakterisiert (vgl. Hout 1993: 60-64). Unterentwicklung ist laut Frank nicht der oftmals angenommene Urzustand einer Gesellschaft, der etwa von traditionellen Strukturen geprägt ist und durch Aufgabe dieser Charakteristika und Anpassung an entwickelte Länder überwunden wird. Vielmehr ist Unterentwicklung eine Folge des globalen kapitalistischen Systems. Unterentwicklung und Entwicklung sind mithin zwei antagonistische Folgen ein und desselben Prozesses: des Vormarsches des Capitalist World System (vgl. Frank 1969: 21-37). Dabei bleibt jedoch immer zu beachten, dass die Abhängigkeit sich zunächst auf wirtschaftliche Bedingungen und nicht auf politische, soziale oder kulturelle Entwicklungen bezieht. Dieser ökonomische Reduktionismus ist – neben der mangelnden Konkretheit und empirischen Überprüfbarkeit – ein häufiger Kritikpunkt an der Dependenztheorie (vgl. Sautter 1977). Er führt dazu, so die Kritik, dass die Dependenztheorie nicht erklären kann, warum unterschiedliche wirtschaftliche Situationen in Ländern auftreten können, die grundsätzlich ähnliche Ausgangsbedingungen hatten. Periphere Satellitenstaaten können ihre Situation in der Dependenztheorie zwar verändern, die Entwicklung ist jedoch immer Teil des Gesamtkontextes und wird durch das kapitalistische Weltsystem gesteuert. Nur in Zeiten einer weltweiten Krise des Systems können sich Satellitenstaaten entwickeln und teilweise
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von der Metropolis, das heißt dem Zentrum, ablösen. Entsprechend dieser Theorie, gibt das Weltsystem also vor, wie stark sich einzelne Satellitenstaaten emanzipieren können. Politische Strategien der Peripherien zur ökonomischen Entwicklung hätten der Dependenztheorie zufolge keine Relevanz. Deutlich wird in diesen Erklärungen zu der Entwicklung von Zentren und Peripherien, beziehungsweise deren Verlagerungen, dass Frank in seiner Dependenztheorie einen globalen Bezugsrahmen für seine Betrachtungen funktionaler Strukturen setzt. Das Prinzip der ökonomischen Abhängigkeit kann zwar auf die Strukturen innerhalb von Staaten angewendet werden, es ist jedoch vorrangig in der globalen Perspektive gedacht. Nationale Eliten, von Frank in Anlehnung an den Marxschen Terminus ‚Lumpenproletariat’ als ‚Lumpenbourgeoisien’ bezeichnet (Frank 1972b), dominieren nationale ökonomische Strukturen und bestimmen die Entwicklung zentraler Gebiete in der Peripherie der Satellitenstaaten. Ihre Existenz führt gleichsam eine doppelte Dependenz der peripheren Gebiete der Peripherie und eine extreme Polarisierung der Bevölkerung innerhalb des Satelliten herbei. Die am kapitalistischen Weltsystem partizipierende ‚Lumpenbourgoisie’ verhindert die Existenz einer nationalen Basis von Satellitenstaaten und damit jegliche Möglichkeit der Auflehnung gegen dieses. Globale Peripherien selbst können also wiederum in regionale Zentren und Peripherien separiert werden (Hout 1993: 58-60). Wesentlich detaillierter als Frank beschreibt Samir Amin (1976), ein weiterer prominenter Vertreter der Dependenztheorien, die Charakteristika peripherer Länder. Alle peripheren Formationen sind laut Amin durch folgende vier Merkmale gekennzeichnet: 1. die Vorherrschaft kapitalistischer Agrarwirtschaft, die die Exportabhängigkeit von Primärgütern mitbegründet, 2. die Existenz einer ‚trading Bourgoisie’, die die Verbindung zum Zentrum darstellen und von den ausbeuterischen Beziehungen profitieren, 3. die Tendenz zu einer zivilen oder militärischen dominanten Bureaukratie, die die Entwicklung des Landes in die Hand nehmen will, 4. extreme Disparitäten innerhalb des Landes, d.h. die Unterschiede der Infrastruktur, der Bezahlung etc. sind enorm (ebd.: 333-340): „The main loser in the capitalist world system is the periphery, and especially the least privileged part, the proletariat” (Hout 1993: 79). So fasst Hout die Position der peripheren Peripherie bei Samir Amin zusammen. Die Massen des Proletariats werden marginalisiert und die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt in peripherer Position: ob in der Peripherie der zentralen Staaten oder der Peripherie des Peripheren. Die einzige Möglichkeit dieser Staaten sich der Dominanz durch das Zentrum zu entziehen, besteht für Amin im so genannten ‚Delinking’ vom kapitalistischen Weltsystem (Amin 1976). Die vollkommene Abgrenzung der Ökonomie des Dritte Welt-Landes ist seiner Meinung nach die einzige Möglichkeit für dieses, eine Entwicklung zu verfolgen, die
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nicht von den Interessen anderer Staaten geleitet ist. Die Ökonomie muss sich hin zu einer ‚autocentred economy’ entwickeln, das heißt eine unabhängige wirtschaftliche Entität werden, die im Gegensatz zu ‚extroverted economy’ nicht vom Export von Rohstoffen abhängig ist (ebd.: 333-340). Alle anderen Versuche die Ökonomien der peripheren Staaten zu stärken, zum Beispiel durch den Abbau von Schutzzöllen, mögen zwar positive Effekte haben, reichen aber nicht aus, um eine Umkehr des ständigen Abzuges von Wert aus den peripheren Ländern zu bewirken. Der Prozess der Ablösung vom kapitalistischen Weltsystem geht einher mit der Einführung ‚echter Demokratie’ und endet für Amin im Sozialismus (Amin 1993: 136). Eine kartografische Abbildung, die den Ansatz der Dependenztheorien visuell verdeutlicht, ist die nachfolgende thematische Weltkarte, die auf ökonomischen Faktoren aufbaut. Die Bedeutung einzelner Staaten, symbolisiert durch ihr GDI5 hängt allein vom Stand der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes ab. Für den Betrachter, der die gängige Mercator-Projektion im Kopf hat, wird deutlich, welchen Staaten der Erde ein wirtschaftlicher und damit für Frank und andere Dependenztheoretiker kultureller, sozialer und politischer Bedeutungsüberschuss zukommt. Es wird sichtbar, welche Staaten zu Zentren des ökonomischen Weltgeschehens werden.
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Das Gross Domestic Income (GDI, dt.: Bruttoinlandsprodukt) bezeichnet das Gesamteinkommen, das bei der Produktion von Waren und Dienstleistungen auf einem nationalstaatlichen Territorium entsteht – unabhängig davon, von welcher Nationalität die Leistungen erbracht wurden (vgl. Kulke 2006: 168-169).
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Abb. 2: Weltkarte des Wohlstands. URL: http://www.worldmapper.org [1.8.2009]. Copyright 2006 SASI Group (University of Sheffield) and Mark Newman (University of Michigan)
Der Fokus von Dependenztheorien liegt eindeutig auf den benachteiligten, abhängigen Peripherien. Dies ist mit Sicherheit auch auf den Entstehungskontext der Theorien zurückzuführen: Zunächst in Lateinamerika entstanden, erhoben sie explizit den Anspruch, eine andere Erklärung für Armut und Unterentwicklung in der Dritten Welt zu bieten als die in den Sechzigerjahren vorherrschenden Modernisierungstheorien. Allgemein akzeptiert war damals etwa das von Walt Rostow postulierte Stufenmodell wirtschaftlichen Wachstums: „Es ist möglich, die wirtschaftliche Lage jeder Gesellschaft mit einem der fünf Wachstumsstadien zu charakterisieren: der traditionellen Gesellschaft, der Anlaufperiode, in der die Voraussetzungen für den Beginn des Wachstums gelegt werden, der Periode des wirtschaftlichen Aufstiegs, der Entwicklung zum Reifestadium, dem Zeitalter des Massenkonsums“ (Rostow 1969: 18).
Rostow (1969: 18-20) geht davon aus, dass jede Gesellschaft diese fünf Stadien des Wachstums aufeinander aufbauend durchläuft und gliedert damit DritteWelt-Länder in die Kategorie der traditionellen Gesellschaft ein, die seiner Meinung nach durch vornewtonsches Denken und Verhalten gegenüber der Welt maßgeblich bestimmt werden. Dies bedeutet auch, dass die Situation der DritteWelt-Länder nicht direkt in Zusammenhang mit der der Industrieländer steht,
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sondern zunächst nur, dass diese sich in einem Anfangsstadium der Entwicklung befinden. Die Dependenztheoretiker_innen sehen dagegen in der Herrschaft des Weltsystems und den daraus resultierenden Abhängigkeiten die Ursache der Unterentwicklung und stellen sich auf die Seite der Verlierer_innen des Kapitalismus.
5. Globale Peripherien, globale Zentren?
Der Vorwurf des Ressourcentransfers aus der Peripherie ins Zentrum, wie er von der Dependenztheorie erhoben wird, spielt nach wie vor eine wichtige Rolle für die Identität nicht nur der Dritte-Welt-Länder, sondern auch der internationalen globalisierungskritischen Bewegung. Davon zeugt die Erklärung der Versammlung der sozialen Bewegungen, die auf dem letzten Weltsozialforum 2009 in Belém, Brasilien, verabschiedet wurde: „All the measures that have been taken so far to overcome the crisis merely aim at socialising losses so as to ensure the survival of a system based on privatising strategic economic sectors, public services, natural and energy resources and on the commoditisation of life and the exploitation of labour and of nature as well as on the transfer of resources from the Periphery to the Centre and from workers to the capitalist class” (La Via Campesina 2009).
Das Weltsozialforum, das erstmalig 2001 in Porto Alegre stattfand, versteht sich als Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftforum in Davos, an dem sich die politische und ökonomische Macht einmal im Jahr konzentriert. Es findet seither regelmäßig zeitgleich mit dem Weltwirtschaftsforum statt, bis 2003 in Porto Alegre, dann im indischen Mumbai, 2005 wieder in Porto Alegre, 2006 an drei Orten in Afrika, Asien und Südamerika gleichzeitig, 2007 in Nairobi, 2008 in Form eines globalen Aktionstages und schließlich 2009 wieder in Brasilien. Dabei kristallisierte sich Brasilien und besonders Porto Alegre als ein in der wirtschaftlichen Peripherie gelegenes Zentrum der Anti-Globalisierungs-Bewegung heraus. Dies kommt beispielsweise in der Formulierung ‚Porto Alegre: Capitale dei movimenti’ (Porto Alegre: Hauptstadt der Bewegungen) zum Ausdruck, mit der ein italienischer Autor und Aktivist sein Überblickswerk über das Weltsozialforums betitelt hat (Cannavò 2002). Dass das Forum nach 2003 nur noch ein Mal in Porto Alegre stattfand, lässt jedoch das Bemühen erkennen, eine organisatorische und territoriale Zentrenbildung zu verhindern. Die Sorge darüber, dass Porto Alegre im Forum eine Monopolstellung besetzt, bringt bereits 2003 die ägyptische Frauenrechtsaktivistin Nawal El Saadawi zum Ausdruck: „Neither Brazil nor any other country should be allowed to dominate the World Social Forum. It belongs to the world and not to one country. Since it started in 2001 it has been held in Porto Alegre. Why this monopoly?“ (El Saadawi 2003).
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Thomas Ponniah, Mitherausgeber des Sammelbandes Another World is Possible: Popular Alternatives to Globalization at the World Social Forum (Ponniah/ Fisher 2003a), warnt ebenfalls vor einer Zentralisierung und lobt gleichzeitig den Plan eines sich im Süden hin- und herbewegenden Forums: „Also, the process of the forum moving around different parts of the Global South is actually playing out the democratic ideal, in the sense that movements are very wary of becoming bureaucratised, centralised, sedimented. So we have to have a forum that is structured in a more fluid manner. It cannot be permanently located in one place or it would just become a new IMF or a Soviet Union” (Ponniah/Fisher 2003b).
Die Frage nach Zentrum und Peripherie wird also im Kontext des Weltsozialforums nicht nur in der Tradition der Dependenztheorie auf die wirtschaftliche Aufteilung der Welt bezogen, sondern spielt auch für die interne Entwicklung des Forums selbst eine wichtige Rolle. Einen weiteren Schritt zur Auflösung räumlicher Zentralität im Weltsozialforum unternahmen die Organisator_innen, indem sie das Forum 2006 an drei Orten gleichzeitig ausrichteten und 2008 nur einen weltweiten Aktionstag ohne jegliche örtliche Fokussierung abhielten. Die Rückkehr zum Modell des Treffens an einem Ort 2009 gibt jedoch Anlass zu der Vermutung, dass dieser Versuch einer maximalen Dezentralisierung, wie er 2006 und 2008 unternommen wurde, sich nicht als erfolgreich erwiesen hat. Ein anderer Aspekt der Differenzierung von Zentrum und Peripherie innerhalb des Weltsozialforums, der von Aktivist_innen diskutiert wird, ist die Tatsache, dass während der jährlichen Treffen einige Veranstaltungen nicht in den zentralen Räumen des Forums stattfinden können, sondern in andere, zum Teil schlecht erreichbare Stadtteile verlegt werden, was als räumliche Marginalisierung der entsprechenden Bewegungen interpretiert wird (vgl. Waterman 2002; Osterweil 2002). Die Kritik an dieser angeblichen Marginalisierung bestimmter Gruppen wird aber von anderen Teilnehmer_innen des Forums wiederum als zu kurzsichtig abgelehnt, weil sie ihrer Meinung nach die zentrale Stellung des offiziellen Forums und die mangelnde Aufmerksamkeit für die peripheren Gruppen zementiert: „Warum sind unsere Kritiken in diese Falle geraten? Ich denke, es ist wegen unserer Tendenz, die Marginalisierung des Peripheren und die Privilegierung des Zentrums zu verewigen“ (Osterweil 2002: 255).
Bei der hier aufgeworfenen Frage nach der ‚Verewigung’ und Festschreibung von Zentren und Peripherien geht es vor allem darum, wie die Kategorien Zent-
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rum und Peripherie gesellschaftliche Diskurse prägen. Sie führt daher weg von dem in diesem Teil des Buches diskutierten räumlichen Ansatz.6 Machtzentren sind für die Vertreter_innen der globalisierungskritischen Bewegung multinationale Konzerne und internationale Organisationen wie der IWF und die Weltbank. Die Soziologin Saskia Sassen dagegen lehnt diese Sichtweise als Vereinfachung ab und fokussiert stattdessen ein neues Phänomen der territorialen Konzentration: die Global Cities (Sassen 1991: 3-5). Diese dienen als Kommandozentralen für die zunehmend verstreuten weltweiten ökonomischen Tätigkeiten und als Sitze für den internationalen Finanzhandel. Damit erfüllen sie Aufgaben, die in der räumlich dispersen, aber global integrierten Organisation von ökonomischen Aktivitäten erfüllt werden müssen, und garantieren so deren Funktionsfähigkeit (vgl. ebd.). Dem Prozess der ökonomischen Globalisierung und damit auch Peripherisierung von Produktionsstandorten, steht also eine zentrale Territorialisierung in Form von Global Cities gegenüber (Sassen 2002: 161). New York, London oder Tokyo sind die Beispiele, an denen Saskia Sassen ihre These verdeutlicht. Sie alle haben seit den 1980er Jahren trotz unterschiedlichster kultureller und geschichtlicher Hintergründe parallel verlaufende stadtgeographische und sozialgeographische Transformationen erfahren. Die Akkumulation von Institutionen und Einrichtungen, die maßgeblich Kontrolle über Kapital hatten, ist eine dieser Transformationen. Während traditionelle Produktionsstätten wie Manchester oder Detroit an Bedeutung verloren, nahm die Macht einiger weniger Städte, welche die Kontrolle über Kapital bündelten, stark zu: „[T]he more globalised the economy becomes, the higher the agglomeration of central functions in relatively few sites, that is the global cities” (Sassen 1991: 5).
Sassen wendet sich gegen die verbreitete Annahme, dass moderne Kommunikation, die Beschleunigung des Transports und die Hypermobilität von Kapital die räumliche Verortung irrelevant werden lassen. Paradigmatisch für diese Annahme ist folgende, bereits 1989 gestellte Diagnose: „An die Stelle eines traditionellen Zentrums, das sich als ein örtlicher Schauplatz in den Abmessungen lebensweltlicher Erfahrbarkeit hielt, tritt nun die relative Gleichzeitigkeit medialer Sphären unterschiedlicher Durchgangsgeschwindigkeit, Durchlässigkeit und Zugänglichkeit“ (Boettner 1989: 36).
Für Sassen sind die Positionierung im Raum, und somit auch die Synergieffekte von Agglomerationen hingegen nicht ersetzbar: Hochspezialisierte Anbieter_innen von internationalen juristischen und kaufmännischen Dienstleistungen, Ma6
In späteren Kapiteln werden diese Aspekte noch ausführlich diskutiert (siehe Kap. 7-11 und 17-19).
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nagementberatung und Finanzdienstleistung beispielsweise sind in einem Großteil der Fälle zwar nicht davon abhängig räumliche Nähe zum Kunden zu haben; allerdings steht ihr Erfolg in Zusammenhang mit der Nähe zu anderen Firmen, die gemeinsame Produktionen ermöglichen (vgl. Sassen 1991: 11). Aus dieser Funktion der Global Cities ergeben sich auch Konsequenzen für deren innere Struktur, die Saskia Sassen ebenfalls analysiert: Als ein wichtiges Merkmal hebt sie die soziale Polarisierung hervor, die die Global Cities erzeugen, durch die sie jedoch zugleich auch erhalten werden: Eliten, hochspezialisierte Arbeitnehmer_innen sowie Kosmopoliten sammeln sich in Global Cities, da hier Machtpositionen zu besetzen sind (vgl. Sassen 2002: 164). Gleichzeitig und in noch stärkerem Maße, sind es jedoch die Marginalisierten, beispielsweise Migrant_innen, Frauen und Angehörige von Minderheiten, die es in die Global Cities zieht. Hier ist auch für sie Partizipation möglich, d.h. eine Plattform vorhanden, die in ländlichen Gebieten kaum vorstellbar wäre (vgl. ebd: 162). Arbeitskräfte mit sehr niedrigen Einkommen und Arbeitskräfte mit enorm hohen Gehältern, beispielsweise Broker, treffen in der Global City also aufeinander. Unterschiede in den Profitkapazitäten existieren schon lange, doch in den Global Cities erhalten diese neue, extreme Dimensionen (vgl. ebd.: 164): Luxuriöse Townhouses begegnen sozialem Wohnen. Die Global City ist also ein Ort enormer innerer Spannungen, der jedoch über nationale Grenzen hinweg einend wirkt. Die Grenzen des Nationalstaates 7 verlieren an Gewicht. Dies zeigt sich etwa darin, dass in der Global City nicht mehr der Staat, sondern die Stadt den strategischen Ausgangspunkt für politisches und ökonomisches Handeln bietet, und zwar sowohl für international denkende Führungskräfte, als auch für benachteiligte Arbeitnehmer_innen und Migrant_innen. Auch die kolonialistische Nord-Süd-Teilung ökonomischer Macht verliert an Bedeutung und ist für den internationalen Handel nicht mehr ausschlaggebend. Dementsprechend haben die Global Cities oftmals weniger Beziehungen zu ihrem nationalen Hinterland, beziehungsweise der nationalen Peripherie, als zu anderen internationalen Zentren (vgl. dazu auch Appadurai 1996: 48-50). Im Gegensatz zu traditionellen Städten, die stark mit den sie umgebenden Regionen verwurzelt waren, vereint die Global City mehr mit anderen Global Cities als mit ihrem Umland. Dies gilt sowohl in Hinblick auf die Vernetzung untereinander, als auch in Hinblick auf strukturelle Ähnlichkeiten. Die nachfolgende Karte von Kulke verbildlicht diese Vernetzung der Global Cities als Zentren globalen Geschehens. Gleichwohl hier eine Unterscheidung zwischen Global Cities zentraler Länder und Global Cities semiperipherer, be7 „Der nationalstaatliche Strukturbegriff verbindet die Idee der Solidaritätsgemeinschaft Nation mit dem Prinzip territorialer Herrschaftspolitik“ (Nohlen/Schultze 2005: 601).
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ziehungsweise peripherer Länder, getroffen wird, scheint die Unterscheidung zwischen Peripherien der Zentren und Peripherien des Peripheren unwichtig. Auf der strukturellen Ähnlichkeit und der einhergehenden Vernetzung der Global Cities untereinander liegt das Hauptaugenmerk. Die Peripherien der Global Cities sind in dieser Karte zum weißen Hintergrund degradiert.
Abb. 3: Global Cities. Aus Kulke (2004: 236, Abbildung M7-33).
Die mangelnde Verwurzelung in der Umgebung ist jedoch nicht der einzige Unterschied zwischen den Global Cities und den städtischen Zentren der Antike und Neuzeit: Beispielsweise hatten auf dem oben erwähnten Forum Romanum Handel, Religion und öffentliche Debatten gleichzeitig ihren Ort. In den Global Cities, wie sie von Saskia Sassen beschrieben werden, aber auch in anderen Metropolen der Gegenwart, findet hingegen ein Prozess der Segregation verschiedener Lebensbereiche statt, der es unmöglich macht, innerhalb der Stadt das eigentliche Zentrum zu identifizieren. Gleichzeitig ist die Grenze zwischen Stadt und Land, die ehemals durch die imposante Stadtmauer eindeutig und für alle sichtbar gezogen wurde, immer schwieriger auszumachen. So konstatierte Mumford bereits in seinem 1979 erschienenen Werk „die Entstehung eines relativ undifferenzierten städtischen Gewebes [...], das in keinerlei Beziehung mehr zu einem
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innerlich zusammenhängenden Kern oder zu irgendeiner äußeren Begrenzung steht“ (vgl. Mumford 1979: 631). Zwar verfügen alle Global Cities über einen Central Business District (CBD) – die Innenstadt – in dem sich Handel, Verkehrswege und andere Einrichtungen räumlich konzentrieren.8 Dieser scheint heute das Zentrum ökonomischer Macht zu sein. Gleichwohl charakterisiert sich das CBD jedoch durch eine geringe Dichte an Wohnbevölkerung und durch große Pendlerzahlen. Das heißt, das CBD kann nicht das soziale Zentrum einer Global City sein. Vielmehr ist ein Prozess festzustellen, der oftmals als Suburbanisierung bezeichnet wird, bei dem die realräumlichen, beziehungsweise kartografischen Zentren von Großstädten verlassen werden. Bewohner, deren finanzielle Lage es zulässt, verlassen die Stadtkerne um an den ‚urban fringes’ (den Stadträndern) mehr Lebensqualitäten zu genießen.9 Damit ist das ökonomische Zentrum der Global Cities nicht notwendigerweise gleichzeitig auch Zentrum sozialer, politischer, militärischer oder anderer Macht. Das ökonomische Zentrum CBD leert sich in vielen Fällen nach Geschäftsschluss und wandelt sich durch die zentrifugalen Bewegungen der Pendler_innen zu einer Peripherie im Zentrum. Es ist demnach nicht eindeutig festzustellen, wo sich das Zentrum einer Global City befindet. Wenn Zentrum und Peripherie ununterscheidbar werden, wird von Städteplaner_innen oftmals der Versuch unternommen, die Bereiche Kultur, Freizeitgestaltung, Konsum und sogar Religion durch architektonische Großprojekte wieder zu bündeln und so eine eindeutig identifizierbare Mitte zu schaffen. Paradigmatisch ist hierfür das CentrO Oberhausen, das, nach dem Vorbild der Meadowhall im Nordosten Sheffields, auf dem Gelände einer Industriebrache errichtet und 1996 eingeweiht wurde: Es enthält nicht nur ein riesiges Einkaufszentrum, sondern gleichzeitig eine künstlich angelegte Erholungslandschaft, zahlreiche Gastronomieangebote, Kinos, einen Vergnügungspark mit Fahrgeräten, eine Konzerthalle und ein ökumenisches Kirchenzentrum (vgl. Michalak 2007: 24-28). Das CentrO wiederum ist Teil eines noch größeren städtebaulichen Projekts namens Neue Mitte Oberhausen, dessen erklärtes Ziel „die künstliche Schaffung eines Mittelpunktes städtischen Lebens“ (Basten 1998: 5-6) darstellt. Dementsprechend wirbt das CentrO für sich als „Herz der Neuen Mitte“ (ebd.: 24), also als ‚Zentrum des Zentrums’ der ansonsten zersiedelten Stadt Oberhausen und der polyzentrischen Städteformation Ruhrgebiet.
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E.W. Burgess teilt die moderne Stadt in seinem Ringmodell in Zonen verschiedener Nutzung. Der CBD ist der Hauptgeschäftsbezirk als Zone mit überwiegend tertiärer Nutzung (vgl. Heineberg 2004: 337-338). 9 Dieser Prozess wird auch als Bevölkerungssuburbanisierung bezeichnet (vgl. Kulke 1996: 253254).
6. Territoriale Zentren und Peripherien – Hierarchie der Räume
Das Potential territorialer Konzepte von Zentrum und Peripherie zeigt sich darin, dass sie auf vielfältige Art und Weise für die Beschreibung von Strukturen aller Regionen und historischen Epochen genutzt werden können. Die herausragende Bedeutung des Zentrums gegenüber der Peripherie beruht dabei auf unterschiedlichen Faktoren: Während Tenbruck und Eisenstadt die Rolle von Zentren als Träger der wichtigsten gesellschaftlichen Funktionen und als Repräsentanten der kosmischen Ordnung betonen, stellt die Dependenztheorie die wirtschaftliche Abhängigkeitsbeziehung zwischen Zentrum und Peripherie in den Mittelpunkt. Allein geographische Kriterien sind demnach nicht für die Herausbildung eines territorialen Zentrums ausschlaggebend. Verschiedene Konzeptionen und Theorien bedienen sich jedoch der Karte als Instrument, um die von ihnen identifizierten relevanten Zentren abzubilden. Dies gilt sowohl für die frühen Karten der ersten Imperien, als auch für thematische Weltkarten, die die wirtschaftlichen Ungleichgewichte wiedergeben sollen, oder die Karte der Global Cities, die fast an den Plan des U-Bahnnetzes einer beliebigen Metropole erinnert. In den oben vorgestellten Theorien werden jedoch nicht nur Zentren und Peripherien lokalisiert, sondern auch Prozesse und Zusammenhänge zwischen diesen Strukturen beschrieben. So wird in verschiedenen Kontexten eine eigentümliche Wechselwirkung von territorialer Dezentralisierung und Zentralisierung festgestellt. Meier (1987: 111; 1993: 54) konstatiert beispielsweise, dass gerade die polyzentrische Welt der griechischen Poleis eines intellektuellen Zentrums bedurfte, wie es die Orakelstadt Delphi war, die zwar keine politische Macht ausübte, aber einen Umschlagplatz für Ideen und Gedanken bot. Diese Überlegung erinnert an die (umstrittene) Etablierung von Porto Alegre als einer ‚Hauptstadt der Bewegungen’. Denn hiermit verfolgten die Organisator_innen das Ziel, ebenfalls einen zentralen Ort zu installieren, der dem völlig dispersen Netzwerk globalisierungskritischer Bewegungen zum Gedankenaustausch und zur Identitätsstiftung dient. Saskia Sassen (1991; 2002) wiederum zeigt anhand des Phänomens der Global City auf, dass auch im 21. Jahrhundert die räumliche Konzentration von Humankapital und Dienstleistungen unverzichtbar ist und widerspricht so der weit verbreiteten These, dass die Beschleunigung von Warenver-
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kehr, Kapitalbewegung und Kommunikation die räumliche Verortung irrelevant werden lassen. Die territoriale Dezentrierung von bestimmten Funktionen – sei es politischer oder ökonomischer Art – zieht in jedem der vorangegangenen Beispiele eine Zentralisierung auf anderer Ebene nach sich. Die griechischen Poleis benötigten ein symbolisches Zentrum, um politisch dezentral organisiert sein zu können. Der globale Kapitalismus bei Saskia Sassen verlangt die Entstehung von Global Cities als Kommandozentralen. Gleichzeitig stoßen die Theorien, die auf einer räumlichen Vorstellung von Zentrum und Peripherie beruhen, jedoch auch an Grenzen ihres Beschreibungsund Erklärungspotentials: Im Falle der Dependenztheorien zeigt sich dies allein anhand der komplexen und untereinander verschiedenen Realitäten der Entwicklungsländer und Industrieländer, die es nicht mehr gerechtfertigt erscheinen lassen, ganze Kontinente unter dem Schlagwort ‚Peripherie vs. Metropole’ zu betrachten. Auch wenn die eindeutig wirtschaftliche Perspektive der Dependenztheorien verlassen wird, so bleibt es unmöglich, für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum ein universelles Zentrum zu definieren. Dabei ist die Identifikation der territorialen Differenz zwischen Zentrum und Peripherie heute noch schwieriger als etwa im Falle Babyloniens oder des Römischen Reiches. Rom beispielsweise war unumstrittenes politisches, kulturelles und religiöses Zentrum des Reichs, wohingegen Tokyo als Global City primär ein ökonomisches Zentrum des globalen Kapitalismus ist. Innerhalb der Städte macht die Trennung zwischen den Orten von Arbeit, Konsum, Wohnen und Freizeit es schwierig, ein Zentrum zu erkennen. Darüber hinaus breiten sich die heutigen Städte scheinbar unbegrenzt aus, wohingegen die antiken und mittelalterlichen Städte durch eine Stadtmauer architektonisch eindeutig von ihrer Umgebung abgegrenzt waren. Dessen ungeachtet besitzen die verschiedenen Vorstellungen von Zentrum und Peripherie nach wie vor große Wirkmächtigkeit und sind mit vielfältigen Bedeutungen aufgeladen. Die ‚Stadt’, von der bereits das Gilgamesch-Epos als dem Ort schwärmt, an dem es sich zu leben lohnt, fasziniert nach wie vor. Dies gilt besonders für internationale Metropolen und die Global Cities, die nicht nur de facto die besten Arbeitschancen – sowohl für marginalisierte Arbeitnehmer_innen als auch für hochqualifizierte Spitzenverdiener_innen – bieten, sondern auch durch ihren Mythos der unbegrenzten Möglichkeiten als Magnet wirken. Der Versuch, durch städtebauliche Großprojekte wie die Neue Mitte Oberhausen künstliche Stadtzentren zu schaffen, weist ebenfalls darauf hin, dass ein territorial gebundenes ‚Zentrum’ als etwas Wünschenswertes, Positives, notfalls zu Rekonstruierendes betrachtet wird.
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Andererseits bleibt der Begriff der Peripherie mit Vorstellungen von Unterordnung, Benachteiligung, Marginalisierung behaftet. Die Dependenztheorie etwa sieht in einer monozentrischen Abhängigkeitsstruktur eine Beziehung, die nur der Peripherie Nachteile bereitet, weil sie ihr die Möglichkeit autonomer Entscheidungen nimmt. Die Aktivist_innen des Weltsozialforums scheinen einer ähnlichen Interpretation zu folgen, wenn sie versuchen, eine Differenzierung in Zentrum und Peripherie innerhalb ihrer eigenen Struktur zu verhindern, indem sie ihre Treffen an möglichst viele Orte verteilen, um nicht an Autonomie und Kreativität zu einzubüßen. ‚Zentrum zu sein’ wird in diesem Kontext von einem Anspruch, der verteidigt werden muss, zu einem Vorwurf. Dieser Vorwurf richtet sich nicht nur an territorial lokalisierbare Einheiten, sondern bezieht sich auch auf die Frage der Deutungsmacht – ein nicht-räumlicher Aspekt von Zentrum und Peripherie, der in den folgenden Kapiteln ausführlicher besprochen wird. Die Debatten um territoriale Zentren und Peripherien kreisen also um eine Hierarchie der Räume, die wahlweise aufgehoben werden soll (wie es die Aktivisten des Weltsozialforums fordern) – oder unumgänglich ist (wie Saskia Sassen es beschreibt). Als Analysekategorien ermöglichen es Zentrums- und Peripheriekonzeptionen diese Bedeutungsdifferenzen zwischen Räumen zu fassen. In der Anwendung dieser begrifflichen Instrumente wird jedoch gleichzeitig eine Opposition geschaffen, die Hierarchien nicht nur beschreibt, sondern auch produziert und verfestigt.
Exkurs: Koloniale Umschreibung der Zentrum/PeripherieDifferenz und der Völkermord in Ruanda
Das Bild, das sich entlang einer geo- bzw. kartographischen Unterscheidung von Zentrum und Peripherie zeichnen lässt, ist nicht ohne Ambivalenz. Einmal bezieht diese Unterscheidung ihre Bedeutsamkeit aus der Funktion der Organisation bzw. Hierarchisierung, die Tenbruck als für Hochkulturen und wir als für moderne Gesellschaften notwendig, konstitutiv erachten. Zugleich lässt sich die Einsetzung der Zentrums-Peripherie-Differenz nicht einfach als interessefreies Werkzeug zur Beschreibung der sozialen Realität festhalten. Die Wirkmächtigkeit von Bildern und Zahlen beruht eben gerade auf der Vorstellung, dass das, was sichtbar ist (sich also auf einer Karte zeigen lässt) und das, was messbar ist (und damit in Indikatoren wie dem BIP ausgedrückt werden kann), eine unstrittige Wirklichkeit besitzt. Indes liegt in dem naiven Umgang mit diesem Anschauungsmaterial und dem darauf aufbauenden Vokabular eine Gefahr. In der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie bzw. – in dependenztheoretischen Termini – der von entwickelten und abhängigen sozialen Einheiten steckt immer auch ein Zentrum, das sich als solches in die Mitte des Geschehens setzt. Es vertritt darin den Anspruch, Ausgangspunkt des Welt- und Selbstverständnisses auch der nunmehr zu peripheren Satelliten erklärten Regionen zu sein. Es geht mithin nicht nur um die bloße Abbildung sozialer Strukturen, sondern auch um deren machtpolitische Ausdeutung. Die Unterscheidung bzw. Unterscheidbarkeit von Zentrum und Peripherie ist darin zugleich und gleichermaßen 1. eine Organisationsdynamik, welche die funktionale Differenzierung verlangt und sie ermöglicht (wie in den vorigen Kapiteln gezeigt), 2. eine diskursive Praxis und damit 3. ein Mittel, um Macht bzw. Legitimität zu erlangen. Wie diese Momente zusammengehören und aufeinander verweisen, soll anhand der kolonialen Geschichte Afrikas, beispielhaft am Fall des zentralafrikanischen Staates Ruanda aufgezeigt werden. Die imperialistischen und kolonialistischen Bemühungen der europäischen Mächte haben vor allem auf dem afrikanischen Kontinent nachhaltig zu einem asymmetrischen Kräfteverhältnis beigetragen, das im Kern sowohl der so genannten ‚kleinen Kriege‘ als auch der genozidalen Massaker steht. Die Auswahl des Fallbeispiels ist daher nicht zufällig: Am Beispiel des ruandischen Genozids zeigen sich vielleicht am eindringlichsten die
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zerstörerischen Folgen, welche in letzter Konsequenz mit der Durchsetzung zugeschriebener Rollen und hegemonialer Deutungsmuster einhergehen können. Daneben zeigt sich, dass die Gestaltungsansprüche des Zentrums nicht uneingeschränkte Geltung besitzen; dass die exklusive Stellung, welche das Zentrum für sich reklamiert (bzw. die ihr zugeschrieben wird), nicht zuletzt ein diskursives Produkt ist; und schließlich: dass auch und gerade das Zentrum auf externe Ressourcen angewiesen ist, welche die Verfügung über die Peripherie ermöglichen und organisieren. In diesen Ordnungen der Intermediarität, der Vermittlung zwischen Zentrum und Peripherie, nimmt die Semiperipherie eine entscheidende Rolle als Mittler von Machtansprüchen des Zentrums gegenüber der Peripherie einerseits und von Wirklichkeitsproduktionen andererseits ein. Damit wird die Logik der Anhäufung, die das Zentrum kennzeichnet, zumindest auf der Ebene der Machtmittel partiell infrage gestellt. Geographische und sozialstrukturelle Bedingungen von Herrschaft und kolonialer Intervention in Ruanda Eines der augenscheinlichsten Merkmale Afrikas, das einen Vergleich mit euroamerikanischen Organisationsformen erschwert, ist seine weitgehende Staatenlosigkeit. Die im globalen Vergleich verhältnismäßig dünne Besiedlung Afrikas10 ist als einer der wichtigsten Faktoren bei der Schwierigkeit, eine Zentralgewalt – nichts anderes ist ein staatliches Gewaltmonopol – zu errichten und zu behaupten, zu sehen. Infolge der Weite des Landes war es Bevölkerungsgruppen immer auch möglich, sich übermäßigen Herrschaftsansprüchen zu entziehen (Herbst 2000: 39); für eine Staatenbildung nach europäischem Muster fehlte mithin eine wichtige Voraussetzung, nämlich effektive Sanktionsgewalt. Herrschaft war und ist in Afrika mithin, wie etwa Bayart (1993: 22) und von Trotha (2000: 275) deutlich machen, nicht primär Verfügungsgewalt über Räume, sondern über Menschen. Diese musste sich in relativer Abwesenheit eines räumlich gestützten Drohpotentials anders legitimieren: nämlich einmal charismatisch durch Verweis auf und Ausnutzung von einer transzendenten Autorität bzw. magischen Fähigkeiten und zweitens durch die Verstetigung des Charismas (vgl. Weber 1980 [1922]: 140-148) in Form des Aufbaus reziproker klientelistischer Beziehungen. 10 Für die unmittelbare Vorkolonialzeit (um 1850) wird eine Gesamtbevölkerung von 111 Mio. (verteilt auf 30 Mio. km2) angenommen, für Europa dagegen im gleichen Zeitraum 276 Mio. (verteilt auf 10 Mio. km2). Selbst wenn man die weiten Wüstengebiete Afrikas in Rechnung stellt, ergibt sich eine erheblich geringere Bevölkerungsdichte auf dem afrikanischen Kontinent, der erst zur Zeit der Dekolonialisation am allgemeinen Bevölkerungswachstum der Neuzeit teilhat (Zahlen nach United Nations 2004: 6).
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Den sich wenig zur Zentralisation eignenden Verhältnissen wurde in weiten Teilen Afrikas durch den Aufbau eines Häuptlingstums als lokalen Platzhaltern von Macht Rechnung getragen. Das zentralafrikanische Gebiet des heutigen Ruanda verfügte nicht zuletzt wegen seiner vergleichsweise geringen Größe und hohen Bevölkerungsdichte bereits deutlich vor Ankunft des europäischen Kolonialismus über zentralistische oder zumindest protostaatliche Herrschaftsstrukturen (Paul i.E.). Dennoch lässt für Ruanda mit gleichem Recht (und derselben Vereinfachung) sagen, was zuvor über die Struktur von Herrschaft auf dem afrikanischen Kontinent behauptet wurde. Nicht unähnlich den politischen Verhältnissen im feudalen Europa wurde die Verwaltung durch einen lokalen Adel getragen und durch die charismatische Herrschaft der ruandischen Könige, der sogenannten mwami gestützt, die in ihrer Herrschaftssicherung materiell und militärisch auf die Unterstützung des Adels und ideell auf den Glauben an ihre Fähigkeit, mit höheren Mächten zu kommunizieren, angewiesen waren. Ihre Verfügung über Ressourcen und die damit einhergehende Verteilungsautorität bestätigte ihre Machtposition im sozialen Gefüge. Wenngleich nicht quer zu dieser Unterscheidung in Adel/Nicht-Adel, aber doch auch nicht deckungsgleich mit ihr, lag die Differenz zwischen den sozialen Gruppen Hutu und Tutsi. Ebenso wie die Herrschaft der mwami war sie Teil der klientelistischen, das heißt auf Reziprozität gestellten Sozialstruktur Ruandas. Hutu waren darin zumeist Ackerbauern, Tutsi in der Regel Viehhüter. Genau auf diesem Besitz an Nutztieren beruhte die überlegene soziale Stellung eines Tutsi gegenüber einem Hutu. Einerseits war der Ackerbau in erster Linie Subsistenzwirtschaft – und musste es sein, weil die Ernte in hohem Maße von klimatischen Schwankungen abhängig und nicht unbegrenzt anhäufbar war –, andererseits hob der Besitz von Vieh eben diese Beschränkungen für die Tutsi auf. Der Rinderbesitz erlaubte den Tutsi, nicht unähnlich den Lehensbesitzern im feudalen Europa, durch das Zugeständnis von Verfügungsrechten selbst eine Existenzgrundlage zu erwirtschaften, die nicht auf den Einsatz eigener körperlicher Arbeit angewiesen war. Zugleich blieb die Teilhabe der Hutu am Reichtum immer prekär, weil der Viehbesitz stets in den Händen von Tutsi blieb (Maquet 1970 [1961]: 139). Bei der Beziehung zwischen beiden sozialen Gruppen handelte es sich jedoch nicht um ein einseitiges Ausbeutungsverhältnis, sondern um eine wechselseitige – wenngleich hierarchisch organisierte – soziale Verpflichtung, die Schutz und Teilhabe gegen Fronarbeit und Abgaben versprach. Die prinzipiell gegebene Möglichkeit, bei übergreifenden Forderungen des Herren in das Dienstverhältnis zu einem anderen zu treten, begrenzte die Machtansprüche der Tutsi gegenüber den ihnen dienenden Hutu. ‚Kleinere‘, das heißt weniger einflussreiche Tutsi waren zudem ‚größeren‘ Tutsi unterstellt, sodass allein die mwami keiner höhe-
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ren sozialen Instanz gegenüber verpflichtet waren (ebd.: 138), sondern lediglich untereinander um Einflusssphären rangen. Theorie der Intermediarität: die Rolle der Mittler und ihre Umdeutung Vorkolonial haben wir es also mit einer stratifizierten Gesellschaftsstruktur im Sinne einer, in den Begriffen von Trothas (2000), konzentrischen Ordnung zu tun, in der sich nicht ein Zentrum als Schaltzentrale gesellschaftlicher Organisation etabliert, sondern mehrere, lokale begrenzte und bzw. oder vermittelte Herrschaftsansprüche nebeneinander bestehen. Diese Ordnung wird einmal durch die räumlichen Bedingungen gesellschaftlicher Organisation gestützt, andererseits durch den ‚Vorrang des Besonderen vor dem Allgemeinen‘ begründet, in dem primäre Beziehungen und persönliche Verpflichtungen über die Vergabe von Ämtern und das Zugeständnis von Privilegien, das Maß geschuldeter Loyalität wachen (vgl. Trotha 2000: 263-265). Die Kolonialherrschaft bricht mit dieser Form gesellschaftlicher Organisation und schreibt sie zugleich unter anderen Vorzeichen fort. Obwohl der zentralafrikanische Staat im Vergleich zu anderen Gebieten Afrikas nur relativ kurzzeitig unter dem Einfluss der imperialistischen Bewegung in Europa stand, ist die politische Relevanz dieses Zwischenspiels expansionistischer Bemühungen kaum zu überschätzen (vgl. Lemarchand 1970: 47). Das von Wallerstein (1974) benannte Problem der Kontrolle des Zentrums über die Peripherie wurde in Ruanda auf folgenschwere Weise bewältigt. Hier wie auch anderswo vertrat die Kolonie die Großmachtansprüche der europäischen Staaten. Im Zuge der Berliner Konferenz 1884/85, welche die Handelsfreiheit regelte und imperiale Ansprüche in weiten Teilen Zentralafrikas in legale Anrechte übersetzte, fiel Ruanda zunächst dem Deutschen Reich zu und wurde im Zuge des Ersten Weltkrieges von Belgien erobert und seiner Verwaltung unterstellt. In der ressourcenarmen Hügellandschaft im Binnenland beruhte der Mehrwert der Kolonie nur noch auf dem damit verbundenen nominellen Prestige, das heißt der Bezeugung und Bestätigung der Großmachtaspirationen der Kolonialmacht. Sie war damit nur unter der Bedingung attraktiv, dass möglichst geringe Kosten mit ihr verbunden waren. Eine effektive Inbesitznahme nach Maßgabe der Berliner Konferenz, so sie denn stattfand, wurde zunächst vertagt und behelfsweise durch Kundschaftermissionen ersetzt, in deren Ergebnis man es vorzog, Afrika zwar selbst zu regieren, aber von Afrikanern verwalten zu lassen. Diese Strategie der ‚indirect rule‘ wurde insbesondere im Rahmen der britischen und französischen Kolonialherrschaft praktiziert (Crowder 1964) und legitimierte sich sowohl durch ihre Anknüpfung an traditionale Formen der Herrschaft als auch durch den mit ihr ver-
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knüpften sozialdarwinistischen Diskurs. Nicht zuletzt wurde am Beispiel Afrikas die Selbstversicherung einer Kultur ausgetragen, die sich ihrer Fundamente nicht mehr gewiss war und diesen Konflikt externalisierte. Die Deutschen und die Belgier verstanden Hutu und Tutsi als verschiedene Ethnien, welche die in Europa grassierenden Rassentheorien stützen sollten. Während Europa sich am Diskurskomplex von Ethnizität, Nationalität und Rasse abarbeitete, setzten die kolonialen Politiken eine Wahrheits- und Wirklichkeitsproduktion in Gang, die eine Neuordnung Ruandas entlang des Kriteriums der Ethnizität forcierte. Diese diente dabei als Mittel, die für Kolonialherren unerklärliche Zivilisiertheit Ruandas plausibel zu machen, nämlich durch die Dominanz der hamitischen, kaukasischen Tutsi. Nach der sogenannten Hamitic hypothesis wurden Tutsi als hellhäutige Viehzüchter kaukasischen Ursprungs verstanden, die aus dem Norden Afrikas zugewandert waren und über die als minderwertig angesehene, einheimische Rasse der schwarzen Bantu herrschten (vgl. Straus 2006: 20-21).11 Die frühe Afrikaforschung, vor allem vertreten durch J. H. Speke, schrieb damit für Ruanda eine eigene Kolonialgeschichte, die als Legitimation für die intermediäre Herrschaft diente. Diese sozialen Positionierungen produzierten nicht nur handlungsrelevante Mythen von der vermeintlichen Verschiedenheit, sondern fanden gleichsam Eingang in den Aufbau der Institutionen. Die Deutung der Abstammung der Bevölkerung diente zugleich als Grundlage für die Installation einer indirekten Herrschaft, die auf vermeintlich traditionellen Machtverhältnissen aufbaute und eine sichere Basis für eine stabile koloniale Verwaltung abzugeben versprach. Soziale Deutungsmuster übersetzten sich an dieser Stelle in Hierarchien und Machtpositionen. Die in sozialdarwinistischer Manier vertretene Überlegenheit der Rasse der Hamiten (Tutsi) gegenüber den Bantu (Hutu) wurde durch administrative Entscheidungen bestätigt: Politische Ämter wurden unter zunächst deutscher und später belgischer Kolonialherrschaft bevorzugt an Vertreter der Tutsi vergeben (vgl. etwa Mamdani 2001: 88-93), was eine überproportionale Repräsentation in gesellschaftlichen Macht- und Statuspositionen zur Folge hatte und damit den faktischen Ausschluss der Angehörigen der Mehrheit der Hutu aus relevanten gesellschaftlichen, vor allem aber politischen Institutionen bedeutete. Die Beziehung zwischen Sozialstruktur und sozialer Zugehörigkeit verkehrte sich in der 11 Eine derartige Deutung wurde durch phänotypische Unterschiede gestützt, die wahrscheinlich viel eher das Ergebnis von sozialer Endogamie als zwingender Nachweis eines Zusammentreffens von Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Abstammung sind. Daneben hat Domique Franche (1996) auf die Bedeutung der Lebens- und Arbeitsbedingungen hingewiesen. Selbst wenn sich ein durchschnittlicher Größenunterschied von 12cm feststellen ließe, könne daraus noch kein Rückschluss auf die tatsächliche Existenz verschiedener Ethnien gezogen werden, weil „exactly the same difference […] existed in France between a conscript and a senator in 1815“ (Franche zitiert nach Mamdani 2001: 45).
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Deutung durch die Kolonialmächte: während zuvor die Position innerhalb der Sozialstruktur über die Zuordnung zu einer der ‚Ethnien‘ entschied, war es nun die so verstandene Ethnie, die über die sozialen Teilhabechancen entschied. Darüber hinaus hatten die regionalen chiefs das Recht und die Pflicht, die Bevölkerung zur Ausübung ‚gemeinnütziger Arbeit‘ „without payment and a minimum of disruption“ (ebd.: 95) anzuhalten. Infolge dieser Regelung kam es zur Ausweitung einer Form der so genannten corvée als Privileg der Tutsi-Elite auf unbezahlte Arbeitskräfte. Diese Zwangsarbeit diente nicht nur der Ausbeutung der Ressourcen (und des Erziehungsauftrags, den die Kolonialherren gegenüber den ‚Wilden‘ für sich beanspruchten), sondern war selbst ein Erfordernis der der Kolonialherrschaft entgegen gebrachten Erwartung, dass die Kolonien, wo sie schon keinen unmittelbaren finanziellen Gewinn versprachen, zumindest sich und ihre Administration – gemäß dem Gebot der financial self sufficiency – selbst tragen sollten (vgl. Young 1994: 125-126). Die Durchdringung der Peripherie war in der Erhebung dieser und anderer Formen der Steuer fundamental auf die Vermittlungsinstanzen zentraler Herrschaftsausübung verwiesen. Die Tutsi entsprachen damit dem, was Wallerstein mit dem Begriff der ‚Lumpenbourgeoisie‘ fasst: eine nationale Elite-Gruppe, die wirtschaftliche Steuerungsfunktionen übernahm (und von ihnen profitierte, wenn auch in ungleich kleinerem Maße als die Kolonialmächte) und damit eine Mittlerrolle zwischen Metropolis und Satellit erfüllte. In einem gewissen Sinne also „setzt[e] der Kolonialismus in Afrika den Binnenkolonialismus der Afrikaner fort“ (Paul i.E.), indem er lokale Machteliten den Direktiven des imperialistischen Zentrums unterstellte, ihre zur Herrschaft prädestinierte Position institutionell bestätigte und die Gewaltausübung gegenüber der lokalen Peripherie ideologisch legitimierte. Auf diese Weise begründete der doppelte Kolonialismus, wie er von den Kolonialherren forciert und von den lokalen Machteliten in einer Art „freiwillige[r] Abhängigkeit“ (ebd.) bestätigt wurde, eine Peripherisierung der Peripherie. Die Mittler erfüllen hierin eine zweifache Funktion: Einerseits verbürgen sie die effektive Herrschaft der Kolonialherren im Medium lokal anschlussfähiger Machtausübung, andererseits bezeugen sie die Überlegenheit des Zentrums und damit ihre Legitimation zur Herrschaft über die angeschlossene Peripherie. Diese vermittelte Herrschaft ist von Bayart (2000) mit Blick auf die Beziehung Afrikas zur restlichen Welt als Extraversion und durch von Trotha (1994) innenpolitisch als intermediäre Herrschaft beschrieben worden. Unter „Extraversion“ versteht Bayart dabei eine Form der Herrschaftsausübung, die eigene Machtdefizite durch die Einsetzung fremder Autoritäten kompensiert, „mobilizing resources derived from their (possibly unequal) relationship with the external environment“ (Bayart 1993: 21-22). Während das Konzept der indirek-
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ten Herrschaft das Zentrum und seine Herrschaftsaspirationen zum Ausgangspunkt der Analyse macht, verschiebt sich diese Deutung im Konzept der Extraversion: Hier sind es gerade lokale Machteliten, die ein Außen zur Stabilisierung ihrer Herrschaft bemühen. Nicht nur der koloniale Staatsapparat war infolge seiner „Organisationsohnmacht“ (Trotha 2000: 275) auf die intermediäre Herrschaft angewiesen – ebenso hatten die lokalen Eliten ein Interesse daran, ihre bisweilen brüchig gewordene Machtbasis durch die Ausnutzung externer Ressourcen zu stabilisieren: „ȼeide [vorkolonialer und kolonialer Staat] brauchten im Kernbereich der staatlichen Verwaltung die Mittler, um den Zugang zum Lokalen sicherzustellen und die Menschen zu erreichen“ (ebd.). Die Position der Mittler ist darin ambivalent: Einerseits verfügen sie über die Kapazität zur Steuerung, andererseits ist ihre Machtausübung genau darin auf die Bemühung externer Machtquellen verwiesen. In beiden Aspekten bestimmt sich das Verhältnis der Mittler zum (nationalen) Zentrum und der (lokalen) Peripherie. Das Fallbeispiel Ruanda hält damit stellvertretend für den afrikanischen Kontinent alternative Lesarten von Zentrum und Peripherie jenseits von Dependenztheorien bereit, die einseitige Abhängigkeiten (in der Peripherie) bzw. Gestaltungsspielräume (im Zentrum) behaupten. Das Anliegen dieser Theorien, die eurozentrische Deutung einer so verstandenen ‚Unterentwicklung‘ in den Gebieten außerhalb der euro-amerikanischen Hemisphäre zumindest partiell zurückzunehmen und sich auf die Seite der Ausgebeuteten zu stellen, geschieht um den Preis einer strukturdeterministischen Verkürzung der handelnden Akteure: „Die Menschen, die aus dem Schatten heraustraten, fanden sich in den Theorien als vollständig abhängige Größe und im verdinglichten Status einer sogenannten ‚Peripherie‘ wieder, deren Wirklichkeit ganz von der vereinseitigten Wirkungsmacht der kapitalistischen ‚Zentren‘ und ‚Metropolen‘ bestimmt ist“ (Trotha 1994: 10).
Ganz im Gegensatz dazu spricht sich Bayart (2001: 218) dafür aus, im Kontext der afrikanischen (Kolonial-)Geschichte „dependence as a mode of action“ und Afrikaner nicht nur als abhängige Variablen, sondern als handelnde Subjekte ihrer eigenen Geschichte zu verstehen (vgl. Berman 2002 [1992]: 180): „Africans have been active agents in the mise en dépendance of their societies, sometimes opposing it and at other times joining in it“ (Bayart 1993: 24). Die Semiperipherie fungiert darin nicht nur als Puffer bzw. Zwischenstation zwischen Zentrum und Peripherie, sondern als der Ort, an dem der Handlungsspielraum sowohl des Zentrums als auch der Peripherie ausgehandelt wird – wenngleich dies auch nicht autonom bzw. unter asymmetrischen Bedingungen geschieht. Dieser Fokus auf die Mittler und ihren Machtgewinn ist es, der einerseits einen Schlüssel zum Verständnis der Struktur von Herrschaft und der kolonialen Geschichte Afrikas und darunter eben auch Ruandas liefert, und andererseits eine Deutung des ruan-
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dischen Völkermordes und der Rolle der kolonialen Intervention für diesen bereithält. Vermittlung und Ausschluss: Der ruandische Genozid Obwohl es falsch wäre, die Umdeutung der sozialen Ordnung durch die koloniale Herrschaft als ursächlich für den Genozid zu betrachten – sie bereitete jedoch den Boden, auf dem dieser möglich wurde. Die Reorganisation der Sozialstruktur veränderte an einem entscheidenden Punkt das auf wechselseitigen Nutzen gestellte Verhältnis zwischen Hutu und Tutsi. So steht vorkolonial im intermediären Herrschaftsverständnis „alles Handeln unter dem Primat, die Zusammenarbeit mit dem nationalen Zentrum zu sichern, die eigene Bevölkerung vor den Ansprüchen der nationalen Herrschaftszentrale zu schützen und die Rolle des Häuptlingstums als Mittler zwischen dem ‚Außen‘ und dem ‚Innen‘ in einer Weise zu sichern, dass sie den Mitgliedern im Innern und den Vertretern des Außen unverzichtbar erscheint“ (Trotha 2000: 271).
Diese Schutzfunktion, welche die Macht der Mittler und ihre Möglichkeiten der Selbstbereicherung basal legitimiert, bricht dort auf, wo die Verpflichtung zu Loyalität gegenüber dem Zentrum und zu Schutz gegenüber der Peripherie in Widerspruch zueinander geraten. Obwohl die Unterscheidung zwischen einer relativ wohlhabenden Tutsi-Elite und einer vorrangig aus Ackerbauern bestehenden Hutu-Mehrheit keine Erfindung der europäischen Kolonialherren war, „it was colonialism which racialized the groups and turned their relationship in one of mutual submission and humiliation“ (Paul 2008: 21). Während zuvor eine soziale Hierarchie bestand, in der Hutu und Tutsi in einem klientelistischen Verhältnis zueinander standen, das Patronage gegen Fronarbeit versprach (und damit beiden Seiten, wenngleich nicht im selben Maße, diente), wurde im Zuge der Kolonialpolitik aus der klientelistischen Beziehung zwischen den sozialen Gruppen Hutu und Tutsi eine rassische und rassistische Unterscheidung, welche die darin behauptete Identität der Tutsi als überlegen und die der Hutu als minderwertig institutionalisierte. Für die Tutsi bedeutete diese Zuordnung die Teilhabe an sozialen Privilegien, aber auch zunehmend den Ausschluss aus der mehrheitlich durch Hutu geprägten Gesellschaft. Sie befanden sich in der ambivalenten Position der Macht gegenüber den Hutu und der Unterordnung unter die koloniale Herrschaft. Die dauerhafte Institutionalisierung sozialer Ungleichheit trug die machtpolitische und ökonomische Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie von der Ebene des Weltsystems qua doppeltem Kolonialismus in die ruandische
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Gesellschaft hinein. Mit der Aufhebung der ursprünglich klientelistischen Beziehung zwischen Hutu und Tutsi zerbrach das soziale Band und damit die Fähigkeit, sich als Mitglieder einer Gesellschaft zu verstehen (vgl. Semélin 2007: 26). Die zunächst als – fraglos asymmetrischer – Verpflichtungszusammenhang verstandene Beziehung zwischen Klient (Hutu) und Patron (Tutsi) machte einem Verhältnis eindirektionaler Abhängigkeit Platz: „Subservience to Batutsi lordship had lost any voluntary character it might have had in the precolonial era […]. By the 1950’s, the prevailing system of ‚exploitative reciprocity‘ had become less reciprocal and more overtly exploitative“ (Hintjens 1999: 253). Die Mittler waren mithin nicht mehr Teil der (wenngleich durch soziale Ungleichheiten geprägten) Gesellschaft, sondern aus ihr herausgehoben. In der Folge begründete die Annahme, dass es sich bei den Tutsi um eine nicht-indigene, mithin fremde Bevölkerungsgruppe handele, nicht deren überlegene, zur Herrschaft prädisponierte Stellung, sondern vielmehr den Ausschluss aus den Regierungsgeschäften und weiten Teilen der Mehrheitsgesellschaft (vgl. Paul i.E.). Die Kolonialherrschaft sah sich Mitte der 1950er Jahre einerseits mit wachsenden Partizipationsansprüchen der Mehrheit der Hutu konfrontiert, andererseits verlor die Legitimität ihrer Machtausübung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft immer mehr an Boden. Aus den ersten freien Kommunalwahlen 1956 und 1960 gingen schließlich Vertreter der Hutu als Sieger hervor, und den Forderungen von internationalen und lokalen Vertretern entsprechend wurde am 01. Juli 1962 die Unabhängigkeit Ruandas verkündet. Nach dem Abzug der Kolonialherren folgte ein Umschlag der ethnisch begründeten Diskriminierung in 30 Jahre der HutuHerrschaft, in denen Tutsi systematisch ausgegrenzt und Opfer sporadischer „ethnischer Säuberungen“ wurden, denen Zehntausende zum Opfer fielen und die Hunderttausende zur Flucht in die angrenzenden Staaten bewegten (Dutton et al. 2005: 447). Die gesellschaftlichen Teilhabechancen, die unter der kolonialen Herrschaft Ungleichheiten zugunsten der Tutsi bedeuteten, verkehrten sich in weiten Teilen. Bis Anfang der 1990er Jahre waren berufliche und private Aktivitäten für Tutsi fast uneingeschränkt möglich, der Zugang zu öffentlichen und staatlichen Ämtern jedoch stark beschränkt (vgl. Hintjens 1999: 257). Obwohl eine räumliche Ausgrenzung aus der Gesellschaft (zum Beispiel durch Ghettoisierung) nie stattfand, „the Batutsi were made to feel disadvantaged, and constantly reminded that they were erstwhile exploiters, who were lucky to be left in peace to get on with their business“ (ebd.: 247). Zusammengefasst brachte der Kolonialismus zwei entscheidende Veränderungen im Verhältnis von Hutu und Tutsi: Mithilfe der Hamitentheorie machte er aus den Tutsi eine überlegene und fremde (nicht-indigene) Rasse, deren Aufgabe darin bestand, die rohen Bantu zu zivilisieren; indem er die sozialen Gruppen
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ethnisierte, ließ er diese Differenz zu einer unausweichlichen sozialen Realität werden. Die Marginalisierung der breiten Masse der Bevölkerung erfuhr mit dem Rückzug der kolonialen Verwaltung und der Umdeutung ihrer ‚Entwicklungsstrategie‘ einen Umschlag, der sich gegen die bis dahin privilegierte Bevölkerungsgruppe wandte. Die Revolution von 1959, die mit massenhaften Tötungen und Vertreibungen von Tutsi einherging, war vor allem ein Akt kollektiver Vergeltung für die Demütigungen, welche Hutu unter der von staatlicher Administration und Kirche gedeckten Vorherrschaft der Tutsi erfahren hatten (vgl. Paul 2008: 21-22). Aus der Revolution gingen Hutu und Tutsi hervor als „[t]wo nations between whom there is no intercourse and no sympathy, who are ignorant of each other’s habits, thoughts and feelings as if they were dwellers of different zones, or inhabitants of different planets“ (Mamdani 2001: 127). Etwa seit Anfang der neunziger Jahre hatten sich die Spannungen zwischen Hutu und Tutsi noch einmal erheblich verschärft. Die Feindseligkeit gegen Tutsi erfuhr in der wirtschaftlichen Krisenzeit der frühen 1990er Jahre, die durch Überbevölkerung, fallende Weltmarktpreise und Dürreperioden geprägt war, und unter den Bedingungen immer neuer Flüchtlingsströme aus dem benachbarten Burundi, in dem umgekehrt die Hutu-Minderheit Repressalien durch die Mehrheit der Tutsi ausgesetzt waren, ständig neue Nahrung (vgl. Hatzfeld 2004: 180). Die Politik der Regierung leitete die Bevölkerung dazu an, die Tutsi für diese Entwicklung verantwortlich zu zeichnen und sie aus der Gesellschaft auszugrenzen. Die massenhafte Gewalt, die sich im Völkermord realisiert, ist darin Ausdruck der Marginalisierungsängste einer historisch deprivierten Bevölkerungsgruppe, die keineswegs von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen ist, aus alten Ressentiments und neuen Existenzängsten jedoch ein gewaltsames Potential generiert. Ihr Streben ins Zentrum der Gesellschaft wurde Gegenstand einer kollektiven Gewalt, die Bertrand Russell bereits 1964, nachdem die ersten Massaker stattfanden, in einem Interview als „the most horrible and systematic extermination of a people since the Nazi’s extermination of the Jews“ (Russell zitiert nach Melvern 2000: 17) bezeichnete. Vermeintlich ethnische bzw. tribale Auseinandersetzungen waren darin „Ausdruck und Folge einer auf dem Rücken der jeweiligen Bevölkerung ausgetragenen Elitenkonkurrenz“ (Paul i.E.) und hierin primär machtpolitisch motiviert. Die Beschreibung der Moderne entlang der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie erweist sich darin als doppelbödig: zugleich eine soziale Wirklichkeit als auch ein Machtmittel, das auf Legitimitätsdiskursen aufbaut. Wenn Hannah Arendt insistiert: „Die dritte Welt ist keine Realität, sondern eine Ideologie“ (Arendt 2008 [1970]: 25), dann müsste man ergänzen: Die dritte Welt ist eine Ideologie, die Realität geworden ist. Sie verweist auf die mit der territorialen Ordnung verbundenen Diskurse, denen eine
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Vorstellung von Zentralität wesensmäßig zugehörig ist und die im Folgenden weiter thematisiert werden.
2. Teil: Ideelle Zentren und Peripherien Justus Heck, Sebastian Neubauer, Svenja Reinke
7. Von territorialen zu ideellen Zentren
Der erste Teil des Buches legt es nahe, Zentrum und Peripherie im Hinblick auf die Möglichkeiten ihrer physischen und geographischen Auffindbarkeit und ihrer Abbildbarkeit, etwa auf Landkarten, darzustellen. Diese territoriale Differenzierung spielt in der heutigen Welt weiterhin eine wichtige Rolle. Im Folgenden erörtern wir jedoch, inwieweit die Kategorien von Zentrum und Peripherie zum Verständnis gesellschaftlicher Wirklichkeiten auf Ebenen beitragen können, die noch weiter von den physischen Konstellationen abstrahieren. Genau genommen mussten die territorialen Differenzierungsformen in den vorangegangenen Kapiteln schon als Mischformen charakterisiert werden, sowohl empirisch als auch der theoretischen Konzeption nach waren ihnen schon nicht-räumliche Aspekte eigen. In diesem Teil des Buches wird unter dem Oberbegriff des ideellen Zentrums11 diejenige Ebene näher betrachtet, die einerseits noch hinter einer materiellen oder territorialen Materialisierung zu vermuten ist und andererseits doch nicht ohne materielle Arrangements auftritt. Die Verquickung materieller und ideeller Aspekte führt exemplarisch das Recht vor Augen. Unabhängig davon, wie es sich konstituiert, erfüllt es seine gesellschaftsstrukturierende Funktion nur, wenn das oberste Gericht an einem bestimmten Ort sitzt, dort zugleich ein konkreter Mensch das hohe Richteramt bekleidet und diese Tatsache öffentlich bekannt ist. Offenbar tritt eine Mischform aus einem ideellen und einem territorialen Zentrum zutage und von einer ‚Reinform’ ist kaum auszugehen. Wo primär die territoriale Ausprägung gemeint ist, kann zugleich auch die Gegenwart des ideellen Zentrums behauptet werden, somit eine Art historische Omnipräsenz. Das ideelle Zentrum im Allgemeinen erscheint also ahistorisch. Eine ungefähre historische Verortung gelingt dennoch mit der Feststellung einer relativen Bedeutungsverschiebung im Bewusstsein der Gesellschaft über sich selbst, die 11 In den folgenden Kapiteln (Kap. 7-11) ist meist im Plural von den ideellen Zentren die Rede, ein Ergebnis der bis dahin erfolgten Begriffarbeit. Außer ideell wurden die Adjektive imaginär oder immateriell erwogen, doch ersteres lässt am stärksten eine gesamtgesellschaftliche Reichweite des zu beschreibenden Phänomens vermuten. Eine ‚Teilmaterialität’ wird im Gegensatz zur Rede von ‚immateriellen Zentren‘ nicht ausgeschlossen, somit bleibt der Blick auf etwaige materielle Repräsentationen offen. Der Begriff des Imaginären wiederum ist nicht mehr von der Lacan-Schule trennbar. Er verharrt dabei in einer Gegenüberstellung des Zentrums zu stark auf der Seite der Rezipient_innen, klingt zudem nach bloßer Einbildung.
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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vom Primat des Territorialen Abstand nimmt und tendenziell auf das ideelle Zentrum verweist. Diese historische Verortung wird im folgenden (8.) Kapitel noch näher thematisiert und wir behaupten, dass sie sich entlang der Diagnose eines Gültigkeitsverlusts ‚natürlicher’ Ordnungsvorstellungen bewegen muss. Zuvor geben wir noch einen kurzen Überblick über das weitere Vorgehen. Eine Erschütterung sozialer Sinnhorizonte um 1800, der Zusammenbruch von Ordnungen, die bisher als göttliche Schöpfung und unantastbar galten, wird anhand der Interpretation zeitgenössischer literarische Texte kursorisch nachgezeichnet. Auf die Behauptung eines ‚Bruchs’ mit einer gern als vormodern bezeichneten Epoche am Ausgang des 18. Jahrhunderts, folgt die Feststellung, dass die soziale Welt deshalb nicht auseinanderbrach. Wir beginnen in Kapitel 9 anhand ausgewählter Texte Franz Kafkas – der für unsere Zwecke mehr als Theoretiker denn als Literat herangezogen wird – Schlaglichter auf die Verfasstheit moderner Gesellschaften zu werfen, dazu dient insbesondere die ausführliche Analyse der Parabel Vor dem Gesetz (Kafka 2002a).12 Wir binden Kafka mit dem Ziel ein, konkret auf unser Anliegen zu sprechen zu kommen, nämlich einen aussagekräftigen Begriff des ideellen Zentrums bzw. der ideellen Zentren herzuleiten. Mithilfe Kafkas Vor dem Gesetz wird also an exemplarischen Passagen herausgearbeitet, dass das Zentrum-Peripherie-Verhältnis ein Grundelement für die Struktur und die Spannung des jeweiligen Textes darstellt. Aus dieser Analyse gewinnen wir drei Dimensionen, um ideelle Zentren begrifflich sinnvoll zu fassen. Der so vorgezeichnete Begriff wird dann in Kapitel 10 mithilfe der Foucault’schen Machtanalytik ausgearbeitet. Wir gehen unserer These nach, dass mit den ideellen Zentren soziale Mechanismen in den Blick geraten, die nach dem erwähnten ‚Bruch’ dazu dienen konnten, den Sinn- und Ordnungsverlust aufzufangen. Mit Kafka und Foucault stellen wir sodann fest, dass ideelle Zentren vor allem an der Dressur und Dressiertheit der Körper ansetzen, womit die in Disziplinierungs-Prozeduren erreichte Formung von Individuen gemeint ist.13 Am Ende dieses Teils des Buches wird in Kapitel 11 noch einmal verstärkt auf den bereits vermuteten, sekun12
Vgl. auch den Anhang 1. Angesichts der hauptsächlichen Zuhilfenahme Foucaults und seiner Analyse zur Herausbildung einer am Primat der Disziplin ausgerichteten Gesellschaft soll hier doch die möglicherweise konstitutive Bedeutung des Begriffs ideeller Zentren in der Sphäre der Ideologie Erwähnung finden. Insofern als das produzierte Subjekt sich auch als ideologischer Effekt begreifen lässt, wäre dem sogar in doppelter Hinsicht nachzugehen: Erstens böte sich eine gesellschaftlich aufgespannte Psychoanalyse nach Louis Althusser an (vgl. Althusser 1977a: 108-153), um quasi die intrapsychische Seite der Disziplinen herauszuarbeiten (vgl. Charim 2002: 91-121). Des weiteren könnte eine Untersuchung mit der Ideologietheorie Max Horkheimers und Theodor W. Adornos zielführend sein (vgl. Horkheimer/Adorno 1988: 128-176), um die Transformation der Kategorie des Individuums durch die spätkapitalistischen Disziplinen selbst zu erfassen (vgl. Adorno 2003a: 254-287). 13
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där materiellen Charakter des ideellen Zentrums eingegangen. Schließlich fassen wir die gewonnenen Erkenntnisse im Hinblick auf die historische Verortung ideeller Zentren sowie auf deren Merkmale und Eigenarten zusammen.
8. Der Bruch mit der ‚natürlichen’ Ordnung
Zur weiteren Begründung des begrifflichen Konzepts möchten wir die Chronologie einer deutungsmächtigen Historiographie anführen. Gemeint sind Geschichtsdarstellungen, die die Sicht unterstützen, dass die Welt einst ‚mit Gewinn’ vor der Folie territorialer Differenzierung betrachtet werden konnte, während sie unter anderem in dieser Hinsicht besonders im 16. und 18. Jahrhundert auf dem Weg zur modernen Gesellschaft zunehmend komplexer wurde. Im Zuge dieser Ausdifferenzierung wird es immer schwieriger, den Prozess ohne Zuhilfenahme ideeller Gesichtspunkte zu verstehen. Der Zusammenhalt westeuropäischer Gesellschaften erscheint besonders problematisch und erklärungsbedürftig infolge jener Umbruchsphase, die in den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften geläufig für die Zeit seit der Französischen Revolution bis ins 19. Jahrhundert hinein diagnostiziert wurde.14 Spätestens zu dieser Zeit sollen klassische, höfisch-ständische Herrschaftssysteme, die sich noch auf eine natürliche, traditionelle Ordnung aufgrund des göttlichen Schöpfungswillens berufen konnten, aus den Fugen geraten sein.15 Es kam beispielsweise ein neuer Begriff der Nation zur Geltung, der den Bürgerstatus nicht mehr auf eine familial begrenzte Kaste limitierte und so den Begriff des Bürgers selbst erst schuf. 16 So ist auch von einem grundlegenden Wandel der Staatlichkeit auszugehen. Der Staat, wie er heute aufgefasst wird, entstand. Die damaligen großen Veränderungen kann man für viele Bereiche zeigen und verschiedentlich zusammenfassen: Rationalisierung, Industrialisierung, Urbanisierung, Alphabetisierung und Bevölkerungswachstum sind nur einige Beispiele der entsprechenden Wortwahl. Niklas Luhmann (1997: 14 Wie verbreitet das Konzept ist, lässt sich vielleicht an der Gegenbewegung ablesen, daran, wie die einheitliche Sicht des „Modernismus“ in die Kritik geriet (vgl. Lorenz 1997: 154-157). Ein anderer Weg besteht darin, die Selbstverständlichkeit herauszustellen, mit der gut rezipierte Texte die Umbruchsphase erwähnen. So fasst z.B. Hans-Ulrich Wehler die genannte Zäsur eher beiläufig zusammen, im Zusammenhang der Forderung nach einer umfassenden Gesellschaftsgeschichte, die im Historikerstreit die Kontroverse anfeuerte. Es ist die Rede von „der Krisenzeit nach dem Ende des 18. Jahrhunderts, als sich die ‚doppelte Revolution’ (Hobsbawm): die politische Frankreichs und die industrielle Großbritanniens, auf das Ordnungsgefüge Alteuropas auswirkte“ (Wehler 1973: 12). 15 In den Konsequenzen lexikonartig nachzulesen etwa bei Dallinger (2005: 16), also zugespitzt hinsichtlich der Behauptung von Allgemeingültigkeit. 16 Mit der Einschränkung, dass er z.B. Frauen noch auf lange Zeit hinaus weiterhin vorenthalten blieb.
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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707-775), auf den wir im gesamten Buch häufig Bezug nehmen, beschreibt diesen gesellschaftlichen Umbruch als eine Evolution von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft. Neben Luhmann erfassen aber zweifellos noch viele andere Soziolog_innen dieses Phänomen sehr gut. In Michel Foucaults Begrifflichkeit wird dieser Wandel eher als ein Bruch unvereinbarer Epistemen verstanden. Foucault stellte die große Bedeutung des Zusammenhanges der historischen Entwicklung einer Gesellschaft und der Entwicklung ihrer Sprache heraus. Diesen Zusammenhang erfasste in besonderer Weise auch der deutsche Geschichtswissenschaftler Reinhart Koselleck. In diesem Kontext prägte er den Terminus der „Sattelzeit“ (Koselleck 1972: XIV; vgl. auch Koselleck 1989a: 112-114). Gemeint ist der Übergang westeuropäischer Gesellschaften vom Denken in vormodernen zum Denken in modernen Begriffen, und zwar vom ausgehenden 18. bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert. Folgt man der westlich-europäischen Geschichtsschreibung und nimmt diese Interpretationen des ‚Bruchs‘ als weithin gültig an, so gilt gleichzeitig die Feststellung, dass die Gesellschaft(en) mit dem Wegfall einer ‚natürlichen’ Ordnung oder einer weltanschaulichen Einheit keineswegs in sich zusammenfiel(en). Die Möglichkeit weiterer gesellschaftlicher Entwicklungen nach der ‚Sattelzeit‘ war an die Herausbildung ideeller Zentren gebunden, so unsere These. 8.1 Heinrich von Kleist als Vordenker Kafkas Wie nun schlug sich die konstatierte Auflösung der Ordnung zu jener Zeit nieder? Als Ort, dieser Frage nachzugehen, wollen wir stichprobenartig die damalige deutschsprachige Literatur heranziehen – zumal im Hinblick auf die nachfolgende Analyse des Kafka-Textes. Als Vordenker lässt sich Heinrich von Kleist anführen. Die Rezeption seines Werks war für Kafka nachweislich ein Anstoß geistiger Auseinandersetzung: Bei einem von überhaupt nur drei Vorträgen, die Kafka im Laufe seines Lebens gehalten haben soll, handelte es sich z.B. um eine Lesung aus Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas in der Prager Toynbee-Halle (vgl. Brod 1996: 133-134). Außerdem finden sich entsprechende Notizen in Kafkas Tagebüchern: „Kafka las die Briefe Kleists mit besonderer Anteilnahme, notierte sich Stellen, die bezeugen, wie die Familie Kleist den Dichter als ‚ein ganz nichtsnutziges Glied, der menschlichen Gemeinschaft, das keiner Teilnahme mehr wert ist’ betrachtet hat“ (Brod 1996: 138).
In einer interessanten Interpretation Urs Strässles wird Heinrich von Kleists Werk zentral als mögliche Übersetzung einer „Epochenschwelle 1800“ in die Literatur diskutiert (Strässle 2002: 15). Darunter fällt die Herleitung neuer Me-
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chanismen der sozialen Welt entlang dieser „Epochenschwelle“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die radikale Veränderung von Wissensordnungen wird auf die damals zunehmende Alphabetisierung zurückgeführt, die den Lesenden eine neue Möglichkeit der Selbstbeobachtung im und durch den Text verschaffte. Davon zeuge „ein um 1800 sich neu formierender Typus von Diskurs, der den Selbstbezug des Subjekts gleichsam zur Methode der Produktion von Wissen erhebt […]. Als Focus der Welt und damit als Maß aller Dinge definiert, verdoppelt das moderne Subjekt Welt dergestalt unaufhörlich: der empirisch-vorfindlichen Welt korrespondiert mithin eine wuchernde ideelle, vom Subjekt erst synthetisierte“ (Strässle 2002: 9-10).
Das Ausgreifen einer „ideellen Welt“ materialisiere sich dann – auf Papier, in Bibliotheken und Verwaltungsapparaten – gewissermaßen „hinter dieser mehr und mehr sich verselbständigenden Zeichenwelt“ (ebd.: 10). Die Perspektive auf das Subjekt als ‚Fokus der Welt‘ übersteht die weitere Argumentation allerdings nicht: Strässle zeigt an Kleists Biographie und Werk exemplarisch auf, wie der Glaube an die Möglichkeit verfiel, im Laufe des Menschenlebens einer heiligen Ordnung und göttlichen Vorsehung auf den Grund zu kommen. Die philosophische Perspektive des selbstbewussten Subjekts wurde radikal verworfen. Aus Briefen Kleists aus dem Frühjahr 1801 gehe hervor, dass er aufgehört hat, den Lebenssinn in der Suche nach der einen, universalen Wahrheit zu sehen: „Fortan ist der Faden zwischen Immanenz und Transzendenz gerissen: Welt erscheint nicht mehr als ein teleologisch verfaßtes Sinnganzes, sondern als Gewirr von Zufällen und Notwendigkeiten; das Subjekt wandelt sich vom göttlichen Medium im Dienste eines der Schöpfung eingeschriebenen Strebens nach Perfektibilität zum ohnmächtigen Objekt an den Fäden eines dunklen, zufallsgeleiteten Geschicks“ (ebd.: 10).
Der Zweifel daran, übergeordnete Gesetzmäßigkeiten selbstbewusst erkennen zu können, habe, einmal aufgekommen, für Kleist die Hinwendung zur Dichtkunst bedeutet, weil er die Grenzen menschlichen Erkennens darauf beschränkt gesehen habe, das Geschehen im Nachhinein zu entziffern, „den Sinn eines Ereignisses oder einer Ereigniskette bloß noch rekonstruktiv aus der Position des ‚Zuspät’ zu erschließen“ (ebd.: 9). Die Hoffnung auf die Erkenntnis universeller Ordnungsmechanismen entzieht sich dem subjektiven Innenleben. Indem sie einem unbestimmbaren, tendenziell bedrohlichen Außen anheim fällt, kann eine göttlich vorherbestimmte, subjektiv einsichtige Gewissheit nicht bestehen. Die beste Möglichkeit zum Umgang mit dieser Welt liegt im Dichten, indem die unbegreiflichen Abläufe mühsam in Worte gefasst werden.
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8.2 Auflösung vormoderner Ordnung am Beispiel der Nachtwachen Ein aussagekräftiges Erzeugnis solch literarischer Arbeit aus der Umbruchszeit um 1800 sind Bonaventuras Nachtwachen. Dieser satirische Text aus der Romantik spricht in Bezug auf den Niedergang der allgemeinen gesellschaftlichen Ordnung für sich. Die Identität der Autor_in gewährt in diesem Fall jedoch keinen Aufschluss – sie ist Gegenstand einer eigenen „Nachtwachen-Forschung“ (Bonaventura 2003 [1805]).17 Ebenso unbekannt wie die Urheberschaft ist das exakte Erscheinungsdatum, es lässt sich jedoch mit einiger Sicherheit auf 1805 festlegen. Wiederkehrende Elemente der Erzählung bilden die sonderbaren Umstände der Geburt und des Lebensweges des Ich-Erzählers.18 Dieser weist selbst auf den bruchstückartigen Textverlauf hin, wenn er spöttisch bedauert, nicht „so recht zusammenhängend und schlechtweg erzählen zu können, wie andere ehrliche protestantische Dichter“ (ebd.: 48). Er lässt die Grenzen des Realen und des Wahnes verschwimmen; Widersprüchlichkeiten des sozialen Zusammenlebens und die allseitige Veranlagung zum Wahnsinn stehen im Zentrum: „In einem schwankenden Zeitalter scheut man alles Absolute und Selbstständige […]. Der Zeitcharakter ist zusammengeflickt und gestoppelt wie eine Narrenjacke, und was das Ärgste dabei ist – der Narr, der darin steckt, möchte ernsthaft scheinen“ (ebd: 17).
Wie bereits an Kleists Werk fällt auf, dass die Figuren als Marionetten in ihren Rollen gefangen zu sein scheinen: hier ein Mann, der ohne Anteilnahme für die Justiz funktioniert: „Jetzt wurde der unsichtbare Draht gezogen, da klapperten die Finger, ergriffen die Feder und unterzeichneten drei Papiere nacheinander; ich blickte schärfer hin – es waren Todesurteile“ (ebd.: 19). Da die Insassin einer Irrenanstalt, die die Rolle der Ophelia dem Stück gemäß bis zu ihrem Tod folgen muss. Die Suche nach einem göttlich vorherbestimmten Seinszweck verläuft ähnlich dem Abnehmen immer neuer Masken oder dem schichtweisen Vordringen zur Mitte einer Zwiebel (in wiederkehrende Motive des Buches gefasst) – und stößt auf die komplette Negation, das Nichts. Das Ende vergeblicher Sinnsu17 Bonaventura ist das Pseudonym eines/einer anonymen Autoren/Autorin. Die verwandte Ausgabe sagt die Urheberschaft dem bis dahin eher unbekannten Schriftsteller E.A.F. Klingemann nach, unter Verweis auf eine neu aufgefundene historische Quelle. Im Nachwort heißt es: „Manchmal liest sich die Geschichte der Nachtwachen-Forschung, soweit es um die Identifizierung ihres Autors geht, wie eine Kriminalgeschichte“ (Paulsen 2003: 172, vgl. außerdem 167-186). 18 Darauf spielt auch eine textinterne Vermutung an: „Du erinnerst dich noch an mein Narrenkämmerchen, wenn du anders den Faden meiner Geschichte – die sich still und verborgen, wie ein schmaler Strom, durch die Fels- und Waldstücke, die ich umher anhäufte, schlingt – nicht verloren hast“ (Bonaventura 2003 [1805]: 112; vgl. Paulsen 2003: 184).
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che wird als höhnisches Gelächter in Szene gesetzt, das eher teuflisch als göttlich zu nennen ist (vgl. Bonaventura 2003 [1805]: 6-7, 120). Die aberwitzige Annahme wird verworfen: „der Mensch selbst wäre etwas mehr, als das erste Tier darauf, ja er habe einigen Wert und könne vielleicht gar unsterblich sein“ (ebd.: 116). In Bonaventuras Nachtwachen finden sich demnach Anspielungen auf die verunsicherte Gesellschaft des beginnenden 19. Jahrhunderts, so auch im Prolog des Hanswurstes zu der Tragödie: der Mensch: Bis heute wird Charles Darwin häufig vereinfachend dahingehend angeführt, er habe die Abstammung des Menschen vom Affen behauptet. Diese Idee konnte schon früher für irrwitzig und anstößig gelten, weil so das Dogma von der Schaffung des Menschen nach Gottes Ebenbild naturwissenschaftlich ad absurdum geführt wurde. Das zeigt der Hanswurst, indem er gegenüber dem Publikum verteidigt, dass er, ein Narr, die Vorrede des Menschen schwingt. Denn er wirft die später mit dem Namen Darwin in Verbindung gebrachte Idee auf, dass „eigentlich der Affe, der doch ohnstreitig noch läppischer ist als ein bloßer Narr, der Vorredner und Prologist des ganzen Menschengeschlechts ist, und dass meine und Ihre Gedanken und Gefühle sich nur bloß mit der Zeit etwas verfeinert und kultiviert haben, obgleich sie ihrem Ursprunge gemäß doch immer nur Gedanken und Gefühle bleiben, wie sie in dem Kopfe und Herzen eines Affen entstehen konnten“ (ebd.: 72-73).
Im Nachwort der hier verwandten Ausgabe wird dem Buch eine besondere Religiosität nachgesagt. Darin sei der „wahre Grund […] für die relative KafkaNähe“ (Paulsen 2003: 179) zu sehen, neben einer auffälligen sprachlichen Verwandtschaft. „Religiös“ sei das Buch „sozusagen wider Willen und letzten Endes – um das Paradox zu wagen: ohne Religion, denn Gott wird ja nicht etwa geleugnet, er wird nur, wie seine Welt, demaskiert“ (ebd.). Die Demaskierung wird, wie auch das Motiv der Zwiebel illustriert, als Versuch entworfen zu einem Seinskern vorzudringen, der hinter vielen Schichten verborgen bleibt und sich am ehesten noch in der Ahnung des Nicht-Bestehens zu erkennen gibt. Die Nachtwachen handeln von der Unsicherheit über die Beschaffenheit des menschlichen Wesens. Die Idee einer natürlichen Weltordnung, die von einem Schöpfer erdacht, erbaut und gepflegt wird und in der jedes Ding seinen Platz, jeder Mensch seine Bestimmung hat, wird hier insgesamt angezweifelt. Der/die Autor/in der Nachtwachen versagt dem erzählenden Ich im Text die „Naivität des Dichters“, die den romantheoretischen Überlegungen des Philosophen und Literaturtheoretikers Georg Lukács (1885-1971) zufolge schon für ihn selbst aufgrund eines Zwangs zur mehrfachen Reflexion im Schreibprozess nicht in Betracht kommen:
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Justus Heck, Sebastian Neubauer, Svenja Reinke „Denn die Reflexion des schaffenden Individuums, die inhaltliche Ethik des Dichters, ist eine doppelte: sie geht vor allem auf die reflektierende Gestaltung des Schicksals, das dem Ideal im Leben zukommt, auf die Tatsächlichkeit dieser Schicksalsbeziehung und auf die wertende Betrachtung ihrer Realität“ (Lukács 1999: 410).
Lukács Theorie zur geschichtsphilosophischen Bedingtheit und Bedeutung des Romans handelt insbesondere von der Beziehung zwischen Idee und Wirklichkeit im Roman. Die Nachtwachen lassen sich hauptsächlich als dichterischer Zweifel an ebendieser Beziehung lesen.19 Die Idee, die keinen Widerhall mehr in der Welt findet, ist die einer göttlichen Seinsordnung. Lukács’ Charakterisierung des Romans scheint ausgerechnet für die Nachtwachen hervorragend zuzutreffen und enthält zudem einen wichtigen Hinweis auf die Bedeutung des geschichtsphilosophischen Kontexts; in unserem Fall also einen Hinweis auf den oben erwähnten ‚Bruch’ und der von Urs Strässle für Kleist herausgearbeiteten Hinwendung zur Dichtkunst, also der ‚Wortarbeit’: „Der Roman ist die Epopöe der gottverlassenen Welt; die Psychologie des Romanhelden ist das Dämonische; die Objektivität des Romans die männlich reife Einsicht, daß der Sinn die Wirklichkeit niemals ganz zu durchdringen vermag, daß aber diese ohne ihn ins Nichts der Wesenlosigkeit zerfallen würde: alles dies besagt eins und dasselbe. Es bezeichnet die produktiven, von innen gezogenen Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten des Romans und weist auf den geschichtsphilosophischen Augenblick hin, in dem große Romane möglich sind, in dem sie zum Sinnbild des Wesentlichen, was zu sagen ist, erwachsen“ (ebd.: 411).
Die Vermutung einer gottverlassenen Welt bildet ein Thema, das Lukács – durchaus ‚kafkaesk’ – noch ausschmückt: „[…] was früher als das Festeste erschien, zerfällt wie vertrockneter Lehm […] und eine leere Durchsichtigkeit, hinter der lockende Landschaften sichtbar waren, wird auf einmal zur Glaswand, an der man sich vergeblich und verständnislos – wie die Biene am Fenster – abquält, ohne durchbrechen zu können, ohne selbst zur Erkenntnis gelangen zu können, daß es hier keinen Weg gibt“ (ebd.: 414).
Als Antwort auf die Frage nach der Auflösung vormoderner Ordnungsbegriffe lässt sich am Beispiel Kleists und Bonaventuras zusammenfassen, was in Anbetracht der ‚Epochenschwelle 1800‘ dichterischen Ausdruck fand: Der Glaube an ein vorgegebenes Sinnganzes, mit dem alles seine Ordnung hat, – die letztendlich religiöse Bestrebung – wird subjektiv enttäuscht. Die Suche nach letzten Gründen fördert allenfalls Chaos und Leere zutage. Die Nachtwachen vor allem spielen mit dem Gedanken an die Apokalypse. Diese trat nicht ein – wie histo19
Die Frage allerdings, ob die Nachtwachen angesichts der zusammenhangslosen Textstruktur überhaupt als Roman gelten können, ist ein Streitpunkt der „Nachtwachen-Forschung“ (vgl. im Nachwort zu Bonaventura 2003 [1805]; Paulsen 2003: 179).
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risch zweifelsfrei festzustellen ist. Ein Jahrhundert später, zur Schaffenszeit Franz Kafkas, schlägt sich die Auseinandersetzung des Poeten mit seiner Situiertheit in einer sozial geregelten Welt auf ein Neues in Wortbildern nieder. Als wichtigste Figur lässt sich dabei das ideelle Zentrum identifizieren.
9. Über ideelle Zentren bei Franz Kafka
Franz Kafka, so lautet die Grundannahme dieses Kapitels, kann als Theoretiker des ideellen Zentrums begriffen werden. Mit Hilfe seines literarischen Werkes hoffen wir, den Zugang zu diesen Zentren plastisch machen zu können. Die Annäherung erfolgt in zwei Schritten. Zunächst möchten wir einen allgemeinen Zugang zu Kafka finden, um ihn selbst dann im nächsten Schritt zum Sprechen zu bringen. Dies soll dahingehend geschehen, dass der allgemeine Begriff des ideellen Zentrums mithilfe einer Analyse von Vor dem Gesetz und anderer Texte des Autors konkrete Gestalt annimmt. 9.1 Franz Kafka – ein Literat unter den Theoretiker_innen? Dass Kafka gemeinhin zu den Literat_innen gerechnet und als solcher diskutiert wird, ist vor dem Hintergrund seiner Zugehörigkeit zum Kanon der deutschsprachigen Literatur, seiner Vorbildwirkung auf andere Literat_innen und der vorwiegenden Beachtung durch die Literaturwissenschaft nur allzu verständlich. An dieser Stelle möchten wir ihn jedoch als Theoretiker ernst nehmen – ihn also weder interpretieren noch literaturwissenschaftlich bearbeiten, sondern seine Erkenntnisse in eine sozialwissenschaftliche Theoriesprache übersetzen. Es sei ausdrücklich betont, dass wir ihn nicht im Sinne ‚schöner Literatur’ heranziehen, um das ansonsten theoretisch Ausgebreitete zu illustrieren. Die ausgewählten Texte sind als integrale Bestandteile dieser Untersuchung über ideelle Zentren zu verstehen. Die Theoreme, welche sie zum Sprechen bringen, haben für uns die Stellung von Leitmotiven – das gilt somit auch für die Texte Kafkas selbst. Der Widerspruch zur gängigen Rezeption Kafkas allein als Literaten lässt sich hier nicht auflösen. Er kann jedoch in unserem Zusammenhang als unproduktiv verworfen werden. Für die Legitimität eines Verfahrens, Theorie aus der Literatur zu generieren und damit die Literatur als Theorie zu behandeln, spricht Theodor W. Adornos Auslegung. Er schrieb, man dürfe Kafka nicht interpretieren, denn „jeder Satz steht buchstäblich, und jeder bedeutet“ (Adorno 2003a: 255). Auch Gilles Deleuze und Félix Guattari nehmen Kafka recht wörtlich und betonen mit dem Etikett der „kleinen Literatur“ die politische Relevanz und die einzigartige Dichte der Texte (vgl. Deleuze/Guattari 2004: 24-28). D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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9.2 Franz Kafka – der Theoretiker des ideellen Zentrums In Kafkas Werk spielen Figuren von Zentrum und Peripherie eine große Rolle. Als erstes Beispiel mag hier der Umstand dienen, dass es Joseph K. im Proceß immer nur mit den niedrigsten Beamten zu tun hat und die ihn betreffenden Gerichtshandlungen stets in Dachkammern und Hinterzimmern (peripheren Räumen) stattfinden. Der Prozess selbst hingegen organisiert sich um ein Zentrum – genauer als Gesetz zu bezeichnen –, welches jedoch niemals explizit auftaucht (die Leser_innen erfahren nichts über das hohe Gericht und das Recht, worüber dieses waltet) (vgl. Kafka 2003b). Die kaiserliche Botschaft birgt eine ähnliche Figur, denn die Botschaft kommt nicht an (vgl. Kafka 2002c): Es findet keinerlei Kontakt zwischen dem Zentrum und der Peripherie statt. Und selbst wenn es jemals jenseits des niedergeschriebenen Textes zu Kontakten kommen sollte, so wäre das emittierende Zentrum mit dem sterbenden Kaiser ja bereits erloschen. Der Text des Proceß selbst entfaltet durch diese Differenz seine Spannung (vgl. Kafka 2003b). Ganz ähnlich verhält es sich im Roman Das Schloß (Kafka 2003a). Auch hier erreicht der Protagonist K. niemals das Schloss und den ominösen Grafen Westwest selbst. Vielmehr hält sich K. die ganze erzählte Zeit über ausschließlich in den äußersten Randbereichen des Schlosses auf, die als unendlich ausgedehnt dargestellt werden. Zudem hat er ausschließlich mit den Randgestalten der Schlossbürokratie zu tun: den Gehilfen, den Menschen im Gasthaus, dem untersten Kastellan und seinen Bediensteten. Auf eine sehr ähnliche Weise erreicht auch die Gestalt des Hungerkünstlers ihre Spannkraft, indem sie zunächst in der Manege, d.h. im Zentrum, steht (vgl. Kafka 2002b). Allerdings wird die dabei zur Schau gestellte ‚Tätigkeit’, das Hungern – zumindest westlichen Maßstäben nach – eher den äußersten Randbereichen der Gesellschaft zugeordnet. Entsprechend führt es dann auch zur vollständigen Peripherisierung des Hungerkünstlers: Er wird schließlich, im Zuge der erfolgreichen Ausübung seines Handwerks, zu einem „Hindernis auf dem Weg zu den Ställen“ (ebd.: 271). Schlussendlich verhungert er im Stroh. Dennoch enthält die Geschichte eine Pointe: Er hungerte weil er „nicht die Speise finden konnte, die [ihm] schmeckt“ (ebd.: 273). Nicht essen zu wollen und das Essen auf ein individuelles Geschmacksmoment zu reduzieren, bedeutet auch den Versuch, sich dem gemeinsamen Mahl als gesellschaftlich-kulturell universellem Grund zu entziehen. Es eröffnen sich in unserem Kontext zwei Möglichkeiten, die Peripherisierungsgeschichte des Hungerkünstlers aufzufassen. Einerseits kann, wie eben vorgeschlagen, die Organisation des Textes um ein nicht präsentes, aber wirksames Zentrum (in diesem Falle das Essen) herum gelesen werden. Das Hungern erschiene dann als die äußerste, gerade noch zur Peripherie des Essens gehörende Möglichkeit der Existenz unter den Essenden. Das (gemeinsame) Mahl kann
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dabei als Kern der Kultur verstanden werden. Andererseits, und dies ist der vielleicht ergiebigere Weg, kann die Peripherisierungsgeschichte des Hungerkünstlers auch als Beispiel für Selbstexklusion, also die Verweigerung der Orientierung am (ideellen) Zentrum stehen. Seine Geschichte als die eines Schauobjektes, welches seine Attraktivität bis hin zur Vernichtung einbüßt, wäre dann eine Geschichte der Wirkungen der Zentralinstanz. Diese Skizzen mögen als Andeutungen für die tragende Rolle der ZentrumPeripherie-Differenz im Werk Franz Kafkas, genauer der gegenseitigen Verwiesenheit der beiden Kategorien aufeinander, fürs erste ausreichend sein. Kaum einer seiner Texte kommt ohne ihre kategorische Einbeziehung aus. Etwas zugespitzt ließe sich formulieren: Der Zentrum-Peripherie-Differenz kommt in vielen Texten Franz Kafkas eine Struktur gebende Funktion zu. Die Texte sind unserer These zu Folge an genau dieser Differenz ausgerichtet. Sie gewinnen daraus ihre besondere Spannung und bilden schließlich mit ihrer Hilfe das Leben selbst ab. Diese These möchten wir im Folgenden anhand des Textes Vor dem Gesetz20 (Kafka 2002a) noch einmal verdeutlichen. Daraufhin werden wir das im Text erkennbare Zentrum-Peripherie-Verhältnis analysieren und so seine Spezifik erkennbar machen. Wir möchten die verborgene Relation gewissermaßen selbst aus dem Text heraus sprechen lassen und nennen sie das ideelle Zentrum. Als dessen Theoretiker tritt daher Franz Kafka hervor. Vor dem Gesetz eignet sich zur Analyse besonders wegen seiner Prägnanz, seiner Konzentration auf die Zentrum-Peripherie-Thematik sowie aufgrund seines hohen Bekanntheitsgrades. 9.3 Vor dem Gesetz – Chiffre für das ideelle Zentrum Die Betrachtung der Topographie der im Text dargestellten Szenerie offenbart sogleich, dass es sich um ein Verhältnis von Zentrum und Peripherie handelt: Es kommt ein Mann „vom Lande“ (ebd.), aus einem Bereich also, der den Schauplatz in endlosen Weiten umgibt. Das Attribut vom Lande kann als eine Beschreibung der in endloses Nichts verlaufenden Peripherie verstanden werden, insofern als der um das Gesetz herum aufgespannte Raum im Text allein durch dieses Bild charakterisiert wird. Der Mann vom Lande trifft in der Szenerie auf den oder einen „untersten Türhüter“ (ebd.). Es kann davon ausgegangen werden, da ein Tor per definitionem immer von einer Mauer eingefasst ist, dass dies auch für das vom Torhüter gehütete Tor gilt. Davor also befinden sich die beiden Figuren und einige mitgebrachte Gepäckstücke. Der so charakterisierte Raum ist 20 Die ungekürzte Originalfassung findet sich im Anhang. Alle Zitate aus Vor dem Gesetz im Folgenden nach dieser Fassung aus: Kafka 2002a.
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ein Bereich des Zusammentreffens. Er ist der Schnittpunkt von Zentralinstanz und Peripherie und kann damit als Interaktionsbereich – als der Bereich, in dem Zentrum und Peripherie miteinander in Wechselwirkung treten – bezeichnet werden. Obwohl der/die Leser_in letztlich darüber im Unklaren gelassen wird, scheint der Bereich hinter dem Tor aus einer schier endlosen Reihe derselben Anordnung zu bestehen: Tore, Türhüter, Mauern. Immer dasselbe „von Saal zu Saal“. Am Ende der Säle, im Zentrum der (für den/die Leser_in und die Figuren nicht sichtbaren aber angedeuteten) geschilderten Gesamttopographie, und damit im Zentrum der generierten Struktur, befindet sich das „Gesetz“. Ohne eine Deutung darüber zu erheben, was das Gesetz denn sei und wofür es stehe, lässt sich hier feststellen: Es befindet sich im Zentrum, stellt das Zentrum dar, ist es selbst oder fällt immerhin mit ihm zusammen. Der beschriebene Bereich ist einer von Wechselwirkungen im dreifachen Sinne: Er ist zunächst der Bereich des Zusammentreffens der im Folgenden genauer zu erörternden Strukturen von Zentrum und Peripherie. Deren jeweilige Endlosigkeit schrumpft an diesem Ort auf eine sehr überschaubare Lokalität, fast schon auf Punktgröße zusammen. Der Wechselwirkung dieser Strukturen nach erscheint es nur logisch, dass er – zweitens – auch ein Ort der Interaktion der Figuren ist. 21 Damit ist das Wirkungsfeld, drittens, als der einzig mögliche Ort des gesellschaftlichen Lebens selbst bestimmt.22 Aus der ‚Vogelperspektive’ betrachtet handelt der Text also von einem Zentrum, umgeben von einer unermesslichen Reihe von Vorräumen der Zentralinstanz und einer endlos ausgedehnten aber vollkommen leeren Peripherie. Über die tatsächliche Existenz und Beschaffenheit der Zentralinstanz wie auch der Peripherie erfahren die Leser_innen nichts. Die Handlung selbst findet ausschließlich am Berührungspunkt von Zentralinstanz und Peripherie statt: vor der äußersten Mauer.23 Die beiden Figuren können demnach als Repräsentationen der jeweiligen Räume aufgefasst werden: Der Mann vom Lande kommt aus der entlegenen Peripherie, während der Türhüter das Zentrum repräsentiert und mit ihm auch als dieses selbst erscheint. Schließlich stellt jener dem Mann eine Reihe „teilnahmslose[r] Fragen, wie sie große Herren stellen“ (Kafka 2002a). Diese 21
Diese stehen dabei freilich in einem engem, noch genauer zu bestimmenden Repräsentationsverhältnis zu den Strukturen. 22 Es mag eingewendet werden, dass der Mann vom Lande ja auch schon vorher in der leeren Peripherie gelebt hat. Aber das einzige, was die Leser_innen über dieses Leben erfahren, ist, dass in dem Mann scheinbar alles darauf hinwirkt, die Peripherie zu verlassen und zum Gesetz zu kommen. Weiterhin stellt sich die Frage, ob angesichts der schieren Leere der Peripherie das Leben als gesellschaftliches erst im Interaktionsbereich beginnt. 23 Dieser Ort ist schon dahingehend besonders herausgehoben, als dass er der materialisierte Schnittpunkt zweier Endlosigkeiten ist: Der leeren Peripherie auf der einen und der endlosen Reihung der Mauern auf der anderen Seite.
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Relation funktioniert, obwohl davon ausgegangen werden kann, dass der „unterste Türhüter“ (ebd.) mit dem Zentrum selbst nur am Rande etwas zu tun hat. Im Text stehen die Kategorien von Zentrum und Peripherie, also die mit ihnen assoziierten Räume, Figuren und Konstellationen jedoch nicht statisch nebeneinander. Vielmehr stehen sie in einem Wechselverhältnis zueinander. Erst dadurch werden die Kategorien von Zentrum und Peripherie als solche konstituiert. Sie gewinnen ihr Leben, ihre Dynamik und ihre Relevanz aus dieser wechselseitigen Interaktion. So beschreibt der Text, dessen Handlungsschauplatz ja den Ort der Interaktion von Zentrum und Peripherie darstellt, die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Kategorien, ihr ständiges Aufeinander-Verwiesen-Sein. Zunächst werden die beiden endlosen Räume als miteinander verbunden charakterisiert: Die Mauern haben Tore. Und die „Tore zum Gesetz stehen offen wie immer“ (ebd.). Weiterhin ist es ja gerade das Streben (die Lust, das Verlangen, das Begehren)24 des Mannes nach dem Gesetz, also sein Bestreben, ins Zentrum zu gelangen, welches die Szenerie erst entstehen lässt (er bewegt sich in der Vorgeschichte vom Lande zum Tor). Trotz der offensichtlichen Möglichkeit, dieses Unterfangen in die Tat umzusetzen – die Tore stehen ja offen –, bleibt der Mann vor dem äußersten Tor stehen. Vom Durchschreiten des Tores hält ihn scheinbar das verbale „Verbot“ (ebd.) des Türhüters ab. Dennoch kehrt der Mann nicht um. In seinem Leben existiert einzig der Wunsch nach Einlass in das Gesetz. Dies offenbart den Charakter der Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie. Denn der Mann „wartet Tage und Jahre“ (ebd.), schließlich verwartet er sein ganzes Leben vor dem Tor. Die beiden Kategorien werden somit als ewig getrennte und gleichsam verbundene präsentiert, an deren einzigem Berührungspunkt sich Alles, das ganze Leben des Protagonisten, das als Sinnbild für das Leben in der Moderne überhaupt stehen kann, abspielt. Die Differenzierung von Zentrum und Peripherie arbeitet hier zwar auch mit territorialen und räumlichen Mitteln, diese verlieren in der schieren Endlosigkeit der Anordnung jedoch ihren materiellen Gehalt und zeigen so ihren ideellen Charakter auf. Deshalb lässt sich die Zentrum-Peripherie-Differenzierung, die der Text widerspiegelt, als eine primär ideelle beschreiben. Dementsprechend ist auch die Beziehung der beiden Kategorien vorwiegend ideell organisiert. Der Versuch einer materiellen Beziehung, etwa das Eintreten des Mannes, die Überwindung konkreter materieller Hindernisse, findet nicht statt. Betrachtet man nun die soziale Beziehung zwischen dem Mann vom Lande und dem Türhüter, so lässt sie sich zunächst als ein einseitig vorangetriebener Transfer beschreiben: Der Mann stellt dem Türhüter eine Unzahl von Fragen, 24 Ein eben solches psychoanalytisches Erklärungsschema legen auch Deleuze und Guattari (2004:78) nahe, wenn sie von der Lust, ein Teil des Räderwerkes zu sein, sprechen.
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worauf er jedoch keine einzige Antwort erhält. Zudem verwendet er „alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, sagt aber dabei: ‚Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.‘“ (Kafka 2002a). Eine Reihe materieller und immaterieller Dinge wechselt den Besitzer. Dabei gibt der Mann jedoch schließlich alles her, was er besitzt, ohne im Gegenzug etwas dafür zu erhalten. Die Dinge wandern also einfach vom Mann als Repräsentanten der Peripherie an den Türhüter als untersten Repräsentanten des Zentrums. Da sich die Szene am einzig möglichen Berührungspunkt von Zentrum und Peripherie abspielt, kann man behaupten, die Dinge und Informationen über den Mann vom Lande wanderten von der Peripherie in das Zentrum. Im Zuge dieses Prozesses entleert sich die Peripherie auf einer materiellen Ebene betrachtet sukzessive. Sie wird dadurch ärmer und – insofern möglich – noch peripherer. Zwar macht das Wissen, welches über den Mann im Zentrum angereichert wird, ihn nicht ärmer, doch zeigt sich an seiner Sichtbarkeit und Ausgesetztheit seine Machtlosigkeit. Was vorher also nicht peripher war, wird es durch diesen Vorgang der Peripherisierung. Sie zeichnet sich auch auf dem Körper des Mannes vom Lande ab. So verliert er im Laufe der Zeit sein Gehör, sein „Augenlicht wird schwach“, sein Körper „erstarrt“ (ebd.). Schließlich hat sich auch noch der „Größenunterschied [gegenüber dem Türhüter] sehr zu Ungunsten des Mannes verändert“ (ebd.). Dieser Prozess endet unerbittlich mit seinem Tod. Die Macht der Zentralinstanz erscheint demgegenüber ohne erkennbare Kraftanstrengung ihrerseits unermesslich. Nach der Analyse der Interaktion von Zentrum und Peripherie stellt sich nun die Frage nach dem Charakter des Zentrums im Text: Wie ist es beschaffen? Wie ‚wirkt‘ es in und auf die Szenerie und ihre Protagonisten? Es kann zunächst festgestellt werden, dass das mit dem Wort ‚Gesetz‘ bezeichnete Zentrum die auf einer materiellen Ebene konstituierte Szenerie bestimmt. Es ist ihr Motor, denn der Mann strebt ja nach dem Gesetz, während der Türhüter ihn von der Erfüllung seines Wunsches abhält. Das ‚Gesetz‘ selbst ist jedoch abwesend, sein Charakter unklar, es befindet sich in weiter Ferne („schon den Anblick des Dritten Türhüters kann nicht einmal ich mehr ertragen“ (ebd.)) und der Mann kommt ihm, zumindest physisch betrachtet, im Verlauf der Erzählung kein Stück näher. Gleichzeitig ist das Zentrum jedoch in der materiellen Beschaffenheit der Szenerie präsent. Allerdings handelt es sich dabei nicht um direkte, sondern um repräsentierte Präsenz. Das Zentrum wird durch den „untersten Türhüter“, die Türe selbst und durch einen „Glanz“, der „unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht“ (ebd.), in der Szenerie repräsentiert. Das ‚Gesetz‘ tritt also nur in vermittelter Form in Erscheinung – über seine wirkliche, konkrete Existenz erfahren die Leser_innen nichts.
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Diese Ambivalenz von Anwesenheit und Abwesenheit des Zentrums, die der Szenerie auch ihre Struktur gibt, findet ihre genaue Entsprechung in der Charakterisierung der Dimensionen von Universalität und Partikularität: So wird über das Gesetz bekannt, dass es „doch jedem und immer zugänglich sein soll“ und weiter heißt es: „Alle Streben doch nach dem Gesetz“ (ebd.) – es ist also universellen und allgemeinen Charakters und zeitgleich das gesellschaftliche Ziel des individuellen Lebens. Auf der anderen Seite ist der Mann vom Lande sehr einsam. Denn er ist der Einzige weit und breit, der nach dem Gesetz strebt. Das Gesetz scheint damit also einen individuellen und partikularen Charakter zu haben. Es ist für alle da aber gleichzeitig ist es für jeden Einzelnen. Es wirkt nicht auf die Massen, auf die Bevölkerungen, sondern auf die einzelnen Individuen direkt und singulär. Angesichts dieses Widerspruches fragt der Mann: „Wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“ Im Text wird dieser Widerspruch mit den rätselhaften Worten aufgelöst: „Denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn“ (ebd.). Das Allgemeine, Universelle wird damit durch seine Absenz und Nicht-Greifbarkeit in das Besondere, Individuelle und Partikulare hinein vermittelt: Gerade dadurch, dass das Gesetz abwesend ist, strukturiert es das Leben des Mannes. Die strukturierende Macht des Zentrums fußt auf dessen Abwesenheit. Damit ist es jeglicher Zeitlichkeit enthoben und überall zugleich (der Mann ‚stirbt‘ während der Glanz ‚unverlöschlich‘ ist), während es in Wirklichkeit doch nirgendwo verortet werden kann. Die Folge dieses Strukturverhältnisses ist ein komplettes Versinken der Individuen in der konkreten Situation – ihr Leben verschmilzt zur Gänze mit dem Interaktionspunkt. Demnach erfahren die Leser_innen auch über den Mann vom Lande: „Er vergisst die andern Türhüter und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz“ (ebd.).
10. Theoretische Konturierung ideeller Zentren
Mit einer Engelsgeduld harrt der Mann vom Lande vor dem Gesetz seines Schicksals. Auch Joseph K. partizipiert am Prozess ganz vorbildlich. Angesichts der Strapazen und Zumutungen, die sie in Kauf nehmen, ist es verwunderlich, dass sie sich so wenig widerstrebend, freiwillig, zum Teil sogar mit Hingabe dirigieren lassen, wie sie sich schließlich selbst dirigieren und in ihrer ganzen Subjektivität, ähnlich wie der Mann vom Lande in der Parabel Vor dem Gesetz, in den entsprechenden Szenerien aufgehen. Im vorliegenden Kapitel wird das Ziel einer theoretischen Konturierung ideeller Zentren zweigleisig verfolgt. Im Anschluss an die in Kapitel 8 formulierte Diagnose moderner Verhältnisse wird erstens erörtert, inwiefern es ideelle Zentren sind, die es in einer multiperspektivischen Welt vermögen, Individuen in die gesellschaftlichen Verhältnisse zu integrieren. Es gilt dabei auch zu erörtern, mit welchen Kosten das verbunden ist. Peter Wagner kommt in Bezug auf die modernen Verhältnisse zu einem paradoxen Befund; er spricht von zwei Portraits der Moderne, wobei das eine aufklärerische Befreiungsdiskurse und die Autonomie der Individuen offenbar werden lässt, während das andere Disziplinierungsdiskurse abbildet (vgl. Wagner 1995: 26-30). Einerseits lässt sich demnach in Anlehnung an Sartre von einer Verdammnis zur Freiheit ausgehen sowie andererseits von der Unfähigkeit, alles selbst bestimmen zu können. Der Begriff des ideellen Zentrums bzw. der ideellen Zentren erscheint uns prädestiniert, um die Ausformungen disziplinierender Praktiken wie auch ihre Verstetigung in den Subjektivitäten der Menschen begrifflich zu erfassen. Für eine weitere theoretische Begriffsbestimmung wird zweitens auf die in der bisherigen Kafka-Analyse gewonnenen konkreten Anhaltspunkte für die Verfasstheit ideeller Zentren zurückgegriffen. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem Glanz und der Abwesenheit des Gesetzes, der Peripherisierung des Mannes vom Lande und schließlich dem sekundär materiellen Charakter ideeller Zentren gewidmet. Als Schlaglichter eher denn als Klassifikationen werden in der Folge einige Begriffe aus der soziologischen Theorie bemüht, um ideelle Zentren historisch weiter zu verorten und stärker theoretisch zu konturieren. Insbesondere bietet sich dazu ein Foucault’sches Begriffsinstrumentarium an, da es der großen Erzählung der Emanzipation des Subjekts die Geschichte seiner
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Disziplinierung entgegensetzt.25 Es verwebt diese mit jener und gibt somit Auskunft über die ‚dunklen Seiten‘ und Funktionsweisen der Freiheit, welche letztere in den modernen Gesellschaften für den einzelnen Menschen mit sich bringt. Zwar entfallen im Vergleich zur vormodernen Gesellschaft einige soziale Einschränkungen wie z.B. die der Standeszugehörigkeit. Doch werden die neuen Freiheiten von neuen Zwängen begleitet und gewissermaßen dadurch erst eröffnet. So gilt etwa die Heirat in der modernen Gesellschaft als Liebesangelegenheit, weniger als Sache wirtschaftlicher Erwägungen. Allerdings wird ‚passionierte’ Liebe damit zu einem neuen kulturellen Imperativ.26 Diese paradoxe Konstellation aus ‚Anforderung und Möglichkeit’ ist zudem im Begriff des Subjekts selbst verankert: Das Subjekt ist das Unterwerfende (subiacere) und gleichzeitig das Unterworfene (subiectum) (vgl. Reckwitz 2006: 9-10). Foucaults Interesse an Disziplinierungen der Subjekte ist eng mit dem Thema der Macht verbunden (vgl. Foucault 2008b: 240-241). Wir argumentieren im Folgenden, dass es vorwiegend spezifische Machtwirkungen sind, die in Form von Prägung der Körper und Dressur ideelle Zentren ermöglichen und gleichzeitig um diese Zentren gruppiert sind. Gegenüber anderen Macht- und Herrschaftsbegriffen schärft Foucault zudem den Blick für Machtverhältnisse, die jenseits von Repression, Verbot und Gewalt konzipiert werden. Macht ist aus dieser Perspektive zum einen produktiv, sie „produziert Wirkliches“ (Foucault 1977: 250) und „das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion“ (ebd.). Dieser Gedanke der Subjektwerdung oder Subjektivierung, dem noch unter dem Stichwort der Disziplinartechniken nachzugehen sein wird, fand sich bereits in Kafkas Parabel Vor dem Gesetz: Der „Mann vom Lande“ wird in seiner Rolle, Position, Subjektivität und schließlich im gesamten Leben erst in der Szenerie zu dem, was er ist. Zum anderen ist Macht in Foucaults Verständnis in allen gesellschaftlichen Bereichen anzutreffen – was deutliche Parallelen zum Kafka’schen Denken aufweist (vgl. Hiebel 1989: 15, 90, 134). Allegorisch ausgedrückt: Landmasse verband Zentrum und Peripherie im Territorialen, für das Verständnis des Begriffes des ideellen Zentrums übernimmt der Machtbegriff diese Funktion. Ohne die Metapher über Gebühr strapazieren zu wollen: Die grundlegende Idee ist, dass es primär Machtverhältnisse sind, die dem ideellen Zentrum und seiner Peripherie eine charakteristische Gestalt geben. Andere Begriffsapparate, wie etwa von Max Weber oder Niklas Luhmann, versprechen hingegen kaum fundamentalen Erkenntnisgewinn im Hinblick auf 25 Hier wird vor allem auf Überwachen und Strafen (1975), Der Wille zum Wissen (1976) und die Geschichte der Gouvernementalität (1977-1979) rekurriert. 26 Der Body-Maß-Index kann ebenfalls ein solcher kultureller Richtwert angesehen werden. Siehe dazu Kapitel 16.
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die Verhaltensweisen des Mannes vom Lande. Zunächst zu Weber: Obgleich das Verhältnis zwischen dem Mann vom Lande und dem Türhüter in erster Linie nicht als ein Herrschaftsverhältnis im klassischen Sinne zu verstehen ist, vermittelt die kafkaeske Stimmung eine deutlich asymmetrische Konstellation. Allerdings fällt dabei auf, dass der Türhüter keine Verhaltensanweisungen erteilt, sondern lediglich das „Verbot“ einzutreten ausspricht. Er verbindet das zwar mit einer unverhohlenen Drohung: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig“ (Kafka 2002a: 211). Über deren konkrete Konsequenzen lässt er den Mann vom Lande aber im Unklaren. Kurz: Es ist offensichtlich, dass in dieser Szenerie kein klassisches Herrschaftsverhältnis von Befehl und Gehorsam im Sinne Webers vorliegt. Läge dieses vor, könnte das Ausharren des Mannes vom Lande als Gehorsam verstanden werden, welcher auf der Anerkennung der Legitimität von Institution und Amt fußt (vgl. Weber 1980 [1922]: 122). Kafkas Erzählung jedoch verläuft anders, wie in den vorangegangenen Abschnitten, beschrieben wurde. Es ist zwar offensichtlich eine Art Gehorsam gegeben, dieser beruht jedoch nicht auf dem Befehl bzw. einer diesen Befehl notfalls sanktionierenden Gewalt. Der Gehorsam ist ‚mehr‘ und gleichzeitig ‚anders‘. Der Eigentümlichkeit des Gehorsams bleiben wir auf der Spur. Auch mit Luhmanns Ausführungen zum Machtbegriff lässt sich kein grundlegend anderes Verständnis der Szenerie in Vor dem Gesetz gewinnen (vgl. Luhmann 2003). Er konzipiert Macht wie Geld und Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, welches zur Annahme einer Kommunikationsofferte motivieren soll. Voraussetzung für Machtkommunikation ist aber, dass prinzipiell andere Handlungsmöglichkeiten bestehen, ansonsten handelt es sich um Zwang (vgl. ebd.: 8-9). Bei einer Machtkommunikation müssen sich die Handlungsoptionen auf beiden Seiten (mindestens) verdoppeln. Der/die Absender_in kann entweder zurücknehmen, was er/sie verlangt, oder bestrafen; sei es durch Gewalt oder mit dem Vorenthalten einer Beförderung. Der/die Adressat_in kann seinerseits (bzw. ihrerseits) die Kommunikation annehmen oder ablehnen. Beide Seiten sind in der Regel nicht auf die Bestrafung aus, am wenigsten noch der/die Adressat_in, falls zum Beispiel über seine/ihre Karriere entschieden wird. Nun sieht Luhmann die ‚zwanglose’ Übernahme der Machtkommunikation in die eigene Verhaltenserwartung des/der Adressat_innen als den eigentlichen Charakter der Macht an. Allerdings müsste er/sie sich über Handlungsalternativen im Klaren sein und auswählen können, was er/sie in die Tat umsetzt. Wenn hinsichtlich der Szenerie in Kafkas Erzählung überhaupt von Handlungsalternativen gesprochen werden kann, führen diese nicht dazu, dass der Mann vom Lande vom Gesetz ablässt. Er sucht keine Alternativen für sein Ansinnen. Stattdessen hockt er wie gebannt „vor dem Gesetz“ und richtet sein ganzes Leben
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daraufhin aus. Dem Luhmann’schen Machtbegriff entgehen einerseits eine Art ‚vorgängiger Handlungsalternativenreduktion’ und andererseits die eigentümliche, da alternativlose Stellung in und zu der Welt des Mannes vom Lande. Foucaults umfassender und auf Produktivität abzielender Machtbegriff erfasst jenes schwer zu deutende ‚Mehr‘ und ‚Anders‘ besser. Dies wollen wir nun an ausgewählten Begriffen zeigen, wie dem Diskurs oder dem Macht-WissensKomplex. Auf Grundlage der vorangegangenen Auseinandersetzung mit Kafka gliedern wir die Konturierung ideeller Zentren in drei Analysedimensionen: Erstens erscheint es so, dass das Gesetz sehr vom Glanz – dem Anschein ungebrochener Repräsentanz bei gleichzeitiger Abwesenheit – profitiert. So wird beim Mann vom Lande noch im letzten Moment der Eindruck erweckt, am rechten Ort zu sein. Zweitens ist die Figur des Türhüters zu berücksichtigen, dessen Position unumgänglich zur Interaktion verpflichtet, die die Szenerie wesentlich strukturiert. Als Arm des Gesetzes erfährt der Türhüter in beiläufigen Unterhaltungen, wer der Mann vom Lande ist. Letzterer gibt ganz zwanglos alles von sich Preis, seien es Informationen über seine Herkunft, seien es wertvolle Dinge. Drittens verweist die Tür architektonisch über sich hinaus, etwa auf eine Mauer und ein ganzes Gebäude. Somit ist die Szenerie durch ein lokales, materielles Arrangement gekennzeichnet. Die lineare Darstellung der Dimensionen sollte unterdessen nicht die Verzahnung der Analysedimensionen verdecken; das heißt wir gehen davon aus, dass erst das Ineinandergreifen der drei Dimensionen ergibt, was ideelle Zentren ausmacht. 10.1 Der Glanz Im Hinblick auf die erste Analysedimension ideeller Zentren, für die in der ‚Türhüterlegende’ der ‚Glanz‘ steht, bietet sich der Diskursbegriff an, über den sich der mögliche Entstehungszusammenhang einer Reduktion von Handlungsalternativen erläutern lässt. Den Diskurs siedeln wir daher zunächst auf der Ebene des ‚gesetzlichen’ Glanzes an, da wir annehmen, dass er dessen verborgene Quelle bildet. Ausgehend vom Konzept des Diskurses kann darüber hinaus die historische Verortung ideeller Zentren wiederaufgenommen werden. Denn die Humanwissenschaften im 17. und 18. Jahrhundert wie die Medizin oder die Psychologie ziehen neue Grenzen zwischen Vernunft und Wahnsinn, zwischen bürgerlicher und peripherer Sexualität sowie zwischen botmäßigem’ Verhalten und Kriminalität. Im Zuge dessen, so unsere These, etablieren sich ideelle Zentren.
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In Abgrenzung zu den verschiedenen Varianten des Diskursbegriffes gehen wir davon aus, dass der Diskurs, wie ihn Foucault auffasst, kein bloß öffentliches, privates oder bekennendes Sprechen meint, sondern ein Regelsystem, nach dem an ganz verschiedenen Orten verschiedene Aussagen gebildet werden. Aus einer konstruktivistischen Perspektive sind Diskurse „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1997: 74). Ein solcher Ansatz kann als Versuch gewertet werden, die Behauptung von Dichotomien im Sinne einer einfachen Repräsentations- oder Abbildungsfunktion zwischen den Dingen und der Sprache zu unterlaufen, was eine Überprüfung der Sprache an der Wirklichkeit ausschließt. Interessant für den eingangs erwähnten historischen Wandel ist, dass in der Moderne „die Sprache […] ihre alte Verwandtschaft mit den Dingen“ (Foucault 1971: 81) zerbreche. An die Stelle alter Gewissheiten treten für Foucault Diskurse, verstanden als Aussagesysteme von Denk- und Sagbarem, die neben neuen Semantiken insbesondere vielfältige erzieherische und wissenschaftliche Techniken der Registrierung und Regierung27 von Menschen entwerfen. Diskurse und (nicht-diskursive) Praxis sind also nicht separat zu betrachten. Anders als die Habermas’sche Diskursethik argumentiert, verbreiten Diskurse im foucaultschen Verständnis nicht beredt den zwanglosen Zwang besserer Argumente. Vielmehr werden in ihrem Auftrag mittels Erziehungstechniken, der Befragung und der Sichtbarmachung fügsame und gelehrige Körper dem Anspruch nach maschinell produziert, die die Disziplinargesellschaft nicht aus den Augen lässt. Wiederum war es Kafka, der in seinem Text In der Strafkolonie (Kafka 2002d) eine instruktive Metapher für das Verhältnis von Diskurs und Subjekten schuf. In Analogie zur Funktionsweise des Strafapparates, der mit vielen „eggenartig“ (ebd.) angeordneten Nadeln das Diktum in den Rücken der Delinquenten zeichnet, schreibt sich der Diskurs in die Subjekte ein, er durchdringt sie, wird gleichsam inkorporiert. Etwa zu Anbruch des 17. Jahrhunderts fertigt diese Produktion im Fahrwasser psychologischer, medizinischer und pädagogischer (fortan: humanwissenschaftlicher) Diskurse den Menschen nach dem Muster eines „Bekenntnistiers“, das allenthalben Wissen über sich preisgibt, oft gezwungenermaßen oder beiläufig, was ihn steuerbar macht (vgl. Hahn 1986: 222). Dieses Moment findet sich auch in der ‚Türhüterlegende’, da der Mann vom Lande Fragen über seine Heimat und vieles andere zu beantworten hat, wie für die zweite Analysedimension weiter thematisiert wird. Verschiedene Formen der Überwachung führten insbesondere in Gefängnissen, Psychiatrien und Kliniken dazu, „daß der Überwachte 27
Den Begriff der Regierung oder der Führung benutzt Foucault weniger im Sinne von staatlicher Exekutive, bezieht ihn vielmehr auf die Lenkung und Leitung von Handlungen durch Handlungen (vgl. Foucault 2008c: 255-263).
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die Perspektive des Überwachenden übernimmt“ (ebd.). Dieser Sachverhalt enthält einen Hinweis auf eine mögliche Reduktion von Handlungsalternativen, denn „jene Kontrolle, die man selbst vornimmt, um der Fremdkontrolle zu entgehen, ist nichts anderes als deren Vorwegnahme ins eigene Innere“ (Hahn 1986: 223). Die Disziplinarmacht zeigt sich demnach einerseits an der ‚automatisierten Erwartungsübernahme’, während Handlungsalternativen gar nicht erst auftauchen oder aber von Vornherein abgebaut werden sollen. Andererseits muss angesichts des Glanzes nicht mehr begründet werden, warum der Mann vom Lande zu warten hat. Für den Mann vom Lande bezeugt und garantiert der Glanz die ‚Rechtmäßigkeit’ des ganzen Arrangements sowie derjenigen Schritte, die der Türhüter ergreift oder eben nicht ergreift. Oft wird Foucault dahingehend verstanden, dass sein Begriff der Disziplin als Machttypus alles umfasse und zu regeln auf sich nehme. Diese Interpretation lässt eine Lektüre von Überwachen und Strafen (Foucault 1977) zuweilen durchaus zu. Kritik und Widerstand bleiben dennoch möglich. Denn einerseits ist der Macht immer Widerstand inhärent. Ansonsten ginge der Machtbegriff im Begriff des Zwanges nahtlos auf (vgl. Göhler/Höppner/De La Rosa 2009: 30-34). Darauf aufbauend gilt andererseits, dass dort, wo es oberhalb einer bestimmten Disziplinarindividualität keine Wahlmöglichkeiten mehr gibt, Gewalt und Zwang am Werk sind (vgl. Foucault 2008b: 244-245; 256-257). Dem/der Kritiker_in muss nicht gleich die Einweisung in die Psychiatrie widerfahren; Peripherisierungen finden bereits dort statt, wo ein wenig vom Treiben der Masse abgewichen wird. Wie weiter oben angedeutet ist Kafkas Hungerkünstler in diesem Sinne ‚anders als die Anderen’. Er hungert, wo andere essen oder auf Diät sind. Ihn allein lassen die Speisen so kalt, dass er für sich nie eine essbare Speise finden kann. Obwohl sein Hungern anfänglich eine Attraktion darstellte, marginalisiert ihn die Ablehnung der Mahlzeit vollständig.28 Für die theoretische Konturierung ideeller Zentren vor dem Hintergrund der Foucault’schen Machtanalytik bietet sich ein weiterer Aspekt bezüglich humanwissenschaftlicher Diskurse an: Er beleuchtet zum einen den oben genannten Bruch vor der Moderne und löst zum anderen den am Gesetz hergeleiteten Begriff ideeller Zentren vom Kontext des Rechtssystems. Mangels weltanschaulicher Einheit waren es vor allem die humanwissenschaftlichen Diskurse des 17. und 18. Jahrhunderts, die neue Grenzen zwischen normalem und abweichendem Verhalten durch eine Art gesellschaftlicher Bestandaufnahme etablierten, die bei Foucault auch als politische Anatomie bezeichnet wird. Anders formuliert, aus 28 Der Hungerkünstler sieht sich also mehr und mehr auf die Ebene von Tieren gerückt. Diesen ‚Ausweg’ aus der herrschenden Ordnung, das Tier-Werden, beschreibt Kafka wiederholt und wohl am deutlichsten in Die Verwandlung. (vgl. Deleuze/Guattari 2004: 49-50). Der Affe Rotpeter dient als Gegenbeispiel: Er wird dadurch zum Menschen, dass er dessen Rollenzwänge auf sich nimmt.
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den humanwissenschaftlichen Diskursen gehen Soll- und Richtwerte hervor, wie man ‚normal’ zu sein und sich zu betragen habe. Mit den Diskursen dieser Zeit bietet sich ein kaleidoskopartiger Einblick in die Devianz: „Die Macht funktioniert wie eine Sirene, die die Fremdheiten, über denen sie wacht, heranlockt und zum Appell ruft“ (Foucault 1983: 49). Umstrukturierungen von Krankenhäusern, Gefängnissen und Psychiatrien erfolgten im Hinblick auf die Anforderungen bestmöglicher Kontrolle und Überwachung. Foucaults Einsicht, dass Machtentfaltung eng mit der Anreicherung von Wissen verbunden ist, beleuchtet zudem die Peripherisierung des Mannes vom Lande. Neben Gegenständen, die er dem Türhüter zukommen lässt, gibt er in einer Verhör-ähnlichen Situation Informationen über sich preis und geriert sich so im Sinne eines Bekenntnistiers als intakter Kontrollkörper. Als ein wichtiger Bereich, den humanwissenschaftliche Diskurse einer Neuordnung unterziehen oder überhaupt erst ‚erzeugen’, ist der der Sexualität zu nennen (vgl. Foucault 1983). Auf Grundlage der humanwissenschaftlichen Erkenntnisse über die Sexualität werden der bürgerlichen Ehe periphere Sexualitäten entgegengestellt (vgl. ebd.: 45-53).29 Analog dazu ließe sich eine solche Konstellation darüber hinaus für die Delinquenz und den Wahnsinn konstatieren. Den Diskursen gemeinsam ist nämlich, dass mit dem Aufkommen der zu verwerfenden Sexualität, der Delinquenz und des Wahnsinns jeweils positive, gewünschte und – vor dem Hintergrund des hier vorgeschlagenen Begriffgebrauchs – ideelle Pendants korrelieren. Diese Korrelation von normalem und abweichendem Verhalten bietet neuen Halt in der Moderne, denn sie scheint‚ objektiv richtig’ zu sein und durch die hergestellte Ausrichtung an der Norm verdeckt sie Kontingenz. Während periphere Sexualitäten der ‚normalen’ Regelung abträglich erscheinen und von großem humanwissenschaftlichen Interesse sind, wird der Ehe nicht nachgespürt. Sie genießt Diskretion. Als solche ideellen Pendants finden sich bei Foucault u.a. die bürgerliche Ehe und die Arbeit, die zugleich jeweils als ein Kristallisationspunkt eines ideellen Zentrums zu begreifen sind. Denn an die Arbeit schließt sich ein enormer Anforderungs- und Disziplinierungskatalog für die Erziehung zu einer guten Lebensführung an. Diesen Umstand erfasst Marie Jahoda (1983) in ihrer Studie Wie viel Arbeit braucht der Mensch? pointiert. Da sie zwischen manifesten Funktionen von Erwerbsarbeit, die dem Gelderwerb und der Existenzsicherung dienen, und latenten, immateriellen Funktionen unterscheidet, gilt für die Arbeitenden aus ihrer Sicht:
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Als ‚periphere Sexualitäten‘ bezeichnet Foucault u.a. die ‚Laster’ der Kinder und die Homosexualität in der Eigenschaft, jeweils von der ‚normal’ geregelten Sexualität der bürgerlichen Ehe abzuweichen.
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Justus Heck, Sebastian Neubauer, Svenja Reinke „Sie müssen ihren Tag strukturieren; sie brauchen umfassende soziale Erfahrungen; sie müssen sich an kollektiven Zielen beteiligen […]; sie müssen wissen, wo sie, verglichen mit anderen, in der Gesellschaft stehen, um ihre persönliche Identität erkennen zu können; und sie brauchen regelmäßige Aktivitäten“ (Jahoda 1983: 137).
Die Strukturierung des Tages bedarf einer Ausrichtung nach der Uhr, nach Tagesplanung und Planbefolgung. Soziale Erfahrungen und die Beteiligung an kollektiven Zielen formen das Individuum so, wie es die je konkrete Arbeitswelt erfordert. Darüber hinaus nimmt das ideelle Zentrum ‚Arbeit’ schon vor der eigentlichen Arbeit weitreichenden Einfluss auf den gesamten Lebenslauf. So entsteht beispielsweise eine dreigeteilte ‚Normalerwerbsbiographie‘: ‚Normal’ ist es, nach der Schule berufstätig zu werden und danach in Ruhestand zu gehen (vgl. Kohli 1985).30 10.2 Die Interaktion In der vorherigen Analyse zum ‚Glanz‘ fand bereits die Interaktion zwischen dem Türhüter und dem Mann Erwähnung. Sie bildet den Ausgangspunkt für die zweite Analysedimension ideeller Zentren. Foucault sieht jede Interaktion von den „Feldlinien der Macht“ durchsetzt und so analysiert er die „Mikrophysik der Macht“ als „Netz von ständig gespannten und tätigen Beziehungen“ (Foucault 1977: 38; vgl. dazu auch Foucault 2008b). Sowohl bei Kafka als auch bei Foucault fällt die Prüfung oder das Verhör als besonderer Typus der Interaktion ins Auge (vgl. Foucault 1977: 238-250). Während einer derartigen Interaktion ist die eine Instanz befugt eine ihr ‚ausgesetzte’ auf Herz und Nieren zu prüfen, zu analysieren, zu klassifizieren und Vergleichen zu unterziehen. Es gilt die Identität preiszugeben: Wer bist du? Woher kommst du? Was willst du? Letztere Frage braucht der Türhüter in Vor dem Gesetz gar nicht erst zu stellen, vermittelt er doch den Eindruck, die Antwort sehr genau zu kennen. Der Türhüter macht in seiner teilnahmslosen Art Fragen zu stellen einen Eindruck wie es „große Herren“ tun, während der Befragte klein und immer kleiner erscheint. Letzterer wird durch das ‚Interesse’ keinesfalls aufgewertet. Im Gegenteil, während der Mann vom Lande noch der Hoffnung nachhängt, man kümmere sich nur um Herrn von Range derart individuell und ausführlich, geht es doch „nicht mehr um ein Monument für ein künftiges Gedächtnis, sondern um ein Dokument für eine fallweise Auswertung“ (ebd.: 246). Die wirklich großen Herren indes genießen das Privileg der ‚Unsichtbarkeit’. 30 Als weitere Beispiele für ideelle Zentren könnten auch Konsum oder Gesundheit diskutiert werden, allerdings besteht die Gefahr einer ‚inflationären’ Begriffsverwendung.
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Das Individuum wird für Foucault vor dem Gesetz, in der Verwaltung oder Schule nicht etwa transparent oder ganzheitlich erfasst, vielmehr wird es nur zu einem Fall. Der Fall spannt das Subjekt mithilfe der Kategorien, die beispielsweise Pädagogen_innen oder Psychologen_innen für relevant halten, in ein epistemisches Raster ein. In diesem Maße entsteht Transparenz, Sichtbarkeit, Klassifizierbarkeit und Vergleichbarkeit. Mehr zu wissen, mehr zu ermitteln hieße, die Effizienz zu schmälern. Als ein prominenter Vertreter einer reformjuristischen Position seiner Zeit analysierte Jeremy Bentham in den „moralischen und legislativen Prinzipien“ gegen Ende des 18. Jahrhunderts das Gesetz und das Problem der Strafbarkeit nach ökonomischen Prinzipen (vgl. Bentham 1789). Es ist lohnenswert, sich eine komprimierte Darstellung eines auf diese Weise reformierten Strafrechtssystems vor Augen zu führen: „Das Gesetz ist die billigste Lösung, um die Menschen richtig zu bestrafen und um diese Bestrafung wirkungsvoll zu machen. Erstens wird man das Verbrechen als Verletzung eines formulierten Gesetzes definieren; es gibt also niemals ein Verbrechen […], solange es kein Gesetz gibt. Zweitens müssen die Strafen bestimmt werden, und zwar ein für allemal durch das Gesetz“ (Foucault 2006b: 344).
Schließlich könne sich das Strafgericht auf eine einzige Tätigkeit beschränken, „nämlich auf das festgestellte und erwiesene Verbrechen ein Gesetz anzuwenden“ (ebd.) Daraus ergibt sich folgendes Bild in Bezug auf den vorenthaltenen Eintritt des Mannes vom Lande in das Gesetz: Längst erfasst, erreicht er – im Gegensatz zu Josef K. im Proceß – doch nie den Punkt, als Kläger oder gar als Angeklagter vor Gericht zu landen. Um ihn an ‚seinem Platz’ zu halten, sein Verhalten und seine Position in dieser Welt zu bestimmen, ihn also im Sinne des Gesetzes zu subjektivieren, sind die bloße Annahme der Existenz des ‚Gesetzes‘ und einige vieldeutige, in einem materiell-sprachlichen Arrangement aufscheinende Zeichen bereits ausreichend. Einer zusätzlichen Umsorgung bedarf es nicht. Die Verhörsituation bleibt latent, sie wird dem Mann vom Land nicht als solche bewusst. Er verharrt friedfertig im Warteraum des Gesetzes. Dieses interaktiv-materielle Arrangement wird schließlich zu seinem ganzen Leben. Ein wenig irritiert und unsicher hinsichtlich dessen, was in Zukunft wohl geschehen mag, vermutet er sich doch am rechten Platz. Unterdessen steht er schon durch sein Zugegen-Sein bereits im Visier von Disziplinartechniken. Diese Einsicht scheint in Bezug auf ideelle Zentren wichtig zu sein: Die Praxis der Überwachung und Kontrolle hat längst eingesetzt, obwohl die Existenz des Gesetzes nicht bewiesen ist und es selber nicht in Aktion tritt. Entsprechend bezeichnen Deleuze und Guattari Kafkas Schilderung des Gesetzes als „reine Leerform […]:
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Es erscheint nur als Urteilsspruch, und dieser wird nur in einer Strafe erkennbar“ (Deleuze/Guattari 2004: 60). Neben der Eigenart des Gesetzes als ‚Leerform‘ wird damit insbesondere das Augenmerk auf die Rechtspraxis gelenkt. Auch Josef K. wird kooperativ angesichts der Ungewissheit des Ausgangs eines Verfahrens. Es lässt sich in dieser Ungewissheit sogar der Motor der Rechtspraxis bzw. des Verfahrens vermuten (vgl. Luhmann 1969: 116). Es wäre naiv anzunehmen, dass sich die Wahrheit leicht als solche erkennen ließe sobald jemand während des Prozesses die Wahrheit sage. Im Gegenteil scheint ‚die Falle’ durch eine einigermaßen kooperative Prozessteilnahme der Angeklagten erst zuzuschnappen. Sie fesseln sich sozusagen persönlich im Laufe des Verfahrens an ihre Selbstdarstellungen (vgl. ebd.: 87). Kooperationsbereitschaft und die Ungewissheit über den Verfahrensverlauf fördern darüber hinaus eine gewisse Distanzierung gegenüber seinem Ausgang. Zerstrittene Parteien müssen „‚andere Möglichkeiten’ im Blick behalten“ (ebd.: 105), sich als lernfähig darstellen und werden so darauf vorbereitet, eventuell nicht Recht zu bekommen. Am Ende des Prozesses stehen die Angeklagten isoliert da, insofern als der Streitgegenstand und der Verfahrenshergang nach der faktisch und gesetzlich fundierten Entscheidung in der Regel niemanden mehr interessieren (vgl. ebd.: 115-116, 121). Dementsprechend kann zuletzt die Exekution Josef K.s vor den Toren der Stadt, und zwar ohne viel Aufheben stattfinden.31 10.3 Das materielle Arrangement Mehrfach klangen bereits Verweise auf die materielle Verfasstheit ideeller Zentren an. Die Strukturierung des Raumes ist zwar nicht der ausschlaggebende Punkt dieser Betrachtung, sollte aber auch nicht vergessen werden. In der dritten Analysedimension können zwei Thesen wieder aufgenommen werden, nämlich die der ‚Mischform’ und die der ‚Peripherisierung’. Mit der Mischform war in Kapitel 8 die Unablösbarkeit ideeller Zentren von materiellen Arrangements gemeint. ‚Peripherisierung’ steht für den macht-gestützten Prozess, der durch das Heranziehen von Wissen und Objekten die Gestalt einer Regierungstechnik über die Individuen annimmt. Auf diese Weise flankiert der Prozess das Zentrum oder 31 Die Argumentation wird an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt. Generell ließen sich Verfahren als Mechanismen (ideeller Zentren) beschreiben, die aus einem kontingenten Sachgemenge zu einer eindeutigen Sachlage gelangen, die dann nicht mehr auf individuelle Anerkennung der Legitimität (hier des Mannes vom Lande) angewiesen ist. Luhmanns Analyse von Verfahren erstreckt sich selbst schon auf „vier Verfahrensarten […]: auf die politische Wahl, die Gesetzgebung, die Entscheidungsprozesse der Verwaltung und die Gerichtsverfahren“ (Luhmann 1969: 243).
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begründet es sogar. Beide Thesen finden in der disziplinarischen Architektur der Moderne – wie Foucault sie beschreibt – ihren Kulminationspunkt. Ohne einen festen Ort zu haben, kann sich die Szenerie vor dem Gesetz nicht entfalten. Aber Räume und Gebäude sind dennoch nicht willkürlich eingerichtet und ausgestattet. Foucault zufolge dient die moderne Architektur als „Instrument zur Transformation der Individuen […]: die auf diejenigen, welche sie verwahrt, einwirkt, ihr Verhalten beeinflussbar macht, die Wirkungen der Macht bis zu ihnen vordringen lässt, sie einer Erkenntnis aussetzt und sie verändert“ (Foucault 1977: 222).
Also wird zum einen die Gestaltung der Institutionen ausgenutzt, um materielle Strukturen der Überwachung und Kontrolle zu etablieren und so die Dressur der Körper und die Wissensanreicherung zu befördern. Zum anderen verläuft auch die Stadtplanung nach entsprechenden Maximen. Insbesondere wäre hier die Zirkulation zu nennen, die nach dem Modell des Blutkreislaufs wichtige Funktionen z.B. die Hygiene einer Stadt organisieren soll, um zu verhindern, dass in den beengten Vierteln Krankheiten entstehen (vgl. Foucault 2006a: 33-38). Im Rahmen eines ökonomischen Gebots gilt diejenige als perfekte institutionelle Struktur, die „es einem Blick ermöglichte, dauernd alles zu sehen“ (Foucault 1977: 224). Mit dem sogenannten Panoptikon entwickelt Jeremy Bentham ein Gefängnis, welches diese Anforderung perfekt erfüllt (vgl. ebd.: 256-263). Während die Insass_innen nicht sehen, ob sie aktuell überwacht werden, können Wärter_innen die entsprechend gebauten Zellen jederzeit gut einsehen. Solche Überwachungsarrangements prägen neben Gefängnissen auch Krankenhäuser und Schulen. Jede/r, die/der in den modernen Institutionen ‚Platz nimmt’, wird damit ad hoc zur Zielscheibe von Überwachungs- und Kontrolltechniken. Das materielle Arrangement der Szene Vor dem Gesetz trägt ganz deutlich die Züge eines solchen Überwachungsverhältnisses. Die materielle Verfasstheit letzterer und die Positionierung der beiden Figuren erlauben schließlich die Überwachung, Kontrolle und Disziplinierung des Mannes vom Lande, was er als ‚Bekenntnistier’ bereits internalisiert hat. Simultan zur Wirkung der Foucault’schen Architektur der Institutionen ermöglicht erst dieses Arrangement den Beginn jener Prozesse, die den Mann vom Lande schließlich für sich selbst und vor der Welt zu dem werden lassen, was er am Ende ist. Neben der diskursiven Verankerung des Glanzes und der rollenmäßig gesicherten Interaktion erscheinen sie somit auch architektonisch gleichermaßen gesetzt wie gesichert.
11. Ideelle Zentren als Ordnungsstifter in der Moderne
Ausgangspunkt unserer Argumentation war die territoriale Zentrum-PeripherieDifferenz und die Feststellung, dass schon sie nicht rein territorial zu begreifen ist. Mit dem ideellen Zentrum sollte hier ein Begriff eingeführt werden, der sich primär unter diskursiven und lokal-materiellen Gesichtspunkten sowie deren Zusammenspiel analysieren lässt. Zudem galt es, einen relativen Bedeutungsgewinn ideeller Zentren historisch nachzuzeichnen. Als gängige Annahme wurde angeführt, dass ihr Einfluss mit dem Ende einer als Vormoderne bezeichneten Phase anwuchs, dies vor allem infolge des Aufkommens humanwissenschaftlicher Diskurse. Im Zuge dessen wurden für die Folgezeit ihre Wirkungen auf Individuen aufgezeigt. Dies geschah in drei Schritten. Zuerst ging es darum, dass der Sinnverlust durch eine Epochenschwelle, die um 1800 eintrat, auf die Schultern Einzelner geladen wurde. Die Bezugnahme auf Interpretationen des Werkes Heinrich von Kleists und der Nachtwachen diente dazu, den Niederschlag und die Verarbeitungen des unmittelbaren Sinn- und Ordnungsverlusts zu diagnostizieren. Insofern als damalige apokalyptische Szenarien bloße Schreckensvorstellungen blieben, müssen neue, Kontingenz schließende, für Ordnung sorgende Mechanismen feststellbar sein. Unser Begriff des ideellen Zentrums setzt genau hier an. Für die Theoretisierung stand Franz Kafka Pate. Hauptsächlich anhand der Analyse von Vor dem Gesetz versuchten wir deutlich zu machen, was für mehrere seiner Texte zutrifft: Die Zentrum-Peripherie-Relation strukturiert die Darstellung und ist ausschlaggebend für ihre besondere Spannkraft. Schließlich wurde die Foucault’sche Machtanalytik zur Hilfe genommen, um weiter herauszustellen, inwiefern sich der Begriff des ideellen Zentrums, bezogen auf Techniken der Disziplinierung und Ausrichtung der Individuen, eignet, die Schließung von Kontingenz nach dem epistemischen Bruch der „Sattelzeit“ (Koselleck 1972: XIV; vgl. auch Koselleck 1989a: 112-114) zu begründen. Im Zuge dieser Überlegungen wurden bestimmte Eigenarten ideeller Zentren herausgestellt, die wir nun noch einmal Revue passieren lassen. Ein wichtiger und geradezu paradoxer Befund lautet: Ideelle Zentren sind schon in einer Art Nicht-Vollzug wirksam und zeitigen trotz ihrer Abwesenheit und Unbegreiflichkeit eine signifikante Wirkung. Was, wenn der Protagonist in Vor dem Gesetz – gewissermaßen als ungläubiger Thomas – versucht hätte nachzuforschen, wie es um die Verfasstheit des Gesetz wirklich bestellt sei? Die Arme des Gesetzes D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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hätten ihre Muskeln spannen und andere ‚Argumente’ für sein Ausharren finden müssen, steht zu vermuten. Dass aber ideelle Zentren sich gerade nicht verausgaben, dass sie den Individuen solche Zumutungen aufhalsen und sie schließlich dazu bringen können, letztere selbst zu tragen, darin sehen wir eine konstitutive Bedingung für die ‚effiziente’ Wirksamkeit im Nicht-Vollzug. Im Hinblick auf das in diesem Buch verfolgte Anliegen, verschiedene Zentrum-Peripherie-Verhältnisse zu skizzieren, weisen wir besonders auf die Peripherisierung als Prozess am Individuum hin. Sowohl Dinge als auch Informationen fließen vom Individuum in Richtung des Zentrums. Das Zentrum behauptet sich auf diese Weise und schafft gleichzeitig die Grundlage um (weiter) zu bestehen. Mit dem ersten Schritt in diese Struktur setzt der Peripherisierungsprozess ein, sei es vor dem Gesetz oder als Insasse_Insassin im Panoptikon. Sicherlich müssen Gefängnisse oder Gerichte materiell verortbar sein, doch die Wirkmächtigkeit ideeller Zentren macht nicht primär der Ort aus, sondern der Prozess, der Individuum und ideelles Zentrum miteinander in Beziehung setzt. Am reibungslosen Ablauf des Prozesses hat nicht zuletzt der Türhüter Anteil, er allein steht allerdings noch nicht für das ‚Gesetz’. Für sich genommen ist keine der drei Analysedimensionen (Glanz, Interaktion, materielles Arrangement) in der Lage, sich als ideelles Zentrum einzusetzen. Erst zusammen ergeben sie eine wirkmächtige Konstellation, die das zu leisten im Stande ist, was über die Aspekte des Nicht-Vollzugs, der Abwesenheit und der Peripherisierung begründet wurde. Besondere Aufmerksamkeit verdient, abgesehen von der Verwobenheit ideeller Zentren mit unterschiedlichen materiellen und territorialen Komponenten, die diskursive Ebene, die nicht nur hinter der modernen Architektur aufscheint, sondern die als Instanz der Disziplinierung alle drei Analysedimensionen verbindet. So ist zwar die territoriale Ausprägung der ZentrumPeripherie-Differenz nicht wegzudenken, doch in modern verfassten Gesellschaften sind Materialisierungen primär diskursiv strukturiert. Um die Eigenart moderner Arrangements besser zu verstehen, ist die ideelle Komponente also immer zu berücksichtigen.
3. Teil: Das Individuum als Zentrum Andreas Bischof, Mario Schulze, Hanna Steffen
12. Das Individuum und der Verlust des Zentrums
Die Denkfigur ‚Zentrum und Peripherie‘ begegnet uns seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr nur auf der räumlichen Ebene – wie sie etwa Shmuel Eisenstadt für die Entwicklungsgeschichte der westlich-kapitalistischen Gesellschaften rekonstruiert –, sondern auch als Metapher für die innere Beschaffenheit der sich nun als ‚modern‘ beschreibenden Gesellschaften. Was ist die ‚Mitte‘ einer Gesellschaft, um welchen Kern vergesellschaften sich die Menschen in einer Zeit erodierender traditionaler Strukturen? Auf theoretischer Ebene haben wir schon herausgearbeitet, dass ideelle Komponenten diesen Kern ausmachen. Häufig entziehen sie sich, so wie Kafkas Mann vom Lande, der unmittelbaren Sichtbarkeit, wenngleich materielle Arrangements ihre Anwesenheit und Macht verdeutlichen. Allerdings bedeutet die scheinbar nachlassende Strahlkraft eindeutig sichtbarer Zentren und Wertvorstellungen auch eine Dezentrierung der Gesellschaft: Bewegt sich das Individuum nicht immer mehr an den ‚Rand‘, wenn die (bindenden) kollektiven Überzeugungen schwinden? Diese Frage haben die vorherigen Kapitel schon erörtert, allerdings nur abstrakt auf die in diesem Teil des Buches leitende Frage zugespitzt: Wie ist Gesellschaft überhaupt möglich, wenn jeder einzelne Mensch Zentrum seines eigenen Lebens wird? Diese drei Leitfragen sollen in den folgenden Kapiteln aufgespannt und erörtert werden. Sie schließen insofern an den vorangegangenen Teil an, als der in Kapitel 8 diagnostizierte Übergang zur modernen Gesellschaft auch für die Freisetzung des Individuums aus traditionalen Bindungen und Ordnungen den Hintergrund bildet. Auch die kafkaeske Spannung zwischen einem normativen, sich entziehenden Zentrum und einer disziplinierten Figur an der Peripherie wird hier konkretisiert: Ziel des folgenden Kapitels ist es jedoch, den Beschreibungen und Erklärungen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft anhand von Emile Durkheim und Georg Simmel nachzugehen. Dabei wird eine Ambivalenz dieser Entwicklung sichtbar, die die Schwierigkeit der Kategorisierung in ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ für die Gesellschaften seit dem Anbruch der Moderne offenbart. Folglich wenden wir uns erneut von literarischen Weltbeschreibungen ab, um uns soziologischen Durchdringungen des – um an die Machtanalytik aus Kapitel 10 zu erinnern – von Kontrolle und Disziplinierung geprägten Wechselspiels zwischen Individuum und Kollektiv zu widmen. Die im Zusammenhang mit Kafkas Erzählungen herausgearbeiteten Merkmale ideeller Zentren kehren D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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hierbei in konkreter und zugespitzter Form wieder: Die ordnungsstiftende Rolle in der Folge des modernen Orientierungsverlustes übernehmen Normalitätsmaßstäbe. Die Vorstellung eines Durchschnittsmenschen ist das Beispiel, an dem wir diese Dynamik vergegenwärtigen. Einmal wissenschaftlich etabliert, entfaltet sie ihren ‚Glanz‘ im Sinne eines diskursiven Prismas: verschiedene Diskurse vom Gesundheits- über den Schönheits- bis hin zum Leistungsdiskurs laufen im Durchschnittsmenschen zusammen, kreuzen und brechen sich darin. Die damit verbundenen besonderen Interaktionsformen und materiellen Arrangements sind Gegenstand der empirischen Analyse in den Kapiteln 15 und 16: So wollen wir schließlich anhand empirischer Beispiele32 aus unserer Zeit die beiden Folgen einer Gesellschaft ohne Zentrum verdeutlichen: Atomisierung und Disziplinierung.
32 „Empirische Beispiele“ ist hier wörtlich zu nehmen. Wir werden versuchen durch kurze Analysen sozialer Phänomene unserer Zeit ‚Bilder‘ für die theoretischen Kategorien der Autoren zu finden.
13. Émile Durkheim: Vom Kult des Individuums zur Vergottung des Kollektivs
Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist seit jeher und bis heute eines der Kernthemen der Soziologie. Seit den 1980er Jahren hat sich im deutschen Diskurs – vornehmlich durch Ulrich Beck – dazu der Begriff ‚Individualisierung‘ etabliert.33 Theorien, die unter diesem Schlagwort zusammengefasst werden, konstatieren üblicherweise eine Radikalisierung und Universalisierung jenes Prozesses in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; ‚Individualisierung‘ soll uns hier aber auch zur Beschreibung der Herausbildung der modernen bürgerlichen Gesellschaft dienen, bei dem eine erweiterte Arbeitsteilung gleichzeitig mit einer Schwächung sozialer Bindungen einhergeht. Emile Durkheims 1893 erschienene Dissertation Über soziale Arbeitsteilung widmet sich dieser Frage: Welche Form der Solidarität kann es in funktional differenzierten Gesellschaften (noch) geben? Er diagnostiziert dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine Veränderung der Beziehung von Individuum und Gesellschaft durch die schwindende Bedeutung von kollektiven Überzeugungen und vor allem der – nach ihm ursprünglichen Form sozialen Lebens – Religion: „Dieser Rückgang [...] ist […] an die Grundbedingungen der Entwicklung der Gesellschaften gebunden und bezeugt auf diese Weise, dass es immer weniger kollektive Glaubensüberzeugungen und Gefühle gibt, die sowohl gemeinsam als auch stark genug sind, um einen religiösen Charakter anzunehmen. Das heißt, dass seinerseits die durchschnittliche Intensität des Kollektivbewusstseins schwächer wird” (Durkheim 1988 [1893]: 224-225).
Durkheim befindet sich damit in einem theoretischen Dilemma: Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist gebunden an das Kollektivbewusstsein, dessen Basis in der funktional differenzierten Gesellschaft aber schwindet. Mit Blick auf seine Ausgangsfrage müsste er attestieren, dass moderne Gesellschaften sich selbst aufzulösen drohen. Der einzige – aber durchaus problematische – Ausweg, modernen Gesellschaften überhaupt eine Form von kollektiv geteiltem Zentrum zuzugestehen, ist die Anerkennung von Individualität als Grundlage von Kollektivbewusstsein: 33 Thomas Kron behauptet gar, die deutschsprachige Soziologie sei aktuell die einzige, deren Zeitdiagnosen mit einem (dialektischen) Individualisierungstheorem arbeiten (vgl. Kron 2002: 259).
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Andreas Bischof, Mario Schulze, Hanna Steffen „In dem Maß, in dem alle anderen Überzeugungen und Praktiken einen immer weniger religiösen Charakter annehmen, wird das Individuum der Gegenstand einer Art Religion“ (Durkheim 1988 [1912]: 227).
Dieser Ausweg ist deswegen problematisch, weil der Kult des Individuums durchaus gemeinsam geteilt wird, sein Objekt aber individuell ist und somit die ‚Gläubigen‘ nicht an die Gesellschaft zurück bindet, „[…] folglich bildet er kein echtes soziales Band“ (Durkheim 1988 [1893]: 222). Die Individualisierung ist damit als Komplementärprozess zur zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft eine soziale Tatsache (fait-sociaux) und gleichzeitig potentielle Ursache für aufkommende soziale Probleme. Die Gesellschaft muss nun größere Anstrengungen aufwenden, um die Individuen zu sozialem Verhalten zu motivieren. Individualisierung kann andernfalls in anomische Krisenzustände führen und die soziale Ordnung bedrohen. Durkheim erzählt mit seiner Theorie der Modernisierung allerdings keine Verfallsgeschichte, sondern ist durchaus optimistisch, mithilfe der Soziologie solch anomischen Entwicklungen entgegenwirken zu können (Schroer 2001: 329). Durkheims Lösung liegt in der Vergottung des Kollektivs. Während einer Vorlesung in Bordeaux verdeutlicht er erstmals eine Wandlung seiner Einschätzung des Verschwindens der Religion hin zu der berühmten These, dass Religion als moralische Macht unerlässlich sei. Eine Macht, die die Gesellschaft im Kern repräsentiert, wie Durkheim es in Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1981 [1912]) entfaltet. Religion wird hier allerdings nicht als Institution oder Sinnprovinz begriffen, sondern als das, was für den Einzelnen als moralischer Zwang, als kollektive Macht und kollektives Gefühl erfahrbar wird: „Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören“ (Durkheim 1981 [1912]: 75).
Über den ‚Umweg‘ einer Untersuchung zum australischen Totemismus entwickelt Durkheim so eine funktionalistische Theorie der Religion als Repräsentation von Gesellschaft. Demnach hat Religion ihren Ursprung im Sozialleben der einfachsten Gesellschaftsformen: Im Wechsel von Alltäglichem und Außeralltäglichem (z.B. durch rituelle Handlungen) werden die Regeln und Tabus des Clans geheiligt und schließlich auf das Totem (das bildliche Zeichen des Clans) übertragen.
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Im Zustand kollektiver Efferveszenz34 ist der Einzelne Teil eines Ganzen, das über das Erleben des Alltags hinausgeht. Dadurch besitzt es die Kraft, als Gefühl auch im Alltag zu überdauern und das Individuum an den Clan zurück zu binden. Symbole, die im Zentrum der Efferveszenz stehen, werden zu Repräsentanten dieses sozialen Geschehens. Durkheim argumentiert, dass soziales Leben auch in seiner Zeit diesen Symbolismus braucht. Ein Kollektivgefühl kann allerdings nur dann entstehen, wenn es sich auf ein materielles Objekt überträgt: „Weil der Teil für das Ganze steht, ruft er auch die Gefühle hervor, die das Ganze hervorruft. Das einfache Stück einer Fahne steht für das Vaterland wie die Fahne selber: es ist also genauso und im gleichen Grad heilig“ (Durkheim 1981 [1912]: 314).
In solchen Symbolen objektiviert sich das Gefühl, das der einzelne während der Phase sozialer Erregung hatte: dass er es mit etwas zu tun hat, das außerhalb seiner selbst existiert und ihn umfasst. Gesellschaft besteht nach Durkheim also nicht nur aus einer Masse von Individuen, sondern vor allem aus der Idee, die sie sich von sich selbst macht. Durkheim fragt also – im Gegensatz zu Max Weber – aus der Perspektive der Gesellschaft, wie die Individuen am besten an die Erfordernisse des Ganzen angebunden werden können; wie sie zu einem sinnvollen Beitrag zum Bestehen und zur Aufrechterhaltung einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft motiviert werden können (Schroer 2001: 330). Die Individualisierung beschreibt er als vorgängigen, typisch modernen Prozess und wertet diesen auch positiv, einzig eine gesellschaftssprengende Überindividualisierung gilt es zu verhindern. Obwohl im Begriffsgebäude des späteren Durkheim durchaus ein Wechselverhältnis von Gesellschaft und Individuum – nämlich die emotional-symbolische Verankerung des Kollektivs im Einzelnen – angelegt ist, bleibt dieses Wechselverhältnis doch einseitig. Denn die gesellschaftliche Ermöglichung der Individualität spielt für Durkheim eine eher untergeordnete Rolle. Dabei wird die Loslösung der Individuen von traditionalen Strukturen ja erst in der funktional differenzierten Gesellschaft möglich: Gesellschaft ließe sich so als ein reziprokes Verhältnis von Individuum und Kollektiv beschreiben. Individualität und konstitutive kollektive Zugehörigkeit sind in diesem Verständnis gleichursprünglich (Goos 2004: 41). Die Autonomie des Individuums, also sein (scheinbar) unabhängiges Bewusstsein, ist darin Ergebnis sozialen Handelns und findet als Entscheidung für X oder gegen X ausschließlich im Kontext der vom Kollektiv gesetzten Regeln statt (vgl. Goos 2004: 40). Das Individuum ist folglich selbst nur im Regelgeleit der Gesellschaft möglich. 34 Ein ‚Überschäumen‘, eine außeralltägliche Ausnahmesituation, in der die Mitglieder der Gesellschaft zusammenkommen und alltägliche Regeln teilweise außer Kraft gesetzt sind.
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Diese Ambivalenz der Individualisierung – ein modernes Phänomen, das ‚autonome‘ Individuen produziert, dies aber nur durch das Regelgeleit der funktional differenzierten Gesellschaft ermöglicht – ist zuerst von Georg Simmel beschrieben worden. Individualisierung wird nach Simmel möglich, wenn der Einzelne sich in verschiedenen sozialen Kreisen unabhängig von Geburt und Klasse bewegen kann (vgl. Schroer 2001: 284-327). Je vielfältiger diese sozialen Kreise sind, desto größer ist der Handlungsspielraum. Das gibt jedem Einzelnen im aufklärerischen Sinne die Möglichkeit, seine Persönlichkeit frei zu entwickeln. Mit zunehmender Individualisierung steigt allerdings auch das Bedürfnis nach Orientierung, nach Angleichung mit entfernten Individuen. Simmel vertritt hier also ein ‚Sowohl-als-auch‘. Individualisierung bedeutet sowohl Atomisierung als auch Standardisierung.
14. Georg Simmel: Die widerspruchsvolle Individualisierung in einer versachlichten Welt
Georg Simmels Gesamtwerk enthält eine Vielzahl von Abhandlungen über das Individuum, den Individualisierungsprozess, das damit verbundene soziale Konfliktpotenzial sowie über die eben beschriebene Ambivalenz von Individualität. Diese Arbeiten Simmels fügen sich im weitesten Sinne als „Philosophie der Individualität“ in den Umkreis seiner frühen Arbeiten zur Sozialphilosophie ein (vgl. Köhnke 1996: 321). Den Begriff ‚Sozialphilosophie’ hatte Simmel Mitte der 1890er Jahre selbst ins Spiel gebracht. Er verstand ihn einerseits als kritischen Wink auf Kant und seine Kritik der Vernunft – in dieser suchte man Sozialphilosophie vergebens. Andererseits haben wir mit dem Überbegriff Sozialphilosophie eine aus heutiger Sicht sinnvolle Etikettierung, die Simmel in seinen frühen Arbeiten der 1890er Jahre noch nicht bemüht hatte. Bildete sich doch zu diesem Zeitpunkt erst sukzessive der Umkreis sozialphilosophischen Denkens heraus, in welchen Simmel dann über ein Jahrzehnt später, 1913/14, seine Einleitung in die Moralwissenschaft (1892/93) gestellt sehen wollte. Das gilt letztlich für sämtliche seiner das Individuum betreffenden Schriften. All diese zeichnen sich durch eine für Simmel symptomatische Aufwertung organologischen Denkens aus, das in Simmels Augen für die gesamte sichtbare Welt greift. Die Gesellschaft zeigt sich als vielgliedriger, lebendiger Organismus, in jedem einzelnen Teil die Totalität des Daseins. Besonders in Simmels kleineren kunsttheoretischen Aufsätzen sind vielfältige Referenzen zum Organismuskonzept der Romantik (im Gegensatz zum mechanistischen Weltbild) bis hin zu Goethes harmonikalem Bild organischer Welteinheit (vgl. Simmels Text Goethe von 1918). Goethe gehört zu den ‚figures populaires’ im Werk Georg Simmels. Neben dem Zeugnis, das Simmel vor allem über seine ästhetische Erziehung abgelegt hat, ist Goethe auch als Hilfsfigur innerhalb seiner kulturkritischen Texte zu verstehen. Seine Vorstellung von einem organischen Verhältnis zwischen Prozess und Inhalt entspricht Simmels intendiertem Akt der Beseelung der Objekte, die die Subjekte hervorbringen. Zugleich füttert sie Simmels vehemente Abgrenzung zum analytischen Denken, zur Zerstreuung in lauter Einzelheiten. Denn die Einzelwesen streben danach, ein Ganzes zu sein. Das ist die Keimzelle für Sozialisation, für die Erweiterung der sozialen Kreise, für die Ausbildung von Individualität und zugleich der Auslöser der von Simmel konstatierten fundamentalen D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_15, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Tragödie des Geistes überhaupt: Sie zeigt sich in der Beharrlichkeit des einzelnen Teils auf sein Eigenrecht gegenüber dem Ganzen, aus dem es entwachsen ist. Dieser Gedanke findet sich in all seinen Schriften, besonders schön in seiner Philosophie der Landschaft beschrieben: „Daß der Teil eines Ganzen zu einem selbständigen Ganzen wird, jenem entwachsend und ein Eigenrecht ihm gegenüber beanspruchend – das ist vielleicht die fundamentale Tragödie des Geistes überhaupt, die in der Neuzeit zu vollem Auswirken gelangt ist und die Führung des Kulturprozesse an sich gerissen hat. Aus der Vielfachheit der Beziehungen […] starrt uns allenthalben der Dualismus entgegen, daß das Einzelne ein Ganzes zu sein begehrt und daß seine Zugehörigkeit zu größeren Ganzen ihm nur die Rolle des Gliedes einräumen will. […] Während sich […] unzählige Kämpfe und Zerrissenheiten im Sozialen und im Technischen, im Geistigen und im Sittlichen ergehen, schafft die gleiche Form der Natur gegenüber den versöhnten Reichtum der Landschaft, die ein Individuelles, Geschlossenes, In-sich-Befriedigtes ist, und dabei widerspruchslos dem Ganzen der Natur und seiner Einheit verhaftet bleibt“ (Simmel 1913: 637-638).
Ganz so widerspruchslos mag sich das moderne Individuum mit dem großen Ganzen nicht mehr verbunden fühlen. Denn ihm stehen unzählige Objektivationen des menschlichen Geistes zunächst als etwas Äußeres gegenüber und bleiben es solange, bis sie zu einer, der menschlichen Seele gemäßen Form gebracht, verinnerlicht sind – in eins werden. Das ist zumindest eine Annahme von Simmel, der die Folgen des Dualismus, d.h. den Neurosenherd Großstadt, nicht nur beobachtet und zu Papier bringt, sondern täglich erlebt. Als kritische Stimme gegenüber dem naiven Fortschrittsglauben der Jahrhundertwende, angesichts der zunehmenden Technisierung und Arbeitsteilung, sieht er gleichermaßen das Auseinanderdriften von objektiver und subjektiver Kultur, parallel zur immer härteren sozialen Taktung. Denn die Einzelwesen produzieren immer Spezielleres, das sie sich nicht mehr aneignen können. „Wie unser äußeres Leben von immer mehr Gegenständen umgeben wird, deren objektiven, in ihrem Produktionsprozeß aufgewandten Geist wir nicht entfernt ausdenken, so ist unser geistiges Innen- und Verkehrsleben […] von symbolisch gewordenen Gebilden erfüllt, in denen eine umfassende Geistigkeit aufgespeichert ist – während der individuelle Geist davon nur ein Minimum auszunutzen pflegt“ (Simmel 2000 [1900]: 621).
Simmels Beobachtung einer nachhaltigen zivilisatorischen Entfremdung kulminiert also bereits in seiner Philosophie des Geldes zur Jahrhundertwende: „Täglich und von allen Seiten her wird der Schatz der Sachkultur vermehrt, aber nur wie aus weiter Entfernung ihr folgend und in einer nur wenig zu steigernden Beschleunigung kann der individuelle Geist die Formen und Inhalte seiner Bildung erweitern“ (ebd.: 621-622).
Von diesem Zeitpunkt an ist für die Schriften Simmels maßgeblich, dass er den Individualisierungsprozess zwar kultiviert, doch nicht etwa als schlichtweg gut
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(im Sinne von gelungen), sondern als schlecht (im Sinne von gescheitert) beschreibt. Hier liegt einer der großen Unterschiede zu den Überlegungen Durkheims, der im Individualisierungsprozess das nötige Komplement und damit die Lösung für den Umgang mit der steigenden Ausdifferenzierung und Atomisierung zu erkennen glaubt, wenn auch über den Weg der aktiven Motivation zur Teilhabe am sozialen Leben. Bei Simmel ist dieses optimistische Moment gekappt. Die Geschichte der Individualität seit der Goethezeit stellt für Simmel eine Verfallsgeschichte dar, die uns als mehr oder minder schrullige Einzelwesen ausweist. Wir füttern, kultivieren vielleicht unsere Spleens, sammeln Paninialben und Milchzähne, tragen aber damit nichts mehr zum Gesamten bei – trotz des ungebrochenen Drangs nach Einheit und Zugehörigkeit. Lebendiges Anschauungsmaterial findet Simmel seinerzeit auf den pulsierenden Straßen der Großstädte, wo Bargeld im Gegensatz zu anderen Besitzobjekten als das beweglichste unter allen Gütern (vgl. Simmel 2000 [1900]: 481) der vermeintlichen Befreiung des Individuums von allen vereinheitlichten Verbindungen dient, und allenthalben das Bedürfnis nach Orientierung nur steigert. Auch der noch so blasierte Großstadtmensch kann sich durch die Versachlichung der Beziehungen und seiner gesamten Lebenswelt nicht vollständig seiner ursächlichen Bedürfnisse entziehen. Es mangelt ihm an Sinn, die Freiheit seines versachtlichten Lebens zu gestalten. Simmel differenziert in diesem Zusammenhang zwischen einem ‚quantitativen‘ und einem ‚qualitativen‘ Individualisierungsprozess. Die beiden Prozesse opponieren jedoch nicht, sondern stehen in einem engen Abfolgeverhältnis innerhalb quasi urwüchsiger und kulturell bedingter Individualisierungsbestrebungen. Bedeutsam ist vor allem Simmels Definition der qualitativen Individualisierung, die er als sukzessiv entwickeltes Selbstverständnis des einzelnen Menschen beschreibt. Er meint die Eigenschaft bzw. Fähigkeit des Menschen, sich als einzigartiges Wesen unter vielen zu begreifen – immer an den Glauben geknüpft, dass diese Einzigartigkeit resp. Andersartigkeit einen positiven Sinn und Wert für sein Leben besitze. Dieses das Kollektiv einende Vertrauen in die Unhintergehbarkeit unserer Selbstbeschreibung als autonome Menschen steht in unmittelbarer theoretischer Nähe zu den Ausführungen Durkheims zur Religion des Individuums. Bei Simmel zwar als Streben nach Authentizität beschrieben, lässt es sich dennoch nahezu bruchlos in die Entwicklungskette nach dem Streben nach Autonomie (das bei Simmel dem quantitativen Individualisierungsprozess entspricht) einordnen. Durkheim selbst greift auf das Unterscheidungsmodell quantitativer und qualitativer Differenzierung in Bezug auf die Individualisierung zurück. Eine weitere Nähe zu Durkheims Überlegungen zeigt sich in Simmels nunmehr klassischen Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung von 1908, in denen er einen wertvollen Beitrag im Hinblick auf die sachliche Dimen-
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sion der Erweiterung sozialer Kreise im Individualisierungsprozess lieferte. An den Schnittpunkten sozialer Kreise (vgl. Simmel 1908: 305-344) erwachse das Individualisierungspotential des Menschen in seiner ganzen Vielfalt. Bereits in seinem ersten Werk Über sociale Differenzierung finden wir das Modell wachsender Differenzierung und der damit verbundenen Ausbildung von Individualität beim Einzelnen. Wie viel an diesem Individualisierungsprozess gesellschaftlich erzeugt ist, wird durch den Grad sozialer Wechselwirkungen indiziert, die proportional zum Differenzierungsprozess stetig wachsen. Durkheims Vorstellung eines ‚natürlichen‘, im Sinne eines normalen, sozialen Entwicklungsvorgangs, steht hier Pate. Die Lockerung der sozialen Bande an die Familie, die Heimat und die überkommenen Traditionen sind untrennbare Teile des evolutionären Fortschreitens: „Der Mensch wird beweglicher, wechselt leichter sein Milieu, verläßt die Seinen, um anderswo ein autonomeres Leben zu führen, und entfaltet immer mehr eigene Ideen und eigene Gefühle“ (Durkheim 1988 [1893]: 470).
Je größer und weiter entfernt also die sozialen Kreise liegen, in denen sich der Mensch bewegt und in denen er lebt, umso mehr Aktions- und Entwicklungsraum gewinnt er für seine Individualität. Die Kulturkritik Simmels ist insofern keinesfalls als pessimistisch zu deuten, als dass er doch in der Moderne, bei aller Nüchternheit, ein großes Individualisierungspotential allein durch die Dichte und Vielschichtigkeit von sozialen Kreisen sieht. Doch damit steigen freilich auch die Abhängigkeiten des Individuums. Es sieht sich noch stärker „soziale[n] Sollensforderungen oder Erwartungen [ausgesetzt, die] an den einzelnen herantreten und doch […] nur im Innern der Persönlichkeit stattfinde[n]“ (Köhnke 1996: 322).
15. Moderne Gesellschaft als Intervention
Wir können hier einen Bruch attestieren. Während das Individuum aus der organologischen Sichtweise (z.B. bei Goethe) als Ganzes verstanden wurde, beschreibt Simmel die Folgen der Modernisierung als diesem Ziel widersprüchlich: Zwar erhöhe die Zahl der sozialen Kreise die Möglichkeiten des Individuums, seiner Individualität Ausdruck zu verleihen, gleichzeitig führe die gegenseitige Abhängigkeit zu sozialen Forderungen an das Innerste des Individuums. Diese Widersprüchlichkeit soll im Folgenden programmatisch sein. Gewissermaßen auf der Rückseite der These von der Individualisierung in modernen Gesellschaften treten dem Individuum nun ‚Sollensanforderungen‘ entgegen – die nicht selten mehr als bloße Anforderungen sind. Denn verschiedene soziale Prozesse und Akteure verlangen teils direkten Zugriff auf das Individuum. Einige Autoren wie Foucault (1975) haben gar die aufklärerische ‚Befreiung‘ des Individuums z.B. durch staatliche Bildung vom ersten Moment an als ein Beherrschen, ein Normieren und Disziplinieren interpretiert.35 Am deutlichsten wird diese neue Qualität der Interventionen wohl in der Auflösung der Einheit von Körper und Geist. Durch diesen Bruch mit der transzendentalen Einheit des Individuums, die höchstens der Tod zu scheiden vermochte, gerät der Körper als bestimm- und veränderbare Einheit ins Blickfeld. Wie wir schon bei Durkheim gesehen haben, besitzt der Körper in seiner Theorie der Ver-Kollektivierung über Efferveszenz eine doppelte Rolle: Er ist einerseits der Ort, auf dem das Totem prangt, er wird zum Ausdruck des Kollektivgefühls, wenn er mit dem heiligen Symbol des Clans bemalt und somit Teil der Vergottung wird. Andererseits ist der Körper als empfindendes und sinnliches System zwingender Bestandteil der kollektiven Efferveszenz – erst in der Sinnesüberwältigung erlebt der Einzelne die außeralltägliche Qualität der Gruppe. Letzterer Punkt, die sinnliche Qualität des Körpers, ist den Interventionen, die wir im Folgenden in den Blick nehmen wollen höchstens sekundär. Vielmehr wird die erstgenannte Qualität, das Über-Sich-Hinausweisen betont. Ein Körper existiert nun in verschiedenen Kontexten: Er ist ein (nicht-)funktionierendes System in der Medizin, er ist eine Kampfeinheit im Militär, er ist eine Arbeits35
Vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 10.
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_16, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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einheit in der Wirtschaft. Er ist quantifizierbar in Größe, Gewicht, Umfang, Leistung und Alter. Diese Herauslösung des Körpers vom selbstverständlichen Teil des ganzen Menschen hin zu einer Einheit differenzierter gesellschaftlicher Kontexte soll im folgenden Kapitel im Hinblick auf Normalisierung und Normierung des Körpergewichts Thema sein.
16. Die Flucht ins Normale
Der Durchschnittsmensch tritt im 19. Jahrhundert auf die Bühne der Wissenschaften und findet wenig später Eingang in die sozialen Diskurse. Adolphe Quetelet versuchte in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts verschiedene Eigenschaften des Menschen statistisch zu untersuchen. Zunächst beschränkte er sich auf physikalisch messbare Körpermaße. So gelangte er über das Edinburgh Medical Journal von 1817 zu Zahlen über die Körpergröße und den Brustumfang von 5000 schottischen Soldaten (vgl. Hacking 1990: 109). Bei der Auswertung erhielt er eine Normalverteilung – wahrscheinlich mithilfe einiger Manipulationen (vgl. Tort 1974: 96). Dies bedeutet zunächst schlicht: Es gibt eben wenige mit einer sehr schmalen oder sehr breiten Brust und viele mit einem mittleren Brustumfang. Die Normalverteilung sollte Quetelet aber weiter beschäftigen. Er stellte Studien an, die vor allem auch Persönlichkeitsmerkmale betrafen. Er untersuchte verschiedenste menschliche Eigenschaften von der Lebenserwartung bis zu charakterlichen Eigenschaften, wie die Neigung zur Schriftstellerei und kriminellem Verhalten. In vielen Bereichen fand er dabei eine Normalverteilung wieder. Bemerkenswert ist hier vor allem die Interpretation der Ergebnisse durch Quetelet: die Häufung um den Durchschnitt war für ihn ein Ausdruck von Schönheit. Der von ihm daraufhin konstatierte homme moyen (mittlere Mensch), der alle Eigenschaften im Durchschnitt vereint, sollte ein Idealtyp des Menschen abbilden – im politischen wie auch ästhetischen Bereich (Quetelet 1838: 558589). Quetelet versuchte eine neue, man kann sagen, positivistische Wissenschaft vom Menschen zu etablieren. Diese Physik des Menschen sollte nicht nur Erkenntnisse generieren, die es ermöglichen, die durchschnittliche Schuhgröße der Menschen zu bestimmen, sondern auch in einem sozialtechnologischen Sinne Optimierungsmöglichkeiten des Menschen aufzeigen. Seine soziale Physik ist von einem Fortschrittsglauben getragen, welcher der damaligen Zeit im Allgemeinen und mitunter den französischen Sozialwissenschaften im Besonderen eigen war. So hoffte Quetelet zum Beispiel, die Kriminalitätsraten in einigen Ländern mithilfe geeigneter Politik einem statistisch errechneten Normalmaß anzunähern – wobei es sich viel eher um ein nicht zu überschreitenden Minimalwert, denn um einen Durchschnittswert handelte. Francois Ewald und Ian Hacking haben dem Leben und Wirken Quetelets in ihren Studien zu Normalisierungsphänomenen viel Platz eingeräumt (Ewald 1993; Hacking 1990). Uns D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_17, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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geht es hier vorrangig um die Idee und Ideologie des mittleren Menschen. Der Durchschnittsmensch steht für eine historisch neue Form der Ordnung von Individuen – die Ordnung um das Normale herum. Das Normale gilt dann gleichzeitig als das Zentrum, dass es zu erreichen gilt. Das Normale ermöglicht so die Zentrierung menschlicher Maße auf ein Ideal hin. Diese Vorstellung vom Durchschnittsmenschen findet sich zwar bei Quetelet nicht zum ersten Mal, wird bei ihm aber zum ersten Mal zu einem gesellschaftlichen Idealbild (vgl. Link 1997: 205). Woher kommt dieser Durchschnittsmensch? Foucault konstatierte, dass vom Menschen im wissenschaftlichen Sinne erst seit dem späten 18. Jh. gesprochen wird.36 Ein halbes Jahrhundert später taucht der mittlere Mensch auf. Es scheint, als sei der mittlere Mensch eine Orientierungsgröße, die das Individuum in der Moderne, als vielfach bedrängtes Individuum, entlasten soll. Der Durchschnittsmensch steht – so die These – für ein Verhältnis von Individualisierung und Disziplinierung, wie es in den vorherigen Kapiteln schon anhand der Konzepte von Durkheim und Simmel herausgearbeitet wurde. Wie der Durchschnittsmensch in dieses Schema passt, soll im Folgenden näher erläutert werden (16.1). Dafür soll ein im medizinisch-gesundheitlichen Kontext weit verbreiteter Gewicht-Körpergrößen- Quotient betrachtet werden, der Body-Mass-Index (BMI), eine Maßzahl für die Bewertung des Körpergewichts eines Menschen (16.2). Anhand dieses Indexes lassen sich drei unterschiedliche Formen und Theorien zur Disziplinierung des Körpers idealtypisch aufzeigen. Denn der BMI ist mit klassischen medizinischen Disziplinierungsversuchen verbunden, um dessen Analyse sich vor allem die Frühwerke von Foucault bemühen (16.3). Er steht aber zweitens auch für den Versuch verschiedener Gesundheitsorganisationen, die Kosten eines übergewichtigen Menschen für die Bevölkerung zu bestimmen und die Individuen kostensenkend umzuerziehen (16.4.). Die Bevölkerungsregulierung lässt sich mit Hilfe verschiedener Ideen zur Regulierung und Normalisierung beschreiben, wie sie im Spätwerk Foucaults, vor allem auch auch bei Deleuzes Analysen der Kontrollgesellschaft vorkommen. Drittens wird die Klassifizierung des BMI nach Normal-, Über- und Untergewicht auch im Schönheitsdiskurs gebraucht. Dort ist allerdings eine zunehmende Flexibilisierung des Schönheitsideals zu bemerken (16.5.), die nach Link (1997) aber dennoch eine Normalisierung darstellt.
36 Foucault behauptet dies an verschiedenen Stellen, z. B. in Die Ordnung der Dinge (1971: 373): „Vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts existierte der Mensch nicht.“
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16.1 Der Durchschnittsmensch als individualisierter Mensch Wieso wird es plötzlich möglich von einem Durchschnittsmenschen zu sprechen? Sicherlich musste sich erst die mathematische Statistik entwickeln. Aber nur die Kenntnis der Methoden führt noch lange nicht zur deren Anwendung auf den Menschen. Zunächst musste eine bestimmte Vorstellung von Gesellschaft existieren, bevor ebenjene Gesellschaft auf diese Weise untersucht und berechnet werden konnte. Die Gesellschaft muss als Masse von Individuen verstanden werden, bevor die Rede vom Durchschnittsmenschen überhaupt Sinn macht. Die Gesellschaft besteht nach dieser Vorstellung aus Einzelnen, aus Menschen, die ihre je eigene Kombination von Eigenschaften aufweisen, aus Menschen, die ihre Eigenheiten deswegen haben, weil sie nicht mehr die vorhersehbare Biographie besitzen und nicht mehr in ihrem von der Geburt bestimmten sozialen Umfeld verharren. Zuspitzend lässt sich also formulieren: Die Individualisierung ist die Voraussetzung für den Durchschnittsmenschen (Ewald 1993: 159).37 Der von Quetelet erfundene Durchschnittsmensch kann als eine historisch vorgängige Reaktion auf den in Kapitel 13 vorgestellten Gedanken Durkheims gewertet werden. Quetelet setzt der zunehmenden Ausdifferenzierung der menschlichen Eigenschaften eine Orientierung am Durchschnitt entgegen, die den Einzelnen von seinen unsicheren Krisenzuständen befreit. Auf eine ambivalente Weise ist die Idee vom homme moyen damit ein Produkt der Individualisierung und gleichzeitig eine kritische Reaktion darauf – fast eine Leugnung. Um die Menschen einer Gesellschaft statistisch vergleichen zu können, müssen sie einerseits als Einzelne mit Eigenheiten, als Individuen verstanden werden. Andererseits ist der Vergleich der Individuen auch gleichzeitig der Versuch, menschlichen Eigenheiten ihr Eigenes zu nehmen und damit die erhoffte Lösung für das Problem der zunehmenden Orientierungslosigkeit der individualisierten Menschen. Die Orientierung am Durchschnitt stellt sicher, dass die Gesellschaft zusammengehalten wird und sorgt für die Integration der Menschen in den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Durchschnittsmensch verdeutlicht damit nicht nur die Ängste Durkheims, sondern bringt ein widersprüchliches Bild der Individualisierung zum Ausdruck, wie wir es Simmel zugeschrieben haben. Individualisierung bedeutet für Simmel ja sowohl Atomisierung als auch Standardisierung. Der Durchschnittsmensch verbildlicht genau dieses Doppelgesicht, er steht für den atomisierten Standard. Die aufklärerische Idee ist jedoch in ihm nur noch schwach zu erkennen. Das freie, schöne Individuum ist nicht das, welches sich in vielen 37
Nicht umsonst erhält die Physik des Sozialen gerade in den letzten zwei Jahrzehnten wieder Auftrieb – dies aber nahezu ausschließlich unter der Perspektive eines methodologischen Individualismus (Stauffer et al. 2006).
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sozialen Kreisen bewegt und dabei seine Persönlichkeit gestaltet, sondern einfach das Durchschnittliche. Das Idealbild des Menschen ist demnach nicht mehr mit Freiheit und eigens ergriffener Identität verbunden, sondern mit einem Standard, der sich an den anderen orientiert. Das Gesellschaftsbild, das hier zum Ausdruck kommt, entspricht somit nicht nur dem Wechselspiel von Individualisierung und zunehmender Differenzierung, sondern vor allem auch einer Vorstellung von einigen wenigen Individuen, die sich in einem durch den Durchschnitt definierten Zentrum der Gesellschaft aufhalten, und anderen, die anormal, also nur peripher für die Gesellschaft sind. Durch die Postulation eines Durchschnitts wird die Gesellschaft in ein Kontinuum eingeteilt, welches von randständigen Individuen, weit vom Durchschnitt entfernten, bis zu den Bewohnern des Zentrums, nahe am Mittelwert, reicht. Diese Vorstellung ist eine Reaktion auf die Ängste um die Solidarität zwischen den Menschen in der Moderne. Wenn man ein Zentrum postuliert, kann man die Menschen, die nicht dem gesellschaftlichen Konsens entsprechen, als Periphere stigmatisieren und von ihnen die Orientierung am Zentrum, am Normalen einfordern. Die Integration der Gesellschaft läuft über die Idealisierung des Durchschnitts, der Mitte. Die Gesellschaft wird nach Zentrum und Peripherie unterteilt, nachdem sie im Zuge der Individualisierung/Atomisierung ihr Zentrum verloren hat. Der Zusammenhalt steht in Frage; und gerade deswegen muss ein gesellschaftliches Zentrum mit zunehmender Vehemenz konstruiert werden. Diese Gesellschaft findet ihr Bild in der Glockenkurve. Ebenjene Form der Ordnung des Menschen lässt sich als Ansatzpunkt für eine neue Form der gesellschaftlichen Integrations- oder Disziplinierungstechnik begreifen. Jürgen Link hat diese Technik als Normalismus bezeichnet: Wenn der Zusammenhalt in Frage steht, muss integriert, reguliert, kontrolliert, diszipliniert oder eben normalisiert werden. Das Normale ist die möglichkeitsreduzierende Antwort auf das Erlebnis der Kontingenz in der Moderne (vgl. Hark 1999: 66). 16.2 Der Durchschnittsmensch als disziplinierter und normalisierter Mensch Inwieweit kann der Durchschnittsmensch eine disziplinierende Kraft darstellen? Für diese Frage lohnt es sich, eine spezifische Idee von Quetelet zu betrachten, die die disziplinierenden Implikationen seiner Idealvorstellung vom Durchschnittsmenschen verdeutlicht. Er hat eine Körpermaßzahl entworfen, die noch heute mit besonderer Selbstverständlichkeit gebraucht wird: den Body-MassIndex der eben auch als Quetelet-Index bezeichnet werden kann (vgl. Quetelet 1838: 370-373). Da Übergewicht seit dem frühen 20. Jahrhundert als medizinisches Problem gewertet wird, wird die Körpermassenzahl vor allem dazu ver-
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wendet, eine diesbezügliche Gefährdung zu identifizieren. Der BMI setzt das Körpergewicht zur Körpergröße ins Verhältnis und ermöglicht so eine Klassifikation der Bevölkerung von Magersüchtigen bis zu verschiedenen Ausprägungen der Adipositas.38 Ein BMI von 18,5 kg/m² bis 25 kg/m² bedeutet Normalgewicht. Der BMI ist somit eine Art Derivat der Vorstellung vom Durchschnittsmensch – aber zudem mit einer explizit medizinischen Konnotation versehen. Auch der BMI konstruiert einen Idealbereich und einen peripheren, anormalen Bereich, der in Extremen die Grenze zwischen gesund und krank festlegt. Damit ermöglicht der BMI einen Vergleich von Individuen. Das war schon für die Statistiker des 19. Jahrhunderts interessant, die dadurch verschiedene Bevölkerungsgruppen – arm und reich, dick und dünn oder Deutsche und Franzosen – miteinander vergleichen konnten; was wiederum als Argument in der Sozialen Frage oder beim Nachweis nationaler Stärke von Bedeutung war (vgl. Spiekermann 2008). Der BMI setzte sich jedoch erst aufgrund des Einsatzes bei amerikanischen Lebensversicherern durch. Diese nutzten ihn als einfache Einstufung zur Prämienberechnung. Der BMI entwickelte sich also von einer zunächst bloß deskriptiven Vergleichsgröße zu einem direkten Indikator des Ernährungs- und Gesundheitszustandes. Im BMI verbinden sich folglich verschiedene Diskurse zu einem Normalisierungsdiskurs. Die vorher getrennt laufenden Diskurse wirken aber gemeinsam besonders – wenn auch auf je verschiedene Weise – disziplinierend und normalisierend auf das Individuum ein. Als ‚disziplinierend‘ soll hier zunächst in allgemeinster, d.h. modaltheoretischer, Formulierung alles das gelten, was den Handlungsspielraum des Einzelnen einschränkt – also Kontingenz reduziert (Luhmann 1997b). Das Normalgewicht wird in den Diskursen für den Einzelnen zur relevanten Orientierungsgröße; Ein Abweichen davon muss in allen gesellschaftlichen Kontexten begründet werden: Du bist dick: willst du früher sterben? Du bist dick: willst du mehr Versicherungsbeiträge zahlen? Du bist dick: willst du dich nicht anders ernähren? Du bist dick: willst du nicht mal eine/n schöne/n Partner_in finden? Usw. Im Folgenden sollen die disziplinierenden Diskurse, die mit dem BMI verbunden sind, ausführlicher beschrieben werden. Jeder Diskurs wirkt dabei aber auf eine bestimmte Art disziplinierend und normalisierend, worin sich gleichzeitig unterschiedliche theoretische Zugänge zur Disziplinierung spiegeln. Dabei ist zu beachten, dass die Diskurse nur analytisch trennbar sind, in der Realität aber natürlich nie getrennt voneinander vorkommen. Zuerst wenden wir uns dem mit dem BMI ver38
Vgl. für die Ausführungen zum BMI (WHO 2000) und die Adipositas-Leitlinie 2007 (Deutsche Adipositas-Gesellschaft et al. 2007). Bei der Adipositas bzw. Fettleibigkeit oder Fettsucht handelt es sich um ein starkes Übergewicht. Eine Adipositas liegt, nach WHO-Definition, ab einem BMI von 30 kg/m² vor, wobei drei Schweregrade unterschieden werden, zu deren Abgrenzung ebenfalls der BMI herangezogen wird.
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knüpften medizinischen Diskurs über den gesunden oder kranken Körper zu. Darin spiegelt sich die klassische Disziplinierungstheorie in der Tradition von Foucault. Anschließend geht es um den Diskurs über das übergewichtige Individuum als Kostenfaktor für die Gesellschaft und im Besonderen für die Versicherungssysteme. Darin kommen vor allem neue Regulierungstechniken der Bevölkerung zum Ausdruck. Drittens schließlich soll der Diskurs über die ästhetisch anzustrebenden Proportionen des Menschen dazu dienen, über die Möglichkeit einer flexiblen, offeneren Form des Normalismus nachzudenken. Diese Diskurse zeichnen dabei jeweils ihr eigenes Bild vom Zentrum-Peripherie-Verhältnis der Gesellschaft. 16.3 Das gesunde Individuum/Dicke und Dünne in die Klinik Medizinische Diskurse sind immer auch Disziplinierungsdiskurse. Die Medizin ist ein Feld der Herstellung von gesellschaftlich gewünschtem und gefordertem Verhalten und entsprechender Habitusformen, dabei kommen klassische Disziplinierungsinstitutionen zum Einsatz – Krankenhäuser oder psychosomatische Kliniken. Für Foucault (1969; 1977) waren es diese Institutionen, die der neuen anonymen ‚Machttechnologie‘ der Disziplin zur Geburt verholfen haben. Für den medizinischen Diskurs in Bezug auf die Normalisierung durch den BMI steht das Krankheitsbild der Adipositas (vgl. für dies und folgendes Deutsche Adipositas-Gesellschaft 2007). Es handelt sich dabei um eine medizinischgesundheitliche Disziplinierung, bei der die Unterscheidung von gesund und krank zentral ist. Die Gesellschaft wird in diese beiden Kategorien unterteilt. Wer krankheitsverdächtig ist, mit dem werden eine Reihe von Untersuchungen durchgeführt (Körpergröße und -gewicht, Taillenumfang; Klinische Untersuchung; Nüchternblutzucker; Cholesterin, Triglyzeride; Harnsäure; Kreatinin; TSH, Dexamethason; Albumin/Kreatinin-Ratio; EKG; vgl. Deutsche AdipositasGesellschaft 2007), daraufhin wird eine Therapie entworfen und die Behandlung solange durchgeführt, bis der/die Patient_in gesund ist. Diese Behandlung zieht unterschiedlich weit ausgreifende Eingriffe in das Leben der Patienten nach sich. Wenn es nötig ist, findet diese Behandlung in einem von der Gesellschaft abgeschlossenen Raum statt, in der die Patient_innen wie Insass_innen leben. Dabei wird „über das tägliche Verhalten der Insassen […] ohne Unterlaß ein Wissen erworben, werden pausenlos Schätzungen angestellt“ (Foucault 1977: 380). Der medizinische Diskurs ist ein klassischer Wissensdiskurs. Das Wissen wird dazu gebraucht, um die Devianzgrenzen, die Grenzen zwischen gesund und krank innerhalb der Gesellschaft festzulegen. Von diesem Wissen sind die Patient_innen dann zumeist abgeschnitten. Das Krankenblatt der Klinik steht für
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diese Informationsdifferenz. Es enthält alle wichtigen Informationen, ist jedoch nur den Halbgöttern in Weiß verständlich oder auch zugänglich. Das Individuum wird mehr oder minder zu einem Objekt des Gesundheitswissens und damit auch zu einer Macht, die ihm selbst als unkontrollierbare und äußerliche Macht gegenübersteht. Die Fälle Klinik oder Krankenhaus sind Extremfälle – auch innerhalb des Gesundheitsdiskurses. Für das Phänomen des Übergewichts ist nur selten mit derart rigiden medizinischen Maßnahmen zu rechnen (auch wenn es natürlich Einrichtungen wie Abmagerungskliniken gibt oder es durchaus zu chirurgischen Eingriffen kommen kann). Allerdings zeigt die Zuspitzung auf extreme Eingriffe mit welcher Art Disziplinierung ein Vergleichsindex wie der BMI direkt verknüpft sein kann. Die statistische Erfassung durch den BMI dient hier der Disziplinierung nur als Identifikationsmittel, der BMI selbst ist dabei zunächst noch nicht Teil der Disziplinierung. Die Disziplinierung wird vielmehr an der mit naturwissenschaftlichen Methoden konstruierten Norm von Krankheit durchgesetzt. Mit Normalisierungen anhand von Durchschnitten hat diese Form der Disziplinierung allerdings noch nicht allzu viel zu tun. Es geht hier – um die Worte Links (1997: 133) zu gebrauchen – viel eher um Normierung, also um eine Vereinheitlichung entsprechend einem präfixierten Maßstab. Man muss jedoch davon ausgehen, dass der hier postulierte Unterschied zwischen Normalisierung und Normierung ein idealtypischer ist, der in der Empirie meist weniger klar zum Ausdruck kommt, als hier dargestellt. Auch Foucault hat auf den Unterschied zwischen Normalisierung und Normierung aufmerksam gemacht und spricht in der Folge von Überwachen und Strafen explizit von der Normalisierungsgesellschaft, die über eine bloße normierend-disziplinierende Gesellschaft hinausweist und sich durch „das doppelte Spiel der Disziplinartechnologien einerseits und der Regulierungstechnologien andererseits auszeichnet“ (vgl. 1983: 171-172). Foucaults These, dass sich der disziplinierende Rückkopplungsprozess von Individuum und Macht/Wissen nicht nur innerhalb der Anstaltsmauern vollzieht, sondern dass sich die moderne Gesellschaft im Allgemeinen zur Anstalt entwickelt, hängt also vor allem an den Regulierungstechnologien. Diese anderen Formen der Disziplinierung, seien sie nun als Regulierungen oder als Normalisierungen bezeichnet, werden wir im folgenden Abschnitt genauer herausarbeiten.39
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Das Begriffswirrwarr zwischen Normalisierung, Disziplinierung und Regulierung, welches wir hier kurz dargelegt haben, ist den unterschiedlichen Theorielinien geschuldet, die sich um den Normalisierungsbegriff bemüht haben. Wir halten es trotzdem für sinnvoll, die Verwirrung hier nicht gänzlich zu nivellieren, erstens um die Breite der theoretischen Ansätze zu verdeutlichen und zweitens um die Nähe dieser verschiedenen Zugängen doch aufzuzeigen. Daher haben wir hier nochmals
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Festzuhalten bleibt, dass das primäre Ziel der Disziplinierung im Falle der Normalisierung ein anderes ist. Damit verschieben sich auch die Wirkrichtungen: Während der Gesundheitsdiskurs zunächst nur auf die Disziplinierung des Körpers gerichtet ist – und somit die Bevölkerung erst in einem zweiten Schritt mitreguliert wird, verhält es sich bei der Normalisierung genau umgekehrt: Die Normalisierungen sind zunächst auf die Bevölkerung gerichtet was eine Mitdisziplinierung der Körper nach sich zieht (vgl. Mehrtens: 46). Der BMI wird genau für derartige Normalisierungen der Bevölkerung gebraucht. 16.4 Das übergewichtige Individuum als Kostenfaktor/ Tun Sie was für sich und ihr Gewicht Alle deutschen Krankenkassen bieten ihren Mitgliedern derzeit Kurse zum Abnehmen, zu Diäten oder Ernährungsberatungen an. Auf der Website der AOK wird man zum Beispiel auf acht AOK-Programme verwiesen. Sechs von diesen drehen sich um Ernährung und/oder Sport. Allein das ist ein Befund, der die Inflation von Körpergewichtsregulierungen in unserer Gesellschaft andeutet. Wie genau der BMI bevölkerungsregulierend wirkt, zeigt das Programm Abnehmen mit Genuss:
die Begriffe Foucaults aufgeführt, auch wenn wir uns, so zumindest in diesem Teil des Buches, vornehmlich an den Termini von Link orientieren.
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Abb. 4: Abnehmen mit Genuss. Quelle: AOK. URL: http://www.abnehmen-mitgenuss.de/content/startseite - rote Umrandung ist eigene Hervorhebung [10.09.2009]
Der BMI lässt sich gleich auf der Startseite des Programms berechnen. Je nach Eingabedaten werden daraufhin verschiedene Empfehlungen für die Teilnahme am Programm gegeben. Eine kleine Onlinerecherche für eine Person mit einer Größe von 1,75 m ergab für ein Gewicht von 65 kg folgenden Text:40 „Ihr BMI: 21,22. Um Ihr Gewicht würden Sie viele beneiden! Für Ihre Gesundheit ist es ideal, daher sollten Sie es beibehalten. Eine Gewichtsabnahme empfehlen wir Ihnen nicht: Sie würden sehr schnell in den Bereich des Untergewichts kommen, was schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben kann. Bei ‚Abnehmen mit Genuss‘ können Sie daher nicht mitmachen. Bleiben Sie einfach, wie Sie sind!“ (Hervorhebung durch die Autor_innen).
Klarer kann die Festlegung eines Ideals kaum formuliert sein. Die weitere Auswertung zeigt, dass die Krankenkassen auf inhaltlicher Ebene nicht einfach den medizinischen Diskurs wiedergeben. Es geht nicht mehr um die schlichte Trennung zwischen gesund und krank, sondern um eine Annäherung ein proklamiertes Normal-, oder gar: Idealgewicht. Von Adipositas spricht man ab einem BMI 40 Die gesammelten Ergebnisse dieser Onlinerecherche sind in einer Tabelle im Anhang zu finden, siehe Anhang 2.
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von 30. Eine Teilnahme am Programm Abnehmen mit Genuss wird aber schon bei einem Gewicht empfohlen, was von der WHO-Klassifizierung als medizinisch vollkommen unbedenklich eingestuft wird. So heißt es bei einem Körpergewicht von 75 kg und damit einem BMI von 24,49: „Aus gesundheitlicher Sicht brauchen Sie nicht abzunehmen. Wenn Sie dennoch gern ein paar Pfunde verlieren würden, sind Sie bei ‚Abnehmen mit Genuss‘ richtig. Übertreiben sollten Sie es nicht – setzen Sie sich ein realistisches Ziel! Satt essen, Fettfallen vermeiden und mehr Bewegung: Damit werden Sie sich garantiert noch wohler fühlen. Melden Sie sich an – Sie sind herzlich willkommen“ (Hervorhebung durch die Autor_innen).
Es wird ein Kontinuum verschiedener Gewichtsklassen erstellt und alle müssen sich an ihrer Entfernung zum Idealgewicht messen lassen. Bei 85 kg heißt es schon: „Ihrer Gesundheit täten einige Pfund weniger auf jeden Fall gut. ‚Abnehmen mit Genuss‘ ist hier genau das Richtige für Sie.“
Bei 95 kg und einem adipösen BMI von 31 wird schließlich aus den Empfehlungen ein Imperativ, der noch dazu an das schlechte Gewissen der potentiellen Kursteilnehmer appelliert, welches mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit unterstellt wird: „Sie wissen es sicher selbst – Sie sollten abnehmen, Ihrer Gesundheit und Ihrem Wohlbefinden zuliebe. ‚Abnehmen mit Genuss‘ kann Ihnen dabei helfen“ (Hervorhebung durch die Autor_innen).
Aber nicht nur das obere Ende der Skala wird mit eindeutigen Normalisierungsempfehlungen konfrontiert, auch ein Gewicht von 55 kg wird von einem Risikohinweis begleitet. Vor allem aber wird explizit ein falsches Schönheitsideal angeprangert: „Sie sind bereits untergewichtig. Von einem weiteren Gewichtsverlust raten wir Ihnen dringend ab! Überdenken Sie noch einmal Ihre Vorstellungen von einer ‚idealen Figur‘, sprechen Sie darüber mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin. Sie können sich auch bei der Ernährungsberatung Ihrer AOK Rat holen“ (Hervorhebung durch die Autor_innen).
Diese Bevölkerungsregulierung funktioniert, wie schon angedeutet, nach dem Zentrum-Peripherie-Schema. Je weiter weg vom Zentrum der Normalvorstellung, desto eher muss sich der Einzelne für sein Gewicht rechtfertigen („Ihrer Gesundheit täten einige Pfund weniger auf jeden Fall gut.“). Die Vorstellung beruht auf einer angestrebten Normalverteilung, die sich nun über die Bevölkerung, über die Masse der Körper legen lässt. Das Ziel ist das Normalgewicht oder in noch weiterer Zuspitzung das Idealgewicht, das meist am unteren Rand des Normalgewichts angesiedelt wird. Die Normalisierung findet hier jedoch
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nicht in Kliniken statt, in denen Ärzte zwischen erlaubt und verboten unterscheiden. Der Prozess der Normalisierung bedient sich hier anderer Techniken, um die Unterscheidung zwischen normal/abweichend etablieren oder wirksam machen zu können. Es handelt sich viel eher um Kontrolltechniken denn um Disziplinartechniken: So werden durch statistische Verfahren Risikogruppen erzeugt, die zumindest implizit eine Handlungsaufforderung enthalten. Wenn man zur Risikogruppe der Übergewichtigen zählt, dann wird man statistisch gesehen häufiger krank und stirbt früher (vgl. Bender u.a. 1998 oder Düsseldorfer Obesity-Mortality-Study (DOMS) und Robert Koch-Institut 2003). Diese Informationen werden stets und so häufig wie möglich an die Individuen weitergeleitet: „Checken Sie ihr Gewicht!“ heißt es auf der Startseite von „Abnehmen mit Genuss“. Der/die Einzelne muss darauf diese Informationen für einen optimierenden Umgang mit ihrem/seinem Körper einsetzen, was dann immer heißt, Zeit und Geld in die Produktion des eigenen Idealgewichts zu stecken. Mit der Angabe eines Normalwertes allein wird schließlich noch niemand stigmatisiert. Nur weil ich fett bin, darf ich weiterhin Eis kaufen und die Mitgliedschaft in einem Sportverein verweigern. Die Kontrolle verbietet die Verhaltensweisen, die Fettleibigkeit unterstützen, nicht einfach. Aber sie verwendet Techniken, die das Subjekt selbst aktivieren sollen, d.h. es so verändern, dass es sich aus Selbsteinsicht einschränkt. Der oder die Fettleibige soll wissen, dass Sport und LightProdukte zu Selbstverständlichkeiten werden sollten. Das Individuum selbst ist damit zu der Instanz geworden, die disziplinierend wirkt oder die Disziplinierung durchführen muss: „Sie wissen es sicher selbst“. Diese Formulierung deutet darauf hin, dass den Individuen Anreize zur Selbstdisziplinierung gegeben sind. Wenn sie sich aus der Risikogruppe des Übergewichts befreien, dann haben sie bessere Chancen im Beruf, mehr Freiheiten in der Freizeitgestaltung und bekommen leichter eine/n Partner_in. Zumindest wird ihnen dieses Bild vermittelt („Damit werden Sie sich garantiert noch wohler fühlen.“) Gilles Deleuze hat in einem kleinen und zugegebenermaßen teilweise etwas kryptischen Essay von 1990 mit dem Titel Postskriptum zur Kontrollgesellschaft diese Formen der Selbstdisziplinierung mit der Metapher des Unternehmers oder der Unternehmerin in Verbindung gebracht. Das Unternehmen sei die neue Disziplinarinstitution schlechthin, die das Gefängnis ablöst, indem es in alle gesellschaftliche Bereiche als leitende Organisationsform hineindiffundiert. Der/die Unternehmer_in steht dabei für eine auf statistischen Daten und ständiger Kontrolle beruhenden Optimierung des Selbst. Auch wenn die theoretischen Überlegungen Deleuzes nicht immer nachvollziehbar erscheinen, so sind doch die Phänomene, die er in seinem Text anspricht, aus unserer Sicht außerordentlich einleuchtend. So zeigt sich die von ihm postulierte neue Machttechnik der Kontrolle auch in Veränderungen der klassischen Disziplinarinstitutionen: Ärzt_innen braucht es zunehmend dafür,
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geeignete Informationen an den/die Patient_innen weiterzuleiten, so dass der/die Patient_in sich selbst noch gesünder machen kann. Die Unterscheidung krank/ gesund wird ersetzt durch die Differenz ‚der Gesundheit zuträglich‘ oder ‚der Gesundheit abträglich‘ (vgl. Eirmbter/Hahn/Jacob 1999: 91). Daher kann ein Großteil der medizinischen Behandlung in Tageskliniken oder auch die häusliche Krankenpflege ausgelagert werden. Normalisierung häufig jedoch nicht mehr in medizinischen Institutionen statt. Viel eher wird sie über Massenmedien sowie die Informationen und Kontrollen verschiedener Gesundheitsinstitutionen – wie auch das hier gewählte Beispiel der Krankenversicherungen zeigt – in die Wege geleitet. So kann der/die Einzelne durch verschiedenste Institutionen unterstützt werden, ein ‚Gewichtsmanagement‘ zu entwickeln, also ein Selbstmanagement, welches ständig den eigenen BMI berechnet und das Ziel Idealgewicht in alle Lebenssituationen hineinträgt (vgl. Institut für Sporternährung 1999 oder Langer 1996). Im Falle einer unzureichenden Bereitschaft, diesem medizinischen Ideal nahezukommen, droht die gesellschaftliche Sanktion. Auf die Gesamtgesellschaft bezogen wird die Sanktionsbereitschaft mit quantifizierten Daten begründet, die ein Risiko für die Bevölkerung nachweisen (sollen). So gibt es immer wieder Studien zu den volkswirtschaftlichen Kosten des Übergewichts, die sich je nach Rechnung auf bis zu 5% der Gesamtkosten des Gesundheitssystems belaufen.41 Auf diese Weise lässt sich eine Verbindung zur Bevölkerungsregulierung herstellen, wie sie schon in der Tradition Foucaults angesprochen wurde. Die hier skizzenhaft dargestellten und gesamtgesellschaftlich ausgerichteten Thesen zur Kontrollgesellschaft, zum Wandel des Gesundheitssystems, zur unternehmerischen Selbstdisziplinierung und zur Bevölkerungsregulierung verdienten jeweils noch eine deutlich intensivere Beschreibung. Im vorliegenden Kontext sollte es primär darum gehen, welche Diskurse der BMI repräsentiert und welche Disziplinierungsformen er damit zusammenführt. Zusammenfassend lässt sich also sagen: Normalismus ist eine entscheidende gesellschaftliche Taktik der Kontrolle. Der BMI dient mithilfe seiner Quantifizierung des Gewichts der normalistischen Kontrolle des Körpers und der statistischen Erfassung der Bevölkerung, inklusive der Aufforderung die Körper und die Bevölkerung im Ganzen einem gewissen Idealmaß anzunähern. Beim Körpergewicht als Abbild der Gesundheit und körperlichen Fitness lässt sich ein eindeutiges, präfixiertes Ideal ausmachen, das durch scharfe Grenzen von Normalitätsabweichungen unterschieden werden kann. Dieser Normalismus mit präfixiertem Ideal wird von 41 Robert Koch Institut Gesundheitsberichterstattung 2003: „Schätzungen der direkten und indirekten Krankheitskosten der Adipositas und der Folge bzw. Begleiterkrankungen für 1995 ergeben je nach Modellvariante zwischen 7,75 und 13,55 Milliarden €, das sind 3,1% bis 5,5% der Gesamtkosten.“ Diese Kostenschätzung entspricht in etwa denen in internationalen Studien.“ Siehe dafür auch: Schneider 1996.
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Link als Protonormalismus bezeichnet. Wenn man das Körpergewicht im Verhältnis zum Schönheitsideal untersucht, so ergibt sich eine Form des Normalismus, die nicht mehr an einem solch eindeutigen Ideal hängt. Es handelt sich viel eher um einen Diskurs, dessen Ideal zunehmend verschwimmt und dynamisch wird, dessen Wirkung aber nichtsdestotrotz normalisierend ist. 16.5 Das schöne Individuum/ Ob dick, ob schlank, Hauptsache bekennend Das gängige moderne Schönheitsideal ist ein schlanker Körper – unzweifelhaft. Daneben gibt es aber andere Schönheitsideale. Nicht nur schlank oder sogar mager, sondern auch dick oder sogar fett werden mit Worten für die Beschreibung körperlicher Attraktivität wie ‚sexy‘ oder ‚erotisch‘ umschrieben. Die Werbung ist geprägt von Models, die den Maßen der Barby bedrohlich nahe kommen. Aber es gibt auch Werbung, die gerade diese Werbefiguren konterkariert. Man denke an XXL-Models oder an verschiedene Werbekampagnen, die eine ‚Natürlichkeit‘ fordern, wie die Dove-Werbekampagne „Keine Models aber straffe Kurven“.42 Auch ein Blick auf den Buchmarkt zeigt, dass die Literatur zum Abnehmen und zum schlanken Schönheitsideal überwiegt, aber sich ohne Probleme auch Publikationen finden lassen, die das Übergewicht auf den Thron des Schönheitsideals heben wollen: Dick ist sexy. Das Anti-Diät-Buch von 1985; Schöne fette Welt: Eat fat oder ein Lob der Fülle von 1997 oder auch Dünn sein war gestern!: wie runde Frauen das volle Leben genießen von 2004. Nicht zuletzt hat sich ein Markt für Übergrößen ausgebildet, auf dem die Verkäufer offensiv für die Ästhetik von Dicken werben. Das Schönheitsideal hat sich flexibilisiert. Welche Folgen aber haben diese Phänomene für den Normalismus? Kurz gesagt: Auch dieser flexibilisiert sich. Bei der Schönheit geht es zunächst und zumeist nicht um Gesundheit, wie in den oben vorgestellten Diskursen – auch wenn es natürlich wieder zahlreiche koppelnde Argumentationen gibt, die das Gesunde mit dem Schönen verbinden. Es gibt demnach auch keine Versuche eindeutige Devianzgrenzen festzulegen, wie sie bei der Unterscheidung krank/gesund wiederholt und mit wechselndem Erfolg postuliert werden. Schönheit liegt im Auge des
42 So wirbt Dove/Unilever noch immer mit verschiedenen Slogans, die dem gängigen Schlankheitsideal eine Absage erteilen: „In einer Welt von Stereotypen zeigt Dove erfrischende Alternativen für Frauen, die erkannt haben, dass Schönheit keine Frage von 90-60-90 ist“ (URL: http://www.unilever.de/ourbrands/personalcare/dove.asp [14.09.2009]).
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Betrachters. Aber die Augen der Betrachter sind doch an den gleichen Konventionen geschult. Auch Schönheit eröffnet ein Normalfeld. 43 Das Schönheitsideal orientiert sich am Normalgewicht. Ein schöner Körper sollte nicht zu dünn, aber vor allem nicht zu dick sein. Aber wie anhand von Einzelbeispielen gezeigt, wird dieses Ideal in den letzten Jahrzehnten wiederholt aufgebrochen – und dies sowohl hinsichtlich der Übergewichtigen als auch hinsichtlich der Untergewichtigen. Hier liegt also der Fall vor, dass der Bereich der Normalität zunehmend erweitert wird. Der Bereich des Normalen zerfließt vielmehr, so dass vieles als normal gelten kann. In diesem Normalfeld werden zunehmend verschiedene Körperproportionen inkludiert. Jürgen Link hat diese Form des Normalismus als „flexibel-normalistische Strategie“ bezeichnet (Link 1997: 75) und versucht, die historischen Wurzeln und Traditionslinien dieser Strategie auszumachen. Dabei ist er für den Fall Deutschlands vor allem auf die 68er-Generation gestoßen, die eine ganze Reihe von Normalitätsfeldern aufgebrochen haben. Aber inwieweit ist diese Flexiblisierung überhaupt noch als Normalisierung und damit auch Disziplinierung interpretierbar? Die Normalitätszone hat sich erweitert, damit hat sich schließlich auch der Freiheitsgrad der Handlungen des Einzelnen erweitert. Aber damit ist der Normalismus keineswegs überwunden. Die Festlegung auf eine Normalität, auch wenn diese mehr einschließt, bleibt bestehen. Der menschliche Körper wird entsprechend eines Vergleichskriteriums in ein Kontinuum eingeordnet, in dem jede/r Einzelne seinen/ihren Körper verorten muss. Im flexiblen Normalismus herrscht eine Dynamik der gegenwärtig als normal eingeschätzten Bereiche, aber gerade diese Dynamik verlangt dem Individuum eine ständige Selbst-Adjustierung ab, um die eigens zugeschriebene Identität als dick, dünn, mager oder füllig beizubehalten. Im Normalismus mit einem präfixierten Ideal war es möglich sich als Anormaler zu verstecken und damit devianten Praktiken heimlich zu frönen. Im flexiblen Normalismus erhöht sich die Auflösung des Spektrums, so dass sich zwar viele Individuen innerhalb 43
Es wird an dieser Stelle Schönheit nur in Bezug auf Körpergewicht untersucht. Schönheit ist ein abstrakter Begriff, der sich auf alle möglichen Aspekte des menschlichen Daseins und damit auch des Körpers anwenden lässt. Es gibt auch in anderen Dimensionen der körperlichen Schönheit erstaunlich eindeutige Normalitätsfelder und Normalisierungsdiskurse. So wurden in einer Studie zur Attraktivität an der Universität Regensburg verschiedene Kennzahlen für Attraktivität erstellt, die sich an einer Normalverteilung orientieren (vgl. Braun/Gründl/Marberger/Scherber 2001). Dort wird zum Beispiel ein sogenannter Beauty-Quotient eingeführt, der sich explizit am Intelligenz-Quotienten orientiert. Eine durchschnittliche Frau (und nur für Frauen wurde dieser BQ zunächst erfunden) erhält den Wert 100, „außerordentlich“ schöne Frauen den Wert 130 usw. Bei der wissenschaftlichen Bestimmung der Schönheit von Gesichtern ist ein Aufsatz von Langlois und Roggman (1990) mit dem Titel Attraktive Gesichter sind bloß Durchschnitt besonders bekannt geworden. Ihre These war, dass Gesichter umso schöner bewertet werden, je mehr sie dem mathematischen Durchschnitt vieler menschlicher Gesichter entsprechen.
Das Individuum als Zentrum
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des Normalitätssektors bewegen können, aber eben auch ihren Ort darin sichtbar machen müssen. Es entsteht ein ausdifferenzierter Bekenntniszwang: „Ich bin dick und sexy und schäme mich dessen nicht“, so XXL-Model Sophie Dall im Spiegel-Reporter 2001 (zitiert nach Wilk 2002). Auch hier kann das Begriffsinstrumentarium Zentrum und Peripherie bei der Analyse weiterhelfen: Die Gesellschaft wird auch im flexiblen Normalismus entlang eines Kriteriums unterteilt. Dieses Kriterium ist dann meist noch mit statistischen Daten angefüllt. 5% der Bevölkerung neigen genetisch zu Fettleibigkeit. Wenn man also dick ist, muss man sich wohl oder übel zu diesen 5% rechnen, andernfalls wäre man ja an der eigenen Fettleibigkeit Schuld. Aber es bleibt der Befund, dass sich die zentralen Bereiche vervielfältigen und die peripheren Bereiche immer mehr aufgelöst werden. Diese Situation kann dem einzelnen Individuum wie ein Verlust des Zentrums erscheinen. Das führt zu Denormalisierungsängsten, die jederzeit wieder für ein Umschlagen in protonormalistische Strategien sorgen können – also zu Normalisierungen, die an einem eindeutigen Ideal orientiert sind. Niemand kann sicher sein, normal zu sein, sich im Zentrum der Gesellschaft zu befinden. Das erfordert Strategien, die dem Einzelnen seine Normalität versichern. Der einzelne Bürger situiert sich demnach selbst innerhalb der Gesellschaft, ohne die Kriterien beurteilen zu können, nach denen seine Zugehörigkeit zu ihr bestimmt wird, indem er „normalistische symbolische Landschaften“ entwirft (Link 1997: 337). Um selbst nicht in Devianz abzurutschen, vergleicht er dabei seine Position stets mit der der anderen und versucht der imaginierten Normalität durch ständigen Abgleich mit einem Sollwert näher zu kommen. Diese Thesen zur disziplinierenden Kraft eines flexiblen Normalismus sind sicherlich von den drei vorgestellten Disziplinierungsdiskursen die unschärfsten. Zunächst bleibt festzuhalten, dass eine Flexibilisierung der Normalitätszonen eine Erweiterung der Freiheitsgrade des modernen Individuums darstellt. Es bleibt aber auch hier nach den versteckten Normalisierungsaufforderungen zu suchen, mit der der Einzelne durch eine solche Flexibilisierung konfrontiert wird. „Ein Individuum, das in sich zu einer bestimmten Zeit alle Eigenschaften des Durchschnittsmenschen vereint, würde zugleich alles Große, Schöne und Außergewöhnliche repräsentieren […]. In dieser Weise ist es ein großer Mann, ein großer Dichter, ein großer Künstler“ (Quetelet 1838).
Mit dem Durchschnittsmenschen verband Quetelet eine Hoffnung auf Emanzipation, auf Optimierung. Der Durchschnittsmensch versprach einen Fortschritt der Menschheit. Im vorliegenden Abschnitt haben wir versucht zu zeigen, dass der Durchschnittsmensch eine Reaktion auf die Individualisierung darstellt, die seit dem 19. Jahrhundert vermehrt – wenn auch mit anderen Begrifflichkeiten – konstatiert wurde. Der Durchschnittsmensch sollte eine Orientierung sein, in einer
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Zeit, in der die klaren Zentren verloren zu gehen scheinen. Der Durchschnittsmensch sollte aber vor allem auch als Disziplinierungsinstrument zu geschichtlichem Wirken gelangen. Dies wird besonders deutlich, indem man die Idee von Quetelet zum BMI auf ihre Implikationen hin untersucht. Es zeigt sich: Der Durchschnitt ist eine normalisierende Annahme, die dem einzelnen Individuum als objektives Kontrollbild entgegentritt, an dem es sich freiwillig aber dennoch akribisch selbst anzugleichen versucht. Der Durchschnitt dient der Kontrolle, nicht der Emanzipation. Und so stellt sich auch hier die Frage: Wäre ein anderes Denkmuster als das in den Kategorien von Zentrum und Peripherie, und nichts anderes als deren Derivate sind der Durchschnitt, das Normale und Anormale, möglich?
4. Teil: Bürgerliche Rechte als Zentrum moderner Gesellschaften Alexander Hirschfeld, Uta Lehmann
17. Bürgerliche Rechte als integrative Mitte der Gesellschaft
Trotz einer Vielzahl kultureller und struktureller Unterschiede haben moderne Nationalstaaten einen wichtigen Aspekt gemein: Sie regeln die Zugehörigkeit ihrer Mitglieder durch das Konzept der Staatsbürgerschaft. Den Bürger_innen eines jeweiligen Landes werden aufgrund ihrer Mitgliedschaft innerhalb der national verfassten Einheit unterschiedliche legale, politische und soziale Rechte garantiert (vgl. Marshall 1964). Seit der Französischen Revolution hat sich die Staatsbürgerschaft auf nationaler Ebene zunehmend durchgesetzt. Für die einzelnen Bürger_innen ergeben sich daraus bestimmte Rechte und Pflichten, die ihnen eine formalrechtliche Identität verleihen (vgl. Mackert/Müller 2007: 10-13). Gleichzeitig haben Bürgerrechte aber auch eine symbolische Bedeutung, die auf gemeinsam geteilte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster verweist (vgl. Parsons 1971: 22; Joppke 1999: 6). Die formalrechtliche Achtung des Anderen transportiert also teilweise auch dessen soziale Anerkennung mit. Diese Vorstellung erinnert an Durkheims Konzept der mechanischen Solidarität, die im Zuge der fortschreitenden Arbeitsteilung und funktionalen Differenzierung entsteht. Das intensive und eindeutige Kollektivbewusstsein innerhalb kleiner undifferenzierter Gruppen wird ersetzt durch ein neues abstraktes Gefühl der Zugehörigkeit. In diesem Zusammenhang stellt Durkheim vor allem die Expansion des Rechts und die wachsende Bedeutung von individuellen Verträgen als besonders wichtig heraus. Durch die Sicherung individueller Rechte sowie durch die gesellschaftliche Akzeptanz formaler Regeln – also einer Art Vertragsmoral – wird zwischen individuellen und gesellschaftlichen Interessen vermittelt (vgl. Durkheim 1988 [1893]). Bereits Durkheim identifizierte dabei die Anerkennung der individuellen Autonomie als Kern des Wertsystems moderner Gesellschaften (vgl. Durkheim 1986). Dieser Gedanke bildete in den vorigen Kapiteln den Ausgangspunkt, um Formen dezentralisierter Orientierungs- und Norm(alitäts)vorstellungen zu analysieren, deren Dynamik ebenfalls stärker auf ideellen Komponenten denn auf geographisch-materiellen Faktoren beruhte. Dabei ging es auch stets um den Verlust eindeutiger, gesamtgesellschaftlich wirkmächtiger Zentren. Mit der Staatsbürgerschaft, immerhin einer Erfindung der modernen Gesellschaft, existiert jedoch offensichtlich ein integrativer Mechanismus von äußerst großer Reichweite, der auf eigentümliche Art und Weise ideell-normative mit territorialen Aspekten verbindet. In diesem Teil des Buches geht es nun aber D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_18, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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weniger darum, einen Beitrag zur theoretischen Debatte des Konzepts der Staatsbürgerschaft zu liefern. Stattdessen wird dieses Modell als eine Möglichkeit diskutiert, die Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie auf die nationalstaatliche Ebene zu übertragen. In modernen Nationalstaaten, so die Hauptthese dieses Kapitels, können individuelle Bürgerrechte als Zentrum der Gesellschaft interpretiert werden. Dies hat vor allem zwei Gründe: Erstens entscheidet die formale Anerkennung eines Menschen als Staatsbürger_in über deren/dessen Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Dies ist nicht auf die rechtliche Teilhabe beschränkt, sondern ermöglicht gewisse Partizipationschancen in allen sozialen Teilbereichen. Zweitens durchdringt das Konzept der Staatsbürgerschaft auch die Alltagsrealität der Beteiligten. Es erzeugt Erwartungen und Pflichten, die die Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsstrategien der Akteur_ innen maßgeblich beeinflussen. Mit Rückgriff auf Talcott Parsons’ Konzept der gesellschaftlichen Gemeinschaft wird im Folgenden ein Modell von Zentrum und Peripherie entwickelt, welches die Staatsbürgerschaft als Gravitationspunkt der Gesellschaft herausarbeitet (vgl. Parsons 1966; 1969a; 1971; 2007). Diese theoretische Diskussion wird durch eine empirische Betrachtung der Unruhen (Émeutes) in den Banlieues französischer Großstädte aus dem Jahr 2005 ergänzt. Die mangelnde Teilnahme an gesellschaftlichen Netzwerken, die starke Benachteiligung im Bildungssystem sowie unterschiedliche Mechanismen der Stigmatisierung drängen die Bewohner_innen der Banlieues trotz ihrer formalrechtlichen Anerkennung in die Peripherie der französischen Gesellschaft. Als Ursache für die wachsende Unzufriedenheit dieser Gruppe, erkennbar etwa in den gewaltsamen Unruhen im Jahr 2005, wird eine steigende Diskrepanz zwischen den gesellschaftlich institutionalisierten Erwartungen und der aktuellen Situation identifiziert. Durch die formale Akzeptanz als französische Staatsbürger_innen, so der Leitgedanke, fühlen sich die Bewohner_innen der Banlieues als Teil der französischen Gesellschaft, wodurch hohe Erwartungen erzeugt werden. Diese werden jedoch nur teilweise realisiert, was Unzufriedenheiten und Spannungen erzeugt, die sich immer wieder in gewaltsamen Protesten entladen. Dies unterstützt die Annahme, dass Bürgerrechte als neue gesellschaftliche Mitte gedacht werden können.
18. Zentrum und Peripherie in modernen Nationalstaaten
In den vorangegangenen Kapiteln wurde dargelegt, wie im Zuge der fortschreitenden funktionalen Differenzierung und Individualisierung allumfassende lokale Zentren an Relevanz verlieren. Die regionale Konzentration unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktionen nimmt im Zuge der Modernisierung tendenziell ab. In diesem Zusammenhang wurde auf die besondere Bedeutung ideeller Zentren hingewiesen, die nach dem Zusammenbruch traditioneller Ordnungssysteme entstanden und in unterschiedlicher Weise diskursiv verankert sind. Im Anschluss daran wurde die Bedeutung des Individuums als neues ideelles Zentrum herausgearbeitet. Das Individuum als Zentrum moderner Gesellschaften zu denken, stellt die soziologische Theorie vor neue Herausforderungen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie sich individuelle Freiheiten und Interessen institutionell absichern und gleichzeitig mit einer neuen Form von Solidarität verbinden lassen. Diese Thematik wurde mit der Diskussion Durkheims im vorangegangenen Teil bereits angeschnitten und wird in diesem Kapitel fortgeführt und ausgeweitet. Auf Basis von Parsons’ Modell der gesellschaftlichen Gemeinschaft wird dargestellt, wie und warum staatsbürgerliche Rechte sinnvoll als Zentrum der Gesellschaft gedacht werden können. Dabei wird Parsons’ Konzept der gesellschaftlichen Gemeinschaft im Rahmen seiner allgemeinen theoretischen Überlegungen hergeleitet, um die damit verbundenen Annahmen und Schlussfolgerungen besser einordnen zu können. 18.1 Der Wert- und Normenkomplex Die Analyse funktional differenzierter Gesellschaften ist ein zentrales Anliegen Talcott Parsons’. Ausgangspunkt seines Ansatzes ist die so genannte voluntaristische Handlungstheorie, in der er versucht, positivistische und idealistische Erklärungsmodelle miteinander zu verbinden (vgl. Parsons 1968: 43-86; Münch 1988: 233-252; 2004: 43-55). Für Parsons ist soziales Handeln maßgeblich durch eine Vermittlung zwischen Werten/Normen und unterschiedlichen situativen Bedingungen gekennzeichnet. Der/Die Akteur_in orientiert sich an allgemeinen Prinzipien und bezieht gleichzeitig die situativen Gegebenheiten, in Form ständig veränderbarer Interessen und anderer Umweltbedingungen, mit ein. Normen D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_19, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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und Werte sind daher die stabilen und dauerhaften Aspekte der Handlung, während die Situation die veränderbare und dynamische Komponente darstellt. Diese Unterscheidung findet sich in Parsons Systemtheorie in Form der Achse ‚intern/extern’ wieder. ‚Intern’ sind diejenigen Funktionssysteme, die sich auf das Arrangieren und Organisieren von Leistungen im Hinblick auf die Stabilisierung des Gesamtsystems konzentrieren. Systeme, die mit der Regulierung der Außenbeziehungen zu tun haben, werden der Kategorie ‚extern’ zugeordnet (vgl. Parsons 1971: 10-11; Luhmann 2008: 22). Innerhalb des Sozialsystems erhalten das sozial kulturelle System sowie die gesellschaftliche Gemeinschaft die Ausprägung ‚intern’. Das sozial kulturelle System enthält die institutionalisierten kulturellen Muster, die einen allgemeinen symbolischen Bezugsrahmen abstecken, wodurch die Funktion des Erhalts latenter Strukturen erfüllt wird (L). In der gesellschaftlichen Gemeinschaft sind konkrete Normen und Regeln institutionalisiert, die das weitgehend reibungslose Zusammenleben unterschiedlicher Mitglieder der Gesellschaft ermöglichen, weshalb dort die Funktion der Integration (I) im Vordergrund steht. Die Politik erhält die Funktion der Zielerreichung (G), da hier unterschiedliche Interessen in kollektiv bindende Entscheidungen transformiert werden. In der Wirtschaft geht es um die Allokation knapper Güter, was eine starke Anpassung (A) an die situativen Bedingungen der Umwelt erforderlich macht. Diese vier Funktionen sind Teil der so genannten Bedingungs-Steuerungshierarchie (AGIL). An einem Ende der Skala (L) herrscht ein hohes Maß an Kontrolle und Erwartungssicherheit, weshalb von hier aus eine symbolische Steuerung des Gesamtsystems geleistet wird. Das andere Ende der Skala (A) ist durch die Dynamik ständig veränderbarer Bedingungskonstellationen gekennzeichnet, an die sich das Gesamtsystem anpassen muss, um seine Stabilität zu bewahren (vgl. Parsons 1976: 171-177; Münch 2004: 70-91). Es findet also eine Zweiteilung des Gesamtsystems Gesellschaft statt. Einem Teil fällt die interne Steuerung und Kontrolle zu, während der andere Teil die Beziehungen zur Umwelt ermöglicht. Symbolische und rechtliche Rahmenbedingungen formen somit den stabilen und dauerhaften Kern der Gesellschaft, der gegenüber schnellen und tiefgreifenden Wandlungsprozessen sehr widerstandsfähig ist. Werte und Normen können daher vorerst als diejenigen strukturellen Elemente interpretiert werden, die in Parsons’ Ansatz das Zentrum der Gesellschaft bilden. Diese Strukturen manifestieren sich in Prozessen sozialen Handelns, beispielsweise in einer Interaktion zwischen Lehrer und Schüler. Die Akteur_innen orientieren sich dabei an institutionalisierten Rollen, wie etwa der Autoritätsposition des Lehrers, die einen allgemeinen Deutungs- und Handlungsrahmen absteckt. Die Analyse der Reproduktionsprozesse gesellschaftlicher Strukturmuster durch Handlungen, die sich
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innerhalb dieser Strukturen ereignen, ist ein zentrales Charakteristikum funktionalistischer Erklärungen. Für Parsons ist die funktionalistische Analyse daher immer zuerst eine Analyse der Struktur. Er definiert Werte, Normen, Kollektive und Rollen als die zentralen Elemente dieser Struktur. Diese vier Komponenten lassen sich grob auf die Funktionen des AGIL-Schemas übertragen. Die Reihenfolge der vier Aspekte deutet auf die zunehmende Spezifikation allgemeiner Werte sowie auf deren symbolische Steuerungsfunktion hin. Normen sind Spezifikationen allgemeiner Prinzipien und geben konkrete Regeln vor. Diese Regeln werden innerhalb unterschiedlicher Kollektive oder Organisationen abhängig von deren jeweiligen Ziel weiter konkretisiert. Rollen sind normativ gesteuerte Verhaltenskomplexe, die sich aufgrund der Mitgliedschaft in unterschiedlichen Organisationen ergeben und die Beziehungen zwischen Interaktionspartner_innen, wie etwa zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen, steuern. Da Akteur_innen aufgrund der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Gruppen verschiedene Rollen innehaben, erfüllen diese vor allem die Funktion der situativen Anpassung (vgl. Parsons 1966: 18-21; 1976: 171-177). Edward Shils (1961), ein Schüler von Parsons, hat die eben dargestellten Überlegungen explizit in das Konzept von Zentrum und Peripherie eingebettet. Shils definiert das Zentrum der Gesellschaft wie folgt: „The centre, or the central zone, is a phenomenon of the realm of values and beliefs. It is the centre of the order of symbols, of values and beliefs, which govern the society. It is the centre because it is the ultimate and irreducible; and it is felt to be such by many who cannot give explicit articulation to its irreducibility. The central zone partakes of the nature of the sacred” (ebd.: 117).
Das geteilte Deutungs- und Wertesystem wird hier als symbolisches Zentrum interpretiert, dem eine steuernde Funktion zukommt. Es handelt sich dabei um allgemeine Prinzipien, die nicht auf bestimmte Situationen reduzierbar sind. Das Zentrum wird unbewusst anerkannt, gilt als unhinterfragbar und heilig im Sinne Durkheims (vgl. Durkheim 1981 [1912]). Neben diesem Modell kommt jedoch bei Shils noch eine andere Vorstellung von Zentrum und Peripherie zum Tragen. Er weist darauf hin, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsysteme aus einem Netzwerk von Organisationen bestehen. Innerhalb dieser Organisationen gibt es jeweils bestimmte Eliten, die auf Basis systemspezifischer Standards Entscheidungen treffen.44 Diese Standards interpretiert Shils (1961: 118) in An44 Somit lässt sich sagen, dass die Differenzierung nach Zentrum und Peripherie bei Shils im Ansatz bereits auf Funktionssysteme übertragen wird, wenngleich der Aspekt der systemübergreifenden Unterscheidung klar im Vordergrund steht. Die Differenzierung von Zentrum und Peripherie innerhalb funktionaler Teilsysteme wird im nächsten Teil des Buches genauer dargestellt.
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lehnung an Parsons als eine Konkretisierung allgemeiner systemübergreifender Werte. Sie werden also nicht als autonome systemspezifische Codes verstanden. Stattdessen existieren allgemeine Prinzipien, die die unterschiedlichen Operationsmodi miteinander verbinden. Während das Zentrum oder die Zentren, im Sinne der unterschiedlichen Eliten innerhalb der jeweiligen Funktionssysteme, die Kontrolle bestimmter Funktionen innehaben, ist die Peripherie der Teil der Gesellschaft, über den diese Kontrolle ausgeübt wird. Shils (ebd.: 124) geht daher davon aus, dass die Verinnerlichung des Wertmusters und der damit einhergehende Konsens im Zentrum am größten sind und in Richtung Peripherie sukzessive abnehmen. Dies zeigt, dass mit der Unterscheidung nach Zentrum und Peripherie auch ein Moment der hierarchischen sozialen Differenzierung mitschwingt. Die unterschiedlichen Eliten sind in die Spezifikation normativer Prinzipien eingebunden. Dadurch spiegeln konkrete Regeln tendenziell die Interessen und Vorstellungen dieser Gruppen stärker wider als die der peripheren Akteur_innen. Die fortschreitende Modernisierung, vor allem der Prozess der Demokratisierung, ermöglicht jedoch eine immer weiter reichende Partizipation aller Bevölkerungsschichten innerhalb der unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereiche. Dies hat zur Konsequenz, dass immer größere Teile der Bevölkerung die zentralen Wertmuster verinnerlichen und an der kollektiven Willensbildung beteiligt sind. Dadurch werden normative Prinzipien aber auch immer häufiger in Frage gestellt (vgl. ebd.: 125). Das Maß kritischer Reflexion nimmt sukzessive zu und der Anteil des Unhinterfragbaren schrumpft zunehmend. Symbolische Zentren scheinen sich also gerade dann zu verflüchtigen, wenn sie ihre Wirkmächtigkeit für große Bevölkerungsgruppen gewinnen. Dies ist, wie bereits angedeutet, mit dem Prozess der Modernisierung verbunden – vor allem mit der fortschreitenden funktionalen Differenzierung, der sozialkulturellen Pluralisierung und Individualisierung. Der Aspekt der funktionalen Differenzierung verweist auf die zunehmende Bedeutung der Eigenlogik unterschiedlicher Teilsysteme und ist am schärfsten von Luhmann (1997a: 595775) herausgearbeitet worden. Durch diesen Prozess werden Individuen aus dem Zwang einzelner sozialer Gruppen befreit und genießen neue Freiheiten im Schnittpunkt sozialer Kreise (vgl. Simmel 1908: 305-344). Mit sozialkultureller Pluralisierung ist die Entstehung einer Vielzahl neuer Deutungsmuster und Lebensstile gemeint, die sich aufgrund des Zusammenbruchs traditioneller Ordnungs- und Sinnsysteme sowie der neu gewonnen Freiheit des Individuums entwickeln können. Jürgen Habermas (1981) hat diese drei Aspekte aufgenommen und theoretisch verarbeitet. Laut Habermas kommt es im Zuge der gesellschaftlichen Rationalisierung zu einer Versprachlichung des Sakralen (vgl. ebd.: 118-141). Unter
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Rückgriff auf Durkheim zeigt er, wie sich die sakrale Moral im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung immer mehr verflüssigt. Die Autorität des heiligen normativen Kerns verliert zunehmend ihre Bindung und geht schrittweise in einen Prozess der demokratischen Konsensfindung über. Moralische Grundlagen werden dabei immer abstrakter, wobei als Endstadium eine Art Legitimation durch Verfahren gesetzt wird, in der vor allem dem Recht eine besondere Bedeutung zukommt. Für Habermas sind es der herrschaftsfreie Diskurs sowie die Demokratie als Staatsform, die das neue Fundament der moralischen Ordnung bilden. Aus einer Glaubensgemeinschaft, die eine Art totale Institution darstellt, entsteht eine Kommunikationsgemeinschaft, in der traditionelle Normen zunehmend problematisiert werden können. Die wichtigsten Veränderungen, die mit diesem Prozess verbunden sind, lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: erstens die Verdrängung des sakralen Wissens, also eine zunehmend rationale, reflexive Einstellung gegenüber der Tradition; zweitens die Trennung zwischen Legalität und Moralität, was bedeutet, dass Werte und Normen immer universeller und abstrakter werden und somit von den Interaktionsteilnehmer_innen selbst spezifiziert werden müssen. Traditionelle Wertsysteme werden durch formale Rechtssätze ersetzt, wodurch das Recht zum zentralen Mechanismus sozialer Integration avanciert. Drittens kommt es zur Ausbreitung des für die Moderne typischen Individualismus, durch den das autonome Subjekt und dessen Selbstverwirklichung stärker in den Vordergrund rücken (vgl. ebd.: 164). Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit treten auseinander und entwickeln sich zu eigenen Teilbereichen. Dies zeigt sich z.B. im Verhältnis zwischen Kultur und Gesellschaft durch die Trennung von Staat und Kirche. In diesem Kontext kommt es zur Entkopplung von System und Lebenswelt. Die Rationalisierung und interne Differenzierung der Lebenswelt dient dabei quasi als Ausgangspunkt der fortschreitenden funktionalen Differenzierung.45 Bei der Entstehung von funktionalen Teilsystemen ist vor allem die Institutionalisierung spezifischer Kommunikationsmedien von entscheidender Bedeutung. In den unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären wird nun nicht mehr mittels Sprache, sondern mittels systemeigener Medien kommuniziert. Die Lebenswelt ist somit der einzige Ort verständigungsorientierten Handelns geworden, während die Systeme dieser als weitgehend normfreie Bereiche gegenüberstehen (vgl. ebd.: 229-257). Der Begriff der Entkopplung oder Differenzierung bringt zum Ausdruck, dass in modernen Gesellschaften die Lebenswelt nur noch einen Teilbereich darstellt, während sie in früheren Entwicklungsstufen die ganze Gesellschaft um45 Genauer müsste man wohl von einer Wechselwirkung zwischen lebensweltlicher Rationalisierung und Entkopplung von System und Lebenswelt sprechen.
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spannt. Denkt man dieses Argument konsequent zu Ende, scheint es problematisch, noch von einer gesamtgesellschaftlichen Mitte zu sprechen, selbst wenn es sich dabei um ein diskursives Verfahren handelt. Habermas (1981: 489-547) verdeutlicht die besondere Schärfe dieses Problems, wenn er auf die Kolonialisierung der Lebenswelt durch Systeme hinweist. Die funktionalen Teilsysteme werden nicht nur nicht mehr durch die Lebenswelt gesteuert, sondern beherrschen diese teilweise nach jeweils spezifischen Imperativen. Habermas’ Entkopplungs- sowie seine Kolonialisierungsthese können als überspitzte Darstellung der Probleme der funktionalen Differenzierung und Rationalisierung interpretiert werden. In diesem Kapitel nehmen wir jedoch an, dass kulturelle Wertvorstellungen und vor allem das Recht nach wie vor als systemübergreifende Deutungs- und Ordnungsmodelle dienen und die unterschiedlichen sozialen Felder durchdringen. Auch Habermas weist auf die besondere Qualität des Rechts als Vermittlungsinstanz zwischen System und Lebenswelt hin: „Mit den über Steuerungsmedien ausdifferenzierten Subsystemen schafften sich die systemischen Mechanismen ihre eigenen, normfreien, über die Lebenswelt hinausreichenden Sozialstrukturen. Diese bleiben freilich über die Basisinstitution des bürgerlichen Rechts mit der kommunikativen Alltagspraxis rückgekoppelt“ (ebd.: 275).
Insgesamt verweist Habermas vor allem auf die besondere Bedeutung des demokratischen Staates, des Rechts und der Autonomie des Individuums in modernen Gesellschaften. Durch den Diskurs orientiert an kommunikativer Rationalität sollen rechtliche Grundlagen moralisch rückgebunden sein. Der normative Kern wird also durch einen Prozess ersetzt, der sich im Idealfall durch gleiche Partizipationschancen aller auszeichnet. 18.2 Staatsbürgerschaft als Zentrum moderner Nationalstaaten Auch Parsons erkannte die eben beschriebenen Veränderungsprozesse, verknüpfte sie jedoch durch ein weniger abstraktes und idealisiertes Modell mit dem Problem der sozialen Integration. Im Anschluss an Durkheim weist Parsons (1971: 26-27) darauf hin, dass es im Zuge der fortschreitenden Modernisierung nicht zu einer Erosion allgemeiner normativer Prinzipien, sondern vielmehr zu einer Wertegeneralisierung kommt. Dies ermöglicht es, allgemeine Werte auf spezifische Situationen sowie auf unterschiedliche soziale Teilsysteme zu übertragen. Auf der anderen Seite können diese kaum mehr als wirkmächtige symbolische Zentren gedacht werden. In der Alltagsrealität blitzen Grundideen, wie etwa die formale Gleichheit, zwar immer wieder auf, sie geben den Menschen jedoch kaum mehr konkrete Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmodelle
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vor. Das Gleiche gilt für unterschiedliche soziale Felder, die sich im Zuge der wachsenden Bedeutung formaler Organisationen und professioneller Berufsgruppen mehr und mehr nach systeminternen Logiken entwickeln. Wie bereits angedeutet, postulieren wir in diesem Abschnitt sowohl eine gesamtgesellschaftliche als auch die individuelle Bedeutung der ‚Mitte der Gesellschaft‘. Auf der Makroebene müssen funktionale Teilsysteme sowie unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen in ein integriertes Ganzes transformiert werden. Auf der Akteursebene besteht das Problem darin, eine Gesellschaft von Fremden (vgl. Simmel 1908: 509-512) in eine Gemeinschaft zu verwandeln. Es wird daher angenommen, dass es einen zentralen Mechanismus gibt, der hinsichtlich der Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmodelle aller Mitglieder eine besondere Rolle spielt. In Parsons’ Theorie werden die eben geschilderten Aufgaben innerhalb der gesellschaftlichen Gemeinschaft gelöst (vgl. Parsons 1966; 1969a; 1971; 2007). Mit diesem Modell lehnt sich Parsons an ein traditionelles Begriffspaar der soziologischen Theorie an, das von Ferdinand Tönnies (1963) entwickelt wurde. Letzterer wies dabei auf die steigende Bedeutung ideeller Zentren im Übergang von der Gemeinschafts- zur Gesellschaftsordnung hin. Aus der Gemeinschaft des Blutes wird Schritt für Schritt eine Gemeinschaft des Geistes, die sich von festgeschriebenen verwandtschaftlichen Beziehungen löst (vgl. ebd.: 14-16). Auch Helmut Plessner (2001), der in Grenzen der Gemeinschaft die besondere Bedeutung der Gesellschaft für die Entfaltung der individuellen Autonomie hervorhebt, betont die Notwendigkeit einer Sachgemeinschaft des Geistes (vgl. ebd.: 92). Diese drückt sich laut Plessner durch ein geteiltes Wert- und Normsystem aus, das in Form des Rechts institutionalisiert ist. Im Vergleich zu traditionellen Sozialordnungen zeichnet sich die Sachgemeinschaft laut Plessner vor allem durch ihren universalistischen Charakter aus. Die Frage, die sich dabei jedoch stellt, ist, wie sich im Kontext der sozialen sowie funktionalen Differenzierung und Individualisierung noch ein gesamtgesellschaftliches Kollektivbewusstsein herstellen lässt. Durkheim (1988 [1893]) verdeutlichte bereits in seiner Studie zur Arbeitsteilung, dass die Gesellschaft als Kollektiv zu weit vom Individuum entfernt ist, um es normativ integrieren zu können. Gleichzeitig bringt er jedoch die Hoffnung zum Ausdruck, dass Berufsgruppen, also Organisationen, diesen integrativen Part zumindest teilweise übernehmen können (vgl. ebd.: 41-75). Im Unterschied zu Durkheim sieht Parsons die Lösung des Problems nicht in den Berufsgruppen. In modernen Gesellschaften stehen sich aufgrund der Vielzahl von Mitgliedschaften in Organisationen unterschiedliche konkurrierende Loyalitäten gegenüber. Um auf gesamtgesellschaftlicher Ebene für Integration zu sorgen, muss die Gesellschaft daher nach wie vor als ein einziges Kollektiv organisiert sein. Dieses Kollektiv, das sich laut Parsons im Nationalstaat mani-
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festiert, erhält den Namen ‚gesellschaftliche Gemeinschaft’ und wird von ihm selbst als Zentrum der Gesellschaft bezeichnet (vgl. Parsons 1966: 10; 1971: 1112). Die gesellschaftliche Gemeinschaft erfüllt die Funktion der normativen Integration und basiert wie jedes andere Kollektiv auf Mitgliedschaft. Das Recht fungiert als Repräsentant der sozialen Ordnung und ist über die Verfassung an das allgemeine Wertesystem gekoppelt. Wie in jeder anderen Gruppe müssen die Akteur_innen zur Partizipation innerhalb der gesellschaftlichen Gemeinschaft motiviert werden. Dies geschieht durch die Zuweisung des Mitgliedsstatus in Form der Staatsbürgerschaft, mit dem bestimmte Rechte und Pflichten verbunden sind. So entstehen Erwartungen sowie Verpflichtungen, die direkt an die Alltagsrealität der Akteur_innen anknüpfen. Die Staatsbürgerschaft ist Basis einer neuen Form der sozialen Identität und Solidarität. Gleichzeitig ermöglichen universelle Rechtssätze die Spezifikation des Rechts auf unterschiedliche Felder und Gruppen (vgl. Parsons 1966: 9-18; 1971: 8-26; Joppke 1999: 6; Sciortino 2005: 111-116). Um den Aspekt der Mitgliedschaft schärfer herauszuarbeiten, greift Parsons auf Thomas H. Marshalls (1964) Konzept der Staatsbürgerschaft zurück. Staatsbürgerschaft beinhaltet demnach drei Komponenten: bürgerliche, politische und soziale Rechte. Das erste Element betrifft die Definition sowie die Garantie allgemeiner Rechte, etwa der Freiheitsrechte oder des Eigentumsrechts. Die politische Kategorie beinhaltet die Möglichkeit, sich an der kollektiven Entscheidungsfindung zu beteiligen. Der soziale Aspekt ist als eine Art Recht auf Wohlfahrtsleistungen zu verstehen (vgl. Parsons 1969a: 258-261). Das erste Element verweist auf die Anerkennung des/der Anderen als Rechtsperson. Der Aspekt der aktiven politischen Partizipation deutet darauf hin, dass Legitimation nun nicht mehr per se besteht, sondern immer nur dann vorhanden ist, wenn kollektive Entscheidungen im Rahmen eines spezifischen Verfahrens stattfinden. Das Modell der Staatsbürgerschaft trägt also der Wertegeneralisierung, der Legitimation durch Verfahren sowie der individuellen Autonomie Rechnung. Soziale Rechte in Form von Wohlfahrtsleistungen sollen dafür sorgen, dass grobe strukturelle Benachteiligungen aufgehoben werden und somit jede/r Bürger_in Gebrauch von ihren/seinen Rechten machen kann. Zusätzlich zu diesen drei Komponenten betont Parsons, dass kulturelle Rechte, vor allem das Recht auf Bildung, für die gesellschaftliche Integration von besonderer Bedeutung sind (vgl. Parsons/Platt 1973; Mackert/Müller 2007: 13). Durch den Fokus auf individuelle Bürgerrechte werden verwandtschaftlich geregelte Solidaritätsbeziehungen zunehmend von vertraglichen Beziehungen verdrängt. Dies führt zur Entstehung einer neuen Form der Solidarität, die primär auf der freiwilligen Mitgliedschaft in unterschiedlichen Organisationen beruht
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(vgl. Parsons 1969a: 258). Soziales Kapital 46 ist nicht länger eine konstante Größe innerhalb geschlossener Gruppen, sondern wird verallgemeinert und für alle Mitglieder der gesellschaftlichen Gemeinschaft zugänglich. Generalisiertes Vertrauen wird dadurch zur Schlüsselvariablen der sozialen Integration. Diese Form des Vertrauens wird durch die gruppenübergreifende Mitgliedschaft in freiwilligen Vereinigungen produziert und erneuert (vgl. Hearn 1997: 97-134; Wenzel 2005). Die abstrakte Solidarität gegenüber dem Nationalstaat wird somit durch die soziale Einbindung in eine Vielzahl von freiwilligen Vereinigungen ergänzt. Parsons passt also Durkheims Hoffnung auf die Berufsgruppen an den amerikanischen Kontext an, in dem lokale Organisationen schon immer eine besondere Rolle hinsichtlich der sozialen Integration gespielt haben (Tocqueville 1985: 78100; Münch 1993: 383-389). Zusammen bilden bürgerliche, politische, soziale und kulturelle Rechte den Kern moderner Nationalstaaten. Hinter diesem Konzept verbirgt sich die Idee der Chancengleichheit als universalistischer Mechanismus sozialer Integration. Soziale und kulturelle Rechte dienen dabei vor allem dazu, die Bedingungen der Chancengleichheit herzustellen. Individuelle Bürgerrechte, so die These, durchdringen alle gesellschaftlichen Teilbereiche, wie die Politik, die Wirtschaft sowie das Bildungssystem. In jedem dieser Felder müssen die Partizipationsmöglichkeiten aller Mitglieder nach dem Prinzip der Chancengleichheit garantiert werden, um die nötige Akzeptanz oder Legitimität zu erhalten. Individuelle Bürgerrechte lassen sich daher als gesamtgesellschaftliches Zentrum denken, das die Peripherie, in Form der unterschiedlichen sozialen Felder, mit Konsensanforderungen konfrontiert. Gleichzeitig bildet die Staatsbürgerschaft den Kern einer gesellschaftlichen Gemeinschaft, die neben der formalrechtlichen Identität auch den Moment der sozialen Identifikation und Zugehörigkeit beinhaltet. Individuelle Bürgerrechte lassen sich hier als rechtliches und symbolisches Zentrum denken, welches für die Peripherie, also für die einzelnen Staatsbürger_innen, als wichtige Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsorientierung dient. Dabei herrscht im Idealfall ein wechselseitiges Anerkennungsverhältnis. Personen innerhalb des national verfassten Territoriums werden unter bestimmten Vorraussetzungen als Staatsbürger_innen anerkannt und akzeptieren gleichzeitig die damit verbundenen Anforderungen.
46 Mit sozialem Kapital sind nicht nur soziale Netwerke gemeint, sondern vor allem die damit verbundene Möglichkeit, Vertrauen und Kooperation innerhalb einer Gemeinschaft zu erzeugen und zu erneuern. Dieses Verständnis sozialen Kapitals ist vor allem in den USA sehr geläufig. Das Ausmaß bürgerschaftlichen Engagements wird hier häufig als Gradmesser sozialer Integration verwendet (vgl. Putnam 1995a; 1995b; 2000; Bennett 1998).
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Auf Basis dieser Unterscheidung lassen sich auch gesellschaftliche Gruppen hinsichtlich ihrer staatsbürgerschaftlichen Partizipationschancen nach dem Modell von Zentrum und Peripherie unterscheiden.47 Der integrierte Kern der Gesellschaft zeichnet sich durch eine starke Identifikation mit den staatsbürgerschaftlichen Pflichten sowie durch ein hohes Maß an Rechtskonformität aus. Gleichzeitig verfügt er über alle staatsbürgerlichen Rechte und genießt ausreichende Partizipationschancen, um diese auch tatsächlich wahrnehmen zu können. Der rechtlich und sozial anerkannten Kerngruppe steht die marginalisierte Peripherie gegenüber. Doch auch für sie bildet die Idee der Staatsbürgerschaft ein wirkmächtiges symbolisches Zentrum. Die Ideale der Chancengleichheit und universellen Integration wecken Erwartungen, mit denen randständige Gruppen das Zentrum konfrontieren (vgl. Mackert/Müller 2007: 13-14). In diesem Zusammenhang hebt Parsons (1971: 16) die Bedeutung der Gerichte sowie der rechtlichen Berufsgruppe hervor. Das Rechtssystem sowie kulturelle Institutionen und Organisationen (z.B. Schulen und Universitäten) können von ausgegrenzten Gruppen genutzt werden, um von der Peripherie ins Zentrum der Gesellschaft zu rücken. Aus diesem Grund bewegen sich gesellschaftliche Konflikte tendenziell von der wirtschaftlichen und politischen Dimension in Richtung der rechtlichen und kulturellen Sphäre (vgl. Parsons 1971: 14; Alexander 2005: 99). Parsons (1969a) analysiert diesen Prozess für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Hier arbeitet er das universalistische Inklusionsversprechen und die faktische Exklusion von Afroamerikaner_innen als zentrale Ursache des Konflikts heraus. Er schreibt: „Such movements tend to gather strength as strains or conflicts between normative requirement of inclusion and the factual limitation on it are translated into pressure to act. […] The ultimate social grounding of the demand for inclusion lies in the commitment to the values that legitimize it” (ebd.: 264).
Die Bürgerrechtsbewegung in den USA erzwang die Durchsetzung gleicher bürgerlicher Rechte durch parlamentarische Rechtsklagen, die vor allem ab den 50er-Jahren zu großen Erfolgen führten. Daraufhin veränderte sich schrittweise die öffentliche Meinung und es kam zu einer Reihe von politischen Reformen, die vor allem der Durchsetzung der neuen Rechtssetzung dienten. Dabei wurde unter anderem das Recht der politischen Partizipation für Afroamerikaner_innen gesichert. Anschließend wurden soziale und kulturelle Rechte in Form der so genannten ‚Affirmative Action’-Programme initiiert, um strukturelle Ungleich47 Wir schließen im letzten Teil des Buches an diese Überlegungen an, wenn es um die Marginalisierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden in der Europäischen Union geht. Siehe Kapitel 29.
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heiten zu beseitigen (Münch 1993: 439-451; Wilson/Dilulio 2006: 124-149). Der universelle Anspruch der vollen Staatsbürgerschaft war der zentrale Orientierungsrahmen dieser Bewegung. Durch den Verweis auf dieses Grundprinzip erhielt die Bewegung ihre Legitimität und breite Unterstützung innerhalb der gesellschaftlichen Gemeinschaft der USA. 18.3 Analytischer Gehalt des Modells Bisher wurden bürgerliche, politische, soziale und kulturelle Rechte als gesamtgesellschaftliches Zentrum moderner Nationalstaaten herausgearbeitet. Bürgerliche und politische Rechte bringen dabei das Prinzip der Chancengleichheit zum Ausdruck, soziale und kulturelle Rechte dienen der Herstellung und Wiederherstellung der Chancengleichheit bei starken strukturellen Ungleichheiten. Der universelle Charakter individueller Bürgerrechte ermöglicht die Entstehung grenzübergreifender Netwerke freiwilliger Vereinigungen, wodurch Vertrauen und Solidarität in der täglichen Interaktion erzeugt und reproduziert werden kann. Dadurch entwickelt sich eine gesellschaftliche Gemeinschaft jenseits partikularer Loyalitäten. Da die Mitgliedschaft innerhalb der Gesellschaft durch die Staatsbürgerschaft geregelt wird, ist es sinnvoll, die damit verbundenen Rechte als Zentrum der Gesellschaft zu interpretieren. Diese Rechte verbinden unterschiedliche soziale Felder und durchdringen die Alltagsrealität aller Mitglieder. Das Beispiel der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zeigt, dass sich die hier dargestellte Vorstellung von Zentrum und Peripherie sehr gut für die Analyse gesellschaftlicher Konflikte und sozialen Wandels eignet. Im Folgenden wird ein aktueller Konflikt, nämlich die Unruhen in den französischen Vororten unterschiedlicher Städte, den so genannten Banlieues, unter Verwendung dieses Konzepts untersucht. Am Beispiel der französischen Banlieues werden wir verdeutlichen, dass das Modell der Staatsbürgerschaft als wirkmächtiges symbolisches Zentrum interpretiert werden kann. Dabei dient das von Robert K. Merton (1996a) ausgearbeitete Modell der strukturellen Spannungen als zusätzliche Erklärungshilfe. Laut Merton sind strukturelle Spannungen eine wichtige Ursache abweichenden Verhaltens. Er weist darauf hin, dass nicht nur die absolute Unzufriedenheit, sondern auch die Relation zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und der tatsächlichen Situation berücksichtig werden muss. Die Diskrepanz zwischen gesellschaftlich institutionalisierten Zielen und der Realisation dieser Ziele erzeugt Unzufriedenheit und einen enormen Handlungsdruck. Dieser äußert sich häufig in abweichendem Verhalten, vor allem dann, wenn legitime Mittel der Zielerreichung nicht zugänglich sind.
19. Émeutes in den Banlieues – der Weg ins Zentrum ?
Im Oktober und November 2005 kam es in den Vororten von Frankreichs Großstädten wie Paris, Toulouse, Lyon zu gewalttätigen Ausschreitungen von Jugendlichen (Émeutes48) von beträchtlichem Ausmaß. Jugendunruhen sind in Frankreichs Banlieues49 kein neues Phänomen. Bereits in den 1980er und 1990erJahren fanden – vorwiegend in den Regionen um Lyon und Paris – größere Unruhen und Auseinandersetzungen zwischen Ordnungskräften und Gruppen von Jugendlichen statt (vgl. Lagrange 2006). Die Émeutes im Herbst 2005 können aber aufgrund ihrer Intensität und der anhaltenden nationalen und internationalen Aufmerksamkeit, die sie generierten, als symptomatisch für tiefgreifende soziale Spannungen in den Banlieues gedeutet werden. Auslöser war der Unfalltod zweier Jugendlicher mit Migrationshintergrund, die sich am 27. Oktober 2005 in ein Transformatorengebäude flüchteten, um einer Identitätskontrolle durch die Polizei zu entkommen, und dort einen tödlichen Stromschlag erlitten (vgl. Eckardt 2007: 32-33).50 In Reaktion auf dieses Ereignis zündeten Jugendliche aus dem Ort Clichy-sous-Bois, in dem die beiden Verstorbenen gelebt hatten, bereits am selben Abend mehrere Fahrzeuge an. Trotz eines friedlichen Schweigemarsches als Mahnung und Demonstration gegen willkürliche Polizeikontrollen am 29. Oktober in Clichy hielten die nächt48
Im Folgenden wird überwiegend der französische Begriff Émeutes für die Geschehnisse von 2005 verwendet, da dieser die deutschen Bezeichnungen Aufruhr, Ausschreitung, Krawall, Unruhe und Tumult vereint und somit größeren Interpretationsspielraum bietet. 49 Der Begriff Banlieue stammt ursprünglich aus dem Altfranzösischen und kann wortwörtlich mit dem deutschen Wort Bannmeile übersetzt werden (le ban = der Bann; la lieue = die Meile). Der Begriff entstand im 17. Jahrhundert als Bezeichnung für die im damaligen feudal-monarchischem System entstandenen Gebiete rings um eine Stadt (von einer Meile Durchmesser), die noch innerhalb des städtischen Herrschaftsbereichs lagen (vgl. Schmid 2004: o.A.). Heute wird mit Banlieue die Gesamtheit der Vororte einer Großstadt in Frankreich bezeichnet (z.B. la banlieue parisienne). Dieser Interpretation folgen wir in diesem Buch, wobei wir den Plural des Wortes für die Gesamtheit der Vororte verschiedener französischer Großstädte verwenden. 50 Nicht ohne Bedeutung für die darauf folgenden Reaktionen war die medial geführte Auseinandersetzung zwischen dem damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy und Bewohner_innen der Banlieue. Im Juni 2005 besuchte Sarkozy die Pariser Vorstadt La Courneuve und drohte, „die verlorenen Territorien der Republik“ (Zitzmann 2005: o.A.) mittels eines „Hochdruckreinigers“ zu säubern (vgl. Wiegel 2008: o.A.). Bei einem weiteren Besuch der Banlieue kurz nach dem Ausbruch der Unruhen bezeichnete er die Jugendlichen als „Gesindel“ (vgl. Eckardt 2007: 33).
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_20, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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lichen Unruhen an und breiteten sich innerhalb weniger Tage auf Nachbarbezirke und andere Pariser Vororte aus. 51 Ab dem 3. November erreichten die Émeutes nationale Dimensionen und griffen auf Städte wie Lille, Toulouse, Straßburg und Bordeaux über (Mucchielli 2006: 15). Ziele der nächtlichen Gewalt stellten vor allem Autos, öffentliche Gebäude wie Schulen und Kindergärten sowie soziale Einrichtungen dar. Dabei kam es immer wieder zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und den Protestteilnehmern, bei denen es sich zumeist um Gruppen männlicher jugendlicher Banlieue-Bewohner mit Migrationshintergrund handelte (Becker 2006). Die Ankündigung politischer Maßnahmen – ein so genanntes Sofort- und Notprogramm der Regierung Villepins sowie die Zusicherung von staatlichen Wiederaufbauhilfen in den betroffenen Gebieten – blieben wirkungslos. Die Ausschreitungen intensivierten sich stetig. Der Tod eines Außenstehenden am 7. November führte schließlich zur Reaktivierung des Notstandsgesetzes durch das Parlament. Dieses wurde zum letzten Mal 1955 im Zuge des Algerienkriegs verhängt. In der darauffolgenden Nacht erreichten die Unruhen sowohl hinsichtlich der materiellen Zerstörung als auch in Bezug auf die Präsenz der Jugendgruppen auf Frankreichs Straßen ihren Höhepunkt. Für die Stadtgebiete von Paris und Lyon wurde im Rahmen der Notstandsgesetze ein Versammlungsverbot ausgesprochen; dies führte jedoch kein Ende der Proteste herbei. Am 17. November, drei Tage nachdem Jacques Chirac in einer Rede an das französische Volk eine Rückbesinnung auf die Werte der Republik anmahnt und den Notstand um drei Monate verlängert hatte, verkündete das Innenministerium die ‚Wiederherstellung der Normalität‘. Insgesamt wurden in der Zeit vom 29. Oktober bis zum 17. November 126 Polizist_innen verletzt, 9.267 Autos zerstört und 2.832 Festnahmen durchgeführt (vgl. Eckardt 2007). Bereits wenige Tage nach dem Beginn der Émeutes begann man auf mehreren Ebenen mit der Ursachenerforschung Diese hat sich inzwischen in verschiedenen Aufsätzen und Abhandlungen niedergeschlagen (vgl. z.B. Hartung 2005; Wieviorka 2005; Becker 2006; Piriot/Majchrzak 2006; Lagrange/Oberti 2006; Wacquant 2004; Mucchielli 2006; Hartmann 2008; Castel 2009). Einige Male taucht dabei der in diesem Buch leittragende Gedanke einer Zentrum-PeripherieKonstellation auf. So äußert z.B. Robert Castel (2009: 104): „Die Peripherie, in Frankreich die Banlieue, stellt damit gleichsam eine Verdichtung von Rassenfrage und sozialer Frage dar, weil die von der einen wie von der anderen am stärksten Betroffenen dort in großer Zahl leben müssen. Dass sich diese Fragen besonders akut an der Peripherie stellen, bedeutet aber nicht, dass es sich um ein peripheres Problem handelt, im Gegenteil. Die in der Banlieue aktuell zu beobachtende Zusammenballung von Formen der Rassen-
51 Zu beachten ist dabei die Tatsache, dass das Innenministerium die entsprechenden Beamten sofort von jeglicher Schuld frei gesprochen hatte.
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diskriminierung und gravierendsten Faktoren sozialer Auflösung bewirkt, dass über der gesamten Gesellschaft die Gefahr der Spaltung schwebt.“
Loïc Wacquant (2004: 156) greift bereits in einem früheren Aufsatz über die Unruhen in Frankreichs Vorstädten auf eine periphere Semantik zurück, wenn er erklärt: „Die verbale Gewalt dieser Jugendlichen wie auch ihr Vandalismus müssen als Antwort auf die sozioökonomische und symbolische Gewalt verstanden werden, der sie sich infolge der Verbannung an einen diffamierten Ort ausgesetzt fühlen.“
Im Anschluss an die vorherigen theoretischen Überlegungen gilt es hier einen Erklärungsansatz für die gewaltsamen Unruhen in den Banlieues zu entwickeln. Paris sowie weitere französische Großstädte werden als Abstraktum und Symbol für ein Zentrum betrachtet, nämlich das der gesellschaftlichen Gemeinschaft, an dem sich die Jugendlichen orientieren und zu dem sie hinstreben. Einem Großteil von ihnen bleibt die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft verwehrt – trotz ihrer rechtlichen Anerkennung als französische Staatsbürger_innen. Wir nehmen an, dass die Diskrepanz zwischen den formalen Bürgerrechten und der tatsächlichen Situation zu strukturellen Spannungen führte, die sich 2005 in Form der beschriebenen gewaltsamen Proteste entluden. Dabei wird die lokale Konzentration sozioökonomischer sowie ethnischer Unterschiede als Hauptursache der gesellschaftlichen Marginalisierung der Bewohner_innen in den Banlieues identifiziert. 19.1 Ursachen für die Émeutes: ein Blick in die Banlieues Die öffentliche Auseinandersetzung mit den immer wieder aufflammenden Émeutes weist ein breites Meinungsspektrum hinsichtlich der Ursachen auf. Einerseits lassen sich groteske monokausale Argumentationen finden, wonach z.B. die, obwohl gesetzlich untersagte, in Frankreich praktizierte PolygamieTradition der Einwanderer_innen aus Westafrika zur Kriminalität der Migrantenkinder geführt habe. Dabei wird erklärend hinzugefügt, dass die Jugendlichen aufgrund des mangelnden (Wohn-)raumes in den Hochhaussiedlungen die meiste Zeit auf der Straße verbrächten und sich dort kriminellen Praktiken zuwenden würden. Der Schriftsteller und Philosoph Alain Finkelkraut wiederum deutet die Unruhen als ethnisch-religiöse Revolten und antirepublikanische Pogrome (vgl. Müller 2006: 47). Auch die Medien tragen zu derartigen Interpretationen bei. Insbesondere die Berichterstattung in Fernsehen, Internet und Zeitungen während und den Herbstunruhen 2005 produzierte bzw. verstärkte diverse Schreckbilder in den Köpfen der Menschen, wie das einer „französischen Vorstadtintifa-
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da“ (ebd.). Diesen und ähnlichen Erklärungsversuchen liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Bewohner_innen der Banlieues ein Werte- und Normensystem vertreten, das nicht zu dem in Frankreich institutionalisierten Modell passt. Dadurch werden sie als nicht-integrierbare moralische Außenseiter_innen deklariert. Andererseits existieren differenzierte soziologische Ursachenergründungen, die Phänomene wie Armut, soziale Unsicherheit, sozioökonomische Diskriminierung und soziale Ausgrenzungserfahrungen als Hauptantriebe für die Émeutes beinhalten (vgl. z.B. Wacquant 2004; Lagrange/Oberti 2006; Mucchielli 2006; Castel 2009). Auf diese unterschiedlichen Analysen wird im Folgenden Bezug genommen, um ein möglichst umfassendes Bild der ‚Banlieue-Situation‘ zu zeichnen. Dabei erfolgt zunächst ein historischer Abriss über die Entstehung der Banlieues bzw. der letztlich bedeutsamen so genannten zones urbaines sensibles (sensible Stadtviertel). Im Anschluss daran wird die Situation der Bewohner bzw. der Jugendlichen in diesen Bezirken in Bezug auf folgende Punkte untersucht: Bildungs- und Beschäftigungssituation, Verhältnis zwischen Jugendlichen und Polizei, politisches Engagement sowie sozialräumliche Situation. Abschließend wird die Bedeutung der medialen Berichterstattung über die Banlieues hinsichtlich der Unruhen untersucht. Entstehungsgeschichte der Banlieues Die Vorstädte, die heute als heruntergekommene Wohnsiedlungen und soziale Brennpunkte wahrgenommen werden, wurden einst als Innovation betrachtet; als Zeichen der modernen städtischen Wohn- und Lebensform. Im Wesentlichen legten drei Architekten den gedanklichen Grundstein für die Hochhaussiedlungen am Rande der französischen Großstädte: Le Corbusier versuchte Städte in getrennte Bereiche wie Wohnen, Arbeiten und Freiraum zu gliedern. Tony Garnier schuf die Ideen der cité industrielle sowie der Zoneneinteilung und Henri Porst führte mit dem modernen Stadtzentrum in Rabat das erste groß angelegte Stadtplanungsprogramm durch. Umgesetzt wurden diese neuen Formen des Urbanismus allerdings erst nach dem zweiten Weltkrieg, als in Frankreich aufgrund von Kriegsschäden und zerfallender Bausubstanz eine große Wohnungsnot aufkam. Die seit Ende der 1950er-Jahre errichteten Hochhaussiedlungen, grand ensembles genannt, galten als ideale Lösung für das Problem. Sie boten bei geringen Kosten größtmöglichen Komfort und waren sowohl unter den Zuzügler_innen aus der Provinz wie auch unter repatriierten Algerienfranzösinnen und -franzosen, aufstiegsorientierten jungen Angestellten bzw. Beamt_innen und unter Vertreter_innen der integrierten Arbeiterklassen sehr begehrt. Von 1958 bis
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1973 entstanden 193 derartiger zones à urbaniser en priorité (ZUP – Stadtentwicklungsgebiete) mit circa zwei Millionen Mietwohnungen (vgl. Castel 2009: 18-20). Bereits zu Beginn der 1960er-Jahre begannen die Bewohner_innen diese Form von Lebensraum, ohne Straßen, ohne Räume für Geselligkeit und Austausch in den gebauten „Schlafstädten“ (ebd.) zu kritisieren. Diese ersten Unzufriedenheitsbekundungen können heute als eine Art Frühwarnsystem der Probleme in den Banlieues gedeutet werden. Die lokale Ausgrenzung ist unproblematisch, solange sie nicht mit dauerhaften strukturellen Benachteiligungen korreliert. Nach und nach setzten jedoch Ethnisierungs- und Verarmungsprozesse in den Hochhaussiedlungen ein, die ihnen den Namen quartiers sensibles (sensible Viertel) einbrachten (vgl. ebd.: 21). Ersteres Phänomen ist auf die veränderte Einwanderungspolitik zurückzuführen: Die seit den 1950er-Jahren erfolgende Arbeitsmigration, vor allem von alleinstehenden Männern aus der Maghreb-Region, wandelte sich Mitte der 1970er-Jahre in eine Migration, die hauptsächlich dem Zweck der Familienzusammenführung diente. Für diese Familien bildeten die Hochhaussiedlungen aufgrund ihres günstigen Preis-Leistungsverhältnisses die bevorzugte Auffangstation. Der Verarmungsprozess wurde durch das Ende der Vollbeschäftigung Mitte der 1970er-Jahre hervorgerufen, der zuallererst die Arbeitsmigrant_innen und das einheimische Arbeitermilieu betraf. Diese Personenkreise verblieben daher in den Siedlungen, die darüber hinaus einen Zuzug von Gruppen ohne Zugang zum privaten Wohnungsmarkt aufgrund dessen extrem hoher Mieten erfuhren. Gleichzeitig zogen besserverdienende Bewohner_innen ins mittelstädtische Umland bzw. in die Innenstädte (vgl. Müller 2006: 44; Eckardt 2007): „So wurden die Großsiedlungen zu Orten sozialen Abstiegs. Parallel zur Flucht der Bessergestellten gab es eine Sedimentierung der in die Armut abrutschenden Schichten. Die ‚soziale Mischung‘ wird zu einem Mischmasch von Bevölkerungsgruppen, bei denen sich alle Benachteiligungen häufen, sowohl in Bezug auf die wirtschaftlichen Ressourcen wie auch auf die Arbeitsmarktposition oder die Fähigkeit, auf eigenen Füßen zu stehen“ (Castel 2009: 23).
Anfang der 1990er-Jahre erschien eine umfassende Studie zu den französischen Vorstädten, durchgeführt von den Soziologen Didier Lapeyronnie und Francois Dubet, in der auf den bereits begonnenen Zerfall dieser „peripheren Arbeiterviertel“ (Wacquant 2004: 151) und die Entstehung eines „Randgruppenmilieus“ hingewiesen wird (Dubet/Lapeyronnie 1994). Ab 1995 werden die Großraumsiedlungen als zones urbaines sensibles (ZUS – städtische Problemgebiete) deklariert. Insgesamt existieren derzeit 751 dieser ZUS, wobei als Hauptkriterien für eine Einstufung als städtisches Problemgebiet eine hohe Arbeitslosigkeit und ein geringes Bildungsniveau der Bewohner_innen gelten (vgl. Eckardt 2007: 34).
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Nach dem Stand von 2009 leben 4,46 Millionen Menschen in den ZUS, das sind circa 8 % der französischen Bevölkerung. Innerhalb der Banlieues findet also eine starke Konzentration und Verfestigung struktureller Ungleichheiten statt. Die einstigen städtebaulichen Innovationen wurden zu Problemgebieten deklariert, was ihre periphere Lage symbolisch unterstreicht. Bereits in 1980er-Jahren wurde eine Sozialpolitik speziell für diese Zonen entwickelt, die Politik der sozialen Stadteinteilung (dévelopement social des quartiers – DSQ). Diese wird seit 1990 als sozialintegrative Stadtpolitik (politique de la ville) weitergeführt und soll mit Hilfe von städtebaulichen Veränderungen wie Abrissen oder Sanierungen den stadtgesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherstellen (vgl. Frey 2007). Von 1994 bis 2001 wurden insgesamt 29,1 Milliarden Euro in diese Politik investiert (vgl. Eckardt 2007: 36, nach Simon/Lévy 2005: 83-92). Dieses Projekt kann als ein Versuch verstanden werden, der lokalen sowie der symbolischen Randlage der Banlieues entgegenzuwirken. Kritiker_innen werfen der Politik jedoch vor, versagt zu haben, da sektorale Maßnahmen das ihrer Meinung nach eigentliche Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht beseitigen können. Zudem wird an der politique de la ville kritisiert, lediglich auf städtebauliche Problematiken und nicht auf soziale Aspekte ausgerichtet zu sein (vgl. Castel 2009: 29; Giroud 2005: 49-58). Im Anschluss an die hier dargestellten theoretischen Überlegungen muss man jedoch festhalten, dass diese Programme durchaus an einem Punkt ansetzen, der für Integration innerhalb der gesellschaftlichen Gemeinschaft von Bedeutung ist. Wechselseitige Anerkennung und Solidarität gegenüber Mitgliedern wird in der täglichen Interaktion sowie durch die Teilnahme in lokalen Vereinigungen produziert und erneuert. Die räumliche Trennung zwischen den Banlieues und den jeweiligen Städten steht diesem Prozess im Weg und fördert gesellschaftliche Polarisierungs- und Marginalisierungstendenzen. Die sozialintegrative Stadtpolitik versucht räumliche Grenzen zu überwinden und somit den wechselseitigen Kontakt unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zu fördern. Dies ermöglicht die Entstehung von gruppenübergreifenden Netzwerken und Organisationen, die als Basis gesellschaftlicher Solidarität dienen. Zudem wird der Zugang zum gesellschaftlichen Zentrum durch die Nähe zu kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Einrichtungen (z.B. Schulen, Universitäten, Museen, Kaufhäuser, Ämter) erleichtert. Erst dadurch können staatsbürgerliche Rechte für einen immer größeren Teil der Bevölkerung realisiert werden.
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Die Situation in der Banlieue In verschiedenen Studien und Debatten über die Banlieue, die ZUS sowie deren Bewohner_innen wird häufig angeführt, dass sich die jugendlichen Akteur_innen der Unruhen als Bürger_innen zweiter Klasse fühlen, da die von ihnen erlebte Welt durch Ausgrenzung, Diskriminierung und Haltlosigkeit gekennzeichnet ist (vgl. u.a. Mucchielli 2006: 23; Wacquant 2004: 192; Veit 2006). Demgegenüber spricht sich Castel (2009) kritisch gegenüber der Verwendung des Begriffs ‚Ausgrenzung‘ aus. Nach seinem Verständnis von Ausgrenzung als Exklusion aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang aufgrund des Fehlens der notwendigen Rechte zur Teilhabe an der Gesellschaft, träfe dieses Phänomen auf die Jugendlichen der Banlieue nicht zu, da die meisten über die französische Staatsbürgerschaft verfügen (vgl. ebd.: 32-33). Er fügt jedoch an, dass die Jugendlichen sich „auch nicht innerhalb der Gesellschaft [befinden], weil sie darin keine anerkannte Stellung einnehmen und viele von ihnen offenbar nicht in der Lage sind, sich eine solche Position zu verschaffen“ (ebd.: 36; Hervorhebung im Original). Statt hier das Begriffspaar von Inklusion und Exklusion zu verwenden, scheint es also sinnvoll, mit dem Modell von Zentrum und Peripherie zu arbeiten. Wie alle anderen französischen Bürger_innen besitzen die Bewohner_innen der Banlieues bürgerliche, politische, soziale und kulturelle Rechte und können sich somit formal zur Kerngruppe der gesellschaftlichen Gemeinschaft zählen. Gleichzeitig scheinen sowohl die soziale Anerkennung und Identität dieser Gruppe als auch deren tatsächliche Partizipationschancen stark von den formalrechtlichen Bedingungen abzuweichen, wodurch sie in die Peripherie gedrängt werden. a) Bildungssituation Es fällt auf, dass Bildungseinrichtungen wie Schulen in besonderem Maße im Mittelpunkt der zerstörerischen Aufmerksamkeit der Jugendlichen standen. Als Begründung der Wut gegenüber diesen staatlichen Institutionen wird von Mucchielli (2006), Wieviorka (2006) und Castel (2009: 46-47) angeführt, dass die dort vermittelten republikanischen Werte, wie liberté, egalité, fraternité (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) Erwartungen bei den Jugendlichen schüren, die in der Realität nicht erfüllt werden: „It is at this point that injured dignity serves a purpose, in maintaining the legitimacy of a reward system that cannot deliver its promises“ (Sennett/Cobb 1972: 155).
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Dies bestätigt die These, dass die Staatsbürgerschaft als zentraler Wahrnehmungs-, Deutungs-, und Handlungsrahmen innerhalb nationalstaatlich verfasster Gesellschaften dient. Die formale Anerkennung als Staatsbürger_innen erzeugt Erwartungen, die vor allem für viele Jugendliche in den Banlieues nicht erfüllt werden. Die Diskrepanz zwischen Erwartung und tatsächlicher Situation führt zu Spannungen, die sich in gewaltsamen Protesten entladen können. Eine sozio-demographische Statistik, die über die aufgegriffenen Unruhestifter_innen in der Banlieue Saint-Denis erstellt wurde, verdeutlicht dies: So war jede/jeder vierte aufgegriffene Jugendliche vorzeitig von der Schule abgegangen und nur 44% aller aufgegriffenen noch im Bildungssystem integriert (vgl. Eckardt 2007: 33). Castel (2009: 44-45) führt darüber hinaus Daten an, wonach männliche Schüler mit afrikanischem Migrationshintergrund die größte Verlierergruppe im Bildungssystem darstellen. Im Jahr 1998 z.B. waren 43 Prozent derjenigen männlichen Jugendlichen, die die Schule ohne Bildungsabschluss verließen, maghrebinischer Herkunft und 51 Prozent schwarzafrikanischer Herkunft gegenüber nur 17 Prozent einheimischer männlicher Jugendlicher. Die Ballung sozial-struktureller Ungleichheiten innerhalb der Banlieues hat in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. So kam es unter anderem zu einem ansteigenden Wegzug finanziell besser gestellter bzw. aufsteigender Familien aus den sensiblen Zonen. Dies wird nicht zuletzt auf das 1963 eingeführte System der carte scolaire (Schülerverteilungsplan) zurückgeführt, in der festgeschrieben ist, dass Jugendliche eine Schule in der Nähe ihres Wohnortes besuchen müssen. Eltern, die mit der sozialen Zusammensetzung ihres Wohnortes unzufrieden sind, schulen ihre Kinder daher häufig in Privatschulen ein oder wechseln ihren Wohnort. Dies bedeutet einen Verlust an Heterogenität und die Verfestigung eines niedrigen sozialen Status und Bildungsniveaus in den Schulen der ZUS (vgl. Oberti 2006). Zudem ist in Frankreich der Erfolg im Bildungssystem nach wie vor stark an die Schichtzugehörigkeit der Eltern gekoppelt (vgl. Ott 2006: 122). Die strukturelle Randlage der Banlieues wird also reproduziert und durch den Wegzug aufsteigender Schichten zusätzlich verschärft. Bereits zu Beginn dieser Entwicklung initiierte die französische Regierung im Jahr 1982 im Rahmen der politique de la ville eine Sonderpolitik der Zones d’education prioritaire (ZEP – bildungspolitische Prioritätsgebiete). Ziel dieser Politik ist es, das Schulversagen in den problematischen Gebieten durch Projekte im Bereich der Bildungs- und Erziehungsarbeit unter Mitwirkung lokaler Akteur_innen zu bekämpfen (vgl. Lauer 2003: 14-15). Schulen und andere Träger dieser Gebietsprojekte erhalten hierfür zusätzliche finanzielle und materielle bzw. personelle Mittel. Eine erste Evaluation des Programms im Jahr 1998 konnte jedoch keinen übermäßigen Erfolg der Maßnahmen feststellen. Als Hauptprobleme wurden eine instabile Lehrerschaft und ein Überschuss an jungen,
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unerfahrenen Lehrer_innen in den ZEP ermittelt. Aktuellere Evaluationen (2002) messen dem Programm ebenfalls weitestgehende Erfolglosigkeit zu, wobei die „ungünstige […] soziale […] Zusammensetzung der Schülerbevölkerung“ (ebd.: 15) als Erklärung herangezogen wird. Der Staat versuchte also durch unterschiedliche Programme soziale und kulturelle Rechte in den Problemgebieten durchzusetzen. Der mangelnde Erfolg scheint dabei auf die tiefgreifenden und stark lokal konzentrierten strukturellen Ungleichheiten zurückzuführen zu sein. So fehlt es z.B. an Akteur_innen, die als Vermittler zwischen Zentrum und Peripherie auftreten können. b) Beschäftigungssituation Die eben beschriebenen Problematiken im Bereich der Bildung von Jugendlichen (mit Migrationshintergrund) aus den ZUS setzen sich im ökonomischen Feld fort. Nach Informationen von Frank Eckardt (2007: 34) war die Arbeitslosenquote in den ZUS im Jahr 2004 mit 20,7 Prozent doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt. Andere Quellen geben den Anteil der Bezieher_innen von RMI (Revenu minimum d’insertion – Sozialhilfe) in den Banlieues sogar als drei Mal so hoch wie im nationalen Durchschnitt an (vgl. Castel 2009: 23; Sapoval 2006). Die Arbeitslosenrate für Jugendliche unter 25 Jahren lag im Jahr 2004 sogar bei 36 Prozent (vgl. Eckardt 2007: 34). Eine Betrachtung ausgewählter Unruhe-Orte bestätigt die Annahme, dass Émeutes vor allem in den ZUS ausbrechen, in denen Jugendliche von einer prekären Arbeitssituation betroffen sind (vgl. Castel 2009: 41). Weiterhin finden laut Jean-Louis Dubois-Chabert (2005) auch Akademiker_innen aus den ZUS nur sehr schwer eine Arbeit, die ihren Qualifikationen auch entspricht. Soziale Haltlosigkeit aufgrund einer unsicheren Zukunft auf dem Arbeitsmarkt trifft somit nicht nur Jugendliche ohne Qualifikation, sondern auch Jugendliche mit höheren Bildungsabschlüssen. Auch eine Betrachtung der Einkommensverhältnisse bestätigt die oben dargestellten Ungleichgewichte zwischen den ZUS und dem nationalen Durchschnitt. So liegt nach Angaben Eckardts aus dem Jahr 2007 das durchschnittliche Einkommen eines Banlieue-Haushalts bei 10.540 Euro gegenüber dem nationalen Durchschnitt von 17.184 Euro pro Haushalt (vgl. Eckardt 2007: 34). Ferner lebt jeder fünfte Haushalt einer ZUS unterhalb der nationalen Armutsgrenze – im nationalen Durchschnitt jeder zehnte – wobei sich diese Unterschiede innerhalb eines Viertels bzw. einer ZUS noch verstärken (vgl. Sapoval 2006). Stephane Beaud und Michel Pialoux (2006: 23) argumentieren in diesem Zusammenhang, dass das daraus resultierende Gefühl der Hilflosigkeit und des Missmutes über die soziale Situation auch auf jüngere Familienmitglieder übertragen wird, da die
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jungen Menschen als Arbeitssuchende oft bei ihren Eltern und somit in ihrem Viertel bleiben. Als Erklärung für die eben dargestellte Beschäftigungsschieflage zwischen der französischen Durchschnittsbevölkerung und den Bewohner_innen der Banlieues weisen zahlreiche Autor_innen auf eine Diskriminierung aufgrund von ethnischen Faktoren oder sozialräumlichen Umständen hin (vgl. Castel 2009: 42; s. auch Amadieu 2004; Wacquant 2004; Cediey/Foroni 2007). Die Ergebnisse verschiedener empirischer Studien auf diesem Gebiet sowie die Emeutés 2005 erzeugten politischen Handlungsdruck, was im März 2006 zur Verabschiedung des Gesetzes für die Chancengleichheit (loi pour l’egalité des chances) führte. Das Gesetzespaket beinhaltet unter anderem den anonymen Lebenslauf bei der Rekrutierung neuer Mitarbeiter_innen für Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeiter_innen. Somit dürfen weder Foto, noch Namen oder Auskunft über Herkunft, Geschlecht oder die Adresse in den Bewerbungsunterlagen enthalten sein. Außerdem soll auf Grundlage des Gesetzes eine Agence nationale pour la cohésion sociale et l’égalité des chances (ANCSEC – Behörde für sozialen Zusammenhalt und Chancengleichheit) eingerichtet werden und es sollen weitere Maßnahmen zur Förderung von Bildungs- und Arbeitsmarktchancen für Jugendliche aus sozial schwierigen Milieus ergriffen werden (vgl. Engler 2007: 6). Diese Maßnahmen können als besonders radikaler Versuch der politischen Durchsetzung des Prinzips der Chancengleichheit interpretiert werden, die der Anerkennung aller Franzosen als volle Staatsbürger dienen soll. Die eben beschriebenen sozialen Probleme in den ZUS haben sich stark verfestigt und werden daher von vielen Betroffenen als unveränderbar empfunden: „Wir haben einen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt, wo es keine andere Lösung gibt, als das gesamte Ding zu zerstören. […] Wenn du dich innerlich nicht gut fühlst, wenn du dich äußerlich nicht gut fühlst, du keine Arbeit hast, nichts gut für dich läuft, dann fängst du an, Sachen kaputt zu machen, so ist es. Den Scheiß, den sie machen, die Müllkippe und den Eingang des Korridors zu reparieren, die Farbe, das hat keinen Zweck: es wird sofort wieder abgerissen. Es ist ein Abfallhaufen. Das ganze Ding ist ein Problem… du mußt das ganze Ding zerstören“ (Wacquant 2004: 156, zitiert nach Euvremer/Euvremer 1985: 8-9).
Der Zugang zum Zentrum der gesellschaftlichen Gemeinschaft scheint also für viele Bewohner_innen der Banlieues verschlossen, obwohl sie diesem rein formal, auf Grund ihrer staatsbürgerlichen Rechte, angehören müssten. Die daraus resultierenden gewaltsamen Ausschreitungen können daher als ein Protest gegen das Zentrum interpretiert werden, das seine Legitimität in der Peripherie teilweise eingebüßt hat. Dies führt zu einer Zunahme öffentlicher Unsicherheit sowie zu einer steigenden Sicherheitsobsession der französischen Gesellschaft. Die politische Antwort auf derartige Zustände besteht, neben den beschriebenen sozialen Programmen, auch in einer Erhöhung der Polizeipräsenz in den ZUS und repres-
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siver Maßnahmen gegen die Jugendlichen (vgl. Wacquant 2004: 166-168; Castel 2009: 66). Dadurch werden die eben beschriebenen Verhältnisse verfestigt und ein gesamtgesellschaftlicher Polarisierungsprozess vorangetrieben, der Frankreich in Bürger_innen erster und zweiter Klasse zu spalten droht. c) Verhältnis zwischen Jugendlichen und Polizei Die Vielfalt und die hohe Präsenz polizeilicher Spezialeinheiten in den ZUS werden von den Bewohner_innen der Banlieues im Allgemeinen und den Jugendlichen im Besonderen als Provokation aufgefasst. Sie erleben die Polizeibeamt_innen vorwiegend als Hersteller_innen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit anstatt als Beschützer_innen und/oder Ansprechpartner_innen in Not (vgl. Mohammed/Mucchielli 2006: 58-66). Das teilweise harte Vorgehen der Polizei gegen Unruhestifter_innen oder der Umgang mit verdächtigten jungen ZUS-Bewohner_innen in Form von Leibesvisiten, Ausweiskontrollen und Befragungen mit nicht selten rassistischem Unterton verstärken bestehende Ressentiments auf Seiten der Jugendlichen – und bei entsprechender Reaktion auch bei den Polizist_innen: „Die Herkunft aus der cité löst reflexartig den Verdacht von Devianz aus, wenn nicht sogar von sofortartiger Schuld“ (Wacquant 2004: 158). Konfrontative Begegnungen bleiben nicht zuletzt bestehen, da Vermittler zwischen Jugendlichen und Polizei fehlen und es bisher auch an präventiver Arbeit mangelt (vgl. Weber-Lamberdière 2006). Der polizeiliche Umgang mit den jugendlichen Bewohner_innen der ZUS ist also stark durch Ausgrenzungsrituale gekennzeichnet, die die periphere Lage der Banlieues, also deren geringe soziale Anerkennung und Partizipationschancen innerhalb der französischen Gesellschaft, zusätzlich verstärken. Das Verhalten der Polizei verdeutlicht den Jugendlichen, dass sie keine vollwertigen Mitglieder der gesellschaftlichen Gemeinschaft sind, sondern ein Dasein am Rande der Gesellschaft fristen. Dies führt zu einer geringen Identifikation mit den politischen und kulturellen Einrichtungen, wie z.B. der Polizei oder dem Schulsystem. Dass sich diese Unzufriedenheit dann in gewaltsamen Protesten niederschlägt, hängt unter anderem mit der geringen Chance auf politische Partizipation der Banlieues zusammen. d) Politisches Engagement Obwohl zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2007 eine hohe Wahlbeteiligung unter den Banlieue-Bewohner_innen verzeichnet wurde, ist die politische Aktivität in den Banlieues im Allgemeinen sehr gering. Auch die Jugendlichen der Émeutes stammen aus Bevölkerungskreisen ohne tatsächlichen Zugang zu legi-
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timen Vertretungsorganen wie z.B. linksregierten Kommunen oder Parteien, „deren Aufgabe es gewesen wäre, solche Jugendliche, die heute einen bedeutenden Teil der neuen classes populaires ausmachen, aufzunehmen und auszubilden“ (Castel 2009: 55, nach Masclet 2003; Hervorhebung bei Castel). Wacquant (2004: 156) argumentiert, dass die Bewohner_innen der Banlieues politischen Institutionen und Lokalpolitiker_innen in ihrer Fähigkeit bzw. Bereitschaft, Probleme zu lösen, misstrauen und sich daher im Laufe der letzten Jahrzehnte immer mehr von diesen abgewandt haben. Seit Beginn der 1980er-Jahre organisieren sich die Bürger_innen der Banlieues stattdessen unabhängig von bestehenden linken Parteien in sozialen Bewegungen, um ihre Handlungsfähigkeit zurück zu gewinnen. Dieser Selbstorganisations-Anspruch würde jedoch, so Eckardt (2007: 37), in der nationalen Politik negiert. Die daraus folgende Entmutigung der Banlieue-Bürger_innen fördere wiederum die Entfremdung von jeglicher politischer Beteiligung. Als eine Folge dieser politischen und gesellschaftlichen Entfremdung sieht Eckardt (2007: 37-38) den Prozess der zunehmenden Kulturalisierung, also die Entstehung von Gruppen, die sich verstärkt ethnisch bzw. religiös definieren und sich durch die Verwendung von Begriffen wie ‚Schwarze‘ oder ‚Eingeborene der Republik‘ (les indigènes de la République) auf konzeptualisierte Identitäten (wie das ‚Schwarzsein‘) berufen. Von diesen Gruppen wird ein Stigma aufgegriffen und zur Abgrenzung von der französischen Gesellschaft genutzt (vgl. Castel 2009: 52; Glasze/Thielemann/Meyer 2007). Der französischen Identität auf Basis der Staatsbürgerschaft werden somit neue Identitäten entgegengesetzt. Die gewalttätigen Ausschreitungen können, zumindest teilweise als Folge der unzureichenden politischen Ausdrucksmöglichkeit von Bürger_innen (hier Jugendlichen) der Banlieues interpretiert werden (vgl. Hartmann 2008: 512). Durch den gewaltsamen Protest werden bestehende Missstände angegriffen sowie soziale Ungerechtigkeiten publik gemacht, wodurch vermutlich ein Handlungsdruck auf Seiten der Regierung ausgeübt werden soll. Da der legitime Weg ins Zentrum verschlossen scheint, bedient man sich alternativer Handlungsmöglichkeiten, um Aufmerksamkeit für die Situation in der Peripherie zu erzeugen. Man protestiert gegen die Repräsentationsorgane des Zentrums, wie etwa die Polizei oder unterschiedliche Bildungseinrichtungen. e) Sozialräumliche Ausgrenzung Die beschriebenen strukturellen Probleme erhalten ihre Brisanz u.a. dadurch, dass sie in den Banlieues räumlich konzentriert sind. Die gesellschaftliche Marginalisierung der Bewohner_innen spiegelt sich in der geographischen Randlage dieser Gebiete wider: Die meisten ZUS sind räumlich ausgegrenzt, d.h. sie liegen
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am Rande einer Stadt oder zumindest weit außerhalb des Stadtzentrums. Obwohl inzwischen u.a. durch die politique de la ville für eine verbesserte Verkehrsanbindung der Banlieues an ihr jeweiliges Stadtzentrum gesorgt wurde, bleiben viele dieser abgelegenen Stadtviertel ZUS, d.h. Orte, in denen sich die sozialen Unterschichten häufen. Es kommt in ihnen also zur sogenannten ‚sozialräumlichen Segregation‘ (vgl. Häußermann/Kronauer/Siebel 2004; Dangschat 2000). In der Öffentlichkeit ist in diesem Zusammenhang oft von „Ghettoquartieren“ (Müller 2006: 45) die Rede, was auf Parallelen zu bestimmten amerikanischen Stadtvierteln hinweist, in denen Personen als Ghetto-Bewohner_innen stigmatisiert werden (vgl. Wacquant 2004).52 Laut Wacquant (2004, 2005) und Castel (2009) ist dem jedoch entgegenzusetzen, dass die Banlieues sowie die ZUS multiethnisch zusammengesetzt sind. Während in amerikanischen Ghettos räumliches und rassisches Stigma nicht voneinander zu trennen sind, bezieht sich das Stigma der ZUS-Bewohner_innen ausschließlich auf den Wohnort.53 Sie tragen im Gegensatz zu den farbigen Bewohner_innen der amerikanischen Ghettos kein auffälliges äußeres (physisches) Kennzeichen, das sie als Bewohner_innen dieser Gebiete brandmarkt. Sie können zudem, wenn sie in andere Bezirke der Metropolen fahren, ihr Stigma vorübergehend ablegen, d.h. verbergen: „Deshalb gehen Jugendliche aus den armen Pariser banlieues regelmäßig in die besser angesehenen Gegenden der Hauptstadt und ‚hängen dort ab‘, um ihrem Viertel zu entfliehen. Indem sie Räume durchqueren, die das Leben der höheren Klassen symbolisieren und beinhalten, können sie für ein paar Stunden die Vorstellung von sozialer Inklusion erleben und teilhaben“ (Wacquant 2004: 16; Hervorhebung im Original).54
Auch hier ist es sinnvoll mit dem Begriffspaar von Zentrum und Peripherie zu arbeiten. Die Jugendlichen sind weder Teil der gesellschaftlichen Gemeinschaft, noch befinden sie sich außerhalb dieser Gruppe. Sie nehmen eine Randlage ein, 52 Bezüglich der Ghetto-Debatte in Frankreich siehe z.B. Touraine (1991a; 1991b), Best/Gebhardt (2001) bzw. eine Zusammenfassung bei Wacquant (1995). 53 Wacquant (2004: 154) ermittelte in seinen Interviews diesbezüglich, dass die Banlieues als Orte „wild wuchernde[r] Delinquenz, Immigration und Unsicherheit“ und als Gebiete „‘arabischer‘ Armut und Unordnung“ deklariert werden, „die symptomatisch für die einsetzende ‚Ethnisierung‘ städtischer Räume in Frankreich seien“. 54 Ebenfalls interessant ist das von Wacquant (2004: 164-165) beobachtete Phänomen der Aufwertung der eigenen Person durch Praktiken sozialer Differenzierung innerhalb der Banlieue. Die bessergestellten Bewohner_innen einer ZUS denunzieren diejenigen, die am unteren Ende der sozialen Schichtung stehen und distanzieren sich von diesen ‚eigentlichen‘ Problemfällen, zumeist Ausländer_innen, sozial schwächsten Familien, alleinerziehenden Müttern oder Drogenhändler_innen, um die eigene Person aufzuwerten. So stellte Wacquant für das Beispiel La Courneuve fest, dass die Bewohner_innen des nördlichen Bereichs von La Courneuve die des südlichen als racaille oder caillera bezeichnen, was so viel bedeutet wie ‚Rowdys‘. Dieses Phänomen führt wiederum oft zur Validierung der negativen Außenwahrnehmung im Sinne einer self-fulfilling prophecy.
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orientieren sich am Zentrum, werden aber nur zeitweise als vollwertige Mitglieder anerkannt. Diese Halbintegration, so die These, sorgt für ein hohes Maß an Unzufriedenheit und Frustration. Versprechen und Erwartungen auf der einen Seite und stabile Peripherisierungs-Mechanismen auf der anderen Seite erzeugen einen besonders hohen Problemdruck, der sich in Form gewaltsamer Unruhen entlädt. Castel (2009: 30-31) weist in seiner Kritik am Bild einer sozialräumlichen Aufteilung in wohlhabende Stadt- und verarmte sowie sozial ausgegrenzte Banlieue-Bewohner_innen jedoch auf die differenzierte und komplexe Sozialstruktur in den französischen bzw. europäischen Städten hin. So sind altindustrielle Kleinstädte häufig in ähnlichem oder höherem Ausmaß von Arbeitslosigkeit, Armut und Bildungsschwäche betroffen. Da sie jedoch gegenüber den Banlieues wesentlich weniger mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen, werden die dortigen Probleme seltener wahrgenommen und kaum politisiert. Die Medien fungieren hier also als wichtiger Resonanzverstärker sozialer Probleme, indem sie z.B. darüber mitentscheiden, welche Themen aufgegriffen werden und Gehör finden.55 f) Rolle der Medien „Veränderungen bei Individuen und in der Gesellschaft, die durch Aussagen der Massenkommunikation oder durch die Existenz von Massenmedien entstehen“ werden von Maletzke (1981: 5) als die Wirkung von Medien bezeichnet. Im vorliegenden Fall sind mindestens zwei wesentliche Wirkungsebenen der Medien zu berücksichtigen.56 Einerseits beeinflusst die Art der Berichterstattung über die Banlieue und deren Bewohner_innen die Wahrnehmung dieser durch die Gesellschaft. Die mediale Konstruktion bzw. Verbreitung von Begriffen wie „Trabantenstädte“, „zones urbanes sensibles“ (Schmid 2005) oder boulevard périphérique (Bezeichnung des Autobahnringes, der Paris von den Vororten trennt) führt zur Erzeugung räumlicher Zentrums-Peripherie-Semantiken. Dadurch wird die durch die staatliche politique de la ville und deren Definition problematischer Zonen hervorgerufene Stigmatisierung der Vororte und deren Bewohner zusätz55 Siehe hierzu auch die Ausführungen zur Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie innerhalb des Systems der Massenmedien in Kapitel 23. 56 Besonders deutlich wurde die Wirkungsmacht der Medien bei den Aufständen im Iran seit den Präsidentschaftswahlen im Juni 2009. Hier nutzte die junge Protestbevölkerung vor allem Mobiltelefone und die verschiedenen digitalen Möglichkeiten (Twitter, Blogs, Youtube) als Kommunikationsmittel, da klassische internationale Medien aufgrund einer rigiden Zensur des Regimes ihre Aussagekraft verloren hatten. Auf diese Weise konnte eine Gegenöffentlichkeit zu den staatlichen Medien gebildet und weltweite Solidarität generiert werden (vgl. Friedrichs 2009: o.A.; Schwenk 2009).
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lich verstärkt.57 Andererseits sorgte die mediale Beteiligung während der Émeutes im Jahr 2005 für Multiplikationseffekte. Die detaillierte tägliche Aufzählung brennender Autos und Gebäude sowie das Auflisten der nächtlichen Unruheorte stiftete, verschiedenen Autoren zufolge, die Jugendlichen immer wieder zu neuen Rekorden im territorialen Wettstreit an (vgl. Rötzer 2005a; Hehn 2005; Carvajal 2005): „Wenn man im Fernsehen sieht, was die anderen machen, dann versucht man mit denen auf gleicher Höhe zu sein“ (Carzon 2005: 6). Ähnliche Bedeutung wurden auch den Fotos und Videos, die täglich aufs Neue lodernde Feuer, ausgebrannte Autos, abgebrannte Schulen, Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei und heruntergekommene Banlieues zeigten, zugeschrieben (vgl. Carvajal 2005). Schließlich wirkten die Medien auch durch ihre Präsenz an den Orten des Geschehens. Hier konnten sie von den revoltierenden Jugendlichen, den übrigen Anwohner_innen der ZUS und den Beobachter_innen wahrgenommen und dazu genutzt werden, um individuelle Interessen zu artikulieren, Gegenpositionen zu erklären und Meinungsanhänger_innen zu rekrutieren. In diesem Sinne versuchten sie, „sich selbst zu einer regionalen oder auch globalen Öffentlichkeit und Prominenz zu verhelfen“ (Rötzer 2005b: o.A.). So zitiert z.B. Schmid (2005: o.A.) einen jugendlichen Banlieue-Bewohner, der den „in diesen Tagen in großer Zahl heranrückenden neugierigen Journalisten in die Mikrophone [ruft]: ‚Wir machen so lange weiter, bis Sarkozy zurücktritt‘.“ Diese Art der anhaltenden medialen Aufarbeitung der Émeutes durch Zahlen, Bilder, Interviews und Schlagzeilen bewirkte „eine kollektive, nicht mehr nur nationale, sondern internationale Aufmerksamkeit, das dem Abenteuer, mit dem sich nun Nacht für Nacht ein aufregender Sinn des Lebens und für die Wirklichkeit finden lässt, eine Grundlage von Bedeutung und auch Leistung verschafft“ (Rötzer 2005a: o.A.). Es kann vermutet werden, dass das fortwährende mediale Interesse am Geschehen den Jugendlichen das Gefühl gibt, einen Schritt von der Peripherie – verstanden als Mangel an Partizipationschancen in der Wirtschaft, der Politik, der gesellschaftlichen Gemeinschaft sowie des Bildungssystems – ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit zu gelangen (vgl. Schubert 2005). Das Mediensystem bietet die Möglichkeit, die strukturelle Marginalisierung kurzzeitig zu überwinden. Die Orientierung an den ‚Taten’ anderer Jugendlicher kann dabei auch als ein entstehendes Gemeinschaftsgefühl unter den randalierenden Jugendlichen gewertet werden, die sich als Teil eines gemeinsamen Kampfes begreifen und dadurch zusätzlich motiviert werden. Auch den Medienvertreter_innen, z.B. Reporter_innen der TV-Stationen France 2 und France 3 wurde 57
Zur Medienkonstruktion in den Banlieues siehe z.B. Bachmann und Baiser (1989).
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bewusst, wie sehr sie auf das Geschehen wirkten, indem sie z.B. einen Wettbewerb unter jugendlichen Brandstifter_innen erzeugten. Sie stellten daher das Senden der Bilder und Bilanzen von den Unruhenächten eine Woche nach Ausbruch der Unruhen ein (vgl. Carvajal 2005). Nach dem Motto: „Was es nicht in den Medien gibt, das existiert nicht“ (Rötzer 2005b: o.A.), könnte man die nachlassenden Gewaltausbrüche als Zeichen der besonderen Rolle der Medien in diesem Konflikt interpretieren. Die losen unorganisierten Proteste in den ZUS erhalten also erst durch die mediale Berichterstattung ihre gesamtgesellschaftliche Relevanz. Gleichzeitig entsteht innerhalb der Protestgruppe das Bewusstsein für gemeinsame Probleme und Ziele, also eine Art geteilte Ideologie. Die Medien ermöglichen es einer strukturell benachteiligten Gruppe in der Öffentlichkeit Gehör zu finden, von der diese ansonsten weitgehend ausgeschlossen ist.
20. Die Émeutes als Konflikt um das Zentrum
Émeutes sind in der französischen Geschichte keine Seltenheit. Auch Unruhen, in denen Jugendliche die Hauptakteur_innen darstellen, sind wiederholt aufgetreten. Die Umstände und Ursachen für die ‚Krawall-Freudigkeit‘ der jungen Menschen sind vielfältig. Der Fokus der vorangegangenen Kapitel lag auf den Émeutes im Oktober und November 2005. Im engeren Sinne wurden das Leben in der Banlieue (oder in den ZUS) aus wirtschaftlicher, politischer, sozialer und sozialgeographischer Perspektive beleuchtet und somit Erklärungsmöglichkeiten für die Unruhen eröffnet. Stellvertreter_innen für eine Seite des gesellschaftlichen Übels und derzeit Hauptleittragende sind die Jugendlichen in den ZUS. Das Ziel ihres Aufbegehrens, so die Annahme, ist der Weg aus der Peripherie ins Zentrum der gesellschaftlichen Gemeinschaft. Es geht um die Möglichkeit der gleichberechtigten Teilhabe innerhalb der französischen Gesellschaft, die vielen Jugendlichen aus den Banlieues trotz der Staatsbürgerschaft als Hauptinklusionsmechanismus verwehrt wird. Gleichzeitig haben sie aber bereits Erfahrungen mit ‚dem anderen möglichen Leben‘ gemacht. Sie besitzen somit eine Vergleichsmöglichkeit von verschiedenen Graden gesellschaftlicher Teilhabe. Ihre kulturelle, soziale, politische und wirtschaftliche Peripherisierung ist ihnen bewusst; sie löst Unzufriedenheit, Hilflosigkeit und Wut aus. Daher drängen sie – in letzter Instanz mit Gewalt – ins Zentrum. Die Jugendlichen in den ZUS sind nicht primär als Ausgegrenzte, in Ghettos lebende Gruppen, zu betrachten. Die meisten von ihnen besitzen theoretisch sämtliche formalen Rechte eines französischen Bürgers/einer französischen Bürgerin. Die Jugendlichen sind ebenfalls nicht völlig aus der Dominanzkultur ausgeschlossen. Sie teilen die Interessen und Bestrebungen ihrer Altersgruppe, d.h. den Geschmack am Konsum, das Interesse an Geld, das Streben nach Familiengründung und einem erfolgreichen Leben in gutsituierten Verhältnissen.58 Sie vertreten damit die Werte und Ziele der französischen Gesellschaft, d.h. zumindest der breiten Bevölkerung. Sie sind in staatlichen Institutionen sozialisiert und wohnen auf französischem Staatsgebiet. 58 Erhebungen aus dem Jahr 1992 unter Jugendlichen mit algerischem Migrationshintergrund sagen aus, dass 87 Prozent der Befragten Französisch als ihre Muttersprache sehen und sich 68 Prozent zudem als ‚Laizist_innen‘ erklären, gegenüber 70 Prozent der Jugendlichen französischer Herkunft (vgl. Castel 2009: 34, nach Blanc-Chaléard 2001: 106).
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_21, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Alexander Hirschfeld, Uta Lehmann „Das Problem dieser Jugendlichen ist also nicht, dass sie außerhalb der Gesellschaft stehen. Das ist weder in Bezug auf den von ihnen bewohnten Raum der Fall (Vorstadtsiedlung ist kein Ghetto) noch in Bezug auf ihren Status (viele sind französische Bürger und keine Ausländer). Sie befinden sich aber auch nicht innerhalb der Gesellschaft, weil sie darin keine anerkannte Stellung einnehmen und viele von ihnen offenbar nicht in der Lage sind, sich eine solche Position zu verschaffen. Wenn es eine Revolte der Verzweiflung gegeben hat, dann in der Überzeugung, keine Zukunft zu haben, der notwendigen Mittel beraubt zu sein, um als vollwertige Gesellschaftsmitglieder zu gelten. Ihr Exil ist ein inneres, das sie dazu führt, ihr Verhältnis zu den Möglichkeiten und Werten, die die französische Gesellschaft für sie verkörpert, negativ, in Form von unerfüllten Erwartungen zu leben“ (Castel 2009: 36; Hervorhebung im Original).59
Die Jugendlichen in den ZUS repräsentieren also den Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie innerhalb der französischen Gesellschaft, der sich im Innenleben der Betroffenen widerspiegelt. Die formale Zugehörigkeit zum Zentrum, in Form der Anerkennung als Staatsbürger_innen, und die faktische Verbannung aus dem Zentrum erzeugen einen enormen Handlungsdruck, der sich aufgrund der fehlenden Möglichkeiten das Zentrum auf konventionellem Weg zu erreichen, in gewaltsamen Protesten manifestiert. Wie im Text immer wieder deutlich wurde, ist diese These in vielerlei Hinsicht an die bestehende Literatur zu den Banlieues bzw. den Emeutés anschlussfähig. Unterschiedliche Autor_innen betonen immer wieder die Halbintegration und die daraus resultierende Frustration, v.a. unter jugendlichen Banlieu-Bewohner_innen. Das Modell von Zentrum und Peripherie auf Basis staatsbürgerlicher Rechte ermöglicht es uns, diesen Konflikt theoretisch zu fassen und eine allgemeine Interpretationshilfe zu liefern. Auf Basis der hier dargestellten theoretischen Überlegungen erscheint vor allem die lokale Isolation der Banlieues als problematisch, da deren Bewohner_innen aus den sozialen Netzwerken der gesellschaftlichen Gemeinschaft ausgeschlossen sind und Integration daher kaum in alltäglicher Praxis gelebt werden kann. Außerdem fehlt es an grundlegenden Voraussetzungen – wie etwa einer gebildeten Elite – um den Weg von der Peripherie ins Zentrum zu beschreiten. An diesem Punkt stößt man auch an die Grenzen des hier vorgestellten Ansatzes. Die Vorstellung der Bürgerrechte als symbolisches und normatives Zentrum hilft, die gewaltsamen Unruhen zu verstehen und zu interpretieren. Gleichzeitig wird deutlich, dass in der französischen Gesellschaft eine Reihe von Ausschlussmechanismen existiert, die über die Aspekte der Bürgerrechte und der Integration in grenzübergreifende Netzwerke hinausgehen. Parsons Modell der gesellschaftlichen Gemeinschaft vernachlässigt tief verwurzelte strukturelle Ungleichheiten auf deren Basis neue Arten der sozialen Marginalisierung entstehen 59 Hier greift die von Wacquant (2004: 153) herausgearbeitete Dimension der „organisatorischen Dichte und Vielfalt“, d.h. dem Zusammenhang zwischen der Erfüllung der Grundbedürfnisse und Erwartungen der Bewohner und ihrem Gefühl der gesellschaftlichen Teilhabe/Inklusion oder aber Exklusion von der übrigen Gesellschaft.
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können. So werden beispielsweise alte Formen der Stigmatisierung aufgegriffen und fortwährend neue produziert, die die Staatsbürgerschaft überlagern und teilweise unterlaufen. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der in diesem Teil des Buches nur unzureichend berücksichtigt wurde, ist die funktionale Differenzierung der Gesellschaft. In ihrem Zusammenhang erscheint die Dominanz eines zentralen Integrationsmechanismus (wie der Staatsbürgerschaft) der sozialen Realität nicht ausreichend gerecht zu werden. Deshalb eröffnen die folgenden Kapitel eine Perspektive auf die polyzentrische Struktur der modernen Gesellschaft. In deren Kontext verflüchtigen sich allerdings Marginalisierungen sozialer Gruppen keineswegs. Auf die hier behandelte Thematik kommen wir anhand weiterer empirischer Beispiele im letzten Teil des Buches noch einmal zurück. Dies geschieht dann jedoch vor dem Hintergrund funktionaler Differenzierung, welche im Folgenden auf die Begriffe Zentrum und Peripherie hin untersucht wird.
5. Teil: Zentrum und Peripherie innerhalb funktionaler Teilsysteme Lukas Becht, Johannes Geng, Alexander Hirschfeld
21. Funktional differenzierte Gesellschaft als polyzentrisches Sozialsystem
Im vorherigen Kapitel wurde versucht, die Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie auf die Ebene des Nationalstaates zu übertragen. Demnach können hier das Recht, vor allem individuelle Bürgerrechte, als Zentrum der Gesellschaft gedacht werden. Die rechtliche Verankerung der individuellen Chancengleichheit in allen sozialen Feldern bindet unterschiedliche Subsysteme an den normativen Kern. Gleichzeitig produzieren individuelle Bürgerrechte Rechte und Pflichten für die Mitglieder eines Staates, wodurch sich normative Prinzipien direkt in die Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmodelle der Akteur _innen einschreiben. Diese Vorstellung weist jedoch eine Reihe blinder Flecken auf. Eines der wichtigsten Defizite stellt die mangelnde Berücksichtigung der funktionalen Differenzierung dar. In modernen Gesellschaften entwickeln sich Politik, Recht, Wirtschaft sowie andere Subsysteme nach jeweils spezifischen Operations-Mechanismen. Im Bereich der Wirtschaft sind staatsbürgerliche Rechte primär in Bezug auf den wirtschaftlichen Erfolg relevant, im Rechtssystem geht es meist lediglich um die formale Frage nach Recht und Unrecht. Beide Systeme sind dem Anspruch gesellschaftlicher Solidarität und Integration gegenüber weitgehend indifferent. Nimmt man diese radikale Position funktionaler Differenzierung ein, hat es keinen Sinn mehr, noch von einem gesamtgesellschaftlichen Zentrum zu sprechen. Stattdessen scheint es angemessener, nach einer Vielzahl unterschiedlicher Zentren und Peripherien Ausschau zu halten. Betrachtet man etwa das Rechtsystem, so fällt auf, dass es vor allem die Gerichte sind, die hier die wichtigsten Funktionen monopolisieren und entlang des Codes ‚Recht/Unrecht’ Entscheidungen treffen. Im Bereich der Politik ist es der Staat, der diese Leitfunktion erfüllt. Nur innerhalb der Staatsorganisation und durch das jeweils amtierende Parlament können kollektiv bindende Entscheidungen getroffen werden. Im Bereich der Wirtschaft kommt den Banken die eben beschriebene Rolle zu. Niklas Luhmann hat die besondere Bedeutung dieser Organisationen erkannt und sie zum Ausgangspunkt einer internen Differenzierung von Funktionssystemen in Zentrum und Peripherie gemacht. Bestimmte Organisationen und Professionen befinden sich demnach im Zentrum der unterschiedlichen sozialen Subsysteme, da sie sich klar an den je spezifischen Leitdifferenzen (z.B. Recht/Unrecht) und D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_22, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Programmen (z.B. formale Rechtssätze) orientieren und Entscheidungen entlang dieser Richtlinien treffen müssen. Die Peripherie der unterschiedlichen Teilsysteme ist demgegenüber durch weniger klare Strukturen gekennzeichnet. Hier herrscht kein Entscheidungszwang entlang systemspezifischer Kriterien, weshalb ganz unterschiedliche Interessen berücksichtigt werden können (vgl. Luhmann 1993: 320-337; Hahn 2008: 416-420). Die interne Differenzierung nach Zentrum und Peripherie ermöglicht es sozialen Systemen, ihre strukturellen Grenzen zu reproduzieren und gleichzeitig flexibel auf unterschiedliche Umwelteinflüsse reagieren zu können. Darüber hinaus bietet dieses Modell viele weitere wichtige Einsichten, beispielsweise hinsichtlich der systemtheoretischen Analyse sozialen Wandels.60 Daher werden wir in diesem Teil des Buches die Differenzierungsform von Zentrum und Periphere aus systemtheoretischer Perspektive genauer darstellen, weiter ausarbeiten und an zwei Beispielen exemplifizieren.61 Im nächsten Kapitel wird das Konzept von Zentrum und Peripherie innerhalb funktionaler Teilsysteme im Rahmen Luhmanns allgemeiner Systemtheorie hergeleitet (Kap. 22). Danach nutzen wir das Modell für eine Analyse der Massenmedien. Dabei werden die Unterschiede und Wechselwirkungen zwischen partizipativem und professionellem Onlinejournalismus herausgearbeitet (Kap. 23). Abschließend werden wir das politische System genauer beleuchten. Hier wird deutlich, dass die Vorstellung des Staates als gesamtgesellschaftliches Zentrum (wie ansatzweise auch in den vorigen Kapiteln postuliert) aufgrund der fortschreitenden funktionalen Differenzierung nur noch bedingt tragfähig ist. Aufgrund der zunehmenden formalen Organisation des Staates erscheint es stattdessen sinnvoll, innerhalb des politischen Systems nach Zentrum und Peripherie zu unterscheiden (Kap. 24). Sofern dies auch für die anderen Teilsysteme des Sozialsystems gilt, erweist sich die Gesellschaft aus der Sicht funktionaler Differenzierung als polyzentrisch. Für die Staatstheorie hat Helmut Willke (1992) diese Konsequenz ebenfalls genutzt, allerdings nicht in einer Ausarbeitung der Zentrum-Peripherie-Differenz auf Ebene der Teilsysteme analytisch fruchtbar gemacht. Diesem Vorhaben widmen sich die folgenden drei Kapitel.
60
Dies wird im Anschluss an diesen Teil aufgegriffen, siehe die Kapitel 27 und 28. Alois Hahn hat diesen Unterschied aufgegriffen, theoretisch weiter ausgearbeitet und in unterschiedlichen Untersuchungen genutzt (Hahn 1999; 2002; 2008). An diesem Punkt wird hier angeknüpft. 61
22. Luhmanns systemspezifisches Konzept von Zentrum und Peripherie
„Das Schema Ganzes/Teil entstammt der alteuropäischen Tradition und würde, hier angewandt, den entscheidenden Punkt verfehlen. Systemdifferenzierung heißt gerade nicht, daß das Ganze in Teile zerlegt wird und, auf dieser Ebene gesehen, aus den Teilen und den >>Beziehungen>Wesen