Ein rasantes Krimi-Deb¨ ut Wolfgang Burgers erster Kriminalroman um einen fanatischen Autogegner, eine im dunkeln tappende Sonderkommission, alles herunterspielende Stadtpolitiker und eine schlagzeilenjagende Presse. Alles f¨angt ganz harmlos an: Die Radarfallen an der S¨ udtangente wurden schließlich schon h¨aufiger demoliert – aber noch nie durch einen Bombenanschlag w¨ahrend des Berufsverkehrs. Kriminaloberkommissar Petzold und seine Kollegen k¨ onnen noch nicht einmal richtig dar¨ uber lachen, denn bei der Explosion hat sich ein Autofahrer zu Tode erschreckt. Als dann auch noch ein Bekennerschreiben auftaucht, wird es ernst f¨ ur Petzold und sein Team. Die in aller Eile gegr¨ undete Sonderkommission um Petzold, Porschefahrer mit Beziehungsstreß, den computerbegeisterten Intellektuellen Schilling und den bed¨ achtigen Gerlach ist nicht nur konfrontiert mit dem S¨ udtangente-Terroristen. W¨ ahrend ihrer fieberhaften Suche nach dem T¨ ater und seinen Motiven kollidieren sie immer wieder mit Stadtpolitikern, die am liebsten alles vertuschen w¨ urden, und mit der sensationsgierigen Presse. – Aber zum Gl¨ uck gibt’s ja noch Schilling: Und der hat gar kein Auto. . . ¨ Uber den Autor Wolfgang Burger, geboren 1952 in G¨ orwihl/Oberwihl im S¨ udschwarzwald, aufgewachsen in Bad S¨ ackingen. Nach Abitur und Bundeswehr Studium der Elektrotechnik an der Universit¨ at (TH) Karlsruhe, Promotion zum Dr.-Ing.; seit 1980 dort wissenschaftlicher Angestellter. Wolfgang Burger lebt mit seiner Frau und seinen drei T¨ ochtern in Karlsruhe. Seit 1996 schriftstellerisch aktiv mit zahlreichen Kurzkrimis und satirischen Kurzgeschichten in Tages- und Wochenzeitungen.
Wolfgang Burger
MORDSVERKEHR Kriminalroman
ZEBULON VERLAG
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Burger, Wolfgang: Mordsverkehr: Kriminalroman; Originalausgabe Burger. - K¨ oln: ZEBULON Verl., 1998 ([Zebulon-Krimi]; 08) ISBN 3-928679-56-2
Scan, Korrektur und Layout: Shaya Version: 1.0
c Copyright by ZEBULON Verlag GmbH & Co. KG, K¨ oln Umschlag- und Reihengestaltung: Willi H¨ olzel, luxsiebenzwo, k¨ oln Lektorat: Gabriele Dietz ¨ Gesamtherstellung: KONINKLIJKE WOHRMANN B.V., Zutphen - NL Printed in Nederland ZEBULON Verlag · Postfach 250 369 · D - 50519 K¨ oln e-Mail:
[email protected] ISBN 3-928679-56-2
Dieses Buch widme ich Evelyn, Johanna, Marlene und Charlotte sowie all den vielen Menschen, die auf unterschiedlichste Weise dazu beigetragen haben, daß es zustande kam und so wurde, wie es jetzt ist.
S¨ amtliche Begebenheiten und Personen sind frei erfunden. ¨ Ahnlichkeiten w¨ aren rein zuf¨ allig.
Kriminaloberkommissar Thomas Petzold Steffi, Petzolds Lebensgef¨ ahrtin Kriminalkommissar Schilling Kriminaloberkommissar Gerlach
Kriminalobermeister Hirlinger Kriminalhauptkommissar F¨ orster Erster Kriminalhauptkommissar Hellmann Frau Dr. Kaufmann, Polizeipr¨ asidentin Oberb¨ urgermeister Dr. Kroll Erna K¨ onig Holger Zeidler
Anfang 30, eher stark als schlau, maulfaul, liebt Steffi und seinen Porsche 911. Ebenfalls Anfang 30, Bauingenieurin. Theater- und kunstbegeistert, ganz im Gegenteil zu Petzold. Ende 20, Studienabbrecher mit ZEITAbonnement, hat als einziger einen PC auf seinem Schreibtisch, worum ihn die anderen nicht beneiden. Ende 30, sieht aus wie Sherlock Holmes spielt auch Schach, aber nicht Geige. Redet erst, wenn er zu Ende gedacht hat und l¨ aßt sich so leicht nicht aus der Ruhe bringen. Mitte 40, unter Kollegen nicht gerade beliebt. Trinkt mehr als ihm guttut. F¨ allt meist durch k¨ orperliche oder geistige Abwesenheit auf. Anfang 50, stellvertretender Dezernatsleiter, immer p¨ unktlich und korrekt. Bleibt zu seinen Kollegen lieber auf Distanz. Dezernatsleiter. Widmet sich gern h¨ oheren Dingen und ist h¨ aufiger auf Taktikseminaren und Rhetorklehrg¨ angen als im Pr¨ asidium. Tritt energisch auf und l¨ auft Gefahr, sich zwischen alle St¨ uhle zu setzen. M¨ ochte die ganze Angelegenheit nicht u ¨berbewerten. 76, und auch im Alter keine graue Maus. Geht bei Gr¨ un u ¨ber die Ampel und macht eine wichtige Beobachtung. F¨ ahrt mit seinem Tanklastzug der Katastrophe entgegen.
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Werner Fuhrmann schaltete den Scheibenwischer auf h¨ochste Stufe, gab vorsichtig Gas und fluchte lauthals. Der Lastzug, den er gerade u ¨berholte, nahm ihm mit einer aufgewirbelten Wolke aus Wasser und Dreck den letzten Rest der ohnehin schlechten Sicht. Der Scheibenwischer schaffte es nicht, f¨ ur Sekunden fuhr er blind. Dann war er vorbei. Beide stadteinw¨arts f¨ uhrenden Spuren der Straße waren dicht befahren. Wie jeden Morgen um diese Zeit. Jenseits der Leitplanke sah es nicht anders aus. Von Zeit zu Zeit nervte ihn einer mit schlecht eingestellten oder aufgeblendeten Scheinwerfern. Daß die Leute sich nie die M¨ uhe machten, mal ihre Beleuchtung u ufen zu lassen! Immer ¨berpr¨ wieder kniff Fuhrmann die Augen zu. Ob diese Schlitzohren in der Werkstatt wirklich neue Wischerbl¨atter montiert oder sie wieder nur auf die Rechnung gesetzt hatten? Es war eine ekelhafte Fahrerei, stockdunkel, kn¨ uppeldicker Berufsverkehr und dazu dieses Dreckwetter. Fehlte nur noch der u unschte er ¨bliche Morgenstau. Zum tausendsten Mal verw¨ es, damals wegen der Kinder aufs Land gezogen zu sein und nun jeden gottverdammten Arbeitstag diese Strecke fahren zu m¨ ussen. Morgens hin und abends zur¨ uck. Hin und zur¨ uck, hin und zur¨ uck. . . Im Sommer ging es ja noch, aber jetzt, im Winter und bei diesem Wetter, das war die H¨olle. Aber bald hatte er es wieder einmal geschafft, in zehn Minuten w¨ urde er da sein. Und in drei Jahren durfte er in Rente gehen, dann war endlich Schluß damit. 9
Der Regen schien noch st¨arker zu werden. Weiter vorne bremsten sie schon wieder. Fuhrmann ging vom Gas, um nicht auf seinen Vordermann aufzufahren. Pl¨otzlich blendete ihn ein grelles Licht, Sekundenbruchteile sp¨ater war es wieder dunkel. Er h¨orte einen Knall, eine Explosion, und trat instinktiv auf die Bremse. Ein Schatten kippte vor den Wagen, und schon krachte es zum zweitenmal. Es gab einen Ruck, er hatte etwas u ¨berfahren. Etwas Hartes. Ein kreischendes Ger¨ausch, das Hindernis hing unter dem Wagen und wurde mitgeschleift. Jetzt krachte es hinten, der Wagen machte einen Satz vorw¨arts, Fuhrmann wurde in die R¨ uckenlehne geschleudert, prallte mit dem Kopf gegen die Nackenst¨ utze. Glas splitterte, alles begann sich zu drehen. Er versuchte gegenzusteuern, aber das Lenkrad war blockiert. Gel¨ahmt klammerte er sich fest, stand mit aller Kraft auf der Bremse, starrte in die kreiselnden Lichter und hoffte, daß er irgendwie zum Stehen kommen w¨ urde. Augenblicke sp¨ater h¨orte er einen weiteren Aufprall, aber dieses Mal sp¨ urte er keinen Ruck. Vermutlich war einer auf seinen Hintermann aufgefahren. Endlich stand er. Quer auf der linken Spur. Mit quietschenden Bremsen hielt neben ihm der Lastzug, den er u ¨berholt hatte. Ganz langsam ließ Fuhrmann das Lenkrad los. Pl¨otzlich begannen seine H¨ande zu zittern, und dann zuckte ein stechender Schmerz in den linken Arm. Jemand riß die Wagent¨ ur auf. Ist Ihnen was passiert? Ich weiß nicht, st¨ ohnte er. Von weit her h¨orte er die Stimme noch rufen: Hat wer ein Telefon? Wir brauchen einen Arzt! Mit dem hier stimmt was nicht! Dann h¨orte er nichts mehr.
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Thomas Petzold h¨atte am liebsten gebr¨ ullt. Statt dessen sog er nur zischend die Luft durch die Z¨ahne. Hinkend suchte er, sein Kleiderb¨ undel unterm Arm, den Weg zur Schlafzimmert¨ ur. Es war stockdunkel, und er konnte sich in der neuen, ungewohnten Umgebung immer noch nicht zuverl¨assig orientieren. Deshalb war er eben mit dem nackten Fuß gegen den Bettpfosten gestoßen und hatte jetzt M¨ uhe, die T¨ ur zu finden. Endlich ertastete er die Klinke und schlich hinaus. Steffi war zum Gl¨ uck nicht aufgewacht. Im Flur machte er Licht, humpelte leise vor sich hin fluchend zum Bad hin¨ uber, warf sein B¨ undel auf den Hocker und stieg in die Dusche. Es war viertel vor sieben, und er war todm¨ ude. Er drehte das Wasser auf. Kurz blieb ihm die Luft weg, daf¨ ur ließ der Schmerz sofort nach. Bald kam warmes Wasser, dann heißes, und jetzt wurde er langsam wach. Mehrfach wechselte er die Wassertemperatur von heiß auf kalt und zur¨ uck. Anschließend rasierte er sich, schnippelte ein wenig an seinem blonden Schnurrbart herum und betrachtete sich im Wandspiegel. Er holte tief Luft, zog den Bauch ein, versuchte zu gucken wie Clint Eastwood und ließ seine Armmuskeln spielen. Er war ganz zufrieden mit sich. Beim Squash war er vor einem halben Jahr zum letzten Mal gewesen, und selbst zum Joggen war er in den letzten Monaten wegen des Umzugs und all den damit verbundenen Scherereien nicht gekommen. Aber eine Wohnung renovieren und umziehen ist in gewisser Weise auch eine Art 11
Sport, und außerdem waren da nat¨ urlich die Di¨aten, zu denen Steffi ihn unentwegt n¨otigte. Dabei hatte er noch nie wirklich ¨ Ubergewicht gehabt. Petzold fand 92 Kilogramm durchaus angemessen f¨ ur einen Mann, der u ¨ber 1 Meter 90 groß und kr¨aftig gebaut ist. Aber seine Lebensgef¨ahrtin war anderer Ansicht. Die hatte leicht reden, konnte essen wie ein Holzf¨aller und behielt dabei unver¨andert ihre Ballettrattenfigur. Manchmal fand Petzold sie sogar etwas zu mager, vor allem ihren Busen. Aber das h¨atte er nie laut auszusprechen gewagt. Geduldig ließ er die jeweils aktuelle Schlankheitskur u ¨ber sich ergehen und hielt sich an kleinen Zwischenmahlzeiten im B¨ uro schadlos. Vielleicht sollte er wenigstens mal wieder in die Folterkammer des Polizeisportvereins zum Krafttraining gehen. Nach einem Blick auf die Uhr zog er sich rasch an, blieb f¨ ur eine Sekunde regungslos vor der Badezimmert¨ ur stehen, riß sie mit einem Ruck auf, und versuchte, Pedro in den Hintern zu treten. Der sprang geschmeidig zur Seite, sah ihn mitleidig an, schnurrte herablassend und tigerte vor ihm her in die K¨ uche. Petzold schob einen Becher mit Wasser und einem Teebeutel in die Mikrowelle, stellte dem Kater eine halbe B¨ uchse von dessen widerlicher Fleischpampe hin und mischte mit saurer Miene sein Fr¨ uchtem¨ usli mit Magerjoghurt. Pedro hatte sich sofort u uhst¨ uck hergemacht, wobei er seinen Ern¨ahrer ¨ber sein Fr¨ keine Sekunde aus den Augen ließ. Er schien zu wissen, daß die Sache mit der neuen handbemalten Seidenkrawatte, die er noch unterm Weihnachtsbaum zu einem h¨ ubschen Kn¨auel bunter Putzwolle verarbeitet hatte, nicht vergessen war. Pling – das Teewasser war heiß. Petzold setzte sich an den K¨ uchentisch und begann, hastig zu fr¨ uhst¨ ucken. Gestern abend war es wieder sp¨at geworden. Wie so oft war Steffi erst um halb elf aus dem B¨ uro gekommen. Sie arbeiteten zur Zeit unter großem Termindruck an den Pl¨anen f¨ ur eine Autobahnbr¨ ucke, die n¨achstes oder u ¨bern¨achstes Jahr gebaut werden ¨ sollte, und st¨andig gab es neuen Arger. Sie war v¨ollig durchge12
dreht gewesen und hatte lange nicht ins Bett gewollt. So hatten sie noch Musik geh¨ort, gequatscht und eine Flasche Bardolino aufgemacht. Und als sie gegen eins endlich im Bett lagen, hatte Steffi immer noch keine Ruhe gegeben. Petzold g¨ahnte. Heute war Freitag. Petzold war froh, daß er am Wochenende keinen Bereitschaftsdienst haben w¨ urde. Zur Zeit konnte er sich nichts Sch¨oneres vorstellen, als mindestens zw¨olf Stunden am St¨ uck zu schlafen. Aus der Ferne h¨orte er Martinsh¨orner, die Feuerwehr vermutlich. Als er Becher und M¨ uslisch¨ ussel beiseite r¨aumte und beschloß, am Samstag endlich die Sp¨ ulmaschine anzuschließen, war es viertel nach sieben. Zu sp¨at. Schnell putzte er Z¨ahne, zog das weinrote Jackett u ussel, Geldbeutel und ¨ber, griff Schl¨ das neue Handy von den zwei aufeinandergestapelten Umzugskartons, die momentan noch die einzige Flurm¨oblierung waren, und verließ im Laufschritt die Wohnung. Die Handies hatte es ¨ zur Uberraschung aller Anfang Dezember gegeben. Ein Weihnachtsgeschenk des Innenministers oder eine schnelle Gelegenheit, u ¨briggebliebene Haushaltsmittel noch vor dem Jahreswechsel auszugeben. Allerdings hatte nur ungef¨ahr jeder zweite Beamte der Karlsruher Kriminalpolizei eines bekommen. Die anderen mußten vermutlich warten, bis wieder Weihnachten war. Bislang hatte Petzold seines nur dazu benutzt, alle m¨oglichen Leute anzurufen und ihnen beil¨aufig mitzuteilen, daß er jetzt auch eines hatte, und um sich davon zu u ¨berzeugen, daß es tats¨achlich funktionierte. Es regnete in Str¨omen, zum Gl¨ uck hatte er gestern abend einen Parkplatz vor der Haust¨ ur gefunden. Er zog das Jackett u upfte hinein und knallte ¨ber den Kopf, sprang zum Wagen, schl¨ mit dem Kopf gegen den Dachholm. Wenigstens konnte er nun hemmungslos fluchen. Heute schien nicht sein Tag zu sein. Noch immer war es v¨ollig dunkel. Petzold sch¨ uttelte sich und drehte den Z¨ undschl¨ ussel. Der Motor sprang sofort an, mit heiserem Dr¨ohnen drehte der luft13
gek¨ uhlte Sechszylinder hoch, er setzte zur¨ uck und rangierte vorsichtig aus der Parkl¨ ucke. Den Porsche besaß er schon lange. Es war ein 911’er Carrera, Baujahr 1980. Das Auto hatte er sich selbst anl¨aßlich seiner Versetzung zur Kriminalpolizei geschenkt, nat¨ urlich gebraucht gekauft und mit viel Geld und M¨ uhe wieder in Schuß gebracht. Steffi haßte den Porsche und hatte sich lange Zeit geweigert, darin mitzufahren. Sie fand, es sei ein Angeberauto f¨ ur alternde M¨anner mit Prostata-Beschwerden, zu teuer, zu unbequem, zu laut, und u ¨berhaupt verbrauche es viel zu viel Benzin. Immer wieder hatte sie ihm vorgerechnet, daß ihr Fiat nur halb soviel Sprit brauchte wie sein bl¨oder Sportwagen. Am Anfang ihrer Beziehung hatte es mehrfach ernsthaften Krach wegen des Autos gegeben, inzwischen sah sie es offenbar als eine nicht zu ¨andernde Spinnerei, vielleicht eine milde Form von Geisteskrankheit, die nur M¨anner bef¨allt. Nur wenn die viertelj¨ahrliche Pr¨amienrechnung der Versicherung kam, warf sie einen ihrer Leidensblicke zur Decke und sch¨ uttelte traurig den Kopf. Aber Petzold sparte lieber an anderen Dingen und versuchte, den hohen Benzinverbrauch durch einen vern¨ unftigen Fahrstil auszugleichen. Nur manchmal, wenn die Autobahn frei ¨ war, was ja selten genug vorkam, ließ er alle Uberlegungen u ¨ber Rohstoffreserven und Umweltverschmutzung beiseite. Er bog in die Sophienstraße ein, nach wenigen Metern mußte er nochmals rechts einbiegen, und schon stand er wieder. Weiter vorne mußte irgendwas los sein. Trotz des schnellaufenden Scheibenwischers konnte er nichts erkennen außer zahllosen bunt glitzernden Lichtern. Wahrscheinlich war die Kriegsstraße dicht. Er schlug ein paarmal auf das Lenkrad. Dann beschloß er, sich nicht weiter aufzuregen, und lehnte sich zur¨ uck. Wozu war man schließlich Beamter. Er schaltete das Gebl¨ase ein, damit die schon beschlagene Windschutzscheibe frei wurde, und sofort roch es nach Abgasen. Im Radio kam Werbung, dann die 14
halb-acht-Nachrichten. Endlich war er an der Ampel. Auf der Kreuzung blockierten sich die Autos gegenseitig, und jetzt erfuhr er auch, warum. Wegen Vollsperrung der S¨ udtangente im Bereich der Bannwaldallee kommt es im gesamten westlichen Stadtbereich von Karlsruhe zu starken Verkehrsbehinderungen. Ortskundige Verkehrsteilnehmer werden dringend gebeten, die westlichen Stadtteile weitr¨aumig zu umfahren. . . Minuten sp¨ater bog Petzold in den Hof des Polizeipr¨asidiums ein, stellte den Wagen ab und rannte, das Jackett wieder u ¨ber dem Kopf, in Richtung Hintereingang. Obwohl er versuchte, nicht in Pf¨ utzen zu treten, hatte er patschnasse Schuhe, als er die T¨ ur erreichte. Er nahm sich vor, Steffis Dr¨angen nachzugeben, sich demn¨achst einen Mantel zu kaufen und einen Regenschirm ins Auto zu legen. Inzwischen war es zehn vor acht, zwanzig Minuten sp¨ater als geplant, und er war naß bis in die Hosentaschen. Sauwetter! rief er im Vorbeilaufen dem Pf¨ ortner zu, des¨ sen Anblick er immer tr¨ostlich fand, weil der nun wirklich Ubergewicht hatte. Der andere nickte nur andeutungsweise mit glasigem Blick, offenbar im Halbschlaf. Die Treppe des alten Geb¨audes war feucht von nassen Schuhen, triefenden Schirmen und Regenm¨anteln. Zwei Stufen vor Petzold ging Gerlach. Der war ein paar Jahre ¨alter als er, wartete auf die Bef¨orderung zum Hauptkommissar, sah aus wie Sherlock Holmes, groß, schlank, spielte auch Schach, aber nicht Geige. Und er rauchte nicht, schon gar nicht Pfeife. Petzold mochte ihn, weil er zwei gute Eigenschaften hatte. Er redete erst dann, wenn er zu Ende gedacht hatte, und er verf¨ ugte, wenn es darauf ankam, u ber eiserne Nerven. Ansonsten wuߨ te Petzold, daß er in einem Reihenhaus in der Nordweststadt wohnte, eine sehr vorzeigbare blonde Frau und zwei kleine Kinder hatte. Und daß er bei jedem Wetter mit der Straßenbahn 15
zur Arbeit kam, weil seine Frau das Auto brauchte. Na, im Stau gestanden? lachte Gerlach, als Petzold ihn einholte. War aber auch wieder ein Mordsverkehr. Sogar die Straßenbahn ist nicht durchgekommen, ich bin auch zu sp¨at dran. Es war die totale Katastrophe. Ich glaub, zu Fuß w¨ ar ich schneller gewesen. Da hast du heute deinen Sportwagen wieder mal nicht ausfahren k¨onnen, was? Wer einen Porsche f¨ ahrt, braucht nicht zu rasen, erkl¨arte ¨ Petzold mit Uberzeugung. Gerlach schmunzelte nur. Petzold fragte: Da muß irgendwas Gr¨ oßeres auf der S¨ udtangente passiert sein. Hast du ’ne Ahnung, was los war? Ein Bombenanschlag. ¨ Uber sowas macht man keine Witze! Nein, ganz im Ernst. Irgendwer hat an der S¨ udtangente was gesprengt. Mitten im Berufsverkehr. Ist nicht viel passiert, bißchen Blechschaden, und jemand hat einen Herzanfall gekriegt und mußte ins Krankenhaus. Jetzt ist nat¨ urlich großer Aufmarsch da draußen. Verkehrspolizei, KDD, Spurensicherung, kannst du dir ja vorstellen. Die Straße ist jedenfalls f¨ ur ein Weilchen gesperrt. Das erkl¨ art nat¨ urlich alles. Petzold sch¨ uttelte den Kopf. Nichts ist so bescheuert, daß sich nicht irgendwann einer findet, der’s macht. Die S¨ udtangente war eine der wichtigsten Verkehrsadern der Stadt. Sie verband die Autobahn A5 mit dem Rheinhafen und den Industriegebieten im Westen und f¨ uhrte weiter u ¨ber die Rheinbr¨ ucke in die Pfalz. W¨ahrend der Stoßzeiten war die Straße auch ohne Unf¨alle und Bombenanschl¨age hoffnungslos u ¨berlastet. Warum macht der Wahnsinnige das nicht im Sommer? Da k¨onnte man wenigstens mit dem Fahrrad fahren. 16
Es gibt Leute, die behaupten, man k¨onne auch im Winter mit dem Fahrrad fahren, erwiderte Gerlach. Bei diesem Sauwetter? Da nehm ich doch lieber mein Gummiboot. Gerlach antwortete nicht, sondern kramte seinen Schl¨ usselbund heraus. Inzwischen hatten sie das zweite Obergeschoß erreicht. Ihre B¨ uros lagen nebeneinander. Beim Aufschließen warf Petzold einen stolzen Blick auf das neue Schild neben seiner T¨ ur: Kriminaloberkommissar Petzold Kriminalkommissar Schilling Beide R¨aume waren dunkel, sie waren die ersten. Wann gibt’s denn nun endlich den versprochenen Sekt auf deinen Oberkommissar? fragte Gerlach durch die offenstehende Verbindungst¨ ur. Ich komm ja nie dazu. Aber heute nachmittag wird’s hoffentlich klappen. Mach dir keine Hoffnungen, solche Verpflichtungen verj¨ahren nicht. Gerlach zog seinen Mantel aus. Die Straßburger G¨anseleberterrine aus der Feinkostabteilung von Karstadt soll u ¨brigens ausgezeichnet sein. Und wenn ich mich recht erinnere, hat’s bei Lindner sogar warme Quiche Lorraine gegeben und Edelzwicker bis zum Abwinken. Hab ich vielleicht im Lotto gewonnen? maulte Petzold, w¨ahrend er sein durchgeweichtes Jackett zum Trocknen in die N¨ahe der Heizung h¨angte. Dann schob er das Reiterchen an seinem Wandkalender einen Tag weiter. Es war Freitag, der 12. Januar. Zwar nicht der dreizehnte, aber doch beinahe. Auf seinem Schreibtisch lag ein Berg abgegriffener Akten, den er u uben Wasser lau¨bellaunig betrachtete. Gerlach ließ dr¨ fen. Kaffee? Ja. Wenn ich den M¨ ull hier sehe, zwei Tassen.
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Was hast’n da Sch¨ones? Gerlach stand in der T¨ ur und deutete mit der Kanne auf Petzolds Aktenstapel. Der Bankraub vom Mittwoch. Der Irre mit dem Fahrrad? Genau. Und hier liegen die ungekl¨ arten Bank¨ uberf¨alle aus den letzten drei Jahren. Der u ¨bliche Papierkram. Das war ja wirklich die totale Lachnummer! Petzold grinste. Es war der bl¨odsinnigste Bankraub seit Menschengedenken gewesen. Ein hysterischer Kerl war am hellen Vormittag in die Filiale der Sparkasse am Marktplatz gest¨ urmt, hatte herumgebr¨ ullt, ein Loch in die Decke geschossen und war mit 75.000 Mark Beute abgezogen. Draußen hatte er sich auf ein Fahrrad geschwungen, war aber in seiner Panik schon nach zwanzig Metern mit dem Vorderrad in ein Straßenbahngleis geraten und u urzt. Eine mitf¨ uhlende ¨altere ¨bel gest¨ Dame, die ihm aufhelfen wollte, hatte er mit der Waffe bedroht und fast zu Tode erschreckt. Dann hatte er die Nerven verloren, Fahrrad und Beute liegen lassen, und war zu Fuß durch ¨ die Kaiserstraße geflohen. Armer als zuvor. Die Videokamera in der Bank hatte nichts Brauchbares aufgezeichnet. Zwar war sie immerhin eingeschaltet gewesen und hatte sogar funktioniert, aber die Beleuchtung war nicht gut und der Blickwinkel so ungeschickt gew¨ahlt, daß man den Bankr¨auber nur undeutlich von schr¨ag oben sah. Die Kassiererin konnte man gut erkennen, aber der war beim besten Willen nichts vorzuwerfen. Das nagelneue Fahrrad war mit Sicherheit geklaut. Die Zeugen gaben widerspr¨ uchliche T¨aterbeschreibungen. Bis jetzt wußte man nur, daß es ein Mann gewesen war, in einer vergammelten schwarzen Lederjacke und dreckigen Bluejeans, 20 bis 40 Jahre alt, 1,70 bis 1,85 Meter groß, mager oder schlank oder vielleicht auch eher f¨ ullig, dunkelblond oder braun und eventuell mit Schnauzbart. Schlecht gerochen habe er, da waren sich alle einig, und nicht nur nach Schnaps. Und er sprach Deutsch mit starkem badischem Einschlag. Immerhin
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etwas. Petzold z¨ahlte die Akten: dreiundzwanzig. Wenn er f¨ ur jede eine Viertelstunde rechnete, w¨ urde er in knapp sechs Stunden fertig sein. Pausen und St¨orungen eingerechnet eine tagesf¨ ullende Besch¨aftigung. Lieber h¨atte er heute etwas an der frischen Luft zu tun gehabt. Obwohl, bei diesem Wetter. . . Er br¨ ullte: Scheiß-Job! und ¨ offnete die oberste Akte. Gerlach klapperte zustimmend mit der Kaffeekanne. Ein Bankraub in Durlach vor drei Jahren. Vernehmungsprotokolle, Tatortfotos, dann Berichte, Berichte, Berichte. Auch hier ein Einzelt¨ater, auch er nicht maskiert. Die T¨aterbeschreibung paßte auf ziemlich jeden hellh¨autigen Mann Europas. Flucht zu Fuß, und am Ende der Fußg¨angerzone hatte ein Auto gewartet. Niemand konnte sagen, ob der Bankr¨auber selbst gefahren war, oder ob ein Komplize im Wagen gesessen hatte. Niemand kannte das Kennzeichen, widerspr¨ uchliche Aussagen u ¨ber den Wagentyp. Das Geld war verschwunden. 22.000 Deutsche Mark, reichte nicht mal f¨ ur ein anst¨andiges Auto. Petzold klappte die flache Mappe zu und schob sie nach links, wohin er alle Akten legen wollte, die eine eingehendere Untersuchung wert waren. Inzwischen war der Kaffee fertig, was die alte Maschine durch rhythmisches Schnarchen anzeigte. Dankbar f¨ ur die Unterbrechung f¨ ullte Petzold dr¨ uben seinen Becher, warf drei S¨ ußstoffpillen hinein und dachte f¨ ur zwei Sekunden an Steffi. Gerlach saß inzwischen, ebenfalls mit einem Kaffee, allerdings in einer richtigen Tasse mit L¨offelchen und Tellerchen, an seinem Schreibtisch und raschelte g¨ahnend mit irgendwas herum. Petzold ging zur¨ uck in sein B¨ uro und sah durch die beschlagenen Fenster. Langsam schien es hell zu werden. Viertel nach acht, und es sch¨ uttete immer noch. Er kippte ein Fenster, tat ein paar tiefe Atemz¨ uge, setzte sich, riß die Augen auf und schl¨ urfte vorsichtig ein paar Schlucke Kaffee. Ein K¨onigreich f¨ ur ein warmes Bett. 19
Weißt du eigentlich, warum Frauen so schlanke H¨ande haben? rief er hin¨ uber. Verschon mich bloß mit deinen Frauenwitzen! kam es m¨ urrisch zur¨ uck. Petzold klappte ¨achzend die zweite Akte auf. Bankraub in der N¨ahe von Rastatt vor einem Jahr. Zwei T¨ater, relativ ruhige Sache. Die Angestellten und zwei anwesende Kunden hatten sich richtig, n¨amlich mucksm¨auschenstill verhalten. Die T¨ater waren mit abges¨agten Gewehren bewaffnet gewesen, hatten aber nicht geschossen. Der das Wort f¨ uhrte, hatte einen starken ausl¨andischen Akzent gehabt, untereinander hatten sie irgendeine ¨ostliche Sprache gesprochen, die ¨ kein Mensch kannte. Der Uberfall hatte nicht einmal zwei Minuten gedauert. Vor der Bank ein großer Opel, nat¨ urlich in der Nacht zuvor gestohlen. Beute: 63.000 Mark. Damit konnte man schon eher etwas anfangen. Vermutlich Profis, die schon Minuten nach der Tat außer Landes gewesen waren. Wenn sie die Grenze bei Plittersdorf u urften sie ¨berquert hatten, d¨ keine Viertelstunde gebraucht haben. Seit Einf¨ uhrung des europ¨aischen Binnenmarktes war es regelrecht Mode geworden, in Grenzn¨ahe Banken zu u ¨berfallen und dann blitzartig nach Frankreich zu verschwinden. Und so gut wie nie erwischten sie einen. Petzold warf die Akte dorthin, wo der hoffentlich große Stapel der momentan uninteressanten Sachen entstehen sollte, und sah auf die Uhr. F¨ unf vor halb neun, er lag gut in der Zeit. Draußen war es inzwischen hell, soweit man bei diesem Wetter von Helligkeit reden konnte. Schilling und Hirlinger, Gerlachs Zimmergenosse, waren immer noch nicht da. Vermutlich steckten sie im Stau. Dabei fuhr Schilling immer mit dem Fahrrad oder mit der Straßenbahn, er hatte gar kein Auto. Eine T¨ ur klappte, F¨orster kam. Sein B¨ uro lag hinter Gerlachs. Auch dorthin gab es eine Verbindungst¨ ur, die aber so gut wie immer geschlossen war. Eine von F¨orsters Schrullen. Kriminalhauptkommissar F¨orster, stellvertretender Dezernats
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leiter, ihr derzeitiger Chef. Es war genau halb neun, er machte jeder Funkuhr Konkurrenz. Petzold h¨orte, wie F¨orster mit seinem Kleiderb¨ ugel klapperte, kurz telefonierte und das Zimmer wieder verließ. Er ging zur morgendlichen Besprechung der Dezernatsleiter. Ihr eigentlicher Chef, Erster Kriminalhauptkommissar Hellmann, war seit Tagen krank. Im Pr¨asidium grassierte die Grippe. Viele Kollegen lagen im Bett, und das verursachte einige Probleme. Unter anderem f¨ uhrte es dazu, daß Petzold sich seit neustem mit Bank¨ uberf¨allen besch¨aftigte, obwohl er zum Dezernat 1 geh¨orte, der Abteilung f¨ ur Mord und Totschlag, wie er nicht ohne Stolz erkl¨arte, wenn er nach seinem Beruf gefragt wurde. Weißt du, was mit den anderen ist? fragte Petzold, um zu testen, ob Gerlach nicht eingeschlafen war. Keine Ahnung. Vielleicht stecken sie im Stau, oder sie haben jetzt auch noch die Grippe. Dann h¨ angen wir ein Schild raus: >Wegen Krankheit geschlossen. Alle Arten von Gesetzes¨ ubertretungen sind bis auf weiteres einzustellenIch w¨ urde vorschlagen, Sie geben mir mal Ihre Brieftasche.Damit der < Krach endlich aufh¨ort. Der paßt irgendwie nicht rein. K¨onnte bedeuten, daß er selbst vom Verkehr gest¨ort wird, daß ihm der Krach tagt¨aglich auf den Wecker geht, und das w¨ urde heißen, daß er irgendwo in der N¨ahe der S¨ udtangente wohnt, f¨ ugte Gerlach nachdenklich hinzu. Wir sagen immer er, warum eigentlich nicht sie? fragte Schilling. Gerlach lehnte sich zur¨ uck und sch¨ uttelte energisch den Kopf. Glaub ich nicht. Man muß nat¨ urlich abwarten, was die Laboruntersuchungen bringen, aber Bombenanschl¨age sind nach aller Erfahrung M¨annertaten. Er scheint aus S¨ uddeutschland zu stammen. Er schreibt laufen statt gehen, gr¨ ubelte F¨orster, das Lexikon.
Die Polizeipr¨asidentin war die letzte, die zu der Besprechung im Rathaus eintraf. Ich bitte um Entschuldigung, sagte sie atemlos. Wir hatten noch eine kleine Krisensitzung wegen dieser Mafiasache. Da geht es nicht so vorw¨arts, wie ich es gerne h¨atte. Sie warf ihren hellbraunen Aktenkoffer auf den Tisch, den Mantel u ¨ber eine Stuhllehne und reichte dem ¨alteren der beiden anwesenden M¨anner die Hand. Herr Adelsheim, ich gr¨ uße Sie. Wie geht es Ihnen? Der Angesprochene, ein schwammiger Mann Ende vierzig, dessen Gesichtsfarbe vermuten ließ, daß er nicht ganz gesund 42
war, erwiderte traurig l¨achelnd: Wie soll’s einem gehen, wenn man am Freitag abend nach sieben immer noch nicht zu Hause ist. Ich darf u ¨brigens bekanntmachen: Doktor Volmer von der Staatsanwaltschaft – Frau Doktor Kaufmann, unsere Polizeipr¨asidentin. Herr Volmer ist neu in Karlsruhe, wenn ich eben richtig verstanden habe. Der zust¨andige Oberstaatsanwalt l¨aßt sich entschuldigen, er ist in Stuttgart beim Innenminister. Ich selbst vertrete den OB, der Sie u ußen l¨aßt. Verkehr und Tiefbau f¨allt ja ¨brigens gr¨ ohnehin in mein Ressort. Und wie lange wollen Sie noch zweiter B¨ urgermeister blei ben? Adelsheim schmunzelte. Bei uns wird der Oberb¨ urgermeister gew¨ahlt, wie Sie wissen. Und das Dumme ist, wir haben schon einen, und der erfreut sich – gl¨ ucklicherweise – bester Gesundheit. Ernster f¨ ugte er hinzu: In zwei Jahren ist Wahl, meine Chancen bei der Partei stehen nicht einmal schlecht. Die Polizeipr¨asidentin, eine schlanke, gutgekleidete Mittf¨ unfzigerin, reichte dem Staatsanwalt die Hand, l¨achelte knapp und nahm schwungvoll Platz. Eine Bitte gleich zu Anfang, meine Herren: Machen wir es kurz. Ich habe Karten f¨ ur die Oper heute abend, und mein Mann wird mich zu unserem n¨achsten Mordfall machen, wenn ich wieder absage. Und glauben Sie mir, wir haben wirklich keine Leute mehr, um noch eine zweite Mordkommission auf die Beine zu stellen. Es ist schlimm mit der Grippe dieses Jahr. Die M¨anner hatten sich inzwischen ebenfalls gesetzt. Die Pr¨asidentin z¨ uckte ein Packen Dunhill. Sie erlauben? Adelsheim schob ihr wortlos einen Aschenbecher hin¨ uber und lehnte die angebotene Zigarette mit einer Handbewegung ab. Volmer, ein schlaksiger, u ¨bergroßer junger Mann, der wohl noch nicht lange Staatsanwalt war, sch¨ uttelte verlegen den 43
Kopf. Sie ließ ein goldenes Feuerzeug aufflammen, tat zwei tiefe Z¨ uge, dann fischte sie einige Bl¨atter aus ihrem Koffer und schubste sie u ¨ber den Tisch. Hier ein erster kurzer Bericht. Wir wissen wenig, aber doch immerhin etwas. Es ist ein Einzelt¨ater, er ist nicht ganz dumm, und er ist m¨oglicherweise gef¨ahrlich. Was schlagen Sie vor, Frau Doktor Kaufmann? Die Pr¨asidentin lehnte sich zur¨ uck, strich nerv¨os durch die pechschwarzen Locken und sah aus dem Fenster. Der B¨ urgermeister bewunderte die großen, dunklen Augen von Frau Dr. Kaufmann. Nichts. Wir lassen ihn h¨ angen. Sie wollen sagen, wir reagieren einfach nicht? Nach aller Erfahrung ist es das Beste, sich von vorneherein auf nichts einzulassen. Er will u ¨ber seine Tat in der Zeitung lesen, er will Aufsehen erregen. Wenn das nicht funktioniert, h¨ort er mit einiger Wahrscheinlichkeit auf. Wenn Sie nachgeben, haben Sie keinen Tag mehr Ruhe. Der B¨ urgermeister sah den Staatsanwalt an. Der nickte. Und noch etwas, meine Herren. Ich habe momentan wirklich keine Ressourcen zur Verf¨ ugung. Jeder Beamte und jede Beamtin der Kripo ist zur Zeit im Einsatz. Und die H¨alfte ist ohnehin krank. Lassen Sie es uns bitte so versuchen: Es wird nichts in der Zeitung stehen, es wird nicht im Fernsehen berichtet. Wir hungern ihn aus. Der B¨ urgermeister nahm die Brille ab, blickte auf den Bericht der Polizei und schien f¨ ur einen Moment mit den Gedanken weit weg zu sein. Dann sah er auf. Und was denkt die Staatsanwaltschaft? Volmer zuckte die Schultern. Nat¨ urlich m¨ ussen wir von Amts wegen ermitteln. Aber niemand schreibt uns vor, mit welchem Aufwand wir das tun. Ich denke, Frau Doktor Kaufmann hat recht. Nun denn. 44
Adelsheim stemmt die H¨ande auf den Tisch und erhob sich schwerf¨allig. Die Pr¨asidentin l¨achelte, klappte ihren Koffer zu, dr¨ uckte die halb gerauchte Zigarette aus und sprang auf. Ich w¨ unschte, alle Besprechungen w¨ urden so verlaufen. Was gibt es u ¨brigens in der Oper? Puccini, Turandot. Die Premierenkarten mußten wir ja leider verfallen lassen. Aber daran trage ausnahmsweise einmal nicht ich die Schuld. Sie haben geh¨ort, von meinem Mann? Es soll u uhrung, meine ich. ¨brigens toll sein. Die Auff¨ Als sie den langen schwarzen Wollmantel u ¨berzog, so schnell, daß ihr keiner der M¨anner dabei behilflich sein konnte, fuhr sie fort: Und richten Sie dem OB bitte aus, der Verdicchio habe ganz vorz¨ uglich geschmeckt. Mein Mann hat letzten Sonntag Saltimbocca gemacht, und dazu haben wir ihn getrunken. Es war g¨ottlich. Wie geht es u ¨brigens Ihrem Gatten? Sie l¨achelte. Nun, humpeln kann er schon wieder ganz ordentlich, Auto fahren noch nicht. Jedenfalls denke ich, daß er diesen Winter nicht mehr skilaufen wird. Und ich hoffe, es wird ihm endlich eine Lehre sein. In der T¨ ur wandte sie sich noch einmal um. Ich bekomme doch ein kleines Protokoll von Ihnen u ¨ber dieses Gespr¨ach? Adelsheim hob die Hand. Selbstverst¨ andlich. Selbstverst¨andlich.
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Muß das sein? Petzold hielt ein kleines Bild in den H¨anden, drehte es hin und her und betrachtete es ratlos. Das ist doch ein einziges Gekritzel. Man sieht ja nicht mal, wo oben und unten ist. Und sowas willst du im Wohnzimmer aufh¨angen? Steffi nahm ihm das Bild vorsichtig ab. Das ist kein Gekritzel, mein S¨ ußer, das ist eine sehr wertvolle Lithografie. Unten ist da, wo der K¨ unstler seinen Namen hingeschrieben hat, siehst du, hier. Und wenn dem Bild irgendwas zustoßen sollte, wenn es dir zum Beispiel versehentlich runterf¨allt oder du beim Aufh¨angen nebenbei mit dem Hammer drankommst, dann wirst du deine ganze h¨ ubsche Spielzeugautosammlung in der Wertstofftonne wiederfinden. Petzold schnappte nach Luft. Das soll was wert sein? Das kann ich ja selbst noch besser! Und das, was du meine Spielzeugautos nennst, sind u ¨brigens sehr wertvolle Modelle. Zum Teil zumindest. Reg dich ab, erwiderte Steffi u ¨berraschend zornig. Nat¨ urlich w¨ urde ich es nie wagen, deinen geliebten Autochen zu nahe zu treten. Aber dieses Bild hab ich mir als Studentin vom Mund abgespart. Fast h¨atte ich meine Unschuld daf¨ ur gegeben, aber der K¨ unstler hat’s mir dann doch zu einem Freundschaftspreis verkauft. Und jetzt h¨ang ich eben dran. Welche Unschuld? grinste Petzold. Sie stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen und lachte.
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Ansonsten verlief ihr Wochenende ungest¨ort. Es regnete, und sie verbrachten die Zeit mit Auspacken der letzten Umzugskisten. Pedro benahm sich anst¨andig, strich Petzold um die Beine und versuchte, sich beliebt zu machen. Steffi wirkte abwesend. Vermutlich war sie hoffnungslos u ¨berarbeitet. Einmal, nachdem Petzold eine neue Wandlampe im Flur montiert hatte, legte er den Arm um sie, sah in das warme Licht, und sagte: Haben wir’s nicht sch¨ on hier? Ja, sagte sie langsam, doch. . . Dann reckte sie sich und k¨ ußte ihn auf die Wange. Am Montag war der Bankr¨auber aus der Douglasstraße wieder soweit bei Sinnen, daß er ins Pr¨asidium u ¨berstellt werden konnte. Petzold ließ ihn in ein Vernehmungszimmer bringen, Schilling kam aus Neugierde mit. Der Mann sah grau und krank aus. Blutunterlaufene, starre Augen, ein Schnurrb¨artchen wie eine alte Zahnb¨ urste, aufgesprungene Lippen und eine wirre Frisur. Er war klein, mager, und st¨andig zuckte ein Muskel in seinem Gesicht. Jemand hatte ihm etwas zum Anziehen besorgt, die Sachen waren ihm jedoch zu groß, was den hoffnungslosen Eindruck noch verst¨arkte. Schilling hatte sich auf einen Stuhl in der N¨ahe des Fensters gesetzt, Petzold nahm am Tisch Platz, knallte seine Akten hin, schaltete das Tonbandger¨at ein, zog einen Kugelschreiber aus der Hemdtasche und er¨offnete das Verh¨or mit der u ¨blichen Einleitung. So, dann woll’n wir mal. Zun¨ achst ein paar Fragen zu Ihrer Person. Ihr Name ist Erdrich? Der Mann nickte. Bitte antworten Sie laut, Nicken nimmt das Bandger¨ at nicht auf. Ja, brachte der andere heraus und hielt den Blick hartn¨ackig auf Petzolds F¨ uße gerichtet. 48
Vorname? Petzold verstand etwas wie >FipUberfall, Geld her!< oder so. Hab in die Decke geschossen, daß die Leute
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nicht glauben, es war nur ein Spielzeug oder so. Sie haben die Kohle auch gleich rausger¨ uckt. Die Tussi an der Kasse hat alles in meine T¨ ute gepackt, und ich bin weg. War eigentlich ganz einfach. Aber dann bin ich mit dem Fahrrad hingeflogen, und dann ist diese bl¨ode Alte gekommen. Da bin ich durchgedreht. Hab alles liegenlassen und bin abgehauen. Erdrich schien ersch¨opft von der ungewohnten geistigen Anstrengung. Petzold stellte ihm wieder einfachere Fragen. Wozu brauchten Sie das Geld? H¨ a? Zu was wohl! Zum Leben! Essen, Miete und so. Wieder guckte er verwundert. Sagten Sie nicht, Sie kriegen Sozialhilfe? Ja, Mann! Aber davon kannst du dir ja grad mal Aldi-Brot und Katzenfutter leisten! Sie brauchen auch einiges an Trinkgeld, was? fragte Petzold mitf¨ uhlend. Die Vorstellung von Graubrot mit Katzenfutter hatte ihn ersch¨ uttert. Ja, auch. Petzold fragte ihn, mehr aus pers¨onlichem Interesse, noch ein wenig u ¨ber seine Vorgeschichte aus. Es war die u ¨bliche Leier. Der Bankraub war im wahrsten Sinn des Wortes eine Schnapsidee gewesen, das Fahrrad war geklaut, die Pistole hatte ihm ein Bekannter besorgt, an dessen Namen er sich beim besten Willen nicht erinnern konnte. Das ist aber gar nicht g¨ unstig f¨ ur Sie. Wir m¨ ussen nat¨ urlich davon ausgehen, daß Sie die Waffe gestohlen haben. Das kann ziemlich u ur Sie. . . Da war doch letztens ¨bel werden f¨ der Einbruch in dieser Villa in Durlach. Oder vielleicht geh¨ort er sogar zu dieser Waffenschieberbande, die wir im November hochgenommen haben? Petzold sah zu Schilling hin¨ uber und log das Blaue vom Himmel herunter. Dann blickte er wieder auf die inzwischen reichlich nerv¨ose Karikatur eines Kapitalverbrechers. 50
Nein, bestimmt nicht! Hab nur den Namen vergessen! Ehrlich! Man kann doch mal was vergessen, das ist doch wohl nicht verboten oder? Nein. Ist ja eigentlich auch egal. Petzold sprach schon wieder mit Schilling. Wir werden uns diese Waffenschieber noch mal vorkn¨opfen, die werden sich schon an ihn erinnern. Schilling nickte. Die sind froh, wenn sie uns was bieten k¨ onnen, um ein paar mildernde Umst¨ande rauszuschlagen. Dann k¨ onnen wir ja hier Schluß machen. Petzold steckte seinen Kugelschreiber weg. Sie h¨oren von mir. Er machte Anstalten, das Bandger¨at abzustellen und sich zu erheben. Erwartungsgem¨aß geriet Erdrich jetzt in Panik. Nein, wartet, halt! Ich glaub. . . Ach, Scheißdreck! Ich sag euch, ich mein, ich sag Ihnen den Namen. Pfitzer. Peter Pfitzer. Scheiße! Gottverdammte Scheiße! Er konnte zwar nicht die Adresse seines gesch¨aftst¨ uchtigen Bekannten nennen, daf¨ ur aber dessen Stammkneipe in der Z¨ahringerstraße, wo er ihn regelm¨aßig getroffen hatte. Herrn Pfitzer standen nun ein paar ungem¨ utliche Tage ins Haus. Petzold gab das Band zum Tippen, schrieb seinen Bericht, schloß die Akte und schickte sie an die Staatsanwaltschaft. Irgendwas Neues in dieser Bombensache? fragte er Gerlach beim Essen. Der sch¨ uttelte den Kopf. Die Berichte aus der KT sind noch nicht da. Die Stadt weigert sich, auf die Forderungen einzugehen. Hast du am Samstag in die Zeitung gesehen? Keine Zeit. Der Umzug. Gerlach schluckte ein St¨ uck lauwarmes Putenschnitzel hinunter. Sie haben so gut wie nichts gemeldet. Im Radio ist auch nichts gekommen. Der wird ganz sch¨on getobt haben. Hoffentlich lernt er was draus. Gerlach nickte ernst.
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Hoffentlich. Den restlichen Tag u ¨ber hatte Petzold schlechte Laune. Abends trank er zu viel, stritt sich aus einem Grund, an den er sich am n¨achsten Morgen nicht erinnern konnte, mit Steffi, und sp¨ater gingen sie w¨ utend und ohne Kuß ins Bett.
Am Mittwoch trafen die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung der Bombe und des Bekennerschreibens ein. F¨orster referierte: An dem Brief gibt es keine Fingerabdr¨ ucke, außer von der Dame bei der Zeitung, die ihn ge¨offnet hat. Papier und Umschlag gibt es in jedem Kaufhaus, Massenware. Auch am Umschlag keine brauchbaren Abdr¨ ucke. Die Briefmarke hat er mit klarem Wasser angefeuchtet, mit einem Schw¨ammchen vielleicht, keine Speichelspuren. Der denkt wirklich an alles, murmelte Gerlach, und es klang fast anerkennend. Der Brief wurde am Abend vor dem Anschlag bei der Hauptpost eingeworfen. Am Abend vorher? staunte Schilling. Das ist ungew¨ohnlich. Er scheint Wert auf exaktes Timing zu legen. Wahrscheinlich damit die Zeitung auch wirklich mit den ersten Meldungen sein Geschreibsel abdrucken kann, spekulierte Gerlach. F¨orster fuhr fort: Der Brief ist mit einem sogenannten Tintenstrahldrucker gedruckt. Sie wissen vermutlich, was das ist? Alle außer Hirlinger nickten. Gut. Ich nicht. Daß es so ein . . . na . . . Tintendingsbums ist, bedeutet offenbar, daß man den Brief unm¨oglich einem bestimmten Ger¨at zuordnen kann. Klar, unterbrach Schilling eifrig. Bei diesen Dingern kommt die Schrift aus einer Tintenpatrone, die kostet vielleicht 52
50 Mark. Und wenn sie leer ist, wirft man sie weg und setzt eine neue ein. Danach hat man praktisch einen neuen Drucker. Hirlinger musterte ihn b¨ose, F¨orster nickte dankend. Die Analyse des Textes best¨ atigt im wesentlichen unsere Vermutungen. Sie haben den Brief einem Psychologen vorgelegt, und der kommt zu dem Ergebnis, daß es sich sehr wahrscheinlich um einen Mann handelt. Er glaubt sogar, auf Grund der Wortwahl das Alter des T¨aters eingrenzen zu k¨onnen: zwischen 30 und 40, maximal 45 Jahren. Deutsch ist seine Muttersprache, und er beherrscht es u ¨berdurchschnittlich gut. Dann kommt noch etwas, was der Herr Professor ausdr¨ ucklich als Vermutung gewertet wissen will. Der T¨ater ist mit großer Wahrscheinlichkeit alleinstehend, unverheiratet oder geschieden. Offenbar passen solche Tatmuster bevorzugt zu einem einsamen, verbitterten T¨atertypus. Mir scheint das ein bißchen verwegen, Sie kennen meine Einstellung zu solchen . . . naja . . . Spekulationen. Schilling war’s, brummte Hirlinger. Als sie ihn verbl¨ ufft anstarrten, fuhr er m¨ urrisch fort: Na, stimmt doch alles. Er ist zwischen dreißig und vierzig, superintelligent, lebt allein, wohnt in der Weststadt. Oder etwa nicht? Nordstadt! Nordstadt, nicht Weststadt! Da, wo ich wohne, da h¨orst du nachts kein Auto, h¨ochstens mal ein Karnickel niesen. Und außerdem lebe ich nicht allein! Ach, nicht? Schillings Ohren wurden rot. Ich wohne mit meiner Mutter zusammen. F¨orster hustete vernehmlich. Interessanter ist der Bericht u ¨ber die Bombe. Sie befand sich in einer Sporttasche, die der T¨ater einfach an den Mast gestellt hat. Wieder billige Massenware und keine Fingerabdr¨ ucke. Innen Plastiksprengstoff, Semtex, mit gr¨oßter Wahrscheinlichkeit aus sowjetischen Armeebest¨anden. Wie er das Ding gez¨ undet hat, habe ich nicht verstanden. Hier ist ein 53
Schaltplan. Da gibt es einen Batteriewecker, den er irgendwie umgebaut hat, eine Taschenlampenbatterie, und noch irgendwelches geheimnisvolles Zeug. Den Technikern ist aufgefallen, daß er in den Stromkreis einen Sicherheitsschalter eingebaut hat, den er vermutlich erst im letzten Moment einschaltet, nachdem er die Tasche deponiert hat, unmittelbar bevor er verschwindet. Damit ihm seine Bombe bei einer Fehlfunktion nicht vorzeitig um die Ohren fliegt. Er scheint am Leben zu h¨angen. Den Schaltplan bekommen Sie, Gerlach. Sehen Sie sich das Ganze mal an. Und . . . ach ja, in der Tasche waren noch zwei kleine Sands¨acke zur Verd¨ammung. Um die Wirkung der Explosion zu erh¨ohen. Der ist wirklich nicht auf den Kopf gefallen, meinte Petzold. Wahrscheinlich war er beim Bund. Ausnahmsweise h¨ orte man einmal etwas Konstruktives von Hirlinger. F¨orster nickte. Bei der Bundeswehr lernt man sowas. Das k¨ onnte ein Hinweis sein. Vielleicht war er bei den Pionieren. Aber nun weiter im Text. Die gesamte Ausf¨ uhrung der Tat macht, wie hier steht, einen gut u ¨berlegten Eindruck. Andererseits scheint er nicht u ugen. Die Elektrodr¨ahte sind ¨ber geeignetes Werkzeug zu verf¨ handels¨ ubliche Klingeldr¨ahte, mit einer untauglichen, viel zu groben und stumpfen Zange geschnitten und mit einem Messer abisoliert. Die elektrischen Verbindungen sind, und der Techniker meint, das sei auff¨allig, mit Schraubklemmen hergestellt, L¨ usterklemmen steht hier, keine L¨otungen. Aus all dem schließen sie, daß der T¨ater zwar u ¨ber die physikalischen Kenntnisse verf¨ ugt, wie so ein Ding im Prinzip funktioniert, aber keine sonderlich guten handwerklichen F¨ahigkeiten hat. Auf diesem Gebiet scheint er eher Amateur zu sein. Unprofessionell steht hier. F¨orster klappte die Mappe zu und blickte in die Runde. Das war’s. Noch Fragen? Also, wenn ihr mich fragt, das ist doch wieder alles nur 54
Bl¨odsinn. Akademikergeschw¨atz. So kriegen wir den Kerl im Leben nicht, sagte Hirlinger. Und du hast bestimmt schon eine Idee? fragte Schilling giftig. Das ist einer von diesen Gr¨ unen. Ist doch klar. Die sollten wir uns als erste vorkn¨opfen. Da ist der todsicher zu finden. Schilling schnappte nach Luft, besann sich dann und winkte ab. Außerdem hat Gerlach recht, das ist ganz klar eine Staatsschutzsache, fuhr Hirlinger fort. F¨orster erhob sich, um sich in sein B¨ uro zur¨ uckzuziehen. Der Schaltplan, erinnerte Gerlach. F¨ orster u ¨bergab ihm mit einer feierlichen Bewegung die ganze Mappe. Geh¨ ort ohnehin alles Ihnen. Wie k¨ onnt ich’s bloß vergessen. Woher hat er den Sprengstoff? fragte Schilling. Da braucht er nur nach Berlin zu fahren, hundert Mark mitzunehmen und in der richtigen Kneipe zu fragen. Da kriegst du zur Zeit alles. Wirklich alles. Bis hin zur schweren Artillerie, kl¨arte Gerlach ihn auf. Das Problem bei der Sache ist, daß der Mann keine Geldforderungen stellt. Petzold spielte mit seinem Kugelschreiber. Die meisten Erpresser werden doch letzten Endes bei der Geld¨ ubergabe oder bei den Vorbereitungen dazu gefaßt. Da m¨ ussen sie aus der Deckung, m¨ ussen Kontakt aufnehmen, man kann sie hinhalten und so weiter. Aber das geht hier alles nicht. Wenn er nicht vollkommen d¨amlich ist, und so sieht es ja leider aus, oder ganz großes Pech hat, dann kann er hundert Bomben legen, und wir fegen die Tr¨ ummer zusammen und gucken in die R¨ohre. So ist es. F¨ orster drehte sich in der T¨ ur um. Genau das denke ich auch. Und das ist das einzige, was mir dabei momentan Sorgen macht. Daß dieser Autofahrer ums Leben gekommen ist, hatte er vermutlich nicht eingeplant. Solange 55
er nicht direkt Menschen angreift, sollten wir die Sache nicht u ¨berbewerten. Vielleicht hat er seinen Spaß gehabt, und wir h¨oren nie wieder etwas von ihm. Sch¨ on w¨ar’s, sagte Petzold zweifelnd. Aber wer ein Bekennerschreiben schickt, meint es ernst. Hoffen wir, daß er bald aufgibt. Vorl¨ aufig k¨onnen wir nur abwarten. Gerlach warf die Akte auf den Tisch. Bei dem bißchen, was wir an Spuren haben, k¨onnen wir die Sache vergessen. Gerlachs Betrachtungen des Schaltplans blieben ergebnislos, schon, weil er wenig Ahnung von technischen Dingen hatte. Weitere Anhaltspunkte fanden sich nicht. Es kamen ein paar Hinweise aus der Bev¨olkerung, die allesamt nichts hergaben. Bald waren neue F¨alle zu bearbeiten. Schon nach einer Woche hatten sie die Angelegenheit vergessen, und die Akte lag irgendwo in den unteren Bereichen des großen Stapels auf Gerlachs Schreibtisch. In der folgenden Woche erschien Hellmann, der Dezernatsleiter, wieder zum Dienst. Von seiner Abwesenheit hatten sie ohnehin wenig bemerkt. Wenn er auf der Polizeif¨ uhrungsakademie einmal richtig aufgepaßt hatte, dann war es an dem Tag gewesen, als das Thema F¨ uhren durch Delegieren dran war. Er schob alles F¨orster auf den Tisch und widmete sich h¨oheren Dingen. Jeder wußte, daß er den derzeitigen Posten nicht als das Ende seiner Karriere ansah. St¨andig war er auf irgendwelchen Konferenzen, Fortbildungskursen, Taktikseminaren oder Rhetoriklehrg¨angen. Außerdem ging das Ger¨ ucht, er schreibe an einem Buch. Hin und wieder ließ er sich blicken und hielt, vielleicht zur weiteren Vervollkommnung neu erworbener F¨ahigkeiten, eine seiner gef¨ urchteten Ansprachen, die sich ohne Ausnahme durch zerm¨ urbende L¨ange und niederschmetternde Langeweile auszeichneten. Zumindest von dieser Seite stand also einer Karriere bis in die h¨ochsten Ebenen der Polizeif¨ uhrung 56
oder gar in die Politik nichts im Wege. Die Grippewelle ebbte ab. Die Sonderkommission Goldani wurde nach und nach aufgel¨ost, und die Kollegen kehrten an ihre Arbeitspl¨atze zur¨ uck. Den T¨ater hatten sie nicht gefunden. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag klingelte Petzolds Telefon um halb zwei Uhr morgens. Ein Mord in R¨ uppur, der sie f¨ ur einige Tage besch¨aftigen sollte. Das Opfer war eine 46j¨ahrige Frau. Ein heimkehrender erwachsener Sohn hatte sie gefunden, mit einem Jagdgewehr erschossen. Noch in der Nacht wurde klar, daß nur der Ehemann als T¨ater in Frage kam. Der aber war verschwunden. Es gab eine groß aufgezogene Fahndung, auch u ¨ber Interpol, und allerhand Wirbel in der Presse. Nach f¨ unf Tagen fanden Spazierg¨anger den Mann – erh¨angt an einem Baum im Oberwald, einige hundert Meter vom Tatort entfernt. Das Motiv war offenbar eine Mischung aus Eifersucht und Geldsorgen gewesen. Steffi stellte die letzten Teller in den neu montierten Wandschrank, faltete den leeren Karton zusammen und trug ihn in den Flur. S¨ ußer, was h¨altst du davon, wenn wir die n¨achsten Tage den ganzen Krempel einfach mal stehen lassen und uns einen sch¨onen Abend g¨onnen? Die K¨ uche kannst du doch auch sonstwann fertigmachen, und ich mag langsam keine Umzugkisten mehr sehen! Und was meinst du mit >sch¨ oner Abend