Tatsachen 304
Hans Bach
Mordsache Marloh
ISBN 3-327-00444-7 1. Auflage © Militärverlag der Deutschen Demokratischen ...
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Tatsachen 304
Hans Bach
Mordsache Marloh
ISBN 3-327-00444-7 1. Auflage © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) - Berlin, 1987 Lektor: Rosemarie Trebeß Umschlag: Karl Fischer
Karl Piontek schlägt den Kragen seiner Joppe hoch. Er geht durch die grauen Straßen Berlins. Überall auf den Bürgersteigen liegen die letzten, brettharten Schneehäufchen. Der kalte Morgennebel macht den Atem klamm. Pionteks Schritte hallen durch die menschenleere Normannenstraße. Er ist auf dem Weg zur Arbeit. Seine Gedanken gehen an diesem Morgen, wie schon so oft, zu den im verlorenen Krieg gefallenen Kameraden, die an der Somme und vor Verdun im Feuer britischer und französischer Maschinengewehre liegengeblieben sind. Er versucht die Gedanken zu verdrängen. Schließlich ist er gesund und hat Arbeit. Die Revolution vom November hat in ihm nur Unbehagen erzeugt. Es wird immer noch geschossen. Immer noch sterben Menschen. Die sollten zur Vernunft kommen, denkt er, sich besinnen. Natürlich, der Kaiser, für den sie ins Feld gezogen waren, dieser Kaiser mußte gehen, er floh sogar. Eine SPD-Regierung ist an der Macht. Ebert, Noske, Scheidemann. Die Nationalversammlung ist gewählt, so hat es der Reichskongreß der Arbeiter- und Soldatenräte beschlossen. »Politik ist Unsinn«, murmelt Piontek und steckt die Hände in die Taschen. Sollen die Russen doch ihre Revolution machen, wir Deutschen sind anders. Wer fressen will, muß arbeiten und Ruhe geben. Karl Piontek senkt den Kopf. Der eisige Wind zwickt in den Ohren, in der Nase, macht die Lippen rissig, rötet die Wangen. Er hört Schritte. Automatisch geht er etwas schneller. Der Nebel hindert ihn daran, die Richtung festzustellen, aus der die anderen kommen. Er beschleunigt seine Schritte, muß zur Arbeit. Zwei Gestalten tauchen vor ihm auf. Groß, massig. Sie kommen langsam auf ihn zu. Waffen klappern gegen etwas Hartes. Karl Piontek räuspert sich. Die Angst, die ihn im ersten Moment erfaßt hat, ist vorüber. Jetzt kann er die Männer ganz deutlich erkennen. Der eine hat einen Stahlhelm auf dem Kopf und einen Karabiner auf dem Rücken. Der andere trägt eine Mütze und eine Pistole am Gürtel. Ein lederbehandschuhter Zeigefinger deutet auf ihn. Er bleibt
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stehen, nimmt automatisch Haltung an. Es sitzt ihm noch so in den Knochen. Der Krieg ist noch nicht lange zu Ende. So schnell verliert sich das nicht. Nun stehen sie ganz dicht vor ihm. Piontek versucht die Augen der beiden Männer zu erkennen, doch er sieht sie im frühen Morgenlicht nur matt glänzen. Der Gefreite schaut mit einem schnellen Blick in das Gesicht seines Unteroffiziers. »Ich gehe zur Arbeit, Herr Unteroffizier«, sagt Piontek ungefragt, als hätte man ihm etwas vorgeworfen. »Gib mal Feuer«, fordert der Gefreite und sieht dabei immer noch den Unteroffizier an. »Ich rauche nicht«, erklärt Piontek, »nicht mehr. Dazu reicht es nicht. Ich habe keine Zündhölzer«, fügt er leise hinzu. »Er will nicht«, schnarrt Ritter, an den Unteroffizier gewandt, »will partout nicht. Renitent.« Unteroffizier Wendler beobachtet gelangweilt die Szene. »Soso«, sagt er nur, ohne die Lippen zu bewegen, und reibt sich die Stirn, hinter der der Alkohol vom Vorabend hämmert, »ah ja, soso also. Widerstand bis zum letzten Zündholz also...« Er lacht heftig auf, bricht aber sofort wieder ab, da es ihm vorkommt, als platzte ihm der Kopf. »Ich würde Ihnen gern Feuer geben, Herr Unteroffizier«, versichert Piontek entschuldigend, über die Wendung der Dinge beunruhigt, »aber ich habe tatsächlich keins. Bitte, durchsuchen Sie mich. Sie werden sich überzeugen können...« Der Gefreite nickt. »Ein ausgezeichneter Vorschlag, Herr Unteroffizier, wir sollten ihn durchsuchen.« Wendler winkt ab, dreht sich angewidert um. Sein Kopf hämmert, er friert. »Na los, nimm ihn mit«, befiehlt er. »Festnehmen, diesen Kerl.« Der Gefreite deutet ein Lächeln an. Er kann sich den Zustand des Unteroffiziers vorstellen, hat ja von weitem gesehen, daß der alle zehn Minuten aus der Wachstube stolperte. Der Gefreite nimmt den Karabiner von der Schulter, reißt das
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Schloß durch, drückt die Waffe gegen Pionteks Rücken. »Versuchst du abzuhauen, hast du ein Loch in deiner Joppe, verstanden?« Piontek weiß nicht, wie ihm geschieht, begreift nicht, wähnt sich in einem schrecklichen Alptraum ohne Ende. Ja, er hat Gerüchte gehört, man hört so viel und kann nicht immer weghören. Er weiß von Verhaftungen und allerlei schlimmen Dingen. Piontek hat es nicht geglaubt, wollte es nicht glauben, zweifelte, versteckte sich hinter den geschlossenen Fenstern, den Gardinen und der Zeitung. Jetzt fühlt er sich elend, erbärmlich, müde. In seinem Magen rumort es, ihm ist übel. Die Scheibe Brot am Morgen hat ihn nicht gesättigt. Es ist zu viel für Piontek. Der Belagerungszustand in Berlin, die Kontrollen und Haussuchungen, all das hat für ihn keine Gültigkeit gehabt, brachte ihn bisher nicht sonderlich aus dem Tritt. Und nun das hier. Man kann doch einen Menschen nicht so ohne weiteres mitnehmen und visitieren, wegen nichts. Piontek ist fassungslos. Er denkt an seine Arbeit, an seinen Brotherrn, der ihn entlassen wird, wenn er nicht pünktlich erscheint. Er wird auf der Straße stehen. Wegen Unzuverlässigkeit. Sie gehen nicht weit, und doch scheint es ihm, als ginge er eine Ewigkeit vor dem Lauf des Karabiners her, als seien sie Stunden unterwegs. Ich muß mit einem Offizier sprechen, denkt Karl Piontek, muß alles richtigstellen. Der Unteroffizier nennt dem Posten vor dem Tor die Parole. Sie dürfen passieren. Der Innenhof, den sie betreten, ist weiträumig. Uniformierte hasten vorüber. Im zerreißenden Morgennebel wirkt alles auf Piontek gespenstisch. »Da rüber!« sagt der Unteroffizier barsch. Er zeigt auf eine grau verputzte Wand eines Seitengebäudes. »Herr Unteroffizier«, unternimmt Piontek einen letzten verzweifelten Versuch, um das Mißverständnis aufzuklären, »wenn ich zu spät komme, werde ich meine Arbeit verlieren.« »Maul halten«, belfert der Gefreite und stößt Piontek erneut den Lauf der Waffe in den Rücken.
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Piontek schweigt. Er geht, innerlich hohl, alle Geräusche aufnehmend, auf die Wand zu. Er sieht den unregelmäßigen Putz, sieht die kleinen hellen Kiesel. Aber er sieht nicht, was hinter seinem Rücken geschieht. Nur seine Ohren registrieren hellhörig das Geschehen. Schritte nähern sich. Viele Füße sind es, die da angetrampelt kommen. Dann folgen leisere Schritte, ein Offizier. Er kennt das - weiches Leder. Manchmal quietschen solche Stiefel noch. Diese da nicht. Sind vom Putzer sicherlich gut gewichst. Ein Offizier, denkt Piontek, nun wird sich alles aufklären. Er erwartet dröhnendes Gelächter: Eines Zündholzes wegen? Raus mit dem Mann! Verschwinden Sie schon ... Und wirklich, hinter Piontek lacht es glucksend. Kurz. Nicht dröhnend. Nicht befreiend. Die Schritte entfernen sich wieder. Ich muß jetzt gehen, denkt Piontek verzweifelt, ich muß jetzt gehen, und dann werde ich laufen, rennen, um nicht allzuviel zu spät zu kommen. Ich werde doch entlassen. Ich werde sagen, daß Rote einige Straßen gesperrt haben. Das glaubt mein Brotherr. Er mag sie nicht. Er mag überhaupt niemanden, er mag auch nicht, wenn man zu spät kommt. Verschwinde, Mensch, muß gleich einer sagen, oder denkst du, wir bringen dich in einer Droschke zur Arbeit? Geh endlich! Nein, denkt Piontek, nein, die Arbeiter verhaften nicht. Eigentlich haben sie sich anständig aufgeführt, die Revolutionäre. Eigentlich immer. Plötzlich durchpulst ihn ein glühender Wind und nimmt ihm die Kraft. Piontek lehnt sich an die Wand, taumelt, seine Hände krallen sich in den Putz. Ihm wird übel, er muß sich übergeben, ein roter Strahl ergießt sich aus seinem Mund. Blut. Pionteks Beine knicken ein. Er rutscht mit dem Gesicht über den rauben Putz, kippt seitlich ab, bleibt im Dreck liegen, Blut auf seinem Gesicht, auf seiner Joppe. »Ich komme ... zu ... spät«, gurgelt er stöhnend, faßt alle seine Sorgen und Ängste in einem einzigen letzten, verzweifelten Satz zusammen, sieht noch einmal den aufreißend blaugrauvioletten Himmel über sich, ehe er in die letzte Finsternis stürzt. Der Gefreite Ritter, der das Sterben des Mannes an der Wand mit
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einer gewissen Spannung verfolgt hat, der eine angenehme Erregung in sich aufsteigen spürt, sichert die Waffe, hängt sie über die Schulter, wendet sich dem Unteroffizier zu. »Befehl ausgeführt«, sagt er lauter als nötig. Am Nachmittag des 12. März erfährt Frau Piontek, daß sie nun mit ihren Kindern allein sein wird. Sie ist Witwe, weil ihr Mann, wie es heißt, einen Unteroffizier tätlich angegriffen hat. Er habe damit gegen die Standrechtbestimmungen verstoßen. Sie wird auch keine Rente bekommen. Marodeure haben kein Recht darauf. Die Nachricht läßt die Frau altern. Es ist nichts mehr da, was einen Sinn haben könnte. Nichts mehr. Der Tag vergeht. Alles in ihr ist leer und tot. Nicht einmal weinen kann sie. Tags darauf nimmt sie das wenige, das sie gespart haben, und geht zu einem Rechtsanwalt. Sie will Gerechtigkeit. Sie will, daß die Schuldigen bestraft werden. Sie weiß, daß ihr Karl niemals jemanden angegriffen hat. Er war nicht so. Hatte nichts mit den Revolutionären zu tun. Sie sitzt im Sprechzimmer des Anwalts und hört, was ihr der Mann des Gesetzes zu sagen hat. »Ja, liebe Frau«, der Jurist räuspert sich, reibt langsam die Handflächen aneinander, während er auf der Kante seines massigen Schreibtisches sitzt, »nehmen Sie Ihr Geld und gehen Sie. Es ist sinnlos, was Sie verlangen. Sinnlos und dumm. Dann haben Sie wenigstens einen Notgroschen. Versuchen Sie für Herrschaften zu nähen, zu waschen oder zu bügeln. Im anderen Fall verlieren Sie alles.« »Aber man kann doch keinen Unschuldigen erschießen«, stöhnt die Frau, »Karl hat nie etwas mit Politik im Sinn gehabt. Nie!« »Schuldig oder unschuldig«, sagt der Anwalt ausweichend, »wer will das in diesen Zeiten entscheiden. Es reicht doch, daß einer Ihren Mann denunziert hat, dann haben die Soldaten korrekt gehandelt, nach dem Gesetz sozusagen. Herrn Noskes Standrechtbefehl ist nun einmal geltendes Gesetz, und ob man ein Gesetz akzeptiert oder nicht: Man muß sich ihm beugen.« »Das gibt es nicht«, erklärt die Frau fassungslos. »Was geschehen ist, wie tragisch es für Sie auch sein mag, es ist nach Gesetz und Recht geschehen. Da kann ich nichts machen.«
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»Es hieß immer«, sagt die Frau bitter, »daß die Spartakisten radikal und grausam waren. Ich habe davon nie etwas bemerkt. Es waren welche von den Regierungstruppen, die meinen Mann erschossen haben. Für nichts.« Die weißen gepflegten Finger des Anwalts gleiten suchend über den Schreibtisch. »Nun«, sagt er, »es geht immerhin um die Werte des Vaterlands. Ich will Ihnen etwas sagen: Wenn die Roten gesiegt hätten, wäre bei uns heute alles wie in Rußland. Alles wäre verstaatlicht, und Ihre Kinder hätte man in ein Heim gesteckt.« »Da würden sie wenigstens nicht verhungern«, erwidert die Frau verzweifelt, trotzig. »Und ich werde Ihnen noch etwas sagen«, die Stimme des Anwalts klingt jetzt theatralisch, »in ein paar Jahren ist dieses Sowjetrußland pleite. Da wird man uns auf Knien bitten, es zu verwalten. Danken Sie Gott, daß es in Deutschland so ablief.« »Für meinen toten Mann«, sagt die Frau traurig, wissend, daß sie hier nicht sprechen kann, nicht gehört wird, nicht erfahren kann, was sie interessiert. »Hören Sie«, der Anwalt rutscht vom Schreibtisch, nimmt eine Zeitung, schlägt sie auf. »Das ist die ›BZ am Mittag‹. Hören Sie: ›Die Spartakisten führen zur Zeit ihre Absicht, sich in Lichtenberg zu verschärftem Widerstand zu rüsten, aus. Das Polizeipräsidium wurde von ihnen gestürmt und sämtliche Bewohner, mit Ausnahme des Sohnes des Polizeipräsidenten, auf viehische Weise niedergemacht. Gefangene, die sich zur Wehr setzten, wurden teilweise von vier oder fünf Spartakisten gehalten, während der sechste ihnen mit der Pistole zwischen die Augen schoß.‹ Na? Was sagen Sie dazu? Können die Regierungstruppen da anders als etwas härter durchgreifen?« »Das stimmt nicht«, sagt die Frau leise. Der Anwalt steht auf, sieht sie durchdringend an, erregt sich. »Was sagen Sie? Woher wollen Sie das wissen?« »Das ist Lüge«, wiederholt die Frau, steht auf und nimmt ihr Geld an sich. »Wir wohnen da. Keinem Beamten ist auch nur ein Härchen gekrümmt worden. Alles verlief friedlich...«
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»Hm«, macht der Anwalt. Er weiß, daß die Frau die Wahrheit spricht, aber er muß schweigen. Wenn er sein Anwaltsbüro nicht verlieren will, wenn er nicht auch zu den Opfern der Reinhardbrigade gehören will, dann sieht man am besten nichts, hört nichts, weiß nichts. »Warten Sie doch ab«, sagt der Anwalt jetzt mit seiner früheren Freundlichkeit zu Frau Piontek, »warten Sie einfach ab, bis sich alles normalisiert hat. Dann werden Sie auch eine Rente bekommen. Ich bin sicher. Und außerdem: Gegen wen wollen Sie denn prozessieren? Kennen Sie den Täter?« »Ich werde es erfahren«, antwortet die Frau bestimmt. Sie erhebt sich abrupt, sieht den Anwalt an, der aber weicht ihrem Blick aus. »Ich werde es erfahren. Darauf können Sie sich verlassen.« Sie dreht sich um, verläßt den Raum, leise, wie sie gekommen war. Der Jurist schaut ihr nachdenklich hinterher, bis er die Außentür zufallen hört. Er erinnert sich in diesem Augenblick an die Januarereignisse um das »Vorwärts«-Gebäude. Arbeiter hatten es besetzt, Einheiten des Regiments Potsdam rundum Stellung bezogen, schwerbewaffnet. Die Arbeiter konnten dem Artilleriebeschuß nichts entgegensetzen, sie schickten Parlamentäre, unter ihnen der Arbeiterdichter Werner Möller und der Redakteur Wolfgang Fernbach. Sieben von ihnen starben, nachdem sie bestialisch mißhandelt worden waren. 300 Revolutionäre wurden in Gefangenschaft getrieben. Die drei Sechzehnjährigen Kurt Friedrich, Hans Saluska und Otto Werner sitzen in der Küche und reden, was Sechzehnjährige so reden. Plötzlich donnern Kolbenschläge an die Tür. »Aufmachen!« Einer öffnet die Tür, wird beiseite gestoßen. Die Uniformierten stürmen in die Küche, schlagen die drei Jungen, nehmen sie anschließend mit. In einer Haftanstalt werden sie erneut geschlagen, gefoltert, ermordet. Bestialisch zugerichtet, so zugerichtet, daß die Leichen nicht freigegeben werden. Warum? Es gibt kein Warum. Vielleicht war es nichts als eine Denunziation.
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Vielleicht irgendein boshafter Alter, den sie einmal nicht gegrüßt haben und der sich nun rächen wollte. Menschenleben sind unter Standrechtbedingungen wertlos. Zu eben der Stunde, da der Herr Jurist sich über Recht und Unrecht ausließ, erschießt Vizewachtmeister Marcus in der Berliner Langestraße zwei Kinder, zwei Mädchen: Gudrun Slovek und Erwine Dahle, zehn und zwölf Jahre alt; die eine, weil sie am Fenster stand und dem Ruf »Straße frei, Fenster schließen, es wird geschossen« nicht befolgte. Die andere, weil sie in diesem Augenblick aus einer Fleischerei trat. Sie mußten ebenso grundlos wie Karl Piontek ihr Leben lassen. Und das alles geschah nach »Recht und Gesetz«, denn am 3. März ist vom Preußischen Staatsministerium der Belagerungszustand ausgerufen worden. Berlin gleicht einer belagerten Stadt, einem Heerlager. Sechs Tage später, am 9. März, hat der Oberkommandierende in den Marken, Noske, das Standrecht verkündet. Der Mord ist also legitimiert. Der neu erstarkenden Reaktion ist jedes Mittel recht, um ihre noch äußerst labile Macht zu stabilisieren. Neben der wehrlosen Bevölkerung richtet sich der massive reaktionäre Terror der Regierungstruppen vor allem gegen die revolutionären Arbeiter und ihre bewaffneten Kräfte, besonders gegen die Mitglieder der ehemaligen Volksmarinedivision. Diese Volkswehr war im November 1918 in Berlin unter maßgeblichem Einfluß des Spartakusbundes zum bewaffneten Schutz der Revolution geschaffen worden und setzte sich in der Mehrheit aus klassenbewußten Arbeitern, die in der Marine gedient hatten, und revolutionären Matrosen aus Cuxhafen zusammen. Sie war der rechten SPD-Führung, die besonders die Niederlage vom 24. Dezember 1918 nicht vergessen konnte, ein Dorn im Auge. Schon an jenem 24. Dezember 1918 versuchte man, sich der revolutionären Einheit, deren Mitglieder an den ersten revolutionären Ereignissen in Kiel beteiligt gewesen waren und wesentlichen Einfluß auf die Ereignisse am 9. November in Berlin hatten, zu entledigen. Nachdem Friedrich Ebert den Befehl erteilt hatte, gegen die Volksmarinedivision mit Gewalt vorzugehen, forderte ein Leutnant die »unbewaffnete Übergabe aller im Schloß und Marstall befindli-
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chen Matrosen« binnen zehn Minuten. Da die Matrosen das Ultimatum nicht annahmen, wurde Artilleriefeuer gegen Schloß und Marstall, das Quartier der Division, eröffnet. Angehörige des Spartakusbundes und der Republikanischen Soldatenwehr griffen ein. Die konterrevolutionären Truppen konnten entwaffnet werden. Unter den Matrosen waren sieben Opfer zu beklagen, und die ihnen zu Hilfe geeilten revolutionären Einheiten hatten zwölf Tote und viele Verletzte. Schließlich kam es zu Verhandlungen. Doch der großartige Sieg der Berliner Arbeiter und Matrosen wurde verschenkt. Das Ergebnis der Verhandlungen war ein Beispiel für die Inkosequenz der linken Führer der USPD. Es kam zu einer »Einigung«, die die Matrosen verpflichtete, das Schloß zu räumen und die Volksmarinedivision als 15. Depot in die Republikanische Soldatenwehr einzugliedern. So endete zwar die Volksmarinedivision als selbständige revolutionäre Truppe, doch ihr Kampf war damit noch nicht beendet. Im März nun - nur wenige Wochen nach dem Meuchelmord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg - fühlt sich die Reaktion stark genug, die Reste der ehemaligen Division - etwa 1440 Mann - endgültig zu beseitigen. Praktisch hatte die Volksmarinedivision bereits seit dem 8. März mit der Auflösung des 15. Depots aufgehört zu bestehen. Da sie aber eine reguläre militärische Formation war, mußten ihre Mitglieder ordnungsgemäß abgelöhnt und entlassen werden. Eigens aus diesem Grund treffen sich im Gebäude des Kriminalgerichts in Moabit Oberleutnant von Kessel, der auf Befehl von Oberst Reinhard erschienen ist, Oberleutnant Otto Marloh und der Offiziersstellvertreter Penther. Marloh salutiert, als der Vorgesetzte eintritt, erstattet Meldung. Von Kessel schaut sich den jungen Mann interessiert an. Ein einarmiger Oberleutnant, denkt er, das sieht man nicht alle Tage. Dazu diese Augen: hell, fanatisch, ruhelos. »Stehen Sie bequem«, sagt von Kessel und setzt sich, zieht ein goldenes Zigarettenetui aus der Tasche, entnimmt ihm eine stark parfümierte Zigarette. Er staunt, wie geschickt Marloh mit einer Hand ein Zündholz entfachen kann. Von Kessel raucht genüßlich, nickt anerkennend mit dem Kopf.
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»Kennen Sie die Französische Straße«, erkundigt sich der Sitzende und sieht Marloh bedeutungsvoll an. »Flüchtig«, kommt es wie aus der Pistole geschossen über dessen Lippen. »Sie sollten sich die Ecke gründlich ansehen«, erklärt von Kessel und streicht sich ein unsichtbares Stäubchen von der Uniformhose, »besonders die Nummer zweiunddreißig. Ein äußerst interessantes Haus.« Marloh und Penther stehen unbeweglich. »Löhnungsbüro der Volksmarinedivision, pardon«, von Kessel lächelt, »heißt ja nicht mehr Volksmarinedivision, sondern Republikanische Soldatenwehr. Dort sollen die ihre restliche Löhnung abholen. So ein Verbrechernest sollte man kennen. Gründlich. Gründlichst.« Marloh und Penther bestätigen, daß man es kennen muß. »Viele unserer besten Kameraden, die an der Ost- oder Westfront für den Kaiser, für das Vaterland alles gaben, die gutes altes Recht verteidigen wollten, sind auf hinterhältige Art und Weise niedergemetzelt worden.« Von Kessel inhaliert den Rauch der Zigarette, hält ihn eine Weile und stößt ihn in kleinen, von Pausen unterbrochenen Atemzügen aus. »Sie wissen das ebensogut wie ich«, beschließt er seine Rede, »und ebenso wissen Sie, daß man solche Ungeheuer nicht ungestraft in ihre Schlupfwinkel zurückkehren lassen darf.« Von Kessel drückt seine Zigarette mißmutig aus, erhebt sich straff und geht auf und ab. »Oberst Reinhard hat mich beauftragt, Männer zu finden«, sagt er in völlig verändertem Ton, »die in der Lage sind, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Ein gründliches Ende. Am 11.März ist Löhnungsappell.« »Wir könnten das Gebäude umstellen«, fällt Marloh ihm ins Wort, »und alle verhaften.« »Und dann füttern wir die Verbrecher auf Staatskosten durch, was?« ereifert sich von Kessel. »Oberst Reinhard ist für hartes Durchgreifen. Verstehen Sie? Hartes Durchgreifen. Keine Glacehandschuhe.« »Keine Glacehandschuhe«, echot Marloh, und in Penthers Augen brennt ein trübes, aber gefährliches Feuer. »Sie waren im Krieg, Marloh?« erkundigt sich von Kessel.
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»Jawohl. Selbstverständlich. Westfront«, antwortet Marloh und deutet dabei auf seinen Arm. »Dann wissen Sie auch, was hartes Durchgreifen bedeutet, dann kennen Sie ja die deutsche Art des Durchgreifens. Also, vergessen Sie Ihre Umstell- und Verhaftungsaktion. Sie besetzen das Gebäude. Ganz früh, wenn noch alles still ist und niemand ahnt, was da gespielt wird. Und wenn dann die Roten kommen und Geld haben wollen, dann werden Sie und Ihre Leute den Spartakisten einen gebührenden Empfang bereiten. Ist doch ganz einfach, oder?« Der Sechsundzwanzigjährige strahlt. Das ist Strategie. Taktik. Er wird die Falle aufbauen, in die ihre Feinde einbrechen müssen. Sein Gesicht wird ernst. Freudlos ernst. Es ist eine Heldentat, ohne die man nach einer Demobilisierung nicht existieren kann. Was sollte er auch anfangen? Nach dem Abitur war er gleich in die kaiserliche Armee eingetreten. Einer, der nur das Kriegshandwerk erlernt hat, ist in Friedenszeiten schlecht dran. Marloh denkt in diesem Augenblick an seinen Vater, den alten Studienrat, einen Mann mit eisernen Prinzipien, eiserner Disziplin und Selbstzucht. Nur das Stöckchen war nicht aus Eisen, sondern aus Rohr. Das Stöckchen, mit dem er dem kleinen Otto all seine Weisheiten einbleute. Marloh erinnert sich auch an das feine pfeifende Geräusch des Rohrstocks. Später haben die Granaten der Franzosen und Engländer ebenso gepfiffen, die kleinen Splittergranaten, die man kaum hörte, weil die Ohren taub waren gegen feine Geräusche. Als es ihm den Arm abriß, hätte er in die Heimat gekonnt. Er wollte nicht. Wozu? Was konnte er dort beginnen? Nichts. So war er geblieben, galt als begeisterter Soldat, als Kämpfernatur, als besonders zuverlässig. »Wieviel Waffen und Leute ...«, fragt Marloh. Von Kessel lacht, baut sich vor Marloh auf. Sieht ihn durchdringend an. »Eine Kompanie vielleicht«, sagt er, und es klingt wie ein Scherz. Komisch, denkt Marloh, komisch. Natürlich reichen meine fünfzig Mann. Ist schließlich ein Hinterhalt, und die werden wohl nicht alle auf einmal ankommen. Plötzlich durchzuckt ihn ein Gedanke. Wa-
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rum bekomme ich keinen eindeutigen Befehl? Ist doch sonst alles befehlsgemäß. Alles. Man sagt deutlich, was zu machen ist. Nur jetzt nicht. Ein bißchen merkwürdig ist das schon. Aber der Hauptmann wird sicherlich dabei rausspringen. Hauptmann Otto Marloh. Da freut sich Vater, er wird staunen. Sein Sohn kommt als Hauptmann nach Hause. Noch nicht dreißig Jahre und schon Hauptmann. »Na, Penther«, von Kessel sieht flüchtig den Offiziersstellvertreter an, »wie wäre es denn, wenn Sie ein paar dieser Spartakisten totschießen würden?« »Herzlich gern, Herr Oberleutnant.« Penther schlägt die Hacken zusammen, daß es knallt. Die Arme sind fest an den Körper gepreßt. »Herzlich gern werde ich das tun«, wiederholt Penther, und seine moorgrauen Augen, die im Licht der trüben Nachmittagssonne glänzen, sind auf die Mütze des Offiziers gerichtet. »Am liebsten würde ich alle erschießen.« Totschießen hat er gesagt, denkt Marloh, totschießen. Der meint, was er sagt. »Also ist alles klar?« Von Kessels Frage steht im Raum. »Sie bekommen vom Stab ein paar Lastwagen, damit alles reibungslos und schnell vor sich gehen kann. Unauffällig. Vorher inspizieren sie die Lokalitäten, planen, wo und wie Sie Ihre Leute am günstigsten verteilen. Der Stab und vor allem natürlich der Herr Oberst erwarten von Ihnen, daß Sie preußische Verläßlichkeit zeigen. Wehe, wenn einer schlappmacht, dann gnade Ihnen Gott. Nehmen Sie also die Verläßlichsten. Die Verläßlichsten.« Marloh und Penther betreten die Französische Straße von der Friedrichstraße kommend. Sie gehen vorüber am Französischen Dom, ohne dem imposanten Bauwerk auch nur einen Blick zuzuwerfen. Nur wenige Spaziergänger sind unterwegs. In dieser Zeit ist man entweder arbeiten, oder man bleibt lieber zu Hause. Die Situation ist für den einzelnen unüberschaubar, und allzuleicht kann man in eine Razzia oder eine Schießerei geraten. »Die Domglocken«, sagt der Oberleutnant, »die sollte man mieten. Da würde niemand die Schüsse hören.« Penther antwortet nicht.
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»Glauben Sie an Gott«, erkundigt sich der Oberleutnant. »Jawohl, Herr Oberleutnant«, antwortet Penther, »bin katholisch. Ich melde mich doch immer sonntags zur Messe ab.« »Ah ja«, Marloh erinnert sich, obwohl das mit dem Sonntagmorgen so eine Sache ist. Am Sonnabend wird Skat gespielt und ausgiebig getrunken. Da kann man sich nur schlecht an Sonntagmorgen erinnern. Sie gehen weiter durch die Französische Straße, vorbei an den imposanten Bauwerken, die hier aneinandergelehnt stehen. Sobald sie die Hausnummern erkannt haben, verlieren die Häuser jedes Interesse. Sie suchen das Löhnungsbüro. Nichts anderes. »Ich sehe keine Matrosen«, sagte Marloh laut. »Ich auch nicht«, antwortet Penther. »Man müßte doch wenigstens die Torwachen sehen.« »Dort drüben ist es, Herr Oberleutnant.« Penther weist auf das Nummernschild eines vierstöckigen Gebäudes. Dieses graue, klotzige Haus, dessen Fenster der ersten beiden Etagen vergittert sind, gleicht einer Festung. »Raus kommt keiner, das ist sehr günstig«, stellt Marloh fest. Die beiden Uniformierten betrachten lange von der gegenüberliegenden Straßenseite die auf dem Dach befindliche Fensterreihe. »Da oben Maschinengewehre und Granatwerfer«, sagt Marloh, »da können wir uns lange verteidigen, für alle Fälle.« Die beiden Männer überqueren die Straße. »Gehen wir in die Höhle des Löwen«, befiehlt Marloh. »Natürlich, Herr Oberleutnant«, stimmt Penther automatisch zu. Die wenigen Verwaltungskräfte, die sich in dem Gebäude aufhalten, kümmern sich nicht um die beiden Uniformierten, die gemächlich durch die Korridore gehen, den Hof inspizieren und sich hin und wieder eine halblaute Bemerkung zurufen. Marloh und Penther steigen von Etage zu Etage, betreten immer wieder die Toiletten, um von hier aus den Hof, das Gebäude, das sich anschließt, und die gegenüberliegenden Fenster zu sehen. »Interessant, was«, sagt Marloh in beinahe regelmäßigen Abständen, ohne auszusprechen, was interessant ist. Er selbst hat einen
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schlechten Orientierungssinn. Deshalb verläßt er sich auf das ausgezeichnete Gedächtnis seines Offiziersstellvertreters, der nie zu vergessen scheint, was er einmal gesehen hat. Schließlich ist ihre Inspektion beendet. Es stört Marloh, daß er sich zurückhalten muß, nicht in Plänen und Einzelheiten schwelgen darf. »Haben Sie den Lichthof gesehen«, erkundigt sich Marloh. »Jawohl, Herr Oberleutnant«, antwortet Penther, und sein Mund wird zu einem schmalen, lippenlosen Strich, »habe ich gesehen.« Marloh winkt eine Droschke herbei, und sie steigen ein. »Der eignet sich bestens«, sagt Penther. »Ruhe«, mahnt Marloh, der sich von feindlichen Augen und Ohren umgeben fühlt. »Erzählen Sie mir das in der Unterkunft, klar?« »Jawohl«, antwortet Penther, obwohl es ihm schwerfällt, nicht sagen zu dürfen, was ihn zu sagen drängt. Der Lichthof. Da stehen die Leute, Handgranaten fliegen in den Hof, Gewehre richten sich aus den Fenstern auf sie. Nichts weiter. Dann haben wir den Auftrag erfüllt. Das ist die beste Mausefalle, die es gibt. Rein kommt man, aber nicht mehr raus. Raus kommt niemand mehr. »Martin, Martin.« Hugo Lewitz kommt in die väterliche Werkstatt und ruft seinen Bruder. »Ja?« Martin Lewitz tritt hinter einer Bohrmaschine vor, wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, richtet sich auf. »Was schreist du so«, erkundigt er sich, »hat sich Ebert zum Kaiser krönen lassen?« »Ordnung wird endlich«, sagt Hugo, »Gustav, Kunzelmanns Neffe, hat es mir gerade gesagt. Sie haben verkündet, daß morgen Löhnungsappell ist. Dann gibt es Geld und die Papiere.« Als der Kaiser abgedankt hatte, als die junge Republik Verteidiger brauchte, hatten sich Hugo und Martin gemeldet. Es war für sie selbstverständlich gewesen. Sie hatten sich bei der im Verlauf der revolutionären Ereignisse entstandenen Republikanischen Soldatenwehr gemeldet und waren dort der Volksmarinedivision zugeteilt worden. Sie hatten den Artilleriebeschuß des Marstalls am Heilig-
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abend des Jahres 1918 miterlebt. Als sie dann im Februar 1919 merkten, daß sie nur noch zu untätigem Warten verurteilt waren, während die väterliche Werkstatt dringend ihrer helfenden Hände bedurfte, kündigten sie am 1. März den Dienst. Sie gaben ihre Waffen ab. Doch die Entlassungspapiere und den Restsold bekamen sie nicht. Sicher, sie können in der Werkstatt arbeiten und in der elterlichen Wohnung leben, aber man mußte sich legitimieren können. Deshalb hat Hugo gesagt, daß nun alles in Ordnung käme. Sie werden ihren Restsold und, was weitaus wichtiger ist, ihre Papiere bekommen. Endlich. »Und wo ist das Büro«, will Martin wissen und bleibt dicht vor seinem Bruder stehen. »In der Französischen Straße soll auf dem Aufruf gestanden haben«, weiß Hugo zu berichten, »die ist ja nicht so lang. Gehen wir einfach hin, wir werden schon Kameraden begegnen.« »Und dann ist alles vorbei«, sagt Martin, ohne daß Hugo sofort den Doppelsinn der Worte begreift. »Mensch, Hugo - dafür sind viele gefallen. Dafür.« »Woher sollte man wissen, daß die Ereignisse einen solchen Verlauf nehmen würden.« Hugo wehrt sich gegen den Gedanken. »Das konnte doch kein Mensch ahnen. Welche Hoffnungen haben wir in die Revolution gesetzt. Erinnerst du dich nicht, daß Noske in Kiel war? Er hatte sich hinter die revolutionären Matrosen gestellt. Und Ebert ist Sozialdemokrat. Wir haben sie unterstützt. Wer konnte denn ahnen, daß sie mit den kaiserlichen Offizieren gemeinsame Sache machen? Sah doch zunächst alles ganz gut aus. Oder nicht? Reformen. Gesetze. Parlament. Alles im Sinne des Volkes. In unserem Sinn, die wir die Nase voll hatten von der Monarchie. Und jede neue Verordnung schien nur dafür zu sorgen, daß es kein Blutvergießen mehr gab, sondern Ruhe und Frieden einkehren sollte.« Martin stützt sich auf die Metallplatte der Bohrmaschine. »Ruhe und Frieden«, begehrt er auf, »was ist das für eine Ruhe? Plötzlich gleicht Berlin einem Heerlager. Überall Soldaten. Reaktionäre schießen, morden, wen man verdächtigt, und man verdächtigt, wen man
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will. Willkürlich, aber vor allem die zur Revolution stehen. Irgend jemand hat versagt, sage ich dir. Die Russen haben es doch auch geschafft. Was haben die denn anders gemacht?« Hugo Lewitz bewegt vorsichtig den Kopf. »Die haben sich nicht mit Halbheiten begnügt wie bei uns. Die haben die Reichen davongejagt, die Armeeführung entmachtet und eine eigene revolutionäre Armee geschaffen. Sie haben gründlich aufgeräumt und auch ein Gesetz über den Frieden verabschiedet«, sagt er dann. »Ich glaube«, Martin sieht Hugo bedeutungsvoll an, »wir sollten aus der Deutschen Demokratischen Partei austreten und uns eine andere Partei suchen.« »Glaube ich auch bald«, stimmt Hugo zu, »wir machen doch nichts. Reden und Versammlungen und Beiträge, und keiner sagt uns, was wirklich gespielt wird.« Damit ist für die Brüder Lewitz die Unterhaltung erst einmal beendet. Schweigend nehmen sie die Arbeit wieder auf, und auch als ihr Vater zu ihnen tritt, wird über den bevorstehenden Appell nicht gesprochen. Arbeit ist wichtiger, und Arbeit geht vor. Es ist der 11. März 1919. Noch liegt die Dunkelheit über dem märzklammen Tag. Mehrere Fahrzeuge halten vor dem Gebäude in der Französischen Straße 32. Niemand sagt ein Wort. Nur die genagelten Stiefel klappern, als die Soldaten von den LKWs springen. Sie schleppen Munitionskisten und Maschinengewehre in das Haus. Jeder weiß, in welcher Etage und in welchem Flur er Posten zu beziehen hat. Sie verteilen sich in den Zimmern. »Alle herhören!« Oberleutnant Marloh steht auf dem Lichthof und sieht mit Vergnügen, wie die Fenster auffliegen und überall die Gesichter seiner Leute erscheinen. »Jeder, der heute hierherkommt, ist ein deklassiertes Element; ein Verbrecher, ein Unruhestifter und Aufwiegler. Und darum sage ich:
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Es gibt kein Pardon. Niemand wird hier mit Glacehandschuhen angefaßt. Bedenkt, daß ihr es mit Klapperschlangen zu tun habt, die euch sofort angreifen, wenn ihr ihnen den Rücken kehrt. Ist das klar?« »Jawohl, Herr Oberleutnant«, rufen alle Soldaten wie aus einem Mund. Der Oberleutnant genießt seine Kommandeursrolle, er stolziert noch eine Zeitlang im Lichthof schweigend auf und ab, läßt sich sogar einen Stuhl bringen und sieht rauchend zu, wie die Soldaten ihre Stellungen beziehen, hinter allen möglichen Deckungen verschwinden. Schon nach zwanzig Minuten wirken Hof und Gebäude leer und verlassen. Auch der Offiziersstellvertreter Penther inspiziert noch einmal alles. Marloh ruft Penther zu sich. »Na, Penther«, Marloh sieht den Mann herablassend an, »haben Sie auch Ihre Pistole gut geölt?« »Jawohl, Herr Oberleutnant«, Penther nimmt Haltung an, »sehr gut sogar.« »Wegtreten«, befiehlt Marloh, und Penther verschwindet im Haus. Marloh fällt Zigarettenasche auf die Hose. Normalerweise hätte es keine zwei Sekunden gedauert und alles wäre bereinigt gewesen. Reflexiv. Jetzt bleibt die Asche liegen. Der schwache, kaum spürbare Wind verteilt sie. Warum hat man gerade ihm, Oberleutnant Marloh, diese Aufgabe übertragen? Brauchte man einen Sündenbock? Wäre das mit Ruhm und Ehre verbunden, hätte sicherlich der Oberst selbst die Aktion geführt oder ein Major, mindestens aber ein Hauptmann ... Will sich vielleicht keiner die Finger schmutzig machen? Marloh wirft die Zigarette auf die Erde, springt auf und tritt darauf herum, bis sie nicht mehr zu erkennen ist. Gegen neun Uhr treffen die ersten Matrosen ein, ahnungslos. Sie kommen einzeln oder in kleinen Trupps. Die meisten haben ihre Waffen schon abgegeben. Die anderen folgen dem Aufruf, die Waffen hier, in der Französischen Straße, abzuliefern, ebenso die Pässe und die Armbinden. Es kommen auch nur noch wenig in Uniform.
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»Hugo«, Martin weckt den Bruder, »komm, Kleiner, wir gehen zum Löhnungsappell.« Sie stehen auf, erledigen die Morgentoilette, trinken den Malzkaffee und essen eine Scheibe Brot. Es ist alles wie an jedem Morgen. Nur, daß sie heute nicht in die Werkstatt, sondern in die Französische Straße gehen. Märzmorgen. Die Sonne steht als matter rötlichweißer Ball hinter den Dächern, drückt sich durch Schornsteine, ist zu dieser Jahreszeit noch ohne jegliche Kraft. »Löhnung bekommen wir«, sagt Martin seltsam tonlos, »Geld statt der erhofften Rechte und Freiheiten.« »Immer noch besser als gar nichts«, antwortet Hugo leichthin. »Sie könnten uns auch einen Tritt geben. Sieh dir doch die Herren Offiziere an, die die Regierungstruppen befehlen. Dieselben Schmisse, dasselbe Gehabe, wie beim Kaiser. Martin sieht seinen Bruder sekundenlang schweigend an. »Also wird es immer so weitergehen? Wird es das«, fragt er lauter, als er es wollte. »Einer zettelt einen Krieg an, und Millionen beißen ins Gras. Meinst du das? Du meinst, daß sich an dieser heiligen Ordnung nichts geändert hat, nie etwas ändern wird?« Hugo hebt die Schultern. »Wir wissen nicht«, sagt er, »wie ein Gymnasium von innen aussieht, haben keine Ahnung, was an den Universitäten gelehrt wird. Nichts wissen wir. Wie sollen wir da wissen, wie das zu ändern ist. Aber erreicht haben wir doch etwas. Der Kaiser ist weg.« Martin Lewitz betrachtet die schwache Märzmorgensonne, sieht die feuchtglänzenden Dächer, die mattblinkenden Fenster der Häuser. »Laß uns umkehren«, sagt Hugo unerwartet. Martin sieht ihn verständnislos an, lacht dann. »Wir werden doch nicht auf unsere Löhnung verzichten. Sie steht uns doch zu, aber aufpassen sollten wir.« Hugo sieht den älteren, aber kleineren Bruder erwartungsvoll an. »Wenn dort Militär ist und die Straße abgesperrt sein sollte«, er
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macht eine längere Pause, »dann sollten wir weitergehen. Ist ja immerhin möglich, daß sie jetzt, wo die Volksmarinedivision aufgelöst ist, jeden einzeln von uns schnappen wollen. Man kennt sie ja.« »Das stimmt.« Hugo sieht seinen Bruder nachdenklich an. »Wir machen das so. Wenn Soldaten zu sehen oder Straßensperren errichtet worden sind, verschwinden wir in einer Nebenstraße und verzichten auf unser Geld.« Sie gehen weiter, sehen die vielen neuen und alten Anschläge an den Häuserwänden, die von Belagerung und Standrecht sprechen und in immer dem gleichen Amtsdeutsch abgefaßt sind. Hugo und Martin erreichen die Staatsoper, biegen schließlich in die Französische Straße ein. Es ist nur ein kurzer Weg bis zur Nummer 32. Schließlich verharren sie, bleiben dann stehen. Ihre Augen wandern die Straße entlang. Kein Lastwagen, kein Uniformierter, keine Waffen. Alles ist still und friedlich. »Nichts«, stellt Hugo fest, »ich sehe jedenfalls niemanden.« Martin antwortet nicht sofort. Er mustert das Dach, die obere Fensterreihe. »Du scheinst recht zu haben, Kleiner«, sagt er noch immer nachdenklich und alles betrachtend, »sieht nicht nach Militär aus. Wir können es wohl wagen, unsere Löhnung abzuholen. Dann komm.« Vielleicht gibt noch etwas anderes den Aufschlag für ihren Entschluß. Sie sehen einen Mann der ehemaligen Volksmarinedivision auf das Haus zugehen. Und dieser Mann, dieser einstige Kamerad, pfeift. Er sieht unbekümmert aus und trällert vor sich hin. Die Brüder lachen, als sie ihn sehen, zwinkern sich zu. Sie öffnen die hölzerne Tür. Ein Zivilist begrüßt sie flüchtig, läßt sich die Namen sagen und trägt sie in eine Liste ein. »Ihr seid spät dran«, sagt er und schickt sie über den Lichthof die seitliche Treppe hinauf. Die Fröhlichkeit der letzten Sekunden verläßt sie. Irgendwie überkommt sie ein beklemmendes Gefühl. Sie können das nicht erklären. Vielleicht ist es die eigenartige Stille. Warum herrscht bei der Löhnung so eine Stille? Verfolgen sie unsichtbare Augenpaare? Martin und Hugo steigen über die steinerne Treppe nach oben.
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Noch immer hören sie keinen Laut. Auch der Kamerad, der kurz vor ihnen das Haus erreicht hat, taucht nicht auf. Sie wissen nicht, daß der die Treppe des Vorderhauses hinaufgeschickt wurde. Das ist eine List des Oberleutnants Marloh: Wenn mehrere kommen, dann verteilen. Einen über die Seitenflügeltreppe und die anderen über die Vorderhaustreppe. So hat man sie einzeln. Martin und Hugo Lewitz erreichen den zweiten Stock. Der Gang ist menschenleer. Alle Türen sind geschlossen. »Konferenz der Mumien«, sagt Hugo. Martin nickt nur. Ihm ist nicht wohl. Er kann über den Witz seines Bruders nicht lachen. Er hat im Augenblick nur den einen Wunsch, auf der Straße zu sein, tausend Meter weiter. Kaum aber haben sie einige Schritte in den Gang hinein getan, werden auch schon zwei Türen gleichzeitig aufgerissen. Sechs Revolver richten sich auf die beiden. »Hände hoch«, schreit einer von denen, die aus dem Zimmer gekommen sind. Martin weiß sofort, daß es ernst ist. Hugo, der nicht sofort begreift, sagt: »Laßt doch die Witze.« Er bekommt einen Stoß, der ihn gegen die Wand taumeln läßt. Jetzt begreift auch er die Situation. Seine Augen weiten sich. »Ihr Schweine«, brüllt Hugo, »ihr Schweine!« , Die Uniformierten lachen nur und schauen sich bedeutsam an. »Jetzt geht euch der Frack, was«, fragt einer höhnisch. »Na los, vorwärts«, ordnet er an, und Martin und Hugo Lewitz werden den Gang entlanggestoßen, im Rücken die Pistolen. Hinter der nächsten Ecke werden sie einer Leibesvisitation unterzogen. Es ist nicht viel, was sie bei sich haben, ein bißchen Geld, Martins Zigaretten, das Feuerzeug und Hugos Taschenuhr. »Dann geht es weiter. Eine andere Tür wird aufgestoßen. Auch in diesem Raum sind Bewaffnete. Am Fenster steht ein Maschinengewehr, feuerbereit. Sie müssen durch zwei weitere Zimmer. Überall blicken sie in Revolvermündungen. Der Weg endet in einem Raum, in dem bereits Kameraden warten, auch der Matrose, der pfeifend durch die Französische Straße gekommen ist. Keiner der Anwesenden sagt ein Wort.
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»Achtung«, erklärt ein Gefreiter von der Tür her, »der Herr Oberleutnant hat angeordnet: Wer spricht, wird erschossen. Ebenso diejenigen, die sich am Fenster zeigen. Verhaltet euch also ruhig, und es wird nichts passieren.« Hugo schaut Martin an, der unbeweglich neben ihm steht. Der erwidert den Blick. Sie sind also doch in die Falle gegangen, auch ohne Straßensperre und ohne Militär auf den Straßen. Martin setzt sich auf den Fußboden, und Hugo lehnt sich an eine Wand. Matrosen und ehemalige Soldaten füllen den Raum. Immer wieder hört man die Kommandos, hört man Stiefel die Gänge entlanghasten, das Knacken von Gewehrschlössern. Und dann kommen wieder neue ins Zimmer. Sie stehen schweigend und warten, und der Platz in dem Zimmer wird knapp. Oberleutnant Marloh steht am Fenster in dem provisorisch zu einem Dienstzimmer eingerichteten Raum, als Penther eintritt. »Wie viele sind gekommen«, fragt Marloh und schaut Penther unwirsch an. »Über zweihundert«, antwortet der Offiziersstellvertreter. »So viele«, fragt Marloh erschrocken. Noch ehe Penther etwas erwidern kann, klingelt das Telefon. Marloh greift zum Hörer, hebt ab, dreht heftig die Kurbel, wartet. »Nun, Zahlmeister?« Marloh erkennt die Stimme von Oberleutnant Kessel auf Anhieb. »Haben Sie die Matrosenverschwörung im Griff«, erkundigt sich die Stimme herrisch. Marloh springt auf, klappt die Hacken hörbar zusammen. »Jawohl«, antwortet er, »wir haben über zweihundert Spartakisten.« »Und ...«, kommt es lauernd aus dem Apparat. »Alle sind inhaftiert«, sagt der Oberleutnant beunruhigt, »aber ... ich meine, zweihundert sind schrecklich viel, damit habe ich nicht gerechnet.« »Sie sind doch instruiert«, sagt der Anrufer. »Greifen Sie energisch
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durch.« Es knackt. Sie sind unterbrochen. Marloh steht da, den Hörer in der Hand, und sieht sich unruhig um. Es ist der Soldat in ihm, der ihm das Gefühl vermittelt, auf verlorenem Posten zu stehen. Von zweihundert, denkt er, war nie die Rede. Außerdem sind alle waffenlos und diszipliniert. Keine Meuterei. Nichts von dem, was man erwartet hatte. »Instruiert«, murmelt Marloh unhörbar, »er hat instruiert gesagt. Er hat sich auf keinen Befehl berufen. Es ist kein Befehl. Eine Vorgehensempfehlung, und was er daraus macht, ist ihm überlassen ...« Damit ist für Marloh eine Situation entstanden, mit der er nichts anfangen kann. Er, der Offizier, ist ohne Befehl. Hätte man ihm befohlen, mit einem Besen ein Schlachtfeld zu säubern, er hätte es getan, mit gutem Gewissen tun können. Aber nur eine Empfehlung, eine Instruktion und kein Befehl erzeugt in ihm in Anbetracht der Situation Unsicherheit. »Was machen die Inhaftierten«, wendet sich Marloh barsch an Penther. Er sieht an ihm vorbei, schaut auf die Tapete, deren staubiges Gelb zu seiner Stimmung paßt. »Nichts, Herr Oberleutnant«, antwortet der, »nichts machen sie. Sie sind alle ruhig. Warten halt.« »Sie müssen doch etwas tun«, schreit Marloh plötzlich unbeherrscht. »Sie müssen doch meutern, brüllen, sich gegen uns, auflehnen.« »Nein, Herr Oberleutnant«, antwortet Penther mit stoischer Ruhe. »Mann, Penther«, Marloh geht erregt auf und ab. Er denkt an seinen Vater, an die Schulzeit, denkt an all die Rohrstöcke, mit denen er gezüchtigt worden war, und fühlt sich hilflos allein gelassen. »Mann, Penther«, nimmt Marloh einen zweiten Anlauf, »wir können doch nicht über zweihundert Mann einfach erschießen, waffenlose Männer. Das verstößt gegen...« Er hält inne, denkt nur das Wort Soldatenehre. »Wir haben doch einen Befehl, Herr Oberleutnant«, beruhigt Penther ihn, wird aber sofort von Marloh unterbrochen: »Nein, einen
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eindeutigen haben wir eben nicht. Penther, wenn Sie sich noch an die Worte von Kessels erinnern wollen. Wir sollen hart durchgreifen. Und wenn wir schießen, machen wir das offiziell auf eigene Verantwortung.« Marloh setzt sich wieder, stützt den Kopf in die Hände, überlegt, ob nicht irgendwo und irgendwann das Wort Befehl gefallen ist. Einmal wenigstens. »Lassen Sie mich jetzt allein, Penther«, ordnet Marloh an. Penther salutiert und verläßt den Raum. Er ist unzufrieden, zum erstenmal mit seinem Oberleutnant unzufrieden, weil er das »Zivilistenkroppzeug« zu ernst nimmt, weil er zu zach ist. Marloh steht auf, tritt an das Fenster, sieht das Maschinengewehr auf dem Flachdach des niederen Gebäudes, das den Lichthof abschließt. Die beiden Soldaten am MG sitzen und rauchen gelangweilt. Marloh denkt daran, Reinhard anzurufen und von ihm einen eindeutigen Befehl zu erhalten. Er geht um das Telefon herum, streckt den Arm aus, zieht ihn wieder zurück wie eine bedrohte Schnecke ihre Fühler. Marloh ist sich im klaren darüber, daß er nicht telefonieren, jetzt nicht rückfragen darf. Er weiß genau, was man von ihnen erwartet. Wozu sich also Gedanken machen. Alles sinnlos und unsinnig ... Marloh setzt sich wieder an den Tisch, stiert auf die hölzerne Platte. Die Tür wird geöffnet, nachdem vorher energisch angeklopft worden ist. In der Tür steht Leutnant Wehmeyer. Er ist der Vetter Marlohs, und er tut ebenfalls Dienst in der von Oberleutnant von Kessel geführten Kompanie der Brigade Reinhard. »Otto«, sagt der und sieht ernst aus, »Oberleutnant von Kessel läßt dir bestellen, daß der Herr Oberst wütend auf dich ist. Du gehst zu schlapp vor. Du sollst energisch durchgreifen, keine Skrupel haben, auch wenn du hundertfünfzig oder zweihundert erschießt. Was nutzt es, zweihundert Spartakisten zu inhaftieren. Also, unternimm endlich etwas.« Marloh springt auf. »Soll das ein Befehl sein, hundertfünfzig Mann erschießen? Du bist
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wohl verrückt?« fährt Marloh Wehmeyer an. »Ich weiß, was ich zu tun habe!« »Ich verstehe dich, das Ganze ist schon etwas delikat«, lenkt Wehmeyer ein. »Naja«, Marloh ist noch nicht recht überzeugt, aber das Erscheinen Wehmeyers ist eine Warnung an ihn, etwas zu unternehmen. Wehmeyer reicht Marloh die Hand und geht dann schnell zur Tür, läßt sie ins Schloß fallen. Marloh steht noch immer mitten im Zimmer, als die Schritte des Leutnants längst verhallt sind. Er ist nicht schlapp, er weiß, was er zu tun hat. »Penther«, ruft Marloh, »sofort zu mir.« Auf dem Gang sind Schritte zu hören. Es klopft, dann fliegt die Tür auf. »Offiziersstellvertreter Penther zur Stelle«, meldet er und bleibt in der Tür stehen. Marloh sieht Penther lange unverwandt an. »Na«, fragt er, spricht aber sofort weiter, denn er kennt die Antwort, »es geht los. Jetzt.« Sie gehen durch die Gänge, steigen die Stufen in das zweite Stockwerk hinab, werden von Wachposten gegrüßt. Türen werden geöffnet. »Achtung!« Soldaten springen auf, nehmen Haltung an, warten darauf, daß der Oberleutnant etwas sagt, aber der schweigt, durchquert die Räume, sieht zu den Gefangenen hinein. »Auf dem Gang antreten«, ordnet er an. Die Männer werden an ihm vorbeigeführt, einer nach dem anderen, stehen schließlich auf dem Gang in Dreierreihe. Marloh schreitet die Front ab, schaut in die Gesichter, sieht durch sie hindurch, wiederholt den Vorgang noch einmal. Dann wendet er sich an Penther, will fragen, wer von diesen Männern auffiel, verschluckt die Frage, weil er die Antwort kennt. Penther will töten, aber nicht Verantwortung tragen. Marloh mustert die Männer ein drittes Mal. Diesmal nennt er zwei Wörter. Weg! Links! Zu denen, die ihm besonders intelligent er-
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scheinen oder durch ordentliche Kleidung beziehungsweise Schmuck auffallen, sagt er nur: »Weg!« Hugo und Martin Lewitz, obwohl sie nicht zusammenstehen, werden wie etwa weitere einhundert mit diesem Wort bedacht. Noch ahnt keiner der Männer, was sie erwartet. Sie sind wie immer, wenn der Mensch einer übermächtigen Situation gegenübersteht, hoffnungsvoll, besonders als es die Treppe hinuntergeht. Sie glauben, daß sie nach Hause gehen können. Marloh und Penther bleiben stehen, bis die übrigen wieder in den Räumen untergebracht, die Türen geschlossen sind. Dann gehen auch sie hinunter. »Wie viele sind es«, fragt Marloh. »Etwa hundert«, antwortet Penther. »Alle noch einmal aufstellen lassen«, befiehlt Marloh, »ich will sie noch einmal sehen.« Penther geht voraus, und als Marloh ankommt, stehen die Männer wieder in Dreierreihen vor ihm, er läßt sie einzeln vorübergehen, mustert sie erneut. Marloh wählt nochmals aus. Reduziert, auch Hugo und Martin stehen noch in den gelichteten Dreierreihen. »Jetzt sind Sie dran«, sagt Marloh zu Penther und geht hinter denen her, die die Treppe wieder hinaufgetrieben werden. In seinem Zimmer angekommen, öffnet er das Fenster und sieht hinunter. Die Zurückgebliebenen werden durch eine Seitentür auf den Hof dirigiert. Jetzt ahnen die Männer, was geschehen wird. Sie stehen vor der Hofwand, reden durcheinander, wenden sich immer wieder an Penther, fragen, was man ihnen zur Last lege. Penther, ungerührt, geht aus dem Schußfeld, und im gleichen Augenblick krachen die ersten Salven. Die Schüsse brechen sich an den Mauern, verstärken sich, dröhnen in den Ohren des Oberleutnants. Nein, denkt der nur, nein, dieses Krachen kann keine Domglocke übertönen. Ein schrecklicher Lärm. Jammern, Stöhnen, einsetzendes Schnellfeuer. Einige fliehen in panischer Angst in die Keller, schreien. Auch dort krachen nun Schüsse. Hugo Lewitz spürt einen stechenden Schmerz in seinem
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Körper. Vorbei, denkt er, es ist vorbei. Und Vater ist mit der Werkstatt und der Arbeit allein. Das schafft er nicht, nie. Er verliert das Bewußtsein, stürzt vornüber, während das Massaker auf die in der Hofecke zusammengedrängten Männer fortgesetzt wird. Kurt Dehn, Jakob Bonczyk, Ernst Bursian, Alfred Hintze, Ernst Mörbe, Paul Brandt, Herbert Lietzau, Max Maszterlerz, Theodor Biertümpel, Otto Deubert, Willy Ferbitz, Gustav Zühlsdorf, Paul Rösner, Karl Zieske, Siegfried Schulz, Paul Ulbrich, Werner Weber, Karl Pobantz, Willy Kuhle, Otto Kanneberg, Baruch Handwohl, Robert Göppe, Anton Hintze, Walter Harder, Walter Jacobowsky, Max Kutzner, Martin Lewitz, Hermann Hinze. Hugo Lewitz bleibt reglos liegen, nur nicht bewegen, ebenso Kurt Türge. Sie sind verwundet, aber nicht tot. Die Soldaten inspizieren die Leichen, geben den Stöhnenden den Fangschuß und verlassen eilig das Gebäude. Die beiden haben sie übersehen. Was sich danach ereignet, gibt Hugo Lewitz später vor Gericht zu Protokoll. Unmittelbar nach dem Massaker kehrt Oberleutnant Marloh mit seinen Leuten nach Moabit zurück. Von Kessel verlangt nun einen Bericht über die »Vorkommnisse«. Marloh schreibt einen solchen, »vergißt« allerdings die Exekution. Er »erinnert« sich schon eine Stunde nach dem Gemetzel nicht mehr an die Schüsse und Schreie, nicht mehr an den Geruch des frischen Blutes. Der Kompaniechef ist sichtlich empört, weil die Darstellung der Erschießung fehlt. Er schickt Leutnant Wehmeyer und Oberleutnant Marloh zu dem im selben Gebäude sitzenden Staatsanwalt Zumbroich, der ihnen beim Abfassen des Berichts behilflich sein soll. Der ist ihnen auch gefällig, bringt den Tatbestand in eine dienstliche Meldung. Mit diesem Bericht, in dem die Vorgänge wahrheitsgemäß aufgeführt waren, geht Oberleutnant Marloh erneut zu Kessel. »Äh«, macht von Kessel geringschätzig, »so geht die Sache auch
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nicht, lieber Marloh.« Und er diktiert einen neuen Bericht, in dem es wörtlich heißt: »... auf meine (Marlohs) Anordnung wurde, gestützt auf die Erlasse Noskes, die Erschießung vorgenommen.« Kein Wort über den erteilten Befehl. Und Marloh muß diesen Bericht, obwohl er weiß, daß ihm damit der Schwarze Peter zugeschoben wird, unterschreiben. Damit glauben alle Beteiligten, die Angelegenheit sei erledigt, doch das Blutbad in der Französischen Straße konnte nicht so ohne weiteres aus der Welt geschafft werden. Anzeigen werden erstattet, immer wieder fallen die Namen Marloh und Penther. In Moabit wird man unruhig. Selbst die rechte SPD-Führung, die wesentlichste Stützte der Regierung, kann vor der Empörung, die die Arbeiterschaft erfaßt hat, nicht zurückweichen. Wie üblich wird von offizieller Seite eine »rücksichtslose Nachprüfung der Vorgänge« zugesagt. Nun verfaßt Oberst Reinhard mit Hilfe des Staatsanwalts Weißmann eine dritte Meldung, in der Marloh Notwehr bescheinigt wird kein Wort mehr vom allgemeinen Schießerlaß Noskes, kein Wort mehr von der Anordnung Reinhards und auch kein Wort mehr von der Anweisung Kessels. Zunächst unterschreibt Marloh diese Meldung nicht, da sie nicht der Wahrheit entspricht, schließlich aber bestätigt er mit seiner Unterschrift diesen Bericht. Von Kessel macht Marloh den Vorschlag zu verschwinden, um eine Verhandlung unmöglich zu machen. Marloh vertraut sich daraufhin dem protestantischen Geistlichen Rump, einem Onkel des Oberleutnants, und seinem früheren Regimentskommandeur Ortzen an. Sie raten ihm ebenfalls zu fliehen und sichern ihm eine finanzielle Unterstützung zu, die Marloh über von Kessel erhalten soll. Als am 2. Juni 1919 in der »Freiheit«, dem Zentralorgan der USPD, ein Artikel erscheint, der das Verbrechen anprangert, verschwindet Marloh am 3. Juni mit gefälschtem Paß. Vier Tage später erfährt die Öffentlichkeit davon. Marloh will und soll ins Ausland, aber noch hält er sich in München auf. Kurze Zeit später taucht er wieder in Berlin auf und will sich das Geld holen. Die Forderung von Rump, Ortzen und Marloh sind 50000 Mark. Von Kessel beschwört sie, von dieser Forderung abzugehen, denn
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man könne höchstens 20000 Mark aufbringen. Aber die drei bleiben dabei. »Gehandelt wird nicht! Entweder wird gezahlt - oder Marloh ›packt aus‹!« So kommt es schließlich am 3.Dezember 1919 zur Verhandlung vor dem Kriegsgericht der Reichswehrbrigade III im Schwurgerichtssaal des Moabiter Kriminalgefängnisses. Auf der Anklagebank sitzt allein Oberleutnant Marloh - weder Oberst Reinhard noch von Kessel, weder Penther noch die Staatsanwälte Weißmann und Zumbroich müssen dort Platz nehmen. Sie alle sind lediglich als Zeugen geladen. Und Reinhard und von Kessel verstehen es bestens, sich aus der Mordanstiftung herauszuschwindeln. Natürlich konnte sich von Kessel nicht mehr an Einzelheiten des Gesprächs mit Marloh erinnern, mein Gott, wer sollte das noch wissen. »Vielleicht habe ich die Anweisung zu scharf an Marloh weitergegeben.« Ähnliche Worte gibt auch Oberst Reinhard von sich. »Marloh hat vielleicht einen von mir gegebenen Befehl nicht ganz richtig übermittelt bekommen oder zu scharf aufgefaßt.« Marloh streicht den guten Soldaten heraus, nennt sich einen zuverlässigen Befehlsausführer, der nicht darüber zu entscheiden habe, ob eine Sache gerechtfertigt sei oder nicht. Er hält sich für unschuldig. »Ich habe am 11.März meine Pflicht als Soldat getan. Ich bitte um meinen Freispruch.« Das sind die letzten Worte seines Schlußwortes. Der Anklagevertreter beantragt drei Jahre Gefängnis. Die Rechtsanwälte Marlohs berufen sich auf die Gehorsamspflicht des Soldaten und verlangen Freispruch von der Anklage des Totschlags. Die Rechtsanwälte haben Erfolg, und der Tatbestand des Totschlags wird fallengelassen. Und das, obwohl der Anklagevertreter zuvor die Erschießung der neunundzwanzig Angehörigen der ehemaligen Volksmarinedivision am 11.März für ungesetzlich hielt. »Eine Fülle von unglücklichen Zufällen und Mißverständnissen«, wird Marloh bescheinigt. Am 9. Dezember 1919 wird Oberleutnant Marloh von der Anklage des Todschlags und des Mißbrauchs der Dienstgewalt freigespro-
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chen. Er erhält wegen unerlaubter Entfernung von der Truppe drei Monate Festungshaft, wobei ihm die Untersuchungshaft angerechnet wird. Dreißig Mark Geldstrafe wird er noch wegen der gefälschten Papiere zahlen müssen. In der Begründung des Urteils betont der Vorsitzende des Kriegsgerichts, daß der »Soldat Marloh, der zum Gehorsam erzogen worden ist, als er die Erschießung befahl, der Meinung war, er hätte hierzu einen bindenden Befehl.« Hat er aber einen Befehl gehabt, dann wäre er nur strafbar, wenn er gewußt hätte, daß die Ausführung dieses Befehls ein Verbrechen darstellte. Das aber konnte Marloh nicht annehmen, da er durchaus der Ansicht sein konnte, daß die Regierung ein Interesse an schärfster Unterdrückung der Unruhen hatte. Und er fuhr wörtlich fort: »So bedauerlich der Vorgang war, ein Gutes hat er doch gezeitigt: nämlich das völlige Verschwinden der Volksmarinedivision seit jenen Tagen. Anders liegt die Sache bei der unerlaubten Entfernung vom Heere. Hier hat sich der Angeklagte strafbar gemacht.« Marloh wird sofort aus der Haft entlassen.
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