LEONARD DAVENTRY
MR.COMAN HOCH DREI
Science Fiction-Roman Scanned by Galan (sb)
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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LEONARD DAVENTRY
MR.COMAN HOCH DREI
Science Fiction-Roman Scanned by Galan (sb)
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 3280
im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der englischen Originalausgabe
A MAN OF DOUBLE DEED
Deutsche Übersetzung von Helga Wingert-Uhde
Redaktion und Lektorat: Günter M. Schelwokat
Copyright © 1970 by Marion von Schröder Verlag,
Hamburg und Düsseldorf
Printed in Germany 1972
Umschlagzeichnung: C. A. M. Thole
Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Bachmann, München
Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg
1
An einem warmen Oktobernachmittag des Jahres 2090 stieg Claus Coman in der Zwölften Stadt, Sektion 7, aus der Fähre Mond-Erde. Er war schlank, mittelgroß und von unbestimmbarem Alter; bis auf den Gegensatz zwischen seinen dunklen harten Augen und dem empfindsamen, sinnlichen Mund hatte er durchschnittliche Züge; er trug Zivilkleider, und einem unbefangenen Beobachter wäre es schwergefallen, seinen Beruf oder Status zu bestimmen. Er war in der Tat ein Mann mit vielen Eigenschaften. Er hatte zur Interplanetaren Truppe gehört, die auf dem Mond stationiert war, und als Geologe war er in der Paläontologie und der Mineralogie bewandert; seit geraumer Zeit jedoch vernachlässigte er seine Arbeit auf diesen Gebieten. Der Schwerpunkt im Leben Claus Comans hatte sich in dem Augenblick verlagert, als er vor drei Jahren entdeckte, daß er telepathische Kräfte besaß. Nachdem Coman sich den Elektronenaugen an der Sperre zur Untersuchung und Identifikation präsentiert hatte, fuhr er im Luftauto in eine Gegend, die Old Peckham hieß. Von dort aus ging er zu Fuß bis zu seinem Haus, einem gut erhaltenen Relikt aus den Tagen vor der Atomkatastrophe von 1990. Die Tatsache, daß er gern in diesem archaischen Gebäude wohnte, einem der ganz wenigen, die in dieser Sektion übriggeblieben waren, blieb seinen Bekannten ein ewiges Rätsel. Auch in anderer Hinsicht war er altmodisch. Er begnügte sich mit lediglich zwei Frauen und zog gedruckte Bücher und Musik den zahllosen, meist hektischen Vergnügungen seines Zeitalters vor. Er trank mäßig, rauchte stark, redete nicht viel, lachte selten und konnte überall einschlafen, wenn sich die Gelegenheit ergab oder es sein Wille diktierte. Als er schließlich auf der Schwelle seines Hauses stand, reflek tierten drei Fernsehschirme sein Gesicht — ein Gesicht, das von den Dämpfen der Venus grau und weich geworden war und sich nun allmählich unter den trockenen Verhältnissen der Erde zu röten begann. Ein Summen ertönte, und zwei junge Frauen erblickten sein Bild auf dem Schirm; die ältere der beiden ging sofort in den Salon und drückte auf den Knopf zum Öffnen, dann schaute sie flüchtig in den hohen Wandspiegel und setzte sich in einen Sessel, der der Tür gegenüber stand. Als Coman eintrat,
verharrten beide unbeweglich, starrten sich beinahe eine Minute schweigend an, bis sie sanft sagte: »Nun sind wir wieder beieinander.« Er konnte nur ihren Namen hervorbringen: »Jonl«, aber der Ton und sein Blick trieben eine zarte Röte in ihr bleiches, feinge schnittenes Gesicht. »Setz dich. Ich hole ein paar Erfrischungen«, sagte sie und ging graziös an ihm vorbei in die Halle. Sekunden später betrat das andere Mädchen den Raum. Sein war drei Jahre jünger; sie hatte goldblondes Haar und ein ovales Gesicht. Ihre Lippen bogen sich in den Winkeln spitzbübisch aufwärts. Sie war kleiner und zarter als Jonl, in ihren Gedankengängen weniger kompliziert, aber extravagant in ihrem Tun und Lassen. Jetzt streckte sie ihre Hand aus, und als er sie ergriff, die Finger flüchtig mit den Lippen berührte, sprang der schwache Duft ihres Körpers wie ein Funke auf seine Sinne über. Als er ihre Hand losließ, führte sie sie an ihren Mund. In ihren schieferblauen Augen schimmerten Tränen. So war es meistens, wenn er nach langer Abwesenheit zurück kehrte. Die drei Menschen verband eine gegenseitige Anziehung, die im Augenblick der Wiedervereinigung neu erstand; es bedurfte keiner Worte, sich gegenseitig dieser Verbindung zu versichern. Um den niedrigen Tisch am Fenster lagen drei Kissen. Coman zog seine Jacke aus, lockerte den Hemdkragen und setzte sich mit gekreuzten Beinen auf das mittlere Kissen. Sein, die zu seiner Rechten saß, schien es, als verdunkelten sich seine Augen. Sie nahm ein Metallkästchen vom Tisch, öffnete es und bot ihm eine Zigarette und Feuer an; dann fragte sie ruhig: »Willst du darüber sprechen?« Coman zuckte die Schultern und inhalierte den schweren Rauch. »Mannein, ein Gott, wurde getötet«, sagte er, »und seine Anhänger zerstreuen sich. Das ist alles. Ich bin für seinen Tod ver antwortlich.« Während er noch sprach, kehrte Jonl zurück. Sie trug ein Tablett mit drei Tassen Tee, den sie wie üblich nach der Heimkehr miteinander tranken. Sie setzte sich neben ihn. »Als Verbindungsmann verfügst du über Informationsquellen und Einsichten, die gewöhnlichen Leuten verschlossen bleiben; aber kannst du diesen Quellen auch immer trauen?« »Das heißt —?« fragte er. »Ist es nicht möglich, daß diese Quellen eines Tages von anti
menschlichen Elementen kommandiert und entsprechend gefärbt werden?« »Das ist möglich — aber ich würde es sofort merken. Darüber besteht kein Zweifel.« Das Ritual — denn um ein solches handelte es sich — nahm sei nen Lauf, mit Fragen, Antworten, Diskussionen und Versiche rungen. Nach und nach trugen der Tee, die Kühle des dunkelhaa rigen Mädchens und die Wärme der Blonden dazu bei, daß Coman sich entspannen und die Geborgenheit und Sicherheit, die das Haus stets für ihn bereithielt, in sich aufnehmen konnte. Gegen Ende des Rituals erhob er sich und ging ins Badezimmer, wo die Roboter bereitstanden, seinen Körper zu säubern und zu massieren. Kurz danach ging er, nur mit einem Hausmantel be kleidet, ins Eßzimmer, das an der Rückseite des Gebäudes lag, und blickte eine Weile aus den langen Fenstern auf den von einer Mauer umgebenen Garten. Hinter diesen Mauern schossen die weißen Wohnhäuser der Nachbarn in den Himmel, und um zu verhindern, daß allzu Neugierige beobachteten, was in seinem Haus vorging, hatte Coman einen R-Schirm errichtet, einen frei schwebenden Nebel aus atomisiertem Staub. Der Abend war hereingebrochen, und auch die beiden jungen Frauen trugen jetzt nur noch einen Hausmantel. Schweigend aßen die drei das von Robotern zubereitete Mahl. Danach sprachen sie beim Wein leicht, gelöst und scherzend über alles mögliche, und nach und nach verschwand in ihrem Gespräch über irdische Angelegenheiten alles Trennende, das noch zwischen ihnen sein mochte. Jonl arbeitete halbtags in der Zwölften Stadt als Sekretärin bei einem Professor im Museum für Naturgeschichte, und Sein kümmerte sich um das Haus. Coman erwähnte, daß er auf der Venus eine Menge Gerüchte über eine zunehmende Gewalttätigkeit unter den jungen Leuten auf der Erde gehört hätte, und bevor er nach Einzelheiten fragen konnte, bemerkte er, daß sich die Gesichter der beiden Frauen verdüsterten. »Es ist eine Art Irrsinn, der von Stunde zu Stunde schlimmer wird«, sagte Sein. »Erinnerst du dich an die Flut von Morden, die Jungen und Mädchen begingen, bevor du fortgingst?« Coman runzelte die Stirn, und als er merkte, wie sehr das Ge spräch Sein und Jonl aufregte, sagte er: »Wir wollen für eine Weile die Welt da draußen vergessen. Hier sind wir sicher und können
unsere eigenen Träume schaffen. Ach ja! ... Ich habe euch ein Geschenk von der Venus mitgebracht.« »Wie herrlich!« rief Sein begeistert, als sie ihre Kette in die Hand nahm. Die Juwelen waren aus einem durchscheinenden Grün, in jedem Stein flammten merkwürdige Feuerwolken aus Orange und Rot. Jonl saß regungslos. Ihr Blick wanderte von dem Geschenk, einer Kette aus funkelnden Kristallen von einem unheimlichen Purpur, das man unter den Mineralen der Erde nicht fand, hinüber zu dem Mann auf der anderen Seite des Tisches. Auch die Augen der jüngeren Frau waren auf ihn gerichtet, ihre Wangen waren gerötet, die Lippen leicht geöffnet. Coman sagte leise: »Wir verlieren Zeit.« Er erwachte um zehn Uhr früh. Neben ihm stand frischer Tee. Nach einer Weile stand er auf, badete und ging zum Frühstück hinunter. Vom Tonbandgerät in der Halle erfuhr er, daß Jonl bei einer Konferenz im Museum zugegen sein mußte, jedoch mittags zurückkehren würde. Sein war ebenfalls fortgegangen, um etwas für das Haus zu erledigen. Während er aß, schaltete er zuerst die lokalen und dann die Weltnachrichten ein, schaute müßig zu, wie die Bilder über die Westwand des Zimmers fluteten. Zum zweitenmal während der vergangenen zwölf Stunden rief jemand in Gedanken seinen Na men, er ignorierte den Anruf jedoch und konzentrierte sich auf den Nachrichtenkommentar. Nunmehr gab es in der Stadt pro Minute zehn Morde und fünfzehn Selbstmorde. Die Pläne für einen neuen Straßentunnel von London nach Rom waren gebilligt worden. In New Jersey, Sektion 9, hatte man ein Arsenal privat hergestellter Atomwaffen entdeckt ... Die interplanetaren Nachrichten waren interessanter. Aus der Sterngruppe der Plejaden hatte man Signale von offensichtlich intelligenten Wesen empfangen; man konnte sie augenblicklich noch nicht verstehen, sie wurden jedoch von Experten untersucht. Irgendeine Gas- oder Partikelwaffe, die vermutlich von antimenschlichen Elementen außerhalb des Sonnensystems hergestellt worden war, hatte in den vergangenen vierundzwanzig Stunden drei Raumschiffe durchdrungen und zerstört, und Detektive und Wissenschaftler arbeiteten an diesem Problem. Doktor Leiz hatte eine neutrale wissenschaftliche Kommission
aufgefordert, seinen neuesten Spiegel zu untersuchen, der, so behauptete er, »die Reflexion von Wesen zeigt, die uns zwar in Verhalten, Kleidung und Zeitalter exakt gleichen, jedoch überhaupt nichts mit uns und unserer Welt zu tun haben«. Coman dachte über diese letzte Meldung nach. Schließlich stand er auf und ging zu einem angrenzenden Raum, der mit allen möglichen Sicherheitsvorrichtungen verschlossen war. Hier be wahrte er seine persönlichen Wertsachen auf und die Maschine, die als Connector bekannt war. Einen Augenblick zögerte er vor der Tür. Er hatte ein gewisses Recht, den Ruf zu ignorieren —eine Zeitlang zumindest, um sich zu erholen und ein wenig Ferien zu machen. In der vergangenen Nacht hatte er den beiden Frauen, die sein Bett teilten, so gut wie fest versprochen, daß er mit ihnen eine vierzehntägige Kreuzfahrt auf einem der wenigen blauen Meere, die auf der Erde noch übriggeblieben waren, unternehmen würde. Dennoch konnte er die Maschine nicht vergessen. Er war dem Connector bereits zu lange ferngeblieben, und außerdem hatte er einen namentlichen Ruf erhalten. Mit einem Spezialschlüssel setzte er den Auslösemechanismus in Bewegung und konnte schließlich das Zimmer betreten. Der rechteckige Raum war wie ein Arbeitszimmer eingerichtet, mit Hunderten von normalen und Video-Büchern, Tonbändern und Schallplatten, die mehr als tausend alte und moderne Kompo sitionen umfaßten. In einer Ecke befand sich, hinter Glas geordnet, seine Privatsammlung von Fossilien, und an der Stirnwand hing ein kleiner Schirm, ein Spezialentwurf. Die Klimaanlage funktionierte durch den Fußboden; es gab keine Fenster, und der Raum war vollkommen schalldicht. Coman wählte ein Musikstück, und nachdem er den Apparat angeschaltet und die Lautstärke geregelt hatte, machte er es sich in einem tiefen Sessel bequem, der dem Schirm gegenüberstand; er hatte die Augen geschlossen und alle Sinne, bis auf das Hören, abgestellt und in Passivität versetzt. Musik galt bei den Personen, die im Besitz telepathischer Kräfte waren, als eine hervorragende Vorbereitung auf die unbewußte Wachsamkeit. Coman hatte einen alten Klassiker gewählt: er hörte Mussorgskys »Bilder einer Ausstellung«. Als das Stück beendet war, blieb er noch ein wenig sitzen, erhob sich dann, holte den Connector und stellte ihn auf einen kleinen Tisch neben dem Sessel. Der Connector war ein runder Gegenstand, nicht größer als zwei
Männerhände. Der Apparat bestand aus einem hauchzarten Crionium-Gewebe, einem seltenen Erz vom Merkur, das um eine Bleiplatte gelegt war. Das Ganze schlossen — in Spiritus schwim mend — der Boden des Zwischenhirns und die pituitäre Sektion eines menschlichen Gehirns ein. Zwei Bleiplatten, die vom Gehäuse ausgingen, mußten an den Schläfen befestigt werden. Connectoren ließen sich natürlich leicht transportieren, aber wegen ihres enormen Wertes und der Seltenheit des für ihre Konstruktion nötigen Materials hielten die wenigen Menschen, die einen besaßen, ihren Connector sorgfältig verschlossen und transportieren ihn lediglich in Augenblicken großer Dringlichkeit. Der Apparat verband seinen Träger mit Gedanken anderer Verbindungsmänner und -frauen, wobei es unwichtig war, ob sie gerade an den Kreis angeschlossen waren oder nicht. Außer den »namentlichen Anrufen« einer bestimmten Person erlaubte die Maschine jedoch direkte Verbindung nur mit anderen Trägern. Als Coman die Bleiplatten befestigt hatte, wurde es pechschwarz um ihn. Er hatte die Augen geöffnet, starrte fest auf den »Hilfs« schirm und ließ die Gedankenbilder seiner Kollegen auf der Erde in ein entspanntes, leeres Bewußtsein einfließen. Sie glichen win zigen transparenten Aalen, die sich durch einen See der Dunkelheit schlängelten und voranschossen, und es dauerte einige Zeit, bis er in diesen See hineinsank, eins mit ihm wurde. Die Minuten vergingen, die Farbe verließ sein Geeicht. Seine Glieder erkalteten, und der Herzschlag sank nahezu auf Null. In dem See befanden sich drei andere Menschen, die ebenfalls an einen Connector angeschlossen waren, und er konnte jeden einzelnen nunmehr ganz deutlich spüren. Es waren ein Mann und eine Frau, die er nur in Gedanken kannte — und Karns, dessen Geisteskind der Connector war. Der brillante Karns verbrachte viele Stunden an der Maschine, von der er hoffte, daß sie dazu beitragen würde, die Natur des menschlichen Lebens zu verändern. K. Kommen Sie, Coman, antworten Sie. C. Coman antwortet. K. Ich rufe Sie schon eine ganze Zeit. Warum hat es so lange gedauert? C. Bin ich ein Hund, daß ich gleich angerannt komme? K. Coman, jeder denkt nur Gutes von Ihnen, weil Ihr Handeln ebenso vorzüglich ist wie Ihr Denken. Coman fühlte bei diesen Worten Ärger in sich aufsteigen, nicht
nur, weil er Schmeichelei haßte, sondern auch, weil er gleichzeitig Karns Bedauern darüber spürte, daß es offenbar notwendig war, zu schmeicheln. Karns war der Beste unter ihnen, und es hieß sogar, daß er auf irgendeine Weise mit den Unbekannten Sinnen in Verbindung stand, jenen Gedankenprozessen, deren Gegenwart man nur spüren und nicht verfolgen konnte, die jedoch ganz sicher in dem See oder in der Leere des menschlichen Unterbewußten existierten. K. Je weiter wir vordringen, desto mühseliger wird der Weg, desto
komplizierter sind die Fragen und die Antworten. In dem Maße,
wie neue Bedingungen und Situationen entstehen, fluktuieren
und verändern sich die Gehirne der besten Männer unaufhörlich,
um mithalten zu können. Auf diese Weise schützen sie ihre
Besitzer vor Irrsinn und Ruin.
C. Das muß so sein.
K. Unsere Aufgabe wird also immer komplizierter. Wir haben es
auf uns genommen, uns einzumischen, und können nicht mehr
zurück.
Es entstand eine lange Pause.
C. Also?
K. Also müssen diese neuen und potentiell wichtigen Trends
erforscht und analysiert werden — auf die eine oder andere
Weise, vorzugsweise mit unserer Hilfe.
C. Alle diese Punkte sind bekannt. Was schlagen Sie vor?
K. Sie dürfen mich nicht mißverstehen. Sie haben vielleicht mehr
als mancher andere das Recht auf Ruhe und Erholung, aber Sie
müssen berichten, sich äußern und Ihren Beitrag liefern. Es
spielt keine Rolle, ob Sie der Ansicht sind, daß Sie aktiv eingreifen
müssen oder lediglich an den Gedankenprozessen teilnehmen —
aber Sie müssen stets und ohne Verzögerung berichten und sich
äußern.
Das bedeutete, daß er nach seiner Rückkehr zur Erde sofort an
den Connector hätte gehen sollen.
C. Ich hatte das neue Gefühl der Dringlichkeit noch nicht ganz
begriffen. Mein Bericht lautet wie folgt.
Er gab Bilder seines Aufenthaltes auf der Venus, Bilder jener
Gedanken, die er während seiner Mission empfangen hatte, und
Bilder, die sich als besonders interessant festgesetzt hatten. Alle
wurden von dem dunklen See aufgenommen, lagen dort bereit für
jeden, der irgendwann in der Zukunft nach ihnen fragen würde.
K. Vielen Dank. Wollen Sie jetzt wahrnehmen? C. Mit Ihrer Hilfe. Coman löste sich vollkommen, bis auf die letzte Verbindungsleine zum Bewußtsein, die beiden Männer ergriffen einander im Bruchteil einer Sekunde wie Trapezkünstler und stürzten in die Leere des Unterbewußtseins der Welt. Als diese Leere mit ihren zahllosen Milliarden von Gedanken — grausamen und friedlichen, bösartigen und liebevollen, kühnen und furchtsamen — über ihm zusammenschlug, erreichten sie den niedrigsten Punkt des Bogens, und Karns ließ ihn los. Coman war allein, fiel durch eine endlose Vielfalt klangloser Stimmen und grotesker Bilder. Bei der ersten Gedankenreise ist dies die erschreckendste und quälendste Erfahrung, denn in diesem Stadium, in dem das Fleisch völlig vergessen ist, hört ein menschliches Wesen auf, Mensch zu sein, ist kaum mehr als ein Flüstern in der Ewigkeit. Paradoxerweise wird ihm nur in diesem Zustand bewußt, daß ein System existiert — aber dies ist durchaus keine beglückende Erkenntnis, befähigt sie doch den Menschen zu erkennen, wie unendlich klein sein Anteil daran ist. Als Coman schließlich abwechselnd geschwind und mühsam aus den Maschen der Leere emporkletterte, warteten die drei noch auf der anderen Ebene. K. Nun? C. Bestimmte Faktoren scheinen Druck auszuüben. Zum Beispiel Leiz mit seinen Spiegeln. K. Ah! Ein etwas exotisches Geheimnis, das uns nicht weiter kümmern soll, bis wir mehr Daten besitzen. C. Dann die Angriffe auf unsere Raumschiffe. K. Die Wissenschaftler sind bereits auf dem Wege, eine Lösung für dieses Problem zu finden. C. Und der Vorschlag, eine Kriegssektion zu schaffen. K. Ich denke, daß diese Angelegenheit Ihre ganze Aufmerksamkeit verdient. C. Ich verstehe. Wie ist die allgemeine Ansicht? K. Im Augenblick scheint sie geteilt zu sein. Wie ist Ihre Meinung? C. Die naheliegende Antwort ist, daß es falsch sein muß, aber man lernt, naheliegenden Antworten zu mißtrauen. K. Natürlich. Kann ich morgen um diese Zeit ein abgewogenes Urteil erwarten? C. Gewiß.
K. Hier ist jemand, der Ihnen die vorliegenden Daten geben wird. Auf Wiedersehen. Es dauerte kaum länger als eine Viertelstunde, bis alle bekannten Fakten, die mit dem Vorschlag für die Errichtung einer Kriegs sektion zusammenhingen, über die nun ein vom Weltrat einge setztes Komitee beriet, säuberlich in Comans Gehirn eingeordnet waren, zusammen mit einem detaillierten Bericht über das enorme Ansteigen der physischen Gewalt innerhalb der letzten Monate. Es war halb zwölf, als er die Bleiplatten abnahm, das Instrument verschloß und wieder an das Tageslicht tauchte. Er fühlte sich an Körper und Geist erschöpft — eine normale, aber nichts destoweniger unangenehme Nebenwirkung der Arbeit am Con nector. Es war niemand da, aber Sein hatte hereingeschaut und eine Nachricht hinterlassen. Sie bat ihn, sie in einem Restaurant in der Stadt zu treffen. Coman vergewisserte sich, daß das Haus gesichert war, und trat auf die sonnenüberflutete Straße. Er begegnete nur sehr wenigen Fußgängern, weil fast jeder mit dem Luftauto fuhr; er jedoch liebte es, seine Beine so oft wie möglich zu bewegen. Die Hände in den Taschen schlenderte er die Straße entlang, er hielt den Kopf gesenkt, in seinem Mundwinkel hing nämlich eine Zigarette, und er riskierte, aus der Luft von einem der Ordnungshüter gesehen zu werden. Als er den Stadtdistrikt erreichte, zertrat er die Zigarette und wies sich an einem der Ein gangstore aus. Nachdem er identifiziert worden war, konnte er sich auf das Transportband stellen, das ihn weiter in die Vorstadt brachte; er stieg ab und fand schon bald das Restaurant, den Weißen Kometen. Sein war noch nicht da. Coman setzte sich an einen leeren Tisch. Er bestellte ein kaltes Getränk, schlürfte es langsam und starrte die anderen Gäste an. Es waren nicht viele. Dies war eine reine Geschäftsgegend, und zu dieser Tageszeit war nahezu jeder damit beschäftigt, Geld zu verdienen. Etwa gegen zwei Uhr würde die Arbeit zu Ende sein, dann ruhten sich die Leute ein oder zwei Stunden aus und begannen danach die fortwährende Suche nach Unterhaltung und Zerstreuung — eine Beschäftigung, die die ge samte Gesellschaft bis in den Morgen hinein beschäftigte. So etwa sah gegen Ende des 21. Jahrhunderts das Leben aus. Erst weitere fünfhundert Jahre später würde sich der Mensch völ
lig aus dem Käfig der Selbstignoranz befreit haben, die ihn blen dete und verhindert hatte, daß er schon viel früher in Frieden und Glück lebte. Die Existenz des Käfigs, der die Menschen umgab, hatte man bereits zu Beginn des Aufstiegs erkannt, und die Jugend einer jeden Generation hatte seine Gegenwart gespürt. Sie hatte stets die innere Gewißheit, daß die Welt ihrer Eltern in gewisser Weise unaufrichtig und verzerrt sei, obgleich sie zu jeder Zeit aus Mangel an Beweisen und fehlender Autorität hilflos und enttäuscht zuschauen mußte. So unvermeidlich wie ihre Desillu sion und Bitterkeit war die verzweifelte Suche nach einem Aus weg; darin wurzelten zunächst die religiösen und politischen Kämpfe und später, in den ersten Tagen der Eroberung des Sonnensystems, das Abenteuer im Weltraum. Die jungen Menschen dieser Epochen klammerten sich wie Ertrinkende an die neuen Erlebnisse, die ihnen die Weltraumfahrt bot. Man könnte also annehmen, dies sei eine gute Gelegenheit gewesen, ein völlig neues System zu schaffen. Durch große Entfernungen von der alten Autorität entfernt, frei von religiösem und politischem Fanatismus, hätten sie diejenigen sein können, die ein besseres und weiseres Lebenssystem erdachten und einführten! — Aber noch immer umgab der unsichtbare Käfig die jungen und alten Menschen, und der Weg des Ausbruchs mußte noch entdeckt werden. Man hatte auf der Venus, dem Mars und anderen Planeten, die für eine Besiedelung weniger geeignet waren, Gemeinschaften gegründet, aber allzubald nur wuchsen die Kinder, die ausgezogen waren, um diese Planeten zu bevölkern, heran und glichen immer mehr ihren Eltern, die sie verachtet hatten; denn die Arbeit war hart und der Preis des Überlebens hoch, und so errangen oberflächliche Vergnügungen und Belohnungen auch hier unerbittlich den Sieg. Das Trachten nach Reichtum, die Gier nach Erregung und die Begeisterung für technische Entwicklungen verdunkelten weiterhin die gültigen Werte und Erkenntnisse, nach denen der Mensch in früheren Jahrhunderten so eifrig gestrebt hatte. Die Menschen des 21. Jahrhunderts empfangen den Wunsch nach echtem Verständnis und Liebe weniger stark als in all den Jahren der Götter, die man nun die falschen nannte. Eine neue Generation war heran gewachsen, die alle Illusionen ablehnte und verabscheute; sie widmete sich aktiv der Zerstörung. Jeden Tag begingen junge Leute Tausende scheinbar sinnlose
Morde, anschließend nahmen sie sich entweder selber das Leben oder ließen sich verhaften. Die Situation hatte sich derart zuge spitzt, daß die Weltregierung ihre Mitglieder aufgerufen hatte, Vorschläge zur Lösung des Problems zu unterbreiten. Viele hiel ten es für das praktischste, eine neue Sektion zu schaffen. Auf einigen tausend Quadratmeilen konnten sich alle Menschen, die antisoziale Tendenzen zeigten, unter primitiven, unzivilisierten Bedingungen durchschlagen. Ein solches Unterfangen mußte na türlich streng kontrolliert und von außen beobachtet werden — es besaß zumindest den Vorteil, daß man das Problem einstweilen, bis man eine bessere Lösung fand, im Griff hatte. Viele Wochen lang war dieser Gedanke heiß diskutiert worden, und in zwei Ta gen würde ein Komitee zusammentreten und so lange tagen, bis die Angelegenheit geregelt war. Ein junger Mann und ein Mädchen hatten das Restaurant betreten und bestellten Getränke. Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster, von dem aus man auf die Luftautostation blickte. Sie unterhielten sich leise und schauten einander lächelnd in die Augen. Coman löste die Blockierung seiner Sinne und streckte vorsichtig seine Fühler in ihre Richtung aus, vorsichtig deswegen, weil man immer auf der Hut sein mußte; einige Menschen, die zwar selbst nicht in der Lage waren, Gedanken zu lesen, wußten oder spürten, wenn sich die Fühler eines fremden Bewußtseins ihrem eigenen näherten. Das Pärchen dachte nur an sinnliche Dinge, und er wollte sich schon zurückziehen, als er aus der Nähe den flüchtigen Wunsch nach einer Zigarette auffing. Es war der Eigentümer, der hinter der Theke beschäftigt war. Coman hatte dies kaum registriert, als Seins Gegenwart in sein Bewußtsein floß, einen Augenblick bevor sie in der Tür erschien. Ihre Gestalt zeichnete sich durch das hauchdünne Kleid klar gegen das Sonnenlicht ab. Er lächelte und erhob sich, um ihr entgegenzugehen, übersah ihre fragend hochgezogenen Augenbrauen und führte sie an die Theke. »Haben Sie ein Privatzimmer, wo wir Kaffee trinken können?« fragte er den Besitzer. Der Mann schien überrascht. »Da sind doch jede Menge leere Tische im Restaurant.« »Sie sehen ganz so aus, als wären Sie Raucher«, sagte Coman unbekümmert. »Was wollen Sie damit sagen? Das ist eine verdammte Lüge!«
»Das glaube ich nicht. Ich bin nämlich zufällig selbst einer. Wie
wäre es also mit einem kleinen gemütlichen Eckchen, wo man
genießen kann ...?«
Unsicherheit und Resignation wechselten auf dem Gesicht des
Mannes. Schließlich nickte er und zeigte auf eine Tür am Ende
der Bar. »Da hindurch und die Treppe hinauf. Oben links, dann
der dritte Raum rechts. Das wird aber extra berechnet.«
»Selbstverständlich.«
Es war ein kleiner Raum mit zwei Korbstühlen an einem Glas
tisch vor einem Fenster, das auf einen Miniaturpark mit einem
kleinen Tisch aus Spiegelglas und Plastikbäumen blickte. »Es ist
gut, mit dir allein zu sein«, sagte Sein.
Coman blickte sie nachdenklich an, genoß ihre Schönheit und
überlegte, was ihr wohl gerade durch den Kopf gehen mochte.
Obgleich Sein und Jonl ihn so, wie er war, akzeptierten, mochten
es beide nicht, wenn er ihre Gedanken las, außer unter ganz spe
ziellen Umständen. Was Sein betraf, so war das auch kaum nötig.
Sie war offen und unkompliziert, voller Liebe und stets bereit,
Liebe zu empfangen.
»Wollen wir fortgehen, nur du und ich?« fragte er.
Sie lächelte, denn sie wußte, daß er scherzte. Nach längerer Zeit
der Abwesenheit beherrschte die drei ein gegenseitiges Verlangen,
und ohne Jonl konnten sie die wahre Erfüllung nicht finden.
»Du hast versprochen, daß wir Ferien machen.«
»Stimmt. «
Er schaute aus dem Fenster.
»Was soll das heißen — daß wir nicht fahren?«
»O nein! Wir werden Urlaub machen.«
In diesem Augenblick brachte ein Roboter den Kaffee. Als er
wieder fort war, sprach Coman weiter: »Ich merke schon, daß du
eine Abwechslung brauchst. Vielleicht sollte ich das Haus verkau
fen.«
»O nein, tu das bitte niemals. Ich liebe es.« Er lächelte.
»Meine Ahnen haben dafür gesorgt, daß, solange das Haus
aufrecht steht, kein Gesetz der Erde daran rütteln kann, daß es
auf den männlichen Erben übertragen wird.«
»Und du bist der letzte.«
Er schaute sie an, und ihre Augen begegneten den seinen in
einem langen, warmen Blick.
»Das also möchtest du«, murmelte er.
Sie senkte die Augen, hob die Tasse und vermied nun, ihn an zuschauen. »Warum nicht? Ich habe viel darüber nachgedacht, während du fort warst.« In der Tat, warum eigentlich nicht, dachte er. Ein Baby — Junge oder Mädchen — könnte sehr gut mit der gleichen anomalen Fä higkeit der Sinneswahrnehmung auf die Welt kommen. Er emp fand bereits ein seltsames Gefühl der Zärtlichkeit für das noch nicht einmal empfangene Kind, und in diesem Augenblick wußte er, daß Seins Vorschlag genau das war, was er sich wünschte, seitdem Jonl sie ihm vor achtzehn Monaten vorgestellt hatte. Allerdings gab es noch zahllose Schwierigkeiten. »Nach dem Gesetz übernimmt der Staat das Kind, nachdem es entwöhnt ist.« Sie machte eine Handbewegung. »Unsinn. Du wirst schon einen Weg finden, damit wir es behalten können. Du bist Verbindungsmann.« »Liebe Sein. Du kennst die wahre Stellung eines Verbindungs mannes nicht. In der Öffentlichkeit begegnet man ihm mit Miß trauen und Argwohn, und wir haben nur wenige Freunde in ein flußreichen Stellen. Es gibt in der Regierung viele, die uns als eine Gefahr betrachten und die jeden einzelnen von uns am liebsten eliminieren würden.« Sie blickte ihn erschrocken an. »Das habe ich nicht gewußt.« »Es ist wahr. Glücklicherweise werden wir durch die Art unserer Begabung im voraus gewarnt, so daß es unwahrscheinlich ist, daß heimliche Unternehmungen erfolgreich verlaufen.« Er schwieg und setzte dann hinzu: »Was hält Jonl von der Idee?« »Ich glaube, sie ist einverstanden, aber — und das ist viel wich tiger — was hältst du davon?« Er ergriff ihre schlanke Hand. »Ich möchte es, aber wir müssen einen Weg finden, wie wir das Kind behalten können.« In diesem Augenblick summte das winzige Kurzwellengerät, das alle drei am Handgelenk trugen, und Coman, der die Hand ans Ohr hob, hörte Jonl seinen Namen rufen. Er drehte an einem Schalter und führte das Gerät dicht an seine Lippen. »Ich höre.« »Ich bin Gott sei Dank fertig. Wie steht's mit Essen?« »Fein. Irgendwelche Vorschläge?« »Ja, eigentlich sind wir in einer Stunde bei meinem Vater ein
geladen.« Er zögerte einen Moment und sagte dann: »Vorzüglich.« »Gut, aber seid vorsichtig. Im Augenblick tobt anscheinend gerade eine Bande Jugendlicher in dem Gebiet und bringt wahllos Menschen um.« »Welche Waffen?« »Nur kleine Strahlenpistolen, aber sie haben sechzehn Frauen und Kinder in einem Supermarkt getötet und verkrüppelt und zwei Untergrundwagen zerstört. Drei aus der Bande wurden festgenommen, zwei kamen um, aber fünf laufen immer noch frei herum.« Dann fügte sie sanfter hinzu: »Also bis dann.« »Bis dann.« Er wandte sich an Sein, die das Ohr an ihr Handgelenk gelegt hatte. »Du hast gehört?« Sie nickte. »Wir essen also bei Richter Elman — ein merkwürdiges Rendezvous!« Er zuckte die Schultern. »Mit dem Luftauto brauchen wir eine halbe Stunde. Dann habe ich noch fünfundzwanzig Minuten Zeit, um mich zu entspannen. Ich habe eine strapaziöse Stunde in meinem privaten Schwitzkasten hinter mir. Was willst du unternehmen? Möchtest du inzwischen einen Kaffee oder etwas Stärkeres?« »Nein, erst wenn du wieder wach bist — aber ich möchte eine Zigarette.« Sein rauchte wie ein kleines Mädchen, das Angst hat, von der Lehrerin erwischt zu werden. Eine Weile studierte sie sein Gesicht und dachte, wie kindlich, fast unschuldig er im Schlaf aussah. Dann nahm sie einen letzten Zug und warf die Kippe in den Müllzerkleinerer. 2 Richter Elman lebte in einer sogenannten »Hauswohnung« auf einem der Spezialgrundstücke, die für Angehörige der gehobenen Berufe reserviert waren. Bei Gericht galt er als Mann von reifem Urteilsvermögen. Er war klein und untersetzt, hatte graumeliertes Haar und eine Vorliebe für gutaussehende Jünglinge. In jungen Jahren war sein Geschmack weniger einseitig gewesen, und Jonl war das Produkt einer Liaison mit einer jungen Rechtsanwältin, die sich das Leben genommen hatte, kurz nachdem Elman ihrer
Gesellschaft überdrüssig geworden war. Für seine Tochter empfand er Zuneigung und ein gewisses Pflichtgefühl; jedoch konnte er nicht begreifen, warum sie sich so lange — drei Jahre — an einen einzigen Mann gebunden hatte, und noch dazu an einen Mann wie Coman. Im stillen hielt der Richter alle Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten für Phänomene, die eine bisher noch nicht klar definierte Gefahr für die Zukunft der Gesellschaft bildeten. Es gab keinen besonderen Grund dafür, daß er Jonl gerade an diesem Tage zum Essen eingeladen hatte. Den Morgen hatte er im Gericht verbracht, bei einem ermüdenden Streit über die Ausle gung eines Gesetzes, und mit einiger Erleichterung hatte er ver nommen, daß die Polizei eine Vertagung wünschte, um einige neue Nachforschungen abzuschließen. Dann war ihm plötzlich eingefallen, daß er seine Tochter seit Monaten nicht gesehen hatte, und obgleich sie keine besonders guten Freunde waren, hatte er auf der Stelle beschlossen, sie einzuladen. Es fiel ihm ein, daß Jonl sicher gern das blonde Mädchen Sein mitbringen würde. Dagegen war nichts einzuwenden, und er wußte, daß Coman für unbestimmte Zeit zur Venus gereist war. Jonl hatte die Einladung angenommen, und es war eine unan genehme Überraschung für den Richter gewesen, daß Coman am Abend zuvor zurückgekehrt war und ebenfalls zum Essen erscheinen würde. Es war unmöglich, die Einladung zurückzuziehen, und der Richter beschloß, das Beste aus der Sache zu machen. Eine Stunde lang entspannte er sich bei starken Getränken und schluckte einige Pillen, um den Zustand zu erreichen, den man brauchte, Gäste von zweifelhaftem Potential zu empfangen und zu unterhalten. Jonl kam natürlich als erste. Der gegenwärtige Geliebte ihres Vaters ließ sie ein — ein junger Mann mit stark geschminkten Augen und langem dunklem Haar. Er bat sie ins Empfangszim mer, verneigte sich und ließ sie allein. Ein paar Minuten später trat ihr Vater ein, und als sie einander angemessen begrüßt hat ten — der Richter berührte den Kopf seiner Tochter, und sie legte die Hand auf das linke Knie —, sagte Jonl: »Vielen Dank für deine Einladung. Der Herr und die Dame werden zur verabredeten Zeit hier eintreffen.« Unwillkürlich zuckte er ärgerlich zusammen über die formelle Art, in der sie mit ihm sprach; aber sie war ein seltsam unergründ
liches Wesen und erinnerte ihn in verschiedener Hinsicht an ihre
Mutter. Sie war groß und dunkeläugig, das dunkelbraune Haar
fiel ihr auf die Schultern, die Haut war milchweiß. Kalt wie Eis —
aber unter dem beherrschten Äußeren war sie, daran zweifelte er
nicht, ganz anders.
»Möchtest du einstweilen einen Drink?« fragte er.
»Danke ja — aber nichts Starkes.«
Die Begrüßung war vorüber, und sie folgte ihm in das längliche
Wohnzimmer. Der Raum war mit Holz getäfelt, bis auf eine Wand,
die ganz und gar aus Glas bestand. Von hier aus blickte man
meilenweit über das bebaute Land, das am Horizont verschwand.
Das Grundstück lag direkt am Rande des Vorstadtdistrikts, stieß
an ein Anbaugebiet, das sich bis an die Grenzen der Sektion über
Land und Wasser erstreckte. Das Glas in der Hand, schaute Jonl
den vierbeinigen Venusarbeitern zu. Plötzlich wandte sie sich an
ihren Vater und sagte:
»Du hast Pillen genommen. Warum?«
Er lachte und ließ sich in einen Sessel fallen. »Ja, man will den
Gästen gegenüber doch schließlich .seine beste Seite
hervorkehren, nicht wahr?«
»Eigentlich hast du Coman nicht erwartet — ist es das?« »Nun ja,
aus irgendeinem Grunde hatte ich mir eingebildet, er sei noch
fort, aber .. .«
Sie wandte sich um. »Und du möchtest ihn nicht sehen. Warum
hast du dann deine Einladung nicht zurückgezogen?«
Er biß sich auf die Lippen. Offensichtlich hatte er nicht genug von
diesen verfluchten Pillen geschluckt.
»Wenn man jemanden einlädt, dann kann dieser Gast mitbringen,
wen er will.«
Jonl runzelte die Stirn; sie war wütend auf ihn und auf sich
selbst. Sie hatte gewußt, daß ihr Vater Coman nicht mochte. Zum
erstenmal jedoch hatte sie das Ausmaß dieser Antipathie begrif
fen. »Ich glaube, du haßt ihn geradezu.«
Elman sah gekränkt aus. »Ihn hassen? Was für ein Unsinn. Nur,
Verbindungsleute haben etwas an sich — tja, das ist ein unan
genehmes Gefühl.«
»Und ...?«
Er gab dem Roboter, der an der Tür stand, ein Zeichen, und als er
herüberkam, schenkte er sich einen extra starken Drink ein.
»Ich will offen sein«, sagte er plötzlich ärgerlich. »Ich glaube, daß
du eine begabte Frau bist und daß dich deine Verbindung mit diesem Mann daran hindert, wichtige Dinge zu vollbringen.« »Ich verstehe.« Ihr Gesicht war noch bleicher als gewöhnlich, und sie mußte sich zwingen, langsam und tief zu atmen. »Ich zweifle nicht daran«, fuhr Elman fort, »daß diese etwas ungewöhnliche Partnerschaft für dich mit einer Menge Vergnügen verbunden war. Aber es muß doch noch andere Männer geben, attraktivere und tüchtigere.« »Richter des Obersten Gerichtshofes zum Beispiel?« Ihre Stimme klang noch immer kühl und beherrscht. »Nun ja. Da du gerade davon sprichst, fällt mir ein, daß ich mindestens zwei einflußreiche Männer kenne, und jemand, der in der Sektionskontrolle eine Rolle spielt, hat außerordentliches In teresse an dir bekundet. Du möchtest doch gewiß etwas Wichti geres und Interessanteres tun als Schmetterlinge und Insekten katalogisieren und das Kindermädchen für einen alten Narren wie Pel Raws spielen!« Nun lächelte sie, weil sie angesichts dieser ungeheuren Ignoranz ihrer wahren Gefühle für ihre Arbeit und für Coman nichts als belustigte Verachtung empfinden konnte. »Du hast immer gewollt, daß ich mich mit dem Gesetz beschäf tige«, sagte sie, »und sogar jetzt, wo ich mit einer anderen Arbeit sehr glücklich bin, versuchst du, mich mit neuen Methoden umzustimmen. Ich will offen mit dir reden. Ich bin über die Gesetze auf der Erde nicht glücklich und auch nicht über die Menschen, die sie vollstrecken. Und was Männer betrifft, da bin ich sehr altmodisch. Das Mädchen ist eine Wonne, die ich mit ihm teile, aber vergiß nicht, er ist der wichtigere Teil — für mich und für Sein.« »Wie bequem für ihn«, antwortete er und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Sie starrte ihn einen langen Augenblick nachdenklich an und wandte sich dann wieder dem Fenster zu. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme leise und kontrolliert: »Ich fühle mich glück lich, daß ich Claus Coman begegnet bin und diese spezielle Ver bindung habe. Und falls irgend jemand jemals versuchen sollte, diese Verbindung zu gefährden oder zu zerstören, dann schwöre ich, daß ich nicht eher ruhen werde, bis diese Person ruiniert oder tot ist.« Der Richter war ein wenig betroffen. Wie Jonl nicht gewußt hatte,
daß er Coman so sehr verabscheute, so hatte auch er die Tiefe ihres Gefühls nicht vermutet, und ihre Worte wirkten auf ihn wie eine kalte Dusche. In diesem Augenblick hörten er und Jonl den Summer, und sie erblickten auf dem Bildchsirm die Gesichter der beiden Menschen, über die sie sich gerade unterhalten hatten. Als das Luftauto auf dem Landeplatz aufgesetzt hatte, der etwa eine Meile vom Haus des Richters entfernt lag, und sie aus dem Fahrzeug gestiegen waren, hatte Coman die Schmerzreaktionen dessen, was in der Nähe geschehen war, gefühlt. Die wahnsinni gen Gedanken von Frauen mit schrecklichen Schmerzen, die Ver zweiflung und Angst der Sterbenden. Coman spürte die Empfin dungen der Opfer, das krankhafte Vergnügen und die gespensti sche Wut der Mörder und danach die übergroße Vorsicht der Ver folger. Glücklicherweise hatten diese Schmerzwellen bereits das Ende ihres wahrnehmbaren Widerhalls erreicht, und Coman konnte Blockierungen errichten, um sie noch weiter abzuschwächen. Dennoch veranlaßte ihn das Gefühl der Gefahr und des Irrsinns, Sein am Arm zu packen und mit ihr durch die Sperre dorthin zu eilen, wo sich die Transportbänder über die Erde erhoben. Sie saßen auf einem Doppelsitz und bewegten sich geschwind auf die sich auftürmenden Wohnungen zu; schmale, hochstrebende Betonblöcke, in denen die Lifts mit siebzig Meilen Geschwindigkeit auf- und abfuhren, trennten die einzelnen Türme voneinander. Als sie einen Lift betraten, bemerkte Coman, daß sich einer der gesuchten Jugendlichen irgendwo im Gebäude befand. Irgendwo ... Als sie aufwärtsschossen, kam der Jugendliche näher. Er dachte: Wer kommt da; Ich habe noch ... Ich bleibe hier ... Ja, drei Kapseln ... sie werden mich nicht erwischen ... ich werde töten ... Vorsicht, da kommen sie ... Ich werde ... Aber der Fahrstuhl glitt weiter zum nächsten Stockwerk, zum übernächsten, dann hielt er an. Als sich die Gedanken entfernten, hellte sich Comans Gesicht auf, an seinen Nasenflügeln glänzten Schweißperlen. Sein mußte etwas Ungewöhnliches gespürt haben, denn sie fragte: »Was ist los?« »Es ist heiß hier drin«, antwortete er kurz. Bis auf eine kleine bleistiftähnliche Waffe, die Schlafnadeln abfeuerte und über eine Entfernung von mehr als 6 Metern wirkungslos war, trug er keine Waffen bei sich. Während sie vor der Tür des Richters warteten,
lauschten seine Sinne angespannt, aber der Junge verließ die Wohnung nicht. Schließlich wurden Coman und das Mädchen eingelassen, und er konnte dem glatthaarigen Jungen, der die Tür öffnete, sagen: »Ich möchte sofort ein Telefon.« »Ich bin kein Diener«, antwortete der Jüngling mit einem af fektierten Lächeln. Coman seufzte, trat ans Schaltbrett an der Wand und drückte selbst auf den Knopf. Bis der Roboter erschien und Coman die Polizei benachrichtigt hatte, waren auch Jonl und ihr Vater in die Halle gekommen, und sie hörten ihn gerade noch sagen: »Ja, in Apartment 1009. Es ist unwichtig, woher ich das weiß oder wer ich bin — kümmern Sie sich um die Angelegenheit.« Mit diesen Worten bediente er die Verwürfelungsvorrichtung, um zu verhindern, daß der Anschluß ermittelt wurde. »Kein Wunder, daß du im Fahrstuhl so komisch warst«, sagte Sein hinterher, als sie mit ihren Getränken im Wohnzimmer sa ßen. Die Polizei war innerhalb kürzester Zeit erschienen, und nach einem kurzen Kampf hatten sie die Leiche des Jungen auf einer ihrer fliegenden Plattformen fortgeschafft. Ein Sergeant klingelte an der Tür und stellte Routinefragen, aber Richter Elman leugnete wie die anderen Bewohner, die zu Hause waren, irgend etwas über den anonymen Anruf zu wissen. Schließlich ließ man die Leute wieder in Frieden. »Siehst du nun, wie nützlich es ist, wenn man jemanden mit übersinnlichen Fähigkeiten zur Hand hat«, sagte Jonl zum Rich ter gewandt. Sie ging zu Coman hinüber und legte ihre Finger auf sein Gesicht, ein Gruß, den sie vorhin in der Aufregung versäumt hatte. »Das verstehe ich nicht«, sagte Elman. »Wie konnte der Junge denn dahingelangen? Jede einzelne dieser Wohnungen ist mit einem idiotensicheren Sicherheitssystem ausgestattet.« »Er wohnt dort«, sagte Coman. Elman dachte angestrengt darüber nach. »Und doch kann ich es nicht glauben. Die Leute da unten sind höchst respektabel, der Vater ist ein wichtiger Mann im Staatsdienst.« »Trotzdem«, sagte Coman. Er hatte den Vorfall bereits vergessen und konzentrierte sich auf die Eindrücke, die ihn jetzt erreichten. Nicht nur die Intuition, sondern seine Erfahrung hatte Coman gelehrt, daß alles — selbst der kleinste Vorfall — einem verschlungenen, aber deshalb nicht weniger bedeutungsvollen
z
n e
Muster folgte; das Ganze glich einem Zusammensetzspiel, in dem es keine Lücken gab. Der Richter dachte: Habe den Polizisten ja nicht gerade gern angelogen, aber was blieb mir übrig? — man zieht sich nur unnötige Einmischungen in sein Privatleben zu. Wenn Coman nicht gewesen wäre, dann hätte dieser junge Gangster uns möglicherweise etwas angetan ... zum Teufel damit, irgend etwas muß geschehen! Das Komitee muß seine Zustimmung geben ... natürlich hängt alles von Marst ab, diesem Dickschädel — wenn er will, kann er die ganze Idee zum Scheitern bringen ... Elman kannte also einige, zumindest jedoch eines der Komitee mitglieder. »Ich glaube, das Essen ist fertig«, sagte der Richter. Er führte sie auf die Terrasse, von der aus man das flache Land bis zur Stadt hin überschauen konnte. Die Transportbänder erstreckten sich in einem Netzwerk schimmernder blauer Streifen über die gelbe Erde, liefen zwischen den großen weißen Gebäuden, in denen eine Million Menschen lebten, hindurch und um sie herum. Darüber schwebten in verschiedenen Höhen Sonnenplattformen, Radio- und Fernsehstationen, Wachtposten der Polizei, Schall wellenbrecher und all das übrige Drum und Dran des Zeitalters, zum Teil hinter den Wolken. »Ich denke, dies kleine Essen wird euch schmecken«, sagte Elman. »Es wurde von Hand, nicht vom Roboter zubereitet. Mein junger Freund e
Jahrhunderts war dieses Gebiet Tummelplatz der Reichen und einer der drei Sitze der Weltregierung. Das Auditorium, in dem sich jedes Jahr vier Monate lang die Regierungsmaschinerie versammelte und Gesetze verabschiedete, lag mit den dazugehörigen Gebäuden am Ende der Stadt, inmitten einer weiten echten Parklandschaft — eine der wenigen, die seit der Veränderung in den atmosphärischen Bedingungen der Erde nach der Katastrophe unter Regierungsprotektion angepflanzt worden waren. Die Fünfzehnte Stadt erschien auf den ersten Blick als kraftvolles Beispiel für die Genialität des Menschen; aus den neuen Materialien, die im Raumzeitalter zur Verfügung standen, und dem Einfluß fremder Intelligenzen hatte man eine merkwürdige Mischung, fast einen Alptraum architektonischer Monstrositäten geschaffen; der größte Teil der Stadt war in grellen Farben gehal ten und so voller Überraschungen und Übertreibungen, daß sie auf den sensiblen Besucher eine abstumpfende Wirkung ausübten. Nicht nur die Ideen der Fremden, sondern auch tatsächliche Nachbildungen von Teilen ihrer Städte und Behausungen waren der Stadt einverleibt worden. Man konnte eine breite Hauptverkehrsstraße, flankiert von den hohen schmalen Gebäuden eines vergangenen Marszeitalters, entlangschlendern, bog man aber um die Ecke, stolperte man über die naturgetreue Nachbildung der gefurchten Erde eines Saturn-Seitenweges, passierte niedrige Banitsteingebäude mit ihrem spezifischen Geruch und stieß dann auf die perfekte Imitation einer Autostraße der Venus, mit Feuersäulen und den dreieckigen Gebäuden der Wesen dieses Planeten. Ober allem lag der Lärm eines Tollhauses, und nachts loderten Lichtbündel und sinnestäuschende Effekte über den Himmel. Unter diesen Umständen war es kein Wunder, daß viele gesetztere Einwohner der Stadt sich rechtzeitig auf die tieferliegenden Inseln zurückgezogen hatten, wo sie trotz der unwirtlichen Umgebung unbedingt ein Mindestmaß an Frieden und Ruhe erwarten konnten, überdies bot ihnen die Gegend einige Sicherheit vor der zunehmenden Gewalttätigkeit, die nicht nur in dieser Stadt tobte, sondern überall auf dem Globus. Auf einer dieser Inseln, in einem Gebäude, das die lokale Re gierung erbaut und eingerichtet hatte, wohnte ein ehemaliger
Raumfahrer namens Deenan, den Coman jedesmal besuchte,
wenn er sich in dieser Sektion aufhielt. Die beiden Männer waren
seit vielen Jahren miteinander befreundet und hatten viele
gemeinsame interplanetare Expeditionen hinter sich. Als man das
Wunder des Zeitschrittes entdeckte, waren sie beide bei der
ersten bemannten Fahrt in den fernen Weltraum dabeigewesen.
Auf dieser Reise hatte sich Deenan eine unbekannte Krankheit
zugezogen, die aus dem jungen, hervorragend durchtrainierten
Mann eine gebrochene Karikatur seiner selbst gemacht hatte;
lediglich der Geschwindigkeit und dem Können des Chirurgen,
der sich an Bord des Raumschiffes befand, war zu verdanken,
daß er am Leben geblieben war.
Es war am Abend nach dem Gedankenaustausch mit Karns.
Coman stützte die Ellenbogen auf den Tisch und sagte: »Ihr beide
habt den Wunsch nach einem Tapetenwechsel geäußert. Kannst
du dich freimachen, Jonl?«
Ihre Finger glitten durch sein Haar. Sie murmelte ihm ins Ohr:
»Ohne weiteres. Seit Wochen helfe ich dem Professor bei der
Vorbereitung einer Abhandlung über den Strukturunterschied,
der bei den Coccinellidae — das heißt Marienkäfer — nach der
Katastrophe aufgetreten ist. Aber die letzten paar Seiten kann er
recht gut ohne mich beenden.«
»Was ist denn nun der Unterschied?« erkundigte sich Sein. »Nun,
zum einen haben die Fühler Extra-Glieder getrieben, zum
anderen ...«
»Gut, gut«, sagte Coman. »Dann sind wir morgen früh auf dem
Weg zum Pazifik. Wir nehmen um zehn Uhr ein Flugzeug nach
Süden und sind um zwölf Uhr fünfzehn da.«
»O herrlich!« rief Sein.
Jonl fragte: »Auf Instruktion deines Herrn und Meisters — oder
vielmehr auf seinen Vorschlag hin, wie du es nennst?«
»Genau«, erwiderte er, und unter gesenkten Lidern suchten seine
Augen die ihren.
»Claus — findest du, daß ich — daß ich mich zu sehr an dich
klammere?«
»Keine Angst«, sagte er, »ich wünschte, du hättest zwei Paar
Hände oder noch mehr.«
»Gut. Du willst dort niemanden umbringen, oder?«
»Nein.«
»Ja, was willst du denn sonst dort tun?« fragte sie ihn.
die es zum erstenmal hörte, schüttelte sich und sagte: »Wie unpersönlich das alles klingt. Sie hätten doch bestimmt jemanden mit einer fröhlicheren Stimme finden können!« »Das ist ein Roboter«, erklärte Jonl. »Wir können unsere Koffer hier lassen, sie werden uns dann nachgeschickt«, sagte Coman. Als sie aus dem Flughafen traten, sahen sie sich einer Unmenge von Laufbändern und einem riesigen beleuchteten Stadtplan ge genüber. »Noch zehn Minuten, zweiunddreißig Sekunden bis zum Regen!« bellte eine hohle Stimme — die drei schauten sich an und lachten gleichzeitig. »Was wollen wir zuerst tun?« fragte Sein. »Wozu hast du denn Lust, Liebling?« sagte Jonl. Sein betrachtete die Tafel mit gerunzelter Stirn, während ihre Begleiter sie amüsiert beobachteten. Schließlich schnippte sie mit einem Finger an ihre Zähne — das tat sie immer, wenn sie aufge regt war — und sagte: »Ich würde gern im Regen schwimmen.« »Gut. Dann müssen wir uns aber in Bewegung setzen«, sagte Coman. Sie traten auf das entsprechende Laufband und erreichten in Kürze das Freibad, das etwa eine Meile entfernt war. Als sie ankamen, hatten sie noch fünf Minuten Zeit; sie erhielten Umkleidekabinen und verabredeten, sich so bald wie möglich am Schwimmbassin zu treffen. Coman war als erster draußen und stellte fest, daß sich hier lediglich Menschen befanden — Geschöpfe von anderen Sternen waren von dieser Einrichtung offensichtlich ausgeschlossen. Am Himmel waren bereits Wolken aufgezogen, und jedermann schien die trübe, graue Atmosphäre zu genießen. Seit seiner Ankunft war Coman vorsichtig gewesen, aber jetzt schien es ihm ungefährlich, geschwind die Gedanken der Leute in der Nähe des Beckens zu »lesen«. Er tauchte neben einer Gruppe von Männern und Frauen, die herumtollten, kam an die Oberfläche, tauchte noch einmal. Als er wieder hochkann, öffnete er seine Gedanken eine Sekunde lang für eine schnelle weite Sondierung — und erkannte sofort, daß er ein Narr gewesen war. Er verfluchte seine Sorglosigkeit und tauchte erneut bis auf den schimmernden Kachelboden, schwamm durch einen Wald von Beinen und kam in einiger Entfernung wieder an die Oberfläche. Er verließ das Wasser und
legte sich auf den Rücken. Sein Bewußtsein war jetzt leer, sein Körper entspannt, un der glich aufs Haar einem normalen Urlauber, war von den vielen Menschen, die um ihn herum saßen oder lagen, nicht zu unterscheiden. In dem kurzen Augenblick hatte eine andere Bewußtheit die seine aufgespürt und erkannt. Es war kein echter Telepath, sondern ein Joker, der sich nicht weit von ihm in der Umgebung des Schwimmbassins aufhielt. 5 Coman lag unbeweglich, während die Sekunden verrannen; seine Gedanken bewegten sich wie auf Zehenspitzen hinter der Schutz wand, die er beim letzten Hinabtauchen auf den Grund des Bek kens errichtet hatte. Auf der anderen Seite dieses Walles schnüf felte ein Unbekannter, versuchte, den Schutz zu durchbrechen. Verdammtes Pech, dachte er, daß ich so schnell entdeckt werden mußte, wenige Minuten nach meiner Ankunft in der Stadt! Bisher jedoch war er noch nicht körperlich entdeckt; der Kontakt hatte den anderen Telepathen mehr verblüfft als Coman, dem es noch im Augenblick der Überraschung gelang, sein Gehirn zu verschließen, bevor Einzelheiten entdeckt werden konnten. Jetzt ließ der andere Telepath seine Wahrnehmungssinne durch die Menge tasten, um den Mann zu finden. Coman hielt die Augen noch immer geschlossen; er atmete un beschwerter und versuchte, die Blockierung seines Verstandes aufrechtzuerhalten. Selbst wenn er nicht noch einmal entdeckt wurde, war seine Anwesenheit bekannt, und das war schlimm genug. Der Joker würde seinen Kollegen verständigen und man würde die Wachsamkeit verdoppeln. Es bestand natürlich noch die Möglichkeit, daß es Vane war — oder auch ein anderer Telepath, der mit der Sache, deretwegen er gekommen war, nichts zu tun hatte aber instinktiv wußte Coman, daß es sich um eine andere Person handelte. Er öffnete die Augen und schaute sich die Leute träge und un auffällig an, etwa so, wie ein lediger Mann Ausschau nach einem hübschen Mädchen hält. Er hatte wenigstens den Vorteil, seine Widersacher, wenn er ihnen gegenüberstand, erkennen zu können. Aber gerade in diesem Augenblick kamen Sein und Jonl
und beobachteten ihn, so daß er gezwungen war, seine Suche aufzugeben, noch bevor er sie richtig begonnen hatte. Er starrte die beiden Mädchen mit unverhohlener Bewunderung an. Sie hatten sich Badeanzüge der neuesten Mode gekauft, die den Körper wie Handschuhe umspannten; lediglich Schultern, Beine und Arme waren unbedeckt. »Wir haben es gerade noch geschafft — seht mal, es regnet I« rief Sein. Sie stand auf Zehenspitzen, ihr schmaler Körper bebte wie ein Bogen, verharrte einen Augenblick ausbalanciert und tauchte dann ins Schwimmbecken. Jonl setzte sich neben Coman, zog die Knie an und umschlang sie mit den Armen. »Wie interessant du aussiehst mit deinen kalten Augen«, sagte sie. »Niemand kann so grausam und heimtückisch sein, wie du aussiehst. Woran denkst du?« »Ich überlege, wie ich euch zwei ohne große Umstände hier fortbekomme. « Jonl schaute sich um und sah, daß viele Männeraugen auf ihr ruhten. Gleichsam als Antwort auf ihren Blick erhob sich ein gro ßer muskulöser junger Mann und kam mit einem freundlichen Grinsen zu ihnen herübergeschlendert. »Hallo, mein Name ist Jark«, sagte er und legte eine Hand auf sein Herz — so pflegte ein Mann eine attraktive Frau zu begrüßen. Coman grunzte, und während er mit halbem Ohr der folgenden Konversation lauschte, ließ er seinen Blick langsam über die Menge am Becken wandern. »Nein danke«, sagte Jonl. »Was meinst du damit? Erzähl mir nicht, daß du >gebunden< bist oder etwas ähnlich Lächerliches.« »Bin ich aber, und zwar an diesen Mann.« »Das glaube ich nicht eher, als bis du mir die Insignien zeigst.« »Sie sind in der Ankleidekabine. Sie werden mir schon glauben müssen, wenn Sie nicht später eine Enttäuschung erleben wollen.« Der junge Mann sah nicht gerade begeistert aus. »Nun, ich nehme an, daß ich mich wenigstens mit Ihnen unterhalten darf — oder hat er was dagegen?« Coman beendete die Suche nach einem Gesicht und schüttelte den Kopf — lächelnd wartete er auf den nächsten Zug. Jark ließ sich nieder, streckte seine langen, gutgewachsenen Glieder aus und zeigte Jonl sein gutgeschnittenes Profil.
»Er ist ein häßliches Ekel, was, zum Teufel, finden Sie an ihm? Nein, sagen Sie es nicht, lassen Sie mich raten. Er ist glattzüngig, irdisch, um die Vierzig. Ich kann nicht so lange warten, bis ich diesen Meilenstein passiert habe — die hübschesten und interes santesten Mädchen scheinen sich nichts aus jungen kräftigen Männern zu machen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es Ihnen an Mädchen man gelt«, erwiderte Jonl. Er strich sich nachdenklich durchs Haar. »Naja, man kann's aus halten. Aber natürlich möchte ich ein Mädchen, mit dem ich zu sammen leben kann, bis daß der Tod uns scheidet. Insignien und all das ...« »Aber Sie haben doch gerade gesagt . . .« »Ich kannte Sie doch noch gar nicht. Wissen Sie, wenn Sie Ihre Bindung lösen würden, könnte ich Sie glücklich machen.« »Das bezweifle ich«, erwiderte Jonl kühl. »So? Kennen Sie wirklich den Unterschied zwischen einem jungen Mann und einem, der's hinter sich hat?«. Seine Stimme klang jetzt unverschämt, denn er war an leichte Eroberungen gewöhnt und konnte den Gedanken nicht ertragen, abzublitzen. Es hatte aufgehört zu regnen. Coman wollte gerade etwas sagen, als Sein tropfnaß aus dem Becken stieg. Lachend kam sie zu ihnen herüber, und ohne von dem jungen Mann Notiz zu nehmen, stellte sie sich über Coman und schüttelte sich, daß ihm die Wassertropfen auf Gesicht und Schultern spritzten. »Wollt ihr zwei denn nicht ins Wasser kommen?« Jark war sprachlos. »Erzählen Sie mir nicht, daß Sie alle drei ...« Jonl nickte. »Ich fürchte, heute ist Ihr Unglückstag.« »Das muß ein Ulk sein!« sagte er, und Ungläubigkeit breitete sich über das Gesicht des jungen Mannes. Coman stützte sich auf einen Ellbogen und schaute Jark zum erstenmal an. »Warum machen Sie nicht, daß Sie fortkommen, erregen Sie sich anderswo!« Bei dieser Beleidigung sprang der andere auf. »Ich hätte Lust, Sie zum Kampf in die Arena zu fordern!« »Womit denn, mit schmutzigen Windeln?« Comans Stimme klang müde. Er dachte: Das mußte geschehen. Konnte ich denn nicht meinen Mund halten und abwarten? Jetzt ... Jonl unterdrückte ein Lachen und sagte: »Mach keinen Ärger, Jark - er wickelt dich glatt ein. Du liebe Güte, du hast aber wirk
lich eine prachtvolle Figur.« Sie streckte die Hand aus und be rührte seine Wade. überrascht schaute er zu ihr hinunter, un sicher, ob sie es ernst meinte oder ob sie sich nur über ihn lustig machte.. Das würde er bald herausfinden. Als wolle sie ihn lieb kosen, glitten ihre Finger aufwärts, erreichten die Nervenzentren am Knie, kneteten und preßten geschwind. Er stieß einen Schrei aus, sein Bein knickte zusammen, der ganze Körper beschrieb einen Halbkreis, und in. dem Augenblick, als sein Hinterteil her umkam, versetzte ihm Jonl mit der Handfläche einen kräftigen Stoß. Er fiel direkt ins Becken, und Jonl stand mit funkelnden Augen auf und sagte: »Komm, Sein, wir wollen sein Feuer ersticken, bevor er wieder zu Atem kommt. Wenn wir mit ihm fertig sind, wird er nur noch fortkrabbeln wollen!« Die Sonne war wieder hervorgekommen und brannte auf das Schwimmbad und die Besucher herab, die weiße Mauer reflektierte das gleißende Licht, die Strahlen trieben wie kleine unaufhörlich durcheinanderwirbelnde Diamanten auf dem Wasser; die Wärme erfüllte Coman mit ihrer Kraft. Er liebte die Sonne und konnte ihren rauhen Atem und ihre schwere Hand länger ertragen als die meisten Menschen — eine Fähigkeit, die ihm bei den ersten Reisen auf den Merkur gut zustatten gekommen war. Nachdem Jark gnadenlos zwei- oder dreimal geduckt worden war, fand er seine gute Laune wieder und begann mit seinen Quälgeistern und einigen anderen Leuten Wasserball zu spielen. Coman hatte also Gelegenheit, ungestört die Menge beobachten zu können. Er hatte kein Glück. Derjenige, der seinen Sondie rungsversuch aufgefangen hatte, mußte sich entweder aus der Sichtweite zurückgezogen oder das Bad überhaupt verlassen ha ben. Aber es gab noch eine letzte Möglichkeit, ihn oder sie zu fin den, ohne selbst entdeckt zu werden, und Coman beschloß, die Chance wahrzunehmen. Der Weg in die Umkleidekabinen führte durch das Restaurant, und das wiederum erreichte man durch einen kurzen überdachten Gang, dessen Inneres im Schatten lag, der in der Nähe des Eingangs durch die scharfe Trennung vom hellen Sonnenlicht noch intensiviert wurde. Er erhob sich langsam und bewegte sich vorsichtig durch die. Menge, bis er in der Nähe des
Ganges war, dann schlüpfte er geschwind in den Schatten. Wenn der andere Telepath im Restaurant war und sich hinter ihm befand, dann schützte ihn nichts vor der Entdeckung. Er blickte zum Becken hinüber, lockerte die Wachsamkeit und unternahm eine allgemeine »Leseprobe« in seiner nächsten Umgebung. Einen Augenblick geschah nichts, dann empfing er die Frage: Wer bist du? Es war eine Frau — soviel wußte er jetzt. Ja, ich bin eine Frau. Wer bist du — und wo bist du? Aber er hatte seine Sinne wieder blockiert und trat rückwärts tiefer in den Schatten; er gebrauchte jetzt nur seine Augen und beobachtete intensiv die Stelle, von der die Fragen kamen. Auch sie mußte seine Richtung ungefähr ausgemacht haben und ebenfalls diese bestimmte Stelle scharf beobachten oder zumindest irgendwo hingehen, von wo aus ... Ah! Er hatte sie. Es war der weibliche Joker, vor dem ihn Karns gewarnt hatte. Das Bild ihres Kopfes und der Gesichtszüge, das Karns ihm geschickt hatte, übermittelte lediglich Knochenstruktur, Augen- und Haarfarbe und die hervorstechenden, zur Identifizierung notwendigen Merkmale. Nun erblickte er eine Frau von etwa 28 Jahren in einem knappsitzenden Badeanzug; sie war etwa 1,50 m groß, schlank und auf eine puppenhafte Weise hübsch. Auf Zehenspitzen versuchte sie, über die Köpfe und Schultern der Leute zu spähen. Selbst auf diese Entfernung hin — etwa 12 Meter lagen zwischen ihnen — kam es Coman so vor, als fühle er ihre grünen Augen auf sich ruhen, obgleich er wußte, daß er für sie unsichtbar sein mußte. Sie kam auf ihn zu, ihr Gesicht drückte Ärger und Ent schlossenheit aus. Er überlegte schnell. Ihr Blick konzentrierte sich jetzt auf den Eingang, und wenn er ins Licht trat, würde das ziemlich sicher die Identifizierung bedeuten. Zum zweitenmal an diesem Nachmittag hatte er bedauernswert voreilig gehandelt. Es würde ein Wettrennen geben, wer von ihnen zuerst angekleidet war — und dann? Er mußte Sein und Jonl allein lassen und sich später mit ihnen in Verbindung setzen, wenn sie den Empfänger wieder am Handgelenk trugen, denn die Frau durfte nichts von der Existenz der beiden erfahren. Während ihm diese Gedanken durch den Kopf schossen, eilte er auf die Kabine zu, und während er sich ankleidete, löste er die verräterischen Insignien vom Ärmel und steckte sie in die Tasche.
Bis er diese Frau los wurde, mußte er sich hinter einer völlig anderen Persönlichkeit verstecken. Er wußte, daß sie ihn jetzt finden würde. Bei dieser Entfernung hatten Telepathen kaum Schwierigkeiten, einander auszumachen, wenn sie auch nicht in der Lage waren, exakt die Gedanken des anderen zu lesen. Es war mehr ein Gefühl, vergleichbar dem, was ein Tier empfindet, wenn es von einer übernatürlichen Kraft gestreift wird. Er spürte sie bereits näher, sie suchte ... Irgendwo mußte er anfangen, und wenn es sich nicht vermeiden ließ, dann mußte er eben mitspielen — und vielleicht würde es ihm sogar gelingen, das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden. Neugieriges kleines Stück, dachte er offen. Oh, da also bist du, dachte sie zurück. Warum bist du fort gelaufen? Ich habe Angst vor Frauen. Sieht ganz so aus. Gib mir ein Bild von dir. Auf diese Bitte antwortete er nicht, kleidete sich fertig an und ging ins Restaurant. Er hatte sich in die Situation gefügt und hoffte wider besseres Wissen, daß weder Sein noch Jonl ihn ver mißten. Er setzte sich an einen Tisch und wartete. Nach ein paar Minuten tauchte sie aus der Ankleidekabine für Damen auf, die an der gegenüberliegenden Seite des Raumes lag, und sah sich schnell um. Er begegnete ihrem Blick ohne Umschweife, und sie kam auf ihn zu, zupfte an dünnen eleganten Handschuhen, die ihre nackten Arme zur Hälfte bedeckten. Sie trug ein enganliegen des zweiteiliges Kostüm aus einem schimmernden Material mit farbigen Kristallmustern. Sie schaute ihn fest an und sagte: »Sie sind ja ganz schön hart gesotten — wollen Sie mir nichts zu trinken spendieren?« Er schüttelte den Kopf. »Ich suche einen Ort, wo ich eine Zigarette rauchen kann. Wissen Sie etwas?« »Sie sind fremd hier?« »Ich bin gerade auf den Planeten zurückgekehrt. Das letztemal war ich vor zwei Jahren auf der Erde.« »Warum sind Sie hier — machen Sie Urlaub?« Er nickte. »Ich bin Geologe und komme von einer Expedition zum Merkur zurück.« »Und Telepath?« Er stand auf und ergriff ihren Arm. »Sprechen Sie leise. Ich habe gehört, daß das an einigen Orten ausreicht, um gelyncht zu
werden.« Sie warf ihm einen scharfen Blick zu, ließ es jedoch geschehen, daß er sie zum Ausgang führte. Coman wußte, daß sie von Natur aus ihm gegenüber mißtrauisch war, aber er wußte gleichfalls, daß sie sich von ihm angezogen fühlte, und das war beruhigend. Solange er Sein und Jonl und den Zweck seiner Reise vorübergehend »vergessen« konnte, war alles in Ordnung, und er konnte möglicherweise sogar einen Vorteil für sich herausschlagen. Als sie vor dem Gebäude standen, löste sie ihren Arm aus seinem Griff und sah ihn kühl an. »Sie gehören nicht zufällig zur großen Bruderschaft der Humanitätsapostel?« »Um Himmels willen, mir wird ganz schlecht, wenn ich das nur höre — ich arbeite ausschließlich für mich selbst.« »Warum haben Sie versucht, mir auszuweichen — zweimal?« »Ebensogut könnte ich fragen, warum Sie so eifrig bemüht waren, mich zu finden.« »Stellen Sie sich nicht dumm. Es ist ganz natürlich, daß wir uns begrüßen und Geheimnisse austauschen — das müssen Sie doch wissen.« »Ich weiß es 'auch. Tut mir leid, aber ich bin lange fort gewesen und habe mich inzwischen daran gewöhnt, mit mir allein zu sein.« »Sie scheinen ein liebenswürdiger Halunke zu sein«, sagte sie und lächelte nun. »Ich kann kaum glauben, daß Sie Geologe sind und daß Sie auf dem Merkur waren.« »Nein? Nun, dann lesen Sie in mir.« Er übermittelte ihr das Bild einer anderen Zeit, die Hitze und das blendende Weiß des Sandes und der Felsen, die erstickenden blauen Staubwolken und die unvorstellbare Müdigkeit von der Arbeit im dicken Asbestanzug mit mangelhafter Sauerstoffzufuhr, er übermittelte ihr einen Eindruck davon, wie es ist, wenn man Experimente leitet unter den fürchterlichsten Bedingungen, die jemals ein Vermessungsteam irgendwo im interplanetaren Raum durchgestanden hat. Es machte nichts, daß die Szenen einige Jahre alt waren; sie konnte das nicht wissen, weil er nicht andeutete, wann es gewesen war. Sie stieß eine Verwünschung aus. »Beim Namen eines schwarzen Kometen! Was, um alles in der Welt, hatten Sie denn da zu suchen?«
»Ich war bereits Geologe, als ich meine telepathische Begabung
entdeckte.«
»Sie meinen, Sie lieben Ihre Arbeit wirklich?«
Er nickte, und sie lächelte ein wenig schief. »Sie müssen nicht
ganz richtig sein. Ich heiße Linnel — und Sie?«
Er nannte seinen Namen, und sie sagte: »Kommen Sie, ich zeige
Ihnen ein Lokal, wo wir trinken und rauchen können.«
Sie saßen in einem langen, spärlich erleuchteten Raum. Auf einer
winzigen Bühne tanzten vier oder fünf nackte Mädchen von der
Erde und der Venus zu einem rhythmischen Beat.
»Machen Sie auch Urlaub?« erkundigte sie Coman.
»Ich mache immer Urlaub«, antwortete Linnel. Sie hatte einen
kleinen, wohlgeformten, aber entschlossenen Mund und winzige,
zarte Nasenflügel. Alles an ihr war klein, bis auf die riesigen,
leuchtendgrünen Augen.
»Das kann ich nicht glauben«, sagte er lächelnd.
»Hmm, Und ich kann nicht glauben, daß Sie ein Geologe auf
Urlaub sind.«
»Es hat ganz den Anschein, als müßten wir es dabei belassen«,
antwortete er, »weil wir schließlich beide ein Recht auf private
Zweifel haben.« Er stand auf. »Ich glaube, wir machen besser
Schluß damit, was meinen Sie?. Vielleicht begegnen wir uns noch
einmal.«
»He, warum diese Eile?« fragte sie. »Setzen Sie sich. Haben Sie
etwas dagegen, wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie mag? Der
Geruch der Stärke umgibt Sie, und das ist bei Telepathen selten.
Ich möchte wissen, was für ein Liebhaber Sie sind.«
»Ausreichend«, antwortete er und ließ sich in seinen Sessel zu
rücksinken. Er bestellte noch einmal, und Linnel lächelte.
»Vermutlich haben Sie bereits eine Spielgefährtin für die Ferien
gefunden.« .
Er antwortete nicht. Hinter der Schutzsperre seines Verstandes
versuchte er auf notwendigerweise begrenzter Ebene konstruktiv
zu denken. Das war schwierig, denn von dem Augenblick an, als
sie sich gesetzt hatten, spürte er, daß sie sich vorsichtig und zö
gernd vortastete, darauf wartete, daß er mit ihr Gedanken aus
tauschte. Kurz zuvor war er einen Augenblick allein gewesen und
hatte diese Gelegenheit genutzt, um sich mit Jonl über den
Sender am Handgelenk in Verbindung zu setzen. Er hatte ihr
gesagt, sie solle so lange mit Sein im Bad bleiben, bis er zurückkäme; aber wenn er sie zu lange allein ließ, konnte ihnen etwas zustoßen. Es war nicht ungewöhnlich, daß gutaussehende Frauen, die schutzlos zurückblieben, spurlos von der Bildfläche verschwanden. Wenn er Linnel jedoch ausreichend entwaffnen konnte, gelang es ihm vielleicht, herauszufinden, wo sie und ihr Gefährte wohnten. Sie sagte gerade: »O kommen Sie, ist es nicht an der Zeit, daß wir uns genau kennenlernen? Sie dürfen zuerst in mich hineinsehen, wenn Sie wollen.« Er entspannte sich und nickte, die Aufregung in ihren Augen entging ihm nicht. Zunächst sah er nur, was er sehen sollte: ihren kleinen exquisi ten Körper, ohne die Kleider, die sie augenblicklich trug. Sie drehte sich langsam, zögernd, ließ ihn ihre Reize gründlich betrachten. Diese Bilder vermischten sich mit der Demonstration einiger erotischer Künste, die sie erlernt hatte und die sie anscheinend mit ihm gemeinsam praktizieren wollte. In allem lag jedoch Unehrlichkeit, und als Coman seine erste Überraschung überwunden hatte, drang er tiefer, drang hinter diese Bilder auf andere Ebenen, warf schnell einen Blick in die vielen Räume, bevor sie sich vor ihm verschließen konnten.... Blitzartig, unvollständig und verworren, abgelenkt durch Querströmungen und Muster, sah er den Joker, mit dem sie zusammenarbeitete und den sie haßte, er erblickte das Zimmer, in dem sie wohnte, Marst, unbekannte Gesichter, wieder Marst ... noch weiter zurück einen ehemaligen Geliebten, andere ... noch weiter zurück erhaschte er sogar einen Blick auf das verlorene Kind, das in allen Jokern wohnte ... Dann verschloß sie sich unvermittelt. »Sie sind stark und neu gierig. Waren Sie mit dem, was ich Ihnen zeigte, nicht zufrieden?« »Ihr Körper ist wunderschön und aufregend, aber der Körper ist nicht alles.« Sie brach in ein irritiertes Gelächter aus. »Ich verstehe Sie nicht. Sie sprechen nicht wie ein Joker, aber den Stempel eines Verbin dungsmannes tragen Sie auch nicht. Im allgemeinen kann ich die beiden Arten gut auseinanderhalten.«, »Das hängt alles mit meinem Charme zusammen — dieses An derssein.« Sie verzog den Mund. »Lassen Sie mich in Ihnen lesen. Vielleicht
erfahre ich mehr.« Es gab nur eine Möglichkeit, sie davon abzuhalten, daß sie die Erinnerungsblockierungen in seinem Verstand aufstöberte und befragte. Joker konnten nicht weiter vordringen, aber er wußte, daß sie klug war und interessiert genug. Wenn es ihm nicht gelang, sie abzulenken, würde sie der Wahrheit ziemlich nahekommen. Er zeigte sich ihr also auf die gleiche Weise, wie sie sich ihm ge zeigt hatte, jedoch mit einer solchen Brillanz und Leidenschaft, daß sie mit beinahe wilder Kraft in seine Gedanken gezogen wurde. Die Bilder flossen eindringlich und schnell, ihr Inhalt wurde immer faszinierender und gleichzeitig unbarmherzig aufreizend, bis sie plötzlich aufstand und zitternd den Kopf abwandte. »Hören Sie auf.« »Ich dachte, das war's, was Sie wollten.« »Das war nicht fair.« Sie wandte sich um, aber jetzt waren ihre Augen sanft und nicht mehr durchdringend. »Mein Wort, Sie kön nen mit — Frauen umgehen. Wie konnten Sie es bei all diesen Felsen und Fossilien aushalten, wenn nicht eine einzige Frau in Sicht war?« »Wenn es nötig ist, kann ich Frauen völlig vergessen.« Sie lachte ein wenig gekünstelt. »Nach dieser Vorstellung kann man sich das schwer vorstellen.« Sie war von dem, was sie gesehen und gefühlt hatte, betäubt und hatte ihre frühere Wachsamkeit und ihr Mißtrauen verloren. »Rauchen Sie«, sagte Coman. Zwischen ihnen beiden bestand nun eine andere Atmosphäre; sie hatten einander in Gedanken bereits geliebt. Jetzt entdeckte er die Existenz eines Angstneurons und schloß daraus, daß sie sich an ihren Auftrag erinnerte und darüber nachdachte, wie unklug eine sexuelle Verbindung unter den gegenwärtigen Umständen sein könnte. Er beschloß nachzu helfen. »Sie haben Ferien, ich ebenfalls. Also ...?« »Bitte ...«, sagte sie. Sie nahm die Zigarette und wandte ihr Gesicht ab, als betrachte sie die herumwirbelnden Tänzerinnen. Dann wandte sie sich ihm mit einer schnellen nervösen Bewegung zu und hielt ihm die Zigarette zum Anzünden hin. Als er ihr Feuer gab, begegneten sich ihre Blicke und ihre Gedanken, vermischten sich sanft, liebkosend, beschäftigten sich mit nichts
anderem als der Person, dem Geschmack und der Sensibilität.
Sie dachte: Ich weiß, was du willst, und du weißt, was ich emp
finde, aber es geht nicht. Im Augenblick jedenfalls nicht. Nicht in
den nächsten paar Tagen..
Warum nicht?
Ich habe dich belogen. Ich mache keinen Urlaub. Ich muß einen
Auftrag erledigen, und ich werde gut dafür bezahlt.
Ich besitze viele Koneen.
Es ist nicht nur das Geld. Wenn ich Schwäche zeige oder versage,
werde ich zur Rechenschaft gezogen.
Dann ... bist du also Mitglied irgendeiner Bande!
Es entstand eine Pause.
Ja.
Kann ich mitmachen?
Narr, natürlich nicht.
Sie wandte den Blick ab, ließ den Zigarettenstummel in das
Abzugsrohr in der Mitte des Tisches fallen und stand auf.
»Jetzt bin ich an der Reihe, den Dingen ein Ende zu bereiten —
vorläufig wenigstens«, sagte sie. »Schauen Sie mich nicht so an,
ich kann nicht — ich darf nicht — meinen persönlichen
Wünschen nachgeben. Diesmal nicht. Wo kann ich Sie finden?«
»Bisher habe ich noch keine Bleibe. Wäre es nicht besser, wenn
Sie mir Ihre Adresse geben?«
»Nein«, erwiderte sie abrupt. Sie war ärgerlich und fürchtete sich,
weil sie sich mit ihm so weit eingelassen hatte, daß sie die
Situation nicht kalt und objektiv betrachten konnte. Sie wußte,
daß es am richtigsten war, sofort aufzuhören und zu hoffen, daß
man sich irgendwann einmal in der Zukunft begegnete. Aber nur
wenige Joker hofften auf etwas — am wenigsten auf die Zukunft.
Sie zögerte also. »Ich kann Ihnen die Adresse nicht geben, aber
ichsage Ihnen den Distrikt. Es ist in der Martel-Sektion, wo all die
Souvenirs und Nippessachen für die Touristen verkauft werden,
an der Südseite des Großen Parks. Kommen Sie in drei Tagen
gegen mittag dorthin und warten Sie in der >Willow Bar< auf
mich.«
»Das werde ich tun«, sagte er.
Sie schaute ihn ernst an. »Versprechen Sie mir, daß Sie nicht
vorher versuchen werden, mich zu finden?«
»Ich werde nicht eher kommen, es sei denn, ich halte es für
unbedingt notwendig.«
»Ist diese Einschränkung notwendig?« »Ich fürchte ja. Ich möchte nicht gern, daß Sie in Gefahr geraten. Warum müssen Sie sich für Kriminelle als Werkzeug hergeben?« Sie seufzte. »Das geht Sie nichts an, und Sie dürfen sich nicht einmischen. Wollen Sie mich nicht zum Abschied küssen?« »Soll ich?« »Nein, vielleicht lieber nicht. Sie haben mir bereits genug ange tan.« Coman beobachtete, wie die schlanke Gestalt durch die Tische hindurch zur Tür ging und ohne sich umzuschauen verschwand; dann entspannte er sich bei einer weiteren Zigarette. Er hatte sie nicht gern belogen, sie zu erregen jedoch hatte ihm Spaß gemacht, hauptsächlich deswegen, weil sie das Spiel selbst begonnen hatte. Er begann einiges von dem, was er erfahren hatte, zu ordnen und sorgfältig zu untersuchen. Linnels telepathische Kräfte ent sprangen der Furcht und hatten sich allmählich in einer Kindheit voller Bosheit und Grausamkeit entwickelt. Jetzt besaß nichts mehr wirklichen Wert für sie, außer ihren eigenen Vergnügungen, und die waren in der Hauptsache sinnlicher Natur. Wie die mei sten Joker konnte sie von ihrem Zynismus und ihrer Hoffnungs losigkeit geheilt werden, jedoch nur, wenn sie selbst dabei half. Eine Wandlung war kaum möglich, weil es schwer war, die eigent liche Bewußtheit zu erreichen. Sie wurde von Träumen gepeinigt und nahm viele Drogen. Vermutlich würde sie durch Selbstmord enden. Er besaß ein Bild von dem Gebäude, in dem sie wohnte, und er wußte, daß der männliche Joker nicht dort lebte. Sie arbeitete als Sekretärin, offensichtlich um ihre eigentliche Arbeit zu maskie ren. Unter ihrer linken Brust verborgen trug sie eine todbringende Waffe, die über eine Entfernung von 15 Metern lautlos feuerte; er war sicher, daß sie mit der Waffe vertraut war und sie auch gut zu benutzen wußte. Was hatte sie über ihn erfahren? Nicht viel, hoffentlich nur, daß sie ihm gefiel und er mit ihr ins Bett gehen wollte. Er warf einen Blick auf den Zeitfaktoren und sah, daß eine Stunde vergangen war, seitdem er das Bad verlassen hatte.
6
Als er zurückkehrte, warteten Sein und Jonl angekleidet im Re staurant, gemeinsam mit Jark, der ihnen offensichtlich Getränke spendiert hatte und zu dem Schluß gekommen sein mochte, daß ihm nun doch noch das Glück winkte. »Es war nett von Ihnen, als Eskorte zu dienen, und es ist ein Jammer, daß Sie nun gehen müssen«, bemerkte Coman. Jark sah verstimmt aus, hatte sich jedoch einigermaßen gesam melt, denn im Grunde seines Herzens war er recht gutmütig. Er erhob sich und sagte: »Unsere Begegnung stand unter einem schlechten Stern, und ich hatte gerade der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß ich meine Bereitschaft zur Wiedergutmachung beweisen könnte, indem ich Sie alle drei heute abend zu mir einlade.« »Es wird uns ein Vergnügen sein«, sagte Jonl, bevor Coman antworten konnte. Jark verneigte sich. »Dann bis heute abend acht Uhr. Sie haben die Adresse, und ich kann Ihnen versichern, daß meine Mutter entzückt sein wird, Sie alle kennenzulernen.« Mit einem höflichen Lächeln verließ er sie, ging beschwingt und elegant zum Ausgang. »Wie hübsch«, murmelte Coman. »Sei nicht so mürrisch«, sagte Jonl. »Wir machen Urlaub, nicht wahr? Als du fort warst, zeigte er sich außerordentlich umgänglich und unterhaltsam, und es sieht so aus, als wäre er der. Sohn von Doln Raylond, die eine Menge Geld für die Gesellschaft zur Verhütung von Selbstmord spendet, deren Mitglied ich bin. Und jetzt müssen wir dir zwei Fragen stellen. Wo bist du gewesen, und warum hast du die Insignien abgelegt, die uns verbinden?« Er blickte schuldbewußt auf die leere Stelle an seinem Ärmel. »Ich kann euch versichern, daß es nur vorübergehend ist.« »Gut, daß Jark es nicht gemerkt hat«, sagte Sein. »Oder vielleicht hat er doch?« »Für mich besteht kein Zweifel«, sagte Jonl, »daß du mit einer anderen Frau zusammen gewesen bist. Jetzt sind Erklärungen angebracht.« »Ich fürchte, du wirst dich ein wenig gedulden müssen.« »Nun hör mal zu, Claus Coman, machen wir hier Urlaub oder nicht?«
»Ich habe euch vorher gesagt, daß ich zuerst etwas anderes erle digen muß«, sagte er. »Ja, aber warum erzählst du uns dann nichts darüber, vielleicht könnten wir dir helfen, die Sache zu erledigen.« Er starrte sie an, und sie verstummte. Diesen Blick kannte sie sehr gut, und er sagte ihr, daß er wieder einmal unwiderruflich verpflichtet war, einen Befehl der Schlüsselorganisation auszuführen. »Es ist also eine große Sache«, sagte sie tonlos. Coman zuckte die Schultern. »Es kann leicht und ungefährlich sein — oder auch nicht. Auf jeden Fall möchte ich nicht, daß ihr zwei in die Sache verwickelt werdet. Ich brauche nur ein oder zwei Tage, dann können wir alle zusammen ausspannen.« »Ach so«, sagte Jonl. »Gerade solange, bis das Komitee einen Beschluß gefaßt hat. Verrate uns wenigstens das eine: ist die Sache sehr gefährlich?« »Das hängt davon ab, was man unter Gefahr versteht«, antwortete er unbeschwert. »Jede Zelle des menschlichen Körpers enthält Elemente, die jederzeit ihr Verhältnis zueinander verändern und uns somit töten oder verstümmeln können. Wir sind ununterbrochen von der Gefahr umgeben und eingeschlossen.« »Teufel auch, das sind die alltäglichen Gefahren — aber du scheinst auf spezielle Schwierigkeiten aus zu sein.« »Ich habe euch schon früher erzählt, daß der Besitz ungewöhn licher Fähigkeiten mir Pflichten auferlegt, die ich ausführen muß.« Er legte seine Hand auf ihre und hielt sie so lange fest, bis sie sich entspannte. »Diese Frage steht immer zwischen uns«, sagte sie. »Dir ist nichts wichtiger als der Verbindungsjob. Alles andere, uns beide eingeschlossen, zählt wenig.« »Claus«, hauchte Sein, »du hast uns Urlaub versprochen.« »Und den bekommt ihr auch«, antwortete er lächelnd. »Für euch zwei hat er bereits begonnen, und ich werde mich euch in zwei Tagen anschließen.« »Du meinst, du willst uns verlassen?« beide starrten ihn empört an. »Du bist verrückt«, sagte Jonl. »In solchen Zeiten, an einem Ort wie die Fünfzehnte Stadt. Wie sollen wir uns denn schützen? Dein Freund Deenan kann es nicht.« Seine Augen wurden schmal, als er erkannte, worauf sie
hinauswollte, aber er hatte sich entschieden. Es würde für sie alle sicherer sein, wenn er sich die nächsten achtundvierzig Stunden von ihnen fernhielt. »Wie gut kennst du diese Doln Raylond?« fragte er. »Ich bin ihr noch nie begegnet, aber ich habe eine Menge über sie gehört«, antwortete Jonl. »In ihrer Jugend hat sie geheiratet —das war eine der letzten Zeremonien, die überhaupt abgehalten wurden —, und zwar einen bedeutenden Industriellen. Es war eine »Liebesheirat«, und dieser Jark entsprang der Vereinigung. Der Mann starb, und Doln blieb mit hundert Millionen Koneen zurück. Sie ist in der ganzen Welt für ihre Spenden bekannt.« »Vorzüglich. Ihr werdet gut miteinander auskommen. Glaubst du, daß du sie dazu bringen kannst, daß sie euch die nächsten beiden Tage als Gäste aufnimmt?« Jonl starrte ihn an. »Daran habe ich nicht gedacht. Ich glaube schon. Für Leute ihrer Art würde bereits die Tatsache ausreichen, daß ich die Tochter eines Richters bin, um ihre Gastfreundschaft zu garantieren. Die bloße Erwähnung des Gesetzes klingt den Rei chen immer gut in den Ohren.« »Dann mußt du das tun, und alles ist in Ordnung. Wenn sie euch eingeladen hat, gibst du mir Bescheid, dann lasse ich euch das Gepäck schicken. Danach dürfen wir keinen Kontakt miteinander aufnehmen, bis ich fertig bin. Bleibt nach Möglichkeit im Haus und auf dem Grundstück, es sei denn, ihr habt ausreichende Be gleitung bei euch.« »Und Jark Raylond? Ich dachte, du magst ihn nicht.« »Natürlich mag ich ihn nicht. Er begehrt dich und hat seinen Wunsch noch nicht aufgegeben, das Ziel zu erreichen. Er wird überglücklich sein, euch unter dem Dach seiner Mutter zu haben. Seine Freude wird keine Grenzen kennen, wenn er erfährt, daß ich anderweitig beschäftigt bin. Aber sicher ist, daß er euch vor anderen schützen wird, und ich wiederum verlasse mich auf euch, daß ihr euch vor ihm schützt.« Trotz dieser Wendung der Ereignisse lächelten sie. »Und inzwischen machst du dir eine herrliche Zeit mit dieser anderen Frau«, sagte Sein. »Das bezweifle ich. Sagt mal, seid ihr für oder gegen die Ein führung einer Kriegssektion?« »Ich finde den Gedanken abscheulich«, sagte Sein schaudernd. »Was soll diese gewichtige Frage?« erkundigte sich Jonl.
»Du hast ganz richtig vermutet, daß meine Aufgabe mit der Lösung dieses Problems zusammenhängt.« »Was für einen Unterschied würde dann unsere Meinung ma chen?« »Keinen. Aber ich würde gern wissen, wie ihr darüber denkt.« »Ich bin noch zu keinem Urteil gekommen. Als Frau sollte ich den Gedanken eigentlich verdammen. Es spricht allen Regeln der Humanität hohn, Menschen in einen Dschungel zu setzen, wo sie aufeinander Jagd machen und sich gegenseitig töten. Andererseits waren alle unsere sogenannten Zivilisationen bis zum heutigen Tage kaum etwas anderes. Und selbst wenn wir diese Gewaltverbrecher einsperren, wird der Rest von uns fortfahren, sich gegenseitig zu bekämpfen und Jagd aufeinander zu machen, weniger öffentlich, aber trotzdem nicht weniger grausam. Oh, ich weiß es nicht — vielleicht sollte man es versuchen, solange es ein Experiment bleibt für die Forschung — ich weiß es wirklich nicht.« »Aber ich«, sagte Sein. »Moralisch gesehen ist es falsch und kann nur zu einer Tragödie werden — für alle Menschen. Es ist schlimmer als >Die Spieleerhaben< sind?« Coman schaute ihn nachdenklich an. »Sie sind kein einfacher Mann, Vane. Niemand von uns ist einfach, weil wir alle gezwun gen sind, auf vielen Ebenen zu denken und manchmal sogar auf verschiedenen gleichzeitig. Wenn ich Ihnen versichere, daß es ne ben den offensichtlichen Gründen noch andere gibt — können Sie dann begreifen, daß wir eine Kriegssektion brauchen?« Vane runzelte die Stirn. »Ich sehe, daß die Frage insgesamt schwieriger und vielschichtiger ist, als ich gedacht habe.« »Und verwickelt ist auch die Antwort. Nun erzählen Sie mir nach Möglichkeit, was für Wachen man in Marsts Nähe postiert hat.« »Nun, mindestens zwei normale Menschen mit geringer Intelligenz und natürlich die Telepathin. Ich konnte ihre genaue Position nicht aufspüren, zweifellos jedoch wohnt oder arbeitet sie im gleichen Hotel wie Marst — auf diese Weise bereitet es ihr keine Schwierigkeit, zu erfahren, was vor sich geht.« »Was ist mit der Polizei?« fragte Coman. »Unzuverlässig. In dieser Stadt sind sie besonders korrupt und werden nicht einschreiten, bevor Marsts leibliche Sicherheit be droht ist. Es ginge wohl zu weit, zu behaupten, daß sie die Leute, die hinter Harkor stehen, aktiv unterstützen, aber keinesfalls soll te man von ihnen irgendwelche Hilfe erwarten.« »Daran habe ich auch nicht gedacht«, sagte Coman. Er überlegte und sagte dann: »Lediglich die Anwesenheit der Joker macht alles so schwierig. Einer oder auch beide müssen irgendwie unschädlich gemacht werden. »Sie meinen, Sie wollen ... sie töten?« »Nicht unbedingt. Wenn Harkor nach seiner Rückkehr etwa eine Stunde hier aufgehalten werden kann, habe ich es nur mit dem Mädchen zu tun. Vorhin sagte ich, Sie könnten die Stadt sofort verlassen, aber wenn Sie noch ein wenig länger bleiben . . .« »Natürlich. Auch wenn Sie anderer Meinung sind: Ich bin kein Nervenbündel.« Coman schaute ihn an. »Sie sind ein besserer Verbindungsmann als ich, und wir beide wissen das. Verzeihen Sie, wenn es so aussieht, als hätte ich diese Tatsache vergessen.«
bestimmtes Verhältnis bestanden haben, eine Art Einfühlungsvermögen, das, im Hinblick auf ihre unterschiedliche Art, Marst stets fasziniert hatte und auch heute noch faszinierte, ungeachtet der Tatsache, daß sich ihre Wege getrennt hatten und sie einander nicht mehr begegnet waren. Da war auch ein Mädchen, das Marst geliebt hatte; das Mädchen war gestorben ... »Karns ist der beste Mensch«, sagte Marst und artikulierte die Worte kaum. »Und doch kann er sich irren.« »Jeder von uns kann sich hier und da irren. Aber Sie wissen, daß Karns ein Mensch ist, dem das Beste der Menschheit am Herzen liegt; er hat sorgfältig über diese Sache nachgedacht.« Marst schien in die Enge getrieben. »Wie ist das möglich? Wie kann man zu einem solchen Schluß kommen? Es wäre doch, gelinde ausgedrückt, unvernünftig, wenn man böse Menschen zusammensperrt und sie mit jungen, unausgeglichenen Menschen allein läßt — Menschen, die bei richtiger Behandlung zu harmlosen, vielleicht sogar nützlichen Bürgern werden könnten.« Coman nickte. »Viele Arten der Behandlung sind bereits ange wendet worden — ohne Erfolg. Gerade weil wir es mit jungen Menschen zu tun haben, befürworten wir einen vollständigen Ab schied von dieser Zivilisation. Hier müssen sie verkümmern, er sticken unter dem Gewicht der Bedingungen, unter denen wir exi stieren.« »Was wollen Sie damit genau sagen?« »Fragen Sie sich selbst. Was halten Sie wirklich von unserer Zivilisation?« Das offene Gesicht wurde zur ausdruckslosen Maske, nur die Augen, die hinter den Linsen stark vergrößert wurden, schienen lebendig. Schließlich blies Marst erregt durch die Lippen und sagte: »Ich halte nicht besonders viel davon, aber es ist lediglich eine Reflexion des alten Kampfes, des gleichen Kampfes, der unsere gesamte Geschichte markiert.« »Genau — eine Reflexion. Ein Schriftsteller namens Oscar Wilde hat einmal eine Geschichte geschrieben, die von dem Bildnis eines jungen Mannes handelte, das den allmählichen Verfall des Mannes im Laufe seines Lebens spiegelte. Zum Schluß war das Spiegelbild zu widerlich, als daß man es beschreiben konnte.« Er hielt inne und fuhr dann fort: »Ich bin ein sinnlicher Mensch und liebe das Vergnügen, aber der Homo sapiens lebt heute
ausschließlich mit den Sinnen und für die Sinne. Die Schurken und die klugen Narren hatten stets die meiste Macht inne, aber bei der heutigen Technik und mit Hilfe der Wissenschaft ist ihre Herrschaft übermächtig geworden.« Wiederum schwieg er. Er wollte Marst eigentlich erzählen, daß er lediglich ein Werkzeug sei, daß man ihn an die Spitze des Komitees gestellt hatte, weil man wußte, daß sein Charakter und seine Einstellung nur ein einziges Ergebnis zuließen. Aber das war nicht nötig. Marst hatte das bereits vermutet. Coman sprach weiter: »Sie regieren und ernennen ihre eigenen Nachfolger. Wie hätte sonst ein Mann wie Sie bei der letzten Wahl aus dem Weltrat ausgeschlossen werden können? Wie kann es angehen, daß ein Drittel dieses Rates krimineller Abstammung ist, obgleich man sie nicht direkt als Kriminelle bezeichnen kann, weil die Väter so erfolgreich waren, daß die Kinder es nicht nötig haben, selbst Verbrechen zu begehen — sie sind in der Tat so weit davon entfernt, daß ein bedeutender Teil von ihnen zu den ersten gehören würde, die den Gedanken einer Kriegssektion befürworten.« »Und doch wollen Sie ihnen den Gefallen tun?« Coman seufzte, seine Augen glänzten. »Ja, ich möchte ihnen einen Gefallen tun und den anderen, verängstigten, ehrlichen Bürgern, die lediglich in Ruhe und Frieden ihr Vermögen stapeln wollen, und all den armen Seelen, die nur noch Automaten sind, die unglaublich Verhätschelten und Übersättigten, deren leibliche Kinder sich gegen sie wenden und sie vernichten, um dem gleichen Schicksal zu entgehen.« Eine Stille entstand. Nur selten sprach er so lange, aber es, war in diesem Falle nötig. Das Mädchen hatte sich fest verschlossen, und er konnte nicht feststellen, was sie dachte. Marst sagte ruhig: »Und die anderen, diejenigen, denen Sie nicht gefallen wollen — jene, die die eigentlichen Feinde sind?« »Derjenige, der der eigentliche Feind ist«, korrigierte Coman, und Marst lächelte zum erstenmal. »Der eigentliche Feind liegt mehr oder weniger in uns allen. Lethargie, Apathie, der Haß auf Veränderungen und neue Entscheidungen, der Wunsch, zu genie ßen und zu vergessen, zu loben und Speichel zu lecken, zu unter schätzen und zu übersehen; die Furcht davor, aus sich herauszu gehen, davor, eine Gelegenheit zu nützen, vor Leiden und Sterben — der Feind hat hundert verschiedene Gesichter.«
Marst überlegte, prüfte und erinnerte sich dann. »Ein Teil meines Verstandes erkannte Ihren Namen und auch Ihr Gesicht, als Sie eintraten, aber erst jetzt fällt mir alles wieder ein. Waren Sie nicht der Mann, der vor zwei Jahren das Raumschiff Venture IV vor der Zerstörung bewahrte?« »Ich gehörte zur Mannschaft.« Der andere nickte. »Das hat damals großes Aufsehen erregt. Ich habe im Fernsehen die Sache als Schauspiel gesehen und fand es sehr eindrucksvoll. Sie wurden aber auch angemessen belohnt, glaube ich.« Coman sah verwirrt aus. »Wie meinen Sie das?« »Mit einem blonden Mädchen, hatte gute Beziehungen, war recht begehrt. War vermutlich von Ihrem Können und Ihrer Wag halsigkeit überwältigt; sie ließ alles hinter sich und kam zu Ih nen. « »Sie ist noch immer bei mir«, erwiderte Coman kurz. All dies war ein Vorwand für einen anderen, wichtigeren Gedanken, und es hatte keinen Zweck, ungeduldig zu werden. »Das freut mich. Ihr Vater und ihre Mutter waren ziemlich verzweifelt über den Zwischenfall, weil sie große Pläne für das Mädchen hatten. Ich kenne sie zufällig näher ...« »Dann teilen Sie ihnen bitte, falls Sie sie treffen sollten, die Tatsache mit, daß es ihr gutgeht und sie glücklich ist.« Marst lächelte. »Sie sind Narren, und sie lieben in Wirklichkeit nur sich selbst. Ich könnte einen Drink vertragen — einen starken. Und Sie?« Coman nickte, und Marst gab Linnel ein Zeichen. Sie erhob sich und instruierte den Dienstroboter. Coman beobachtete sie, fragte sich, ob sie versuchen würde, sich mit ihren Kollegen in Verbin dung zu setzen. Sie wußte jetzt praktisch alles Wichtige über ihn, aber er machte sich keine Sorgen. Es war ihm gelungen, zu Marst vorzudringen, und er hatte sein Bestes getan, um ihn zu veranlassen, das Problem noch einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Coman erhob sich und schritt auf und ab, blieb einen Moment stehen, um seine Zigarette auszudrücken und eine neue anzuzünden, während der andere teilnahmslos zuschaute. Nach einem Augenblick sagte Marst: »Fassen wir noch einmal zusammen — ihr glaubt, daß man mit diesen Gewalttätern und Rebellen eine neue Art des Zusammenlebens schaffen kann —
mit Hilfe der Verbindungsmänner natürlich.« »Warum nicht? Vorausgesetzt, das Gebiet ist groß und weit genug entfernt, ein Satellit oder sogar ein kleiner Planet, dabei spielt es keine Rolle, wie rauh das Klima oder wie dürftig die Bedingungen zur Erhaltung unserer Lebensform sind ...« »Entlegen oder nicht, das Gebiet müßte auf jeden Fall von der Erde aus streng überwacht werden.« Coman zuckte die Schultern, und Marst fuhr nachdenklich fort: »Eine phantastische Idee; aber schließlich leben wir in einer Zeit, die vor hundert Jahren auch noch als unglaublich phantastisch gegolten hätte. Überdies leben wir, fürchte ich, in einem Zeitalter des akuten Pessimismus und Zynismus. Wie kann man glauben, daß einem solchen System Er folg beschieden sein könnte, daß es etwas Neues und Wertvolles hervorbringen könnte und nicht in ein weiteres Schauspiel der Barbarei und des Irrsinns ausartet?« Coman schwieg, und Linnel kehrte mit dem Tablett zurück, das sie vom Roboter erhalten hatte. Sie schenkten sich ein. Linnels Augen waren ausdruckslos, und als Coman das Glas erhob, ver suchte er vergebens, die Barriere, die sie errichtet hatte, zu durchdringen. Er sagte: »Ich wünschte, ich könnte Ihnen klarmachen, daß wir recht haben.« Marst verzog das Gesicht. »Ich bin kein Narr, obgleich ich nicht Gedanken lesen kann. Es kommt mir so vor, als hätten Sie ein wenig mehr mit der Sache, die Sie fördern, zu tun.« »Karns unterstützt sie.« »Vielleicht, und Sie sind ihm in Gedanken näher, weil Sie ein >Ausführender< sind. Es gibt nicht viele Verbindungsmänner, und die wichtigsten sind die >AusführendenSag es Marst.< Ich wußte, daß ich mir das Ganze nicht eingebildet hatte, und darum habe ich es Marst sofort erzählt.« »Das ist mir auch ein Rätsel«, sagte Coman, ergriff ihren Arm und führte sie auf die Straße, wo sie ein Laufband betraten, das in den Westen der Stadt führte. Auf einem Band in der Nähe, das nach Süden ging, tanzten und grölten einige junge Leute, und als sie vorüber waren, fragte er: »Wie hat er es aufgenommen?« »Ich habe ihm alles erzählt, auch, was mit Harkor und mir los war — ein Glück, daß es ihn erwischt hat! Er hat mir schweigend zugehört. Als ich fertig war, sagte er: >Claus Coman hat also wie der getötet.< Und ich erwiderte, das sei nicht fair, weil es ein Un fall war, außerdem sei Harkor der Teufel in Person gewesen.« »Was hat er darauf geantwortet?« »Lange Zeit sagte er gar nichts, und ich konnte ohne weiteres seine Gedanken lesen. Er wußte nicht, was er denken oder tun sollte. Ich glaube, er hatte noch nie mit dem wirklichen Leben und Sterben zu tun, und diese Geschichte paßte nicht in seine kostbaren Kategorien von Recht und Unrecht. Wenn man bedenkt, daß Menschen dieser Art Entscheidungen treffen, die Millionen Menschen betreffen ...« »Erzähl weiter.« »Nun, schließlich sagte er: >Nichts, aber auch nichts entschuldigt einen Mord — und doch will ich ihn befreien. Ich werde ihn dort herausholen, und sei es nur, um zu verhindern, daß er getötet wird.< Du siehst also — er ist im Bilde über die hiesige Polizei gewalt!« Linnel schaute zu ihm auf und sagte frohlockend: »Und
du brauchst dir wegen des Geständnisses keine Gedanken zu ma chen — er wird es nicht gegen dich verwenden.« »Es spielt keine Rolle, ob er es tut oder nicht«, sagte Coman. Er wußte nun, wie Marst sich entschieden hatte, und plötzlich überkam ihn Erschöpfung, die Ereignisse der vergangenen Stun den wirkten auf ihn wie eine düstere Wolke, die drohte, Verstand und Körper zu erdrücken. Da fühlte er, wie ihn Linnels schlanker Arm umschlang. »Wir gehen zu mir, mein Junge«, sagte sie leise. »Da ist es gemütlich und ruhig, ich wohne direkt am Parkgebiet — es ist ein Zimmer mit herrlichem Ausblick. Und ich habe ein paar Zigaret ten...« Er war unfähig, ihr zu widersprechen. Er brauchte Ruhe und hatte nicht vor, die verräterische Kapsel in seinem Körper zu las sen, solange noch Gelegenheit war, sie zu entfernen. Und um sie herauszubekommen, brauchte er Hilfe. Ein paar Meter vor ihnen war ein Platz frei, aber er konnte nicht einmal mit ihrer Unterstützung die paar Schritte machen; er lehnte sich an sie, bis sie ein anderes Laufband betreten mußten, das bis dicht zu ihrer Wohnung fuhr. Diesmal setzten sie sich gleich auf einen Doppelsitz. Er schloß die Augen, und Wellen der Müdigkeit schlugen über ihm zusammen. Wie aus weiter Ferne hörte er Linnel seinen Namen rufen, und auf der Stelle hatte er sich wieder in der Gewalt, stand auf und folgte ihr bereits, bevor sich seine Augen geöffnet hatten. Eine schmale Straße, einige Lichter, streitende Stimmen, das vibrierende Klagen einer Venusflöte, dann waren sie in einem hohen Gebäude, fuhren hinauf in den 15. Stock. Die Wohnung war klein, aber gemütlich, den Teppich bildete eine dicke Lage grünes, imitiertes Moos, es gab ein Bad mit Mas sageapparaten, und im Schlafzimmer stand ein riesiges versenk bares Bett, elektrisch beheizt. Coman sank dankbar darauf nieder, während Linnel Kaffee kochte. Er streifte sein Hemd ab und tastete mit dem kleinen Finger der rechten Hand nach der Stelle, an der sie die Kapsel eingesetzt hatten. Nach einer Weile fand er sie, dicht neben der Brustwarze. Sie saß etwa einen dreiviertel Zentimeter tief im Fleisch, haftete an der vierten Rippe der linken Seite. Als sie mit dem Kaffee hereinkam, sagte er: »Ich möchte dich um etwas bitten.«
»Ich tue alles!« sagte sie, aber als sie seine Gedanken las, wurde ihr Gesichtsausdruck besorgt. Er nickte. »Sie haben mich auf ihrem vorzüglichen Radarsystem >festgenageltNein< lautet, dann wird diese spezielle Lösung des Problems asozialer Gewalt in un serer Zeit nicht noch einmal vorgeschlagen; lautet die Antwort >JaHat die menschliche Rasse einen Punkt des Niedergangs erreicht? Bringt sie in ihren Kindern die ersten Anzeichen für einen Wahnsinn hervor, der sie schließlich zerstören wird?< Angesichts dieses neuen Schreckens ist dieses Komitee vielleicht widerwillig, nichtsdestoweniger aber entschlossen zu der Überzeugung gekommen, daß wirkungsvolle revolutionäre Maßnahmen ergriffen werden müssen. Es genügt nicht und ist auch niemals
tatsächlich befriedigend gewesen, jene, die getötet haben, mit dem Tode zu bestrafen. Andererseits ist es unmöglich, sie als Kranke zu behandeln, wenn wir den Sitz der Krankheit nicht kennen. Und aus diesem Grunde ...« — seine Stimme wurde ruhiger, blieb jedoch klar und deutlich — »hat das Komitee nach langen Beratungen einstimmig beschlossen, dem Weltrat die Schaffung einer neuen Sektion vorzuschlagen, einer Sektion, die alle Menschen aufnehmen kann, die des Gewaltverbrechens für schuldig befunden wurden, einer Sektion, die durch das Wort >Krieg< bezeichnet werden sollte, ein Gebiet von mindestens zweitausend Quadratmeilen Größe, das möglichst auf einem anderen Planeten liegen sollte.« Er hatte kaum ausgesprochen, als aus der riesigen Zuschauer menge ein einziger Laut aufstieg, ein Dröhnen des Kommentie rens, in dem selbst die Ausrufe der Berichterstatter untergingen. Coman schaltete die Nachrichten ab. Dann seufzte er tief und zündete sich eine neue Zigarette an. Als er sich nach Deenan um schaute, sah er, daß er fort war, er machte vermutlich einen Spa ziergang am Strand. Das Gemälde lag auf der Erde, und der Roboter stand in seiner Ecke, die blanken Augen blickten scheinbar starr und unbeweglich auf Coman. Coman nahm den Connector und brachte ihn ins Zimmer, in dem er die Nacht verbracht hatte. Er schloß die Tür hinter sich. Ohne die Hilfe des Schirms oder der Musik dauerte es eine Weile, bis er seine Sinne von unwesentlichen Gedanken befreien und in jene Dimension eintreten konnte, in der er einen oder mehrere seiner Kollegen finden würde. Schließlich hörte er sie, und es wa ren viele. Sie unterhielten sich über Roboter, und schon bald kannte er das Geheimnis der Nachrichten und anderer Rätsel, die ihm zu schaffen gemacht hatten. Offenbar hatte ein Verbindungsmann namens Sarre aus Düssel dorf, Sektion 7, bei Experimenten entdeckt, daß Stite, eine Kobalt-Wolfram-Verbindung, die Ebin enthielt, die gleichen oder doch annähernd die gleichen Eigenschaften wie Crionium besaß; auch mit diesem Element konnte man über große Entfernungen hinweg Botschaften übermitteln und empfangen. Noch bedeutender jedoch war die Tatsache, daß man in den vergangenen zwei Jahren diese Legierung in großen Mengen bei der Konstruktion der Gehirneinheiten von Robotermechanismen
verarbeitet hatte. Sarre hatte unverzüglich die Bedeutung für alle Verbindungsmänner erkannt und in Zusammenarbeit mit zwei Kollegen eine Maschine gebaut, mit der er nicht nur visuelle Impressionen von Robotern, die Stite enthielten, empfangen konnte; mit einiger Mühe war es ihm auch möglich, gelegentlich über die gleiche Verbindung Gedanken zu senden. Als er diese Information vernommen hatte, schickte Coman sofort einen namentlichen Ruf an Karns und wartete, daß der alte Mann den Kontakt aufnahm. Schließlich meldete er sich. K. Willkommen. Die Sache ist erledigt, und Sie sind noch am
Leben.
C. Und Vane ist tot.
Einen Augenblick lang spürte Coman gemeinsam mit Karns einen
tiefen Schmerz, eine Qual, die sich nicht in Worten beschreiben
ließ.
K. Ich glaube, daß der Tod für einen von Ihnen unvermeidlich
war. Versuchen Sie, nicht zu lange zu trauern, Coman.
C. Was mich betrifft — Sie kennen meine Lage und wissen, daß
Marst mich beim Wort nehmen wird.
K. Ich weiß. Haben Sie Angst vor den Konsequenzen?
C. Das ist eine Frage, auf die, wenn überhaupt jemand, Sie selbst
die Antwort kennen müssen.
Einen Augenblick herrschte Schweigen, und Coman wußte, daß
er, wenn er wollte, ins innere Bewußtsein des anderen eintreten
konnte. Aber er tat es nicht.
K. Warum wollen Sie nicht? Wegen Vane?
C. Ich empfinde Schuld und Abscheu, eine Übelkeit vor mir selbst
und sogar vor Ihnen.
K. Das bedeutet nichts.
C. Gibt es überhaupt etwas, das von Bedeutung ist?
K. Sie bedeuten mir etwas, Coman.
C. Und wenn ich fort bin ...?
K. Nun, auch die Welt und die Sterne und all die Billionen
Galaxien werden einmal fort sein, Staub in einer Schale, die sich
in der Ewigkeit zu sich selbst zurückkrümmt. Schauen Sie in
mich hinein.
C. Nein. Ich verdiene Ihren Trost nicht, und mich verlangt auch
nicht danach.
K. Sehr gut. Aber Sie müssen sich erholen und die Kraft be
kommen, neue und vielleicht noch hoffnungslosere Dinge
ertragen zu können — wahrscheinlich in einer neuen Welt der Unzivilisiertheit, der Mühsal und des plötzlichen Todes. C. Lediglich das zweite Wort verspricht Neues. Kennen Sie den Namen dieser Welt? K. Nein. Es gibt viele Vorschläge, aber man hat noch nichts beschlossen. Zahllose Probleme müssen abgewogen werden, nicht nur von den Behörden, sondern auch von den Verbindungsmän nern: ob Sie gehen sollen oder nicht, wer folgen wird und wie es gehandhabt werden soll. Und seit kurzem besitzen wir etwas, das nützlich sein kann ... C. Kommunikation via Roboter? K. Ja, wir machen Fortschritte, wie Sie sehen. Wir müssen das Geheimnis strengstens wahren, sonst wird man aufhören, Stite zu verwenden. Normalerweise hätte ich diese Entdeckung der Regierung mitgeteilt, aber unter den gegenwärtigen Umständen halte ich das für eine unnötig offene Geste. C. Sie hätten mir wenigstens vorher etwas darüber sagen können. K. Ich hatte gespürt, daß in dieser Richtung geforscht wurde, aber erst an dem Tag, als Sie in die Fünfzehnte Sektion abreisten, rief mich Sarre und teilte mir Einzelheiten mit. Ich habe sofort veranlaßt, daß er versuchen sollte, Ihren Bewegungen zu folgen und sich, falls nötig, mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Obgleich seine Bemühungen nicht hundertprozentig zufriedenstellend wa ren, sind sie doch ermutigend. C. Sie waren alles, andere als zufriedenstellend. Es hat mir wenig genützt, zu erfahren, daß Vane starb. Wenn ich schon früher die Nachricht von der drohenden Gefahr erhalten hätte, wäre es sinnvoller gewesen. K. Lösen Sie sich aus dieser Verbitterung. Sarre tat sein Bestes und hat ebenso wie jeder andere von uns gelitten, weil er wußte, daß es mit etwas intensiverer Nachforschung und mehr Erfahrung möglich gewesen wäre, Vane zu retten. Lassen wir das Thema beiseite. Ich schätze, daß Sie noch drei Wochen Frist haben, bevor die Kriegssektion verwirklicht wird, und aus dieser Zeit müssen Sie das Beste machen. Vor allem müssen Sie am Leben bleiben. Viele Kräfte haben sich gegen Sie verschworen, und die Polizei könnte sich als eine der größten Gefahren erweisen. Ich möchte mit Ihnen über das Mädchen nachdenken. C. Linnel? K. Nein, die andere — die Ihrem Herzen näher ist — fonl. Sie ist
für die telepathische Entwicklung reif, und mit 'Ihrer Überzeu gungskraft und Hilfe müßte sie die verschiedenen Schocks und Ängste überwinden können, um ihre neue Verantwortung auf sich zu nehmen. C. Noch vor wenigen Tagen haben Sie mir geraten, sie nicht zu drängen. K. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erzählen, daß sich in den letzten Stunden etwas ereignet hat, dessen Widerhall bereits die Umstände verändert. Einerlei, wie es sich in der Praxis auswirken wird — die Entscheidung zugunsten der Kriegssektion beschleunigt unser Leben und fügt unserer Bedeutung als Verbindungsmänner und -hauen neue Dimensionen hinzu. Bald schon werden Sie sie verlassen haben, aber in der Ihnen verbleibenden Zeit müssen Sie Ihr möglichstes versuchen. C. Und Sein? K. Ihretwegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Sie trägt bereits Ihren Samen in sich, upd wir werden alles tun, um sie und das Ungeborene zu schützen. Schweigen entstand, während Coman dies verdaute, und dann sprach Karns weiter. K. Was die dritte Frau betrifft — vergessen Sie sie. Sie hat keine Bedeutung mehr. Im Schlamm der Themse findet man manchmal eine Schnecke, deren Häßlichkeit durch einen Sonnenstrahl ver wandelt wird, der Schleim glitzert in neuer, wunderbarer Schön heit. Und doch ist es eine Schnecke und bleibt eine. Denken Sie ein wenig über Jonl nach, dann werde ich versuchen, Ihnen einige Ratschläge zu geben, wie Sie die Probleme und Schranken überwinden können. Anschließend trug Coman den Connector nach draußen, schmet terte ihn, wie Karns ihm geraten hatte, gegen einen Felsen und warf ihn ins Meer. Dann ging er am Strand entlang, um Deenan zu suchen. Er fand ihn zwischen den Dünen; er lag nackt in der Sonne. Aufs neue erschrak Coman darüber, wie zerbrechlich diese Karikatur eines Mannes aussah. Das Fleisch am Hals und zu beiden Seiten des Kopfes war erhalten, desgleichen die Ohren und die Schädelbasis, die Arme und Beine, der obere Teil des Brustkorbes, die Schultern und die Armgelenke, der Rest jedoch war aus grauschimmerndem Metall, unterbrochen durch die diversen Kunststoff»fenster«, hinter denen man sah, wie
bestimmte Organe ihre verschiedenen Funktionen ausübten. Coman hockte sich nieder und betrachtete den Freund mit Inter esse und Zuneigung, nach einigen Augenblicken sprach Deenan, ohne die Lider zu heben. Ein Mann von zweifacher Wirklichkeit
streute Samen im Garten zur Frühlingszeit.
Und als der Same zu wachsen begann
sah's wie ein Garten voll Schnee sich an.
Und als der Schnee fiel auf das Land
war's als sängen die Vögel auf der Wand.
»Woher hast du das?« fragte Coman.
Deenan öffnete die Augen. »Ich habe es vor langer Zeit gelesen. Es
stand in einem Gedichtband, den ein Archäologe in den Ruinen
der alten Stadt Birmingham gefunden hat. Niemand weiß, wer die
Verse schrieb, und niemand weiß, was sie eigentlich bedeuten.
Willst du den Rest auch noch hören?«
»Sicher.«
»Gut.«
Und als die Vögel gen Himmel flogen,
sah's aus, als käme ein Schiffswrack gezogen;
Und als der Himmel zu splittern begann,
fühlt sich's wie eine Rute auf meiner Schulter an. Und als ich
fühlte stechende Schmerzen
war's wie ein Messer in meinem Herzen.
Und als mein Herz zu bluten begann,
war ich tot, war ich tot, ein toter Mann.
»Das klingt wundervoll. Weißt du, was es bedeutet?« »Es steckt voller Symbolik, und man muß es selbst deuten. Mich entschädigt es für vieles. Wo wir gerade dabei sind — du bist ein Mensch von zweifacher Wirklichkeit, du und Karns und die ande ren .« »Wieso weißt du von ihnen?« »Ich weiß es eben.« Ein Gesicht aus Metall und Kunststoff kann keinen Ausdruck spiegeln, ein künstlich hergestellter Verstand keine dunklen Ecken und Verstecke haben — nur Türen, die sich öffnen und schließen. Ja oder nein. Es stimmte — er wußte es einfach. »Als du über deinen Kopf sprachst, hast du damit gemeint, daß er
kürzlich repariert wurde?« »Natürlich. Eines schönen Morgens haben sie mich geholt und an mir herumgebastelt, ohne sich überhaupt für die Störung zu entschuldigen. Die Teufel sagten, sie würden neue Drähte ein setzen, aber ich glaube, das war nur ein Vorwand, um an mir herumspielen zu können. Diese Halunken !« Aber im Grunde dachte Deenan nicht schlecht über sie. Er nahm ihnen nur übel, daß sie ihm niemals eine Art Penis gegeben hat ten, mit der er die natürlichen Funktionen ausüben konnte. Wahrscheinlich hatten die Chirurgen derartiges Zubehör für überflüssig gehalten. Er besaß jedenfalls nur eine Öffnung, die, obgleich sie ihren Zweck ausreichend erfüllte, durch ihren Mangel in einem Gehirn, das zu zwei Dritteln automatisch war, ein Neuron der Gereiztheit erzeugt hatte. »War es — sehr schlimm, hier auf der Insel?« fragte Coman und bereute im gleichen Augenblick die Frage. Deenan richtete sich auf, und als sich sein schwerer Kopf nach vorn neigte, stützte er ihn in seine Hände und gab eine Art Stöh nen von sich. »Sehr schlimm, Coman? Du bist der einzige, der mich überhaupt besucht, und nicht einmal du bringst noch Freunde mit.« Coman schwieg. Deenan fuhr fort: »Letztesmal, als du das Mäd chen mitbrachtest, habe ich mich wie ein Narr benommen, aber ich habe mich jetzt geändert. Ich habe mich damit abgefunden, das zu sein, was ich bin.« Die künstliche Stimme klang eindringlich, und Coman seufzte: »Wenn du dich damit abgefunden hast, dann darfst du nicht län ger darauf warten, daß dich jemand besucht. Du mußt zu den Menschen gehen.« In der folgenden Stille bohrten sich die ausgeliehenen Augen starr in seine, dann begann Deenan zu lachen, sein Mund klappte wie ein Visier auf und zu. Er grub die Zehen in den feinen Sand, wedelte mit den Armen und rief schließlich: »Natürlich muß ich das! Die Welt ist für mich bereit, und ich bin bereit für die Welt! Ich werde ...« In diesem Augenblick erschien am Ende der Landzunge, etwa zwei Meilen östlich, ein dunkler Schatten; die beiden Männer wandten sich um, aufmerksam geworden durch das Geräusch des Motors, der die Stille durchbrach. »Da haben wir ja schon Besuch!« rief Deenan. »Eine Abordnung
von draußen; sie sollen mich zweifellos feierlich ins Regie rungsgebäude bringen.« Er stand auf, aber Coman packte ihn am Arm und zog ihn wieder herunter. Es war ein langes, schlankes Boot, ein Modell mit fünf Kojen und Zwillingsmotoren; seiner Schätzung nach machte es bei dieser See bis zu hundertfünfzig Knoten pro Stunde. Als es sich näherte, erkannte er, daß es ein Luxusmodell war. Mit Booten dieses Typs unternahmen die ganz Reichen lange Kreuzfahrten durch den Pazifik. Auf dem Verdeck kauerte die Gestalt eines Mannes hinter einem schlanken, L-förmigen Geschütz, das größer war als die Waffen, die Linnel und Harkor benutzt hatten. Es war auf glänzende Beine montiert. Er hatte dies alles kaum wahrgenommen, als die Waffe abgefeuert wurde, geräuschlos stieß sie einen weißen glitzernden Bogen aus. In der Richtung, wo Deenans Bungalow stand, erschien plötzlich eine Rauchwolke, alles wurde rot ... dann war nichts mehr zu sehen, nur eine Rauchkugel, die sich langsam emporhob, sich an dem gigantischen Pfeiler auflöste, der die Stadt stützte. Sie haben mich schnell gefunden, dachte Coman, und: Mit wieviel Strahlenwaffen müssen wir noch rechnen? »Was für eine Party ist denn dies?« erkundigte sich Deenan. »Bleib in Deckung. Ich fürchte, du wirst jetzt in die weite Welt ziehen müssen«, erwiderte Coman. Er blickte zur Stadt empor, die in einem schimmernden Hitze schleier lag. Da oben mußte jemand gesehen haben, was hier vor sich ging. Es geschah jedoch nichts. Keine Polizeiplattform, keine lähmenden Strahlen. Überhaupt nichts. Er starrte angestrengt zum Boot hinüber. Die Maschinen standen still, und es trieb auf das Ufer zu. Der Mann hinter der Kanone hatte noch immer das Gesicht am Visier, die Arme in die Seiten gestemmt, Finger am. Abzug. Zwei weitere Männer waren aufgetaucht und suchten mit Ferngläsern das Ufer ab. Coman dachte angestrengt nach. Linnel hatte gesagt, es seien nur drei Männer, und alle drei konnte er sehen. Er besaß eine Schockpistole und die Nadelwaffe; aber das waren lediglich Spielzeuge, die über eine Entfernung von etwa 18 Metern hinaus wirkungslos waren. Und Deenan war völ lig unbewaffnet. Der Kanone auf dem Boot hatten sie nichts ent gegenzusetzen, und er konnte nur hoffen, daß der Feind kehrt machte und verschwand. Zuerst sah es so aus, als würde das auch geschehen, aber dann entbrannte offenbar zwischen den
Männern auf dem Boot eine Art Streit. Coman vermutete, daß das Haus völlig zerstört war und daß nun ein oder vielleicht auch zwei der Männer davon überzeugt waren, daß er und Deenan den Tod gefunden hatten, die Gegenpartei jedoch wollte sich vergewissern. Deenan fluchte vor sich hin, und Coman konnte ihn nur mit Mühe davon abhalten, zum Strand hinüberzurennen. »Zum letztenmal — bleib in Deckung! Wenn sie dich sehen, sind wir im Nu ein Häufchen Asche. Die Gemälde sind zerstört, und du mußt von vorn anfangen ...« Er hielt inne, fing Deenans Gedanken auf, noch bevor er ihn ausgesprochen hatte: »Zum Teu fel mit den Bildern. Ich denke an meinen kleinen Metallbruder. Diese verfluchten Schweinehunde haben ihn in seiner Ecke ermordet!« Bei allen Galaxien, dachte Coman, er hat Gefühle für das Ding wie für einen Bruder. Er packte den Freund am Arm und zog ihn in eine kleine Mulde, die von. Grasbüscheln gesäumt wurde, dann stellte er vorsichtig fest, wo sich das Boot inzwischen befand. Zwei der Männer kletterten eine kleine Leiter am Heck hinunter und wateten im nächsten Moment bereits auf das Ufer zu. Sie waren etwa zweihundert Meter entfernt. Beide trugen Sprengstoffpistolen. Sie hielten sie über den Kopf, damit sie nicht naß wurden. Der dritte hatte sich in die vordere Kajüte zurückgezogen, eine Minute später wurden die Maschinen angelassen, und das Boot bewegte sich langsam am Ufer entlang, hielt mit den beiden Männern Schritt. Als seien sie mit dem zweiten Gesicht begabt, trotteten sie in Comans und Deenans Richtung, als sie den Strand erreicht hatten. Sie näherten sich wie zwei Punkte eines sich öffnenden Fächers, einer der Männer blieb im Sand, der andere ging im flachen Winkel auf das Binnenland zu; das Boot blieb mit dem ersten Mann auf gleicher Höhe. Ein Entkommen war unmöglich, auch konnten sie nicht länger als ein, zwei Minuten verborgen bleiben. Mit gesenktem Kopf wühlte Coman in seiner Jacke und reichte Deenan nach kurzem Zögern die Schockpistole. Damals, als sie noch miteinander im Weltraum flogen, war Deenan ein Meisterschütze gewesen. Man konnte seine gegenwärtigen Fähigkeiten nicht einschätzen, aber Coman sagte so schnell und deutlich wie möglich: »Wenn ich auf tauchte, nimmst du dir den Kerl an meiner Seite vor, ich beschäf tige mich mit dem anderen. Ein Schuß, paß auf, daß du triffst —
dann laß dich fallen und krieche vorwärts.« Deenan erwiderte nichts, und Coman konnte nur hoffen, daß er ihn verstanden hatte. Der erste Mann war jetzt nur noch etwa fünfzehn Meter entfernt. Er kam direkt auf sie zu und dachte: Hier ungefähr habe ich doch gesehen, wie ... Der andere war etwa zwanzig Meter entfernt, jedoch am unteren Ende des Abhanges. Beide gingen vorsichtig, die Waffe im Anschlag. »Jetzt!« schrie Coman und sprang hoch. Es erforderte mehr Nervenkraft, als er erwartet hatte, vor einem Feind zu stehen, der mit eine Strahlenpistole auf einen zielte, und diesen Feind völlig ignorieren zu müssen. In dem Augenblick, als er auf den Mann am Ufer zielte, schien sein Blut zu Wasser zu werden ... Ein Schrei, und viele Dinge ereigneten sich gleichzeitig. Die Waffe in seiner Hand gab ein flüsterndes Geräusch von sich, und er hörte, daß die Strahlenpistole und die Schockwaffe gleich zeitig begingen. Er warf sich auf den Mann, den Deenan getroffen hatte, seine Hände griffen nach der Waffe, die in den Sand gefallen war. Er fand sie, gab einen Schuß auf den sich überschlagenden Mann ab und wandte sich sofort um. Seine Augen suchten verzweifelt nach einem festen Punkt — Himmel, Meer und Strand wirbelten durcheinander. Deenan rannte den Abhang hinunter, und auch der Mann am Strand rannte vorwärts, versuchte zu zielen... Die Maschinen des Bootes standen wieder still, und plötzlich heulte die Kanone am Bug fast unhörbar auf. Im nächsten Augenblick schien einer der beiden Männer in Flammen zu stehen. Coman riß sich zusammen und rannte auf das Wasser zu. Die Strahlen-Kanone schwenkte herum, und er rannte in wildem Zick-zacklauf. Als sie erneut abgefeuert wurde, schien die Erde dicht neben ihm eine einzige Eruption aus Rauch und Sandkörnern zu sein. Dann stand er im Wasser, so dicht am Boot, daß ihn die Kanone nicht erreichen konnte. Er erreichte die Leiter und kletterte hinauf; er erwartete jeden Augenblick niedergemacht zu werden. Als er jedoch unter sich das Geräusch der Maschinen vernahm, wußte er, daß sein Gegner wieder im Ruderhaus war. Einen Moment später war er über die Reling geklettert, und das Boot entfernte sich vom Ufer. Durch das Fenster der vorderen Kajüte erkannte er das Gesicht des Mannes, hinter dem er her war. Selbst in seinen besten Zeiten mußte der Kerl
außergewöhnlich häßlich gewesen sein, aber jetzt war sein Gesicht nur noch eine Grimasse, von Furcht und Haß verzerrt. Der Mund bewegte sich, unverständliche Laute kamen heraus, und Coman starrte den Mann fasziniert an. Als er die Strahlenpistole hob, verschwand das Gesicht schließlich, das Ruder wurde herumgeworfen, und eine Sekunde später stürzte sein Gegner aus der Kabine und sprang über Bord. Plötzlich machte sich die Reaktion auf den Schock bemerkbar. Mit zitternden Gliedern sah Coman zu, wie die untersetzte Gestalt auf die Füße taumelte und durch die hohen Wellen stolperte. Die Arme schlugen wie Dreschflegel durch die Luft. Er grinste schwach, seine freie Hand tastete automatisch nach einer Zigarette. Als er sie anzündete, hatte die Gestalt gerade den Strand erreicht und taumelte auf das Innere der Insel zu. Er hätte den Mann ohne weiteres mit der Strahlenkanone treffen können, aber er machte sich die Mühe nicht. Seine Augen wanderten nach Westen, wo die beiden schwarzen Gestalten in den Dünen lagen. Das Boot trieb auf das Festland zu. Coman ging ins Ruderhaus, drückte den Starter, und als die Motoren zu dröhnen begannen, schwenkte er das Fahrzeug herum und fuhr gegen die Strömung. Als er den Kampfplatz wieder erreichte, stellte er die Maschinen ab und setzte das Boot behutsam in den Sand. Deenan lag ein paar Meter neben der Leiche des Gegners, und einen Augenblick dachte Coman, auch er sei tot. Seine Fleischteile schienen jedoch unbeschädigt zu sein, obgleich ein Teil des metallenen Magens von der Hitze aufgerauht und verfärbt und das »Fenster« verbogen und undurchsichtig war, spürte er zwischen den Kunststofflippen noch Atem, und in den Blutgefäßen, die hinter einer anderen Scheibe zu sehen waren, konnte Coman den starken Herzschlag erkennen. Er kniete nieder und hob die schwere Gestalt auf. Da schlug Deenan die Augen auf, öffnete den Mund und gab einen obszönen Ausdruck von sich. »Erkennst du mich?« fragte Coman, der befürchtete, daß die Gehirnstruktur möglicherweise verletzt war. Deenan lachte, stand aus eigener Kraft auf, schwankte; er war eine groteske Gestalt, aus seinem schimmernden Hinterteil ragte ein dehnbarer Stab, aus der Metallhülse wuchsen braune Beine,
die besorgniserregend schwach und verletzlich aussahen. »Wie hätte ich dich vergessen können? Du hast das Boot ge wendet und bist zurückgekehrt.« Coman unterdrückte seine tiefe Bewegung, und sein Gesicht sah steinern aus. »Willst du damit sagen, daß du dachtest, daß ich mich davonmache?« »Warum nicht? Ich kann dir doch nicht nützen.« Coman erwiderte nichts und schaute zum Himmel empor. Als der Roboter im Haus geschmolzen war, mußte automatisch ein Alarmsignal zur Hauptdienststelle der Polizei gegeben worden sein, aber noch immer rührte sich nichts. Auf dieses Rätsel gab es nur eine Antwort, und er akzeptierte sie ohne übermäßige Sorgen oder Ärger. »Such lieber deine Sachen zusammen und zieh dich an«, sagte er. Sie erklommen gemeinsam den Abhang und fanden schließlich die wenigen Besitztümer, die Deenan nun noch sein eigen nannte, dort wo er sie verlassen hatte. »Komm, schau dir dein neues Zuhause an«, sagte Coman und zeigte auf das Boot. Die Flut drohte es in Kürze fortzuspülen. Die beiden Männer liefen den Hang hinunter, schoben das Boot ins Wasser und kletterten an Bord. Als sie im tiefen Wasser waren, unternahm Coman eine Inspek tionsrunde und machte Inventur. Was er sah, stimmte ihn zufrie den. Das Boot war fünfzehn Meter lang, hatte hinten drei und vorn eine Kajüte mit vielen Raffinessen und Luxuseinrichtungen. Außer der Strahlenkanone, die er zerlegte und verstaute, fand er ein regelrechtes Waffenlager und genug Vorräte, um eine ganze Armee während einer langen Belagerungszeit zu versorgen. Dann untersuchte er Deenan gründlich und stellte fest, daß seine Ma schinerie nicht ernstlich verletzt worden war. Mit Erleichterung sah er, daß er die oberflächlichen Fleischwunden und Verbrennungen selbst mit Hilfe der Bordapotheke verarzten konnte. Danach kochte Coman Kaffee und schaltete den Kurzwellen sender an seinem Handgelenk ein. Schließlich vernahm er Jonls Stimme. »Claus ?« »Ja.« »Dem Himmel sei Dank.« »Warum — habt ihr Schwierigkeiten?« »Nein, du Idiot, ich habe mich gefragt, wo du steckst.« »Wieso?«
»So dumm, wie du denkst, bin ich nicht. Du bist jetzt in Sicher
heit, nicht wahr, Liebling?«
»Absolut, und ich habe meinen Auftrag erledigt.«
»Das habe ich mir schon gedacht, als ich die neuesten Nachrich
ten hörte. Du kannst also kommen und uns abholen, wann es dir
paßt.«
»Wie steht's mit euch?«
»Langweilig und ein bißchen komisch.«
»Wie meinst du das?«
»Jark Raylond bildet sich ein, er sei in mich verliebt — richtig
verliebt.«
»Aha. Und glaubst du, daß das stimmt?«
Sie schien einen Augenblick zu zögern, dann sagte sie:
»Ich weiß es wirklich nicht genau — ist das denn wichtig, Claus?
Es wäre zu einfach, wenn ich sagte, er begehrt mich nur. Er hat
versucht, mich zu betören, auf die vornehme Art — ein wenig an
ders als beim ersten Versuch. Es sieht so aus, als fände hier
heute Abend eine Party der ortsansässigen Intelligenz statt.
Vermutlich wird auch der Sex nicht zu kurz kommen.«
»Etwa, um dich in Stimmung zu bringen?«
Sie lachte schrill. »Vielleicht. Ich habe versucht, ihm klarzuma
chen, daß es in meinem Leben nur einen Mann gibt, aber
entweder kann er es nicht verstehen, oder er will nicht.«
»Und Sein?«
»An ihr hat er kein Interesse, obgleich ich mir vorstellen könnte,
daß auch sie während der Party in Schwierigkeiten gerät.«
»Allmählich begreife ich, warum ich euch zwei so schnell wie
möglich abholen sollte.«
»Gut. Ich hoffe, es wird keine — Schwierigkeiten geben, aber
langsam finde ich die Sache ungemütlich.«
»Was ist los?«
Durch die atmosphärischen Störungen hindurch konnte er in
ihrer Stimme eine gewisse Anspannung entdecken. »Er scheint
sich in die Idee verrannt zu haben, und seine Mutter findet die
Sache anscheinend ausgezeichnet. Sie betet ihren Sohn an; sie
hilft ihm und unterstützt ihn in allen seinen Neigungen.«
»Verstehe. Kann ich die Sperren des Hauses ohne weiteres pas
sieren?«
»Ja, ich werde den Wachen Bescheid sagen. Übrigens »Ja?«
»Machen wir jetzt wirklich Urlaub?«
Er zögerte den Bruchteil einer Sekunde. »Ja. Ich plane eine kleine
Seereise.«
»Oh, herrlich! Wann können wir dich erwarten?«
»Heute nachmittag gegen vier Uhr.«
12 Zwei Roboter bewachten den Eingang. Beide sahen ziemlich menschlich aus. Sie bewegten sich gleichzeitig, und während der eine sprach, fingerte der andere an einer Waffe herum. »Ja, bitte?« »Claus Coman.« Sie inspizierten ihn schweigend, dann öffnete derjenige, der ge sprochen hatte, das Tor und ließ ihn ein. »Bitte steigen Sie auf das Laufband und verhalten Sie sich, wie es sich gehört.« Während er bequem über einen langen Rasen transportiert wurde, in dessen Mitte ein Teich mit einem Springbrunnen lag, der in der Abendsonne glitzerte, mußte Coman unwillkürlich dar über nachdenken, daß man von jetzt an über Roboter Gedanken senden würde. Es war sechzehn Uhr dreißig. Er hatte sich verspätet und fragte sich, ob die »Party«, die Jonl erwähnt hatte, bereits im Gange war. Er wollte nur die beiden Mädchen abholen und auf das Boot bringen, das jetzt hoffentlich irgendwo zwischen Ellice und Samoa kreuzte. Deenan schien kräftig genug zu sein. Coman verließ sich auf ihn, er würde schon mit dem Boot zurechtkommen, bis sie sich an der vereinbarten Stelle trafen. Coman wußte nicht, ob die Polizei sich aktiv an einem neuen Anschlag auf sein Leben beteiligen oder sich lediglich passiv verhalten würde, während andere, falls es noch andere gab, ihn verfolgten. Auf jeden Fall hatte er jetzt die Möglichkeit, mit seinen Freunden zu verschwinden, während sich die Maschinerie zur Errichtung einer Kriegssektion langsam in Bewegung setzte. Als er das Haus erreichte, erwarteten sie ihn bereits an der Tür in Gesellschaft von Jark Raylond. Die Mädchen begrüßten ihn lediglich mit einem Blick, aber Jark sagte: »Hmm, Sie sind ein bißchen früh dran — macht nichts, die übrigen Gäste werden nicht lange auf sich warten lassen. Kommen Sie herein und trinken Sie etwas.« »Vielen Dank«, sagte Coman. »Es war sehr liebenswürdig von
Ihnen, daß Sie Jonl und Sein während meiner Abwesenheit unterhalten haben, aber nun wollen wir Sie nicht länger belästigen.« »Aber ich bitte Sie, ist das der Dank für meine Gastfreund schaft? Sie können wenigstens etwas trinken und sich meiner Mutter vorstellen lassen. Sie sind doch nicht etwa auf der Flucht?« Coman starrte ihn an, aber abgesehen von der Frustration und Hilflosigkeit, die für das Zeitalter bezeichnend waren, konnte er keinen verräterischen Gesichtsausdruck entdecken — außer dem fast verzweifelten Wunsch, Jonl zu besitzen. Angesichts Comans Ankunft sah Jark sich gezwungen, neue und ausgefallenere Me thoden zu entwickeln, um sein Ziel zu erreichen. Coman dachte: Hier riecht es nach Gefahr. Eine verlegene Pause entstand, dann sagte Jonl lächelnd: »Wir haben gerade versucht, Jark davon zu überzeugen, daß wir fort müssen, wenn du kommst. Aber er hat gar nichts davon wissen wollen. Vielleicht sollten wir doch noch ein wenig bleiben — damit du wenigstens Mrs. Raylond kurz begrüßen kannst.« Coman runzelte die Stirn, berührte leicht ihre Wange und lieb koste dann Sein. »Es wäre wirklich flegelhaft, wenn ich mich wei gerte. « Das Gebäude war im Bungalow-Stil erbaut und hatte riesige Ausmaße, solide Wände und eine Beleuchtung, die von Hand be dient werden konnte. Als sie Raylond folgten, erkannte Coman, daß er auf Mittel und Wege. sann, ihn aus dem Wege zu räumen. Außerdem erkannte Coman, daß es ihnen, falls sie sich geweigert hätten, noch länger zu bleiben, unmöglich gewesen wäre, an den Robotern am Eingang vorbeizukommen. Er saß erneut in der Klemme. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt Vorwürfe zu machen, daß er vorgeschlagen hatte, Jonl und Sein sollten hier wohnen. Er überlegte, wie er die Glut des jungen Mannes kühlen oder ihn auf andere Weise überlisten konnte. Wenn er keinen Ausweg fand, würden sie für unbestimmte Zeit Gefangene sein. Die beiden Frauen ahnten nichts von der unangenehmen Lage, in der sie sich befanden. Sie freuten sich über seine Rückkehr — Sein ganz offen, Jonl mit einem gelegentlichen Seitenblick. Sie betraten einen riesigen Raum mit gekacheltem Boden; die Luft war leicht parfümiert, Musik ertönte; das Zimmer war mit klei
nen, wunderbar gearbeiteten Möbeln ausgestattet und mit vielen Kunstwerken, die von Planeten innerhalb und außerhalb des Sonnensystems stammten. Als sie eintraten, erhob sich eine majestätische, stark geschminkte Dame, um sie zu begrüßen. Als Jark den Gast vorstellte, reichte sie ihm die Hand und lächelte. »Sie sind also Claus Coman«, sagte sie. »Ein glücklicher Mann, der in dieser Zeit mit zwei so intelligenten und hübschen Frauen liiert ist.« Sie gab sich liebenswürdig, aber Coman ließ sich nicht täuschen. Er wußte, daß er in ihren Augen ein Hindernis für das Glück ihres Sohnes und somit ein Feind war. Er ergriff das von Juwelen schwere Handgelenk, berührte es flüchtig mit der linken Hand und verneigte sich. »Ich bin davon überzeugt, daß auch Sie die Liebe erfahren haben, gnädige Frau«, sagte er kühn. »Das stimmt. Bitte nehmen Sie Platz, Mr. Coman. Was möchten Sie trinken — Tee?« Er nickte leicht überrascht, und sie nickte ebenfalls. »Ich weiß nämlich über Sie Bescheid -- ich weiß sogar, daß Sie direkt von den Engländern abstammen. Da diese Nation unter der großen Katastrophe mehr als jede andere gelitten hat, gibt es nur noch sehr wenige von Ihnen, nicht wahr?« Er antwortete: »Nur ein paar hundert Menschen konnten ent kommen, unter ihnen waren meine Großmutter und ihr kleiner Sohn.« »Faszinierend«, sagte Jark. »Ich werde etwas Stärkeres als Tee trinken.« Er gab dem Roboter ein Zeichen, und schon erschien er mit einer Anzahl von Getränken. Comans Tee wurde auf einem separaten Tablett auf die alte Art serviert, mit Teekanne, Tasse, Untertasse, Milchkännchen und Zuckerschale. Er schmeckte vorzüglich. »Stört Sie die Musik?« fragte ihn seine Gastgeberin. »Nein, ich mag Vaughan Williams sehr gern. Dies ist die Dritte Symphonie, nicht wahr?« Sie strahlte. »Ja. Es ist ein Jammer, daß so wenig von Sibelius erhalten ist, dem Meister, der ihn — das nimmt man wenigstens an — weitgehend beeinflußt hat.« Trotz der Tatsache, daß sie keine Freunde sein konnten, fühlte sich Coman von ihr angezogen. Obgleich sie kein Telepath war, besaß sie übersinnliche Kräfte anderer Natur, die man allgemein
als »psychisch« bezeichnete, eine Gäbe, mit der man wenig anfan gen konnte, weil sie von sprichwörtlicher Unzuverlässigkeit war. Diese Kräfte reichten jedoch aus, um sie von den »normalen« Menschen zu unterscheiden. Als er versuchte, ihre inneren Gedanken zu lesen, merkte er, daß er nicht über ihr Bewußtsein hinausdringen konnte, ohne daß sie es merkte. Da sich ihre Gedanken jedoch hauptsächlich um ihren Sohn drehten, begriff er schon bald, daß sie fürchtete, Jark könnte in Kürze etwas Verderbliches, Tragisches unternehmen und einer von denen werden, die überall auf der ganzen Erde ver rückt spielten und mordeten, wie ihnen gerade der Sinn danach stand. In diesem Augenblick ertönte ein Summer, und Jark sagte: »Das werden die ersten Gäste sein. Ich führe sie in das Terrassenzimmer.« Als er fort war, goß Mrs. Raylond Coman eine zweite Tasse ein, und als sie sie ihm reichte, sagte sie ruhig: »Sie haben gerade von der Liebe gesprochen. Auch mein Sohn hat sich verliebt, zum er stenmal in seinem Leben.« Sie machte eine bestimmte Handbewegung, die Musik ver stummte. Jonl sagte freundlich: »Sehen Sie, Doln ...« Die ältere Frau schnitt ihr das Wort ab. »Nein. Lassen Sie mich ausreden. Ich glaube an die Liebe, jawohl — zwischen zwei Men schen, aber nicht zwischen dreien. Dieser Mann liebt Sie nicht — er liebt sich selbst.« Angespannte Stille folgte, und Coman trank schweigend seinen Tee. Jonl machte noch einen Versuch: »Sie verstehen nicht ...« »O doch. Ich weiß, daß in Ihnen eine lesbische Neigung steckt, der Hauptgrund dafür ist jedoch, daß Sie diesen Mann nicht tief genug lieben. Sehen Sie nicht, daß bei meinem Sohn ...« Nun unterbrach sie Jonl. Mit funkelnden Augen sagte sie: »Glauben Sie nicht, daß drei Menschen glücklich miteinander sein und ihre Liebe teilen können?« »Das hat zuviel mit dem Fleisch zu tun«, sagte Mrs. Raylond. Coman sagte beherrscht: »Manchmal erreicht man durch das Fleisch das, was dahintersteckt. Wenn der Körper völlig befriedigt ist, dann hat die Seele, oder wie auch immer Sie es nennen wollen, freies Spiel.«
Mrs. Raylond öffnete den Mund, und es hatte den Anschein, als wollte sie eine heftige Entgegnung machen, dann blickte sie ihn scharf an. »Sind Sie Telepath?« Er nickte und erkannte ihr Ressentiment. Sie hatte den Unter schied erkannt und wußte nun, daß sie einer stärkeren Kraft ge genüberstand, als sie erwartet hatte. Einen Augenblick lang war sie außer Gefecht gesetzt. Sein sagte leise: »Ich glaube nicht, daß man Jarks Verlangen nach Jonl sehr viel Bedeutung beimessen sollte. Ich glaube, es hängt vielmehr damit zusammen, daß bestimmte Männer in einem Zeitalter, in dem fast jede Frau bereitwillig mit jedem Mann ins Bett geht, eine Frau, die anders ist, in hohem Maße begehrenswert finden.« Mrs. Raylond zuckte gereizt die Schultern. »Er braucht eine Frau wie Jonl. Er ist dickköpfig und kindisch, aber diesmal ist er ver liebt, und die Qualitäten, die er von seinem Vater geerbt hat, wer den zutage treten, sobald er mit der richtigen Frau verbunden ist.« »Immerhin gehören zwei dazu«, sagte Jonl. »Und ich denke, ich habe deutlich gezeigt, daß ich nicht im mindesten interessiert bin. Sie wissen genau, daß diese ganze Diskussion völlig über flüssig ist.« Mrs. Raylonds Gesicht schien einzufallen, und erneut erkannte Coman ihre Angst. »Er ist fast am Ende seiner Kräfte — er wird sich das Leben nehmen!« sagte sie abrupt und sah Jonl verzweifelt an. »Sie wis sen ebenso gut wie ich, warum die Menschen Selbstmord begehen — Selbstverachtung, Einsamkeit, Verzweiflung, Sehnsucht nach
Liebe, nach einem Halt.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß er so labil ist«, sagte JonL
Aber sie wich dem Blick der älteren Frau aus.
Coman sagte ruhig: »Das ist eine Krankheit, die nur das Opfer
selbst heilen kann, gnädige Frau.« Er erhob sich. »Ich glaube
wirklich nicht, daß Sie einen Selbstmord befürchten müssen,
Mrs. Raylond, aber ich denke, wir sollten uns jetzt unverzüglich
empfehlen.«
»Niemand hält Sie auf«, sagte sie gleichgültig.
Er sagte geduldig: »Würden Sie bitte die Roboter am Eingang
benachrichtigen, damit wir passieren können?«
»Was für ein Unsinn. Es ist nicht nötig. Sie brauchen nur ...« »Mr.
Coman und seine Begleiterinnen dürfen uns noch nicht verlassen, Mutter.« Jark war zurückgekehrt und stand nun in der Tür. Lächelnd fuhr er fort: »Warum kommen Sie nicht ins Wohnzimmer und lernen die anderen Gäste kennen? Es ist eine interessante Mischung, und ich bin sicher, daß ihre Possen und ihre Unterhaltung Sie fesseln werden.« »Die Gäste bildeten einen ziemlich genauen Mikrokosmos der Menschheit der letzten Jahre des 21. Jahrhunderts. Vor der Atomkatastrophe hatten sich Kunst und Wissenschaft auf der gleichen Ebene intellektueller Bedeutung befunden, obgleich sie voneinander getrennt waren und sich beinahe feindlich gegenüberstanden. Nach der Katastrophe jedoch war die Wissenschaft auf einen Platz verbannt worden, der weit unter dem früheren Status lag. Nach Ansicht der Männer, die in den Tagen der Wiederherstellung und des Aufbaus an die Macht gekommen waren, hatten die Wissenschaftler ihr Recht verwirkt, als Menschen betrachtet zu werden, die die gleiche humanitäre Verantwortung besaßen wie Philosophen und Denker, die seit Jahren die Welt vor den Gefahren, die das Überleben bedrohten, gewarnt hatten. Es war nutzlos, daß sie protestierten, es sei nicht ihr Fehler, daß man ihre Erfindungen zu zerstörerischen Zwecken verwendet hatte; es war sogar nutzlos, daß sie darauf hinwiesen, daß die Geschwindigkeit, mit der man die neue Welt aufbaute, größtenteils ihrer Arbeit zu verdanken war — nach der Katastrophe waren sie gezwungen, sich bis dahin unbekannten Kontrollen und Beschränkungen zu unterwerfen, und die Künste wurden zur einzig anerkannten Quelle, aus der sich die neue Intelligenz rekrutierte. Im Laufe der Zeit waren die meisten von ihnen leider Hersteller der zahllosen Traumwelten geworden, die stündlich aus Hun derten von Hör- und Fernsehstationen ausgestrahlt wurden, Schöpfer und Lieferanten »neuer« Empfindungen und Sensatio nen. Die Schauspieler und Schauspielerinnen, die in den Träumen auftraten, die Kritiker und Bewunderer, Schmeichler und Berater, Gönner und Mittelsmänner — sie alle waren längst erschöpft durch Eifersucht, Meinungsverschiedenheiten, Geschäftigkeit und Intrigen, so daß sie oft wie Pappfiguren erschienen, die vom winzigsten Hauch der Feindschaft oder von
einem Mißgeschick umgeblasen zu werden drohten. Auf viele traf das auch zu, aber die meisten waren stärker, als sie aussahen. Sie konnten nicht aufhören zu denken, aber sie hatten sich darauf trainiert, nichts dabei zu fühlen. Sie liebten Essen und Trinken, es mußte jedoch das Beste sein. Sie genossen den Sex, er mußte jedoch exotischer Natur sein, am liebsten aus zweiter Hand durch Hören und Sehen. Liebe im alten Sinn war für sie bedeutungslos. Sie prüften die Gewalt, ebenfalls aus zweiter Hand, untersuchten ihre Bedeutung, ihre Werte, schwelgten in den blutrünstigsten Details und spannen alle möglichen philosophischen Theorien aus, um ihre Existenz in einer Gesellschaft zu erklären, die den Menschen innerhalb vernünftiger Grenzen alles zur Verfügung stellte. Coman hielt ein Glas in der Hand und beobachtete, wie die Menschen lachten, plauderten, herumalberten, und er empfand nichts als grenzenlose Langeweile und den beinahe peinigenden Wunsch fortzugehen. »Man kann sich heutzutage absolut nirgends mehr sicher fühlen«, sagte ein Mann mit karminrot gefärbten Lippen, und in seiner Stimme klang ein Unterton von Triumph mit, als wollte er hinzufügen: >Sie sehen also, wir haben fast das Ende erreicht, das endgültige Ergebnis vieler Jahrhunderte Zivilisation. Wenn das zutrifft, dann ist überall Gewalt — was wird mit uns ge schehen? Ein Mädchen, dessen Brüste durch das Kleid schimmerten, erwi derte: »Natürlich wissen Sie, was nun geschehen wird, nicht wahr? Das Pendel wird umschlagen, bis man nicht einen einzigen Geschlechtsakt mehr auf dem Bildschirm zu sehen bekommt, und dann wird eine Periode folgen, in der die Frau ihr früheres Mysterium zurückerhalten wird. Es muß so kommen.« Ein kahlköpfiger Mann, der bereits so voller Aufputschmittel hereingekommen war, daß er nur noch über das, was seinem Herzen am nächsten lag, sprechen konnte, erklärte: »Diese Kriegssektion wird eine gute Sache werden. Da kann man eine Menge Beute machen. Ich habe Verbindungen und kann Ihnen versichern ...« In einiger Entfernung unterhielt sich Mrs. Raylond mit Freunden, aber Jark war nirgends zu entdecken. Am anderen Ende des Raumes sah Coman Sein und Jonl dicht beieinander. Anscheinend, unterhielten sie sich ausgezeichnet. Man konnte
sich ohne weiteres vorstellen, daß dies eine völlig normale Party war und die beiden Mädchen fröhliche Gäste in einer harmlosen sympathischen Umgebung. Bildete er sich Gefahren ein, die nicht existierten? Vorübergehend verlor er die Orientierung, es war, als löse er sich auf. Das war bei Telepathen nicht selten; fast gleichzeitig schaltete sich sein Abwehrmechanismus ein und brachte ihn wieder in die Realität zurück. Gerade da schaute Jonl ihn an, und er sah ihre Augen, die im Gegensatz zu den lächelnden Lippen angstvoll schienen. Er ging auf sie zu und zog sie in einen verhältnismäßig ruhigen Platz des Raumes. Dies war für beide die erste wirkliche Gelegenheit, mit einander zu sprechen. »O Claus, wann werden wir hier herauskommen?« »Ich dachte, du unterhältst dich«, sagte er und beobachtete Sein, die mit einem großen jungen Mann zu einer eigenartigen Melodie tanzte, die von einer Welt stammte, die fast fünfzig Lichtjahre entfernt war. »Das stimmt nicht. Ich fürchte mich sehr. Wann gehen wir?« Der Mann, mit dem Sein tanzte, sagte: »Natürlich stimme ich Ihnen darin zu, daß in gewisser Hinsicht alle Lebensformen des Universums Teil ein und derselben Brüderschaft sind, aber wenn einige Leute meinen, wir sollten sie als gleichberechtigt akzeptie ren, dann ist mir immer, als müßte ich mich übergeben.« Gleich zeitig dachte er: Bei Jupiter, die ist hübsch. Ich würde ein kleines Vermögen geben, wenn ich sie in einer Liebesmaschine sehen könnte. Comans Blick fiel durch die langen Fenster auf die Terrasse. Die Dunkelheit war hereingebrochen, und hinter einem unsichtbaren Schirm hüpften und flatterten Tausende von Insekten, die ver geblich versuchten, ins Zimmer zu gelangen. Er sagte: »Wir sind so gut wie gefangen. Gibt es noch einen anderen Ausgang als das Tor?« Jonl beantwortete die Frage nicht sofort. Sie hob den Kopf, schaute ihn an und murmelte: »Das habe ich mir schon gedacht. Es ist mein Fehler ...« »Unsinn. Raylond ist krank, und man kann ihm nicht helfen. Du warst die erste Frau, die ihm einen Korb gegeben hat, und das hat ihn an den Rand des Wahnsinns gebracht. Der Ausgang ...?« »Das Haus ist völlig einbruchsicher. Es gibt nur ein Tor, der Rest ist ständig von einem undurchdringlichen Strahlenzaun um
geben.« »Es muß doch eine Art Schalter geben ...« »Nein. Das ist ein automatischer Strahl, direkt vom Polizei hauptquartier. Er wird lediglich' auf Befehl von Mrs. Raylond oder ihrem Sohn abgeschaltet. Ich habe dir, glaube ich, bereits erzählt, daß sie hier sehr einflußreich ist und aus diesem Grunde beson dere Privilegien genießt.« »Das ist großartig, einfach großartig!« Jonl starrte ihn an, ihr ovales reizvolles Gesicht war ruhig und ernst. »Als du zurückkehrtest, strahltest du Gewalt aus. War es — schlimm, Claus?« Er zuckte die Schultern. »Vergessen wir das. Wenn wir das Haus verlassen — und wir werden hinauskommen —, dann werden wir drei richtig Urlaub machen. Sonne und Meer ...« Jonl ließ ihn nicht aus den Augen. »Es war schlimm, nicht wahr?« Coman schwieg, ihre Augen begegneten sich, und plötzlich wußte Jonl, daß dieses Gefühl zwischen ihnen beiden nichts mit Gefahr oder Tod zu tun hatte. »Die Frau, der du begegnet bist?« fragte sie. »Ja, die Frau.« »Du bist bis in ihr Innerstes gedrungen.« Sie wandte sich ab. Er spürte den Kampf, die Verwirrung in ihr und kontrollierte dennoch den Impuls, ihre Gedanken zu lesen. Ihr Gefühl sagte ihr, daß nichts von Bedeutung geschehen war zwischen ihm und der anderen Frau — nichts, was das Band zwischen ihnen gefähr den konnte —, aber es blieb die Frage: Warum? Auch Coman hatte sich am Morgen diese Frage gestellt, als er neben Linnel er wacht war. Er hatte niemals, nicht einmal während der langen Monate auf der Venus, das Verlangen nach einer fremden Frau empfunden, warum also jetzt? Die Frage lag auf der Hand, und schließlich wandte Jonl ihm ihr Gesicht wieder zu und sagte leise: »Ich habe dich lange warten lassen, Claus, nicht wahr?« Seine Finger glitten sanft ihr Gesicht entlang, bei der Berührung hob sie ihre Hand und murmelte: »Ich bin bereit, es durch zustehen — in deine Welt zu gelangen.« Es stimmte also. In diesen wenigen Sekunden hatte Jonl ihrer Furcht Herr werden und ihm die Schranken ihres Verstandes öff nen können. Sie sprach weiter, so leise, daß er nur mit Mühe die Frage ver
stehen konnte: »Und Sein?« »Es wird sich nichts ändern. Wenn du und ich völlig umschlossen sind, müssen wir ihr helfen, auch dorthin zu gelangen — und dann sind wir drei wieder beisammen. Es wird wie ein Wunder sein, ist dir das klar?« Jonl nickte zitternd, sie war ein Opfer unnennbarer Ängste und doch bereit, zu glauben, daß er recht hatte und daß alles gut werden würde. Sein hatte unvermittelt aufgehört zu tanzen und entfernte die Hand ihres Partners von ihrem Hinterteil. »Hol Sein«, sagte Coman, »bring sie auf die Terrasse. Laß dir Zeit, mach es so unauffällig wie möglich: Wir müssen einen Plan schmieden.« Als Jonl fort war, ging er wie zufällig durch das Gedränge, bis er an die langen Fenster kam, und nach einem schnellen Rundblick, mit dem er sich vergewisserte, daß ihm niemand zuschaute, öffnete er einen Flügel und schlüpfte hinaus in die Dunkelheit Es war nicht völlig dunkel. Schimmerndes Mondlicht tauchte den Rasen in bleiches Silber, aber auf die Terrasse fielen Schatten. Jark mußte gewartet haben, er hatte alle bewußten Gedanken beiseite geschoben, denn Coman bemerkte seine Anwesenheit erst, als er plötzlich aus dem schwarzen Schatten einer Urne im Mauerwerk der Terrasse hervortrat. Coman sah das Glitzern einer Waffe. Er atmete tief und wartete entspannt, bis schließlich der Wächter in seinem Verstand, der plötzlich unerklärlicherweise er müdet schien, sich bequemte, die Möglichkeit des bevorstehenden Ausgelöschtwerdens zu erkennen. Jark sagte: »Ich hatte mir schon gedacht, daß Sie früher oder später herauskommen würden. Sie wissen, was ich will; brechen Sie mit Jonl. Und wenn Sie nicht einwilligen, dann töte ich Sie. Das ist ganz einfach.« Coman las die Gedanken des jungen Mannes und wußte, daß er es mit dieser Drohung ernst meinte. Er sagte ruhig: »Eine Bin dung ist eine Bindung, und man kann ein Gesetz nur dann bre chen, wenn beide Partner damit einverstanden sind.« »Zum Teufel mit diesem Blödsinn. Ich kann nur mit Jonl glücklich werden, und Sie fesseln sie mit ihren seltsamen Geisteskräften an sich. Sie braucht doch nur zu versuchen, an irgend etwas zu denken, mit dem Sie nicht einverstanden sind,
und Sie wissen es schon, bevor sie es weiß, und können sie auf der Stelle >berichtigenIrgend etwas in seinem Verstandskasten< hatte ihm gesagt, er solle das Schiff verlassen und schnell hierher kommen. Und das war ein guter Gedanke. Coman wandte sich an die beiden Frauen, die auf die Terrasse hinausgetreten waren. »Schließt die Fenster«, sagte er. Während Sein seinen Worten nachkam, trat Jonl auf ihn zu. »Was ist geschehen?« Sie blieb stehen, als sie Deenan erblickte. »Nichts. Jark wurde unangenehm, weiter nichts. Hast du ein Taschentuch?« Johl reichte es ihm schweigend, während Sein wie erstarrt zu schaute, als Deenan über die Balustrade sprang. Coman stopfte
Jark das Taschentuch in den Mund, löste die Kordeln von der Hose des jungen Mannes und band sie um Mund und Kopf, fes selte ihm die Handgelenke auf dem Rücken. »Hilf mir, ihn außer Sichtweite zu tragen«, sagte er zu Deenan. Gemeinsam trugen sie den schlaffen Körper die Treppe zum Ra sen hinunter in den Schatten der Büsche in der Nähe des Sees. »Wie bist du an den Wachen vorbeigekommen?« fragte Co-man endlich. »Ich habe mit ihnen geredet, und sie waren gehorsam. Für sie bin ich etwas Besonderes, eine bessere und fortschrittlichere Version ihrer eigenen Gattung. Warum bin ich nicht früher herge kommen? Ich könnte König der Roboter sein. Ich kann nämlich direkt mit dem >geschlossenen Rätsel< ihres Verstandes in Ver bindung treten.« Coman lächelte fasziniert über diese Möglichkeit. Seitdem man menschenähnliche Roboter baute, hatten die meisten Leute fest gestellt, daß in ihren Denkvorrichtungen etwas Ungewöhnliches existierte, eine unbekannte Eigenschaft, die man nicht während des Montageprozesses eingebaut hatte. Wissenschaftler und In genieure hatten längst aufgegeben, diese Eigenschaft vermeiden und ausschalten zu wollen. Einige der Maschinen sprachen ein wenig merkwürdig, betonten die Sätze nicht richtig, andere ver hielten sich häufig unnötig umständlich. Manchmal waren die Besitzer belustigt, manchmal verärgert, niemals jedoch war die Fähigkeit der Maschinen, dem Menschen zu dienen, ernsthaft beeinträchtigt worden. »Meinst du, daß du uns sicher hier herausbringen kannst?« fragte Coman. Deenan machte eine unbestimmte Geste. »Ich weiß nicht. Viel leicht haben sie für die Ankunft und das Verlassen von Menschen spezielle Instruktionen.« »Sehr gut. Geh voran und versuch es. Wir kommen nach. Wenn sie nicht wollen, müssen wir kämpfen.« Der Metallmund öffnete sich zu der Imitation eines Grinsens. Coman las den Gedanken: Ich kann keinen Roboter töten. Aber die Stimme sagte: »Ich habe in Ruhe und Frieden gelebt, bevor du auftauchtest, und seitdem gibt es nur noch Gewalt und Auf regung, Verbindungsmann.« »Ja«, sagte Coman unbewegt, »die Welt hier draußen bedeutet Gewalt.« Er wandte sich um und winkte. Die beiden Mädchen
kamen näher. »Anscheinend ist eure Abwesenheit nicht aufge fallen.« »Es wird auch eine Weile dauern«, sagte Jonl. »Gerade hat ein hübsches kleines Spielchen begonnen, eins von der Sorte, die garantiert jedermann in ihren Bann ziehen.« »Vorzüglich. Geh voran, Deenan.« Deenan trat auf das Laufband, und nach einigen Sekunden folg ten die drei. Als sie bis auf etwa fünfzig Meter an die Wachen herangekommen waren, stiegen sie ab und gingen zu Fuß weiter. Deenan schien sich mit den Robotern zu unterhalten. Die Tore waren geöffnet, und die Laufbänder glitten wie Flüsse im Mond licht über das Grundstück. Plötzlich wandte sich Deenan halb uni und winkte mit einer Hand, die Augen hatte er noch immer fest auf die Wachen geheftet, die wie Statuen standen. Coman sagte: »Gut. Gehen wir.« Sie traten wieder auf das Laufband. Mit gespanntem Körper, auf Zehenspitzen glitten sie mit der Standardgeschwindigkeit von vier Meilen pro Stunde auf die drei Gestalten zu. Es schien endlos lange zu dauern, bis sie die Torflügel erreichten. Deenan und die Roboter glichen Traumgestalten, regungslos blickten sie einander ins Gesicht. Coman versuchte, einen Gedanken aufzufangen, aber da war nichts, nur ein Vakuum an Stille und Bewegungslosigkeit. Als sie auf gleicher Höhe waren, hob der Einarmige seine Waffe langsam aus dem Halfter und zielte einen Augenblick ungenau in ihre Richtung, dann senkte er die Pistole. Sie waren draußen. Deenan wandte sich um und rannte hinter ihnen her, sprang auf das Laufband und wedelte aufgeregt mit den Armen, eine Aufregung, die aus einer unbekannten Quelle kam. Eilig bahnten sie sich ihren Weg durch das Labyrinth von Lauf bändern; Coman ging voran, unruhig suchte er jeden neuen Kreuzungspunkt ab, die Hand an der Waffe in seiner Tasche. Aber zu dieser Nachtzeit waren nur wenige Leute unterwegs, und sie wurden nicht belästigt. Hinsichtlich der Polizei konnte er nichts unternehmen, und er wußte, daß jede ihrer Bewegungen auf den Bildschirmen im Zentraldepartment zu sehen war. Sie erreichten jedoch die Fahrstühle nach Ellice Island ohne Zwi schenfall, und als sich die Tür schloß und der Kubus abwärts schoß, schaute Coman Jonl an. Ihre Augen begegneten seinem Blick, eine Hand lag auf dem goldenen Cape, das sie trug, die
Finger ruhten auf dem Kragen, der sich um ihren Hals breitete. Zum erstenmal dachte er näher darüber nach, was sie gemeinsam tun würden. Es würde aufregender und umfassender sein als früher, aber auch unendlich befriedigender und lohnender als nur die Vereinigung der Körper. Es würde qualvoll sein, das Bloßlegen endloser Erinnerungen: vergangene Ängste, die Süße der kindlichen Unschuld und das langsame, schrittweise, manchmal schockierende Verderben dieser Unschuld, die Entsetzensbilder der Jugendzeit. Trotz Mißtrauen, Furcht und sogar Abscheu würden sie zum Schluß, wenn er Erfolg hatte, ein Verständnis und einen Frieden empfinden, dessen Vorhandensein Jonl sich nicht hatte vorstellen können, und den vielleicht nicht einmal er selbst wahrnehmen konnte. Coman sondierte versuchsweise ihre oberflächlichen Gedanken, er fand Zögern und Furcht trotz ihrer äußeren gefaßten Haltung, sie versuchte, die Furcht zu kontrollieren, die Furcht davor, nun alles zu verlieren, was sie als kostbarsten Besitz angesehen hatte. Jonl würde lernen, daß es auch für Telepathen die Möglichkeit gab, ein geistiges Eigenleben zu führen, aber er hoffte, daß sie während des Austausches ihrer gegenseitigen Erfahrungen auf diese Kraft verzichten würde. Gleichsam als Ermunterung erkannte er ihr Vertrauen, die Erinnerung an seine Sanftheit und Rücksichtnahme bei der Eroberung ihres Körpers. Als sie schließlich seinem Wunsch zugestimmt hatte, erhielt sie Festigkeit und Sicherheit — die Sicherheit, sich selbst gegenüberzutreten und zu versuchen, sich selbst zu erkennen und auch gleichzeitig ihn vollständig zu entdecken. Dies war sein größtes Risiko. Im Lichte dessen, was er innerhalb einer gewissen Zeit über Männer und Frauen erfahren hatte, konnte er alles Wissen über sie anpassen, ihre Fehler betrachten und akzeptieren, desgleichen alle Irrtümer, die sie je begangen hatte, die zahllosen Gedanken, hinterhältig oder ausweichend, bedauernswert oder niederträchtig, wollüstig, mörderisch, die sie natürlicherweise irgendwann einmal gedacht hatte während ihrer Kindheit und Jugend. Für Jonl jedoch, die nicht nur diesen Din gen in sich selbst, sondern den noch weitaus stärkeren und häufig auch böseren Facetten des männlichen Charakters gegenüberstehen würde, konnte es eine entsetzliche Erfahrung sein, ein Alptraum, in dem sie, wenn Coman nicht vorsichtig war,
ihm entgleiten und unwiederbringlich verlorengehen konnte. Und Sein. Auch sie beobachtete ihn mit festem Blick. Er begriff, daß sie erkannt hatte, was er vorhatte, und sie hatte es bereits akzeptiert, ohne Furcht oder Ärger. In diesem Augenblick, als der Lift die letzten Meter zurücklegte, überkam den Mann und die beiden Frauen gleichzeitig die. Erkenntnis. Einen Augenblick lang waren Zeit und Bewegung verbunden und unteilbar, sie sahen sich nicht als drei Individuen, sondern als ein einziges -Wesen mit einer Bedeutung und Zielbewußtheit, die so fremd und komplex waren, daß man sie nicht beschreiben konnte. In diesem Augenblick der Enthüllung verschmolzen ihre Persönlichkeiten miteinander, und dennoch behielt jeder einzelne von ihnen seinen Platz in ihrem Bund, sie glichen Neutronen und Elektronen in einem Atom, so schön und perfekt, als sei es vor undenklichen Zeiten festgelegt worden. Der Augenblick verging, und der Lift erreichte die Insel.