Reihe »Geschichte und Geschlechter« Herausgegeben von Claudia Opitz-Belakhal, Angelika Schaser und Beate Wagner-Hasel Ba...
132 downloads
889 Views
6MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Reihe »Geschichte und Geschlechter« Herausgegeben von Claudia Opitz-Belakhal, Angelika Schaser und Beate Wagner-Hasel Band 49
lvlartin Dinges ist stellvertretender Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart und rehte hohe minne" von der [alsehen Minne Zl1 unterschei den. So Ganz, 1980, 746. 31 Einhard, 1 996.
42
B E .\ L U N D T
Kar! - ein sündiger Mann?
Eingebettet aber ist eine umfangreiche Binnenerzählung, die eine andere Bot schaft enthält, eine Art Kontrastprogramm für ein Männerleben.32 Schrittweise führt sie von dem eingeführten vorbildlichen Lebensmodell fort: Schon Karls Eltern finden erst im zweiten Anlauf zueinander und führen keine höfische Ehe. Pippin, sein Vater, entspricht offenbar nicht der Ästhetik, die man von einem machtvollen Mann erwartete; vielmehr ist er »so grülich gschaffen« (16) , er sah s o grauenhaft aus, daß die i h m als Ehefrau zugeführte spätere Mutter Karls bei der ersten Begegnung zunächst davonläuft. Von ihrer Zofe läßt sie sich in seinem Bett vertreten. Zufällig trifft Pippin sie wieder und legt sich zu der Fremden auf einen Karren.33 Er nennt den Sprößling Karl, »\Vo er in u ff eynem karren gmacht hat« (1 7). Die zweite Etymologie des Namens Karl kennzeichnet also diesen ungewöhnlichen und unhöfischen Urspnmg. Kar! wird wie sein Vater ein »rechter held«, der »beste ritter«, der »so manlich rit« (1 8). Seine Männlichkeit erfüllt sich im Reiten und im ritterlichen Kampf. Er »bezwang .. vil lütten und landen« (1 9) und profiliert sich damit zum Herr scher. Die bedenklichen Elemente dieser Karriere werden also zunächst aufge fangen. Als Herrscher aber wird Kar! nun sogar zum Sünder: Ein »Wurm«, eine Schlange, bittet ihn um Hilfe. Als Dank erhält er einen Stein, der Wunderkräfte verleil1t: Man gewann durch ihn »semlichy liebi darczuo, das nieman davon gsagen kann« (24). Seine Ehefrau nimmt das Geschenk an sich. Daher kann Kar! sich auch nach il1fem Tode nicht von ihr trennen, und »man meint«, so wird vorsichtig versichert, »daz er sy beschlieff also rod« (24). Ein Ritter ent fernt schließlich den Zauberstein aus dem Mund der Leiche und die Kraft des Steines geht sofort auf ihn über (25) . Schließlich überträgt sich die Wirkung auch auf das Moos, in das der Stein geworfen wird. Dieses Exempel von Karls unvernünftiger, verirrter und weitgehend erfolgloser Liebe über drei Stufen, die sich in rascher Folge gegenüber dem Leichnam der Ehefrau, einem Mann und einem Ort entfaltet, gehört zum Repertoire des Karlsmythos und wird mit seiner vierten Ehefrau Fastrada in Verbindung gebracht.34 Seine Sexualität, der 32 Ahnlieh schon in der Kaiserchronik, in der neben der Überhöhung der Karlsfiguf Karl sich »abrupt« wandelt »vom dcmlitigfrommcn Gottesdiener zum empört-trotzigen Herausforderer transzendenter Macht [ . . . ] gleichsam quer zur Darstellungslogik der Kaiserchronik und ihrer Zeichnung der Gott-Mensch-Relation«, so Neudeck, 2003, 289. 33 Die Geschichte gehört zu dem umfangreichen Motivzyklus der »vertauschten und unschuldig vertriebenen Frau«. Vgl. dazu Lundt, 1 996. 34 Nach Angaben Geiths, 1 996, 97, stammt sie aus der Weltchronik von Jans Enikel aus dem Jahre 1 275, also 200 Jahre vor der vorliegenden Quelle; ähnlich aber auch schon 1 225 in der >Heimskringla< von Harald Schönhaar.
D E R M Y T H O S V O M K A I S E R K A RL
43
e r durch Zaubereinfluß hilflos ausgeliefert ist, beschwört Konflikte herauf: sie entsetzt den ganzen Hof und bringt ihn ins Gerede. Doch sieht Kar! selber nicht ein, daß es sich um eine »groß sünd« (25) handelt, er fühlt sich als schuldloses Opfer eines Zaubers, und er will daher weder beichten noch bü ßen. Tatsächlich ist die so beschworene »Liebe« nicht nur verhängnisvoll ge zeichnet: Denn seiner Reaktion auf den als liebenswert gekennzeichneten Ort ist bleibender Erfolg beschieden: aus dem »Moos« erwächst eine Stadt, Aa chen, seine Residenz. Bauen und Gestalten von Räumen ist eine fmchtbare Tätigkeit des Herrschers. In dieser Episode fließen also verschieden bewertete Phänomene zusam men. Keineswegs handelt es sich um eine bloße Addition zwecks Steigemng. Zu dieser einen mit ihrer dreigeteilten Perspektive kommen noch zwei andere schwere Sünden: ohne Urteilsspmch, voreilig und jähzornig, tötet er seinen Sohn, der die Tochter einer Witwe verführt hat. Die dritte ist ein Inzest mit seiner Schwester. Diese Tat hält er selber nicht für schlimmer »den ein an der unkünsch werck« (27). Außereheliche sexuelle Ü bergriffe Karls sind offenbar keine Seltenheit und gelten ihm grundsätzlich nicht als schweres Vergehen. Während seine Großeltern kein »süntlich werck« begangen hatten, durch zieht nun die Frage nach den drei Sünden die Handlung als Substruktur bis zum Schluß. Kar! selber sieht im Traum voraus, daß er als Strafe für seine Sünden Ruoland, seinen besten Krieger, nicht wieder sehen werde, den Men schen, den er am meisten liebt.:l5 Ein Engel hatte Kar! ein Horn für Ruoland überreicht, dieses bläst der tüchtige Ritter nun in Kampfesnöten. Kar! eilt zu Hilfe. Ü berraschend eröffnet Kar! dem tödlich Verwundeten, daß er sein Vater sei. »0 min aller liebster sun, den ich lieber han gehan den alle mi ny kind, du bist min eigene kind gesin und von minem hel'Czen komen« (68). Ein wunder liches Licht vom Himmel und tobendes Wetter untermalen die Szene des Zusammenfindens. Ruoland ist als der heimliche Nachfolger Kar!s konnotiert, sein leiblicher Sohn, doch überwiegt die symbolische »Verwandtschaft« mit dem Neffen, in dem sich alle positiven Eigenschaften Karls als Kriegsheld bündeln. Das vom Himmel gereichte Horn stellt ein Ersatzsymbol dar, jenes »Gottesurteil«, wie Kantorowicz das nannte, das, angesichts der unklaren Umstände bei der Zeu gung, die Nachfolgeposition definiert. Es stellt die besondere überkörperliche Kommunikation über weite Entfernungen her. Die Episode weist auch darauf hin, daß die Sünden Karls sich nicht primär gegen Frauen richten - hier geht es um die irdische Entsprechung einer Vater-Sohn-Problematik: der Vater im
35 "Und kann nieman wolschrihen noch wolsagen die grossen liehe, die Karlus ze Ruoland hat" (84).
44
BEA LUNDT
Himmel ist gekränkt über seinen Sohn Kar!, der ihn auf Erden vertreten soll. Die Schuld liegt nicht nur in dem inzestuösen Akt, sondern in dem späten Bekenntnis zu der Vaterschaft. Der »Sohn« stirbt, als Karl sich zu seinen Emotionen für ihn bekennt - eine Tragik, in der die gescheiterte Beziehungs fähigkeit des Kaisers kulminiert. Die Vita erwähnt keinen Nachfolger Karls. Die einzige wahre Liebe ist die zwischen Vater und Lieblingssohn, jene, die vom Himmel und, wie Kar! es sagt, »von Herzen« kommt. Diese realisiert sich nicht - angesichts des schuldhaft ausgelebten Egoismus' Karls, so die didakti sche Botschaft. J\fjt diesem Opfer haben sich aber die Sünden Karls nicht erledigt. N ach seinem Tod erscheint dem alten Bischof Turpinus, so wird berichtet, im Traum der Teufel, der die bösen Werke Karls gegen die guten abwägt. Erst als der Heilige Jacobus als Gegengewicht viele Steine in der Waagschale anhäuft, wird die Seele Karls für das Paradies gerettet. Bereits zuvor war gesagt worden, daß Karl durch die Vermittlung von Heiligen Ver gebung erlangt.
Fazit
Zunächst einmal bestätigt die Vita zweifellos in mittelalterlicher Tradition die These von Kantorowicz und damit die Bedeutung Karls als eines Repräsen tanten göttlichen Willens, dessen H andeln ständig von himmlischen Akten begleitet wird. Kar!s irdischer Männerkörper aber entspricht nicht der religiös konnotierten Idealität. Seine »Liebe« wird durch ein Tier gelenkt, das biblisch als »Verführerin« gilt. Er versucht, seinen Trieb an ungeeigneten Objekten abzureagieren. Angesichts der sexuellen Willkür seines Sohnes reagiert er mit mörderischer Härte, während er seine eigene Sinnlichkeit ungehemmt auslebt. Mehrfach gerät Karl in Widerspruch zu dem geltenden Meinungs- und Werte system der Personen seines persönlichen Umfeldes, die sich durch ihn nicht repräsentiert fühlen: Er läßt Selbstbeherrschung vermissen, diese entschei dendste aller Tugenden eines Herrschers und eines Mannes, denn nach mittel alterlicher Anthropologie gilt die Frau als unfähig zur Beherrschung ihrer Triebe. Kar! lebt also »weibliche« Züge aus, wie umgekehrt seine Mutter sich »männlich« wehrte, indem sie sich dem ungewollten Gatten zunächst verwei gerte und ganz unhöfische neue Lebensmodelle realisierte. Wie ist diese Traditionsschiene von dem sündigen Karl innerhalb des Karlsmythos, die durchaus quer zur Darstellungslogik der Überhöhung des
D E R MYTHOS VOM K A I S ER K A R L
45
H elden und Heiligen z u verlaufen scheint, verstanden worden? 36 Es handele sich um eine N egativsicht auf Kad, die aus Frankreich stamme und Kritik und Anklage in einem durchaus historischen Sinne ausdrücke: klerikalen Protest gegen Kads SexuallebenY Auch auf den Unterhaltungswert der Schilderungen ist hingewiesen worden, die Karl jenseits der gelehrten Welt und ihrer spitzfin digen Konzepte menschlich und dadurch erst richtig populär gemacht hätten.38 Seine leiblichen Verstrickungen seien so aus führIich gestaltet worden, um seine Errettung zu überhöhen, ein hagiographischer Topos mit langer Tradition.39 U mgekehrt wurde behauptet, es gehe gerade nicht um die Botschaft von der Errettung des Sündigen durch die Gnade Gottes. Gegen Ende des Mittelalters habe vielmehr die säkulare Sicht auf den Herrscher dominiert, da »die Illusion von der H eiligkeit der Könige nicht mehr bestand«40. Alle diese Deutungen wollen mich nicht recht überzeugen: Es wird nicht Anklage erhoben, sondern mit einer gewissen Distanz ruhig erzählt. Es geht auch nicht um die Ausbreitung »politischer Pornographie«41 , ohnehin mißlin gen ja Karls sexuelle Aktivitäten. Er erfährt seine gerechte Strafe, ein großes Leid, freilich. Die Rettung seiner Seele aber gelingt. Die Episoden seiner Ent gleisungen auf dieser Erde gefährden daher nicht grundsätzlich seine Würde im Diesseits und seine Autorität im Jenseits. Eine unterhaltende Freude an der Vielfalt des menschlichen Lebens und seiner leiblichen Verstrickungen scheint vielmehr im Mittelpunkt zu stehen. In drei Generationen realisieren sich ganz unterschiedliche Lebenskonzepte. Anders als Großeltern und Eltern mißlingt Kar! die Weitergabe seines überirdischen Körpers, seines Amtes an einen Erben. Sie realisiert sich aber auf andere Weise: ein Spötter wird durch sein Standbild so erschreckt, daß er tot umfällt, so heißt es am Schluß. Durch die Tradierung und Verinnerlichung seiner Taten und \X'erke wirkt der Herrscher in späteren Generationen weiter, so wird gezeigt, nicht als leiblicher »Vater Europas«. Die Exkurse über sein »sündiges Leben« werden daher immer wie-
36 Die Geschichte von der Sünde oder den Sünden Kar!s im Karlsmythos ist insgesamt relativ wenig in der Forschung diskutiert worden, vermutlich wegen ihrer verwirrenden Komponen ten. Vgl. die BibJiogl'aphie von Farrier, 1993, 188-1 89, die nur acht Titel nennl, alle in engli scher oder französischer Sprache. 37 Etwa Geith, 1977, auch Graus, 1975, 1 89 u. ö. 38 Graus betont 1 975, 1 85, dass diese Sagen Kar! ),selbst in populären Schichten der Bevölke rung« bekannt machten. 39 So Geith, 1 977, 265. Die Darstellung der Sündhaftigkeit in deutschen Texten verfolge die »Absicht, seine besondere Frömmigkeit zu demonstrieren oder auf die von Gott selbst ausge sprochene Sündenvergebung zu verweisen«. 40 So referiert Roberto delle Donne, 1 992, 1 6 1 . 4 1 Weil berichtet 2002, 103, von der politischen Pornographie gegen Kar! 11. , die i m Rahmen eines ideologischen Royalismus blieb lind eher der Resakralisienmg seines Körpers diente.
46
BEA LUNDT
der aufgefangen durch das »offizielle« Karlsbild des erfolgreichen Kriegsherrn und christlichen Herrschers und die Präsenz der »richtigen Moral« bei anderen Figuren. Nicht alle müssen dasselbe Konzept verwirklichen. Die beiden Teile sind nicht als sich widersprechend konstruiert; die Er zählung ist keineswegs aufrührerisch, sondern sogar von einem tiefen Opti mismus durchdrungen: denn Karl richtet keinen bleibenden Schaden an (über die Gefühle der Menschen, die er besiegt, verletzt, düpiert, bloßstellt, bedroht, wird nichts ausgesagt) - insgesamt ist Karl erhaben über die, die über ihn re den. Für ihn gelten andere Regeln. Und ganz unerwartet wird er erlöst, unver dient auch, da er eigentlich nicht aus tiefem Herzen bereut: sofa gratia, ein re formatorischer Gedanke. Kantorowicz selber ging es darum, auf die theo logischen Ursprünge des Gedankens vom Staatskörper hinzuweisen. Vielleicht hat er dabei, so wurde bereits kritisch angemerkt,42 den Einfluß der Theologie überschätzt, ihre vielfältigen und durchaus widersprüchlichen S trömungen übersehen. Er hat einen Gelehrtendiskurs beschrieben, der sich nicht in populäre Literatur hinein fortsetzen muß. Seine These von den bewußt und gelehrt gedachten Kontinuitäten der Corpora negiert vor allem die konkrete Ebene des Körperlichen, die auch den Kaiser verstrickt.43 Die Substruktur der von mir vorgestellten Quelle berichtet, denke ich, gerade davon, daß die kon struierten Sinnstrukturen der wahren Minne und des höfischen Leibes des zum Herrschen Vorausbestimmten nicht ausreichen, um den Quellenbefunden gerecht zu werden. Neudeck spricht 2003 am Beispiel der Kaiserchronik von einer undogmatischen Art, die besondere »Exorbitanz eines Herrschers zu demonstrieren, der letztlich unvergleichbar ist«.44 Auch der »große« Mann setzt ein Beispiel für die Vielfalt des Lebens auf Erden innerhalb der Einheit des Mannseins in vormoderner Zeit. Es ist ein anarchischer Körper, der gezeigt wird, keiner, der nur Ordnungsfunktionen bündelt, Ü berirdisches repräsen tiert, irdische Pflichten erfüllt. Die Eindeutigkeit des Mannesbildes des He rausgehobenen wird gerade verweigert. Entsprechend kann und muß Karl auch nich t zum »Leitbild« werden. Dieses Ergebnis überrascht nicht. Denn die umfassende Kategorie des »Männlichen« bot, so der Forschungsstand in der Mediävistik, einen breiten Rahmen für vielfältige und ganz unterschiedliche Konzepte und Realisie rungsweisen des Maskulinen. In der Tat haben alle der seit 1 994, vor allem im angelsächsischen Sprachbereich erschienenen Sammelbände mit Fallstudien
42 So Kl'iegel, 1 998, 1 23. 43 Auch hier formuliert KriegeI, 1 998, 1 25, einen Einwand, der sich auf seinen Körperbegriff bezieht und seinen Wandel in der Moderne ignoriert. 44 Neudeck, 2003.
D E R M YT H O S V O M K A I S E R K A RL
47
über Männlichkeiten die Ambivalenz maskuliner Identitäten hervorgehoben.45 Das Interesse galt vor allem der Konstruktion eines zölibatären Ideals von Männlichkeit seit dem 1 2. Jahrhundert. Die Verbreitung solcher Modelle und der Umgang mit der symbolischen und spirituellen (Selbst)-Kastration zeigen, daß Männlichkeit gerade nicht primär über Zeugungskraft und sexuelle Akti vität definiert wurde, auch nicht über Rollen innerhalb der Familie.46 Das Leit bild des H ausvaters ist eine typisch neuzeitliche Konstruktion, die sich in Zu sammenhang mit den durch die Reformation vorangetriebenen Ehediskursen herausbildete.47 Auch das Ideal des kampfbereiten und wehrhaften Mannes, wie es etwa mit dem Ritter assoziiert wird, war von eher begrenzter Reich weite.48 Und was bedeutet dieser Befund für die Definition weiblicher Identität? Die grundsätzliche Ignoranz gegenüber der weiblichen körperlichen Eigen ständigkeit behinderte keineswegs die Entfaltung einer Vielzahl von Lebens modellen auch für Frauen: Denn gerade durch ihre mangelnde Integration in das von der Forschung für gesamtgesellschaftlich erklärte Genderkonzept erhielten Frauen Chancen, ihre »maskulinen« Aspekte auszuleben. In den mit telalterlichen Jahrhunderten stellte das Modell der Ehefrau und Mutter mit der entsprechenden neuzeitlichen Arbeitsteilung nicht die zentrale gesellschaftlich hochbewertete Definition von Weiblichkeit dar. Das entscheidende Leitbild war vielmehr die »Jungfrau«, IJirago, mannähnlich, die sich in einem gewissen Freiraum entfalten konnte, der Frauen außerordentliche Macht, Gelehrsam keit, spirituelle und visionäre Kraft und Einfluß, Mobilität, ja erotische Spiel räume zur Realisierung ihrer Körperlichkeit zugestand. Gerade an diesen Weiblichkeitsentwürfen, die sich in der historischen Realität und in der Imagi nation der literarischen Gedankenwelten fas sen lassen, hat sich die historische Frauenforschung abgearbeitet. Die besondere Faszination dieser Modelle aus den mittelalterlichen Jahrhunderten hängt mit ihrem kontrastiven Potential zusammen. Erst in einem langen historischen Verlauf und im Vergleich mit modernen Zeiten wird die Alterität weiblicher und männlicher Lebenswelten in der Moderne deutlich. Daß die dualistischen Geschlechterrollen nicht »na türlich« sind, sondern gesellschaftlich zugewiesen, war daher gerade in der mediävistischen Genderforschung schon früh offensichtlich.
45 Vgl. dazu die Sammelbände: Lees, 1 994; Cohen/Whecler, 1 997; Hadley, 1 999, ebenso die mediävistischen Beiträge in Dinges, 1 998. 46 Zu dem Wandel der Vorstellungen des Zusammenhanges von Männlichkeit und Weisheit sowie den entsprechenden Körperbildern vgl. Lundt, 2002. 47 Vgl. die Zusammenfassung des Forschungsstandes in Burghartz, 1 999. 48 Vgl. dazu Lundt, 200 1 .
48
B E A LUNDT
Freilich enthält dasselbe Modell dialektisch auch sein Gegenteil. Nicht-Da zugehören bedeutet sowohl freiheit und spielerische Teilhabe am anderen, als auch Ausgeschlossensein, Submission. Daher geistert der Vorwurf, es sei ein seitig und verfälschend für die mittelalterlichen Jahrhunderte von einem grundlegend frauen feindlichen, einem »misogynen« Verständnis weiblicher Realität ausgegangen worden, durch die Forschungsberichte. So hat es 2003 die amerikanische Mediävistin Felice Lifshitz behauptet. Die »seriöse« For schung sei nur von wenigen männlichen forschern getragen worden und diese hätten die innigen Paarbeziehungen als ideales Lebensmodell des Mittelalters konturiert.49 Mithilfe des letzteren Konzeptes von der »harmonischen Ehe«, das im übrigen gerade innerhalb der Genderforschung keineswegs neu ist, wird ein »dualistischer Bruch« geleugnet und eine Kontinuität angenommen, die sich in der gelungenen Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau realisiert habe. Bilder vom weiblichen Jammerdasein unter der Knute dominanter Män ner halten sich in der Tat in breiten Teilen der Ö ffentlichkeit: Das inzwischen oft kritisierte traditionelle Mittelalterbild ging ja davon aus, Individualität und damit auch persönliche Liebe habe es erst seit der Renaissance gegeben. In der Zeit davor habe mit großer Selbstverständlichkeit der Mann und nur er alle Lebensbereiche dominiert. Er repräsentiere das Modell für den Menschen überhaupt, er sei Herrscher, Heiliger, Held gewesen. Daher wird die Ge schichte als rein aufsteigende Fortschrittskurve für weibliche Emanzipation zurechtkonstruiert, ein lineares Sinnkonzept, das die Bedürfnisse nach Feind bildern erfüllt, gegen die man sich abgrenzen kann. Durch die verbreitete Re zeption der Thesen von Norbert Elias wird diese Sicht gefördert: im Mittelalter habe es keinerlei Triebkontrolle für den Mann gegeben, seine »Pazifizierung« sei ein entscheidendes Merkmal der Epochenschwelle zur Moderne. Innerhalb der kontinentalen mediävistischen Genderforschung sind solche Vorstellungen freilich niemals einflußreich gewesen. Sie war weniger »frauen bewegt« als die amerikanischen und neuzeitspezialisierten Kolleginnen. Fach interne Traditionen, etwa aus Frankreich, erfüllten orientierende Funktionen. Dabei konnte sie sich (durchaus auch kritisch) an den Werken einer ganzen Reihe von Gelehrten abarbeiten, die als mehr oder weniger »gute Väter« den Weg bereitet hatten. So lautete der Standardvorwurf gegen die mediävistischen Genderforschungen der achtziger und neunziger Jahre, sie enthielten keine eindeutige »feministische« Botschaft, die sich im politischen Tageskampf um setzen lasse. Die jetzt erneut aufgestellte Behauptung, die deutschen Mediävis tinnen leugneten die Existenz der » harmonischen Ehe«, die die mittelalterliche frau doch schon habe führen dürfen, vetweist denn auch eindrucksvoll auf die 49 Lifshitz, 2003, vor allem 303, unter Bezug auf Rüdiger Schnell. Vgl. dazu Lundt, 2005.
D E R MYTHOS VOM K AI S E R K A R ! .
49
Dialektik des Hegemonie-Konzeptes: Junge Nachwuchswissenschaftlerinnen regten eine Tagung an zu der Problemstellung, ob es nicht doch in verschiede nen Quellengenres so etwas wie eine »misogyne« Tradition gegeben habe, und wie man dieses Konzept neu kontextualisieren könne. 50 Belege fanden sich in der Tat genug, sie waren lange systematisch überlesen worden - vor allem im Rahmen des Ehediskurses. Vermutlich haben auch die mediävistischen Genderforschungen vor La queur bereits ganz richtig beschrieben, daß das vormoderne Eingeschlechter modell gerade nicht die Auslieferung von Frauen an eine sich willkürlich abre agierende Männlichkeit zur Folge hatte, sondern ihnen unterschiedliche Formen der Teilhabe am »Männlichen« bot, wie es auch den Männern unter schiedliche Angebote machte, weil ihre Aktionsbühne ja auch das »Weibliche« einschloß.51 Sogar für den Kaiser.
Literatur Axton, Marie: Thc QlIefll:r Tll'o Bodles. Drama (lIId the Elizahetban SIIMssion, London 1 977 Bachmann, Albert; Singer, S. (Hg.): Detltrcbe Volkshiichel: AllS einer binhe,. Halldrdniji des 15. Jahrl:ltllide,ts, Tübingen 1 889, ND 1 973, 1 - 1 1 4 Bachmann, Albert; Singer, S . : Einleitung der Herausgeber, in: ebd. V-XXVIII Bennewitz, Ingrid; Kasten, Ingl'id (Hg.): Genderdi.rkm:re I/Ild Kiilperbilder im Mitte/allel; l\fünster 2002
Benson, R ob e n 1.: Kantorowicz on Continuity and Change in the Histoty of Medieval Rulership, in: ders. und Johannes Fried (1-!g.): Ernst Kantorowicz, Stuttgart 1 997, 202210
Fried, Johannes (1-!g.): Emst KalltoroJlJicz. El11iige der Doppeltag/mg Prillcetoll/ Frankf"rt, Stuttgart 1 997 Borgolte, Michael: Historie und Mythos, in: Kramp, Mario (Hg.): Krojl1l11gen. KOllige ill AacueIJ - Ge.rcbichte ulld i'v1ytbo.r, Mainz 2000, 2. Bd., 839-845 Boureau, A1ain: lVllltOIYJIIJicZ. Geschichten eine.r Historik ers, Stuttgart 1 992 (Paris 1990) Le simple corps du IYJi, Paris 1 988 Bredekamp, Horst: Die zwei Körper von Thomas Hobbes' Leviathan, in: Ernst, \Volfgang; Vismann, Cornelia (Hg.): Gescbicutskojper. Z"rAkt"a!itiit VOll Emst H. Kal1toro)Jiicv Müncben
-
1 998,
1 05-1 1 9
Burghartz, Susanna: Zeiten der Reinheit F,iihe1/ Neuzeit, Paderborn 1 999
Olte der Un'{lIcht. Ehe IIl1d Sexualitiit in Base! lviibreJJd der
50 Geier/Kocher, 2005 (im Druck). 51 Vgl. dazu meinen Forschungsüberblick Lundt, 2003. Ähnlich auch die germanistische Männcrforschung: Bennewitz/Kasten, 2002; WeichseJbaumer, 2003.
50
B E A LUNDT
Cohen, Jeffrey J . ; Wheeler, Bonnie (Hg.): Becotliing Male in the Middle Ages, N ew York, London
1 997 Connell, Roben W.: Dergemachte kIann. KOl1stmktion und Krise von l'vlrinniichkeitf/l, Opladen 2000 (zuerst Cambridge 1 995) Dinges, Martin (Hg.): HrlIISv,jiel; Priester, KtlJ/mtm, Göttingen 1 998 Stand und Perspektiven der )>!1euen Männergeschichte« (Frühe Neuzeit), in: Bos, Margucrite; Vincenz, Bettina; Wirz, Tanja (Hg.): Erfitlmmg: Alles nur Diskurs? Zürich
2004, 71-96 Donne, Roberro delle: N achwort, in: Boureau, Alain: Kantolvwicz, Stuttgart 1 992, 1 5 1 -1 73 Einhard: Vitrl Karoli Magni, hg. von Scherabon Firchow, Eve!yn, Lat./Dt., Stut9"rart 1 996 Ernst, Wolfgang; Cornelia Vismann (Hg.): Gesthichtskbiper. Zur Aktualittit von Emst H. KalltoIVJ/Jicz, München 1 998 FatTier, Susan E.: The !\[edievrli CharietlitlgJJe LegetJd. An AllrJotated Bibliography, New York, London 1 993 Foucault, J'vUchel: Oben/Jachen uud Stmfen. Die Geburt des Giftiilgnirses, Frankfurt M. 1 976, 1 995 in der 1 1 . Auflage Fried, Johannes: Kar! der Große. Geschichte und Mythos, in: Milfull, Inge; N eumann,
Mi
chael (Hg.): l'vfythetJ Etlropas. Schliisseljigtlren der IJJ/agillation, Bd. 2, MitteMtel; Regensburg
2004, 14-47 Ganz, Peter: Konrad Fleck, in: Ve!fasseriexikoJJ, Bd. 2 ( 1 980), 744-747 Geier, Andrea; Kocher, U rsula (Hg.): ff7ider die FraII. ZJlr Stmktur, Funktion tllJd GeschidJte misogyner Rede, Köln 2005 (im Druck) Geith, Kar!- Ernst: Ca/Vltls kIaglJm. Studien if'" Darstellung Kar/s des Großen in der deutschen Litemtur des /2. und 13. Jahrhunderts,
Bern, München 1 977
Kar! der Große, in: Müller, Ulrich; Wunderlich, Werner (Hg.): Hemcher, Helden, Heilige, l"'1ittelaltem�ytl)etl, Bd. 1 , St. Gallen 1 996, 87-100 Z Lircher Buch vom heiligen Karl, in: Ve1tlSSedexikotJ, Bd. 10 (1 999), 1 597-1600 Graus, Frantisek: Lebetldi,ge Vergatlget1heit. Oberiiejemflg im Mittelaiter und ilJ det! Vorstellullgen vom Mittelalter, Köln, Wien 1 975, 182-205 Grimm, Jacob und Wilhe1m: DmtseheJ WbiteriJ/lch, München, N D 1 984, Bd. 1 1 Hadley, Dawn lVI. : ,'yfasmlilJity in Medieval Europe, London, N ew York 1 999 Herzog, Hans: Die beiden Sagenkreise von Flore und Blanschetlur, in: Germ,,!!ia. ViertebErfindung< der Geschlechtscharaktere im
18. Jahrhun
dert«30 zu lösen. Die physiognomischen Portraits Konrads von Megenberg sowie die Männlichkeits- und die Weiblichkeits typologie
Hildegards von
Bingen können in gewisser Weise exemplarisch für die Vielfältigkeit und die Differenziertheit normativer Geschlechtermodelle im Mittelalter stehen. Die Marginalisierung von Sexualität und »Frauen« in Konrads Modell und die zentrale Rolle, die beiden in Hildegards Typologie der Geschlechter zukommt, verweisen dabei zugleich darauf, daß, wie Judith Butler argumentiert hat, die Konstruktion eines heteronorm orientierten geschlechtsspezifischen Begeh rens der Konstruktion bestimmter Typen von »Männlichkeit« und »Weiblich keit«, von »männlichen« und »weiblichen« Körpern, nicht nach-, sondern quasi in einem gegenseitigen Produktions- und Bestätigungsverhältnis neben-, wenn nicht sogar vorgeordnet ist.31 Wie Joan Cadden vermutet, muß in der Tat die
29 Dinges, 2004, 74. 30 Zur Kritik siehe besonders Schnell, 2002, 41-77; Zitat hier 68. 3 1 Während bei Konrad Sexualität vor altem erwähnt wird, um bestimmte Männlichkeitstypen Zll disqualifizieren, qualifizieren und disqualifizieren sich in Hildegards Modell die einzelnen
» D E R HAT
A I N E N W E I B I S C H E N M li OT
...
63
«
Spannbreite mittelalterlicher Geschlech terentwürfe nicht unbedingt die Kon stru ktion der binären Struktur des Geschlechterverhältnisses schwächen; viel mehr kann die Flexibilität der Sprache und der Konzepte von »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« im Gegenteil den Effekt haben, daß die Geschlechterhie rarchie in verschiedensten Kontexten abgerufen und in ihrer binären Struktur immer wieder neu reproduziert und bestätigt wird.32 Rüdiger Schnell zufolge sind die »recht unterschiedlichen Relationierungen von
sex
und
gender
in der
Vormoderne« sogar durch »das durchgehende Bemühen« gekennzeichnet, »alle gellde/cKonzepte - auch wenn diese sich gegenseitig widersprechen - im Ge schlechtskörper zu verankern.«33 Wenn Cadden und Schnell mit ihren Schluß folgerungen recht haben, könnten Einblicke in die Verschränkungen zwischen der Ausdifferenzierung verschiedener »Männlichkeiten« und der Geschlechter hierarchie im vormodernen Geschlechterverhältnis durchaus einen wichtigen Beitrag darstellen, gegenwärtige Probleme und Pragestellungen um »hegemo niale Männlichkeit(en)« und das Geschlechterverhältnis von ihrer historischen Dimension aus zu erhellen.
Literatur Allen, Prudence: Tbe COllcept of lP'oll/all. Bd. 1 : Tbc Alistote/iall Rel!Oltitioll 750 BC-A D 1250, (Erstausgabe Montreal 1 985) 2. Aufl., Grand Rapids/lVlichigan; Cambridge/U.K. 1 997 Armbruster, L. Christof: Ende der Männlichkeit?; in: lP'idel:rpliicbe 56/57 (1 995), 63-75 Bennewitz, Ingrid: Zur Konstruktion von Körper und Geschlecht in der Literatur des Mit telalters; in: dies.; Kasten, Ingrid (Hg.): Gmderdi.rkl/l:re I/nd Koiper/Ji/der im Mittelaltn: Eil1e Btlallz,iml11g lIad) 13l/t/er lind Laqlleur, Münster 2002, 1 - 1 0 Buck!, Walter: Megm/Jerg a/lS iJ'Jeiter Halid. ÜIIeIJiejemligsge.r{bicbtlid,e Stl/dien '?ifr Redaktioll B de.r Buchs von den natürlichen Dingen, Hildesheim; Zürich; New York 1 993 Butler, Judith: Das Ullhehagen der Geschlechter, übers. von Kathrina Menke, (Originalausgabe: Gellder Trollble,
Cadden, Joan: 1 993
Ncw York 1 990) Frankfurt M. 1991
Meallillgs of Sex DijJmJ1ce
in the Middle Ages. Medicil1e,
Seimce, Cu/IIf/?,
Wissenschaft, Sprache und Macht im Werk Hildegards von Bingen; in: 9 (1991), 69-79
Cambridge Femillistische
ShidiCII
M.ännlichkeitstypen über die Qualität ihres auf Frauen ausgerichteten Begehrens und damit auf der Basis einer bejahten heteronormen Sexualität als Männer. Hildegards Modellentwurf illustriert damit in gewisser Weise die These Judith Butlers, 1 9 9 1 , daß die Binarität des Ge schlechterverhältnisses über das (heterosexuelle) Begehren bzw. über ))Zwangsheteroscxuali tät« konstruiert wird. 32 Cadden, 1993, 226. 33 Schnell, 2002, 474.
64
ANDREA MOSHÖVEL
- I r Takes All Kinds: Sexuality and Gender Differences i n Hildegard of Bingen's »Book o f
Compound Medicine«; in: Traditio 40 (1 984), 1 49-174 Campe, Rüdiger; Schneider, Manfred (Hg.): CeJchithkn der Physiognomik. Text, Bild, Wissen, Freiburg/Breisgau 19% Carllli"a B"rfllla, hg. von Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt M. 1 987 Connell, Robert W.: Der ,gelJlachte Mann. Konstmktion und Krise von M;innlichkeiten, übers. von Christian Stahl, (Originalausgabe: Masmjillitie.r, Cambridge 1 995) 2. Aufl., Opladen 2000 Dinges, Martin: Stand und Perspektiven der >>Deuen J'vfännergeschichte« (Frühe N euzeit); in: Bos, Maguerite; Vincenz, Bettina; Wirz, Tanja (Hg.): Erfahnltlg: Alles nur Diskurs? ZlIr VmJJendting des Etfahmngsbegrifft in der Gesehlethtergesebiebte, Zürich 2004, 71-91 Dörrich; Corinna; Friedrich, Udo: Bindung und Trennung - Erziehung und Freiheit. Sprachkunst als Erziehungsdiskurs am Beispiel des Kürenberger Falkenliedes; in: Der Delltschllf/temeht 1 (2003), 30-42 (mit Textanhang, 8-1 1) Embach, l'vfichael: Die Scbriften Hi/degard.r von Billgen. Studien if/ ibrer Über/iejerlllg 1 ulld Rezeption im Mittelalter lmd in der Frühen Neuzeit,
Berlin 2003 Hildegard von Bingen; in: Ruh, Kurt u.a. (Hg.): Die deutsche Literatur des Alittelalters.
Veljasser/exikoil, 2., völlig neu bearb. Aufl. , Berlin; New York 1 978ff., Bd. 1 1/3 (2002), 658-670 Fasbender, Christoph: Funktionalisierte Naturkunde in Konrads von Megenberg » Ycono
mica« und im »Buch der N atur« ; in: Mediaevistik 9 (1 996), 77-90 Feistner, Edith: Der Körper als Fluchtpunkt. Identifikationsprobleme in geistlichen Texten des Mittelalters; in: Bennewitz, l ngrid; Tervooren, Helmut (Hg.): Manl1chiu wip, wiplich man. Zur KOl1stmktion der Kategolien )Kilp l em lind »Gesthlecbt« in der delltschen Literatnr de.r Mittelalters, Berlin 1 999, 1 3 1-142 Fleckenstein, Josef: Miles und clericus um Königs- und Fürstenhof. Bemerkungen zu den
Voraussetzungen, zur Entstehung und zur Trägerschaft der höfisch-ritterlichen Kultur; in: ders. (Hg.): Cur/aiitas. Studien Zu Gl1mdfragen der höfisdJ-rittedichen KultIfr, Göttingen 1 990, 302-325 Foerster, Richard (Hg.): Scriptom Physiognomonici Graeci et LItini, 2 Bde., Leipzig 1 893 Hayer, Gerold: Konmd von Afegenberg )DaJ Buch der NatUr«. Untersllcht/l1gen i!' seimr Text- t/l1d Übediejemng�geschühte, Tübingen 1 998 Hecke, Christiane; Schnell, Bernhard: Physiognomik; in: Ruh Kurt u. a. (Hg.): Die delltsche Lilemtu,. des AIitte!alters. Veljcwedexikon,
2., völlig neu bearb. Aufl., Berlin; N ew York 1 978ff., Bd. 1 1 /4 (2003), 1 235-1241 HergemölIer, Bernd-Ulrich: Eillfiihrtwg ill die HistOliographie der HotJIosexl/illikiten, Tübingen 1 999 [Hildegard von Bingen:) Der Abtissil1 Hildegard von Btll!,eJl Ursacben IIlId Bebandltlng von KrankheiteIl (causae et curae), übers. von Hugo Schulz, 4. Aufl., Heidelberg 1 983
11011 dem Cnllld lind [Pesen Jmd der Heilullg VOll Krankheiten, nach den Quellen übersetzt und erläutert von Heinrich Schipperges, Salzburg 1 957 [Zit. mit »Hk«.) Hildegardis {(/flsae et Cllrae, hg. von Paul Kaiser, Leipzig 1 903 [Zit. mit " CC«.] Konrad von Megenberg: Das )Btlth der Natllm. Band l!: Kritisther Text nach den Halldsthriften, hg. von Robert Luff und Georg Steer, Tübingen 2003
Heilkullde. Das Blich
) D E R H A T A I N E N W E I R 1 � C H E N l\·f ll O T
, . ,
65
«
Das B uch der NatNr. Die erste Naturgwhicbte in delltJcher Spracbe,
hg. von Franz Pfeiffer,
(Erstausgabe Stuttgart 1 86 1 ) 2. Nachdruck, Hildesheim; New York 1 97 1 lZit. mit »BdN«·l L�queur, Thomas: All! dm Leib geJehlieben. Die II/Jzel/ie11/l/g der Ge.reh/eehter pot! der Antike hiJ f'retld, übers. von H . Jochen Bußmann, (Originalausgabe: Makil/g Sex. B ody al1d Gel/dfl' fivltl Ihe GmkJ to Frmd, London 1 990) Fmnkfurt a. M.1 992 Männerforschungskolloquium Tübingen: Die patriarchale Dividende: Profit ohne Ende? Erläuterungen zu Bob Connells Konzept der »Hegemonialen Männlichkeit«; in: Widfl' sprüche 56/57 (1 995), 47-6 1 Meier, Christel: Hildegard von Bingen. In: Ruh, Kurt u. a. (Hg.): Die dmtJdJe Uteratllr deJ Alitte/alter.r. VnfasJeriexikOl1, 2., völlig neu bearb. Aufl., Berlin; N ew York 1 978ff., Bd. 3 ( 1 98 1 ), 1 257-1280 Reißer, U lrich: Pby.riognolJlik !llId A/fJdmekJ/beOlie der RmaiJsallce. Der Eil/fI/fß cbaraklerologiJcür Lebrell a/ff KllnJI ul/d KlIlIJttbeOlie des 15. IIlId 16. .1a!"hllllderls, München 1 997 Ruberg, Uwe: Allegorisches im " Buch der N atur« Konrads von Megenberg. In: rrübmittd aller/iehe Stlldiell 1 2 ( 1978), 3 1 0-325 Schipperges, Heinrich: Arabische Ä rzte: Rhazes (865-925), Haly Abbas (ca. 10. Jahrhundert),
Abulcasis (gestorben 1 0 1 0), Avicenna (980-1037); in: Engelhardt, Dietrich von; Hart mann, Fritz (Hg.): Kla.uiker der Medi:;jll. Bd. 1 : VOll HippokraleJ hiJ ChliJlopb lVi/he/li! Hllftlalld, München 1 99 1 , 57-69, 366f. Schmale, Wolfgang: Ge.rrhicbte der MiJ/lIllichkeit JlI Ellropa (1450-2000), Wien; Köln; Weimar 2003 Schnell, Rüdiger: SexlIl/lüiit ulld Emotionalität ill der V017l10aemen Ebe, Köln; Weimar; \,\'ien 2002 Spreitzer, Brigitte: Verquere Körper. Zur Diskursivienmg der »stummen Sünde« im Mittel alter; in: Bennewitz, Ingrid; Kasten, Ingrid (Hg.): Gmderdisklll:re !llId Münster 2002, 1 1-28
Kb"per/;ilder illl
Mittell/lfer. Eim Bilalli/millg !ll/ch Blltler lllJd LI/qllfllr,
Störfälle. Zur Konstruktion, Destruktion und Rekonstruktion von Geschlechterdiffe renz(en) im Mittelalter; in: Bennewitz, lngrid; Tervooren, Helmut (Hg.): Manlichiu wip, wiplich man. ZII/' K011Stmktioll der KalegOlim »)Kb"PeJw !llId »)Gesdilechtü ill der dmlschell LiteratlIr deJ Mittelalters, Berlin 1 999, 249-263 Steer, Georg: Konrad von Megenberg; in: Ruh, Kurt u. a. (Hg.): Die dmtselle Uieralllr des Mittelalters. VelfasJedexikoll, 2., völlig neu bearb. Aufl., Berlin; New York 1 978ff., Bd. 5 ( 1 985), 221-236 Stephan, lnge: Im toten \Vinkel. Die N euentdeckung des »ersten Geschlechts« durch IlleI! 's .rtlldieJ und Männlichkeitsforschung; in: Benrhien, Claudia; Stephan, lnge (Hg.): Mail/l lir/;keit als J.,laskerade. Kllillmile III.rZfllienllJgm /,0/11 Mittelalter /;iJ '(I/I" Gegfllll'lIIt, Köln; Weimar; Wien 2003, 1 1-35 Walter, Willi: Gender, Geschlecht und Männerforschung; in: Braun, Christina von; Stephan, lnge (Hg.): Gel1der-Jtlldien. Ei"e Einführullg, Stuttgart; Weimar 2000, 97-1 1 5 Zotz, Thomas: Ritterliche Welt und höfische Lebensformen; in: Fleckenstein, .Iosef; Zotz, Thomas: lVttntlllll !llld rittediebe Welt, Berlin 2002, 1 73-229
Frühmoderne hegemoniale Männlichkeiten
»Die Opfer des Herren« Das Ringen um Männlichkeiten im ersten täuferischen Martyrologium
Nicole Groch01vina
••Es
ist so, liebe Leser, daß der barmherzige Gott und Vater durch seine unergründliche Gnade [... ) jetzt in diesen gef:1hrlichen Zeiten seinen gebenedeiten eigenen und einzigen Sohn Jesus Christus, der so viele hundert Jahre unbekannt war, nun einigen vor Augen und
in ihr Bewußtsein gegeben hat, und einige, die in allen Sünden und widergöttlichem Verhal ten verstorben lagen, aufgeweckt und in das neue, unbestrafte Leben gerufen hat: Und einige arme, elendige, verbiesterte [ ... ) magere und verhungerte Schafe durch die Predigt seines heilsamen Wortes und die Kraft seines heiligen Geistes aus den Händen der treulosen Hirten und aus den J<jrchen der reißenden Wölfe erlöst hat.« I
Der unbekannte Kompilator der täuferischen Märtyrerschri ft
•• Het
O ffer des
Herren« aus dem J ahr 1 562 zeichnet hier ein gewaltiges Bild der Exempel, welche er in seinem Buch vorzustellen gedenkt: Einige Menschen seien in gefährlichen Zeiten auserwählt worden, um nicht mehr auf den »verdorrten Weiden« unter der menschlichen Lehre zu leiden. Vielmehr hätten sie den direkten Kontakt zu Christus gefunden. Ihnen habe er die richtige, die wahre Lehre eingegeben, durch welche sie sich von der Kirche der »reißenden Wölfe« - also der katholischen - loslösen konnten, um das .>neue, unbestrafte Leben« zu führen. Wie dieses neue Leben auszusehen und welche Einflüsse es auf neu zu schaffende O rdnungen hatte, fassen nicht zuletzt die nachfolgenden Bekennt nisschriften der Auserwählten in dem Band zusammen. Dabei nehmen Erwä gungen zum Verhältnis zwischen Männern und Frauen einen wesentlichen Raum ein. Dies ist in der Forschung bereits insbesondere für die unterschiedli chen Rollen der Frauen in der täuferischen Gemeinschaft thematisiert wor den.2 Eine dezidiert männergeschichtlich ausgerichtete Fokus sierung fehlt allerdings. Dabei hat die Männergeschichte bereits verschiedene Ausprägungen
1 eramer, J 904, 53, Ü bers. N.G. 2 Vgl. als Auswahl mit der entsprechenden Bibliographie Grochowina 1 999; Hiett Umble 1 990; Klausen, 1 986; MalT, 1 987. ,
N I C U L E G R Cl C H Cl W I N A
70
von Männlichkeiten untersucht.3 Eine wesentliche Bezugsgröße bildete hierbei das Modell der hegemonialen Männlichkeit von Robert Connell.4 Dieses soll im Folgenden die Leitperspektive sein, wenn das Martyrolo gium »Het O ffer des Herren« nach der Ausdifferenzierung von Männlichkei ten befragt wird. Hier zeigt sich, daß Männlichkeit nicht nur eine Idee einer individuellen Identität war,s sondern als umfassendes Konzept dazu diente, die Geschlechterhierarchie und damit die Dominanz der Männer zu sichern. Hier ist eine wesentliche Grundannahme des Modells von Connell heraus zufordern: So nimmt er an, daß die Ausbildung der hegemonialen Männlich keit nur dann erkennbar sei, wenn ein nachweisbares Verständnis von Indivi dualität vorläge. Dies müsse mit einer Kultur kombiniert werden, in der Männer und Frauen »als Träger und Trägerinnen polarisierter Charaktereigen schaften betrachtet« 6 würden. All dies sei allerdings erst im Europa des ausge henden
1 8. Jahrhunderts zu beobachten.7
Gezeigt werden soll dem gegenüber, daß es nicht der - in der Forschung auch bereits umstrittenen8 - polarisierenden Geschlechtscharaktere bedurfte, um die Ausdifferenzierung von Männlichkeiten zu initüeren. Entscheidender waren Umbruchsituationen, in denen zahlreiche Ordnungsvorstellungen er neut festzuschreiben waren. Die Reformation ist als eine solche Zeit anzuse hen, wurde hier doch insbesondere in der Phase der Bewegung9 die beste hende Ordnung auf zahlreichen Ebenen herausgefordert. Dies galt auch und gerade für die täuferischen Gruppen, welche in ihren Traktaten, aber auch in rVfartyrologien das »neue, unbestrafte Leben« postulierten und sich zu »Auser wählten« stilisierten. In einem ersten Schritt wird deshalb die erste täuferische Märtyrerschrift »Het O ffer des H erren« vorzustellen sein, bevor zweitens in der Analyse einzelner Selbstzeugnisse der Märtyrer die Ausdifferenzierung der Männlichkeiten erkennbar gemacht LInd an das Legitimitätsproblem m ännli cher Dominanz im Sinne Connells rückgebunden wird.
3 4 5 6 7 8
Vgl. Dinges, 2004. Vgl. Connell, 2000. Vgl. cbd., 48. Ebd., 88. Vgl. ebd. Unabhängig davon ist die Frage nach den polarisierenden Geschlechtscharakteren um 1 800 nicht mehr unumstritten. Vgl. hierzu die Auseinandersetzungen bei Hausen, 1 976. Diese These blieb nicht unwidersprochen. Vgl. Wunder, 1 992; dies. 1 998. Vgl. Dilcher, 1 997. Dar über hinaus haben Forschungen der eender sll/dies bereits gezeigt, daß der - für Connell eben falls leitende - Gedanke eines sozial konstruierten Geschlechts und der damit einher gehen den Dynamik innerhalb des Geschlechterverhiiltnisses ebenfalls auf die Frühe Neuzeit zu übertragen ist. Vgl. für einen Ü berblick aus miinnergeschichtlicher Perspektive Schmale, 2003. 9 Zu diesem Begriff vgl. Goertz, 1 993.
»DIE OPFER DES H ERREN«
71
»Die Opfer des Herren« - die Schrift Die zur »radikalen Reformation«10 zählenden Täufer sind im frühen 1 6. Jahrhundert aus den innerprotestantischen Auseinandersetzungen hervorge gangen. 1 562 erschien mit »Het Offer des H erren« ihr erstes Martyrologium. Bis 1 599 erlebte diese S ammlung täuferischer Briefe, Verhörprotokolle, Tes tamente und Lieder elf Auflagen. Die Fassung von 1 570 wurde 1 904 erneut gedruckt und ergänzte damit den Bestand täuferischer Martyrologien.1 1 »Het Offer des H erren« stand datüber hinaus in einer Traditionslinie von protestan tischen Martyrologien, welche ihren Ausgangspunkt in dem Werk von Ludwig Rabus hatte. 1 2 »Het Offer des H erren« fand vorzugsweise in den Niederlanden und nie derdeutschen Gebieten Verbreitung und umfaßt die Täufer, welche in den 1 550er J ahren hingerichtet wurden. Die Schrift ist in drei Teile untergliedert: Zunächst werden die Martyrien von vier Frauen und 1 9 Männern dargestellt. Anschließend folgt ein Extrateil, der die Lebenswege von zwei Frauen und sechs Männern nachzeichnet. Es folgt ein Liedteil, der insgesamt 1 3 1 Personen (4 1 Frauen, 90 Männer) einschließt. 1 3 Diese erste täuferische Märtyrerschrift sollte die Gemeinden nicht nur dar auf einschwören, daß gefährliche Zeiten herrschten, in denen die Wahl der falschen Lehre die ewige Verdammnis mit sich bringen könnte. Gleichzeitig sollten die beschriebenen Exempel die täuferische Lehre vorgeben und durch ihr Verhalten als Vorbild dienen, um etwa in Verhören bestehen zu können. Mit einem solchen Weg war durchaus das Leiden für die richtige Lehre ver bunden. Deswegen nimmt der Verweis auf den Charakter der »lijdsamkeit« wesentlichen Raum in der Märtyrerschrift ein. Gemeint ist damit das geduldige Ertragen des Leidens, die Unterordnung der eigenen Schmerzen unter ein größeres Ziel, welches als Wiederkehr des Reich Gottes auf Erden nach dem Endgericht begriffen wurde. 1 4 Grundsätzlich ging es im Martyrologium darum, innerhalb der täuferischen Gemeinschaften eine verbindliche Identität und Einheit zu stiften, die ihren
10 Williams, 1 992. 1 1 Vgl. Ouderman, 1 626; van Braght, 1 660. 12 Vgl. Rabus, 1 552-58. ZU!' - ebenfalls nach der Reformation auch protestantisch konnotierten - Bekennerhistorie vgl. Hieber, 1 970. 13 Dieses Liedbuch erschien 1 563 noch selbständig. 1 570 wurde es dann zusammen mit dem Haupttext herausgegeben. Aber beide zusammen umfassen nur einen Bfllchteil der täuferi sehen Märtyrer. Deshalb verweist J ean lI·feyhoffer noch auf weitere Quellen, um zu einer grö ßeren Zahl von Märtyrern zu gelangen. Vgl. Meyhoffer, 1907, 87- 1 82. 14 Vgl. Stauffcr, 1 933.
72
N ICOLE G ROCHOWINA
gemeinsamen Bezugspunkt i n den Exempeln der Märtyrerschrift fand. 1 5 Dies war dringend notwendig, führten doch die Reformation und die Ausdifferen zierung der tiiuferischen Lehre seit den 1 540er Jahren zumindest im N ord westen des Alten Reiches zu massiven Auseinandersetzungen, welche sich in den 1 560er J ahren deutlich zuspitzten. 16 Gesetzt werden mußten aber nicht nur verbindliche Eckpunkte einer täufe rischen Lehre, welche die divergierenden Auffassungen zu synchronisieren vermochten. Darüber hinaus war es auch erforderlich, das herausgeforderte Geschlechterverhältnis erneut zu ordnen. Dies diente nicht zuletzt auch dazu, täuferische Vorstellungen von i\'lännlichkeiten zu präzisieren.
Legitimierung des Patriarchats im Martyrologium »Hegemoniale Miinnlichkeit kann man als jene Konfiguration geschlechtsbe zogener Praxis defInieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitiitsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Män ner sowie die Unterordnung der frauen gewiihrleistet (oder gewährleisten soll) .«17 Robert Connell verknüpft hier die Ausbildung der hegemonialen Männlichkeit mit dem Legitimitiitsproblem des Patriarchats. War die Domi nanz der Männer über die Frauen nicht mehr gewährleistet, da diese gesell schaftliche
Umbruchssituationen
nutzten,
um
bestehende
Ordnungen
herauszufordern, mußten Vors tellungen von Miinnlichkeit hinterfragt und den neuen Bedingungen angepaßt werden. Neue Vorbilder waren zu benennen, welche ihren Anspruch auf Autorität einzulösen hatten. Dieses Bemühen um eine erneute H ierarchisierung des Geschlechterver hältnisses spiegelte sich auch in »Het O ffer des Herren« wider. Es präsentiert zwar eine gewünschte Geschlechterhierarchie, welche das »Legitimitätsprob lem des Patriarchats« zu lösen versuchte, gleichzei tig jedoch wird darin auch und immer noch der bemerkenswerte Anteil reflektiert, welchen Frauen am Aufbau der täuferi schen Zirkel hatten. Damit kommt der Schrift ein transitori-
15 Thomas Fuchs spricht an dieser Stelle von einer protestantischen Erinnerungspolitik, welche nach der Reformation einsetzte. Vgl. Fuchs, 1 998, passim. 16 1 567 war es zu massive Auseinandersetwngen zwischen den Flamen und den Friesen gekom men, welche sich an der Frage nach der korrekten bzw. strikten N lltzung des Bannes fest machten. Allerdings mußte sich bereits in den 1 540er Jahren Menno Simons mit unterschied lichen Auslegungen in Ostfriesland und in den Niederlanden beschäftigen - und sprach hier ebenfalls Verbannungen aus. Vgl. Oosrerbaan, 1 980; Grochowina: Indifferenz, 2003, 259261 . 1 7 Connell, 2000, 98.
)) D I E O P F ER D E S H E RR E N «(
73
scher Charakter bei der Ausbildung der neuen Geschlechterordnung für täufe rische Gemeinden zu. In der Phase der reformatorischen Bewegung wurden in den täuferischen Zirkeln
bestehende
Geschlechterverhältnisse
und
-hierarchien
nivelliert.
Frauen übernahmen bei den geheimen Treffen wichtige Funktionen, predigten oder verfaßten S chriften. Während der Verfolgung des Täufertums leisteten sie unverzichtbare Dienste, um das Ü berleben der Gemeinschaft zu sichern. 1 8 Daß sich dieses fast paritätische Verhältnis in d e r Phase d e r Institutionali sierung der B ewegung aufllOb, läßt sich einerseits an ihrer Rolle beim Aufbau einzelner täuferischer Gemeinden, andererseits aber auch am Anteil der Frauen an den täuferischen Martyrologien festmachen. 19 »Het O ffer des Herren« gab. hier eine Richtung vor, da knapp 30 Prozent der aufgenommenen Zeugnisse Frauen betrafen oder von Frauen verfaßt worden sind. Der »Märtyrerspiegel« von 1 6602°, der bis heute die eigentliche Referenzschrift für täuferische Gemeinden ist, senkte diesen Frauenanteil noch einmal: In dem deutlich umfangreicheren Werk liegt er bei 28,6 Prozent.21 Insgesamt kommen die Männer im ersten täuferischen Martyrologium auf zwölf Bekenntnisse, 1 3 Briefe an die Familie (in erster Linie zur Ermahnung der Ehefrauen), neun Testamente und
1 3 Briefe an die Gemeinden. Dem stehen fünf Bekenntnisse,
vier Briefe an die Gemeinden und fünf Briefe an Familien gegenüber, welche von Frauen verfaßt wurden. In »Het O ffer des Herren« wurden Frauen aber auch auf qualitativer Ebene in der Bekennerhierarchie klar hinter den Männern eingeordnet. So dienten die Briefe der Frauen nicht der Ermahnung oder Erbauung ihrer Ehemänner. Vielmehr handelt es sich um Nachrichten etwa an die Eltern oder um Reaktio nen auf die Briefe, welche die Ehemänner geschickt hatten. Und auch in den Testamenten, welche von den Männer durchaus genutzt wurden, um ihre Familien im Glauben zu bestärken, stand es den Frauen prinzipiell nicht zu, es ihnen in dieser Deutlichkeit gleich zu tun. Außerdem verfaßten nur die Männer Vermahnungen oder detaillierte Be richte von Verhören, einen Brief an die Ratsherren, einen an einen »luterischen Papen«22 und - undenkbar für eine Frau - ein Bekenntnis an die Obrigkeit.
1 8 Vgl. Gruchowina, 1 999, passim. 19 Zur RoUe der Frauen im Täuferreich von !v[ ünster vgl. Kobelt-Groch, 1993, 7.\11' Beschnei dung weiblicher Handlungsspielräume in institutionalisierten Gemeinden vgl. Grochowina, 1 999. 20 Vgl. Van Braght, 1660. 2 1 Vgl. Klassen, 1 986, 549. Der Anteil von ca. 30% ist erst ab der zweiten Generation der Täufer ZlI beobachten. Zunächst waren die Männer fast ausschließlich Jltänner und Kleriker. Vgl. Gregory, 1 999, 1 42. 22 Gemeint war ein katholischer Geistlicher.
74
N I C O L E G R O C H OW I N A
Zwar wurden auch Frauen z u einzelnen Punkten der täuferischen Lehre oder zu den Umständen ihrer eigenen Taufe befragt, doch fielen ihre Antworten meist kurz aus. Daniber hinaus war die physische und psychische Konstitution der Frauen wichtiger als etwaige Bekenntnisse. Dabei ging es nicht darum, die besonderen Stärken der Täuferinnen zu preisen, sondern vielmehr wurden ihre Schwächen offenbart: Die Täuferin Mayken Boosers schrieb etwa in ihrem Bekenntnis, daß sie zwar gesund sei »nach dem Fleische, aber nach dem Geiste müßte es besser sein, denn ich befinde Schwachheit in mir«.23 Diese Beobachtungen lassen sich in der Aussage des Täufers Jeronimus S egersz bündeln, der in seinem Brief an seine Gemeinde die geschlechtsspezi fischen Aufgaben klar umriß: »Ihr jungen Frauen, seid eurem Mann untertan in der Gottesfurcht, und ihr Männer, habt eure Frauen lieb wie euch selbst und nehmt sie mit aller Demut und Lieblichkeit auf und vermahnt und unterweist sie mit dem Wort des H erren.«24 Frauen begreift Seghers als U ntertanen der Männer, in Gottesfurcht hätten sie ihren Unterweisungen zu folgen. Offen kundig ist hier Seghers Bemühen, die Geschlechterordnung wieder herzustel len, welche in der Phase der reformatorischen B ewegung herausgefordert worden war. Neu ist allerdings trotz der bestehenden Hierarchisierung zwi schen den Geschlechtern sein Verweis auf die nun wechselseitige Demut, denn auch die Männer sollten ihren Frauen mit entsprechender Liebe und Fürsorge begegnen. Der transitorische Charakter des Martyrologiums zeigt sich darin, daß die gesetzte Geschlechterordnung noch nicht zwingend als strikt verstanden wer den mußte:
1 570
wurden in einem Sonderteil Zeugnisse von Märtyrern aufge
nommen, welche bis dato noch nicht im Druck erschienen waren. An erster Stelle fügte der Kompilator das Bekenntnis der Witwe Weynken Claesdochter ein, die
1 527
in Den Haag verbrannt worden war.25 Die Fragen im Verhör
umkreisten ihr Abendmahlsverständnis ebenso wie ihre Position zu den Heili gen, die Rolle der B eichtväter und die Berufung zur Predigt. Trotz aller Ange bote zum Widerruf blieb sie standhaft. Mit den Worten »Ich bin sehr zufrie den, des Herren Willen mäge geschehen«26 wurde sie dem Feuer übergeben. I n d e m Bericht d e r Hinrichtung heißt es weiter, daß sie allein u n d a l s »fromme H eldin«27 ins Feuer ging, sich selbst die Stricke anlegte und nach wiederholter Zurückweisung des Widerrufs im Feuer verstarb.
23 24 25 26 27
eramer, 1 904, 4 1 2. Ü bers. N.G. EbJ., 1 43. Ü bers. N.G. VgJ. ebd., 422-27. Ebd., 426. Ebd.
»DIE OPFER DES H E R REN«
75
Clasesdochter durfte sich i n der Tat ausführlicher z u Aspekten der Lehre äußern. Dies alles machte sie nicht nur zum Vorbild für die Frauen in den täuferischen Gemeinden, dadurch forderte sie auch die dezidierte Legitimie rung männlicher Dominanz in Bekenntnisfragen ein. Und doch war die Ge schlechterparität wohl nicht der wesentliche Grund, warum Weynken Claes dochter ausgerechnet 1 570 den Weg in das täuferische Martyrologium fand: Ü bereinstimmend verweisen Cramer und Gregory darauf, daß es sich bei ihr um die erste protestantische Märtyrerin handelt.28 In der Folge versuchten zahlreiche protestantische Gruppen, sie für sich zu reklamieren.29 Und schließ lich hatten die Mennoniten für die Ausgabe 1 570 ein besonderes Interesse an ihr als erste Märtyrerin. In dieser Phase waren die Trennungen innerhalb des Täufertums o ffenkundig. Für die Identitätsstiftung war es jedoch von ent scheidender Bedeutung, sie aufzunehmen, zumal in Monnikendam, der Ort, an dem sie verbrannt worden ist, die Erinnerung an Claesdochter fortbestand und so in die neue Edition von »Het O ffer des H erren« einfließen konnte.3o Am Beispiel des Testaments von Anneken ]ansz ist ebenfalls erkennbar, wie sie sich zumindest vordergründig über die Begrenzungen der hier skiz zierten täuferischen Geschlechterordnung hinwegsetzte, der Schrift also ein transitorischer Charakter zukam: »Siehe, ich gehe heute den Weg der Prophe ten, Apostel und Märtyrer und trinke aus dem Kelch, aus dem sie alle getrun ken haben. Ich gehe den Weg, sage ich, den Christus ]esus [. . . ] auch gegangen ist, auch er hat aus diesem Kelch trinken müssen.«'1 Sie stellt sich damit auf eine Stufe mit den - männlichen - Märtyrern, Aposteln und Christus selbst. Damit verweist sie deutlich darauf, daß der Tod für die täuferische - und nach ihrem Verständnis rich tige - Lehre letztlich alle Ordnungen und Hierarchien nivellierte. Daß dies jedoch nur für eine jenseitige Ordnung, keinesfalls aber für das diesseitige Geschlechterverhältnis galt, läßt sich nicht zuletzt daran ablesen, daß ]ansz ihre Gedanken nur an ihren Sohn und außerdem auch nur im persönlichen Testament und nicht als Vermahnung schreiben konnte. Sowohl die quantitative als auch die qualitative Analyse der Schrift »Het O ffer des Herren« legen also nahe, daß es in der Phase der Konsolidierung, mithin beim Aufbau einer täuferischen Identität nicht darum ging, eine neue Geschlechterordnung mit aufgelöster Hierarchie bereitzustellen. Damit waren die Rahmenbedingungen für die Ausdifferenzierung von Männlichkeiten ge schaffen, auch ohne Vorstellungen von Weiblichkeiten und Männlichkeiten
28 29 30 31
Vgl. ebJ., 422 lind Gregory, 1 999, 1 85. Vgl. Rablls IIl, 1 552-58, 1 20-1 24. VgJ. emmer, 1 904, 423. Ebd., 70f. Ü bers. N .G.
76
N I C O L E G R O C H OWI N A
entwickelt z u haben, welche auf »polarisierenden Geschlechtscharakteren,< basierten.32
Männlichkeiten im Martyrologium In der Phase der Reformation kam es zur N euorientierung zahlreicher Kreise der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Darüber hinaus mußten sich neue Zirkel wie etwa die Täufer etablieren und in Auseinandersetzung mit bestehenden Ordnungsmustern ihre eigenen Positionen formulieren. Dabei zeigte sich, daß das erste täuferische Martyrologium genutzt wurde, um das der Umbruchsitu ation geschuldete Vakuum in der Geschlechterordnung mit hierarchisierenden Vorstellungen zu ersetzen. Gleichwohl konnten Frauen nicht völlig ausge schlossen werden, da ihr Anteil an der täuferischen Bewegung bemerkenswert war. Entsprechend deutlich mußten deswegen die verschiedenen Ausprägungen der Männlichkeit konnotiert werden. Dies führte zu einer Ausdifferenzierung ihrer Formen. Die hegemoniale Männlichkeit und damit die »momentan ak zeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats« , das die Do minanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen wieder gewährleisten sollte,33 lag nun explizit beim bekennenden Mann, der gründliche Ermahnun gen an seine Gemeinden hinterließ, standhaft i m Verhör war und fast emoti onslos seiner Familie Trost spendete. Diesem gesetzten Ideal des Märtyrers waren alle anderen Handlungstypen von Männlichkeit unterzuordnen. Gleich wohl mußten auch sie im Text reflektiert werden, um dem Zielpublikum ge recht zu werden. Als Bekenner war es von entscheidender Bedeutung, die eigene Leidensfa higkeit angesichts des bevorstehenden Todes, aber auch der nachfolgenden Erlösung deutlich zu benennen. So dienten die Exempel den täuferischen Gemeinden als eindrückliche Vorbilder:
» Mein liebes Kind, als ich mich zur Bibel begab, diese durchsuchte und durchlas, so erkannte ich, daß ich mein Leben in Richrung des ewigen Todes ging. Indem ich solches mir zu Herzen nahm, begann ich mich sehr zu erschrecken und zu fürchten und habe Gottes Wort als meinen Ratsmann genommen. [ ...) Darum, lieber Sohn, habe ich es als besser erachtet,
32 Vgl. Hausen, 1 976 und Connell, 2000, die dies 33 Vgl. Connell, 2000, 98.
für
das ausgehende 1 8. Jahrhundert annehmen.
)� D I E O P F E R D E S H E RR E N «
77
mit Moses, mit Gottes Kindern [ ..] zu leiden, eine kleine Zeit, u m dann mit der Welt (die
vergehen wird) zu leben in aller Fülle.«34 So schrieb der Täufer J orian Simonsz seinem Sohn, nachdem er 1 5 5 7 in Haar lem gefangen genommen worden war. Er erklärt, daß die Wahl von Gottes Wort als Ratsmann und Leitlinie auf seine eigene Einschätzung seines Lebens und seiner Zeit zurückging. Um den ewigen Tod nicht zu erleiden, sondern in der Fülle der nicht vergänglichen Welt zu leben, habe er beschlossen, mit Mo ses und den Kindern Gottes eine kurze Zeit des Leidens auf sich zu nehmen. Dieser eigenständige Entschluß war der erste Schritt zu einem starken Be kenner, der in der Folge nicht nur seinem Sohn diese Erklärung und Verhal tensregeln mit auf den Weg geben sollte, sondern auch an seine Mitgefangenen drei Briefe schrieb, um sie auf ihren Wegen zu bestärken.35 In die Hand des H erren sollten sie sich begeben, standhaft sein, denn durch viel Druck müsse gegangen werden, bis es zur Erlösung käme.36 Frei sei er selbst, seit er seine Nähe zu Gott entdeckt hätte - so frei, daß er es nicht glauben könne, in einem Gefängnis zu liegenY Mit dieser Leidensfahigkeit setzte sich Simonsz deutlich von den bereits genannten Frauen ab, welche die Schwachheit ihrer Körper beklagten und sich oft auch den Verhören durch Ohnmachtsanfälle entzo gen.38 Zwar forderten auch sie die Standhaftigkeit ihrer Ehemänner und Kin der ein, aber grundsätzlich wurden sie darin von den Männern übertroffen. Weiterhin war es wichtig, daß sich die Bekenner mit hochrangigen Ge sprächspartnern auseinandersetzten und dabei Themen besetzten, welche nicht mit den Frauen diskutiert wurden. Hierzu gehörten in erster Linie die Fragen, welche dezidiert die täuferische Theologie betrafen. Wesentlich war dabei einer der strittigsten Punkte mit anderen Täufergruppen, aber auch mit den Konfessionskirchen im
1 6. Jahrhundert:
die Menschwerdung Christi.39 Menno
Simons ging davon aus, daß Christus bei seiner Geburt nicht das Fleisch seiner Mutter Maria angenommen hatte - und die bekennenden Täufer folgten ihm in dieser Auffassung. Hans van der Maes forderte seine Verhörenden dabei auf, zahlreiche Bibelstellen nachzulesen, mit denen er auf das Wirken des Hei ligen Geistes und die direkte H erkunft Jesu von Gott verwies.4o Schließlich beharrte er darauf, daß Maria vom Heiligen Geist selbst empfangen habe -
34 Cramer, 1 904, 258. Ü bers. N.G. 35 Vgl. ebd., 262-266. 36 Vgl. ebd., 265. 37 Vgl. ebd., 263. 38 Vgl. ebd., 330. 39 Zu den Auseinandersetzung innerhalb der täuferischen Gemeinden vgl. Gregory, 1 999, 24 1 f. 40 Vgl. Cmmer, 1 904, 36l f.
78
N ICOLE GROCHOWINA
andere
Hinweise
seien i n der Schrift nicht z u finden.41
Diese
strenge
Schriftgläubigkeit war es auch, welche über die Fragen nach dem Schwert gebrauch, dem Schwören von Eiden, dem I>urteutonische Rohheit und Wildheit« am Werk zu sehen meinte.5o Männliche Härte wird zum Leitbild für den Studenten insgesamt, wenn Laukhard erklärt: »aber bei dem allen scheint es doch der Sache angemessen zu seyn, dass der Student auf Universitäten sich, so viel er kann, von allem verzärtelten und verfeinerten Wesen abhalte«.51 46 47 48 49
Ebd., 1 5 1 . Keil/Keil, 1 893, 287. Clark, 2005. Zur Krise der Männlichkeit in der hötischen Gesellschaft vgJ. Schmale 2003, 1 06f., 1 47f.; Dinges, 2004, 75f. 50 Vgl. Schulze/Ssymank, 1 932, 1 95. 51 Laukhard, 1 792 I, 1 93 .
S T lI D E N T E N f.: U L T U R A L S O R T H E G E M O N I A L E R M A N N L I C H f.: E I T ?
95
D er Student und die Frauen Die vermeintlich klare Ablehnung alles Weiblichen stellt sich jedoch nicht so einfach dar, wenn man die Tatsache berücksichtigt, daß das gesellige Beisam mensein von Studenten, etwa mit Professorentöchtern, von den Obrigkeiten durchaus als erstrebenswert im Sinne der sittlichen Verfeinerung angesehen wurde. 52 Die durchaus positive Konnotation von Weiblichkeit stand jedoch dem vorherrschenden studentischen Frauenbild entgegen. Sexuelle Kontakte waren für die Studenten als »zwangszölibatärem« Personenkreis immer mit dem Problem der Illegitimität verbunden.53 Die zur Verfügung stehenden Alternativen waren Enthaltsamkeit, Konkubinat oder Prostituierte. Nach Brü dermann kann daher durchaus ein Zusammenhang zwischen der restriktiven Sexualgesetzgebung und der unter den Studenten vorwaltenden Einstellung zum weiblichen Geschlecht gesehen werden. Hätten die Studenten in der ersten Hiilfte des 1 8. J ahrhunderts noch mit »Aggressivität und Provokation« reagiert, so zogen sie sich in der zweiten Hälfte auf ihre negative Haltung zu den Frauen zurück.S4 Aufgrund der akademischen Privilegierung genossen die Studenten einen besonderen Rechtsstatus mit eigener Gerichtsbarkeit, der ihnen in der Regel eine wesentlich geringere Bestrafung sexueller Devianz bescherte als den betroffenen Frauen.55 Zu den schwerwiegendsten Konse quenzen dieser durch die Privilegierung abgesicherten Form männlicher Hegemonie kann sicherlich die Bagatellisierung von Vergewaltigungsdelikten gegenüber Dienstmägden und der Konsequenzen einer illegitimen Schwanger schaft zählen.56 So hatten Alimentations- und Satisfaktionsforderungen gegen über den Studierenden in der Regel offenbar wenig Aussicht auf Erfolg. Eine Art ikonographischer Weihe erhielten die unehelichen Geburten aus studentischer Sicht in der Tradition der Darstellungen des »Cornelius relega tus«. Dieses Idealbild »akademischer Freiheit« wird auf zahlreichen Stamm buchbildern und Stichen mit einem unehelich gezeugten Kind konfrontiert, ist hoch verschuldet, was nicht zuletzt auf seinen immensen Alkohol- und Tabak konsum zurückzuführen ist, und dazu noch stets gewaltbereit, was durch seine Sammlungen an Hieb-, Stich- und Schußwaffen zum Ausdruck kommt. 57 Die
52 Nicht zuGlIig gilt dies vor allem für Göttingen, vgl. Brüdel'mann, 1 990, 381; N iemeyer, 1 996, 283. 53 Die bisher eingehendste sozialgeschichtliche Untersuchung des Problems liefert Brüdermann, 1 990, 380-420. 54 Vgl. Brüdermann, 1 990, 383. 55 Vgl. Bauer, 1 926, 57 u. 7 1 . 5 6 Zur rechtlichen Behandlung der Vergewaltigung, vgl. Brüdermann, 1 990, 4 1 8 f. 5 7 Vgl. Füssel, 2004, 1 65f.
M A RIAN
96
FUSSEL
Stammbuch sprüche beziehen sich, neben Alkoholkonsum und notorischem Geldmangel, zu weiten Teilen auf das Verhältnis zu Frauen. Neben der be kundeten Sehnsucht werfen sie ein deutliches Bild auf die Verachtung und Verdinglichung, mit welcher die Studenten ihren Liebschaften begegneten. Auch physische Gewalt gegenüber Frauen wurde gelegentlich als legitim ange sehen bzw. heruntergespielt.58
Transformationen Von einem wirklichen Verhältnis der Hegemonie kann im Sinne Antonio Gramscis im Grunde erst dann gesprochen werden, wenn das daran geknüpfte Ü ber- und Unterordnungsverhältnis weitgehend akzeptiert bzw. keiner perma nenten Kritik und Infragestellung ausgesetzt ist. Ein solches Verhältnis war mit der Ausgrenzung der Frau aus der vormodernen Universität weitgehend gegeben. Zwar sind einzelne Graduierungen von Frauen bekannt, und auch die weibliche Befahigung zu Studium und Gelehrsamkeit wurde zweifellos wieder holt diskutiert, wirklich in Frage gestellt wurde die Universität als Männerdo mäne jedoch nie.59 Zahlreiche Stammbucheinträge machen gleichzeitig deut lich, dass ein Eindringen der Frauen in den Bereich der Gelehrsamkeit als Bedrohung wahrgenommen wurde: »Und ich gestehe frei, Daß ein gelehrtes Weib der Teufel selber sei« Oena 1 786).60 Die seit dem ausgehenden 1 9 . J ahrhundert steigende Präsenz von Frauen i n den Bildungsinstitutionen führte möglicherweise zu einer zunehmenden männlichen - sich um ihre H egemonie bedroht fühlenden - Abschottung in bestimmten Formen der Geselligkeit (Korps etc.).61 So finden sich in dieser Zeit auch wiederholt Karikaturen, wie die einer »krassen Füchsin«, in denen die weibliche Studentin als geradezu sittenwidriges Kuriosum verspottet wird.62 Wolfgang Schmales Feststellung, daß von einer hegemonialen Männlichkeit vor dem Ende des 1 8. J ahrhunderts nicht gesprochen werden könne, läßt sich möglicherweise auch auf das sm dentische Milieu übertragen.63 Das hieße, daß es im Verlauf der Sattelzeit zu einer Art Aufhebung der ständisch-fragmentierten studentischen Männlich-
58 59 60 61 62 63
Vgl. z.13. den Stammbucheintrag Nr. 1 453 in, Keil/Keil, 1 893, 267. 13oehm, 1 996, 883-908; Niemeyer, 1 996. Keil/Keil, 1 893, 287. frevert, 1 9 9 1 , 2 1 4ff Vgl. Schmidt-Harzhach, 1 9 8 1 , 1 87; weitere B eispiele bei Klant, 1 984, 1 08-1 1 8. Vgl. Schmale, 2003, 1 52ff.
S T lI D E N T E N K lI L T lI R A L S O R T H E G E M O N I A L E R M A N N L I C H K E I T '
97
keiten i n einen neuen hegemonialen Typ der »satisfaktionsfahigen Gesell schaft« wilhelminischer »Burschenherrlichkeit« gekommen ist.64 Deutlich wird der nach der napoleonischen Zeit einsetzende Wandel unter anderem im Bereich studentischer Sexualität. War der Umgang mit Frauen häufig Prostituierten - zuvor fester Bestandteil des studentischen Lebenswan dels, brach sich nun ein neuer Geist Bahn, wie er charakteristisch durch Ernst Moritz Arndt verkörpert wird. So schreibt dieser 1 859 in einem Gedicht Lf:7ider die Datl1enplldelei: »Wer der Wahrheit treu bleiben will, l'vluß als Jüngling sich entweiben«.65 Bereits in seiner Schrift über den »deutschen Studentenstaat« hatte Arndt 1 81 5 über das Studium verkündet: »Gerade diese herrlichen Jahre sind die Jahre, wo der Jüngling in der höchsten Freiheit, die ihm nachher nie wieder so wird, seinem Gemüthe den Stahl des Charakters versetzen soll. Dies kann nur geschehen durch Umgang mit tüchtigen Männern und weid lichen Jünglingen. Am meisten wird dies gehindert durch den Umgang mit Weibern, auch mit den besten Weibern. Die heilige Schrift spricht viel von Hurereien, die nicht bloß leiblich sind; es gibt auch manche geistige Hurereien, ärger als alle leiblichen
Stlldentensprarhe ulld Stlldmtelilied ill Halle t'or h'/lldert jahrm. Neudmck des
,Idiotikon der Bllrschenspra,he( VOll 1 795 liNd der )Stt/dentenliedm VOll 1781,
Halle 1 894 (ND
Halle 1 990) Clark, WiIliam: The Academic's Masculine and Feminine Figures, in: Ders.: A Ce/dell/ic Alallllers, & Markets. A Sodogenesis of the Resean'her (unveröff. Buchmanuskript im Druck vorauss. 2005) Connell, Roberr.W.: Dergelt/achte Ale/lIl1. Konstmktioll lllld Klise ,iOIl MiÜ1I1Ii,.hkeit, Ophden 1 999 Dinges, Marrin: » Historische Anthropologie« und » GesellschaftsgeschichteJetzt war mir der [. . .] genannte Geschützvormeister untergeordnet, was ich ihn habe fühlen lassen.«(ll Der Prozeß der »Vermännlichung« bzw. der allmählichen Aneignung einer positiv besetzten soldatischen Identität beinhaltete somit auch stete Hierar chiebildung unter Männern, und damit den prinzipiell möglichen Aufstieg entlang einer großen Palette von Differenzen. Legt man das Augenmerk darauf, entschlüsselt sich das Militär ungeachtet seines starken Homogenisie rungsdruckes auch als eine Institution, die selbst unter Mannschaftssoldaten laufend Grenzziehungen provozierte - und zwar keinesfalls nur entlang der im Prinzip bereits nach der Grundausbildung stets möglichen Beförderung oder
36 37 38 39 40 41
Connell, 1 999, 79-84. Schuster, 1 987, 6 1 , 63. ßröckJing, 1 997, 24, in Anlehnung an die Theoreme Michel Foucaults. Vgl. z . ß. Däniker / Rl'chner, 1 995, sowie die Forschllngsbilanz bei Hämmcrle, 2000, 241 Doku-MS von Geissler, 1 33. Dokll-MS von Cochnar, 8.
f.
1 14
C H RISTA H A M M E R L E
Ernennung. Zusätzlich zum militärischen Rangsystem oder auch als Gegen strategie dazu, bot sich im Laufe des Wehrdienstes eine Bandbreite von Mög lichkeiten, die es erlaubten, sich gegenüber anderen abzugrenzen und damit innerhalb eines vielschichtigen hierarchischen Systems mit Gewinn zu positio nieren. Die Kategorie Geschlecht verwob sich hierbei mit anderen Kategorien, wie Alter, Ethnizität oder Regionalität, die ebenfalls ein )>Unten« und »oben« schufen. So wurde die Männlichkeit des einen immer höher gesetzt als dieje nige von anderen, die man damit mehr oder weniger stark stigmatisierte; die angesprochene Feminisiemng der Rekruten ist eine solche Form der Abwer tung. In der deutschen Soldatensprache der k. Cu.) k. Monarchie gab es für sie nicht von ungefähr u. a. die Schimpfwörter »Frischlinge«, »Greanlinge«, »jun ges Luder«, »nasser Pinscl1« oder »Spinatwachter«, die alle eine Abwertung markieren; sie mochten sich für manche unter ihnen fortsetzen in der Titulie mng der trotz aller »Abrichtung« »unstramm« gebliebenen Soldaten als »ange zogener« oder »ausgeliehener Zivilist«, »Lapp« oder »Patsch«, bzw. in Begriffen wie »Tintenlecker«, »Sesselreiter« und »Kanzleifuchs« für jene, die nach ihrer Rekrutenzeit in den Schreibbüros dienten und dort Erleichterungen genos sen.42 Im Kasernenalltag boten sie damit ebenso eine Angriffsfläche wie das Differenzmerkmal Erfolg oder Mißerfolg in den Mannschaftsschulen, die Lernwillige oder Männer mit guten Lese- und Schreibkenntnissen von jenen schieden, die dies nicht hatten, gar Analphabeten waren. Letztere wurden natürlich weit seltener in die Unteroffiziersschulen kommandiert, was die Auf stiegsmöglichkeit verminderte - und sie am unteren Ende der Skala mit ande ren gleichsetzen mochte, die im militärischen Disziplinarsystem überhaupt nicht reüssieren konnten, eine »schlechte Conduite« hatten bzw. bei ihrer Kompagnie aus der Strafe nicht herauskamen. Im Falle militärgerichtlicher Verurteilungen verlängerte dies ihre Dienstzeit und konnte zur Degradierung führen. Eine weitere Möglichkeit zur Differenzziehung unter Soldaten bot, neben dem wichtigen Kriterium der Zugehörigkeit zu einem Jahrgang bzw. zu einer Altersgruppe, auch die Zugehörigkeit zu einer Waffengattung, was etwa bei Manövern oder in den Gasthäusern der Garnison zum Tragen kam: Diesbe züglich galt die Infanterie jedenfalls weniger als die Artillerie und die Kavalle rie. Auch die Unterscheidung zwischen einzelnen Regimentern mit mehr oder weniger Ansehen und Tradition hatte im Umgang der Soldaten untereinander Gewicht. Sie konnte sich, wie alle schon angeführten Scheidelinien, mit dem Kriterium der ethnischen Differenz verbinden, so daß z. B. jene Regimenter, deren Soldaten sich vorwiegend aus Bosnien-Herzegowina, U ngarn, Kroatien, 42 Commenda, 1 976, 41 f., 49, 80.
Z U R R E L E V A N Z D E S C O N N E L L ' S C I I E N K O N Z E PTS
115
Galizien und der Bukowina rekrutierten, in der deutschen Soldatensprache häufig einfach als »Tschuschenregimenter« bezeichnet wurden - während um gekehrt die traditionsreichen Tiroler Kaiserschützen, weil man sie nach 1 868 in die österreichische Landwehr integrierte, von den »Vollzeitsoldaten« abschätzig als bloßer »Schützenverein«, »fliegende Gebirgsmarine« oder »berittene Milch weiber« taxiert wurden.43 Das alles verweist beispielhaft auf eine große Bandbreite von Differenzer fahrungen, durch die sich viele Wehrpflichtige, ungeachtet der meist drastisch negativ erlebten Rekrutenzeit, in einem häufig widersptuchsvoUen individuel len Prozeß schließlich doch eine positiv besetzte soldatische Männlichkeit aneigneten; ein Gutteil der von mir zitierten Männer wurde sogar zum »tüchti gen« U nteroffizier. Bei der Analyse der Gründe dafür half mir das Con nell'sche Konzept nur ansatzweise: insofern, als es mich - wie im Ü brigen auch feministische Wissenschafterinnen44 - auf die Materialität des Körpers und die Bedeutung der Ö konomie velwies; die Akzeptanz und Verinnerli chung von Männlichkeitskonstruktionen läßt sich somit keinesfalls auf die Wirkmacht von Diskursen reduzieren. Weiters konnte ich in Anlehnung an Connell das Militär auch in Hinblick auf die Mannschaftssoldaten als ein Feld konzipieren, in dem verschiedene Formen von Männlichkeit ebenso wie Un männlichkeit, die ihrerseits Weiblichkeit konnotiert, in Kraft sind. Zwischen diesen divergenten Ausprägungen des sozialen Geschlechts existieren Abstu fungen und eine strikte Hierarchie, die mit Macht, auch mit Gewalt, oder durch Stigmatisierung erzeugt, in Gang gehalten wird. Man kann daher in Anlehnung an Connell folgern, daß innerhalb des genau umgrenzten militäri schen Feldes selbst in der großen Gruppe der Mannschaftssoldaten mittels der von ihm beschriebenen Mechanismen des Ein- oder Ausschließens, Ein schüchterns, Ausbeutens etc. so etwas wie hegemoniale Männlichkeit gebildet und praktiziert wurde; sie soUte der »gemeine« Soldat am Ende seiner Ausbil dung verkörpern, sie sollte er dann, »ganzer Mann« geworden, auch nach au ßen tragen. Connells Ansatz erklärt aber nicht ausreichend, lJiie genau in diesem kon kl'eten Kontext dominant gesetzte l'vfännlichkeit angeeignet wird und warum. Genügt es, hierfür auf körperreflexive Praxen, auf Sexualität, Gewalt, Macht und Arbeit zu rekurrieren? Ich möchte zusätzlich zu solchen Dimensionen einen Erklärungsansatz favorisieren, welcher auch die - wissenssoziologisch definierte - Erfahrung45 der ja auch von Connell ständig konstatierten
43 Commenda, 1 976, 54 f, 57 f. 44 Vgl. Canning, 2000; Kienitz, 200 1 . 4 5 Vgl. dazu etwa Latzei, 1 998; Ziemann, 1 997.
1 16
C H R I S T A H AM M E R L E
Differenzen unter Männern i n den Vordergrund stellt. D e r kurze Blick auf den Binnenraum .Militär sollte zeigen, wie wichtig solche Differenzerfahrungen der verschiedensten Art für die hier erfolgte Konstituierung soldatischer Männ lichkeit waren. Sie schufen letztlich erst jenen soldatischen Mann, der sich dann machtvoll auch gegen den zivilen Bereich abgrenzen und so seine milita risierte Männlichkeit zelebrieren konnte - sei es in den Gasthäusern und Stra ßen der Garnisonsstadt, wo Soldaten immer wieder allzu rasch il1t Seitenge wehr zogen, um ihre Ü berlegenheit zu demonstrieren, oder sei es während des Besuches in der Heimat, wo sie sich in ihren Uniformen stolz als »schneidige« Soldaten zu präsentieren trachteten.
5. Hegemonie militarisierter Männlichkeit? Auch gibt es Indizien dafür, daß ein abgeleisteter l'vlilitärdienst in den lokalen Gesellschaften mitunter einen Zugewinn an Männlichkeit bedeutete; der To pos vom Militär als »Schule der Männlichkeit« hatte durchaus eine reale Basis etwa dort, wo Unternehmer bevorzugt »gediente« l'vlänner einstellten, deren höhere Disziplin sie offenbar schätzten, oder weil einer Verehelichung nun nicht mehr das Hindernis der Stellungspflicht entgegenstand. Auch der Um stand, daß in Cisleithanien das allgemeine Männerwahlrecht im Jahr 1 907 ab dem 24. Lebensjahr eingeführt wurde, mag auf eine Korrelation zwischen dem abgeleisteten Präsenzwehrdienst und vollem Erwachsenenstatus verweisen. Reichen solche H inweise aber für die Aussage, daß sich auch in Ö sterreich Ungarn schon vor dem Ersten Weltkrieg eine H egemonie militarisierter Männlichkeit entwickelte, die alle anderen Männlichkeitskonzepte überstrahlte? Wurde der militärerfahrene Mann hier in der Tat zum mehrheitlich akzeptier ten Vorbild? Erhielt dieser eine Leitbildfunktion, obwohl er, wie ausgeführt, nur eine Minderheit seines J ahrgangs repräsentierte und nach dem Wehrdienst in der Heimat wieder mit jenen zusammen lebte, die dort andere, wohl ebenso positiv besetzte Männlichkeitsideale verkörperten - etwa als ungarischer Bauer, tschechischer Nationalist oder Sohn einer jüdischen Familie aus Galizien, der vom Militärdienst befreit worden war, um früh zum Familienerwerb beizutra gen? Zwar p rofitierten die »gedienten« Männer viel davon, daß die Bedeutung, das Ansehen und die öffentliche Präsenz des Militärs in jener Zeit auch in Ö sterreich-Ungarn stark zunahmen; das soll hier keinesfalls bestritten werden. Die Einführung d er Allgemeinen Wehrpflicht hatte eine massive Erhöhung des Friedens- wie des Kriegsstandes der Habsburgerarmee zur Folge, daher
Z U R R E LEVA N Z D E S C O N N E L L ' S C H E N KONZ EPTS
117
stiegen die dafür aufgewendeten Kosten erheblich. Dieser Umstand wurde politisch damit begründet, daß man sich gegenüber den europaweit zu beo bacl1tenden Aufrüstungs- und Militarisierungstendenzen nicht verschließen könne und auch die zunehmenden Spannungen im Innern wie an den Grenzen der Monarchie diese Entwicklung notwendig machten. Man führte zahlreiche neue und verbesserte Waffensysteme ein, wovon nicht zuletzt die heimische Rüstungsindustrie profitierte, und baute das stehende Heer, die Marine und die beiden Landwehren aus. Ab 1 886 wurde für den Kriegsfall sogar eine Landsturmpflicht für alle Männer zwischen 1 9 und 42 J ahren eingerichtet, was den Radius der potentiellen Militärpflicht stark ausweitete. Außerdem entstan den ab den 1 870er Jahren vielerorts Veteranenvereine, und Kaiser Franz J 0seph 1 . stilisierte sich erfolgreich als erster Soldat des Reiches, der einer ihm ergebenen, traditionsreichen und geeinten Armee vorstand. Inszeniert wurde das zu den verschiedensten Anlässen auch durch eine steigende Zahl von Militärparaden und durch militärische Denkmäler, deren Bau vorangetrieben wurde. Doch all der öffentlich inszenierte »Glanz der Montur«, all die zunächst »von oben« voran getriebenen politischen und ideologischen Bemühungen zur Bedeutungssteigerung des Militärs und des Militärischen stießen dort an ihre Grenzen, wo sie mit gegenläufigen konkreten Bedürfnissen, Interessen und Leitbildern der Menschen in Konflikt gerieten. Sie waren damit in ihrer Wirk macht ebenso begrenzt wie jener umfassende Anspruch des Militärs auf eine allgemein verbindliche Definition von Männlichkeit, den ich vorne analysiert habe. Noch stellte dies einen primär innermilitärischen Diskurs dar, der sich in anderen Feldern erst zu manifestieren begann. Daß es in einem gesamtge sellschaftlichen Bezugsrahmen in Ö sterreich-Ungarn damals noch keine He gemonie militarisierter Männlichkeit gab, soll zuletzt der Hinweis auf eine dramatische Zunahme der Anzahl all jener Männer belegen, die aus unter schiedlichen Gründen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, als die skiz zierte Militarisierung »von oben« zweifels frei einen Höhepunkt erreichte, ihrer Stellungspflicht nicht nachkamen: Diese Rate stieg nun gegenüber den Jahr zehnten zuvor in manchen Regionen um weit mehr als 1 0 Prozent; sie betrug im J ahr 1 900 monarchieweit noch 9,4 Prozent, kletterte dann bis 1 905 auf immerhin 1 8,6 und 1 9 1 0 sogar auf 22,7 Prozent aller Stellungspflichtigen. Höchstwerte verzeichneten dabei Kroatien und Slawonien mit 45 Prozent, gefolgt von Galizien, Krain und Dalmatien mit 35 und Ungarn mit 25 Prozent. In den österreichischen Ländern betrug die Rate der bei der Stellung nicht anwesenden Männer damals hingegen nur noch zwischen 3 und 6 Prozent; hier hatte sich die Akzeptanz der Stellungspflicht im Untersuchungszeitraum
1 18
C H R1 STA H A M M E R L E
kontinuierlich gesteigert, auch wenn vor dem Ersten Weltkrieg die Zahl der Abwesenden wiederum stieg.46 Das sollte nur beispielhaft demonstrieren, daß die gemeinsame k. (u.) k. Armee und die von ihr verkörperten Werte damals auch von vielen Menschen der Monarchie abgelehnt wurden. Dies ließe sich weiters anhand der zeitge nössischen Militarismuskritik, der vielen nationalistisch motivierten Demonst rationen gegen das Militär und der diesbezüglichen Konflikte im Reichsrat zeigen, wo die beantragten Erhöhungen des Militärbudgets und der Rekruten zahl öfters blockiert wurden. Auch das vermittelt ein Bild davon, wie um stritten das Militär damals in Ö sterreich-Ungarn war. Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg läßt sich somit für dieses komplexe Staatsgefüge kein aus den Führungsebenen von »Wirtschaft, Militär und Politik« bestehender »Bund« ausmachen, der im Sinne Connells eine militarisierte hegemoniale Männlichkeit durchgesetzt hätte; zu groß waren hier wenigstens bis 1 906, als die Politik den langjährigen Forderungen der Militärs gegenüber nachgiebiger zu werden be gann, die Interessensgegensätze zwischen diesen Gruppen.47 Erst mit Beginn des Ersten Weltkrieges erlangte die idealisierte Verbindung von Männlichkeit und Militär bzw. militärischen Werten auch in der Habsbur germonarchie eine nunmehr für mehrere Jahre hegemoniale Stellung. Erst jetzt, im Kontext der großen Kriegsbejahung und der verbreiteten Ansicht, man führe einen Verteidigungskrieg, wurden bislang nebeneinander beste hende oder konkurrierende Männlichkeitskonzepte unabdingbar in Relation zum Militär bzw. zur Wehrhaftigkeit der Männer gesetzt. Wer diese Form von Männlichkeit nicht zu repräsentieren vermochte, galt nun jedenfalls weniger als diejenigen, die in den Krieg zogen und für »Gott, Kaiser und Vaterland« ihr Leben riskierten. Diese Hegemonie militarisierter Männlichkeit, die begleitet war von einer »Renaissance« traditioneller Weiblichkeitsnormen, wurde tagtäg lich von zensierten Medien (re)produziert und mittels eines in Ö sterreich-Un garn besonders stark ausgeprägten kriegsabsolutistischen Systems lanciert womit sich Connells Hinweis auf Macht, mit der hegemoniale Männlichkeit letztlich durchgesetzt wird, bestätigt. Daß dies 1 9 1 4 so rasch und tief greifend gelang und in der Tat von einer Mehrheit der Menschen nicht nur akzeptiert, sondern auch gefordert und gelebt wurde, war allerdings nur möglich, weil der Boden bereits vorher aufbereitet worden war - auch wenn vor dem Krieg mehrere Männlichkeitsideale um H egemonie konkurrierten. In diesem Beitrag sollte deutlich gemacht werden, daß es stets notwendig ist, den konkreten Kontext zu klären, innerhalb dessen mit Connell's Konzept
46 Vgl. dazu die Tabelle in: Hämmerle, 2002, 2 1 3 . 4 7 Vgl. Hämmerle, 2002; Allmayer-Beck, 1 987, 1 29-14 1 .
Z U R R E L E V A N Z D E S C O N N E L L ' S C H E N K O N Z EPTS
1 19
hegemonialer Männlichkeit gearbeitet wird. Wie weit fassen wir es, wo verliert sich sein heuristischer Wert, wie wird der »Inhalt« hegemonialer Männlichkeit definiert? Wenn damit letztlich nur auf das männliche Geschlecht generell bezogene Normen - von der Heterosexualität bis hin zur Aggressionsbereit schaft - gemeint sind, benötigen wir kein eigenes analytisches Konzept zur Bestimmung hegemonialer Männlichkeit; eine solche weit gefaßte inhaltliche Auffüllung hätte es mir wohl erlaubt, alle ethnischen, sozialen und religiösen Gruppierungen der Habsburgermonarcbie zu subsumieren. Je mehr jedoch in der historischen Analyse die Merkmale hegemonialer Männlichkeit konkreti siert und die Reichweite bzw. die Akzeptanz der sie (re-)produzierenden Dis kurse und Praxen hinterfragt werden, umso deutlicher zeigt sich, daß es meist mehrere hegemoniale Männlichkeiten gab48 - wenn nicht, wie in der Kriegsge sellschaft des Ersten Weltkrieges, eine spezifische Form auch mit staatlicher Macht und Gewalt durchgesetzt werden konnte. Das vermutet übrigens Con nell selbst, wie in seinem frühen Text »Masculinity, Violence and War« von 1 985, in dem er auch gegen sozio-biologistische Erklänmgsmuster für den Konnex zwischen Krieg, Mord, Vergewaltigung und tvrännlichkeit anschrieb: »At any given moment some forms of masculinity will be hegemonie - that is, most honoured anel most influental - and other forms will be marginalizeel or subordinateel.«49
Literatur Allmayer-Beck, Johann Christoph: Die bewaffnete Macht in Staat und Gesellschaft: in: Wandruszka, Adam; U rbanitsch, Peter (Hg.): Die beJJJtlt!nete Macbt, Wien 1 987, 1-1 4 1 Breitner, Burghard: Hand an ZIJ)"i Pfliigen, lnnsbruck 1 985 Bräckling, Ulrich: Disziplin. SO'iJ'ologie IIlId Gmhithte Il/ilitans,her GeborStlll/SplVdllktioll, München
1 997 Canning, Kath1een: Problematische Dichotomien. Erfahrung zwischen N arrativitiit lind Materialität, in: HiJloriscbe AJ/tblVpologie, 2 (2002), 1 63-1 82 Commenda, Hans: Die Delltsche So/dtltel1Jpmcbe in der k. 11. k. öste1T.-tmgtll: Annee, Bad N eyd harting, Linz lI.a. 1 976 (1 9 1 6) Connell, Roben W.: Gmder tlnd POIVe1: Sod"y, tbe Person tllld Soma! Politks, Stanford, California
1 987 Masculinity, Violence, anti War, in: Kimme! M.; Messner M. (Hg.): Alm 'J [JW,f, New York 1 992, 176-183
48 Vgl. dazu v. a. Scholz, 2004. 49 Connell, 1 992, 179.
1 20
C HRISTA H A MM ERLE
The globalization of gender relations and the struggle for gender democracy; in: Breiten_
bach, Eva; Bürmann Ilse u.a.: GeJd!lecbtel1imcbmlg als Kritik. ZlIm 60. GelJllrl.rtag /'01/ Carol H{{gI'lJ/aJ1lI-White, Bielefeld 2002, 87-98 Globalisierung und Männerkörper - Ein Überblick; in: FeJJ1il/iJtisrbe Jtfldim 2 (2000), 7887 Däniker, Kathrin; Rychner, Marianne: Unter »Männern«. Geschlechtliche Zuschreibungen in der Schweizer Armee zwischen 1 870 und 1 9 1 4; in: Studer, Brigitte; Jaun, Rudolf (Hg.) : GeJeblecbtenlerbalflll:r.re in der Schl/)eiz: Rechtssprechung, Diskurs, Praktiken,
Zürich 1 995, 1491 70 Dan7.er, Alfons; im Vereine mit Bancalari, Gustav; Rieger, Franz: Unter deli FabneJI. Die Volker ÖJlem;cb-UllgamJ in Waffen, Prag, Wien u.a. 1 889 Doku-MS Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Institut für \'firtschafts und Sozialgeschichte der U niversität Wien: Unveröffentlichte Manuskripte von Coch =
nar, Wenzel (0. J.); Geissler, Emil (1 942-46); Hahn, Alexander (ca. 1 975); Kowatsch , Anton ('1 928-30); Lippert, Eduard (0. J.); Macher, Michael (1937-38) Frevert, Ute: Soldaten, Staatsbürger. Ü herlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit, in: Kühne, Thomas (Hg.): J'vläl1ne'Re.rchichte - GescbledJfergeJchichte. Männlich keit im Wandel. Frankfurt lvI, 1 996, 69-87 Die kaseminte Nation. MiliMi' und Zi/li/gesellschaji in Detltscbland, München 2001 Hämmerle, Christa: Von den Geschlechtern der Kriege und des J:vlilitärs. Forschungseinbli
cke und Bemerkungen zu einer neuen Debatte, in: Kühne, Thomas; Ziemann, Benjamin (Hg.): WaJ ist l\Jfilitärgesehicbte?, Paderborn, München u.a. 2000, 229-262 Die k. (u.) k. Armee als )Schule des Volkes