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Das Buch Anne Perrys Spezialität sind spannende Kriminalromane, die im viktorianischen England spielen. In ihren berühmten Thomas-Pitt-Krimis beschwört sie gekonnt die Atmosphäre Londons im späten 19. Jahrhundert herauf: das London der feinen Gesellschaft und der Armenhäuser, das London der Gaslaternen und des undurchdringlichen Nebels. In diesem Fall wird der frischgebackene Oberinspektor Thomas Pitt mit einem Fall konfrontiert, der sich politisch als höchst brisant erweist und auch seine eigene Karriere zunichte machen könnte. Im Hyde Park sind binnen weniger Wochen zwei angesehene Gentlemen geköpft worden. Das erste Opfer ist Sir Oakley Winthrop, ein Fregattenkapitän der Royal Navy, das zweite Opfer ist der bekannte Dirigent Aidan Arledge. Und während sich in ganz London Panik breitmacht, muß Pitt handeln. Aber die Tatsache, daß die wenigen Spuren, die der Täter hinterlassen hat, ausnahmslos in die vornehmeren Stadtviertel Londons führen, erleichtert die Ermittlungen nicht gerade. Pitt muß sich gegen Anfeindungen sowohl von oben als auch aus den eigenen Reihen wehren. Und der Hyde-Park-Mörder ruht nicht... Die Autorin Anne Perry ist die erfolgreiche Autorin spannender Krimis aus dem viktorianischen England. Mit ihrem Detektiv-Gespann Thomas und Charlotte Pitt begeistert sie ein Millionenpublikum in aller Welt. Anne Perry lebt in Portmahomack in Schottland. Im Wilhelm Heyne Verlag sind erschienen: Frühstück nach Mitternacht (01/8618), Die Frau in Kirschrot (01/8743), Die dunkelgraue Pelerine (01/8864; Großdruck-Ausgabe 21/14), Die roten Siefeletten (01/9081), Ein Mann aus bestem Hause (01/9378), Der weiße Seidenschal (01/9574), Belgrave Square (01/9864), Schwarze Spitzen (01/9758).
ANNE PERRY
MORD IM HYDE PARK Ein Inspektor-Thomas-Pitt-Roman
Aus dem Englischen von Susanne Hobel
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/10487
Titel der Originalausgabe THE HYDE PARK HEADSMAN erschienen bei Ballantine Books, New York
Umwelthinweis: Das Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt. 5. Auflage Copyright © 1994 by Anne Perry Copyright © 1996 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1998 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Leingärtner, Nabburg Druck und Bindung: Press-Druck Augsburg ISB 3-453-13070-7
Für Leona Nevler, in Dankbarkeit
1. Kapitel
O
h, George«, seufzte Millicent glücklich. »Ist es nicht wunderschön? So früh am Morgen war ich noch nie im Park. Das Morgengrauen ist so romantisch, findest du nicht auch? Es ist der Anfang von allem!« George schwieg und ging etwas rascher durch das feuchte Gras. »Guck doch mal, das Licht auf dem Wasser«, fuhr Millicent begeistert fort. »Wie ein riesiges silbernes Tablett.« »Komische Form für ein Tablett«, murmelte George und betrachtete den schmalen, länglichen Serpentine-See sichtlich weniger enthusiastisch als sie. »Es wird geradezu märchenhaft sein, draußen auf dem Wasser.« In einem solchen Moment hatte Millicent wenig übrig für praktische Überlegungen. Sie hatte sich in den Park davongeschlichen, um mit George allein im ersten Morgengrauen eine Bootsfahrt zu machen. Was hatte die schnöde Wirklichkeit da zu suchen? Sie raffte ihr Kleid zusammen, damit es in dem taufrischen Gras nicht naß wurde. Das war nur vernünftig und bildete keinen Widerspruch. Schließlich wollte sie nicht, daß sich der nasse, schwere Stoff um die Fußgelenke wickelte. »Es ist schon jemand auf dem Wasser«, sagte George angewidert. Und in dem zunehmenden Licht war deutlich zu erkennen, daß eines der kleinen Boote tatsächlich ungefähr drei Meter vom Ufer entfernt trieb. Doch die Person darin schien merkwürdig nach vorne gebeugt, als suche sie etwas zu ihren Füßen. Millicent konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. Es war überhaupt nicht romantisch, wenn ein anderer, ein Außenstehender, dabei war. Man konnte sich durchaus »
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vorstellen, daß der Hyde Park im Herzen Londons ein finsterer Wald in einem europäischen Fürstentum war und George ein Prinz oder zumindest ein Ritter, aber ein ganz gewöhnlicher Bootsfahrer würde die Idylle zerstören. Ganz abgesehen von der Tatsache, daß Millicent nicht ohne züchtige Begleitung im Park sein sollte und sich keinen Zeugen für ihren Ausflug wünschte. »Vielleicht verschwindet er ja«, sagte sie hoffnungsvoll. »Das Boot bewegt sich nicht«, entgegnete George ärgerlich. Dann rief er: »Entschuldigen Sie, Sir. Alles in Ordnung da draußen?« Er runzelte die Stirn. »Ich kann sein Gesicht nicht sehen«, sagte er zu Millicent. »Warte mal hier. Ich sehe nach, ob er so freundlich ist, etwas weiter wegzurudern.« Damit ging er die Uferböschung hinab, ohne darauf zu achten, daß seine Schuhe naß wurden. Dann stolperte er, fiel erst auf die Knie und dann ins Wasser, daß es aufspritzte. »Oh!« Millicent war entsetzt. Georges Mißgeschick war ihr überaus peinlich, aber gleichzeitig mußte sie ein Kichern unterdrücken. »George!« Sie eilte zu der Stelle, wo er im flachen Wasser herumstrampelte und den Sand aufwirbelte, ohne anscheinend Grund unter den Füßen zu finden. Seltsamerweise schenkte ihm der Mann im Boot keinerlei Beachtung. Dann, im anbrechenden Tageslicht, erkannte Millicent den Grund. Sie hatte wie George angenommen, daß der Mann nach vorne geneigt saß, aber das war nicht der Fall. Sein Kopf fehlte. Oberhalb seiner Schultern war nur der blutüberströmte Stumpf seines Halses zu sehen. Millicent verlor das Bewußtsein und fiel vornüber ins Gras. »Jawohl, Sir«, sagte der Wachtmeister schneidig. »Freiherr Oakley Winthrop, Fregattenkapitän der Royal Navy. Wurde ohne Kopf in einem der kleinen Ruderboote auf dem Serpentine-See gefunden. Heute morgen bei Tagesanbruch. Von einem Pärchen, das eine romantische Bootsfahrt vorhatte.« In das Wort romantisch legte er seine ganze Verach-
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tung. »Die Ärmsten sind glatt in Ohnmacht gefallen - haben keine Nerven für so was.« »Ist ja nur natürlich«, sagte Oberinspektor Thomas Pitt verständnisvoll. »Ich wäre ziemlich beunruhigt, wenn sie die Nerven hätten.« Der Wachtmeister verstand ihn offenbar nicht. »Ja, Sir«, sagte er gehorsam. »Als der Gentleman wieder ans Ufer kam, hat er den Streifenpolizisten geholt. Soweit ich verstanden habe, ist er bei dem Schock gestolpert, oder so.« Um seinen Mund zuckte es verdächtig, doch seine Stimme verriet keine Spur von Belustigung. »Withers war's, der hatte Streife im Park. Kaum hatte er die Leiche gesehen, war ihm klar, daß es sich um einen schwierigen Fall handelte. Also hat er nach seinem Sergeanten geschickt, und die beiden haben sich die Leiche etwas näher angesehen.« Er sog die Luft ein und wartete auf eine Bemerkung von Pitt. »Und dann?« hakte Pitt nach. »Da haben sie dann herausgefunden, wer der Tote ist«, fuhr der Wachtmeister fort. »Und da es sich um eine wichtige Persönlichkeit aus der Marine handelt und er ein Freiherr war, dachten sie, einer von Ihrem Rang sollte den Fall übernehmen - Sir.« Er sah Pitt befriedigt an. Pitt war erst kürzlich zum Oberinspektor befördert worden. Lange Zeit hatte er sich gesträubt, denn er wußte, daß seine eigentliche, ausgeprägte Fähigkeit in der Arbeit mit Menschen lag. Und zwar sowohl mit den Vertretern der Halbwelt und Unterwelt, seien es Arme oder Kriminelle, als auch mit den Bewohnern der Dienstbotenräume und natürlich mit den Mitgliedern der gehobenen Gesellschaftsschichten. Dann, im Spätherbst des Jahres 1889, war sein Vorgesetzter, Micah Drummond, aus dem Amt geschieden. Drummond heiratete die Frau, in die er sich während des entsetzlichen Skandals verliebte, der ihren Mann ruiniert und schließlich dessen Leben gekostet hatte. Drummond hatte Pitt als seinen Nachfolger vorgeschlagen mit der Begründung, daß Pitt, der zwar im Gegensatz zu Drummond
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kein Angehöriger der gehobenen Gesellschaft war, über große Erfahrungen in der Polizeiarbeit verfüge und sich auch den heikelsten Fällen, in die die politisch und gesellschaftlich Mächtigen verwickelt waren, gewachsen gezeigt habe. Nachdem die Morde von Whitechapel immer noch nicht aufgeklärt waren und vielleicht auch nie geklärt werden würden, nachdem das Vertrauen in die Polizei geschrumpft und ihr Ansehen in der Öffentlichkeit immer weiter gesunken war, war die Zeit für radikale Veränderungen gekommen. Also hatte Pitt im Frühjahr 1890, dem Beginn eines neuen Jahrzehnts, die Leitung der Polizeiwache Bow Street übernommen. Seine besondere Verantwortung galt Fällen, die sich als heikel erwiesen und zu eskalieren drohten, wenn sie nicht mit Takt behandelt und ihre Aufklärung mit größter Eile betrieben wurden. Daher stand jetzt Polizeiwachtmeister Grover in dem schönen Büro, das Pitt von Micah Drummond übernommen hatte, vor dem Schreibtisch und berichtete über den enthaupteten Freiherrn Oakley Winthrop. Denn er wußte, daß Pitt den Fall übernehmen mußte. »Was wissen Sie sonst noch über die Angelegenheit?« fragte Pitt und lehnte sich in seinem Sessel zurück, obwohl er in Momenten wie diesen immer noch das Gefühl hatte, es sei Micah Drummonds Stuhl. »Sir?« Grover zog die Augenbrauen hoch. »Was hat der Polizeiarzt gesagt?« fügte Pitt hinzu. »Der Tod ist eingetreten, weil man ihm den Kopf abgeschlagen hat«, erwiderte Grover und reckte das Kinn ein wenig vor. Pitt wollte ihn schon zurechtweisen, war sich aber immer noch unsicher, welchen Ton er seinen Untergebenen gegenüber anschlagen sollte. Er hatte noch nie eng mit ihnen zusammengearbeitet, da er höchstens einen Sergeanten an seiner Seite gehabt hatte, meistens aber war ein Fall von ihm allein bearbeitet worden. Man betrachtete ihn mehr als Konkurrenten denn als Kollegen.
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Micah Drummond, der aus einer ehrwürdigen und vermögenden Familie stammte und eine militärische Laufbahn hinter sich hatte, war von den Männern Gehorsam entgegengebracht worden, denn er gehörte der Klasse an, die es in zweifacher Hinsicht gewohnt war, Befehle zu erteilen. Pitt dagegen war der Sohn eines Wildhüters und hatte sich den gehobenen Akzent angeeignet, weil er mit dem Sohn des Gutsherrn erzogen worden war. Weder hatte er das sichere Auftreten noch die äußere Erscheinung eines Menschen, der zum Führen geboren war. Zwar war er von großem Wuchs, doch häufig nahm er eine unsichere Haltung an. Selbst an seinen besten Tagen waren seine Haare wirr. An schlechten Tagen sah er aus, als hätte ihn der Sturmwind durch die Tür geblasen. Er kleidete sich nachlässig und sammelte eine Vielzahl verschiedenster Objekte in seinen Taschen, weil er meinte, sie könnten ihm eines Tages nützlich sein. Die Beamten in der Wache Bow Street gewöhnten sich nur langsam an ihn, und ihm bereitete die leitende Rolle tiefes Unbehagen. Er war es gewöhnt, die Regeln zu mißachten und damit durchzukommen, weil seine Methoden erfolgreich waren. Die leitende Rolle nötigte ihm ganz andere Verpflichtungen ab und verlangte, daß er sich an die Regeln hielt und weniger eigenwillig vorging. Plötzlich war er für die Aufgaben anderer Menschen, deren Erfolge und Mißerfolge, ja selbst für deren körperliche Sicherheit verantwortlich. Pitt sah Grover kühl an. »Der Zeitpunkt des Todes, Grover«, sagte er mit fester Stimme, »das wäre wichtig zu erfahren. Und wurde er im Boot getötet oder später dorthin gebracht?» Die Genugtuung schwand aus Grovers Gesicht. »Ich glaube, das wissen wir nicht, Sir. Noch nicht. Bißchen riskant wahrscheinlich, jemandem direkt im Park den Kopf abzuschlagen. Jeder Spaziergänger hätte ihn sehen können.« »Und wie viele Spaziergänger waren um diese Uhrzeit im Park, Grover?« Grover wurde unruhig.
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»Na ja, scheint, als wäre keiner dagewesen, außer den beiden, die ihn gefunden haben. Aber der Mörder konnte sich ja nicht darauf verlassen, oder?« Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. »Jemand hätte ja früh ausreiten können«, fuhr er fort, »oder spät von einem Fest heimkommen oder einfach nur einen Spaziergang machen können ...« »Wenn man annimmt, daß der Mord bei Tagesanbruch verübt wurde«, wandte Pitt ein. »Vielleicht wurde er aber lange davor begangen. Haben Sie weitere Zeugen gefunden, die auch im Park waren?« »Nein, Sir, noch nicht. Wir sind sofort zu Ihnen gekommen, als wir gemerkt haben, daß es sich um eine wichtige Persönlichkeit handelt.« Grover wußte, daß diese Rechtfertigung völlig ausreichte. »Richtig«, bestätigte Pitt. »Übrigens, haben Sie den Kopf gefunden?« »Jawohl, Sir. Der lag direkt neben ihm im Boot», erwiderte Grover blinzelnd. »Verstehe. Danke. Schicken Sie bitte Tellman herein.« »Jawohl, Sir.« Grover stand einen Moment stramm. »Danke, Sir.« Dann drehte er sich auf dem Absatz um, verließ den Raum und schloß leise die Tür hinter sich. Kaum drei Minuten später klopfte Tellman an, und Pitt bat ihn einzutreten. Tellman war mager, hatte ein hageres, adlerähnliches Gesicht mit hohlen Wangen, und um seinen schmalen Mund lag ein sarkastischer Zug. Er hatte sich innerhalb der Polizei durch harte Arbeit und großen Ehrgeiz emporgearbeitet. Vor sechs Monaten hatte er denselben Rang wie Pitt bekleidet, jetzt war er dessen Untergebener, was ihm zutiefst widerstrebte. Er stand vor dem großen Schreibtisch mit der Schreibauflage aus Leder, hinter dem Pitt in einem bequemen Stuhl saß. »Ja, Sir?« sagte er kühl. Pitt ignorierte den Ton in Tellmans Stimme und sah ihn unvoreingenommen an. »Im Hyde Park ist ein Mord verübt worden«, sagte er ruhig. »Das Opfer ist ein gewisser Freiherr Oakley Winthrop, Fregattenkapitän der Royal Navy.
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Er wurde kurz nach Tagesanbruch in einem der kleinen Boote auf dem Serpentine-See gefunden. Kopflos.« »Unangenehm«, sagte Tellman lakonisch. »Wichtiger Mann, dieser Winthrop, oder wie?« »Das weiß ich nicht«, sagte Pitt ehrlich. »Seine Eltern gehören dem Adel an, also können wir annehmen, daß er wichtig war, zumindest für gewisse Leute.« Tellman verzog das Gesicht. Er verabscheute Menschen, die er als Schmarotzer der Gesellschaft betrachtete. Wenn er an deren Privilegien dachte, regte sich in ihm ein heftiger, bitterer Zorn, der zurückreichte in seine Kindheit und Erinnerungen an Hunger und Kälte wachrief, an endlose Niedergeschlagenheit und Sorgen, an einen Vater, den die Lebensumstände allen Mutes beraubt hatten, und eine Mutter, die von der Arbeit so erschöpft war, daß sie mit ihren Kindern nicht mehr sprechen, geschweige denn lachen konnte. »Wahrscheinlich müssen wir uns jetzt die Füße wund laufen, um den armen Kerl zu fassen, der das getan hat«, sagte er mißmutig. »Klingt nach einem Verrückten. Ich meine, warum würde jemand so etwas -« Unsicher, welches Wort er nehmen sollte, unterbrach er sich. »War sein Kopf da? Das haben Sie noch nicht gesagt.« »Der war da. Es wurde nicht versucht, seine Identität zu vertuschen.« Tellman rümpfte die Nase. »Sagte ich ja, ein Verrückter. Was zum Teufel hat denn ein Marineoffizier in einem Boot auf dem Serpentine-See zu suchen?« Plötzlich flog ein Lächeln über sein Gesicht und ließ eine ganz andere Seite seines Charakters durchblitzen. »Ganz schöner Abstieg, was? So einer wie er war doch wohl eher an ein Kriegsschiff gewöhnt.« Er räusperte sich. »Vielleicht war er mit einer Frau da. Mit der Frau eines anderen. Könnte doch sein, oder?« »Möglich ist es«, stimmte Pitt ihm zu. »Aber vielleicht sollten Sie derartige Spekulationen zunächst für sich behalten. Tragen Sie erst so viele Fakten wie möglich zusammen.» Tellman zuckte zusammen, denn Pitt forderte ihn auf, das in seinen Augen Offensichtliche zu tun. Doch Pitt
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ging über diese Reaktion hinweg und fuhr fort: »Gehen Sie allen sachdienlichen Hinweisen nach. Ich möchte wissen, wann er umgebracht wurde, womit, ob mit einem Schlag oder mehreren, ob der Schlag von vorne oder hinten kam, mit links oder rechts ausgeführt wurde, und ob das Opfer zur Tatzeit bei Bewußtsein war ...« Tellman zog die Augenbrauen in die Höhe. »Und wie sollen wir das herausfinden, Sir?« fragte er. »Wir haben den Kopf«, erwiderte Pitt. »Daran kann man erkennen, ob ihm zunächst ein Schlag versetzt wurde - und den Körper haben wir auch, so daß wir herausfinden können, ob er betäubt war oder vergiftet wurde.« »Aber ob er geschlafen hat, werden wir nicht erkennen können«, betonte Tellman. Pitt überging den Einwand. »Berichten Sie mir, was er getragen hat, wie seine Schuhe aussahen. Ist er durch das Gras zum Boot gegangen, oder wurde er getragen? Und Sie sollten auch herausfinden, ob er im Boot oder an anderer Stelle umgebracht wurde.« Er musterte Tellman. »Und dann können Sie den Grund des Sees nach der Waffe absuchen!« Tellmans Gesicht verdüsterte sich. »Jawohl, Sir. Wäre das dann alles?« »Nein - aber für den Anfang reicht es.« »Wer soll mit mir den Fall bearbeiten? Schließlich ist es ja eine etwas delikate Angelegenheit.« »Richtig«, sagte Pitt. »Nehmen Sie Le Grange.« Le Grange war ein wortgewandter, aalglatter junger Mann, dessen einschmeichlerische Art Tellman noch mehr als Pitt irritierte. »Er wird mit den möglichen Zeugen bestens zurechtkommen.» Tellmans Gesicht sprach Bände, er sagte aber nichts. Er stand einen Moment stramm, dann drehte er sich um und ging hinaus. Pitt lehnte sich tief in Gedanken in seinem Stuhl zurück. Dies war sein erster wichtiger Fall, seit er den Posten von Micah Drummond übernommen hatte. Natürlich hatte es Verbrechen gegeben, auch ernste, aber kein Fall hatte gedroht, sich zu einem Skandal oder einer Tragödie über die
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reine Privatsphäre hinaus auszuwachsen, und genau für solche Fälle war er ja eingesetzt. Den Namen Winthrop hatte er noch nie zuvor gehört, aber er bewegte sich auch nicht in den entsprechenden gesellschaftlichen Kreisen, noch waren ihm die Namen der leitenden Männer der Streitkräfte bekannt. Parlamentsmitglieder kannte er schon eher, aber Winthrop gehörte dem Haus nicht an, und wenn sein Vater seinen Sitz im Oberhaus überhaupt eingenommen hatte, dann war das der Öffentlichkeit bisher noch nicht ins Bewußtsein gedrungen. Bestimmt hatte Micah Drummond ein Nachschlagewerk für solche Gelegenheiten. Selbst er konnte sich nicht alle Einzelheiten über jede wichtige Persönlichkeit in London gemerkt haben. Pitt drehte sich mit seinem Stuhl zu dem sauber geordneten Bücherregal um. Die meisten Titel kannte er bereits. Er hatte sich mit ihnen gleich nach seiner Übernahme des Büros vertraut gemacht. Da war es ja - Who's Who. Er zog den Band hervor und öffnete ihn auf seinem Tisch. Der Freiherr Oakley Winthrop wurde nicht erwähnt. Doch über Lord Marlborough Winthrop gab es einen längeren Eintrag, der sich mehr mit seinem Erbe als mit seinen Leistungen befaßte. Er zeichnete das Bild eines stolzen, reichen und ziemlich humorlosen Mannes fortgeschrittenen Alters, mit den üblichen Interessen. Er hatte eine ganze Reihe von angesehenen Ämtern ohne große Bedeutung inne und war mit zahlreichen wichtigen Familien im Lande verwandt. Auch die entferntesten verwandtschaftlichen Verbindungen wurden pflichtgemäß erwähnt. Vor gut vierzig Jahren hatte er Evelyn Hurst geheiratet, die dritte Tochter eines Admirals, der später in den Adelsstand erhoben wurde. Mit einer unguten Vorahnung klappte Pitt das Buch zu. Lord und Lady Winthrop würden sich nicht leicht zufriedengeben, wenn die Aufklärung des Falles längere Zeit in Anspruch nahm oder unliebsame Fakten zutage traten. Wahrscheinlich war es unfair, aber er hatte sich bereits ein Bild von ihnen gemacht.
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Hatte Tellman recht - ging ein Verrückter im Park um? Oder hatte Oakley Winthrop das Unheil selbst herbeigeführt, weil er der Frau eines anderen nachstellte, seine Schulden nicht beglich oder in Betrügereien verwickelt war? Oder wußte er von einem gefährlichen Geheimnis? Diesen Fragen würde er mit großem Feingefühl und äußerstem Takt nachgehen müssen. Am liebsten wäre er selbst in den Park gegangen und hätte die Spuren gesichert. Doch das war Tellmans Aufgabe, und es wäre sowohl Zeitverschwendung als auch ein unkluger Akt gewesen, Tellman bei der Ausführung dieser Aufgabe zu beobachten. Charlotte Pitt war mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Als Pitt befördert wurde, hatte sich die Gelegenheit ergeben, in ein größeres Haus zu ziehen. Es verfügte nicht nur über einen Garten mit einer großen Rasenfläche und zwei breiten Pflanzstreifen, sondern auch über einen Küchengarten und drei alte Apfelbäume, deren knorrige Äste voll praller Blütenknospen waren. Als Charlotte das erste Mal auf die gepflasterte Terrasse getreten war und den Garten vor sich gesehen hatte, hatte sie sich auf der Stelle in das Haus verliebt. Am Haus selbst mußte eine Menge getan werden, bevor sie einziehen konnten, aber Charlotte stellte sich das Ergebnis sehr schön vor. Hundertmal hatte sie es in ihrer Phantasie tapeziert, Vorhänge ausgesucht, Teppiche gewählt und die Möbel gestellt und umgestellt. Nachdem die alten Tapeten an vielen Stellen heruntergerissen worden waren, stellte sich heraus, daß der Putz so schlecht war, daß er zum Teil erneuert werden mußte. Auch waren aus dem Gesims und dem Stuckwerk große Teile herausgebrochen. Die Stuckrosette im Eßzimmer war in einem so schlechten Zustand, daß sie ersetzt werden mußte. Am Flurlicht fehlte der Lampenschirm, und in mehreren Räumen waren die Gasventile defekt. Der Spiegel über dem Kamin im Eßzimmer hatte in der Mitte braune Flecken und war an den Rändern gesprungen, und in
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der Kaminumrandung im großen Schlafzimmer fehlten mehrere Kacheln. Es gab also eine Menge zu tun, aber sie war voller Begeisterung und schreckte vor der bevorstehenden Arbeit nicht zurück. Von dem Mord im Hyde Park hatte sie noch nichts gehört. Sie stand in der Mitte des Wohnzimmers und versuchte sich vorzustellen, wie wunderbar es aussehen würde, wenn alles fertig war. In ihrem Haus in Bloomsbury hatten sie nur ein vorderes Wohnzimmer, das in seiner Art recht nett war, aber doch eher armselig im Vergleich mit diesem, oder genauer gesagt, mit dem, was hieraus noch werden konnte. Dann würde sie Leute zum Essen einladen können - das war seit ihrer Heirat nicht möglich gewesen, abgesehen natürlich von ihrer unmittelbaren Familie. Ihre Eltern waren recht wohlhabend, obwohl sie es damals kaum so empfunden hatte. Nie war Geld da für all die Kleider, die sie sich wünschte, und die Mittel reichten auch nur für eine Kutsche. Doch als sie zu derselben Zeit, als ihre jüngere Schwester Emily den Grafen Ashworth heiratete, zum Entsetzen ihrer Freunde die Ehe mit einem Polizisten einging, veränderte sich das Leben der beiden Schwestern von Grund auf und in einer Art und Weise, die sie sich niemals hätten vorstellen können. Dann war George Ashworth gestorben und hatte seiner Witwe sein ganzes Vermögen hinterlassen. Später hatte Emily Jack Radley geheiratet, einen charmanten, gutaussehenden und praktisch mittellosen Mann. Sie war sehr glücklich, und das allein zählte. Ihr sieben Jahre alter Sohn Edward, jetzt Lord Ashworth, hatte eine kleine Schwester namens Evangeline, die Evie genannt wurde. Jack unternahm gerade seinen zweiten Versuch, einen Sitz im Parlament zu erringen. Emily hatte ihn bedrängt und überredet, bis er sich entschloß, seinem sozialen Gewissen zu folgen und es zu einem Beruf zu machen. Bei seinem ersten Versuch war er gescheitert, hatte aber, nach Meinung von Emily und Charlotte, den moralischen Sieg davongetragen. »Verzeihung, Madam ...» Charlottes Gedankengänge wurden von Gracie, ihrem Hausmädchen, unterbrochen.
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Das kleine, zierliche Mädchen stand in ihren Diensten, seit sie nach Bloomsbury gezogen waren. Mit ihren achtzehn Jahren war sie eine hellwache, intelligente junge Frau, die Charlottes Vertrauen genoß und, in mindestens einem Fall, den Platz als Gehilfin der Polizistenfrau eingenommen hatte. Die Wandlung, die das Kind von ehedem durchgemacht hatte, war verblüffend. Sie strahlte Selbstbewußtsein und einen Hunger nach Abenteuer aus. Immer noch war sie gertenschlank. Die Kleider, die sie bekam, waren ihr zu groß und mußten geändert werden, aber ihre Wangen hatten eine gesunde Farbe, und sie konnte auch dem unverschämtesten Laufburschen und der schnippischsten Magd Paroli bieten. Schließlich hatte sie ihre Abenteuer. Die anderen hatten immer nur ihre Arbeit. »Was ist, Gracie?« fragte Charlotte zerstreut. »Der Müllkutscher ist hier. Er will die zerbrochenen Kacheln abholen und das durchgetretene Linoleum aus der Küche, und er sagt, für einen Schilling und Sixpence nimmt er den Müll vom Hof auch gleich mit.« »Ein Schilling«, sagte Charlotte automatisch, »und er kann die kaputten Lampenschirme haben, wenn er sie abschraubt.« »In Ordnung, Madam.« Gracie eilte davon und kam einen Moment später wieder herein, gefolgt von Emily. Charlottes Schwester erschien in einem rosaroten Kleid mit hübschen Ärmeln und einer modisch schmalen Taille, die zwar nicht ganz so schlank war wie vor Evies Geburt, aber immer noch sehr hübsch. Ihr blondes Haar fiel in einem Lockenkranz um ihr Gesicht, in dem sich großes Erstaunen ausdrückte. »Oh, Charlotte!« Sie schluckte und ließ den Blick schweifen. Charlotte starrte sie an. »Es könnte ... sehr schön sein«, fügte Emily hinzu, fing an zu kichern und ließ sich dann in ihrem ausladenden Rock auf ein altes Sofa sinken, das zum Fenster geschoben worden war. Charlotte wollte schon wütend etwas entgegnen, wurde sich aber der Absurdität bewußt. Der Raum war kahl und
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häßlich. Die alte Tapete hing in Fetzen von der Wand, darunter bröckelte der Putz, die Fenster waren blind vor Schmutz und die Lampenschirme kaputt. Das alte Sofa war mit einem Schonüberzug abgedeckt und wirkte wie ein alter Geist. In den anderen Räumen sah es kaum besser aus. Am besten war es, man lachte. »Es wird schon alles werden«, sagte sie schließlich, als sie sich wieder einigermaßen erholt hatten. »Ihr werdet es neu verputzen und dann tapezieren lassen müssen«, stellte Emily fest, »bevor du die Einrichtung auswählen kannst.« »Das weiß ich.« Charlotte schniefte und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Das ist ja das halbe Vergnügen. Ich werde diese Katastrophe zu etwas Prächtigem gestalten.« »Wie überaus weiblich, meine Liebe», sagte Emily mit einem nachsichtigen Lächeln. »So viele Frauen, die ich kenne, versuchen das ihr Leben lang - und nicht nur mit Häusern, sondern meistens mit Ehemännern. Das Problem mit letzteren ist nur, daß du sie nicht wieder los wirst, wenn die Rettungsaktion fehlschlägt!« Sie stand auf und strich sich das Kleid glatt. »Zeig mir den Rest dieser Katastrophe. Ich verspreche, ich werde versuchen mir vorzustellen, wie wunderbar es einmal sein wird. Wußtest du übrigens, daß es im Hyde Park einen scheußlichen Mord gegeben hat?« »Nein. Wann war das?« Charlotte führte sie in das zukünftige Eßzimmer. »Woher weißt du das? Stand es in der Zeitung?« »Nein.« Emily schüttelte den Kopf. »Soweit ich gehört habe, wurde die Leiche erst heute morgen gefunden. In einem der kleinen Boote auf dem Serpentine-See.« Sie sah sich um. »Dieser Raum ist gut geschnitten, aber die Kaminumrandung müßte größer sein. Man könnte diese ja einfach herausnehmen und ins Schlafzimmer einbauen, oder? Hier ist sie zu schmal. Ich habe es gehört, als wir in der Tottenham Court Road im Verkehr aufgehalten wurden. Die Zeitungsjungen haben es ausgerufen. Irgendein Marineoffizier wurde geköpft.«
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Charlotte war auf dem Weg zum Fenster, blieb abrupt stehen und drehte sich zu Emily um. »Geköpft?« »Ja. Ist das nicht scheußlich? Vermutlich wird Thomas den Fall übernehmen, weil es ein Offizier war. Seine Eltern sind Lord und Lady Winthrop.« »Wer ist das?« fragte Charlotte, deren Interesse geweckt war. Sie und Emily hatten Pitt kennengelernt, als er den Mord an ihrer älteren Schwester Sarah aufklären mußte, und seither hatten sie sich mit den ernsteren Fällen befaßt, soweit sie Gelegenheit dazu hatten. Häufig waren sie weiter gegangen, als Pitt gestattet hätte, wenn sie ihn gefragt hätten, statt ihn vor vollendete Tatsachen zu stellen. »Ach, sie sind weder alter noch neuer Adel», erwiderte Emily abschätzig. »Nichts Besonderes, aber sie sind mit fast allen wichtigen Familien der umliegenden Grafschaften verwandt und nehmen sich sehr wichtig.« Sie zuckte die Schultern. »Du weißt schon, was ich meine. Sie haben nichts Besonderes erreicht, wollten aber immer als etwas Besonderes gelten. Sie haben keine Phantasie, sind sich sehr sicher, was sie von allem und jedem zu halten haben, sind recht freundlich auf ihre Art und grundehrlich, aber ohne einen Funken Humor.« »Schrecklich«, sagte Charlotte. »Und um so schwieriger, weil es keinen richtigen Grund gibt, sie nicht zu mögen. Sie sind einfach nur langweilig und nervtötend.« »Stimmt genau«, pflichtete Emily ihr bei. Sie ging zur Tür. »Weißt du, ich kann mich noch nicht einmal daran erinnern, wie Lady Winthrop aussieht. Sie könnte blond und untersetzt sein, aber genausogut dunkel und ziemlich groß. Ist das nicht komisch? Oder vielleicht ist sie auch die mit den hängenden Schultern, deren Gesicht ich ganz und gar vergessen habe. Normalerweise geht es mir nicht so. Das kann ich mir auch gar nicht leisten, wo doch Jack sich um einen Sitz im Parlament bewirbt.« Sie verzog das Gesicht. »Stell dir mal vor, man würde die falsche Frau als Ehefrau des Premierministers begrüßen!« Sie machte eine entsetzte Miene. »Schrecklich! Selbst der Auswärtige Dienst würde dich danach fallenlassen.«
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Sie standen in der Eingangshalle. Emily stieß einen begeisterten Seufzer aus. »Die Treppe gefällt mir aber sehr gut! Die ist wirklich sehr elegant. Dieser Treppenpfosten ist der hübscheste, den ich je gesehen habe. Das ist ja eine besonders feine Schnitzarbeit.« Sie legte den Kopf in den Nacken und verfolgte das Geländer bis zu dem oberen Treppenpfosten und der Brüstung. »Wirklich, sehr schön. Wie viele Schlafzimmer habt ihr?« »Habe ich dir schon gesagt, fünf, und massenhaft Platz unterm Dach für Gracie. Sie kann zwei Zimmer haben, und die zwei kleineren lasse ich erst mal leer, für alle Fälle.« Emily grinste. »Für welche Fälle? Ein zweites Hausmädchen?« Charlotte hob die Achseln. »Warum nicht? Vielleicht irgendwann mal. Weißt du was über den Mann, der ermordet wurde?« Sie dachte an Pitt. »Nein.« In Emilys Augen trat ein gewisser Glanz. »Aber ich könnte etwas herausfinden.« »Es wäre vielleicht besser, jetzt noch nichts zu Thomas zu sagen«, gab Charlotte zu bedenken. »Stimmt«, gab Emily ihr recht und machte sich auf den Weg nach oben, während sie mit der Hand sanft über das Geländer fuhr. »Das gefällt mir wirklich gut.« Dann blieb sie stehen und sah zur Decke hinauf. »Die ist aber auch schön. Ich mag Kassettendecken. Und sie ist vollständig intakt. Sie muß nur frisch gestrichen werden. Ja, ich weiß, wir müssen vorsichtig sein. Thomas ist ja neuerdings ein wichtiger Mann.« Sie drehte sich zu Charlotte um und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Es macht mich sehr froh. Ich mag ihn außerordentlich, das weißt du doch, oder?« »Natürlich weiß ich das«, erwiderte Charlotte warm. »Und ich bin froh, daß dir die Decke auch gefällt. Ich fand sie auch nicht schlecht. Es verleiht der Halle ein würdevolles Aussehen, findest du nicht?« Oben angekommen, begutachteten sie die Schlafzimmer. Emily wurde von Charlottes Begeisterung angesteckt und übersah die zerbrochenen Kacheln am Kamin oder die sich von der Wand lösende Tapete.
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»Steht das Datum für die Nachwahl schon fest?« fragte Charlotte. »Das nicht, aber wir wissen, wer der Kandidat der Tories ist«, erwiderte Emily mit einem Stirnrunzeln. »Nigel Uttley. Überaus angesehen und sehr einflußreich. Ich bin mir nicht sicher, wie gut Jacks Chancen sind, realistisch gesehen. Natürlich sage ich nichts zu Jack. Besonders nicht nach dem letzten Mal.« Charlotte schwieg. Das letzte Mal war so sehr von anderen schmerzvollen Ereignissen und Tragödien überschattet gewesen, daß das politische Scheitern ziemlich nebensächlich schien. Jack hatte seine Kandidatur zurückgezogen, weil er sich weder bloßstellen lassen noch dem als Innerer Kreis bekannten Geheimbund beitreten wollte, was ihm Erfolg bei seiner Bewerbung und die Unterstützung eines riesigen versteckten Netzes von Männern mit Einfluß, Geld und einem bindenden Schwur gesichert hätte. Doch der Bund arbeitete unter dem Siegel der Verschwiegenheit und förderte seine Mitglieder auf Kosten der nicht Dazugehörigen. Er versprach Schutz, deckte Lügen, verstieß und bestrafte die Mitglieder, die sich den Regeln widersetzten. Was aber Jack am meisten abschreckte und Pitt angst machte, war die Geheimhaltungspflicht - und die daraus folgenden Zweifel, das Mißtrauen und die Angst, weil man nicht wußte, wer Mitglied war, wessen Loyalität und wessen Gewissen bereits dem Geheimbund verpflichtet waren, ohne jede Freiheit einer eigenen Entscheidung. »Das wird wahrscheinlich euer Zimmer«, sagte Emily und ließ ihren Blick durch den großen Raum schweifen, dessen Fenster zum Garten hinaus ging. »Es gefällt mir. Ist es das größte, oder ist das nach vorne ein bißchen größer?« »Ich glaube, das vordere ist größer, aber das ist mir egal. Für diesen Ausblick verzichte ich gerne auf die Größe«, erwiderte Charlotte, ohne zu zögern. »Und dieses Zimmer« sie zeigte auf die Tür links von sich - »wird das Ankleidezimmer für Thomas. Das vordere Zimmer eignet sich gut als Kinderzimmer für Daniel und Jemima, und die beiden kleineren Zimmer können sie als Schlafzimmer haben.«
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»Was für eine Farbe nimmst du?« Emily betrachtete die Wände, ohne den Rissen und Flecken auch nur die geringste Beachtung zu schenken. »Ich weiß noch nicht. Vielleicht Blau, oder Grün«, sagte Charlotte nachdenklich. »Blau kann kalt sein«, gab Emily zurück. »Grün übrigens auch.« »Ich mag es aber trotzdem.« »Welche Himmelsrichtung ist das?« »Südwest«, antwortete Charlotte. »Die Nachmittagssonne kommt durch die Terrassentür ins Eßzimmer.« »Dann könnte Grün ganz schön sein. Charlotte ...» »Was?« Emily stand mit gerunzelter Stirn mitten im Zimmer. »Ich weiß, daß ich nicht besonders nett zu dir war, als ich wieder in die Stadt kam, vielleicht sogar ungerecht ...« »Wegen Mama? Das kann man wohl sagen«, stimmte Charlotte ihr zu. »Ich weiß gar nicht, was du von mir erwartet hattest!« »Ich war ja nicht da«, sagte Emily sachlich. »Ich weiß nicht, was man hätte tun können, aber irgend etwas doch mit Sicherheit. Mein Gott, Charlotte, der Mann ist nicht nur Schauspieler - und Jude -, sondern er ist auch noch siebzehn Jahre jünger als Mama!« »Das weiß sie«, sagte Charlotte. »Er ist außerdem charmant, intelligent, lustig, freundlich und ein zuverlässiger Freund, außerdem scheint er sie sehr zu mögen.« »Möglicherweise stimmt das alles«, gab Emily zu. »Aber wo soll es hinführen? Sie kann ihn unmöglich heiraten! Selbst wenn er ihr einen Antrag machen würde.« »Ich weiß!« »Sie wird ihren Ruf ruinieren, wenn der nicht bereits ruiniert ist«, fuhr Emily fort. »Papa dreht sich im Grab um.« Sie drehte sich langsam. »Du könntest Blau nehmen, wenn die Möbel nicht zu dunkel sind.« Ihr Blick wanderte wieder zu Charlotte. »Was sollen wir jetzt tun? Großmama ist völlig außer sich.«
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»Das ist sie schon seit Monaten«, sagte Charlotte ungerührt. »Wenn nicht sogar seit Jahren. Sie mag das. Wenn sie nicht diesen Anlaß hätte, würde sie einen anderen finden.« »Aber das hier ist etwas anderes«, widersprach Emily mit besorgter Miene. »Diesmal hat sie recht! Was Mama da macht, ist absurd und gefährlich. Sie wird sich ins gesellschaftliche Abseits manövrieren. Hast du das schon einmal bedacht?« »Natürlich habe ich daran gedacht. Und ich habe es ihr auch schon hundertmal gesagt - aber es macht nicht den geringsten Eindruck auf sie. Sie weiß das sowieso und ist der Meinung, daß der Preis sich lohnt.« »Dann sind ihre Gedanken nicht ganz klar«, sagte Emily von oben herab mit hochgezogenen Schultern. »Sie kann das nicht ernst meinen.« »Ich glaube, ich würde es ernst meinen.« Charlotte richtete ihre Worte weniger an Emily als an ein fernes Ziel jenseits des Fensters. »Ich glaube, mir wäre eine kurze Zeit, in der ich richtig glücklich bin, lieber als eine Ewigkeit in trister Anständigkeit.« »Anständigkeit ist nicht trist!« gab Emily heftig zurück. Plötzlich machte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breit. »Sondern - gleichförmig.« Charlotte warf ihr einen Blick des Einverständnisses zu. »Dennoch«, fuhr Emily ernst fort, obwohl sie lachen mußte. »Wenn man sein Ansehen verliert, kann das sehr unangenehm sein, besonders im Alter. Man wird sehr einsam, wenn man ausgeschlossen ist, egal ob Anstand trist oder gleichförmig ist.« Charlotte wußte, daß Emily recht hatte, und verstand, warum sie es sagte. Vielleicht hätte auch sie sich an Stelle ihrer Mutter für eine kurze, herrliche und schmerzliche Romanze entschieden, aber sie wußte sehr wohl, welch bitteren Preis das forderte. »Ich weiß«, sagte sie leise. »Und Großmama wird es sie immer spüren lassen, auch wenn kein anderer das tut.« Emily sah sich nachdenklich im Raum um. Charlotte erriet ihre Gedanken.
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»O nein!« sagte sie entschieden. »Nicht hier! Wir haben keinen Platz!« »Nein, vermutlich nicht«, gestand Emily ihr zögernd zu und lächelte dann wieder. »Dachtest du an Mama oder Großmama?« »Großmama natürlich«, erwiderte Charlotte. »Mama würde sicher in der Cater Street bleiben. Das Haus gehört ja ihr. Ich weiß nicht, was schlimmer wäre: mit Großmama zu leben, die fortwährend stichelt und meckert, oder allein zu sein und keinen zu haben, der mit einem spricht. Den ganzen Tag zu Hause sitzen und darauf warten, daß jemand zu Besuch kommt. Oder wenn man einen Besuch macht und gesagt bekommt, daß diejenige nicht zu Hause ist, obwohl die Kutsche vor der Tür steht und du ganz genau weißt, daß sie zu Hause ist - und die auch wissen, daß du es weißt.« »Hör auf!« Emily wand sich, als sei sie geschlagen worden. »Ich mag gar nicht daran denken. Wir müssen einfach etwas tun!« Sie sah Charlotte an. »Hast du schon einmal mit ihm geredet? Wenn er sie wirklich mag, muß er doch wissen, wie es ausgehen wird. Hat er denn den Verstand verloren?« »Er ist Schauspieler.« Charlotte hob hilflos die Schultern. »Er bewegt sich in einer anderen Welt. Vielleicht versteht er gar nicht »Aber hast du versucht, es ihm zu erklären?« wollte Emily wissen. »Menschenskind, Charlotte!« »Nein! Mutter würde mir das nie verzeihen. Mit ihr zu reden ist eine Sache, aber zu ihm zu gehen ist etwas ganz anderes. Das steht uns einfach nicht zu.« »Und ob uns das zusteht!« entgegnete Emily heftig. »Ihretwegen. Jemand muß sich doch um sie kümmern.« »Emily! Wenn du dich hören könntest«, sagte Charlotte. »Wie hättest du reagiert, wenn jemand, aus welchen Motiven auch immer, Jack davon abgeraten hätte, dich zu heiraten, weil es dir schaden würde?« »Das ist etwas ganz anderes.« Emily sah sie mit leuchtenden Augen an. »Jack hat mich geheiratet. Joshua Fielding wird Mama nicht heiraten.«
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»Ich weiß, aber, liebste Emily, Mama hätte denken können, daß Jack dich wegen deines beträchtlichen Vermögens geheiratet hat.« »Das stimmt nicht!« Emilys Gesicht färbte sich dunkelrot. »Ich habe das auch nie geglaubt«, sagte Charlotte rasch. »Ich finde Jack liebenswert und ehrlich, doch wenn Mama da anderer Meinung gewesen wäre, hätte sie dann recht daran getan, sich einzumischen - in dem guten Glauben, daß sie zu deinem Wohl handelte?« »Na ja -« Emily rührte sich nicht vom Fleck. »Also ...« »Genau.« Charlotte ging voran in das nächste Schlafzimmer. »Es ist trotzdem nicht dasselbe«, sagte Emily hinter ihr. »In Mamas Fall kann es unmöglich einen glücklichen Ausgang geben.« »Trotzdem ist es nicht richtig, wenn wir zu Joshua gehen«, beharrte Charlotte. »Wir müssen einfach immer wieder mit ihr reden. Vielleicht hört sie ja auf dich. Mir hat sie auf jeden Fall keinerlei Beachtung geschenkt.« Sie blieben in der Tür stehen. »Ich denke, ich werde dieses Zimmer in Gelb halten. Das macht es warm und freundlich. Daniel und Jemima können es im Winter und an regnerischen Sommertagen als Spielzimmer benutzen. Was meinst du?« »Gelb wäre sehr gut«, stimmte Emily ihr zu. »Du könntest ein bißchen Grün dazunehmen, damit es nicht zu grell wird.« Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer wandern. »Dieser Kamin ist ja völlig hinüber. Du solltest ihn ganz herausreißen und einen neuen einbauen. Die Kacheln sind scheußlich.« »Ich habe doch schon gesagt, daß ich den Kamin aus dem Wohnzimmer hierher verlege.« »Ach ja. Stimmt.« »Du kümmerst dich doch um diesen Mr. Winthrop, nicht wahr?« »Ja, klar.« Emily lächelte optimistisch. »Vielleicht können wir bei dem Fall ja behilflich sein. Ich habe die ganze Aufregung vermißt. Es scheint Ewigkeiten her, daß wir an einer wichtigen Sache mitgearbeit haben.«
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Als der Nachmittag zur Hälfte verstrichen war, ertrug es Pitt nicht länger, am Rande des Geschehens zu stehen. Er nahm seinen Hut von dem eleganten Ständer neben der Tür, zupfte sein Jackett zurecht, ohne daß es danach besser saß, und beschloß, seine Taschen wenigstens um ein Knäuel Bindfaden, zwei Stück Siegelwachs und einen ziemlich langen Bleistift zu erleichtern. Dann trat er auf den Flur und ging die Treppe hinunter. »Ich werde der Witwe einen Besuch abstatten», sagte er dem diensthabenden Wachtmeister. »Geben Sie mir bitte die Adresse.« Der Wachtmeister fragte ihn nicht, welche Witwe er meinte. Auf der ganzen Wache war der Mord das Tagesgespräch. »Curzon Street Nummer 24, Sir«, sagte er prompt. »Arme Frau. Ich wär auch nich gern derjenige gewesen, der ihr die Nachricht bringen mußte. Tot is schon schlimm genug, aber so was sollte einem doch erspart bleiben.« »Das finde ich auch», sagte Pitt. Er war froh, daß er nicht der Überbringer der Nachricht gewesen war, und schämte sich deswegen. Das war einer der Vorteile seiner Beförderung. Jetzt mußte Tellman die unangenehmen Sachen erledigen, die noch vor einigen Monaten seine Pflicht gewesen waren. Es schüttelte ihn. Tellman war nicht gerade derjenige, den er sich als Überbringer schlechter Nachrichten wünschen würde. Er erinnerte zu sehr an einen Bestattungsunternehmer, im besten Fall. Vielleicht hätte er doch selbst gehen sollen. Auf der Bow Street schlug er die Richtung zur Drury Lane ein, wo er eine Droschke zu finden hoffte. Was auch immer er von Tellman hielt, er durfte ihn nicht seiner Aufgaben berauben, solange er sich nicht als inkompetent erwies. Von einer unerklärlichen Eile angetrieben, beschleunigte er seine Schritte. In der Drury Lane winkte er eine Droschke herbei, gab dem Fahrer Winthrops Adresse und sank in die Polster. Er war sich nicht sicher, ob er den Informationen, die Tellman
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bereits zusammengetragen hatte, außer seinen persönlichen Eindrücken noch etwas hinzufügen können würde. Doch manchmal war ein persönliches Urteil das wertvollste Element, das einem kein anderer überbringen konnte. Die kleine Stimme im Hinterkopf, die einen dazu aufforderte, hinter die Fassade zu schauen. Bisher hatte noch keiner Bericht erstattet, was ihn nicht verwunderte. Tellman würde erst im letzten Moment kommen, was einer Anmaßung gefährlich nahe kam, aber noch keine Gehorsamsverweigerung war. Und Pitt mußte sich eingestehen, daß er seinen Vorgesetzten immer nur dann Bericht erstattet hatte, wenn er merkte, es ließ sich nicht länger vermeiden. Er mochte es nicht, wenn man ihm vom Schreibtisch aus Vorschriften machte, wie er seine Ermittlungen durchzuführen hatte, ohne daß der andere die Gesichter der betroffenen Menschen gesehen hatte oder etwas über deren Gefühle wußte. Sosehr es ihn auch ärgerte, er konnte Tellman keine Vorwürfe machen, daß er sich ähnlich verhielt. Jetzt war er also auf dem Weg, um am ersten Tag des Falles ein Gespräch mit der Witwe zu führen: etwas, das Micah Drummond nie getan hatte. Doch es handelte sich um eine delikate Angelegenheit. Und darin lag auch der eigentliche Grund, warum er befördert worden war und nicht Tellman oder ein Beamter von einer anderen Wache: Er wußte, wie man sich den Mitgliedern des gehobenen Bürgertums mit Höflichkeit näherte und dennoch ihre Gefühle durchschaute, ihre Lügen aufdeckte und unbeirrt weiterforschte, bis die Wahrheit schließlich hinter Winkelzügen, Ausflüchten, Ritualen und Hochmut zutage trat. Ein beträchtlicher Teil seines Erfolgs in der Vergangenheit war Charlottes Verdienst, was er sich auch freimütig eingestand, wenn er es auch dem stellvertretenden Polizeipräsidenten nicht unbedingt so darstellte. Als die Droschke in der Curzon Street hielt, stieg Pitt aus und bezahlte den Kutscher. Dann nahm er den Hut in die Hand, erklomm die Stufen zu dem Haus Nummer vierundzwanzig und zog an dem bronzenen Klingelzug.
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Es dauerte mehrere Augenblicke, bevor ein blaßgesichtiger Butler öffnete und Pitt ausdruckslos ansah. »Guten Tag«, sagte Pitt. »Oberinspektor Pitt von der Polizeiwache Bow Street. Ich möchte bitte Mrs. Winthrop einen Moment sprechen.« Er zog seine Karte, auf der jetzt auch sein Rang zusätzlich zu seinem Namen zu lesen stand, und ließ sie auf das Silbertablett des Butlers gleiten. »Ich bin mir bewußt, daß dies ein schmerzlicher Tag ist, aber sie kann möglicherweise bei der Suche nach dem Menschen behilflich sein, der diese Tragödie herbeigeführt hat, und hier ist Eile geboten.« »Jawohl, Sir«, gab der Butler zögernd zur Antwort. Er musterte Pitt von oben bis unten, von seinem wirren Haar bis zu seinen blankgeputzten Schuhen. An einem anderen Tag wäre er vielleicht nicht so schnell bereit gewesen nachzugeben, aber der Schock saß ihm noch in den Knochen, und er war nicht ganz Herr seiner selbst. »Wenn Sie mir in die Bibliothek folgen wollen, Sir. Ich werde sehen, ob es möglich ist. Hier entlang, Sir, wenn ich bitten darf.« Pitt folgte ihm durch eine freundlich wirkende Halle mit gekacheltem Fußboden in eine prachtvolle Bibliothek, die auf einer Seite holzgetäfelt war. Auf den beiden Schmalseiten waren Bücherregale angebracht, und an der vierten Seite gewährten zwei tief eingelassene Fenster einen Blick in den Garten, der zum Teil durch korallenrote Rosen verdeckt war, die in voller Blüte standen. Der Gedanke an sein eigenes neues Haus, auf das Charlotte so stolz war, durchzuckte ihn. Er sah den bröckelnden Putz und die abblätternden Tapeten vor sich und dachte an die kühnen Zukunftsträume, die Charlotte mit dem Haus verband. Dann wandte er sich wieder seiner Umgebung zu, den ordentlichen Bücherborden mit den ungelesenen Büchern und dem Teppich mit seinem leuchtenden Muster, auf dem keine abgenutzten Stellen zu entdecken waren. Der Schreibtisch in der Ecke war perfekt aufgeräumt. Weder Staub noch Zeichen der Benutzung waren auf der Schreibplatte zu sehen. Was für ein Mann war Captain Winthrop gewesen? Pitt ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, suchte einen
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Hinweis auf den Charakter des Mannes, ein Zeichen seiner Individualität. Er fand nichts. Der Raum war nach männlichem Geschmack eingerichtet, die Farben Dunkelgrün und Weinrot herrschten vor, das Sofa war ledergepolstert, an der Wand gab es Bücher und Drucke von Schiffen. Die Kaminumrandung war aus Stein gemeißelt, an einem Ende stand eine bronzene Skulptur, die zwei Löwen darstellte, am anderen Ende waren es Jagdhunde. Auf dem Beistelltischchen befand sich eine kristallene Karaffe, die zu einem Viertel gefüllt war. Pitt hatte das überwältigende Gefühl, daß er in einem Raum stand, der für einen Mann hergerichtet war, und nicht in einem, den ein Mann sich selbst eingerichtet hatte. Die Tür öffnete sich, und der Butler trat ein. »Mrs. Winthrop wird Sie empfangen. Wenn Sie mir bitte in den Salon folgen wollen.« Pitt hatte das Gefühl, daß etwas fehlte, als er die Bibliothek verließ und dem Butler durch die Halle in den hinteren Teil des Hauses folgte, wo der langgestreckte Salon sich zum Rasen und den streng angelegten Rosenbeeten hin öffnete. Es blieb ihm gerade genügend Zeit, den ausgezeichneten Schnitt des Raumes zu bemerken, der allerdings durch die großgemusterten Vorhänge zunichte gemacht wurde, und einen Blick auf den klobigen Kamin aus grau-weißem Marmor zu werfen. Wilhemina Winthrop war, wie zu erwarten, ganz in Schwarz gekleidet, doch die Ausschließlichkeit der Farbe überraschte Pitt, bis ihm klar wurde, warum. Sie war eine sehr schlanke Frau - ein weniger freundlich gestimmter Betrachter hätte sie vielleicht sogar dünn genannt. Ihr helles Haar war in einer schweren Welle nach oben gesteckt, wodurch ihr Hals zart und zerbrechlich wirkte. Zu ihrem schwarzen Gewand, das um den Sessel, in dem sie saß, drapiert war, gehörte ein schwarzes Spitzenhalstuch, das ihren Hals bis zum Kinn bedeckte. Die langen Ärmel endeten in schwarzen Spitzen, die fast bis zu den Fingerknöcheln reichten. Nie zuvor hatte Pitt einen so tragisch anmutenden Aufzug gesehen. Sie wirkte dadurch sehr verletzlich. Auf den ersten Blick schien sie viel jünger,
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als er angenommen hatte. Doch als er sich ihr näherte und die feinen Linien in ihrem Gesicht und um die Augen wahrnahm, revidierte er sein Urteil. Sie mußte Mitte Dreißig sein. Hinter ihr stand ein Mann von mittlerer Größe und kräftiger Statur. Er hatte dicht gewelltes braunes Haar und ein feingeschnittenes Gesicht, das sonnengebräunt wirkte, als sei er aus einem Land, wo Sommer auf Sommer folgt, ohne Unterlaß. »Guten Tag, Mrs. Winthrop«, sagte Pitt ernst. »Darf ich Ihnen mein herzlichstes Mitgefühl aussprechen.« »Ich danke Ihnen, Mr. Pitt.« Sie hatte eine sanfte Stimme und eine klare, sehr angenehme Aussprache. Ein Lächeln deutete sie nur soweit an, als die Verhaltensregeln es erforderten. Der Mann hinter ihr runzelte unwillig die Stirn. »Sie müssen schon einen wichtigeren Grund für Ihr Kommen haben, als Ihr Mitgefühl auszusprechen, Oberinspektor. Sicherlich verstehen Sie, wenn wir Sie bitten, Ihren Besuch so kurz wie möglich zu gestalten. Dies ist wohl kaum die Zeit, da meine Schwester Besuch zu empfangen wünscht, und sei er auch noch so notwendig oder wohlmeinend.« »Bitte, Bart.« Sie hob die Hand in seine Richtung. »Mr. Pitt, dies ist mein Bruder Bartholomew Mitchell. Er ist gekommen, um mir in dieser - dieser schlimmen Zeit beizustehen. Bitte verzeihen Sie, wenn er etwas barsch wirkt, er ist jedoch nur auf mein Wohlergehen bedacht. Gewiß möchte er nicht unhöflich sein.« »Ich werde Ihre Zeit sicherlich nicht länger in Anspruch nehmen als nötig, Madam«, sagte Pitt. Seine Aufgabe war keine leichte oder angenehme, selbst wenn er als zweiter kam und keine schlimmen Nachrichten mitbrachte, sondern einfach nur ein paar Fragen stellen wollte. Auf jeden Fall waren sie aufdringlich und schmerzlich zu einer Zeit, da die Witwe sicherlich lieber allein wäre, damit Verstand und Gefühl sich an den Schock und die neue Situation gewöhnen konnten, an die Wirklichkeit des Todes, das Alleinsein, den Beginn einer Zeit der Trauer und an einen Le-
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bensweg, auf dem es für sie von nun an keinen Gefährten und keine Unterstützung geben würde. »Haben Sie weitere Neuigkeiten für uns?« fragte Bart Mitchell, während er sich über den Stuhl seiner Schwester lehnte. »Nein - leider nicht.« Pitt stand immer noch. »Inspektor Tellman ist damit beschäftigt, die Leute zu befragen, die gestern im Park waren und etwas gesehen haben könnten. Und natürlich versucht er, weitere Spuren zu sichern.« Mina Winthrop schluckte, als hätte sie einen Kloß im Hals. »Spuren?« fragte sie beklommen. »Was meinen Sie damit?« »Das brauchst du nicht hören, meine Liebe«, sagte Bart Mitchell schnell. »Je weniger du von den Einzelheiten erfährst, desto besser.« »Ich bin kein Kind mehr, Bart«, begehrte sie auf, doch bevor sie weitersprechen konnte, hatte er beide Hände auf ihre Schultern gelegt und sich ein wenig über sie gebeugt, den Blick auf Pitt gerichtet. »Natürlich nicht, meine Liebe, aber du hast soeben einen großen Verlust hinnehmen müssen, und es ist mein Privileg und natürlich auch meine Pflicht, dich vor weiterem, unnötigem Schmerz zu bewahren.« Dieser letzte Satz war an Pitt gerichtet, den er aus klaren blauen Auge mit einer gewissen Herausforderung fest ansah. Mina streckte sich ein wenig und hob ihr Kinn. »Wie können wir Ihnen helfen, Mr. Pitt? Wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein kann, um den zu finden, der meinem Mann dies angetan hat, werde ich es nach meinen Kräften tun.« »Was könntest du denn wissen?« sagte Bart kopfschüttelnd. »Du hast Inspektor Tellman bereits gesagt, wann du Oakley zum letzten Mal gesehen hast.« Wieder sah er Pitt an. »Und zwar gestern abend spät, nach dem Abendessen. Er sagte, er würde seiner Gesundheit zuliebe einen Spaziergang machen, und kam nicht mehr zurück.« Pitt ignorierte Bart Mitchell. »Wann fingen Sie an, sich seines langen Ausbleibens wegen Sorgen zu machen, Mrs. Winthrop.«
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Sie schloß einen Moment die Augen. »Als ich am Morgen aufwachte und zum Frühstück hinunterging. Oakley stand immer früh auf - früher als ich. Ich sah, daß sein Frühstück noch unberührt war.« Sie fuhr sich mit der Zungenspitze nervös über die Lippen. »Ich fragte Bunthorpe, ob es Oakley nicht gut ginge, worauf Bunthorpe mir sagte, daß er ihn noch nicht gesehen habe. Selbstverständlich habe ich ihn nach oben geschickt, um nachzusehen. Er kam herunter und sagte, daß Captain Winthrops Bett unbenutzt sei.« Sie hielt abrupt inne, aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen. Barts Hand legte sich fest auf ihre Schulter. Pitt wollte die sich daraus ergebende Frage nach getrennten Schlafzimmern stellen, doch schien es unnötig. Er wußte, daß viele Ehepaare, die genügend Platz hatten, getrennte Zimmer mit einer Verbindungstür bewohnten. Ihn reizte das nicht. Er war an beengte Räumlichkeiten gewöhnt, an die anheimelnde Nähe, die für ihn eine der größten Annehmlichkeiten des Zusammenlebens ausmachte. Doch nur wenige Menschen waren so glücklich in ihrer Ehe wie er, das wußte er. Die Intimität und Verletzbarkeit im Schlaf mit einem ungeliebten Menschen zu teilen, mußte eine besonders leidvolle Erfahrung sein, die die besten Seiten in beiden Menschen zerstörte. Und wenn jemand daran gewöhnt war, selbst zu entscheiden, ob das Fenster offen oder geschlossen sein sollte, die Vorhänge zugezogen oder nicht, die Bettdecke so oder so zurückgeschlagen, für den mußte die Rücksichtnahme auf einen anderen eine ungewohnte und unbehagliche Einschränkung sein. »Ist das des öfteren geschehen?« fragte er. »Nein - nicht soweit ich mich entsinnen kann. Ich meine ...« Sie sah ihn beunruhigt an. »Ich meine, nicht, ohne daß er vorher gesagt hätte, wo er sein und wann er zurückkommen würde. Er achtete immer sehr darauf, seine Mitmenschen auf dem laufenden zu halten. Er nahm die Dinge sehr genau, wissen Sie. Das lag sicherlich an seiner Ausbildung bei der Marine.« Sie sah ihn aus weit geöffneten Augen
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an. »Wahrscheinlich kann man ein Schiff nicht befehligen, wenn man Irrtümer zuläßt oder es gestattet, daß die Menschen kommen und gehen, wie es ihnen beliebt.« »Ich vermute nicht, obwohl ich damit keinerlei Erfahrung habe«, sagte Pitt zustimmend. »Wenn ich recht verstehe, dann war er ein sehr gewissenhafter Mensch, der seine Dinge sorgfältig in Ordnung hielt?« »Jawohl«, sagte Bart rasch und schloß dann seinen Mund zu einer schmalen Linie. »Das war er.« »Bitte, mißverstehen Sie uns nicht.« Mina sah Pitt an. Ihre Augen waren von einem strahlenden Blau, umrandet von dunklen Wimpern. »Es mangelte ihm nicht an Humor. Es täte mir leid, wenn Sie dächten, er sei ein strenger Zuchtmeister gewesen.« Daran hatte Pitt nicht gedacht, doch da sie den Gedanken leugnete, wurden seine Zweifel geweckt. »Hatte er Freunde in der Nachbarschaft, die er besucht haben könnte?« Er stellte die Frage nicht, weil er glaubte, Informationen zu erhalten - Tellman hatte das schon erledigt -, sondern um etwas über Winthrops Charakter zu erfahren. War er ein umgänglicher Mensch oder lebte er zurückgezogen? Wen betrachtete er als seinesgleichen? Mina blickte zu ihrem Bruder auf und dann zu Pitt. »Nicht, daß wir wüßten«, erwiderte Bart. »Oakley war Marineoffizier, Oberinspektor, und die meiste Zeit auf seinem Schiff. An Land verbrachte er seine Zeit am liebsten mit seiner Frau. So schien es zumindest. Wenn er Bekannte hatte, die er abends aufsuchte, dann wußte meine Schwester nichts davon.« »Er sagte, er mache seiner Gesundheit zuliebe einen Spaziergang«, wiederholte sie mit ängstlichem Blick auf Pitt. »Er hatte reichhaltig zu Abend gegessen. Ich - ich vermute, er ging vielleicht weiter, als er vorhatte, und war plötzlich im Park, als er angegriffen wurde ...» Sie biß sich auf die Lippen. »Ich weiß ja nicht, vielleicht von einem Verrückten!« »Vielleicht war das wirklich der Fall«, pflichtete Pitt ihr bei, obwohl er einen Unterton heraushörte. Ein Gefühl der Angst, das sich mit dem Schock und der Trauer mischte,
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und andere, komplexere und vielschichtigere Gefühle, die er nicht analysieren konnte. »Ich vermute, Inspektor Tellman hat Sie bereits gefragt, ob es vielleicht jemanden gab, mit dem Captain Winthrop Streit gehabt hat oder der einen Groll gegen ihn hegte.« »Ja - ja, das hat er gefragt.« Minas Stimme klang belegt, eine tiefe Blässe überzog ihr Gesicht. »Es ist eine entsetzliche Frage. Der Gedanke, daß jemand, den wir kennen, einen so furchtbaren Haß empfunden hat und so etwas tun konnte, macht mich ganz krank.« »Oberinspektor, Sie setzen meiner Schwester unnötig zu«, sagte Bart heftig. »Wenn uns ein solcher Mensch bekannt wäre, hätten wir es gesagt. Wir können dem, was wir Ihrem Inspektor gesagt haben, nichts hinzufügen. Ich bin tatsächlich der Meinung, daß es reicht. Wir haben uns bemüht, höflich zu sein und Ihnen nach besten Kräften zu helfen. Es wäre -« Weiter kam er nicht, da es an der Tür klopfte und einen Moment darauf der Butler eintrat. »Mrs. Garrick und Mr. Victor Garrick sind da, Madam«, meldete er. »Soll ich ihnen sagen, daß Sie niemanden empfangen?« »Aber nein«, antwortete Mina mit einem Ausdruck der Erleichterung. »Es ist doch nur Thora. Ich werde Thora auf jeden Fall empfangen, sie ist so - so - ja, Bunthorpe, bitten Sie sie herein.« »Meinst du nicht, meine Liebe, du solltest dich ausruhen?« tadelte Bart sie. »Ausruhen? Wie kann ich denn ausruhen?« wollte sie wissen. »Oakley ist letzte Nacht umgebracht worden.« Ihre Stimme versagte. »Sein Kopf - abgeschlagen! Am allerwenigsten möchte ich jetzt allein mit geschlossenen Augen in einem dunklen Zimmer liegen und meiner Phantasie freien Lauf lassen. Viel lieber möchte ich mit Thora Garrick sprechen.« »Bist du dir ganz sicher?« »Ich habe nicht den leisesten Zweifel«, beharrte sie mit angestrengter Stimme, in der Panik mitschwang.
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»Also gut - Bunthorpe, bitten Sie sie herein«, sagte Bart mit einem schmerzlichen Ausdruck auf seinem Gesicht. »Sehr wohl, Sir.« Bunthorpe verließ den Raum. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür wieder. Eine attraktive Frau mit glänzendem blondem Haar trat ein, der ein junger Mann von Anfang Zwanzig folgte. Auf den ersten Blick wirkte sein Gesicht mit der breiten Stirn lediglich liebenswürdig, doch bei näherem Hinsehen erkannte man eine außergewöhnliche Zartheit und Sensibilität. Gleichzeitig zeigte sich ein gewisser Mangel an Selbstdisziplin darin, eine Verletzlichkeit um den Mund, als ob er sehr empfindlich, sein Zorn schnell erregt sei. Vielleicht konnte er auch ebenso leicht lachen. Es war ein interessantes Gesicht, das Pitt aufmerksam betrachtete. Schließlich mußte er seinen Blick abwenden, um nicht unhöflich zu wirken. Die Frau wandte sich zunächst Mina Winthrop zu und drückte ihr Mitgefühl aus, dann begrüßte sie Bart Mitchell, und schließlich wandte sie sich Pitt zu, um ihn entweder zu begrüßen oder ihm die kalte Schulter zu zeigen, je nachdem, wie er vorgestellt wurde. Bart übernahm die Initiative. »Thora, das ist Oberinspektor Pitt von der Polizeiwache Bow Street. Er ist mit dem Fall betraut.« Er betrachtete Pitt mit hochgezogenen Augenbrauen. »So habe ich das zumindest verstanden.« »Völlig korrekt.« Pitt nickte Thora Garrick zu. »Sehr erfreut, Madam.« Er richtete seinen Blick auf Victor. »Mr. Garrick.« Victor blickte ihn aufmerksam aus großen, grauen Augen an. Er schien immer noch unter dem Schock des Ereignisses zu stehen, oder aber die Situation brachte ihn in Verlegenheit. Pitt hielt das zweite für wahrscheinlicher. Es war niemals leicht, die richtigen Worte gegenüber denen zu finden, die einen Verlust erlitten hatten. Wenn ein Tod mit soviel Gewalt verbunden und in völlige Dunkelheit gehüllt war wie dieser, war es um so schwerer. »Sehr erfreut, Sir«, sagte Victor steif und ging dann ein, zwei Schritte hinter seine Mutter zurück.
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»Wie freundlich, daß ihr gekommen seid«, ließ sich Mina vernehmen, wobei sie sich mit einem kleinen Lächeln erst zu Thora, dann zu Victor vorbeugte. »Setzt euch doch bitte. Es ist warm heute. Darf ich euch eine Erfrischung anbieten? Ihr bleibt doch einen Moment, oder?« Es war mehr als nur eine höfliche Aufforderung, eher eine deutliche Bitte. »Selbstverständlich, meine Liebe, wenn du es wünschst.« Thora ordnete sorgfältig ihr Kleid, um es nicht zu zerknittern, und ließ sich elegant auf einem der roten, hoch gepolsterten Stühle nieder. Victor blieb hinter ihr stehen, nahm aber eine Haltung ein, in der er sehr entspannt wirkte. »Der Oberinspektor hat uns soeben gefragt, ob Oakley gestern abend noch jemanden in der Nachbarschaft aufgesucht haben könnte«, fuhr Mina fort. »Doch leider wissen wir darauf keine Antwort.« Thora sah Pitt mit klarem Blick an. Sie war eine sehr attraktive Frau mit heller Haut und regelmäßigen Zügen, die von Intelligenz und Humor zeugten und, so meinte Pitt, auf eine große verborgene Stärke hindeuteten. »Sie glauben doch nicht, daß jemand, der Captain Winthrop kannte, eine derart - wahnsinnige Tat vollbracht haben kann?« fragte sie tadelnd. »Das steht völlig außer Frage. Wenn Sie auch nur die flüchtigste Bekanntschaft mit ihm gemacht hätten, würde Ihnen ein solcher Gedanke niemals kommen. Er war ein vortrefflicher Mann...« Mina lächelte nervös. Ihre Hand hob sich an ihr Gesicht, berührte aber nur die schwarze Spitze an ihrem Hals. Bart zuckte zusammen, seine Hand faßte ihre Schulter fester, so als stütze er sie, obwohl sie doch saß. Victor stand regungslos, sein Ausdruck blieb unverändert. »Er war Marineoffizier«, fuhr Thora fort, ohne den Blick von Pitt zu wenden, und nahm die Gefühle im Raum offensichtlich nicht wahr. »Wahrscheinlich machen Sie sich nicht klar, was für ein Leben solche Menschen führen, Oberinspektor. Er war meinem verstorbenen Mann nicht unähnlich.« Sie richtete sich ein wenig auf. »Victors Vater. Er war Leutnant und wäre mit Sicherheit zum Kapitän be-
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fördert worden, wenn der Tod ihn uns nicht so frühzeitig genommen hätte.« Ein inneres Leuchten erhellte ihr Gesicht. »Solche Männer haben großen Mut, und ihr Charakter wie auch ihre Persönlichkeit zeugen von großer Stärke. Und natürlich kann man in gefährlichen Situationen, wie sie auf See vorkommen, nicht die Kontrolle bewahren, wenn man andere Menschen nicht richtig einschätzt.« Mit einem Kopfschütteln wies sie eine derartige Schwäche von sich. »Captain Winthrop hätte niemals die Bekanntschaft mit einem derart gewalttätigen und haltlosen Menschen gesucht, der einen anderen auf so hinterhältige Weise angreift. Es müssen Verrückte gewesen sein, das ist die einzig mögliche Antwort.« »Ich habe nicht daran gedacht, daß es ein Bekannter gewesen sein könnte«, erwiderte Pitt nicht ganz aufrichtig. »Ich wüßte nur gern, ob ihn noch jemand gesehen hat. Daraus könnte ich dann entnehmen, wo und wann er zuletzt lebend gesehen wurde.« »Ach so, ich verstehe.« Sie runzelte die Stirn. »Allerdings weiß ich nicht, was das helfen könnte. Im Hyde Park treiben sich wohl kaum ganze Horden von verrückten Kriminellen herum. Ich weiß, London ist ein furchterregender Ort.« Sie wandte den Blick nicht von Pitt. »Überall herrscht Anarchie, es wird von Aufruhr und Volksverhetzung geredet, und der Himmel weiß, die Lage in Irland ist ernst genug, mit diesen Feniern und so, aber in den besseren Straßen Londons war man bisher seines Lebens sicher! Zumindest hat man das angenommen.« »Ich bin mir sicher, das ist immer noch so, meine Liebe«, murmelte Mina. »Dies ist ein wahrer Alptraum. Ich glaube nach wie vor, daß es ein furchtbarer Unglücksfall war. Oder daß es Ausländer waren.« Sie sah zu Pitt hin. »Ich habe gehört, daß die Chinesen Opium nehmen und daß alles mögliche – also...« »Es macht sie schläfrig«, widersprach Bart. »Es macht sie nicht gewalttätig.« Er warf Pitt einen Blick zu. »Das stimmt doch, oder, Oberinspektor?« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern sprach weiter. »Nein, ich bin ehrlich gesagt der
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Ansicht, daß es jemand von Oakleys Schiff ist, der mit ihm einen Streit hatte, vielleicht zuviel getrunken hat und die Beherrschung über sich verlor. Ich habe schon häufig erlebt, daß zuviel Alkohol und insbesondere Whiskey Gewalt hervorruft.« Ein Schaudern überkam Mina. »Du könntest recht haben.« Ihre Augen waren auf Pitt gerichtet. »Ich kann Ihnen nicht helfen, Oberinspektor. Oakley hat mit mir nie über sein Berufsleben gesprochen. Wahrscheinlich dachte er, daß es mich langweilen würde oder daß ich nichts davon verstehe.« Ein Anflug des Bedauerns lag auf ihrem Gesicht. »Wahrscheinlich hatte er recht. Es ist ein Bereich, über den ich nichts weiß.« Bart murmelte etwas vor sich hin. Victor warf Mina plötzlich ein Lächeln zu. »Darüber solltest du nicht traurig sein, Tante Mina. Mein Vater hat ununterbrochen darüber gesprochen, und du kannst mir glauben, daß es nur beim ersten Mal interessant war, und das ist so lange her, daß ich mich nicht mehr daran erinnern kann.« »Victor!« Thoras Stimme klang überrascht und vorwurfsvoll zugleich. »Dein Vater war ein großer Mann! Du solltest nicht so abfällig von ihm sprechen. Er ist uns allen mit gutem Beispiel vorangegangen, er war moralisch untadelig.« »Sicherlich wissen wir alle, daß Lieutenant Garrick ein ausgezeichneter Mensch war«, sagte Mina beschwichtigend. Sie sah zu Pitt hinauf und lächelte dann Victor zu. »Doch ich verstehe, daß auch die besten Menschen gelegentlich etwas langweilig scheinen können, wenn man eine ihrer Geschichten schon öfter gehört hat. Und wenn man mit jemandem vertraut ist, zeigt man ihm nicht unbedingt den vollen Respekt. Das ist eine der kleinen Unannehmlichkeiten, mit denen Familien zurechtkommen müssen, mein Lieber.« Victors Gesichtsmuskeln verhärteten sich, seine Augen wanderten zu einem Punkt in weiter Ferne. »Du hast ganz recht, Tante Mina. Langweilig zu sein ist eine winzige Kleinigkeit, wohl kaum eine Sünde, sondern
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eher eine unglückliche Eigenschaft. Wenn ich mich kritisch äußere, sollte ich mich auf die wirklich großen Sünden konzentrieren.« »Besser noch, man spricht gar nicht von ihnen.« Thora nickte scheinbar zufriedengestellt. Gerne hätte Pitt Victor gefragt, welche Sünden er im Sinn hatte. Doch wären seine Hintergedanken so offensichtlich gewesen, daß er keine nützliche Antwort erhalten hätte. Und Oakley Winthrop wurde wohl kaum ermordet, weil er ein Langeweiler war - und wäre er noch so unerträglich gewesen. Er wandte sich Mina zu. »Vielleicht könnten Sie mir, Mrs. Winthrop, die Namen und Adressen von Mitgliedern der Marine geben, die Captain Winthrop kannte und mit denen er in letzter Zeit zusammengetroffen sein könnte. Und vielleicht auch von solchen, die in diesem Teil Londons wohnen.« Bart Mitchell blickte interessiert auf. »Eine gute Idee. Wenn es einen Streit gegeben hat mit einem Seemann, der sich schlecht behandelt fühlte, dann könnten sie davon wissen. Womöglich gab es eine Disziplinarmaßnahme oder etwas Ähnliches. Vielleicht wurde jemand entlassen oder ernstlich bestraft. Oder es ist etwas vorgefallen, das als ungerecht empfunden wurde ...» »Meinst du wirklich?« sagte Mina schnell. Sie drehte ihren Körper ganz zu ihm, um ihn anblicken zu können. »Ja, das scheint ziemlich einleuchtend, nicht wahr?« Sie drehte sich wieder um. »Mr. Pitt?« »Selbstverständlich werden wir diesen Fragen nachgehen«, stimmte er ihr zu. Thora schien sich nicht sicher. »Glauben Sie wirklich, daß Marineoffiziere sich so verhalten würden?« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie sind bestens ausgebildet und haben gelernt, Befehle zu erteilen und Selbstdisziplin zu üben.« »Auch sie können, wie jeder andere, die Beherrschung verlieren.« Victor schob die Unterlippe vor und starrte vor sich hin. Er schien noch etwas sagen zu wollen, besann sich dann anders und preßte die Lippen aufeinander.
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»Aber das ist doch Unsinn!« sagte Thora mit einiger Schärfe. »Sie sind nicht so wie andere Menschen. Wenn sie sich so verhielten, Victor, würde man ihnen nie die Befehlsgewalt erteilen, und sie würden sie schon gar nicht behalten.« Sie klang zunehmend überzeugter. »Du hättest zur Marine gehen sollen. Ich bin mir sicher, dir hätte eine gute Laufbahn offengestanden. Du hast die erforderlichen Fähigkeiten, der Name deines Vaters galt doch einiges, so daß man dir eine Chance gegeben hätte.« Victors Gesichtsausdruck verdunkelte sich, sein Blick war in die Ferne gerichtet. »Ich finde dich in dem Punkt etwas streng, Thora«, sagte Bart leise. »Der Architektenberuf ist doch durchaus ehrenwert, und ein wahres Talent zu vergeuden, ist eine Sünde. Zweifelsohne ist Victor sehr begabt. Seine Zeichnungen sind von hoher Qualität.« »Ich danke Ihnen, Mr. Mitchell«, sagte Victor mit unterdrücktem Zorn. »Doch leider gilt diese Tätigkeit nicht als tapfer und großartig.« »Sei nicht töricht, Victor«, sagte Thora mit einem steifen Lächeln. Ungehalten fuhr sie fort: »Natürlich tut sie das. Sie ist nur ... unsicher. Und die Zugehörigkeit zur Marine ist in unserer Familie Tradition. Dein Vater wäre sehr glücklich gewesen. Tradition ist so wichtig, mußt du wissen. Sie ist das Rückgrat unserer Nation. Sie macht das Englische in uns aus.« Victor gab keine Antwort. Mina blickte von einem zum anderen. Die Anwesenden schienen Pitt für den Augenblick vergessen zu haben. »Ich nehme an, er wäre ebenso glücklich gewesen über ein prachtvolles Gebäude«, versuchte sie auszugleichen. »Und mit Sicherheit wäre er sehr erfreut über dein Spiel gewesen. Meinst du, mein lieber Victor, du könntest für uns spielen, wenn wir die Totenmesse für Oakley halten? Es würde mir soviel bedeuten. Und du gehörst ja fast zur Familie. Schließlich war Oakley dein Patenonkel.« Sofort entspannte sich Victors Gesicht und wurde von einem Lächeln erhellt, seine Augen strahlten.
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»Selbstverständlich, Tante Mina. Nichts täte ich lieber. Sag mir, was ich spielen soll, und ich werde mich geehrt fühlen, es für dich vortragen zu dürfen.« »Danke, mein Lieber. Ich werde es mir überlegen und dir Bescheid geben.« Sie wandte sich zu Pitt um, und wieder schien ihr Hals merkwürdig steif. »Victor spielt ganz wundervoll Cello, Mr. Pitt. Sie haben nie etwas Schöneres gehört. Er bringt die Saiten wie eine menschliche Stimme zum Lachen und Weinen. Er entlockt ihnen jede Leidenschaft und betört die Herzen der Menschen damit.« »Das ist tatsächlich eine Begabung, und es wäre eine Sünde, sie zu vergeuden«, sagte Pitt aufrichtig. »Ich würde um vieles lieber Musik machen, als Schlachten auf See zu bestreiten.« Victor betrachtete Pitt mit Neugier und Interesse, obwohl sich auf seiner Stirn auch ein leichter Zweifel abzeichnete. Er sagte aber nichts. Thora verzichtete darauf, weiter über diesen Punkt zu streiten. Statt dessen griff sie den ursprünglichen Grund ihres Kommens auf. »Können wir dich irgendwie unterstützen, Mina?« fragte sie. »Ohne Zweifel wird es eine Menge zu tun geben. Wenn ich dir helfen kann, dir meine Köchin ausleihen oder beim Schreiben von Briefen und Einladungen zur Hand gehen soll, dann sag es ruhig.« »Das ist sehr freundlich von dir«, sagte Mina mit einem dankbaren Lächeln. »Allein deine Gegenwart ist eine Hilfe. Es ist so schrecklich, das alles allein durchstehen zu müssen. Ich habe noch gar nicht darüber nachgedacht, was alles zu tun ist. Ich bin noch ganz benommen von dem Schock.« »Das ist ganz natürlich, meine Liebe«, sagte Thora schnell. »Das ginge jedem so. Wie tapfer du es trägst, ist ganz außergewöhnlich. Du bist es würdig, der traditionsreichen Gemeinschaft der Marinewitwen anzugehören. Oakley wäre stolz auf dich gewesen.« Eine tiefe, unbestimmte Regung erschien auf Bart Mitchells Gesicht. Victor stieß langsam seinen Atem aus.
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»Hatte Captain Winthrop noch weitere Verwandte außer seinen Eltern?« fragte Pitt in die Stille hinein. Minas Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf die Gegenwart. »Oh, nein - nur Lord und Lady Winthrop.« Sie nannte sie mit ihren Titeln, und Pitt hatte den Eindruck, daß dies auch ihre Haltung zu ihnen beschrieb und nicht nur ein förmlicher Akt war, weil er nicht zu ihrem gesellschaftlichen Rang gehörte. »Da ist natürlich sein Schiff«, fügte Bart hinzu. »Darum kümmere ich mich. Doch so schnell, wie die Zeitungen die Sache verbreiten, wissen bestimmt schon alle Bescheid. Dennoch verlangt es die Höflichkeit, daß eine Anzeige von der Familie kommt.« Dann verzog er die Miene. »Ach, ich hätte es beinahe vergessen, Oberinspektor. Sie baten um die Adressen der Offiziere, die in dieser Gegend leben. Ich glaube, er hat eine Liste derjenigen, mit denen er Kontakt pflegte, in seinem Schreibtisch in der Bibliothek. Warten Sie einen Moment, ich hole sie.« Mit einem entschuldigenden Nicken zu Thora verließ er das Zimmer. »Verzeihen Sie mir, Oberinspektor«, sagte Thora mit einer zarten Rötung auf den Wangen zu Pitt. »Ich möchte Ihnen nicht sagen, was Sie zu tun haben, aber hier werden Sie die Gründe für Captain Winthrops Tod nicht erfahren. Sie sollten Ihre Erkundigungen auf der Straße einziehen und nachfragen, ob jemand aus einer Irrenanstalt ausgebrochen ist. Sicher ist doch ein Mensch, der zu so etwas fähig ist, sehr auffällig. Er kann doch nicht bei Sinnen sein.« Sie zog die blassen Augenbrauen hoch. »Sie werden mit Leichtigkeit einen Menschen finden, der ihn beobachtet hat. Vielleicht sogar mehrere.« Victor biß sich auf die Lippen und starrte an die Decke. Mina sah Pitt an. »Das ist durchaus möglich, und wir werden allen Hinweisen nachgehen«, erwiderte Pitt. »Doch meine Hoffnung ist nicht sehr groß. Nicht alle Verrückten haben wildes Haar und einen stieren Blick. Ich fürchte, viele von ihnen sehen die meiste Zeit so normal aus wie Sie oder ich.«
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»Meinen Sie wirklich?« fragte Thora mit kühlem Zweifel. »Ich hätte gedacht, nach einer solchen Tat müßte er ganz leicht zu erkennen sein. Niemand kann so etwas tun und wie ein gewöhnlicher Mensch aussehen.« Pitt widersprach ihr nicht, es war sinnlos. Der Notwendigkeit zu antworten wurde er durch Bart Mitchell enthoben, der mit einem Adreßbuch in der Hand wieder hereinkam und es Pitt reichte. »Bitte sehr, Oberinspektor. Ich glaube, es wird Ihnen sehr nützlich sein. Die Namen sämtlicher Besatzungsmitglieder seines Schiffes sind darin aufgelistet, einschließlich ihrer Adressen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr gebe ich Ihnen recht, daß es sich wahrscheinlich um einen Streit oder eine eingebildete Ungerechtigkeit handelt, die Anlaß zu der Tat gegeben haben. Vielleicht war Alkohol mit im Spiel, zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit.« Seine Miene hellte sich auf. »Das würde auch die Waffe erklären. Schließlich ist es ja nicht unvorstellbar, daß ein Marineoffizier ein Entermesser oder ein anderes Schwert besitzt.« Er klang hoffnungsfroh. Mina legte beide Hände vor ihr Gesicht. Victor stieß ein unterdrücktes Stöhnen aus und streckte sich, als hätte er einen Augenblick lang das Gleichgewicht verloren. »Wirklich, Bart«, sagte Thora tadelnd. »Ich bin mir sicher, es war nicht deine Absicht, aber du bist ein bißchen taktlos. Es ist ein äußerst unangenehmer Gedanke, dem wir nicht länger nachgehen müssen. Sicherlich ist der Oberinspektor viel mehr daran gewöhnt, sich mit solchen Dingen zu befassen, so daß wir ihm nicht die Richtung weisen müssen.« »Oh - es tut mir leid.« Bart richtete sich zerknirscht an seine Schwester. »Mina, Liebes, verzeih mir.« Dann sah er Pitt an. »Ich glaube, wir können nichts weiter für Sie tun, Oberinspektor. Wenn Sie uns allein lassen würden, dann kann ich mich um meine Schwester kümmern und mich den Dingen zuwenden, die jetzt geregelt werden müssen.«
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»Selbstverständlich«, pflichtete Pitt ihm bei. »Ich danke Ihnen, daß Sie mir soviel Ihrer Zeit gewidmet haben. Auf Wiedersehen, Mrs. Winthrop, Mrs. Garrick, Mr. Garrick.« Er verneigte sich flüchtig und verließ das Zimmer. In der Halle nahm er von dem blassen Butler seinen Hut entgegen, bevor er in den hellen Frühlingssonnenschein hinaustrat. In seinem Kopf schwirrten Eindrücke von Trauer, Besorgnis und Mitleid umher, vermischt mit einem Gefühl, das er zur Zeit noch nicht klar benennen konnte. Später erledigte Pitt dann eine weitere notwendige, aber überaus unangenehme Aufgabe, die am Beginn einer jeden Ermittlung stand. Er ging ins Leichenschauhaus, um sich die Leiche des Oakley Winthrop anzusehen. Er erwartete zwar nicht, etwas zu erfahren, was er nicht schon aus Tellmans Bericht wußte, doch immerhin bestand die geringe Möglichkeit einer Beobachtung oder eines flüchtigen Eindrucks, dessen Bedeutung sich ihm erst später erschließen würde. Er haßte Leichenschauhäuser. Die kahlen Räume rochen unangenehm säuerlich und waren immer zum Frösteln kühl, selbst im Sommer. Ein Schauer durchlief seinen Körper, als er dem Wärter sein Anliegen vortrug. Seinen Namen hatte er nicht nennen müssen, dazu kannte man ihn bereits viel zu gut. »Aber ja, Sir«, sagte der Wärter vergnügt. »Hab' Sie schon erwartet. Hab' mir gedacht, daß Sie wegen dem herkommen würden. Üble Sache das, ganz übel.« Dann machte er eine Kehrtwendung und führte Pitt in den Raum, in dem die Leiche unter einem Leinentuch lag. Die Umrisse waren merkwürdig fremd, unmenschlich, ohne die Erhebung, die normalerweise auf den Kopf hinwies. »Hier haben wir ihn, Mr. Pitt, Sir!« Wie ein Zauberer, der Blumen aus seinem Hut befördert, zog er das Tuch zurück. Pitt hatte schon viele Leichen gesehen. Jedesmal versuchte er, sich darauf vorzubereiten, und jedesmal mißlang es ihm. Er spürte ein flaues Gefühl im Magen, und ein leichter Schwindel überkam ihn. Die sterblichen Überreste des Oakley Winthrop lagen nackt und sehr weiß vor ihm
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auf dem Marmortisch. Ohne den Kopf, ohne ein Gesicht, wirkte er würdelos, ja unmenschlich. »Was haben Sie mit seinem Kopf gemacht?« fragte Pitt spontan und bereute die Frage im nächsten Moment, da sie seine Empfindlichkeit verriet. »Oh ...«, sagte der Wärter zerstreut. »Den hab' ich ins Regal getan. Vielleicht sollte ich besser alles zusammenlegen.« Er ging zu dem Regal, nahm vorsichtig ein großes, in ein Tuch gehülltes Objekt heraus, wickelte es geschickt aus und brachte es Pitt. »Da ham wir ihn. Jetzt is er komplett.« Pitt schluckte. »Danke.« Er sah sich alles genau an, doch er erfuhr nichts, was nicht schon in Tellmans Bericht gestanden hatte und der Gerichtsmediziner auch erkennen würde. Oakley Winthrop war ein kräftiger Mann mit breiten Schultern und großem Brustkorb gewesen, muskulös, jedoch bereits zu Fettansatz neigend. Er sah wohlgenährt aus, hatte weiche Haut und sehr saubere Hände. Es gab keinerlei Druckstellen oder blaue Flecken, außer denen, die natürlicherweise entstehen, wenn das Herz das Blut nicht länger durch die Bahnen pumpt. Andere Verfärbungen oder Verletzungen konnte er nicht finden. Die Hände waren sehr gepflegt, kein Nagel war eingerissen. Dann nahm er sich den Kopf vor. Das Haar war hellbraun und kurz geschnitten, teilweise schon recht schütter. Er versuchte es nicht, wußte aber, daß es unmöglich war, den Kopf an den Haaren hochzunehmen. Dann betrachtete er das Gesicht. Er entdeckte nichts Bemerkenswertes. So leblos, wie es jetzt war, konnte man den Charakter des Menschen nicht daraus lesen. Er fand keine Anzeichen für einen Sinn für Humor oder Phantasie, aber es war unfair zu urteilen. Endlich überwand er sich und sah sich die Wunde an, wenn man in diesem Fall von einer Wunde sprechen konnte. Es war ein glatter Schnitt, mit einem kräftigen Hieb durch eine sehr scharfe Waffe ausgeführt, die vielleicht für diesen Zweck hergestellt worden war. Es mußte
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ein sehr kräftiger Mensch gewesen sein, oder aber jemand, der erhöht gestanden und weit ausgeholt hatte, um, zum Beispiel mit einem Breitbeil, die ganze Wucht des Schwungs auszunutzen. Er konnte den Geruch der Leichenhalle in seinem Mund schmecken. Plötzlich war ihm kalt. »Danke. Das wäre alles. Für den Moment zumindest.« »Jawohl, Mr. Pitt. Wolln Se seine Sachen sehen? War piekfein angezogen. Marineoffizier, so hieß es. Schicke Uniform. Schade, daß Blut rangekommen ist. Hab' noch nie soviel Blut gesehen.« »Haben Sie in seinen Taschen etwas gefunden?« »Nur, was man erwarten würde: 'n bißchen Geld, ein Brief von seinem Weinhändler, daher haben wir ja seinen Namen gewußt. Ein paar Schlüssel, zu seinem Weinkeller oder seinem Schreibtisch oder so, nehm ich an. Auf jeden Fall persönliche Schlüssel. Dann noch 'n Taschentuch, ein paar Visitenkarten, Zigarrenabschneider. Nichts von Interesse, keine Drohbriefe oder so.« Er lächelte finster. »Das is ein übler Fall, Mr. Pitt. Würde meinen, da läuft ein Verrückter frei rum.« »»Meinen Sie?« gab Pitt unbewegt zurück. »Na ja, decken Sie ihn mal wieder zu, und geben Sie uns Bescheid, wenn der Gerichtsmediziner ihn sich angesehen hat.« Pitt kam müde nach Hause und konnte sich immer noch nicht vom Geruch der Leichenhalle freimachen. Er schloß die Tür auf und zog seine Schuhe aus, bevor er auf die Wärme und das Licht der Küche zuging. Charlotte sah sich nicht gleich um. Sie stand am Herd und rührte in einem Topf auf der geschwärzten Herdplatte. »Hast du Hunger?« fragte sie, ohne ihn anzusehen. Erschöpft setzte er sich an den blankgescheuerten Tisch, ließ die Wärme um sich herum auf sich wirken und atmete den frischen Duft von sauberer Wäsche, Mehl und dem Küchenfeuer ein. Sie drehte sich um und wollte etwas sagen, doch dann sah sie sein Gesicht.
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»Was ist?« fragte sie zärtlich. »Etwas Schlimmes, das sehe ich dir doch an.« »Mord«, sagte er. »Jemand wurde im Hyde Park geköpft.« »Oh.« Sie atmete tief ein und schob eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Im Licht der Lampe war ihr Haar von einem leuchtenden Kastanienbraun. »Möchtest du Suppe?« »Was?« »Suppe«, wiederholte sie. »Einen Teller heiße Suppe mit Brot? Du siehst verfroren aus.« Er lächelte und nickte. Langsam begann er sich zu entspannen. Sie nahm den Deckel vom Topf und füllte etwas Suppe in eine Schale. Sie wußte, daß er noch zu mitgenommen und durchgefroren war, um zu essen. Sie stellte die Schale vor ihn hin, dazu ein Stück frisches Brot mit einem Klecks Butter. Dann setzte sie sich wieder und wartete darauf, daß er anfangen würde zu erzählen. Sie machte das nicht aus Höflichkeit, das wußte er, sondern weil ihr Interesse, wie in früheren Fällen auch, geweckt war. Sie mußte nichts vortäuschen. Er fing an, die Suppe zu löffeln und ihr von dem Mord zu erzählen.
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2. Kapitel
J
awohl, Sir?« Am nächsten Morgen stand Tellman mit » versteinertem und undurchdringlichem Gesicht vor Pitts Schreibtisch, seinen Blick auf einen Punkt knapp oberhalb von Pitts Schulter gerichtet. »War zu spät, um Ihnen noch Bericht zu erstatten, Sir. War schon halb elf. Sie waren schon gegangen.« »Was haben Sie herausbekommen?« Genauso hatte er sich häufig Drummond gegenüber verhalten, so daß ihn Tellmans indirekte Kritik nicht allzusehr irritierte. »Nach Einschätzung des Arztes trat der Tod kurz vor Mitternacht ein«, antwortete Tellman. »Der genaue Zeitpunkt steht nicht fest. Vielleicht so gegen elf. Im Boot ist kaum Blut, also fand der Mord wahrscheinlich nicht dort statt. Ist sogar recht unwahrscheinlich, es sei denn, er hat das Boot ausgewaschen.« »Was ist mit den Schuhen?« fragte Pitt und stellte sich vor, wie jemand kurz vor Mitternacht einen kopflosen Körper über den Rasen zum See trug, zu einer Zeit, da noch Menschen unterwegs waren und zahlreiche Droschken in Knightsbridge fuhren, aus denen die Fahrgäste jederzeit zu einem Mitternachtsspaziergang aussteigen konnten. »Ist Gras dran, Sir«, sagte Tellman ausdruckslos. »Ziemlich viel sogar.« »Und wann wurde das Gras im Park zuletzt geschnitten?« fragte Pitt. Tellmans Nasenflügel blähten sich auf, sein Mund wurde schmal. »Ich werde es herausfinden, obwohl es egal ist. Er ist ja nicht kopflos über den Rasen gegangen.« »Vielleicht wurde er in einem anderen Boot gebracht«, überlegte Pitt laut, einerseits, weil er Tellman ärgern
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wollte, und andererseits, weil er es als ernsthafte Möglichkeit in Betracht zog. »Wozu das?« Tellman zog die Augenbrauen in die Höhe. »Das ergibt keinen Sinn. Ist doch egal, ob es das eine Boot ist oder das andere. Außerdem ist es schwer, einen Körper in einem Boot hochzuheben. Würde wahrscheinlich kentern.« Ein säuerliches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Zum ersten Mal sah er Pitt direkt an. »Seine Sachen waren trocken, nur ein, zwei Stellen waren taufeucht. Doch darunter alles knochentrocken ... Sir.« Pitt nahm dies alles ohne Kommentar zur Kenntnis. »Wie tief ist das Wasser an dieser Stelle des Sees?« Er ließ nicht locker. Tellman griff den Punkt sofort auf. »Reicht gerade übers Knie«, gab er an, und das Lächeln stellte sich wieder ein. »Aber auffällig, meinen Sie nicht? Wenn man bis zu den Oberschenkeln naß ist und so durch den Park geht. Jemand könnte sich daran erinnern - gefährlich.« »Jemand könnte auch Zeuge davon geworden sein, wie einem Mann der Kopf abgeschlagen wurde«, erwiderte Pitt mit einem Lächeln. »Scheint darauf hinzuweisen, daß keiner in der Nähe war. Was meinen Sie dazu?« Das war eine Frage, auf die Tellman nicht vorbereitet war. Er wollte streiten und sich lustig machen. Mit verschlossener Miene sah er Pitt abschätzig an. »Noch zu früh, um etwas sagen zu können ... Sir.« »Also gut, wenn man das Unmögliche ausschließt, was bleibt dann?« beharrte Pitt. »Ganz genau?« Tellman atmete tief ein und stieß die Luft dann langsam aus. Pitt wartete. »Er wurde an einer anderen Stelle am See, die wir noch nicht entdeckt haben, ermordet und dann zu der Stelle gebracht, wo wir ihn gefunden haben«, erwiderte Tellman. »Bailey und Le Grange suchen gerade das Ufer ab. Theoretisch könnte ihn jemand irgendwie über den Rasen gebracht haben. In einem Karren vielleicht, aber es wäre sehr riskant, völlig planlos ...« Er hielt inne und wartete
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auf die Frage, die ihnen beiden soeben in den Sinn gekommen war. »Haben Sie schon eine Vorstellung, ob der Mord geplant war oder in einem plötzlichen Wutanfall verübt wurde?« formulierte Pitt also. »Noch zu früh«, gab Tellman zurück. Ein kleines Leuchten trat in seine Augen. »Könnte sorgfältig geplant, könnte auch Zufall gewesen sein. Genaueres wissen wir erst, wenn wir das ganze Ufer abgesucht haben. Oder auch nicht. Im Moment sieht es nach geplanter Tat aus. Das kann ich Ihnen jetzt schon sagen, Sir - sieht nicht nach dem zufälligen Verbrechen eines Verrückten aus. Und das haben wir auch schon überprüft: Es ist keiner aus Bedlam oder einer der anderen Anstalten entkommen. Und wir haben keine Akten über ein vergleichbares Verbrechen in der Vergangenheit.« »Haben Sie den Bericht des Gerichtsmediziners schon?« »Am Kopf ist eine Wunde«, antwortete Tellman. »Wahrscheinlich wurde er mit einem Schlag bewußtlos gemacht, bevor ihm der Kopf abgeschlagen wurde. Kein Hieb, der ihn töten würde, aber einer, der ihn für eine Weile seiner Sinne beraubt hat.« Endlich blickte er Pitt offen an. »Sieht sorgfältig geplant und gemein aus, meinen Sie nicht auch ... Sir?« »Allerdings. Ist das alles?« Tellman sah ihn aus großen Augen an und wartete, daß Pitt fortfuhr. »Ansonsten waren keine Spuren an der Leiche zu finden, soweit ich sehen konnte«, erklärte Pitt geduldig. »Keine Flecken, keine Kratzer an Händen oder Knöcheln. Was war mit seinen Kleidern? Die habe ich nicht gesehen. Sind die zerrissen oder zerknautscht? Grasflecken, Lehm?« »Nein«, sagte Tellman tonlos. »Nein. Er hat sich nicht gewehrt. Keine Spuren.« »Wie groß schätzt der Gerichtsmediziner ihn - mit seinem Kopf? Eins achtzig?« »So ungefähr, soweit wir schätzen können - und kräftig, mit breiten Schultern.« „Ich weiß. Ich habe ihn gesehen. Ja, es sieht gemein aus«, bestätigte Pitt nachträglich. »Ich glaube, wir müssen noch
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eine Menge über den Captain Freiherr Oakley Winthrop in Erfahrung bringen.« Tellmans Gesicht weitete sich zu einem Grinsen. »Deswegen ist es ja Ihr Fall, Mr. Pitt. Die maßgeblichen Stellen sind der Auffassung, daß Sie das so gut können. Am besten mischen Sie sich unter die Freiherren Winthrop und ihresgleichen. Um herauszufinden, wer den guten Captain gehaßt hat und warum.« Er stand immer noch vor Pitts Schreibtisch. Er schien belustigt und unwillig zugleich. »Wir kümmern uns inzwischen darum, Zeugen ausfindig zu machen und die übliche Polizeiarbeit zu erledigen. Wäre das dann alles, Sir?« »Nein, noch nicht.« Pitt gab sich alle Mühe, seine Abneigung nicht durchklingen zu lassen. Er durfte nicht vergessen, daß er die Befehle gab. Er mußte über persönlichen Differenzen und kleinlichen Verstimmungen stehen und zwang sich dazu, seinen Unmut im Zaum zu halten. »Was hat der Gerichtsmediziner zur Waffe gesagt? Ich nehme an, Sie haben noch nichts gefunden, sonst hätten Sie es erwähnt.« »Richtig, Sir. Bisher noch nichts.« Er kam Pitt zuvor, ehe der seine Anweisung wiederholen konnte. »Wir werden den Serpentine-See absuchen, aber es scheint sinnvoll, erst an den leichter zugänglichen Stellen nachzuschauen.« »Was hat der Gerichtsmediziner gesagt?« »Sauberer Schnitt. Muß eine ziemlich schwere Waffe gewesen sein, wenn man das mit einem Hieb bewerkstelligen will, und mit einer scharfen Klinge. Entweder eine breite Axt, aber wahrscheinlich eher ein Schwert oder so etwas, und ziemlich groß, wie ein Entermesser zum Beispiel.« Mit einem Gefühl aufkommender Übelkeit erinnerte sich Pitt wieder an den verstümmelten Rumpf und an den durchdringenden Geruch von Karbol und nassem Stein. »Oder ein Fleischermesser?« fügte er mit rauher Stimme hinzu. Tellman wußte, was Pitt sich vorstellte. Er schien verärgert, weil er es nicht selbst erwähnt hatte. »Ja - könnte auch sein. Auf jeden Fall werden wir es wissen, sobald wir es gefunden haben.«
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»Wann haben ihn die letzten Zeugen gesehen, soweit Sie dies bisher herausgefunden haben?« fragte Pitt weiter. Tellman sah ihn ausdruckslos an. »Wie sollen wir denn da Ihrer Meinung nach vorgehen, Sir? Nicht so leicht in Erfahrung zu bringen, wer abends im Hyde Park spazierengeht. Könnte jeder in London sein. Oder von außerhalb, so gesehen. Besucher, Fremde ...« Die weiteren Möglichkeiten ließ er offen. »Droschkenfahrer«, sagte Pitt sachlich. »Sie haben ihre Reviere.« Er bemerkte die Anspannung in Tellmans Gesicht, fuhr aber ungerührt fort: »Postieren Sie jeweils einen Mann auf den Wegen und auf der Rotten Row und in Knightsbridge. Lassen Sie die Spaziergänger heute abend beobachten, manche Menschen gehen regelmäßig in den Park.« »Jawohl, Sir.« Tellman rührte sich nicht. Es war nur normale Polizeiroutine, das wußte er. »Das wird selbstverständlich gemacht, Sir. Ist das alles?« Pitt dachte einen Moment lang nach. Er war dafür verantwortlich, den Ton ihrer Beziehung zu bestimmen und ihn weiter anzugeben, aber er hatte sich nicht vorgestellt, daß das so schwierig sein könnte. Der Mann zeigte eine viel stärkere Persönlichkeit, als Pitt angenommen hatte. Man konnte sein Handeln befehligen, aber seine Einstellung entzog sich Pitts Einfluß, ebenso wie seine Fähigkeit, die Stimmung unter den Kollegen zu vergiften. Natürlich gab es disziplinarische Maßnahmen, doch sie zu verhängen, würde wenig Feingefühl beweisen und letztendlich wieder auf Pitt zurückfallen. Drummond hatte diese Aufgabe bewältigt. Ihm war es gelungen, all die unterschiedlichen Wesensarten und Fähigkeiten miteinander in Einklang zu bringen und sie zu einem effektiven Ganzen zu formen. Pitt durfte sich nicht geschlagen geben, wo er doch gerade erst angefangen hatte. »Im Moment, ja«, sagte er ruhig. »Unterrichten Sie mich, wenn Sie Zeugen auftreiben.« »Jawohl, Sir.« Tellman drehte sich um, verließ den Raum und schloß die Tür sanft hinter sich. Pitt ließ sich in seinen Sessel sinken und dachte nach. Er zögerte einen Moment, bevor er die Füße auf den Tisch
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legte. Die Haltung war nicht ganz so bequem, wie er es sich gewünscht hätte, aber sie gab ihm das Gefühl von Kontrolle und einer Nachgiebigkeit sich selbst gegenüber, das sehr befriedigend war. Als er sich die bisher zusammengetragenen Erkenntnisse durch den Kopf gehen ließ, schien alles darauf hinzudeuten, daß Winthrop weder von irgendeinem Verrückten noch von einem Räuber ermordet worden war, aber das hatte er von Anfang an nicht für wahrscheinlich gehalten. Der einzige Schluß, den die bisherigen Erkenntnisse zuließen, war der, daß er von einem Bekannten angegriffen worden war, von dem er sich nicht bedroht gefühlt hatte. Es könnte ein Kollege oder ein Bekannter aus seinem Freundeskreis sein. Am ehesten noch kam ein Familienmitglied oder einer seiner engsten Freunde in Frage. Bis Tellman mit weiteren Ergebnissen von der Spurensuche aufwartete, sollte er selbst sich nach einem Motiv umsehen. Er schwang sich herum und setzte die Füße auf den Boden. Hier konnte er nichts erreichen, und je schneller die Angelegenheit geklärt war, desto besser. Schon jetzt brachten die Zeitungen große Schlagzeilen, und Winthrops Name war in aller Munde. In ein, zwei Tagen würden sie Ergebnisse sehen wollen und die Polizei fragen, was sie zu tun gedächte. Zwei Stunden später saß Pitt im Zug nach Portsmouth. Von seinem Fensterplatz aus sah er die Landschaft draußen in frischem Grün vorbeisausen. An den Bäumen sproß das junge Laub, und die nackten Äste der Haselsträucher waren in frisches Weiß getaucht. Die zartgrünen Zweige der Weiden neigten sich zum Wasser, wie gebeugte Frauen, deren Haar nach vorn fiel. Den behäbigen Pflügen folgten Scharen von Vögeln, die in der aufgeworfenen Erde nach Würmern pickten. Nach drei Stunden Fahrt stand er in einem kleinen Zimmer nahe der Schiffswerft der Royal Navy und wartete darauf, von Lieutenant Jones, dem Stellvertreter des verstorbenen Captain Winthrop, empfangen zu werden. Mit dem Hafenmeister hatte er bereits gesprochen, aber nichts
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Neues erfahren. Alle waren schockiert und wiederholten abgedroschene Phrasen der Trauer und der Empörung. Die rühmlichen Bemerkungen über den Verstorbenen hielten sie wohl für angemessen, aber sie hätten über jeden anderen dasselbe gesagt. Die Tür öffnete sich, und ein schlanker Mann von Ende Dreißig kam herein. Er trug Uniform, seine Kappe hielt er in der Hand. »Guten Tag, Sir. Lieutenant Jones. Wie kann ich Ihnen dienen?« Er stand stramm und betrachtete Pitt gespannt. Er war glatt rasiert, hatte helle Augenbrauen und blondes Haar, das sich schon beträchtlich lichtete. Der Gesichtsausdruck zeugte nicht unmittelbar von innerer Stärke, und erst im Verlauf des Gesprächs gewann Pitt einen Eindruck von der Entschlußkraft seines Gesprächspartners. »Oberinspektor Pitt«, stellte Pitt sich selbst vor. »Es tut mir leid, daß ich mich Ihnen zu einem Zeitpunkt aufdrängen muß, der sicherlich recht schwierig ist. Aber Sie werden verstehen, daß Sie mir möglicherweise Informationen geben können, die uns bei unseren Nachforschungen im Mordfall Captain Winthrop weiterbringen.« »Ich weiß zwar nicht, wie, aber ich werde Ihnen, soweit ich kann, helfen«, antwortete Jones, ohne seine Haltung zu lockern. »Was möchten Sie gern wissen?« Seine blauen Augen blickten verunsichert. Pitt ließ sich absichtlich auf einem harten Stuhl mit hölzernen Armlehnen nieder und forderte Jones auf, es ihm gleichzutun. Lieutenant Jones erkannte überrascht, daß Pitt ein längeres Gespräch zu führen beabsichtigte. »Wie lange haben Sie unter dem Captain gedient?« »Insgesamt neun Jahre«, erwiderte Lieutenant Jones, setzte sich auf einen Stuhl Pitt gegenüber und schlug die Beine übereinander. »Ich - ich kannte ihn eigentlich ziemlich gut, wenn Sie das fragen wollen.« Pitt lächelte. »So ist es. Bitte bedenken Sie, daß Sie Ihre Loyalität gegenüber Captain Winthrop nicht nur dadurch zeigen, daß Sie gut von ihm sprechen, sondern auch, indem
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Sie die Wahrheit sagen, damit derjenige, der ihn ermordet hat, gefaßt werden kann -« Er hielt inne, als er den überraschten Ausdruck auf Jones' Gesicht wahrnahm. »Aber es war doch ein Raubmord, oder etwa nicht?« Jones runzelte die Stirn. »Ich war davon ausgegangen, daß es ein Verrückter mit kriminellen Neigungen war, der im Park sein Unwesen trieb. Es scheint mir unvorstellbar, daß der Täter jemand war, den er kannte, was Sie ja andeuten wollen. Doch verzeihen Sie, wenn ich Sie mißverstanden habe, Oberinspektor.« »Nein, Sie haben mich sofort bestens verstanden.« Pitt lächelte flüchtig. »Es gibt Hinweise darauf, daß er völlig überrascht wurde.« Er wartete auf Jones' Reaktion. Er hatte sich nicht getäuscht. Jones war verwirrt und skeptisch, und als er die volle Tragweite des Gesagten erfaßte, wurde sein Blick sehr ernst. »Ich verstehe. Sie sind also zu mir gekommen, um zu erfahren, ob ich von jemandem weiß, der einen Groll gegen ihn hegte.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ist die einfache Antwort. Er war beliebt, Oberinspektor, offen, freimütig, mit einem Sinn für Humor, freundlich, ohne sich anzubiedern. Er spielte nicht und hatte keine Schulden. Mit Sicherheit war er kein ungerechter Kapitän, was Sie bestimmt auch wissen wollen. Mir ist von niemandem bekannt, der mit ihm Streit hatte.« »Sprechen Sie von Offizieren, Lieutenant, oder betrifft das auch gewöhnliche Matrosen?« »Wie bitte?« Jones blickte ihn fragend an. »Ach so. Also, eigentlich habe ich Offiziere gemeint. Er kannte die Matrosen ja nicht persönlich. Aber Sie sprechen von einem Streit?« »Oder einer Ungerechtigkeit, ob sie tatsächlich geschah oder nur eingebildet war«, präzisierte Pitt. Jones sah ihn zweifelnd an. Er verlagerte sein Gewicht auf dem Stuhl. »Die meisten Matrosen tragen eine Bestrafung mit Gelassenheit und Fassung.« Er lächelte schwach. »Kielholen ist schon längst keine Strafmethode mehr. Die disziplinarischen Maßnahmen sind nicht barbarisch und
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stoßen im großen und ganzen auch nicht auf Widerstand. Nein, ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß irgend jemand so - absurd - unbeherrscht wäre, Captain Winthrop zuerst nach London und dann in den Park zu folgen, um diese Tat zu begehen.« Erneut schüttelte er den Kopf. »Es wäre wirklich völlig grotesk. Nein, ich habe keinerlei Zweifel, daß es sich so nicht zugetragen hat. Was nun einen anderen Offizier angeht, so ...» Er zog eine Schulter etwas hoch. »Ich weiß von keinem Streit. Vermutlich ist Neid nicht ganz auszuschließen, aber doch eher unwahrscheinlich. Das Ganze ist mir ein Rätsel.« »Neid?« fragte Pitt. »Meinen Sie berufliche Konkurrenz? Oder persönliche Eifersucht, zum Beispiel wegen einer Frau?« Jones' Gesicht drückte Überraschung aus. »O nein, das habe ich nicht gemeint. Ich weiß es wirklich nicht, Oberinspektor. Ich tappe im dunkeln. Wenn Sie recht haben und es kein Verrückter oder eine Meute von Räubern war, dann muß man annehmen, daß es jemand war, den er kannte. Verstehen Sie mich bitte, ich kannte Oakley Winthrop sehr gut. Ich habe fast ein Jahrzehnt an seiner Seite gearbeitet. Er war ein beispielhafter Offizier und ein untadeliger Mensch.« Er beugte sich vor. Eine Möwe flog kreischend am Fenster vorbei. »Nicht nur ein ehrlicher, sondern auch ein angenehmer Mensch«, sagte Jones ernst. »Er war ein guter Sportler und spielte Klavier, er hatte eine gute Stimme und sang zur Freude seiner Zuhörer. Überdies hatte er einen ausgeprägten Sinn für Humor. Ich habe erlebt, daß er die ganze Messe zum Lachen bringen konnte.« »Zuweilen eine gefährliche Waffe«, sagte Pitt nachdenklich. »Aber nein.« Jones schüttelte den Kopf. »Er war nicht besonders witzig, wenn Sie das meinen. Er machte sich nicht über andere lustig. Es waren eher derbe, schlichte Späße, die er liebte. Harmlos. Sie machen sich nicht das richtige Bild von ihm, Oberinspektor, wenn ich das so sagen darf. Er war unkompliziert, eher ein einfaches Gemüt ...« Er hielt inne, als er Pitts Gesichtsausdruck sah. »Sie denken an-
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ders?« Er lehnte sich wieder zurück. »Man hat Sie falsch informiert, das versichere ich Ihnen.« »Niemand ist unkompliziert«, erwiderte Pitt mit einem trockenen Lächeln. »Aber ich akzeptiere, was Sie mir sagen. Ich habe bisher noch gar keinen Eindruck von ihm gewonnen.« Jones' Lippen zuckten etwas. »Wenn Captain Winthrop ein geheimes Leben hatte, dann hat er es mit einem Geschick verborgen, das er in seinem normalen Leben nicht zeigte. Glauben Sie mir, ich würde Ihnen gerne helfen, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.« »War er auch bei Frauen beliebt?« fragte Pitt. Jones zögerte. Wieder waren die Geräusche vom Hafen zu hören, das Klirren der Ketten, das Knarren der Seile im Wellengang, Holz auf Holz, Rufe und über allem das Kreischen der Möwen. »Nein, nicht so sehr, wie es vielleicht angeklungen ist«, sagte Jones. »Unabsichtlich, natürlich. Ich habe nur von Offizieren gesprochen, nicht von Frauen. Er war Seemann. Ich glaube, er fühlte sich in Gesellschaft von Frauen nicht so wohl.« Verlegen wandte er den Blick ab. »Man hat ein so eingeschränktes Gesellschaftsleben, daß man die leichte Unterhaltung, wie sie für Frauen angemessen ist, kaum mehr beherrscht.« Pitt hatte ein deutliches Bild von einem Mann mit einem breiten, etwas derben Gesicht vor sich, jovial und nach außen hin selbstbewußt, der alles unter Kontrolle hatte und gerne einmal lachte. Doch unter dieser äußerlichen Jovialität tobten vielleicht die dunkleren Emotionen eines Mannes, der den größten Teil seines Lebens unter Männern verbrachte: Ängste, Selbstzweifel, auch Schuldgefühle. Hatte er eine Geliebte? Er betrachtete das helle, ernste Gesicht seines Gegenübers. Lieutenant Jones würde es ihm nicht erzählen, auch wenn er davon wüßte. Doch wenn es um eine Liebes- oder Haßgeschichte hier in Portsmouth ging, wäre man ihm dann nach London gefolgt, statt das Verbrechen an Ort und Stelle zu begehen? »Lieutenant Jones, wann ist Captain Winthrop nach London aufgebrochen?«
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»Hm - vor zehn Tagen«, erwiderte Jones und beobachtete Pitt. Sie brauchten sich nicht gegenseitig klarzumachen, daß ein Streit, der vor zehn Tagen in Portsmouth stattgefunden hatte, wohl kaum neun Tage später zu einem Gewaltverbrechen in London führen würde. »Dennoch«, fuhr Pitt fort, »möchte ich, daß Sie mir, soviel Sie können, über seine letzten Tage hier berichten: wen er getroffen hat, ob sich etwas Außergewöhnliches zugetragen hat. Gab es in den letzten Monaten ungewöhnliche disziplinarische Maßnahmen?« »Nichts, womit Captain Winthrop zu tun hatte«, gab Jones zurück. Immer noch war seine Stirn gerunzelt. »Sie sind auf dem falschen Weg, Oberinspektor. Die Lösung dieser Tragödie ist nicht hier zu suchen.« Auch Pitt neigte zu dieser Auffassung, und nachdem er ein paar weitere Fragen gestellt hatte, dankte er Lieutenant Jones und verabschiedete sich. Er blieb aber noch einige Stunden in Portsmouth, stellte Fragen, suchte die örtliche Polizeistation und einige Wirtshäuser auf und befragte auch den Betreiber eines Bordells, bevor er schließlich den Zug zurück nach London bestieg. Am nächsten Morgen wartete Tellman bereits im Flur auf ihn. »Guten Morgen, Sir! Haben Sie in Portsmouth etwas herausgefunden?« fragte er, während seine klaren Augen Pitt aufmerksam musterten. »Ein wenig«, erwiderte Pitt und stieg die Treppen hinauf, gefolgt von Tellman. »Er hat Portsmouth vor elf Tagen verlassen. Neun Tage, bevor er umgebracht wurde. Scheint nicht so, als sei ihm von dort jemand gefolgt. Die meisten seiner engsten Kollegen haben für die Tatnacht ohnehin ein Alibi.« »Wundert mich nicht«, sagte Tellman spontan, als Pitt die Tür zu seinem Büro öffnete und eintrat. »Hätten auch Le Grange schicken können, um das herauszufinden.« Er schloß die Tür und stellte sich vor Pitts Schreibtisch.
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Pitt setzte sich und sah ihn an. »Schicken Sie ihn hin, um die Aussagen der Leute dort zu überprüfen«, sagte er. »Ich wollte etwas über Winthrop selbst erfahren.« »Freundlicher Typ, laut Aussage seiner Nachbarn«, sagte Tellman mit Befriedigung. »Immer ein nettes Wort. War eher zurückhaltend, ein häuslicher Mensch. War gerne zu Hause, wenn er nicht auf See war.« »Skandale?« »Nicht die Spur. Ein vorbildlicher Gentleman in jeder Hinsicht.« Tellman setzte eine etwas selbstzufriedene Miene auf. »Und was haben Sie über die Tat in Erfahrung gebracht?« fragte Pitt mit großen Augen. »Wo wurde er umgebracht? Haben Sie die Waffe?« Die Zufriedenheit wich aus Tellmans Gesicht, seine Lippen wurden schmal. »Haben die Stelle noch nicht gefunden. Kann überall gewesen sein. Nach der Waffe haben wir gesucht. Morgen suchen wir den Seegrund ab.« Er hob den Kopf ein wenig. »Aber wir haben mehrere Zeugen ausfindig gemacht. Ein Liebespaar ist gegen halb elf auf dem Weg spazierengegangen. Da war er noch nicht dort. Es war genug Licht, um das deutlich zu sehen. Ein Droschkenfahrer, der gegen Mitternacht auf dem Heimweg aus Richtung Knightsbridge zum Hyde Park Corner fuhr, und zwar ziemlich langsam, sah zwei Leute in der Rotten Row und ist sich sicher, daß beide Männer waren. Auf dem Wasser hat er nichts gesehen, obwohl es natürlich dunkel war und er ein gutes Stück vom See entfernt war, aber es war ja eine mondklare Nacht.« »Und ...«, hakte Pitt nach. »Und ein anderer Gentleman war so um zwei auf derselben Strecke in seiner eigenen Kutsche auf dem Weg nach Hause und sah etwas, das er für ein treibendes Boot hielt«, sagte Tellman, den Blick auf Pitt geheftet. »Nüchtern?« fragte Pitt. »Er sagt, ja.« »Und Ihre eigene Einschätzung?«
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»Also, als ich mit ihm gesprochen habe, war er auf jeden Fall nüchtern.« »Haben Sie ihn gefunden, oder ist er zu Ihnen gekommen?« Tellmans Gesichtsmuskeln spannten sich. »Er kam zu uns. Aber er ist ein Gentleman. Ich habe das Wort in seiner eigentlichen Bedeutung gebraucht. Bankier in der City.« »Wo war er bis zwei Uhr morgens?« Tellmans Schultern wurden steif. »Ich habe nicht gefragt, Sir. Ich nahm an, daß es eine Privatangelegenheit war, eine Verabredung vielleicht. Es ziemt sich nicht, einen Gentleman auszufragen, wo er gewesen ist, Mr. Pitt. Schafft nur unnötigen Ärger.« Pitt hörte den unverschämten Ton und sah die Verachtung in Tellmans Gesicht. »Ich nehme an, Sie haben seine Identität überprüft?« fragte er. »Finde ich nicht wichtig«, gab Tellman zurück. »Er hat um zwei Uhr nachts ein Boot auf dem Wasser gesehen. Es ist nicht Sache der Polizei nachzuprüfen, ob er seinen richtigen Namen angegeben hat - oder wo er war. Wenn Gentlemen Liebschaften mit den Ehefrauen anderer Gentlemen haben, dann ist das ihre Sache und hat nichts mit unserem Fall zu tun. Er war ein Gentleman, da bin ich mir sicher. Man braucht kein Detektiv zu sein, um das zu erkennen.« »Und natürlich könnte ein Gentleman nicht den Freiherrn Oakley Winthrop getötet haben!« sagte Pitt mit einer deutlichen Spur Sarkasmus. »Wenn Ihr Zeuge da eine wohlklingende Stimme, gute Manieren und saubere Schuhe hatte, dann kommt er als Mörder wohl nicht in Frage Tellmans Gesicht verfinsterte sich. Er starrte Pitt an, sagte aber nichts. »Wir werden einmal annehmen, daß es sich so verhalten hat, wenn nichts Gegenteiliges bekannt wird«, sagte Pitt zufrieden. »Das ist ja ein Schritt nach vorn. Was haben Sie im Boot gefunden?« »Kein Blut, außer dem bißchen, das erst nach dem Tod ausgetreten ist.«
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»Irgendwelche Hinweise auf eine zweite Person?« »Was für welche? Das sind Vergnügungsboote. Es können Hunderte von Menschen dringesessen haben, zu verschiedenen Zeiten. Auch in der letzten Woche!« »Ich bin mir dessen bewußt, Tellman. Vielleicht hat einer von ihnen Winthrop umgebracht.« »Ohne daß Blut geflossen ist, Sir? Sein Kopf wurde abgeschlagen!« »Was ist mit den Außenseiten?« »Wie?« »Wenn er sich nun über den Bootsrand gelehnt hat?« fragte Pitt, während das Bild vor seinen Augen deutlicher wurde. »Wenn sie zusammen in dem Boot waren, und der Mörder hat etwas ins Wasser geworfen und Winthrop darauf aufmerksam gemacht? Winthrop hat sich über die Seitenwand gelehnt, dann hat der Mörder ihm einen Schlag versetzt und anschließend seinen Kopf abgehauen - der dann ins Wasser fiel? Das Blut würde so an der Außenwand hinunterlaufen!« »Möglich«, gab Tellman widerwillig zu, doch mit einer gewissen Bewunderung in der Stimme und auch ein bißchen erregt. »So hätte es sein können!« »War das Haar naß? Überlegen Sie, Mann! Sie haben den Kopf gesehen!« sagte Pitt ungeduldig. »Schwer zu sagen, Sir. War ja nicht viel da. Sehr dünn, fast kahl oben drauf.« »Ich weiß. Doch die Haare, die er hatte, die Seiten - der Backenbart?« »Ja - ja, ich glaube, der war naß. Aber ich bin mir nicht sicher, vielleicht war Wasser im Boot - der Kielraum ...« Er zögerte noch, das volle Ausmaß dieser Erkenntnis zuzulassen, doch konnte er die Erregung in seiner Stimme nicht verbergen. »In einem Vergnügungsboot? Unsinn«, entgegnete Pitt. »Dann ja, Sir. Der Backenbart war naß - glaube ich.« »Blut?« »Nein - nicht viel.« Tellmans Blick wich nicht von Pitts Gesicht.
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»Hätte da aber nicht viel Blut sein müssen, wenn der Kopf einfach dort fallen gelassen worden war, wo er auch abgeschlagen wurde?« fragte Pitt. Tellman war immer noch vorsichtig. »Ich weiß nicht, Sir. Ich habe damit keinerlei Erfahrung. Ich würde denken, ja. Es sei denn, man hält den Kopf hoch, während man ihn abschlägt.« »Wie das?« »Was?« »Wie könnte man den Kopf hochhalten? Es war kaum Haar auf dem Schädel.« Tellman stieß den Atem aus, seine Augen glänzten. Er gab endlich auf. »Dann haben Sie vermutlich recht, und er wurde im Boot umgebracht. Dabei hat er sich über den Rand gelehnt, und der Kopf fiel ins Wasser. Das können wir niemals beweisen.« »Sehen Sie sich das Boot sorgfältig an«, befahl Pitt und lehnte sich zurück. »Vielleicht ist eine Kerbe im Holz zu erkennen oder ein Kratzer. Es muß ein sehr kräftiger Hieb gewesen sein, nicht leicht zu kontrollieren. Das könnte unsere Theorie untermauern.« »Jawohl, Sir«, sagte Tellman nüchtern. »Noch etwas, Sir?« »Nein, es sei denn, Sie haben noch etwas zu berichten.« »Nein, Sir. Wie sollen wir fortfahren, Sir?« »Ich möchte, daß Sie die Waffe finden und sich weiter darum kümmern, was der Mann an dem Abend gemacht hat. Jemand könnte ihn gesehen haben.« »Jawohl, Sir.« Der unverschämte Ton schlich sich wieder ein, als könne er nichts dagegen tun. Seine Ablehnung ging zu tief, der Waffenstillstand war beendet. »Und was ist mit Mrs. Winthrop? Werden Sie sich weiter um sie kümmern? Um zu sehen, ob sie einen Liebhaber hatte? Oder wäre das zu anstößig für die Familie?« »Wenn ich etwas Wichtiges herausfinde, teile ich es Ihnen mit«, sagte Pitt kühl. »Ob anstößig oder nicht. Jetzt lassen Sie den Grund des Sees absuchen.« »Jawohl, Sir.«
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Pitt hätte lieber selber den Boden des Sees abgesucht, als die Aufgabe zu übernehmen, die als nächstes zu erledigen war. Seit seiner Rückkehr aus Portsmouth hatte er hin und her überlegt, ob es wirklich nötig sei. Es könnte sich, was neue Erkenntnisse betraf, eher als nutzlos erweisen, aber nicht das allein zählte. Es galt, die berufliche Höflichkeit zu wahren sowie die Tatsache zu beachten, daß ein Unterlassen des Besuchs ihn teuer zu stehen kommen könnte. Er fragte sich, ob Micah Drummond gegangen wäre, und wußte auf Anhieb die Antwort: auf jeden Fall. Folglich stand Pitt am späten Vormittag in der Bibliothek von Lord Marlborough Winthrops Haus in Chelsea, kaum hundert Meter vom Ufer der Themse entfernt. Es war ein solide gebautes, gefälliges Haus, jedoch ohne jeden individuellen Ausdruck in seinem Stil, und die Bibliothek, in der Pitt jetzt wartete, war phantasielos eingerichtet: Leder mit Goldprägung, schwere Mahagonimöbel und ein klobiger Kamin mit seitlichen Säulen. Nach einem ersten flüchtigen Blick hätte er die Augen schließen und das beschreiben können, was noch zu sehen war, und er lag genau richtig. Lord Winthrop schloß leise die Tür hinter sich und stand Pitt gegenüber. Er hatte unauffällige Gesichtszüge, sandfarbenes Haar und eine überaus trauervolle Miene, wobei man schwer sagen konnte, ob das sein gewöhnlicher Ausdruck war oder in den gegenwärtigen Umständen begründet lag, Pitt neigte zu der ersten Annahme. Keinerlei Weichheit lag in seinem Gesicht, auch um die Augen entdeckte er keine sanfteren Linien. Er machte den Eindruck eines Menschen, der nicht leicht lachte. Pitt fühlte sich unangenehm an das blutleere Gesicht in der Leichenhalle erinnert, es waren dieselben Züge, dieselbe fleckige Haut. Heute war er natürlich ganz in Schwarz gekleidet. »Guten Morgen, Mr. ...« Er sah Pitt an und versuchte, dessen sozialen Status einzuschätzen, um sein Verhalten darauf abstimmen zu können. »Oberinspektor Pitt.« Er mochte den Titel, spürte aber gleich darauf eine gewisse Verlegenheit, weil er ihn genannt hatte. Der Mann vor ihm war vielleicht eingebildet
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und oberflächlich, aber er hatte gerade erst auf entsetzliche Weise seinen Sohn verloren. Seine Trauer und Verstörtheit waren also echt. Ihn vorschnell zu verurteilen war unverzeihlich und schlimmer als das Fehlverhalten, das Lord Winthrop sich in dieser Situation zuschulden kommen lassen könnte. »Ach - ja.« Winthrop tat so, als erinnerte er sich. Trotz seiner Größe und der breiten Schultern wirkte er nicht imponierend. Er schien sich durch seinen Körperbau eher behindert als begünstigt zu fühlen. »Freundlich von Ihnen zu kommen.« Doch aus seiner Stimme klang heraus, daß er Pitts Erscheinen als einen Pflichtbesuch betrachtete, und sein Dank war nur eine höfliche Floskel. »Natürlich sind Lady Winthrop und ich sehr daran interessiert zu hören, welche Fortschritte Sie in dieser schrecklichen Angelegenheit gemacht haben.« Er sah Pitt an und wartete auf dessen Antwort. Pitt versagte es sich zu erklären, daß er gekommen war, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Doch dann kam ihm der Gedanke, daß er selbst es vielleicht war, der seine Rolle mißverstand. Micah Drummonds Aufgabe hatte zu einem großen Teil aus Diplomatie bestanden. Das würde er lernen müssen, wenn er auf seinem Posten bestehen wollte. Merkwürdig, jetzt bekleidete er zwar einen höheren Rang, war aber gleichzeitig weniger unabhängig. Er mußte Rechensehaft ablegen, wo es früher nicht nötig gewesen wäre. »Wir haben Zeugen, Sir«, sagte er. »Leute, die zu unterschiedlichen Zeiten am Abend und in der Nacht im Park waren, woraus wir schließen können, daß die Tat ungefähr um Mitternacht begangen wurde -« »Soll das heißen, jemand hat es beobachtet?« Lord Winthrop war fassungslos. »Lieber Himmel, Mann! Wie weit ist es denn gekommen, wenn ein solches Verbrechen in einem öffentlichen Park in London begangen werden kann und Menschen, die das sehen, nichts tun? Wie soll das weitergehen?« Das Blut stieg ihm ins Gesicht und färbte es dunkel. »Man erwartet barbarisches Handeln bei heidnischen Völkern, in entlegenen Teilen des Empires, aber
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doch nicht im Herzen eines zivilisierten Landes!« In seiner Stimme schwangen Wut und Angst. Er stand inmitten seines ihm vertrauten Raumes mit all den Zeichen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Sicherheit und war dennoch verängstigt und verwirrt. »Brutale Morde in Whitechapel, und immer noch ist keiner dafür zur Rechenschaft gezogen worden.« Seine Stimme wurde schriller. »Skandale in der königlichen Familie, Gerüchte kursieren, moralische Verrohung und Sittenlosigkeit überall.« Er verlor zunehmend die Beherrschung. »Anarchisten und Iren, wohin man sieht. Die ganze Gesellschaft steht kurz vor dem Verfall.« Er atmete tief durch, einmal, zweimal. »Verzeihen Sie, Sir. Ich sollte meine persönlichen Ansichten nicht so deutlich äußern »Sicherlich sind Sie nicht der einzige, der denkt, daß wir in schwierigen Zeiten leben, Lord Winthrop«, sagte Pitt taktvoll. »Ich wollte jedoch nicht sagen, daß jemand beobachtet hat, wie das Verbrechen verübt wurde, sondern nur, daß niemand auf dem Serpentine-See war, als ein junges Paar gegen zehn Uhr dort vorbeikam, daß zwei Männer kurz vor Mitternacht in der Rotten Row gesehen wurden, und daß gegen zwei Uhr morgens ein allem Anschein nach auf dem See treibendes Boot gesehen wurde. Da Captain Winthrop zwischen elf und zwölf Uhr starb, scheinen diese Anzeichen für einen Todeszeitpunkt um Mitternacht zu sprechen.« Lord Winthrop versuchte seine Stimme zu beherrschen. »Aha - ja, ich verstehe. Aber was beweist das? Davon wird noch keiner festgenommen!« Sein Ausdruck war angespannt, als hätte er einen schlechten Geruch wahrgenommen. »Ganz offensichtlich treiben Räuberbanden im Herzen Londons ihr Unwesen. Was wollen Sie dagegen tun? Das möchte ich gern wissen! Ich gehöre nicht zu denen, die Verwaltungsbehörden kritisieren, aber selbst die Nachsichtigen sind der Ansicht, daß die Polizei ihr Können noch unter Beweis stellen muß, um ihre Existenz zu rechtfertigen.« Er stand vor dem Kaminsims, auf dem eine traditionelle Vase aus Chelsea-Porzellan stand. An der Wand hinter sei-
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ner Schulter hing ein Bild mit einer ruhigen, wohlgeordneten Landschaft. »Ihr Ruf ist in Gefahr, Sir, nach diesen Whitechapel-Morden«, fuhr er fort. »Jack the Ripper! Was ist mit einem Verrückten, der bereit ist, einen Menschen für ein paar Pfund« - er schluckte - »zu köpfen?« »Es ist unwahrscheinlich, daß er beraubt wurde«, unterbrach ihn Pitt. Lord Winthrops Nasenflügel blähten sich. »Nicht beraubt? Unsinn, Sir! Natürlich wurde er beraubt! Warum sonst sollte eine Bande von Mördern einen Fremden überfallen, der lediglich einen Abendspaziergang im Park macht? Mein Sohn war in bester körperlicher Verfassung, Mr. Pitt, ein ausgezeichneter Sportler, in der edlen Kunst der Selbstverteidigung besonders gut ausgebildet. ‚Mens sana in corpore sano’, das war sein Motto, und er stand immer zu seinem Wort.« Plötzlich fühlte sich Pitt an Emilys angeheirateten Onkel Eustace March erinnert, der unsensibel, eingebildet, überheblich und unerträglich war - und ein tragisches Ende fand. War Oakley Winthrop auch so ein Mensch gewesen? Wenn ja, war es nicht überraschend, wenn ihn jemand umgebracht hatte. »Sie müssen zu mehreren gewesen sein, und außerdem bewaffnet, damit sie ihn überwältigen konnten«, fuhr Lord Winthrop mit zunehmend zorniger Stimme fort. »Wieso lassen Sie es zu, daß die Situation derart ausufern konnte, können Sie mir das sagen?« »Wie Sie schon sagten, Sir.« Pitt mußte das Bild von Micah Drummond heraufbeschwören, das lange, sehr ernste Gesicht mit seiner adlergleichen Nase und den grauen, unschuldigen Augen, nur so konnte er seinen Gleichmut bewahren. »Captain Winthrop war ein Mann auf der Höhe seiner Kraft, von bester Gesundheit und mit einem gestählten Körper. Entweder waren seine Angreifer in der Übermacht, möglicherweise auch bewaffnet, oder aber er wurde von jemandem, dem er ohne Furcht entgegentrat, überrascht.« Lord Winthrop rührte sich nicht. »Was wollen Sie damit sagen?«
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»Daß es anscheinend keinen Kampf gegeben hat, Sir«, erklärte Pitt. Er hätte sich gerne bewegt, um seine innere Spannung zu lösen, doch in dem stillen Raum schien nur die äußerste Konzentration auf das tragische Ereignis angemessen. »Captain Winthrop hatte keinerlei Prellungen an Körper oder Armen«, fuhr er fort. »Keine Kratzer oder sonstige Flecken, keine Quetschungen an seinen Knöcheln. Auch waren seine Kleider nicht zerrissen oder beschädigt. Hätte es einen Kampf gegeben -« »Ja, ja, ja! Ich bin kein Idiot, Mann«, sagte Lord Winthrop ungeduldig. »Ich verstehe, was Sie da sagen.« Er löste sich plötzlich vom Kamin, ging zum Fenster und starrte mit hochgezogenen Schultern und steifem Rücken auf das dunkelgrüne Laub der Lorbeerbüsche. »Hintergangen - das ist es also. Der arme Oakley wurde hintergangen.« Er drehte sich wieder um. »Also gut, Oberinspektor Soundso, ich erwarte, daß Sie den Mörder finden und vor Gericht bringen. Sie verstehen mich doch hoffentlich?« Pitt schluckte die Antwort, die er auf der Zunge hatte, hinunter. »Jawohl, Sir. Selbstverständlich tun wir das.« Lord Winthrop war nur halb beschwichtigt. »Hintergangen. Gütiger Himmel!« »Wer wurde hintergangen?« Die Tür hatte sich, von beiden unbemerkt, geöffnet, und eine schlanke Frau stand im Raum. Ihr Haar war dunkel, und die großen blauen Augen lagen unter schweren Lidern. Sie sprach in herrischem Ton, in ihren Zügen zeigten sich Leidenschaftlichkeit, Intelligenz und Zorn. »Wer wurde hintergangen, Marlborough?« Lord Winthrop drehte sich zu ihr um, sein Gesicht war plötzlich völlig emotionslos. »Es ist nicht nötig, daß du dich damit befaßt, meine Liebe. Es ist besser, wenn du die Einzelheiten nicht weißt. Ich werde dir natürlich neue Nachrichten mitteilen, sobald ich sie erfahre.« »Unsinn!« Sie schloß die Tür hinter sich. »Wenn es mit Oakley zu tun hat, habe ich dasselbe Recht, darüber Bescheid zu wissen wie du.« Erst jetzt richtete sie ihren Blick auf Pitt.
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»Und wer sind Sie, junger Mann? Hat Sie jemand geschickt, damit Sie uns über die Situation in Kenntnis setzen?« Pitt atmete tief ein. »Nein, Lady Winthrop, ich bin mit dem Fall betraut und habe Sie aufgesucht, um Ihnen zu versichern, daß wir uns die größte Mühe bei der Aufklärung des Falles geben, und um Ihnen die wenigen Informationen zu übermitteln, die wir bereits zusammengetragen haben.« »Und stimmt es tatsächlich, daß mein Sohn hintergangen worden ist?« fragte sie. »Aber wie können Sie wissen, daß er hintergangen wurde, wenn Sie den Mörder noch nicht gefaßt haben?« »Evelyn, es wäre sicherlich besser ...«, begann Lord Winthrop. Sie ignorierte ihn völlig. »Wie können Sie so etwas wissen?« wiederholte sie und trat in die Mitte des Raumes auf den gemusterten Teppich. »Wenn Sie mit dem Fall betraut sind warum tun Sie dann nichts? Warum sind Sie dann hier? Wir können Ihnen nichts sagen.« »Mehrere meiner Männer sind unterwegs, um nach Hinweisen zu suchen und Fragen zu stellen, Madam«, erläuterte Pitt geduldig. »Ich bin gekommen, um Sie über den derzeitigen Stand der Ermittlungen zu informieren und zu erfahren, ob Sie einige Aspekte des Falles erhellen können -« »Wir? Was in Gottes Namen meinen Sie damit?« Ihre tiefliegenden Augen waren sehr groß und standen ein wenig zu dicht zusammen, um wahrhaft schön genannt zu werden. »Warum sagen Sie ‚hintergangen’? Wenn Sie an seine Frau denken, dann ist das völliger Unsinn.« Ein Schauder durchlief sie, so daß die steife Seide ihres Gewandes raschelte. »Sie ist eine aufopfernde Ehefrau. Die Vorstellung, daß sie sich zu anderen Männern hingezogen fühlte, ist völlig absurd. Ich weiß nicht, was für Menschen wir Ihrer Vorstellung nach sind.« »Er hat nicht gesagt -«, fing Lord Winthrop wieder an. »Wir gehören zum landbesitzenden Adel«, fuhr sie fort, wobei sie ihren Mann nicht beachtete und Pitt anstarrte. »Wir sind keine Geschäftsleute und heiraten keine Ausländer. Wir sind weder gierig noch ehrgeizig. Wir streben nicht
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nach Positionen, aber wir dienen mit Ehrgefühl und Fleiß, wenn wir dazu aufgerufen sind. Wir wissen uns zu benehmen, Mr. Pitt. Wir kennen unsere Pflicht und erfüllen sie getreu.« Die meisten Fragen, die Pitt hatte stellen wollen, ließ er fallen. Entweder würde man sie völlig mißverstehen oder als Beleidigung empfinden. »Ich hatte noch niemanden im Verdacht, Madam«, sagte er so besänftigend, wie er vermochte. »Es ist einfach nur so, daß Captain Winthrop keinerlei Widerstand geleistet hat, was darauf hindeutet, daß er von dem Täter keinen Angriff erwartete. Er wurde überrascht, woraus ich schließe, daß er den Täter kannte.« »Das tun Sie also!« In ihrer Stimme und ihrer Körperhaltung unter der schwarzen Seide lag eine Herausforderung. »Wenn ein Mann nach Einbruch der Dunkelheit allein im Park spazierengeht«, erläuterte Pitt, »ist er gewöhnlich sehr vorsichtig, wenn ein Fremder sich ihm nähert, und würde darauf achten, daß er ihm nicht den Rücken kehrt, meinen Sie nicht auch?« »Ich?« Sie war überrascht. »Ja, wahrscheinlich schon.« Sie trat näher ans Fenster und starrte auf das Spiel von Licht und Schatten auf dem Laub der Bäume. »Vielleicht hat einer seiner Nachbarn den Verstand verloren. Oder glauben Sie, daß es jemand von seinem Schiff war, der die Tat aus Neid begangen haben könnte, oder etwas in der Art? Vielleicht hat Oakley ihn in einem Wettbewerb besiegt oder ihn anders bloßgestellt. Wer immer es ist, ich erwarte, daß Sie ihn finden und dafür sorgen, daß er gehenkt wird.« »Selbstverständlich tut er das», warf Lord Winthrop ein. »Ich habe bereits mit Mr. Pitt darüber gesprochen. Er kennt meine Einstellung in dieser Frage.« »Es ist ihm vielleicht nicht bekannt, daß der Innenminister ein Verwandter von uns ist.« Sie sah Pitt mit scharfem Blick an. »Sowie viele andere, die Macht und Einfluß haben. Es ist ordinär, mit seinen verwandtschaftlichen Verbindungen zu prahlen, dennoch sollten Sie gewiß sein, daß wir nicht ruhen werden, bis die Sache geklärt und meinem Sohn
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Gerechtigkeit widerfahren ist.« Sie reckte das Kinn ein wenig. »Wir danken Ihnen, daß Sie gekommen sind, um uns über Ihre Absichten in Kenntnis zu setzen, aber ich möchte Sie bitten, nicht noch länger hier herumzustehen und Zeit zu verschwenden. Nehmen Sie unseren Dank, und machen Sie sich an die Arbeit.« Sie wandte sich ihrem Mann zu, was einer Entlassung Pitts gleichkam. »Marlborough, an die Verwandtschaft aus der Walsingham-Familie habe ich geschrieben. Es wäre vielleicht besser, wenn du an die Thurlows und die Sussex Mayburys schreiben würdest.« »Sie sind schon bestens unterrichtet, meine Liebe«, erwiderte er gereizt. »Die Zeitungen sind voll damit! Gütiger Himmel, jeder kleine Angestellte und jede Waschfrau in London ist mittlerweile mit allen Einzelheiten vertraut!« »Darum geht es nicht«, sagte sie. »Es obliegt uns, die Familie ordnungsgemäß in Kenntnis zu setzen. Sie werden Anstoß nehmen, wenn wir das unterlassen. Sie werden uns Kondolenzbriefe schreiben wollen. Außerdem bewahrt man die Todesanzeigen von Familienmitgliedern auf. Es ist also wichtig.» Sie schüttelte ungeduldig den Kopf, so daß das Licht auf ihrer Kette aus schwarzen Gagatperlen funkelte. »An die Wardlaws in Gloucestershire muß ich noch schreiben, ebenso an Cousin Reginald. Ich werde noch mehr schwarzgerändertes Papier bestellen. Schließlich kann man nicht normales Bütten verwenden.« »Hat Captain Winthrop je über Streitigkeiten gesprochen?« Pitt hatte das Gefühl, ein Privatgespräch zu unterbrechen, so sehr hatten sie bereits mit ihm abgeschlossen. »»Nein.« Lady Winthrop wandte sich ihm überrascht zu. »Niemals, soweit ich mich entsinnen kann. Er hat uns regelmäßig geschrieben, das versteht sich, und wenn er an Land war, ist er mindestens einmal bei uns zum Essen gewesen. Aber ich erinnere mich nicht, daß er je von Feindseligkeiten gesprochen hat. Er war sehr beliebt.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich dachte, das hätten wir bereits erwähnt.« »Menschen, die erfolgreich und beliebt sind, können den Neid derer auf sich ziehen, die weniger erfolgreich sind«, erklärte Pitt.
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»Ja, natürlich. Das ist mir durchaus klar«, erwiderte sie schroff. »Ich kann darüber nichts sagen. Das herauszufinden, gehört doch sicher zu Ihren Aufgaben, dafür sind Sie doch angestellt.« »Oakley hat nie jemanden erwähnt«, beantwortete Lord Winthrop die Frage. Er wollte die Hand zu seiner Frau ausstrecken, besann sich aber eines Besseren. »Aber er neigte nicht dazu, schlecht von anderen zu sprechen. Wahrscheinlich hätte er nichts bemerkt.« »Natürlich hat er nichts gemerkt», sagte sie barsch mit zusammengezogenen Brauen. »Der Oberinspektor hat bereits gesagt, daß er überrascht wurde. Wenn es jemand gewesen wäre, der ihn gehaßt hat, wäre Oakley auf der Hut gewesen. Er war kein Dummkopf, Marlborough!« »Verdammt, er hat jemandem vertraut, dem er nicht hätte trauen dürfen!» entfuhr es ihm in plötzlich aufwallendem Zorn. Sie schenkte ihm keine Beachtung und sagte: »Besten Dank, Mr. Pitt. Sie werden uns vermutlich auf dem laufenden halten. Guten Tag.« »Guten Tag, Madam«, gab Pitt folgsam zurück, ging an ihr vorbei zur Tür und verließ den Raum. Pitt hatte gegenüber Lord und Lady Winthrop nicht erwähnt, daß der Mord wahrscheinlich in dem Boot selbst verübt worden war. Ein Verdacht, der sich am folgenden Tag bestätigte, als Sergeant Le Grange in sein Büro kam. Er war kräftig gebaut, wenn auch nicht besonders groß, hatte dunkles Haar mit einem rötlichen Schimmer und ein attraktives Gesicht. »Sieht so aus, als hätte Mr. Tellman recht gehabt, Sir«, sagte er befriedigt, als er lächelnd vor Pitts Schreibtisch stand. »Die Tat wurde im Boot verübt, über die Seitenwand. Saubre Arbeit. Das Blut is ins Wasser geflossen. Keine Spuren.« Pitt biß die Zähne zusammen. Es war nicht Tellmans Idee gewesen, aber es wäre unglaublich kindisch, Le Grange darüber aufzuklären, selbst wenn dieser ihm Glau-
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ben schenkte. Wenn er aber daran zweifelte, würde Pitt wie ein Tropf dastehen. »Sie haben eine frische Kerbe im Holz gefunden«, sagte er gefaßt. Le Grange öffnete die Augen weit. »Ja, Sir! Hat Mr. Tellman Ihnen schon berichtet? Mir hat er gesagt, er hätt keine Zeit, zu Ihnen hinaufzugehn, da er jemanden in Battersea aufsuchen wollte.« »Nein, er hat es mir nicht gesagt«, erwiderte Pitt. »Aber unter den gegebenen Umständen hätte ich danach gesucht, und ich nehme an, Sie haben das auch getan.« »Oh, ich nich, Sir, nur weil Mr. Tellman es mir gesagt hat«, gab Le Grange bescheiden zurück. »Warum ist er nach Battersea gefahren?« Le Grange vermied es, Pitt anzusehen. »Das fragen Sie ihn lieber selbst, Sir.« »Suchen Sie noch nach der Waffe?« fragte Pitt. »Ja, Sir.« Le Grange verzog das Gesicht. »Bisher haben wir nichts gefunden und wissen auch nich, wo wir weitersuchen solln. Wahrscheinlich hat er sie wieder mitgenommen. Schließlich muß er sie gebracht haben, also hat er sie wieder mitgenommen.« »Sie haben den Grund des Serpentine-Sees abgesucht?« Pitt wollte nicht weiter diskutieren. Es war leider mehr als möglich, daß die Waffe immer noch im Besitz des Mörders war oder daß er sie an einer von tausend möglichen Stellen weggeworfen hatte. Schließlich konnten sie nicht den Grund der Themse danach absuchen. Die Waffe wäre im Schlamm schon längst tief versunken. »Aber ja, Sir. Mr. Tellman ist da sehr sorgfältig. Er hat darauf geachtet, daß wir das tun, und zwar gründlich. Jetzt is nichts mehr drin im See, kein Fetzen. Sie würden niemals glauben, was wir alles gefunden haben!« Seine Augen weiteten sich. »Zwei sehr gute Stiefel, beide für den linken Fuß. Schade eigentlich. Verstehe nich, wie jemand sie verlieren konnte. Drei Angelruten. Das is wahrscheinlich noch am leichtesten zu verstehen. Die unterschiedlichsten Kisten un Schachteln un ein Hut, der wie
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neu aussah. Sie werden es kaum glauben. Kein Geld, natürlich.« »Ich glaube Ihnen jedes Wort, Sergeant«, sagte Pitt, ohne die Miene zu verziehen, und beobachtete die Überraschung in Le Granges Gesicht mit Genugtuung. »Was sollen Sie laut Mr. Tellman als nächstes tun?« »Er hat gesagt, ich soll zu Ihnen gehen und von Ihnen hören, wie wir weiter vorgehen sollen, da es ja Ihr Fall is.« Seine Miene hatte sich inzwischen etwas entspannt, doch war sie immer noch zurückhaltend, wie die eines Mannes, dessen Mißtrauen nur schwer zu überwinden war. Pitt gab sich Mühe, darüber hinwegzusehen. »Haben Sie schon mit den Nachbarn gesprochen?« »Jawohl, Sir. Keiner konnte uns eine nützliche Auskunft geben. Eine ältere Frau hat ihn beobachtet, wie er zu seinem Spaziergang aufgebrochen is, aber da wir ja schon von Mrs. Winthrop wissen, wann er gegangen is, haben wir da nichts Neues erfahrn.« »Das haben wir wohl«, widersprach ihm Pitt. »Es bestätigt uns, daß sie die Wahrheit sagt.« »Sie haben sie doch nich im Verdacht, Sir, oder?« fragte Le Grange ungläubig und mit einer Spur Sarkasmus, versteckt hinter respektvollem Gebaren. »Sie is doch eine recht zierliche Frau, Sir. Zwar groß, aber ein Federgewicht. Nichts dran an ihr.« »Nicht, daß sie es selbst getan haben könnte, Sergeant, aber es ist nicht unmöglich, daß sie daran beteiligt war. Sehr viele Verbrechen haben ihren Ursprung im Privaten.« »Ach so. Na ja, vermutlich haben Sie damit recht«, gab Le Grange großmütig zu. »Aber ich kann mir nich vorstellen, daß eine Lady wie sie ... Na ja, vermutlich kennen Sie die Adligen, Sir.« »Es ist lediglich eine Möglichkeit, Le Grange, mehr nicht. Ich nehme an, keiner hat gesehen, daß jemand sich ihm genähert hat?« »Nein, Sir.« »Und all diese Nachbarn und Bekannten, waren die alle zu Hause?«
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»Sir?« »Können sie Rechenschaft darüber ablegen, wo sie in der Nacht bis ungefähr drei Uhr morgens waren, Sergeant?« »Ich weiß nich, Sir.« »Dann ist das Ihre nächste Aufgabe. Finden Sie es heraus!« »Jawohl, Sir. Wäre das dann alles?« »Bis Sie die Antwort haben, ja!« »Sir!« Le Grange drehte sich zackig auf dem Absatz um und ging, während Pitt leicht gereizt zurückblieb, wohl wissend, daß er daran nichts ändern konnte. Es gab noch andere Fälle, die wenigstens einen Teil seiner Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen: ein Einbruch, ein Feuer, das auf Brandstiftung schließen ließ, Veruntreuung in einer Börsenmaklerfirma. Am Nachmittag des folgenden Tages teilte ein blasser und atemloser Sergeant Pitt mit, daß ein Herr aus dem Innenministerium ihn zu sprechen wünschte. Kaum war er mit einem entschuldigenden Blick zurückgetreten, als auch schon ein großer, vornehmer Herr ins Zimmer kam. Der Sergeant machte sich eilig aus dem Staub. »Landon Hurlwood«, stellte der Herr sich vor, als Pitt sich erhob. »Guten Tag, Oberinspektor. Verzeihen Sie, daß ich Sie ohne Vorankündigung aufsuche, doch die Sache ist von einiger Dringlichkeit, und ich hatte gerade einen Moment Zeit.« »Guten Tag, Mr. Hurlwood«, sagte Pitt gefaßt. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.« Er deutete auf den Stuhl, auf dem er so oft gesessen hatte, als dies noch Micah Drummonds Büro war. Als Hurlwood sich niederließ, nahm auch Pitt wieder auf seinem Lehnstuhl Platz und sah den Besucher gespannt an.
Hurlwood war groß, fast ebensogroß wie Pitt, von schlankem Wuchs und drahtig, obwohl Pitt ihn auf Ende Fünfzig schätzte. Sein Haar war von reinem Stahlgrau und lag ihm dicht und lockig über den Ohren. Er hatte feine, sehr dunkle Augen und edle Züge. Er setzte sich und schlug völlig entspannt die Beine übereinander.
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»Dieser entsetzliche Mord an Captain Winthrop, Oberinspektor«, hob er an und musterte Pitt mit einem kleinen Lächeln. »Was wissen wir bisher darüber?« Pitt referierte die Fakten, behielt aber alle Spekulationen und Schlußfolgerungen für sich. Hurlwood hörte aufmerksam zu. »Verstehe«, sagte er schließlich. »Ich gestehe, daß es übler ist, als ich vermutet habe. Man macht immer große Abstriche bei dem, was die Zeitungen schreiben. Ich fürchte, sie sind mehr an Sensationen interessiert als an der Wahrheit und schreiben für den einfachen Leser. Doch in diesem Fall scheint die Berichterstattung ja korrekt zu sein, auch wenn die Wortwahl häufig leicht hysterisch ist. Sagen Sie mir aufrichtig, Oberinspektor, wie gut sind die Aussichten, daß Sie diesen Verrückten schnappen?« »Wenn es ein Verrückter ist, der willkürlich gemordet hat, dann sind sie sehr gering«, erwiderte Pitt, »es sei denn, er begeht einen zweiten Mord und hinterläßt mehr Spuren.« »Gütiger Himmel! Was für ein entsetzlicher Gedanke! Ich vermute, Sie gehen nicht davon aus, daß es eine Räuberbande war. Nein, ich gestehe, das scheint eher unwahrscheinlich. Sie hätten nichts zurückgelassen, und wie Sie sagen, befanden sich Goldmünzen in der Tasche des Opfers sowie eine goldene Uhr mit einer Uhrkette.« Sein eleganter Kopf machte eine verneinende Bewegung. »Und warum sollten Diebe dem armen Mann den Kopf abschlagen? Diebe gehen mit Messern und Knüppeln bewaffnet vor, vielleicht haben sie eine Würgschraube, aber kein Entermesser. Ihrer Meinung nach liegt die Antwort also darin, daß es entweder ein Verrückter war oder jemand, der ihn kannte?« Seine Lippen wurden schmal. »Wie unangenehm!« »Für die Öffentlichkeit weniger beängstigend als eine Räuberbande, die ihre Opfer köpft«, bemerkte Pitt. »In der Tat, sehr wahr.« Auf Hurlwoods Gesicht lag ein schwaches Lächeln. »Dennoch muß der Fall so schnell wie möglich aufgeklärt werden. Was ich gern wissen möchte, falls Sie mir das sagen können: Hat es Ihrer Meinung nach
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etwas mit der Marine zu tun? Es wäre nur verständlich, wenn das Marineministerium das wissen wollte.« Pitt spürte einen Anflug von Angst und stellte sich vor, daß man Vorbereitungen traf, zu leugnen oder ein Dementi herauszubringen. »Wir haben bisher nichts gefunden, was darauf hindeutet«, erwiderte er zurückhaltend. »Ich war in Portsmouth und habe mit seinem Lieutenant gesprochen, der mir versicherte, daß es dort keinen Streit gegeben hat. Und er wurde ja erst acht Tage nach seiner Ankunft hier in London umgebracht.« »Aufschlußreich.« Hurlwood nickte und entspannte sich etwas. »Viel Zeit dazwischen, wenn es einen Streit bis aufs Blut gegeben hat. Kaum die Hitze des Moments. Dennoch nicht genug, es auszuschließen.« Er war ganz ruhig, seine langen, eleganten Hände waren nicht mehr zu Fäusten geballt, aber er war nicht so naiv, sich leicht abspeisen zu lassen. »Ich habe auch so viele seiner Kollegen wie möglich überprüfen lassen, um herauszubekommen, ob sie zum Zeitpunkt des Todes in Portsmouth waren«, fügte Pitt hinzu. »Bisher haben die Ermittlungen ergeben, daß sie alle um Mitternacht oder doch zu einer Zeit in Portsmouth waren, die es unmöglich macht, daß sie in London gewesen sein könnten, auch nicht mit dem schnellsten Zug.« »Verstehe. Ja, das ist eindeutig.« Hurlwood erhob sich schwungvoll von seinem Stuhl. Seine Kleider waren von ausgesuchter Qualität. Pitt fühlte sich neben ihm schäbig. Micah Drummond würde bei einem solchen Vergleich nicht so schlecht abschneiden. Er war kein Dandy, besaß aber die für einen echten Gentleman mühelose Eleganz. Auch Pitt erhob sich. An seinem Jackett beulten sich die Taschen, in denen die Notizen steckten, die ihm der Schalterbeamte gegeben hatte, sowie ein Knäuel Bindfaden, das er für ein Paket gebraucht hatte. »Es bleibt also nur ein persönliches Motiv«, fuhr Huriwood fort. »Dennoch nehme ich an, daß Sie der Sache Ihre ganze Aufmerksamkeit schenken, Oberinspektor, angesichts der Art des Verbrechens und der angesehenen Familie des Opfers.« Das war keine Frage, sondern eine Aufforderung.
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»Selbstverständlich«, pflichtete Pitt ihm bei. »Jedoch ist Eile in dieser Angelegenheit unangemessen.« Hurlwood bedachte ihn mit einem offenen Lächeln. Seine Zähne waren in ausgezeichnetem Zustand, und er war sich dessen zweifelsohne bewußt. Doch in dem Lächeln lag auch eine gute Portion Humor und eine Würdigung all dessen, was Pitt nicht erwähnt hatte. »Natürlich«, stimmte er zu. »Ich beneide Sie keineswegs, Oberinspektor. Sehr aufmerksam von Ihnen, mir Ihre Zeit zur Verfügung zu stellen. Guten Tag, Sir.« »Guten Tag, Mr. Hurlwood«, erwiderte Pitt und mußte über den Euphemismus schmunzeln. Der Tag würde für keinen von ihnen gut werden. Hurlwood war kaum eine halbe Stunde weg, als der Sergeant wieder mit großen Augen und keuchendem Atem in der Tür stand. Diesmal war es Giles Farnsworth, der stellvertretende Polizeipräsident, der einen Schritt hinter ihm über die Schwelle trat. Er hatte ein faltenloses Gesicht, war glatt rasiert und vielleicht zehn Jahre jünger als Hurlwood. Jetzt wirkte er verärgert und gehetzt. Sein Hemd war blütenweiß, der Stehkragen eine Spur zu eng. Das dichte, hellbraune Haar trug er aus der Stirn gekämmt. Sein Gesichtsausdruck zeigte Besorgnis und beginnenden Unmut. »Guten Tag, Pitt.« Er schloß die Tür hinter sich und blieb stehen. Pitt kam hinter seinem Schreibtisch hervor. »Guten Tag, Sir.« »Diese verdammte Winthrop-Angelegenheit«, sagte Farnsworth mit vor Widerwillen geschürzten Lippen. »Was haben Sie bisher getan? Wir können den Fall nicht schleifen lassen. Der Ruf der Polizei ist schon schlecht genug. Wir haben uns nie von Jack the Ripper und dem Schaden, den das angerichtet hat, erholt. Einen zweiten Fall dieser Art können wir uns nicht leisten!« »Kein Grund anzunehmen, daß es ein zweiter wird -«, begann Pitt.
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Farnsworths Unmut brach unmittelbar hervor. »Großer Gott, Mann! Natürlich wird es dazu kommen, wenn wir einen kriminellen Verrückten haben, der im Hyde Park sein Unwesen treibt. Warum sollte er sich mit einer Leiche zufriedengeben?« Sein Kopf zuckte wütend. »Und wenn es eine Räuberbande ist, die weiß der Kuckuck woher kommt, dann macht sie so weiter, solange sie ungeschoren davonkommt! Auf den Straßen wird wieder Panik herrschen, die Leute werden sich fürchten, vor die Tür zu treten, die halbe Stadt wird lahmgelegt...» »Captain Winthrop wurde nicht ausgeraubt.« »Dann ist es ein Verrückter.« »Er hat sich auch nicht zur Wehr gesetzt.« Pitt bemühte sich, die Ruhe zu bewahren. Er verstand Farnsworths Angst. Die politische Situation war angespannt. Die Whitechapel-Affäre hatte häßliche anarchistische Tendenzen zutage gefördert und eine Gewalt, die furchterregend knapp unter der Oberfläche schwelte. In mehreren großen Städten gab es Unruhen, die alte Wunde der irischen Frage brannte wie eh und je, und die Beliebtheit der Monarchie war auf einen Tiefpunkt gesunken. Es bedurfte nur eines winzigen Funkens, um die kaum verborgene Furcht zu einem Feuer der Zerstörung anzufachen, das viele mitreißen würde. »Er wurde in dem Vergnügungsboot getötet, während er sich über den Rand beugte, und zwar mit einem glatten Hieb«, faßte Pitt zusammen. Farnsworth stand still, die Muskeln in seinem Gesicht waren angespannt. »Was wollen Sie damit sagen, Pitt? Daß es jemand war, den er kannte? Er muß ihn gut gekannt haben. Warum um alles in der Welt begibt sich ein hoher Marineoffizier mitten in der Nacht in ein Vergnügungsboot auf dem Serpentine-See, zusammen mit einem anderen Mann, der eine Axt dabei hat? Das ist absurd. Und sehr, sehr häßlich, Pitt.« »Das weiß ich, Sir.« »Wer ist er? Was hat er für ein Privatleben? Was ist mit seiner Frau? Wenn es einen Skandal gibt, dann müssen Sie
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ihn soweit wie möglich vertuschen. Ich hoffe, Sie wissen das.« Er blickte Pitt scharf an. »Ich decke das private Leid und die Sünden der Menschen nie freiwillig auf«, gab Pitt zurück, doch Farnsworth durchschaute die ausweichende Antwort. »Die Winthrops sind eine wichtige Familie, haben überall Verbindungen«, fuhr Farnsworth fort und bewegte sich ruhelos hin und her. »Seien Sie um Himmels willen diskret. Und ziehen Sie nicht so ein Gesicht, Mann. Ich weiß, daß Sie den Fall aufklären müssen!« Er biß sich auf die Lippe. Sein Blick wich nicht von Pitts Gesicht. Offensichtlich ging ihm etwas durch den Kopf. Pitt wartete. »Das wird nicht leicht werden«, sagte Farnsworth noch einmal. Die Bemerkung war so naheliegend, daß Pitt nichts erwiderte. Farnsworth musterte Pitt von Kopf bis Fuß und dachte immer noch nach. »Sie werden Verbindungen brauchen«, sagte er langsam. »Nicht unmöglich. Zwar ein Emporkömmling, aber das schließt Macht nicht aus, müssen Sie wissen.« Pitt spürte einen Anflug von Furcht, blieb aber stumm. »Die richtigen Freunde können vieles in der Welt erleichtern«, spann Farnsworth den Faden weiter, »wenn es die richtigen sind.« Die Furcht ließ nach. Es war nicht, was Pitt befürchtet hatte. Er lächelte unwillkürlich. Auch Farnsworth lächelte. »Sehr gut«, sagte er zustimmend. »Öffnet Ihnen eine Menge Türen, bringt Ihre Karriere voran. Drummond war auch dabei, wußten Sie das?« Pitt erschauderte. Es war doch der Innere Kreis, auf den er hier anspielte. Die geheime Gesellschaft, die nach außen so wohltätig war, nach innen aber bösartig, und der Drummond voller Naivität beigetreten war, was er später bitter bereute. Als Preis für den Schutz, den sie gewährte, mußten die Mitglieder ihre Loyalitäten sowie ihre Gewissensfrei-
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heit aufgeben. So wurde erreicht, daß eine Armee Unbekannter zur Hilfe der anderen bereitstand und umgekehrt jederzeit auf die Hilfe der einzelnen Mitglieder zählen konnte, ungeachtet der Kosten. Der Preis für Verrat war der Ruin, manchmal sogar der Tod. Man kannte immer nur etwa ein halbes Dutzend anderer Mitglieder, je nach Situation. So konnte man unmöglich wissen, wem man Loyalität versprach, noch in welcher Sache. »Nein.« Das Wort entfuhr Pitt, bevor er sich klar werden konnte, wie unklug es war, aber er fühlte sich in die Enge getrieben, als ob die Dunkelheit ihn gefangennähme und sich langsam um ihn schlösse. »Ich ...« Er atmete ein und stieß die Luft langsam wieder aus. Farnsworth war vor Ärger rot angelaufen, in seinen Augen erschien ein hartes Glitzern. »Sie machen einen Fehler, Pitt«, sagte er mit zusammengepreßten Zähnen. »Ich bin kein Mitglied.« Pitt versuchte seine Stimme, so gut es ging, zu beherrschen. »Wenn Sie Erfolg haben wollen, dann sollten Sie besser eins werden.« Farnsworth sah ihn ohne ein Lächeln an. Sonst schließen sich die Türen. Und ich weiß, wovon ich spreche. Sie müssen diesen Fall schnell aufklären.« Er zeigte zum Fenster und auf die Straße. »Haben Sie die Zeitungen gelesen? Schon jetzt macht sich in der Öffentlichkeit Panik breit. Sie haben keine Zeit zu verlieren.« Er ging zur Tür. »Ich gebe Ihnen drei Tage, dann kommen Sie mit entscheidenden Erkenntnissen. Und ich erwarte, daß Sie sieh die andere Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Sie brauchen Freunde, glauben Sie mir. Sie brauchen Sie sogar sehr.« Damit ging er und ließ die Tür hinter sich offen, so daß Pitt seine Schritte auf der Treppe hören konnte.
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3. Kapitel
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war hatte Charlotte gehört, wie die Zeitungsjungen die neuesten Spekulationen über den Mord im Hyde Park ausriefen, doch hatte sie dem weniger Aufmerksamkeit gewidmet als Pitts anderen sensationellen Fällen, denn sie hatte den Kopf voll mit den Stuckarbeiten an der Decke ihres neuen Hauses. Jetzt gerade stand sie in der Mitte des zukünftigen Salons und starrte in die Höhe. Der Stukkateur, ein dünner, traurig wirkender Mann Mitte Dreißig mit melancholischen Augen und einer langen Nase, stand vor ihr und schüttelte den Kopf. »Da is nix zu machen, Ma'am. Klar, dasse nich verstehen, warum nich, aber es geht nich. Is komplett hinüber, die Sache. Aber komplett.« Charlotte begutachtete den bröckelnden Stuck des Gesimses. »Aber es ist insgesamt höchstens ein halber Meter. Warum können Sie das nicht einfach erneuern?« fragte sie und fand die Frage berechtigt. »Unmöglich.« Wieder schüttelte er den Kopf. »Das würde dann gestückelt aussehen, Ma'am. War nich korrekt. Das is gegen meine Handwerkerehre, so was mach ich nich.« Er warf ihr einen entrüsteten Blick zu. »Würde es nicht«, beharrte sie. »Nicht, wenn Sie dasselbe Muster nehmen.« »Alte Kleider kann man nich mit neuem Stoff flicken, Ma'am. Lesen Se denn nich inner Bibel?» sagte er vorwurfsvoll. »Nicht, wenn ich wissen will, wie meine Decke repariert werden soll, dann nicht«, gab sie forsch zurück. »Also
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wenn Sie dieses kleine Stück nicht ersetzen können, wie sieht es dann mit dieser Seite aus?« »Na ja ...» Er legte den Kopf auf die Seite und betrachtete die Decke mit zusammengekniffenen Augen. »Bin mir nich so sicher. Könnt'n andres Muster sein, was?» »Ist dasselbe nicht aufzutreiben? In meinen Augen sieht es gar nicht so schwierig aus.« »Sie sin ja auch kein Stukkateur nich, Ma'am. Fragen Se ma Ihren Gatten, der soll es Ihnen erklärn.« »Mein Mann ist auch kein Stukkateur«, sagte sie, jetzt leicht gereizt. »Richtig, Ma'am. Da ham Se wohl recht«, stimmte er ihr zu. »Aber er isn Mann, un Männer verstehen mehr von solche Dinge als Frauen, wenn Se wissen, was ich meine.« Er schenkte ihr ein herablassendes Lächeln. »Ich für meinen Teil würd ja nich wissen, wie man'n Saum näht oder 'n Kuchen backt, aber bei Gesimsen un so, da kenn ich mich aus. Un 'ne Rosette wollen Se sicher auch, damit Sie einen Leuchter dranhängen können. Muß man auch drauf achten, sonst is das alles für die Katz.« »Und was wird eine neue Rosette kosten?« »Na ja, das kommt jetzt drauf an, ob Se Papierstuck ham wolln, was ja ganz leicht is, und billig noch dazu, und da fangen die Preise bei drei Schillinge an für eine mit neunzehn Zoll Durchmesser bis zu einer mit 'nem Durchmesser von neunundvierzig Zoll - aber die war zu groß für dieses Zimmer -, und die kostet dann zweiunddreißig Schillinge und siebeneinhalb Pence.« Geräuschvoll sog er die Luft ein und fuhr fort: »Oder Se nehmen Gips, entweder glatt oder perforiert, und das kostet dann ein Schilling und Sixpence, so in dem Dreh, für zwölf Zoll, bis zu vier Schillinge und Sixpence für eine mit dreißig Zoll, Durchmesser. Kommt ganz drauf an, was Se wolln.« »Aha. Gut, ich überlege es mir noch einmal. Und was ist jetzt mit der Lampe in der Eingangshalle?« »Na ja, das is wieder was ganz andres. Wenn Se 'ne ganz normale Hängelampe aus Glas nehmen, dann kostet Se das vier Schillinge und Sixpence. Un die gibt es auch größer für
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sieben Schillinge und Sixpence.« Er schüttelte den Kopf. »Das is natürlich ohne Schirm.« »Aber so etwas möchte ich ja gar nicht. Ich möchte viel lieber eine aus geschliffenem Glas.« »Na gut - das is dann um einiges teurer, Ma'am. Die kommen dann so um die einundfünfzig Schillinge das Stück, bronziert oder lackiert. Wenn Sie aber eine polierte ham wolln, dann kostet Sie das die siebenundfünfzig Schillinge.» Er schien die Luft durch einen hohlen Zahn zu saugen und starrte sie an. »Die anderen gefallen mir einfach nicht«, sagte sie entschieden. »Sie sind ordinär.« »Für die Dame, die wo gegenüber wohnt, hab' ich so eine grad angebracht«, sagte er mit einiger Befriedigung. »Sieht ganz hübsch aus. Is auch 'ne sehr nette Dame. Die Kusine von ihr is mit dem Schwager von Lady Winslow verheiratet.« Er sagte dies, als ob die Frage damit geklärt sei. »Dann wird sie mir nicht danken, wenn ich dieselbe Lampe habe«, entgegnete Charlotte. »Was machen wir mit der Kreuzblume auf dem westlichen Giebel? Können Sie eine auftreiben, die zu den anderen paßt?« »Das weiß ich ja nun nich.« Er schüttelte zweifelnd den Kopf. »Besser war's, Se würden die andren auch ersetzen-« »Unsinn!« erschallte eine kräftige Stimme von der Haustür. »Besorgen Sie eine passende Kreuzblume, junger Mann, oder meine Nichte gibt den Auftrag an jemand anderen.« Freudig überrascht wirbelte Charlotte herum und erblickte Großtante Vespasia, die ins Zimmer trat. Genaugenommen war sie Emilys Großtante aus deren erster Ehe. Georges Tod hatte jedoch der gegenseitigen Zuneigung keinen Abbruch getan; im Gegenteil, die beiden Frauen lernten sich im Laufe der Zeit immer mehr schätzen. Charlotte nahm gerührt zur Kenntnis, daß Vespasia von ihr als ihrer Nichte gesprochen hatte, obwohl diese Verwandtschaftsbezeichnung nicht auf sie zutraf. »Tante Vespasia«, sagte sie denn auch sofort. »Ich freue mich so, dich zu sehen! Du bist gerade im richtigen Moment gekommen, um mich zu beraten. Leider kann ich dir
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keine Erfrischung anbieten. Kaum, daß ich einen Stuhl für dich habe.« Sie wollte sich vielfach entschuldigen, obwohl sie Vespasia gar nicht eingeladen hatte und deshalb auch nicht für die Situation verantwortlich war. Vespasia schenkte ihr keine Beachtung und wandte sich dem Stukkateur zu, der keine Ahnung hatte, wer sie war, aber häufig genug in Häusern Wohlhabender arbeitete, um zu begreifen, daß er jetzt der absolut Unterlegene war. Diese Dame war ein anderes Kaliber. Sie war groß und schlank, fast könnte man sagen, hager, doch mit einem ausgeprägten, wie gemeißelten Gesicht, in dem man immer noch erkennen konnte, warum sie in ihrer Jugend in ganz England als Schönheit gerühmt worden war. Sie sah ihn an, als ob er den zerbröckelten Putz verkörperte. »Was werden Sie da tun?« fragte sie mit einem Blick auf den reparaturbedürftigen Stuck. »Die Seite wird repariert«, sagte Charlotte schnell. »Das stimmt doch, Mr. Robinson?« »Wenn Se meinen, Ma'am«, erwiderte er schmollend. »Gut«, nickte Vespasia zustimmend. »Und ich bin mir sicher, daß Sie eine passende Rosette finden werden, wenn Sie sich nur bemühen. Was ist mit der Zierleiste? Sie ist in einem erbärmlichen Zustand. Sie werden sie vollständig auswechseln müssen.« Sie sah Robinson an. »Am besten beginnen Sie gleich mit der Suche nach etwas Passendem.« So beendete sie die Diskussion mit ihm und wandte sich Charlotte zu. »Also, meine Liebe, wohin können wir denn gehen, damit dieser Mann in Ruhe arbeiten kann? Wie steht es mit dem Garten? Er sieht sehr hübsch aus.« »Meinetwegen«, erklärte Charlotte sich hastig bereit. Sie ging voran, öffnete die Terrassentür für Vespasia und schloß sie dann hinter ihr. Draußen auf der gepflasterten Terrasse war es angenehm mild, der Duft von geschnittenem Gras lag in der Luft, und ein Hauch von Hyazinthen drang aus einem fernen Garten zu ihnen. Vespasia hielt sich sehr aufrecht, die Sonne brachte ihr silberweißes Haar zum Leuchten, und ihre Hand ruhte auf dem schwarzen Stock mit dem Silberknauf.
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»Du wirst einen Gärtner einstellen müssen«, bemerkte sie. »Wenigstens zweimal in der Woche. Thomas hat auf keinen Fall Zeit, sich um die anfallenden Arbeiten zu kümmern. Wie findet er sich in seiner neuen Stelle zurecht? Seine Beförderung war längst überfällig.« Es wäre Charlotte niemals in den Sinn gekommen, ihr nicht die ganze Wahrheit zu erzählen. »Im großen und ganzen recht gut«, antwortete sie. »Aber einige seiner Mitarbeiter machen ihm das Leben ziemlich schwer. Sie sind verärgert darüber, daß er für die Beförderung ausgewählt wurde, obwohl sie sich für ebenso kompetent halten. Micah Drummond lag ihnen mehr. Er war ein standesgemäßer Gentleman, und somit hatte alles seine Richtigkeit. Aber von Thomas nehmen sie nicht gerne Befehle entgegen.« Sie lächelte flüchtig. »Nicht, daß er mir viel darüber erzählt. Ich höre das aus den wenigen Bemerkungen heraus und manchmal aus dem, was er nicht sagt, Aber bestimmt wird es besser ... mit der Zeit.« »Sicherlich.« Vespasia wagte sich auf den Rasen hinaus. »Was ist mit dem neuesten Fall - diesem unglücklichen Mann, der im Park geköpft wurde? Die Zeitungen haben es zwar nicht erwähnt, aber ich nehme an, Thomas ist mit dem Fall betraut?« »Ja, das stimmt.« Charlotte sah sie fragend an und wartete darauf, daß sie ihr Interesse näher erläuterte. Vespasia hielt ihren Blick auf die Bäume am Ende des Gartens gerichtet. »Du erinnerst dich sicherlich an Richter Quade«, begann sie beiläufig, als handele es sich um eine Nebensache. »Ja«, erwiderte Charlotte ebenso beiläufig. Sie vergegenwärtigte sich wieder das einfühlsame, asketische Gesicht des Richters und erinnerte sich an die Gefühle, die er in ihr wachrief, an seine unbeirrbare Integrität in dem FarrierLane-Fall, an eine für Charlotte überraschende Vergangenheit, die mit ihm wiederauflebte, und vor allem an die Veränderungen, die in Vespasia sichtbar wurden, ihre plötzliche Verletzbarkeit, ihr zartes Erröten (das Charlotte nie zuvor gesehen hatte), das Lachen und das Leuchten in ihren Augen.
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»Ja, natürlich erinnere ich mich an ihn«, sagte sie noch einmal. Sie wollte sich schon nach seinem Befinden erkundigen, hielt sich aber im letzten Moment zurück. Vespasia gehörte nicht zu den Menschen, mit denen man lächerliche Spielchen treiben konnte. Besser, man wartete in Ruhe ab, was sie zu sagen hatte. »Er ist ein guter Bekannter von Lord und Lady Winthrop", erklärte Vespasia und schritt weiter auf die Rasenfläche, wobei sich der Rocksaum in den langen Halmen verfing. Charlotte blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, wenn sie die Unterhaltung fortsetzen wollte. »Wirklich?» Sie war überrascht. Thelonius Quade war ein Mann von großer Intelligenz und stillem Humor. Emilys Erzählungen hatte sie entnommen, daß Lord Winthrop das genaue Gegenteil dazu war. »Gesellschaftlich?« fragte sie. Vespasia lächelte amüsiert. »Er kennt sie wohl kaum beruflich, meine Liebe. Marlborough Winthrop tut nichts, was auch nur im mindesten nützlich wäre. Aber das ist ja kein Verbrechen, sonst müßte die Hälfte der Adeligen vor Gericht gestellt werden. Natürlich gesellschaftlich, doch vermutlich war Thelonius dabei nicht die treibende Kraft. Der Lord ist ein entsetzlicher Langweiler, und seine Frau ist noch schlimmer. Sie ist unbeugsam in ihren Ansichten, die sie allesamt von anderen Menschen entliehen hat. So wie andere Leute sich mit Krankheiten infizieren, infiziert sie sich mit Meinungen.« »Kannte er Captain Winthrop?« fragte Charlotte mit wachsendem Interesse. »Nur flüchtig.« Vespasia stand jetzt mitten auf der Rasenfläche, wo die zarte Brise mit der hellgrünen Seide ihres Rockes spielte. Ihre Bluse hatte die Farbe von Elfenbein, dazu trug sie eine lange, schwere Perlenkette. Charlotte fragte sich, ob sie selbst je so mühelos elegant wirken würde. »Es muß ihm nahegehen, wenn er mit ihnen befreundet ist«, sagte Charlotte verhalten.
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»Selbstverständlich.« Vespasia erledigte diesen Aspekt mit einer kleinen Kopfbewegung. Sie machte ein paar Schritte auf dem Rasen. »Die Beerdigung fand im Kreis der Familie statt, aber morgen ist die Totenmesse, zu der Thelonius gehen wird. Ich denke, ich werde ihn begleiten.« Sie sah Charlotte mit dem Anflug eines Lächelns an. »Würdest du uns begleiten wollen?« Es wäre unhöflich und außerdem völlig unnötig gewesen Tante Vespasia nach dem Zweck dieser Einladung zu fragen. Sie dachte weder an die Winthrops noch an Thelonius, und ganz gewiß nicht an sich selbst. Sie war in der Vergangenheit an vielen gesellschaftlichen Kreuzzügen beteiligt gewesen und mit unermüdlicher Leidenschaft für verschiedene Belange eingetreten. Eine ähnliche Energie und Hingabe hatte sie bewiesen, als sie sich in mehrere von Pitts Fällen einschaltete und es Emily und Charlotte ermöglichte, an Leute und Orte heranzukommen, die ihnen normalerweise unzugänglich waren. Es wäre plump zu sagen sie empfände Genuß bei dergleichen Einmischungen. Es war mehr als das und hatte auch eine andere Qualität. Doch jetzt konnte man das Glitzern in ihren Augen kaum mißdeuten. »Es ist ein äußerst unangenehmer Fall«, sagte Charlotte vorsichtig, nachdem sie Vespasia eingeholt hatte und ihr Augenmerk auf die Osterglocken mit ihren schlanken Stengeln richtete. »Aus den Zeitungsberichten klingt ein schriller Unterton heraus«, fügte Vespasia hinzu. »Es ist sehr wichtig, daß Thomas sich so schnell wie möglich auf seinem neuen Posten bewährt. Es handelt sich hier um einen außergewöhnlichen Fall, zumindest erscheint es im Moment so. Wir müssen tun, was wir können.« »Die Zeitungen sprechen von einem Verrückten, der frei herumläuft«, sagte Charlotte unglücklich. »Unsinn!» Vespasia verwarf diese Idee. »Wenn es im Hyde Park einen Verrückten gibt, der den Menschen die Köpfe abhackt, hätten wir inzwischen schon mehr von ihm gehört.»
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»Jemand, der ihn kannte?« fragte Charlotte aufmerksam. Sie vergaß die Osterglocken und nahm die Brise in den Baumwipfeln sowie die wie mit Gold besetzten Zweige der Forsythie kaum wahr. »Das scheint die unvermeidliche Schlußfolgerung zu sein«, pflichtete Vespasia ihr bei. »Thelonius hat mir gesagt, daß er nicht ausgeraubt wurde. So hätte zumindest Lord Winthrop gesagt.« Charlottes blühende Phantasie regte sich. Zunächst erwähnte sie das, was ihr am offensichtlichsten schien. »Seine Frau hat einen Liebhaber? Oder er hatte ein Geliebte, deren Mann ...» »Also wirklich!« brach es aus Tante Vespasia heraus. »Oakley Winthrop war vielleicht kein phantasievoller Mensch, aber er war auch kein Idiot. Wenn dir das Unglück widerfährt, daß du bei einem mitternächtlichen Spaziergang im Park dem Liebhaber deiner Frau begegnest, der eine Axt bei sich trägt, steigst du wohl kaum mit ihm in ein Vergnügungsboot. Was würdest du dort bereden? Die gleichmäßige Aufteilung ihrer Gunst?« Charlotte unterdrückte ein Kichern, beharrte aber auf ihrer Idee. »Vielleicht war er auch ein Bekannter, und Winthrop wußte nichts von der Liebschaft«, spann sie den Faden weiter. »Wenn es der Liebhaber seiner Frau war, war sie bestimmt sehr verschwiegen. Schließlich war Captain Winthrop ziemlich häufig fort. Vielleicht hat er nie daran gedacht, daß sie sich für einen anderen Mann interessieren könnte.« »Wenn er aber von der Liebschaft nichts wußte, warum sollte ihn dann der Liebhaber umbringen?« fragte Vespasia und zog die Augenbrauen noch eine Spur höher. »Das scheint absurd und völlig unnötig.« »Dann war es vielleicht der Mann seiner Geliebten?» Charlotte dachte laut. »Der kann ja ein sehr eifersüchtiger Mann gewesen sein.« »Und warum sollte sich Winthrop dann mitten in der Nacht mit ihm in ein Boot begeben?« Vespasia schwang ihren Stock über ein paar lange Grashalme.
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»Vielleicht hat er gar nicht...«, hob Charlotte an, merkte dann aber, daß der Gedanke töricht war. »Seine Geliebte war naiv?« sagte Vespasia mit einem nachsichtigen und zugleich belustigten Lächeln. »Das bezweifle ich. Nicht so naiv, daß sie nicht über das Wesen ihres Mannes Bescheid wußte.« Sie drehte sich um und ging über das lange Rasenstück zurück zum Haus. »Nein, je länger man darüber nachdenkt, desto absonderlicher erscheint es. Ich denke, daß Thomas die Unterstützung, die wir ihm geben können, gut gebrauchen kann.« Aus ihrer Stimme war nicht die geringste Begeisterung herauszuhören, aber auch mit äußerster Willenskraft konnte sie das aufkeimende Interesse an diesem Gedanken nicht verbergen. »Dann werde ich auf jeden Fall morgen mit dir zu der Totenmesse gehen«, sagte Charlotte, ohne länger zu zögern. »Wann soll ich bereit sein?« »Ich werde dir eine Kutsche um Viertel nach zehn schicken«, sagte Vespasia spontan. »Und wenn du dir das nächste Mal etwas Neues zum Anziehen kaufst, würde ich mir an deiner Stelle etwas Schwarzes aussuchen.« Ihre Augen funkelten. »Bei dem Beruf deines Mannes ist das ein Muß.« Allerdings zog Charlotte es vor, eine dringende Botschaft an Emily zu schicken, mit der Bitte, ein passendes Kleid von ihr borgen zu dürfen. Sie brauchte ihr Geld für das neue Haus und konnte sich keine Sonderausgaben leisten. Schließlich mußten Gipsarbeiten ausgeführt sowie neue Kreuzblumen und mehrere Kacheln für die Kaminumrandungen gekauft werden, so daß sie genau überlegen mußte, bevor sie sich in unnötige Ausgaben stürzte. Emily erfüllte die Bitte nur zu gern, allerdings unter der Bedingung - über die zu verhandeln sie nicht bereit war daß Charlotte sie in alle Einzelheiten des Falles einweihe und in zukünftige Ermittlungen einbezöge. Im Gegenzug wäre sie bereit, ihr jedes Gewand, das ihr angemessen schien, für die Dauer des Einsatzes auszuleihen.
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Am nächsten Morgen um zehn Uhr war Charlotte erwartungsvoll und mit geröteten Wangen dabei, sich zurechtzumachen, als Caroline Ellison in einer Wolke aus schokoladen- und goldfarbener Seide und einer turbanähnlichen Kopfbedeckung hereinschwebte. »Guten Morgen, Mama!« sagte Charlotte, überrascht sowohl über den Hut als auch Carolines unangekündigtes Erscheinen. Zu fragen, ob etwas passiert war, erübrigte sich angesichts Carolines offensichtlichem Wohlbefinden. »Guten Morgen, mein Liebes«, erwiderte Caroline und ließ ihren Blick durch Charlottes Schlafzimmer schweifen, wo diese soeben ihr Haar frisierte. »Du siehst sehr gut aus, aber leider etwas zu sehr nach Begräbnis. Es fehlt ein bißchen Farbe, zumindest um den Hals. Diese düsteren Farben sind vielleicht sehr modisch, aber es ist doch ein wenig übertrieben, findest du nicht?« »Sie sind nicht im mindesten modisch«, sagte Charlotte erstaunt. »Alles schwarz - im April!« Caroline fegte die Bemerkung mit einer Handbewegung fort. »In letzter Zeit bin ich überhaupt nicht mehr auf dem laufenden, was modische Entwicklungen angeht. Trotzdem brauchst du etwas Helles. Wie wäre es mit einem kleinen Überraschungseffekt? Allerdings ist Rot ein bißchen ordinär.« Sie sah sich um. »Wie wäre es mit - ach, was zieht man denn zu Schwarz an?« Sie hob die Hand, um einer Unterbrechung vorzubeugen, während sie nachdachte. »Ich hab's - Safran. Ich habe noch nie jemanden in Schwarz und Safran gesehen.« »Ganz sicherlich keinen, der einen Spiegel besitzt«, stimmte Charlotte ihr zu. »Ach so! Dir gefällt die Idee nicht? Ich habe gedacht, das ist mal etwas anderes.« »Etwas ganz anderes, Mama. Und da ich zu einer Totenmesse gehe, könnte ich mir vorstellen, daß die Familie es mir übelnehmen würde. Soweit ich gehört habe, sind sie ohnehin eher konventionell.« Carolines Gesicht wurde ernst. »Oh - ich wußte nicht... Wer ist es? Kenne ich ihn? Ich habe nichts gehört...«
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»Du hast doch die Zeitung gelesen.« Charlotte steckte die letzte Haarnadel in ihre Frisur und begutachtete das Ergebnis. »Todesanzeigen lese ich schon lange nicht mehr.« Caroline saß auf dem Bettrand, die Stoffmassen ihres Kleides wunderhübsch um sich geordnet. »Nein, wahrscheinlich liest du jetzt die Theaterankündigungen und Kritiken«, sagte Charlotte mit einer Spur Sarkasmus. Sie freute sich, ihre Mutter so voller Lebensfreude und offensichtlich glücklich zu sehen. Aber sie konnte die Angst vor dem in ihren Augen unvermeidlichen Bruch der Beziehung nicht länger verdrängen. Würde ihre Mutter dann an ihr altes Leben anschließen können? Doch darüber hatte sie schon mit ihr gesprochen, und Emily auch. Jetzt war nicht die Zeit, das Thema aufzugreifen, schon gar nicht, da sie in ein paar Minuten gehen mußte und das Gespräch nicht zu Ende führen konnte. »Sie sind am Beginn eines Tages auf jeden Fall erhebender als eine Liste der Menschen, die man kannte und die gestorben sind«, sagte Caroline halb entschuldigend. »Todesanzeigen hören sich immer alle gleich an.« »Diese war anders.« Charlotte genoß die dramatische Wirkung. »Dem wurde im Hyde Park der Kopf abgehauen.« Caroline stieß laut die Luft aus. »Captain Winthrop! Aber du kanntest ihn doch nicht, oder?« »Nein, natürlich nicht. Aber Großtante Vespasias Freund, Mr. Quade, kannte ihn.« »Das heißt, daß Thomas den Fall hat«, interpretierte Caroline. »Das heißt es auch«, gab Charlotte zu und erhob sich von ihrer Frisierkommode. »Es ist alles sehr schwierig und kompliziert. Vielleicht erfahre ich etwas Wichtiges. Auf jeden Fall gehe ich hin.« »Ja, das ist mir klar.« »Warum bist du gekommen, Mama? Hattest du einen besonderen Grund?«
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Sie suchte in der obersten Schublade nach den Kleinigkeiten, die sie vielleicht brauchen würde: ein Spitzentaschentuch, Parfüm, eine Hutnadel. »Nein, keinen«, erwiderte Caroline. »Ich habe dich wochenlang nicht gesehen und dachte, vielleicht würdest du mit mir zu Mittag essen. Ich hatte vor, mit dir zu Marcello zugehen.« »In ein Restaurant?« Charlotte sah sie verblüfft an. »Nicht zu Hause?« »Natürlich in ein Restaurant. Es ist sehr gut. Du solltest die kontinentale Küche mal probieren, Charlotte. Es ist eine Erfahrung, die den Horizont ungemein erweitert.« »Und die Taille, könnte ich mir vorstellen«, fügte Charlotte hinzu, ohne die Figur ihrer Mutter näher in Augenschein zu nehmen. Sie schloß die Schublade. »Unsinn«, widersprach Caroline. »Nicht, wenn man ab und zu einen langen Spaziergang im Park macht oder ausreitet.« »Du reitest doch nicht etwa«, gab Charlotte lachend zurück. »Und ob! Es ist eine ausgezeichnete körperliche Ertüchtigung.« »Aber früher hast du nie...« »Als dein Vater noch lebte, bin ich nicht geritten. Jetzt reite ich!« Caroline erhob sich. »Wie auch immer, ich sehe, daß du etwas anderes vorhast. Ich bin mir zwar nicht sicher, daß eine Totenmesse unterhaltsamer sein wird, aber du hast dich verpflichtet und kannst jetzt nicht mehr absagen.« Ihr Lächeln war warm und herzlich. »Wir werden ein andermal, wenn ich Zeit habe, zum Mittagessen ausgehen.« Sie küßte Charlotte zart auf die Wange. »Du solltest aber doch ein bißchen weiße Spitze auf dem Kleid tragen, oder Lavendel, wenn du welchen da hast. So siehst du aus, als seist du die Haupttrauernde. Du darfst die Witwe nicht an den Rand drängen - sie hat schon genug zu tragen. Sie sollte heute den Mittelpunkt bilden. Die Menschen vergessen schnell genug, und die Ärmste muß den Rest ihres Lebens Trauerkleidung tragen, es sei denn, sie ist hübsch und
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reich.« Dabei vergaß sie ganz, daß sie selbst Witwe war, und schwebte mit einem selig-optimistischen Lächeln hinaus. Charlotte kam in Vespasias Kutsche bei der Kirche an und ließ sich von dem Diener heraushelfen. Sie war ziemlich verlegen, da sie nicht eingeladen worden war und keinen der Menschen kannte, die da herumschwirrten, ihre Bekannten begrüßten, feierlich nickten und düstere Voraussagen über den Zustand der Gesellschaft machten. Je eher sie Vespasia und Thelonius fand, desto besser. Sie sah in Emilys schwarzem Seidenkleid äußerst berückend aus, das wußte sie. Ihr Selbstvertrauen, das sonst in einer solchen Umgebung nicht sehr ausgeprägt war, wurde dadurch gestärkt. Auch der Hut, ebenfalls von Emily, sah sehr hübsch aus. Er hatte eine breite, asymmetrische Krempe und war mit wippenden schwarzen Federn geschmückt. Sie bemerkte mehrere Blicke in ihre Richtung - bewundernde von Männern, von Frauen neidvolle. Wo um alles in der Welt war Vespasia? Sie konnte hier nicht endlos stehen, ohne mit jemandem zu reden oder ihr Erscheinen zu erklären. Sie sah sich neugierig um, einerseits aus echtem Interesse, andererseits wollte sie den Eindruck erwecken, als erwarte sie jemanden. Einige dieser Menschen waren sicherlich die Freunde des verstorbenen Captain, andere waren vermutlich gekommen, um ihre Pflicht zu erfüllen. Ob einer von ihnen, in schickliches Schwarz gekleidet, den Hut in der Hand, sein Mörder war, der ihn auf so groteske Weise auf dem Serpentine-See zurückgelassen hatte? Sie sah mehrere Marineoffiziere, die in ihrer Uniform großartig aussahen und sich mit ihren goldenen Tressen von dem Schwarz der übrigen Trauergäste abhoben. Ein kräftiger, merkwürdig farblos wirkender älterer Mann schien die Fäden in der Hand zu halten; er hieß die Trauergäste willkommen und begrüßte sie. Das mußte Lord Marlborough Winthrop sein, der Vater. Die Frau neben ihm trug einen dichten Schleier. Sie war schlank und hielt sich sehr
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aufrecht, doch mehr konnte man nicht erkennen. Charlotte hatte das Gefühl, als beobachtete die Frau die Umstehenden mit aufgestauter Wut, noch unsicher, in welche Richtung sich ihr Zorn entladen sollte. Doch es konnte ebenso die mühsam beherrschte Trauer sein und das Wissen, daß weitere Trübsal bevorstand, die gefaßte Haltung also, mit der man einen persönlichen Verlust in der Öffentlichkeit ausdrückt. Sie dachte noch darüber nach, als Vespasia an Thelonius' Arm eintraf. Es war kein Anlaß, bei dem sich zu lächeln schickte, doch Charlotte konnte es nicht unterdrücken, als sie Vespasia in so huldvoller Begleitung sah. Sie war Witwe, schon lange bevor Charlotte sie bei einer grotesken Begebenheit in Resurrection Row kennenlernte. Und später hatte Georges Tod sie sehr mitgenommen. Er war nur ihr Großneffe gewesen, aber einer der wenigen Familienangehörigen, die sie noch hatte, und sie war ihm sehr verbunden gewesen. Doch abgesehen von den Blutsbanden war Mord immer eine schreckliche Art des Todes, auch ohne die Angst und die Verdächtigungen, die darauf folgten. Jetzt, am Arm von Thelonius, wirkte Vespasia heiter und selbstbewußt, sie hielt sich kerzengerade, und ihr Kinn war gebieterisch erhoben, als wolle sie - aufs neue - die Welt im allgemeinen und die Gesellschaft im besonderen herausfordern und sich einen Pfad in die Richtung bahnen, in die zu gehen sie wünschte. Wer ihr folgen wollte, konnte das tun, wer einen anderen Weg einschlagen wollte, dem war das ebenso freigestellt. Neben ihr ging Thelonius, schlank, fast asketisch, mit einem Ausdruck trockenen Humors. Die Fülle der Erfahrungen hatte sein Gesicht geprägt und ließ es fast schön erscheinen, während er sie durch die Menge geleitete. Immer mehr Menschen - ehrfürchtige, mitleidvolle, selbstgefällige oder sensationslüsterne - trafen ein. Dieses Ereignis wollten sie nicht versäumen. Vespasia betrachtete Charlotte mit Wohlgefallen, sagte aber nichts. Thelonius lächelte ihr zu und verneigte sich, und zu dritt machten sie sich auf den Weg in die Kirche, wo
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die getragene Orgelmusik bereits eine Stimmung von Tod und Vergänglichkeit entstehen ließ. Charlotte erschauerte. Wie so oft mußte sie an die Widersprüchlichkeit der Menschen denken, die an eine freudige Auferstehung glauben und jetzt zusammenkamen, um das Dahinscheiden eines Mitmenschen zu beklagen, den die meisten nur flüchtig gekannt hatten; die seinen Fortgang betrauerten aus dem, was als Tal der Tränen galt, hin in ein Reich des Lichts. Es sagte wenig über ihre Einschätzung seiner Verdienste, daß sie sich ihrer Trauer mit solcher Intensität und Irrationalität hingaben. Eines Tages würde sie den Pfarrer danach fragen. Ein Türsteher mit buschigem Backenbart nickte geschäftig und bedeutete ihnen, daß er sie zu ihren Plätzen führen würde. Dabei trat er unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Sir! Madam - darf ich bitten?« Thelonius gab ihm seine Karte. »Sehr gut. Sehr gut.« Der Türsteher nickte. »Hier entlang, bitte.» Ohne zu sehen, ob sie ihm auch folgten, führte er sie zu der Bank, die für sie reserviert war. Auf dem Weg blickte Charlotte sich um und erhaschte zu ihrer Rechten einen Blick auf Emilys helles Gesicht, auf dem die Überraschung von Verständnis und Belustigung abgelöst wurde. Vespasia und Thelonius ließen sich auf ihren Plätzen nieder, und Charlotte, mehr hastig als anmutig, nahm daneben den ihren ein. Die Orgel setzte mit einem neuen Stück ein, die Stimmen verstummten, der Gottesdienst hatte begonnen. Während der Zeremonie war es Charlotte unmöglich, sich auf der Bank umzudrehen, um die Gesichter der hinter ihr Sitzenden zu betrachten, und von denen vor ihr sah sie nur den Rücken. Bevor sie ungewollt die Aufmerksamkeit auf sich zog, senkte sie ihren Kopf im Gebet und hob die Augen nur, um den Pfarrer zu beobachten und seinen Worten zu lauschen. Mit Grabesstimme rühmte er Oakley Winthrop, als sei er ein verschiedener Heiliger, und empfahl den Anwesenden dringend, seinem ausgezeichneten Beispiel zu folgen. Charlotte wagte es nicht, zu Vespasia
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hinüberzuschauen, um zu verhindern, daß diese ihren Blick erwiderte und ihre Gedanken sowohl über den Verstorbenen als auch über die Trauergemeinde erriet. Nach dem Gottesdienst ging es etwas entspannter zu. Die Trauergäste erhoben sich, traten hinaus in den Sonnenschein und murmelten ihre Beileidswünsche. Und jetzt machte Charlotte sich ernsthaft auf die Suche. Lord und Lady Winthrop waren leicht auszumachen, da die Trauergäste sich auf sie zu bewegten, ihre Schritte verlangsamten, sobald sie sich ihnen näherten, stumm und von einer momentanen Verlegenheit ergriffen stehenblieben und sich endlich erleichtert entfernten. Eine weitere Gruppe, kleiner und weniger distinguiert, gruppierte sich lose um eine schlanke, sehr aufrechte Gestalt. Sie trug nur einen dünnen Schleier und wirkte merkwürdig jung und verletzbar. Charlotte nahm an, daß dies die Witwe war, und hätte gern ihren Gesichtsausdruck gesehen, doch durch den Schleier war das unmöglich. »Ist das Mrs. Winthrop?« fragte sie Vespasia. »Ich glaube schon«, antwortete Vespasia und sah Thelonius an. »Und der Mann hinter ihr?« fragte Charlotte neugierig. »Ach ja.« Vespasia nickte leicht. »Ein Gesicht, das auffällt. Ein klarer Blick, ausgeprägte Intelligenz, würde ich meinen. Wer ist er, Thelonius? Ein Verwandter oder ein Verehrer?« Um Thelonius' Mund zuckte es amüsiert. »Bedaure, meine Liebe. Ich fürchte, die Antwort ist ganz banal. Er ist ihr Bruder, Bartholomew Mitchell. Ein Mann von einwandfreiem Charakter, frei von Ambitionen und Arroganz, so habe ich gehört. Ist erst kürzlich aus Matabeleland zurückgekehrt. Höchst unwahrscheinlich, daß er für den Mord an seinem Schwager verantwortlich ist.« »Hhmm.« Vespasia war nachdenklich. »Aber hier ist ein Mensch, von dem man das nicht sagen kann.« Charlotte sah zu einem Mann mit einiger Körperfülle hinüber, der nach allen Seiten lächelte und seinen Bekannten zunickte. »Da ist ein Mann mit Ambitionen,
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wenn ich mich nicht täusche. Wer ist er?« Zu spät ging ihr auf, daß er ja ein Freund von Thelonius sein konnte. »Ich meine ...» Sie schwieg. Aber es war nicht mehr rückgängig zu machen. Vespasia biß sich auf die Lippen, um ihre Belustigung zu verbergen. »Du hättest es verdient, daß man dir sagt, er sei ein guter Freund«, gab sie zurück. »Ich glaube jedoch, daß er ein zukünftiger Parlamentsabgeordneter ist, der übrigens in einer Nachwahl gegen Jack kandidiert. Er heißt Nigel Uttley.« »Ah.« Charlotte schwieg nachdenklich. Sie beobachtete Uttley, der sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnte, immer noch lächelte und schließlich Emily und Jack erreichte. In dem Moment verwandelte sich seine Freundlichkeit zu einer Maske: Nur die äußere Hülle war noch da, die innere Entsprechung jedoch fehlte. Es war schwer, den Unterschied genau zu beschreiben, aber seine Gesten und seine Mimik wirkten irgendwie leblos und mechanisch. Sie standen nicht nah genug, um zu hören, was gesagt wurde, aber es schien ein Austausch von Trivialitäten. Emily war wie immer wunderhübsch. Schwarz paßte gut zu ihrer hellen Haut, die von innen heraus zu leuchten schien, als würde Emily nur darauf warten, daß die Totenmesse ein Ende fände und sie zu einem aufregenderen Ereignis gehen könnte. Man hatte das Gefühl, jeden Moment würde sie das Schwarz ablegen und in leuchtenden Farben erscheinen. »Ich finde, wir sollten der Witwe unsere Aufwartung machen«, sagte Vespasia mit Entschiedenheit. Sie drehte sich lächelnd zu Thelonius. »Meinst du, es wäre möglich, uns vorzustellen?« Er zögerte, denn er wußte ganz genau, was sie beabsichtigte, obwohl er nicht sicher war, was sie zu erreichen hoffte. Sie nahm seine Entscheidung vorweg, indem sie ihm ein dankbares Lächeln zuwarf und über den gepflasterten Hof auf Mina Winthrop zuging.
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Thelonius bot Charlotte den Arm, und gemeinsam folgten sie ihr. Sie stellten sich vor, und Mina nahm ihre Beileidswünsche entgegen. Währenddessen stand Bart Mitchell an ihrem Ellbogen, schweigend, von einigen Höflichkeiten abgesehen. Aus der Nähe bestätigten sich Charlottes erste Eindrücke. Mina war sehr zierlich, und die Blässe ihrer Haut war sogar durch den Schleier ihrer Witwentracht zu erkennen. »Wie freundlich von Ihnen, zu kommen«, sagte sie höflich. »Wir sind sehr dankbar. Oakley hatte so viele Freunde.« Sie lächelte zaghaft. »Ich muß gestehen, daß ich viele von ihnen nie kennengelernt habe. Es ist sehr ergreifend.« »Sicherlich werden Sie erfahren, daß viele Menschen Gefühle für ihn hegten, von denen Sie nie etwas wußten«, sagte Vespasia mit einer Zweideutigkeit, die sie vielleicht gar nicht beabsichtigte. »Oh, in der Tat», fügte Charlotte rasch hinzu. »Manche Menschen verleihen ihren wahren Gefühlen nur bei solchen Anlässen Ausdruck. Man wird sich plötzlich vieler Emotionen bewußt, die man zuvor nicht erkannt hat.« »Waren Sie mit Captain Winthrop bekannt?« fragte Bart Mitchell mit kritischem Blick. »Nein«, antwortete Vespasia an ihrer Stelle. »Meine Nichte hat mich zu meiner Unterstützung begleitet.« Bart hob schon an, wahrscheinlich um sich nach der Art ihrer Bekanntschaft mit dem Verstorbenen zu erkundigen, bemerkte aber ihren Blick und sagte nichts. Während die Frage, an Charlotte gerichtet, angemessen war, wäre sie Vespasia gegenüber eine Beleidigung gewesen. Charlotte war dankbar für die rettende Erklärung und mehr noch für den Hinweis auf ihre Beziehung zueinander. Sie lächelte, obwohl das höchst unpassend war. »In Kürze werden wir ein kleines Frühstück servieren«, sagte Mina herzlich. »Darf ich Sie bitten, uns dabei Gesellschaft zu leisten, Mrs. Cumming-Gould?«
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»Ich würde mich sehr freuen«, nahm Vespasia auf der Stelle an. »Vielleicht haben wir da Gelegenheit, uns ein wenig näher kennenzulernen.« Für diese Einladung hätten viele Debütantinnen und gesellschaftliche Ehrgeizlinge ihre Perlen verkauft. Mina begriff vielleicht nicht den Seltenheitswert einer solchen Einladung, erfaßte aber instinktiv ihren Wert. »Danke. Ich freue mich darauf.« Vespasia hatte ihr Ziel erreicht, nun verlangte es die Etikette, daß sie sich zurückzog, damit andere ihre Aufwartung machen konnten. Sie entschuldigten sich und hatten sich kaum ein paar Meter entfernt, als sie plötzlich Lady Winthrop gegenüberstanden. Die murmelte ihren Dank für ihr Erscheinen, woraufhin Thelonius erwiderte, daß sie sie beim Frühstück sehen würden. »Ach, wirklich?« fragte sie überrascht. Dann zwang sie sich zu einem kühlen Lächeln. »Wie freundlich von Wilhelmina, Sie zu uns zu bitten. Ich bin erfreut, daß Sie der Einladung Folge leisten können.« Der Blick jedoch, den sie ihrer Schwiegertochter zuwarf, war alles andere als billigend. Bart Mitchell kam noch näher an seine Schwester heran, und in seinem Blick, der auf Evelyn Winthrop gerichtet war, lag eine Warnung. »Wie interessant«, sagte Vespasia, als sie sich in Thelonius’ Kutsche auf dem Weg zum Haus von Oakley Winthrops Eltern in Chelsea befanden. »So oft trennt Trauer eine Familie, statt sie zu vereinen. Warum wohl hier?« »Häufig ist Trauer zum großen Teil Zorn, meine Teure«, bemerkte Thelonius, der ihnen gegenüber mit dem Rücken zum Kutscher saß, seine Finger auf dem Knauf seines Stocks ineinander verschlungen. »Man spürt Einsamkeit, Zorn wegen des Schmerzes, den sie verursacht, Schuld wegen all der Dinge, die man nicht gesagt oder getan hat, und Angst vor der Unbegreiflichkeit des Todes. Dagegen kann man nichts machen, nichts schützt einen davor. Der Zorn richtet sich oft gegen die Menschen, denen man sich am nächsten fühlen sollte. Manchmal fühlen sich die Men-
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sehen in ihrem Schmerz isoliert, als würde niemand Trauer empfinden wie sie, ja sogar, als würden sie nicht genügend trauern.« Vespasia lächelte ihm zu, ihr Blick ruhte zärtlich auf ihm. »Du hast natürlich recht. Aber ich werde den Gedanken nicht los, daß Lady Winthrop vielleicht etwas weiß oder vermutet, das sich unserer Kenntnis entzieht.« Thelonius lächelte belustigt. Sein Körper spannte sich ein wenig, um das Gleichgewicht zu halten, als die Kutsche um eine Ecke fuhr, und entspannte sich dann wieder. »Vielleicht weiß sie wirklich etwas, aber ich bezweifle, daß sie irgendwelche Mutmaßungen anstellt, die du nicht auch schon durchdacht hast«, sagte er. Vespasia errötete, wenn auch sehr zart, aber ihre Augen blieben standhaft. »Möglich«, sagte sie knapp. »Was weißt du von der Ehe der Winthrops? Ich gestehe, daß ich von ihnen nie gehört habe. Und wer sind die Mitchells?« Charlotte blickte von einem zum anderen. »Durchschnitt, soweit ich weiß«, erwiderte er. »In Evelyn Winthrops Augen war die Ehe keineswegs befriedigend. Wilhelmina hatte nur sich selbst nebst einer kleinen Mitgift einzubringen. Was Bartholomew Mitchell angeht, so ist er meines Wissens während des Zulu-Krieges 1879 nach Afrika gegangen und hat den größten Teil der letzten elf Jahre entweder in Südafrika oder weiter nördlich in Maschonaland zugebracht. Am Anfang natürlich als Soldat. Ein Abenteurer sozusagen.« Wieder zeigte sich Belustigung auf seinem Gesicht. »Trotzdem kein schlechter Mensch. Aber seinetwegen wurde seine Schwester natürlich keine bessere Partie.« »Also war Captain Winthrop verliebt?« fragte Vespasia leicht überrascht. Er erwiderte ihren Blick. »Ich wünschte, ich könnte das bestätigen, aber ich fürchte, es war eher eine Frage der realistischen Einschätzung. Er war durchaus ehrgeizig, aber das bezog sich auf seine Laufbahn in der Marine und auf persönliche Macht, weniger auf gesellschaftliche Erfolge.
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Die Winthrops sind nicht unbedingt ...« Er zögerte und suchte nach den richtigen Worten, die nicht zu kraß klingen würden. »... Erste Klasse?« half Charlotte weiter. »Noch nicht einmal zweite«, gab er scherzend zurück. »Aber sind sie nicht angeblich mit allen möglichen Leuten verwandt?« »Meine Liebe, wenn ein distinguierter Mensch ein Dutzend Kinder in die Welt setzt, dann ist es nur natürlich, daß sie nach einer Generation oder zwei mit der Hälfte der Familien in den umliegenden Grafschaften verwandt sind«, erläuterte Vespasia. Dann wandte sie sich wieder Thelonius zu. »Aber du sagtest ‚realistische Einschätzung’. War es eine gesegnete Ehe? Gibt es Kinder?« »Soweit ich weiß, gab es zwei oder drei, alles Töchter. Eine ist früh gestorben, die anderen haben kürzlich geheiratet.« »Geheiratet!« Charlotte war erstaunt. »Aber sie sieht so - so ...« »Sie war siebzehn, als sie Oakley geheiratet hat, und ihre Töchter haben ebenfalls etwa in dem Alter geheiratet.« »Ach so.« Sie stellte sich einen Mann vor, der enttäuscht war, weil ihm keine Söhne geboren worden waren, aber das war vielleicht ungerecht. Warum hatten beide Töchter so jung geheiratet? Aus Liebe? Oder aus dem Wunsch, die erste Gelegenheit zu nützen, die einigermaßen angemessen war? Wie sah es in dieser Familie aus, wenn hinter verschlossenen Türen die höfliche Fassade abgelegt wurde? Es blieb keine Zeit für weitere Mutmaßungen, denn sie waren an dem Haus von Lord und Lady Winthrop angekommen. Sie stiegen aus und wurden von Dienern in dunkler Trauerkleidung begrüßt und in einen großen Salon geführt, wo ein Tisch mit köstlichen Speisen auf feinstem Leinen reich gedeckt war. Das Tafelsilber funkelte im Licht der Kronleuchter, an dem alle Kerzen brannten, obwohl es ein sonniger Tag war. Als Zeichen der Trauer hatte man die Vorhänge halb zugezogen und die Läden geschlossen. Der auffälligste Schmuck im Raum waren Schalen mit
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weißen Lilien, deren süßlicher Duft an die Atmosphäre in einem Gewächshaus erinnerte. »Gütiger Himmel, es sieht aus wie bei einem Bestattungsunternehmer«, sagte Vespasia mit gedämpfter Stimme, während sie gleichzeitig lächelte, als sie Emily und Jack Radley nur wenige Meter entfernt entdeckte. »Weiß der Himmel, wie die Beerdigung war! Hallo, Emily, meine Liebe! Du siehst bezaubernd aus und erfreust dich offenbar bester Gesundheit. Wie geht es Evangeline?« »Sie wächst und ist eigentlich ein sehr braves Kind«, erwiderte Emily stolz. »Und sehr hübsch.« »Was für eine Überraschung!« Vespasia hatte sichtbar ihren Spaß. »Jack, wie kommt deine Kampagne voran? Wann findet denn die Nachwahl statt?« Jack schenkte ihr seine gesamte Aufmerksamkeit. Vor seiner Heirat mit Emily hatte er aufgrund seines guten Aussehens und des beträchtlichen Charmes seinen Weg gemacht, doch Vespasia war ein Mensch, dem er niemals mit etwas Geringerem als völliger Aufrichtigkeit gegenübertreten würde. Er wußte, daß sie Georges Großtante war, und obwohl er keinen Zweifel hatte, daß Emily ihn liebte, spürte er in seinen dunkleren Augenblicken Georges Schatten. Auch George hatte gut ausgesehen, und sein Charme war der eines Mannes, der Reichtum, Titel und Eleganz als sein Geburtsrecht betrachtet. Daß er nichts durch eigene Fähigkeiten erreicht hatte, wurde durch seinen frühen Tod unwichtig. »In knapp fünf Wochen, Lady Cumming-Gould«, erwiderte er ernst. »Ich denke, die Regierung wird sie in Kürze ankündigen. Was nun meine Kampagne angeht, bin ich mir nicht so sicher. Ich habe einen äußerst starken Gegner.« »Wirklich? Ich weiß nur wenig von ihm.« »Nigel Uttley«, antwortete er und versuchte von ihrem Gesicht abzulesen, ob sie weitere Informationen wünschte oder nur höfliche Konversation betrieb. Er schloß auf ersteres, denn er fuhr mit einer genaueren Beschreibung fort. »Knapp über vierzig, der jüngere Sohn einer reichen Familie, aber gesellschaftlich nicht sehr bedeutend. Er unter-
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stützt die Regierung seit langer Zeit, und, um ehrlich zu sein, es wird erwartet, daß er gewinnt.« Er machte ein besorgtes Gesicht. »Ich glaube, man hat ihm die Chance gegeben, um ihn für seine Loyalität in der Vergangenheit zu belohnen.« »An was glaubt er?« fragte sie ernst. Sein spontanes Lachen wirkte ansteckend. »An sich selbst!» »Und mit welchem Programm betreibt er seinen Wahlkampf?« korrigierte sie lächelnd. »Im allgemeinen mit einer Wiederbelebung der alten Werte, die uns groß gemacht haben«, erwiderte er. »Genauer gesagt, für mehr Recht und Ordnung in den Städten, eine Umstrukturierung der Polizei, um sie effizienter zu machen, härtere Strafen ...« »Die irische Frage?« unterbrach sie ihn. Wieder trat ein amüsiertes Lächeln auf sein Gesicht. »0 nein, er ist nicht so dumm, sich da heranzuwagen! Sie hat Gladstone zu Fall gebracht und wird wahrscheinlich auch jeden anderen in den Ruin treiben, der sich für die Selbstverwaltung einsetzt, was ja die einzig richtige Lösung wäre.« Eine Gruppe älterer Herren, die in ein Gespräch vertieft waren, kam an ihnen vorbei. Sie nickten Thelonius zu und gingen dann weiter. Ein Marineoffizier sprach eine Spur zu laut in die plötzliche Stille und schwieg dann verlegen. »Uttley läßt sich nicht auf irgendwelche Aussagen festlegen«, fuhr Jack fort. »Er würde ein paar Fenier mit Vergnügen hängen und flammende Reden gegen die Anarchie halten, aber das können wir alle.« »Er steht der Polizei sehr kritisch gegenüber«, sagte Emily mit einem Blick auf Charlotte. »Deswegen mag ich ihn nicht«, fügte sie fröhlich hinzu. »Liebling, einen Grund muß es ja geben, warum du ihn nicht magst.« Jack legte den Arm um sie. »Aber ich finde, daß dies ein hervorragender Grund ist. Und er gibt mir eine solide Basis, auf der ich meine Opposition aufbauen kann.« Er seufzte. »Obwohl dieser neue Mord nicht sehr hilfreich
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ist. Es scheint der zweite abscheuliche Verrückte in London innerhalb der letzten zwei Jahre zu sein, und sie haben den ersten noch nicht geschnappt.« Emily warf Charlotte einen fragenden Blick zu. »Ja«, beantwortete sie die ungestellte Frage. »Er bearbeitet den Fall.« »Thomas bearbeitet den Fall?« fragte Jack rasch. »Gibt es schon neue Erkenntnisse? Man kann wohl kaum die Familie fragen, obwohl Lord Winthrop dunkle Andeutungen macht, was er alles in die Wege leiten will und wen er kennt.« »Ich glaube nicht, daß es ein Verrückter ist«, sagte Charlotte und senkte ihre Stimme. »Aus den bisher bekannten Fakten geht unmißverständlich hervor, daß es ein Verbrechen privater Art gewesen sein muß. Deswegen sind wir hier - um Thomas zu helfen.« »Weiß er davon?« fragte Jack. »Was für eine Frage«, erwiderte Emily. »Wir erzählen es ihm, wenn wir etwas erfahren haben, das ist immer noch früh genug.« In einem einzigen Satz hatte sie sich mit einbezogen, was Vespasia amüsiert registrierte, aber mit keinem Wort kommentierte. Eine Fortführung des Gesprächs wurde durch Nigel Uttley verhindert, der sich zu ihnen gesellte. Er war nicht so groß, wie Charlotte aus der Entfernung angenommen hatte, aber seine blauen Augen waren hellwach. Er schien von einer Energie erfüllt, hinter der sich eine Anstrengung verbarg, die seine lockere Art und sein Selbstvertrauen Lügen strafte. „Guten Tag, Lady Cumming-Gould«, sagte er mit einer leichten Verbeugung. »Euer Ehren«, begrüßte er Thelonius, als wären sie vor Gericht. »Mrs. Radley ...«Er wartete, daß man ihm Charlotte vorstellte. »Meine Schwester, Mrs. Pitt«, sagte Emily entgegenkommend. »Wie geht es Ihnen, Mrs. Pitt?« Er deutete eine Verbeugung an. »Wie freundlich von Ihnen, den Winthrops in dieser schlimmen Zeit Ihre Unterstützung zu leisten. Ich fürchte,
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je mehr Zeit vergeht, desto unangenehmer wird es für sie werden. Ich wünschte, ich könnte darauf vertrauen, daß die Polizei des Täters habhaft wird, doch allein die Tatsache daß ein derart scheußliches Verbrechen im Herzen Londons begangen werden konnte, zeigt, in welchem Zustand wir uns befinden. Dennoch, nach den Nachwahlen werden wir die Lage verbessern können.« Er sah Jack lächelnd an, doch er ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß ihm ernst war. »Oh, da bin ich aber froh«, sagte Charlotte mit scharfer Stimme und einem Gesichtsausdruck, der Interesse bekunden sollte. »Es wäre wunderbar, wenn solche Dinge nie wieder geschehen würden. Ganz London wäre Ihnen dankbar, Mr. Uttley, ja, ganz England.« Er sah sie verblüfft an, die hellen Augenbrauen in die Höhe gezogen. »Danke, Mrs. Pitt.« »Wie werden Sie da vorgehen?« fragte sie, fast ohne Atem zu holen, und wandte ihren forschenden Blick nicht von ihm ab. Im ersten Moment erschrocken, erwiderte er ihren Blick. »Na ja-hm . . . « »Ja?« forderte sie ihn heraus. »Mehr Polizei? Vielleicht Patrouillen nachts im Park? Das würde aber die Privatsphäre verletzen, fürchte ich.« Sie zuckte mit den Achseln. »Aber schließlich hätten ja nur die, die lieber nicht gesehen werden möchten, etwas zu befürchten.« »Ich glaube, Patrouillen im Park wären nicht die Lösung, Mrs. Pitt«, sagte er erleichtert, da er einen konkreten Vor schlag von sich weisen konnte. »Was wir brauchen, ist größere Effizienz, wenn ein Verbrechen begangen worden ist, so daß die Menschen sich gleich an die Gesetze halten.« »Ja, vielleicht haben Sie da recht«, stimmte sie ihm zu. »Jemand mit Ihren Fähigkeiten und Ihrer Intelligenz wäre da richtig am Platz.« »Danke, Mrs. Pitt. Das ist sehr großzügig von Ihnen, aber ich habe bereits eine Laufbahn eingeschlagen.« »Als Parlamentsabgeordneter - wenn Sie gewinnen.«
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»Wenn ich gewinne«, sagte er mit einem breiten Lächeln und blickte zu Jack. »Doch schon vorher können Sie, Mr. Uttley, uns in das einweihen, was Sie zu tun gedenken. Was tut jemand, der große Fähigkeiten und Weitblick hat, der die menschliche Natur und die gesellschaftlichen Zusammenhänge kennt, was tut ein solcher Mensch, um einen anderen Menschen, der ein schreckliches Verbrechen begangen hat, dingfest zu machen?« Einen Moment lang war ihm unbehaglich, dann glättete sich sein Gesicht. Emily warf Jack einen schnellen Blick zu. Weder Vespasia noch Thelonius rührten sich von der Stelle. »Es war schon immer schwer, Verrückte zu fassen, Mrs. Pitt», sagte Uttley in das Schweigen hinein. »Wir brauchen einfach mehr umsichtige Polizisten, mehr Männer, die hart arbeiten und besser darüber Bescheid wissen, was in den Bezirken vorgeht und von welchen Menschen Gefahr droht.« »Und wenn es kein Verrückter ist?« fragte sie ruhig. Doch diesmal war er vorbereitet. »Dann brauchen wir Männer, die die Führung übernehmen und Einfluß haben! Wir brauchen Männer, die sich der Loyalität der Männer in Machtpositionen gewiß sind.« Er sprach mit wachsender Sicherheit. »Bestimmt können Sie das verstehen, Madam, ohne daß ich weitere Ausführungen über etwas machen müßte, das doch mit Diskretion behandelt werden sollte?« Charlotte hatte das ungute Gefühl, daß sie genau wußte, wovon er sprach. Sie warf Jack einen Blick zu, dessen Züge versteinerten. Thelonius Quade wurde unruhig, sein Gesicht verlor an Farbe. Nigel Uttleys Lächeln hingegen wurde breiter. Vielleicht hätte sie jetzt schweigen sollen, aber sie hörte ihre eigene Stimme, die in unschuldigem Ton ungehindert fortfuhr: »Heißt das, daß Sie sich ihrer Loyalität jetzt nicht gewiß sind, Mr. Uttley?«
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Ein Ausdruck des Zorns trat in sein Gesicht, mit Mühe beherrschte er seine Stimme. »Nein, Mrs. Pitt; das meine ich nicht. Ich meine Menschen, denen ...«Er suchte vergeblich nach dem richtigen Wort - »... andere Handlungsspielräume - Einflußmöglichkeiten offenstehen, die sie bislang nicht in jeder Hinsicht ausgeschöpft haben. Ein Gefühl für öffentliche und soziale Verantwortung, die ein wenig tiefer geht als reine Pflichterfüllung.« Sein Gesicht entspannte sich. Er war zufrieden mit seiner Erklärung. Das Stimmengemurmel im Raum wurde lauter. Gläser klirrten, und Bedienstete machten die Runde mit Wein und Häppchen. »Ich verstehe«, sagte Charlotte mit offenem Blick. »Eine Art stillschweigendes Übereinkommen, gewisse Informationen weiterzuleiten, die bis dahin zurückgehalten wurden. Ein Wechsel der Loyalitäten?« »Nein!« Uttley lief rot an. »Gewiß nicht! Sie haben mich völlig mißverstanden, Mrs. Pitt.« »Das tut mir leid.« Sie versuchte, zerknirscht zu klingen, was ihr aber nicht gelang. »Vielleicht sollten Sie es noch einmal erklären. Ich scheine keine schnelle Auffassungsgabe zu haben.« »Vielleicht sind Sie mit dem Thema nicht vertraut«, sagte er zwischen zusammengepreßten Zähnen hindurch. Sein Lächeln war hauchdünn und kaum sichtbar. »Es eignet sich nicht besonders gut zu Erklärungen.« Charlotte senkte den Blick und sah dann zu Jack. Jack lächelte charmant und ohne jede Boshaftigkeit, doch hinter seiner entspannten Haltung war er voll konzentriert. »Nun ja, in den Wahlversammlungen werden Sie sich wohl mehr Mühe geben müssen, oder Sie werden die Wähler ebenso verwirren wie jetzt Mrs. Pitt«, warf er leicht ein. »Sie wollen doch sicherlich nicht, daß die Leute denken, Sie treten für eine Art geheimer Gesellschaft ein.« Die Farbe schoß Uttley in die vollen Wangen, und sein Mund verschloß sich zu einer schmalen Linie. Vespasia starrte ihn an. Thelonius sog scharf die Luft ein. Emily war-
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tete gespannt, während ihr Blick von einem zum anderen wanderte. Am anderen Ende des Raumes fiel ein Glas zu Boden. »Unsinn, Jack!« sagte Charlotte mit klarer Stimme. »Wie kann man sich in einer Wahlrede für eine geheime Gesellschaft aussprechen? Sie wäre dann ja wohl kaum noch geheim!« Sie drehte sich zu Uttley. »Das stimmt doch, oder?« »]a, natürlich«, sagte er widerwillig. »Dieses Gespräch ist völlig absurd. Ich wollte nur sagen, daß wir, wenn die richtigen Personen an verantwortlicher Stelle sitzen, mehr Respekt von gewissen anderen Personen erwarten können - und folglich ihre Kooperation. Sicher kann das auch der... Naivste ... verstehen?« »Ich verstehe das«, erwiderte Charlotte selbstironisch, den Blick auf Uttley gerichtet. Wenigstens errötete er, stammelte verlegen, um das Gesagte zu berichtigen, und schwieg dann. »Was für ein Mensch sollte an diese Stelle treten?« Sie ließ nicht locker. »Der Nachteil bei einem Gentleman ist, daß er vielleicht kein guter Detektiv ist, besonders wenn es um normale Verbrechen wie Fälschung und Raub und so weiter geht.« Sie sah erst Thelonius, dann Vespasia und schließlich wieder Uttley an. »Oder sollten wir zwei Sorten Polizisten haben, eine für normale Verbrechen und eine für besondere? Die Schwierigkeit liegt nur darin zu unterscheiden, welches Verbrechen von welcher Sorte Verbrecher verübt wurde.« Uttleys Gesicht war zu einer Maske erstarrt. »Wenn Sie mir verzeihen mögen, Madam, dies ist ein Thema, an dem sich hervorragend darstellen läßt, warum Frauen von Natur aus dazu geeignet sind, den häuslichen Bereich zu einem angenehmen Ort zu machen, wo sie Kinder aufziehen und dem Mann die Möglichkeit bieten, sich zu stärken, um so die Kämpfe in der Welt besser bestehen zu können und sich den erschöpfenden Geschäften des Handels und der Finanzen zu widmen. Ihr Verstand ist anders geartet, und das ist von Gott und der Natur so beab-
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sichtigt, zum Wohle der ganzen Menschheit.« Ohne den geringsten Anflug von Humor lächelte er ein kleines, automatisches Lächeln. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen, ich möchte noch mit ein, zwei anderen Gästen sprechen. Dort drüben sehe ich Landon Hurlwood. Es war mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen, Lady Cumming-Gould, Mr. Quade, Mrs. Pitt.« Ohne ihnen die Möglichkeit einer Reaktion zu geben, verneigte er sich und verschwand. Charlotte ließ ein empörtes Schnaufen hören. »Da hast du es also, meine Liebe«, sagte Emily mit beißendem Spott. »Geh heim, stick einen schönen Saum, back ein Brot und denke bloß nicht zuviel. Das ziemt sich für eine Frau nicht, und außerdem ist dein Gehirn nicht dafür eingerichtet.« »Und ob es das ist!« Jack legte spontan den Arm um Charlottes Schultern. »Wenn man dir zuhört, wird einem klar, daß dir politische Debatten liegen. Wenn ich nur halb so gut bin, werde ich ihn völlig zerschmettern.« »Sie haben ihn sich zu einem starken Feind gemacht«, sagte Thelonius leise. »Er ist nicht der Typ, über den man sich lustig machen sollte. Doch ihn an der Wahlurne zu schlagen ist eine ganz andere Sache. Die Leute stimmen vielleicht in Ihr Gelächter ein, aber nicht unbedingt, weil sie verstanden haben, was Sie meinen. Und glauben Sie mir, das war keine leere Drohung. Er ist mit Sicherheit ein Mitglied des Inneren Kreises und wird dort um Hilfe ersuchen, wenn er es für nötig befindet.« Das Lächeln auf Jacks Gesicht erstarb. Er wich einen Schritt von Charlotte. »Das weiß ich. Aber ich würde auch nicht Premierminister werden, wenn das der Preis ist.« »Vielleicht bleiben Sie immer erfolglos«, gab Thelonius zu bedenken. »Damit will ich Ihnen nicht raten, beizutreten, aber das sind die Tatsachen.« Mit eindringlichem Blick fügte er hinzu: »Aber ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich Ihnen alle Unterstützung zukommen lassen werde - soweit das nützlich ist -, wenn Sie es nicht tun.«
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»Danke, Sir. Das nehme ich gerne an.« Emily nahm seinen Arm und drückte ihn. Vespasia bewegte sich näher auf Thelonius zu. Der Glanz in ihren Augen war möglicherweise Stolz, vielleicht aber auch nur herzliche Zuneigung. Als Charlotte sich umdrehte, sah sie, wie Nigel Uttley auf die große, elegante Gestalt von Landon Hurlwood zuging. Der wandte sich um und lächelte, als begrüße er einen alten Freund. Uttley sagte etwas, aber natürlich konnte sie ihn nicht verstehen. Hurlwood lächelte und nickte. Sie begrüßten einen Bekannten, der vorbeiging, und nahmen dann ihre Unterhaltung wieder auf. Uttley lachte, worauf Hurlwood ihm die Hand auf die Schulter legte. Die privaten Gespräche wurden abgebrochen, weil Lord Winthrop um Ruhe bat. Er ergriff das Wort und hielt eine kurze Ansprache, in der er seinen Dank denen aussprach, die das Andenken an seinen Sohn ehrten und an seine ausgezeichneten Eigenschaften erinnerten sowie ihrer Trauer Ausdruck verliehen über den schweren Verlust, der seiner Familie, seinen Freunden und auch - es schien nicht vermessen, das hinzuzufügen - dem Land zugefügt worden war. Einige murmelten ihre Zustimmung und nickten, andere versuchten, ihre Verlegenheit zu verbergen. Charlotte betrachtete so diskret wie möglich die Witwe, die jetzt unverschleiert und mit bleichem Gesicht, den Kopf erhoben, neben ihrem Bruder stand. Ihre Züge waren ruhig, fast schön zu nennen, und bar jeden Ausdrucks. War sie immer noch von Schock und Trauer überwältigt? War sie eine leidenschaftslose Frau, die auch von dem entsetzlichen Tod eines Menschen, der ihr so nahe stand, nicht berührt wurde? War sie der äußersten, fast übermenschlichen Selbstbeherrschung fähig, mit der sie ihr Innerstes verbarg? Oder gab es in ihr andere Gefühle, die mit der Trauer in Konflikt standen, sie sogar auslöschten und ihr Angst einflößten, so daß sie sich aus Furcht, sich zu verraten, so verschlossen zeigte? Die einzige Regung, an der Charlotte erkennen konnte, daß sie die Ansprache ihres Schwiegervaters überhaupt ver-
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nommen hatte, war eine langsame Bewegung ihrer weißen Hand auf ihrem schwarzen Rock hin zu Bart Mitchells größerer, kräftigerer Hand, die sie ergriff und festhielt. Auch aus seinen Gesichtszügen vermochte Charlotte keine Regungen abzulesen. Seine tiefblauen Augen ruhten auf Lord Winthrop, aber es war keine Weichheit in seinem Blick, nichts, das auf Trauer hindeutete. Seine Hand hielt die Minas fest. Dann fiel Charlottes Blick auf eine andere Frau. Ihr gewelltes, helles Haar schimmerte im Licht, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck gebannter Aufmerksamkeit. Lord Winthrop hätte sich keine hingebungsvollere Zuhörerin wünschen können, die zudem völlig mit ihm übereinzustimmen schien. »Wer ist sie?« flüsterte Charlotte Emily zu. »Keine Ahnung«, flüsterte Emily zurück. »Ich habe sie vorhin schon bei der Witwe gesehen. Sie schienen sehr freundschaftlich verbunden und überaus vertraut miteinander. Vermutlich ist sie eine Freundin der Familie.« »Sie scheint die Gefühle der Witwe, oder deren Mangel, nicht zu teilen.« »Vielleicht mochte sie ihn mehr als die Witwe«, mutmaßte Emily. »Vielleicht ist sie diejenige, nach der du suchst. Oder nach der Thomas sucht.« »Seine Geliebte?« »Psst!« Eine magere Frau, die vor ihnen stand, drehte sich um und starrte sie aufgebracht an. Emily zog eine Schulter hoch und erwiderte den Blick mit großen Augen. Die Frau schnaufte. »Manche Leute wissen einfach nicht, was sich schickt!« sagte sie so laut, daß Charlotte und Emily sie hören konnten. »Psst!» zischte eine Frau links von ihr. »Also wirklich!« schnaufte die dünne Frau empört. Lord Winthrop beschloß seine Rede, und die Diener mischten sich wieder unter die Trauergäste und boten schweren, süßen Madeira an. Andere reichten Gläser, gefüllt mit Weißwein, und Limonade für die Damen.
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Emily verzog das Gesicht und nahm sich ein Glas Weißwein. Charlotte zögerte einen Moment, nahm dann ein Glas Limonade. Sie müßte vielleicht einen klaren Kopf bewahren. Auf keinen Fall war sie zum Vergnügen hier! »Ich muß mit der Frau mit den blonden Haaren sprechen«, sagte Charlotte entschlossen. »Wie können wir das anstellen?« »Mir fällt keine schickliche Möglichkeit ein«, erwiderte Emily. »Ich könnte es aber auf die plumpe Art versuchen.« »Wie denn?« Statt es zu erklären und Charlotte so die Möglichkeit des Widerspruchs einzuräumen, setzte Emily ihre Idee in die Tat um. Mit einer Entschuldigung drängte sie sich an einer Gruppe Männer vorbei, die Erinnerungen über ihre Seefahrerzeiten und über Oakley Winthrop austauschten, und segelte auf Thora Garrick zu, Charlotte im Schlepptau. »Mrs. Waters!« erklärte sie erfreut. »Ich hatte so sehr gehofft, wir würden uns wiedersehen, jedoch nicht unter diesen Umständen, selbstverständlich. Wie geht es Ihnen?« Thora war überrumpelt. Sie betrachtete Emily beunruhigt, doch als sie deren Lächeln und ihre hellen Augen sah, war sie nur mehr verwirrt. »Ich fürchte, Sie irren sich. Meine Name ist Garrick. Mein Mann war Samuel Garrick, Lieutenant der Königlichen Marine. Vielleicht haben Sie von ihm gehört?« »Oje, das tut mir sehr leid«, entschuldigte Emily sich überschwenglich. »Was für ein schrecklicher Irrtum. Wirklich, ich fürchte, meine Augen sind schuld. Jetzt, da ich Sie aus der Nähe sehe, erkenne ich natürlich, daß Sie nicht Mrs. Waters sind.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie ist viel kleiner und älter als Sie, obwohl sie natürlich nicht erfreut über diese Äußerung wäre. Sagen Sie ihr also nichts, ja? Die Ähnlichkeit besteht nur in dieser wunderschönen Haarfarbe.« Thora errötete geschmeichelt, wenn auch leicht verunsichert. »Sie verzeihen mir doch, Mrs. Garrick?« bat Emily, die Hand fest um Charlottes Arm gelegt. »Kennen Sie meine
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Schwester, Charlotte Pitt? Nein, natürlich nicht, sonst hätte sie diesen lächerlichen Irrtum verhindert.« »Sehr erfreut, Mrs. Pitt«, sagte Thora nervös. »Oh - natürlich, wenn Sie nicht Mrs. Waters sind, dann kennen Sie mich auch nicht«, rief Emily aus. »Ich bin Emily Radley. Es freut mich so, Sie kennenzulernen - das heißt, wenn Sie meine Bekanntschaft machen wollen?« »Selbstverständlich. Auch ich bin erfreut.« Thora gab die einzig mögliche Antwort. Emily schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Wie großzügig von Ihnen! Besonders in dieser Zeit der Trauer. Kannten Sie Captain Winthrop gut? Oder ist diese Frage fehl am Platz?« »Überhaupt nicht«, entgegnete Thora. »Ich kannte ihn seit langem. Er hat mit meinem Mann gedient, der ein ausgezeichneter Mensch war und insofern Captain Winthrop recht ähnlich. Sie waren beide auf verschiedenen Gebieten des körperlichen und geistigen Strebens herausragend, und beide hatten ein wunderbares Pflichtgefühl. Verstehen Sie, was ich meine?« »Aber selbstverständlich«, sagte Emily rasch. »Manche Männer lassen sich von der rechten Bahn nicht abbringen, ungeachtet der Versuchungen, die sich ihnen in den Weg stellen.« Thoras Gesicht wurde von einem inneren Strahlen erhellt. »So ist es! Sie haben es genau getroffen«, pflichtete sie ihr bei. »Auf See muß man unbeirrbar sein. Fehler können Leben kosten. Das sagte mein guter Samuel immer. Er hat immer alles ganz genau genommen, auf den Zoll und die Minute. Der gute Captain Winthrop stand ihm in nichts nach. Ich bewundere Führungskraft an einem Mann, Sie nicht auch? Wo wäre die Welt, wenn wir alle unser Handeln dem Zufall überließen, uns auf unsere Intuition stützten und auf das Beste hofften, was - so fürchte ich - viel zu häufig meine Richtschnur ist...« »Lebenskünstler, könnte man vielleicht sagen«, erwiderte Emily mit einem leichten Stirnrunzeln. »Ich könnte
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mir vorstellen, daß Sie Captain Winthrop sehr gern hatten, wenn er in so vielen Eigenschaften Ihrem verstorbenen Gatten glich.« »Ich hatte große Achtung vor ihm«, stimmte Thora ihr in wärmsten Tönen zu, doch in ihrer Antwort schwang ein leiser Anflug eines Schuldgefühls mit. »Er war der Pate meines Sohnes, wußten Sie das?» Sie lächelte, drehte sich nach links und deutete auf einen jungen Mann. Er war ebenso blond wie sie, doch die oberflächliche Ähnlichkeit der Züge wurde durch den großen Unterschied im Ausdruck geradezu negiert. Die Klarheit ihrer Züge begründete sich auf eine heitere Sicherheit, als könne sie die Oberfläche der Gegenwart durchdringen und zu einer größeren Wahrheit gelangen, an deren Schönheit sie uneingeschränkt glaubte. Bei ihm hingegen waren noch eine Zaghaftigkeit, Schuldgefühle und Desillusion in Augen und Mund zu erkennen. Er war noch weit von dem sicheren Hafen der Erkenntnis entfernt, in dem sie verankert war. In diesem Augenblick ließ er sich in einer Ecke mit seinem Cello nieder, das er zärtlich hielt, in der anderen Hand den Bogen. »Das ist er«, sagte Thora leise. »Wird er etwas spielen?« fragte Charlotte interessiert. Er schien weit von dem Bild eines steifen, dogmatischen Marineoffiziers entfernt, das sie sich gemacht hatte. »Mina Winthrop hat ihn gebeten«, erklärte Thora. »Er spielt sehr gut, aber vielleicht hat sie ihn auch gefragt, weil er sie so sehr mag. Ich weiß, daß es ihm hilft, seine Trauer zu lindern, wenn er einen entsprechenden Beitrag leisten kann.« »Wie einfühlsam von ihr«, sagte Emily. »In einer solchen Zeit ist es bemerkenswert, daß sie soviel Verständnis für die Gefühle eines anderen Menschen hat. Ich bewundere das.« »Ich auch«, pflichtete Charlotte ihr bei. »Ich habe sie kaum kennengelernt, dennoch fühle ich mich sehr zu ihr hingezogen.« »Ich werde Sie näher bekannt machen«, sagte Thora hastig, »nach der Musik ...« Sie brach ab, Schweigen senkte sich auf den Raum, und aller Augen wandten sich zu Vic-
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tor, vielleicht eher aus Höflichkeit denn aus dem ehrlichen Wunsch zuzuhören. Als er jedoch den Bogen hob und ihn über die Saiten führte, schien der Raum von dem Klang schmerzlicher Einsamkeit zu erzittern, so daß die Menschen nicht länger aus Höflichkeit zuhörten, sondern wie gebannt lauschten. Er spielte ohne Noten und schien die Musik aus den Tiefen einer unermeßlichen Trauer heraufzubeschwören. Charlottes Blick wanderte zur Witwe, deren Mund von einem Lächeln umspielt war, während sie seinem Spiel zuhörte. Es war eine herzzerreißende Melodie, doch stiegen ihr keine Tränen in die Augen, vielmehr schien sie von stiller Dankbarkeit erfüllt. Vielleicht hatte sie alle Tränen, die in ihr waren, vergossen. Vielleicht aber war sie auch immer noch benommen von dem Tod, der auf so entsetzliche Weise eingetreten war. Lord Winthrop war überaus blaß und hatte sichtlich Schwierigkeiten, seine Gefühle zurückzuhalten. Lady Winthrops Versuch, ihre Emotionen zu verbergen, scheiterte; Tränen stiegen ihr in die Augen und rannen die Wange hinunter. Ein, zwei Frauen rückten etwas näher an sie heran, wie um sie zu beschützen oder ihr allein durch Nähe eine Stütze zu sein. Neben Charlotte stand sehr aufrecht Thora Garrick mit einem Ausdruck des Stolzes auf ihrem Gesicht, als sei dies ein militärisches Begräbnis und Victor spielte einen Marsch statt einer lyrischen Klagemelodie. »Er ist sehr begabt«, sagte Charlotte, nachdem der letzte Ton verklungen war. »Er spielt mit wahrer Inspiration.« »Ich gebe zu, daß ich ihn noch nie so gut habe spielen hören», sagte Thora einigermaßen überrascht. »Aber wahrscheinlich höre ich ihn oft nur, wenn er übt. Victor stand Captain Winthrop sehr nahe. Oakley ähnelte so sehr seinem Vater, der vor ein paar Jahren bei der Ausübung seiner Pflicht starb.« Ihre Stimme klang bewegt, ihr Blick war auf einen fernen Punkt gerichtet. »Der arme Victor war damals erst siebzehn. Es ist schrecklich, wenn ein Junge ohne Vater aufwachsen muß,
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Mrs. Pitt.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Ganz schrecklich. Ein Vorbild zu haben ist so wichtig, finden Sie nicht auch? Selbst mit der größten Hingabe kann eine Mutter kein Vorbild für ihren Jungen sein. In bezug auf Männlichkeit, Ehre, selbstlose Hingabe an die Pflicht und vor allem Selbstbeherrschung.« Charlotte hatte die Frage noch nie so betrachtet. Sie hatte keine Brüder, und ihr Sohn Daniel war zu jung, um solche Eigenschaften nachahmen zu wollen. Thora jedoch verlangte keine Antwort. »Der arme Oakley hat ihm das, so gut er konnte, vermittelt. Er hat ihn immer ermutigt, ihm von der Marine erzählt, und selbstverständlich hätte er sich mit allen Kräften dafür eingesetzt, Victor ein Offizierspatent zu verschaffen, wenn dieser das gewollt hätte.« Ein Schatten von Schmerz und Verärgerung flog über ihr Gesicht. »Sie müssen Captain Winthrop sehr gern gehabt haben«, murmelte Charlotte. »Aber ja«, erwiderte Thora freimütig. »Ich konnte gar nicht anders, er war meinem armen Samuel in vielen Eigenschaften so ähnlich. Eine Frau muß solche Männer bewundern, denken Sie nicht auch? Und sich glücklich schätzen, weil sie den Respekt von zwei so außergewöhnlichen Männern gewonnen hat. Samuel war so aufopfernd. Ich muß Victor daran erinnern. Ich fürchte, mit der Zeit wird er das vergessen.« In einem anderen Fall hätte Charlotte Thoras Bemerkungen vielleicht so gedeutet, daß ihre Beziehung zu beiden Männern gleicher Natur war, doch in Thoras Augen las sie eine solch inbrünstige Unschuld, daß sie darin lediglich idealisierende Bewunderung erkannte. Aber wußte Mina Winthrop das? Oder war es vorstellbar, daß sie diese leidenschaftliche Wertschätzung als Liebe mißverstand? Verbarg sich hinter dem kühlen, zerbrechlichen Äußeren eine eifersüchtige Frau? Und was war mit ihrem Bruder? Charlotte suchte in dem Raum nach Bart Mitchell. Es war nicht schwer, ihn zu finden. Er stand allein im Halbschatten der großen Säulen, die eine Galerie an
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der Schmalseite des Raumes stützten. Seine Augen waren auf einen Menschen gerichtet, und sie kam, seinem Blick folgend, zu dem Schluß, daß er Thora Garrick beobachtete. Irrte sie, wenn sie Thoras Bewunderung für unschuldig hielt? Hatte diese überschwengliche Verehrung Captain Winthrop so sehr den Kopf verdreht, daß er nicht widerstehen konnte? Und hatte Bart Mitchell das erkannt? Ihre Gedanken wurden von Thora Garrick unterbrochen, die sie leicht am Arm berührte. »Jetzt muß ich Ihnen aber Mina vorstellen«, sagte sie leise, als am Ende von Victors zweitem Stück wieder Applaus ertönte. »Ich bin mir sicher, Sie werden sie äußerst charmant finden.« Und in der Tat war Mina sehr offen und schien sich wirklich zu freuen, die flüchtige Bekanntschaft mit Charlotte zu vertiefen. Nach nur wenigen Augenblicken unterhielten sie sich angeregt über Inneneinrichtung und Farbgebung, ein Thema, worüber Mina beträchtliche Kenntnisse zu haben schien. Etwa eine halbe Stunde später, nachdem sie sich an dem ausgezeichneten Buffet gestärkt hatten, das auf dem schweren Eichentisch angerichtet worden war, trat Charlotte wieder zu Emily. »Hast du etwas erfahren?« fragte Emily ohne Umschweife. »Etwas Wichtiges, meine ich.« »Ich glaube nicht«, gab Charlotte zurück. »Ich habe eher Eindrücke gesammelt. Ich mochte Mina Winthrop auf Anhieb.« »Angenehme Menschen sind leider nicht immer unschuldig«, gab Emily zurück. »Und manch unerträglich langweiliger und dummer Mensch kann so rein wie der neue Tag sein. Zumindest unschuldig an dem fraglichen Verbrechen. Natürlich können sie indirekt für alle möglichen Unglücksfälle verantwortlich sein...« »Ich will hier die Frage von Schuld und Unschuld gar nicht aufwerfen«, erwiderte Charlotte, »obwohl die natürlich höchst interessant ist. Und ich weiß ganz genau, daß sie Schuld auf sich geladen haben kann, wenigstens indirekt, durch einen Liebhaber. Oakley scheint ja wohl ein
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Mensch gewesen zu sein, den man nicht immer um sich haben konnte. Eher eine Art Held, wenn man Mrs. Garrick glauben darf.« Sie trat einen Schritt zur Seite, um eine ältere Dame vorbeizulassen, die schwer am Arm ihres Mannes hing. »Ihre Augen beginnen zu leuchten, sobald sie seinen Namen erwähnt«, fuhr sie fort. »Allerdings immer in Zusammenhang mit ihrem verstorbenen Mann und der Tatsache, daß Captain Winthrop ihn gegenüber Victor vertreten hat. Ist sein Cellospiel nicht himmlisch? Ich kann ihn mir nicht vorstellen, wie er auf dem Achterdeck auf und ab schreitet und Befehle brüllt - du etwa?« »Wenn er je die Führung übernimmt, dann wohl eher die über ein Streichquartett«, erwiderte Emily. »Ich glaube, wir haben nicht allzuviel erreicht.« Sie warf einen Blick über die Schulter. »Ehrlich gesagt, ich finde Mr. Uttley abscheulich. Er ist sich seiner selbst so sicher. Ich wünschte, ich wüßte ein paar skandalträchtige Sachen über ihn, etwas wirklich Delikates, worüber die Leute lachen und was sie sich weitererzählen würden.« »Fang du bloß nicht damit an«, warnte Charlotte erschrocken. »Es fällt nur auf dich selbst zurück.« »Ich weiß, ich weiß. Aber es ist zu schade. Also, wenn es jetzt um Mr. Hurlwood ginge, da wüßte ich schon etwas Nettes, obwohl ich natürlich keine Ahnung habe, ob es stimmt!« »Ist das von Bedeutung? Da er ja nicht gegen Jack antritt?« »Natürlich nicht, aber angeblich hat er eine Geliebte.« »Wie gewöhnlich«, sagte Charlotte angewidert. »Da ist doch nichts dran. Er ist ein sehr gut aussehender Mann. Es wundert mich also nicht. Meinst du, seine Frau wäre überrascht, wenn sie davon erfahren würde?« »Sie ist kürzlich gestorben«, gab Emily zurück. »Vermutlich ist das alles gar nicht interessant.« »Wie ist denn die Frau von Mr. Uttley?« »Eigentlich ganz nett, in gewisser Weise«, gab Emily widerwillig zu. »Ich denke ...« »Sei vorsichtig, Emily.« Charlotte wurde ernst. »Jack hat sich dem Inneren Kreis einmal verweigert. Das wird man
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ihm nicht verzeihen. Ich denke, Mr. Uttley weiß davon. Wenn ich nicht alles völlig mißverstanden habe, ist Mr. Uttley Mitglied und wird seinen Einfluß nutzen, um Jack zu schlagen. Tu bloß nichts, was ihm eine Waffe gegen euch an die Hand gibt.« »Das werde ich auch nicht«, erwiderte Emily ebenso ernst. »Und du kannst mir glauben, nicht nur Jack ist in Gefahr. Sie haben keine großen Sympathien für die Polizei, außer für die, die auch Mitglieder des Kreises sind. Sie werden die Lage für Thomas so schwer wie möglich machen. Und dieser Winthrop-Mord wird sich nicht so schnell aufklären lassen, denke ich. Wenn es jemand war, der ihn kannte, ein persönlicher Feind, dann hat Thomas eine gewaltige Aufgabe vor sich. Die Öffentlichkeit und die Regierung, die sich keinen weiteren Reinfall leisten kann, werden es ihm nicht nachsehen. Und vom Inneren Kreis kann er keine Hilfe erwarten, da er selbst nicht Mitglied ist.« »Du hast recht«, sagte Charlotte finster. »Vielleicht sollten wir uns mehr Mühe geben.« »Auf mich kannst du zählen«, versprach Emily. »Wenn ich dir helfen kann, wie auch immer, brauchst du es nur zu sagen.« »Danke. Ich danke dir, meine Gute. Jetzt wollen wir uns aber unter die Leute mischen und sehen, ob wir noch mehr über den verstorbenen Oakley Winthrop und seine Familie erfahren können und über die, die hier sind und vorgeben, um ihn zu trauern.« Sie hakte sich bei Emily ein. Gemeinsam zogen sie weiter.
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4. Kapitel
T
om Iles war ein Musiker von äußerst bescheidenem Talent, aber enormer Begeisterung. Es gab kaum etwas, das seine natürliche Freude hätte trüben können, und als er durch den Hyde Park zum Musikpavillon schritt, sang er fröhlich vor sich hin, während seine Trompete an seiner Seite in ihrem Lederetui hin und her baumelte. Seine Noten steckten zusammengefaltet in der Tasche, so konnte er sie leichter tragen, wenn sie auch schwerer zu lesen waren. Nichts behinderte seine weit ausholenden Schritte, mit denen er seiner beflügelten Laune Ausdruck verlieh. Er war sicher, der erste zu sein. Das war häufig der Fall, und heute war er noch zeitiger als sonst. Die langen Strahlen der frühen Morgensonne gaben dem taubenetzten Gras einen türkisfarbenen Schimmer, und in den Bäumen zwitscherten Scharen kleiner Vögel. Als vor ihm die achteckige Form des Musikpavillons auftauchte, beschleunigte er seine Schritte und sang noch eine Spur lauter. Dann hielt er inne und erkannte, daß er doch nicht der erste war, was ihn heftig irritierte. Da saß jemand auf einem der Sitze und schlief allem Anschein nach. Wenn das keine Belästigung war! Wenn es unglückliche Menschen gab, die im Freien schlafen mußten, sollten sie es woanders tun. Tom Iles würde das unmißverständlich klarmachen. »Guten Morgen, Sir!« rief er schon, als er noch gute zehn Meter entfernt war. »Also wirklich - hier können Sie nicht bleiben, müssen Sie wissen. Dies ist ein Musikpavillon, und in Kürze werden wir hier proben. Sir! Ich muß doch bitten!«
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Der Unglückselige saß vornübergebeugt, so daß sein Kopf nicht zu sehen war. »Ich muß doch bitten!« Tom hastete die Stufen hoch, stolperte, ohne daß sich ihm ein Hindernis in den Weg gestellt hätte, und sackte in sich zusammen. Er landete ungefedert und stieß sich heftig die Schulter. Sein Herz klopfte wie wild, so daß das Blut in seinen Ohren rauschte. Sein Mund war trocken, sein Magen begehrte auf. Langsam richtete er sich auf. Ja, es war immer noch da. Er hatte das Entsetzliche, das sich in sein Hirn eingeprägt hatte, tatsächlich gesehen. Der Mann, der in dem Musikpavillon saß, war kopflos. Aber der Kopf war da - auf dem Boden - links von seinen Füßen, das dunkle Haar mit den Silbersträhnen noch glatt gekämmt, das Gesicht zu Boden gewandt. Gott sei Dank! Er blieb minutenlang auf dem Boden hocken. Es war lächerlich, aber er hatte keine Kraft in den Knochen. Seine Arme zitterten wie nach einer enormen Kraftanstrengung. Ihm war übel. Er mußte es jemandem sagen. Es mußte einen Wachtmeister geben, der hier seine Runde machte. Er würde ihn finden. Er würde aufstehen - gleich, in einer Minute. Erst mußte sein Kopf aufhören zu brummen, und sein Magen mußte sich beruhigen. »Arledge, Sir«, sagte Tellman, ohne den Blick von Pitt zu wenden. »Aidan Arledge.« Er stand vor Pitts Schreibtisch. Es war erst halb neun Uhr morgens, aber er sah schon müde aus. Sein langes, hageres Gesicht hatte einen ausgezehrten Ausdruck, und um die Augen und den Mund waren Linien der Erschöpfung eingegraben. »Heute morgen im Musikpavillon im Hyde Park gefunden, ungefähr Viertel vor sieben. Von einem Trompeter, der dort Probe hatte. Kam als erster hin - und hat ihn gefunden.« »Geköpft, nehme ich an?« sagte Pitt ruhig. »Da Sie damit sofort zu mir gekommen sind.« »Jawohl, Sir, den Kopf abgeschlagen und bei der Leiche liegengelassen«, sagte Tellman mit einer gewissen Befrie-
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digung. Um seinen Mund zuckte es, als er Pitts Blick erwiderte. »Wer ist es? Was für ein Mann ist es, wissen Sie das schon?« fragte Pitt. »Groß, vornehm wirkend, so Mitte Fünfzig«, gab er zurück. »Dünn, sehr leicht. Gentleman. Weiche Hände. Hat noch nie hart arbeiten müssen.« »Woher wissen Sie seinen Namen?« »Visitenkarten in der Tasche. Hübsches silbernes Kartenetui, sein Name eingraviert und ein halbes Dutzend Karten drin.« »Adresse?« fragte Pitt. »Nein. Nur sein Name. Und eine kleine Musiknote. Angeberisch«, sagte Tellman verächtlich. »Warum sollte jemand eine Note auf seine Visitenkarte drucken lassen?« »Sänger?« mutmaßte Pitt. »Komponist?« »Na, auf jeden Fall nicht im Varieté!« Tellman lachte trocken. »Seine Kleider sind teuer, vom besten Schneider, Savile Row, das Hemd von Gieves.« »Geld gefunden?« fragte Pitt. »Keinen Penny.« »Nichts? Auch kein Münzgeld?« »Kein Kupfer, nichts. Nur ein Taschentuch, einen Bleistift und zwei Schlüsselbunde. Er muß beraubt worden sein. Keiner geht aus, ohne wenigstens genug Geld für eine Zeitung, eine Droschkenfahrt oder eine Schachtel Streichhölzer bei sich zu haben.« Tellman sah Pitt herausfordernd an. »Aber komisch, daß er das Kartenetui dagelassen hat. Als ob er wollte, daß wir wissen, wer er ist, finden Sie nicht auch? Da fällt mir ein, die Manschettenknöpfe waren auch noch da.« »Vielleicht wurde der Täter gestört«, sagte Pitt nachdenklich. »Doch es ist wahrscheinlicher, daß er das Kartenetui nicht wollte. Läßt sich nicht gut verkaufen.« »Schlau«, sagte Tellman mit schiefem Mund. »Schlaues Bürschchen, unser Verrückter. Weiß, was ihm schadet und was nicht. Aber dann fragt man sich doch, warum er nicht beim ersten Mal, bei Winthrop, das Geld genommen hat, oder?«
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»Ich frage mich alles mögliche«, gab Pitt zurück. Er sah in Tellmans dunkle Augen, die nichts verrieten, und beschloß, die Kritik, die er in dessen Gedanken vermutete, selbst zu äußern. »Ich dachte, der Mord an Winthrop sei auf persönliche Motive zurückzuführen, aber jetzt sieht es aus, als ob es doch ein Verrückter gewesen sei.« »Allerdings«, pflichtete Tellman ihm bei. Er hob sein Kinn fast unmerklich, sein Gesicht war verschlossen. »Vielleicht ist es doch kein Fall der gehobenen Gesellschaft, sondern eine gewöhnliche Polizeiermittlung? Außer, unser Verrückter ist ein Gentleman?« Für einen Moment schien er belustigt, dann war sein Gesicht wieder starr. Er schwieg und wartete darauf, daß Pitt den Faden wieder aufnahm. »Ich nehme an, daß der Wahnsinn Menschen jeden gesellschaftlichen Ranges heimsuchen kann«, gab Pitt zu, obwohl er wußte, daß das nichts mit Tellmans Andeutung zu tun hatte. »Aber in dieser Schicht gibt es nicht so viele Opfer, einfach weil es eine recht kleine Gruppe ist. Was sagt der Gerichtsmediziner? Gab es einen Kampf?« »Nein, Sir. Keine weiteren Verletzungen, keine Kratzer, keine blauen Flecke. Bekam einen Schlag auf den Kopf, wie Winthrop, das ist alles.« »Und seine Kleider?« fragte Pitt. »An ein paar Stellen feucht«, antwortete Tellman. »Als hätte er am Boden gelegen. Stellenweise lehmig, aber nicht zerrissen, auch nicht blutverschmiert, außer um den Hals herum, wie nicht anders zu erwarten.« »Er hat also auch keinen Widerstand geleistet«, stellte Pitt fest. »Sieht nicht so aus. Werden Sie den Fall abgeben, Sir?« fragte er mit unschuldiger Miene. Es war absurd. Seine Worte waren zweideutig, doch immer hinreichend respektvoll, so daß man ihm kein unverschämtes Verhalten vorwerfen konnte. Doch in Wahrheit provozierte er Pitt, hegte einen Groll gegen ihn, wartete darauf, daß Pitt beruflich einen Fehler begehen würde, der ernst genug war, um ihn seinen Posten zu kosten. Sie wa-
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ren sich beide dessen bewußt, obwohl Tellman es lächelnd leugnen würde, hätte man es ihm auf den Kopf zugesagt. »Das würde ich nur zu gerne«, sagte Pitt und begegnete Tellmans Augen mit festem Blick. »Leider bezweifle ich, daß der stellvertretende Polizeipräsident das zulassen wird. Lord und Lady Winthrop scheinen in seinen Augen eine gewisse Bedeutung zu haben, so daß die Auflösung des Falles mit größtmöglichem Einsatz vorangetrieben werden muß, und es darf auch kein gegenteiliger Eindruck entstehen. Allerdings ...« Er lehnte sich ein bißchen weiter in seinem Sessel zurück und betrachtete Tellman eingehend, während er die Hände bedächtig in seine Tasche gleiten ließ. »Auf keinen Fall werde ich Sie von dem Fall befreien. Sie sind viel zu wichtig für die Aufklärung.« Er lächelte. »Ist sowieso keine gute Idee, einen Beamten von den Ermittlungen zu befreien, wenn es sich um einen Serienmörder handelt. Sie könnten ein Detail gesehen oder bemerkt haben, das zu winzig oder zu unbedeutend schien, um in ihrem Bericht festgehalten zu werden, das aber dennoch von Bedeutung ist. Man weiß es nie. Vielleicht entdecken Sie eines Tages ein weiteres Detail, das dann zusammen mit den anderen einen Sinn ergibt.« Tellman blickte ihn wütend an. »Jawohl, Sir«, sagte er mit einem Lächeln, das eher an ein Zähneblecken erinnerte, wobei sein schiefes Gebiß in dem ebenmäßigen Gesicht merkwürdig auffiel. »Sicherlich werde ich den Fall schon aufklären, irgendwie.« »Hervorragend. Kümmern Sie sich um diesen Aidan Arledge, wer er war, ob es zwischen ihm und Oakley Winthrop eine Verbindung gibt »Wahrscheinlich nur derselbe Ort«, sagte Tellman wegwerfend. »Verrückte fragen nicht, ob ihre Opfer sich kannten.« »Ich sprach von einer Verbindung«, stellte Pitt richtig, »nicht unbedingt von einer Beziehung. Sahen sie sich ähnlich? Kleideten sie sich ähnlich? Kamen sie zur gleichen Zeit an derselben Stelle vorbei? Hatten sie ähnliche Interessen oder Gewohnheiten? Es muß einen Grund geben,
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warum der Verrückte diese zwei umgebracht hat und nicht einen der anderen Menschen, die jede Nacht im Park unterwegs sind.« »Lassen Sie ihm Zeit«, sagte Tellman trocken. »Bisher sind es zwei in zwei Wochen. In diesem Tempo könnte er fünfzig pro Jahr umlegen. Vorausgesetzt, fünfzig Leute gehen nachts im Park spazieren, was mir nicht sehr wahrscheinlich vorkommt. Ich jedenfalls würde jetzt nicht nachts allein im Park herumgehen.« Er sah Pitt unbeirrt an, und Pitt erriet seine Gedanken. Sie wußten beide, daß die Angst um sich griff, daß geflüstert wurde, die Leute beunruhigt waren, daß es häßliche Witze gab und daß jeder, der in einem Bezirk neu war oder sich in irgendeiner Weise abhob, beschuldigt und verfolgt wurde. Auch die Erinnerungen an Whitechapel und den entsetzlichen Verrückten, der nie gefunden worden war, wurden wach. »Wie weit ist der Musikpavillon von der Stelle im See entfernt, wo Winthrop gefunden wurde?« fragte Pitt. »Knapp eine halbe Meile.« »Wurde Arledge an dem Ort getötet, an dem er gefunden wurde?« »Nein«, erwiderte Tellman prompt. »Kaum Blut zu sehen, und die Umgebung hätte blutgetränkt sein müssen, bei dieser Form der Tötung. Kein Gras an seinen Schuhen, aber der Rasen ist, allem Anschein nach, seit mehreren Tagen nicht gemäht worden. Ich hatte auch keins an den Schuhen, als ich drüber gegangen bin. Aber ich setze mich mit dem Parkwächter in Verbindung, versteht sich«, fügte er schnell hinzu, bevor Pitt ihn darauf hinweisen konnte. »Sauberer Schnitt?« fragte Pitt. »Nein, viel unsauberer als beim ersten Mal. Hat zweioder dreimal zugeschlagen, so wie es aussieht.« Tellmans Gesicht verzog sich gegen seinen Willen vor Ekel. »Man muß schon kräftig zuschlagen, um einen Mann zu köpfen. Vielleicht hatte er beim ersten Mal Glück.« »Und er wurde auch erst mit einem Schlag auf den Kopf betäubt?« Pitt bohrte weiter.
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»Sieht so aus. Schlimme Prellung unter dem Haar auf dem Hinterkopf.« »So, daß er die Besinnung verlor?« »Weiß nicht. Dafür müssen wir auf den Gerichtsmediziner warten.« »Haben wir Vermutungen, wann der Tod eingetreten ist?« Tellman zuckte die Achseln. »Ungefähr zur gleichen Zeit. Mitternacht oder kurz danach.« »Zeugen?« »Noch nicht, aber ich werde sie auftreiben.« Tellman klang entschlossen, und sein Gesichtsausdruck ließ Pitts Mitleid mit jedem Passanten aufkommen, der sich weigerte, die ganze Wahrheit zu sagen. »Schicken Sie zunächst jemand anderen, der diese Ermittlungen durchführt«, wies Pitt ihn an. »Finden Sie heraus, wer Aidan Arledge war, wo er lebte, was er tat, wen er kannte, ob er Geld schuldete, ob er eine Geliebte hatte, was auch immer.« »Jawohl Sir. Ich werde Le Grange beauftragen.« »Sie übernehmen das selbst!« »Aber das ist doch einfach, Mr. Pitt«, protestierte er. »Und wahrscheinlich ist es auch unerheblich. Unser Irrer wird sich nicht im mindesten darum gekümmert haben, wer der Mann war. Wahrscheinlich hat er ihn vor letzter Nacht noch nie gesehen, und seinen Namen wußte er bestimmt auch nicht!« »Vielleicht haben Sie recht«, gab Pitt zu. »Dennoch möchte ich, daß ein erfahrener Beamter mit der Witwe spricht.« »Also gut, ich mache es.« Wieder entblößte Tellman seine Zähne. »Es sei denn, Sie halten ihn für so wichtig, daß Sie das selbst übernehmen sollten.« »Vielleicht werde ich das, wenn Sie etwas über ihn herausgefunden haben.« Tellmans Ausdruck verhärtete sich. »Jawohl, Sir.« Ohne abzuwarten, ob Pitt weitere Anweisungen für ihn hatte, drehte er sich auf dem Absatz um und ging hinaus. Pitt blieb verärgert und aufgewühlt zurück.
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Eine Weile saß er still und versuchte sich mit diesem neuen Verbrechen vertraut zu machen und den Unterschied zu ermessen, den es für seine bisherigen Schlußfolgerungen, so vorsichtig die auch formuliert waren, bedeutete. Er war sich so sicher gewesen, daß es für den Mord an Winthrop ein persönliches Motiv gab, jetzt machte dieser neue Mord seine Theorie zunichte. Kein Liebhaber im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, und sei er noch so grausam, tötete seinen Nebenbuhler und dann einen völlig Unbekannten. Und wenn das Motiv Neid auf beruflicher Ebene war, so würde doch kein Matrose, der sich - berechtigt oder eingebildet ungerecht behandelt fühlte, noch zusätzlich ein Opfer töten, das ihm zufällig über den Weg gelaufen war. Und warum war Winthrop nicht ausgeraubt worden? War der Grund schlicht und ergreifend, daß der Täter gestört wurde und geflohen war? Aber Arledge wurde nicht im Musikpavillon ermordet. Also wo dann? Und vor allem, warum? Es fiel ihm schwer, in seinem Büro nachzudenken. Da war es zu ruhig, zu bequem, und er konnte zu leicht unterbrochen werden. Spontan erhob er sich, verließ, ohne Hut oder Jacke mitzunehmen, sein Büro und ging die Treppe hinunter. Er rief dem Wachtmeister am Schalter etwas über die Schulter zu und trat auf die Straße. In dem Moment, da der Straßenlärm um ihn herum aufbrandete, fühlte er sich plötzlich wunderbar geborgen. Das war die Situation, die ihm vertraut war, die gewöhnlichen Menschen, die sich um ihn herum drängten und ihren Geschäften nachgingen, Straßenverkäufer, Hausierer, kleine Händler, Frauen auf dem Weg zum Markt, wo sie einkaufen oder verkaufen wollten, Zeitungsjungen, die in einem Singsang die neuesten Nachrichten herausschrien. Als er von der Bow Street in die Drury Lane einbog, passierte er Pastetenverkäufer, Sandwichverkäufer, eine Frau, die Pfefferminzwasser feilbot, eine andere mit Gartenblumen, und alle riefen ihm etwas nach, manche kannten sogar seinen Namen. Mehrfach hob er die Hand zum Gruß,
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blieb aber nicht stehen. Zwischen Droschken fuhren langsamere Kutschen mit offenem Verdeck, damit die Damen sich die Stadt ansehen und gleichzeitig gesehen werden konnten. Er ging weiter in Richtung Strand. Dort kündeten Plakate von Theaterstücken und Variete-Aufführungen, gaben Konzerte und Liederabende bekannt. Namen mit magischer Anziehungskraft standen in großen Buchstaben darauf: Ellen Terry, Marie Lloyd, Sarah Bernhardt, Eleanora Düse, Lillie Langtry. Wer war Aidan Arledge, und warum wurde er auf so grausame Weise umgebracht? War es wirklich nur die Tatsache, daß er zufällig allein spazierengegangen war ... Er blieb stehen. Nein, nicht im Hyde Park, nicht unbedingt. Sie mußten herausbekommen, wo er getötet wurde. Das war am wichtigsten. Wenn es wirklich nur die Übereinstimmung hinsichtlich des Tatortes gab, dann mußten sie herausfinden, wo dieser Ort war. Ein Passant rempelte ihn an, entschuldigte sich in eisigem Ton und ging weiter. »Hier - wolln Se 'ne Zeitung?« rief ihm ein Junge in zerrissener Kleidung fröhlich zu. »Schon wieder 'n schrecklicher Mord im Hyde Park! Verstümmelte Leiche im Musikpavillon! Verrückter Mörder treibt sich in London rum! Jack the Ripper is wieder unter uns! Und was macht die Polente? Hier, wolln Se lesen? Steht alles drin, hier!« »Danke.« Pitt nahm abwesend die Zeitung und gab dem jungen eine Kupfermünze. Er trat von der Fahrbahn zurück, lehnte sich an eine Hauswand und schlug die Zeitung auf. Die Artikel blieben hinter den Schlagzeilen nicht zurück: Sensationelle Berichterstattung, spaltenweise Spekulationen und die unvermeidbare Kritik an der Polizei. Noch wurde der Name des zweiten Opfers nicht genannt. Da war Tellman schnell gewesen, hatte das Kartenetui an sich genommen und es bei sich behalten. Die Witwe, wenn es denn eine gab, sollte von ihrem Verlust nicht durch eine Freundin oder ein Dienstmädchen erfahren, die die Schlagzeilen gesehen hatten.
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Er faltete die Zeitung zusammen und ging weiter den Strand entlang. Wenn es ein Verrückter war, der sich seine Opfer nach dem Zufallsprinzip griff und keine Verbindung zu Winthrop oder Arledge hatte, dann würde er - wenn überhaupt - nur durch ausdauernde polizeiliche Ermittlungen gefaßt werden. Tellman war da ein guter Mann. Verdammt, er selbst war auch nicht schlecht! Er kannte die Unterwelt mit ihren kleinen Dieben und Fälschern, den Schlägertypen, Falschspielern und Trickdieben, die Wind davon bekommen würden, wenn ein solcher Irrer frei herumlief. Doch die Erinnerung an Jack the Ripper brachte seine Zuversicht ins Wanken: Keiner hatte ihn dingfest gemacht, keiner war auch nur auf halbem Wege dazu gewesen. Einige Leute hatten einen Verdacht geäußert, aber letztlich war ihnen der Ripper entkommen. Die Nachwelt würde sich mit Schaudern an ihn erinnern, und der Name des Oberinspektors, der mit dem Fall betraut war, galt als Synonym für sein Scheitern. Selbst der Polizeipräsident Warren hatte zurücktreten müssen. Er wünschte sich heftig Micah Drummond als seinen Vorgesetzten zurück. Eine Beförderung war ein zweischneidiges Schwert. Klärte er den Fall auf, könnte Tellman dafür belobigt werden; fand er den Täter nicht, würde der stellvertretende Polizeipräsident - mit Recht - ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Er erteilte die Befehle, er traf die Entscheidungen. Er drehte um und schlug wieder den Weg zur Bow Street ein. Ein Uhrenverkäufer, der ihn kannte, nickte ihm zu. Warum um alles in der Welt sollte Winthrop sich mit einem Fremden in ein Vergnügungsboot setzen? Das ergab einfach keinen Sinn. Wenigstens zwischen Winthrop und seinem Mörder mußte eine Verbindung bestanden haben, wenn schon nicht mit Arledge. Er mußte mehr über Arledge erfahren. Er beschleunigte seine Schritte und betrat, von neuem Tatendrang erfüllt, die Wache. Der Wachtmeister am Schalter sah mit besorgtem Gesicht auf.
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»Mr. Pitt, Sir, Mr. Farnsworth will Sie sprechen, Sir. Und, Mr. Pitt...« »Ja?« »Er ist ganz schön ungehalten, Sir.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Pitt trocken. »Aber danke, daß Sie mich gewarnt haben.« Er blieb einen Moment stehen, um sich zu sammeln und sich innerlich auf die Begegnung vorzubereiten. Als er das Büro erreichte, war sein Kopf leer. Er öffnete die Tür. Farnsworth saß im Lehnstuhl. Er stand nicht auf, als Pitt hereinkam, sondern sah ihn nur mit finsterer Miene an. »Guten Morgen, Sir.« Pitt schloß die Tür und ging zu dem anderen Stuhl. »Wohl kaum!« entfuhr es Farnsworth. »Haben Sie die Zeitungen gesehen? Überall Schlagzeilen, was ja nicht überrascht. Zwei kopflose Leichen innerhalb von zwei Wochen. Hier ist ein zweiter Ripper am Werk, und was tun Sie dagegen? Ich sage Ihnen eins: Ich habe nicht vor, meinen Posten zu verlieren, bloß weil es Ihnen nicht gelingt, diesen amoklaufenden Irren zu schnappen. Setzen Sie sich doch, Himmel noch mal! Ich verrenke mir ja den Hals, wenn ich Sie ansehe.« Sofort setzte Pitt sich hin. »Nun, was tun Sie?« wollte Farnsworth wissen. »Wer ist dieser Arledge überhaupt? Was hatte er mitten in der Nacht im Park zu suchen? Wollte er sich eine Prostituierte angeln? Ist das die Verbindung? Waren beide Männer auf der Suche nach einer Prostituierten, und ein Wahnsinniger mit einem puritanischen Tick hat es sich in den Kopf gesetzt, sich auf diese Weise an ihnen zu rächen?« Er verzog das Gesicht, in dem sich Wut und Zweifel mischten. »Allerdings bringen Menschen mit dieser Obsession normalerweise die Frauen um, nicht die Männer.« »Ich weiß es nicht«, gestand Pitt ein. »Ich habe Tellman geschickt, er soll Erkundigungen über Arledge einziehen.« Farnsworths Schultern waren so angespannt, daß sein Kammgarnmantel Falten warf.
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»Tellman - Tellman? Taugt der was? Der Name ist mir bekannt...« »Ja, er ist sehr fähig«, sagte Pitt ehrlich. »Aha - gut.» Farnsworth erinnerte sich offenbar an ihn. »Drummond hat immer lobend von ihm gesprochen. Ein bißchen grob, aber intelligent, erfolgreich in der Ermittlungsarbeit, guten Kontakt zu kriminellen Elementen. Gut, ja, schicken Sie Tellman. Was sonst?« Aus harten, sehr blauen Augen sah er Pitt anklagend an. »Meine übrigen Männer sind im Park und versuchen, mögliche Zeugen ausfindig zu machen, obwohl wir damit heute abend wahrscheinlich mehr Erfolg haben.« »Heute abend?« fragte Farnsworth mit gerunzelter Stirn. »Sie können es sich nicht leisten, bis heute abend zu warten, Mann. Was denken Sie sich denn bloß? Liebe Güte, Pitt, sehen Sie denn nicht, daß wir kurz vor einem neuerlichen Gewaltausbruch in der Stadt stehen? Die Leute haben Angst. Es wird von Anarchie, von Aufstand gesprochen. Ja, es gibt Gerüchte, daß eine Republik ausgerufen werden soll. Es ist nur eine Reihe ungeklärter Morde wie diese nötig, und irgendein Revolutionär wird ein Feuer in London entfachen. Sie können es sich nicht leisten, darauf zu warten, daß Ihnen die Beweismittel präsentiert werden.« Er schlug mit der Faust auf die Stuhllehne und lehnte sich ungelenk nach vorn. »Keiner von uns hat diese Zeit!« »Ja, Sir, ich bin mir dessen bewußt«, antwortete Pitt geduldig. »Aber wir werden einen Zeugen, der etwas gesehen haben könnte, am ehesten ausfindig machen, wenn wir die gewohnheitsmäßigen Spaziergänger befragen. Diejenigen, die zufällig und einmalig im Park waren, werden wir nicht finden, es sei denn, sie kommen zu uns. Doch diejenigen, die sich regelmäßig im Park aufhalten, werden aller Wahrscheinlichkeit nach auch heute abend wieder dort sein.« »Ja, ja - ich verstehe schon.« Farnsworth konnte sich nicht entspannen, er war immer noch vornübergeneigt, die Muskeln angespannt. »Was sonst? Sie müssen doch mehr auf Lager haben als das. Ich nehme an, keiner hat etwas gesehen, das uns Aufschluß geben könnte. Dieser Irre da ist
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sicherlich verrückt, wahnsinnig, verdreht - aber das heißt noch nicht, daß er ein Idiot ist. Hoffen allein reicht hier nicht, Pitt.« Seine Stimme wurde schriller und schärfer. »Abilene hatte in der Sache mit dem Ripper die Hoffnung nicht aufgegeben - und sehen Sie sich an, was mit ihm geschehen ist!« »Er hat nichts unversucht gelassen«, verteidigte ihn Pitt. Er hatte Inspektor Abilene nicht persönlich gekannt, doch er respektierte dessen Arbeit und wußte, daß er alles getan hatte, um den Mörder von Whitechapel dingfest zu machen. »Sie lassen besser auch nichts unversucht.« Farnsworth fixierte ihn. »Und mehr noch. Wenn Sie in diesem Büro bleiben wollen, müssen wir ihn kriegen.« »Meine Männer versuchen auch herauszubekommen, wo der Mord verübt wurde«, fügte Pitt hinzu. Farnsworth ging zu weit. Zwar verstand Pitt die Ängste und Befürchtungen, die Farnsworth umtrieben, aber sein Verhalten ärgerte ihn, was er aber nicht zeigen durfte. Es war nicht gerade ehrenwert, den Mut und die Intelligenz eines Mannes in dessen Abwesenheit zu beschimpfen, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, sich zur Wehr zu setzen oder zum Gegenschlag auszuholen. Da Pitt jetzt auch in einer Machtposition war, mußte er darauf achten, daß er nicht in dieselbe Verhaltensweise verfiel, so groß die Versuchung hinsichtlich Tellmans auch war. Fand Farnsworth ihn so schwierig wie er Tellman? »Was meinen Sie damit?« fragte Farnsworth mit hartem Blick. »Wurde er nicht an dem Ort gefunden, wo er auch umgebracht wurde? Woher wissen Sie das?« »Kein Blut«, erwiderte Pitt. »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wissen wir noch nicht, ob es an einer anderen Stelle im Park geschah oder an einem ganz anderen Ort, womit alles offen wäre.« Farnsworth erhob sich und fing an, im Büro auf und ab zu gehen. »Wie war das bei Winthrop? Sagten Sie nicht, er sei im Boot getötet worden.«
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»Ja - mit dem Kopf über den Bootsrand gebeugt. Wir können es nicht beweisen, aber es scheint äußerst wahrscheinlich.« Farnsworth blieb plötzlich stehen. »Warum?« »Weil im Holz eine frische Kerbe an der Stelle war, wo die Klinge sich ins Holz gedrückt haben könnte, wenn der Kopf über die Seite des Bootes abgeschlagen worden wäre«, erklärte Pitt. »Außerdem haben wir an seinen Schuhen ein bißchen feuchtes Gras gefunden. Er selbst war ganz trocken, aber sein Kopf war naß.« »Gut - gut. Das steht dann also fest. Winthrop wurde also im Boot umgebracht und Arledge an einem anderen Ort, und Sie wissen nicht, wo. Meiner Ansicht nach könnte eine Verbindung zu einer Prostituierten bestehen. Am besten befragen Sie all diejenigen, die in dem Gebiet arbeiten und erzählen Sie mir nicht, daß es mehrere hundert sind. Ich weiß, daß es in London weit über achtzigtausend Prostituierte gibt. Eine davon hat vielleicht etwas gesehen. Vielleicht kennt sie sogar den Verrückten. Fangen Sie also an!« »Jawohl, Sir«, stimmte Pitt sofort zu. Es war in der Tat eine sehr vernünftige Idee. Bei dem Stand der Dinge schien eine solche Verbindung am wahrscheinlichsten. Prostituierte hatten immer ein festes Revier, so daß die Anzahl derer, die er befragen mußte, recht gering sein würde. Es bestand auch die Möglichkeit, daß Winthrop aus diesem Grunde in den Park gegangen war oder in dem Moment, als sich die Gelegenheit ergab, ihr nachgegeben hatte. Das war eine mögliche Antwort auf die Frage, warum er sich mit einem anderen Menschen in das Vergnügungsboot begeben hatte. Mit einer Prostituierten schien das plausibel, wenn sie dies als Vorspiel zur Gewährung ihrer Gunst verlangt hatte. Winthrop würde keinen Verdacht schöpfen, schließlich war er Seemann. Vielleicht war es ihm sogar amüsant erschienen. »Also?« fuhr Farnsworth fort. »Was noch? Was sagen wir der Presse? Wir können schließlich schlecht äußern, daß
wir den Verdacht hätten, der verstorbene Captain Winthrop habe im Park eine Prostituierte aufgesucht. Abgesehen von allem anderen würde man uns eine Anzeige an den Hals hängen. Lord Winthrop hat beim Innenminister vorgesprochen und gesagt, daß bisher zu wenig in der Aufklärung des Falles geschehen sei.« »Erzählen Sie ihm, daß der stellvertretende Polizeipräsident die Ermittlungen in eine Richtung gebracht hat, die wir jetzt weiterverfolgen«, schlug Pitt sachlich vor. »Sollen die Zeitungen doch selbst sehen, ob sie herausfinden, welche Richtung das ist. Sagen Sie ihnen, Sie könnten keine weiteren Angaben machen, bis Beweise vorliegen, um niemanden in Verruf zu bringen.« Farnsworth starrte ihn an. Er war sich unsicher, ob in Pitts Vorschlag Sarkasmus mitschwang. Pitt blieb es erspart, sich näher zu erklären, da es an der Tür klopfte und auf sein »Herein!« hin Wachtmeister Bailey eintrat. Er war ein großer Mann mit einem traurigen Gesicht und einer Vorliebe für Pfefferminzstangen. Mit bangem Blick betrachtete er den stellvertretenden Polizeipräsidenten. »Was gibt's, Bailey?« fragte Pitt. »Wir haben herausbekommen, wer dieser Arledge war, den es da erwischt hat«, erwiderte er. Sein Blick wanderte zwischen Farnsworth und Pitt hin und her. Beide sprachen auf einmal. Bailey entschied sich, seine Neuigkeiten Pitt mitzuteilen. »Er war 'n Musikus, Sir, Dirigent von 'nem kleinen Orchester, und hatte verschiedene Engagements. War wohl einigermaßen erfolgreich, in seinen eigenen Kreisen, sozusagen.« »Das ging aber schnell«, sagte Pitt und musterte Bailey sorgfältig. »Wie haben Sie das so schnell herausgefunden?« Bailey errötete. »Na ja, Sir, seine Frau hat gesagt, er sei letzte Nacht nich nach Haus gekommen. Se hat es erst heute morgen gemerkt, aber als se hörte, daß eine Leiche gefunden worden war, hat se sich Sorgen gemacht und nach uns geschickt. Der Wachtmeister wußte natürlich sofort,
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daß es ihr Mann war, weil sie Arledge heißt - Dulcie Arledge, die Ärmste.« Farnsworth saß kerzengerade auf seinem Stuhl. »Was weiter? Was für eine Frau ist sie, diese Mrs. Arledge? Wo wohnt sie? Was hat er gemacht, außer seiner Musik? Er muß ziemlich wohlhabend sein?« »Darüber weiß ich nichts, Sir. Scheint aber, als war er ziemlich berühmt auf seinem Gebiet. Er war wohl 'n guter Dirigent, wird gesagt. Und Mrs. Arledge, die scheint 'ne echte Lady zu sein, sanfte Stimme, gute Manieren, zurückhaltende Kleidung, natürlich noch kein Schwarz.« »Wie alt schätzen Sie sie?« fragte Farnsworth. Bailey wand sich. »Nich so leicht, das Alter von 'ner Lady zu schätzen, Sir ...« »Oh, gütiger Himmel, Mann! Schätzen Sie. Sie müssen eine Vorstellung haben. Sie sagen es ja nicht vor ihr«, drängte Farnsworth ungeduldig. »Vierzig, fünfzig? Was meinen Sie?« »Eher vierzig, Sir, würd ich mal sagen, aber immer noch sehr hübsch. Gesicht, mit dem man leben könnte, wenn Se mich verstehen.« »Ich verstehe Sie ganz und gar nicht!« erwiderte Farnsworth barsch. Bailey wand sich vor Verlegenheit. »Meinen Sie, sie hat ein angenehmes Gesicht, das nicht unbedingt schön zu nennen ist?« fragte Pitt ihn. »Eins, das man immer lieber anschaut, je besser man den Menschen kennt?« Bailey blickte ihn erleichtert an. »Ja, Sir, genauso meine ich's. Man würde nie überdrüssig, denn es hat so was - Sir.« »Eine überaus attraktive Frau demnach«, sagte Farnsworth. »Aber das heißt noch nicht, daß ihr Mann es nicht mit Prostituierten getrieben hat.« Bailey schwieg, aber es war deutlich, daß er nicht allzu glücklich war. Farnsworth schenkte ihm keine Beachtung. »Kümmern Sie sich darum, Pitt!« sagte er grimmig. »Finden Sie heraus, was dieser Arledge für Angewohnheiten hatte, welche Vergnügungen er bevorzugte, wie oft er abends im Park spa-
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zierengegangen ist, seine« - er zögerte - »seine Neigungen. Vielleicht hat er Frauen mißbraucht, war ein Sadist oder ein Perverser - so einem würden die Zuhälter auf den Pelz rücken.« Pitt verzog das Gesicht. »Seien Sie nicht so empfindlich«, fuhr Farnsworth ihn an. »Gütiger Himmel, Mann, Sie wissen über die Situation Bescheid! Die Leute sind schon fast hysterisch angesichts des zweiten Falles. Überall riesige Schlagzeilen und Artikel über die Unfähigkeit der Polizei. In Kürze finden Parlamentswahlen statt, und schon jetzt versuchen die Kandidaten, daraus Kapital zu schlagen.« »Natürlich werde ich in diese Richtung ermitteln«, erklärte Pitt, als Farnsworth geendet hatte. »Ich bezweifle nur, daß besondere Vorlieben oder auch Sadismus einen Zuhälter dazu bringen könnten, einem Kunden den Kopf abzuschlagen. Denen ist es doch egal, solange sie ihr Geld bekommen und die Frau nicht zu sehr zugerichtet ist, so daß sie weiter anschaffen gehen kann.« Farnsworth blickte ihn von unten her an. »Ist das so? Na ja, vermutlich sind Sie der Fachmann. Ich kenne mich da nicht so gut aus.« Seine Lippen kräuselten sich angewidert. »Dennoch werden Sie bestimmt einsehen, daß hier die Antwort liegt. Gehen Sie dem nach, Pitt. Natürlich sollen Sie auch allen anderen Hinweisen nachgehen. Finden Sie heraus, wo er umgebracht wurde. Suchen Sie die Zeugen, wenn es denn welche gibt, aber finden Sie auch die Frauen!« »Jawohl, Sir«, stimmte Pitt ihm zu. »Das war's dann.« Farnsworth stand auf, sah über Bailey hinweg und ging zur Tür. Er zupfte sich sein Jackett zurecht und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. »Soll ich Mr. Tellman sagen, daß er das macht, Sir?« fragte Bailey hilfsbereit, jetzt, da Farnsworth gegangen war. Er zog eine Papiertüte aus der Tasche und steckte sich eine Pfefferminzstange in den Mund. »Nein.« Pitt hatte sich entschlossen. »Nein, danke. Das mache ich selbst. Versuchen Sie herauszufinden, wo er um-
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gebracht wurde. An der Stelle muß eine Menge Blut sein. Ach ja - und wie er transportiert wurde, wenn das möglich ist.» Bailey sah ihn verblüfft an. »Wie er transportiert wurde? Na ja, ich nehm an, jemand hat ihn getragen. Bißchen schmuddelig vielleicht, aber wenn einer schon 'nem Typ den Kopf abgeschlagen hat, macht ihm 'n bißchen mehr Blut auf den Sachen nichts mehr aus.« »Scheint mir etwas riskant, einen kopflosen Mann durch den Park zu tragen», gab Pitt zu bedenken. »Und warum sollte er ihn überhaupt an eine andere Stelle bringen? Warum hat man ihn nicht da gelassen, wo er war? Es sei denn, dieser Ort würde uns auf die Fährte des Mörders bringen. Finden Sie das heraus, Bailey.« »Jawohl, Sir«, sagte Bailey zögernd. »Sonst noch was, Mr. Pitt?« »Im Moment nicht.« »In Ordnung, Sir. Ich mache mich dann auf 'n Weg, Sir.« Inzwischen war es Nachmittag geworden. Pitt war zu Hause in Bloomsbury gewesen und hatte sich seine ältesten Sachen angezogen: eine schlecht sitzende Jacke, ein Hemd, dessen Kragen und Manschetten schon zweimal gewendet worden waren, und abgestoßene Stiefel, deren Sohlen sich ablösten. Seine Hosen waren zerschlissen, und sein zerbeulter Hut bedeckte sein Gesicht zur Hälfte. Er brach auf in Richtung Edgware Road im Norden des Hyde Parks, zu den Mietskasernen, wo er die Männer, aber auch vor allem die Frauen finden würde, nach denen er suchte. Es war ein windiger Tag im Spätfrühling, der warme Wind trieb die Wolken in weißen Fetzen über den Himmel. Noch blühten die Osterglocken auf der grünen Wiese. Kindermädchen in ihren gestärkten Trachten schoben Kinderwagen auf den Wegen entlang, und größere Kinder liefen brav hinter ihnen her. Einige hatten Steckenpferde dabei oder Puppen mit Porzellanköpfen. Zwei Jungen trieben einen Reifen mit Stöcken vor sich her, ein dritter schwenkte sein Holzschwert.
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Eigentlich hätte es ihm sehr unangenehm sein müssen, in diesem Aufzug auf die Suche nach Zuhältern und Prostituierten gehen zu müssen, doch er lief mit federndem Schritt und genoß das Gefühl der Freiheit, der Polizeiwache entronnen und draußen in der frischen Luft zu sein. Noch größer war die Erleichterung, daß keiner ihm über die Schulter gucken konnte, mit einer kritischen Bemerkung auf der Zunge. Er bog von der Edgware Road nach links in die Cambridge Street ein. Nach einer Weile ging er ein paar Stufen hinunter in einen Kellervorhof und klopfte an eine Tür. Er wartete einen Augenblick und klopfte dann ein zweites Mal. Nach einer ganzen Weile öffnete sich die Tür einen Spalt und gab den Blick auf Nase und Augen eines Menschen frei. »Was wolln Se denn? Na, hallöchen, wenn das nich der Mr. Pitt is. Ganz schön aufm Absteigenden, was? Hab' gehört, Sie sin ganz nach oben gekommen. Sin wohl rausgeschmissn worn, was? Geschieht Ihnen ganz recht! Sollte keiner höherklettern, als was sein von Geburt angestammter Platz is. Hätt ich Ihnen sagen können. Sie sin eben nich als Gentleman geborn, und Se wern auch zu keinem. Un ers recht nicht, wenn man schlau is. Gentlemen mögen keine Schlaumeier nich. Jetzt müssen Se wieder die Schmuddelsachen machen, was?« Die Tür öffnete sich keinen Spalt weiter. »Weiß noch nicht«, antwortete Pitt ausweichend. »Könnte sein. Ja, die Schmuddelsachen mache ich auch.« Die Augen musterten ihn von oben bis unten. »Das seh ich. Sie sehn ja furchbar aus. Was wolln Se von mir? Hab' nix getan. Interessiert mich nich, Ihre Sachen da.« »Frauen«, brachte Pitt sein Anliegen auf den Punkt. »Ein paar von Ihren Frauen arbeiten doch im Park.« »Könnte sein, könnte aber auch nich. Was geht Sie das an? Die schneiden den Leuten ja nich die Köppe ab. Schlecht fürs Geschäft, un außerdem, warum sollten se? Gibt doch keinen Sinn. Wenn Se glauben, die ham so was
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gemacht, dann sollten Se wieder auf Streife gehn.« Er lachte heiser über seinen eigenen Witz. »Lassen Sie mich herein, oder soll ich jedes Ihrer Mädchen zu mir auf die Wache bestellen?« »Sie sin hart, Pitt, un ungerecht«, beschwerte er sich, öffnete aber die Tür, und Pitt betrat einen recht großen Raum, der allerdings hoffnungslos vollgestellt war mit den verschiedensten Möbelstücken, darunter Stühle, Sofas, Schreibtische, Drehspiegel, gepolsterte Schemel und eine Chaiselongue. Die Polstermöbel waren alle entweder rot oder rosa. Es war ein bedrückender Raum, der Pitt das Gefühl gab, daß jeden Moment etwas herabpoltern könnte, obwohl tatsächlich alles ganz sicher auf dem Boden zu stehen schien. Der Mann, der jetzt in der Mitte des Raumes auf dem rot-goldenen Teppich stand, war von mittlerem Wuchs. Er hatte helles Haar und trug einen ungepflegten Vollbart. Sein schmales Gesicht mit der geraden Nase schien nicht recht zu der restlichen Gestalt zu passen. Seine Schultern fielen nach vorne, und die rechte Körperhälfte schien irgendwie verkrüppelt. Der rechte Arm war wesentlich kürzer als der linke. Er betrachtete Pitt mit wachsamen Blick. »Das Leben ist ungerecht«, sagte Pitt gnadenlos. »Sie müssen das Beste draus machen. Ich kann auch jederzeit Mr. Tellman herschicken ...« Der Mann spuckte aus, seine Augen wurden schmal. »So ein Mistkerl, dieser Typ. Wenn der mal im Fluß endet, dann tanz ich auf dem sein Grab.« Pitt verkniff es sich, ihm die Unmöglichkeit dieses Vorhabens zu erläutern. »Kein Zweifel«, sagte er trocken. »Welche Ihrer Mädchen arbeiten zur Zeit im Park? Und verschweigen Sie mir nichts, ich finde es sowieso heraus, und dann kriege ich Sie dran, mit allen Vergehen, die im Gesetzbuch stehen.« »Die Beförderung is Ihnen wohl zu Kopf gestiegen«, sagte der Mann mit einer bitteren Grimasse. »Sie warn schon immer 'ne ganz miese Sau.«
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»Unsinn. Ich habe nichts getan, was Sie nicht verdient hätten. Nichts im Vergleich mit dem, was ich tun kann und auch werde, wenn Sie mir nicht sagen, wer im Park war. Und wenn wir schon darüber sprechen ...« Pitt ließ sich auf einen der Polsterstühle sinken, der bequemer war, als er erwartet hatte. Er schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück. »Ist jemand neu in dem Revier?« Der Mann lächelte und fuhr sich mit dem Finger über die Gurgel. Als er Pitts breites Grinsen sah, erbleichte er. »Nein, das glauben Se doch nich im Ernst. Ich hab' das nich gemacht. Ich weiß schon, wie ich mir die Konkurrenz vom Leibe halte, ohne so gefährliche Sachen zu machen.« Er zog eine Grimasse. »Un sowieso, wenn ich nu sowas machen wollte, was in meinen Augen nur gemein und ganz unnötig is, dann würd ich's doch nich im Park machen, oder? Wenn die Gentlemen dann plötzlich Angst haben, allein in den Park zu gehn, was is dann mit mein Geschäft? Bin doch nich blöd. Und wenn Se denken, daß ich sowas tun würde ...« »Das tue ich nicht«, unterbrach Pitt ihn ungeduldig. »Aber ich könnte mir vorstellen, daß Ihre Mädchen was gesehen haben. Und vielleicht wissen sie auch, daß sich ein merkwürdiger Typ herumtreibt, einer mit ungewöhnlichen Vorlieben, jemand, der ein großes Messer mit sich trägt.« »Nein. Niemand, der aus dem Rahmen fällt. Die Herren, wo im Park ihrem Vergnügen nachgehn, ham oft einen besondern Geschmack.« »Und treiben es gelegentlich zu weit?« fragte Pitt mit hochgezogenen Brauen. »Und verlangen Dinge, mit denen ein neues Mädchen nicht einverstanden sein könnte?« »Ach ja? Un dann hackt se ihm den Kopp ab?« »Nicht selbst.« »Also, ich schleiche meinen Mädchen nich nach. Das mögen die Herrn nich besonders.» Er lachte in einem affektierten Falsett. »Blöde Kerle, meinen, keiner weiß was von ihnen, also machen Se 'n Geheimnis draus.« Er zog eine Grimasse und zeigte seine schwarzen Zähne. »Un wie hätt
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ich das anstellen solln? Ich trag doch keine Ax nich bei mir.« Er postierte sich breitbeinig vor Pitt. »Tut mir leid, Sir, aber meine Mädchen mögen sowas nich, würden Se sich bitte ma vorlehnen, so, damit ich Ihnen 'n Kopp abschlagen kann - und damit die andern Herrn mit abwegige Wünsche sich merken, daß es sich nich lohnt.« »Die Opfer wurden zunächst bewußtlos gemacht«, sagte Pitt grimmig, aber er wußte, daß der Mann recht hatte. »Wenn ich ihn besinnungslos geschlagen hab, warum sollte ich ihm dann den Kopp abschlagen?« Der Mann kräuselte verächtlich die Lippen. »Jemand hat es aber getan!« sagte Pitt. »Sagen Sie mir, welche Ihrer Mädchen an den Abenden im Park waren.« »Marie, Gerti, Cissy und Kate«, antwortete er bereitwillig. »Holen Sie sie her«, sagte Pitt knapp. Der Mann zögerte nur einen kurzen Moment, dann verschwand er und kam wenig später mit vier Frauen zurück, die im hellen Tageslicht müde und fahl aussahen. Bei Mondschein oder im Licht der Gaslaternen hatten sie womöglich eine gewisse Attraktivität, aber jetzt war die Haut aufgedunsen, das Haar glanzlos und strähnig, die Zähne waren fleckig, und einige Lücken wurden sichtbar, wenn sie den Mund öffneten. Kate, offenbar eine Art Sprecherin, war eine große, dünne Frau mit rotem Haar, die Pitt mit Abneigung musterte. Sie sah wie vierzig aus, konnte aber ebensogut erst fünfundzwanzig sein. »Bert hat schon gesacht, daß Se nach dem Kerl suchen, der wo die Morde im Park begangen hat. Also, wir wissen nischts, aber auch gar nischts darüber.« Die anderen drei nickten zustimmend, eine zog ihren schmuddeligen Morgenmantel enger um sich, eine andere strich sich eine Strähne aus den Augen. »Aber ihr wart in diesen Nächten im Park«, stellte Pitt fest. »Nich die ganze Zeit, aber ja«, gab Kate zu. »Habt ihr jemanden gegen Mitternacht am SerpentineSee gesehen?«
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»Nein.« Sie wirkte belustigt. Pitt hatte schon früher hin und wieder mit ihr über die eine oder andere Sache gesprochen. Sie war Schneiderin gewesen, bis sie schwanger wurde. Wenn sie Mäntel nähte, bekam sie siebeneinhalb Pence pro Mantel, und wenn sie fünfzehn Stunden am Tag arbeitete, konnte sie zwei Schillinge und Sixpence verdienen. Doch von ihrem Verdienst mußte sie Threepence für die Fertigung der Knopflöcher und Fourpence für Zubehör bezahlen. Selbst wenn sie achtzehn Stunden am Tag arbeitete, konnte sie sich und ihr Kind davon nicht ernähren. Also ging sie auf die Straße, wo sie das Gehalt für einen Tag in einer Stunde verdienen konnte. Um die Zukunft würde sie sich später kümmern, wie sie einmal zu Pitt sagte. Welchen Sinn hatte denn die Zukunft, wenn man den heutigen Tag nicht überleben konnte? »Die Herrn mögen es lieber etwas privater, sozusagen, auch wenn ses draußen ganz reizvoll finden und es auch noch eilig haben. Ham Sies schon ma in so 'nem Boot gemacht? Kippen ganz leicht um, diese kleinen Dinger.« Pitt erwiderte ihr Lächeln. »Ich mußte die Frage stellen. Haben Sie Captain Winthrop je gesehen?« »Meinen Sie, ob er 'n Freier war?« »Wenn Sie wollen. Oder haben Sie ihn vielleicht nur Spazierengehen sehen?« »Ja - ich hab' ihn ein-, zweimal gesehen, aber 'n Freier war er nich.« Pitt knurrte innerlich. Es war unmöglich einzuschätzen, ob sie die Wahrheit sagte. Ihr Blick war völlig offen, schon das erfüllte ihn mit vagem Zweifel. »Jetz ma ehrlich, Mr. Pitt«, sagte sie plötzlich ganz ernst, »mit uns hat das nischt zu tun, un das is die reine Wahrheit. Vielleich wird ab un zu ma 'n Kerl zusammengeschlagen. Der dünne Georgie kann das ganz gut, aber es is nich gut fürs Geschäft, wenn man mit Gewalt kommt. Das vergrault nur die Leut, un dann ham wir nischts zu beißen. Es is keiner von uns, sondern es is so 'n Typ, der echt 'ne Macke hat. Un es hat kein Sinn, uns zu fragen, wir wissn nämlich nischts.« Sie sah die anderen Mädchen an.
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Cissy schob ihr blondes Haar wieder aus den Augen und nickte zustimmend. »Uns macht das auch kein Spaß, genauso wenich wie Ihnen«, sagte sie und saugte die Luft durch einen hohlen Zahn ein, wobei sie zusammenzuckte und ihre Hand auf die Wange legte. »Die Leute ham Angst rauszugehn, wegen sowas. Keiner traut sich mehr. Un das is unser Revier.« »Genau«, stimmten die zwei anderen zu. »Un es is auch nich so, als ob wir einfach woanders hinziehn könnten. Der dicke George würd uns ganz schön was erzählen, wenn wir in das Revier von seine Mädchen kommen.« Sie schauderte. »Nich, daß ich Angst hätte vor dem dicken George, der is doch weich wie Butter. Aber der dünne Georgie, bei dem läufts mir kalt den Rücken runter. Der is echt 'n mieses kleines Schwein. Ich denk ma, der is nich ganz richtig hier oben, so wie der einen anguckt.« »Iihh, ja.« Cissy verzog das Gesicht und hielt sich fest umschlungen. »Aber trotzdem, es macht kein Sinn, daß er den Leuten die Köppe abhaut«, beharrte Kate. »Un ganz ehrlich, Mr. Pitt, wir wissen von keinem nich, der wo ein echter Irrer is. Soweit wir wissen, schläft auch keiner da draußen, oder?« Sie sah die anderen fragend an. Sie schüttelten alle den Kopf, die Augen auf Pitt gerichtet. »Keiner, der im Park campiert?« bohrte Pitt weiter. »Nee. Es gibt schon welche, die wo draußen schlafen wolln«, meinte Kate. »Aber der Parkwächter, der greift ganz schön hart durch. Der kommt und schickt se weg. Un natürlich sin die Bullen auch immer wieder da. Un das is auch noch 'n Grund, warum die Herrn nich so gerne im Park bleiben wolln. Man steht nämlich ganz schön dumm da, wenn man von 'nem Bullen erwischt wird. Deswegen macht man sich da nur bekannt.« Es lohnte sich nicht zu fragen, ob sie Aidan Arledge gesehen hatten. Seine Beschreibung paßte auf hundert Männer, die im Park gewesen sein konnten.
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»Haben Sie etwas Ungewöhnliches beobachtet in der Nacht des zweiten Mordes?« fragte er ohne Hoffnung auf eine aufschlußreiche Antwort. Kate zuckte die Achseln. »Irgend 'ne Anfängerin wollte in unser Revier, un Cissy hat ihr die Haare ausgerissen ...» »Hab' ich nich« widersprach Cissy. »Hab' sie nur ganz höflich gewarnt, sozusagen.« »Sicher, daß sie eine Anfängerin war?« fragte Pitt. »Dann hätte sie keinen Zuhälter hinter sich, der sie -« Er brach ab. Es lohnte sich nicht, den Gedanken weiterzuspinnen. Kate blickte ihn schief an. »Hab' niemanden gesehn, außer den normalen Freiern«, sagte sie und zog eine Grimasse. »Überhaupt keinen?« beharrte er. »'n Bulle kam ein-, zweimal vorbei, aber der läßt uns in Ruhe, solange wir keine Herrn ansprechen« - sie legte eine besondere Betonung auf dieses Wort -, »der wo ganz allein einen netten kleinen Spaziergang macht. Der weiß, daß wir auch essen müssen, wie alle andern auch. Un die Herren, die wo unser Gehalt zahln, wolln auch nich auf ihr bißchen Vergnügen verzichten.« »Wer noch? Überlegen Sie doch, Kate! Es muß jemanden geben - jemanden mit einer Axt oder einem Entermesser...« »Nich doch!« Sie erschauderte. »Können Sie nich ma auf hörn, davon zu erzählen? Ich hab' nur ein paar normale Herrn gesehen, ein oder zwei hatten die Hucke voll, dann den Bullen, den Parkwächter, der mit seiner Maschine oder irgendwas nach Hause ging. War 'n ganz ruhiger Abend.« »Jetz wirds noch 'n bißchen ruhiger«, sagte Gerti verärgert. Sie sah zu Pitt auf. »Warum können Se nich diesen verdammten Verrückten schnappen, der wo sich da rumtreibt, un uns in Ruhe lassen? Jetz is keiner mehr sicher da. Ich dachte, dazu warn die Bullen da. Damit wir uns sicher fühln können.« »Ich glaube, die Sicherheit der Damen Ihres Gewerbes war nicht das, woran die Herren der Regierung seinerzeit dachten«, sagte Pitt trocken. »Andererseits natürlich ...« Kate lachte schrill auf. Gerti verzog das Gesicht.
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»Waren Sie in der Nähe des Musikpavillons?« fragte Pitt und sah sie der Reihe nach an. Sie schüttelten alle den Kopf. Wieder war es unmöglich zu erkennen, ob sie die Wahrheit sagten, aber er neigte dazu, ihnen zu glauben. Wenn eine von ihnen die Leiche gesehen hätte, wären ein Aufschrei und Aufruhr die Folgen gewesen. Die Kunde hätte sich verbreitet. »Also gut.« Er bedankte sich und ging zur Tür, vorbei an dem säuerlich blickenden und untypisch neugierigen Bert. Der bangte um sein Geschäft, die einzige Regung, die seine Seele kannte. Pitt beachtete ihn nicht und trat auf die Straße. Er hatte Verständnis für die Frauen. Er kannte zu viele ihrer Geschichten und wußte, daß es für die meisten keine andere Möglichkeit gab, in London zu überleben, obwohl sie wußten, daß sie von Alkoholismus und Krankheit, Sittenverfall und Verrohung bedroht waren. Als Dienstpersonal im Haushalt waren sie nicht mehr tauglich, obwohl viele von ihnen so begonnen hatten. Man brauchte Empfehlungen. Der Vorwurf unmoralischen Verhaltens, ob begründet oder nicht, der Verdacht des Diebstahls, auch wenn es die Herrin selbst war, die ein Schmuckstück, eine Haarnadel oder einen Ohrring, verlegt hatte - es blieb sich gleich, ohne Empfehlung konnte eine junge Frau keine neue Stelle bekommen. Es gab keine Wiedergutmachung und nur in seltenen Fällen eine zweite Chance. Und die Zahl der hübschen Hausmädchen, die auf die Straße gesetzt wurden, weil der Hausherr seine Finger nicht von ihnen lassen konnte, war beträchtlich. Für andere waren die Fabriken und ähnliche Ausbeutungsbetriebe unerträglich und die Entlohnung zu gering. Das Risiko, sich auf der Straße mit einer Krankheit anzustecken, war groß, aber es war überall groß. Wenigstens war die Chance zu verhungern geringer. Männer wie Bert und den dicken George, den anderen Zuhälter, betrachtete er in einem ganz anderen Licht. Und den dünnen Georgie, diesen perversen Sadisten, hätte er gerne tot gesehen.
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Doch was die Frauen gesagt hatten, leuchtete ihm ein. Auf seinem Weg durch die Edgware Road, vorbei an Händlern und Verkäufern und einer Frau mit Pfefferminzwasser, dachte er darüber nach. Er blieb an einem Stand stehen und kaufte sich ein Sandwich und eine Tasse Tee. Dann schlenderte er weiter und schnappte Bruchstücke der Gespräche, des Klatsches, der Verkaufsverhandlungen und Beschimpfungen um sich herum auf. Gelegentlich wurde er begrüßt und mit Namen angesprochen, dann gab er eine kurze Antwort. Zweimal hörte er, wie jemand von dem ‚Schlächter’ sprach, und er wußte sofort, wen sie meinten. Der Schreck saß ihnen in den Gliedern, und trotz Sonnenschein und Straßenlärm senkte sich für einen Moment eine plötzliche Stille, eine Kälte über die Sprechenden. Hinter dem Plauderton und den Versuchen, darüber zu witzeln, lag - kalt und grau - die Angst. War es ein Verrückter, der die Stadt unsicher machte? Oder gab es eine Verbindung zwischen dem Captain Winthrop von der Royal Navy und dem Dirigenten Aidan Arledge, eine persönliche Verbindung, die so entsetzlich war, daß sie beiden den Tod gebracht hatte? Er beschleunigte seine Schritte, bis er so eilig auf dem Gehweg entlanghastete, daß die Menschen vor ihm auseinanderstoben und sich über sein flegelhaftes Benehmen beschwerten. »He, Sie!« rief ihm ein Mann aufgebracht hinterher. »Das Feuer von London wurde schon 1660 gelöscht. Sie kommen zu spät!« »Es war 1666!« rief Pitt ihm zu und empfand Genugtuung dabei, die Geschichtskenntnisse des Mannes zu korrigieren. Als er sein Büro in der Bow Street betrat, wartete Le Grange schon auf ihn. Er registrierte Pitts Aufzug mit verständnisloser Überraschung. »Alles in Ordnung, Sir? Sie sehen so - na ja ...« »Ja, alles bestens, danke«, erwiderte Pitt, ging um ihn herum und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. »Gibt es etwas zu berichten?«
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»Ja, Sir. Oder besser gesagt, Mr. Tellman hat mich geschickt, damit ich Ihnen sage, daß es eigentlich nichts Neues gibt... Sir.« »Hat er das?« Pitt war irritiert. Das war eine Verletzung der Vorschriften, die er sich Micah Drummond gegenüber nie herausgenommen hatte: einen Sergeanten zu schicken, der Bericht erstatten sollte. Entweder hatte er gar keinen Bericht erstattet, oder er war selbst gekommen. »Mr. Tellman hat also nichts erreicht?« »Nein, nein, Sir«, widersprach Le Grange. »So hab' ich das nich gemeint. Er is die ganze Zeit dran, ohne Unterbrechung. Er hat sich den Musiker vorgenommen, der Arledge gefunden hat, aber der wußte von nichts. Hatte nur das Pech, könnte man sagen. Un natürlich hat er den Parkwächter befragt, so wie beim ersten Mal, aber der wußte auch nichts. Völlig verängstigt war der.« »Wegen Tellman oder dem Verrückten?« fragte Pitt mit einer winzigen Spur von Sarkasmus. Le Grange wägte die Antwort einen Moment sorgfältig ab. »Wegen Mr. Tellman, glaub' ich, Sir«, sagte er. »Weil Mr. Tellman da war und der Verrückte nich.« »Sehr pragmatisch«, bemerkte Pitt. »Wie bitte, Sir?« »Gut gewählt. Was sonst?« Le Grange sah Pitt aufmerksam an. Dann atmete er tief ein. »Nehmen Sie es mir nich übel, Sir, aber Sie hätten die Leute in den Verbrecherkreisen nich selbst befragen brauchen. Das is nich nötig. Und Mr. Tellman kann das echt gut. Der vergeudet nich seine Zeit mit Höflichkeiten, und keiner lügt ihm was vor. Das kann er nich haben. Da gibts Methoden, Sir, un ein Beamter höheren Ranges brauch sowas nich mehr machen.« »Ist das so?« Pitt fühlte sich gleichzeitig beleidigt und ausgeschlossen. Le Grange versuchte ihm so vorsichtig wie möglich deutlich zu machen, daß Tellman für diese Arbeit besser geeignet sei.
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»Na ja, Sir.« Le Grange witterte keine Gefahr. »Es schickt sich jetzt nich mehr für sie.« »Das ist nicht richtig. Ich habe ein paar sehr interessante Dinge von den Prostituierten erfahren. Sie sind nicht der Meinung, daß es ein Verrückter ist.« »Wirklich nicht, Sir?« fragte Le Grange höflich. Es war deutlich, daß er das bezweifelte. »Na ja, ich würde ja nich soviel drauf geben, was diese Leute sagen. Die sind ja nich unbedingt für ihre Wahrheitsliebe bekannt, oder? Mr. Tellman sagt, die würden ihre eigene Mutter für ein Penny verkaufen. Un nehmen Sie es mir nich übel, Sir, aber Sie sind zu sehr der Gentleman, die machen doch mit Ihnen, was sie wollen.« »Sagt Mr. Tellman das?« fragte Pitt schnell. Le Grange zögerte. »Nun ja - Sir - in gewisser Weise. Das is ja ein schlimmer Fall. Wir haben keine Zeit, uns mit solchen Leuten gut zu stellen.« »Und Sie glauben, die wissen, wer die zwei Männer umgebracht hat?« »Naja ...« »Glauben Sie nicht, daß sie bereit wären, uns zu helfen, wenn sie könnten?« Le Grange lächelte belustigt. »Aber nein, Sir. Das sehen Sie aber ganz falsch. Die hassen uns. Die würden uns am liebsten noch nich mal guten Tag sagen.« »Nein, Le Grange«, wies Pitt ihn zurecht. »Da irren Sie sich, und Tellman auch, wenn er Ihre Meinung teilt. Wir sind ihnen völlig egal, so oder so. Das einzige, was sie interessiert, ist das Geschäft. Und Sie können mir glauben, der Schlächter im Hyde Park ist schlecht für das Geschäft ganz schlecht.« Le Grange atmete tief ein, als ihm klar wurde, wie recht Pitt damit hatte, und sein Respekt für ihn stieg. »Na ja. Ja, ich verstehe. Wahrscheinlich ist das so.« »Ohne jeden Zweifel«, sagte Pitt nachdrücklich. »Das können Sie auch Mr. Tellman ausrichten, wenn Sie ihn sehen. Haben Sie schon Zeugen ausfindig gemacht?« »Noch keine brauchbaren.« Le Grange war rot angelaufen und bewegte sich unruhig von einem Fuß auf den ande-
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ren. »Arledge war mit Sicherheit um zehn Uhr noch nicht da. Wir haben ein Mädchen gefragt, die dort mit einem Kunden zusammen war, und sie schwört, daß niemand in der Nähe war, sonst hätte sie ja nich - also ...« Er brach ab, da ihm die richtigen Worte nicht einfielen. »Gut. Ist das dann alles?« »Nein, Sir. Mr. Tellman war auch bei der Witwe, der Ärmsten.« »Und?« fragte Pitt. »Also, Sir, er sagt, sie is eine sehr anständige Dame -« »Liebe Güte, Le Grange!« Pitt explodierte. »Was hatten Sie denn erwartet? Daß sie in roten Haremshosen und mit einer Feder im Haar zur Tür kommen würde?« Le Grange starrte ihn stumm und völlig verwirrt an. »Natürlich ist sie eine anständige Frau», sagte Pitt aufgebracht. »Was hat er herausgefunden? Um wieviel Uhr ist Arledge ausgegangen? War er allein? Wohin wollte er angeblich? Wollte er einen Spaziergang machen, sich mit jemandem treffen, jemanden besuchen?« Le Granges Blick war kummervoll. »Sie hat gesagt, er sei ungefähr um Viertel nach zehn ausgegangen, Sir, um frische Luft zu schnappen. Das hätte er manchmal getan. Sie hatte sich keine Sorgen gemacht, weil es für einen Gentleman normal is, so was an einem Frühlingsabend zu tun, besonders wenn man in der Nähe des Parks wohnt.« »Wo wohnen sie denn? Das haben Sie nicht erwähnt.« »Mount Street.« »Gut. Was hat Mrs. Arledge sonst noch gesagt?« »Sie hätte sich keine Sorgen gemacht, daß sie ihn nicht mehr heimkommen gehört hat, weil sie sehr müde war. Sie sei gleich ins Bett gegangen und auch sofort eingeschlafen. Erst am Morgen, als er nich zum Frühstück kam, fing sie an, sich Sorgen zu machen.« »Kannte er Captain Winthrop?« Le Grange war sprachlos. »Hat Mr. Tellman nicht danach gefragt?«
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»Nein, Sir, ich kann mich nicht daran erinnern. Aber wenn es doch ein Verrückter ist, Sir, dann ist das doch egal, oder?« »Das ist richtig. Aber wenn es keiner war, dann ist es nicht im mindesten egal.« »Muß aber einer sein, Sir. Bei einem vielleicht nicht. Aber zwei, das macht nur ein Verrückter.« Le Grange war davon völlig überzeugt. »Ist das Tellmans Ansicht?« »Ja, Sir.« Le Grange bemerkte Pitts Unmut und wurde zum ersten Mal davon in Verlegenheit gebracht. »Vielleicht is der dünne Georgie schließlich doch zu weit gegangen«, mutmaßte er. »Er is ein ganz gemeiner Hund. Mr. Tellman hat gesagt, daß der eines Tages gehenkt wird.« »Das hoffe ich auch«, stimmte Pitt ihm zu. »Aber nicht, weil er Captain Winthrop umgebracht hat. Da müssen wir warten, bis wir eine Prostituierte mit einem Messer im Rücken finden.« »Der dicke George hätte es tun können. Der ist stark wie ein Bär.« »Und wahrscheinlich hat er auch das Gewicht von einem. Aber warum sollte er zwei völlig normale Herren köpfen, die im Park Spazierengehen?« »Vielleicht waren sie nicht so normal?« spekulierte Le Grange. »Mr. Tellman sagt, manche dieser feinen Herren hätten einen merkwürdigen Geschmack. Er kannte mal einen, der mochte es, wenn die Frau -« »Und hat er sie ermordet?« unterbrach ihn Pitt. »Hmm - nein - er mußte den doppelten Preis bezahlen.« »Genau. Mord ist schlecht fürs Geschäft, Le Grange, und was der dicke George auch immer sein mag, er ist ein Geschäftsmann. Finden Sie mehr über Aidan Arledge heraus. Ich vermute, Sie haben den Ort, an dem er umgebracht wurde, noch nicht entdeckt, stimmt's.« »Hmm - nein, Sir, noch nich.« »Dann machen Sie sich an die Arbeit.« »Jawohl, Sir. Is das dann alles, Sir.« »Ja, das ist alles.«
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Le Grange trat hastig den Rückzug an, während Pitt an seinem Schreibtisch sitzen blieb und sich fragte, ob es ihm gelänge, Le Granges Loyalität von Tellman auf sich selbst zu richten. Wie viele seiner Kollegen dachten so wie Tellman? Das gute Gefühl, mit dem Pitt gerade noch durch den Park geschlendert war, hatte sich jetzt gänzlich verflüchtigt. Er fühlte sich eingeklemmt. Auf der einen Seite war Farnsworth, der um den Ruf der Polizei fürchtete und sich unter Druck gesetzt sah, weil die Öffentlichkeit eine Verhaftung sehen wollte. Auf der anderen Seite war Tellman, dessen Unmut über Pitts Beförderung täglich wuchs und der ihm immer häufiger mit Verachtung begegnete. Er gab sich auch nicht die Mühe, das vor den anderen Kollegen zu verbergen, im Gegenteil, es schien ihm Genugtuung zu bereiten, sie auf seine Seite zu bringen. Warum nur hatte Pitt Micah Drummonds Angebot angenommen? Es war nicht der richtige Posten für ihn. Er hatte weder das Naturell noch die soziale Position dafür. Er war weder Diplomat noch Gentleman. Er würde Mrs. Arledge persönlich aufsuchen. Es mußte zwischen den beiden Männern eine Verbindung geben, wenn es nicht doch ein wild um sich schlagender Verrückter war. Als er die Bow Street entlangschritt, kamen ihm zwei Damen entgegen, die ihn in einem großen Bogen nach links umrundeten. Erst da fiel ihm wieder ein, daß er nicht die einem Oberinspektor geziemende Kleidung trug und in diesem Aufzug keinesfalls der Witwe eines Gentleman einen Besuch abstatten konnte. Kurz nach sechs kam er müde und entmutigt nach Hause und wünschte sich nur, in der gemütlichen Küche zu sitzen, etwas Warmes zu essen und Charlotte von seinem Tag zu erzählen. Vor allem wollte er mit ihr über seine Ängste und Zweifel sprechen, sich selbst und seiner neuen Stellung gegenüber. Sie würde ihm Mut zusprechen, ihm sagen, daß er seiner Aufgabe sehr wohl gewachsen war. Sie konnte es nicht wissen, und ihre Worte würden ihrer Loyalität ihm gegenüber entspringen und nicht der klaren Ein-
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Schätzung der Situation. Dennoch würde er sich anschließend um vieles besser fühlen. Doch als er in die Küche trat, war nur Gracie da. »Hallo, Sir«, sagte sie fröhlich. Ihre Gesicht leuchtete vor Freude, ihn zu sehen. Sie war adrett gekleidet, mit sauberem Kragen, ihre Schürze, hinten im Rücken mit einer festen Schleife gebunden, war frisch gestärkt und fleckenfrei. Ihre Haut leuchtete, und sie strahlte vor Selbstbewußtsein. »Ihr Essen is schon fertig, Sir, un ich kann Ihnen eine Schüssel mit heißem Wasser bringen, un einen zweite für Ihre Füße, wenn Sie wolln.« »Danke«, sagte er. »Eine reicht wohl.« Sie musterte ihn mißtrauisch von oben bis unten. »Oder soll ich Ihnen 'ne Wanne vorbereiten, Sir? Sie waren wohl im Armeleuteviertel un so, wie?« »Ja.« Er setzte sich auf einen der Küchenstühle, und ohne zu fragen, kniete sie sich hin und band seine Schuhe auf. »Wo ist Mrs. Pitt?« fragte er. »Ach, die is immer noch im neuen Haus, Sir. Wahrscheinlich is sie da auch noch den ganzen Abend, würd mich nich wundern«, sagte sie und erhob sich, um eine Schüssel warmes Wasser zu holen. »Es muß noch ganz viel gemacht werden, Sir, un sie hat mir aufgetragen, Ihnen Ihr Abendessen zu richten - natürlich nur, wenn Sie zum Abendessen zu Hause sind. Ich hab' eine Lammkasserolle für Sie gemacht, Sir, mit Kartoffeln und Zwiebeln un frischen Kräutern aus dem neuen Garten.« Ihre Augen glänzten vor Stolz. Er schluckte schwer an seiner Enttäuschung. In letzter Zeit war Charlotte so oft fort gewesen, daß er sich vernachlässigt fühlte. Aber das war ungerecht von ihm, er wußte es. Sie war im neuen Haus und verhandelte mit Maurern, Klempnern und Anstreichern, alles Dinge, die er selbst getan hätte, wenn er nicht so beschäftigt gewesen wäre. Doch trotz dieser vernünftigen Argumente fühlte er sich sträflich vernachlässigt. »Danke, Gracie«, sagte er düster. »Klingt ausgezeichnet. Und wo sind die Kinder?«
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»Oben. Ich hab' ihnen gesagt, sie sollen Sie nich stören, solange Sie noch nich gegessen haben.« Sie blickte ihn aus schmalen Augen an. »Sie sehen etwas mitgenommen aus, Sir. Soll ich Ihnen was zu essen holen, bevor Sie sich umziehn? Das geht schon, denke ich, in der Küche macht das nichts.« Er lächelte trotz seines Kummers. »Danke«, akzeptierte er. »Das ist eine gute Idee.« Sie war erleichtert. Charlotte hatte ihr eine große Verantwortung aufgetragen. Gracie war keine Köchin, sondern ein Dienstmädchen für alles, das täglich mehr in die Rolle der Haushaltshilfe und Küchenmagd hineinwuchs und gleichzeitig die Aufgaben des Haus- und Kindermädchens wahrnahm. Sie wollte es ihm unbedingt recht machen und verehrte ihn bedingungslos. Auf seine Beförderung war sie noch stolzer als manches Mitglied seiner eigenen Familie. Also begab sie sich schnell an den Herd und stampfte die Kartoffeln, die sie dann mit einem köstlichen Eintopf servierte. Dann setzte sie sich an das Tischende und wartete auf weitere Anweisungen. Sie beobachtete ihn mit gerunzelter Stirn. »Möchten Sie was zum Nachtisch, Sir?« fragte sie schließlich. »Ich hab' einen Brotpudding gemacht.« »Ja, sehr gerne.« Brotpudding war seine Lieblingsnachspeise, was sie wahrscheinlich wußte. Ihr Gesicht leuchtete. Sie vergaß völlig, sich würdevoll zu benehmen, wie ihre neue Position es verlangte, und rutschte von ihrem Sitz, um ihm den Nachtisch zu holen. Mit einer eleganten Geste stellte sie die Schüssel vor ihn hin. »Danke«, sagte er. Der Pudding war überaus köstlich, was er lobend erwähnte. Sie errötete vor Stolz. »Sind Sie schon näher dran, den Schlächter zu schnappen?« fragte sie besorgt. »Nicht unbedingt.« Er aß weiter, empfand seine Antwort dann aber ein wenig knapp. »Ich habe mit den Prostituier-
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ten im Park gesprochen, ob sie jemanden kennen, der die Mädchen mißhandelt und einen Zuhälter auf den Plan gerufen haben könnte, aber sie wissen nichts. Keine von ihnen hat etwas gesehen, anscheinend schläft keiner im Park, und es streunt auch keiner herum.« »Glauben Sie ihnen?« fragte sie skeptisch. Er lächelte ihr zu. »Ich weiß nicht. Ein Zuhälter müßte schon sehr gereizt sein, wenn er einen zahlenden Kunden umbringt - ganz zu schweigen von zweien.« »Vielleicht würden sie jemanden umbringen, wenn er einem Mädchen etwas Bleibendes zufügt?« meinte sie nachdenklich. »Das wäre ja, als ob sie die Ware beschädigten. Wenn man im Geschäft etwas zerbricht, muß man ja auch dafür bezahlen.« »Das stimmt«, pflichtete er ihr bei, den Mund voller Pudding. »Möchten Sie eine Tasse Tee?« fragte sie ihn. »Ja - gerne.« Sie stand auf und ging zum Herd, anscheinend in Gedanken versunken. Eine Weile später kam sie zum Tisch zurück und stellte einen Becher mit dampfendem Tee vor Pitt hin. Offenbar war es ihr nicht eingefallen, die Teekanne auf den Tisch zu stellen. »Gracie?« fragte er. »Ja, Sir? Is der Tee zu stark?« »Nein, nein, gerade richtig. Was denkst du von den Mädchen im Park?« Ihre Miene glättete sich, und sie sah ihn aus klaren Augen an. »Och, nichts eigentlich. Sicher haben die Ihnen die Wahrheit gesagt. Warum auch nich?« Es war eine ganz und gar unbefriedigende Antwort, aber er wußte nicht, warum. Er trank den Tee, dankte ihr noch einmal und zog sich dann zurück. Er wollte hinaufgehen und sich seine besten Kleider anziehen. Da Charlotte nicht zu Hause war, würde er jetzt der Witwe von Aidan Arledge einen Besuch abstatten.
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Es war noch früh am Abend, als er schließlich in der Mount Street Dulcie Arledges Butler seine Karte überreichte. Er wurde in einen hübschen Salon geführt, der sich zu einem Garten mit langem Rasenstück öffnete, den eine alte Mauer begrenzte. Die Ecke eines Gewächshauses war hinter einem Pflanzstreifen mit blühenden Lilien zu sehen, die späte Abendsonne wurde von dem Glasdach reflektiert. Den Umständen entsprechend war Dulcie Arledge ganz in Schwarz gekleidet, doch das konnte die Zartheit ihrer Haut sowie die Schönheit ihres hellbraunen Haares nicht beeinträchtigen. Bailey hatte recht gehabt: Sie war eine Frau von Anmut und Freundlichkeit, ihre Züge konnten nicht eindeutig schön genannt werden, waren aber von einer angenehmen Regelmäßigkeit. Nichts an ihr stieß den Betrachter ab, ihre ganze Person bot einen gefälligen, weiblichen Eindruck. »Wie freundlich von Ihnen, persönlich vorzusprechen, Oberinspektor«, sagte sie mit einer schlichten Geste. »Jedoch fürchte ich, daß ich Ihnen nichts sagen kann, was ich nicht bereits Ihrem Sergeanten erzählt habe.« Sie führte ihn zu einem Sessel, auf dessen Damastbezug ein Rosenmuster prangte, während die Armlehnen aus reich geschnitztem Holz waren. Auf der anderen Seite des Raumes stand ein ebensolcher Sessel und bot eine farbliche Ergänzung zu dem tieferen Weinrot der Vorhänge und dem gedämpften Rosa der Tapeten. Die Proportionen des Raumes waren perfekt. In den wenigen Augenblicken, in denen er sich umsehen konnte, stellte er fest, daß die Möbel aus Rosenholz waren. Sie deutete auf einen der Sessel, und nachdem er Platz genommen hatte, ließ sie sich auf dem anderen nieder. »Dennoch wäre ich Ihnen sehr dankbar, Mrs. Arledge«, sagte er mit Feingefühl, »wenn Sie mir über die Ereignisse des gestrigen Abends, soweit Sie sich erinnern, berichten könnten.« »Selbstverständlich. Mein Mann verließ das Haus zu einem kleinen Spaziergang - es war kurz nach zehn, wenn ich mich recht erinnere. Er hat nicht erwähnt, daß er sich
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mit jemandem treffen wollte, noch daß er länger als zwanzig bis dreißig Minuten fort zu sein gedenke. Wir gehen nicht immer zur gleichen Zeit zu Bett.« Sie lächelte wie zur Entschuldigung. »Sie müssen verstehen, Aidan war abends häufig außer Haus, da er Konzerte und bei Musikabenden dirigierte. Manchmal wurde es Mitternacht, bis er nach Hause kam, oder auch später, wenn auf den Straßen noch viel Betrieb herrschte und er keine Droschke bekommen konnte.« Trotz der entsetzlichen Vorkommnisse strahlte sie eine Wärme aus, die ihm Baileys Worte in Erinnerung brachten, als er von ihr als einer Schönheit gesprochen hatte. »Auf jemanden zu warten, kann sehr ermüdend sein, finden Sie nicht auch?« sagte sie leise. »Es geschah ganz oft, daß ich nicht auf ihn gewartet habe. Ich hätte es getan, natürlich ...» Sie atmete schwer. »Er war sehr rücksichtsvoll.« »Ich verstehe nur zu gut«, sagte Pitt rasch und wünschte, er könnte ihren Schmerz in irgendeiner Weise mildern. »Mrs. Arledge, mein Sergeant berichtete mir, daß Mr. Tellman nicht gefragt hat, ob Sie mit Captain Oakley Winthrop bekannt waren.« »Oje.« Ihr Blick war unsicher, doch dann verstand sie. Ihre klaren blauen Augen waren sehr schön. »Nein, in der Tat hat er das nicht gefragt, aber es hätte auch nicht weitergeholfen. Ich fürchte, ich habe den Namen erstmals gehört, als der arme Mann ermordet wurde. Ist das von Bedeutung, Oberinspektor?« »Das weiß ich nicht, Madam.« »Natürlich kannte mein Mann eine ganze Reihe von Leuten, denen ich nie begegnet bin: Bewunderer seiner Arbeit, Musiker und dergleichen. Vielleicht war Captain Winthrop auch darunter?« schlug sie ernst vor. »Möglicherweise. Wir werden Mrs. Winthrop fragen müssen.« Sie wandte sich ab, und ihr Blick war voller Mitleid. »Die arme Frau«, sagte sie sanft. »Ich weiß, der Tod kann jeden Moment eintreten, doch man stellt sich nicht vor, in
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so jungem Alter Witwe zu werden. Ich höre, sie ist noch nicht einmal vierzig. Ich lese keine Zeitungen - mein Mann sah es nicht gern -, aber man hört ja Gerede, selbst vom Personal.« »Ja, ich vermute, Mrs. Winthrop ist ungefähr in diesem Alter. Es heißt, sie hat zwei Töchter, die erst kürzlich geheiratet haben. Mrs. Winthrop ist noch jung.« »Es tut mir so leid.« Die Hände in ihrem Schoß verkrampften sich etwas. Pitt hätte viel darum gegeben, wenn er sie nur mit den wenigen offensichtlichen Fragen und seinen Beileidsbezeugungen hätte belästigen müssen. Er bewunderte ihre Haltung, den Mangel an Bitterkeit, Zorn oder Selbstmitleid, die nur zu verständlich gewesen wären. Doch seine Pflicht verlangte es, daß er baldmöglichst den privaten Bereich gründlich erforschte. Deutlicher als sonst empfand er das als eine Einmischung. »Mrs. Arledge, wir müssen uns die persönliche Habe Ihres Mannes genauer ansehen, um herauszufinden, ob es etwas gibt, das auf eine Verbindung zwischen ihm und Captain Winthrop hindeutet. Ich verstehe, daß Ihnen das nicht angenehm sein kann, und es tut mir sehr leid, aber es läßt sich leider nicht vermeiden.« »Selbstverständlich«, erwiderte sie rasch. »Denken Sie nicht, daß Sie sich entschuldigen müssen, Oberinspektor.« Sie runzelte die Stirn, ihr Blick verfinsterte sich. »War es nicht ein Verrückter, der seine Opfer zufällig auswählte? Ein solcher Mensch ist doch nicht von Vernunft geleitet.« »Wir wissen es noch nicht, Mrs. Arledge. Zu diesem Zeitpunkt müssen wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.« »Ich verstehe.« Ihr Blick wanderte durch den Raum zu einer Vase mit Narzissen, deren scharfer, frischer Duft sogar aus der Ferne wahrnehmbar war. »Selbstverständlich müssen Sie sich darum kümmern. Was möchten Sie als erstes sehen? Ihr Sergeant - sein Name ist mir entfallen - hat bereits nachgesehen, aber vielleicht hat er etwas übersehen.« »Inspektor Tellman«, half Pitt ihr aus.
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»Ja - ja, ich erinnere mich, jetzt, da Sie es sagen«, entgegnete sie kurz. »Er hat sich nicht viel Zeit genommen. Seinen Worten entnahm ich, daß es -« sie schluckte »- ein Verrückter war. Er schien nicht von einer geplanten Tat auszugehen.« »Ich würde mir gerne die Papiere Ihres Mannes ansehen.« Pitt erhob sich. Er wollte sich erneut entschuldigen, aber dadurch wäre die Einmischung nur deutlicher geworden. Ihre Anmut, ihr verhaltener Mut weckten in ihm einen tiefen Respekt für sie und eine instinktive Sympathie, was ihm die Erfüllung seiner Pflicht erschwerte. »Gibt es ein Arbeitszimmer?« fragte er, als auch sie sich erhob und mit bemerkenswerter Grazie und Haltung, als sei sie in ihrer Jugend eine Tänzerin gewesen, zur Tür ging. »Und anschließend vielleicht sein Ankleidezimmer ...« »Selbstverständlich. Wenn Sie mir bitte folgen möchten. Ich werde Ihnen selbst den Weg zeigen.« Sie führte ihn aus dem Salon, durch die Eingangshalle mit dem Parkettfußboden, in ein geräumiges, luftiges Arbeitszimmer mit überraschend wenigen Büchern, kaum mehr als fünfzig oder sechzig. Kein einziges war mit einem überladen geschmückten Buchrücken ausgestattet, wie er sie in so vielen Studierzimmern gesehen hatte, die nur so genannt wurden und statt dessen zum Empfang von Besuchern dienten, die man mit seinem Reichtum und Geschmack zu beeindrucken suchte. Dieser Raum hingegen wirkte wie ein tatsächliches Arbeitszimmer. »Das ist sein Zimmer, Oberinspektor.« Sie bat ihn herein. »Sehen Sie sich bitte alles an, von dem Sie meinen, es könnte Ihnen weiterhelfen.« Er dankte ihr, und sie zog sich zurück. Es gehörte zu den normalen Ermittlungsarbeiten dazu, die persönlichen Dinge eines Mordopfers genau zu untersuchen. Doch wenn der Ermordete das Opfer eines Verrückten war und nur der Zufall ihn statt eines anderen ausgewählt hatte, war das ein sinnloser Affront. Dennoch, jetzt war er da und mußte seine Aufgabe auch erfüllen. Was sein Handeln seiner Meinung nach rechtfertigte, war die Tatsache, daß Winthrop in
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einem Boot gefunden worden war. Er hätte sich doch niemals mit einem Fremden mitten in der Nacht in ein Boot begeben. Und nach dem Gras an seinen Schuhen zu urteilen, war er dorthin gelaufen. Einen Kampf hatte es auch nicht gegeben. Auch Arledge hatte nicht gekämpft. Er mußte ohne Vorwarnung von hinten angegriffen worden sein, oder aber er hatte seinen Angreifer ebenfalls gekannt. Er begann mit dem Inhalt der Schreibtischfächer und las alles systematisch durch. Er war überrascht, wie interessant er die Sachen fand. Arledge war ein Mann von Humor und ausgeprägtem Geschmack gewesen, doch ohne jede Blasiertheit. Aus einigen Briefen ging hervor, daß er sowohl mit seinem Vermögen als auch mit seinem Lob für Menschen in seinem Fach sehr großzügig umgegangen war. Je mehr Pitt las, desto mehr empfand er Arledges Tod als den Verlust eines Mannes, den er sowohl gemocht als auch respektiert hätte, was sich ganz erheblich von den Gefühlen unterschied, die sich bei dem Tod von Captain Winthrop eingestellt hatten. Was konnten diese beiden Menschen bloß gemeinsam haben? Es gab stapelweise Bücher über Musik, Packen von skizzierten Noten und mindestens fünfzig Partituren der unterschiedlichsten Werke, wie den Opern von Gilbert und Sullivan, den Klavierkonzerten von Bach und der späten Kammermusik von Beethoven. Nichts wies darauf hin, daß eine Bekanntschaft mit Oakley Winthrop oder einem Mitglied seiner Familie bestanden hatte. Als er mit dem Arbeitszimmer fertig war, zeigte ein Dienstmädchen ihm Aidan Arledges Ankleidezimmer, und nachdem sie sich vergewissert hatte, daß er nichts weiter benötigte, ließ sie ihn allein. Auf der Herrenkommode fand er eine Haarbürste mit Silbergriff, Rasierzeug und persönliche Toilettengegenstände. In der obersten Schublade lag eine Sammlung von Manschetten- und Kragenknöpfen sowie ein Blutsteinring. Es war eine kleine, ja überaus bescheidene Sammlung für
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einen Mann, der häufig in Abendgarderobe in der Öffentlichkeit auftrat. Er nahm sich den Schrank vor. Es gab eine Reihe von Anzügen, und in den Schubfächern lagen mindestens zwanzig Hemden, die meisten davon für den normalen Tagesgebrauch. Er ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Er sah ein paar Erinnerungsgegenstände und ein Photo von Dulcie in einem silbernen Rahmen. Sie trug Reitkleidung, nicht von der Art, wie man sie in der Rotten Row zu sehen bekam, sondern von der zeitlosen Eleganz einer vornehmen Gutsherrin, die zur Jagd ritt. Selbstbewußt und strahlend lächelte sie in die Kamera hinein. Im Hintergrund sah man verschwommen die Umrisse einiger Bäume. In einer weiteren Kommode lagen Wäsche, Taschentücher und Socken, alles im Rahmen der Erwartungen. Er hatte weder im Arbeitszimmer noch hier ein Tagebuch gefunden. Eine zweite Bürste mit Silbergriff fehlte. Auch gab es keine Manschettenknöpfe, die sich für einen abendlichen Aufzug geeignet hätten. Er betrachtete alles noch einmal sorgfältig und schloß die Schubfächer, dann ging er die Treppe hinunter und klopfte an die Tür zum Salon. »Kommen Sie herein, Oberinspektor«, sagte sie. »Hatte Ihr Mann im Konzertgebäude ein Ankleidezimmer, Mrs. Arledge?« fragte er und schloß die Tür hinter sich. Es bereitete ihm kein Vergnügen. Schon jetzt hatte er eine dumpfe Ahnung, die ihn im Hinblick auf Mrs. Arledge verletzte und zornig machte. »Aber nein, Oberinspektor.« Sie zeigte ein zaghaftes Lächeln, ein Schatten verdunkelte ihre Augen, trotz der Festigkeit in ihrer Stimme. »Sie müssen wissen, daß er in den verschiedensten Konzerträumen dirigiert hat. Er war selten zwei Wochen hintereinander in demselben Gebäude.« »Wo hat er sich dann für die Abende umgezogen?« fragte er leise. »Hier natürlich. Er nahm es mit seinem Äußeren sehr genau. Das muß man auch, wenn man vor einem großen Pu-
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blikum steht.« Sie senkte ihre Stimme zu kaum mehr als einem Flüstern. »Aidan sagte immer, es sei eine große Unhöflichkeit, vor ein Publikum zu treten und nicht richtig angezogen zu sein. Als würde man das Publikum nicht für wert erachten, daß man sich alle Mühe gibt.« »Ich verstehe.« »Warum fragen Sie, Oberinspektor?« Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an, den Blick aufmerksam auf ihn geheftet. Er vermied es, ihr direkt zu antworten. »Ist Ihr Mann immer, wenn er eine späte Vorstellung dirigierte, nach Hause gekommen, oder blieb er manchmal bei Freunden, anderen Musikern zum Beispiel?« »Nun ja - möglicherweise hat er das gelegentlich getan.« Sie zögerte, in ihrem Gesicht zeichnete sich Besorgnis, ja fast Angst ab. »Wie ich schon sagte, ich habe nicht immer auf ihn gewartet.« Sie biß sich auf die Lippe. »Vielleicht denken Sie, ich habe meine Pflicht nicht sehr ernst genommen, aber es fällt mir schwer, lange aufzubleiben, und Aidan war häufig sehr müde, wenn er nach Hause kam, und wollte sich gleich zurückziehen. Er bat mich, nicht seinetwegen aufzubleiben. Deshalb war ich nicht ...« Jetzt beherrschte sie sich nur noch mit äußerster Anstrengung. »Deshalb habe ich sein Fortbleiben gestern nacht nicht bemerkt.« Eine Welle des Mitleids überrollte ihn, daß es ihm fast den Atem verschlug. Seine Gedanken verwirrten sich. Wie konnte ein Mann von der Empfindsamkeit, wie sie die Schriften in seinem Arbeitszimmer bezeugten, eine Frau wie diese hintergehen? »Ich verstehe, Madam. Das scheint nur vernünftig«, sagte er sanft. »Ich erwarte auch nicht, daß meine Frau auf mich wartet, wenn ich spät komme. Vielmehr hätte ich große Schuldgefühle, wenn sie es täte.« Sie lächelte, doch der ängstliche Ausdruck in ihren Augen schwand nicht, sondern wuchs eher noch. »Es ist sehr verständnisvoll von Ihnen. Danke, daß Sie das gesagt haben.« »Hatte Mr. Arledge gestern abend ein Konzert?«
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»Nein - nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Er verbrachte den Abend hier und arbeitete an einer Partitur, von der er sagte, daß sie sehr schwierig sei. Ich vermute, deshalb wollte er einen Spaziergang machen, um sich zu erfrischen, bevor er zu Bett ging.« »Hatte er einen Kammerdiener, Madam?« »Aber ja. Möchten Sie mit ihm sprechen?« »Wenn das möglich wäre.« Sie erhob sich. »Gibt es etwas Besonderes, Oberinspektor? Haben Sie etwas gefunden, das - das auf die Winthrops hindeutet?» »Nein, gar nichts.« Sie drehte sich um. »Ich verstehe. Sie wollen es mir lieber nicht sagen. Verzeihen Sie, daß ich gefragt habe. Ich bin es nicht - nicht gewohnt ...» Er wünschte sich sehr, daß er eine freundliche Bemerkung, ein tröstliches Wort finden würde, womit er ihren Schmerz lindern und die neuerliche Verletzung, die ihm unvermeidlich schien, verringern könnte. »Es hat vielleicht keinerlei Bedeutung, Mrs. Arledge. Ich möchte keine voreiligen Schlüsse ziehen.« Es nützte nichts, dessen war er sich bewußt, noch bevor die Worte verklungen waren. »Selbstverständlich. Der Kammerdiener«, stimmte sie ihm zu. Auch ihre Worte klangen hohl, ihre Augen mieden die seinen. Sie zog die Klingel und trug dem Mädchen auf, den Kammerdiener zu Pitt ins Arbeitszimmer zu schicken. Die Auskünfte des Kammerdieners verschleierten die Sache jedoch noch mehr. Entweder hatte er keine Ahnung, wo die Haarbürste mit dem silbernen Griff war, oder er weigerte sich, es zu sagen. Auch konnte er nicht angeben, wo die Manschettenknöpfe für den Abendanzug zu finden sein würden. Er blickte verwirrt und verlegen, doch vermutete Pitt keine Schuldgefühle. Auf dem Rückweg stellte sich in ihm das traurige, leere Gefühl ein, daß bei all seinem Humor und seinem Wohlwollen Aidan Arledge viel komplizierter war, als es
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zunächst den Anschein hatte. Etwas lag versteckt, war unerklärt. Wohin ging er nach einer späten Vorstellung? Wo waren die Dinge, die Pitt zu finden erwartet hatte, aber nicht gefunden hatte? Warum hatte er zwei Schlüsselbunde? Hatte Aidan Arledge irgendwo eine zweite Wohnung, von der seine Frau nichts wußte? Warum? Warum würde ein Mann eine zweite Wohnung haben? Ihm fiel nur eine Antwort ein: klar und deutlich und schmerzlich. Er hatte eine Geliebte. Irgendwo gab es eine zweite Frau, die über seinen Tod trauerte und nicht wagte, die Bekanntschaft mit ihm zuzugeben. Gracie hatte schon den Entschluß gefaßt, als sie noch mit Pitt am Küchentisch saß und ihm zusah, wie er seinen Brotpudding aß, aber sie mußte bis nach Mitternacht warten, um ihren Plan ausführen zu können. Sie wollte sicher sein, daß alle im Haus schliefen. Wenn sie ertappt würde, wie sie sich davonstahl, wäre ihr ganzes Unternehmen hinfällig. Und nach dem letzten Mal wäre Pitt sicherlich sehr erbost und würde sie vielleicht sogar entlassen. Dieser Gedanke war unerträglich. Doch die Tatsache, daß er in den Zeitungen von Menschen kritisiert wurde, die keine Ahnung hatten, wovon sie sprachen, und auch kein Recht, so von ihm zu reden, geschweige denn, ihre Meinungen zu äußern, war ebenso unerträglich. Also blieb ihr nichts weiter übrig, als sich nach besten Kräften zu bemühen, etwas herauszufinden. Dazu kam noch, daß die Herrin mit dem neuen Haus und Miss Emily mit den Parlamentswahlen so beschäftigt waren - wer sollte da noch helfen? Draußen lenkte sie ihre schnellen Schritte zur Hauptstraße. Sie hatte von dem Fischgeld genug für eine Droschke abgezweigt, sowohl zum Park als auch zurück, versteht sich. Genaugenommen war das nicht ganz ehrlich, aber wenn sie morgen nichts von dem Fisch aß, wäre es auch nicht gestohlen.
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Sie sah nicht aus wie eine Prostituierte. Mädchen, die nach Freiern suchten, gingen nicht in der Bekleidung eines Dienstmädchens, einem halshoch geschlossenen Kleid mit langen Ärmeln aus schlichtem blaugrauem Tuch, auf die Straße. Aber sie wollte ja keine Kundschaft anziehen, sondern Informationen zusammentragen. Außerdem bestand die Gefahr, daß sie als Konkurrentin gesehen und von einem Zuhälter vertrieben würde. In diesem Aufzug rief sie wohl kaum eine solche Reaktion hervor. Eher würde man sich über sie lustig machen, sie auslachen oder bemitleiden, aber nicht fürchten. Es dauerte eine Weile, bis sie eine Droschke gefunden hatte. Dann mußte sie den Kutscher überzeugen, daß sie das Fahrgeld hatte, und schließlich dauerte es eine Viertelstunde bis zum Park, wo sie sich absetzen ließ. Die Droschke fuhr davon, die Hufe der Pferde hallten laut auf der menschenleeren Straße, der Schein der Lampe verschwand langsam in Richtung Knightsbridge. Um sie herum war Dunkelheit, unendlich und undurchdringlich umhüllte sie die Nacht voller seltsamer Geräusche, von denen jedes einzelne einen Menschen näherbringen konnte: einen Passanten auf einem späten Spaziergang, einen Mann auf der Suche nach einer Prostituierten, eine Frau auf der Suche nach einem Kunden, einen Zuhälter, der sein Revier prüfte, den Schlächter vom Hyde Park ... »Hör auf damit«, sagte sie laut zu sich selbst. »Nimm dich zusammen, du dummes Ding.« Und mit dieser ebenfalls laut gesprochenen Ermahnung holte sie auf dem Fußweg aus, ihre Schritte wie ein Herzschlag in der Nacht. Doch schnell wurde ihr klar, daß sie mit ihrem entschlossenen Gang nicht die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich ziehen würde, an denen ihr gelegen war. Nach einer Stunde endlich, als sie bereits so durchgefroren und ängstlich war, daß sie das ganze Unternehmen aufzugeben bereit war, näherte sich ihr eine knochige Frau mit strohfarbenem Haar in einem billigen Kleid und beäugte sie mit Mißtrauen und Verachtung.
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»Hier kommen keine Busse vorbei, Kleine«, sagte sie spöttisch. »Un mit deim Gesicht wirste auch nich mehr auf tun.« Gracie hob das Kinn, sah sich um und blickte dann die Frau an. »Un Sie?« »Ich kriech schon, was ich brauch, freches Ding«, sagte sie ohne Boshaftigkeit. »Aber du, du kriechs doch nich genuch, um 'n Kaninchen zu füttern. Siehs aus, als hätteste jahrelang nichts Richtiches zu essen gekriecht. Kein bißchen Fleisch aufe Rippen, du armes Ding. Die Männer wollen keine Spatzen mit keine Oberweite un kein Po.« Sie verzog das Gesicht. »Wennse nich 'ne Macke ham. Mußte aufpassen - die können gemein werden - denn die ham von Anfang an 'ne Macke.« Sie zuckte die Achseln. »Auf jeden Fall is das hier mein Revier, un ich habs nich gern, wenn man mir was wechnimmt. Un wenn ich dich nich selber vertreibe, dann macht das mein Macker für mich.« Gracie verspürte einen Schauer der Erregung und Furcht. Sie atmete tief ein und stieß die Luft langsam wieder aus. »Ich weiß ja nich, bei solchen, die 'ne Macke haben ...«, sagte sie zweifelnd. »Ich machs mit keinem, der 'ne Schraube locker hat. Ich meine« - sie warf der Frau einen bedeutungsvollen Blick zu -« Es gibt sone un solche, wenn Se wissen, was ich meine.» »Oh.« Im Schein einer fernen Gaslaterne sah die Frau ohnehin bleich aus, so daß man unmöglich sagen konnte, ob die Farbe aus ihrem Gesicht wich, doch es nahm einen ängstlichen Ausdruck an. »Ich mein ja auch nich einen wie den Schlächter. Gott bewahre - der hat noch keine von uns nich belästigt. Is wohl eher Typen, was ihn interessiert.« »Mit dem will ich nichts zu tun ham!« sagte Gracie mit dramatischem Schaudern, das nicht nur gespielt war. Hier im Park unter den windgebogenen Bäumen, während die Kälte durch ihren Schal kroch und nur das Schimmern der fernen Gaslaterne den Fleck erhellte, war ihre Angst nicht vorgetäuscht. »Ich wollt auch nich mit nem Typ Zusammensein, der ihn vielleich gereizt hat. Dann müßt er uns ja auch eine überziehn, bloß weil wir da warn.«
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»Da haste recht«, sagte die Frau und kam einen Schritt näher, als ob ihre körperliche Nähe einen Schutz gegen drohende Gewalt bieten könnte. »Meinen Se, daß er es auf bestimmte abgesehn hat?« fragte Gracie mit soviel Unschuld, wie sie in ihre Stimme legen konnte. Allerdings war ihre Stimme etwas unsicher, so daß sie nicht die beabsichtigte Wirkung hatte. »Wie meinstn das?» Die Frau starrte in die Ferne auf einen Umriß. »Da kommt vielleicht 'n Kunde. Verdirb nich den Handel, du mageres Huhn, sonst richt ich dich so zu, daß keiner dich mehr will.« Gracie reckte sich und wollte schon empört reagieren, besann sich aber noch rechtzeitig ihrer neuen Rolle. »Ich muß auch leben«, sagte sie kläglich. »Sie kriegen schon genug ab, sie sin ja hübsch Die Frau lächelte unbarmherzig, wobei sie schwarze Zähne zeigte. »Schmeichelkatze«, sagte sie, diesmal ohne Härte. »Na ja, eins steht fest, ich hab' jede Menge mehr, als du je ham wirst, armes Huhn. Ich laß ihn dir, wenn er dich will. Is ja nich sehr wahrscheinlich, aber dann kannste ihn ham. Un wenn ich dich je wieder in meim Revier sehe, dann biste dran.« »Ich suche mir selber einen Macker«, sagte Gracie trotzig. »Du? Einen Macker?« Die Frau lachte. »Wer will dich denn schon, du brings doch nichts ein.« »Und ob ich das tu. Es gibt Herrn, die mögen sie klein, wie Kinder!« Gracie wußte das aus Erzählungen von weniger tugendhaften Verwandten, die nicht merkten, daß sie hellwach und mit großen Ohren zuhörte. Das war, bevor sie anfing, bei Charlotte zu arbeiten. »Es gib alles mögliche«, stimmte die Frau ihr angewidert zu. »Da gibs die, die wolln, daß de ihnen schmutzige Sachen erzählst, und die, vor denen du fluchen und so tun solls, als würdes du se hassen, die, die wie Kinder behandelt werden wolln - und dann die, die einem weh tun wolln. Du solltes dich vor denen in acht nehmen, die können gemein werm. Es gib einen hier, der die Mädchen ganz schön zu-
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sammenschlägt, gemeiner Hund, großer Kerl, quatscht wien richtich vornehmer Herr, hat gute Manieren un so, un dann schlägt er dich grün und blau. Ganz gemeiner Kerl, der. Lohnt sich nich bei sowas. Vor solchen solltes du dich hüten.« Gracies Kehle wurde ganz eng, daß sie kaum noch ein Wort herausbringen konnte. Vielleicht war dies die Antwort? Vielleicht war das der Hinweis, den Pitt brauchte? Vielleicht hatte der Mann ein Mädchen geschlagen, und der Zuhälter hatte ihn umgebracht, und der zweite wurde umgebracht, weil er etwas über den ersten Mord wußte? »Das stimmt«, preßte sie hervor. »Der klingt übel. Vielleich sollte ich mich an die erleuchteten Straßen halten oder so. So einem möcht ich nich so gerne begegnen.« »Wirste schon nich, du dumme Gans. Der mag Frauen und keine Kinder.« Die Frau lachte auf. »Auf jeden Fall seh ich einen kommen. Der gehört mir. Viel Glück, du armes Huhn - das wirste brauchen können.« Sie hob die Hand, drehte sich um und ging mit schwingenden Hüften auf den sich nähernden Schatten zu. Gracie wartete, bis sie von der Dunkelheit verschluckt wurde, dann rannte sie davon.
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1. Kapitel
E
mily trug, wie es sich für die Situation geziemte, ein aufsehenerregendes Kleid. Es hatte ihre Lieblingsfarbe, ein kühles Grün von der Eleganz eines Flusses im Sonnenschein, mit Silberstickerei und Perlenbesatz. Die Taille war schmal und - sie mußte es zugeben - nicht besonders bequem, der Stoff des Oberteils wurde über Kreuz geführt und gab einen tiefen Ausschnitt frei. Es hatte eine winzige Turnüre, dafür bauschten sich die Ärmel an den Schultern, was dem Kleid Fülle verlieh, und waren mit Federn dekoriert. Die Wirkung der Robe war atemberaubend, was Emily durchaus bewußt war, denn sie spürte die bewundernd auf ihr verweilenden Augen der Herren sowie die musternden Blicke der Damen und deren gefrorenes Lächeln, gefolgt von bedeutungsvollem Murmeln. Das Diner hatte aus erlesenen Speisen bestanden und war auf eleganteste Weise serviert worden. Jetzt saßen oder standen die Gäste in kleinen Grüppchen in den Empfangsräumen beisammen, lachten, tauschten persönliche und politische Neuigkeiten aus, wobei natürlich das Persönliche am politischsten war. Die Nachwahlen rückten näher, die Spannung stieg. Emily stand, nicht weil sie es wollte, sondern weil das Korsett, das ihr zu dieser bezaubernden Taille verhalf, sie derart beengte, daß sie nicht lange sitzen konnte, ohne Qualen zu leiden. Das Essen hatte da vollauf genügt. »Wie erfreulich, Sie zu sehen, Mrs. Radley. Sie sehen blendend aus.« Lady Malmsbury lächelte strahlend und betrachtete Emily ohne rechte Zuneigung. Lady Malmsbury war eine ziemlich korpulente Mittvierzigerin, deren feurige Unterstützung der Tory-Partei und folglich Jacks Kon-
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kurrenten, Nigel Uttley, galt. Ihre Tochter Selina war in Emilys Alter. Früher waren die beiden miteinander befreundet gewesen. »Ich erfreue mich ausgezeichneter Gesundheit, danke«, erwiderte Emily mit einem ebenso strahlenden Lächeln. »Ich hoffe, dasselbe trifft auch auf Sie zu? Auf jeden Fall gewinnt man diesen Eindruck.« »Das ist in der Tat der Fall«, bestätigte Lady Malmsbury. Sie ließ ihren Blick kritisch an Emily auf und ab wandern, fand aber keinen Gefallen an dem, was sie sah. »Und wie geht es Ihrer guten Frau Mutter dieser Tage? Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen. Ist sie gesund? Natürlich ist der Witwenstand nicht leicht, ganz gleich, wann es einen trifft.« »Es geht ihr sehr gut, schönen Dank«, gab Emily zurück. Sie war jetzt eine Spur wachsamer. Über dieses Thema wollte sie lieber nicht sprechen. »Wissen Sie, neulich hatte ich ein höchst seltsames Erlebnis«, fuhr Lady Malmsbury fort und trat einen Schritt näher an Emily heran, so daß ihre Kleider gegeneinander raschelten. »Ich hatte ein Violinkonzert besucht, eine ganz ausgezeichnete Darbietung. Mögen Sie das Geigenspiel?« »Ja, sehr«, sagte Emily hastig und fragte sich, was Lady Malmsbury ihr wohl so vertraulich mitzuteilen hatte. Der Glanz in ihren Augen verhieß nichts Gutes. »Ich ebenfalls. Es war ein überaus anregender Abend. Dieser Charme, und die Anmut. Ein äußerst elegantes Instrument«, sprach Lady Malmsbury weiter, immer noch lächelnd. »Als ich am Strand ein wenig flanierte, bevor ich mich von meiner Kutsche nach Hause fahren ließ, sah ich eine Gruppe aus dem Gaiety Theater herauskommen, und eine Dame aus dieser Gruppe erinnerte mich sehr an Ihre Mutter.« Ihre Augen wurden etwas runder. »Ich hätte in der Tat schwören mögen, daß sie es war, wenn da nicht ihre Kleidung und die Gesellschaft, in der sie sich befand, gewesen wäre.« Sie sah Emily in die Augen. Emily hatte die Wahl, das Thema abzubrechen oder sich ihm offen zu stellen.
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»Wirklich? In der Tat merkwürdig. Wahrscheinlich war es das Licht. Die Straßenlaternen rufen manchmal seltsame Eindrücke hervor.« »Wie bitte?« »Ich sagte, die Straßenlaternen rufen manchmal seltsame Eindrücke hervor«, wiederholte Emily mit einem künstlichen Lächeln. Sie weigerte sich zu fragen, in wessen Gesellschaft ihre Mutter gesehen worden war. Lady Malmsbury ließ sich jedoch nicht entmutigen. »Das Licht hätte keine solche Illusion schaffen können. Sie war mit einer Gruppe Schauspieler zusammen, meine Teure! Sie schien sich mit ihnen wohl zu fühlen, es war offenbar kein Zufall, daß sie zusammen herauskamen. Na, es war das Gaiety. Ihre Frau Mama würde da doch niemals hingehen, oder?« Sie lachte bei dieser absurden Vorstellung, es war ein kaltes, schepperndes Geräusch, wie wenn Glas zerbricht. »Und mit solchen Leuten!« »Ich glaube, ich würde eine Gruppe von Schauspielern gar nicht erkennen, wenn ich ihr begegnete«, erwiderte Emily eisig. »Da kennen Sie sich wohl besser aus.« Lady Malmsburys Ausdruck versteinerte sich, und sie zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ich weiß, daß Sie sich aufgrund Ihrer Niederkunft eine Weile nicht in der Gesellschaft bewegt haben, aber auch Sie würden Joshua Fielding erkennen, nicht wahr? Er ist zur Zeit der absolute Liebling. Ein solch interessantes Gesicht, und die Züge, ganz bemerkenswert. Man würde sie keinesfalls regelmäßig nennen, aber doch voller Ausdruck.« »Ach, wenn es Joshua Fielding war, dann wird er wohl in der Vorstellung gewesen sein und nicht selbst gespielt haben«, bemerkte Emily so lässig wie möglich. »Ist er nicht ein seriöser Schauspieler?« »Selbstverständlich, das ist er«, pflichtete Lady Malmsbury ihr bei. »Aber er ist doch trotz allem kein Umgang für eine Lady - gesellschaftlich, meine ich.« Und wieder lachte sie, den Blick auf Emily geheftet. »Ich kann dazu nichts sagen«, erwiderte Emily. »Ich bin ihm noch nie begegnet.» Das war gelogen, aber da es nicht
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in der Öffentlichkeit gewesen war, konnte Lady Malmsbury davon nichts wissen. »Er ist Schauspieler«, wiederholte Lady Malmsbury. »Er verdient seinen Lebensunterhalt auf der Bühne.« »Das gleiche trifft auf Mrs. Langtry zu«, bemerkte Emily. »Und für sie scheint sich ja der Prince of Wales durchaus nicht zu schade zu sein - gesellschaftlich meine ich.« Lady Malmsburys Gesicht blieb unbeweglich. »Das ist wohl kaum dasselbe, meine Teure.« »Wahrhaftig nicht«, stimmte Emily ihr zu. »Wahrscheinlich kann man nicht sagen, daß Mrs. Langtry ihren Lebensunterhalt auf der Bühne verdient. Sie schauspielert vielleicht, aber in einer anderen Rolle und nicht in der Öffentlichkeit - meistens.« Lady Malmsbury wurde rot bis an die Haarwurzeln. »Also wirklich! Ich muß schon sagen, diese Bemerkung zeugt von äußerst schlechtem Geschmack, Emily. Seit Sie wiederverheiratet sind, meine Teure, haben Sie sich sehr verändert, und nicht zum Guten. Es überrascht mich nicht, daß Ihre Frau Mama sich nicht so häufig in der Gesellschaft zeigt wie früher. Auch nicht in einem Seidenturban und einem Kleid ohne Taille.« Emily gelang es, einen verständnislosen Ausdruck aufzusetzen, obwohl innerlich all ihre Alarmglocken schrillten. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum sich jemand in diesem Aufzug in der Öffentlichkeit zeigen sollte.« »Im Gaiety Theater«, sagte Lady Malmsbury. »Wirklich höchst merkwürdig.« »In der Tat«, stimmte Emily ihr bei. Sie hatte nichts mehr zu verlieren, also sagte sie das, was ihr zuerst in den Sinn kam. »Ich hoffe, Sie hatten bisher einen angenehmen Abend. Ein gutes Essen - ein ausgezeichnetes sogar?« Sie hob die Augenbrauen. »Und erheiternd ...« Sie sprach das Wort deutlich aus und richtete ihren Blick fest auf Lady Malmsbury. Wieder errötete Lady Malmsbury. Die Andeutung war versteckt, doch deutlich genug, um sie zu verstehen. »An-
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genehm, doch in Maßen«, preßte sie zwischen den Zähnen hervor. Emily lächelte, als glaubte sie kein Wort. »So nett, mit Ihnen gesprochen zu haben und Sie so kerngesund vorzufinden.« Lady Malmsbury stieß heftig den Atem aus, suchte nach einer ebenso schneidenden Replik, doch als ihr nichts Passendes einfiel, rauschte sie mit raschelnden Röcken davon. Aus dem Wortgefecht war Emily zwar siegreich hervorgegangen, aber sie war dennoch zutiefst beunruhigt. Sie bezweifelte nicht eine Minute, daß es Caroline gewesen war, die Lady Malmsbury gesehen hatte - mit einem abenteuerlichen Gewand bekleidet und in der Begleitung von Joshua Fielding und seinen Freunden. Sie würde etwas tun müssen, aber noch war nicht klar, was das sein könnte. Im Moment mußte sie ihren Charme sprühen lassen und aller Welt den Eindruck vermitteln, daß es in ihrem Leben keine Sorge gab, außer der, wie sie Jack bei seinem Versuch, ins Parlament gewählt zu werden, am besten unterstützen könnte, wenngleich sie sich noch nicht sicher war, daß er überhaupt gewinnen würde. Die Tories genossen große Unterstützung in dem Wahlbezirk, Jack war in der politischen Arena noch neu, und Nigel Uttley konnte auf viele einflußreiche Freunde sowie zweifelsohne die geheime und umfassende Hilfe des Inneren Kreises zählen. Sie setzte eine intelligente und interessierte Miene auf und stürzte sich in das Getümmel. Am nächsten Morgen bereitete sie sich auf einen ganz anders gelagerten Konflikt vor. Dafür mußte sie sich nicht besonders zurechtmachen, wichtig war allein, daß sie geistig und emotional gewappnet war. Dementsprechend trug sie ein gepunktetes Tageskleid aus Musselin, als sie vor dem Haus ihrer Mutter aus der Kutsche stieg. »Guten Morgen, Maddock«, sagte sie munter, als der Butler die Tür öffnete. Sie kannte ihn seit ihrer Kindheit und hielt nicht viel auf Formalitäten. »Ist Mama da? Gut. Ich möchte sie sehen.«
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»Ich fürchte, sie ist noch in ihrem Zimmer, Miss Emily.« Maddock weigerte sich nicht, sie einzulassen, hinderte sie aber daran, die Treppe hinaufzugehen. »Vielleicht könnten sie ihr sagen, daß ich hier bin, und sie fragen, ob ich hochkommen kann.« Dann kam ihr plötzlich ein schrecklicher Gedanke. Caroline war doch allein, oder? Soweit wird sie sich nicht gehenlassen - der Himmel bewahre! Emily fröstelte, ihre Beine wurden schwach. »Geht es Ihnen nicht gut, Miss Emily?« fragte Maddock besorgt. »Kann ich Ihnen eine Tasse Tee bringen? Oder ein Glas Limonade vielleicht?« »Nein. Nein, danke, Maddock.« Sie atmete tief durch. Sie mußte sich stellen, mußte der Wahrheit ins Gesicht sehen. »Sagen Sie Mama nur, daß ich sie dringend zu sprechen wünsche.« »Ist etwas passiert, Miss Emily?« »Das wird sich herausstellen. Ich fürchte schon.« »Sehr gut. Wenn Sie bitte Platz nehmen möchten. Ich sage Mrs. Ellison, daß Sie hier sind.« Damit beendete er das Gespräch, stieg die Treppe hinauf und verschwand oben um die Ecke. Es schien Emily, als sei sie eine Ewigkeit in der Eingangshalle auf und ab gegangen, während sie auf seine Rückkehr wartete. Konnte Caroline wirklich eine ausgewachsene Affäre mit Joshua Fielding angefangen haben? Sie durfte gar nicht daran denken. Caroline mußte völlig den Verstand verloren haben. Das war's wahrscheinlich. Papas Tod hatte ihr den Verstand geraubt. Das war die einzig mögliche Antwort. Ihre Mutter, immer verläßlich, durchschaubar, normal, hatte es aus der Bahn geworfen. »Miss Emily.« »Oh ...« Sie wirbelte herum. Maddock war die Treppe heruntergekommen, ohne daß sie ihn gehört hätte. »Mrs. Ellison empfängt Sie. Wenn Sie bitte in ihr Schlafzimmer hinaufgehen wollen«, sagte Maddock ruhig. »Danke.» Ganz und gar nicht damenhaft raffte Emily ihr Kleid zusammen, sauste mit klappernden Absätzen die
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Treppe hinauf, stob um die Ecke und stieß die Tür zum Schlafzimmer nach einem sehr flüchtigen Klopfen ungestüm auf. Dann hielt sie inne. Alles war ganz verändert. Die alte Ausstattung in gediegenen Beige- und Brauntönen war verschwunden, desgleichen die Möbel aus dunklem Holz. Statt dessen war das Zimmer in eine blumige Rhapsodie aus Rosa, Weinrot und Pfirsich getaucht, ein bronzenes Bettgestell stand an der Stelle des alten, und die Möbel waren hell, weiß der Himmel, aus welchem Material. Das Zimmer wirkte doppelt so groß wie vorher, als hätte man es aus dem Haus herausgenommen und in den Garten transportiert. Und als wäre mit den blumenübersäten Vorhängen, dem Bettüberwurf und dem Kanapee in Rosatönen nicht genug getan, stand eine riesige Schale voller Rosen auf der Frisierkommode. Da es erst Anfang Mai war, mußten sie aus einem Gewächshaus stammen. Caroline saß, in ein aprikosenfarbenes Negligé gekleidet, das Haar lose über die Schultern fallend, im Bett und sah sehr glücklich aus. »Gefällt es dir?« fragte sie und musterte Emilys verblüfftes Gesicht. Emily war entsetzt, weil alles verändert und fremd war, aber sie mußte ehrlich zugeben, daß es ihr gefiel. »Es - es ist wunderhübsch«, sagte sie zögernd. »Aber warum? Es muß - ich weiß ja nicht - ein Vermögen gekostet haben.« »Nicht ganz«, sagte Caroline mit einem Lächeln. »Und schließlich verbringe ich ja sehr viel Zeit in diesem Zimmer. Wahrscheinlich die Hälfte meines Lebens.« »Im Schlaf«, wandte Emily mit einem schalen Gefühl in der Magengrube ein. »Trotzdem, mir gefällt es so.« Caroline ließ ihren Blick mit offensichtlichem Vergnügen durch den Raum schweifen. »Es ist mein Zimmer. Ich wollte immer schon ein Zimmer voller Blumen haben. So fühlt es sich warm an, selbst mitten im Winter.« »Das kannst du nicht wissen«, widersprach Emily. »Ich war im März hier, und da hattest du noch nichts verändert.«
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»Ich bin mir da aber ganz sicher«, erwiderte Caroline überzeugt. »Und manchmal ist es auch im März wie mitten im Winter. Häufig schneit es sogar im März. Und ich gebe mein Geld so aus, wie ich es will.« Emily setzte sich auf die Bettkante. Zugegebenermaßen sah Caroline sehr gut aus. Ihre Haut leuchtete, und ihre Augen strahlten vor Lebenslust und Begeisterung. Bei dem Gedanken, wie alles enden würde, wenn Joshua ihrer überdrüssig wurde und seiner Wege ging, wurde Emily ganz flau im Magen. Plötzlich haßte sie ihn. »Was ist los?« fragte Caroline mit einem kleinen Stirnrunzeln. »Maddock sagte, du wolltest mit mir über eine dringende Sache sprechen. Du siehst auch etwas angespannt aus, mein Liebes. Hat es mit Jack und der Nachwahl zu tun?« »Nur ganz entfernt - nein, eigentlich gar nicht.« »Du klingst verworren«, stellte Caroline fest. »Vielleicht solltest du mir erzählen, worum es geht, und dann können wir hinterher entscheiden, womit es zu tun hat.» Emily stierte auf die Fenster mit ihrem seitlichen Blumenschmuck. »Gestern waren wir zum Abendessen eingeladen«, hob sie an und unterbrach sich dann. Jetzt, wo sie von der Begebenheit erzählen wollte, schien es ihr trivial. Sie suchte nach den richtigen Worten. »Und?« hakte Caroline nach und setzte sich in ihren Kissen etwas höher. »Wahrscheinlich hast du wichtige Menschen kennengelernt?« »Oh, mehrere. Doch ich spreche von jemandem, der überhaupt nicht wichtig ist.« Caroline runzelte die Stirn, wartete aber geduldig. »Es geht nur um das, was sie gesagt hat«, fuhr Emily fort. »Es war übrigens Lady Malmsbury ...« »Selina Courts Mutter?« fragte Caroline überrascht. »Da fällt mir ein, hast du Sir James in letzter Zeit gesehen? Ich fand ihn immer sehr nett, aber in letzter Zeit ist er ziemlich dick geworden, außerdem bekommt er eine Glatze. Ich bin der Meinung, daß Selina eine vorteilhaftere Partie hätte
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machen können, aber Maria Malmsbury konnte nicht abwarten.« »Ja, mir hat er nie besonders gefallen«, stimmte Emily ihr zu. »Aber Lady Malmsbury hat mir erzählt, daß sie dich vor dem Gaiety Theater gesehen hat, und zwar in einem Kleid, das keinerlei Taille hat, und mit einem Seidenturban, und daß du mit Joshua Fielding und einigen anderen Schauspielern zusammen warst. Um es genau wiederzugeben, sie sagte, daß du es unmöglich gewesen sein konntest. Aber natürlich war sie der Meinung, daß du es warst.« »Aber natürlich war ich es, wir hatten einen sehr vergnüglichen Abend«, erwiderte Caroline begeistert. Die Erinnerung brachte ihre Augen zum Leuchten. »Es war so lustig. Ich wußte ja nie, wie eingängig einige dieser Lieder sind. Und ich habe seit Jahren nicht mehr so gelacht. Lachen tut sehr gut, mußt du wissen. Es gibt dem Gesicht einen freundlichen Ausdruck.« »Aber mit einem Seidenturban«, erregte sich Emily. »Warum nicht? Seide ist ein sehr angenehmes Material, und ich finde Turbane recht kleidsam.« »Ein Turban, Mama! Und ein weit geschnittenes Kleid! Wenn du schon gehen mußtest, konntest du dich nicht normal anziehen? Selbst die Ästhetizisten machen das schon seit Jahren nicht mehr.« »Meine liebe Emily, ich habe nicht die geringste Absicht, Maria Malmsbury zu erlauben, mir zu diktieren, was ich trage oder wo und in wessen Gesellschaft ich mich vergnüge. Die Ästhetizisten sind mir piepegal, und so sehr ich dich und Charlotte liebe, ich werde mir auch von euch nicht meinen Lebenswandel vorschreiben lassen.« Sie legte ihre Hand auf Emilys. »Wenn es dir peinlich ist, dann tut es mir leid. Aber es hat in der Vergangenheit auch einige Situationen gegeben, wo du mich in Verlegenheit gebracht hast. Zum Beispiel, als du Thomas unbedingt bei seiner Ermittlungsarbeit helfen mußtest.« »Du hast ja selbst auch geholfen«, sagte Emily verärgert. »Das ist noch nicht einmal sechs Monate her. Wie kannst du nur...«
»Ich weiß«, sagte Caroline schnell. »Und wenn die Umstände es zulassen, würde ich es auch wieder tun. Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß ich völlig zu Unrecht peinlich berührt war. Vielleicht wirst du mit der Zeit dieselbe Erfahrung machen.« Emily stöhnte frustriert auf. »Ist das das einzige, was dir Sorgen macht?« erkundigte sich Caroline freundlich. »Lieber Himmel, Mama, reicht das nicht? Meine Mutter bewegt sich in der Gesellschaft eines Schauspielers, der nur halb so alt ist wie sie, und die Tatsache, daß es ihren Ruf ruiniert, scheint sie nicht zu berühren. Sie wird in der Stadt in einem unmöglichen Aufzug gesehen.« »Nun, mein Liebes, wenn es eure anständigen Wähler vergrault, bringt es mir vielleicht die Zuneigung der weniger respektablen Bürger ein«, sagte Caroline fröhlich. »Wollen wir hoffen, daß sie gegenüber den prüden Menschen in der Überzahl sind. Doch wenn du es gerne sehen würdest, daß ich zu Hause bleibe und Violett trage, damit Jack die Wahl gewinnt, dann, fürchte ich, kann ich dir damit nicht dienen, auch wenn ich mir seinen Erfolg sehr wünsche.« »Ich denke gar nicht an Jack«, protestierte Emily und meinte es ehrlich, da sie ohnehin nicht glaubte, daß Jack gewinnen würde. »Was geschieht, wenn das alles vorbei ist? Hast du daran schon einmal gedacht?« Alle Freude wich aus Carolines Gesicht, das einen so verletzlichen Ausdruck annahm, daß Emily sie wie ein Kind in den Arm nehmen und halten wollte. »Dann werde ich älter geworden sein, ich werde allein sein und Erinnerungen an eine himmlische Zeit hüten, als ich glücklich war und geliebt wurde, auch wenn es nicht für immer sein konnte«, erwiderte Caroline sehr ruhig und senkte den Blick auf die Bettdecke mit dem Rosenmuster. »Ich werde Lachen, Freundschaft und Phantasie kennengelernt haben, wie es nur wenige Frauen erleben, und ich werde mich ohne Bitterkeit daran erinnern.« Sie hob den Blick und sah Emily an. »So wird es sein. Ich werde nicht
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versacken oder erwarten, daß du oder Charlotte an meiner Seite sitzt, während ich mein Schicksal beweine. Beruhigt dich das?« Es war lächerlich, aber Emily spürte die Tränen in sich aufsteigen. »Nein - es wird mir so leid tun - für dich!« Sie zog die Nase hoch und suchte vergeblich nach einem Taschentuch. Caroline zog eins unter ihrem Kissen hervor und reichte es Emily. »Das ist der Preis, wenn man liebt, mein Liebes«, sagte sie weich. »Gewöhnlich sind es die Eltern, die mit ihren Kindern leiden, aber manchmal ist es auch andersherum. Du kannst es höchstens vermeiden, wenn du nur ein bißchen liebst, damit der Schmerz dich nicht zu sehr trifft. Aber das ist dann so, als sei ein Teil von dir abgestorben.« Emily stieß einen tiefen Seufzer aus. Darauf gab es keine Erwiderung. »Erzähl mir doch von der Wahlkampagne«, regte Caroline an und nahm das Taschentuch wieder an sich. »Und von Charlottes neuem Haus - hast du es schon gesehen?« »Ja. Im Moment ist es noch in einem furchtbaren Zustand. Aber es kann sehr schön werden, was aber einigen Aufwand und mindestens hundert Pfund kosten wird, wenn nicht gar zweihundert.« Und dann berichtete sie Caroline ganz genau. Als sie eine halbe Stunde später ging, begegnete sie ihrer Großmutter in der Eingangshalle. Die alte Dame war, wie es ihrer Gewohnheit entsprach, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Sie vertrat die Ansicht, daß eine Witwe immer als Witwe auftreten sollte. Auf ihren Stock gestützt beobachtete sie zunächst, wie Emily die Treppe herunterkam, bevor sie sie ansprach. »Na«, sagte sie giftig, »du hast also deine Mama besucht. Das Zimmer sieht aus wie das Boudoir einer Metze. Sie hat den Verstand verloren - nicht, daß es da viel zu verlieren gab. Nur meinem armen Edward ist es zu verdanken, daß sie sich zu seinen Lebzeiten einigermaßen würdevoll betragen
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hat. Bei dem Anblick hier muß er sich ja im Grabe umdrehen.« Sie pochte mit dem Stock auf den Boden. »Ich glaube, ich kann nicht länger hierbleiben. Es wird immer unerträglicher. Ich werde zu dir ziehen.« Ihre Gesichtsmuskeln zuckten vor Ärger, ihr Blick war auf die Treppe gerichtet. »Zu Charlotte zu ziehen, steht außer Frage. Sie hat unter ihrem Stand geheiratet. Ich könnte das nicht ertragen.« Emily war sprachlos. »Nur weil Mama ihr Schlafzimmer neu gestaltet hat?« sagte Emily mit erhobener Stimme, als könne sie es nicht glauben. »Wenn es dir nicht gefällt, dann geh doch nicht hinein.« »Sei doch nicht albern!« sagte die alte Dame und drehte sich heftig zu ihr um. »Meinst du, sie hat es für sich gemacht? Sie hat doch vor, diesen Mann da herzubringen. Da gibt es doch keinen Zweifel.« Emily war fest davon überzeugt, daß sie es nicht ertragen würde, wenn ihre Großmutter zu ihr zöge. Selbst Ashworth House, so weiträumig es auch war, bot nicht genug Platz, um es mit der alten Dame zu teilen. »In einem skandalumwitterten Haus, wo jede Moral über Bord geworfen wird, bleibe ich nicht«, fuhr die alte Dame aufgebracht fort, wobei ihre Stimme schriller und lauter wurde. »Daß ich das in meinem Alter noch erleben muß!« Ihre Knopfaugen funkelten. »Der Kummer wird mich ins Grabbringen.« »Unsinn!« gab Emily forsch zurück. »Bisher ist nichts geschehen, und wahrscheinlich wird auch nichts geschehen.« Allerdings war sie selbst nicht ganz davon überzeugt und vermied es, der alten Dame in die Augen zu schauen. »Komm du mir nicht mit ‚Unsinn’, mein liebes Mädchen!« Die Großmutter pochte erneut mit dem Stock auf den Boden und zerkratzte die Holzdielen mit der Metallspitze. »Ich sehe, was ich sehe, und ich erkenne eine Frau von fragwürdiger Moral, wenn ich sie unter meinem Dach habe.« »Es ist nicht dein Dach. Es gehört Mama. Und da hier noch nie eine Frau von fragwürdiger Moral gelebt hat, würdest du auch nicht wissen, wenn so eine hier wäre.«
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»Bist du dir im klaren darüber, mit wem du sprichst, mein Kind?« sagte die alte Dame aufgebracht. Und da Emily auf die Haustür zusteuerte, fügte sie hinzu: »Und steh gefälligst still, wenn ich mit dir rede. Warum bist du denn so unruhig, möchte ich mal wissen?« »Es gibt weiter nichts zu sagen, Großmutter. Ich muß nach Hause. Ich habe gewisse Pflichten zu erfüllen.« Die alte Dame brummelte unwirsch vor sich hin, pochte ein letztes Mal auf den Boden, drehte sich um und ging davon. Emily nahm die Chance wahr und floh. Jack gegenüber erwähnte sie nichts davon. Es nützte nichts, und der Gedanke, daß die Großmutter zu ihnen ins Ashworth House ziehen könnte - auch wenn das nicht recht wahrscheinlich war -, würde ausreichen, um ihn völlig von seinen gegenwärtigen Aufgaben abzulenken. Sie ging also gleich hinauf ins Kinderzimmer, wo sie die nicht mehr ganz junge, freundliche Kinderschwester überraschte, die das Baby, das schon fast schlief, im Arm hielt. Das Kindermädchen ließ das Tuch, das sie soeben faltete, zu Boden fallen, und Edward schob den Rest Milchreis von sich und stand ohne Erlaubnis vom Tisch auf. »Mama!« rief er und lief zu ihr, um sie zu begrüßen. »Mama! Ich habe alles über Heinrich den Sechsten gelernt. Wußtest du, daß er acht Frauen hatte, denen er allen die Köpfe abgeschlagen hat? Meinst du, die Königin haut Prinz Albert auch den Kopf ab, wenn sie ihn nicht mehr haben will?« Er blieb vor ihr stehen, ein hochgewachsener, schmaler Junge, dessen Gesicht vor Begeisterung strahlte. Sein helles Haar, ihrem sehr ähnlich, fiel ihm über die Stirn. Er trug ein weites, weißes Hemd mit einem großen Kragen und dunkle, gestreifte Hosen. Vor Aufregung hüpfte er von einem Fuß auf den anderen. »Das wär' doch spannend, oder?« »Das wäre es nicht«, erwiderte Emily verblüfft und streckte ihre Hand aus, um ihn zu berühren. Sie wollte ihn
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in den Arm nehmen, wußte aber, daß er das verabscheuen würde. In seinen Augen war das Babykram, und einen Gutenachtkuß genehmigte er nur widerwillig. »Außerdem war es Heinrich der Achte«, korrigierte sie ihn. »Er hatte nur sechs Frauen, und nicht alle hat er geköpft.« »Ach so. Was war denn mit den anderen?« »Eine starb, von einer hat er sich scheiden lassen, vielleicht waren es auch zwei, und eine hat ihn überlebt.« »Aber - die anderen hat er geköpft?« »Ich denke schon. Was hast du heute sonst noch gemacht?« »Rechnen - und Erdkunde.« Miss Roberts, seine Gouvernante, erschien in der Tür zum Schulzimmer. Sie war eine Pfarrerstochter, sauber und ordentlich, fast dreißig Jahre, und damit zu alt, um auf eine Heirat hoffen zu können. Sie war darauf angewiesen, sich ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, und als Gouvernante konnte sie das auf anständige und angemessene Weise tun. Emily mochte sie und freute sich schon darauf, daß Miss Roberts eines Tages auch Evie betreuen würde. »Guten Tag, Miss Roberts«, sagte sie freundlich. »Lernt er gut?« »Ja, Mrs. Radley«, sagte Miss Roberts mit einem ironischen Lächeln. »Sein Interesse richtet sich mehr auf Intrigen und Schlachten als auf Gesetze und Verträge. Aber das ist nur natürlich. Ich mag Königin Elisabeth ebenfalls sehr.« »Mir geht es auch so«, pflichtete Emily ihr bei. Edward verfolgte das Gespräch aufmerksam, war aber zu gut erzogen, um sie zu unterbrechen. »Du hast deinen Milchreis noch nicht aufgegessen«, sagte Miss Roberts. Er warf ihr unter langen Wimpern einen Blick zu. »Der ist jetzt kalt.« »Und wer hat daran schuld?« Er wollte schon etwas erwidern, aber ein Blick auf sie belehrte ihn eines besseren. Es war unter seiner Würde, zu streiten und dann den kürzeren zu ziehen, besonders wenn
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das Gegenüber eine Frau war. Als junger Viscount war er sehr auf seine Würde bedacht, die für einen siebenjährigen Jungen, der von Frauen umgeben war, ohnehin schwer zu bewahren war. Er schlenderte wieder zum Tisch, kletterte auf seinen Stuhl und nahm den Löffel in die Hand. Emilys Blick traf den von Miss Roberts, beide verbargen ein Lächeln. Mrs. Roberts ging in das Schulzimmer zurück. Das Kindermädchen verschwand mit einem Stapel Wäsche im Kinderschlafzimmer. Emily drehte sich zur Kinderschwester und streckte ihre Arme aus, um das Baby zu nehmen. »Sie ist gerade eingeschlafen«, protestierte die Kinderschwester. Sie war eine rundliche, freundliche Frau, die früher auch als Amme gedient hatte. Häufig hatte sie die Kinder aus vornehmen Häusern zu sich genommen und sie während ihres ersten Lebensjahres gestillt, manchmal auch länger, bis sie dann wieder in die Obhut ihrer Kinderschwestern gegeben wurden. Sie mochte Kinder bis zu drei Jahren besonders, doch wenn sich gelegentlich eine intensive Beziehung zu einem Schützling entwickelte, fiel es ihr schwer, ihn anderen Betreuerinnen zu überlassen. Emily ließ sich nicht abweisen. Sie wollte ihr Kind in den Armen halten, seine Wärme an ihrem Körper spüren, seine zarte Haut berühren und sein kleines Gesicht beobachten. Ihre Arme blieben ausgestreckt. Auch die Kinderschwester verzichtete darauf, Widerstand zu leisten. Sie erhob sich und übergab achtsam ihren Schützling. Evie regte sich nicht, als Emily sie nahm und sanft wiegte. Nach ein paar Augenblicken - die Kinderschwester wandte sich ab und beschäftigte sich mit anderen Dingen, obwohl es eigentlich nichts zu tun gab - fing Emily an, den flaumigen Kopf ihrer Tochter zu streicheln. Endlich hatte sie es erreicht, daß das Baby erwachte. Sie setzte sich in den Schaukelstuhl und sprach auf Evie ein, bis das Baby nach einer Viertelstunde - während der die Aktivitäten im Kinderzimmer zum Stillstand kamen, da das Kindermädchen
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nicht aufräumen, die Kinderschwester sich nicht nützlich machen konnte und Edward, nachdem er seinen Nachtisch aufgegessen hatte, auf seine Gutenachtgeschichte warten mußte - schließlich zu weinen begann. Jetzt war die Geduld der Kinderschwester am Ende. Ohne ein weiteres Wort nahm sie Evie an sich, tauchte den Zipfel eines Tuches in Zuckerwasser und steckte ihn dem Baby in den Mund. So gab sie Emily zu verstehen, daß es Zeit für sie war, sich ihren eigenen Pflichten zuzuwenden. Gehorsam wünschte Emily Edward eine gute Nacht, ohne ihm einen Kuß zu geben, was er zunächst mit großem Wohlgefallen registrierte, was ihn jedoch im nächsten Moment verunsicherte. Vielleicht war soviel Würde doch noch nicht nötig? Nachdem er jedoch die Entscheidung getroffen hatte, wollte er sie nicht wieder umwerfen, besonders nicht vor Miss Roberts, deren gute Meinung ihm teuer war. Morgen würde er seiner Mutter die Wange zum Kuß bieten und somit selbst den Anfang machen. Das schien ihm eine ausgezeichnete Lösung. Höchst zufrieden mit sich ging er zu Bett. Außerdem war die Gutenachtgeschichte über King Arthur besonders spannend. Mit einem Gefühl der Rührung ließ Emily ihn gehen, dann wechselte sie noch ein paar Worte mit den Frauen im Kinderzimmer und ging anschließend hinunter, um auf Jack zu warten. Er kam gegen sieben, nachdem er sich den ganzen Tag den verschiedensten politischen Aufgaben gewidmet hatte, und war hoch erfreut, dies alles für die kurze Zeit bis zum Essen vergessen zu können, bevor die Abendgäste eintrafen, die er für sich gewinnen wollte. Das Datum für die Nachwahlen stand nun fest, in drei Wochen war es soweit, und seine ganze Aufmerksamkeit galt den Vorbereitungen. Am folgenden Morgen saß Emily im Frühstückszimmer, ihrem Lieblingsraum im ganzen Haus, als Jack mit den Tageszeitungen hereinkam. Der Raum war achteckig und hatte drei Türen, von denen eine in den kleinen, schattigen Garten auf der Ostseite des Hauses führte. Die Morgen-
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sonne strömte durch das Türglas und schien auf die Parkettböden und die beiden Vitrinenschränke mit erlesenem Porzellan. »Es ist in aller Munde«, sagte er, als er die Zeitungen auf den Tisch legte und sie ernst anschaute. »In der Times ist es immer noch die Titelgeschichte.« Sie fragte nicht, wovon er sprach. Am Abend zuvor hatten sie zuletzt über die Morde im Hyde Park gesprochen, und sie verstand auch ohne Erklärung, daß er das Thema wieder aufgriff. »Was schreiben sie denn?« fragte sie. »Die Times versucht, Ruhe zu bewahren«, antwortete er. »In einem der Kommentare wird davon gesprochen, daß es Wahnsinn ist, der immer mehr zunimmt. Ein anderer Berichterstatter erwähnt die Theorie einer Wiener Schule, die all diese Erscheinungen auf die Kindheit zurückführt und von Träumen und Repressionen spricht.« Er setzte sich an den Tisch und griff nach der Glocke, doch bevor sie ertönte, erschien schon der Butler. »Eier mit Speck und Kartoffeln, bitte, Jenkins«, sagte Jack, ohne aufzuschauen. »Die Köchin hat wunderbare gegrillte Nierchen vorbereitet«, bot Jenkins an. »Vielleicht mit frischem Toast?« »Heißt das, daß es keine Eier gibt?« fragte Jack und sah zu ihm auf. »Nein, Sir, wir haben mindestens drei Dutzend Eier.« Jenkins verzog keine Miene. »Soll ich Ihnen Eier bringen?« »Nein, gegrillte Nierchen hört sich gut an«, erwiderte Jack und sah Emily fragend an. »Kompott und Toast«, gab Emily an. »Wird dir das nicht langweilig?« Er runzelte die Stirn, sah sie aber zärtlich an. »Keineswegs. Aprikosen, wenn es noch welche gibt, Jenkins.« Sie wollte Jack gegenüber nichts sagen, und den Bediensteten gegenüber schon gar nicht, aber sie war fest entschlossen, wieder so schlank zu werden wie vor Evies Geburt und die Figur auch beizubehalten. »Jawohl, Madam.« Jenkins fiel es schwer, sie nicht ‚Mylady’ zu nennen, wie er es zu Georges Lebzeiten getan
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hatte, als sie Lady Ashworth gewesen war. Er zog sich zurück, um die Bestellung auszuführen. »Wahrscheinlich gibt es keinen Speck«, sagte Emily lächelnd. »Was sonst?« Jack kannte ihre Gedankensprünge und wußte, daß sie wieder von den Zeitungen sprach. Das Thema war noch längst nicht erschöpft. »Ein berühmter Arzt äußert seine Meinung darüber, wie die Verbrechen verübt wurden«, fuhr er fort. »Das hilft aber nicht weiter. Einer ist überzeugt, daß eine Frau die Morde begangen hat - warum, weiß ich nicht. Ein anderer schreibt etwas über die Mondphasen und macht eine Vorhersage, wann der nächste Mord geschehen wird.« Ein Schaudern durchlief Emily. »Armer Thomas!« Jack sah sie ernst an. »In den meisten Artikeln jedoch wird die Polizei kritisiert, ihre Methoden, ihre Leute, selbst ihre Existenz.« Er stieß einen Seufzer aus. »Uttley hat einen langen Artikel in der Times geschrieben, in dem er hart mit Thomas ins Gericht geht, obwohl er ihn nicht namentlich erwähnt. Natürlich will er für sich Kapital aus den Vorfällen schlagen, und es ist ihm vollkommen egal, wem er dabei schadet.« Emily griff nach der Zeitung und blätterte darin, als Jenkins mit den Nierchen für Jack und ihrem Kompott eintrat. Der Butler warf einen Blick auf sie und vermochte seine Mißbilligung kaum zu verbergen. Als er ein junger Mann war, lasen Frauen nur das in der Zeitung, was ihre Männer für sie als angemessen erachteten. Gewöhnlich waren das die Nachrichten vom Hofe, die Heiratsanzeigen und Nachrufe und gelegentlich, wenn sie Glück hatten, die Theaterkritiken. Politische Ansichten und Kommentare eigneten sich für Frauen nicht. Es brachte nur das Blut in Wallung und beeinträchtigte die Phantasie. Einmal, als Lord Ashworth noch lebte, hatte er sich erdreistet und eine diesbezügliche Bemerkung gemacht, doch leider wurde ihm kein Gehör geschenkt. »Danke, Jenkins«, sagte Jack routinemäßig, und Emily bedankte sich mit noch weniger Aufmerksamkeit. Mit einem Seufzer zog Jenkins sich zurück.
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»Ich weiß schon«, sagte Emily, schob ihr Frühstück zur Seite und fing an zu lesen. »,Es besteht kein Zweifel, daß die Regierung, als sie die Polizei ins Leben rief, dies zum Wohle der Bürger von London getan hat. Es war eine entschlossene und gelungene Maßnahme für die Sicherheit jedes einzelnen Menschen in diesem pulsierenden Herzen des Empire. Ist aber der Polizeidienst, wie er heute existiert, das, was seine Begründer sich vorgestellt hatten? Im Herbst 1888 gab es eine Serie von grausamen und entsetzlichen Morden in Whitechapel, die in die Annalen der Geschichte als die schrecklichsten Verbrechen seit Menschengedenken eingegangen sind. Sie sind dort überdies als ungelöste Verbrechen eingegangen. Nach monatelangen Ermittlungen kann unsere Polizei nur sagen: »Wir wissen es leider nicht.« Haben wir das verdient? Geben wir dafür unser Geld aus? Ich denke nicht. Wir brauchen eine besser ausgebildete Polizei, wir brauchen Männer, die sich ihrer Aufgabe nicht nur pflichtbewußt annehmen, sondern die auch die Fähigkeiten und die Bildung haben, um solche Verbrechen zu verhindern. Unser Empire umspannt die ganze Welt. Wir haben Völker von wilden Kriegern erobert und unterworfen. Wir haben Länder im eisigen Norden und im sonnenverdörrten Süden besiedelt, die Steppen des Westens und die Dschungel und Wüsten im Osten urbar gemacht. Wir haben unsere Flagge auf jedem Kontinent dieser Erde errichtet, wir haben Gesetz und Ordnung, unsere Religion und Sprache zu allen Völkern der Erde gebracht. Können wir wirklich die aufsässigen Elemente in unserer eigenen Hauptstadt nicht unter Kontrolle halten? Meine Herren, wir müssen mehr tun. Wir müssen diesem bedauerlichen Zustand von Inkompetenz und Versagen ein Ende bereiten. Wir müssen unsere Gesetzeshüter neu formieren und sie zu den besten der Welt machen, bevor sie zum Gespött werden und als Synonym für Inkompetenz gelten, bevor alle Verbrecher Europas bei uns eindringen, weil sie hier ihre Chance wittern.
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Wir brauchen nicht die halbgaren Vorschläge der Liberalen Partei. Wir brauchen Stärke und Entschlossenheit.’« Angewidert legte Emily die Zeitung nieder. Eigentlich hätte sie nicht überrascht sein dürfen, und sie war es auch nicht, dennoch machte sie der Artikel zornig. Sie sah zu Jack auf. »Es ist so dumm«, sagte sie hilflos. »Das sind doch bloß Worte. Er macht überhaupt keine Vorschläge. Was könnte Thomas denn tun?« »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Wenn ich es wüßte, würde ich es ihm sofort sagen. Aber es geht nicht nur darum, eine Lösung zu finden.« Er nahm einen Bissen von seinen gegrillten Nierchen und kaute ihn mit Genuß. Erst als er den Happen heruntergeschluckt hatte, fuhr er fort: »Es geht darum, eine Lösung zu finden, die die Gesellschaft auch will.« »Was wäre das für eine? Daß es ein aus Bedlam ausgebrochener Verrückter ist, den wir alle als Außenseiter abstempeln können, weil er nichts mit uns zu tun hat?« gab sie zurück und rührte heftig in ihrem Kompott. »Wenn das nicht die Lösung ist, können wir wohl kaum Thomas verantwortlich machen.« »Emily, mein Schatz, die Menschen haben immer schon den Boten für den Inhalt der Botschaft verantwortlich gemacht. Natürlich können sie das - und sie werden es auch.« »Das ist doch kindisch.« Sie schluckte einen Löffel Kompott hinunter, der ihr in die falsche Kehle geriet. Sie schluckte und prustete und starrte ihn böse an. »Natürlich ist es das«, stimmte er zu, goß ihr eine Tasse Tee ein und reichte sie ihr. »Aber das ist doch unerheblich. Du mußt nicht im politischen Leben stehen, um zu wissen, daß die Reaktionen vieler Menschen kindisch sind und daß wir uns auf das niedrigste Niveau begeben, wenn wir den anderen schlagen wollen.« »Wie wirst du gegen Uttley Stellung beziehen? Du mußt doch etwas sagen. Du kannst das nicht so stehenlassen.« »Thomas wäre mir sicher nicht dankbar, wenn ich ihn verteidigen würde -«, hob er an.
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»Nicht Thomas«, unterbrach sie ihn. »Du! Du kannst doch nicht hier sitzen und darauf warten, daß Uttley dich herausfordert. Du mußt zum Angriff übergehen.« Er dachte einige Augenblicke nach, während sie sich mühsam zurückhielt und das Kompott auslöffelte, ohne es wirklich zu schmecken. »Es hat überhaupt keinen Zweck, den Menschen mit Zahlen zu kommen«, sagte er nachdenklich. Er hatte sein Frühstück beendet und legte die Gabel nieder. »Da sind keine Gefühle drin.« »Verteidige dich nicht«, hielt sie dagegen. »Es gibt sowieso keine wirkungsvolle Verteidigung. Alle Verbrecher, die hinter Schloß und Riegel gebracht wurden, sind nicht so wichtig wie die, die noch frei herumlaufen - zumindest nicht in den Augen der Menschen.« Sie schluckte. »Und es ist sowieso nicht gut, defensiv aufzutreten. Du kannst ja nichts dafür, daß die Polizei ineffizient ist. Und laß dich bloß nicht in eine Ecke drängen, wo die Leute glauben, daß du dafür verantwortlich bist.« Sie nahm die silberne Teekanne. »Möchtest du noch Tee?« Er schob ihr seine Tasse zu, und sie goß ihm ein. »Greif an«, sagte sie. »Wo liegen seine Schwächen?« »Steuerfragen, die Nationalökonomie ...« »Das nützt nichts.« Sie winkte ab. »Das ist langweilig, und die Leute verstehen nichts davon. Du kannst bei den Wahlveranstaltungen wohl kaum von Schillingen und Pence erzählen. Dann hört dir keiner zu.« »Das weiß ich«, sagte er, »aber du hast mich gefragt, wo seine Schwächen liegen.« »Warum machst du es nicht wie Charlotte?« regte sie schließlich an. »Tu so, als seist du naiv, und bitte ihn, dir seine Ideen zu erklären. Du weißt, daß er es nicht erträgt, wenn man über ihn lacht.« »Das ist aber sehr gefährlich -« »So wie seine Angriffe auf die Polizei und indirekt auf dich. Was hast du schon zu verlieren?« Er betrachtete sie nachdenklich, dann, nach einer Weile, entspannten sich seine Züge, und seine Augen leuchteten auf.
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»Schieb es nicht auf mich, wenn die Sache nach hinten losgeht«, warnte er sie. »Natürlich nicht. Aber wenn, dann wollen wir in einem echten Kampf untergehen.« Sie beugte sich vor und nahm seine Hand, die auf dem Tisch lag. »Laß uns mit fliegenden Fahnen unter Kanonenfeuer in die Schlacht ziehen.« »Vielleicht muß ich mich danach aufs Land zurückziehen.« »Danach vielleicht«, räumte sie ein, »aber nicht vorher.« Schon am nächsten Tag ergab sich die Gelegenheit. Uttley sprach am Hyde Park Corner, wo sich eine beträchtliche Menschenmenge angesammelt hatte. Jack näherte sich dem Schauplatz, Emily an seinem Arm. Aus allen Richtungen strömten die Menschen herbei, viele hatten sich mit Pasteten, Sandwiches und Pfefferminzwasser versorgt. Der Mann mit dem Kasperletheater packte seine Sachen zusammen, denn er wußte, daß das richtige Leben dramatischer war. Eine Kinderschwester, die einen Kinderwagen schob, verlangsamte ihre Schritte; ein Zeitungsjunge und ein Straßenkehrer hielten in ihrer Arbeit inne und hörten zu. »Meine Damen und Herren«, begann Uttley, obgleich die Erwähnung der Damen reine Höflichkeit war, denn da Frauen nicht wählen durften, war ihre Meinung nicht von Bedeutung. »Meine Damen und Herren, wir, die wir in dieser großen Metropole leben, stehen an einem Scheideweg. Wir müssen uns nun entscheiden, in welche Richtung wir uns bewegen möchten. Gefällt es Ihnen, wie es ist, oder wünschen Sie sich eine Veränderung zum Besseren?« Er trug einen dunklen, doppelreihigen Mantel mit Seidenrevers, dazu hellere Nadelstreifenhosen. Die Sonne schien auf sein gebräuntes Gesicht und sein helles Haar. »Zum Besseren!« erklang es aus mindestens einem Dutzend Münder. »Das ist ja nur verständlich«, pflichtete er ihnen begeistert bei. »Sie möchten Geld in der Tasche und genügend zu essen auf dem Tisch haben, und Sie möchten unbehelligt durch die Straßen unserer Stadt gehen können.« Mit ei-
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ner bedeutungsvollen Geste zeigte er auf die grünen Rasenflächen des Parks hinter ihm, was zustimmendes Gemurmel aus der Menge hervorrief. »Wie will er das mit dem Geld bewerkstelligen?« flüsterte Emily Jack zu. »Los, frag ihn das.« »Das nützt doch nichts«, flüsterte er zurück. »Die Armen dürfen ja ohnehin nicht wählen.« Emily brummelte irritiert vor sich hin. »Straßen, schön und gut!« »Was ist aber mit den Parks?« fragte ein fetter Mann, an seiner Schürze als Fischverkäufer zu erkennen. »Sind wir da auch in Sicherheit?« Seine Frage wurde mit Lachen quittiert, jemand stieß einen Pfiff aus. . »Zur Zeit nicht!« Uttley blickte ihn an. »Zur Zeit nicht, mein Freund. Es sollte aber möglich sein - wenn die Polizei bessere Arbeit leisten würde!« Es waren einige zustimmende Zwischenrufe zu hören. »Wollen Sie Patrouillen im Park einführen?« fragte Jack laut. »Gute Idee, Mr. Radley«, antwortete Uttley und zeigte mit dem Finger auf Jack, damit jeder ihn sehen konnte. »Warum haben Sie das in Ihrer letzten Rede nicht vorgeschlagen? Das haben Sie nämlich nicht - mit keinem einzigen Wort!« Alle drehten sich um und starrten Jack an. Jack ließ seinen Blick über die ihm zugerichteten Gesichter gleiten. »Wollen Sie Polizeipatrouillen im Park?« fragte er voller Unschuld. »Ja klar!« waren vereinzelte Stimmen zu hören, doch die meisten schwiegen. Keiner sprach dagegen. »Was sollten die tun?« fuhr er fort. »Sollten sie Sie anhalten und nach Ihrem Vorhaben fragen? Sich erkundigen, mit wem Sie da unterwegs sind?« Ablehnendes Gemurmel. »Sollen sie Sie nach Waffen durchsuchen?« fuhr er fort. »Sich Ihre Namen und Adressen notieren?«
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»Wie war's, wenn sie die Menschen davor bewahren würden, überfallen, ausgeraubt und ermordet zu werden?« warf Uttley ein. Ein paar Ja-Rufe und verhaltenes Gelächter waren die Reaktion. »Ach. Daran hatte ich nicht gedacht«, sagte Jack mit unschuldiger Miene. »Sie müßten Ihnen folgen. Selbstverständlich. Und wenn sich Ihnen jemand nähert, sollte der Polizist herankommen, um einen plötzlichen Schlag oder Angriff zu verhindern. Wenn es sich allerdings bei dem Menschen um einen Bekannten handelt ...« Er brach ab umgeben von ärgerlichem Murmeln und erregten Gesichtern. »Aber das geht auch nicht, denn wir wissen gar nicht, ob es nicht ein Bekannter war, der Captain Winthrop und Mr. Arledge umgebracht hat. Wer sich auch immer einer Person nähert, der Polizist sollte auf jeden Fall ganz in der Nähe bleiben, um wenn nötig eingreifen zu können.« »Das ist doch absurd«, warf Uttley ein, wurde aber von Buh-Rufen und Gelächter übertönt. »Würden wir nicht jede Menge Polizisten brauchen?« fragte Jack. »Genaugenommen einen für jeden einzelnen Menschen, der einen Spaziergang machen möchte. Vielleicht sollten wir uns bei der Polizeiwache melden und um eine Eskorte bitten. Das wäre natürlich sehr teuer. Die Steuern müßten sich verdoppeln, oder gar verdreifachen.« Hohn, Spott und Mißbilligung waren zu hören, ein Mann lachte laut auf. »Das ist doch lächerlich!« versuchte Uttley, sich Gehör über dem Stimmengewirr zu verschaffen. »Sie haben es ad absurdum geführt! Es gibt auch durchaus vernünftige Wege.« »Sagen Sie uns, wie die aussehen«, forderte Jack ihn auf und unterstrich seine Worte, indem er die Handflächen öffnete. »Ja, los«, rief es aus der Menge. Die Menschen schauten von einem zu anderen. »Also - wie soll das gehen?« Uttley mühte sich ab, konkrete Vorschläge anzubieten, aber es war klar, daß er nur in Allgemeinplätzen gedacht hatte,- wenn es um spezifische Lösungen ging, blieb er die
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Antwort schuldig. Es hagelten Buh-Rufe und Pfiffe auf ihn nieder, so daß Jack weiter nichts zu der Niederlage seines Konkurrenten beizutragen brauchte. Schließlich drehte sich Uttley mit vor Wut rot angelaufenem Gesicht zu ihm um. »Was haben Sie denn vor, Radley, das soviel besser wäre? Sagen Sie uns, was Sie vorschlagen.« Die Menge wandte sich um, alle Augen waren neugierig auf ihn gerichtet, bereit, auch ihn niederzumachen. »Die Iren sind schuld!« rief eine Frau mit gerötetem Gesicht. »Die sind schuld - ihr werdet schon noch sehen!« »Unsinn!« widersprach ihr ein schwarzhaariger Mann verächtlich. »Die Juden sind's.« »Hängt sie auf!« schrie ein Mann und hob den Arm. »Hängt sie alle auf!« »Die sollten die Deportation wieder einführen!« rief eine andere Stimme. »Sollen sie doch alle nach Australien schicken! Wir hätten die Deportationen nie abschaffen sollen - das war unser Fehler!« »Man kann leider gar nichts tun, wenn man ihrer nicht habhaft wird», berichtigte Jack. »Meine Forderung ist eine besser ausgebildete Polizei, Männer mit dem für ihre Aufgabe notwendigen Training, nicht Gentlemen mit guten Manieren und teuren Kleidern, die einen Dieb auch dann nicht schnappen würden, wenn sie im selben Zimmer mit ihm eingeschlossen wären.« »Ja, genau! Richtig!« rief jemand. Eine dünne Frau in Grau winkte zustimmend. Ein untersetzter Mann mit einem gezwirbelten Schnäuzer pfiff und spottete: »Was haben Sie denn gegen Gentlemen? Sind Sie etwa Anarchist, he? Sind Sie einer von denen, die die Königin abschaffen wollen?» »Auf gar keinen Fall«, erwiderte Jack und bemühte sich, gelassen zu klingen. »Ich bin ein loyaler Untertan der Königin. Und ich schätze auch Gentlemen - einige meiner besten Freunde sind Gentlemen. Manchmal bin ich sogar selber einer.« Aufbrausendes Gelächter.
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»Aber ich bin kein Polizist«, fuhr er fort. »Ich habe nicht die Fähigkeiten dazu und weiß das auch. Und den meisten anderen Gentlemen geht es ebenso.« »Sogar manche von unsern Polizisten haben keine«, rief der Pastetenverkäufer und erntete erneutes Gelächter. »Wer ist denn der Schlächter vom Hyde Park? Warum schnappen sie ihn nicht?« »Sie werden ihn schnappen!« rief Jack spontan. »Mit dem Fall ist ein erstklassiger Polizist betraut, und wenn das Innenministerium ihn unterstützt, statt seine Arbeit zu behindern, wird er ihn dingfest machen.« Kaum hatte er die Worte gesagt, bereute er sie auch schon. Emily spürte das, aber es war zu spät. Einige Zuhörer äußerten ihre Bedenken, ein oder zwei wandten sich wieder Uttley zu. »Oberinspektor Pitt«, sagte Uttley mit einem höhnischen Lächeln. »Der Sohn eines Waldhüters. Ich weiß, warum Mr. Radley solches Vertrauen zu ihm hat - er ist sein Schwager! Wissen Sie etwas, das der Öffentlichkeit vorenthalten wurde, Radley? Geheime Informationen vielleicht? Was tut die Polizei? Was tut Pitt?« Mißtrauisch wandte sich die Menge jetzt Jack zu. Das Wohlwollen war verschwunden, die Stimmung war erneut umgeschlagen. »Ich weiß, daß er ein ausgezeichneter Polizist ist und sein Möglichstes tut«, rief Jack. »Und wenn ihm vom Innenministerium und der Regierung nicht lauter Stolpersteine in den Weg gelegt würden, weil die ihre eigenen Leute schützen wollen, dann wird er den Schlächter schon fassen.« Ein ärgerliches Murmeln war zu hören, und wieder richtete sich der Unmut der Menschen gegen Uttley. »Genau!« ließ sich ein dicker Mann mit kräftiger Stimme vernehmen. »Wir wolln 'ne richtige Polizei, nich so 'ne Trottel mit schicken Klamotten, die sich ihre Hände nich schmutzig machen wolln.« »Richtig«, stimmte die Frau, mit dem Pfefferminzwasser ihm zu. »Die müssen weg, die wo nur ihre eigenen Be-
sitztümer schützen. Vielleich is dieser Schlächter gar kein Verrückter nich. Vielleich is es einer von diesen feinen Herrn, die 'ne persönliche Fehde mit einem von ihrer Sorte ham.« »Vielleicht war es ein Perverser, der sich 'ne Frau geholt hat und dann von ihrem Zuhälter umgebracht wurde, weil er was ganz Schlimmes mit ihr gemacht hat.« Uttley wollte diese Idee weit von sich weisen, blickte aber in ihre Gesichter und ließ es bleiben. »Es ist unsere Polizei, und dies ist unsere Stadt«, sagte Jack schließlich. »Wir sollten sie unterstützen, dann werden sie den Mörder auch fassen, ob er nun ein Gentleman ist oder ein Verrückter - oder beides.« Die Leute applaudierten und zerstreuten sich dann nach und nach. Uttley sprang vom Trittbrett seiner Kutsche, von wo aus er zu der Menge gesprochen hatte, und kam auf Jack und Emily zu. Seine Augen waren zusammengekniffen, seine Kiefermuskeln angespannt. »Das war billig«, preßte er zwischen den Zähnen hervor. »Ein halbes Dutzend Männer, die das Wahlrecht haben, der Rest zählt ja nicht.« »Wenn sie nicht zählen, warum haben Sie dann hier gesprochen?« fragte Emily, ohne nachzudenken. Uttley funkelte sie an. »Es geht hier um Fragen, Madam, von denen Sie nichts verstehen.« Er sah Jack unverwandt an. »Aber Sie verstehen das, Radley. Sie wissen, wer auf meiner Seite ist ... und wer auf Ihrer.« Er brachte ein kleines Lächeln zustande. »Letztes Mal haben Sie einen schwerwiegenden Fehler gemacht, und das wird gegen Sie sprechen. Sie haben sich Feinde gemacht. Das reicht, Sie werden schon sehen.« Damit drehte er sich um, ging zu seiner Kutsche und schwang sich mit einem Satz hinein. Er rief dem Kutscher eine Anweisung zu, worauf die Peitsche über den Rücken der Pferde knallte und diese sich sofort in Bewegung setzten. »Er meint den Inneren Kreis, hab' ich recht?« fragte Emily mit einem kleinen Zittern, als wäre die Sonne hinter Wolken verschwunden, obwohl sie weiterhin von einem
klaren Himmel schien. »Hat das wirklich einen so großen Einfluß?« »Das weiß ich nicht«, erwiderte Jack ehrlich. »Aber wenn ja, dann ist es ein schwarzer Tag für England.« Charlotte hatte, nachdem Pitt zur Arbeit gegangen war, den Frühstückstisch abgeräumt. Daniel und Jemima machten sich für die Schule fertig, und Gracie stand am Spülstein. Der fünfjährige Daniel schien plötzlich von heftigem Husten geschüttelt. Als keiner ihm Beachtung schenkte, weil Charlotte das Haar der sieben Jahre alten Jemima kämmte, hustete er erneut. »Daniel hat Husten«, half Jemima nach. »Das stimmt«, sagte Daniel und unterstrich den Tatbestand mit einem neuerlichen Hustenanfall. »Hör auf damit, sonst hast du gleich wirklich Halskratzen«, sagte Charlotte ohne jedes Mitleid. »Hab' ich schon«, sagte er, nickte mit dem Kopf und sah sie aus klaren Augen an. Sie lächelte. »Ja, mein Süßer, und ich vermute, daß du heute auch Rechnen hast, stimmt das?« Er hatte noch nicht gelernt, solche Fragen zu umgehen. »Ich glaube, es geht mir nicht so gut, daß ich zum Rechnen gehen kann«, sagte er offen. Die Sonnenstrahlen tanzten auf seinem hellen Haar, in dem dieselben Kupfertöne aufleuchteten wie in ihrem. »Es wird dir bestimmt bald bessergehen«, sagte sie fröhlich. Das Strahlen erlosch. »Andererseits«, fuhr sie fort und faßte Jemimas Zopf mit einem Band zusammen, »wenn es dir wirklich schlechtgeht, solltest du vielleicht besser zu Hause bleiben ...« »Ja!« sagte er spontan. »... und dich ins Bett legen«, schloß sie. »Morgen werden wir dann sehen, ob du wieder aufstehen kannst. Gracie macht dir eine heiße Brühe und vielleicht ein bißchen Haferschleim.«
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Auf Daniels Gesicht zeichnete sich Entsetzen ab. »Das Rechnen kannst du ja nachholen, wenn es dir wieder bessergeht«, fügte Charlotte unbarmherzig hinzu. »Jemima kann dir helfen.« »Das kann ich«, mischte sich Jemima ein. »Zusammenzählen und abziehen kann ich.« »Vielleicht schaffe ich es doch«, sagte Daniel bedächtig und warf Jemima einen bösen Blick zu. »Ich werde es versuchen.« Charlotte lächelte ihn strahlend an. Sie legte ihm die Hand auf den Kopf und fühlte sein weiches Haar. »Das dachte ich mir doch.« Als sie gegangen waren und Gracie mit dem Abwasch fertig war, wandte Charlotte sich den Aufgaben des Tages zu. Mehrere Kleidungsstücke mußten mit besonderer Sorgfalt gereinigt werden, darunter eins von Pitts Hemden, auf dem einige Blutstropfen von einer kleinen Wunde waren, die er sich beim Rasieren zugezogen hatte. Ein bißchen Stärke, die als Paste aufgetragen und nach dem Trocknen abgebürstet wurde, würde das beheben. Hochprozentiger Alkohol, in Kampfer gelöst, würde den Ölflecken auf seinem Jacket entfernen. Bei Fett wäre allerdings Chloroform besser. Sie würde genau überprüfen, ob es nun Öl oder Fett war. Die schwarze Spitze an dem Kleid, das sie zu Captain Winthrops Totenmesse getragen hatte, sah etwas mitgenommen aus. Darum würde sie sich kümmern müssen, bevor sie das Kleid zurückbrachte. Sie konnte dafür Alkohol und Borax verwenden. Allerdings wollte sie keine Rindergalle beim Fleischer holen lassen, die, in warmes Wasser gelegt, offenbar am besten wirkte. Sie mußte auch noch Federn kräuseln, was eine Katastrophe war, wenn man es mit der Lockenschere probierte. Ein Messer mit Elfenbeingriff eignete sich viel besser dazu. Es war eine mühsame Arbeit, aber notwendig, wenn sie auch in Zukunft die teuren und modisch hochaktuellen Kleider ihrer Schwester ausborgen wollte. Sie durfte auch die schwarzen Lederhandschuhe nicht vergessen, die sie erst mit Apfelsinenschale und dann mit Salatöl einreiben würde.
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»Gracie«, sagte sie und merkte, daß die mit ihren Gedanken ganz woanders war. »Gracie?« »Ja, Madam?« Gracie wandte sich mit rotem Gesicht von dem Geschirrschrank ab, den sie angestarrt hatte. »Was ist los?« fragte Charlotte. »Nichts, Madam«, sagte Gracie rasch. »Gut. Dann mach die Bügeleisen heiß, und ich fange schon mal mit der Spitze an. Ich denke, du könntest dir das Hemd deines Herrn vornehmen und die Blutflecken entfernen - du weißt ja, wie.« »Ja, Madam.« Folgsam holte Gracie die Bügeleisen hervor und setzte sie auf den Herd. Charlotte ging nach oben, um die Federn zu holen, und brachte auf dem Weg nach unten gleich ein Messer mit Elfenbeingriff mit. Sie hatte nur zwei solche Messer: eins war ein Buttermesser und zu klein, das andere ein Kuchenmesser von genau der richtigen Größe. »Madam?« hob Gracie an. »Ja?« »Ach - nee - is schon gut.« Sie benetzte das Hemd mit einer guten Portion Alkohol, um mit der Reinigung zu beginnen. Vorsichtig fing Charlotte an, die Federn zu kräuseln, als ihr auffiel, daß Gracie den Alkohol auf die Blutflecken und nicht auf die Fettflecken gesprenkelt und den Kampfer ganz weggelassen hatte. »Gracie! Was ist heute morgen mit dir los? Irgendwas stimmt doch nicht. Erzähl es mir lieber, bevor du ein Unheil anrichtest.« Gracies Wangen waren hochrot, ihre Augen blickten ängstlich, und ihr Gesicht war angespannt. Doch sie fand noch nicht die richtigen Worte. Charlotte spürte auch in sich Furcht aufwallen. Sie mochte Gracie sehr gerne, vielleicht war ihr bisher nie bewußt geworden, wie sehr. »Was ist los?» fragte Charlotte mit mehr Schärfe in der Stimme, als sie beabsichtigt hatte. »Bist du krank?« »Nein.« Gracie biß sich auf die Lippen. »Ich weiß was über 'nen Herrn, der in den Park geht, um sich ein Mädchen
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zu holen.« Sie schluckte. »Neulich hab' ich ma mit einer dieser Frauen da gesprochen.» Das Schuldbewußtsein stand ihr ins Gesicht geschrieben. Gewissermaßen log sie ja, was sie zutiefst verabscheute. »Und die hat gesagt, daß es da einen Herrn gibt, der die Mädchen gerne schlägt, un zwar richtig doll. Ich könnt mir denken, daß es der Captain Winthrop war. Sie hat nämlich gesagt, daß er groß is. Un vielleicht war es ein Macker, der sich an ihm gerächt hat. Un der andere Herr hat es vielleicht gewußt. Daß er ihn gesehn hat oder so. Un deswegen is er auch umgebracht worden.« Einen Moment lang schien das, was Gracie erzählte, völlig plausibel, so daß Charlottes Hoffnung stieg. »Das könnte sein«, stimmte sie zu. »Das könnte gut sein.« Gracie lächelte flüchtig. Dann erkannte Charlotte die Tragweite dessen, was Gracie gesagt hatte. »Gracie! Du warst wieder unterwegs und hast Nachforschungen angestellt. Stimmt das?« Gracie senkte ihren Blick und starrte, in Erwartung eines Donnerwetters, unglücklich auf den Boden. »Du bist nachts in den Park gegangen, um dort mit den Frauen zu sprechen, stimmt's?« Gracie leugnete nicht. »Du dummes Mädchen!« brach es aus Charlotte heraus. »Weißt du nicht, was dir hätte passieren können?« »Der Herr wird doch rausgeschmissen, wenn er den Schlächter nich faßt.« Sie hob den Blick immer noch nicht. Charlotte war plötzlich voller Unruhe, wenn nun das, was Gracie berichtete, stimmte. Dann spürte sie Schuldgefühle, weil sie Gracie häufig allein ließ. »Ich könnte dich auch schlagen, weil du dich solchen Gefahren aussetzt«, sagte sie aufgebracht und schluckte. »Und das werde ich auch, das schwöre ich, wenn du so etwas noch einmal tust! Wie um alles in der Welt soll ich es denn deinem Herrn erzählen, ohne ihm zu sagen, wie du es herausgefunden hast? Weißt du darauf eine Antwort?«
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Gracie schüttelte den Kopf. »Ich werde mir etwas sehr Schlaues einfallen lassen müssen.« Gracie nickte. »Steh da nicht sprachlos und nickend rum. Du solltest auch nachdenken. Und sieh zu, daß du die Flecken aus dem Ärmel bekommst. Wenigstens seine Kleider sollten tipptopp in Ordnung sein.« »Ja, Madam.« Gracie hob den Kopf und lächelte zaghaft. Charlotte erwiderte das Lächeln. Auch ihres sollte ein nur angedeutetes sein, endete aber als breites, verschwörerisches Grinsen. Charlotte verbrachte den Nachmittag im neuen Haus. Jeden Tag schien eine neue Katastrophe hereinzubrechen, oder eine wichtige Entscheidung mußte getroffen werden. Der Maurer lief mit ständig besorgter Miene umher, schüttelte voller Zweifel den Kopf und biß sich auf die Lippen, bevor sie auch nur ihre Fragen stellen konnte. Sie hatte sich jedoch ein ausgezeichnetes Handbuch von Young & Marten über Hausbau, Innenausstattung und Materialbeschaffung zugelegt und konnte so seinen Einwänden mit fundierten Argumenten begegnen, wodurch sie nach und nach seinen widerwilligen Respekt gewann. Das größte Problem bestand in dem Wettlauf gegen die Zeit. Das Haus in Bloomsbury war verkauft, und sie mußten innerhalb von vier Wochen ausziehen, während sie in das neue Haus noch längst nicht einziehen konnten. Die meisten Bauarbeiten waren ausgeführt, ebenso Tante Vespasias Anordnungen, so daß jetzt das alte Gesims durch ein tadelloses neues ersetzt worden war. In der Mitte der Decke prangte sogar eine neue Stuckrosette. Doch bisher waren die Wände weder tapeziert noch gestrichen, und die Frage des Bodenbelags war noch nicht einmal erwähnt worden. Entscheidungen warteten auf sie in jeder Ecke. Als sie mit Emily darüber gesprochen hatte, schien sich Charlotte über die Farbe für jedes Zimmer im klaren. Doch als sie dann Tapeten und Farbe einkaufen wollte, war sie
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plötzlich sehr verunsichert. Und wenn sie ehrlich sein sollte, so widmete sie den Fragen nicht ihre ganze Aufmerksamkeit. Immer wieder drängten sich ihr die Schlagzeilen der Zeitungen auf, in denen die Polizei im allgemeinen und der Mann, der mit dem Fall des Schlächters vom Hyde Park betraut war, im besonderen kritisiert wurden. Das war eine uferlose Ungerechtigkeit. Pitt erntete den Unmut, den die Whitechapel-Morde und die Unruhen in Irland ausgelöst hatten. Dazu kam ein Dutzend anderer Dinge, wie die allgemeine Beunruhigung aufgrund politischer Veränderungen, die zunehmende Armut, Anarchismus-Theorien, die vom Kontinent herüberkamen, sowie Dissens im eigenen Lande. Die Monarchie war ins Gerede gekommen, die Königin war alt und bitter und hatte sich in einen Zustand der fortwährenden Trauer zurückgezogen, und der Thronfolger verschwendete seine Zeit und sein Geld mit Kartenspielen, Pferderennen und Frauen. Kopflose Leichen waren lediglich der Brennpunkt für die Wut und die Angst, die sich Bahn brachen. Möglicherweise gelang es, sich mit diesen Gedanken das Gewissen zu erleichtern, aber sie nützten nichts zur Verteidigung. Thomas war einfach zu neu in seiner Stellung. Micah Drummond hätte das verstanden; er war ein Gentleman und Mitglied des Inneren Kreises, bis er sich, im vollen Bewußtsein des Risikos, davon lossagte. Er war auch persönlich mit vielen befreundet, die einen ähnlichen Rang bekleideten oder Vorgesetzte waren. Thomas war nichts von alledem, würde es auch nie sein. Er mußte sich Schritt für Schritt emporarbeiten - und würde immer wieder Beweise seines Könnens erbringen müssen. Sie blickte durch den Raum, konnte sich aber nicht konzentrieren. Würde Grün hier wirklich gut aussehen? Oder wäre es doch zu kühl? Wen konnte sie um eine Meinung bitten? Caroline war mit Joshua beschäftigt, außerdem wollte Charlotte sie nicht unbedingt sehen und an dieses Problem erinnert werden. Emily hatte genügend mit Jack und den politischen Fragen zu tun, da die Wahl kurz bevorstand.
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Pitt arbeitete so viel, daß sie ihn immer nur kurz sah, wenn er abends müde, hungrig und erschöpft nach Hause kam. Heute abend würde sie einmal länger mit ihm sprechen müssen, um ihm Gracies Neuigkeiten mitzuteilen. Erst mußte sie allerdings entscheiden, wie sie das tun wollte. Doch mit den Problemen, das Haus betreffend, wollte sie ihn nicht behelligen - selbst wenn er eine Vorstellung über die Farbe eines Zimmers hätte. Seitdem sie verheiratet waren, hatte ihm ein Zimmer entweder gefallen oder nicht, darüber hinaus hatte er keine Meinung geäußert. Plötzlich erinnerte sie sich an ein Bruchstück aus einer Unterhaltung bei der Totenmesse für Oakley Winthrop. Sie hatte mit Mina Winthrop über Innenausstattung gesprochen. Es war eigentlich nicht ihre Absicht gewesen, aber offenbar interessierte Mina sich dafür und hatte auch einiges Geschick in diesen Dingen. Sie würde also Mina fragen. Das wäre in zweierlei Hinsicht sinnvoll: einmal um die recht unwichtige Frage zu entscheiden, ob sie für das Zimmer Grün wählen sollte oder nicht; zum anderen - was viel wichtiger war - würde sie damit Thomas helfen können. Nachdem Gracie diese Entdeckung gemacht hatte, war es wichtig, mehr über den Captain und, wenn möglich, seine Gewohnheiten zu erfahren. Sie überdachte die Entscheidung nicht länger, sie war getroffen. Eigentlich war sie nicht angemessen gekleidet, um einen Besuch zu machen, doch es schien ihr eine zu große Zeitverschwendung, nach Bloomsbury zurückzukehren, um sich umzuziehen, und dann mit dem Omnibus in die Curzon Street zu fahren. Eine Droschke zu nehmen, wäre eine unnötige Ausgabe. Allerdings wusch sie sich das Gesicht und richtete sich die Haare, bevor sie auf die Straße trat und mit schnellem Schritt zur nächsten Omnibushaltestelle ging. Sie machte sich die Dreistigkeit ihres Handelns erst bewußt, als sie schon vor der Tür des Hauses des verstorbenen Captain Winthrop stand, die herabgelassenen Jalousien und den dunklen Kranz an der Tür sah, und sich überlegte, was sie um Himmels willen sagen sollte.
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»Ja bitte, Madam?« sagte das Dienstmädchen fast im Flüsterton. »Guten Tag«, erwiderte Charlotte und spürte, daß ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Mrs. Winthrop war so freundlich, mir vor ein paar Tagen einige sehr nützliche Ratschläge zu erteilen. Jetzt möchte ich sie erneut um Rat bitten und würde gerne fragen, ob sie ein paar Minuten ihrer Zeit erübrigen könnte. Ich verstehe nur zu gut, wenn es ihr ungelegen kommt. Es tut mir sehr leid, daß ich ohne Ankündigung einen Besuch abstatte. Mrs. Winthrop war so freundlich, daß ich jetzt die Regeln der Höflichkeit über Bord geworfen habe.« »Ich werde Sie melden, Madam«, sagte das Dienstmädchen zweifelnd. »Ich kann Ihnen aber nichts versprechen, da wir ja Trauer haben.« »Natürlich, das verstehe ich,« erklärte Charlotte. »Wen soll ich bitte melden, Madam?« »Oh - Mrs. Pitt. Ich war bei der Totenmesse für Captain Winthrop, zusammen mit Lady Vespasia Cumming-Gould.« »Sehr wohl, Madam. Wenn Sie bitte hier warten wollen, dann frage ich.« Sie ließ Charlotte in der Eingangshalle zurück und eilte davon. Nach nur wenigen Augenblicken kehrte nicht das Dienstmädchen zurück, sondern Mina selbst, die dasselbe schwarze Kleid mit dem hohen Kragen und den spitzenbesetzten Manschetten trug. Sie war so groß wie Charlotte, aber schlanker, fast mädchenhaft mit der zarten Haut und dem langen Hals. Sie sah müde aus, und ihre Augen waren verquollen, als hätte sie in der Abgeschiedenheit ihres Zimmer bis zur Erschöpfung geweint, doch ihr Gesicht war voller Freude bei Charlottes Anblick. »Wie freundlich von Ihnen, mich zu besuchen«, sagte sie sofort. »Sie können ja nicht ahnen, wie einsam es ist, tagein, tagaus hier zu sitzen, und außer bei Kondolenzbesuchen keine Menschenseele zu sehen. Und es schickt sich nicht für mich auszugehen.« Sie lächelte ein wenig verlegen und etwas beschämt und suchte in Charlottes Augen
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Verständnis. »Vielleicht sollte ich so nicht denken und schon gar nicht darüber sprechen, aber die Trauer wird nicht leichter, wenn man allein in einem dunklen Haus sitzt.« »Das kann ich gut verstehen«, pflichtete Charlotte ihr erleichtert bei. »Ich wünschte, es wäre gesellschaftlich akzeptabel, daß Menschen mit ihrer Trauer so umgehen könnten, wie es für sie am besten ist. Aber wahrscheinlich wird das nie so sein.« »Oh, das wäre ein Wunder«, sagte Mina rasch. »Ich würde mir gar nichts wünschen, was derartig undenkbar ist. Aber ich freue mich, daß Sie zu mir gekommen sind. Kommen Sie doch bitte in den Salon.« Sie ging voran. »Da ist es sonnig, und ich weigere mich, die Vorhänge vorzuziehen, es sei denn, meine Schwiegermutter käme zu Besuch, doch das ist recht unwahrscheinlich.« »Ja, gerne. Es muß ein schöner Raum sein.« Charlotte nahm das Angebot an und folgte Mina durch die Halle in einen Flur. Sie bemerkte, daß Mina sich sehr aufrecht hielt, fast als wäre sie zu steif, sich zu beugen. »Ganz ähnlich ist auch die Frage gelagert, in der ich Ihren Rat suche.« »Wahrhaftig?« Sie waren im Salon angekommen, einem sehr wohnlichen Raum, von den Strahlen der Nachmittagssonne durchflutet. »Bitte sagen Sie mir, wie ich Ihnen behilflich sein kann. Möchten Sie eine Tasse Tee, während wir uns unterhalten?« »Oh, ja, das ist eine gute Idee.« Einerseits hatte Charlotte nach ihrer Omnibusfahrt tatsächlich das Bedürfnis nach einer Erfrischung, andererseits bot sich ihr so die Möglichkeit, länger zu bleiben, ohne einen Vorwand suchen zu müssen. Sofort zog Mina an der Glocke und bestellte Tee, Sandwiches, Kuchen und Kekse. Nachdem das Mädchen wieder gegangen war, setzte Mina sich zurecht und widmete Charlotte ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie saß auf der vorderen Kante des Stuhls, hatte die Hände, die von der Spitze fast bedeckt waren, in ihrem Schoß gefaltet, und blickte Charlotte interessiert an.
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Charlotte war sich der Tragödie, die das Haus heimgesucht hatte, der unnatürlichen Stille, der Beherrschung, die Minas Anspannung kaum überdeckte, überaus bewußt. Dennoch begann sie zu erklären, daß sie einen Umzug plante, und erzählte von den vielen Dingen, die zuvor noch zu erledigen waren. »Ich konnte mich einfach nicht entscheiden, ob der Raum zu kalt wirken würde, wenn ich ihn grün tapeziere«, endete sie. »Was meint Ihr Mann dazu?« fragte Mina. »Oh, nichts. Ich habe ihn noch nicht gefragt«, erwiderte Charlotte. »Ich glaube nicht, daß er sich im voraus darüber Gedanken macht. Er wird erst hinterher etwas sagen, wenn es ihm nicht gefällt, und wahrscheinlich weiß er dann nicht einmal, warum es ihm nicht gefällt.« Mina zuckte kaum merklich die Achseln. »Mein Mann hatte ganz entschiedene Ansichten. Ich mußte sehr vorsichtig sein, wenn ich etwas verändern wollte.« Ein schuldbewußter Ausdruck trat plötzlich in ihr Gesicht. »Ich fürchte, mein Geschmack war manchmal ordinär.« »Das glaube ich nicht«, widersprach Charlotte. »Vielleicht wollte er nur sagen, daß sein eigener Geschmack sehr traditionell war. Manche Männer mögen keinerlei Veränderung, selbst wenn es eine deutliche Verbesserung ist.« »Es ist sehr freundlich von Ihnen, das zu sagen, doch ich bin sicher, daß der Fehler bei mir lag. Einmal, als er auf See war, ließ ich das Frühstückszimmer neu streichen. Ich hätte es nicht ohne seine Einwilligung tun sollen. Er war sehr aufgebracht, als er nach Hause kam und es sah.« »Hatten Sie viel verändert?« fragte Charlotte, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie das Thema weiter verfolgen sollte, da es doch schmerzlich schien. Sich an einen Streit zu erinnern, der vielleicht nie beigelegt wurde, nachdem der Partner verstorben und eine Versöhnung nicht mehr möglich war, mußte besonders schmerzlich sein. Sie wollte Trost spenden, wußte aber nicht, wie. »Ich fürchte schon«, sagte Mina leise. Die Erinnerung war sehr deutlich und schien statt des Schmerzes Freude
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zurückzubringen. »Ich hatte ein warmes Gelb gewählt. Der Raum sah aus, als sei er voller Sonnenlicht. Ich mochte es sehr.« »Es klingt sehr hübsch«, sagte Charlotte offenherzig. »Aber es klingt, als sei der Raum nicht mehr gelb. Bestand Ihr Mann darauf, daß Sie ihn wieder in die alte Form brachten?« »Ja.« Einen Moment wandte Mina das Gesicht ab. »Seiner Meinung nach war es ordinär, weil alles in verschiedenen Farbtönen einer Grundfarbe gehalten war. Außer den Möbeln natürlich. Die waren aus Mahagoni. Aber« - sie biß sich auf die Lippen, als ob sie sich heute noch dafür entschuldigen müßte - »es ist immer noch so. Oakley verschloß das Zimmer und wollte, daß wir es erst dann benutzen, wenn es wieder in seinem früheren Zustand sei. Möchten Sie es sehen?« »Sehr gerne.« Charlotte erhob sich sofort. »Ich würde es liebend gern sehen.« Sie wollte einerseits einfach das Zimmer sehen, und andererseits wollte sie sich ein Bild davon machen, was Oakley Winthrop so tadelnswert erschienen war, daß er einen Streit vom Zaun gebrochen hatte, der nicht beigelegt worden war. Mina führte sie aus dem Salon zurück durch den Flur und die Eingangshalle in die andere Richtung. Die Tür zum Frühstückszimmer war nicht verschlossen. Mina öffnete sie und trat einen Schritt zurück. Charlotte sah an ihr vorbei und erblickte einen Raum, wie sie ihn bezaubernder nur selten zuvor gesehen hatte. Wie Mina gesagt hatte, schien er von Sonnenlicht durchflutet, doch das allein war es nicht. Der Raum strahlte Großzügigkeit und Anmut aus und eine Schlichtheit, die beruhigend und gleichzeitig sehr anheimelnd war. »Oh, Sie haben wirklich Talent«, sagte Charlotte spontan. »Es ist wunderschön.« Sie drehte sich zu Mina, die immer noch auf der Schwelle stand und sie erstaunt ansah. »Finden Sie?« fragte sie ungläubig, dann machte sich Freude in ihrem Ausdruck breit. »Meinen Sie wirklich?« »Ja, in der Tat«, antwortete Charlotte. »Ich hätte auch gerne einen solchen Raum. Wenn Sie das geschaffen haben,
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dann sind Sie eine Art Genie. Ich bin froh, daß ich Ihre Bekanntschaft gemacht habe, während mein Haus noch im Rohbau ist, denn wenn Sie es mir gestatten, dann möchte ich unbedingt auch ein gelbes Zimmer haben. Darf ich das? Würden Sie das als Kompliment und nicht als Unverschämtheit verstehen?« Mina strahlte vor Freude wie ein Kind, das unerwartet ein Geschenk bekommen hat. »Ich würde mich geschmeichelt fühlen, Mrs. Pitt. Denken Sie nicht einen Moment, daß ich Ihnen böse wäre. Etwas Netteres hätten Sie nicht sagen können.« Voller Erregung trat sie rückwärts aus dem Zimmer und drehte sich um, wobei sie das Dienstmädchen, das hinter ihr durch die Eingangshalle ging, nicht bemerkte. Charlotte wollte sie noch warnen, aber es war schon zu spät. Minas Hand prallte gegen die Teekanne, das Dienstmädchen schrie auf, ließ das Tablett zu Boden fallen, schrie ein zweites Mal auf und warf die Schürze vors Gesicht. Mina stieß einen Schmerzensschrei aus. Charlotte erkannte sofort, was geschehen war: Der heiße Tee hatte sich über Minas Handgelenk ergossen und feuchte Flecken auf ihrem Kleid hinterlassen. »Schnell!« Charlotte packte Mina ohne ein Wort der Erklärung oder Entschuldigung am Arm. »Wo ist die Küche?« »Da hinten.« Minas Blick deutete nach links, ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Das Dienstmädchen schrie noch immer, doch keiner beachtete es. Charlotte drängte Mina in die Richtung, doch dann hatte sie eine bessere Idee. Auf dem Tisch in der Eingangshalle stand eine Vase mit Lilien. Sie zerrte Mina dorthin, riß die Blumen aus der Vase und warf sie auf den Tisch, dann steckte sie Minas Hand in das kühlende Wasser. »Ah!« seufzte Mina erleichtert, und der schmerzerfüllte Ausdruck verschwand aus ihrem Gesicht. »Das tut gut.« Charlotte lächelte ihr zu, dann sah sie zu dem Dienstmädchen.
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»Hören Sie auf damit«, befahl sie ihm. »Keiner gibt Ihnen die Schuld. Es war ein Mißgeschick. Hören Sie jetzt auf, so zu schreien, und tun Sie etwas. Gehen Sie in die Küche und schicken Sie die Küchenmagd, damit sie hier aufwischt und kehrt. Dann bringen Sie einen Beutel Eis, ein in kaltes Wasser getauchtes Geschirrtuch und ein trockenes, und dazu Natriumlösung. Jetzt beeilen Sie sich.« »Ja, Miss. Sofort, Miss«, sagte das Mädchen und sah Charlotte aus tränenfeuchten Augen an, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Mach schon, Gwynneth«, forderte Mina sie auf, »tu, wie dir gesagt.« Als das Dienstmädchen verschwand, zog Charlotte Minas Hand aus dem Wasser. »Wir sollten ans Licht gehen, um uns den Schaden anzusehen.« Sie ging mit Mina in die Mitte der Halle und stellte sich unter den Kronleuchter, dessen Kerzen trotz des hellen Tages brannten, da die Fensterläden geschlossen waren. Ohne zu fragen, knöpfte sie die Spitzenmanschette auf und schob den Ärmel zurück. »Oh!« entfuhr es Mina. Auch Charlotte atmete tief ein, nicht wegen der verbrühten Haut, die sie zu sehen erwartet hatte, sondern wegen der gelben und violetten Blutergüsse und der Quetschungen, die wie Fingerabdrücke aussahen. Stellenweise war die Haut von dem heißen Tee auch rot gefärbt, aber die Verbrühung war längst nicht so schlimm, wie Charlotte befürchtet hatte. Brandblasen waren keine zu sehen. Mina stand reglos vor Schreck. Charlotte sah zu ihr auf, ihre Blicke trafen sich. Minas Wangen glühten, ihre Augen füllten sich mit einem Ausdruck von Scham und Schuld. »Brauchen Sie Hilfe?« fragte Charlotte schlicht. Ein Dutzend Fragen schössen ihr durch den Kopf, doch keine konnte sie stellen: Was war an dem dran, was Gracie im Park erfahren hatte, was bedeuteten Bart Mitchells Beschützerrolle und sein Zorn, weswegen stand Furcht in Minas Augen?
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»Hilfe? Nein ... nein. Ich ... es ist alles ...« Sie sprach nicht weiter. »Sind Sie sich ganz sicher?« Charlotte drängte es zu fragen, ob Captain Winthrop ihr das zugefügt hatte und ob Bart davon wußte - wann hatte er davon erfahren, vor Winthrops Tod oder danach? »Ja.« Mina schluckte ein paarmal und wandte den Blick ab. »Ja. Es ist nichts, danke. Es tut kaum weh.« Charlotte wußte nicht, ob sie die Verbrühung oder die Quetschungen meinte. Sie hätte sich gerne das andere Handgelenk angesehen, um festzustellen, ob es auch verletzt war. Auch den Hals und Nacken unter dem hohen Spitzenkragen sowie Schultern und Rücken hätte sie gerne gesehen. War das der Grund für ihre steifen Bewegungen? Aber sie konnte es nicht herausfinden, ohne zu aufdringlich zu sein und die zarten Anfänge einer Freundschaft abrupt zu beenden. »Vielleicht sollten Sie einen Arzt aufsuchen?« fragte sie besorgt. Mina legte die unverletzte Hand an den Hals und schüttelte den Kopf, während ihr Blick wieder den Charlottes traf. Die Offenheit war verschwunden, zunächst wenigstens. »Oh, nein. Ich denke - ich denke, es wird schnell heilen, danke.« Sie lächelte dünn. »Ihr schnelles Einschreiten hat mich vor Schlimmerem bewahrt. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar.« »Wäre ich nicht hier gewesen, um Ihr herrliches Frühstückszimmer zu bewundern, wäre es nicht geschehen«, sagte Charlotte und ließ sich auf das Spiel ein. »Meinen Sie nicht, Sie sollten sich eine Weile hinsetzen und einen Brandy zu sich nehmen? Es war ja schließlich ein sehr unangenehmes Erlebnis.« »Ja - ja, das scheint eine ausgezeichnete Idee«, stimmte Mina ihr zu. »Ich hoffe, Sie bleiben noch? Ich habe das Gefühl, eine schlechte Gastgeberin zu sein mit meiner Ungeschicklichkeit.« »Sehr gerne«, nahm Charlotte die Aufforderung an. Sie waren an der Tür zum Salon angelangt, als sich die Haustür öffnete und Bart Mitchell hereinkam. Sein Blick
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fiel erst auf Mina und ihre aufgeknöpfte Manschette, die offen am Ärmel baumelte, dann zu Charlotte, und sein Gesicht nahm einen sorgenvollen Ausdruck an. Seltsamerweise sagte er nichts. »Mrs. Pitt ist gekommen, um mich zu besuchen«, sagte Mina in die plötzliche Stille hinein. »War das nicht sehr freundlich von ihr?« »Guten Tag, Mrs. Pitt.« Bart sah Charlotte aus seinen blauen Augen an und musterte ihr Gesicht. Dann blickte er wieder zu Mina. »Ich habe mich verbrüht«, sagte Mina, als schulde sie ihm eine Erklärung. »Mrs. Pitt hat mir geholfen und ist gleich zugesprungen In diesem Moment erschien Gwynneth mit den Handtüchern, als wolle sie die Darstellung unterstützen. Sie sah Charlotte an. Mina hielt den Arm hoch, der jetzt wieder eine rosa Färbung da annahm, wo die Haut nicht schon von den Blutergüssen verfärbt war. »Lassen Sie mich helfen.« Bart ließ seinen Stock und Hut auf das Sofa fallen und eilte zu ihnen. Er ergriff das feuchte Tuch und hielt es auf die verletzte Stelle, während Charlotte das trockene Tuch darumwand. Seine Hände waren sonnengebräunt, schlank und kräftig, doch er berührte den Arm seiner Schwester so zart, als könne der unter dem geringsten Druck zerbrechen. »Danke, Mrs. Pitt«, sagte er schließlich, als das Tuch rutschfest saß. »Ich finde, Mrs. Winthrop sollte sich angesichts dieses unangenehmen Vorfalls eine Weile hinlegen. Sie ist nicht allzu kräftig ...» »Es ist nichts«, hob Mina an und brach dann mit angstvollem Ausdruck ab. Ihr Blick wanderte von Bart zu Charlotte. »Ich habe Mrs. Pitt noch nicht einmal Tee serviert«, sagte sie hilflos und klammerte sich an die Gepflogenheiten der Höflichkeit, während doch Dinge ganz anderen Ausmaßes ihre Gedanken beschäftigten. »Ich hatte ja den Tee umgestoßen.« »Ich werde mich darum kümmern, daß Mrs. Pitt Tee bekommt, meine Liebe«, antwortete Bart und sah sie durch-
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dringend an. »Lege du dich doch eine Weile hin. Der Verband hält auch viel besser, wenn der Arm auf einem Kissen liegt. Wenn du darauf bestehst, den Tee mit uns im Salon einzunehmen, lockerst du ihn nur.« »Du - du hast wahrscheinlich recht«, stimmte sie ihm zögernd zu, verließ aber nicht den Raum. Sie sah Bart an, dann Charlotte, das Gesicht voller Angst. »Sollten Sie nicht doch einen Arzt rufen lassen?« fragte Charlotte. »Nein - nein.« Bart schüttelte entschieden den Kopf. »Ich bin mir sicher, daß das nicht nötig ist. Sie scheinen die richtigen Maßnahmen ergriffen zu haben.« Ein Lächeln überzog sein Gesicht, so plötzlich und strahlend wie die Sonne im April. »Wenn sich Mina jetzt eine Weile hinlegt, werde ich Ihnen Tee servieren lassen. Kommen Sie doch bitte mit in den Salon.« Das Gebot der Höflichkeit verlangte es, der Einladung zu folgen, während Mina, ebenfalls folgsam, die Treppe hinaufging. Charlotte folgte Bart in den Salon und setzte sich auf den Platz, den er ihr anwies. Anscheinend hatte Gwynneth bereits begriffen, daß sie Tee bringen sollte, oder vielleicht brachte sie immer um diese Zeit den Tee, denn nach wenigen Augenblicken erschien sie mit einem Tablett, das sie vorsichtig vor sich her trug. Sie setzte es auf dem Tisch ab, knickste und verschwand eilig. Nachdem der Tee eingeschenkt und die Tassen gereicht waren, lehnte Bart sich zurück und betrachtete Charlotte mit wachen, intelligenten Augen. »Es ist eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit, jemandem in der Trauerzeit einen Besuch abzustatten.« Sie hatte erwartet, daß er etwas in dieser Richtung sagen würde. -Ich war selbst auch schon in Trauer, Mr. Mitchell«, erwiderte sie leichthin, »und fand es schwer zu ertragen, obwohl meine Mutter und meine Schwester bei mir waren. Nach nichts sehnte ich mich mehr als nach einer Unterhaltung, die nicht im Flüsterton gehalten wurde und auch
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nichts mit dem Verstorbenen zu tun hatte.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee. »Selbstverständlich konnte ich nicht wissen, ob Mrs. Winthrop ähnliche Gefühle hatte, aber es erschien mit nur natürlich, ihr die Gelegenheit zu geben, wenn sie sie zu ergreifen wünschte.« »Sie überraschen mich«, sagte er freimütig. Seine Miene war entspannt und freundlich, doch seine Augen ließen nicht einen Moment von ihr ab. »Mina war Oakley sehr zugetan. Ich glaube, manche Menschen verstehen nicht ganz, wieviel Mut es erfordert, nach außen diese Haltung zu bewahren.« War etwas von dem, was er sagte, gelogen? Sie zweifelte jetzt nicht mehr daran, daß er ihre blauen Flecken wenigstens teilweise gesehen hatte. Wie viele mehr gab es? Ahnte er es, oder wußte er es? »Jeder von uns findet seinen eigenen Weg, mit der Trauer zurechtzukommen.« Sie erwiderte sein Lächeln und überdeckte die Anspannung, die sie verspürte. »Für manchen ist es hilfreich, wieder das normale Leben aufzunehmen. Mrs. Winthrop hat mir ihr bezauberndes Frühstückszimmer gezeigt, das mir außerordentlich gut gefallen hat. Ich glaube, ich habe selten ein hübscheres Zimmer gesehen.« Seine Gesichtsmuskeln spannten sich an. »Das stimmt. Mina ist sehr begabt im Umgang mit Farben und Formen.« Er beobachtete sie genau, versuchte, ihre Reaktionen einzuschätzen und zu ergründen, warum sie das Thema angeschnitten hatte. »Ich bin mir sicher, auch Captain Winthrop hätte die Reize des Zimmers erkannt, wenn er sich an den neuen Anblick gewöhnt hätte«, sagte sie mit offenem Blick. Zwischen ihnen lag, unausgesprochen, aber fast greifbar, das Thema der Blutergüsse an Minas Handgelenken und ihre Demütigung und Verlegenheit. Was hatte sie ihm gesagt? Und ungleich viel wichtiger: Wann hatte sie etwas gesagt? Vor Winthrops Tod oder danach? Er wollte das Wort ergreifen, unterließ es dann aber. »Ich bin gerade mitten in einem Umzug«, sagte Charlotte, um das Schweigen zu durchbrechen. »Es ist unglaub-
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lieh anstrengend. Es gibt unzählige Kleinigkeiten, um die man sich kümmern muß.« »Sicherlich haben Sie einen Maurer, der Ihnen behilflich ist?« fragte er, den Blick immer noch unverwandt auf sie gerichtet. Die Unterhaltung war bedeutungslos, das wußten sie beide, aber über irgend etwas mußten sie reden. Welche Gedanken schössen ihm durch den Kopf? Sie lächelte. »Natürlich. Doch die Fragen der Innenausstattung überläßt er mir. Zur Zeit bin ich gespalten zwischen einer Farbe, die ich sehr gerne mag, und einer anderen, die sich vielleicht als praktischer erweist.« »Ein Konflikt«, stimmte er ihr zu. »Wissen Sie schon, wie Sie sich entscheiden werden?« Wieder entstand eine Stille zwischen ihnen. So lächerlich es auch schien, seine Frage schien noch eine weitere Bedeutung zu haben, eine, die nichts mit der Farbe zu tun hatte. Als ob er sie fragte, was sie hinsichtlich der Blutergüsse zu tun gedächte, die sie gesehen hatte - würde sie darüber berichten oder schweigen? Sie dachte einen Moment lang nach, bevor sie antwortete. Dann sah sie ihm mit großer Offenheit in seine bemerkenswert blauen Augen. »Wahrscheinlich werde ich meinen Mann befragen«, antwortete sie schließlich. Sein Gesicht verriet nichts. »Vermutlich hätte ich mir das denken sollen«, sagte er ohne jede Regung. Verschiedene Gefühle verwirrten Charlotte: Zorn auf Oakley Winthrop, weil er allem Anschein nach ein grober Mensch gewesen war und, wenn Gracie recht hatte, sogar ein Sadist; Mitleid für Mina, weil sie seine Grobheit erdulden mußte und jetzt in dem Schrecken lebte, daß Bart ihn möglicherweise umgebracht hatte und entdeckt werden konnte,- Angst um Bart und auch, da er ihr gegenübersaß, Angst um sich selbst. Das Schweigen wurde bedrückend. »Da es ja auch sein Zuhause ist, wäre das nur richtig«, sagte sie schwach.
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Ein winziges belustigtes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Entnehme ich Ihren Worten, Mrs. Pitt, daß Sie sich nicht unbedingt nach seiner Entscheidung richten würden?« »Ja - da haben Sie wahrscheinlich recht.« »Sie sind eine Frau mit einem bemerkenswerten Durchsetzungsvermögen, vielleicht auch Mut.« Sie erhob sich und setzte ein Lächeln auf. »Eigenschaften von fragwürdiger Attraktivität«, sagte sie leicht dahin. »Sie waren sehr freundlich, Mr. Mitchell, und großzügig in Ihrer Gastfreundschaft, besonders unter diesen schwierigen Bedingungen. Ich danke Ihnen.« Er erhob sich in einem Schwung und machte eine kleine Verbeugung. »Ich danke Ihnen, daß Sie meiner Schwester die Freundschaft angeboten haben - sehr einfühlsam und verständnisvoll, in dieser schweren Zeit.« »Ich freue mich darauf«, erwiderte sie neutral und neigte ihren Kopf. Er begleitete sie zur Tür. Das Dienstmädchen öffnete sie und reichte ihr ihren Umhang. Charlotte verließ das Haus und ging schnellen Schrittes die Curzon Street entlang zur Omnibushaltestelle. In ihrem Kopf wirbelten die Fragen umher. Charlotte wartete ungeduldig auf Pitt, der spät nach Hause kam. Gracie war bereits zu Bett gegangen, und Daniel und Jemima schliefen schon längst. Sie war so rastlos, daß sie sich nicht zu einer nützlichen Tätigkeit hinsetzen konnte. Die Stopfwäsche, deren sie sich hätte annehmen sollen, lag unbeachtet im Nähkasten. Sie hätte auch Briefe schreiben können. Statt dessen machte sie sich in der Küche zu schaffen, räumte Dinge beiseite, rückte andere zurecht, säuberte halbherzig den Herd, füllte Gläser um, ließ die Teedose fallen und verschüttete den Inhalt auf dem Küchenboden. Keiner sah, wie sie die Teeblätter hastig zusammenfegte und wieder in die Dose füllte. Der Boden war sauber ge-
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scheuert, und der Tee würde ohnehin mit kochendem Wasser überbrüht. Als sie schließlich den Schlüssel in der Tür hörte, strich sie das Kleid zum wiederholten Male glatt, schob sich die Haare aus dem Gesicht und lief in den Flur, um Thomas zu begrüßen. Im ersten Moment erschrak er und dachte, etwas Schlimmes sei geschehen, doch als er ihr Gesicht sah, war er erleichtert und umarmte sie fest, bis sie sich von ihm losmachte. »Thomas, heute habe ich etwas erfahren, das wirklich wichtig ist.« »Was mit dem Haus?« Er versuchte, interessiert zu klingen, doch sie hörte die Müdigkeit in seiner Stimme. »Nein, damit hat es überhaupt nichts zu tun«, stellte sie klar. »Ich habe Mina Winthrop besucht - eigentlich wollte ich mit ihr über die Tapeten im Eßzimmer sprechen.« »Was?« Er verstand nichts. »Was meinst du damit? Das ist doch Unsinn!« »Über die Farben«, sagte sie ungeduldig und führte ihn in die Küche. »Nicht wegen der Arbeiten an sich.« Er verstand kein Wort. »Wie sollte sie denn wissen, welche Farbe du wählen sollst?« »Sie hat ein gewisses Talent für solche Dinge.« »Woher willst du das wissen?« Er setzte sich an den Küchentisch. »Auf dem Boden liegen Teeblätter.« »Ich muß welche verschüttet haben«, sagte sie wegwerfend. »Bei der Totenmesse für Oakley Winthrop habe ich mit ihr darüber gesprochen. Und heute habe ich sie besucht - hör doch mal zu, Thomas. Es ist wirklich wichtig.« »Ich höre zu. Kannst du gleichzeitig das Wasser aufsetzen? Ich habe schon ewig keinen Tee mehr getrunken.« »Habe ich schon. Ich bin dabei, Tee zu machen. Möchtest du auch etwas essen?« „Nein, ich glaube, ich bin zu müde, um etwas zu essen.« Sie ließ Wasser in eine Schüssel, schüttete etwas hinein, das er nicht sehen konnte, und stellte sie vor ihm auf den Boden. »Füße her«, sagte sie leichthin.
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»Ich bin nicht mehr auf Streife«, antwortete er lächelnd »Hast du das vergessen? Ich bin jetzt Oberinspektor... Er beugte sich vor, band seine Stiefel auf und genoß das angenehme Gefühl, als er die Stiefel abstreifte. »Kriegen Oberinspektoren keine heißen Füße in ihren Stiefeln?« Er lächelte und ließ seine Füße vorsichtig in das kalte Wasser gleiten. »Was ist da drin?« »Bittersalz, wie immer. Mrs. Winthrop ist geschlagen worden. Und vielleicht war Oakley Winthrop ein Sadist, der Frauen geschlagen hat. Ich meine, Prostituierte und so.« »Was?« Er sah sie prüfend an. »Woher weißt du das? Hat sie es dir gesagt?« »Nein, natürlich nicht. Sie hat sich heißes Wasser über das Handgelenk gegossen, und ich habe ihre Manschette aufgeknöpft, um die Verletzung besser sehen zu können Sie hat überall blaue und grüne Flecken.« »Vielleicht ein Unfall...« »Glaube ich nicht. Man konnte Druckstellen sehen. Und ich bin mir fast sicher, daß sie am Hals auch blaue Flecken hat, und wer weiß, wie der Rest ihres Körpers aussieht. Deswegen trägt sie nämlich lange Manschetten und hohe Kragen: um die Blutergüsse zu verstecken.« »Das weißt du aber nicht.« »Und ob! Und außerdem bin ich mir fast sicher, daß Bart Mitchell es auch weiß.« »Wie?« »Weil ich mit ihr gesprochen und sie beobachtet habe. Sie hat sich über alle Maßen geschämt, es war ihr peinlich, und sie wollte mir nicht erzählen, wie es geschehen ist. Das hätte sie aber, wenn es normale Gründe gäbe. Ihr Mann hat das angerichtet, Thomas. Der gute Captain Winthrop hat seine Frau geschlagen.« »Wieso bist du dir so sicher, daß Mitchell davon weiß?« »Er hat die Blutergüsse auch gesehen und nichts gesagt. Wenn er nichts davon gewußt hätte, wäre er entsetzt gewesen und hätte gefragt, was geschehen sei.« »Vielleicht hat er sie geschlagen?«
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»Warum sollte er? Außerdem hat sie Angst um ihn, Thomas, da bin ich mir sicher. Sie befürchtet, daß er Winthrop umgebracht hat.« »Du meinst, du bist dir nicht sicher«, berichtigte er sie. »Man sagt immer, daß man sicher ist, wenn man seine Meinung äußert, sich aber nicht sicher ist. Das Wasser kocht.« »Da kann nichts passieren.« Sie winkte ab. »Thomas, Mina hat Angst, daß Bart Oakley Winthrop wegen seines Verhaltens ihr gegenüber, umgebracht hat.« »Verstehe«, sagte er nachdenklich. »Und wie bist du an die Information gekommen, daß es einen Mann gibt, der Prostituierte im Park schlägt? Das hat dir doch nicht Mina Winthrop erzählt, oder?« »Natürlich nicht.« »Wie also?« Sie atmete tief durch. »Thomas, sei bitte nicht böse - sie hat es nur getan, weil sie Angst um dich hat. Wenn du es ihr nicht nachsiehst und darüber Stillschweigen bewahrst, dann werde ich dir nie verzeihen.« »Was wirst du mir nicht verzeihen?« Er zog die Augenbrauen in die Höhe. »Wenn du ihr nicht verzeihst, natürlich!« »Wem? Emily etwa?« »Vielleicht sollte ich es lieber nicht sagen.« Ihr war es noch gar nicht in den Sinn gekommen, Emily die Sache in die Schuhe zu schieben, aber es war eine ausgezeichnete Idee. Für Emily war Thomas nicht verantwortlich. »Auf jeden Fall hat sie davon erfahren?« fragte er vorsichtig. »Darüber kannst du mir doch die Wahrheit sagen, oder?« »Sie ist nachts in den Park gegangen, und eine der Prostituierten hat ihr das erzählt. Ich meine, sie hat sich mit ihr unterhalten - ganz normal... » »Verstehe, ganz normal«, wiederholte er trocken. »Weiß Jack davon? Ich bezweifle, daß das seine politischen Chancen verbessern wird.« »Bestimmt nicht! Und du darfst ihm auch nichts erzählen!«
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»Ich würde nicht im Traum daran denken.« »Versprochen?« »Versprochen.« Er lächelte, wenngleich sein Vergnügen geteilt war. »Danke.« Sie wandte sich um und goß den Tee auf. Nachdem er einen Moment gezogen hatte, goß sie einen Becher von dem dampfenden Tee ein und brachte ihn Pitt. Sie sah ihm zu, während er die Füße aus dem Wasser zog, und reichte ihm das angewärmte Handtuch. »Danke«, sagte er nach einer Weile. »Für den Tee?« sagte sie ernst. »Oder das Handtuch?« »Für die Informationen. Arme Mina.« »Was wirst du jetzt tun?« »Jetzt werde ich meinen Tee trinken und dann ins Bett gehen. Ich kann heute abend nicht mehr klar denken.« »Entschuldigung. Ich hätte dich nicht damit überfallen sollen.« Er streckte sich und küßte sie. Für ein paar Augenblicke waren Mina Winthrop und ihr Unglück vergessen. Am folgenden Morgen steuerte Billy Sowerbutts seinen Karren entlang Knightsbridge auf den Hyde Park Corner zu, als er plötzlich anhalten mußte, weil der Verkehr vor ihm ins Stocken geraten war. Das ärgerte ihn; wenn er ehrlich war, dann regte ihn das geradezu auf. Wo lag der Sinn darin, früh aufzustehen, obwohl man sich am liebsten noch einmal umgedreht und weitergeschlafen hätte, wenn man dann sowieso den halben Morgen regungslos wie das NelsonDenkmal auf seinem Bock saß, bloß weil irgendein Idiot weiter vorne angehalten hatte und den ganzen Verkehr zum Erliegen brachte? Um ihn herum wurde gerufen und geflucht. Ein Pferd bäumte sich auf, zwei Karren verkeilten sich so ineinander, daß sie nicht mehr weiterkamen. Das war wirklich das Letzte. Billy Sowerbutts band sein Pferd am Geländer fest und sprang ab. Er marschierte an allen anderen Fahrzeugen vorbei zu der Kutsche, die den Verkehr behinderte. Seltsamerweise waren keine Pferde vorge-
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spannt, als hätte sie jemand hierher geschoben und stehengelassen, und zwar in einem solchen Winkel, daß das hintere Ende in die Fahrrinne hinausragte und den Verkehr blockierte. »Idiot!« sagte er heftig. »Welcher Trottel läßt denn 'nen Einspänner an so 'ner Stelle stehen? He! Was is los mit Ihnen? Halten Sie Ihr Nickerchen gefälligst woanders!« Er marschierte um den Einspänner herum und näherte sich der Gestalt, die unter alten Wolldecken lag. »He, aufgewacht, Sie Trottel, Sie! Raus jetzt! Sie halten den ganzen Verkehr auf!« Er beugte sich vor und packte den Mann an der Schulter. Seine Hand wurde feucht. In dem noch schwachen Tageslicht sah er etwas Dunkles an seiner Hand. Dann beugte er sich weiter nach vorn und betrachtete den Mann aus der Nähe. Der Kopf fehlte. »Jesus, Joseph und Maria!« entfuhr es ihm, bevor er in sich zusammensackte.
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6. Kapitel
P
itt saß an seinem Schreibtisch und starrte Tellman an. Er war benommen, als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt und der Schmerz würde erst langsam in sein Bewußtsein dringen. »Knightsbridge, direkt am Park«, wiederholte Tellman. »Ohne Kopf, natürlich.« An diesem Morgen war sein Ausdruck frei von innerem Triumph und Überheblichkeit. »Er treibt immer noch sein Unwesen, Mr. Pitt, und wir sind dem Schwein da draußen keinen Schritt näher gekommen.« »Wer ist der Ermordete?« fragte Pitt ganz langsam. »Wissen wir etwas über ihn?« »Das ist ja gerade das Merkwürdige«, sagte Tellman und verzog das Gesicht. »Es ist ein Omnibusschaffner.« Pitt schrak auf. »Ein Omnibusschaffner? Kein Mann von Stand?« »Eindeutig nicht. Einfach nur ein sehr gewöhnlicher, grundanständiger kleiner Omnibusschaffner«, wiederholte Tellman. »Auf dem Heimweg nach seiner letzten Runde oder genauer gesagt, nicht auf seinem Heimweg, das ist ja das Merkwürdige.« Er starrte Pitt an. »Er wohnt am Ende der Strecke, irgendwo in Shepherd's Bush. Das wissen wir von der Omnibusgesellschaft.« »Und was hat er in Knightsbridge in der Nähe vom Park gesucht?« Pitt stellte die daraus logisch folgende Frage: »Wurde er dort auch ermordet?« Es war Tellmans Gesicht deutlich anzusehen, daß er sich an frühere Unterhaltungen erinnerte, in denen Pitt hartnäckig nach dem Ort des Verbrechens gefragt hatte, während es ihm nicht gelungen war herauszubekommen, wo Arledge umgebracht worden war.
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»Nein - zumindest sieht es nicht so aus«, erwiderte er. »Man kann einem Mann nicht den Kopf abschlagen, ohne riesige Blutlachen zu hinterlassen, und in dem Einspänner, in dem er gefunden wurde, war kaum Blut.« »Einspänner? Was für ein Einspänner?« bohrte Pitt weiter. »Ein ganz normaler Einspänner, nur ohne Pferd«, gab Tellman zurück. »Was meinen Sie damit, ein Einspänner ohne Pferd?« Pitts Stimme wurde gegen seinen Willen schriller. »Entweder es ist ein Pferdefuhrwerk oder ein Karren, den man schiebt!« »Ich meine, das Pferd war nicht da«, sagte Tellman gereizt. »Es ist bisher noch nicht gefunden worden.« »Der Schlächter hat es ausgeschirrt?« »Scheint so.» »Was sonst noch?« Pitt lehnte sich zurück, obwohl an einem solchen Tag keine Position bequem sein würde. »Vermutlich haben Sie den Kopf, da Sie ja wissen, wer er war und wo er gelebt hat. Wurde er erst bewußtlos gemacht? Ich nehme an, er hatte nichts dabei, das zu rauben sich gelohnt hätte.« »Ja, es wurde ihm ein ziemlich heftiger Schlag versetzt, und dann ist ihm der Kopf sauber abgeschlagen worden. Viel besser als bei Arledge, dem armen Kerl. Er kam von der Arbeit, noch in Uniform. In der Tasche hatte er drei Schillinge und Sixpence, was ja normal scheint, und eine Uhr, die ungefähr fünf Pfund wert ist. Aber warum sollte sich jemand einen Omnibusschaffner als Raubopfer aussuchen?« »Das tut keiner«, gab Pitt unglücklich zurück. »Haben Sie die Familie schon aufgesucht?« Tellman kniff die Lippen zusammen. »Es ist erst halb neun.« Das »Sir« ließ er weg. »Le Grange ist auf dem Weg, um die Frau zu benachrichtigen. Kann mir kaum vorstellen, daß die uns viel helfen kann.« Er schob die Hände in die Taschen und starrte vor dem Schreibtisch stehend auf Pitt hinab. »Es muß ein Verrückter sein. Scheint, er greift einfach jeden an, wenn es ihn überkommt. Ist einfach keine Logik drin. Ich werde mir noch mal Bedlam vornehmen.
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Vielleicht haben sie einen zurückgewiesen oder vor einiger Zeit einen Irren entlassen ...» Doch in seinen dunklen, undurchdringlichen Augen flackerte keine Hoffnung, daß dieser Versuch ihn weiterbringen würde. Plötzlich brach es unkontrolliert aus ihm heraus. »Jemand muß ihn kennen!« Die Menschen in London begegnen sich mit Mißtrauen und schrecken vor Schatten zurück, keiner traut seinem Nachbarn über den Weg - aber jemand muß ihn kennen. Es muß jemand sein Gesicht nach einer Tat gesehen und gemerkt haben, daß etwas nicht stimmt. Jemand hat eine Waffe gesehen oder weiß von einer - es muß einfach so sein!« Pitt runzelte die Stirn, ging aber nicht auf Tellmans Ausbruch ein. Er wußte, daß es stimmte, er hatte die Angst in den Augen gesehen, hatte schrille Stimmen vernommen, hatte Mißtrauen, Schutzmaßnahmen und Schuldzuweisungen registriert. »Dieser Einspänner, wo kam der her? Und wem gehört er?« Tellman war leicht verunsichert, verbarg es aber sofort. »Wissen wir noch nicht, Sir. Ist nicht viel drin, nichts, woran man ihn leicht identifizieren kann.« »Gut, Sie werden ja schon bald wissen, ob es seiner war. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, daß ein Omnibusschaffner in einem Einspänner nach Hause fährt«, sagte Pitt nachdenklich. »Womit wir uns die Frage stellen müssen, warum er überhaupt drin saß.« »Aber es wäre zu einfach anzunehmen, daß er unserem Verrückten gehört.« Tellman kräuselte die Lippen. »Dazu ist der viel zu gerissen!« Pitt lehnte sich weiter zurück. Ohne nachzudenken bot er Tellman einen Stuhl an. »Es stellt sich die Frage, warum er überhaupt einen Einspänner benutzt hat«, spann er seine Gedanken weiter. »Nehmen wir einmal an, er ist gestohlen, wenn er keinem von beiden gehört. Wozu hat der Mörder ein Fahrzeug gebraucht?« »Um die Leiche zu transportieren«, antwortete Tellman. »Und das bedeutet, daß er ihn überall umgebracht haben kann. Wie Arledge.«
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Mann war und Arledge eher dünn und wahrscheinlich zehn bis fünfzehn Jahre älter. Aber der Omnibusschaffner war ein kleiner, glatzköpfiger Mann mit breiten Schultern und einem Bierbauch. Außerdem trug er noch seine Schaffneruniform, so daß jedem klar sein mußte, daß er kein Gentleman war. Eigentlich konnte man ihn nur für den halten, der er wirklich war.« Er runzelte verärgert die Stirn. »Warum würde jemand einen Omnibusschaffner umbringen?« »Ich weiß es nicht«, mußte Pitt zugeben. »Es sei denn, er hat etwas gesehen, das mit den Morden zu tun hat. Doch wie unser Verrückter das herausbekommen haben könnte ist mir unklar.« »Erpressung?« mutmaßte Tellman. »Wie soll das vor sich gegangen sein?« Pitt kippelte auf seinem Stuhl. »Selbst wenn er einen der Morde beobachtet hat, wie sollte er wissen, wer der Täter war oder wo er ihn finden konnte?« »Vielleicht wußte er das«, sagte Tellman langsam, und seine Augen weiteten sich. »Vielleicht ist unser Täter jemand, den er erkennen konnte - den jeder erkennen würde!» Pitt richtete sich etwas auf. »Ein berühmter Mann?« »Das würde erklären, warum er einen Omnibusschaffner umbringen mußte!« Tellman sprach mit fester Stimme, seine Augen leuchteten zufrieden. »Und die anderen?« fragte Pitt. »Winthrop und Arledge?» »Es gibt eine Verbindung«, beharrte Tellman. »Ich habe sie noch nicht entdeckt, aber ich weiß, daß es sie gibt. Irgendwo in seinem umnachteten Gehirn gibt es einen Grund für diese zwei!« »Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was das sein könnte«, gestand Pitt. »Das krieg' ich raus«, preßte Tellman zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und ich werde den Mistkerl baumeln sehen.« Pitt verkniff sich einen Kommentar.
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Mit dem Erscheinen der Mittagszeitungen brach der Sturm los. Der Schlächter vom Hyde Park beherrschte die Schlagzeilen, die Artikel zeugten von Panik und Angst. Ein Uhr war gerade durch, als die Tür zu Pitts Büro aufgestoßen wurde und der stellvertretende Polizeipräsident Farnsworth hereinstürmte. Hinter ihm blieb die Tür weit offen. Farnsworth war leichenblaß, abgesehen von zwei roten Flecken auf seinen Wangen. »Was gedenken Sie zu tun, Pitt?« fragte er barsch. »Dieser Verrückte wütet in der Stadt und bringt nach Lust und Laune Leute um. Drei geköpfte Leute, und Sie haben immer noch nicht den leisesten Hinweis darauf, wer er ist.« Er stützte sich auf den Schreibtisch. »Sie stellen die gesamte Truppe bloß. Lord Winthrop hat mich wieder aufgesucht und wollte von mir wissen, was wir getan haben, um den Mörder seines Sohnes zu finden. Und ich kann ihm gar nichts sagen. Nichts! Ich stehe da wie ein Trottel und muß Entschuldigungen erfinden. Alle reden davon - auf der Straße, in den Clubs, zu Hause, im Theater, in den Büros -, es gibt sogar bereits ein Lied, das in den Varietés gesungen wird, habe ich mir sagen lassen. Wir machen uns zum Gespött der Stadt, Pitt.« Er ballte die Hand zur Faust und löste sie wieder. »Ich habe Ihnen vertraut, aber Sie haben mich enttäuscht. Ich habe mich auf Drummond verlassen, als er sagte, sie seien der richtige Mann für diesen Posten, aber jetzt sieht es so aus, als sei er eine Nummer zu groß für Sie. Sie sind der Aufgabe nicht gewachsen!« Pitt konnte sich nicht verteidigen. Auch ihn beschlich derselbe Zweifel, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wie andere die Aufklärung des Falles betrieben hätten - vor a l l e m Männer wie Drummond, der nie Ermittlungsbeamter gewesen war, oder gar Farnsworth. »Wenn Sie den Fall jemand anders übertragen möchten, dann sollten Sie das tun«, sagte er kühl. »Ich gebe dann alle Informationen, die wir bisher zusammengetragen haben, sowie die Spuren, die wir zu verfolgen gedenken, weiter.« Farnsworth war sprachlos. Offenbar hatte er diese Antwort nicht erwartet.
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»Machen Sie sich nicht lächerlich, Mann. Sie können nicht einfach die Verantwortung abgeben!« sagte er wütend und trat einen Schritt zurück. »Was für Informationen haben Sie denn? Nach dem, was Ihr Inspektor sagt, ist es ja nicht viel.« Es war in der Tat nicht viel, aber es stieß Pitt bitter auf, daß Tellman diese Tatsache mit dem stellvertretenden Polizeipräsidenten besprochen hatte. Selbst wenn Farnsworth Tellman gefragt hatte, so hätte der ihn an Pitt verweisen sollen. Es war ein schmerzlicher Gedanke, daß er von seinem unmittelbar Untergebenen keine Loyalität erwarten konnte. Auch da war er gescheitert. »Winthrop wurde im Boot umgebracht, woraus wir schließen, daß er sich vor dem Mörder nicht fürchtete.« Er begann, die wenigen Fakten vorzutragen. »Ihm wurde von hinten ein Schlag auf den Kopf versetzt, dann wurde er über die Seite des Bootes gelehnt und enthauptet - um Mitternacht herum. Auch Arledge war erst bewußtlos, aber er wurde nicht in dem Musikpavillon, wo man ihn gefunden hat, ermordet. Ob er seinen Mörder kannte oder nicht, ist offen. Auf alle Fälle wurde er transportiert. Wenn wir den Tatort finden, bringt uns das sicherlich ein großes Stück weiter. Ich habe ein halbes Dutzend Männer mit der Suche beauftragt.« »Himmelherrgott, Mann, es kann doch nicht weit sein», explodierte Farnsworth. »Wie weit kann denn ein Verrückter eine enthauptete Leiche unbeobachtet mitten in London herumtragen, auch wenn es mitten in der Nacht war? Wie hat er das bewerkstelligt? In einer Kutsche, einem Einspänner, auf einem Pferd? Strengen Sie sich an, Mann!« »Im direkten Umkreis des Musikpavillons waren keine Radspuren oder Hufabdrücke zu sehen«, sagte Pitt unbewegt. »Wir haben den Boden gründlich abgesucht, aber nichts Ungewöhnliches gefunden.» Farnsworth ging drei Schritte zurück und drehte sich dann plötzlich um. »Aber irgend etwas muß da gewesen sein, zum Kuckuck noch mal. Er hat ihn doch nicht auf der Schulter dorthin getragen.«
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»Nichts Ungewöhnliches«, wiederholte Pitt langsam, während seine Gedanken rasten. »Und das bedeutet, er wurde mit einem Gerät gebracht, das in dieser Umgebung nicht auffällt.« »Als da wären?« hakte Farnsworth nach. »Die Ausrüstung des Gärtners ...«, sagte Pitt langsam. »Was? Ein Rasenmäher?« Farnsworth betrachtete ihn spöttisch. »Oder eine Schubkarre.« Pitt erinnerte sich, daß Le Grange etwas über einen Mann mit einer Schubkarre gesagt hatte. »Ja««, fuhr er mit wachsender Überzeugung fort. »Ein Zeuge hat eine Schubkarre gesehen. Das muß es gewesen sein.« Er richtete sich auf, während er sprach. »Der Tatort kann nicht sehr weit entfernt sein. Schließlich fährt man eine enthauptete Leiche nicht in einer Schubkarre durch die Straßen...« »Dann finden Sie ihn«, befahl Farnsworth ihm. »Was sonst? Was ist mit diesem Omnibusschaffner von heute morgen? Was hat er mit den anderen beiden zu tun? Was hat er im Park gemacht?« »Wir wissen gar nicht, ob er im Park war.« »Natürlich war er im Park, Mann. Warum wurde er sonst umgebracht? Er muß im Park gewesen sein. Wann wurde er zuletzt lebend gesehen?« »Am Ende seiner Busstrecke, in Shepherd's Bush.« »Shepherd's Bush?« Farnsworths Stimme kletterte fast eine Oktave höher. »Das ist meilenweit vom Hyde Park entfernt.« »Was die Frage aufwirft, warum der Schlächter ihn zum Park zurückgebracht und dort abgesetzt hat«, sagte Pitt. »Weil seine Wahnsinnsanfälle etwas mit dem Park zu tun haben«, stieß Farnsworth zwischen zusammengepreßten Lippen hervor. Seine Geduld war am Ende. »Er hat ihn bewußtlos gemacht, nachdem er auf ihn gestoßen war, und ihn dann zum Park gebracht, wo er ihn getötet hat. Das ist doch offensichtlich.«
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»Wenn er ihm nicht im Park begegnet ist, warum hat er ihn dann überhaupt umgebracht?« fragte Pitt ruhig, den Blick unverwandt auf Farnsworth gerichtet. »Ich weiß es nicht«, sagte Farnsworth verärgert und wandte sich ab. »Himmelherrgott, Mann, es ist Ihre Aufgabe, das herauszufinden, und Sie lassen sich ganz schön Zeit damit.« Er sah Pitt wieder an und beherrschte sich. »Die Leute haben ein Recht, mehr von Ihnen zu verlangen Pitt, und ich ebenfalls. Ich bin Drummonds Rat gefolgt und habe Sie - entgegen meinem Gespür - befördert, und ich muß sagen, es sieht so aus, als hätte ich einen Fehler gemacht.« Er griff nach der Zeitung, die er auf den Tisch geworfen hatte. »Haben Sie das schon gesehen? Hier!« Er schlug die Zeitung auf und deutete auf eine Zeichnung, auf der zwei kleine Polizisten zu sehen waren, die Hände in den Taschen, den Blick zu Boden gesenkt, während die riesige Gestalt eines maskierten Mannes mit der Axt eines Henkers über der Stadt London stand. Dazu konnte man nichts sagen. Farnsworths Vorschläge waren auch nicht besser, aber es hatte keinen Sinn, darauf hinzuweisen. Er wußte es selbst, deswegen war er auch so verärgert. Auch er war hilflos und spürte den Druck der Politiker über sich. Ein Fehlschlag in dieser Sache konnte ihn die Karriere kosten. Die Männer über ihm gaben sich nicht mit Erklärungen oder Entschuldigungen zufrieden. Für sie zählten allein Ergebnisse. Sie waren der Öffentlichkeit verpflichtet, und die war wankelmütig und ängstlich hatte ein kurzes Gedächtnis und verstand nur, was sie verstehen wollte. Er klatschte die Zeitung auf den Tisch. »Machen Sie sich an die Arbeit, Pitt. Ich erwarte, daß Sie bis morgen mit definitiven Erkenntnissen aufwarten.« Damit drehte er sich um und stelzte hinaus. Die Tür ließ er auch jetzt offenstehen. Kaum waren Farnsworths Schritte im Korridor verklungen, erschien Baileys Kopf, bleich und schuldbewußt, in der Tür.
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»Was ist los?« Pitt sah auf. Bailey zog eine Grimasse. »Machen Se sich nichts draus«, sagte er zaghaft. »Ihm würd es auch nich besser ergehen, und das wissen wir alle.« »Danke, Bailey«, sagte Pitt aufrichtig. »Aber wir müssen uns mehr Mühe geben, wenn wir diese - Kreatur fassen wollen." Ein leichtes Schaudern durchlief Bailey. »Meinen Se, es is 'n Verrückter, Mr. Pitt, oder eher 'ne persönliche Sache? Was ich nich kapiere, is, warum es diesen armen Omnibusschaffner erwischt hat. Gentlemen, das kann man verstehn. Die haben vielleicht was auf dem Kerbholz.« Pitt mußte gegen seinen Willen lächeln. »Ich weiß es nicht, aber ich werde es herausbekommen.« Er erhob sich. »Zunächst einmal werde ich herausfinden, wofür der zweite Schlüsselbund von Arledge war.« »In Ordnung, Sir. Soll ich Mr. Tellman Bescheid sagen oder lieber nich, schließlich weiß ich ja gar nich wirklich, wo Se hingegangen sin.« Er machte große Augen. »Ich kann mich nich erinnern, daß Sies mir gesagt haben.« »Wenn ich es nicht noch einmal sage, dann wissen Sie es also nicht, stimmt's?« sagte Pitt lächelnd. »Richtig, Sir, dann weiß ich es nich«, stimmte Bailey ihm glücklich zu. Pitt nahm die zwei Schlüsselbunde und machte sich auf den Weg in die Mount Street. Er hielt eine Droschke an und ließ sich in die Polster sinken, während der Kutscher sich seinen Weg durch den Verkehr bahnte, hielt und wieder anrollte, abwechselnd schimpfte oder aufmunternde Worte rief. Dulcie Arledge empfing ihn mit höflicher Aufmerksamkeit, und wenn sie überrascht war, ihn zu sehen, so verbarg sie das mit einer Einfühlsamkeit, die er bei ihr schon kannte. »Guten Morgen, Mr. Pitt.« Sie erhob sich nicht von Ihrem Platz auf dem Sofa. Auch jetzt war sie von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, doch war das Kleid nach der
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neuen Mode anmutig schlank geschnitten und betonte die Schultern durch kleine Polster. Am Hals trug sie eine elegante Trauerbrosche aus Gagat und Staubperlen, ein Trauerring schmückte ihre schlanke Hand. Sie sah Pitt gefaßt an, es gelang ihr sogar ein Lächeln. »Kann ich Ihnen behilflich sein? Ich habe gehört, es hat einen weiteren Todesfall gegeben. Stimmt das?» »Ja, Madam, ich fürchte schon.« »Oje, wie entsetzlich.« Sie schluckte schwer. »Um - um wen handelt es sich denn?« »Um einen Omnibusschaffner, Madam.« Sie war überrascht. »Einen Omnibusschaffner? Aber aber warum sollte denn jemand - ich meine ...« Sie wandte sich ab, als sei ihre Verwirrung ihr peinlich. »Oje, ich weiß gar nicht, was ich sagen wollte. War es wieder im Hyde Park?« Es widerstrebte ihm zutiefst, ihr überhaupt davon zu erzählen. Einer so tapferen und einfühlsamen Frau gegenüber erschien es ihm besonders grob. »Ganz in der Nähe«, sagte er leise. »Zumindest wurde er dort gefunden. Wir wissen nicht, wo der Mord stattfand.« Sie sah ihn mit dunklen, schmerzerfüllten Augen an. »Bitte, nehmen Sie doch Platz, Oberinspektor. Sagen Sie mir, was ich tun kann, um Ihnen zu helfen. Ich kann mir beim besten Willen keine Verbindung zwischen meinem Mann und einem Omnibusschaffner vorstellen. Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, ob Aidan Captain Winthrop jemals erwähnt hat, aber es ist mir nichts eingefallen das Ihnen dienlich sein könnte. Er kannte viele Menschen, von denen ich einen Großteil nie kennengelernt habe.« »Im Zusammenhang mit seiner Musik?« fragte er und folgte ihrer Aufforderung, Platz zu nehmen. »So ist es. Er war ja überaus begabt und folglich sehr gefragt.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Er war ein bemerkenswerter Mensch, Oberinspektor. Ich bin nicht die einzige, die ihn vermissen wird.« Pitt wußte nicht, was er sagen sollte. Tränen, Ohnmachtsanfälle, hysterische Ausbrüche waren peinlich und
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brachten jeden Mann in Verlegenheit. Doch diese stille, würdevolle Art zu trauern rührte ihn auf besondere Weise an und machte ihn noch hilfloser. Sie mußte seine Verlegenheit gespürt haben. »Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich mache es Ihnen sehr schwer. Was können Sie schon sagen? Ich sollte meinen Gefühlen nicht so freien Lauf lassen.« Sie legte die Hände ineinander. »Womit kann ich Ihnen sonst helfen?« Er nahm die Schlüssel aus seiner Tasche und reichte sie ihr. Sie nahm sie und betrachtete erst einen Schlüsselbund, dann mit einem Stirnrunzeln den anderen. »Das sind unsere Hausschlüssel«, sagte sie und hielt einen Schlüsselbund hoch. »Der ist für die Haustür. Aidan kam häufig spät nach Hause und wollte nicht, daß einer der Bediensteten auf ihn wartete.« Sie lächelte verhalten und sah Pitt an. »Die kleinen sind für Schreibtischfächer und dergleichen. Ich glaube, der ist für den Keller. Manchmal wollte er hinuntergehen und sich eine Flasche Wein holen, ohne Horton darum zu bitten.« Sie wandte sich dem zweiten Bund zu, die Stirn gekraust. »Ich habe keine Ahnung, woher die stammen. Ich erkenne keinen einzigen.« Sie hielt beide Schlüsselbunde hoch. »Sie sind doch nicht gleich, oder?«
»Nein, Madam«, bestätigte er, und er sah, daß sie denselben Gedanken hatte, der auch ihm schon gekommen war: Der zweite Bund sah wie ein weiteres Paar Hausschlüssel aus. Sie gab ihm die beiden Bunde zurück. »Es tut mir leid. Ich bin Ihnen keine große Hilfe.« »Aber natürlich sind Sie das«, sagte er rasch. »Ihre Offenheit ist von unschätzbarem Wert. Nicht viele Menschen waren unter diesen entsetzlichen Umständen zu solcher Tapferkeit fähig. Und sie besäßen auch nicht die Geistesgegenwart, in praktischen Dingen hilfreich zu sein. Es verursacht mir einiges Unbehagen, daß ich Sie damit belästigen muß.« Seine Worte kamen von Herzen. Sie blickte ihn mit einem warmen Lächeln an.
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»Sie sind sehr freundlich, Oberinspektor. Mit jemandem, der so verständnisvoll ist wie Sie, ist es nicht so schwer, wie Sie vielleicht denken, über Aidan und diese tragische Situation zu sprechen. Es beschäftigt mich ohnehin die ganze Zeit, so daß es eher eine Erleichterung ist, offen zu sprechen.« Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. »Die Leute wollen freundlich sein, sprechen über alles mögliche und umgehen das Thema, obwohl wir alle wissen, daß wir ständig daran denken, egal was wir sagen.« Er wußte genau, was sie meinte; er hatte es schon unzählige Male erlebt: die Verlegenheit, die abgewendeten Blicke, das Zögern in der Stimme, dann die Zuflucht zu Belanglosigkeiten. »Bitte fragen Sie mich, was Sie wollen«, forderte sie ihn auf. »Danke. Ausgehend von der Möglichkeit, daß Mr. Arledge seinen Mörder kannte oder eine Verbindung zu ihm hatte, so flüchtig und zufällig sie auch sein mochte, würde ich gerne die Ereignisse in der letzten Woche seines Lebens rekonstruieren.« »Das ist eine gute Idee«, stimmte sie ihm spontan zu. »Ich bin mir sicher, daß ich Ihnen dabei helfen kann. Ich zeige Ihnen seinen Terminkalender. Ich habe ihn aufgehoben, weil ich wissen wollte, welche Termine er hatte, und ich eine ganze Reihe von Briefen schreiben müßte.« Sie zuckte leicht die Achseln und fügte abschätzig hinzu: »Vermutlich hat es ohnehin jeder in der Zeitung gelesen oder davon gehört, aber das ist nicht dasselbe.« »Das wäre sehr freundlich.« Er hatte nicht schon früher nach dem Kalender gefragt, weil Arledges berufliche Termine weit entfernt von den Beweggründen eines gewalttätigen Verrückten zu liegen schienen. »Selbstverständlich.« Sie erhob sich, und auch er stand spontan auf. Es war eine natürliche Geste der Höflichkeit ihr gegenüber. Sie ging zu einem kleinen Sekretär aus Walnußholz, der mit Intarsien verziert war, nahm ein in dunkelgrünes Leder gebundenes Buch heraus und brachte es ihm.
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Als er es aufschlug, öffneten sich die Seiten an einer bestimmten Stelle, und er sah den Eintrag für Arledges Todestag. Außer einem Probentermin für den Nachmittag war nichts vermerkt. Er sah Dulcie an. »Hatte er an dem Tag nur den einen Termin?« fragte er. »Ich fürchte, das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Es ist nur einer eingetragen, aber manchmal - nein, eigentlich recht häufig - ging er ohne große Ankündigung fort. Der Kalender ist nur für berufliche Termine.« »Ich verstehe.« Er blätterte um eine Woche zurück und begann die Eintragungen zu lesen. Proben, Konzerte, Verabredungen zum Mittag- und Abendessen, bei denen zukünftige Projekte besprochen werden sollten, waren in einer klaren Handschrift mit kühn geschwungenen Großbuchstaben und leicht schräg gestelltem Schriftzug zu lesen. Es war eine elegante Schrift ohne Schnörkel. »Wenn ich das mitnehmen dürfte, um zu sehen, ob es uns weiterhelfen kann.« »Selbstverständlich dürfen Sie das«, sagte sie bereitwillig. »Ich kann Ihnen auch die Namen der Leute geben, mit denen er regelmäßig gearbeitet hat. Zum Beispiel Sir James Lismore, oder Roderick Alberd. Die können Ihnen sicherlich noch viele andere nennen.« Sie erhob sich und ging wieder zu dem Sekretär. »Ihre Adressen habe ich hier irgendwo. Lady Lismore ist eine alte Freundin. Ich bin mir sicher, daß Sie Ihnen nach besten Kräften helfen würde.« »Danke«, nahm er ihr Angebot an. Er war sich nicht sicher, ob diese Nachforschungen überhaupt einen Wert hatten. Außerdem war er gespalten zwischen dem Wunsch, mehr über Aidan Arledge zu erfahren, und der Befürchtung zu erfahren, daß Arledge eine Geliebte hatte. Das wäre ein zusätzlicher Schlag für diese Frau, zusätzlich zu dem Verlust. In dem Moment beschloß er, sollte es sich als unwichtig für die Lösung des Falles erweisen, Stillschweigen zu bewahren. Er wäre dann bereit, ihr die Schlüssel mit dem gelogenen Eingeständnis wieder auszuhändigen, daß es ihm nicht gelungen sei, herauszufinden, zu welchem Haus sie gehörten.
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Er dankte ihr noch einmal, stand vor ihr in dem stillen Raum und hätte gerne noch etwas gesagt, ihr Trost zugesprochen oder Hoffnung gemacht. Aber er fand keine Worte. Sie lächelte und verabschiedete sich von ihm. »Sie werden mich von dem unterrichten, was Sie herausfinden, nicht wahr, Oberinspektor?« fragte sie, als er schon an der Tür war. »Wenn ich etwas erfahre, das zur Entschlüsselung dieses Geheimnisses führt, werde ich es Ihnen mit Sicherheit mitteilen«, versprach er, und bevor sie entscheiden konnte, ob dies die Antwort war, die sie erhofft hatte, folgte er dem Dienstmädchen nach draußen. Er fing mit den Namen an, die sie ihm gegeben hatte. Hinter dem Namen Roderick Alberd steckte ein Exzentriker mit wehender Mähne und einem Schnäuzer, wie ihn der verstorbene Franz Liszt zu tragen pflegte. Sein Atelier, in dem er Pitt empfing, wurde von einem Flügel dominiert. Er trug ein bordeauxrotes Jackett und ein großes, wehendes Halstuch. Er hatte eine kratzende und unerwartet hohe Stimme. »Oh, zutiefst betrübt, Oberinspektor«, sagte er mit einer allumfassenden Geste. »Was für ein sinnloser Tod.« Er wirbelte herum und sah Pitt aus überraschend intelligenten blauen Augen an. »Dergleichen sollte Unholden und Tyrannen zustoßen, ungehobelten Männern ohne Geschmack oder Kultur, die zu Gewalt neigen, nicht einem Mann wie Aidan Arledge. Sein Wesen war weder grob noch menschenfeindlich. Dies ist eine Beleidigung für die Zivilisation an sich. Was haben Sie bisher getan?« Seine Augen wurden schmaler. »Warum sind Sie hier?« »Ich möchte herausfinden, wo er in den letzten Tagen vor seinem Tode war und mit wem er sich getroffen hat -«, begann Pitt, wurde aber unterbrochen. Alberd warf die Hände hoch. »Gütiger Himmel, wofür denn? Nehmen Sie an, daß dieser Irrsinnige ihn persönlich kannte?« »Ich denke, ihre Wege könnten sich gekreuzt haben«, bestätigte Pitt. »Ich bin nicht der Auffassung, daß es nur eine
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Sache des Zufalls war. Können Sie mir behilflich sein? Seine Witwe hat mir Ihren Namen gegeben.« »Ah - die Ärmste. Nun ja -« Alberd ließ sich auf dem Klavierhocker nieder, dehnte und streckte seine Finger und ließ die Gelenke krachen. Er hatte außergewöhnlich breite Hände mit langen, spachtelförmigen Fingern, die Pitt fasziniert betrachtete. Wäre jemand erwürgt worden, dann hätten ihn diese Hände mit ihrer Kraft im Traum verfolgt. Pitt wartete. »Er wurde an einem Dienstag ermordet, wenn ich mich recht erinnere. Und am Mittwoch morgen gefunden, richtig;« fing er an, und da er offensichtlich keine Antwort erwartete, fuhr er fort: »Also, am Montag habe ich ihn gesehen. Am Nachmittag. Wir haben über ein Konzert im den nächsten Monat gesprochen. Ich werde mich jetzt um einen anderen Dirigenten dafür bemühen müssen. Ich gestehe, daß ich daran noch gar nicht gedacht habe.« Wieder ließ er die Gelenke krachen. »Als wir uns trennten, sagte er, er würde einen Freund aufsuchen, wen, habe ich vergessen. Es hatte auch nichts mit mir zu tun, niemand den ich kenne - soweit ich weiß, war es kein Musiker.« »Wenn Sie sich erinnern könnten ...« »Gütiger Himmel, Oberinspektor, Sie denken doch wohl nicht ...? Nein, ich versichere Ihnen, es war ein alter Freund. Ein sehr guter Freund, glaube ich.« Er sah Pitt amüsiert an. »Was können Sie mir sonst noch über seine Arbeit sagen? Wer könnte über seine Tage vor seinem Tod Auskunft geben, Mr. Alberd?« »Oh, lassen Sie mich nachdenken ...» Für einige Augenblicke war er in Gedanken versunken und starrte auf den Boden. Schließlich zählte er seine sämtlichen Termine dieser Tage auf und die Gelegenheiten, an denen sich ihre beiden Wege gekreuzt hatten, beziehungsweise die Orte und Veranstaltungen, bei denen auch Arledge zugegen gewesen sein mußte. Als er fertig war, ergab sich ein überraschend vollständiges Bild.
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»Danke.« Pitt verabschiedete sich und ging hoffnungsfroh davon. Anschließend stattete er Lady Lismore einen Besuch ab und besuchte auf ihre Anregung hin mehrere andere Personen. Drei Tage später hatte er ein ziemlich genaues Bild von den Tagesabläufen der letzten Woche in Aidan Arledges Leben und kannte einige der Orte, die er regelmäßig aufsuchte. Manche Namen tauchten immer wieder auf, so daß er beschloß, diese Menschen alle aufzusuchen. Zwischendurch kehrte er immer wieder in die Bow Street zurück, meist am späten Abend, um von Tellman zu hören, was der erfahren hatte. »Keine Ahnung, wo Arledge umgebracht wurde«, gestand er mißmutig und sah Pitt gereizt an. »Meine Männer haben den Park Zoll um Zoll abgesucht, und alle Streifenpolizisten in einem Umkreis von einer Meile haben den Auftrag, Augen und Ohren offenzuhalten. Nichts!« »Was ist mit Yeats, dem Omnibusschaffner?« Pitt sah ihn an, erwartete aber nichts. »Von dem wissen wir auch nicht, wo er umgebracht wurde.« Tellman saß seitlich auf seinem Stuhl. »Aber in Shepherd's Bush gibt es ein paar Stellen, die dafür in Frage kommen. Wenigstens wissen wir, wo der Einspänner herkam. Ein Mann namens Arburthnot hat ihn als gestohlen gemeldet. Er hatte vor seinem Haus in der Silgrave Road gestanden.« »Ich gehe davon aus, daß Sie in der unmittelbaren Umgebung nach einem möglichen Schauplatz für den Mord gesucht haben?« fragte Pitt. Tellman warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Natürlich haben wir das. Am ehesten kam noch die Böschung entlang der Eisenbahnlinie ganz in der Nähe der Silgrave Road in Frage. Der Boden da ist so vollgesogen mit Öl und bedeckt mit Asche und so, daß man nicht feststellen kann, ob dort Blut geflossen ist.« »Hat jemand Yeats gesehen, nachdem er den Bus verlassen hat?« Tellman schüttelte den Kopf.
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»Keiner hat es zugegeben. Der Fahrer hat ihn aussteigen sehen, ihm gute Nacht gewünscht und sagt, daß Yeats in Richtung Silgrave Road ging. Er wohnte in Osman Gardens, vier oder fünf Straßen weiter.« »Ist sonst noch jemand zur selben Zeit aus dem Bus ausgestiegen?« »Ungefähr ein halbes Dutzend Leute.« Tellman verzog das Gesicht. »Der Fahrer sagt, er erinnert sich an keinen von ihnen, er saß ja während der Fahrt mit seinem Rücken zu ihnen, und am Ende der Strecke war sein einziger Gedanke, nach Hause zu kommen und seine Füße in eine Schüssel mit Wasser und Bittersalz zu stecken.« »Wie sieht es denn mit Fahrgästen aus, die täglich diese Strecke fahren?« fragte Pitt. »Die hätten es bemerkt, wenn ein auffälliger Fahrgast im Bus gewesen wäre. Was meinen die?« „Ich konnte nur einen finden, der immer die Strecke fährt«, sagte Tellman grimmig. »Es war ja nicht die Tageszeit, zu der die Leute zur Arbeit fahren oder ihren Geschäften nachgehen. Es war sogar später als Theaterschluß. Und sowieso, wer fährt schon von Shepherd's Bush mit dem Omnibus ins Theater in der Stadt?« Langsam verlor Pitt die Geduld. »Was hat dieser Fahrgast gesagt? Haben Sie etwas herausgefunden, Mann?« »Soweit er sich erinnern konnte, waren noch sechs oder sieben Leute im Bus, als er in Shepherd's Bush ankam. Davon waren mindestens vier Männer. Er konnte sich an keinen von ihnen genau erinnern. Er war müde und hatte Zahnschmerzen.« Tellman reckte das Kinn in die Höhe, sein langes Gesicht war angespannt. »Und was haben Sie herausgefunden ... Sir? Etwas, das uns weiterbringt?« „Ich glaube, Arledge hatte eine Geliebte, und ich denke, daß ich sie innerhalb der nächsten ein, zwei Tage finden werde«, erwiderte Pitt voreilig. »Aha ...» Tellmans Reaktion konnte man nicht entnehmen ob er interessiert war oder nicht. »Könnte eine Erklärung für Arledges Tod sein, wenn die Dame verheiratet
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war. Aber warum Winthrop? Oder war er auch ihr Liebhaber?« »Das werde ich erst in Erfahrung bringen, wenn ich sie gefunden habe«, sagte Pitt, stand auf und ging zum Fenster. »Und bevor Sie fragen: Ich weiß nicht, was Yeats damit zu tun haben könnte, es sei denn, er wußte etwas davon und hat sie erpreßt.« Auf der Straße unter dem Fenster hielt eine Droschke, aus der ein Mann unter größten Schwierigkeiten ausstieg. Ein Junge mit einem Besen gab sich keine Mühe, seine Belustigung zu verbergen. Tellman zog die Augenbrauen in die Höhe. »Wohnt die Dame etwa in Shepherd's Bush?« fragte er sarkastisch. »Aber ein Verrückter, der die Leute ohne jede Methode umbringt, ergibt auch keinen Sinn«, gab Pitt zurück. »Es hat was mit dem Park zu tun«, sagte Tellman entschlossen. »Warum sollte er sonst Yeats den ganzen Weg in einem Einspänner zurückbringen? Wäre viel sicherer, ihn in Shepherd's Bush zu lassen. Und warum setzt er ihn überhaupt in einen Einspänner?« »Vielleicht wollte er ihn dort nicht zurücklassen«, schlug Pitt vor, kehrte dem Fenster den Rücken zu und setzte sich auf die Tischkante. »Vielleicht hat er ihn zum Hyde Park zurückgebracht, weil unser Mörder dort lebt.« Tellman wollte schon etwas dagegenhalten, ließ es dann aber bleiben. »Vielleicht. Arledges Geliebte und ihr Mann etwa? Vielleicht ist sie eine Frau von nicht sehr festen Prinzipien und war auch Winthrops Geliebte? Aber doch sicher nicht die des kleinen, dicken Omnibusschaffners?« Über sein hageres Gesicht zog ein humorloses Lächeln. »Ich freue mich darauf, die Bekanntschaft dieser Dame zu machen.« Pitt erhob sich. »Dann werde ich sie wohl für Sie finden müssen. Finden Sie heraus, wo Yeats und Arledge getötet wurden.« »Jawohl, Sir.« Immer noch vor sich hin lächelnd erhob sich Tellman und ging zur Tür.
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Zwei weitere lange Tage vergingen mit mühevoller Kleinarbeit, mit der Erforschung winziger Details, der Rekonstruktion von Begegnungen und Abschieden, halb gehörten Unterhaltungen und flüchtigen Eindrücken von Menschen, bis Pitt ein Dutzend von Arledges Bekannten aufgespürt hatte und damit beginnen konnte, sie als Verdachtspersonen auszuschließen. Er verlor die Zuversicht. Alle konnten ihren Aufenthaltsort mühelos nachweisen, ihre Beziehungen zu Arledge waren über jeden Verdacht erhaben. Müde und niedergeschlagen, mit wunden Füßen, stand P i t t an der Tür eines in weiten Kreisen angesehenen Geschäftsmannes, der das kleine Orchester, das Aidan Arledge häufig geleitet hatte, finanziell unterstützte. Vielleicht hatte Mr. Jerome Carvell ja eine hübsche Frau. Die Tür wurde von einem hochgewachsenen Butler geöffnet. Er hatte eine lange, gebogene Nase und einen Mund, dessen Linie seinen Hochmut ausdrückte. »Guten Abend, Sir.« Er musterte Pitt mit fragendem Blick. Anscheinend war er sich nicht sicher, wie er ihn einordnen sollte. Der Ausdruck von Selbstbewußtsein in Pitts Miene stand im Widerspruch zu seiner lässigen Art, sich zu kleiden, und dem Straßenstaub auf seinen Stiefeln. Guten Abend«, sagte Pitt, fischte seine Karte aus der Tasche und gab sie ihm. »Entschuldigen Sie bitte, daß ich zu so später Stunde und ohne Vorankündigung vorspreche, aber die Sache ist einigermaßen dringend. Kann ich bitte mit Mr. und Mrs. Carvell sprechen?« Ich werde Mr. Carvell fragen, ob er Sie empfangen möchte«, erwiderte der Butler. „Ich würde auch gerne Mrs. Carvell sehen«, beharrte Pitt. »Unmöglich, Sir.« »Es ist wichtig.« Der Butler zog die Augenbrauen eine Spur höher. »Es gibt keine Mrs. Carvell, Sir.« »Ach so.« Pitt war grundlos enttäuscht. Selbst wenn Carv e l l mit Arledge so vertraut war, wie Pitt seinen Informationen nach annahm, und über dessen Leben gut Bescheid wußte, würde er der Polizei nichts darüber sagen.
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»Möchten Sie Mr. Carvell nun sprechen, Sir?« Der Butler blickte ihn leicht ungeduldig an. »Ich bitte darum«, erwiderte Pitt, mehr aus Verärgerung, denn weil er sich etwas davon versprach. »Wenn Sie mir bitte folgen würden, dann werde ich nachfragen, ob es möglich ist.« Der Butler ging vor ihm her und führte ihn in ein kleines, sehr hübsches Studierzimmer mit holzgetäfelten Wänden und Regalen. Die ledergebundenen Bücher sahen benutzt aus und waren nach Themen, nicht nach Größe geordnet. Pitt wartete knappe fünf Minuten, die er dazu nutzte, sich mit den Titeln vertraut zu machen und verschiedene Interessensgebiete festzustellen, die da waren: Forschungsreisen, klassisches Drama, Insektenkunde, Architektur des Mittelalters und Rosenzucht. Die Tür öffnete sich, und herein trat ein Mann von vielleicht fünfundvierzig Jahren, dessen helles Haar an den Schläfen zu ergrauen begann. Sein Gesicht zeugte von Individualität und außergewöhnlicher Intelligenz. Man konnte ihn nicht gutaussehend nennen - seine Haut war von einer früheren Krankheit, vielleicht Pocken, entstellt, und seine Zähne standen keineswegs gerade -, doch strahlte er Humor und eine scharfe Wahrnehmung aus, so daß Pitt ihn auf Anhieb mochte. »Mr. Carvell?« »Ja?« Carvell trat mit besorgter Miene auf ihn zu. »Oberinspektor Pitt? Habe ich mir etwas zuschulden kommen lassen? Ich bin mir nicht bewußt...« »Darum geht es wahrscheinlich nicht«, erwiderte Pitt aufrichtig. »Ich möchte lediglich herausfinden, ob Sie möglicherweise Kenntnisse haben, die helfen könnten ...« »Oje, welche denn?« Carvell kam in die Mitte des Raumes und deutete Pitt geistesabwesend an, sich zu setzen. »Ich glaube kaum, daß ich etwas weiß, das der Polizei nur im entferntesten nützlich sein könnte. Ich bin Geschäftsmann. Von Verbrechen weiß ich nichts. Ist Geld unterschlagen worden?«
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Er sah so durch und durch unschuldig aus, daß Pitt schon erwog, seine Befragung einzustellen. Da er aber seine Anwesenheit erklären mußte, fuhr er fort: »Davon weiß ich nichts, Mr. Carvell. Mein Ersuchen steht im Zusammenhang mit dem Tod von Aidan Arledge. Soweit ich weiß -« Er brach ab. Aus Carvells Gesicht war a l l e Farbe gewichen, und einen Moment lang sah er so elend aus, daß Pitt sich um ihn sorgte. Das Atmen schien Carvell schwerzufallen. Pitt hatte sagen wollen: »Soweit ich weiß, haben Sie ihn gekannt«, doch der Einstieg war letzt absurd. »Kann ich Ihnen ein Glas Wasser holen?« bot er sich an. »Oder einen Brandy?« Er sah sich im Zimmer nach einer Karaffe um. »Nein - nein - entschuldigen Sie bitte«, stammelte Carvell. »Ich - ich -« Er brach ab, wußte nicht, wie er fortfahren sollte. Es gab keine vernünftige Erklärung. Er versuchte sich zu fassen. Endlich entdeckte Pitt die Karaffe. Der Inhalt sah aus wie Madeira, aber das war besser als nichts. Da er keine Gläser sehen konnte, nahm er die Karaffe und hielt sie Carvell an die Lippen. »Wirklich - ich ...«, stammelte Carvell erneut, dann nahm er einen tiefen Schluck und setzte sich schwer atmend in seinem Stuhl zurück. Sein Gesicht bekam wieder etwas Farbe. Pitt stellte die Karaffe ab und setzte sich auf seinen Stuhl. »Ich danke Ihnen«, sagte Carvell unglücklich. »Es tut mir sehr leid. Ich - ich weiß nicht, was in mich gefahren ist ...» Doch der Ausdruck von Trauer in seinem Gesicht machte sehr deutlich, was ihn seiner Fassung beraubt hatte. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sagte Pitt, der ein dumpfes Mitleid verspürte. »Ich müßte Sie um Verzeihung bitten. Es war sehr grob von mir, das Thema so abrupt anzusprechen. Ich vermute, Sie standen Mr. Arledge sehr nahe?« »Ja - ja, wir sind viele Jahre befreundet gewesen. Seit unserer Jugend bereits. Es ist ein so - so schrecklicher Tod ...« Seine Stimme versagte unter dem Ansturm der Gefühle.
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»Das ist richtig«, bestätigte Pitt. »Aber Sie können gewiß sein, daß er nichts davon gemerkt hat. Ein schneller Schlag hat ihn seiner Besinnung beraubt. Es ist nur für die Hinterbliebenen schrecklich, die alle Einzelheiten kennen.« »Sie sind sehr rücksichtsvoll. Ich wünschte -« Carvell hielt inne. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann, Oberinspektor.« Er sah Pitt aufrichtig an. »Ich weiß nichts darüber. Und natürlich habe ich in mir geforscht, um herauszufinden, ob ich die Tat hätte verhindern können, ob ich diese - diese verabscheuungswürdige Handlung hätte vorhersehen können, aber ich finde nichts. Es war ein Schlag aus heiterem Himmel! Nichts« - er verzog sein Gesicht zu einem gespenstischen Lächeln - »,keine Wolke größer als die Hand eines Mannes’ trübte den Himmel. Im einen Moment ist alles wie immer, alle Freude, die wir wie selbstverständlich hinnehmen, die Sonne, die Erde, mit neu hervorbrechendem Leben, junge Leute überall, voller Hoffnungen und Pläne, alte Männer mit ihren Erinnerungen, gutes Essen, guter Wein, gute Freunde, wichtige Bücher und ausgezeichnete Musik.« Er seufzte. »Die Welt in ihrem normalen Lauf. Dann plötzlich ...« Seine Augen füllten sich mit Tränen, er wandte sich ab und versuchte verlegen, seine Gefühle zu verbergen. Pitt konnte ihn sehr gut verstehen. »Es hat uns alle sehr getroffen«, sagte er leise. »Und wir haben Angst. Deswegen ist es meine Pflicht, Menschen aufzusuchen und zu befragen. Jede Hilfe, und sei sie noch so klein, kann möglicherweise dazu beitragen, den Täter dingfest zu machen. Kannten Sie Captain Winthrop? Hat Mr. Arledge je von ihm gesprochen?« Er umging bewußt sein eigentliches Anliegen, weil er Carvell die Möglichkeit geben wollte, seine Fassung wiederzuerlangen. Doch noch während er die Frage stellte, war ihm klar, daß es taktisch gesehen ein Fehler war. Tellman hätte keinen Moment gezögert. »Captain Winthrop?« Carvell wußte nichts damit anzufangen. »Ach so, der erste Mann, der ... ermordet wurde. Nein. Nein, ich kann nicht sagen, daß ich vorher schon ein-
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mal von ihm gehört hatte. Obwohl - Augenblick mal. Ja, ich hatte seinen Namen einmal gehört. Ein gewisser Bartholomew Mitchell, mit dem ich manchmal zu tun habe, hat ihn erwähnt. Es ging um eine geschäftliche Angelegenheit. Genauer gesagt war es Mrs. Winthrop, die er erwähnte. Seine Schwester, glaube ich.« »Darf ich fragen, in welcher geschäftlichen Angelegenheit, Sir?« »Er hat einige Aktien für sie erworben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß da eine Verbindung besteht.« »Nein, das denke ich auch. Wann haben Sie Mr. Arledge zum letzten Mal gesehen?« Wieder wich die Farbe aus seinem Gesicht. »Am Abend des Tages, bevor er ermordet wurde, Oberinspektor. Wir haben nach einem Konzert zusammen gespeist. Es war spät, und die Bediensteten in seinem Haus hatten sich, das wußte er, bereits zurückgezogen ...« »Aha.« Pitt zog den Schlüsselbund aus seiner Tasche und hielt ihn hoch. Er wollte Carvell fragen, ob er etwas darüber wisse, als dessen Gesichtsausdruck die Frage überflüssig „Wo -«, hob er an, schwieg dann und sah Pitt hilflos an. »Gehören sie zu diesem Haus, Mr. Carvell?« fragte Pitt. Carvell schluckte schwer. »Ja«, sagte er mit belegter Stimme. Pitt zeigte den größten Schlüssel. »Der für die Haustür?« „Den hinteren Eingang«, korrigierte ihn Carvell. »Es - es scheint ...« »Natürlich. Und diese?« Er hielt die anderen beiden hoch. Carvell sagte nichts. »Bitte, Sir. Es wäre doch unter Ihrer Würde, wenn wir uns einen Durchsuchungsbefehl geben lassen und alle Türen, Schränke und Schubladen im Haus überprüfen müßten.« Carvell wurde noch blasser und blickte unglücklich drein. »Müssen Sie - müssen Sie seine Sachen - durchsuchen?« stammelte er.
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»Was hatte er denn hier?« fragte Pitt mit zunehmendem Unwohlsein. Es war eine grobe Einmischung, doch durfte er den Tatsachen nicht aus dem Wege gehen. »Persönliche Sachen, Toilettenartikel.« Carvell stieß die Worte hervor, als müsse er sie gewaltsam seinem Gedächtnis entreißen. »Ein wenig Wäsche, einen Abendanzug, Manschetten- und Kragenknöpfe. Nichts, das Ihnen weiterhelfen kann, Oberinspektor.« »Eine Haarbürste mit silbernem Griff?« »Ja - ich glaube schon.« »Ich verstehe.« »Wirklich? Ich habe ihn geliebt, Oberinspektor. Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob Sie verstehen, was das bedeutet. Seit ich erwachsen bin, habe ich . . . «E r verbarg den Kopf in seinen Händen. »Was nützt es schon? Ich dachte, es wäre eine Erleichterung, es mit jemandem zu teilen. Wenigstens den Verlust zugeben zu können.« Seine Stimme war schmerzerfüllt. »Ich mußte es für mich behalten; so tun, als sei ich lediglich ein Freund gewesen; daß er mir darüber hinaus nichts bedeutete. Haben Sie eine Vorstellung davon, was es bedeutet, den Menschen zu verlieren, den man am meisten geliebt hat, und sich verhalten zu müssen, als sei man nur ein Bekannter?« Er sah auf, sein Gesicht war tränenüberströmt, seine Gefühle lagen offen. »Nein«, sagte Pitt ehrlich. »Es wäre vermessen, wenn ich vorgeben würde, Ihren Schmerz zu verstehen. Doch ich kann mir vorstellen, daß er sehr tief geht. Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen, obwohl ich weiß, daß es nichts wert ist.« »Es ist schon etwas wert, Oberinspektor. Es bedeutet sehr viel, von einem Menschen zu wissen, der versteht.» »Wußte Mrs. Arledge von Ihrer - Ihrer Zuneigung?« Carvell reagierte entsetzt. »Gütiger Himmel, natürlich nicht!« »Sind Sie sich da sicher?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Aidan war sicher. Ich bin ihr nie begegnet, außer einige Male bei einem Konzert, eher zufällig. Ich hatte keinen Wunsch ... Verstehen Sie das?«
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»»Ja.« Pitt konnte die Gefühle von Eifersucht, Schuld und Angst, die Carvell möglicherweise geplagt hatten, nur erahnen. »Wirklich?« sagte Carvell mit einer kleinen Spur von Bitterkeit. Er wirkte zutiefst unglücklich. Pitt war sich Carvells Einsamkeit sehr bewußt. Er hatte niemanden, der ihn in seinr Trauer trösten konnte; niemanden, der davon nur ahnte. Carvell sah auf. »Wer hat diese schreckliche Tat verübt, Oberinspektor? Geht in London wirklich ein Wahnsinniger um, der seine Lust nach - nach Blut stillen muß? Warum hat er Aidan umgebracht? Er hat keinem etwas zuleide getan ...« „Ich weiß es auch nicht«, mußte Pitt gestehen. »Je mehr Fakten ich zusammentrage, desto weniger verstehe ich ihre Bedeutung.« Dem gab es nichts hinzuzufügen, er hatte keine weiteren Fragen mehr, die ihn weiterbringen würden, auch wenn er eine ehrliche Antwort erhielte. Er war auf der Suche nach einer Geliebten hergekommen, nach einem Grund für Eifersucht, einer Verbindung mit Winthrop. Statt dessen hatte er einen feinfühligen, intelligenten Mann vorgefunden, der von seiner ganz persönlichen Trauer verzehrt wurde. Er verabschiedete sich und trat hinaus in den Frühlingsabend unter einem ruhigen Himmel, an dem schon der Mond stand, noch bevor die Sonne untergegangen war. »Sie haben sie gefunden!« sagte Farnsworth, der kerzengerade auf einem Stuhl in Pitts Büro saß. »Was ist mit dem Ehemann? Was für ein Mensch ist er? Was hat er gesagt? Hat er eine Verbindung mit Winthrop zugegeben? Na, egal, das kriegen Sie noch heraus. Haben Sie ihn schon festgenommen? Wann können wir mit Neuigkeiten an die Öffentlichkeit treten?« »Er heißt Jerome Carvell und ist ein angesehener Geschäftsmann«, hob Pitt an. »Himmelherrgott, Pitt!« ging Farnsworth hoch, die Wangen rot gefleckt. »Meinetwegen kann er auch ein Erzdiakon
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der Kirche sein! Seine Frau hatte eine Affäre mit Arledge, und er hat Wind davon bekommen und Rache geübt. Sie werden die Beweise schon finden, wenn Sie sich nur anstrengen.« »Es gibt keine Mrs. Carvell.« Farnsworths Kinn fiel herab. »Warum erzählen Sie mir dann von ihm? Ich dachte, Sie hätten gesagt, daß Sie das Haus gefunden haben, zu dem die anderen Schlüssel passen. Wenn er keine Affäre hatte, warum um alles in der Welt hatte er dann die Schlüssel zu dem Haus?« »Er hatte sehr wohl eine Affäre«, sagte Pitt langsam. Nur sehr widerwillig erklärte er Farnsworth die Angelegenheit. »Drücken Sie sich deutlich aus, Pitt«, stieß Farnsworth zwischen den Zähnen hervor. »Hatte er nun eine Affäre mit Carvells Frau oder seiner Schwester oder was auch immer sie sein mag, oder nicht? Meine Geduld ist gleich am Ende.« »Er hatte eine Affäre mit Carvell selbst«, sagte Pitt ruhig. »Falls Affäre das richtige Wort dafür ist. Anscheinend waren sie seit mehr als dreißig Jahren ein Liebespaar.« Farnsworth war völlig sprachlos. Als sich ihm die volle Tragweite von Pitts Worten endlich erschloß, brauste er voller Empörung und Zorn auf. »Großer Gott, Mann, Sie reden, als sei es - als sei es ... « Pitt schwieg und starrte Farnsworth aus kalten Augen an. Vor seinem geistigen Auge sah er das trauererfüllte Gesicht von Jerome Carvell. Farnsworth brach ab, die Worte erstarben auf seinen Lippen, er wußte nicht recht, warum. »Also, dann gehen Sie schon und nehmen ihn fest!« sagte er schließlich und erhob sich. »Warum sitzen Sie hier noch herum?« »Ich kann ihn nicht festnehmen«, erwiderte Pitt. »Wir haben keinerlei Hinweise darauf, daß er Arledge ermordet hat, und schon gar keine darauf, daß er Winthrop kannte.« »Großer Gott, Mann, er hat eine gesetzeswidrige Beziehung zu Arledge unterhalten.« Er beugte sich über den Schreibtisch und funkelte Pitt an. »Was wollen Sie noch
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mehr? Es gab einen Streit, und dieser Mann - wie heißt er gleich? - hat ihn umgebracht. Ich brauche Sie ja wohl nicht zu erinnern, daß die meisten Verbrechen in der Familie geschehen oder ihre Ursache in Streitigkeiten zwischen Liebespartnern haben. Sie haben den Mann gefunden. Nehmen Sie ihn fest, bevor er erneut zuschlägt.« Er richtete sieh auf und schien gehen zu wollen, als sei die Sache geregelt. »Das kann ich nicht«, wiederholte Pitt. »Wir haben keine Beweise.« „Was wollen Sie denn? Einen Augenzeugen?« tobte Farnsworth und lief vor Zorn rot an. »Er hat ihn wahrscheinlich in seinem Haus umgebracht, deswegen konnten Sie bisher den Tatort nicht finden. Sie haben sein Haus durchsucht, Pitt?« »Nein.« »Sie unfähiger Trottel, Sie!« brach es aus Farnsworth heraus. »Was ist los mit Ihnen, Mann? Sind Sie krank? Ich habe befürchtet, daß man Sie auf einen Posten befördert hat, der Ihre Kompetenz übersteigt, aber das hier ist die Höhe! Schicken Sie Tellman, damit er sofort das Haus durchsucht, und dann lassen Sie den Mann festnehmen.« Pitts Gesicht brannte vor Zorn ob Farnsworths Unwissenheit und Arroganz und bei der Erinnerung an Carvells bloßliegende Gefühle. »Ich habe keinen hinreichenden Grund, das Haus zu durchsuchen«, sagte er kalt. »Arledge hat da manchmal übernachtet. Das ist kein Verbrechen. Und es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, daß Carvell etwas mit Winthiop oder dem Omnibusschaffner zu tun hatte.« Frnsworth kräuselte die Lippen. „Wenn der Mann schwul ist, hat er wahrscheinlich Winthrop einen Antrag gemacht, und als Winthrop ihn abwies, hat er einen Wutanfall bekommen und ihn umgebracht«, sagte er mit Überzeugung. »Und was Yeats anging, so wußte der vielleicht etwas. Möglicherweise war er im Park und ist Zeuge des Streits geworden. Er hat es mit Erpressung versucht und ist deswegen umgebracht worden. Da-
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mit brauchen wir uns nicht lange abzugeben. Erpressung ist ein übles Verbrechen.« »In keinem Punkt gibt es Beweise«, wandte Pitt ein, als Farnsworth sich zur Tür hin entfernte. »Wir wissen nicht, wo Carvell in der Nacht, als Winthrop umgebracht wurde, war. Vielleicht hat er mit dem Gemeindepfarrer zu Abend gegessen.« »Finden Sie es heraus, Pitt!« stieß Farnsworth zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor, in seiner Stimme schwang Angst mit. »Dazu sind Sie schließlich da. Ich erwarte, daß es binnen achtundvierzig Stunden als Äußerstes zu einer Festnahme kommt. Ich werde dem Innenminister berichten, daß wir den Mann kennen und es nur noch darum geht, schlagendes Beweismaterial zusammenzutragen.« »Es geht darum, überhaupt Beweismaterial zu finden«, sagte Pitt. »Bisher wissen wir nur, daß Carvell Arledge geliebt hat. Wenn das schon ein Beweis für Mord wäre, dann müßten wir Mann oder Frau eines jeden Opfers im ganzen Land festnehmen.« »Das ist wohl kaum dasselbe«, schoß Farnsworth zurück. »Hier haben wir es mit einer unnatürlichen Beziehung zu tun, nicht mit einer normalen Ehe!« »Ich dachte, Sie hätten gesagt, daß die meisten Gewaltverbrechen in der Familie geschehen?« sagte Pitt mit einiger Schärfe. »Gehen Sie los, und tun Sie Ihre Arbeit.« Farnsworth deutete mit seinem Finger auf Pitt. »Sofort.« Und ohne auf eine weitere Gegenrede zu warten, ging er zur Tür hinaus, die er offenstehen ließ. Pitt folgte ihm und blieb an der Treppe stehen. »Tellman!« schrie er heftiger als beabsichtigt. Le Grange erschien unten im Flur, als Farnsworth gerade das Gebäude verließ. »Ja, Sir? Wollen Se Mr. Tellman sprechen, Sir?« fragte er mit gespielter Unschuldsmiene. »Natürlich will ich das. Warum, meinen Sie wohl, habe ich nach ihm gerufen?« gab Pitt zurück.
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»Ja, Sir. Er sitzt grade über irgendwelchen Papieren glaub' ich. Ich werd ihn bitten, heraufzukommen, Sir.« »Bitten Sie ihn nicht, sagen Sie ihm einfach, er soll kommen!« sagte Pitt. Le Grange verschwand sofort, doch es dauerte noch weitere zehn Minuten, in denen Pitt in seinem Büro auf und ab schritt, bevor Tellman hereinkam und die Tür hinter sich schloß. Seine Miene zeigte ruhige Selbstzufriedenheit. Zweifellos war Pitts Auseinandersetzung mit Farnsworth gehört und in der Wache herumerzählt worden. »Ja, Sir?« fragte Tellman. Pitt war sich sicher, daß Tellman sehr genau wußte, warum er mit ihm sprechen wollte. »Lassen Sie sich einen Durchsuchungsbefehl für das Haus und Gelände in der Green Street Nummer zwölf ausstellen.« »Green Street?« »Geht von der Park Lane ab, die zweite in südlicher Richtung von der Oxford Street. Ein Mr. Jerome Carvell wohnt dort.« »Jawohl, Sir. Wonach soll ich suchen, Sir?« »Beweise, daß Aidan Arledge dort ermordet wurde, oder daß der Besitzer, Jerome Carvell, Winthrop oder den Omnibusschaffner Yeats kannte.« »Jawohl, Sir.« Tellman ging zur Tür und drehte sich dann noch einmal mit unschuldigem Blick um. »Was wäre ein Beweis, daß er den Omnibusschaffner gekannt hat?« »Ein Brief mit seinem Namen, ein Eintrag mit seiner Adresse, jeder Hinweis auf ihn«, sagte Pitt ungerührt. »Jawohl, Sir. Ich lasse den Durchsuchungsbefehl ausstellen« Bevor Pitt hinzufügen konnte, was ihm auf der Zunge lag, war Tellman verschwunden. Pitt schritt zur Tür und stellte sich auf den Treppenabsatz. »Tellman!« Tellman drehte sich auf der Treppe um. »Ja, Mr. Pitt?« »Seien Sie höflich zu ihm. Mr. Carvell ist ein angesehener Geschäftsmann und hat sich, soweit wir bisher wissen, nichts zuschulden kommen lassen. Vergessen Sie das nicht!« »Nein, natürlich nicht, Sir«, sagte Tellman mit einem Lächeln und verschwand die Treppe hinunter.
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Pitt stand vor einer weiteren Aufgabe, die ihm zuwider war. Zehn Minuten verbrachte er vor dem Spiegel, band seine Krawatte neu, zupfte das Jackett zurecht und ordnete den Inhalt seiner Taschen, um den Augenblick hinauszuzögern. Schließlich hatte er alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Er nahm seinen Hut vom Haken, trat aus dem Büro und ging die Treppe hinunter. Am Schalter blieb er stehen. Der diensthabende Sergeant bemerkte sein ordentliches Erscheinungsbild mit Erstaunen und Respekt. »Ich werde Mrs. Arledge einen Besuch abstatten«, sagte Pitt mit heiserer Stimme. »Wenn Inspektor Tellman vor mir zurückkommt, so lassen Sie ihn auf mich warten. Ich möchte wissen, was er herausgefunden hat.« »Jawohl, Sir! Sir ...« »Ja?« »Glauben Sie, dieser Mr. Carvell ist der Täter, Mr. Pitt, Sir?« »Nein - nein, ich glaube nicht, aber es ist immerhin möglich.« »Ja, Sir. Verzeihen Sie, ich mußte einfach fragen.« Pitt lächelte, ging hinaus und versuchte eine Droschke zu ergattern. »Ja bitte, Oberinspektor?« fragte Dulcie Arledge mit der ihr eigenen Höflichkeit und ohne sichtliche Überraschung. Sie war immer noch in Schwarz gekleidet, und auch dieses Mal sehr elegant. Die gerüschten Ärmel waren auf der Schulter mit einer schwarzen Samtschleife geschmackvoll und unauffällig verziert. Als sie ihn anblickte, trat eine kleine Anspannung in ihr Gesicht, ihr Blick verdunkelte sich. »Haben Sie neue Erkenntnisse?« Es war ihm zuwider, aber er mußte gewisse Fragen stellen, aus denen sie erkennen würde, daß dahinter ein häßlicher Verdacht lag. Die Tatsache, daß sie, wenigstens teilweise, die Wahrheit bereits erahnte, machte seine Aufgabe etwas leichter. Sie waren im Salon. Er wartete darauf, daß sie sich setzen würde, und nahm dann auf dem eleganten Polstersofa ihr gegenüber Platz.
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»Ich habe herausgefunden, zu welchen Türen die Schlüssel passen, Mrs. Arledge«, begann er. Sie atmete tief ein. »Ja?« sagte sie mit belegter Stimme. »Es tut mir leid, es handelt sich um ein Privathaus.« Sie sah ihn unverwandt an, mit klaren, sehr blauen Augen. Die Hände in ihrem Schoß waren zusammengepreßt, so daß die Fingerknöchel weiß hervortraten. »Das Haus einer Frau?« fragte sie mit leiser Stimme, das kaum mehr als ein Flüstern war. Er wünschte, er hätte dies bestätigen können. Es wäre leichter gewesen als das, was er ihr mitzuteilen hatte. Am liebsten hätte er es ihr überhaupt verschwiegen, aber die Wahrscheinlichkeit war groß, daß es, wenn Farnsworth sich durchsetzte, schon bald in der Öffentlichkeit bekannt würde. »Meinen Sie, Ihr Mann hat sich vielleicht - zu einem anderen Menschen hingezogen gefühlt?« fragte er. Sie war blaß und wich seinem Blick jetzt aus. Ihre Augen waren auf das farbenfrohe Muster des Teppichs gerichtet. »Als Frau muß man lernen, sich darein zu schicken, Mr. Pitt. Man will es nicht wahrhaben, aber ...« Plötzlich sah sie zu ihm auf. »Ja, wenn ich ehrlich bin, so ist mir dieser Gedanke sehr wohl gekommen. Es gab kleine Andeutungen; Abwesenheiten, die er nicht begründete,- Geschenke, die nicht von mir waren. Ich fragte mich...« Wenigsten brauchte er ihr nicht zu sagen, daß es seit dreißig Jahren andauerte. Diesen Schmerz konnte er ihr ersparen. »Oberinspektor.« »Ja, Madam?« Sie forschte in seinem Gesicht. »Ist sie - verheiratet?« Der Grund für ihre Frage war klar,- es war derselbe Gedanke, dem Farnsworth nacheiferte. »Warum zögern Sie, Oberinspektor?.« fragte sie ängstlich. »Ist sie - sehr jung?« Sie brachte die Worte nur schwer über die Lippen. »Vielleicht hat sie einen Vater? Oder einen Bruder ...« Sie brach ab. »Das Haus gehört einem Mann, Mrs. Arledge.«
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Sie runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht. Ich dachte, Sie hätten gesagt -« Wieder unterbrach sie sich. Er konnte nicht länger um den Punkt herummanövrieren. »Ihr Mann war einem anderen Mann zugeneigt.« Sie war wie vor den Kopf geschlagen. »Einem Mann ... ?« »Es tut mir leid.« Er war sich seiner brutalen Einmischung schrecklich bewußt. »Aber - das ist nicht möglich!« Plötzlich schoß ihr die Röte ins Gesicht, und ihre Augen waren weit geöffnet. »Das kann nicht sein. Sie haben sich geirrt. Es ist - nein nein!« »Ich wünschte, es wäre ein Irrtum, aber es ist die Wahrheit.« »Es muß einer sein«, wiederholte sie dumpf. »Es kann nicht sein »Er hat es sofort zugegeben, und einige Gegenstände Ihres Mannes, darunter die zweite silberne Haarbürste, die zu der in seinem Ankleidezimmer hier gehört, befanden sich dort.« »Das ist - entsetzlich«, sagte sie und schüttelte fortwährend den Kopf. »Warum haben Sie mir von dieser Abartigkeit erzählt?« »Ich hätte es viel lieber nicht getan, Mrs. Arledge«, sagte er mit starkem Mitgefühl. »Wenn ich hätte zulassen können, daß er dieses Geheimnis mit ins Grab nimmt, hätte ich es getan. Aber ich muß Ihnen noch viele Fragen stellen, aus denen Sie herausgehört hätten, daß dahinter ein Verdacht steht.« Er betrachtete sie ernst und hoffte darauf, daß sie ihm glaubte. »Sie wären allein geblieben mit dem Schock und Ihren Ängsten, bis Sie statt dessen vielleicht aus der Zeitung davon erfahren hätten.« Sie sah ihn hilflos an und weigerte sich immer noch, die Wahrheit anzunehmen. »Was für Fragen?« sagte sie schließlich. Ihre Stimme war noch brüchig, aber sie hatte sich offensichtlich, trotz ihres
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Entsetzens und des neuen, nicht vorhergesehen Schmerzes, wieder in der Gewalt. Hatte Ihr Mann noch andere Freunde, denen er sehr nahe stand?« fragte er leise. »Vielleicht könnten Sie mir alle Geschenke zeigen, die er nicht von Ihnen bekommen hat oder deren Herkunft Sie nicht kennen. Können Sie sich in Situationen in den letzten drei oder vier Wochen erinnern in denen er besonders angespannt war? Hatte er vielleicht Streit mit jemandem, oder stand er unter großer emotionaler Anspannung?« »Sie meinen - Sie meinen, er hat sich vielleicht mit dem Mann gestritten ... über eine andere Person?« Sie erfaßte den Sinn seiner Frage und deren Folgen auf Anhieb »Diese Möglichkeit besteht, Mrs. Arledge.« Sie war sehr blaß. »Ja - ja, wahrscheinlich ist es so. Und in ich zurückblicke, dann paßt das alles zusammen.« Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und rührte sich nicht. Er sah, wie ihre Schultern sich hoben und senkten, während sie tief ein- und ausatmete und so die Fassung zu bewahren versuchte. Er stand auf und ging zu dem kleinen Tisch, um zu sehen, ob er ihr ein Glas Sherry oder Madeira einschenken konnte. Sogleich hatte er die Karaffe gefunden und kam mit einem g e f ü l l t e n Glas zurück. Er wartete, bis sie aufsah. »Danke«, sagte sie und nahm es mit zitternden Händen. Sie sind sehr rücksichtsvoll, Oberinspektor. Es tut mir leid daß ich die Beherrschung verloren habe. Dies ist ein Schock den ich mir nie vorgestellt habe - nicht in meinen wildesten und furchtbarsten Träumen. Ich werde wohl einige Zeit brauchen, bis - bis ich der Wahrheit ins Auge sehen kann.« Sie sah auf das Glas in ihrer Hand und nahm einen kleinen Schluck Sherry, dann fiel ihr Gesicht wieder zusammen. »Ich muß es wohl glauben, oder?« Er stand immer noch nah bei ihr. »Ich fürchte, es ist tatsächlich wahr, Mrs. Arledge. Aber das macht nicht alles, was gut an ihm war - seine Großzügigkeit, seine Liebe und Verehrung für das Schöne, seinen Humor -, zunichte ...«
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»Wie können Sie nur ...«, hob sie an, hielt sich aber gleich zurück. »Armer Aidan.« Sie hob ihre Augen. »Oberinspektor, muß dies an die Öffentlichkeit gelangen? Kann man ihn nicht in Frieden ruhen lassen? Sein Verbrechen war es nicht, daß er ermordet wurde. Wäre er im Schlaf gestorben, hätte nie jemand es erfahren.« »Ich wünschte, ich könnte es Ihnen versprechen«, sagte er aufrichtig. »Doch wenn dieser Mann mit dem Tod Ihres Mannes etwas zu tun hat, wird es sich nicht vermeiden lassen, daß es schon mit seiner Verhaftung an die Öffentlichkeit gerät. Spätestens mit dem Prozeß.« Sie sah ihn an, als hätte er sie geschlagen. Es dauerte einige Augenblicke, bevor sie sich soweit gefaßt hatte, um ihre nächste Frage zu formulieren. Unterdessen stand er hilflos dabei und wünschte sich vergeblich, daß er ihr die Sache erleichtern könnte. »Glauben Sie, daß dieser - dieser Mann Aidan umgebracht hat, Herr Oberinspektor?« fragte sie schließlich mit mühsam kontrollierter Stimme. »Ich weiß nicht«, sagte er ehrlich. »Ich neige zu der Auffassung, daß er es nicht getan hat. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, aber es scheint möglich, daß diese Beziehung in irgendeiner Weise mit dem Verbrechen in Zusammenhang steht.» In dem Bemühen, das Unfaßbare zu begreifen, runzelte sie die Stirn. »Ich verstehe nicht. Was hat Captain Winthrop damit zu tun? Oder dieser andere Mensch - dieser Omnibusschaffner?« »Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Ich glaube, es ist noch ein uns bislang Unbekannter in die Sache verwickelt.« Sie wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster in den sonnigen Garten. »Es ist so schrecklich. Ich fürchte, es übersteigt mein Verständnis.« Ein heftiges Zittern durchlief sie plötzlich. »Aber natürlich werde ich Ihnen helfen, soweit ich kann. Ich versuche mir klarzumachen, daß ich Aidan längst nicht so gut kannte, wie ich gedacht habe. Doch Sie brauchen
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mich nur zu fragen, und ich werde Ihnen sagen, was ich weiß.« »Danke. Ich weiß Ihre Offenheit zu schätzen, Madam, und Ihren Mut.« Sie sah ihn mit einem dünnen Lächeln an. »Nur zu, Oberinspektor, fragen Sie.« Er verbrachte drei weitere Stunden damit, sie vorsichtig nach allen Einzelheiten in Arledges Leben zu befragen und sich dessen persönliche Sachen noch einmal anzusehen. Er nahm die Dinge mit, die weder Geschenke von ihr noch, soweit sie sagen konnte, von ihm selbst erworben worden waren. Sie zeigte ihm alles, was er zu sehen wünschte, und antwortete auf seine Fragen mit völliger Offenheit, als sei sie von der entsetzlichen Enthüllung, die er ihr offenbart hatte, zu benommen, um selbst die Erinnerungen zu schützen, die ihr besonders lieb und teuer hätten sein müssen. »Wir waren zwanzig Jahre verheiratet«, sagte sie nachdenklich, den Blick auf ein altes Konzertprogramm gerichtet. »Ich wußte nicht, daß er das aufbewahrt hat. Es war das erste Konzert, in dem wir gemeinsam waren. Ich war damals sehr unerfahren, kam gerade vom Land, wo ich aufgewachsen war, in die Stadt.« Sie wendete das vergilbte Papier in den Händen. »Sie hätten mich damals sehr naiv gefunden, Herr Oberinspektor.« »Das glaube ich nicht, Madam«, sagte er sanft. »Ich bin auch auf dem Land aufgewachsen.« Sie warf ihm einen warmherzigen Blick zu. »Ist das wahr? Wo? Oh, es tut mir leid, das ist...» »Überhaupt nicht. In Hertfordshire, auf einem großen Landgut. Mein Vater war Wildhüter dort.« Warum hatte er ihr das erzählt? Normalerweise erwähnte er das nie, diesen Teil seiner Vergangenheit, in der er Schmerz und Verlust erlitten hatte, die heute noch weh taten, in der er Ungerechtigkeiten ausgesetzt gewesen war, die nie gutgemacht wurden. »Wirklich?« Ihre klaren, dunkelblauen Augen drückten offenes Interesse aus. »Dann lieben Sie auch die Natur. Sie
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verstehen ihre Schönheit und ihre Grausamkeit manchmal, ihre Fähigkeit zu überleben? Natürlich tun Sie das.« Sie wandte ihren Blick wieder zum Fenster mit den dicken Vorhängen, den Dächern und dem Himmel dahinter. »Sie scheint um so vieles ... sauberer ..., meinen Sie nicht? Ehrlicher.« Er versuchte sich ihre Gefühle vorzustellen, den Zorn und die Verwirrung, die sie innerlich aufrieben; all die Jahre, die jetzt verschwendet, durch Betrug getrübt schienen; Erinnerungen, die plötzlich zerstört waren. Seinen Tod würde sie überwinden, das war eine saubere Wunde, doch sein Betrug würde ihr einen dauerhaften Schmerz verursachen. Er würde nicht nur ihre Zukunft trüben, sondern auch die Vergangenheit verdüstern. Ihr ganzes Erwachsenenleben, zwanzig Jahre - eine Fälschung. »Ja«, sagte er aus dem Grunde seines Herzens, »viel ehrlicher. Die Tötung eines Tieres durch ein anderes entspricht den Gesetzmäßigkeiten der Natur und ist durchaus ehrenhaft.« Sie sah ihn erstaunt und bewundernd an. »Sie sind ein außergewöhnlicher Mensch, Oberinspektor. Ich bin sehr dankbar, daß Sie mit diesem ... diesem schrecklichen Fall betraut sind. Ich hätte nie gedacht, daß es jemand mir leichtermachen könnte, aber Sie haben es getan.« Er wußte nichts darauf zu sagen. Worte schienen hohl, also lächelte er schweigend und nahm sich das nächste Papier vor, die Einladung zu einem Jagdball. Langsam und mit stockender Erinnerung erzählte sie von dem Ereignis und jener Zeit. Am frühen Abend ging er, erschöpft und zutiefst traurig. Aus dem, was er erfahren hatte, ergaben sich zahlreiche Möglichkeiten für Verbindungen. Eine hätte zu Oakley Winthrop führen können, oder zu Bart Mitchell, oder zu vielen anderen. Als er in der Bow Street ankam, wartete Tellman auf dem Flur vor seinem Büro. Sein hageres, waches Gesicht drückte Verärgerung aus, offenbar hatte er schon lange gewartet.
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»Was haben Sie herausgefunden?« fragte Pitt, als er oben auf dem Treppenabsatz angekommen war. »Nicht das geringste«, antwortete Tellman und folgte Pitt in sein Büro, ohne auf dessen Aufforderung zu warten. »Aber auch gar nichts! Es ist klar, daß er und Arledge ein Verhältnis hatten. Obwohl das gegen das Gesetz ist, könnten wir aber nur dann Anzeige erstatten, wenn wir sie dabei erwischen würden oder wenn jemand eine Beschwerde einreichte. Und da Arledge tot ist, wird das wohl kaum passieren.« »Arledge wurde nicht dort ermordet?« »Nein. »Sind Sie sich sicher?« »Es sei denn, Arledge hätte seinen Kopf über den Rand der Badewanne gehängt, und Carvell hätte hinterher sauber gemacht«, sagte Tellman mit sarkastischem Unterton. »Arledge war oft dort, hat wahrscheinlich halb da gewohnt, aber er wurde nicht dort umgebracht.« »Ich nehme an, Sie haben auch im Garten nachgesehen?« »Selbstverständlich! Und bevor Sie fragen, der Garten besteht aus Blumenbeeten, Rasenstücken und gepflasterten Wegen, und nirgends ist in letzter Zeit gegraben worden. Ich habe auch im Kohlenkeller und im Gartenschuppen nachgesehen. Er wurde dort nicht umgebracht.« Er starrte Pitt an, die Brauen zusammengezogen, die Lippen gespitzt. »Werden Sie ihn festnehmen?« »Nein.« Tellman atmete langsam ein und aus. »Gut«, sagte er schließlich. »Ich bin mir zwar nicht sicher, daß er es nicht getan hat, aber ich bin mir hundertprozentig sicher, daß wir nicht einen einzigen Beweis gegen ihn haben.« Er wand sich, als hätte ihn jemand verletzt. »Es ist mir zuwider, jemanden zu verhaften und dann keine Verurteilung zu erreichen.« Pitt versuchte in seinem Gesicht zu lesen. Tellman lächelte kalt. »Und ich will auch nicht den falschen festnehmen«, sagte er zögernd. »Aber wer weiß, wer der richtige ist?«
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Emilys Aufmerksamkeit war zweigeteilt. Zum einen war es von höchster Wichtigkeit, daß sie Jack alle Unterstützung gab, selbst wenn ihre gemeinsamen Bemühungen wahrscheinlich vergeblich sein würden. Zum anderen war sie zutiefst besorgt um Pitt. Sie hatte die Bemerkungen verschiedener Personen mit Verbindungen zur Regierung oder zu politischen Kreisen aufgeschnappt und erkannt, daß ein Klima von Angst und Schuldzuweisung entstanden war. Keiner brachte die Lösung des Falles voran oder war auch nur hilfreich in den Ermittlungen, doch der wiederholte Aufschrei der Öffentlichkeit ließ sie um ihre eigenen Positionen zittern und verleitete sie zu voreiligen Schuldzuweisungen. Jetzt, da das Datum für die Nachwahl bekannt war, wurden Reden gehalten und Artikel geschrieben, und gelegentlich mußten die Kandidaten sich bei öffentlichen Anlässen wie einem Ball oder einem Konzert zeigen. Manche dieser Anlässe, wie der Empfang eines Botschafters oder ein Staatsbesuch, waren sehr förmlich, andere, wie das Konzert an diesem Abend, weniger. Da Mina Winthrop immer noch in Trauer war, konnte sie nicht eingeladen werden. Desgleichen Dulcie Arledge. Doch Emily hatte das nächstbeste getan und Victor Garrick gebeten, zur Unterhaltung der Gäste Cello zu spielen, und da er zugesagt hatte, wurde auch Thora Garrick eingeladen. Emily war sich nicht sicher, wozu das gut sein würde, aber man mußte das Ziel nicht unbedingt sehen, um es dennoch zu erreichen. Die übrigen Gäste wurden nach politischen Überlegungen ausgewählt und waren Menschen mit Macht und Einfluß. Der Abend versprach anstrengend zu werden. Für eine angenehme Plauderei würde es keine Gelegenheit geben, jedes Wort würde auf die Waagschale gelegt werden müssen. Emily stand auf dem oberen Treppenabsatz und sah auf das Meer der Köpfe herab: die der Männer glatt gekämmt, die der Damen mit den unterschiedlichsten Frisuren, häufig mit Federn, Hüten und juwelenbesetzten Haarnadeln geschmückt. Sie versuchte sich in die richtige Gemütsverfassung zu bringen. Die Anzahl der Feinde unter den An-
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wesenden war mindestens ebenso groß wie die der Freunde - nicht nur Jacks Feinde, sondern auch die von Pitt. Sicher waren viele von ihnen Mitglieder des Inneren Kreises, einige nur peripher - so wie Micah Drummond es gewesen war -, ohne genaue Kenntnis darüber, was eigentlich in dem Geheimbund vorging. Andere dagegen hatten die oberen Sprossen der Machtleiter erklommen. Von dort übten sie ungeheuren Einfluß aus, konnten absolute Loyalität von den Mitgliedern fordern und Drohungen aussprechen, die die Laufbahn oder die Zukunft eines unwilligen Mitglieds betrafen. In Fällen von Ungehorsam und Treuebruch verhängten sie schreckliche Strafen. Doch kein Nichtmitglied wußte, wer dazugehörte und wer nicht; jeder freundlich lächelnde Herr, der mit seinem Gesprächspartner höfliche Belanglosigkeiten austauschte, jeder weißhaarige Mann mit harmloser Miene konnte solche Macht innehaben. Sie zitterte unwillkürlich, nicht aus Angst, sondern vor Wut. Unter dem Kronleuchter erkannte sie das helle Haar von Victor Garrick und begab sich auf den Weg, um ihn zu begrüßen. »Guten Abend, Mr. Garrick«, sagte sie, als sie ihn am Fuße der Treppe erreichte. Er hielt sein Cello sorgsam im Arm, ein wunderschönes Instrument, dessen Farbe warm wie Sherry im Sonnenschein leuchtete. Die geschwungene Form weckte in ihr den Wunsch, es zu berühren, doch sie wußte, daß sie damit eine Grenze überschreiten würde. Er hielt das Cello, wie er eine geliebte Frau halten würde. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich bereit erklärt haben, zu kommen«, fuhr sie fort. »Nachdem ich Sie bei Captain Winthrops Gedenkgottesdienst gehört hatte, ging mir Ihr Spiel nicht mehr aus dem Sinn.« »Ich danke Ihnen, Mrs. Radley.« Er lächelte und erwiderte ihren Blick mit ungewöhnlicher Offenheit. Er schien unter der glatten Oberfläche erforschen zu wollen, ob sie ihre Worte auch wirklich ernst meinte; ob sie ein Verständnis für die Musik und ihre Bedeutung hatte, den Ausdruck
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und die Klangfarben, oder ob sie nur den Geboten der Höflichkeit folgte. Anscheinend fiel seine Beobachtung zu seiner Zufriedenheit aus. Ein zaghaftes Lächeln erhellte sein Gesicht. »Ich spiele sehr gerne.« Sie wollte das Gespräch fortsetzen, die Situation schien günstig. »Sie haben ein sehr schönes Instrument. Ist es sehr alt?« Sein Gesicht verdunkelte sich, in seine Augen trat ein schmerzerfüllter Ausdruck. »Ja. Es ist zwar keine Guarnerius, aber es ist ein italienisches Instrument aus ungefähr der gleichen Zeit.« Sie war verwirrt. »Ist das nicht gut?« »Es ist ausgezeichnet«, sagte er mit einem heftigen Flüstern. »Es ist von unschätzbarem Wert. Geld bedeutet nichts, gemessen an dieser Schönheit. Geld ist einfach nur Papier - das hier ist Leidenschaft, Ausdruckskraft, Liebe, Kummer, alles, was Bedeutung hat. Es ist die Stimme der Seele des Menschen.« Sie wollte ihn schon fragen, ob ihn jemand beleidigt hätte, weil er den Geldwert des Instruments geschätzt hatte, als ihr Blick auf einen Kratzer in dem glatten Holz fiel. Sie war bekümmert. Das Instrument hatte viele der Eigenschaften eines lebenden Organismus, aber nicht die Kraft, sich selbst zu heilen. Der Kratzer würde für immer bleiben. Als sie ihren Blick hob, begegnete sie seinem, der mit kaum verhaltenem Zorn erfüllt war. Es bedurfte keiner Worte. In dem Augenblick teilte sie mit ihm die Hilflosigkeit und den Abscheu des Künstlers, der sich dem Vandalismus, der sinnlosen Zerstörung von unwiederbringlicher Schönheit gegenübersieht. »Beeinträchtigt es den Klang?« fragte sie, war sich aber fast sicher, daß das nicht der Fall war. Er schüttelte den Kopf. Thora gesellte sich zu ihnen. Sie sah bildhübsch aus in elfenbeinfarbener Spitze, die Schultern und Arme bis zu den Ellbogen bedeckte und ein tiefes Dekollete verhüllte. Der Rock war kaum gekraust und wurde durch eine winzige
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Turnüre gehalten. Insgesamt war ihr Aufzug nach der letzten Mode und stand ihr ausgezeichnet. Sie blickte Victor mit einem kleinen Stirnrunzeln an. »Du belästigst Mrs. Radley doch nicht mit diesem unglückseligen Mißgeschick, mein Lieber? Am besten, du vergißt, daß es je passiert ist. Es kann nicht ungeschehen gemacht werden, wie du weißt.« Er starrte sie unverwandt an. »Natürlich weiß ich das, Mama. Wenn ein Schlag ausgeteilt worden ist, kann er niemals ungeschehen gemacht werden.« Er wandte sich zu Emily. »Das stimmt doch, Mrs. Radley? Das Fleisch ist verletzt, ebenso wie die Seele.« Thora wollte etwas sagen, unterließ es dann aber. Sie sah das Cello, dann ihren Sohn an. Victor schien auf eine Antwort zu warten. »Nein«, sagte Emily rasch, »es kann nie mehr ungeschehen gemacht werden.« »Meinen Sie, wir sollten so tun, als sei es nie passiert?« fragte Victor, ohne den Blick von Emily zu nehmen. »Wenn sich Freunde erkundigen, sollten wir tapfer lächeln und so tun, als sei alles bestens - sollten auch uns selbst gegenüber vorgeben, daß es nicht weh tut, daß es schon bald vorüber sein wird, daß es zweifelsohne ein Unfall war, den keiner beabsichtigt hatte.« Seine Stimme hatte an Schärfe zugenommen,- ein Anflug von Panik schwang darin mit. »Ich bin mir nicht sicher, daß ich da zustimmen kann«, erwiderte Emily und versuchte, sowohl ehrlich als auch taktvoll zu sein. »Große Aufregung hilft keinem, aber ich bin der Meinung, daß derjenige, der Ihr Cello beschädigt hat, in ihrer Schuld steht, und ich sehe keinen Grund, warum Sie so tun sollten, als sei das nicht der Fall.« Victor war überrascht. Thora wurde vor Verlegenheit rot und runzelte die Stirn, als hätte sie Emily nicht richtig verstanden. »Manchmal ist Unachtsamkeit der Grund für ein Mißgeschick«, erklärte Emily. »Aber unabhängig davon sollten wir die Verantwortung für unser Handeln übernehmen.
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Finden Sie nicht auch? Wir können nicht erwarten, daß andere für uns einstehen.« »Es ist nicht immer so einfach ...«, fing Thora an und brach ab. Victor warf Emily ein charmantes Lächeln zu. »Ich danke Ihnen, Mrs. Radley. Ich finde, Sie haben es genau erfaßt. Unachtsamkeit, genau das ist es. Man muß Verantwortung übernehmen. Ehrlichkeit, das ist der Schlüssel.« »Wissen Sie denn nicht, wer Ihr Cello beschädigt hat?« fragte sie. »Doch, ich weiß es.« Thora war verblüfft. »Victor ...« Doch bevor er antworten konnte, wurden sie von einer Frau von kräftigem Wuchs und mit unglaublich schwarzem Haar unterbrochen. »Entschuldigen Sie, Mrs. Radley, ich muß Ihnen einfach sagen, wie sehr mich Mr. Radleys Rede gestern beeindruckt hat. Er hat die derzeitige Situation in Afrika genau beschrieben. Es ist Jahre her, daß ich jemanden gesehen habe, der die wichtigen Punkte mit solcher Klarheit erfaßt hat.« Sie ignorierte Victor, als wäre er ein Hausangestellter, und schien nicht einmal zu bemerken, daß Thora mit zu der Gruppe gehörte. »Ich habe gerade zu meinem Mann gesagt, daß wir mehr Männer wie ihn in der Regierung brauchen.« Sie deutete vage auf einen hageren Mann mit hervorspringender Nase. Emily fühlte sich an das Bild eines Geiers erinnert, das sie einmal gesehen hatte. Er trug Militäruniform. »Brigadegeneral Gibson-Jones, wissen Sie?« Die Frau schien anzunehmen, daß der Name bekannt sei, Da Emily sich aber weder an den Brigadegeneral noch an seine Frau erinnern konnte, war sie dankbar, den Namen genannt zu bekommen. Sie wollte schon eine passende Bemerkung machen und Victor und Thora einführen, doch Mrs. Gibson-Jones wandte sich plötzlich, als hätte sie ihren Fauxpas bemerkt, Victor zu. »Werden Sie für uns spielen? Wie hübsch! Ich finde, Musik macht sich immer gut bei einer Veranstaltung, meinen Sie nicht auch?« Und ohne auf eine Antwort zu warten, zog
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sie davon, da sie einen anderen Gast erspäht hatte, mit dem sie zu sprechen wünschte. Emily sah Victor an. »Es tut mir leid«, sagte sie mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Wispern war. Victor lächelte,- es war ein süßes, betörendes Lächeln, wie ein heller Sonnenstrahl. »Was meint sie wohl, was ich spielen werde? Eine Gigue?« »Können Sie sich vorstellen, daß sie zu einer Gigue tanzt?» fragte Emily im Flüsterton. Victors Lächeln weitete sich zu einem Grinsen. Für den Moment schien er sein Cello und den ihm zugefügten Schaden vergessen zu haben. Emily entschuldigte sich und machte sich daran, die charmante Gastgeberin zu spielen. Sie ging von einem Grüppchen zum nächsten, erkundigte sich nach dem Wohlergehen der Gäste, plauderte über Mode, Kinder, das Wetter, den Hof und die Gesellschaft - kurz, sie griff alle für eine höfliche Konversation geeigneten Themen auf. Zwischendurch sah sie Jack, der sich mit den anwesenden Männern unterhielt - vermögenden Männern, aus guten Familien und mit Verbindungen aller Art, offenen ebenso wie verschwiegenen. Wieder fragte sie sich, wie viele von ihnen wohl dem Inneren Kreis angehörten,- wer von ihnen wußte, wer ebenfalls Mitglied war; wer in Angst und Schuld lebte,wer zu Loyalität verpflichtet, wer zum Betrug bereit war. Dann verscheuchte sie diese Gedanken, sie brachten sie nicht weiter. »Wir brauchen eine Veränderung«, hörte sie einen dünnen Mann sagen, der sich seine Brille auf der Nase zurechtrückte. »Diese Polizei ist einfach nicht gut genug. Großer Gott, wenn ein Mann vom Rang eines Oakley Winthrop im Hyde Park zu Tode gehackt werden kann, dann versinken wir in Anarchie. Komplette Anarchie.« »Völlig inkompetent, der mit dem Fall beauftragte Beamte«, pflichtete ihm sein untersetzter Gesprächspartner bei, während er bei weit geöffnetem Jackett seine Daumen in die Armlöcher seiner Weste steckte. »Ich werde eine An-
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frage ins Parlament einbringen. Es muß etwas geschehen. Es ist schon bald soweit, daß ein gottesfürchtiger Bürger sich nicht mehr traut, nach Einbruch der Dunkelheit einen Spaziergang zu machen. Überall wird hinter vorgehaltener Hand geflüstert, es ist die Rede von Anarchisten, Bomben, Iren. Keiner traut mehr seinem Nachbarn. Die ganze Welt gerät aus den Fugen.« »Meiner Meinung nach sind die Irrenanstalten schuld«, warf ein dritter Mann heftig ein. »Was ist das denn für ein Wahnsinniger, der so etwas tun kann und trotzdem frei rumläuft? Das möchte ich gerne wissen. Keiner rührt auch nur den kleinen Finger in dieser Sache.« »Haben Sie Uttley zu dem Thema gehört?« fragte der erste Mann und ließ seinen Blick von einem Gesprächspartner zum anderen wandern. »Er hat recht, wissen Sie. Wir brauchen Veränderungen. Allerdings glaube ich nicht an einen Verrückten. Ich bin der Auffassung, daß es ein geistig völlig gesunder, aber äußerst gefährlicher Mann ist. Ich versichere Ihnen, es gibt eine Verbindung zwischen den Opfern, ganz gleich, was darüber gesagt wird.« »Glauben Sie wirklich, Ponsonby?« fragte der untersetzte Mann erstaunt. »Ich dachte, der zweite Kerl sei ein Musiker gewesen. Ziemlich guter sogar. Kannten Sie Winthrop? Von der Marine, was?« »Komischer Kerl«, sagte Ponsonby und verzog das Gesicht. »Anständige Familie, aus der er stammt. Der Vater macht ziemlich viel Wirbel, armer Kerl. Nimmt es schwer. Kann man ihm nicht verübeln.« »Kannten Sie ihn?« »Marlborough Winthrop?« »Nein, nein, Oakley, Mann. Den Sohn.« »Bin ihm ein- oder zweimal begegnet. Warum? Mochte ihn nicht besonders. Zu anmaßend, fand ich.« »Ganz der Marinetyp, was? Dachte immer, er sei auf dem Achterdeck, wie?« Ponsonby zögerte. »Nicht unbedingt. Mußte eher immer im Mittelpunkt stehen, redete laufend, gab seine Ansichten zum besten. Hab' ihn nur ein- oder zweimal gesehen.
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Eigentlich kannte ich den Schwager. Ein gewisser Mitchell, soweit ich mich erinnere. Interessanter Typ. Ziemlich ernst. War bis vor kurzem in Afrika, soweit ich weiß.« »Ernst? Wie meinen Sie das?« »Denkt mehr, als er zu verstehen gibt, wenn Sie wissen, was ich meine. Konnte seinen Schwager nicht ausstehen. Hat mir gute Tips für ein paar Investitionen gegeben, muß ich sagen. Mich an einen ausgezeichneten Mann in der City verwiesen. Ein Kerl namens Carvell. Hat mir ein paar hervorragende Aktien eingekauft. Sehr erfolgreich.« »Sehr nützlich, so etwas, wie?« »Was?« »Nützlich. Einen guten Finanzberater zu haben.« »Aber ja. Apropos Investitionen, was halten Sie von ...« Emily ging weiter. In ihrem Kopf schwirrten aufgeschnappte Worte, unausgegorene Ideen, Gedanken umher, über die sie mit Charlotte sprechen mußte.
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7. Kapitel
S
elbstverständlich lese ich jeden Tag die Zeitung«, sagte Micah Drummond grimmig. Er stand am Fenster der Bibliothek des kleinen Hauses, das er sechs Monate zuvor, unmittelbar vor seiner Hochzeit, gekauft hatte, weil ihm die alte Wohnung seinem neuen Status nicht angemessen schien. Das Haus, in dem er mit seiner ersten Frau gelebt hatte und wo auch seine Töchter aufgewachsen waren, hatte er verkauft, als er Witwer wurde. Seine Töchter waren damals schon verheiratet gewesen, und er fühlte sich ungewöhnlich einsam und von Erinnerungen geplagt. Jetzt war alles anders. Er war aus dem Polizeidienst ausgeschieden, um Eleanor Byam zu heiraten, deren Leben ohne eigenes Verschulden von tragischen Ereignissen und einem Skandal aus der Bahn geworfen worden war. Seine Liebe für sie war so stark, daß er seine Pensionierung gerne in Kauf nahm, da sie ihm die Annehmlichkeit verschaffte, sich ständig in Eleanors Gegenwart aufzuhalten. Ein sorgenvoller Ausdruck stand in seinem langen, einfühlsamen Gesicht mit den ernsten Augen und dem schmalen Mund. »Ich wünschte, ich könnte mit einem hilfreichen Vorschlag aufwarten, aber mit jedem neuen Ereignis werde ich nur verwirrter.« Er versenkte seine Hände tiefer in die Taschen. »Haben Sie schon eine Verbindung zwischen Winthrop, Arledge und dem Omnibusschaffner entdeckt?« »Nein. Möglicherweise kannten Winthrop und Arledge sich, genauer gesagt kannte wahrscheinlich Winthrops Schwager Mitchell beide«, erwiderte Pitt, der in einem bequemen, grünen Lehnstuhl saß. »Aber der Omnibusschaffner ist uns ein komplettes Rätsel. Männer wie Winthrop
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fahren nicht mit dem Omnibus. Vielleicht ist Arledge mal mit einem gefahren, aber das ist eher unwahrscheinlich.« Drummond stand mit dem Rücken zum offenen Kamin. Er musterte Pitt besorgt. »Warum? Wieso denken Sie, Arledge hätte einen Omnibus benutzt? Warum sollte ein Mann in seiner Position das tun?« »Es ist nur eine entfernte Möglichkeit«, erwiderte Pitt. »Er hatte einen - einen Liebhaber.« »Einen was?« Ein winziges Lächeln umspielte Drummonds Mund. »Sie meinen, eine Geliebte?« »Nein.« Pitt seufzte. »Das meine ich nicht. Ich meinte genau das, was ich gesagt habe. Das war schließlich eine Verbindung, die nicht bekannt werden durfte. Er könnte einen Omnibus benutzt haben »Aber Sie glauben es nicht«, vervollständigte Drummond den Gedanken für ihn. »Ein Streit?« Mit gerunzelter Stirn forschte er in Pitts Gesicht. »Das reicht Ihnen nicht?« Pitt hatte den Gedanken schon erwogen, aber diese Lösung schien ihm zu leicht. »Es würde mir vielleicht reichen, wenn ich den Mann nicht kennengelernt hätte«, sagte er langsam. »Aber der war zutiefst verzweifelt. Jaja, ich weiß, das bedeutet noch lange nicht, daß er es nicht selbst getan hat - es wäre nicht das erste Mal, daß ein Mensch sein Liebstes umgebracht hätte und sich anschließend vor Trauer und Gram verzehrte. Ich glaube nur einfach nicht, daß er zu dieser Sorte Mensch gehört.« Drummond biß sich auf die Lippen. »Es würde mich überraschen, wenn Farnsworth Ihre Ansicht teilte.« »Das tut er ja auch nicht«, bestätigte Pitt mit einem heiseren Lachen. »Doch bisher gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, daß eine Verbindung zwischen Carvell und Winthrop oder Yeats besteht. Also brauche ich noch nicht zu handeln.« Drummond blickte ihn forschend an, so daß Pitt begann, sich unwohl zu fühlen. »Bisher gibt es zwischen den drei Personen keine tatsächliche Verbindung«, führte Pitt weiter aus. »Nur
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eine nicht sehr wichtige geschäftliche Angelegenheit. Ich glaube einfach nicht, daß dies alles wegen einer Geldsache geschehen ist.« »Ich auch nicht«, stimmte Drummond ihm zu. »Da steckt Leidenschaft dahinter, eine Art Wahnsinn, die Gott sei Dank - viel ungewöhnlicher ist als Gier. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, was für eine Leidenschaft das sein könnte.« Er zögerte und sah Pitt an. »Ja?« hakte Pitt nach. »Vielleicht ist es - etwas bizarr ...«, sagte Drummond zögernd und unterbrach sich wieder. Diesmal sagte Pitt nichts, wußte er doch, daß Drummond seinen Gedankengang fortsetzen würde. Er beobachtete die Kämpfe, die sich in Drummonds Mienenspiel abzeichneten, die Bemühungen, Worte für den Gedanken zu finden, der ihn eben so verstört hatte. »Könnte es etwas mit dem Inneren Kreis zu tun haben?« Drummond sah ihn forschend an. »Ich weiß, daß das im Fall des Omnibusschaffners unwahrscheinlich ist, aber nicht unmöglich.« »Ein Loyalitätsbruch?« sagte Pitt überrascht. »Sie meinen, eine Art interner Bestrafung? Ist das nicht ein bißchen ...?« »Extrem, meinen Sie?« führte Drummond für ihn fort. »Vielleicht. Aber manchmal denke ich, daß Sie sich nicht recht vorstellen können, wie einflußreich die sind - und wie unbarmherzig.« »Eine Art Exekution?« Pitt war noch nicht überzeugt. Er befürchtete, Drummond verlöre aufgrund seiner eigenen Geschichte das Gefühl für die Verhältnismäßigkeit. »Ist es nicht eher ihre Art, jemanden einfach in den Ruin zu treiben, sie aus den Clubs auszuschließen, ihnen Kredit zu verweigern und ihre Schulden einzufordern? Das ist doch äußerst effektiv. Manch einer hat sich schon aus geringerem Anlaß die Kugel gegeben.« »Das weiß ich«, sagte Drummond grimmig. »Manch einer. Aber Winthrop war in der Marine. Vielleicht sind sie nicht an ihn herangekommen.«
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Pitt wußte, daß seine Zweifel in seinem Gesicht zu lesen waren. »Hören Sie mir zu, Pitt.« Drummond kam einen Schritt auf ihn zu. Seine Miene war finster, sein Blick bohrend. »Ich weiß eine Menge mehr als Sie über den Inneren Kreis. Sie kennen nur Männer des äußeren Ringes, Männer wie mich, die hineingezogen wurden und außer den wohltätigen Zielen, die für jeden offensichtlich sind, und ein paar oberflächlichen Verpflichtungen nichts sahen. Das sind nur die ‚Ritter des Grüns’.« Ein verlegener Ausdruck trat in Drummonds Gesicht, doch es war ihm viel zu ernst um die Sache, als daß er dem peinlichen Gefühl nachgeben und nicht weiterreden würde. »Das war meine Rolle, ein ‚Ritter des Grüns’, jemand, der gebunden war, doch tatsächlich nie auf die Probe gestellt wurde. Darauf folgen die ‚Ritter des Karmesin’«. Das sind die, die sich beweisen und mit Blut beflecken müssen und sich so unumkehrbar verpflichten. Zum nächsten Rang gehören die ,Lords des Silber’. Sie haben die Macht, zu strafen und zu belohnen. Doch dahinter, Pitt, steht ein Mann, der ‚Lord des Purpur’.« Er sah Pitts Gesichtsausdruck. »Gut!« sagte er mit einer Schärfe, die Pitt bei ihm nicht kannte. »Lächeln Sie ruhig. Es ist absurd, ich weiß. Doch angesichts der Macht, die dieser eine Mann innehat, vergeht einem jedes Lachen. Sie ist geheim, und für die Mitglieder des Kreises ist sie total. Wenn er den Ruin oder die Todesstrafe über ein Mitglied verhängt, so wird seinen Befehlen Folge geleistet. Und glauben Sie mir, die Handlanger würden selber die Todesstrafe erdulden, ohne ihn zu verraten.« In diesem liebevoll eingerichteten Raum mit seiner georgianischen Schlichtheit und der anheimelnden Wärme hätte eine solche Unterredung lediglich eine etwas makabre Art von Unterhaltung sein sollen. Doch Pitt, der Drummonds Gesicht, die angespannten Muskeln seines Körpers und das Ensetzen in dessen Augen sah, spürte Angst in sich aufsteigen, die ihn erschauern ließ. Die Wärme des Raumes spürte er nicht mehr.
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Drummond erkannte, daß er verstanden worden war. »Es muß ja nicht so sein«, sagte er leise. »Vielleicht hat es gar nichts mit dem Inneren Kreis zu tun. Doch denken Sie an meine Worte, Pitt. Wer auch immer er sein mag, Sie haben schon einmal seinen Unmut auf sich gezogen, als Sie Lord Byam und Lord Anstiss bloßstellten. Das hat er sicherlich nicht vergessen. Seien Sie achtsam und versuchen Sie, auch Freunde zu gewinnen, neben den Feinden.« Pitt kannte Drummond gut genug, um zu wissen, daß er ihm keinen Rückzug empfahl. Dieser Gedanke lag ihm fern. Drummond hatte auf ihn manchmal etwas steif gewirkt, was er auf dessen militärische Ausbildung und die aristokratische Herkunft zurückführte. Auch schien Drummond nicht recht zu verstehen, was Armut und Verzweiflung bedeuten konnten. Pitt hatte sich gefragt, ob Drummond zu echtem Lachen und tiefer Leidenschaft fähig war. Doch nicht einen Moment lang hatte er an seinem Mut und Ehrgefühl gezweifelt. Er war einer von diesen eleganten, zurückhaltenden und äußerst höflichen Engländern mit einem besonders trockenen Sinn für Humor, denen es manchmal schwerfiel, sich richtig auszudrücken, und die leicht in Verlegenheit gerieten. Sie fügten sich in unmögliche Situationen, ohne zu klagen. Auch in Todesgefahr würden sie auf ihrem Posten ausharren und ihn niemals, selbst wenn sie der letzte Mensch auf der Erde wären, verlassen. »Danke für Ihre Worte der Warnung«, sagte Pitt sachlich. »Ich werde die Möglichkeit nicht außer acht lassen, auch wenn ich es in diesem Fall für unwahrscheinlich halte.« Nach und nach entspannte sich Drummond. Er wollte ein anderes Thema anschneiden, als es klopfte und beide sich zur Tür umdrehten. »Ja bitte?« sagte Drummond. Die Tür öffnete sich, und Eleanor Drummond trat ein. Pitt hatte sie seit der Hochzeit, bei der er und Charlotte zugegen gewesen waren, nicht mehr gesehen. Sie hatte sich sehr verändert. Sie strahlte eine tiefe Zufriedenheit aus, als fühlte sie sich ihres Glücks sicher und brauchte es nicht
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festzuhalten. Sie trug ein dunkelblaues Kleid, das ihr dunkles Haar mit den vereinzelten grauen Strähnen, ihre olivfarbene Haut und die klaren grauen Augen gut zur Geltung brachte. Der friedvolle Ausdruck in ihrem Gesicht gefiel Pitt sehr. Er erhob sich. »Guten Tag, Mrs. Drummond. Verzeihen Sie, daß ich Ihre Zeit in Anspruch nehme, aber ich benötige einen Ratschlag-« »Keine Ursache, Mr. Pitt«, sagte sie rasch und lächelte erst Drummond zu, dann ihm. »Wir haben Sie schon zu lange nicht mehr gesehen. Es ist bedauerlich, daß diese unglückselige Angelegenheit im Hyde Park Sie hergebracht hat. Deswegen sind Sie doch hier, nicht wahr?« »Ja. Leider ist das so.« Er fühlte sich schuldbewußt, war sich gleichzeitig aber sicher, daß er Drummond nie einen normalen Besuch abstatten würde. Drummond war sein Vorgesetzter gewesen und nur in gewisser Weise ein Freund. »Würden Sie und Mrs. Pitt einmal zum Abendessen kommen, wenn diese Sache abgeschlossen ist?« fragte sie. »Dann können wir über angenehmere Dinge sprechen.« Ihre Augen leuchteten sichtlich vor Freude. »Ich freue mich so, daß Sie jetzt Oberinspektor sind und dies nichts mit Micah zu tun hat. Es muß eine scheußliche Sache sein. Über Aidan Arledges Tod war ich sehr traurig, er war ein charmanter Mann. Für Captain Winthrop kann ich nicht die rechte Trauer empfinden, obwohl das vielleicht ungerecht ist.« »Kannten Sie ihn?« fragte er überrascht. »Aber nein«, wehrte sie ab. »Eigentlich nicht. Aber die Gesellschaft ist sehr klein. Ich bin mit Lord und Lady Winthrop bekannt, aber ich kann nicht sagen, daß ich sie kenne.« Sie sah ihn entschuldigend an. »Es ist nicht leicht, mit ihnen in Kontakt zu kommen, außer einem sehr oberflächlichen, der nur aus einem höflichen Austausch von Gemeinplätzen besteht, wenn man sich alljährlich bei denselben Anlässen wieder begegnet. Sie sind sehr - steif und
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sehr korrekt. Sicherlich würde man ihre Persönlichkeit besser kennenlernen, wenn -« Sie unterbrach sich. Sie wußten beide, was sie sagen wollte, so daß es sich erübrigte. »Und der Captain?« fragte er. »Ich bin ihm ein- oder zweimal begegnet.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Bei ihm hatte ich immer das Gefühl, daß er mich mit Herablassung behandelte. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht lag es daran, daß es in der Marine keine Frauen gibt. Ich hatte den Eindruck, daß seiner Ansicht nach alle Zivilpersonen einer untergeordneten Spezies angehörten. Sein Benehmen war immer von ausgesuchter Höflichkeit.« Sie sah Pitt forschend an. »Aber es war eine Art Höflichkeit, wie man sie Untergebenen gegenüber zeigt. Sie wissen, was ich meine, nicht wahr?« »Meinen Sie, er könnte Arledge gekannt haben?« fragte Pitt. »Nein«, erwiderte sie spontan. »Ich kann mir keine zwei Menschen vorstellen, die weniger gemeinsam haben.« Drummond warf Pitt einen dunklen Blick zu. Pitt lächelte ihm zu. Er hatte die Warnung verstanden. Er hatte nicht die Absicht, Arledges Liebesleben vor Eleanor zu erwähnen, ganz zu schweigen von der Art der Liebesaffäre. Eleanor trat an Drummonds Seite, und er legte ihr - etwas verlegen - den Arm um die Schulter. Daß er das tun durfte, war immer noch ganz neu für ihn und eine große Freude. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr helfen, Pitt«, sagte er ernsthaft. »Vielleicht ist es tatsächlich das Werk eines Verrückten, und um den zu finden, müssen Sie herausfinden, was seinen Opfern gemeinsam ist.« Er sah Pitt unverwandt an. Ihre Unterhaltung über den Inneren Kreis schwebte im Raum. »Es ist sehr unwahrscheinlich, daß sie miteinander bekannt waren«, fuhr er fort. »Aber vielleicht gibt es jemanden, den sie alle kannten. Ich nehme an, daß Sie Erpressung in Betracht gezogen haben?« Er zog Eleanor etwas näher an sich heran.
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»Ich könnte mir denken, daß Yeats etwas gewußt hat«, erwiderte Pitt ebenso vorsichtig. »Doch wie?« »Führt seine Route am Park vorbei?« fragte Drummond. »Er hatte eine späte Tour, ansonsten wäre er nicht mitten in der Nacht in Shepherd's Bush ausgestiegen.« »Das stimmt zwar, aber die Route geht nicht am Hyde Park vorbei«, erwiderte Pitt. »Tellman hat das überprüft.« Drummond zog ein Gesicht. »Wie kommen Sie mit Tellman klar?« Pitt hatte bereits beschlossen, sich zurückhaltend zu äußern. »Er ist schnell«, gab er zurück. »Und tüchtig. Er will Carvell genausowenig verhaften wie ich.« Eleanor sah von einem zum anderen, stellte aber keine Fragen. Drummond lächelte. »So kenne ich ihn», bestätigte er. »Wenn es etwas gibt, das Tellman gegen den Strich geht, dann, daß er jemanden verhaftet, den er hinterher wieder gehen lassen muß. Er will alle Beweise für eine Verurteilung beisammen haben, bevor er sich so weit vorwagt. Er ist ein arger Feind, Pitt, aber auch ein guter Freund.« »Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Pitt neutral. »Er ist auch der gebotene Anführer«, fuhr Drummond fort, ohne seinen Blick von Pitt weichen zu lassen. Er schien leicht amüsiert. »Die anderen werden ihm folgen, wenn Sie das zulassen.« »Ich weiß«, sagte Pitt trocken und dachte an Le Grange. Drummonds Lächeln wurde breiter, er sagte aber nichts. »Darf ich Ihnen etwas anbieten, Mr. Pitt?« fragte Eleanor. »Für einen Lunch ist es zu früh, aber vielleicht ein Glas Wein? Oder Limonade, wenn Sie das vorziehen?« »Limonade wäre mir recht, danke«, sagte Pitt. Er hatte bereits entschieden, wem er seinen nächsten Besuch abstatten würde, und eine kleine Verzögerung, die Möglichkeit, sich zu stärken, war willkommen. »Das ist genau das Richtige.« Als er sich eine halbe Stunde später verabschiedet hatte, bestieg er eine Droschke und ließ sich über die Lambeth
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Bridge in südlicher Richtung kutschieren, am Lambeth Palace vorbei, wo der Erzbischof von Canterbury seine offizielle Residenz hatte, entlang der Lambeth Road zu der riesigen, bedrohlichen Kulisse der Bethlehem-Irrenanstalt, landläufig als Bedlam bekannt. Er war schon des öfteren hier gewesen, und der Anblick ließ Erinnerungen an Angst, Verwirrung und ein verzehrendes Mitleid in ihm aufsteigen. Er stieg aus, zahlte und ging auf das Haupttor zu. Man begrüßte ihn mit Zurückhaltung und ließ ihn erst ein, nachdem er sich ausgewiesen hatte. Über eine Viertelstunde wartete er in einem düsteren Raum voller ledergebundener Bücher, in dem es ungelüftet und nach altem Staub roch, bis er schließlich zum Direktor der Anstalt geführt wurde. Er war ein kleiner Mann mit kugelrunden Augen und buschigem Backenbart. Ein paar Strähnen seines grauen Haars waren über den Schädel drapiert. Er war eindeutig verstimmt. »Ich habe bereits Ihrem Inspektor mitgeteilt, daß keiner aus der Anstalt entkommen ist«, sagte er steif, ohne sich von seinem Ledersessel zu erheben. »Das passiert einfach nicht. Wir haben ein ausgezeichnetes System, und selbst wenn jemand das Gelände ohne Erlaubnis verließe, wüßten wir es innerhalb kürzester Zeit. Und wenn es ein als gefährlich geltender Patient wäre, würden wir selbstverständlich die zuständigen Behörden umgehend darüber in Kenntnis setzen. Ich weiß nicht, womit ich Ihnen noch dienen kann. Meine bisherigen Bemühungen scheinen ja nichts genützt zu haben.« Sein Gesicht war abweisend, seine rechte Hand ruhte auf einem großen Stapel Papier, der auf dem Tisch lag und vermutlich auf Bearbeitung wartete. Es gelang Pitt nur schwer, sich zu erinnern, warum er gekommen war. Wenn er dem Mann eine ebenso schnippische Antwort gab, würde er gar nichts erreichen. »Ich bezweifle nicht, was Sie sagen, Dr. Melchett«, erwiderte er. »Ich bin gekommen, um mir einen Rat von Ihnen zu holen.« »Wirklich?« fragte Melchett skeptisch, bedeutete Pitt aber wenigstens, er solle sich auf dem anderen Stuhl nie-
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derlassen. »Nun, das ist nicht der Eindruck, den Ihr Inspektor hinterlassen hat. Ganz im Gegenteil. Er ließ deutlich durchblicken, daß er unsere Methoden für ineffektiv hält und daß entweder ein gefährlicher Patient entkommen sei oder wir einen Patienten zu früh entlassen hätten, der besser in Fesseln gelegt worden wäre.« »Er ist sehr direkt«, gab Pitt zu, spürte aber kein Bedauern, obwohl das vielleicht angemessen gewesen wäre. Er setzte sich. »Es war eine naheliegende Fragestellung«, fuhr er fort. »Ein Mensch, der im Wahn drei Menschen den Kopf abhackt, könnte durchaus zu einem Aufenthalt hier gewesen sein.« Melchett erhob sich, sein Gesicht war rot angelaufen. »Jemand, der so wahnsinnig ist, daß er drei ihm völlig fremde Menschen enthauptet, kann nicht zu einem Aufenthalt hiergewesen sein!« schnaubte er wütend. »Ich versichere Ihnen, er wäre hier geblieben! Kommen Sie mit.« Er kam hinter dem Schreibtisch hervor. »Ich hätte Ihrem Kollegen, diesem Dummkopf, die Anstalt zeigen sollen, aber ich bezweifle, daß er genügend Grips hat, das zu verstehen, was er gesehen hätte.« Er ging zur Tür und riß sie weit auf, dann schritt er den Korridor entlang und nahm wohl an, daß Pitt ihm folgen würde. Pitt war die Anstalt verhaßt. Er hatte gehofft, nie wieder hierherkommen zu müssen. Jetzt folgte er dem zutiefst gekränkten Melchett durch die Flure, deren Stille immer wieder durch Schreie, Stöhnen, Weinen und wildes Gelächter unterbrochen wurde. Melchett war weit voraus, so daß Pitt sich beeilen mußte, um ihn einzuholen. Einen Moment lang verspürte er die Versuchung, nicht zu folgen, sondern sich umzudrehen und wieder zu gehen. Aber er widerstand. Er legte einen Schritt zu und erreichte Melchett an einer Tür, die der für ihn aufhielt. »Da bitte!« stieß er zwischen den Zähnen hervor, seine runden Augen blickten zornig. Pitt schritt an ihm vorbei in einen langen Raum mit hoher Decke. An den Wänden entlang führte ein schmaler,
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leicht erhöhter Gang, der den Eindruck einer Mauer voller Menschen erweckte. Die meisten saßen auf Stühlen oder auf dem Boden, viele von ihnen zusammengekauert. Manche wiegten sich hin und her, stöhnten oder murmelten Unverständliches. Diesen Gang entlang führte Melchett jetzt Pitt. Sie sahen einen Mann, der an einer verschorften Wunde am Bein so lange kratzte, bis sie blutete. Seine Arme waren mit ähnlichen Wunden bedeckt, von denen manche halb verheilt waren und andere ganz frisch. An den Handgelenken und Unterarmen erkannte man Wunden, die anscheinend von Bissen herrührten. Der Mann bemerkte Pitt, der vor ihm stand, nicht einmal, so beschäftigt war er mit seinem eigenen Körper. Ein anderer starrte in den Raum, Speichel rann über sein Kinn. Ein dritter streckte sich in ihre Richtung, griff immer nach der Luft, suchte nach Worten, die ihm nicht einfallen wollten. Ein vierter lag in ledergepolsterten Ketten und zerrte unablässig an seiner Fesselung. Auch er war so in seine sinnlose, schmerzhafte Beschäftigung vertieft, daß er weder Pitt sah noch Melchett hörte, als der sprach. »Wie viele wollen Sie sehen?« fragte er leise. In seiner Stimme schwebte Zorn, vermischt mit Kränkung. »Wir haben Dutzende davon, sie sind alle ähnlich. Traurige Gestalten, die mit unseren Möglichkeiten unerreichbar sind. Meinen Sie, einer von ihnen könnte Ihr Verrückter sein? Meinen Sie, wir würden einen von ihnen versehentlich entlassen, und er würde sich dann zum Hyde Park aufmachen, sich mit einer Axt bewaffnen und anfangen, Leute zu enthaupten?« Pitt wollte etwas sagen, aber Melchett eilte voran. Sein Zorn schien sich noch zu steigern. »Wo sind sie denn, Pitt?« fragte er. »Leben sie im Park? Wo schlafen sie? Wovon ernähren sie sich? Ihre Polizei durchkämmt in Hundertschaften das Gebiet, sucht nach Anhaltspunkten und kann den armen Schlucker nicht finden?« Darauf gab es keine Antwort. Wenn er sich die wilden, armseligen, verwirrten Geschöpfe um sich herum ansah, die jenseits aller Vernunft, aller Ansprache waren, erschien
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ihm der Gedanke absurd. Wenn Tellman die Gelegenheit gehabt hätte, sich die Insassen von Bedlam anzusehen, hätte er seine Zunge gehütet und nicht diese Bemerkungen gegenüber Melchett oder anderen gemacht. Pitts Schweigen schien Melchetts Gemüt etwas zu besänftigen. Er räusperte sich. »Hm - wenn der Mann, den Sie suchen, verrückt ist, Pitt, dann hat seine Verwirrung noch nicht das Stadium erreicht, in dem man ihn hierher einweisen würde. Die meiste Zeit wird er ganz normal sein - wenn er überhaupt verrückt ist.« Er hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Sind Sie sicher, daß es für dieses Gemetzel nicht doch eine vernünftige Begründung gibt?« »Das bin ich nicht«, gab Pitt zurück. »Aber zwischen den Opfern scheint es keine Verbindung zu geben, zumindest haben wir bisher keine gefunden.« Er wandte sich ab von dem Mann direkt neben ihm, der sich in seiner Zwangsjacke zu voller Höhe streckte und den Anschein vermittelte, als wolle er nach ihm greifen. Melchett erkannte, daß er seine Position deutlich gemacht hatte, verließ den Raum und ging wieder den Flur entlang zu seinem Büro. »Wenn er verrückt ist«, fuhr Pitt fort, »nach was für einer Art von Geistesstörung würde ich dann suchen, Dr. Melchett? Welche Erlebnisse in der Vergangenheit lassen einen Mann wahllos zu Gewalt greifen?« »Oh, diese Gewalt ist nicht wahllos«, sagte Melchett, ohne zu zögern. »Nicht in seinem Kopf. Für ihn gibt es eine Verbindung: Zeit, Ort, Erscheinung, eine Handlung oder Worte, die Wut auslösen, oder Angst, oder eben die Emotion, die ihn antreibt. Es könnte auch religiöser Fanatismus sein. Viele Wahnsinnige haben ein ausgeprägtes Gefühl für Sünde.« Wieder hob er die Schultern und ließ sie fallen. »Eine unangenehme Frage, aber vielleicht haben die Opfer alle eine Handlung begangen, die der Täter als sündig empfand? Vielleicht haben sie Kontakte zu Prostituierten unterhalten? Daß das Zusammensein mit einer Frau böse und kräftezehrend sei und damit eine Falle des Teufels, ist
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keine ungewöhnliche Wahnvorstellung.« Er schnaufte. »Sie ist natürlich krank. Entspringt den dunklen Windungen des Gehirns, von denen wir noch gar nicht richtig wissen, daß es sie gibt, geschweige denn, was in ihnen vorgeht. Im Ausland wird interessante Arbeit zu diesem Thema geleistet, wissen Sie das? Nein - warum sollten sie auch ...« Er schüttelte den Kopf und beschleunigte seine Schritte ein wenig. Pitt versuchte nicht, ihm weitere Informationen zu entlocken, sondern wartete, bis sie wieder in seinem Büro inmitten der Bücher, Papiere und dem Verwaltungskram waren und die Tür hinter sich geschlossen hatten. Der Raum wirkte unpersönlich, gereinigt von der Verwirrung und Verzweiflung, die er soeben gesehen hatte und noch in seiner Kehle spürte, wie einen Geschmack, den er nicht los wurde. »Nach was für einem Mann suchen wir, Dr. Melchett, wenn es sich um eine derartige Wahnvorstellung handelt?« fragte er schließlich. »Was für ein Typ ist er? Aus was für einer Familie stammt er? Wie könnte die Vergangenheit aussehen, die ihn zu diesem Verhalten bringt?« Er sah Melchett eindringlich an. »Welche Ereignisse haben ihn veranlaßt, jetzt, und nicht früher oder später so zu handeln?« Melchett zog erneut die Schultern hoch, eine seltsame, für ihn typische Geste. »Weiß der Himmel. Es könnte alles sein, angefangen mit einer wirklichen Tragödie, wie einem Todesfall in der Familie, bis hin zu einem eher nichtigen Vorfall wie einer Kränkung. Es könnte durch Erinnerungen ausgelöst werden. Jemand könnte etwas gesagt oder getan haben, das ihn heftig an einen Schock in der Vergangenheit erinnerte und damit seine Verbindung zur Realität unterbrochen hat.« Er winkte ab. »Es tut mir leid. Meine Spekulationen nützen Ihnen kaum. Ich würde vermuten, daß moralischer oder religiöser Fanatismus am ehesten in Betracht kommen. Als ich fragte, ob Ihre Opfer mit Prostituierten Kontakt gehabt haben könnten, haben Sie nicht geantwortet. Wollten Sie diskret sein?«
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»Möglich«, gab Pitt zu. »Doch das wäre nicht die Antwort. Eines der Opfer hatte eine dauerhafte Beziehung mit einem Liebhaber.« »Sie meinen, mit einer Geliebten«, korrigierte Melchett ihn. »Das muß ihn nicht unbedingt daran hindern -« »Nein - ich meinte es genau so, wie ich es gesagt habe«, erklärte Pitt. Melchett zog die Augenbrauen in die Höhe. »Oh. Ich verstehe. Ja, dann ist es eher unwahrscheinlich, daß er Prostituierte aufsuchte. Wie verhält es sich mit den anderen Fällen? Sind die ähnlich gelagert?« »Es gibt keinen Anlaß, das zu denken. Vermutlich könnten dennoch ähnliche Reaktionen der Gewalt ausgelöst werden.« Pitt war nicht überzeugt, und sein Gesichtsausdruck gab das zu erkennen. »Alles kann als Auslöser dienen«, sagte Melchett mit einem kleinen Lachen. »Etwas, das das Opfer gesagt oder getan hat, eine Geste oder Eigenheit, ein Kleidungsstück, ein Ort, einfach alles. Ich an Ihrer Stelle würde mich ernsthaft mit der Möglichkeit befassen, daß der Mann, den Sie suchen, Herr seiner Sinne ist und völlig vernünftig handelt. Weiter kann ich nicht helfen, tut mir leid.« Er streckte die Hand aus. Das war eine klare Aufforderung zu gehen, und Pitt sah sich gezwungen, ihr nachzugeben. Es hatte keinen Sinn, nach weiteren Informationen zu forschen, die Melchett ihm nicht geben konnte. »Danke«, sagte er und trat einen Schritt zurück. »Danke, daß Sie sich für mich Zeit genommen haben.« Melchett lächelte, wobei sich die Lippen straff über die Vorderzähne spannte. Er deutete eine Verbeugung an und öffnete Pitt die Tür. Kaum war Pitt wieder in der Bow Street eingetroffen, als Farnsworth hereinkam, den Sergeanten am Schalter, der strammstand, anstarrte und dann seinen Blick über Pitt, Tellman und Le Grange wandern ließ, die alle dabeistanden.
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»Haben Sie etwas gefunden?« fragte er neugierig und musterte sie der Reihe nach. Le Grange trat voller Unbehagen auf der Stelle. Er brauchte zum Glück nicht zu antworten. Der Sergeant errötete. »Der Oberinspektor ist gerade aus Bedlam zurückgekehrt«, sagte Tellman mürrisch. Farnsworth lief rot an. »Wozu das denn, Herrgott noch mal?« Er wandte sich gereizt Pitt zu. »Wenn dieser Wahnsinnige in Bedlam unter Verschluß wäre, dann hätten wir ja dieses Chaos nicht!« Er drehte sich zu Tellman. »Waren Sie nicht schon längst dort und haben gefragt, ob jemand entkommen ist?« »Das habe ich als erstes gemacht, Sir«, erwiderte Tellman. »Pitt?« Farnsworths Stimme wurde schrill vor Wut und Anspannung. »Ich wollte Dr. Melchett fragen, nach was für einem Mann wir suchen müssen«, antwortete Pitt und mußte sich regelrecht auf die Lippen beißen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. »Nach wem wir suchen ist doch verdammt einfach!« sagte Farnsworth scharf und steuerte auf die Treppe zu Pitts Büro zu. »Jerome Carvell! Der Mann hat ein Motiv, er hat kein Alibi, und die Waffe finden wir früher oder später. Was brauchen wir noch?« »Einen Grund, warum er Winthrop und den Omnibusschaffner umgebracht haben sollte«, brachte Pitt zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Es gibt keinerlei Verbindung zwischen ihnen, so daß wir keinen Grund zu der Annahme haben, er sei ihnen begegnet, und schon gar nicht, daß er sie gehaßt oder sich bedroht gefühlt hat.« »Wenn er Arledge umgebracht hat, dann hat er selbstverständlich auch die anderen beiden auf dem Gewissen.« Farnsworth sah ihn unverwandt an. »Das brauchen wir nicht zu beweisen. Vielleicht hat er sich Winthrop unsittlich genähert und wurde zurückgewiesen. Vielleicht hat Winthrop sogar gedroht, es an die Öffentlichkeit zu bringen. Das reicht doch, damit der Bursche den Kopf verliert.«
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Er klang immer überzeugter. »Er mußte ihn töten, um ihn zum Schweigen zu bringen. Homosexualität ist nicht nur ein Verbrechen, es bedeutet auch den gesellschaftlichen Ruin.« Er schnaubte durch die Nase und sah Tellman an. Tellmans Miene gab nichts preis. Er sah Pitt an und lächelte, und zum ersten Mal - soweit Pitt sich erinnern konnte - war es ein Lächeln ohne jede Animosität. Im Gegenteil, es war ansatzweise verschwörerisch. »Also?« beharrte Farnsworth. »Ich bin nicht überzeugt, Sir«, sagte Tellman und stand stramm. »So! Sie sind nicht überzeugt!« Farnsworth drehte sich wieder zu Pitt um. »Und warum nicht? Vermutlich haben Sie einen Grund, Indizien zum Beispiel, die Sie bisher zurückgehalten haben?« Pitt unterdrückte mühevoll ein Lächeln. Die Situation war schließlich nicht im geringsten komisch. Die Absurdität des Ganzen machte sie nur noch tragischer. »Ort«, sagte er schlicht. »Wie bitte?« »Wenn Winthrop ihn abgewiesen hat, warum sollte er dann mitten in der Nacht mit ihm in ein Vergnügungsboot auf dem Serpentine-See steigen? Und würde Carvell eine Axt mitnehmen, für den Fall, daß er abgewiesen würde?« Farnsworth wurde puterrot. »Warum in Gottes Namen war denn überhaupt jemand mit einer Axt auf dem See?« fragte er wütend. »Das können Sie niemandem erklären. Wenn man es genau besieht, haben Sie reichlich wenig an Erklärungen anzubieten. Ich nehme an, Sie lesen die Zeitung? Haben Sie gelesen, was dieser Bursche Uttley über Sie persönlich und damit natürlich über uns alle sagt?» Wieder wurde seine Stimme schrill, der Anflug von Panik war nicht zu überhören. »Ich nehme es Ihnen übel, Pitt! Ich nehme es Ihnen sehr übel, und damit bin ich nicht allein. Jeder Polizist in London wird ebenso angeschwärzt wie Sie und für Ihre Inkompetenz zur Rechenschaft gezogen. Was ist los mit Ihnen, Pitt? Sie waren einmal ein verdammt guter Polizist.« Er gab den Plan, in Pitts Büro hinaufzuge-
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hen, auf. Er war sich bewußt, daß Le Grange und der Schalterbeamte Zeugen seiner eigenen Demütigung wurden, und jetzt näherte sich auch Bailey der Gruppe. Er würde sich in aller Öffentlichkeit zur Wehr setzen. »Wir haben genügend Beweise. Machen Sie sich die zunutze. Bevor der Wahnsinnige wieder zuschlägt.« Er starrte Pitt an. »Ich mache Sie persönlich verantwortlich, wenn Sie ihn nicht verhaften und ein neuer Mord geschieht.« Einen Moment herrschte spannungsgeladenes Schweigen. Farnsworth trotzte ihnen allen und war nicht bereit, auch nur ein Wort zurückzunehmen. Le Grange war überhaupt nicht wohl zumute, aber diesmal zeigte er wenigstens Entschlossenheit. Die Anschuldigung war unfair, und er würde sich hinter Pitt stellen. »Wir können ihn nicht festnehmen«, sagte Tellman deutlich vernehmbar. »Er würde uns wegen falscher Anschuldigungen vor Gericht bringen, weil wir keine Beweise haben. Dann müßten wir ihn wieder entlassen und sähen noch dümmer aus.« »Das wäre natürlich eine ernste Sache«, sagte Farnsworth grimmig. »Wie sieht es mit dem Omnibusschaffner aus? Was wissen Sie von ihm? Ist er vorbestraft? Hatte er Geldschulden? Hat er gespielt? Getrunken? Unzucht getrieben? Bewegte er sich in kriminellen Kreisen?« »Keine Vorstrafen«, antwortete Tellman. »Soweit seine Nachbarn wissen, war er ein sehr gewöhnlicher, anständiger, etwas wichtigtuerischer kleiner Omnibusschaffner.« »Was für einen Grund hat ein Omnibusschaffner, wichtigtuerisch zu sein?« fragte Farnsworth spöttisch. »Vielleicht weil er eine gewisse Autorität ausübte«, erwiderte Tellman. »Konnte bestimmen, wer einstieg oder ob jemand sitzen durfte oder stehen mußte.« Farnsworth rollte verächtlich die Augen. »Also wirklich. Keine geheimen Laster?« »Wenn, dann sind sie immer noch geheim«, gab Tellman zurück. »Aber es muß etwas zu finden sein. Was sagt die dortige Polizeiwache?«
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»Ihnen ist nichts bekannt. Er ging regelmäßig zum Gottesdienst, war Kirchenratsmitglied oder so etwas.« Tellman setzte eine Trauermiene auf, seine Augen blitzten humorvoll auf. »Anscheinend gefiel es ihm, wenn er den Leuten sagen konnte, wo sie sitzen durften«, sagte er. »Sonntags hat er es in der Kirche gemacht.« Farnsworth sah ihn an. »Es wird doch keinem der Kopf abgehauen, bloß weil er sich selbst in den Vordergrund spielt«, sagte er und bewegte sich auf die Tür zu. »Ich muß was gegen diesen Uttley unternehmen.« Er sah Pitt an und senkte die Stimme. »Sie hätten auf mich hören sollen, Pitt. Ich habe Ihnen ein gutes Angebot gemacht. Wenn Sie auf mich gehört hätten, säßen Sie jetzt nicht in der Klemme.« Tellman sah abwechselnd zu Pitt und Farnsworth. Er hatte nur die Hälfte von dem verstanden, was gesagt worden war, und erfaßte die Bedeutung offensichtlich nicht. Bailey ergötzte sich noch an der Vorstellung von Winthrop und Carvell im Boot, die Ruder und die Axt zwischen sich. Er hatte Farnsworth noch nie gemocht. Le Grange wartete auf Anweisungen und trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. Pitt wußte genau, worauf Farnsworth anspielte. Es ging wieder einmal um den Inneren Kreis, der in diesem Fall zwischen Loyalitätsansprüchen hin und her gerissen war. Micah Drummonds Worte fielen ihm wieder ein und ließen ihn erneut erschauern. Aber Farnsworth mußte doch wissen, daß Uttley auch Mitglied war, oder? Und daß Jack keins war? Doch in Anbetracht der Geheimhaltung, der verschiedenen Ebenen und Kreise wußte er darüber vielleicht nicht Bescheid? Und selbst wenn er zum Angriff überging und diejenigen, die ihm zu Loyalität verpflichtet waren, mobilisierte, konnte er das Ergebnis eines solchen Kräftemessens vielleicht nicht voraussagen. Viel gefährlicher aber war der Test der Loyalität, in dem die ‚Ritter des Karmesin’ gegen die Neulinge antraten. Wer wurde noch alles durch den Pakt gekauft und zu einem Kampf verpflichtet, in dem es weder um die Interessen noch den Gewinn der Kämpfenden ging, sie aber schwerstens bestraft würden, wenn sie sich auf die Seite der Verlierer schlugen?
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Farnsworth wartete, als glaubte er, Pitt könne seine Einstellung zu diesem Thema geändert haben. Pitt sah ihn furchtlos an. »Vielleicht nicht«, sagte er freundlich, aber in einem Ton, der eine weitere Diskussion ausschloß. Farnsworth zögerte nur einen winzigen Moment, bevor er sich umdrehte und das Gebäude verließ. Bailey stieß den Atem aus, Le Grange entspannte sich sichtlich. Tellman drehte sich zu Pitt um. »Wir können Carvell jetzt nicht verhaften, Sir, aber wenn wir ein bißchen Druck machen, würden wir eine Menge mehr aus ihm herausbekommen. Wie Mr. Farnsworth gesagt hat, es gibt bestimmt eine Verbindung, und ich könnte schwören, daß Carvell etwas darüber weiß oder zumindest ahnt.« Le Grange hörte aufmerksam zu. »Was stellen Sie sich vor?« fragte Pitt bedächtig. Tellman reckte das Kinn in die Höhe. »Er hat sich einer kriminellen Handlung schuldig gemacht, die er selber zugegeben hat. Auf Homosexualität stehen mehrere Jahre Gefängnis. Vielleicht ist ihm nicht klar, daß wir keine Beweise gegen ihn haben. Wir könnten ihn damit unter Druck setzen.« Seine Lippen kräuselten sich leicht verächtlich. »Mr. Carvell ist nicht der Typ, der sich über einen Aufenthalt in Pentonville oder Coldbath Fields freuen würde.« »Das stimmt genau, Sir«, sagte Le Grange voller Hoffnung. Pitt beachtete ihn gar nicht und sah Tellman mißbilligend an. »Sie haben keine Beweise.« »Er hat es zugegeben«, sagte Tellman sachlich. »Nicht vor Ihnen, Inspektor.« Tellmans Miene verhärtete sich, er blickte Pitt direkt an. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie es leugnen würden?« Pitt lächelte. »Ich würde gar nichts sagen, Inspektor. Er hat mir nur gesagt, daß er Arledge geliebt hat. Das kann man deuten, wie man will. Gefühle sind kein Verbrechen.
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Ich könnte mir vorstellen, daß Carvell genau dieser Ansicht wäre und seine Anwälte damit beauftragen würde, Anzeige wegen Belästigung zu erstatten.« »Sie sind zu empfindlich«, sagte Tellman verächtlich. »Wenn Sie diesen Leuten nachgeben, werden Sie nie etwas erfahren. Die machen mit Ihnen doch, was sie wollen.« Bailey räusperte sich laut. Tellman ignorierte ihn und wandte seinen Blick nicht von Pitt ab. »Wir können uns Ihr empfindliches Gewissen nicht leisten, wenn wir diesen Wahnsinnigen schnappen wollen, der den Leuten die Köpfe abhackt und halb London in Angst und Schrecken versetzt. Die Leute wagen sich nach Einbruch der Dunkelheit nur noch in Gruppen auf die Straße. Überall gibt es Witze zu dem Thema. Er macht uns zum Gespött der Stadt. Läßt Sie das völlig kalt?« Sein Blick war nahezu haßerfüllt. »Macht es Sie nicht wütend?« Le Grange nickte wiederholt, den Blick auf Tellman geheftet. »Genauso klingt es auch«, erwiderte Pitt kühl. »Als würde unser Vorgehen von Wut geleitet - nicht von Überlegungen oder Urteilskraft: Jemand schlägt wild um sich, weil er um seinen Ruf bangt und immer ein Auge nach hinten gerichtet hat, um zu sehen, was andere von ihm denken.« »Diese ‚anderen’ zahlen Ihr Gehalt!« sagte Tellman und starrte Pitt unbeirrt an. Bailey und Le Grange nahm er nicht mehr wahr, und daß der Schalterbeamte auch noch da war, hatte er komplett vergessen. »Ihres genau wie meins«, fügte er hinzu. Er war zu weit gegangen, um jetzt einen Rückzieher zu machen. »Und sie sind mit Ihnen nicht zufrieden.« Seine Stimme wurde schrill. »Es interessiert keinen, wie brillant Sie früher waren - das allein zählt jetzt. Sie ruinieren den Ruf der Herrschaften. Die stehen wie die letzten Dummköpfe da und werden Ihnen das nicht verzeihen.« »Wenn Sie wollen, daß ich Carvell verhafte, dann beweisen Sie, daß er etwas damit zu tun hatte«, forderte Pitt ärgerlich. »Wo war er, als Yeats ermordet wurde?«
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»In einem Konzert«, meldete sich Le Grange zu Wort. »Aber er kann keinen finden, der ihn dort gesehen hat. Er weiß zwar, was gespielt wurde, aber das kann er ja dem Programm entnehmen.« »Und als Arledge ermordet wurde?« forschte Pitt weiter. »Allein zu Hause.« »Bedienstete?« »Nützt nichts. Das Arbeitszimmer hat einen Ausgang zum Garten. Er könnte das Haus verlassen haben, ohne daß einer es gemerkt hätte, und auf dem selben Weg wieder zurückgekommen sein.« »Und Winthrop?« »Da hat er einen Spaziergang im Park gemacht, sagt er«, antwortete Tellman und verbarg seine Zweifel nicht. »Allein?« »Ja.« »Hat jemand ihn gesehen?« »Nicht, soweit er sich erinnern kann. Und sowieso hätte ihn jemand aus nächster Nähe sehen müssen, um ihn mitten in der Nacht zu erkennen. Die Leute halten sich nicht mehr so lange im Park auf - nicht so wie früher.« »Auch die Prostituierten nicht?« fragte Pitt. Tellman zuckte die Achseln. »Denen bleibt ja nichts anderes übrig, bedauernswert, wie sie sind. Können sich nicht leisten, zu Hause zu bleiben. Aber die haben Angst.« »Dann versuchen Sie jemanden zu finden, der Carvell gesehen hat«, sagte Pitt. »Versuchen Sie es mit den Prostituierten. Was ist mit der Straße von seinem Haus zum Park? Jemand könnte ihn zu einer bestimmten Zeit gesehen haben. Befragen Sie das Personal. Wissen seine Bediensteten nicht, wann er nach Hause gekommen ist?« »Nein, Sir. Seine Zeiten sind ziemlich unregelmäßig, und er hat sein Personal angewiesen, zu Bett zu gehen und sich nicht um ihn zu kümmern.« Mit einem leicht angewiderten Ausdruck um den Mund fuhr er fort: »Wahrscheinlich wollte er nicht, daß sie merkten, wann Arledge kam und ging.«
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»Versuchen Sie, mit den anderen Leuten im Park zu reden», wiederholte Pitt. »Nehmen Sie sich die Mädchen vom dicken George vor. Die arbeiten an dem Ende.« »Was würden wir damit beweisen?« fragte Tellman mit unverhohlenem Widerwillen. »Wenn ihn keiner gesehen hat, beweist das noch nicht, daß er nicht da war. Und wir können keinen finden, der ihn in Shepherd's Bush gesehen hat. Haben mit allen Fahrgästen aus dem letzten Bus gesprochen.« »Außerdem haben Sie vermutlich noch immer nicht herausbekommen, wo Arledge ermordet wurde», sagte Pitt schneidend. »Scheint, Sie haben eine Menge Arbeit vor sich. Am besten, Sie fangen gleich damit an.« Damit ging er die Treppe hinauf und verschwand in seinem Büro, doch Tellmans Anschuldigungen hallten in ihm nach. War er in der Ermittlung des Falles zu penibel? Führte die Tatsache, daß er Carvell mochte, zu einer Beeinträchtigung seines Urteilsvermögens, so daß er den vorliegenden Anhaltspunkten nicht die richtige Bedeutung beimaß? Mitleid, auch wenn es ehrlich empfunden war, durfte seine Wahrnehmung nicht trüben. Wenn nicht Carvell, wer war dann der Täter? Bart Mitchell, weil Winthrop seine Schwester mißhandelt hatte? Doch warum hatte er dann Arledge umgebracht? Und Yeats? Oder war es doch ein Wahnsinniger, der sich, getrieben von seinem umnachteten Geist, seine Opfer wahllos griff? Er mußte mehr über Winthrop, dessen Ehe, und über Bart Mitchell in Erfahrung bringen. Emily begutachtete Charlottes neues Haus mit wachsendem Wohlgefallen. Es verschaffte doch eine ungeheure Befriedigung, wenn man sich daran machte, ein Haus, das in einem heruntergekommenen Zustand war, wieder instand zu setzen und nach eigenen Vorstellungen einzurichten. Als sie George geheiratet hatte, war sie in Ashworth House eingezogen, das bereits perfekt eingerichtet war und seit Generationen in Schuß gehalten wurde. Jeder Besitzer hatte den Räumen noch etwas hinzugefügt, so
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daß 1882 kaum noch Raum für Verbesserungen oder individuelle Prägung blieb. Selbst die Vorhänge und Spiegel in ihrem eigenen Schlafzimmer waren von ihrer Vorgängerin ausgesucht worden, und es schien ihr verschwenderisch, daran etwas zu ändern. Da die Einrichtung durchaus geschmackvoll und luxuriös war, hätte sie auch nichts verbessern, sondern nur ihren Geschmack zum Ausdruck bringen können. Ashworth House gehörte jetzt ihr, und sie bewohnte es mit Jack. Aber noch immer war kaum etwas nach ihren Vorstellungen eingerichtet, auch wenn sie an der Einrichtung, so wie sie war, nichts auszusetzen hatte. Deshalb freute sie sich für Charlotte, war aber auch eine Spur neidisch. Sie standen im Schlafzimmer, von dem aus man in den Garten blicken konnte. Charlotte hatte sich schließlich doch für Grün entschieden, und an einem Tag wie diesem, an dem die Sonne hell schien und das frische Laub der Bäume leuchtete, wirkte der Raum wie eine schattige Laube, in der der Wind in den Blättern ein Spiel von Licht und Schatten an die Wand warf. Wie es im Winter aussehen würde, blieb abzuwarten, aber im Moment hätte es kaum hübscher sein können. »Es gefällt mir«, sagte Emily bestimmt. »Wirklich, ich finde es wunderbar.« Dann machte sie ein unglückliches Gesicht und verkrampfte ihre Hände mit den prachtvollen Ringen in ihrem Schoß. »Aber ...«, sagte Charlotte und verspürte ein Gefühl der Enttäuschung. Sie war so glücklich über das Zimmer, es war genauso, wie sie es sich erhofft hatte, und es betrübte sie, daß Emily Bedenken hatte, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen sogar schwerwiegende. Emily seufzte. »Aber hast du schon Mamas Schlafzimmer gesehen? Ich war neulich da.« Sie sah Charlotte aus großen, blauen Augen an. »Ich war oben bei ihr. Hast du es schon gesehen? Es ist so - so - ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es ist so untypisch für sie! Als gehörte das Zimmer gar nicht ihr. Es ist - man kann es nicht einmal
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mehr romantisch nennen - es ist so üppig. Genau, das ist das richtige Wort - üppig.« »Du versuchst dir immer noch vorzumachen, daß es eine vorübergehende Phase ist«, sagte Charlotte bedächtig. Sie trat ans Fenster, stützte die Ellbogen auf die Fensterbank und blickte in den Garten. Der frisch geschnittene Rasen erstreckte sich von den Bäumen bis zu der mit Rosen bewachsenen Mauer am Ende. »Das ist es aber nicht, mußt du wissen. Ich glaube, ich habe das jetzt akzeptiert. Sie liebt ihn wirklich.« Emily stellte sich neben sie und blickte ebenfalls in den sonnig-schattigen Garten. »Es wird tragisch enden«, sagte sie leise. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« »Sie könnte ihn heiraten.« Emily sah sie an. »Und was dann?« wollte sie wissen. »Aus ihren gesellschaftlichen Kreisen würde sie verstoßen, und bei den Theaterleuten könnte sie niemals heimisch werden. Sie wäre dann weder das eine noch das andere. Und wie lange würde es halten - das Glück, meine ich?« »Wie lange hält es denn überhaupt?« erwiderte Charlotte. »Also, ich bitte dich! Ich bin sehr glücklich, und du kannst mir nicht erzählen, daß du es nicht bist. Das würde ich dir nicht glauben.« »Natürlich bin ich glücklich. Wenn man bedenkt, wie viele Leute vorausgesagt haben, daß es schlimm enden würde.« Emily sah wieder in den Garten hinaus. »Das ist aber etwas anderes.« »Ist es nicht«, widersprach Charlotte ihr. »Ich habe jemanden geheiratet, von dem alle meine Freunde gesagt haben, daß er mir nicht ebenbürtig sei und so gut wie kein Geld habe.« »Aber er ist so alt wie du. Oder wenigstens nur ein paar Jahre älter, und so soll es auch sein. Und er ist Christ!« »Ich gebe zu: daß Joshua Jude ist, ist schwierig«, räumte Charlotte unglücklich ein. »Aber Disraeli war auch Jude, und er ist trotzdem Premierminister geworden, und die Königin war sehr angetan von ihm. Sie mochte ihn sehr.«
»Weil er ihr grenzenlos geschmeichelt hat, und Gladstone hat das nicht getan«, gab Emily zurück. »Der war ein alter Miesepeter und redete ständig von Tugend.« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Obwohl ich gehört habe, daß er sich zu Frauen hingezogen fühlte - sehr sogar. Eliza Harrogate hat mir das erzählt.« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Sie hat gesagt, er konnte sich in der Gegenwart einer hübschen Frau kaum zurückhalten, egal, wie alt sie war oder welchen Status sie hatte. Das wirft ein völlig anderes Licht auf ihn, findest du nicht?« Verunsichert darüber, ob Emily das ernst meinte oder sich einen Scherz erlaubte, starrte Charlotte sie an. Dann lachte sie frei heraus. Die Vorstellung war so köstlich und ganz neu. »Vielleicht hat er der Königin einen Antrag gemacht?« spann Emily den Faden weiter und fing ebenfalls an zu lachen. »Vielleicht mochte sie ihn deshalb nicht?« »Was du erzählst, ist kompletter Unsinn«, sagte Charlotte schließlich. »Außerdem hat es nichts mit dem zu tun, worüber wir gesprochen haben.« »Nein, da hast du allerdings recht.« Plötzlich war Emily wieder ernst. »Was können wir denn tun? Ich weigere mich, einfach zuzusehen, wie Mama in ihr Unglück rennt.« »Ich glaube, dir bleibt nichts anderes übrig«, sagte Charlotte düster. »Wir können einzig und allein hoffen, daß die Sache ein natürliches Ende findet, bevor irreparabler Schaden angerichtet ist.« »Das ist nicht sehr ermutigend. Wir können doch nicht tatenlos zusehen«, protestierte Emily und sah wieder zu Charlotte. »Wir sind nicht tatenlos, wir mischen uns nur nicht ein, nehmen Mama nicht ihr Recht, für sich selbst zu entscheiden.« Auch Charlotte wandte den Blick vom Garten ab. »Aber -« »Wie geht der Wahlkampf voran?« unterbrach Charlotte sie mit voller Absicht und lächelte.
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Emily zuckte die Achseln. »Also gut, für den Moment gebe ich mich geschlagen. Um ehrlich zu sein, er läuft ziemlich gut.« Sie zog ihre schmalen Augenbrauen in die Höhe. »In den letzten beiden Tagen sind ein paar sehr gute Artikel in den Zeitungen erschienen. Ich verstehe es zwar nicht, aber irgend jemand hat offenbar seine Meinung geändert und steht jetzt hinter Jack, beziehungsweise, er ist gegen Mr. Uttley, um genau zu sein.« »Merkwürdig«, sagte Charlotte nachdenklich. »Das muß ja einen Grund haben.« »Also, Jack ist nicht dem Inneren Kreis beigetreten, wenn du das befürchtest«, sagte Emily heftig. »Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.« »Das glaube ich dir doch. Daran hatte ich gar nicht gedacht«, beschwichtigte Charlotte sie. »Aber das heißt trotzdem nicht, daß diese Veränderung nichts mit dem Inneren Kreis zu tun hat. Vielleicht haben die ihre eigenen Gründe dafür.« »Warum? Jack läßt sich nicht mit ihnen ein.« »Das meine ich doch auch nicht.« Charlotte atmete tief ein. »Uttley hat die Polizei angegriffen. Meinst du nicht, daß es auch bei der Polizei Leute gibt, die einen hohen Rang im Inneren Kreis bekleiden? Vielleicht war Uttley so unüberlegt, das nicht zu bedenken?« »Ach so! Wie der stellvertretende Polizeipräsident, meinst du?« Emily war überrascht und schien einen Augenblick lang zu zweifeln. »Micah Drummond war Mitglied«, erinnerte Charlotte sie. »Ja, aber das war ja etwas anderes. Er hat seinen Einfluß nicht geltend gemacht.« Emily unterbrach sich und sagte dann: »Natürlich, ich verstehe. Wie dumm von mir. Das heißt ja nicht, daß Giles Farnsworth das ebenso machen würde. Der wendet sich bestimmt an die richtigen Leute, um sich zu verteidigen. Natürlich, das ist ja klar.« »Aber abgesehen davon«, sagte Charlotte, »wissen wir ja nicht, wer sonst noch drin ist.« »Wie meinst du das?« fragte Emily. »An wen denkst du?«
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»Keinen bestimmten«, erwiderte Charlotte. »Der Innenminister, zum Beispiel. Das ist es ja gerade: Beim Inneren Kreis weiß es ja keiner. Wir wissen nicht, wer wem zu Loyalität verpflichtet ist. Vielleicht gibt es Verbindungen, die wir uns überhaupt nicht vorstellen können.« Emily sah sie mit ernstem Blick an. »Du meinst also, daß Uttley sich einen schlechten Dienst erwies, als er die Polizei angegriffen hat? Glaubst du nicht, daß er sich dieser Gefahr bewußt war?« »Wenn er nicht wußte, daß Farnsworth Mitglied ist vorausgesetzt, es ist Farnsworth -, dann nicht. Und wenn sie außerdem noch verschiedenen Kreisen angehören. Aber es war sicherlich dumm von ihm, an diese Möglichkeit nicht zu denken.« Emily legte die Stirn in Falten. »Er muß sich in Sicherheit gewähnt haben. Charlotte, meinst du, im Inneren Kreis gibt es Konkurrenten? Glaubst du, daß es zu Positionskämpfen kommen kann?« »Vermutlich schon. Aber vielleicht ist alles so geheim, daß Uttley es wirklich nicht wußte«, sagte Charlotte nachdenklich. »Micah Drummond zum Beispiel kannte nur ein paar Mitglieder, die seinem eigenen Kreis angehörten. Es ist eine Art Schutz. Nur die höheren Ränge wissen die anderen Namen. So kann ein Abtrünniger keinen anderen verraten.« »Wie weiß man dann, wer dazugehört und wer nicht?« stellte Emily die logische Frage. »Ich glaube, sie geben ein Zeichen«, erwiderte Charlotte. »Daran können sie sich erkennen, wenn es nötig ist.« »Wie unendlich albern«, sagte Emily lächelnd. Doch plötzlich fröstelte sie. »Solche Dinge sind mir zuwider. Stell dir mal vor, welche Macht die im Zentrum haben. Ihnen wird diese blinde Loyalität von Hunderten, vielleicht sogar Tausenden entgegengebracht; Männer in einflußreichen Stellungen im ganzen Land, die ihre unbedingte Bündnistreue zugesagt haben und oft nicht einmal wissen, wem oder welcher Sache sie dienen.«
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»Es können Jahre vergehen, ohne daß jemand an sie herantritt«, erklärte Charlotte. »Wahrscheinlich geht es den meisten so. Als Micah Drummond Mitglied wurde, dachte er, es handele sich um eine nette, anonyme Gesellschaft, die sich für wohltätige Zwecke einsetzt und Geld spendet. Erst als der Mord in Clerkenwell geschah und er Lord Byam helfen sollte, fing er an zu verstehen, was für ein Preis gefordert wurde. Und dann hat er sich gefragt, ob sein eigener Aufstieg mit seiner Mitgliedschaft zu tun hatte. Vielleicht ist es mit Uttley dasselbe.« »Daß er unschuldig ist?« fragte Emily zweifelnd. »Bei Micah Drummond kann ich es mir vorstellen. Er ist ja etwas ... naiv. Es gibt Männer, die schenken Menschen ihr volles Vertrauen, denen eine normal intelligente Frau nicht über den Weg trauen würde. Aber Uttley ist selbst ein schlaues Bürschchen und ungeheuer ehrgeizig. Menschen, die andere für sich benutzen, erwarten dasselbe von ihrem Gegenüber.« Der Gedanke kam ihr zunehmend plausibel vor. »Kein besonders netter Mensch, macht sich jeden Vorteil zunutze, hat aber keine Ahnung, wie gefährlich die Sache ist, mit der er spielt? Meinst du, so könnte es sein?« Wieder fröstelte sie, obwohl die Sonne ihre Strahlen auf der Fensterbank tanzen ließ. »Fast könnte er mir leid tun - aber nur fast.« »Ich an deiner Stelle würde mir mein Mitleid bis zum Ende aufsparen«, warnte Charlotte sie. Emily sah sie an. »Hast du Angst?« »Ein bißchen. Ich wünschte, ich wäre überzeugt, daß sie die Polizei aus ehrenhaften Gründen schützen, aber ich vermute, sie tun es, weil jemand, der zu einem höheren Rang gehört als Uttley, bei der Polizei ist - vielleicht ist es der stellvertretende Polizeipräsident, aber es könnte auch jeder andere sein.« Emily seufzte. »Und ich könnte mir denken, daß Thomas dem Schlächter vom Hyde Park kein bißchen mehr auf die Spur gekommen ist, stimmt's?« »Soweit ich weiß, nicht.« »Und wir helfen ja nicht gerade viel, wie?« sagte Emily kritisch. »Ich wünschte, mir fiele etwas Gutes ein.«
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»Ich habe keine Ahnung, wo wir anfangen könnten.« Charlotte klang mutlos. »Wir haben ja nicht die entfernteste Vorstellung, wer es sein könnte. Es ist auch nicht besonders -« Sie brach ab. »Nicht besonders reizvoll«, vervollständigte Emily den Satz für sie. »Weil wir die Leute nicht kennen. Wahnsinn ist furchterregend und traurig, aber nicht besonders ...« »Reizvoll.« Charlotte lächelte kläglich. Pitt verstärkte seine Bemühungen, eine Verbindung - und sei sie noch so schwach - zwischen Winthrop und Aidan Arledge zu finden. Seine Nachforschungen führten ihn erneut zu Arledges Witwe. Sie empfing ihn mit der gleichen Höflichkeit wie bei den vorherigen Gelegenheiten, doch betrübt stellte er fest, daß sie ängstlich und abgespannt wirkte. Trotz des Schocks, unter dem sie bei ihrer ersten Begegnung gestanden hatte, war da eine Frische gewesen, die nunmehr verschwunden war, als hätten die langen Tage und Nächte sie fortgewaschen. Auch diesmal war sie sorgfältig gekleidet; das fließende schwarze Gewand wurde durch einen kleinen Spitzenbesatz aufgehellt, dazu trug sie dieselbe Trauerbrosche und den Ring wie zuvor. »Guten Tag, Mr. Pitt«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. »Sind Sie gekommen, um mir über weitere Entwicklungen zu berichten?« Sie fragte es ohne Hoffnung, doch ihre trauerverhangenen Augen forschten in seinem Gesicht. »Wir haben nichts entdeckt, dessen Bedeutung wir begreifen«, sagte er. Ihr Kummer setzte ihm weit mehr zu als Farnsworths Beschimpfungen oder die Kritik, die so unverhohlen in den Zeitungen geäußert wurde. »Gar nichts?« drängte sie. »Sie haben immer noch keine Ahnung, wer diese schrecklichen Dinge tut?« Sie saßen im Salon mit seiner warmen, ruhevollen Atmosphäre. Auf dem Tisch an der Stirnseite des Raumes stand eine große Vase mit Blumen. »Wir haben immer noch keine Verbindung zwischen Ihrem Mann und Captain Winthrop gefunden«, sagte er, »und erst recht nicht zu dem Omnibusschaffner.«
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»Setzen Sie sich doch bitte, Oberinspektor.« Sie deutete auf einen Stuhl dicht bei ihm und ließ sich ihm gegenüber nieder, die Hände im Schoß gefaltet. Sie wirkte fast entspannt in dieser anmutigen Haltung, aber ihr Rücken war kerzengerade. Wahrscheinlich hatte man ihr schon in der Kinderstube beigebracht, aufrecht zu sitzen. Charlotte hatte ihm erzählt, daß die Gouvernanten ein Lineal oder einen ähnlich harten Gegenstand in den runden Rücken der weniger aufmerksamen Mädchen bohrten. Pitt setzte sich und schlug die Beine übereinander. Trotz der Umstände und der Aufgabe, die ihn zu ihr führten, hatte ihre Anwesenheit für ihn etwas sehr Angenehmes, etwas, das seine Wahrnehmung schärfte und ihn gleichzeitig mit einem wohligen Gefühl erfüllte. Die vertraulichen Gedanken, die sie beim letzten Mal miteinander geteilt hatten, waren beiden eine angenehme Erinnerung. »Gibt es noch etwas, das Sie von mir wissen möchten?« fragte sie und beobachtete sein Gesicht. »Ich habe versucht, mich zu erinnern. Sie müssen wissen, es gab so vieles in Aidans Leben, an dem ich nur wenig teilhatte.« Sie lächelte. Plötzlich biß sie sich auf die Lippe. »Oje. Natürlich noch mehr, als ich gerade gesagt habe. Ich meinte seine Musik. Ich liebe Musik sehr, aber ich könnte unmöglich jeden Abend zu einem Konzert gehen. Und es war ebenfalls nicht möglich, daß ich an allen Besprechungen und Proben teilnahm.« Sie versuchte in seinen Augen zu lesen, ob er sie verstand und sie nicht der Vernachlässigung für schuldig befand. »Keine Frau begleitet ihren Mann bei der Ausübung seines Berufs oder seiner Kunst«, versicherte Pitt ihr. »Viele Frauen haben nur eine ungefähre Vorstellung von den Geschäften, denen ihre Männer nachgehen, und eine noch vagere, wo ihre Männer sich aufhalten und mit wem sie zu tun haben.« Ihre Anspannung ließ ein wenig nach. »Natürlich, Sie haben vollkommen recht«, sagte sie mit einem dankbaren Lächeln. »Vielleicht war es eine dumme Bemerkung. Es tut
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mir leid. Ich merke nur - oje - entschuldigen Sie, Mr. Pitt, ich fürchte, in meinem Kopf geht alles drunter und drüber. Das Requiem beschäftigt mich zur Zeit sehr. Es soll schon übermorgen stattfinden, und ich weiß noch gar nicht, wie es ablaufen soll.« Pitt hätte ihr am liebsten seine Hilfe angeboten, aber die Anwesenheit und erst recht die Unterstützung der Polizei wäre bei einem solchen Ereignis unangemessen. »Er hatte doch sicherlich viele Freunde, für die es eine Auszeichnung wäre, helfen zu dürfen?« fragte er. »Aber sicher, natürlich«, stimmte sie ihm zu. »Lady Lismore ist wunderbar. Wie ein Fels in der Brandung. Sir James weiß genau, wer alles eingeladen werden muß. Und auch Mr. Alberd. Er wird eine kurze Ansprache halten. Er ist sehr angesehen, müssen Sie wissen.« »Ich könnte mir denken, daß es für Sie ein schwerer Tag sein wird«, sagte er leise. Er stellte sich ihre Trauer vor, ihre Gefühlsregungen, während sie seiner geliebten Musik lauschte und seine Freunde um sich sah, die ihm die letzte Ehre erwiesen und nichts von dem schrecklichen Geheimnis ahnten, das ihnen möglicherweise schon bald aus allen Zeitungen und von allen Plakatwänden entgegengeschrien würde. Sie schluckte schwer. »Ja, das befürchte ich auch. So viele Gedanken schwirren mir durch den Kopf.« Sie sah ihn mit plötzlicher Offenheit an. »Vieler dieser Gedanken schäme ich mich, Oberinspektor, und dennoch scheint es mir nicht gelingen zu wollen, sosehr ich mich bemühe, sie zu verbannen.« Sie erhob sich und trat ans Fenster. Als sie weitersprach, stand sie mit dem Rücken zu ihm. »Ich schäme mich meiner Schwäche, aber ich habe Angst vor dem Requiem. Ich weiß nicht, wer der Mann ist, den Aidan - ich kann das Wort kaum über die Lippen bringen - geliebt hat. Wahrscheinlich werde ich ihn in jedem Anwesenden sehen und mich fragen, ob er es war.« Sie drehte sich zu ihm um. »Das ist doch falsch, nicht wahr?« Von dem Spott und der Verachtung, die auf sie niedergehen würde, wenn der Mann verhaftet und sein Verhältnis publik gemacht
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würde, sagte sie nichts, aber das Wissen stand unausgesprochen zwischen ihnen. »Aber sehr verständlich, Mrs. Arledge«, sagte er sanft. »Ich denke, wir alle würden ähnlich fühlen.« »Meinen Sie?« fragte sie. Ein flüchtiges Lächeln umspielte ihre Lippen. Bailey hatte recht gehabt: Je länger man ihr Gesicht kannte und es anschaute, desto angenehmer empfand man es. »Was Sie sagen, ist sehr tröstlich. Werden Sie anwesend sein, Mr. Pitt? Ich fände es sehr schön, wenn Sie kommen könnten, als Freund - als mein Freund, wenn es Ihnen möglich ist?« »Dann werde ich gerne kommen, Mrs. Arledge.« Ein kleines Schuldgefühl nagte an ihm, als er das sagte, und zugleich fühlte er sich geehrt. Aufgrund der Ermittlungen mußte er ohnehin dabeisein. Vielleicht wußte sie das. Er konnte sich vorstellen, daß sie ihn einlud, damit er sich weniger wie ein Eindringling vorkam, doch das schmälerte seine Freude über die Einladung nicht. »Anschließend wird es einen kleinen Empfang geben«, fuhr sie fort. »Jedoch nicht hier, da das meine Kräfte übersteigen würde.« Sie starrte auf die Blumen in der Vase. »Sir James schlug vor, wir sollten ihn bei einem von Aidans Freunden ausrichten, der seine Arbeit bewunderte und mit ihm befreundet war. Das wäre für alle angenehm und für mich eine Erleichterung. Ich werde nicht dieselbe Verantwortung tragen, und wenn ich früher gehen möchte, so steht es mir frei, nach Hause zu fahren, wo ich mit meinen Gedanken und Erinnerungen allein sein kann.« Ein kleines, bedauerndes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Obwohl ich mir nicht sicher bin, daß ich das möchte.« Darauf konnte er nichts sagen, was nicht banal gewesen wäre. »Der Empfang wird im Haus von Mr. Jerome Carvell in der Green Street stattfinden«, fuhr sie fort. »Kennen Sie es?« Einen Augenblick war er unfähig zu sprechen. »Die Green Street kenne ich«, sagte er schließlich, wobei ihm der Atem stockte und er Schwierigkeiten hatte, die Worte hervorzubringen. Er hoffte inständig, daß sie nichts
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bemerkte. »Ich nehme an, daß es einen angemessenen Rahmen bietet«, sagte er. »Und wie Sie schon sagten: Es wird Sie der Verantwortung entheben.« Klang seine Antwort so unsinnig, wie es ihm schien? Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Sie werden sich dort um die Erfrischungen kümmern, und natürlich wird es bei der Totenmesse Musik geben. Sie haben das alles in die Hand genommen.« Geistesabwesend ordnete sie die Blumen neu, zupfte eine etwas hervor, entfernte ein welkes Blatt und nahm einen Blütenstiel heraus. »Aidan kannte so viele ausgezeichnete Musiker. Die Auswahl wird groß sein. Besonders liebte er das Cello. Es ist ein so schwermütiges Instrument. Die Töne sind viel tiefer als die auf der Geige. Für einen solchen Anlaß sehr angemessen, meinen Sie nicht auch?« »Ja.« Das Bild von Victor Garrick, der bei Oakley Winthrops Beerdigung gespielt hatte, sprang ihm sofort in die Erinnerung. »Wissen Sie schon, wer spielen wird?« Sie ließ von den Blumen ab. »Ein junger Mann, den Aidan sehr gemocht und den er ermutigt und unterstützt hat«, erwiderte sie und sah ihn interessiert an. »Mögen Sie Cellomusik, Mr. Pitt?« »Ja.« Das stimmte mehr oder weniger. Die wenigen Male, da er Gelegenheit hatte, jemanden auf dem Cello musizieren zu hören, hatte es ihm außerordentlich gut gefallen. »Soweit ich weiß, hat der junge Mann großes Talent. Er ist zwar kein Berufsmusiker, ist aber technisch sehr begabt und spielt sehr ausdrucksstark, so berichtet mir Sir James. Außerdem verehrte er Aidan, weil der ihm seine Zeit gewidmet hat.« »Aha. Wissen Sie, wie er heißt?« »Vincent Garrick. Ja, ich glaube, das stimmt. Nein nein, es war nicht Vincent - Victor. Ja, ich bin mir sicher, so heißt er.« »Kannte Mr. Arledge ihn gut?« Pitt versuchte, die Schärfe aus seiner Stimme herauszuhalten, aber Dulcie richtete sich unwillkürlich auf. Er sah die Rundung ihrer Schulter unter der gestrafften, schweren Seide des Kleides.
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»Kennen Sie ihn, Mr. Pitt? Hat es eine Bedeutung?« wollte sie wissen. »Warum fragen Sie mich?« »Vielleicht bedeutet es gar nichts, Madam. Victor Garrick war Captain Winthrops Patensohn.« »Captain Winthrops Patensohn?« Sie wirkte verwirrt und dann enttäuscht. »Vielleicht klingt es absurd, aber aufgrund Ihrer plötzlichen Aufmerksamkeit hatte ich gehofft, daß es eine - eine wichtige Entdeckung sei.« »Kannte Mr. Arledge Victor Garrick gut?« wiederholte er seine Frage. Ihr Blick wich nicht von seinem Gesicht. »Das weiß ich leider nicht. Sie könnten Sir James fragen. Er hat die jungen Musiker mehr gefördert als Aidan. In der Tat könnte es ein Vorschlag von Sir James gewesen sein, Herr Oberinspektor, da er Mr. Garrick gewissermaßen protegiert.« »Ach so.« Pitt war enttäuscht. Dennoch, er würde erneut zu Sir James Lismore gehen und die Verbindung erforschen, und sei sie noch so entfernt. Und auf jeden Fall würde er bei der Totenmesse zugegen sein. »Ich danke Ihnen, Mrs. Arledge. Sie sind sehr geduldig mit mir und sehr freundlich.« Das war eine Untertreibung. Kein Mensch, der einen Verlust erlitten hatte, verdiente seine Bewunderung mehr. »Sie werden mir berichten, sobald Sie etwas herausfinden, nicht wahr?« sagte sie mit wachem Blick. »Natürlich«, erwiderte er rasch. »Sobald wir etwas wissen, das nicht nur Spekulation und Mutmaßung ist.« Er erhob sich. Auch sie stand auf und trat mit ihm in die Eingangshalle, wo sie ihm noch einmal dankte. Er verabschiedete sich und hielt sofort eine Droschke an, um sich zum Haus von Sir James Lismore fahren zu lassen. Er hatte immer noch ihr Gesicht vor Augen und wurde sich seiner verwirrten Gefühle bei dem Gedanken an Aidan Arledge bewußt. Er verspürte Mitleid mit ihm, weil er eines frühen und gewaltsamen Todes gestorben war und weil er einen Menschen geliebt hatte, zu dem er nicht stehen durfte. Doch gleich-
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zeitig war er zornig auf ihn, weil er diese außergewöhnliche Frau betrogen und ihr nur die Trauer und ihre Würde gelassen hatte. »Victor Garrick?« fragte Sir James überrascht. Er war ein unauffälliger Mann mittlerer Größe mit einer ausgeprägten Stirnglatze, die keinen Haaransatz erkennen ließ. Sein Blick aber war wach und konzentriert und forderte die Aufmerksamkeit des Gesprächspartners, und das Gesicht mit seinen Falten ließ auf Intelligenz und Warmherzigkeit schließen. »Ein junger Cellist«, fügte Pitt hinzu. »Oh, ich weiß, wen Sie meinen«, sagte Lismore rasch. »Sehr begabt, spielt mit ungewöhnlicher Intensität. Doch warum interessieren Sie sich für ihn, Oberinspektor?« »War er mit dem verstorbenen Aidan Arledge bekannt?« »Sicherlich. Der arme Aidan kannte eine Menge Musiker, sowohl Berufsmusiker als auch andere.« Er runzelte die Stirn und betrachtete Pitt aufmerksam. »Sie verdächtigen doch keinen von ihnen, mit seinem Tod in Verbindung zu stehen? Das ist doch absurd.« »Nicht unbedingt in schuldhafter Verbindung, Sir James«, erklärte Pitt. »Es gibt die unterschiedlichsten Arten, beteiligt zu sein. Ich bemühe mich, das verbindende Glied zwischen Captain Winthrop und Mr. Arledge zu finden.« Lismore war verblüfft. »Ich verstehe, daß da ein Unterschied besteht, Oberinspektor. Verzeihen Sie, daß ich eine voreilige Schlußfolgerung gezogen habe.« Er schob die Hände in die Taschen und betrachtete Pitt interessiert. »Doch sind Sie sicher, daß Captain Winthrop mit Victor Garrick bekannt war? Soweit ich weiß, hatte Captain Winthrop keinerlei musikalischen Interessen, und Victor seinerseits interessiert sich nicht für die Marine. Er ist ein sehr friedvoller, künstlerisch begabter junger Mensch, ein Träumer, kein Mann der Tat. Er verabscheut jegliche Gewalt oder Grausamkeit, ganz zu schweigen von einem Leben der körperlichen Disziplin und geordneten Kriegsbe-
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reitschaft, die für ein Leben an Bord eines Schiffes unerläßlich sind.« »Es handelte sich nicht um eine Freundschaft aus freier Entscheidung«, erklärte Pitt und lächelte innerlich über Lismores Beschreibung von dem Leben in der Marine, mit der Victor sicherlich übereingestimmt hätte. »Es war eine familiäre Beziehung«, fügte er hinzu. »Sie waren verwandt?« Lismore war erstaunt. »Soweit mir bekannt war, ist Victors Vater verstorben, und seine Mutter hat keine weitere Familie, zumindest keine, mit der sie in Kontakt steht.« »Sie sind nicht blutsverwandt. Captain Winthrop war sein Patenonkel.« »Aha.« Lismore nickte verstehend. »Ja, das ist eine ganz andere Sache. So ergibt es einen Sinn.« »Verzeihen Sie, Sir James, aber Sie sprechen so, als hätten Sie Captain Winthrop gekannt?« »Ich muß Sie um Verzeihung bitten, Oberinspektor. Ich habe unbeabsichtigt den falschen Eindruck erweckt. In Wirklichkeit habe ich ihn nie kennengelernt. Mit Mrs. Winthrop hingegen bin ich bekannt - wenn auch nur sehr flüchtig. Eine charmante Dame und eine große Musikliebhaberin.« »Sie kennen Mrs. Winthrop?« nahm Pitt den Faden auf, obwohl er sich nicht sicher war, welche Bedeutung darin lag. Doch selbst der kleinste Hinweis war von großer Bedeutung, schließlich hatte er kaum Spuren, die er verfolgen konnte. »Wissen Sie, ob sie Mr. Arledge kannte?« Lismore war überrascht. »Aber natürlich. Doch kann ich Ihnen nicht sagen, ob die Bekanntschaft schon länger bestand oder tiefergehend war oder ob es lediglich ein natürliches Verständnis für Musik ihrerseits und spontane Freundlichkeit auf Aidans Seite war. Er war sehr zartfühlend, müssen Sie wissen, und zeigte schnell Mitgefühl.« »Mitgefühl? Hatte Mrs. Winthrop Kummer?« »Das war wohl der Fall.« Lismore nickte und beobachtete Pitt mit Neugier. »Ich weiß allerdings nicht, was der
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Grund dafür war, doch ich erinnere mich, sie einmal sehr aufgewühlt gesehen zu haben. Sie weinte, und Aidan versuchte sie zu trösten. Ich glaube nicht, daß es ihm gelang. Sie ging dann in der Begleitung eines sonnengebräunten jungen Mannes davon. Soweit ich weiß, war das ihr Bruder. Auch er schien sehr verstört und obendrein verärgert.« »Ihr Bruder? Bartholomew Mitchell?« fragte Pitt rasch. »Leider erinnere ich mich nicht an seinen Namen«, mußte Lismore eingestehen. »Ich weiß auch gar nicht, ob wir jemals miteinander bekannt gemacht wurden. Aidan sagte zu einem späteren Zeitpunkt etwas darüber,- ich glaube, deshalb entstand bei mir der Eindruck, daß er ihr Bruder war. Sie sehen nachdenklich aus, Oberinspektor. Messen Sie dem eine Bedeutung bei?« »Ich bin mir noch nicht sicher«, sagte Pitt aufrichtig, aber er spürte, wie sein Puls plötzlich schneller schlug. »Ist es möglich, daß Mr. Arledge und Mrs. Winthrop eine Auseinandersetzung hatten? Oder daß Mr. Mitchell angenommen haben könnte, daß es so war?« »Aidan und Mrs. Winthrop?« Lismore war überrascht. »Ich wüßte nicht, weshalb.« »Wäre es aber möglich?« beharrte Pitt. »Vermutlich schon.« Lismore zögerte. »Zumindest denke ich, daß Mr. Mitchell die Situation möglicherweise falsch verstanden hatte. Er war verärgert, soweit ich mich erinnere. Sehr verärgert sogar.« »Können Sie sich an irgendwelche Einzelheiten erinnern, Sir James?« drang Pitt in ihn. »Ein Wort, eine Geste vielleicht?« Lismore fühlte sich unbehaglich und kräuselte die Lippen. »Bitte!« Pitt konnte seine Ungeduld kaum zügeln. Lismore atmete tief ein und biß sich auf die Unterlippe, bevor er sprach. »Ich habe in der Tat ein paar Gesprächsfetzen aufgeschnappt, Oberinspektor. Es bereitet mir großes Unbehagen, daß ich etwas wiederholen soll, das offensichtlich eine sehr private Unterredung war, doch ich verstehe, daß es für Sie von Bedeutung sein könnte.«
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Pitt stockte der Atem, so gespannt war er. »Ich habe gehört, wie der Mann - ich gehe davon aus, daß es ihr Bruder war - ziemlich heftig sagte: ‚Du bist nicht schuld daran!’ Dabei betonte er das nicht ganz besonders. Er fuhr dann fort: ‚Das darfst du nicht sagen. Es ist völlig absurd und falsch. Wenn Thora so dumm ist, das zu glauben, dann ist das ihr Pech, aber ich sehe nicht ein, warum du genauso dumm sein sollst. Du hast nichts getan, aber auch gar nichts, verstehst du, um das herbeizuführen. Du mußt dir das aus dem Kopf schlagen, und zwar vollständig.’ Das waren sicher nicht seine exakten Worte, Oberinspektor, aber sie lauteten ungefähr so, und den Sinn habe ich in jedem Fall wiedergegeben.« Lismore sah Pitt erwartungsvoll an. Pitt war verwirrt. Bezog sich Bart Mitchell auf Winthrops Tod? Und was wußte Thora Garrick davon? »Nun?« fragte Lismore. Pitt schüttelte die Gedanken ab. »Haben Sie eine Erwiderung gehört?« »Nur teilweise. Sie war völlig aufgelöst und sprach nur unzusammenhängend.« »Und was haben Sie gehört?« »Ach - sie bestand darauf, daß sie schuld sei, daß sie das, was ihr geschehen war, durch eigene Dummheit herbeigeführt habe, daß er nicht so wütend sein solle, es sei nichts Ungewöhnliches - etwas in der Art. Es tut mir leid, ich fühlte mich ohnehin sehr unwohl, weil ich die Unterhaltung mitgehört hatte.« »Haben Sie Mr. Mitchell mit Mr. Arledge gesehen?« Pitt ließ nicht locker. »Wie hat er sich verhalten?« »Nein, ich habe sie nicht zusammen gesehen.« Lismore schüttelte den Kopf. »Soweit ich mich erinnere, war Aidan bereits gegangen, um den zweiten Teil des Konzerts zu dirigieren, als ich Mr. Mitchell sah, der mit Mrs. Winthrop zur Tür ging und vermutlich das Gebäude verließ. Sie schienen ihre Auseinandersetzung beigelegt zu haben. Anscheinend konnte er sie überzeugen, daß seine Auffassung richtig war, und sie schien zufrieden damit.«
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»Ich danke Ihnen. Sie haben mir sehr geholfen.« Pitt erhob sich, in seinem Kopf jagten die Gedanken wirr umher. »Danke, daß Sie mir Ihre Zeit geopfert und so offen mit mir gesprochen haben.« Er ging zur Tür. »Auf Wiedersehen, Sir James.« »Auf Wiedersehen, Oberinspektor«, sagte Lismore verwirrt und mit deutlicher Neugier. Emily hatte sich auf der Party gut amüsiert, obwohl es eine rein politische Angelegenheit gewesen war. In diesem Wahlkampf gab es vielerlei, was sie nicht im mindesten interessierte. Auf der Straße Reden zu halten war manchmal ganz lustig, manchmal eher ermüdend, entmutigend oder sogar gefährlich. Jack bei der Abfassung seiner Artikel und Reden für spezielle Anlässe zu helfen, bedeutete große Mühe, die sie sich nur auferlegte, weil sie zu ihm hielt und ihm jeden möglichen Vorteil verschaffen wollte, auch wenn es praktisch aussichtslos war, daß er aus dem Kampf als Sieger hervorging. Allerdings hatte sich in den letzten Tagen etwas verändert. Zu Beginn waren die Anzeichen eher schwach, eine Veränderung im Ton eines der wichtigsten Kommentatoren der Times, eine kritische Durchleuchtung der Motive Uttleys für seine Attacken gegen die Polizei, und ein Hinweis, daß man sich in diesen Zeiten eher Jack Radley auf seiner Seite wünschte. Die Frage des Patriotismus wurde aufgeworfen. Doch dieser Abend war unterhaltsam gewesen. Sie hatte getanzt und geplaudert, allem Anschein nach ganz unbefangen, doch in Wahrheit mit größter Konzentration und Finesse. Sie hatte geschmeichelt und gelacht, hatte Unterhaltsames zu den Gesprächen beigetragen und ein- oder zweimal, wo sich die Gelegenheit ergab, kluge Bemerkungen gemacht und mit ihrem politischen Verständnis einige rundliche, nicht mehr ganz junge Männer mit erheblichem Einfluß in Erstaunen versetzt. Insgesamt war der Abend ein durchschlagender Erfolg gewesen. Als sie und Jack sich verabschiedeten, wurde sie auf einer
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Welle des Wohlgefühls davongetragen und rauschte an seinem Arm hinaus, um den kurzen Weg zum Ashworth House in der warmen Frühlingsnacht zu Fuß zurückzulegen. Der Mond stand hoch und leuchtete wie eine silberne Laterne über den Bäumen, und in der Luft lag der nächtliche Duft der Blumen. Einige Kutschen ratterten an ihnen vorbei und warfen ihre Schatten,- um die Straßenlampen leuchtete es hell; dann wieder umhüllte sie die Dunkelheit wie ein zarter Mantel. Jack summte verhalten und schwankte ein ganz klein wenig, was aber nicht auf übermäßigen Alkoholgenuß zurückzuführen war, sondern auf seine Hochstimmung und ein Gefühl des Wohlbefindens. Emily lächelte und stimmte in seine Melodie mit ein. Sie bogen von der gut erleuchteten Straße in eine Nebenstraße, in der die hohen Bäume der Vorgärten das Licht der Laternen auf ihren hohen Pfählen verdunkelten. Plötzlich entfuhr Jack ein Schrei, er fiel gegen sie, packte sie und stieß sie in den Rinnstein; er selbst fiel vornüber auf die Hände und verhinderte im letzten Moment, daß er sich sein Gesicht beim Aufprall auf dem Bürgersteig verletzte. Emily stieß einen gellenden Schrei der Angst und Überraschung aus. Dann erst packte sie die echte Panik. Eine dunkle Gestalt schwebte über Jack, das Gesicht vermummt und nicht erkennbar und in der Hand ein Gerät mit einer großen keilförmigen Klinge. Sie schrie, so laut sie es vermochte. Jack lag auf dem Gehweg, die Gestalt stand immer noch drohend über ihm. Emily hatte nichts, was sich als Waffe eignete und womit sie Jack und sich hätte verteidigen können, wobei der Gedanke an die eigene Sicherheit ganz fern war. Die Gestalt hob die Arme. Jack rollte sich auf den Rücken und trat auf den Angreifer ein. Mit einem Tritt traf er ihn am Schienbein, oberhalb des Knöchels, was ihn ins Wanken brachte. Er stolperte rückwärts.
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Emily schrie wieder und wieder. Jemand mußte sie doch hören! Der Angreifer hatte sich wieder gefangen und kam erneut auf sie zu. Jack lag immer noch am Boden. Der Angreifer hob die Waffe. Jack stützte sich auf Hände und Knie, schoß nach vorn und traf den Angreifer mit dem Kopf in die Magengrube. Der Mann keuchte, schnappte nach Luft und prallte rückwärts mit den Schultern gegen die Wand. Seine Waffe fiel mit Getöse zu Boden. Jack rappelte sich hoch. Von weiter weg kam jemand den Gehweg entlang laut rufend auf sie zu, die Schritte hallten auf den Pflastersteinen wider. Der Angreifer drehte sich um und floh. Humpelnd zwar, doch bewegte er sich erstaunlich schnell vorwärts und verschwand um die Ecke in der Dunkelheit. Ein älterer Herr in einem Morgenmantel, unter dem sein Nachthemd sichtbar war, kam auf sie zu. »Ach Gott! Gütiger Himmel!« keuchte er. »Was ist denn ...? Madam! Sir - sind Sie verletzt? Warten Sie!« Er kniete sich neben Jack, der nach seinem Angriff zusammengesackt war. »Sir! Sind Sie verletzt? Wer war das? Diebe? Sind Sie beraubt worden?« »Nein, nein, ich glaube nicht.« Jack beantwortete beide Fragen auf einmal. Der Mann half ihm auf die Beine und wandte sich Emily zu. »Madam?« fragte er besorgt. »Sind Sie verletzt? Hat er...?« »Nein - nein. Ich bin nicht verletzt«, sagte Emily hastig. »Danke, daß Sie uns so schnell zu Hilfe geeilt sind und zu dieser Zeit. Wenn Sie nicht gekommen wären, wer weiß -« »Wahrscheinlich hätte man uns ausgeraubt«, unterbrach Jack sie. Ein anderer Mann kam jetzt auf sie zu und blieb bei ihnen stehen. »Was ist hier los?« fragte er ohne Umschweife. »Wer ist verletzt? Was ist mit Ihnen, Madam? Waren diese Män-
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ner ...» Er sah Jack und den Herrn im Morgenmantel an. „Ist wirklich nichts geschehen?« »Nein, wirklich nicht«, versicherte ihm Emily außer Atem. »Mein Mann wurde überfallen, doch gelang es ihm, den Angreifer abzuwehren, und als dieser Herr uns zu Hilfe kam, ist der Täter geflohen.« »Gott sei Dank. Ich weiß nicht, was aus diesem Land noch werden soll.« In seiner Stimme schwang unterdrückter Zorn. »Überall gibt es Anzeichen. Möchten Sie mit in mein Haus kommen? Es ist kaum hundert Meter von hier. Meine Bediensteten könnten Ihnen etwas zur Beruhigung geben..." »Nein, besten Dank«, sagte Jack, der noch etwas zittrig war. »Wir wohnen auch gleich hier. Aber es ist sehr freundlich von Ihnen.« »Sind Sie sicher? Und Sie, Madam?« »Doch, ganz sicher. Danke.« Jack nahm Emilys Arm und lehnte sich schwer gegen sie. Sie spürte sein Zittern. »Wirklich, herzlichen Dank«, sagte sie schnell. »Es war sehr freundlich von Ihnen, uns zu helfen. Sicherlich haben Sie uns vor einer viel schlimmeren Erfahrung bewahrt.« »Wenn Sie sich ganz sicher sind ... ? Nun, wie Sie es wünschen, selbstverständlich. Gute Nacht, Sir. Gute Nacht, Madam.« Jack und Emily bedankten sich ein letztes Mal und machten sich auf den Weg. Ihre eiligen Schritte klangen laut auf dem Pflaster. »Das war kein Räuber«, sagte Emily mit belegter Stimme. »Ich weiß«, sagte Jack mit stockendem Atem. »Er wollte mich umbringen.« »Er hatte eine Axt«, fuhr Emily fort. »Jack - es war der Schlächter! Es war der Schlächter vom Hyde Park!»
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8. Kapitel
A
m nächsten Morgen hatte sich Emilys Angst in grenzenlose Wut verwandelt. Sie zitterte vor Zorn, als sie Jack, der mit steifen Bewegungen das Zimmer betreten hatte und ziemlich blaß aussah, am Frühstückstisch gegenübersaß. »Was wirst du unternehmen?« begann sie. »Das ist doch unglaublich! Ein Parlamentsabgeordneter, der auf der Straße von einem menschenmordenden Verrückten angegriffen wird!« Vorsichtig, als würde ihm jede unachtsame, schnelle Bewegung Schmerzen verursachen, setzte er sich hin. »Ich bin kein Parlamentsabgeordneter«, sagte er bedächtig mit gerunzelter Stirn, als ob er die Worte mühsam zusammensuchen müßte. »Und es gibt keinen Grund, warum es nicht auch mich treffen sollte ...« »Aber natürlich gibt es einen«, warf Emily ein. »Du hast weder mit Captain Winthrop noch mit Mr. Arledge etwas zu tun, ebensowenig mit dem Omnibusschaffner, und wir waren noch nicht einmal im Hyde Park.« »Daran habe ich auch schon gedacht.« Er starrte auf den Teller vor sich. In der Halle tönten Schritte von einem der Bediensteten. »Was meinst du damit?« fragte Emily. »Ich verstehe dich nicht. Hast du die Polizei benachrichtigt? Ich bin immer noch der Meinung, daß du sie letzte Nacht hättest rufen sollen. Ich weiß, daß sie niemanden geschnappt hätten, dennoch hätten wir den Fall umgehend melden müssen.« »Ich möchte darüber nachdenken ...« Bevor er den Satz beenden konnte, kam das Hausmädchen mit einer Kanne Tee und frischem Toast für Emily. Sie fragte nach Jacks
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Wünschen und stellte ihm geräucherten Schellfisch, Eier, Würstchen, Speck mit Kartoffeln oder Kotelett zur Auswahl. Er entschied sich für den Fisch und dankte ihr. »Nachdenken? Worüber?« fragte Emily, kaum daß das Dienstmädchen wieder verschwunden war. »Um Himmels willen, der Schlächter hat dich angegriffen! Worauf wartest du noch?« Sie beugte sich vor und faßte ihn ins Auge. »Jack? Ist dir nicht wohl? Hat er dich verletzt?« Er machte ein spöttisches Gesicht, aber seine Ironie überzeugte nicht. »Nein, natürlich nicht. Ich habe ein paar blaue Flecken, das ist aber auch alles.« »Bist du sicher?« »Ja, ganz sicher.« Er lächelte, aber seine Blässe wich nicht. »Ich möchte nachdenken, bevor ich entscheide, was ich tun werde »Ich weiß nicht, was du damit meinst: Was du tun wirst! Du mußt es der Polizei melden, am besten gehst du gleich zu Thomas. Er muß informiert werden.« Sie stützte sich auf die Ellbogen und starrte ihn an. »Thomas, das schon«, stimmte er ihr zu. »Aber sonst keiner.« »Das verstehe ich nicht. Warum sonst keiner? Es ist wohl kaum eine Privatangelegenheit, wenn man auf der Straße angegriffen wird.« Geistesabwesend goß sie sich beiden eine Tasse Tee ein und reichte ihm seine. »Ich glaube, es wäre besser, wenn es nicht öffentlich bekannt würde«, erwiderte er, nahm den Tee entgegen und bediente sich mit einer Scheibe Toast. »Was meinst du bloß damit?« Sie war fassungslos. »Keiner wird es dir zum Vorwurf machen! Ganz im Gegenteil, man wird dir sehr viel Mitgefühl entgegenbringen.« »Mir vielleicht«, sagte er nachdenklich. »Aber es wird auch viele geben, die sich fragen werden, ob ich eine geheime Verbindung zu den Ermordeten hatte, und man würde wild spekulieren. Meine Feinde würden -« »Du kannst doch nicht schweigen, nur damit keiner Schlechtes über dich sagen kann!« unterbrach sie ihn.
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»Diejenigen, die so denken, werden es ohnehin tun. Dem wirst du nicht entgehen können.« »Daran habe ich nicht gedacht«, erwiderte er. »Ich dachte an Thomas.« »Aber du könntest ihm helfen«, protestierte sie nicht ganz zu unrecht. »Je mehr Informationen er erhält, desto größer ist die Chance, daß er den Schlächter faßt.« Das Hausmädchen brachte den Fisch, fragte, ob sonst noch etwas fehle, und verließ nach einer abschlägigen Antwort das Zimmer. »Ich bin mir nicht sicher, daß es der Schlächter war«, sagte Jack, nachdem sich die Tür geschlossen hatte. Emily war konsterniert. »Was meinst du damit? Ich habe ihn gesehen. Er hatte eine Axt. Jack - ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen!« »Ich weiß», sagte er ruhig. »Du hast einen Mann mit einer Axt gesehen, aber das heißt noch nicht, daß es der Schlächter war. Du hast ja gerade selbst gesagt, daß ich keinerlei Verbindung zu Winthrop oder Arledge oder dem Omnibusschaffner habe, noch waren wir in der Nähe des Parks.« Er nahm einen Bissen von seinem Fisch. »Und er hat mich angegriffen, als ich mich in Begleitung einer anderen Person befand. Das entspricht nicht der Methode des Schlächters.« »Er hat keine Methode!« sagte Emily heftig. Ihren Toast ließ sie unangerührt. Er sah sie mit ernster Miene an. »Ich werde Thomas davon berichten, aber ich denke, ich werde unsere Polizeiwache nicht einschalten. Kannst du dir nicht vorstellen, was die Zeitungen schreiben werden, wenn sie von einem weiteren Angriff erfahren? Das kommt Uttley sehr zupaß.« »Ah, jetzt verstehe ich.« Sie lehnte sich zurück, ihr Zorn war für den Augenblick verflogen. »Ja, natürlich. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Wir dürfen ihm nichts an die Hand geben. Er würde es nur als Waffe gegen dich benutzen, das stimmt allerdings.« »Ich lasse Thomas unterrichten.« Jack stieß den Rest seines Frühstücks beiseite und erhob sich.
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Der Butler kam mit den Morgenzeitungen ins Zimmer. Seine Miene war ernst. »Ich lese sie später.« Jack wollte schon an ihm vorbei aus dem Zimmer gehen. »Ich muß an Oberinspektor Pitt schreiben.« »Möglicherweise weiß er bereits von dem Unglücksfall, Sir«, sagte der Butler ernst. »Wie könnte er denn?« erwiderte Jack auf dem Weg zur Tür. »Ich habe dem Mann, der uns geholfen hat, nur gesagt, daß wir in der Nähe wohnen. In der Dunkelheit konnte er mich nicht erkennen, selbst wenn er von dem Vorfall erzählen wollte, was aber bestimmt nicht sein Anliegen war.« Der Butler räusperte sich und legte die Zeitungen auf den Tisch. »Es tut mir leid, das zu sagen, aber Sie irren sich. Der Vorfall steht in den Schlagzeilen verschiedener Zeitungen, in der Times ist er besonders groß aufgemacht. Mr. Uttley hat einen sehr kritischen Artikel über die Polizei geschrieben.« »Wie bitte?« Jack kam zurück, nahm die oberste Zeitung und starrte entsetzt auf die Titelseite. »Das ist doch absurd! Wie konnte Uttley rechtzeitig davon erfahren, um den Artikel zu schreiben? Wie kann er überhaupt davon wissen?« »Ich weiß es gewiß nicht, Sir. Möchten Sie dennoch einen Brief an Oberinspektor Pitt senden, Sir?« »Ja - nein.« Jack ließ sich schwer auf den Stuhl fallen, so daß die Stuhlbeine über den gewachsten Boden kratzten. »Eine verfluchte Angelegenheit!« Bevor Emily etwas dazu sagen konnte, klopfte es an der Tür, und das Hausmädchen trat herein. »Oberinspektor Pitt möchte Sie sprechen, Sir. Soll ich ihn hereinbitten, Sir?« »Ja, selbstverständlich soll er hereinkommen«, sagte Jack verärgert. »Bringen Sie eine Tasse und frischen Tee. Und Fisch, wenn er es wünscht.« »Ja, Sir.« Kaum war das Mädchen verschwunden, da trat Pitt schon ein. Er sah müde und überaus besorgt aus.
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»Wie geht es euch?« fragte er und ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern. »Was ist geschehen? Warum um alles in der Welt habt ihr mich gestern abend nicht gerufen?« Emily schluckte und wandte den Blick ab. »Setz dich.« Jack deutete auf den dritten Stuhl am Tisch. »Es wird frischer Tee gebracht. Möchtest du etwas essen? Geräucherten Schellfisch? Rührei?« »Nein danke.« Pitt lehnte das Angebot ab, nahm aber Platz. Dann fuhr Jack fort: »Ich habe dich nicht holen lassen, weil ich gar niemand geholt habe. Wir sind direkt nach Hause und ins Bett gegangen. Außer dem Personal weiß keiner etwas.« Er lächelte selbstironisch. »Man kann kaum etwas vor ihnen geheimhalten, besonders dann nicht, wenn man mit blauen Flecken übersät ist und wie ein alter Greis humpelt. Aber ich wollte dir gerade einen Brief schicken, als Jenkins mit den Zeitungen hereinkam und sagte, daß der Vorfall in den Schlagzeilen steht. Ich habe keinen Schimmer, wie das sein kann.« »Was ist denn passiert?« fragte Pitt matt. Jack berichtete über die Ereignisse der vergangenen Nacht, ohne von Emily unterbrochen zu werden. Er erzählte alle Einzelheiten, angefangen von dem Zeitpunkt, zu dem er und Emily den Empfang verlassen hatten, bis zu dem, da sie ihr Haus erreicht und die Tür hinter sich geschlossen hatten und der plötzliche Ausbruch von Gewalt hinter ihnen lag. Das Mädchen hatte die Tasse gebracht und Emily frischen Tee eingeschenkt. Pitt nippte an seinem Tee, während er aufmerksam zuhörte. Dann stellte er die Tasse ab und betrachtete Jack mit sorgenvoll gerunzelter Stirn. »Hast du auch bestimmt nichts vergessen?« Jack sah zu Emily hinüber. »Nein, nichts«, sagte Emily rasch. »Es ist alles genauso geschehen.« »Wer war der Mann, der euch geholfen hat?« fragte Pitt und sah sie beide abwechselnd an.
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»Ich weiß nicht«, sagte Emily. »Ich habe ihn weder nach seinem Namen gefragt, noch habe ich ihm meinen gesagt.« »Würdet ihr ihn wiedererkennen?« »Möglich«, gab Jack zur Antwort. »Aber ich bin mir nicht sicher. Die Straße war nicht sehr hell erleuchtet, und ich war ziemlich verwirrt. Außerdem war er nicht in seiner normalen Tageskleidung.« »Und was trugt ihr?« »Abendkleidung, schwarz und weiß.« Jack zuckte die Achseln. »Da es ein warmer Abend war, hatte ich keinen Mantel an.« Er warf einen Blick zu Emily hinüber. »Emily trug ein dunkelgrünes Kleid, und darüber ein dunkles Cape mit Kapuze, die sie auch aufgezogen hatte.« »Hätte er euch erkennen können?« fragte Pitt nachdenklich. Emily schüttelte den Kopf. »Ich hatte ihn nie zuvor gesehen, soweit ich weiß. Warum sollte er mich auch erkennen? Ich kandidiere ja nicht fürs Parlament.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, erst war ich am Boden, und während er Jack half, stand ich auf, hatte aber mein Gesicht Jack zugewandt. Ich glaube nicht, daß ich ihn richtig angesehen habe.« Pitt war nachdenklich. »Woher wußte er dann, wer ihr seid? Seid ihr ganz sicher, daß kein anderer da war?« »Es kam noch ein zweiter Mann hinzu, als wir schon gehen wollten«, erwiderte Jack. »Aber zu ihm haben wir nur gesagt, daß wir nicht verletzt seien.« »Dann kamen auch noch andere aus den Häusern«, fügte Emily hinzu. »Ich hatte so laut geschrien, wie ich konnte. Ich könnte mir vorstellen, daß viele Leute mich gehört haben - ich hoffe es doch. Ich habe mir alle Mühe gegeben.« »Aber wir waren meilenweit vom Hyde Park entfernt«, sagte Jack. »Und ich kenne weder Winthrop noch Arledge. Warum also ich?« »Ich weiß es nicht.« Pitt klang so entmutigt, daß Emily tiefes Mitleid mit ihm empfand und ihren eigenen Ärger vergaß.
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»Jack vermutet, daß es gar nicht der Schlächter war«, sagte sie ernst. »Aber er hatte eine Axt, die habe ich deutlich gesehen. Meinst du, es könnte eine Tat mit politischem Hintergrund gewesen sein?« Pitt sah sie erstaunt an. Sie war verlegen. Vielleicht war die Frage dumm gewesen. Pitt stand auf und bedankte sich für den Tee. »Ich möchte herausfinden, wie Uttley davon erfahren konnte«, sagte er mit finsterem Gesicht. »Das ergibt keinen Sinn.« Er hatte erwartet, daß es schwer sein würde, Nigel Uttley zu finden, da ja der Wahlkampf in vollem Gange war. Doch es erwies sich als ganz leicht. Uttley war in seinem Haus in der Nähe des Manchester Square und empfing Pitt ohne lange Verzögerung. Er kam in die Eingangshalle, statt ihn in die Bibliothek oder das Arbeitszimmer zu bitten. »Guten Morgen, Oberinspektor«, sagte er forsch, lächelte und steckte die Hände in die Taschen. »Was kann ich für Sie tun? Ich fürchte, daß meine Informationen über den nächtlichen Überfall gänzlich aus zweiter Hand stammen, so daß ich Ihnen nichts berichten kann, was Sie nicht selbst herausfinden könnten.« »Guten Morgen, Mr. Uttley«, sagte Pitt düster. »Vielleicht haben Sie da recht. Dennoch würde ich gerne direkt von Ihnen die Fakten erfahren, über die Sie in der Times schreiben und mit denen Sie so vertraut scheinen.« Uttley zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ich höre einen sarkastischen Unterton in ihren Worten, Oberinspektor.« Er lächelte und wippte auf den Fußballen hin und her. Die weiträumige Eingangshalle war im klassizistischen Stil gehalten, mit einem romanischen Fries unterhalb der Decke. Die Haustür stand immer noch weit offen und ließ das Sonnenlicht herein. Ein junger Mann stand auf den Stufen vor dem Haus und wartete offensichtlich darauf, daß Uttley sich ihm zuwandte.
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Pitt hätte die Sache lieber unter vier Augen besprochen, doch Uttley wollte das offensichtlich nicht. Er würde auch noch den kleinsten politischen Vorteil für sich ausschlachten. Pitt ging über den Spott hinweg. »Wie haben Sie davon erfahren, Mr. Uttley?« »Wie?« Das schien Uttley zu amüsieren. »Der Wachtmeister meines Reviers hat davon erzählt. Warum? Das ist doch sicherlich völlig unerheblich, Oberinspektor?« Pitt war erbost. Welcher unverantwortliche Wachtmeister hätte einem Bürger gegenüber etwas von der Sache gesagt? Sie überhaupt zu erwähnen, wäre schon übel genug, aber sie mit einem Politiker zu besprechen, dessen Wahlkampagne auf dem Vorwurf der Inkompetenz der Polizei aufbaute, wäre ein Vertrauensbruch und eine Mißachtung der Pflicht, die nicht entschuldigt werden könnten. »Wie heißt er, Mr. Uttley?« »Wer? Der Wachtmeister?« Uttley machte erstaunte Augen. »Ich habe keine Ahnung, ich habe ihn nicht gefragt. Wirklich, Oberinspektor, verschwenden Sie nicht Ihre Zeit mit Nichtigkeiten? Vielleicht hätte er sich mir nicht anvertrauen sollen, aber möglicherweise ist er ebenso besorgt über die Gewalt in unserer Stadt wie die Allgemeinheit.« Er zog die Schultern hoch und bohrte seine Hände tiefer in die Taschen. Mit lauter, klarer Stimme fuhr er fort: »Ich glaube, Sie sind sich nicht bewußt, Oberinspektor, wie zutiefst beunruhigt die Menschen sind. Viele Frauen trauen sich nicht auf die Straßen und sind krank vor Angst, daß ihren Ehemännern oder Vätern etwas zustoßen könnte; sie bedrängen sie, das Haus nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr zu verlassen. Die Parkanlagen liegen einsam und leer da. Selbst die Theater klagen, daß die Zuschauerzahlen zurückgehen, weil keiner mehr in der Dunkelheit nach Hause kommen möchte.« Darauf gab es eine Menge Antworten, die Pitt hätte geben können, doch er konnte nicht bestreiten, daß es die Angst wirklich gab, auch wenn sie übertrieben war. Es hing Panik über der Stadt, er hatte es selbst gespürt.
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»Ich bin mir dessen bewußt, Mr. Uttley«, erwiderte er, so höflich er vermochte. Es war nicht die Tatsache, daß Uttley diese Dinge aufzeigte, die ihn verärgerten, sondern die Genugtuung, die dabei in seinen Augen aufleuchtete. »Wir geben uns die größte Mühe, den Mann zu fassen.« »Das ist ja offensichtlich nicht genug«, sagte Uttley mit durchdringender Stimme. Zu dem Mann außen auf der Treppe gesellte sich ein zweiter. »Was hat Ihnen der Wachtmeister erzählt, Mr. Uttley?« Pitt versuchte, so gut es ging, seinen Unmut aus der Stimme herauszuhalten, was ihm aber nicht ganz gelang. »Daß Radley von einem Mann mit einer Axt angegriffen wurde und daß der Mann versucht habe, ihn zu töten«, erwiderte Uttley und richtete seinen Blick auf die Männer vor der Tür. »Ich bin gleich für Sie bereit, meine Herren!« Er sah wieder zu Pitt, sein Lächeln wurde breiter. »Wirklich, Oberinspektor, mehr bringen Sie nicht zustande? Sicherlich hat ein Mann Ihres Ranges wichtigere Aufgaben wahrzunehmen, als mich nach Informationen aus zweiter Hand zu fragen. Sie wollen anscheinend nur einen armseligen Wachtmeister in Schwierigkeiten bringen, weil der mir Dinge berichtet hat, die Ihrer Meinung nach besser geheim geblieben wären.« Die jungen Männer vor der Tür näherten sich ihnen. »Wenn ich ihn finde, werde ich das tun«, sagte Pitt mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich werde ihn dafür zur Rechenschaft ziehen, daß er sich an Sie gewandt hat und nicht an mich. Das ist eine Pflichtverletzung, die einer Erklärung bedarf.« »Er hat es Ihnen nicht berichtet?« Uttley war erstaunt. »Gütiger Himmel!« Seine Überraschung wandelte sich in Belustigung, fast wäre er in Lachen ausgebrochen. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie hierhergekommen sind, um Fakten zu sammeln, die Ihre eigenen Leute Ihnen vorenthalten haben? Mein Gott! Ihre Inkompetenz übersteigt jedes Vorstellungsvermögen. Wenn Sie glauben, Sie haben meine Kritik bisher zu spüren bekommen, mein Lieber, dann
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kann ich Ihnen versichern, daß ich damit erst begonnen habe.« »Nein, Mr. Uttley, ich bin nicht hier, um die Fakten zu sammeln«, gab Pitt bissig zurück. »Die habe ich bereits von Mr. Radley erhalten, einschließlich der Tatsache, daß er weder seinen Namen genannt noch die Polizei verständigt hat.« »Er hat die Polizei nicht verständigt?« Uttleys Miene verdüsterte sich, Verwirrung machte sich breit. »Was wollen Sie damit sagen? Er wurde auf der Straße angegriffen und beinahe umgebracht. Natürlich hat er die Polizei verständigt.« »Er wurde angegriffen.« Pitts Stimme wurde lauter. »Aber heute morgen erfreute er sich bester Gesundheit, und von Mrs. Radley habe ich erfahren, daß er den Angreifer recht schnell abschütteln konnte und sich außer ein paar blauen Flecken keine Verletzungen zugezogen hat.« »Das hat er Ihnen erzählt?« Uttleys Miene nahm wieder einen spöttischen Ausdruck an. »Wie tapfer - und treu seinem doch recht absonderlichen Standpunkt, die Polizei zu verteidigen.« »Entspricht es nicht der Wahrheit?« fragte Pitt mit plötzlich sanfter Stimme. »Ich hatte gehört, daß er von dem Schlächter angegriffen wurde«, sagte Uttley, doch seine Stimme war nicht mehr ganz so selbstsicher wie zuvor. »Jeder Mensch mit dem geringsten Gefühl von Verantwortung würde das sofort der Polizei melden, ungeachtet der Tatsache, ob er verletzt wurde oder nicht.« »Er hat es mir gemeldet«, erwiderte Pitt, womit er die Wahrheit ziemlich weit auslegte - zumindest was die Tatsachen anging. Uttley zuckte die Achseln, verzog das Gesicht und wandte sich ab. »Gut, dann nehme ich an, daß Sie alles wissen, was Sie wissen müssen. Damit wird auch um so deutlicher, daß Sie nur zu mir gekommen sind, um diesem unglückseligen Wachtmeister das Leben schwerzumachen, habe ich recht?«
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»Wenn es sich um den Beamten handelt, der am Tatort zugegen war, ist es unabdingbar, daß ich mit ihm rede«, erwiderte Pitt und gewann von Minute zu Minute an Selbstsicherheit. »Da Mr. Radley den Tatort verließ, sobald er den Angreifer abgewehrt und dem zu Hilfe Geeilten versichert hatte, daß er unverletzt sei, ist es möglich, daß der Beamte wichtige Spuren gesichert hat, zum Beispiel die Axt.« Einen Moment lang war Uttley sprachlos, faßte sich aber schnell wieder. »Dann sollten Sie ihn ausfindig machen. Es sollte ja Ihre Fähigkeiten nicht übersteigen herauszufinden, wo einer Ihrer Männer abgeblieben ist.« Er lachte laut auf. »Was für eine Farce! Gilbert und Sullivan könnten ein lustiges Lied über Sie schreiben, Oberinspektor, lustiger noch als das in Pirates. Wenn die Zeitungen erst Wind davon bekommen, daß der Oberinspektor London durchkämmt, um einen seiner Wachtmeister ausfindig zu machen. Die Witzblattzeichner werden sich köstlich amüsieren. Was für ein Geschenk!« »Sie scheinen der Auffassung zu sein, daß es mir schwerfallen könnte, Mr. Uttley«, sagte Pitt mit ebenso klarer und durchdringender Stimme wie Uttley. »Meinen Sie nicht, daß ich einfach nur zur Wache gehen muß, um zu erfahren, welcher Wachtmeister dort auf Streife war?« »Ich habe keine Ahnung«, antwortete Uttley, wobei eine leichte Röte seine Wangen färbte und er Pitts Blick nicht so offen zu erwidern wagte wie zuvor. Er schob die Hände tiefer in die Taschen und wandte sich ab. »Wenn ich weiter nichts für Sie tun kann ... Ich habe noch eine Reihe anderer Verpflichtungen heute. Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte, wo Sie doch so auf Hilfe angewiesen scheinen.« »Sie waren außerordentlich hilfreich«, gab Pitt zurück. Dann fügte er mutig hinzu: »Es könnte sogar sein, daß Sie den Fall für mich aufgeklärt haben. Einen schönen Tag, Sir.« Er trat ins Freie, ging an den beiden jungen Männern, die immer noch auf der Treppe warteten, vorbei und tippte sich leicht an den Hut. »Guten Tag, meine Herren.«
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Die beiden starrten ihm nach, als er die Stufen hinab zum Gehweg ging, und sahen sich dann fragend an. Pitt hatte vor, auf direktem Weg zu der Polizeiwache zu gehen, der der Streifenpolizist angehören mußte. Auf seinem Weg überquerte er eine breite Hauptstraße und schlängelte sich zwischen den Karren der Fischverkäufer und Gemüsehändler hindurch, als er von einem dicken Mann angesprochen wurde, dessen ergrauendes Haar in fettigen Locken auf den Kragen fiel. Er hatte tiefliegende grüne Augen und ein aufgedunsenes Gesicht und war elegant gekleidet. Eine lange goldene Uhrkette spannte sich über seinem enormen Bauch. Neben ihm ging ein anderer Mann, der ihm kaum bis zur Schulter reichte. Seine Gestalt war gedrungen und unförmig, sein spitzes Gesicht hatte einen niederträchtigen Ausdruck, sein Mund war leicht geöffnet und ließ spitze, dunkel verfärbte Zähne sehen. »Guten Morgen, George«, sagte Pitt zu dem Dicken. Sein Blick ging von ihm zu dessen Begleiter. »Guten Morgen, Georgie.« »Ah, Mr. Pitt«, sagte der dicke George mit hoher, merkwürdig trauriger Fistelstimme. »Sie ham uns enttäuscht, das ham Se. Der Park ist kein sichrer Ort mehr für Gentlemen. Schlechte Zeiten fürs Geschäft, ganz schlecht.« »Sie machen uns wirklich das Leben schwer, Mr. Pitt«, fiel der kleine Georgie ein. Seine Stimme war eine scheußliche Nachahmung der seines Partners, die durch zusätzliche Zischlaute noch häßlicher klang. »Das gefällt uns nich. Wir ham ziemlich hohe Einbußen, Mr. Pitt.« »Wenn ich wüßte, wer die Morde verübt hat, würde ich ihn verhaften, das versichere ich euch«, erwiderte Pitt so ruhig wie möglich. »Wir geben uns die größte Mühe, ihn zu finden.« »Das reicht nich, Mr. Pitt«, sagte der kleine Georgie und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Das reicht ganz und gar nich.« »'ne ganze Menge Herren haben jetzt soviel Angst, daß sie es nich mehr wagen, im Park ihr Vergnügen zu suchen,
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Mr. Pitt«, fügte der dicke George hinzu und stocherte mit seinem Stock mit dem Silbergriff auf dem Gehweg herum. »Die sin drüber nich glücklich, überhaupt nich glücklich.« »Dann solltet ihr euch Mühe geben herauszufinden wer der Mörder ist«, gab Pitt zurück. »Ihr habt mehr Leute im Park, die Augen und Ohren offenhalten können, als ich.« »Wir wissen von nischts«, klagte der dicke George. »Ich dacht, das hätten wir Ihnen schon gesagt, mehr oder weniger. Meinen Se, wenn wir was wüßten, dann würden wir hier mitten im Verkehr stehn un Ihnen Vorwürfe machen, Mr. Pitt? Wir hätten 'n uns schon selbst vorgeknöpft. Es is keiner von uns. Wenn Se glauben, daß es mit unserem Gewerbe zu tun hat, dann irren Se sich.« »Idiot!« brach es heftig aus dem kleinen Georgie heraus. »Armseliger Trottel! Glauben Se, uns gefällt das, was hier passiert? Wenn einer unsrer Leute anfangen würd, den Herrschaften die Köpfe abzusäbeln, hätt er im Handumdrehen 'n Messer im Rücken und würd im Fluß landen. Wir zeigen vielleicht mal dem einen oder anderen, wo's langgeht, aber einen von den Herrn Kunden würden wir niemals anrührn. Schlecht fürs Geschäft, völlig blödsinnig, das!« Er befühlte etwas in seinem Stiefel unter dem Mantel. Pitt war sich sicher, daß es ein Messer war. Der kleine Mann leckte sich mit spitzer Zunge die Lippen und sah Pitt, ohne mit der Wimper zu zucken, an. »Georgie hat ganz recht, Mr. Pitt«, flüsterte der dicke George mit pfeifendem Atem. »Mit uns hat das nischts zu tun. Halten Se sich an die Gentlemen, das sage ich Ihnen.« »Ein Verrückter aus ...«, begann Pitt. Der dicke George schüttelte den Kopf. »Sie wissen genau, daß das nich stimmt, Pitt. Ich bin erstaunt. Sie verschwenden Ihre Zeit. Im Park is kein Verrückter, das wissen wir beide.« Der kleine Georgie trippelte von einem Fuß auf den anderen. Hinter den Männern rollte ein unablässiger Strom von Karren und Wagen vorbei.
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Pitt widersprach nicht. Er war nie der Meinung gewesen, daß es ein frei herumlaufender Geistesgestörter war. »Sie müssen ihn finden, Mr. Pitt«, sagte der dicke George wieder und schüttelte den Kopf, so daß seine Locken auf dem Pelzkragen auf und ab wippten. »Sonst werden wir Ihnen das sehr übelnehmen, der kleine Georgie und ich.« »Ich werde es mir selbst auch übelnehmen«, sagte Pitt bitter. »Aber wenn es euch wirklich am Herzen liegt, solltet ihr selbst etwas unternehmen.« Der kleine Georgie sah ihn finster an. Der dicke George lächelte, aber es war kein freundliches Lächeln. »Das is Ihre Aufgabe, Mr. Pitt«, sagte er sanft. »Wir würden uns sehr freuen, wenn Se sich drum kümmern würden.« Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verschwand zwischen den Karren. Der kleine Georgie sah Pitt noch einmal böse an und folgte seinem Gefährten. Um mit ihm Schritt zu halten, mußte er im Laufschritt hinter ihm hersetzen, was ihn noch mehr erboste. Pitt ging weiter, ohne lange über die Begegnung nachzugrübeln. Was er gehört hatte, war allerdings ein deutlicher Hinweis auf die Stimmung unter den Leuten, wenn sogar der dicke George Einbußen im Geschäft hinnehmen mußte. Auf der Wache reagierte man auf seine Frage mit großem Erstaunen. Der Inspektor, mit dem er sprach, war ein großer, schlanker Mann mit einem langen, hageren Gesicht und einer Miene gequälter Würde. »Wir wissen nichts von dem Vorfall«, sagte er abgespannt. »So unglaublich es auch scheint, der Vorfall wurde uns nicht gemeldet. Ich weiß nur das, was ich in der Zeitung gelesen habe.« »Er wurde nicht gemeldet?« sagte Pitt erstaunt. »Das ist doch die zuständige Wache?« »Ja, schon.« Der Inspektor seufzte. »Ich habe mit all meinen Männern gesprochen, da ich selbst wissen wollte, wer so unverantwortlich war und mit Uttley darüber gespro-
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chen hat, aber keiner war in der Gegend auf Streife. Und ich habe es überprüft, so daß Sie sich nicht zu fragen brauchen, ob meine Leute die Wahrheit sagen, oder ob sich jemand aus der Sache herausreden will. Jeder der Wachtmeister kann belegen, wo er war. Uttley hat es von keinem von ihnen erfahren.« »Sehr merkwürdig«, sagte Pitt nachdenklich. Er zweifelte nicht an dem, was der Inspektor ihm sagte, und glaubte auch nicht, daß die Streifenpolizisten gelogen hatten. Es ließe sich leicht überprüfen, und ein Wachtmeister, der einer Unehrlichkeit überführt wurde, würde vom Dienst suspendiert. »Es ist mehr als merkwürdig«, sagte der Inspektor gereizt. »Ich kann mir nur vorstellen, daß es einer der Männer war, die zu Hilfe kamen. Radley selbst würde wohl kaum die Zeitungen benachrichtigen. Wenigstens er scheint auf unserer Seite zu sein. Aber er ist auch der einzige. Haben Sie die Zeitungen gelesen, Sir?« »Ja - ja, so habe ich es erfahren, obwohl Radley mein Schwager ist.« Die buschigen Augenbrauen des Inspektors gingen in die Höhe. »Wollte er den Vorfall nicht melden?« »Mir schon, weil der Mann ihn mit einer Axt angegriffen hatte, aber nicht der Wache. Er wollte uns vor der schlechten Presse bewahren.« »Wir stehen ziemlich dumm da, meinen Sie nicht auch?« sagte der Inspektor bitter. »Es ist schon weit mit uns gekommen, wenn ein Parlamentsabgeordneter sich seinen Posten sichern kann, nur weil die Öffentlichkeit mit der Polizei unzufrieden ist.« Er verzog das Gesicht. »Fast zuviel des Zufalls, daß der Schlächter den Widersacher Uttleys im Wahlkampf für diese Nachwahl angreift, meinen Sie nicht auch?« »Doch, der Meinung bin ich auch«, gab Pitt zurück. »Ich danke Ihnen, daß Sie sich Zeit für mich genommen haben, Inspektor. Ich glaube, ich werde die beiden Männer aufsuchen, die Mr. Radley zu Hilfe gekommen sind. Mal sehen, was die dazu zu sagen haben.«
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»Wozu aber? Sie haben den Angreifer ja nicht gesehen«, sagte der Inspektor mit trauriger Miene. »Aber - wenn Sie meinen, daß es was nützt.« »Aber ja - es nützt bestimmt.« »Auf gar keinen Fall, Sir«, sagte Mr. Milburn erstaunt. »Das wäre ja von einer unverzeihlichen Dreistigkeit. Warum sollte ich das wohl tun?« »Es könnte Ihre Auffassung von Bürgerpflicht sein«, sagte Pitt beschwichtigend. »Oder es hätte Ihnen im Eifer des Gefechts entfahren können.« Mr. Milburn stand kerzengerade mit kantigen Schultern vor ihm. »Der Moment des Angriffs auf den armen Herrn war wohl der einzige im Eifer des Gefechts. Und auf die Dame natürlich, die Ärmste! Mitten in einem so vornehmen Wohnbezirk wie diesem hier. Heutzutage ist man nirgendwo mehr sicher.« Mr. Milburn schüttelte den Kopf und fuhr sich mit seinen kurzen Fingern durchs Haar. »Ich weiß wirklich nicht, wo das hinführen soll. Ich möchte nicht unnötige Kritik üben, Sir, aber die Polizei sollte ihrer Aufgabe doch besser gerecht werden. Wir leben in der größten Stadt der Welt, und viele würden sagen, in der zivilisiertesten, aber wenn wir auf unseren Straßen gehen, fürchten wir uns vor Anarchisten und Geistesgestörten. Das ist einfach erbärmlich, Sir!« »Es tut mir leid«, sagte Pitt aufrichtig. »Aber ich weiß nicht, was wir noch tun könnten, zusätzlich zu dem, was bereits geschieht.« »Das mag schon sein, das mag schon sein.« Milburn nickte und blickte Pitt verlegen an. »Aus Angst sagen wir manchmal unbedachte Dinge. Vielleicht war ich voreilig. Kann ich Ihnen denn irgendwie helfen?« »Haben Sie jemanden erkannt, Sir?« fragte Pitt. »Guter Mann, ich wurde noch nicht einmal Zeuge des Überfalls selbst. Ich war in meinem Schlafzimmer und wollte gerade zu Bett gehen, als ich die Schreie der Dame hörte. Da bin ich sofort hinunter und auf die Straße gelaufen, um zu Hilfe zu eilen.«
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»Das ist sehr lobenswert«, sagte Pitt aufrichtig, »und auch sehr mutig, wenn ich das hinzufügen darf.« Milburn errötete leicht. »Ich danke Ihnen, Sir, danke. Ich gebe offen zu, daß ich gar nicht an die Gefahr dachte, in die ich mich selbst begab vielleicht hätte ich dann anders gehandelt. Aber das ist ja nun gleichgültig. Nein, in diesem Punkt kann ich Ihnen leider keinerlei Hilfe bieten.« »Eigentlich meinte ich, ob Sie den Herrn oder die Dame denen der Angriff galt, erkannt haben?« »Nein, Sir. Es ging alles sehr schnell, zudem war es dunkel. Außerdem muß ich zugeben, daß ich normalerweise eine Brille trage. Natürlich hatte ich sie in dem Moment nicht bei mir. Der Herr schien ziemlich jung und sehr beweglich. Und kräftig, ja, auf jeden Fall kräftig. Mehr kann ich nicht sagen.« Er atmete tief ein und betrachtete Pitt sachlich. »Und was die Dame angeht, so hatte sie sicherlich Mumm und sehr gute Lungen, aber darüber hinaus ist mir nichts aufgefallen, noch nicht einmal, ob sie blond oder dunkel war, hübsch oder unauffällig. Es tut mir leid, ich kann Ihnen überhaupt nichts Nützliches mitteilen. Ich beginne Ihre Schwierigkeiten zu verstehen.« »Ganz im Gegenteil, Mr. Milburn«, erwiderte Pitt. »Sie helfen mir mehr, als Sie sich vorstellen können. Wahrscheinlich haben Sie mein Problem schon gelöst. Ich danke Ihnen, Sir, und auf Wiedersehen.« Er nickte zum Abschied und ließ Mr. Milburn mit offenem Mund stehen. In der Bow Street bereitete man ihm einen ganz anderen Empfang. Giles Farnsworth lief in Pitts Büro auf und ab. Kaum hatte er das Drehen des Türknaufs gehört, wirbelte er herum und sah Pitt, eine Zeitung in der Hand, entgegen. »Vermutlich haben Sie das gelesen?« sagte er wütend. »Wie wollen Sie das erklären? Was werden Sie unternehmen?« Er wedelte mit der Zeitung in der Luft. »Jetzt wurde sogar ein zukünftiger Parlamentsabgeordneter mitten in Mayfair Opfer eines Überfalls. Was haben Sie denn bisher
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über den Schlächter in Erfahrung gebracht, Pitt? Wissen Sie überhaupt schon etwas über ihn?« »Ich weiß, daß es diesmal nicht der Schlächter war«, erwiderte Pitt gelassen. »Es war nicht der Schlächter?« wiederholte Farnsworth ungläubig. »Wollen Sie mir erzählen, daß wir jetzt zwei menschenmordende Verrückte haben, die in London herumlaufen und die Leute mit einer Axt bedrohen?« »Nein, wir haben einen Verrückten und einen Opportunisten, der die Situation für sich ausnutzen möchte.« »Was? Wovon reden Sie?« wollte Farnsworth wissen. »Welchen Vorteil könnte ein vernünftiger Mensch aus diesem Alptraum ziehen?« »Einen politischen«, erwiderte Pitt knapp. »Einen politischen?« Farnsworth blieb stocksteif stehen. »Verstehe ich Sie richtig, Pitt? Gütiger Himmel, wenn Sie diesen Vorwurf erheben, sollten Sie sich absichern. Und Sie sollten es beweisen können.« »Ich habe noch nicht genügend Beweise, um Anklage gegen ihn zu erheben«, erwiderte Pitt und schritt zu seinem Schreibtisch. »Aber für mich steht fest, daß er es war, der Mr. und Mrs. Radley letzte Nacht angegriffen hat.« Farnsworth starrte ihn an; die Zeitung hatte er vergessen. »Sind Sie wirklich sicher? Geben Sie mir darauf Ihr Wort?« »Mein Wort«, erwiderte Pitt ruhig. »Woher wissen Sie das? Er hat es doch nicht zugegeben?« »Nein, natürlich nicht. Aber er hat den Artikel in der Zeitung verfaßt. Mir hat er erzählt, er hätte die Informationen von dem diensthabenden Wachtmeister, aber einen solchen hat es nicht gegeben. Er hat es auch nicht von dem Mann gehört, der Mr. Radley zu Hilfe geeilt ist, denn der hat Radley gar nicht erkannt.« »Also wirklich«, sagte Farnsworth nachdenklich. »Der Mann ist ein kompletter Idiot.« Die Verachtung in seiner Stimme war deutlich. Damit war für ihn der Punkt erledigt, und er fragte Pitt mit besorgter Miene: »Was ist aber mit dem echten Schlächter? Die ganze Stadt ist vor Entsetzen wie gelähmt. Im Unterhaus wurden zu dem Thema Fragen
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gestellt, die den Innenminister ernstlich in Bedrängnis gebracht haben. Die Königin hat sich zu dem Thema geäußert. Sie ist besorgt und hat das auch kundgetan.« Plötzlich war seine Stimme schrill und zornig, als ob die Angst sich seiner wieder bemächtigt hätte. »Himmelherrgott, Pitt, was ist denn mit Ihnen los? Sie müssen doch irgendwie genügend Beweise zusammenkriegen, um ihn zu verhaften.« »Sprechen Sie wieder von Carvell, Sir?« fragte Pitt vorsichtig. »Natürlich spreche ich von Carvell«, fuhr Farnsworth ihn an. »Der Mann hat ein Motiv, die Mittel und die Gelegenheit. Und Sie haben die idealen Voraussetzungen, um ihm ein Geständnis abzuringen. Setzen Sie sie ein.« »Ich habe nichts -«, begann Pitt, doch Farnsworth unterbrach ihn ungeduldig. »Oh, um Himmels willen!« Er fuhr mit der Hand unwillig durch die Luft. »Tellman hat recht, Sie sind zu zimperlich. Das ist nicht die Zeit noch der Ort, um ihrem persönlichen Gewissen nachzugeben, Pitt.« Er stützte sich auf die Ecke des Schreibtisches und beugte sich zu Pitt hinüber. »Sie haben Verpflichtungen gegenüber Ihren Vorgesetzten und der ganzen Polizei. Sie müssen über Ihren Gewissensbissen stehen. Die jüngeren Mitarbeiter können sich so etwas leisten, aber nicht die Männer, die die Verantwortung tragen. Stellen Sie sich Ihrer Verantwortung - oder treten Sie zurück!« »Ich kann Carvell nicht verhaften«, sagte Pitt ganz ruhig. »Und ich weigere mich, ihn für das zu verfolgen, was ich für seine Privatangelegenheit halte.« »Verdammt noch mal, Pitt!« Farnsworth donnerte mit der Faust auf den Tisch. »Der Mann hatte eine ungesetzliche sexuelle Beziehung mit dem Mordopfer. Er kann weder beweisen, wo er zur Tatzeit war, noch wo er zum Zeitpunkt des Mordes an Winthrop war. Arledge hat Winthrop wahrscheinlich gekannt -« »Woher wissen Sie das?« unterbrach Pitt ihn.
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Farnsworth sah ihn ungläubig an. »Er kannte Mrs. Winthrop. Daher ist es nicht unwahrscheinlich anzunehmen, daß er auch Winthrop gekannt hat. Und wenn Carvell ein eifersüchtiger Mann ist, dann liegt die Schlußfolgerung auf der Hand.« »Hat Ihnen Tellman das erzählt?« »Natürlich hat Tellman mir das erzählt. Was ist mit Ihnen los? Warum zögern Sie?« »Es könnte ebensogut Bartholomew Mitchell gewesen sein.« Jetzt war es Farnsworth, der verwirrt war. »Mitchell? Winthrops Schwager? Warum denn, um Himmels willen? Was hatte er mit Arledge zu tun?« »Winthrop hat seine Frau geschlagen«, erwiderte Pitt. »Mitchell wußte das. Arledge wurde mit Mrs. Winthrop gesehen, als sie sehr niedergeschlagen war.« »Und der Omnibusschaffner?« hakte Farnsworth nach und überging die Tatsache, daß Winthrop seine Frau geschlagen hatte. »Wie paßt der da rein? Erzählen Sie mir nicht, daß er etwas mit diesem häuslichen Drama zu tun hatte?« »Das weiß ich nicht. Aber wir wissen auch nicht, wie er zu Carvell paßt«, argumentierte Pitt. Farnsworth biß sich auf die Lippen. »Erpressung«, sagte er eisig. »Das ist die einzige Antwort. Aus irgendeinem Grunde war er im Park und hat einen der Morde beobachtet. Ich bin immer noch der Auffassung, daß es Carvell war. Gehen Sie ihm nach, Pitt. Setzen Sie ihn unter Druck, daß er mit der Wahrheit herauskommt. Sie kriegen schon ein Geständnis von ihm, wenn er es getan hat.« Es klopfte an der Tür, und bevor Pitt etwas sagen konnte, öffnete sie sich, und Tellman kam herein. »Oh«, sagte er überrascht, als hätte er nicht gewußt, daß Farnsworth da war. »Entschuldigen Sie mich, Sir.« Er sah Pitt an. »Ich dachte, Sie würden das gerne erfahren, Mr. Pitt. Unsere Leute haben sich um Carvells Alibi zum Zeitpunkt der Morde erkundigt.« »Und?« sagte Pitt mit einiger Schärfe und spürte ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube.
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Farnsworth starrte Tellman mit weit aufgerissenen Augen an. »Haben keinen gefunden, der ihm eins gibt«, erwiderte Tellman. »Nicht für den Mord an Winthrop, noch für den an Arledge. Ich weiß nicht, was wir noch versuchen könnten.« »Das reicht», griff Farnsworth ein. »Nehmen Sie ihn wegen des Mordes an Arledge fest. Die anderen beiden sind für die Anklage nicht wichtig. Wenn er erst einmal in Untersuchungshaft ist, wird er schon noch sein Schweigen brechen.« Pitt wollte Einspruch erheben, doch Tellman kam ihm zuvor. »Wo er zur Zeit der Ermordung von Yeats war, wissen wir noch nicht, Sir«, sagte er rasch mit dem Blick auf Farnsworth. »Vielleicht hat er für diese Tatzeit ein Alibi.« »Und was sagt er, wo er war?« fragte Farnsworth gereizt. »Daß er in einem Konzert war, wir überprüfen das noch«, sagte Tellman mit offenem Blick und einem unschuldigen Gesichtsausdruck. »Wir würden doch schön dumm dastehen, wenn wir ihn festnehmen, und dann würden wir jemanden finden, der ihn in der mehrere Meilen entfernten Konzerthalle gesehen hat, sagen wir, um Mitternacht.« »Um welche Uhrzeit wurde Yeats umgebracht?« »Wahrscheinlich zwischen zwölf und halb eins«, antwortete Pitt. »Wahrscheinlich?« sagte Farnsworth scharf. »Wie genau kann der Gerichtsmediziner das feststellen? Vielleicht war es auch später. Vielleicht war es sogar zwei Stunden später. Damit hätte Carvell reichlich Zeit gehabt, um mit einer Droschke zu der Endhaltestelle in Shepherd's Bush zu gelangen.« Triumphierend sah er von Pitt zu Tellman. Tellman erwiderte den Blick. »Das würde nichts ändern, Sir. Yeats hätte sich wohl kaum zwei Stunden nach seinem Eintreffen noch an der Endhaltestelle aufgehalten. Er hat sich gleich auf den Weg nach Hause gemacht, das sagt der Fahrer. Und da er nur un-
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gefähr fünfzehn Minuten zu gehen hatte, legt das die Zeit seines Todes ziemlich genau fest.» Farnsworth Mund wurde schmal. »Dann sollten Sie herausfinden, wer sonst noch bei dem Konzert war«, sagte er. »Wenn Carvell da war, muß ihn jemand gesehen haben! Er ist schließlich bekannt. Und er war ja nicht allein in einem Zimmer. Himmelherrgott, Mann, Sie sind Polizist. Es muß doch eine Möglichkeit geben zu beweisen, ob er dort war oder nicht. Was ist mit der Pause? Hat er etwas zu sich genommen? Er muß mit jemandem gesprochen haben. Ein Konzert ist ein gesellschaftliches Ereignis, nicht nur ein musikalisches.« »Er sagt, er hat mit niemandem gesprochene«, antwortete Tellman. »Es war kurz nach Arledges Tod, und er war nicht in der Stimmung für Gespräche. Er wollte nur die Musik hören, weil sie für ihn voller Erinnerungen ist. Er hat zu Beginn des Konzerts mit keinem gesprochen, und danach auch nicht.» »Dann nehmen Sie ihn fest«, sagte Farnsworth. »Er ist der, den wir suchen.« »Wenn sich nun aber herausstellt, daß es Mr. Mitchell war, Sir?« sagte Tellman mit unschuldiger Miene. »Er scheint ja auch einen Grund gehabt zu haben, und er hat auch kein Alibi außer dem, das seine Schwester ihm gibt, und das zählt ja nicht allzuviel.« Farnsworth ging zur Tür. »Also, ich möchte, daß etwas geschieht, und zwar schnell.« Er ignorierte Tellman und sah Pitt an. »Oder wir müssen Sie durch jemanden ersetzen lassen, der mehr Erfolg hat. Die Leute haben ein Recht auf einen besseren Polizeidienst. Der Innenminister verfolgt den Fall mit großem Interesse, und selbst die Königin ist besorgt. Ende der Woche, Pitt - keinen Tag länger.« Als er gegangen war, sah Pitt Tellman neugierig an. Tellman tat, als merkte er nichts. »Das sieht denen ähnlich«, sagte er lässig. »Schade, daß sie keine vernünftigen Vorschläge haben. Mir fällt mit Sicherheit nichts mehr ein, was wir noch tun könnten. Wir
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haben zwei Männer eingesetzt, die alles über diesen Omnibusschaffner herausfinden sollen. Er ist so unauffällig, daß man ihn gegen zehntausend andere unauffällige Männer austauschen könnte, und keinem würde der Unterschied auffallen. Wichtigtuerisch, bevormundend, hat mit seiner Frau und zwei Hunden gelebt, züchtete Tauben, trank jeden Freitag abend im Fox und Grapes sein Ale, spielte Domino, und zwar schlecht, war aber beim Darts recht gut. Warum sollte jemand diesen Mann ermorden wollen?« »Weil er etwas gesehen hat, was nicht für seine Augen gedacht war«, erwiderte Pitt schlicht. »Aber er war im Dienst, als Winthrop und Arledge umgebracht wurden«, sagte Tellman verzweifelt. »Und seine Linie führt nicht am Park vorbei. Und selbst wenn man Arledge an einem anderen Ort umgebracht hat - wir wissen genau, wo Winthrop ermordet wurde.« »Dann beauftragen Sie doch jemanden damit herauszufinden, wo Arledge ermordet wurde«, sagte Pitt ohne große Hoffnung. »Lassen Sie die Gegend um Carvells Haus absuchen. Finden Sie einen Vorwand, unter dem Sie Mitchell aufsuchen können, und durchsuchen Sie sein Haus noch einmal.« »Jawohl, Sir. Was werden Sie tun?« Diesmal fragte er ohne Anmaßung. »Ich werde zu der Totenmesse für Aidan Arledge gehen.« Es war von Anfang an klar, daß Charlotte Thomas begleiten würde, zunächst zur Totenmesse, dann zu dem anschließenden Empfang. Das neue Haus war nun fast fertig, allerdings gab es noch jede Menge kleinerer Dinge, die zu erledigen waren: Vorhänge mußten aufgehängt, lose Dielen verschraubt, ein Wasserhahn ersetzt, Kacheln in Küche und Kammer angebracht werden, und vieles mehr. Doch all das erschien völlig unwichtig angesichts der Möglichkeit, allen Protagonisten der Tragödie, mit der Pitt befaßt war, leibhaftig zu begegnen. Sie kamen absichtlich sehr früh an, dezent in Schwarz gekleidet. Pitt hatte sogar dreimal soviel Zeit vor dem Spiegel
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zugebracht wie sonst. Zwar dauerte auch das nur wenige Minuten, aber er hatte überdies Charlotte gestattet, seinen Kragen, Halstuch und Jackett zu ihrer Zufriedenheit zu richten. Charlotte selbst trug dasselbe Kleid wie schon bei der Totenmesse für Captain Winthrop, doch diesmal mit einem anderen Hut. Dieser war höher und hatte eine schmalere Krempe - ganz nach der neuesten Mode, wenn ihr nicht gar ein wenig voraus. Er war ein Geschenk von Großtante Vespasia. Sie waren soeben - um die Ecke, damit keiner sehen konnte, daß sie keine eigene Kutsche hatten - aus der Droschke gestiegen, als sie auch schon Emily und Jack sahen. Jack war wie immer mit lässiger Eleganz gekleidet, wenn auch sein Gang noch steif war. Charlotte war über den Vorfall informiert, durch die Zeitungen, durch Pitt und durch Emily, die sie natürlich sofort besucht hatte. Emily sah bezaubernd aus in schwarzer Seide mit Spitzenbesatz, weiten Ärmeln und gefältelten Schultern. Trotzdem nahm sie Charlottes Hut anerkennend und leicht überrascht zur Kenntnis. »Ich freue mich, daß du auch hier bist«, sagte sie und stellte sich sofort neben Charlotte, ohne ein Wort über den Hut zu sagen. »Ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen. Wir haben nichts getan, um Thomas zu helfen, und wenn ich ehrlich bin, haben wir es nicht einmal versucht. Was die Zeitungen schreiben, ist sehr ungerecht, aber Gerechtigkeit ist wohl hier nicht das Thema. Weißt du, wer die Leute sind?« Sie deutete auf die eintreffenden Trauergäste. »Natürlich nicht«, sagte Charlotte mit flüsternder Stimme. »Doch, da drüben, das ist sicherlich Mina Winthrop. Und das ist ihr Bruder, Bart Mitchell. Thomas.« Sie sah sich nach Pitt um. »Warum sind sie gekommen? Meinst du, sie wollen ihr Mitgefühl zeigen? Sie sieht sehr traurig aus.« »Sie kannte ihn«, erwiderte Pitt, trat näher an sie heran und begrüßte Emily. »Sie kannte ihn?« Charlotte war sprachlos. »Das hast du mir nicht erzählt!«
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»Ich habe eben erst davon erfahren ...« »Wie gut denn? Woher kannte sie ihn?« fragte sie weiter. »Könnte es ...? Nein, auf gar keinen Fall -« »Oh, guck mal, der arme Mann«, unterbrach Emily, als Jerome Carvell an ihnen vorbeiging. »Der sieht ja völlig niedergeschlagen aus.« Und so war es auch: Sein Gesicht war von krankhafter Blässe, seine Augen waren rot gerändert, als hätte er die halbe Nacht geweint. Mühsam bahnte er sich seinen Weg durch die Anwesenden, sah niemanden an und sprach nur, um Grüße zu erwidern. »Er sieht zutiefst unglücklich aus«, sagte Charlotte mitleidig. »Der Arme. Ob er wohl etwas weiß, oder ob es lediglich Trauer ist?« »Könnte ja beides sein«, gab Emily zurück, folgte mit ihrem Blick aber nicht Carvell, sondern beobachtete Mina Winthrop. Mina trug selbstverständlich immer noch Trauer, doch diesmal hatte sie dazu auch Perlen- und Granatschmuck angelegt und war unverschleiert. Ihre Haut war glatt und rosig, und sie verfolgte die Vorgänge um sich herum mit wachem Interesse. Ihr Bruder stand an ihrer Seite, und Charlotte durchzuckte der Gedanke, daß er auf sie aufpaßte wie auf ein kleines Kind, das sich in Gefahr begeben oder gar verirren könnte, wenn man es aus den Augen ließe. Sie hatte schon so bei ihren eigenen Kindern gestanden und, während sie sich mit jemandem unterhielt, ihre Aufmerksamkeit zum Teil auf das Kind gerichtet. Sie drehte sich zu Pitt um. »Thomas ...« »Ja?« »Wird Bart Mitchell verdächtigt?« »Warum?« »Weil Captain Winthrop sie geschlagen hat, natürlich. Ich meine, was ist mit Aidan Arledge? Könnte er Mina auch Gewalt angetan haben?« »Das weiß ich nicht. Sie war in arger Not, als sie zusammen gesehen wurden. Möglich ist es schon.« »Was ist mit dem Omnibusschaffner?« »Keine Ahnung. Für seinen Tod scheint es keinen Grund zu geben, wer auch immer den Mord verübt hat.«
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»Er hat etwas gesehen«, sagte Emily, was ja logisch genug erschien. »Von seinem Omnibus aus.« »Die Linie verläuft nicht am Hyde Park vorbei.« »Ach so.« Es trafen immer mehr Leute ein, darunter auch ein Mann von äußerst vornehmer Erscheinung. Er war mittleren Alters, hatte einen wohlgeformten Kopf, dichtes Haar, das an den Schläfen ergraute, und einen dünnen Schnauzbart. Er trug einen vorzüglich geschneiderten Anzug und ein seidenes Hemd. Sein aufrechter Gang und seine selbstbewußte Ausstrahlung zogen die Augen vieler Gäste auf sich. Offenbar war ihm diese Aufmerksamkeit nicht neu, da er sie kaum zu registrieren schien. »Wer ist das?« fragte Charlotte neugierig. »Ist er ein Mitglied der Regierung oder so etwas?« »Ich erkenne ihn nicht«, sagte Pitt und schüttelte den Kopf. Emily kicherte hinter der vorgehaltenen Hand. »Mach dich nicht lächerlich. Es ist Sullivan.« »Wer ist Sullivan?« fragte Charlotte schnippisch. »Sir Arthur Sullivan!« zischte Emily. »Gilbert und Sullivan!« »Ach? Wirklich? Oh, ich verstehe. Mr. Arledge war ja Komponist und Dirigent, stimmt's? Ob wohl Mr. Gilbert auch kommt?« »Bestimmt nicht«, gab Emily zurück. »Nicht, wenn er weiß, daß Sir Arthur hier ist. Sie haben sich zerstritten, mußt du wissen.« »Wirklich?« Charlotte war überrascht und gleichzeitig enttäuscht. »Das wußte ich nicht. Wie bringen sie es denn zustande, diese schönen Opern zu schreiben?« »Das weiß ich auch nicht. Vielleicht tun sie es ja nicht mehr.« Charlotte war über alle Maßen enttäuscht. Sie erinnerte sich an die Aufregung, die Farben und die fröhlichen, eingängigen Melodien, die sie bei ihren wenigen Besuchen der Savoy-Oper begeistert hatten. Und gerade jetzt, da Pitt befördert worden war und sie sich dergleichen Vergnügungen
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vielleicht des öfteren leisten konnten, sollte es keine solchen Opern mehr geben! Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als die schnell anwachsende Menge vor dem Kirchenportal ihr Interesse einem zweiten Mann zuwandte. Die Leute machten Platz, stießen sich in die Seite, drehten sich um und starrten entgegen ihrer Gewohnheit. »Das ist er!« sagte Emily mit unverhohlener Freude. »Wer? Gilbert?« flüsterte Charlotte. »Ja, genau. W. S. Gilbert», sagte Emily nachdrücklich. »Haben sie sich wirklich gestritten?« Charlotte beobachtete, wie Mr. Gilbert unweigerlich immer näher an Sir Arthur Sullivan herankam, der auf der obersten Stufe vor der Kirche stand und den Ankommenden keinerlei Beachtung schenkte. »Weswegen denn?« »Weiß ich nicht. Ich habe es nur gehört.« Emily ergriff Charlottes Arm und schob sie auf die Stufen zu. »Ich denke, wir sollten hineingehen. Es wäre nicht sehr höflich, zu spät zu kommen, findest du nicht auch? Außerdem ist es verrückt, so früh gekommen zu sein und dann zu spät in der Kirche zu erscheinen.« Charlotte fügte sich ihr ohne Widerrede. Am oberen Ende der Treppe bemerkte auch Sir Arthur Sullivan das Raunen in der Menge und drehte sich um. Sein Blick traf auf W. S. Gilbert, der ein paar Meter unter ihm, mit ruhigen Schritten die Stufen erklomm, während er gleichzeitig mit seinen Begleitern rechts und links von sich sprach. Sie waren nun in ein angeregtes Gespräch vertieft, so daß sie niemanden wahrnahmen und auch ihre Schritte nicht verlangsamten, bis die beiden Gruppen zusammenzustoßen drohten. Sir Arthur wich keinen Zentimeter und unterhielt sich weiter, als sei dies das wichtigste Gespräch auf der Welt. Mr. Gilbert wurde so gezwungen, auf der obersten Treppenstufe anzuhalten. »Sir, Sie blockieren den Weg«, sagte er mit klarer, rundum vernehmbarer Stimme.
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Die Menschen verstummten. Einer nach dem anderen drehte sich um und beobachtete die Szene. Jemand räusperte sich nervös, ein anderer lachte auf und verstummte sofort wieder. Sir Arthur, der mit einem kräftigen, weißhaarigen Mann gesprochen hatte, brach die Unterhaltung ab und drehte sich langsam zu Gilbert um. »Sprechen Sie mit mir, Sir?« Gilbert ließ seinen Blick aufmerksam schweifen, um zu sehen, ob noch jemand anders ihm im Wege stand, und wandte sich dann wieder zu Sir Arthur. »Sie haben eine wunderbare Auffassungsgabe für das, was offensichtlich ist«, erwiderte er. »Wie ich sehe, sind Sie auf Anhieb zum Kern der Angelegenheit vorgedrungen. Ich spreche mit Ihnen, Sir. Sie stehen vor dem Kirchenportal. Würden Sie freundlicherweise den Weg freigeben?« »Können Sie nicht warten, bis Sie an der Reihe sind, wie jeder zivilisierte Mensch?« Sir Arthur hob verächtlich die Augenbrauen. »Muß die Gesellschaft ihre Tätigkeiten unterbrechen und aus dem Weg treten, damit Sie ohne Verzögerung passieren können?« »Mir gefallen Menschen mit einem ausgeprägten Selbstbewußtsein, doch sich selbst als die Gesellschaft zu betrachten, grenzt doch an Lächerlichkeit«, gab Gilbert zurück. Sir Arthur errötete vor Verlegenheit. Das Ergebnis dieses verbalen Schlagabtausches war, daß er nicht zur Seite treten konnte, ohne das Gesicht zu verlieren. Also blieb er genau da, wo er stand, und blockierte weiterhin den Weg. Schließlich war es Lady Lismore, die die Situation rettete. Sie trat aus dem Schatten des Portals hervor und sprach Sir Arthur an. »Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche, Sir Arthur, aber ich wäre Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe. Bei einem solchen Anlaß muß die Musik unbedingt stimmen, und ich bin mir bei dem Cellisten nicht sicher.«
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Sir Arthur sah sie gereizt an; als hätte ihm die perfekte Erwiderung auf der Zunge gelegen, doch er reagierte prompt auf ihre Anfrage. »Selbstverständlich, Lady Lismore. Wenn ich Ihnen behilflich sein kann ...» Mr. Gilbert lächelte und warf einen Blick auf die umstehenden Zuhörer. Doch auf seinem Gesicht lag nur ein winziger Hauch von Befriedigung, als er durch das Portal schritt und im dunklen Inneren der Kirche verschwand. Charlotte seufzte. »,With a twisted cue and a cloth untrue, and elliptical billiard balls’«, begann Emily fröhlich. »,My object all sublime, I shall achieve in time ...’« »Psst!« Charlotte zog die Stirn kraus. »Du kannst nicht zu einer Totenmesse gehen und ein Lied aus The Mikado singen!« Emily verstummte auf der Stelle und schwieg so lange, bis sie zu ihren Plätzen geführt wurden, die weiter hinten lagen, als es ihnen gefiel. Pitt und Jack saßen zu ihrer Linken; Pitt hatte sich in den Schatten einer Säule zurückgezogen. »Es sind viele Leute hier«, sagte Emily, sobald sie Platz genommen hatten. »Wahrscheinlich liegt das daran, daß er ermordet wurde. Ich gehe jede Wette ein, daß die Hälfte der Gäste aus reiner Neugier gekommen ist.« »Das trifft auch auf dich zu«, sagte Charlotte zu Recht. »Sei nicht so gehässig. Du weißt, daß der Wahlkampf ganz gut verläuft. Ich glaube, Jack hat tatsächlich eine Chance, gewählt zu werden.« »Gut. Jetzt sei aber still. Wir sind in der Kirche.« »Es hat doch noch gar nicht angefangen«, gab Emily zurück. »Tante Vespasia hat gesagt, sie würde kommen, aber ich habe sie noch nicht gesehen. Du?« »Nein, aber ich habe sowieso noch niemanden entdeckt, den ich kenne.« »Hast du Mama in letzter Zeit gesehen?« »Nein, ich hatte zuviel mit dem neuen Haus zu tun.» Emily senkte den Kopf, als sei sie in ein Gebet versunken. »Sie wird immer schlimmer«, zischte sie in ihr Gesang-
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buch. »Kürzlich war sie bis Sonnenaufgang in einem Boot auf der Themse.« »Woher weißt du das?« »Ich habe sie gesehen.« »Du warst also auch unterwegs?« »Das ist doch etwas anderes!« empörte Emily sich. »Das ist gar nicht vergleichbar. Wirklich, manchmal bist du ganz schön begriffsstutzig.« »Das bin ich nicht. Ich bin einfach nur der Meinung, daß es keinen Zweck hat, sich darüber zu grämen. Du kannst sie nicht daran hindern.« »Wenn ich sie gesehen habe, weiß der Himmel, wer sie noch alles gesehen hat!« Die Frau vor ihnen drehte sich in ihrer Bank um und warf Emily, die sich mit ihrem Liedblatt Luft zufächelte, einen giftigen Blick zu. »Geht es Ihnen nicht gut?« fragte die Dame. »Vielleicht sollten Sie ein wenig an die frische Luft gehen, bevor der Gottesdienst beginnt.« »Wie rücksichtsvoll von Ihnen«, gab Emily mit einem honigsüßen Lächeln zurück. »Aber wenn ich hinausginge, würde ich meinen Platz nicht wiederfinden, dann müßte meine arme Schwester ganz allein hier sitzen.« Charlotte schlug die Hände vors Gesicht, um ihr Lächeln zu verbergen, ließ die Dame aber im Glauben, daß die Trauer sie überwältigte. Die drehte sich mißmutig wieder um. Die Orgelmusik schwoll plötzlich an und verstummte dann. Der Pfarrer ergriff das Wort. Charlotte und Emily setzten dem Anlaß angemessene Trauermienen auf. Der sich an die Totenmesse anschließende Empfang war eine ganz andere Angelegenheit. Emilys Kutsche setzte sie alle vier in der Green Street vor Jerome Carvells Haus ab und fuhr dann weiter, um einem Zweisitzer Platz zu machen. Emily nahm Jacks Arm und stieg die Stufen zur Haustür hinauf, wo ein Butler Jacks Karte entgegennahm und sie
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prüfend musterte. Er war groß und hielt sich sehr aufrecht, er hatte ein markantes Gesicht und phantastische Beine. »Guten Morgen, Mr. Radley, Mrs. Radley. Kommen Sie doch bitte herein.« Er wandte sich Pitt zu. »Guten Morgen Sir?« Sein Ausdruck hatte sich fast unmerklich verändert. Es war nicht möglich, die Veränderung genau zu benennen, doch hatte sich seine respektvolle Haltung in Arroganz und Herablassung verwandelt. »Mr. und Mrs. Pitt«, sagte Pitt entsprechend kühl. »Gewiß, Sir.« Charlotte spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Sie fühlte mit Pitt, der die Hochnäsigkeit des Butlers zu spüren bekam, gleichzeitig hatte sie Angst, daß er zurückschlagen und dann mit noch größerer Verachtung gestraft würde. Sie zwang sich zu einem Lächeln, als sei außer dem normalen höflichen Austausch nichts vorgefallen. Pitt hob den Kopf ein wenig, doch bevor er etwas sagen konnte, sprach der Butler. »Es tut mir leid, Sir, aber dies ist kein geeigneter Moment für einen Besuch bei Mr. Carvell. Wie Sie bestimmt schon gemerkt haben, ist dies ein gesellschaftliches Ereignis aus ernstem und traurigem Anlaß.« Charlotte atmete tief ein und wollte eine schneidende Bemerkung machen. »Ich bin nicht gekommen, um Mr. Carvell einen Besuch abzustatten, sondern Mrs. Arledge«, sagte Pitt höflich. »Sie erwartet mich, und es würde mich bekümmern, wenn sie glauben müßte, ich wäre ihrer Einladung nicht gefolgt.« »Oh.« Der Butler war offensichtlich überrascht. »Ich verstehe. Selbstverständlich. Wenn Sie bitte eintreten möchten.« »Danke.« Pitt legte nur eine winzige Spur von Sarkasmus in seine Stimme, dann bot er Charlotte den Arm und führte sie in den großen Empfangsraum, wo bereits mehrere Gäste versammelt waren.
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Der Tisch war mit den unterschiedlichsten Delikatessen beladen. Vermutlich hatte Carvell zusätzliches Personal angeheuert, denn Charlotte entdeckte mindestens ein halbes Dutzend Dienstmädchen und Diener in Livree, die im Raum verteilt diskret darauf warteten, die Wünsche der Gäste zu erfüllen. Im Durchgang zum nächsten Raum stand eine kleine Gruppe Männer, die sich in dem Moment umwandte, da Charlotte mit Pitt eintrat. Einer aus der Gruppe machte einen Schritt auf sie zu. Der Ausdruck in seinem intelligenten Gesicht war eine Mischung aus Schmerz, Anspannung und Hoffnung. Charlotte brauchte Pitt nicht zu fragen, ob das Mr. Carvell war. Die Intensität der Gefühle, die er ausstrahlte, konnte nur auf den Mann zutreffen, den Pitt ihr beschrieben hatte. Es war derselbe Mann, dessen Trauer sie vor dem Gottesdienst so tief bewegt hatte. Pitt warf ihr einen Blick zu, verstand, daß sie Carvell erkannt hatte, und trat auf ihn zu. »Guten Tag, Oberinspektor«, sagte Carvell und sah Pitt ins Gesicht. »Gibt es ...« Dann entnahm er Pitts Blick, daß es nichts gab. »Oh, Verzeihung. Wie unpassend von mir. Entschuldigen Sie bitte. Sollte ich sagen, daß ich mich freue, daß Sie gekommen sind, oder ist das naiv?« Er schien nicht bemerkt zu haben, daß Charlotte zu Pitt gehörte. Merkwürdigerweise fühlte sie sich nicht Übergängen. Aus der Nähe betrachtet war sein Gesicht häßlicher, da die Pockennarben deutlich hervortraten, es war aber auch mehr von Leben erfüllt. Obwohl sie von seiner Beziehung zu Arledge wußte und dem Schmerz, den dies Dulcie zugefügt hatte, und obwohl sie sich der Möglichkeit bewußt war, daß er ein Mörder sein konnte, hatte sie das merkwürdige Gefühl, auf seiner Seite zu sein. Vielleicht lag das an der Stärke seiner Empfindungen, an deren Echtheit sie keinen Zweifel hatte. Es war nichts Gleichgültiges an ihm. »Es gibt keinerlei Neuigkeiten«, sagte Pitt aufrichtig. »Ich bin gekommen, weil Mrs. Arledge mich eingeladen hat, und ich bin dankbar, daß ich einem Mann diese Ehre
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erweisen darf, den ich sicherlich sehr bewundert hätte, wenn ich ihn zu Lebzeiten gekannt hätte.« Carvell biß sich auf die Lippen und schluckte heftig, »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Oberinspektor. Keiner hätte bessere Worte finden und dennoch die Wahrheit sagen können. Sie haben nichts Neues erfahren, und Ihre Pflicht sowie Ihre Neigung führen Sie hierher. Ich verstehe vollauf.« »Ich würde nicht sagen, daß es keine neuen Erkenntnisse gibt, aber die wenigen führen zu keiner Schlußfolgerung. Mr. Carvell, darf ich Ihnen meine Frau vorstellen?« »Oh!« Carvell war völlig überrascht. »Oh, ich bitte um Verzeihung, Madam. Entschuldigen Sie diese grobe Unhöflichkeit. Ich hatte angenommen - ich weiß gar nicht recht, was ich angenommen hatte. Verzeihen Sie.« Er verneigte sich leicht. »Sehr erfreut.« Er bewegte sich nicht auf sie zu. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mr. Carvell«, sagte Charlotte mit einem Lächeln. »Darf ich Ihnen mein Mitgefühl angesichts Ihres Verlustes aussprechen. Den besten Freund zu verlieren ist eine bittere Erfahrung.« Er sah sie erstaunt an, war einen Moment verlegen, aber dann voll spontaner Herzlichkeit. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Die Erwiderung tat der Förmlichkeit genüge, aber Charlotte wußte, daß er die Worte auch meinte. Bevor sie das Gespräch fortführen und sich einem leichteren Thema zuwenden konnten, wurde in dem Durchgang hinter ihnen eine Unruhe spürbar; sie bemerkten das Raunen von Stimmen, das Rascheln von Kleidern, die aneinanderschleiften, weil die Menschen Platz machten. Als Pitt und Charlotte sich umdrehten, sahen sie, wie eine Frau ohne Begleitung den Raum betrat. Sie trug ein schwarzes, sehr hübsches Kleid und dazu unauffälligen, aber sehr eleganten Trauerschmuck; Handgelenke und Hals waren mit schwarzer Spitze bedeckt. Sie war weder sehr groß noch von auffälliger Schönheit, doch zog sie die Blicke der Men-
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sehen unwillkürlich auf sich. Ihre Züge waren regelmäßig, der Mund sanft geschwungen. Ihre Gesichtsfarbe war zart und gleichmäßig, ihr Haar zu einer anmutigen Frisur gesteckt, nur ihre blauen Augen verrieten Schlaflosigkeit und Kummer. Charlotte spürte eine starke Anspannung in Pitt und sah kurz zu ihm auf. Sein Gesicht drückte Bewunderung aus und tiefe Zuneigung, die sie lange nicht mehr bei ihm gesehen hatte, auch nicht für Jerome Carvell. Pitt mußte ihr nicht sagen, daß dies Dulcie Arledge war. Dulcie sah sich einige Augenblicke im Raum um, ihre Augen verweilten kurz auf dem einen oder anderen Gast; an Mina Winthrop blieben sie nicht hängen, anscheinend kannte sie sie nicht, desgleichen auch Bart Mitchell, der neben ihr stand. Sir James Lismore und Roderick Alberd lächelte sie zu. Verschiedene andere Gäste begrüßte sie mit einer kleinen Kopfbewegung und einem feinen Lächeln. Ihr Blick glitt auch über die schlanke Gestalt von Landon Hurlwood, der die Umstehenden um einiges übertraf, gab aber kein Zeichen des Erkennens. Victor Garrick saß in einer Nische, das Cello in seinen Armen, und wartete auf den Moment, da er spielen sollte. Sein helles Haar leuchtete im Licht der Gaslampe über ihm, auf seinem Gesicht lag ein friedvoller Ausdruck, als träumte er von fernen und einzigartig schönen Dingen. Dulcie neigte ihren Kopf in seine Richtung, ein Ausdruck der Freude ging über sein Gesicht, dann schweiften seine Augen wieder in die Ferne. Schließlich fiel ihr Blick auf Pitt, worauf ein sanftes Lächeln ihr Gesicht überzog. Sie kam auf ihn zu, nickte nach rechts und links, sprach ein paar Worte mit dem einen oder anderen und blieb dann wenige Schritte vor ihnen stehen. Pitt wartete, Charlotte sagte nichts. Die Tiefe des Gefühls, das sie in Pitt spürte, überraschte sie. Es galt nicht nur Dulcies Verlust und der entsetzlichen Ernüchterung, die sie mit Würde trug, sondern es war eine Wertschät-
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zung, der eine Achtung und eine Zärtlichkeit innewohnten, die er noch lange nach Abschluß des Falles empfinden würde. Charlotte bewunderte ihn dafür. Sie hätte sich nicht gewünscht, daß er dieser Gefühle nicht fähig sei, gleichzeitig aber war sie beunruhigt. Sie wurde sich bewußt, daß sie über diesen Fall nur wenig gesprochen hatten, und erinnerte sich an zahlreiche Abende, an denen sie nicht zu Hause war, wenn er müde, verwirrt, voller Kummer und mit dem Bedürfnis zu reden nach Hause gekommen war. Währenddessen war sie so sehr mit ihren Plänen für das neue Haus beschäftigt gewesen und ihrem Bemühen, es schön herzurichten, ohne zuviel Geld auszugeben, daß sie kaum Zeit und Muße für andere Gedanken hatte. Jetzt verspürte sie einen Anflug von Eifersucht, winzig nur, aber dennoch deutlich. »Guten Morgen, Oberinspektor«, sagte Dulcie und lächelte Pitt zu. Sie zögerte einen kleinen Moment, bevor sie sich Charlotte zuwandte. »Guten Tag. Sie müssen Mrs. Pitt sein. Wie freundlich, daß Sie auch gekommen sind. Sehr mitfühlend von Ihnen.« Charlotte hatte Mühe, ihr freundliches Lächeln beizubehalten und sich eine höfliche Antwort einfallen zu lassen. Der geringste Ausrutscher würde registriert und verstanden werden. Sie brauchte nur in Dulcies Augen zu sehen, um zu wissen, daß ihr nichts entging. »Danke, Mrs. Arledge. Ich hoffe, ich dränge mich nicht auf?« »Keineswegs. Das sollten Sie keinen Augenblick denken.« Dulcie ging weiter zu Carvell. Charlotte hielt den Atem an. Dann fiel ihr ein, daß Dulcie ja nicht wußte, daß er mehr war als ein trauernder Freund, der ihr aus reiner Großzügigkeit heraus für diesen Anlaß sein Haus zur Verfügung gestellt hatte. Langsam stieß sie den Atem wieder aus und sprach ein kleines Dankgebet. »Ich danke Ihnen, Mr. Carvell«, sagte Dulcie mit einer kleinen Verneigung. »Ihre großzügige Gastfreundschaft hat mir eine Situation, die sonst wohl nahezu unerträglich ge-
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worden wäre, um vieles erleichtert. Sie können gar nicht wissen, wie dankbar ich Ihnen bin.« Eine tiefe Röte schoß Carvell ins Gesicht, er stand wie angenagelt auf seinem Platz. Charlotte konnte dunkel erahnen, welch ein Sturm der Emotionen in ihm toben mußte, als er sich Arledges Witwe gegenübersah. Er wollte etwas sagen, doch die Stimme versagte ihm. Auch Pitt stand steif und angespannt. Dulcie wartete geduldig. Carvell mußte einfach etwas einfallen, wenn er sich nicht verraten wollte. Jeden Moment würde ihr dieser Gedanke durch den Kopf schießen. Einer mußte es ja sein, schließlich war die Auswahl nicht so groß. Pitt sog scharf die Luft ein. Das Geräusch schien Carvell aufzurütteln. »Ich bin froh, Ihnen damit einen Dienst zu erweisen«, sagte er unbeholfen. »Es scheint nur - eine kleine Geste. Kaum genug - überhaupt nicht genug -« »Ich bin mir sicher, es ist eine große Hilfe«, fuhr Charlotte dazwischen, die die Spannung nicht länger ertrug. »Sich nicht um praktische Fragen kümmern zu müssen und gehen zu können, wenn man die Menschen nicht länger erträgt und sich nach Alleinsein sehnt, ist ein großes Geschenk.« Dulcie sah sie an. »Wie gut Sie es getroffen haben, Mrs. Pitt«, bemerkte sie. »Sie haben natürlich völlig recht. Es ist ein großes Geschenk, Mr. Carvell. Schmälern Sie Ihre Gabe nicht aus Bescheidenheit.« »Danke - herzlichen Dank«, sagte er und wich einen Schritt zurück. »Wenn Sie mich entschuldigen wollen, ich werde mich darum kümmern, daß Scarborough zu servieren beginnt.« Damit drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand auf der Suche nach dem Butler. Dulcie lächelte Pitt zu. »Ich wußte gar nicht, daß er so schüchtern ist. Was für ein seltsamer Mann. Aber er war sehr freundlich, und das ist ja die Hauptsache.« Jede weitere Unterhaltung wurde unterbrochen, weil mehrere Gäste auf Dulcie zutraten, um ihr Mitgefühl aus-
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zudrücken und freundliche Worte über die Totenmesse und die Musik zu sagen. »Ja, der junge Mr. Garrick ist sehr begabt«, sagte Dulcie. »In seinem Spiel liegt mehr tiefe Empfindung, als ich bei anderen je gehört habe. Ich bin natürlich nicht in der Lage, technisches Können zu beurteilen, aber es scheint beträchtlich zu sein.« »Das ist es in der Tat«, pflichtete Sir Lismore ihr bei, nickte und warf einen Blick zu Victor hinüber, der immer noch sein Cello im Arm hielt und mit Mina Winthrop sprach. »Es ist bedauerlich, daß er es nicht zu seinem Beruf machen möchte«, fuhr er fort. »Aber er ist sehr jung und überlegt es sich vielleicht noch anders. Er könnte es weit bringen, glaube ich.« Zu Dulcie gewandt sagte er: »Aidan hielt große Stücke auf ihn.« »Wer ist die Dame an seiner Seite?« fragte sie neugierig. Er drehte sich um. »Ach, das ist Mrs. Winthrop. Kennen Sie sie nicht?« »Ich erinnere mich nicht, daß wir miteinander bekannt gemacht wurden. Arme Frau. Wir haben viel gemeinsam, leider. Ich werde ihr mein Mitgefühl aussprechen.« Sie lächelte bitter-ironisch. »Von mir kommend ist es besonders passend.« Doch bevor sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, traten weitere Gäste auf sie zu, so daß sie verpflichtet war, mit ihnen ein paar Minuten Konversation zu machen. Charlotte und Pitt entschuldigten sich und gingen weiter, um die anderen Trauergäste aus angemessener Entfernung zu beobachten. Sie hörten eine Unterhaltung zwischen Lord und Lady Winthrop und einem älteren Herrn mit einer randlosen Brille. »Von der Polizei bin ich sehr enttäuscht«, sagte Lord Winthrop äußerst mißmutig. »Ich hätte gedacht daß sie sich angesichts des Rufes, den mein Sohn genoß, und dem Dienst, den er seinem Land erwiesen hat, größere Mühe geben würden, den Verrückten zu schnappen!«
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»Heimtückisch«, stimmte der ältere Herr ihm zu. »Ziemlich heimtückisch. Man erwartet dergleichen in den unteren Schichten, doch wenn es auch die gehobeneren Schichten betrifft und die ehrenwerten Mitglieder der Gesellschaft, geht es mit dem Land bergab. Sie haben doch sicherlich mit dem Innenminister gesprochen?« »Selbstverständlich«, sagte Lord Winthrop. »Mehrmals sogar. Und ich habe an den Premierminister geschrieben.« »Er hat noch nicht geantwortet«, warf Lady Winthrop in beleidigtem Ton ein. »Das stimmt nicht ganz, meine Liebe«, stellte ihr Mann richtig, doch bevor er eine nähere Erklärung geben konnte, unterbrach sie ihn. »Ohne jede Bedeutung«, sagte sie. »Er hat lediglich bestätigt, daß er den Brief erhalten hat. Das ist doch keine Antwort! Was er dagegen tun wird, hat er nicht gesagt.« Der ältere Herr mit der randlosen Brille machte ein klickendes Geräusch mit seinen Zähnen und murmelte unhörbar etwas vor sich hin. Pitt lächelte. Zumindest der Premierminister ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Es wurde serviert. Diener und Hausmädchen gingen mit Tabletts durch die Räume und boten Wein und delikate Häppchen an. Der hochnäsige Butler Scarborough überwachte die Vorgänge und achtete darauf, daß alles reibungslos ablief. Charlotte trennte sich von Pitt und machte ihre eigenen Streifzüge. Sie wechselte ein paar Worte mit Mina Winthrop, die sich sehr freute, sie zu sehen, und mit Thora Garrick, die offenbar als Minas Begleitung da war und auch, weil sie Victor spielen hören wollte. »Wie schön, Sie zu sehen, Mrs. Pitt«, sagte Mina mit einem unsicheren Lächeln. »Erinnern Sie sich an Mrs. Garrick?« »Natürlich«, sagte Charlotte sofort. »Wie geht es Ihnen, Mrs. Garrick?« »Sehr gut, danke«, erwiderte Thora mit einem Lächeln.
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»Ich habe Ihren Sohn spielen hören«, fuhr Charlotte fort. »Er ist sehr begabt.« »Danke«, gab sie zurück. »Geht es mit dem neuen Haus voran?« fragte Mina. »Es ist fast fertig«, antwortete Charlotte. »Dank Ihres ausgezeichneten schöpferischen Sinns habe ich jetzt ein gelbes Zimmer.« Mina errötete vor Freude. »Wie geht es Ihrem Arm?« fragte Charlotte so unbefangen wie möglich und versuchte dennoch, ihre Anteilnahme auszudrücken. »Ach, es ist schon wieder gut«, sagte Mina rasch. »Es hat kaum weh getan. Ich finde, man sollte solche Unfälle nicht zu ernst nehmen. Ich ... ich war selber schuld ...» Thora sah mit großen, ungläubigen Augen erst Charlotte, dann Mina an, die sich immer unbehaglicher fühlte. Charlotte durchschaute die verschiedenen Bedeutungsebenen und das Mißverständnis. »Ich hatte befürchtet, es sei eine schlimme Verbrühung gewesen«, sagte sie leise. »Der Tee war kochend heiß. Ich bewundere Ihre Tapferkeit, aber ...« Mina entspannte sich sichtbar, und ihr Gesicht verlor seine Blässe. Auch Thora atmete erleichtert auf. »Aber ich hätte Sie nicht für wehleidig gehalten, wenn Sie zugegeben hätten, daß es sehr schmerzhaft war«, beendete Charlotte ihren Satz. »Ich glaube nicht, daß es mir gelungen wäre, so tapfer zu sein.« Dann wechselte sie das Thema und begann, über Porzellan zu sprechen und zu erörtern, welches Design für Uhren und Spiegel am geeignetsten sei. Noch als Charlotte sich von ihnen entfernte, beschäftigte sie der Gedanke, daß Thora Garrick über Minas Blutergüsse und deren Ursache unterrichtet zu sein schien. Doch sie empfand weder überwältigendes Mitleid noch Zorn, noch Angst, daß Mina oder Bart Mitchell an Winthrops Tod beteiligt sein könnten. Sie mußte so schnell wie möglich mit Pitt darüber sprechen.
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Victor Garrick wurde erneut gebeten, etwas zu spielen, und trug mit dem Ausdruck tiefster Melancholie ein Stück vor. Die Zuhörer, die - im Gegensatz zu dem, was er gewöhnt war - eine große Liebe zur Musik verband, würdigten seinen Vortrag. Fast eine dreiviertel Stunde war vergangen, als Emily, vor Wut außer sich, zu Charlotte trat. »Der Mann ist ein absolutes Schwein!« sagte sie mit mühsam unterdrücktem Zorn, der ihre Stimme erbeben ließ und ihr die Hitze in die Wangen trieb. »Wer?« fragte Charlotte verblüfft und belustigt. »Wer hat sich denn so sehr danebenbenommen, daß du ein solches Wort in den Mund nimmst? Ich dachte, du seist zu sehr Dame, als-« »Es ist überhaupt nicht lustig«, preßte Emily hervor. »Ich würde ihn gerne auf der Straße sehen, als Bettler, mit einer Mütze in der Hand!« »Als Bettler mit einer Mütze in der Hand? Wovon redest du bloß? Um wen geht es eigentlich?« »Um diesen arroganten Lackaffen, diesen Butler Scarsdale oder wie er heißt«, sagte Emily mit angewiderter Miene. »Eines der Mädchen hat gerade zum Steinerweichen geweint. Er hat sie beim Singen ertappt und sofort entlassen - weil dies ein Requiem ist. Sie kannte den Ermordeten doch nicht. Warum sollte sie zwischen Victor Garricks Cellospiel und ihrem kleinen Lied einen Unterschied machen? Am liebsten würde ich Mr. Carvell davon erzählen und ihn bitten, etwas zu tun. Zum Beispiel, dem Mädchen seine Stelle wiederzugeben und den Butler zu feuern.« »Das kannst du nicht tun«, protestierte Charlotte. »Er wird seinen Butler nicht entlassen, bloß weil der ein Dienstmädchen bestraft hat.« Doch noch während sie das sagte, stellten sich andere Bilder vor ihrem geistigen Auge ein. Sie sah Jerome Carvells Gesicht mit seiner inneren Schönheit, seinem Schmerz und seiner Trauer, und auch die Lebhaftigkeit seiner Züge. Sicherlich würde er es niemals dulden, daß einer seiner Bediensteten andere Menschen so behandelte.
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Oder bestand eine Abhängigkeit zwischen ihm und dem Butler, der in seinem Haus wohnte und ihn so gut kannte, wie nur ein Bediensteter seinen Arbeitgeber kennen kann? »Charlotte?« sagte Emily langsam. »Was ist los?« »Ich habe gerade an etwas gedacht«, erwiderte Charlotte. »Nichts Wichtiges. Aber du kannst nicht mit dem Butler sprechen. Damit würdest du dem Mädchen nicht helfen.« »Warum nicht? Natürlich kann ich das.« »Nein! Glaub' mir, es gibt Gründe.« »Was für Gründe?« »Gute Gründe, die Mr. Carvell betreffen. Bitte.« »Dann werde ich sie übernehmen«, sagte Emily entschlossen. »Du hättest sie sehen sollen. Das werde ich nicht dulden.« Charlotte wollte etwas erwidern, als Dulcie Arledge sich ihnen näherte. Sie wirkte erschöpft, hielt sich aber immer noch gerade und lächelte etwas gequält. »Arme Frau«, sagte Charlotte leise flüsternd zu Emily, den Blick auf Dulcie gerichtet. »Ich finde, sie sieht besser aus, als ich es könnte, wenn ich in einer solchen Situation wäre«, erwiderte Emily darauf. Da war ein Zögern und eine Zweideutigkeit in ihren Worten, die Charlotte nicht verstand. Aber es war zu spät, zu fragen, was sie damit meinte, da Dulcie vor ihnen stand. »Es war ein sehr bewegender Morgen«, sagte Charlotte höflich. »Danke, Mrs. Pitt«, erwiderte Dulcie. Auch Emily machte eine passende Bemerkung, und bevor Dulcie die nächste in der Reihe förmlicher Phrasen über die Lippen brachte, traten Lady Lismore und Landon Hurlwood auf sie zu. »Dulcie, meine Teure«, hob Lady Lismore mit einem warmen Lächeln an, »kennst du Mr. Landon Hurlwood? Er war ein großer Bewunderer von Aidan und ist gekommen, um dir sein Mitgefühl auszusprechen.« Sie drehte sich zu Hurlwood um. »Nein«, sagte Hurlwood.
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»Ja«, sagte Dulcie in genau demselben Moment. Hurlwood wurde verlegen. ».Entschuldigung«, sagte er schnell. »Ich meinte natürlich, daß ich Mrs. Arledge kenne, nur daß unsere Bekanntschaft sehr flüchtig ist. Sehr erfreut, Mrs. Arledge. Ich fühle mich geschmeichelt, daß Sie sich an mich erinnern. Es muß so viele Menschen geben, die die Arbeit Ihres Mannes bewunderten.« »Sehr erfreut, Mr. Hurlwood«, antwortete sie und sah ihn aus großen, dunkelblauen Augen an. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie gekommen sind, und es erfüllt mich mit Stolz, daß Sie die Arbeit meines Mannes schätzen. Ich bin sicher, daß sein Name fortleben wird und noch über Jahre Freude bringen und Ermutigung bewirken kann.« »Das bezweifle ich nicht.« Er verneigte sich und blickte ihr forschend und mit besorgter Miene ins Gesicht. »Ich hoffe, ich übertrete die Grenzen der Höflichkeit nicht, wenn ich sage, daß ich die Würde bewundere, mit der Sie diesen Verlust tragen, Mrs. Arledge.« Sie errötete heftig und senkte den Kopf. »Danke, Mr. Hurlwood. Aber ich denke, Sie schmeicheln mir. Es ist sehr freundlich von Ihnen, so etwas zu sagen.« »Keineswegs«, fiel Lady Lismore ein. »Es ist die reine Wahrheit. Ich könnte mir vorstellen, daß du dich jetzt zurückziehen möchtest, nach diesem anstrengenden Morgen. Ich werde gerne die Aufgabe übernehmen, hierzubleiben und die Gäste zu verabschieden, wenn du das wünschst.« Dulcie atmete tief ein und vermied es, Hurlwood noch einmal anzusehen. »Das würde ich wirklich sehr gerne tun, wenn es dir nichts ausmacht.« »Darf ich Sie zu Ihrer Kutsche begleiten?« Hurlwood bot ihr seinen Arm an. Sie zögerte mehrere Augenblicke und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Die Erschöpfung stand ihr ins Gesicht geschrieben, doch sie lehnte das Angebot dan-
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kend ab und schritt allein zur Tür, wo Scarborough hinzueilte und sie ihr öffnete. Er folgte ihr, nahm ihren Umhang von dem Diener entgegen und orderte ihre Kutsche herbei. »Eine sehr bemerkenswerte Frau«, sagte Lady Lismore mit aufrichtiger Anteilnahme. Hurlwoods Blick ruhte immer noch auf der Tür, durch die sie entschwunden war. Ein feiner Hauch von Farbe lag auf seinem Gesicht. »Das stimmt«, sagte er. »Sehr bemerkenswert.«
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9. Kapitel
A
m frühen Morgen bestieg Lady Amanda Kilbride ihr Pferd und schlug den Weg zur Rotten Row ein. Am Abend zuvor hatte sie mit ihrem Mann gestritten und wollte jetzt, daß er sie nicht vorfand, wenn er aufstand. Natürlich würde er nicht denken, sie sei für immer fortgegangen. So etwas stand außer Frage, aber er würde sich Sorgen machen. Er würde Angst haben, daß sie eine Dummheit begangen haben könnte und tatsächlich weggelaufen sei, um mit dem erstbesten Mann, der ihren Weg kreuzte, eine Affäre zu beginnen. Allerdings mußte sie sich im kalten, fahlen Morgenlicht eingestehen, daß es so viele akzeptable Männer gar nicht gab, und schon gar nicht solche, die verheiratete Frauen zu einer Liebesaffäre aufforderten. Die Chance, daß ihr zwischen dem Zeitpunkt, da sie die Drohung ausgestoßen hatte - also ungefähr neun Uhr abends -, und dem Zeitpunkt, da sie sich zurückgezogen und ihre Schlafzimmertür verriegelt hatte - also gegen Mitternacht -, ein solcher begegnet sein könnte, war verschwindend gering. Trotzdem, soll er sich doch sorgen! Sie erreichte das Ende der Rotten Row und schwenkte auf den kiesbedeckten Reitpfad ein, der sich unter den Bäumen vor ihr erstreckte. Ein scharfer Galopp war genau das, was ihr jetzt guttun würde. Sie lehnte sich ein wenig nach vorn und strich dem Pferd zur Ermutigung über den Hals. Es stellte seine Ohren auf, als es ihren veränderten Ton vernahm. Bisher hatte sie es mit einem Bericht über die ihr widerfahrenen Ungerechtigkeiten unterhalten, jetzt forderte sie es auf zu traben, dann zu galoppieren.
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Sie war eine gute Reiterin und wußte das auch. Es erhöhte ihren Genuß an der klaren Frühlingssonne, an den langen Schatten der Bäume auf dem Reitpfad und dem glitzernden Tau auf dem Rasen dahinter. Kaum jemand war um diese Stunde unterwegs, auch auf der breiten Knightsbridge nicht, die sie jenseits des Parks sehen konnte; nur vereinzelte späte Heimkehrer waren zu sehen, oder der eine oder andere Frühaufsteher, der so wie sie das frühe Licht und die einsame Stimmung genoß. Am Ende des Pfades drehte sie um und ritt im Galopp zurück zum Hyde Park Corner. Sie fühlte den Wind in ihrem Gesicht und begann schließlich zu lächeln. Nach dreiviertel der Strecke verlangsamte sie das Tempo. Sie wußte, daß sie das Tier, solange es erhitzt war, nicht zur Tränke führen durfte, aber nur zu gerne wollte sie sich selbst mit dem kühlen Wasser erfrischen. Sie stieg ab, hielt die Zügel lose in der Hand und näherte sich der Tränke. Während sie sich hinabbückte, weilten ihre Gedanken immer noch bei den Kränkungen, die sie von ihrem Mann erdulden mußte. Als sie die Hände ins Wasser tauchen wollte, schreckte sie plötzlich auf. Das Wasser war rotbraun. Mit einem angeekelten Aufschrei zuckte sie zurück. Die Tränke war dunkel verfärbt, viel zu dunkel, als daß es Wasser hätte sein können. Den Gegenstand, der außerdem in der Tränke lag, konnte sie nicht erkennen, weil die Flüssigkeit zu trüb war. »Also wirklich!« sagte sie entrüstet. »Das ist doch eine Schweinerei! Wer macht denn so etwas? Das ist ja eklig!« Sie stellte sich auf, und erst in dem Moment sah sie den Gegenstand auf der anderen Seite der Tränke, dessen Form und Erscheinung so seltsam war, daß sie genauer hinsehen mußte. Für einen atemlosen Moment wollte sie es nicht glauben. Als ihr aber bewußt wurde, daß es tatsächlich das war, was es zu sein schien, glitt sie mit dem Gesicht zuerst in die Tränke.
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Das kalte Wasser belebte sie sofort; sie bemühte sich, wieder zu Atem zu kommen, und richtete sich keuchend und prustend auf. Ihr Oberkörper war pitschnaß, so daß sie zu frieren begann. Der Schreck saß so tief, daß sie nicht schreien konnte und heftig zitternd vornübergebeugt auf einer Ecke der Tränke sitzenblieb. Hinter sich hörte sie Hufe, das Knirschen von Kies und eine Männerstimme. »Hoppla, Madam, alles in Ordnung? Sind Sie gestürzt? Darf ich ...« Er verstummte, als sein Blick auf den Gegenstand fiel. »Allmächtiger!« Er holte tief Luft und mußte heftig husten. »Der Rest ist da drin.« Amanda zeigte schwach auf die Tränke, wo nun ein Knie in Dieneruniform aus dem blutigen Wasser ragte. Tellman sah mit finsterem Blick zu Pitt hinunter, der auf seinem Schreibtischstuhl saß. »Ja?« fragte Pitt und fühlte sein Herz heftiger schlagen. »Ein weiterer Mord«, sagte Tellman und starrte Pitt unverwandt an. »Er hat wieder zugeschlagen. Diesmal werden Sie ihn wohl festnehmen müssen.« »Wen ...?« »Carvell. Im Park ist wieder eine geköpfte Leiche gefunden worden.« Pitts Herz schlug noch heftiger. »Wer ist es?« »Albert Scarborough, Carvells Butler.« Ein Ausdruck bitterster Ironie zog über Tellmans Gesicht. »Lady Kilbride hat ihn in der Pferdetränke gefunden. Um genau zu sein, seinen Körper ohne den Kopf«, korrigierte er sich. »Der Kopf lag dahinter.« »Welche Pferdetränke?« »In der Rotten Row, knapp hundert Meter von dem Hyde Park Corner entfernt.« Pitt versuchte, das entsetzliche Bild aus seinem Kopf zu verscheuchen und sich auf die praktischen Fragen des Falls zu konzentrieren. »Ziemlich weit von der Green Street ent-
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fernt«, bemerkte er. »Haben Sie eine Idee, wie er dahingekommenist?« »Noch nicht. Er war ja groß, Carvell könnte ihn also unmöglich getragen haben. Vielleicht ist er hingelaufen.« Pitt machte große Augen. »Nächtlicher Spaziergang mit seinem Arbeitgeber? Er schien nicht der Typ, mit dem man zu seinem Vergnügen spazierengeht. Und der stellvertretende Polizeipräsident hat ja bereits mehrfach betont, daß derzeit keiner mehr zu nächtlicher Stunde im Park spazierengeht.« »Dann ist er eben nicht hingelaufen«, lenkte Tellman ein. »Carvell hat ihn bei sich zu Hause umgebracht und ihn in einem Wagen dorthin transportiert. Vielleicht sogar in seiner eigenen Kutsche. Wollen Sie ihn festnehmen, oder soll ich es tun?« Pitt erhob sich; plötzlich fühlte er sich sehr müde und schwer, als hätte sein Körper ein enormes Gewicht. Eigentlich hätte er erleichtert sein müssen, daß das Geheimnis gelüftet war, wenn auch der Schrecken und die Tragik blieben, doch er verspürte keinerlei Erleichterung. »Ich gehe selbst.« Er ging zum Kleiderständer und nahm seinen Hut, obwohl es ein freundlicher, warmer Morgen war. »Sie kommen besser mit.« »Jawohl, Sir.« Es war noch vor neun, als Pitt und Tellman an der Tür des Hauses in der Green Street standen. Pitt klingelte, aber es dauerte mehrere Minuten, bevor ihnen geöffnet wurde. »Ja bitte?« Ein Diener mit ungekämmtem Haar sah ihn besorgt an. »Ich möchte bitte Mr. Carvell sprechen«, sagte Pitt. Es war ein Befehl, keine Bitte. Der Diener war überrascht. »Verzeihung, Sir, aber Mr. Carvell ist bestimmt noch nicht auf«, sagte er entschuldigend. »Könnten Sie bitte gegen zehn Uhr noch einmal vorbeischauen?« Tellman hob zu sprechen an, aber Pitt ließ ihn nicht zu Wort kommen.
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»Ich fürchte, wir können nicht warten. Es handelt sich um eine äußerst ernste Angelegenheit. Sagen Sie ihm bitte, daß Oberinspektor Pitt und Inspektor Tellman hier sind und ihn umgehend zu sprechen wünschen.« Der Diener erbleichte. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, ging dann aber und vergaß völlig, sie in den Vorraum einzulassen. Nach wenigen Augenblicken erschien Carvell im Morgenmantel; seine Haare standen wild zu Berge, das Gesicht war blaß und voller Angst. »Was ist geschehen, Oberinspektor?« sagte er und überging Tellman. »Stimmt etwas nicht? Was bringt Sie um diese Uhrzeit hierher?« Wieder spürte Pitt ein Widerstreben und großes Mitleid. »Es tut mir leid, Mr. Carvell, aber wir müssen Ihr Haus durchsuchen und Ihr Personal befragen. Es ist mir klar, daß wir Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten, aber es läßt sich nicht vermeiden.« »Warum?« Carvell wirkte jetzt geradezu verschreckt, seine Hände verkrampften sich immer wieder zur Faust, sein Gesicht war fahl. »Was ist geschehen? Um Himmels willen, sagen Sie mir, was passiert ist. Ist - ist wieder jemand ...?« »Ja. Ihr Butler, Albert Scarborough.« Pitt mußte Carvell, der zu schwanken begann, zu Hilfe eilen. Er stützte ihn am Ellbogen und führte ihn zu einer Eichenbank in der Halle. »Setzen Sie sich doch.« Er drehte sich zu dem Diener um, der tatenlos dabeistand. »Holen Sie ein Glas Brandy«, wies er ihn an, und als der Junge sich nicht rührte, die Augen weit aufgerissen, fügte er hinzu: »Aber ganz schnell!« »Ja - jawohl, Sir.« Damit floh er aus der Halle und verschwand im Innern des Hauses, wo er mit zitternder Stimme nach der Haushälterin rief. Pitt sah Tellman an. »Fangen Sie mit der Durchsuchung an.« Tellman hatte nur auf die Aufforderung gewartet. Mit düsterem Gesicht machte er sich unverzüglich an die Arbeit.
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Pitt betrachtete Carvell, dem es tatsächlich schlechtzugehen schien. »Sie glauben, ich habe es getan?« sagte Carvell mit belegter Stimme. »Ich lese es in Ihrem Gesicht, Oberinspektor. Aber warum? Warum sollte ich meinen Butler ermorden?« »Ich fürchte, die Antwort darauf ist nur zu offensichtlich. Er war in einer Position, wo er von Ihrer Verbindung mit Mr. Arledge und Ihrer möglichen Verwicklung in dessen Tod sehr gut wissen konnte. Wenn das der Fall war, dann haben Sie sich möglicherweise unter Druck gefühlt, ihn um Ihrer eigenen Sicherheit willen loszuwerden.« Carvell wollte etwas entgegnen, ihm fehlte aber die Kraft. Einige lange Sekunden starrte er Pitt an und ließ dann in völliger Hoffnungslosigkeit den Kopf in die Hände sinken. Pitt empfand sich selbst als brutal. Tellmans Stimme hallte in seinem Kopf wider mit seiner Verachtung für Pitts Zimperlichkeit; ebenso Farnsworths Beschuldigungen, daß er seiner Verantwortung auswich, sowohl der gegenüber seinen Vorgesetzten, die Vertrauen in ihn gesetzt und ihn befördert hatten, als auch der seinen Untergebenen gegenüber, deren Loyalität er erwartete, als auch der gegenüber der Öffentlichkeit. Die Menschen sollten mit Recht glauben können, daß die Polizei ihr Bestes tat und daß seine persönlichen Präferenzen, seine Gewissensbisse und sein Mitleid nicht sein Handeln bestimmen würden. Er hatte den Posten mit der dazugehörigen Ehre und dem Lohn angenommen. Hinter den Anforderungen zurückzubleiben, bedeutete gewissermaßen Verrat. Er sah auf die niedergeschlagene Gestalt von Carvell vor sich. Was war geschehen? Welche ungebändigten Gefühle waren in ihm aufgebraust, daß er den Mann, den er liebte, getötet hatte? Der Grund dafür konnte nur eine Art Zurückweisung sein, daß zum Beispiel die Beziehung zu Ende gegangen war oder Arledge sich einem anderen zugewandt hatte. Warum zuerst Winthrop? Winthrop mußte dieser andere gewesen sein. Irgendwie hatte der Omnibusschaffner
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davon erfahren, nicht in jener Nacht, aber später. Und der hochnäsige Scarborough hatte ebenfalls etwas herausgefunden. Pitt versuchte sich die Szene bildlich vorzustellen, als der Butler seinem Vorgesetzten mit seinem Wissen gegenübertrat. Wie er sehr aufrecht und steif vor ihm gestanden hatte in seiner Uniform mit funkelnden Knöpfen, die schönen Beine in seidenen Strümpfen, die Lippen geschürzt. Es war ihm nicht im entferntesten in den Sinn gekommen, daß sein Herr auch ihn töten könnte. Aber das ergab keinen Sinn. Er hatte bereits drei andere Menschen umgebracht. Wie konnte sich Scarborough so blind und vertrauensselig einem Mann ausliefern, den er erpressen wollte und von dem er wußte, daß er bereits dreimal getötet hatte? Es konnte keinen Kampf gegeben haben. Scarborough war um vieles schwerer als Carvell und mindestens sechs Zoll größer. Jeden Zweikampf hätte er klar für sich entschieden. Pitt würde den Gerichtsmediziner fragen, ob Scarboroughs Leiche Verletzungen aufwies, einen Stich ins Herz oder dergleichen. Tellman hatte sicherlich mit der Durchsuchung des Hauses begonnen. Würde er zunächst Fragen stellen oder als erstes den Tatort suchen? Oder würde er nach dem Wagen forschen, in dem Carvell den leblosen Körper seines Butlers zur Pferdetränke im Hyde Park transportiert hatte? Oder nach der Waffe? Wahrscheinlich hatte Carvell in allen Fällen dieselbe Waffe benutzt. Sehr gefährlich. War er sich sicher genug, daß er sie gut versteckt hatte oder daß niemand das Versteck finden würde? Oder daß man ihn, sollte die Waffe gefunden werden, nicht damit in Zusammenhang bringen würde? »Mr. Carvell?« Carvell rührte sich nicht. »Mr. Carvell?« »Ja?« »Wann haben Sie Scarborough das letzte Mal lebend gesehen?«
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»Ich weiß nicht.« Carvell hob den Kopf. »Beim Abendessen? Sie sollten die anderen Bediensteten fragen, sie haben ihn sicher noch nach mir gesehen.« »Hat er gestern abend abgeschlossen?« »Das weiß ich wirklich nicht, Oberinspektor. Gestern fand die Totenmesse für Aidan statt. Glauben Sie wirklich, daß ich mich darum gekümmert habe, wer abgeschlossen hat? Meinetwegen hätte das Haus die ganze Nacht offenstehen können.« »Wie lange war Scarborough in Ihren Diensten?« »Seit fünf Jahren - nein, seit sechs.« »Waren Sie mit ihm zufrieden?« Carvell sah verwirrt zu ihm auf. »Er war ein ausgezeichneter Butler, wenn Sie das meinen. Wenn Sie wissen wollen, ob ich den Mann mochte, dann ist die Antwort nein. Er war ein unsympathischer Mensch, aber er führte den Haushalt vorbildlich.« Sein Blick war auf Pitt gerichtet, aber er sah ihn nicht. »Nie hatte ich häusliche Probleme, gleich welcher Art«, sagte er hohl. »Jede Mahlzeit wurde pünktlich serviert und schmeckte gut, und das Haushaltsbuch wurde untadelig geführt. Wenn es je Probleme gab, so habe ich nie davon erfahren. Manche meiner Freunde haben immer irgendwelche Probleme. Ich nie. Wenn er gelegentlich herablassend war, so hat mich das nicht gestört.« Ein selbstironisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Wenn ich Gäste hatte, organisierte er alles hervorragend, ob es nun ein Abendessen war oder ein Empfang jedweder Größenordnung. Ich mußte mich nie um irgend etwas kümmern.« Auf dem oberen Treppenabsatz ging ein Hausmädchen vorbei, doch Carvell schien es nicht zu bemerken. Ebensowenig die Geräusche hinter einer mit grünem Filz beschlagenen Tür am Ende der Halle. »Ich brauchte nur zu sagen: ,Scarborough, am nächsten Donnerstag habe ich zehn Gäste zum Abendessen’«, fuhr er fort. »,Kümmern Sie sich darum’, und das tat er auch und stellte ein elegantes Essen zu einem sehr vernünftigen Preis zusammen. Wenn nötig, heuerte er zusätzliches Per-
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sonal an, und niemals war einer dabei, der unverschämt, langsam oder unehrlich war. Ja, er war ein arroganter Kerl, aber er versah seinen Dienst so gut, daß ich darüber hinwegsehen konnte. Ich weiß nicht, wie ich ihn ersetzen soll.« Pitt schwieg. Carvell stöhnte und lachte dann unterdrückt, was mehr wie ein Schluchzen klang. »Aber vielleicht werde ich gehenkt, dann brauche ich mir darum keine Sorgen zu machen.« »Haben Sie Scarborough umgebracht?« fragte Pitt ganz leise. »Nein«, antwortete Carvell ruhig. »Und bevor Sie mich fragen, ich habe nicht die geringste Ahnung, wer es getan haben könnte, und warum.« Sein Schmerz und seine Angst waren grenzenlos. Pitt verhörte ihn weitere zehn Minuten, doch er erfuhr nichts Neues über den Fall oder über den Mann. Schließlich ließ er ihn zusammengesunken in der Halle sitzen und suchte Tellman, um zu hören, was der entdeckt hatte. Er fand ihn im Dienstbotenraum, der relativ klein war im Vergleich zu manchen, die Pitt gesehen hatte, aber er war überaus gemütlich eingerichtet und duftete angenehm nach Lavendel und Bienenwachs. Die Essensgerüche aus der Küche weckten plötzlich sein eigenes Hungergefühl. Der blasse Diener stand bereit. Ein Zimmermädchen weinte vor sich hin, in der Hand hielt sie einen Staublappen, an der Wand lehnte ein Besen. Die Haushälterin saß aufrecht auf einem Stuhl, den Schlüsselbund trug sie an der Taille, an den Fingern hatte sie Tinte - vermutlich von Eintragungen in das Haushaltsbuch - und auf ihrem Gesicht stand ein Ausdruck, als hätte sie soeben etwas Ungenießbares auf ihrem Teller gefunden. Die Tellerwäscherin und die Köchin fehlten. Das Küchenmädchen saß mit Tellman zusammen am Tisch, an ihrem Ärmel hatte Ruß einen Fleck hinterlassen. Sie sah Tellman mit gleichzeitig weinerlichem und bockigem Ausdruck an.
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Tellman blickte Pitt an. Offenbar lohnte es sich nicht, das Verhör mit dem Küchenmädchen fortzusetzen. »Was haben Sie in Erfahrung gebracht?« Tellman kam zu ihm. »Sehr wenig«, sagte er einigermaßen überrascht. »Nach dem Empfang verbrachten die Bediensteten den größten Teil des Nachmittags damit aufzuräumen. Der Diener und die Dienstmädchen, die für den Morgen angeheuert worden waren, wurden ausbezahlt und entlassen. Eins von ihnen war schon früher wegen schlechten Betragens fortgeschickt worden. Was genau es war, weiß ich nicht, irgendein Fehlverhalten. Keiner scheint genau zu wissen, was es war. Carvell verbrachte den Nachmittag außer Haus; die Dienstboten wissen nicht, wo, aber der Diener meint, er wollte einfach nur allein mit seiner Trauer sein.« »Seiner Trauer?« sagte Pitt schnell. Tellman sah ihn verständnislos an. »War dem Diener klar, welcher Art die Beziehung war, die Carvell mit Arledge verband?« fragte Pitt gespannt mit gedämpfter Stimme. Tellman schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Scheint, daß er jeden Tod als einschneidendes Ereignis betrachtete und Zeit brauchte, darüber hinwegzukommen.« »Aha. Was ist mit Scarborough?« »Der verbrachte den Nachmittag in den Vorratsräumen und überprüfte die Vorräte im Keller«, erwiderte Tellman und zog Pitt ein wenig von den Dienstboten weg, die alle erwartungsvoll lauschten. »Das Abendessen war eine kalte Mahlzeit. Anschließend las Carvell für eine Weile in seiner Bibliothek und zog sich früh zurück. Das Personal wurde so gegen acht von seinem Dienst befreit. Um zehn hat Scarborough das Haus abgeschlossen, und danach hat ihn keiner mehr gesehen.« Tellmans Überzeugung war unerschütterlich, der Blick aus seinen tiefliegenden Augen fest, seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepreßt. »Es hat keiner geklingelt, sonst hätten die anderen Dienstboten das gehört. Es klingelt in der Küche und hier.« Er drehte sich
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um und zeigte auf die Klingelanlage mit den Zimmerangaben. Die Haustür war klar zu sehen. »Es wurde auch nicht eingebrochen, nehme ich an«, sagte Pitt und formulierte nicht einmal eine Frage. »Nein, Sir, nichts dergleichen. Alle Fenster und Türen waren ordentlich verschlossen -« Tellman brach ab. »Ja?« hakte Pitt sofort nach. »Außer?« Tellman zog ein Gesicht. »Außer der Terrassentür im Speiseraum. Das Hausmädchen sagte, ihrer Meinung nach war sie heute morgen offen. Also nicht offen, sondern unverschlossen. Wahrscheinlich ist Carvell auf diesem Wege hinausgegangen und hat auf dem Rückweg vergessen, sie zu verriegeln.« »Jemand ist da hinausgegangen«, präzisierte Pitt. »Es ist denkbar, daß Scarborough selbst dort hinausgegangen ist, lebendig und freiwillig.« Tellmans sah ihn ungläubig an, Pitts Unentschlossenheit mißfiel ihm. »Wieso sollte er?« sagte er verächtlich. »Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß der Butler nachts in den Park gegangen ist, um eine Frau aufzugabeln? Ich dachte, wir hätten die Idee, daß es etwas mit den Prostituierten zu tun haben könnte, aufgegeben. Wir wußten, daß es eine Sackgasse war, als der Polizeipräsident damit anfing! Hier ist nicht ein Verrückter am Werk, der ein Sexproblem hat, sondern ein geistig völlig normaler Mörder, der, in der Liebe enttäuscht, nach Rache sucht - und jeden umbringt, der darüber etwas weiß und ihn bedroht.« Pitt schwieg. »Sind Sie immer noch der Meinung, Mitchell habe etwas damit zu tun?« fuhr Tellman fort. »Das führt zu nichts. Vielleicht hatte er einen Grund, Winthrop umzubringen, aber nicht die anderen, und schon gar nicht den Butler. Was sollte Mitchell denn mit Carvells Butler zu tun haben?« »Der einzige Grund, warum jemand Scarborough umgebracht hat, ist der, daß er etwas wußte«, gab Pitt zurück. »Aber es stimmt, ich kann keine Verbindung zu Mitchell sehen.«
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»Sie werden also Carvell verhaften?« »Haben Sie das Haus schon durchsucht?« »Nein, natürlich nicht. Ich habe in Scarboroughs Anrichteraum nachgesehen und war oben in seinem Zimmer. Da ist nichts, hatte ich aber auch nicht erwartet.« »Papiere?« Tellman war überrascht. »Papiere? Was für welche?« »Eine Aufstellung von Zahlungen«, erwiderte Pitt. »Wenn er Carvell erpreßt hat, müßte es dafür einen Nachweis geben.« »Wegen Arledge? Vielleicht hat er erst nach dem Mord damit angefangen und gestern seine Quittung dafür bekommen.« »Warum sollte er so lange damit warten? Es ist schon einige Zeit her, daß Arledge umgebracht wurde.« »Ich habe nichts gesehen, aber ich hatte auch nicht die Zeit, alle Briefe und so zu lesen. Die Köchin habe ich nach einem Hackmesser gefragt und im Schuppen nach einer Axt gesucht. Es war keine da. Sie beziehen ihr Anmachholz fertig gespalten.« »Und das Hackmesser?« »Kann man nichts zu sagen.« Dem Ton nach war die Sache für Tellman klar. »Die Köchin sagt, es ist an der gleichen Stelle, wo sie es immer hinlegt. Sie wurde zwar rot, aber ich glaube, sie sagt die Wahrheit. Sie scheint sehr beherrscht zu sein, hat nicht geschrien, kein Theater gemacht. Eine vernünftige Frau.« Er zuckte mit den Schultern. » Ich weiß nicht, was er mit der Waffe gemacht hat. Ich vermute, wir werden sie finden, wenn wir das Haus mit mehreren Leuten gründlich durchkämmen. Ich bin der Auffassung, Sir, daß Carvell den Widerstand aufgeben wird, wenn wir ihn in eine Zelle einschließen und er erkennt, daß er keinen Ausweg mehr hat. Er wird in Panik geraten und uns die Informationen geben, die uns jetzt noch fehlen.« »Vielleicht«, sagte Pitt, aber er war nicht überzeugt, was in seiner Stimme zu hören war. Tellman war sauer. Er hatte genug von Pitts Zaudern und Zweifeln und machte sich nicht die Mühe, das zu verbergen.
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»Wir haben keinen Grund, ihn nicht zu verhaften. Wir kennen vielleicht noch nicht den genauen Tathergang, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Auch wenn wir ihn nicht für den Mord an dem Omnibusschaffner festnageln können, für den an Arledge und Scarborough haben wir ihn.« Er machte einen Schritt zur Tür. »Soll ich nach einem Polizeiwagen rufen oder nehmen wir ihn in einer Droschke mit? Ich glaube nicht, daß er Schwierigkeiten machen wird. Nicht er.« »Also gut«, gab Pitt zögernd nach. »Nehmen Sie ihn in einer Droschke mit.« Er wollte schon hinzufügen, daß Tellman Carvells Schmach nicht noch vergrößern solle, merkte aber, daß das sinnlos war und Tellmans Verhalten nicht beeinflussen würde. »Sie kommen nicht mit?« sagte Tellman überrascht und etwas höhnisch, weil Pitt die Verhaftung nicht selbst vornehmen wollte. »Ich werde ihn verhaften«, sagte Pitt. »Sie bringen ihn zur Wache. Ich bleibe hier und sehe mich noch ein bißchen um.« Carvell war nicht überrascht, als er sie in die Halle kommen sah. Er saß noch dort, wo sie ihn gelassen hatten, und sah bleich und krank aus. Als er Pitts Schritte erkannte, hob er den Kopf. Er sagte nichts, aber die Frage stand in sein Gesicht geschrieben. »Jerome Carvell.« Pitt war der Klang seiner eigenen Stimme verhaßt, als er die vertrauten Worte sprach. Der veränderte Ton, die Förmlichkeit der Anrede nahmen schon vorweg, was folgen würde, und Carvell sah aus, als hätte man ihm einen Schlag versetzt, während sich seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten. »Ich verhafte Sie wegen des Mordes an Albert Scarborough.« »Ich habe ihn nicht umgebracht«, sagte Carvell leise und ohne Hoffnung, daß man ihm glauben würde. Er stand auf und streckte seine Hände aus. »Die anderen auch nicht.« Pitt konnte darauf nichts sagen. Er wollte ihm glauben, und ein kleiner Teil in ihm tat es auch, doch die Beweislage sagte etwas anderes.
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»Inspektor Tellman bringt Sie zur Wache; Handschellen brauchen wir nicht.« »Danke«, sagte Carvell mit erstickter Stimme. Mit hängenden Schultern und aschfahlem Gesicht ging er zur Tür. Er machte keine Anstalten, zu entkommen oder sich aus Tellmans Griff zu befreien. Alle Leidenschaft, ja das Leben selbst, schien in ihm erloschen, als sei dies ein lang erwarteter und unvermeidbarer Schlag. Pitt ging nach oben und durchsuchte das Zimmer des Butlers, fand allerdings auch nicht mehr als Tellman. Er kam wieder ins Erdgeschoß und sah sich in allen Räumen um, den beiden Salons und den Dienstbotenräumen, dem Anrichteraum, dem Aufenthaltsraum der Haushälterin und der Küche, Waschküche und Spülküche, ohne etwas zu finden. Schließlich ging er hinaus zu den Stallungen, wo der Stalljunge ihm erzählte, daß Carvell sich ein Pferd und einen zweisitzigen Einspänner hielt, mit dem er an schönen Sommertagen gerne ausfuhr und den er auch selber mit Geschick und Vergnügen lenkte. Das Pferd wurde von dem Stiefelknecht versorgt, dem jede Entschuldigung recht war, um dem Haus zu entkommen. Zum Glück gab es längst nicht genügend Stiefel und Schuhe, mit deren Pflege er seine ganze Zeit hätte ausfüllen können. Er half auch dem Gärtner aus, wenn es im Garten viel zu tun gab. »Ja bitte, Sir?« fragte er übereifrig, als Pitt auf ihn zutrat; in seinem breiten Gesicht stand Anteilnahme, aber auch Besorgnis. »Darf ich mir den Stall und das Kutschhaus ansehen?« fragte Pitt, obwohl das nur eine Formalität war; eine abschlägige Antwort hätte er nicht akzeptiert. »Ja, Sir, wenn Se möchten.« Der Junge schien überrascht. »Aber es is alles da, Sir. Der Einspänner un das ganze Geschirr un so.« »Ich würde trotzdem gerne mal nachsehen.« Pitt ging an ihm vorbei zur Stalltür. Es war schon lange her, daß er mit Pferden zu tun gehabt hatte. Der warme Geruch des Tieres, der gepflasterte Hof, der Geruch von Leder und Politur ließen Erinnerungen in ihm aufsteigen an das Landgut, auf
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dem er aufgewachsen war, an die Ställe und Geräteräume dort, an das Gefühl, auf einem Pferd zu sitzen, an dessen Kraft und Schnelligkeit, daran, wie es seinen Willen auf den des Reiters einstellt, an die Kunst und die Freude, mit dem Tier eins zu sein. Und dann die Arbeit danach: Es mußte gebürstet und gesäubert und schließlich in den Stall gebracht werden. Er erinnerte sich an schmerzende Muskeln und das erhebende Gefühl der Zufriedenheit. Das alles schien weit in der Vergangenheit zu liegen. Dulcie Arledge hätte seine Gedanken verstanden; auch sie liebte Pferde und ritt gern zur Jagd, auch sie kannte die Erschöpfung, die einer Lust gleichkam. Gedankenverloren klopfte er dem Pferd auf den Hals. Der Junge stand hinter ihm. »Hast du ihn heute morgen schon gebürstet?« fragte Pitt mit einem Blick auf die Hufe des Pferdes, an denen Lehm und ein paar trockene Grashalme hafteten. »Nein, Sir. Wo doch Mr. Scarborough weg war un keiner wußte, was mit ihm is, da war 'n einziges Durcheinander in der Küche.« »Hast du ihn gestern abend gebürstet?« »Aber ja, Sir. Hat geglänzt wie 'n neuer Penny, wirklich wahr, 'n prächtiges Fell hat der. Stimmt's, Sam?« sagte er und streichelte das Tier, das es ihm mit einem sanften Nasenstüber dankte. Pitt zeigte auf den Lehm. »Das war aber gestern abend nich da«, sagte der Junge empört. »He!« Die Farbe wich aus seinem Gesicht, die Augen weiteten sich. »Meinen Se, jemand hat ihn rausgeholt? In der Nacht oder so?« »Könnte sein«, antwortete Pitt und ließ seinen Blick über den Stallboden gleiten, um sich zu versichern, daß das Pferd nicht in einem Lehmfladen gestanden haben könnte. Aber der Stall war tipptopp ausgefegt. Was der Junge als Stiefelknecht taugte, sei dahingestellt, aber als Stallknecht war er sehr eifrig. »Wir sehen uns mal den Einspänner an.« Pitt ging auf das Kutschhaus zu, der Junge wich ihm nicht von den Fersen. Dort stand ein eleganter Einspänner mit
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funkelnden Deichseln und makellosem Gehäuse. Er wandte sich an den Jungen. »Sieh es dir genau an, das Geschirr und so weiter. Ist alles so, wie du es hinterlassen hast?« Lange Zeit war es still, während der Junge sich alles ganz genau ansah, jedes Stück, ohne etwas anzurühren. Schließlich stieß er einen langen Seufzer aus und sah Pitt an. »Ich kann's nich genau sagen. Sieht alles gleich aus, aber bei den Zügeln da bin ich mir nich sicher. Das Geschirr war aufm selben Haken, aber ich glaub', das Zaumzeug hing andersrum. Aber drauf schwörn würd' ich nich.« Pitt sagte nichts, ging zu dem Einspänner und sah hinein. Alles war sauber und auf Hochglanz poliert, die Sitze leer, die Türen verschlossen. »Is er benutzt worden, Sir?« fragte der Junge hinter ihm. »Soweit ich sehen kann, nicht«, sagte Pitt, wobei er nicht wußte, ob er erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Er entriegelte die Tür und öffnete sie. Die Scharniere waren gut geölt. Auf dem Trittbrett entdeckte er einen Faden, der sich um eine Schraube gewunden hatte. Er bückte sich und löste ihn vorsichtig. Dann hielt er ihn gegen das Licht. Es war ein langer Faden von heller Farbe, der sich wie ein Korkenzieher drehte. »Was ham Se gefunden?« fragte der Junge, den Blick auf den Faden gerichtet. »Ich weiß es noch nicht«, erwiderte Pitt, aber das stimmte nicht ganz. Er war sich ziemlich sicher, daß es sich um einen Faden vom Strumpf des Butlers handelte. »Danke«, fügte er noch hinzu. »Ich kümmere mich um alles Weitere. Weißt du, ob Mr. Scarborough manchmal in diesem Einspänner gefahren ist?« »Nein, Sir. Mr. Scarborough war immer im Haus. Mr. Carvell is selbst damit gefahrn, un wenn es Botengänge zu erledigen gab, dann hat er mich geschickt.« »Trägst du manchmal eine Livree?« Der Junge grinste über das ganze Gesicht. »Wie, ich? Nein, Sir. Mr. Scarborough würde ganz schön ausrasten, wenn ich auf solche Ideen kommen würd. Und er würd mir sagen, wo's langgeht.«
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»Du trägst keine Strümpfe?« »Nein. Warum?« Er sah auf den Faden in Pitts Hand und wurde plötzlich ernst. »Is der aus 'm Strumpf von jemandem?« »Wahrscheinlich.« Pitt wäre es lieber gewesen, der Junge hätte das nicht erraten, doch jetzt war es zu spät, und die Fragen ließen sich nicht mehr abwehren. Wenn Scarborough den Einspänner selbst benutzt hätte, wäre mit dem Faden gar nichts zu beweisen. Er wickelte ihn in einen Fetzen Papier und steckte das Päckchen in seine Tasche. Es würde kaum etwas nützen, dem Jungen zu sagen, er solle nicht mit dem gesamten Haushalt über den Fund sprechen, aber Pitt tat es dennoch. »Aber nein, Sir«, sagte der Junge ernst und trat einen Schritt zurück. Er wich nicht von Pitts Seite, als der den Rest des Einspänners und das Kutschhaus durchsuchte und dann wieder ins Haus ging. Ein unerklärliches Gefühl der Müdigkeit überkam ihn, als sei alle Energie aus ihm gewichen. Pitt ging nicht zurück in die Bow Street. Seine Laune war ohne ersichtlichen Grund auf einen Tiefpunkt gesunken; er wollte sich nicht mit der Anklage gegen Carvell befassen müssen. Farnsworth würde die neue Entwicklung mit tiefer Befriedigung zur Kenntnis nehmen, was Pitt noch bitterer stimmen würde. Er selbst verspürte keinerlei Erfolgsgefühl. Die Tragik des Falles hatte solche Ausmaße angenommen, daß Pitt nur den düsteren Schmerz darin spürte. Wenn er die Augen schloß, sah er Dulcies sympathisches, intelligentes Gesicht und das Entsetzen darin, als er ihr erzählen mußte, daß ihr Mann einen anderen Mann geliebt hatte. Ihr war es schon bewußt gewesen, daß es einen anderen Menschen gab, aber zu hören, daß es ein Mann war, hatte ihr einen schweren Schlag versetzt. Pitt war voller Widerwillen und stand noch unter einer Art Schock. Er wollte nicht hinnehmen, daß es Carvell war. Er gab dem Droschkenfahrer Nigel Uttleys Adresse. Es würde ihn zwar nicht weiterbringen, aber Uttley sollte er-
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fahren, daß Pitt wußte, daß er Jack angegriffen hatte. Es würde ihm Genugtuung verschaffen, dem Mann Angst einzujagen, und soweit er sehen konnte, würde es Jack nicht schaden. Alles, was Uttley gegen Jack unternehmen konnte, würde er ohnehin tun, ungeachtet dessen, was Pitt tat. Als er vorsprach, war Uttley nicht zu Hause, was ihn wütend machte, aber nicht überraschte. Der Zeitpunkt der Nachwahl rückte immer näher, Uttley konnte auch den ganzen Tag unterwegs sein. »Ich kann es ihnen wirklich nicht sagen«, gab der Diener kühl zur Auskunft. »Möglicherweise kommt er zur Mittagszeit zurück. Wenn Sie warten möchten, können Sie das im kleinen Salon tun.« Pitt zögerte einen Moment, dann nahm er an. Er würde genau eine halbe Stunde warten. Wenn Uttley in dieser Zeit nicht kam, würde er seine Karte mit einer verschlüsselten Botschaft zurücklassen und hoffen, daß es Uttley gehörig beunruhigte. Mehr als vierzig Minuten ging er in dem elegant eingerichteten Raum auf und ab, der keineswegs überladen war und erstaunlich gemütlich in seiner Schlichtheit. Dann hörte er Uttleys überraschte Stimme. »Pitt? Was will er denn diesmal? Der ist doch ein hoffnungsloser Fall, was? Ich weiß nicht, was ich seiner Ansicht nach tun kann. Großer Gott, da wird sich so manches ändern bei der Polizei, wenn ich im Amt bin. Entschuldigen Sie mich, Weldon. Es dauert nur ein paar Minuten.« Sein forscher Schritt hallte auf dem marmornen Fußboden, dann öffnete er die Tür zu dem kleinen Salon und blieb in der Tür stehen. »Guten Tag, Oberinspektor. Was kann ich diesmal für Sie tun?« Er schaute amüsiert. »Guten Tag, Mr. Uttley«, gab Pitt zurück. »Ich bin gekommen, um Sie darüber zu unterrichten, daß wir nun wissen, wer Mr. und Mrs. Radley neulich nachts überfallen hat, wobei allerdings die Gründe für diesen Überfall nicht ganz klar sind.« Er zog die Augenbrauen in
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die Höhe. »Es scheint eine ganz unsinnige Tat gewesen zu sein.« »Ich könnte mir vorstellen, daß Verbrechen dieser Art in gewisser Weise immer unsinnig sind«, erwiderte Uttley und lehnte sich lächelnd an den Türrahmen. »Aber es ist sehr höflich von Ihnen, mir mitzuteilen, daß Sie die Tat aufgeklärt haben.« Er sah Pitt an, zögerte einen Moment und fuhr dann fort: »War es doch der Schlächter, oder ein Gelegenheitsdieb?« »Weder - noch«, sagte Pitt in ebenso sachlichem Ton. »Es handelt sich um einen politischen Opportunisten, der hoffte, aus den tragischen Ereignissen der letzten Zeit Kapital für sich zu schlagen, um ein Amt zu erlangen. Ich glaube nicht, daß er beabsichtigte, Mr. Radley zu töten ...« Uttley wurde blaß. Er stand immer noch an den Türpfosten gelehnt, jetzt wirkte seine Haltung aber steif und unnatürlich. »Ist das tatsächlich der Fall.« Er schluckte und sah Pitt an. »Sie meinen, jemand wollte Radley ausschalten? Ihn dazu bringen, seine Kandidatur aufzugeben?« »Nein, das meine ich nicht.« Pitt hielt seinem Blick stand. »Ich glaube, er wollte Radleys Position als Verteidiger der Polizei absurd erscheinen lassen und ihn öffentlich der Lächerlichkeit preisgeben.« Uttley sagte nichts. »Was nicht so klug durchdacht ist, wie es zunächst schien«, fuhr Pitt fort, »da es eine Reihe von Menschen in einflußreichen Positionen verärgert hat.« Uttley schluckte wieder, die Kehle war zugeschnürt. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt. »In gewissen Bereichen«, fügte Pitt mit einem Lächeln hinzu. »Leute mit mehr Einfluß, als man annehmen würde.« »Sie meinen -« Uttley sprach nicht weiter. »Ja, genau das meine ich«, stimmte Pitt ihm zu. Uttley räusperte sich. »Was - was werden Sie nun tun? Ich ... vermutlich haben Sie keine Beweise, oder Sie würden den Täter verhaften, richtig? Es ist ja schließlich ein Vergehen - oder!«
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»Ich weiß nicht, ob Mr. Radley an einer Strafverfolgung interessiert ist«, sagte Pitt spontan. »Das ist ihm überlassen. Da er den Vorfall nicht der Polizei gemeldet hat, geht er vielleicht davon aus, daß die Sache auf den Täter zurückfallen wird und somit der Gerechtigkeit Genüge getan ist ohne daß er diesen Weg beschreiten müßte.« »Und Sie?« sagte Uttley und trat einen Schritt vor. »Was ist mit Ihnen? Sie haben nicht gesagt, ob Sie Beweise in der Hand haben.« Er beobachtete Pitt genau. »Nein, das stimmt«, pflichtete Pitt ihm bei. Uttley gewann sein Selbstvertrauen wieder und richtete sich auf. »Sie scheinen sich da etwas zusammengereimt zu haben Oberinspektor«, sagte er und schob die Hände in die Taschen. »Ich könnte mir denken, daß Sie sich diese Lösung wünschen. Dann hätte der stellvertretende Polizeipräsident weniger an Ihrer Arbeit zu kritisieren.« Pitt lächelte. »Wissen Sie, Mr. Farnsworth äußerte sich in diesem Punkt ziemlich eindeutig«, sagte er. »Er schäumte geradezu vor Wut.« Uttley erstarrte. »Aber ich denke, er zieht es vor, die Sache auf seine Art zu regeln«, fuhr Pitt locker fort. »Das ist der einzige Grund, warum ich von einer Strafverfolgung abgesehen habe. Die Beweise sind da. Ich denke, ansonsten hätte Mr. Farnsworth meinen Worten keinen Glauben geschenkt. Schließlich ist die ganze Sache ja unglaublich ... ungeschickt nicht wahr?« Uttley entrang sich ein schiefes Lächeln, doch er sagte nichts. »Ich dachte, Sie sollten darüber Bescheid wissen«, schloß Pitt mit einem Lächeln. »Wenn Sie wieder einen Artikel verfassen, werden Sie mehr Gerechtigkeit walten lassen, da bin ich mir sicher.« Damit steckte auch er seine Hände in die Taschen. »Auf Wiedersehen, Mr. Uttley.« Er marschierte an ihm vorbei und trat aus der Tür in die Nachmittagssonne hinaus.
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Als Pitt nach Hause kam, verspürte er keine innere Zufriedenheit. Die Genugtuung, Uttley eins ausgewischt zu haben, war verflogen, und was blieb, war der Eindruck von Carvells niedergeschmettertem und hoffnungslosem Gesichtsausdruck. Selbst mit geschlossenen Augen konnte Pitt die gebeugte Gestalt sehen, die neben Tellman das Haus verließ, die zu Berge stehenden Haare, angestrahlt von der Sonne, als er die Stufen hinabging. Ausnahmsweise war Charlotte zu Hause. In den letzten Monaten war sie so oft unterwegs gewesen, um dies und jenes für das neue Haus zu besorgen, daß er erwartet hatte, das Haus still und leer vorzufinden, eine Nachricht auf dem Küchentisch. Statt dessen wurde er von den freundlichen Geräuschen, die die alltäglichen Verrichtungen begleiteten, willkommen geheißen: Der Wasserkessel zischte, in den Töpfen brutzelte es, Geschirr klirrte und Röcke raschelten. Als er die Tür aufstieß, erstrahlte die Küche im Licht der Nachmittagssonne, und der Geruch von frischem Brot, von Wäsche, die unter der Decke zum Trocknen aufgehängt war, und von der schmurgelnden Mahlzeit auf dem Ofen schlug ihm entgegen. Gracie räumte soeben die Teller vom Nachtmahl der Kinder vom Tisch und stellte sie auf die Anrichte, bevor sie einen flüchtigen Knicks machte und nach oben flüchtete. Gerade wollte er darüber nachdenken, warum sie so schnell verschwand, als Jemima sich mit einem Freudenschrei auf ihn stürzte und ihm von den Erlebnissen ihres Tages berichten wollte. Daniel zupfte ihn am Ärmel und zeigte ihm einen Papierdrachen, den er am Tage gebastelt hatte. Charlotte trocknete sich die Hände an der Schürze, steckte sich eine lose Strähne fest und küßte ihn mit einem Lächeln. Einige Minuten lang versuchte er allen gerecht zu werden und den Kindern seine Aufmerksamkeit zu widmen. Dann zogen Daniel und Jemima befriedigt ab, und er blieb allein mit Charlotte zurück. »Du siehst müde aus«, sagte Charlotte und musterte ihn genau. »Ist etwas geschehen?«
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Er war froh, daß sie ihn nicht mit Geschichten über das Haus, ihren Erfolgen und Rückschlägen bestürmte und er warten mußte, bis er ihre Aufmerksamkeit für sich beanspruchen konnte. Häufig empfand er, wenn er sie erst um ihr Gehör bitten mußte, keine Erleichterung, hatte nicht das Gefühl, mit ihr zu teilen. »Ich habe Jerome Carvell verhaftet«, sagte er. Er wußte daß sie seine Gefühle von seinem Gesicht ablesen konnte. Sie kannte ihn zu gut, um anzunehmen, daß er zufrieden sei oder Genugtuung empfand. »Warum?« fragte sie. Es war nicht die Reaktion, die er erwartet hatte, aber es war eine gute Reaktion. Er erzählte ihr alles, was im Verlauf des Tages vorgefallen war, auch von seinem Besuch bei Uttley. Sie hörte aufmerksam zu und lächelte am Ende. »Du bist nicht überzeugt, daß Carvell es getan hat, nicht wahr?« fragte sie schließlich. »Wahrscheinlich sagt mir meine Vernunft, daß er es gewesen sein muß, zumindest bei Scarborough, wenn auch nicht bei den anderen. Es war mit Sicherheit sein Einspänner, der benutzt wurde, um die Leiche vom Haus in den Park zu transportieren, und er hatte einen ausgezeichneten Grund für den Mord, wenn der Mann ihn erpreßt hat.« »Aber?« fragte sie. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er Arledge umgebracht hat. Ich glaube immer noch, daß er ihn liebte.« »Ist es möglich, daß er Scarborough umgebracht hat, aber nicht Arledge?« fragte sie. »Nein. Das einzige Motiv wäre, daß Scarborough etwas wußte, was Carvell schaden konnte. Die Beziehung zwischen Arledge und Carvell scheint nach so langer Zeit kein ausreichender Grund, darüber wußte Scarborough sicherlich schon länger Bescheid. Und Dienstboten, die ihr Wissen über das Privatleben ihrer Herrschaft ausplaudern, finden keine neue Stelle. Also mußte er aus der Erpressung genug für sein restliches Leben herausschlagen. Nein - es -« Er schwieg.
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Sie bereitete das Abendessen zu, und sie aßen in vertrautem Schweigen. Dann ging er nach oben zu den Kindern las ihnen eine sehr kurze Geschichte vor und kam ins Wohnzimmer hinunter. Seine Gedanken schweiften zu dem neuen Haus, und er freute sich auf den Umzug und auf ein Haus mit Garten, an dem er viel Spaß haben würde, wenn seine Zeit es erlaubte. Allerdings waren doch so viele glückliche Erinnerungen mit diesem Haus verbunden, so wichtige Jahre, daß er es mit einem deutlichen Gefühl von Traurigkeit und Bedauern hinter sich lassen würde. Charlotte saß auf dem Boden neben ihm, ihr Nähzeug ruhte im Schoß, und ihre Gedanken wanderten wer weiß wohin. Ihre Wärme so nah bei ihm hüllte ihn in ein friedliches Gefühl, so daß er einschlummerte und sie ihn wecken mußte, um zu Bett zu gehen. Am Nachmittag des folgenden Tages kam Bailey in die Wache in der Bow Street. Er war außer Atem, sein Gesicht war gerötet, und in seinen Augen stand ein merkwürdiger Ausdruck von Besorgnis und Entschlossenheit. Pitt war unten und besprach mit Tellman und Le Grange die letzten Fragen der Beweislage. »Sie müssen die Waffe finden, oder wenigstens -« »Er kann sie überall weggeworfen haben«, warf Tellman ein. »In den Fluß, zum Beispiel«, fügte Le Grange mit einem verständnisvollen Blick auf Pitt hinzu. »Dann finden wir sie nie. Sie könnte schon im Schlamm versunken sein. Es ist Flut, müssen Sie wissen.« »Das weiß ich natürlich!« sagte Pitt. »Sie haben mich unterbrochen, ich wollte sagen: oder wenigsten den Tatort. Den kann er nicht verschwinden lassen.« »Er hat Scarborough da umgebracht, wo die Leiche gefunden wurde«, sagte Tellman und beachtete Bailey nicht, der ungeduldig dabei stand. »Und Arledge?« beharrte Pitt. »Wo hat er den umgebracht und wie hat er ihn zum Musikpavillon befördert?«
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»In einer Schubkarre oder so«, gab Le Grange zurück, in dem Bemühen zu helfen. »Wessen Schubkarre?« Pitt blieb hartnäckig. »Nicht seine eigene. Die haben Sie untersucht: keinerlei Blutspuren. Auch nicht die des Parkwächters. Die haben Sie ebenfalls untersucht.« »Ich weiß es noch nicht«, gab Tellman widerwillig zu, »aber wir werden es herausfinden.« »Gut! Denn wenn wir darüber keine Angaben machen können, geben Sie der Verteidigung ausgezeichnete Gründe, Zweifel zu streuen. Keine Schubkarre, kein Tatort, keine Waffe, und kein Beweis für ein Motiv.« »Ein Streit, Eifersucht. Sein Einspänner wurde benutzt um Scarborough zu transportieren, und sein Pferd war eingespannt«, gab Tellman zurück. »Ganz abgesehen davon daß Scarborough sein Butler war.« »Klären Sie diese Fragen«, befahl Pitt. »Sie sind noch nicht fertig.« Bailey konnte sich nicht länger zurückhalten. »Den Omnibusschaffner hat er nich umgebracht«, brach es aus ihm hervor. »Er war nämlich im Konzert, wie er gesagt hat.« Tellman funkelte ihn an. »Ich hab' jemanden gefunden, der ihn gesehn hat«, sagte Bailey und ließ sich nicht einschüchtern. »Ganz eindeutig. Stand direkt neben ihm, so nah wie ich bei Ihnen, und kannte ihn ziemlich gut.« »Wer ist es denn?« fragte Tellman in zweifelndem Ton. »Der Manager von der Coutts-Bank», sagte Bailey mit großer Genugtuung. »Das sin auch die Bankiers von der königlichen Familie.« Tellman wurde blaß. »Vielleicht hat ein anderer den Omnibusschaffner umgebracht«, sagte er gereizt. »Wir konnten uns sowieso nicht erklären, wie der da reinpaßt.« »Das stimmt«, pflichtete Le Grange ihm bei. »Vielleicht konnten wir keine Verbindung finden, weil es keine gibt. Vielleicht war es ein privater Racheakt, und der Täter wollte, daß es genauso aussieht wie die anderen Morde.«
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»Vielleicht sind alle Fälle unterschiedlich«, sagte Pitt sarkastisch. »Aber ich bezweifle das. Nein, es sieht nicht so aus, als sei Carvell der Schlächter. Danke, Bailey. Gut gemacht. Ausgezeichnet. Bailey errötete vor Stolz. »Danke, Sir.« »Sie werden ihn doch nicht entlassen?« fragte Le Grange mit erstauntem Blick und vergaß darüber das ‚Sir’. Tellman schnaufte aufgebracht, doch schien sein Ärger allgemeiner Art und nicht auf Pitt gerichtet. »Doch, ich lasse ihn gehen«, erwiderte Pitt. »Ein guter Anwalt würde uns ohnehin dazu zwingen. Es gibt zu viele andere Erklärungen.« »Es war sein Einspänner und sein Pferd«, wiederholte Tellman düster. »Er hat auf jeden Fall etwas damit zu tun.« »Scarborough könnte den Wagen selbst genommen haben«, erwiderte Pitt. Als er Tellmans ungläubiges Gesicht sah fuhr er fort: »Ein Anwalt würde darauf hinweisen, und die Geschworenen könnten das als berechtigten Zweifel gelten lassen. Es ist nicht unmöglich, einen Wagen zu stehlen, besonders, wenn man als Butler angestellt ist und wahrscheinlich die Schlüssel hat. Carvell hat keinen Stalljungen.« »Ach so?« sagte Tellman ungläubig. »Warum sollte er den Wagen genommen haben? Um eine nächtliche Spazierfahrt zu unternehmen, nachdem er den lieben langen Tag die anderen Dienstboten herumkommandiert hat?« »Vielleicht hatte er eine Bekanntschaft mit einer Dame«, mutmaßte Pitt. »Es macht doch Eindruck, wenn man mit einem Einspänner vorfährt. Viel besser als ein Omnibus und nicht so teuer wie eine Droschke, und außerdem hat man so mehr Bewegungsfreiheit. Vielleicht wollte er eine romantische Fahrt durch den Park machen?« »Wo der Schlächter sich herumtreibt?« sagte Tellman mit beißendem Spott. »Sehr romantisch.« »Oder vielleicht wollte er zu einer der Prostituierten«, fuhr Pitt fort. Tellman warf ihm einen finsteren Blick zu. »Fangen Sie wieder damit an? Ich dachte, das hätten wir erledigt.«
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»Haben wir auch«, sagte Pitt. »Das heißt aber nicht, daß ein Anwalt, der sein Geld wert ist, den Gedanken nicht aufgreifen würde.« Tellman drehte sich zu Bailey und Le Grange um. »Dann müßt ihr also noch einmal ganz von vorne anfangen. Weiß der Himmel, wo oder womit.« »Mit der Suche nach dem Ort, an dem Arledge umgebracht wurde«, sagte Pitt. Darauf gab Tellman einen langen, heftigen Fluch zum besten. Auch Pitt fing noch einmal ganz von vorne an. Es war schon lange her, daß er über Oakley Winthrop und dessen Tod nachgedacht hatte; statt dessen war der von Arledge zum Mittelpunkt seiner Überlegungen geworden. Winthrop war ja der erste gewesen, und vielleicht hingen alle anderen davon ab. Wer hatte Winthrop getötet, warum, und warum zu dem Zeitpunkt? Wem war er in jener Nacht im Park begegnet, und warum hatte er sich mit ihm in ein Vergnügungsboot gesetzt? Er hätte sich mehr damit befassen sollen, da lag der Schlüssel. Es war eine absurde Tat. Nur jemand, den Winthrop kannte und vor dem er sich nicht fürchtete, konnte sie begangen haben. Doch auch dann stellte sich die Frage nach dem Warum. Welchen Grund hatte jemand, selbst ein Freund, für eine solche Eskapade mitten in der Nacht? Bart Mitchell? Oder Bart und Mina? Er stieg aus der Droschke, ging zum Haus der Winthrops und zog die Klingel. Das Hausmädchen öffnete fast umgehend die Tür. »Guten Tag.« Er reichte ihr seine Karte. »Würden Sie bitte Mrs. Winthrop fragen, ob ich sie sprechen kann? Es ist wichtig.« Sie nahm die Karte und verschwand. Ein paar Augenblicke später kam sie wieder und führte ihn in den Salon, wo Mina am Fenster stand, den Blick in den Garten gerichtet. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid, das so dunkel war, daß
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man es für schwarz halten konnte. Doch beim Einfall des Sonnenlichtes erschien es dunkelgrün, und es stand ihr ausgezeichnet, da es einen feinen Gegensatz zu ihrer hellen Haut bildete und ihren langen Hals betonte. Das weiche Haar war auf dem Kopf zu Locken aufgetürmt. Sie lächelte, und plötzlich sah Pitt in ihr das Mädchen, das sie vor zwanzig Jahren gewesen sein mußte. Bart Mitchell stand am Kamin und betrachtete Pitt wachsam aus blauen Augen. »Guten Tag, Oberinspektor«, sagte Mina herzlich und trat auf ihn zu. »Meinen Sie, ich kann Ihnen helfen? Ich weiß gar nicht, wie. Ich habe hin und her überlegt, aber nichts scheint von Bedeutung zu sein.« »Ich wollte gar nicht über Ihren Mann sprechen, Mrs. Winthrop«, sagte Pitt. Er grüßte Bart Mitchell und sah dann wieder zu Mina. »Sondern über Mr. Arledge.« Sie schreckte auf. »Mr. Arledge?« »Ja, Madam. Soweit ich weiß, kannten Sie ihn?« »Ich - zu sagen, ich kannte ihn, wäre zuviel . . . » Sie war offensichtlich verwirrt und sah zu ihrem Bruder. »Warum fragen Sie, Oberinspektor?« Bart trat in die Mitte des Raumes. »Sie vermuten doch nicht, daß Mrs. Winthrop etwas mit seinem Tod zu tun hat? Das wäre ja absurd.« »Ich bin auf der Suche nach Informationen, Mr. Mitchell«, erwiderte Pitt und machte eine kleine höfliche Geste in Minas Richtung. »Eine Beobachtung, Worte, die sie gehört haben könnte, eine Einzelheit, die erst jetzt Bedeutung erhält.« »Verzeihen Sie«, sagte Bart förmlich und blieb stehen, wo er war. »Warum sollte Mina etwas wissen, das zur Aufklärung von Arledges Tod wesentlich wäre? Sie ist ihm nur in ein oder zwei förmlichen Situationen anläßlich seiner Konzerte begegnet. Dabei handelt es sich wohl kaum um eine persönliche Freundschaft, in der Mina private Dinge erfahren würde.« Pitt überhörte ihn und sah Mina an.
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»Sie kannten Mr. Arledge doch, Madam?« »Nun.« Sie zögerte. »Ich bin ihm ein- oder zweimal begegnet. Ich liebe Musik, und er war ein sehr guter Musiker, wissen Sie.« »Ja, das habe ich auch gehört«, sagte Pitt. »Doch Sie kannten ihn auch auf einer persönlichen Ebene, Mrs. Winthrop? Sie waren nicht nur eine Zuhörerin im Konzertsaal.« Bart reckte das Kinn in die Höhe und sah Pitt scharf an. »Was wollen Sie damit andeuten, Oberinspektor? Normalerweise wäre eine solche Frage ganz harmlos. Da Sie aber nach den Gründen für den Mord an diesem Mann forschen, bekommt sie eine andere Bedeutung. Die Bekanntschaft meiner Schwester mit Mr. Arledge war flüchtig, es lag nichts Anstößiges darin.« »Natürlich nicht, Bart«, sagte Mina beschwichtigend. »Ich glaube nicht, daß der Oberinspektor das andeuten wollte. Es gibt gar keinen Grund für eine solche Annahme.« Sie wandte sich wieder Pitt zu. »Ein paar freundliche Worte, das war alles, das versichere ich Ihnen. Wäre mir etwas eingefallen, das Ihnen weiterhelfen könnte, meinen Sie nicht, ich hätte sofort nach Ihnen schicken lassen? Schließlich wurde er von demselben Mann umgebracht, der auch meinen Mann ermordet hat.« »Mina!« warf Bart hastig ein. »Natürlich war nichts Anstößiges darin. Das sind auch nicht die Gedankengänge des Oberinspektors. Er nimmt aber an, daß du aus genau diesem Grunde mehr weißt, als du preiszugeben bereit bist.« »Nein, das ist nicht richtig, Mr. Mitchell«, sagte Pitt mit einiger Schärfe. »Es gibt vielleicht eine Verbindung, deren Mrs. Winthrop sich nicht bewußt ist. Wie Sie schon sagten, es muß irgendeine Verbindung geben.» Bart sah ihn aus seinen außergewöhnlich schönen Augen feindselig und wachsam an. »Mrs. Winthrop?« drang Pitt weiter in sie. Sie sah ihn ohne Argwohn an und sagte nichts. Er mußte sich präziser ausdrücken. »Es wurde beobachtet, daß Sie bei einem Empfang nach einem Konzert unter
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großer Anspannung standen und Mr. Arledge Sie zu trösten versuchte. Sie schienen sich ihm anvertraut zu haben.« »Oh.« Sie atmete hastig und sah zu Bart hinüber. In ihren Augen standen Angst und Scham. Er trat vor und stellte sich neben sie. »Wer immer Ihnen das zugetragen hat, Oberinspektor, tat es ohne jedes Feingefühl«, sagte er steif. »Es ging um eine kleine private Angelegenheit, derart, wie sie uns allen von Zeit zu Zeit zustoßen kann und die in keinerlei Zusammenhang mit den Gründen für Mr. Arledges Tod steht. Gütiger Himmel, wie kann« - er zögerte, aber nur ganz kurz - »der Tod eines Haustieres mit einem Verrückten in Verbindung gebracht werden, der im Hyde Park sein Unwesen treibt und den Leuten die Köpfe abhackt? Das ist doch absurd! Wenn Sie keine besseren Hinweise haben, denen Sie nachgehen können, ist es kein Wunder, daß der Täter noch frei herumläuft!« Mina schluckte. »Das ist unfair, Bart. Der Oberinspektor konnte nicht wissen, daß es sich um ... um das, was du gesagt hast, handelte. Er wußte nur, daß ich unglücklich war und Mr. Arledge mich getröstet hat. Es hätte auch von Bedeutung sein können.« Sie lächelte verlegen. »Es tut mir leid, daß es Ihnen nicht weiterhilft. Ich fürchte, Sie werden anderswo nach Informationen suchen müssen. Mr. Arledge hat sich um mich bemüht, weil die Musik mich so ergriffen hatte. Sicherlich hätte er das für jeden getan. Das war das ganze Ausmaß unserer Freundschaft, fürchte ich. Er hat nichts zu mir gesagt, was die Gründe für seinen Tod erhellen könnte. Ich kann mich, ehrlich gesagt, gar nicht mehr an seine Worte erinnern. Er sprach ganz allgemein.« Sie zögerte, als wolle sie etwas hinzufügen, dann sah sie nervös zu ihrem Bruder hinüber. »Kannten Sie Mr. Arledge, Sir?« fragte Pitt überraschend. »Nein!« sagte Mina rasch und errötete dann ob ihrer eigenen Dreistigkeit. »Oh! Entschuldigung, das war sehr unhöflich von mir. Ich meinte damit nur, daß - daß - Bart erst kürzlich aus dem Ausland wiedergekommen ist.«
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»Wann fand denn dieser Vorfall statt, Madam, wann genau?« Sie wurde blaß. »Ich weiß es nicht mehr ... genau. Es ist schon einige Zeit her.« »Bevor Sie sich die Verletzung am Handgelenk zuzogen?« fragte er. Einen Augenblick herrschte absolute Stille. Das Ticken der Uhr auf dem Tisch am Fenster klang wie das Knacken trockener Zweige, so laut war es. »Das war erst vor einigen Tagen«, sagte Bart eisig. »Ein Unfall mit einer Kanne Tee. Ein ungeschicktes Hausmädchen hatte nicht darauf geachtet, wohin es trat.« Seine blauen Augen bohrten sich in Pitts und schienen ihn herausfordern zu wollen. »Das wissen Sie doch sicher, Oberinspektor. « »Ich bezog mich auf die Blutergüsse, Mr. Mitchell«, sagte Pitt ohne mit der Wimper zu zucken. »Auch das war mein Versehen!« sagte Mina rasch. »Wirklich. Ich - ich ...« Alles Selbstbewußtsein war aus ihr gewichen. Sie sah Pitt voller Angst und Schuldbewußtsein an. »Ich war unachtsam, und mein Mann hatte mich gepackt, um ... um zu verhindern, daß ich falle. Ich hatte schon meinen Halt verloren und - und ...« Bart konnte seine Gefühle kaum im Zaum halten, wagte es aber nicht, sie frei zu äußern. Er schien unbedingt etwas sagen zu wollen, sein Gesicht war finster vor Wut. »Und so hat seine Kraft und mein Gewicht ...«, stammelte Mina. »Es war sehr töricht und allein meine Schuld.« »Es war nicht deine Schuld!« Bart beherrschte sich nicht länger, seine Stimme zitterte vor Wut. »Du mußt aufhören, dir die Schuld zu geben für -« Er brach ab und starrte Pitt an. Die Arme hatte er um Mina gelegt, als müsse er sie vorm Umfallen bewahren. »Oberinspektor, all dies hat nichts mit Ihren Ermittlungen zu tun. Es geschah lange vor dem Tod von Mr. Arledge und hat keine Bedeutung für den Fall. Wir kannten ihn beide nicht persönlich und können Ihnen wirklich nicht helfen, obwohl wir das gerne tun würden. Auf Wiedersehen, Sir.«
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»Ich verstehe.« Pitt glaubte ihm nicht und Mina noch weniger, aber er konnte nichts beweisen. Er war überzeugt, daß Oakley Winthrop seine Frau oft und heftig geschlagen hatte, und daß sie von der Angst besessen war, daß Bart, nachdem er dahintergekommen war, Winthrop umgebracht hatte - oder daß Pitt dies vermuten würde. »Ich danke Ihnen für Ihre Mühe, Mrs. Winthrop«, sagte Pitt höflich. »Mr. Mitchell.» Er verneigte sich, gab aber nicht vor, daß er ihren Worten glauben schenkte, und verabschiedete sich.
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10. Kapitel
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ndlich kam der Tag des Umzugs. Da der Schlächter immer noch frei herumlief und sich das Dunkel um die Morde kein bißchen gelichtet hatte, konnte Pitt nicht mehr als zwei Stunden erübrigen, um zu helfen. Er hatte natürlich Möbelpacker bestellt, und Charlotte hatte den Tag vor dem Umzug damit zugebracht, Gläser, Tassen und Teller in altes Zeitungspapier zu wickeln und in Kisten zu verpacken. Alle Kleider und die Wäsche waren bereits verstaut, am Morgen waren noch die Teppiche aufgerollt worden, und jetzt war alles auf dem Weg in das neue, fertig renovierte Haus. Die Kacheln um den Kamin waren ersetzt worden, alle Gashähne repariert, die Lampenschirme erneuert, das Stuckwerk und das Gesims ausgetauscht oder repariert, die Räume neu tapeziert und gemalert worden. Jetzt, da es daran ging, das Vorhaben in die Tat umzusetzen, begriffen die Kinder erst, was Umziehen bedeutete. Eine ganz neue Welt eröffnete sich ihnen mit spannenden Erlebnissen und Abenteuern. Nach dem Aufstehen war Daniel ausgelassen durch das ganze Haus gehüpft, ohne recht zu wissen, warum, und hatte endlose Fragen gestellt. Daß keiner sie beantwortete, tat seiner Überschwenglichkeit nicht den mindesten Abbruch. Jemima war ruhiger. Da sie zwei Jahre älter war, hatte sie begriffen, daß sie in dem Moment, da sie das Neue annahm, das Alte aufgeben mußte, was auch Schmerz und Verunsicherung mit sich brachte. Ihre Begeisterung und Neugier wechselten sich ab mit Momenten, in denen sie ganz still wurde und die vertrauten Räume betrachtete, die nun kahl und verlassen aussahen, ohne Vorhänge, Bilder und Möbel.
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Als die Teppiche zusammengerollt wurden, war es, als würden die Fußböden selbst entfernt, worauf sie eine ganze Weile mit den Tränen zu kämpfen hatte. Gracie tröstete sie und gab ihr gleichzeitig jede Menge Ratschläge, wie sie sich nützlich machen könnte. Doch Jemima war nicht imstande, auch nur einen davon zu befolgen. Um halb elf war es dann soweit, und Gracie und die beiden Kinder waren mit Pitt - auf engstem Raum zusammengepfercht - in der Droschke abgefahren. Charlotte hätte unmöglich auch noch Platz gefunden. Ganz abgesehen davon mußte sie im alten Haus bleiben und darauf achten, daß alles mitgenommen wurde, während die anderen das neue Haus aufschließen und die Möbel in Empfang nehmen sollten. Charlotte versicherte sich dreimal, daß nichts vergessen worden war, und schloß Fenster und Türen dann zum letzten Mal. Als alles erledigt war und sie den Möbelpackern die neue Adresse mitgeteilt hatte, nahm sie ihre zwei besten Kissen aus handbestickter Seide, die viel zu wertvoll waren, als daß sie den Möbelpackern anvertraut werden konnten, und zu groß, um in einer Kiste verstaut zu werden. Sie schlug sie in ein altes Laken ein, schloß die Haustür ein letztes Mal hinter sich und sah sich auf der Treppe zögernd um. Dann gab sie sich einen Ruck und ging zum Gartentor. Sie hatte jetzt keine Zeit, über das Glück nachzudenken, das sie in diesem Haus erlebt hatte, oder über die schwierigen Zeiten. Erinnerungen ließ man nicht zurück, man trug sie mit sich, im Herzen verschlossen. Sie zog die Gartenpforte hinter sich zu und machte sich auf den Weg zur Omnibushaltestelle, unter dem Arm das Paket mit den beiden Kissen. Man hätte denken können, sie sei eine Waschfrau, deswegen war sie froh, keinem zu begegnen, der sie kannte. Nach fünf Minuten kam der Omnibus, und sie stieg mit ihrem Paket ein. »Tut mir leid, Miss, die können Se nich mitnehmen«, sagte der Schaffner mit verächtlicher Miene und baute sich
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vor ihr auf. Das Kinn hatte er nach vorne gereckt, die Knöpfe seiner Uniform waren auf Hochglanz poliert, und er blickte im Bewußtsein seiner Autorität auf sie hinab. Charlotte sah ihn völlig konsterniert an. »Sie müssen wieder aussteigen!« befahl er. »Die andern zahlenden Fahrgäste hätten ja kein Platz, wenn ich jede Waschfrau in Bloomsbury einsteigen lassen -« »Das ist keine Wäsche«, sagte Charlotte empört, »es sind Kissen.« »Is mir egal, was es is«, sagte der Schaffner und lachte auf. »Meinswegen können es auch die Nachthemden der Königin sein. Sie können das nich mitnehmen. Kein Platz für so was. Nun sein Se ma so nett und steigen Se wieder aus, damit wir losfahren können.« »Ich ziehe gerade um!« sagte Charlotte außer sich. »Mein Mann und meine Kinder sind schon vorausgefahren. Ich muß jetzt zu ihnen.« »Das kann ja alles sein, aber mit mein Bus können Se nich fahren - nich mit nem Wäschepaket. Das is doch schließlich kein Lieferwagen.« Er deutete auf den Gehweg, »Nu steigen Se ma aus, sonst muß ich die Polizei rufen und Sie in Gewahrsam nehmen lassen.« Ein älterer Herr mit Schnauzbart und einem schwarzen Spazierstock kam hinzu. »Lassen Sie die arme Frau doch mitfahren«, sagte er zu dem Schaffner. »Sie kann das Paket ja auf den Schoß nehmen, dann ist Platz genug.« »Sie setzen sich ma wieder hin, und mischen Se sich nich in Dinge ein, die Sie nix angehen«, wies der Schaffner ihn zurecht. »Das hier is meine Angelegenheit.« »Aber ...«, hob der ältere Herr erneut an. »Sein Sie doch still, Sie alter Dämlack«, rief eine Frau aus dem Inneren des Busses. »Das geht Sie doch nix an. Der weiß schon, was er zu tun hat. War ja auch noch schöner, wenn jetzt jeder sein Wäschepaket mit in den Bus nehmen könnte. Was denn noch?« »Sie hat gesagt, es sei keine Wäsche -« Der Schaffner schnitt dem Herrn brüsk das Wort ab.
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»Setzen Se sich jetz, sonst muß ich Se rauswerfen. Wir ham einen Fahrplan, den wir einhalten müssen!« Er wandte sich Charlotte zu. »Also was is jetz? Steigen Se von alleine aus, oder muß ich die Polente rufen und Se mitnehmen lassen?« Charlotte war so wütend, daß sie nicht sprechen konnte. Sie schnaubte empört und stieg vom Trittbrett auf den Gehweg. Sie wollte dem netten Herrn, der sich für sie eingesetzt hatte, noch danken, aber der Omnibus zog schon an, und er stolperte gegen den Schaffner und hatte Mühe, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Der Kutscher spornte die Pferde an und ließ die Peitsche über ihren Rücken durch die Luft sausen, so daß Charlotte allein mit ihren Kissen und einer unbeschreiblichen Wut auf dem Gehweg zurückblieb. „Wo warst du denn nur so lange?« Pitt starrte sie an, als sie schließlich verschwitzt und zerzaust ankam, die Kissen unter den Arm geklemmt. »Ich habe mir eine Droschke genommen«, erwiderte sie hitzig. »Dieser gemeine, überhebliche ... Dreckskerl hat mich nicht in den Omnibus gelassen!« »Was?« Pitt war verwirrt. »Wovon redest du? Es ist alles angekommen. Die Möbelpacker haben schon die Hälfte ausgepackt.« »Dieser widerliche, arrogante, eingebildete Mistkerl hat mich mit den Kissen nicht einsteigen lassen ...«, wiederholte sie zornig. »Warum nicht?« Er runzelte die Stirn. Er sah ja, daß sie vor Wut schäumte, verstand aber den Grund nicht. »Was meinst du denn? War es kein normaler Omnibus?« »Natürlich war es ein normaler Omnibus!« sagte sie heftig. »Dieser anmaßende, selbstherrliche Widerling dachte, die Kissen seien Wäsche, und wollte mich nicht mitfahren lassen. Er hat sogar damit gedroht, die Polizei zu rufen und mich in Gewahrsam nehmen zu lassen!« Pitts Mundwinkel zuckten und seine Augen leuchteten, doch als er den Zorn in Charlottes Augen blitzen sah,
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wußte er, daß sie ihm seine Belustigung sehr übel nehmen würde. Also mäßigte er sich und zeigte Verständnis. »Das tut mir leid. Komm, laß mich die Kissen nehmen.« Er streckte die Hände aus. Sie übergab sie ihm. »Wo sind denn die Möbelpacker? Ich sehe niemanden.« »Die sind im Pub um die Ecke und essen zu Mittag. In einer halben Stunde kommen sie wieder und packen den Rest aus. Gracie ist in der Küche.« Sein Blick wanderte im Salon umher, in dem sie standen. »Es ist sehr schön geworden. Du hast Großartiges geleistet.« »Versuch nicht, dich einzuschmeicheln«, sagte sie abweisend, aber eigentlich wollte sie sich freuen. Sie schniefte und sah sich ebenfalls um. Er hatte recht, das Zimmer sah wirklich schön aus. »Wo sind die Kinder?« »Im Garten. Als ich vorhin geguckt habe, war Daniel auf dem Apfelbaum, und Jemima hatte einen Igel aufgestöbert und unterhielt sich mit ihm.« »Gut.« Sie lächelte trotz ihres Zorns. »Meinst du, es wird ihnen gefallen?« Sein Ausdruck sagte alles, Worte waren nicht nötig. »Hast du das grüne Zimmer oben gesehen? Das wird unser Schlafzimmer. Komm, ich zeig's dir.« Er wollte schon sagen, daß er eigentlich keine Zeit mehr habe, ließ es aber. Oben war er froh, daß er nichts gesagt hatte. Das Zimmer strahlte einen wunderbaren Frieden aus und gab einem das Gefühl, fernab von dem Getriebe der Stadt zu sein. In den Blättern der Bäume raschelte der Wind, und das Sonnenlicht warf unregelmäßige Muster auf die Wände. Kein anderes Geräusch war zu hören. Er lächelte und sah Charlotte an. Ihr Gesicht war voller Erwartungen. »Ein schöneres Zimmer habe ich noch nie gesehen«, sagte er und meinte es auch. Am Tag der Nachwahl ging ein frischer Wind. Immer wieder gab es Schauer, und dazwischen brach die Sonne durch die Wolkendecke. Jack verließ das Haus sofort nach dem Frühstück, und auch Emily brachte es nicht fertig, allein zu
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Hause auf heißen Kohlen zu sitzen, obwohl sie wußte, daß sie keine Hilfe war und auch moralische Unterstützung nicht ausreichte, um die Nerven zu beruhigen. Auch Nigel Uttley war früh unterwegs. Er lächelte selbstbewußt, plauderte unbefangen mit Freunden und Wahlhelfern, doch wenn man ihn aus der Nähe betrachtete, erkannte man, daß seine frühere Großspurigkeit verschwunden war und eine gewisse Befangenheit immer wieder durchblitzte. Die Männer, die das Wahlrecht hatten, kamen vereinzelt ins Wahllokal, gaben ihre Stimme ab und verschwanden rasch wieder. Der Morgen verging schleppend. Mit Jack zusammen ging Emily von Wahllokal zu Wahllokal und versuchte ihm Mut zu machen, verlor aber nicht die Möglichkeit aus den Augen, daß Jack verlieren konnte. Doch während sie die Männer auf dem Gang zur Wahlurne beobachtete und Gesprächsfetzen aufschnappte, ließ es sich nicht vermeiden, daß Hoffnung in ihr aufkeimte. Es gab nur Sieg oder Niederlage. Entweder war er morgen ein Abgeordneter des Parlaments, mit all den Möglichkeiten und der Verantwortung, der Arbeit und dem Ruhm, die sich daran knüpften, oder er war der Verlierer, ohne Posten und ohne Beruf. Dann wäre Uttley der lächelnde, selbstbewußte Sieger. Sie müßte Jack trösten, ihn von seinem Wert überzeugen, gemeinsam mit ihm ein neues Betätigungsfeld finden, auf das er seine Energie richten und für das er sich einsetzen konnte. Es war erst kurz nach zwei, aber sie war emotional schon völlig erschöpft, und der ganze Nachmittag lag noch vor ihr. So gegen fünf wuchs ihr Vertrauen darauf, daß Jack tatsächlich gewinnen könnte. Ihre Erwartungen stiegen, um gleich darauf in tiefe Verzweiflung umzuschlagen. Als die Wahllokale schlossen, war Emily fix und fertig, ihre Kleidung war unordentlich, und die Füße taten ihr weh wie nie zuvor. Jack und sie kehrten gemeinsam in einer Droschke nach Hause zurück. Auf dem ganzen Weg schwiegen sie. Keiner wußte, was er noch sagen sollte,
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jetzt, da der Wahlkampf vorüber war und nur noch die Entscheidung über Sieg oder Niederlage vor ihnen lag. Zu Hause aßen sie zu Abend, waren aber zu angespannt, um es genießen zu können. Später konnte sich Emily nicht erinnern, was sie gegessen hatte, außer der vagen Vorstellung, rosafarbenen Lachs auf ihrem Teller gesehen zu haben. Sie konnte aber nicht mehr sagen, ob er pochiert oder geräuchert war. Immer wieder wanderte ihr Blick zu der Uhr auf dem Kaminsims, und sie fragte sich, wie lange das Auszählen der Stimmen wohl dauern würde. »Meinst du ... ?« wollte sie gerade anheben, als Jack auch zu sprechen begann. »Entschuldigung«, sagte er schnell. »Was wolltest du sagen?« »Nichts. War nicht wichtig. Und du?« »Nichts. Nur, daß es noch ziemlich lange dauern kann. Du brauchst nicht ...» Ihr Blick brachte ihn zum Schweigen. »Schon gut«, entschuldigte er sich. »Ich dachte ...« »Das solltest du nicht tun. Natürlich warte ich, bis die letzte Stimme ausgezählt ist und wir das Ergebnis wissen.« Er stand vom Tisch auf. Es war Viertel nach neun. »Dann laß uns wenigstens im Salon warten, wo wir es uns gemütlich machen können.« Mit einem Lächeln nahm sie den Vorschlag an und folgte ihm in die Eingangshalle. Sie hatten das Eßzimmer kaum verlassen, da erschien Harry, der jüngste Diener, mit zerzaustem Haar und erhitztem Gesicht in dem Durchgang unter der Treppe. »Es wird immer noch gezählt, Sir!« verkündete er atemlos. »Ich war gerade im Wahllokal. Die meisten Stimmen haben sie schon ausgezählt, und die Stapel sind ungefähr gleich hoch. Sie könnten gewinnen, Sir. Mr. Jenkins sagt, Sie gewinnen bestimmt.« »Danke, Harry«, sagte Jack und versuchte, seiner Stimme einen sachlichen Klang zu geben. »Aber vielleicht sagt Jenkins das eher aus Loyalität zu mir.«
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»Aber nein, Sir«, sagte Harry mit ungewohnter Festigkeit. »Wir alle im Dienstbotenraum glauben, daß Sie gewinnen werden. Und daß Mr. Uttley längst nicht so schlau ist, wie er denkt. Die Köchin meint, diesmal ist er zu weit gegangen. Und außerdem ist er nicht verheiratet, und Mrs. Hedges sagt, daß er zwar bei allen reichen Damen mit Töchtern beliebt ist, aber daß man ihm nicht so traut wie einem Mann, der Familie hat.« Er stand sehr aufrecht, die Schultern zurückgeworfen, seine Wangen waren vor Aufregung gerötet. »Danke«, sagte Jack wieder mit ernster Miene. »Ich hoffe, ihr seid nicht allzu enttäuscht, wenn ich nicht gewinne.« »Aber nein, Sir«, sagte Harry fröhlich. »Aber Sie werden schon gewinnen.« Damit ging er durch die Tür zu den Dienstbotenräumen. »Oje«, seufzte Jack. »Das wird ja eine große Enttäuschung für sie werden.« »Für uns alle«, sagte Emily und ging durch die Tür, die er für sie offenhielt. »Aber es lohnt sich wohl nicht, für eine Sache zu kämpfen, wenn es einem egal ist, ob man gewinnt oder verliert.« Er schloß die Tür, sie setzten sich dicht nebeneinander und versuchten, ein anderes Gesprächsthema zu finden, während die Zeiger auf der Standuhr erst auf zehn, dann elf Uhr zukrochen. Es wurde sehr spät. Die Ergebnisse hätten eigentlich bekannt sein müssen. Sie beide waren sich dessen sehr bewußt und versuchten, das Thema zu umgehen. Ihre Unterhaltung wurde immer schleppender und mühseliger. Endlich, um zwanzig nach elf, wurde die Tür aufgestoßen, und Jenkins stand auf der Schwelle. Er war erregt und verhaspelte sich beim Sprechen. »S-sir - Mr. Radley. Es wird noch einmal nachgezählt, Sir! Sie sind bald fertig. Die Kutsche steht bereit, und James bringt Sie gleich zum Wahllokal. Madam ...« Jack sprang auf und war schon auf dem Weg, bevor ihm einfiel, auf Emily zu warten, aber die hatte sich auch be-
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reits erhoben. Ihre Beine waren vor Anspannung ganz schwach, aber sie war dicht hinter ihm. »Danke«, sagte Jack weit weniger gelassen, als er vorgehabt hatte. »Ja, danke. Wir gehen.« Er reichte Emily den Arm und eilte zur Tür, ohne seine Jacke zu nehmen. In der Kutsche saßen sie schweigend nebeneinander und reckten ihre Hälse, als könnten sie so etwas erkennen, obwohl vor ihnen nichts außer der Reihe Straßenlaternen und den Kutschenlampen zu sehen war. Auch andere hatten an diesem turbulenten Abend denselben Weg. Als sie bei dem Gebäude ankamen, in dem die Stimmen ausgezählt wurden, stiegen sie beklommen aus und traten ein. Sofort senkte sich ein Schweigen über einen Teil der dort Anwesenden. Man drehte sich nach ihnen um, ein erregtes Raunen ging herum. Nur die Zähler fuhren unermüdlich mit ihrer Arbeit fort, zählten mit gebeugten Köpfe die vor ihnen liegenden Zettel und ordneten sie auf verschiedene Stapel. »Zum dritten Mal!« zischte ein kleiner Mann, der ungeheuer nervös klang. Emily krallte sich so fest an Jacks Arm, daß der zusammenzuckte, aber sie ließ nicht ab. Am anderen Ende der Halle stand Nigel Uttley, blaß und angespannt. Noch immer glaubte er an seinen Sieg, aber er hatte nicht erwartet, daß es ein Kopf-an-Kopf-Rennen geben würde. Er hatte sich einen klaren Sieg vorgestellt. Seine Wahlhelfer standen in Gruppen eng beisammen und warfen gelegentlich einen ängstlichen Blick auf die wachsenden Stapel auf den Tischen vor den Zählern. Auch Jacks Wahlhelfer bildeten eine Gruppe. Sie hatten sich kaum Chancen für seinen Sieg ausgerechnet, und jetzt war er greifbar geworden. Die Würfel waren gefallen, jeden Moment würden sie das Ergebnis erfahren. Emily ließ ihren Blick durch die Halle schweifen, um zu sehen, wie viele Menschen gekommen waren, da bemerkte sie ein stolzes Haupt mit hochgestecktem, silbergrauem Haar.
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»Tante Vespasia«, sagte sie erfreut. »Sieh mal, Jack!« Sie zupfte ihn am Ärmel. »Großtante Vespasia ist da!« Er drehte sich überrascht um, dann strahlte er voller Freude und bahnte sich einen Weg zu ihr durch die Menge. »Tante Vespasia! Wie schön, daß du gekommen bist!« Sie drehte sich um und betrachtete ihn mit ruhigem Blick, aber ein Hauch Rosa auf ihren Wangen zeigte an, daß auch sie aufgeregt war. »Selbstverständlich bin ich hier. Du hast doch nicht geglaubt, ich würde einen solchen Abend verpassen?« »Na ja ... es ist ja schon spät«, stammelte er verlegen. »Und vielleicht ... gewinne ich auch nicht.« »Das kann schon sein«, stimmte sie ihm zu. »Aber egal, wie die Sache ausgeht, du hast dich tapfer geschlagen. Er wird sich das merken.« Sie reckte ihr Kinn ein wenig in die Höhe, und in ihren Augen flackerte Streitlust auf. Jack wollte noch etwas sagen, als sich plötzlich ein Schweigen über die Anwesenden senkte und alle den Blick nach vorne richteten, wo der Wahlleiter sich erhob. Die Menschen hielten gebannt den Atem an, als er, den förmlichen Anforderungen entsprechend, die Vorrede hielt und die dramatische Situation voll auskostete. Dann verkündete er, daß das neue Parlamentsmitglied für den Bezirk die Wahl mit einem Vorsprung von zwölf Stimmen gewonnen habe und John Henry Augustus Radley heiße. Emily stieß einen Juchzer der Erleichterung aus. Jack gab einen langen Seufzer von sich. Nigel Uttley stand mit unbeweglicher Miene da und traute seinen Ohren nicht. »Gratuliere, mein Guter.« Tante Vespasia drehte sich zu Jack und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Du wirst deine Sache gut machen.« So groß war seine Freude, daß sie ihm die Röte in die Wangen trieb und die Sprache verschlug. Am folgenden Abend wurde der Wahlsieg mit einer Party gefeiert. Es war eine etwas improvisierte Angelegenheit, da Emily sie nicht mit der gewohnten Sorgfalt hatte planen
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können. Sie hatte nicht zu glauben gewagt, daß es einen Grund für eine Party geben würde. Natürlich wurden diejenigen, die im Wahlkampf geholfen hatten, zusammen mit ihren Ehefrauen eingeladen sowie alle anderen, die Jack unterstützt hatten. Natürlich war auch seine Familie, also eigentlich Emilys Familie, eingeladen worden. Charlotte und Pitt nahmen die Einladung sofort an. Von Caroline traf ein sehr netter Brief mit Glückwünschen ein, jedoch ohne einen Hinweis, ob sie kommen würde. Die Party begann schon früh, die Gäste kamen, noch berauscht von dem Gefühl des Sieges. Man hörte angeregtes Stimmengewirr und sah in lebhafte Mienen, während alle zur gleichen Zeit sprachen und ihre Ideen und die Hoffnung auf Veränderung ausdrückten. »Ich bin nur ein neuer Abgeordneter«, sagte Jack in dem Versuch, realistisch zu bleiben und sich in Bescheidenheit zu üben. »Davon ändert sich die Regierung noch nicht.« »Natürlich nicht«, sagte auch Emily, die sehr dicht bei ihm stand und über das ganze Gesicht strahlte. »Aber es ist ein Anfang, der Beginn einer Veränderung. Uttley ist außer sich.« »Das ist er allerdings«, sagte eine stattliche Frau fröhlich und balancierte ihr Sektglas in der Hand, während die enormen Spitzenrüschen auf den Schultern ihres Kleides die Umstehenden streiften. »Bertie sagt, daß es Uttley trotz der Vorhersagen in den Zeitungen ganz unvorbereitet traf. Er war völlig überzeugt, daß er gewinnen würde.« Bertie, der nur mit halbem Ohr zugehört hatte, drehte sich jetzt mit einem ernsten Ausdruck auf seinem freundlichen Gesicht zu Jack um. »Ehrlich gesagt, alter Junge, er war ziemlich ungehalten.« Er biß in eine Praline. »Sie haben da einen üblen Feind. Ich an Ihrer Stelle würde mich vor ihm in acht nehmen.« Einen Augenblick lang wurde ihre Unterhaltung von Stimmengewirr, klirrenden Gläsern, raschelnden Gewändern und dem Quietschen von Ledersohlen auf dem polierten Fußboden übertönt. »Ist das wirklich wahr, mein Guter?« gab seine Frau zurück, sobald die Geräusche verebbt waren. »Er muß doch
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die Möglichkeit, daß er verlieren könnte, in Betracht gezogen haben. Keiner läßt sich auf einen Wettstreit ein, ohne sich klarzumachen, daß einer verlieren muß.« »Uttley hat einfach nicht geglaubt, daß er der Verlierer sein würde.« Bertie beugte sich vor, seine Miene wurde noch ernster. »Es geht ja nicht nur darum, daß er einen Sitz im Parlament, dessen er sich schon sicher wähnte, nicht bekommen hat, sondern er hat darüber hinaus noch viel mehr verloren.« Seine Frau verstand ihn nicht. »Was denn noch? Wovon redest du? Drücke dich doch deutlicher aus.« Bertie überging ihren Einwurf und behielt Jack im Auge. »Vieles davon verstehe ich nicht, da sind einflußreiche Kräfte am Werk, wenn Sie verstehen, was ich sagen will.« Bertie stellte sein Glas mit dem perlenden Inhalt beiseite. »Man kann es flüstern hören, wenn man zur rechten Zeit am rechten Ort ist. Es gibt Leute ...« Er zögerte, warf einen Blick auf Emily und sah dann wieder Jack an. »Die Drahtzieher hinter den Leuten, die man kennt ...« Jack schwieg. »Einflußreiche Kräfte?« fragte Emily und bereute es im nächsten Moment. Als Frau durfte sie derlei Dinge nicht wissen, geschweige denn sie verstehen, wenn sie zur Sprache kamen. »Unsinn«, sagte Berties Frau forsch. »Er hat verloren, weil die Wähler Jack wollten. So einfach ist das. Wirklich, du machst ein Geheimnis aus einer ganz klaren Sache.« »Die Wähler haben Jack vorgezogen, das ist klar«, erklärte Bertie geduldig und nahm einen Schluck aus seinem Glas. »Aber das waren nicht dieselben, die Uttley aus seinem Club ausgestoßen haben.« Er warf Jack einen bedeutungsschweren Blick zu. »Seien Sie wachsam, alter Knabe, das ist alles. Da sind Dinge im Gange, die man mit bloßem Auge nicht erkennen kann. Und die mit der eigentlichen Macht sind nicht immer diejenigen, von denen man es annimmt.« Jack nickte verstehend mit ernstem Gesicht, doch das Lächeln lag noch immer auf seinen Lippen. »Nehmen Sie
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doch noch ein wenig Champagner. Sie haben es genauso verdient wie alle anderen auch.« Endlich waren alle Gäste begrüßt, Dank und Gratulationen ausgetauscht und die Gläser gefüllt. Erst dann gesellte Emily sich zu Charlotte. »Wie geht es dir?« fragte sie leise. »Ich hatte noch nicht einmal Zeit, dich zu fragen, wie der Umzug geklappt hat. Fühlt ihr euch wohl im neuen Haus? Daß es schön ist, weiß ich.« Ihr Blick glitt bewundernd über Charlottes flaschengrünes Kleid. Es war nach der neuesten Mode, bei der die Schultern betont wurden, war mit Federn geschmückt und stand Charlotte ausgezeichnet. »Habt ihr schon alles ausgepackt und eingeräumt?« Bevor Charlotte antworten konnte, wechselte Emily das Thema. »Was ist mit dem Schlächter? Stimmt es, daß Thomas jemanden verhaftet hat und ihn wieder gehen lassen mußte? Oder ist das ein Gerücht?« »Nein, es stimmt«, sagte Charlotte mit ebenso leiser Stimme und rückte ein wenig von einer Gruppe Feiernder ab. »Nach dem Mord an dem Butler hatte er Carvell verhaftet. Dann fand einer der Ermittlungsbeamten jemanden, der Carvell ein Alibi geben konnte für die Zeit, in der der Omnibusschaffner umgebracht worden war, und Thomas mußte ihn wieder freilassen.« Emily sah sie überrascht an. »Wie kam er darauf, daß es Carvell gewesen ist? Ich meine, daß er ihn verhaftet hat? Der Butler war ein Ekel.« Sie stieß das Wort mit untypischer Heftigkeit hervor. »Der hatte wahrscheinlich jede Menge Feinde. Wenn ich näher mit ihm zu tun gehabt hätte, wäre ich auch sehr versucht gewesen, ihn aus dem Weg zu schaffen.« »Übertreib doch nicht«, sagte Charlotte. »Er war ein überheblicher Kerl, und die Arroganz stand ihm ins Gesicht geschrieben.« »Er hat dieses Mädchen entlassen, weil es gesungen hat«, widersprach Emily sichtlich verärgert. »Das war äußerst gemein. Er hat seine Autorität mißbraucht, um andere zu erniedrigen, und das ist unverzeihlich. Er war ein herrschsüchtiger, niederträchtiger Kerl. Ich hätte ihm nicht diesen
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Tod gewünscht, aber da es nun mal geschehen ist, kann ich nicht behaupten, daß ich sehr um ihn trauere.« Pitt hatte sich zu ihnen gesellt. In der Hand trug er einen Teller mit ein paar Leckerbissen für Charlotte. Offenbar hatte er die letzte Bemerkung gehört, worauf ein amüsiertes Lächeln über sein Gesicht ging. »Du bist einer der wenigen Menschen, die ich nicht verdächtigt hatte«, sagte er leise. Dann wurde er ernst. »Meinen Glückwunsch, Emily! Ich freue mich für euch beide. Ich hoffe, es ist der Beginn einer erfolgreichen Laufbahn.« Am anderen Ende des Raumes erschallte Lachen, jemand brachte laut seine Glückwünsche zu Gehör. »Das ist es bestimmt«, sagte Emily mit ebenso viel Überzeugung wie Entschlossenheit. »Wen verdächtigst du denn?« fragte sie ohne Übergang. »Meinst du, der Omnibusschaffner hatte doch nichts mit der Sache zu tun?« »Und ein anderer hat ihn umgebracht?« Pitt zog eine Augenbraue hoch. »Warum?« Emily zuckte die Achseln. »Weiß ich doch nicht?« Charlotte nahm Pitt den Teller ab. »Vielleicht war er ein gemeiner Mistkerl, so wie der, der mich neulich nicht mitfahren lassen wollte«, sagte sie und erinnerte sich mit Empörung an den Vorfall. »Wenn den einer einen Kopf kürzer gemacht hätte, wäre ich auch nicht besonders traurig.« Emily betrachtete sie neugierig und verständnislos. »Wovon redest du?» »Ach!« Charlotte verzog das Gesicht, überlegte schnell, ob sie Emily überhaupt davon erzählen sollte, und kam zu dem Schluß, es als kleinen Zwischenfall zu präsentieren. »Dieser widerliche kleine ...« Ihr fiel kein hinreichend vernichtendes Wort ein. Immer noch tobte sie innerlich vor Zorn bei der Erinnerung an diese Erniedrigung. Emily wartete, und auch Pitt betrachtete sie mit plötzlich erwachtem Interesse, als hätte die Geschichte für ihn eine neue Bedeutung bekommen. »Wurm«, sagte Charlotte mit zusammengepreßten Lippen. »Er hat mich nicht in den Omnibus gelassen, weil ich
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zwei Kissen mit einem Laken zu einem Bündel verschnürt hatte. Er dachte, es sei Wäsche!« Emily fing an zu kichern. »Entschuldigt«, sagte sie fröhlich, »aber ich ...« Der Rest ging in ihrem sprudelnden Gelächter unter, als sie sich die Situation bildlich vorstellte. Charlotte ließ nicht vom Thema ab. »Er hat sich so wichtig genommen«, sagte sie, immer noch voller Entrüstung. »Es hätte mir große Befriedigung verschafft, wenn ich es ihm hätte heimzahlen können.« Sie schüttelte sich. »Und zu dem Herrn, der sich für mich eingesetzt hat, war er besonders gemein. Könnt ihr euch das vorstellen?« Sie warf einen Blick auf Pitt und sah, daß er seinen eigenen Gedanken nachhing. »Du hörst ja gar nicht zu! Du meinst, ich habe maßlos übertrieben!« Ein Diener brachte ein Tablett mit Häppchen, von denen sie sich alle bedienten. »Nein«, sagte Pitt langsam. »Ich denke, die meisten Menschen würden so reagieren. Und du hast das getan, was die meisten Menschen tun würden »Ich habe doch gar nichts getan«, widersprach sie. »Ich wünschte, ich hätte etwas getan, aber mir fiel gar nichts ein.« »Genau«, stimmte er ihr zu, »du bist schäumend vor Wut nach Hause gekommen und hast gar nichts getan.« Emilys Neugier war geweckt. »Der Omnibusschaffner ...», sagte Charlotte bedächtig und begriff allmählich, worauf er hinaus wollte. »Aber das ist doch absurd! Keiner hackt -« Sie brach ab. Eine stattliche Dame rauschte an ihnen vorbei, ihre bauschigen Ärmel glitten knapp an dem Teller mit Gebäck vorbei. Im Raum lachte jemand auf. »Vielleicht nicht.« Pitt legte die Stirn in Falten. »Vielleicht ist es eine dumme Idee. Ich klammere mich an alles. Es muß einen besseren Grund geben, einen persönlichen.« Er wandte sich an Emily. »Aber wir feiern euren Erfolg. Laßt uns von euch und eurem Sieg sprechen. Wann zieht Jack ins Parlament ein? Hat er sich schon entschieden, zu welchem Thema er seine Jungfernrede halten wird? Ich
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hoffe, er wartet noch eine Weile damit, wenn er über die Polizei sprechen will.« Emily verzog das Gesicht, dann lachte sie, und das Gespräch wandte sich der Politik, der Zukunft und Jacks Überzeugungen und Hoffnungen zu. Mindestens eine Stunde war vergangen, als Charlotte für ein paar Minuten mit Pitt alleine war und das Thema des Schlächters wieder aufgriff. Zwar freute sie sich aufrichtig für Emily und Jack, aber zugleich erkannte sie auch, wie ernst die Situation für Pitt und seinen neuen, nun ernstlich bedrohten Posten wurde. »Was wirst du nun tun?« fragte sie leise, damit eine dünne Frau in kariertem Rock, die mit begeisterter Stimme etwas erzählte, sie nicht hören konnte. Als Pitt sie fragend ansah, fügte sie hinzu: »Wenn es Carvell nicht war, wer dann?« »Ich weiß es nicht. Möglicherweise Bart Mitchell. Auf jeden Fall hatte er allen Grund, Winthrop umzubringen, vielleicht auch Arledge, wenn er dessen Aufmerksamkeit Mina gegenüber mißverstanden hat. Aber ich kann keinen Grund für den Omnibusschaffner oder Scarborough sehen, es sei denn, die haben etwas gewußt ... Der Täter muß ein sehr gewalttätiger Mann sein, und Mitchells Erfahrungen in Afrika, Leben und Tod so nah beieinander ...« Er führte den Gedanken nicht weiter aus. »Du glaubst das doch nicht wirklich, oder?« Sie verzog kritisch das Gesicht. »Es scheint mir keine befriedigende Lösung«, erwiderte er. Er nickte einem Bekannten zu und fuhr fort: »Um ehrlich zu sein, wir wissen nicht genau, was er dort gemacht hat und wann genau er aus Afrika zurückgekommen ist. Möglicherweise hat er von Winthrops gewalttätigem Wesen erst kürzlich erfahren. Offensichtlich ist Mina voller Scham und versucht ihr Möglichstes, um ihre Schmach zu verbergen. Scheinbar hat sie das Gefühl, daß es ihre Schuld ist.« Er runzelte die Stirn und senkte die Stimme, die plötzlich bitter und hart klang. »Ich habe schon früher Frauen gesehen, die geschlagen wurden. Sie alle luden die Schuld
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dafür auf sich. Ich erinnere mich, daß ich vor Jahren, als ich noch Wachtmeister war, zu tätlichen Auseinandersetzungen gerufen wurde und Frauen vorfand, die grün und blau geschlagen und mehr tot als lebendig waren. Trotzdem glaubten sie, daß sie die Schuld hatten und nicht der Mann. Sie hatten alle Hoffnung verloren, alles Wertgefühl und Selbstvertrauen, ja auch ihre Würde. Häufig war Alkohol mit im Spiel... Whiskey in den meisten Fällen.« Sie sah ihn gebannt an. Die Vorstellung einer fremden und schrecklichen Welt öffnete sich vor ihr. Sie dachte an Minas überwältigendes Schamgefühl, ihre Scheu, und wie sehr sie seit Winthrops Tod aufgeblüht war. Es schien so klar auf der Hand zu liegen, blieb nur die Frage, warum es so lange gedauert hatte, bis die Dinge ihren tragischen Höhepunkt erreicht hatten. »Es erklärt aber nicht, warum er Arledge umgebracht hat«, fuhr Pitt nachdenklich fort. »Es sei denn, Mina wußte um den Mord von Bart an Winthrop und hat Arledge irgendwie etwas verraten - unabsichtlich, natürlich.« »Das würde einen Sinn ergeben«, sagte Charlotte schnell. »Ja, das klingt ziemlich plausibel. Aber warum dann den Omnibusschaffner und den Butler? Oder hat der Butler versucht, Carvell zu erpressen, weil er dachte, der hätte Arledge umgebracht? Und Carvell hat ihn getötet, weil er seine Unschuld nicht beweisen konnte?« Pitt lächelte. »Das klingt ein bißchen weit hergeholt«, sagte er bedauernd. »Aber ich habe Bailey damit beauftragt, den Fall Carvell genauer zu untersuchen. Ich möchte bessere Beweise, als die, die wir haben. Etwas, das überzeugt.» »Du zweifelst?« »Ich weiß nicht.« Er wirkte müde und verwirrt. »Ein Teil von mir schon. Mein Verstand wahrscheinlich.« Einige Gäste neben ihnen hoben angeregt ihre Gläser und prosteten sich zu. Eine Frau in pfirsichfarbener Spitze war ziemlich aufgedreht, und ihre Stimme tönte schrill durch den Raum. »Aber dein Herz zweifelt nicht?« fragte Charlotte leise und musterte Pitt.
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Er lächelte. »Es ist ein wenig absurd, mit dem Herzen zu denken. Ich würde eher Instinkt sagen - der wahrscheinlich nur aus einer Ansammlung von Erinnerungen unterhalb des Bewußtseins besteht und die Basis für Urteile bildet, für die es keine rationale Erklärung gibt.« »Sehr logisch«, stimmte sie ihm zu. »Aber letztlich ist es doch dasselbe. Du glaubst nicht, daß er es getan hat, aber du kannst dir nicht sicher sein. Emily sagt, daß der Butler Scarborough ein Mistkerl war und das Mädchen nur deshalb entließ, weil es gesungen hat. Das Mädchen war offenbar völlig außer sich. Und es ist deshalb so besonders niederträchtig, weil ihm ja klar sein mußte, was es für sie bedeuten würde, ihre Anstellung zu verlieren. Ohne Zeugnis würde sie wahrscheinlich nie eine neue bekommen. Sie könnte elend zu Grunde gehen.« Ihre Stimme wurde immer erregter, als sie sich die Ungerechtigkeit vorstellte. Pitt legte ihr die Hand auf den Arm. »Hast du nicht gesagt, daß Emily ihr eine Stelle als Hausmädchen anbieten wollte?« »Ja, aber das ist doch nicht der Punkt.« Sie war zu erzürnt, um die Ruhe zu bewahren. »Das konnte Scarborough ja nicht wissen. Und wenn Emily den Vorfall nicht mitbekommen hätte, wäre sie auf der Straße gelandet. Der Mann war einfach ein ganz gemeiner Kerl.« Pitt legte die Stirn in Falten. »War das in der Öffentlichkeit?« Sie trat zur Seite, um eine Gruppe lachender und plaudernder Gäste vorbeizulassen. »Nein - na ja, mehr oder weniger«, antwortete sie. »Es war in der Nische, wo Victor Garrick mit seinem Cello saß und auf seinen Auftritt wartete.« »Ja, du hast recht«, pflichtete er ihr bei. »Der Mann war gemein und willkürlich. Wahrscheinlich wäre er auch vor Erpressung nicht zurückgeschreckt -« Sie wurden von Emily unterbrochen, die in ihrem perlenbestickten Kleid aus apfelgrüner Seide herbeirauschte. »Mama ist immer noch nicht gekommen«, sagte sie besorgt. »Meinst du, sie kommt nicht mehr? Wirklich, ich
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finde das nicht gut von ihr. In letzter Zeit scheint sie nur an sich zu denken. Ich war sicher, sie würde wenigstens heute abend dabeisein, wo Jack doch gewonnen hat.« Sie winkte ab, als der Diener ihr frischen Champagner anbot. »Es ist ja noch früh am Abend«, sagte Pitt mit einem schiefen Lächeln und ohne Überzeugung in der Stimme. Emily sah ihn bedeutungsvoll an, sagte aber nichts. Pitt entschuldigte sich und ging, um ein paar Worte mit Landon Hurlwood zu wechseln, der Jack im Wahlkampf unterstützt hatte und nun mit ihm feiern wollte. Er wirkte entspannt und selbstbewußt, ging von einer Gruppe zur nächsten und schien voller Optimismus für die Zukunft zu sein. Im Lichterschein der Kronleuchter glänzten seine grauen Haare. »Er hat uns viel geholfen«, sagte Emily, als er Pitt mit sichtlichem Vergnügen begrüßte. »Ein netter Mann. Seit dem Tod seiner Frau hat er nicht so glücklich ausgesehen wie heute. Sie war lange krank, mußt du wissen. Ehrlich gesagt hatte ich nicht geglaubt, daß sie tatsächlich so krank war. Sie war eine von denen, die ihre Krankheit immer in den Mittelpunkt stellen und von nichts anderem sprechen. Es scheint, als hätte ich ihr unrecht getan, denn sie ist an der Schwindsucht gestorben, und ich habe ein richtig schlechtes Gewissen.« »Das geschieht dir ganz recht«, sagte Charlotte. Emily warf ihr einen scharfen Blick zu. »Wie kannst Du so etwas sagen! Tot oder lebendig, sie war einfach eine sehr anstrengende Person.« »Ich vermute, er mochte sie gern, und wahrscheinlich war sie vor ihrer Krankheit nicht gar so schwierig«, sagte Charlotte. »Du suchst wohl Streit«, scherzte Emily, wurde aber gleich darauf wieder ernst. »Machst du dir Sorgen um Thomas? Keiner kann von ihm erwarten, daß er jedes Verbrechen aufklärt. Manche lassen sich doch einfach nicht aufdecken.« »Ja, schon.« Auch Charlotte war jetzt ernst. »Aber seine Vorgesetzten sehen das nicht so. Und ich habe ihm diesmal
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gar nicht helfen können.« Ihr Gesicht nahm einen konzentrierten Ausdruck an. »Ich weiß noch nicht einmal, wo ich anfangen soll. Ich habe keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte, wenn es Carvell nicht war.« »Ich auch nicht«, sagte Emily und senkte die Stimme. »Vor allem aber habe ich mir versucht vorzustellen, warum. Einfach nur zu sagen, daß es Wahnsinn ist, bringt einen ja nicht weiter.« Jedes weitere Gespräch wurde abgeschnitten, weil an der Tür ein kleiner Aufruhr entstand, als die Gäste den Weg für eine alte Dame in Schwarz freimachten, die sich schwer auf ihren Stock stützte. »Großmama!« rief Emily vor Erstaunen aus und erwartete, hinter ihrer Großmutter Caroline zu sehen. Aber da war niemand außer einem Diener, der den Umhang der alten Dame trug. Emily und Charlotte traten vor, um die alte Dame zu begrüßen, die in ihrem altmodischen Kleid mit der riesigen Turnüre und einem Oberteil, das über und über mit Achatperlen besetzt war, einen respektheischenden Eindruck machte. An ihren Ohren baumelten Achatohrringe, und auf ihrem Gesicht stand ein Ausdruck extremer Übellaunigkeit, nur gemildert durch den neugierigen Blick. »Wie schön, dich zu sehen, Großmama«, sagte Emily und versuchte, soviel Begeisterung wie möglich in ihre Stimme zu legen. »Ich freue mich so, daß du kommen konntest.« »Natürlich konnte ich kommen«, sagte die alte Dame unwillig. »Ich muß mir doch ansehen, was du jetzt tust! Parlamentsabgeordneter!« Sie schnaubte. »Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll oder nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob anständige Leute etwas mit der Regierung zu tun haben sollten.« Prüfend ließ sie den Blick durch den Raum schweifen, registrierte das Geschmeide, das Funkeln des Lichts in den Champagnergläsern, den Glanz der silbernen Tabletts und die Anzahl der livrierten Diener. »Ein bißchen übertrieben, findest du nicht? Sich so in den Vordergrund zu drängen, steht einem Gentleman nicht an.«
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»Von wem sollten wir denn deiner Meinung nach regiert werden?« fragte Emily. Zwei rote Punkte zeigten sich auf ihren Wangen. »Von Männern, die keine Gentlemen sind?« »Das ist etwas ganz anderes«, sagte die alte Frau und fegte jegliche Logik vom Tisch. »Ein wirklicher Gentleman aus der Klasse, die zum Regieren bestimmt ist, braucht keine Wahlen. Er hat automatisch seinen Sitz im Oberhaus, und so sollte es auch sein. Wenn sich jemand an der Straßenecke auf eine Kiste stellt und die Leute darum bittet, daß man ihn wählt, dann ist das eine ganz andere Geschichte, und ziemlich vulgär, finde ich.» Emily machte den Mund auf und schloß ihn dann wieder. »Du bist da ein wenig altmodisch, Großmama«, sagte Charlotte schnell. »Mr. Disraeli wurde auch gewählt, und die Königin mochte ihn.« »Und Mr. Gladstone wurde gewählt, und sie mochte ihn nicht«, warf die alte Dame selbstgefällig ein. »Das zeigt ja nur, daß es nichts damit zu tun hatte, daß sie gewählt wurden«, gab Charlotte zurück. »Mr. Disraeli war zudem ein sehr kluger Mann.« »Und ordinär«, sagte die alte Dame und starrte Charlotte mit funkelnden Augen an. »Er trug ganz scheußliche Westen und sprach viel zuviel. Keine Kultur! Ich bin ihm einmal begegnet, weißt du. Nein, das wußtest du nicht, stimmt's?« »Nein.« »Wie ich schon gesagt habe: ordinär. Wußte nicht, wann er den Mund halten sollte. Dachte wohl, er sei witzig.« »War er es nicht?« »Na ja - vielleicht. Aber das bedeutet doch nichts, oder?« Charlotte warf Emily einen Blick zu und ließ das Thema fallen. »Wo ist Mama?« fragte Charlotte statt dessen und wünschte sich sofort, es nicht getan zu haben. Großmamas Augenbrauen gingen in die Höhe. »Gütiger Himmel, mein Kind, wie soll ich denn das wissen? Sicherlich vergnügt sie sich irgendwo, da besteht kein Zweifel, Sie hat jedes Gefühl für das, was sich schickt, verloren.« Sie
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betrachtete die vielfältigen Farben, das lebhafte Treiben um sich her, die Frauen mit den modernen, schmal geschnittenen Kleidern und den akzentuierten Schultern mit Rüschen, Schleifen und Federn, den gelockten Frisuren, den Accessoires aus Perlen, Federn, Anstecknadeln, Tiaren und Blumen. »Wer um alles in der Welt sind alle diese Leute?« fragte sie Emily. »Ich kenne keinen von ihnen. Du solltest sie mir vorstellen. Ich werde dir sagen, wen ich kennenlernen möchte.« Dann runzelte sie die Stirn. »Und wo ist denn dein Mann? Warum ist er nicht an deiner Seite? Ich hab's ja immer gesagt, einen Mann zu heiraten, der nur hinter deinem Geld her ist, das muß ja böse enden. Dein Vater hätte dir einen angemessenen Ehemann aus einer guten Familie ausgesucht. Niemand hat je von Jack Radley gehört, wirklich!« »Jetzt werden Sie von ihm hören, Mrs. Ellison.« Jack näherte sich ihr von hinten und trat in ihr Blickfeld. Er sah unglaublich gut aus und strahlte, als wäre er hocherfreut, sie zu sehen. Man mußte ihr zugute halten, daß sie daraufhin errötete und etwas vor sich hinmurmelte. Dann funkelte sie Charlotte an und zischte: »Du hättest mir auch sagen können, daß er da ist!« »Ich wußte ja nicht, daß du so beleidigend sein würdest, sonst hätte ich dich gewarnt«, flüsterte Charlotte zurück. »Was ist? Brummel nicht so, Kind, ich kann dich nicht verstehen. Sprich doch um Himmels willen deutlich. Eure Mutter hat weiß Gott genug Geld ausgegeben, um euch Sprechunterricht zu geben und Benehmen beizubringen, als ihr jung wart. Das hätte sie sich sparen können.« Damit lächelte sie Jack zu. »Meinen Glückwunsch, junger Mann. Ich habe gehört, Sie haben etwas gewonnen.« »Danke.« Er verneigte sich und nahm ihren Arm. »Darf ich Ihnen einige interessante Menschen vorstellen, die sicherlich gerne Ihre Bekanntschaft machen würden?« Das dürfen Sie«, sagte sie mit hoch erhobenem Kopf. Ohne sich noch einmal umzusehen, raffte sie ihren Rock und rauschte davon. Emily und Charlotte blieben zurück.
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»Wenn jemand sie umbringen würde, würde ich das verstehen«, flüsterte Emily. »Ich glaube nicht, daß ich ihn anzeigen würde«, fügte Charlotte hinzu. Dann drehte sie sich langsam zu Emily um und sah, daß sie denselben Gedanken hatte, der auch ihr durch den Kopf geschossen war. »Meinst du wirklich ...«, fing Emily an. »Nein«, beantwortete sie ihre eigene Frage, aber ohne Überzeugung. »Meinst du, es gibt jemanden, der den Täter kennt? Und der ihn schützt... ?« »Ich weiß nicht«, sagte Charlotte bedächtig. »Vielleicht wenn es jemand wäre, den du liebst - dein Mann oder dein Vater.« Eine Menge düsterer und beängstigender Gedanken schössen ihr durch den Kopf. »Aber wie würde man es ertragen, daß jemand, den du liebst, solche Dinge getan hat? Es wäre ja nicht nur deren Schuld, die du spüren würdest sondern es würde ja Teil von dir. Man kann das nicht so trennen, als ob ihre Taten oder ihr Wesen nichts mit dir zu tun hätten. Wenn es jemand getan hat, der vorübergehend dem Wahnsinn verfallen ist, dann wäre es ja, als ob du auch davon berührst wärst.« »Das glaube ich nicht«, widersprach Emily ihr. »Du könntest niemanden verantwortlich machen -« »Es wäre vielleicht nicht fair«, unterbrach Charlotte sie, »aber so würdest du dich fühlen. War es dir nicht peinlich, als die Leute über Mama und Joshua geredet haben?« »Ja, aber das -« Emily brach ab; sie verstand den Vergleich. »Ja, gut«, sagte sie schnell. »Und das ist eine Kleinigkeit, verglichen mit dem hier. Ich verstehe jetzt, was du sagen willst. Man hätte das Gefühl, selbst daran beteiligt zu sein, auch wenn man die schreckliche Wahrheit nicht gekannt hat. Man würde sich bis zuletzt weigern, es zu glauben.« Mitleid stand auf ihrem Gesicht. »Das ist ja wirklich schrecklich.« »Es könnte vermutlich Mina sein«, sagte Charlotte langsam. »Sie schützt vielleicht ihren Bruder, besonders dann, wenn er Winthrop umgebracht hat, um sie zu schützen.«
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»Ich wüßte nicht, wer sonst«, sagte Emily laut. »Mr. Carvell ist nicht verheiratet, und keiner weiß irgend etwas über den Omnibusschaffner.« »Meinst du, Mrs. Arledge weiß etwas?« In Charlottes Stimme schwangen Zweifel; ihr widerstrebte es, etwas Schlechtes über Dulcie zu sagen, auch wenn es nur indirekt war. Pitt bewunderte Dulcie so sehr, und mit gutem Grund. Deshalb schien es engstirnig, ihren Namen in Zusammenhang mit den Mordverdächtigen zu bringen. »Was denn zum Beispiel?« fragte Emily. »Ich bezweifle, daß sie die geringste Ahnung hat, wer Arledge umbrachte, sonst hätte sie doch Thomas etwas gesagt, um den Fall aufzuklären und die Polizei loszuwerden. Dann könnte sie in aller Diskretion ihr eigenes Leben weiterführen.« Charlotte starrte sie an. »Was meinst du mit ,in aller Diskretion’? Das klingt ja, als glaubtest du, sie hätte etwas zu verbergen.« »Oh, Charlotte, manchmal bist du aber wirklich schwer von Begriff«, sagte Emily mit einem nachsichtigen Lächeln. »Dulcie hat einen Verehrer, vielleicht sogar mehr als das. Ist dir das noch nicht aufgefallen?« Charlotte war völlig überrascht. »Nein! Wer ist es denn? Bist du sicher? Woher weißt du das?« »Ich weiß nicht, wer es ist, aber ich weiß, daß es ihn gibt. Das ist doch offensichtlich.« Emily schüttelte den Kopf. »Hast du sie dir nicht angesehen? Ich meine, richtig?« »Inwiefern?« »Oh, Charlotte, wirklich!« stöhnte Emily. »Du kannst es an der Art sehen, wie sie sich kleidet, an den Kleinigkeiten, an der hübschen Trauerbrosche und der Spitze, daran, daß ihr Kleid in der Taille perfekt sitzt, an den modisch aktuellen Ärmeln, die an den Schultern betont sind. Und sie trägt ein wohlduftendes Parfüm. Sie bewegt sich, als wüßte sie, daß man sie beobachtet. Und selbst wenn sie mit keinem spricht, ist da eine ...«, sie zuckte die Achseln, »... eine Haltung, als trüge sie ein Geheimnis mit
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sich, was ihr ganz nah am Herzen ist. Wirklich, Charlotte wenn du nicht erkennst, wann eine Frau verliebt ist, dann eignest du dich nicht als Detektivin. Um ehrlich zu sein, auch für eine Frau ist deine Wahrnehmung ziemlich beschränkt.« »Ich dachte, es wäre ...«, wandte Charlotte ein. »Was?« »Ich weiß nicht... Tapferkeit.« Emily lächelte, nickte einem Bekannten zu, der Jack unterstützt hatte, und fuhr dann eindringlich fort: »Sicherlich ist sie auch tapfer, das bezweifle ich nicht, aber das gibt einem nicht diese innere Zufriedenheit. Du lächelst dann nicht grundlos, betrachtest dich im Spiegel und versuchst immer, so gut wie möglich auszusehen, falls du ihm zufällig begegnest.« Charlotte starrte sie an. »Wo hast du sie so genau beobachtet? Ich habe sie nur einmal gesehen, und das war bei der Totenmesse.« »Du brauchst jemanden nicht sehr oft zu sehen, das fällt einem sofort auf. Wo warst du denn mit deinen Gedanken, daß du es nicht gemerkt hast?« Charlotte errötete, als sie sich an ihre Gefühle erinnerte. »Das ist jetzt nicht wichtig«, sagte sie und wollte das Thema wechseln. »Natürlich ist es nicht wichtig«, sagte Emily, dann fragte sie: »Wovon redest du denn? Was ist nicht wichtig?« »Wer er ist natürlich!« Sie atmete heftig. »Emily, glaubst du - ich meine ...« »Ja«, sagte Emily spontan und bemerkte einen älteren Herrn nicht, der ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen suchte. Er gab auf und ging weiter. »Wir müssen es herausbekommen«, fuhr sie fort. »Wie, weiß ich zwar nicht, aber wir müssen herauskriegen, wer es ist.« »Meinst du, es könnte Bart Mitchell sein? Vielleicht ist das die Verbindung, nach der Thomas sucht.« »Morgen früh fangen wir an«, versprach Emily. »Ich mache mir Gedanken darüber, wie wir vorgehen können, und du kannst das auch tun.«
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Sie wurden unterbrochen - obwohl soweit alles gesagt war -, weil Caroline und Joshua erschienen. Sie waren feierlich gekleidet und sahen erregt und glücklich aus. »Gott sei Dank«, sagte Emily, zutiefst erleichtert. »Ich dachte wirklich, sie würde nicht kommen.« Sie trat vor, um ihre Mutter zu begrüßen, Charlotte war unmittelbar hinter ihr. »Herzlichen Glückwunsch, mein Liebes«, sagte Caroline überschwenglich und küßte Emily auf die Wangen. »Ich freue mich sehr für dich. Ich bin mir sicher, Jack wird seine Sache großartig machen, und es gibt ja auch einiges für ihn zu tun. Wo ist er denn?« »Da drüben. Er spricht gerade mit Sir Arnold Maybury«, sagte Emily. Sie sah Joshua an mit seinem liebenswerten, lebhaften Gesicht, der leicht gebogenen Nase und dem trockenen Lächeln. »Ich freue mich, daß Sie mitgekommen sind. Auch Jack wird es freuen.« »Natürlich ist er mitgekommen«, sagte Caroline mit einem geheimnisvollen Lächeln. Dann sah sie Joshua voller Verlegenheit an, die Röte schoß ihr ins Gesicht. Diesmal war es Charlotte, die aufmerksam wurde, und Emily, die nichts bemerkte. »Mama?« fragte Charlotte. »Was meinst du damit?« Emily sah sie stirnrunzelnd an. Es schien eine dumme Frage. Voller Ungeduld wollte sie eine Bemerkung machen, dann merkte sie, daß ihr etwas entgangen war, das zwischen den Worten lag. Sie sah erst Joshua, dann Caroline erwartungsvoll an. Caroline atmete tief ein und mied den Blick ihrer Töchter. »Joshua und ich haben gerade geheiratet«, sagte sie ganz leise, es war kaum mehr als ein Flüstern. Emily stand wie vom Donner gerührt. Charlotte wollte etwas Nettes sagen und gratulieren, doch ihr war plötzlich die Kehle wie zugeschnürt, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Joshua legte seinen Arm um Caroline. Das Lächeln auf seinem Gesicht war nicht erloschen, aber es lag auch Stärke darin und eine Warnung.
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Jack trat zu ihnen, immer noch mit Großmama am Arm die in der Hand ein Glas Champagner hielt. Er begriff sofort, daß dies eine Szene von geballter Emotionalität war und wandte sich an Joshua. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte Joshua ruhig und reichte Jack die Hand. »Das war ein feiner Sieg, der uns allen Gutes verheißt. Ich wünsche Ihnen eine lange und erfolgreiche Laufbahn.« Er lächelte. »Für uns als auch für Sie.« »Danke.« Jack nahm ein gefülltes Glas vom Tablett eines vorbeigehenden Dieners und erhob es. »Auf die Zukunft.« Auch Großmama führte ihr Glas zum Mund. »Auf die Zukunft aller«, fügte Emily mit einem Blick auf Jack hinzu. »Auch auf Mamas und Joshuas. Wir wollen ihnen gratulieren und ihnen alles Gute wünschen.« Jack machte große Augen. »Sie haben gerade geheiratet«, erklärte Emily. Großmama hatte soeben von ihrem Champagner getrunken, verschluckte sich daran und prustete die Flüssigkeit über ihr Kleid. Ihre schwarzen Augen funkelten vor Wut, ihr Gesicht lief rot an vor Schock und Entrüstung. Es war ihr unmöglich, eine würdevolle Haltung zu bewahren während der Champagner an ihr heruntertropfte. Emily nahm Jacks Einstecktuch und wollte Großmamas Kleid trockenwischen, was aber die Sache nur verschlimmerte. Daraufhin bediente sich Großmama der einzigen ihr verbleibenden Rückzugsmöglichkeit und sank in eine Ohnmacht, wobei sie Jack fast mit sich riß. Auf der Stelle war sie der Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit. Keiner interessierte sich jetzt mehr für Joshua und Caroline, noch gar für Jack. Aus allen Richtungen strömten die Menschen zu der Szene. »Oje! Die arme Dame«, sagte ein Mann, als er einen Blick auf Großmamas ausgestreckte Gestalt auf dem Boden erhaschte. »Wir müssen etwas tun! Riechsalz!« »Ist ihr nicht gut?« fragte eine Dame besorgt. »Sollten wir nach einem Arzt schicken?«
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»Ich glaube nicht, daß das nötig ist«, beruhigte Emily sie. »Ich werde einfach eine Feder unter ihrer Nase verbrennen.« Sie sah sich nach einem Diener um und bat ihn, eine solche herbeizuholen. »Die Ärmste.« Die Frau sah mitleidig auf Großmama hinab. »Einen Schwächeanfall zu erleiden, und das so weit vom eigenen Haus entfernt.« »Es ist kein Schwächeanfall«, widersprach Emily. »Es ist der Alkohol«, sagte Charlotte mit unverzeihlicher Boshaftigkeit. Der unglaubliche Egoismus der alten Dame, mit dem sie sich in den Mittelpunkt manövriert hatte, wo es doch Caroline in ihrem neuen Glück zustand, daß sich das Augenmerk aller auf sie richtete, machte sie plötzlich über alle Maßen wütend. Sie starrte auf ihre Großmutter hinab und sah mit tiefer Genugtuung, wie die wutentbrannt mit der Zunge schnalzte. »Oh!« Das Mitleid der anderen Dame wandelte sich in Abscheu, sie wich ein paar Schritte zurück. »Wir sollten sie hinaustragen«, sagte Charlotte zu Jack. »Einer der Diener kann helfen. Bring sie irgendwohin, wo sie sich erholen kann, und dann muß jemand sie nach Hause begleiten.« »Ich nicht«, sagte Caroline entschlossen. »Und sowieso, ich gehe nicht nach Hause, dies ist meine Hochzeitsnacht.« »Natürlich nicht du«, stimmte Charlotte ihr zu und drehte sich zu Emily um. »Nein, bloß nicht!« Emily wich entsetzt zurück. Der Diener kehrte mit einer glimmenden Feder zurück und reichte sie Emily. Sie dankte und hielt sie ihrer Großmutter mit Vergnügen unter die Nase. Die atmete den Geruch ein, hustete heftig und rührte sich nicht vom Fleck, die Augen fest geschlossen. Jack und der Diener beugten sich hinab und hoben die alte Dame auf, was sich als schwieriges Unterfangen erwies, da sie klein und rundlich und ziemlich schwer war. Die beiden Männer mußten alle ihre Kräfte aufbieten, um sie hochzuhieven, ohne die Kleider in Unordnung zu brin-
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gen, und sie durch die Menge zur Tür zu tragen. Selbst dann gelang es ihr, mit ihrem Fuß auszuholen, und beinahe hätte sie Charlotte einen Tritt gegen den Ellbogen versetzt. »Sie wird nicht mit mir unter einem Dach bleiben wollen«, sagte Caroline. »Sie hat geschworen, nichts mehr mit mir zu tun haben zu wollen, wenn ich mich in Ungnade stürze und zum Gespött der Stadt mache.« Ihr Blick wanderte zu Emily. »Ich fürchte, Liebes, du wirst ihr ein Zuhause anbieten müssen. Charlotte hat keinen Platz.« »Selbst wenn«, erwiderte Charlotte. »Wenn sie schon nicht mit einem Schauspieler unter einem Dach leben will, dann sicherlich erst recht nicht mit einem Polizisten. Gott sei Dank!« »Ich sehe jetzt, daß dieser Wahlsieg eine zweischneidige Sache ist«, sagte Emily düster. »Ich denke, Ashworth House ist so groß, daß man Großmama nicht über den Weg läuft - wenigstens nicht ständig. Oh Mama! Ich wünsche dir alles erdenklich Gute, aber mußtest du mir das antun?« Sammy Cates stand gerne früh auf. Die ersten Stunden des neuen Tages waren klar und voller Verheißung und häufig einsam. Nicht, daß er keine Menschen mochte, aber er genoß es, allein zu sein und Zeit zu haben, um seinen Gedanken nachzuhängen und seiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Eine bessere Beschäftigung konnte er sich nicht vorstellen. Am Abend zuvor war er in einem Variete gewesen und hatte Marie Lloyd gesehen. Sie trug aufsehenerregende Kleider und sang wundervolle Lieder. Bei der Erinnerung daran mußte er lächeln. Mit federnden Schritten ging er die ruhige Straße entlang, in der er mit seiner Frau, den Kindern und dem Schwiegervater in zwei Zimmern wohnte. Er gelangte zu der Hauptstraße, in der schon Karren und Wagen zu den Märkten oder mit Lieferungen für die größeren Häuser nahe dem Park unterwegs waren. Jeden Morgen ging er denselben Weg, und viele Leute winkten ihm zu oder grüßten ihn. Er nickte oder winkte zurück, aber in Gedanken war er noch bei dem gestrigen Abend.
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Er schritt kräftig aus, denn er mußte pünktlich am Parktor sein, um nach dem Rechten zu sehen und den Müll von den Wegen zu entfernen. Dann würde er mit seinen Aufgaben für den Tag beginnen. Kehren, Unkraut jäten und Büsche schneiden waren nicht unbedingt sehr vergnügliche Tätigkeiten, andererseits waren sie auch nicht besonders mühsam. Und da er gerne draußen in der Sonne war und die frühe Stunde der Einsamkeit genoß, lächelte er fortwährend, als er die Park Lane überquerte und durch das Tor trat. Es war ein klarer Morgen, der Tau glitzerte auf dem Rasen, und die Blätter der Büsche waren feucht. Da! Ein unordentlicher Mensch hatte eine Flasche auf dem Weg liegengelassen. Wie unaufmerksam. Wäre sie zerbrochen, dann wäre der Weg mit Scherben übersät gewesen. Wer weiß, wer sich daran hätte verletzen können. Besonders Kinder. Er bückte sich, um sie aufzuheben. Als er sich vornüberbeugte, sah er einen Fuß aus dem Gebüsch lugen, dann ein Bein und die Sohle des anderen Fußes, aber in einem ganz anderen Winkel. Er ließ die Flasche fallen und begab sich zu dem Gebüsch. Er schluckte mit trockener Kehle. Wahrscheinlich war es jemand, der zuviel getrunken hatte, aber es gab auch immer die andere Möglichkeit. Seitdem die erste Leiche gefunden worden war, hatte er sich davor gefürchtet, obwohl er eigentlich nicht damit gerechnet hatte. Mit wild klopfendem Herzen und trockenem Mund packte er vorsichtig beide Beine an den Knöcheln und zog. Der Mann trug dunkle Hosen, blau oder schwarz. Da sie taufeucht waren, konnte er die Farbe nicht richtig erkennen. Dann kam der Rumpf zum Vorschein, was Sammy einen solchen Schrecken versetzte, daß er rückwärtsstolperte. Es war ein Polizist! Die Uniformjacke und die Silberknöpfe waren eindeutig. »Allmächtiger!« stöhnte er. Das hier war kein Betrunkener. Das war das Werk des Schlächters! »Oh nein!« stöhnte er. Vielleicht sollte er ihn nicht von der Stelle bewegen. Man könnte ihm das zum Vorwurf machen.
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Er wich zurück und stolperte über die Flasche, so daß er sich hart auf den steinigen Weg setzte, was ihm völlig den Atem verschlug. Er blickte wieder auf den Körper im Gebüsch. Ja, es war eindeutig ein Polizist. Er sah die Knopfreihe bis hin zum Hals. Auf Knien kroch Sammy wieder zu dem Mann und begann ohne Überlegung wieder an den Beinen zu zerren. Langsam kam der ganze Körper aus dem Gebüsch hervor Bauch, Brust, Hals - Kopf! Der Kopf war da! Es war alles dran! Sammy ließ sich zurücksinken, seine Hände zitterten, sein Magen überschlug sich vor Erleichterung. Er war ein Dummkopf! Seine Phantasie hatte ihm einen Streich gespielt. Der Schlächter, also wirklich! Ein Polizist konnte sich vermutlich betrinken wie jeder andere auch, oder? Er stand auf und beugte sich über den Mann, um zu sehen, wie betrunken er war. Das Gesicht des Polizisten war entsetzlich blaß, geradezu kalkweiß. Als ob er tot wäre! »Allmächtiger!« sagte er wieder mit leisem Stöhnen. Zögernd legte er seinen Handrücken auf die Wange des Mannes. Sie war kalt. Sein Magen revoltierte. Er öffnete den Kragen der Uniform und ließ seine Hand auf die Brust gleiten. Das Fleisch war warm! Er lebte! Ja - hoffentlich lebte er wirklich. Er beobachtete das Gesicht für eine Weile, konnte aber kein Lebenszeichen erkennen. Wenn er atmete, war es sehr flach. Jetzt mußte er Hilfe holen. Der Mann brauchte einen Arzt. Er stand auf und eilte davon, erst gehend, dann rennend. »Was?« Pitt sah zu Tellman auf, der mit finsterem Gesicht vor ihm stand, ein siegesgewisses Glitzern in den Augen. »Bailey», wiederholte er. »Einer der Parkwächter hat ihn heute morgen gegen sechs gefunden. Wurde auf den Kopf geschlagen und unter ein paar Büschen zurückgelassen.« Er sah Pitt unverwandt an.
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Pitt war übel. Es war eine Mischung aus Mitleid und Schuldgefühl. »Wie schlimm sind seine Verletzungen?« sagte er mit trockenen Lippen. »Schwer zu sagen«, erwiderte Tellman. »Er ist noch immer ohne Bewußtsein. Kann alles mögliche sein.« »Was sind es denn für Verletzungen?« Pitt hörte den rauhen, panikerfüllten Klang seiner eigenen Stimme. »Nichts anscheinend, außer dem Schlag auf den Kopf.« »Weiß jemand, wie das geschehen ist?« »Nein. Nur sagt einem der gesunde Menschenverstand, daß es der Schlächter war. Bailey hatte keinen Dienst im Park oder in der Nähe. Er war noch immer mit den Ermittlungen in Sachen Carvell unterwegs und suchte nach Leuten, die Carvell ein Alibi geben konnten.« Immer noch sah er Pitt unverwandt an. »Scheint, als habe er schließlich doch etwas gefunden.« Darauf gab es keine Antwort. Pitt erhob sich. »Wo liegt er?« »Sie haben ihn in das Samaritan Free Hospital am Manchester Square gebracht. Das ist nur ungefähr eine halbe Meile von der Stelle entfernt, an der er gefunden wurde.« Er holte tief Luft und sagte den nächsten Satz sehr bedächtig: »Wollen Sie, daß ich Carvell wieder festnehme?« »Erst will ich Bailey sehen.« »Der kann Ihnen nichts sagen.« Pitt erwiderte nichts darauf und ging an Tellman vorbei, ohne ihn anzusehen. Er nahm weder Hut noch Mantel, ging zur Tür hinaus, lief, immer eine Stufe überspringend, die Treppe hinunter und trat ohne ein weiteres Wort auf die Straße. Es dauerte fast fünf Minuten, bis er eine Droschke fand, die ihn zum Manchester Square brachte. Er fühlte sich elend. Es gab keinen vernünftigen Zweifel mehr, daß es Carvell war. Es ging um Carvells Anwesenheit, beziehungsweise Abwesenheit bei dem Konzert, die Bailey überprüfen sollte. Aber der Gedanke tat ihm weh. Er mochte Carvell, empfand spontanen Respekt für ihn und Mitleid angesichts seiner Trauer, an dessen Echtheit er auch jetzt nicht zweifelte. Gleichzeitig war er von sich
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selbst zutiefst enttäuscht; das Gefühl, daß er gescheitert war und sich hatte täuschen lassen, tat ihm sehr weh. Sein Urteilsvermögen hatte versagt. Er trug die Schuld an Baileys Verletzung und, sollte er sterben, an dessen Tod. Wie konnte er so verblendet, so unaufmerksam gewesen sein? Doch selbst in diesem Moment, während er mit der Droschke durch die Stadt fuhr, konnte er die Wahrheit nicht klar sehen, nur die Beweislage machte den Schluß unumgänglich. Die Droschke hielt, er stieg aus und wies den Fahrer an, auf ihn zu warten. Im Krankenhaus fand er die Station, auf der Bailey lag: steif ausgestreckt, das Gesicht weiß und bewegungslos. Man hatte ihm ein grünes Krankenhaushemd angezogen und ihn mit einem Leinentuch und einer Wolldecke zugedeckt. An seinem Bett stand mit gerunzelter Stirn und gespitztem Mund ein junger Arzt. »Wie geht es ihm?« fragte Pitt und fürchtete sich vor der Antwort. Der Arzt sah ihn erschöpft an. »Wer sind Sie?« »Oberinspektor Pitt von der Bow Street. Wie geht es ihm?« »Schwer zu sagen.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Hat sich nicht gerührt, seit er gebracht wurde, aber die Körpertemperatur ist wieder auf eine vernünftige Höhe gestiegen. Die Atmung geht fast normal, und der Herzschlag ist recht kräftig.« »Wird er durchkommen?« Es war mehr eine Hoffnung als eine Überzeugung. »Schwer zu sagen. Vielleicht.« »Wann wird er wieder sprechen können?« Der Arzt schüttelte den Kopf und sah Pitt an. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Oberinspektor. Es ist auch nicht sicher, ob er überhaupt wieder sprechen wird. Und wenn er aufwacht, ist es möglich, daß er sich an nichts erinnert. Kann alles ziemlich durcheinander sein, in seinem Kopf. Darauf müssen Sie gefaßt sein. Ich an Ihrer Stelle würde mit meinen Ermittlungen fortfahren, ohne mit ihm zu rechnen.«
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»Verstehe. Lassen Sie nichts unversucht, bitte. Und machen Sie sich keine Sorgen wegen der Kosten.« »Geht in Ordnung.« Pitt ging. Er fühlte sich noch schlechter, gänzlich entmutigt und voller Schuldgefühle. Als er wieder in der Bow Street ankam, saß Giles Farnsworth in seinem Büro. Er war blaß und hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Sie haben Carvell wieder freigelassen«, preßte er zwischen den Zähnen hervor. »Jetzt hat er fast einen Ihrer eigenen Leute umgebracht.« Er durchmaß den Raum und stellte sich an den Kaminsims. »Ich hatte von Anfang an Befürchtungen, daß dieser Posten Ihre Fähigkeiten übersteigt, aber Drummond war hartnäckig. Nun, er hat unrecht gehabt. Die schlimmste Fehleinschätzung in seiner ganzen Laufbahn. Es tut mir leid, Pitt, aber Ihre Inkompetenz ist nicht länger tragbar.« Er kam zum Schreibtisch zurück. »Sie sind entlassen. Sie werden die Ermittlungsarbeiten in diesem Fall abschließen und dann wieder in Ihren vorherigen Rang versetzt. Am besten gehen Sie zu einer anderen Wache. Ich werde mir überlegen, welche, wenn ich die Zeit dazu habe. Vielleicht irgendwo in einem Außenbezirk.« Ohne eine Antwort von Pitt abzuwarten, ging er zur Tür, legte die Hand auf den Knauf und zögerte. »Ich habe Tellman geschickt, er soll Carvell wieder verhaften. Sie können anfangen, die Beweismittel für die Verhandlung zusammenzustellen. Wenn Sie das erledigt haben, nehmen Sie sich ein paar Tage frei. Auf Wiedersehen.« Er ging und schloß die Tür. Pitt blieb schuldgeplagt und niedergeschmettert zurück.
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11. Kapitel
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harlotte war wie vor den Kopf geschlagen, als Pitt ihr von seiner Entlassung berichtete. Vielleicht hätte sie sich klarmachen sollen, wie konkret diese Möglichkeit tatsächlich war, aber sie war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen: mit dem neuen Haus, dem Verkauf des alten, mit Jacks Wahl und mit der Liebesbeziehung ihrer Mutter und deren neuen Ehe. Sie hatte nicht geglaubt, daß das geschehen würde - es war so ungerecht! Der Schmerz und die Erniedrigung, die er erlitt, machten ihr Herz schwer, aber gleichzeitig war sie wütend wegen der Ungerechtigkeit. Und dann hatte sie auch Angst der Kinder und ihretwegen. Was würde mit dem neuen Haus geschehen? Würden sie es sich auch weiterhin leisten können? Das alte Haus war verkauft, sie konnten dort nicht einfach wieder einziehen. All diese Gedanken und Gefühle beschäftigten sie und drückten sich bestimmt in ihrer Miene aus, dessen war sie sich sicher, denn sie hatte ihre Empfindungen noch nie gut verstecken können. Doch nun gab sie sich alle Mühe, sie nicht zu zeigen, auch wenn ihr das Blut aus den Wangen wich und ihr Magen sich zusammenkrampfte. »Wir kommen schon zurecht«, brachte sie mühsam mit rauher Stimme hervor; ihr Mund war völlig trocken. Pitt sah sie an; auch er war blaß, Schmerz und Erschöpfung standen in seinen Augen. »Natürlich kommen wir zurecht«, sagte er leise, obwohl ihm noch nicht klar war, wie. Der Gedanke, wieder als Inspektor auf einer meilenweit entfernten Wache arbeiten zu müssen, war so bitter, daß er sich damit nicht befassen
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wollte, bis die Wirklichkeit ihn zwang, sich damit abzufinden. Vielleicht konnte er Farnsworth überreden, ihn wenigstens auf eine Wache in der Innenstadt zu schicken, damit er in einer Gegend arbeiten konnte, die ihm vertraut war und er nicht den halben Tag mit Omnibusfahrten zubringen mußte. Eine Droschke würde er sich dann nämlich nicht mehr leisten können. Eine Weile saßen sie in tiefem Schweigen nah beieinander. Worte konnten nicht helfen. Es gab nichts zu sagen außer Banalitäten, die sie beide nicht hören wollten. Schließlich rückte Charlotte ein wenig von ihm ab und setzte sich aufrecht hin. Sie hatte ein Feuer im Kamin des Wohnzimmers gemacht, nicht weil es kühl war, sondern weil das Flackern der Flammen die tröstliche Illusion einer kleinen Insel, fern vom Rest der Welt, schaffte. »Hat Carvell es schließlich zugegeben?« fragte sie. »Nein.« Vor seinem geistigen Auge sah er plötzlich das Bild von Carvells verzweifeltem Gesicht, blaß und von Angst gezeichnet, als man ihn in seine Zelle führte. Ein Blick mit einem inständigen Hilferuf an Pitt. »Nein, er hat es leidenschaftlich geleugnet.« Charlotte sah ihn eindringlich an. »Du glaubst ihm, oder?« fragte sie nach einer Weile. »Du bist immer noch nicht überzeugt, daß er es getan hat.« Er saß einige Momente ganz still, bevor er antwortete. Sein Ausdruck zeugte von Verwirrung, aber als er endlich sprach, war seine Stimme fest und klar. »Nein. Nein, ich glaube nicht, daß er Aidan Arledge vorsätzlich weh getan hat. Und wenn er ihn in einem Anfall von Leidenschaft und Zorn umgebracht hätte, wäre er, glaube ich, daran zerbrochen und hätte keinen Versuch gemacht zu fliehen. Um ehrlich zu sein, glaube ich, daß er, wenn er der Täter wäre, seine Strafe annehmen und sogar willkommen heißen würde.« »Dann mußt du herausfinden, wer die Morde begangen hat, Thomas! Du kannst es nicht zulassen, daß er dafür gehenkt wird!« Sie kniete vor ihm und sprach mit eindringlicher Stimme. »Es muß Hinweise geben. Der Schlächter
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kann noch so klug sein, er wird etwas hinterlassen haben, einen Faden irgendwo, und wenn wir daran ziehen, wird die Wahrheit entwirrt.« »Ein schöner Gedanke«, sagte er und lächelte. »Aber ich habe hin und her überlegt, was das sein könnte, und bin einfach nicht weitergekommen.« »Du stehst zu dicht davor«, sagte sie spontan. »Du siehst nur die Einzelheiten und nicht das ganze Bild. Was haben die Opfer gemeinsam?« »Nichts«, sagte er. »Es muß etwas geben. Winthrop und Scarborough waren beide tyrannische Menschen, und du hast gesagt, daß der Omnibusschaffner ein angeberischer kleiner Wicht war. Vielleicht hatte er auch einen tyrannischen Charakter.« »Aber Arledge war keiner. Nach allem, was ich gehört habe, war er ein äußerst freundlicher und sanftmütiger Mensch.« »Bist du dir da sicher?« Sie sah ihn zweifelnd an. »Ja, da bin ich mir sicher. Keiner hat etwas Schlechtes über ihn gesagt.« Sie dachte nach, und er wartete ab. »Ist es möglich, daß alle außer einem umgebracht wurden, um den Mord zu decken, um den es eigentlich geht?« sagte sie nach einiger Zeit. »Vielleicht waren die anderen zufällige Opfer, und es spielt keine Rolle, wer sie sind.« »Das ergibt keinen Sinn.« Er schüttelte den Kopf und schob Charlotte eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Scarborough wurde aus seinem Haus herausgelockt und dann umgebracht. Das ist wohl kein Zufall. Yeats war meilenweit weg in Shepherd's Bush, bei Arledge wissen wir es nicht, und Winthrop war in einem Boot auf dem SerpentineSee, was an sich schon lächerlich ist. Warum sollte jemand mitten in der Nacht eine Bootsfahrt machen? Mit einem Fremden würde man es auf keinen Fall tun, und selbst mit einem Bekannten kann man es sich kaum erklären.« »Der Schlächter wollte ihn auf dem Wasser umbringen«, sagte sie.
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»Aber wie würdest du jemanden dazu überreden, mit dir mitten in der Nacht eine Bootspartie zu machen?« Sie atmete ein. »Also - ich würde - ich würde sagen, ich hätte etwas ins Wasser fallen lassen, von einer Brücke oder so, und wenn ich es nicht wieder herausfischte, wäre es verloren«, sagte sie befriedigt. »Davor würde ich meinen Hut oder was auch immer ins Wasser fallen lassen.« »Hut!« Er richtete sich auf und stieß sie versehentlich um. »Was?« Sie rappelte sich wieder auf. »Was ist denn, Thomas?« »Hut«, wiederholte er. »Wir haben einen Hut gefunden, als der Serpentine-See abgesucht wurde. Er gehörte nicht Winthrop. Wir haben uns nichts dabei gedacht, aber das könnte es gewesen sein. Er wurde ins Wasser fallen gelassen, damit der Täter einen Grund hatte, Winthrop ins Boot zu locken. Du bist genial! So einfach, und so effektiv.« Er küßte sie begeistert, stand auf und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. »So ergibt es vielleicht einen Sinn«, sagte er, seine Stimme überschlug sich. »Winthrop war in der Marine. Vielleicht schien es ganz natürlich, sich an ihn zu wenden mit der Bitte, den Hut zu retten, bevor er sank. Der Schlächter würde einfach sagen, er könne nicht rudern. Viele Menschen können das nicht.« Er kam in Fahrt und fuchtelte mit den Armen umher. »Er würde Winthrop um Hilfe bitten, und Winthrop würde natürlich darauf eingehen. Beide würden sich ins Boot begeben - und dann zeigt der Schlächter auf einen Gegenstand auf dem Wasser. Winthrop beugt sich über den Rand - und ...» Er holte mit beiden Armen aus und ließ sie mit gestreckten Handflächen, die eine Klinge darstellen sollten, herabsausen. »... Winthrop ist geköpft.« »Aber was ist mit den anderen?« fragte sie. »Was ist mit Arledge?« »Das wissen wir nicht. Wir wissen nicht, wo Arledge umgebracht wurde.« »Aber Scarborough und der Omnibusschaffner?« bohrte sie weiter.
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»Scarborough wurde in der Rotten Row umgebracht, an der Stelle, wo er gefunden wurde. Die Pferdetränke war voller Blut.« »UndYeats?« »In der Nähe von Shepherd's Bush. Anschließend wurde er in einem Einspänner zum Hyde Park gebracht.« Sie dachte nach. »Es sieht so aus, als wäre Arledge der wichtigste gewesen, findest du nicht?« sagte sie schließlich. »Nur, daß er nicht der erste war. Immer wenn ich denke, jetzt paßt es zusammen«, sagte sie und zuckte die Schultern, »dann paßt es doch nicht.« »Ich weiß.« Er streckte die Hand aus. »Für heute reicht es. Morgen fange ich wieder an. Komm ins Bett.« Sie nahm seine Hand und stand langsam auf, aber in ihrem Kopf arbeiteten die Gedanken weiter. Noch auf dem Weg nach oben erwog und verwarf sie Möglichkeiten. Erst als sie im Nachthemd war, die Bettdecken über sich gezogen und sich an Pitt geschmiegt hatte, ließen die Gedanken sie los. Am nächsten Morgen ging Pitt nicht zur Wache in der Bow Street. Wozu auch? In seinem Kopf rasten die Gedanken durcheinander, manche vage und halb zu Ende gedacht und von Fakten oder Eindrücken abhängend, die noch nicht bestätigt waren. Das, was er vorhatte, mußte bis zum Abend warten, und deswegen verbrachte er den Tag mit kleineren Aufgaben wie der Überprüfung von Einzelheiten. Um Viertel vor acht fing er an. Er wollte Victor Garrick aufsuchen, hatte aber dessen Adresse nicht. Da er sicher war, daß Mina Winthrop sie wußte, nahm er den Omnibus in die Curzon Street und ging in der frühlingslauen Abenddämmerung zu ihrem Haus. »Ja bitte?« fragte das Hausmädchen. »Dürfte ich bitte mit Mrs. Winthrop sprechen?« fragte er höflich. »Ja, Sir. Wenn Sie mir bitte folgen würden, dann sehe ich nach, ob sie zu Hause ist.« Das war eine ganz normale höfliche Lüge, und er wartete gehorsam.
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Nach weniger als fünf Minuten erschien Mina Winthrop, elegant gekleidet in ein Musselinkleid von zarter Lavendelfarbe. Als sie seine Überraschung registrierte, schlug sie die Augen nieder. »Guten Abend, Oberinspektor. Ich fürchte, Sie treffen mich unvorbereitet an. Ich bin nicht angemessen gekleidet.« Sie sah um Jahre jünger aus als damals, nach dem Tod ihres Mannes, als sie ganz in Schwarz gekleidet war und voller Angst. Jetzt hatten ihre Wangen Farbe, ihr langer, schlanker Hals war nur mit einer schweren Perlenkette geschmückt, und nur weil er wußte, daß es die Blutergüsse gegeben hatte, konnte er noch schwache Spuren davon erkennen. Kein anderer hätte sie bemerkt. Ihre Bewegungen waren ungezwungen, als hätte sie neuen Lebensmut gefunden. »Es tut mir leid, daß ich Sie störe, Mrs. Winthrop«, entschuldigte er sich. »Ich bin gekommen, weil ich Victor Garrick aufsuchen möchte und seine Adresse nicht habe. Ich weiß nur, daß er nicht weit von hier wohnt.« »Oh! Sie haben Glück«, sagte sie rasch. »Er wohnt zwei Häuser weiter, aber Sie hätten dort vergeblich geläutet, da er gerade hier ist.« »Ist das wahr? Wäre es eine grobe Unhöflichkeit, wenn ich hier mit ihm spreche? Ich werde ihn nicht lange aufhalten.« »Natürlich nicht. Ich bin mir sicher, daß er Ihnen gerne behilflich ist, wenn er kann.« Sie zog die Stirn kraus. »Jedoch hat mir mein Bruder gesagt, Sie hätten den Mann festgenommen. Was kann es darüber hinaus noch zu klären geben?« »Ein paar Einzelheiten, damit wir nicht von einem klugen Anwalt in Not gebracht werden können«, schwindelte er. »Dann kommen Sie doch bitte mit ins Gartenzimmer, Oberinspektor. Victor hat für uns gespielt, und man sitzt dort sehr gut.« Bereitwillig nahm er die Einladung an und folgte ihr den Flur entlang in einen der hübschesten Räume, die er je ge-
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sehen hatte. Die Terrassentüren öffneten sich zu einem kleinen, von einer Mauer umschlossenen Garten mit den verschiedensten Pflanzen, die alle weiß blühten: Rosen und Madonnenlilien, Nelken und Strandnelken, Steinkraut und gefüllter Schneeball und viele andere mehr, deren Namen er nicht kannte. Die Wände und Vorhänge in dem Raum selbst waren grün mit einem zarten weißen Blumenmuster, und auf dem Tisch stand eine große Schale mit weißen Blumen. Die letzten weichen Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster und tauchten den Raum in ein warmes Licht, während sie gleichzeitig die Illusion eines kühlen Gartens schufen. In der Ecke saß Victor Garrick mit seinem Cello. Bart Mitchell stand am Kaminsims. Sonst war niemand da. »Victor, es tut mir leid, dich zu unterbrechen«, sagte Mina. »Aber Oberinspektor Pitt ist gekommen, um mit dir zu sprechen. Anscheinend gibt es weitere Einzelheiten, die in dieser schrecklichen Sache geklärt werden müssen, und er meint, du könntest ihm helfen.« »Vielleicht sollten wir sie alleine lassen.« Bart machte Anstalten zu gehen. »Aber nein«, sagte Pitt rasch. »Bitte, Mr. Mitchell, ich wäre froh, wenn Sie beide blieben. Dann brauche ich Sie nicht alle einzeln zu befragen.« Ein Gedanke, zwar noch vage und unvollständig, bildete sich in seinem Kopf. »Es tut mir leid, daß ich Ihren Vortrag mit dieser qualvollen Angelegenheit störe, aber ich denke, wir sind dem Ende tatsächlich nahe.« Bart stellte sich wieder an den Kaminsims, sein Gesichtsausdruck war abweisend. »Wenn Sie es wünschen, Oberinspektor, aber ich glaube, keiner von uns weiß etwas, das er Ihnen nicht bereits mitgeteilt hat.« »Es geht um das, was Sie vielleicht gesehen haben.« Pitt drehte sich zu Victor, der ihn aus klaren, blauen Augen eher höflich als interessiert ansah. »Ja?« sagte er, um das Schweigen zu durchbrechen.
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»Bei dem Empfang nach der Totenmesse für Aidan Arledge«, begann Pitt, »saßen Sie, soweit ich weiß, in dem Erker in der Nähe der Tür zur Eingangshalle, ist das richtig?« »Ja. Ich bin nicht herumgegangen, um mich zu unterhalten«, erklärte Victor. »Außerdem wollte ich bei meinem Cello bleiben. Sonst hätte jemand dagegenstoßen oder es umwerfen können.« Unwillkürlich legte er die Arme enger um das kostbare Instrument und fuhr zärtlich über das Holz, glatt wie Satin und ebenso leuchtend. Pitt sah die Kerbe und verspürte Empörung angesichts dieses Vandalismus. »Ist das auf diese Weise geschehen?« fragte er. Victors Gesicht wurde blaß und angespannt. Seine Augen fixierten einen Punkt in der Ferne oder in seiner Erinnerung. »Nein«, preßte er hervor. »Wie sonst?« hakte Pitt nach und hielt auf einmal den Atem an. Er merkte nicht, daß er den Schmerz in seinen Handflächen selbst verursachte, weil sich die Fingernägel ins Fleisch bohrten. »Ein unachtsamer Mensch hat mich gestoßen, und das Cello ist gegen den Haltegriff gefallen«, erwiderte Victor mit sanfter Stimme, den Blick immer noch in die Ferne gerichtet. »Den Haltegriff?« fragte Pitt. »Ja.« Bart Mitchell kam näher heran, wollte etwas sagen, unterließ es dann aber. »Eines Omnibusses?« fragte Pitt fast flüsternd. »Wie?« Victor sah ihn an. »Ach so - ja. Solche Menschen haben ... kein Gefühl... keine Seele ... nichts!« »Es ist roher Vandalismus«, stimmte Pitt ihm zu und trat einen Schritt zurück. »Was ich Sie aber eigentlich fragen wollte, Mr. Garrick, ist, ob Sie den Butler, Scarborough, gesehen haben, als er den Dienstboten Anweisungen gab?« »Wen?«
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»Den Butler. Scarborough.« Victor schien nicht zu verstehen. »Ein großer Mann mit einem hochmütigen Gesicht und arrogantem Verhalten.« Jetzt wußte Victor, von wem die Rede war. »Aber ja. Ein tyrannischer Mann, verachtenswert.« Er verkrampfte sich, während er sprach. »Es ist unverzeihlich, wenn man seine Macht denen gegenüber mißbraucht, die sich aufgrund ihrer Position nicht verteidigen können. Ich verabscheue das, und die Menschen, die so handeln, sind ...«Er seufzte. »Ich kann es nicht in Worte fassen. Sosehr ich mich auch bemühe, ich kann die Sprache nicht finden, die meinen Zorn angemessen ausdrücken würde.« »Hat er das Mädchen wirklich entlassen, weil es gesungen hatte?« fragte Pitt und versuchte, so entspannt wie möglich zu klingen. Victor hob seine Augen und starrte ihn an. Pitt wartete. »Ja«, sagte Victor endlich. »Sie hatte ein kleines Liebeslied gesungen, ganz leise, ein trauriges Lied über einen Verlust. Er hat sie entlassen, ohne ihr Gelegenheit zu geben, sich zu erklären oder zu entschuldigen.« Sein Gesicht war noch blasser geworden, die Lippen waren blutleer. »Sie war kaum älter als sechzehn.« Sein ganzer Körper stand unter großer Anspannung, er saß zusammengekrümmt, nur seine Hände lagen noch zärtlich auf dem Cello. »Mrs. Radley hat die Szene auch beobachtet«, sagte Pitt spontan. Es war nicht Teil seines Plans, sondern geschah aus Mitleid. »Sie hat dem Mädchen eine Stelle angeboten. Es wurde also nicht auf die Straße gejagt.« Langsam richtete Victor seinen Blick auf ihn, der jetzt wieder sanft war, als sei aller Zorn von ihm genommen. »Wirklich?« »Ja. Sie ist meine Schwägerin, ich weiß also, daß es stimmt.« »Und der Mann ist tot«, fügte Victor hinzu. »Das ist gut so.«
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»War es das, was Sie wissen wollten?« fragte Bart und trat hinzu. »Ich habe nichts gesehen, und meine Schwester, soweit ich weiß, auch nicht.« »Ja, mehr oder weniger«, sagte Pitt und sah Mina an, nicht ihn. »Die andere Sache betrifft Mr. Arledge.« Er schlug absichtlich einen bestimmteren Ton an. »Sie haben mir bereits sagt, Mrs. Winthrop, daß Ihre Bekanntschaft mit ihm sehr flüchtig war und sich nur auf die einmalige Begegnung erstreckte, in der er Ihnen sein Mitgefühl ausdrückte, als Sie über den Tod eines Haustieres erschüttert waren.« Sie schluckte und zögerte. »Ja?« »Es tut mir leid, Madam, aber ich glaube Ihnen nicht.« »Wir haben Ihnen erzählt, was geschehen ist, Oberinspektor«, sagte Bart drohend. »Ob Sie das nun akzeptieren oder nicht, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Sie haben den Schlächter gefaßt. Zu welchem Zweck verfolgen Sie hartnäckig eine Frage, die doch bestenfalls am Rande interessiert?« Pitt beachtete ihn gar nicht. »Ich glaube, Sie kannten ihn weit besser«, sagte er zu Mina. »Und ich glaube auch nicht, daß es der Tod eines Haustieres war, der Sie so mitgenommen hatte.« Sie erbleichte und schien sich unbehaglich zu fühlen. »Mein Bruder hat Ihnen bereits gesagt, was geschehen ist, Oberinspektor. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.« »Ich weiß, daß Mr. Mitchell mir das erzählt hat, Madam. Was ich gerne wissen möchte, ist, warum Sie es mir nicht selbst erzählt haben? Liegt es daran, daß es Ihnen schwerer fällt zu lügen? Oder fiel Ihnen nur keine passende Unwahrheit ein?« »Sir, Ihr Verhalten ist beleidigend.« Bart trat näher an Pitt heran, als wolle er ihm körperliche Gewalt androhen. Seine Stimme hatte einen gefährlichen Ton, als er sagte: »Ich muß Sie bitten, das Haus zu verlassen. Sie sind nicht länger als unser Gast willkommen.« »Ob ich willkommen bin oder nicht, ist völlig gleichgültig«, gab Pitt zurück, immer noch Mina zugewandt. »Mrs.
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Winthrop, wenn ich Ihre Dienstboten befrage, würden sie die Geschichte mit dem Haustier bestätigen?« Mina war unglaublich blaß, ihre Hände zitterten. Sie versuchte, etwas zu sagen, fand aber keine Worte. Ihre Lippen waren trocken. »Mrs. Winthrop«, sagte er finster und verabscheute sich, weil er sie quälen mußte. »Wir wissen, daß Ihr Mann Sie geschlagen hat -« Mit schreckgeweiteten Augen riß sie den Kopf hoch. »Oh nein, nein!« brach es unwillkürlich aus ihr heraus. »Es war ein Unfall... er ... es war meine Schuld. Wenn ich nicht so ungeschickt wäre, so unbeholfen ... Ich habe ihn unnötig gereizt, weil ich ...» Sie brach ab, die Augen auf Bart gerichtet. Victor sah Mina mit großen, harten Augen an und wartete. »Es war nicht deine Schuld!« preßte Bart zwischen den Zähnen hervor. »Es ist ganz egal, wie uneinsichtig, widerspenstig oder hartnäckig du warst! Nichts rechtfertigt -« »Bart!« Ihre Stimme wurde schrill. Sie bedeckte den Mund mit ihren Händen. »Du hast unrecht! Du hast unrecht! Es war nichts! Er wollte mir nicht weh tun! Du hast das alles falsch verstanden. Oakley war nicht grausam. Es lag am Whiskey. Er hat...» Victor sah von der völlig aufgelösten Mina zu Bart, dessen Gesicht angespannt und unentschlossen war. »Hat es nicht weh getan?« fragte er sanft. »Nein, Victor, mein Lieber, es war ja schnell wieder vorbei«, versicherte sie ihm. »Bart will mich nur« - sie zögerte - »beschützen.« »Das stimmt nicht!« Victors Stimme klang belegt, als würde ihm die Kehle zugeschnürt. »Es tut weh - es macht dir angst! Es steht in deinem Gesicht! Du hattest Angst vor ihm. Und er hat dich beschämt und erniedrigt, er hat dir das Gefühl gegeben, wertlos zu sein »Nein! Nein, das stimmt nicht. Er hat es nicht so gemeint. Und es geht mir wieder gut, das versichere ich dir.«
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»Weil der Mistkerl tot ist!« brach es aus Bart hervor. Er wollte noch etwas hinzufügen, kam aber nicht dazu. Mina brach in Tränen aus und sank auf das Sofa. Bart machte ein paar Schritte nach vorn und stieß Victor beinahe um, dann packte er Pitt grob am Arm und schob ihn zur Tür. Victor blieb reglos sitzen. Als Pitt in der Eingangshalle stand, widersetzte er sich nicht weiter, befühlte die Stelle, an der Bart ihn gepackt hatte, und ging zur Hauptstraße. Es war ein klarer Abend im letzten Dämmerlicht. Er rechnete nicht damit, daß in den nächsten Minuten etwas passieren würde. Eine Viertelstunde lang saß er angespannt in einem Wirtshaus und trank ein Glas Cidre, dann machte er sich wieder auf den Weg, während der Himmel sich bewölkte und das Tageslicht erlosch. Es dauerte einige Zeit, bevor er sich sicher war, daß er verfolgt wurde. Zunächst war es nur ein Gefühl, eine Ahnung von Schritten, die ein Echo zu seinen bildeten, anhielten, wenn er anhielt, weitergingen, wenn er weiterging. Als er die Marylebone Road erreichte, war es dunkel. Nur mit Mühe vermied er es, seine Schritte zu beschleunigen. Es war ein seltsames, prickelndes Gefühl, ein äußerst unangenehmes obendrein. Wenn er mit seinen Vermutungen so vage sie auch waren, basierend auf Eindrücken und nur wenigen handfesten Beweisen - richtig lag, dann war es jetzt der Schlächter, der ihm folgte, ihn beobachtete, sich ihm näherte und auf seine Chance wartete. Die Waffe hätte er bei sich; er hätte sie aus dem Versteck geholt, das Haus verlassen und sich beeilt, Pitt einzuholen. Obwohl Pitt sich nichts anmerken lassen wollte, beschleunigte er seine Schritte unwillkürlich. Er hörte den schnellen, etwas ungleichen Klang seiner Schritte, und hinter sich das Echo seines Verfolgers, behender und leichter. Die Marylebone Road ging in die Euston Road über. Ein Zweispänner fuhr vorbei, die Kutschenlampen leuchteten gelb, laut hallten die Hufe auf dem Pflaster. Er ging jetzt, so schnell er konnte, ohne jedoch zu rennen. Der Laternenan-
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zünder kam ihm entgegen; er hielt die Stange mit der Zündflamme an jeden Docht, und die Lampen wurden, eine nach der anderen, hell und formten eine Reihe unverbundener leuchtender Kugeln,- dazwischen war Dunkelheit, die die Fußgänger verschluckte: Menschen auf dem Heimweg, vom Tagewerk erschöpft oder auf der Suche nach abendlichem Vergnügen. Im Lichterschein sah er die Umrisse eines Zylinders, als ein Mann an ihm vorbeieilte. Die Euston Station lag knapp hundert Meter vor ihm. Er spürte den Angstschweiß in seinen Handflächen, sein Atem ging stoßweise, obwohl er ein gemäßigtes Tempo einzuhalten versuchte. Die Schritte hinter ihm waren jetzt näher. Er wagte nicht, es hier zu einer Konfrontation kommen zu lassen. Wenn er nicht angegriffen wurde, hatte er keine Beweise. Die grobe Art, wie er mit Mina umgesprungen war, hätte dann ihren Zweck verfehlt. Er betrat das Bahnhofsgebäude. Es war spät, und nur wenige Menschen waren noch unterwegs. Nach dem warmen Tag legte sich nun die kühle Abendluft als Dunst auf die Stadt. Bei dem Rattern der Züge, dem Schreien der Gepäckträger, dem Pfeifen und Hupen, dem Zischen des Dampfes konnte er die Schritte hinter sich nicht mehr hören. Auf dem Bahnsteig drehte er sich um. Er sah einen Gepäckträger, einen älteren Mann mit einem Aktenkoffer, eine Frau mit schwarzen Haaren und einem Schal um die Schultern. Ein junger Mann stand im Schatten der Lichter und schien auf jemanden zu warten. Dann betrat eine ältere Frau den Bahnsteig und sah sich ängstlich um. Pitt ging auf dem Bahnsteig entlang bis zu der Fußgängerbrücke, die über die Gleisanlage führte. Er erklomm die Stufen. Sie waren schlüpfrig. Jedesmal, wenn er einen Fuß auf die nächste Stufe setzte, hörte er das Klirren der Metallkanten. Dampfwolken stiegen auf, ein feiner Nieselregen fiel. Die Lampen auf dem Bahnsteig waren Leuchtkugeln, die in der Dunkelheit und dem beginnenden Regen schwammen, umgeben von Dampf und den nahenden Lichtern der Züge.
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Er ging über die Brücke oberhalb der Gleise. Um ihn herum war es zu laut, als daß er Schritte hätte hören können, selbst seine eigenen hörte er nicht. Der Bahnsteig war im Nebel verschwunden. Plötzlich spürte er eine Bewegung, fühlte er drohende Gefahr, einen flammenden Haß, den er brennend in seinem Nacken spürte. Er drehte sich herum. Victor stand ungefähr einen Meter von ihm entfernt, das Licht vom Bahnsteig erleuchtete sein fahles Gesicht, seine blitzenden Augen und sein helles, fast silberglänzendes Haar. In der rechten Hand hielt er ein Entermesser mit glitzernder Klinge, zum Schlag erhoben. »Sie sind genauso!« schluchzte er. Die Lippen waren über die Zähne zurückgezogen, sein Gesicht vor innerer Pein verzerrt. »Sie sind wie die anderen!« schrie er und übertönte den Lärm. »Sie tun Menschen weh! Sie machen sie krank, Sie ängstigen sie, beschämen sie, und ich lasse es nicht zu, daß Sie ihr das weiter antun!« Er schwang das Messer durch die Luft; Pitt sprang zur Seite und verhinderte gerade noch, daß die Klinge ihn an der Schulter traf. Es wäre ein verheerender Schlag gewesen und hätte ihm den Arm abtrennen können. Pitt wich zur Seite, als Victor nach vorn stürmte, an ihm vorbei, und sich umdrehte. »Sie können nicht entkommen!« Victors Atem zischte, Tränen rannen ihm über das Gesicht. »Warum lügst du mich an?« Er stieß die Frage mit schrecklicher Stimme aus und schien auf jemanden hinter Pitt zu starren. »Lügnerin! Lügnerin! Du hast immer gesagt, es tut nicht weh - aber ich weiß, daß es weh tut! Es tut so weh, bis dein ganzer Körper voller Schmerz ist und du nachts wachliegst, gequält und krank, voller Scham und Schuld, und du denkst, es ist alles dein Fehler, und wartest schon auf das nächste Mal. Ich habe Angst. Es ist alles sinnlos. Du hast mich die ganze Zeit angelogen.« Er schrie die Worte heraus und schwang das Messer durch die Luft. »Du hast auch Angst! Ich habe dein Gesicht gesehen, die Wunden, das Blut. Ich
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rieche doch dein Unglück. Die ganze Zeit schmecke ich es in meinem Mund. Ich will nicht, daß es so weitergeht. Ich will, daß er aufhört!« Wieder holte er wild mit dem Messer aus. In äußerster Bedrängnis wich Pitt zurück. Seinen Stock zu benutzen, wagte er nicht; die Klinge hätte ihn entzwei geschlagen und Pitt seiner Verteidigung beraubt. Auf einmal war alles klar: Der tyrannische Winthrop, der Mina geschlagen hatte,- der Omnibusschaffner, der Victors geliebtes Cello beschädigt hatte; der arrogante Scarborough, der ein Mädchen entlassen und in den Ruin getrieben hatte,- immer waren es die verletzten, wehrlosen Frauen. Bailey wurden wahrscheinlich angegriffen, als der Barts Alibi überprüft und Mina damit erschreckt hatte. Denn sie war besessen von der Angst, daß Bart am Mord von Winthrop schuldig sein könnte. »Aber warum haben Sie Arledge umgebracht?« rief er laut mit heiserer Stimme. Hinter ihnen stieß ein Zug Dampfwolken aus und ließ einen gellenden Pfiff ertönen. Victor sah ihn verständnislos an. »Warum Arledge?« rief Pitt wieder. »Er hat keinen gequält.« Victor ging ein wenig in die Knie, um sein Gleichgewicht zu halten; mit einer Hand stützte er sich auf das Geländer, mit der anderen hielt er das Messer. Pitt wich zur Seite und nach hinten, um außer Reichweite der Klinge zu sein. »Was hat Arledge getan?« Einen Augenblick lang war Victor überrascht. Plötzliche Verwirrung lag in seinem Gesichtsausdruck. Seine Wut war verflogen, er stand regungslos. »Ich habe ihn nicht umgebracht.« »Doch. Sie haben ihn geköpft und im Musikpavillon zurückgelassen. Erinnern Sie sich nicht mehr?« »Ich habe ihn nicht umgebracht!« Victors Stimme war ein Kreischen, das das Zischen und Rattern der Züge übertönte. Er stürmte nach vorne, von seinem Gewicht getrieben, das Messer über dem Kopf. Pitt sprang zur
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Seite und auf ihn zu und packte ihn so heftig an den Schultern, daß Victors Hand, mit der er den Griff des Messers umklammert hielt, auf seinen Arm prallte, worauf Pitt seinen Stock fallen ließ, der krachend zu Boden fiel. Pitt schrie vor Angst und Schmerz, aber der schrille Pfiff eines Zuges verschluckte den Schrei. Eine Dampfwolke hüllte sie ein. Pitt stürmte nach vorn und rammte Victor seinen Kopf in die Brust. Victor verlagerte sein Gewicht auf ein Bein, um erneut zuzuschlagen, als er das Gleichgewicht verlor und nach hinten fiel. Er prallte mit dem Rücken gegen das Geländer, und das Gewicht des Entermessers zog ihn darüber hinweg. Auf dem feuchten Metall der Brücke glitt er aus. Pitt setzte ihm nach und versuchte vergebens, ihn am Arm zu packen. Victors Beine flogen in die Luft und streiften Pitt, der das Gleichgewicht verlor. Mit einem überraschten Aufschrei, der sich in Schrecken verwandelte, taumelte Victor über das Geländer und verschwand in den Lichtern eines nahenden Zuges. Der Klang des Aufpralls ging im Getöse der Maschinen unter. Den Bruchteil einer Sekunde sah Pitt das weiße Gesicht des Lokführers, dann war alles vorbei. Pitt hielt sich mit zitternden Händen am Geländer fest. Er fröstelte, doch mit großer Klarheit erfaßte er jetzt die Zusammenhänge. Mitleid erfüllte ihn. Victors Leben war erloschen. Sein Zorn und sein Schmerz waren jetzt unerreichbar. Als der Dampf sich auflöste, sah er eine weitere Gestalt im Hintergrund, wo er gestanden hatte. Sie kam auf ihn zu, tastete sich mit den Händen am Geländer entlang wie eine Blinde. Ihr Gesicht war aschfahl. Entsetzt starrte er sie an. Plötzlich war alles klar. Sie war es, die Victor angeschrien hatte, nicht ihn Pitt. Dieser furchtbare Gefühlsausbruch hatte ihr gegolten, ebenso die Angst und das Entsetzen der Vergangenheit. »Ich habe es nicht gewußt!« stieß sie hervor. »Erst heute abend habe ich verstanden. Ich schwöre es!«
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»Nein«, sagte er, von Mitleid so überwältigt, daß seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern war. »Es war sein Vater«, fuhr sie fort, verzweifelt darum bemüht, von ihm verstanden zu werden. »Er hat mich geschlagen. Er war kein böser Mensch, aber er konnte sich nicht beherrschen. Ich habe immer zu Victor gesagt, daß es nicht schlimm sei und auch nicht weh getan habe. Ich dachte, das wäre das Richtige!« Ein Ausdruck der Verwirrung und Verzweiflung lag auf ihrem Gesicht und löschte für den Moment sogar die Trauer aus. »Ich dachte, ich könnte ihn so schützen. Ich dachte, es würde wieder gut, verstehen Sie? Ich wollte nicht, daß er seinen Vater haßt, und Samuel war ja kein schlechter Mensch - nur ...« Sie sah ihn inständig bittend an. Ihre Augen hingen an ihm in der Hoffnung, er würde ihr glauben. »Er hat uns doch geliebt, auf seine Art. Er hat es mir gesagt... oft sogar. Es war meine Schuld, daß er so böse wurde. Wenn ich nicht so ...« »Es ist vorbei«, sagte er und kam auf sie zu. Er konnte es nicht mehr ertragen. Unter ihnen war der Zug zum Stehen gekommen, Männer rannten auf dem Bahnsteig entlang und riefen einander Anweisungen zu. Sie sollte nicht dabeisein. Jemand sollte sie wegbringen. Jemand sollte sie in ihrem schrecklichen Schmerz zu trösten versuchen. »Kommen Sie.« Er nahm ihren Arm und zog sie fast zur Treppe. »Hier ist alles vorbei.« Am selben Morgen war Charlotte direkt nach dem Frühstück zu Emily gegangen. Sie saßen auf der Terrasse in Emilys Garten und tranken Limonade. Es war ein milder, sonniger Tag, und hier draußen konnten sie nicht von irgendwelchen Dienstboten gehört werden. Die Situation war verzweifelt. Sie mußten etwas aushecken und konnten keine Zeugen gebrauchen. Jack wäre damit nicht einverstanden gewesen, das war klar, angesichts seiner neuen Verantwortung. Doch ganz abgesehen von der Tatsache, daß ihnen an der Aufklärung des Falles gelegen war, mußten sie sich etwas einfallen lassen, um Pitt aus seiner Notlage zu helfen.
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»Wie sollen wir denn bloß den Namen eines Liebhabers herausfinden?« fragte Charlotte verzweifelt und nahm einen Schluck Limonade. »Wir können ihr ja nicht nachstellen.« »Das wäre auch unpraktisch«, sagte Emily. »Außerdem würde es auch zu lange dauern. Es könnten Tage vergehen, bevor sie sich wiedersehen. Wir müssen schneller handeln.« »Wenn sie sich aber nicht mit ihm trifft?« fragte Charlotte. »Dann müssen wir dafür sorgen, daß sie es tut!« Emily war wild entschlossen. Der unerwartete Sieg hatte ihr jede Menge Selbstvertrauen gegeben. »Wir könnten an sie schreiben, zum Beispiel. Eine Einladung, die vorgibt, von ihm zu kommen.« »Sie würde sofort merken, daß es nicht seine Handschrift ist«, wandte Charlotte ein. »Außerdem haben verliebte Menschen immer eine besondere Art, miteinander zu korrespondieren. Sie benutzen zärtliche Wendungen oder einen Kosenamen.« Emily sah sie finster an. »Außerdem«, fuhr Charlotte fort, »selbst wenn sie darauf einginge und eine Antwort schickte, wüßten wir immer noch nicht, wer er ist.« »Sei doch nicht so schwierig«, sagte Emily ungehalten. „Wir müßten ihn natürlich so formulieren, daß sie zu ihm gehen würde, und dann wüßten wir es.« »Und er wüßte, wer wir sind«, fügte Charlotte hinzu. »Sie wüßten beide, daß es nicht mit rechten Dinge zuginge. Es würde den Anschein ordinärer Neugier erwecken. Wahrscheinlich würden wir mehr Schaden anrichten, als Gutes bewirken.» Sie setzte ihr Glas ab. »Wir dürfen nicht vergessen, das es ja erst der Anfang ist, wenn wir herausbekommen, wer er ist. Einen Verehrer zu haben ist ja kein Verbrechen; wenn man diskret ist, zählt es noch nicht einmal als Sünde.« Emily warf ihr einen bösen Blick zu. »Willst du die Sache nun aufklären oder nicht?«
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Darauf antwortete Charlotte gar nicht. »Ich glaube nicht, daß Dulcie sich verraten würde«, sagte sie nachdenklich und griff wieder nach ihrem Glas. Die Limonade war wirklich köstlich und erfrischend. »Aber er vielleicht.« »Aber wir wissen nicht, wer er ist«, hob Emily wieder an. »Um das zu erfahren, müssen wir ihm auf die Spur kommen, durch sie.« »Ich bin mir nicht sicher, ob das unbedingt richtig ist.« Emily zog die Brauen zusammen, ein Zeichen höchster Konzentration. »Hast du eine Idee?« »Vielleicht. Laß uns mal überlegen, welche Eigenschaften er besitzen müßte.« »Um als Liebhaber zu bestehen?« Emily sah sie verständnislos an. »Mach dich nicht lächerlich. Er muß männlich sein - das ist auch schon alles. Der Rest ist einfach eine Frage des Geschmacks.« »Du machst es dir zu einfach«, sagte Charlotte scharf. »Ich meine, was für Qualitäten muß er haben, damit es für sie sinnvoll ist, Aidan Arledge zu ermorden, und zwar jetzt, und nicht früher oder später, oder auch gar nicht. Die meisten Menschen, die ein Liebespaar sind, ermorden ja ihre Ehepartner nicht. Warum aber in diesem Fall, und warum jetzt?« Ein paar Minuten saß Emily schweigend da und kaute ein Sahnebonbon. »Die Umstände haben sich verändert«, antwortete sie schließlich. »Alles andere ergibt keinen Sinn.« »Ja, das denke ich auch, aber wie?« sagte Charlotte und nahm sich auch ein Sahnebonbon. »Jemand hat sie entdeckt? Nein, dann hätten sie denjenigen, der sie entdeckt und vielleicht erpreßt hat, umgebracht. Vielleicht hat ihr Mann sie entdeckt und gedroht, sie öffentlich des Ehebruchs zu bezichtigen? Oder sie aus dem Haus zu werfen?« »Während er selbst eine Affäre mit Jerome Carvell hatte? Wohl kaum!«
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»Sie hat ihn mit Jerome Carvell erwischt und in einem Anfall von Wut und Ekel umgebracht«, spann Emily weiter. »Thomas meint, sie hat von Jerome Carvell nichts gewußt«, gab Charlotte zu bedenken. »Sie hatte angenommen, daß er eine Geliebte hatte. Wie jeder andere auch.» »Aber Thomas hält sie für die trauernde Witwe», sagte Emily und zog eine Grimasse. »Er hat ja auch noch nicht gemerkt, daß sie einen Geliebten hat.« Charlotte gestand das schweigend ein. Pitts Meinung von Dulcie war kein Thema, mit dem sie sich lange beschäftigen wollte. »Ich mag Thomas wirklich unglaublich gern«, fuhr Emily fort. »Aber bei Frauen ist sein Urteilsvermögen nicht immer besonders gut. Allerdings ist das bei den meisten Männern der Fall«, fügte sie noch an. »Also, aus irgendeinem Grund war es plötzlich dringend. Vielleicht wollte er sie aufgeben, weil sie nicht frei war, ihn zu heiraten, so daß sie ihren Mann umbringen mußte, damit der Geliebte sie nicht verlassen würde.« »Vielleicht wollte er eine andere heiraten«, mutmaßte Charlotte. »Das würde bedeuten, daß er frei ist, um zu heiraten«, folgerte Emily mit zunehmender Begeisterung. »Das würde die Auswahl deutlich einschränken. Es gibt nicht so viele Gentlemen, die vom Alter her zu Dulcie Arledge passen würden und zugleich unverheiratet und eine angemessen Partie sind.« Er mußte gar nicht im selben Alter sein, aber keine wollte diesen Gedanken zulassen. »Meinst du wirklich, er wollte sie verlassen?« fragte Charlotte zweifelnd. »Nein. Meinetwegen, wenn er also nicht im Begriff war, sich davonzumachen, vielleicht ist er statt dessen plötzlich frei geworden? Am Anfang war es vielleicht egal, ob sie frei war, weil er es auch nicht war. Jetzt, da er frei ist, wollte sie es auch sein und hat entsprechend gehandelt.«
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»Das könnte sein«, stimmte Charlotte ihr zu. »Ja, ich finde, das klingt ziemlich plausibel. Vielleicht ist es aber auch jemand, den sie erst kürzlich kennengelernt hat?« »Das ist auch eine Möglichkeit. Zum Beispiel Bart Mitchell, Mina Winthrops Bruder.« »Thomas hatte ihn im Verdacht, aber nicht aus diesem Grund.« »Aus welchem Grund dann?« »Wegen Mina.« »Was hatte Arledge denn mit Mina zu tun?« Charlotte erklärte das, was sie wußte, und das war wenig genug. Emily wies das von sich. »Oder jemand wie Landon Hurlwood, der kürzlich seine Frau verloren hat. Damit ist er ja plötzlich frei. Und er ist ein wirklich attraktiver Mann.« Sie klang regelrecht begeistert. »Ich kann eine Frau, die sich in ihn verguckt, durchaus verstehen. Und ich könnte mir vorstellen, wenn er sich für einen interessierte, würde man schnell ein wenig überschwenglich werden.« »Deinen Mann zusammenzuschlagen, ihm dann den Kopf abzuhacken und ihn im Park liegenzulassen, ist wohl mehr als ,ein wenig’«, gab Charlotte zu bedenken. Doch auch sie begeisterte sich mehr und mehr für die Theorie, so daß Emily geneigt war, mehr auf den Ton als auf die Worte zu achten. »Aber er erfüllt die Kriterien in jedem Punkt, meinst du nicht?« Emily beugte sich vor, die Ellbogen auf den Eisentisch gestützt. »Ja, das stimmt«, sagte Charlotte mit wachsender Überzeugung. »Ja, er scheint genau zu passen. Aber wahrscheinlich gibt es noch viele andere. Die Schwierigkeit besteht ja darin zu entscheiden, wer es wirklich ist.« »Müssen wir das denn?« fragte Emily. »Du siehst doch selbst, daß wir auf der richtigen Spur sind.« »Natürlich. Aber wir müssen doch Beweise finden, um uns sicher zu sein. Dann müssen wir herausfinden, ob er Aidan Arledge umgebracht hat, und ob Dulcie Arledge davon wußte.«
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»Oje.« Emily stieß einen langen Seufzer aus. »Na ja, das wird ja interessant. Wie sollen wir das denn anstellen? Vor allem, wo doch Thomas nicht...» »Er hat Dulcie nie verdächtigt«, unterbrach Charlotte sie. Sie biß sich auf die Lippen, ihre Gewissensbisse meldeten sich. »Vielleicht wußte sie nicht, daß ihr Geliebter es ihretwegen getan hat.» Diesmal war es Charlotte, die Emily einen entnervten Blick zuwarf. »Na ja, gut«, sagte Emily. »So naiv ist sie bestimmt nicht. Tut mir leid. Also, wie sollen wir vorgehen?« »Wir müssen uns Sicherheit verschaffen.« Charlotte sprach mehr zu sich selbst als zu Emily und verfiel dann in Schweigen. »Wir müssen eine Reaktion provozieren«, sagte sie schließlich. »Bei wem? Bei Dulcie? Was soll das bewirken? Sie wird ihn nicht verraten.« »Nicht bei Dulcie. Bei ihm.« »Aber wir wissen doch gar nicht, wer er ist. Es muß ja nicht Landon Hurlwood sein, es könnte genausogut Bart Mitchell oder einer von weiß ich wie vielen anderen sein.« »Gut, wir können ja mit Bart Mitchell und Landon Hurlwood anfangen.« Charlotte biß sich auf die Lippe. »Allerdings weiß ich offengestanden nicht, wie wir es anfangen sollen.« Emily dachte einen Moment nach, dann erhellte sich ihre Miene. »Ich aber. Die Affäre ist ja geheim, und wenn sie irgendwas mit Aidan Arledges Tod zu tun hat, dann wollen die beiden sie auf jeden Fall noch eine Weile geheimhalten. Es muß dann so aussehen, als hätten sie sich verliebt, nachdem sie Witwe geworden ist. Wenn wir aber eine Begegnung herbeiführen - eine gesellschaftliche natürlich, damit es ganz zufällig aussieht - und eine Bemerkung machen, dann würde sie das aus der Fassung bringen, und wir wüßten sofort, daß wir den Richtigen gefunden haben.«
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Charlotte wollte gerade schon sagen, daß sie das unmöglich tun könnte, als ihr Pitts verzweifelte Lage wieder bewußt wurde: seine Entlassung, das Haus, das sie aufgeben müßten, die Verwandten, die davon erfahren würden, Großmamas höhnische Befriedigung, aber vor allem die Erniedrigung für Pitt selbst. »Gut«, sagte sie, ohne die geringste Vorstellung davon zu haben, wie sie das bewerkstelligen sollte. »Das ist eine ausgezeichnete Idee. Am besten fangen wir sofort an. Ich werde Bart Mitchell übernehmen, ich besuche einfach Mina. Du nimmst Mr. Hurlwood.« Sie erhob sich. »Wie du ihn findest, weiß ich nicht, aber das ist deine Sache.« Damit umarmte sie Emily flüchtig und ohne abzuwarten, ob die irgendwelche Einwände oder Bedenken hatte, betrat sie das Haus durch die Terrassentür, ging zum Eingang und verschwand. Kurz danach erreichte Charlotte Minas Haus, lange bevor Pitt dort erschien, und wurde mit einer Herzlichkeit begrüßt, die gewöhnlich das Zeichen einer langen Freundschaft ist. Normalerweise hätte es ihr Gewissensbisse verursacht, eine solche Großzügigkeit auf diese Weise auszunützen. Aber heute wurde sie allein von der Notwendigkeit getrieben, so zu handeln. »Wie schön, Sie zu sehen, Mrs. Pitt«, sagte Mina herzlich. »Wie gefällt es Ihnen in Ihrem neuen Haus? Haben Sie sich schon eingelebt?« »Sehr gut, danke«, erwiderte Charlotte, und mit einiger Erleichterung erblickte sie Bart Mitchell, der hinter Mina stand. »Es gefällt mir ausgezeichnet. Guten Tag, Mr. Mitchell.« »Guten Tag, Mrs. Pitt«, erwiderte er und musterte sie überrascht. Er machte einen Schritt zur Tür. »Bitte, gehen Sie nicht meinetwegen«, sagte sie viel zu hastig. »Das würde mich bekümmern.« Gleich darauf hätte sie sich die Zunge abbeißen können, weil sie so überhastet gesprochen hatte. Sie machte sich lächerlich. Doch wenn er jetzt ginge, hätte sie den Besuch umsonst gemacht, und
sie hatte keine Zeit zu verlieren. In ein paar Tagen spätestens würde man Pitt den Fall wegnehmen. »Nun - ich ...« Er blickte sie verwirrt an. Er hatte eine solche Reaktion unmöglich vorhersehen können. Plötzlich schoß ihr eine geniale Idee durch den Kopf, die zwar gänzlich absurd war, aber sie dachte im Moment nicht an ihre eigene Würde. Thomas allein war wichtig. Es fiel ihr leicht zu erröten, da sie sich sowieso ziemlich dumm vorkam. Bescheiden senkte sie die Augen, als wolle sie ihre Gefühle verbergen, und sah ihn dann plötzlich mit einem Augenaufschlag an, den sie schon bei zahllosen Frauen gesehen hatte. Emily war darin Meisterin. Sie selbst hatte es nur wenige Male als junges Mädchen versucht und sich ziemlich lächerlich gemacht. Bart war jetzt völlig perplex, aber er machte keine Anstalten zu gehen, sondern setzte sich auf das Sofa und schien bleiben zu wollen. Gütiger Himmel! Fand er sie etwa attraktiv? Oder fühlte er sich nur geschmeichelt? Mina sagte etwas, doch Charlotte hatte kein Wort verstanden. Sie mußte aufpassen, oder die Situation würde ihr völlig entgleiten. »Wie freundlich von Ihnen«, murmelte sie und hoffte, daß dies eine angemessene Antwort war. Mina zog an der Klingel, und als das Mädchen erschien, bestellte sie gekühlte Limonade. Das war also ihre Frage gewesen. Charlotte suchte verzweifelt nach einem intelligenten Gesprächsthema. Vom neuesten Klatsch wußte sie nichts, da es sie nicht interessierte und sie sich nicht in den entsprechenden Kreisen bewegte; Frauen geziemte es nicht, über Politik zu sprechen; in Modefragen war sie nicht auf dem laufenden; über den Schlächter wollte sie lieber nicht sprechen, und im Theater war sie schon seit Monaten nicht mehr gewesen, ebensowenig im Konzert. »Wie geht es Ihrem Arm? Ich hoffe, die Wunde heilt gut«, sagte sie, um das Schweigen zu brechen.
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»Ja, doch«, sagte Mina und zog die Augenbrauen in die Höhe, als hätte sie diese Frage nicht erwartet. »Viel schneller, als ich gedacht hatte. Ich glaube, Ihre schnelle Reaktion hat mir viel Schmerz erspart.« Charlotte atmete erleichtert auf. »Ich weiß, daß kaltes Wasser nur eine Linderung der Symptome bewirkt, was ja nicht dasselbe ist wie eine Heilung. Aber bei Verbrühungen scheint die Erleichterung von Dauer zu sein, und es bleibt auch keine sehr große Narbe. Sind Sie nicht derselben Meinung, Mr. Mitchell?« »Ich schließe mich Ihrer Meinung gerne an, Mrs. Pitt«, erwiderte er mit einem Lächeln. »Obwohl meine Erfahrung mit Verbrühungen im Haushalt eher gering ist.« »Vielleicht wissen Sie etwas über andere Arten von Verbrennungen?« fragte sie, wobei das leichte Zittern ihrer Stimme kaum etwas von ihrer Verunsicherung verriet. Sein Lächeln wurde breiter. »In der Tat. Ich habe ohne jede Absicht einen Sonnenbrand mit kaltem Wasser geheilt.« »Einen Sonnenbrand? Wie interessant.« Sie sah ihn fasziniert an, als wäre es das packendste Thema von der Welt. Er hatte wirklich erstaunlich blaue Augen. Er wandte seinen Blick diskret ab und begann, ihr von seinen Reisen in Afrika zu erzählen, von einem Sonnenbrand und wie er von seinem Pferd fiel, als er einen breiten Fluß überqueren wollte, der Hochwasser führte, wie das kühle Wasser den Schmerz der verbrannten Haut linderte und seine aufsteigende Schwäche behob. Es war eine unterhaltsame Geschichte, mit Humor und Lebhaftigkeit vorgetragen. Sie mußte ihr Interesse nicht vorgaukeln. Das Mädchen brachte die köstlich kühle Limonade, und Charlotte fuhr fort, Fragen zu seinen Reisen zu stellen, die er bereitwillig beantwortete. Mina saß aufrecht und völlig entspannt auf dem Sofa, die Hände im Schoß gefaltet, ein kleines Lächeln auf den Lippen. Doch die wertvolle Zeit verstrich, und Charlotte war ihrem Ziel keinen Schritt nähergekommen. Wenn Bart
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Mitchell Dulcies Liebhaber war, dann verbarg er seine Gefühle mit großer Kunstfertigkeit. Aber je mehr sie über ihn erfuhr, desto mehr war sie davon überzeugt, daß ihm das leichtfallen und seinem Naturell entsprechen würde. Er würde die Frau, die er liebte, nicht verraten, weder absichtlich noch durch Gedankenlosigkeit oder Unvorsichtigkeit. Mit jeder Minute fühlte sie sich unbehaglicher. Hoffentlich zeigte Emily größeres Geschick. Jetzt mußte sie es wagen, was auch immer der Preis sein würde. Sie mußte es wenigstens versuchen. »Seit wann sind Sie denn aus Afrika wieder zurück, Mr. Mitchell?« fragte sie mit großen Augen. Es erwies sich im übrigen nicht als schwierig, mit ihm zu flirten. Wenn man ihn besser kennenlernte, war er ein überaus angenehmer Mensch, außerdem sah er sehr gut aus. »Seit letztem Herbst, Mrs. Pitt«, erwiderte er. »Ach - so lange schon.» Die Worte waren ihr unwillkürlich herausgerutscht. Sie schluckte und hoffte, daß die darin mitschwingende Enttäuschung in seinen Ohren nicht so deutlich zu vernehmen war wie in ihren. Aber vielleicht war es gar nicht zu lang, um sich zu verlieben - für manche Menschen zumindest nicht. Sie selbst konnte sich nicht vorstellen, so lange zu brauchen. Und Bart Mitchell sah nicht aus wie ein Mann, der länger als ein halbes Jahr braucht, um sich gefühlsmäßig zu binden. »Gefällt Ihnen das Gesellschaftsleben in London, oder erscheint es Ihnen recht zahm nach all Ihren Abenteuern?« Was für eine plumpe Frage! Darauf konnte er nur eine höfliche Antwort geben. »Oh - verzeihen Sie, bitte!« Sie haspelte weiter. »Was können Sie darauf sagen, außer, daß es Ihnen gefällt? Aber ich würde mich über eine ehrliche Antwort freuen und gern erfahren, ob Sie die Gefahren und das Gefühl, täglich etwas Neues zu entdecken, vermissen.« Sie sprach viel zu hastig, konnte sich aber nicht bremsen. »Die Herausforderungen an Ihren Mut und Ihre Phantasie, Ihre Fähigkeit, Not und Elend zu ertragen und sich aus Engpässen zu befreien.«
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»Meine liebe Mrs. Pitt.« Er lächelte und schien ehrlich belustigt. »Ich versichere Ihnen, ich hatte nicht die Absicht, eine höfliche und nichtssagende Antwort zu geben. Ich sehe in Ihnen keine Frau, die ihre Zeit mit nettem Geplauder verbringt. Im Gegenteil, ich bin überzeugt, Sie verfolgen mit den meisten Dingen einen Zweck.« Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Das war viel näher an der Wahrheit, als er - so hoffte sie inständig - ahnte. »Oh«, sagte sie schwach. »Ich - ehm ...« »Um auf Ihre Frage zurückzukommen«, fuhr er fort, »es gibt natürlich eine Menge Dinge, die ich vermisse, und es gibt Zeiten, in denen London ganz unerträglich zahm scheint. Aber dann wiederum, wenn ich das Grün der Gärten, die frischen Frühlingsblumen und die hübschen Häuser sehe und weiß, daß dahinter tagtäglich ein zivilisiertes Leben stattfindet, daß daraus Schönheit und Erfindungsgeist entspringt, dann macht es mich auch sehr froh, hier zu sein.« Sie hielt den Blick gesenkt. »Werden Sie nach Afrika zurückkehren, Mr. Mitchell?« »Irgendwann schon, denke ich«, sagte er. »Aber Sie haben keine Pläne für die nahe Zukunft?« Sie hielt den Atem an, während sie auf die Antwort wartete. »Nein, keine«, gab er belustigt zurück. »Natürlich nicht«, sagte sie sanft. »Mrs. Arledge wird darüber sehr froh sein. Aber Sie hätten sie bestimmt nicht allein zurückgelassen.« Schnell hob sie den Blick, um den Ausdruck auf seinem Gesicht zu erhaschen. Sie sah nicht den Ansatz eines Schuldgefühls, sondern nur Unverständnis. »Wie soll ich das verstehen?« Nie in ihrem Leben war sie sich so idiotisch vorgekommen. Sie hatte schamlos mit einem durchaus wohlerzogenen Mann geflirtet und lauter dummes Zeug geredet, als hätte sie nur Stroh im Kopf, und jetzt fiel ihr nicht ein, wie sie sich aus dieser mißlichen Lage befreien könnte. »Oh ...« Sie suchte nach Worten. »Ich fürchte, ich habe mich schlecht ausgedrückt. Ich glaube, es ist ein Mißver-
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ständnis meinerseits. Bitte verzeihen Sie.« Sie wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen. Daß Mina im Zimmer war, hatte sie ganz vergessen. Doch er ließ sie nicht so einfach aus der Schlinge. »Mrs. Arledge?« fragte er. »Ja - ich ...» Sie brach ab. Sie konnte ihre Bemerkung nicht erklären. »Sie scheint eine Frau von Würde«, fuhr er fort, »aber ich bin mit ihr nur flüchtig und förmlich bekannt. Um ehrlich zu sein, die Totenmesse für ihren Mann war die einzige Gelegenheit, bei der ich sie gesehen habe. Kennen Sie sie gut?« »Nein! Ich - ich hatte den Eindruck gewonnen, daß Sie ... Aber es muß jemand anders gewesen sein. Sicherlich habe ich nicht richtig zugehört oder etwas mißverstanden. Es tut mir sehr leid.« Erst jetzt sah sie auf und begegnete seinem Blick. »Bitte vergessen Sie, was ich gesagt habe. Es war sehr dumm von mir.« »Selbstverständlich, wenn Sie wünschen.« »Nehmen Sie doch noch etwas Limonade«, bot Mina an. Es war das erste Mal, daß sie sprach, seitdem das Thema Afrika angeschnitten wurde. Sie hatte aufmerksam zugehört, ohne zu unterbrechen. Jetzt hob sie die silberne Kanne. »Nein, danke. Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich muß jetzt gehen.« Charlotte stand auf und verabschiedete sich eher hastig. Sie wollte möglichst schnell entkommen. »Ich möchte diesen angenehmen Besuch nicht unnötig überziehen. Ich danke Ihnen, daß Sie mich so herzlich willkommen geheißen haben, obgleich ich ohne Ankündigung und Einladung gekommen bin. Eigentlich wollte ich sagen, daß Ihre Ratschläge äußerst hilfreich waren und ich Ihnen sehr zu Dank verpflichtet bin.« »Es war eine Kleinigkeit«, winkte Mina ab. »Es freut mich, wenn Ihnen das Ergebnis gefällt.« »Vielleicht möchten Sie uns gerne bald einmal besuchen?« sagte Charlotte und überreichte ihr eine ihrer frisch gedruckten Karten mit der neuen Adresse. Erst nachdem Mina sie entgegengenommen hatte, fiel ihr wieder ein, daß
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sie und Pitt wahrscheinlich nicht mehr da wohnen würden, wenn sie nicht bald mehr Erfolg bei der Lösung dieses Falles hätten. »Vielleicht wollen Sie auch uns wieder einmal besuchen, Mrs. Pitt?« fragte Bart mit einem Lächeln, das seinen ehrlichen Wunsch ausdrückte. »Danke», erwiderte sie, während sie sich gleichzeitig schwor, das Haus nie wieder zu betreten. »Sehr gerne!« Sie flüchtete in die Eingangshalle und zur Tür hinaus, die das Mädchen für sie aufhielt. Dann ging sie eilenden Schrittes auf dem Gehweg zur Hauptstraße und bestieg den ersten Omnibus, der anhielt. Emily ihrerseits hatte keine Schwierigkeiten herauszufinden, wo Landon Hurlwood wohnte. Seinen derzeitigen Aufenthaltsort auszumachen, bedurfte jedoch größerer Geschicklichkeit. Nachdem sie auch das erfahren hatte, zog sie sich nach der allerneuesten Mode an. Sie wählte ein weißes Musselinkleid mit blauen Tupfern, das akzentuierte Schultern und weite Ärmel hatte, und setzte einen phantastischen Hut mit einer Straußenfeder über der Krempe auf. Anschließend orderte sie ihre Kutsche. Sie mußte den Zeitpunkt des Treffens genau abpassen. Dazu ließ sie mitten auf der Straße anhalten und war eine ganze Viertelstunde lang ein Verkehrshindernis, bis sie ihn aus seinem Büro in Whitehall kommen und zum Trafalgar Square eilen sah. Zum Glück war es ein freundlicher Frühlingstag, so daß es ihr nichts ausmachte zu laufen. Sie stieg aus der Kutsche, ohne sich von dem etwas verdutzten Kutscher helfen zu lassen, und setzte zur Verfolgung ihrer Beute an. »Mr. Hurlwood!« rief sie aus, als sie etwa zehn Meter von ihm entfernt war. »Wie schön, Sie zu sehen!« Er sah sich überrascht um. Offensichtlich war er in Gedanken bei den Regierungsfragen, die er soeben besprochen hatte oder demnächst besprechen würde. Man erwartete nicht, irgendwelchen Bekannten um diese Tageszeit mitten in der City zu begegnen.
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»Guten Tag ... Mrs. Radley«, sagte er einigermaßen erstaunt. Er zog seinen Hut und blieb stehen, wobei er einen Schritt zur Seite trat, um den anderen Passanten Platz zu machen. »Wie geht es Ihnen?« Sie lächelte bezaubernd. »Ich erfreue mich bester Gesundheit, danke. Ist es nicht ein herrlicher Tag? Man ist erfüllt von grenzenlosem Optimismus, nicht wahr?« »So ist es«, pflichtete er ihr bei. »Dazu haben Sie auch allen Grund. Es war ein hervorragender Sieg, und sicherlich um so erfreulicher, als er - für einige mindestens - so unerwartet kam.« »Aber ja! Ich habe es am Anfang selbst kaum glauben mögen. Ich hätte größeres Vertrauen haben müssen, nicht wahr?« Er lächelte. »Die Ereignisse lassen es berechtigt erscheinen, aber ich denke, es ist weiser, wenn man am Anfang bescheiden ist und sich am Schluß freuen kann, als umgekehrt.« »Das ist wahr. Ich fürchte, Mr. Uttley hat seine Niederlage nicht gut aufgenommen. Man muß lernen, diskret zu sein, meinen Sie nicht auch? Seine Gefühle zurückhalten zu können, macht einen Großteil des Erfolges im öffentlichen Leben aus, finde ich.« Sie ließ es wie eine Frage klingen und sah ihn aus weit geöffneten Augen an. »Ich denke, da haben Sie recht«, sagte er langsam und war sich offenbar unsicher, worauf sie außer Uttley noch Bezug nahm. Allerdings verstand er, daß es mehr als nur eine Beobachtung war. »Es ist etwas ganz anderes, wenn eine Sache sehr diskret gehandhabt wird und man trotzdem davon weiß.« Sie neigte ihren Kopf mit einem kleinen, wissenden Lächeln. »Liebesaffären, die ganz ... privat sind.« Er sah sie unbehaglich an, aber sie wußte nicht, ob es Schuldgefühle waren oder einfach Verlegenheit angesichts ihrer plumpen Bemerkung. »Ich finde, Mrs. Arledge trägt ihren Verlust mit großer Fassung, finden Sie nicht auch?« fuhr sie fort. »Es ist so schwierig für sie, in dieser Zeit. Aber ich bin mir sicher, Sie
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werden ihr allen Trost geben und zugleich Diskretion und Zurückhaltung üben.« Er wurde tiefrot, die Knöchel seiner Hand auf dem Spazierstock traten weiß hervor. Seine Stimme war belegt, als er sprach. »Richtig ... ehm. Man tut, was man kann.« Es war eine bedeutungslose Bemerkung, wie sie beide wußten. In seinen brennenden, ausweichenden Augen fand sie die Antwort, die sie suchte. Ein Eingeständnis in Worten war nicht nötig. »Ich will Sie nicht länger belästigen, Mr. Hurlwood«, sagte sie charmant. »Sicherlich haben Sie wichtige Dinge zu erledigen, und Sie waren so nett, sich von mir aufhalten zu lassen. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag. Ich habe mich sehr gefreut, Sie getroffen zu haben.« Mit einem charmanten Lächeln voller Unschuld rauschte sie davon, überquerte die Straße und gelangte zu ihrem Wagen. Der Kutscher war klug genug, sie nicht zu fragen, was sie gemacht hatte. »Was tun wir jetzt?« fragte Emily gespannt, doch mit leicht gerunzelten Brauen. Sie und Charlotte saßen in ihrem Ankleidezimmer in Ashworth House. Hier waren sie ungestörter als im Salon, denn Jack war zwar im Unterhaus, konnte aber jeden Moment nach Hause kommen. Es war ihnen lieber, er hörte ihre Unterhaltung nicht, auch nicht bruchstückweise. Charlotte hatte Gracie erklärt, daß sie nicht wüßte, wann sie zurückkehren würde, und sie gebeten, den Kindern ihr Abendessen zu geben und sie ins Bett zu bringen. Wenn Pitt zurückkam, sollte Gracie ihm sagen, daß sie zu Besuch bei Emily sei und vielleicht über Nacht bleiben würde. Normalerweise ging sie abends nicht fort, aber es ließ sich einfach nicht vermeiden. Ein Unterschied zwischen den beiden Schwestern bestand darin, daß Charlotte Gracie den Grund für ihr Fortbleiben erklärte, während Emily ihren Dienstboten lieber nichts davon sagen wollte, da die von Jacks Wahlsieg noch immer tief beeindruckt und in ihrer Loyalität sehr gespalten waren.
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»Wir müssen Beweise finden, wenn es welche gibt«, sagte Charlotte. »Es muß doch welche geben, oder?« »Nur, wenn einer von ihnen es getan hat. Wenn sie unschuldig sind, dann gibt es keine.« Emily winkte ab. »Daran wollen wir gar nicht erst denken. Wie, meinst du, haben sie es gemacht? Ich meine, wie hätte sie es tun können, wenn sie es war?« Charlotte dachte nach. »Na ja, es ist nicht sehr schwer, jemandem auf den Kopf zu schlagen, wenn er dir vertraut und so etwas nicht erwartet. Natürlich bist du vorher ganz nett zu ihm ...« »Du müßtest ihn an einen Ort locken, den du dir ausgesucht hast«, spann Emily den Gedanken weiter. »Ein erwachsener Mann, selbst ein dünner, ist ganz schön schwer zu transportieren, wenn er bewußtlos ist. Wie hat sie ihn bloß zum Musikpavillon im Park gebracht?« »Eins nach dem anderen«, wies Charlotte sie zurecht. »Bisher haben wir ihm noch nicht einmal den Schlag auf den Kopf versetzt. Das muß gut geplant sein. Und die richtige Zeit muß es sein. Er soll ja nicht stundenlang herumliegen!« »Warum nicht?« fragte Emily sofort. »Ist das wichtig?« »Natürlich ist es das! Es gibt doch Dienstboten. Wie erklärst du ihnen, daß dein -« »Schon gut«, unterbrach Emily sie. »Ja, ist schon klar. Es muß also geschehen, nachdem die Dienstboten zur Ruhe gegangen sind, oder an einem Ort, an den sie nicht kommen. Vielleicht irgendwo im Garten? Nach Einbruch der Dunkelheit arbeitet der Gärtner mit Sicherheit nicht mehr. Wie war's mit einem Gewächshaus oder einem Schuppen?« »Ausgezeichnet«, stimmte Charlotte ihr zu. »Wie überredet man ihn aber, nach dem Dunkelwerden ins Gewächshaus zu gehen?« »Man will ihm etwas zeigen »Man könnte Geräusche gehört haben.« »Dann schickt man einen Diener«, sagte Emily. »Stimmt. Natürlich. Ich habe keinen Diener.«
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»Du hast auch kein Gewächshaus.« Charlotte seufzte kurz voller Bedauern. Wenn sie das neue Haus behalten könnten, hätte sie vielleicht auch bald eins. Vielleicht würde sie sich auch einen weiteren Dienstboten leisten können. Aber das war jetzt unwichtig. »Dann lockt man ihn ins Gewächshaus«, nahm sie den Faden wieder auf, »indem man sagt, man möchte ihm etwas zeigen. Eine Blume, die nur nachts blüht und einen einzigartigen Duft verströmt.« »Spricht man mit einem Ehemann, den man im nächsten Moment ermorden will, über blühende Blumen?« Emily verzog das Gesicht. »Dann vielleicht was anderes. Ich weiß nicht ... etwas, das der Gärtner verkorkst hat? Es muß natürlich eine größere Sache sein, so daß sie mit ihrem Mann darüber sprechen muß, ob sie den Gärtner entlassen und einen anderen einstellen soll.« »Also gut. Du erreichst, daß er ins Gewächshaus kommt, sagst ihm, er soll sich die Sache - was auch immer - angucken, und schlägst ihm mit aller Wucht auf den Kopf. Im Gewächshaus gibt es ja jede Menge Geräte, die du benutzen könntest. Wie geht's dann weiter?« »Laß ihn liegen«, sagte Charlotte, »bis du mitten in der Nacht wiederkommen kannst, um ihm den Kopf abzuschlagen ...» »In der entsprechenden Kleidung«, warf Emily ein. »Entsprechende Kleidung?« »Auf der man das Blut nicht sieht.« »Ach so.« Charlotte krauste angewidert die Nase, doch sie wußte, daß dies eine äußerst zutreffende Bemerkung war. »Ja, du hast recht. Es müßte entweder etwas sein, das man wegwirft, oder wasserabweisende Kleidung, die man abwaschen kann.« »Was denn, zum Beispiel? Wovon kann man denn Blut abwaschen, ohne daß es Spuren oder Flecken gibt?» »Ölkleidung?« fragte Emily zweifelnd. »Aber warum sollte sie Ölkleidung haben? So etwas hat man doch nicht im Haus. Ich habe nichts dergleichen.«
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»Die des Gärtners vielleicht?« Charlotte dachte laut. »Dann könnte sie als Gärtner getarnt durch den Park laufen.« Plötzlich überschlug sich ihre Stimme vor Aufregung, als sie sich erinnerte. »Es wurde ein Gärtner gesehen, der im Park eine Schubkarre schob! Emily! Vielleicht war das der Mörder, der Aidan Arledges Leiche vom Haus zum Musikpavillon schob.« »Ja, und war es Dulcie oder Landon Hurlwood?« fragte Emily. »Das ist doch egal«, erwiderte Charlotte ungeduldig. »Wenn es Hurlwood war, kann er es nicht ohne ihr Wissen getan haben. Sie ist in jedem Fall schuldig. Arledge muß also in seinem eigenen Gewächshaus ermordet und dann in seiner eigenen Schubkarre zum Park gefahren worden sein.« »Dann müssen wir es beweisen.« Emily erhob sich. »Es nützt uns nichts, das zu wissen, wenn wir es nicht beweisen können.« »Wir wissen es nicht. Wir mutmaßen nur«, verbesserte Charlotte sie und erhob sich ebenfalls. »Zuerst müssen wir es uns selbst beweisen. Wir müssen es sehen - und den Ort finden. Es muß Blutflecken geben, wenn wir an der richtigen Stelle suchen.« »Na ja, sie wird uns wohl kaum in ihrem Gewächshaus herumführen, wenn sie dort ihrem Mann den Kopf abgeschlagen hat, oder?« gab Emily zurück. »Natürlich nicht.« Charlotte atmete tief durch und redete weiter: »Wir werden es nachts tun müssen, wenn sie nichts davon merkt.« »Wir sollen einbrechen?« Emily war völlig verdutzt, ihre Stimme wurde schrill. Doch dann verschwand das Entsetzen aus ihrer Miene, und Wagemut und Abenteuerlust machten sich breit. »Nur wir beide? Dann müssen wir heute nacht gehen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Charlotte schluckte. »Also gut, heute nacht. Wir - wir gehen von hier los, sobald ... na ja, so gegen Mitternacht, oder?« Sie sah Emily fragend an.
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»Mitternacht ist viel zu früh«, sagte Emily. »Um diese Zeit ist sie vielleicht noch auf. Ich bleibe oft so lange auf.« »Du hast auch keine Trauer. Sie wird wohl kaum zu einem Fest oder einem Tanz gehen.« »Trotzdem, vor ein Uhr sollten wir nicht gehen.« »Na ja - gut, aber dann gehe ich lieber nicht nach Hause, Thomas würde ...« »Natürlich nicht«, meinte auch Emily. »Wir gehen von hier. Das ist doch klar. Jack gegenüber könnte ich das auch nicht erklären. Er würde etwas merken. Wir müssen von hier weggehen und woanders warten, bis es eins wird.« »Wo denn? Und was sollen wir anziehen? Es muß praktische Kleidung sein. Wir brauchen ja nicht wirklich einzubrechen. Wahrscheinlich finden wir alles, was wir suchen, im Gewächshaus oder im Schuppen. Aber wir müssen uns eine Lampe besorgen. Ich wünschte, ich hätte eine Polizeilampe.« »Dazu ist jetzt keine Zeit«, sagte Emily bedauernd. »Ich nehme die Kutschenlampe, die wird uns reichen.« »Wie kommen wir denn dahin? Wir können ja nicht deinen Kutscher bitten, uns hinzufahren.« »Wir lassen uns an einen anderen Ort fahren, irgendwo in der Nähe. Ich weiß schon. Ich kenne jemanden, der direkt um die Ecke wohnt. Ich sage einfach, daß ich dort einen Besuch mache.« »Um ein Uhr morgens und im Aufzug eines Einbrechers?« »Ach so, richtig.« Emily biß sich auf die Lippen. »Dann eben nicht. Ich sage, meine Bekannte ist krank geworden. Die Sachen für den Einbruch ziehe ich unter meinem Umhang an. Und du auch.« Bevor Charlotte widersprechen konnte, fügte Emily hinzu: »Ich finde schon was für dich. Wir leihen uns etwas von einem der Mädchen. Die tragen ja schlichte dunkle Tuchkleider, das ist genau das Richtige. Komm. Wir haben noch eine Menge zu erledigen.« Sie warf Charlotte einen beklommenen und gleichzeitig freudig erregten Blick zu. Mit einem mulmigen Gefühl folgte Charlotte ihr.
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Um fünf nach eins schlichen sich Charlotte und Emily, in dunkle Tuchkleider gehüllt und das Haar (besonders Emilys hell glänzendes) mit Kopftüchern bedeckt, an den Hintereingang von Dulcie Arledges Haus heran. Die Kutschenlampe hatten sie noch nicht angezündet, da das Licht der Straßenlaternen ausreichend war, außerdem wollten sie auf keinen Fall bemerkt werden. »Das nächste ist es«, flüsterte Charlotte. »Ich habe ein Messer und einen Spieß dabei, falls abgeschlossen ist.« »Einen Spieß?« fragte Emily. »Aus der Küche. Du weißt schon - mit dem man prüft, ob etwas gar ist.« »Nein, weiß ich nicht. Ich koche ja nicht. Kannst du damit umgehen?« »Natürlich. Du mußt einfach nur hineinstechen.« »Und dann geht das Tor auf?« fragte Emily überrascht. »Nein, natürlich nicht, du Dumme! Dann weißt du, ob das Fleisch oder der Kuchen gar ist.« Emily kicherte, Charlotte gluckste und fing dann auch an zu kichern. Als sie das Tor erreichten, war es tatsächlich mit einem Vorhängeschloß verriegelt. Emily zündete die Kutschenlampe an und hielt sie für Charlotte, während sie gleichzeitig die Straße beobachtete. Charlotte hantierte mit dem Spieß vorsichtig an dem Schloß und öffnete schließlich den einfachen Mechanismus. Sofort löschte Emily die Lampe. Sie entfernten die Kette von dem Tor und stießen es auf. Erleichtert schlüpften sie hinein und lehnten es an, damit das offenstehende Tor keinen Verdacht erregte,- die Kette und das Vorhängeschloß nahmen sie mit. Charlotte schaute sich um. Es war fast völlig dunkel. Die Mauer war so hoch, daß sie das Licht der Straßenlaterne abfing. Der Himmel war zu bewölkt, um mehr als ein mattes Schimmern des Mondlichtes durchscheinen zu lassen. »Ich kann nichts sehen«, flüsterte Emily. »So finden wir das Gewächshaus niemals, geschweige denn einen Blutflecken.«
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»Wir finden es«, erwiderte Charlotte, »und wenn wir drinnen sind, machen wir die Lampe wieder an.« »Glaubst du wirklich, daß um diese Zeit noch jemand wach ist?« »Nein, aber es ist trotzdem zu riskant. Man würde uns davonjagen, bevor wir etwas gefunden haben, und wie sollten wir erklären, was wir hier vorhaben?« Das Argument überzeugte Emily, so daß sie schwieg. Der Gedanke, entdeckt zu werden, war zu schrecklich, als daß man ihn überhaupt denken konnte. Sie hatten keinerlei Erklärung für ihr Tun. Charlotte ging auf einem schmalen, gepflasterten Pfad voran, der feucht und schlüpfrig war. Emily klammerte sich an ihr Kleid, um sie in der Dunkelheit nicht zu verlieren. Wenn das passierte und sie sich dann plötzlich wieder gegenüberstünden, würde ihnen das den letzten Nerv rauben, und ein spontaner Aufschrei würde die gesamte Nachbarschaft aufwecken. Zur Linken war die Masse des Hauses zu erkennen, das sich schwarz gegen den blassen Himmel abhob, und vor sich erkannten sie den durchbrochenen Dachfirst eines niedrigeren Gebäudes mit einer eleganten, nach oben strebenden Kreuzblume am Ende. »Ist das das Gewächshaus?« fragte Emily leise. »Der Wintergarten«, gab Charlotte zurück. »Woher weißt du das?« »Die Kreuzblume«, flüsterte Charlotte. »Auf einem Gewächshaus hat man keine Kreuzblume. Es muß dahinter sein, um die Ecke.« »Bist du sicher, daß sie überhaupt eins haben?« »Sie müssen eins haben. Alle Häuser dieser Größe haben ein Gewächshaus oder einen Geräteschuppen. Gewächshaus wäre natürlich besser.« »Warum?« »Da kann man ihn besser hinlocken. Wie würdest du deinen Mann dazu bringen, mitten in der Nacht in den Geräteschuppen zu kommen?« Emily kicherte nervös. »Das geht natürlich nicht. In den
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Wintergarten schon eher. Ein romantisches Stelldichein? Ziehst dir dein verführerischstes Negligé an und schmachtest inmitten der Lilien?« »Wohl kaum. Wenn du schon zwanzig Jahre verheiratet bist - außerdem hat er Männer vorgezogen. Verdammt!« Charlotte war mit dem Fuß gegen einen großen Randstein gestoßen. »Was ist?» wollte Emily wissen. »Nichts. Nur ein Stein.« Und vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Fünf Minuten waren vergangen, bevor sie wieder sprachen. Sie hatten den Wintergarten hinter sich gelassen und schlichen sich jetzt über eine Terrasse an einen undurchsichtigen Schatten vor ihnen heran. »Das muß das Gewächshaus sein«, sagte Emily erwartungsvoll. »Oder eine Laube«, fügte Charlotte hinzu. »Das wäre vielleicht genauso gut. Obwohl - wäre es doch nicht. Da hätte man ja nichts, um Flecken zu verbergen.« »Ich sehe kein Glas«, sagte Emily leicht entmutigt. »Ich sehe überhaupt nichts«, sagte Charlotte. »Wenn da Glas wäre, würden wir doch ein Schimmern sehen«, flüsterte Emily. »So dunkel ist es ja nicht!« Charlotte blieb stehen und drehte sich um. Emily, die das nicht bemerkt hatte, stieß mit ihr zusammen. »Sag doch was!« platzte sie heraus. »Bleib nicht einfach stehen, ohne was zu sagen.« »Entschuldigung. Guck mal, da ist ein Schimmer, und da ist auch Glas. Es muß das Gewächshaus sein.« Ohne eine weitere Bemerkung abzuwarten, setzte sie sich in die neue Richtung in Bewegung. Nach ein paar Schritten standen sie vor einem kleinen Gebäude, dessen Glasscheiben den matten Mondschein wie ein Wellenmuster von Satin widerspiegelten. »Ist es abgeschlossen?« fragte Emily. Charlotte griff nach der Klinke und drückte sie runter. Sofort öffnete sich die Tür mit einem quietschenden Geräusch.
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Emily entfuhr ein kleiner Aufschrei, den sie sofort unterdrückte. »Lampe!« befahl Charlotte. Als sie im Gewächshaus standen, hielt Charlotte die Lampe hoch, und Emily zündete sie an. In dem warmen Lichtkegel wurde das Innere des Gewächshauses sichtbar. Es war nur klein und diente zur Aufzucht von Frühgemüse und Blumen. Auf den Regalen standen Pflanzschalen mit verschiedensten Setzlingen: Ringelblumen, Rittersporn und Eisenhut. Auf einem anderen Brett standen Geranien in Töpfen. »Der Boden!« flüsterte Emily. »Die Regale sind doch egal.« Charlotte senkte die Lampe zu den Holzbohlen hinab, die den Gang bildeten. »Ich sehe nichts«, sagte Emily voller Enttäuschung. »Sieht nach festgestampfter Erde aus. Bring die Lampe hier herüber.« Charlotte schlich weiter und hielt die Lampe vorsichtig in die Höhe. Mit dem Rockzipfel blieb sie an einem Blumentopf hängen, der krachend zu Boden fiel. »Oh nein!« Emily erstickte einen Aufschrei. »Psst!« Charlotte schlich weiter. Dann sah sie es: einen länglichen, dunklen Fleck auf dem Boden nahe der Außenwand. »Oh ...« Emily beugte sich hinunter und betrachtete den Fleck. »Könnte alles mögliche sein«, sagte sie und klang sehr enttäuscht. »Guck.« Oberhalb des Flecks standen verschieden Dosen und Flaschen mit allen möglichen Mitteln auf einem Brett: Dünger, Kreosot, Insenkten- und Ameisengift. »Wahrscheinlich ist es Kreosot«, sagte Charlotte. »Muß aber nicht sein. Wenn ich jede Menge Blut vertuschen müßte, würde ich etwas, das stark riecht, darübergießen. Reich mir doch mal den Pflanzenheber.« »Was hast du vor?« fragte Emily und reichte ihr die kleine Schaufel. »Ich grab' mal ein bißchen.« Einige Minuten lang grub Charlotte in der harten Erde, hob die in Kreosot getränkte Schicht ab und legte eine dar-
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unterliegende frei, deren Geruch sich deutlich von dem Kreosot unterschied, als sie die Schaufel zur Nase hob. Es war kein scharfer, durchdringender Geruch, sondern ein muffiger, leicht süßlicher. »Blut?« fragte Emily mit unsicherer Stimme. »Ich glaube schon.« Langsam erhob Charlotte sich, ihr Gesicht war blaß. »Jetzt müssen wir die Schubkarre finden. Los. Wahrscheinlich steht sie irgendwo draußen, zu dieser Jahreszeit.« Sehr vorsichtig, die Lampe nach unten gerichtet und halb von einem Schal verdeckt, verließen sie auf Zehenspitzen das Gewächshaus und zogen die Tür hinter sich zu. »Du mußt die Lampe hochhalten», sagte Emily. »Sonst sehen wir sie niemals.« Gehorsam hielt Charlotte sie hoch. »Wo man wohl eine Schubkarre abstellt?« sagte sie mehr zu sich selbst, so daß Emily sie kaum hörte. »Und die Ölkleidung, wo könnte die sein?« »Vielleicht hat sie sie verbrannt?« schlug Emily vor. »Ich würde das tun.« »Nur wenn du einen Verbrennungsofen hast und die Dienstboten nichts merken können. Ölkleidung würde einen schrecklichen Geruch verbreiten. Aber wahrscheinlich gehört sie gar nicht ihr, sondern eher dem Gärtner, und der würde sie vermissen. Nein, sie würde sie gründlich abwaschen und wieder an ihren Platz hängen. Es muß irgendwo einen Geräteschuppen geben.« Sie drehte sich langsam um und hielt die Lampe etwas höher. »Da drüben!« sagte Emily in dem Moment, da auch Charlotte den Schuppen entdeckte. »Nimm die Lampe runter, sonst sieht uns noch jemand. Komm, wir müssen uns beeilen.« Hastig bewegten sie sich auf den Schuppen zu und gaben acht, daß sie nirgendwo anstießen oder über etwas stolperten. Zum Glück war auch der Schuppen nicht abgeschlossen. Als sie drinnen standen, setzten sie die Lampe auf der Bank ab, obwohl das kaum nötig war, denn die Schubkarre
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stand unmittelbar vor ihnen, und die Ölkleidung hing an einem Haken darüber. Ein kleiner Angstschrei entfuhr Emily, und Charlotte wurde von einem Zittern gepackt, als ihr bewußt wurde, was sie vor sich sah. Ganz vorsichtig, mit wild schlagendem Herzen, das ihren Körper zu erschüttern schien, fuhr sie mit dem Finger über die Innenseite der Schubkarre. »Ist es naß?« fragte Emily. »Nein, natürlich nicht«, sagte Charlotte. »Aber es sind ganz schön viele Flecken da. Wahrscheinlich wieder Kreosot.« Sie ging zu der Ölkleidung und begutachtete sie im Schein der Lampe. »An den Nähten haftet etwas. Bestimmt ist es Blut.« »Dann komm jetzt!« flüsterte Emily eindringlich. »Wir haben genug gesehen. Laß uns gehen, bevor uns jemand ertappt.« Charlotte drehte sich um und ging auf die Tür zu, als sich ihr Schal an der Schubkarre verfing und sie in plötzlicher Furcht heftig daran zu reißen begann. Draußen wollten sie soeben die Lampe löschen und zurück zum Wintergarten und zur Gartenmauer schleichen, als sie ungefähr zehn Meter vor sich das Licht einer anderen Lampe sahen. Sie blieben wie angewurzelt stehen. »Wer da?« fragte eine männliche Stimme forsch. »Stehenbleiben, sonst passiert was.« »Oje!« jammerte Emily. »Das ist die Polizei!« »Wir erzählen ihnen, was wir gefunden haben«, sagte Charlotte kühn, aber die Knie wurden ihr weich, und in ihrer Magengrube hatte sie ein flaues Gefühl. Einen Augenblick lang befürchtete sie, daß ihre Füße ihr nicht gehorchen würden. Emily wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Der Wachtmeister war schon fast bei ihnen. Sein Cape und die glänzenden Knöpfe waren zu sehen. Er hielt seine Laterne hoch und starrte sie ungläubig an. »Sieh an, wen haben wir denn hier? Zwei Dienstmädchen, die Salat stehlen wollen, he?«
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»Absolut nicht», empörte sich Charlotte und versuchte, so fest wie möglich aufzutreten, was ihr nur halbwegs gelang. »Wir sind -« Emily hatte sich wieder gefangen und trat Charlotte heftig gegen das Schienbein. Charlotte schrie auf und stieß einen Fluch aus. »Also, also!« sagte der Wachtmeister ruhig. »Unflätige Worte können Se sich sparen, Miss. Wer sin Se und was tun Se hier? Ich werd Se wohl verhaften müssen. Sie wohnen nich hier. Ich kenne die Dienstboten von Mrs. Arledge, und Sie gehörn nich dazu, würd ich sagen.« Es hatte keinen Sinn, Ausflüchte zu machen. »Nein, das sind wir nicht«, sagte Charlotte nun wieder mit fester Stimme. »Mein Mann ist Oberinspektor Thomas Pitt von der Wache in der Bow Street. Und das - das ist mein Mädchen.« Es hatte keinen Sinn, Emily in die Sache mit hineinzuziehen, zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Sie spürte Emilys Erleichterung. »Aber, Miss, das is 'ne dumme Geschichte, mit der Se nicht weiterkommen«, sagte der Wachtmeister überrascht. »Hier ist ein Mord geschehen«, sagte Charlotte heftig. »In dem Gewächshaus da sind Blutspuren, und wenn Sie Oberinspektor Pitt nicht herbeirufen, wird man Ihnen das nie nachsehen!« »Der is doch längst zu Hause in seinem Bett«, sagte der Wachtmeister. »Selbstverständlich. Er wohnt Nummer zwölf, Gordon Square in Bloomsbury. Rufen Sie ihn!« befahl Charlotte ihm. »Es gibt dort sogar ein Telefon.« »Also, ich weiß ja nich ...« Eine Fortsetzung des Gesprächs blieb ihm erspart, weil im Haus ein Licht anging und die Küchentür geöffnet wurde. »Was ist da los?« rief eine männliche Stimme unwirsch. »Wer ist da?« »Hier ist die Polizei«, sagte der Wachtmeister. »Wachtmeister Woodrow, Sir. Habe hier zwei Einbrecher in Ihrem Garten festgenommen.«
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»Wir sind keine Einbrecher«, zischte Charlotte. »Sie sind mal still!« Die mißliche Lage, in die Wachtmeister Woodrow geraten war, machte ihn unglücklich. »Keine Sorge, Sir. Alles unter Kontrolle. Sagen Se Mrs. Arledge, Sie soll sich nicht beunruhigen. Ich kümmer mich um die beiden.« »Es ist nicht, was Sie denken«, sagte Charlotte plötzlich verzweifelt. »Wir sind keine Einbrecher. Holen Sie Oberinspektor Pitt, und zwar sofort.« Sie schluckte. Jetzt kam es drauf an. Alles stand auf dem Spiel, Pitts Laufbahn, ihr Haus. »Hier - hier hat ein Mord stattgefunden.« »Ein Mord?« Der Butler kam in seinem Nachtgewand aus der Tür, die Laterne in der Hand. »Wer ist denn ermordet worden?« »Mr. Arledge, natürlich«, sagte Charlotte gereizt. »Er wurde in seinem eigenen Gewächshaus umgebracht und in der Schubkarre in den Park gebracht. Holen Sie jetzt die Polizei. Haben Sie einen von diesen neuen Telefonapparaten?« »Jawohl, Madam.« »Dann benutzen Sie ihn. Rufen Sie Bloomsbury einszwei-sieben und holen Sie Oberinspektor Pitt her.« »Jetz aber ma langsam ...«, fing Woodrow an, aber der Butler war schon wieder ins Haus gegangen. Einem entschlossenen Befehl zu folgen war besser, als in der Kälte im Nachthemd auf der Treppe zu stehen. Pitts Namen kannte er, Mrs. Arledge hatte ihn schon ins Haus gelassen. Der würde diese ungemütliche Situation klären. »Das hätten Se nich tun sollen«, sagte Woodrow ärgerlich. Auch im oberen Geschoß des Hauses ging jetzt ein Licht an. »Jetz sehen Se, was Se damit erreicht haben. Sie ham die arme Mrs. Arledge aufgeweckt. Als ob se nich schon genug zu tragen gehabt hat, wo doch ihr Mann tot is und alles.« Charlotte hörte ihm gar nicht zu. Sie zog den Schal fester um sich, denn jetzt, da die Spannung etwas nachgelassen hatte, fing sie an zu frösteln.
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Auch Emily neben ihr zitterte. Sie wollte nicht daran denken, was Jack sagen würde, wenn ihm dies zu Ohren käme. Es bestand kaum Hoffnung, daß Charlottes Lüge nicht aufgedeckt würde. Die wurde schon dadurch zunichte gemacht, daß mehr Lichter im Haus angingen und Schritte in der Küche zu hören waren. Einen Moment später erschien Dulcie Arledge, in einen hinreißenden himmelblauen Morgenmantel gehüllt, in der Küchentür, das braune Haar fiel sanft gewellt auf ihre Schultern. »Was ist denn hier los?« fragte sie mit sanfter Überraschung. »Haben Sie Eindringlinge aufgespürt, Wachtmeister? Habe ich das richtig verstanden?« »Richtig, Madam«, sagte Woodrow und trat vor, wobei er Emily und Charlotte mit sich zerrte. Emily beugte den Kopf. Sie hoffte inständig, daß Dulcie sie nicht erkennen würde, in diesem Aufzug und beim flackernden Licht der Lampe. »Frauen?« fragte sie erstaunt. »Sie sehen wie Frauen aus.« »Es sind auch Frauen«, bestätigte Woodrow. »Wahrscheinlich auf der Suche nach Gemüse. Machen Se sich keine Sorgen, Madam. Ich nehme sie in Gewahrsam, un dann haben Se nix damit zu tun, außer, daß Se der Anklage zustimmen müssen. Jetz aber los hier.« Er zerrte Charlotte wesentlich unsanfter als zuvor am Ärmel. Offenbar war seine Geduld erschöpft, jetzt wollte er durchgreifen. Dulcie Arledges ruhige Autorität war ausreichend, um jeden Zweifel zu zerstreuen. »Charlotte!« Emilys Stimme klang panikerfüllt. »Tu was! Es geht nicht nur um Thomas, sondern auch um Jack.« Eine derart verzweifelte Situation verlangte extreme Maßnahmen. Charlotte ließ einen ohrenbetäubenden Schrei erklingen. »Gottogott!« Wachtmeister Woodrow machte einen Satz und ließ die Lampe fallen, die ohne zu zerbrechen bis zum Ende des gepflasterten Weges kullerte. Charlotte schrie ein zweites Mal, worauf mehrere Fensterläden geöffnet wurden und weitere Stimmen und Geräusche zu hören waren.
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»Wozu sollte das denn gut sein?« zischte Emily wütend. »Zeugen«, sagte Charlotte und schrie ein drittes Mal. Woodrow fluchte unterdrückt und setzte der Lampe nach. »Hören Sie auf damit, um Himmels willen!« verlangte Dulcie. »Sie wecken noch die ganze Nachbarschaft auf. Was ist denn mit Ihnen los? Seien Sie sofort still.« Emily überlegte, ob sie versuchen sollte wegzulaufen, gab aber den Gedanken wieder auf. Charlotte trat auf Dulcie zu in den Lichtkegel der Küchentür, als Landon Hurlwood mit zerzaustem Haar, sein Nachthemd unter dem Morgenmantel hervorblitzend, hinter Dulcie erschien. Sein Gesicht drückte Sorge aus. »Bist du verletzt?« fragte er sie beklommen. Sie rührte sich nicht vom Fleck, die Farbe wich aus ihrem Gesicht, plötzlich war sie aschfahl. Er blickte an ihr vorbei und sah Charlotte, erkannte sie aber nicht. Dann sagte er zu dem Wachtmeister: »Was ist denn los? Was ist geschehen? Ist es etwas Ernstes?» »Keiner ist verletzt, Sir«, sagte Woodrow und klang zum ersten Mal verunsichert. Er erkannte einen Skandal auf Anhieb, ihn aber in Mrs. Arledges Haus aufzudecken, brachte ihn völlig aus der Ruhe. »Diese Frau hier« - er zeigte auf Charlotte - »hat geschrien, aber keiner hat se angerührt, das schwör ich.« Hurlwood sah in ihr eine junge Frau im Kleid einer Hausangestellten, das Haar wild zerzaust und das Gesicht mit Staub und Kreosot verschmiert. Dann wanderte sein Blick zu Emily, die jetzt auch im Licht stand. »Mrs. Radley ...« Dann erbleichte er, als er begriff, was Dulcie im ersten Moment erfaßt hatte. »Ich kann mir nicht vorstellen, Mrs. Radley, wieso Sie mitten in der Nacht in meinen Garten einbrechen mußten«, sagte Dulcie mit kalter, unsicherer Stimme. »Aber ich kann Ihnen leider nicht helfen. Ich glaube, Sie müssen verrückt sein. Vielleicht hat die Geburt und dann die Anstrengung der Wahlkampagne Ihrer Gesundheit Schaden zugefügt. Ihr Mann -«
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»Die Polizei kommt gleich«, sagte Charlotte mit fester Stimme. »Die Polizei ist bereits hier!« stellte Dulcie richtig. »Ich spreche von Oberinspektor Pitt.« Charlotte strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Wir haben den Ort gefunden, wo Mr. Arledge ermordet wurde. Auf dem Boden ist immer noch Blut, obwohl Sie Kreosot darübergegossen haben. Und wir haben die Schubkarre gefunden, in der Sie ihn in den Park brachten, nachdem Sie ihm den Kopf abgeschlagen hatten.» Dulcie wollte widersprechen, aber ihre Stimme versagte ihren Dienst. Hinter ihr stand Landon Hurlwood, in dessen gespenstisch bleichem Gesicht die Augen wie zwei Löcher im Schädel wirkten. »Und die Ölkleidung«, fuhr Charlotte erbarmungslos fort. Sie mußte es zu Ende bringen. »Die Sie zum Schutz gegen das Blut getragen haben.« »Das is doch Blödsinn!« keuchte Woodrow atemlos. »Warum sollte Mrs. Arledge sowas tun? Das is doch hinterhältig und gemein.« »Um frei zu sein und Mr. Hurlwood heiraten zu können, dessen Frau ja gestorben ist; um aus einer toten Ehe zu fliehen und sich für zwanzig Jahre des Betrugs zu rächen«, sagte Charlotte, deren Stimme erstaunlich sicher klang in dieser furchtbaren Stille. »Sie hat sich der Methode des Schlächters bedient und ihren Mann umgebracht, um frei zu sein.« Woodrow drehte sich zu Dulcie um. Landon Hurlwood war einen Schritt zurückgewichen, eine furchtbare Ahnung stand in seinem Gesicht, wie die Vorahnung des Todes. Dulcie warf Charlotte einen haßerfüllten Blick zu, der Emily zurückweichen ließ und Charlotte einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Dann drehte Dulcie sich zu Hurlwood um. »Landon!« Nur dieses eine Wort rief sie aus, dann sah sie sein Gesicht - den Ausdruck von Schrecken, Schuld und Abscheu - und wußte, daß alles verloren war.
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Wer weiß, was sie als nächstes getan hätte. Aber ohne daß sie es hörte, hatte sich das Gartentor geöffnet und Pitt stand bei ihnen, ungekämmt und unordentlich gekleidet. Dulcie wollte etwas zu ihm sagen, brachte aber keinen Ton über die Lippen. Pitts Gesicht drückte die Desillusionierung aus und den Schmerz, den man erlebt, wenn man aus einem schönen, süßen Traum erwacht und die bittere Wirklichkeit erkennen muß. Charlotte sah, wie Bewunderung und Zärtlichkeit aus seinem Blick schwanden und nur noch dieser Funken Mitleid zurückblieb, der nie erlosch, egal für wen und worin die Schuld bestand. Mit einer Klarheit, die sie erzittern ließ, erkannte sie, wie tief Dulcie ihn angerührt hatte, und wie nah sie selbst daran gewesen war, einen Teil von ihm für immer zu verlieren. »Wachtmeister, bringen Sie Mrs. Arledge zur Wache in der Bow Street. Sie wird wegen Mordes an Aidan Arledge verhaftet«, sagte er sehr leise. Woodrow schluckte. »Jawohl, Sir. In Ordnung, Sir«, sagte er und machte Anstalten, den Befehl auszuführen. Landon Hurlwood stand wie angenagelt auf der Stelle, ein Mann, der die Welt mit ihren normalen Aktivitäten und alltäglichen Geschäften bereits verlassen hat. Pitt drehte sich zu Charlotte und Emily um. »Dein eigener Ehemann soll sich um dich kümmern«, sagte er zu Emily. »Du bist zum Glück nicht mein Problem.« Zu Charlotte gewandt sagte er: »Du schuldest mir eine Erklärung, meine Liebe. Eigentlich hast du es verdient, verhaftet zu werden, weil du dir gewaltsamen Zutritt zu fremdem Eigentum verschafft hast.« »Jetzt hast du sie.« Charlotte nahm keine Notiz von seinen Worten. »Wird man dir deinen Posten wieder zurückgeben?« Einige Augenblicke lang versuchte er - vergeblich - seinen Ärger aufrechtzuerhalten. Trotz aller Bemühungen machte sich mit überwältigender Erleichterung ein Lächeln auf seinem Gesicht breit. »Ja. Den Schlächter habe ich heute auch überführt.«
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»Wirklich?« Es interessierte sie nicht, wer es war oder wie Pitt ihn entdeckt hatte. Sie stürzte nach vorne und warf sich ihm in die Arme. »Du bist genial! Ich wußte schon immer, daß du genial bist.« Er hielt sie fest umschlungen und küßte sie auf die Wange, das Haar, die Augen und den Mund. Dann öffnete er seine Arme und umschloß auch Emily. »Wirst du Jack davon erzählen?« fragte Emily mit banger Stimme. »Nein«, sagte Pitt mit einem unterdrückten Lachen. »Aber du!«
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