Moderne italienische Strafrechtsdenker
Ettore Dezza • Sergio Seminara Thomas Vormbaum Herausgeber
Moderne italienische Strafrechtsdenker
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Herausgeber Professor Ettore Dezza Professor Sergio Seminara Universität Pavia Dipart. di Diritto Romano Storia e Filosofia del Diritto Strada Nuova 65 27100 Pavia Italien
[email protected] [email protected] Professor Dr. Dr. Thomas Vormbaum FernUniversität in Hagen Institut für Juristische Zeitgeschichte Universitätsstraße 21 58097 Hagen Deutschland
[email protected] ISBN 978-3-642-24838-2 e-ISBN 978-3-642-24839-9 DOI 10.1007/978-3-642-24839-9 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Porträts auf dem Cover (v.l.n.r.): Cesare Beccaria, Gaetano Filangieri, Gian Domenico Romagnosi, Giovanni Carmignani, Giuseppe Bettiol, Giuliano Vasalli Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
Vorwort Die hier vorgelegte Textsammlung tritt an die Seite der 2010 erschienenen Sammlung „Moderne deutsche Strafrechtsdenker“. Es sind nicht nur Gründe des persönlichen Interesses und des wissenschaftlichen Kontaktes der Herausgeber, die es sinnvoll erscheinen lassen, jener Sammlung als erstes eine solche mit Texten italienischer Strafrechtsdenker folgen zu lassen. Zwischen der deutschen und der italienischen Strafrechtswissenschaft besteht seit längerer Zeit gewissermaßen eine „Einbahnstraße“. Während das deutsche strafrechtliche Schrifttum und wichtige strafrechtliche Entscheidungen der deutschen Rechtsprechung, vor allem derjenigen des Bundesverfassungsgerichts, in Italien aufmerksam registriert und diskutiert werden, findet der umgekehrte Prozess nur recht spärlich statt, obwohl die Sprachbarrieren in beiden Richtungen vergleichbar hoch sind. Dieser Befund ist immerhin bemerkenswert, kann man doch Italien als das Mutterland der europäischen Rechtswissenschaft bezeichnen, und sind doch Jahrhunderte lang deutsche Rechtsstudenten nach Bologna und zu anderen italienischen Rechtsfakultäten gepilgert, um das dort Gelernte zurück über die Alpen mitzunehmen. Es ist hier nicht der Ort, den mannigfaltigen Gründen für die heutige Umkehrung der Verhältnisse nachzuspüren; ganz gewiss aber besteht Anlass, sie nach Möglichkeit abzumildern und den Austausch zwischen der deutschen und italienischen Strafrechtswissenschaft zu fördern, denn die letztere verdient die Aufmerksamkeit ihrer deutschen Kollegen. Die Textsammlung möchte dazu einen bescheidenen Beitrag leisten. Pavia, Hagen im September 2011
Ettore Dezza Sergio Seminara Thomas Vormbaum
Inhaltsverzeichnis Vorwort..................................................................................................................V Einführung ............................................................................................................ 1 CESARE BECCARIA Von den Verbrechen und von den Strafen (Dei delitti e delle pene) (1764) ........................................................................ 3 GAETANO FILANGIERI Die Gesetzgebungswissenschaft (La scienza della legislazione) (1784) ............................................................ 28 LUIGI CREMANI Drei Bücher über das Criminalrecht (De Jure Criminali libri tres) (1791–1793/1848) ........................................................................... 35 GIAN DOMENICO ROMAGNOSI Die Entstehung des Strafrechts (Genesi del diritto penale) (1791) ................. 51 GIOVANNI CARMIGNANI Elemente des Criminalrechts (Elementi del diritto criminale) (Erste italienische Fassung 1847) ................................................................... 76 FRANCESCO CARRARA Programm des Kriminalrechtskurses. Allgemeiner Teil Programma del corso di diritto penale. Parte generale (3. Aufl. 1867) .............................. 91 ENRICO FERRI Die neuen Horizonte des Straf- und Strafprozessrechts (I nuovi orizzonti del diritto e della procedura penale) (2. Aufl. 1884)...................... 116 RAFFAELE GAROFALO Kriminologie. Eine Untersuchung über das Verbrechen und die Theorie seiner Bekämpfung (Criminologia. Studio sul delitto e sulla teoria della repressione) (2. Aufl. 1891)............................................... 135 VINCENZO MANZINI Handbuch des italienischen Strafrechts (Trattato di Diritto Penale Italiano) (1908) ................................................... 152 EUGENIO FLORIAN Lehrbuch des Strafrechts. (Trattato di Diritto Penale) (2. Aufl. 1910) ........ 162
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ARTURO ROCCO Problem und Methode der Strafrechtswissenschaft (Il problema e il metodo della scienza del diritto penale) (1910) ......................................... 176 GIUSEPPE MAGGIORE Grundbegriffe des Strafrechts. Allgemeiner Teil (Principi di diritto penale. Parte generale) (1932) ...................................................................... 199 FILIPPO GRISPIGNI Italienisches Strafrecht. Erster Band (Diritto penale italiano. Volume primo) (2. Auflage 1947) ................................................................ 213 GIUSEPPE BETTIOL Das Strafrechtsproblem (Il problema penale) (1948).................................... 238 PIETRO NUVOLONE Zwecke und Mittel in der Strafrechtswissenschaft (I fini e i mezzi nella scienza del diritto penale) (1948) ......................................................... 255 FRANCESCO ANTOLISEI Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil (Manuale di diritto penale. Parte generale) (2. Auflage 1949)..................................................... 268 GIACOMO DELITALA Prävention und Repression in der Strafrechtsreform (Prevenzione e repressione nella riforma penale) (1950) ...................................................... 279 GIULIANO VASSALLI Funktionen und Unzulänglichkeiten der Strafe (Funzioni e insufficienze della pena) (1961).................................................................... 292 Erläuterungen und weiterführende Hinweise ................................................ 317 a) Allgemeine Literatur; Abkürzungen ......................................................... 317 b) Hinweise zu den einzelnen Texten ........................................................... 319 Cesare Beccaria..................................................................................... 319 Gaetano Filangieri................................................................................. 320 Luigi Cremani ....................................................................................... 321 Gian Domenico Romagnosi .................................................................. 322 Giovanni Carmignani............................................................................ 323 Francesco Carrara ................................................................................. 323
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Enrico Ferri ........................................................................................... 324 Raffaele Garofalo.................................................................................. 325 Vincenzo Manzini................................................................................. 325 Eugenio Florian..................................................................................... 326 Arturo Rocco......................................................................................... 327 Giuseppe Maggiore............................................................................... 328 Filippo Grispigni................................................................................... 328 Giuseppe Bettiol.................................................................................... 329 Pietro Nuvolone .................................................................................... 330 Francesco Antolisei............................................................................... 331 Giacomo Delitala .................................................................................. 331 Giuliano Vassalli................................................................................... 332
Einführung Die Textsammlung enthält strafrechtstheoretische Texte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Diese zeitliche Eingrenzung entspricht nicht nur der Angleichung an die Textsammlung „Moderne deutsche Strafrechtsdenker“, sondern auch einem objektiven Informationsstand: Während für das Spätmittelalter und die frühe Neuzeit die Kenntnisse über das italienische Strafrecht nicht gering sind1, versiegen sie für die darauf folgende Zeit zusehends. Cesare Beccaria, der unsere Sammlung eröffnet, ist zwar den deutschen Strafrechtlern und Rechtshistorikern bekannt; bei Gaetano Filangieri, dessen Hauptwerk, ebenso wie dasjenige Beccarias, zu seinen Lebzeiten noch ins Deutsche übersetzt wurde, dürfte der Kreis der Kenner schon kleiner sein. Von den folgenden Strafrechtsdenkern sind in Deutschland vor allem Raffaele Garofalo (dem wir wohl das Wort „Kriminologie“ verdanken), und Enrico Ferri bekannt, aber wohl auch diese kaum über den Kreis der Kriminologen und Strafrechtshistoriker hinaus. (Cesare Lombroso ist aus unten noch zu nennenden Gründen in dieser Textsammlung nicht vertreten). Die Herausgeber hoffen daher, ein in Deutschland weitgehend unbekanntes Feld aufzuhellen und einen ersten strafrechtshistorischen und -dogmatischen Vergleich der Entwicklungen zu ermöglichen. Zielsetzung und Textauswahl folgen denselben Grundsätzen wie in den Textsammlung „Moderne deutsche Strafrechtsdenker“, die daher hier weitgehend unverändert wiedergegeben werden können:2 1. Die Textsammlung soll nicht eine – sicherlich ebenso legitime – Zusammenstellung didaktisch ausgewählter, nach Sachproblemen gegliederter Textsplitter sein, sondern ein rechtshistorisches Textbuch, das die Autoren mit möglichst langen, zusammenhängenden Passagen zu Worte kommen lässt. [...] Die Begrenzung auf Texte zur Strafrechtstheorie ist zweifellos schmerzlich. Sie geht – insoweit unhistorisch – von zwei gegenwärtigen, durch Lehrbuch- und Vorlesungsgliederungen verfestigten Grenzziehungen aus, nämlich von derjenigen zwischen Strafrechtstheorie und Strafrechtsdogmatik und von derjenigen zwischen Strafrecht und Kriminologie. Nicht in die Sammlung aufgenommen sind daher Texte, die nach heutiger Kategorisierung als strafrechtsdogmatische oder als kriminalitätstheoretische zu bezeichnen wären. Daher fehlen zum Beispiel trotz ihrer strafrechtsgeschichtlichen Bedeutung Texte der biologischen, anthropologischen, soziologischen, psychologischen, sozialpsychologischen und tiefenpsychologischen Kriminalitätstheorien (und damit eben auch ein Text von Lombroso)3. Im Mittelpunkt stehen Texte mit Aussagen über Herkunft, Begriff, Rechtfertigung 1
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Als willkürlich herausgegriffene Werke seien genannt die „Klassiker“ Georg Dahm, Das Strafrecht Italiens im ausgehenden Mittelalter, 1931; Woldemar Engelmann, Die Schuldlehre der Postglossatoren, 1895. Neudruck 1965; Ders., Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre, 1938;. Hermann Kantorowicz, Albertus Gandinus und das Strafrecht der Scholastik, 1907. Erläuterungen der Abkürzungen S. 317 f. Eingehend über sie U. Neumann / U. Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe. (Erträge der Forschung. 134). Darmstadt 1980, insb. S. 56 ff.
E. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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und Zweck(e) der Strafe, über Inhalt und Umfang der staatlichen Strafgewalt (Rechtsverletzung, Rechtsgutverletzung, Pflichtverletzung, materieller und formeller Verbrechensbegriff), und über die mit ihnen zusammenhängenden und aus ihnen folgenden Einzelprobleme, vor allem die der Willensfreiheit und der Todesstrafe. Angesichts der bis heute ungebrochenen Bedeutung dieser Problemkreise erschien die thematische Begrenzung vertretbar. Die Sammlung enthält nur Texte von persönlichen Autoren. Es fehlen daher Gesetzesmaterialien, Gesetzestexte und auch Gerichtsentscheidungen, obwohl gerade die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts, die in mancher Hinsicht eine größere Sensibilität gegenüber den verfassungsrechtlichen Implikationen des Strafrechts aufweist als diejenige des Bundesverfassungsgerichts, Interesse verdient. Die Reihenfolge der Texte ist chronologisch nach ihrem ersten Erscheinungsdatum. Die Auswahl der Textpassagen (innere Textauswahl) richtet sich in erster Linie nach den dargelegten Kriterien der Thematik „Strafrechtstheorie“. Gelegentlich sind zur Abrundung aber auch Passagen zu außerhalb dieses Bereiches liegenden Fragen einbezogen worden, wie etwa Beccarias Auseinandersetzung mit dem Problem der Folter. 2. Fußnotenverweise der Originaltexte sind im allgemeinen nicht aufgenommen worden. Ausnahmen gelten vor allem dort, wo die angegebene Fundstelle in einem anderen Text der Sammlung auffindbar ist oder ihre Aufnahme in die Textsammlung sich hätte rechtfertigen lassen. 3. Die im Anhang gegebenen Erläuterungen und ergänzenden Hinweise, insbesondere die Literaturhinweise, wollen dem Leser den ersten Einstieg in eine nähere Befassung mit Text und Autor ermöglichen. Mit Hilfe dieser Angaben wird sich der Weg zu speziellerer Literatur leicht finden lassen.
Cesare Beccaria (1738–1794) Von den Verbrechen und von den Strafen (Dei delitti e delle pene) (1764) [...] 2. Entstehung der Strafen; Recht zum Strafen [9] Von der politischen Moral ist nur dann ein dauerhafter Vorteil zu erwarten, wenn sie auf den unzerstörbaren Empfindungen der Menschen aufbaut. Jedes Gesetz, das von diesen abweicht, wird stets auf einen Widerstand treffen, der schließlich siegt – so, wie eine Kraft, die zwar gering ist, aber andauernd wirkt, jede gewaltsame Bewegung, die auf einen Körper ausgeübt wird, besiegt. Befragen wir das menschliche Herz, so werden wir in ihm die grundlegenden Prinzipien des wahren Rechts des Herrschers, Verbrechen zu bestrafen, finden. Kein Mensch hat freiwillig einen Teil seiner Freiheit im Hinblick auf das Gemeinwohl hingegeben; diese Chimäre gibt es nur in Romanen. Wäre dies möglich, so wollte jeder von uns, dass die Verträge, welche die anderen binden, uns nicht bänden; denn jeder Mensch macht sich zum Mittelpunkt aller Verhältnisse auf der Welt. [10] Die Vermehrung des Menschengeschlechts, an sich zwar gering, aber doch zu groß im Vergleich mit den Mitteln, welche die unfruchtbare und verwahrloste Natur zur Befriedigung der zunehmend einander in die Quere kommenden Bedürfnisse bot, vereinte die ersten Wilden. Die ersten Vereinigungen aber riefen notwendigerweise weitere hervor, die sich gegen die ersten zur Wehr setzten; der Kriegszustand verlagerte sich auf diese Weise vom Einzelnen auf die Völker. Die Gesetze sind nun die Bedingungen, unter denen unabhängige und vereinzelte Menschen sich zur Gesellschaft zusammenschließen, da sie es müde sind, in einem ständigen Zustand des Krieges zu leben und einer Freiheit zu genießen, die infolge der Ungewissheit, sie bewahren zu können, unnütz geworden ist. Sie opfern einen Teil von ihr, um des Restes in Sicherheit und Ruhe zu genießen. Die Summe dieser für jedermanns Wohl geopferten Freiheitsanteile macht die Souveränität einer Nation aus, und der Souverän ist ihr legitimer Hüter und Verwalter. Es genügte aber nicht, dieses Gesamtgut zu bilden, man musste es auch gegen die privaten Besitzanmaßungen einzelner Menschen verteidigen, denn diese versuchen stets, von dem in Verwahrung Gegebenen nicht nur den eigenen Anteil zurückzuziehen, sondern sich auch noch desjenigen der anderen zu bemächtigen. Man brauchte daher fühlbare Beweggründe, welche hinreichten, um den despotischen Geist eines jeden Menschen daran zu hindern, die Gesetze der Gesellschaft wieder im alten Chaos untergehen zu lassen. Diese fühlbaren Beweggründe sind die Strafen, welche gegen die Gesetzesbrecher verhängt werden. Ich sage fühlbare Motive, weil die Erfahrung gelehrt hat, dass die Menge weder feste Grundsätze der Lebensführung annimmt noch sich von jenem Grundsatz der Auflösung fernhält, welcher sich in der ganzen physischen und moralischen Welt beobachten lässt, E. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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solange es nicht Motive gibt, welche unmittelbar auf die Sinne wirken und unablässig sich dem Geist [11] einprägen und damit gegen die starken Antriebe der Parteileidenschaften, die dem Gesamtwohl zuwider sind, ein Gegengewicht bilden: Weder Beredsamkeit noch Vorträge, nicht einmal die erhabensten Wahrheiten reichen hin, um auf die Dauer die Leidenschaften zu bremsen, die vom lebhaften Eindruck der in Reichweite liegenden Gegenstände erregt werden. Es war also die Notwendigkeit, welche die Menschen zur Hingabe eines Teils der eigenen Freiheit zwang; damit ist aber sicher, dass ein jeder nicht mehr als nur den kleinstmöglichen Teil davon in das öffentliche Gesamtgut einbringen will, eben nur so viel als hinreicht, um die anderen zu seiner Verteidigung zu veranlassen. Die Gesamtheit dieser kleinstmöglichen Teile bildet das Recht zum Strafen; alles, was darüber hinausgeht, ist Missbrauch und nicht Gerechtigkeit, ist Faktum, aber noch nicht Recht*. Diejenigen Strafen, welche über das hinausgehen, was zur Erhaltung des Gemeingutes des öffentlichen Wohls erforderlich ist, sind ihrer Natur nach ungerecht; und umso gerechter sind die Strafen, je heiliger und unverletzlicher die Sicherheit ist und je größer die Freiheit, welche der Souverän seinen Untertanen bewahrt. [12]
3. Folgerungen Die erste Folgerung aus diesen Grundsätzen ist, dass allein die Gesetze die Strafen für die Verbrechen bestimmen können, und diese Befugnis kann einzig und allein beim Gesetzgeber liegen, der die ganze durch einen Gesellschaftsvertrag geeinte Gesellschaft vertritt. Kein Beamter kann rechtmäßig gegen ein anderes Glied dieser Gesellschaft Strafen verhängen, denn er ist ja nur ein Teil der Gesellschaft. Eine Strafe aber, welche das von den Gesetzen festgelegte Maß überschreitet, bedeutet: gerechte Strafe plus eine weitere Strafe; daher kann kein Beamter, sei es unter dem Vorzeichen des Diensteifers oder demjenigen des öffentlichen Wohls, die gegen einen straffällig gewordenen Bürger festgesetzte Strafe verschärfen. Die zweite Folgerung ist, dass der Herrscher, der die Gesellschaft selbst vertritt, nur allgemeine, für alle Mitglieder verbindliche Gesetze geben, aber nicht darüber urteilen kann, ob jemand den Gesellschaftsvertrag verletzt hat; denn dann würde das Volk sich in zwei Teile aufteilen: einen, der vom Herrscher vertreten wird, welcher die Verletzung des Vertrages behauptet, und den anderen, der vom Beschuldigten vertreten wird, der diese Verletzung bestreitet. Es muss daher ein Dritter über die Wahrheit des Sachverhalts urteilen. Daraus folgt die Notwendigkeit eines Magistrats, dessen Entscheidungen nicht mit der Berufung angreifbar sind und in bloßen Bestätigungen oder Verneinungen der einzelnen Sachverhalte bestehen. Die dritte Folgerung ist: Wenn sich erweisen sollte, dass die Grausamkeit der Strafen wenn schon nicht direkt dem öffentlichen Wohl und dem Zweck, Straftaten zu verhindern, widersprechend, so doch einfach nutzlos ist, so würde sie auch in diesem Falle nicht nur jenen wohltätigen Tugenden widersprechen, welche das Ergebnis einer aufgeklärten Vernunft sind [...] [13] [...], sondern sie würde auch in Widerspruch zur Gerechtigkeit und zum Wesen des Sozialvertrages treten.
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4. Auslegung der Gesetze Vierte Folgerung: Nicht einmal die Befugnis zur Auslegung der Strafgesetze kann den Kriminalrichtern zugestanden werden, und zwar ebendeshalb, weil sie keine Gesetzgeber sind. Die Richter haben die Gesetze nicht von unseren Vorvätern als eine häusliche Überlieferung und ein Vermächtnis übernommen, das den Nachfahren nichts anderes überließe als die Sorge um den Gehorsam, sondern sie haben sie von der lebenden Gesellschaft bzw. vom Herrscher, der diese als rechtmäßiger Verwahrer des derzeitigen Ergebnisses des Willens aller regiert. Sie erhalten sie nicht als Verbindlichkeit aus einem in alter Zeit geschworenen Eid1, der ungültig wäre, weil er nichtexistente Willensträger binden würde, und ungerecht wäre, weil er die Menschen aus dem gesellschaftlichen Zustand in den einer Herde zurückführen würde. Sie erhalten sie vielmehr als Ergebnis eines stillschweigenden oder ausdrücklichen Eides, den die vereinigten Willen [14] der lebenden Untertanen dem Souverän geleistet haben als notwendige Fesseln, um die die innere Gärung der Einzelinteressen zu bremsen und zu beherrschen. Dies ist die physische und reale Herrschaft der Gesetze; wer aber mag nach alledem der rechtmäßige Interpret der Gesetze sein? Der Souverän, der den derzeitigen Willen aller verwahrt, oder der Richter, dessen Aufgabe allein in der Prüfung besteht, ob dieser Mensch eine gesetzwidrige Tat begangen hat oder nicht? Bei jedem Verbrechen muss vom Richter ein vollständiger Syllogismus vorgenommen werden: der Obersatz muss das allgemeine Gesetz sein, den Untersatz muss die mit dem Gesetz übereinstimmende oder nicht übereinstimmende Handlung sein, der Schluss Freiheit oder Strafe. Stellt der Richter, gezwungen oder freiwillig, auch nur zwei Syllogismen auf, so öffnet sich die Pforte zur Unsicherheit. Nichts ist gefährlicher als jenes verbreitete Axiom, man müsse den Geist des Gesetzes zu Rate ziehen. Dies ist ein Damm, der unter dem Strom der Meinungen birst. Diese Wahrheit mag gewöhnlichen Gemütern widersprüchlich erscheinen, die von einer winzigen gegenwärtigen Unordnung mehr beeindruckt werden als von den finsteren, aber weiter entfernten Folgerungen, die aus falschen, in einem Volk verwurzelten Grundsätzen erwachsen; ich halte sie jedoch für erwiesen. Unsere Erkenntnisse und all unsere Vorstellungen stehen in einer wechselseitigen Verbindung; je mehr sie miteinander verbunden sind, umso zahlreicher sind die Wege, die in sie einmünden und von ihnen ausgehen. Jeder Mensch hat seinen Standpunkt; jeder Mensch hat zu verschiedenen Zeiten einen anderen Standpunkt. 1
Wenn jedes einzelne Glied mit der Gesellschaft verbunden ist, so ist diese gleichermaßen mit jedem Einzelglied durch einen Vertrag verbunden, der seiner Natur nach beide Parteien gleichermaßen verpflichtet. Diese Verpflichtung, die vom Thron bis hinab zur Hütte reicht, die in gleichem Maße den größten und den ärmsten Menschen bindet, bedeutet nichts anderes als dass es das Interesse aller ist, dass die für die größte Zahl nützlichen Verträge eingehalten werden. Das Wort Verpflichtung ist eines jener Wörter, die in der Moral viel häufiger sind als in jeder anderen Wissenschaft und die ein Abkürzungszeichen für eine Vernunftüberlegung, nicht aber für eine Idee sind. Sucht eine Idee für das Wort Verpflichtung, und ihr werdet sie nicht finden; stellt eine Vernunftüberlegung an, und ihr werdet euch selber verstehen und verstanden werden.
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Der Geist des Gesetzes wäre somit das Ergebnis einer guten oder schlechten Logik eines Richters, seiner leichten oder ungesunden Verdauung, wäre abhängig von der Stärke seiner Leidenschaften, von der Gebrechlichkeit, unter der er leidet, von den Beziehungen des Richters zum Verletzten und [15] von allen diesen kleinen Kräften, die das Erscheinungsbild aller Gegenstände im wandelbaren Gemüt des Menschen verändern. Daher sehen wir häufig, wie das Schicksal eines Bürgers bei seinem Gang, den es durch verschiedene Gerichte nimmt, sich wandelt, und wie das Leben der Unglücklichen zum Opfer falscher Schlüsse oder der aktuellen Gärung der Körpersäfte eines Richters wird, der das unklare Ergebnis dieser ganzen ungeordneten Reihe von Begriffen, die ihm durch den Kopf gehen, für rechtmäßige Auslegung hält. Wir sehen daher dieselben Verbrechen vom selben Gericht zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich bestraft, weil nicht die gleichbleibende und klare Stimme des Gesetzes, sondern die fehlsame und schwankende der Auslegungen zu Rate gezogen worden ist. Ein Missstand, der aus der unbeirrbaren Beachtung des Buchstabens des Gesetzes folgt, hält keinen Vergleich mit den Missständen aus, welche aus der Auslegung hervorgehen. Eine solche kurzfristige Unzuträglichkeit spornt dazu an, die leichte und notwendige Korrektur desjenigen Gesetzeswortlautes vorzunehmen, der die Unsicherheit verursacht hat; aber er verhindert die fatale Befugnis zum Räsonnieren, aus der die willkürlichen und käuflichen Meinungsverschiedenheiten entstehen. Wenn ein fixierter Gesetzeskodex, der wörtlich beachtet werden muss, dem Richter keine andere Aufgabe belässt, als Handlungen der Bürger zu untersuchen und sie als dem geschriebenen Gesetz konform oder widersprechend zu beurteilen; wenn die Richtschnur des Rechts oder Unrechts, die das Handeln des unwissenden wie das des philosophischen Bürgers steuern soll, nicht eine Angelegenheit von Streitigkeiten, sondern von Tatsachen ist, dann sind die Untertanen nicht jenen kleinen Tyranneien Vieler unterworfen, die umso grausamer sind, je kleiner der Unterschied zwischen dem Leidenden und dem, der die Leiden zufügt, ist. Diese kleinen Tyranneien sind noch verhängnisvoller als die Tyrannei eines Einzigen, denn der Despotismus Vieler kann [16] nur vom Despotismus eines Einzigen überwunden werden; und das Ausmaß der Grausamkeit eines Despoten hängt nicht von seiner Kraft, sondern von den Hindernissen ab. Nur so also erlangen die Bürger jene Sicherheit ihrer selbst, welche eine gerechte ist, weil sie der Zweck ist, für den die Menschen in Gesellschaft getreten sind, und welche eine nützliche ist, weil sie die Menschen in den Stand versetzt, die Unzuträglichkeiten, die aus einer Missetat folge, genau vorherzuberechnen. Es ist allerdings wahr, dass sie andererseits einen Geist der Unabhängigkeit erlangen, jedoch einen solchen, der nicht die Gesetze erschüttert und sich nicht gegen die hohen Behörden auflehnt, sondern gegen jene, die es gewagt haben, die Schwäche, aus der heraus sie ihren vom Interesse geleiteten oder grillenhaften Ansichten nachgegeben haben, mit dem heiligen Namen der Tugend zu belegen. Diese Grundsätze werden jenen missfallen, die sich ein Recht beigelegt haben, die Schläge der Tyrannei, die sie von den Oberen empfangen haben, an die Angehörigen der unteren Schichten weiterzugeben. Ich müsste alles fürchten, wenn der Geist der Tyrannei sich mit dem Geist des Lesens vertrüge.
Von den Verbrechen und von den Strafen (1764)
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5. Dunkelheit der Gesetze Wenn die Auslegung der Gesetze ein Missstand ist, so ist offenkundig ein anderer ihre Dunkelheit, welche notwendigerweise Auslegung nach sich zieht; und dieser Missstand wird besonders groß sein, wenn die Gesetze in einer dem Volke fremden Sprache geschrieben sind, denn dies bringt das Volk in einen Zustand der Abhängigkeit von einigen wenigen, in dem es nicht selber beurteilen kann, wie weit seine Freiheit oder die Freiheit seiner Glieder reicht; in einer Sprache also, welche aus einem prächtigen und öffentlichen Buch ein gleichsam privates und abgeschlossenes macht. Je größer die Zahl derjenigen sein wird, die den heiligen Gesetzeskodex verstehen und in [17] Händen halten werden, um so weniger häufig werden die Verbrechen sein, denn es kann nicht zweifelhaft sein, dass die Unkenntnis und Ungewissheit der Strafen die Beredsamkeit der Leidenschaften fördert. Was sollen wir von Menschen denken, wenn wir sehen, dass dieser veraltete Brauch ein guter Teil des gebildeten und aufgeklärten Europa ist. Eine Folgerung aus diesen zuletzt angestellten Überlegungen ist, dass ohne Schriftlichkeit eine Gesellschaft niemals eine feste Regierungsform erlangen wird, in der die Gewalt vom Ganzen und nicht von den Teilen ausgeht und in der die Gesetze, die nur vom allgemeinen Willen verändert werden können, nicht durch die Masse privater Interessen verdorben werden. Erfahrung und Vernunft haben uns einsehen gelehrt, dass Wahrscheinlichkeit und Sicherheit der menschlichen Überlieferungen sich in dem Ausmaß verkleinern, in dem sie sich von ihrem Ursprung entfernen. Wenn nicht ein festes Sinnbild des Gesellschaftsvertrages besteht, wie sollen dann die Gesetze der unvermeidlichen Kraft der Zeit und der Leidenschaften standhalten? Daran erkennen wir, wie nützlich die Buchdruckerkunst ist, welche die Öffentlichkeit statt einiger weniger zur Bewahrerin der heiligen Gesetze macht, und wie sehr sie jenen dunklen Geist der Kabale und Intrige vertrieben hat, der vor dem Anblick der Aufklärung und der Wissenschaften, die von seinen Anhängern angeblich verachtet, in Wirklichkeit aber gefürchtet werden, weicht. Dies ist der Grund, warum wir in Europa die Grausamkeit der Verbrechen, die unsere Vorfahren, die abwechselnd Tyrannen und Sklaven wurden, erzittern ließen, vermindert sehen. Wer die Geschichte von vor zwei oder drei Jahrhunderten und unsere Geschichte kennt, wird wissen, wie aus dem Luxus und der Weichlichkeit heraus die sanftesten Tugenden, Humanität, Wohltätigkeit und Duldsamkeit gegenüber menschlichen Irrtümern [18] erwachsen sind. Er wird wissen, welches die Wirkungen dessen sind, was sie zu Unrecht alte Schlichtheit und guten Glauben nennen: eine Menschheit, die unter unversöhnlichem Aberglauben zittert; Habsucht und Ehrgeiz Weniger beflecken die Schatzkammern und Throne der Könige mit Menschenblut; verborgene Verrätereien, öffentliche Metzeleien; jeder Adlige ein Tyrann über das Volk; Diener der evangelischen Wahrheit, die ihre Hände, welche jeden Tag den Gott der Sanfmut anfassen, mit Blut beflecken, sind nicht das Werk dieses aufgeklärten Zeitalters, das einige als verderbt bezeichnen. [...] [31]
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12. Von der Folter Eine durch den Gebrauch bei den meisten Völkern geheiligte Grausamkeit ist die Folterung des Angeklagten zu Prozessbeginn, sei es, um ihn zum Geständnis eines Verbrechens zu zwingen, sei es wegen der Widersprüche, in die er sich verwickelt hat, sei es zur Entdeckung von Mitbeteiligten, sei es für eine ich weiß nicht welche metaphysische und unbegreifliche Reinigung von der Ehrlosigkeit, oder sei es schließlich auch wegen anderer Delikte, deren Täter er sein könnte, deretwegen er aber nicht angeklagt ist. Ein Mensch darf nicht vor dem richterlichen Urteilsspruch Täter genannt werden, und die Gesellschaft darf ihm nicht den öffentlichen Schutz entziehen, bevor entschieden ist, dass er die Verträge verletzt hat, in denen ihm dieser Schutz zugesagt worden ist. Was für ein anderes Recht als das der Gewalt ist es also, welches einem Richter die Macht gibt, einem Bürger eine Strafe zuzufügen, solange zweifelhaft ist, ob er Täter oder unschuldig ist? Dieses Dilemma ist nicht neu: Die Tat ist entweder bewiesen oder unbewiesen; ist sie bewiesen, so darf für sie keine andere Strafe verhängt werden als diejenige, welche von den Gesetzen festgesetzt ist, und die Folterungen sind überflüssig, weil das Geständnis des Täters überflüssig ist; ist die Tat aber unbewiesen, dann darf man einen Unschuldigen nicht foltern, denn unschuldig ist, gemäß den Gesetzen, ein Mensch, dem Straftaten nicht bewiesen sind. Welches ist der politische Zweck der Strafen? Die Abschreckung der übrigen Menschen. Aber welches Urteil sollen wir über die geheimen und verborgenen Schlächtereien fällen, welche die Tyrannei der Gewohnheit an Tätern und an Unschuldigen ausübt? Es ist wichtig, dass keine bekanntgewordene Straftat straflos bleibt; aber es ist unnütz, wenn man den Täter eines Delikts entdeckt, welches im Finsteren begraben ist. Ein bereits begangenes Übel, für das es keine Heilung mehr gibt, darf von [32] der politischen Gesellschaft nur bestraft werden, wenn und soweit es andere mit der Verlockung der Straflosigkeit beeinflusst. Wenn es aber stimmt, dass die Zahl derjenigen Menschen, welche aus Angst oder aus Tugendsamkeit die Gesetze beachten, größer ist als die Zahl derjenigen, welche die Gesetze brechen, so muss das Risiko, einen Unschuldigen zu foltern, um so höher angesetzt werden, je höher die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Mensch, unter sonst gleichen Voraussetzungen, die Gesetze beachtet hat gegenüber derjenigen, der sie missachtet hat. Ich füge aber noch hinzu, dass es alle Verhältnisse verwirren zu wollen bedeutet, wenn man verlangt, dass ein Mensch zugleich Ankläger und Angeklagter sei; dass der Schmerz zum Prüfstein der Wahrheit wird, gleich so, als ob deren Maßstab in den Muskeln und Sehnen eines Bedauernswerten zu suchen sei. Das Gesetz, das die Folter gebietet, ist ein Gesetz, das sagt: Ihr Menschen, widerstehet dem Schmerz; und wenn auch die Natur in euch eine unzerstörbare Eigenliebe geschaffen hat, wenn sie euch auch ein unveräußerliches Recht auf Selbstverteidigung gegeben hat, so glaube ich doch an ein ganz entgegengesetztes Empfinden in euch, nämlich an einen heldenmütigen Selbsthass, und ich befehle euch, euch selber anzuklagen und die Wahrheit auch zu sagen, während euch die Muskeln zerrissen und die Knochen ausgerenkt werden.
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Dieser schändliche Prüfstein der Wahrheit ist ein übriggebliebenes Denkmal der alten rohen Gesetzgebung, da die Beweise mit Feuer und kochendem Wasser und der ungewisse Ausgang eines Kampfes als Gottesurteile bezeichnet wurden. – So, als ob die Glieder der ewigen Kette, die in der Brust der Ersten Ursache schwebt, jeden Augenblick für leichtfertige menschliche Einrichtungen in Unordnung gebracht und voneinander gelöst werden dürften. Der einzige Unterschied, welcher zwischen der Folter und dem Beweis mit Feuer und [33] kochendem Wasser besteht, ist, dass der Ausgang der ersten vom Willen des Beschuldigten, der der zweiten von einem bloß physischen und äußerlichen Faktum abzuhängen scheint; jedoch ist dieser Unterschied nur ein scheinbarer und kein realer. Man ist genau so wenig frei, die Wahrheit unter Qual und Pein zu sagen, wie man damals frei war, ohne Täuschung den Wirkungen des Feuers und des kochenden Wassers zu entgehen. Jeder unserer Willensakte steht in einem Größenverhältnis zur Kraft des Sinneseindruckes, dem er entspringt; und die Empfindlichkeit jedes Menschen hat ihre Grenze. Daher kann der Eindruck des Schmerzes ein Maß annehmen, dass er sie völlig in Besitz nimmt und dem Gefolterten keine andere Freiheit lässt als den im Augenblick kürzesten Weg zur Befreiung von der Pein zu wählen. Und die Antwort des Beschuldigten folgt dann mit derselben Notwendigkeit wie die Eindrücke von Feuer und Wasser. Demnach wird sich der empfindliche Unschuldige als Täter bezeichnen, wenn er glaubt, dass es keinen anderen Weg gibt, um der Folter zu entgehen. Der ganze Unterschied zwischen ihnen verschwindet somit durch eben jenes Mittel, welches man angeblich angewendet hat, um ihn zu entdecken. Es ist dies ein sicheres Mittel, um die starken Verbrecher freizusprechen und die schwachen Unschuldigen zu verurteilen. Dies sind die schlimmen Nachteile dieses angeblichen Maßstabs der Wahrheit, aber es handelt sich um einen Maßstab, der eines Menschenfressers würdig wäre, so dass die Römer, auch sie in mehr als einer Hinsicht Barbaren, ihn den Sklaven vorbehielten, den Opfern einer wilden und allzu sehr gelobten Tugend. Von zwei gleichermaßen unschuldigen oder gleichermaßen schuldigen Menschen wird der starke und mutige freigesprochen werden, der schwache und ängstliche verurteilt werden nach der Vernunft folgender exakter Beweisführung: Ich als Richter müsste euch dieses Verbrechens für schuldig befinden; du, Starker, hast dem Schmerz zu widerstehen gewusst, und deshalb spreche ich dich frei; [34] du, Schwacher, hast ihm nachgegeben, und deshalb verurteile ich dich. Ich weiß zwar, dass das unter Qualen entrissene Geständnis keinerlei Beweiskraft besitzt, aber ich werde euch von neuem quälen, falls ihr das, was ihr gestanden habt, nicht bestätigen solltet. Der Ausgang der Folter ist also eine Sache des Temperaments und der Berechnung, die bei jedem Menschen je nach seiner Stärke und Empfindsamkeit unterschiedlich sind; ein Mathematiker könnte daher mit diesem Vorgehen besser als ein Richter das Problem lösen, bei gegebener Muskelstärke und Empfindsamkeit der Sehnen eines Unschuldigen denjenigen Grad an Schmerz herauszufinden, der ihn dazu bringt, sich eines bestimmten Verbrechens für schuldig zu bekennen. Das Verhör eines Beschuldigten verfolgt das Ziel, die Wahrheit zu finden; wenn aber diese Wahrheit schon schwer genug aus dem Minenspiel, den Gebärden und dem Aussehen eines ruhigen Menschen sich erschließt, um wie viel weniger wird
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sie sich bei einem Menschen erschließen, bei dem die Zuckungen des Schmerzes alle Anzeichen verändern, durch welche im Antlitz der meisten Menschen manchmal unwillentlich die Wahrheit sich kundtut. Jede gewaltsame Aktion verwischt und beseitigt die geringfügigen Unterschiede der Merkmale, durch die häufig das Wahre vom Unwahren unterschieden werden kann. Eine merkwürdige Folge, die zwangsläufig aus der Anwendung der Folter hervorgeht, ist, dass der Unschuldige schlechter gestellt ist als der Schuldige; werden nämlich beide der Folter unterzogen, so hat der erstere alle Möglichkeiten gegen sich; denn entweder gesteht er das Verbrechen und wird verurteilt, oder er wird für unschuldig erklärt und hat dann eine nicht geschuldete Strafe erlitten. Der Schuldige hingegen hat eine günstige Möglichkeit auf seiner Seite, wenn er nämlich der Folter mit Festigkeit widersteht, muss er als unschuldig frei gesprochen werden und hat damit eine größere Strafe gegen eine geringere [35] eingetauscht. Also kann der Unschuldige nur verlieren und der Schuldige kann gewinnen. Diese Wahrheit ist schließlich – wenngleich etwas unklar – auch von denen empfunden worden, die sich von ihr entfernen. Das unter der Folter abgelegte Geständnis gilt nur, wenn es nach deren Ende unter Eid bestätigt worden ist. Bestätigt aber der Beschuldigte das Geständnis nicht, so wird er erneut gefoltert. Einige Gelehrte und einige Völker erlauben diese schmähliche petitio principii nur dreimal; andere Völker und andere Gelehrte überlassen sie dem Ermessen des Richters. Es ist überflüssig, das Wissen durch Anführen der zahllosen Beispiele von Unschuldigen, die sich wegen der Qualen der Folter für schuldig bekannt haben, zu verdoppeln; es gibt kein Volk, es gibt keine Zeit, die nicht ihre Beispiele liefern; aber weder ändern die Menschen sich, noch ziehen sie Folgerungen. Unter den Menschen, deren Gedanken über die Bedürfnisse des Lebens hinausdringen, ist keiner, der sich nicht schon gelegentlich der Natur zugeneigt hat, die ihn mit kaum vernehmbaren und undeutlichen Stimmen zu sich ruft; doch die Gewohnheit, der Tyrann der Gemüter, drängt ihn zurück und schreckt ihn ab. Der zweite Anlass für die Anwendung der Folter ist gegeben, wenn Tatverdächtige sich bei ihrer Vernehmung in Widersprüche verwickeln – als ob nicht die Angst vor Strafe, die Ungewissheit des Urteils, der Verfahrensaufwand und das erhabene Auftreten des Richters, die verbreitete Unkenntnis bei fast allen, Verbrechern wie Unschuldigen, es wahrscheinlich machen müssten, dass sowohl der Unschuldige, der Angst empfindet, als auch der Schuldige, der seine Tat zu verbergen trachtet, sich in Widersprüche verwickeln; als ob nicht Widersprüche, die sich bei allen Menschen schon dann finden, wenn sie ruhig sind, sich bei der Verwirrung der Sinne vervielfachen müssten, wenn das [36] ganze Trachten darauf ausgerichtet ist, sich vor der drohenden Gefahr zu schützen. Die Folter wird angewendet, um herauszufinden, ob der Täter noch andere Verbrechen außer denen, derer er beschuldigt wird, begangen hat; dies entspricht folgendem Gedankengang: Du bist eines Verbrechens schuldig, also besteht die Möglichkeit, dass du der Täter hundert anderer Verbrechen bist. Dieser Zweifel belastet mich und ich möchte ihn mit meinem Prüfstein der Wahrheit erhärten: Die Gesetze foltern dich, weil du schuldig bist, weil du schuldig sein kannst, weil ich will, dass du schuldig bist.
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Der Folter wird ein Beschuldigter unterzogen, um Beteiligte an seinem Verbrechens zu entdecken. Wenn aber dargetan worden ist, dass sie kein für die Entdeckung der Wahrheit geeignetes Mittel ist, wie kann sie dann dazu dienen, Beteiligte zu entdecken, was doch eine der zu findenden Wahrheiten ist? Als ob nicht ein Mensch, der sich selber anklagt, noch viel leichter andere anklagen würde. Ist es gerecht, Menschen für das Verbrechen anderer zu foltern? Wird man nicht die Beteiligten durch die Vernehmung von Zeugen, durch die Vernehmung des Beschuldigten, durch die sachlichen Beweismittel und das corpus delicti, also durch eben jene Mittel, die dem Beweis des Verbrechens beim Beschuldigten dienen, entdecken? Die Beteiligten fliehen meistens sogleich nach der Verhaftung ihres Komplizen; die Ungewissheit ihres Schicksals verurteilt sie von selber zur Verbannung und befreit so die Nation von der Gefahr weiterer Straftaten, während die Strafe des Beschuldigten, der sich in Gewahrsam befindet, ihren einzigen Zweck erreicht, nämlich den, durch Abschreckung andere Menschen von einem derartigen Verbrechen abzuschrecken. Ein weiterer lächerlicher Grund für die Anwendung der Folter ist die Reinigung von der Ehrlosigkeit, d.h. ein von den Gesetzen zur [37] Ehrlosigkeit Verurteilter muss die Wahrheit seiner Bekundungen mit der Verrenkung seiner Knochen bestätigen. Dieser Missbrauch dürfte im 18. Jahrhundert nicht geduldet werden. Meint man denn, dass der Schmerz, der eine Sinnesempfindung ist, von Ehrlosigkeit reinigt, die eine bloß moralische Beziehung ist? Ist er vielleicht ein Prüfstein? Und ist die Ehrlosigkeit vielleicht ein unreiner gemischter Körper? Indes ist die Ehrlosigkeit eine Empfindung, die weder den Gesetzen noch der Vernunft unterliegt, sondern der öffentlichen Meinung. Es ist die Folter selber, die eine wirkliche Ehrlosigkeit für den hervorbringt, der ihr zum Opfer gefallen ist. Man beseitigt also auf diese Weise Ehrlosigkeit durch Schaffung von Ehrlosigkeit. Es ist nicht schwierig, auf die Ursprünge dieses lächerlichen Gesetzes zurückzugehen, denn selbst die Dummheiten, die von einer ganzen Nation befolgt werden, stehen stets in irgendeiner Beziehung zu anderen allgemeinen und geachteten Vorstellungen dieser Nation. Und so scheint dieser Brauch aus religiösen und geistigen Bräuchen übernommen zu sein, die großen Einfluss auf die Gedanken der Menschen, der Nationen und ganzer Zeitalter haben. Ein unfehlbares Dogma verkündet uns, dass die aus der menschlichen Schwäche herrührenden Flecken, die nicht den ewigen Zorn des großen Wesens verdienen, durch ein unzerstörbares Feuer gereinigt werden müssen. Nun ist aber die Ehrlosigkeit eine bürgerliche Befleckung; sollten da nicht die Qualen der Folter den bürgerlichen Flecken der Ehrlosigkeit ebenso beseitigen, wie das Feuer von geistigen und unkörperlichen Flecken reinigt? Ich glaube, dass das Geständnis des Beschuldigten, das von einigen Gerichten als wesentliche Voraussetzung der Verurteilung angesehen wird, einen nicht unähnlichen Ursprung hat, denn vor dem geheimnisvollen Bußgericht ist das Geständnis der Sünder ein wesentlicher Teil des Sakraments. So also missbrauchen die Menschen die sichersten Erkenntnisse der Offenbarung, und wie diese die einzigen [38] sind, die in Zeiten der Unwissenheit Hilfe bringen, so nimmt die gelehrige Menschheit bei allen möglichen Gelegenheiten zu ihnen ihre Zuflucht und macht den unsinnigsten und abwegigsten Gebrauch von ihnen.
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Diese Wahrheiten haben bereits die römischen Gesetzgeber erkannt, bei denen Folter ausschließlich bei Sklaven anzutreffen ist, die jeglicher Persönlichkeit beraubt sind; sie werden auch in England befolgt, einer Nation, bei der der Ruhm der Wissenschaft, die Überlegenheit des Handels und Reichtums und damit der Macht und die Beispiele von Tugend und Mut keinen Zweifel an der Güte der Gesetze zulassen. Die Folter ist abgeschafft in Schweden, abgeschafft auch von einem der weisesten Monarchen Europas, der die Philosophie auf den Thron getragen hat, als Gesetzgeber ein Freund seiner Untertanen ist und diese in der Abhängigkeit von den Gesetzen gleich und frei gemacht hat – welches die einzige Gleichheit und Freiheit ist, die vernünftige Menschen unter den gegenwärtigen Verhältnissen verlangen können. Die Folter ist auch von den Militärgesetzen nicht für notwendig erachtet worden, obwohl doch das Militär überwiegend aus der Hefe der Nationen zusammengesetzt ist, so dass man annehmen könnte, man müsse sich ihrer dort mehr als in jedem anderen Bereich bedienen. Jemandem, der nicht berücksichtigt, wie stark die Tyrannei der Gewohnheit ist, muss es merkwürdig vorkommen, dass die friedensstiftenden Gesetze das menschlichste Gerichtsverfahren ausgerechnet von jenen Gemütern, die durch Metzeleien und Blut abgehärtet sind, übernehmen sollen!
13. Verfahren und Verjährung Sind die Beweise erbracht und ist die Gewissheit des Verbrechens erhärtet, so müssen dem Beschuldigten Zeit und Mittel bewilligt werden, [39] die er für seine Rechtfertigung benötigt – jedoch eine so kurze Zeit, dass er nicht die Promptheit der Strafe verhindert, die, wie wir gesehen haben, eines der wichtigsten Mittel zur Verhinderung von Verbrechen ist. Eine falsch verstandene Menschenliebe scheint dieser Kürze der Zeit zu widerstreben; doch jeder Zweifel wird schwinden, wenn man bedenkt, dass die Gefahren für Unschuldige mit den Mängeln der Gesetzgebung wachsen. Jedoch müssen die Gesetze einen bestimmten Zeitraum sowohl für die Verteidigung des Beschuldigten als auch für die Beweise der Verbrechen festsetzen; und der Richter würde zum Gesetzgeber werden, wenn er über die notwendige Zeit für den Beweis eines Verbrechens entscheiden müsste. Ferner verdienen jene schrecklichen Verbrechen, die lange im Gedächtnis der Menschen haften bleiben, wenn sie bewiesen sind, keinerlei Verjährung zugunsten des Beschuldigten, der sich der Verfolgung durch Flucht entzogen hat. Geringfügigere und verborgene Verbrechen aber müssen mit der Verjährung die Unsicherheit über das Schicksal eines Bürgers beseitigen, denn Verborgenheit, in der Verbrechen lange Zeit gehüllt gewesen sind, beseitigt das Beispiel der Straflosigkeit; dem Schuldigen aber bleibt inzwischen die Möglichkeit der Besserung. Mir genügt es, auf diese Grundsätze hinzuweisen, denn ich kann eine genaue Grenze nur für eine bestimmte Gesetzgebung und für bestimmte Gegebenheiten einer Gesellschaft angeben; ich füge nur noch hinzu: Sollte die Nützlichkeit gemäßigter Strafen in einer Nation bewiesen werden, so würden Gesetze, die je nach den Verbrechen die Verjährungsfrist oder die Zeit für die Erhebung der Beweise verkürzen oder verlängern und damit aus der Haft oder aus dem freiwilligen Exil einen Teil der Strafe bilden, eine einfache
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Einteilung in wenige Strafen ermöglichen, die für eine große Anzahl von Verbrechen mild wären. [...] [45]
15. Milde der Strafen Aus der einfachen Betrachtung der bislang erörterten Wahrheiten geht offenkundig hervor, dass es nicht der Zweck der Strafen ist, ein empfindliches Wesen zu quälen und zu plagen, noch darin, ein bereits begangenes Verbrechen ungeschehen zu machen. Kann denn in einem politischen Körper, der, weit davon entfernt, aus Leidenschaft zu handeln, der ruhige Lenker individueller Leidenschaften ist, kann denn er diese nutzlose Grausamkeit, das Werkzeug der Wut, des Fanatismus und schwacher Tyrannen, beherbergen? Rufen vielleicht die Schreie eines Unglücklichen schon begangene Taten aus einer Zeit, die nicht rückwärts schreitet, zurück? Der Zweck ist nach alledem kein anderer, als den Verbrecher daran zu hindern, seinen Mitbürgern neue Schäden zuzufügen und die anderen von gleichen Handlungen abzuhalten [...] [46] [...] Dafür, dass eine Strafe ihren Zweck erreicht, genügt es, dass das ihr entsprechende Leiden den aus dem Verbrechen erwachsenden Vorteil überwiegt, und in dieses Übergewicht des Leidens muss die Unausbleiblichkeit der Strafe und der Verlust des durch das Verbrechen erzielten Vorteils eingerechnet werden; alles, was darüber hinausgeht, ist überflüssig und tyrannisch. Die Menschen richten sich nach der wiederholten Zufügung von Übeln, die sie kennen, nicht nach denjenigen, die sie nicht kennen. Man denke sich zwei Völker, von denen im einen die höchste Strafe in der Stufenleiter der den Verbrechen entsprechenden Strafen die lebenslange Knechtschaft, im anderen das Rad ist. Ich behaupte, dass das erste genau so große Angst vor seiner Höchststrafe haben wird wie das zweite; und wenn es einen Grund gibt, die härteren Strafen des zweiten auf das erste zu übertragen, so würde derselbe Grund dazu dienen, die Strafen des letzteren zu erhöhen, so dass man unmerklich vom Rad zu längeren und ausgeklügelteren Foltern übergehen würde bis hin zu den allerletzten Raffinessen jener bei den Tyrannen nur allzu bekannten Wissenschaft. In demselben Maße, wie Strafvollstreckungen grausamer werden, werden die menschlichen Gemüter, die sich wie Flüssigkeiten stets auf [47] der Höhe der sie umgebenden Gegenstände halten, sich verhärten; und die stets lebendige Kraft der Leidenschaften bewirkt, dass nach hundert Jahren grausamer Hinrichtungen das Rad so abschreckend wirkt wie vorher das Gefängnis. Die Schrecklichkeit der Strafe selber bewirkt, dass derjenige, der sie zu erwarten hat, sich ebenso sehr bemüht, ihr zu entgehen, wie das Übel groß ist; und dies führt dazu, dass mehrere Verbrechen begangen werden, um der Strafe für eines zu entgehen. Die Länder und Zeiten mit den grausamsten Strafen waren immer auch diejenigen mit den blutigsten und unmenschlichsten Taten. Denn derselbe Geist der Grausamkeit, der die Hand des Gesetzgebers führte, beherrschte auch die des Vatermörders und des Meuchelmörders. Auf dem Thron gab er eiserne Gesetze für grausame Sklavengemüter, die ihm gehorchten; im Dunkel des Privatlebens reizte er dazu an, Tyrannen hinzumorden, um neue zu schaffen.
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Aus der Grausamkeit der Strafen erwachsen noch zwei weitere traurige Folgen, die dem Zweck, Verbrechen zu verhindern, geradezu entgegengesetzt sind. Die erste besteht darin, dass es nicht so einfach ist, die wichtige Entsprechung von Verbrechen und Strafe zu erhalten; denn wie auch eine eifernde Grausamkeit die Strafarten vielfach variiert hat, können sie doch nicht jene letzte Kraft überschreiten, welche die Grenze menschlicher Organisation und Empfindsamkeit bildet. Wäre man an diesen äußersten Punkt gelangt, so würde man für die schädlichsten und grausamsten Verbrechen keine entsprechend schwere Strafe mehr finden, wie es erforderlich wäre, um sie zu verhindern. Die andere Folge besteht darin, dass die Straflosigkeit selber aus der Grausamkeit der Strafvollstreckungen folgt. Die Menschen sind sowohl im Guten als auch im Bösen in bestimmte Grenzen eingeschlossen; ein für die Menschheit allzu grausames Schauspiel kann nur ein vorübergehender Schrecken sein, niemals aber ein dauerhaftes System, wie es Gesetze sein müssen; sind sie wirklich grausam, so ändern [48] sie sich entweder oder die schädliche Straflosigkeit entsteht aus den Gesetzen selbst. Ich schließe mit dem Hinweis, dass die Größe der Strafen dem Zustand der Nation selber entsprechen muss. Stärker und empfindlicher müssen die Eindrücke auf die verhärteten Gemüter eines Volkes sein, das kaum den Stand der Wildheit verlassen hat. Es bedarf eines Blitzes, um den wilden Löwen niederzustrecken, der sich dem Flintenschuss widersetzt. In dem Maße aber, in dem die Gemüter im gesellschaftlichen Zustand weicher werden, wächst die Empfindsamkeit, und wie diese wächst, muss die Härte der Strafe abnehmen, will man das Verhältnis zwischen Gegenstand und Erscheinung gleichmäßig erhalten.
16. Von der Todesstrafe Diese nutzlose Häufigkeit der Strafvollstreckungen, die noch niemals die Menschen besser gemacht hat, hat mich veranlasst, zu untersuchen, ob die Todesstrafe in einer wohl organisierten Regierungsform wirklich nützlich und gerecht ist. Wie kann das Recht, Seinesgleichen zu töten, beschaffen sein, das die Menschen in Anspruch nehmen? Mit Sicherheit ist es nicht jenes Recht, aus dem Souveränität und Gesetze sich ableiten. Denn diese sind nichts anderes, als die Summe der kleinsten Anteile der persönlichen Freiheit eines jeden; diese stellen den gemeinen Willen dar, der aus den einzelnen Willen zusammengesetzt ist. Wer hätte jemals anderen Menschen die Befugnis, ihn zu töten, einräumen wollen? Wie kann jemals im kleinsten Opfer der Freiheit eines jeden das Opfer des größten aller Güter, des Lebens, enthalten sein? Und sollte dies der Fall sein: wie verträgt sich ein solcher Grundsatz mit jenem anderen, dass der Mensch nicht der Herr über sein eigenes Leben ist? Denn er [49] müsste es doch gewesen sein, wenn er es einem anderen oder der ganzen Gesellschaft hätte übertragen können. Die Todesstrafe ist also kein Recht, denn ich habe ja gezeigt, dass sie ein solches nicht sein kann, sondern sie ist ein Krieg der Nation gegen einen Bürger, weil diese die Vernichtung seiner Existenz für erforderlich oder nützlich hält: Werde ich aber nachgewiesen haben, dass dieser Tod weder nützlich noch notwendig ist, so werde ich für die Menschlichkeit einen Streit gewonnen haben.
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Der Tod eines Bürgers kann nur aus zwei Gründen für notwendig gehalten werden. Der erste liegt vor, wenn der Bürger selbst dann, wenn er der Freiheit beraubt ist, immer noch solche Beziehungen und solche Macht besitzt, dass die Sicherheit der Nation davon betroffen ist; wenn seine Existenz also eine gefährliche Umwälzung der bestehenden Regierungsform hervorbringen kann. Der Tod eines Bürgers wird also notwendig, wenn die Nation ihre Freiheit wiedererlangt oder verliert, oder in der Zeit der Anarchie, wenn Unordnung die Stelle der Gesetze einnimmt. Während der ruhigen Herrschaft der Gesetze aber, unter einer Regierungsform, auf die alle Stimmen der Nation vereinigt sind, und die nach außen und nach innen durch die Macht und – was noch wirksamer als selbst die Macht ist – durch die öffentliche Meinung wohlbefestigt ist, wo die Befehlsgewalt ausschließlich beim wirklichen Herrscher liegt, wo die Reichtümer Annehmlichkeiten, aber nicht Macht gewähren, sehe ich keinerlei Notwendigkeit, einen Bürger zu vernichten, solange nicht sein Tod das wirkliche und einzige Hindernis wäre, andere von der Begehung von Verbrechen abzuhalten – was der zweite Grund ist, aus dem man die Todesstrafe für gerecht und notwendig halten könnte. Wenn die Erfahrung aller Jahrhunderte, in denen die Anwendung der äußersten Strafe noch niemals die dazu entschlossenen Menschen von [50] der Verletzung der Gesellschaft abgehalten hat, wenn das Beispiel der römischen Bürger und zwanzig Jahre Herrschaft der Zarin Elisabeth von Moskau, in denen diese den Vätern der Völker dieses berühmte Beispiel gab, das mindestens ebenso schwer wiegt wie viele mit dem Blut der Söhne des Vaterlands bezahlte Eroberungen, wenn all dies die Menschen nicht überzeugen sollte, denen die Sprache der Vernunft stets verdächtig, die Sprache der Obrigkeit hingegen überzeugend ist, so genügt es, die Natur des Menschen zu Rate zu ziehen, um die Wahrheit meiner Behauptung aufzunehmen. Es ist nicht die Härte der Strafe, was die stärkste Wirkung auf das menschliche Gemüt ausübt, sondern ihre Dauer, denn unser Empfinden wird einfacher und dauerhafter durch sehr kleine, aber sich wiederholende Eindrücke als durch einen starken aber vorübergehenden Anstoß bewegt. Die Macht der Gewohnheit herrscht allüberall über jedes empfindende Wesen; und wie der Mensch mit ihrer Hilfe spricht und geht und für seine Bedürfnisse sorgt, so prägen die moralischen Vorstellungen sich nur durch dauerhafte und wiederholte Anstöße in das Bewusstsein ein. Das stärkste Hindernis gegen Verbrechen ist nicht das schreckliche, aber vorübergehende Schauspiel der Tötung eines Verbrechers, sondern das lange und andauernde Beispiel eines der Freiheit beraubten Menschen, der, zum Lasttier geworden, mit seiner Mühsal die Gesellschaft entschädigt, die er verletzt hat. Dieser wirksame, weil gar häufig wiederholte Rückbezug auf uns selber – Ich selber werde zu solch lang dauernden und elenden Lebensbedingungen erniedrigt, sollte ich derartige Missetaten begehen – ist viel mächtiger als die Vorstellung des Todes, den die Menschen stets nur in undeutlicher Ferne erblicken. Die Todesstrafe erweckt einen Eindruck, der mit all seiner Kraft nicht das schnelle Vergessen ersetzt, das auch in sehr wichtigen und von [51] Leidenschaften gesteigerten Angelegenheiten zur Natur des Menschen gehört. Die allgemeine Regel: Heftige Leidenschaften überwältigen die Menschen, aber nicht für lange Zeit. So sind sie zwar geeignet, jene Umwälzungen hervorzurufen, die aus gewöhnlichen
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Menschen Perser und Spartaner machen; unter einer freien und ruhigen Regierungsform aber müssen die Eindrücke eher häufig als stark sein. Die Todesstrafe wird für die meisten zu einem Schauspiel und für einige zum Gegenstand eines mit Verachtung gemischten Mitleids; beide Empfindungen ergreifen das Gemüt der Zuschauer mehr als die heilsame Furcht, die das Gesetz hervorrufen will. Bei gemäßigten und dauerhaften Strafen aber herrscht die letztere Empfindung vor, weil sie die einzige ist. Die Grenze, die der Gesetzgeber für die Härte der Strafen festsetzen muss, scheint dort zu liegen, wo die Empfindung des Mitleids jede andere Empfindung im Gemüt der Zuschauer einer Hinrichtung, die doch mehr für sie als für den Täter vorgeführt wird, zurückdrängt. Um gerecht zu sein, darf eine Strafe nur jene Intensitätsgrade besitzen, die ausreichen, um Menschen von Verbrechen abzuhalten. Nun gibt es aber niemanden, der, wenn er nachdenkt, die völlige und dauerhafte Vernichtung der eigenen Freiheit für ein noch so vorteilhaftes Verbrechen wählen würde. Demnach besitzt die Intensität der Strafe lebenslänglicher Knechtschaft, welche die Todesstrafe zu ersetzen hätte, alles, was erforderlich ist, um ein zur Tat entschlossenes Gemüt zurückzuhalten. Ich gehe noch weiter und behaupte, dass sie sogar mehr besitzt. Sehr viele sehen dem Tod mit ruhigem und festem Blick entgegen, sei es aus Fanatismus, aus Eitelkeit, die den Menschen fast stets bis ans Grab begleitet, sei es aus einem letzten und verzweifelten Versuch, nicht mehr zu leben oder dem Elend zu entgehen; doch weder Fanatismus noch Eitelkeit erhalten sich zwischen Fesseln und Ketten, unter [52] Schlagstock und Joch oder in eisernem Käfig. Der Verzweifelte steht nicht am Ende seines Elends, sondern es beginnt für ihn erst. Unser Geist widersteht eher der Gewalt und schlimmsten, aber vorübergehenden Schmerzen als der Zeit und der hartnäckigen Langeweile, denn er kann sozusagen sein ganzes Selbst für einen Augenblick zusammennehmen, um den ersteren zu widerstehen; jedoch reicht seine kräftige Biegsamkeit nicht aus, um der langen und wiederholten Wirksamkeit der letzteren zu widerstehen. Mit der Todesstrafe setzt jedes Beispiel, das dem Volk geboten wird, ein Verbrechen voraus; bei der Strafe der lebenslangen Knechtschaft hingegen bietet ein einziges Verbrechen zahlreiche dauerhafte Beispiele. Und wenn es wichtig ist, dass die Menschen die Macht der Gesetze selber erblicken, so dürfen die Todesstrafen nicht weit auseinander liegen; demnach verlangen sie nach der Häufigkeit von Verbrechen. Damit also diese Art der Strafe nützlich sei, darf sie nicht jenen Eindruck bei den Menschen hervorrufen, den sie eigentlich hervorrufen müsste. Sie muss also zugleich nützlich und nutzlos sein. Demjenigen, der sagen sollte, dass die lebenslange Knechtschaft ebenso schmerzhaft und damit ebenso grausam sei wie der Tod, würde ich entgegen, dass beim Zusammenzählen aller unglücklichen Augenblicke der Knechtschaft diese vielleicht sogar noch schmerzhafter ist; denn diese Augenblicke sind über das ganze Leben verteilt, während jene ihre ganze Kraft in einem einzigen Augenblick ausübt: und eben dies ist der Vorteil der Strafe der Knechtschaft, die denjenigen, der ihr zuschaut, mehr in Schrecken versetzt als denjenigen, der sie erduldet; denn der erstere denkt an die Gesamtsumme der unglücklichen Augenblicke, während den zweiten das Unglück des gegenwärtigen Augenblicks vom zukünftigen Unglück ablenkt. Alle Übel vergrößern sich also in der Vorstellung; und derjenige, der sie erduldet, findet Entschädigungen und Trö-
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stungen, von denen die Zuschauer nichts wissen und die sie nicht für möglich halten, [53] denn diese setzen die eigene Empfindsamkeit an die Stelle des verhärteten Gemüts des Unglücklichen. Dies ungefähr ist der Gedankengang, den ein Dieb oder Mörder anstellt, der kein anderes Gegengewicht gegen den Wunsch nach Gesetzesverletzungen besitzt als Galgen und Rad. Ich weiß, dass man die Kunst, die eigenen Gemütsempfindungen zu beschreiben, durch Ausbildung erwirbt; auch wenn aber ein Dieb seine Grundsätze nicht gut auszudrücken wissen wird, wirken sie doch deshalb nicht weniger: Was sind das für Gesetze, die ich achten soll, welche zulassen, dass zwischen mir und dem Reichen ein solcher Abstand entsteht. Jener verweigert mir eine Münze, um die ich ihn bitte, und er entschuldigt sich, indem er mir eine Arbeit anbefiehlt, die ich nicht verstehe. Wer hat diese Gesetze gemacht? Reiche und mächtige Menschen, die es stets für unter ihrer Würde gehalten haben, die elenden Hütten des Armen zu besuchen, die niemals auch nur ein verschimmeltes Brot beim Wahrnehmen der unschuldigen Schreie der hungernden Kinder und der Tränen der Frauen verteilt haben. Lasst uns diese Gesetze brechen, die für die meisten verhängnisvoll und für einige wenige gefühllose Tyrannen nützlich sind; bekämpfen wir die Ungerechtigkeit an ihrer Quelle. Ich werde in den Zustand meiner natürlichen Unabhängigkeit zurückkehren; ich werde für einige Zeit frei und glücklich von den Früchten meines Mutes und meines Fleißes leben. Vielleicht wird der Tag des Schmerzes und der Buße herankommen; jedoch wird jene Zeit kurz sein, und ich werde einen Tag für viele Jahre der Freiheit und des Vergnügens zu dulden haben. Als König einer kleinen Zahl werde ich die Irrtümer der Fortuna berichtigen und ich werde diese Tyrannen erbleichen und zittern sehen, wenn jener kommt, den sie mit beleidigendem Stolz geringer als ihre Pferde und Hunde behandelt haben. Dann begegnet dem Geist des Verbrechers, der alles missbraucht, noch die Religion und bietet ihm eine leichte Reue und [54] gleichsam die Sicherheit der ewigen Seligkeit, womit sie den Schrecken dieser letzten Tragödie noch beträchtlich vermindert. Wer sich aber vor Augen führt, dass er eine große Anzahl von Jahren oder gar ein ganzes Leben vor sich hat, die er in Knechtschaft und Schmerzen verbringen wird, und zwar unter den Augen seiner Mitbürger, mit denen er frei und in Gemeinschaft lebt, als Knecht der Gesetze, die ihn bis dahin geschützt haben, der führt sich einen nützlichen Vergleich vor Augen zwischen alledem und der Unsicherheit des Ausgangs des Verbrechens und der Kürze der Zeit, in der er sich der Früchte des Verbrechens erfreuen könnte. Das andauernde Beispiel derjenigen, die er gerade als Opfer ihrer eigenen Unbedachtsamkeit sieht, macht auf ihn einen viel stärkeren Eindruck als das Schauspiel einer Hinrichtung, die ihn eher verhärtet als dass sie ihn verbessert. Auch wegen des Beispiels der Grausamkeit, das sie den Menschen bietet, ist die Todesstrafe nicht nützlich. Wenn schon die Leidenschaften oder die Notwendigkeit des Krieges gelehrt haben, menschliches Blut zu vergießen, so sollten doch die Gesetze, die menschliches Verhalten lenken, das Beispiel der Wildheit nicht verstärken, das umso düsterer ist, als die gesetzliche Tötung mit Bedacht und mit Förmlichkeit vollzogen wird. Es erscheint mir widersinnig, dass die Gesetze, die Ausdruck des öffentlichen Willens sind und Tötungen missbilligen und bestrafen,
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selber eine begehen und, um die Bürger vom Mord abzuhalten, einen öffentlichen Mord anordnen. Welches sind die wahren und nützlichsten Gesetze? Es sind jene Verträge und jene Bedingungen, die alle beachten und vorschlagen würden, während die stets zu hörende Stimme des persönlichen Interesses schweigt oder sich mit derjenigen des öffentlichen Interesses zusammentut. Welches sind die Empfindungen von jedermann über die Todesstrafe? Wir lesen sie aus den verächtlichen und missbilligenden Verhaltensweisen, mit denen [55] jeder dem Henker begegnet, der doch ein unschuldiger Vollstrecker des öffentlichen Willens ist, ein guter Bürger, der seinen Beitrag zum Gemeinwohl erbringt, das notwendige Werkzeug der öffentlichen Sicherheit nach innen, wie es die tapferen Soldaten nach außen sind. Wie entsteht also dieser Widerspruch? Und warum ist in den Menschen jenes Gefühl, der Vernunft zum Hohne, unzerstörbar? Weil die Menschen im Innersten ihrer Seele, jenem Teil, der mehr als jeder andere noch die ursprüngliche Form der alten Natur bewahrt, immer geglaubt haben, dass das Leben selber in niemandes Gewalt steht außer in derjenigen der Notwendigkeit, die mit ihrem eisernen Szepter das Weltall regiert. Was müssen die Menschen denken, wenn sie die weisen Magistrate und die gewichtigen Priester der Gerechtigkeit sehen, die mit unbeirrbarem Gleichmut veranlassen, dass ein Schuldiger mit feierlichem Aufwand zum Tode geschleppt wird? und wie der Richter, während ein Unglücklicher in den letzten Ängsten zuckt und auf den tödlichen Hieb wartet, mit gefühlloser Kälte, vielleicht sogar mit heimlicher Befriedigung über die eigene Machtfülle, hingeht und die Annehmlichkeiten und Vergnügungen des Lebens genießt? Ach! – werden sie sagen – diese Gesetze sind ja nur Vorwände für Gewalt; und die überlegten und grausamen Förmlichkeiten der Gerechtigkeit nicht anderes als konventionelles Gerede, um uns mit umso größerer Sicherheit als vorherbestimmte Opfer, die dem unersättlichen Götzen Despotismus gebracht werden, hinzuschlachten. Der Mord, über den man uns predigt, er sei eine fürchterliche Missetat: wir sehen ihn ohne jede Scheu und ohne Schrecken begangen. Machen wir uns dieses Beispiel zunutze! Der gewaltsame Tod erschien uns nach den Beschreibungen, die uns davon gegeben wurden, als ein fürchterliches Schauspiel, aber nun sehen wir ihn als die Sache eines Augenblicks. Um wie viel weniger [56] schrecklich wird er für den sein, der ihn nicht erwartet und dem daher alles, was er an Schmerzen bringt, erspart bleibt! Dies sind die schlimmen Trugschlüsse, die, wenn nicht in aller Klarheit, so doch zumindest vage, die Menschen ziehen, die verbrechensgeneigt sind und über die, wie wir gesehen haben, der Missbrauch der Religion mehr vermag als die Religion selber. Sollte man mir das Beispiel fast aller Zeitalter und Völker entgegenhalten, welche die Todesstrafe über gewisse Delikte verhängt haben, so würde ich entgegnen, dass dieser Hinweis vor dem Antlitz der Wahrheit verfliegt, dem gegenüber es keine Verjährung gibt; dass die Geschichte uns den Anblick eines riesigen Meeres von Irrtümern liefert, zwischen denen, gering an Zahl, undeutlich und weit voneinander entfernt, Wahrheiten auftauchen. Die Menschenopfer sind fast allen Völkern gemeinsam gewesen; wer würde deshalb wagen, sie zu entschuldigen? dass einige wenige Gesellschaften, und auch sie nur für kurze Zeit, sich der To-
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desstrafe enthalten haben, spricht mehr zu meinen Gunsten als gegen mich; denn dies entspricht dem Schicksal der großen Wahrheiten, deren Dauer ein bloßes Aufblitzen im Vergleich zur langen finsteren Nacht des Irrtums ist, welche die Menschen umgibt. Noch ist das glückliche Zeitalter nicht herangekommen, in dem die Wahrheit, so wie bisher der Irrtum, vor der Mehrheit offen liegt; und von diesem universalen Gesetz waren bisher nur jene Wahrheiten ausgenommen, welche die unendliche Weisheit von den anderen durch ihre Offenbarung hat abtrennen wollen. Die Stimme eines Philosophen ist viel zu schwach gegen den Lärm und das Geschrei der Menge, die von der blinden Gewohnheit geleitet wird; die wenigen Weisen aber, die über die ganze Erde verstreut sind, werden im Innersten ihrer Herzen meinen Nachklang vernehmen; und sollte die Wahrheit über die unzähligen Hindernisse hinweg, die sie [57] von einem Monarchen trennen, selbst gegen dessen Willen zu seinem Thron gelangen, so möge er wissen, dass sie mit den geheimen Wünschen aller Menschen zu ihm gelangt; er möge wissen, dass vor ihrem Antlitz der blutige Ruhm der Eroberer verstummt und dass die gerechte Nachwelt ihr den ersten Platz unter den friedlichen Siegeszeichen des Titus, des Antoninus und des Trajan anweisen wird. Glücklich die Menschheit, wenn ihr jetzt erstmals Gesetze gegeben würden, da wir auf den Thronen Europas wohltätige Monarchen sitzen sehen, die Förderer der friedlichen Tugenden, der Wissenschaften, der Künste, Väter ihrer Völker, gekrönte Bürger, deren Machtvermehrung das Glück der Untertanen bedeutet, da sie jenen Despotismus der mittleren Ebene aufhebt, der grausamer, weil unsicherer ist und die stets aufrichtigen Wünsche des Volkes unterdrückt, welche immer glücklich sind, wen sie an den Thron gelangen können! Wenn diese, sage ich, die alten Gesetze bestehen lassen, so erklärt sich dies aus der unendlichen Schwierigkeit, den ehrwürdigen Rost vieler Jahrhunderte von den Irrtümern zu befreien. Dies ist ein Grund für aufgeklärte Bürger, die zunehmende Erweiterung ihrer Herrschaft glühend zu wünschen. [...] [66] [...]
21. Asyle [...] Innerhalb eines Landes darf es keinen Ort geben, der von der Geltung der Gesetze freigestellt ist. Die Macht der Gesetze muss jedem Bürger so folgen, wie der Schatten seinem Körper folgt. Straflosigkeit und Asyl sind mehr oder weniger dasselbe. Und weil der Eindruck der Strafe mehr aus der Sicherheit ihres Eintritts als aus ihrer Schärfe folgt, laden die Asyle mehr zur Begehung von Verbrechen ein als dass Strafen davon abhalten. Asyle zu vermehren bedeutet, ebenso viele kleine Herrschaften zu gründen. Denn dort, wo es keine Gesetze gibt, die befehlen, können sich neue bilden, die den allgemeinen Gesetzen entgegengesetzt sind, damit aber auch ein Geist, der dem des gesamten Gesellschaftskörpers entgegengesetzt ist. Alle historischen Berichte zeigen, dass von den Asylen große Umwälzungen in den Staaten und in den Meinungen der Menschen ausgehen. [...] [69] [...]
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23. Verhältnis der Verbrechen zu den Strafen Es liegt nicht nur im allgemeinen Interesse, dass Verbrechen nicht begangen werden, sondern auch, dass sie im Verhältnis zum Schaden, den sie der Gesellschaft zufügen, seltener werden. Deshalb müssen die Hindernisse, welche die Menschen von Verbrechen zurückhalten, in dem Maße, in dem diese dem Gemeinwohl widersprechen, und im Maß der Antriebe, die zu ihnen führen, größer werden. Also muss es ein Verhältnis zwischen den Verbrechen und den Strafen geben. Sind Lust und Schmerz die Antriebe empfindsamer Wesen, sind unter die Gründe, welche die Menschen selbst zu den erhabensten Handlungen bewegen, vom unsichtbaren Gesetzgeber auch Belohnung und Strafe gesetzt worden, so wird aus deren falscher Verteilung jener eben so wenig bemerkte wie um so mehr verbreitete Widerspruch entstehen, dass Strafen für diejenigen Verbrechen verhängt werden, die sie selber hervorgebracht haben. Wenn dieselbe Strafe für zwei Verbrechen festgesetzt ist, welche die Gesellschaft unterschiedlich [70] verletzen, so werden die Menschen nicht ein größeres Hindernis erblicken, das schwerere Verbrechern zu begehen, wenn sie mit diesem einen größeren Vorteil verbunden sehen. Wer beispielsweise dieselbe Todesstrafe für die Tötung eines Fasanen, für die Ermordung eines Menschen und für die Fälschung eines wichtigen Schriftstücks angedroht sieht, wird keinen Unterschied zwischen diesen Verbrechen machen, und es werden auf diese Weise die moralischen Empfindungen vernichtet, die Errungenschaft vieler Jahrhunderte und vielen Blutvergießens, die nur langsam und unter Schwierigkeiten im menschlichen Gemüt zu verankern sind und zu deren Hervorrufung man die Hilfe der erhabensten Gründe und einen derartig großen Aufwand an gravitätischen Förmlichkeiten für nötig gehalten hat. Es ist unmöglich, in dem weltweiten Kampf menschlicher Leidenschaften alle Unordnungen zu verhindern. Sie nehmen im selben Maße zu wie die Bevölkerung und die Verflechtung der Einzelinteressen, die sich nicht geometrisch nach öffentlicher Nützlichkeit regulieren lassen. Mathematische Exaktheit muss in der politischen Arithmetik durch das Wahrscheinlichkeitskalkül ersetzt werden. Man werfe einen Blick in die Geschichte, und man wird sehen, dass die Unordnung mit der Länge der Reichsgrenzen wächst. Und während im selben Maße das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl abnimmt, wächst die Neigung zu Verbrechen nach Maßgabe des Interesses, das jeder an der Unordnung selbst hat. Und die Notwendigkeit, die Strafen zu verschärfen, wird aus diesem Grunde immer größer. Jene Kraft, die uns, der Schwerkraft ähnlich, zu unserem Wohlbefinden drängt, lässt sich nur im Ausmaß der Hindernisse aufhalten, die ihr entgegenwirken. Die Auswirkungen dieser Kraft erblickt man in der wirren Reihe menschlicher Handlungen. Stoßen und verletzen diese sich untereinander, so hindern die Strafen, die ich als politische [71] Hindernisse bezeichnen würde, die schädlichen Auswirkungen, ohne die auslösende Ursache zu zerstören, denn dies ist die Empfindsamkeit selber, die vom Menschen nicht zu trennen ist; und der Gesetzgeber handelt wie ein fähiger Architekt, dessen Amt es ist, die schädlichen Wirkungen der Schwerkraft zu hindern und jene zusammenwirken zu lassen, die zur Standhaftigkeit des Gebäudes beitragen.
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Geht man von der Notwendigkeit der Vereinigung der Menschen und vom Vorhandensein von Verträgen, die zwangsläufig aus dem Widerstreit privater Interessen hervorgehen, aus, so gelangt man zu einer Stufenleiter von Ordnungsstörungen, deren oberste Stufe diejenigen bilden, die unmittelbar die Gesellschaft zerstören, die unterste aber die kleinstmögliche Ungerechtigkeit gegenüber Privatleuten als Gliedern der Gesellschaft. Zwischen diesen Extremen liegen alle dem Gemeinwohl widerstreitenden Handlungen, die Verbrechen heißen, und alle reichen über unmerkliche Stufen vom Höchsten bis zum Niedrigsten hinab. Wäre die Geometrie auf die unzähligen und verborgenen Kombinationen menschlicher Handlungen anwendbar, so müsste es eine entsprechende Stufenleiter der Strafen geben, die von der schärfsten bis zur leichtesten Strafe reichte. Gäbe es eine genaue und allgemeingültige Stufenleiter der Strafen und Verbrechen, so hätten wir einen zuverlässigen und allgemeinen Maßstab der Grade von Tyrannei und Freiheit, des Vorrats an Menschlichkeit und Boshaftigkeit der verschiedenen Nationen. Dem weisen Gesetzgeber aber wird es genügen, die Hauptpunkte zu bezeichnen, ohne die Ordnung dadurch zu verwirren, dass er für Verbrechen des ersten Grades Strafen des letzten Grades anordnet. [72]
24. Maßstab der Verbrechen Wir haben gesehen, welches der wahre Maßstab der Verbrechen ist, nämlich der Schaden für die Gesellschaft. Es handelt sich hier um eine jener offenkundigen Wahrheiten, zu deren Entdeckung wir zwar weder einen Quadranten noch ein Teleskop benötigen und die der Einsicht jedes mittelmäßigen Verstandes zugänglich sind, die indes durch eine wundersame Verkettung von Umständen nur von einigen wenigen Denkern, Männern aus allen Nationen und Zeitaltern, mit eindeutiger Klarheit erkannt worden sind. Aber die asiatischen Ansichten, die in Ansehen und Macht gehüllten Leidenschaften haben, meistens durch kaum wahrnehmbare Antriebe, gelegentlich auch durch gewaltsame Einwirkungen auf die ängstliche Leichtgläubigkeit der Menschen, die einfachen Begriffe aufgelöst, die vielleicht die ursprüngliche Philosophie der entstehenden Gesellschaften gebildet haben und zu denen uns die Aufklärung unseres Jahrhunderts zurückzuführen scheint – freilich mit jener größeren Sicherheit, die von geometrisch exakter Prüfung, von tausend trüben Erfahrungen und sogar von Hindernissen gefördert werden kann. Es irren jene, die geglaubt haben, der wahre Maßstab für Verbrechen sei die Absicht dessen, der sie begeht. Diese hängt von dem gegenwärtigen Eindruck, den die Gegenstände ausüben, und von der ihnen vorausgehenden seelischen Bereitschaft ab. Sie ändern sich bei allen Menschen und bei dem einzelnen Menschen mit der raschen Aufeinanderfolge der Vorstellungen, der Leidenschaften und der Umstände. Man müsste also nicht nur ein besonderes Gesetzbuch für jeden Bürger, sondern auch ein neues Gesetz für jedes Verbrechen schaffen. In manchen Fällen fügen die Menschen mit bester Absicht der [73] Gesellschaft den größten Schaden zu, in anderen Fällen erweisen sie ihr mit der bösesten Absicht die größte Wohltat.
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Andere erblicken den Maßstab der Verbrechen mehr in der Würde der verletzten Person als in deren Bedeutung für das Gemeinwohl. Wäre dies der richtige Maßstab für Verbrechen, so wäre eine Unehrerbietigkeit gegenüber dem Wesen aller Wesen schrecklicher zu bestrafen als der Mord eines Monarchen, denn die Überlegenheit des Wesens wäre ein unendlicher Ausgleich für den Unterschied in der Verletzung. Schließlich meinen einige, dass die Schwere der Sünde das Maß des Verbrechens beeinflusse. Die Unrichtigkeit dieser Auffassung springt einem unparteiischen Betrachter der wahren Beziehungen der Menschen untereinander und der Menschen zu Gott in die Augen. Die ersteren sind Beziehungen der Gleichheit. Nur die Notwendigkeit hat aus dem Zusammenstoß der Leidenschaften und aus den Gegensätzen der Interessen die Idee des gemeinen Nutzens und damit die Grundlage der Gerechtigkeit entstehen lassen; die letzteren hingegen sind Beziehungen der Abhängigkeit von einem vollkommenen Wesen und Schöpfer, der sich selber das Recht, zugleich Gesetzgeber und Richter zu sein, vorbehalten hat, weil nur er es sein kann, ohne dass Missstände daraus entstehen. Hat er aber ewige Strafen für denjenigen ausgesetzt, der seiner Allmacht ungehorsam ist: wo ist dann das Insekt, das es wagen will, an die Stelle der göttlichen Gerechtigkeit zu treten, das jenes Wesen rächen will, das sich selber genügt, das keinerlei Eindruck der Freude oder des Schmerzes von den Gegenständen empfängt und das als einziges von allen Wesen ohne Gegenwirkung handeln kann? Die Schwere der Sünde hängt von der unerforschlichen Bosheit des Herzens ab; diese aber lässt sich für endliche Wesen nicht ohne Offenbarung erkennen; wie soll man also hieraus einen Maßstab zur Bestrafung von Verbrechen gewinnen? Es könnte in diesem Falle [74] geschehen, dass die Menschen strafen, wo Gott vergibt, und vergeben, wo Gott straft. Können die Menschen sich dem Allmächtigen dadurch widersetzen, dass sie ihn beleidigen, so können sie es auch dadurch, dass sie bestrafen.
25. Einteilung der Verbrechen Einige Verbrechen zerstören unmittelbar die Gesellschaft oder denjenigen, der sie repräsentiert. Einige verletzen die persönliche Sicherheit eines Bürgers im Hinblick auf Leben, Vermögen oder Ehre. Andere wiederum sind Handlungen, die dem entgegenstehen, was jeder zu tun oder nicht zu tun verpflichtet ist im Hinblick auf das öffentliche Wohl. Eine Handlung, die nicht von den beiden oben genannten Grenzen umfasst ist, kann nur von demjenigen als Verbrechen bezeichnet oder als ein solches bestraft werden, der ein Interesse daran hat, es so zu bezeichnen. Die Unsicherheit dieser Grenzen hat bei den Nationen eine Moral bewirkt, welche der Gesetzgebung widerspricht. Sie hat ferner bewirkt, dass neuere Gesetzgebungen sich gegenseitig ausschließen und dass eine Fülle von Gesetzen auch den anständigsten Menschen härtesten Strafen aussetzt, dass jedoch die Namen von Laster und Tugend unklar und flüssig geworden sind und dass Unsicherheit über die persönliche Existenz entstanden ist, welche Lethargie und gleichgültige Verträumtheit in den politischen Körpern hervorbringt. [...] [...] [...]
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Wer mit philosophischem Blick die Gesetzbücher oder Annalen der Nationen liest, wird fast immer die Namen Laster und Tugend, guter Bürger und Schuldiger im Zusammenhang mit den Umwälzungen der Jahrhunderte ihre Bedeutung wechseln sehen – nicht wegen der Änderungen, welche in den Lebensumständen der Länder eintreten und infolgedessen immer im Einklang mit dem gemeinsamen Interesse stehen, sondern wegen der Leidenschaften und Irrtümer, welche in der Aufeinanderfolge auf die verschiedenen Gesetzgeber einwirken. [...] [91]
35. Vom Selbstmord und von den Auswanderern Der Selbstmord ist ein Verbrechen, das nicht eine Strafe im eigentlichen Sinne des Wortes zuzulassen scheint; denn diese kann nur entweder einen Unschuldigen oder einen kalten und fühllosen Körper treffen. Macht aber diese so wenig einen Eindruck auf die Lebenden wie das Auspeitschen einer Statue, so ist sie ungerecht und tyrannisch, denn die politische Freiheit der Menschen setzt zwangsläufig voraus, dass Strafen persönliche Strafen seien. Die Menschen lieben das Leben allzu sehr, und alles, was sie umgibt, bestärkt sie in dieser Liebe. Das verführerische Bild der Freude und die Hoffnung, das süßeste Trugbild der Sterblichen, um dessentwillen sie den mit wenigen Tropfen der Zufriedenheit vermischten Trunk des Übels in vollen Zügen trinken, verlockt sie so sehr, dass zu befürchten ist, die zwangsläufig eintretende Straflosigkeit eines solchen Verbrechens werde großen Einfluss auf die Menschen haben. Wer den Schmerz fürchtet, gehorcht den Gesetzen; der Tod aber vernichtet im Körper alle Schmerzempfindungen. Welchen Beweggrund also sollte die verzweifelte Hand des Selbstmörders aufhalten? Wer sich selber tötet, fügt der Gesellschaft ein geringeres Übel zu als derjenige, der für immer ihr Gebiet verlässt; denn jener lässt ihr sein ganzes Vermögen zurück, während dieser sich selbst mit einem Teil seiner Habe davon begibt. Besteht aber die Kraft einer Gesellschaft in der Zahl ihrer Bürger, so bewirkt derjenige, der sich selbst entfernt und sich auch noch einer benachbarten Nation anschließt, einen Schaden, der doppelt so groß ist wie der, den derjenige bewirkt, der bloß sich selber durch seinen Tod der Gesellschaft entzieht. Das Problem reduziert sich somit auf die Frage, ob es nützlich oder schädlich für [92] die Nation sei, jedem ihrer Mitglieder die dauerhafte Freiheit zu geben, sich aus ihr zu entfernen. Kein Gesetz darf verkündet werden, das nicht sanktionsbewehrt ist oder von der Natur der Verhältnisse nicht unterstützt wird; und da über die Gemüter die Meinung herrscht, die den langsamen und indirekten Eindrücken des Gesetzgebers gehorcht, sich aber den direkten und gewaltsamen widersetzt, so übertragen Gesetze, die nutzlos sind und von den Menschen nicht beachtet werden, ihre Schwäche auch noch auf die nützlichsten Gesetze, die mehr als ein zu überwindendes Hindernis denn als Garantie des Gemeinwohls angesehen werden. Wenn überdies, wie erwähnt, unsere Empfindungen begrenzt sind, so wird, je mehr die Menschen Verehrung für gesetzwidrige Dinge aufbringen, umso weniger davon für die Gesetze selber bleiben. Aus diesem Grundsatz vermag der weise Sachwalter der öffentlichen Glückseligkeit einige nützliche Folgerungen ziehen, die mich, wenn ich sie hier ausbreiten würde, allzu sehr von meinem Gegenstand abbringen würden, der in dem Nachweis besteht, dass es nutzlos ist, aus dem Staat
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ein Gefängnis zu machen. Ein solches Gesetz ist nutzlos, denn wie soll man – außer, wenn unübersteigbare Felsen oder unbefahrbares Meer das Land von allen anderen trennen – alle Punkte der Grenze schließen, und wie soll man die Wächter bewachen? Wer alles hinwegschafft, kann, eben weil er es getan hat, nicht deswegen bestraft werden. Ein solches Verbrechen kann, sobald es begangen ist, nicht mehr bestraft werden, und es vorher zu bestrafen, hieße den Willen und nicht die Handlungen eines Menschen bestrafen; und es hieße, die Absicht, den von der Herrschaft der menschlichen Gesetze unabhängigsten Teil des Menschen, zu regulieren. Den Abwesenden an dem Zurückgelassenen zu bestrafen, würde – abgesehen von der leichten und unvermeidbaren Umgehung, die ohne tyrannischen Zugriff auf Verträge nicht zu [93] unterdrücken wäre – jeglichen Handel von Nation zu Nation zum Versiegen bringen. Den Täter zu bestrafen, wenn er zurückkehrt, hieße die Wiedergutmachung des der Gesellschaft zugefügten Schadens dadurch zu verhindern, dass man die Abwesenheit zu einer dauernden macht. Das Hindern am Verlassen eines Landes vermehrt selber die Sehnsucht der Staatsangehörigen, es zu verlassen, und ist eine Aufforderung an Ausländer, sich nicht dorthin zu begeben. Was sollen wir von einer Regierung halten, die für den Umgang mit den Menschen, die doch von Natur aus aufgrund der ersten Eindrücke der Kindheit ihr Vaterland lieben, kein anderes Mittel besitzt als die Furcht? Der sicherste Weg, die Bürger im Vaterlande zu halten, ist, den Wohlstand jedes Einzelnen zu vermehren. So wie man alle Kraft daransetzen muss, die Handelsbilanz zu unseren Gunsten zu gestalten, so besteht ein hohes Interesse des Herrschers und der Nation daran, dass die Summe der Glücksgüter, verglichen mit derjenigen der benachbarten Nationen, größer ist als anderswo. Die Vergnügungen des Luxus sind nicht die wichtigsten Elemente dieser Glücksgüter, obwohl dieser ein notwendiges Mittel gegen jene Ungleichheit ist, die mit den Fortschritten einer Nation wächst, und die Reichtümer sich ohne ihn in einer einzigen Hand ansammeln würden2. [94] Allerdings haben Handel und Wandel mit den Vergnügungen des Luxus den Nachteil, dass, obwohl sie unter Beteiligung vieler betrieben werden, sie doch bei 2
Dort, wo die Grenzen eines Landes sich in größerem Ausmaße erweitern als seine Bevölkerung, begünstigt der Luxus den Despotismus, denn je weniger die Menschen sind, desto geringer ist ihr Fleiß und umso größer ist die Abhängigkeit der Armut vom Reichtum und umso schwieriger und umso weniger zu befürchten ist die Vereinigung der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, denn die Ehrungen, die Ämter, die Auszeichnungen und die Unterwerfungen, die den Abstand zwischen dem Schwachen und dem Starken fühlbarer machen, werden leichter von wenigen als von vielen erlangt, denn die Menschen sind umso unabhängiger, je wenigen sie beobachtet werden, und umso weniger beachtet, je zahlreicher sie sind. Wo aber die Bevölkerung in größerem Maß wächst als das Staatsgebiet, widersetzt der Luxus sich dem Despotismus, weil er Fleiß und Tätigkeit des Menschen beseelt; und die Not bietet dem Reichen zu viele Vergnügungen und Annehmlichkeiten, weshalb der Luxus, mit dem angegeben wird und der das Gefühl der Abhängigkeit vermehrt, den größeren Raum einnimmt. Daher läßt sich sagen, dass in den großen, aber schwachen und entvölkerten Staaten, wenn nicht andere Gründe ein Hindernis bilden, der angeberische Luxus häufiger ist als der Luxus der Bequemlichkeit; in den Staaten hingegen, die mehr bevölkert als groß sind, bewirkt der Luxus der Bequemlichkeit stets, dass der angeberische Luxus abnimmt.
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wenigen beginnen und bei wenigen enden und die Mehrheit nur einen winzigen Teil davon genießt, so dass das Gefühl des Elends, das mehr vom Vergleich als von der Wirklichkeit verursacht wird, durch sie nicht gehindert wird. Aber die Sicherheit und die nur durch die Gesetze begrenzte Freiheit sind es, welche die Hauptgrundlage dieser Glückseligkeit bilden und mit denen verbunden die Vergnügungen des Luxus der Bevölkerung Vorteil bringen, während sie ohne diese das Werkzeug der Tyrannei würden. So, wie die edelsten Raubtiere und die freiesten Vögel sich in die Einsamkeit oder in unzugängliche Wälder zurückziehen und die fruchtbaren und lachenden Felder dem Menschen, der ihnen nachstellt, überlassen, so fliehen die Menschen sogar die Vergnügungen, wenn die Tyrannei sie austeilt. Damit ist nachgewiesen, dass ein Gesetz, welches die Untertanen in ihrem Lande einkerkert, nutzlos und ungerecht ist; damit gilt aber dasselbe für die Bestrafung des Selbstmordes; und deshalb ist er, obwohl er eine Sünde ist, die Gott bestraft, weil er allein auch nach dem Tode bestrafen kann, vor den Menschen kein Verbrechen, denn die Strafe, statt den Täter selbst zu treffen, trifft seine Familie. Sollte mir jemand entgegenhalten, dass eine solche Strafe einen zum Selbstmord entschlossenen Menschen von diesem zurückhalten könne, [95] so antworte ich, dass jemand, der in aller Ruhe auf das Gut des Lebens verzichtet, der das Dasein so sehr hasst, dass er ihm eine unglückliche Ewigkeit vorzieht, kein solcher ist, der von dem weniger wirksamen und weiter entfernten Gedanken an seine Kinder und Angehörigen bewegt wird. [...] [99] [...]
38. Falsche Vorstellungen von Nützlichkeit Eine Quelle von Irrtümern und Ungerechtigkeiten sind falsche Vorstellungen von Nützlichkeit, die sich die Gesetzgeber machen. Eine falsche Vorstellung von Nützlichkeit ist jene, welche die Missstände im Einzelfall vor dem allgemeinen Missstand berücksichtigt; die den Empfindungen Befehle erteilt, statt sie anzuspornen, und die der Logik gebietet: Diene mir! Eine falsche Vorstellung von Nützlichkeit ist jene, welche tausend reale Vorteile für einen eingebildeten oder unbedeutsamen Nachteil opfert; die den Menschen das Feuer wegnimmt, weil es verbrennt, und das Wasser, weil es ertränkt; die Übeln nur durch Zerstörung abhilft. Gesetze, die das Waffentragen verbieten, sind derartige Gesetze: Sie [100] entwaffnen lediglich diejenigen, die weder Neigung noch Entschluss zu Verbrechen gefasst haben. Wie aber sollen denn jene, die den Mut aufbringen, die heiligsten Gesetze der Menschheit und die wichtigsten Gesetze des Gesetzbuches zu verletzen, jene kleinen, bloß beliebigen Gesetze beachten, deren Übertretung so leicht ist und straflos bleiben sollte und deren konsequente Ausführung die persönliche Freiheit, die dem Menschen und dem aufgeklärten Gesetzgeber so teuer ist, beseitigen würde und Unschuldige jenen Unannehmlichkeiten aussetzt, die für den Schuldigen bestimmt sind? Sie verschlechtern die Lage der Angegriffenen, vermindern nicht die Zahl der Morde, sondern vermehren sie, denn man traut sich eher zu, Unbewaffnete anzugreifen als Bewaffnete. Solche Gesetze kann man als solche bezeichnen, die Verbrechen nicht verhindern, sondern vor ihnen Angst haben, denn sie entstehen aus dem aufwühlenden Eindruck
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einiger Einzeltaten, nicht aber aus der bedächtigen Erwägung der Nachteile und Vorteile einer allgemeinen Regelung. Eine falsche Vorstellung von Nützlichkeit ist es, einer Menge empfindsamer Wesen eine Symmetrie und Ordnung geben zu wollen, die nur für die reine, unbeseelte Materie taugt, die vorhandenen Beweggründe, obwohl sie die einzigen sind, die dauerhaft und mit Macht auf die Menge einwirken, nicht zu berücksichtigen, statt die entfernteren zu stärken, deren Eindruck sehr kurz und schwach ist, wenn nicht eine Einbildungskraft, wie sie unter Menschen unüblich ist, mit der Vergrößerung des Gegenstandes dessen Entfernung ersetzt. Falsch ist schließlich eine Vorstellung von Nützlichkeit, die, indem sie die Sache dem Begriff opfert, das Gemeinwohl vom Wohl aller Einzelnen trennt. Es ist gerade ein Unterschied zwischen dem gesellschaftlichen Zustand und dem Naturzustand, dass der wilde Mensch dem anderen nur so viel Schaden zufügt, wie ausreichend ist, um seinem [101] eigenen Wohl zu dienen, während der in Gesellschaft getretene Mensch mitunter durch schlechte Gesetze veranlasst wird, andere zu verletzen, ohne damit sich selber Gutes zu tun. Der Despot streut Angst und Niedergeschlagenheit in die Seelen seiner Knechte; doch als Rückschlag kehren diese mit größerer Kraft zurück, um seine Seele zu quälen. Je vereinzelter und je mehr auf das Haus beschränkt die Furcht ist, desto weniger gefährlich ist sie für den, der sie zum Werkzeug seiner Glückseligkeit macht; je öffentlicher sie aber ist und je größer die Menge ist, die sie ergreift, desto leichter kommt es vor, dass es einen Unvernünftigen, Verzweifelten oder Wagemutigen gibt, der es versteht, die Menschen seinen Zwecken dienstbar zu machen, indem er in ihnen angenehmere Empfindungen erweckt, die um so verführerischer sind, je größer die Zahl derjenigen ist, auf die sich die Gefahr des Vorhabens verteilt; und der Wert, den die Unglücklichen ihrem eigenen Dasein beilegen, vermindert sich im selben Maße wie das Leid, das sie erdulden. Der Grund, warum Beleidigungen immer neue Beleidigungen hervorrufen, liegt darin, dass der Hass eine Empfindung ist, die um so viel dauerhafter ist als die Liebe, wie sie ihre Kraft gerade aus jener Dauer der Handlungen speist, wodurch diese geschwächt wird. [...] [107] [...]
41. Wie man den Verbrechen vorbeugt Es ist besser, den Verbrechen vorzubeugen, als sie zu bestrafen. Dies ist der Hauptzweck jeder guten Gesetzgebung, welche ja die Kunst ist, die Menschen zum größtmöglichen Glück oder zum kleinstmöglichen Unglück zu führen – um alle Berechnungen über die Güter und Leiden des Lebens in Worte zu kleiden. [...] Eine Menge gleichgültiger Handlungen zu verbieten, bedeutet noch nicht, den Verbrechen vorzubeugen, die aus ihnen entstehen können, sondern bedeutet, neue zu schaffen, bedeutet, Tugend und Laster nach Belieben zu definieren, welche doch als ewig und unwandelbar gepredigt werden. Worauf würden wir eingeengt, wenn uns alles verboten werden müsste, was uns zum Verbrechen verleiten kann? Man müsste den Menschen des Gebrauches seiner Sinne berauben. Auf einen Beweggrund, der die Menschen zur Begehung eines wirklichen Verbrechens antreibt, kommen tausend, [108] die ihn zur Begehung jener gleichgültigen Handlungen antreiben, die von einer schlechten Gesetzgebung als Verbrechen bezeich-
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net werden. Und wenn die Wahrscheinlichkeit der Verbrechen im direkten Verhältnis zur Zahl der Beweggründe steht, so bedeutet die Vermehrung des Kreises der Verbrechen ein Anwachsen der Wahrscheinlichkeit, dass Verbrechen begangen werden. [...] Anmerkung zu S. [11]: Man beachte, dass das Wort Recht nicht im Widerspruch zu dem Wort Gewalt steht, sondern das erstere bloß eine Modifikation des zweiten ist, und zwar die für die größte Zahl nützlichste. Und mit Gerechtigkeit meine ich nichts anderes als das Band, welches nötig ist, um die Einzelinteressen zusammenzuhalten, welche ohne dieses Band in den alten Zustand der Ungeselligkeit zurückfallen würden.
Gaetano Filangieri (1753–1788) Die Gesetzgebungswissenschaft (La scienza della legislazione) (1784) Drittes Buch. Von den peinlichen Gesetzen Zweiter Theil. Von Verbrechen und Strafen Fünfundzwanzigstes Kapitel. Allgemeine Grundsätze dieses Theils der peinlichen Gesetzgebung. Ich ziehe das ganze System dieses Theils der peinlichen Gesetzgebung in eine Kette von wenigen Grundsätzen zusammen. Von diesen werden alle Ideen ausgehen, die nach und nach in dieser verwickelten Lehre von [2] den Verbrechen und Strafen sollen entwickelt werden. Man darf nur ein wenig die Materie kennen, von der hier die Rede ist, so wird man gewiß die Wichtigkeit meiner Prämissen eingestehen. Doch, ich will ohne weiteren Eingang diese Grundsätze selbst vorlegen. 1) Wenn die Gesetze die Formeln sind, wodurch die gesellschaftlichen Verträge ausgedrückt worden: so folgt, daß iede Uebertretung des Gesetzes die Verletzung eines Vertrags ist. 2) Wenn die gesellschaftlichen Verträge nichts anders sind, als die Verbindlichkeiten, die ieder Bürger gegen die Gesellschaft zum Ersatz seiner erlangten Rechte auf sich nimmt: so muß nothwendig auf iede Verletzung eines Vertrags der Verlust eines Rechts folgen. 3) Wenn die Rechte, welche der Bürger an der Gesellschaft zu fordern hat, sich alle auf die Erhaltung und den ununterbrochenen Genuß seines Lebens, seiner Ehre, seines Real- und Personal-Eigenthums und aller andern Vorrechte seines po[3] litischen Daseyns beziehen, so muß iedes Verbrechen entweder den Verlust oder die Unterbrechung eines von diesen Gütern nach sich ziehen. 4) Wenn ein Bürger mit einem einigen Verbrechen alle gesellschaftlichen Verträge verletzen kan; so kan ihn auch ein einiges Verbrechen aller gesellschaftlichen Rechte verlustig machen. 5) Wenn aber alle diese Rechte nicht gleich hohen Werth haben, und nicht alle Verbrechen der Gesellschaft gleich grossen Nachteil bringen: so fordert die Gerechtigkeit, daß derjenige, der das grössere Verbre-chen nicht zu Schulden kommen läßt, sondern nur das kleinere begeht, auch das Recht von grösserem Werth behalte, und nur das von kleinerem Werth verliere. 6) Wenn der relative Werth der gesellschaftlichen Rechte nach der Verschiedenheit der politischen Verhältnisse der Völker sich verändern kan; so darf ihn der Gesetzgeber in der Bestimmung der Strafen keineswegs [4] übersehen. Die Verweisung aus dem Vaterland, z.B., kan in dem einen Staat (einem demokratischen)
E. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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eine Kapitalstrafe seyn, indeß sie in einem andern (einem monarchischen) eine der geringsten ist. Auch in demselben Staat kan sie für eine Classe von Bürgern (für die Vornehmen in der Aristokratie) eine sehr große Strafe; und für eine andere Classe (für den gemeinen Bürger in derselben Staatsverfassung) eine weit geringere seyn. 7) Wenn die Begriffe, die ein Volk von Moralität hat, den relativen Werth der gesellschaftlichen Rechte sehr verändern können; so darf der Gesetzgeber diesen Umstand in der Bestimmung der Strafen durchaus nicht überschauen. Bey einem Volk, z.B., das durchgängig der Lehre von der Seelenwanderung anhienge, würde die Todesstrafe weit weniger Eindruck machen, als in einem Lande, wo man dieser Thorheit nichts glaubt. [5] 8) Wenn das Genie und die besonderen Anlagen eines Volks, wenn das Clima sogar und andere physische Umstände, worinn sich ein Volk befindet, ihren Einfluß auf diesen relativen Werth der gesellschaftlichen Rechte nicht weniger behaupten; so darf der Gesetzgeber keinen von diesen Gegenständen bey Abfassung eines peinlichen Gesetzbuchs vernachlässigen. Bey einem wilden kriegerischen Volke, z.B., wo die Menschen gewohnt sind das Leben nicht zu achten, wird die Todesstrafe wenig Eindruck machen. Bey einem habsüchtigen Volke werden Geldstrafen viel ausrichten können. In einem äusserst heissen oder äusserst kalten Lande wird die Landesverweisung eine viel leichtere und weniger gefürchtete Strafe seyn etc. etc. 9) Wenn, zugleich mit der Vervollkommnung des Staates und der Gesellschaft, der absolute Werth aller gesellschaftlichen Rechte [6] in demselben Verhältnis mit dem öffentlichen Wohlstand wächst; wenn, so wie dieser immer mehr zunimmt, auf der anderen Seite der Reitzungen zu Verbrechen weniger werden, und der Verlust der gesellschaftlichen Vortheile empfindlicher schmerzt: so ist klar, daß die Strafen nach dem Verhältnis der Vervollkommnung der Gesellschaft ohne Gefahr können gemildert werden. 10) Wenn alle diese politischen, physischen und moralischen Lagen eines Volks nicht nur auf den Werth der gesellschaftlichen Rechte, sondern auch auf die grössere oder geringere Schicklichkeit einiger Strafen, auf die Unschicklichkeit anderer, und auf die grössere oder geringere Strenge des Straf-Systems ihren Einfluß haben können, so muß nothwendig der Gesetzgeber tiefe Untersuchungen über den Zustand der Nation anstellen, ehe er sein peinliches Gesetzbuch abfaßt. [7] 11) Wenn eine Handlung nur in soweit zugerechnet werden kan, als sie freywillig geschieht: so findet kein Verbrechen statt, wo keine Freyheit des Willens statt findet. 12) Wenn der Staat nur über Handlungen, nicht aber über Gedanken zu richten hat: so kan niemand straffällig seyn, bevor der Wille ein Verbrechen zu begehen klar da ist; und auch in diesem Fall kan niemand eher gestraft werden, bevor er diesen Willen gerade durch die Handlung, welche das Gesetz verbietet, zu erkennen gibt.
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13) Wenn das Gesetz weder die Handlung ohne den Willen, noch auch den Willen ohne die Handlung strafen darf: so muß der, welcher die Strafe verdienen soll, zugleich einen Vertrag verletzt, und den Willen gehabt haben, ihn zu verletzen. 14) Wenn es unter den verschiedenen gesellschaftlichen Verträgen einige gibt, die vor andern eine nähere Beziehung auf die Erhaltung des Staats abzweken, und wieder andere, welche nur einen entferntern Einfluß darauf haben; und wenn diese Erhaltung des Staats der Endzweck aller bürger- [8] lichen Verbindung ist, so wird hieraus klar, daß die Schwere des Verbrechens hauptsächlich nach der Grösse des Einflußes muß beurtheilt werden, den der verletzte Vertrag auf eben diese Erhaltung des Staats hat. 15) Wenn die Verletzung eines Vertrags mit Umständen begleitet seyn kan, welche mehr oder weniger Neigung bey dem Verbrecher verrathen, irgend einen andern Vertrag zu verletzen, oder von neuem sich desselben Vergehens schuldig zu machen: so folgt daraus, daß die Umstände, welche ein Verbrechen begleiten, es mehr oder weniger groß, mehr oder weniger strafwürdig machen können. 16) Wenn ein und dasselbe Verbrechen nach der Verschiedenheit der Umstände verschieden kan bestraft werden: so erhellet hieraus, daß die Gesetze bey einem ieden Verbrechen die Qualität und den Grad unterscheiden müssen. Die Qualität ergibt sich aus dem verletzten Vertrag, und der Grad aus der mehrern oder mindern Bosheit, welche der Uebertreter hat blicken lassen. 17) Wenn ein grösseres Verbrechen schärfer muß bestraft werden, als ein geringeres, [9] und wenn die Schätzung des Verbrechens von der Qualität und von dem Grad abhängt; so wird folglich die mit dem Grad vereinbarte Qualität das Maas der Strafe ausmachen. 18) Wenn die Absicht der Strafen darinn besteht, die Menschen mittelst der Furcht vor dem Uebel, dem sie sich durch Begehung eines Verbrechens aussetzen, davon abzuhalten: so muß folglich bey Bestimmung der Strafen auch darauf geachtet werden, ob grosse Hofnung vorhanden sey, ungestraft zu bleiben, welche auf die Natur einiger Verbrechen, die leicht können verheimlicht werden, sich gründet. Das Gesetz muß bey dergleichen Verbrechen iene Verringerung der Furcht, die aus der Leichtigkeit der Verheimlichung entspringt, durch eine Erhöhung der Strafe aufzuwägen suchen. 19) Wenn bey einem ieden Verbrechen die Strafe im Verhältniß stehen soll, mit dem Einfluß, den der verletzte Vertrag auf den Staat hat, und mit dem Grad von Bosheit, den der Uebertreter zeigt: so müssen die Gesetze die Verbrechen genau bezeichnen, [10] damit die Strafen eben so genau bezeichnet werden können. 20) Wenn Handlungen bey weitem schwerer zu bestimmen sind, als Rechte, wenn iene müssen beschrieben werden, indeß diese nur einer Erklärung bedürfen: so folgt, daß die peinlichen Gesetze gerade so sehr in kleine Umstände hineingehen müssen, als die bürgerlichen Gesetze solche zu vermeiden haben; wenn man nicht auf eine äusserst schädliche Art vieles der Willkühr des Richters überlassen will. Dieses sind die allgemeinen Grundsätze, von denen die ganze Entwicklung der wichtigen Lehre von den Verbrechen und Strafen abhängt. [...] [11]
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Sechsundzwanzigstes Kapitel. Von der Nothwendigkeit der Strafen und von dem Recht zu strafen. Wenn gleich die Gesellschaft dem Menschen einen Theil seiner natürlichen Freiheit nimmt; so kann sie doch die Quelle dieser ihm angeborenen Leidenschaft nicht austrocknen. Das Herz des Menschen strebt nach Unabhängigkeit; so sehr ihm auch seine Vernunft die Vortheile der Unabhängigkeit begreiflich macht. Er sieht zwar gute Gesetze als die Stütze seiner Sicherheit an; aber zugleich sieht er auch mit Mißfallen durch sie seine Leidenschaft aufgehalten. Er sieht: sie sind es, die ihn in der bürgerlichen Gesellschaft zum Glück führen; aber zugleich wird er auch gewahr, daß sie ihm jenes andere Glück rauben, das er im Natur Zustand finden könnte. Er erkennt: daß sie nichts vorschreiben, als was zum allgemeinen und besonderen Wohlstand gesellschaftlicher Wesen gehört; aber zugleich fühlt er, daß sie ihm das verbieten, was seinen Begierden schmeichelt, [12] und alles nur der Ruhe geben, indeß sie den Leidenschaften alles nehmen. Dergleichen Betrachtungen machen zwar den Rechtschaffenen die Beobachtung der Gesetze nicht vergessen; inzwischen entsteht durch sie bei dem Schlechtdenkenden der heimliche Vorsatz, andere immer in dem Zaum der Gesetze zu seiner Sicherheit zu lassen, sich selber aber, um seines Vorteils willen, demselben zu entziehen. Er wünscht, daß die Bande der Gesellschaft andere immer mehr fesseln mögten; daß sie nie nachlassen sollen, als nur für ihn allein. Er mögte gern unabhängig und sicher zugleich seyn; er mögte gern seiner natürlichen Freyheit in ihrem ganzen Umfang geniessen und doch auch die Sicherheit in der bürgerlichen Gesellschaft nicht missen. So denken Boshafte; und daher sind Strafen nothwendig geworden. Die gesetzte Strafe ist derienige Theil des Gesetzes, worin dem Bürger die Wahl freygegeben wird, zwischen der Erfüllung einer gesellschaftlichen Pflicht oder dem Verlust eines gesellschaflichen Rechts. [13] Willst du sicher seyn, sagen gleichsam die Gesetze indem sie die Strafen festsetzen, so mußt du dem, was wir dir vorschreiben, gehorchen; willst du aber unabhängig seyn, so wisse, daß du nicht weiter auf Sicherheit Anspruch zu machen hast. Eben diese Gesellschaft, die deine Ruhe geschützt, wird sich wider dich waffnen und nicht eher die Waffen wieder niederlegen, bis du die Strafe hast über dich ergehen lassen, die auf dein Verbrechen gesetzt ist. Das Recht, das du durch den gesellschaftlichen Vertrag erlangt hast, wird in demselben Augenblick für dich erlöschen, da du den Vertrag brichst, durch den du es erworben hattest. Ist der Vertrag, den du verletzest, der Gesellschaft vorzüglich schätzbar; so wird auch das Recht, was du verlieren mußt, eines von denen sein, die dir vorzüglich schätzbar sind. Verletzest du durch ein und dasselbe Verbrechen mehrere Verträge; so mußt du auch durch ein einiges Verbrechen mehrere Rechte verlieren. Wenn z.B. deine verruchte Hand die Waffe wider deinen König ergreift; wenn du deiner Leidenschaft den Vater [14] des Vaterlandes aufopferst; wenn du ienen Thron mit Blut befleckst, von dem alle Stände abhängen, die die öffentliche Sicherheit vertheidigen: so bist du zu gleicher Zeit straffällig als Mörder, als Vatermörder, als Rebell, als Gotteslästerer, als Störer der öffentlichen Ruhe. Durch iene einige That hast du auf einmal alle iene Verträge gebrochen, wodurch du dich anheischig
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gemacht hast, dich nicht an dem Leben deiner Mitmenschen zu vergreifen, das Leben deines Königs zu vertheidigen, die Regierungsform unverletzt erhalten zu helfen, die Heiligkeit der Eide als etwas Erwürdiges anzusehen, den öffentlichen Frieden nicht zu stören: durch iene That hast du dich daher auch aller der Rechte beraubt, die du durch iene auf dich genommenen Pflichten auf dich genommen hattest. Du mußt verlieren dein Leben, deine Ehre, deine Güter, alle deine Vorrechte im Staat; weil du iene Verträge verletzt hast, die dir den Genuß aller dieser Rechte versicherten. Du bist nicht mehr Bürger, du bist ein Feind des Vaterlandes geworden; und wir, die Dollmetscher des gemeinschaftlichen [15] Willens Aller, gebieten daher ienen, welche die ausübende Gewalt in Händen haben, das Vaterland von diesem Feind zu befreyen, und dich mit der von uns gesetzten Strafe zu belegen, um dir selbst die Möglichkeit zu einem neuen Rückfall in dasselbe Verbrechen zu benehmen, und die anderen von der Nachahmung deines Beyspiels abzuschrecken. So sprechen die Gesetze nach dem Sinn ihrer Sanction. Sie gründen sich hierinn auf ein ungezweifeltes Recht; denn wenn der Staat das Recht hat für seine Erhaltung zu sorgen, so muß er auch das Recht haben Mittel dazu zu ergreifen - Diese Mittel sind die Gesetze; die dem Willen der Menschen die dienlichsten Beweggründe vorhalten, um sie von solchen Handlungen abzuhalten, welche dem gemeinen Besten nachtheilig sind. Diese Beweggründe aber bestehen in den Vortheilen, welche die Gesetze dem anbieten, [16] der die gesellschaftlichen Verbindlichkeiten erfüllt; und in den Strafen, womit sie ienen bedrohen, der sie verletzt. Die bürgerliche Gesellschaft, in die gleichsam alle Rechte niedergelegt sind, welche ieder Einzelne im unabhängigen Natur-Zustand genoß; hat durch den gesellschaftlichen Vertrag auch dasienige Recht übernommen, das ieder Einzelne über den anderen hatte, wenn dieser die Naturgesetze beleidigen wollte. Dieses letzte aber war die Befugnis zu strafen; indem, wie wir bald erweisen werden, ohne dasselbe alle andere vergeblich gewesen wären. Dieses Recht, das ein Jeder über alle hat, stand hingegen allen wider ihn zu: durch den gesellschaftlichen Vertrag aber übergab ieder Einzelne sein Recht, das er über alle hatte, dem Staat; und auf gleiche Weise übergaben ihm zu gleicher Zeit Alle das Recht, das Jeder von ihnen über den einzelnen hatte. Auf solche Art hat der Staat, oder der Regent, der ihn vorstellt, das ausdrückliche Recht zu strafen erlangt: Also nicht etwan durch die Abtretung der Rechte, die Jeder über sich selbst hatte, [17] wie einige glauben; sondern durch Abtretung desienigen Rechtes, das Jeder über Alle hatte. Von der Notwendigkeit und dem Recht zu strafen, wollen wir auf den Endzweck der Strafen übergehen. Siebenundzwanzigstes Kapitel. Vom Endzweck der Strafen. Weder die Rache wegen der der Gesellschaft zugefügten Beleidigung, noch die Büssung der Schuld ist der Endzweck der Strafe. Die Rache ist eine Leidenschaft, wovon die Gesetze nichts wissen; und die Gerechtigkeit [18] ist keine von ienen schrecklichen Gottheiten, denen ihre grausamen Anbeter Menschenopfer bringen, um ihre vorgebliche Wut zu besänftigen. Wenn die Gesetze strafen, haben sie blos die Gesellschaft und nicht den Verbrecher vor Augen; dann leitet sie blos das
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Beste des Ganzen und nicht der Privathaß; dann suchen sie blos ein Beyspiel zu geben für die Zukunft, und nicht Rache zu nehmen fürs Vergangene. Rache, von welcher Art sie seyn mögte, würde Thorheit seyn und unnütz. Thorheit, weil die Gesetze, die doch die Privat-Leidenschaften mäßigen sollen, selbst in diesem Fall durch ihr Beyspiel das rechtfertigen würden, was sie durch ihre Vorschriften mißbilligen. [19] Unnütz würde sie seyn, weil sie nicht verhindern könnte, daß die, durch das Verbrechen des Uebertreters, der Gesellschaft zugefügte Beleidigung, nicht dennoch existirte, oder kann vielleicht das Geschrey eines Unglücklichen, von der Zeit, die nie wieder umkehrt, einmal vollbrachte Handlungen wieder zurück begehren? Der Endzweck der Gesetze, wenn sie Verbrechen bestrafen, kan also kein anderer seyn, als den Verbrecher von fernerer Beunruhigung der Gesellschaft abzuhalten; und andere von der Nachahmung seines Beyspiels durch den Eindruck abzuschröcken, den die an ihm vollzogene auf ihr Gemüth machen soll. Kan diese Absicht mit gelinderen Strafen erreicht werden, so müssen die Gesetze keine härteren brauchen. Jene Strafen sind folglich die vorzüglichsten, wel-[20] che, obgleich immer in dem nöthigen Verhältnis mit dem Verbrechen, durch den kleinest möglichen Schmerz des Uebertreters, den grösstmöglichen Abscheu vor Missethaten, und die gröstmögliche Furcht bey solchen hervor bringen, die sich könnten dasselbe Verbrechen gelüsten lassen. Wenn daher der Gesetzgeber Strafen für die verschiedenen Arten Verbrechen vestsetzt, so darf er sich keinen höhern Grad von Strenge erlauben, als zur Unterdrückung der schlimmen Leidenschaften nöthig ist, welche dieß oder ienes Verbrechen hervorbringt. Uebertritt er diese Gränzlinie, so wird er zum Tyrannen; weil, wofern die Gesellschaft erhalten werden soll, auch die Rechte des Menschen müssen geschont und nicht mehr als nur gerade derienige Theil davon darf aufgeopfert werden, der nöthig ist, um die allgemeine Sicherheit zu erhalten und zu schützen. Die Grundsätze, sagt Plato (Von den Gesetzen, IXter Dialog.), die einen Gesetzgeber leiten sollen, müssen dieienigen [21] eines Vaters seyn und einer Mutter; nicht, eines Herrn oder eines Tyrannen. Wahr ist es, daß dieselbe Strafe, welche im Stand ist, den grösten Theil der Mitglieder einer Gesellschaft von einem Verbrechen abzuhalten, für den geringern Theil zu leicht seyn kan. Aber um deswillen soll der Gesetzgeber noch nicht zum Tyrannen werden. Er muß immer nur den grösten Theil vor Augen haben, und sich überzeugen, daß Strafen niemals aus der Gesellschaft die Verbrechen ganz ausrotten können, sondern daß blos die glückliche Wirkung, die man sich von ihnen zu versprechen hat, darin besteht, ihre Anzahl so viel wie möglich zu vermindern. [...] [23] Neunundzwanzigstes Kapitel. Von der Todesstrafe Aus den äußerst einfachen Grundsätzen, woraus wir das Recht zu strafen abgeleitet haben; fließt auch das Recht die Todesstrafe [24] zuzuerkennen. Wenn wir sodann diese Grundsätze mit ienen vereinbaren, woraus wir den Zweck von den Strafen im allgemeinen erläutert haben, so werden wir leichtlich den rechten
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Gebrauch dieser Strafe von ihrem Mißbrauch unterscheiden können. Wenn einige neuere Schriftsteller, durch einen alten Trugschluß, den sie wieder in Gang gebracht haben, nicht die meisten ihrer Leser überredet hätten, daß die Todesstrafe, die bey allen Nationen üblich war, sich auf irgend kein Recht gründen könne, und daß sie viel mehr eine Gewaltthätigkeit sey, die nur bisweilen durch das harte Gesetz der Nothwendigkeit gerechtfertigt wird: wenn, sage ich, diese Schriftsteller nicht einen Paralogismus vortrügen, der uns endlich an der Gerechtigkeit aller Arten von Strafen müßte straucheln lassen, so würde ich ganz von diesem Gegenstand still schweigen, und dem Leser das Langweilige einer metaphysischen Untersuchung ersparen. Aber sowohl wegen der grossen Anzahl derer, die diese absurde Meinung verteidigen, als auch derer, die sie angenommen haben, sehe ich [25] mich gezwungen meine Gedanken über diesen Gegenstand weitläufiger zu entwickeln. [...] [41] Wir wollen uns das bisher Gesagte kürzlich wiederholen. Der Mensch hat im Naturzustande ein Recht auf das Leben; er kann zwar nicht auf dieses Recht verzicht thun, aber wohl kann er sich dessen durch seine Verbrechen verlustig machen. Alle Menschen haben in diesem Zustand das Recht, die Verletzung der Naturgesetze zu bestrafen; und wenn diese Verletzung den Uebertreter des Todes schuldig gemacht hat, so kommt einem Jeden das Recht zu, ihm das Leben zu nehmen. Nun ist aber dieses Recht, das, im Stand der natürlichen Freiheit, Einer über Alle und Alle über einen hatten, das nähmliche was durch den gesellschaftlichen Vertrag dem Staat ist übertragen und ferner in die Hände des Regenten ist übergeben worden. Folglich fließt dieses Recht des Regenten, die Todesstrafe zu erkennen, so wie auch iede andere, nicht aus [42] der Uebertragung derienigen Rechte, die ein Jeder über sich allein hatte; sondern aus der Abtretung derienigen, die Jedem über die Anderen zustanden. Indem ich aber [43] das Recht, das Ich über das Leben der Anderen hatte, in die Hände des Regenten niedergelegt habe, ist ihm auch zu gleicher Zeit von den Andern dasienige übertragen worden, [44] was Ihnen über mein Leben zukam: und so müssen denn sie und ich, ohne daß ich dasienige Recht aufgegeben hätte, das mir selbst über mein Leben zustehen kann, müssen wir, sage ich, uns auf gleiche Weise den Verlust unseres Lebens gefallen lassen, wenn wir solche Vergehungen zu schulden kommen lassen, worauf die gesetzgebende Gewalt die Todesstrafe gesetzt hat.
Luigi Cremani (1748–1838) Drei Bücher über das Criminalrecht (De Jure Criminali libri tres) (1791–1793/1848) Erstes Buch – Zweiter Teil: Von den Strafen Erstes Kapitel: Vom Strafrecht, seiner Entstehung und seiner Begründung I. [82] Eine verbreitete und in aller Mund befindliche Redewendung besagt, dass die Strafe dem Verbrechen folge. Damit der Sinn dieser Worte vollständig verstanden wird, müssen wir vorab klären, was es bedeutet, etwas zu verdienen. Denn man kann, wie Grotius sagt, nur für etwas bestraft werden, das man verdient hat. II. Dass er etwas verdient habe, wird von demjenigen gesagt, der das Recht hat, von anderen das zu verlangen, wozu sie angesichts der Eigenschaften, vor allem der moralischen Eigenschaften, die er besitzt, sowie derjenigen seelischen Empfindungen, die er nach außen preisgegeben hat, verpflichtet sind. Wenn daher derjenige, der wegen der einem anderen zugefügten Verletzung in den Anklagestand versetzt worden ist, nachweist, dass er die Verletzung nur aus Zufall begangen hat oder aus einem ehrenhaften Grunde, beispielsweise um die von einem rechtswidrigen Angreifer ausgehende Gefahr abzuwenden, so verlangt er mit Recht von dem Richter, dass dieser ihn durch sein Urteil für unschuldig erkläre, und von den anderen Bürgern, dass sie sich alles dessen enthalten, was sie nur verbrecherischen Menschen gegenüber zu unternehmen pflegen. Daraus folgt freilich auch, dass nur derjenige als Verbrecher anzusehen und in seiner Ehre gemindert ist, der des Verbrechens überführt oder geständig ist; noch nicht aber derjenige, der bloß angeklagt oder aber als Verdächtiger in Haft genommen ist. Denn Haft und Fesseln, in welche man von der öffentlichen Behörde gelegt wird, sind als solche noch nicht ehrmindernd. III. Sollte aber von Rechts wegen feststehen, dass er ihn mit bösem Vorsatz verletzt hat, dann haben andere ein Recht gegen ihn, denn der Verletzte und seine Erben prozessieren vor Gericht gegen den Verletzer, um so viel wie möglich von ihrem Schaden ersetzt zu bekommen; den einzelnen Staatsbürgern aber schuldet er jene Sicherheit, in der sie hinfort nicht nur vor den Kränkungen dessen, der deutlich gezeigt hat, dass er zur Schädigung willens und bereit ist, leben können, sondern auch vor der Gewalt und Frechheit der anderen, die sich leicht zu dem selben Verbrechen hinreißen lassen werden, wenn sie nicht durch das an diesem Menschen vollzogene Exempel abgeschreckt werden.
E. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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IV. Trifft dies zu, so lassen sich leicht drei Dinge, die der höchsten Aufmerksamkeit wert sind, feststellen. Erstens, dass Strafen nur verhängt werden, wenn sie verdient sind; und zwar handelt es sich um ein Verdienst, das personenbezogen ist, also seinen Ursprung im Geist, im Vorsatz, im Wunsch desjenigen hat, der das Verbrechen begangen hat; dies wird mit Sätzen zum Ausdruck gebracht wie: Der Schaden folgt dem Haupte. Wo der Schaden, da die Strafe. Die Sünden belasten ihre Täter, und die Furcht reicht nicht weiter als das Verbrechen gefunden wird. Sie treffen alle in dem einen Punkt zusammen, dass derjenige, der das Verbrechen nicht begangen hat, auch nicht wegen des Verbrechens eines anderen, beispielsweise des Vaters, des Kindes, des Gatten bestraft werden darf, und es andererseits dem Täter niemals gestattet sein darf, einen anderen an seine Stelle treten und die Strafe für ihn auf sich nehmen zu lassen. Deshalb werden in Strafsachen auch Bürgen abgewiesen, es sei denn, dass es um ein Verbrechen geht, dass nur mit einer Geldstrafe oder mit der Ausweisung bestraft wird. Andere dem Bürgen auferlegte Strafen würden die Zuschauer ebenso zum Mitleid mit demjenigen, der bestraft wird, veranlassen wie zu berechtigter Empörung über den Magistrat, der einen unschuldigen Menschen verurteilt hat. V. Ferner ist festzustellen, dass, wenn gesagt wird, die Strafe folge dem Verbrechen, damit gemeint ist, dass die Strafe für denjenigen als angemessen beurteilt wird, der sich durch ein Verbrechen an einem anderen Bürger, der bisher noch keines bürgerlichen Verbrechens durch Richterspruch für schuldig befunden worden ist, erniedrigt hat, sich also aus dem Kreis der Bürger gleichsam selbst ausgeschlossen hat. Auf dieser Grundlage sagen wir von dem, der vor dem Verbrechen zahlreiche Rechte im Gemeinwesen genossen hat, dass er nach dem Verbrechen, je nachdem, welche Strafe ihm vom Gesetz auferlegt ist, diese Rechte teilweise oder ganz verloren habe, denn durch die Strafe werden dem Täter entweder bestimmte oder alle Güter entzogen. VI. Und schließlich ist festzustellen, dass durch das Verbrechen neben anderen Rechten jenes Recht auf Dauer eingebüßt wird, aufgrund dessen es bisweilen Privatleuten erlaubt ist, Gewalt mit Gewalt abzuwehren. Privatleuten ist es im allgemeinen nicht gestattet, demjenigen straflos Gewalt zuzufügen, der bereits eine Verfehlung begangen hat; hingegen ist es öffentlichen Personen nicht nur gestattet, sondern sogar vom Gesetz vorgeschrieben, weshalb im allgemeinen nicht einmal ein Unschuldiger sich straflos dieser Gewalt widersetzen kann; will aber derjenige Widerstand leisten, der bereits einen Schaden angerichtet hat, so wird dies als noch größere Verfehlung angesehen, denn er verletzt jenen Vertrag, durch den alle, die in die bürgerliche Gesellschaft eintreten, sich stillschweigend wechselseitig versprochen haben, falls sie ein Verbrechen begehen sollten, sich jenem Schmerz, d.h. jener Strafe zu unterwerfen, durch deren Anblick die Menschen von der Gesetzesverletzung abzuschrecken die Obrigkeit beschlossen hat. Dies wollen unsere Gelehrten mit den Worten ausdrücken, dass ein jeder durch die Begehung eines
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Verbrechens zur Strafe verpflichtet wird. Freilich nicht in jenem Sinne verpflichtet, dass er von sich aus sein Verbrechen dem Richter anzeigen müsste; denn, um mit [84] Pufendorf zu sprechen, es gibt keine Vorschrift: du Dieb musst, wenn du einen Diebstahl begangen hast, von dir aus zum Galgen gehen; sondern es gibt nur die Vorschrift: du Magistrat sollst dafür sorgen, dass der überführte Dieb gehängt wird. Dass man sagt, er sei zur Strafe verpflichtet, meint daher vielmehr, dass es gerecht sei, wenn er Strafe erleide, und dass es ebenfalls gerecht sei, wenn er auf Befehl oder Urteil des Richters von den Gerichtsdienern ergriffen oder vom Henker gemartert, mit Schlägen traktiert worden ist usw., weil er sich nicht hat enthalten können, mit Gewalt oder ähnlichen Mitteln erneut zum Täter eines Verbrechens zu werden und damit von der Härte der Strafe oder des Richters betroffen werden zu können. VII. Es wird aber zu Recht angenommen, dass jener Vertrag, die Strafe auf sich zu nehmen, von den Einzelnen offen oder stillschweigend eingegangen wird, die unter die Mitglieder einer Gesellschaft aufgenommen zu werden verlangen oder diesen Schritt bereits vollzogen haben. Anders wäre es jedenfalls kaum möglich, den gesamten Staatskörper zu bewahren und die Achtung der gesellschaftlichen Gesetze zu fördern, wodurch dann mitunter der gemeine Nutzen und das private Wohl eines jeden in einer Weise in Konflikt miteinander geraten, dass dieses zwangsläufig jenem weichen muss. VIII. Dass durch diesen Vertrag die Ausübung jener Rechte, die im Naturzustand einem jeden zur Verteidigung seiner selbst und seines Eigentums zustanden, auf den Herrscher übertragen worden ist, werde ich näher erklären, wenn von der Höhe und vom Inhalt der Strafen sowie von der Todesstrafe die Rede sein wird. Ich werde aber zu der Feststellung gelangen, dass in einer solchen Ausübung das gesamte Strafrecht besteht, von dem alle Vertreter unserer Wissenschaft lehren, dass der Staat seiner nicht entraten könne. Dennoch bewegen sie sich in unterschiedliche Richtungen, wenn gefragt wird, ob es für das Recht und besonders für die erwähnte besondere Art der Strafe im Naturzustand Raum gebe oder ob in diesem Zustand die verletzte Person zu entscheiden habe, ob auch den anderen Menschen das Recht zustehe, über die Verletzung und über die erforderliche Sicherheit zu urteilen, welche von demjenigen zu fordern ist, der einen anderen geschädigt hat, damit in Zukunft der betreffende Mensch nicht mehr geschädigt wird und auch die anderen nicht derartiges zu leiden haben. Doch alles dies und anderes von dieser Art, wodurch vielleicht etwas Licht in das gebracht werden wird, was über die Strafen immer wieder ausgeführt worden ist, gehört nicht an diesen Ort, und ist noch des öfteren zu erörtern. [..] [105] [...]
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Fünftes Kapitel: Besitzt der Fürst im Zusammenhang mit dem Verbrechen das Recht über Leben und Tod von Bürgern? I. Ob aber die Strenge der Strafen, von der wir gesehen haben, dass sie weder in natürlicher noch in bürgerlicher Hinsicht gänzlich abgelehnt werden kann, dazu führt, dass es dem obersten Gewalthaber erlaubt sei, im Zusammenhang mit dem Verbrechen das Recht über Leben und Tod der Bürger auszuüben, darüber gibt es auch unter den [106] gelehrtesten Personen keine einhellige Auffassung. Was umso erstaunlicher ist, je sicherer es ist, dass es bisher unter ihnen niemanden gibt, der leugnen würde, dass die Todesstrafe, wenn sie zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaften praktiziert wurde, sich mit dem Fortschreiten der Zeit für die Sitten und Einrichtungen fast aller Völker bewährt hat, die nicht nur wegen ihrer Waffen, sondern auch wegen ihrer Gesetze in Blüte standen. II. Es gibt nur wenige, welche die Anwendung der extremen Strafe abschaffen wollen [Beccaria, Brissot, Pastoret, Philipon, Pinel]; es gibt solche, welche sie reduzieren wollen [Montesqieu, Rousseau, Mably, Carrad, Thorillon, Bernardi, Lampredi, Rusca, Vergani, Pescatore, de Simoni, Filangieri usw.]; und schließlich gibt es jene, die meinen, dass das, was bei verschiedenen Völkern über Verbrechen und Kapitalstrafen bereits gesetzlich geregelt ist, unveränderlich sei. In der zuerst genannten Auffassung wird, wie ich meine, zu viel Nachsicht erkennbar; in der zuletzt genannten Auffassung zu große Strenge, ja sogar eine gewisse Art von Ungerechtigkeit; es bleibt somit die mittlere Auffassung, für die die gesunde Vernunft, die Sicherheit des Staates und, wichtiger noch als Inhalt und Höhe der Strafen, die allgemeinen Grundsätze mir zu streiten scheinen. III. Denn was geschieht, wenn Dinge, die grausam und sehr schädlich sind, des öfteren in das Innere des Staates Einlass finden? Wir haben bereits im vorigen Kapitel gesehen, dass wir bei einer sich verschlimmernden Krankheit gelindere Heilmittel aufgeben müssen, um härtere Mittel, d.h. körperliche Misshandlungen, Auspeitschen und ähnliches, anzuwenden. Was aber, wenn eine solche zur Heilung oder zumindest zur Linderung der Krankheiten der Gesellschaft eingesetzte Medizin, immer aufs neue angewendet, ein unwirksames Heilmittel gegen die ungebremste Zügellosigkeit ist und keine heilsamen Wirkungen hervorruft? Was, wenn entgegen der Erwartung des Fürsten die Seuche sich täglich weiter ausbreitet? Was, wenn die Hoffnung auf Heilung allmählich schwindet und alle Guten vor Angst zittern, weil allzu viele zur selben Zeit und in derselben Art so sehr um sich greifen, dass sie niemals aufhören, dem Vaterland eine große Wunde zuzufügen, die unheilbar ist und tödlich endet, wenn nicht der Gesundheit dieses kranken Vaterlandes, dessen Lage fast verzweifelt ist, mit kräftigeren Heilmitteln zu Hilfe gekommen wird? Was, wenn jemand es in verwerflicher Gesinnung unternimmt, den
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ganzen Bestand des Staates zu erschüttern? Wenn also der von Natur aus wilde und verwegene, zur Gewalt bereite, zum Aufstand entschlossene, vor keinem Verbrechen zurückscheuende, nach der Tötung der besseren und nützlicheren Bürger lechzende Mensch sich erhebt, durch dessen Rufe jene Zahllosen, die er zu den Seinen zählt – Genossen, Verwandte, Nahestehende, Freunde, Anhänger – wie von gewaltigen Stürmen so sehr in verschiedene Bereiche fortgerissen und aufgehetzt werden, dass sie die öffentliche Gewalt nicht mehr anerkennen und dem Ausbruch der Schandtaten kein Ende setzen? Ich jedenfalls vertrete in diesem Punkte die Auffassung, dass, wenn solche düsteren Zeiten eintreten, es dem Fürsten erlaubt sei, die Gesetze mit dem rächenden Schwert auszustatten, um diejenigen aus dem Kreise der Lebenden zu entfernen, von denen feststeht, dass sie großen Schaden anrichten, und durch das Exempel, das an wenigen derartigen Menschen statuiert wird, die übrigen abzuschrecken, auf dass sie nicht dem Verbrechen und damit der Strafe gleich jenen [107] verfallen, die er aus dem Bereich der menschlichen Natur auszumerzen gezwungen gewesen ist, auf dass nicht durch das Ungestüm weniger die Gesundheit vieler und letztlich des ganzen Staates gefährdet werde. IV. Wir haben an anderer Stelle festgestellt, dass jene Mittel, die jedem zu seiner Verteidigung von der Natur zugeteilt sind, und jene, die in der bürgerlichen Gesellschaft zum Schutze der gemeinen Sicherheit erlaubt sind, sich nicht sehr viel voneinander unterscheiden. Demnach ist es jedem erlaubt, den Tod des rechtswidrigen Angreifers ins Werk zu setzen, wenn ein anderes Mittel, sich gegen die Gefahr zu schützen, nicht zur Verfügung steht. Warum aber soll es dann dem Fürsten nicht gestattet sein, für seine Gesundheit und diejenige des Staates durch den Tod weniger zu sorgen, welche Täter und Anführer eines Aufstandes gewesen sind und durch deren Rat und Tat der Aufstand bereits so weit gediehen ist, dass Gefahr im Verzug zu sein scheint? Umgekehrt ist es im Naturzustand nicht nur jenen, die einen Schaden erlitten haben, sondern auch anderen Menschen erlaubt, Gewalt anzuwenden und, wenn die Notwendigkeit der Verteidigung es erfordert, dabei auch einen unseligen Menschen und Feind fast der gesamten Menschheit zu töten, der einen jeden mit den Augen zu Tod und Elend zu bestimmen und ohne Verbrechen gar nicht atmen zu können scheint. Warum soll es dem Fürsten nicht erlaubt sein, die äußerste Strafe über jene zu verhängen, die, wenn sie im Begriff sind, eben das zu tun, wodurch bereits des öfteren die innere Sicherheit der Gesellschaft drohend verwirrt worden ist und dem bisher die anderen Strafen keine Grenze zu setzen vermochten, obwohl sie alle Körperschmerzen außer dem einen, dem Todesschmerz, enthielten? V. Zweifellos muss man jenem, dem eine Pflicht auferlegt wird, alle jene Rechte zubilligen, ohne die er nicht in der Lage ist, eine derartige Pflicht zu erfüllen. Nun ist aber der Fürst verpflichtet, die Gesellschaft nach außen wie nach innen sicher zu erhalten. Falls die äußere Sicherheit einmal nur durch Krieg erhalten werden kann, so gehört zu den Befugnissen des Oberbefehlshabers das Kriegsrecht, d.h.
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das Recht, die Bürger zu zwingen, die Waffen zu ergreifen, die Mauern der feindlichen Stadt zu erstürmen, sich in sehr gefährlichen Lagen aufzuhalten, Wunden zu empfangen und sogar dem Tod ins Auge zu sehen. Mit einem Wort des Fürsten entsteht also bei drängender äußerer Gefahr so etwas wie ein Recht über das Leben der Bürger. Dieses Recht mag zwar ein indirektes sein, doch ist es so heilig, dass es ein todeswürdiges Verbrechen ist, in Zeiten des Krieges aus dem Heer zu desertieren, seinen Posten zu verlassen, die Flucht zu ergreifen oder zu versuchen, sein Leben zu retten. Ebenso kann man, wie in Abschn. III ausgeführt, die innere Sicherheit mitunter nur dadurch erlangen, dass diejenigen, die sie bedrohlich stören, aus der Gesellschaft entfernt werden. Folglich kann nicht bezweifelt werden, dass der Fürst im Zusammenhang mit dem Verbrechen ein Recht über Leben und Tod der Bürger besitzt. [108] VI. Diejenigen, die meinen, dass es dem Fürsten an diesem Recht fehle, machen in erster Linie geltend, dass es nicht hinreichend klar sei, woraus dieses Recht herzuleiten sei. Denn dem Gesellschaftsvertrag, aus dem die bürgerliche Gewalt hervorgegangen ist, kann es ihrer Ansicht nicht entnommen werden, weil derjenige, der diese Gewalt ausübe, nicht weiter gehende Rechte besitzen könne als diejenigen, die ihm durch den Willen der Vertragsteilnehmer übertragen worden sind; diese aber machten zusammen genommen nur die Summe der kleinsten Teile an Freiheit aus, welche den Einzelnen von der Natur gegeben seien. Wie kann es denn sein, fragen sie, dass derjenige, der einem anderen den kleinstmöglichen Anteil seiner Freiheit zugesteht, derart freigebig das höchste Gut, nämlich das Leben, hingegeben haben soll? Man solle das innerste Empfinden jedes Menschen befragen: Niemand werde vernünftigerweise sagen, er habe einem anderen das Recht, ihn des Lebens zu berauben, übertragen; und wenn er es tatsächlich übertragen haben sollte, so habe er dies im Widerspruch zum Naturgesetz getan, durch welches jedem verboten sei, sich selbst zu töten. Somit gebe es kein Recht zur Anwendung der Todesstrafe. VII. Auch ich will nicht bestreiten, dass durch eine Übereinkunft, welche die Bürger getroffen haben, die bürgerlichen Gesellschaften, auf welche Gott die Menschen ihrer Natur nach vorbereitet hat, ihren Anfang genommen haben; und dass mit ihnen die Oberherrschaft, deren keine Gesellschaft entraten kann, entstanden ist, bzw., um es genauer zu sagen, je nach der unterschiedlichen Form der öffentlichen Herrschaft die einzelnen Rechte, aus denen die Oberherrschaft besteht, verschieden ausgeteilt worden sind. Niemals aber würde ich sagen, es folge daraus, dass dem Fürsten nur jene Rechte zustehen könnten, die jeder einzelne Mensch im Naturzustand besessen hat. Denn hierzu muss man wissen, um es mit Pufendorf auszudrücken, dass im Bereich der natürlichen Dinge auß Mischung vieler Dinge/ solche Eigenschafften entstehen/ die keines derselben insonderheit gehabt: Und solchergestalt kan auch die Gesellschaft vieler Menschen ein Recht haben/ was doch keiner insonderheit vor seine einzelne Persohn in solcher Form und Gestalt besitzet/ und welches hernach durch derer vereinigten Obrigkeit ausgeübet wer-
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den mag. So wird niemand sagen/ daß ein eintzelner Mensch berechtiget sey/ sich selbsten Geseze zu geben/ wenn aber doch viele ihren Willen eines anderem seinem Willen unterwerffen/ so bekommt dieser Recht allen und jeden Gesetze vorzuschreiben. Gleichergestalt kan das Haupt eines sittlichen Cörpers Macht haben / ein jegliches Glied zu straffen / ob gleich solch Recht keinem einzelnen Menschen sonst zugestanden. Es kan aber diese Berechtigung der Obrigkeit leichtlich zu Stande kommen / wenn alle und jede Gliedmassen Bürgerlicher Gesellschaft sich verpflichten / daß sie einen Verbrecher wider ihm auffzulegende Straffe / nicht schützen / sondern ihn vielmehr / da er sich dargegen setzte / bändigen helffen wollen. Aber selbst wenn wir unterstellen, dass ein Teil jener Rechte, welche die Natur den einzelnen Menschen gewährt hat, beim Fürsten zusammengefasst ist, so bleibt doch ungeachtet dessen die Strafgerechtigkeit einschließlich der Todesstrafe uneingeschränkt. Denn die Menschen wollten nicht, wie es die Gegner behaupten, den kleinstmöglichen Teil der Freiheit dem Fürsten abtreten, sondern denjenigen Teil, der notwendig sein würde, um die Gesellschaft zu schützen und zu erhalten. Wenn also der Herrscher dieses Ziel nicht anders erreichen kann als dadurch, dass gelegentlich jemand getötet wird [109], und damit jener, der dem Vaterland Liebe und Einsatz geschworen hat, es sich anders überlegt und dieses ins Verderben stürzt, werden wir dann nicht sagen, dass auch jener Teil der Freiheit, durch den jemand in seinem zu schützenden Leben am meisten Nutzen zieht, von den Bürgern an den Obersten Befehlshaber abgetreten worden sein muss? Das Empfinden dessen, der hingerichtet wird, kann dabei keinerlei Berücksichtigung finden. Denn abgesehen davon, dass jeder Bürger, wenn er den Gesetzen nicht gehorcht hat, weiß, dass er die verdiente Strafe erleiden wird – könnte denn von einer rechtmäßig verhängten Strafe die Rede sein, wenn ihm ein weiter gehendes Recht, Gewalt mit Gewalt zurückzuweisen oder sich über die Misslichkeit des Gesetzes oder des Urteils hinwegzusetzen, zustehen würde? Es gibt keinen Verbrecher, der das Gefängnis, in das er eingesperrt ist, oder die Ketten, in die er gelegt ist, oder die Rute, mit der er geschlagen wird, als angenehm empfände. Eben so wenig gibt es einen Grund, sich auf ein göttliches Gesetz zu berufen, das ihre Tötung verbiete. Denn jene, welche jenes Recht stillschweigend oder offen auf den Fürsten übertragen haben, hatten so sehr die Vorstellung, den Gesetzen zu gehorchen, vor Augen, dass sie alle in dieser Hinsicht daran dachten, die Fähigkeit zu besitzen, sich gegenseitig zu unterstützen, nicht aber, sich Unrecht zuzufügen. Deshalb braucht auch der Fürst nicht zu fürchten, dieses Recht auszuüben – freilich erst, nachdem er vorher den Sachverhalt sorgfältig erforscht hat, und durch wirkliche Notwendigkeit dazu gezwungen ist, d.h. etwa durch dieselbe Notwendigkeit, aus der heraus jemand, der sich in höchster Lebensgefahr befindet, den rechtswidrigen Räuber tötet. Wer aber würde sagen, dass einem solchen Räuber, den ein anderer in dieser Weise tötet, das Verbrechen des Selbstmordes entgegegengehalten werden könne? Hinzu kommt noch, dass der Mensch zwar nicht der Herr über sein Leben ist, dass er aber, ohne ein Verbrechen zu begehen, sich in Lebensgefahr begeben darf, nämlich dann, wenn er auf andere Weise seine Pflichten nicht erfüllen kann. Bei der Bewertung der moralischen Qualität menschlicher Handlungen muss nämlich
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nicht auf das geachtet werden, was zweitrangig und gleichsam nebensächlich und, wie die Erfahrung lehrt, selten erreicht wird, sondern das, was er sich hauptsächlich und direkt handelnd vornimmt. Alle aber, die sich zur bürgerlichen Gesellschaft zusammengeschlossen haben, bemühen sich nur darum, immer sicherer und glückseliger zu leben, was erlaubt und unschädlich, vom Naturgesetz sogar vorgeschrieben ist, nicht aber darum, ihren Körper zu zerfleischen und sich das Leben zu nehmen. VIII. Die Gegner gehen aber über diesen Vertrag noch hinaus: Was denn, wenn die Todesstrafe als weder notwendig noch nützlich nachgewiesen wird? Wird dann nicht letztlich doch die Sache der Menschlichkeit triumphieren und diese Strafe abzuschaffen sein? Davon, dass sie nicht notwendig sei, versuchen sie mit folgender Art von Argument zu überzeugen: Die Hinrichtung sei ein sehr schwaches und wenig wirksames Heilmittel, um die ungebremste Zügellosigkeit und Verwegenheit gewisser Menschen zu brechen. Sie weisen dazu auf die Vielen hin, welche zu ewiger Knechtschaft, zu den Qualen des langjährigen Gefängnisses verurteilt werden, sowie auf die Arbeiten derjenigen, die zu den Galeeren, zur Reinigung der Kloaken und zu anderen derartigen öffentlichen Arbeiten verurteilt werden, die sie mehr verabscheuen als sogar den Tod – eine Strafe, welche das Ende aller Leiden bedeute und durch welche alle Tränen und Mühen schwänden. Zutreffend daran ist in der Tat, dass dort, wo das Schauspiel dieser Strafe häufig [110] aufgeführt wird, bei den Bürgern eine gewisse bis dahin nicht drohende Brutalität der Sitten wahrzunehmen sein wird; dort hingegen, wo diese Strafe abgeschafft ist, die Sitten entweder feiner geworden sind oder doch zumindest daraus dem Staat kein sichtbarer Schaden entstanden ist. Welcher Nutzen kann denn auch, so fragen sie, dieser Strafe innewohnen, die vor den Augen der gesamten Bürgerschaft ein sichtbares Zeichen von Grausamkeit errichtet und Hass gegen die Gesetze und ihre Schöpfer hervorruft? Denn es sei doch unsinnig, dass ein Mensch mit feierlichem Pomp getötet werde, obwohl ein Befehl des Fürsten vorausgegangen sei, der die Tötung eines Menschen streng verbiete. Schließlich werfen sie noch die Frage auf, warum wir den Henker straflos aus unserer Mitte verbannen? Weil, so antworten sie, die Hinrichtung nicht unschädlich ist, sondern eine gewisse Ungerechtigkeit enthält; wäre dies nämlich nicht so, dann müsste der Henker, der ja nichts anderes tut, als das Urteil des Richters zu vollstrecken, als der getreueste Wächter der Menschen und als eifriger Rächer der öffentlichen Sicherheit angesehen werden. IX. Was aber jenes Todesurteil angeht, mit dem, wie gesagt, der Täter eines begonnenen Aufstandes oder einer begonnen Verschwörung gegen den Staat belegt werden soll, so zielt sie auf ihn vor allem deshalb, damit die anderen, die in dieses Verbrechen verwickelt gewesen sind, ihres Hauptes und Anführers beraubt, dessen Handlungen sie durch Geld, Ratschläge und Ansporn unterstützt haben und damit in diesem Verbrechen noch entschlossener geworden sind, doch irgendwann von ihrem verbrecherischen Tun ablassen. Sie würden aber wahrscheinlich nicht davon ablassen, wenn dieser Anführer, durch lebenslange Bande gefesselt und mit
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Bart und Haaren wie ein Sträfling allen zur Schau vorgeführt würde oder wenn er im Gefängnis oder auf ähnliche Weise sorgfältig bewacht würde. Vielmehr würden sie sich in neue Verbrechen stürzen, die seinem Vorbilde folgen, und würden nichts unterlassen und unversucht lassen, um ihn mit Gewalt zu befreien, und es als sicherer ansehen, das begonnene Verbrechen zu Ende zu führen. Demnach steht fest, dass das, was insoweit gegen die Notwendigkeit und Nützlichkeit der Todesstrafe vorgetragen worden ist, nur wenig Beachtung verdient. Wir wollen nun nachsehen, ob sie wenigstens in der Weise gelten, dass, wenn viele Verbrechen derselben schrecklichen Art grassieren, deren Anzahl zu vermindern alle übrigen Strafen bislang nicht in der Lage gewesen sind, der Fürst weder berechtigt noch verpflichtet ist, durch Erlass eines Gesetzes die Todesstrafe einzuführen und gegen diejenigen zu vollstrecken, von denen nach Erlass jenes Gesetzes durch ordentliches Gerichtsverfahren bewiesen ist, dass sie derartiges begangen haben. X. Sieht man von einigen geisteskranken Menschen oder von ganz wenigen Leuten, die von Alterschwäche, Aberglauben, falschen Meinungen und Irrtümern überwältigt sind, ab, so ist es, wie Cicero sagt, ganz gewiss, dass ein jeder vor dem Tod am meisten zurückschreckt. Hierin liegt jedenfalls eine starke und offenkundige Kraft der Natur. Denn sogar die Bettelarmut haben viele erstrebt, um zu leben, und Menschen, die sich im Greisenalter befinden, fürchten sich, wenn der Tod naht, selbst wenn sie nicht von Schmerzen geplagt werden. Selbst verbrecherische Menschen wollen lieber den Gestank des Gefängnisses erdulden und vom ewigen Schmutz bedeckt sein und dahin sinken als sterben. Sind denn nicht viele rückhaltlos bereit, sich mit jedem anderen noch so harten Urteil von diesem freizukaufen? Vor allem deshalb, weil niemanden die Hoffnung verlässt, die zwar äußerste, aber doch nicht leichte Trösterin der Verzweifelten. Und wer wird anders über jene denken [111], die, wenn sie sehen, dass jemand wegen eines Verbrechens mit dem Tode bestraft wird, dabei auch sehen, dass er durch die Trennung von den Seinen und von seinem eigenen Lebenslicht heftig bewegt wird? Wer wird bestreiten, dass auf diese Weise die übrigen von demselben Verbrechen heftiger als durch jedes andere Mittel abgeschreckt werden? Dies versteht sich fast von selbst, und seiner Natur nach wird jeder Abstand nehmen und das Streben nach jener Sache, die weniger wert ist als das Leben, das den einzelnen Menschen am liebsten ist, aufgeben. Denn denen, die von allen Seiten her die Beispiele verächtlicher Arbeit gewisser Leute wahrnehmen, vor denen sie unter Todesangst nicht erschreckt wären, sich vielmehr gern und nachdrücklich um sie bemühen, können Beispiele von solchen entgegengehalten werden, die zur Arbeit auf den Galeeren und zu ähnlichen öffentlichen Arbeiten verurteilt worden sind, von denen einige hochmütig, unverschämt, sogar mit fröhlicher Miene und unbeschwert auftreten. So wenig nun daraus folgt, dass die Verurteilung zu öffentlichen Arbeiten als nutzlos abzulehnen sei, um so mehr gilt doch, dass wir jene als dumm bezeichnen, die nach dem Verbrechen auf die Weise, die wir dargestellt haben, entweder den Tod erleiden oder in Knechtschaft leben, obwohl ich selbst es als wahrscheinlicher einschätzen würde, dass sie ein großer Schmerz im Herzen bedrückt, auch wenn sie im Gesicht eine gewisse Art von Fröhlichkeit vortäuschen. Gleichermaßen werden wir jenen, die sagen, die Todesstrafe sei auf Bürger der römischen respublica einst
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nicht angewendet worden oder sie sei in gewissen Regionen von klugen Fürsten ohne jeden Schaden für die öffentliche Sicherheit abgeschafft worden, bescheiden nach dem Grunde fragen, warum denn die Römer in die Fiktion flüchteten d.h. in die Strafknechtschaft, in der derjenige, der einmal zu ihr verurteilt war, nicht als Bürger, sondern als Sklave in die Hand des Henkers als des Vollstreckers der Todesstrafe ausgeliefert wurde, oder warum jene stillschweigende oder ganz offen benannte Abschaffung dem berühmten Pugatschew bei den Moskowitern nichts genützt hat, oder warum andere Fürsten diese Strafe, nachdem sie bereits in Vergessenheit geraten war, klugerweise durch feierliches Gesetz wiederhergestellt haben. Allerdings sind diejenigen, welche die in Vergessenheit geratene Todesstrafe nicht wiederhergestellt haben oder die geltende zu beseitigen beschlossen haben, nicht etwa zu verurteilen, doch liefern sie gegen unsere eigene Position keinen Einwand. Wir sind nämlich der Auffassung, dass zu den Rechten der Oberherrschaft im allgemeinen auch dasjenige gehört, die Todesstrafe gegen die Täter schwerster Verbrechen anzuordnen; damit sagen wir jedoch nicht, dass diese Art der Strafe die zu jedem einzelnen Volk passende sei. Wir bestreiten nicht im geringsten, dass es ein Gemeinwesen geben kann, in dem die übrigen milderen Strafen ausreichen, um die öffentliche und private Sicherheit der Bürger zu verfolgen; dennoch meinen unsere Gegner, es sei denknotwendig und durch in die Erfahrung hinreichend bewiesen, dass sich dies nur auf ganz wenige Völker beziehe und dass andererseits bei den allermeisten Völkern auf die Exempel in Form des Todes der bestraften Täter verzichtet werde; doch sind diese damit weder als ungerecht noch als völlig überflüssig befunden. Denen schließlich, die erwidern, dass es Räuberbanden und Morde auch bei jenen Völkern gebe, bei denen Räuber und Mörder am Galgen gehenkt werden [112], werden wir antworten, dass derartiges auch dort geschieht, wo den Räubern und Banditen mit Ketten und Banden das Leben verlängert wird. Denn unabhängig davon, welche Strafen wir letztlich auch anwenden, werden wir doch dies eine feststellen, dass zwar die Verbrechen dadurch vermindert werden, aber keineswegs ausgerottet werden. Um die Frage, ob die Anwendung der Todesstrafe mehr nützt als schadet, präzise zu beantworten, müssten daher zwei Völker untersucht werden, die im Hinblick auf Regierungsform, Lebensbedingungen, Sitten und Institutionen miteinander vergleichbar sind, und von denen das eine bestimmte Verbrechen mit der Todesstrafe belegt, das andere hingegen mit Verurteilung zu Zwangsarbeit und lebenslanger Knechtschaft; und nach Verlauf eines nicht allzu kurzen Zeitraums wird man sorgfältig untersuchen müssen, ob alle anderen Faktoren im selben Zustand gleich geblieben sind; ist dies der Fall, so wird eines dieser beiden Völker häufiger aufgrund von Verbrechen, für welche die je unterschiedliche Strafe verhängt worden ist, gezwungen sein, die gestörte öffentliche Sicherheit zu beklagen. Sind sie präzise und richtig ausgezählt, wird das Urteil, welche dieser beiden Strafen vorzuziehen sei, leicht zu fällen sein, während es auf andere Weise kaum irgendwie festzustellen sein wird. XI. Nun gibt es unter denen, die meinen, dass die Todesstrafe durch die lebenslange Knechtschaft ersetzt werden müsse, einige, die mit unglückseligem Eifer sich gewisse Strafarten ausdenken, um den Rest des Lebens der Verurteilten heftig zu quälen und zu zerreißen, so dass sich für den Richter die Frage stellt, ob Menschen
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durch die Begehung eines Verbrechens schlechter oder durch das Verhängen von Strafen grausamer werden. So wenig, wie mit diesen elenden und grausamen Strafen, welche nach dem Urteil einiger mit jener Knechtschaft verbunden und heimlich vollstreckt werden sollen, das Wohl des Staates verfolgt wird, so sehr sind ihre Erfinder aufs innerste zu tadeln. Denn da sie lieber Freunde der Humanität als Philosophen oder Rechtsgelehrte heißen wollen, so erscheinen sie ganz und gar als Fachleute der Humanität und scheinen gleichsam einen dreifachen Panzer um die Brust zu haben. Es ist nur zu wahrscheinlich, um nicht zu sagen höchst sicher, dass derjenige rasch den Tod finden wird, dem solche Strafen zugefügt werden. Und damit braucht gar nicht weiter gefragt zu werden, ob die Todesstrafe denn nun gerecht, notwendig oder nützlich sein kann, sondern nur noch danach, ob verbrecherische Menschen an einer raschen oder lieber an einer langsamen Todesart sterben sollten. Dies ist überaus grausam, und es ist umso grausamer, je mehr jemand auf diese Weise gegen Seinesgleichen wütet und ihn in wahre Verzweiflung stürzt, damit ein Beispiel für andere oder irgend ein anderer Nutzen daraus gewonnen wird. XII. Auf diese Weise aber werden die Gesetze und die Herrscher zum Gegenstand des Hasses; dies ist aber eben die Folge, wenn von denselben Gesetzen und Herrschern entschieden wird, die verbrecherischsten Menschen als Strafe für das Verbrechen durch den Henker aus der Gesellschaft zu entfernen. Wenn es nun aber auch [113] für die gesunde Vernunft kein fernliegender Gedanke ist, dass einer für viele vernichtet wird und dass durch den Tod sehr weniger verbrecherischer Menschen Friede und Sicherheit Unschuldiger erkauft wird; so verbieten doch die Gesetze generell, irgend jemanden aufgrund privater Anordnung zu töten; vielmehr gebieten sie ganz konkret, dass dies durch öffentliche Anordnung geschehe, denn zweifellos ist es ein Verbrechen, auf andere Weise das Ziel eben dieser Gesetze, nämlich die gemeinsame Sicherheit der Bürger, zu verfolgen. Unter den Fürsten aber werden diejenigen besonders nachhaltig gelobt, welche die Angst von den Guten abwenden und sie den Bösen in der Weise einjagen, dass, wenn sie nicht von ihren Missetaten abstehen wollen, womöglich jemand von ihnen vernichtet wird, auf dass nicht die Fürsten selbst, indem sie diesem das Leben schenken, den Eindruck erwecken, den gesamten Staatskörper zu vernachlässigen. Was schließlich den Henker angeht, so wird er bei vielen Völkern nicht zu den Ehrlosen gezählt; ich weiß, dass es bei anderen wahrscheinlich so ist; dies hat aber nicht den Grund, dass man die Unschädlichkeit der Todesstrafe bestreite, sondern weil es kaum jemals vorkommt und auch kaum möglich ist, dass derjenige, der freiwillig so weit geht und mit heiterer Miene etwas ausführt, wodurch ein anderer des Lebens beraubt wird, einen schlecht gearteten Charakter besitzt. Wer nicht aus diesem Grunde den Henker am liebsten verbannt, von dem muss gesagt werden, dass er sich gleichsam selbst widerspricht. Er will nämlich, dass verbrecherische Menschen ausnahmslos bestraft werden; er will, dass die öffentliche Wohlfahrt erhalten werde, und kritisiert trotzdem ihre drohende Hinrichtung und verurteilt das Mittel, ohne welches künftige Rechtsverstöße und Verletzungen der öffentlichen Wohlfahrt nicht verhindert werden können.
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XIII. Da ich nun aber angefangen habe, will ich die gesamte Problematik nach den Möglichkeiten meines Geistes lösen, und werde mich bemühen, auch die anderen Argumente zu widerlegen, mit denen bestritten wird, dass das Recht über Leben und Tod Bestandteil der obersten Herrschaft sei. Wenn sie meinen, dass ein jeder Mensch von Natur aus so angelegt sei, dass er heftiger durch ein Übel erschüttert wird, das gegenwärtig ist, als durch dasjenige, von dem keine Spur zurückgeblieben ist, so meinen sie damit, dass als Beispiel weniger ein Schauspiel des Todes diene, das zwar grausam und schrecklich sei, aber allenfalls für einen Augenblick abschrecke, als eine dauerhafte Strafe, durch welche der Täter Tag für Tat vor aller Öffentlichkeit gepeinigt wird. Dass dies nicht zutrifft oder zumindest umsonst behauptet wird, haben die oben in Abschnitt X diskutierten Erwägungen in aller Klarheit nachgewiesen. Denn es ist ebenfalls sicher, dass jeder von Natur aus so geschaffen ist, dass, je größer die Gefahr ist, die er als ihm drohend erkennt, sich umso sorgfältiger darum bemüht, die Einzelheiten zu bedenken, welche auf dieses Übel notwendig folgen. Der Mensch von gesundem Verstand hat aber nichts traurigeres vor Augen als den Untergang seiner Existenz. Es gibt andere, die meinen, dass aus der Todesstrafe vor allem der Schaden resultiere, dass nach besserer Einsicht in den Sachverhalt und nach Entdeckung der Unschuld der vielleicht aufgrund einer Verleumdung angeklagten und zu Unrecht verurteilten Person, dieser Schaden nicht mehr geheilt werden könne; ferner weisen sie darauf hin, dass die Angst vor dieser Strafe diejenigen beim Leugnen des Verbrechens gegenüber dem Richter hartnäckiger machen könne, die merken, dass sie wegen der Begehung der Tat mit dem Tode bestraft werden können, die sie aber nicht leugnen würden, wenn ihnen irgend eine andere Strafe drohen würde. Was den ersten Einwand angeht, so wird auch wegen der Strafen, die verletzende und körperliche genannt werden, Schmerz erfahren, [114] der nach Einsicht in den Irrtum nicht wieder beseitigt oder verringert werden kann. Außerdem wird nicht leichtfertig oder gar auf Verdacht hin jemand getötet, sondern erst dann, wenn er durch eigenes Geständnis und durch Argumente, die heller sind als der lichte Tag, bedrängt, widerlegt und überführt ist. Was das andere Argument angeht, so pflegen nicht nur Menschen, denen die Todesstrafe droht, sondern auch andere schändliche Menschen, wenn sie vom Richter verhört werden, ihre Verbrechen hemmungslos zu bestreiten. Muss dann aber nicht jede einigermaßen harte Strafe abgeschafft werden? Oder ist es nicht vielmehr besser, die alten Mittel beim Verhör von Angeklagten anzuwenden oder mit anderer Methode ihren Haarspaltereien, Betrügereien und Lügen zu begegnen? Aus diesen Vorgängen, die ja nur selten vorkommen, geht hervor, dass durch das, was betrügerische und äußerst geschickte Menschen vortäuschen oder mit Erfolg versuchen können, um sich der verdienten Strafe zu entziehen, weder Rechte geschaffen noch einmal bestehende Rechte umgestoßen werden müssen. Schließlich haben einige geschrieben, dass zumindest christliche Herrscher sich der Todesstrafe enthalten müssten, und haben dies auf Argumente aus dem Evangelium gestützt und es aus der höchsten Milde Gottes hergeleitet; ich glaube aber, dass es nicht meine Aufgabe ist, hierzu Ausführungen zu machen, da Grotius, Pescatore und andere dies bereits zur Zufriedenheit getan haben.
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XIV. Es sei allerdings fern von mir, der ich meine, dass der Fürst ein Recht über Leben und Tod der Bürger wegen Verbrechen besitzt, dass ich jenen zustimme, welche meinen, dass das Leben der Menschen, als ob es wertlos sei, freigebig verschwendet werden könne, und mit strenger Miene verkünden, dass die Hinrichtung die gerechteste Strafe für zahlreiche Verbrechen sei. Seien denn nicht, so führen sie aus, Mühen und Beschwerlichkeiten das Los all jener, welche die Natur als Arme und Bedürftige geschaffen habe? Wenn daher solche Menschen sich ein wenig schwerer vergehen und sich so durch Straftaten beflecken, dass sie keine Hoffnung auf Besserung mehr erkennen lassen, so stehe vernünftigerweise kein anderes Mittel zur Verfügung, als ihnen zur Strafe das Leben zu nehmen. Denn wenn der Herrscher solchen Menschen durch einzigartige Milde das Leben schenken wolle und sie in ewigem Gefängnis oder bei öffentlichen Arbeiten festhalte, wie wolle er dann verhindern, dass diejenigen, welche die Bewachung der solchermaßen Verurteilten leiten, wissentlich oder aus Unaufmerksamkeit deren Flucht unterstützen? Oder woher will er die notwendigen und erforderlichen Lebensmittel stellen? Denn aus dem Staatsschatz können sie nicht gewährt werden, da sonst derjenige, der ein Verbrechen begangen hat, die Ursache dafür wäre, dass dieser Staatsschatz, der für andere Zwecke des Staates bestimmt ist, täglich spürbar vermindert wird. XV. Aus dem, was damit einmal bewiesen ist, folgt meines Erachtens, dass bei der Anforderung an Strafen deren Begründung eine andere sein muss bei denen, die sich in tiefster Armut quälen, und bei den anderen, die in glücklicheren Verhältnissen leben; allerdings wird gesagt, dass dies von der Justiz allgemein peinlichst vermieden werden solle. Ich weise aber darauf hin, dass die Bettler und die Menschen in beschränktesten Lebensverhältnissen sich untereinander so sehr voneinander unterscheiden, dass diejenigen von ihnen, die eine Verfehlung begehen, das Verbrechen mit dem Körper büßen und ihr Leben in Ketten beschließen, diejenigen aber, die unschuldig leben, weder eine Strafe erleiden noch der Freiheit beraubt werden, die, vom Leben abgesehen, gewiss mehr gilt als jedes andere Gut. Außerdem folgt aus der Bosheit oder der Fahrlässigkeit derjenigen, denen die Bewachung der verbrecherischen Menschen übertragen ist, keineswegs, [115] dass diese Menschen mit dem Tode zu bestrafen sind, sondern vielmehr, dass man diese Wächter mit angemessenen Strafen sanktionieren muss, damit sie nicht, vor allem durch Habgier angetrieben, etwas tun, wodurch die Verurteilten die Freiheit wieder erlangen und zugleich der Friede und die Sicherheit des Staates Gefahr leiden. Nicht weniger schädlich für die Herrschaft scheint mir jene Auffassung zu sein, welche Sokrates, Platon und Seneca bei den Alten sowie einige unter den späteren Philosophen und Rechtsgelehrten vertreten haben und die uns lehrt, dass derjenige, der unverbesserliche Sitten an den Tag legt, aus dem Kreis der Lebenden auszuschließen sei, damit er nicht dem Vaterland weiter Schaden zufügen kann – dies lässt sich auch erreichen, indem die verbrecherischen Menschen in Fesseln gebunden und in engen und finsteren Kerkern gefangen gehalten werden, um dort lebenslang zu bleiben oder dass ihnen auf diese Weise unmöglich ge-
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macht wird, die Fähigkeit zu erwerben, in der Gesellschaft Schaden anzurichten. Und ebenfalls nicht weniger schädlich für den Staat ist eine andere Auffassung, die lehrt, dass gewisse Menschen feierlich hingerichtet werden müssten, die schändlich gehandelt haben, und zwar nicht, weil dies die einzige Möglichkeit sei, das Gemeinwohl zu bewahren, sondern weil das Gemeinwesen nicht in der Lage sei, die Kosten für die Nahrungsmittel zu tragen, die erforderlich seien, damit nicht jene verhungerten, die wir als des Verbrechens Überführte am Leben erhalten und bewachen wollten. Es ist nur weniges, dessen der Mensch zum Lebensunterhalt – also nicht zum angenehmen und vergnüglichen Leben – bedarf; und ebenso sind es wenige – wenn es überhaupt welche gibt –, die es sich durch ihre tägliche Arbeit nicht in hinreichendem Umfang verschaffen können. Wenn daher keine öffentlichen Arbeiten zur Verfügung stehen, die für alle jene benötigt werden, welche zu bewachen im Interesse der gemeinen Sicherheit liegt, so steht nichts entgegen, die Arbeitskraft bestimmter Verurteilter an private Bürger in der Weise zu vermieten, dass der von den Arbeitgebern zu entrichtende Lohn an den Staat abgeführt wird. XVI. Grotius weist darauf hin, dass Todesstrafen einst mit bestem Erfolg in ewige Knechtschaft und in Verurteilung zu öffentlichen Arbeiten umgewandelt worden sind; und dass eine solche Umwandlung auch heute in weiten Bereichen möglich ist, bekenne auch ich freimütig. Ich stütze diese Auffassung allerdings nicht auf die Überlegung, dass eine langfristige Strafe wirksamer oder als Exempel geeigneter sei als eine sehr kurze, also die Todesstrafe – was freilich einige anscheinend allzu undifferenziert meinen. Da nämlich nicht alle Verfehlungen gleich sind und die Strafe zu den Verbrechen im rechten Verhältnis stehen muss, gibt es eine Schwierigkeit mit jenen Strafen, die verschiedene Grade und ein gewisses Maß nicht zur Verfügung stellen. Dies liegt aber vor allem daran, dass es nach der Einschätzung der Menschen mehr oder weniger harte oder lange Strafen geben kann. Unter den Strafen aber, die hart sind und in unterschiedlichem Ausmaß auf das körperliche Schmerzempfinden einwirken, gibt es einige, welche zur Bestrafung nur sehr weniger Verbrechen taugen; denn wenn der Herrscher ihnen etwas hinzufügen sollte, so wird er häufig als unmenschlich und auch ungerecht erscheinen, weil auf diese Weise nicht selten derjenige sterben wird, dem zwar durch diese Strafart Schmerzen zugefügt werden sollten, der aber durch sie nicht getötet werden sollte. Strafen aber, die je nach dem Willen der Menschen kürzer oder länger dauern können, werden bei vielen Verbrechen vorteilhaft angewendet. Es gibt aber keine Strafe, welche in zeitlicher Hinsicht so viele Grade aufweist wie sie bei der Verurteilung zur Arbeitsstrafe unterschieden werden. Und damit verhält es sich mit dieser Art von Verurteilung so, dass sie häufig der unterschiedlichen Größe zahlreicher [116] Verbrechen und den verschiedenen Schweregraden der Krankheiten entspricht, welche geheilt werden müssen und nicht einer und derselben Art des öffentlichen Exempels wie einer Medizin bedürfen, sondern nach einem nach Zeiten und Umständen vieldimensionalen Heilmittel verlangen. Und niemand wird bezweifeln, dass es für den Staat besser ist, die Schädiger am Leben zu erhalten, als sie zu vernichten, zumindest dann, wenn alle, die am gemeinen Wohl der Bürger interessiert und gut und gerecht gesinnt sind, meinen,
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dass sie für andere ein hinreichendes Beispiel bilden, wenn sie gezwungen werden, Kloaken zu reinigen, Wasserleitungen zu bauen, mit gewaltigen Dämmen Äcker und Städte gegen die Wucht der Flüsse zu befestigen, Mauern gegen Fluten zu errichten, Häfen zu erbauen, Bergwerke zu graben und ähnlich harte Arbeiten zu verrichten, welche sich zum Vorteil und Nutzen dieses Staat auswirken. XVII. Es ist naheliegend, dass, wenn die Notwendigkeit des Gemeinwohls danach drängt, es auch eines herausgehobeneren Exempels bedarf, nämlich dessen, dass jener Mensch den Bürgern öffentlich zur Schau gestellt wird, dem wegen seines Verbrechens das höchste Gut, welches Grundlage und Möglichkeit aller anderen Güter ist, das Leben nämlich, genommen wird. Es wird aber kaum jemals der Fall sein, dass der Staat dieser Art von Beispielen bedarf, weil ein unheilvoller Aufstand tobt, oder auch, weil sie mit beachtlicher Grausamkeit zwar nicht den Staat feindlich angreifen, aber doch dessen Ordnung und die Sicherheit der Bürger häufig und nachhaltig verletzen, so dass die Furcht vor lebenslanger Knechtschaft, körperlichem Schmerz oder vor anderen ähnlichen Strafen sie nicht wenigstens zu vermindern in der Lage sein wird. Es gibt aber auch solche, die jene grausamen Verbrechen namentlich aufzuzählen unternehmen. Die einen von ihnen meinen, dass die mit bösem Vorsatz begangene Tötung eines Menschen stets vom Täter mit dem Tode gebüßt werden müsse; andere unterscheiden zwischen den Taten, die nach bürgerlichem Recht wie nach Naturrecht verboten sind, und solchen, die nur nach bürgerlichem Recht verboten sind, und meinen, dass bei jenen jedenfalls die Todesstrafe angewendet werden dürfe, nicht aber bei diesen, deren Höchststrafe nach ihrem Urteil das Exil sein müsse; wieder andere schließlich haben weitere Unterscheidungsmerkmale erdacht, die aber ziemlich vage und unbestimmt zu diskutieren sind, da sie keine Vorbilder, Sitten oder Einrichtungen irgend eines Volkes berücksichtigen, die aber doch bei der Festsetzung von Strafen in höchstem Maße berücksichtigt werden müssen. XVIII. Dass dem Herrscher das Recht über Leben und Tod über Bürger im Falle von Verbrechen zusteht, habe ich damit gegenüber der Meinung derjenigen nachgewiesen, welche zu beweisen versuchen, dass dieses Recht der Natur der Oberherrschaft oder dem Ziel des Staates fremd sei; ich glaube aber, dass es nicht meine Aufgabe ist, die einzelnen Fälle aufzuführen, bei deren Bestrafung der Fürst von diesem Recht Gebrauch machen soll. Zwei Fällen will ich allerdings nicht übergehen. Zum einen ist das Todesurteil wegen jener Verbrechen zu verhängen, welche wirklich die schwersten sind und welche [117] die gesunde Vernunft und der gegenwärtige Bestand und die Sicherheit des Staates auf diese Weise zu bekämpfen fordern. Geschieht dies zu häufig, so verwandelt die Todesstrafen sich leicht in einen Schaden für den Staat selbst, denn hat man sie erst einmal auf weniger schwere Verbrechen angewendet, so wird nichts übrig bleiben, womit schwerere Verbrechen bestraft werden; deshalb werden die Gesetze selbst die ihnen unterworfenen Bürger nicht mehr, sondern weniger oder doch jedenfalls auf angemessene Weise von den übrigen nicht so schrecklichen Verbrechen abschrecken. Wie
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ja auch bei den übrigen ihm vorzulegenden Strafen der Herrscher stets darauf schauen wird, was das abschreckende Beispiel und was die gemeine Sicherheit verlangt, und er nicht über dieses Maß hinaus grausam sein wird. Zum anderen verdient bemerkt zu werden, dass der Herrscher es sich versagen soll, jeden, der vom Gericht ordnungsgemäß zum Tode verurteilt worden ist, aufs Schafott zu schicken, wenn er nicht vorher selbst oder durch andere den Herrscher um Gnade gebeten hat. Doch wird es sich stets dann nicht verbieten, das Todesurteil in lebenslange Knechtschaft oder in Verurteilung zu Arbeitsstrafe umzuwandeln, wenn bei allen reiflich Nachdenkenden die Hoffnung besteht, dass auch ohne das Beispiel seiner Hinrichtung für das Wohl der Bürger hinreichend gesorgt ist. Auch so wird die von den Gesetzen ausgelöste Furcht vor dem Tode viele bei ihrer Pflicht halten, und es werden nicht viele auf diese Weise sterben, sondern nur jene, die ohne Gefahr für die gesamte Gesellschaft nicht am Leben gelassen werden können.
Gian Domenico Romagnosi (1761–1835) Die Entstehung des Strafrechts (Genesi del diritto penale) (1791) Kapitel XII: Geburt des Strafrechts § 242 [192] Ein für das Recht, jemanden zu verletzen, wesentlicher Umstand ist die Notwendigkeit, ihm ein Übel zuzufügen, um dadurch ein anderes Übel von uns fernzuhalten [...]. Daher bedarf es der Feststellung, dass, wenn man das begangene Verbrechen unbestraft lässt und dies mit den zukünftigen Verhältnissen in Beziehung setzt, in der Gesellschaft die geforderte Notwendigkeit der Strafe entsteht [...]. § 243 Ist es also notwendig, dass dies geschieht? Wo es dem Menschen als eine Folge des Zustandes, in dem er sich befindet, stets ein leichtes ist, seinen Artgenossen die größte Unterstützung zum Lebensunterhalt und zum Wohlsein zu verschaffen [...], dort ist es ebenfalls ein leichtes, ihnen die größten Schäden zuzufügen. § 244 Wo der Mensch die größte Menge an Nutzen und Annehmlichkeiten davonträgt, dort fühlt er auch (von sehr wenigen Weisen abgesehen) Wünsche in sich wach werden, die durch die Meinung, die Haltung und den Widerstand der Eigenliebe des anderen nur noch gewaltsamer werden [...]. § 245 Wo er aber häufig sieht, dass er jene Wünsche nicht anders befriedigen kann, als indem er die Ruhe und Existenz seiner Artgenossen aufopfert, dort hat er ein starkes Motiv, sich zu entschließen, dies zu tun. § 246 Unfehlbar wird er sich dazu entschließen, wenn er nicht ein anderes entgegengesetztes oder überlegenes oder zumindest gleichermaßen fühlbares und wirksames Motiv besitzt, das ihn davon abhält. § 247 Die erste und natürliche Wirkung der Straflosigkeit besteht aber eben darin, dass sie in den Seelen derjenigen, die zur Moralität fähig sind, die Furcht vor einem gewiss eintretenden zukünftigen Übel, das mit dem Verbrechen verknüpft ist, den E. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Eindruck, unter dem die Lust am Verbrechen selbst vergehen oder zumindest ausgeglichen werden könnte, wieder beseitigt. § 248 Also wird bei Straflosigkeit des Verbrechens in der Gesellschaft und unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Gesellschaftszustandes daraus mit Sicherheit eine schlimme Zahl von anderen gleichartigen oder noch grässlicheren Verbrechen hervorgehen. [193] § 249 Doch damit nicht genug. Wir haben gesehen, dass die Gesellschaft das Recht besitzt, demjenigen, der einen Angriff auf Leben und Wohlsein anderer unternimmt, ein Übel, ja sogar den Tod zuzufügen [...]. Nun würde aber im Falle der Straflosigkeit dieses Recht zu einer höchst fatalen Angelegenheit, denn wenn die ganze Gefahr, welche der Übeltäter fürchten könnte, mit diesem Angriff zusammenfällt, sie jedoch nicht eintritt, nachdem das Verbrechen abgeschlossen ist, so ist er ganz dem Druck ausgesetzt, die Vorbereitungen zu Ende zu führen und das Verbrechen zu vollenden. § 250 Und so bewirkt das naturgegebene Recht zur Verteidigung des Gesellschaftskörpers [...] eine gewisse Beschleunigung von Verbrechen, welche, indem sie auch jene wenigen Fälle von Reue, die in der Zeit zwischen dem Beginn der Tat und ihrer vollständigen Ausführung auftreten könnten, ausschließt, die Schrecken der Straflosigkeit bis zum Höhepunkt gelangen lässt. Je mehr eine Flüssigkeit von allen Seiten abgeschlossen und zusammengepresst wird, mit umso größerer Wucht quillt sie aus dem einzigen Kanal, der ihr geöffnet wird. Und ebenso quillt im Gesellschaftszustand die Heftigkeit der Leidenschaften mit umso größerer Gewalt aus jenem einzigen Durchlass, der sich ihr öffnet, je mehr sie von anderen Gesellschaftsmitgliedern aufgehalten und von der Sanktion (die aus ihrem Gleichgewicht die Kraft der Staaten schafft) oder von einer an die Stelle der Sanktion tretenden Furcht eingegrenzt wird. Und so taucht an der Schwelle der Zukunft die Straflosigkeit als ein drohendes und schrecklich auf die Gesellschaft zuschreitendes Gespenst auf, gefolgt vom Verleumder, vom Mörder, vom Totschläger, die, um ihre zerstörerische Macht sicher ausüben zu können, weder des Dunkels noch des Verstecks noch der Einsamkeit, sondern einzig und allein der Überraschung bedürfen, und aus einer bloßen Laune heraus sowohl den Altar der Religion im Augenblick des Opfers für den Gott des Friedens als auch die Throne der Könige in dem Augenblick, in dem diese ihre wohltätige Majestät den Augen des Volkes vorführen, mit menschlichem Blut beflecken.
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§ 251 Betrachtet man also die Straflosigkeit unter den Umständen ihres Geschehens in der Gesellschaft, so stellt man fest, dass sie für den Gesellschaftskörper radikal zerstörerisch ist. § 252 Somit befände die Gesellschaft in der Notwendigkeit, sich zu verteidigen, und damit im Recht [...], die Straflosigkeit aus ihrer Mitte zu entfernen, obwohl sie nicht integrierender Teil, sondern nur Folge des Verbrechens ist [...]. Oder, um es deutlicher auszudrücken: Die Gesellschaft hat ein Recht, die Strafe auf das Verbrechen folgen zu lassen als notwendiges Mittel zur Bewahrung ihrer Mitglieder und des Zustandes des Zusammenlebens, in dem sie sich befindet – lauter Dinge, auf die sie ein volles und unverletzliches Recht besitzt [...]. Und eben dies ist der Augenblick der Geburt des Strafrechts, das in der Sache nichts anderes ist als ein reflexives Verteidigungsrecht. [194]
Kapitel XIII: Fortsetzung desselben Gegenstandes. Bestätigung und Erläuterung. § 253 Da es darum geht, einen Menschen, der im gegenwärtigen Augenblick friedlich und vielleicht sogar unfähig ist, Schaden anzurichten, wegen eines vergangenen Verbrechens zu bedrängen im Hinblick auf die Übel, mit denen seine Straflosigkeit die Gesellschaft bedroht, die freilich im Augenblick ruhig ist, ist es erforderlich, die Verknüpfung und Abhängigkeit zu bezeichnen, welche zwischen diesen Gegenständen besteht, denn auf dieser Verknüpfung beruht die Gerechtigkeit des Strafens [...]. § 254 Ich habe bereits dargetan, dass im Schoße des Gesellschaftskörpers, der unvermeidlich das Ferment des Verbrechens in sich birgt, die Straflosigkeit dem letzteren die sicherste und fatalste Tätigkeit vermittelt [§§ 250, 252]. Könnte doch die Gesellschaft wenigstens mit sicherer Voraussicht den Gauner vom Gerechten unterscheiden! Doch welcher menschliche Verstand könnte in der ewigen Nacht der Möglichkeiten etwas wahrnehmen? Und wer könnte mir zumindest in diesem Augenblick mit Sicherheit sagen, was im folgenden Augenblick geschehen wird? § 255 Müssen wir demnach sagen, dass angesichts dieser Unsicherheit die Gesellschaft sich setzen und wachsam sein muss gegenüber Angriffen der Schlechten, weil
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diese sie noch nicht behelligen, statt denjenigen leiden lassen, der bereits ein Verbrechen begangen hat? § 256 Doch welche Vorsorge wäre dies denn im Falle der Straflosigkeit? Wo das Verbrechen mit Recht bewaffnet daherkommt, weil die Tugend es nötig macht, dass sie bewaffnet ist, wo in den schrecklichsten Verdächtigungen des Misstrauens Personen einer und derselben Familie davor zittern, unter demselben Dach zu leben, wie erreicht man da jene Ruhe und jene Sicherheit, die so notwendig für das Wohlsein, für die Ordnung und für die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verpflichtungen sind und als deren Folge die Gesamtheit so große Rechte besitzt? [...] § 257 Dies ist aber noch nicht alles. Würden doch diese Vorsichtsmaßnahmen wenigstens dazu dienen, um, wenn schon nicht alle, so doch wenigstens die schlimmsten Verbrechen aus der Gesellschaft zu verbannen! Doch würde nicht die Gewissheit des Verbrechers, keinerlei Übel nach dem Verbrechen zu erleiden, die menschliche Gesellschaft sogleich in alle Irrtümer stürzen? [§§ 249, 250] [195] § 258 Also ist es für die Erhaltung und Ruhe der Gesellschaft notwendig, dass der zukünftige Missetäter nicht nur den Beginn, sondern auch die Folgen seines Verbrechens fürchtet. § 259 Sie hat daher ein unbestreitbares Recht auf jene Mittel, welche diese Furcht auslösen können. [...] § 260 Hingegen zu sagen, dass es der Gesellschaft nicht erlaubt sei, gegen denjenigen vorzugehen, der sie in der Vergangenheit beleidigt hat, das ist dasselbe, als wenn man sagen würde, dass es nicht erlaubt sei, den Verbrecher nach dem Verbrechen irgend ein Übel fühlen zu lassen, bzw. dass das Verbrechen keinerlei schmerzliche Konsequenz nach sich ziehe. Dies ist offenkundig. Also bräuchte der künftige Missetäter keinerlei Konsequenz für die verbrecherische Handlung, über deren Durchführung er nachdenkt, zu befürchten. § 261 Es ist aber so, dass die Gesellschaft ein wirkliches und absolutes Recht hat, ihm diese Furcht einzuflößen und sein Bewusstsein damit so sehr zu tränken, dass es ihr gelingt, zu einem Hindernis zu werden, das ihn von der Begehung der Tat abhält (§§ 258, 259).
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Damit hat sie aber ein genau so absolutes Recht gegen denjenigen, der Straftäter gewesen ist, eine Strafe zu verhängen, vor der sich derjenige, der es in Zukunft werden sollte (sei es derselbe oder ein anderer) unfehlbar und wirksam fürchtet. Damit ist, wie ich meine, jene Verknüpfung zwischen den Aspekten des Strafrechts nachgewiesen, nach welcher (§ 253) gesucht wurde, zugleich sind mit abgestufter und fortschreitender Konkretisierung jene Gedanken dargestellt, welche, um erledigt und in die knappe Beweisführung des § 252 eingeschlossen werden zu können, in allen ihren Aspekten entwickelt werden mussten.
Kapitel XIV: Moralische Situation des Straftäters in der Gesellschaft im Hinblick auf die Entstehung des Strafrechts. Schwierigkeiten. Lösungen. § 262 „Fremder Verbrecher“, sprach Zaid zu einem, den er zum Tode verurteilte, „ich muss dir ungerecht vorkommen, wenn ich dich wegen der Übertretung von Befehlen bestrafe, die du nicht hast kennen können; doch das Schicksal Basras hängt von deinem Tode ab: Ich weine, doch ich verurteile dich“1. [196] Wenn die Unschuld von der Notwendigkeit dem öffentlichen Interesse geopfert wird, hat es stets zwischen der Nation und dem Unschuldigen ein Aufeinanderstoßen von widerstreitenden Rechten gegeben, welches bewirkt, dass jegliches Ergebnis der Gewalt gerechtfertigt ist. [...] § 263 Hätte man nach dem ersten Verbrechen eine moralische Gewissheit, dass ihm kein weiteres folgen wird, so hätte die Gesellschaft keinerlei Recht, es zu bestrafen. Dies ist eine unmittelbare Folgerung aus den Kapiteln IX und X. Müssen wir also sagen, dass die Zukunft auf diese Weise die einzige Begründung des Strafrechts sei?, so dass jeder Bezug zur Vergangenheit ausgeschlossen werden müsse? Und müssen wir folglich auch sagen, dass man, indem man beim Täter die zukünftigen Missetaten bestraft, er in meinem System eigentlich das Opfer eines Rechts ist, dessen Zweck es ist, symbolisch zu wirken?
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Zaid war ein arabischer Gouverneur von Basra. Nachdem er vergeblich versucht hatte, die Stadt von den Mördern zu reinigen, welche sie heimsuchten, sah er sich gezwungen, die Todesstrafe für jeden anzuordnen, der zu nächtlicher Stunde im Stadtbereich angetroffen würde. Ein Fremder wurde dort verhaftet und vor sein Gericht geführt. Während er versuchte, mit seinen Tränen sein Mitleid zu erwecken, erhielt er die im Text mitgeteilte Antwort.
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§ 264 Wäre demnach der Vorgang des Strafens eher ein durch das harte Gesetz der Notwendigkeit gerechtfertigter Gewaltakt als das genuine Erzeugnis eines Rechts? Hier besteht eine Schwierigkeit, auf die ich ausschließlich eingehen will, weil sie mir Gelegenheit bietet, die moralischen Beziehungen des Verbrechers zur Gesellschaft für jenen Teil zu thematisieren, der die Hervorbringung des Strafrechts betrifft; denn die Problematik in ihrer ganzen Breite gehört eigentlich zum Umfang dieses Rechts, über den nachzudenken nicht unser Vorhaben ist.
Antwort. § 265 Versetzt einen Menschen in die Finsternis. Auch mit dem besten Auge wird er nicht sehen. Demnach hängen die Wahrnehmungen des Sehens ausschließlich vom Licht und in keiner Weise vom Auge ab. Und dies ist der Gedankengang für unseren Gegenstand. § 266 In meinem System gilt, dass die Gesellschaft nicht das Recht hätte, ein erstmaliges Verbrechen zu bestrafen, wenn sie die moralische Gewissheit hätte, dass es nicht noch einmal begangen wird; es gilt aber auch, dass sie eine Strafe ausschließlich wegen eines vergangenen Verbrechens verhängt. Dies liegt im Wesen der Strafe im engeren Sinne selbst begründet (s. § 261). § 267 Trifft dies zu, so muss nun gezeigt werden, dass aus dem Vorhandensein des Verbrechens als wesentlicher Umstand der Strafe folgt, dass das Recht, den Verbrecher zu bestrafen, [197] wie ich es in den vorhergehenden Kapiteln dargestellt habe, von jenem Recht verschieden ist, welches die Nation ausübt, wenn sie in einer Notstandssituation einen Unschuldigen dem Gemeinwohl aufopfert. § 268 Die Rechte, welche der Missetäter vor der Begehung des Verbrechens besaß, d.h. als er unschuldig war, waren gegenüber der Gesellschaft die folgenden: I. das absolute und unveränderliche Recht, dass seine Freiheit, sein Leben, seine Güter usw. geachtet werden; II. das relative Recht, geschützt und unterstützt zu werden [...]. In unserem Fall beschränken wir uns darauf, Ausführungen zum ersten zu machen, denn was wir zu diesem zu sagen haben, könnte man erst recht auf das zweite anwenden.
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§ 269 Schon aus dem Begriff des Rechts, nicht beeinträchtigt zu werden, das dem in der Gesellschaft lebenden Menschen vor dem Verbrechen gegenüber der Gesellschaft und gegenüber den anderen einzelnen Menschen zusteht, ist ersichtlich, dass dieses den einen wie die anderen durch das Band der Pflicht, ihm nicht ohne Grund Schaden zuzufügen, bindet. Man kann also sagen, dass der Zweck dieses Rechts außerhalb seines Inhabers liegt, wenngleich es diesem zugute kommt. § 270 Ist aber das Verbrechen geschehen, so erwirbt die Gesellschaft ein unbestreitbares Recht, ihm ein Übel zuzufügen (§§ 252 ff.). Und damit wird sie dann von eben diesem Band der Pflicht gelöst, welches sie daran hinderte, ihm einen Schaden zuzufügen, und infolge dessen verliert der Verbrecher das erwähnte Recht, in seiner Existenz und in seinen Gütern respektiert zu werden. Diese beiden Aussagen sind nicht solche, welche zwei schlicht verbundene Gegenstände betreffen, sondern fallen, wie klar zu sehen ist, in einem zusammen. § 271 Der Verlust dieses Rechtes löst den Verbrecher aber nicht aus der Pflicht zur Selbsterhaltung – was klar ist, da ja eine ungerechte Handlung niemanden aus einer Verpflichtung, die er hat, lösen kann. § 272 Der Gesellschaft wiederum verleiht es nicht die Befugnis, nach Laune gegen ihn vorzugehen, sondern nur in dem Maße, dessen sie bedarf, um sicher und glückselig zu leben [...]. § 273 Also verliert der Täter wegen seines Verbrechens nicht absolut das Recht auf sein Leben und auf seine Glückseligkeit, sondern nur das Recht, von der Gesellschaft respektiert zu werden; und auch nur von dieser Gesellschaft, die ein Interesse hat, ihn zu bestrafen [...], und zwar im Verhältnis zu dem, was zu ihrer Sicherheit erforderlich ist. [198] § 274 Doch versteht es sich von selbst, dass jede andere Gesellschaft diese dabei unterstützen kann, den Täter zu bestrafen, wie sich aus den allgemeinen Verhältnissen der Notwehr ergibt [...]. Aus der Darstellung dieser Grundsätze lässt sich die gesamte Theorie des Naturrechts unter den Völkern im Hinblick auf die Bestrafung von Straftätern, auf deren
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wechselseitige Auslieferungen, auf die Kopfgelder, auf die Verfolgung in fremden Staaten und auf andere ähnliche Dinge ableiten, über die hier Ausführungen zu machen mir mein Thema verbietet. § 274 Aber auch in dem Fall, dass es eine Notwendigkeit gibt, einen Unschuldigen dem Gemeinwohl aufzuopfern, bleibt die Nation von der Verpflichtung frei, ihn zu schonen [...]. Sie befindet sich nämlich in der Lage eines Menschen, der einen Schiffbruch erleidet und der von der Pflicht befreit ist, nicht nach dem Brett oder dem Balken eines anderen zu fassen, obwohl dieser sie besetzt hält und sie zu seinem Gebrauch nötig sind [...]. Doch was folgt daraus? Kann man diese Situation mit derjenigen der strafenden Gesellschaft und des Straftäters gleichsetzen? § 275 Falls ein Unschuldiger dem öffentlichen Interesse aufgeopfert wird, so geschieht ihm dies, eben weil er unschuldig ist, aus einem Zwang von Umständen heraus, die außerhalb seiner selbst liegen und sein Gerechtsein unberührt lassen. [...] Wird hingegen jemand bestraft, so geschieht dies nur wegen eines Verbrechens, das er begangen hat (§ 266). Folglich geschieht es ihm wegen einer freien und ungerechten Handlung, die von ihm selbst ausgegangen ist. Dies ist ein wesentlicher Unterschied, der zu entgegengesetzten Konsequenzen führt. § 276 Da wir nun aber bewiesen haben, dass zur Ausübung des Strafrechts die Notwendigkeit erfordert wird, einen Beleidiger zu vernichten oder unglücklich zu machen, der rechtswidrig einen Schaden angerichtet oder versucht hat, etwas zu verletzen, auf dessen Bewahrung ein Recht besteht. [...] Der Missetäter versetzt nun aber durch sein Verbrechen die Gesellschaft in diese Notwendigkeit und damit in das Recht, sich seiner zu bemächtigen und ihm entweder teilweise oder vollständig sein Wohlsein zu nehmen. § 277 Reduziert man nun den Umfang auf die engsten Grenzen, so ergibt sich, dass die Handlung des Verbrechers zufälliger- aber notwendigerweise bei der Gesellschaft das Recht zum Strafen hervorbringt. Wir wollen nun sehen, was sie denn beim Verbrecher hervorbringt. § 278 Das Verbrechen kann bei der Person, die es begeht, so wenig ein Recht hervorbringen, wie die Verneinung etwas Existierendes hervorbringen kann. [...] [199]
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Wenn daher die Gesellschaft sich als mit dem Strafrecht ausgestattet erweist, welches man als eine Konsequenz und einen Teil des Verbrechens selbst anzusehen hat, so werden die moralischen Verhältnisse des Verbrechers keineswegs irgend einen Widerspruch dazu bilden, vielmehr werden sie sich mit allem verbinden, was dasselbe Recht der Gesellschaft erfordert. [...] § 279 Daher wird es beim Verbrecher, den man bestraft, nicht geschehen wie beim Unschuldigen, der das Opfer des Gemeinwohls ist und ein Bündel von Rechten, die sich aus seinem Verhältnis der Unschuld ergeben, den Rechten der Öffentlichkeit entgegenhält; ganz im Gegenteil lässt sich sagen, dass er mit seinem Verbrechen gewissermaßen die Gesellschaft zu sich heranzieht und im Maße dessen, was die gesellschaftliche Ruhe und Sicherheit verlangt, einen Teil oder die ganze Bandbreite dessen, was ihm zusteht, von jedem entgegenstehenden Recht entblößt.
Kapitel XV: Vergleich des Strafrechts mit dem Notwehrrecht. § 280 Ich habe bereits gesagt, dass das Strafrecht inhaltlich nichts anderes ist als das reflexive Recht auf Selbstverteidigung (§ 252). Wir wollen nun die Eigenschaften näher betrachten. Zunächst einmal ist klar, dass das Notwehrrecht in seinen Begriff als faktisches Merkmal einschließt, dass es einerseits eine Verletzung sowie jemanden gibt, der sie zufügt oder dies versucht, und andererseits einen Schaden und jemanden, der ihn erleidet oder in Gefahr gerät, ihn zu erleiden. Nun haben wir aber nachgewiesen, dass, wenn in der Gesellschaft die Straflosigkeit der Missetäter Einlass findet, die bereit sind oder sich schon entschlossen haben, es unfehlbar zu sein, mit Sicherheit jede Art von Verbrechen sich einstellen würde (§§ 243 bis 251): Doch ein Verbrechen, dass mit Sicherheit bevorsteht, ist mit Sicherheit für die Gesellschaft ein zukünftiges Übel. Ein Übel, das mit Sicherheit bevorsteht, ist eine Gefahr. Also ist ein Verbrechen, das gewiss bevorsteht, gleichbedeutend mit einem gegenwärtigen Angriff. Und infolge dessen ist die Straflosigkeit, die gleichzeitig dessen Ursache und Erkennungsmerkmal ist, ebenfalls gleichbedeutend mit einem Angriff bzw. einer Summe von Angriffen. § 281 Fragt ihr also noch, wer im Strafrecht der Beleidiger sei? – Der künftige Straftäter.
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Und welches Übel begeht er oder versucht er? – Er droht mit jeder Art von Schaden und Verbrechen. Gegen wen richtet sich die Drohung bzw. welche Person befindet sich in Gefahr? – Die Gesellschaft. § 282 Wenn die Notwehr zu schaden vermag, so liegt dies daran, dass als Ergebnis der Lage beider Parteien die Notwendigkeit für die angegriffene Partei folgt, dem rechtswidrigen Angreifer ein Übel zuzufügen, um das Übel, das dieser ihr zufügen wollte, wegzuschaffen. Dass ein natürliches Ergebnis der Lage der Gesellschaft und der künftigen Missetäter die Notwendigkeit ist, dem Verbrecher die Strafe zuzufügen, haben wir bereits nachgewiesen (§§ 252, 253, 254, 255, 256, 257, 258). § 283 Der moralische Zustand des bestraften Verbrechers in der Gesellschaft gleicht vollständig demjenigen des mit der direkten Notwehr zurückgewiesenen Angreifers. Denn dieser verliert wirklich das Recht, von dem Angegriffenen in seinem Lebensrecht und erst recht in seinen anderen Gütern, respektiert zu werden, ohne dass er ihm irgend ein Gegenrecht entgegenhalten könnte [...]. Der Verbrecher verliert in der Gesellschaft dasselbe Recht und auf dieselbe Weise. (§ 279). § 284 Der Angreifer verliert sein Recht auf das Leben und auf andere Güter, jedoch nur im Verhältnis zu der von ihm angegriffenen Person. [...] Der Verbrecher verliert es nur im Verhältnis zur Gesellschaft, die ein Interesse besitzt, ihn zu bestrafen. § 285 Unterstellt man schließlich bei dem, der sich verteidigt, die erwähnte Notwendigkeit des Verletzens, so ist es sinnvoll, als erste und wesentliche Eigenschaft vorauszusetzen, dass er ein wirkliches Recht besitzt, jenen Zustand oder jene Sache zu bewahren oder wieder zu erlangen, den oder die der Angreifer zu zerstören oder wegzunehmen versucht. [...] Es ist offenkundig, dass ohne dieses grundlegende Recht die Notwehr ein rein physischer Akt wäre und niemals die Qualität von Recht erlangen könnte; und dass es kraft dessen geschieht, dass sie diesen Namen und diese Eigenschaft annimmt.
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§ 286 Auch diese Eigenschaft findet sich bei der Gesellschaft. Diese hat nicht die Pflicht, sich angesichts der Missetäter aufzulösen und ihre Mitglieder in die Arme des Barbaren oder in mitleidlose Einsamkeit zu schicken, sondern besitzt ein wirkliches Recht, sich im Zustand des Zusammenschlusses zu erhalten – ein Recht, dass ihr in vollem Umfang von der Natur gewährt ist [...], welche letztlich gewollt hat, dass dieser Zustand besteht – und ihr eigenes Wohl und das jedes ihrer Mitglieder zu verfolgen. [...] Beim Verhängen einer Strafe besitzt sie also jenes grundlegende Recht, durch das ihr Handeln die Form und den Namen von Recht erhält. § 287 Im Strafrecht vereinigen sich demnach alle Eigenschaften des Notwehrrechts. § 288 Doch eben so, wie die Gesellschaft dieses Recht nicht ausübt, um einfach eine gegenwärtige Beleidigung wegzuschaffen, sondern es gegen jemanden wirksam werden lässt, der in der Vergangenheit ein Verbrechen begangen hat, um mit der Strafe andere künftige Angriffe abzuwehren (§§ 260, 261), so ist es bei dieser Sicht nicht ein direktes Notwehrrecht, wie jenes, das im Naturzustand ausgeübt wird, sondern ein reflexives.
Kapitel XVI: Wir muss man es verstehen, dass das Strafrecht dasselbe ist wie das Notwehrrecht? § 289 Ein Autor muss seine Sorgfalt darauf richten, dass die von ihm benutzten Begriffe im Geiste der Leser nach Möglichkeit klar und präzise sind und der Wahrheit der Dinge möglichst nahe kommen. Und eben dies verpflichtet mich zu einer Bemerkung im Anschluss an den soeben angestellten Vergleich. Das Notwehrrecht im weitesten Sinne verstanden ist ein allgemeines Recht [...]. Es umfasst daher begrifflich so viele Arten und Personen, wie es spezielle persönliche Existenzformen dieses Rechtes selbst gibt. In der Tat haben wir ja im Zustand natürlicher Unabhängigkeit davon bis zu drei unterschieden [...]. Auch das Strafrecht ist eine spezifische Erscheinungsform des Notwehrrechts, jedoch von allen anderen vorher aufgeführten unterschieden durch seine unterschiedliche Entstehung und Existenz. Seine individuellen Eigenschaften entstehen und unterscheiden sich je nach den Umständen, nach denen die verschiedenen Strafen, welche gegen Verbrecher verhängt werden, hervorgebracht und unterschiedlich ausgestaltet werden. Wenn ich daher gesagt habe, dass das Strafrecht ein Notwehrrecht sei, so konnte damit nicht gemeint sein, dass es das Notwehrrecht selbst sei, d.h. dieselbe Spezies
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bzw. Daseinsform des Notwehrrechts, das den Wilden des Naturzustandes zusteht, und sich mit diesem vermische, sondern nur, dass es derselben Art angehört, der jenes zugeordnet ist. Doch eben deshalb, weil es dieser Art angehört, musste man bei ihm jene Eigenschaften ermitteln, kraft derer es dieser zugeordnet wird; und es musste deshalb bewiesen werden, dass es mit den anderen speziellen Erscheinungsformen jene Gründe, Eigenschaften und Entstehungsbedingungen gemeinsam hat, welche dem Notwehrrecht im allgemeinen seine Entstehung und gewissermaßen sein Wesen geben. Dies also war genau betrachtet der Zweck des vorhergehenden Kapitels, und dies war es, was ich sagen wollte, als ich das Strafrecht mit dem Notwehrrecht verglichen habe.
Kapitel XVII: Klärung von Zweifelsfragen über die Entstehung und die Eigenschaften des Strafrechts. § 290 Habe ich mich bei der Bezeichnung der Ursprungs und der Hervorbringung des Strafrechts auch nicht getäuscht? Habe ich vielleicht eine der Quellen, aus denen es entspringt, weggelassen oder vergessen? Wer weiß, ob mir, indem ich mich so sehr damit befasst habe, mir seine Existenz, die ich in allen ihren Gründen unterschieden habe, klar zu machen, darüber nicht von den Entstehungselementen einer entgangen ist? Wie kann man sicher gehen, dass dies nicht geschehen ist? Sprechen wir also noch konkreter über unser Thema. Ich habe gesagt, dass das Strafrecht eine spezielle Erscheinungsform des Notwehrrechts sei (Kap. XV). Doch ist es denn einzig und allein Notwehrrecht? § 291 Wenn es dies nun nicht in ganz reiner Form wäre, wenn irgend etwas anderes noch darunter gemengt wäre, was es zu einem gemischten Wesen machte und seinen Ursprung aus verschiedenen anderen Prinzipien herleitete – träfe es dann nicht zu, dass seine Natur, sein Umfang und die Grundsätze, welche seine Anwendung bestimmen, gar nicht mehr dieselben sein könnten wie diejenigen der Notwehr? Wäre es nicht im Gegenteil ganz offenkundig, dass all dieses aus der zusammengesetzten Weise des Wesens der hervorbringenden Prinzipien hätte hergeleitet werden müssen? § 292 Wer weiß, ob es nicht einen anderen, späteren oder früheren Entstehungszeitpunkt gehabt haben könnte? Wer weiß, ob es nicht verschiedene andere Eigenschaften und verschiedene Grade der Geltung und des Umfangs hat?
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Wie viele Rechte sind denn nun mehr oder weniger auf die Gesellschaft und auf die Herrscher übertragen worden? Trifft es denn nicht zu, dass die Ergebnisse im Verhältnis der Unterschiedlichkeit der kombinierten Elemente unterschiedlich sind? Auf welche Weise also, frage ich noch einmal, kann man sich ohne einen Schatten des Zweifels darüber gewiss werden, dass nichts anderes einen Anteil hat, der geeignet ist, die befürchteten Unterschiede hervorzubringen? § 293 Ich meine, dass, wenn wir den Versuch unternehmen, die besonderen Gedanken zu widerlegen, welche in der Zusammensetzung meines Systems enthalten sind, und nur jene offenkundigen und universellen Prinzipien zurückbehalten, welche in jedem System und in jedem Teil der Rechtswissenschaft sicher enthalten sind, und damit diese Prinzipien mit jenem stets gleichbleibenden und der Strafe wesensmäßigen Charakter kombinieren, der von keinem vernünftigen Wesen bestritten werden kann, ohne ihren Begriff zu zerstören – wenn aus diesen so kombinierten Prinzipien, sage ich, einzig und allein ein Notwehrrecht hervorgehen sollte, wie wir es bereits vorgeschlagen und bislang hergeleitet haben, so besäßen wir einen Beweis, der uns nicht nur die Sicherheit gäbe, dass die von uns vorgenommene Herleitung des Strafrechts richtig ist, sondern auch, dass sie die einzige ist, und damit auch, dass sein Charakter ohne jede Beimischung einfach und unveränderlich derjenige eines Notwehrrechts ist. § 294 Dies also ist es, was ich nun versuchen will, und dies sind die Gründe, die mich dazu bewegen. Der Leser bemerke, dass dies bedeutet, den Beweis für die gesamte bisher geknüpfte und fortgeführte analytische Gedankenkette in derselben Weise zu erbringen, wie man den Beweis für eine arithmetische Berechnung vornimmt, um deren Richtigkeit festzustellen. § 295 Zugleich bedeutet es gewissermaßen einen Neubeginn der Sache von Anfang an, doch auf eine rasche und gedrängte Weise, und verlangt daher höchste Aufmerksamkeit. § 296 Der Gegenstand ist zwar alles in allem eng verknüpft mit demjenigen, welchen wir bisher im Blick gehabt haben, er ist jedoch unterschiedlich; denn wenn für das bisher Ausgeführte die Untersuchung sich unter den Prinzipien des Rechts bewegen musste, um zu entdecken, ob der Gegenstand existiere, so unterstellt sie jetzt seine Existenz und sucht ausschließlich nach der Methode und nach den Gründen, welche sie kennzeichnen, in der Weise, um sicher zu gehen, dass es keinerlei andere gibt. Kommen wir also zur Sache.
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Kapitel XVIII: Das Strafrecht ist ausschließlich Notwehrrecht. § 297 Jede Strafe schließt begrifflich die völlige oder teilweise Entziehung des Wohlseins dessen ein, der sie erleidet. § 298 Nun hat aber jeder Mensch ein Recht auf seine Existenz und seine Glückseligkeit, [...] Ist es aber so, dass eine Strafe rechtmäßig verhängt wird, so muss dem Inhaber der Strafgewalt ein stärkeres Recht zustehen, dem jenes Recht ganz oder teilweise aufgeopfert werden muss. § 299 Das Recht auf Existenz und auf Glückseligkeit besitzt aber jeder Mensch gleichermaßen. [...] Demnach muss man annehmen, dass beim Träger der Strafgewalt eine Vermehrung des Rechts stattfindet, sei es eine echte und absolute Vermehrung über dasjenige des Bestraften hinaus, sei es eine relative Vermehrung kraft einer Verminderung des Rechtes des letzteren; und lässt es sinnvoll erscheinen, einen Grund für dies alles anzunehmen. [204] § 300 Könnte man nun diesen Grund im allgemeinen und absoluten System der Naturrechte finden, ohne irgend einen faktischen Umstand zu berücksichtigen? § 301 Die Natur hat aber allen Menschen eine gleiche moralische Verfassung mitgegeben. [...] Also wäre die Grundlage, auf der diese Vermehrung gestützt würde, allen Menschen gemeinsam. § 302 Damit wäre es aber für den Strafenden und den Bestraften gleich. Also wäre auch das Recht darauf, das Wohlsein des anderen zu vermindern, das daraus entstehen würde, für beide gleich, was gedanklich absurd ist und die Beteiligten auf die gleiche Ebene stellen würde.
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§ 303 Also müssen wir den einzigen Grund der Überlegenheit des Rechts des Inhabers der Strafgewalt in der Tat des Menschen finden. § 304 Demnach erweisen die beiden erwähnten Fragen (§ 299) sich als die zu lösenden. Besteht demnach diese Überlegenheit in einer echten absoluten Hinzufügung von Energie, so dass beim Bestraften das Recht auf Wohlsein in seinem natürlichen Zustand übrig bleibt? Oder wird dieses Recht beim Bestraften vermindert, und es bleibt beim Träger der Strafgewalt in seinem natürlichen Grade erhalten und wird damit dem des Bestraften überlegen? Dies die erste Frage. Die zweite Frage: Wie geschieht dies? § 305 Die Natur teilt gleiches Recht an alle im Sinne der größten kompossiblen Glückseligkeit aus. [...] Was größtmöglich und gleich ist ist, duldet kein Anwachsen. Es steht nicht in der Gewalt des Menschen, seine Natur, seine Eigenschaften und die Beziehungen, die sich daraus ableiten, zu ändern. Wenn man daher annimmt, dass bei dem zu Bestrafenden die Rechte auf Existenz und auf Wohlsein unberührt und in ihrem natürlichen und ursprünglichen Umfang unbeeinträchtigt bleiben, so könnte weder er für seine Tat dem Träger der Strafgewalt etwas abgeben, noch könnte dieser sich selbst eine echte und absolute Vermehrung des Rechts auf gute Existenz oder auf die Schädigung von anderen verschaffen. § 306 Hält man somit weiter an dem Grundsatz fest, dass es bei dem Träger der Strafgewalt eine Überlegenheit des Rechts gebe (§ 298), so kann diese nur aus einer beim zu Bestrafenden eintretenden Minderung resultieren, d.h. eine relative Überlegenheit sein. § 307 Doch wie geschieht dies? – zweite Frage (§ 304). Wir meinen, dass die Ursache einzig und allein eine Handlung des Menschen ist (§ 303). Eine solche Handlung ist nun entweder gerecht oder ungerecht. Ist sie gerecht, d.h. in Übereinstimmung mit einem Recht, so wird (jedenfalls für den Normalfall) der Umfang des Rechts des anderen nicht eingeschränkt.
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§ 308 Also wird weder das Wohlsein noch das Recht des Inhabers der Strafgewalt aufgeopfert. Und selbst angenommen, dass es einen gewissen Druck gäbe, so gäbe es doch keinen Grund, weswegen das eine dem anderen weichen sollte, denn sie sind gleich (§ 299). § 309 Ist sie ungerecht, so ist sie entweder für das Wohlbefinden eines anderen schädlich oder nicht. Ist sie nicht schädlich, also so beschaffen, dass das Recht eines anderen im Umfang des Gegenstandes weder eine Einschränkung noch eine Verminderung erfährt, so könnte sie nicht mit dem Recht des zu Bestrafenden in Konflikt geraten noch ihn bedrängen und sein Wohlbefinden ganz oder zum Teil aufopfern. § 310 Wäre es demnach möglich, das Interesse der Gesellschaft mit demjenigen des zu Bestrafenden nebeneinander bestehen zu lassen, so wäre es ihr nicht gestattet, sein Wohlsein zu vermindern. § 311 Halten wir daher an der Annahme fest, dass das Strafrecht zur Zuständigkeit des Trägers der Strafgewalt gehöre, so folgt aus den vorangegangenen Überlegungen, dass einzig und allein kraft einer Tat, welche ihm auf rechtswidrige Weise Schaden zugefügt hat, er die beschriebene Überlegenheit des Rechts, d.h. das Recht zum Strafen, erwirbt. § 312 Eine schädliche Handlung setzt aber notwendigerweise einen Gegenstand voraus, an der sie sich schädlich auswirkt, und einen Handelnden, der den Schaden herbeiführt. Der eine wie der andere muss daher in der Gesellschaft vorausgesetzt werden; und ebenso ist es sinnvoll, zu unterstellen, dass in eben diesem Gegenstand, verbunden mit der schädlichen Handlung des zu Bestrafenden, der Grund für die erwähnte Überlegenheit, d.h. für das Strafrecht, zu finden ist. [206] § 313 Das Wesen und die Wirkung einer rechtswidrigen und für den, der sie erleidet, schädigenden Handlung besteht letztlich darin, dass daran gedacht wird, sein Wohlsein rechtswidrig zu vermindern oder zu beseitigen. Bei einem ungerechten und schädigenden Angriff bestehen sie demnach darin, dass daran gedacht wird, das eine oder das andere zu versuchen.
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Die Dinge können sich auch nicht anders verhalten, denn die ungerechte Verminderung kann nur eine Entziehung, d.h. die vollendete oder versuchte Negation von etwas sein. § 314 Daher müsste sie in der Gesellschaft, falls sie selbst Ursache des Strafrechts ist, dieses insoweit hervorbringen, als sie eine wirkliche Negation ist. § 315 Doch eine Negation kann bei der Person, bei der sie angetroffen wird, aus sich heraus keinerlei Recht hervorbringen, eben weil sie ein Nullum ist. § 316 Also muss notwendigerweise angenommen werden, dass diese rechtswidrige und schädigende Handlung nicht Wirkursache, sondern einzig und allein zufällige Ursache der erwähnten Vermehrung von Recht, also des Strafrechts, beim Träger der Strafgewalt sei. § 317 Also muss beim letzteren notwendigerweise eine andere ursprüngliche Fähigkeit, d.h. ein materieller Hintergrund angenommen werden, woraus das Strafrecht entstehen muss, und der dessen einziger wirklich realer und aktiv schöpferischer Ursprung ist. § 318 Besäße man allerdings nicht das Recht, den Gegenstand, dem die ungerechte Handlung schadet, unbeeinträchtigt zu bewahren, so wäre weder die schädigende Handlung ungerecht noch könnte der Gegenstand selbst der Schöpfer eines Gegenrechtes gegenüber der schädigenden Handlung sein – eines Rechtes, das ja gerade deshalb entsteht, weil die Handlung eine schädigende ist (§ 311). Dies ist eine Aussage, welche keines weiteren Beweises bedarf, denn es handelt sich um Gegenstände, die zueinander in Korrelation stehen. § 319 Also muss man bei der Gesellschaft annehmen I. ein wirkliches und unbestreitbares Recht auf Erhaltung des eigenen Wohlseins in seinem natürlichen Umfang; II. dass dieses das einzige wesentliche Prinzip ist, welches Strafrecht erzeugt. [207] § 320 Nehmen wir demnach an, dass es einen einzigen und unveränderlichen Zweck gibt, der aus dem Wesen des Rechts selbst, d.h. aus seinem Begriff resultiert, dann muss geschlossen werden, dass der einzige Zweck, durch den dieser zum Straf-
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zweck wird, der ist, jede Schädigung des Wohlseins dessen, dem das Recht zusteht, wegzuschaffen oder zu verhindern. Er ist also ausschließlich auf die Zukunft gerichtet. § 321 Wir haben gesagt, dass, wenn eine Möglichkeit des gleichzeitigen Bestehens des Wohlseins der Gesellschaft und desjenigen des zu Bestrafenden besteht, es nicht erlaubt wäre, dessen Wohlsein zu vermindern (§ 310). Deshalb ist nach dieser Unvereinbarkeit des Wohlseins des Trägers der Strafgewalt und desjenigen des zu Bestrafenden als notwendige Bedingung zur Ausübung des Strafrechts zu suchen. § 322 Ist aber die Unvereinbarkeit der Existenz von zwei Dingen gegeben und will man die Präferenz eines von ihnen annehmen, so führt dies zwangsläufig zur Nichtexistenz des anderen. Also ist eine faktische Bedingung für die Ausübung des Strafrechts die Notwendigkeit der Strafe zur Bewahrung des Wohlseins der strafenden Gesellschaft. § 323 Wie schon gesagt, ist, wenn die Gesellschaft das Strafrecht ausübt, anzunehmen, dass sie vorher jene Überlegenheit des Rechts erlangt hat, aus der die relative Minderung des Rechts des zu Bestrafenden folgt (§§ 298, 299). Also ist notwendigerweise die bereits geschehene rechtswidrige und schädigende Tat als deren Ursache (§ 311) vorauszusetzen. § 324 Wenn aber, wie bewiesen, der Gesellschaft diese Überlegenheit einzig und allein zu dem Zweck zusteht, ihr Wohlsein zu erhalten, also jeden ungerechten und schädigenden Angriff, der dieses zu mindern droht, abzuwehren (§§ 319, 320), wenn also der Endzweck der Strafe in der Zukunft liegt (§ 320), so ist gerade anzunehmen, dass er noch nicht geschehen ist; wie soll man dies aber mit der vorhergehenden entgegengesetzten und widersprechenden Aussage kombinieren, dass die Ursache des Strafrechts eine bereits geschehene Tat sei? (§ 323) Dies ist eben der Punkt, den ich noch nicht geklärt habe, als ich den Faden der in diesem Kapitel vertretenen reinen allgemeinen Prinzipien abgewickelt habe, die uns aus sich allein heraus uns zu denselben Gesetzmäßigkeiten und Ergebnissen führen sollen, die wir im Rest des Werkes darauf hin geprüft haben, ob sie wahr sind.
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§ 325 Führen wir also das Problem auf seine einfachsten Begriffe zurück. Ist das Verbrechen, im Hinblick auf welches das Recht zum Strafen besteht und ausgeübt wird, bereits vollendet oder liegt es noch in der Zukunft? Ist der Schmerz eines Menschen bereits bewirkt, so kann er nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Man beachte, dass wir hier von der Strafe, nicht aber vom Ersatz des Schadens sprechen. Der Träger der Strafgewalt hätte demnach in dieser Hinsicht keinerlei Recht zum Strafen (§ 322). Also muss auf das zukünftige Verbrechen abgestellt werden. § 326 Um gerecht zu sein, muss die Strafe aber notwendig sein (§ 322). Sie wird gegen einen bestimmten Menschen verhängt. Also ist vernünftigerweise anzunehmen, dass die Straflosigkeit dieses bestimmten Menschen nach natürlichem und unfehlbarem Gesetz das Verbrechen nach sich ziehen kann, und dieses macht daher die Strafe notwendig. § 327 Gerechtigkeit und Tugend können jedoch ihrer Natur nach weder in der Gegenwart noch in der Zukunft jemals das Verbrechen hervorbringen, denn alle ihre Bestimmungselemente beziehen sich auf die Verhältnisse der moralischen Ordnung. § 328 Also muss zur Verhängung einer Strafe ein zu bestrafender Verbrecher vorhanden sein, der entweder erklärtermaßen unmittelbar im Begriff steht, das Verbrechen zu vollenden oder dessen Versuch zu unternehmen. Im ersten Falle muss die Straflosigkeit als natürliche Konsequenz weitere zukünftige Verbrechen nach sich ziehen. Im zweiten Fall muss sie mit moralischer Sicherheit die Ausführung befürchten lassen. § 329 Also bedarf es zur Existenz und zur Ausübung des Strafens stets zweier ungerechter schädigender Handlungen, d.h. zweier Verbrechen, eines in der Vergangenheit, ein anderes in der Zukunft, das eine von dem zu Bestrafenden begangen, das andere noch zu begehen von einem Gauner oder vom Bestraften selbst, stets für den zukünftigen Fall angenommen, dass er, der Straftäter gewesen ist, unbestraft bleibt; das eine als notwendige Bedingung für die Gelegenheitsursache der Strafe, das andere als Gegenstand, den man mit Hilfe der Strafe vermeiden will, also letztlich als eine Gelegenheit der Strafe. Deshalb ist das zweite Verbrechen ihr
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Gegenstand bzw. Anlass, und dieser Anlass deswegen, weil er der Gesellschaft rechtswidrig Schaden zufügt. § 330 Und damit sind die beiden Aussagen, zwischen denen ein Widerspruch zu bestehen schien (§ 324), miteinander versöhnt. [209] § 331 Falls daher jemand sich als der Strafe würdig erweist, versetzt er sich in die Lage seiner Vernichtung oder seines Unglücks, soweit sie für die Gesellschaft notwendig sind, durch seine eigene, ungerechte, schädigende, unvorhergesehene und dem Recht widersprechende Handlung (§§ 328, 329). Nach alledem kann der Verbrecher der strafenden Gesellschaft keinerlei widersprechendes Recht zugunsten der Erhaltung seines Lebens oder seines Wohlseins entgegenhalten. § 332 Sollte mein Leser nicht in der Lage gewesen sein, die gesamte in diesem Kapitel geknüpfte Gedankenkette zu erfassen, sollte er ihrer Verknüpfung nicht haben folgen können, ihre Überzeugungskraft nicht haben empfinden können und ihr Konvergieren in einem einzigen Punkt nicht haben sehen können, obwohl ich ihm als Ergebnis des bis hierher Ausgeführten die Aussage vorgelegt habe, dass das Strafrecht einzig und allein Notwehrrecht sei, so wird er meinem Wort vielleicht mehr glauben als dem, von dem er durch meine Beweiswürdigung überzeugt worden ist. Aus dem selben Grunde wäre es daher auch überflüssig, die Eigenschaften, den Zweck und die Gründe dieses Rechts, die wir in unserem Versuch dargetan haben, noch einmal zusammenzufassen, das ganze in einem einzigen Gesichtspunkt vereint darzustellen und es mit den konstitutiven Merkmalen und den Entstehungsbedingungen des Notwehrrechts zu vergleichen, um die Wahrheit der mitgeteilten Folgerung in helleres Licht zu tauchen. Für die anderen Leser, die größere Kraft und größeren Umfang des Verständnisses besitzen, ist die Ähnlichkeit, besser gesagt: die Identität aller dieser Merkmale mit denen der Notwehr umso sichtbarer; aus jedem Schritt geht die einzige und ausschließliche Tendenz der ganz allgemeinen Prinzipien, die wir zur Ermittlung dieser Merkmale herangezogen haben, so lebhaft hervor, dass die Wahrheit der Folgerung keiner weiteren Bemühung bedarf, um vollständig bewiesen zu werden, d.h. davon zu sprechen, dass mit größter Genauigkeit bewiesen sei, dass das Strafrecht nichts anderes ist als das durch die gesellschaftlichen Umstände modifizierte Notwehrrecht, d.h. eine spezielle Erscheinungsform des allgemeinen Notwehrrechts.
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Kapitel XIX: Reflexionen. § 333 Wir wollen auf halbem Wege der Entwicklung unserer Gedanken einen Augenblick Halt machen, um einen reflektierenden Blick zurück zu werfen. Der aufmerksame Leser wird bemerkt haben, dass die Existenz und der Ursprung des Strafrechts als Gegenstände, die ihrer Natur nach aufs innigste miteinander verbunden sind, gleichzeitig aufgedeckt und bewiesen worden sind. Er wird auch gesehen haben, dass ich bei diesem Vorgehen nicht vorausgesetzt habe, dass dieses Recht existiere und damit seine Grundlage und seine Herleitung bezeichnet habe, dass ich mich vielmehr an einige einleuchtende und einfache Grundprinzipien des Rechts gehalten habe und mich so deren Richtung vollständig anvertraut habe, bereit, seine Existenz anhand der Ergebnisse, die sich nach und nach einstellen würden, zu bestätigen oder abzulehnen. § 334 Glücklicherweise habe ich dieses Prinzip und Recht gefunden; ich bin überzeugt, dass der von mir eingeschlagene Weg derjenige war, der mich dorthin führen konnte, und dass es noch besser gelungen ist, zu zeigen, dass der scheinbare Widerspruch zwischen dem ersten und dem zweiten Teil darüber hinaus zum noch besseren Beweis der Wahrheit führt. Denn im ersten Teil dieses Werkes haben wir dem Zustand der Nichtvergesellschaftung das Recht zum Strafen bestritten. Also mussten wir, um wenigstens eine allgemeine Korrelation nachzuweisen, annehmen, dass, falls dieses Recht den Menschen zustehe, es nur in der Gesellschaft entstehen könne, und zwar kraft der inneren Verhältnisse des Gesellschaftszustandes selbst. § 335 Dies ist jedoch noch zu allgemein. Dem nachdenklichen Leser, der im ersten Teil dieses Werkes den Grund geprüft hat, kraft dessen ich dem isolierten Menschen das Recht zum Strafen abgesprochen habe, wird daraus auch die Erlaubnis zu der Herleitung des genauen Grundes entnommen haben, weshalb dieses Recht der Gesellschaft zusteht. Und tatsächlich ist es so, dass, wenn ein Zustand herrscht, in dem die Menschen wegen ihrer Vereinzelung und Verstreuung nicht die das Strafrecht hervorbringenden Umstände besaßen [...], wenn ein Zustand herrscht, in dem es wegen der Trennung der Kräfte nicht möglich war, es wirksam und sicher auszuüben [...], man nicht annehmen konnte, dass er ein solches Recht einschließe, und zwar weder aus grundlegenden Erwägungen der Wissenschaft vom Recht noch aus irgend einem Prinzip jener harmonischen Ökonomie der Natur, die nichts Überflüssiges tut [...] – wenn, so sage ich, dieser Zustand uns dazu drängte, es zu verneinen, so zwang uns eine entgegen gesetzte Korrelation, gleichsam durch eine Ahnung, zu der Vermutung, dass in einem Zustand, in dem die Menschen vereinigt leben und
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in dem es folgerichtig auch eine Bündelung der Kräfte gibt, man dieses Recht auffinden würde. § 336 Eben dies ist es, was ich, wie ich glaube, in diesem zweiten Teil tatsächlich klar nachgewiesen habe. Ich erinnere mit einer Art von Befriedigung an alle Schritte, die ich, den Faden meiner Gedanken knüpfend, gegangen bin. Unter ihnen sah ich Schritt für Schritt, um es so auszudrücken, die Wahrheit von selbst entstehen, die aufzuspüren ich losgezogen war; daher kann ich nun versichern, dass die Entstehung des Strafrechts das natürliche Ergebnis meiner Gedanken ist. § 337 Wenn die Wahrheit auf diese Weise von selbst entsteht, muss man dann den Verdacht eines Irrtums hegen? Um mich aber gegen ein solches Ergebnis abzusichern, hatte ich mir nur das Ziel gesetzt, die Quellen, aus denen es seinen Ursprung bezieht, aufzudecken. [211] Nunmehr wird der Leser verstehen, dass es mir erforderlich erschien, mich auf jene wenigen Prinzipien des politisch-natürlichen Rechts zu beziehen, die ich als Vorbemerkungen an den Anfang dieses zweiten Teils gestellt habe.
Kapitel XX: Fortsetzung. § 338 Sollte aber der von mir bezeichnete Ursprung nur ein teilweiser gewesen sein, sollte mit dem Recht, sollten mit den Gründen des Notwehrrechts in Wirklichkeit andere Elemente der Hervorbringung des Strafrechts gepaart gewesen sein, so hätte dies, wie schon gesagt, eine große Mannigfaltigkeit von Prinzipien und Konsequenzen hervorgebracht (§ 291). Bislang ging es alles in allem darum, den Ursprung davon zu reinigen, d.h. andere Gründe zu benennen, wenn es sie gab, und auszuschließen, wenn sie nicht teilhatten. § 339 Ich meine, dass ich dies mit einer Beweisführung, die keinen Zweifel zulässt, sowohl durch Klarheit der Prinzipien als auch durch Stärke der Gedankenverbindung dargetan habe. Es ist nur allzu klar, dass die Idee der Strafe in diese Beweisführung als erste und wesentliche eingeführt werden musste, denn es ging ja ausschließlich um das Strafrecht.
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§ 340 Ich habe von ihr keine systematische und verfängliche Definition vorausgeschickt, die bereits alle Beziehungen der vertretenen Auffassung in sich einschließt, und damit, je nachdem wie man sie entwickelt, zwangsläufig dahin tendiert diese zu bestätigen. Ich habe sogar überhaupt keine Definition aufgestellt. Ich habe nur jene wesentliche und offenkundige Eigenschaft zugrunde gelegt, die nicht nur in keinem System, sondern überhaupt in keinem theoretischen Text in Zweifel gezogen werden kann, nämlich die, dass die Strafe etwas ist, das das Wohlsein bei der Person, welche sie erleidet, vermindert (s. § 297). § 341 Hat uns nicht diese Eigenschaft, kombiniert mit einigen wenigen allgemeinen, offenkundigen und in allen Lagen des Menschen wahren Prinzipien auf präzise Weise zu den Quellen und zu den Elementen des Notwehrrechts geführt? Besser gesagt, sind wir nicht vorangetrieben worden mittels jener Handlung, die wir gerade haben vermeiden wollen? Ist uns nicht bei jedem Schritt stets eine neue Eigenschaft des Notwehrrechts begegnet? Und haben wir nicht bei jedem Schritt gehört, wie man mit leiser Stimme zu uns sagte: „Nur hierher kannst du vom Faden deines Gedankengangs geleitet werden“? Oder, um es ohne Metaphern zu sagen: Haben nicht die notwendigen Beziehungen dieser Prinzipien eine einzige, wesentliche, alleinige, jeden anderen Weg ausschließende Richtung zu den Eigenschaften und Gründen des Notwehrrechts genommen? [212] § 342 Ist nicht die Tatsache, dass diese uns aus dem ganzen riesigen Feld der Rechte verdrängt haben, um uns schließlich auf jenen kleinen Winkel zu beschränken, wo das Notwehrrecht sprießt und sich verzweigt, ein Hinweis auf die ewige Wahrheit, dass das Strafrechts niemals etwas anderes sei als Notwehrrecht? Diese Ausdrucksweise für ein philosophisches, unveränderliches Prinzip lässt sich nur auf die Weise übersetzen, dass man sagt: Das Strafrecht kann keinen anderen Ursprung haben bzw. kann nichts anderes sein außer Notwehrrecht. § 343 Welche Genugtuung ist es daher, zu sehen, dass die Verknüpfung und dass alle Abstufungen der vorangegangenen Gedanken aus den wiederholt erwähnten äußeren und allgemeinen Prinzipien hervorgegangen sind. Ich räume ein, dass die Prinzipien, die im gesamten vorhergehenden Rest des Werkes ausgebreitet worden sind, nicht nur eben so einleuchtend und allgemein waren wie diejenigen, welche sich in Kapitel XVIII versammelt finden; doch sie besaßen auch eine offenkundige Tendenz, alle anderen unterschiedlichen Gründe für die Hervorbringung des Strafrechts als das Notwehrrecht auszuschließen. Faktisch ist es freilich so, dass die Aufmerksamkeit dort ganz darauf gerichtet war, seine Existenz zu untersuchen, während die Gedanken, welche die erörterte Tendenz und den erörterten Ausschluss bewiesen, voneinander sehr weit entfernt
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waren, und deshalb der Geist des Lesers gleichzeitig das allgemeine Zusammenfließen der genannten Prinzipien erfassen konnte, wonach das Strafrecht einzig und allein aus den Elementen und in der Art des Notwehrrechts entsteht und jede andere Wurzel und Herleitung ausschlossen wird. Also dürfte die Gedankenfolge des besagten Kapitels gleichermaßen nützlich gewesen sein, um die erwähnte Wahrheit aufzuzeigen, als auch, um einen Epilog anzufügen sowie einen Gedankengang, der nach festen und allgemeinen Prinzipien gegliedert ist, die uns auf anderem Wege zu dem selben Ziel geführt haben und uns eine größere Sicherheit vermittelt haben und... Doch ich breche hier meine Überlegungen ab, weil ich sie dem Leser nicht alle vorwegnehmen will, und fahre nunmehr im Gang der Darstellung fort.
Kapitel XXI: Von der Todesstrafe. § 344 Die in § 225 behandelte Frage enthielt zwei Teile. Die erste, ob die Gesellschaft das Recht besitze, den Mörder ein Übel erleiden zu lassen, die andere, ob sie auch das Recht besitze, ihn mit dem Tode zu bestrafen. Die erste Frage erscheint mir mit dem, was ich bisher ausgeführt habe, zufriedenstellend genug beantwortet. [213] § 345 Um die zweite Frage angemessen zu beantworten, müsste man zuerst ermitteln, welches die wirkliche Norm und ihre Herleitung ist, nach der man die Strafen auswählen und abstufen kann, um dann, falls möglich, zu der konkreten Frage überzugehen, welches die gerechte Strafe für ein Tötungsverbrechen ist. Doch ist leicht einzusehen, dass eine solche Untersuchung uns zu weit von unserem gestellten Thema wegführen würde, denn dies sind Existenz und Ursprung des Strafrechts, nicht aber Norm und Maß der Strafen. Da aber, wie bald deutlich werden wird, die Erörterung dieses Gegenstandes sich noch in anderen Hinsichten als notwendig erweisen wird, empfiehlt es sich, wenigstens flüchtig jene Untersuchung anzustellen, die dazu erforderlich ist. § 346 Unbestreitbar ist, wie auch aus dem bisher Ausgeführten hervorgeht, dass, wenn die Todesstrafe notwendig ist, um die Menschen nicht nur von Tötungen, sondern von jeder anderen Art von Verbrechen abzuschrecken, sie eben so vollkommen gerecht ist und die Gesellschaft ein wirkliches Recht besitzt, sie zu verhängen. Ich unterstelle die Tatsache der Notwendigkeit, die nichts anderes sein kann als eine Tatsache (§§ 292, 303, 311), und wiederhole, dass das Recht, Strafe zu verhängen diese stets begleiten wird, weil sein Fundament in den heiligsten und ursprünglichsten Rechten der menschlichen Natur ruht. Ich habe dies bereits bewiesen.
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§ 347 Ich weise aber darauf hin, dass uns nur dies auszusagen gestattet ist, auch wenn wir in die Besonderheiten des Strafrechts im einzelnen eingehen, und dass wir nicht ein bestimmtes Volk, sondern die gesamte Menschheit vor Augen haben. Mehr noch: Welche Prüfung oder Berechnung man auch versucht, indem man zum Besonderen der verschiedenen Arten von Strafe hinabsteigt, würde sich am Ende doch niemals ergeben, dass eine bestimmte Strafe stets und überall als verhältnismäßig und gerecht für dieses Verbrechen zu bezeichnen wäre. Weiter unten werden wir noch sehen, ob all dieses zutrifft. Jetzt aber ist es unsere Aufgabe, zu einigen anderen notwendigen Betrachtungen überzugehen, die für unser Werk in vielerlei Hinsicht wichtig sind.
Kapitel XXII: Das Strafrecht steht der ganzen Gesellschaft gesamthänderisch zu. § 348 Die ganze Gesellschaft besitzt das Recht, den Verbrecher zu bestrafen, denn die ganze Gesellschaft besitzt das Recht, sich selbst und ihre Mitglieder gegen Verletzungen durch Übeltäter zu verteidigen (§§ 222, 286). Doch der Zweck der Strafe ist kein augenblicklicher, singulärer und gegenwärtiger, sondern richtet sich und erstreckt sich ganz auf die Zukunft (§ 241, 280, 281, 320, 329). [214] Also umfasst sie alle Missetaten, die begangen werden können, und infolge dessen verteidigt sie tendenziell alle Personen, die von ihnen betroffen sein können. § 349 Doch keine aktuelle einzelne Person kann mit Sicherheit vorhersehen, ob, von wem oder wie sie in Zukunft betroffen sein wird (§ 244). Dennoch weiß die ganze Gesellschaft mit sicherer Voraussicht, dass, wenn sie das Verbrechen unbestraft ließe, sie deswegen in Zukunft gestört und vernichtet würde (§§ 248, 249, 250, 251, 256, 257). Deshalb kann niemand, als Einzelner und getrennt von der Gesamtgesellschaft aufgefasst, bevorzugt vor allen anderen daran interessiert sein, über die Strafe gegen Missetätern zu entscheiden und sie zu verhängen. § 350 Also steht das Strafrecht einzig und allein der ganzen Gesellschaft zu, und es ist eigentlich eine spezielle Erscheinungsform jener Rechte, die wir andernorts gesamthänderische und allgemeine Rechte der Gesellschaft genannt haben [...]
Giovanni Carmignani (1768–1847) Elemente des Criminalrechts (Elementi del diritto criminale1) (Erste italienische Fassung 1847) Erster Band Von den Verbrechen und von den Strafen im allgemeinen Erster Teil: Von den Verbrechen Erster Abschnitt: Darstellung der allgemeinen Prinzipien aus der Natur des Verbrechens Titel I: Vom Verbrechen im allgemeinen I. Etymologie und allgemeine Bedeutung des Wortes Verbrechen § 70 (§ 60) Obwohl wir uns vornehmlich mit Gegenständen befassen müssen, müssen wir uns doch zunächst über die Worte klar werden. Daher wird es einfacher sein, das Wesen und die Natur des Gegenstandes, den wir behandeln wollen, zu verstehen, wenn zuvor die Etymologie des Wortes Verbrechen (delitto) geklärt ist. Die Etymologen leiten den Ursprung des Wortes delitto von delinquere her, was etwa eine Unterlassung dessen bedeutet, was man nicht hätte außer Acht lassen dürfen. Fasst man dann [42] diese Bezeichnung in ihrer weitesten Bedeutung auf, so umfasst er jeden Bruch der Gesetze, welche das menschliche Verhalten regeln. II. Verschiedene Arten von Delinquenzen nach den verschiedenen Gesetzen, welche durch menschliches Verhalten verletzt werden können § 71 (§ 61) Die Menschen, als steuerbare Wesen betrachtet, sind nahezu unzähligen Gesetzen unterworfen, welche die Regelung des menschlichen Verhaltens zum Gegenstand haben. Daraus folgt das unterschiedliche Wesen und die unterschiedliche Bezeichnung der möglichen Delinquenzen je nach der Verschiedenheit dieser Gesetze. Die Verletzung der Pflichten gegenüber dem Herrgott, zu deren Erkenntnis der Mensch mittels Erleuchtung durch die bloße natürliche Religion gelangt, wird Natürliche Sünde genannt. Die Nichtbeachtung der von Gott gegebenen Vorschriften, die uns durch die Offenbarung mitgeteilt worden sind, bildet eine Sünde im 1
Erste italienische Ausgabe, nach der 5. (und letzten) lateinischen Auflage übersetzt von Caruana Dingli, mit wichtigen Änderungen am Original und neuen, vom Verfasser selbst verfassten Anmerkungen. Malta 1847.
E. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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eigentlichen Sinne. Jede Handlung, welche den guten Sitten, wie sie vom gesunden Menschenverstand oder durch Erziehung nicht nur uns selbst gegenüber – zur Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit –, sondern auch Unseresgleichen gegenüber – ebenfalls zur Förderung ihrer Vervollkommnung – empfohlen werden, nennt man Laster. Jede Verletzung der Rechte anderer, [43] welche sich entweder aus dem gesunden Menschenverstand ergeben oder durch die übereinstimmende Auffassung fast aller anerkannt sind, nennt man Natürliches Verbrechen. Jede Verletzung der Gesetze, welche die Sicherheit des Gemeinwesens schützen sollen, dem wir angehören, bildet ein Bürgerliches Verbrechen. § 72 Das Criminalrecht befasst sich nur mit dem bürgerlichen Verbrechen (delitto civile) im eigentlichen Sinne, das nach dem unterschiedlichen Verständnis, in dem es von den Schriftstellern des römischen und des kanonischen Rechts aufgefasst wird, auch als maleficium, scelus, flagitium, excessus, crimen, facinus, noxa oder injuria bezeichnet wird.
Titel II: Ursprung und Natur der bürgerlichen Verbrechen I. Politischer Ursprung des Bürgerlichen Verbrechens § 73 (§ 63) Das Wesen des bürgerlichen Verbrechens besteht im Unterschied zu allen anderen moralischen Verfehlungen in der Verletzung der Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft (§ 71); doch diese Gesetze setzen ein noch zu schaffendes oder bereits geschaffenes Gemeinwesen voraus. Die Schaffung des Gemeinwesen ist eine Wirkung politischer Notwendigkeit: Weil die Menschen niemals die Freiheit des Naturzustandes aufgegeben hätten, wenn sie nicht eingesehen hätten, dass dies zur Förderung der [44] gemeinsamen Sicherheit unerlässlich ist. Die Regeln der politischen Notwendigkeit, zu denen auch die Beschränkung der natürlichen Freiheit gehört, sind Sache der Politik (§ 47). Politik ist nichts anderes als die Betrachtung der menschlichen Gefühle und der politischen Verhältnisse der Menschen mit Hilfe der Erfahrung, mit dem Ziel, das herzustellen, was den menschlichen Leidenschaften eine nützliche Richtung geben könnte, die zu befriedigen vermag, was die politische Lage der Menschen selbst gebieterisch verlangt (§ 48). Demnach muss sich der Ursprung der bürgerlichen Verbrechen aus dem, was die politische Natur der Menschen ausmacht, ständig wiederholen. II. Ursprung der Verbrechen aus der Natur der Gesellschaft § 74 (§ 64) Die Menschen wären niemals in der Lage gewesen, für die Bedürfnisse der menschlichen Natur zu sorgen, wenn sie sich nicht in der Gesellschaft vereinigt hätten. Um dieses gesellschaftliche Ziel zu erreichen, war es nötig, dass alle Beteiligten darin übereinstimmten, ihre natürliche Freiheit abzuschwächen, nach der im
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außergesellschaftlichen Zustand jeder Einzelne seine Handlungen nach seinem persönlichen Urteil gesteuert hatte, und sie auf die Grenzen des politischen Ziels zu beschränken, jedem Genossen alle natürlichen Güter und alle weiteren Güter, die er durch Glück oder durch eigenen Fleiß erworben hat, zu garantieren. § 75 (§ 65) Weil aber das Begehren, das der Menschen auf die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens einschränken soll, seine Wurzeln in den seelischen Empfindungen hat, verschmäht dieser häufig jegliche Beschränkung, indem er sich in die Natur dieser Empfindungen hüllt, so dass es nicht an abartigen Menschen fehlt, die sich zwar zu ihrem eigenen Vorteil auf die soziale Sicherheit berufen, sich jedoch zum Schaden anderer jegliche Freiheit des [45] außergesellschaftlichen Zustandes erlauben, indem sie eine Summe von Vergnügungen für sich beanspruchen, die größer ist als jene, die ihnen die Natur der Gesellschaft zubilligen könnte. § 76 (§ 66) Wäre diesem ungeordneten Begehren nicht eine Grenze gesetzt worden, so hätte die Gesellschaft sich weder bilden noch fortbestehen können. Es war daher nötig, dass der sittsamere und kräftigere Teil der Bürger alle Handlungen, die dem Zweck der Gesellschaft entgegenstehen, als politische Übel betrachtete und beschloss, sie hinfort als Verbrechen zu bekämpfen. Aus der politischen Notwendigkeit, die den gesellschaftlichen Willen dazu veranlasste, einige menschliche Handlungen als Verbrechen zu verbieten, sind daher die Kriminalgesetze hervorgegangen. III. Politische Zurechnung und bürgerliche Zurechnung § 77 (§ 67) Da nun einige Handlungen von Bürgern als Verbrechen angesehen werden und daher verboten werden müssen, erlangen sie eine gewisse politische Eigenschaft, die sie im außergesellschaftlichen Zustand nicht besessen hätten – sie können nämlich einem Urteil unterzogen werden, mit dem sie mit dem Gesetz, das sie verbietet, verglichen werden und als politische Übel der als ihr Täter erkannten Person zugerechnet werden – was mit der natürlichen Gleichheit der Menschen unvereinbar gewesen wäre. [46] § 78 (§ 68) Diese Eigenschaft bildet die Politische Zurechenbarkeit menschlicher Handlungen. Da nun aber diese Zurechenbarkeit nichts anderes ist als jene Eigenschaft, deretwegen gewisse menschliche Handlungen als politische Übel von der Gesellschaft ferngehalten werden müssen, kann sie keine andere Grundlage haben als die Notwendigkeit, den Schaden fernzuhalten, der aus solchen Handlungen hervorgehen könnte, wenn man sie frei begehen könnte.
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§ 79 (§ 69) Die politische Zurechenbarkeit von Handlungen macht sie zum Gegenstand der Beurteilung durch das Gesetz. Doch das Urteil, das über jede politische zurechenbare Handlung im Rahmen des bereits verkündeten Gesetzes gefällt wird, dass diese Handlungen ihrem bekannten Urheber zugerechnet werden, nennt man Bürgerliche Zurechnung. Demnach ist Grundlage der politischen Zurechenbarkeit der soziale Schaden; Grundlage der bürgerlichen Zurechenbarkeit aber ist wiederum die politische Zurechenbarkeit. § 80 (§ 70) Existenz und Umfang der politischen Zurechenbarkeit hängt von dem Urteil ab, das vom Gesetzgeber mit der Aufstellung der Kriminalgesetze gefällt wird und aufgrund dessen den Bürgern jener Anteil der natürlichen Freiheit entzogen wird, dessen Ausübung einen gesellschaftlichen Schaden hervorrufen würde. Die bürgerliche Zurechnung ist nichts anderes als die Anwendung des bereits bestehenden Gesetzes auf einige politisch zurechenbare Handlungen. [47] Somit hängt die politische Zurechenbarkeit von dem Urteil des Gesetzgebers ab; die bürgerliche Zurechnung aber von dem Urteil dessen, der mit der Anwendung der Gesetze betraut ist. Die Regeln der politischen Zurechenbarkeit gehören zum politischen Criminalrecht (§ 24), diejenigen der bürgerlichen Zurechnung zur Rechtsprechung (§ 25). § 81 Die bürgerliche Zurechnung als Urteil über menschliche Handlungen, welche vom Gesetz verboten sind, umfasst drei verschiedene Urteile. Das erste besteht darin, dass der Tat einer bestimmten Person die materielle Ursache der gesetzwidrigen Handlung zugeschrieben wird, weshalb es Physische Zurechnung genannt wird; das zweite besteht in der Erklärung, dass die gesetzwidrige Tat mehr oder weniger freiwillig begangen worden ist, weshalb man dieses weitere Urteil als Moralische Zurechnung bezeichnen muss; das dritte Urteil besteht in dem Vergleich der Tat und ihrer Moralität mit der Bestimmung des Gesetzes, so dass diese Tat ihrem bekannten Urheber am Maßstab dieses Gesetzes zum Vorwurf gemacht wird, weshalb man dieses dritte Urteil als Gesetzliche Zurechnung nennen kann. § 82 (§ 71) Weil bestimmte Handlungen der Bürger sich insofern als politisch zurechenbar erweisen, wie sie Schaden für die Gesellschaft bewirken, so ist offenkundig, dass der Zweck der bürgerlichen Zurechnung, indem ein Verbrecher bestraft wird, nicht darin besteht, Rache für ein bereits begangenes Verbrechen zu üben, sondern zu bewirken, dass in Zukunft weitere derartige Verbrechen nicht begangen werden. Damit gehört die Prüfung der inneren Schlechtigkeit der Handlungen, die sich aus ihrem Widerspruch zu den Geboten der Religion, der Ethik oder auch des [48] natürlichen Rechts ergibt, ausschließlich zu jenen anderen moralischen Disziplinen, und eine Anwendung der politischen Regeln ist gänzlich ausgeschlossen.
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IV. Wem das Recht zusteht, einige menschliche Handlungen als verbrecherisch zu bekämpfen § 83 (§ 72) Den Menschen eine Handlung zu verbieten, bedeutet dasselbe, wie ihre natürliche Freiheit zu beschränken (§ 56); dieses Übel kann jedoch nur durch die politische Notwendigkeit gerechtfertigt werden (§ 48). Die Einschätzung der politischen Notwendigkeit bildet eine ausschließlich von den Gesetzen wahrzunehmende Zuständigkeit, d.h. von der gesetzgebenden Gewalt und von den Personen, welche mit ihr betraut sind. Im übrigen geht die Notwendigkeit, die politischen Gesetze zu achten, nicht aus der inneren Verbindlichkeit hervor, welche sich aus dem Gebrauch des gesunden Menschenverstandes ergibt, noch aus den Geboten der Religion, noch aus einem äußerlichen Anlass, nämlich aus der Hoffnung auf einen Vorteil oder aus der Furcht vor Übeln (§ 48). Vielmehr setzt dies eine Kraft voraus, welche die Übel zu bestrafen imstande ist. Somit steht das Recht einige Handlungen der Menschen als Verbrechen zu bekämpfen, demjenigen zu, dem in dem Gemeinwesen die Befugnis zusteht, die öffentliche Gewalt zu leiten, m.a.W. Exekutiv-Gewalt. Das Recht, Kriminalgesetze zu erlassen und ihre Ausführung anzuordnen, zählt somit zu den Majestäts-Rechten. [49] V. Welche Handlungen politisch zugerechnet werden können § 84 (§ 73) Der Mensch ist das Subjekt der Gesetze, insofern er ein steuerbares Wesen ist (§ 71); doch dort, wo nicht das Vorgehen eines moralisch Handelnden in Rede steht, ist keine Handlung steuerbar. Daher kann auch keine Handlung bürgerlich zugerechnet werden, wenn sie nicht moralisch zurechenbar ist. § 85 (§ 74) Das erste und hauptsächliche Element der Moralität ist der Wille. Als willentlich bezeichnet man eine Handlung, wenn der Handelnde einen Erfolg entweder als notwendigen oder als möglichen will, von dem er voraussieht, dass er aus der Handlung, die er zu begehen sich anschickt, folgen muss oder kann. Im einen wie im anderen Falle kann eine Verletzung der gesellschaftlichen Gesetze liegen. Daher ist die direkte ebenso wie die indirekte Absicht politisch zurechenbar. § 86 (§ 75) Der Mensch bewegt sich entweder kraft seines inneren Handlungsprinzips, das die Änderungen des Gemüts bewirkt, oder er wird äußerlich mittels seiner physischen Organe tätig. Da man aber keinen sozialen Schaden in bloßen Gedanken erblicken kann, sind nur äußerliche Handlungen politisch zurechenbar.
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§ 87 (§ 76) Der Mensch kann sowohl dadurch, dass er etwas tut, was vom Gesetz verboten ist, der Gesellschaft einen solchen Schaden bereiten, als auch dadurch, dass er etwas unterlässt [50], was das Gesetz zu tun befiehlt. Somit können sowohl positive als auch negative Verhaltensweisen politisch zugerechnet werden. § 88 (§ 77) Nicht politisch zugerechnet werden kann irgend ein Verhalten, ohne dass ein Gesetz, sie für zurechenbar erklärt hat (§ 67); damit könnte auch kein Verhalten bürgerlich zugerechnet werden, wo nicht ein Gesetz des Gemeinwesens es nicht als dem Gesellschaftszweck widersprechend ausdrücklich verboten hat. VI. Definition des bürgerlichen Verbrechens und die aus ihr sich ergebenden Konsequenzen § 89 (§ 78) Im Anschluss an die vorausgeschickten Begriffe und Hinweise können wir das bürgerliche Verbrechen definieren als „Übertretung des die öffentliche und private Sicherheit schützenden Gesetzes der Gemeinschaft, die in einer Tat des Menschen sichtbar wird, welche von einem vollständigen und unmittelbaren Vorsatz beseelt ist“. Aus dieser Definition des bürgerlichen Verbrechens ergeben sich einige Folgerungen, welche das Wesen desselben besser zu erklären vermögen. § 90 (§ 79) I. Obwohl die politischen Gesetze, zu denen die Kriminalgesetze gehören, nicht das regeln, was absolut gerecht ist, sondern das, was dem Gemeinwesen zuträglich ist (§ 48), muss man dies doch als zu den Wirkungen des Gesetzes und zur bürgerlichen Zurechnung gehörend auffassen, weil stets vermutet werden muss, dass die politischen Gesetze zu den Prinzipien der Religion und der Ethik nicht im Widerspruch stehen [51]. Doch auch wenn diese Vermutung eine innere Verpflichtung, die politischen Gesetze zu achten, bewirkt, begründet sie doch keineswegs irgend etwas Gemeinsames zwischen der erwähnten inneren Verpflichtung und dem Zweck der bürgerlichen Gesellschaft. § 91 (§ 80) II. Weil es eine Beschränkung der natürlichen Freiheit und damit ein Übel bedeutet, wenn man einige Handlungen als Verbrechen verbietet (§ 47), und weil des weiteren die Politik diese Übel nur insoweit vorschreibt, wie sie für das Wohl des Gemeinwesen unerlässlich sind, dürfen Handlungen, welche keinen gesellschaftlichen Schaden anrichten, von den Gesetzen nicht verboten werden. § 92 (§ 81) Bei der Schaffung von Kriminalgesetzen muss man auf religiöse Weise bei den Bürgern die Meinung befestigen, dass ihre natürliche Freiheit keine größere Be-
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schränkung erfahren darf als diejenige, die für die Erreichung des Gesellschaftszweckes streng notwendig ist; und dies wird bürgerliche Freiheit genannt. § 93 (§ 82) IV. Sünden, Laster und natürliche Verbrechen (§ 71), welche so beschaffen sind, dass sie nicht die öffentliche Sicherheit umstürzen, sind, obgleich als solche moralisch verwerflich, nicht politisch zurechenbar, denn das Übel, das die Gesellschaft durch ihre bürgerliche Zurechnung erleiden würde, würde den Vorteil, welche die Gesetze davon erwarten könnten, weit übersteigen – was den Regeln der Politik gänzlich widersprechen würde (§ 46). [52] § 94 (§ 83) V. Gesetze gründen sich nicht auf Abkommen, welche ihrer Natur nach willkürlich und wechselhaft wären, sondern auf die notwendigen Beziehungen untereinander (§ 6). Was die Criminalgesetze angeht, so muss man unterscheiden zwischen jenen, welche die Sicherheit, und jenen, welche den Wohlstand schützen; die ersteren sind unveränderlich, die letzteren wechselhaft. Die Schriftsteller des Criminalrechts verfielen wegen der Nichtbeachtung dieser Unterscheidung der fehlerhaften Auffassung, dass die Verschiedenheit der Gesetze die Ursache für die Verschiedenheit der Verbrechen sei und nicht die Verbrechen selbst die Ursache der Gesetze seien. Doch die Gesetze für die Sicherheit sind unveränderlich, und eben deshalb leitet sich das Verteidigungsrecht sowohl beim Einzelmenschen als auch bei der Gesellschaft, als moralische Person verstanden, unabhängig von der politischen Form aus dem unveränderlichen Naturrecht ab. Die Gesetze für den Wohlstand und diejenigen, welche das System der Polizei bilden (§ 20), sind insoweit wechselhaft, als sie von den Fortschritten der menschlichen Zivilisierung abhängig sind und sich an den Genius und den ständig wachsenden Fleiß der Völker wie auch an die Natur der Örtlichkeiten und an die zeitlichen Umstände anpassen. § 95 (§ 84) VI. Wird eine verbrecherische Handlung innerlich als steuerbare Handlung betrachtet, ist sie eine moralische Handlung; wird sie äußerlich als dem Zweck der Gesellschaft widersprechend betrachtet, ist sie eine politische. Demnach besitzt das Verbrechen eine doppelte Natur, nämlich eine moralische und eine politische. Im ersten Sinne erlauben kriminelle Handlungen die Regeln der [53] moralischen Zurechenbarkeit, im zweiten Sinne sind sie nur den Prinzipien der politischen Zurechenbarkeit unterworfen. § 96 (§ 85) Während die bürgerlichen Verbrechen nicht deshalb zurechenbar sind, weil sie ihrer Natur nach böse wären, sondern nur, weil sie dem Zweck der Gesellschaft zuwider sind (§ 76), ist ihre moralische Natur nur im Hinblick darauf, was für die Gesellschaft von Interesse ist, wechselhaft. Die Gesellschaft aber kann nur aus äußeren Handlungen Schaden erleiden (§ 86). Daher ist die Moralität der Hand-
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lung bei der Zurechnung von Verbrechen nur insoweit zu bewerten, als sie mit einer äußerlichen Handlung, die den gesellschaftlichen Schaden herbeiführt, verbunden ist. Dies ist der Grund, warum die bürgerliche Zurechnung immer erst dann zur Untersuchung der Absicht des Handelnden schreitet, wenn sie zuvor die physische Handlung untersucht hat, aus der die Gesetzesübertretung hervorgeht, während die moralische Zurechnung die Absicht des Handelnden beurteilt und sich erst danach um die physische Handlung kümmert.
Zweiter Teil: Von den Strafen Erster Abschnitt: Darlegung der allgemeinen Prinzipien zur Natur der Strafe Titel I: Von der Strafe im allgemeinen I. Etymologie und allgemeine Bedeutung der Strafe § 292 (§ 264) Unter Strafe versteht man das Übel, das den Verbrechern wegen ihrer Verbrechen zugefügt wird. Die Etymologie des Wortes pena wird von denjenigen, die große Freude daran haben, Worte minuziös zu untersuchen, vom griechischen Worte „poinì“ abgeleitet, was jenes Übel meint, das jemandem wegen eines Fehlverhaltens auferlegt wird. Bei den alten Römern wurde die Strafe mitunter auch fraus genannt. II. Verschiedenheit der Strafen je nach den unterschiedlichen Verbrechensarten § 293 (§ 265) Strafe ist ein Übel, das wegen eines Verbrechens zugefügt wird (§ 292). Wie nun aber, wenn man das Verbrechen im weitesten Sinne des Wortes versteht (§ 71), die Arten des Verbrechens je nach der Art des dadurch verletzten Gesetzes verschieden sind, so sind auch die Strafen, welche sich gegen die verschiedenen Verbrechensarten richten, unterschiedlich; und demgemäß sind auch Ursprung und Natur der Strafen, [146] die sich gegen Sünden, Laster und bürgerliche Verbrechen richten, höchst verschieden. Wir beschäftigen uns hier nur mit der Strafe, welche von den Gesetzen für bürgerliche Verbrechen angedroht werden.
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Titel II: Ursprung und Natur der bürgerlichen Strafen I. Politischer Ursprung der Kriminalstrafe § 394 (§ 266) Da die Strafe wegen eines Verbrechens verhängt wird und weil der Grund für die Zurechnung des bürgerlichen Verbrechens ein politischer ist (§ 73), muss auch der Grund für die Verhängung der entsprechenden Strafen ein politischer sein. Doch eine jede politische Untersuchung dreht sich nicht nur um das, was Sache des Naturrechts ist, sondern auch um das Wesen der menschlichen Empfindungen (§ 47); daher muss man den Ursprung der bürgerlichen Strafe ganz und gar aus der Natur dieser menschlichen Empfindungen ableiten, welche die Verbrechen in die bürgerliche Gesellschaft hineintragen. Die Schriftsteller, welche hartnäckig daran festhalten, den Ursprung der Strafen aus den Prinzipien des absolut Gerechten herzuleiten, blicken zu sehr in die Höhe, doch unterscheiden sich bei der Anwendung ihres Prinzips nur wenig von jenen, die auf Stelzen schwankend laufen. II. Ursprung der Strafen aus der Natur der Verbrechen § 295 (§ 267) Die Zurechnung bürgerlicher Verbrechen wurde zu dem Zwecke eingeführt, die Zerstörung der Sicherheit, zwecks deren Erlangung die Menschen in [147] Gesellschaft getreten sind (§ 76). Bei allen Verbrechen besteht zweifellos eine gewisse natürliche Verwerflichkeit, deren Erkenntnis, wie sie aus dem innersten Empfinden hervorgeht, eine innere Verpflichtung, sie nicht zu gehen, begründet. Jedoch ist es das politische Wesen jeder Missetat, dass, wenn man diese nur nach den Regeln des privaten Nutzens berechnen würde, ein jeder leicht erkennen würde, dass der Schaden, der einem anderen zugefügt wird, früher oder später auch den Verbrecher selbst zurückfallen würde. Denn wer seinesgleichen verletzt, zieht viel Hass auf sich und verfällt einem allgemeinen Misstrauen. § 296 (§ 268) Doch die seelischen Empfindungen und die verderblichen Neigungen, die den Menschen zum Verbrechen treiben, hätten niemals durch eine solche innere Verpflichtung oder eine Berechnung der natürlichen Vernunft davon abgehalten werden können, die gesellschaftlichen Vorteile zu vernichten. Daher musste zu energischeren Mitteln zur Unterstützung der bürgerlichen Zurechnung gegriffen werden, um durch einen heilsamen Schrecken, den diese in den Gemütern auslösen, mit größerer Gewissheit den Zweck zu erreichen, die Menschen von Verbrechen abzuhalten. § 297 (§ 269) Doch dieses Ziel hätten die Gesetze niemals erreichen können, wenn sie nicht in der Natur der Dinge selbst, die zum Verbrechen drängt, die Ursachen gesucht hätten, welche die Menschen zur Erfüllung ihrer Pflicht anzuhalten geeignet sind.
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Diese Gründe wurzeln im seelischen Schmerz: Da der verbrecherisch Gesinnte zu Verbrechen geneigt ist, weil er eine Menge an Vergnügungen erwartet, die größer ist als diejenige, welche ihm die gesellschaftliche Ordnung zu bieten vermag (§ 75) war es [148] zweckmäßig, in den Gründen, welche die seelischen Schmerzen beeinflusst haben, die Gründe zu suchen, deren man sich zur Unterstützung der bürgerlichen Zurechnung der Verbrechen bedienen kann. § 298 (§ 270) Die Menschen sind ihrer Natur nach dem Schmerz abgeneigter als sie vom Vergnügen angezogen werden. Deshalb wurde das Mittel des Schmerzes als das wirksamste, den Menschen von Verbrechen fernzuhalten, gewählt. Dies ist der Grund, warum die Kriminalgesetze, um den Zweck der Gesellschaft zu sichern, nicht bloß erklären, welche Handlungen als Verbrechen zugerechnet werden müssen (§ 84), sondern auch jenen, die durch die Begehung eines Verbrechens diese Zurechnung missachten, einen Schmerz androhen, um den Bürgern die bürgerliche Zurechnung hinreichend schrecklich zu machen. Diese Zurechnung geht von jedem Gesetz aus, weshalb jenen, die die Gesetze verletzen, eine Strafe angedroht wird, welche Sanktion genannt wird. Daher nennen wir die Strafen empfindliche Gründe zur Beachtung der Gesetze des Gemeinwesens, welche aus einem Schmerz hervorgehen, dessen den Verbrechern zuzufügende Menge die Gesetze selbst bestimmen. So betrachtet bilden die Gesetze eine äußere verpflichtende Kraft zur Beachtung der Gesetze, weshalb niemand die Strafen besser definiert hat als jener, der sagte, diese seien politische Hindernisse gegen das Verbrechen [Beccaria]. III. Woher das Recht zum Strafen kommt und wem es zusteht § 299 (§ 271) Die Menschen, als dem Naturgesetz Unterworfene betrachtet, stehen unter der Herrschaft der [149] Vernunft; als den politischen Gesetzen Unterworfene betrachtet, werden sie entweder durch die Hoffnung auf Vorteile oder durch die Angst vor Nachteilen an ihren Pflichten festgehalten (§ 47). Die Quelle der natürlichen Rechte ist demnach eine andere als diejenige der politischen Rechte. Die erste ist aus einer abstrakten Betrachtung der menschlichen Verstandes-Natur abgeleitet, die letztere nicht nur aus dieser abstrakten Betrachtung, sondern auch aus einer genauen Betrachtung des Konflikts der Gemütskräfte und der menschlichen Bedürfnisse. § 300 (§ 272) Man hat die Frage erörtert, ob es in dem sogenannten Naturzustand der Menschen ein Recht zum Strafen gebe. Weil jedoch ein solcher Zustand streng genommen nichts anderes ist als eine gedankliche Abstraktion, bei der die Menschen als bloße Verstandeswesen angesehen werden (§ 43), kann diese auch keine andere Regel menschlichen Verhaltens erkennen als die natürliche Vernunft. Die einzige und schlichte Folgerung aus dieser Abstraktion ist die Gleichheit der Rechte (§ 42), die, wenn man sie zugesteht, die gesamte Theorie der Strafzumessung zusammen-
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stürzen lassen würde. Gewiss bedarf es für die Verhängung einer Strafe einer Zurechnung; die Zurechnung ist ein Urteil über die Handlungen anderer (§ 81); doch ein solches Urteil setzt die Autorität eines Höhergestellten voraus; und dies widerspricht ganz und gar der Annahme der Gleichheit in einem reinen Naturzustand (§ 83). Es trifft zwar zu, dass von einigen das Recht zum Strafen verwechselt worden ist mit dem Recht, das die Menschen in einem außergesellschaftlichen Zustand und nach dem Maßstab des Naturrechts hätten, zu ihrer eigenen Verteidigung Gewalt anzuwenden und einem rechtswidrigen Angreifer ein Übel zuzufügen, um die Verletzung zurückzuweisen; doch dieses Recht erlischt, wenn der Angriff beendet ist. Auch ist nicht anzunehmen, dass im Falle des Unterliegens des Angegriffenen anderen das Recht übertragen werden könne, dem Angreifer jenes Übel zuzufügen, das vor der Vollendung [150] des Verbrechens zur Abwehr des Angriffs angemessen gewesen wäre. § 301 (§ 273) Fälschlich hat man ferner das Recht zum Strafen aus der Abtretung des Rechts ableiten wollen, das im reinen Naturzustand jedermann die Befugnis gibt, einen rechtswidrigen Angriff mit Gewalt zurückzuweisen; dieses Recht soll sodann von den in der politischen Gesellschaft vereinigten Menschen auf die oberste Gewalt übertragen worden sein, so dass dieses Recht nur noch während der Dauer des Angriffs dem Angegriffenen zustehe und nach dessen Beendigung auch selbst beendet sei. Diese Beendigung könne man aber allenfalls als das Ende des Rechts zum direkten Vorgehen gegen Verbrechen auffassen, das mit dem Recht zum Strafen nichts gemeinsam habe. § 302 (§ 274) Das Recht zum Strafen ist jedoch nichts anderes als ein Recht der politischen Notwendigkeit, und die Notwendigkeit ist stets eine faktische Frage; dieses Recht ist sowohl durch das Wesen der menschlichen Empfindungen als auch durch die Sicherheit der politischen Vereinigung geboten. Das politische Recht ist insofern ein solches, als die Übel, die es androht oder verhängt so dringend notwendig sind, dass, wenn sie nicht angewendet würden, [151] schwerere Übel daraus folgen würden (§ 25). Die Strafe ist leider ein Übel; doch die Übel, die bei Fehlen einer gesetzlichen Sanktion aus dem Missbrauch der natürlichen Freiheit resultieren würden, wären noch schwerer und schädlicher. § 303 (§ 275) Leitet man somit das Recht zur Festsetzung von Strafen aus der politischen Notwendigkeit, die bürgerliche Zurechnung zu unterstützen, ab (§ 296), so folgt daraus, dass demjenigen, dem das Recht zusteht, Handlungen von Bürgern bürgerlich zuzurechnen (§ 83), auch dasjenige der Festsetzung von Strafen zusteht.
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IV. Welcher Art von Gerechtigkeit die Verhängung von Strafen angehört § 304 (§ 276) Die Autoren unseres Rechts und des Naturrechts untersuchen hier mit großem Aufwand und unglaublicher Meinungsvielfalt, welcher Art von Gerechtigkeit die Zufügung der Strafen zuzuordnen sei. Diese Untersuchung ist meines Erachtens gänzlich eitel und müßig. § 305 Gerechtigkeit kann man unter einem doppelten Gesichtspunkt betrachten, nämlich entweder als eine Haltung des menschlichen Willens niemanden zu verletzen und jedem sein Recht zukommen zu lassen – was Sache der Ethik und nicht des Rechts ist, oder als Handlung des Richters, der nach der von den Gesetzen aufgestellten Norm [152] das Urteil spricht – was einzig und allein Sache des bereits bestehenden Rechts ist (§ 26). Betrachtet man die Gerechtigkeit unter diesem zweiten Aspekt, so können ihre Arten je nach der Verschiedenheit der Gesetze wechseln, auf welche man sie anwenden will. Daher ist die bürgerliche Gerechtigkeit eine andere als die Straf-Gerechtigkeit; doch die eine und die andere sind stets eine und dieselbe Sache, denn die Verschiedenheit ihrer Arten folgt aus der Verschiedenheit der Gegenstände, mit welchen die Gerechtigkeit sich befassen kann; dies zeigt sich auch bei den Gegenständen des Zivilrecht. § 306 Betracht man nun die Gerechtigkeit im Hinblick auf ihr Verhältnis zu dem zu errichtenden Recht, so zeigt sich keinerlei Unterschied zwischen der bürgerlichen und der Strafgerechtigkeit. Jene ist Interpretin der natürlichen Gerechtigkeit, diese wendet Gewalt an, um sie unverletzlich werden zu lassen (§ 56). § 307 Will man schließlich die Verschiedenheit zwischen der einen und der anderen Art von Gerechtigkeit aus der Verschiedenheit der Rechte und Pflichten ableiten, deretwegen das Gesetz errichtet oder das bereits bestehende Recht angewendet wird, so behalten wir uns vor, davon zu sprechen, da wir noch die Theorie der Pflichten, die aus dem Verbrechen erwachsen, entwickeln müssen (§ 399). V. Allgemeine Ergänzungen zur Definition der bürgerlichen Strafe § 308 (§ 278) I. Die Strafe wurde erdacht zur Unterstützung der bürgerlichen Zurechnung (§ 295); wo es diese [153] nicht gibt, kann es daher auch jene nicht geben. Es gibt jedoch keinerlei Zurechnung, wo sie nicht vom Gesetz festgesetzt ist (§ 88); also gibt es auch keine bürgerliche Strafe, die nicht vom Gesetz sanktioniert wird.
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§ 309 (§ 279) II. Die bürgerliche Zurechnung ist nur auf Verbrecher anwendbar (§ 103). Demnach darf die Strafe, die der Verbrecher verdient, nicht über dessen Person hinaus ausgedehnt werden; sie darf daher nicht auf die Erben übertragen werden, und sie verträgt auch keine Bürgen. Sollten Gesetze etwas anderes bestimmen, so wäre dies eine Verirrung. § 310 (§ 280) III. Die bürgerliche Zurechnung ist ein Urteil, das sich nur auf Verbrechen als Tat bezieht (§ 80). Doch die Taten können wegen der Verschiedenheit der Umstände, wegen der Sinnestäuschung, der Unwissenheit oder der Niederträchtigkeit der Zeugen, denen regelmäßig der Beweis der fraglichen Tatsachen entnommen wird, denjenigen, der urteilen muss, irren lassen. Daher muss das Strafübel soweit wie möglich ein solches sein, das, wenn es bereits verhängt worden ist, in gewissem Zeitabstand eine Heilung ermöglicht. § 311 (§ 281) IV. Die Abstufungen der bürgerlichen Zurechnung sind fast zahllos, je nach der möglichen Verschiedenheit der Stufen der Verbrechen (§ 199). Bei der Festsetzung der Strafen muss man daher jene Arten von Übeln wählen, welche der größten Abstufung zugänglich sind. § 312 (§ 282) V. Das Ausmaß der politischen Zurechenbarkeit ist demnach nur insoweit rechtmäßig, als sie zur Entfernung des gesellschaftlichen Schadens unbedingt nötig ist (§ 78). Dasselbe muss für die Strafe gelten. Daher wäre jeder strenge Maßstab, der diese Grenze überschreitet, entweder Ausdruck von Tyrannei oder von politischer Unerfahrenheit. § 313 (§ 283) VI. Gegenstand der bürgerlichen Zurechnung ist nicht die Bekämpfung der Niederträchtigkeit der verbrecherischen Handlung, sondern der, die Bürger davon abzuhalten, neue Verbrechen zu begehen (§ 82). Die Strafe wird daher nicht verhängt, um Rache für ein begangenes Verbrechen zu üben, sondern damit in Zukunft keine weiteren Verbrechen begangen werden. Die Rache, die schon bei wilden Menschen kaum erträglich ist, lässt sich niemals mit der erhabenen Sendung der Gesetzgeber versöhnen. Und die Vergeltung des Verbrechens schließlich gehört zu den Regeln der theologischen Moral, nicht aber zur Politik. § 314 (§ 285) VII. Die Kriminalstrafen sollen nicht zu dem Zweck aufgestellt werden, dass das Übel, aus dem sie bestehen, dem öffentlichen Beispiel dient, d.h. eine [155] Gemütsbewegung in den Gemütern sowohl der ehrenhaften als auch der schlecht gesinnten Bürger erregen – denn dies würde voraussetzen, dass die zu vollstre-
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ckende Strafe bereits verhängt ist, und zur Grausamkeit der Hinrichtungen führen; vielmehr sollen sie dazu dienen, dass die Schlechtgesinnten bei sich selbst folgendermaßen überlegen: „Wenn wir der Strafe unterzogen werden, werden wir nicht nur keinen Nutzen aus dem Verbrechen, das wir begehen werden, ziehen, sondern werden auch noch die Freiheit, und zwar nicht nur diejenige zur Begehung weiterer Verbrechen, sondern auch diejenige, uns erlaubtermaßen zu unserem Vorteil zu betätigen, verlieren“. § 315 (§ 286) VIII. Zweck der Strafen ist, dass die Angst vor ihnen bewirkt, verderbliche Neigungen der Menschen zu zügeln (§ 295). Deshalb muss man bei der Wahl der Übel, welche die Strafen bilden sollen, nicht so sehr die Größe des durch das Verbrechen bewirkten Übels betrachten, sondern aufmerksam das Wesen der Leidenschaften, die es hervorgebracht haben untersuchen; denn wenn die Angst vor einem geringeren Übel als ausreichend erkannt wird, um solche Leidenschaften zu hemmen, so müsste dieses geringere Übel als Sanktion angedroht werden. § 316 (§ 287) IX. Strafe und Verbrechen sind beide ein Übel; doch ist die Strafe insofern legitim, als sie [156] ein größeres Übel beseitigt (§ 297); daher kann keine Strafe als Sanktion angesetzt werden, die ein größeres Übel hervorbringen würde als dasjenige, welches das Verbrechen selbst der Gesellschaft zufügen könnte. Denn gewiss würde, wenn die Menge der Übel, aus denen die Strafen bestehen, alles zusammen genommen, die Menge der Schäden, welche aus den Verbrechen resultieren können, überschreiten würde, der öffentliche Wohlstand beeinträchtigt. § 317 (§ 288) X. Tritt der Fall ein, dass die Wiederherstellung des durch das Verbrechen hervorgerufenen privaten Schadens völlig außer Verhältnis zum politischen Zweck der Strafe steht, weil er den Regeln der sog. iustitia commutativa unterliegt, so muss bei der Wahl der Strafen dafür gesorgt werden, dass die Verhängung der Strafe nach Möglichkeit auch für den Ersatz des privaten Schadens sorgt. Dasselbe gilt für die Besserung des Verbrechers. § 318 Mit der Gewissheit der Strafe und der Promptheit ihrer Verhängung befasst sich die richterliche Methode, die aber nicht zur Erörterung der Natur der Strafe gehört. Und was den öffentlichen und feierlichen Apparat der Vollstreckung der Strafe angeht, so gehört er zum öffentlichen Beispiel, mit dem wir uns bereits in den §§ 313 und 314 befasst haben.
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VI. Hinweis § 319 (§ 290) Mit dem bisher Ausgeführten haben wir das erschöpfend behandelt, was zur [157] politischen Natur der Strafe gehört. Einige Autoren haben sich genötigt gesehen, auch die Geschichte ihrer Natur darzustellen. So, wie die erste Vorstellungen, welche die Menschen sich von der Strafe machten, aus der Rache hervorging, auf die sich im wilden Zustand jeder gegenüber seinen Angreifern berief, so unternahmen es die genannten Autoren, zu untersuchen, auf welche Weise und mit welchen Mitteln man Schritt für Schritt dahin gelangte, den Gebrauch der privaten Rache abzuschaffen, die Strafe ihrer natürlichen Barbarei zu entkleiden und sie auf die Grenzen des politisch Notwendigen zu beschränken. Doch wird das Strafrechtssystem auf diese Weise wirklich vollkommener? Hierzu Ausführungen zu machen, ist Aufgabe der philosophischen und politischen Geschichte unseres Rechts (§ 30). Diejenigen, welche die Annalen und die Monumente der Menschheit in einer Weise untersuchen, dass sie uns das Verhältnis und die Verbindung der Vervollkommnung der gesellschaftlichen Institutionen mit der Milderung der Strafen aufzeigen, würden sich im höchsten Maße sowohl um unser Recht als auch um die Menschheit verdient machen. Es wäre aber wünschenswert, dass man, wenn man mit dem Licht der Geschichtsphilosophie die Strafrechtssysteme unseres Europa einer strengen Prüfung unterzieht, nicht zu beklagen hätte, dass bei uns bis heute noch Reste der alten Rohheit vorhanden sind! [...]
Francesco Carrara (1805–1888) Programm des Kriminalrechtskurses. Allgemeiner Teil Programma del corso di diritto penale. Parte generale (3. Aufl. 1867) Erster Teil: Vom Verbrechen [36] Kapitel II: Begriff des Verbrechens § 21 Bürgerliches Verbrechen wird definiert als: die Verletzung des vom Staat zum Schutze der Sicherheit der Bürger erlassenen Gesetzes, welche aus einer äußerlichen, positiven oder negativen, moralisch zurechenbaren Handlung eines Menschen hervorgeht. Diese unsere Definition kann einer modernen Schule nicht gefallen und muss unvermeidlich deren Ablehnung verfallen. Die Lehre dieser Schule ist zuletzt von Franck in seiner Rechtsphilosophie zusammengefasst worden: es sei, sagt sie, ein Fehler, den Begriff des Verbrechens aus dem im Staat erlassenen menschlichen Gesetz abzuleiten. Ob eine Handlung ein Verbrechen ist oder nicht, hänge davon ab, ob sie das oberste Rechtsgesetz in einer Weise bekämpft oder nicht bekämpft, dass der Rechtsschutz ihre Unterdrückung verlangt. Dies sei eine absolute Bedingung; sie folge aus einer höheren Ordnung als der Wille der menschlichen Gesetzgeber, welche diese nicht beseitigen könnten. Definiere man das Verbrechen als Verletzung des geltenden Gesetzes, so gelange man zu dem Ergebnis, dass auch eine äußerst verbrecherische und schädliche Handlung dort, wo kein Gesetz sie verbietet, kein Verbrechen sein könne, und dass hingegen eine völlig harmlose Handlung durch die Laune eines barbarischen Gesetzgebers, dem es gefällt, sie zum Verbrechen zu erklären, zu einem solchen werde. Dies sei nicht hinnehmbar: „Eure Definition ist ein circulus vitiosus. Auf die Frage, welches die strafbaren Handlungen seien, antwortet ihr, es seien jene, welche bestraft werden“. Wir erkennen die Wahrheit dieser Aussagen an, und deshalb haben wir offen jene Gebote benannt, denen der Gesetzgeber bei der Ausübung seiner hohen Sendung, zu bestimmen, welche Handlungen in dem von ihm regierten Staat Verbrechen seien, folgen muss. Wir haben gesagt, dass, wenn der Gesetzgeber bei der Aufstellung seiner Vorschriften diese Gebote missachtet, er einen Machtmissbrauch begeht und sein Gesetz daher ungerecht ist. Wir hängen damit eng den Wahrheiten an, welche die philosophische Schule verkündet und sind weit davon entfernt einzuräumen, dass es allein von einem menschlichen Gesetz abhänge, ob eine Handlung ein Verbrechen ist oder nicht. Wenn wir das Verbrechen als Verletzung des erlassenen Gesetzes definiert haben, so haben wir dabei vorausgesetzt, dass dieses Gesetz in Übereinstimmung mit dem obersten natürlichen Rechtsgesetz erlassen worden ist. Doch mit der Definition des Verbrechens haben wir nicht von der Voraussetzung des Erlasses eines Gesetzes absehen können, denn die Prinzipien der Wissenschaft müssen nicht nur dem Gesetzgeber zur Norm dienen, sonE. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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dern ebenso auch den Richtern. Entfernt ihr nun aus der Definition des Verbrechens die Voraussetzung des erlassenen Gesetzes, so gelangt ihr offenkundig zu folgenden beiden Konsequenzen: dass (1) es dem Bürger an einer schriftlichen Regel für sein Verhalten fehlt; und dass (2) der Richter sich in einen Gesetzgeber verwandelt. Bestimmt das Verbrechen als die Verletzung einer gesellschaftlichen Pflicht oder mit Franck (S. 133) als einen Angriff auf die Sicherheit und Freiheit [38] der Gesellschaft oder einzelner Personen und sagt mir sodann, ob nicht angesichts dieser Definition in konkreten Fällen die Feststellung des Verbrechenscharakters einer Handlung letztlich gänzlich dem fluktuierenden Ermessen des Richters überlassen bleibt. Unsere Definition berücksichtigt im Verbrechen dessen letzte Bedingung, nämlich das Verbot durch staatliches Gesetz. Dieses Verbot mag gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht sein, aber es bleibt doch stets als rechtliche Tatsache, dass in diesem Staat die Verletzung dieses Gesetzes ein Verbrechen ist. Wo nicht ein Gesetz ein solches Verbot ausspricht, ist es daher stets ungerecht, in einer Handlung ein Verbrechen zu erblicken, wie verächtlich oder schädlich sie auch sein mag, und wie verdienstvoll im Hinblick auf die naturrechtliche Ordnung es auch wäre, sie zu einem Verbrechen zu erheben. Sucht man daher nach der rein philosophischen Definition des Verbrechens, so würden wir die Definition von Franck unterstützen. Nicht hingegen würden wir diejenige des berühmten Pessina akzeptieren, wonach das Verbrechen die Negierung des Rechts ist. Diese Formel bringt einen Gedanken zum Ausdruck, der zwar dem Begriff des Rechts innewohnt, denn dieser Begriff enthält als notwendige Bedingung einen Zustand des Widerspruchs zum Recht. Als Definition ist die Formel jedoch ungenau, weil sie mehr als das Definierte umfasst. Auch derjenige, der sich weigert, seine Schulden zu bezahlen, negiert das Recht. § 22 Delikt, Straftat, Beleidigung, Verbrechen, Missetat – lauter Wörter, die von den Strafrechtswissenschaftlern als synonym verwendet werden; keiner von ihnen stillt den Wunsch dessen, der im Wort die Definition der Sache finden möchte; alle sind sie gleichbedeutend für denjenigen, der damit zufrieden ist, im Wort das Merkmal des Gedankens zu finden. § 23 Verletzung des Gesetzes – Die allgemeine Idee des Verbrechens ist diejenige einer Verletzung (oder Missachtung) des Gesetzes, denn keine Handlung des Menschen kann diesem zum Vorwurf gemacht werden, solange nicht ein Gesetz sie verbietet. Eine Handlung wird nur dann zum Verbrechen, wenn es mit dem Gesetz zusammenprallt. Eine Handlung mag schädlich sein, sie mag niederträchtig sein, sie mag schädlich und niederträchtig sein – wenn aber das Gesetz sie nicht verbietet, so kann sie dem, der sie ausgeführt hat, nicht zum Vorwurf gemacht werden. Da aber die den Menschen lenkenden Gesetze unterschiedlich sind, würden in dieser allgemeinen Idee das Laster (das eine Missachtung der Moral ist) und die Sünde (die eine Verletzung des göttlichen Gesetzes ist) mit dem Verbrechen vermengt.
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§ 24 des Staates – Mit der Beifügung dieser Einschränkung nähern wir uns der speziellen Idee des Verbrechens, indem wir den Begriff auf die Verletzung der von Menschen erlassenen Gesetze begrenzen. § 25 verkündet – Das moralische Gesetz wird dem Menschen durch das Gewissen enthüllt. Das religiöse Gesetz wird ausdrücklich von Gott offenbart. Das bürgerliche Gesetz muss, damit es verpflichtend ist, den Bürgern verkündet worden sein. Zu verlangen, dass diese sich einem Gesetz gemäß verhalten, das ihnen nicht mitgeteilt worden ist, wäre eben so ungerecht und absurd, wie zu verlangen, dass sie sich einem noch nicht beschlossenen Gesetz [40] gemäß verhalten. Die einmal erfolgte ordnungsgemäße Verkündung des Gesetzes führt die Vermutung mit sich, dass die Bürger von ihnen Kenntnis genommen haben. Doch eine Verkündung des Gesetzes muss es als Zeichen seines Übergangs von einem gedanklichen Embryo zum realen Leben geben. [...] [41] § 26 zum Schutz der Sicherheit – Dies führt die spezielle Idee des Verbrechens zu ihrer letzten Klärung; diese besteht, genau gesagt, in der Verletzung jenes menschlichen Gesetzes, das die Absicht verfolgt, die öffentliche und private Sicherheit zu schützen. Nicht jede Verletzung der staatlichen Gesetze ist ein Verbrechen. Die Gesetze, welche den Vermögensinteressen dienen, können verletzt werden (z.B. durch die Nichtvornahme einer nach bürgerlichem Recht gebotenen Handlung), ohne das deshalb ihre Nichtbeachtung ein Verbrechen ist. Man kann die Gesetze, welche den Wohlstand des Staates fördern, verletzen; doch damit begeht man eine Übertretung, nicht aber ein Verbrechen. Die spezielle Idee des Verbrechens besteht in dem Angriff auf die Sicherheit; und nur in jenen Handlungen, mit denen die Gesetze, welche diese sichern, verletzt werden, können Verbrechen erblickt werden. § 27 der Bürger – In dieser Formel ist die öffentliche Sicherheit nicht weniger als die private erfasst; denn die öffentliche Sicherheit wird in dem Umfang geschützt, in welchem sie Mittel zur privaten Sicherheit ist. Gerade deshalb, weil die Idee der öffentlichen Sicherheit zum Ausdruck gebracht werden soll, sagt man „der Bürger“ und nicht „eines Bürgers“. Denn die Tat, welche einen einzelnen Bürger verletzt, ohne die Sicherheit der anderen in Mitleidenschaft zu ziehen, könnte, wie wir weiter unten sehen werden (§ 118), nicht zum Verbrechen erklärt werden. Mit diesem Hinweis ist die Idee des allgemeinen Schutzes, welche dem Strafgesetz zugrunde liegt, hinreichend zum Ausdruck gebracht, ohne dass noch die ungenaue Formel vom Schutz der Gesellschaft hinzugefügt werden müsste. [42] Der Schutz der Gesellschaft ist indes insoweit nötig, wie die bürgerliche Gesellschaft zum Schutz der Rechte ihrer Mitglieder nötig ist. Die Regierung schützt legitimer Weise mit dem Strafrecht auch sich selbst, insofern der Schutz ihrer selbst unerlässlich ist für den Schutz der Einzelnen, die, wenn die Regierung erst einmal eingesetzt
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ist, alle und als Einzelne jenes Recht erwerben, das beachtet werden muss. Wer daher dieses verletzt, verletzt alle Bürger; und aus der dem Staat obliegenden Pflicht, die Rechte der Einzelnen zu schützen entsteht für ihn auch das Recht, sich selbst zu schützen. § 28 aus einer äußerlichen Handlung hervorgehend – Die Ausübung der Justiz ist kraft des Gesetzes der Rechtsordnung der gesellschaftliche Obrigkeit übertragen, auf dass die Menschenrechte mittels eines wirksamen und gegenwärtigen Zwangs, der dem natürlichen Gebot, sie zu achten, beigefügt ist, geschützt werden. Doch die Menschenrechte können durch innere Vorgänge nicht verletzt werden; und deshalb besitzt die gesellschaftliche Obrigkeit nicht das Recht, innere Vorgänge zu verfolgen. Die menschliche Obrigkeit kann Meinungen und Wünsche nicht befehlen; und Gedanken kann man nicht ohne Missbrauch zu Verbrechen erklären – nicht, weil sie dem Einblick des Menschen verborgen sind, sondern weil es für den Menschen kein Recht gibt, von seines gleichen Rechenschaft für eine Handlung zu verlangen, die ihm keinen Schaden zufügen kann. Der Schutz der äußerlichen Ordnung auf Erden ist Aufgabe der Obrigkeit; der Schutz der inneren Ordnung ist allein Sache Gottes. Und wenn gesagt wird, dass das Strafgesetz nicht das Denken treffen darf, so will man damit seiner Herrschaft eine ganze Reihe von Elementen entziehen, welche [43] das innere Handeln ausmachen – Denken, Wünschen, Planen und Entscheiden – solange es nicht zu seiner Ausführung gelangt ist. § 29 des Menschen – Das handelnde Subjekt des Verbrechens kann nur der Mensch sein; denn nur er, als einziger in der gesamten Schöpfung mit rationalem Willen ausgestattet, ist ein ansprechbares Wesen. § 30 positiv oder negativ – für den Schutz der Rechte des Menschen kann es erforderlich sein, dass einige Handlungen verboten werden und dass unter bestimmten Umständen einige andere vorgeschrieben werden. Das Gesetz, das die ersteren verbietet verletzt man durch ein verbotswidriges positives Tun; das Gesetz, das die letzteren vorschreibt, verletzt man durch ein negatives Verhalten. Also können Verbrechen sowohl Begehungs- bzw. Handlungsdelikte als auch Unterlassungsoder Nichthandlungsdelikte sein. Doch die Unterlassung des einen kann sich mit der Begehung eines anderen verbinden, und dieses Verhältnis im negativen Verhalten die Verletzung jenes Gesetzes bedeuten, das die positive Handlung verbietet. In diesem Falle entsteht jedoch nicht das echte Unterlassungsdelikt, denn das moralische Band (die Übereinkunft), welche die Untätigkeit des einen mit der Handlung eines anderen als im verbrecherischen Ziel zusammentreffende Mittel verbindet, macht das Verbrechen beider Beteiligter zu einem einheitlichen; und wenn man seine Bezeichnung im positiven Tun findet, so macht man damit aus dem negativen Verhalten nur ein Element der Teilnahme. [44] Um zu einem reinen Untätigkeits-Verbrechen zu gelangen, muss man das Fehlen einer positiven
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schuldhaften Handlung voraussetzen, bei dem mit dem Unterlassen willentlich noch irgend etwas zusammentrifft. Deshalb kann man das Verbrechen der reinen Untätigkeit nur in den Fällen konzipieren, in denen ein anderer ein durchsetzbares Recht auf die unterlassene Handlung hat. So begeht die Mutter, die ihr Kind nicht stillt, um seinen Tod herbeizuführen, ein wirkliches Unterlassungsverbrechen, eine wirkliche Kindestötung – denn das Geschöpf hat ein Recht auf die Handlung des Stillens. Die Kategorie dieser Verbrechen wird in großem Umfang erweitert in jenen Gesetzgebungen, welche das Prinzip der solidarischen Verteidigung der Bürger zulassen. § 31 moralisch zurechenbar – Der Mensch unterliegt wegen seiner moralischen Natur den Strafgesetzen; deshalb kann niemand politisch verantwortlich für eine Handlung sein, für die er nicht moralisch verantwortlich ist. Die moralische Zurechenbarkeit ist die unerlässliche Voraussetzung der politischen Zurechenbarkeit. § 32 Das Verbrechen als Faktum hat seinen Ursprung in den menschlichen Leidenschaften, welche den Menschen anspornen, die Rechte seinesgleichen ohne Rücksicht auf die Gesetze, welche dies verbieten, zu verletzen. § 33 Das Verbrechen als rechtliches Phänomen hat seinen Ursprung in der Natur der bürgerlichen Gesellschaft. Der Zusammenschluss (der dem Menschen [45] vom ewigen Gesetz als Mittel der Selbsterhaltung, des geistigen Fortschritts, der moralischen Vervollkommnung und des Schutzes der Rechte auferlegt ist) könnte nicht bestehen noch könnte sie ihren Zielen gerecht werden, wenn jeder der Beteiligten völlig frei wäre, allen seinen Wünschen, auch den ungerechten und für andere schädlichen, nachzugehen. Daraus folgt die Notwendigkeit, gewisse Handlungen, welche die äußerliche Ordnung verwirren würden, zu verbieten, und zu bestimmen, dass immer dann, wenn sie begangen werden, dies als ein Verbrechen angesehen werde. Diese Notwendigkeit nennt man politische Notwendigkeit. Politische Notwendigkeit ist die Formel, welche das Verhältnis des Kriminalgesetzes zur bereits bestehenden Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Doch die politische Notwendigkeit in ihrer ersten Ursache betrachtet ist nichts anderes als eine Notwendigkeit der menschlichen Natur. Wäre dies anders, so wäre politische Notwendigkeit eine empirische Formel, die nicht dazu taugte, die Legitimität des Verbots zu beweisen. § 34 Man beachte, dass das Verbrechen nicht als eine Handlung, sondern als ein Gesetzesbruch definiert ist. Sein Begriff ist daher nicht aus dem materiellen Faktum und auch nicht aus dem gesetzlichen Verbot, isoliert betrachtet, abgeleitet, sondern aus dem Konflikt zwischen jenem und diesem.
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§ 35 Demnach ist der Begriff des Verbrechens nichts anderes als ein Verhältnis-Begriff: das Widerspruchsverhältnis zwischen der Tat des Menschen und dem Gesetz. Nur hierin besteht das rechtliche Phänomen, dem die Bezeichnung Verbrechen oder ein Synonym davon beigelegt wird. Es ist ein rechtliches Phänomen, das zu seiner Existenz bestimmter materieller und bestimmter moralischer Elemente bedarf; [46] deren Zusammentreffen konstituiert seine Einheit. Doch das, was sein Wesen vollkommen macht, ist der Widerspruch dieser Voraussetzungen mit dem Rechtsgesetz. § 36 Daraus folgt, dass es ein Missverständnis wäre, anzunehmen, dass der Gegenstand des Verbrechens die Sache oder der Mensch wäre, an der oder an dem die kriminelle Handlung vollzogen wird. Das Verbrechen wird nicht als materielles Faktum, sondern als rechtliches Phänomen verfolgt. Die materielle Handlung mag als Gegenstand die Sache oder den Menschen haben; das rechtliche Phänomen kann als seinen Gegenstand nur einen Begriff haben, nämlich das verletzte Recht, welches das Gesetz mit seinem Verbot schützt. § 37 Die Handlung, als materielle Gegebenheit betrachtet, setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen, von denen jedes eine entsprechend unterschiedliche Objektbezogenheit besitzt, welche aus den Sachen oder Menschen besteht, an denen die Handlung sich sodann im Verlauf dieses Vorgangs vollzieht. § 38 Als Ergebnis der Gesamtheit dieser Elemente betrachtet, ändert sich ihre (jetzt nicht mehr materielle, sondern ideelle) Objektivität je nach der unterschiedlichen Beziehung, unter der man dieses Ergebnis betrachtet. § 39 So wird (beispielsweise) beim Diebstahl das Objekt der materiellen Handlung der Wegnahme einer fremden Sache die Sache selbst sein. Betrachtet man dieselbe Handlung jedoch in ihrer ideellen Beziehung, so bewirkt sie das Entstehen unterschiedlicher ideeller Phänomene, und zwar gerade durch die Veränderung der Objektbezogenheit. Der Theologe erblickt darin eine Sünde; der Moralist ein Laster, der Kriminalist ein Verbrechen. Besitzen aber die drei ideellen Phänomene – Sünde, Laster, Verbrechen – denselben Gegenstand? Nein. Der Gegenstand der Sünde ist das göttliche Gebot, des Lasters das moralische Gebot, des Verbrechens das bürgerliche Gebot; denn gerade aus der Verletzung dieser drei unterschiedlichen Gebote und damit aus der wechselnden Beziehung dieser materiellen Handlung entstehen die drei unterschiedlichen Ideen von Sünde, Laster und Verbrechen. Wäre es anders, so würden diese drei ideellen Phänomene, im Objekt vereinigt, wie sie es im Subjekt sind, zu einem einzigen zusammenfließen.
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§ 40 Der Mensch, der ein Verbrechen begeht, ist das primäre aktive Subjekt des Verbrechens. Die Mittel, derer er sich bedient, sind dessen sekundäres aktives Subjekt. Der Mensch oder die Sache, auf welche die auf das schädliche Ende hin ausgerichteten Handlungen des Schuldigen fallen, sind die passiven Subjekte des Verbrechens. Das abstrakte Recht, das verletzt wird, ist das einzige wirkliche Objekt des Verbrechens. § 41 Primäres aktives Subjekt des Verbrechens kann nur der Mensch sein, denn wesentlich für das Verbrechen ist die Entstehung aus einem intelligenten Willen, den es nur im Menschen gibt. Und jeder Mensch kann im abstrakten Sinne der Vernunft aktives Subjekt des Verbrechens sein; wenngleich seine Stellung [z.B. als Fürst] ein Hindernis seiner aktuellen Verfolgung bilden kann. [48] [...] § 42 Objekt des Verbrechens kann nur ein Recht sein, dem das Gesetz ausdrücklich seinen Schutz durch das Verbot und durch die Sanktionsdrohung angedeihen lässt. Auf diese Weise durchdringen sich schützendes Gesetz und geschütztes Recht wechselseitig und bilden auf diese Weise die Idee, welche das Objekt des rechtlichen Phänomens, genannt Missetat, Delikt, Verbrechen, Straftat, bildet – nicht, weil es den Menschen und die Sache verletzt, sondern weil es das Gesetz verletzt. Alles, was als materielles Mittel aktiv oder passiv der Verletzung dient, ist das aktive oder passive Subjekt dieser Verletzung. Diese Begrifflichkeit ist, auch wenn sie manchem missfallen mag, die einzige, welche wissenschaftliche Bedürfnisse befriedigt und beanspruchen kann, die einzelnen Fälle exakt zum Ausdruck zu bringen. Dieselbe ist von Carmignani entwickelt worden, nachdem er bemerkt hat, dass der Missbrauch [49] der Worte Objektivität und Subjektivität Ursache für große Verwirrung in der Wissenschaft geworden sei; und sie wird auch von zeitgenössischen Kriminalisten, wie z.B. Ortolan, verwendet.
§ 43 Hat man diese Begriffe geklärt und unterscheidet die materielle Objektbezogenheit der Handlung von der ideellen Objektbezogenheit des aus dem Verhältnis zwischen Handlung und Gesetz resultierenden rechtlichen Phänomens, so erspart man sich eine ganze Reihe von Schwierigkeiten. § 44 Wohin tappt man, wenn man das Objekt des Verbrechens in der Sache, an der sich die Handlung vollzieht, zu finden meint, falls die Handlung im Gebrauch einer eigenen Sache besteht, wie es bei der Herstellung von Dietrichen oder falschen Münzen und bei der dinglichen Gotteslästerung der Fall ist?
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§ 45 Wohin tappt man, wenn man es in der Person, gegen welche die Handlung sich richtet, finden will, wenn die Handlung sich gegen den Mitverbrecher richtet? Wer ist, beispielsweise, beim Inzest eines Mannes und einer Frau das Subjekt, wer das Objekt dieses Verbrechens? Das Verbrechen, das aus dem Zusammenkommen zweier Handelnder zur Verletzung des Gesetzes entsteht, ist eines, und es kann nicht einen wechselnden Dualismus des Objekts geben. Und wenn man umgekehrt nicht im angegriffenen Gesetz oder Recht das Objekt der Verbrechen erblickt, welche Figur soll dieses Gesetz und Recht, in dessen Verletzung das Wesen der Missetat besteht, denn dann darstellen? § 46 Solche Verlegenheiten vermeidet man, wenn man zum Subjekt des Verbrechens alles das zählt, was materiell ist und was die dem Gesetz widersprechende Handlung vervollständigt. Auf natürliche Weise begreift man dann, weshalb dort, wo kein Gesetz erlassen ist, man auch keine Missetat erblicken kann – nämlich deshalb, weil der Missetat das Objekt fehlen würde. Und man versteht auch, warum der Begriff des Verbrechens auch dort zulässig ist, wo das passive Subjekt nicht empfindend ist, ferner dort, wo es zwar empfindend, aber nicht intelligent ist, und schließlich dort, wo es zwar empfindend und intelligent ist, aber zustimmt. § 47 Nicht empfindend ist der Leichnam. Dennoch kann in Verletzungen des Leichnams ein Verbrechen erblickt werden, weil das Gesetz verletzt wird, welches ihn schützt – sei es im Hinblick auf die Familie, auf die Religion, auf die Moral oder auf die öffentliche Gesundheit. Leichname sind Sachen. Doch auch gegen Sachen kann ein Verbrechen sich richten, wenn zwischen ihnen und Menschen solche Beziehungen lebendig sind, welche in ihnen ein Recht begründen – so wie es zweifellos ein Recht aller Bürger ist, dass man die Luft nicht infiziert oder dass man nicht böswillig das Andenken ihrer Angehörigen verächtlich macht. § 48 Nicht intelligent sind der Fötus im Mutterleib, das Kind, der Demente, der Schlafende. Und doch sind sie in der Lage, ein passives Subjekt der Straftat zu bilden, denn sie besitzen Rechte, welche das Gesetz verteidigt, obwohl weder das Recht von demjenigen erkannt wird, der es besitzt, noch die Verletzung von dem, der sie empfängt. Hier taucht die Frage auf, ob Tiere wegen der Grausamkeiten, die ihnen von ihren Eigentümern angetan werden, passive Subjekte des Verbrechens werden können.
§ 49 Einwilligende sind jene, welche an der materiellen Handlung, die an ihnen begangen wird, mit freiem Willen und auch mit Handlungen mitgewirkt haben – wie beim Suizid und beim Soldaten, der sich verstümmelt, um dem Kriegsdienst zu
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entgehen. Obwohl das verletzte Recht seitens seines Inhabers unveräußerlich ist und das Gesetz es wegen der Aufrechterhaltung der Ordnung ohne Rücksicht auf ihn schützt, beseitigt die Einwilligung des passiven Subjekts nicht den Begriff des Verbrechens; denn es bleibt im ersten Fall vorwerfbar gegenüber dem Teilnehmer, wie es im zweiten Fall vorwerfbar gegenüber dem Verstümmelten und dem Verstümmler bleibt. Dem Verbrechen bleibt das Objekt im verletzten Recht, obwohl Täter und Opfer in derselben Person [52] zusammenfallen; und ebenso bleibt auch das Objekt der Sünde bestehen, obwohl es die Beziehungen des Menschen zu anderen Geschöpfen nicht verletzt, weil der Sünder alles in sich selbst. Unser Begriff ist so scharf, dass die Hartnäckigkeit nicht zu begreifen ist, mit der einige behaupten, dass die gestohlene Sache und der getötete Mensch Objekt des Verbrechens seien, da doch das Objekt eine ideelle Gegebenheit ist wie alles, was in einem bloßen Verhältnis besteht. Indem man die gegenteilige Begrifflichkeit benutzt, konstruiert man ein vollständiges Wesen (nämlich das Verbrechen) ohne das Hinzutreten des Gesetzes – was absurd ist. § 50 Verbrechen werden unterteilt in formelle und materielle. Jene erschöpfen sich in einer bloßen Handlung eines Menschen, die ohne weiteres zur Gesetzesverletzung ausreicht, diese bedürfen zu ihrer Vollendung eines bestimmten Erfolges, und nur in ihm ist die Gesetzesverletzung zu erblicken. Diese Unterscheidung bezieht sich auf eine weitere, nämlich diejenige zwischen potentiellem Schaden und effektivem Schaden, wovon wir im folgenden noch reden werden. Diese Unterscheidung ist wichtig für die Theorie des Versuchs. [53] § 51 Verbrechen werden ferner unterteilt in solche mit dauernder Handlung – und dies sind jene, die eine Spur hinterlassen – und Verbrechen mit vorübergehender Handlung – und dies sind jene, die keine Spuren hinterlassen. Und man unterteilt sie noch in flagrante, nicht flagrante und quasi flagrante Verbrechen, je nachdem ob der Täter bei der Tat überrascht wird oder nicht oder von öffentlichem Geschrei verfolgt wird; das huc fugit, das in Rom der quiritatio wegen der Formel adeste quirites Raum gab. Diese Unterscheidungen sind für die Theorie des Verfahrens und für die Theorie des Beweises wichtig. § 52 Unterschieden werden ferner allgemeine und besondere Verbrechen, je nachdem ob sie von jedermann begangen werden können oder nur von dem, der sich in bestimmten Verhältnissen befindet. Nur in bestimmten Fällen bedarf es der Unterscheidung in einfache (bzw. individuelle) Verbrechen, wenn der kriminelle Charakter aus einer einzigen Handlung resultiert, und kollektiven Verbrechen, wenn dieser Charakter erst aus wiederholten Handlungen resultiert, welche die Gewohnheitsmäßigkeit begründen, wie nach einigen Gesetzgebungen der Wucher. Diese Unterscheidungen sind rein begriffliche. In der Theorie der Teilnahme und der fortgesetzten Tat ist die Unterscheidung zwischen Augenblicksverbrechen und Dauerverbrechen von Bedeutung, beispielsweise bei der Freiheitsberaubung; und
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für die Untersuchung der Größe von Verbrechen bedient man sich schließlich der Unterscheidung von einfachen und von komplexen Verbrechen, wobei in dieser Gegenüberstellung als einfache Verbrechen diejenigen bezeichnet werden, welche nur ein einziges Recht verletzen, als komplexe diejenigen, welche mehr als ein Recht verletzen – sei es als bloße Nebenfolge wie in dem Fall, dass die gegen eine Person gerichtete Explosionswaffe auch andere verwundet, sei es durch Verknüpfung von Mittel und Zweck. Das komplexe Verbrechen darf jedoch nicht mit dem simultanen Verbrechen verwechselt werden, welches die Verschiedenheit von Zielen und von Handlungen [...] trotz Gleichzeitigkeit voraussetzt. [...] [333]
Zweiter Teil: Von der Strafe Kapitel I: Idee der Strafe § 582 Das Wort Strafe besitzt drei verschiedene Bedeutungen: 1) Im allgemeinen Sinne drückt es irgendeinen Schmerz oder irgendein Übel, das Schmerz bereitet, aus; 2) im engeren Sinne bezeichnet es ein Übel, das man aufgrund einer eigenen vorsätzlichen oder unvorsichtigen Handlung erleidet; so erfasst man alle natürlichen Strafen; 3) im engsten Sinne bezeichnet es jenes Übel, das von der bürgerlichen Obrigkeit einem Schuldigen wegen seines Verbrechens zugefügt wird. Wenn die Strafrechtswissenschaft zur Betrachtung der Strafe als des zweiten Gegenstandes ihrer Überlegungen übergeht, benutzt sie das Wort Strafe in seinem engsten Sinne. Damit ist klar, das Grotius, wenn er die Strafe als malum passionis quod infligitur propter malum actionis bezeichnet, sie nicht in ihrem engsten Sinne, sondern in ihrem engeren Sinne meint. § 583 Wenn Beccaria die Strafen als politische Hindernisse gegenüber dem Verbrechen bezeichnete, brachte er damit den Zweck [334] der Strafe, wie er ihn verstand, zum Ausdruck, statt einen Begriff zu liefern. Carmignani überschritt die Grenzen einer Definition, wenn er den Daseinsgrund und das Ziel der Strafen in sie einbeziehen und mit der Definition ein System formulieren wollte. § 584 Es ist schwierig, in der Definition eines Gegenstandes dessen Zwecke und dessen Gründe kurz zusammenzufassen. Definitionen erfordern meistens, dass man sich auf wesentliche Eigenschaften des Definierten beschränkt. Das, was seine Vernünftigkeit (razionalità) ausmacht, gehört zur Entwicklung der Theorie. Deshalb definiere ich die Strafe als jenes Übel, das in Übereinstimmung mit dem Gesetz des Staates die Richter denjenigen zufügen, die in den vorgeschriebenen Formen eines Verbrechens für schuldig befunden worden sind. Wird ein Übel jemandem zugefügt, der nicht für schuldig befunden worden ist, oder von jemandem, der dazu nicht ermächtigt ist, oder ohne ein Gesetz, das dieses androht, oder auf will-
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kürliche Weise, so handelt es sich um eine Rache, um eine Gewalttat, nicht aber um eine Strafe im Rechtssinne. Hat hingegen der Gesetzgeber die Strafe zu irrationalen Zwecken bzw. unter Überschreitung des Strafgrundes angedroht, so mag man die Strafe als ungerecht, missbräuchlich oder schädlich bezeichnen; sie bleibt aber immer noch eine Strafe. § 585 Um den Begriff der Strafe zu vervollständigen, d.h. um sie nicht als das zu verstehen, was sie tatsächlich ist, sondern was sie sein soll, um als gerecht bezeichnet werden zu können, um, mit einem Wort, die Bedingungen ihrer Legitimität zu erkennen, muss man ihren Ursprung und ihren Zweck erforschen. Diese beiden Untersuchungen sind ihrem Wesen nach verschieden.
Kapitel II: Ursprung der Strafe § 586 Bei der Strafe ist der historische Ursprung ein anderer als ihr rechtlicher Ursprung. Daher ist es erforderlich, den einen getrennt von dem anderen zu ermitteln. Erforscht man den ersteren, so sucht man nach einer Tatsache; erforscht man den letzteren, so sucht man nach der Entstehung eines Rechts.
Artikel I: Historischer Ursprung der Strafe § 587 Es ist notwendig, als eine durch die ältesten Traditionen des Menschengeschlechts beglaubigte Wahrheit zu erkennen, dass die Idee der Strafe in den primitiven Gesellschaften aus dem Gefühl der Rache hervorgegangen ist. § 588 Es kann auch keinen Widerstand hervorrufen, dass die Menschen zu einem Akt, der heutzutage als Ausübung von Gerechtigkeit anerkannt ist, durch eine vorwerfbare und wilde Leidenschaft gebracht worden sind. § 589 Die Vorsehnung, die in ihren hohen Plänen die Schöpfung zu einem System der universellen Harmonie führen will, bedient sich in der physischen Welt der gänzlich materiellen Kraft der Anziehung und Abstoßung, der ursprünglichen Mächte (als wunderbare Ordnerinnen der Körper), welche das ewige Gesetz der physischen Ordnung verwirklichen und es unverbrüchlich erhalten.
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§ 590 Gleichermaßen bedient sich die Vorsehung für die Ordnung der moralischen Welt eben solcher Kräfte der instinkthaften Neigung und Abschreckung (der ursprünglichen und wunderbaren Mächte, die den Willen steuern), welche das Sichtbarwerden des Naturgesetzes bewirken, das noch vor jeder rationalen Berechnung und jedem Befehl menschlicher Gesetzgeber Ordner der moralischen Ordnung unter den Menschen ist. § 591 Während so die Menschheit vom Naturgesetz dazu bestimmt wurde, ihre Ordnung in der bürgerlichen Gesellschaft zu finden, wurden die ersten Menschen durch die Anziehungskraft eines unbestimmt empfundenen moralischen Bedürfnisses zu einer wechselseitigen und dauerhaften Gemeinschaft getrieben; dieses Bedürfnis ging der Berechnung und der Beobachtung nützlicher Ergebnisse voraus, welche später die Notwendigkeit unseres Lebens im Staat vernünftig bewiesen. § 592 Und ebenso wurden nun die primitiven Menschen vom Empfinden der Rache angetrieben, demjenigen, der anderen ein Übel bereitet hatte, ein Übel zuzufügen – viel eher, als vernünftige Berechnungen dies als der Gerechtigkeit entsprechend und für den Schutz der Rechte des Menschen unerlässlich nachwiesen. Auf diese Weise führt der Allmächtige die Geschöpfe zur blinden Beachtung seiner Gesetze. Die universelle Harmonie ist das Ergebnis eines einzigen Prinzips, das die Höchste Antriebskraft als Organ der Ordnung und des Fortschritts in der Schöpfung errichtet hat – sowohl in der physischen Welt als auch in der moralischen Welt. § 593 Das angeborene Empfinden der privaten Rache wurde in den primitiven Gesellschaften aus ihrer Natur als Begehren zur Höhe eines Rechts emporgehoben – eines einlösbaren Rechts, eines vererblichen Rechts, eines nach Belieben des Verletzten ablösbaren Rechts, eines Rechts, das über einige Jahrhunderte hinweg als ausschließliches Recht des Verletzten und seiner Angehörigen angesehen wurde. Dies also ist die historische Entstehung des Strafrechts. Wir finden sie in den Büchern Mosis und bei Homer; und die Entdeckungsreisenden haben sie in Asien, in Afrika und bei den Völkern der Neuen Welt gefunden. § 594 Als die Menschen sich mit Hilfe der Religion zivilisierten, übernahm diese die allgemeine Ausrichtung ihrer Empfindungen. Hieraus resultiert der Gedanke, dass die Priester die Bemesser der privaten Rache sein sollten. Nachdem so erst einmal das religiöse Denken in das Strafrecht eingedrungen war und die Verfahren in theokratischen oder halbtheokratischen Formen durchgeführt wurden, trat allmählich der Begriff der göttlichen Rache an die Stelle der privaten Rache – ein zur Zeit seiner Entstehung höchst nützlicher und zivilisatorischer Gedanke, denn jene
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Menschen, befangen in ihrer Wildheit, welche die Rache als ihr Recht ansahen, wären nicht bereit gewesen, auf dieses angebliche Recht zu verzichten, um es in den Händen von Ihresgleichen zu wissen. Hingegen war es leicht, sie davon zu überzeugen, auf dieses Empfinden zu verzichten, indem man ihnen vermittelte, dass die Befriedigung dieses Empfindens ein ausschließliches Recht Gottes sei. § 595 Doch die Völker eigneten sich mit der Entwicklung der Kultur die Idee des Staates an. Und als auf diese Weise die bürgerliche Gesellschaft personifiziert worden war, gründeten sie auf dieser neuen Idee die Rechtsordnungen und reinigten sie nach und nach von jeder theokratischen Beimischung. Damals wurde der alte Gedanke der Rache, der in den Strafen noch enthalten war, an die neue Idee angepasst. Das Verbrechen wurde nicht mehr als Verletzung eines Privaten oder der Gottheit angesehen, sondern als Verletzung der ganzen Gesellschaft. Man betrachtete die Strafe nicht mehr als private Rache oder als göttliche Rache, sondern als Rache der verletzten Gesellschaft. § 596 Nachdem auf diese Weise der Priesterstand dem Privaten die Strafbefugnis entzogen hatte und sich als dessen Mäßiger eingesetzt hatte, erlebte er nun seinerseits, dass ihm dieses Amt von der staatlichen Obrigkeit als Vertreter der verletzten Nation entzogen wurde – als erste wurden die politischen Verbrechen, als letzte die Religionsverbrechen der kirchlichen Jurisdiktion entzogen und erfuhren ihre Bekämpfung durch Bestimmungen der bürgerlichen Gesetze oder durch behördliches Dekret. § 597 Stets aber hielt man im ganzen Verlauf dieses ideengeschichtlichen Prozesses daran fest, die Rache als beherrschende Idee der Bestrafung von Verbrechern anzusehen; und über Jahrhunderte hinweg benutzte man die Formel von der privaten oder göttlichen oder öffentlichen Rache, ohne sich groß wegen der rechtlichen Legitimität von Strafen zu beunruhigen. Und so sehr erschien das sogenannte Recht zur Rache als ganz natürlich und keiner Ausnahme zugänglich, dass eine Meinungsverschiedenheit nur über den Punkt entstand, wem denn dieses Recht zustehe, und daraus folgend, in wessen Namen sie ausgeübt werde. Dies ist der historische Prozess der Strafen, den man, wie gezeigt, aus der Tradition aller Völker entnehmen kann. Daher kommt es, dass die antiken Philosophen (Cicero nicht ausgenommen) häufig als Bezeichnung für denselben Begriff ultio, defensio und poena benutzten.
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Artikel II: Philosophischer Ursprung § 598 Doch die Denker begnügten sich nicht immer mit den Gründen, durch die man das Volk zur Durchführung bestimmter Handlungen veranlasst. Sie schwangen sich zur Betrachtung der abstrakten Idee der Gerechtigkeit auf, da sie das Bedürfnis spürten, menschliche Handlungen mit einem rationalen Prinzip zu rechtfertigen. Daher fehlte es auch in der Antike nicht an Philosophen, die, während die Völker fortfuhren, aus dem Gefühl der Rache heraus zu strafen, nach einem höheren und wahrhaftigeren Grund des Strafens zu forschen, der nicht derjenige eines wilden und verächtlichen Empfindens sein konnte. Diese Denker waren freilich nichts als flüchtige Lichter, denn die Ausrichtung des Strafrechts an der ganz besonderen philosophischen Theorie blieb dem 18. Jahrhundert vorbehalten. § 599 Dies war die Zeit, in der die vitalen Fragen des Strafrechts die Gemüter zu beherrschen begannen; und sie gewannen eine überaus große Bedeutung in den philosophischen Wissenschaften. Und damals empfand man das Bedürfnis, einen rechtlichen Grund der Strafe zu erlangen und zu erforschen, ob dieses über Jahrhunderte hinweg wiederholte Faktum, dass man ein Menschengeschöpf gegen seinen Willen der heiligsten Rechte beraubt, ein Missbrauch der Macht oder die unabweisbare Wahrnehmung eines Rechts sei. § 600 Dies also ist die Geschichte der rechtlichen Entstehung der Strafe, die derjenigen ihrer historischen Entstehung nachfolgt. Man untersucht nicht mehr, warum die Menschen irgend etwas getan haben, sondern, warum die Menschen in dieser Weise handeln sollen und ob sie so handeln können, woraus die Frage folgt, ob, nachdem für die Tatsache eine rechtliche Grundlage gefunden ist, die Tatsache selbst von den Regenten der Völker guten Gewissens beibehalten werden kann und von ihnen nicht als Ausbruch einer Leidenschaft der Mächtigen, sondern als legitime Ausübung eines Rechts beachtet werden soll, dem sich zu widersetzen der Verbrecher nicht berechtigt ist. § 601 Bei dieser Suche irrten die modernen Vertreter des öffentlichen Rechts auf tausend verschiedenen und häufig genug widersprüchlichen Wegen umher. Doch die Darstellung der zahlreichen Systeme, welche erdacht wurden, um für das Strafen ein Recht nachzuweisen, und deren Widerlegung würde den Kreis dieses Programms überschreiten. Ich werde mich deshalb darauf beschränken, jenes System anzudeuten, das mit das einzig wahre und allen anderen überlegene zu sein scheint. Es ist wahrscheinlich unmöglich, alle verschiedenen Systeme aufzuzählen, welche die Öffentlichrechtler sich erdacht haben, um dem Recht zum Strafen sein grund-
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legendes Prinzip zu verleihen; und es ist auch schwierig, sie zu unterscheiden, denn häufig unterscheiden sie sich in der sprachlichen Erscheinung, sind sich dann aber in der Sache einig. Ich erwähne nur die folgenden: 1)
Die Rache (Hume, Pagano, Vecchioni, Bruckner, Raffaelli, Romano und andere) verwechselten den historischen und den philosophischen Ursprung; sie erklärten es für möglich, dass eine niedere Leidenschaft sich in ein vollziehbares Recht verwandeln könne; und in dem Wunsch nach Rache, den sie als dem Menschen eingeboren bezeichneten, fanden sie die Rechtfertigung des Strafrechts – ein Begriff, der seine moralische Widerlegung in sich trägt.
2)
Die bereinigte Rache (Luden). Die Gesellschaft straft, damit der Verletzte sich nicht rächt – ein unvollständiger Begriff, der den Zweck des Strafrechts fälscht, der die Strafe in einen Schutz umwandelt, der, weil er keinen rechtlichen Grund dafür, dass mir ein Übel zugefügt wird, weil man fürchtet, dass ein anderer sich an mir rächt, zu bieten vermag, letztlich zum Prinzip der Nützlichkeit zurückkehrt.
3)
Die Vereinbarung (Rousseau, Montesquieu, Burlamaqui, Blackstone, Vattel, Beccaria, Mably, Pastoret, Brissot de Warville) bzw. die Abtretung des privaten Rechts auf direkte Verteidigung an die Gesellschaft. Dazu gelangten sie entweder mit der schlichten Behauptung des Vertrages, ohne einen Grund für die Befugnis anzugeben, oder mit der Vorstellung einer Zession (Filangieri) des Rechts des Angegriffenen zur Tötung des Angreifers, ohne auf den Anachronismus und auf die wesentlichen Unterschiede der Bedingungen von Recht und Moral hinzuweisen, oder mit der Vorstellung, dass das Recht zum Strafen nach dem Gesetz der Natur dem Verletzten zustehe, um sich vor weiteren Angriffen des Feindes vorzusehen (Grotius, Locke, Michaeli, Folkersma) – und auch dies auf Grund einer falschen und absurden Annahme.
4)
Der Zusammenschluss (Pufendorff). Die Errichtung der Gesellschaft entwickelt das Recht zum Strafen auf Grund der Vereinigung selbst – ein ganz und gar empirischer Begriff, der das Faktische mit dem Faktischen begründet und zum Gedanken der Vereinbarung zurückkehrt und damit daran scheitert, dass das Tun der Väter nicht die Freiheit der Söhne fesseln kann.
5)
Der Ersatz (Klein, Schneider, Welcker). Es sei ein absolutes Prinzip, dass derjenige, der einen Schaden zugefügt habe, diesen auch ersetze. Daher müsse der Verbrecher den Schaden ersetzen, den er der Gesellschaft zugefügt habe – ein Begriff, der die Strafe denaturiert und ihren Zweck mit ihrem Prinzip verwechselt.
6)
Die Erhaltung. Die Gesellschaft übt, wenn sie straft, das Recht eines jeden Wesens auf Selbsterhaltung aus, und man kann sich nur dadurch erhalten, dass man anderen in den Arm fällt, indem man den Verbrecher bestraft. Und dies bringt man entweder mit der schlichten Selbsterhaltungsformel zum Ausdruck (Schulze, Busatti, Martin) oder mit der Formel von der indirekten sozialen Verteidigung (Romagnosi, Comte, Rauter, Giulani) oder mit der unbestimmten Formel von der politischen Notwendigkeit (Feuerbach, Krug, Bayer, Carmignani) – ein Begriff, der den Grund des Strafens zwar erwähnt, jedoch nicht dartut, wieso die Gesellschaft das Recht besitzt, einen Menschen zur Abschreckung der anderen zu bestrafen.
7)
Die Nützlichkeit (Hobbes, Bentham). Ein Prinzip, das auf der falschen Annahme beruht, dass die Nützlichkeit (verstanden als materielles Gut) das oberste Prinzip des moralisch Guten und den hinreichenden Ursprung des Rechts abgebe.
8)
Die Züchtigung (Roeder, Ferreira, Mazzoleni, Marquet-Vasselot). Die Gesellschaft besitzt das Recht, den Schuldigen zu strafen, um ihn zu bessern – ein sympathischer Begriff; er denaturiert jedoch die Strafe; und er vermag keinen Grund des behaupteten
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Francesco Carrara Rechts anzugeben als den, dass er ihn aus dem gesellschaftlichen Interesse ableitet und ihn dadurch mit dem Grundsatz der Nützlichkeit verwechselt.
9)
Die Vergeltung. (Kant, Henche, Pacheco). Es ist ein Prinzip der absoluten Gerechtigkeit, dass derjenige, der ein Übel begangen hat, seinen Fehltritt durch die Erleidung eines Übels abbüßt – eine weite Formel, welche die Gesellschaft ermächtigt, mehr die innere Moralität als die äußere zu überprüfen, und durch welche die bürgerliche Obrigkeit sich ein göttliches Attribut anmaßt. Deshalb ergänzte die eklektische Schule die Begrenzung der sozialen Verteidigung (Broglie, Rossi, Guizot, Remusat, Pouhaer, Belime, Haus). Damit wurde ihr Hauptmangel behoben; doch nicht behoben wurden die anderen Mängel. Denn indem sie als erste Grundlage der Strafe die Vergeltung annimmt und darin eine Vorwegnahme der göttlichen Gerechtigkeit erblickt, muss sie sich bei der Bemessung der Strafen den Forderungen der Moral unterwerfen und erregt damit Bedenken angesichts eines Fehltritts, der auf andere Weise vergolten ist. Man schreibt dem Menschen Fähigkeiten zu, die ausschließlich Gott besitzt. Diese Mängel sind aus denselben Gründen dem System der Dekadenz (Schmalz, Fichte) vorzuwerfen; es besteht in der Behauptung, dass der Mensch dadurch, dass er ein Verbrechen begeht, sich seiner Würde begibt und deshalb ohne Verletzung der Gerechtigkeit seiner Rechte entkleidet werden kann. Dass dies eine Behauptung ist und nichts weiter, leuchtet jedermann ein. Alle diese Formeln, die sich auf ein abstraktes moralisches Prinzip stützen, indem sie nachweisen, dass der Verbrecher seine Strafe verdient habe, erklären nicht, warum die Strafe von der gesellschaftlichen Obrigkeit – und ausschließlich von ihr – verhängt wird; weshalb man, um zu diesem Ergebnis zu gelangen, einer zweiten Theorie und eines zweiten Beweises bedarf – genau so, wie die Formel von der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer zweiten Theorie bedarf, um die Existenzberechtigung des Staates nachzuweisen.
10) Die fortgesetzte Verteidigung. Diese Formel ist kürzlich von Thiercelin [...] als ein neuer Ansatz unterbreitet worden; doch scheint er mir eine bloße Weiterentwicklung des Prinzips der direkten Verteidigung zu sein. [...] [345]
§ 602 Das Recht der bürgerlichen Obrigkeit zum Strafen geht aus dem ewigen Gesetz der Ordnung in seiner Anwendung auf die Menschheit hervor – was dasselbe bedeutet wie dass es aus dem Naturgesetz hervorgeht. Und wenn ich von Naturgesetz und Naturrecht spreche, verstehe ich unter Natur nicht die materiellen Bedingungen der einzelnen menschlichen Person. Dieser falsche Begriff, der so viele Irrtümer hervorgerufen hat, führt zur Verwechslung von Wünschen und Bedürfnissen des als Einzelperson betrachteten Menschen mit den Rechten der Menschheit. Die menschlichen Wünsche können manchmal spontane Enthüllungen des Naturgesetzes sein, wenn sie vernünftig sind, d.h. wenn sie in Übereinstimmung mit den Rechten aller stehen. Doch darf man das Naturgesetz nicht mit der Stimme verwechseln, durch welche es in gewissen Fällen verkündet wird. Es geht diesen Wünschen voraus, nicht aus ihnen hervor, eben so, wie es jeder menschlichen Handlung und jeder menschlichen Ordnung vorhergeht. Das Naturgesetz ist so, wie es Aristoteles auffasste: das Gesetz, welches der Menschheit vom Höchsten Geist vorgegeben ist.
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§ 603 In dieser Formel sind das Prinzip der absoluten Gerechtigkeit (dessen erster Archetyp das Naturgesetz ist), das Prinzip der Selbsterhaltung (dessen göttliches Hilfsmittel dasselbe Gesetz ist) und das spontane Empfinden des universellen Gewissens, das der ständige Verkünder dieses Gesetzes ist, vereint. Diese drei Ideen vereinigen sich in jener Formel nicht wie drei unterschiedliche Dinge, welche die [346] Phantasie eines Eklektikers zusammenbindet, um daraus ein System zu bilden, sondern wie drei Elemente bzw. Bedingungen, die ihrer Natur nach in einem einzigen Prinzip vereint sind und von ihm nicht getrennt werden können. § 604 Die Herleitung des Rechts zum Strafen in der Gesellschaft aus dem Naturgesetz lässt sich anhand der Verkettung folgender Aussagen dartun: 1.
Dass es ein von Gott der Menschheit durch die reine Religion verkündetes ewiges, absolutes, aus einem Komplex von verbindlichen Vorschriften für das äußere menschliche Verhalten bestehendes Gesetz gibt. Die Existenz dieses Gesetzes wird von den theologischen Juristen mit der Formel „legem naturalem hominibus imponere Deus et potuit, et debuit et voluit“ ausgedrückt. Man kann es nicht leugnen, ohne dass man einen Geist in der Schöpfung leugnet oder diesem die Eigenschaften der Weisheit und der Güte abspricht.
2.
Dass dieses Gesetz dem Menschen Rechte einräumt, die für ihn notwendig sind, um seine Bestimmung auf Erden zu erreichen. Erkennt man an, dass der Mensch von seinem Schöpfer Pflichten unterworfen ist, so wäre es absurd, dem moralischen Gesetz nicht auch den Charakter eines Rechts-Gesetzes zuzusprechen, denn es wäre ein innerer Widerspruch, wenn ein Gesetz Pflichten auferlegte, ohne auch die Rechte zu gewähren, welche ein unerlässliches Mittel zu deren Erfüllung sind.
3.
Dass aus der absoluten Notwendigkeit der Wahrnehmung dieser Rechte durch die Menschen auch notwendig das Recht folgt, ihren Schutz im Wege des Zwanges gegen jene auszuüben, die aus bösem Antrieb die allen wechselseitig obliegende Pflicht verletzen, diese Rechte zu achten. [347]
4.
Dass aus der freien Ausübung dieser Rechte und aus der entsprechenden Beachtung der Pflicht, sie zu achten, die vom Naturgesetz gewollte äußere moralische Ordnung entsteht.
5.
Dass das Erfordernis einer solchen Ordnung, d.h. der wirksame Schutz der Menschenrechte in der natürlichen Gesellschaft nicht erfüllt werden kann – aus dem zweifachen Grund der Unfähigkeit, das Urteil über Recht und Rechtsverletzung durchzusetzen, und der materiellen Unfähigkeit, die Rechtsverletzung zu verhindern oder auszugleichen.
6.
Dass also der Zustand der bürgerlichen Gesellschaft eine Notwendigkeit der menschlichen Natur ist – einer Gesellschaft nämlich, in der den Rechtsgenossen eine Obrigkeit übergeordnet ist, welche die äußere Ordnung schützt; dass somit die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft keineswegs ein Gegensatz
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zur natürlichen Ordnung darstellt, sie vielmehr die einzige Ordnung ist, welche das Naturgesetz der Menschheit vorschreibt. § 605 Diese Folge von Sätzen führt zur unausweichlichen Konsequenz, dass die gesellschaftliche Obrigkeit, die vom ewigen Gesetz der Ordnung als einziges mögliches Mittel des Schutzes der Menschenrechte gewollt ist, eine Obrigkeit sein muss, welche mit allen Befugnissen ausgestattet ist, die erforderlich sind, um dieses Ziel zu erreichen. Und diese Befugnisse werden ihr nicht durch menschliche Einigkeit oder durch politische Übereinkunft übertragen, sondern durch ein Gesetz selbst, das sie wollte und das sie zu diesem Zwecke wollte. § 606 Doch bloß belohnende und präventive Befugnisse der gesellschaftlichen Obrigkeit genügen nicht den Erfordernissen, [348] solange es nicht das Recht gibt, die Verletzer des Rechtsgesetzes zu bestrafen. Daher ist von demselben Gesetz, von dem die Obrigkeit und ihr Zweck gewollt sind, dieser auch das Recht zum Strafen gegeben. Wenn es etwas gibt, was sich a posteriori als Ausführung eines allgemeinen und absoluten Prinzips erweist, dann ist es die Bestrafung der Verbrecher. Sie hat sich dem Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten in der Form des Racheempfindens enthüllt, wurde in den Zeiten des Erwachens der Zivilisation durch die religiöse Anschauung gereinigt, mit fortschreitender Aufklärung auf ihren wahren, ausschließlich irdischen Charakter reduziert und schließlich zu ihrer äußersten Entwicklung dadurch gebracht, dass in ihr nicht mehr ein Recht des Verletzten, des Priesters oder des Fürsten erblickt wurde, sondern ein solches der Menschheit; die Strafgewalt hat sich durch alle Ideen und alle Systeme hindurch erhalten – ein Szepter, vor dem die menschlichen Leidenschaften sich stets und überall gebeugt haben. Dies zeigt, ich wiederhole es, dass, wenn es überhaupt eine Regel gibt, die ihr Hervorgehen aus dem ewigen Gesetz, das die Menschheit anleitet, intuitiv offenbart, es die der Bestrafung des Schuldigen auf Erden ist. § 607 Ebenso, wie auch nicht der geringste Zweifel an der Legitimität der von der gesellschaftlichen Obrigkeit verhängten Strafen aufkommen kann, besitzt andererseits die bürgerliche Gesellschaft als einzigen rationalen Grund für ihr Dasein die Notwendigkeit, Verletzungen der Menschenrechte zu bestrafen. Für die körperlichen und geistigen Bedürfnisse der Menschheit würde nämlich eine bloße natürliche Gesellschaft ausreichen, die nach dem Grundsatz vollkommener Gleichheit geordnet ist, [349] ohne Obrigkeit und ohne Gesetze. Warum sagt man daher, dass der menschlichen Natur die bloße brüderliche Vereinigung nicht ausreiche, sondern sie der bürgerlichen Gesellschaft bedarf, was heißt: der Herrschaft? Einzig und allein wegen der moralischen Bedürfnisse des Menschen, welche ohne Herrschaft wegen des Fehlens jeglichen Schutzes der Rechte nicht befriedigt würden. Die Notwendigkeit des Strafens ist der einzige Grund für das Bestehen von Herrschaft. Setzet, dass kein Mensch jemals mehr die Rechte eines anderen verletzt oder dass das moralische Gesetz in sich selbst hinreichende Kraft des Zwangs
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besitzt, wie sie die physischen Gesetze besitzen, so wäre die Herrschaft etwas Überflüssiges und Ungerechtes. Die wechselseitige Unterstützung der Menschheit in ihren Bedürfnissen, der unbegrenzte geistige Fortschritt des Menschen, der sich auf dem Vehikel der Tradition voranbewegt, würden sich in dem erforderlichen Umfang in der bloßen brüderlichen Gemeinschaft finden, zu der die Menschheit getrieben und in der sie durch den unwiderstehlichen Antrieb ihrer eigenen Natur festgehalten wird. § 608 Indes ist das moralische Gesetz in einer Lage, in der es auf Grund der menschlichen Freiheit und der ungezügelten Leidenschaften, welche zu sehr zum Bösen drängen, verletzt wird. Und das auf diese Weise der Verletzungsgefahr ausgesetzte moralische Gesetz besitzt auf der Erde keinen wirksamen Zwang in sich selbst noch eine unmittelbare und fühlbare Sanktion. Die Bedürfnisse der Menschheit erfordern, dass dieser Zwang und diese Sanktion zu seiner Vervollständigung hinzutreten. Und das vom ewigen Gesetz bestimmte Mittel zu dieser seiner Vervollständigung ist die gesellschaftliche Obrigkeit, die dies durch den präventiven Zwang [350], (der Aufgabe einer guten Regierung ist) und durch die Zufügung eines empfindlichen Übels für die Rechtsverletzer (Belehrung durch Strafe) erreicht und damit legitimer Weise die Rechte der Menschen und ihre eigenen schützt. Der Hauptzweck der bürgerlichen Gesellschaft ist es, auf der Erde das Reich des Rechtsgesetzes zu errichten, das ohne sie nicht möglich wäre, d.h. zu erreichen, dass die Menschen, durch das Band des Gehorsams gegenüber dem Rechtsgesetz vereinigt, leben. Jede Verletzung des persönlichen Rechts widerspricht dem Zweck der bürgerlichen Gesellschaft, und damit verletzt sie auch die Gesellschaft. Die gesellschaftliche Obrigkeit besitzt daher das Recht, alles zu tun, was nötig ist, um diesen Zweck des Rechtsschutzes zu erreichen, und damit hat sie auch das Recht, sich selbst zu erhalten und zu schützen, denn damit schützt und erhält sie das Mittel, welches das ewige Gesetz der Ordnung als unerlässlich für die Vervollständigung des moralisches Gesetzes vorgesehen hat. Daraus folgt die Befugnis der Obrigkeit, physischen Zwang auch auszuüben, um ein noch nicht begangenes Verbrechen zu verhindern; und daraus wiederum folgt ihre Befugnis, einen psychologischen Zwang gegen diejenigen auszuüben, welche zum Bösen neigen, indem sie ihnen einen fühlbaren Schmerz in Form der Strafe dafür androht, dass sie durch die Verletzung des Rechtsgesetzes vom fühlbaren Drang zum Guten abgelassen haben. Und weil die Wirkung des physischen Zwanges allein nicht genügen würde, um das Ziel zu erreichen, entsteht das Lehramt der Strafe gerade aus einer Notwendigkeit der menschlichen Natur und nicht aus einer menschlichen Notwendigkeit. Die Formel von Carmignani, der im Strafrecht ein jus politicae necessitatis erblickte, ist zwar weniger mangelhaft als viele andere Formeln, welche zu diesem Zwecke erdacht worden sind; sie entspricht jedoch nicht dem Bedürfnis, denn politische Notwendigkeit meint [351] Notwendigkeit des Gemeinwesens, des Staates; und der Missetäter, den man einer Strafe unterziehen will, könnte stets einwenden, dass er die Existenzberechtigung dieses Staates und dieses Gemeinwesens nicht anerkenne. Und solange man ihm das übliche Argument entgegenhält, dass die körperlichen und geistigen Bedürfnisse der Menschheit und ihre Bestimmung zu unendlicher Vervollkommnung den Zustand der Vergemein-
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schaftung erforderten, könnte er, ohne auch nur sich auf die Verwirrtheiten des Genfers berufen zu müssen, ohne weiteres die Wahrheit der geselligen Natur des Menschen einräumen und in der Vergemeinschaftung die Bestimmung des Menschen anerkennen; doch könnte er auch weiterhin bestreiten, dass diese Vergemeinschaftung die Grenzen einer bloßen auf den Rechten der Gleichheit gründenden Brüderschaft verlassen dürfe; er könnte die Legitimität der Einrichtung einer Regierung bestreiten und sie als ein Ergebnis der Gewalt bezeichnen. Wenn man ihm daher als einzigen Grund der Tatsache, dass man ihn bestraft, die politische Notwendigkeit vorhält, so beruft man sich auf ein Postulat, das er gerade bestreitet. Und deshalb bedarf man eines zweiten Beweises zur Rechtfertigung der Verfassung der Gesellschaft in Form des Staates, zur Rechtfertigung des Verbotes und zur Rechtfertigung der Bestrafung. Die Formel necessitas politica ist somit unvollständig, weil sie den Beweis, dass eine derartige Notwendigkeit auf Recht gründet, zu wünschen übrig lässt. Macht man aber den Strafgrund am ursprünglichen Rechtsgesetz fest, so ist die Notwendigkeit des Strafens als Ableitung aus diesem Gesetz dargetan, und zugleich ist die Notwendigkeit der Existenz der Gesellschaft und der Herrschaft dargetan. Diese Wahrheiten kann der Missetäter nur mit Haarspaltereien und mit offenkundigen Widersprüchlichkeiten bestreiten, wenn sie in einer solchen Formel zusammengefasst sind. Denn wenn er von der Gesellschaft eine Begründung für das Verbot und für die Bestrafung, also dafür, warum man ihn bestimmter Rechte beraubt, verlangt, so behauptet er damit für sich die Existenz dieser Rechte, von denen er bestreitet, dass die Obrigkeit das Recht besitze, sie ihm zu entziehen; wenn er sie aber für sich behauptet, so muss er notwendig das Bestehen eines Rechtsgesetzes einräumen, und gleichermaßen muss er einräumen, dass es diese Rechte auch für andere gibt. Räumt er sie aber für andere ein, so muss er zugestehen, dass er kein Recht besitzt, sie anderen zu nehmen, wie er es mit seiner verbrecherischen Handlung getan hat; und er muss [352] den anderen das Recht zugestehen, sich gegen ihn zu schützen. Und daraus folgt von selbst das Ergebnis eines Widerspruchs zwischen ihnen und ihm. Denn da diese nicht als erste das Rechtsgesetz verletzt haben, haben sie das Recht, dessen Schutz zu verlangen und von sich zu sagen, dass es ihnen von ihm zu Unrecht genommen worden sei. Er hingegen kann, da er als erster das Rechtsgesetz verletzt hat, innerhalb der Grenzen, in denen das von ihm behauptete Recht mit Recht der anderen in Konflikt gerät, nicht widerspruchsfrei dessen Schutz anrufen. Dies ist der Grund, warum das Recht zu verbieten und zu strafen generell nicht vom Täter ohne gedanklichen Mangel bestritten werden kann, denn für seinen Widerstand stützt er sich auf das Postulat des Bestehens eines Rechtsgesetzes, das er aber notwendigerweise als universell und allen gemeinsam behaupten muss. Das Bekenntnis zum Rechtsgesetz ist aber von dem Bekenntnis zur Befugnis, dieses zu verteidigen, nicht zu trennen. Und deshalb habe ich geglaubt, die Formel meines großen Lehrmeisters nicht übernehmen zu können, denn wenn man sie nüchtern betrachtet, handelt es sich um eine empirische Formel, und wenn man auf ein oberstes Prinzip der Vernunft zurückgehen will, so kann man dieses nur in dem Naturgesetz finden, dem ersten Erbauer des Rechts und der Herrschaft des Rechts. Die bürgerliche Gesellschaft, das Gemeinwesen, ist nicht etwa die Ursache des Rechts; sie ist dessen erste Wirkung. Nicht sie ist es, die das Rechtsgesetz schafft; es ist das Rechtsgesetz, das den Staat als Mittel zu seiner Beachtung schafft. Für völlig berechtigt halte ich die Kritik von Thiercelin [...], dass die Formel gesellschaftliche Notwendigkeit dem recht häufig zu begegnenden Fehler verfällt, das Recht mit seiner Garantie zu verwechseln.
§ 609 Das Recht zum Strafen in der Gesellschaft, das als Vervollständigung des moralischen Gesetzes, als Ursache für die Existenz der Gesellschaft, als Gebot des ewigen Gesetzes der Ordnung der Menschheit anzusehen ist, beruht somit auf den drei Prinzipien der Nützlichkeit, der Gerechtigkeit und der Sympathie – der Nütz-
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lichkeit, weil [353] das Naturgesetz allein auf den Nutzen des Menschengeschlechts gerichtet ist; der Gerechtigkeit, weil das Naturgesetz als göttliches Gesetz das absolut Gerechte zum Maßstab hat, welches ein Übel für denjenigen verlangt, der Übles getan hat; der Sympathie, weil das Naturgesetz, das von Gott dem Herzen aller Menschen kraft des moralischen Empfindens und der gesunden Vernunft mitgeteilt ist, ein bestätigendes Echo für seine Wünsche nur in all jenen Herzen finden kann, die nicht durch die Leidenschaft verdorben sind. Doch sind dies nicht drei Prinzipien, welche kraft einer Doktrin zusammengewürfelt sind; es sind die Bedingungen, die dem Naturgesetz angeboren und von ihm untrennbar sind. § 610 Strafe ist nicht bloß ein Gebot der Gerechtigkeit, welche die Vergeltung des moralisch Bösen fordert. Gott allein besitzt das Maß und die Befugnis, die gebührende Vergeltung zu fordern. Sie ist nicht bloß eine Verteidigung, welche das Interesse der Menschen sich auf Kosten anderer verschafft. Sie ist auch nicht der Ausbruch eines Empfindens der Menschen, um ihre Gemüter gegenüber der Gefahr künftiger Verletzungen zu beruhigen. Strafe ist nichts als die Sanktion des Gebotes, das vom ewigen Gesetz vorgeschrieben ist, welches stets die Erhaltung der Menschheit und den Schutz ihrer Rechte anstrebt, stets nach den Normen der Gerechtigkeit verfährt und stets dem Empfinden des universellen Gewissens entspricht. § 611 Ist das Strafensystem einmal als Hervorbringung des Naturgesetzes erkannt, so muss es in Übereinstimmung mit jenen Bedingungen geordnet werden, welche der Quelle, [354] der es entspringt, entspricht. Jedes Strafensystem, dass von einer dieser Bedingungen abweicht, ist ungerecht, widerspricht dem Empfinden und muss sich als schädlich erweisen, denn die Normen des ewigen Gesetzes sind absolut und unverbrüchlich. In Übereinstimmung mit diesen Gedanken erblicke ich das grundlegende Prinzip des Strafrechts in der Notwendigkeit des Schutzes der Rechte des Menschen; in der Gerechtigkeit erblicke ich die Grenze seiner Ausübung und in der öffentlichen Meinung die Mäßigerin seiner Form. Der Rechtsschutz ist ersichtlich eine wesentlich andere Formel als die Formel vom Gesellschaftsschutz. Die eklektische Schule musste mit diesem die Idee der Begrenzung durch die Gerechtigkeit als ein von der Versöhnung der Doktrin gebotenes quid ulteriore verbinden. Und die Anwendung dieses Notbehelfs war eine gute Gewohnheit, denn die Formel soziale Verteidigung gibt der Strafe ein gänzlich materielles Prinzip und macht sie zum Tummelplatz der schwankenden und häufig überbordenden Nützlichkeits-Bedürfnisse. Hingegen ist der Formel vom Rechtsschutz die Grenze der Gerechtigkeit bereits wesenseigen, innerer Bestandteil und von ihr untrennbar. Unter den modernen Kriminalisten ist der verehrte Ortolan [...] derjenige, der sich dieser Formel am meisten angenähert hat. Es bleibt noch darauf hinzuweisen, dass die Formel von der sozialen Verteidigung sich einer missverständlichen Interpretation bedient, denn das Wort sozial kann entweder im aktiven oder im passiven Sinne verwendet werden. Im passiven Sinne, wenn man meint, dass das ursprüngliche Recht zum Strafen in der Gesellschaft zur Verteidigung ihrer selbst entsteht – und in diesem Sinne ist die Formel abwegig und falsch; im aktiven Sinne, wenn man meint, dass das ursprüngliche Recht beim Individuum liegt und dass die Gesellschaft dessen Schutz
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wahrnehmen soll; in diesem Sinne entspricht es dem Begriff, den ich für richtig halte; man spreche ruhig von sozialer Verteidigung, jedoch so, dass man damit den Verteidiger und nicht das Verteidigte meint. Die Formel ist aber gerade deshalb nicht akzeptabel, weil die die Gefahr der Verwechslung hervorruft.
§ 612 Dies alles führt zu dem Schuss, dass die Freiheit des Menschen letztlich die Grundlage des Strafrechts ist. Da der Mensch nach dem Gesetz seiner Schöpfung dazu bestimmt ist, frei seine Tätigkeit auf Erden innerhalb der Grenze der Beachtung der Freiheit seiner Mitmenschen zu entfalten, steht er von Ewigkeit her unter der Herrschaft des moralischen Gesetzes, das zugleich seine Rechte gegenüber den anderen und seine Pflichten gegenüber den anderen bezeichnet. Doch diese Freiheit wäre keine wirkliche Freiheit ohne den Zügel einer Obrigkeit, welche die Wirksamkeit des Gesetzes vervollständigt. Es ist daher nicht die Gesellschaft, welche das Recht zum Strafen entstehen (!) lässt; es ist die Notwendigkeit der Bestrafung derer, die dieses Gesetz verletzen, welche die bürgerliche Gesetze entstehen lässt. Diese ist ein unveränderliches Ergebnis des Naturgesetzes, nicht als dessen Zweck, sondern als dessen Mittel, als Instrument der Durchsetzung der Freiheit und des entsprechenden Schutzes menschlicher Tätigkeit. Leugnet man, dass das Recht der bürgerlichen Gesellschaft vorhergeht, erblickt man in der Anerkennung dieses ewigen Gesetzes nicht den Existenzgrund der Obrigkeit als seiner notwendigen Dienerin, so muss man sich verzweiflungsvoll für einen von zwei Wegen entscheiden: entweder die menschliche Vernunft an einen fabelhaften Dogmatismus zu fesseln, oder sich in die unzuverlässige und unbeständige Flut der Nützlichkeit zu stürzen. Im ersten Falle liefert man das Strafrecht der Theologie aus und ordnet sich damit zwangsläufig einem falschen Prinzip unter, ähnlich jenen Völkern, die nicht der Wahrheit der Offenbarung teilhaftig sind; im zweiten Falle überlässt man sich den Stürmen der Leidenschaften. Jede andere Formel ist nichts als ein Wiederaufgreifen neuer Phrasen, auf deren Grund sich entweder die Leere [356] oder eine diese beiden Ideen befindet. Keine andere Formel als diejenige des Gesetzes der irdischen Ordnung kann das Recht zum Strafen in seinem wahren Zustand begreifen: als etwas, dem jeder Asketismus abgeht und das nur auf menschliche Ziele ausgerichtet ist, und als etwas, das mit einem absoluten Prinzip verknüpft ist, das vor der Wut der Vielen eben so wie vor der Übermacht der Wenigen unzerstörbar und unbewegt ist. Die Grundlage unserer Formel ist ein Dogma: Das universelle Dogma, das die Gesellschaft, die Regierungen, die Strafund die Zivilgerichtsbarkeit und alles was sonst noch Ausdruck der Herrschaft des menschlichen Geistes über den Menschen ist, legitimiert; ein menschheitliches Dogma, das daher die Christen ebenso wie die Anhänger falscher Propheten überzeugt – das Dogma nämlich, dass der Schöpfer die Menschen einem moralischen Gesetz unterworfen hat, das ein Rechtsgesetz und ein vollkommenes Gesetz sein soll. Wir alle sind Werkzeuge in der Hand Gottes, ob wir nun Regierende oder Regierte sind: Wir haben Rechte nur, um seinen Zielen zu dienen.
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Kapitel III: Zweck der Strafe § 613 Häufig wird der Zweck einer Sache mit dem Grund ihrer Rechtfertigung verwechselt. Dies geschah auch in Verbindung mit der Strafe, und es war die Quelle von Irrtümern. Das eine unterscheidet sich nämlich grundlegend von dem anderen. Die Untersuchung des Grundprinzips der Strafe führt zum Auffinden des Wesensmerkmals verbrecherischer Handlungen, d.h. dessen, was [357] Merkmal menschlicher Handlungen sein muss, damit man sie verbieten kann; und das Ergebnis dieser Untersuchung lässt sich nach unserer Formel folgendermaßen zusammenfassen: Es müssen Handlungen sein, die das Recht verletzen und für die man mit bloßem physischen Zwang keine vollständige Wiederherstellung erreicht, sondern einer Sanktion bedarf. Die Untersuchung des Zwecks der Strafe führt zum Auffinden der Maßstäbe der Verbrechen und damit der Strafen selbst. § 614 Der Zweck der Strafe ist weder der, Gerechtigkeit herzustellen, noch der, den Verletzten zu rächen, noch der, den von ihm erlittenen Schaden zu ersetzen, noch der, die Bürger abzuschrecken, noch der, dass dem Verbrecher seine Tat vergolten wird, noch der, dass seine Besserung erreicht wird. All dies können Nebenfolgen der Strafe sein, und einige von ihnen können wünschenswert sei; doch selbst wenn alle diese Ergebnisse fehlen würden, bliebe die Strafe davon unberührt. § 615 Der hauptsächliche Zweck der Strafe ist die Wiederherstellung der äußerlichen Ordnung in der Gesellschaft. Cock, Feuerbach und andere mit ihnen meinten, man müsse den Zweck der Strafdrohung vom Zweck ihrer tatsächlichen Verhängung unterscheiden. Doch Bayer und Königswarter haben diese Unterscheidung als reine Sophisterei mit der Bemerkung zurückgewiesen, dass man dem Vollzug der Strafe keinen besonderen Zweck zuschreiben könne. Dieser dürfe nichts anderes sein als die notwendige Folge ihrer Androhung durch das Gesetz. Wenn aber der Richter mit der Verhängung der Strafe ein anderes Ziel verfolge als der Gesetzgeber bei ihrer Androhung vor Augen gehabt habe, so wäre die Verurteilung nicht mehr die notwendige Folge des Gesetzes, sie wäre nicht mehr eine gerechte Handlung, sondern eine politische Handlung; und der Richter könnte in dem angenommenen abweichenden Ziel einen Grund finden, von der Übereinstimmung mit dem Gesetz abzuweichen.
§ 616 Das Verbrechen hat eine Person oder eine Familie oder eine Mehrzahl von Personen materiell geschädigt. Dieses Übel wird mit der Strafe nicht geheilt. § 617 Doch indem das Verbrechen die Gesetze der Gesellschaft verletzt hat, hat es diese geschädigt; sie hat alle Bürger geschädigt, indem sie in ihnen das Gefühl ihrer Sicherheit vermindert und die Gefahr des schlechten Beispiels geschaffen hat.
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§ 618 Die Gefahr für den Verletzten ist nun allerdings leider bereits vergangen, weil sie sich in ein wirkliches Übel verwandelt hat. Doch die Gefahr, die allen Bürgern droht, hat damit begonnen – die Gefahr nämlich, dass der Missetäter, wenn man ihn unbestraft lässt, seine Verletzungen anderer wiederholt, und die Gefahr, dass andere, ermutigt durch das schlechte Beispiel, selbst zur Verletzung der Gesetze schreiten. Dies ruft natürlich die moralische Wirkung einer Angst hervor, eines Misstrauens in den Schutz des Gesetzes bei allen Rechtsgenossen, die sich in dessen Schatten des Bewusstseins ihrer Freiheit erfreuen. [359] § 619 Diesen ganz und gar moralischen Schaden [...] bewirkt die Verletzung allen durch die Verletzung des Einen, denn sie stört die Ruhe aller. Die Strafe muss diesen Schaden dadurch heilen indem sie die Ordnung wiederherstellt, welche durch die Unordnung des Verbrechens berührt ist. Der Begriff der Heilung, mit dem wir das Strafübel zum Ausdruck bringen, trägt in sich die drei Ergebnisse der Besserung des Schuldigen, der Ermutigung der Guten und die Ermahnung der zum Bösen Geneigten. Doch dieser Begriff unterscheidet sich auf gewichtige Weise von dem reinen Begriff der Besserung und von dem Begriff der Abschreckung. Es ist eine Sache, einen Schuldigen dazu zu bringen, keine Verbrechen mehr zu begehen, eine andere Sache, ihn innerlich bessern zu wollen. Es ist eine Sache, die zum Bösen Geneigten daran zu erinnern, dass das Gesetz seine Drohungen auch verwirklicht, eine andere Sache, Schrecken in den Gemütern zu verbreiten. Schrecken und Besserung sind in der moralischen Handlung der Strafe impliziert, doch wenn man aus ihnen ein besonderes Ziel machen will, so denaturiert man sie und führt die Strafgewalt auf Abwege. § 620 Die Bürger, welche von dem Verbrecher neue Verletzungen befürchten, hören auf, solche Befürchtungen zu hegen, wenn sie hoffen, dass er durch die Strafe gezügelt wird. § 621 Die Bürger, welche die Nachahmung des Missetäters durch andere befürchten, hören auf, solche Befürchtungen zu hegen, wenn sie von dem Übel, das diesem zugefügt wird, ein Bedenken erhoffen, welches den Anstoß, den das schlechte Beispiel liefert, aufhebt. Und damit lässt sich mit der Formel von der Ruhe der Zweck der Strafe zusammenfassen. Diese Formel vereinigt in sich den Ausdruck, dass die Strafe eine Strafe sein muss und dass sie eine direkte Verteidigung sein muss – eine Feststellung, die kürzlich von dem verehrten Ellero formuliert worden ist und vor ihm noch von niemandem bemerkt worden ist. Die Strafe ist dazu bestimmt, mehr bei den anderen als bei dem Schuldigen (wohlgemerkt: moralisch) zu wirken, es genügt hingegen nicht, dass sie auf die Missetäter einwirkt; vielmehr ist erforderlich, dass sie hinreichend auf die Guten einwirkt, um sie sowohl dem Verbrecher gegenüber als auch seinen befürchteten Nachahmern ge-
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genüber zu beruhigen. Jenes Übel, das als Strafbewehrung des Gebots ausreichen würde, weil es genügend Wirkung auf die übel Gesinnten ausübt, indem es ihnen ein Leiden vor Augen hält, das größer ist als der Nutzen aus dem Verbrechen, kann daher möglicherweise keine hinreichende Wirkung auf die Guten ausüben, um sie im Hinblick auf den Schuldigen selbst zu beruhigen. Daher besteht das Bedürfnis, sie länger festzuhalten, damit die Bürger keinen Grund zu der Befürchtung haben, dass er, zu früh entlassen, zu verbrecherischen Handlungen zurückfindet. Und auf diese Weise verbindet der Begriff der direkten Verteidigung sich mit dem Ziel der Ruhe und trägt damit zur Vervollständigung des Bemessungsmaßstabes der Strafen bei. § 622 So ist also die Strafe, die vom materiellen Übel des Verbrechens nicht heilt, ein höchst wirksames und das einzige Heilmittel des moralischen Übels. Ohne sie wären die Bürger, die wegen der Wiederholung von Missetaten ihre Sicherheit als täglich mehr schwindend empfinden, gezwungen, eine Gesellschaft, die zu ihrem Schutz nicht in der Lage ist, zu verlassen. [361] § 623 Auf diese Weise ist also letzter Zweck der Strafe das Gemeinwohl, das sich in der Ordnung zeigt, für welche durch den Schutz des Rechtsgesetzes gesorgt wird; und die faktische Wirkung der Strafe verbindet sich so mit dem Grund, der diese Wirkung rechtfertigt. § 624 Um aber an dieses Ziel zu gelangen, muss die Strafe bestimmte Wirkungen hervorrufen, welche ebenso nächstgelegene Ziele sind, an denen die Strafe sich orientieren muss. Und sie bestimmen die speziellen Eigenschaften, welche man unbedingt von ihr erwarten muss. § 625 Da diese Merkmale der Strafe Ableitungen aus ihrem absoluten Prinzip bilden, binden sie auch den Gesetzgeber; er kann nicht ohne Missbrauch von ihnen abweichen, denn das ewige Gesetz der Ordnung ist, wie Bacon gesagt hat, die lex legum. § 626 Solange es sich noch auf der Suche nach diesen wesentlichen Merkmalen befindet, bewegt das Strafrecht sich auf der Höhe einer rein spekulativen Wissenschaft. Steigt es hinab, um über die besten Methoden zur Umsetzung dieser Prinzipien zu entscheiden, wird es (wie ein großer Philosoph [Centofanti] treffend bemerkt hat) zu einem Teil der Kunst, denn seine Untersuchungen gehören alle [362] zu den praktischen Mitteln, jenem Gesetz Gehorsam zu erweisen und jenes Ziel zu erreichen, welche die Wissenschaft ihm gewiesen hat.
Enrico Ferri (1856–1929) Die neuen Horizonte des Straf- und Strafprozessrechts (I nuovi orizzonti del diritto e della procedura penale) (2. Aufl. 1884) [33] Kapitel I: Die Leugnung des freien Willens und die strafrechtliche Verantwortlichkeit [...] [87] Der einzige natürliche Grund und fundamentale Maßstab für die Bekämpfung der Verbrechen besteht darin, dass der unabdingbare Zwang zur Selbsterhaltung sowohl den Organismus einer Gesellschaft wie auch denjenigen eines Lebewesens antreibt und absolut beherrscht und dass deshalb dieser Zwang zur Selbsterhaltung – dies ist die grundlegende Neuerung der positivistischen Schule (scuola positiva) gegenüber der klassischen Wissenschaft und der verbreiteten Auffassung – beim Einzelnen und in der Gesellschaft gänzlich unabhängig von jedem Element moralischer Beschuldigung des Täters eines Angriffs auf die natürlichen Existenzbedingungen des Einzelnen und der Gesellschaft ist und bleiben muss. Gewiss kann auch in der Gesellschaft und beim Einzelnen diese Funktion der Verteidigung bzw. Selbsterhaltung nicht losgelöst von jeglicher Bedingung sein, und eben darauf werde ich sogleich eingehen und damit eine deutliche Antwort auf die Kriminalisten geben, die gegen uns immer wieder die ebenso schlichte wie unbegründete Anklage erheben, wir lieferten uns der tyrannischen Herrschaft des „schäbigen Gesellschaftsinteresses“ aus und ordneten jede Freiheitsgarantie des einzelnen Verbrechers diesem Interesse unter. Inzwischen jedoch bildet die Erkenntnis, zu der uns die Beobachtung der Tatsachen spontan geführt hat, einen Grundsatz, der schon als solcher einleuchtet, wenn er erst einmal formuliert ist, und der, ungeachtet seines revolutionären Anscheins, breite [88] und, wenn auch unbemerkt, tägliche Anerkennung durch das allgemeine Bewusstsein und sogar durch den Gesetzgeber erfährt; ein Grundsatz, der weittragende wissenschaftliche und praktische Bedeutung besitzt, das rechtliche Gebäude der Kriminalwissenschaft von den Grundfesten her erneuern wird und, wie ich glaube, einen jener besonders fruchtbaren Gedanken darstellt, die sich bereits, wenn auch noch verborgen, durch das Bewusstsein einiger Naturwissenschaftler schlängelten, welche die Beziehungen zwischen ihren Tatsachenschlüssen und den Sozialwissenschaften erforschten, und von mir in aller Deutlichkeit in den ersten Versuchen einer solchen Erneuerung der Kriminalwissenschaft formuliert und entwickelt worden sind. Denn ebenso, wie man eine der fundamentalsten und sichersten Erkenntnisse der heutigen Physiopsychologie – dass nämlich die Intelligenz des Menschen, besser gesagt: seine gesamte psychische oder moralische Tätigkeit, nichts anderes ist als die organische Funktion seines Nervensystems – nur begreifen und dem Alltagsverstand plausibel machen kann, wenn man beim ersten und schwächsten Aufblitzen psychischer Tätigkeit unter einfachsten Tieren beginnt und sodann die großen Glieder der zoologischen Kette bis zum wilden Menschen und von dort zum ziviE. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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lisierten und hochintelligenten Menschen weiterverfolgt, so konnte auch eine der tragenden und fruchtbarsten Erkenntnisse der Kriminalsoziologie, welche die positivistische Schule formuliert hat – dass nämlich das Strafrecht nichts anderes ist als die vitale Funktion der Selbsterhaltung, unabhängig von jeder Bedingung moralischer Freiheit oder moralischer Verantwortlichkeit beim verbrecherischen Menschen –, ungeachtet ihrer Begründetheit, ja offenkundigen Wahrheit von Denkern, die aufgrund verschiedener Denkgewohnheiten voreingenommen waren, nur dadurch angenommen wurden, dass man begann, ihre ersten und embryonalen Erscheinungsformen in den untersten Graden des Tierreichs zu beobachten und von da aus die zoologische Skala bis zum primitiven Menschen und durch sie bis zur heutigen Menschheit mit jenen Methoden der Tiersoziologie zurückverfolgte, die, unverstanden oder missverstanden, demjenigen, der keine intimen Kenntnisse der Naturwissenschaften besitzt, als schlichte und inhaltsleere Befolgung einer Tagesmode erscheinen mögen. Die Erkenntnis, zu der wir unterdessen gelangt sind, besteht aus zwei Teilen eines und desselben Hauptprinzips. Die erste Erkenntis, die in mehr oder weniger großen Teilen bereits von zahlreichen Kriminalisten anerkannt wird und als einzige von der gewöhnlichen allgemeinen Beobachtung bestätigt wird, besteht, wie ich gesagt habe, darin, dass bei Ausübung des Strafrechts nur die Natur der Verteidigungs- und der Selbsterhaltungsfunktion anerkannt wird; die zweite, die als ausdrückliche Erklärung neu ist, besteht in der Unabhängigkeit dieser Funktion von jedem Maßstab moralischer Freiheit oder moralischer Beschuldigung, welche hingegen bisher von der klassischen Kriminalwissensschaft und auch, wenngleich mit häufigen Brüchen, vom gewöhnlichen Bewusstsein verlangt wurde. Dieser zweite Teil ist der Grund dafür, dass wir mit der Kriminalsoziologie auf den Höhepunkt des grundlegenden Problems der menschlichen Verantwortlichkeit gelangen, welches ich daher jetzt, wenn auch nur in groben Zügen, behandeln muss, wobei ich mir eine vollständigere und genauere Entwicklung des Problems an anderer Stelle vorbehalte. Zunächst jedoch müssen zwei Einwände geklärt werden, die von den klassischen Kriminalisten, auch von den jüngeren, immer wieder gegen den ersten Teil dieses Prinzips als absolute Aussage ohne Beimischung anderer Prinzipien vorgetragen worden sind – anderer Prinzipien, welche zu Unrecht [90] als höhere bezeichnet worden sind (wiederherstellende oder vergeltende Gerechtigkeit), denn wenn es klar ist, dass, menschlich gesprochen, es nichts „Höheres“ gibt als die Erfordernisse des menschlichen Lebens – des individuellen und des gesellschaftlichen –, es nunmehr an der Zeit ist, die veralteten Unterscheidungen zwischen dem „willkürlichen, vulgären, wechselhaften“ Nützlichen und dem „absoluten, edlen, ewigen“ Gerechten aufzugeben, weil beide nämlich in der Sache ganz dasselbe sind, denn das „Gerechte“ bzw. das „Billige“ ist nach unserer Auffassung nichts anderes als das Nützliche, das letztlich den natürlichen Bedingungen der menschlichen Existenz in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort entspricht und damit vom unmittelbaren, den zuletzt genannten Bedingungen nicht entsprechenden Nützlichen zu unterscheiden ist, auf das sich nur niedere Eigenschaften beziehen, die wir jedoch als Positivisten niemals als Lebensregel akzeptieren würden.
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Diese Einwände der Klassiker lauten: Erstens könne man das Strafrecht nicht mit dem Verteidigungsrecht gleichsetzen, denn während die Verteidigung eine erst noch zu begehende Tat betreffe, betreffe die Strafe eine bereits vollendete Tat; zweitens bedeute die Begründung mit der sozialen Verteidigung bzw. sozialen Selbsterhaltung als einzigem Prinzip des Strafrechts einen Rückschritt gegenüber der Begründung mit dem Rechtsschutz bzw. der Rechtsverteidigung oder der Rechtsbewährung, wie er von der zeitgenössischen klassischen italienischen Schule vertreten werde – vor allem deswegen, weil die soziale Verteidigung jedweden Machtexzess zum Nachteil der Rechte des Einzelnen zu legitimieren vermöge, während die Rechtsverteidigung diese Möglichkeit nicht zulasse. [91] Wenn die Gesellschaft, als lebendiger Körper, drohende Angriffe eines eindringenden Feindes abwehrt, dann befinden wir uns wirklich in der Situation der persönlichen Notwehr, so wie wenn der Einzelne einen Straßenräuber abwehrt; und dann geht es in der Tat nicht um Strafrecht im eigentlichen Sinne. So geschieht es aber auch, wenn der Träger der öffentlichen Gewalt im Namen der Gesellschaft einen direkten Angriff gegen eine Person oder mehrere Personen abwehrt; auch dann ist es die Gesellschaft, welche die persönliche Verteidigung ausübt, indem sie sich in dem angegriffenen Einzelnen verteidigt. Wenn daher die Gesellschaft den Verbrecher wegen einer bereits begangenen Straftat bekämpft oder – um das alte Wort zu benutzen – bestraft, so kann man, wenn man das Wort Verteidigung in seiner engsten Bedeutung benutzt, nicht wirklich sagen, dass sie einen Akt der Notwehr übe, wie es Locke sagte. Und doch: Wer würde leugnen, dass diese gesellschaftliche Bekämpfung eines begangenen Verbrechens nicht die innere Natur einer Verteidigung im weiteren Sinne besitze, einen Schutz vor neuen Verbrechen, vor allem solcher seitens des bestraften Einzelnen und ein wenig auch seitens anderer, die ihn nachahmen könnten? Es geht daher mehr um eine Frage der Worte als um eine solche in der Sache, und wir können gern, wie Franck es tut, die Bezeichnung soziale Selbsterhaltung für exakter halten als „soziale Verteidigung“. Woran uns Positivisten aber vor allem liegt, ist, dass die Gesellschaft in dem [92] Recht, welches die begangenen Verbrechen bestraft bzw. bekämpft, keine andere Funktion erblicken darf, als schlicht und einfach diejenige einer Verteidigung oder Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung. Die natürliche Entwicklung des Strafrechts, die ich soeben erwähnt habe, ist dafür ein Tatsachenbeweis und liefert uns eine positive Antwort auf diesen ersten und schon gewohnten Einwand. Fälschlich nämlich wird von fast allen Kriminalisten – pro oder contra – die echte und eigentliche Verteidigung mit der gesellschaftlichen Repression verglichen; diese müsste jedoch mit der rächenden Reaktion des primitiven Individuums auf bereits erlittene Verletzungen verglichen werden. Wenn nämlich die Gesellschaft den Verbrecher bestraft, so tut sie nichts anderes, als jene Funktionen auszuüben, die in den primitiven und barbarischen Zeiten von der Rache des Verletzten wahrgenommen wurden – wie bei den heutigen Wilden, wie im Mittelalter bei den Barbaren und wie bis heute noch bei einigen Völkern Europas (Albaner, Montenegriner usw.). Die Kriminalisten sehen diesen primitiven Racheinstinkt als schicksalhaft bestimmt (provvidenziale) an; und viele Vertreter der Staatsanwaltschaft sprechen [93] noch heute von „gesellschaftlicher Rache“ und erinnern damit unbewusst an die ersten Ursprünge des Strafrechts – so, wie
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auch andere verbreitete Ausdrücke, wie Bagehot bemerkt, von ferne „sich auf den Geist des Krieges beziehen, der unsere Moral immer noch durchdringt“. Wer wird aber leugnen, dass auch in der persönlichen Rache der Begriff der Verteidigung gegen mögliche Wiederholungen der Verletzungen mitspielt? Und wer kann des weiteren leugnen, dass die Gesellschaft weniger für das straft, was geschehen ist, als vielmehr für das, was noch geschehen kann, d.h., um sich vor Wiederholungen krimineller Angriffe zu bewahren? Wenn Ellero schreibt, dass „die Strafe auf künftige Verbrecher zielt, nicht aber auf den (ich würde sagen: zusammen mit dem), den sie trifft“, so bestätigt er damit präzise die alte Formulierung der alltäglichen Beobachtung „punitur non quia peccatum est, sed ne peccetur“. Der gemeine Verstand (der sich nicht um Worte schert) hat sich niemals eine andere Vorstellung von der Aufgabe der Strafe bilden können als jene der sozialen Verteidigung oder besser: der sozialen Selbsterhaltung; dies ist einer der Fälle, in denen Wissenschaft und gemeiner Verstand übereinstimmen, und angesichts einer so offenkundigen Realität ist es daher nutzlos, sich darum zu bemühen, fern liegende Prinzipien und Formeln zu finden. Ohne Zweifel ist die soziale Verteidigung nicht genau dasselbe wie die persönliche Rache, denn diese ist die erste Phase einer [94] Entwicklung, welche mit jener endet: aus einem individuellen und vorübergehenden Akt wird sie zu einer kollektiven und dauerhaften Funktion, die einem dauerhaften und kollektiven Bedürfnis entspricht. Aus diesem Grund sagte Romagnosi: „Die Aufgabe des Strafrechts ist weder eine individuelle noch eine vorübergehende; sie ist vielmehr eine universelle und dauerhafte Aufgabe einer Gesellschaft“.
Aus demselben Grunde sagte auch Guerrazzi: „Mich treibt der Gedanke, dass Strafe sich nicht Rache zum Ziel setzen dürfe, überhaupt nicht um, denn ich bin gerade der Auffassung, dass sie sich diese zum Ziel setzt. Dass es mehrere Formen von Rache gibt, ist unbestritten; dass der Mensch, der auf das Leben in Gemeinschaft angewiesen ist, sein Recht zur Rache an den Magistrat abtreten muss, versteht sich eben so, wie es sich andererseits versteht, dass es Fälle von Rache gibt, die wegen des Motivs, aus dem sie hervorgegangen sind, oder wegen der Art oder des Übermaßes, womit sie ausgeübt werden, ungerecht sind; und all diese sind zu verdammen; doch die gerechte, maßvolle, der Verletzung entsprechende Rache kann man nicht verdammen“.
Die Strafe wird somit genau zu dem, was von Beccaria, vor ihm von Hobbes, Leibniz und Holbach und nach ihm von Romagnosi, Schopenhauer, Stuart Mill usw. gesagt worden ist, dass sie sein solle: „Ein spürbares Motiv gegen das Verbrechen“ (Beccaria) – und zwar in der von Ellero formulierten doppelten Bedeutung, nämlich zum einen als psychologisches Motiv, das vor der Straftat [95] zurückschrecken lässt, also in der Form der gesetzlichen Androhung, und zum anderen als Verteidigung, welche sich gegen die Wiederholung von Angriffen seitens des Verbrechers richtet, also in der Vollstreckung der gesetzlichen Androhung. Es wird daher, mit Carmignani, die präventive Verteidigung von der repressiven Verteidigung unterschieden, doch es wird nicht bestritten, dass die Aufgabe des
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Strafrechts schlicht und einfach eine Funktion der gesellschaftlichen Selbsterhaltung sei. Dies mag ja sein, wenden die klassischen Kriminalisten ein; aber seht ihr denn nicht, dass ihr, wenn ihr von sozialer Verteidigung oder Selbsterhaltung sprecht, welche mehr oder weniger aus der Rache hergeleitet wird, ihr damit den Einzelnen jeder Art von Übergriffen seitens der Gesellschaft aussetzt, welche im Namen angeblicher gesellschaftlicher Notwendigkeit oder Nützlichkeit über die Repression hinausgreift und schließlich mit der Vernichtung der Persönlichkeitsrechte und der Menschenrechte zu der berüchtigten „Ordnung von Warschau“ gelangt? Wir hingegen, sagen sie, sprechen von rechtlicher Verteidigung und rechtlichem Schutz und richten damit das Recht, die höchste und absolute Grenze, als unerschütterlichen Damm gegen jeden Übergriff der Gesellschaft gegen den Einzelnen, auf. Ich halte es für unnötig, darauf hinzuweisen, dass diese großartige Besorgnis der klassischen Kriminalisten die Auswirkung jener individualistischen Strömung, vor allem unseres Jahrhunderts ist, mit der man, indem man bis zu ihrer Übertreibung gelangt ist, in der modernen Gesellschaft immer noch einen Feind des Einzelnen erblickt, wie es einst der mittelalterliche Staat war, und dass diese Besorgnis mit dem modernen Gleichgewicht zwischen Individuum und Gesellschaft aufhören wird, das die positivistische Soziologie schaffen will, da sie beide in Übereinstimmung mit dem menschlichen Leben als untrennbar begreift. [96] Und ich halte es ebenfalls für unnötig, den völlig richtigen Gedanken von Livingston in seinem Vorwort zum Entwurf des Strafgesetzbuchs von Louisiana zu wiederholen: „Die Gemeinnutz ist so innig mit der Gerechtigkeit verbunden, dass sie in der Kriminalrechtswissenschaft untrennbar sind“, bzw., wie ich sagen würde, dasselbe sind. Hingegen halte ich es für nützlich, an dieser Stelle einen eigenen Gedanken zu wiederholen, der auch von Puglia und anderen Anhängern der positivistischen Schule vertreten wird und der eine von Carrara selbst getroffene und von Cisotti wiederholte Feststellung bestätigt, nämlich die, dass die unterschiedlichen Formeln, „die häufig in der Kruste der Wörter unterscheidend wirken, in der Sache ein und dasselbe sind“. Ich glaube daher, dass die Formel „Notwendigkeit der rechtlichen Verteidigung“ wirklich den Tatsachen entspricht und die einzige positive Rechtfertigung des Strafrechts ist. Ich glaube freilich auch, dass die Formel „Notwendigkeit der sozialen Verteidigung bzw. Selbsterhaltung“ nicht nur mit ihr gleichbedeutend ist, sondern sogar noch präziser ist. Denn in dem Ausdruck „Verteidigung des Rechts“ verbirgt sich ein Doppelsinn, der aus der nicht genauen Unterscheidung von Vernunftrecht – als ein von Philosophen und Juristen entwickelter Komplex von Prinzipien – und positivem Recht – als gesellschaftliche Regel, die Ausdruck des Willens der Mehrheit und eines allgemeinen Bedürfnisses ist, resultiert. Versteht man nun unter „Verteidigung des Rechts“, dass die Gesellschaft beim Strafen sich um die Erhaltung einer abstrakten, rationalen Rechtsordnung kümmern müsse, dann gibt es in der Tat einen [97] Unterschied zur „sozialen Verteidigung“, welche für eine konkrete Rechtsordnung steht, wie sie in den geltenden Gesetzen formuliert ist. Dann aber ist leicht festzustellen, dass dies nicht wirklich die Aufgabe des Strafrechts ist; denn mag auch die
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Gesellschaft verpflichtet sein, bei der Ausformulierung ihrer Gesetze die Gebote der Vernunft und Wissenschaft zu befolgen, so kann sie, wenn sie erst einmal eine bestimmte Ordnung von Gesetzen konkret geschaffen hat, nur die Erhaltung dieser Ordnung, wie sie aktuell besteht, verteidigen – egal, ob diese nun den wissenschaftlichen Grundsätzen gemäß ist oder nicht. Denn falls man die Formel „rechtlicher Schutz“ als „Verteidigung des Rechtes“ im abstrakten bzw., rationalen Sinne versteht, bliebe immer noch die Frage: „welches Rechtes denn?“ – jenes Rechtes, wie es die Griechen, die Römer, das Mittelalter, das 18. oder das 19. Jahrhundert verstanden haben? des Rechtes, wie es heute die Italiener, die Engländer, die Chinesen, die Montenegriner, die Eskimos oder die Hottentotten verstehen? Da das Recht, als Idee, nicht absolut, ewig und unveränderlich ist, sondern mit den Zeiten, mit den Orten und sogar mit den Personen sich ändert, kommt als einziger fester Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Erforschung einer gesellschaftlichen Funktion nur das positive Recht, wie es jetzt in einer bestimmten Gesellschaft besteht, in Betracht. Die Aussage, dass die Gesellschaft das Recht zum Strafen wegen der Notwendigkeit der rechtlichen Verteidigung besitze, kann daher nichts anderes bedeuten, als dass die Gesellschaft zur Erhaltung der Rechtsordnung, wie sie in einem bestimmten historischen Zeitpunkt besteht, straft. Dann aber ist leicht einzusehen, dass rechtliche Verteidigung völlig gleichbedeutend ist mit sozialer Verteidigung, denn Gesellschaft [98] und Recht sind zwei wechselbezügliche und austauschbare Begriffe. Wer Recht sagt, sagt Gesellschaft, denn es gibt eben so wenig Recht ohne Gesellschaft wie es Gesellschaft ohne Recht gibt. [...] [105] Das Leben ist stets und überall eine hartnäckige Angelegenheit, unerbittlich in Handlungen und den darauf folgenden Reaktionen. Und um nur von den lebendigen und beweglichen Wesen zu sprechen: Wo immer ein Tier oder ein Mensch lebt, da herrscht stets auch der Begriff der Sanktion, welcher dem der Reaktion entspricht. Weil der Mensch an der Spitze der Skala steht, auf der sich das große Schauspiel des Lebens abspielt, deshalb unterliegt er zunächst einmal den Sanktionen der niederen natürlichen Ordnungen, welche er mit allen anderen Teilen der Materie gemeinsam hat, und erfährt sodann im besonderen die Sanktion jener höheren Ordnung, die er zwar nicht allein besitzt, sondern auch andere höhere Lebewesen, er jedoch in höherem und komplizierterem Maße: der gesellschaftlichen Ordnung. Und wie sich die natürliche Ordnung in physische, biologische und soziale Ordnung unterscheidet, so entsprechen diesen auch drei große Ordnungen von Reaktionen bzw. Sanktionen: die physische oder natürliche Sanktion im engeren Sinne – die biologische Sanktion – die soziale Sanktion. [106] Der Mensch oder das Tier, das, auch unbewusst, auch unwillentlich, auch gezwungenermaßen die Naturgesetze verletzt, findet in der Natur selbst eine unweigerliche Reaktion bzw. Sanktion. Wer sich zu weit aus einem Fenster lehnt, und sei es in bester moralischer oder wohltätiger Absicht, stürzt hinab und stirbt. – Physische Sanktion.
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Wer zu viel isst, erfährt eine Verdauungsstörung, wird krank und leidet; wer seinen eigenen Organismus missbraucht, sei es in seinen pyhsiologischen, sei es in seinen psychischen Fähigkeiten, erleidet viele Schmerzen und häufig die Vernichtung des physiologischen oder geistigen Lebens – Biologische Sanktion. Und ebenso steht es mit der sozialen Sanktion. Für sie könnten wir Beispiele sogar schon in tierischen Gemeinschaften finden, wenn wir nämlich in der Reaktion der individuellen und auch der sozialen Verteidigung gegen Tiere desselben Rudels oder fremder Rudel den Embryo der Strafen erblicken; und wir könnten zahlreiche Beispiele für primitive oder wilde menschliche Gesellschaften an Hand der Forschungen gerade über tierische und menschliche Kriminalsoziologie, die anderswo in großem Umfang stattfinden, anführen. Wir wollen uns aber auf die Betrachtung der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft beschränken und können insoweit die folgenden hauptsächlichen Beispiele erwähnen: Wer aus Unachtsamkeit, ohne Verletzungsabsicht, einen anderen Menschen schlägt, erfährt von dessen Seite eine Reaktion in Worten oder in Taten; und wenn er dagegen mit dem Hinweis protestiert, er habe doch keine schlechten Absichten verfolgt, so wird die Reaktion zwar milder ausfallen, aber nicht gänzlich ausbleiben; es wird stets eine wenig günstige Meinung über ihn zurückbleiben, so dass, wenn er gewohnheitsmäßig unachtsam ist, diese Meinung [107] sich verbreitet und eine isolierende Atmosphäre um ihn schafft oder für dauerhafte Herabsetzung sorgt, von den wirtschaftlichen Folgen, denen er unterworfen werden kann, ganz abgesehen. Ebenso geschieht es mit dem, der andere schlecht macht, unwissend, stolz, geizig usw. ist. – Der Händler, der, nicht aus böser Absicht, sondern aus Vertrauen in andere, geschäftlichen Schiffbruch erleidet und in Konkurs gerät, der Industrielle, der auf ausschließlich ehrliche Weise eine neue Quelle des Reichtums zu erschließen versucht, dabei aber keinen Erfolgt hat und in Elend und Einsamkeit verfällt. – Wer, ebenfalls in gutem Glauben, in den privaten oder öffentlichen Handlungskreis eines anderen eindringt, ist verplichtet, den rechtswidrigen Zustand zu beseitigen, wie z.B. die rechtswidrige Inbesitznahme öffentlicher Flächen usw. – Wer, abermals in gutem Glauben, eine gesetzwidrige Handlung begeht, hat die Nichtigkeit dieser Handlung zu gewärtigen und muss alle für ihn schädlichen Konsequenzen dieser Nichtigkeit tragen. – Wer anderen ohne Absicht oder sogar ohne eigenes Handeln, aber aufgrund der Handlung seines Kindes oder eines von ihm Abhängigen oder auch seines Tieres einen Schaden zufügt, ist zur Zahlung einer Geldsumme als Schadensersatz verpflichtet. – Der Spieler, der in einem Augenblick blinden Irrsinns sein Vermögen verliert, wird durch die öffentliche Meinung und sogar mit der größeren Macht der einschlägigen bürgerlichen Gesetze zur Bezahlung dieser Ehrenschulden gezwungen, welche er sich mit so wenig Überlegung und „moralischer Freiheit“ zugezogen hat. – Der arme Unwissende, der bei der militärischen Ausbildung ohne eigene Schuld die Nomenklatur oder die Befehle oder das Alphabet nicht versteht, wird seiner Freiheit beraubt [108] und dauernder Herabsetzung und vielleicht sogar sehr langer Trennung von seiner Familie unterworfen. – Der arme Irre, der einen Wanderer angreift, vielleicht sogar in der irrigen Vorstellung, ihm etwas Gutes zu tun, wird getötet oder verletzt; und selbst wenn er, ohne Schaden anzurichten, aber skandalös aus der Sache hervorgeht, wird er doch seiner Freiheit beraubt und in die Zelle einer Heilanstalt eingeschlossen. – Der Kutscher, der bei der Ausübung seines ehrenhaften Gewer-
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bes ohne jede böse Absicht einen Wanderer tötet oder verletzt, wird zu Gefängnis verurteilt, was seine materielle und moralische Vernichtung bedeuten kann. Dies alles sind gleichermaßen Formen sozialer Sanktionierung, für die man in sämtlichen Fällen die Beispiele vervielfachen könnte und bei denen man von der schlichten Verurteilung durch die öffentliche Meinung über die kommerzielle oder wirtschaftliche Sanktion, die Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes, die Nichtigkeit begangener Handlungen, den Schadensersatz, die Freiheitsbeschränkung im Namen des nationalen Interesses und die Verletzung durch Notwehrhandlungen oder verwaltungsrechtliche Maßnahmen bis zur strafrechtlichen Verurteilung wegen unbewusster bzw. fahrlässiger Tötung gelangt. Was aber allen diesen höchst verschiedenen Formen gesellschaftlicher Reaktion bzw. Sanktionierung gemeinsam und damit dauerhaft und wesentlich ist, ist diese einfache, aber höchst wichtige Tatsache: die stets bestehende Unabhängigkeit dieser Sanktion vom Willen der handelnden Person – eine Eigenschaft, die, wie zu beachten ist, auch in anderen Kategorien natürlicher, physischer und biologischer Sanktionen ganz gewöhnlich und konstant ist. [109] Bislang sind wir, von der bloßen Reaktion der öffentlichen Meinung ausgehend, bis zu den Fällen der strafrechtlichen Verurteilung gelangt, haben aber noch nicht das eigentliche Feld des Strafrechts betreten, den Bereich des Kriminellen, den Bereich der vorsätzlichen schädigenden Handlungen; d.h. wir sind im außergesetzlichen Bereich der öffentlichen Meinung und der wirtschaftlichen Ordnung verblieben oder haben uns im gesetzlichen Bereich des Zivil- oder Verwaltungsrechts oder auch eines uneigentlichen Strafrechts aufgehalten. Zu erörtern bleibt uns daher noch das weite Feld der echten und eigentlichen Verbrechen und der zugehörigen echten strafrechtlichen Sanktionen. Der Straßenräuber und der Dieb aus überzogenem Gewinnstreben, der Totschläger aus einem Ausbruch vorsätzlicher Rache, der Vergewaltiger aus brutaler Lust, der Bankrotteur aus wohlbedachter Bosheit, der Verleumder aus arglistigen Zwecken und „ähnliche Schmutzfinken“ erfahren schon als solche (falls sie sie erfahren) eine strenge gesellschaftliche Sanktion in Form der echten Strafen. Und das ist gut so. Die Tatsache der unverbrüchlichen gesellschaftlichen Sanktion ist als solche weder in diesen Kriminalfällen noch in einem der bisher erwähnten Fälle umstritten. Worüber gestritten wird, ist die Frage, [110] ob es eine Abhängigkeit dieser gesellschaftlichen Sanktion von der Bedingung des „freien Willens“ und infolge dessen der „moralischen Schuld“ gibt, wie es die klassische Kriminalwissenschaft und mit ihr die Strafgesetzgebung annimmt. Und genau dies ist es, was die positivistische Schule ganz entschieden bestreitet und bekämpft. Denn aus welchem Grund soll denn die Gesellschaft, die in all jenen zahllosen Fällen gesellschaftswidriger Handlungen reagiert, ohne bei ihnen das Element des freien Willens oder der moralischen Schuld zu verlangen, dieses Element als condicio sine qua non defensiver Reaktion fordern, wenn es sich um andere Handlungen handelt, die ebenso gesellschaftswidrig, und noch mehr, sind? Man braucht sich nur ein wenig von den alten Denkgewohnheiten und Voreingenommenheiten frei zu machen, um sogleich zu sehen, dass diese gesellschaftliche Reaktion bzw.
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Sanktion gegen Handlungen, welche die Bedingungen menschlicher Existenz zerstören, einfach ein natürliches Faktum und damit notwendig und unabdingbar ist, in der physischen und der biologischen Ordnung eben so wie in der sozialen Ordnung. Nur eine unbewusste Vorherrschaft religiöser Traditionen und früherer Phasen der wissenschaftlichen Entwicklung, wie ich sie vorhin erwähnt habe, vermag diese Vorstellung zu erklären, keineswegs aber zu rechtfertigen – dass die soziale Verteidigung gegen den Totschläger oder den Vergewaltiger nur dann möglich sei, wenn man ihm den bösen Vorsatz und die moralische Freiheit nachgewiesen habe, und dass man deshalb ganz freisprechen oder weniger bestrafen nur könne, weil sich bei ihm eine solche moralische Freiheit nicht vorfindet oder sie (wie in jedem Fall festgestellt werden müsse) durch den Druck des äußeren Umfeldes als vermindert ansieht. [111] Wenn wir aber die Reihe der verschiedenen Arten sozialer Sanktionen im außergesetzlichen Bereich, im zivilrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Bereich und im wirklich strafrechtlichen Bereich vervollständigen, indem wir sie vom untersten Extrem der einfachen Sanktion der öffentlichen Geringschätzung und dem oberen Extrem der strafrechtlichen Verurteilung wegen eines echten Verbrechens reichen lassen, so ist leicht zu sehen, dass die herkömmliche Theorie von der moralischen Schuld als Bedingung der Strafbarkeit sich darauf reduziert, der Strafe im eigentlichen Sinne eine grundlose Ausnahme gegenüber der ganzen Reihe der Sanktionen, nicht nur der natürlichen, sondern auch der sozialen, zu machen, indem ausgerechnet und ausschließlich bei der Form der strafrechtlichen Sanktion ein Element der „moralischen Schuldfähigkeit“ eingeführt wird, das bei allen anderen Sanktionsarten unbekannt ist oder vernachlässigt wird. Und deshalb besitzt unsere positivistische Auffassung, die dieses Element auch bei der strafrechtlichen Sanktion nicht verlangt, den großen Vorteil, der auch eine Bestätigung der Wahrheit bedeutet, dass er diese strafrechtliche Sanktion mit der gesamten Reihe der natürlichen (physischen, biologischen, sozialen) Sanktionen verknüpft, sie also der Herrschaft derselben Naturgesetze unterstellt und ihr damit eine wirklich positive und sehr viel solidere Grundlage schafft als jene so bestrittene und nicht dechiffrierbare „moralische Freiheit“. Zweifellos verletzt es allzu direkt das gewöhnliche Denken, möglicherweise muss es sogar größtem Widerstand begegnen und die Beschuldigung wissenschaftlicher und moralischer Verwirrung, des Nihilismus usw. hervorrufen, wenn man einfach eine Vorstellung wie diese, dass die Verantwortlichkeit bzw. Strafbarkeit des Verbrechers unabhängig von seiner moralischen Freiheit oder Schuldfähigkeit sein müsse verkündet. Wenn [112] man diese Vorstellung aber aus der Betrachtung der alltäglichen und dauerhaften Fakten ableitet und wenn man sie mit der ganzen Ordnung des natürlichen und menschlichen Lebens verbindet, so meine ich, dass man sie in Zukunft auch den nicht allzu besorgten Gemütern vermitteln kann, und ich bin eben so sicher, dass sie in nicht allzu langer Zeit unbestritten vorherrschen wird. Dies um so mehr, als dieser Gedanke entgegen dem ersten Anschein so wenig revolutionär ist, dass er nicht nur in den primitiven Gesetzgebungen bekannt war, die noch nicht vom religiösen Geist und den daraus folgenden Vorstellungen der
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Sozialethik beherrscht waren, sondern auch heute mehr oder weniger offen in unseren Straf- und Zivilgesetzbüchern sanktioniert ist. [113] Wenn nämlich beispielsweise das Sardisch-Italienische Strafgesetzbuch in Abschnitt II, Titel X, Buch II „unwillentliche Tötungen, Verletzungen und Schläge“ mit Strafe bedroht, so stützt es seine Sanktionen offenbar auf einen Begriff, der von demjenigen des Absichtselements und der moralischen Verantwortlichkeit unterschieden ist. Und wenn das Zivilgesetzbuch in Abschnitt III, Titel IV, Buch III denjenigen, der einen anderen schädigt, für verantwortlich und damit für schadensersatzpflichtig erklärt, und zwar nicht nur bei einer eigenen Handlung, nicht nur für eigene Nachlässigkeit oder Unbedachtheit, nicht nur für Handlungen anderer Personen, sondern auch für das Werk eines ihm gehörenden Tieres, „egal, ob es sich unter seiner Aufsicht befand oder verloren oder entlaufen ist“ (Art. 1152 ff. Codice civile), so stützt es sich offenkundig auf ein Konzept, das sich von dem der moralischen Verantwortlichkeit unterscheidet. Richtig ist freilich, dass bei dieser Form der sozialen Sanktion, dem zivilrechtlichen Schadensersatz, von vielen Juristen das Element der „Fahrlässigkeit“ verlangt wird. Aber auch wenn man unberücksichtigt lässt, dass viele andere Juristen diese überhaupt nicht für erforderlich halten und dies die Auffassung ist, die unter den Zivilisten am meisten verbreitet ist, bleibt doch stets der Umstand bestehen, dass man „Fahrlässigkeit“ hier eher im Sinne von Nachlässigkeit (negligenza) versteht (wie übrigens auch im Fall der fahrlässigen Tötung), als im Sinne der echten „moralischen Fahrlässigkeit“, welche, was man auch sagen mag, im eng verstandenen Kriminalrecht vom freien Willen bzw. von der moralischen Freiheit abhängig gemacht wird. Hieraus wird ganz deutlich, dass die klassischen Kriminalisten sich bisher einen zwiefach mangelhaften Begriff von der Verantwortlichkeit gemacht haben; weil sie einerseits ihren Blick einzig und allein auf die Menschheit, vielmehr auf die bürgerliche Menschheit beschränkt haben, die damals von den Gedanken bzw. gedanklichen Überresten der religiösen Ethik beherrscht war, und andererseits ihr Denken sich nur im kriminalrechtlichen Bereich bewegte. Wir hingegen machen uns ein viel breiteres und stimmigeres Bild von der Wirklichkeit, wenn wir sie nicht nur in den menschlichen und bürgerlichen Gesellschaften betrachten, sondern durch die doppelte Beziehung von Aufeinanderfolge und Gleichzeitigkeit auch in den tierischen Gesellschaften, in den wilden Völkerschaften und bis zu uns, und nicht nur im kriminalrechtlichen Aspekt, sondern in allen unterschiedlichen Formen unterschiedlicher Tätigkeit und der entsprechenden sozialen Reaktion bzw. Sanktion […] [128] Nach dem, was ich bislang ausgeführt habe, möchte ich auch einmal das Gleichnis vom Ei des Kolumbus erneuern und möchte auf jene „schreckliche Frage“ einfach folgendermaßen antworten: Der Mensch ist zurechnungsfähig und damit verantwortlich, weil er in Gesellschaft lebt. Zurechnungsfähig und verantwortlich: Indem ich mit Romagnosi unter „Zurechenbarkeit“ die Möglichkeiten verstehe „jemandem eine bestimmte Wirkung als produktive Ursache derselben zuzuschreiben“, und unter „Verantwortlichkeit“ die Möglichkeit, jemanden für verpflichtet anzusehen, aus demselben Grund einen bestimmten Schaden zu ersetzen und sich einer bestimmten Strafe zu unterziehen“. Oder: materielle Zurechenbarkeit, wonach Tizio der Täter der betreffenden
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Handlung ist, und rechtliche Zurechenbarkeit, wonach Tizio verpflichtet, ist die rechtlichen Folgen dieser seiner Handlung zu tragen. Dass nun dem Mensch seine Handlungen auf Grund der schlichten Tatsache, dass er in Gesellschaft lebt, materiell zugerechnet werden, ist eine nur allzu offenkundige Tatsache, denn die Zurechnung einer Handlung zu dem Menschen, der sie begangen hat, kann nur von einem anderen Menschen als Einzelperson oder als Repräsentant der Gesamtgesellschaft vorgenommen werden. Ein Mensch, der nicht in Gesellschaft lebt, allein, an einem einsamen Ort, ist für seine Handlungen nicht materiell verantwortlich, und zwar aus dem einfachen [129] Grunde, weil es keinen anderen Menschen gibt, der hinzu tritt, um sie ihm zuzurechnen. Aber auch rechtlich können dem Mensch seine Handlungen zugerechnet werden – und zwar aus dem einfachen Grunde, weil er in Gesellschaft lebt; denn wie ich bereits ausgeführt habe, ist nur in der Gesellschaft Recht denkbar und möglich. Das Zusammenleben des Menschen mit anderen Menschen ist die einzige Quelle seiner Rechte und damit seiner Pflichten; allein durch die Tatsache, dass er nicht mehr in Gesellschaft lebt, hat der Mensch keine Rechte und keine Pflichten mehr. Man wende nicht ein, der Mensch habe aber doch potentiell, gedanklich, schon als solcher, stets in sich, in seiner Person, Rechte und Pflichten, denn etwas als bloß potentiell oder gedanklich bestehend zu bezeichnen, ist dasselbe wie zu sagen, es gebe es nicht; das, was besteht, besteht im Handeln, im Wirken, und die gedankliche Möglichkeit seiner Existenz genügt nicht, ihm diese reale Existenz zu verschaffen. Der absolut einsame Mensch hat aktuell und damit real weder Rechte noch Pflichten, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil das Recht ebenso wie die Pflicht im rechtlichen wie im sozialen Sinne (während ich mich mit den moralischen und religiösen Pflichten hier nicht beschäftige) ein Verhältnis von Mensch zu Mensch ist. Nicht also, weil der Mensch eine „moralische Freiheit“, eine „gedankliche Freiheit“ oder eine „relative Freiheit“ zum Handeln besitzt, sind ihm Handlungen rechtlich und gesellschaftlich zurechenbar bzw. ist er für sie verantwortlich, sondern einzig deshalb, weil, da er nun einmal in Gesellschaft lebt, jede seiner Handlungen nicht nur individuelle, sondern auch soziale Wirkungen hervorruft, welche von der umgebenden Gesellschaft auf das Individuum zurückwirken; und dies muss zwangsläufig auf Grund der bloßen Tatsache des Lebens in Gesellschaft jene Wirkungen beeinflussen und unterstützen, die für ihn nützlich und gut sein werden, wenn seine Handlung gut und nützlich für die Gesellschaft gewesen ist, und schädlich und unangenehm sein werden, wenn seine Handlung für die Gesellschaft schädlich und unangenehm gewesen ist. Es gibt daher nur einen einzigen Weg für den Menschen, keine Verantwortung für seine Handlungen zu tragen, nämlich den, das Leben in Gesellschaft gänzlich aufzugeben. Und insoweit könnte man sagen, indem man mit Fouillée kurz zu Rousseau zurückkehrt, dass die soziale Verantwortlichkeit einige Grundlagen in der Vertragsauffassung vom Gemeinschaftsleben findet. Da allerdings der Mensch sich schicksalhaft in Gesellschaft befindet und nicht das tun kann, was er will, ist dieses Vertragselement so winzig, sogar negativ, dass man es fast vollständig vernachlässigen sollte.
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Als erste und einfachste Aussage über einen positiven Maßstab der strafrechtlichen Verantwortlichkeit lässt sich daher feststellen, dass jeder Mensch stets verantwortlich für jede von ihm begangene rechtswidrige Handlung ist, allein weil und solange er in Gesellschaft lebt. [...] [135] Eine embryonale Vorstellung von sozialer bzw. rechtlicher Verantwortlichkeit, die für jede Handlung eines Bürgers besteht, wird vervollständigt durch die weitere Vorstellung von der unterschiedlichen Art und dem unterschiedlichen Grad der Sanktionen, welche aus ihnen resultieren. Und daraus ergeben sich wieder zwei grundlegende Probleme, mit deren Lösung ich dieses Kapitel über die Verantwortlichkeit im Sinne der positivistischen Schule abschließen möchte. 1.
Welches sind die verschiedenen Formen der sozialen Sanktion, in denen diese Verantwortlichkeit des Bürgers für die von ihm begangenen rechtswidrigen Handlungen ihren Ausdruck finden soll?
2.
Welches soll im Einzelfall der Maßstab sein, der die am besten geeignete Form der sozialen Sanktion und deren Grad anzeigt? [136]
Beginnen wir mit dem ersten dieser Probleme, so ist es vor allem ganz natürlich, festzustellen, dass es hier um die Form der gesetzlichen Sanktion geht, denn die Formen außergesetzlicher Sanktionen (öffentliche Meinung, natürliche wirtschaftliche Folgen, religiöse Sanktionen, Sanktionen des inneren Gewissens), wie wirksam sie, da spontan, als Hilfsmittel der gesellschaftlichen Selbsterhaltung auch sein mögen, und wie sehr einige von ihnen immer mehr zur Intensivierung und Expansion tendieren mögen, können doch nicht im eigentlichen Sinne Gegenstand der Rechtswissenschaft werden, die ja unsere Aufgabe ist, wenngleich sie natürlich in die Überlegungen der praktischen Soziologie einfließen müssen, von welcher der kluge Gesetzgeber sich eine Anleitung erwartet. Und eben in der systematischen Bezeichnung dieser verschiedenen Formen sozialer Reaktion auf individuelle rechtswidrige Handlungen besteht die Aufgabe der Kriminalsoziologie, d.h. der Wissenschaft, welche sich mit den Gesetzen der gesellschaftlichen Sicherheit befasst. Und in diesen Forschungen, welche der ganzen Vielfalt der täglich vorkommenden Fälle gerecht werden müssen, erstrahlt die Vorzüglichkeit der positivistischen Methode, wie sie von der neuen Schule vorgeschlagen wird. Statt Syllogismen über Straftaten als solche als abstrakte juristische Wesenheiten zu bilden, stellt sie lebendige und sprechende Taten als natürliche Erscheinungen fest, die von Personen begangen werden, welche spezielle und unterschiedliche seelisch-körperliche Eigenschaften in einem gegebenen pyhsischsozialen Umfeld aufweisen. In dieser Hinsicht kann die positivistische Schule sich seit ihren ersten Anfängen zweier großer Verdienste rühmen, welche zwei wirkliche Fortschritte [137] in Richtung auf das letzte Ziel eines besseren und sichereren Verlaufs des gesellschaftlichen Lebens bedeuten. Bisher nämlich hatte die klassische Schule die Funktion der sozialen Verteidigung einzig und allein auf die Ausübung der Straf- bzw. Repressivfunktion beschränkt – und zwar infolge jener in der Einleitung bereits erwähnten Vorstellung, wonach man das Verbrechen als das Ergebnis eines seine Freiheit missbrauchenden Wil-
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lens nur mit einer auf eben diesen Willen einwirkenden, das verletzte Recht bestätigenden und die gefährdete Ruhe wieder herstellende Strafsanktion behindern oder bändigen könne. Infolge der historischen Reaktion auf die mittelalterliche Willkür bestehen die besonders puristischen, aber auch viele der vermittelnden klassischen Kriminalisten nachdrücklich auf dem Ausschluss jeder anderen Form von Sozialverteidigung gegenüber Verbrechen, die nicht wirkliche und echte Strafe ist; und sie meinen daher, dass die Präventivmittel allerhöchstens zweitrangige Hilfsmittel sein dürfen und nicht einmal wirkliche Rechtsnatur besäßen, eben weil sie, wie man sagt, heilige Rechte der Persönlichkeit zu sehr gefährden und ungeheure Missbräuche der gesellschaftlichen Macht zu sehr begünstigen. Und alle klassischen Kriminalisten weisen, wenn sie es überhaupt tun, auf die zivilrechtlichen oder Hilfsvorschriften als Instrumente der sozialen Verteidigung gegen rechtswidrige Handlungen kriminellen Charakters hin, weil sie einen substantiellen Unterschied zwischen Zivil- und Strafrecht annehmen und höchstens anerkennen, dass der zivilrechtliche Schadensersatz eine akzessorische (und [138] in der Praxis fast vollständig vernachlässigte) Konsequenz des Verbrechens im Anschluss an seine erste und hauptsächliche Konsequenz, die Strafe, sei; dies zeigt sich beispielsweise selbst in den Worten des Art. 1 unserer Strafprozessordnung. Und eben hier zeigt sich das erste Verdienst der positivistischen Schule, welche im Gegensatz dazu die praktische, von der theoretischen Rationalität bestätigte Notwendigkeit betont, in einem einzigen System alle verschiedenen Vorsorgemittel gegenüber rechtswidrigen Handlunge zu vereinigen, über welche die Gesellschaft verfügen kann, also statt beinahe unwiderruflich die zivilrechtlichen Mittel von den strafrechtlichen Instrumenten, die Präventivmittel von den Repressivmitteln zu trennen, sie auf das gemeinsame Ziel der sozialen Verteidigung hin koordiniert und organisiert. Was aber die Behauptung der klassischen Schule angeht, dass zwischen der Kunst des guten Regierens bzw. der Prävention und der Wissenschaft von der Ausübung des Strafrechts ein Abgrund liege, so habe ich geantwortet – und damit die Zustimmung von Garofalo, Puglia und anderen Positivisten gefunden –, dass Prävention und Repression nicht als zwei Elemente einer einzigen und identischen Funktion seien, welche von dem selben gesellschaftlichen Organ im Hinblick auf einen identischen Zweck ausgeübt werde. Einziger Zweck: die Aufrechterhaltung der Ordnung – einziges Problem: die Erforschung der (für das Individuum wie für die Gesellschaft) wirksamsten und nützlichsten Methoden, dieses Ziel zu erreichen. Gewiss sind die Maßstäbe für die eine und für die andere unterschiedlich; doch die Unterscheidung, der wahre Teil der klassischen Theorie, bedeutet nicht Trennung. Es wird darüber zu entscheiden sein, welches der beiden Elemente einer und derselben gesellschaftlichen Funktion [139] größere Bedeutung besitzt; dies ist ein Problem, das wir in Kürze mit Hilfe der Psychologie und der Kriminalstatistik lösen werden; man wird aber zugeben müssen, dass für die Prävention ebenso wie für die Repression von Straftaten der Kriminalsoziologe stets im Studium der Erscheinungen selbst die zugrunde liegenden Normen wird erforschen müssen.
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Diese Art der Betrachtung von Prävention und Repression ist die einzige, welche Übertreibungen in der einen wie in der anderen Richtung verhindert. Behält man nämlich diese absolute Trennung bei, so bedient man sich entweder zu sehr der repressiven Tätigkeit und gelangt dann, wie es ja in der Tat geschehen ist, dahin, nur noch in Strafen die Mittel der rechtlichen bzw. sozialen Verteidigung zu erblicken, und verfällt damit leicht der Illusion, zur Verhinderung oder Verminderung von Straftaten genüge es, ein Strafgesetzbuch zu erlassen; oder aber man verlässt sich zu sehr auf die Prävention und gelangt damit zu dem entgegengesetzten Extrem, entweder real und über die rechte Grenze der Notwendigkeit hinaus das auch uns heilige Gut der Individualrechte zu verletzen oder jegliche Strafe als nutzlos oder absurd anzusehen, wie es demjenigen vorkommen mag, der die neuen Daten der Kriminalsoziologie betrachtet, wie bspw. Owen, Girardin, Wyrouboff, Minzloff usw. Wir hingegen gehen von der positivistischen Untersuchung des Phänomens Kriminalität aus und sagen, dass die soziale Verteidigung zu ihrer Realisierung sowohl der Prävention als auch der Repression bedarf; und wir behalten uns lediglich vor, nach diesen Ergebnissen der Kriminalsoziologie zu entscheiden, welche von den beiden Verteidigungsmitteln die größere Bedeutung und Nützlichkeit für den Einzelnen selbst und für die Gesellschaft besitzt und besitzen sollte. [140] Was sodann die noch entschiedener betonte Trennung zwischen zivilrechtlichen bzw. wiedergutmachenden Mitteln und repressiven Mitteln, zwischen Zivilrecht und Strafrecht angeht, so antworte ich auch hier, dass sie durchaus nicht positiv ist. Und zwar deshalb, weil nach meiner Auffassung zwischen Zivilrecht und Strafrecht kein inhaltlicher Unterschied besteht; denn beide waren in den primitiven Phasen der menschlichen Entwicklung nicht getrennt und es gibt denn auch eine Zeit, in der die Strafen fast ausschließlich wiedergutmachenden bzw. zivilrechtlichen Charakter tragen. Erst im Verlauf der Zeit, die eine dauernde Entwicklung und Komplizierung in den gesellschaftlichen Erscheinungen mit sich brachte, unterschied man diese Zweige, wie man später noch das Handelsrecht, Verwaltungsrecht, Verfassungsrecht, Völkerrecht, Industrierecht usw. unterschied; wobei jedoch stets zwei Zweige des selben Stammes, zwei Aspekte derselben Ordnung der Tatsachen (der rechtlichen Tatsachen mit der normalen oder zivilrechtlichen Seite und der anormalen oder strafrechtlichen Seite) blieben. Sie unterscheiden sich zweifellos im Augenblick ihrer größten Entwicklung so deutlich voneinander, wie ein Säugetier sich von einem Fisch unterscheidet; doch in der ersten Zeit ihrer gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklung sind Zivilrecht und Strafrecht dem Grunde nach ebenso identisch, wie in ihren biologischen Anfängen jene identisch sind, die heute unterschiedliche Spezies von Tieren geworden sind. Deshalb verrichten jene Juristen ein nutzloses Werk, die sich z.B. damit abmühen, eine strenge, aber unrealistische Grenze zwischen zivilrechtlichem und strafrechtlichem Betrug zu ermitteln, welche es als solche nicht gibt, wie beispielsweise der Umstand beweist, dass viele Handlungen, die früher einmal im Strafgesetzbuch unter Strafe gestellt waren, heute nur noch [141] im Zivilgesetzbuch stehen, und viele, die heute Straftaten sind und von Amts wegen verfolgt werden, demnächst, wie Puglia bemerkt, zu schlichten zivilrechtlichen Interessenkonflikten werden, insbesondere dann, wenn der moralisch vergeltende Geist, der heutzutage das Strafrecht beherrscht, abflaut. Wie man nämlich versteht, dass für die Kriminali-
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sten, welche die strafrechtliche Verantwortlichkeit auf die „moralische Schuldfähigkeit“ stützen, diese ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal zur zivilrechtlichen Verantwortlichkeit ist, so versteht man andererseits auch, dass nach Beseitigung des substantiellen Unterschieds für die eine wie für die andere Verantwortlichkeit, wenn beide von jedem Maßstab der „moralischen Schuldfähigkeit“ befreit sind, die logische Notwendigkeit, zivilrechtliche von strafrechtlichen Mitteln der Sozialverteidigung nicht mehr zu trennen, sondern sie nur noch zu unterscheiden, offenkundig werden muss. Und diese absolute Trennung zwischen Zivilrecht und Strafrecht hat nicht nur die Juristen in fruchtlosen theoretischen Unternehmungen erschöpft, sondern auch zu schädlichen praktischen Folgen geführt, weil alle, indem sie einen Abgrund zwischen zivilrechtlichen und strafrechtlichen Sanktionen annahmen, der Gesellschaft eine fruchtbare Quelle für Hilfsmittel verstopft haben, welche in der Lage waren, beim Täter selbst die Wiederholung rechtswidriger bzw. verbrecherischer Handlungen und bei Dritten die Nachahmung des schlechten Exempels zu hindern. Nach der trefflichen Bemerkung von Bovio, auf welche auch Filangieri Bezug nimmt, sehen wir nämlich, dass in Gesellschaften, in denen die zivilrechtlichen Sanktionen besonders schnell, leicht und gerecht sind, [142] es weniger Bedarf an der Anwendung strafrechtlicher Sanktionen gibt; berühmtes historisches Beispiel ist die unübertroffene Exzellenz der römischen Welt im Bereich des Privatrechts bei gleichzeitiger großer Unvollkommenheit im Strafrecht. Und umgekehrt gilt, wie bereits De Candolle und Zincone statistisch nachgewiesen haben, dass, wenn das Zivilrecht langsam, schwierig und teuer ist, die Verbrechen privater Gewalt anwachsen. Aus diesen Gründen vertritt die positivistische Schule, wie erwähnt, die theoretische und praktische Notwendigkeit, Instrumente, welche geeignet sind, die soziale Ordnungsfunktion auszuüben, Präventiv- und Repressivmittel, zivilrechtliche und strafrechtliche Mittel, über welche die Gesellschaft gerade verfügen kann, in einem einzigen System zu organisieren. Die positivistische Schule fügt aber diesem Verdienst noch ein zweites hinzu, indem sie den Vorschlag unterbreitet und sich, indem sie ihn in ihr System einbaut und damit belebt, zu eigen macht, weitere Mittel der sozialen Verteidigung einzusetzen, die, weil sie den theoretischen Grundsätzen der klassischen Schule widersprechen, von dieser als illegitim bekämpft worden sind und werden oder aber vom Absolutismus dieser Schule bloß – und auch nur einige von ihnen – in einer offenkundigen Transaktion als hilfsweise anzuwendende Mittel anerkannt worden sind, freilich erst, als sie hierzu von der öffentlichen Meinung genötigt worden ist, die endlich deren großen praktischen Nutzen einsieht und ihre guten Ergebnisse bei Nationen beobachtet, welche gut bestätigte Straftheorien nicht bekämpft haben und sie, geleitet von ihrem praktischen Sinn, bereits angewandt haben. Was ich meine, sind die kriminalpsychiatrischen Anstalten, die bereits von Gerichtsmedizinern und Psychiatern vorgeschlagen worden sind, [143] welche die Vorläufer der neuen Strafrechtsschule waren, sowie die weiteren sozialen Sicherungsmaßnahmen, welche zum positivrechtlichen System der Kriminalsoziologie gehören und eine vierte Kategorie von Mitteln der sozialen Verteidigung bilden.
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Und so kommt es denn, dass die neue Schule zur Beantwortung der Frage, welches die verschiedenen Formen sozialer Sanktionen seien, in denen die rechtliche Verantwortlichkeit des Bürgers ihren Ausdruck finde, vier verschiedene Formen sozialer Reaktion auf rechtswidrige Handlungen vorschlägt, denen vier Arten von Verteidigungsmitteln entsprechen. Indem das abstrakte Denken sich immer mehr von der wirklichen Welt entfernt hat, hat es schließlich nicht nur seinen Sinn für die Realität verloren, sondern auch angebliche Schwierigkeiten aufgebaut, wo es keine gab; und daraus ergibt sich nun die Notwendigkeit, die abstrakten Gedanken an jener ewigen Quelle des geistigen Lebens, nämlich der offenen und einfachen Beobachtung der alltäglichen Fakten, zu korrigieren und zu mäßigen. Und dies gilt sowohl für den einsamen Denker wie für die Menschheit bzw. für die vielen Generationen von Denkern, bei denen die Erscheinung zwar größere Proportionen gewinnt, sich jedoch auf denselben Linien bewegt. Und so ist es denn dahin gekommen, dass nach der langen Phantasterei der metaphysischen Philosophie, bei der es so große Verschwendung wunderbarer Geisteskräfte gegeben hat, sich in unserem Jahrhundert die Notwendigkeit einer positiven, experimentellen, beobachtenden Philosophie gestellt hat – sowohl in der allgemeinen Philosophie als auch in den einzelnen Natur-, Moralund Sozialwissenschaften. [...] [158] Ich glaube nach alledem die Lösung des hier behandelten Problems folgendermaßen beschreiben zu können. Zwei Untersuchungen sind anzustellen: I.
Welche Form der sozialen Sanktion bzw. der Verteidigungsmittel passt für die verschiedenen Fälle am besten?
II.
Wenn das entsprechende Verteidiungsmittel für jede bereits geschehene einzelne rechtswidrige bzw. verbrecherische Handlung bestimmt ist: in welchem Grade soll es angewendet werden?
Der Maßstab der Gefährlichkeit gibt, wie schon gesagt, lediglich eine Antwort, und zwar auch nur eine allgemeine, auf diese zweite Frage. Was aber die erste angeht, welche in Wirklichkeit die Grenzen einer juristischen Theorie der Verantwortlichkeit für begangene Verbrechen transzendiert und in das weite Feld der sozialen Verteidigung nicht nur gegen geschehene, sondern vor allem auch gegen mögliche Verbrechen überleitet, können gerade die Erkenntnisse der neuen Kriminalsoziologie die Lösung bieten. Und es sind, um die nächsten Kapitel vorwegzunehmen, die Ergebnisse der Anthropologie, der Psychologie und der Kriminalstatistik, die uns Auskunft über die besondere Stärke der Antriebe und der rechtswidrigen bzw. kriminellen Handlungen einerseits, der verschiedenen Verteidigungsmittel, welche der Gesellschaft zur Verfügung stehen, andererseits geben sollen. Aus der besonders wichtigen Erkenntnis der Anthropologie und der Kriminalpsychologie, dass der Verbrecher nicht ein einheitlicher, fast algebraischer Typ eines Menschen wie alle anderen ist, wie es die klassische Wissenschaft und Gesetzgebung annahm, sondern verschiedene anthropologische Unterschiedlichkeiten nach organischem und psychischem Charakter mit unterschiedlichen Potentialen sozialwidrigen Verhaltens aufweist, entnehmen der Soziologe und der Gesetzgeber die Richtlinie, die unterschiedlichen Mittel der sozialen Verteidigung
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an die unterschiedlichen Kategorien von Verbrechern anzupassen, beispielsweise die unschädlich machenden Mittel für geborene Verbrecher und für geisteskranke Verbrecher, welche eine dauernde Gefahr für die Gesellschaft der Ehrenwerten bilden; die zeitlich begrenzten repressiven Mittel und die Mittel der Wiedergutmachung für die Gelegenheitsverbrecher und die Verbecher aus leidenschaftlichem Antrieb mit jenen genaueren Sanktionsbesonderheiten, welche ich hier nicht weiter entwickeln kann. Und ebenso ziehen der Soziologe und der Gesetzgeber aus der wichtigsten Erkenntnis der Kriminalstatistik, dass nämlich Strafen ein Heilmittel von sehr begrenzter Wirksamkeit gegen Verbrechen sind, die wesentliche Leitlinie, dass den Präventivmitteln nicht nur, wie bisher, als Gerede, sondern in der alltäglichen Praxis der absolute Vorrang gegenüber allen anderen Instrumenten der sozialen Verteidigung einzuräumen sei, wie ich es in den folgenden Kapiteln noch näher ausführen werde. Es bleibt somit die zweite Frage, die sich auf den Grad der rechtlichen Verantwortlichkeit für jedes einzelne abzuurteilende Verbrechen bezieht. Und was dies angeht, glaube ich, dass man, wenn man den Maßstab der Gefährlichkeit des Verbechers als Leitlinie nimmt, diesen Maßstab auf die einzelnen Fälle nach zwei positiven und ergänzenden Richtlinien befolgen soll: erstens die mehr oder weniger große Sozialwidrigkeit der Handlung; zweitens die mehr oder weniger große Sozialwidrigkeit des Handelnden. Die erste dieser beiden Richtlinien, die auch bereits von Garofalo angesprochen worden ist, ergibt sich nach meinem Dafürhalten aus zwei Elementen: als erstes Element dasjenige des verletzten Rechts, wie es ja auch schon die klassische Schule eben für die Klassifikation der Straftaten vorgeschlagen hat und das wir übernehmen, indem wir es in der Gesamtheit unserer positiven Erkenntnisse beleben und vervollständigen; als zweites Element dasjenige der [160] tatbestimmenden Motive, die für mich, wie ich bei anderer Gelegenheit noch entwickeln werde, einer der wichtigsten Grundsätze in der positivistischen Theorie der rechtlichen Zurechnung bilden. Die zweite dieser Richtlinien, ein Beitrag, den ich selbst in die Kriminalsoziologie eingebracht habe, seit ich eine kritische Untersuchung des Uomo delinquente von Lombroso veröffentlicht habe, und der dann allgemein von den Anhängern der positivistischen Schule akzeptiert worden ist, reduziert sich letztlich auf die verschiedenen Kategorien von Verbrechern im Hinblick auf die individuelle und soziale Entstehung des Verbrechens nach den Ergebnissen der Anthropologie und Kriminalpsychologie. Danach können wir, um die Anwendung der gerade beschriebenen Begriffe an einem Beispiel zu demonstrieren, von dieser Tatsache ausgehen. – Ein toter Mensch, eine Tatsache, die in der Gesellschaft, in der sie eingetreten ist, Erregung auslöst und daher eine angemessene Reaktion fordert. Ist also dieser Mensch an einer Krankheit gestorben oder ist er getötet worden? – Im ersten Fall interessiert die Tatsache die Rechtsordnung nicht, und die soziale Reaktion bewegt sich im außerrechtlichen Bereich der Empfindungen, der öffentlichen Meinung, der natürlichen ökonomischen Folgen. – Im zweiten Fall kann die
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Tatsache die Rechtsordnung, d.h. die öffentliche und private Ruhe und Sicherheit betreffen, und deshalb reagiert die Gesellschaft mit weiteren Untersuchungen. Von wem und auf welche Weise ist dieser Mensch getötet worden? Durch einen Unfall, also ganz unabhängig vom Tun eines anderen Menschen, beispielsweise durch einen Blitz, durch die Begegnung mit einem Raubtier usw., [161] oder wurde er infolge der Tätigkeit eines anderen Menschen getötet? – Im ersten Fall befinden wir uns noch im außerrechtlichen Bereich, und unsere kriminalwissenschaftlichen Fragestellungen sind noch nicht betroffen; im zweiten Fall hingegen ist unser Interesse berührt, und er bestimmt uns zu weiteren Untersuchungen, in denen neben der Tat auch der Täter bzw. der Handelnde die Szene betritt. Vor allem: Handelte der Täter der Tötung unter psychisch normalen oder pathologischen Umständen? War er geistesgesund oder geisteskrank? Falls er geisteskrank war, so genügt dies, um eine Verteidigungssanktion in der Form eines unschädlich machenden Mittels zu bestimmen. War er aber geistig gesund, welches sind die Gründe, die ihn zur Tötung bewegt haben? Vor allem: Waren diese Motive legitim oder illegitim, sozial oder sozialwidrig? Im ersten Fall verliert die Tat abermals ihren rechtswidrigen Charakter und fällt unter die pauperies, die Unfälle, nicht unter die Verbrechen: Der Totschläger hat das Gesetz vollstreckt oder befand sich in einer Notwehrsituation. Es gibt zwar materiell eine Tat, es gibt jedoch keine rechtswidrige Tat. Waren aber die Motive sozialwidrig und besitzt daher die Tat rechtswidrigen bzw. verbrecherischen Charakter, so muss festgestellt werden, in welchem Ausmaße sie sozialwidrig gewesen sind, ob mehr oder weniger, und vor allem muss sodann der Täter untersucht werden, und festgestellt werden, welcher anthropologischen Kategorie er angehört. Waren die Motive im höchsten Maße sozialwidrig (Rache, Begierde usw.), ist der Totschläger ein geborener, unverbesserlicher Verbrecher, so ist jede weitere Tüfteln über seine moralische Schuldfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit müßig, es bedarf des Mittels der dauerhaften Unschädlichmachung. Waren die Motive weniger sozialwidrig (Unbedachtheit, verletzte Ehre, behinderte Liebe usw.), so ist der Totschläger nur ein gefährlicher Unachtsamer oder ein Gelegenheitstäter oder ein Täter aus Leidenschaft, und sodann werden mit Unterstützung aller Besonderheiten des Prozesses, welche die Physiognomie von Tat und Täter besser bestimmen müssen, Wiedergutmachungsmittel (im Falle der bloßen Unachtsamkeit oder in den Fällen des heftigen Leidenschaftsausbruches eines ehrenhaften Menschen, also des echten Typus eines Verbrechers aus Leidenschaft), oder diese Mittel zusammen mit Repressionsmitteln (Totschlag durch einen Gelegenheitstäter) ausreichen können. So also sieht die Anwendung der Maßstäbe rechtlicher Verantwortlichkeit nach Auffassung der positivistischen Schule im typischen Fall eines vollendeten Totschlags, begangen von einem Einzeltäter, aus. Nun gibt es aber noch zwei weitere Arten von Beispielen: einerseits die Fälle der nicht vollendeten bzw. versuchten bzw. missglückten Tötung durch einen Einzelnen und andererseits die Fälle der vollendeten oder versuchten oder missglückten Tötung durch mehrere Personen.
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Und dann kommen neue Maßstäbe und neue Erkenntnisse hinzu, welche ich, wie gesagt, an anderer Stelle erläutern werde. Doch nicht nur dies; vom typischen Fall einer isoliert aufgefassten Straftat muss man weitergehen zum Vergleich der verschiedenen Straftaten untereinander: eine Tötung, ein Diebstahl, ein Straßenraub, eine Vergewaltigung usw., und jeder unter besonderen und unterschiedlichen Umständen, welche der Handlung und damit dem Täter eine neue Physiognomie im Hinblick auf mehr oder weniger große Sozialwidrigkeit verleihen und demgemäß die vergleichende Anwendung der verschiedenen Mittel und ihr unterschiedliches Maß für die verschiedenen Kategorien von Tätern, die verschhiedene Straftaten begangen haben. Ich wiederhole: Alles dies sind Dinge, die hier auszbreiten nicht der Ort ist, weil dieses Buch nur [163] eine allgemeine Einführung in das besondere und vollständige Studium der Kriminalsoziologie ist. Mir genügt es daher, gezeigt zu haben, dass die positivistische Schule an die Stelle des umstrittenen und unbestimmten Maßstabes der moralischen Verantwortlichkeit als Grund des Strafrechts, besser: des Verteidigungsrechts, nicht nur einen positiven Maßstab setzt, der den subjektiven Denkgewohnheiten und philosophischen Voreingenommenheiten überlegen ist, nämlich den der sozialen bzw. rechtlichen Verantwortlichkeit, sondern dass sie in eben diesem Maßstab auch eine unzerstörbare – weil objektive und den Bedürfnissen des Lebens entsprechende und aus den Tatsachen abgeleitete – Grundlage besitzt, mit welcher der wissenschaftliche Organismus der Grundsätze der Kriminalsoziologie errichtet werden kann. In diesen findet die gegen den verbrecherischen Menschen kämpfende Gesellschaft einerseits die zu ihrer Selbsterhaltung erforderlichen Mittel, andererseits aber auch die Grenzen, welche eben diese Notwendigkeit ihr zieht und damit zugleich ihre Rechte und die Rechte der menschlichen Person schützt. Nur auf diese Weise kann die erneuerte Kriminalwissenschaft einerseits gewisse Byzantinismen vermeiden, welche, da sie immer mehr die Erforschung der Verantwortlichkeit verdunkeln, Gesetzgeber und Richter zu vergeblichen, wenn nicht sogar gefährlichen Schwierigkeiten verdammen, und andererseits dem Einzelnen und der Gesellschaft echte und praktische Gerechtigkeit sichern. [...]
Raffaele Garofalo (1852–1934) Kriminologie. Eine Untersuchung über das Verbrechen und die Theorie seiner Bekämpfung (Criminologia. Studio sul delitto e sulla teoria della repressione) (2. Aufl. 1891) [287] Kapitel II: Kritik der juristischen Straftheorie [...] Die Juristen betrachten nicht, wie wir es tun, den Verbrecher als ein Wesen, das anormal und mehr oder weniger ungeeignet ist, sich an die Gesellschaft anzupassen. Sie betrachten ihn vielmehr als einen Menschen, der anderen Menschen gleich ist, aber einem Gesetz des Staates nicht gehorcht hat und deshalb jene Züchtigung verdient hat, welche die Sanktion für diesen Ungehorsam ist. Allerdings ist es so, dass die Bedeutung der Strafe je nach den beiden Hauptschulen, die bislang herrschend gewesen sind, variiert. [288] Von den Idealisten wird die Strafe als moralischer Ausgleich des Verbrechensübels angesehen (absolute Theorie), von den klassischen Juristen, die auf ihre Weise nicht weniger metaphysisch sind, als die für den Rechtsschutz erforderliche Menge an Übel (relative Theorien). Der absoluten Theorie habe ich bereits Erwähnung getan [...], als ich über Rache und Buße geschrieben habe. Hier ist nun die Gelegenheit für den Hinweis, dass sie nicht ohne Widerspruch mit ihren eigenen Prinzipien das Strafrechtsproblem lösen kann, denn sie kann keinen Weg angeben, auf dem die absolut gerechte Strafe zu finden ist, d.h. diejenige Strafe, die verhältnismäßig zum Verbrechen ist. Das Verhältnis gründet sich auf eine bloße Vermutung: Wenn die höchste Strafe die Todesstrafe sei und diese für das Verbrechen x verhältnismäßig sei, so müsse die gerechte Strafe für das geringere Verbrechen y das lebenslange Zuchthaus sein. Unterstellt man jedoch, dass die Todesstrafe abgeschafft und durch das lebenslange Zuchthaus als Höchststrafe ersetzt ist, so kann das Verbrechen y, das geringer ist als x, gerechterweise nicht mit lebenslangem Zuchthaus bestraft werden, sondern nur mit zeitiger Freiheitsstrafe. Was ist nun also die absolut gerechte Strafe für das Verbrechen y? Der absoluten Theorie fehlt es an einem eigenen Kriterium zur Lösung dieser Frage. Sie ist gezwungen, das jeweils geltende System nach dem festen Punkt ubi consistat zu fragen. Wo bleibt dann aber die absolute Gerechtigkeit, an der sich diese Theorie ausrichten müsste, wenn doch die unterschiedlichsten Strafen für das selbe Verbrechen gleichermaßen verhältnismäßig sein können, falls nämlich die Ausgangspunkte unterschiedlich sind? Und welcher unter diesen Ausgangspunkten ist nun der absolut gerechte? Dies vermögen die Metaphysiker uns nicht zu erklären. Gehen wir zu den relativen Theorien über, insbesondere zur klassischen italienischen Theorie vom Rechtsschutz – ein Ausdruck, den die Theoretiker mit großer Sorgfalt von dem anderen der „sozialen Verteidigung“ unterscheiden; doch bei solchen recht byzantinischen Unterscheidungen will ich mich nicht aufhalten. E. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Was uns wichtig erscheint, ist die Identität des grundlegenden Verständnisses: die Bekämpfung bzw. Strafe hat einen Zweck, nämlich den der Erhaltung der Gesellschaftsordnung, m.a.W. den Zweck, weiteren Verbrechen vorzubeugen – ein altes Verständnis, das bereits von den Philosophen Griechenlands und Roms vollkommen ausformuliert wurde und in Italien bald nach dem Ende des mittelalterlichen Asketismus wieder hochgekommen ist. Doch gleich nach der Formulierung des Grundsatzes, von dem der unsrige sich nicht sehr unterscheidet, stellen die Juristen Bedingungen auf, die so beschaffen sind, dass sie die ganze Wirksamkeit zerstören, weil sie strengere Konsequenzen unmöglich machen. „Ich erblicke“, sagt Carrara, „das Grundprinzip des Strafrechts in der Notwendigkeit, die Rechte des Menschen zu verteidigen; ich erblicke in der Gerechtigkeit die Grenze seiner Ausübung und in der öffentlichen Meinung den Moderator seiner Form“. Es gibt demnach eine Gerechtigkeitsgrenze, eine Grenze, die sich aus den gesellschaftlichen Notwendigkeiten selbst nicht ergeben würde; irgend etwas, das von außen hinzutritt, etwas äußerliches und zugleich etwas, das höher steht als die Notwendigkeit. So zeigt sich, dass die Juristen, obwohl sie vom Grundsatz des Schutzes bzw. der Erhaltung der Gesellschaft ausgehen, in die Metaphysik abgleiten; aus diesem Grunde suchen sie in einer anderen Gedankenwelt jene Grenze, die sie auf natürliche Weise in der gesellschaftlichen Notwendigkeit selbst finden würden. Tatsächlich bedeutet die Aussage, dass die gerechte Strafe die notwendige Strafe sei, genau so viel wie die Aussage, dass die nicht notwendige Strafe ungerecht sei. Die kluge Einschätzung der Notwendigkeit hindert daher den Exzess, und eben hierin liegt die beste Garantie für den Einzelnen. Nun wollen wir näher untersuchen, worin jene Bedingung der Gerechtigkeit besteht, mit der die klassische Schule die soziale Verteidigung begrenzt. Die Grundsätze, welche sie mit diesem Element in die Kriminalwissenschaft eingeführt hat, und die ihr jenen hohen rechtlichen Charakter verliehen haben, mit dem sie sich so brüstet, können auf die beiden folgenden reduziert werden: 1.
Ein Verbrechen liegt nicht vor, wenn der Täter für seine Handlung nicht moralisch verantwortlich ist;
2.
Die Höhe der Strafe muss im Verhältnis zur Schwere der Tat stehen.
Moralische Verantwortlichkeit, strafrechtliche Verhältnismäßigkeit – eben dies sind die beiden von der jungen naturalistischen Schule bekämpften Grundsätze. Eine breite Bresche ist bereits geschlagen, doch sind diese Grundsätze immer noch allzu eng mit den weitverbreiteten philosophischen Vorurteilen verknüpft, als dass man hoffen könnte, sie rasch aus der Strafrechtswissenschaft entwurzeln zu können. Der Kampf muss mit Geduld und indem man sich nicht an die Menge, sondern an die Aristokratie des Denkens wendet, fortgesetzt werden. Wie jeder andere geistige Fortschritt wird auch dieser von oben ausgehen, um sich sodann langsam in die niederen Sphären zu verbreiten. Und es wird eine nützliche Mühe
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sein, denn jene Grundsätze, welche zu Unrecht als Garantie der Rechte des Einzelnen angesehen werden, sind in Wirklichkeit nichts anderes als die Ursache der Schwäche und Wirkungslosigkeit des Strafgesetzes. I. Und wirklich kann man jene, die, obwohl sie die Strafe als ein Mittel der sozialen Verteidigung ansehen, die Existenz eines Verbrechens ohne moralische Verantwortlichkeit nicht zugeben wollen, fragen, welches denn der Grund sei, [291] die soziale Verteidigung abzuschwächen, wenn der Verbrecher von einem pathologischen Geisteszustand oder von einem inneren Trieb zur Gewalt bewegt worden ist, der möglicherweise unwiderstehlich war, der aber leicht wieder auftreten kann? Müsste man in solchen Fällen, in denen es offenkundig keine Wahlfreiheit gegeben hat, sagen, dass die Gesellschaft eines nachdrücklicheren Schutzes gegen Personen bedarf, die sich nicht beherrschen und ihren niederen Trieben nicht widerstehen können? Doch lassen wir getrost den Fall des echten Wahnsinns beseite. Die Ansicht, dass die moralische Verantwortlichkeit die Grundlage der Zurechenbarkeit sei und sie damit ein wesentliches Element der Verbrechens sei, zieht die logische Konsequenz der Straflosigkeit auch dann nach sich, wenn es sich nicht um echten Wahnsinn handelt. Ohne uns in die Problematik des freien Willens zu versenken, bemerken wir nur, dass das Bewusstsein unserer moralischen Freiheit nicht so weit reicht, dass es uns glauben macht, wir seien in der Lage, anders zu empfinden und zu denken als wir es in einem bestimmten Augenblick tun. Jeder versteht, dass das Ich, das sich selbst bestimmt, nicht die Ursache seiner selbst sein kann und dass der Charakter von einer Reihe von vorhergehenden Fakten bestimmt wird, die unser Bewusstsein im Augenblick der Bestimmung nicht kennt. Wäre dies nicht so, müsste man sagen, dass in jedem Menschen in jedem Augenblick ein wahres Wunder geschieht, wie es eine Bewegung des Geistes wäre, die nicht den universellen Gesetzen der Natur unterliegt, eine Initialbewegung, die nicht das Ergebnis vorher bestehender Bedingungen ist, weswegen der Mensch selbst über sein Gutsein oder Bösesein, über seine Resignation oder seine Unzufriedenheit, über seine Wut oder über seine Milde entscheide. In diesem Falle hätten wir nicht nur, wie wir es tatsächlich haben, das Bewusstsein des in einem bestimmten Moment wollenden und handelnden Ich, wir hätten vielmehr das Bewusstsein einer äußerlichen [292] schöpferischen Kraft des Ich in einem beliebigen Augenblick – Was aber nicht der Fall ist bzw. wofür wir zumindest keinerlei Beweis besitzen. Wenn wir somit aus dieser Sicht, welche die einzige vernünftige ist, den freien Willen betrachten, d.h. das Bewusstsein des Ich, das will und das entscheidet, in einem bestimmten Augenblick, so werden wir zu dem Schluss veranlasst, dass ein Strafrechtssystem sich nicht auf den Grundsatz der moralischen Verantwortlichkeit stützen darf. Tatsächlich würde sich diese Verantwortlichkeit stets zumindest begrenzt finden durch innere und äußere Umstände, die in irgendeiner Weise auf unsere Empfindungen und damit auf unseren Willen einwirken. Sie wäre stets relativ, hätte un-
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endlich viele Abstufungen und könnte bis zu einem nicht mehr bewertbaren und unbedeutenden Minimum hinabsteigen. Erbschaft, Atavismus, Temperament, Charakter, Erziehung, Umwelt, besondere Lebensumstände, Klima, Ernährung, Beruf, Bildung, Krankheit, Umstände, deren Einfluss nicht zu übersehen ist, würden daher jenen Kreis eigenständiger Antriebskräfte, welche es für den Menschen zur Erreichung eines Zieles gibt, begrenzen, ohne ihn jemals „gänzlich zu beseitigen“ (wie es ein Jurist ausdrückte). Würde dies aber zutreffen, so würde das Problem des Strafrechts unlösbar, denn wie wäre es jemals möglich, bei jedem Verbrecher denjenigen Teil zu unterscheiden, der unter allen derartigen Umständen seiner moralischen Verantwortlichkeit unterliegt? Wie könnte man jemals jene Verantwortlichkeit bestimmen, die von so unendlich vielen Faktoren begrenzt wird? [293] Angenommen, dass das Leben des Menschen sich dem Richter mit größter Deutlichkeit in allen seinen kleinsten Eigenheiten, in allen seinen Beziehungen zur äußerlichen Welt vom ersten Schrei bis zum Augenblick des Verbrechens darstellt, so würde dies doch nicht ausreichen! Wer würde uns die Geschichte seiner Familie und seiner Vorfahren erzählen, um zu zeigen, in welchem Ausmaße sie seine Neigungen, seine Anlagen und seinen Atavismus haben beeinflussen können? Und angenommen, dass auch diese Untersuchung möglich wäre, wie könnte man jenen Teil bestimmen, der die psychischen Anormalitäten betrifft, für welche den Menschen keine Schuld trifft – jene, die von der Gehirnstruktur abhängen und die nur die Obduktion vielleicht zu erhellen in der Lage ist? Das Prinzip der relativen bzw. begrenzten Verantwortlichkeit ist daher auf die strafrechtlichen Regelungen nicht anwendbar. Es würde zu einer stets unvollständigen Diagnose aus rein wissenschaftlichem Interesse und zu stets unsicheren Schlüssen führen. In unseren Gesetzen gibt es einen Artikel, der den Fall einer halben Verantwortlichkeit regelt. Nun, die Anwendung dieses Artikels würde die Regel werden, denn er müsste auf alle Verbrecher angewendet werden, auch auf jene, bei denen die Umstände, welche die Verantwortlichkeit beschränken, weniger deutlich sind, denn irgendeinen von ihnen würde man stets bei jedem Angeklagten antreffen, weshalb man nach ihnen suchen oder sie zumindest vermuten müsste. Andernfalls nämlich würde man ja die Herrschaft der Ungerechtigkeit aufrichten, indem man solche Umstände nur dann würdigt, wenn sie – zufällig – ans Licht gekommen sind. Der Artikel über die halbe Verantwortlichkeit würde daher in jedem Fall zur Anwendung gelangen; und dies würde dazu führen, dass das Gesetz nutzlos Strafdrohen aufgestellt hat, die niemals in dem vorgeschriebenen Ausmaß verhängt werden dürften. Nach welchem Maßstab sollen aber die Strafen in den verschiedenen Fällen gemindert werden? Gilt der Grundsatz der relativen Verantwortlichkeit, wie könnte man dann jemals sagen, dass diese bei allen gleich sei, während die Umstände, welche den freien Willen begrenzen, unendlich verschieden sind?
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[294] Alles in allem ist dieser Grundsatz der moralischen Verantwortlichkeit nichts anderes als eine Klippe, die der Gesetzgeber vor der Strafe errichtet hat, um sie daran zu hindern, das Verbrechen zu treffen. Doch damit nicht genug. Das juristische Denken hatte dazu geführt, den Grundsatz der unwiderstehlichen inneren Gewalt aufzustellen, der auch in einige Gesetzgebungen eingedrungen ist und in der Welt des Doktrinarismus als ein riesiger Fortschritt begrüßt worden ist. Nun ist aber vor allem leicht einzusehen, dass dieser Grundsatz die Gesetzgebung unter das Kommando der in einem bestimmten historischen Augenblick herrschenden Philosophie stellt. Für den Deterministen (und wer die vorher gehenden Seiten gelesen hat, müsste ein überzeugter Determinist sein) ist jedes Verbrechen, ebenso wie jede andere schlechte, gute oder indifferente Tat, eine notwendige Wirkung, eine Äußerung des Willens unter der Herrschaft eines Motivs, das wegen der Besonderheit des Charakters der betreffenden Person stärker war als die anderen. [295] Die Kraft, die den Menschen in den gewöhnlichsten Lebenslagen handeln lässt, ist nicht weniger unwiderstehlich als jene, die ihn zu den seltsamsten Handlungen antreibt. Wenn aber alles determiniert ist, ist alles auch gleichermaßen notwendig. Der Antrieb, dem man widerstehen kann ist derjenige, dem sich kein stärkerer entgegengestellt hat; der unwiderstehliche Antrieb ist derjenige, der alle anderen überwunden hat. Daher beweist die Tatsache der Handlung selbst die Unwiderstehlichkeit des Impulses: wäre er nämlich ein widerstehlicher gewesen, dann hätte die Handlung nicht stattgefunden. Dies ist die deterministische Lehre, in der zahllose Denker übereinstimmen und zu dessen Verbreitung der Fortschritt des Naturalismus immer mehr beiträgt. Welcher Richter könnte aber mit einem solchen Grundsatz eine Verurteilung aussprechen, wenn das wesentliche Element des Verbrechens die moralische Verantwortlichkeit ist, was gleichbedeutend ist mit der freien, d.h. der willkürlichen, d.h. der nicht determinierten Wahl des Willens? Diese Gefahr, mag man sagen, ist nicht schwerwiegend, weil der Determinismus noch nicht eine hinreichend populäre Lehre ist (und dies auch auf lange Zeit noch nicht sein wird), um zu bewirken, dass Berufsrichter oder Geschworene in Übereinstimmung mit seinen Ideen die Täter systematisch freisprechen. Dies mag so sein; dennoch könnten sie in einzelnen Fällen abgeneigt sein, und es hat wirklich Freisprüche von schlimmen Verbrechern gegeben, deren krimineller Antrieb als Form unwiderstehlicher Gewalt hingestellt worden ist. Diese Formel steht ganz offenkundig im Widerspruch zu dem Zweck der sozialen Verteidigung, denn die schlimmsten und fürchterlichsten Missetäter sind gerade jene, in denen der Drang zum Bösen besonders tyrannisch ist. [...] [297] I. Die Strafrechtswissenschaft der Juristen befasst sich nicht mit den Geisteskranken; kaum ist das Vorhandensein einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit bewie-
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sen, erklären sie ihre Unzuständigkeit. Dabei ist dieses Problem mit dem, was wir bisher besprochen haben, logisch eng verbunden. Wenn wir das Element der moralischen Verantwortlichkeit aus unserer Bestimmung des Verbrechers ausschließen, so folgt daraus nicht etwa, dass die Gesellschaft auf das Verbrechen des Verrückten reagieren soll [298], ohne sich darum zu kümmern, welches die Ursache der Geisteskrankheit ist. Hier könnte jemand antworten: Ja, gewiss; die Gesellschaft reagiert, indem die den gefährlichen Geisteskranken in eine Heilanstalt einliefert; und dies führt ja zu seiner Beseitigung aus dem gesellschaftlichen Bereich. Diese Maßnahme ergreift man jedoch aus dem einzigen Grund der Geisteskrankheit, unabhängig von jeder schädlichen Handlung, die ein Geisteskranker begangen hat, denn dieser pathologische Geisteszustand führt dazu, dass jede Art von schädlichen Handlungen vermutet wird, eben so, wie der Müßiggang als pathologischer moralischer Zustand jede Art von Verbrechen vermuten lässt. Eine ganz andere Sache aber ist es, den Geisteskranken als Urheber eines Verbrechens zu bestrafen und ihn zu den Verbrechern zu zählen. Dieser Einwand trifft zweifellos zu, wenn man die Worte Verbrechen und Strafe im Sinne der Metaphysiker anwendet; ich möchte jedoch an den Sinn erinnern, den ich diesen Worten im ersten Teil dieses Buches gegeben habe. Es unterliegt im übrigen keinem Zweifel, dass die Handlung eines Verrückten die Form eines Verbrechens annehmen kann, ohne in Wirklichkeit ein solches zu sein. Niemals wird jene vom Maudsley erwähnte Mutter eine Verbrecherin genannt werden, die aufgrund einer nächtlichen Halluzination glaubte, das Haus stehe in Flammen und in dem Wunsche, ihre Kinder zu retten, diese aus dem Fenster warf. Die Handlung muss stets im Hinblick auf die Absicht bewertet werden, andernfalls muss sie als Unglücksfall angesehen werden; man muss sich daher vorstellen, dass die Frau wirklich so, wie sie glaubte, von Flammen umgeben gewesen sei; das, was sie getan hat, wäre dann vielleicht plausibel gewesen, jedenfalls aber hätte es keine verbrecherische Tendenz aufgewiesen. Dasselbe gilt für die Handlungen, welche Folgen eines epileptischen Anfalls, einer follia impulsiva oder einer Manie, die das Bewusstsein ausschaltet, sind. Hierzu genügt weder die Aussage, dass der Geisteskranke die Absicht hatte, das zu tun, was er getan hat, denn nach unserer Auffassung vom Verbrechen muss dieses eine Manifestation des Charakters sein, eine Auswirkung der Grausamkeit oder der Boshaftigkeit – egal ob angeboren oder erworben, jedenfalls aber instinktiv geworden, so dass die Wiederholung der schädlichen Handlung zu befürchten ist. Um aber von Charakter sprechen zu können, ist es erforderlich, dass die [299] Fähigkeiten zur Vorstellung nicht ausgeschaltet sind und auch nicht in einer Weise verwirrt sind, dass sie die psychische Individualität verschwinden lässt; wie bei der Demenz, bei der Manie, bei der progressiven Paralyse usw. Was die anderen geistigen Behinderungen und Neurosen angeht, welche die Fähigkeiten zur Vorstellung bestehen lassen, jedoch mehr oder weniger tiefgreifend die moralischen Fähigkeiten der von ihnen befallenen Unglücklichen beeinträchtigen, so pflegt der Charakter infolge der Krankheit sich zu verändern, und in zahlreichen Fällen geht eine kriminelle Handlung auf das Konto eines solchermaßen
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veränderten Charakters. Der Melancholiker, der Neuropath, die hysterische Frau können volles Beusstsein dessen, was sie tun, besitzen und die Absicht haben, diese bestimmte Handlung, welche das Verbrechen darstellt, zu begehen. Und dies ist nichts anderes als das Ergebnis ihres gegenwärtigen Charakters, der zwar auf das Konto der Krankheit geht, jedoch bewirkt, dass sie anders als andere Menschen empfinden. Es liegt auf der Hand, dass nur diese Gegenstand unserer Überlegungen sein können, als jene, von denen wegen ihrer bereits durch ein vorheriges Verbrechen hervorgetretenen unmenschlichen oder böswilligen Neigungen neue Verbrechen zu befürchten sind – m.a.W. nur jene, die von Neigungen zum Mord, zur Vergewaltigung, zum Diebstahl, zur Brandstiftung, zur Verleumdung (Lipemania, Mania impulsiva, Epilepsie, Kleptomanie, Pyromanie, Hysterie) oder allgemein zur Kriminalität durch irgend eine Form der Geisteskrankheit, die das moralische Empfinden beseitigt oder einschränkt, befallen sind. Für diese ist das Problem bereits gelöst; sie sind Verbrecher, jedoch solche von einer besonderen Art, da ihre moralische Anomalie nicht dauerhaft zu sein braucht, sondern den Krankheitsphasen folgen kann. Der durch die Krankheit fehlgeleitete Charakter könnte sich verschlechtern oder verbessern; das geschwächte moralische Empfinden könnte zurückkehren oder endgültig zerstört werden. Daraus folgt, dass die geisteskranken Verbrecher einer besonderen Behandlung unterworfen werden müssen, die zu dem, was Ursache ihres Verbrechens ist, passt; damit machen wir keine Ausnahme von unseren Grundsätzen, denn auch für die anderen Verbrecher muss die Strafe auf die Besonderheit ihrer Natur Bezug nehmen. Der wichtigste Unterschied in der Behandlung der geisteskranken Verbrecher ist demnach folgender: Nach unserer Auffassung kann – wie nach derjenigen der Juristen – die Todesstrafe gegen den Geisteskranken nicht verhängt werden. Hier könnte es demjenigen, der die Dinge oberflächlich betrachtet, scheinen, dass wir uns in einen Widerspruch verfangen. Indes war die logische Folgerichtigkeit aus den zuvor aufgestellten Grundsätzen niemals so groß. Und zwar aus folgenden Gründen: Wenn der Charakter eines Menschen durch eine Krankheit fehlgeleitet ist, wenn diese in ihm das moralische Empfinden aufhebt, so wird die neue Abartigkeit dieses Menschen für diejenigen, welche ihre Ursache kennen, den Anschein irgendeiner anderen Krankheit haben. Ist der Kranke zum gesellschaftlichen Leben nicht mehr fähig, so wird seine Unfähigkeit als eine zufällige erscheinen, und obwohl er gefährlich wie ein Mörder ist, wird er doch nicht gleichermaßen verhasst sein, denn in den menschlichen Gesellschaften geschieht das Gegenteil dessen, was in Gruppen von Tieren stattfindet; diese stoßen das kranke oder monströse Einzelwesen körperlich ab; jene hingegen kommen den letzteren zu Hilfe und stoßen die moralisch nicht anpassbaren Einzelwesen ab. Nun ist aber die Todesstrafe nur möglich, wenn jedes Band der Sympathie zwischen der Gesellschaft und dem Verbrecher zerrissen ist; eine Krankheit aber vermag dieses Band nicht zu zerreißen; weit entfernt davon, das Mitgefühl zu
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beseitigen, stärkt sie es sogar, denn der Kranke hat nach den Vorstellungen der zivilisierten Gesellschaften das Recht auf Hilfe und Mitleid. Um sich gegen den Geisteskranken zu verteidigen kann die Gesellschaft daher nicht die Person zerstören; erweist es sich als notwendig, sie zu beseitigen, dann sperrt man sie lebenslang in eine Heilanstalt ein. Wer mir von den ersten Seiten an bis hierher gefolgt ist, erkennt, dass die strengste Logik mich nicht zu jenen übertriebenen Folgerungen zu verführen vermag, von welchen man möchte, dass ich zu ihnen gelangt sei. In diesem Sinne habe ich auf Paulhan geantwortet, der 1880 geschrieben hat: „Si d’ailleurs nous ne voulons que suivre le principe de M. Garofalo, je me demande comment on pourra faire une distinction entre un criminel et un fou incurable, et pourquoi on ne guillotinerait pas un fou dangereux dont la maladie est incurable“.
Natürlich befindet die Unterscheidung sich in Übereinstimmung mit den von mir aufgestellten Grundsätzen – angefangen bei jenen, die mich den Begriff des Verbrechens bestimmen ließen, bis zu jenen, die mich die Bedingungen aufstellen ließen, unter denen die Todesstrafe gerechtfertigt ist. Es lässt sich wirklich keine Konzeption entwickeln, nach der sie an einer Person vollstreckt wird, die nicht dauerhaft pervertiert, m.a.W. nicht zu einem Verbrecher geworden ist, dessen Abartigkeit ebenso auch wieder verschwinden könnte. Gewiss, für den Positivisten muss die Bekämpfung sich auch auf Verbrechen erstrecken, die von Geisteskranken begangen werden, denn das Wort „Strafe“ besitzt für ihn nicht dieselbe Bedeutung wie für den Juristen; doch diese Bekämpfung muss Formen annehmen, die anderer Art und den Änderungen angepasst sind, die das Fortschreiten der Krankheit auf den Charakter ausübt. Für den Deterministen ist zwar das Monstrum nicht schuldiger daran, ein solches zu sein, als es der Kranke an seiner Krankheit ist. Ist dieser so gefährlich wie jener, so wird sich die Gesellschaft gegen den einen wie gegen den anderen verteidigen, jedoch mit unterschiedlichen Waffen, denn wenn es ein Verbrechen ist, das allgemeine Empfinden des Mitleids zu verletzen, so wäre eben dieses Empfinden durch die Tötung des geisteskranken Verbrechers verletzt, während dies nicht der Fall ist, wenn das verbrecherische Monstrum zum Galgen geführt wird. Kann aber nicht, so könnte erwidert werden, dieses soziale Empfinden seinerseits fortschreiten? Wenn ein jeder verstehen wird, dass die Rohheit eines Mörders nichts anderes ist als eine Auswirkung seines psychischen Organismus, d.h. einer besonderen physiologischen Konstitution, muss man dann nicht zwangsläufig diese Art von Anomalie den nervösen Störungen wie Epilepsie und Geisteskrankheit an die Seite stellen? Ich glaube dies nicht, denn dieses Empfinden steht auf wunderbare Weise mit der Vernunft im Einklang. Die Kriminalanthropologie zeigt uns, dass es Missetäter von Natur gibt und dass sie niemals werden aufhören können, solche zu sein – während bei den geisteskranken Verbrechern die Abartigkeit verschwinden oder an Intensität verlieren kann.
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Es gibt einen Unterschied zwischen dem Ich, das sich so zeigt, wie es ist, und dem Ich, das zur Beute eines Feindes, einer dem Organismus nicht innewohnenden Kraft geworden ist, das ihn aber bekämpft und ihn zu vernichten sucht. Ganz andere Gründe rechtfertigen aber die Todesstrafe; ich will an dieser Stelle nicht von ihr handeln, sondern nur auf die Grenzen verweisen, innerhalb deren die moderne Kultur diese Strafe eindämmen kann – Grenzen, welche von jenen Grundsätzen gezogen werden, welche meinen Ausgangspunkt gebildet haben, d.h. von den moralischen Empfindungen der Menschheit. [...] [317] [...] II. Nunmehr gilt es den anderen Angelpunkt des Systems zu betrachten: die Verhältnismäßigkeit der Schwere der Strafe zur Schwere des Verbrechens. Es wird nicht schwierig sein, die geringe Ernsthaftigkeit dieses Grundsatzes nachzuweisen, dessen Verkündung einen oberflächlichen Beobachter befriedigen könnte. [318] Schon nach kurzer Betrachtung der beiden Begriffe sieht man sogleich, wie sinnlos es angesichts des Zweckes der sozialen Verteidigung ist, zwischen ihnen eine Verhältnismäßigkeit installieren zu wollen. Der erste Vergleichspunkt ist natürlich die jeweilige Schwere des Verbrechens, und deren Maßstab geht natürlich demjenigen der Höhe der Strafe voraus. Die französische Schule erblickt den Maßstab der relativen Schwere der Verbrechen in der Bedeutung der verletzten Pflicht; die italienische Schule erblickt ihn in dem durch das verbrechen verursachten Schaden. Wendet man heutzutage das Wort „Schaden“ auf diesen Gegenstand an, so umfasst es auch ein Element ganz anderer Art, nämlich den indirekten bzw. vermittelten Schaden, d.h. jenes Übel, welches „das Verbrechen allen anderen Bürgern antut, die nicht direkt von der Handlung betroffen sind“ (Carmignani). Dieses Übel besteht in dem „Verlust bzw. der Verminderung der Auffassung über die eigene Sicherheit“ (Carrara), im Misstrauen und Alarmzustand, ferner im schlechten Beispiel, das in den zum Bösen Neigenden ausgelöst wird (Carmignani). Man sieht daran, wie komplex der Begriff dieses Schadens wird, den man in jedem Verbrechen erblicken möchte. Welches dieser zahlreichen Elemente – materieller Schaden, Misstrauen, Alarmzustand, schlechtes Beispiel – soll denn den Vorrang besitzen, um den Schluss ziehen zu können, dass das Verbrechen A schwerer wiege als das Verbrechen B? Die Schule löst das Problem: Als generelle Norm „muss die betreffende Masse der Verbrechen am unmittelbaren Schaden gemessen werden“ Der Maßstab des indirekten Schadens ist ein subsidiärer; er wird nur herangezogen, wenn „bei zwei Straftaten der direkte Schaden gleich ist“ (Carrara). Vorherrschender Maßstab, dominierender Maßstab, ist somit derjenige des materiellen Schadens. Mit ihm soll sich eine abgestufte Skala der Verbrechen heraus-
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bilden. Doch wie soll man so heterogene Größen wie eine Verleumdung und einen Schlag, eine Vergewaltigung und [319] eine Fälschung, einen Diebstahl und eine Verletzung abwägen? Wer sagt mir denn, welches in all diesen Fällen von den Folgen her das empfindlichste, das schmerzlichste, das schrecklichste Übel sei? Man wird sich daher an die öffentliche Meinung halten müssen, welche das Medium der Empfindungen einer bestimmten Gesellschaft ist. Doch diese öffentliche Meinung wird sich nicht um die individuellen Schmerzen kümmern, welche sie im übrigen wegen der immensen Unterschiedlichkeit der Fälle auch gar nicht messen kann, sondern wird viel häufiger die Bedeutung des Verbrechens aus der Sicht der Alarmstimmung messen, welche das Verbrechen hervorgerufen hat – ein Element, welches aber doch dazu dienen sollte, den indirekten Schaden zu messen. Und so zeigt sich, dass auch der direkte Schaden teilweise auf demselben Element beruht! Und andererseits ist es auch gar nicht möglich, dass die Dinge sich anders verhalten, denn niemand wird jemals in abstracto die Bedeutung der durch die verschiedenen Verbrechen herbeigeführten materiellen Schäden feststellen und daraus die Schwere dieser Verbrechen ableiten können. Die Theorie ist aber noch aus einem anderen Grunde wenig tragfähig. Sie verlangt, dass bei jedem Verbrechen ein Schadenselement festzustellen sei, bei dessen Fehlen das Verbrechen selbst nicht existiere. Doch was soll man tun, um ihn dort zu ersetzen, wo es ihn nicht gibt, wenn kein Mensch getötet worden ist, wenn kein Gegenstand weggenommen worden ist, kurz: in allen Fällen des versuchten Verbrechens? Carrara antwortet darauf. „Die Funktionen des unmittelbaren Schadens, der bei ihnen fehlt, übernimmt die Gefahr, welche die Gesellschaft oder der angegriffene Bürger gelaufen ist“. Der Grund für die Zurechung des unvollendeten Verbrechens liege in der Gefahr, welche an die Stelle des Schadens tritt. Eine merkwürdige Gedankenvertauschung! Welches Übel kann denn eine nicht verwirklichte Gefahr hervorrufen, wenn nicht das Misstrauen, die Alarmstimmung, das schlechte Beispiel, also all die Elemente jener anderen Art von Schaden, der als indirekter bzw., nach der toskanischen Schule, als vermittelter bezeichnet wird? Und ganz unvermittelt soll nun diese immaterielle Art des Schadens dazu berufen sein, den materiellen Faktor, der beim Versuch fehlt, zu ersetzen, um an seine Stelle zu treten! Was in aller Welt ist aber dann der indirekte Schaden des Versuchs? Wenn jener nicht fehlt, so muss doch dieser fehlen; dieser Alternative kann man nicht entkommen. Es gibt demnach eine Erscheinungsform von Verbrechen ohne eine der beiden Erscheinungsformen des Schadens. Es trifft also nicht zu, dass „bei jedem Verbrechen“ eine „moralische Größe, repräsentiert durch den direkten Schaden, und eine politische Größe, repräsentiert durch den indirekten Schaden, anzutreffen sein muss“ (Carrara). Beim Versuch liegt nur einer dieser beiden Faktoren vor, und wie sehr man auch die Bedeutung der Worte überanstrengt, sie kann nicht gleichzeitig die beiden Teile meinen. Die Theorie vom Schaden begegnet damit einem ersten unüberwindlichen Hindernis, solange sie nicht bereit ist, die Duplizität des Schadenselements auf-
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zugeben und einzuräumen, dass zur Begründung eines Verbrechens der einfache, aus der Alarmstimmung und aus dem schlechten Beispiel resultierende immaterielle Schaden ausreicht. Doch würde in diesem Falle jede solide Grundlage für die Konstruktion der abgestuften Skala der Verbrechen entfallen, denn ihr relatives Gewicht würde von tausend veränderlichen Umständen der Zeit und des Ortes abhängen; dieselbe Tat, die im einen Land eine ganze Bevölkerung mit Sorge erfüllt, ist zwanzig Meilen entfernt wegen der Gebräuche und der Art der Leute ein ganz gewöhnlicher Fall. Die Strafrechtswissenschaft würde von ihren erhabenen Idealen in den engstirnigsten Empirismus stürzen, denn sie müsste die Schwere der Verbrechen nach der Einschätzung der Menge, der Alarmstimmung messen, und nicht mehr nach der wirklichen Gefahr, die man ohne volle Kenntnis des Lebens, des Verhaltensstils und des Charakters des Täters nicht vernünftig einschätzen könnte. Diese wirkliche Gefahr ist aber auch nicht diejenige, die bereits vergangen ist, sondern diejenige, die fortbesteht, denn die vergangene Gefahr hat keinerlei Bedeutung mehr, wenn sie nicht auch die Zukunft betrifft. [321] Ganz anders beschaffen ist das Bemessungskriterium der französischen Schule: Das Verbrechen ist um so größer, je wichtiger moralisch die verletzte Pflicht wiegt. Auf welche Weise erkennt man aber diese unterschiedliche Bedeutung der moralischen Pflichten? Das Problem löst sich hier, wie Carrara sagt, in ein anderes Problem auf. Man muss das menschliche Gewissen befragen, antwortet Pellegrino Rossi. Gib es einen Menschen, der es in dieser Materie noch nicht sich hat äußern hören, auch durch die Stimme des Kindes, dass seine Gerechtigkeitsempfindungen gewiss nicht dem bestehenden Gesetz entlehnt hat? Doch bis wohin mag dieses menschliche Gewissen genaue und einheitliche Antworten geben? Rossi selbst bezweifelt, dass man „le fait de conscience“ für jedes Verbrechen und für jede Stufe desselben Verbrechens ermitteln könne; er sieht sich gezwungen, dieses Vorgehen auf prinzipielle Arten bzw. Kategorien zu beschränken. Doch auch so würden die Unsicherheiten nicht geringer: „Es kann ein dauerhaftes moralisches Kriteriun geben, das uns sagt, dass bestimmte Handlungen schlecht sind, doch ein rein moralisches Kriterium, das universell und dauerhaft ist und uns sagt, dass eine Handlung schlechter ist als eine andere, gibt es nicht“ (Carrara). Ganz ähnlich sagt v. Holtzendorff: „Bis heute können wir vom moralischen Standpunkt aus niemals sagen, dass unter irgendwelchen Umständen ein bestimmtes Verbrechen schwerer sei als ein anderes“. Wer meine ersten Kapitel gelesen hat, muss davon überzeugt sein, dass, wenn das Verbrechen, das ich als natürliches Verbrechen (delitto naturale) bezeichnet habe, stets vom Gewissen der zivilisierten und halbzivilisierten Völker bestätigt worden ist, doch andererseits in unserem eigenen Kulturkreis viele Taten, die heute nicht strafbar sind, als sehr viel schwerer angesehen worden sind als einige echte Verbrechen. Doch selbst im Bereich der letzteren hat sich das Schwere-Verhältnis beachtlich verändert, und noch heute unterscheidet es sich nach dem Grad der
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Kultur, der Entwicklung der Empfindungen und unter klimatischen Einflüssen. Wem ist nicht bekannt, dass unter den alten Germanen der Diebstahl als sehr viel schwerer galt als die Tötung, während heute das gegenteilige Empfinden gilt? Wer weiß nicht, dass die Tötung in den nördlichen Gegenden Italiens das schwerste Verbrechen ist, während in der Romagna, in Neapel, Sardinien und Sizilien sich nur wenige über die Hunderte von Morden aufregen, die jeden Monat dort geschehen? Die Häufigkeit einer Tat vermindert ihre Bedeutung, die Seltenheit vermehrt sie. Andererseits variiert in derselben Region die Zartheit des moralischen Empfindens nach den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten erheblich. Welche von ihnen soll die Norm liefern? Man wende dieses Argument nicht gegen unsere Theorie vom natürlichen Verbrechen. Die Aussage, dass in jeder Bevölkerungsklasse bei der Mehrheit einige moralische Empfindungen oder Instinkte vorherrschen, ist etwas anderes als die Aussage, dass an der Oberfläche und auf dem Grunde das Dichteverhältnis in dieser Hinsicht identisch sei. Es gibt keine soziale Schicht, für die der Totschlag, die Fälschung und der Diebstahl keine Straftaten wären, doch ihre verhältnismäßige Schwere kann durchaus unterschiedlich eingeschätzt werden, insbesondere dann, wenn diese recht umfassenden Kategorien sich in ihren Unterarten unterscheiden, welche durch jene Eigenschaften gekennzeichnet sind, welche aus ihnen ebenfalls Straftatfiguren machen. Wer wird den Bauern davon überzeugen können, dass eine Blutrache schwerer wiege als ein Viehdiebstahl? Wie bei Einzelpersonen, so ist auch bei Klassen das Gerechtigkeitsempfinden und das Empfinden der Menschlichkeit mehr oder weniger ausgeprägt und instinktiv. Daraus folgt auch eine unterschiedliche Einschätzung der Bedeutung einer Pflicht. Hinzu kommt noch die Heterogenität der miteinander zu vergleichenden Begriffe: Welches ist denn wohl das sichtbare Verhältnis zwischen einer Personenstandsfälschung und einem betrügerischen Bankrott, zwischen einem Amtsmissbrauch und einer Kindestötung, zwischen einer üblen Nachrede oder Verleumdung und einer Vergewaltigung? Gewiss wird das öffentliche Bewusstsein in allen diesen Fällen ein Verbrechen erblicken, jedoch schweigt es, wenn man es nach seiner Meinung über dem Grad der Unmoralität bei jedem dieser Straftatbestände fragt. [323] Der Maßstab der Bedeutung der verletzten Pflicht verbindet sich oft fast unbewusst mit jenem der gesellschaftlichen Gefährdung. Den Beweis dafür finden wir bei allen Klassifikationen von Verbrechen, welche diese nach ihrem unterschiedlichen Gewicht abstufen. Rossi selbst hat weitere Hilfskriterien nicht ausschließen können. Die Wahrheit ist die, dass das relative Gewicht von Verbrechen nicht absolut bestimmt werden kann, weil zu viele heterogene Elemente in ihnen zusammentreffen. Es gibt beim Verbrechen das Gewicht des Schadens, dasjenige der Unmoralität, dasjenige der Gefährdung und dasjenige der hervorgerufenen Alarmstimmung. Mit welcher Begründung könnte man verlangen, ein einzelnes dieser Elemente zu bevorzugen und die anderen zu vernachlässigen? In vielen Fällen durchdringen sie sich freilich wechselseitig, denn die Alarmstimmung hängt häufig von der größeren Unmoralität und von dieser wiederum die größere Gefahr ab. Dies erklärt, wieso die Straftheorien mit solch unterschiedlichen Maßstäben zu solch wenig
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verschiedenen Ergebnissen gelangen. Doch dies beweist zugleich das Fehlen eines ausschließlichen Maßstabes und ferner, dass die abgestufte Skala der Verbrechen nach der jeweiligen Bedeutung ihrer Tatbestände und Untertatbestände das Ergebnis wechselseitiger Transaktionen der Juristen ist. Das zweite Problem, das sich ihnen stellte, nämlich das des Strafmaßes, wurde mit bewundernswerter Leichtsinnigkeit gelöst. Neben der ersten Skala errichteten sie eine zweite, auf der die Strafen nach ihrer mutmaßlichen Schwere verteilt wurden. Und ohne sich nur ein bisschen um die Erforschung des Grades der Prävention zu kümmern, den jede Strafe nach der Natur der verschiedenen Verbrechen und ihrer Täter auszuüben in der Lage sein muss, ließen sie die beiden Skalen in der Weise miteinander übereinstimmen, dass jedem Verbrechen die an der parallelen Stelle positionierte Strafe zugeordnet wurde. Und dies nannten sie „strafrechtliche Verhältnismäßigkeit“. Das Verbrechen x liegt auf der zweiten Stufe. Also verdient es die Strafe y, weil diese auf ihrer eigenen Skala ebenfalls auf der zweiten Stufe liegt. [324] Genau das ist die Methode, dem zu einem großen Teil unsere Strafgesetzbücher verpflichtet sind, die als das Ergebnis langer Überlegungen, kluger Kombinationen und feinsinniger Lehren bei der unwissenden Menge hochgeschätzt sind. Nichts ist je einfacher gewesen. Nur der vornehme Sinn des Pellegrino Rossi zögerte gelegentlich. Er meinte, dass dieses Vorgehen „n’offre pas assez de jalons pour être sûr de ne pas s’égarer en route“. Allerdings wusste er kein anderes anzugeben. Hält man die beiden Kataloge von Verbrechen und Strafen nebeneinander, „on pourra se hasarder à reconnaître, en descendant, le rapport de chaque peine ou des divers degrés de peine avec un délit“. An anderer Stelle bekennt er, dass ein fester Ausgangspunkt fehle und dass wegen dieses Fehlens das Problem nicht gelöst sei. Wenn aber dieser große Denker sich einer derartigen Methode gebeugt hat, so erklärt sich dies ganz leicht: Er glaubte nicht, dass die Bekämpfung der Verbrechen der letzte und endliche Zweck der Strafen sei. Er war Eklektiker, und ein Grundsatz, den er nicht vergessen konnte, war derjenige der absoluten Gerechtigkeit und damit der Abbüßung durch Widervergeltung des Übels. Was man sich nicht erklären kann, ist, wie dieses Vorgehen jemals dasjenige der klassischen italienischen Schule sein konnte, die doch der Strafe den Hauptzweck der Prävention zuschreibt. Man könnte meinen, dass man logischerweise untersuchen müsse, welches das im Einzelfall günstigste Mittel sei, untersuchen, welches das am besten geeignete strafrechtliche Mittel zur Unterdrückung dieser oder jener kriminellen Erscheinungsform sei, statt ein Verhältnis festzulegen, das keinerlei Nutzen haben kann, indem man gegen jedes Verbrechen jene Strafe richtet, die sich zufällig auf der entsprechenden Stelle der parallelen Skala findet. Der einzige, der sich in Italien von einem solch kruden Empirismus fernzuhalten wusste, war Romagnosi, der Vater der Kriminalsoziologie. Auch er schlug eine strafrechtliche Verhältnismäßigkeit vor, jedoch nicht eine solche zwischen Strafen und Verbrechen, sondern zwischen Strafen und kriminellem Antrieb. [325]
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„Die Drohung mit einer Strafe“, führt er aus, „muss der mutmaßlichen Art des kriminellen Begehrens entsprechen und zum vermuteten Ausmaß der Energie dieses Begehrens verhältnismäßig sein“. Die Entsprechung bestimme die Art, das Verhältnis bestimme die Größe. Die Natur der Strafe müsse aus der moralischen Natur des Verbrechens, genauer gesagt, aus den Empfindungen, welche zur Rechtsverletzung geführt haben, abgeleitet werden. Die Größe des zur Verteidigung erforderlichen Gegenmotivs müsse zur Größe des zur Verletzung hin drängenden Motivs verhältnismäßig sein, sie müsse m.a.W. hinreichen, um die Energie dieses Motivs einzudämmen, wobei unter Energie nicht die individuelle Energie zukünftiger Verbrecher zu verstehen sei, sondern jene Energie, die „man als ein mittleres Maß begründetermaßen in einem gegebenen Volk als wirksam vermuten kann“ (Romagnosi). Die Macht des kriminellen Motivs folge aus der Intensität des Wunsches und aus dem Grad der Dreistigkeit; die Kenntnis dieser Elemente führe zum Grad des erforderlichen Gegenmotivs. Dieses werde so beschaffen sein müssen, dass es jenes Motiv mittels eines nachdrücklichen Einsatzes an Wachsamkeit, an Verfolgung und an Leid überwiege. Alle Menschen besäßen eine eigene soziale Wertvorstellung, abgesehen von den Müßiggängern und Vagabunden; alle von ihnen „weisen daher eine Empfindsamkeit und eine Garantie auf, die für die Nutzung einer gleichen Handhabung des strafrechtlichen Gegenmotivs wirksam ist“. Daraus folge, dass die Strafen für alle gleich sein müssten – außer bei jenen Klassen ohne soziale Wertvorstellungen, bei denen das Gegenmotiv, um wirksam werden zu können, sehr viel nachdrücklicher sein müsse (Romagnosi). Ganz ähnlich diesem System ist Feuerbachs System des psychologischen Zwangs, d.h. die Androhung eines Übels, welches das aus dem Verbrechen erhoffte Vergnügen überwiegt und dadurch den Willen bestimmt, von diesem abzustehen. [326] Diese beiden großen Autoren haben somit verstanden, einen Maßstab für die Strafbarkeit vorzulegen, der mit dem Prinzip der sozialen Verteidigung in Übereinstimmung steht. Doch wurde bereits bemerkt, dass dieses bei seiner praktischen Anwendung dazu führen würde, dass recht wenig gefährliche Straftaten sehr streng bestraft würden, sehr viel schwerere Straftaten hingegen vielleicht milder, und dies nur deshalb, weil die ersteren von lebhafteren Motiven gesteuert waren als die letzteren. „Der Diebstahl“, sagt Carrara „müsste auf der Skala der Verbrechen eine größere Schwere aufweisen als der Totschlag, falls man die relative Schwere nach Maßstäben der Nützlichkeit, der erhofften Straflosigkeit und der Leichtigkeit der Begehung berechnen würde“. Stelle man daher Straftaten gegenüber, welche dem selben Titel des Gesetzbuches angehörten, so würde „derjenige, der einen Diebstahl begangen hat, um sich vor der Haft zu retten, mit der ihm seine Gläubiger drohen, zweifellos ein stärkeres Motiv besitzen als derjenige, der einen Diebstahl begeht, um sich eine Vergnügungsreise zu ermöglichen. Man würde die Tötung eines verhassten Rivalen härter zurechnen als die Tötung eines Unbekannten, die aus geringer Ursache ohne irgendeinen Vorteil begangen wird“ (Carrara).
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Dies alles würde jedoch nicht hinreichen, um mich zur Ablehnung dieses Systems zu veranlassen. Ich gebe nicht zu, dass man so unterschiedliche Dinge, wie es die Verbrechen unterschiedlicher Kategorien sind, miteinander vergleichen kann, und ich habe ja die Möglichkeit, einen einheitlichen Maßstab für ihre jeweilige Schwere zu finden, bestritten. Ich fände es daher wenig wichtig, dass einige Formen des Diebstahls schwerer bestraft würden als einige Formen des Totschlages, wenn das angewendete Strafmittel in beiden Fällen nur jeweils den Zweck der Prävention erreicht. Doch glaube ich aus einem ganz anderen Grunde nicht, dass die von Romagnosi und von Feuerbach vorgeschlagene Verhältnismäßigkeit im Strafrecht realisiert werden kann. Die Strafe müsste nach ihrem System im direkten Verhältnis zum kriminellen Motiv wachsen, denn sie erblicken ja in der größeren Macht des Motivs eine größere Gefahr für die Gesellschaft. Doch wenn ich mich nicht täusche, ist dies der Schwachpunkt der Theorie. Die Beachtung des Motivs, das zum Verbrechen geführt hat, kann ein Element sein, um die Schwere der bestehenden Gefahr zu begründen; doch ist dieses Element nicht das einzige, denn jenes Motiv kann ja seinerseits aus außerordentlichen Umständen herrühren, die vielleicht bei anderen, nicht aber mehr bei dem Täter erneut auftreten können; so dass bei ihm der befürchtete neue Antrieb sehr viel weniger wirksam und damit weniger gefährlich zu erwarten sein würde. Damit aber würde der Grund entfallen, die Strafe an dem vergangenen Motiv auszurichten. Umgekehrt kann dieses Motiv schwach gewesen sein, doch die mildere Reaktion kann es stärken, so dass auf Grund irgend eines Umstandes und ohne, dass auch nur ein besonders lebhafter Wunsch oder eine Leidenschaft im Spiele ist, der Sieg des kriminellen Motivs wahrscheinlich ist. Das im Verhältnis stehende Gegenmotiv würde sich daher als unzureichend erweisen. Schließlich gibt es auch Antriebe, die fast kein Gegenmotiv aufzuhalten in der Lage ist, vor allem dann, wenn sie durch örtliche Vorurteile angeheizt werden. In solchen Fällen bliebe der Gesellschaft nichts anderes übrig, als das schärfste Gegenmotiv, die Todesstrafe, auszuprobieren und sie in übertriebenem Maße einzusetzen, wie es im Mittelalter der Brauch gewesen ist. Häufig ist in diesen Fällen der Mensch auch nicht unfähig zu jeder Form des sozialen Lebens, und eine Änderung des Umfeldes würde ausreichen, ihn zu menschlichem Zusammenlkeben zu befähigen. Hierauf könnte eingewendet werden, dass man mit dem System der Gegenmotive mehr die Generalprävention als die notwendige spezielle Prävention für den Täter bezwecke. Übe jedoch die Strafdrohung hinreichende Spezialprävention aus, so verbiete die öffentliche Moral, diese Grenzen zu überschreiten. Wie die Beachtung gewöhnlicher moralischer Empfindungen einerseits die Reaktion auf das Verbrechen rechtfertige, so verbiete sie andererseits die Übertreibung. Und eine Übertreibung könne es sein, wenn die Strafe über den Verbrecher nicht wegen der Gefahr, die von ihm ausgeht, verhängt werde, sondern wegen der Gefahr, die von anderen ausgeht; wenn, kurz gesagt, die Abschreckung, die eine Wirkung der Strafe sein solle, statt dessen zu ihrem Haupt-Zweck werde [...]. Das, was gemessen werden müsse sei nicht so sehr die Intensität des kriminellen Antriebs als vielmehr die Widerstandskraft gegen diese Antriebe, d.h., anders ausgedrückt, das moralische Empfinden des Verbrechers; nur dessen Erforschung könnte uns das
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erkennen lassen, was man von ihm mutmaßlich zu befürchten haben wird. Wäre dies möglich, so hätte man einen großen Schritt zur Lösung des Problems getan. Es bleibe dann nichts anderes mehr zu tun, als das Mittel der Prävention dem Grade der Bedrohung anzupassen. Doch um diese Wirkung zu erzielen ist es gänzlich nutzlos, einen quantitativen Maßstab des Verbrechens zu suchen. Ich habe bereits auf die Schwierigkeit dieser Untersuchung für den Fall hingewiesen, dass es sich um einen Vergleich zwischen jenen heterogenen Größen handelt, welche die verschiedenen Verbrechensarten darstellen. Handelt es sich somit um dieselbe Art, so kann der aus der Schwere des materiellen Schadens entnommene Maßstab nur dazu dienen, die dem Verletzten geschuldete Entschädigung zu berechnen; und der weitere, aus der Bedeutung der verletzten Pflicht entnommene Maßstab bildet nur ein Element in der Bestimmung der Unmoralität des Täters und damit der von ihm ausgehenden Bedrohung. Fällt somit die Skala der Verbrechensabstufung nach der inneren Bedeutung fort, so geht es um nichts anderes als um die Verhältnismäßigkeit des Strafens. Dieser Begriff hat aber keinerlei Bedeutung mehr, und man muss an seine Stelle den folgenden setzen: Anwendung des geeigneten Mittels – eine sprachliche Änderung, die bedeutet: Nicht mehr die Erforschung einer abgemessenen Menge an Übel, die dem Täter eines bestimmten Verbrechens zuzufügen ist, sondern jener Menge, die ein geeignetes Hemmnis bildet, das der Besonderheit seiner Natur angepasst ist. Aber wie! – wird man entgegnen – Ihr wollt nicht mehr die Strafe dessen, der tausend Lire gestohlen hat, von der Strafe desjenigen unterscheiden, der zwanzig Centesimi gestohlen hat? Darauf würde ich antworten: Ich wüsste nicht, warum man diese Frage generell entscheiden soll. Worauf es ankommt, ist die Feststellung, welcher der beiden Diebe der gefährlichere ist. Und dabei könnte sich ergeben, das dies der erste ist, manchmal aber könnte es so sein, dass es der zweite ist. Das Ziel, das wir ansteuern, ist nicht mehr die Feststellung der Menge an Leid, welches als das dem Wert der gestohlenen Sache entsprechende anzusehen ist. Es ist vielmehr hier, wie stets, die Feststellung des geeigneten Repressionsmittels, dh. des Hindernisses, das die Gefährdung beseitigt. [329] Wir können daher das Problem nicht anders als auf folgende Weise formulieren: Welches ist das Mittel zur Bestimmung der dauerhaften Abartigkeit des Täters und des Grades der Sozialisierbarkeit, die vielleicht noch bei ihm vorhanden ist? Hierzu erinnern wir an die verschiedenen Gruppen von Straftätern, welche wir unterschieden haben: Der Einzelne, den wir vor uns haben, muss mit der einen oder anderen dieser Gruppen verglichen werden und zugeordnet werden. Wir wollen aus unseren Betrachtungen keineswegs die objektiven Umstände des Verbrechens ausklammern – wie die Höhe des Schadens, die häufig das Indiz für größere oder geringere Niedertracht oder Begierde ist, oder die Art der Verbrechensbegehung oder die Umstände erschwerend genannt werden, da sie eine größere Dreistigkeit oder Grausamkeit ausmachen. Diese Umstände sind zusammen
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mit dem Vorleben des Täters zu gewichten, mit seinen physiologischen und psychischen Eigenschaften, mit seinen ererbten und erworbenen Empfindungen. Und all diese so zusammengetragenen Umstände werden dann die Feststellung ergeben, ob es dem Verbrecher gänzlich an moralischem Empfinden mangelt und er deshalb jeder sozialen Anpassung unzugänglich ist, oder ob sein schwaches moralisches Empfinden, das durch Gewohnheiten oder durch besondere außergewöhnliche Umstände erstickt ist, sich unter neuen Lebensbedingungen wieder erheben kann. Dies also ist der positive Maßstab der Strafbarkeit, den ich bereits in meinem 1880 veröffentlichten Werk [Di un criterio positivo della penalità – Ein positives Kriterium der Strafbarkeit] benannt habe. Aber in der Zeit, als ich jene erste Abhandlung schrieb, wusste ich noch nicht vollständig jene Vorstellungen von Verhältnismäßigkeit aufzugeben, die bei den Kriminalwissenschaftlern überkommen sind. Ich unternahm – es ist wahr – eine Anstrengung, mich diesen Vorstellungen zu entziehen, und führte aus, dass „die Strafen in Übereinstimmung mit der Gefährlichkeit des Täters angedroht werden müssen“ (S. 51) – ein offenkundiger und folgerichtig aus der Theorie der sozialen Verteidigung deduzierter Grundsatz, denn aber noch niemand ausgesprochen hatte. Dennoch habe ich bei der Entwicklung des Grundsatzes und bei seiner praktischen Anwendung zu häufig und fast ungewollt auf die Vorstellungen einer inneren Schwere des Verbrechens und einer strafrechtlichen Verhältnismäßigkeit zurückgegriffen. Nachdem nunmehr die gesamte Theorie auf das Prinzip der Anpassung zurückgeführt ist, kann mein positiver Maßstab schlicht folgendermaßen formuliert werden: Das Instrument der Strafe muss bestimmt werden durch die Möglichkeit der Anpassung des Täters, d.h. durch die Prüfung der Existenzbedingungen, unter denen angenommen werden kann, dass er aufhört, eine Bedrohung zu sein. Also: nicht mehr ein Maßstab der Verhältnismäßigkeit, sondern ein Maßstab der Geeignetheit. Und die Bedeutung dieser Unterscheidung glaube ich hinreichend dargelegt zu haben. [...]
Vincenzo Manzini (1872–1957) Handbuch des italienischen Strafrechts (Trattato di Diritto Penale Italiano) (1908) Band I. Kapitel I: Die juristische Methode und das Strafrecht § 1: Allgemeine Betrachtungen 1. Die Wissenschaft vom Strafrecht und ihre Grenzen [1] Wie in jeder anderen Rechtsdisziplin besitzt auch im Strafrecht die Frage der Methode vitale Bedeutung, denn nur mit großer Klarsicht und Genauigkeit der Maßstäbe kann man den Geist der Wissenschaft, ihre Daseinsberechtigung, ihre charakteristischen Züge und die Natur und Tragweite ihrer Normen begreifen und ihren gesunden, harmonischen und fruchtbaren Fortschritt befördern. [2] Das positivistische Verständnis des Strafrechts, an das wir uns ausschließlich halten, betrachtet dieses als ein System von Normen, das ausschließlich im Bereich des Staates, niemals außerhalb dessen, sich bildet und wirksam ist – unbeschadet der Tatsache, dass seine Materie, bevor sie ihre rechtlichen Ausformungen findet, aus den unterschiedlichsten Bereichen individueller und sozialer Tätigkeit erwächst. Die Lehre von den Verbrechen und von den Strafen kann als Rechtswissenschaft nicht die Grenzen überschreiten, innerhalb derer jene Rechtsnormen sich bilden und praktisch werden, deren Inhalt sie bestimmt, deren Folgerungen sie ableitet und deren notwendige Reformen sie aufweist. Der rechtliche Aspekt sowohl des Staates als auch der Kriminalität und der Strafbarkeit bildet nur eine der Flächen des gesellschaftlichen Polyeders, ist nur eine spezielle Art, menschliche Handlungen und Verhältnisse abstrakt und typisierend (jedoch mittels einer auf historischer Erfahrung und auf der lebendigen Wirklichkeit der Fakten gegründeten Induktion) zu betrachten, die an sich auch als von vielen anderen Gesichtspunkten aus zugänglich aufgefasst werden können – eine Art, die sich sehr von derjenigen unterscheidet, mit der man die statischen und dynamischen Erscheinungsformen der sozialen und natürlichen Phänomene betrachtet. Die Strafrechtswissenschaft darf deswegen einerseits sich nicht in Räume ausdehnen, welche jenseits der sozialen Atmosphäre liegen, welche den Staat einschließt; und sie darf andererseits nicht die Grenze zum Bereich jener Wissenschaften überschreiten, welche konkret jene Fakten untersuchen, die sie selbst abstrakt regelt, noch darf sie sich deren Methode aneignen. Wie aber ein jeder Prozess der induktiven Gedankenführung sich als Irrweg erweist, wenn es an einem vollständigen Begriff der Tatsachen fehlt, welche seine Grundlage bilden, so gewinnt man aus den implizit dargestellten Grundsätzen die Notwendigkeit einer genauen und breiten Kenntnis der zugehörigen konkreten Phänomenologie für unsere Wissenschaft. Obwohl man daher in den RechtswisE. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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senschaften von positivistischer Methode spricht, kann man doch korrekter Weise nichts anderes darunter verstehen als die juristische Methode, deren charakteristische Abstraktheit von einem breiten und soliden (historischen und aktuellen) soziologischen Begriff der Fakten und Rechtsbeziehungen angeleitet ist – einem Begriff, der nicht nur eine wünschenswerte Bedingung, sondern eine unabdingbare Voraussetzung darstellt, und der diese Methode von der klassischen juristischen Methode unterscheidet, die eine Abstraktion der Abstraktion darstellt und sich unter der Norm eine vollständig isolierte und von ihrer Basis unabhängige Wesenheit vorstellt. [3] 2. Beziehungen zu den Hilfswissenschaften Die vorangehenden Betrachtungen erlauben uns nun, die Beziehungen der strafrechtlichen Disziplinen zu den sog. Hilfswissenschaften präzise festzulegen und auf diese Weise leichte und gefährliche Verwirrungen in der Sache und in der Methode zu vermeiden. Zu diesem Zwecke muss ein allgemeiner Hinweis vorausgeschickt werden, mit dem jegliches Missverständnis über den üblichen fehlerhaften Ausdruck „Hilfswissenschaften“ behoben werden soll. Es muss nämlich das, was die besonderen Eigenheiten der Methode betrifft, mit der die Phänomene selbst untersucht werden, von dem Ergänzungsverhältnis zwischen den verschiedenen Wissenschaften und dem Strafrecht sowie von dem Konvergenzverhältnis in Richtung auf ein gemeinsames höheres Ziel, dem einige Disziplinen, einschließlich der unsrigen, zustreben, unterschieden werden.
§ 2: Philosophie und Strafrecht 3. Überflüssigkeit philosophischer Untersuchungen Aus dem, was wir gesagt haben, erweist sich, dass für unsere Untersuchungen jener im engeren Sinne philosophische Teil, den die älteren Autoren ihren Handbüchern voraus zu schicken pflegten, gänzlich überflüssig ist Die sogenannten obersten Grundlagen und den Begriff des Rechts in vermeintlichen göttlichen Offenbarungen, in absoluten, menschlich nicht zu begreifenden Wahrheiten, in einem phantastischen Naturrecht oder in anderem Vergleichbaren zu suchen, ist einer eminent praktischen, positivistischen und dem gesunden Menschenverstand verpflichteten Disziplin wie der unsrigen heutzutage nicht mehr gestattet. Nicht auf sentimentalen Glaubensbekenntnissen, sondern auf sicheren und genauen Daten, mit denen ein sicheres und objektives Fundament für die Untersuchung gewonnen werden kann muss die Rechtswissenschaft errichtet werden. Sie muss sich auf eindeutige Grundsätze stützen, [4] welche allgemein anerkannt sind; denn das Recht ist für die Allgemeinheit der Bürger gemacht und nicht mehr für die Anhänger dieser oder jener Religion, dieser oder jener philosophischen Sekte.
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4. Der durch sie bewirkte Schaden für die wissenschaftliche Entwicklung des Strafrechts Zweifellos war der Schaden, der dem Strafrecht aus der philosophischen Ansteckung, von der es vor allem seit dem 18. Jahrhundert befallen wurde, erwachsen ist, erheblich größer als der Nutzen. Was als ein der Spekulation der reinen Philosophie zuzuschreibender Fortschritt erscheint, ist nichts anderes als das Ergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung, die auch jene Philosophie hervorgebracht hat und gewiss nicht von ihr hervorgebracht worden ist. Kann man jedoch das Faktum, von dem wir sprechen, immerhin für eine natürliche Erscheinung angesichts der Unsicherheit der ersten wissenschaftlichen Konstruktionen halten, die sich zusammen mit dem aus der Erfahrung gewonnenen Stoff, der fast noch ein Rohstoff war, ergaben (in der ältesten Zeit war die Kriminal-Metaphysik noch nicht aus den Büchern der reinen Philosophen herausgetreten), und mag aus dieser Sicht mancher es als nützlich oder notwendig ansehen – so meinen wir, dass man unmöglich das andere Faktum leugnen kann, dass die Verabreichung dieses ersten Impfstoffes nicht zu einer Immunisierung geführt, sondern eine hereditäre und konstitutionelle Krankheit hervorgerufen hat. Indem die Philosophie das wissenschaftliche Denken mit übertriebenen Abstraktionen und mit fruchtlosen Kämpfen erschöpft, die Forschung vom rechten Weg geleitet, mehr oder weniger sektiererische und einseitige Schulen gegründet und mehr oder weniger eklektische und unsichere Tendenzen hervorgerufen hat, hat sie die Entwicklung unserer Disziplin in ihren wesentlichen und eigentlichen Teilen verlangsamt und auf deren Kosten einige parasitäre Triebe überentwickelt, welche es endlich zurückzuschneiden gilt. Damit ist auch der Grund für die verhältnismäßig dürftigen Fortschritte des Strafrechts im Vergleich zu anderen Wissenschaften des öffentlichen Rechts und insbesondere im Vergleich zum Privatrecht benannt, die gegen solch bedrückende und hartnäckige Hirngespinste immun geblieben sind.
5. Vergebliche Rechtfertigungsversuche Man pflegt zu behaupten, dass das philosophische Problem des Strafrechts zwar keine politische oder juristische Notwendigkeit bilde, jedoch Ausdruck eines sozialen und individuellen Bedürfnisses sei, und dass es daher den um die Wahrheit ringenden menschlichen Geist beschäftigt habe und noch beschäftige. [5] Doch abgesehen davon, dass nichts „Wahres“ willkürlicher und trügerischer ist als das philosophische (so sehr, dass es schwierig ist, zwei Philosophen zu finden, die über einen bestimmten Fall oder über eine Theorie derselben Auffassung sind), existiert nur in der fruchtbaren philosophischen Phantasie die Überzeugung, dass der Geist der bürgerlichen Menschheit sich mühe, solchen Trugbildern nachzulaufen. Die Menschheit hat glücklicherweise anderes zu tun, als in der philosophischen rêve Müßiggang zu treiben! Nur eine kleine Zahl von Gelehrten mit mystischem und traditionsbefangenem Temperament hat wirklich Freude daran, die unzähligen und widersprüchlichen „Wahrheiten“, die sich die Philosophie bisher zur metaphysischen Rechtfertigung des Strafrechts ausgedacht hat, zu verstehen
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und zu durchdenken, und zerbricht sich den Kopf, um auf eigene Rechnung etwas Neues in dieser Richtung hervorzubringen, um eine neue Handvoll Sand auf die unfruchtbare und bewegliche Sandbank der strafrechtsphilosophischen Theorien zu werfen. Von ihnen wird daher bei uns eben so wenig die Rede sein wie von denen, die nur subjektive und persönliche Bedeutung besitzen; wir werden uns vielmehr ausschließlich an die positivistische Konzeption des Strafrechts halten.
6. Rechtsphilosophie und enzyklopädische Philosophie So sehr man aber die schädliche Vergeudung wertvoller Energien bedauern könnte, welche einige Strafrechtler an diese Sisyphus-Arbeit gesetzt haben und noch setzen, so versteht man doch wohl, dass die individuellen mystischen Neigungen zum gefährlichen Sport höchster Verallgemeinerungen im Bereich einer Wissenschaft, die in allen ihren Teilen vollständig bekannt ist, führen können, ohne ins Lächerliche zu gleiten. Hier wenigstens verschafft die grundlegende Kompetenz den pseudowissenschaftlichen Schlüssen einen Wert intellektuellen Vergnügens, das zwar einen Verbrauch an bloß genießender geistiger Arbeitsleistung bedeutet, aber doch nicht ganz zu verachten ist. Hingegen bietet einen Anblick absurder Komik der naive philosophische Anspruch in Werken jener berufsmäßigen Allgemein-Philosophen (mögen sie sich Materialisten oder Spiritualisten, Positivisten oder Rationalisten oder sonstwie nennen), die es für seriös und erlaubt halten, Abhandlungen wie in Zeiten des Aristoteles de omnibus rebus et de quibusdam aliis zu verfassen, ohne im Grunde irgend etwas davon zu verstehen, und die in einer Zeit mit derartiger [6] Arbeitsteilung und derartiger gesellschaftlicher und politischer Entwicklung glauben, u.a. die grundlegenden Angelpunkte des Rechts im allgemeinen und unseres Rechts im besonderen aufzeigen zu können. Wir überlassen daher dem Philosophen, was des Philosophen ist, und geben dem Juristen, was des Juristen ist.
§ 3. Anthropologie und Strafrecht 7. Nutzen der Anthropologie Der Einzelmensch ist der erste Ursprung jeglichen gesellschaftlichen Geschehens; er ist das aktive Subjekt der Kriminalität und das passive der Reaktion darauf. Jene Wissenschaft also, welche den Menschen als solchen, in seinen physischen und psychischen Eigenschaften erforscht, in seiner Fähigkeit zum Erfinden und zum Empfinden, also die Anthropologie im weiteren Sinne, ist eine unverzichtbare Erkenntnisquelle für die Kriminalwissenschaften, insbesondere jener Teil von ihr, der unter dem Namen Kriminalanthropologie und -psychologie die Grenzen zwischen der individuellen Normalität und Anormalität erforscht. In der Sache reduziert sie sich auf einen Zweig der Physiopsychologie. Die natürliche Unsicherheit der ersten Schritte auf diesem Feld führte allerdings zu einer Reihe von einseitigen Theorien mit unreifen und willkürlichen Verallgemeinerungen, mit gewagten Hypothesen, die jedoch, indem sie nach und nach eine
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die andere ausschlossen, den jüngeren Betreibern der Materie eine sicherere und geeignetere Richtschnur und eine vorsichtigere und strengere Methode hinterließen.
8. Ihre Irrtümer und ihre Verdienste Der hauptsächliche Irrtum der anthropologischen Kriminalisten ist der, dass sie mit geschlossenen Augen die glänzenden, aber alles andere als gesicherten [7] Annahmen der Jünger Darwins, insbesondere die Übertreibungen von Haeckel, übernommen haben. Die heutige Biologie ist mit diesen Phantasien fertig geworden, indem sie ihnen entgegen gehalten hat, dass seit der Urzeit (Paläozoikum) alle derzeit bestehenden Typen von Lebewesen vorhanden sind, ohne dass in der Zwischenzeit die Evolution die Kraft besessen hätte, einen neuen zu schaffen; dass keine Zwischenbildung zwischen Wirbeltieren und irgend einem der Typen wirbelloser Tiere entdeckt worden ist; dass man kein einziges Fossil des Übergangs zwischen den großen Typen des Tierreichs kennt; dass in jedem Stadium der embryonalen Entwicklung sich eine Spezies von der anderen so unterscheidet, wie sich die Erwachsenen voneinander unterscheiden; dass der menschliche Embryo, ungeachtet seiner Ähnlichkeit mit demjenigen der Affen, sich von diesem in zahlreichen Hinsichten unterscheidet und sogar derjenige der verschiedenen Affenarten untereinander, so dass diese ohne Schwierigkeit bereits als Embryonen im ersten Monat voneinander unterschieden werden können. Diese Folgerungen der jüngsten biologischen Forschung beweisen im Übermaß, dass all diese kriminalanthropologischen Forschungen, die einen atavistischen Rückstand im verbrecherischen Menschen voraussetzen, wegen eines unheilbaren Geburtsfehlers fehlgehen. Abgesehen davon, dass sie vielfach mit nur geringer kritischer Helle unternommen worden sind, beispielsweise dann, wenn sie in der stärkeren Entwicklung der postaurikularen Muskeln des Menschen ein stammesgeschichtliches Andenken sehen wollten und dabei vergaßen, dass diese Annahme voraussetzen würde, den Menschen von den Schweinen, von den Einfüßlern oder gar von den Walfischen abstammen zu lassen. Ein anderer Irrtum, der freilich inzwischen allgemein verabschiedet worden ist, war jener vom kriminellen Typus, durch den man auf der Grundlage von partiellen und schlecht interpretierten körperlichen Daten zu der Annahme gelangte, in der menschlichen Spezies eine verbrecherische Subspezies zu kreieren, ohne zu bedenken, dass die registrierten Anomalien nicht nur einer großen Menge von psychologisch und sozial normalen Menschen gemeinsam sind, sondern auch nicht notwendig übertragbar sind und von zahlreichen, sowohl physiologischen als auch sozialen Kausalfaktoren abhängen, die unabhängig von den Vorstellungen sind, welche die Gesellschaft sich zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort über das, was sie als Verbrechen bezeichnet, bildet. Zweifellos besser begründet und fruchtbarer waren die Forschungen über die Vererbung als indirekte Ursache der Delinquenz, wenngleich auch hier manche zu Übertreibungen ähnlich denen über die Übertragbarkeit bestimmter Krankheiten
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gelangt sind, welche die moderne Pathologie [8] in die Archive der Wissenschaft verbannt hat, von denen bewiesen ist, dass man höchstens die Neigung erbt, die unter bestimmten Umweltbedingungen aber wirkungslos bleibt. Angesichts der Natur solcher Forschungen und der daraus folgenden Hypothesen war es natürlich, dass die Kriminalanthropologen sich einbildeten, das Strafrecht durch ihre Kriminaldiagnostik und Kriminaltherapie ersetzen zu können, in welcher der Täter einen gänzlich zweitrangigen und zufälligen Part spielen sollte. Ist der Verbrecher das Ergebnis eines atavistischen Rückstandes, so bildet er eine wohldefinierte Varietät der menschlichen Art, ist er ein erblich Degenerierter usw. – dann ist es ebenso lächerlich, von Verantwortlichkeit zu sprechen, wie es sinnlos ist, von Gut und Böse im subjektiven Sinne zu sprechen, denn Fehlverhalten und Tugend, Verdienst und Schuld, sind ethische Begriffe, welche von der Anthropologie geleugnet werden. Dies träfe zweifellos zu, wenn die Wissenschaft den Beweis dafür erbracht hätte, doch wie die Dinge nun einmal liegen, kann man ihr nicht größere Bedeutung beilegen als irgendeiner metaphysischen Theorie. Es bleibt freilich die unbezweifelte Tatsache, dass der wirklich anormale Mensch nicht in den Bereich des Strafrechts gehört, wie wir am gehörigen Ort noch sehen werden [...]. Jedenfalls hatten diese Untersuchungen das unschätzbare Verdienst, unsere Wissenschaft für immer von einigen rein philosophischen Superfetationen theologischer und ethischer Prägung zu befreien, von denen jeweils noch die Rede sein wird.
9. Kriminalanthropologie und Strafrecht Aber auch hier gelangten die Neuerer aufgrund ihres zu großen Enthusiasmus zu der phantastischen Auffassung, sie hätten das Gebäude zerstört, indem sie wirksam dazu beigetragen hätten, den alten Efeu abzureißen, der es umrankte. Das Niederreißen der erläuternden Hypothesen über ein gegebenes Einzelphänomen und einer gegebenen sozialen Funktion ist aber nicht gleichbedeutend mit der Beseitigung der Existenz der Tatsache und der Daseinsberechtigung dieser Funktion. Das Weshalb einer Sache darf niemals mit der Sache selbst verwechselt werden. Wer wollte ernsthaft denken, er habe bewiesen, dass es den Transport von elektrischer Energie über eine Distanz nicht gebe und dass die Rechtsnormen, welche ihre Produktion und Verteilung regeln, nutzlos seien, nur weil er überzeugt ist, er habe die Irrigkeit der Hypothese des Stroms mittels Dielektrikum bewiesen? Wäre das Strafrecht ein philosophisches System, das von einer bestimmten Schule unter Anwendung bestimmter Prinzipien geschaffen worden ist, so wäre die Annahme berechtigt, man habe mit der Zerstörung seiner Grundlagen auch das Gebäude zerstört. Für den aber, der das Strafrecht als ein Erzeugnis [9] gesellschaftlicher Bedürfnisse versteht, das durch die historische Entwicklung perfektioniert und differenziert worden ist, ist eine solche Illusion unmöglich. Wir haben schon gesagt, dass die angeblichen philosophischen Voraussetzungen des Strafrechts nicht etwa Grundsteine des Gebäudes sind, sondern zerbrechliche und unbeständige Windrichtungsanzeiger, die sich auf den Dächern mit den Win-
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den drehen und in den Wolken knarren. So, wie das spiritualistische Banner im Gefolge der Tendenzen einer vergangenen Epoche aufgepflanzt wurde, so erhob sich das materialistische Banner zur Kennzeichnung der Tendenzen einer Zeit, die nunmehr im Untergang begriffen ist – Feldzeichen einer und derselben Metaphysik, die sich nur in den Farben unterscheiden. Wenn es Lombroso nicht gegeben hätte, schreibt Gross, so gäbe es eine Lücke in der gedanklichen Entwicklung der Ideen unserer Zeit; und der deutsche Autor hat vollkommen recht. Mögen aber die Übertreibungen und die inkonsistenten Hypothesen der lombrosianischen Schule für einen Augenblick in der Lage gewesen sein, die wissenschaftliche Forschung vom rechten Ziel abzulenken, so wird ihr doch stets das Verdienst verbleiben, die Aufmerksamkeit der Kriminalisten auf die häufig in einer neutralen Zone zerfließenden Grenzen zwischen Geisteskrankheit und Verbrechen zu lenken – Grenzen, welche von der alten Strafrechtswissenschaft mit einem übermäßigen Empirismus fixiert worden sind. „Die Geschichte der Wissenschaften“, sagt ein Biologe (Verworn), „ist reicher an Irrtümern als an Wahrheiten, doch für die Entwicklung des menschlichen Geistes besitzt ein fruchtbarer Irrtum einen unendlich größeren Wert als eine sterile Wahrheit“.
Und so verhält es sich auch mit der lombrosianischen Kriminalanthropologie.
§ 4. Soziologie und Strafrecht 10. Soziale und juristische Kriminalwissenschaft Die Soziologie ist die beschreibende und erläuternde Wissenschaft der gesellschaftlichen Erscheinungen. Die Kriminalsoziologie ist die Lehre von der Kriminalität, beschrieben in ihrem aktuellen Zustand, in der Geschichte, in den Kausalelementen, in der [10] Wirksamkeit der kollektiven Reaktionen, welche sie erfährt, und in ihrer sozialen Prophylaxe. Das Strafrecht und die Kriminalsoziologie betrachten daher dieselbe Materie von zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten: das erstere hat weder die Absicht, Tatsachen oder Verhältnisse zu beschreiben, noch will es gesellschaftliche Ursachenforschung betreiben; es ist die Wissenschaft von Befehlsnormen, die mit den Naturgesetzen und den Sozialgesetzen nichts zu tun haben; die letztere hingegen untersucht die Naturgeschichte des Verbrechens. Die Soziologie dringt nicht in den juristischen Bereich des Staates ein, in dem das Recht entsteht und lebt. Man unterscheidet demnach die Gesellschaftslehre der Straftat und der Strafe von deren Rechtslehre. Selbstverständlich kann auch das Strafrecht ebenso wie die Kriminalität und der Staat selbst soziologisch betrachtet werden, insoweit es ein historisches und gegenwärtiges Phänomen ist, das aus physischen, ökonomischen, ethnischen und moralischen Energien resultiert, die auf die Gesellschaft einwirken, und insoweit es ein Koexistenz-Gesetz der Gesellschaft selbst ist. Hat aber diese Wahrheit, die bereits von der historischen Schule erkannt und von der jüngeren Wissenschaft formuliert worden ist, Erkenntnisse über die Entstehung und das Wesen des
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Rechts erbracht, so bedeutet dies doch keineswegs, dass die Rechtswissenschaft ihr eigenes Territorium verlässt, ihren Untersuchungsgegenstand verändert und das objektive Recht als etwas anderes als eine Reihe von vorher formulierten und sanktionsbewehrten Befehlen auffasst, die den Willen des Staats, d.h. der politisch organisierten Kollektivität, zum Ausdruck bringen.
11. Gesellschaft, Staat und Strafrecht Die Gesellschaft, in der die Soziologie ihren Platz einnimmt, ist im weiteren Sinne die Gemeinschaft der Menschen als historisch herausgebildeter moralischer Organismus, der sich äußerlich durch ein Ensemble von psychologischen Beziehungen zwischen den Einzelpersonen manifestiert. Im engeren Sinne ist sie die Gesamtheit der Personengruppen, welche untereinander ein gemeinsames Element besitzen, das sie vereinigt. Im noch engeren Sinne umfasst die Gesellschaft alle gesellschaftlichen Gruppierungen einschließlich des Staates. In der Gesellschaft finden wir einerseits Individual- und Kollektivinteressen, welche aus Zwecken hervorgehen, die man verwirklichen will; andererseits äußert sich extensiv und [11] intensiv das Gerechtigkeitsempfinden, das aus der individuellen Psychologie mit der Kraft und der Hartnäckigkeit eines Instinkts hervorgeht, so dass man es selbst bei Verbrechern findet. Doch die Gesellschaft als solche wäre, zumindest in ihrer Vergangenheit und Gegenwart, nicht in der Lage, jene Interessen gemäß dem Begriff der Gerechtigkeit zu regeln und zu schützen; daraus folgt die Notwendigkeit der politischen Organisation, also des Staates, dessen Hauptaufgabe darin besteht, die Regelung und den Schutz durch das Recht, d.h. durch Normen, welche die gesellschaftlichen Beziehungen zwangsweise regeln, zu verwirklichen. Die besagten Normen gehorchen einem Prozess der Abstraktion und Generalisierung, der eine Methode bildet, die von derjenigen der Sozialwissenschaften und der Naturwissenschaften gänzlich verschieden ist. Auch diese bedienen sich zwar in großem Umfang der Abstraktion bei der Feststellung von Ähnlichkeiten; es mangelt ihnen jedoch nicht an jener Betrachtung der Einzelfakten in ihrer unendlichen Vielfalt und Komplexität, die im Strafrecht zwangsläufig fehlt, weil es andernfalls seinen Charakter einbüßen und an seiner Aufgabe gesellschaftlicher Disziplinierung scheitern würde. Aus dieser Feststellung ergibt sich, dass einerseits die Antipathien jener Kriminalsoziologen, die ihre Stimme gegen Abstraktionen erheben, keine Daseinsberechtigung haben, denn diese sind auch den deskriptiven Wissenschaften eigen, dass andererseits [12] aber auch das Ansinnen verfehlt ist, die Methode dieser Wissenschaften auf das Strafrecht zu übertragen, wo die abstrakte Verallgemeinerung der Norm und die sichere Vorhersehbarkeit der Sanktion unabdingbare Elemente für eine einheitliche und wirksame Regelung sind. Eine eitle Illusion war es daher auch, aus dem Strafrecht durch seine Verwandlung in eine Art von Sozialtherapie und ein Instrument bloßer sozialer Verteidigung und Prävention ein Kapitel der Soziologie zu machen. Diese Auffassung übersieht die Beziehungen, welche zwischen der Einzelperson und der politisch organisierten Gesellschaft bestehen, überträgt die Verfassung und die Funktionen des Staa-
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tes auf die Gesellschaft und vergisst, dass die gesellschaftliche Entwicklung das Strafrecht von allen anderen Formen der sozialen Verteidigung differenziert hat, da seine Befehle und Sanktionen sich am Maßstab der Gerechtigkeit ausrichten. Man kann aber auch sagen, dass die Autonomie des Strafrechts selbst im Bereich der soziologischen Lehre weithin anerkannt wird – und dies konnte auch nicht anders sein, denn eine positive Regelung kann nicht aus bloßer Liebe zu einer Schule die Offenkundigkeit von Fakten, von Beziehungen, von Bedürfnissen und von Tendenzen des bürgerlichen Lebens leugnen. Andererseits kann kein Vertreter des Strafrechts die unverzichtbaren Beiträge der Kriminalsoziologie sowohl im Hinblick auf die Kriminalität als auch im Hinblick auf die Reaktion auf Kriminalität beiseite lassen, denn wer die konkrete Erscheinungsform eines Systems von Energien nicht kennt, kann nicht ernsthaft meinen, dessen Formeln zu verstehen, zu entwickeln und zu vervollkommnen. [...] [45]
Kapitel III. Die positivrechtliche Konzeption des Strafrechts [...] [46] 42. Strafrecht und Rechtsordnung […] [47] Wenn gesagt wird, das Strafrecht bilde den Schutz der Rechtsordnung, so braucht es doch nicht als ein Sanktionsrecht für alle Normen, welche diese Ordnung ausmachen, begriffen zu werden, sondern nur für jene Bedingungen, die der Wille des Staates als unabdingbar für die Aufrechterhaltung der allgemeinen Rechtsordnung angesehen hat. Und letztere muss man wiederum verstehen als jenen allgemeinen Zustand der Gesellschaft, deren soziale Gesamtheit und deren einzelne Mitglieder in der Ausübung ihrer vom Recht anerkannten und geschützten Tätigkeit Garantien gegenüber jenen Verletzungen und drohenden Verletzungen besitzen, die das Gesetz als Straftaten betrachtet.
43. Maßstäbe für die Rechtfertigung von strafrechtlichen Geboten und Sanktionen Der Maßstab für die Rechtfertigung eines strafrechtlichen Gebots (Rechtfertigungsmaßstab im eigentlichen Sinne), den man so oft in den Wolken zu suchen unternimmt, ergibt sich demnach daraus, dass unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen [48] die kollektive souveräne Macht anerkennt, dass das Ziel der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung nicht erreicht werden kann, wenn nicht alle und jeder diesem Ziel allen anderen Zielen gegenüber den Vorrang einräumen; und deshalb werden die betreffenden Verbote und Verpflichtungen weltweit als gerecht angesehen. Maßstab für die Rechtfertigung der Strafbarkeit (criterio esecutivo) ist die durch den Staatswillen aktualisierte kollektive Überzeugung von der Notwendigkeit, neue Motive für jene Unterlassungen und Handlungen, die den Gegenstand des strafrechtlichen Gebots bilden, zu schaffen, wenn diese nach kriminalpolitischen Begriffen gewählten Gründe hinreichend erscheinen, die effektive Beachtung der
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Norm zu bewirken, und als solche erscheinen, denen man jedem anderen Grund gegenüber den Vorrang einräumen kann. Diese Wirkung erzielt man sowohl mit der Androhung der Strafe als auch mit ihrer Verhängung in Fällen, in denen die Norm verletzt worden ist. Im letzteren Fall nämlich liegt der wesentliche Zweck der Strafe nicht in der Besserung, der Buße, der Vergeltung oder dergleichen, sondern darin, im Bewusstsein des Verurteilten, der gezwungen ist, die rechtlichen Folgen seines Tunst zu tragen, jene Motive hervorzurufen, welche die bloße Voraussicht der rechtlichen Folgen selbst nicht vorherrschend zu machen vermocht hat, und jedermann von der Ernsthaftigkeit der Strafdrohung und von der Wirksamkeit der von der Rechtsordnung ausgesprochenen Garantie zu überzeugen. Die Strafbarkeit ist demnach gerechtfertigt durch die Notwendigkeit, die Rechtsunterworfenen zur Beachtung des Gebots anzuhalten und sie der Tätigkeit des Staates zur Aufrechterhaltung und zur Wiederherstellung der allgemeinen Rechtsordnung zu versichern. Auch dies ist daher ein Maßstab der Notwendigkeit. [49] Das Strafrecht bildet daher ein gesellschaftliches Interesse mit präventivem Charakter, das durch das Mittel der Strafe verwirklicht wird – also durch ein repressives, in der Androhung hypothetisches und in der Zufügung effektives Mittel.
44. Das Strafrecht und sein besonderer Charakter Da das Ziel des Strafrechts der Schutz und die Erhaltung der allgemeinen Rechtsordnung ist, kann man sagen, dass es ein Mittel der sozialen Verteidigung gemäß dem im 18. Jahrhundert üblich gewordenen, später von Romagnosi eingegrenzten [...] und sodann von Ferri wieder erweiterten Begriff ist; jedoch ist es eine Art von sozialer Verteidigung, die sich von allen anderen durch recht bestimmte und spezielle Eigenschaften unterscheidet. Die soziale Verteidigung im eigentlichen Sinne, welche der öffentlichen Gewalt ein weites Feld des Ermessens zugesteht, ist der typische Gegenstand der Verwaltungsfunktion polizeilicher Tätigkeit, während das Strafrecht, indem es den Staat nötigt, normalerweise zur Verwirklichung seiner Strafbefugnis die Garantie richterlicher Tätigkeit zu beantragen, den Charakter eines Justizrechts trägt, der in der Regel in dem, was das Wesen der Repression ausmacht, jegliche Ermessensbefugnis ausschließt.
Eugenio Florian (1869–1945) Lehrbuch des Strafrechts. (Trattato di Diritto Penale) (2. Aufl. 1910) Band I. Teil I: Von den Straftaten und Strafen im allgemeinen Einführung [...] § 8: Die Lehre der positivistischen Strafrechtsschule (scuola criminale positiva) 31. [63] [...] es unterliegt keinem Zweifel, dass die [positivistische Schule] nur eine Lösung der Problematik des Strafgrundes bieten konnte. Sie musste sich mit jenen zusammenschließen, welche die Meinung vertreten, dass Grund des Strafrechts die soziale Verteidigung (difesa sociale) sei. Die Gesellschaft ist ein Organismus im wissenschaftlichen, nicht im übertriebenen oder künstlichen Sinne des Wortes; als solcher muss sie leben, sich erhalten und sich entwickeln; jegliche Verletzung muss zurückgewiesen und, besser noch, verhindert werden, wo dies möglich ist. Das Strafrecht bildet in der Gesellschaft eine unverzichtbare Naturnotwendigkeit, ein Instrument der Verteidigung und der Selbsterhaltung, ein Mittel des Schutzes legitimer gesellschaftlicher Interessen. Diese soziale Funktion wird auch durch die Geschichte bewiesen. Auf die Theorie der Verteidigung lassen sich im Grunde nahezu alle Theorien zurückführen, die sich nicht vollständig dem moralischen Prinzip anheimgeben; daher kommt es, dass in dieser Hinsicht die positivistische Strafrechtsschule keinen eigenen originellen Beitrag erbracht hat. Es lässt sich nur sagen, dass diese Schule die Theorie der sozialen Verteidigung auf eine organischere Grundlage stellt und – wie wir sehen werden – alle logischen Folgerungen aus ihr zieht und anwendet. 32. Wird nämlich der Begriff der sozialen Verteidigung zur Grundlage des Strafrechts gemacht, so muss er in moderner Weise aufgefasst werden und darf nicht mit irgendeiner der früheren einseitigen relativen Theorien vermengt werden. Die soziale Verteidigung bildet die allgemeine und ursprüngliche Idee, [64] aus der die mehr oder weniger beliebigen und relativen unmittelbaren Zwecke hervorgehen, die man sich für die Strafe ausgedacht hat. Denn die tägliche Erfahrung beweist, dass Strafe verhängt wird, 1) damit die Verbrecher, vorübergehend oder auf Dauer, in die physische Unmöglichkeit versetzt werden, Schaden anzurichten, d.h. in die Unmöglichkeit, weitere Verbrechen zu begehen; 2) damit im Rahmen des Möglichen erreicht wird, dass sie gemäß den Verhaltensanforderungen der Gruppe, der sie angehören, gebessert, d.h. für das gesellschaftliche Leben fähig gemacht werden;
E. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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3) damit die Drohung mit der Strafe und die Tatsache der Verhängung der Strafe über den Verbrecher andere vom Verbrechen abhält; 4) damit schließlich die Vollstreckung der verhängten Strafe für den Verbrecher, der sie erleidet, zum Motiv wird, das ihn von weiteren Verbrechen abhält. Bei dieser Betrachtungsweise verschlingen sich Generalprävention und Spezialprävention, und gemeinsam üben sie die soziale Funktion der Strafe aus. Es liegt auf der Hand, dass diese Strafzwecke, wenn man sie dem weiter gefassten und allgemeineren Zweck der sozialen Verteidigung gegenüberstellt, sich tatsächlich als Mittel erweisen, mit denen die soziale Verteidigung selbst in Tätigkeit tritt. Sie sind zufällig bzw. relativ, denn mitunter können sie gänzlich oder teilweise fehlen; dies wird man insbesondere von den Zwecken der Spezialprävention in einzelnen konkreten Fällen sagen müssen. Die einzelnen Zwecke [65] entsprechen im Prinzip den einzelnen Verbrecherkategorien und bezeichnen die Art und Weise, wie diesen Kategorien gegenüber die soziale Verteidigung wirken soll. Den Verbrecher sicherzustellen, damit er keinen weiteren Schaden anrichten kann, seine Besserung aus sozialer Sicht und seine Heilung gemäß seiner persönlichen Eigenart zu ermöglichen, dafür zu sorgen, dass Strafdrohung und Strafvollstreckung Auslöser für ein sozialgemäßes Verhalten werden usw., sind ebenfalls Vorgehensweisen, durch welche die soziale Verteidigung sich äußert und gegenüber der Kriminalität wirksam gemacht wird. So umfassend die Kriminalität ist, so vielfältig sind die Mittel ihrer Bekämpfung – unterschiedlich je nach der unterschiedlichen Art der Verbrecher und der unterschiedlichen Schwere der Tat. 33. [...] Es bleibt aber die Aufgabe, den allgemeinen Begriff der sozialen Verteidigung noch besser zu bestimmen, denn in ihm sind die einzelnen Strafzwecke eingeschlossen und damit gerechtfertigt. Vor allem einmal ist diese soziale Verteidigung keine gesellschaftliche Rache. Eine derartige Vorstellung, von der nicht wenige Spuren den Inhalt des Strafrechts noch immer verunreinigen, muss ganz und gar ausgelöscht werden, denn sie ist grausam, widerspricht dem Humanitätsempfinden und ist vor allem exzessiv und maßlos und steht damit im Widerspruch zur Notwendigkeit. Damit entfällt aber auch von dort her die Vorstellung, dass zum Begriff der Strafe stets und zwingend ein schmerzhafter Inhalt gehöre. Zum zweiten hebt der Grundsatz der sozialen Verteidigung die abstrakte Idee der Gerechtigkeit im metaphysischen Sinne der Vergeltung eines Übels mit einem Übel und der folgerichtigen Nebenwirkung der Sühne tendenziell vollständig auf – und zwar sowohl in ihrem Verständnis als ausschließlicher Grund (absolute Theorien) als auch als konkurrierender Grund (gemischte Theorien) für die Rechtfertigung des Strafrechts. Die Vorstellung von der Vergeltung eines Übels durch ein Übel beruht zwingend auf der Voraussetzung des freien Willens, zeichnet das Bild eines bösen Willens als Urheber des Verbrechens und zieht daraus die Folgerung, dass dem Staat die Aufgabe zustehe, den moralischen Ausgleich mit Hilfe des Strafrechts vorzunehmen. Dazu muss jedoch nicht nur bemerkt werden, dass all diese Vorstellungen aus der Sphäre des Strafrechts abschweifen oder ihm von vornherein fremd sind [66] (was sich von selbst versteht), sondern mehr noch, dass sie auch im Schoße jener Systeme, in denen der Gedanke der Vergeltung mit
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dem Zweckgedanken zusammengeführt wird, gelten. Der Vergeltungsgedanke – egal, ob er nun als Grundlage oder als Grenze des Strafrechts wirkt – bildet stets ein äußerliches Element, welches das Strafrecht aus dem Kreis der gesellschaftlichen Notwendigkeiten herauszieht, aus denen es seine Gründe empfängt. Wie immer die Mischung der Grundsätze ausfallen mag: die Wirksamkeit der Vergeltung als einer unter mehreren Faktoren des Strafrechts ist auch damit nicht zu rechtfertigen. Wie wir sahen, ist in Deutschland sogar unter den Vertretern der zweiten Phase der relativen Theorien sehr weit die Tendenz verbreitet, den Vergeltungsgedanken und den Zweckgedanken im Strafrecht für miteinander vereinbar zu halten; und die gesamte Merkel-Schule, obgleich sie sich im Bereich des Positivismus hält, sieht den Begriff der Vergeltungsstrafe als Grundbegriff an. Man muss aber sehen, dass der Begriff der Vergeltung hier nichts Abstraktes und Metaphysisches hat. Diese Verteidiger der Vergeltungsstrafe erkennen an, dass die Rechtfertigung der Strafe vom Wert der rechtlichen Interessen abhängt, die sie schützen soll, und dass die Strafe selbst die Verteidigung der Gesellschaft und der Rechtsordnung zum Zweck hat. Strafe ist nur so weit gerechtfertigt, wie sie zum Schutze der Rechtsordnung notwendig ist. Andererseits aber ist es nicht so, dass die Strafe bei allen Verbrechen Vergeltung sei, sondern das Vergelten ist ein Wesensmerkmal der Strafe. Geht man streng nach den Prinzipien vor, so bekämpft man, wenn man Strafe als Vergeltung versteht, mit ihr die Verbrechenswirkungen, wenn man sie hingegen als auf ein Ziel gerichtet versteht, die Verbrechensursachen, und man muss nicht auf die Tat, sondern auf den Täter schauen, der den Charakter der Strafe bestimmt. Geht man im Sinne dieser Schule vor, so ist die Vergeltungsstrafe vor allem eine Reaktion auf die Verbrechenswirkungen; sie schließt jedoch den Kampf gegen die Verbrechensursachen nicht aus, bezieht ihn vielmehr ein und führt ihn durch. Die beiden Richtungen (gegen die Wirkungen und gegen die Ursachen des Verbrechens) [67] stehen nicht im Widerspruch zu einander, sondern ergänzen sich. Ihre Vereinbarkeit ist nicht nur möglich, sondern sogar notwendig, wenn man nur erkennt, dass beide zu den Strafzwecken gehören. Damit erweist sich, dass der herkömmliche Begriff der Vergeltung eines Übels durch ein Übel hier nichts zu suchen hat. Außerdem ist klar, dass man in der Praxis nicht darauf verzichten kann, Strafe auch als Reaktion auf die Verbrechenswirkungen anzusehen; diese Reaktion ist vielmehr die Form, in der sie sich zu Beginn zeigt: das Verbrechen ist ihre Voraussetzung, weshalb es nicht zulässig ist, von ihm abzusehen. Wenn zur Bezeichnung dessen das Wort Ausgleich bzw. Vergeltung nicht unpassend erscheint, so schließt der Begriff der sozialen Verteidigung die so verstandene Strafe nicht aus, sondern nimmt ihn in sich auf. Der Kampf gegen die Verbrechenswirkungen und in Richtung der Vergangenheit ist eine der Erscheinungsformen, durch welche die soziale Verteidigung gegen das Verbrechen ihren Ausdruck findet. Doch von den Wirkungen des bereits begangenen Verbrechens wendet die Strafrechtslehre sich gar bald auf die künftigen Zwecke, und dieses Feld ist es, auf dem (durch Mittel der General- und der Spezialprävention) hauptsächlich und besonders wirksam die Verteidigung gegen das Verbrechen stattfindet. Deshalb sind vom Begriff der sozialen Verteidigung zwar
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beide Richtungen umfasst, diejenige gegen die Wirkungen und diejenige gegen die Ursachen des Verbrechens, überwiegend und kennzeichnend ist jedoch die zweite. Denn weil es niemals um den alten Begriff der Vergeltung gehen kann, bleibt die Theorie der sozialen Verteidigung doch immer auf dem soliden Boden der relativen Theorien. 34. Einige setzen der sozialen Verteidigung die rechtliche Verteidigung entgegen und machen aus ihr die Gegnerin von jener und geben ihr den Vorzug – und dies im Bereich des Positivismus selbst. Wir haben jedoch gesehen, dass die herrschende Auffassung sowohl in Italien als auch in Deutschland die Strafe grundsätzlich aus der Perspektive des Schutzes der Rechtsordnung betrachtet. In der Tat könnte es müßig erscheinen, darüber zu diskutieren, ob man von sozialer oder von rechtlicher Verteidigung sprechen soll, da doch eine Gesellschaft ohne Rechtsordnung nicht [68] konstruiert werden könnte; und trifft es andererseits vielleicht nicht zu, dass dem Strafrecht der intensivste Schutz der hauptsächlichen und wesentlichen Einrichtungen des gesellschaftlichen Gefüges anvertraut ist? Der Kampf, den der Staat gegen das Verbrechen mit Hilfe der Strafe führt, ist ein rechtlicher Kampf, denn er geschieht gemäß den Normen des objektiven Rechts; die Strafe bildet eine besonders intensive und nachdrückliche Form des Schutzes von Rechtsgütern, ein mächtiges Hilfsmittel der Rechtsordnung. Was aber ist letztlich Zweck und Fundament der Rechtsordnung, wenn nicht Erhaltung und Fortschritt der Gesellschaft? Schaut man allerdings genauer hin, so ist die Formel Schutz des Rechts unzulänglich, denn sie könnte den Eindruck erwecken, dass die Aufgabe des Strafrechts allein darin bestehe, Rechtsnormen, die von anderen Gesetzen aufgestellt sind, besser zu garantieren; es ist jedoch bekannt, dass häufig, wie wir auch noch sehen werden, das Strafrecht selbst sowohl die Norm als auch die Sanktion erst selber schafft. Mehr noch: jene Formel erschöpft sich in einer petitio principii, denn sie sagt aus, dass das Recht das Recht schützt! Richtig ist aber vielmehr, dass das Recht die Gesellschaft schützt. Schließlich zeigt auch die Praxis, dass die Strafrechtslehre ein Mittel nicht nur der rechtlichen Verteidigung, sondern auch des gesellschaftlichen Fortschritts ist (man braucht nur an die Einrichtungen zur Besserung der Delinquenten, an die Strafersatzmittel und an gewisse leichte Straftaten, die eher Verletzungen von Empfindungen als solche des Rechts sind, zu denken). Das Strafrecht wirkt dabei mit, die Mittel für jene Zwecke bereit zu stellen, welche die idealen Zwecke aller Aspekte des Rechts sind: Erhaltung und Vervollkommnung des Einzelnen und des Kollektivs. Deshalb muss das Prinzip der sozialen Verteidigung, das an der Spitze des Strafrechts steht, in seinem umfassenden Verständnis nicht nur ein Mittel zur Erhaltung, sondern auch ein solches des Fortschritts und der Vervollkommnung sein. Abschließend gesagt, ist die Formel soziale Verteidigung gegen das Verbrechen umfassender als die rechtliche Verteidigung, und sie wird der Komplexität des Phänomens der Kriminalität und den vielfachen und verschiedenartigen Zwecken der Strafe sowohl im Hinblick auf die Gesellschaft im allgemeinen als auch bei der Anwendung im Einzelfall besser als diese gerecht. [...] [70] [...] 35. Noch weitere, ganz anders geartete Einwände sind gegen den Grundsatz der sozialen Verteidigung erhoben worden.
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Einige sagen, es handele sich nicht wirklich um soziale Verteidigung; andere fügen hinzu, es handele sich manchmal um soziale Verteidigung, manchmal um Klassenverteidigung. Man hat eingewandt, dass es sich nicht um soziale Verteidigung handele: der Staat, so wie er organisiert sei – so sagt man –, sei Ausdruck der Interessen der herrschenden Klassen; die Gesetze brächten in erster Linie deren Interessen zum Ausdruck und schützten diese. Nun ist das Strafrecht von diesem Ursprungsfehler nicht frei; es verteidigt die heutige gesellschaftliche Organisation, und es verteidigt damit die Interessen der Herrschenden, verteidigt eine, nämlich die herrschende, Klasse, und es schützt nicht alle gesellschaftlichen Klassen in gleicher Weise. „Das Amt der Strafgesetze ist bislang nicht das der Verteidigung der Gesellschaft, d.h. aller Gruppen, aus denen sie sich zusammensetzt, gewesen, sondern vor allem der Schutz der Interessen jener, zu deren Gunsten die politische Herrschaft errichtet worden ist“ [Vaccaro]. Von da her sieht es so aus, als ob man die soziale Verteidigung nicht als Strafgrund anerkennen könne. Ferri hat zur Erwiderung zwischen sozialer Verteidigung und Klassenverteidigung und entsprechend zwischen zwei Formen der Kriminalität unterschieden. Einerseits die atavistische und antihumane Kriminalität, die nicht nur tendenziell die primitiven Formen des Kampf ums Dasein reproduziert, sondern vor allem von egoistischen Motiven bestimmt ist, welche die Bedingungen menschlicher Existenz selbst bei anderen Personen verletzen; andererseits die evolutive oder antisoziale Kriminalität, die in der Verletzung der Existenzbedingungen gerade der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung bestehen, ohne jedoch antisoziale oder egoistische Ziele zu besitzen. Der ersteren entspricht die soziale Verteidigung, der zweiten die Klassenverteidigung, denn – wie Ferri sagt: „toute société (classe dominante) a le droit de se défendre contre les attaques de la criminalité évolutive mais elle n’a pas le droit de les confondre avec la criminalité atavique“. [...] [72] [...] Indes erschien der subjektive Maßstab, den Ferri für die Unterscheidung zwischen atavistischer Kriminalität und evolutiver Kriminalität und für die entsprechende Unterscheidung zwischen sozialer Verteidigung und Klassenverteidigung heranzog, als unzulänglich, weshalb Franchi die Unterscheidung zwar akzeptierte, sich aber bemühte, sie um eine objektiv verstandene Bewertung der kriminellen Tat, nämlich um den Maßstab der kollektiven Existenzbedingungen (der vorübergehenden oder der dauerhaften), welche die Tat aktuell oder tendenziell verletzt, zu ergänzen. [...] [73] [...] Franchi meint ferner, dass statt von atavistischer und von evolutiver Kriminalität besser von gewöhnlicher und von politischer bzw. politisch-sozialer Kriminalität gesprochen werden solle, denn jene beiden Begriffe würden bereits zur Bezeichnung von Gewaltkriminalität und Täuschungskriminalität verwendet. Dies wurde von Ferri im wesentlichen akzeptiert, und so erschienen die Korrekturen von Franchi an der Theorie seines Lehrers als das letzte Wort in dieser Sache. [...] [74] [...] 36. Zuzugeben ist, dass von den individuellen und kollektiven Existenzbedingungen, welche durch das Strafrecht geschützt werden, einige eine recht große An-
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zahl, andere nur einen kleinen Kreis von Rechtsgenossen betreffen. Indes lehrt die Geschichte, dass im allgemeinen die Inhaber ökonomischen Reichtums und politischer Macht für sich selbst mit dem Strafrecht eine breitere und intensivere Verteidigung betreiben. Daraus kann jedoch weder gegen die Rechtfertigung des Strafrechts noch gegen das Prinzip der sozialen Verteidigung als dessen Grundlage etwas abgeleitet werden. Was Ferris Unterscheidung angeht, so ist sie im wesentlichen eine Wiederholung der traditionellen Unterscheidung zwischen jenen Verbrechen, die ihrer Natur nach solche sind, und jenen, die es aufgrund einer Fiktion bzw. aus politischen Gründen sind; diese Unterscheidung reicht allerdings nicht aus, um den Einwand auszuräumen, dass das Strafrecht mitunter der Klassenverteidigung statt der sozialen Verteidigung diene, vielmehr bestätigt sie diesen Einwand. Wir selber meinen, dass der Einwand unzutreffend und sachfremd ist. Vor allem kann nicht geleugnet werden, dass eine ganze Reihe von Straftaten, nämlich jene, welche die wesentlichen Bedingungen der menschlichen Existenz (Leben, Ehre, Freiheit usw.) verletzen, jene, die dem Verbrechen sozusagen natürliche Nahrung geben, sich dieser Unterscheidung gänzlich entziehen. Des weiteren tangieren der grundsätzliche Einwand von Vaccaro und die Unterscheidung von Ferri das Strafrecht gar nicht. Tatsächlich besteht die Hauptaufgabe des Strafrechts darin, die bestehende rechtliche und gesellschaftliche Ordnung zu schützen. Anderen Wissenschaften und anderen Zweigen staatlichen und gesellschaftlichen Handelns kommt die vornehme Aufgabe zu, soweit wie möglich die Benachteiligungen und Ungleichheiten, die in der gegenwärtigen Gesellschaft zu beklagen sind, zu korrigieren und zu beseitigen. Das Strafrecht findet die Gesellschaft so vor, wie sie ist, und sorgt für ihre Verteidigung; und hier endet seine Aufgabe, so sehr es auch wünschbar sein mag, dass es niemals das Ideal einer geringeren Ungleichheit und dasjenige einer größeren sozialen Integration, der es sich ja auch unmittelbar verschreibt, aus dem Blick verliert. Wir gehen von einem organischen Verständnis der Gesellschaft aus; die Funktion der Strafe ist aus wissenschaftlicher Sicht von der Form und der konkreten Organisation der Gesellschaft fast unabhängig; sie ist, so könnte man sagen, eine formale. Mit ihr gelangt man nicht dahin, die Entwicklung und Verbesserung der Gesellschaft aufzuhalten oder die Herrschaft der Staatsraison unbegrenzt oder willkürlich werden zu lassen. Denn einerseits sind Ordnung und sozialer Friede, denen zu dienen Aufgabe des Strafrechts ist, unverzichtbare Bedingungen für jede Verbesserung und für jeden Fortschritt; andererseits garantieren die Klassifizierung der Täter und die Untersuchung und Bewertung der Motive, die sie zur Straftat bestimmen und die von der positivistischen Theorie zu einem System zusammengefasst worden sind, den politischen Verbrechern im weiteren Sinne Strafen, die sich sehr von denen der gewöhnlichen Verbrecher unterscheiden, denn in der strafgerichtlichen Praxis mildern sie den Begriff der sozialen Verteidigung sehr stark ab. Das Strafrecht übt die ihm eigene Funktion der Verteidigung und Vorsorge unabhängig von der politischen und gesellschaftlichen Organisationsform gemäß dem Gesetz der Mehrheit aus. Natürlich nähert es sich seinen idealen Zwecken um so mehr an, je mehr diese Organisation den obersten Prinzipien der Freiheit, der Gerechtigkeit und vor allem der Gleichheit verpflichtet ist.
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Daraus folgt, dass der Einwand von Vaccaro und die Unterscheidung von Ferri für die Rechtfertigung des Strafrechts gänzlich belanglos sind. In Wahrheit ist vornehmer und charakteristischer Grund und Zweck des Strafrechts – wie wir gesehen haben und wie auch unser hochangesehener Meinungsgegner keineswegs verkennt – die Verteidigung der [76] Gesellschaft, so wie sie zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort organisiert ist. Daraus folgt weiter, das jene Bedingungen, unter denen die soziale Verteidigung zu einer Klassenverteidigung wird, Elemente der gesellschaftlichen Verfassung sind, welche eben so legitim und wichtig sind, wie es jene elementaren Bedingungen sind, denen die soziale Verteidigung gilt. Indem diese Bedingungen verteidigt werden, ist es stets die Gesellschaft, wie sie in einem Zeitpunkt existiert, welche sich verteidigt; die Klassenverteidigung ist hier nichts anderes als eine Erläuterung, ein spezieller Anwendungsfall, eine Variante der sozialen Verteidigung. Die Gesellschaft ist ein organisches Ganzes; sie setzt sich zwar aus verschiedenen Klassen und Schichten zusammen, ist aber doch ein umfassendes historisches Erzeugnis. Deshalb ist – wie es sogar einer unserer geschätzten Meinungsgegner [Franchi] sagt – „auch die Klassenverteidigung eine soziale Verteidigung“. Mit Recht können wir also wiederholen, dass die von Ferri vorgenommene Unterscheidung nichts mit dem Problem der Rechtfertigung des Strafrechts zu tun hat, und dass man, wenn man sie in den Bereich dieser Problematik einbezieht, das Strafrecht in eine Diskussion verwickelt, die außerhalb seines Bereiches liegt. Im übrigen ist diese Unterscheidung ja auch belanglos, wenn selbst diejenigen, die sie übernehmen, letztlich einräumen, dass auch die Klassenverteidigung eine soziale Verteidigung sei! Zu ergänzen ist noch, dass die von Ferri vorgetragene Unterscheidung nicht jenen Zwecken entspricht, denen sie dienen sollte. Wenn es denn zwischen der sozialen Verteidigung und der Klassenverteidigung ein Unterscheidungskriterium geben sollte, so müsste es ein objektives sein; es könnte also nur aus den unterschiedlichen Verhältnissen und Rechtsinstituten abgeleitet werden, auf welche sich die Verteidigung bezieht. Ferri hingegen zieht ein subjektives Kriterium heran, das aus dem unterschiedlichen sozialen bzw. antisozialen, rechtlichen oder rechtswidrigen Gewicht der zur Tat hinführenden Motive hergeleitet ist; dies ist, wie wir sehen werden, ein Kriterium für die größere Bedeutung, was aber hier belanglos ist. Tatsächlich lässt sich nicht sagen, dass eine Straftat nur deshalb, weil ihr Täter von edlen und rechtlichen Motiven bewegt worden ist, schon ohne weiteres zur evolutiven Kriminalität zu rechnen ist und dass dadurch, dass sie bekämpft wird, ein Akt der Klassenverteidigung stattfinde, also ein Akt zum Vorteil einer kleinen Bevölkerungsminderheit vollzogen werde. Wir meinen vielmehr, dass es zwischen den beiden Begriffen keinerlei notwendige Wechselbeziehung besteht, dass der Schluss in keiner Weise aus der Prämisse folgt. Das Verbrechen kann ein universelles Recht im weiteren Sinne verletzen und sein Täter kann von edlen, großherzigen, legitimen Motiven getrieben gewesen sein; und umgekehrt kann die Tat ein besonderes Recht, gewissermaßen ein Klassenrecht verletzen, und der Täter aus niedrigen, egoistischen, rechtswidrigen Motiven gehandelt haben. Und diese Feststellungen werden auch keineswegs dadurch beseitigt, dass man dem Kriterium der Beweggründe, wie es Franchi versucht, ein objektives Kriterium hinzufügt; denn es ist beispielsweise nicht einzusehen, warum eine Tat, die objektiv zur evolutiven Kriminalität zählt, zu einem solchen der atavistischen Kriminalität wird,
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wenn sie aus rechtswidrigen Motiven begangen wird. Wir wiederholen: Die Erforschung der Beweggründe, mit der wir uns am gehörigen Ort noch ausgiebig befassen werden, hat hier nichts zu suchen. Zu ergänzen ist noch, dass die Unterscheidung selbst dann, wenn man sie auf die ausschließliche Grundlage des objektiven Kriteriums stützen würde, nicht der Kritik standhalten würde, weil nämlich die transitorischen gesellschaftlichen Verhältnisse und Einrichtungen, bei denen das Strafrecht eine Klassenverteidigung ausüben würde, nicht immer Interessen bilden, welche einzig und allein solche der herrschenden Klasse sind. Würde man andererseits dasselbe Kriterium streng logisch anwenden, so müsste man sagen, dass nicht nur eine Klassenverteidigung im Hinblick auf die herrschende Klasse, sondern auch eine solche im Hinblick auf die unterdrückten Klassen ausgeübt wird. Müsste man nicht beispielsweise auch Klassenverteidigung die zahlreichen strafrechtlichen Bestimmungen nennen, die über die Arbeitsgesetze verstreut sind (Unfallversicherung, Frauenarbeit, Kinderarbeit usw.) und dazu dienen, die verbesserten Lebens- und Arbeitsbedingungen des Proletariats zu schützen? Die Wahrheit ist, dass die Existenz- und Lebensbedingungen, für die der Strafrechtsschutz unmittelbar ausgeübt wird, mitunter die Bedingungen von jedermann, mitunter diejenigen einer sozialen Klasse oder Gruppe (Priester, Kaufleute, Arbeiter usw.) sind; doch im einen wie im anderen Fall handelt es sich stets um (direkte oder indirekte) soziale Verteidigung, denn denn diese Gruppen sind als Mitglieder und als Kräfte des Gesellschaftskörpers geschützt. [78] Das Strafrecht folgt der fortschreitenden gesellschaftlichen Entwicklung, und die Rechtsgüter von Einzelnen oder von Gruppen verdienen den Schutz des Strafrechts, sobald sich in ihnen ein größeres allgemeines bzw. kollektives Interesse äußert. 37. Die Kontroversen und das, was bislang dargestellt worden ist, dienen dazu, die ideelle Aufgabe des Strafrecht als soziale Verteidigung noch deutlicher zu machen und offenkundig werden zu lassen, dass das Strafrecht, wenn es seinen charakteristischen Zweck erreichen und getreu seiner Sendung ausüben will, die verschiedenen gesellschaftlichen Klassen mit dem gleichen Nachdruck verteidigen muss. Zu diesem Zweck muss es die Klasse der Armen, der Erniedrigten, der Schwachen, denjenigen, die des Schutzes am meisten bedürfen, umfassender und wirksamer verteidigen. Diese Funktion, die man die soziale Funktion des Strafrechts nennen könnte, steht im Einklang mit den vitalsten Bedürfnissen und mit den brennendsten Forderungen unserer Zeit und wird immer mehr zu einer Realtät, wie u.a. die zahlreichen Strafrechtsbestimmungen beweisen, die sich in den verschiedenen, fast überall verkündeten Gesetzen zur Verteidigung der Industriearbeiter finden. Andererseits ist klar, dass die Methode der positivistischen Strafrechtsschule, welche die Untersuchung der Verbrechensursachen in den einzelnen Fällen erforderlich macht, den Verbrecher erforscht und die Strafe je nach dessen individueller Persönlichkeit bemessen sehen will, dem Strafrecht praktisch einen Weg größerer sozialer Gerechtigkeit weist, denn sie erlaubt es, die besonderen Lebens- und Umweltbedingungen zu berücksichtigen, welche das Proletariat häufig ins Verbrechen treiben.
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Vom Begriff der modern verstandenen sozialen Verteidigung geht deshalb ein äußerst wichtiger und neuer Grundgedanke für die Kritik und für die Verbesserung der Strafgesetzgebung aus – nämlich der, die Lücken und Mängel, die das Strafrecht gegenüber den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen ungleich werden lassen, zu beseitigen und damit zugleich das Gesetz selbst an die ihm eigenen Ziele eines gleichen Schutzes der verschiedenen Klassen anzupassen. Aus dem Begriff der sozialen Verteidigung folgt ferner ein neues Verständnis des Strafrechtsproblems. Wenn die Funktion der Strafe eine [79] Funktion natürlicher Verteidigung und Vorsorge ist, so muss sie offenkundig von jedem transzendentalen Zweck und von jeglicher Bedeutung moralischer Vergeltung, Sühne, Zucht und Buße gereinigt werden. Daraus folgt wiederum, dass das Verbrechen, objektiv betrachtet, nur in der Verletzung jener fundamentalen und wesentlichen Existenzbedingungen einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten Zeit bestehen kann, welche das Strafrecht zu verteidigen berufen ist – Existenzbedingungen, deren gesellschaftliche Bedeutung eben der Grund dafür ist, dass die Anwendung strafrechtlicher Repression gerechtfertigt ist. Damit wird schließlich auch deutlich, dass, wenn auch die Lösung für den Grund des Strafrechts nicht neu sein mag, doch die Folgerungen, die logischerweise daraus zu ziehen sind, neu oder zumindest anders und weittragender sind als jene, die bislang wiederholt wurden. [...] [80] [...] § 9 Das Strafrecht im System der Rechtswissenschaften und der Hilfswissenschaften Überblick über die Disziplinen, welche das Verbrechen und die Verbrechensbekämpfung des Staates zum Gegenstand haben [...] 39. Nunmehr sind Inhalt und Grenzen des Strafrechts zu bestimmen, seine Beziehungen zu den anthropologischen und soziologischen Wissenschaften und zu den anderen Zweigen des Rechts. Dies sind Untersuchungen, welche durch die Forschungen der positivistischen Strafrechtsschule neue Bedeutung erlangt haben. Im Sinne größerer Klarheit empfiehlt es sich, die Darstellung in zwei Teile aufzuteilen, indem zunächst die Position behandelt wird, welche das Strafrecht auf Grund der anthropologischen und soziologischen Untersuchungen empfängt, und sodann die Position, die es im System der Rechtswissenschaften einnimmt. Vorab aber müssen noch die verschiedenen Wissenschaften, welche das Verbrechen als solches und in seinen individuellen und sozialen Erscheinungsformen untersuchen, und die vielfältige Tätigkeit des Staates gegen das Verbrechen selbst und gegen dessen Täter erwähnt werden. Auf diese Weise wird uns die unterschiedliche Ordnung der methodischen Forschungen, welche bei den Verbrechen und den Strafen zusammentreffen, in ihrer ganzen Breite deutlich werden. Wie wir bereits bemerkt haben, kann das Strafrecht, obgleich es das Verbrechen aus rechtlicher Sicht betrachtet, doch nicht von jenen Wissenschaften absehen, welche es unter verschiedenen Aspekten untersuchen und dabei sein innerstes Wesen durchdringen und seine wahre Natur aufdecken.
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40. Das Verbrechen ist eine Handlung des Menschen. Man muss daher vor allem den Menschen untersuchen, der als Verbrecher aufgetreten ist. Die Untersuchung des Verbrechers, seiner physischen und psychischen Merkmale, seiner Leidenschaften, seiner Empfindungen, seiner besonderen Natur, bildet den besonderen Gegenstand einer eigenen Wissenschaft, welche den Namen Kriminalanthropologie erhalten hat. Sie umfasst ihrerseits die Kriminalanthropologie im engeren Sinne sowie die Kriminalpsychologie. Aus der Sicht des Strafrechts sind es zwei Ergebnisse dieser Wissenschaften, welche besonders interessieren: durch sie wurde die anormale Natur eines beachtlichen Teils der größeren Verbrecher deutlich gemacht, und es wurde eine Klassifizierung der Verbrecher möglich und nötig. Die allgemeinste Klassifizierung ist diejenige, welche Ferri vorgeschlagen hat; sie unterscheidet geborene Verbrecher, verrückte Verbrecher, Gewohnheitsverbrecher, Gelegenheitsverbrecher, Verbrecher aus Leidenschaft und in einem Anhang latente Täter und Pseudo-Verbrecher. [...] [87] [...] 45. Kriminalanthropologie und Kriminalsoziologe dienen somit dazu, den Menschen, der ein Verbrechen begeht, und die Umwelt, in der er sein Verbrechen begeht, zu entdecken und zu beschreiben. Sie bestimmen den Begriff der Verbrechensursachen zum einen als Tatsache des individuellen Lebens, zum anderen als Tatsache des sozialen Lebens. Das umfassende Ergebnis der Kriminalanthropologie und -soziologie ist die Theorie der Verbrechensfaktoren, die mit der eben erwähnten Klassifikation der Verbrecher verbunden ist bzw. zu ihr parallel läuft. Nach allgemeiner Übereinstimmung gibt es drei Arten von Verbrechensfaktoren: a) individuelle bzw. anthropologische Faktoren (Vererbung, Rasse, Alter, Geschlecht, Personenstand etc.); b) physische Faktoren (Klima, Temperatur, Jahreszeit etc.); c) soziale Faktoren (ökonomische Bedingungen, politische Organisation, Religion etc.). Das Verbrechen ist das Produkt der Dreifach-Kategorie der genannten Faktoren. Es ist unserer Ansicht nach unzulässig, den Vorrang dieser oder jener Art von Faktoren aprioristisch zu verkünden, denn im allgemeinen wirken sie untereinander verschlungen, und alle treten in unterschiedlicher Mischung bei der Hervorbringung der Kriminalität auf; man kann nicht vorweg für die verschiedenen Kategorien einen jeweils quotenmäßigen Anteil festlegen. Nur von Fall zu Fall wird man von einem Verbrechen und einem Verbrecher vermuten, welche Faktoren – individuelle, soziale oder physische – den größten Einfluss ausgeübt haben. Dies ist die italienische Lehre, die zweifellos gegenüber der rein anthropologischen Richtung als auch gegenüber der vorwiegend soziologischen Richtung den Vorzug verdient, denn sie entspricht besser der Wirklichkeit und der unendlichen Vielfalt des verbrecherischen Lebens. Es ist irrig, im Hinblick auf die Entstehung des Verbrechens eine sogenannte anthropologische Auffassung einer sogenannten soziologischen Konzeption gegenüberzustellen, wie es die deutschen und französischen Autoren häufig und gern tun; diese beiden Konzeptionen sind nichts anderes als zwei Aspekte derselben Erscheinung, welche sich wechselseitig vervollständigen. Die Konzeption der italienischen Schule ist eine Gesamtkonzeption. Die Lehre von den Verbrechensfaktoren bildet eine der Hauptgrundlagen der positivistischen Richtung und übt großen Einfluss auf die Bekämpfung der Kriminalität aus, indem sie Umfang und Grenzen der staatlichen Präventionstätigkeit
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aufdeckt und die reale Wirksamkeit der dabei angewendeten unterschiedlichen sozialen und individuellen Hilfsmittel feststellt. [...] [90] 46. Die Kriminalanthropologie und die Kriminalsoziologie entwickeln daher die Elemente, die Maßstäbe und das Material, mit dem der Kampf des Staates gegen die Kriminalität organisch und wirksam gemacht wird. Dieser Kampf ist nicht nur eine Sache des Strafrechts. Es ist das Verdienst der positivistischen Strafrechtsschule, gezeigt zu haben, dass der Kampf gegen das Verbrechen sich in erster Linie gegen die ganz allgemeinen und organischen Ursachen der Kriminalität wenden muss, die von der Kriminalanthropologie und von der Kriminalsoziologie aufgezeigt worden sind. Nach diesem Maßstab entsteht im Staat eine indirekte bzw. soziale Präventionsfunktion. Es handelt sich um eine Funktion, die, bereits von Beccaria erkannt, besonders von Romagnosi und Bentham enthüllt worden war und in den Lehren der positivistischen Schule ihre entscheidende Bekräftigung, ihre wirksamste Darstellung, ihre lebendigste Anwendung fand. Hieraus resultiert eine ganze Reihe von Vorschriften ökonomischer, politischer, administrativer, erzieherischer, familienrechtlicher Art (die Ferri mit der nicht besonders glücklichen Bezeichnung „Strafersatzmittel“ (sostitutivi penali) belegt hat; sie alle haben, wenn schon nicht das direkte Ziel, so doch gewiss die wahrscheinliche Wirkung, die Kriminalität geringer oder weniger schwer geraten zu lassen. Dieser Zweig staatlicher Tätigkeit gehört zum Aufgabenbereich der Sozialpolitik, der dem Staat aus moderner Sicht anvertraut ist. Dies ist der vornehmste und fruchtbarste Bereich des Kampfes gegen das Verbrechen; er ist jedoch keineswegs vom Bereich des Strafrechts getrennt. [...] 47. In zweiter Linie richtet der Kampf gegen die Kriminalität sich gegen das Verbrechen in der Phase seiner Entstehung und gegen das bereits begangene Verbrechen. Im ersten Falle handelt es sich darum, dessen Durchführung zu verhindern; [91] im zweiten Falle geht es um die Überlegung, wie dessen Täter behandelt werden soll. Im ersten Falle bedient der Staat sich der direkten Prävention, im zweiten Falle übt er Repression im eigentlichen Sinne aus. Daraus folgt eine doppelte Funktion. Auf der einen Seite die Verhinderung gewisser Handlungen, die, als solche unschädlich, eine Gefahr für die Rechtsordnung bilden und von denen eine Verletzung derselben zu befürchten ist, ferner Spezialregelungen für bestimmte Personen, von denen bekannt ist, dass sie zur Begehung von Straftaten neigen. Auf der anderen Seite die Behandlung derjenigen, die bereits eine Straftat begangen haben. Diese beiden Aspekte staatlichen Handelns in ihrer Gesamtheit bilden den Inhalt des Strafrechts. Dieses hat eine vierfache Aufgabe: 1) die allgemeinen Grundsätze der Zurechenbarkeit auf der Grundlage der Kriminalsoziologie für die gerichtliche Anwendung technisch zu formulieren; 2) die Formen und konstitutiven Elemente der einzelnen Verbrechen auf der Grundlage der Kriminalsoziologie zu bestimmen; 3) die jeweils anzuwendenden Strafen zu bestimmen; 4) deren Art am Maßstab der Anwendung auf den einzelnen Verbrecher nach dessen unterschiedlicher Natur vor allem auf der Grundlage der Kriminalpsychologie zu bestimmen. Sein Inhalt umfasst den Schutz sowohl des bereits verletzten Rechts wie auch des Rechts, dessen Verletzung bevorsteht; die Verletzung und die Gefahr der Verletzung – den direkten und den indirekten bzw. vermittelten Schutz. Insofern der Staat sich zur Repression der bereits geschehenen Verletzung
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und zur Verhinderung der drohenden Verletzung der Strafsanktion bedient, entsteht das Strafrecht in seiner doppelten Erscheinungsweise des geltenden Rechts und dessen kritischer Erforschung und möglicher Reform. [...] [102] [...] 54. In der ersten Auflage dieses Buches haben wir die Auffassung vertreten, die wir an dieser Stelle bekräftigen, dass das Strafrecht, auch wenn es sich auf die Ergebnisse der anthropologischen und soziologischen Forschungen einlässt, seinen gegenwärtigen Charakter als Rechtswissenschaft beibehalten müsse und den Tendenzen, aus ihm ein bloßes Kapitel in der Kriminalsoziologie zu machen, widerstehen müsse. Wir glauben überdies, dass die Kriminalanthropologie und Kriminalsoziologie für das Strafrecht nicht einfach Hilfswissenschaften, sondern vielmehr Grundlagen- und Vorbereitungswissenschaften sind, dass das Strafrecht von ihnen die wesentlichen Elemente für die Formulierung seiner Prinzipien empfängt, dass es also der organische Komplex der rechtlichen Umsetzungen der Kriminalanthropologie und der Kriminalsoziologie ist. Abzulehnen ist daher die erwähnte Vermengung; der Charakter des Strafrechts als Rechtswissenschaft muss bewahrt werden, wenngleich seine Grundlagen und sozusagen seine Wurzeln in der Kriminalanthropologie, der Kriminalpsychologie und der Kriminalsoziologie zu suchen sind. Das Strafrecht wird bestehen bleiben, weil der Kampf gegen das Verbrechen sich stets nach feststehenden Rechtsnormen vollziehen muss, weil diese Rechtsnormen stets systematisch entwickelt und erforscht sein müssen, weil diese Rechtsnormen wenn nicht ausschließlich so doch vorwiegend von juristisch gebildeten Richtern ausgelegt werden müssen. Andererseits werden diese Normen selbst stets einen juristischen Charakter bewahren, weil ihr Gegenstand, ebenso wie heute die Bestimmung des staatlichen Vorgehens im Bereich des Verbrechens und der Strafen, d.h. ein Aspekt der Beziehungen zwischen Staat und Individuen, bleiben wird. Im staatlichen Vorgehen gegen die Verbrechen wird sich, was immer die Leitgedanken sein mögen, stets eine Beschränkung der persönlichen Freiheit vollziehen – eine Beschränkung, die nicht unbegrenzt sein kann und nicht im Belieben der Staatsorgane stehen kann, denn es ist bekannt, dass das Strafrecht Schutz der Freiheit aller Bürger, im Grunde genommen auch des Verbrechers, bedeutet – in dem Sinne nämlich, dass letzterer nur denjenigen Beschränkungen unterworfen werden darf, die vom Gesetz angedroht sind, und auch diesen nur im Rahmen eines Verfahrens, das durch das geltende Gesetz festgelegt ist. Zu ergänzen ist noch, dass auch der Theorie von Thomsen nicht zugestimmt werden kann, wonach wir in eine formlose – juristische und nichtjuristische – Enzyklopädie über Verbrechen und über Strafen zurückgetrieben werden sollen. Der Fortschritt der Wissenschaft besteht gerade in den Differenzierungen, und durch diese wird sie wirksam. Alle zur Bekämpfung des Verbrechens geeigneten Mittel, aus denen Thomsen einen riesigen Haufen machen möchte, besitzen zwar einen gemeinsamen allgemeinen Zweck; sie erscheinen jedoch verschieden und sind es auch mehr oder weniger, was ihre innere Natur und ihr unmittelbares Ziel angeht. Andererseits würde von der Kriminalpolitik, wie Thomsen sie versteht, nichts ausgeschlossen bleiben, denn welche soziale Gegebenheit hat keinerlei Einfluss auf das Verbrechen? Welches Rechtsinstitut kann nicht – mit Thomsen gesprochen – zum Mittel des Kampfes gegen das Verbrechen werden? Sogar die Fortschritte
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der Technik würden am riesigen Chaos, das Thomsen sich vorstellt, teilhaben. Und was insbesondere das Zusammenschütten im neuen sogenannten „Verbrechensbekämpfungsrecht“ angeht, handelt es sich ebenfalls um Instrumente und Rechtsinstitute, die sich in ihrem Wesen und in ihren unmittelbaren Wirkungen unterscheiden. Andererseits liegt es auf der Hand, dass die von Thomsen erdachte Neuerung eine ganz formale ist und nicht den sachlichen Gehalt berührt, während sie in keiner Weise eine logische und zwingende Folgerung aus der positivistischen Betrachtung von Verbrechen und Strafen bildet. Es muss aber auch deutlich klargestellt werden, dass für die anthropologische und soziologische Nahrung, derer das Recht bedarf, es keineswegs ausreicht (wie man es in einigen Abhandlungen findet), beiläufig zu erwähnen, dass das Strafrecht Beziehungen zur anthropologischen und zur soziologischen Wissenschaft hat und dass diese für das Strafrecht Hilfsbegriffe seien, und sie sodann zu vergessen und nicht mehr von ihnen zu sprechen! Die Verbindung des Strafrechts mit den erwähnten Wissenschaften muss lebhaft, intensiv und dauerhaft sein; jene Wissenschaften müssen für das Strafrecht die Grundlage und die Vorbereitung bilden; und ihnen kommt die Aufgabe zu, das Feld, die Materie zu bereiten, über welche das Strafrecht seine Anwendungen und seine Rechtsgrundsätze zu ersinnen und zu formulieren hat. Es muss, kurz gesagt, eine sachliche Koordinierung stattfinden. Damit wird keineswegs das dogmatische Gebäude des Strafrechts, das von der klassischen Schule auf so wunderbare Weise errichtet worden ist, auf den Kopf gestellt. Die Wissenschaft ist ihrem Wesen nach fortschrittlich; sie hat keine Lösungen von Dauer anzubieten; es geht also darum, das bestehende wissenschaftliche und gesetzgeberische System des Strafrechts zu vervollständigen und zu vervollkommnen. In dieser Vervollkommnung liegt, wie Wach bemerkt hat, seine Aufgabe in der Zukunft. Damit zerstört man nicht das Strafrecht; vielmehr würde das Strafrecht, wenn es Kontakt zu den erwähnten Forschungsrichtungen hält, sich dessen entledigen, was es noch an Formalistischem, Archaischem, Ungerechtem und Überflüssigem enthält. Hiergegen könnte eingewendet werden, dass Kriminalanthropologie und Kriminalsoziologie fragmentarische Forschungsrichtungen, Wissenschaften im embryonalen Zustand seien. Sie sind indes ausgebildete Wissenschaften; sie haben ihre Taufe in Italien erfahren, haben sodann rasche Verbreitung im Ausland gefunden, und heute wirken in ihrem Bereich eifrige Scharen von Schriftstellern, Beobachtern, Philosophen und experimentellen Forschern. Gegenstand und Methode, die beiden wesentlichen Elemente jeder Wissenschaft, sind gut bestimmt und umschrieben, und es zählt wenig, dass mitunter zu manchem Punkt die Ergebnisse vielleicht ungewiss und unvollständig sind. Überdies haben diese Wissenschaften bereits beachtliche und herausragende Beiträge zur Strafrechtslehre und [105] Strafgesetzgebung beigesteuert; man erinnere sich nur an die Unterscheidung zwischen Ersttätern und Rückfalltätern, an die bedingte Verurteilung, an die Einrichtung der Anstalten für kriminelle Geisteskranke, an die Fürsorge und die Spezialbehandlung für straffällige Jugendliche, an die Theorie der unbestimmten Verurteilung usw. Für eine wirksame und rationale soziale Verteidigung gegen die Kriminalität bleibt aber noch mehr zu tun, und dieses könnte meistens nicht
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durchgeführt werden, wenn das Strafrecht im Exil bliebe, wenn es zur reinen Spekulation, zur Rechtstechnik, zur Kritik und zur Untersuchung von Formeln, zur Analyse der Straftat als abstrakter Wesenheit verbannt würde, fern vom Leben, fern von jenen Wissenschaften, von jenen Forschungsrichtungen, die gleichsam das Leben des Verbrechens erforschen. Die Lehre, die uns als die beste erscheint, ist somit im wesentlichen derjenigen von Liszt benachbart, an der uns allerdings ein Punkt unannehmbar erscheint. Liszt reduziert den Inhalt des Strafrechts auf die reine Darstellung des geltenden Rechts, während dessen Kritik und kriminalanthropologische und soziologische Rekonstruktion nur Gegenstand der Kriminalpolitik sein sollen. Nach unserer Ansicht hingegen gehören die Kritik des geltenden Rechts und die Rekonstruktion des Strafrechts auf der Grundlage von Kriminalanthropologie und Kriminalsoziologie zum Inhalt des Strafrechts, weil sie immer noch von juristischen Leitprinzipien gelenkt werden. Wir halten es auch nicht für angebracht, die Richtung unserer Forschungen übermäßig zu zerstückeln. Abschließend gesagt sind wir der Auffassung, dass es keinen Platz für Kriminalpolitik gibt; neben dem Strafrecht gibt es nur Kriminalanthropologie und Kriminalsoziologie.
Arturo Rocco (1876–1942) Problem und Methode der Strafrechtswissenschaft (Il problema e il metodo della scienza del diritto penale) (1910) Ganz eigenartig und einzigartig ist heute das wissenschaftliche Element des Strafrechts. Und zwar ist es dies wirklich im Bewusstsein aller, vom einfachen Mann bis hin zu unseren Gelehrten, und es hat nicht an Hinweisen, auch in jüngster Zeit, darauf gefehlt, dass die Wissenschaft des Strafrechts heutzutage nicht nur in Italien, sondern auch in Frankreich und sogar in Deutschland eine Zeit der Krise durchsteht, aus der sie notwendigerweise früher oder später wieder heraustreten muss. Diese Krise hängt freilich nicht nur, wie man glauben könnte, von unbedachten Neuerungswünschen oder von offenkundig überkritischen Neigungen oder verbreiteten Gewohnheiten eines wissenschaftlichen Dilettantismus oder eines forensischen Enzyklopädismus ab; sie findet vielmehr ihre Quelle in sämtlichen allgemeinen Strömungen, die das zeitgenössische wissenschaftliche Denken inspirieren. Es handelt sich – um es klar zu sagen – nicht um ein isoliertes oder nur sporadisches Phänomen, das mit seinem Gift bloß den wissenschaftlichen Organismus des Strafrechts befällt; vielmehr ist es verknüpft mit einer umfassenderen und schwereren Krise, welche den gesamten Bereich der ethischen Wissenschaften und damit nicht nur den der Rechtswissenschaften, sondern ebenso den der politischen, ethischen und sozialen Wissenschaften ergreift. Ich glaube allerdings nicht fehl zu gehen, wenn ich sage, dass zumindest im engeren Bereich der Rechtswissenschaften heutzutage nur wenige andere einen Zustand der Desorganisation aufweisen, welcher dem vergleichbar ist, dem man zur Zeit in der Strafrechtswissenschaft begegnet. Diese Wissenschaft, deren Organismus vor etwa 35 Jahren endgültig konsolidiert und gefestigt schien, streng definiert, wie sie in ihrer Individualität, unerschütterlich erbaut und systematisiert, wie sie in ihrem Gegenstand, in ihren Grenzziehungen und in ihren grundlegenden und leitenden Prinzipien war – diese Wissenschaft, vor 35 Jahren so einmütig im Bestand ihrer Lehren ausgeführt, so einhellig im Rechtsunterricht gelehrt, in der Praxis hochgeachtet, in der öffentlichen Meinung befolgt, ist heute so geschwächt, dass man sich angesichts der Widersprüche, Unsicherheiten und Zweifel, von denen sie bedroht ist, und angesichts eines Umfeldes von Skepsis und Misstrauen, das sich gegen sie formiert hat, wirklich immer wieder fragen muss, was im heutigen gesellschaftlichen Leben und Denken das Problem ihrer Existenz ist, was, mit anderen Worten, ihre Daseinsberechtigung, ihre theoretische Aufgabe und ihre praktische Funktion ist und welches die Methode ist, die sie anwenden muss, um diese wissenschaftliche und praktische Zielsetzung zu verwirklichen. Ist auch die Zahl derer klein oder gar nicht vorhanden, die, von einer falschen oder übertriebenen anthropologischen Hypothese beflügelt, meinen, unsere Wissenschaft sei jeder Daseinsberechtigung sowohl als Sozial- wie als Rechtswissenschaft verlustig gegangen, so gibt es doch, wenn auch nur vereinzelt, Meinungen und Tendenzen, wonach sie sich in ihrem Gegenstand, in ihrem Inhalt, in ihrem Umfang und sogar in ihrem Namen vollständig verändern soll, ihre Autonomie E. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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und Individualität als Rechtswissenschaft aufgeben soll und durch eine neue, breiter angelegte soziologische Disziplin ersetzt werden soll, in der sie aufgesaugt und verwischt werden würde. Sogar bei einigen von denen – und sie bilden immer noch die Mehrheit –, die gegenüber der soziologischen Übermacht an der Autonomie der Strafrechtswissenschaft festhalten, lässt der Einfluss der neuen Ideen einerseits und der alten andererseits die Strafrechtswissenschaft über die Grenzen des Rechts, die ihr natürlicherweise angewiesen sind, hinausschweifen. Die heutige wissenschaftliche Produktion des Strafrechts ist durch eben diesen allgemeinen Zustand der Ungewissheit in unserer Wissenschaft gekennzeichnet. Sie ist undeutlich, hegt Selbstzweifel und Zweifel über ihre Ziele und scheint fast wieder auf der Suche nach sich selbst zu sein. Und so gelangen heute sogenannte strafrechtliche Abhandlungen, Monographien und Aufsätze in jedermanns Hand, bei denen man sich in manchen Fällen unter anderem fragen muss, ob eine Wissenschaft, die sich Strafrecht nennt, eine Rechtswissenschaft ist oder nicht. Es kommen darin Anthropologie, Psychologie, Statistik, Soziologie, Philosophie, Politik vor – kurz, alles, nur nicht das Recht. Bewegt man sich dort noch voll im Natur-, Vernunft- oder idealen Recht und erfreut sich dabei an akademischen Übungen, die metaphysisch und scholastisch gefärbt sind; so streckt man sich dort inmitten einer Masse flottierender politischer Begriffe aus, die, den disparatesten Auffassungen zu Diensten bereit, natürlich alles beim alten lassen; dort wieder läuft man leeren biologischen, psychologischen oder sozialen Begriffen hinterher, die, selbst wenn sie wahr und begründet wären – sie sind indes weit davon entfernt, es stets zu sein – zu nichts dienen, wenn sie nicht von juristischer Untersuchung begleitet werden. Und stets ist es die Hingabe an eine zügellose Lust zur Gesetzeskritik und zur Reform der geltenden Strafgesetze, an eine Kritik, die in ihren maßlosen reformatorischen Tendenzen häufig keine Grenzen findet, die mitunter das Gesetz verkennt, bevor sie es überhaupt kennen gelernt hat, und der es darum geht, nahezu das gesamte Gebäude des gesetzten Rechts bis zu den Fundamenten zum Einsturz zu bringen. Stets handelt es sich um eine Vernachlässigung, eine Missachtung, die mitunter offenbar eine Unfähigkeit zur dogmatischen Konstruktion der Strafrechtsinstitute auf der Grundlage der Prinzipien des geltenden Rechts verbirgt – und zwar, näher betrachtet, nicht nur des positiven Strafrechts, sondern vielmehr des gesamten Rechts, des öffentlichen wie des privaten, denn stets handelt es sich um eine Vernachlässigung der Erforschung der Gründe sozialer Notwendigkeit und politischer Zweckmäßigkeit, welche dem gesetzten Recht zu Grunde liegen – ein Festhalten an der kleinlichen und materiellen Auslegung des Buchstabens des Gesetzes, die im Strafrecht wegen der Grenzen, die seiner Interpretation gesetzt sind, nur noch armseliger ist, um sodann zur Kritik und zur Reform des Gesetzes selbst überzuspringen, im fast freudigen Eifer, diesem das entgegen zu setzen, was häufig nicht seinen Platz einnehmen könnte. Welches ist nun im einzelnen die nächste Ursache für eine derartige Lage der Dinge? Die Diagnose erscheint nicht schwer. Die alte klassische Strafrechtswissenschaft ignoriert zunächst und vergisst sodann die Lehren der historischen Rechtsschule; diese hatte die Absicht, ein Strafrecht außerhalb des positiven Rechts zu erforschen, sie hatte sich eingeredet, sie könne ein Strafrecht formen,
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das sich von jenem Recht unterscheidet, das in den positiven Gesetzen des Staates bewahrt ist, ein Strafrecht von absolutem Charakter, unveränderlich, allgemeingültig, dessen Ursprung in der Gottheit oder in der Offenbarung des menschlichen Gewissens oder in den Naturgesetzen oder in den Gesetzen des Denkens und der Idee aufgespürt werden könne. Selbst das monumentale und ruhmreiche Werk von CARRARA war diesem Laster der Zeiten und dessen, was in der Zeit seine Daseinsberechtigung fand, nicht entgangen: und in eben dieses Laster verfielen auch, vor ihm oder nach ihm, herausragende Juristen wie z.B. FEUERBACH, HÄLSCHNER und BERNER in Deutschland, ORTOLAN und BERTAULD in Frankreich sowie in Italien PESSINA, BUCCELLATI, CANONICO, BRUSA und weitere, welche alle aufzulisten hier zu weit führen würde. Dies war, nach unserer bescheidenen Auffassung, offenkundig ein schwerer Fehler, denn es führte dazu, die Grenzen der Erfahrung zu überschreiten, innerhalb derer notwendigerweise jedes menschliche Wissen, also auch das Wissen über das Recht, enthalten ist. Die moderne positivistische Richtung bekämpft, wie bereits die alte historische Schule, zu Recht diesen Irrtum; sie fällt jedoch ihrerseits in einen eben so offenkundigen Irrtum, indem sie – unter Missachtung des Grundsatzes der wissenschaftlichen Arbeitsteilung, der absoluten Bedingung der Entwicklung menschlichen Wissens – meint, die Strafrechtswissenschaft sei nichts anderes als ein Kapitel und ein Anhang der Soziologie. Sie hat – wie wir heute mit unbefangenem Urteil sagen können – durchaus die Wirkung gezeitigt, dass, wenn auch nur teilweise, der alte wissenschaftliche Organismus des Strafrechts von den metaphysischen Verkrustungen gereinigt worden ist, von denen er bedeckt war, doch in dem manischen Zerstörungsdrang, von dem sie beseelt war, hat sie schließlich auch dort zerstört, wo sie nicht zerstören durfte, und sie hat vor allem den Zweck vergessen, der sie ursprünglich bewegt hatte: die Erneuerung der Wissenschaft des Kriminalrechts durch Anwendung der Methode der experimentellen und positivistischen Philosophie und auf der Grundlage der von der anthropologischen und soziologischen Wissenschaft gelieferten Daten – um sich am Ende ausschließlich mit den Mitteln zu befassen, nämlich mit dem Studium der Anthropologie und der Soziologie. Indem sie so das Strafrecht und die Strafrechtswissenschaft der Anthropologie unterordnete, sie, mehr noch, im Namen einer falschen Anthropologie auslöschte bzw. andererseits im großen Meer der Soziologie ertränkte, hatte die positivistische Schule, ungeachtet einiger unleugbarer Verdienste, letztlich als Ergebnis einen Trümmerhaufen um sich herum geschaffen, ohne etwas dazu beigetragen zu haben, um aus den Trümmern ein neues – wenn schon nicht legislatives, so doch wenigstens wissenschaftliches – Gebäude des Strafrechts zu konstruieren, was sie doch als ihre Absicht verkündet hatte und von dem alle erwartet hatten, dass sie es errichten würde. Auf diese Weise abbrechend, ohne neu aufzubauen, beschränkte sie sich schließlich auf jene Tätigkeit, welche die relativ leichteste ist, nämlich die kritisierende und negative, und gelangte schließlich und letztlich zu einem Strafrecht ... ohne Recht! Hieraus rührt jener Zustand der Ängstlichkeit, der Unsicherheit, der dauernden Verwirrung, mit dem wir oben das gegenwärtige wissenschaftliche Element des Strafrechts charakterisiert haben; man kann daher, um es im forensischen Jargon auszudrücken, sagen, dass nach Lage der Akten die heutige Strafrechtswissenschaft sich mit einer quälerischen Erforschung ihrer selbst abmüht; und zwischen dem Alten, das häufig nicht standhält, und dem Neuen, von dem noch wenig oder gar
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nichts vorhanden ist, können wir sagen, dass es heute kein festes Rechtsprinzip des Strafrechts mehr gibt. Ist es unter solchen Bedingungen überhaupt möglich, dass eine Wissenschaft sich entwickelt und Fortschritte macht? Offensichtlich nicht; und so befinden wir uns genau in der Lage der Soldaten, die auf dem Platz exerzieren und nach vielen Vorund Rückmärschen sich stets am selben Orte wiederfinden. Und das Schlimmste ist, dass, während einerseits die positivistische Schule für Italien einige Leistungen erbracht hat, denen man in gewissen Hinsichten viel Anerkennung schuldet, sie andererseits zusammen mit dem Fortschreiten der metaphysischen Philosophie dazu beigetragen hat, den rechtlichen Maßstab bis zur Unkenntlichkeit zu vernebeln – so sehr, dass jenes feine Rechtsempfinden, das ein besonderes Besitztum des italienischen Genius ist, jenes feine Rechtsempfinden, das unter den Gelehrten des Privatrechts geradezu eine gewöhnliche, fast gar nicht geschätzte Eigenschaft ist, weil sie von allen so sehr beherrscht wird, im Strafrecht heutzutage ein äußerst seltener, geradezu teurer Vorzug geworden ist. Vor etwa 20 Jahren erhob sich im Bereich der Disziplinen des öffentlichen Rechts eine mächtige Stimme, die des glänzenden Professor ORLANDO, der die Scheidung oder, besser gesagt, die Trennung dieser Wissenschaften von der der Soziologie, von der Politik und von der Philosophie forderte, indem er darauf hinwies, dass dies die einzige Bedingung des Fortschritts dieser hoch bedeutenden Zweige unseres Rechts sei. Und seine Stimme blieb nicht ungehört. Ungefähr das selbe könnte man heute für das Strafrecht wiederholen, und die Ermahnung wäre genau so nützlich und empfehlenswert. Denn für eine Rechtsdisziplin, egal welche, ist stets wahr, was ORLANDO sagte, dass nämlich „der historische, der gesellschaftliche, der politische, vor allem aber der philosophische Maßstab mit seinen besonders abstrusen Formen zügellosester Metaphysik, den Maßstab des Rechts in einem Maße ersticken, dass sie ihn fast ertöten“, und dass „dort, wo die Nebel der philosophischen Abstraktion die reine Wahrnehmung der Umgebung behindern, es kein Recht mehr gibt, denn das Recht ist die Präzision!“ Bei diesem Stand der Dinge gibt es, wenn wir nicht irren, kein anderes Heilmittel als folgendes – ein höchst einfaches Heilmittel, zumindest im Grundsatz –: fest, glaubensstark und skrupulös an der Erforschung des Rechts festhalten. Ich spreche nicht von einem gedachten Naturrecht, Vernunftrecht oder Idealrecht, das ein absolutes und einziges sein müsste, weil es aus den unveränderlichen Gesetzen der Natur, des Denkens und der Idee abgeleitet ist, das aber in den Systemen, mittels derer es dargestellt wird, Unterschiede aufweist, und zwar auch solche, die größer sind als diejenigen, wie sie zwischen den positiven Rechten der verschiedenen Staaten vorkommen, und das man, abgehoben, wie es von seinen wirklichen Ursachen (nämlich den gesellschaftlichen Kräften) ist, besser als ein übernatürliches Recht bezeichnen könnte. Ich spreche vielmehr ausschließlich von dem geltenden positiven Recht, dem einzigen, welches die Erfahrung uns weist und dem einzigen, das den Gegenstand einer Rechtswissenschaft bilden kann, wie die Strafrechtswissenschaft es ist, und, sind erst einmal die Orakel einer ebenso bequemen wie unexakten Anthropologie Lügen gestraft, bleiben soll und will. Zugleich immer mehr den Unterschied – um nicht zu sagen: die Trennung – der Strafrechtswissenschaft von der Anthropologie, von der Soziologie und auch von der Rechts-
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philosophie und von der Kriminalpolitik, -kunst oder -wissenschaft, oder was auch immer sie sein mag, herausstellen, und sie, wie es für das Privatrecht schon seit längerem geschehen ist, auf ein System der „Rechtsprinzipien“ zu reduzieren, auf eine Rechtstheorie, auf eine wissenschaftliche Kenntnis der juristischen Disziplin der Verbrechen und Strafen, kurz: auf eine allgemeine und spezielle Erforschung von Verbrechen und Strafe unter rechtlichem Aspekt als Taten oder Erscheinungen, welche von der positiven Rechtsordnung geregelt sind. Dies ist die sogenannte rechtstechnische Richtung, die einzig mögliche Richtung in einer Wissenschaft, die eben Rechtswissenschaft ist, und damit auch jener speziellen Art von Rechtswissenschaft, die den Namen Strafrechtswissenschaft trägt und die einzige ist, von der man eine organische Rekonstruktion des geschwächten wissenschaftlichen Gefüges des Strafrechts erwarten kann. Dass dies der einzige noch zu beschreitende Weg zur Erzielung eines solchen Ergebnisses ist, ist eine Auffassung, die, wie es scheint, sich allmählich, wenngleich fast stets in beschränkter Sicht, in der Überzeugung der Mehrheit der Autoren durchsetzt; als Beispiele seien nur genannt LOENING, SERGIEWSKY, MERKEL, BINDING, LISZT, MEYER, BELING, FINGER, VARGHA, GARRAUD, CIVOLI, MANZINI und in seinen letzten Schriften sogar auch PESSINA; man könnte fast sagen, dass diese Auffassung – man gestatte den Ausdruck – einem allgemeinen Zustand des Rechtsbewusstseins entspricht. Hier aber sehe ich bereits einen Haupteinwand am Horizont auftauchen. Man wird sagen, dass eine solche Unterscheidung der Strafrechtswissenschaft von der psychologischen, anthropologischen und soziologischen Wissenschaft einerseits, von der Rechtsphilosophie und von der Politik andererseits, wissenschaftlich und praktisch unmöglich sei. Man wird sagen, dass auf diese Weise das Strafrecht als Wissenschaft zerstört werde, dass man aus ihm einen eben so leeren wie gefährlichen Formalismus machen werde, dass man die Wissenschaft auf eine bloße scholastische Ausübung von theoretischen Abstraktionen reduziere, dass man eine ZellenIsolierung zwischen den verschiedenen Kriminalwissenschaften verfüge, die mit unheilvollen praktischen Konsequenzen für die bürgerliche Gesellschaft belastet sei. Es entspricht aber keineswegs unseren Vorstellungen, zu solchen Schlüssen zu gelangen, und sie sind auch keineswegs eine notwendige Konsequenz unserer Auffassungen. Gewollt ist einzig und allein, dass die Strafrechtswissenschaft entsprechend ihrer Natur als spezielle Rechtswissenschaft den Gegenstand ihrer Forschungen beschränkt, die auf die ausschließliche Erforschung des Strafrechts gerichtet sind, und zwar, entsprechend ihren Mitteln, des einzigen Strafrechts, das als Gegebenheit der Erfahrung existiert, das positive Strafrecht. Gewollt ist daher, dass sie sich darauf beschränkt, Verbrechen und Strafe schlicht und einfach nach ihrer rechtlichen Seite hin zu untersuchen, als von positivrechtlichen Normen geregelte Fakten, d.h. als juristische Fakten, von denen das eine die Ursache und das andere die Wirkung oder Rechtsfolge ist, und anderen Wissenschaften, genau gesagt der Anthropologie und der Kriminalsoziologie, die spezielle Aufgabe ihrer Erforschung zu überlassen, das Verbrechen als individuelles und gesellschaftliches Faktum, d.h. unter natürlichem, organischem und psychischem sowie unter gesellschaftlichem Aspekt, die Strafe als gesellschaftliches Faktum. Keineswegs aber ist mit der Verkündung dieser Unterscheidung beabsichtigt, das Studium des Strafrechts zu formalisieren, es auf eine theoretische Abstraktion zu reduzieren, es von der natürlichen und sozialen Wirklichkeit zu isolieren, aus der es erwächst;
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und dies ist auch, wie schon gesagt, nicht das notwendige Ergebnis dieser Unterscheidung. Wenn man sagt, dass die Strafrechtswissenschaft Verbrechen und Strafe als rechtliche Erscheinungen erforsche, dass die Kriminalsoziologie Verbrechen und Strafe als gesellschaftliche Erscheinungen erforsche und die Kriminalanthropologie das Verbrechen als natürliche Erscheinung erforsche, so tut man damit nichts anderes als den Gegenstand und die Grenzen dieser Wissenschaften festzulegen. Und für die Wissenschaft vom Strafrecht wird damit festgestellt, dass ihre Tätigkeit in der Untersuchung der rechtlichen Regelung jenes menschlichen und gesellschaftlichen Faktums, das Verbrechen heißt, und jenes gesellschaftlichen und politischen Faktums, das Strafe heißt, besteht, d.h. in der Untersuchung der Rechtsnormen, welche zurechenbare, rechtswidrige und schädliche menschliche Handlungen, die indirekt eine Gefahr für das Bestehen der rechtlich organisierten Gesellschaft hervorrufen und offenbaren und deshalb in der Untersuchung der subjektiven rechtlichen Befugnisse und Pflichten, d.h. aus dem strafrechtlichen Verhältnis, das kraft jener Normen daraus entsteht. Diese Untersuchung ist notwendigerweise eine rechtstechnische Untersuchung, weil es in der wissenschaftlichen Erkenntnis des Rechts keine anderen Mittel gibt als diejenigen der Rechtstechnik; das heißt aber nicht, dass der Strafrechtswissenschaftler nicht mitunter das Gewand des Anthropologen, des Psychologen und des Soziologen überstreifen muss; es bedeutet nicht einmal, dass bei dieser technischen Untersuchung des Rechts nicht eine positivistische und experimentelle Methode befolgt werden dürfte. Unterscheidung bedeutet nicht Trennung und noch weniger wissenschaftliche Scheidung. Die Wissenschaft vom Strafrecht, ihrer Natur nach ausschließlich Rechtswissenschaft und so verstanden, dass sie Verbrechen und Strafe als Gegenstände von Rechtsnormen erforschen soll, wird sich, wie sogleich gezeigt werden wird, gerade unter diesem methodischen Aspekt aufs innigste mit der Wissenschaft, welche vom Verbrechen als natürlicher Erscheinung handelt, d.h. mit der Kriminalanthropologie, und mit derjenigen, welche von Verbrechen und Strafe als gesellschaftlichen Erscheinungen handelt, d.h. mit der Kriminalsoziologie, verbünden. Und nicht anders verhält es sich, was die Beziehungen des Strafrechts zur Rechtsphilosophie und zur Politikwissenschaft angeht. Wenn man der Auffassung ist, dass das Strafrecht, um dessen wissenschaftliche Erforschung es geht, das positive Strafrecht sei, als das einzige, das die Wirklichkeit anbietet, und als das einzige, das Gegenstand einer speziellen Rechtswissenschaft sein kann, dann leugnet man keineswegs, dass es gesellschaftliche Notwendigkeiten, Forderungen und Bedürfnisse gibt, die auf das Wissen und Wollen des Strafgesetzgebers einwirken und eben in positives Recht überführt werden sollen – jene Forderungen selbst, die in ihrer Gesamtheit, modern ausgedrückt, als „Gerechtigkeit“ bezeichnet werden und, soweit sie bereits in die Rechtsordnung eingedrungen sind, die innere Grundlage des positiven Rechts bilden. Man leugnet nicht einmal, dass es außer ihnen, wenn auch nicht unabhängig von ihnen, Erfordernisse des Zusammenlebens und der politischen und praktischen Zweckmäßigkeit gibt, die sich außerhalb des Tempels des gesetzten Rechts bewegen und eine Bresche in das positive Strafrecht schlagen, indem auch sie die Keime seiner zukünftigen Erneuerung vorbereiten. Man sagt bloß, dass die einen den Gegenstand eines philosophischen Rechts bilden, die sog. Philosophie des Strafrechts, die anderen den Gegenstand eines politischen Wissens bilden, der sog. Kriminalpolitik (oder, ge-
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nauer gesagt, aus dieser Sicht: der Strafrechtspolitik), während das im engeren Sinne juristische Wissen, das wissenschaftliche Wissen über das Strafrecht, verstanden in seinem engen und eigentlichen Sinne, sich in der technischen Erforschung des positiven Strafrechts erschöpft. Damit ist nicht einmal ausgeschlossen, dass der Strafrechtswissenschaftler hilfsweise den philosophischen und den politischen Maßstab anlegt, wenn er die Daseinsberechtigung von Strafrechtsinstituten in Staat und Gesellschaft der Gegenwart erläutert und wenn er dann in diesem Zusammenhang (freilich nur in zweiter Linie), zur Untersuchung dessen übergeht, wie das positive Strafrecht sein sollte, und damit künftige Gesetzesreformen erarbeitet. Aber auch in diesem Falle trifft doch zu, dass man die im eigentlichen und engen Sinne juristische Untersuchung von der philosophischen und politischen unterscheiden muss, will man ein unerlaubtes und gefährliches Eindringen und Einmischen philosophischer und politischer Elemente in die lichtvolle Logik der juristischen Untersuchung vermeiden; und es darf nicht vergessen werden, dass Recht eines, Philosophie ein anderes und Politik wieder ein anderes ist; daher sollte der Strafjurist, der sich in den beiden zuletzt genannten Forschungsarten versucht, im vollen Bewusstsein dessen vorgehen, was er erreichen will, und er sollte wissen und sich klarmachen, dass er in diesem Augenblick die Robe des Juristen ablegt, um das möglicherweise eben so schwere Gewand des Philosophen und des Politikwissenschaftlers anzuziehen. Und man glaube nicht, dass es sich hier um eine bloße Formsache handele, noch möge unsere Liebe zum System als eine ausschweifende oder als eine eifernde Leidenschaft für nutzlose und vielleicht sogar gefährliche wissenschaftliche Grenzzäune erscheinen. Wenn ich mich nicht völlig täusche, hängt die Hauptursache, wenn nicht sogar die einzige Ursache für die Schwierigkeiten, die heutzutage in unserer Wissenschaft beklagt werden, gerade an der Nichtbeachtung der Grenzen, welche die verschiedenen Kriminalwissenschaften von einander trennen, nicht nur im Hinblick auf die eingetretene Verwischung der Gegenstände, sondern vor allem auf die jeweiligen Zielsetzungen des Strafrechts, der Kriminalsoziologie, der Kriminalanthropologie, der Strafrechtsphilosophie und der Kriminalpolitik. Auch hier ist das Phänomen aufgetaucht, das ICILIO VANNI so scharf herausgestellt hat, dass nämlich „in dem Augenblick, in dem eine Disziplin sich auf neue Wege begibt und dabei versucht, sich andere Wissenschaften zunutze zu machen, die dabei schon weiter gekommen sind als sie, sie leicht der Verlockung erliegt, sich in illegitimer Weise über ihren eigenen Bereich hinaus auszudehnen und damit die Vorteile der Arbeitsteilung preiszugeben“. Und so muss auch in unserem Kreis der Kriminalwissenschaften die Ordnung wieder hergestellt werden, und alle müssen ihren natürlichen Platz wieder einnehmen, wenn man will, dass sie in allgemeinem und bewusstem Einvernehmen eine jede ein erfolgreiches und blühendes Leben mit praktischen Konsequenzen führen. So verlangt es die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Spezialisierung, in der jeglicher Fortschritt menschlichen Wissens begründet ist, und das Gesetz der wissenschaftlichen Arbeitsteilung, welches das menschliche Denken unausweichlich regiert und nicht nur das Ergebnis einer subjektiven Notwendigkeit des menschlichen Geistes ist, der ebenso begrenzt und schwach wie unsere Natur ist, sondern auch die Bedeu-
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tung einer objektiven Notwendigkeit besitzt, welche aus der Wirklichkeit des individuellen und gesellschaftlichen Lebens hervorgeht, das sich aus der Verschiedenheit und Komplexität der Erscheinungen zusammensetzt. Dies also ist hauptsächlich, wenn nicht sogar ausschließlich, Aufgabe und Funktion der Strafrechtswissenschaft: rechtstechnische Aufarbeitung des positiven geltenden Strafrechts, wissenschaftliche, und zwar nicht bloß empirische, Erkenntnis des Systems des Strafrechts, so wie es auf der Grundlage der Gesetze, die uns regieren, existiert. Die Nützlichkeit einer solchen logischen – und ich meine keineswegs nur formallogischen – Organisation und Systematisierung der Prinzipien des geltenden Strafrechts wird wohl jeder einsehen; ihre Aufgabe ist es, denen, die von ihrer Aufgabe im gesellschaftlichen Leben her dazu berufen sind, das Recht auszulegen und anzuwenden – sei es streitig als Advokaten, sei es entscheidend als Richter –, die wissenschaftliche Kenntnis der Normen des Rechtes selbst zu liefern; ihre Aufgabe ist es, dem Interpreten – Jurist oder Richter – das zu liefern, was für die praktische Rechtsprechung nötig ist; ihre Aufgabe ist also, kurz gesagt, die Rechtswissenschaft im praktischen Bereich der Rechtsanwendung nützlich zu machen und das tägliche praktische Rechtsleben auf der Höhe einer wissenschaftlichen Rechtskenntnis zu halten. Doch ihre wohltätige Funktion erschöpft sich hierin nicht. Indem sie auf technische Weise die Prinzipien des positiven Rechts erarbeitet, bringt sie im Inneren des geltenden Rechts die Keime des künftigen Rechts zur Reife und zur Fruchtbarkeit und verwandelt sich auf diese Weise in ein Instrument des rechtlichen und bürgerlichen Fortschritts, denn während man einerseits das Recht nicht reformieren kann, ohne die ganze Kraft der Prinzipien zu erkennen, die es enthält und die man in künftige Gesetze überführen kann, bildet andererseits die Kenntnis des Systems des geltenden Rechts eine mächtige Hilfe bei dem Unternehmen, aus seinem Inneren das System des zukünftigen Rechts zu entnehmen. Doch worin besteht nun eigentlich diese technische Erforschung des positiven Strafrechts, dieser Rechtstechnizismus? Nähern wir uns ihm an und schauen wir ihm ins Auge; denn dass man ihn nicht richtig gekannt hat, hat dazu geführt, dass mehr als einer sein großes Gewicht und seine Bedeutung nicht verstanden hat. Eine jede Wissenschaft besitzt ihre besondere Technik; und unter Technik wird hier die Gesamtheit jener Mittel, jener logischen, methodischen, systematischen Verfahren verstanden, die ihr eigen sind und deren sie sich zur Erreichung der ihr eigenen Ziele bedient. So verhält es sich auch mit der Rechtswissenschaft im allgemeinen, der Jurisprudenz. Auch die Rechtswissenschaft hat ihre besondere Technik – eine Technik, die fast dreitausend Jahre alt ist und durch die Jahrhunderte von den römischen Rechtsgelehrten, den Lehrern für jedermann in der Kunst der Rechtserforschung, weiter überliefert worden ist. Die Bestimmung dieser technischen Maßstäbe ist nicht leicht, denn wie jede Kunst muss man auch die Kunst, das Recht auf technische Weise zu untersuchen, mehr fühlen als man es in Worte kleiden kann, man lernt auf eigene Rechnung mehr als das, was andere lehren, denn sie ist das Ergebnis von Erfahrungen und von Beobachtungen, die persönlich und schrittweise unternommen worden sind; es ist daher viel leichter, einen oberflächlichen und approximativen empirischen Begriff von ihr zu haben
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als einen vertieften und genauen wissenschaftlichen Begriff. Allerdings ist diese Bestimmung – glücklicherweise – nicht unmöglich. Angesichts der gemeinsamen Art der verschiedenen Zweige des Rechts, der gemeinsamen Natur der verschiedenen Rechtsverhältnisse als solcher, muss man nämlich, bevor man wegen des geringeren wissenschaftlichen Reifegrades des Strafrechts darauf verzichtet, die technischen Maßstäbe für dessen Untersuchung zu finden, danach schauen, ob es nicht andere Rechtswissenschaften gibt, deren wissenschaftlicher Fortschritt in technischer Hinsicht so weit gediehen ist, dass er uns Vorbilder technischer Verfahren für die Untersuchung des Rechts im allgemeinen und des Strafrechts im besonderen liefert. Und daher können wir nicht anders, als diese Tatsache mitzuteilen, dass nämlich, während die Strafrechtswissenschaft schwerwiegende Unvollkommenheiten, vor allem in technischer und systematischer Hinsicht, zeigt, die Wissenschaften des Privat-, Zivil- und Handelsrechts sowie einige Wissenschaften des öffentlichen Rechts, vielleicht könnte man auch noch das Zivilprozessrecht ergänzen, eine technische Vollkommenheit aufweisen, wie man sie sich zumindest für einige von ihnen nicht größer wünschen kann. Was folgt aus dieser Feststellung? Die offenkundige Folgerung besteht darin, dass der erste und allgemeinste Maßstab, den man auch für die technische Untersuchung eines positiven Strafrechts, das für die Wissenschaft und für das Leben nützlich sein will, aufstellen kann, der ist, den sicheren Weg zu beschreiten, auf den zuerst die Privatrechtswissenschaftler vertraut haben und den sodann die Wissenschaftler des öffentlichen Rechts und des Verfahrensrechts bis heute so meisterlich beschritten haben, jenen Weg, den sogar das Verfassungsrecht und das Völkerrecht so sicheren Schritts begehen, indem sie sich mit gleicher Geschwindigkeit der Verfahren derjenigen der gerade erwähnten Wissenschaften bemächtigen, welche, wie das Privatrecht, ein sichtbares Beispiel für eine perfekte Rechtstechnik bilden. Mit dem Gesagten ist freilich zugleich zu viel und zu wenig gesagt. Zuviel für denjenigen, der auf natürliche und glückliche Weise mit dem rechtlichen Urteil und der rechtlichen Intuition versehen ist; zu wenig hingegen für denjenigen, bei dem dies nicht der Fall ist. Wir müssen daher, allerdings in derselben gedanklichen Reihenfolge verbleibend, einem weniger allgemeinen, konkreteren, einem weniger didaktischen, wissenschaftlicheren Kriterium folgen. Betrachten wir aus größerer Nähe die Art des Vorgehens, die der wissenschaftlichen Erkenntnis des Rechts, vor allem im Bereich des Privatrechts, aber auch im Bereich des Verwaltungsrechts und des Zivilprozesses sowie der Sphäre des Rechts im allgemeinen, eigen ist, so werden wir sehen, dass die technischen Mittel, über welche diese Erkenntnis verfügt, sich in nur drei Verfahrens- und Untersuchungsarten zusammenfassen lassen: 1) eine exegetische Untersuchung, 2) eine dogmatische und systematische Untersuchung, 3) eine kritische Untersuchung des Rechts. Und just in diesen drei Forschungsarten muss die technische Untersuchung des positiven Strafrechts bestehen; natürlich nehmen sie je nach der besonderen Natur des Rechts, welches sie anwenden wollen, ein besonderes Aussehen an. (1) Die erste Untersuchung, welche die Strafrechtswissenschaft vorzunehmen hat, ist eine solche exegetischer Natur. Ich beabsichtige nicht, hier zu wiederholen,
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worin die Auslegung besteht, dass sie sich auf die bloße Untersuchung des Gesetzestextes beschränkt und mittels der Interpretation des Gesetzes nach der von diesem selbst befolgten Reihenfolge durchgeführt wird; diese Begriffe sind so allgemein bekannt, dass sie geradezu als volkstümlich erscheinen könnten. Ich will mich auch nicht bei der Lehre von der Gesetzesauslegung im allgemeinen aufhalten, wenngleich ich der Auffassung bin, dass diese Lehre, die bislang hauptsächlich, wenn nicht sogar ausschließlich, von den Privatrechtsgelehrten und für die Zwecke des Privatrechts erarbeitet worden ist, in jenem Teil, der die Auslegung der Strafgesetze betrifft, einer grundsätzlichen kritischen Revision bedürfte. Einige wenige Bemerkungen mögen genügen. Mit der ersten will ich eine schlechte Angewohnheit bzw. einen Irrtum aufdecken, der sich speziell in unsere Gerichtspraxis eingeschlichen hat. Man hat geglaubt, dass das in Art. 4 der Eingangsvorschriften des Codice Civile und in Art. 4 des Codice Penale ausgesprochene Verbot, Strafgesetze über die in ihnen formulierten Fälle hinaus auszudehnen, dem Interpreten, der die innere Bedeutung der gesetzlichen Strafvorschrift ermitteln will, geradezu die Hände abhacke und die Auslegung und Anwendung der strafgesetzlichen Vorschriften sich häufig auf einen mechanischen und engstirnigen Automatismus reduziere, bei dem, mit dem Wörterbuch in der Hand, nachgesehen werde, ob die wortwörtlich und im engsten Sinne vom Strafgesetzgeber geregelten Fälle sich im festgestellten Sachverhalt wiederfinden. Ein schwerer Fehler. Das wörtlich formulierte Verbot schließt nicht aus, schließt vielmehr ein und setzt voraus, dass zuvor eine logische, nicht bloß eine grammatikalische Auslegung der Gesetzesnorm, d.h. der Vorstellungen und des Willens des Gesetzes und auch seines rechtfertigenden Grundes stattfindet; auch darf man die Bedeutung des Verbots nicht übertreiben, indem man Formulierungen, die nicht ganz exakt sind, zum Vorwand nimmt, um sich von der Anwendung des Gesetzes in Fällen zu dispensieren, die in Wirklichkeit von ihm erfasst sind. Aber mehr noch: Die Auslegung, von der wir sprechen, kann nicht nur restriktiv, sondern auch extensiv und modifizierend sein. Dass man den oben genannten Bestimmungen den absoluten oder auch nur teilweisen Ausschluß der extensiven und infolge dessen auch der modifizierenden bzw. berichtigenden Auslegung im Bereich des Strafrechts entnommen hat ist ein weiterer ebenso schwerer wie verbreiteter Irrtum unserer Lehre und mehr noch unserer gerichtlichen Praxis. Was im Bereich des Strafrechts dem Interpreten untersagt ist, ist nicht bereits die extensive Auslegung der Gesetzesnorm, sondern nur die analoge Auslegung, und auch diese nur – wofür ich, um mich nicht zu wiederholen, auf das folgende verweise – innerhalb bestimmter, alles andere als bedeutungsloser Grenzen. Wie beachtlich also auch die Ähnlichkeit zwischen der einen und der anderen Form der juristischen Auslegung sein mag, ist doch der Unterschied so grundlegend und wesentlich und, ohne dass ich dies wiederholen muss, allen so bekannt, dass man, wie ich finde, zu Recht davon sprechen kann, dass es unerlaubt sei, sie durch einen gemeinsamen Ausschluss aus dem Bereich der Strafrechtsnormen miteinander zu vermengen. Mit der zweiten und gewiss nicht neuen Feststellung soll eine Übertreibung und ein Missbrauch des Auslegungssystems ins Licht gerückt werden. Die Auslegung ist bekanntlich nichts anderes als die erste Form, die erste Ausdrucksweise der wissenschaftlichen Untersuchung des Rechts – gewiss eine notwendige Form, aber auch die niedrigste. Schande über jene, welche die wissenschaftliche Erkenntnis
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des Rechts dem reinen, engen und materiellen exegetischen Kommentar des Gesetzesbuchstabens unterwerfen! Und doch ist dieser Irrtum mehr, als man glauben sollte, der Mehrzahl der Strafrechtler eigen, vor allem jenen, welche dem Kreis der Praktiker angehören, und deren Mangel an spekulativer Haltung, deren Fehlen eines wissenschaftlichen Habitus, deren Untauglichkeit und Unfähigkeit zur Abstraktion sie daran hindern, weiter zu gehen als bis zur bloßen banalen Untersuchung des Gesetzeswortlauts. Der rein exegetische Kommentar, das Vergnügen gewisser Autoren, meistens dutzendweise, ist, für sich und als solche genommen, eine wissenschaftlich tief stehende Form des literarischen Erzeugnisses, eine Degeneration des sogenannten praktischen Elements des Rechts. Denn auch wenn es allenthalben gesagt und wiederholt wird, so ist es doch wahr, dass man mit dem exegetischen Kommentar noch nicht die Wissenschaft betreibt, vielmehr allenfalls mit der Wissenschaft beginnt, und dass die exegetische Untersuchung nur ein Teil, und keineswegs der vornehmste und höchste, der Rechtswissenschaft ist. Wird er übertrieben und bis zum Missbrauch getrieben, so verwandelt er die Rechtswissenschaft in eine öde Kasuistik. „Die exegetische Interpretation – so bemerkt u.a. ORLANDO – zerstört den differenzierenden Geist der Rechtswissenschaften“. Das Strafrecht unterscheidet sich zweifellos vom Privatrecht und dieses sich vom öffentlichen Recht; doch das Kommentieren eines Artikels des Strafgesetzbuches bedeutet nichts anderes, als einen Artikel des Zivil- oder Handelsgesetzbuches zu kommentieren. (2) Diese wenigen Erörterungen der Auslegung als erster Form wissenschaftlicher Tätigkeit werden uns das Verständnis der Natur jener anderen Form der Untersuchung erleichtern, welche die Wissenschaft des Strafrechts durchzuführen hat, die wir die dogmatische Untersuchung nennen möchten. Die dogmatische Untersuchung ist – wie uns bereits das Wort sagt – die dogmatisch beschreibende und darlegende Untersuchung der Grundprinzipien des positiven Rechts in ihrer logischen und systematischen Anordnung – jene Form der Untersuchung, welche die Deutschen, ein wenig barbarisch, die Konstruktion der Rechtsinstitute und Rechtsbeziehungen nennen und die andere als die „systematische“ Behandlung des Inhalts des geltenden Rechts bezeichnen (MERKEL, FILOMUSI). Recht ist Leben – es gehört zu den Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens, ist sogar unter den gesellschaftlichen Erscheinungen die wichtigste, es ist ein Organismus mit eigener Existenz, eigenen Ursachen, eigenen Gesetzen, welche in ihrem unerforschten Inneren aufzuspüren Aufgabe des Juristen ist. Die Auslegung, auch in ihrem höheren Verständnis, vermittelt uns bloß die empirische Erkenntnis des Rechts; die juristische Dogmatik bietet uns hingegen mit der systematischen Erkenntnis der Rechtsnormen, die in wechselseitige Beziehung gesetzt werden, um ihre Einheitlichkeit aufzuspüren und ihre Ursachen festzustellen, die wissenschaftliche Erkenntnis des Rechts selbst. In Verbindung mit der Auslegung, welche die Wissenschaft vom Gesetz ist, kann man sie wirklich die Wissenschaft vom Recht nennen! Wenn die – nicht nur buchstabengetreue, sondern auch logische – Interpretation ihre Aufgabe erfüllt hat, öffnet sich mittels der Analogie und der allgemeinen Rechtsprinzipien (Art. 3 Einl. Codice Civile) der Zugang zur Entwicklung der in den Rechtsnormen enthaltenen, mit ihrer Hilfe dingfest gemachten Begriffe. Dann gilt es, mit den plastischen Worten von SCIALOJA, von den Vorschriften der Gesetze ausgehend und abstrahierend von Begriff zu Begriff zurückzugehen und
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dabei immer mehr zu generalisieren, und vom Generellen sich umkehrend und zum Besonderen absteigend wird man, um es mit den Worten ARISTOTELES’ (Nikom. Ethik V, 10) zu sagen, beurteilen, „wie der Gesetzgeber selbst gesprochen hätte, wenn er anwesend gewesen wäre“ und welche Bestimmung er erlassen hätte, wenn er die Tatsachen und Verhältnisse gesehen hätte, die er nicht geregelt hat und die es gerade jetzt zu regeln gilt. Auf diese Weise konstruiert die Rechtswissenschaft dogmatisch das System der Prinzipien des geltenden Rechts. Und die methodische und systematische Erkenntnis dieser Prinzipien ist äußerst wichtig für die fruchtbare und ertragreiche Rechtsanwendung. So wie die starke Ulme den zähen Efeu, so unterstützt die Rechtsdogmatik die exegetische Untersuchung, die sie damit zuverlässig und sicher sein lässt. Sie macht die an sich mechanische Auslegung des Gesetzes zu einer organischen, und sie erleuchtet und erhellt den Auslegenden in den vieldeutigen Fällen des Schweigens des Gesetzes, in den quälenden Schwierigkeiten der Praxis, in der vielförmigen Verschiedenheit und Komplexität der Fälle und der rechtlichen Sachverhalte. Hier taucht nur aber ein gewichtiger Zweifel auf: Ist denn eine derartige dogmatische Konstruktion der Prinzipien des geltenden positiven Rechts im Bereich des Strafrechts wirklich möglich und nützlich? Findet sie nicht in der Vorschrift des Art. 4 der Einleitung zum Zivilgesetzbuch und in Artikel 1 des Strafgesetzbuches, die in unterschiedlicher Form dem Richter verbieten, sich für die Verhängung einer Strafe auf Analogie, und erst recht, auf allgemeine Rechtsprinzipien zu stützen (Art. 3 derselben Bestimmungen), ein unüberwindliches Hindernis, das ihr zugleich jede praktische Daseinsberechtigung nimmt? Ich meine dies nicht. Verboten ist dem Richter nur, außerhalb irgendeiner ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung eine Tat zum Verbrechen zu erheben und gegen deren Täter eine Strafe zu verhängen; denn damit würde er sich eine Funktion anmaßen, die der Gesetzgeber aus einem offenkundigen Gedanken der sozialen Gerechtigkeit und des politischen Zusammenlebens, nämlich dem Schutz der bürgerlichen Freiheit, nur sich selbst vorbehalten will. Damit ist aber nicht gesagt, dass die Funktion des Strafrichters als des Interpreten des geltenden Rechts stets auf die Form einer niederen Auslegung beschränkt sei. Das Verbot der Analogie und der allgemeinen Rechtsgrundsätze im Bereich des Strafrechts besitzt eine viel eingeschränktere Wirksamkeit als von den meisten angenommen wird. Vor allem gilt sie nicht umfassend für die strafprozessualen Gesetze, die keine Handlungen unter Strafdrohung verbieten (Art. 1 Codice penale und Art. 4 Einleitung Codice di procedura civile), ja nicht einmal in irgendeiner ihrer Bestimmungen „die freie Ausübung der Bürgerrechte beschränken“ (Art. 4 Einl. Cod. civ.). Aber auch hinsichtlich der eigentlichen Strafgesetze ist keineswegs ausgeschlossen, dass der Richter auf Analogie und allgemeine Rechtsgrundsätze zurückgreift und alle jene, gewiss nicht wenigen, strafrechtlichen Probleme entscheidet, die nicht gerade in der Frage bestehen, ob eine Tat, zu der sich der Gesetzgeber nicht geäußert hat, den Charakter der Straftat besitzt, oder ob ein Umstand, den der Gesetzgeber nicht erwähnt hat, die Eigenschaft eines Strafschärfungsgrundes für eine bestimmte Straftat besitzt. Es ist gewiss nicht möglich zu sagen, welches und wie viele diese Fragen seien, auch wenn man sie sich leicht vorstellen kann; um mich aber auf ein einfaches
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Beispiel zu beschränken: Wer wollte leugnen, dass die Möglichkeit eines Rückgriffs nicht nur auf die Analogie, sondern auch auf die Grundsätze des positiven Strafrechts in all jenen Rechtsfragen besteht, die bei der Anwendung von Bestimmungen auftauchen, welche keine Strafdrohungen enthalten, sich aber dahin auswirken, dass in einigen Fällen die Verhängung der Strafe ausgeschlossen ist oder mildere Strafen an die Stelle von schwereren treten? Oder bei jenen Fragen, in denen es um die Bestimmung von Rechtsbegriffen geht, die der Gesetzgeber in seinen Bestimmungen voraussetzt, aber nicht definiert? (bspw. in Art. 9 Abs. 1 Cod. pen. die „politischen Verbrechen“, in Art. 366 Nr. 2 der „Vorbedacht“ usw.). In all diesen Fällen und generell in allen Fällen, in denen es darum geht, Strafrechtsnormen auszulegen, die keine strafrechtlichen Befehle oder Verbote enthalten, sondern Erlaubnissätze (z.B. Art. 49 Nr. 2, 3 Cod. pen.), Ausschlusssätze (z.B. Art. 44, 45, 46, 49 Nr. 1, 53, 85, 86, 91 Cod. pen.) oder erläuternde Sätze (z.B. Art. 155, 191, 207, 263, 470 Cod. pen.), und bei denen aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen und aus Analogie zu schöpfen dem Richter daher erlaubt ist; wäre dies nicht so, weil ihm nur die Befugnis zustände, die auftauchenden Probleme der Gesetzesanwendung im einen oder im anderen Sinne zu lösen, dann könnte er überhaupt keine Entscheidung mehr fällen. Trifft dies aber zu, so ist die Möglichkeit und praktische Nützlichkeit einer dogmatischen und systematischen Konstruktion der Prinzipien des positiven öffentlichen Rechts, die vor kurzem in Frage gestellt wurde, offenkundig; sie muss wertvolle Beiträge in der täglichen Aufgabe der richterlichen Anwendung des geltenden Rechts erbringen. Ich habe von praktischer, nicht von wissenschaftlicher Nützlichkeit gesprochen, denn letztere ist so offenkundig, dass es Zeitverschwendung wäre, sie noch nachzuweisen. Überdies ist bekanntlich die eine Art der Nützlichkeit mit der anderen eng verknüpft, wie JHERING zutreffend hervorheben konnte, dass die Lösung einer einzigen theoretischen Frage den Schlussstein für eine ganze Reihe von praktischen Problemen setzt, die man vergeblich auf indirekte Weise zu klären versucht. Ich bleibe gern noch bei der Notwendigkeit und Bedeutung dessen, was wir dogmatische Untersuchung genannt haben, denn gerade ihre Vernachlässigung ist es, der wir die beklagte technische Unvollkommenheit des Strafrechts verdanken. Wenn eine Reform in unserer Wissenschaft nötig ist, dann muss sie vor allem bei einer dogmatischen Überprüfung, bei einer neuen, präziseren, korrekteren und insgesamt moderneren Bestimmung der grundlegenden Rechtsbegriffe beginnen. Diese Bestimmung ist äußerst schwierig – im Strafrecht noch mehr als in jedem anderen Rechtszweig, wie man sogleich begreift, wenn man nur kurz darüber nachdenkt. Das Strafrecht ist ein Recht von besonderer Natur; es besitzt charakteristische Besonderheiten, die, während sie es von allen anderen Rechtszweigen unterscheiden, es doch mit ihnen, besonders mit ihren wissenschaftlichen Zielsetzungen, verbinden. Diese besondere Natur des Strafrechts wird in der Aussage deutlich, dass es den Charakter eines Rechts besitze, das zwar ein autonomes und primäres, aber doch in seinen Vorschriften und seinen Sanktionen ein ergänzendes Recht zu allen anderen Zweigen des Rechts sei. In der Tat ist seine besondere Aufgabe, durch Strafandrohung und Strafverhängung den speziellen Zwangsschutz der Güter und der menschlichen Interessen an den Gütern der individuellen und gesellschaftlichen Existenz zu sichern, deren Verletzung (Straftat) eine Gefahr für das Bestehen der rechtlich organisierten Gesellschaft zugleich sichtbar macht
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und hervorbringt. Nun sind diese Güter und Interessen, welche das Strafrecht schützt, häufig (wenn nicht sogar stets) bereits rechtlich geschützt – ohne oder mit Anerkennung des Willens, der sie verfolgt, und sie bilden daher häufig individuelle oder kollektive rechtliche Güter und Interessen oder auch echte privatrechtliche oder öffentlichrechtliche subjektive Rechte der Einzelnen oder des Staates. Weil nun aber diese Güter und Interessen unendlich vielfältig sein können – vom Leben bis zur Ehre, vom Eigentum bis zur persönlichen Freiheit, von der häuslichen Moral bis zum Briefgeheimnis –, darum können auch die rechtlichen Güter und Interessen und subjektiven Rechte, die ihnen entsprechen, unendlich vielfältig sein. Die Natur der Straftaten, welche die Verletzung dieser rechtlichen Interessen und dieser Rechte bedeuten, kann in diesen Fällen unmöglich rechtlich – und das heißt: wissenschaftlich – bestimmt werden, wenn nicht zuvor die Natur jener Interessen und jener Rechte bestimmt ist – und eine Kenntnis, die demnach zumindest in den hier interessierenden Fällen die zumindest elementare und grundlegende Kenntnis aller anderen Rechtszweige, des öffentlichen und des privaten, einschließt. Gerade in diesem Sinne, d.h. indem das Strafrecht, obwohl es seine Unabhängigkeit bewahrt, in alle Bereiche des Rechts mit ergänzender und schützender Funktion ausstrahlt, ist es zutreffend, wenn man sagt, dass die wissenschaftliche Kenntnis des Strafrechts in untergeordneter, aber eindeutiger Weise die wissenschaftliche Kenntnis aller anderen Rechtszweige einschließe und dass es – man gestatte mir diese abgenutzte Phrase – „ses têtes de chapitre“ in allen anderen juristischen Spezialwissenschaften finde. Welch weiter und mitunter unerforschter Forschungshorizont eröffnet sich hier dem Strafrechtswissenschaftler, wenn er sich nur daran macht, ihn aus seiner besonderen Perspektive zu erforschen. Doch andererseits welche notwendige, ja unerlässliche Forschungstätigkeit! Versucht doch einmal, z.B. die sogenannten „Straftaten gegen das Eigentum“ wissenschaftlich zu durchdringen, ohne das System unseres Privat-, Zivil- und Handelsrechts zumindest in seinen Grundzügen zu kennen! Versucht doch einmal, wissenschaftlich die Straftaten gegen die öffentliche Verwaltung zu durchdringen, ohne die allgemeinen Grundsätze unserer Verwaltungsrechtsordnung zu kennen, oder die Straftaten gegen die Rechtspflege, ohne die charakteristischen Züge und die Grundlagen unseres Prozessrechts und unserer Gerichtsverfassung, oder die Straftaten gegen den Staat oder die Freiheit ohne Kenntnis der springenden Punkte unserer Verfassungsrechtsordnung! Die Ergebnisse, welche ihr erzielen würdet, wären wissenschaftlich so nichtssagend, dass sie nicht über die schlichte Wiederholung des Gesetzeswortlautes mit der jeweiligen Darstellung der kleinen Auslegungskontroversen hinaus gelangen würden – Ergebnisse, welche die Bezeichnung „Wissenschaft“ nicht verdienen! Aber auch ohne sich daran zu machen, in anderen wissenschaftlichen Bereichen, die nicht die unsrigen sind, Notwendigkeit, Bedeutung und Schwierigkeit einer dogmatischen Aufarbeitung des Strafrechts nachzuweisen, enthüllt diese sich bereits prima facie in jenem Bereich unserer Wissenschaft, den man der „allgemeinen“ zu nennen pflegt. Es ist eine Tatsache, dass, während die Buchautoren Kapitel auf Kapitel in der illusorischen Absicht anhäufen, das zweitausendjährige und vielleicht unlösbare Problem des freien Willens zu lösen, während wir uns in mitunter byzantinischen
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und stets unendlichen Diskussionen über den „Grund“ des Strafrechts und über andere Probleme verlieren, die für den unmittelbaren und praktischen Zweck unserer Wissenschaft nur eine akzessorische Bedeutung besitzen, die wirklichen grundlegenden Rechtsprobleme mitunter dermaßen vernachlässigt werden, dass nur eine mühsame bibliographische Anstrengung manchmal auf ihre Spuren stößt. Ist denn z.B. ein Strafrecht möglich, ohne dass die Idee des Staates und seiner juristischen Persönlichkeit so geklärt, so selbstverständlich ist, wie es der Begriff des Rechtsfähigkeit im Bereich des Zivilrechts sein kann? Und doch könntet ihr bei unseren modernen Autoren noch seitenlange Ausführungen lesen, in denen die gekünstelte Annahme von der Gesellschaft als Organismus diskutiert wird, wenige Seiten hingegen, die sich mit dem Begriff des Staates und seiner Rechtsfähigkeit im Bereich des Strafrechts auseinandersetzen. Und mangelt es unserem modernen Strafrecht etwa nicht bis heute fast vollständig an jener Theorie der individuellen und staatlichen subjektiven öffentlichen Rechte, die im übrigen Bereich des öffentlichen Rechts geradezu selbstverständlich und auch für das Strafrecht als einen seiner Zweige so wesentlich ist? Und wie kann man denn eine dogmatische Rekonstruktion unseres positiven Strafrechts erhoffen, wenn sogar das fehlt, was die Voraussetzung jeder juristischen Konstruktion bildet, nämlich die Bestimmung der Rechtsverhältnisse, um die es in unserer Wissenschaft geht – deren Inhalt, deren Subjekte, deren Entstehung, Veränderung und Erlöschen? Ich würde den mir gesetzten Rahmen überschreiten, wenn ich auf die Ausleuchtung dieser für die Strafrechtsforschung so wesentlichen Punktes mehr als eine flüchtige Bemerkung verwenden würde. Ich muss aber wenigstens meine tief wurzelnde und grundsätzliche Überzeugung ausdrücken, dass eine wissenschaftliche Systematisierung unserer Disziplinen aus rechtlicher Sicht so lange nicht möglich sein wird, wie nicht geklärt ist, welches die Natur und welches die Eigenschaften der Rechtsverhältnisse sind, die im Bereich des materiellen Strafrechts zwischen Staat und Untertan, zwischen Staat und Straftäter, im Bereich des Strafprozessrechts zwischen Parteien und Richter, zwischen Partei und Partei bestehen. Die Rechtswissenschaft besitzt eigene Elemente, mit denen sie arbeitet und ohne die sie keine Untersuchung, so klein sie auch sein möge, durchzuführen in der Lage wäre. Diese Elemente sind Rechtsnormen, d.h. objektives Recht, es sind die subjektiven rechtlichen Pflichten und Rechte, d.h. die Rechtsverhältnisse, es sind die Personen, welche Träger von Rechten und Pflichten sein können, d.h. juristische Personen (Menschen oder Personengesamtheiten). Ohne diese Elemente gibt es keine Rechtswissenschaft und auch keine Strafrechtswissenschaft. Dass diese Wahrheit – eine wahrlich recht schlichte, aber deshalb nicht weniger wichtige Wahrheit – nicht immer verstanden und beachtet worden ist, hat dazu geführt, dass in den Bereich des Strafrechts heterogene politische und philosophische Begriffe und vor allem hinterhältige Spukgestalten der Anthropologie und fremde merkwürdige soziologische Figuren eingedrungen sind, welche sich auf der Bühne des Rechts bewegen und zur wachsenden Verzweiflung der Zuschauer die Sicht versperren. (3) Nach der Auslegung, nach der Dogmatik tritt als dritte Aufgabe die kritische Untersuchung hinzu, die letzte, über welche die Rechtswissenschaft verfügt. Auslegung und Dogmatik haben uns das System des geltenden Rechts kennenlernen lassen, haben uns das Recht, wie es kraft der Gesetze, welche uns regieren, aus-
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sieht, gezeigt; nunmehr tritt das Bedürfnis nach einer weiteren Art von Untersuchung auf, die auf die Kenntnis des Rechts, wie es ist, nichts gibt und sich selbst fragt, ob und wie weit es eine Notwendigkeit und eine Daseinsberechtigung besitzt und ob nicht gegebenenfalls an seine Stelle ein anderes Recht treten sollte. Dies ist die Untersuchung, welche die Bezeichnung kritisch trägt und die man auch die Suche nach der lex ferenda zu nennen pflegt. Diese Kritik kann sich bekanntlich in zweierlei Hinsicht ausdrücken. Indem sie sich auf Rechtsinstitute bezieht, welche das geltende Recht anerkennt und sanktioniert, kann sie den Ruf nach Reformen im Sinne einer Änderung oder gar einer Beseitigung ihrer Existenz erheben; sie kann aber auch, indem sie den Blick rückwärts durch die Geschichte oder seitwärts über das Recht anderer Nationen schweifen lässt, ihre Aufmerksamkeit auf Rechtsinstitute richten, denen das geltende positive Recht sich noch nicht verschrieben hat, und von dem neuen Recht deren gesetzliche Anerkennung fordern. Und so unterschiedlich wie die Arten sind, in denen sie sich ausdrückt, so unterschiedlich sind auch die Mittel, deren die kritische Untersuchung sich bedient. Das erste kritische System ist jenes, das seine Tätigkeit auf den Bereich des geltenden positiven Rechts begrenzt und, indem es mittels logischer Deduktion die Lehrsätze und die Ergänzungen des geltenden Rechts extrapoliert, Unausgewogenheiten, Widersprüchlichkeiten, Disharmonien im Recht, wie es ist, und seine praktische Unmöglichkeit zur Erreichung der vom Gesetzgeber gewollten gesellschaftlichen und politischen Zwecke aufweist. Diese Form der Kritik (die freilich nicht von allen anerkannt ist und nur von wenigen praktiziert wird) ist lebendiger Teil der dogmatischen Arbeit (so sehr, dass man sogar sagen kann, dass sie zu ihr gehört), als eine, welche die Regelung des künftigen Rechts aus dem tiefsten Innern des gegenwärtigen Rechts entnimmt; sie ist, kurz gesagt, die Kritik, welche aus den eigenen Prinzipien und aus der praktischen Anwendung des geltenden positiven Rechts die juristische Kritik ableitet. Im allgemeinen jedoch kann man ein Gesetz nicht auf der Grundlage der Prinzipien und des Systems des geltenden Rechts kritisieren, sondern nur auf der Grundlage von Wertungen gesellschaftlicher oder politischer Art. Beurteilung, Kritik und Reform des geltenden Strafrechts anhand dieser beiden genannten Aspekte, des gesellschaftlichen und des politischen, ist Aufgabe der Strafrechtsphilosophie und der Kriminalpolitik (besser gesagt, jenes Teils von ihr, den man als Strafrechtspolitik bezeichnen kann), die, aus der Sicht des Strafgesetzgebers argumentierend, uns eben sagen, welches auf der Grundlage von gesellschaftlichen Notwendigkeiten und politischer Zweckmäßigkeit die besten repressiven Mittel des Kampfes gegen die Kriminalität seien (Wissenschaft vom Strafrecht de lege ferenda, Wissenschaft bzw. Kunst der Strafgesetzgebung). Und hier ist eine grundsätzliche Bemerkung fällig. Um welche Art von Kritik es sich auch handeln mag, ob sie aus der Quelle logischer Erfordernisse des Systems und aus dem Bedürfnis praktischer Anwendung des positiven geltenden Rechts schöpft oder aus derjenigen der gesellschaftlichen Notwendigkeiten, der politischen Nützlichkeiten und Zweckmäßigkeiten – unerschütterliche Norm des Juristen muss stets diese bleiben: dass man auf dem bequemen Weg der Kritik nur über die heikle und schwierige Brücke der exegetischen Untersuchung und vor allem der dogmatischen und systematischen Untersuchung gehen kann. Die exege-
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tische und die dogmatische Untersuchung, miteinander vereinigt, wechselseitig angepasst, harmonisch betrieben, müssen uns darbieten und bieten uns dar, was das geltende positive Recht als solches ist und was es in den Grundsätzen, welche es bewegen, ist; zur Kritik überzugehen ist nicht erlaubt, bevor diese Untersuchungen vollständig und gewissenhaft ausgeschöpft sind, denn man kann nicht das kritisieren, was man zumindest wissenschaftlich noch nicht kennt. Dieses Vergnügen an der Gesetzeskritik ist wahrlich ein steriles Vergnügen. Wenn sie als ihre beste Frucht bloß die Gesetzesreform hervorbringt, wie weit entfernt ist dann deren Reife? Und die Gesetzeskritik ist nicht nur steril, sondern sehr häufig auch verhängnisvoll für die physiologische Entwicklung der Wissenschaft. An ihr liegt es, dass wir beschuldigt werden, dem Rechtscharakter unserer Wissenschaft so schwer geschadet zu haben. Denn in dieser philosophischen, moralischen, gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen, historischen und sogar biologischen und psychologischen Diskussion über Grundlagen, Rechtfertigung, Güte, allgemeine Nützlichkeit eines Rechtsinstituts erstickt und erstirbt seine juristische Untersuchung, wenn sie nicht sogar davon ausgeschlossen bleibt. Reden wir von der Strafe, so gibt es sogleich tausend Theoretiker, die ihre Ursprünge, ihre Aufgabe, ihre Grundlage, ihren Zweck, ihre Legitimation, ihre Reform und sogar – was merkwürdig erscheinen mag – die Möglichkeit ihrer Abschaffung diskutieren; und derweilen wird nicht einmal definiert, was die Strafe denn rechtlich sei. Reden wir von strafrechtlicher Verantwortlichkeit und befassen uns damit, ihre Wurzeln und ihre Rechtfertigung bis in die innersten Geheimnisse des menschlichen Seelenlebens zu verfolgen, schon gibt es einen Haufen von Theorien, die, bejahend oder verneinend, ihre psychologische Grundlage erforschen – von der Lehre vom freien Willen bis zu derjenigen des Determinismus; von derjenigen der relativen Freiheit des Willens bis zu derjenigen der Freiheit des Geistes, von derjenigen der Abschreckbarkeit bis zu derjenigen der Normalität; von derjenigen der persönlichen Identität und der gesellschaftlichen Ähnlichkeit bis zu derjenigen des individuellen Status der Kriminalität; und während dessen versäumt man, mit Präzision festzustellen, welches denn die subjektiven und objektiven Bedingungen sind, die das geltende Strafrecht aufstellt, damit man vom Staat für seine verbrecherischen Handlungen zur Verantwortung gezogen werden kann. Wir sprechen vom Verbrechen, und schon gibt es den, der es anthropologisch versteht als Ergebnis der individuellen Abweichung oder der Degeneration oder der Umwelt oder der Bastardisierung oder der Absorption von bestimmten besonderen Ptomainen (Leichengiften), die der lebende Mensch produziert hat, oder der Unterernährung des zentralen Nervensystems oder des zu hohen oder zu niedrigen Alters der Eltern oder der gehemmten Entwicklung des Arteriensystems oder als Auswirkung eines Virus, ähnlich einem Zorn-Virus usw., für jeden Geschmack etwas. Und dann gibt es den, der aus soziologischer Sicht das Verbrechen für ein normales und als solches gesellschaftlich nützliches Phänomen hält, oder für ein anormales, aber gesellschaftlich nutzbares. Und dann gibt es eine Anzahl von Untersuchungen über den Begriff des sog. natürlichen oder gesellschaftlichen Verbrechens, für das die merkwürdigsten und verschiedenartigsten Definitionen geliefert werden; doch unterdessen präzisiert man nicht einmal, was denn das Verbrechen überhaupt sei, oder besser, was es aus rechtlicher Sicht sei; und es verflüchtigt sich fast vollständig sein Begriff als eine rechtliche Erscheinung, als rechtlich verbotenes Handeln,
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aus dem Pflichten und Rechte hervorgehen. Noch mehr? Wir sprechen über den Verbrecher und wollen ihn in seiner inneren physischen und psychischen Struktur erforschen; und schon gibt es den, der ihn für einen zurückgebliebenen Wilden, für einen moralisch Irren, einen Epileptiker, einen Hysteriker, einen Neurastheniker hält, den, der ihn im Gegenteil für einen normalen Menschen, hingegen den ehrenhaften Menschen für anormal hält; und es gibt einen Blütenreichtum von Klassifizierungen und Unterklassifizierungen von Verbrechern; geborene Verbrecher, irre Verbrecher, Gelegenheitsverbrecher, Verbrecher aus Leidenschaft, Gewohnheitsverbrecher. Unterdessen aber lässt man den für das Recht höchst wesentlichen Gedanken der rechtlichen Persönlichkeit des Täters, der ein Bürger ist, auch wenn er beschuldigt und eventuell in einem Strafverfahren verurteilt wird, außer acht; man vergisst, dass derjenige, der als Verbrecher qualifiziert und sogar verurteilt ist, als Mitbürger vor und nach der Tat und innerhalb gewisser Grenzen sogar nach der Verurteilung die Garantie seiner Rechte und seiner rechtlichen Güter und Interessen besitzt, die seinen persönlichen Status und seine Vermögensverhältnisse bilden, ohne dass er von dem Genuss dieser Rechte und rechtlichen Interessen in irgendeiner Weise und a priori ausgeschlossen werden kann, da es, zumindest bis jetzt, unmöglich ist, eine sichere Diagnose über potentielle Delinquenz zu stellen, und da es wahrscheinlich für immer unmöglich sein wird, eine sichere Prognose der tatsächlichen Delinquenz zu stellen. Was ist das Resultat eines solchen Systems? Das Resultat ist, dass jene Rechtsbegriffe, die in anderen Rechtszweigen stets mit einer gewissen Objektivität ausgestattet erscheinen, im Strafrecht voller Mühe den unzertrennlichen und bedrückenden Sack von Diskussionen und Kontroversen anderer Wissenschaften hinter sich her schleppen, welche jene Begriffe in unbehebbare Zweifelsfragen verwickeln und sie in den praktischen Anwendungsfällen vielleicht dauerhaft in Zweifel ziehen. Das betrübliche Resultat ist, dass, während z.B. die Privatrechtswissenschaftler daran gegangen sind, die Prinzipien des Rechts ins Auge zu fassen und die Rechtsinstitute fast (ich benutze hier das schöne Bild von SAVIGNY und JHERING) als reale, bestehende, lebende Wesenheiten zu behandeln, den Strafrechtswissenschaftlern diese Begriffe als Hervorbringungen der Willkür oder der Phantasie des Gesetzgebers erscheinen; weshalb jene Klarheit, jene Sicherheit, jene fast mathematische Genauigkeit, welche das intellektuelle technische Bild des Privatrechtswissenschaftlers prägen, sich im Bereich des Strafrechts in Unsicherheit, in Dunkelheit und in Konfusion verwandeln. Wir haben gesehen, welches das Problem, die Aufgabe und die Sendung der Strafrechtswissenschaft sind, nämlich die wissenschaftliche Erkenntnis des geltenden positiven Rechts für dessen praktische Anwendung auf Einzelfälle. Wir haben aber auch gesehen, welches seine Methode ist, indem wir die Mittel, die technischen Verfahren bestimmt haben, die der Jurist anwenden muss, um wissenschaftlich das positive Recht zu erkennen. Damit die Frage der Methode vollständig behandelt ist, bleibt noch, in der gebotenen Kürze, einiges zu sagen über die Quellen, aus denen die Strafrechtswissenschaft bei dieser Untersuchung des geltenden Rechts schöpft. Die dogmatische und systematische Untersuchung der allgemeinen Grundsätze des Rechts in ihrer harmonischen und abgestimmten Einheit ist eine Untersuchung, die ihrer Natur nach eminent logisch und deduktiv ist, die
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jedoch gerade als solche sich sorgfältig davor hüten muss, sich in eine aprioristische, abstrakte und formale Untersuchung zu verwandeln. Um diesen Stolperstein des Formalismus zu umgehen, an dem häufig die Rechtswissenschaften straucheln, um zu vermeiden, dass die dogmatische Konstruktion der Institute und Rechtsbeziehungen auf mechanische Weise, bloß nach hermeneutischen Regeln, aus den geschriebenen Normen des Gesetzbuchs hergeleitet werden, um schließlich zu verhindern, dass die Rechtswissenschaft sich in ein akademisches Karussell von streng und mit einer gegenüber jeder Realität blinden Logik deduzierten Prinzipien verwandelt, muss die logische Deduktion sich innerhalb gewisser Grenzen um die experimentelle Induktion ergänzen und vervollständigen und von ihr Geist und Anstoß empfangen, um ein wissenschaftliches Verfahren hervorzubringen, das, dem Gesetz der fundamentalen Einheit der beiden Methoden folgend, zu Recht den Namen einer wirklich und uneingeschränkt positiven Methode verdient. Die Quellen, aus denen sich eine experimentelle Induktion speist, die als Mittel für die wissenschaftlichen Ziele des Strafrechts gelten kann, sind, wenn wir nicht fehl gehen, auf drei beschränkt: die Anthropologie (hier die Psychologie eingeschlossen) und Soziologie, die Geschichte und die Rechtsvergleichung; daraus ergeben sich drei Formen der Induktion: die anthropologische, psychologische und soziologische Induktion, die historische Induktion und die vergleichende Induktion. a) Die erste Art der Induktion ist jene, welche uns die den Menschen und die Gesellschaft erforschenden Wissenschaften anbieten. Recht ist nichts anderes als Norm für menschliches Verhalten, und als solche ist es zwangsläufig auch Form, ist es Superstruktur (oder mit der von einigen benutzten Bezeichnung Epiphänomen [Oberflächenerscheinung]) der menschlichen und gesellschaftlichen Erscheinungen, die unterhalb von ihm in ewigem Leben pochen). Jene vollständig zu erkennen ist daher nicht möglich, ohne zumindest elementare Kenntnisse von diesen zu besitzen; deshalb ist es für die Untersuchung der technischen Struktur eines Rechtsinstituts notwendig, dass die Untersuchung ihres Zwecks und ihrer sozialen Funktion hinzutritt; und daher ist es bis zu einem gewissen Punkt erforderlich, dass sich zur Kenntnis der Rechtsnorm die Kenntnis der Menschen und Tatsachen zugesellt, welche von dieser Norm beherrscht werden. Auf diese Weise, aber nur auf diese, kann sich die Rechtswissenschaft als Wissenschaft des logischen Denkens mit der Wissenschaft der experimentellen Beobachtung vermählen. Will somit das Strafrecht als Wissenschaft von den Rechtsnormen, welche jene „Verbrechen“ genannten menschlichen und gesellschaftlichen Fakten und jene „Strafen“ geheißenen gesellschaftlichen und politischen Fakten regeln, sich des Zwecks und der gesellschaftlichen Funktion der Normen, die es untersucht, bewusst bleiben, so muss es sich in gewissem Ausmaß Kenntnis des Menschen, der das Verbrechen begeht und gegen den die Strafe verhängt wird, und der Umwelt, in dem das Verbrechen begangen wird und in das hinein die Strafe ihre Wirkungen entfalten soll, aneignen; es muss m.a.W. innerhalb gewisser Grenzen Kenntnis besitzen vom Verbrechen als natürliche, individuelle und gesellschaftliche Erscheinung und von der Strafe als gesellschaftliche Erscheinung; es muss aus den Daten schöpfen, die heute jene neuen Wissenschaften, als da sind Kriminalanthropologie (Somatologie und Psychologie) und Kriminalsoziologie, anbieten. Und weil das Strafrecht nicht nur die Funktion besitzt, mittels der Strafe der gegen das Recht selbst sich auflehnenden menschlichen Tätigkeit Einhalt zu gebieten,
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sondern zugleich auch, die rechtlich erlaubte Tätigkeit zu schützen, weil es sich nicht nur an jene wendet, die von Natur aus zu Verbrechen neigen, sondern auch an die Bürger, die von Natur aus den Gesetzen gehorchen, so bedarf es des weiteren, wenn auch nur subsidiär, der Kenntnis über die Menschen und die Gesellschaft im allgemeinen, um die psychologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen zu verstehen, die das Verbrechen und die Strafe in ihr hervorrufen, was allerdings Aufgabe der Psychologie und der Soziologie, der allgemeinen wie der Kriminalanthropologie und -soziologie, ist. Eine der besonderen Eigenschaften des heutigen wissenschaftlichen Elements des Strafrechts besteht, wie bemerkt, gerade in dem festgestellten Bedürfnis eines harmonischen und effektiven Zusammenwirkens der Strafrechtswissenschaft insbesondere mit den bislang durchgeführten Untersuchungen über den verbrecherischen Menschen und über das Verbrechen als gesellschaftliche Erscheinung. Die Strafrechtswissenschaft muss sich – allerdings unter sorgsamer Bewahrung ihres wesensmäßigen Charakters als Rechtswissenschaft – nahe am Leben halten und von ihm Kraft und Nahrung beziehen; denn das System des geltenden Strafrechts – das nicht bloß ein System von Befehlen und von hypothetischen Maximen, sondern auch ein System der menschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen ist – kann nicht verstanden werden und es ist vor allem nicht möglich, das künftige System des Kriminalrechts vorzubereiten, ohne dass man im Besitz der Faktoren anthropologischer, psychologischer und gesellschaftlicher Art ist, welche bei der Herausbildung des ersteren zusammengewirkt haben und bei der Herausbildung des letzteren zusammenwirken werden, ohne das menschliche und gesellschaftliche Umfeld zu kennen, in dem die Normen des Strafrechts vorhanden sind und in dem sie vorhanden sein werden. Gewiss, unter den kriminalanthropologischen, kriminalpsychologischen und kriminalsoziologischen Untersuchungen sind die sicheren Resultate sehr rar; häufig, allzu häufig zu unserem Unglück, werden im Namen der experimentellen Wissenschaft phantastische und von jeder realen Grundlage weit entfernte Theorien verkündet; doch indem wir alles, was es in ihnen an Falschem und Übertriebenem gibt, zurückweisen, ja allem entschieden Gastrecht verweigern, was in ihnen nicht wirklich durch die positive Kontrolle der Fakten bewiesen ist, müssen wir doch im Schoße der Rechtswissenschaft als notwendige Voraussetzungen der Wissenschaft selbst, jene praktischen Wahrheiten aufnehmen, auch wenn sie zahlenmäßig begrenzt sind, welche Beobachtung und Experiment uns zweifelsfrei als solche bezeichnen. Zu untersuchen, welches im einzelnen die Ergebnisse eines solchen Zusammenwirkens, auch nur in wesentlichen Punkten unserer Wissenschaft, sind, würde die Prüfung der gesamten Wissenschaft selbst einschließen, was zu unternehmen zweifellos hier nicht der Ort ist; aber unter Beschränkung auf eine schlichte Bemerkung werden wir sagen, dass die Kriminalanthropologie, noch nicht als Anatomie oder als Physiologie, wohl aber als Kriminalpsychologie und mehr noch als Kriminalpsychopathologie, uns eine Hilfe sein könnte, vor allem wegen der technischen Bestimmung der allgemeinen Rechtsgrundsätze der Zurechenbarkeit und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit sowie der Strafausschließungs- und -begrenzungsgründe zum Zwecke der gerichtlichen Anwendung des geltenden Rechts, und die Kriminalsoziologie kann hilfsweise bei der Bestimmung der Rechtsbegriffe der Straftat und der Strafe im allgemeinen sowie der einzelnen
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Straftaten im besonderen herangezogen werden. Obgleich es uns hier nicht möglich ist, zu allzu speziellen Erörterungen überzugehen, ist es uns doch gestattet, ja wir sind verpflichtet, eine Bemerkung genereller und methodischer Art anzubringen, die der Bestätigung von Begriffen gilt, die bereits genannt wurden. Die erklärte Notwendigkeit, dass die Strafrechtswissenschaft ihre Lehren in den reinen Wässern des Naturrechts und seines positiven Wissens erneuern müsse, um an die Stelle abstrakter Hypothesen eine gründliche Untersuchung der Fakten zu setzen, darf sie nicht dahin führen, den Bereich zu verlassen, der ihr naturgemäß und streng von ihrer Eigenschaft als Rechtswissenschaft zugewiesen ist. Die Strafrechtswissenschaft darf von der Kriminalanthropologie, von der Kriminalpsychologie und von der Kriminalsoziologie nicht mehr übernehmen als nur die positiven Daten ihrer Rechtskonstruktionen, denn es ist natürlich, dass auch komplexe und schwierige Elemente einer Wissenschaft einfache „Daten“ oder „Voraussetzungen“ einer anderen Wissenschaften nicht nur sein dürfen, sondern auch sein müssen. Die eindringliche Untersuchung der Wirklichkeit des natürlichen und gesellschaftlichen Lebens, aus dem das Kriminalrecht erwächst, wenn sie ernsthaft und geduldig durchgeführt wird und wenn sie sich in ihrem natürlichen und legitimen Grenzen hält, ist ebenfalls einer der Faktoren einer blühenden Existenz der Strafrechtswissenschaft. Dank der, wenn auch nur subsidiären und komplementären, Untersuchung der Fakten als solcher, in ihren Ursachen, in ihren Auswirkungen, in den großen soziologischen Gesetzen, welche sie regieren, dank der, wenn auch nur hilfsweisen, Untersuchung der Menschen in ihren Organismen, in ihren Krankheiten, in ihren Vorstellungen, in ihren Empfindungen, in ihren Willensäußerungen und in ihrer Umwelt geht die technische Kenntnis der rechtlichen Regelung des Verbrechens und der Strafe, wenn auch in den strengen Grenzen der Rechtswissenschaft verbleibend und verbleiben müssend, beseelt und belebt wie von einem Lebenshauch hervor. Auf diese Weise gelingt es der wissenschaftlichen Konstruktion des geltenden Rechts, das Gesetz in seinen trockenen und kalten Formeln, aus denen es besteht, organisch zu ergänzen, seine formalen und oberflächlichen Normen zu beleben. Auf diese Weise nähren insbesondere die Strafrechtsphilosophie und die Kriminalpolitik die Keime der Gesetzesreformen, indem sie gleichsam das Werk des Gesetzgebers vorwegnehmen, dem nichts anderes bleibt, als das Siegel der staatlichen Autorität auf die Ergebnisse, welche diese Wissenschaft durch die unverfälschte Beobachtung der Fakten erzielt hat, zu drücken. Auf diese Weise, durch langsame und schrittweise Transformation, ohne Auflösung der Kontinuität in der Rechtsentwicklung verwandelt sich, gleich der männlichen Biene, die in dem Moment stirbt, in dem sie zeugt, normalerweise das ethische Gebot oder die politische Regel in ein Gebot des geltenden Rechts. b) Zu der anthropologischen, psychologischen und soziologischen Induktion treten die historische und die vergleichende Induktion hinzu. Ich will nun nicht wiederholen, auf welche Weise die Geschichte des Strafrechts eine Quelle der wissenschaftlichen Kenntnis des geltenden Strafrechts werden könnte, und ob sie auch die großen Linien des Weges, auf dem sich notwendigerweise das zukünftige Strafrecht bewegen muss, bezeichnen soll. Ich habe auch nicht die Absicht, zu erklären, wie es, indem man den historischen Entwicklungsweg der strafrechtli-
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chen Institute verfolgt, sehr oft gelingen kann, durch einen Nebel dunkler Begriffe hindurch ihre klare Gestalt im gegenwärtigen Recht zu entdecken. Es ist das glorreiche Verdienst der eben darum historische Rechtsschule genannten Schule, die uns wie eine Form der Anwendung der induktiven Methode auf die Rechtswissenschaften erscheint, dass sie diese Wahrheiten nachgewiesen hat, bei denen sich weiter aufzuhalten daher auch überflüssig ist. c) Was die historische Erforschung des Strafrechts in der Ordnung der Aufeinanderfolge tut, vollzieht die Vergleichende Strafrechtswissenschaft in der Ordnung der Gleichzeitigkeit. Auch sie ist eine außerordentlich wichtige Erkenntnisquelle für die wissenschaftliche Kenntnis des Strafrechts, sie bildet damit ein wirksames Hilfsmittel sowohl für die Untersuchung, die wir die dogmatische genannt haben, als auch für diejenige die wir die kritische nennen. Vor allem in dieser letzteren erweitert sie den Horizont der wissenschaftlichen Vorstellungen über die Grenzen des Staates und des nationalen Rechts hinaus und ermittelt die Modelle, aus denen die Gesetzesreformen geformt werden, die aus dem vergangenen Erfahrungen anderer Nutzen ziehen wollen. Doch in der dogmatischen Konstruktion des geltenden Strafrechts wie auch in seiner kritischen muss seine Verwendung stets mit Vorsicht erfolgen¸ es muss der verbreitete Missbrauch seiner Anwendung als bloßer Pomp einer leicht erworbenen Bildung vermieden werden, bei dem in langer Reihe nach Art von Lehrautoritäten zitiert wird; und es darf nicht vergessen werden, dass in der wissenschaftlichen Kenntnis unseres Rechts man sich auf diejenigen ausländischen Rechte berufen kann, deren allgemeines System dem unseren in seinen typischen und grundlegenden Zügen nahe steht; und auch auf diese nur dort, wo man den Bedarf einer Schließung von Lücken der italienischen Gesetze dartut. So schreitet die Strafrechtswissenschaft auf der Grundlage der Wahrheit und der inneren Natur der individuellen und gesellschaftlichen Tatsachen in Begleitung der Geschichte und der Vergleichung des Rechts der zivilisierten Völker sicher voran. Dies sind die Quellen der „wissenschaftlichen Kenntnis“ des Rechts, nicht etwa des Rechts, wie es von einigen im Hinblick auf die erste von ihnen ungenau gesagt worden ist. Bei einem solchen Verständnis ist das bisher so brennende Problem der Beziehungen zwischen der Strafrechtswissenschaft und der Kriminalanthropologie, der Kriminalpsychologie und der Kriminalsoziologie in helles Licht gerückt: die Strafrechtswissenschaft bedient sich für ihre Rechtskonstruktionen der anthropologischen, der psychologischen und der soziologischen Induktion als ihr Mittel, als ihre Gegebenheit und Voraussetzung in derselben Weise, in der es sich auch der Geschichte und der Vergleichung bedient; sie ist aber so wenig Anthropologie, Psychologie oder Soziologie wie sie Geschichte oder Rechtsvergleichung ist. Damit bin ich am Ende und habe mein Ziel erreicht. Eine jede Krise in der Wissenschaft wie im Leben ist als solche schon fähig, eine bessere Zukunft für die Kultur vorzubereiten, ist Ausgangspunkt für das Erreichen einer immer klareren Kenntnis der vielfältigen und komplexen Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen. Der Kampf ist ein Gesetz des Lebens; und nur aus dem Aufeinanderprallen unterschiedlicher Auffassungen, die aufrichtig im Namen der Gedankenfreiheit miteinander kämpfen, machtvoll die bewusste Kraft
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der Idee in der Welt der Dinge vertretend, kann der Funke der neuen wissenschaftlichen Wahrheit oder auch nur der neuen Bestimmung alter Wahrheiten sich entzünden. So entsteht heute im Bereich des Strafrechts nach einer langsamen Aktion und einer heftigen Reaktion die Neigung zu einem Gleichgewicht, und in Befolgung des Gesetzes, das aus dem Kampf das Leben hervorgehen lässt, aus dem Streit den Fortschritt, fühlt man heute den Augenblick nahe, in dem aus dem großen Zweikampf zwischen Geist und Materie, zwischen Idee und Wirklichkeit wie eine Resultante von entgegengesetzten und widerstrebenden Kräften der gesunde Fortschritt der Rechtswissenschaft hervorgeht. Aus dem alten, aber noch lebensfähigen Stamm der klassischen Strafrechtswissenschaft, der von den toten Blättern der metaempirischen Philosophie des Kriminalrechts entlaubt ist, gegen die stets eindringenden und mitunter verschmutzten Bäche der Kriminalanthropologie, der Kriminalpsychologie und der Kriminalsoziologie verteidigt wird, vor den wechselnden und tückischen Winden der reformerischen Kriminalpolitik geschützt wird, von der wohltätigen Lymphe des Rechtstechnizismus gestärkt und neu begrünt wird und durch den Kontakt mit den anderen kräftigeren Zweigen der Rechtswissenschaft gestützt wird, müssen die wissenschaftlichen Triebe aufgesetzt werden, die nicht verkümmert, sondern im Klima der neuen Zeiten kräftig gewachsen sind. Hoc opus, hic labor est.
Giuseppe Maggiore (1882–1954) Grundbegriffe des Strafrechts. Allgemeiner Teil (Principi di diritto penale. Parte generale) (1932) Erster Teil: Das Strafrecht [...] [30] 2. Kapitel: Die Strafrechtswissenschaft Begriff der Rechtswissenschaft 1. Die Untersuchung des Rechts als Ordnung von Befehlen findet seine Ergänzung in der Untersuchung des Rechts als Ordnung von Begriffen – eben als eine Wissenschaft. Die Wissenschaft vom Recht ist allgemein gesagt das, was die Römer Jurisprudenz genannt haben. Heute bezeichnet dieser Begriff speziell die richterliche Interpretation (Stylus curiae), die von der gelehrten Interpretation zu unterscheiden ist (communis opinio doctorum). Nach seiner Etymologie (prudentia iuris) ist der Begriff aber noch umfassender: er umfasst die gesamte Wissenschaft des positiven Rechts. Die Definition des Ulpian (iuris prudentia est divinarum ac humanarum rerum notitia iusti atque iniusti scientia) ist noch heute lebendig, man muss nur die Erkenntnisfunktion für die göttlichen Dinge abzieht. Das ius sacrum, das in Rom ein Zweig des öffentlichen Rechts war, gehört heute zur Jurisprudenz der Religion. Und wenn es wahr ist, dass dem Recht die moralische Ordnung und die göttliche Ordnung zugrunde liegen, so ist doch nicht weniger wahr, dass die Rechtsordnung ein Eigenleben führt, indem sie nur einen zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten gelegenen Bereich besetzt (iusti atque iniusti scientia). Die technisch-dogmatische Methode und ihre theoretische Bedeutung 2. Die Jurisprudenz ist alt: das Nachdenken über ihr theoretisches Vorgehen taucht im modernen Zeitalter auf. Es fällt zusammen mit dem Aufblühen der historischen Schule [31] im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts. Indem diese Schule die Pfade des Naturrechts verließ, verzichtete sie auf jede philosophische Kritik des geltenden Rechts, auf jede Erforschung eines idealen Rechts und auf alle Vorschläge für ein neues Recht und räumte dem positiven und historischen Recht den ersten Rang ein, indem sie ihre Forschungstätigkeit auf die Definition, Klassifikation und Systematisierung der in den Gesetzen schlummernden Rechtsbegriffe konzentrierte. Savigny, nach ihm Hugo, legte das außergewöhnliche logisch-systematische Gerüst, das dem römischen Recht innewohnte, frei, indem er aus dem historischen Inhalt den formalen juristischen Aspekt des Rechtsverhältnisses herausarbeitete. Jhering lieferte etwas später die perfekteste Theorie des Rechtstechnizismus, inE. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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dem er eine höhere Jurisprudenz von einer niederen Jurisprudenz unterschied; niedere Jurisprudenz ist die exegetische – also jene, die, nach dem Vorbild der Glossatoren, durch Erläuterung der einzelnen Rechtsregeln vorgeht; höhere Jurisprudenz ist jene, die neben dem Gesetz auch auf das Recht schaut und daher vom Buchstaben des Gesetzes aus auf die logische Konstruktion des Rechtsinstituts und des Systems zurückgeht. Heute stellt sich das logische Vorgehen der Jurisprudenz nach dem Ergebnis sorgfältiger Untersuchungen ziemlich klar dar. Ihre Methode ist die der Abstraktion (Konzentration) und die der Deduktion (Klassifikation). Ausgangspunkt der dogmatischen Konstruktion des Rechts ist die Norm. Jede Norm ist ein Begriff, der in eine Definition umgewandelt werden kann: viele Normen sind nämlich nichts anderes als eine andere Form der Definition [...]. Definitionsnormen sind auch alle Strafrechtsnormen, die, indem sie bestimmte Handlungen für strafbar erklären, zugleich mit der Strafdrohung eine rechtliche Definition der betreffenden Straftat aufstellen. Werden aus einer Gruppe von Normen einer bestimmten Art die gemeinsamen Merkmale abstrahiert und können diese auf einen einzigen Begriff zurückgeführt werden, so hat man es mit einem Rechtsinstitut zu tun. Das Institut des Eigentums ist nichts anderes als die „Konzentration“ aller Normen, die sich mit den Herrschaftsverhältnissen befassen, in einem einzigen Begriff; das Institut der Beteiligung an einer Straftat ist die Reduzierung aller möglichen Formen der Beteiligung von Personen an derselben Straftat und der dafür einschlägigen Normen zu einer Einheit. [32] Werden Rechtsinstitute in einer höheren und weiteren Einheit konzentriert, die ihre gemeinsamen Elemente umfasst, so hat man es mit einem System zu tun; es bildet den höheren Grad der rechtslogischen Abstraktion. Systeme sind das Eigentumsrecht, das Obligationenrecht usw. im Privatrecht; Systeme höherer Ordnung wiederum sind das Zivilrecht, das Handelsrecht, das Verwaltungsrecht, das Strafrecht usw. und schließlich auch das Privatrecht und das öffentliche Recht. Letztlich konzentriert die Arbeit der Jurisprudenz sich nach der Herausbildung der Begriffe auf die hierarchische Ordnung dieser Begriffe in der Weise, dass die weniger allgemeinen Schritt für Schritt zu allgemeineren konzentriert werden. Dieses Verfahren – das dem Verfahren der Klassifikation in den Naturwissenschaften nachgebildet ist – ist die Konstruktion des Juristen. Wie der Naturwissenschaftler den Löwen in die Familie der Katzen, in die Ordnung der Säugetiere, in die Klasse der Wirbeltiere und in das Reich der Tiere klassifiziert, so „konstruiert“ der Jurist das Pfandrecht, indem er es den Begriffen des Rechts der Sicherungen, des ius in re aliena, des ius in re, des Vermögensrechts, des Privatrechts und des subjektiven Rechts zuordnet. In gleicher Weise kann man, wie wir meinen, den Begriff des Vorbedachts rechtlich konstruieren. Man muss ihn auf die Fälle der subjektiven Tatumstände, der Straferschwerungsgründe, der circumstantiae (d.h. der nichtwesentlichen Elemente), auf die Elemente der Straftat, auf die Straftat und auf das Unrecht reduzieren.
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Auf diese Weise ist der Vorbedacht als Rechtsinstitut in das Strafrechtssystem eingebaut. Nachdem auf diese Weise die Aufgabe der Jurisprudenz als ein Definieren, ein Klassifizieren und ein Systematisieren dargetan ist, sind ihre Bedeutung und ihre Grenzen klar. Die Jurisprudenz hat eine mehr praktische als theoretische Funktion: Sie gibt keine Antwort auf die Frage nach der Wahrheit, sondern auf die Frage nach der Notwendigkeit: die Notwendigkeit, den ganzen ungeheuren Haufen von Rechtsnormen durch Ordnung und Systematisierung zu beherrschen. Es geht ihr weniger darum, das, was ist, zu erklären, als darum, das, was sein soll, zu bestimmen; sie ist also – um es mit Vico zu sagen – mehr eine Wissenschaft der Sicherheit und der Autorität als eine solche der Wahrheit und der Geschichte. Daher überwiegt in ihr das konventionelle und fiktive Element das historische und philosophische Element. Das Element der Konvention [33] und der Fiktion besitzt in den Konstruktionen der Jurisprudenz ein enormes Gewicht. Diese wirkt regelmäßig nicht in der Weise, in der eine Sache wahr „ist“, sondern so, „als ob“ sie wahr sei. Das Recht setzt das, was entschieden ist, als wahr, die gesetzte Rechtsordnung als ausschließliche Rechtsordnung behandelt den Kranken und den Geistesschwachen nicht deshalb als zurechnungsunfähig, weil es hier und dort um Wahrheiten geht, sondern weil es sich um unabdingbare Grundsätze seiner Existenz in einem gegebenen historischen Moment handelt. So wandelt es die Fiktionen in Dogmen um. Dogmen bilden Bezugspunkte, festgelegte Linien, gleichsam feste Gitternetze, welche die rechtliche Wirklichkeit in ihrem historischen Werden abbilden. Das streng symmetrische Muster der formalen Logik gewinnt das Übergewicht über die flüssige Bewegung des Rechtslebens und steuert diese, damit das Recht Bestimmtheit und Sicherheit besitzt. Doch die Herrschaft der Dogmen darf nicht zu einer Tyrannei entarten und bis zu dem Punkt hin drängen, wo sie die Geschichte abtötet und austrocknet statt einfach die Dämme und Rinnen zu bestimmen, in denen diese fließen soll. Und die Dogmatik, die sich dem Furor der Abstraktion, der Schematisierung und der Klassifizierung hingibt, läuft Gefahr, die Brücken zum Leben zu zerstören, wenn sie mit diesem in offenen Widerspruch tritt. Dies muss vermieden werden. Die Jurisprudenz darf nur nach der technischen und dogmatischen Methode vorgehen; doch diese findet ihr Maß und ihre Grenze in ihrer eigenen Natur. Rechtsphilosophie und Strafrecht 3. Wenn die nach der dogmatischen Methode konstruierte Jurisprudenz eine Grenze hat, dann ist es legitim zu fragen, was denn jenseits dieser Grenze liege. Was ist also, kurz gesagt, die höchste Erkenntnisform der Jurisprudenz? Die sogenannte Allgemeine Rechtslehre kann es nicht sein, denn sie bewegt sich auf derselben Erkenntnisebene wie die Jurisprudenz. Was macht die Jurisprudenz? Durch die Methode des Abstrahierens, also durch das Fortschreiten von Generalisierungen zu immer weiteren Generalisierungen, steigt sie von der Norm zum Rechtsinstitut empor, vom Rechtsinstitut zum System. Hier endet ihre Kompetenz, welche niemals den Bereich des positiven Rechts gänzlich verlässt.
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Doch dieses Werk der Abstraktion und Generalisierung kann von einer anderen Wissenschaft aufgegriffen werden, welche die Begriffe enthüllt, die allen Zweigen des Rechts gemeinsam sind, und systematisiert sie in einer umfassenden Einheit, die [34] jegliche Einzelheit des positiven Rechts zwar in sich einschließt, jedoch transzendiert. Dies ist die Allgemeine Rechtslehre (Scienza generale del diritto, General Jurisprudence). Nun ist aber diese Lehre, so nützlich sie zweifellos ist, nichts anderes als eine potenzierte Jurisprudenz. Sie errichtet ein System jenseits von deren System, jedoch mit derselben Methode und demselben Vorgehen. Beide arbeiten mit bereits herausgebildeten, zu Dogmen kristallisierten Begriffen, sie analysieren, klassifizieren und vereinheitlichen. Doch oberhalb einer Wissenschaft der bereits herausgebildeten Begriffe gibt es eine Wissenschaft der Begriffe in der Herausbildung, eine Wissenschaft, welche das Recht nicht in der endgültigen Form der Norm reflektiert, sondern sie in ihrem sachlichen Entstehen erfasst, in ihrem Unterschied zur moralischen und zur göttlichen Ordnung. Diese Wissenschaft ist die Rechtsphilosophie. Zwischen der Rechtsphilosophie und der Jurisprudenz besteht – wie Vico es genial erfasst hat – das Verhältnis von Wahrheit und Gewissheit des Rechts, die erstere aus der Vernunft, die letztere aus der Autorität hergeleitet. Wie aber das Gewisse ins Wahre zurückfließt, wie das positive Recht sich innerhalb des idealen Rechts bewegt, das seine Matrix bildet, so quillt die Jurisprudenz aus der Philosophie und kehrt immer wieder zu ihr zurück. Ohne die Philosophie, die das Recht und die einzelnen Rechtsbegriffe in ihrer Konkretheit definiert, die als höchster Maßstab der Kritik fungiert, indem sie dem positiven Recht sein ideales „Seinsollen“ vorschreibt, bleibt die Jurisprudenz eine Wissenschaft, die sich im Leeren ausbreitet. Diese Einwirkung der Philosophie auf die Jurisprudenz erscheint ganz besonders auffällig im Bereich des Strafrechts, wo die Begriffe von Verbrechen, Strafe, Zurechenbarkeit, Fahrlässigkeit, Vorsatz, Handlung, Kausalität, Freiheit, Normalität, Irrtum usw. philosophische Begriffe sind, noch bevor sie zu rechtlichen Kategorien werden. Falls man sie im Bereich des reinen Rechts isolieren will, muss man die Juristen mit Manzoni daran erinnern, dass „die Philosophie das Haus betritt, ohne eingeladen zu sein“. Kriminalpolitik 4. Philosophische Wissenschaft – man kann sogar sagen: die Rechtsphilosophie in Wirksamkeit – ist die Kriminalpolitik. Von allen vorgeschlagenen Definitionen [35] der Kriminalpolitik ist keine genauer als diejenige von Carmignani, der eine Kriminaljurisprudenz, d.h. eine Wissenschaft von den bereits erlassenen Gesetzen bzw. dem bereits errichteten Strafrecht von einer Kriminalpolizei unterscheidet. Dies ist die Wissenschaft vom Politischen Strafrecht bzw. von dem noch zu erlassenden Strafrecht – mit einem Wort: die Wissenschaft von der Strafgesetzgebung. Vor allem ist es jene Wissenschaft, die, indem sie das geltende Recht unter dem Gesichtspunkt eines höheren idealen Rechts der Kritik unterwirft, dessen Mängel und Lücken entdeckt und den Gesetzgeber auf wünschenswerte Reformen hin-
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weist, um das Recht in größerem Ausmaß an die Erfordernisse der Repression und der Prävention anzupassen. Da nun aber gerade dies – die Untersuchung des Rechts in seinem Werden und im Hinblick darauf, wie es sein soll – die Aufgabe der Rechtsphilosophie ist, lässt sich nicht leugnen, dass die Kriminalpolitik eine philosophische Wissenschaft ist. Die Reduktion der Kriminalpolitik auf die Strafrechtsphilosophie könnte Widerspruch herausfordern und hat solchen auch dort gefunden, wo die Kriminalpolitik als eine Praxis, eine Kunst, eine Gesetzgebungstechnik verstanden wird – oder doch als eine Wissenschaft vom Zweckmäßigen und Nützlichen, d.h. von Mitteln für Zwecke; dort, wo die Philosophie eine Wissenschaft von allgemeinen Werten ist. Doch weder ist die Philosophie eine bloß intellektuelle Weltbetrachtung ohne Einfluss auf das Handeln, noch ist die Politik – als herausragende Form praktischer Tätigkeit – so beschaffen, dass sie nicht mit einer mehr oder weniger einheitlichen Sicht der Wirklichkeit befasst wäre. Es ist nicht möglich, „Politik“ zu betreiben, d.h. Mittel zur Verfolgung eines Zieles auszuwählen, ohne eine umfassende Vorstellung vom Reich der Zwecke und von der universellen Ordnung der Welt zu haben. Man diskutiert beispielsweise darüber, ob die Todesstrafe eingeführt werden soll oder nicht. Aber wie soll man dieses Problem der Kriminalpolitik lösen, ohne sich an dieser oder an jener Vorstellung über die Begriffe von Person, Staat, Pflicht und Recht, Zweck und moralischer und religiöser Ordnung auszurichten? Und haben nicht die größten Autoren des Kriminalrechts, angefangen bei Beccaria, ausdrücklich oder implizit eben ein philosophisches System entwickelt? Des weiteren wird gefragt, ob die Kriminalpolitik als Rechtswissenschaft angesehen werden solle, ob sie also am Strafrecht im eigentlichen Sinne teilhaben oder sich außerhalb seiner halten solle. Die Antwort ist in dem bereits Ausgeführten enthalten. Wenn die Jurisprudenz sich zur Philosophie so verhält, wie die Wissenschaft von den bereits herausgebildeten Begriffen zu den in der Herausbildung befindlichen Begriffen, so verhält die Kriminalpolitik [36] sich zum Strafrecht so, wie die Wissenschaft vom ius constituendum zur Wissenschaft vom ius constitutum. Die Kriminalpolitik ist daher Rechtswissenschaft, doch mit dem selben Recht, mit dem die die Wissenschaft vom idealen Recht eine Rechtswissenschaft im Verhältnis zur Wissenschaft vom positiven Recht ist. Diese beiden Aspekte juristischer Tätigkeit gleichzusetzen, ist ein Irrtum; sie aber zu trennen, ist eine Torheit. Daher kommt es, dass die Kriminalpolitik sich unweigerlich mit der technisch-dogmatischen Wissenschaft vom Recht überschneidet. Man kann, so viel man will, dem Juristen empfehlen, das geltende Recht anzuwenden; er wird doch niemals der Versuchung widerstehen, die Gesetze zu kritisieren, indem er dem Gesetzgeber seine Fehler vorhält und, gebeten oder ungebeten, am Reformwerk teilnimmt. Die nicht juristischen Hilfswissenschaften 5. Ist die Kriminalpolitik eine das Strafrecht ergänzende Wissenschaft und damit im weiteren Sinne eine Rechtswissenschaft, so sind Hilfswissenschaften diejeni-
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gen, welche die Phänomene „Verbrechen“ und „Strafe“ naturwissenschaftlich oder mathematisch untersuchen. Es handelt sich um die Kriminalanthropologie, welche die individuellen organischen und biologischen Faktoren des Verbrechens (Degeneration, Epilepsie, endokrine Störungen etc.) untersucht, wobei sie den Verbrecher auf naturwissenschaftliche Weise als anormale Erscheinungsform des normalen Menschen betrachtet; die Kriminalpsychologie, welche die psychischen Prozesse pathologischer Art, wie sie dem verbrecherischen Menschen eigen sind, beschreibt und klassifiziert, die Kriminalstatistik, welche die zahlenmäßigen Veränderungen und Konstanten des jeweiligen Delikts, das sie als ein gesellschaftliches Phänomen betrachtet, bestimmt; die Psychiatrie, welche die abweichenden Erscheinungsformen des menschlichen Verstandes primärer und sekundärer Art als Verbrechensursachen untersucht, und die Kriminalsoziologie, welche die gesellschaftlichen Faktoren der Delinquenz in ihrem Verhältnis zum Klima, zur Rasse, zur Kultur zur Bildung, zum Pauperismus usw. untersucht. Diese Wissenschaften sind so wenig Rechtswissenschaften wie sie Moralwissenschaften sind, denn sie sehen im Verbrechen nur die Mechanik der natürlichen Kräfte am Werk, welche von außen her wirken, und bei der Untersuchung dieser Mechanik verzichten sie auf jegliche Bewertung geistiger Art. Richtig ist freilich, dass wir gezeigt haben, dass auch in den Rechtswissenschaften die naturwissenschaftliche Methode der Klassifikation Anwendung findet; doch dieses Vorgehen ändert nichts daran, dass die Jurisprudenz immer noch in herausragender Weise eine Wissenschaft von Normen und Werten ist; dies aber kommt [37] in den Wissenschaften mathematisch-naturwissenschaftlicher Art nicht vor. Dieser Wesensunterschied bewirkt, dass so beschaffene Wissenschaften im Verhältnis zur Jurisprudenz in einer untergeordneten Stellung und in einem sozusagen dienenden Verhältnis verharren. Nichts ist unvernünftiger, als sie dadurch überzubewerten, dass man sie der Bedeutung nach auf eine Ebene mit dem Strafrecht stellt. Dies ist insbesondere mit der Soziologie geschehen, die der Positivismus im ersten Furor seiner Jugendlichkeit in seinen Träumen sogar an die Stelle eines vom Sockel gestürzten Strafrechts glaubte setzen zu können. Es war nur ein Traum, und zwar ein böser Traum. Heute ist jedermann davon überzeugt, dass Strafrecht und Kriminalsoziologie heterogene Erscheinungen sind. Und was Charakter und Tragweite der Erkenntnisse dieser Disziplin angeht, ist man weit von irgendeiner Einigung entfernt. Ohne die allgemeine Soziologie einer Leistungsprüfung unterwerfen zu wollen (denn dies würde eine Naturgeschichte der menschlichen Gesellschaft, untersucht an ihren Gesetzen, erfordern, während die Tatsache des Zusammenschlusses ein geistiges und moralisches Faktum ist, das sich einer naturwissenschaftlichen Bewertung entzieht), ohne auch die Berechtigung einer solchen Wissenschaft in Frage stellen zu wollen, ist doch leicht zu erweisen, dass heutzutage die Kriminalsoziologie noch eine rechte Symbiose ist, ein Vielerlei von vielfältigen Wissenschaften, nicht aber eine selbständige Wissenschaft. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur den Blick auf die Definition zu richten, die Ferri von ihr gibt, wenn er sagt, sie sei „die Wissenschaft von der Kriminalität und von der sozialen Verteidigung gegen diese, d.h. die wissenschaftliche Untersuchung des
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Verbrechens als individuelle Tatsache (physisch-psychische Bedingungen des Verbrechers) und als soziale Tatsache (Bedingungen der physischen und sozialen Umwelt) zwecks Systematisierung der präventiven und repressiven Verteidigung“. Damit umfasst sie Anthropologie, Psychologie, Psychopathologie, Kriminalstatistik, monographische Untersuchungen, ethnographische Vergleiche, Substitute zum Strafrecht, Sicherheitspolizei, Recht, Strafverfahren, Strafvollzugstechnik und Einrichtungen für die Zeit nach der Entlassung! Von dieser Elefantiasis aufgeschreckt hat Grispigni versucht, den Kreis der solchermaßen ausufernden Wissenschaft einzuengen, indem er ihr die Kriminalpolitik, die Rechtsdogmatik, die Anthropologie und die Kriminalpsychologie entzog und sie auf eine theoretische (kausal-normative) Wissenschaft reduzierte, welche nur die Verbrechen, nicht aber auch die Strafe, sowie alle Verbrechensursachen in ihrer Gesamtheit betrachtet. Doch diese bloß oberflächliche Reduzierung beseitigte nicht die profunden Unzuträglichkeiten. Abgesehen von der selbstverständlichen Feststellung, dass man nicht von Verbrechen sprechen kann, wenn man dabei von der Strafe absieht (denn das Verbrechen ist eine Handlung, die unter Strafdrohung [38] verboten ist), bleibt noch die Schwierigkeit, wie man, ohne gegen die Logik der vom Gesetz des „geringsten Mittels“ beherrschten Wissenschaft zu verstoßen, so zahlreiche Soziologien, wie sie Grispigni zusammengefasst hat (Rechtswissenschaft, Anthropologie, Kriminalpolitik) rechtfertigen soll, denn man sieht nicht, mit welcher Begründung diese sich den Charakter autonomer Wissenschaften beilegen könnten. Die Wahrheit ist, dass bislang die sogenannte Kriminalsoziologie nicht eine einheitliche Wissenschaft ist, dass sie weniger ein System als eine Enzyklopädie, ein Magazin von Begriffen, ist – genau so wie die gesamte Strafrechtswissenschaft, von der Liszt spricht. Und an Enzyklopädien, die den Anspruch erheben könnten, eine autonome Wissenschaft zu sein, sehen wir nur eine einzige: diejenige, die Hegel unter dem Namen Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften geschaffen hat. Anders ausgedrückt: die Philosophie. [...] [357]
3. Teil: Die Strafe 2. Kapitel: Philosophische Begründung der Strafe Rechtfertigung der Untersuchung 1. [...] [358] Die Theorien über die Begründung des Strafrechts werden entsprechend einer fast allgemein anerkannten Klassifizierung in absolute und relative eingeteilt, je nachdem, ob die Strafe ihren Grund in sich selbst, als Folge des Verbrechens, findet, oder ob sie durch einen äußerlichen Grund – ein Gut oder einen Nutzen für eine Person oder für die Gesellschaft – als Mittel zur Verhinderung weiterer Straften gerechtfertigt wird. Im ersten Fall, nach der Formel von Seneca, punitur quia peccatum, im zweiten Fall punitur ne peccetur. Das gerade erwähnte, traditionell gewordene Unterscheidungsmerkmal ist aus logischer Sicht alles andere als unfehlbar. Das Absolute kann niemals vollständig
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vom Relativen getrennt werden; die Strafe kann niemals als Zweck an sich selbst angesehen werden, ohne ein Mittel zu sein. Der labile Charakter der Unterscheidung bewirkt, dass wir die verschiedenen Lehren mitunter je nach den Autoren von der einen in die andere Kategorie überwechseln sehen. So wird beispielsweise die Theorie der Besserung das eine Mal zu den absoluten Theorien gezählt, das andere Mal zu den relativen (Filumosi, Binding, Cathrein), wenn man sie nicht sogar einen besonderen Typus mit Mischcharakter aus ihr macht (Alimena), und die Theorie der Buße, die im allgemeinen als absolute Theorie angesehen wird, wird von anderen zu den relativen Theorien gezählt (Cathrein). Philosophisch korrekter ist es vielleicht, die Strafbegründungstheorien in zwei Typen einzuteilen: naturalistische und spiritualistische (oder idealistische). Zur ersten Kategorie gehören all jene Lehren, die der Strafe einen Zweck materieller oder naturalistischer Art zuschreiben, d.h. einen solchen, der allen natürlichen Lebewesen gemeinsam ist; in die zweite Kategorie gehören jene Lehren, die der Strafe eine Aufgabe beilegen, die in einem spirituellen Wert besteht, und sie damit in eine moralische und metaphysisch transzendente Ordnung einfügen. [359] Theorie der Verteidigung 2. An der Spitz der Theorien des ersten Typus steht diejenige der Verteidigung, sei es als Verteidigung des Individuums, der Gesellschaft oder des Staates. Als naturalistisch bezeichnen wir diese Theorie deshalb, weil sie besser als auf ethische Erfordernisse auf die natürliche Tatsache gegründet wird, dass jedes Wesen, welches in seinen Existenzbedingungen gestört wird, sich verteidigt. In dieser faktischen Lage ist der Mensch jedem anderen Lebewesen gleich. Es müssen hier nicht noch einmal die historischen Vorgänger dieser Theorie aufgeführt werden, die wir bereits bei der Erörterung der Entwicklung des Strafrechts als Wissenschaft dargestellt haben; wir wollen nur erwähnen, dass die Theorie der Verteidigung – eine Lehre, die in den letzten Jahren vom Positivismus errichtet worden ist – heute die verbreitetste ist und auch das philosophische Credo der Verfasser des geltenden Strafgesetzbuches bildet. Wir erwähnen andererseits aber auch zu Ehren des Positivismus, dass nur dieser eine schlüssige Konzeption von ihr geschaffen hat und es verstanden hat, von ihr einen unfehlbaren Gebrauch zu machen. Denn die Theorie der Verteidigung führt geradewegs zur Theorie der gesellschaftlichen oder legalen Verantwortlichkeit. Wenn es darum geht, sich zu verteidigen, ist es nutzlos, zu erforschen, ob uns gegenüber – als Aggressor – ein Zurechnungsfähiger oder ein Unzurechnungsfähiger steht. Vor dem heiligen Recht der Selbstverteidigung sind alle Wesen gleich; Präventivverteidigung gilt eben so viel wie die Repressivverteidigung; sie ist eine materielle Reaktion auf eine materielle Handlung (oder Gefahr einer Handlung). Carrara hat treffend gesagt: „Die Formel Sozialverteidigung verleiht der Bestrafung ein gänzlich materielles Prinzip und liefert sie damit den flottierenden Bedürfnissen des Nützlichen aus“. Wem wir aber, noch vor Carrara, die definitive Kritik der Theorie der Verteidigung verdanken, ist Rossi. Er beweist mit dauerhaften Argumenten, dass die Strafe weder mit der direkten noch mit der indirekten Verteidigung vermengt werden
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kann. Das natürliche Recht auf Verteidigung ist das Recht, aktuelle oder drohende Angriffe zurückzuweisen. Doch wogegen verteidigt die Strafe? Es gibt doch keine mögliche Verteidigung mehr. Vielleicht gegen ein zukünftiges Übel? Doch dies enthält einen Widerspruch; Verteidigung setzt das Vorhandensein oder das unmittelbare Drohen des Übels voraus. Wer sich verteidigt, weist etwas zurück; er weist aber nicht das zurück, was gar nicht existiert. Gegen wen aber soll sich die Verteidigung richten? Gegen pervertierte Menschen, die vom Delinquenten zu unterscheiden sind? Diese haben nichts getan, sie sind unbekannt, und es ist weder sicher, dass sie existieren, noch, dass sie existieren werden. Auch geht man nicht gegen sie vor noch [360] kommt das Übel der Verteidigung über sie. Gegen den Verbrecher selbst? Er verletzt ja nicht mehr. Gegen den Verbrecher wegen möglicher zukünftiger Handlungen, sei sie derselben Art wie die bereits begangene, sei sie anderer Natur? Es ist jedoch möglich, dass der Verbrecher unfähig geworden ist, das Verbrechen noch einmal zu begehen, und doch straft man ihn. Und wer kann uns sicher sagen, dass seine zukünftigen Handlungen zu fürchten seien? Als nicht weniger ungerechtfertigt erweist es sich, die Strafe mit der indirekten Verteidigung zu begründen, d.h. mit der Selbstverteidigung, welche die Gesellschaft gegen das Verbrechen übt, indem sie zukünftigen Verbrechen zuvorkommt. Will man nämlich bei der Logik bleiben, so ist es, wenn es nur um die Verteidigung gegen zukünftige Schuldige geht, denen man zeigen will, dass es sie den Kopf kosten kann, keineswegs nötig, die Schuldfähigkeit des aktuellen Patienten sorgfältig zu ermitteln. Gar keine Untersuchung wäre besonders wirksam, die Menschen mit abartigen Neigungen davon zu überzeugen, dass es sie das Leben kosten kann, selbst wenn ihre Missetaten nicht bewiesen sein sollten. Und wie kann man von Gerechtigkeit sprechen, wenn man behauptet, dass man im aktuellen Verbrecher den zukünftigen Verbrecher bestrafe? Die Einwände gegen das System der indirekten Verteidigung behalten voll ihre Geltung: der Angeklagte ist bloßes Instrument der Abschreckung in den Händen der Macht. Theorie der Besserung 3. Zu den spiritualistischen Theorien zählt die Korrektions- oder Besserungstheorie, die in der Strafe ein Mittel zur Erziehung und moralischen Befreiung des verirrten Verbrechers von seinem Verbrechen erblickt. Der idealistische Charakter dieser Lehre kommt daher, dass sie das Verbrechen nicht als schicksalhaftes Naturprodukt und die Strafe nicht als eine schicksalhafte Verteidigung ansieht, sondern den Verbrecher als ein geistiges Wesen ansieht, das mit Gewissen und moralischer Freiheit begabt ist und daher in der Lage ist, sich zu bessern. Vater dieser Lehre ist Platon, der die Strafe als „Seelenmedizin“ bezeichnet; zahlreich sind ihre Anhänger von Roeder bis Ferrera, von Mazzolini bis Lanza und Spirito. Es liegt auf der Hand, dass den größten Reiz der Besserungstheorie ihr moralischpädagogischer Charakter ausübt, weshalb uns der Vorwurf von Carrara, sie „denaturier[e] die Strafe, indem sie das Strafrecht mit der Nützlichkeit vermeng[e] und es vom gesellschaftlichen Interesse her ableite“, nicht recht begründet erscheint. Andere haben eingewendet, dass gegen diese Theorie das Zeugnis der Erfahrung spreche, denn der Täter bessere sich nur selten; häufiger werde er erst durch die Strafe verdorben; [361] Besserung erreiche man im übrigen mit anderen, von der
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Strafe verschiedenen Mitteln. Der gewichtigste Einwand ist aber folgender: Strafe richte sich nicht nur an das Individuum, indem sie sich dessen Erlösung zum Ziel setze; sie diene vielmehr den höchsten Forderungen der moralischen und rechtlichen Ordnung. Diese Forderungen bewirkten, dass Strafe selbst dann verhängt werden müsse, wenn es nicht nur wenig Hoffnung auf eine Besserung des Täters gebe, sondern seine Besserung sogar von vornherein ausgeschlossen sei. Strafbarkeit an den schwachen Faden einer stets problematischen, häufig unmöglichen Besserung des Täters zu hängen, bedeute, die strafende Funktion des Staates zunichte zu machen. Die Besserung könne daher immer nur ein eventueller, niemals ein konstitutiver oder essentieller Zweck der Strafe sein. Theorie der Vergeltung und ihre Erscheinungsformen 4. Die Lehre, welche am nachdrücklichsten spiritualistische Züge aufweist, ist die der Vergeltung. In der allgemeinsten Weise lässt sie sich in der Formel zusammenfassen: Auf Gutes folgt Gutes, auf Böses folgt Böses. Philosophisch betrachtet sind die Voraussetzungen der Vergeltungstheorie: eine Ordnung von unverbrüchlichen (göttlichen, moralischen, rechtlichen) Gesetzen; eine Handlung, welche ihnen entspricht oder sie verletzt; eine Sanktion, welche die verletzte Ordnung bekräftigt, indem sie das Gute der Einhaltung der Gesetze mit Gutem, das Übel ihrer Verletzung mit einem Übel vergilt. Historisch betrachtet tritt die Vergeltungstheorie in folgenden Erscheinungsformen auf: 1. Göttliche Vergeltung Es gibt eine göttliche Ordnung, die nicht gebrochen werden darf. Wer sie verletzt, beleidigt Gott und verfällt der Züchtigung, welche dieser für die Übertreter seines Gesetzes verhängt. Die Strafe ist daher nichts anderes als die Abbüßung des Übels, deren Vollstreckung durch Reue gemildert wird. Von St. Thomas bis zu Stahl ist dies die unter katholischen Autoren herrschende Lehre, wenngleich sie bei einigen Verfassern durch diejenige der Rechtssicherheit und der Verteidigung der Allgemeinheit abgemildert wird, um staatliche Machtexzesse zu mildern. Man sagt, Gott strafe aus Ordnungsliebe und trete den Menschen einen Teil seiner Strafgewalt ab. Dennoch dürfe die Obrigkeit nur in dem Maße strafen, wie es erforderlich sei, um den Staat in der gebührenden Weise zu regieren – nicht mehr und nicht weniger. Das Ziel des Gemeinwohls wirke sich als Grenze der staatlichen Gewalt aus. 2. Moralische Vergeltung Die älteste Form, in der die Vergeltungstheorie auftritt, ist diejenige der moralischen Vergeltung. Dass ein Übel von einem anderen, gleich großen Übel ausgeglichen werde, [362] wird als eine grundlegende Forderung des moralischen Bewusstseins angesehen. In der Antike waren die Pythagoräer und Platon im Gorgias Anhänger dieses Grundsatzes; im Mittelalter St. Thomas und Dante; in der Neuzeit Grotius, Seldeno, Leibniz und Vico; Immanuel Kant war es, der dem Grundsatz der moralischen Vergeltung seine endgültige Form gab, indem er ihn auf den kategorischen Imperativ zurückführte.
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3. Rechtliche Vergeltung Die moralische Vergeltung findet ihre Vervollkommnung und Weiterentwicklung in der rechtlichen Vergeltung. Dieser Fortschritt ist G.W.F. Hegel zu verdanken, der gemäß der Methode der Dialektik der Gegensätze in der Vergeltung die Negation einer Negation und damit die Bewährung des Rechts erblickt. Die Vergeltungslehre hatte, wie gesagt, in Italien Anhänger in Rossi, Mamiani, zuletzt auch in Pessina, sogar in Carrara, obwohl dessen Theorie vom Rechtsschutz (tutela giuridica) sich in den Augen eines oberflächlichen Beobachters mit der Theorie der Verteidigung vermengt. Wir verzichten darauf, Autoren und Gedanken, welche den Grundsatz der Vergeltung favorisiert haben, darzustellen, können aber mit Binding sagen, dass er um so stärker wird, je deutlicher sich uns die Geschichte des Nachdenkens über die Grundlagen des Strafrechts darstellt. Denn dieser Grundsatz 1) bewirkt eine Rückbindung des Phänomens der Strafe an die universelle Ordnung und bringt den Berührungspunkt zwischen menschlicher Gerechtigkeit und göttlicher Gerechtigkeit zum Ausdruck; 2) führt das Strafrecht auf eine ethische Bewertung zurück, indem es die Handlung zur Quelle von Verdienst und Schuld erhebt und den Grundsatz aufstellt, dass es keine Strafe ohne Schuld gibt; 3) erfasst den psychologischen Ursprung des Strafrechts als ein Empfinden und eine Reaktion des menschlichen Bewusstseins gegenüber dem Verbrechen – ein Empfinden, das zu einem Austausch von Bösem mit Bösem führt, angefangen bei den primitiven Formen der individuellen Rache und endend bei den fortgeschrittenen Formen der Vergeltung, die von der sozialen Ordnung geltend gemacht wird; 4) ermöglicht die Unterscheidung der Strafe von allen Maßnahmen nichtstrafrechtlicher Art des Schutzes vor dem Verbrechen; 5) ist eine Formel, die alle anderen in sich enthält, während sie in jenen nicht enthalten ist. Indem die Vergeltung oder Abbüßung bewirkt, dass dem Menschen die Folgen seines Verbrechens wieder vor Augen treten, erzieht und erlöst sie ihn (Theorie der Besserung); indem sie das Verbrechen durch die Zufügung eines gleichen Übels negiert, bewährt sie die gesellschaftliche und rechtliche Ordnung und schützt sie damit auf die beste Weise (Theorie der Verteidigung); 6) ist die einzige Formel, die es gestattet, jenes Problem zu lösen, das Carrara das Problem der Quantität der Strafe genannt hat, d.h. das Problem der Proportionalität [363] von Verbrechen und Strafe bzw. das Problem der Vergeltung des Verbrechens nach der Schwere des Verbrechens (Ausbildung einer Stufenordnung der Strafe [scala penale]). Diese Aufteilung geschieht nach dem Talionsgesetz, allerdings nicht als materielle Äquivalenz, sondern als eine Äquivalenz der moralischen Stärke zwischen Bestrafung und Missetat (Poena est aestimatio delicti). Keiner der Einwände gegen die Theorie der Vergeltung hält der Kritik stand. Es wird gesagt, dass man, wenn man der Strafe den Charakter der Vergeltung beilege, man sich eine Eigenschaft der Gottheit anmaße – Gott allein könne urteilen; die Menschen könnten sich nur verteidigen. Darauf ist zu antworten, dass Gott
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allein die absolute Gerechtigkeit vorbehalten ist, denn sein Urteil ist vollkommen, dass er aber dem Menschen einen Teil seiner Gerechtigkeit übertragen hat und dass diese, wenn auch mit allen Unvollkommenheiten und Schwächen menschlicher Gerechtigkeit behaftet, Böses mit Bösem vergilt. Weiter wird gesagt, dass nicht erklärt werde, woher der Staat die Pflicht und das Recht zu einer so schrecklichen Macht wie der Vergeltung nehme. Doch das moralische Gesetz verlangt, dass man das Übel an den Übeltätern vergelte; und wenn man der Meinung ist, dass der Staat Träger des moralischen Gesetzes sei, so löst sich die behauptete Schwierigkeit auf. Man wendet – unter Berufung auf die Autorität Platons – ein, dass Böses mit Bösem zu vergelten eine nutzlose Wiederholung des Bösen sei; die Vergeltung löse sich letztlich in eine umgewandelte Form der Rache auf. Die Antwort hierauf ist leicht, denn Rache setzt einen wechselseitigen Austausch von Übeln unter Gleichen voraus; das Übel aber, welches seitens einer höheren Ordnung wegen deren Wiederherstellung vergolten wird, ist nicht mehr Rache. Man sagt, dass die Straftat und die Strafe nicht miteinander vergleichbar seien. Doch dieser Einwand trifft nur die grobe Form der Vergeltungslehre als materielle Gleichheit von Verletzung und Reaktion, nicht aber die vergeistigte Form derselben als Äquivalenz der moralischen Kräfte. Man behauptet, dass die Theorie der Vergeltung den freien Willen voraussetze, da sie Schuld und damit eine frei gewollte Handlung einschließe. Dies ist indes keine Schwierigkeit für denjenigen, der glaubt, dass man ohne Freiheit ein Strafrecht weder rechtfertigen noch konstruieren kann. Man fürchtet, dass der Grundsatz der Vergeltung, der dazu führt, dass das Übel der Strafe im Verhältnis zum Übel der Straftat steht, zwangsläufig zur Grausamkeit der Strafe führe. Kann aber zu solchen Exzessen nicht auch das der Verteidigung zugrunde liegende Prinzip, die salus publica, verführen, und hat es nicht bereits dazu geführt? Reißt der Eifer der Zucht und der Besserung etwa nicht zu solchen Übertreibungen hin? [364] Die rechtliche Vergeltung als einzige wirkliche Begründung der Strafe 5. Nachdem wir auf diese Weise eine ernsthafte Bilanz der Gründe und Gegengründe angestellt haben, meinen wir, dass von allen Prinzipien dasjenige der Vergeltung Inhalt und Funktion der Strafe am besten zum Ausdruck bringt; damit können wir diese definieren als ein Übel, das dem Straftäter in gesetzlichen Formen als Vergeltung eines Übels mit einem Übel angedroht oder gegen ihn verhängt wird, um die verletzte Rechtsordnung wiederherzustellen. Strafrecht und Vergeltung sind untrennbar miteinander verbundene Begriffe. Damit können wir mit Birkmeyer sagen: „Was dieser Begriffsbestimmung nicht entspricht, was die [...] Merkmale der Vergeltung nicht an sich trägt, ist nicht Strafe und soll nicht Strafe genannt werden“. Aus der Definition der Strafe lassen sich ihre grundlegenden Merkmale ableiten: Sie muss sein:
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1. ein Übel, d.h. ein Leid, ein Schmerz für den Täter; ein positives Übel – Zufügung eines Schmerzes; ein negatives Übel – Entziehung eines Genusses. In diesem Sinne spricht man auch davon, dass die Strafe Zufügung eines Leides sei. Wäre sie dies nicht, so gäbe es keinen Unterschied mehr zwischen Belohnung und Strafe. Hier erweist sich die Mangelhaftigkeit der Besserungstheorie, die dadurch, dass sie der Strafe eine pädagogische Funktion beilegt, sie jedes affliktiven Charakters entkleiden möchte; denn man kann erziehen, ohne Leiden zuzufügen. Die Strafe – sagt Binding treffend – muss den Verurteilten verletzen, nicht heilen; es ist Aufgabe des Schadensersatzes, eine Wunde zu heilen und dabei nach Möglichkeit keine neue Wunde zuzufügen. Strafe ist nicht Heilung, sondern Zwang gegenüber dem Schuldigen. Andererseits kann auch nicht, wie die liberale Schule meint, die Auffassung vertreten werden, das der durch die Strafe zugefügte Schmerz bestimmte Grenzen nicht überschreiten dürfe, so dass Strafen, welche die Unversehrtheit der physischen und moralischen Person beeinträchtigten (Todesstrafe etc.), ausgeschlossen seien. Strafe muss nicht immer reparabel sein, nur um auf jeden Fall Justizirrtümer zu vermeiden. 2. ein angedrohtes oder zugefügtes Übel. Ein bloß angedrohtes Übel, das nicht auch zugefügt wird, wäre keine Strafe. Andererseits muss die bloße Drohung wirksam sein können. Deshalb muss die Strafe bestimmt und – nach dem Jargon der antiken Schriftsteller – unverbrüchlich (irredimibile) sein. Die moralische Kraft [365] der Strafe resultiert mehr aus ihrer Sicherheit als aus ihrer Strenge. Der Grundsatz der Besserungs-Schule, die Strafe müsse weichen, wenn der Täter zeige, dass er gebessert sei, macht die Bedeutung der Strafe illusorisch. Daraus folgt auch die Absurdität der sog. unbestimmten Strafe, die von den Positivisten gefordert wird. 3. ein als Vergeltung zugefügtes Übel. Das Übel soll nicht aus einer Laune heraus, aus Grausamkeit, aus Rache verhängt werden, sondern als gerechter Ausgleich für ein anderes, ungerechtes Übel, welches verursacht worden ist. Ohne Vergeltung gibt es keine Strafe. Vergelten bedeutet nicht, sich aufzulehnen und blind zu reagieren, sondern Gleiches mit Gleichem heimzuzahlen, ein Gleichgewicht zwischen zwei Leiden herzustellen, das Gleichgewicht zweier Kräfte, das durch das Verbrechen gestört worden ist, wieder herzustellen. Dies bedeutet, dass die Strafe zum Verbrechen verhältnismäßig ist; jeder Mangel ist Schwäche, jede Übertreibung ist Grausamkeit – das eine wie das andere ist ungerecht. Übertriebene Strafen sind ebenso Missetaten wie ungeeignete Strafen. Aus dem vergeltenden Charakter der Strafe folgt, dass sie persönlich sein muss und nicht abirren darf. Sie muss den Straftäter treffen, nicht andere. In der Geschichte fehlt es nicht an Beispielen für Strafen, die Personen treffen, die mit dem Verbrechen nichts zu tun haben (im Römischen Kaiserreich wurden die Strafen für Majestäts-Verbrechen auf die folgende Generation erstreckt); heute regiert der Grundsatz der Persönlichkeit sowohl den Begriff der Straftat als auch den der Strafe, und es ist unmöglich, Unschuldige anzuklagen und zu bestrafen. Das Bedürfnis nach einem exemplarischen Charakter der Strafe und nach Abschreckung vermag solche Abirrungen nicht zu rechtfertigen.
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Nur aus dem retributiven Charakter der Strafe lässt sich entnehmen, dass die Strafe aufteilbar und abstufbar ist, d.h. in der Weise teilbar, dass man sie – mit einem Ausdruck von Carrara – mit dem unterschiedlichen Grad der Beschuldigung ins Verhältnis setzen kann. 4. Vergeltung eines Übels mit einem Übel. Es bedarf, kurz gesagt, eines Verbrechens, das vergolten wird, und damit eines Kausalnexus‘ zwischen Strafe und Verbrechen – wohlverstanden: eines bereits begangenen Verbrechens, nicht eines zukünftigen, drohenden, gegenwärtigen, sondern eines vergangenen Verbrechens: punitur quia peccatum est. Wo es an diesen Voraussetzungen fehlt, kann es eine Verteidigungsreaktion geben, nicht aber eine vergeltende Reaktion; es gibt Prävention (punitur ne peccetur), keine Repression, keine Strafe. Prävention ist zweifellos eine Verteidigung gegen ein Verbrechen, hat aber mit Strafe nichts zu tun. Strafe ist nur repressiv, nicht präventiv; Präventionsmaßnahmen als Strafe zu bezeichnen bedeutet – wie Merkel treffend bemerkt – schon einen Widerspruch zum Wortsinn von Strafe. Alles, [366] was die Verteidigung betrifft, die Prävention, die Abschreckung, gehört zum Verwaltungsrecht, nicht zum eigentlichen Strafrecht. 5. ein Übel, das von einer Rechtsordnung in gesetzlichen Formen zugefügt wird. D.h.: Strafe muss nicht nur gesetzlich festgelegt sein (nulla poena sine lege praescripta), sondern muss, soll sie nicht der Willkür anheim gegeben werden, von gesetzlich hierzu ausdrücklich bestellten Gerichtsorganen verhängt werden. 6. ein Übel, das die verletzte Rechtsordnung wieder herstellen muss. Diese Wirkung soll nicht nur mit der Wirkung der Strafe auf das Gewissen des Täters (das höchst unkontrollierbar ist) erreicht werden, sondern auch in der Außenwelt durch ihren exemplarischen Charakter, die Öffentlichkeit der Bestrafung – also in einer Weise, dass dem kollektiven Bewusstsein die verletzte Rechtsordnung als wiederhergestellt erscheint.
Filippo Grispigni (1884–1955) Italienisches Strafrecht. Erster Band (Diritto penale italiano. Volume primo) (2. Auflage 1947) [V] Vorwort zur zweiten Auflage Bei der Veröffentlichung der zweiten Auflage dieses Lehrbuchs nach 15 Jahren hatten wir an den Maßstäben, nach denen es konzipiert wurde, nicht nur nichts zu ändern, sondern können nicht anders, als uns deren Qualität zu bestätigen. Der wichtigste dieser Maßstäbe ist, darauf zu achten, dass eine Darstellung des geltenden Rechts anhand einer progressiven Interpretation (interpretazione progressiva) geboten wird, also das, was, stets und für jeden Zweig der Rechtsordnung anerkannt, sich im Hinblick auf das aktuelle Strafrecht für denjenigen als unabweisbare Notwendigkeit erweist, der bei dem Versuch, es zu einer SystemEinheit zusammenzufügen, auch einige Disharmonien in ihm zu berücksichtigen bereit ist. Ein solches Verständnis erreicht man allerdings nur, indem man von der Feststellung ausgeht, dass das derzeit in Italien geltende Recht nur einen Augenblick, nur eine vorübergehenden Phase jenes tiefgreifenden Transformationsprozesses ausmacht, den das Strafrecht der ganzen Welt gerade durchläuft; dieser spielt sich nach einem leicht zu dokumentierenden Drehbuch ab und besteht in der schrittweisen Entfernung von der klassischen Straftatlehre und in einer unaufhaltsamen und fortschreitenden Verwirklichung der Postulate der positivistischen Schule. Aus dieser unbestreitbaren historischen Wahrheit ergibt sich nun eine Folgerung von besonderer Bedeutung für die Interpretation und systematische Rekonstruktion des positiven Rechts, nämlich die, dass es zwar geboten ist, sich skrupulös an jene Vorschriften zu halten, deren Bedeutung und Tragweite evident ist, dass aber für einige Vorschriften, die unklar und ungenau sind, die Auslegung und Rekonstruktion der Rechtsinstitute in der Weise geschieht, dass man jene Entwicklungstendenz berücksichtigt, deren Geist, der in den geltenden Bestimmungen embryonal vorhanden ist und den die Lehre erfasst und herausarbeitet, in naher Zukunft klarer zum Ausdruck kommen wird. [...] [VI] [...] Nachdem die liberale Regierungsform wiederhergestellt ist, verkündet die neue Verfassung ausdrücklich: Die Strafen sollen der Erziehung des Verurteilten dienen. Diese Bestimmung könnte auch als eine solche erscheinen, die nur begrenzte Bedeutung besitzt; aber jene Eiferer der subjektiven moralischen Vergeltung, die versucht haben, sie zu verhindern, haben dazu beigetragen, ihr Gewicht zu verleihen. Daher ist ihre Bedeutung eine doppelte, nämlich eine negative und eine positive. Die erste besteht darin, dass sie die Ablehnung der Auffassung enthält, welche der Strafe die Funktion der subjektiven moralischen Vergeltung beilegen will (also der heuchlerisch als sogenannte absolute Gerechtigkeit maskierten Rache). Die zweite Bedeutung besteht darin, dass sie die „relativen“ Lehren von der Funktion der Strafe anerkennt, d.h. die Auffassung, dass die Strafe Mittel zu einem Zweck ist; und dieser Zweck ist eben der Erziehungszweck im weiten Sinne, der mit allen von der experimentellen Psychologie und von der wissenschaftlichen E. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Pädagogik angebotenen Mitteln umgesetzt werden muss; er umfasst daher nicht nur die moralische und religiöse Unterweisung, sondern auch, wo erforderlich, physische und medizinische Behandlung. [...] Dass diese unsere progressive Interpretation diejenige ist, die Wort und Geist des geltenden Rechts näher steht als die kürzlich von einigen Autoren offerierte regressive Interpretation, müsste von jedermann anerkannt werden, der leidenschaftslos die historischen Vorgänge und den tatsächlichen Inhalt des Gesetzbuchs betrachtet. Man muss nämlich die Strafrechts-Entwicklung eines ganzen Jahrhunderts auslöschen und zu Pellegrino Rossi zurückkehren, um zu wiederholen, dass Voraussetzung des Strafrechts der freie Wille und dass Zweck des Strafrechts die Sühne und die subjektive moralische Vergeltung sei. [VII] Jedenfalls werden im Verlauf dieses Buches die positivrechtlichen Gründe dargetan werden, weshalb eine solche Doktrin nur in der Weise vertreten werden kann, dass man die ausdrücklichen und feierlichen Erklärungen im Bericht an den König, wonach die soziale Verteidigung die einzige Funktion der Strafe und der psychologische Determinismus deren Voraussetzung ist, zu vergessen fingiert und damit alle Merkmale des Gesetzbuches vertauscht. Es mag an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass dieses Gesetzbuch – aus technisch-wissenschaftlicher Sicht – einen großen Fortschritt in der Ausbildung des Strafrechts bedeutet, dass es insbesondere nicht, wie allzu schlicht behauptet wird, ein Kompromiss zwischen der klassischen Schule und der positivistischen Schule ist, sondern einen weiteren Schritt jener dritten Richtung bedeutet, zu deren ersten Vertretern Lucchini, Carnevale und Alimena (B.) gehörten und die von Rocco und Manzini aufgegriffen und weiterentwickelt wurde – Wissenschaftlern, die rückhaltlos und unbeirrt Anhänger der Philosophie des Positivismus und im Bereich der Psychologie Deterministen waren. Daraus erklärt sich, warum das Gesetzbuch die Strafbarkeit für die Taten derjenigen anordnet, die wegen Alkohol- oder Drogenrauschs völlig unzurechnungsfähig waren; warum es den Ausschluss jeglicher strafausschließenden oder strafmildernden Wirkung für emotionale und leidenschaftliche Zustände anordnet, weshalb es auch bei Taten von Zurechnungsunfähigen dazu verpflichtet, zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit zu unterscheiden usw. – Bestimmungen, welche mehr als hinreichend jeden Versuch, das Gesetzbuch als ein solches hinzustellen, das den Vergeltungslehren anhängt, als erfolglos erweisen. Was aber ganz besonders bemerkenswert ist, ist die Ungeniertheit, mit der die Anhänger der Züchtigungsstrafe sich einerseits das Institut der Gefährlichkeit aneignen und damit zeigen, dass sie nicht einmal ahnen, dass dieses den Determinismus (zumindest als Methode) voraussetzt, andererseits aber auch die Art, in der die Sicherungsmaßregeln im Gesetz geregelt sind, akzeptieren. Denn die Hinzufügung einer Sicherungsmaßregel zu einer Strafe bildet – wenn es sich um zurechnungsfähige Täter handelt – den absolutesten Widerspruch zur Vergeltungslehre. In der Tat ist es ja so, dass, wenn der zurechnungsfähige Täter bestraft wird, und zwar ohne Verminderung der Strafe, dies bedeutet, dass Ursache für die Straftat ganz und gar seine moralische Schuld gewesen ist, und genau im Verhältnis zu dieser Schuld die Strafe bemessen wird. Aus welchem Grund also wird ihr denn
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nun noch eine Sicherungsmaßregel hinzugefügt? Will man vielleicht auch andere Ursachen künftiger Straftaten, die jenseits seiner moralischen Schuld liegen, bekämpfen? Auf diese Weise würde man dann aber anerkennen, dass es im Täter noch andere Ursachen für die Straftat gegeben hat, und daher ist es eine Ungerechtigkeit, das seine Strafe nicht in dem Maße gemindert worden ist, in dem seine moralische Freiheit nicht die Ursache für die Straftat gewesen, sondern andere, nicht die Schuld betreffende Ursachen wirksam gewesen sind. Mezger hat in der freundschaftlichen Auseinandersetzung, die wir uns über die nationalsozialistische Strafrechtsreform geliefert haben, eine Lösung in der Weise versucht, dass die Strafe gegen denjenigen Teil der Ursachen gerichtet sei, welche die moralische Schuld beträfen, während die Sicherungsmaßregel sich gegen nicht vorwerfbare Ursachen richte. Unterstellen wir einmal für einen Augenblick, dass eine solche Unterscheidung von Ursachen möglich sei, so erweist sich daran die Notwendigkeit einer Strafminderung, wie man sie für beschränkt Zurechnungsfähige ausspricht. Der Codice Rocco sieht jedoch für alle Zurechnungsfähigen [VIII] keinerlei Strafminderung im Hinblick auf solche nicht vorwerfbaren Ursachen vor, wie sich schon daraus ergibt, dass der Hangtäter mit der vollen Strafe belegt wird, auch wenn sich erweist, dass der besondere Hang zum Verbrechen und die besonders schädliche Natur des Täters auf erbbedingte, umfeldbedingte Gründe etc. zurückzuführen ist, aus denen man ihm keinen Vorwurf machen kann. Doch auch wenn man von der fehlenden Berechtigung, das geltende Recht als Ausdruck der Vergeltungslehre hinzustellen, einmal absieht, wächst doch die Zahl derjenigen immer mehr, welche diese Lehre einfach de iure condendo ablehnen. Denn es fehlt nicht einmal unter den Spiritualisten und den Katholiken an solchen, die anerkennen, dass diese Lehre irreligiös sei, weil sie sich anmaßt, den menschlichen Richter an die Stelle des göttlichen Richters zu setzen, der – wie bereits Rosmini gelehrt hat – sich die Aufgabe, Schuld zu vergelten, selbst vorbehalten hat. Damit vermengt diese Lehre die Funktionen des Staates mit denen der Kirche; sie verbirgt kaum den Geist der Rache, der sie belebt; und sie gewöhnt ihrerseits den Geist an die Rache, statt ihn zur noblen Vergebung zu erziehen. Und wenn sie im finsteren Mittelalter vertretbar war, so kann heute nur noch dumpfe Unkenntnis der grenzenlosen Einflüsse, der nahen, entfernten und entferntesten, welche die experimentelle Wissenschaft in der Ausbildung der kriminellen Psyche ans Licht befördert hat, glauben machen, das ein „vom Weibe Geborener“ in der Lage sei, jenen Anteil der Ursachen, der auf den freien Willen des Menschen zurückzuführen ist, zu unterscheiden und abzuwägen. Doch damit nicht genug: Während das Vergeltungsprinzip als Strafgrund von seinen Anhängern als ein absolutes Erfordernis der Gerechtigkeit und deren oberstes Ideal hingestellt worden ist, weist ein herausragender Rechtsphilosoph, Del Vecchio (Sulla fondazione della giustizia penale, in: Archivio penale 1945), nach, dass, wenn die reine Gerechtigkeit die Erwiderung des Übels mit einem Übel ermöglicht und zu ihr ermächtigen mag, sie diese doch nicht zu einer Notwendigkeit, zu einer Pflicht macht. Dies ist der logische Fehler Kants, der darin einen kategorischen Imperativ erblickt hat, und daher ist seine Lehre über die rechtsethische Begründung der Strafe nicht nur eine unbewiesene Behauptung, sondern
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mehr noch ein Paralogismus. Del Vecchio führt hierzu aus: „Das Übel mit einem Übel zu erwidern, ist die natürlichste, aber nicht die zutreffendste Art, das gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen – wirklich geheilt wird das Böse nur mit dem Guten. Daher ist dieser Grundsatz aufzustellen: Dem malum actionis, das durch das Verbrechen gebildet wird, muss als Erfordernis der Gerechtigkeit nicht so sehr ein malum passionis als vielmehr ein bonum actionis, d.h. eine Tätigkeit im entgegengesetzten Sinne wie die des Täters des Verbrechens gegenübergestellt werden, welches dieses Übel aufhebt und seine Folgen so weit wie möglich vermindert. Doch anderen bloß aus Gründen der Vergeltung ein Leid zuzufügen, kann im Lichte des höchsten ethischen Ideals für sich allein kein erlaubtes Ziel sein“. Damit ist bewiesen, dass die behauptete absolute Gerechtigkeit in Wirklichkeit nichts anderes ist als eine große Unmoralität. In der Zwischenzeit finden die modernen kriminalistischen Anschauungen wegen ihrer [IX] Wirklichkeitsnähe auch in der Lehre immer breitere Anerkennung und haben eine Bresche sogar in die Reihen jener Gelehrten geschlagen, die wegen ihrer religiösen Positionen gezwungen sind, den neuen Strömungen feindlich gegenüber zu stehen. So hat Prof. Gemelli, Rektor der Katholischen Universität, die Existenz von Menschen anerkannt, denen „jedes moralische, soziale und religiöse Empfinden vollständig fehlt“, und er will sie dennoch bestraft sehen, obwohl es ein wenig schwierig zu beweisen sein dürfte, dass dieses „absolute Fehlen moralischen und sozialen Empfindens“ auf den freien Willen zurückzuführen sei. Und Francesco Carnelutti vertritt – trotz seiner mystisch-religiösen Einstellung – die Auffassung, dass das Verbrechen „ein Ergebnis der Notwendigkeit“ sei und dass die Strafe den Zweck habe, dem Täter seinen freien Willen zurückzugeben. Bettiol schließlich weiß seine Angriffe auf die neue Richtung nur dadurch abzuschließen, dass er deren umwälzendste Folgerung, nämlich die Zusammenfassung von Strafen und Sicherungsmaßregeln für beschränkt Zurechnungsfähige in einer einzigen Vorschrift, übernimmt und sich auch nicht abgeneigt zeigt, die von uns dafür vorgeschlagene Bezeichnung „Kriminalsanktion“ (sanzione criminale) zu übernehmen. Andererseits muss bemerkt werden, dass auch die positivistische Schule selbst einige ihrer Positionen berichtigt hat, denn indem man sich von jeder materialistischen und positivistischen Philosophie gelöst hat, den freien Willen nicht leugnet, sondern nur von ihm absieht und zugleich eine Position einnimmt, die nicht antiphilosophisch und nicht einmal aphilosophisch, sondern omniphilosophisch ist, denn ihre Lehren können in jedes philosophische System übernommen und eingebaut werden, da sie keinem von ihnen widerspricht. Und gerade uns will scheinen, dass man angesichts ihrer aktuellen Haltung besser von einer technischwissenschaftlichen Richtung als von einer positivistischen Schule sprechen sollte, um damit auszudrücken, dass sie dadurch gekennzeichnet ist, bei der Untersuchung der kriminellen Handlungen und ihrer Täter der wissenschaftlichen und nicht der philosophischen Methode zu folgen und dass die Funktion des Strafrechts eine bloß technisch-instrumentelle als Mittel des Gesellschaftsschutzes, nicht aber eine ethisch-religiöse als Vergeltung der frei gewählten schuldhaften Tat ist.
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Auch in dieser Auflage bildet daher die Gefährlichkeit – deren qualitative Identität mit der Fähigkeit zum Verbrechen wir erneut bekräftigen und bestätigen – den Angelpunkt des gesamten Systems. Und nicht ohne Befriedigung nehmen wir täglich die wachsende Zahl jener Urteile wahr, in denen das größere oder geringere Gewicht der Straftat bzw. der Strafe mit der größeren oder geringeren Gefährlichkeit gerechtfertigt wird, welche in der symptomatischen Bedeutung der Tat und in dem psychischen Zustand des Täters erblickt wird. Was aber besondere Hervorhebung verdient, ist, dass angesehene Gelehrte, denen es ohne schulische Voreingenommenheit darum geht, eine eng am Wortlaut und am Geist des positiven Rechts haftende Rekonstruktion zu liefern, der modernen Lehre über die rechtliche Natur der Zurechnungsfähigkeit folgen oder sich ihr mehr oder weniger nähern. Während so Alimena (F.) die Auffassung vertritt, dass die Zurechnungsfähigkeit weder Element noch Voraussetzung der Schuld, sondern nur eine ihrer Eigenschaften sei, bestreitet Ranieri, dass sie nach geltendem Recht [X] Handlungsfähigkeit oder Schuldfähigkeit bedeute; und Antolisei schließlich stimmt mit unserer Auffassung überein, dass es sich nur um die Straffähigkeit handele. Der Teil dieses Werks, der den größten Verständnisschwierigkeiten begegnen wird, ist derjenige, der das Verständnis der Schuld als psychischer Mangel oder psychische Unvollkommenheit betrifft. Doch im dritten Band, der sich mit ihr befasst, wird gezeigt werden, dass diese Lehre die einzige ist, die mit dem System des geltenden Rechts vereinbar ist, das dem Hangverbrecher auch in jenen Fällen keine Strafmilderung gewährt, in denen nachgewiesen ist, dass der Hang zum Verbrechen und die verbrecherische Persönlichkeit nicht auf persönliche Schuld zurückzuführen sind. Und hiervon muss auch der oberste Gerichtshof überzeugt sein, denn er hat in mehreren Entscheidungen die Strafbarkeit des moralisch Schwachsinnigen bejaht. Außerdem wird gezeigt werden, dass diese Lehre weniger heterodox ist, als es auf den ersten Blick vorkommen mag, denn während sie für eine Straftatkategorie (nämlich die fahrlässigen Straftaten) nichts anderes vertritt als die Lehre des Sokrates über die Ursachen des Bösen, findet sie sich für die andere (nämlich die vorsätzlichen Straftaten) bereits in den Lehren nicht nur des Platon, sondern auch des Heiligen Paulus und des Heiligen Augustinus. Der zuletzt Genannte hat uns nämlich, indem er die Angst schildert, mit der er sein ganzes Leben hindurch das Geheimnis der Ursprünge des Bösen zu enthüllen versuchte, in den Confessiones eine tiefgründige, mit introspektiver Methode betriebene kriminalpsychologische Analyse geliefert, in der die moderne Wissenschaft glänzende Lichter der Wahrheit findet. Und wir sind zuversichtlich, zeigen zu können, dass die besagte Lehre auch nicht im Widerspruch mit den Lehren des Heiligen Thomas steht. Und schließlich ist sie auch nichts anderes als die Fortsetzung jener englischen psychologischen Richtung im Bereich der Ethik, die von Shaftesbury begonnen und von Hutcheson, Butler, Hume, Adam Smith und anderen fortgesetzt worden ist. Die Rekonstruktion des geltenden Rechts, interpretiert im Lichte seiner historischen Entwicklung ist zugleich die spirituellste und menschlichste. Die spirituell-
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ste deshalb, weil sie die Bedeutung der kriminellen Handlung im wesentlichen dem subjektiven Element zuschreibt und das objektive Element auf das subjektive Element bezieht, da sie ersteres als erkenntnisleitendes Symptom ansieht und im übrigen in der unvermittelten Ursache des Willensentschlusses die wirkliche Ursache der Straftat erforscht. Und sie ist zugleich die menschlichste Lehre, weil sie bei der Funktion der Strafe den Vorrang der Spezialprävention vor der Generalprävention anerkennt und damit den Menschen nicht zum Mittel für den allgemeinen Nutzen macht, sondern ihn als Zweck setzt, denn es geht ihr darum, dem Täter jenes Gleichgewicht und jene seelische Gesundheit wiederzugeben, die allein ihm das Recht zur Rückkehr unter die Menschen, als Gleicher unter Gleichen, verleihen kann. Kann es im übrigen einen größeren Sinn für Menschlichkeit und eine größere Achtung der Persönlichkeit geben, als wenn eine Lehre dem Menschen die Fähigkeit bestreitet, über die moralische Schuld eines anderen Menschen zu urteilen? Und kann es [XI] ein größeres Verständnis für außergewöhnliche Umstände, welche die Schuld beeinflussen können, geben als dasjenige einer Lehre, die, wie die unsrige, das richterliche Absehen von Strafe auf Erwachsene ausdehnen will? Was nun die Methode angeht, so ist in dieser Auflage nicht nur die streng rechtstechnische Methode strikt beibehalten worden, sondern es wird im zweiten Band auch eine Anwendung gewagt, mit der versucht wird, eine allgemeine Theorie des objektiven gesetzlichen Tatbestandes zu bieten, die nach den Absichten des Verfassers für den Besonderen Teil den Übergang von der Auslegung zur Dogmatik, der einzigen wirklichen Rechtswissenschaft, bedeutet. Die jüngsten Angriffe auf die juristische Methode lassen uns nicht nur wegen ihrer Unschlüssigkeit unberührt, sondern lösen in uns nur das Bedauern über die Feststellung aus, dass Strafrechtsgelehrte eine solche Unkenntnis der jüngsten Entwicklung unserer Disziplin zeigen, dass sie als Neuigkeit eine Einstellung präsentieren, die – bis vor einigen Jahren sehr verbreitet – gerade deshalb aufgegeben worden ist, weil man ihre ganze Schädlichkeit erkannt hat: Andeutungen einer Vermischung von juristischen Untersuchungen mit philosophischen, politischen, soziologischen usw. Es ist das Verdienst der rechtstechnischen Richtung, aus den höheren Formen wissenschaftlicher Tätigkeit diese Art von Arbeiten verbannt zu haben, und der Versuch, sie wieder zu Ehren zu bringen, kann nur auf Skepsis stoßen. Umso mehr, als eine solche Rückkehr zu überholten Formen nichts anderes ist als der italienische Abklatsch jener berüchtigten Kieler Schule, deren Verirrungen allen bekannt sind. Was aber den Anspruch angeht, nicht nur die Untersuchung der verschiedenen Aspekte der Normen, sondern sogar jene der konkreten Taten und derer, die sie begangen haben, in die Rechtswissenschaft einzubeziehen, indem sogar die Auffassung vertreten wird, dass gerade hierin der Gegenstand der Rechtswissenschaft bestehen solle, so bemerken wir nur, dass auch das Recht eine Erscheinung der gesellschaftlichen Realität ist und eine ihm ausschließlich gewidmete Wissenschaft stets notwendig sein wird. Wir bemerken ergänzend noch, dass sogar Enrico Ferri sich der Illusion hingegeben hatte, er könne alle Untersuchungen, die mit der Straftat, mit Straftätern, mit Strafnormen zu tun haben, in der Kriminalsoziologie zusammenzufassen; doch in seinen letzten Lebensjahren sprach er von jenen
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Prinzipien des Kriminalrechts, die zeigen, dass auch er von der Notwendigkeit eines autonomen Studiums der Rechtsnormen überzeugt war. Wenn daher Carnelutti sagt, dass die Rechtsnormen das seien, womit der Jurist arbeite, nicht aber das, worüber er arbeite, so wird die Vermengung der Tätigkeit des Gesetzgebers und Richters auf der einen Seite und derjenigen des Gelehrten auf der anderen Seite deutlich. Entsprechend mag man vom Verständnis des Rechts als Instrument sprechen – eine unabweisliche Wahrheit, vor allem für den, der wie wir die Strafe als Mittel zu einem Zweck begreift. Dies schließt aber nicht aus, dass für den theoretischen Juristen dieses Instrument sich bloß als Gegenstand der Untersuchung stellt und dass seine spezifische Aufgabe gerade die Untersuchung dieses Instruments ist. Und so ist es denn wahr, dass so, „wie der Spiegel dafür gemacht ist, das, was vor ihm steht, zu reflektieren, die Rechtsnormen dafür gemacht sind, auf die Wirklichkeit zu reagieren, die sie repräsentieren“; wahr ist aber auch, dass es eine Wissenschaft gibt, nämlich die Optik, deren Aufgabe es ist, [XII] jene Körper zu studieren, die Licht verbreiten oder übertragen, darunter eben auch die Spiegel, und deren Eigenschaften, deren Lichtreflexionswinkel usw. sie erforscht. Und so versteht man nicht, warum es nicht auch eine Wissenschaft geben soll, welche jenen gesellschaftlichen Spiegel, nämlich das Recht, erforscht. Wenn irgend etwas in unserem Fach notwendig ist, so ist es die saubere methodologische Unterscheidung. Und man kann wirklich nicht sagen, dass das Niveau unserer Disziplin besonders hoch sei, zumindest dann, wenn man es nach der Diskussion über den Taterfolg beurteilt, welche zeigt, dass der größere Teil nicht in der Lage ist, eine elementare Wahrheit zu begreifen, nämlich die, dass die Verletzung des Rechts, die Nichterfüllung der Pflicht usw. nicht Ereignisse sind, welche von der Tat oder vom Erfolg der Tat, dem konstitutiven Element der Straftat, getrennt oder unterschieden sind, sondern nur juristische Bezeichnungen der Tat selbst bzw. des Taterfolgs selbst sind. Weshalb es wirklich schmerzt, festzustellen, dass einige noch nicht bis zur Unterscheidung der Straftat als Faktum von der Straftat als Rechtsinstitut gelangt sind; dies bedeutet aber, das die Strafrechtswissenschaft in Italien eine hermaphroditische Disziplin ist, halb Dogmatik, halb Soziologie. In Anwendung eben einer strengen juristischen Methode, die, allen verschiedenen Zweigen des Rechts gemeinsam, die Ausarbeitung einer allgemeinen Theorie erfordert, in der diese verschiedenen Zweige in ihren wechselseitig koordinierten und interdependenten Verhältnissen eingeordnet sind, wird die Rekonstruktion des Systems in diesem Buch vorgenommen, auf der Grundlage jenes erweiterten Sanktionscharakters des Strafrechts, welchen wir in einer Weise verkündet haben, die sich deutlich von derjenigen Bindings unterscheidet, und die zwar leicht zu widerlegende Kritiken gefunden hat, jedoch gerade von jenem Arturo Rocco aufgenommen worden ist, der zur Lehre Bindings eine letztgültige Widerlegung geliefert hat. Als die positivistische Schule aufkam, bildeten die Gegner, die nicht in der Lage waren, sie auf dem Felde der wissenschaftlichen Erfahrung zu besiegen, sich ein, sie dadurch treffen zu können, dass sie ihr vorwarfen, sie sei nicht juristisch, zeigten damit aber nur, dass sie nicht berücksichtigten, dass eine Lehre, die sich die radikale Reform des geltenden Rechts zum Ziele gesetzt hatte, etwas dringenderes
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zu vollbringen hatte als die Rekonstruktion jener Institute und jenes Systems, die sie ja gerade bekämpfte. Als dann aber die Vertreter der positivistischen Schule in zahlreichen Werken zeigten, dass sie in der Strenge der Methode und der Konstruktionstechnik der Rechtsinstitute zumindest nicht schlechter waren als ihre Gegner, hat man versucht, die Situation auf den Kopf zu stellen, indem man ihr vorwarf, sie übertreibe die Abstraktion, die Verfeinerung und die Ferne der juristischen Betrachtung von der soziologischen und der politischen Betrachtung. Gegenüber der neuen Anklage kann man nur herzlich lachen, um so mehr, als sie wahrscheinlich auf den Umstand zurückzuführen ist, dass die Veröffentlichung unseres Lehrbuches bisher nur bis zum zweiten Band gediehen war, der, da er ganz der objektiven Seite der Straftat gewidmet sein soll, gewiss keine Untersuchungen anderer Art enthalten kann. Doch das Urteil wird mit der Veröffentlichung des Teils, der sich mit der Schuld und mit dem Täter befasst (Band III und IV), rasch berichtigt werden. [XIII] Man möge insoweit bedenken, dass die Straftat von uns vorwiegend in ihrer symptomatischen Bedeutung begriffen wird und dass deshalb das objektive Element selbst insoweit von Bedeutung ist, als es zuvor in der Psyche gelebt hat, dass die positivistische Schule eindeutig subjektivistisch ausgerichtet ist, dass sie stets dem Zweck der Handlung eine entscheidende Bedeutung beigelegt hat, vor allem aber, dass wir der Auffassung sind, dass einen Bestandteil der Schuld die unmittelbare psychische Ursächlichkeit des verbrecherischen Entschlusses bildet. Dieser Punkt, der für uns wesentlich ist, weil gerade in dieser unmittelbaren psychischen Ursächlichkeit der psychische Mangel des Täters liegt, hat eine umfassende Untersuchung zur Lösung des quälenden Problems der Entstehung des Bösen erfordert, das wir zunächst in der historischen Entwicklung der Moralphilosophie verfolgen und sodann auf der Grundlage der jüngsten Entwicklungen der experimentellen Psychologie analysieren. [...] Doch in dieser Hinsicht muss die Aufmerksamkeit noch auf einen besonders wichtigen Punkt gelenkt werden. Das Gesetzbuch unterscheidet eindeutig Straftat und Straftäter, und es behandelt – ein Umstand von besonderer Wichtigkeit – den Täter nicht vor der Straftat, sondern nach ihr; dies bedeutet, dass die Feststellung des Vorliegens der Straftat und ihrer – auch subjektiven – Schwere unabhängig von der Bewertung des Täters für den Zeitpunkt der Tat vorgenommen werden muss. Dies bedeutet, dass es sich nur um eine vorläufige Unabhängigkeit handelt, da in einem zweiten Schritt die beiden Aspekte in einer synthetischen Dimension zusammenfließen. [XIV] Auch Art. 133 bestätigt diese Unterscheidung zwischen Verbrechen und Verbrecher, zwischen Tat und Person, und er bestätigt ferner den zeitlichen Vorrang und die Unabhängigkeit des Urteils über jene vor dem Urteil über diese, indem er eindeutig die Schwere der Tat, auch die subjektive (Art. 133 Abs. 1), von der Verbrechenskapazität der Person (Art. 133 Abs. 2) unterscheidet. Aus alledem ergibt sich eine Folgerung von außerordentlicher Bedeutung – dass man nämlich die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit einer Strafe, ihre Art oder Schwere, ihre Ersetzung durch eine Sicherungsmaßregel oder ihre Ergänzung
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um eine solche nicht nur auf der Grundlage der Tat, sondern auch auf der Grundlage der Eigenschaften des Täters bestimmen muss. Die Gleichung Straftat = Strafe ist daher ungeeignet, um die Wirklichkeit der geltenden Gesetzeslage zum Ausdruck zu bringen, denn diese muss vielmehr durch folgende Gleichung dargestellt werden: Straftat + Eigenschaften des Täters = Strafe oder Sicherungsmaßregel. Doch die Bedeutung des Merkmals „Eigenschaften des Täters“ zeigt sich in noch größerem Maße dann, wenn man bedenkt, dass es sogar das Element „Straftat“ aufheben kann, und dies geschieht nicht nur im Falle der Unzurechnungsfähigkeit, sondern auch im Falle zurechnungsfähiger Täter, wenn kraft dieses Merkmals und ohne Rücksicht auf die Straftat keinerlei Strafe folgt, wie es in den Fällen des richterlichen Absehens von Strafe und der bedingten Verurteilung geschieht – Rechtsinstituten, die ausschließlich von der Eigenschaft des Täters, d.h. von der Unfähigkeit zur Begehung künftiger Straftaten (Fehlen der Verbrechenskapazität bzw. der Gefährlichkeit) abhängen. Was schließlich ganz besonders die Strafnormen angeht, ist es wirklich überraschend festzustellen, dass gerade jene, die aus ihren Darstellungen jeden Hinweis auf die historische Entwicklung des Strafrechts getilgt haben, den Mut haben, Vorwürfe gegen uns zu erheben, dass wir nicht nur dieser Entwicklung besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben, sondern sogar als erste versucht haben, die Hauptlinien der Einheitlichkeit zu beschreiben, mit der sich diese Entwicklung bei allen Völkern vollzieht, und dass wir sie in Beziehung zur Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse gesetzt haben – und dies in Umsetzung des Arbeitsprogramms jener Strafrechts-Soziologie (sociologia giuridico-penale), von deren Notwendigkeit wir überzeugt sind, wenn man ein kausal-erklärendes Wissen vom Recht und seinen Veränderungen anbieten will. Wahr ist, dass uns in diesem Zusammenhang die Gefahr der Abschottung vorgehalten worden ist, doch würde es keinem Vertreter der Medizin in den Sinn kommen die wissenschaftliche Autonomie der Anatomie oder der Arzneikunde zu bestreiten, nur weil diese für die klinische Tätigkeit notwendig sind! [...] Und gerade weil wir überhaupt nicht in einer solchen Furcht befangen sind bekräftigen wir in dieser Auflage das neue von uns vertretene Verständnis der Kriminalsoziologie als einer Wissenschaft, welche die globale Kriminalität der verschiedenen Staaten als Massenerscheinung untersucht – ein Verständnis, das auch die Zustimmung von Arturo Rocco gefunden hat (vgl. Lezioni di diritto penale, 1933, S. 14) und das einige Zeit nach uns auch von Gleispach vertreten worden ist und jetzt sogar auch von Mezger (Kriminalpolitik, S. 2) geteilt wird. Es ist nämlich unsere feste Überzeugung, dass die kriminalistischen Studien nicht jene Ernsthaftigkeit werden erlangen können, die unerlässliche Bedingung jeder Wissenschaft ist, [XV] so lange sie nicht die verschiedenen Fächer unterscheiden und nicht jede von ihnen ihre jeweils eigene spezifische Aufgabe mit ihrer eigenen ausschließlichen Methode erfüllt. Dies schließt nicht aus, erfordert vielmehr, dass jedes Fach in der Weise vorgeht, dass es die Ergebnisse der anderen Fächer berücksichtigt. Mit dieser Methode, die zugleich eine solche der Unterscheidung wie der Partnerschaft ist, wurde das gegenwärtige Werk geschrieben, das zwar ein
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ausschließlich rechtsdogmatisches Werk sein will, jedoch in dauernder Bezugnahme auf die Lehren der anderen kriminalwissenschaftlichen Disziplinen entwickelt wird, von denen es Erleuchtung und Bestätigung empfängt. [...] [3]
Einleitung [...] [104] § 5 Die technisch-wissenschaftliche Richtung und die Zukunft des Strafrechts 40. [...] Obwohl die positivistische Schule alle ihre Grundüberzeugungen unverändert beibehält, aktualisiert und vervollkommnet sie ihre Lehren und präzisiert ihre Positionen besser im Hinblick auf einzelne Probleme, indem sie die zweitund nachrangigen Teile, die eine unscharfe und vorübergehende Bedeutung besitzen, von jenen trennt, die wirklich lebenskräftig und für das Neue spezifisch sind. Auch darf nicht Erstaunen erwecken, dass eine neue wissenschaftliche Richtung durch einige Grundprinzipien gekennzeichnet ist, welche sie im Verhältnis zu anderen kennzeichnen; doch ihre Einheit und Identität gerät nicht deshalb in Gefahr, weil es eventuell unterschiedliche Auffassungen über Probleme von zweitrangiger Bedeutung gibt. Denn nur in wissenschaftlichen Richtungen, die jegliche Lebenskraft eingebüßt haben, wiederholen die Anhänger stets monoton dieselben Dinge, während eine Richtung, die sich noch Expansionskraft bewahrt hat, die Fähigkeit besitzen muss, sich um Neuerwerbungen zu ergänzen. [106] Wir meinen sogar, dass diese Vervollkommnung der modernen Richtung nicht nur nicht zu verbergen ist, sondern sogar so sehr zu betonen ist, dass man sich fragen muss, ob man nicht – um jedes Missverständnis zu vermeiden – die moderne Bewegung für die Strafrechtsreform geradezu mit dem Namen technischwissenschaftliche Richtung belegen sollte, denn diese bringt ihre Natur, wie sie sich derzeit darstellt, besser zum Ausdruck. Mit dem Ausdruck „wissenschaftlich“ nämlich soll zum Ausdruck gebracht werden, dass sie – im Unterschied zu anderen Richtungen – nicht auf philosophischen Voraussetzungen aufbaut, sondern nur auf wissenschaftlichen Schlüssen, dass sie die Maßstäbe, aus denen sie sich formt, aus Untersuchungen gewinnt, die mit den Mitteln der empirischen, nicht der a priori rationalen Wissenschaften durchgeführt worden sind. Mit dem Ausdruck „technisch“ soll gesagt werden, dass die Wahrnehmung der Straffunktion nicht moralistisch-vergeltender Natur ist, sondern nur ein Mittel zu einem Zweck darstellt, und dass daher die Strafe als ein Instrument aufgefasst wird, das in der besten Weise nach den Bedürfnissen der Technik im Hinblick auf das zu erreichende Ziel ausgestaltet wird, wobei jede philosophische und religiöse Frage in dem Sinne offen gelassen wird, dass gerade wegen der rein technischen Natur dieser Richtung die Maßstäbe, an denen sie sich orientiert, von den Anhängern jeglicher philosophischen und religiösen Richtung übernommen werden könnten. Die wichtigsten Punkte, in denen sich die erwähnte Richtung zusammenfassen lässt, sind die folgenden:
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Vor allen Dingen bildet sich in ihrem Schoß immer mehr das heraus, was als der juristische Charakter der positivistischen Schule bezeichnet worden ist und besonders von Eugenio Florian betont worden ist, der von Anfang an die Verbindungen und Grenzen der verschiedenen, von der neuen Richtung erneuerten Kriminalwissenschaften genau beschrieben hat. Daher kann heute niemand mehr deren Unterscheidung bestreiten, sondern alle erkennen die grundlegende Verschiedenheit der juristischen Methode, welche die Strafrechtswissenschaft im engeren Sinne (d.h. die Strafrechtsdogmatik) anwendet, von der anthropologischen und soziologischen Methode, derer sich die anderen kriminalistischen Disziplinen bedienen müssen, an. Und deshalb können unsere Gegner nur vergeblich versuchen, die positivistische Schule von dieser Seite her zu bekämpfen. Was aber die Strafe angeht, so wird anerkannt, dass ihre Funktion der Verteidigung der Rechtsordnung sich nicht nur in Form der Spezialprävention (bzw. Individualprävention), sondern auch in der Form der Generalprävention aktualisiert, deren Bedeutung zunächst nicht angemessen beachtet worden war, weil zunächst gegen das herrschende System vorgegangen werden musste, das sie als einzige Funktion der Strafe bezeichnete. Die Aussage geht also nicht mehr dahin, dass die Strafe nicht auch Zwecken der Generalprävention durch Abschreckung der Allgemeinheit der Rechtsgenossen dienen dürfe, [107] sondern dahin, dass die repressiven Rechtsinstitute in der Weise organisiert sein müssen, dass sie wirksam die Wiedereingliederung des Täters bewirken und dass sie ferner in den Fällen, in denen es völlig ausgeschlossen ist, zugleich die Zwecke der Generalprävention und diejenigen der Spezialprävention zu befriedigen, dieser der Vorrang vor jener einzuräumen ist. Dies gilt übrigens nur für normale Zeiten, denn in Notstandszeiten wie während eines Bürgerkrieges oder des Krieges gegen den äußeren Feind ist es unmöglich, an Zwecke der Spezialprävention zu denken, sondern drängt es, nur noch die Zwecke der Generalprävention zu berücksichtigen. Jene Eklektiker, die glauben, sie hätten eine Versöhnung zwischen den beiden wissenschaftlichen Richtungen entdeckt, indem sie die Auffassung verkünden, es müsse mehrere Strafzwecke geben, beweisen daher nur, dass sie die komplexen und ausgewogenen Lehren der positivistischen Schule nicht kennen, welche diese Pluralität der Zwecke vollständig anerkennt. Insofern ist noch zu ergänzen, dass die Verteidigungsstrafe überhaupt nicht die Möglichkeit ausschließt, Strafe auch als moralische Vergeltung zu konzipieren – allerdings unter der Bedingung, dass es sich um eine objektive moralische Vergeltung handelt, die wir lieber als eine rechtlich-soziale Vergeltung bezeichnen möchten; diese besteht in der Feststellung, dass das Verhalten im Widerspruch zu den Gesetzen der Moral steht und die Unterwerfung des Täters unter eine Beschränkung seiner Rechtssphäre entsprechend seinem geringeren sozialen Wert zur Folge hat, unabhängig von der Feststellung ob – wegen seiner psychischen Natur im Zeitpunkt der Tat – der Täter hätte anders handeln können, und unabhängig insbesondere von der Feststellung, ob der Zustand der Psyche, wie sie sich im Zeitpunkt der Tat darstellt, ausschließlich auf die Schuld der Täters an seinem Leben vor der Tat zurückzuführen ist oder ob ihn äußere Ursachen beeinflusst haben.
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Diese objektive Vergeltung schließt allerdings stets eine moralische Missbilligung ein, so dass auch in der Konzeption der Verteidigungsstrafe eine Bekräftigung der moralischen Werte enthalten ist; wie ja überhaupt jede Anwendung der Verteidigungsstrafe zur Stärkung der Achtung vor den moralischen Geboten beiträgt und das ganze erzieherische Wirken und die Wiedereingliederung der Täter durch Vollstreckung der Strafe dazu beiträgt, die Zahl jener zu vermehren, denen die Beachtung der sittlichen Gebote eine Gewissenssache ist. Was sodann den Charakter der subjektiven moralischen Vergeltung angeht, so wird sie von dem Verständnis der Kriminalsanktion als Verteidigung nicht geleugnet, sondern nur überwunden, und zwar in dem Sinne, dass die VerteidigungsSanktion nicht auf ihre Anwendbarkeit auf Verhaltensweisen beschränkt ist, die dem freien Willen zugerechnet werden können, sondern sich auch auf jene Fälle erstreckt, in denen auf die Willensbestimmung des einzelnen Täters oder auf die Entwicklung seiner Psyche in dem der Tat vorausgehenden Leben Ursachen eingewirkt haben, die nicht auf die moralische Schuld des Handelnden bezogen werden können. Weil im übrigen – wie sogleich gezeigt werden wird – die wissenschaftlichtechnische Richtung zu den Sanktionsarten auch die abschreckende Strafe zählt, steht nichts entgegen, dass diejenigen, die an den freien Willen glauben, diese Art von Sanktion als subjektive moralische Vergeltung ansehen. Von Interesse ist nur dies, dass die Verteidigungsfunktion nicht den Zwecken der subjektiven moralischen Vergeltung untergeordnet oder geopfert wird, d.h. dass dort, wo für die Bedürnisse der sozialen Verteidigung oder für die Auswahl des besten Mittels der Wiedereingliederung des Täters andere Formen als die abschreckende (bzw. vergeltende) Strafe erforderlich sind, diese durch andere Sanktionsformen muss ersetzt werden können. Die wissenschaftlich-technische Richtung hält an der Straftat als Voraussetzung jeder repressiven Regelung fest. Und so, wie sie schon seit langer Zeit die Straftat stets als ein notwendiges und als das wichtigste Element für das Urteil über die kriminelle Gefährlichkeit bezeichnet hat (so dass sie über den Anspruch gewisser Kriminalpsychologen nur lächeln kann, die sich einbilden, sie hätten die Bedeutung der Straftat für die Rekonstruktion der Persönlichkeit des Täters entdeckt), so widersetzt sie sich jeder Einführung der Analogie als Rechtsquelle des Strafrechts. Wer nämlich gemeint hat, dass man nach den Grundsätzen der modernen Richtung gute Miene zu einer solchen Neuerung machen müsse, ist einer grandiosen Vermengung zwischen den Elementen des Urteils über die Gefährlichkeit und der Eigenschaft der Tat als Straftat erlegen. [108] Tatsächlich unterliegt es ja keinem Zweifel, dass man zur Feststellung der Persönlichkeit eines Menschen auch Handlungen heranziehen kann, die bloß unmoralisch sind (dies ist auch von Art. 133 des Codice Rocco anerkannt), um aber einen Menschen als kriminellen Menschen und seine Gefährlichkeit als eine kriminelle Gefährlichkeit zu qualifizieren, muss man stets wissen, um welche Straftaten es geht, denn ohne diese wird man die Gefährlichkeit niemals als eine kriminelle bezeichnen können; vielmehr muss hinzugefügt werden, dass für die moderne Richtung die sichere Vorhersage von Handlungen, welche eine Straftat
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enthalten, von besonderer Bedeutung ist, eben weil die Feststellung der Gefährlichkeit zwangsläufig auf Elementen beruht, die dem individuellen Maßstab ein weites Feld lassen. Der wichtigste Teil der Vervollkommnung der positivistischen Schule in den letzten Jahren besteht aber darin, dass sie ihre Position im Verhältnis zu den philosophischen Voraussetzungen besser präzisiert hat. Zweifellos ist die positivistische Schule in ihren Anfängen von der Leugnung des freien Willens ausgegangen und hat den Determinismus verkündet. Außer dieser anfänglichen Position gibt es aber keinerlei Grund, warum sie an dem Argument festhalten sollte, dass es, um die Legitimität des klassischen Systems und der subjektiven moralischen Vergeltung als Strafzweck bestreiten zu können, notwendig sei, den freien Willen zu leugnen; sie braucht dazu nur einerseits die Antinomien und Aporien aufzuzeigen, welche diese Position im spekulativen Bereich aufweist, auf die zahlreichen Beweise, die gegen sie angeführt werden und ihre Wahrheit in Zweifel ziehen, und folglich auf die Brüchigkeit der Grundlagen, auf denen eine solch schreckliche staatliche Tätigkeit, wie es das Strafen ist, errichtet wird, wenn man sie ausschließlich auf die so sehr bezweifelte und zweifelhafte Grundlage des freien Willens stützt; und andererseits genügt es nachzuweisen, dass auch dann, wenn der freie Wille existieren sollte, doch die konkrete Feststellung beim einzelnen Täter und insbesondere das Ausmaß dieser Freiheit in jeder einzelnen Willensäußerung eine so schwierige Aufgabe ist, dass es unmöglich erscheint, sie mit dem menschlichen Verstand zu lösen. Deshalb erweist es sich als nötig, den Strafzweck der subjektiven moralischen Vergeltung aufzugeben und sich auf das zu beschränken, was sehr viel sicherer und leichter ist, nämlich die Verteidigung gegen die kriminelle Gefahr. Indem die positivistische Schule die Leugnung eines solchen Begriffs nicht zur Grundlage des Strafrechts macht, tut sie übrigens nichts anderes, als zu den Lehren des ersten Förderers der neuen Richtung, Garofalo, zurückzukehren, der – wie man zu seiner Zeit zu sagen pflegte […] – die Grenzen der Willensfreiheit aufzeigt, ohne ihre Existenz zu leugnen. Die wissenschaftlich-technische Richtung erkennt nämlich an, dass unter den Arten der Kriminalsanktionen es auch die Abschreckungsstrafe geben muss, d.h. eine Art von Kriminalsanktion, die darauf zielt, die Wiedereingliederung des Täters durch die Zufügung eines Übels zu verwirklichen, das dazu dienen soll, seine Neigung zur Auflehnung gegen die bestehende Ordnung zu bekämpfen und seine Psyche daran zu gewöhnen, mit der Vorstellung eines Verbrechens die schädliche Folge zu verbinden, welche auf dieses folgt. Freilich kann diese Form der Abschreckung nur gegenüber Erst- und Gelegenheitstätern sowie – wenn auch nur in begrenztem Ausmaß – gegenüber Gewohnheitstätern wirksam werden. Gegenüber Hangtätern hingegen und schweren oder berufsmäßigen Gewohnheitsverbrechern und insbesondere auch gegenüber der großen Masse von Tätern, bei denen die psychischen Abweichungen besonders groß sind, ist die Hoffnung, auf eine bloße Abschreckung eitel; dort muss man vielmehr zu geeigneteren Formen übergehen, insbesondere zu einem Resozialisierungs- und Heilungssystem, bei dem die Besonderheiten der einzelnen Personen berücksichtigt werden.
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Es trifft somit nicht zu, dass die positivistische Schule die Strafen durch Sicherungsmaßregeln ersetzen will; wahr ist vielmehr, dass sie die verschiedenen repressiven Sanktionen vereinheitlichen will, sie allerdings in verschiedene Formen unterteilen will, zu denen, wie gezeigt, auch die Abschreckungssanktion gehört. Eben so wenig trifft es zu, dass die positivistische Schule den Unterschied zwischen bloßer Prävention (ante delictum) und Repression (post delictum) leugnet, also den Unterschied zwischen Polizeirecht und Strafrecht; sie sagt bloß, dass auch der Zweck der Repression in der Verteidigung bestehe, [109] wenn auch – gemäß der Lehre von Romagnosi – auf indirekte Weise, und dass somit Polizei und Kriminalrepression denselben gesellschaftlichen Zweck verfolgen. Noch weniger wünscht sie die Verhängung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen ausschließlich auf der Grundlage der Erforschung der Persönlichkeit des Verbrechers, denn es ist ihre tiefgreifende Überzeugung, dass die Forschungen der Kriminalanthropologie zwar Ergebnisse von außerordentlicher Bedeutung über die Ursachen des Verbrechens und die Mittel dagegen zeitigen können, im „gegenwärtigen Zeitpunkt“ indes sie noch nicht zu Ergebnissen von solcher Sicherheit und Endgültigkeit gelangt sind, dass das gutachterliche Urteil als „exklusive“ Grundlage für die Anwendung der genannten Maßnahmen dienen könnte. Und deshalb bleibt grundlegende Bedingung für ihre Anwendung immer noch die geschehene Straftat in ihrer symptomatischen Bedeutung als Garantie für den Schutz der persönlichen Freiheit zwecks Ausschluss jeder Missbrauchsmöglichkeit. Doch die Vervollkommnung der positivistischen Schule beschränkt sich nicht auf diese Präzisierung ihrer Position im Hinblick auf den freien Willen, sondern schließt auch eine Präzisierung ihrer Position gegenüber den verschiedenen philosophischen Systemen ein. Und wenn es denn wirklich stimmt, dass sie in ihren Ursprüngen positivistisch im philosophischen Sinne gewesen ist, so ist doch auch wahr, dass nichts sie verpflichtet, an den Grundsätzen dieses philosophischen Systems in dem Sinne festzuhalten, dass ihre Forderungen auch von dem übernommen werden können, der in der Philosophie einem anderen System folgen sollte. Dies ist ad abundantiam dadurch bewiesen, dass Raffaele Garofalo, einer der drei Gründer der modernen Richtung, sein ganzes Leben lang ein Spiritualist und guter Katholik geblieben ist. Zu sagen, dass der freie Wille ein Begriff sei, der nicht geeignet ist, als Grundlage für die strafrechtliche Kriminalitätsbekämpfung zu dienen, und dass man besser von ihm absehen solle, verpflichtet also keineswegs dazu, die Willensfreiheit zu leugnen; so wie ja auch, wenn man sagt, dass die Strafe darauf beschränkt werden solle, objektive bzw. rechtliche Vergeltung zu sein, man damit den Unterschied zwischen moralisch zurechnungsfähigen und nicht zurechnungsfähigen Personen so wenig leugnet wie die Möglichkeit der subjektiven moralischen Vergeltung, sondern nur behauptet, dass diese nicht Aufgabe des Strafrichters sei. Noch weniger ist es nötig, die Existenz Gottes oder die Unsterblichkeit der Seele zu leugnen oder zu deren Natur Position zu beziehen. Entsprechendes gilt für den Ursprung der Moral, der Absolutheit oder der historischen Relativität ihrer Gebote usw. Alles dieses sind Probleme, die jeder so lösen kann, wie er glaubt; er muss
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bloß zugestehen, dass Zweck des Strafrechts die Verteidigung ist und dass sich das Ziel setzt, den Täter unschädlich zu machen oder zu erziehen. Wir sind überzeugt, dass diese Vervollkommnung der positivistischen Schule – die teilweise auch als Veränderungen anzuerkennen wir uns nicht scheuen – sich als günstig für ihr besseres Verständnis bei allen denen erweisen wird, die das große Problem der Funktion der Strafe umtreibt. Es wäre nämlich absurd, anzunehmen, dass ein Strafrechtsverständnis, das im Widerspruch mit dem ethischreligösen Bewusstsein der Nation steht, zum staatlichen Gesetz werden könnte. Wir gehen sogar noch weiter und sagen, dass selbst dann, wenn es möglich wäre, es doch stets ein Unglück wäre, weil die Straffunktion, um wirksam zu sein, aus dem Volksbewusstsein quellen und von der allgemeinen Überzeugung ihrer Legitimität genährt sein muss. […] [111]
1. Kapitel: Das objektive Strafrecht […] [123] […] 4. Funktion der Strafe: Generalprävention und Spezialprävention Auf der Grundlage der erwähnten vier Eigenschaften, die für den Begriff der Strafe notwendig und hinreichend sind, ist es möglich, sie im Schoße [124] der Rechtsordnung zu erkennen; und folglich ist es möglich, die Strafrechtsnormen daran zu erkennen, dass ihre Sanktion in einer Strafe besteht. Damit aber die gesellschaftliche Funktion der Strafe in ihrer ganzen Vollständigkeit deutlich wird, muss man sie auch noch von anderen Gesichtspunkten aus beleuchten. Wie wir gesehen haben, ist die Strafe im wesentlichen das Mittel, mit dem die Gefahr künftiger Straftaten sowohl seitens der Allgemeinheit der Untertanen als auch seitens des Täters bekämpft wird; doch übt sie diese Funktion nicht nur im Zeitpunkt ihrer konkreten Verhängung aus, denn tatsächlich besitzt die Strafe Wirksamkeit vor allem als Hindernis der Straftat auch im Zeitpunkt ihrer Androhung, also bevor sich überhaupt eine Straftat ereignet hat. In diesem Zeitpunkt besteht die Strafe in „der Androhung einer Verminderung bestimmter Rechtsgüter, die sich an jeden richtet, der eine Straftat begehen wird“. Sie ist somit die Androhung eines Übels, und als solche ist es ihre Aufgabe, als Gegenansporn zu dem gesetzwidrigen Ansporn auf die Psyche einzuwirken, als Gegenmotiv gegen das Tatmotiv, gegen den rechtswidrigen Impuls, als Bremse und Hindernis der Verwirklichung der schädlichen oder gefährlichen Handlung. Diese nämlich stellt sich dem Geist des Handelnden als Verwirklichung eines Nutzens dar, als Erlangung eines Gutes, das geeignet ist, ein Bedürfnis zu befriedigen. Die Strafe nun, die ja in der Androhung eines Übels besteht, das der Straftat folgt, hat die Aufgabe, die Straftat selbst in der Vorstellung des Handelnden aus einer Ursache von Nutzen in eine Schadensursache zu verwandeln und ihn infolge dessen dazu zu bewegen, von der Straftat abzulassen, um nicht dem angedrohten Übel zu verfallen.
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Diese Drohung richtet sich ohne Unterschied an alle Untertanen, im Vertrauen eben darauf, dass sie die abschreckende Wirkung haben werde, diese von der Begehung von Straftaten abzuhalten (Generalprävention). Und von dieser Wirksamkeit hofft der Staat, dass sie sich nicht nur in dem Zeitpunkt einstellt, welcher der Tat unmittelbar vorausgeht, sondern auch in jedem anderen Zeitpunkt, indem sie als Auslöser einer psychisch-moralischen Persönlichkeit im Untertanen wirkt, welche die staatlichen Gebote achtet und sich der schädlichen Folgen, welche sich an die Straftat anschließen, bewusst ist. Die Kriminalsanktion ist daher im Zeitpunkt ihrer Androhung „eine präventive, durch einen psychischen Zwang bewirkte Verteidigung gegen die Straftat“. Zu dieser generalpräventiven Funktion der Strafe muss allerdings bemerkt werden, dass sie zwar zweifellos existiert, jedoch nicht als Unterscheidungsmerkmal der Strafen verstanden werden kann, denn sie begegnet ohne Unterschied auch bei allen anderen, nicht-strafrechtlichen, Sanktionen. In zweiter Linie muss sodann bemerkt werden, dass die Abschreckungswirkung der Strafe gewiss viel kleiner ist, als gemeinhin angenommen wird. Sie mag zwar eine gewisse Wirksamkeit jenen gegenüber besitzen, die unsicher zwischen Gut und Böse schwanken, doch wird diese Wirkung äußerst gering jenen gegenüber, bei denen die Neigung zum Verbrechen übermächtig ist. Man muss nämlich berücksichtigen, dass nach den Ergebnissen der Kriminalpsychologie der Verbrecher stets hofft, dass seine Straftat unentdeckt bleibe oder zumindest der Täter nicht entdeckt werde. Im übrigen denkt der Täter gar nicht an die Strafe, denn eine seiner hauptsächlichen Eigenschaften ist die Unvorsichtigkeit. Und schließlich ist noch hinzuzufügen, dass der Täter eine psychisch defekte Persönlichkeit ist, weswegen in ihm das Spiel von Antrieb und Gegenantrieb der Motive für die willentliche Tat sich in anormaler Weise entwickelt, vor allem durch die unwiderstehliche Macht des kriminellen Triebes, der die Widerstandskraft vernichtet. Nachdem so die Grenzen der generalpräventiven Funktion der Strafe im Zeitpunkt der Tat präzisiert sind, muss die Frage gestellt werden: Wie stuft man diese Drohung ab? Welches ist m.a.W. das Maß des Übels, das für die einzelnen Straftaten dem kriminellen Antrieb entgegengesetzt wird? Zwei Elemente dienen als Grundlage für die Bestimmung dieses Maßes: in erster Linie die Bedeutung des zu schützenden Gutes; die Drohung ist also um so größer, je größer das Interesse am Schutz des Gutes ist. Und in zweiter Linie die psychische Verfassung der Mehrheit der Untertanen, des normalen Menschen (uomo normale); als Drohung wird also jenes Übel eingesetzt, das ausreicht, den Durchschnittsmenschen (uomo medio) von der Tat abzuhalten. Wendet sich die Strafe nämlich an die Allgemeinheit der Bürger, so kann sie nur auf den Durchschnittstyp der Menschen ausgerichtet sein, während man sie erst im Zeitpunkt ihrer konkreten Anwendung an die jeweilige individuelle Psyche anpassen kann. Doch die Strafe erschöpft ihre Aufgabe nicht im Zeitpunkt ihrer Androhung. Gerade weil die bloße Strafdrohung nicht immer wirksam genug ist, um von der Straftat abzuhalten – denn der Einzelne empfindet wegen der vorübergehenden oder dauerhaften Besonderheiten seiner psychischen Lage die angedrohte Sankti-
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on nicht immer als Gegenantrieb zum kriminellen Antrieb –, entsteht die Notwendigkeit, die Strafe auch konkret zu verhängen. Auch im Zeitpunkt ihrer konkreten Verhängung dient die Strafe dazu, der Gefahr der Begehung von Straftaten seitens der Allgemeinheit der Untertanen zu begegnen (Generalprävention), demonstriert doch die konkrete Verhängung der Strafe den Bürgern, dass das angedrohte Übel auch wirklich verhängt wird; und deshalb wird auf diese Weise die Abschreckungsfunktion verstärkt, welche die Strafe im Zeitpunkt der Androhung ausübt, und überdies werden mit der konkreten Verhängung der Strafe die Auswirkungen der Straftat [126] und damit die indirekte gesellschaftliche Gefahr und die gesellschaftliche Erregung bekämpft. Denn zweifellos wird beim Tatopfer, bei den ihm nahe Stehenden und bei den anderen Mitbürgern die Lust, selber auf die Straftat mit Repressalien zu reagieren, vermindert, wenn sie feststellen, dass der Staat zu ihrem Schutz und zur Verhinderung weiterer Straftaten des Täters eingreift; auf diese Weise wird der natürliche Wunsch nach persönlicher Reaktion (Rache) auf die Straftat gedämpft und gestillt, da ja der Staat sich als Organ der öffentlichen Verteidigung und der Wiederherstellung der Gerechtigkeit an die Stelle des Verletzten setzt. Und mit der Verhängung der Strafe wird zugleich das schlechte Beispiel der Straftat bekämpft, indem mit der Tat auch die schädlichen Folgen vorgestellt werden, welche diese mit sich bringt; und schließlich beruhigt sich die gesellschaftliche Erregung, welche die Straftat in den Bürgern hervorgerufen hat, indem gezeigt wird, dass der Staat die Durchsetzung seiner Gebote beachtet und garantiert [...]. Die Strafe ist daher auch Verteidigung gegen die Gefahr von Straftaten, die aus privaten Racheaktionen, aus der Ansteckung mit Kriminalität und aus ihrem epidemischen Umsichgreifen sowie aus privaten Repressalien erwachsen. Doch neben diese Funktionen, welche die Strafe im Zeitpunkt ihrer konkreten Verhängung ausübt, stellt das moderne Repressionsrecht ihre prinzipiell indizierte Funktion, nämlich die, „die Gefahr neuer Straftaten seitens des Täters auszuschließen, indem man diesen unschädlich macht oder wieder zu einem freien Gemeinschaftsleben fähig macht“ (Spezialprävention). 5. Vorrang der Spezialprävention Aus dem Umstand, dass die Strafe das Mittel zur Bekämpfung der Gefahr neuer Straftaten ist, und zwar zugleich solcher seitens der Allgemeinheit und solcher seitens des Einzelnen, folgt die Notwendigkeit, sie in der Weise einzusetzen, dass sie beide Aufgaben gleichzeitig erfüllen kann. Allerdings kann es geschehen, dass im Zeitpunkt der konkreten Verhängung sich ein Widerspruch zwischen der generalpräventiven Funktion (Abschreckung der Allgemeinheit) und der spezialpräventiven Funktion (Besserung oder Unschädlichmachung) herausstellt. Im allgemeinen freilich kann die generalpräventive Funktion, d.h. die Abschreckung der Allgemeinheit der Bürger mit der spezialpräventiven Funktion koexistieren und koexistiert auch wirklich mit ihr, denn auch die etwaige Abänderung der angedrohten Strafe im Sinne einer Anpassung an die besondere psychische Verfassung des Täters (Spezialprävention) schließt nicht aus, dass auf alle Bürger
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die Tatsache der konkreten Verhängung der Sanktion doch immer noch eine abschreckende Wirkung besitzt (Generalprävention). Manchmal allerdings können die Erfordernisse der Generalprävention in einen Widerspruch mit denen der Spezialprävention geraten, indem sie, um tatsächlich wirksam zu sein, eine höhere oder geringere und womöglich ganz andere Sanktion fordern als jene, die aus den schlichten und einfachen Erfordernissen der Generalprävention folgt, oder es kann geschehen, dass im konkreten Fall es keinerlei Notwendigkeit zur Verhängung einer Sanktion gibt, weil der Täter des Verbrechens nicht [127] gebessert oder unschädlich gemacht zu werden braucht. In diesem Fall nun wird der Gegensatz zwischen den beiden Präventionen – der General- und der Spezialprävention – vom modernen Kriminalrecht dahin gelöst, dass der Vorrang derjenigen gebührt, welche wirksamer den obersten Zweck, nämlich den der Sozialverteidigung, welche Grund und Rechtfertigung der Strafe ist, zu erreichen vermag. Gewiss ist anzuerkennen, dass es praktisch recht schwierig ist, das Gewicht der beiden Funktionen abzustufen, um festzusetzen, welche von ihnen den Vorrang verdient; deshalb muss vor allem versucht werden, für die beiden Funktionen eine jeweils angemessene Berücksichtigung zu finden, indem man die Erfordernisse derselben angleicht, sie koordiniert und sie zur Erreichung des obersten Zweckes: dem Kampf gegen das Verbrechen, hin steuert. Falls jedoch diese Angleichung der beiden Erfordernisse sich als absolut unmöglich erweist, ist es zweifellos vernünftiger, der Spezialprävention den Vorrang einzuräumen, denn vor allem die Erkenntnisse der Kriminalpsychologie zeigen, dass die Abschreckungswirkung der Kriminalsanktion viel geringer ist, als man gewöhnlich annimmt, und die Aufopferung der Spezialprävention zugunsten der Generalprävention bringt einen sicheren und irreparablen Schaden, während die Aufopferung der Generalprävention zugunsten der Spezialprävention – ohnehin seltene Fälle, ja ausgesprochene Ausnahmefälle – einen nur ungewissen, ja sogar unwahrscheinlichen Schaden mit sich führt. Während man nämlich im ersten Fall eine ungeeignete Sanktion über eine Person verhängen würde und daher die Aufgabe, sie wieder zum Leben in der Gemeinschaft zu befähigen, nicht angemessen erfüllen würde, würde im zweiten Falle die Abschreckung gegenüber den Bürgern deshalb nicht geringer, denn für diese kommt es nicht auf einen einzelnen Fall an, sondern sie erwächst aus der Gesamtheit aller Fälle, in denen die Drohung mit der Kriminalstrafe ihre konkrete Umsetzung findet. Aber natürlich besitzt das, was bis hierher über den Vorrang der Spezialprävention gesagt worden ist, nur grundsätzlich Bedeutung, denn es lässt sich nicht leugnen, dass unter bestimmten historischen Umständen, d.h. ausnahmsweise, der Generalprävention größere Bedeutung zuerkannt werden muss. Dies ist eben dann der Fall, wenn der Gesetzgeber mit der Strafdrohung das Stattfinden einer Tat, die von der Mehrheit noch nicht als sozial verwerflich „empfunden“ wird, verhindern will und deshalb eine Tat mit einer höheren Strafe als derjenigen belegt, die durch ihre symptomatische Bedeutung gefordert wäre. In einem solchen Falle nimmt das Strafgesetz das Urteil und das Gefühl der Sozialwidrigkeit, das im Hinblick auf
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diese Tat mit der Zeit im Bewusstsein der Bürger aufkommen wird, vorweg und bereitet es vor; und wenn dies dann geschehen ist, werden sich die normalen Verhältnisse zwischen Generalprävention und Spezialprävention wieder herstellen, indem man der letzteren den Vorrang im Augenblick der konkreten Verhängung der Sanktion wieder zuerkennen wird. Es muss ferner noch darauf hingewiesen werden, dass das, was gesagt worden ist, nicht ohne [128] Vorbehalt für das Militärstrafrecht gelten kann, insbesondere für die Zeit des Krieges, in der ganz und gar das Ziel der Generalprävention verfolgt werden muss. Dasselbe gilt für die Revolution und den Bürgerkrieg innerhalb des Staates. 6. Die kriminelle Gefährlichkeit als Strafmaß Aus dem, was dargestellt worden ist, ergeben sich zwei Folgerungen von besonderer Wichtigkeit. Und zwar als erste diese: Soll die Strafe im Zeitpunkt ihrer konkreten Verhängung die Aufgabe sowohl der Generalprävention als auch der Spezialprävention ausüben, so muss sie in diesem Zeitpunkt verhältnismäßig zur „kriminellen Gefährlichkeit“ des Täters sein; und genau dies ist es, was im positiven italienischen Recht anerkannt ist, denn es bestimmt in Art. 133 Abs. 2, dass „der Richter bei der Ausübung seines Ermessens die verbrecherische Kapazität des Verurteilten (capacità a delinquere del colpevole) berücksichtigen“ muss. Diese Vorschrift besitzt eine außerordentliche Bedeutung im System des geltenden Rechts und bildet das Herz des ganzen strafgesetzlichen Organismus. Und es ist ja auch offenkundig, dass, wenn das Gesetz die Maßstäbe bestimmt, die vom Richter bei der Ausübung seines Ermessens obligatorisch zu befolgen sind, dies bedeutet, dass es eben diese Maßstäbe bei der Erarbeitung des gesamten gesetzlichen Systems befolgt hat; denn die Tätigkeit des Richters ist nichts anderes als die Fortsetzung der Tätigkeit des Gesetzgebers, und es wäre absurd, wenn der eine und der andere unterschiedliche Maßstäbe befolgen würden. Die immense Bedeutung, welche die erwähnte Vorschrift, indem sie die Ermessensbefugnis des Richters steuert, für den Aufbau des Strafrechtssystems besitzt, kann daher gar nicht genug hervorgehoben werden, denn sie ist wirklich dessen zentraler und vitaler Teil, von dem alle anderen abhängen und von dem sie Bedeutung und Erleuchtung empfangen. Und weil – wie gesagt – diese Vorschrift bestimmt, dass die Ermessensbefugnisse sich an der Betrachtung der Verbrechenskapazität (bzw. der kriminellen Gefährlichkeit) orientieren sollen, so folgt daraus, dass das gesamte System des geltenden Rechts an diesem Maßstab orientiert ist. Bestätigt wird dies im übrigen durch die beiden Berichte des Justizministers, [...] der die Art, wie die verschiedenen Rechtsinstitute im neuen Strafgesetzbuch geregelt sind, mit dem wiederholten Hinweis auf die Maßstäbe der symptomatischen Bedeutung der Straftat, der Persönlichkeit, des Charakters des Täters und dessen Gefährlichkeit rechtfertigt. [129]
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Und wenn mancher meint, bestreiten zu können, dass die Verbrechenskapazität, verstanden als eine Form der kriminellen Gefährlichkeit, im Mittelpunkt des Strafrechtssystems stehe, und sich für diese Auffassung darauf beruft, dass bei leichten Straftaten, beispielsweise bei Übertretungen, von Gefährlichkeit nicht gesprochen werden könne, so ist es leicht, diesen Einwand in einen höchst wirksamen Beweis der Wahrheit des erwähnten Grundsatzes umzukehren, denn einerseits hat das Strafgesetzbuch selbst ja die Figur des Gewohnheits- und Berufsübertreters (contravventore abituale e professionale) geschaffen, eine Eigenschaft, die der Richter nur dann einer Person zuschreiben soll, nachdem er deren Gefährlichkeit festgestellt hat (Art. 104 und 105), und andererseits gibt es auch die Gefahr weiterer Übertretungen. 7. Aus dem Grundsatz, dass zur Erfüllung der Aufgabe der Spezialprävention die Strafe im Zeitpunkt der konkreten Anwendung an die Verbrechenskapazität des Täters angepasst werden müsse, folgt als weitere logische Konsequenz, dass die Strafe auch in der Form an die Art der Gefährlichkeit des Täters angepasst und angeschmiegt werden muss (Individualisierung der Strafe), indem sie nach den verschiedenen psychologischen Typen der Verbrecher jeweils die Form der abschreckenden, der erzieherischen, der unschädlich machenden und der heilenden Strafe annehmen muss. Diese Konsequenz hat im geltenden italienischen Recht eine vollständige Anwendung durch das erfahren, was die jüngste Gesetzgebung über jugendliche Täter bestimmt, welche Jugendgerichte eingesetzt hat; und was die anderen Täterkategorien angeht, so wird die Funktion der Ausschaltung durch die Todesstrafe und das lebenslängliche Zuchthaus ausgeübt, die Abschreckungsfunktion durch das Gefängnis, während mit den Sicherungsmaßregeln den Funktionen der Heilung und Erziehung gedient wird. Denn für die Geisteskranken ist die Justiz-Irrenanstalt vorgesehen, für Gewohnheitstrinker und für Geistesschwache die Trinkerheilanstalt und die Überwachung usw., während für die zurechnungsfähigen Täter die Agrarkolonie und das Arbeitshaus vorgesehen sind. Es muss freilich hinzugefügt werden, dass nach der Verfassung auch jede freiheitsentziehende Strafe der Erziehung der Verurteilten dienen soll. 8. Die zweite Konsequenz, die aus dem oben Gesagten (dass nämlich im Falle des Widerspruchs zwischen Generalprävention und Spezialprävention der zweiten der Vorrang eingeräumt werden müsse) folgt, ist diese: Wenn die Strafe nach der kriminellen Gefährlichkeit des Straftäters bemessen werden muss und wenn sie in einer Verminderung von Rechtsgütern besteht, welche geeignet ist, diese Gefährlichkeit zu bekämpfen, indem sie den Täter entweder unschädlich macht oder resozialisiert, so folgt daraus logisch zwingend, dass jeder Anlass für die Verhängung einer Strafe entfällt, wo die Täterpersönlichkeit im Zeitpunkt der Verurteilung nicht mehr der Resozialisierung oder der Unschädlichmachung bedarf, d.h. wenn sie nicht mehr gefährlich ist. Daher gehört zu den fundamentalen Grundsätzen des modernen Strafrechts der folgende: „Keine Strafe ohne Gefährlichkeit des Täters“; dies bedeutet folgerichtig auch, dass im modernen Strafrecht – so sehr
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dies im allgemeinen und normalerweise auch der Fall ist – nicht zwingend und absolut der Straftat immer und in allen Fällen die konkrete Verhängung einer Strafe folgen muss. Auch diese Auffassung hat im geltenden positiven Recht, wenn auch nur in ängstlicher Form, ihren Niederschlag gefunden, denn es kennt die beiden Rechtsinstitute des richterlichen Absehens von Strafe (perdono giudiziale) für Personen unter 18 Jahren (Art. 169) und der bedingten Strafaussetzung (sospensione condizionale) der Strafe auch für Erwachsene (Art. 163) und enthält Vorschriften, in denen ausdrücklich gesagt wird, dass diese Rechtsinstitute angewendet werden müssen (Art. 164 und 169), „wenn unter Berücksichtigung aller in Art. 133 genannten Umstände (Verbrechenskapazität) der Richter vermutet, dass der Angeklagte sich der Begehung weiterer Straftaten enthalten wird“. Diese Vorschrift wird in Beziehung gesetzt zu derjenigen über die bedingte Entlassung (liberazione condizionale) (Art. 176), wonach die Strafe abgekürzt werden kann, wenn der Verurteilte „dauerhafte Beweise guter Führung geliefert“ hat; dies impliziert jedoch gerade, dass die Strafe in dem Augenblick weichen soll, in dem auch die Gefährlichkeit weicht. 9. Die Funktion der Strafe als Mittel zur Verhinderung von Strafen, wie sie bis hierher beschrieben worden ist, wird noch deutlicher, wenn man sie im Zusammenhang mit anderen Formen staatlicher Tätigkeit betrachtet, die denselben Zweck verfolgen. Denn der Staat begegnet der Gefahr von Straftaten mit direkten und unmittelbaren, mit näheren und entfernteren Mitteln. a) Die Verbrechensgefahr veranlasst nämlich in erster Linie eine Reihe von staatlichen Maßnahmen, mit denen die – anthropologischen, physischen und gesellschaftlichen – Ursachen entfernt werden sollen, welche den Menschen zur Begehung von Straftaten bestimmen. Diese Vorschriften sind ganz unterschiedlicher Natur und gehören ganz verschiedenen Feldern staatlicher Tätigkeit – sowohl der rechtlichen als auch der gesellschaftlichen – (Unterstützung und Fürsorge) an und bilden als solche begrifflich nicht einen einheitlichen Organismus; allgemein können sie bezeichnet werden als indirekte Maßnahmen der Kriminalverteidigung (indirekte, entferntere Prävention). b) In zweiter Linie veranlasst die Verbrechensgefahr das Eingreifen schutzpolizeilicher Tätigkeit, d.h. jenes Teil polizeilicher Tätigkeit, der „den Schutz der öffentlichen Ordnung“ zum Gegenstand hat (Direkte, unmittelbare Prävention). c) In dritter Linie schließlich stellt der Staat sich der Verbrechensgefahr [131] mittels der Strafe in der oben bezeichneten Weise (Repression zum Zwecke der Prävention) entgegen. 10. Aus allem, was bislang dargestellt worden ist, ergibt sich, welches die wesentlichen Eigenschaften der Strafe sind und welches ihre gesellschaftliche Funktion ist. Und deshalb können wir nunmehr auch ihre weiteren Eigenschaften bezeichnen,
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die man abgeleitete Eigenschaften nennen kann, da sie die Folgen ihrer rechtlichgesellschaftlichen Natur sind, wie sie oben beschrieben worden ist. a) Personalität der Strafe, womit gemeint ist, dass sie ausschließlich den Täter des Verbrechens trifft, dass sie also einzig und allein den Bereich der ihm gehörenden Rechtsgüter trifft, ohne die Rechtsgüter anderer Personen zu berühren, die mit ihm durch Verwandtschaftsbande verbunden sind. Eben wegen dieser Eigenschaft ist die Konfiskation der Güter des Verurteilten ausgeschlossen. Und diese Eigenschaft wird auch nicht etwa dadurch aufgehoben, dass der abhängigen Person eine bürgerlichrechtliche Verpflichtung zu einer Geldbuße i.S. der Art. 196, 197 auferlegt wird, denn hier handelt es sich nicht um eine strafrechtliche, sondern um eine bürgerlichrechtliche Verpflichtung, die der Verpflichtung aus unerlaubter Handlung entspricht. b) Verhältnismäßigkeit der Strafe, indem sie stets im Verhältnis zum Rechtsgrund stehen muss, dessen Folge sie ist. Als dieser Rechtsgrund kann im modernen Strafrecht sowohl die Straftat als auch die psychische Persönlichkeit des Täters bzw. dessen Gefährlichkeit angesehen werden [...]; denn in ihrer symptomatischen Bedeutung aufgefasst, ist die Straftat stets die Enthüllung der psychischen Persönlichkeit und der Gefährlichkeit einer Person [...], weshalb die Aussage, dass die Strafe im Verhältnis zur Straftat stehe, gleichbedeutend ist mit der Aussage, dass sie im Verhältnis zur psychischen Persönlichkeit des Handelnden als wahrscheinliche künftige Verbrechensursache steht. Gesetzt also, dass es keinen Unterschied und erst recht keinen Gegensatz zwischen dem esse und dem operari gibt, erweist sich, dass der Grundsatz mit dem man das moderne Straftat hat zusammenfassen wollen – „Nicht die Tat, sondern der Täter ist zu bestrafen“ –, nur bedeutet, dass die Strafe im Verhältnis zur Straftat nicht nur in deren ursächlicher Bedeutung, sondern auch und hauptsächlich in deren symptomatischer Bedeutung steht. Steht aber die Strafe stets im Verhältnis zum Stand der Gefährlichkeit, so folgt daraus auch, dass sie so beschaffen sein muss, dass sie in identischen Fällen auch das selbe Ergebnis zeitigt. Nun kann es aber geschehen, dass die [132] Gefährlichkeit zweier Verbrecher zwar gleich groß ist, dass aber die anderen individuellen und sozialen Umstände, unter denen die beiden leben, unterschiedlich sind, so dass die Verhängung einer identischen Sanktion über beide zu einem unterschiedlichen Ergebnis führen würde. Dies ergibt sich beispielsweise im Falle zweier Personen, die zwar Täter einer gleichen Straftat sind und dieselbe Gefährlichkeit aufweisen, jedoch unterschiedliches Vermögen besitzen, so dass die Verhängung einer gleich hohen Geldstrafe von den beiden Betroffenen ganz unterschiedlich empfunden würde. Daraus ergibt sich der im neuen Gesetzbuch sanktionierte Grundsatz, wonach die Höhe der Geldstrafe nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten des Verurteilten bestimmt werden muss; tatsächlich bestimmen die Art. 24 und 26, dass, „wenn wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters sich die vom Gesetz bestimmte Geldstrafe (bzw. Geldbuße) auch bei Anwendung des Höchstmaßes als unwirksam erweisen könnte, der Richter die Befugnis besitzt, sie bis zum dreifachen Betrag zu erhöhen“.
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c) Die Strafe hat ferner die Eigenschaft der Vergeltung, freilich nicht mehr im Sinne einer ethisch-moralischen Vergeltung als ein „Übel, das um des Übels willen zugefügt wird“ zwecks Verwirklichung eines Zweckes absoluter moralischer Gerechtigkeit, sondern im Sinne einer rechtlich-sozialen Vergeltung, d.h. der „Bestimmung einer rechtlichen Bedingung oder Position im Verhältnis zum rechtlich-sozialen Wert der Person“. Und da nun der Verbrecher durch die Tatsache, dass er die Tat begangen hat, und durch seinen Zustand der Gefährlichkeit einen geringeren gesellschaftlichen Wert enthüllt hat, so vermindert die Strafe den Kreis seiner Rechtsgüter eben im Maße der erwiesenen geringeren Fähigkeit zum Umgang mit diesen Gütern. Daraus folgt, dass die kriminalrechtliche Sanktion gerade in dem Umfang, in dem sie den Kreis der Rechte und Pflichten des Täters gegenüber dem Staat abändert, indem sie also seine öffentliche Persönlichkeit dadurch verändert, dass sie ihm einen persönlichen Status auferlegt, der sich von dem der Allgemeinheit der Bürger unterscheidet (vor allem in Form der Einschränkung des öffentlichen subjektiven Rechts der Freiheit), als eine solche bezeichnet werden kann, die „den Status der Straftäter bildet“ [133] Und so, wie die Verminderung der Rechtsgüter auf ein gesellschaftliches Werturteil über das Verhalten des Täters zurückgreift, enthält die Verhängung der Strafe einen rechtlich-sozialen Vorwurf gegen eben dieses Verhalten. d) Die vierte und letzte abgeleitete Eigenschaft der Strafe ist ihre Notwendigkeit, indem sie nur verhängt wird, wenn und soweit sie sich in den einzelnen konkreten Fällen als absolut notwendig erweist (ökonomisches Prinzip des geringsten Leides). Und nur, wenn sie sich auch in der Form und im Ausmaß inerhalb der Grenzen der Notwendigkeit hält, ist sie moralisch gerecht. Daraus folgt, dass die Anwendung der Strafe im Rahmen des Rechtssystems nur erfolgen darf, wenn jedes andere Mittel unzulänglich ist und wenn jede Übertreibung bei der Strafandrohung vermieden wird – auch deshalb, weil die Wirksamkeit der Strafe um so mehr abnimmt, je mehr von ihr Gebrauch gemacht wird. Aus der erwähnten Eigenschaft folgt auch, dass die Anwendung der Strafe aufhören muss, wenn die Erfordernisse der Spezialprävention nicht mehr bestehen, d.h. wenn der Verurteilte für die Strafrechtsordnung nicht mehr gefährlich ist. In eben dieser Eigenschaft der Strafe haben die Rechtsinstitute [134] des Absehens von Strafe, der Verurteilung mit Bewährung, der freiwilligen Geldleistung (oblazione volonaria) und der bedingten Entlassung ihren Ursprung. Und hauptsächlich wegen dieser Eigenschaft der Strafe tendiert – neben anderen Gründen ethischer Art – das moderne Strafrecht dahin, die Todesstrafe wenn schon nicht geradezu abzuschaffen, so doch zumindest ihre Anwendungsfälle auf ein Minimum zu beschränken, denn diese ist – auch wenn sie unter Umständen nützlich sein mag – nicht absolut notwendig. Und ebenfalls wegen dieser Eigenschaft tendieren die modernen strafrechtlichen Sanktionen dahin, das in ihnen enthaltene „Übel“ immer mehr zu reduzieren, vor allem was den Vollzug der Freiheitsstrafen angeht.
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11. Aufgrund alles bisher Ausgeführten, worin das Rechtsinstitut der Strafe von allen Seiten beleuchtet worden ist, ergibt sich somit deren Position im System aller Maßnahmen der staatlichen Organe aufgrund der gemeinsamen und unterschiedlichen Eigenschaften, mit denen sie sich diesen jeweils annähert oder sich von ihnen entfernt. Und zwar: a) Indem die Strafe in einer Verminderung der Rechtsgüter bzw. einer Einschränkung der Rechtssphäre einer Person besteht, steht sie einerseits neben all jenen staatlichen Maßnahmen, welche dieselbe Eigenschaft besitzen, und bildet andererseits zusammen mit ihnen einen Gegensatz zu jener Tätigkeit staatlicher Organe, die in der Ausweitung und Steigerung dieser Rechtssphäre besteht, sei es, dass diese als Belohnung auftritt, sei es, dass sie unter anderer rechtlicher Bezeichnung auftritt (Ermächtigung, Erlaubnis, Vorrechte, Immunität etc.): b) Doch unterscheidet die Strafe ihrerseits sich von staatlichen Maßnahmen, die in einer Beschränkung der Rechtssphäre einer Person bestehen, indem sie ein Mittel zur Behinderung von schädlichen oder gefährlichen Handlungen bildet, d.h. indem sie zur rechtlichen bzw. Schutz garantierenden Tätigkeit des Staates gehören; und als solche stehen sie dessen sozialer Tätigkeit gegenüber. Deshalb ist die Strafe gerade wegen dieser Eigenschaft – neben jenen Eigenschaften, von denen noch die Rede sein wird – klar getrennt zu halten von jenen Unterstützungsmaßnahmen und Maßnahmen der öffentlichen Wohlfahrt, die zwar ebenso wie die Strafe in einer Beschränkung von Rechtsgütern bestehen, bei denen diese Beschränkung aber nicht ein Mittel der Verhinderung einer für andere schädlichen oder gefährlichen Handlung ist, sondern ihre hervorstechende, spezielle und wesentliche Eigenschaft in der Hilfe und Unterstützung für die von der Maßnahme betroffene Person selbst besteht. [135] c) Unter den staatlichen Maßnahmen, die Mittel der Verhinderung einer schädlichen oder gefährlichen Handlung sind, unterscheidet die Strafe sich insoweit von den anderen darin, dass diese schädliche oder gefährliche Handlung, deren Geschehen verhindert werden soll, in einem Unrecht besteht, dessen Begehung man seitens desjenigen, gegen den die Beschränkung sich richtet, befürchtet. d) Als Mittel der Verhinderung eines Unrechts nähert die Strafe sich ihrerseits den Maßnahmen mittelbarer Prävention gegen gefährliche Klassen an, mit denen sie die Eigenschaft gemeinsam hat, dass sie nach Maß und Form im Verhältnis zur kriminellen Gefährlichkeit der Person steht und dass es ihr darum geht, diese unschädlich zu machen oder zu resozialisieren; sie unterscheidet sich jedoch eindeutig von diesen Maßnahmen (wie auch von den Sicherungsmitteln des Privatrechts wie des öffentlichen Rechts), weil sie eine Sanktion ist, d.h. die Rechtsfolge eines Unrechts. Obwohl also die Strafe ein Mittel zur Verhinderung des Unrechts ist, tritt sie doch als Reaktion auf ein bereits geschehenes Unrecht und als Repression desselben auf. Während daher die erwähnten schutzpolizeilichen Maßnahmen reine bzw. bloße Prävention sind, ist die Strafe eine Repression zum Zwecke der Prävention; so dass zwar sowohl die Strafe als auch die Maßnahmen gegen gefährliche Klassen Mittel zur Verhinderung eben des Unrechts (der Straftat) sind und sich einer
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und derselben Gefahr entgegenstellen, im Falle der Strafe eine Tat der befürchteten Art aber bereits geschehen ist und das Bestehen der Gefahr grundsätzlich aus ihr abgeleitet wird, während bei den schutzpolizeilichen Maßnahmen gegen gefährliche Klassen diese Tat noch nicht begangen worden ist und daher das Bestehen der Gefahr aus anderen Merkmalen als denen der Straftat abgeleitet wird.
Giuseppe Bettiol (1907–1982) Das Strafrechtsproblem (Il problema penale) (1948) [34] 2. Kapitel: Strafrecht und Politik 1. Der vertragstheoretische Individualismus [...] In den letzten Jahren ist die Untersuchung der Verknüpfung von Strafrecht und Politik lebhafter und heftiger geworden als je zuvor nach dem Scheitern jener methodologischen Tendenz, welche die formale Struktur der Rechtsnorm als einzigen Gegenstand ansah, mit dem der Jurist sich zu befassen habe. Dies war eine Tendenz, die ihre Erklärung in einer Zeit absoluter politischer Ruhe wie jener zwischen dem Ende des preußisch-französischen Krieges und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges finden konnte, die aber heute, nach so vielen politischen, militärischen, gesellschaftlichen Verwerfungen gewiss nicht mehr beanspruchen kann, dass ein Wissenschaftler, der sich in der von der Geschichte gezogenen Spur bewegt und eine nützliche und ertragreiche Arbeit zu verrichten wünscht, sie sich zu eigen macht. In der jüngeren Zeit verstand man hingegen [35] die Beziehungen zwischen Strafrecht und Politik im Sinne einer Auflösung der wissenschaftlichtheoretischen Kategorien des Rechts in einer politischen Praxis, die alles umstürzt und der jeder zu Diensten zu sein hat; dies führte nicht nur zur Leugnung einer Wissenschaft des Strafrechts als politischer Wissenschaft, sondern auch zu einer reinen und schlichten Form des Straf-Terrors. Spricht man von Straf-Terror, so darf man nicht glauben, dass dieser sich allein in der Guillotine und in ExekutionsPelotons niederschlage, denn zum Terror gehört auch eine milde Verurteilung durch einen Richter, wenn dessen Ermessen keine präzisen Grenzen gesetzt sind. Terror ist ein Synonym für individuelle und richterliche Willkür; hingegen beginnt das Strafrecht gerade dort, wo die Willkür endet. Es zeigt sich historisch als ein Kampf gegen den Terror, als ein Bemühen, sich vom Joch einer „Willkür“ zu befreien, wo nur die Zweckmäßigkeit des Augenblicks der Leitfaden des Richters ist. Das Reich des Strafrechts ist keineswegs das Reich der strengen und rigiden Formen, doch es ist erst recht nicht das einer vollständigen Willkür, welche das Strafrecht mit der Politik gleichsetzt. Die Norm, Ausdrucksform einer abstrakten Gerechtigkeit, muss an die Billigkeit angepasst werden; diese aber verlangt zwingend die Anerkennung eines gewissen Ermessens, denn Billigkeit bedeutet Mäßigung eines abstrakten Gerechtigkeitsgebots im Hinblick auf einen konkreten Fall. [...] [38] [...] 2. Der Liberalismus der Rechten Aus der Sicht des kontraktualistischen, d.h. vertragstheoretischen Individualismus ist eine rationale Rechtfertigung des Strafrechts nicht möglich; denn wenn der Staat eine – wenn auch bloß hypothetische – Schöpfung des Individuums ist, so kann nicht rational angenommen werden, dass dieses seiner Verleugnung zustimme. Der Staat ist ein Instrument des Lebens, nicht aber Kerkermeister oder Schlächter! Und im Grunde haben andere individualistische Richtungen wegen
E. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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der Unmöglichkeit, diesen Einwand zu entkräften, die Annahme eines Sozialvertrages aufgegeben und statt dessen die Auffassung von der Notwendigkeit des Staates aufgrund eines natürlichen Bedürfnisses vertreten. Der Mensch wird danach nicht mehr als von einem natürlichen sozialen Organismus losgetrennt, sondern als in eine Ordnung bzw. in eine Reihe von Ordnungen eingefügt angesehen, die, obwohl sie, architektonisch betrachtet, über ihn hinausgehen, ihm, funktional betrachtet, doch untergeordnet sind. Dies soll heißen, dass der Staat zwar ein natürlicher Organismus ist, der über den Menschen hinausreicht, dass er jedoch deshalb existiert, weil der Mensch in ihm alle Bedingungen für seine Entwicklung und Vervollkommnung vorfindet. Der Staat ist um des Menschen willen da. Nun ist aber das gesamte klassische Denken – zumindest in Italien – weniger von einer kontraktualistischen Vorstellung als von einer naturrechtlichen Vorstellung in dem Sinne beherrscht, dass der Staat als ein natürliches Wesen außerhalb jedes künstlichen Kontraktualismus verstanden wird. Carrara meint, dass „das ewige Gesetz der Ordnung den Menschen zur Gesellschaft drängt. Der Schöpfer selbst hat ihn auf dieses Gesetz hin geschaffen, leitet ihn, wie er alles Geschaffene zu seinen Zielen führt, mittels der Neigungen. Anziehung: die einzige, unbändige Kraft, mit der die göttliche Macht über alles Geschaffene ausgeübt wird. Die physische Neigung bewirkte die erste Vereinigung der Körper; die moralische Neigung brachte die wechselseitige Einheit der Eltern untereinander und dieser zu den Kindern hervor und verstetigte sie; und so in allen Generationen, die danach folgen, so viele es auch noch sein werden. So lag die Gemeinschaft in der Bestimmung des Menschen, nicht nur als unumgängliches Mittel zu seiner physischen Erhaltung und für seinen geistigen Fortschritt, sondern mehr noch als eine Ergänzung des moralischen Gesetzes, dem der Mensch selbst sich unterwerfen wollte“.
Wird der Staat als ein natürliches Etwas aufgefasst, so wird auch die Rechtfertigung des Strafrechts eine leichte Sache, denn wenn der Staat zum Nutzen der Menschen besteht, so muss er die Menschen vor all dem bewahren, was diesen Nutzen beeinträchtigen könnte; d.h. er muss jene Verhaltensweisen hindern und mit Strafe bedrohen, welche die moralische und soziale Ordnung beeinträchtigen, auf welche der Staat sich gründet [39] und in welcher die Menschen ihren Lebenssinn finden. Doch bei dieser Tätigkeit muss der Staat stets die Stellung des Menschen im Auge behalten, d.h. er muss den Verfahrensgang, den das staatliche Organ auf dem Weg zum Strafurteil einhalten muss, mit ganz genauen Vorschriften bezeichnen, damit sein Eingriff rechtmäßig bleibt und sich niemals in eine ungeordnete umstürzlerische Gewalt verwandelt. In einem Strafrechtsverständnis, dem ein naturalistischer Individualismus zugrunde liegt, wird somit der Gesetzlichkeitsgrundsatz nullum crimen sine lege nulla poena sine lege zu einem fundamentalen Vernunftpostulat. Zwar trifft es zu, dass dieser Grundsatz eine Begründung in der Logik anderer strafrechtspolitischer Forderungen finden kann, doch nur in der liberalen Logik findet er seinen natürlichen, ursprünglichen Sitz, denn dort bildet er die höchste Garantie der persönlichen Freiheit gegen willkürliche Eingriffe des Staates im Bereich des Strafrechts. Jede strafrechtswidrige Handlung muss daher ausdrücklich in einer gesetzlichen Vorschrift formuliert sein. Zum Strafrecht gehört deshalb der Gedanke des Tatbestandes, der jedem Versuch, die bereits bestehenden Tatbestände analog auszuweiten oder neue zu schaffen, widerstreitet. Und wo diese Vorstellungen herrschen, wird jede Interpretation des
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Strafgesetzes tendenziell als ein Übel angesehen. Interpretation muss verbannt werden und an ihre Stelle muss die schlichte und einfache Subsumtion nach einem rein mechanistischen Maßstab in Aktion treten. Abstrakte Norm und konkrete Handlung müssen einfach festgestellt, niemals bewertet werden, denn jede Wertung endet im Bereich des richterlichen Ermessens und schafft damit eine Gefahrenzone für die Freiheit der Einzelnen. Um festgestellt zu sein, muss die Handlung der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich sein, muss in den Bereich der Erfahrung fallen, und die Vorgänge der materiellen objektiven Welt fallen eher in diesen Bereich als diejenigen, die der subjektiven geistigen Welt angehörten. Dies ist der Grund, warum im Geltungsbereich eines liberalen Strafrechtssystems auf die Objektivität der Handlung geachtet wird, man will vor allem, dass der Richter das Vorhandensein einer materiellen Handlung feststellt, die als Verletzung eines geschützten Interesses verstanden wird. Dies ist ein objektiv orientiertes Strafrecht. Alle Bemühungen der klassischen Schule, in jeder Straftat einen Erfolg zu entdecken, um im Bereich der Handlung das Vorbereitungselement, das der Bestrafung nicht zugänglich ist, vom Ausführungselement, das zur Straftat gehört, zu unterscheiden, sind Ausdruck dieser objektivistischen Forderungen. Und es handelt sich um Forderungen, die eine entschieden politische Färbung besitzen. Dies bedeutet freilich nicht, dass die subjektive Seite menschlichen Handelns für das Strafrecht gleichgültig sei, dass Seele, Veranlagung, Charakter menschlichen Handelns für ein Strafrecht auf liberaler Grundlage verloren seien. Zwar ist auch dies behauptet worden, doch ist es Ausdruck der Übertreibung einer Tendenz, für die jegliches subjektive Element [40] sich im objektiven Tatbestand gleichsam materialisiert wiederfinden muss. Dieser besitzt das Übergewicht, und der Akzent liegt auf ihm wegen der größeren Leichtigkeit des Beweises, welche er bietet, und der größeren politischen Sicherheit, welche von ihm ausgeht. Diese politische Forderung findet sich wieder in den wissenschaftlichen Arbeiten, in denen dem objektiven Element der Straftat der Ehrenplatz eingeräumt wird und es einer eingehenden Analyse unterzogen wird. Wechseln wir vom Feld der Straftat in das der Strafe über, so sehen wir, dass der Strafe Aufgaben vorwiegend generalpräventiver Art übertragen werden, d.h. Strafe soll weniger der Repression als der Prävention dienen. Es ist gesagt worden, Strafe sei eine Repression zum Zwecke der Prävention. Sie soll als Gegenmotiv im Prozess der Willensbildung wirken – der Bildung eines Willens, der auch Verbotenes wollen könnte. Also geht es darum, durch die Strafdrohung den Willen selbst aufzuhalten, damit er sich nicht dem Verbrechen zuwendet. Hier werden die inneren Verknüpfungen zwischen dem Gedanken der Generalprävention als Strafgrund und dem Gesetzlichkeitsgrundsatz als Wurzel allen Strafrechts sichtbar. Strafe kann nur insoweit als Gegenkraft wirken, wie sie gesetzlich bestimmt und für die jeweils geregelten strafbaren Handlungen angedroht ist. Der Gesetzlichkeitsgrundsatz soll nicht nur auf den Richter einwirken, dessen Tätigkeit er steuert, sondern auch in psychologischer Weise auf die Seele der Individuen. Dies sind, kurz gesagt, die Merkmale eines Strafrechts, das in einer liberalpolitischen Konzeption verankert ist, und das wir als eines der Rechten bezeichnen können, als Frucht eines naturrechtlichen Verständnisses vom Staat und den Einzelnen. Dieses Naturrecht besitzt jedoch einen abstrakten und unhistorischen Cha-
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rakter, und seine ganze Strafrechtskonstruktion ist davon geprägt. Wir haben es mit einer normativistischen Konzeption in dem Sinne zu tun, dass die Betrachtung der Norm und der daraus abzuleitenden Verhältnisse vor allen anderen Betrachtungen Vorrang hat. Auch die mechanistische Anschauung von der Tat ist – ungeachtet des entgegengesetzten Anscheins – eine abstrakte Anschauung, denn es fehlt die Einordnung der Tat in ihr historisches Umfeld. Das Gesetz der physischen und der psychischen Kausalität reicht für jede Untersuchung aus. Es ist der Gedanke der „Kraft“, die von den Gedanken der Klassiker Besitz ergriffen hat; diese unterliegen dem Einfluss des kulturellen Umfeldes des vergangenen Jahrhunderts, welches ganz auf die Verherrlichung der mechanistischen Prinzipien fixiert war. Das klassische Denken ist ein mechanisiertes Denken, in dem auch das Individuum mit seinem materiellen und geistigen Reichtum sich verflüchtigt und sich auf ein Kraftschema reduziert. Das Verhältnis zwischen Gesetz und Individuum ist ein Gesetz widerstreitender Kräfte, das sich – je nach Fallgestaltung – zugunsten der einen oder der anderen auflöst. Das liberale Denken der Rechten musste im Bereich der reinen Abstraktionen enden. Doch der Mensch [41] kann sub specie libertatis niemals losgelöst von seiner physisch-psychischen Wirklichkeit, von der Gesamtheit der Beziehungen, die ihn an Familie, Beruf, Gesellschaft und Staat binden, betrachtet werden; allerdings darf die Betrachtung der sozialen Gruppen nicht am Maßstab jener mehr oder weniger positivistisch fundierten Denkströmungen vorgenommen werden, welche die soziale Gruppe in einer Weise überhöhen, dass das Individuum von ihr völlig absorbiert wird. Wenngleich diese Gruppen eine Realität besitzen, muss man doch bei den Verhältnissen zwischen Gruppe und Individuum zu einer Akzentsetzung gelangen, und zwar zu einer solchen, die im wesentlichen zugunsten des Einzelnen erfolgt, denn dem Menschen in seiner moralischen Persönlichkeit gebührt doch immer der Vorrang im dialektischen Verhältnis, das Individuum und soziale Gruppe verbindet. Nur auf diese Weise ist die individuelle Autonomie im Bereich des Strafrechts garantiert, denn oberste Realität bleibt doch immer der in der Realität seiner Ordnungsund Lebensäußerungen verankerte Einzelne. Diese Bedeutung von „Konkretheit“ ist – wie wir sehen werden – zweifellos ein Ergebnis der politischen Strömungen der Linken gewesen, die, vor allem im Strafrecht, den Blick auf die historischsozialen Bedingungen gelenkt haben, in denen der Mensch lebt und wirkt. Auch in jenen Ländern, die nicht die tragischen Erschütterungen politisch-sozialer Umwälzungen in der Zeit zwischen den Weltkriegen erlebt haben und einer liberalen Tradition treu zu bleiben versucht haben, hat sich der Liberalismus nach links orientiert, wobei ein politisches System herausgekommen ist, das vielleicht alle Vorteile und keinen der Mängel der „sozialen“ Rechtskonzeptionen aufweist, denn das Individuum bleibt dabei doch immer der feste Grund des Rechtsgebäudes, ohne dass seine Verbindungen mit den sozialen Gruppen vernachlässigt worden wären. Wir erinnern z.B. an die neue schweizerische Strafgesetzgebung. Ohne jemanden zurückzusetzen kann man sagen, dass es das Verdienst des kriminologischen Positivismus als strafrechtlicher Ausdrucksform eines linken politischen Denkens gewesen ist, dem strafrechtlichen Denken Konkretheit verliehen zu haben, indem er den Menschen im Zusammenhang der sozialen Elemente seines Handelns betrachtet hat – ein Verdienst, das um so größer ist, wenn man sich jenes Verständnis vom verbrecherischen Menschen vor Augen hält, das diesen von
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jedem sozialen Element abstrahiert hatte und ihn am Maßstab einer idealisierten Figur, als Ausgangspunkt einer Reihe von physisch-psychischen, auf den Nenner von „Kräften“ reduzierten Aktivitäten betrachtet hatte. Zweifellos ist auch das positivistische Denken ein mechanistisches Denken, und es muss dies sein, denn es versucht, die Gründe zu ermitteln, die den Menschen zur Straftat „bestimmt“ haben; doch es ist ein konkreteres Denken als dasjenige der Klassiker, weil es eine ganze Reihe von Faktoren, von Elementen und von Situationen bietet, die sich dem Blick des Klassikers (als des reinen Liberalen) völlig entziehen. 3. Der Liberalismus der Linken Linke politische Strömungen, die in das traditionelle liberale Denken eingesickert sind, haben zweifellos Änderungen im Bereich des Strafrechts bewirkt. Vor allem ist zu bemerken, dass die Notwendigkeit einer Auslegung der Norm im Hinblick auf wechselnde Umfeldbedingungen Ergebnis einer Betrachtung der konkreten Interessenlage ist, wie sie sich dem Richter darbietet. Eine historisch-evolutive Auslegung des Strafgesetzes darf sich nicht in der Logik eines rechten Liberalismus verkeilen. Auch das Gesetzlichkeitsprinzip wird zwar nicht beseitigt, aber doch abgeschwächt, wenn man dem Richter größere Ermessensbefugnis einräumt; und die Subsumtion wird nicht mehr im schematisch-mechanistischen Sinne verstanden, sondern als Wertungsvorgang des Gerichts über die strafrechtsrelevante Tat. Was den Straftatbegriff angeht, beginnen Elemente subjektiver Art Beachtung und selbständige Bedeutung zu gewinnen; sie lassen die Möglichkeit aufscheinen, neben den Straftatfiguren auch Verbrecherfiguren zu beschreiben. Wir haben es jedoch stets mit einem wertenden Verständnis, nicht mit einem naturalistischen Verständnis wie dem des kriminologischen Positivismus zu tun. Zweifellos aber beginnt das Problem des „Täters“ des Verbrechens auf das Bewusstsein der Strafrechtler einzuwirken; diese geben sich nicht mehr damit zufrieden, den formalistisch verstandenen Begriff der Straftat zu anatomisieren, sondern wollen den Blick weiter schweifen lassen. Nicht nur die Straftat wird in die konkrete historische Situation, in der sie zu Tage getreten ist, eingeordnet, man neigt auch dazu, die „Stellung“ des Handelnden im Hinblick auf diese Situation zu erklären. Das Spiel der Kräfte verliert etwas von seinem Schematismus und wird konkreter, inhaltsreicher und weniger mit einem mechanistischen Verständnis verbunden. Die größere Beachtung, welche psychologischen Elementen geschenkt wird, musste dem Strafrechtsdenken natürlich das starke mechanistische Substrat der strafrechtlichen Begriffe der Rechten entziehen. Die Täterpsyche, der Willensakt, die widersprüchlichen Motive können nicht mehr einfach auf ein mechanisches Spiel widerstreitender Kräfte reduziert werden. Die Vielfalt des geistigen Lebens, die in der Handlung zutage tritt, gehört nicht der naturalistischen, sondern der moralischen Realität an. Und aus diesem Grund wird die Strafe nicht mehr so sehr unter dem Gesichtspunkt der Generalprävention als Gegenmotiv zum kriminellen Motiv angesehen, als vielmehr unter dem der Spezialprävention; man will m.a.W. durch die Strafe auf die Psyche des Verurteilten einwirken, um ihn zu erziehen, zu bessern, zu heilen. Der Charakter der Strafe schwächt sich also in der Logik des linken liberalen Verständnisses im Hinblick auf die bekannten Eigenschaften der
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Vergeltung und gegenüber den Anforderungen der Generalprävention ab. Der Kampf für die bedingte Strafaussetzung, für die bedingte Entlassung, für die Arbeit im Strafvollzug, für eine eigene Jugenstrafgesetzgebung ist nicht zu verstehen ohne Berücksichtigung des politischen Umfeldes, in dem er geführt wurde. Was interessiert, ist der „Täter“, der die Strafe verbüßen muss. In diesem wissenschaftlichen und politischen Umfeld taucht noch ein weiteres Problem auf, wenngleich es von den Strömungen des kriminologischen Positivismus ausgelöst worden ist: das Problem der Verbrechensprävention durch Sicherungsmaßregeln. Die Betrachtung der menschlichen Persönlichkeit musste in die Folgerung münden, dass die Strafe nicht immer das hinreichende Mittel im Kampf gegen das Verbrechen sei, dass es Personen gebe, denen gegenüber die Strafe nichts nütze, weil sie entweder anormal oder unverbesserlich seien. Der Staat könne jedoch solchen Individuen gegenüber nicht untätig bleiben; sie müssten durch ein Präventivmittel, das jedoch keinen Vergeltungs- und Sanktionscharakter trage und ihrer kriminologischen Persönlichkeit angepasst sei, unschädlich gemacht werden. Dieses Präventivmittel sei seiner Natur nach im Höchstmaß unbestimmt, denn es sei nicht möglich, die Dauer der Ursache, die zu einer Abweichung der individuellen Persönlichkeit von der Linie der Normalität zu prognostizieren. Der unbestimmte Charakter der Maßregel führt jedoch stets zu einer ebenfalls unbestimmten Beschränkung der persönlichen Freiheit. Eine solche ist jedoch im Rahmen eines streng liberalen Strafrechtsverständnisses nicht darstellbar, das ja ganz auf den wirksamen Schutz der persönlichen Freiheiten ausgerichtet ist. Erst als man von einem Liberalismus der Rechten schrittweise zu einem sozialen Liberalismus bzw. einem Liberalismus der Linken überging, erlebten die Sicherungsmaßregeln ihre erste Erscheinung in Strafgesetzen. 4. Die politischen Strömungen der Linken [...] [44] [...] 5. Der Strafrechtstotalitarimus Die letzten zwanzig Jahre in Europa sind gekennzeichnet vom Aufstieg und später vom Untergang autoritärer – oder besser: totalitärer – politischer Konzeptionen. Jedes Strafrecht ist, bei Strafe seines Selbstmordes, autoritär, aber nicht jedes Strafrecht ist totalitär. Totalitär ist vielmehr jenes Strafrecht, das einem politischen Denken entspricht, wonach der Einzelne [45] „totalitär“, mit Leib und Seele, dem Staat angehört, was bedeutet, dass außerhalb des Staates die Person gesellschaftlich und rechtlich keinen Wert und keine Bedeutung besitzt. Es gibt keine persönlichen Freiheitsrechte, die der Einzelne gegenüber dem Staat geltend machen könnte; er genießt nur jene Rechte, die der Staat ihm gewährt und anerkennt. Aber auch von Rechten zu sprechen ist technisch nicht exakt, denn das subjektive Recht setzt ja logischerweise stets ein agere licere, d.h. eine Autonomiesphäre mit entsprechenden Interessen voraus, in welcher der Einzelne dominus ist, womit das Bild einer „Bienengesellschaft“ fortgeschrieben wird, in der jedem Einzelnen eine Autonomiezelle vorbehalten ist, so dass er tendenziell im Widerstreit bzw. Interes-
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sengegensatz mit anderen Personen steht, jedoch immer unter der souveränen Oberaufsicht des Staates. Den Einzelnen sind nicht so sehr Rechte als vielmehr Pflichten beigelegt, oder besser: abgeleitete Funktionen, die im Interesse des Kollektivs zu verstehen sind. Nur die Position des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft hat eine Bedeutung, die Position, in welche der Einzelne durch den Willen des Staates gestellt ist; die Gesellschaft zeigt sich organisch in einer Reihe von „Positionen“, die untereinander abgestuft und in Form einer Pyramide angeordnet sind. Von den untersten Funktionen steigt man hinauf bis zu jener, die allen anderen übergeordnet ist: zur Position des Staatsoberhauptes. Der Sinn der Verantwortlichkeit gegenüber dem Oberhaupt ist es gerade, die untergeordnete Position zum Ausdruck zu bringen, die jeder Einzelne gegenüber derjenigen des Staatsoberhauptes einnimmt, dessen Wille die Inkarnation des Willens des Staates ist. Und der Staat heißt nicht nur deshalb totalitär, weil er von jedem Einzelnen ein Verhalten fordert, das den Erfordernissen seiner sozialen Position entspricht, sondern weil er vor allem einen gläubigen Willen fordert. Eine objektiv mit den Erfordernissen des Kollektivs übereinstimmende Handlung genügt nicht; es ist auch ein Wille erforderlich, der sich vollständig an diese Forderungen anpasst. Der Staat stellt sich nicht nur als Hüter der Ordnung dar, sondern als Erzieher, als Former der individuellen Gewissen, als oberster moralischer Wert, der von den Gewissen selbst empfunden und gelebt werden muss. Die kantianische Konzeption der Beziehungen zwischen Recht und Moral und zwischen Staat und Einzelnem, die in der Vorstellung vom „Inneren“ und vom „Äußeren“, d.h. von staatlichem Agnostizismus bzw. Indifferentismus gegenüber der inneren Einstellung des Einzelnen verankert ist, wird als zerstörerisch und auflösend für jede soziale Ordnung angesehen, weil der Mensch sich stets im Staat und niemals außerhalb des Staates befinde. Der Staat ist der höchste Wert, und der Einzelne tritt nur als dessen Reflex in Erscheinung. Aus diesem politischen Verständnis ergeben sich wichtige Folgerungen im Bereich des Strafrechts. Das positive Strafgesetz kann sich niemals als eine Grenze für staatliches Eingreifen erweisen; denn dies stände im Widerspruch zu den Zuständigkeiten und Erfordernissen des Staates. Wenn im italienischen Strafgesetzbuch von 1930 sich immer noch das Gesetzlichkeitsprinzip im limine codicis vorfand, so war dies [46] mehr dem Respekt vor einem Grundsatz geschuldet, der im allgemeinen Bewusstsein vorhanden war, als Gründen der Logik des politischen Systems, auch wenn freilich weiterhin Gründe bestanden, welche dafür sprachen, diesen Grundsatz beizubehalten. Es handelt sich aber auch hier um Gründe sub specie auctoritatis, nicht sub specie libertatis, um Gründe, die den Staat, nicht solche, die den Einzelnen betreffen; so ist denn das Gesetzlichkeitsprinzip beibehalten worden, weil auf diese Weise die Macht des Richters derjenigen der Exekutive untergeordnet war, in deren Händen in einem autoritären System die höchste Gewalt liegt. Die Position des Einzelnen kommt dabei nicht in Betracht. In Deutschland hingegen ist nach der Revolution von 1933 dieses Prinzip gerade deshalb beseitigt worden, weil gegenüber dem sich auflehnenden Einzelnen die Hände des Staates nicht durch formale Fesseln einer dem Grundsatz nullum crimen sine lege unterworfenen Gesetzgebung gebunden sein sollen; daraus folgt die Möglichkeit einer analogen Ausdehnung der strafbegründenden Vorschriften,
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anders ausgedrückt: das Ende des „Tatbestandes“, wie er im Rahmen einer politisch liberalen Konzeption verstanden worden war. Diese Strafgewalt des Staates hat keinerlei rationale Rechtfertigung nötig. Nur ein demokratischer Staat muss nach Rechtfertigungen suchen, nicht hingegen der totalitäre Staat, der die Gründe für seine Existenz und für die daraus resultierenden Machtbefugnisse in sich selbst findet. Grundlage jeder strafrechtlichen Erörterung ist daher der Gedanke einer Auflehnung des Einzelwillens gegenüber dem Staatswillen; d.h. das gesamte totalitäre Strafsystem ist bezogen auf den rebellischen Willen. Während ein liberales Strafrecht notwendig eine objektive Ausrichtung besitzt, so dass die ganze Aufmerksamkeit auf die Materialität des Erfolges konzentriert ist, besitzt ein totalitäres Strafrecht, da es auf den Willen abstellt, eine subjektive Ausrichtung. Das bedeutet, dass oberstes Prinzip der Strafbarkeit der menschliche Wille ist, soweit er sich in einer Handlung manifestiert. Doch ist diese Handlung in der Logik des Systems ein bloßer Zusatz, sie ist nur das notwendige Mittel, um das Vorhandensein eines verbrecherischen Willens zu beweisen. Es ist daher nicht erforderlich, dass sie geeignet ist, den beabsichtigen Erfolg herbeizuführen, es genügt, dass man ihn sich vorgestellt und gewollt hat. Daraus folgt, dass auch die untaugliche Tat strafbar sein und bestraft werden muss und dass jede Straftat bereits in dem Augenblick des Versuchs vollendet ist, dass die ganze Mühe, die man aufgewendet hat, um die Vorbereitungshandlung von der Ausführungshandlung zu unterscheiden, eine eitle Mühe gewesen ist, denn jede Handlung ist ein hinreichender Grund für die Strafbarkeit. Die Grenzen der Strafbarkeit erweitern sich, die Verteidigungslinie gegen das Verbrechen wird auf vorgerückte Positionen vorgeschoben, jeder Unterschied von Versuch und Vollendung verschwindet. Verliert so das objektive Element der Straftat seine Konturen und damit an Bedeutung, so gestattet die Akzentuierung des subjektiven Elements es, die psychologischen Elemente, die vernachlässigt oder künstlich objektiviert worden waren, besser ins Licht zu rücken. [47] Ist die Straftat ein sich auflehnender Wille, so besitzt diese Auflehnung nur dann eine Bedeutung, wenn der Handelnde das Bewusstsein dieser Auflehnung gehabt hat. Die Bedeutung des Rechtsirrtums oder der Rechtsunkenntnis zu leugnen, würde bedeuten, dem Willensakt jeden Wert abzusprechen. Die Auflehnung führt uns zur persönlichen Einstellung gegenüber der Norm bzw. zu den Pflichten; wer nicht weiß, dass er eine Pflicht verletzt, lehnt sich nicht gegen ein Gesetz auf und kann deshalb nicht bestraft werden, denn es fehlt an der Materie der Straftat. In der Logik einer totalitären Konzeption wird dies Erfordernis zum Hemmnis der Strafbarkeit, die zu einer ausufernden würde, wenn man sie auf das bloße Kriterium eines bloß in psychologischer Hinsicht als aufrührerisch angesehenen Willens stützte. Was ist über die Strafe in einer totalitären Strafrechtskonzeption zu sagen? Die Todesstrafe bedarf keiner besonderen Rechtfertigung: sie ist eine normale Ausdrucksform der Unterordnung des Einzelnen unter den Staat. Die Freiheitsstrafe ist generell das Mittel, mit dem der Staat dem Einzelnen jene spezielle rechtlichgesellschaftliche Position entzieht, die er bisher in der Gesellschaft eingenommen hat. Sie ist das Instrument der gesellschaftlichen Säuberung, der Ausscheidung
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jedes Elements aus dem politischen Körper, das nicht mit seinem Willen an dessen Erfordernisse angepasst ist. Die Person des Einzelnen hat gegenüber diesem höheren Bedürfnis nur eine untergeordnete Bedeutung. Es handelt sich um eine gesellschaftliche Prophylaxe, allerdings um eine solche, die auf Wertbegriffe bezogen und nicht auf den Bereich eines ermüdenden Naturalismus begrenzt ist, wenngleich diesem Naturalismus weitreichende Zugeständnisse gemacht werden. Sie trifft den Einzelnen in seiner Ehre, muss hart, streng und mannhaft sein, so wie das Antlitz des Staates männlich ist. Auch ihre Vollstreckung muss diesen Eigenschaften angemessen sein. Alle Versuche einer „Humanisierung“ der Vollstreckung der Strafen haben letztlich zu einer Verweichlichung des Strafrechts, zu einer Schwächung der Straffunktion mit großer Gefahr für die staatliche Gemeinschaft geführt. Wenn die Strafe mit diesen ihren bekannten Eigenschaften auch generalpräventive Funktionen zum Ausdruck bringt – umso besser. Man kann sagen, dass diese sich dem Wesen der Strafe hinzugesellen. Die spezialpräventive Funktion hingegen lässt sich damit niemals vereinbaren. Dies ist der Felsen, an dem jedes Strafrecht scheitert, welches vergisst, dass es ein solches ist. Vorstellungen von Reue, Besserung, Wiedereingliederung passen nicht zu einem totalitären Strafrecht, welches Einzelne, die widerspenstig und rebellisch sind, aus dem Schoß der Gesellschaft vertreibt. Die Strafe hat vor allem eliminatorischen Charakter. Die Vergeltung kreist um die Idee der Verhältnismäßigkeit und damit der Gerechtigkeit, während der Grund des Strafrechts in der Notwendigkeit der Erhaltung des gesellschaftlichen und politischen Zustandes und des Volkes in seiner besonderen Eingenart zu suchen ist. Wenn die Notwendigkeit es verlangt, kann die Gerechtigkeit vernachlässigt werden; doch handelt es sich dabei – so wird behauptet – um eine formalistisch verstandene Gerechtigkeit, [48] weil im Bereich der Wirklichkeit sich Notwendigkeit und Gerechtigkeit zu einem einheitlichen Bewertungskriterium vermischen. Neben der Strafe gibt es in einem totalitären Strafrechtsverständnis auch die Sicherungsmaßregel, mit der jene Bedürfnisse befriedigt werden, die durch die Strafe nicht befriedigt werden können, vor allem gegenüber Personen, welche unfähig sind, einen auflehnenden Willen zu bilden, sondern einfach nur dauerhaft gefährlich sind. In der Tat trifft es zu, dass, wenn man sich auf die gesellschaftliche Notwendigkeit beruft, jeder Unterscheidungsmaßstab zwischen Strafe und Maßregel verloren gehen muss; doch man will an der Dichotomie festhalten, sei es aus Gründen der Tradition, sei es, weil die Ausschaltung gefährlicher Personen durch die Maßregel ausschließlich mit naturalistischen Kriterien gerechtfertigt wird. 6. Strafrechtsdemokratie Mit dem Wiederaufkommen politischer Konzeptionen demokratischer Art nach den tragischen Erfahrungen mit dem Totalitarismus muss das neue politische Denken auch das Strafrecht beeinflussen. Auch der Strafprozess muss davon beeinflusst werden; er wird endlich eine Regelung erfahren müssen, die aufgeschlossener ist für die Freiheitsinteressen des Einzelnen, eine wenigstens annähernde Position der Parität zwischen Anklage und Verteidigung und einen stärkeren richterlichen Schutz im Strafvollzug, wie es Giovanni Leone in seiner neapolitanischen Antrittsvorlesung meisterlich gezeigt hat. Wir haben aber bereits in diesem
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Kapitel einige Leitlinien eines Strafrechts auf demokratischer Grundlage dargelegt, als wir vom Liberalismus und anderen Strömungen gesprochen haben. Doch gehen die Erfordernisse der modernen Demokratie nicht in denen des Liberalismus oder des Sozialismus auf, denn diese sind nur Aspekte, erschöpfen aber nicht den gesamten Inhalt des demokratischen Denkens. Ausgehen muss das demokratische Denken vom Verständnis des Einzelnen als Person. Das bedeutet, dass es dort keine wirkliche Demokratie gibt, wo der Einzelne abstrakt und antihistorisch als Mittelpunkt eines formalen Netzes von Beziehungen und Bedürfnissen verstanden wird, die von der Wirklichkeit absehen; dies kann nur eine rationale aprioristische Voraussetzung einer strafrechtlichen Demokratie sein, niemals aber eine moralische Prämisse, wonach der Mensch konkret betrachtet werden muss, indem die Erfordernisse seiner Moralität ihn an andere Menschen binden und damit eine atomistische individualistische Betrachtung der menschlichen Natur verhindern. Die Eigenschaft als „Person“ ist wesentlich für den Menschen, und diese Eigenschaft steht in Funktion zu einer moralischen Kennzeichnung des Einzelnen selbst. Ein demokratisches Denken muss von einem solchen moralischen Verständnis der menschlichen Persönlichkeit ausgehen. Nicht demokratisch ist daher ein Verständnis, das, was den Menschen angeht, diesen in ein exklusives Interessennetz einbindet, das vom partikularen Interesse zu den kategorialen Interessen emporsteigt, welche den Einzelnen in einen stählernen Schraubstock einschließen und fesseln. [49] Jede utilitaristische Anschauung leugnet letztlich – weil sie quantitativer Natur ist – die moralischen Bedürfnisse des Menschen, die auf dem Gedanken der Qualität beruhen. Auf dem Pfad des Interesses wird das Interesse des Einzelnen stets demjenigen der Gruppe geopfert; ein Strafrecht, das auf dem Gedanken des Interesses beruht, endet zwangsläufig im Totalitarismus und damit im Reich des Terrors. Ein wirklich demokratisches Strafrecht muss vor allem die Bedürfnisse der moralischen und damit der rationalen Natur des Menschen respektieren. Damit dient es auch dem Schutz der gesellschaftlichen Werte, aber in letzter Instanz will es die moralischen Bedürfnisse des Einzelnen schützen, weshalb es zwar Ausdrucksform einer vergeltenden – und damit strengen – Gerechtigkeit ist, letztlich aber die fundamentalen Freiheitsrechte des Bürgers schützt. Das Strafrecht ist die Grenzlinie des staatlichen Interesses im Bereich der Strafe und damit die Negation des Terrors. Es versteht sich daher von selbst, dass in einem demokratischen Strafrecht der Gesetzlichkeitsgrundsatz keiner besonderen Rechtfertigungen bedarf; er dient dazu, die individuelle Freiheit zu schützen, auch wenn die Subsumtion der Handlung unter die Norm nicht im rein mechanischen Sinne verstanden wird, in welchem jeder richterliche Beurteilungsspielraum ausgeschlossen wird. Es ist eine eitle Vorstellung, dass der Richter auf einen Automaten reduziert werden könne. Messina hat gezeigt, dass das Ermessen in allen Adern des Rechts kreist, insbesondere dann, wenn es um die Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit geht. Entscheidend ist, dass es sich nicht dort zum Schaden der individuellen Freiheit auswirkt, wo das Gesetz eine Begrenzung dieser Freiheit nicht zulässt. Man denke nur an das Atmen der Freiheit, welches im Bereich der Rechtfertigungsgründe und der Schuldausschließungsgründe dringend erforderlich ist. Fast die gesamte Strafrechtslehre stimmt darin überein, dass dem Richter in diesem Bereich ein langer Atem zugebilligt werden müsse, was auch mit der demokratischen Vorstellung eines Strafrechts übereinstimmt, das am Ge-
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danken eines faktischen Minimums an Beschränkung der individuellen Freiheit ausgerichtet ist. Die Straftat kann also nicht nur vom verbrecherischen Willen her verstanden werden, sondern auch von einem Willen her, der sich in einer materiellen Tat manifestiert hat, welche einen rechtlich geschützten Wert oder ein rechtlich geschütztes Gut verletzt. Die Straftat – als Verletzung eines gesellschaftlichen Gutes – hat eine objektive Ausrichtung, muss aber stets von einem pflichtwidrigen Willen getragen sein – d.h. von der Schuld, ohne deren Vorliegen nicht an die Verhängung einer Strafe gedacht werden kann, die ihrer Natur nach retributiv und effektiv sein muss. Ein Zweck der Strafe, der mit dem der Maßregel identisch ist, ist, politisch betrachtet, nicht demokratisch. Hieraus könnte man den Schluss ziehen, dass es zwischen einer christlichen und einer demokratischen Strafrechtskonzeption keine Unterschiede gebe. Man muss jedoch berücksichtigen, dass eine demokratische Strafrechtskonzeption in einer bestimmten historischen Situation entsteht und konkrete Probleme lösen soll. [50] Das Strafrecht steht also in funktionalem Zusammenhang mit einer bestimmten politischen Situation, weshalb man auch dort von einem Primat der Politik sprechen kann, wo für das christliche Strafrecht sich dieses Problem nicht stellt. Dieses Strafrecht stellt sich als ein Komplex von Prinzipien dar, die aus der Natur des Menschen und der Gesellschaft abgeleitet werden, welche aus einer philosophischen Sicht und damit unter Absehung von jedem Komplex zufälliger historischer Umstände betrachtet werden. Das Problem der politischen Organisation der Gesellschaft ist zweitrangig gegenüber Erfordernissen, die aus der Natur der Sache resultieren, während für ein demokratisches Verständnis der Gesellschaft die demokratische Struktur der politischen Ordnung, in deren Logik das Strafrecht sich einfügen muss, wesentlich ist. Ein christliches Strafrecht kümmert sich nicht um den politischen Organisationstypus, um den Typus der Beziehungen zwischen Staat und Einzelnem – zumindest nicht bis zu dem Zeitpunkt, in dem die natürlichen Grundrechte des Menschen verleugnet werden. Es fühlt sich daher nicht berufen, konkrete Probleme zu lösen, sondern nur, die größten Probleme der Strafgewalt spekulativ anzugehen. Das christliche Strafrecht erweist sich damit als der Idealtypus von Recht, als ein Erfordernis, als ein Wert, der innerhalb jener Grenzen der Notwendigkeit, die sich historisch der Aufmerksamkeit des Gesetzgebers stellen, berücksichtigt werden muss. Daraus, dass es im christlichen Denken Gründe für die Rechtfertigung einer bestimmten Regelung gibt, folgt daher nicht zwangsläufig, dass diese Regelung auch erfolgen muss. Was dies angeht, gebührt Überlegungen politischer Opportunität der Vorrang, welche zwangsläufig historisch bedingt sind. Es ist beispielsweise klar, dass die Todesstrafe einem christlichen Strafrechtsverständnis nicht widerspricht; damit ist aber nicht gesagt, dass ein demokratischer Jurist oder Politiker sich deshalb zum Paladin dieser Strafe mit dem Ziel ihrer Aufnahme in die Verfassung oder in das Strafgesetzbuch machen muss. Man beachte ferner, dass in der Tradition des christlichen Strafrechtsdenkens die Aufmerksamkeit sich vorwiegend auf das Problem der Strafe im allgemeinen und das Problem der Todesstrafe im besonderen richtete, während die Probleme der Straftat, ihrer Struktur und ihrer Spezifizierungen sowie diejenigen des Strafgesetzes usw. sehr vernachlässigt wurden. Hingegen sind gerade sie in einem demokratischen Strafrechtsverständnis vielleicht diejenigen mit dem größten Gewicht. Zweifellos ist das Problem der Strafe kein zweitrangiges, doch die Probleme der Struktur der Straftat,
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ihrer Tatbestände und der richterlichen Beweiswürdigung sind fundamentale Probleme. Demnach lässt sich sagen, dass es in einer christlichen Strafrechtskonzeption eher eine Lehre von der Strafe gibt als einen Komplex von Lehren über das Strafrecht im weiteren und damit alle traditionell behandelten Phänomene umfassenden Sinne. Dies ist der Grund, weshalb die christliche Konzeption das Strafrecht unter dem Aspekt der („rächenden“) Gerechtigkeit betrachtet [51], die sich in der Strafe konkretisiert und manifestiert, ohne der Voraussetzung, welche die Anwendung einer vergeltenden Vorschrift rechtfertigt, also der Straftat, besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Damit ist freilich nicht gesagt, dass das christliche Denken das Kriterium der Gerechtigkeit verknöchert oder formalisiert hätte, denn die Erfordernisse einer „humanen“ Gerechtigkeit, also einer Gerechtigkeit, die einer Wandlung des verbrecherischen Menschen dienen soll, sind stets berücksichtigt geblieben. Poenae huius saeculi sunt medicinales quam vindicativae ist der Grundsatz des kanonischen Strafrechts, der jedoch das gesamte christliche Verständnis von Strafe und Strafrecht zu beleuchten vermag, wenngleich dieser Grundsatz eher in seinen Konsequenzen und in seiner praktischen Bedeutung beachtet wird als auf spekulativer Ebene zur Entkräftung des Grundsatzes des vergeltenden und damit antifinalistischen Charakters der Strafe geschätzt wird. Eine Gerechtigkeit, die zu etwas dient, das außerhalb ihrer selbst liegt, ist nicht mehr Gerechtigkeit, sondern Nutzenkalkül, d.h. Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zwecks und damit Ablehnung eines Wertes, der seine Rechtfertigung in sich selbst trägt. Die christliche Konzeption ist diesem Gerechtigkeitsmaßstab verbunden. Ein Strafrecht außerhalb der Beachtung der Erfordernisse der Gerechtigkeit kann kein christliches Strafrecht sein. Die Caritas ist zwar nicht aus dem Bereich der Strafgesetzgebung verbannt, ist aber kein Maßstab, der die Gerechtigkeit als Grundlage dieser Gesetze ersetzen könnte. Nichts ist antichristlicher als jene ätzende Einstellung gegenüber den grundlegenden Gerechtigkeitsanforderungen an das Strafrecht, jene Einstellung, die im Namen einer am falschen Orte berufenen caritas oder misericordia die rationalen Grundlagen des Strafrechts zerstören und das Strafrecht im schwankenden Boden des Gefühls verankern möchte. Caritas und Midericordia müssen sich in der Beachtung des Gesetzes und damit der Gerechtigkeit manifestieren, niemals aber an deren Stelle treten, um das rationale Fundament der Strafe zu unterminieren. Dass ihnen breiter Einlass in das Strafrechtsverständnis gewährt werden solle, ist eine Forderung, die solange nicht bezweifelt werden kann, wie dabei die grundlegenden Erfordernisse der Gerechtigkeit gewahrt bleiben. Heute wird viel von der Notwendigkeit einer „Humanisierung“ des Strafrechts gesprochen; doch eine solche Humanisierung kann nur im Rahmen eines Verständnisses von Gerechtigkeit verstanden werden, denn dieses Verständnis ist das einzige, das den moralischen Wert der Person vor jeder Willkür, sei sie zu seinem Vor- oder Nachteil, bewahrt. Die Gerechtigkeit ist nicht nur dann gebrochen und damit die Ordnung verletzt, wenn man den Menschen mehr zahlen lässt als er konkret verdient hat, sondern auch in jenen Fällen, in denen man ihn weniger zahlen lässt oder ihm gar die Schuld vollständig erlässt, wenn dies einem fundamentalen gesellschaftlichen Erfordernis widerspricht. Das Strafrecht ist das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Erfordernissen einerseits, individuellen Erfordernissen andererseits, nicht etwa zwischen Einzelnem und Einzelnem. Man darf nicht vergessen, dass die Straftat nur insoweit eine solche
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ist, als sie die gesellschaftliche Ordnung verletzt, weshalb der Staat, der Garant dieser Ordnung ist, [52] die Verpflichtung besitzt, mit einer richterlichen Anordnung einzugreifen. Erst wenn dies geschehen ist, können Caritas und Misericordia ihr heilsames und segensreiches Werk verrichten. Vergeltende Gerechtigkeit einerseits und Bewahrung der Erfordernisse der moralischen Persönlichkeit des Einzelnen sind somit die fundamentalen Merkmale einer christlichen Konzeption des Strafrechts; diese Merkmale sollten auch die demokratische Strafrechtskonzeption erleuchten. [...] [68]
4. Kapitel: Strafrecht und Rechtswissenschaften [...] [78] [...] 5. Welches ist nun der Pfad, dem wir folgen müssen, um das Strafrechts als Rechtswissenschaft zu verstehen? Es ist nicht jener, den uns die naturalistische Methode weist, die mit ihrer deduktiven Logik zu einem Gefälle zwischen Wissenschaft und Leben führt; es ist auch nicht der Pfad der Interessenjurisprudenz, denn diese führt in das Strafrecht eine utilitaristische Mentalität ein; und es ist schließlich auch nicht der Pfad der reinen Intuition, denn diese leugnet die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Wissens. Damit ist aber nicht gesagt, dass diese methodologischen Richtungen nicht einen Kern von Wahrheit böten: die ersten beiden Richtungen die Notwendigkeit der Konzeptualisierung, die letzte Richtung die Nützlichkeit einer Intuition innerhalb bestimmter Grenzen; dies sind feste Punkte, anhand deren wir in der Untersuchung voranschreiten können. Hier nun muss man sich in aller Deutlichkeit den Unterschied zwischen historisch-moralischen Wissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits im Hinblick auf die Untersuchungsmethoden beider Gruppen bewusst machen. Die Rechtswissenschaft ist keine Naturwissenschaft, auch wenn sie sich auf natürliche Gegebenheiten stützt. Dies dürfte sich bereits deutlich aus dem ergeben, was im Verlauf unserer Darstellung ausgeführt worden ist. Ist sie aber keine Naturwissenschaft, so bedeutet dies, dass sie die nomothetische Methode zurückweisen muss – jene Methode also, welche die Phänomene anhand allgemeiner Gesetze untersucht und in der Ausarbeitung eines Systems formallogischer Natur gipfelt. Die Erscheinungen der natürlichen Welt können auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zurückgeführt werden, sie können ihrer Individualität entkleidet werden, sie können nivelliert und in einer ihnen fremden Ordnung verkettet werden. Hier erstickt, ertötet, vernichtet die Natur die Individualität; hier herrschen Klasse, Gattung und Gruppe – mit einem Wort, es handelt sich um eine Komplexität, in welcher die Einzelerscheinung, auch dort, wo es um sie geht, [79] ihre Autonomie verliert. Insofern kann man sagen, dass sie sich in der Klasse „verbegrifflicht“, denn sie entledigt sich ihrer charakteristischen Eigenschaften, sie wird in ein nivellierendes System eingebunden. Dies gilt auch für den Menschen, insoweit er ein tierischer Organismus ist, der den Gesetzen der Natur unterliegt, es lässt sich indes nicht von dem Menschen als moralischer Per-
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son sagen. Man kann, wie es von Bandino treffend formuliert worden ist, sagen, dass „der Mensch eben jenes Wesen ist, welches sich in gewisser Hinsicht dem Begriff entzieht (eben weil er sich der Natur entzieht!), genauer gesagt, weil sein Wesen gerade die Individualität ist und er Mensch einzig und allein kraft seiner Individualität ist. Dies bedeutet, dass jeder Mensch ein eigene Wesenheit ist; genau genommen: das, was die Theologen von den Engelswesen sagten und worin sie ein weiteres Merkmal der Überlegenheit erblickten. Das Merkmal des Menschseins ist nicht ein etwaiger Reflex einer universalen Wesenheit namens ’Mensch‘; es zeigt sich vielmehr wesentlich in der Fähigkeit, Individuum zu sein; dies scheint die Abhängigkeit von einem Universalen auszuschließen; diese Abhängigkeit kann jedoch im Lebewesen ohne weiteres eingeräumt werden, insoweit jeder Einzelne als bloßes Exemplar der Gattung begriffen werden kann (wobei freilich auch wahr bleibt, dass die Gattung in Wirklichkeit aus nichts anderem besteht als aus diesen Exemplaren). Nur die Individualität kann aber das wirkliche Menschsein des Menschen ausmachen; lassen wir unberücksichtigt, dass der Mensch ein konkretes Individuum ist, so lassen wir gerade das unberücksichtigt, was den Menschen, was sein Wesen als Mensch ausmacht“.
Gerade diese Individualität macht die Historie aus. Es gibt keine Geschichte außerhalb der moralischen Persönlichkeit des Menschen; und wenn wir von Geschichte sprechen, so wollen wir damit jede Tätigkeit ausdrücken, welche beim Menschen die Eigenschaft als Person voraussetzt, jede Tätigkeit also, die zum Untersuchungsbereich der moralischen Wissenschaften gehört, hier die Rechtswissenschaften eingeschlossen. Caesar, Karl der Große und Napoleon können naturalistisch unter dem Gesichtspunkt ihrer organischen Funktionen, der Länge ihrer Nasen, ihrer Speisegewohnheiten betrachtet werden, doch diese Betrachtungsweise wird nicht in Schwarze treffen, wenn es darum geht, die historische Bedeutung ihrer Persönlichkeit zu erhellen. Diese muss in ihrer moralischen Individualität und in dem Stempel, den sie ihrer Zeit aufdrückten, gesucht werden; in diesem Bereich gelten keine allgemeinen Gesetze, denn Geschichte wiederholt sich nicht, und sie ist keineswegs die Lehrmeisterin des Lebens. Historische Bezugnahmen können sich vielleicht im Hinblick auf bestimmte Umfeldbedingungen ergeben; doch wirken diese nicht in gleicher Weise auf die Individuen ein, die in ihrem Strudel zu wirken berufen sind. Jedes Individuum ist im Bereich der sogenannten Kultur- und Geisteswissenschaften eine Welt für sich. Und so verhält es sich auch im Bereich der Rechtswissenschaften, die jeweils eine bestimmte Äußerungsform der Tätigkeit des Menschen als eines mit moralischer Persönlichkeit ausgestatteten Wesens betrachten. Auch die Untersuchungsmethode muss diese Besonderheit der Kulturwissenschaften berücksichtigen und sich von der Vorstellung frei machen, man müsse, koste es was es wolle, Uniformitäten [80] in einer Masse von Einzelerscheinungen aufspüren. Die Methode muss idiographisch sein, sie muss auf die einzelnen konkreten Personen bezogen sein, muss an ihren Charakteristika haften, an ihrem Wert. Und dieser Wertgedanke ist es, der uns lebhaft vor Augen steht – als der Ausdruck des Verhältnisses, das die Person mit der äußeren Welt verbindet, als die Bedeutung, welche die Dinge für den Menschen als moralische Persönlichkeit haben, als die Ordnung, welche der Mensch bei seiner äußeren Tätigkeit befolgen muss. Es ist ja bekannt, dass das Strafrecht in erster Linie Schutz von Werten ist, denn es bemüht sich, die menschliche Tätigkeit in
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der Weise zu steuern, dass diese stets der moralischen und sozialen Ordnung folgt, welche der Mensch als Person beachten soll. Jede Strafvorschrift ist daher durch ihre Verbindung mit einem Wert gekennzeichnet. Das individuelle Leben, das Eigentum, die Familienordnung, die Unabhängigkeit des Vaterlandes. Die Norm, welche die Tötung unter Strafe stellt, schützt das Leben, die Norm, welche den Diebstahl unter Strafe stellt, schützt das Eigentum, die Norm, welche die Bigamie unter Strafe stellt, schützt die Familienordnung usw. Es gibt keinen Straftatbestand, der nicht zum Schutz eines Wertes aufgestellt ist, der nicht einen Zweck hat, der nicht einem Rechtsgut dient. Das Rechtsgut ist die gängige strafrechtliche Bezeichnung für den Wert, eine Bezeichnung, die wir uns mit dem Hinweis zu eigen machen, dass sie von jedem utilitaristischen Anklang gelöst werden muss, denn das Strafrecht bedeutet Schutz der höchsten religiösen, politischen, gesellschaftlichen Werte, die nicht auf eine utilitaristische Bezeichnung wie den des Nutzens zurückgeführt werden können. Dieser Begriff des Rechtsgutes ist in jüngster Zeit heftig attackiert worden, und ihm ist eine herausragende Bedeutung, wenn nicht sogar jegliche Existenzberechtigung im Rahmen des Straftatbegriffs abgesprochen worden. Man wollte behaupten, dass die Straftat nicht (bzw. nicht so sehr) Verletzung eines Rechtsgutes als vielmehr die Verletzung einer Treuepflicht gegenüber dem Staat oder gegenüber der Volksgemeinschaft sei; damit erwies man jenen subjektivistischen Strömungen Reverenz, welche sich im Rahmen einer totalitaristischen Strafrechtskonzeption bemerkbar machten. Die Verletzung einer Pflicht wird damit zur fundamentalen Strafrechtskategorie, wobei man freilich vergisst, dass der Begriff der Pflicht nicht im leeren Raum bestehen kann, sondern eines Inhalts bedarf, dass er eine Spezifizierung im Hinblick auf vorgegebene geschützte Werte benötigt. Es gibt keine allgemeine Treuepflicht im Strafrecht, sondern es gibt so viele Pflichten, wie es einzelne Strafnormen gibt, die zum Schutz von Werten aufgestellt sind. Die Verpflichtung, nicht zu töten, ist die subjektive Bezeichnung für die Norm, welche die Tötung unter Strafe stellt, so wie diejenige, nicht zu stehlen, eine Ausdrucksform für die Norm ist, welche den Diebstahl unter Strafe stellt. Diese Normen bleiben auch dann an dem Begriff ihres jeweiligen Rechtsgutes (menschliches Leben, Eigentum) orientiert, wenn man vielleicht die strafrechtliche Reaktion vorverlegen will, weil man meint, dass die Straftat bereits in dem Augenblick vollendet sei, in dem der verbrecherische Wille sich irgendwie äußerlich manifestiert. Der Wille ist nicht farblos, sondern gewinnt Farbe, Profil und [81] Bedeutung von dem Gegenstand, auf den er sich bezieht, also von der Verletzung des durch ihn geschützten Rechtsgutes. Der Gedanke des Rechtsgutes bleibt damit der zentrale Gedanke des ganzen Strafrechts als Bezeichnung des Zweckes, dem die Strafrechtsnorm dient. Er darf daher niemals von einem aprioristischen Standpunkt aus betrachtet werden, sondern muss stets in den Rahmen der Norm eingefügt und im Hinblick auf deren Erfordernisse ermittelt werden. Dies bedeutet nun nicht, dass der Gedanke der Pflichtverletzung keinerlei Bedeutung im Hinblick auf den Begriff der Straftat besitze; man denke nur an die Schuld, die im wesentlichen eine Pflichtverletzung ist. Aber auch außerhalb dieses wichtigen Bereichs erweist der Gedanke der Pflichtverletzung seine Wirksamkeit, denn mit dem Hinweis auf eine Pflichtverletzung lassen sich bestimmte strafschärfende oder strafmindernde Umstände ebenso erklären wie bestimmte Straftatfiguren, in denen die Stellung
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des Einzelnen gegenüber dem Staat – eine Stellung, aus der dem ersteren besondere Pflichten erwachsen – eine Begründung dafür liefern kann, warum in der Strafnorm eine Strafschärfung vorgesehen ist (z.B. die Stellung als öffentlicher Amtsträger). Es ist gut, dass der Begriff der Straftat nicht – je nach politischen Vorverständnissen – eine ausschließlich Ausrichtung, sei es nun die objektive oder die subjektive, erhält, sondern sich mit der Überlegung zufrieden gibt, dass das Rechtsgut der Gedanke ist, aus dem als Reflex der Gedanke der Pflichtverletzung sich ableitet; der letztere entspricht stets einem ätiologischen Verständnis des Strafrechts, das im mechanischen Feld der naturalistischen Realität endet, nicht im Bereich einer Welt der Werte. Das telos der Norm erlangt die führende Stellung unter jenen Elementen, die bei der Bestimmung strafrechtlicher Begriffe berücksichtigt werden müssen. Dies ist gemeint, wenn man sagt, dass die teleologische Methode befolgt werden solle – eine Methode also, die sich nicht so sehr darum kümmert, welche Stellung die Norm im System anhand klassifikatorischer Kriterien besitzt, als vielmehr darum, den individuellen Begriff unter Berücksichtigung der Realität, auf welche dieser Begriff sich bezieht – mit einem Wort: den Wert – zu ermitteln. Strafrechtswissenschaftliche Begriffe sind in erster Linie individuelle Begriffe. Jede Strafnorm ist eine Welt für sich, sie besitzt Struktur, Aufgaben und Zwecke, die ganz die ihrigen sind; deshalb bedeutet es, die Wirklichkeit auf den Kopf zu stellen, wenn man sich in erster Linie damit befassen will, die einzelne Norm oder den einzelnen Begriff in ein klassifikatorisches System einzufügen, wobei die markantesten individuellen Eigenschaften entfernt werden und man schließlich einen nackten Leitfaden gewinnt, ein Skelett, aus dem das Leben unwiderrufbar entflohen ist. Sind hingegen die strafrechtswissenschaftlichen Begriffe in erster Linie Individualbegriffe, so bedeutet dies, dass sie unter Berücksichtigung der die einzelnen Straftaten regelnden Normen bestimmt werden. Den Ausgangspunkt müssen also die einzelnen Tatbestände bilden; sie sind es, die auf die geschützten Rechtsgüter „ausgerichtet“ werden müssen, welche den strafrechtswissenschaftlichen Begriffen Bedeutung und Gehalt verleihen. [82]. In einem teleologischen Strafrechtsverständnis kann man nicht vom „Begriff“, d.h., wie schon der Name ankündigt, von der Logik absehen. Doch die Logik, derer diese Methode sich bedient, ist eine teleologische, eine inhaltsbezogene, eine konkrete Logik, die ganz an die moralische und soziale Wirklichkeit des Strafrechts angepasst ist, eine Logik also, die nicht in die Reiche der generalisierenden Abstraktion ausschweift, sondern Verbindung hält zu den Werturteilen, die zu den Begriffen der einzelnen Straftatbestände formuliert werden können. Es ist eine Logik, die sich ihrem Objekt zuneigt, die sich ihm beugt, die es sich zu eigen macht. Es handelt sich keineswegs um ein irrationales Verfahren, denn die Untersuchungstätigkeit ist von der Vernunft und damit von der Logik geleitet und kontrolliert, aber von einer Logik, die sich nicht damit befasst, zu Begriffen zu gelangen, die immer allgemeiner, aber gerade deshalb immer inhaltsärmer sind. Der juristische Begriff ist ein konkreter Begriff, der sich nicht im Sinne einer Pyramide immer allgemeinerer Begriffe entwickelt, welche das an Inhalt verlieren, was sie an Umfang hinzugewinnen, sondern sich mit seinem individuellen Reichtum mit dem höheren Begriff ohne jede dauerhafte Lösung verbindet. Der individuelle Wert muss, anders ausgedrückt, sich im allgemeinen Begriff widerspiegeln. Eigentlich haben diese allgemeinen Begriffe in einer teleologischen Konzeption
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keinerlei Bedeutung; sie dienen lediglich dazu, die Individualbegriffe nach höheren Zweckgesichtspunkten zu ordnen und dem Richter den Weg zu weisen, wenn er im Wege der Analogie vorgehen muss. Neben den besonderen Zwecken gibt es auch die allgemeinen Zwecke, die ein teleologisch ausgerichtetes System kennzeichnen; sie müssen aber stets auf die individuellen Zielsetzungen bezogen bleiben. Begriff und System stehen also nicht in einem Verhältnis eines minus zu einem maius zueinander, worin der erste schließlich vom zweiten aufgesaugt wird und verschwindet, sondern in einem solchen, worin er seine Individualität auch dann noch behält, wenn er in das System eingegliedert wird. Diebstahl und Unterschlagung besitzen eine je eigene rechtliche Individualität, da sie ein bestimmtes Rechtsgut schützen, sie gehen jedoch nicht im „genus“ der Vermögensdelikte auf, wenn die betreffenden Rechtsgüter in das übergeordnete Rechtsgut des „Vermögensinteresses“ eingegliedert werden. Dieser Begriff ist vor allem ein Ordnungsbegriff, auch wenn er eine finale Ausrichtung zeigt, die ihn nach unserer Ansicht rechtfertigt. So besehen ist die Rechtsdogmatik eine konkrete Dogmatik, da sie wertbezogen ist, und so besehen hat Olgiati recht, wenn er mahnend darauf hinweist, dass es „nützlich ist, die verschiedenen Kategorien der Wissenschaft und des Rechts nicht mehr – oder besser: nicht nur – mit der unerlässlichen Sorge um die Rechtstechnik und um die Erfordernisse der faktischen Wirklichkeit zu durchdenken und zu bearbeiten, sondern auch im Hinblick auf die rechtliche Wirklichkeit als Wert, eingedenk dessen, dass berühmte Juristen der Vergangenheit ihre Aufgabe mit [83] einer zugleich wissenschaftlichen und philosophischen Vorbereitung gelöst haben“.
In diesem Sinne kann man sagen, dass nicht der Mensch für das Gesetz, sondern dass Gesetz für den Menschen geschaffen ist. Der Einzelne soll demnach nicht in einen Käfig von Begriffen verbracht und eingesperrt werden, die seinen geistigen Organismus verarmen und formalisieren, sondern er soll in die Lage versetzt werden, in der Wirklichkeit seines konkreten Lebens den Wert des moralischen Gesetzes und des Rechtsgesetzes zu empfinden und zu erleben.
Pietro Nuvolone (1917–1985) Zwecke und Mittel in der Strafrechtswissenschaft (I fini e i mezzi nella scienza del diritto penale) (1948) 1. Relativität der Rechtswissenschaft im Hinblick auf ihren Gegenstand und die Versuche, sie zu überwinden [...] [153] [...] 2. Neue Probleme und neue Möglichkeiten Zugleich mit der durch den Krieg ausgelösten Krise haben sich in letzter Zeit im Bereich des Strafrechts neue Probleme (die in Wirklichkeit durch das Wiederauftauchen alter Probleme bedingt sind) gestellt. a) die Möglichkeit, das ius puniendi auf eine andere als die staatliche Grundlage zu stellen; b) die Möglichkeit, das ius puniendi auf eine andere Grundlage als die des geschriebenen Rechts zu stellen; [154] c) die (der vorigen Möglichkeit entsprechende) Möglichkeit eines ius involuntarium mit Universalitäts-Charakter. Die zustimmende Antwort, die einige Autoren auf die genannten Fragen gegeben haben, hängt letztlich davon ab, dass man die naturrechtliche Position akzeptiert, die – schon für tot erklärt – heute mit unerwarteter Lebenskraft wieder aufblüht. Eine kritische Betrachtung dieser Fragen zeigt freilich, dass jene Möglichkeiten bloß behauptet und nicht in ihrem präzisen Inhalt analysiert sind; es mangelt am Beweis, und an seine Stelle ist die Anführung einer ethischen oder einer politischen Forderung getreten. Tatsächlich haben die beiden ersten Punkte nur auf historischer Ebene einen Sinn, während der dritte nur auf theoretischer Ebene einen Sinn ergibt. Ob es die ersten beiden Möglichkeiten gibt, hängt von den konkreten historischen Situationen ab; ob es die dritte gibt, hängt von dem zugrunde gelegten Begriff des Rechts ab. Doch setzt das Bestehen der dritten Möglichkeit dort, wo sie den Bereich des Allgemeinen verlässt, den Beweis des naturrechtlichen Dogmas voraus – ein Beweis, der bislang noch nicht erbracht worden ist. Dies schließt indes nicht aus, dass man ihn im absoluten Sinne erbringen könne. Doch zweifellos bleiben in dieser Hinsicht viele skeptisch. Immerhin ist aber klar, dass auch die letzten naturrechtlichen Versuche (die vor allem im Hinblick auf das Problem der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit entwickelt worden sind) nicht gezeigt haben, dass man sich auf jenem Boden objektiver Sicherheit bewegt, der allein die Grundlage wissenschaftlicher Untersuchung bilden kann. Sie haben nicht einmal das Problem
E. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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des Gegenstands der Rechtswissenschaft, und der Strafrechtswissenschaft im besonderen, gelöst.
3. Die rechtstechnische Richtung und ihre Grenzen An dem Tag, an dem Arturo Rocco mit seiner Antrittsvorlesung in Sassari die rechtstechnische Richtung inaugurierte, schien die Wissenschaft des Strafrechts schließlich den rechten Weg gefunden zu haben – ohne jede Befleckung durch ihr wesensfremde Untersuchungen. Heute, in einiger Zeit Abstand, erscheint das Tor der rechtstechnischen Richtung nicht mehr in seiner damaligen Größe. Sie hatte zweifellos das Verdienst, die Kenntnis des positiven Rechts verfeinert und der Praxis ausgereiftere Instrumente der Gesetzesanwendung geliefert zu haben. Jedoch reduzierte sie per definitionem die Tätigkeit des Juristen auf die eines Interpreten (im weiteren Sinne, denn auch Dogmatik ist Interpretation). Die Juristen wendeten eine beeindruckende Menge an gedanklicher Tätigkeit für einen Gegenstand auf, der oftmals einer solchen Mühe beklagenswert unwürdig war. Und so setzte sich, und zwar noch verschärft, das Paradox fort, dass die Besten dazu aufgerufen waren, Gesetze zu kommentieren und anzuwenden, die von weniger gut Geeigneten ausgearbeitet worden waren. Die jüngsten Ereignisse, [155] die in äußerst kurzer Zeit regelrechte Erdstöße in Folge in der Gesetzgebung ausgelöst haben, haben dazu beigetragen, die tragische Sisyphos-Situation deutlich zu machen, in der sich der Rechtswissenschaftler befindet. Deshalb stellt sich heute das Problem erneut in seiner ganzen Klarheit: Ist jene Wissenschaft, welche die rechtstechnische Richtung vorgeschlagen hat, wirklich die Wissenschaft vom Strafrecht? Dass Auslegung und Dogmatik wirklich eine unersetzbare Funktion besitzen, kann vernünftigerweise nicht bezweifelt werden; sie gehören jedoch unvermeidlich zu einer Art von Tätigkeit, die man nur in einem uneigentlichen Sinne als Wissenschaft bezeichnen kann; es ist eine Tätigkeit gedanklicher Rekonstruktion, es ist eine Erforschung von technischen Hilfsmitteln, nicht aber eine Erfindung von Grundsätzen und von Gesetzen, die unter bestimmten Voraussetzungen universelle Bedeutung besitzen. Man muss sich daher fragen, ob es dem Juristen gestattet ist, auch eine andere Wissenschaft, eine Wissenschaft außerhalb von Auslegung und Dogmatik, zu betreiben. Nach unserer Meinung besteht diese Möglichkeit. Und ihr Weg ist von einigen Entwicklungen der rechtstechnischen Richtung selbst vorgezeichnet. Im Allgemeinen Teil der Strafrechts-Lehrbücher trifft man häufig auf Theorien und Grundsätze, die zwar anlässlich von positiven Normen erarbeitet worden sind, ihre Geltung aber außerhalb des positiven Rechts suchen. Und eben so wahr ist, dass ihre Ausarbeitung direkt oder indirekt Einfluss im Bereich der Gesetzesreform auf den Erlass von Normen ausübt, die ihnen angemessener sind. Diese Theorien und diese Grundsätze bezeichnen ein optimum, einen gedanklichen Fluchtpunkt, dessen Geltung nicht von der einzelnen Gesetzgebung abhängt.
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Man denke beispielsweise an die Kausalitätstheorien und an die Begriffe von Vorsatz und Fahrlässigkeit in ihren Wesensstrukturen, an den Begriff des Versuchs, an die Probleme der Zwei- oder Dreiteilung des Straftatsystems, an die Schuldlehren und an die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe; und man wird nicht leugnen können, dass in ihnen ein (mehr oder weniger deutliches) quid sichtbar wird, das seinen Geltungsgrund nicht im positiven Recht besitzt. Mitunter sind die Verfasser zu diesen Grundsätzen durch rechtsvergleichende Beobachtungen gelangt, in anderen Fällen aus mehr oder weniger unbewussten Betrachtungen logischer, psychologischer oder philosophischer Art. Es fehlt jedoch im allgemeinen an einem kritischen Bewusstsein des Untersuchungsverfahrens – weshalb man den Eindruck gewinnt, dass die Konstruktion auf halber Höhe in der Luft hängt und im positiven Recht gleichzeitig verankert und nicht verankert ist. Die Aufgabe, welche der heutige Jurist sich stellen muss, besteht deshalb darin, ein kritisches Bewusstsein dieser Untersuchungen zu gewinnen und die Dogmatik des positiven Rechts (des einzelnen und des vergleichend betrachteten) von den universell gültigen wissenschaftlichen Grundsätzen zu trennen. Zur Durchführung dieser Aufgabe (und vor allem zur Prüfung ihrer Durchführbarkeit) wollen wir an dieser Stelle einen ersten Beitrag allgemeiner Art leisten, während wir für die erforderlichen vertiefenden Überlegungen zu einzelnen Rechtsinstituten auf spätere Untersuchungen verweisen.
4. Gesetz als Gebilde aus hypothetischen Sätzen. Carrara und Stammler. Ein erster Rundumblick auf alle Strafgesetze gestattet sogleich eine erste Feststellung: Jede Gesetzgebung erscheint ungefähr wie ein großes Gebilde aus hypothetischen Sätzen: auf der einen Seite eine bestimmte Zielsetzung, auf der anderen Seite bestimmte Folgen. Natürlich handelt es sich hier nur um eine tendenzielle Wahrheit, denn keine Gesetzgebung, gehöre sie auch zu den perfektesten, kann sich einen Mechanismus zu eigen machen, der auf ein einziges Prinzip abgestimmt ist. Die Zielsetzungen überlagern und überschneiden sich sehr häufig, bis sie jenen Komplex von Normen bilden, [156] die mitunter in wirklichem oder scheinbarem Widerspruch untereinander stehen und die Gestalt jedes Gesetzbuches ausmachen. Doch die Aufgabe des Wissenschaftlers muss ja gerade darin bestehen, die verschiedenen Zwecke zu trennen und zu klassifizieren, und zu erkennen, welche Normen diejenigen sind, die sich aus der Sicht eines Zwecks als Mittel zu dessen Erreichung zwingend ergeben. Er wird anerkennen, dass zumindest beim gegenwärtigen Kenntnisstand dem Juristen schwerlich die Setzung der Zwecke zukommt, dass aber dem Juristen die Untersuchung der Mittel zukommt, welche diese Zwecke denknotwendig fordern. Er wird also in einem ersten Schritt untersuchen, ob es Rechtsinstitute, Normen, Rechtswahrheiten gibt, welche höher stehen als jeder Zweck, besser gesagt: ob es einen letzten Zweck gibt, den jeder andere voraussetzen muss, weil er zu den unabdingbaren Kategorien der strafrechtlichen Denkens gehört. Er wird daher, wenn er jeweils untergeordnete Finalsätze annimmt (die er zumindest für den
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Augenblick als von einem absoluten Gesichtspunkt aus unbeweisbar ansehen wird), hypothetische Systeme entwickeln, die zu jenen Sätzen in Funktion stehen. Und zugleich wird er die möglichen Beziehungen zwischen solchen Systemen im Hinblick auf die Überschneidung von Zwecken untersuchen. Dieses Vorgehen unterscheidet sich sowohl vom Naturrecht nach Art Carraras als auch vom Kritizismus nach Art Stammlers. Im Naturrecht stellt sich das Problem eines universal gültigen Rechts sowohl in der Form als auch im Inhalt; doch enthält eine solche Konstruktion einen inneren Widerspruch, denn während sie den Anspruch erhebt, außerhalb und oberhalb der historischen Zeitläufte zu stehen, bewegt sie sich in Wirklichkeit, indem sie sich auch im Bereich des Inhalts bewegt, unumgänglich im Bereich der Geschichte. Auch wir gehen von einer gleichen Forderung aus; wir sind uns aber bewusst, dass die Zwecke im wesentlichen von der Geschichte gesetzt werden, und wir stellen uns daher ein anderes Problem, nämlich das, wie es möglich ist, Idealtypen (nicht einen einzigen Typus) zu konstruieren, in denen die konkreten Systeme tendenziell identisch sind. Bei Stammler haben wir es mit der kantianischen Unterscheidung von Form und Inhalt der rechtlichen Erfahrung zu tun: von der Betrachtung der konkreten (historischen) Rechtsnorm geht der nächste Schritt dahin, die bedingten Formen des Rechts aus ihnen zu abstrahieren, um von dort aus zu den reinen Formen des Rechts zu gelangen. Diese Konstruktion – die ja zweifellos einen höchst beachtlichen Schritt in der Entwicklung des Rechtsdenkens bedeutet – leidet jedoch an zwei Grundfehlern: den Begriff des Rechts für unbedingt zu halten, während doch auch dieser Begriff durch einen Zweck – und sei er auch nur ein ganz allgemeiner oder [157] sogar universeller – bedingt ist, und zu glauben, dass man mit einem Verfahren der Abstraktion aus dem Konkreten zu einem a priori gelangen könne, während es sich doch ersichtlich stets um einen Prozess der Generalisierung des historischen Gehalts handelt, der deshalb niemals beseitigt wird. Das System von Stammler ist – auch wenn der Verfasser sich dies nicht bewusst macht – nur eines der möglichen Systeme. Tatsächlich ist die Rechtswissenschaft eine Wissenschaft von Formen und von Inhalten; und sie ist eine hypothetische Wissenschaft, indem sie die Setzung von Zwecken voraussetzt, die sich ändern können. Die einzige Methode, Natur und Geschichte auf einer wissenschaftlichen Ebene zu verbinden, besteht darin, die Vielfalt der möglichen Systeme zu akzeptieren und demzufolge hypothetische Kategorien zu erarbeiten. Nur wenn man sich diesen hypothetischen Charakter klar macht und daher das Problem der Rechtswissenschaft als seinem Wesen nach ein Problem von Verknüpfungen betrachtet, ist es (zumindest beim gegenwärtigen Wissensstand) möglich, zu ener wissenschaftlichen Konstruktion zu gelangen, die objektive Gültigkeit besitzt; es ist somit möglich, die Vielfalt der Erscheinungen mit der Einförmigkeit der Gesetze zu versöhnen.
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5. Der fundamentale Kern des Strafrechts Das Strafrecht kreist stets um einen Kern, den die Erfahrung als unveränderlich bezeichnet: eine Norm oder ein Normenkomplex, in denen bestimmte Verhaltensweisen als Unrecht bezeichnet werden, und eine Sanktion für den Fall angedroht wird, dass sie an den Tag gelegt werden. Die Normen können geschrieben oder ungeschrieben sein, vom Staat erlassen oder spontan aus dem Schoße der Gesellschaft hervorgegangen sein, einen Befehl oder eine schlichte Garantie aussprechen; immer aber muss eine Norm vorhanden sein – d.h. die Formulierung eines Willens, mit der bestimmte Verhaltensweisen isoliert werden sollen, um mit ihnen bestimmte Folgen zu verbinden, die aus der Tat selbst in der natürlichen Ordnung der Dinge nicht resultieren würden. Der erste Begriff ist somit der Begriff der Strafnorm, verstanden als die Beschreibung eines menschlichen Verhaltens zu dem Zweck, soziale Folgen herbeizuführen, die dem individuellen Interesse, das durch dieses Verhalten verwirklicht werden soll, entgegengesetzt sind. Dass es sich um ein Verhalten, d.h. um ein Handeln oder um ein Unterlassen handeln muss, kann nicht zweifelhaft sein; was nicht in der Welt der Erscheinungen auf irgend eine Weise zutage tritt, kann nicht Gegenstand einer strafrechtlichen Regelung sein, da man nicht weiß, ob es existiert. Hier liegt die Wurzel der alten lateinischen Sentenz Cogitationis poenam nemo patitur. Was freilich nicht bedeutet, dass man nicht auch wegen der Äußerung eines Gedankens bestraft werden könnte. Man könnte allerdings bezweifeln, ob es sich wirklich um ein menschliches Verhalten handeln muss und hierfür die historische Erfahrung der Prozesse gegen Tiere ins Feld führen. Wir meinen jedoch, dass die Aufstellung der Norm und ihrer Sanktion sich [158] gedanklich auf das Prinzip der abstrakten Gleichheit der Personen stützen muss – in dem Sinne, dass derjenige, der gehorchen muss, abstrakt betrachtet in der Lage ist, die Norm auch zu setzen; dies aber ist nicht der Fall, wenn es sich um Tiere handelt. Dies bedeutet nicht, sich in Widerspruch zur historischen Erfahrung zu setzen, denn die Verfahren gegen Tiere lassen sich in einigen Fällen als Sanktionen begreifen, welche indirekt gegen Menschen verhängt werden, in anderen Fällen als choreographische Äußerungsformen eines primitiven Instinkts abergläubischer Rache, die mit der Welt des Rechts nichts zu tun hat. Das in der Strafnorm beschriebene Verhalten verletzt offenkundig ein Interesse im weiteren Sinne, d.h. das affektive Verhältnis einer Person zu einem materiellen oder immateriellen Gut. Dies liefert die Grundlage für eine Theorie des Straftatobjekts. Des weiteren dient das erwähnte Verhalten der Befriedigung der Person, welche es an den Tag legt; und die Sanktion bildet genau die Reaktion auf die Befriedigung dieses Interesses. Man zieht daraus die Folgerung, dass auch die Lehren vom Straftatsubjekt und von der Strafsanktion an der reinen Strafrechtstheorie teilhaben. Natürlich bezieht sich dies auf die noch undifferenzierte Sanktion ohne irgendeine Spezifizierung im Sinne der Strafe oder der Sicherungsmaßregel; die Spezifizierung nämlich bedarf der Aufstellung besonderer Zwecke, die für den
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grundlegenden Kern der Strafrechtswissenschaft noch nicht in Betracht gezogen werden. Zu diesem grundlegenden Kern gehört hingegen die Theorie der Teilnahme in ihren allgemeinen Grundzügen, denn es gehört zwar zur Logik des Verhaltens, dass dieses einheitlich oder vielfältig in seinen Subjekten sein kann. Man kann aber ersichtlich nicht die Probleme der akzessorischen Natur der Teilnahme oder des Grades der Verantwortlichkeit der Beteiligten lösen. Zusammenfassend können wir aus dieser ersten allgemeinen Betrachtung folgende Kategorien erarbeiten: Handlung oder Unterlassung, Schutzobjekt, Person von Täter und Opfer sowie Sanktion. Handelt es sich aber wirklich um reine Kategorien, um unbedingte Formen? Die Antwort muss nach unserer Ansicht offen bleiben; auch diese Begriffe gehen von einer Voraussetzung aus: einem Willen, der darauf gerichtet ist, eine faktische Lage, egal auf welche Weise, zu garantieren. Wie sehr man sich aber auch bemüht: es ist nicht möglich, mit Sicherheit zu sagen, was eine reine Form der (rechtlichen) Erfahrung im kantianischen Sinne sei; man kann nur sagen, dass wir sie in der historischen Erfahrung stets vorfinden, während die anderen Faktoren wechseln. Man kann daher nicht völlig ausschließen, dass der Abstraktionsprozess, den wir an dieser Stelle angehalten haben, fortgesetzt werden könnte. Gewiss ist freilich, dass man an einem gewissen Punkt der Untersuchung ein a priori finden muss – und es zu finden, ist Aufgabe der Wissenschaft. Überdies muss eine weitere Bemerkung angebracht werden: Die Begriffe, von denen wir gesagt haben, dass sie zur allgemeinen Theorie der Straftat gehören, gehören dieser nicht ausschließlich an. Tatsächlich gehören sie einer viel weiter gefassten Theorie menschlichen Verhaltens an. Die Norm erscheint bis hierher von ihrem typisch „normativen“ Gehalt (im Sinne der Auferlegung von Pflichten) entleert. Sie steht im wesentlichen für eine Verhaltenstypisierung. Tatsächlich gilt es, will man weiter gelangen, zwischen der präventiven und der punitiven bzw. repressiven Zwecksetzung zu entscheiden; man muss daher auf der Skala des Hypothetischen eine Stufe hinabsteigen. [159] Die Theorie der Norm im Sinne von Gebot ist kein Teil der allgemeinsten Lehre, sondern nur Teil einer speziellen Lehre. Wenn jemand einwendet, dass es dann keinen Unterschied zwischen der Rechtswissenschaft und einer Naturwissenschaft gebe, so ist die Antwort leicht: In der Welt der natürlichen Erscheinungen ist die Folge mit ihrer Voraussetzung durch einen Kausalnexus verbunden; in der Welt des Rechts ist die Folge (Sanktion) mir ihrer Voraussetzung (Verwirklichung des Tatbestandes) durch einen Willensnexus im Hinblick auf einen Zweck verbunden. Die strafrechtliche Typisierung besitzt demnach teleologischen Charakter.
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6. Die Unterscheidung „objektiv/subjektiv“ und ihre Erscheinungsformen Die erste grundlegende Differenzierung, welche eine weitere Vertiefung der strafrechtlichen Rechtsinstitute und damit eine Bereicherung der allgemeinen Straftatlehre gestattet, ist diejenige von „objektiv“ und „subjektiv“. Die Wahl zwischen einem objektiven Strafrecht und einem subjektiven Strafrecht hängt nicht von einem logischen Kriterium a priori ab, sondern von den besonderen Zwecken, die jeweils im Einzelfall von der Theorie gesetzt werden. Daher ist es – beim gegenwärtigen Kenntnisstand – nicht möglich, festzustellen, welches bei absoluter Betrachtung das beste System sei, bei relativer Betrachtung das beste System in einem bestimmten historischen Augenblick sei. Doch auch diese nachrangige Untersuchung ist kein Teil der Rechtswissenschaft, sondern nur eine solche der Tätigkeit des menschlichen Geistes. Hier muss lediglich festgestellt werden, welches die hauptsächlichen Rechtsinstitute eines rein objektiven Strafrechts und eines rein subjektiven Strafrechts sind. Ein rein objektives Strafrecht funktioniert im wesentlich als ein Komplex von Normen, die zum Schutz bestimmter (materieller und immaterieller) Güter aufgestellt worden sind. Es wird daher nicht eine Unterscheidung zwischen Vorsatz, Fahrlässigkeit und objektiver Verantwortlichkeit kennen noch Normen, welche sich auf die Lehre von der Zurechnungsfähigkeit beziehen. Im Mittelpunkt des Systems werden Handlungen und Erfolge stehen, d.h. die materiellen, objektiven Äußerlichkeiten des Verhaltens. Zwischen Handlung und Erfolg wird es eine kausale Verknüpfung geben müssen; doch diesen Kausalnexus wird man in allen Fällen, in denen man den Grundsatz der condicio sine qua non als erfüllt ansehen kann, als hinreichend anzusehen haben. Das Gewicht der Straftat wird einzig und allein von der objektiven Verletzung bestimmt werden und an diesem Kriterium werden alle erschwerenden und mildernden Umstände ausgerichtet sein. Es wird offenkundig weder Platz für den Versuch noch für eine Beteilung ausschließlich moralischer Art geben; und daher wird es auch keinen Sinn haben, von den Rechtsinstituten der aberratio ictus und der aberratio delicti zu sprechen. Was schließlich die Sanktion angeht, wird sie ohne Unterschied eine Strafe oder eine Sicherungsmaßregel sein: Die Wahl zwischen Strafe und Sicherungsmaßregel geschieht nämlich auf einer Ebene, die von derjenigen des objektiven Rechts verschieden ist. Die Analogie wird in einem solchen Strafrecht möglich sein; wir werden es nämlich nicht mit Geboten zu tun haben, denen das Erfordernis der Bestimmtheit innewohnt, sondern letzten Endes [160] mit einfachen wertenden Sätzen, mit Rechtsinstituten, mit denen bestimmte Güter geschützt werden sollen – und in einem solchen Feld ist das Argumentieren mit Ähnlichkeit völlig legitim. Die Voraussetzungen und damit auch die Folgen ändern sich radikal, wenn man zur Betrachtung eines rein subjektiven Rechts übergehen. Vor allem muss man ein subjektives Strafrecht in repressiver Funktion von einem subjektiven Strafrecht in präventiver Funktion unterscheiden.
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Im reinen subjektiven System des ersten Typs ist Wesensmerkmal der Norm das Gebot. Dies führt direkt zum Analogieverbot und zur Schaffung einer Reihe von stillschweigenden Grenzen, die logisch mit dem Bestehen einer als Befehl verstandenen Norm einhergehen (Notwehr, Notstand usw.). Aus dem Vorhandensein einer als Gebot verstandenen Norm folgt die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen denen, die gehorchen können, und denen, die nicht gehorchen können, zwischen denen, die gehorchen wollen, und denen, die aus Nachlässigkeit ungehorsam sind; hieraus ergeben sich die rechtlichen Kategorien von Zurechnungsfähigen und Zurechnungsunfähigen, des Irrtums, des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit. Und es folgt daraus auch die Notwendigkeit, den bösen Willen unabhängig davon, ob der gewollte Erfolg eingetreten ist oder nicht, zu berücksichtigen; so ergeben sich dann die Rechtsinstitute des Versuchs, der subjektiven Tatumstände, der moralischen Mittäterschaft, der fortgesetzten Tat (deren Einheit ja gerade aus der Kontinuität des kriminellen Tatplans folgt). Die Sanktion schließlich wird ausschließlich punitiven Charakter tragen, und neben der Strafe ist eine Sicherungsmaßregel nicht vorstellbar. Im reinen subjektiven System des zweiten Typs ist Wesensmerkmal der Norm die Garantie bestimmter Güter. Die Sanktion steht hier in Abhängigkeit von der Gefährlichkeit, welche der Einzelne an den Tag gelegt hat, also von der Gefahr, die er für die Gesellschaft darstellt. Ihm wird kein Vorwurf gemacht; die Frage, ob er anders hätte handeln können oder nicht, ergibt keinen Sinn. Die Sicherungsmaßregeln bestimmen sich ausschließlich nach dem Bedürfnis, ihn unschädlich zu machen und ihn nach Möglichkeit wieder zum sozialen Leben zu befähigen. Hieraus resultiert die Forderung, eine Reihe von Normen zu schaffen, deren Sinn darin besteht, die Sanktion an die Persönlichkeit des Täters anzupassen, ein an kriminologischen Typen ausgerichtetes Strafrecht, das sich nur insoweit auf das objektiv Verwirklichte bezieht, als es die inneren Einstellungen enthüllt. Die Theorie des Straftatobjekts wird daher symptomatologisch ausgerichtet sein; und dieselbe Ausrichtung werden die Rechtsinstitute des Versuchs, der Strafschärfungs- und Strafmilderungsgründe, der Beteiligung, der Straftatkonkurrenz (Einheitsstrafe oder Mehrfachstrafe je nach der Intensität der sozialen Gefährlichkeit und nicht in Abhängigkeit vom Umfang des angerichteten Schadens) erfahren. Die Analogie wird zulässig sein. [161] Als Strafausschließungsgründe kommen nur solche in Betracht, die auf die Gefährlichkeit abstellen.
7. Gemischte Systeme Das reine objektive System und das reine subjektive System bilden bloß Idealtypen, tendenzielle Typen, nicht aber Typen, die präzise historische Realität besitzen. Näher an der historischen Wirklichkeit ist hingegen ein gemischtes objektiv/subjektives System. Das gemischte System kann repressiv, präventiv oder zugleich in beiden Richtungen orientiert sein. Im letzteren Fall können wir es entweder mit dem Überwiegen der einen Zwecksetzung über die andere oder mit ihrem Gleichgewicht zu tun haben.
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Diese Unterscheidungen – die wir hier bloß wegen des Charakters dieser Abhandlung, die nur eine prinzipielle Darlegung bieten soll, erwähnen – besitzen eine außergewöhnlich große Bedeutung für die Differenzierung der Rechtsinstitute des Allgemeinen Teils des Strafrechts. Vor allem natürlich im Bereich der Sanktionen; aber auch andere juristische Kategorien wie die des Versuchs, der Konkurrenzen usw. erfahren unweigerlich beachtliche Änderungen je nachdem, ob die repressive oder die präventive Zwecksetzung überwiegt. Unabhängig von der repressiven oder präventiven Ausrichtung, von denen es geprägt sein kann, ist das objektiv/subjektive System in zwei Richtungen wirksam: derjenigen des Gebots und derjenigen der Garantie. Daraus ergibt sich mit logischer Konsequenz eine Reihe von Normen und Rechtsinstituten, die gleichermaßen auf die äußerliche Tatsache (Erfolg, Gefahr, Schaden) und auf die innere Bestimmung (Zurechnungsfähigkeit, Schuld, Deliktsfähigkeit) abstellen. Auch die Lehre vom Versuch wird von diesem Dualismus beeinflusst; denn auf der einen Seite werden wir es mit einer strafbaren Fallgestaltung auch dann zu tun haben, wenn die Straftat nicht vollendet worden ist (subjektives Erfordernis), auf der anderen Seite werden wir bestimmten äußerlichen Erfordernissen und zugleich einer milderen Strafe (objektives Erfordernis) begegnen – also der aberratio ictus und der aberratio delicti, denn es ist offenkundig, dass man zwar nicht von dem absehen kann, was gewollt gewesen ist, dass man aber auch das berücksichtigen muss, was wirklich herbeigeführt worden ist. Es gibt ein Rechtsinstitut, das typisch für dieses Strafrechtssystem ist: das erfolgsqualifizierte Delikt. Denn kennzeichnend für diese Figur ist das gleichzeitige Zusammentreffen von zwei Erfordernissen; des objektiven, wonach schärfer bestraft werden soll, wenn mehr herbeigeführt worden ist; und des subjektiven, wonach die Strafe gemildert werden muss, weil weniger gewollt gewesen ist. Und dasselbe kann im Hinblick auf die Kausalität gesagt werden. In einem objektiven System ist, wie wir gesehen haben, die einzige annehmbare Theorie diejenige der condicio sine qua non; in einem rein subjektiven System besteht das Problem der materiellen Kausalität nicht, es fällt mit demjenigen der Schuld zusammen; in einem gemischten System hingegen rückt ein Maßstab in den Vordergrund, der zwar auf den Grundsatz der condicio sine qua non abstellt, ihn jedoch durch Grundsätze abmildert, die außerhalb der Kausalitätslehre liegen und im wesentlichen der Schuldlehre entlehnt sind; man denke nur an die qualifizierte Bedingung, an die causa efficiens und vor allem an die causa adaequata und die causa humana. [162] Ein gemischtes System ist auch dasjenige unseres Strafgesetzbuches. Das objektive Erfordernis mischt sich in zahlreichen Normen mit dem subjektiven Erfordernis; und dieses folgt seinerseits mitunter der repressiven und mitunter der präventiven Ausrichtung. Gewiss ist nicht immer eine Harmonisierung erreicht worden; und mitunter hat das objektive Erfordernis ein solches Übergewicht, dass es sein Gegenüber fast beseitigt (man denke beispielsweise an die Regelung der Trunkenheit und an die Fälle der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit). Auch die Koordinierung von
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Repression und Prävention ist häufig misslungen – weswegen zwischen Strafe und Sicherungsmaßregel es häufig eine schlichte materielle Kombination gibt. Sicher ist freilich, dass auch die dogmatische Erforschung unseres positiven Strafrechts an Tiefe und Klarheit gewönne, wenn man sich stets die rechtlichen Kategorien vor Augen hielte, in denen die einzelnen Rechtsinstitute sich in der reinen Strafrechtslehre in die Mittel-Zweck-Beziehung einordnen.
8. Differenzierung der Systeme im Hinblick auf die gesellschaftliche Organisation Eine grundlegende Differenzierung der Normen, der Rechtsinstitute und der Strafrechtslehren bestimmt sich auch nach der Struktur der gesellschaftlichen Organisation, in der das Recht entsteht und angewendet wird. Wir erwähnen hier drei grundlegende Arten von Organisation: atomistische, staatliche und überstaatliche Organisation. Im atomistischen Stadium der Gesellschaft gibt es im wesentlichen zwei Quellen des Strafrechts: die Gewohnheit und den Willen des Stärkeren (in Form eines Individuums oder einer Gruppe). Das Prinzip der Gesetzlichkeit besitzt keinerlei Geltung; die Sanktion, die einen Defensiv-Charakter besitzt und auch ante factum (als Präventivmaßnahme) eintreten kann, besitzt meistens die Merkmale der Rache. Das geschriebene Gesetz besitzt keinerlei Bedeutung; die Analogie, die ihren Grund darin findet, dass sich immer neue Bedürfnisse auftun, herrscht unangefochten in der Rechtsanwendung. Auch das Prinzip der persönlichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist diesem Rechtssystem nicht eigen; da die Sanktion die Merkmale der Rache und der Verteidigung aufweist, kann sie auch auf Personen erstreckt werden, die mit der Tat nichts zu tun haben, die aber zu dem Schuldigen in einer Verwandtschafts-, Freundschafts-, Interessenbeziehung oder in einer Beziehung räumlicher Nähe stehen. Das Rechtsinstitut der Repressalie, das im Bereich des Völkerrechts noch lebendig ist, keimt gerade in diesem Bereich. Entsprechend den Leitlinien eines solchen Systems ist das Strafrecht ganz und gar objektiv ausgerichtet; der Schaden, nicht die Schuld bildet den Mittelpunkt der Straftatlehre. In einer staatlichen Ordnung ist Quelle des Strafrechts der Wille des Staates. Dieser Wille kann sich freilich je nach Staatstypus in unterschiedlicher Weise ausdrücken. Insoweit sind zwei grundlegende Typen zu unterscheiden: der legalistische und der liberale Typus. Im ersteren ist das Gesetz die ausschließliche Quelle des Strafrechts, der Richter besitzt nur die Aufgabe, dieses anzuwenden, und nur ihm kann er die Normen für seine Entscheidung der konkreten Fälle entnehmen. [163] Direkt mit dieser Voraussetzung verbunden ist der Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege.
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Im zweiten Typus hingegen besitzt das Gesetz keine vorrangige Stellung; die Strafrechtsnormen werden zum großen Teil der Gewohnheit und den gerichtlichen Präjudizien entnommen. Hier ist offenkundig, dass der Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege eine nur sehr relative Bedeutung gewinnen kann. Denn wenn die Normen durch Gewohnheit und Rechtsprechung gebildet werden, so ist klar, dass stets die Möglichkeit neuer Strafdrohungen außerhalb des sog. Gesetzlichkeitsprinzips besteht. Konkrete Beispiele für den ersten Typ von Rechtsordnung sind die romanischen Staaten, für den zweiten Typus die angelsächsischen Staaten. Im Hinblick auf die institutionelle Struktur ist aber noch eine andere gedankliche Unterscheidung von Bedeutung: es ist diejenige zwischen partikularen und universalen Typen von Rechtsordnungen. Die Unterscheidung ist vor allem im Hinblick auf die Abgrenzung der Rechtsordnung nach außen von Bedeutung. Während nämlich eine partikuläre Rechtsordnung zwangsläufig Grenzen für die Wirksamkeit ihrer Normen besitzt, welche sich aus dem fundamentalen Grundsatz ergeben, dass eine Rechtsordnung Verhältnisse und Personen, die außerhalb ihrer selbst liegen, nicht in Betracht ziehen kann, zieht eine universale Rechtsordnung sämtliche Verhältnisse und sämtliche Verhältnisse sub specie universi in Betracht. Auch hier ist freilich eine Unterscheidung angebracht. Es gibt nämlich eine absolute und eine relative Universalität. Die absolute Universalität ist die der menschlichen Gemeinschaft; diese Gemeinschaft umfasst zwingend alle möglichen Personen, die deshalb alle zum Schutzbereich ihrer Normen gehören. Relative Universalität ist diejenige einer Rechtsordnung, die sich auf sämtliche möglichen Personen ohne jede räumliche Begrenzung bezieht, aber nur insoweit, als sie in einem gemeinsamen universalen Interesse verbunden sind. Typisch hierfür ist die Rechtsordnung der Kirche. Während nun die Rechtsordnung der menschlichen Gemeinschaft naturgemäß keinerlei Begrenzung nach außen besitzt, finden die universalen Rechtsordnungen im relativen Sinne eine Grenze in der Natur des sie kennzeichnenden Interesses. Sieht man allerdings genauer hin, so entdeckt man, dass diese Unterscheidung nicht besonders wesentlich ist, denn die absolute Universalität der menschlichen Gemeinschaft und damit der menschlichen Rechtsordnung ergibt sich eben daraus, dass das Recht nicht weiter reichen kann als die Menschheit. Will man daher eine gemeinsame Bestimmung für die Grenzen der Rechtsordnung finden, die sowohl für partikulare als auch für universale Insitutionen gültig ist, so kann man sie folgendermaßen beschreiben: die zwangsläufige natürliche Grenze ergibt sich aus dem grundlegenden Interesse, das die Rechtsordnung strukturell kennzeichnet. Und dies bedeutet, dass der Anwendungsbereich der Normen nicht auf jene Personen ausgedehnt werden kann, [164] die außerhalb der Institution stehen und daher ihre rechtliche Subjektstellung aus anderen, gegenüberstehenden Institutionen beziehen. Deshalb ist die richtige Unterscheidung zwischen universalen und partikularen Institutionen diejenige, dass zu jenen ein jeder gehören kann, der es wünscht, so dass zumindest potentiell keine Ausschließung und kein notwendiger Gegensatz
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besteht, während es bei diesen zwangsläufig ein Prinzip des Ausschlusses und Gegensatzes gibt. Mit anderen Worten können wir sagen, dass wir es einerseits mit offenen Institutionen, andererseits mit geschlossenen Institutionen zu tun haben.
9. Das Verhältnis unseres Ansatzes zum teleologischen Ansatz Das in den vorigen Abschnitten entwickelte Schema ist natürlich ein summarisches; es ist jedoch, wie wir glauben, hinreichend, um zu zeigen, welche fruchtbaren Ergebnisse der in ihm befolgte Ansatz hervorzubringen vermag. Dieser Ansatz kann sehr zweckmäßig auf den Besonderen Teil des Strafrechts angewendet werden. Hier ist die Wechselbeziehung zwischen Mittel und Zweck vielleicht sogar noch klarer und unmittelbarer, zumindest für bestimmte Straftatgruppen. Zu denken ist beispielsweise an die Unterschiede, die es zwangsläufig zwischen dem Strafrecht eines liberalen Staates und dem Strafrecht eines sozialistischen Staates im Bereich der Vermögensdelikte gibt. Wir haben freilich an dieser Stelle nicht vor, die Unterschiede näher zu untersuchen, denn wir halten es für wesentlich, in einem ersten Schritt die allgemeine Theorie mit hinreichender Deutlichkeit zu bestimmen. Bevor wir jedoch diese programmatische Betrachtung abschließen, erscheint es uns unerlässlich, einen Punkt zu klären, der uns vorrangig erscheint. Dieser Punkt ist folgender: Vermengt sich unser Ansatz nicht mit jenem teleologischen Ansatz, der im Bereich der Strafrechtswissenschaft bereits seit einiger Zeit, wenn auch unter heftigem Widerspruch, vertreten wird? Die Antwort kann nur eine verneinende sein. Dafür erscheinen uns folgende Gründe ausschlaggebend: a) Der teleologische Ansatz erwächst aus der Interpretation einer positiven Rechtsordnung; unser Ansatz hingegen dient der Errichtung reiner Systeme; b) der teleologische Ansatz ist unkritisch in dem Sinne, dass er die grundlegende Frage, so sehr man sich auch bemühen mag, weder lösen will noch kann. Kann man den Zweck zugleich als Hilfsmittel und als Gegenstand der Interpretation heranziehen? Unser Ansatz hingegen ist ein kritischer Ansatz; denn er stellt sich zunächst die Frage der Möglichkeit einer Rechtswissenschaft außerhalb der Dogmatik des positiven Rechts; und erst nach der bejahenden Antwort [165] auf diese Frage stellt er sich die weitere Frage, wie eine solche Wissenschaft möglich sei. Hier wird also der Unterschied zwischen Zwecken und Mitteln deutlich; jene liegen außerhalb des Rechts und bedingen dieses; diese sind dem Recht immanent, sind vielmehr Bestandteile des Rechts selbst. Ist ein bestimmter Zweck (nicht vom Recht) formuliert, so folgt daraus ein durch diesen Zweck bedingtes System. Es liegt auf der Hand, dass im Bereich eines Systems eine Norm ihrerseits zu einer anderen Norm in einer Mittel-ZweckBeziehung stehen kann; doch die Zwecknorm liegt in diesem Falle nicht außerhalb des Rechts; sie ist ein integrierender Teil, ein Organ, des Systems – so wie im
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menschlichen Organismus das Auge ein Mittel zum Sehen ist, das Sehen aber seinerseits ein Mittel ist, das zum obersten Zweck, der Lebenserhaltung, eingesetzt wird, der wiederum außerhalb des Organismus liegt und dessen Bedingung, dessen Voraussetzung ist. Ebenso gibt es auch für den strafrechtlichen Organismus – den wir lieber System nennen wollen – transzendente und immanente Zwecke; die letzteren können wir besser als Funktionen bezeichnen. Die letzte echte Unterscheidung ist somit diejenige zwischen Zweck und Funktion.
10. Reine Strafrechtswissenschaft und Strafrechtsdogmatik Das Problem der reinen Rechtswissenschaft ist ein Problem der Konstruktion und nicht der Auslegung; die oben angestellten Überlegungen verstehen sich als solche in diesem Bereich. Welche Beziehung besteht aber zwischen der reinen Rechtswissenschaft und der angewandten Wissenschaft (Auslegung, Dogmatik), und welche Bedeutung besitzt unser kritischer Finalismus für die angewandte Wissenschaft? Es ist klar – und wir haben es auch bereits bemerkt –, dass die historisch aufgetretenen Systeme niemals vollständig den reinen Systemen entsprechen; es handelt sich im allgemeinen um gemischte Systeme, in denen zwei oder mehrere Zwecke oder Typen einander überschneiden. Legt man jedoch ein Strafgesetzbuch auf den Seziertisch, so wird es, wenn man die Begriffe der reinen Wissenschaft vor Augen behält, verhältnismäßig leicht, die Zielsetzungen und damit die Typen zu ermitteln, aus denen das System sich zusammensetzt; und damit kann man die Funktion, die jede Norm in diesem System innehat, feststellen. Allerdings muss die Auslegung einzig und allein als objektive Untersuchung eines Systems im Hinblick auf bestimmte Zwecke verstanden werden; die Zuordnung der Mittel zu den Zwecken ist Sache des Gesetzgebers, nicht des Interpreten. Erscheint danach eine Norm unstimmig im Hinblick auf den Zweck, auf den das System ausgerichtet ist, so kann dies zweierlei bedeuten: entweder haben wir es mit einer technischen Unvollkommenheit zu tun, und in diesem Fall geht es weniger darum, eine teleologisch Auslegung zu finden, als eine Lücke des geltenden Rechts auf der Grundlage eines funktionalen organischen Kriteriums zu schließen, oder wir haben es mit einer Norm zu tun, die einem anderen System angehört, das also als solches dingfest gemacht und angewendet werden muss. Nur unter diesen Voraussetzungen und innerhalb dieser Grenzen kann man nach unserer Ansicht von einer teleologischen Richtung der Strafrechtswissenschaft sprechen.
Francesco Antolisei (1882–1967) Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil (Manuale di diritto penale. Parte generale) (2. Auflage 1949) [1] Einleitung: Die Strafrechtswissenschaft [...] [14] [...] 12. Das Methodenproblem Was wir bis hierher zum Gegenstand der Strafrechtsdogmatik, zu ihrer Unterscheidung von den Nachbardisziplinen sowie zum Verfahren bei der Erforschung des Rechts ausgeführt haben, entspricht in seinen wesentlichen Zügen den Forderungen jener Richtung, die in Italien seit etwa vierzig Jahren herrscht und die Bezeichnung „Rechtstechnische Richtung“ trägt. [15] Es unterliegt keinem Zweifel, dass diese Richtung, indem sie die Unsicherheit, die vorher über Aufgaben und Grenzen unseres Faches herrschte, beseitigte und indem sie ihre Aufmerksamkeit auf die im engeren Sinne juristische Seite der Probleme des Strafrechts konzentrierte, einen beachtlichen Fortschritt bedeutete. Doch wegen des formalistischen Geistes, von dem die Atmosphäre der Zeit, in der sie entstand, gesättigt war, verfiel diese Richtung in gewichtige Übertreibungen, denn sie vernachlässigte den inhaltlichen Aspekt des Rechts, indem sie ihre Tätigkeit auf die formallogische Aufarbeitung der Bestimmungen des positiven Rechts beschränkte, woraus die Austrocknung unserer Disziplin resultierte, die doch wegen ihres Gegenstandes wie wenige andere reich an menschlichen Problemen ist. Auf diese Weise trieb sie das analytische Verfahren bis zum Exzess, was zu einer Zerstückelung und Zerkleinerung der Begriffe, zu vielen scholastischen Pedanterien und auch zu fruchtlosen Feinheiten führte. Andererseits wurde ein Missbrauch mit der abstrakten Logik getrieben, indem man die Tendenz zur Bildung von allgemeinen Kategorien und von Systemen übertrieb und ständig um die logische Architektur besorgt war, während die wirklichen Bedürfnisse des Lebens zu sehr vernachlässigt wurden. Gegen die Auswüchse und die Abwege der rechtstechnischen Methode zeichnet sich nun in den letzten Jahren eine heilsame Reaktion ab, nachdem sich die Notwendigkeit herausgestellt hat, dass der Jurist seine Aufmerksamkeit nicht auf die Betrachtung der Rechtsnormen in ihrer äußeren Erscheinung beschränkt, sondern seinen Blick in die gesellschaftliche Wirklichkeit vertieft, die unter diesen Normen in ewigem Leben pulsiert. Diese neue Ausrichtung, die „realistische“ oder auch „teleologische Richtung“ genannt worden ist, meint, dass eine zutreffende Auslegung des Gesetzes so lange absolut nicht möglich ist, wie man nicht den Zweck der Norm berücksichtigt, der deshalb auch nicht als ein metajuristisches und damit außerhalb des Rechts liegendes Element angesehen wird. Sie meint ferner, dass die soziale Tatsache oder das soziale Verhältnis, die durch das Gesetz geregelt werden, der Stoff sind, aus dem das Recht gebildet ist, und dass dieser Stoff stets berücksichtigt werden muss, wenn man vermeiden will, dass die Untersuchung des Rechts sich auf eine bloße logische Übung reduziert.
E. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Die neue Richtung verkündet aber auch die Notwendigkeit, dass die Rechtswissenschaft sich größerer Praxisnähe befleißigt. Dies bedeutet, dass ihre Forschungstätigkeit weniger auf rein theoretische und abstrakte Probleme als auf Kontroversen gerichtet sein soll, die sich alltäglich bei der Gesetzesauslegung stellen, um den Richtern Maßstäbe an die Hand zu geben, die zu Ergebnissen führen, welche den Anforderungen der Rechtsordnung entsprechen und leicht angewendet werden können. [16] Indem sie sich bemüht, den Graben, der die Theorie von der Praxis trennt, aufzufüllen, will die realistische Richtung die Rechtswissenschaft in Harmonie mit dem Geist der neuen Zeiten bringen, in denen wegen der sie kennzeichnenden Dynamik der Inhalt immer mehr Übergewicht über die Form gewinnt. [...]
Vierter Teil: Rechtsfolgen der Straftat [365] Kapitel I: Die Strafe Abschnitt I: Natur der Strafe 215. Begriff Das Wort „Strafe“ ist ein Synonym für „Züchtigung“; generell gesagt bezeichnet sie den Schmerz, das Leid, das demjenigen zugefügt, der ein Gebot verletzt hat. Ihr Wesensmerkmal ist daher die Leidzufügung (afflittività); eine nicht Leid zufügende Strafe wäre nämlich eine wirkliche contradictio in terminis; es wäre, wie man gesagt hat, dunkles Licht oder kaltes Feuer. Zu ergänzen ist aber, dass für das Vorliegen einer Strafe nicht ausreicht, dass es sich um ein pati handelt; nötig ist, dass dieses mit einer Absicht zugefügt wird. Strafe ist willentliche Leidzufügung, weil das Leid das Mittel ist, mit dem sie ihre Aufgabe im Hinblick auf das Gebot erfüllt. Den damit bezeichneten Charakter besitzen alle Züchtigungen, auch jene, welche im privaten Bereich zugefügt werden – in der Familie, in den Schulen, in Vereinigungen etc. Stets umfasst die Züchtigung ein Leid, das absichtlich zugefügt wird. Die Strafe, die uns hier interessiert, unterscheidet sich von den anderen Züchtigungen dadurch, dass sie vom Staat zugefügt wird; sie ist eine öffentliche Sanktion. Allerdings bedient der Staat sich der Strafe nicht selten auch außerhalb des Strafrechts. Besondere Bedeutung besitzen die Verwaltungsstrafen [...] (Disziplinarstrafen, Steuerstrafen, Polizeistrafen). Deshalb müssen bei den vom Staat verhängten Strafen jene besonders unterschieden werden, welche die besondere Folge der Straftat bilden und deshalb „Kriminalstrafen“ genannt werden. Diese Unterscheidung bereitet keine Schwierigkeiten. Zwei Merkmale nämlich unterscheiden die Kriminalstrafen von anderen öffentlichen Strafen: die eine betrifft das Organ, das sie verhängt, die andere die Art und Weise, in der sie verhängt werden. Das Organ, das sie verhängt, ist die Justiz; die Art und Weise, in der sie verhängt werden, ist jenes charakteristische Bündel von Handlungen, wel-
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che den Prozess bilden. Es genügt nicht, dass das erste Element vorliegt, denn die Justiz kann auch Nicht-Kriminalstrafen verhängen, beispielsweise im Fall des Art. 118 der Zivilprozessordnung (Codice di procedura civile); erforderlich ist also auch das Vorliegen des zweiten Elements: Die Verhängung der Strafe muss in den Formen und Garantien des Strafverfahrens erfolgen. Kriminalstrafen sind daher jene Strafen, die von der Justiz im Rahmen eines Prozesses verhängt werden. [366] Was zuvor ausgeführt wurde, steht nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass in einigen seltenen Fällen die Kriminalstrafe von einer Verwaltungsbehörde verhängt wird, wie z.B. vom Finanzamt auf der Grundlage des Gesetzes vom 7. Januar 1929, Nr. 4. Auch in diesem Ausnahmefall handelt es sich aber, wenn auch indirekt, um einen Eingriff der Justiz, denn die Person, gegen welche die Strafe verhängt wird, hat die Möglichkeit, an die Justiz zu rekurrieren und auf diese Weise zu erreichen, dass über die angeklagte Tat ein reguläres Verfahren eröffnet wird, das dann mit einem Urteil abschließt. Aus materieller Sicht besteht die Strafe in der Entziehung oder Verminderung eines individuellen Gutes. Während es in vergangenen Zeiten eine große Vielfalt an Strafen gab, von denen einige direkt die Ehre verletzten (Schandstrafen: Pranger, Auspeitschung), betrifft in den modernen Staaten die Strafe in der Regel nur noch drei Güter: Leben (Todesstrafe), Freiheit (Strafen mit Entziehung der persönlichen Freiheit) und Vermögen (Geldstrafen). Die (Kriminal-) Strafe kann damit folgendermaßen definiert werden: ein vom Gesetz angedrohtes und von der Justiz im Rahmen eines Prozesses verhängtes Leid über denjenigen, der ein gesetzliches Gebot verletzt hat. Mit dem Unterschied zwischen der Strafe und anderen rechtlichen Sanktionen, insbesondere den Sicherungsmaßregeln und dem Schadensersatz, werden wir uns im folgenden befassen. 216. Grundlage Dass die Strafe eine der verbreitetsten und dauerhaftesten Erscheinungen des sozialen Lebens ist – wir finden sie in allen Zeiten, auch den entferntesten, und bei allen Völkern, auch den primitivsten –, hat es nicht an Denkern und Wissenschaftlern gefehlt, welche ihre Grundlage bestritten und sie für ungerecht, nutzlos und sogar für schädlich gehalten haben. Neben den Utopisten Thomas Morus und Tommaso Campanella gehören hierher einige Vertreter des Anarchismus, unter denen die Gestalt des Lew Tolstoi herausragt, und vor allem einige moderne Soziologen und Kriminalisten: Girardin, Ferri, Wargha, Montero, De Asua usw. Die zuletzt genannten gingen von einem optimistischen Verständnis des menschlichen Lebens aus und vertraten daher die Auffassung, dass eine breit und klug ins Werk gesetzte Prävention die Bekämpfung der Verbrechen überflüssig machen könne. Alle genannten Autoren lassen einen Umstand von kapitaler Bedeutung außer Betracht, den Umstand nämlich, dass die Neigung zum Verbrechen nicht, wie es Lombroso behauptet, auf eine bestimmte Kategorie von Personen beschränkt ist,
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[367] sondern einen generellen Charakter besitzt. Wie wir schon bemerkt haben, kann man sogar sicher sein, dass, auch wenn es Kriminelle aus Instinkt gibt, der Verbrecher im allgemeinen nicht einen besonderen anthropologischen Typus bildet, denn nicht alle Verbrecher weisen jene Merkmale auf, die jener Gelehrte angegeben hat, während jene Merkmale bei Nicht-Kriminellen nicht immer fehlen. Die Neigung zum Verbrechen, die Fähigkeit, Straftaten zu begehen, ist in mehr oder minder großem Ausmaß in latenter Form bei fast allen Menschen vorhanden. Ist dies aber so und bildet das Verbrechen für den, der es begeht, die Befriedigung eines Bedürfnisses, d.h. eine Lust, so entsteht die Notwendigkeit eines Gegengewichts, das in nichts anderem bestehen kann als in dem Gegenteil der Lust, d.h. in einem Leid. Die Züchtigung ist somit ein Hemmnis, auf welches im Gemeinschaftsleben zu verzichten vollkommen ausgeschlossen ist. Damit soll nicht gesagt werden, dass die Strafe das einzige Mittel sei, das die Menschen von der Begehung von Verbrechen abhalten kann, denn zu diesem Erfolg tragen zweifellos auch einige andere Faktoren bei: die sozialen Empfindungen, das Pflichtgefühl, das Gefühl für Ehre und für persönliche Würde, die Kraft des Beispiels, der Einfluss der öffentlichen Meinung, die religiösen Anschauungen usw. Es kann auch zugegeben werden, dass für die schwersten Verbrechen, insbesondere für jene, welche die fundamentalen Empfindungen der Pietät und Rechtschaffenheit verletzen, die Strafe für eine Kategorie von Personen, die wegen ihres erhöhten Grades von Moralität sich ihrer Begehung auch ohne Aussicht auf eine Züchtigung enthalten, überflüssig ist. Wenn man jedoch die Masse der Menschen und die Masse der vom Gesetz verbotenen Handlungen betrachtet, von denen nicht wenige, wie schon bemerkt, vom kollektiven Bewusstsein nicht einmal als unmoralisch angesehen oder empfunden werden, so kann man vernünftigerweise nicht daran zweifeln, dass Strafe unverzichtbar ist. Eine Bestätigung hierfür bietet die Tatsache, dass überall, wo es einen Zusammenschluss von Menschen gibt und daher die Notwendigkeit einer Regelung der Koexistenz widerstreitender Interessen besteht, auch ein System von Strafen besteht. Dies gilt für Familien, Schulen, Kollegien, Armeen, öffentliche und private Vereinigungen. Einen entscheidenden Beweis liefert auch die starke Vermehrung der Verbrechen, die auftritt, wenn die staatliche Kriminalitätsbekämpfung nicht funktioniert oder auf irreguläre Weise funktioniert, wie bei großen Katastrophen und in Zeiten der politischen Unordnung oder einem aus einer militärischen Niederlage entstandenen Chaos. Andererseits ist auch ganz sicher, dass die Befugnis, Züchtigungen zu verhängen, das ius puniendi, für den Staat ein absolut notwendiges Mittel ist, um bei den Untertanen seinen Willen durchzusetzen, um sich Gehorsam zu verschaffen und auf diese Weise seine Ziele zu erreichen. Es ist daher eine Illusion und auch eine Naivität, zu glauben, dass der Staat auf sie verzichten könne. Der Staat wird niemals auf die Strafe verzichten, weil dies gleichbedeutend mit seinem Selbstmord wäre.
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[368] 217. Das Problem der Funktion der Strafe Unter „Funktion der Strafe“ versteht man das Wirken, oder besser: die Wirksamkeit der Strafe; anders ausgedrückt: die Wirkungen, welche sie erzielt und deretwegen sie vom Staate eingesetzt wird. Diese Wirkungen können in die Vergangenheit oder in die Zukunft gerichtet sein. Aus den ersteren entsteht der Gedanke der Repression, aus den letzteren der der Prävention. Bei der Prävention werden ihrerseits Generalprävention und Spezialprävention unterschieden. Unter Generalprävention versteht man die Wirkung, welche die Strafe auf die Allgemeinheit, d.h. die Masse der Untertanen ausübt, nämlich sie von der Begehung von Verbrechen abzuhalten; unter Spezialprävention hingegen die Wirkung auf die einzelne Person, welche die Straftat begangen hat, sie von der erneuten Verletzung des Strafgesetzes abzuhalten. Dies vorausgeschickt bemerken wir, dass das Problem der Funktion der Strafe zweifellos eines der am meisten diskutierten unseres Fachs ist; wegen der großen Bedeutung, welche die Strafe in unserem sozialen Leben besitzt, haben sich an dieser Diskussion in breitem Umfang auch die Philosophen beteiligt. Die ersten Untersuchungen, von denen wir Kenntnis haben, sind die des Pythagoras und des Protagoras, und von da an hat es praktisch keinen Denker gegeben, der sich nicht zu diesem gewichtigen Problem geäußert hat. Die Theorien zur Funktion der Strafe werden herkömmlich in absolute und relative aufgeteilt. Als absolute sind jene Konzeptionen bezeichnet worden, nach denen bestraft wird, quia peccatum est, d.h. weil ein Verbrechen begangen worden ist; als relative diejenigen, nach denen bestraft wird, ne peccetur, d.h. um zu verhindern, dass in der Zukunft erneut Verbrechen begangen werden. Nach den zuerst genannten Theorien findet die Strafe ihren Grund in sich selbst; für die anderen ist sie ein Mittel, um ein außerhalb ihrer selbst liegendes Ziel zu erreichen, genauer gesagt: das Gemeinwohl. Neben den beiden genannten Positionen gibt es noch eine dritte, welche die beiden Gesichtspunkte miteinander zu versöhnen versucht; es handelt sich um Theorien, nach denen gestraft wird quia peccatum est et ne peccetur (gemischte Theorien oder „Vereinigungstheorien“). Die Berechtigung dieser Entgegensetzung ist mit Recht in Zweifel gezogen worden, denn es trifft nicht zu, dass die sog. absoluten Theorien im Unterschied zu den relativen Theorien keinen Zweck anerkennen und der Strafe keinen solchen beilegen. Strafe kann nur ein Mittel zu einem Zweck sein, und es gibt vielleicht gar keine Theorie, welche meint, dass Strafe ein Zweck an sich sei. Andererseits bilden die Grundsätze quia peccatum est und ne peccetur nicht zwei apodiktische Gegensätze, wie wir im folgenden näher sehen werden. Ein Beweis für die schwache Solidität dieser Unterscheidung ergibt sich aus der Tatsache, dass es Lehren gibt (beispielsweise die der Besserung), die von einigen Autoren den absoluten Theorien zugeordnet werden, während andere sie unter die relativen Theorien fassen. Lassen wir dieses überkommene Unterscheidungsmerkmal beiseite, so bemerken wir, dass die Theorien über die Funktion der Strafe – so zahlreich sie auch sind und welch große Verschiedenheit sie auch aufzuweisen scheinen – sich stets um drei grundlegende Gedanken drehen: die Vergeltung, die Abschreckung und die
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Besserung. Bei unserer Untersuchung wollen wir daher die verschiedenen Theorien nach diesen Gesichtspunkten gruppieren. Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass bei der Aufgabenstellung dieses Buches wir uns mit einem Überblick über die wichtigsten Auffassungen begnügen müssen. [369] Wir werden uns daher insbesondere nicht mit jenen Theorien befassen, welche ganz oder teilweise die Maßstäbe der Vergeltung, der Abschreckung und der Besserung miteinander kombinieren wollen (die sog. gemischten Theorien), denn zum einen sind sie sehr zahlreich, zum anderen ergibt sich ihre Bewertung implizit, aber deutlich aus dem, was wir darzustellen uns anschicken. 218. Die hauptsächlichen Theorien Hier also die Hauptlinien der erwähnten Theoriengruppen. A) Die Vergeltung. – Für die Theorien der Vergeltung, die auch Theorien des „Ausgleichs“ genannt werden, ist die Strafe nichts anderes als eine Entlohnung: malum passionis quod infligitur propter malum actionis, nach der berühmten Definition von Hugo Grotius. Der Täter hat ein Gebot der Rechtsordnung verletzt. Er verdient daher eine Züchtigung und muss bestraft werden. Dieses allgemeine Kriterium hat verschiedene Ausprägungen erfahren; die hauptsächlichen sind: die moralische Vergeltung und die rechtliche Vergeltung. Die Anhänger der moralischen Vergeltung sind der Meinung, dass es ein grundlegendes und unbezwingbares Bedürfnis der menschlichen Natur sei, dass das Böse mit einem Übel vergolten werde, so wie das Gute eine Belohnung verdiene. Weil das Verbrechen eine Verletzung der sittlichen Ordnung bedeute, fordere das moralische Bewusstsein dafür die Bestrafung. Diese Konzeption hat ihre höchste Ausdrucksform bei Immanuel Kant gefunden, für den das Strafgesetz ein „kategorischer Imperativ“ ist. Selbst wenn die bürgerliche Gesellschaft – schreibt der große Philosoph – sich mit Zustimmung aller ihrer Mitglieder auflöse (wenn z.B. das auf einer Insel lebende Volk sich in alle Winde zerstreue), müsse noch der letzte im Gefängnis befindliche Mörder hingerichtet werden, damit jedermann die Strafe für sein Verhalten widerfahre und nicht die Blutschuld auf dem Volk haften bleibe, das auf seine Bestrafung verzichtet habe. Die Theorie der rechtlichen Vergeltung besagt, dass das Verbrechen eine Auflehnung des Einzelnen gegen den Willen der Gesetze sei und als solche eines Ausgleichs bedürfe, durch den die Autorität des Staates wiederhergestellt werde. Dieser Ausgleich sei die Strafe. Der Philosoph Hegel hat dieser Lehre eine dialektische Form verliehen. Das Verbrechen bildet, so dieser Denker, eine Negation des Rechts; die Strafe ihrerseits ist die Negation des Verbrechens; indem sie eine Negation der Negation ist, bekräftigt die Strafe das Recht. Im selben Sinne hat der bekannte deutsche Kriminalist Karl Binding hervorgehoben, dass das wichtigste Resultat [370] der Strafe die zwangsweise Unterwerfung des Täters unter die triumphierende Macht des Rechts sei – die Unterwerfung, welche den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Rechtsnormen bekräftige. B) Die Abschreckung – Die Theorien der Abschreckung legen der Strafe die Funktion bei, dem Verbrechen durch die ihr innewohnende abschreckende Kraft zuvor-
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zukommen. Da sie in einem Leiden bestehe, sei ihre Aufgabe, die zum Verbrechen Neigenden von der Begehung krimineller Handlungen abzuhalten. Abgesehen von der alten und groben Auffassung (der sog. Theorie der exemplarischen Bestrafung), wonach die Wirkung, die zum Verbrechen neigenden Menschen abzuschrecken, durch strenge und auch grausame, nach Möglichkeit öffentlich zu vollstreckende Strafen erzielt werden soll, sind die hauptsächlichen Äußerungsformen dieser Richtung die eng beieinander liegenden Theorien von Giandomenico Romagnosi und Anselm Feuerbach. Der erstere stellt zunächst fest, dass der Staat das Recht besitze, sich gegen das Verbrechen, das die Existenzbedingungen des Gemeinschaftslebens gefährdet, zur Wehr zu setzen und meint sodann, dass die soziale Verteidigung dadurch verwirklicht werde, dass diejenigen bestraft werden, die verbrecherische Handlungen begangen haben. Die Strafe wirke psychologisch als Gegenmotiv gegen das kriminelle Motiv und halte auf diese Weise den Menschen davon ab, das Gesetz zu verletzen (Theorie des Gegenmotivs). Feuerbach geht von der Voraussetzung aus, dass alle Rechtsverletzungen von dem Wunsch ausgehen, ein Vergnügen zu erlangen, und dass dieser Antrieb nur dann ausgeschaltet werden kann, wenn der Betreffende weiß, dass auf seine Handlung ein Übel folgen wird, das größer ist als die Enttäuschung über die fehlende Erfüllung des Wunsches; daher ist er der Auffassung, dass der Staat die Strafe zu dem Zwecke androht, den Untertanen zu zeigen, dass sie nicht die Erlaubnis besitzen, das Gesetz zu verletzen, und ihnen damit den Lust zur Begehung von Verbrechen zu nehmen (Theorie des psychologischen Zwangs). Die bis hierher erwähnten Theorien konzentrieren ihre Aufmerksamkeit auf die präventive Wirkung, welche die Strafe auf die Masse der Rechtsgenossen ausübt. Von ihnen unterscheidet man die sog. Theorie der Individualabschreckung, welche ihren Blick auf die Wirkung richtet, welche die Strafe auf den Täter der Straftat ausübt. Ihre Funktion – so sagt man – besteht darin, zu verhindern, dass der Straftäter ins Verbrechen zurückfällt, und ihre Ausdrucksform ist die Abschreckung, welche von der Verhängung und Vollstreckung der Strafe ausgeht. Der bekannteste Vertreter dieser Richtung ist Feuerbachs Zeitgenosse und Freund Karl Grolman. C) Die Besserung – Die Besserungstheorien gehen von der Voraussetzung aus, dass [371] der Verbrecher mit seiner Handlung gezeigt habe, dass er zur Begehung von kriminellen Handlungen neige. Um dem Rückfall ins Verbrechen zuvorzukommen, müsse man sich um seine Einsicht bemühen. Die Besserung des Täters ist daher der eigentliche Zweck der Strafe. Indem er diesen Zweck verfolgt, sorgt der Staat für die Erhaltung und den Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaft, denn damit dämmt er jene betrübliche gesellschaftliche Geißel namens Kriminalität ein. Der Gedanke der Besserung, der sich auch in den Digesten findet, wo die berühmte Sentenz des Rechtsgelehrten Paulus poena constituitur in emendationem hominum mitgeteilt wird, hat nicht wenige Anhänger besessen und besitzt sie noch heute. Von ihnen ist vor allem Roeder zu erwähnen, der ihr leidenschaftlichster Verkünder ist. Nach Ansicht dieses Autors hat der Täter der Straftat mit seiner Tat
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gezeigt, dass er einer strengen Behandlung und einer Führung dahin bedarf, dass er wieder ein kooperatives Element des Gesellschaftslebens wird. Hierzu dient die Strafe, die infolgedessen einen erzieherischen Gehalt besitzen muss (Besserungsstrafe bzw. Erziehungsstrafe). Die Theorie der Besserung wird auch „Korrektionsstrafe“ genannt. Berührungspunkte mit ihr wie auch mit der Theorie der moralischen Vergeltung bietet die Theorie der Buße, die der Strafe die Funktion der geistigen Reinigung beilegt. Das Konzept der Buße, das bereits von Platon verkündet worden ist (für den großen Philosophen ist die Strafe „Medizin der Seele“), ist in neuerer Zeit wieder aufgegriffen worden von Kohler, der die Auffassung vertreten hat, dass die Strafe „kraft des Leides, das reinigt und weiht“, als Antidot gegen Unmoralität wirke. [...] [373] [...] 220. Unsere Auffassung Nach unserer bescheidenen Ansicht muss man, wenn man von der Strafe eine Vorstellung gewinnen will, die nicht einseitig ist, sondern der Realität in ihrer Vielgestaltigkeit entspricht, davon ausgehen, dass die Strafe in einem ersten Moment vom Gesetzgeber demjenigen, der das Gebot des Gesetzes verletzt, angedroht wird; in einem nachfolgenden Stadium wird sie vom Richter gegen den Gesetzesbrecher verhängt, und daraufhin wird sie vollstreckt. Strafe durchläuft somit drei verschiedene Phasen: die Gesetzgebungsphase, die gerichtliche Phase und die Vollstreckungsphase. Dies vorausgeschickt, ist die Frage, die auftaucht, folgende: Welchen Zweck hat der Staat vor Augen, wenn er eine Strafe für denjenigen festsetzt, der ein Gebot verletzt? Die Antwort auf diese Frage kann nicht zweifelhaft sein: Der Gesetzgeber will, indem er die Strafe androht, die ihrer Natur nach stets ein Leiden einschließt, die Masse der Untertanen beeinflussen; er will auf sie einen psychologischen Zwang ausüben, damit diese davon absehen, bestimmte Handlungen zu begehen. Die Funktion der Strafe in der Phase der Gesetzgebung (bzw. der Strafandrohung) kann nur in der Generalprävention von Straftaten bestehen; daran zu zweifeln wäre fast so, wie die Existenz der Sonne in Zweifel zu ziehen. Weiter ist nun aber zu fragen, welches die Funktion der Strafe in dem Augenblick ist, da sie vom Richter verhängt wird. Wir meinen, dass die Lösung keine besonderen Unsicherheiten aufwirft, wenn man diesen Aspekt des Problems mit der nötigen Abgewogenheit und Objektivität prüft: Die Verhängung der Strafe wirkt als rechtliche Vergeltung, denn ihre wesentliche Wirkung besteht in der Bekräftigung der Autorität des Staates. Der Einzelne hat eine Gesetzesvorschrift verletzt; mit der Verhängung der angedrohten Strafe [374] demonstriert der Staat seine Macht und erweist sich als Sieger im Kampf gegen den sich Auflehnenden. Der bezeichneten Wirkung schließen sich regelmäßig zwei weitere an: Die Verhängung der angedrohten Sanktion leistet dem durch das Verbrechen gestörten Kollektiv eine Genugtuung, indem sie die daraus entstande Unruhe besänftigt;
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gleichzeitig leistet sie der durch die Straftat geschädigten Person und all denen Genugtuung, die mit ihr durch Verwandtschaft, Interesse, Freundschaft usw. verbunden sind. Die beiden erwähnten Wirkungen sind als nachrangige anzusehen. Sie verwirklichen sich nicht in jedem Fall, denn zum einen rufen nicht alle Straftaten Unruhe in der Bevölkerung hervor, zum anderen gibt es nicht bei jeder Straftat einen durch sie Verletzten. Nun bleibt noch die dritte Phase, also jene, in der die vom Gesetzgeber angedrohte und vom Richter entsprechend verhängte Strafe vollstreckt wird. Und auch hier bietet die Lösung keine sonderlichen Schwierigkeiten für den, der das Problem mit einer von Voreingenommenheit freien Einstellung untersucht: Die Vollstreckung der Strafe soll auf den Täter einwirken, um ihn von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten. Aufgabe der Strafe in der Phase der Vollstreckung ist also die Spezialprävention der Kriminalität. Diese Funktion findet ihren Ausdruck speziell in der individuellen Abschreckung, die eine Folge des der Strafe innewohnenden Leidens-Charakters ist. Der Schuldige erhält die Züchtigung, die er verdient, und die „Lektion“, welche er erfährt, soll ihm die Lust nehmen, in das Verbrechen zurückzufallen. Dieser Wirkung schließen sich zwei weitere an: Die Besserung des Täters sowie seine materielle Unschädlichmachung. Leider sind diese Wirkungen nicht dauerhaft. Der Blick auf die Tatsachen zeigt nämlich, dass die Besserung des Schuldigen als Folge der Verbüßung der Strafe für die begangene Tat sich nicht immer einstellt und bei besonders verhärteten und daher besonders gefährlichen Tätern sehr selten eintritt. Und was die Unschädlichmachung angeht, verwirklicht sie sich nur bei einigen Strafen, nämlich bei der Todesstrafe und bei lebenslangem Zuchthaus. Sie verwirklicht sich in keiner Weise bei Geldstrafen und nur in eng begrenztem Ausmaß bei zeitigen Freiheitsstrafen. Bei der letzteren endet die Unschädlichkeit des Täters mit dem Ablauf der vom Richter im Urteil festgesetzten Frist, denn die automatische Entlassung, die daraus folgt, bringt den Täter in die bürgerliche Gesellschaft zurück, wo sein kriminelles Potential sich von neuem in verbrecherische Handlungen umsetzen kann. 221. Fortsetzung Den vorangehenden Überlegungen müssen weitere angeschlossen werden, die dazu dienen, das Problem der Funktion der Strafe besser zu erläutern und sehr häufige Irrtümer und Missverständnisse zu vermeiden. Wir haben drei Phasen der Strafe unterschieden: die der Gesetzgebung, die des Gerichts und die der Vollstreckung. Doch muss berücksichtigt werden, dass die zweite und die dritte Phase nichts anderes sind als [375] notwendige Folgen der ersten. Von dem Augenblick an nämlich, in dem der Staat denen, die sich in einer bestimmten Weise verhalten, Strafe angedroht hat, muss er die Strafe auch über diejenigen, welche die Gebote übertreten, verhängen, und einmal verhängt, muss diese auch vollstreckt werden. Die Strafdrohung würde jede Wirkung verlieren und ginge auch der Ernsthaftigkeit verlustig, wenn sie nicht in die Tat umgesetzt
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würde, sobald die gesetzliche Anordnung verletzt ist. Die Anwendung (d.h. Verhängung und Vollstreckung) der Strafe zeigt somit den Charakter der Unvermeidlichkeit. Solange er seine Autorität über seine Untertanen bewahren will, solange er sich Gehorsam verschaffen will, muss der Staat, der eine Strafe androht, sie zumindest in der Regel auch anwenden. Die drei Phasen der Strafe bilden infolgedessen, wiewohl sie unterschieden sind, ein untrennbares Ganzes. Diese unauflösliche Verbindung führt zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass die Verhängung und die Vollstreckung der Strafe, obwohl sie spezielle Funktionen ausüben, letztlich im Zweck der Strafandrohung selbst zusammenfließen, nämlich in der Generalprävention der Verbrechen. Die Wahrheit des Gesagten wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass die Stärkung der Autorität, die aus der Anwendung der angedrohten Strafe resultiert, einen Beweis für die Macht des Staates bildet und damit künftigen Straftaten vorbeugt. Die Masse der Untertanen nimmt zur Kenntnis, dass der Staat keine leeren Drohungen ausspricht; er lässt nicht zu, dass seine Gebote ungestraft verletzt werden, und auch dies muss dazu dienen, die Tatgeneigten von der Begehung krimineller Handlungen abzuhalten. Auch die Genugtuung, welche die Anwendung der Strafe der Allgemeinheit bietet, trägt zum selben Ergebnis bei, denn sie vermeidet kollektive Zwangsanwendung; ist doch bekannt, dass ein nicht bestraftes Verbrechen solche dem Verteidigungsinstinkt entspringenden Reaktionen hervorruft, wie das Phänomen der Lynchjustiz zeigt, das immer noch, wenn auch nur noch sporadisch, in einigen zivilisierten Ländern auftritt. Indem sie diese krankhaften Äußerungen verhindert oder eindämmt, dient die Anwendung der Strafe zur Vorbeugung gegen Straftaten. Die Genugtuung für den Verletzten und für die durch die Tat indirekt Geschädigten schließt zeigt eine entsprechende Wirkung, denn sie vermeidet oder begrenzt doch zumindest private Racheaktionen. Es unterliegt wahrlich keinem Zweifel, dass, wenn der Staat keine Strafvorschriften erlässt und die Straftäter nicht in angemessener Weise straft, die Privatleute sich Gerechtigkeit mit eigenen Händen verschaffen, woraus dann weitere Verbrechen entstehen und aus diesen wiederum die Kette von individuellen Gewalttaten, die leider dort zu beklagen sind, wo die staatliche Kriminalitätsbekämpfung unzulänglich ist oder die Bevölkerung geringes Vertrauen in die Autorität der Regierung besitzt. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Anwendung der Strafe nicht nur als Vergeltung wirkt, denn sie beseitigt auch die durch die Straftat hervorgerufene Unruhe und verhindert Straftaten, sie wirkt, anders gesagt, nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft. Daraus muss vor allem die Folgerung gezogen werden, dass es keinen wirklichen Gegensatz zwischen den Grundsätzen punitur quia peccatum est und punitur ne peccetur gibt. Wird beispielsweise ein Dieb verurteilt, so ist es unzutreffend, wenn man sagt, er sei einzig und allein deshalb bestraft worden, weil er gestohlen hat, ebenso unzutreffend ist es, wenn man sagt, dass er nur deshalb bestraft worden sei [376], damit keine weiteren Diebstähle begangen werden; er wird bestraft, weil er gestohlen hat und damit nicht weitere Diebstähle begangen werden; mit einem Wort: quia peccatum est et ne peccetur. Die Situation ist vollkommen identisch
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mit derjenigen, die besteht, wenn man eine Belohnung ausspricht (z.B. einem mutigen Menschen, einem Wohltäter, einem Erzieher) – eine Belohnung, die sowohl deshalb gespendet wird, weil eine verdienstvolle Handlung begangen worden ist, als auch, um andere anzuspornen, sich ebenso zu verhalten. Es folgt daraus weiter, dass es eine enge, sogar eine sehr enge Verbindung zwischen Repression und Prävention gibt. Auch hier handelt es sich nicht um entgegen gesetzte Vorstellungen, denn indem er begangene Straftaten bestraft, verhindert der Staat auch künftige Straftaten. Es irren daher jene Kriminalisten, welche die Strafe nur als Repression ansehen. Nicht nur dann, wenn sie angedroht wird, sondern auch dann, wenn sie verhängt wird, und noch mehr dann, wenn sie vollstreckt wird, übt die Strafe auch präventive Wirkung aus. Die Wahrheit ist also, dass Repression und Prävention wie zwei Gesichter der Strafe sind: das eine in die Vergangenheit gerichtet, das andere in die Zukunft. Nicht ohne Grund ist daher die Strafe mit dem Haupt des Janus verglichen worden. Doch eine dritte und nicht weniger wichtige Folgerung ergibt sich aus der engen Beziehung, welche die verschiedenen Phasen der Strafe miteinander verknüpft. Daher tragen, wie wir gesehen haben, die Verhängung und die Vollstreckung der Strafe zum selben Ergebnis bei wie die gesetzliche Strafdrohung, indem sie ihr die notwendige Vervollständigung geben und weil sie in der Verhinderung von Straftaten miteinander wetteifern. Recht hat daher die breite Strömung in der Lehre, welche annimmt, dass der letzte Zweck der Strafe in der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung zu erblicken sei; anders ausgedrückt: im Schutz der Gesellschaft gegen Handlungen von Einzelnen, welche ihre Existenz oder ihre Entwicklung gefährden; also: in der sozialen Verteidigung. Diese Verteidigung bildet tatsächlich den wirklichen Zweck der Strafe.
Giacomo Delitala (1902–1972) Prävention und Repression in der Strafrechtsreform (Prevenzione e repressione nella riforma penale) (1950) 1. Ich glaube, dass wir als Katholiken alle einhellig der Auffassung sind, dass die Gerechtigkeit der leitende Maßstab des Rechts sei. Da das Recht aber praktische Tätigkeit ist, ist es, wie jede praktische Tätigkeit, auf einen Zweck gerichtet; der Erörterung der Gerechtigkeit muss daher die Erörterung der Nützlichkeit an die Seite gestellt werden. Ja mehr noch: Sollte eine Rechtsnorm sich als nicht geeignet erweisen, einen Nutzen zu stiften, so wäre sie auch nicht gerecht, denn der Staat ist für den Menschen geschaffen und nicht der Mensch für den Staat. Diese schlichten Aussagen öffnen uns den Weg zur Eingrenzung des grundlegenden Problems jeder Strafrechtsreform, welches demnach lautet, was der Zweck der Strafe sei. Historisch – hier hat Croce recht – kann die Strafe „verstanden und gewollt sein als zweckgerichtete Drohung, um andere davon abzuhalten, eine bestimmte Klasse von Handlungen, selbst wenn diese normalerweise höchst anständige Handlungen sind, zu begehen, oder mit moralischem Eifer die Gesellschaft und den Einzelnen, der gefehlt hat, zu bessern, indem sie diesen anhält, in sich zu gehen und zu bereuen“. Indes ist unsere Untersuchung nicht darauf gerichtet, den Zweck dieser oder jener Strafe, der einen oder der anderen Norm zu ermitteln, der ja beliebig sein kann; wenn es um die Reform geht, interessiert nicht das Sein, sondern das Sollen, mit anderen Worten: der Zweck, welcher der Strafe von demjenigen beigelegt werden soll, der die Gesetze für das bonum commune erlässt. Man kann auch nicht sagen, dass diese Untersuchung müßig sei, weil der Begriff der Strafe dem Begriff des Rechtes selbst immanent sei und dass deshalb der Zweck der Strafe – um es mit Carrara zu sagen – „kein anderer ist als der, dass Gerechtigkeit sei, nicht aber der, dass der Verletzte gerächt wird, dass der Schaden, den er erlitten hat, ersetzt werde und dass die Bürger abgeschreckt würden; er besteht auch nicht darin, dass der Verbrecher seine Tat büße oder dass seine Besserung erreicht werde. All dies können Nebenfolgen der Strafe sein, und einige von ihnen sind wünschenswert; doch die Strafe wäre selbst dann nicht zu tadeln, wenn alle diese Ergebnisse ausbleiben würden“.
Vorrangiger, vielmehr einziger Zweck der Strafe der sei, das Recht zu schützen, das durch das Verbrechen negiert worden ist und durch die Sanktion wiederhergestellt wird. [598] Doch die Carrara-Formel ist nicht nur logisch unhaltbar, sondern auch weit davon entfernt, das Problem zu lösen, und beschränkt sich darauf, die Suche nach dem Zweck von der Sanktion auf die Norm zu verlagern; deshalb kann sie dem Gesetzgeber keinerlei Hilfe bieten, denn diesem kommt es darauf an, zu wissen, wann und bis zu welchem Punkte er sich der Strafe zum Schutze der vom Recht verfolgten Zwecke bedienen kann.
E. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Ist damit der juristische Formalismus verbannt, so muss das Problem in seinen inhaltlichen Bezügen angegangen werden. Ist Zweck der Strafe die Vergeltung oder die Prävention? Punitur quia peccatum est oder punitur ne peccetur? Es ist allgemein bekannt, dass jede dieser beiden Konzeptionen – Vergeltung und Prävention – Anlass zu einer ganzen Reihe von Theorien gegeben hat, die zwar ihren Ausgang von diesen Mustern genommen haben, sich aber dann untereinander differenziert und angenähert haben, so dass – um nur einige Beispiele zu geben – dem Vergeltungsprinzip das raue Gesetz der Talion als auch das sehr viel vergeistigtere Prinzip der Wiederherstellung der Rechtsordnung zugeordnet worden ist, während die Anhänger des Präventionsansatzes den Akzent einmal auf die abschreckende Wirkung legen, welche die Verhängung der Strafe auf die Allgemeinheit der Rechtsgenossen ausübt (Generalprävention), ein anderes mal auf das Erfordernis, jene Menschen, die wegen der Begehung einer Straftat strafrechtlicher Behandlung unterworfen werden, für die Gesellschaft zurückzugewinnen (Spezialprävention). Wie groß jedoch diese Abweichungen auch immer sein mögen, zutreffend ist doch die Eingruppierung der verschiedenen Theorien zu jenen beiden Ansätzen; die Lehren, welche auf das Vergeltungsprinzip abstellen, berufen sich allesamt auf das Erfordernis der Gerechtigkeit, jene, die das Präventionsprinzip verfechten, auf die Nützlichkeit. Wenn aber das Recht gerecht und nützlich zugleich sein soll, so folgt daraus, dass aus dieser Sicht die eine wie die andere Konzeption mangelhaft ist, denn beide erfassen jeweils nur einen Teil der Wahrheit: Das quia peccatum und das ne peccetur bilden nicht zwei entgegengesetzte und unversöhnliche Forderungen, sondern das eine ist das Wesen, das andere ist der Zweck der Strafsanktion. Auf der Grundlage des Zweckmäßigkeitskriteriums, des ne peccetur, gibt es für das Ermessen des Gesetzgebers keine Grenzen mehr, und der Aspekt der Gerechtigkeit müsste dem der exemplarischen Bestrafung weichen; auf der Grundlage eines nicht durch einige Nützlichkeiterwägungen gemilderten Vergeltungsprinzips würde die Gerechtigkeit der Menschen sich das Amt der Göttlichen Gerechtigkeit anmaßen. Und im einen wie im anderen Fall würde man – auf entgegengesetzten, aber zusammenlaufenden Wegen – bei demselben Irrtum anlangen, nämlich dem Irrtum, den Staat als Zweck an sich selbst anzusehen; dort leugnet man die Unterwerfung des Staates unter Gott, hier identifiziert man den Staat mit Gott. [599] Daher meine ich, dass man gegen die Zuspitzung des Vergeltungsprinzips nachdrücklich Front machen sollte. Zu behaupten, dass die Strafe durch sich selbst gerechtfertigt sei, dass der Mensch eine Strafe verdiene, dass er gar ein Recht auf die Strafe habe, unabhängig von jeder Zweckerwägung, und dass die Vergeltung sich in der Leidenszufügung erschöpfe, welche ihre grundlegende Eigenschaft bilde, ist wie z.B. die Vergebung zu leugnen und zu übersehen, dass die Straftat als geistige Tatsache nur mit einer anderen geistigen Tatsache, nämlich der Reue, bekämpft werden kann. Auf praktischer Ebene könnte ein so zugespitztes Verständnis der Vergeltungsstrafe zur Beseitigung vieler Rechtsinstitute führen, die inzwischen von allen mo-
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dernen Gesetzgebungen übernommen und bereits durch Ergebnisse der Erfahrung bestätigt sind. Man denke beispielsweise an die Aussetzung der Strafe zur Bewährung und an das richterliche Absehen von Strafe. Ob dem Institut der bedingten Verurteilung eine Vermutung der Einsicht oder eine Einschätzung fehlender Gefährlichkeit zugrunde liegt, ist ein Problem, das, wenn man es denn lösen will, nicht die Tatsache beseitigt, dass dieses Rechtsinstitut in unaufhebbarem Gegensatz zum Vergeltungsprinzip steht, wie man es allgemein versteht. Wenn die Strafe sich durch sich selbst rechtfertigt, wenn der Mensch, der ein Verbrechen begeht, in jedem Fall ein Recht auf die Strafe hat, warum straft man dann in diesem Falle nicht? Die Antwort auf diese Frage kann nur lauten: weil die Verhängung der Strafe dann, wenn Reue vermutet werden kann, zwecklos wäre, und eine zwecklose Strafe auszusprechen bedeuten würde, den instrumentellen Charakter des Rechts, seine Natur als Mittel zur Verfolgung des Gemeinwohls, zu leugnen. Erkennen übrigens nicht auch die hartnäckigsten Verfechter des Vergeltungsprinzips an, dass diesem eine Vorstellung von spirituell verstandener Spezialprävention zugrunde liegt? Und müssen sie nicht, was das richterliche Absehen von Strafe angeht, letztlich anerkennen, dass dieses Institut sich auf die Formel bringen lässt, Vorbeugen sei besser als Bekämpfen, weil für Minderjährige, wenn es sich um Ersttäter handelt, es besser sei, auch dann keine Strafe zu verhängen, wenn alle Voraussetzungen der Bestrafung vorliegen, damit der Minderjährige nicht durch den Strafvollzug einem schädlichen Eindruck für die Ausbildung und Entwicklung seiner Persönlichkeit empfängt? Zutreffend ist freilich, dass man hier anführt, der Bereich der Jugenddelinquenz bilde eine Kategorie für sich, der mit besonderen Maßstäben gemessen werden müsse. Zutreffend ist aber auch, dass diese Feststellung nichts anderes bedeuten kann, als dass in diesem Bereich der Maßstab der Vergeltung hinter dem der Prävention zurücktreten muss. Indes handelt es sich aber doch um zurechnungsfähige Personen, um Personen, bei denen alle Voraussetzungen für die Verhängung der Strafe vorliegen. [600] Welches also ist der Grund, der dem Erfordernis der Verteidigung den Vorrang vor dem der Vergeltung einräumt? Es ist eben der Grund, zu vermeiden, dass der Strafvollzug einen schädlichen Einfluss auf die Ausbildung der Persönlichkeit des Minderjährigen ausübt, zu vermeiden, dass aus der Verhängung der Strafe statt eines Nutzens ein Schaden für den Minderjährigen selbst und für die Gesellschaft entsteht – mithin eine Zweckmäßigkeitserwägung, die der Forderung nach Vergeltung vorgeht und diese verdrängt. Ich bezweifle im übrigen, dass der Gegensatz zwischen meiner Sicht der Dinge und derjenigen der Vergeltungstheoretiker ein mehr formeller als inhaltlicher sei. Ich zitiere unter anderem Bettiol, der – obwohl er schreibt, dass die Strafe sich aus sich selbst rechtfertige – nicht zögert, anzuerkennen, dass die Strafe „die Besserung des Täters anstrebt, dass sie auf eine Weise verhängt und vollstreckt werden muss, dass sie innere Einsicht ermöglicht, dass sie die Reinigung der Seele anstreben muss, welche das heilsamste und wirksamste Mittel der Läuterung des Menschen ist“. Das Erfordernis, dass die Strafe einen Zweck habe, was so viel heißt wie von der Spezialprävention zu sprechen, bedeutet also auch für die strengsten Vergeltungstheoretiker eine Verpflichtung, auch wenn die Anerkennung dieses Erfordernisses
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formal auf den Zeitabschnitt des Strafvollzuges beschränkt wird. Wenn es allerdings eine Aussage gibt, die uns immer als sophistisch erschienen ist, so ist es die, dass man bei der Untersuchung des Zwecks der Strafe zwischen Rechtsetzungsund Vollstreckungs-Element unterscheiden und dem letzteren einen anderen Zweck als dem ersteren zuschreiben müsse. Wenn man sagt, dass die Strafe nichts anderes sei als die Wiederherstellung der Rechtsordnung durch die Bewährung der verletzten Norm, so fordert man letztlich für die Zeit der der Vollstreckung denselben Zweck wie für die Zeit der Normsetzung. Setze ich die Norm in Beziehung zu einem Zweck, so kann ich, wenn ich sie bewähre, sie nur zu eben diesem Zweck bewähren, es sei denn, ich verträte die Auffassung, dass ich sie durch einen Akt normaler Konsequenz bewähre, d.h. dass ich auch ohne Notwendigkeit strafe, bloß weil ich vorher angedroht habe, es zu tun. Ich meine, dass die einzige zulässige Unterscheidung zwischen den beiden Zeitpunkten diejenige ist, die aus deren innerem Wesen folgt: im Zeitpunkt der Gesetzgebung hat die Norm, indem sie sich an alle Rechtsgenossen richtet, die Generalprävention im Blick, im Zeitpunkt der Vollstreckung hingegen, welcher der Einzelne unterworfen wird, die Spezialprävention. Diese beiden Zeitpunkte sind jedoch einander innerlich zugeordnet; und dies bedeutet, dass die Strafe, soweit sie die soziale Wiedereingliederung des Täters erreichen will, ihren Leidenscharakter beibehalten muss, denn wenn man diese Eigenschaft entfallen ließe, wäre sie, da sie nicht mehr eine Züchtigung darstellte, [601] auch nicht mehr für die Zwecke der Generalprävention geeignet. Innerhalb dieser Grenzen muss den Erfordernissen der Spezialprävention offen und bereitwillig Anerkennung eingeräumt werden. Gewiss ist die Spezialprävention, wie Katholiken sie verstehen, nicht jene Spezialprävention, wie die Positivisten sie auffassen, welche – wie anerkannt werden muss – ihre ersten und entschiedensten Fürsprecher gewesen sind. Nach der positivistischen Lehre ist die Spezialprävention während der Zeit des Strafvollzuges ein materielles Werk der Besserung, dessen Objekt der Inhaftierte ist. Und auch außerhalb des Vollzugs der Strafe, im Bereich der Maßregeln, kann und darf die die Spiritualität des Menschen nicht geleugnet werden, denn die Gefährlichkeit zurechnungsfähiger Menschen ist stets, zumindest innerhalb gewisser Grenzen, auf den Willen zurückzuführen, und sie kann folgerichtig auch vom Willen beeinflusst werden. Der Unterschied zwischen uns und den Positivisten ist vollständig und endgültig; unsere Lebensauffassung ist der ihrigen entgegengesetzt; das Prinzip der Verantwortlichkeit, das von ihnen geleugnet wird, bildet für uns die unverrückbare Grundlage des Rechts und der Gesellschaft. Doch dieser absolute Gegensatz im Grundsätzlichen muss nicht dahin drängen, alle ihre Forderungen aprioristisch abzulehnen, noch dazu, ihren Lehren einen abstrakten und formellen Moralismus entgegenzusetzen, welcher die Verneinung der wahren Moralität ist. Wie im Bereich der Wirtschaft der Marxismus die Aufmerksamkeit der Politiker auf die soziale Frage gerichtet hat, so hat im Bereich der Strafrechtsreform der kriminologische Positivismus die Aufmerksamkeit der Juristen auf das Problem der Spezialprävention gelenkt. Es ist Aufgabe der Katho-
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liken, eine katholische Lösung für diese Probleme zu finden, doch es wäre Dummheit, die Existenz der Probleme zu leugnen.
2. Da wir fest glauben – und unser Gewissen bezeugt es uns jeden Tag –, dass der Mensch für die Taten, die er begeht, moralisch verantwortlich ist, bildet die Strafe für uns das normale und geeignetste Mittel im Kampf gegen das Verbrechen. Die Strafe darf aber nicht roh als eine Art von Talion verstanden werden; das Urteil über die Verantwortlichkeit kann, wenn es wirklich ein solches sein will, sich nicht mit der Feststellung zufrieden geben, ob die Tat, die der Person zugerechnet wird, von dieser gewollt gewesen ist, und sich sodann auf eine objektive Betrachtung ihrer verschiedenen Elemente beschränken. Diese Tat ist die Tat eines Menschen; man kann sie daher weder verstehen noch würdigen, wenn man nicht den Menschen würdigt. Ein gleichsam objektives Schuldurteil, das sich darauf beschränkte, [602] das Vorhandensein des Willens festzustellen, ohne dessen Entstehung zu untersuchen, und das deshalb von einer umfassenden Betrachtung der Persönlichkeit des Täters absähe, wäre moralisch und rechtlich eine Absurdität. Der Begriff der Schuld bewegt sich zwangsläufig zwischen zwei Polen: der Tat und dem Täter der Tat. Für die Tat soll Verantwortung getragen werden, wer aber aufgerufen ist, für die Tat Verantwortung zu tragen, ist der Mensch, der sie begangen hat, wenn sie sein Werk ist und innerhalb der Grenzen, in denen sie dies ist, so dass sie ihm zum Vorwurf gemacht werden kann. Der Grundsatz, dass das Recht für alle gleich sei, darf nicht mechanistisch verstanden werden; wenn die Schuld in Abhängigkeit von der Persönlichkeit steht, variiert sie von Person zu Person, und wenn die Schuld unterschiedlich ist, so muss auch die Strafe unterschiedlich sein. Wir wollen mit diesen Hinweisen nicht die Pforten zu modernen Lehren über die Täterschuld öffnen, welche die Straftat zum bloßen Symptom der Schuld degradieren und ihr bloß die Bedeutung einer schlichten – akzessorischen, aber äußerlichen – Bedingung für das Urteil über die Verantwortlichkeit zubilligen. Für alle unsere Handlungen werden wir vom Herrn zur Verantwortung gezogen werden; wäre aber die Absicht, die Schuld im Verhältnis zum Charakter zu bestimmen, etwa nicht gleichbedeutend damit, uns für alle unsere Taten verantwortlich zu machen? Die Lehre von der Lebensführungsschuld setzt somit letztlich den Staat mit Gott gleich, indem es dem Recht Aufgaben der Moral überträgt. Allerdings enthält sie doch ein Körnchen Wahrheit. Der übertriebene Moralismus, durch den sie geprägt ist, ist nämlich der Gegensatz zum Amoralismus einer Schuld, die sich mit der bloßen Feststellung des Vorliegens eines Willens zufrieden gibt und darüber die Bewertung der Person, die gewollt hat, und die Gründe, weshalb sie gewollt hat, vernachlässigt. Die richtige Problemlösung liegt daher in der Mitte. Ein Urteil, das die gesamte Lebensführung eines Menschen, seine Seele, seinen Charakter, seine Absichten beträfe, wäre nicht mehr ein rechtliches, sondern ein moralisches Urteil, denn das Recht als praktische Norm interessiert sich nur für die äußerliche Tätigkeit. Obwohl es sich aber auf diese äußerliche Tätigkeit beschränkt, würde doch die juristische Tätig-
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keit in unzulässiger Weise aufhören, sich nach dem moralischen Gesetz zu richten, wenn jene Handlung nicht auf die Persönlichkeit des Täters, der sie begangen hat, bezogen würde und diese Persönlichkeit nicht in allen ihren geistigen und natürlichen Anteilen erforscht würde. Die Anerkennung dieser Forderung findet sich in nuce bereits im geltenden Gesetzbuch, das in Art. 133 dem Richter aufgibt, bei der Strafzumessung die Verbrechensmotive und den Charakter des Täters, seine Vorstrafen und sein Verhalten vor, während und nach der Tat sowie seine Lebensverhältnisse [603] zu berücksichtigen. Dies ist jedoch eine allzu ängstliche Anerkennung, die noch dazu ans Ende des Artikels verbannt ist und grammatikalisch von jenem so geregelt ist, dass er offenkundig nur eine Ausnahme in extremis darstellt. Wer auch nur eine bescheidene Ahnung von Rechtsangelegenheiten besitzt, weiß bestens, dass jene Erforschung nicht erfolgt, nicht einmal während des richterlichen Verhörs des Beschuldigten, also in jener kurzen Zeit – freilich besser kurz als gar nicht! –, in der ein intelligent geführtes Verhör diesem Zweck dienen würde. Die Richter sind in der Regel nicht auf die Aufgabe, die ihnen übertragen ist, vorbereitet und haben kein Empfinden für die schreckliche Verantwortung. Vielmehr werden sie in der Regel – es muss gesagt werden – unter den Schlechtesten ausgewählt, so als ob die Strafjustiz eine niedere Form der Justiz wäre, nur weil sie einen geringeren Anteil an Technizismus erfordert. Und dann gibt es noch den enormen Arbeitsanfall, die fehlenden Hilfsmittel usw. – gemeinsame Mängel der gesamten Justiz, deretwegen die Gerechtigkeit sich in einer Krise befindet. Doch die Behandlung dieses Themas würde uns zu weit führen. Für unser Problem ist hinreichend, erwähnt zu haben, dass die Erforschung der Schuld sich nicht auf die Feststellung beschränken darf, dass die von dem Täter begangene Handlung vom Willen beherrscht war, sondern ihre Wurzeln so weit verfolgen muss, bis sie die Entstehung des Willens und die moralische Bedeutung der willentlichen Überlegung im Lichte der gesamten Persönlichkeit des Täters ermittelt hat. Bereits in der Phase der Strafverhängung wird also mit der Individualisierung der Sanktion begonnen, der dann in besonderer Weise die Phase der Vollstreckung gewidmet sein sollte, wenn das besondere Ziel dieser Phase – wie schon erwähnt – die gesellschaftliche Prävention ist. Das Strafvollzugsproblem erweist sich damit letztlich als das Zentralproblem jeder Strafrechtsreform. Die technischen Perfektionierungen einzelner Normen zählen wenig, selbst das System zählt wenig ohne eine Gefängnisreform, welche das Gebot der Verfassung wirksam und ertragreich werden lässt: die Strafen sollen der Resozialisierung des Verurteilten dienen. Doch leider ist in diesem Bereich alles erst noch zu tun; denn die Strafe, häufig falsch verhängt, wird immer noch schlecht vollzogen. Die Organisation der Vollzugsgebäude ist aus materieller Sicht antiquiert, aus spritiueller Sicht reaktionär; das Gefängnis sollte ein Purgatorium sein, statt dessen ist es ein Inferno. Zweifellos müssen die Erfordernisse der Spezialprävention mit denen der Generalprävention koordiniert werden, so wie die Spezies mit dem Genus; zweifellos darf die Strafe, die ja eine Züchtigung darstellt, nicht aufhören, ein Leid zu sein, will sie sich nicht selbst aufgeben, kein Zweifel besteht aber auch daran, dass die Übertreibungen des Leidens, wie alle Übertreibungen, nicht nur nutzlos, sondern
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auch schädlich sind. Der Schmerz ist nur dann ein heilsames Mittel für die Reue, [604] wenn er sich als zur Förderung der Reue geeignet erweist; soll die Strafe in der Seele dessen, der ihr unterworfen wird, den Sinn für moralisches Verhalten wecken, muss sie daher, wie Carnelutti zutreffend bemerkt, als ein Akt der Liebe verhängt werden. Dies bedeutet nicht, dass man unbedacht die Pforten zu allen Vorschlägen zur Gefängnisreform aufreißen solle, auch wenn die Erfahrungen bei anderen Völkern positiv gewesen sein mögen. Der Leidenscharakter der Beschränkung der persönlichen Freiheit, den die Strafe besitzt, wird natürlich von Person zu Person, von Volk zu Volk unterschiedlich empfunden. Je wacher der Freiheitssinn ist, um so leidvoller ist die Strafe. Dies bedeutet, dass nicht nur die Dauer der Strafe, sondern auch die Vollstreckung der Strafe zeitlich und räumlich unterschiedliche Einheiten bilden, und dass die Strafe im einen System gemildert, im anderen verschärft werden kann, ohne dass eines von ihnen an dem fundamentalen Erfordernis der Individualisierung und der Humanisierung der Strafvollstreckung zugrunde ginge, denn ohne diese wäre es absurd, auf die Läuterung des Täters zu hoffen. Ich verhehle mir durchaus nicht, dass das Strafvollzugsproblem ein Problem der Mittel und der Menschen ist; doch es ist ein Problem, das mit Entschiedenheit in Angriff genommen und gelöst werden muss, wenn wir nicht den Preis für eine bloß formelle Gerechtigkeit zahlen wollen. Das Herzstück des Problems der Strafe liegt hier: wäre auch das gesetzliche Instrumentarium frei von Mängeln und wären die richterlichen Entscheidungen aufgeklärt und gerecht – welchen Vorteil könnten wir daraus ziehen, wenn die Strafvollstreckung zwar jene abstrakte Gerechtigkeit zersetzt, aber weit davon entfernt, die Besserung der Gefangenen zu fördern, die Kräfte der Auflehnung in ihnen stärkt? Bei anderen Völkern mit technisch weitaus weniger perfektem gesetzlichem Instrumentarium sind die Verbrechensziffern weit niedriger als bei uns. Oh ja! Ich weiß sehr gut, dass die Verbrechensziffern von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängen und dass das juristische und Strafvollzugselement eines von vielen ist. Doch das proportionale Verhältnis zwischen Erstdelinquenz und Rückfall hängt – ich würde sagen: fast ausschließlich – von der Behandlung in der Zeit des Strafvollzugs und in der Zeit danach ab, und dieses Verhältnis ist bei uns außergewöhnlich hoch. Dies bedeutet, dass der Prozess der Humanisierung der Strafe weit von seiner Vollendung entfernt ist, auch wenn man zugibt, dass er begonnen hat. Daher erscheint sogar die Reform des Gesetzbuches nutzlos, wenn nicht zugleich die Gefängnisse reformiert werden. Eine Strafrechtsreform im katholischen Sinne muss eine totale Reform sein; und man kann sie nicht stückchen- und häppchenweise ohne eine harmonische Vorstellung vom Ganzen beginnen. [605] Obwohl die Strafe das normale und wirksamste Mittel des Kampfes gegen das Verbrechen ist, gibt es einige Kategorien von Personen, die man ihr vernünftigerweise nicht unterwerfen kann. Die Strafe muss dort der Sicherungsmaßregel weichen. Was die Zurechnungsunfähigen angeht, sind wir uns alle in der Sache einig. Strafe impliziert Verantwortlichkeit, und es kann keine Verantwortlichkeit geben, wenn
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es an der Freiheit des Willens fehlt. Die so genannte Verantwortlichkeit der Positivisten ist keine Verantwortlichkeit; es ist ein naturalistischer Begriff ohne jeden ethischen Gehalt. Wer sich zu weit aus dem Fenster lehnt – schrieb Ferri – fällt hinaus und stirbt: eine physische Sanktion; wer zu viel esse, werde krank und leide: eine biologische Sanktion; wer ein Verbrechen begehe, verfalle der Strafe: eine soziale Sanktion. In allen Fällen aber, sowohl in der Welt der Natur als auch in der Gesellschaft, sei die Sanktion stets unabhängig vom Willen und von der moralischen Schuldfähigkeit der Person. Für die Rechtfertigung der Strafe reiche die physische Schuldfähigkeit, weil die soziale Sanktion eine natürliche Reaktion sei, so wie die physischen und biologischen Reaktionen natürliche Reaktionen seien. Der krude Naturalismus des positivistischen Denkens konnte keine deutlichere Ausdrucksform finden. Für uns Katholiken aber kann nicht nur nicht die Strafe, sondern auch nicht die Sicherungsmaßregel am Maßstab einer natürlichen Reaktion gemessen werden. Auch die zurechnungsunfähige Person ist ein Mensch, eine Person, ein Träger von Rechten. Bildet sie eine Gefahr, muss die Gesellschaft sich zweifellos vor ihr schützen; jedoch ohne ihre Menschennatur zu leugnen; ist sie krank, muss man sie heilen, ist sie vom rechten Weg abgekommen, muss man sie erziehen. Und dies ist der Grund, warum ich die Auffassung für irrig halte, dass der Zweck der Sicherungsmaßregel allein derjenige der Sicherung der Gesellschaft gegen die Verbrechensgefahr sei. Sollte sie aber der einzige Zweck sein, so muss man anerkennen, dass sie einem moralischen Bedürfnis entsprechen muss – dass man nämlich dieses Ziel nur durch eine Tätigkeit anstreben kann, die darauf gerichtet ist, denjenigen, der unglücklicherweise von einer Krankheit befallen ist, zu heilen oder zu bessern, nicht aber, ihn zu beseitigen. Wie diese erzieherische und heilende Funktion wesentlich für die Strafe war, so ist sie es auch für die Maßregel, weil sie zum Wesen des Rechts gehört. Und wenn ich nicht irre, so ermöglicht die Identität des Zieles es, einen Begriff der Sanktion zu gewinnen, der es gestattet, Strafen und Maßregeln in einem genus commune zu vereinigen. Für die Reform ist dieses Problem, wie alle formaltheoretischen Probleme, von geringem Interesse. Doch ist keineswegs auszuschließen, dass der Widerstand vieler Juristen gegen das Eingeständnis der Austauschbarkeit der beiden Vorschriften weitgehend von unterschiedlichen theoretischen Positionen beeinflusst ist. [606] Man gesteht damit ein, dass auch die Maßregel ein Zwangsmittel zum Schutz eines Interesses ist, was eine Aussage juristischer Ordnung ist, doch man leugnet, dass es eine Sanktion sei, weil Sanktionen nur jene Maßnahmen seien, die „im Zeitpunkt der Normsetzung die Drohung einer Beschränkung von Rechtsgütern enthalten, die darauf zielt, einen psychologischen Zwang auf den Träger des untergeordneten Interesses auszuüben und ihn auf den Weg des Gehorsams zurückzuführen“. Und bis hierher kann man den Gedankengang als einen bloß formalen ansehen. Er wird hingegen zu einem inhaltlichen, wenn man, von diesen Voraussetzungen ausgehend, die Auffassung vertritt, dass die Sicherungsmaßregeln, da sie keine Sanktionen seien, vollkommen aus dem Strafrecht heraus fielen, wenn man also behauptet, dass das Strafrecht nur aus jenem Komplex von Normen, die um die Idee von Schuld und Strafe kreisen, gebildet werde, wenn man also die Straftat nur als Problem der Repression ansieht und wenn man schließlich daraus
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folgert, dass die Sicherungsmaßregeln deshalb in den Bereich jener Verwaltungstätigkeit gehörten, welche der Staat ausübe, um von der Gesellschaft jede mögliche Schadensursache fernzuhalten. Weil man, wenn man so argumentiert, vergisst, dass der Begriff der Sanktion ein theoretischer Begriff ist, den jeder sich auf seine Weise zurechtlegt, dass vor allem für denjenigen, der das Recht weniger als Norm denn als eine Ordnung ansieht, nichts entgegensteht, jedes Zwangsmittel, das zum Schutze der Rechtsordnung bestimmt ist, als Sanktion anzusehen. Man vergisst ferner, dass die Maßregeln, welche das Gesetz gegen zurechnungsunfähige Personen einsetzt, schon zu einer Zeit, als man noch nicht von Sicherungsmaßregeln sprach, stets einen integralen Bestandteil der Strafrechtsordnung ausgemacht haben, und dass auch die strafrechtliche Repression die Prävention zum Ziele hat. Vor allem aber vergisst man, dass die Verwaltungstätigkeit stets – auch dann, wenn sie sich nach den Vorschriften einer Norm vollziehen muss, stets eine freie Tätigkeit in dem Sinne ist, dass die Einschätzung und Feststellung des Erfordernisses des kollektiven Interesses stets auf das Ermessen des handelnden Organs zurückgeht. Die Verhängung von Sicherungsmaßregeln hingegen erfolgt auf dieselbe Weise und im selben Sinne wie die Verhängung der Strafe und wird nicht direkt von einem Verwaltungsorgan vorgenommen, sondern vom Richter, so wie vom Richter die Strafen verhängt werden. Noch schlimmer ist es, wenn man – jetzt nicht mehr im juristisch-formalen Bereich, sondern im ethischen Bereich – die Strafe der Maßregel entgegensetzt, weil die erstere sich an Vorstellungen von Gerechtigkeit orientiere, die zweite hingegen am christlichen Grundsatz der Caritas – als könne es Gerechtigkeit ohne Caritas oder Caritas ohne Gerechtigkeit geben! Lehnt man daher die angebliche Verwaltungsnatur der Sicherungsmaßregeln ab und bejaht die Identität der Zielsetzung beider Vorschriften, [607] so erweist sich die Natur der Strafen und der Sicherungsmaßregeln ungeachtet der unverkennbaren Unterschiede der Eigenschaften beider als sachlich dieselbe; Strafen und Maßregeln sind somit Sanktionen, welche die Rechtsordnung zum Schutze der gestörten Ordnung einsetzt; die ersteren stehen im Verhältnis zur Schuld und werden gegenüber ungefährlichen Zurechnungsfähigen verhängt, die letzteren stehen im Verhältnis zur Gefährlichkeit und werden gegenüber Zurechnungsunfähigen verhängt.
3. Alles wäre recht einfach, hätten wir es nur mit diesen beiden Täterkategorien zu tun; das Urteil über die Gefährlichkeit muss jedoch nicht nur über zurechnungsunfähige Personen gefällt werden, sondern auch über einige Kategorien von zurechnungsfähigen Verbrechern, denn anders als die Zurechnungsunfähigkeit, welche die Schuld ausschließt, schließt die Schuld nicht die Gefährlichkeit aus. Nur wer den Willen als eine Funktion versteht, die stets in untrüglicher Weise funktioniert, kann das Konzept einer teilweisen oder verminderten Zurechnungsfähigkeit leugnen. Die Erfahrung lehrt uns, dass es Personen mit deformiertem, deviantem, atypischem Charakter und Temperament gibt, die mitunter auf angeborene, mitunter auf erworbene Faktoren zurückzuführen sind, welche zwar nicht
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ihre Zurechnungsfähigkeit ausschließen, jedoch ein spürbares Defizit jener harmonischen Beherrschung des Willens und jener von der Intelligenz gesteuerten Handlung bewirken, welche bekanntlich die Grundlagen eines normalen Charakters hervorrufen. Gemeint sind die Geistesschwachen. Dann gibt es noch die Minderjährigen. Die menschliche Persönlichkeit entwickelt sich und reift mit den Jahren. Wann man sie als stabil ausgebildet ansehen kann, weiß niemand genau zu sagen, denn dieser Begriff variiert natürlich von Person zu Person. Bedürfnisse der Praxis und der Rechtssicherheit veranlassen allerdings den Gesetzgeber, zwei Grenzen festzulegen; unterhalb der ersten muss der Minderjährige als zurechnungsunfähig angesehen werden; ist die zweite erreicht, so ist er voll zurechnungsfähig. Zwischen diesen beiden Grenzen ist er stets nur teilweise bzw. vermindert zurechnungsfähig. Die dritte Kategorie von gefährlichen Zurechnungsfähigen schließlich bilden die Gewohnheits- und Berufsverbrecher. Auch wenn es der aufmerksamen und präzisen Untersuchung der Persönlichkeit des Täters nicht gelingen sollte, hier eine Krankheit zu ermitteln, sagt uns doch die Erfahrung, dass die Strafdrohung in diesen Fällen nichts bewirkt, dass trotz der bereits verbüßten Strafen es sich um Personen handelt, denen es nicht gelingt, ihr Verhalten in einer den Erfordernissen des sozialen Lebens angepassten Weise einzurichten. Das Fehlen bzw. die fehlende Feststellbarkeit irgend eines strukturellen angeborenen oder erworbenen Elements, das vielleicht im Lichte unserer Kenntnisse das Urteil über die Verantwortlichkeit beeinflussen könnte, veranlasst uns, die Straflosigkeit auszusprechen; [608] die Betrachtung ihres Lebens und ihrer Vorstrafen zwingt uns andererseits, ihre Gefährlichkeit auszusprechen. Welche Regelung soll also ein guter Gesetzgeber zu diesen drei Kategorien, die zwar teilweise oder voll zurechnungsfähig, aber auch gefährlich sind, treffen? Was die Minderjährigen angeht, werden auch die überzeugten Vergeltungstheoretiker unvermeidlich in den Bereich der Prävention gezogen. Gewiss wird nach dem Gesetzbuch auch gegen Jugendliche, wenn sie zurechnungsfähig sind, eine Strafe verhängt; doch muss die Strafe in besonderen Einrichtungen verbüßt werden, und sie muss zu ihrer Resozialisierung beitragen. Erscheint nun der Minderjährige als nicht nur zurechnungsfähig, sondern auch noch gefährlich, so kann der Richter bestimmen, dass er nach verbüßter Strafe in eine Justiz-Besserungsanstalt eingewiesen wird. Minderjährigen gegenüber nimmt die Strafe somit – und sie muss dies zwangsläufig tun – eine im engeren Sinne erzieherische Aufgabe wahr, die vollständig identisch mit derjenigen der Sicherungsmaßregel ist, welche ja auch ihrer Art nach eine Besserungsmaßregel ist. Welcher Grund kann dann überhaupt den Dualismus dieser doppelten Behandlung rechtfertigen? Wenn der Inhalt der beiden Regelungen identisch ist, so kann der Grund für diese doppelte Behandlung nur ein formaler sein, und ein guter Gesetzgeber wird sich nicht von formalen Überlegungen leiten lassen – und erst recht nicht von formalen Überlegungen, die sich als fruchtlos erwiesen haben. Deshalb kann bei den zurechnungsfähigen Personen, eben weil sie zurechnungsfähig sind, die Gefährlichkeit auf den Willen, also auf die Schuld, zurückgeführt werden; und die Resozialisierung und Besserung durch
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Beseitigung dieses Zustandes stellt im Grunde nichts anderes dar als die Abbüßung der Schuld. Die Entgegensetzung von Vergeltung und Prävention erweist sich damit als begrifflich und praktisch willkürlich, weil man sehr gut zu gleicher Zeit das Werk der Vergeltung und der Prävention betreiben kann. Was sage ich? Gegenüber einer zurechnungsfähigen Person ist Vergeltung stets Prävention, und Prävention ist stets Repression. Wenn ich, um ein Beispiel zu bringen, meinem Sohn, der nicht lernt, drohe, ihn in ein Internat zu schicken, so versteht die Drohung sich als Druck auf seinen Willen, um ihn zum Gehorsam und insbesondere zum Lernen zu bringen, und das Internat wird in der Funktion einer Züchtigung angedroht; es ist somit eine Sanktion, auch wenn es die Aufgabe hat, ihn für die Zukunft von seiner schuldhaften Faulheit zu heilen, und damit stellt es sich als ein Mittel dar, mit dem der Gefahr eines neuerlichen Durchfallens begegnet werden soll. Noch weniger sollte man die Auffassung vertreten – und leider gibt es Leute, welche sie vertreten haben – dass das Internat (und damit die Maßregeln) keine Sanktion darstellt, weil es im Interesse des Minderjährigen verhängt werde, während die Strafe für denjenigen, über den sie verhängt werde, ein Übel bedeute – eine Aussage, die aus christlicher Sicht die größte Häresie bedeutet, indem sie den Menschen auf ein bloßes Mittel [609] reduziert, und die letztlich der Strafe jegliche ethische Zielsetzung nimmt und diese stattdessen der Maßregel zuspricht, wenn sie leugnet, dass die Strafe ihrem inneren Wesen nach darauf gerichtet sein müsse, mittels pychologischer Befreiung und Läuterung des Täters das Böse durch das Gute zu besiegen. Zumindest bei den Minderjährigen kann man dem Verzicht auf eine objektiv vergeltende Strafe verständigerweise keinen ernsthaften Einwand entgegenhalten und man muss daher beipflichten, dass es weder einen Grund gibt, sie zu bestrafen, noch einen Grund, sie einer sichernden Behandlung zu unterwerfen, sobald die Erziehungsanstalt für jugendliche Delinquenten – so wie das Internat für die Faulen – zugleich Züchtigung und Besserung bewirkt. Kann andererseits das Absehen von Strafe schon nach dem geltenden Strafgesetzbuch für den reuigen Minderjährigen die Strafe ersetzen, so ist nicht einzusehen, warum an die Stelle der Strafe nicht auch eine Maßregel treten können soll, die darauf gerichtet ist, eben diese Reue zu fördern. Das einzige, was wir zugestehen können, ist, dass die Dauer der Maßregel ein Minimum im Verhältnis zu der von dem Minderjährigen begangenen Tat haben muss, d.h. ein Minimum, das ausreicht, um – wenn man dies für erforderlich hält – auch jenes formale Vergeltungsbedürfnis zu befriedigen, das der Strafe traditionell innewohnt.
4. Besonders heikel ist das Problem der Geistesschwachen; die lebhaften Debatten, zu denen sie im Bereich der Psychiatrie Anlass gegeben haben, sind allgemein bekannt. Doch für den Juristen lassen sich die Problemfälle auch diesmal auf das gewohnte Schema zurückführen. Einerseits besteht eine, wenn auch begrenzte, Zurechnungsfähigkeit, andererseits besteht eine Gefährlichkeit, die ihren Ursprung in der Krankheit hat. Sollen wir sie also heilen oder bestrafen?
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Ich glaube, dass der Mann auf der Straße sich nur folgende Frage stellen würde: Welcher der beiden Maßstäbe soll den Vorrang besitzen? Die Strafe oder die Maßregel? Für das Gesetzbuch hingegen gibt es diese Alternative nicht, denn da die Geistesschwachen sowohl (wenn auch in abgeschwächtem Maße) zurechungsfähig als auch gefährlich sind, muss man sie sowohl bestrafen als auch heilen, Genauer gesagt, muss man sie zuerst bestrafen und sodann heilen. Mit welchen Resultaten, kann man sich leicht ausrechnen. Andererseits muss die Strafe, um noch eine Züchtigung zu sein, von dem, der sie erfährt, noch als eine solche empfunden werden. Kann sie aber wirklich von Geistesschwachen als Züchtigung empfunden werden, also von Menschen, deren Erkenntnis- und Willenskraft aufgrund der Krankheit herabgesetzt ist? [610] Es erscheint daher ganz natürlich, dass für diese Täterkategorien ebenfalls das Kriterium der Strafe als Züchtigung hinter der heilenden Behandlung zurückstehen, also die Maßregel an die Stelle der Strafe treten muss. Es könnte allerdings geschehen, dass die therapeutische Behandlung das Verschwinden der Krankheit in einem Zeitraum bewirkt, der kürzer ist als die Dauer der Strafe, die der Richter über den Schuldigen verhängt hätte, wenn er ihn für voll zurechnungsfähig gehalten hätte. Für diesen Fall könnte kann bestimmen, dass die nach Abschluss des Heilvorgangs verbleibende Zeit in einer Strafvollzugseinrichtung abzusitzen ist, dass aber das Strafvollzugsgericht, wenn es der Auffassung ist, dass der Betreffende nicht nur körperlich, sondern auch geistig als geheilt anzusehen sei, die Befugnis besitzt, im konkreten Fall auf eine Strafe zu verzichten, die angesichts der Läuterung des Täters sinnlos geworden ist.
5. Schließlich ist noch auf die Gewohnheits- und die Berufsverbrecher einzugehen. Auch für diese Täterkategorien sehen sowohl das Gesetzbuch als auch der jüngste Reformentwurf die nacheinander folgende Verbüßung der Strafe und der Maßregel vor, und es muss von Berufs wegen anerkannt werden, dass man, da es sich um voll zurechnungsfähige Personen handelt, sich in diesem Fall wegen des Vorrangs der Sicherungsbehandlung nicht auf jene Gründe berufen kann, die für Minderjährige und für Geistesschwache gelten. Handelt es sich aber wirklich um voll zurechnungsfähige Personen? Dass es auch der aufmerksamsten Erforschung der Persönlichkeit des Täters nicht gelingt, eine Krankheit zu diagnostizieren, beweist letztlich nicht allzu viel, wenn man die schrecklichen Schwierigkeiten dieser Erforschung bedenkt. „Wer über die Schuld eines Menschen richten will“, schreibt Gemelli, „kann sich nicht auf die Feststellung beschränken, wie groß der Spielraum des Willens und wie hoch der Grad der Intelligenz gewesen sei, sondern er muss ganz genau die Persönlichkeit erforschen und sämtliche Faktoren des Charakters bestimmen, um feststellen zu können, welches Gewicht im Zeitpunkt der ihm vorgeworfenen Tathandlung sein innerstes Ich gehabt hat, in dem sich langsam und weit zurückliegend die Entscheidungen vorbereiten, die häufig nur scheinbar frei und willensgetragen sind“.
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Doch selbst wenn man einmal annimmt, dass es sich um voll zurechnungsfähige Personen handelt, so zeigt doch ihr Lebenslauf, dass weder die Strafdrohung sie abschreckt noch die Verbüßung der Strafe sie bessert. Zu welchem Zweck fahren wir fort, sie zu bestrafen? Dass es nicht genügt, sie zu bestrafen, erkennt letztlich auch das Gesetzbuch an, wenn es auf den Strafvollzug von bestimmter Zeit eine ihrer Natur nach unbegrenzte Sicherungsbehandlung folgen lässt. Um das Absurde dieser zweifachen Behandlung zu rechtfertigen, beruft man sich auf die üblichen Bekundungen einer formalistisch und [611] objektivistisch verstandenen Gerechtigkeit – einer Gerechtigkeit, die den Menschen, wenn sie erst die Strafe und danach die Maßregel gegen ihn vollzieht, weniger als Person denn als Sache behandelt, indem sie durch die mechanistische Art und Weise des Verständnisses der Maßregel ihm seine tief verwurzelte Spiritualität abspricht. Und wer darauf hinweist, dass von zurechnungsfähigen Personen auch die Maßregel als eine Strafe empfunden werde, der erhält die Antwort, dass für das Recht dieses Empfinden nicht zähle, dass die Maßregel auch dann, wenn derjenige, der ihr unterworfen werden soll, ihre Vollstreckung fürchte, keine Drohung sei, denn der Normbefehl richte sich nicht an denjenigen, welcher der Maßregel unterworfen werden solle, sondern an den Richter, der sie verhängen solle, und ihre Dauer stehe nicht im Verhältnis zur Schuld, sondern im Verhältnis zum Andauern der Gefährlichkeit. Entgegen dieser Art der Stellung und Lösung des Problems sind wir der Auffassung, dass man aus einer christlichen Sicht die Auffassung vertreten muss, dass auch die Sicherungsbehandlung eine strafrechtliche Maßregel sei. Bei einer zurechnungsfähigen Person schließt nämlich das Andauern der Gefährlichkeit das Andauern der Schuld ein, denn wenn die Schuld bei einem reuigen Täter entfällt, so entfällt auch die Gefährlichkeit. Dies bedeutet, dass eine christlich orientierte Strafrechtsordnung, ein System, das seinen Schwerpunkt wirklich auf das konkret verstandene Schuldkonzept legt, die Dauer der Strafe von der Einsicht des Täters abhängig machen müsste, denn die Schuld liegt nicht in der Tat, sondern in uns. Ich weiß sehr gut, dass der vollständigen Übernahme dieser Prinzipien kurzfristige Bedürfnisse entgegen gehalten werden: die Achtung der Freiheit, die Sicherheit der Sanktion usw.; wenn aber bei einer begrenzten Kategorie von Personen diese Bedürfnisse nicht mehr bestehen, warum stimmen wir dann alle darin überein, dass die Beschränkung der persönlichen Freiheit sich bei dieser Kategorie von Personen zeitlich unbegrenzt hinziehen soll bis zu einem Zeitpunkt, an dem nicht mehr angenommen werden kann, dass die Besserung bewirkt worden sei, denn wie könnten wir uns jemals darauf versteifen, an einem Dualismus festzuhalten, wenn die geistige Natur des Menschen die Einheit fordert? Nur auf diese Weise, indem wir die Maßregeln mit den Strafen vereinigen, indem wir ihre konkrete Moralität geltend machen, können die kritisierten Punkte wirklich überwunden werden. Denn in diesem Sinne ist es für den, der über die Straftat-Konzeption des Gesetzes als juristisches Faktum hinausblickt, eine Wahrheit, dass die Straftat der Straftäter ist, wenn nur der Straftäter nicht länger als Materie, sondern als Geschöpf Gottes angesehen wird.
Giuliano Vassalli (1915–2009) Funktionen und Unzulänglichkeiten der Strafe (Funzioni e insufficienze della pena) (1961) [...] [1362] [...] 1. Vorbemerkungen Der Streit der verschiedenen Strafrechtsschulen über die Funktion der Strafe und des ganzen Strafrechtssystems, die in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wenn nicht als besänftigt, so doch als abgemildert angesehen werden konnte, hat in den letzten 15 Jahren nicht nur bei uns neue Anstöße und neue Heftigkeit erlangt. Vor dreißig Jahren, als Arturo Rocco von diesem römischen Katheder aus seine Antrittsvorlesung hielt, schien in Italien die Auseinandersetzung sich mit der Einfügung der Sicherungsmaßregeln neben den Strafen in das Strafgesetzbuch, die gerade in jenem Jahr erfolgte, beruhigt zu haben. Ein organisches System solcher Maßregeln, wie es von dem schweizerischen Kriminalisten Stooss seit 1893 entworfen worden, in den ersten Jahren des Jahrhunderts von Gelehrten aller Länder, unter denen für Italien zweifellos Longhi Erwähnung verdient, sorgfältig untersucht und entwickelt worden und in denselben Jahren wie in Italien auch in einer ganzen Reihe von anderen Gesetzbüchern und Spezialgesetzen verwirklicht worden war, schien nämlich einige von den wichtigsten Postulaten der Kriminalpolitik der positivistischen Schule einlösen zu können, deren Kritik am alten System [1363] am Anfang der Reform gestanden hatte und der Diskussion der vorhergehenden Jahrzehnte den Stempel aufgedrückt hatte. Als Folge dieser neuen und organischen Systematisierung fand die Strafe, der Arturo Rocco in seiner neapolitanischen Antrittsvorlesung von 1917 als einziges Erkennungsmerkmal gegenüber den anderen Sanktionen den spezifischen Zweck der Spezialprävention bzw. der Verteidigung gegen die Gefährlichkeit des Täters beigelegt hatte, in ihre traditionelle Spur einer, wenn auch vorwiegend in abschreckender Funktion verhängten, repressiven Sanktion zurück. Und es war derselbe Arturo Rocco, der in der eingangs erwähnten römischen Antrittsvorlesung vom 20. Dezember 1930, uneingedenk ihrer bedeutenden Vorgängerin, nicht weniger als dreizehn Unterschiede zwischen dem präventiven und dem repressiven Schutz herausarbeitete und auflistete und die Strafe sodann entschieden dem zweiten Schema zuordnete, wobei er ohne Übergänge und ohne Berührungsmöglichkeiten ihren Unterschied zu den ausschließlich Verbrechensprävention bezweckenden Sicherungsmaßregeln bekräftigte. Einige Versuche, einem so rigoros konzipierten und dargestellten dualistischen System zu entkommen, wurden energisch zurückgewiesen; er versuchte vielmehr zu beweisen, dass das Gesetzbuch die vollständige, wenn auch nicht vollkommene Ausdrucksform der Vergeltungslehren sei und dass man nur auf diesem Weg fortschreiten könne und solle. Die internationalen Debatten jener Zeit nahmen nicht selten, wie bei den Auseinandersetzungen zwischen deutschen und angloamerikanischen Vertretern auf dem Internationalen Gefängniskongress von Berlin im Jahre 1935, eine politische
E. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Färbung an, die es nicht immer erlaubte, die unverfälschten Positionen der verschiedenen Staaten im Bereich des Strafrechts zu erfassen. Inzwischen hatten recht bedeutsame Gesetzbücher wie das schweizerische von 1937 versucht, den Zwiespalt mit der Ersetzung der Strafen durch Sicherungsmaßregeln in einer ganzen Reihe von Fällen, in denen die ersteren ihre Unzulänglichkeit bei der Prävention des Verbrechensrückfalls bewiesen hatten, zu überbrücken. Die Debatten, die auch in jenen Jahren nicht unterbrochen wurden, verloren jedoch während des Zweiten Weltkrieges nahezu jede praktische Bedeutung, denn die Härte des repressiven Kriegsstrafrechts und die Schrecken der polizeilichen Vernichtungsaktionen begruben jede Grenzziehung zwischen Prävention und Repression unter der allgemeinen Verletzung elementarer Grundsätze von Mäßigung und Zivilisation. Nach dem Ende des Krieges trat mit der Bestrafung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine Explosion repressiver Justiz ein, in der jeder Gedanke an eine nützliche Besserung oder an eine Resozialisierung der Täter zum Schweigen kam und hinter der Sühne und Unschädlichmachung zurücktrat, die in der Sache von allen Völkern gefordert wurden, wenngleich sie von Organen mit fragwürdiger Zuständigkeit umgesetzt wurden. Doch gleich danach entzündete sich von neuem der alte Streit mit unerwarteter Heftigkeit. Und während einerseits die philosophischen Studien über die letzten Gründe des Strafens wieder aufblühten, begab sich andererseits in einem großen Teil der Welt die Forschung entschlossen in einen praktischen und konkreten Bereich hinab, wo die Kontroverse über den freien Willen und über die moralische Zurechnungsfähigkeit verflog, die dem Kampf zwischen der klassischen und der modernen Schule zugrunde gelegen hatte. Entscheidend wurden nun die praktischen Umsetzungen, mit denen die Erscheinung der Kriminalität wirkungsvoller bekämpft werden sollte und die Persönlichkeit des Menschen in größerem Umfang aus dem Geiste profunder Menschlichkeit heraus durch eine geeignetere Behandlung geheilt werden sollte. Offensive und Gegenoffensive vollzogen sich bei ganz verschiedenen Gelegenheiten und auf ganz verschiedene Arten, je nach den Möglichkeiten und Bedürfnissen jedes einzelnen Landes. Es genügt, einerseits an die breite humanistische Bewegung der „Neuen Sozialverteidigung“ zu erinnern, deren unverfälschteste Leitlinien von Marc Ancel in brillanter Weise dargestellt worden sind und auf die sich, nicht nur mit einer Namensgebung, [1365] sogar die Organisation der Vereinten Nationen beruft, die in ihrer Abteilung für soziale Verteidigung die Probleme der „Verbrechensprävention“ und der „Behandlung der Straffälligen“ auf die Weltebene hebt, und andererseits an die entschiedene und nachdrückliche Rückkehr zu den Prinzipien der reinen moralischen Vergeltung und zu der Grundidee der Züchtigung, die vor allem in Italien hartnäckige und einflussreiche Verfechter findet und sich tendenziell in der Interpretation des geltenden Systems nicht weniger niederschlägt als im Ausziehen der Linien eines idealen zukünftigen Strafrechts. Die lebhaften Auseinandersetzungen in Italien [1366] um den Vorentwurf (progetto preliminare) eines neuen Strafgesetzbuches von 1949 und die grundlegenden Beiträge, die von westdeutschen Gelehrten anlässlich des Entwurfs eines neuen Strafgesetzbuchs für die Bundesrepublik Deutschland vorgelegt wurden, sind allen, die sich mit unserem
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Fach befassen, bekannt und halten das alte Problem lebendig und aktuell. [...] [1370] [...] 2. Der vergeltende Charakter der Kriminalstrafe Im Strafrecht findet die Idee der Gerechtigkeit vor allem in der Verhängung der vergeltenden Strafe durch die organisierte Gesellschaft ihren Niederschlag, d.h. in der Zufügung eines Leidens, das man als im Verhältnis zu der begangenen Tat stehend ansieht [1371] (und in moderneren Konzeptionen auch zur konkreten Schuld des Täters stehend, wie sie aus den äußeren Umständen der Tat entnommen werden kann) und das kraft dessen, was geschehen ist und als Reaktion darauf als Wiederherstellung eines gestörten Gleichgewichts zugefügt wird, ohne dass eine notwendige Verbindung zur Zukunft besteht. Diese Reaktion wird – zumindest in den besonders fortgeschrittenen Konzeptionen – nur als eine Reaktion gegenüber zurechnungsfähigen Personen aufgefasst, die, zumindest teilweise, in der Lage sind, Vorstellungen über das Übel der Strafe und den Grund der Zufügung dieses Übels zu entwickeln, und sie beruht auf der Voraussetzung, dass es eine Verantwortlichkeit gibt und dass sie als moralische Verantwortlichkeit (d.h. Schuld) zu bezeichnen ist. Der vergeltende Charakter ist allen Strafen gemeinsam, von der schwersten von ihnen bis hinab zur mildesten Geldstrafe, von den Freiheitsstrafen bis hin zu jenen, welche die Ausübung eines Berufs oder eines Rechts verbieten. Der Staat ist der Auffassung, dass die vergeltende Strafe wegen ihrer Bezugnahme auf die Gedanken von Schuld und Sühne, die im tiefsten Empfinden der Menschen wurzeln, wegen ihres Leid zufügenden, zugleich aber im Verhältnis zur konkreten Schwere der Tat stehenden Charakters und wegen des Grundsatzes der Rechtssicherheit, die aus der Kausalbeziehung zwischen Verbrechen und Rechtsfolge folgt, das normalerweise geeignetste Mittel zur Befriedigung des verletzten gesellschaftlichen und individuellen Empfindens ist und zugleich auf das Gemüt der Rechtsgenossen einwirkt und damit erreicht, dass diese sich den Erfordernissen der in Rechtsnormen transformierten gesellschaftlichen Ordnung anpassen. Dies ist zweifellos noch heute der gängige Begriff der Kriminalstrafe bzw. Strafe im engeren Sinne, ob sie nun mit der unverfälschten und ursprünglichen Bedeutung des Begriffs zusammenfällt oder ob man, da man die Strafe als allgemeines Synonym für Leid ansieht, ihren Begriff mit dem Attribut der [1372] Vergeltungsstrafe im Gegensatz zur Exekutiv- oder Zwangsstrafe und zur Verteidigungs- oder Sicherungsstrafe präzisieren muss. Die Vergeltung betrifft somit die Strafe als Mittel oder, wie des öfteren gesagt worden ist, das Wesen und die Natur der Kriminalstrafe selbst. [1373] Es handelt sich also um einen Begriff, der für sich allein nicht dabei hilft, das Problem des Zwecks und der Funktion der Strafe zu lösen, denn die Vergeltungsstrafe kann aus ganz verschiedenen Gründen verhängt werden, die von der moralischen Züchtigung oder Buße bis zur gesellschaftlichen Rache, von der Bestätigung der verletzten moralischen Ordnung bis zur ideellen Wiederherstellung der Kraft und Autorität der Rechtsnorm, von der Generalprävention bis zur Erziehung und Besserung des Verurteilten und allgemein der Prävention gegen weitere
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Verbrechen von seiner Seite reichen. Die Geschichte lehrt, dass das Ausmaß der Vergeltung in Abhängigkeit von diesen Erfordernissen bzw. Zwecken, die der Strafe jeweils beigelegt werden, variiert, meistens in Abhängigkeit von der Bedeutung, die man dem geschützten Rechtsgut beilegt, und von den daraus sich ergebenden Erfordernissen der Generalprävention, mitunter aber auch in Abhängigkeit von anderen Erfordernissen, darunter durchaus auch denen der Korrektion bzw. Besserung des Täters. Dies erklärt, warum die Gegenüberstellung von Vergeltungs- und Nichtvergeltungs-Strafrechtlern nicht immer eine zutreffende ist und dass sie Quelle von Missverständnissen werden kann. Zweifellos ist diese Gegenüberstellung nahezu sinnlos im Bereich des größten Teils der positiven Rechte, in denen die Kriminalstrafe ungeachtet der unumgänglichen Milderungen und Ausnahmen einen grundsätzlich vergeltenden Charakter bewahrt. Eine vergeltungsstrafrechtliche Richtung kann nur auf philosophischem und politischem Terrain in jenen Strömungen gefunden werden, die vielleicht annehmen, dass a) es kein [1374] anderes Mittel der Bekämpfung des Verbrechens als die Vergeltungsstrafe gibt, b) dass gegenüber Zurechnungsfähigen auf sie niemals verzichtet werden dürfe und c) dass die Strafe niemals andere Eigenschaften annehmen dürfe als die der reinen Vergeltung, deren Forderung also, in einem Wort, darin besteht, dass das gesamte Strafrechtssystem auf dem Vergeltungsprinzip beruhen müsse. Wenn eine solche Richtung, deren Vertreter übrigens heute schwierig dingfest zu machen wären, auf der – schon an sich äußerst fragwürdigen – philosophischen Voraussetzung einer Unverzichtbarkeit der Strafe beruhen würde, würde sie nur die Mängel und Verirrungen jener absoluten Theorien wiederholen, welche die Strafe als Zweck an sich bezeichnen, und wäre unvereinbar mit jedem geordneten positiven System. Ihre Unannehmbarkeit auch für denjenigen, der nicht die Bedürfnisse berücksichtigen will, die mitunter zur Milde gegenüber den Tätern veranlassen, wird dadurch bezeugt, dass heutzutage niemand daran denken würde, einen Grundsatz wie den zu bestreiten, dass, wenn eine Tat nicht mehr als Straftat angesehen wird, auch die Möglichkeit endet, gegen ihren Täter eine Strafe zu verhängen, die der Staat selbst nicht mehr als durch gesellschaftliche Notwendigkeiten gerechtfertigt ansieht. (Bekanntlich findet die geltende Ausnahme für Sonder- und Zeitgesetze ihre Ursache in Gründen politischer Art, weil eine Milderung der Abschreckungswirkung der Strafdrohung vermieden werden soll). Aus der Sicht der Kriminalpolitik könnte dieser Ansatz als von der historischen Erfarung und der wissenschaftlichen Forschung bereits beerdigt bezeichnet werden, denn diese haben tausendfach die Untauglichkeit der bloß vergeltenden Strafe im Kampf gegen das Verbrechen nachgewiesen. Unter diesem Aspekt muss der von der positivistischen Schule zurückgelegte Weg als unumkehrbar bezeichnet werden. Übrigens wollen (abgesehen von einigen vereinzelten Äußerungen) auch jene, die sich auf die Vergeltungsstrafe berufen, die Tauglichkeit der Anwendung von Sicherungsmaßregeln und Präventionsmaßregeln nicht leugnen. Die einzige konkrete Bedeutung der vergeltungsstrafrechtlichen Richtung kann man daher noch in der Forderung erblicken, dass die Strafe im engeren Sinne niemals einen Inhalt oder Eigenschaften haben dürfe, welche ihren vergeltenden Charakter beeinträchtigen könnten, doch diese Forderung, welche den Irrtum einer als Strafzweck angesehenen Vergeltung und damit [1375] auch die daraus folgenden ungerechtfertigten Schlüsse im Be-
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reich der konkreten Erfordernisse der Verbrechensbekämpfung wiederholt, ist von keinem positiven Recht der Kulturstaaten übernommen worden; dort soll die Strafe eine Vielzahl von Funktionen wahrnehmen und wird zumindest teilweise im Hinblick auf diese Funktionen ausgestaltet. Und ganz und gar unvereinbar ist sie mit dem italienischen Recht, wo kraft einer eindeutigen verfassungsrechtlichen Bestimmung die Strafe auch erzieherische Funktion ausüben muss. 3. Die Bewährung des verletzten objektiven Rechts als hauptsächliche Funktion der Strafe Das eigentliche Problem bleibt somit offen, und es lautet, unter welcher Zielsetzung die Rechtsordnungen zu diesem besonderen Mittel der Verbrechensbekämpfung namens Vergeltungsstrafe gelangen. Hier liegt zugleich auch der tiefere Grund für die Wahrheit der eklektischen Theorien über Funktion und Zweck der Strafe. Mag es nämlich abstrakt möglich sein, dass es Rechtsordnungen gibt, welche die Vergeltungsstrafe im Sinne eines einzigen Zwecks anwenden, so ist es doch schon präsumtiv viel wahrscheinlicher, dass diese Strafe häufiger deshalb angewendet wird, weil sie geeignet erscheint, mehrere jener Zwecke zu verwirklichen, die der Staat sich im Kampf gegen das Verbrechen gesetzt hat: von der Genugtuung Einzelner bis zur Verhinderung privater Rache, von der Wiederherstellung der Ordnung bis zur gesellschaftlichen Sicherheit, von der Generalprävention bis zur Besserung des Täters. Zweifellos ist die Vergeltungsstrafe eine Strafe, welche sich ihrer Natur nach besser in repressive Schemata einfügt als in solche der direkten oder mittelbaren Verbrechensprävention; doch zu sagen, dass sie zum Zwecke der Repression verhängt werde, ist eine allgemeine Position, die nicht nur [1376] bei der Bestimmung des Wesens der Strafe wenig hilfreich ist (denn eine Repression kann auch unterschiedslos und unverhältnismäßig sein), sondern auch die Zwecke und die Funktionen unerforscht lässt, die gerade die Strafe verwirklicht. Wir meinen, dass Funktion der Strafe in erster Linie die Bewährung (riaffermazione) des verletzten objektiven Rechts mittels öffentlicher und feierlicher gesellschaftlicher Missbilligung der Tat sei – eine Bewährung und eine Missbilligung, die man in so besonders klarer und kräftiger Weise nur dadurch zum Ausdruck bringen kann, dass man der verurteilten Person, die Täter (Schuldiger) der rechtswidrigen Tat ist, ein Übel zufügt. Dass diese Funktion, nicht eine andere, unter allen Funktionen der Strafe als die grundlegende angesehen werden muss, folgt nach unserer Ansicht aus drei Gründen. Der erste Grund ist der, dass es keine Fälle – von den schwersten Straftat bis zu den geringfügigsten, von den natürlichen Verbrechen bis zu den auf politischer Schöpfung beruhenden – gibt, in denen diese Funktion der Strafe nicht wirksam wäre; und zugleich gibt es kein einziges Rechtsinstitut des Strafrechts, mit dem diese Funktion nicht zu vereinbaren wäre. Der zweite Grund ist der, dass diese Funktion mehr als jede andere Funktion speziell als eine solche der strafrechtlichen Sanktion erscheint. Funktionen der Abschreckung bzw. der Generalprävention üben zweifellos auch die Strafsanktionen des Verwaltungsrechts aus, so wie Besserungs- und Erziehungsfunktionen auch von Disziplinarstrafen ausgeübt
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werden; und der Zweck der Genugtuung des Verletzten ist in sämtlichen Sanktionen enthalten. Obwohl diese aber viel härter und schmerzhafter sein können als die Kriminalstrafen, sind sie doch, ebenso wie die Präventivmaßregeln, nicht immer von jener feierlichen öffentlichen rechtlichen und gesellschaftlichen Missbilligung der Tat begleitet, wie dies bei der Kriminalstrafe der Fall ist. Schließlich ist diese Funktion auch noch so charakteristisch für das Strafrecht, dass sie sogar dann ausgeübt wird, wenn die Strafe gar nicht verhängt oder nicht vollstreckt wird, denn in den Fällen des Straferlasses, der Amnestie nach erfolgter Verurteilung, der bedingten Strafaussetzung und sogar des richterlichen Absehens von Strafe ist die [1377] abschließende Feststellung strafrechtlicher Verantwortlichkeit mit Nachteilen von so weit tragender Bedeutung verbunden, wie man sie bei keiner anderen Sanktion antrifft. Und die Tatsache, dass solches vorkommt, kann nicht zu der Auffassung führen, dass die Bewährung der verletzten Rechtsordnung nur eine Eigenschaft des Urteils oder der Feststellung der Verantwortlichkeit darstelle, nicht aber zur Kennzeichnung des Strafzweckes tauge. Um diesen Zweck geht es vielmehr vor allem der Strafe, und jedes Mal, wenn sie verhängt und vollstreckt wird, nimmt sie diese Funktion vollkommen wahr. Dieser Zweck ist im übrigen so charakteristisch und vorrangig, dass schon die bloße rechtliche Bestrafungsmöglichkeit der Tat und der Person ein Merkmal verleiht, das so stark ist, dass es auch in Fällen, in denen der Fälligkeit der Strafe nicht die tatsächliche Verhängung oder Vollstreckung folgt, ihre Spur hinterlässt. Es wäre unberechtigt, gegen diese Sichtweise, die in gewisser Weise die Position Carraras und anderer Klassiker wiederholt, einzuwenden, [1378] dass es sich um eine „inhaltsleere Formel“ handele, um eine formalistische Position, welche ungeeignet sei, die Zwecke der Strafe wirklich zu bestimmen. Wird sie nämlich gemäß den Lehren von Merkel und von Liszt durch die Missbilligung der Tat, welche die Strafe stets begleitet und eines ihrer wesentlichen Merkmale bildet, präzisiert, so gewinnt die Formel von der Bewährung der durch die Straftat verletzten Rechtsordnung in der Verhängungs- und Vollstreckungsphase eine Konkretheit und bestätigt in diesen Phasen die erste Bedeutung der Strafdrohung, nämlich die Bestimmung bestimmter Verhaltensweisen als solche, die den wesentlichen Interessen der organisierten Gesellschaft widersprechen. Damit will sie dazu beitragen, die Kraft der Rechtsordnung zu garantieren und das Rechtsempfinden des Volkes zu stärken, indem sie vor aller Augen drastisch klarstellt, welches die im Interesse der Gesellschaft verbotenen Handlungen sind. So formal diese Funktion erscheinen mag, ist sie doch in Wirklichkeit die einzige, um die sich heute in neunzig Prozent der Fälle unsere Richter noch zu kümmern scheinen. Indem sie eine Verurteilung aussprechen, [1379] achten sie auf nichts anderes, als auf die stattgefundene Rechtsverletzung, und ihretwegen sprechen sie – freilich unter Berücksichtigung der speziellen Maßstäbe, welche das Gesetz ihnen als Leitlinien an die Hand gibt – jene Strafe aus, welche die konkrete Bewährung des verletzten Rechts sein soll.[...] [1383]
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4. Die Generalprävention von Straftaten als zweite grundlegende Funktion der Strafe Neben diesen hauptsächlichen Strafzweck, den wir mit der Bewährung der verletzten Rechtsordnung in Verbindung mit der öffentlichen gesellschaftlichen Missbilligung der Tat aufgezeigt haben, tritt nun als zweiter, mit ihm enger als jeder andere verbundene Zweck derjenige der Generalprävention. Die wegen einer feierlich missbilligten Tat öffentlich verhängte Strafe gilt als Exempel für alle, die sich geneigt fühlen könnten, eine Straftat zu begehen. Allerdings ist in einer jüngeren scharfsinnigen Neubewertung der Generalprävention die Auffassung vertreten worden, dass diese Prävention nicht in ihrem Abschreckungseffekt zu erblicken sei, sondern in ihrem die Moral fördernden und erzieherischen Einfluss, der in der gesellschaftlichen Missbilligung der Tat und in der damit verbundenen Schaffung eines Moralkodex für die öffentliche Meinung seinen Ausdruck finde, die dadurch bewusste und unbewusste Gegenantriebe gegen die zum Verbrechen drängenden Antriebe und sogar eine dem Verbrechen abgeneigte Haltung erzeugen soll. Bedenkt man, dass zu den Zielen, die der Staat mit der Strafe verfolgt, nach Seneca auch gehört, „die anderen zu bessern“, so handelt sich um eine alte Lehre. Denselben Gedanken, der bei deutschen Schriftstellern des vergangenen Jahrhunderts die Bezeichnung „Warnung“ oder „warnender Zwang“ erhielt und von Pellegrino Rossi exakter als „belehrender Zweck der Strafe“ bezeichnet wurde, finden wir heute im jugoslawischen Gesetzbuch von 1951 zum Ausdruck gebracht, wo sich unter den Strafzwecken ausdrücklich aufgeführt finden die „Ausübung eines erzieherischen Einflusses auf andere Personen, um diese von der Begehung von Rechtsbrüchen abzuhalten“ sowie „die Ausübung eines Einflusses zugunsten [1384] der Entwicklung der gesellschaftlichen Moral und der gesellschaftlichen Disziplin der Bürger“ (Artikel 3). Doch ungeachtet dieser und anderer Versüßungen ist doch die Abschreckungswirkung der Strafe unabhängig von der belehrenden bzw. erzieherischen Wirkung zweifellos im Bewusstsein der Gesetzgeber vorhanden und liegt im Focus ihrer hauptsächlichen Zielsetzungen, wann immer sie vor der Entscheidung stehen, ob ein bestimmtes Gut oder Interesse es wert sei, durch die Drohung mit einer Strafsanktion geschützt zu werden. Auch wenn man nicht die melancholische Folgerung zieht, zu der einst Carnelutti gelangte, der den einzigen Zweck, den die Strafe erreichen könne, darin erblickte, dass sie Angst einflöße, besteht doch kein Zweifel, dass in der Natur der Strafe, Leid zuzufügen, und in der Tatsache, dass ihre Haupteigenschaft darin besteht, für denjenigen, der sie erduldet, ein Übel zu sein, eine unwiderlegliche Bestätigung ihrer Funktion zur Verhinderung weiterer Verbrechen liegt. Der lobenswerte Kampf gegen das, was Carrara die „verrückte Idee“ der Abschreckung nannte, ein Kampf, der gestern und heute im Namen der austeilenden Gerechtigkeit und im Namen der Besserung und Resozialisierung des Täters geführt worden ist, wendet sich gegen die Exzesse von Systemen, welche in dem Erfordernis, weiteren Straftaten vorzubeugen, die einzige Grundlage des Strafrechts erblicken und infolge dessen stets dem Bedürfnis exemplarischer Bestrafung den Vorrang gegenüber dem der Gerechtigkeit und der Wiedereingliede-
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rung des Täters einräumen; doch die Generalprävention als Zweck, und zwar als einen der vorrangigen Zwecke, der Kriminalstrafe zu leugnen hieße eine Realität leugnen, die es zu jeder Zeit und an jedem Ort gegeben hat. [1385] So stark ist die generalpräventive Funktion der Strafe, so charakteristisch ist sie für dieses Rechtsinstitut, dass sie in jeder Phase und in jedem Zeitpunkt der Strafe ihren Ausdruck findet, sogar im Zeitpunkt der abstrakten gesetzlichen Regelung. Dieser Gesichtspunkt ist allerdings mitunter dadurch verdunkelt worden, dass behauptet worden ist, die Generalprävention stelle nicht die wirkliche Funktion der Strafe dar und man dürfe zur Bestimmung dieser Funktion nur die Zeit nach erfolgter Normverletzung betrachten. Der Gedanke von Delitala, dass die Unterscheidung, die man zwischen verschiedenen Momenten der Strafe zu treffen pflege, einen sophistischen Charakter besitze, enthält zweifellos viel Wahres. Indes unterliegt es keinem Zweifel, dass sie im Hinblick auf die Generalprävention nicht zutrifft. Die Generalprävention wird unleugbar durch das Exempel der konkreten Verhängung der Strafe über den Schuldigen und durch ihre Vollstreckung sehr viel nachdrücklicher ausgeübt als zur Zeit des Erlasses der Norm und der Strafdrohung. Fänden Verhängung und Vollstreckung der Strafe nicht statt, so würden die anderen Rechtsgenossen schließlich nicht mehr ihre ermahnende und abschreckende Kraft empfinden. Und dass diese Funktion auch in den übrigen Zeitabschnitten der Strafe wirklich vorhanden ist, wird durch den nicht selten – beispielsweise beim Umsichgreifen einer bestimmten Form der Kriminalität – eintretenden Umstand bewiesen, dass der Richter davon absieht, dem Verurteilten jene Vergünstigungen zuzubilligen, die er unter anderen Umständen ausgesprochen hätte, und dass das während der Zeit des Strafvollzuges für die bedingte Entlassung oder für die Begnadigung zuständige Organ ebenso verfahren kann. Wir alle erinnern uns an gewisse Sondergesetze, welche bestimmte Rechtswohltaten ausschlossen, und sogar an gewisse ministerielle Rundschreiben, in denen die Empfehlung ausgesprochen wurde, die Strafaussetzung zur Bewährung [1386] nicht zu bewilligen und nicht von Strafe abzusehen – und zwar eben mit Blick auf die derzeitige Notwendigkeit, die generalpräventive bzw. gesellschaftliche Kraft der Sanktion nicht zu schwächen. Der Umstand, dass auch andere rechtliche Sanktionen Abschreckungswirkung besitzen, reicht nicht hin, um die Generalprävention aus dem Kreis der sekundären bzw. eventuellen Strafzwecke auszuscheiden. Im allgemeinen sind die Kriminalstrafen schwerer als die anderen, und man bedient sich ihrer gerade dann, wenn die anderen Sanktionen als nicht ausreichend erscheinen, um ein angemessenes psychologisches Gegenmotiv gegen die Begehung der Straftat hervorzurufen; und selbst angenommen, dass sie nicht schwerer sind als gewisse administrative Sanktionen, gesellt sich doch zu ihnen stets jene intensivere gesellschaftliche Missbilligung und jener Komplex von weiteren nachteiligen Folgen, die, wie schon ausgeführt, gerade heutigen Tags dazu beitragen, die Strafe zu kennzeichnen. Was schließlich die Abschreckungswirkung der Sicherungsmaßregel angeht, die häufig härter und gewichtiger als die Strafe ist – eine Wirkung, bei der keineswegs auszuschließen ist, dass der Staat sie bei ihrem Erlass vor Augen gehabt hat –, so hebt diese Wirkung doch nicht den engen und besonderen Zusammenhang zwischen der Strafe und der Generalprävention gegen Verbrechen auf. Wo es darum
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geht, die Funktion eines Rechtsinstituts zu bestimmen, muss man weniger auf die Eigenschaften, welche dieses Institut faktisch annimmt, achten, als auf den Zweck, den der Gesetzgeber mit ihm verfolgt. Und insoweit leidet es keinen Zweifel, dass die Generalprävention gegen Verbrechen als dauerhafte und herausragende Zielsetzung der Strafen diese und nicht die Maßregeln kennzeichnet, welche vorrangig individualpräventive Ziele verfolgen. Schließlich zeigt die Generalprävention – ebenso wie die primäre und unabweisliche Funktion der Strafe, die Bewährung der verletzten Rechtsordnung – die Eigenschaft, dass sie auf die größte Zahl von Fallgestaltungen, von Tatbeständen und von Personen passt. Trotz der Ausnahmen, die von Soziologen und von Psychologen mit Recht hervorgehoben worden sind, steht doch fest, dass [1387] sowohl bei Personen, die stark zum Verbrechen neigen, als auch bei Personen, die gegenüber Straftaten gewöhnlich andere Hindernisse und andere Hemmungen empfinden, die Angst vor der Bestrafung als Hindernis wirksam ist. Dies gilt sowohl für Handlungen, die im Widerspruch zu fundamentalen moralischen Geboten und zum allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden stehen, als auch für Handlungen, deren Rechtswidrigkeit andernfalls gar nicht empfunden würde, und sogar gegenüber Handlungen, die als gerecht empfunden werden und deren Verbot aus egoistischen Zielsetzungen der Regierenden in einem bestimmten historischen Augenblick verfügt worden ist. Es ist sogar so, dass gerade gegenüber Handlungen, die nicht als unmoralisch oder schädlich für die Allgemeinheit empfunden werden, die Staaten besonders auf die Abschreckungsfunktion setzen und deshalb die Anwendung der Strafe verschärfen. Die beiden ersten Funktionen der Strafe treffen in dem Gedanken der Repression zusammen, an welche die Vergeltungsstrafe unauflöslich gebunden ist. Die ideelle Wiederherstellung des verletzten Rechts bringt diesen Gedanken auf vollkommenste Weise zum Ausdruck, indem sie die verhängte Strafe als bloße Reaktion auf eine vergangene Tat erscheinen lässt mit der sie durch das Verhältnis von Ursache und Wirkung verbunden ist. Aber auch die Generalprävention, die ja eine Brücke zwischen der Repression und der eigentlichen Prävention, nämlich der direkten oder Spezialprävention schlägt, ist aus der Sicht dessen, über den die Strafe verhängt wird, sehr viel mehr an die erste als an die zweite Vorstellungsweise gebunden, bringt sie doch den Vorrang der gesellschaftlichen Interessen vor denen des Einzelnen zum Ausdruck, und aus der Sicht der sozialen Verteidigung bedient sie sich eines repressiven Mittels. Betrachtet man die rationale Grundlage dieser Rechtsinstitute von einem formalistischen Standpunkt aus, so gelangt man dahin, das alte Dilemma „quia peccatum est ne peccetur“ zu hoch zu bewerten und Generalprävention und Spezialprävention gemeinsam auf die Idee der Nützlichkeit oder der Verteidigung zurückzuführen; achtet man aber auf den speziellen Inhalt der Sanktion und auf die Voraussetzungen, von denen ihre Verhängung ausgeht, so nimmt man sehr leicht zwischen Generalprävention und Spezialprävention einen Gegensatz wahr, der sehr viel tiefgreifender ist als jener, der mitunter zwischen der Repression zum Zwecke der Generalprävention und der Idee der vergeltenden Gerechtigkeit erblickt wird. [1388]
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5. Die Spezialprävention als dritte Grundfunktion der Strafe Die Strafe kann sich nicht in ihrer repressiven Funktion erschöpfen, und sie erschöpft sich auch nicht darin. Die dritte grundlegende Funktion der Strafe ist die der Spezialprävention. Diese zu leugnen oder sie zu einer zweitrangigen, akzessorischen Funktion, auf eine Nebenwirkung der Strafe herabzustufen, wäre gleichbedeutend damit, nicht nur die unaufhaltsame Entwicklung des gesamten Strafrechts zu leugnen, sondern auch, eine Wirklichkeit zu verkennen, die den Philosophen, den Juristen und den Gesetzgebern aller Länder und Zeiten stets vor Augen gestanden hat. Indessen ist zu zeigen, dass diese Funktion von allen die bedeutungsträchtigste und an Möglichkeiten reichste ist. Sie schließt alle Zielsetzungen, die der Strafe im Hinblick auf die Zukunft des einzelnen Täters beigelegt werden, sowohl rücksichtlich der im engeren Sinne persönlichen Sicht als auch rücksichtlich seiner Beziehungen zur Gesellschaft ein. Zum Begriff der Spezialprävention gehören, wie allgemein anerkannt wird, nicht nur jene pädagogischen, belehrenden, ermahnenden, abschreckenden Funktionen, die der Generalprävention eigen sind, insoweit sie sich auf die Person dessen, den die Strafe trifft, auswirken und die häufig wegen der Unempfänglichkeit einiger besonders gefährlicher Täter nicht zum Erfolg gelangen. Mit größerer Berechtigung treten daher all jene Ansätze in Aktion, mit denen beim Erlass der Strafnorm, bei der Verhängung der Strafe und bei ihrer Vollstreckung die Notwendigkeit berücksichtigt wird, jeden einzelnen Verbrecher daran zu hindern, seine verbrecherischen Handlungen zu wiederholen, ihn auch materiell in eine Lage zu versetzen, in der er keinen Schaden mehr anrichten kann, in seiner Vorstellung die Spuren der Straftat und die Neigung zu neuen Straftaten zu beseitigen, ihn zu einer neuen Sicht seiner Beziehungen zur Gesellschaft zu erziehen bzw. neu zu erziehen und ihn wieder zum Leben in der Gemeinschaft zu befähigen. Vor allem tritt in diesem Zusammenhang jede Form des Kampfes gegen die Gefährlichkeit des Täters in Aktion, von der härtesten bis zu der mildesten und wohltätigsten, von der Ausscheidung bzw. Ausschaltung des Täters aus der menschlichen Gesellschaft bis hin zur Erziehung und Besserung. Und es handelt sich, wie jedem einsichtig, um Zwecke, die, wenn auch innerhalb einer und derselben Funktion, mitunter miteinander nicht zu vereinbaren sind, wie etwa im Falle der schwersten unschädlich machenden Strafen (Todesstrafe und lebenslange Freiheitsstrafe), die jede Bemühung um Erziehung des Verurteilten unmöglich oder doch sinnlos erscheinen lassen und ja auch dem Zweck des Schutzes der Gesellschaft vor der Gefährlichkeit des Täters dienen. Diese durch die Strafe ausgeübte Funktion der Spezial- oder Individualprävention [1389] ist so wichtig, dass sie, zumindest in einigen ihrer Erscheinungsformen, niemals verkannt worden ist, nicht einmal von den unverfälschten und angesehenen Vertretern der Vergeltungstheorien. Die katholische Lehre und das kanonische Recht haben die Kategorie der poenae medicinales im Gegensatz zu den poenae vindicativae entwickelt, und das Thema ist in jüngster Zeit von höchst angesehener Stelle [nämlich durch Papst Pius XII.] in das Bewusstsein der zeitgenössischen Strafrechtler gerufen worden, indem daran erinnert wurde, dass die Strafe „zur Erziehung des Schuldigen beitragen soll“ und ihn „in die Lage versetzen soll, sich
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als nützliches Glied wieder in die Gemeinschaft der Menschen einzufügen, zu der sein Verbrechen ihn in Widerspruch gesetzt hat“. Pellegrino Rossi, dessen Werk häufig dem Lager des strengsten moralischen Vergeltungsdenkens zugeordnet wird, zählt zu den „besonders wesentlichen“ und wünschenswerten Wirkungen der Strafe „den Schrecken, die moralische Besserung und die „Beseitigung der Schädlichkeit“ des Schuldigen und weist dem Gesetzgeber die Aufgabe zu, „zu untersuchen, welche von diesen Wirkungen die für die Gesellschaft wichtigste und am leichtesten zu erreichende ist“. Enrico Pessina, der noch mehr als er [1390] der Strafe ein bloßes moralisches Fundament zuschreibt und die alte Vorstellung aufgreift, dass die Strafe im Bewusstsein des Täter sein Gleichgewicht herstellt, verknüpft die Besserung und Erziehung des Verurteilten mit der Idee der Vergeltung als derjenigen, die in sich alle Aspekte der Strafe umfasst, einschließlich der Erneuerung des Schuldigen; doch später meinte er, dass das Prinzip der Besserungsstrafe die Grundlage der Strafvollzugsreform bilde und ein mächtiger Gedanke für den Fortschritt des Strafrechts sei. Die nachdrückliche Stellungnahme von Carrara war weniger gegen den Gedanken der Besserung oder Erziehung gerichtet als gegen den Grundsatz – wie sogar der Titel der berühmten Abhandlung lautet – der „Besserung des Täters als einzige Grundlage und einzigen Zweck der Strafe“; und was die Warnung des großen Kriminalisten vor den Gefahren bedingter Entlassungen angeht, so ist sie seit hundert Jahren durch die positive Erfahrung der Länder aller Kontinente widerlegt. Was ist noch zu sagen zur „humanistischen Strafrechtsschule“, die in der Erziehung des Täters das Wesen und die einzige Rechtfertigung der Strafe erblickte und den Grundsatz der Nutzlosigkeit jeder nicht erzieherischen Strafe verkündete, oder zur jüngsten und strengsten Forderung von Carnelutti, wonach das Problem der Strafe sich ausschließlich [1391] in der Erziehung und in der Buße löse? Die italienische positivistische Schule und die deutsche soziologische Schule, denen insoweit zahlreiche moderne Richtungen der sozialen Verteidigung sich anschließen, erweitern diesen Rahmen immens; und indem sie sich von einem Begriff der Besserung befreien, der immer noch mit dem Gedanken des Gewissensbisses und der Reue verknüpft ist bzw. aus der verengten Sicht der Freiheitsstrafe argumentiert und deshalb gegenüber besonders gefährlichen Tätern schwer umzusetzen ist, fordern sie eine umfassendere Spezialprävention, bei welcher der Täter jene Behandlung erfährt, die am besten geeignet erscheint, die Gesellschaft gegen seine Verbrechen zu verteidigen und ihn, wenn er einmal wieder befähigt zum sozialen Leben ist, wieder in den Schoß der Gesellschaft aufzunehmen. Erziehung und Resozialisierung für die weniger gefährlichen oder besserungsfähigen Verbrecher, künstliche Selektion und Unschädlichmachung der unverbesserlichen oder besonders gefährlichen Verbrecher werden offen als ausschließliche Funktionen der Kriminalstrafe bezeichnet. Aber auch außerhalb der positivistischen Schule gibt es nachhaltige, zunehmende und eindeutige zustimmende Äußerungen von Strafrechtswissenschaftlern und Gesetzgebern zum Gedanken der Spezialprävention. Mehr als jede andere verdient hier wegen ihres allseits anerkannten strengen Vorgehens diejenige des Hauptes der rechtstechnischen Schule, Arturo Rocco, Erwähnung, der in seiner erwähnten neapolitanischen Antrittsvorlesung von 1917 zunächst die gemeinsamen Zwecke aller rechtlichen Sanktionen dargestellt und sodann den nicht-strafrechtlichen Sanktionen den spezifischen Zweck der Schadenswiedergutmachung und der
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[1392] Strafe den der Spezialprävention bzw. der Verteidigung gegen die Gefährlichkeit des Täters zugewiesen hat – und nicht mehr jene Spezialprävention und Generalprävention, die, so die stets wiederholten Worte von Rocco, durch den psychologischen Zwang und die daraus folgende individuelle und soziale Sicherung und Genugtuung wirken, bei denen es sich um gemeinsame Zwecke aller rechtlichen Sanktionen, auch der nicht-strafrechtlichen Sanktionen, handelt, sondern, auch dies die Worte Roccos, die Spezialprävention, welche durch die künstliche soziale Anpassung oder die künstliche soziale Selektion des Täters oder seine soziale Beseitigung wirkt. Diese Position hat er dreizehn Jahre später, in der bereits erwähnten römischen Antrittsvorlesung, in großem Umfang angesichts der Existenz eines Gesetzbuches abgeschwächt, das ein organisches System von Sicherungsmaßregeln enthält, die spezialpräventive Funktion der Strafe jedoch nicht völlig ausschließt. Und angesichts einiger genauer Hinweise des Gesetzbuches, auf die wir gleich zurückkommen werden, hätte er auch nicht anders gekonnt. Und noch weniger kann man dies heute, da die höchste und edelste Form der Spezialprävention, die Besserung der Verurteilten, nach einer lebhaft und sachkundig geführten Debatte unter die wesentlichen Zwecke der Strafe in allen ihren Zeitabschnitten eingereiht worden ist und die Grundlage des gesamten Strafvollzugssystems bildet und damit auch weiterhin den Ausgangspunkt jeder künftigen Reform wird bilden müssen. Der Einwand, dass die Ziele der Besserung, der Erziehung, der Wiedereingliederung des Täters mit der Strafe nicht immer verfolgt werden könnten oder, schlimmer noch, nur selten auf diesem Wege überhaupt verfolgt werden könnten, würde ins Leere gehen, denn dies könnte man auch gegen die anderen, [1393] nicht weniger wesentlichen Funktionen – Herrschaft des Rechts und Generalprävention – einwenden, die zu verwirklichen der Strafe ja auch nicht immer gelingt. Andererseits berechtigt diese Breite des Spezialpräventions-Konzepts auch nicht zu jenen skeptischen Einwänden, welche ein verengtes Verständnis von Korrektion bzw. Besserung vertreten, das u.a. einzig auf die Freiheitsstrafe setzt. Das moderne Strafrecht ist im Begriff, die alte, in einigen Ländern immer noch geltende Aufteilung aufzugeben, deren Spuren sich in unserem prozessualen System noch im Bereich der sachlichen Zuständigkeit finden, zwischen den Verbrechen (crimini), die eben mit Kriminalstrafen belegt werden, welche zugleich exemplarischen Charakter besitzen und damit jenen Charakter erbarmungsloser vergeltender Repression besitzen, der die schweren Verstößen gegen die Moral und gegen die höchsten Interessen des Staates begleitet, den Vergehen (delitti), die mit Korrektionalstrafen belegt werden, welche dem Täter eine Lehre erteilen und damit dessen soziale Wiedereingliederung sicherstellen sollen, und den Übertretungen (contravvenzioni), die mit Polizeistrafen belegt werden, welche den Zweck der Prävention gegenüber der Begehung schwererer Straftaten bezwecken. Dieser Tendenz gegenüber ist auch die weitere Entwicklung des Strafrechts nicht unempfänglich gewesen, der es um die Einschätzung der Täterpersönlichkeit geht. Die ersten Positivisten lassen noch durchblicken oder erklären, wie Garofalo, ganz offen, dass sie sich an Straftaten, welche bloße politische Schöpfungen sind und die sie dem Bereich der Züchtigungsstrafe überlassen zu können glauben, nicht interessiert sind und bei ihren Forderungen nach Spezialprävention nur die
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schwersten Straftaten, die natürlichen Verbrechen (delitti naturali), also diejenigen, welche die antisoziale Persönlichkeit enthüllen, im Blick haben. Diese nicht unbegründete Haltung fällt mit derjenigen der radikalsten Vergeltungstheoretiker zusammen, die zumindest die Übertretungen, tatsächlich aber eine ganze Reihe von kleineren Vergehen, aus dem Bereich des Strafrechts ausgeklammert sehen möchten, um dieses – entgegen der gesellschaftlichen Realität und der Gesetzgebung aller Länder und Zeiten – unberührt [1394] und rein für ihre philosophischen Spekulationen bewahren zu können. Von diesen eklektischen bzw. harmonisierenden Tendenzen aus führt häufig der Weg zur Vorstellung einer Verwarnungs-Strafe für die Gelegenheitskriminalität, einer Züchtigungs-Strafe für Fälle schwerster Schuld und einer von Präventionszwecken geprägten Strafe für die durch besonders intensive persönliche Elemente gekennzeichnete Kriminalität. Für diese Haltung ist natürlich die Rechtsprechung nicht unempfänglich. Aber wie bei den verschiedenen Elementen der Strafe erscheint es auch hier nicht möglich, einen Vorrang einer Funktion vor einer anderen je nach Beschaffenheit der Straftaten oder der Straftäter anzuerkennen. Ein klarer Schnitt ist nicht möglich. Belanglose Straftaten können vom ethischen Standpunkt aus betrachtet ebenso eine Strafe verdienen wie sie von großem Interesse als Symptome der antisozialen Persönlichkeit des Täters sein können und es verdienen können, aus spezialpräventiver Sicht einer näheren Betrachtung unterzogen zu werden. Schwere Straftaten können eine Besserungs- oder Erziehungsfunktion besonders nötig machen, und gebrechliche Personen bedürfen möglicherweise dennoch einer Strafe, die auch im Verhältnis zur Schwere der begangenen Tat steht. Derartige Positionen kann man mit vollen Händen aus den Strafrechtssystemen aller Zeiten und Völker schöpfen, und ihre genauere Betrachtung würde leicht beweisen, dass die Gesetzgeber sich in der Realität nicht der zahlreichen möglichen Wirkungen der Strafe auf irgendeine der Kategorien von Taten und Tätern berauben wollen und dass sie die Mehrdimensionalität der Strafe sehr wohl vor Augen haben, wenn sie daran gehen, sich ihrer zu bedienen. Die Wirkung wird so zum Ziel und wird als eine der Strafe zugewiesene Funktion Teil des Rechtssystems. [1395]. 6. Die drei Grundfunktionen der Strafe im positiven italienischen Recht Bewährung bzw. Wiederherstellung des verletzten Rechts, Generalprävention und Spezialprävention durch Anwendung einer Strafe, die in ihrem Wesen eine Vergeltungsstrafe bleibt, sind somit die wesentlichen Funktionen, welche jede Rechtsordnung unserer Zeit, und nicht erst seit gestern, der Kriminalstrafe ausdrücklich oder implizit beilegt. Alle anderen Funktionen, von der Genugtuung des Verletzten über die Verhinderung privater Rache und die Beseitigung gesellschaftlicher Erregung bis hin zur Stärkung der Staatsautorität sind entweder Neben- und Eventualeffekte oder lassen sich leicht in das Flussbett jener Grundfunktionen lenken. Diese Funktionen und die Art der Mittel, mit denen man sie zu verwirklichen sucht, kennzeichnen die Kriminalstrafe auch im geltenden italienischen Recht, wenn man es, wohlgemerkt, in seiner realen Gesamtheit in den Blick nimmt und diesen nicht nur auf die schwersten Rechtsbrüche fixiert, sondern ihn auf alle Straftaten richtet, auf Übertretungen wie auf Vergehen, angefangen bei
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denen, die im Strafgesetzbuch geregelt sind, bis zu jenen immer zahlreicheren, nicht zufällig mit schweren Strafen bedrohten, in den Spezialgesetzen. Dazu können hier nur einige äußerst knappe Bemerkungen gemacht werden. Es bedarf gewiss nicht vieler Worte, um den Leidens- und Vergeltungscharakter aller in unserem Strafgesetzbuch vorgesehenen Kriminalstrafen zu beweisen. Die Nebenstrafen nicht weniger als die Hauptstrafen fügen ohne Ausnahme der Person einen Schaden an einem ansonsten rechtlich geschützten Interesse zu. Und das Kriterium der Verhältnismäßigkeit zur begangenen Tat kennzeichnet in jedem ihrer Elemente ihr System, bei der gesetzlichen Androhung nicht weniger als bei den für ihre Anwendung angeordneten Maßstäben. Eine Antwort auf jene Argumente, mit denen man die Auffassung hat begründen wollen, dass die moralische Vergeltung, die Züchtigung, die gerechte Buße des Täters vom geltenden Strafgesetzbuch zu wesentlichen Zielsetzungen und demnach zu ausschließlichen Strafzwecken gemacht worden seien, ist daher dringlich. Das wenigste, das man dazu sagen kann, ist, dass diese Argumente zumindest missverständlich sind: jedes von ihnen beansprucht gleichermaßen, zum Beweis dafür zu taugen, dass die Funktion der Strafe die Bewährung des verletzten Rechts oder die Generalprävention sei. Dies gilt beispielsweise für das System, das der Codice Rocco der Straftatkonkurrenz zugrunde legt und das im Kriterium der materiellen Kumulation der Strafen gipfelt [1396], aber auch in den Merkmalen jener Tatbestände seinen Ausdruck findet, in denen das System der rechtlichen Kumulation übernommen worden ist; wenn beispielsweise ein ergänzendes Urteil für die Verhängung eines auch nur winzigen Teils der Strafe für einen Teilakt der fortgesetzten Tat erfolgen muss, der in einer vorhergehenden Entscheidung nicht berücksichtigt worden ist, so ist klar, dass das Gesetz, von Lehre und Rechtsprechung zutreffend ausgelegt, einzig und allein den Grundsatz aufstellen will, dass keine Vereinheitlichung der Verhaltensweisen wegen eines gemeinsamen gedanklichen Bandes es rechtfertigen kann, sich auch nur der geringsten Folge seiner verbrecherischen Handlung zu entziehen. Das Recht ist verletzt worden, und jeder Fall einer solchen Verletzung muss entweder in der Form materieller oder in der Form rechtlicher Kumulation sanktioniert werden. Dasselbe gilt für Einschränkungen von Rechtsinstituten wie das Absehen von Strafe bei Minderjährigen, die Aussetzung der Strafe zur Bewährung und die bedingte Freilassung von Verurteilten, bei denen freilich für den Anteil, in dem solche Rechtswohltaten vorgesehen sind, auf typische Weise die der Strafe beigelegte spezialpräventive Funktion zum Ausdruck kommt. Würden die beiden erstgenannten Rechtsinstitute für besondere schwere Straftaten zugelassen und würden für das dritte nicht jene Grenzen des Mindestmaßes der tatsächlich verbüßten Strafe und jene anderen bis heute geltenden Begrenzungen des (freilich 1942 durch Gesetz geänderten) Art. 176 gelten, so würde der Generalprävention durch Abschreckung eine schwer zu heilende Wunde geschlagen und dem Täter würde stets die Hoffnung vermittelt, die Strafe nicht antreten zu müssen. Die Zielsetzung der Züchtigung oder der moralischen Buße kann hier vergessen werden, ohne dass diese Rechtsinstitute im geringsten ihren Stellenwert in unserem Rechtssystem verändern würden.
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Ebenfalls nicht überzeugend erscheinen die Argumente, die man aus den Vorschriften über die Geldstrafen und aus Art. 148 Codice penale ableiten will. Es wurde die Befugnis zur Erhöhung der Geldstrafe oder der Geldbuße bis auf das Dreifache erwähnt, welche das Gesetz dem Richter einräumt, falls wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters die Strafen selbst bei Verhängung des Höchstmaßes sich voraussichtlich als unwirksam erweisen würden. Wenn man nun sagen will, dass dies eine der zahlreichen Bestätigungen für den Leidenscharakter sei, den die Strafe in unserem Rechtssystem beibehalten müsse, so kann dem, nulla quaestio, nur zugestimmt werden. [1397] Dies gilt indessen nicht, wenn man aus diesen Bestimmungen ableiten wollte, dass Zweck der Strafe die Züchtigung des Täters sei, dass er das begangene Unrecht büßen müsse. Denn es ist ja klar, dass in den erwähnten Fällen die Strafe erhöht wird, um die Bewährung des Rechts nicht dadurch praktisch leerlaufen zu lassen, dass eine Strafe verhängt wird, die dem Verurteilten keinerlei Schaden einträgt, und um mahnend darauf hinzuweisen, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters nicht immer ein hinreichender Schutz gegen die praktische Straflosigkeit für nur mit Geldstrafe bedrohte Straftaten sind. Noch weniger beweiskräftig ist das Argument, das aus Art. 148 c.p. abgeleitet wird, wo die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung im Falle eingetretener Geisteskrankheit des Verurteilten für obligatorisch erklärt wird. Zweifellos wäre es weder für unsere Rechtsordnung noch für irgendeine andere zivilisierte Rechtsordnung erträglich, die Freiheitsstrafe an Geisteskranken zu vollstrecken, doch eben so unerträglich wäre auch die Vollstreckung von Maßregeln, auch wenn sie keine Strafen sind. Und in der Tat enthält Art. 212 eine mit Art. 148 übereinstimmende Regelung, wenn er bestimmt, dass im Falle eingetretener Geisteskrankheit die Vollstreckung freiheitsentziehender ebenso wie nicht freiheitsentziehender Maßregeln eingestellt werden muss und der Betroffene im ersteren Fall in ein Justizkrankenhaus oder in eine Heil- und Bewahrungsanstalt, im zweiten Fall in einer gewöhnlichen psychiatrischen Anstalt untergebracht werden muss, so lange die Krankheit nicht beseitigt ist. Es handelt sich um Grundsätze der Humanität und Zivilisation, um Angelpunkte der Rechtsordnung, die nicht nur für die Strafe gelten. Vielmehr zeigt gerade Art. 148 auf seine negative Weise mit seiner Beschränkung auf Freiheitsstrafen, dass die Strafe auch gegen zurechnungsunfähige Personen vollstreckt werden kann, die im Augenblick der Verhängung und der Verbüßung nicht in der Lage sind, ihren Schmerzcharakter zu empfinden, denn der Eintritt einer Geisteskrankheit schließt weder die Verhängung noch die Vollstreckung einer Geldstrafe aus. Noch gewichtiger und zahlreicher aber sind die Argumente, welche beweisen, dass in unserem geltenden Recht die Strafe nicht unbedingt eine Vergeltung moralischer Schuld sein muss. Die Vorschriften über die Strafbarkeit der im Zustand der nicht zufälligen Trunkenheit begangenen Taten, die allgemein dahin ausgelegt werden, dass das psychologische Element im Tatzeitpunkt beachtet werden muss und daher wegen vorsätzlicher Tat auch derjenige bestraft werden soll, der sich aus bloßer Fahrlässigkeit betrunken hat, sind eines der gewichtigsten Zugeständnisse an das Verständnis der Strafe als Generalprävention im Widerspruch zum Erfordernis der Schuld und der moralischen Zurechenbarkeit. Die Fälle der [1398] objektiven strafrechtlichen Verantwortlichkeit, die immer noch zahlreich und unflexibel sind, wenngleich man seitens der Gesetzgebung wie seitens der Ausle-
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gung versucht hat, sie zu begrenzen, sind ein weiterer Beweis für die Bedeutung, welche der Generalprävention beigemessen wird, welche hier die Gedanken der Züchtigung und der moralischen Schuld überlagert und beseitigt. Und über jedes andere Argument geht noch jenes hinaus, das aus dem Grundsatz der Unentschuldbarkeit der Unkenntnis des Strafgesetzes abgeleitet wird, der gleich am Eingang unseres Gesetzbuches mit deutlichen Worten aufgestellt wird. Die politischen Gründe dafür, gerade in unserem Lande, liegen auf der Hand; doch kann man nicht sagen, dass dieser Grundsatz mit den Glaubenssätzen von der moralischen Schuld und der Strafe als Buße für diese Schuld vereinbar sei. Die moralische Schuld beseitigt nicht jene Vermutungen und Fiktionen, welche die die Notwendigkeiten der sozialen Ordnung erfordern. Dass der Staat mit der Anwendung der Strafe nicht das Ziel der Züchtigung oder der Buße des Täters verfolgt, wird schließlich auch durch das Bündel von Grundsätzen bewiesen, welche den Strafvollzug beherrschen: Abschaffung der Zellentrennung, Unterricht, bezahlte Arbeit, Erziehung, Individualisierung des Vollzugs, spezielle Gebäude, Progressivsystem usw. hätten wenig Sinn, wenn es nur um die Züchtigung des Verurteilten ginge. Die Freiheitsstrafe birgt bereits als solche in sich so viel Schmerzzufügung, dass sie ausreicht, um die Zielsetzungen der Bewährung der verletzten Rechtsordnung und der Generalprävention zu verwirklichen; doch ist sie nur ein konkurrierender Gedanke zur Spezialprävention als dem leitenden Gedanken des Strafvollzugssystems. Nach alledem ist es sinnvoll, zu den Zwecken der Strafe auch jenen zu zählen, der abstrakt und formal zu sein scheint, obwohl er doch ganz und gar konkret ist, nämlich den der Bewährung der verletzten Rechtsordnung, während es keinen Sinn hat, jedenfalls nicht in unserer geltenden Rechtsordnung, den Zweck der moralischen Vergeltung dazu zu zählen. Neben der Funktion der Wiederherstellung der Rechtsordnung herrscht – wie ausgeführt – souverän, wenn auch nicht immer verwirklicht, die Funktion der Generalprävention. Die Verwirklichung dieser Zielsetzung durch den Staat begegnet Grenzen, die teilweise durch Gesichtspunkte der gesunden Vernunft, teilweise durch humanitäre Gesichtspunkte gezogen werden; zu den letzteren gehört, in Friedenszeiten auf die Todesstrafe zu verzichten, deren abschreckende Wirkung ungeachtet der Vorbehalte, welche dagegen angemeldet werden können, nicht ganz von der Hand gewiesen werden kann. Die Gesichtspunkte der gesunden Vernunft ergeben sich einerseits aus der proportionalen Gerechtigkeit, welche kein Abweichen der Schwere [1399] der Strafe von der Schwere der Tat erträgt, andererseits aus dem recht verstandenen Grundsatz der Notwendigkeit: Rosmin, ein Anhänger Romagnosis, lehrte im Hinblick auf den Strafgrund, dass die Strafe, gerade wegen ihrer generalpräventiven Zielsetzung, „unter denjenigen, die geeignet sind, ihren Zweck, die Unterdrückung des kriminellen Antriebs zu erreichen, die geringste sein muss“. Wenn unsere Richter meistens dazu neigen, bei ihren Urteilssprüchen auf das gesetzliche Mindestmaß hinabzugehen, so erweisen sie sich damit empfänglicher als der Gesetzgeber für diese Lehre. Doch auch abgesehen vom Problem ihrer Begrenzung bedarf die Auffassung, dass die Generalprävention in allen ihren Formen in unserem positiven Recht souverän regiert, keines Beweises. So
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war es in den ersten Jahren des Gesetzbuches, als das Echo der vorbereitenden Arbeiten und Berichte und ihrer vielfachen Hinweise auf den Gedanken der Verteidigung und Abschreckung noch nicht verhallt war. So hat es sich natürlich später fortgesetzt, als die vermeintlichen Kriegsbedürfnisse zu schrecklichen Strafverschärfungen führten, in der Nachkriegszeit, als die Geldstrafen im Verhältnis zur Geldentwertung anstiegen, und noch heute, da wir den Staat auf besonders schwere, wenn auch selten verhängte Strafen im Bereich des Steuerrechts und in anderen Bereichen, in denen die öffentlichen Interessen eine stärkere Warnfunktion zu ihrem Schutz zu fordern scheinen, zurückgreifen sehen. Auch die Verfasser des letzten Reformentwurfs haben gegen die Ausbreitung der Betrugsdelikte kein anderes Heilmittel gesehen, als die Erhöhung der Strafobergrenze als einziges Bollwerk gegen den um sich greifenden Straferlass vorzuschlagen. Es mag indes notwendig erscheinen, noch mit einigen Worte darauf hinzuweisen, dass in unserer Rechtsordnung die Strafe zu ihren grundlegenden Funktionen diejenige der Spezialprävention zählt, und zwar nicht nur jene Spezialprävention, die eine individuelle Rückwirkung der Generalprävention ist und die in der Wirkung der Strafe selbst auf den Täter besteht, wenn sie ihn veranlasst, über die Folgen der Tat nachzudenken und aus purer Angst vor einer weiteren künftigen Strafe von ihr abzulassen, sondern jene, die jedes Mal wirksam wird, wenn man bei der Androhung, bei der Verhängung und bei der Vollstreckung der Strafe an die Zukunft des Einzelnen denkt – sei es, dass man ihm die Strafe im Hinblick auf das Vertrauen, [1400] das er erweckt, erspart, sei es, dass man ihn bei der Auswahl der Sanktion und bei deren Vollstreckung so behandelt, dass er durch die Strafe keinen Schaden erleidet, vielmehr durch sie veranlasst wird, sich so schnell wie möglich auf geordnete Weise wieder in die Gemeinschaft einzugliedern. Die Rechtsinstitute des Strafvollzugsrechts habe ich bereits angesprochen. Der größte Teil von ihnen wäre nicht verständlich, wenn es der Strafe um die Züchtigung oder ausschließlich um die Bewährung des Rechts oder die Generalprävention ginge. Doch noch vor der Strafvollstreckung sind Rechtsinstitute zu beachten, welche die klassische Schule durch einige ihrer Vertreter bei ihrem Aufkommen zu bekämpfen versuchte, welche jedoch heute bedeutende Neoklassiker als eine „Vervollkommnung des ethisch-vergeltenden Ansatzes der Strafe“ verstehen möchten. Mag es sich auch wegen der Erfordernisse der Generalprävention um Institute von begrenzter Bedeutung handeln wie das richterliche Absehen von Strafe und die bedingte Strafaussetzung, so sind sie deshalb doch nicht weniger kennzeichnend, denn um sie anzuwenden, muss der Richter auf die Zukunft des Täters schauen, auf die aus zahlreichen, in Art. 133 bezeichneten Elementen abgeleitete Vermutung, dass er „von der Begehung weiterer Straftaten Abstand nehmen werde“ (Art. 164 und 169). So wichtig und entscheidend ist dieses Kriterium für die Rekonstruktion des Systems des Gesetzbuches, dass einige Gegner der Spezialprävention im Jahre 1949 bei der Ausarbeitung des Entwurfs eines neuen Gesetzbuchs zu jener Bedingung, die heute die einzige im Gesetzbuch vorgesehene ist, diejenige ergänzen wollten, dass der Täter diese Rechtswohltat verdiene, weil sie eben den Grundsatz der Strafverhängung unter Berücksichtigung der Zukunft des Täters nicht uneingeschränkt und grenzenlos gelten lassen wollten. Für uns jedoch steht an der Spitze jener Gesichtspunkt, der aus dem Hinweis, den
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das Gesetzbuch bei der Verhängung der Strafe auf die Verbrechenskapazität des Täters gibt. Nicht zu Unrecht wurde und wird über dieses Thema mit besonderer Heftigkeit gestritten. Nicht zu Unrecht [1401] haben, aus ihrer Sicht, die Verfasser des Entwurfs von 1949 versucht, diesen Ausdruck durch den sanfteren und allgemeineren der Persönlichkeit des Täters zu ersetzen. Die Verbrechenskapazität bildet nämlich, ungeachtet der wiederholten Versuche, sie auf die Schuld zu beziehen, den eigentlichen Schwerpunkt der Spezialprävention. Indem unser Gesetzgeber, zu Recht oder zu Unrecht, auf sie abstellt, gibt er dem Richter auf, nicht nur auf die begangene Tat, sondern auch auf die Zukunft des Täters zu achten. Ich meine, dass es ein unwiderlegliches logisches und systematisches Argument in dieser Richtung gibt, das jede andere Auslegungsbemühung zum Schweigen bringt. Wie ist es möglich, dass eben jener Gesetzgeber, der den Richter verpflichtet, sich von den die Zukunft des Täters betreffenden Vermutungen leiten zu lassen, wenn es darum geht, die Strafe zu verhängen oder nicht (Absehen von Strafe, bedingte Verurteilung), dieses Kriterium gänzlich aufgibt, sobald es darum geht, die Strafe in den Fällen zu bemessen, in denen sie verhängt werden muss? Was könnte eine solche Inkongruenz, einen solchen Sprung rechtfertigen? Und warum haben im übrigen die Verfasser des Gesetzbuches nicht statt des unmissverständlich auf die Zukunft gerichteten Ausdrucks „Verbrechenskapazität“ den herkömmlichen Ausdruck „Persönlichkeit“ verwendet? Weniger eindeutig im Sinne der Spezialprävention sind die Argumente, die sich aus der Straferhöhung für die Fälle des Rückfalls und der gewohnheitsmäßigen Trunkenheit ableiten lassen. Insbesondere muss daran erinnert werden, dass die Bemühungen [1402] junger Gelehrter aus den letzten Jahren, auf unterschiedliche Weise das Rechtsinstitut des Rückfalls umfassend in das Bezugssystem der Schuld und der Vergeltungsfunktion der Strafe einzubauen, Beachtung verdienen. Indes findet die Möglichkeit, die Schärfung der Strafe zu umgehen, die dem Richter nur für den Fall gegeben ist, dass es sich nicht um „Straftaten derselben Art“ handelt (Art. 1), außerhalb der Spezialprävention keine überzeugende Erklärung. Und dasselbe lässt sich für den Ausschluss der Rückfälligen von der Rechtswohltat der Amnestie sagen. Der Maßstab der Spezialprävention, der schon im Codice Rocco in großem Umfang präsent ist, hält mit dem Art. 27 der republikanischen Verfassung mit voller Kraft Einzug in unser Rechtssystem; denn in diesem Artikel ist das Ziel der Resozialisierung geradezu als hauptsächlicher und überdies unaufhebbarer Zweck der Strafe festgeschrieben. Die Versuche einiger höchst angesehener Interpreten, die Bedeutung dieser Verfassungsvorschrift zu begrenzen, vertragen sich schlecht mit dem offenen Widerstand eben dieser Autoren gegen diese Neuerung in der Verfassungsgebenden Versammlung sowie mit der Tatsache, dass sie anscheinend selbst mitunter den Verzicht auf diesen Hinweis in einem neuen Rechtssystem gefordert haben. Da die Verfassungsbestimmung Befehlscharakter besitzt, kann der Gedanke der Resozialisierung aus dem Bereich der Exekutive, wo sie ein Beiwerk ist, das zwar wünschenswert ist, aber nicht notwendig umgesetzt werden muss, verbannt werden. Sie kann und muss gerade die Phase des richterlichen Strafausspruches prägen, [1403] von der treffend gesagt worden ist, dass sie aufhören müsse, eine
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Dosierung zu sein und danach streben müsse, eine Diagnose zu werden. Sie muss die richterliche Auswahl der Strafe selbst beeinflussen, wenn sie möglich ist, und sie muss dem Gesetzgeber und der Verwaltung bei der Umsetzung neuer Rechtsinstitute und bei der Entwicklung neuer Initiativen Anstöße geben. Diese und andere Überlegungen nötigen freilich nicht zu der Auffassung, dass in unserem Recht die individualpräventive Funktion der Strafe eine ausschließliche sei oder die Vorherrschaft über die anderen Funktionen beanspruchen könne, wie es Grispigni gewollt hat. Gerade die Begrenzungen, die den von uns mehrfach erwähnten Rechtsinstituten (Absehen von Strafe, bedingte Verurteilung, bedingte Entlassung) gezogen sind, zeigen, dass dem nicht so ist. Sogar die Verbrechenskapazität ist vom Gesetzbuch so positioniert, dass sie dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat untergeordnet zu sein scheint; und bei der Schwere der Tat wird wiederum großes Gewicht auf die Berücksichtigung der Tatfolgen gelegt, die, wie es für viele Umstände gilt, dem Täter ohne Rücksicht auf seine moralische Verantwortung wegen der Bedeutung der Bewährung der Rechtsordnung und der Generalprävention zur Last gelegt werden; eben diese Erfordernisse sind auch der Grund, warum die Strafe selbst dann verhängt werden muss, wenn weder für die Resozialisierung des Täters noch für andere Zwecke der Spezialprävention etwas von ihr zu erwarten ist. Die Strafe in unserem Recht ist also das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den verschiedenen Erfordernissen, denen der Staat, wie jeder moderne Staat, im Kampf gegen das Verbrechen glaubt genügen zu müssen – in einem Kampf, dessen Hauptmittel aus einer ganzen Reihe von Gründen und ungeachtet der unvermeidlichen historischen Entwicklung die Strafe bleibt und bleiben wird. Wie schon vor rund zwanzig Jahren von Antolisei, einer edlen Lehrergestalt, der ich von diesem Katheder aus meinen ergebensten und innigsten Gruß entbieten möchte, gesagt worden ist, bildet sie ein quid compositum, das zwar im Kern seines Wesens vergeltend ist, in dem aber die Erfordernisse der Spezialprävention und der Generalprävention einen großen Einfluss ausüben. Sie ist vieldimensional oder doch zumindest polyfunktional, [1404] d.h. sie will eine Vielzahl von Funktionen erfüllen und sie will, wenn auch innerhalb bestimmter Grenzen (denn sie ist niemals im Höchstmaß unbegrenzt), die jeweiligen Dimensionen einnehmen. Viele – sagt ebenfalls Antolisei – lieben es, ihre philosophischen Ansichten mit dem positiven Recht zu verwechseln, und geben uns einen Begriff von Strafe, wie er ihnen gefallen würde, der jedoch weit von der Realität entfernt ist. Die Kritik trifft zweifellos sowohl für einige Vertreter einer überzogenen Vorstellung von moralischer Vergeltung als auch für einige angesehene Vertreter der Spezialpräventionslehre ins Schwarze. Indes wissen alle, dass bei der Rekonstruktion des positiven Rechts die Wahrheit in der Mitte liegt, während jedem die Freiheit unbenommen ist, die Linien eines zukünftigen idealen Rechts auszuziehen. Auch dies gilt freilich nicht grenzenlos. Es ist leicht vorherzusehen, dass so, wie die künftigen Entwicklungen des Strafrechts sich aufgrund der Fortschritte und der Ergebnisse der kriminologischen Forschungen auch weiterhin auf die Individualprävention des Verbrechens stützen werden, man doch nicht auf die vergeltende, zum Zwecke der Repression und Abschreckung verhängte Strafe verzichten wird. Die Verteidigungsstrafe bzw. Sicherungsstrafe dient – auch aufgrund der in ihrem
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Wesen liegenden Unbestimmtheit – nicht so gut den anderen Zwecken, welche der Staat in jedem Falle verfolgen muss, nämlich Bewährung des verletzten Rechts und Generalprävention. Diese Zielsetzungen, die sich aus der Sicht des Einzelnen zur zentralen Vorstellung der Repression verbinden, stehen ihrerseits nicht zufällig im Gegensatz zur Spezialprävention, denn sie erfordern Verhängung und Vollstreckung der Strafe auch dann, wenn sie nutzlos oder gar [1405] für das künftige Verhalten des Täters in der Gesellschaft schädlich sind. Selbst das auserwählte Mittel, die Vergeltungsstrafe, erweist sich zwar in vollem Umfang als geeignet für die Zielsetzung der Bewährung des Rechts und kann leicht, mit gewissen Modifikationen ihres Maßes, den Zweck der Generalprävention erreichen, doch kann sie nicht immer jene volle Elastizität erreichen, welche für die Zwecke der Spezialprävention erforderlich ist. Die zuletzt genannten Zwecke können nur im Rahmen der Vollstreckung der Vergeltungsstrafe verfolgt werden, die, wenn sie einmal verhängt ist, jeden Gedanken an Züchtigung hinter sich lassen und sich ganz an der Verfolgung jener Zwecke orientieren kann; sie werden jedoch in den Oberund Untergrenzen, die untrennbar mit dem Begriff der Vergeltung verbunden sind, auf ein unüberwindliches Hindernis treffen. Erst am äußersten Punkt, bei der lebenslangen Freiheitsstrafe, die für die allerschwersten Verbrechen verhängt wird, zugleich aber in der Lage ist, den Delinquenten, der vielleicht gefährlich und unverbesserlich ist, für immer aus der Gesellschaft zu entfernen, kann man zu einem vollständigen Zusammenfallen von Präventionsfunktion und Vergeltungsstrafe gelangen, doch „ist keineswegs gesagt, dass man immer dahin gelangt“. Erziehung, Resozialisierung und, allgemeiner ausgedrückt, die staatliche Tätigkeit, die darauf gerichtet ist, dem Fall oder Rückfall des Einzelnen ins Verbrechen zuvorzukommen, wird daher auch weiterhin Wege beschreiten, die von denen der Strafe verschieden sind, vor allem den Pfad der Sicherungsmaßregeln und der anderen Präventionsmaßnahmen, die – wie Jiménez de Asua treffend geschrieben hat – „ontologisch präventiv sind“. [1406] 7. Hinweise für die Reform und für eine realistische Einschätzung der Strafrechtssysteme Aus dem System, das wir ohne jeden Anspruch auf Originalität beschrieben haben, ergeben sich einige Folgerungen, die unseres Erachtens auch deshalb erwähnt zu werden verdienen, weil damit dem Leser der Eindruck einer passiven und fatalistischen Übernahme des bestehenden Rechts genommen werden kann. Die erste Folgerung betrifft die Entwicklungen, auf die der Gedanke der Resozialisierung, der zum Verfassungsgrundsatz erhoben worden ist, in unserem Recht noch wartet und die er erleben muss. Nicht nur der Vollzug der Freiheitsstrafe muss so organisiert werden, dass sie in ihren Einzelheiten nicht eine größere Züchtigung bedeutet als diejenige, die sich bereits aus der Entziehung der Freiheit ergibt, und dass sie all jene Behandlungen ermöglicht, die zur Wiedereingliederung des Verurteilten am geeignetsten erscheinen. Nicht nur wird unser prozessuales System sich der Forderung anpassen müssen, dass die Freiheitsstrafen nicht fast gänzlich in Form der Untersuchungshaft vollzogen wird, die allenfalls selten
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eine resozialisierende Behandlung gestattet. Der Resozialisierungsgedanke muss der Leitgedanke des Richters und mehr noch des Gesetzgebers bei der Entscheidung über weitere Strafsanktionen sein, die in bestimmten Fällen die in der Verfassung niedergelegten Zielsetzungen besser verwirklichen können als die Freiheitsstrafen – ein strengeres System der Geldstrafen, die Unterwerfung unter ein Regime überwachter Freiheit für eine bestimmte Zeit und vor allem die obligatorische Arbeit oder andere gemeinnützige Leistungen in persönlicher Freiheit oder Halbfreiheit. Es ist nicht ausgeschlossen, dass manche von diesen Strafen sogar den Zweck der Generalprävention besser erreichen als manche Freiheitsstrafe. Die zweite Folgerung betrifft die Art des Verständnisses von Vergeltung. Dass sie Mittel zu anderen Zwecken ist, bedeutet, dass die Züchtigung nicht um jeden Preis als der eigentliche Zweck der Strafe angesehen werden muss. Es bedeutet, dass die Vollstreckung der Strafe auf eine Weise erfolgen kann, die es gestattet, die Ziele der Spezialprävention zu erreichen, so lange sie nur die wirksame Bewährung des verletzten Rechts und das Bedürfnis nach Abschreckung bzw. Generalprävention nicht beeinträchtigen. Es bedeutet, dass in den Fällen, in denen das Gesetz eine doppelte Behandlung in Form der Strafe und der nachfolgenden freiheitsentziehenden Sicherungsmaßregel (Jugendstrafanstalt, geschlossene Heilanstalt, Agrarkolonie oder Arbeitshaus) vorsieht, nichts entgegensteht, dass die der Besserung und der Heilung dienende Behandlung [1407] des Verurteilten in dem Zeitpunkt beginnt, in dem die Laufzeit der Strafe beginnt, solange nur diese Behandlung eine Dauer besitzt, welche zumindest der vom Richter verhängten Strafe entspricht. Dies ist ein Thema, mit dem ich mich bei anderen Gelegenheiten im Anschluss an Gedanken Longhis, Antoliseis, Delitalas und des betrauerten Jannitti im Zusammenhang mit der strafrechtlichen und strafvollzugsrechtlichen Behandlung von Minderjährigen, vermindert Zurechnungsfähigen und Gewohnheitstätern befasst habe und Einwände aus ganz abstrakten und schwer zu verstehenden Grundsätzen erfahren habe. Glücklicherweise befindet sich die Strafvollzugsverwaltung, soweit es ihr gestattet ist, bereits auf diesem Weg. Es geht nicht darum, die Strafe mit der Maßregel zu verschmelzen oder zu vermischen, sondern darum, die Behandlung des Täters nach rationalen und menschlichen Erfordernissen zu vereinheitlichen. [1408]. Die dritte Folgerung betrifft die Sicherungsmaßregeln und die Stellung, die sie im Strafrecht einnehmen. Wenn zu den grundlegenden Funktionen der Strafe auch die Spezialprävention gegenüber dem Verbrechen gehört, wenn sie also zu den Problemen des Strafrechts im engeren Sinne gehört, wie kann man dann noch daran denken, sich die Sicherungsmaßregeln und andere Präventionsmaßregeln, welche diese Funktion typisch und ausschließlich ausüben, als außerhalb des Strafrechts oder, wenn man so will, außerhalb des Kriminalrechts stehend vorzustellen und sie als dort unerwünschte Dienerinnen oder Gäste aufzufassen? Wie kann man ein Desinteresse des Strafrechtlers an diesen Mitteln rechtfertigen, die doch nichts anderes sind als Mittel des Kampfes gegen das Verbrechen, deren der Staat sich bedient, weil er sie für geeigneter und passender hält als es die Strafen sind? Selbst die historische Erfahrung könnte solche Schlüsse nicht erlauben, wenn man bedenkt, dass einige der aktuellen Sicherungsmaßregeln bzw. Präventionsmaßregeln als Strafen oder als „Strafergänzungen“ angesehen und als solche ab antiquo
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in die strafrechtlichen Abhandlungen einbezogen wurden, so dass man nicht recht einsieht, warum sie heute aus diesen wieder entfernt werden sollten, da die Gesetzbücher sie unter exakterer Bezeichnung und Klassifizierung, stets aber in Bezug auf die Straftat, deretwegen sie ebenso wie die Strafen verhängt werden, berücksichtigen. Auch würde die öffentliche Meinung eine solche Ausschließung nicht verstehen, sieht sie sich doch häufig ängstlich zu der Frage gedrängt, wie man den Verbrechen der Geisteskranken und anderer Kategorien von Anormalen begegnen kann, wie die Verhängung von und der Verzicht auf die dafür zur Verfügung stehenden Maßregeln gehandhabt werden, und würde wenig Verständnis aufbringen, wenn sie erführe, dass dies keine Angelegenheit für Strafrechtler sei, sondern nur eine des Arztes oder der Polizei. Schließlich darf nicht verschwiegen werden, [1409] dass dieses strafrechtswissenschaftliche Desinteresse an den Sicherungsmaßregeln von großen Gefahren für die persönliche Freiheit und andere grundlegende menschliche Interessen kündet, wenn man es so übersetzt, dass im Hinblick auf die Sicherungsmaßregeln jene fundamentalen Garantien geleugnet werden, welche die Gesetzgebung auch bei deren Anwendung hat beachtet sehen wollen, als sie die Maßregeln der Sicherung in die Strafgesetzbücher eingefügt, sie der Rechtsprechung anvertraut und für sie das gleiche Verfahren wie für die Verhängung der Strafe vorgesehen hat. Ein gewichtiges Beispiel für die Verirrungen, zu denen die radikale Trennung der Strafen von den Sicherungsmaßregeln führen kann, bietet eine Entscheidung des Kassationshofes aus diesem Jahr, mit der dem Beschwerdeführer das Interesse abgesprochen wurde, eine Entscheidung anzugreifen, die ihn wegen völliger Geistesstörung vom Vorwurf der Mordes in einem erschwerten Fall freigesprochen hatte – mit der Folge seiner Unterbringung in einer Justiz-Psychiatrie für einen Zeitraum von nicht weniger als zehn Jahren, die auch lebenslang dauern könnte, wobei bemerkt wurde, dass das Ergebnis einer Annahme der Beschwerde nur die Rückverweisung an den Richter und damit die, wenn auch wegen Geistesschwäche verminderte, Strafe hätte sein können und ergänzend bemerkt wurde, dass die Situation der Einsperrung in einer JustizPsychiatrie „juristisch vorteilhafter“ als eine solche Verurteilung sei. Es fällt schwer, sich einen offeneren Widerspruch mit jenen Absichten vorzustellen, die den Gesetzgeber des Jahres 1930 veranlasst haben, die Sicherungsmaßregeln dem Richter anzuvertrauen. Doch führt zu solchen und ähnlichen Folgerungen – zum Schaden der Gerechtigkeit und der sozialen Verteidigung – die proklamierte Stellung der Sicherungsmaßregeln außerhalb des Strafrechts. Abschließend wollen wir auf einen bereits angesprochenen Punkt zurückkommen. Weder die Gerechtigkeit noch eine ethische Auffassung vom Menschen sind ein Monopol des Strafrechts im engeren Sinne. Schon vor dem Inkrafttreten des Codice Rocco hat Spirito fast prophetisch auf die Gefahren einer radikalen Trennung des Bereichs der Strafen von dem der Maßregeln hingewiesen. Heute schreibt Bettiol, dass auch die Sicherungsmaßregel in das eingefügt werden müsse, was er die Welt der Werte nennt und was als das [1410] ethisch Relevante angesehen wird. Eine entsprechende und noch entscheidendere Anerkennung findet sich bereits in der wichtigen Antrittsvorlesung von Giovanni Leone in Messina aus dem Jahre 1937. Und eben so bekräftigt Petrocelli den ethischen Wert der Resozialisierung auch dann, wenn sie mittels einer Maßregel verfolgt wird. Mit der Übertreibung des Gegensatzes von Strafe und Maßregel gelangt man jedoch letztlich zu
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Konsequenzen, welche zu denen, die man angeblich verfolgen will, im Widerspruch stehen. Man gelangt nämlich, worauf Delitala hingewiesen hat, zu einer gänzlich formalistischen Rechtspflege, „welche, wenn sie die Strafe und dann die Maßregel verhängt, den Menschen weniger als eine Person denn als eine Sache ansieht und durch die mechanistische Art des Verständnisses der Maßregel seine prinzipielle Spiritualität leugnet“. Kein geringer Teil der Verantwortung für diese Situation fällt auf jene Schulen, die im Namen des Vergeltungsprinzips, das zweifellos den Maßregeln fremd ist, aus der Strafe eine geschlossene Welt machen wollten, weswegen sie jene schönen Grundsätze der Rechtssicherheit, der Gesetzlichkeit, der Richterlichkeit usw. schätzten, denen die Prävention ihrem Wesen nach fremd sei. Und doch war das geltende Strafgesetzbuch, wenn man sein Wesen nur richtig erfasst, nicht dieser Auffassung, und eben so wenig ist die weitere Entwicklung der Gesetzgebung in diese Richtung gegangen, denn sie tendiert, vor allem was die Jugendlichen angeht, dahin, sich vom Begriff der Gefährlichkeit zu lösen, um den Akzent auf die Abweichung, auf die soziale Unangepasstheit, auf die Bedürfnisse des Beistands und der Heilung zu legen, denen man mit Maßregeln entgegenkommt, welche von einem menschlichen Verständnis dieser Erscheinung geleitet sind, das eines der schönsten Vorrechte der modernen kriminalpolitischen Richtungen ist und das auch in die Präventionsmaßregeln, die früher polizeiliche Maßregeln hießen, Anwendungsmaßstäbe eingeführt hat, die bis gestern das Monopol der Strafe zu sein schienen. Was die „geschlossene Welt“ angeht, sei uns eine letzte [1411] Bemerkung gestattet. Es hat in Italien und außerhalb Italiens Auffassungen gegeben, welche die gegensätzlichen Grundsätze der Buße und der Sozialverteidigung, der Vergeltung und der Prävention, der Strafe und der Maßregel auf das politische Feld bringen wollten, indem sie im belebenden Licht der Demokratie jenen Vergeltungsansatz neu ersprießen ließen, der einst als im Einklang mit den Grundsätzen des autoritären Staat stehend angesehen wurde, und im Hinblick auf die Sicherungsmaßregeln und sogar im Hinblick auf den Gedanken der Spezialprävention, der in der Vergangenheit wegen seiner individualistischen Motivation kritisiert worden war, das Gespenst der totalitären Unterdrückung beschworen. Die historische Erfahrung ist indessen reich an Hinweisen, die auf das Gegenteil hindeuten. Gegen die immer wiederkehrenden Versuchungen des Menschen, im Namen dieses oder jenes Zieles seinesgleichen zu unterdrücken, kann kein Bollwerk in Form juristischer Theorien errichtet werden; und umgekehrt eignet sich jede theoretische Begründung dazu, Machtmissbrauch und Willkür zu rechtfertigen. Die Aufklärer, die Utilitaristen und andere Denker des 18. Jahrhunderts reagierten im Namen der Verteidigung und der gesellschaftlichen Notwendigkeit auf das, was man als die praktischen Früchte der Vergeltungstheorien der vorhergehenden Jahrhunderte bezeichnen könnte, welche häufig im Namen des Leidensausgleichs (contrappasso) in der grausamen Zufügung nutzloser Quälereien bestanden. Doch die Tyrannen bemächtigten sich auch des Begriffs der Verteidigung, speziell in der Form der Abschreckung; und große Denker des 19. Jahrhunderts belebten als Reaktion auf nicht weniger grausame Exzesse den Gedanken der absoluten Gerechtigkeit von neuem und bezeichneten ihn als einzige Grundlage der Strafe. Freilich gelangten die absoluten Theorien von der Strafe als Zweck in sich selbst
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dort, wo sie noch heute herrschen, nicht dahin, auf das [1412] Abhacken der rechten Hand zu verzichten, wenn der Henker irrtümlich die linke abgehackt hat – wie es in einem arabischen Königreich des Nahen Ostens [Jemen] vor nicht mehr als einem Jahr vorgekommen ist. Die Besserung, die herrliche Besserung des Täters, in der mancher die höchste und moralischste Form der Spezialprävention erblickt, während andere sie als Bestandteil der Vergeltungsidee ansehen, kann einen der unerträglichsten Eingriffe des Staates in die persönliche Freiheit darstellen, wie es die Vergangenheit lehrt, in der die Folter angewendet wurde, um durch das Geständnis die Reue des Täters zu erreichen, und in der gestern noch die wegen politischer Straftaten Angeklagten nach feierliche Selbstkritik zur Hinrichtung geführt wurden. Wenn vor zwanzig Jahre angesehene italienische und deutsche Juristen sich in nutzlosen Wortstreitereien darüber ergingen, welches die vom nazistischen Staat vertretenen Grundsätze über die Funktion der Strafe seien, so ging daraus hervor, dass diese Grundsätze ein wenig erbauliches Mischmasch von Gedanken der Verteidigung und Gedanken der Buße, von Prävention und Züchtigung war, von denen ganz klar war, dass die Herrschenden jenes Staates sich ihrer bedienen wollten, wie es ihnen je nach Zufall und Gelegenheit am günstigsten erschien. Und wenn die unschädlich machende Maßregel letztlich als zügigeres Mittel als die Strafe diente, mit dem man sich Prozesse und Korrespondenzen ersparen konnte, so kann man gewiss nicht sagen, dass die Verhängung und Vollstreckung der Strafe unter diesem Regime an Maßstäben der Gerechtigkeit und der Humanität ausgerichtet gewesen sei. Die Wahrheit ist, dass [1413] Strafen aufgrund von Scheinprozessen und von Fiktionen von Verhältnismäßigkeit, von moralischer Verantwortlichkeit und sogar von Zurechnungsfähigkeit verhängt werden können, Maßregeln zur sozialen Verteidigung hingegen unter Einhegung durch alle Schutzgarantien für den Einzelnen und durch Achtung der menschlichen Persönlichkeit – und umgekehrt. Von allem haben wir erfahren. Die Grundsätze der Zivilisation, die eine Rechtsordnung aufweist, hängen nicht von den Vorstellungen ihrer Machthaber über die Funktionen der Strafen oder die der Maßregeln ab, sondern zeigen sich an der Art, wie diese Rechtsordnung die Verhängung und den Vollzug der einen wie der anderen regelt und praktiziert.
Erläuterungen und weiterführende Hinweise a) Allgemeine Literatur; Abkürzungen1 v.Bar:
Bar, Ludwig von: Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorie. Erster (einziger) Band. Berlin 1882.
Cattaneo
Cattaneo, Mario A.: Aufklärung und Strafrecht. Beiträge zur deutschen Strafrechtsphilosophie des 18. Jahrhunderts. Baden-Baden 1998.
Dezza, Beiträge
Dezza, Ettore: Beiträge zur Geschichte des modernen italienischen Strafrechts. (1992). Dt. Übers. von Thomas Vormbaum. Berlin 2004.
Fischl
Fischl, Otto: Der Einfluß der Aufklärungsphilosophie auf die Entwicklung des Strafrechts. (Strafrechtliche Abhandlungen. 169). Breslau 1913. Ndr. München 1963.
GA
Goltdammers Archiv für Strafrecht (1853–1870: Archiv für preußisches Strafrecht; 1871–1879: Archiv für gemeines deutsches und preußisches Strafrecht; 1880–1899: Archiv für Strafrecht; 1899–1933: Archiv für Strafrecht und Strafprozeß; 1934–1945: Deutsches Strafrecht. Neue Folge; ab 1953: Goltdammers Archiv für Strafrecht)
Günther
Günther, Louis: Die Idee der Wiedervergeltung in Geschichte und Philosophie des Strafrechts. Ein Beitrag zur universalhistorischen Entwicklung desselben. 3 Bde Erlangen 1889, 1891, 1895. Ndr. Aalen 1966– 1970.
Hertz
Hertz, Eduard: Voltaire und die französische Strafrechtspflege im 18.Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte des Aufklärungszeitalters. Stuttgart 1887. Ndr. Aalen 1972.
v.Hippel
Hippel, Robert von: Deutsches Strafrecht. 2 Bde. Bd 1. Allgemeine Grundlagen. Berlin 1925. Ndr. Aalen 1971.
Kleinheyer / Schröder
Kleinheyer, Gerd / Schröder, Jan: Deutsche und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. 5. Auflage. Heidelberg 2008.
1
Hier werden nur diejenigen Literaturtitel aufgeführt, auf die in den Einzelnachweisen mehrfach (und dann in der hier angegebenen Kurzfassung) verwiesen wird.
E. Dezza et al. (Hrsg.), Moderne italienische Strafrechtsdenker, DOI 10.1007/978-3-642-24839-9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Anhang
Küper
Küper, Wilfried: Die Richteridee der Strafprozeßordnung und ihre geschichtlichen Grundlagen. (Münsterische Beiträge zur Rechts- und Staatswissenschaft. 11). Berlin 1967.
Naucke / Harzer
Naucke, Wolfgang / Harzer, Regina: Rechtsphilosophische Grundbegriffe. (Juristische Lernbücher. 19). 5. Auflage München 2005.
Overbeck
Overbeck, Alfred Freiherr von: Das Strafrecht der französischen Encyclopädie. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert. (Freiburger Abhandlungen aus dem Gebiete des öffentlichen Rechts. 1). Karlsruhe 1902.
Pulitanò
Pulitanò, Domenico: Abriss der neueren italienischen Strafrechtsgeschichte, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 9 (2007/2008), S. 159–187.
Rüping / Jerouschek
Rüping, Hinrich: Grundriß der Strafrechtsgeschichte (JuS-Schriftenreihe.73). 5. Auflage. München 2007.
Eb. Schmidt
Schmidt, Eberhard: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. 3. Auflage. Göttingen 1963.
Seelmann
Seelmann, Kurt: Vertragsmetaphern zur Legitimation des Strafens im 18. Jahrhundert, in: Die Bedeutung der Wörter. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Festschrift für Sten Gagnér zum 70. Geburtstag. München 1991. S. 443–459.
Sellert / Rüping
Sellert, Wolfgang / Rüping, Hinrich: Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. Band 1: Von den Anfängen bis zur Aufklärung. Von Wolfgang Sellert unter Mitarbeit von Friedhelm Neef. Aalen 1989.
Stolleis, Juristen
Stolleis, Michael: Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert. München 1995.
Vormbaum
Vormbaum, Thomas: Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte. 2. Auflage. Berlin, Heidelberg 2010
ZNR
Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (seit 1881)
Hinweise zu den einzelnen Texten
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b) Hinweise zu den einzelnen Texten Cesare Beccaria Quelle: Der Übersetzung zugrunde gelegt wurde folgender italienischer Text: Cesare Beccaria, Dei delitti e delle pene, in: Cesare Beccaria, Opere. A cura di Sergio Romagnoli. 2 Bde. Firenze (Sansoni) 1958. Die deutsche Übersetzung ist aus folgender Ausgabe übernommen: Cesare Beccaria, Von den Verbrechen und von den Strafen. Aus dem Italienischen von Thomas Vormbaum. Mit einer Einführung von Wolfgang Naucke: Beccaria – Strafrechtskritiker und Strafrechtsverstärker. Berlin 2004 (seitenidentische Taschenbuchausgabe. Berlin 2005). Weitere deutsche Übersetzungen u.a. Cesare Beccaria: Über Verbrechen und Strafen. Übersetzt, mit biographischer Einleitung und Anmerkungen versehen von Karl Esselborn. Leipzig 1905; Cesare Beccaria: Über Verbrechen und Strafen. Nach der Ausgabe von 1766 übersetzt und herausgegeben von Wilhelm Alff (insel taschenbuch. 1068). Frankfurt a.M. 1988, Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen. Auf das Neue selbst aus dem Italiänischen übersezet mit durchgängigen Anmerkungen des Ordinarius zu Leipzig Herren Hofrath Hommels. Breslau (Joh. Friedr. Korn d.Ä.) 1778. Neudruck, herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von John Lekschas unter Mitarbeit von Walter Griebe. Berlin 1966. Das Gesamtwerk Beccarias ist in 13 Bänden mit kritischem Apparat erschienen in der Nationalausgabe der Werke Cesare Beccarias: Edizione Nazionale delle Opere di Cesare Beccaria, sotto la direzione di Luigi Firpo e Gianni Francioni. Mailand 1984–2006. Leben: Geboren am 15. März 1738 in Mailand, dort auch gestorben am 28. November 1794. G. gehörte der Gruppe der in Mailand von Pietro Verri organisierten aufklärerischen Reformer („Accademia dei Pugni“) an. Er war Professor für Ökonomie an den Scuole Palatine von Mailand (1768) und Mitglied des Obersten Rats für öffentliche Ökonomie für den Staat Mailand (Supremo Consiglio di Economia Pubblica per lo Stato di Milano) (1771). 1790–1791 war er an der Ausarbeitung des Entwurfs eines Strafgesetzbuches für die österreichische Lombardei beteiligt. Werk: Zu Leben und Rechtsdenken Beccarias s. v.Bar, S. 233 ff.; Mario A. Cattaneo: Beccaria und Kant. Der Wert des Menschen im Strafrecht, in: Ders., Aufklärung, S. 7–48; Ders.: Beccaria und Sonnenfels. Die Abschaffung der Folter im theresianischen Zeitalter, ebd., S. 49–63; Ders.: Karl Ferdinand Hommel, der „deutsche Beccaria“, ebd, S. 63–139; Gerhard Deimling (Hrsg.): Cesare Beccaria. Die Anfänge moderner Strafrechtspflege in Europa. Mit Beiträgen von Wilhelm Alff, Gerhard Deimling u.a. (Kriminologische Schriftenreihe. 100). Heidelberg 1989. (dazu Besprechung ZNR 1990, 224 ff. [Vormbaum]; Julius Ebbinghaus: Gustav Radbruch, Cesare Beccaria und Immanuel Kant; in: Ders., Gesammelte Schriften. Bd 2. S. 367 ff.; Fischl, S. 27 ff.; Günther, Bd 2, S.176 ff.; Hertz, Voltaire S. 304 ff.; v.Hippel, S. 266 ff.; Ralf Hohmann: Prävention als Instrument der Aufklärung. Cesare Beccaria: „Über Verbrechen und Strafen“ (1764); in: Jura 1991, 121–127;
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Küper, S. 50 ff.; Ders.: Cesare Beccaria und die kriminalpolitische Aufklärung des 18. Jahrhunderts, in: JuS 1968, 547–553; Wolfgang Naucke, Die Modernisierung des Strafrechts durch Beccaria in: Alf/Deimling u.a. (s.o.), S. 37 ff.; Ders., Beccaria, Strafrechtskritiker und Strafrechtsverstärker, in: s.o. unter „Quelle“; v.Overbeck, S. 114 ff.; Igor Primoratz: Kant und Beccaria; in: Kant-Studien 69 (1978), S. 403–421; Lothar Reuter: Verbrechen und Strafen im Werk Cesare Beccarias. Zum 250.Geburtstag dieses bedeutenden Strafrechtlers der Aufklärung, in: NJ 1988, 171–174; Eb. Schmidt, §§ 209, 211; Seelmann, S. 448 f. u.ö.; Sellert / Rüping, S.349 ff., 368 ff. u.ö.; Eberhard Weis, C.B., in: Stolleis, Juristen, S. 72 f.; Thomas Würtenberger: Cesare Beccaria (1738–94) und sein Buch „Von Verbrechen und Strafen“ (1764), in: Zschr.f. Strafvollz. 13 (1964), 127–134. Gaetano Filangieri Quelle: Italienischer Text: La scienza della legislazione del Cavaliere Gaetano Filangieri. Edizione seconda veneta. Tomo IV. Venezia (Giacomo Storti) 1796. – Deutsche Übersetzung: System der Gesetzgebung. Vierter Band. Aus dem Italienischen des Ritters Caietan Filangieri. Anspach (B.F. Haueisen) 1787. (Diese Übersetzung folgt der ersten Auflage von 1784; jedoch ergeben sich in den hier übernommenen Passagen keine Änderungen der „zweiten venezianischen Auflage“ gegenüber der 1. Auflage. Wegen der zeitlichen Nähe zum italienischen Original ist die deutsche Übersetzung trotz gelegentlicher Freiheiten nahezu unverändert wiedergegeben). Leben: Geboren in San Sebastiano al Vesuvio (Provinz Neapel) am 22. August 1753, gestorben in Vico Equense (Prov. Neapel) am 21. Juli 1788. Er war Kammerherr (Gentiluomo di Camera) des Königs Ferdinando IV. von Bourbon und seit 1787 Mitglied des Obersten Finazrates (Supremo Consiglio di Finanza) von Neapel. Er bemühte sich, der gesetzgeberischen Tätigkeit wissenschaftliche Würde zu geben, indem er auf naturrechtlicher und aufklärerischer Grundlage eine Reihe von Reformvorschlägen unterbreitete, welche großen Einfluss auf europäische Juristen und gesetzgeber des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts ausübten. Werk: Die „Scienza della Legislazione“ (1780–1785) ist neu veröffentlicht in einer kritischen Ausgabe in sieben Bänden, hrsg. vom Centro di Studi sull’Illuminismo europeo „Giovanni Stiffoni“. Venedig 2003–2004. Zu Leben und Rechtsdenken Filangieris s. i.ü.: Paolo Becchi: Die Anfänge der Wirkungsgeschichte Filangieris in Deutschland und seine Bedeutung für die europäische Aufklärung (Arbeiten aus dem Institut für Rechts- und Sozialphilosophie Saarbrücken). Saarbrücken 1982; Ders.: Gaetano Filangieri und die neapolitanische Schule. Ein Beitrag zu den Anfängen der Wirkungsgeschichte einer Gesetzgebungslehre in der europäischen Aufklärung, in: ARSP 71 (1985), 199–217; Ders. / Kurt Seelmann, Gaetano Filangieri und die europäische Aufklärung. (Rechtsphilosophische Schriften. 8). Frankfurt am Main u.a. 2000 (dazu Bespr. Vormbaum in: GA 2004, 737–739); Fischl, S. 63 ff.; Günther, Bd. 2, S. 185 ff.; Küper, S. 54 f.; Aldo Mazzacane, G. F., in: Stolleis, Juristen, S. 205; Sergio Moccia: Die italienische Reformbewegung des 18. Jahrhunderts und das Problem des Strafrechts im Denken von Gaetano
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Filangieri und Mario Pagano, in: GA 1979, 201–221; Kurt Seelmann: Gaetano Filangieri und die Proportionalität von Straftat und Strafe. Imputation und Prävention in der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung, in: ZStW 97 (1985), 241–267. Luigi Cremani Quelle: Aloysii Cremani De jure criminali libri tres. Volumen unicum. Florentiae (apud Cajetanum Casoni) 1848. [1. Auflage: Pavia (Galeazzi) 1791–1793]. Das Pufendorf-Zitat im 5. Kapitel, Abschnitt VII ist übernommen aus: Herrn Samuels Frey-Herrns von Pufendorff Acht Bücher vom Natur- und Völcker-Recht / … / Anderer Theil. Mit vielen nützlichen Anmerckungen erläutert und in die Teutsche Sprach übersetzt. Franckfurt am Mayn MDCCXI. Leben: Geboren in Arezzo am 17. Februar 1748, gestorben in Florenz am 15. Dezember 1838. Cremani war Professor der Rechte an den Universitäten Pisa (1772–1775) und Pavia (1775–1796) wo er unter dem Einfluss naturrechtlicher Lehren und des Denkens Montesquieus zur Verbreitung der Prinzipien des aufgeklärten Absolutismus beitrug. Im Gefolge des ersten italienischen Feldzugs Napoleons in die Toskana geflohen (1796), wurde er von Großherzog Ferdinando III. zum Beisitzer am Obersten Gerichtshof der Toskana ernannt (1797) und arbeitete an der antijakobinischen Unterdrückung mit. Während der Zeit der französischen besetzung zog er sich ins Privatleben zurück (1800–1814) und wurde in der Zeit der Restauration zum Präsidenten der Ruota Criminale von Florenz ernannt (1814); seit 1815 nahm er an der ersten Phase der Arbeiten zur Neuordnung und Kodifizierung des Strafrechts im Großherzogtum Toskana teil. Werk: Die De jure criminali libri tres, in erster Auflage veröffentlicht in Pavia 1791– 1793, bildeten in Italien den fortgeschrittensten Versuch des 18. Jahrhunderts, dem Strafrecht eine wissenschaftliche Systematisierung im Lichte der naturrechtlichen und aufklärerischen Lehren zu geben, ohne die Tradition des Gemeinen rechts von vornherein zu verschmähen. Von den anderen Werken Cremanis sind zu erwähnen: De promissis metu extortis. Pisa 1772; De officiis legumlatoris et iurisconsulti in condendis vel interpretandis legibus. Livorno 1774; De varia iurisprudentia criminali apud diversas gentes eiusque causis. Pavia 1776. Zu Leben und Werk Cremanis s. Ettore Dezza, Il magistero di Luigi Cremani e la formazione del giurista a Pavia nell’età delle riforme, in: Maria Gigliola di Renzo Villata (Hrsg.), Formare il giurista. Esperienze nell’area lombarda tra Sette e Ottocento. Mailand 2004, S. 107–172; Ettore Dezza: Die Strafrechtsschule von Pavia an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Ders., Beiträge, S. 279 ff., hier insb. S. 284–302; zur Strafrechtsschule von Pavia zählt insb. auch Cremanis Schüler Tommaso Nani (zu ihm ebd. S. 302 ff.); zu den strafprozessualen Auffassungen Cremanis s. Ettore Dezza: Anklageprozeß und Inquisitionsprozeß in der Rechtslehre des 18. Jahrhunderts, in: Ders., Beiträge, S. 7 ff., hier insb. S. 10–15; Thomas Vormbaum, Luigi Cremani über Cesare Beccarias Buch „Von den
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Verbrechen und von den Strafen“, in: Journal der juristischen Zeitgeschichte 4 (2010), 99–103. Gian Domenico Romagnosi Quelle: Genesi del diritto penale (1791) di Gian Domenico Romagnosi. A cura e con un Saggio introduttivo di Robertino Ghiringhelli. Prefazione di Ettore A. Albertoni. (Studi Romagnosi. Nuova serie. Testi. 1). Milano (Giuffrè Editore) 1996. Die in eckige Klammern gesetzten Auslassungen verweisen im Original auf Stellen des Werkes, die vorliegend nicht abgedruckt sind. Im italienischen Original ist § 273 fehlerhaft [erneut] als § 272 beziffert. Leben: Geboren in Salsomaggiore (Prov. Parma) am 11. Dezember 1761, gestorben in Mailand am 8. Juni 1835. Romagnosi war nicht nur Jurist, sondern auch Philosoph, Gelehrter und Wirtschaftswissenschaftler. Er war Professor der Rechte an den Universitäten Parma (1802–1806) und Pavia (1806–1808) sowie an den von ihm selbst gegründeten Scuole Superiori politico-legali von Mailand (1808–1817). Als Rat des Justizministers des napoleonischen Königreichs Italien (1806–1814), erarbeitete er 1807 das erste italienische Strafprozessgesetzbuch. 1821 wurde gegen ihn aus politischen Gründen wegen des Verdachts der Begünstigung der antiösterreichischen Unabhängigkeitsbewegungen ermittelt. Werk: In der Genesi del diritto penale vertritt Romagnosi die Auffassung, es gebe nur eine ausschließlich gesellschaftliche Grundlage des Strafrechts, und er erblickt in der Erfahrung das hauptsächliche Mittel für das Studium der Rechts- und Moralwissenschaften. Von den anderen Werken Romagnosis sind zu erwähnen: Introduzione allo studio del diritto pubblico universale. Parma 1805; Assunto primo della scienza del diritto naturale. Mailand 1820; La scienza delle Costituzioni (1815). Lausanne 1848. Zum Leben und Rechtsdenken Romagnosis s. zunächst Stefania Torre, G.D. R., in: Stolleis, Juristen, S. 523. Über Romagnosi besteht eine außerordentlich umfangreiche Literatur in italienischer Sprache. S. aus jüngerer Zeit.: Ettore A. Albertoni, La vita degli Stati e l’incivilimento dei popoli nel pensiero politico di Gian Domenico Romagnosi. Mailand (Giuffrè) 1979; Luca Mannori, Uno Stato per Romagnosi. Mailand (Giuffrè) 1984-1987. Zu Romagnosis einflussreicher „Strafprozessordnung für das Königreich Italien“ von 1807 und seinem Einfluss auf die italienische Strafprozessgesetzgebung s. Ettore Dezza, Frediano Vidau und die Entdeckung des „Codice Romagnosi“. Bemerkungen zum Prozeßrecht im Strafgesetzbuch für das Fürstentum Piombino von 1808, in: Ders., Beiträge zur Geschichte des italienischen Strafprozesses im Kodifikationszeitalter (2001). Dt. Übers. von Thomas Vormbaum. Münster, Berlin 2007, S. 75 ff.
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Giovanni Carmignani Quelle: Elementi del diritto criminale dell’Avvocato Giovanni Carmignani. Prima versione italiana del Prof. Caruana Dingli sulla quinta ed ultima edizione latina di Pisa con importanti correzioni dell’originale e nuove Note dall’Autore medesimo fornite, oltre la Biografia dell’Autore dallo stesso Traduttore scritta. Tomo primo. Malta 1847. Leben: Geboren am 31. Juli 1768 in San Benedetto a Settimo (Prov. Pisa), gestorben in Pisa am 29. April 1847. Carmignani war einer der bekanntesten italienischen Strafverteidiger der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In der Universität Pisa war er Professore für Strafrecht von 1803 bis 1840 und für Rechtsphilosophie von 1840 bis 1843. In seinen Arbeiten bemühte er sich um eine neue umfassende Systematisierung des Strafrechts, die gekennzeichnet war durch die Aufgabe von utilitaristischen und naturrechtlichen Positionen der Aufklärung. Das Strafrecht beruht nach Romagnosi auf der „politischen Notwendigkeit“ des Staates, die Ordnung aufrecht zu erhalten und die Rechtsgenossen zu schützen, und es muss rational konstruiert sein, wobei besondere Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse der Praxis zu richten ist. Werk: Die erste, in lateinischer Sprache abgefasste Ausgabe der Elementa Iuris Criminalis geht auf das Jahr 1808 zurück; das Werk wurde mehrfach erweitert, und die endgültige Ausgabe wurde 1833–1834 in Pisa veröffentlicht. 1847 veröffentlichte sein Schüler Caruana Dingli in Mailand die italienische Übersetzung des Werkes. Eine vollständige Lehre der gesamten Strafrechtsmaterie bietet Carmignani in der Teoria delle leggi sulla sicurezza sociale. Pisa (Nistri) 1831–1832. Zu Leben und Rechtslehre Carmignanis s. Mario Montorzi, Giovanni Carmignani (1768–1847). Maestro di scienze criminali e pratico del foro, sulle soglie del Diritto Penale contemporaneo. Pisa 2003. Francesco Carrara Quelle: Programma del corso di diritto criminale dettato nella R. Università di Pisa dal professore Francesco Carrara. Parte generale. Terza edizione con aggiunte. Lucca (Tipografia Giusti) 1867: Leben: Geboren in Lucca am 18. September 1805, gestorben ebendort am 15. Januar 1888. Carrara war Schüler von Giovanni Carmignani, übte den Beruf des Strafverteidigers mit großem Erfolg aus und war seit 1859 Professor des Kriminalrechts an der Universität Pisa. Außerdem war er während dreier Legislaturperioden italienischer Parlamentsabgeordneter und wurde 1876 zum Senator des Königreichs ernannt. Carrara ist nach einhelliger Auffassung der bedeutendste Vertreter der klassischen Schule des Strafrechts. Nach Carrara ist Zweck des Strafrechts der Schutz der materiellen und moralischen Güter des Bürgers, für den die Tätigkeit
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des Staates sich als notwendig erweist, weil die natürliche Gesellschaft nicht in der Lage ist, sie zu schützen. Hauptzweck der Strafe ist die Wiederherstellung der rechtlichen Ordnung des sozialen Lebens, die durch die Begehung des Verbrechens, dessen dogmatische Definition somit eine zentrale Bedeutung gewinnt, verletzt worden ist. Werk: Neben dem grundlegenden Programma del corso di diritto criminale (Lucca 1860–1870) sind seine Hauptwerke: Opuscoli di diritto criminale. Lucca 1859– 1874; Lineamenti di pratica legislativa penale. Turin 1874; Reminiscenze di cattedra e foro. Lucca 1883. Zu Leben und Rechtslehre Carraras s. Aldo Mazzacane, F. C., in: Stolleis, Juristen, S. 116 ff.; Mario A. Cattaneo, Francesco Carrara e la filosofia del diritto penale. Turin (Giappichelli) 1988; Francesco Carrara nel primo centenario della morte. Atti del Convegno Internazionale. Lucca / Pisa, 2.–5. Juni 1988. Mailand (Giuffrè) 1991. Zur Lehre Carraras vom „mittelbaren Schaden“ (danno mediato) s. Giovannangelo De Francesco, Schutzprogramme und Straftatbestände (2004). Dt. Übers. von Thomas Vormbaum. Münster, Berlin 2007, S. 27 ff. Enrico Ferri Quelle: I nuovi orizzonti del diritto e della procedura penale di Enrico Ferri. Seconda edizione interamente rifatta. Con una tavola grafica sulla criminalità in Europa. Bologna (Nicola Zanichelli) 1884. Leben: Geboren am 25. Februar 1856 in San Benedetto Po (Mantova), gestorben am 12. April 1929 in Rom. Ferri war Professor für Straf- und Strafprozessrecht an den Universitäten Bologna, Siena, Pisa, Palermo und Abgeordneter der Deputiertenkammer (ab 1886 als Monarchist, ab 1896 als Mitglied der Sozialistischen Partei) und schließlich Senator. Nachdem die sog. kriminalistische oder experimentelle Schule (Scuola criminale o sperimentalista) die anthropologische Konnotation im Sinne Lombrosos und die psychologische im Sinne Garofalos aufgegeben hatte, wurde er gegen Ende des 19. Jahrhunderts von den Zeitgenossen als Haupt der positivistischen Schule angesehen, deren gleichnamige Zeitschrift er herausgab. 1919 erhielt er vom Justizministerium die Aufgabe übertragen, den Vorsitz einer Kommission zur Erarbeitung eines Reformentwurfs für das Strafgesetzbuch (Codice penale) zu übernehmen; dessen Allgemeiner Teil wurde 1921 abgeschlossen und fand, obwohl niemals zur parlamentarischen Beratung gelangt, breite internationale Anerkennung. Die Theorien Ferris nehmen ihren Ausgang von der Leugnung der Willensfreiheit und von der Vorstellung einer gesetzlichen Verantwortlichkeit, welche auf der Gefährlichkeit der Person unabhängig von ihrer Zurechnungsfähigkeit beruht. Hauptwerke: E.F., Teorica dell’imputabilità e negazione del libero arbitrio. Florenz 1878; E.F., I nuovi orizzonti del diritto e della procedura penale, 2. Auflage. Bologna 1884; dieses Werk wurde, umgearbeitet und erweitert, 1892 unter dem Titel Sociologia
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criminale veröffentlicht, schaffte es bis zur 5. Auflage (Turin 1929) und wurde in verschiedene Sprachen übersetzt; deutsche Übersetzung: E.F., Das Verbrechen als soziale Erscheinung. Grundzüge der Kriminal-Soziologie. Autorisierte Deutsche Ausgabe v. Hans Kurella. Leipzig (Wigand) 1896); E.F., Socialismo e criminalità. Turin 1883; E.F., L’omicida nella psicologia e nella psicopatologia criminale. 2. Auflage. Turin 1925; E.F., Studi sulla criminalità. 2. Auflage. Turin 1926; E.F., Principii di diritto criminale. Turin 1928. Zum Denken Ferris s. V. Accattatis, Einführung zu E. Ferri, Sociologia criminale. Mailand 1979. Raffaele Garofalo Quelle: Criminologia. Studio sul delitto e sulla teoria della repressione per R[affaele] Garofalo. Seconda edizione interamente riordinata e rifatta dall’autore. E con un’appendice di L. Carelli. Torino (Fratelli Bocca Editori) 1891. – Das Zitat auf S. 321 stammt aus: Franz von Holtzendorff: Das Verbrechen des Mordes und die Todesstrafe. Criminalpolitische und psychologische Untersuchungen. Berlin 1875, S. 221 f. Leben: Geboren am 18. November 1851 in Neapel, gestorben ebendort am 18. April 1934. Richter (er erreichte den Grad des Ersten Präsidenten des Kassationshofes); Senator des Königreichs Italien seit 1909; Universitätslehrer. Zusammen mit Lombroso und Ferri war er einer der Begründer der positivistischen Schule (Scuola positiva), deren Gedanken – ausgerichtet an einem vollständigen Determinismus, da man vorrangige Bedeutung den individuellen, aus dem physiologischen Zustand, der sozialen Lage und der Umwelt herrührenden Dispositionen zuschrieb, an der Lehre von der Notwendigkeit der sozialen Verteidigung (difesa sociale) und an einer anhand der Gefährlichkeit und Unanpassbarkeit an das soziale Leben formulierten Verantwortlichkeit des Verbrechers – fanden Eingang in das Werk Criminologia, das mit zahlreichen Übersetzungen beachtlichen Erfolg auch im Ausland erzielte. Zusammen mit Lombroso gründete er 1880 das Archiv für Psychiatrie, Criminal-Anthropologie und Strafrechtswissenschaften (Archivio di psichiatria, antropologia criminale e scienze penali per servire allo studio dell’uomo alienato e delinquente). Hauptwerke: R.G., Di un criterio positivo della penalità. Neapel 1880; R.G., Riparazione alle vittime del delitto. Turin 1887; R.G., Criminologia: studio sul delitto e sulla teoria della repressione. 2. Auflage. Turin 1891. Vincenzo Manzini Quelle: Vincenzo Manzini: Trattato di diritto penale italiano. Volume I. Milano, Torino, Roma (Fratelli Bocca Editori) 1908.
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Leben: Geboren in Udine am 20. August 1872, gestorben in Venedig am 16. April 1957. Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an den Universitäten Ferrara, Sassari, Siena, Turin, Pavia, Padua und Rom. Aus seinem umfangreichen wissenschaftlichen Werk – das wichtige historische, strafrechtliche und strafprozessrechtliche Untersuchungen, Abhandlungen, Lehrbücher, Aufsätze, Anmerkungen und Kommentare umfasst – ragt heraus das Lehrbuch des Strafrecht (Trattato di diritto penale), ein Werk in zehn Bänden, das die vollständigste Darstellung des Strafrechts enthält, welche die italienische Literatur jemals aus der Feder eines einzigen Verfassers hervorgebracht hat; es hat ganze Generationen von Juristen geformt, indem es dauerhaft die Rechtsprechung beeinflusst hat. Eben so tiefgreifend war der Einfluss auf die wissenschaftliche Entwicklung, denn Manzini hat – zusammen mit Arturo Rocco – die rechtstechnische Methode vertreten, von der er mit seinem eigenen Werk eine der höchsten Ausdrucksformen schuf. 1913 war er Mitglied der Kommission zur Revision des endgültigen Entwurfs der Strafprozessordnung; 1920 und erneut 1926 gehörte er der Kommission für die Militärstrafgesetzbücher an, 1928 der Ministerialkommission zur Erarbeitung des Vorentwurfs eines neuen Strafgesetzbuchs. Manzini war ferner Verfasser des Entwurfs einer Strafprozessordnung von 1930 und der zugehörigen Berichte. 1929 gründete er zusammen mit Arturo Rocco die Italienische Zeitschrift für Strafrecht (Rivista italiana di diritto penale) und 1932 zusammen mit Arturo Rocco und C. Saltelli, die Zeitschrift “Annalen des Straf- und Strafprozessrechts” (Annali di diritto e procedura penale). Hauptwerke: V.M., La recidiva nella sociologia, nella legislazione e nella scienza del diritto penale. Florenz 1899; V.M., Trattato del furto e delle varie sue specie, 2. Auflage. Band I–III. Turin 1913; V.M., Trattato di diritto processuale penale italiano. Band I–IV. 2. Auflage. Turin 1924; V.M., Trattato di diritto penale, Band I–IX., 2. Auflage. Turin 1920–1923; V.M., Trattato di diritto penale italiano secondo il codice del 1930. Band I–X. 3. Auflage. Turin 1948–1952 (5. Auflage. Turin 1981–1986, hrsg. von P. Nuvolone und G.D. Pisapia); V.M., Trattato di diritto processuale penale italiano secondo il nuovo Codice. Band I–III. 5. Auflage. Turin 1956; V.M., Istituzioni di diritto processuale penale. 12. Auflage. Padua 1957; V.M., Scelta di scritti minori. Turin 1959. Eugenio Florian Quelle: Trattato di Diritto Penale. Seconda edizione. Vol. I. – Parte I: Dei reati e delle pene in generale. Per Eugenio Florian. Milano (Casa editrice Dott. Francesco Vallardi) 1910. Leben: Geboren am 25. November 1869 in Venedig, gestorben ebendort am 28. März 1945. Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an den Universitäten Urbino, Sassari, Cagliari, Messina, Siena, Modena und Turin. Florian schloss sich der positivistischen Schule (Scuola positiva) an, nahm jedoch im Verhältnis zu ihr eine nicht mit den Ansichten Ferris übereinstimmende Haltung ein, was ihn auch veranlasste, 1910
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zusammen mit A. Zerboglio die Zeitschrift für Straf- und Strafprozessrecht (Rivista di diritto e procedura penale) zu gründen, die dann 1921 mit der Scuola positiva verschmolz. Florian gilt als Begründer der sog. juristischen Phase der Scuola positiva, die gekennzeichnet ist durch die Aufgabe des Soziologismus Ferris zugunsten der Errichtung einer dogmatischen Strafrechtswissenschaft, die sich – allerdings mit besonderer Betonung der Rechtsvergleichung – den Forderungen der Scuola positiva anschloss. Zusammen mit A. Niceforo und N. Pende war er Herausgeber des Handbuchs der Kriminologie (Dizionario di criminologia), Mailand 1943. Hauptwerke: E.F., I vagabondi: studio sociologico-giuridico (in collaborazione con G. Cavaglieri). Turin 1900; E.F., Delle prove penali. Mailand 1924; E.F., La teoria psicologica della diffamazione. 2. Auflage. Turin 1927; E.F., Dei reati e delle pene in generale, in: Trattato di diritto penale. 4. Auflage. Mailand 1934–1939, Band I–II; E.F., Diritto processuale penale. 3. Auflage. Turin 1939; E.F., Ingiuria e diffamazione. 2. Auflage. Mailand 1939. Zum Autor s. Eugenio Florian: maestro del positivismo penale. Mailand 1940. Arturo Rocco Quelle: Arturo Rocco, Il problema e il metodo della scienza del diritto penale, in: Opere giuridiche. Bd. III. Rom 1933 S. 263 ff. Leben: Geboren in Neapel am 23. Dezember 1876, gestorben in Rom am 2. April 1942. Professor für Straf- und Strafprozessrecht an den Universitäten Urbino, Ferrara, Cagliari, Sassari, Siena, Neapel, Mailand und Rom. Politisch nationalistisch ausgerichtet wie sein Bruder Alfredo (der 1925 bis 1932 Justizminister wurde) war er Anhänger des Faschismus und übte eine Rolle von erstrangiger Bedeutung in der Reform der Gesetzgebung aus als Präsident der Kommission und des ministeriellen Ausschusses für die Ausarbeitung des Vorentwurfs, des Entwurfs und des endgültigen Textes des Strafgesetzbuchs von 1930, als Mitglied der MinisterialKommission für die Reform der Verordnung über die Institute der Prävention und der Strafe (1930–1931), als Mitglied der königlichen Kommission für die Reform der Militär-Strafgesetzbücher (1925–1934). Sein Denken in methodologischer Hinsicht ist verbunden mit der Begründung der rechtstechnischen Richtung, deren programmatisches Manifest in dem hier abgedruckten Aufsatz verkündet wurde. (Zur sog. rechtstechnischen Richtung s. Domenico Pulitanò, Abriss der neueren italienischen Strafrechtsgeschichte; in: Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 9 (2007/2008), S. 159 ff., 161 f.). In der umfangreichen wissenschaftlichen Produktion Roccos ist vor allem die sie durchziehende tiefgreifende wissenschaftliche Durchdringung und die darstellerische Strenge zu erwähnen; beide führen zu der Einschätzung, dass der Autor als der erste strenge Dogmatiker der italienischen Strafrechtswissenschaft des 20. Jahrhunderts anzusehen ist. 1929 gründete er mit V. Manzini die Italienische Zeitschrift für Strafrecht (Rivista italiana di diritto penale) und 1932 zusammen mit V. Manzini und C. Saltelli die Zeitschrift Annalen des Straf- und Strafprozessrechts (Annali di diritto e procedura penale).
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Hauptwerke: A.R., Trattato della cosa giudicata come causa di estinzione dell’azione penale. Band I–II. Modena 1900; A.R., L’abuso del foglio in bianco: studio di diritto penale. Mailand 1903; A.R., La riparazione delle vittime degli errori giudiziari: studi. Neapel 1906; A.R., L’oggetto del reato e della tutela giuridica penale: contributo alle teorie generali del reato e della pena. Turin 1913; A.R., Opere giuridiche. Band I–III. Rom 1932–1933. Giuseppe Maggiore Quelle: Giuseppe Maggiore, Principi di diritto penale. Volume I: Parte generale. Bologna (Nicola Zanichelli) 1932. Leben: Geboren am 17. Juli 1882 in Palermo, gestorben ebendort am 23. März 1954. Obwohl zunächst Richter, beschäftigte er sich wissenschaftlich mit der Strafrechtsphilosophie als Schüler von Croce und Gentile und war dem Denken des letzteren eng verbunden. Ab 1922 wurde er Professor für Rechtsphilosophie an den Universitäten Perugia, Siena sowie Palermo, wo er 1934 auf den Lehrstuhl für Straf- und Strafprozessrecht gelangte. Er war Anhänger des Faschismus, dessen Vorstellungen er von Grund auf teilte [1938 erschien sein Name unter denen von 360 Hochschullehrern, welche das Rassen-Manifest (Manifesto della razza) unterstützten, und er war der Verfasser nicht weniger Aufsätze in der Zeitschrift „Die Verteidigung der Rasse“ (La difesa della razza)]; auch bekleidete er angesehene Positionen [u.a. war er der letzte nationale Präsident des National-Instituts für faschistische Kultur (Istituto nazionale di cultura fascista); s. zum Ganzen Mario A. Cattaneo, Strafrechtstotalitarismus. Terror und Willkür (Terrorismo e arbitrio. Il problema giuridico nel totalitarismo. 1998). Baden-Baden 2001, S. 262 ff. („Die Ablehnung der Rechtssicherheit bei Giuseppe Maggiore“)]. Auf philosophischer Ebene bekannte Maggiore sich in einer ersten Phase seines Denkens zum Idealismus Gentiles, später wandte er sich – gleichzeitig mit seinem politisch faschistischen Credo – einem theologischen Transzendentalismus thomistischer Prägung zu, der auf die Konkretisierung des Strafrechts gerichtet war, das sich in seinem Lehrbuch einer streng juristischen Haltung annäherte. Hauptwerke: G.M., Saggi di filosofia giuridica. Palermo 1914; G.M., Il diritto e il suo processo ideale. Palermo 1916; G.M., Filosofia del diritto. Palermo 1921; G.M., Principi di diritto penale. 3. Auflage. Bologna 1939; G.M., Diritto penale, 5. Auflage. Bologna 1955; G.M., Prolegomeni al concetto di colpevolezza. Palermo 1950. Filippo Grispigni Quelle: Filippo Grispigni, Diritto penale italiano. Volume primo. Introduzione e parte prima. Le norme penali sinteticamente considerate. Ristampa invariata della seconda edizione [1947; 1932]. Con l’aggiunta di una appendice. Milano (Dott. A. Giuffrè Editore) 1950.
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Leben: Geboren am 31. August 1884 in Viterbo, gestorben am 27. August 1955 in Rom. Grispigni war Professor für Straf- und Strafprozessrecht an den Universitäten Camerino, Cagliari, Mailand (wo er Kriminalsoziologie lehrte) und Rom. Zusammen mit Florian figuriert sein Name unter den Baumeistern der juristischen Phase der Scuola positiva, die bei Grispigni durch eine konsequente Befolgung der charakteristischsten Forderungen der Scuola positiva, durch eine strenge wissenschaftliche Haltung (die auch durch einen langen Studienaufenthalt an dem von Franz von Liszt geleiteten Kriminalwissenschaftlichen Institut der Universität Berlin gefördert wurde) sowie eine strenge dogmatische Haltung in Übereinstimmung mit den Lehren Kelsens gekennzeichnet ist. Er war Anhänger des Faschismus und machte sich zum Vorkämpfer einer Straftheorie, welche gleichzeitig der faschistischen und der positivistischen Ideologie entsprach. Die von Grispigni auf S. VII des Textes verharmlosend erwähnte „freundschaftliche Kontroverse über die nationalsozialistische Strafrechtsreform“ betrifft einen Beitrag Grispignis aus den 30er Jahren, worin der Autor dem deutschen Strafrechtslehrer Edmund Mezger vorwirft, die nationalsozialistische Strafrechtsideologie nicht konsequent genug durchdacht und zu Ende gedacht zu haben; eingehend dazu Francisco Muñoz Conde, Edmund Mezger und Filippo Grispigni, in: Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 6 (2004/2005), S. 375–387; s. auch den Hinweis im Text von Vassalli, S. 1412. In der letzten Phase seiner wissenschaftlichen Beiträge bevorzugte er einen kriminologischen Ansatz, der vom Problem des freien Willens absah und darauf gerichtet war, die Erforschung des Täters in die Systematik des Strafrechts einzuführen. Seit 1947 war er Herausgeber der Zeitschrift „Die positivistische Schule“ (La scuola positiva). Hauptwerke: F.G., La responsabilità penale per il trattamento medico-chirurgico arbitrario. Mailand 1914; F.G., Il consenso dell’offeso. Rom 1924; F.G., Introduzione alla sociologia criminale. Turin 1928; F.G., Corso di diritto penale secondo il nuovo Codice. Padua 1935; F.G., Diritto processuale penale. Mailand 1945; F.G., Diritto penale italiano, Band I–II. Mailand 1947; F.G., I delitti contro la pubblica amministrazione. Rom 1953. Giuseppe Bettiol Quelle: Giuseppe Bettiol, Il problema penale. Palermo (G. Priulla Editore) 1948. Leben: Geboren am 26. September 1907 in Cervignano in Friaul, gestorben am 29. Mai 1982 in Padua. Bettiol war Professor für Straf- und Strafprozessrecht an den Universitäten Urbino, Mailand (Katholische Universität S. Cuore), Cagliari, Triest und Padua. Er war Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung sowie, von 1948 bis 1976, Abgeordneter und dann Senator im Parlament in den Reihen der Democrazia cristiana; zweimal war er auch Minister (für Schulwesen und für Parlamentsbeziehungen), Abgeordneter im Europarat und Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der Europarats. In den Jahren des faschistischen Regimes waren seine sämtlichen Veröffentlichungen, mit großer Wissenschaftlich-
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keit und Einfühlsamkeit geschrieben, auf die Verteidigung der garantistischen Grundsätze des Strafrechts und einer liberalen Dogmatik gerichtet. Später nahm sein Denken, was die Straftat anging, eine teleologische Richtung, und was die Strafe anging, eine vergeltungstheoretische Richtung im Rahmen einer moralischen und christlichen Sicht des Strafrechts an. Hauptwerke: G.B., L’efficacia della consuetudine nel diritto penale. Mailand 1931; G.B., L’ordine dell’autorità nel diritto penale. Mailand 1934; G.B., La correlazione fra accusa e sentenza nel processo penale. Mailand 1936; G.B., Sulle presunzioni nel diritto e nel processo penale. Mailand 1938; G.B., Sul reato proprio. Mailand 1939; G.B., Il problema penale. Palermo 1948; G.B., Aspetti politici del diritto penale contemporaneo. Palermo 1953; G.B., Scritti giuridici. Band I–II. Padua 1966; G.B., Scritti giuridici 1966-1980. Padua 1980; G.B., Diritto penale. Parte generale. 11. Auflage. Padua 1982 (fortgeführt bis zur 12. Auflage, Padua 1986, von L. Pettoello Mantovani); G.B., Gli ultimi scritti: 1980–1982 und die Abschiedsvorlesung vom 6. Mai 1982, hrsg. von L. Pettoello Mantovani. Padua 1984. Zum wissenschaftlichen Profil Bettiols, s. Giorgio Marinucci, Giuseppe Bettiol und die Krise des Strafrechts in den 30er Jahren (Giuseppe Bettiol e la crisi del diritto penale negli anni trenta), in: Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 10 (2008/2009), S. 173–191. Pietro Nuvolone Quelle: Pietro Nuvolone, I fini e i mezzi nella scienza del diritto penale [1948], in: Ders., Trent’anni di diritto e procedura penale. Studi. Volume primo. Padova (Cedam – Casa editrice Dott. Antonio Milani) 1969, S. 151–165. [Erstveröffentlichung in: Rivista italiana di diritto e procedura penale 1950, 699 ff.]. Leben: Geboren am 3. Februar 1917 in Bergamo, gestorben 9. Mai 1985 in Parma. Nuvolone war Professor für Straf- und Strafrecht an den Universitäten Urbino, Parma, Pavia und Mailand. Als Gelehrter von vielfältigen Interessen setzte er sich in den Nachkriegsjahren für eine Erneuerung des strafrechtswissenschaftlichen Denkens ein, lehnte die formalistischen Tendenzen zugunsten einer konsequenten Beachtung der konkreten, von der Kriminologie ausgefüllten (er war auch Herausgeber der Cahiers de la Défense sociale und Vizepräsident der Société internationale de défense sociale) und aus der Sicht der Verfassung beleuchteten Dimension des Rechts ab. Seine Monographien zum Thema Untreue, zu Pressestraftaten, und zum Insolvenz- und Finanzstrafrecht bildeten grundlegende Orientierungsmarken. Er gründete 1967 die Zeitschrift L’indice penale und blieb bis zu seinem Tode deren Herausgeber. Hauptwerke: P.N., L’infedeltà patrimoniale nel diritto penale. Mailand 1941; P.N., Il possesso nel diritto penale. Mailand 1942; P.N., Contributo alla teoria della sentenza istruttoria penale. Mailand 1943; P.N., La punizione dei crimini di guerra e le nuove
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esigenze giuridiche. Rom 1945; P.N., I limiti taciti della norma penale. Palermo 1947; P.N., Reati di stampa. Mailand 1951; P.N., Le leggi penali e la Costituzione. Mailand 1953; P.N., Il diritto penale del fallimento e delle altre procedure concursuali. Mailand 1955; P.N., Trent’anni di diritto e procedura penale. Padua 1969; P.N., Il diritto penale della stampa. Mailand 1971; P.N., Lineamenti di diritto penale valutario. Padua 1979; P.N., Il sistema del diritto penale.2. Auflage. Padua 1982; P.N., Il diritto penale degli anni settanta. Padua 1982; P.N., Ultimi scritti (1981–1985). Hrsg. von M. Pisani. Padua 1987. Francesco Antolisei Quelle: Francesco Antolisei, Manuale di diritto penale. Parte generale. Seconda edizione aggiornata e riveduta. Milano (Dott. A. Giuffrè Editore) 1949. Leben: Geboren am 6. Dezember 1882 in San Severino Marche (Macerata), gestorben am 26. Juni 1967 in Rapallo (Genova). Antolisei war Professor für Straf- und Strafprozessrecht an den Universitäten Sassari, Parma, Genua und Turin. In den Jahren der faschistischen Diktatur war er unter den Strafrechtlern ein führender Vertreter einer antiformalistischen Bewegung, die erklärtermaßen auf Realismus und Praxis ausgerichtet war, in einigen ihrer Ergebnisse aber von denen entfernt waren, welche in Deutschland die sog. Kieler Schule vertrat. 1934 übernahm er zusammen mit U. Aloisi und G. Delitala, die Herausgeberschaft der Italienischen Zeitschrift für Strafrecht (Rivista italiana di diritto penale) (die nach der Fusion mit der Zeitschrift für Strafprozessrecht [Rivista di procedura penale] im Jahre 1958 den Titel Italienische Zeitschrift für Straf- und Strafprozessrecht [Rivista italiana di diritto e procedura penale] erhielt). 1947 veröffentlichte er das Lehrbuch des Strafrechts, das – auf der rechtstechnischen Methode aufbauend – wegen seiner Verbreitung in den Universitäten die italienische Strafrechtswissenschaft bis in die Mitte der 70er Jahre tiefgreifend beeinflusst hat. Hauptwerke: F.A., L’azione e l’evento nel reato. Mailand 1928; F.A., L’offesa e il danno nel reato. Bergamo 1930; F.A., Il rapporto di causalità nel diritto penale. Padua 1934; F.A., Problemi penali odierni. Mailand 1940; F.A., Scritti di diritto penale. Mailand 1955; F.A., Manuale di diritto penale, parte generale. 5. Auflage. Mailand 1963 (erschienen bis zur 16. Auflage. Mailand 2003, hrsg. von L. Conti); parte speciale. 5. Auflage. Band I–II. Mailand 1966 (erschien bis zur 14. Auflage. Mailand 2003, hrsg. von L. Conti, und in 15. Auflage. Band I–II. Mailand 2008, hrsg. von C.F. Grosso); F.A., Leggi complementari. Mailand 1959 (später, hrsg. von L. Conti, in zwei Bände aufgeteilt und bis zur 12. Auflage von Band 1, Mailand 2002 und zur 11. Auflage von Band II, Mailand 2001, geführt und sodann bis zur 13. Auflage von Band I, Mailand 2007, und zur 12. Auflage von Band II, Mailand 2008 von C.F. Grosso). Giacomo Delitala Quelle: Giacomo Delitala, Prevenzione e repressione nella riforma penale, in: Diritto
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penale. Raccolta degli scritti. II. Milano (Giuffrè Editore) 1976, S. 595–611. [Erstveröffentlichung in: Rivista italiana di diritto e procedura penale 1950, 699 ff.]. Leben: Geboren am 3 April 1902 in Sassari, gestorben am 7. November 1972 in Mailand. Delitala war Professor an den Universitäten Camerino, Mailand (Katholische Universität S. Cuore), Rom und Mailand (Universität). Sein Name ist verbunden mit der Monographie „Die Tat in der allgemeinen Straftatlehre“ (Il fatto nella teoria generale del reato), die auf dogmatischer Ebene durch die Übernahme der dreiteiligen Straftatlehre den Aufstieg eines Verständnisses und einer Methode bezeichnete, die sich für seine Zeit und die Zeit danach im Gegensatz zur zweiteiligen Lehre in der italienischen Strafrechtslehre durchsetzte. Seine bevorzugten Forschungsgebiete waren neben der allgemeinen Straftatlehre die Funktion der Strafe, dasWirtschaftsstrafrecht und das Strafverfahrensrecht. Zusammen mit U. Aloisi und F. Antolisei übernahm er 1943 die Leitung der Italienischen Zeitschrift für Strafrecht (Rivista italiana di diritto penale). Hauptwerke: G.D., Il divieto della „reformatio in pejus“ nel processo penale. Mailand 1927; G.D., Il fatto nella teoria generale del reato. Padua 1930; G.D., Studi sulla bancarotta. Mailand 1935; G.D., Raccolta degli scritti. Band I–III, Mailand 1976. Giuliano Vassalli Quelle: Giuliano Vassalli, Funzioni e insufficienze della pena [1961], in: Ders., Scritti giuridici. Volume I: La legge penale e la sua interpretazione. Il reato e la responsabilità penale. Le pene e le misure di sicurezza. Tomo II. Milano (Dott. A. Giuffrè Editore) 1997, S. 1361–1413. [zuerst in: Rivista italiana di diritto e procedura penale 1961, 297 ff.]. Leben: Geboren am 25. April 1915 in Perugia, gestore am 21. Oktober 2009 in Rom. Vassalli war Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an den Universitäten Urbino, Pavia, Padua, Genua, Neapel und Roma. Von 1968 bis 1972 war er Abgeordneter, von 1983 bis 1987 Senator als Mitglied der Sozialistischen Partei. Von 1987 bis 1991 war er Justizminister, von 1991 bis 2000 Richter, zuletzt Präsident des Verfassungsgerichts. Vassalli war auch Mitglied aller zur Reform des Strafgesetzbuches eingesetzten Kommissionen von 1945 bis 1968. Seine breite wissenschaftliche Produktion, die, auch in den Jahren des faschistischen Regimes, stets von garantistischen Vorstellungen geprägt war und von einer außerordentlichen wissenschaftlichen Bildung unterstützt wurde, deckt alle Bereiche des Strafrechts ab. Hauptwerke: G.V., La potestà punitiva. Turin 1942; G.V., Limiti del divieto d’analogia in materia penale: norme ordinarie e norme eccezionali. Mailand 1942; G.V., La giustizia internazionale penale: studi. Mailand 1995; G.V., Formula di Radbruch e diritto penale: note sulla punizione dei „delitti di Stato“ nella Germania postnazista e nella Germania postcomunista (dt. Ausgabe unter dem Titel: Radbruchsche Formel und Strafrecht. Die Bestrafung von „Staatsverbrechen“ in postnazistischen
Hinweise zu den einzelnen Texten
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und postkommunistischen Deutschland. Berlin 2010); G.V., Scritti giuridici. Mailand 1997. Band I–IV; G.V., Ultimi scritti. Mailand 2007. Zum wissenschaftlichen Profil Vassallis (mit einer Sammlung einiger seiner Werke) s. Francesco Palazzo (Hrsg.), Giuliano Vassalli. Rom, Bari 2010. Die Einleitung des Herausgebers zu dieser Sammlung sowie der Text eines im Anhang abgedruckten Kolloquiums mit Giulliano Vassalli erscheinen in deutscher Übersetzung in: Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 12 (2011).