Sandra Dlugosch Mittendrin oder nur dabei?
Sandra Dlugosch
Mittendrin oder nur dabei? Miterleben häuslicher Gewalt in der Kindheit und seine Folgen für die Identitätsentwicklung
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Dissertation an der LMU München, 2009
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Kea S. Brahms VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17153-1
Inhaltsverzeichnis
Vorwort von Heiner Keupp
9
1 Einleitung
13
2 Kinder und häusliche Gewalt Theoretischer Kontext
17
2.1
2.2
2.3
Häusliche Gewalt Annäherung an ein alltägliches Phänomen 17 2.1.1 Der Gewaltbegri und seine Diskurse . . . . . . . . . 17 2.1.2 Denition des Begris häusliche Gewalt . . . . . . . 22 2.1.3 Prävalenz häuslicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.1.4 Formen häuslicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1.5 Erklärungsansätze zur Entstehung häuslicher Gewalt . 32 Kinder als Betroene häuslicher Gewalt . . . . . . . . . . . . 37 2.2.1 Prävalenzzahlen betroener Kinder . . . . . . . . . . . 37 2.2.2 Formen von Betroenheit . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2.3 Häusliche Gewalt und Kindesmisshandlung . . . . . . 40 Häusliche Gewalt in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 42 2.3.1 Thematisierung häuslicher Gewalt in der Gesellschaft 43 2.3.2 Gesellschaftspolitische und rechtliche Aspekte . . . . . 47 2.3.3 Frauenbewegung und Kinderschutz . . . . . . . . . . . 49 2.3.4 Forschung im Dunkelfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
3 Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder Zum derzeitigen Stand der Forschung 3.1
3.2
3.3
Kindliches Erleben häuslicher Gewalt Eine familiendynamische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektiven Klinischer Entwicklungspsychologie . . . . . . . 3.2.1 Einussfaktoren und kumulative Eekte . . . . . . . . 3.2.2 Auswirkungen häuslicher Gewalt auf die kindliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Häusliche Gewalt als Trauma für Kinder . . . . . . . . 3.2.4 Häusliche Gewalt und Bindungsforschung . . . . . . . Perspektiven der Resilienzforschung . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Ressourcen und Schutzfaktoren . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Das Belastungs-Bewältigungs-Konzept nach Lazarus .
53 53 57 57 58 60 63 66 67 71
6
Inhaltsverzeichnis
3.3.3
3.4
Kindliche Bewältigung häuslicher Gewalt Coping-Strategien und -Prozesse . . . . . . . . . . . . Häusliche Gewalt und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Geschlechtsspezische Auswirkungen und Geschlechtsrollenvorstellungen . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Die intergenerationale Übertragung häuslicher Gewalt
4 Methodik 4.1 4.2 4.3
4.4
4.5
4.6 4.7
Forschungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitatives Forschungsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahl der InterviewpartnerInnen Das Sampling und seine Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Auswahlverfahren und Vorgehensweisen . . . . . . . . 4.3.2 Hypothesen zur Problematik des Samplings . . . . . . 4.3.3 Kurzdarstellung der erreichten Stichprobe . . . . . . . Datenerhebung mittels Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Kontaktaufnahme und Rahmenbedingungen . . . . . . 4.4.2 Interviewgestaltung und Einsatz des Familienbretts . . 4.4.3 Tonbandaufnahme und Transkription . . . . . . . . . Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Auswertung der Aufstellungen auf dem Familienbrett 4.5.2 Zirkuläres Dekonstruieren . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3 Selbstreexivität als Methode . . . . . . . . . . . . . . 4.5.4 Feinstrukturanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gütekriterien qualitativer Sozialforschung . . . . . . . . . . . Darstellung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5 Die InterviewpartnerInnen und ihre Familien 5.1
5.2 5.3 5.4
Lisa Wenn Sprache fehlt . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Lisas Geschichte . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Lisa und ihre Familie . . . . . . . . . . . . Nina Auf der Suche nach Antworten . . . . . 5.2.1 Ninas Geschichte . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Nina und ihre Familie . . . . . . . . . . . Karina Richtige und falsche Wahrnehmungen 5.3.1 Karinas Geschichte . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Karina und ihre Familie . . . . . . . . . . Cemil Zwischen den Stühlen . . . . . . . . . 5.4.1 Cemils Geschichte . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Cemil und seine Familie . . . . . . . . . .
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75 77 77 79
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115
115 115 116 119 119 120 123 123 124 127 127 128
7
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5.5
Anja Klare Parteilichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 5.5.1 Anjas Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5.5.2 Anja und ihre Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive 135 6.1
6.2 6.3
6.4
6.5 6.6
Kindliches Erleben häuslicher Gewalt . . . . . . . . . 6.1.1 Primary Appraisal . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Secondary Appraisal . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Isolation und Schweigegebote . . . . . . . . . Coping-Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Problemfokussierte Interventionsversuche . . 6.2.2 Emotionsfokussierte Regulationsstrategien . . Ressourcen und Schutzfaktoren . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Schutz- und Resilienzfaktoren der Betroenen 6.3.2 Ressourcen im sozialen Umfeld . . . . . . . . 6.3.3 Die Rolle der professionellen Helfer . . . . . . Beziehungsgestaltung und Bindungsmuster . . . . . 6.4.1 Beziehung zur Mutter . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Beziehung zum Vater . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Parentizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.4 Loyalitätskonikte . . . . . . . . . . . . . . . Rollenverteilung und Geschlechterhierarchie . . . . . Selbstpositionierung als Betroene häuslicher Gewalt
7 Identitätstheorie ein sensibilisierendes Konzept 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7
Zum aktuellen Stand der Identitätsforschung Konstruktionen alltäglicher Identitätsarbeit . Prozess alltäglicher Identitätsarbeit . . . . . . Narrative Konstruktion von Identität . . . . . Identität und Kohärenz . . . . . . . . . . . . Identität und Anerkennung . . . . . . . . . . Identität und Authentizität . . . . . . . . . .
8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen 8.1
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Lisa: was ich jetz dabei gefühlt hab, des hab ich irgendwie, hab ich einfach nich gesagt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 Lisas Selbstnarration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2 Dominierende Teilidentität Ausbildung/Beruf . . . . . 8.1.3 Lisas Identität als Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.4 Sprachlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
135 136 139 141 144 145 149 155 155 156 159 163 163 171 178 182 185 188
193
193 196 199 204 207 211 213
217 218 218 220 223 225
8
Inhaltsverzeichnis
8.1.5 8.2
Nina:
Zusammenfassung: Identitätskonstruktion ohne Sprache . . . . . . . . . . 227 sich selber so'n bisschen a Bild verschaen oder ja ne
. . . . . . . . . . . . . . Ninas Selbstnarration . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vergangenheit verstehen . . . . . . . . . . . . . Die Frage der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstanerkennung der eigenen Stärke . . . . . . . . Zusammenfassung: Identitätskonstruktion als Puzzlearbeit . . . . . . . . Karina: da hatt ich ja auch überhaupt keine Chance irgendwie 8.3.1 Karinas Selbstnarration . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Das Problem der Anerkennung . . . . . . . . . . . . 8.3.3 Karinas Identität als Frau . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.4 Selbstunsicherheit und Selbstwertproblematik . . . . 8.3.5 Zusammenfassung: Identitätskonstruktion in Selbstunsicherheit . . . . . Cemil: also es gibt immer zwei Seiten . . . . . . . . . . . . . 8.4.1 Cemils Selbstnarration . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Teilidentität Schule und Beruf . . . . . . . . . . . . 8.4.3 Kulturelle Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.4 Cemils Identität als Mann . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.5 Ambivalenzen im Umgang mit Aggression . . . . . . 8.4.6 Zusammenfassung: Identitätskonstruktion in Ambivalenzen . . . . . . . Anja: ich bin eigentlich so der absolute Optimist in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.1 Anjas Selbstnarration . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Autonomie und objektive Hindernisse . . . . . . . . 8.5.3 Die Frage der Überlegenheit . . . . . . . . . . . . . . 8.5.4 Anjas Identität als Frau . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.5 Zusammenfassung: Identitätskonstruktion in Polaritäten . . . . . . . . . Möglichkeit des einfach zu verstehen
8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5
8.3
8.4
8.5
. . . . .
229 229 231 234 236
. . . . . .
238 240 240 242 243 245
. . . . . . .
247 248 248 250 252 253 256
. 257 . . . . .
260 260 261 264 266
. 268
9 Wenn Kinder häusliche Gewalt erleben Zusammenfassung und Fazit
271
Literaturverzeichnis
277
Anhang
291
Vorwort Es hat lange genug gedauert, bis die kritische Sozialwissenschaft und die Erfahrungen der psychosozialen Praxis den Mythos von der heiligen Familie erfolgreich in Frage stellen und hinter deren Fassade vielfältige Formen der Gewalt, des Missbrauchs und der Vernachlässigung aufzeigen konnten. Vor allem die sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Kinder ist Thema geworden und in der aktuellen Situation hat der Kinderschutz vor allem in der frühen Entwicklungsphase eine hohe fachliche und politische Priorität. Dennoch wird erst in wenigen Studien wird danach gefragt, wie die Entwicklung von Kindern durch die Zeugenschaft der Gewalt zwischen den Eltern beeinusst wird. Nicht ohne gute Gründe wird hier vor allem eine pathogenetische Perspektive eingenommen. Das Erleben häuslicher Gewalt durch die Kinder selbst ist bislang kaum untersucht worden. Hier setzt die Studie von Sandra Dlugosch an. Sie will die Fragen beantworten, wie betroene Kinder und Jugendliche die gewaltgeprägte Beziehung ihrer Eltern erlebt haben, was das für ihre eigene Entwicklung bedeutet hat und was ihnen geholfen hat, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Befragt wurden junge Erwachsene und so konnten auch Fragen dazu gestellt und beantwortet werden, was im Erleben der interviewten jungen Frauen und Männer noch immer nachwirkt und welche Auswirkungen das Erleben häuslicher Gewalt auf die Geschlechtsidentität und die Beziehungsrepräsentationen hat. Die Arbeit beginnt mit zwei Theorie- bzw. Literaturkapiteln, in denen Sandra Dlugosch das vorhandene Wissen über häusliche Gewalt und ihre Auswirkungen auf Kinder dicht und übersichtlich darstellt. Dabei war als Einstiegshürde erst einmal die komplexe Diskurslage zur Gewaltthematik zu bewältigen. Der Begri wird oft zu sehr auf körperliche Gewalt eingeengt, aber es besteht zugleich auch die Gefahr seiner Überdehnung. Im weiteren Verlauf wird auch deutlich, dass die Forschungslage wenig exakte Daten liefern kann. Die groÿe Dunkelfeldproblematik zwingt eher zu Vermutungen, die immer auch zu Über- oder Unterschätzungen führen können. Am meisten wird der Blick auf Gewalt gegen Kinder gerichtet und speziell auch auf sexualisierte Gewalt. Einen wesentlichen Anschub, sich überhaupt mit diesem Thema zu beschäftigen, gab die Frauenbewegung und sie konzentrierte sich aus verständlichen Gründen auf Gewalt, die von Männern ausgeht, die quantitativ den gröÿten Anteil am Gewaltspektrum aufweist. Auch Gewalt
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Vorwort
zwischen den Eltern wird aus einem solchen Blickwinkel erhoben und dabei gerät die Gewalt, die Männer durch ihre Partnerinnen erfahren, aus dem Aufmerksamkeitsfeld. Da Männer auch keine Anzeigen erstatten, weil das ihrem Bild von Männlichkeit widersprechen würde, ist diese Problematik kaum erforscht. Die Erfahrung von Gewalt bei Kindern und erwachsenen Frauen ist relativ gut erforscht, aber das Erleben der Gewalt zwischen den Eltern auf die Entwicklung der Kinder ist bislang wenig zum Thema geworden. Die von Sandra Dlugosch eingeführten theoretischen Perspektiven der systemischen Familienanalyse, der Trauma-, Bindungs- und Copingforschung zeigen aber deutlich auf, welch wichtigen Stellenwert dieses Gewalterleben in der kindlichen Zeugenschaft für Kinder haben kann. Methodisch hat Sandra Dlugosch einen komplexen Erhebungs- und Auswertungsweg gewählt. Zusätzlich zu einem halbstrukturierten Interview wurde auch mit überzeugender Begründung das Familienbrett aus dem Erfahrungsfeld der systemischen Familientherapie eingesetzt. Das als Auswertungsmethodologie verwendete Verfahren des zirkulären Dekonstruierens wird übersichtlich dargestellt und als zweiter methodischer Zugang wird im Anschluss an Jensen und Welzer die selbstreexive Methode der hermeneutischen Dialoganalyse vorgestellt. Schlieÿlich nutzte Sandra Dlugosch auch das Konzept der Feinstrukturanalyse nach Froschauer und Lueger. Diese gehaltvolle methodische Werkzeugkiste wird sehr übersichtlich und nachvollziehbar dargestellt. LeserInnen haben hier eine echte Chance, der Autorin bei der Arbeit über die Schulter zu schauen und so mit zu verfolgen, wie sie zu ihren Ergebnissen kommt. Die reiche Ernte, die Sandra Dlugosch mit ihrer Untersuchung einfahren konnte, beginnt mit Porträts der fünf befragten jungen Erwachsenen. Es gelingen dichte und fassbare Vorstellungen der InterviewpartnerInnen. Neben den verbalen Informationen erweist sich auch das Familienbrett als eine visualisierende Unterstützung der Interviewdaten. Bei der Ergebnisdarstellung entscheidet sich die Autorin für die Präsentation in zwei Schritten. Der erste Ergebnisbaustein liefert eine geordnete Sammlung der Antworten der Befragten, die gezielt in den Forschungsfragen angesprochen waren. Es geht um das Erleben häuslicher Gewalt aus einer retrospektiv eingeholten Kinderperspektive, die verfügbaren Copingstrategien, die zugänglichen Ressourcen, die jeweilige Bindungs- und Beziehungsgestaltung, das Erleben der Paarformation der Eltern und die eigenen Geschlechtsrollenvorstellungen, die in diesem Zusammenhang geprägt wurden. Auch wenn Sandra Dlugosch in diesem Teil wichtige Theorieperspektiven (z.B. die Stresstheorie von Richard Lazarus, die Resilienzforschung, die Bindungstheorie, die Geschlechterperspektive und die positioning theory) ein-
Vorwort
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bezieht bzw. als Rahmen für ihre Befunde nutzt, geht es ihr in diesem Kapitel zunächst darum, Antworten auf die Fragen zu nden, mit denen sie in ihr Forschungsprojekt eingestiegen ist. Wie die Fülle der präsentierten Befunde zeigt, waren es sinnvolle Fragen, die ein breites Spektrum von beeindruckenden Folgeerscheinungen der kindlichen Zeugenschaft elterlicher Gewaltbeziehungen aufzeigen. Gelegentlich stellt sich sogar der Eindruck ein, als wäre es noch einfacher, selbst erfahrene Gewalt zu verarbeiten, als das Erlebnis der Bedrohung und Hilosigkeit als kindlicher Zeuge, der dem schutzbedürftigen Elternteil letztlich nicht helfen kann. Die Auswertung der Interviews zeigt, wie sehr sich solche Erfahrungen auf die weitere Biographie auswirken können. Vor allem ist das eigene Bindungs- und Beziehungsverhalten davon geprägt. Es gibt überstarke Identizierungen mit jeweils einem Elternteil einerseits und Distanzierungsvorgänge andererseits. Die entstehenden Loyalitätskonikte sind schwer zu managen und nicht selten kommt es zu Parentizierungsprozessen. Mit ihrem zweiten Ergebnisbaustein geht Sandra Dlugosch eindeutig ungewohnte Pfade in ihrem Forschungsfeld. Sie hat ja junge Erwachsene befragt und da bietet sich nicht nur die Frage der Nachträglichkeit in der Rekonstruktion der gewaltbezogenen Erlebnisse an, sondern auch die Frage nach der identitären Bedeutung des Erlebten. Mit dieser Perspektive sollen Befunde aufgenommen und theoretisch integriert werden, die nicht durch die eigenen Ausgangsfragen ins Blickfeld geraten wären, die dazu irgendwie quer liegen. Dieses quer weist auf individuelle Besonderheiten hin, die nicht in allgemein relevanten Zentralkategorien aufgehen, sondern in ihrer individuellen Eigensinnigkeit etwas über die Identitätsbaustellen der einzelnen Personen aussagen. Dass diese auf dem Hintergrund gewaltgeprägter Kindheiten erheblich viel Unsicherheit, Ambivalenzen und Blockaden aufweisen, kann nicht erstaunen, wenn man die gut ausgewählten ausführlichen Selbstauskünften der befragten Personen ernst nimmt. Die Autorin entwirft fünf sehr unterschiedliche Identitätsbaustellen, die nach den anfänglich angebotenen Porträts die interviewten Personen noch einmal ganz neu vorstellen. Es sind Wege in das Erwachsenenleben unter erheblich erschwerten Bedingungen: Es sind vor allem basale emotionale Verunsicherungen und eine hohe Fragilität der konstruierten eigenen Identitätsplattformen, die weit über die Erfahrungen hinausgehen, die junge Erwachsene normalerweise machen. Auch der altersspezische Ablöseprozess aus der Herkunftsfamilie ist schwierig, von Loyalitätskonikten und Schuldgefühlen überschattet. Schlieÿlich ist die Selbstpositionierung als Opfer eine verständliche, aber auch die zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten einschränkende Bewältigungsstrategie. Trotz
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Vorwort
dieser belasteten Biographien werden daraus nicht nur beschädigte Identitäten. Allerdings werden die positiven Entwicklungschancen, die auch in jeder Traumatisierung verborgen sein können, wohl ohne professionelle Beratung und therapeutische Unterstützung nicht genutzt werden können. Am Ende meiner Lektüre will ich meinen Gesamteindruck festhalten. Sandra Dlugosch hat auf der Basis sozialpädagogischer Vorerfahrungen im beruichen Handlungsfeld häuslicher Gewalt eine Fragestellung ausgewählt, die noch viel zu wenig untersucht wurde: Die Folgen kindlichen Erlebens gewaltgeprägter Beziehungen der eigenen Eltern. Der hohe Aufwand, der erforderlich war, um junge Erwachsene mit einem solchen Erfahrungshintergrund zu nden, zeigt schon, wie verstellt dieses Thema durch Ängste, Schamgefühle und weitere Traumafolgen ist. Mit einem hohen Maÿ an methodischer Reexivität wurden Interviews durchgeführt und ausgewertet. Die Autorin hat auf der Basis von sensibel ausgewertetem Interviewmaterial einen Einblick in ein komplexes psychosoziales Gefüge gewonnen und ihn an ihre LeserInnen weitergegeben. Besonders gelungen scheint mir die ursprünglich nicht geplante identitätstheoretische Durcharbeitung der biographischen Auskünfte. Hier entstehen originelle Blickweisen auf junge Erwachsene, die mit der Hypothek ihres gewalterzeugenden Familiensystems einen erheblich erschwerten Weg in eine souveräne Erwachsenenidentität zu bewältigen haben. Entstanden ist ein sehr lesenswertes Buch, das in die Sparte der Praxisforschung einzuordnen ist und dem ich sowohl Leserinnen und Leser aus der psychosozialen Beratungspraxis als auch den Sozialwissenschaften wünsche. München, im September 2009
Heiner Keupp
1 Einleitung
Gewalt in Familien ist ein Thema, das Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern in ihrer Praxis immer wieder und in vielfältigsten Facetten begegnet und auch in Zukunft begegnen wird. So war ich in meiner beruichen Tätigkeit sowohl im Frauenhaus als auch in der Kinder- und Jugendhilfe immer wieder mit Gewalt und deren Folgen konfrontiert. Mein besonderes Interesse galt schon während des Studiums Kindern, die Gewalt zwischen ihren Eltern miterleben mussten, da mir schon damals Literatur und Aufmerksamkeit der Öentlichkeit für dieses Thema fehlten. Aus diesem Grunde befasste ich mich in meiner Diplomarbeit mit Konzepten der Arbeit mit Kindern im Frauenhaus (vgl. Dlugosch, 2001). Als mir Jahre später das Thema der Zeugenschaft von häuslicher Gewalt und der intergenerationalen Weitergabe von Gewaltstrukturen in meiner Arbeit mit Teenager-Müttern erneut begegnete, erschien mir die Lage an Theorie und Forschung zur Zeugenschaft von Kindern in Fällen häuslicher Gewalt nur ansatzweise besser. Neben den wenigen Forschungen, die auf Aussagen von Müttern und Frauenhausmitarbeiterinnen gestützt waren, gab es keine Literatur zum kindlichen Erleben häuslicher Gewalt aus Perspektive der Betroenen selbst. Seit Gewalt gegen Frauen, Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch zunehmend in der Öentlichkeit diskutiert und wahrgenommen werden, sind sowohl die Forschung als auch das Bewusstsein für die Folgen von Gewalterfahrungen in der Fachöentlichkeit zunehmend angestiegen. Auch im Zuge der Erforschung von Traumafolgen ist in den letzten Jahren eine weitere Perspektive auf die Folgen von Gewalt wissenschaftlich untersucht worden. Kinder waren zunächst jedoch nur als direkte Opfer von Misshandlung oder Missbrauch im Fokus der Fachöentlichkeit. Lange Jahre standen zunächst die misshandelten Frauen im Blickfeld der Frauen-Hilfseinrichtungen. Probleme und Nöte der Kinder wenn sie nicht selbst Opfer körperlicher Misshandlungen oder sexuellen Missbrauchs waren blieben lange im Schatten der Gewalterfahrungen ihrer Mütter.
14
1 Einleitung
Seit den 90er Jahren befassen sich zahlreiche Studien, insbesondere aus den USA, mit Verhaltensauffälligkeiten und Störungsbildern von Kindern misshandelter Frauen1 , die sich explizit auch auf die Zeugenschaft der Kinder beziehen. Diese Studien zeigen eindrucksvoll die Folgen einer Zeugenschaft von Kindern in häuslichen Gewaltvorfällen (vgl. Kindler, 2002) und führten zu einer zunehmenden Sensibilisierung der Fachöentlichkeit. Nach und nach setzte sich auch im deutschsprachigen Raum die Ansicht durch, dass Gewalt gegen Mütter (oder Väter) auch Gewalt gegen Kinder ist (vgl. Kavemann, 2000) und trotz indirekter Betroenheit, direkte Auswirkungen auf deren Entwicklung bestehen. In den letzten Jahren rückte die Situation von Kindern, die Zeugen häuslicher Gewalt wurden, zunehmend in den Blick der Öffentlichkeit und erste Veröentlichungen thematisieren Situation und Hilfebedarf von Kindern in Fällen häuslicher Gewalt (vgl. Strasser, 2001; Kindler, 2002; Kavemann & Kreyssig, 2005). Zunächst standen die Kinder in Frauenhäusern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und es entstand eine Vielzahl von Konzepten für die Arbeit mit Kindern im Frauenhaus. Heute gibt es zwar eine steigende Zahl von ambulanten Hilfsangeboten für Kinder, die Zeugen häuslicher Gewalt wurden, die jedoch alle noch den Status von Pilotprojekten innehaben und auf keine geregelte Finanzierung zurückgreifen können. Auch die Kooperation von Fraueneinrichtungen, Kinderschutzorganisationen, Jugendamt, Polizei und den Familiengerichten ist noch jung. Erst vor ein paar Tagen erschien in der Süddeutschen Zeitung vom 14.04.2009 ein Artikel, der die ersten statistischen Zahlen der Kooperation von Polizei und Jugendamt in Fällen häuslicher Gewalt in München spiegelt: Fast jeden Tag muss die Münchner Polizei in zwei Familien mit Kindern gewalttätige Auseinandersetzungen beenden (Loerzer, 2009). Und nur knapp die Hälfte dieser Fälle ist dem Jugendamt bekannt. Hier wird das immer noch enorme Dunkelfeld häuslicher Gewalt ebenso deutlich wie die groÿe Bedeutung des weiteren Auf- und Ausbaus interdisziplinärer Kooperation.
1 Der Begri Kinder misshandelter Frauen wurde im englischen Sprachraum als Children of battered Women insbesondere durch die Veröentlichung von Jae et al. (1990) geprägt und von einigen Autoren ins Deutsche übertragen. Gemeint sind damit Kinder die Gewalt der Väter/Stiefväter gegen ihre Mütter erleben bzw. erlebt haben. In diesem Terminus wird deutlich, wie die Kinder erst über den Fokus auf die Mütter langsam ins Blickfeld der Fachwelt kamen. Zunächst ging es in der Auseinandersetzung mit häuslicher Gewalt um misshandelte Frauen, die erst auf den zweiten Blick als Mütter in Erscheinung traten, was wiederum langsam den Blick auf die Kinder erönete.
1 Einleitung
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Trotz der zunehmenden fachlichen und öentlichen Aufmerksamkeit, die Kindern als Betroenen häuslicher Gewalt zukommt, fehlt es an Forschung und theoretischer Fundierung bisheriger Konzepte und Hilfsangebote. Eine erste Evaluation von Pilotprojekten in Baden-Württemberg (vgl. Kavemann & Seith, 2007) zeigt sowohl deren Wirksamkeit als auch einige wichtige Grundbedingungen, auf die in der Konzeption von Hilfsangeboten zu achten ist. Grundlagenforschung zum Erleben häuslicher Gewalt aus Perspektive von Kindern ndet sich jedoch im deutschsprachigen Raum, mit Ausnahme von Strasser (2001) und Seith & Bockmann (2006), nicht. Ebenso beschäftigt sich ein groÿer Teil der vorliegenden ausländischen Studien lediglich mit Fragen psychopathologischer Auswirkungen häuslicher Gewalt auf die Entwicklung der Kinder. Der Blick auf Ressourcen, Schutzfaktoren und erfolgreiche Bewältigungsstrategien im Sinne einer salutogenetischen Perspektive fehlt ebenso. Vorliegende Studien fragen zumeist nach Folgen und Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder mit dem Fokus auf beobachtbaren Auälligkeiten und Symptomen. Die Frage, wie betroene Kinder und Jugendliche selbst ihre Situation beschreiben und erleben, welche Auswirkungen sie selbst sehen und welche Ressourcen sie als hilfreich einstufen, ist bislang wenig erforscht. Eine solche bisher fehlende Betroenenperspektive ist das Ziel der vorliegenden Forschungsarbeit. Dabei sollen sowohl Auswirkungen als auch Ressourcen aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen ebenso erfragt werden, wie deren Coping-Strategien und Erklärungsansätze im Umgang mit der häuslichen Gewalt. Nachdem auch Langzeitfolgen und retrospektive Verarbeitungsmuster im Kontext häuslicher Gewalt eine Rolle spielen, entschied ich mich für die Untersuchung der Perspektive junger Erwachsener, die in ihrer Kindheit Gewalt zwischen ihren Eltern miterlebt hatten, also einen retrospektiven Blick auf das Erleben häuslicher Gewalt. Um sich dieser Fragestellung zu nähern, befasst sich das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit mit dem theoretischen Kontext der Thematik. Neben Begrisdenitionen und Prävalenzzahlen stehen hier auch gesellschaftliche Aspekte im Mittelpunkt, die für die Auseinandersetzung mit dem Thema häuslicher Gewalt von Bedeutung sind. Im Anschluss folgt ein Kapitel zum derzeitigen Forschungsstand zu Auswirkungen des Miterlebens häuslicher Gewalt auf Kinder und die umfassende Beschreibung der Methodik der vorliegenden Forschung. Die folgenden Kapitel widmen sich den Ergebnissen der Auswertung der von mir geführten Interviews. Zunächst sollen im Ergebnisbaustein I die di-
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1 Einleitung
rekten Ergebnisse auf die im Interviewleitfaden (siehe Anhang 9) aufgenommenen Forschungsfragen bearbeitet werden. Im Zuge der weiteren Auswertung erwiesen sich aktuelle Konzepte der Identitätsforschung als hilfreich, um hier noch einmal einen Blick auf die Auswirkungen häuslicher Gewalt auf die Identitätsentwicklung der jungen Erwachsenen werfen zu können. Diese Konzepte werden in einem weiteren theoretisch orientierten Kapitel vorgestellt, an das sich dann die weitere Auswertung der Interviews im Ergebnisbaustein II anschlieÿt. Die Arbeit endet mit der Zusammenfassung zentraler Ergebnisse und einem kurzen Ausblick auf deren Relevanz für die praktische Arbeit mit betroenen Kindern und Jugendlichen.
2 Kinder und häusliche Gewalt Theoretischer Kontext 2.1 Häusliche Gewalt Annäherung an ein alltägliches Phänomen Gewalt??? Als ich dich fragte, was Gewalt ist, sagtest Du, schlagen und geschlagen werden. Wenn Du oft über mein Aussehen klagst und wenn Du so tust, als ob wir nicht zusammengehören, wenn Du mich nicht mit zu Deinen Freunden nimmst, wenn Du sagst, ich bin zu nichts zu gebrauchen, merke ich, dass Du nicht weiÿt, was Gewalt ist. (Gemeinsam geschrieben von vier Mädchen, alle 12 Jahre) (Ernst & Stampfel, 1991, S. 52).
2.1.1 Der Gewaltbegri und seine Diskurse
Die Denition des Begris häusliche Gewalt ist keinesfalls einfach und eindeutig. In Literatur und Forschung nden sich vielfältige Denitionen und Begrisbestimmungen. Die Probleme der Gewaltforschung beginnen bereits mit der genauen Festlegung, was als Gewalt gelten soll (Heitmeyer & Hagan, 2002, S. 16). In einem ersten Schritt soll es zunächst um die Problematik des Gewaltbegris an sich gehen, um dann von dieser Grundlage aus den Begri der häuslichen Gewalt genauer denieren zu können. Der Gebrauch des Begris Gewalt wirft die Frage nach seinem Bedeutungsgehalt auf und es bedarf einer präzisen Denition. Angesichts der Fülle denkbarer Denitionen ist die Schwierigkeit einer genauen Begrisbestimmung evident. Der Gewaltbegri reicht von engen Denitionen wie beispielsweise im Strafrecht, die sich auf deutlich sichtbare und diagnostizierbare Formen von Gewaltanwendung beschränken, bis hin zu breit angelegten Denitionen, die heute sozialwissenschaftliche Zugänge dominieren und jegliche Form der Abweichung von friedfertigem Verhalten erfassen. Weite Denitionen von Gewalt laufen dabei allerdings Gefahr, eine Ausdierenzierung von Art und Schwere der Gewalt zu verlieren.
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Angesichts der Vielschichtigkeit des Phänomens Gewalt kann es nicht darum gehen, daÿ sich die Sozialwissenschaften auf einen einzigen, überall in gleicher Weise anzuwendenden Gewaltbegri festlegen. Es geht vielmehr darum, ob die verwendete Gewaltdenition dem jeweiligen Praxisfeld bzw. Forschungskontext angemessen ist (Haller et al., 1998, S. 12f ).
Die Problematik einer Denition von Gewalt Gewalt ist ein äuÿerst komplexes Phänomen, das zunächst im alltäglichen Gebrauch einfach erscheint, bei näherer Betrachtung jedoch in seiner Denition von unterschiedlichsten Einüssen und Wertungen abhängig ist. Es ist in mehr als einer Hinsicht ein riskantes Unterfangen, wenn ein für alle Mal festgelegt werden soll, was Gewalt ist. Denn immer wieder wird als dessen Grundprinzip die Grenzüberschreitung deutlich, die in Zeiten der Auösung oder zumindest der vielfältigen Aufweichung von moralischen, sexuellen, erzieherischen und rechtlichen Normen und Werten klare Grenzziehungen traditioneller Art kaum noch zulässt. Juristen etwa mögen zwar zu engen grenzziehenden Festlegungen gelangen, um justiziable Straftatsbestände zu schaen, das Phänomen Gewalt in der sozialen Realität ist jedoch sozialwissenschaftlich betrachtet immer mehrdimensional zu verstehen. Neue Grenzmarkierungen von Gewalt stellen sich beispielsweise aufgrund einer höheren Sensibilität (Vergewaltigung in der Ehe) oder veränderten Wahrnehmungsmustern (Sitzblockaden als Gewalt) ein. Gerade weil der Problembereich Gewalt in besonderem Maÿe uneindeutig ist, ist eine erhöhte Sensibilität und Reexivität geboten (Heitmeyer & Hagan, 2002, S. 16).
Historisch unterlag der Gewaltbegri vielfältigen Wandlungen. Was heute als Gewalt deniert wird, war früher zum Teil legitimer Bestandteil des Alltags. Durch zunehmende Sensibilisierungs-, Emanzipations- und Gleichberechtigungsprozesse innerhalb der Gesellschaft wandelten sich sowohl der Gewaltbegri als auch die Tatbestände von Gewalt ständig. Beispiele nden sich in vielfältigen Bereichen, insbesondere auch im Zusammenhang mit Gewalt in Familien und Paarbeziehungen sowie gesellschaftlichen Erziehungsvorstellungen. War körperliche Züchtigung in der Erziehung von Kindern im letzten Jahrhundert noch völlig normal, so ist heute im Gesetz das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung ( 1631 Abs. 2 BGB) festgeschrieben.
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Aber nicht nur über die Zeit unterlag der Gewaltbegri einer Wandlung und Veränderung. Auch zwischen Kulturen und Teilkulturen unterscheidet sich die Denition von Gewalt teilweise erheblich. Gewaltdenitionen sind Werturteile (Godenzi, 1993, S. 34) und damit absolut abhängig von Werten und Normen, gesellschaftlichen Vorstellungen, politischen Einstellungen, individuellen Grenzen und subjektiven Einschätzungen. Oder wie Haller et al. (1998) es formulieren: Es gibt keine Gewalt an sich, Gewalt ist das, was innerhalb kultureller, sozialer, politischer und moralischer Normen als solche deniert wird (S. 13).
Der Gewaltbegri ist nicht nur abhängig davon, innerhalb welcher Normen er deniert wird, sondern bewegt sich auch in der Ambiguität zwischen Ordnungszerstörung und Ordnungsbegründung, Grenzüberschreitung und Grenzsetzung sowie Illegalität und Legalität. Er ist geprägt durch eine kulturspezische Ubiquität und eine sehr breite Palette an Erscheinungsformen, Typen und Intensitäten (vgl. Imbusch, 2002). Gewalt ndet sich in allen Kulturen und Gesellschaften, sowohl in staatlichen Zusammenhängen als auch auf Ebene der Individuen, in individuellen, nationalen oder internationalen Kontexten. Staatliche Gewalt und Machtausübung beispielsweise dient der Ordnungsbegründung, setzt Individuen die in unserer Gesellschaft geltenden Grenzen und ist somit legal. Individuelle Handlungen wie z.B. Körperverletzung, Raub oder Mord dagegen sind Gewalttaten, die die soziale Ordnung stören, Grenzen gesellschaftlich denierte oder auch individuelle überschreiten und somit illegal sind. Formen von Gewalt lassen sich nach Imbusch (2002) in individuelle (physische, psychische oder sexuelle Gewalt gegen Subjekte), institutionelle (staatliche und hierarchisch begründete Gewalt) sowie strukturelle Gewalt (in Form von Marginalisierung und Unterprivilegierung) einteilen. Kulturelle Aspekte, Werthaltungen oder gesellschatiche Überzeugungen, die alle diese Formen von Gewalt legitimieren, beschönigen, rechtfertigen oder verleugnen, werden als kulturelle Gewalt zusammengefasst (vgl. Abb. 2.1). Schon dieser kurze Blick in den Gewaltdiskurs zeigt die Problematik eines einheitlichen Gewaltbegris. Ein weiterer, im Zusammenhang mit dieser Arbeit interessanter Aspekt des Diskurses um Gewalt und ihre Denition, ist die Frage der Rollenverteilungen in gewalttätigen Situationen. Die neuere Gewaltforschung löst sich teilweise ganz von Rollenzuschreibungen nach der Täter-Opfer-Dichotomie und begreift Gewalttaten als Figurationen im
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Kulturelle Gewalt legitimiert
beschönigt
verschleiert macht unsichtbar
GEWALT mittels Akteur
mittels Institutionen
mittels Strukturen
Direkte, individuelle Gewalt:
Institutionelle Gewalt:
Strukturelle Gewalt:
- Schädigung - Verletzung anderer Personen
- staatliche Gewalt - hierarchisch begründete Gewalt
- Marginalisierung - Diskriminierung - Unterprivilegierung
Abbildung 2.1: Übersicht über Formen von Gewalt (vereinfachter Ausschnitt der Darstellung von Imbusch (2002, S. 42))
Sinne von Norbert Elias 2 von Tätern, Opfern und Dritten (etwa Zuschauern oder auch abstrakter die Normen der Öentlichkeit, moralische Tabus etc.). 2 Mit dem Begri Figuration bezeichnet Norbert Elias die Konstellation von Beziehungen und Interdependenzen, in denen Interaktionen zwischen Menschen stattnden. Das Zusammenleben von Menschen in Gesellschaften hat immer, selbst im Chaos, im Zerfall, in der allergröÿten sozialen Unordnung eine ganz bestimmte Gestalt. Das ist es, was der Begri Figuration zum Ausdruck bringt (Elias, 1986, S. 90). Mit Hilfe dieses Konzeptes lassen sich Veränderungen im sozialen Zusammenleben von Menschen besonders sensibel erfassen: Es rückt in einer dynamisch-oenen Form das Interaktionsgeecht der Menschen untereinander ins Blickfeld. Es reduziert soziale Prozesse weder auf strukturelle Systemarrangements, noch führt es sie auf Personenmerkmale zurück (Keupp et al., 2002, S. 45).
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Triadische Konstellationsanalysen könnten der Tatsache systematisch Rechnung tragen, dass in Gewaltinteraktionen Täter-, Opfer- und Zuschauerrollen typischerweise ineinander verschwimmen, miteinander ausgewechselt oder vollkommen unkenntlich werden können (Nedelmann, 1997, S. 66f ).
So ist es neben der inhaltlichen Denition, was unter Gewalt verstanden werden soll, ebenso problematisch, die mit Gewalttaten eng verknüpften Rollenzuschreibungen von Tätern, Opfern und Dritten immer eindeutig zu verteilen. Dies ist ein insbesondere für die Forschung zum kindlichen Miterleben von häuslicher Gewalt interessanter Aspekt, da Kinder, die Gewalt zwischen ihren Eltern miterleben, einerseits die Rolle der Dritten bzw. Zeugen einnehmen, aufgrund ihrer emotionalen Betroenheit jedoch auch Opfer der familiären Gewaltatmosphäre sind. In manchen Fällen fühlen sich Kinder selbst jedoch auch verantwortlich bzw. schuldig (und in diesem Sinne als Täter), da sie Gewalt nicht verhindern können oder aufgrund ihres Verhaltens zum Auslöser für Gewalt geworden sind. Trotz des eben angerissenen intensiven Diskurses und vieler Bemühungen, eine allgemeingültige und objektivierbare Denition von Gewalt und damit auch von Täter- und Opferrollen zu erarbeiten, stellt es nach wie vor eine Frage der subjektiven Bewertung dar, ob ein Verhalten bzw. eine Beziehung oder soziale Situation als gewalttätig bzw. gewaltbesetzt erlebt wird oder nicht (Sommer, 2002, S. 120f). Um dennoch für diese Arbeit eine Richtschnur festzulegen, was im Folgenden unter Gewalt verstanden werden soll, bieten sich feministische Denitionen aus dem Bereich der Frauenbewegung ebenso an wie sozialpsychologische. Eine recht allgemeine Beschreibung von Gewalt ndet sich bei Lamnek et al. (2006): Als mikro- bzw. sozialpsychologisches Phänomen lässt sich Gewalt bzw. soziale Aggression als (Versuch der) Beeinussung des Verhaltens anderer mittels Androhung oder Anwendung von Zwang beschreiben (S. 78).
In sozialwissenschaftlichen Studien ndet man häug sehr viel weiter gefasste Denitionen von Gewalt als im allgemeinen Sprachgebrauch der Gesellschaft. Diese schlieÿen sowohl psychische als auch ökonomische und soziale Gewalt mit ein und orientieren sich an den Folgen der Gewalt für die Opfer. So z.B. auch die Denition von Stith & Rosen (1990): Violence involves any act of violation, including emotional violence, that attacks the individual's self-concept (S. 1).
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Im Kontext der Frauenbewegung und der Entstehung von Frauenhäusern kristallisierten sich ebenfalls vielfältige Denitionen von Gewalt heraus. Hagemann-White (1992) deniert Gewalt als die Verletzung der körperlichen oder seelischen Integrität eines Menschen durch einen anderen (S. 22). Wobei die feministische Diskussion den betroenen Frauen und Mädchen selbst das Recht einräumt, zu bestimmen, was ihre Integrität verletzt und somit als Gewalt zu werten ist (vgl. Hagemann-White, 1992, S. 24). In einer früheren Denition betonen Hagemann-White et al. (1981) die Bedeutung patriarchaler Machtstrukturen in der Gesellschaft für die Deniton von Gewalt. Somit deniert sich Gewalt als jeder Angri auf die körperliche und seelische Integrität eines Menschen unter Ausnutzung einer gesellschaftlich vorgeprägten relativen Machtposition (Hagemann-White et al., 1981, S. 24). Für die vorliegende Forschungsarbeit erscheinen mir diese eben dargestellten Denitionen insgesamt durchaus passend, um einen Rahmen zu geben, was unter Gewalt verstanden werden soll. Auch die feministische Überzeugung, den Betroenen selbst die Möglichkeit zu geben, eigene Erlebnisse als Gewalt zu denieren oder eben auch nicht, kommt dem Anliegen dieser Arbeit entgegen, da auch in der vorliegenden Untersuchung nach Gewaltdenitionen der InterviewpartnerInnen gefragt werden wird.
2.1.2 Denition des Begris häusliche Gewalt Nähern wir uns auf diesem Hintergrund nun dem Begri der häuslichen Gewalt an, so zählt diese eindeutig in den Bereich individueller Gewalt und ist charakterisiert durch die Ausübung von Gewalt durch einzelne Täter im sozialen Nahraum. Neben der engen, teilweise zwangsweisen Gemeinschaft in der Familie spielen hier auch gesellschaftliche Vorstellungen und Normen vom Geschlechterverhältnis eine groÿe Rolle (vgl. Imbusch, 2002, S. 45). Godenzi (1993) spricht in diesem Zusammenhang wie einige andere Autoren auch von privater Gewalt, da sie hinter den Kulissen, also für die Öentlichkeit nicht sichtbar, im privaten Umfeld der Familie stattndet (vgl. dazu auch Kapitel 2.3.1). Neben der bereits beschriebenen Problematik bei der Denition von Gewalt im Allgemeinen, birgt auch die Bestimmung des Begris häusliche Gewalt spezische Schwierigkeiten. Der Begri häusliche Gewalt bringt bis heute aufgrund wechselnder Denitionen und Bedeutungen häug Missverständnisse mit sich. Das alltägliche Verständnis häuslicher Gewalt in der Gesellschaft und zum Teil nach wie vor in der Fachöentlichkeit ist ein anderes als das im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs.
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Häusliche Gewalt war zunächst ein Begri, der gleichbedeutend mit familiärer bzw. familialer Gewalt oder auch Gewalt in der Familie benutzt wurde. Alle diese Begrie stammen aus dem Englischen (domestic violence, family violence) und beschreiben Gewalt innerhalb der sozialen Einheit von Familien. Häusliche Gewalt meint also Gewalt unter Personen, die intim oder eng verwandt sind und ständig oder zyklisch zusammen wohn(t)en (Lamnek et al., 2006, S. 102). Ähnliche Denitionen nden sich auch in der englischen Literatur zum Thema domestic violence: Domestic violence is dened broadly as violent acts carried out by persons in a marital, sexual, parental, or caregiving role toward others in reciprocal roles (Stith & Rosen, 1990, S. 1).
Häusliche Gewalt meint also in dieser sehr breiten Denition jede Gewalt, die innerhalb von familiären oder verwandtschaftlichen Beziehungen stattndet. Die Besonderheit häuslicher Gewalt ist die Tatsache, dass Familie im eigentlichen gesellschaftlichen Verständnis ein Ort von Sicherheit und Unterstützung darstellt. Gewalt läuft dieser Aufgabe von Familie völlig zuwider, was eine weitere Grundlage einiger Denitionen häuslicher Gewalt darstellt: Mit familiärer oder (. . . ) häuslicher Gewalt, sind physische, sexuelle, psychische, verbale und auch gegen Sachen gerichtete Aggressionen gemeint, die nach gesellschaftlichen Vorstellungen jener auf (gegenseitige) Sorge und Unterstützung ausgerichteten Erwartungshaltung zuwiderlaufen (Schneider, 1990, S. 508).
In der weiteren wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Gewalt in Familien erfuhr gerade der Begri häusliche Gewalt eine starke Wandlung. Während in den bisherigen Denitionen nicht weiter berücksichtigt wurde, wer innerhalb der Familie Gewalt gegen wen ausübt, rückte dies mehr und mehr auch in den Fokus der Aufmerksamkeit. Durch die Arbeit der Frauenbewegung wurden zunächst die Gewalt gegen Frauen in Ehe und Partnerschaft sowie Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch zum Gegenstand der öentlichen Diskussion. In der feministischen Literatur sowie in der Frauenhausbewegung bekam der Begri häusliche Gewalt mehr und mehr eine spezische Bedeutung und beschrieb nunmehr Gewalt in der Partnerschaft, insbesondere Gewalt gegen Frauen in Ehe und Partnerschaft. So deniert Schweikert (2000) häusliche Gewalt in Anlehnung an feministische Gewaltdenitionen als eine einmalige Handlung oder zusammenhängende, fortgesetzte und wiederholte Handlungen eines Mannes gegenüber einer Frau in ei-
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ner ehemaligen oder gegenwärtigen (. . . ) Lebensgemeinschaft, in einer (. . . ) sonstigen intimen Beziehung, in einer engen verwandtschaftlichen oder verschwägerten Beziehung, die eine Verletzung der physischen und/oder psychischen Integrität des Opfers bewirkt und die dazu dient bzw. dienen, Macht und Kontrolle über die Frau (. . . ) auszuüben (S. 73). Im deutschen wissenschaftlichen Diskurs hat sich die Bezeichnung häusliche Gewalt in Anlehnung an ihren Gebrauch in Groÿbritannien (vgl. Mullender & Morley, 1994, Domestic Violence concerns men's violence to their women partners, S. 2) für Gewalt in Partnerschaften aktuell durchgesetzt (vgl. Kavemann & Kreyssig, 2005). Das Berliner Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt, BIG e.V., deniert häusliche Gewalt als eine Form der Gewalt im Geschlechterverhältnis folgendermaÿen:
Der Begri häusliche Gewalt umfasst die Formen der physischen, sexuellen, psychischen, sozialen und emotionalen Gewalt, die zwischen erwachsenen Menschen stattndet, die in nahen Beziehungen zueinander stehen oder gestanden haben. Das sind in erster Linie Erwachsene in ehelichen und nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften aber auch in anderen Verwandtschaftsbeziehungen (zitiert nach Rabe, 2005, S. 125). Ähnlich lautet auch die aktuelle Denition der bayerischen Polizei, in deren Verständnis der Begri häusliche Gewalt anzuwenden ist
auf alle Fälle von psychischer und physischer Gewalt innerhalb von ehelichen und nichtehelichen Lebensgemeinschaften, insbesondere auf Nötigungs-, Bedrohungs- und Körperverletzungsdelikte, auch wenn diese sich nach einer Trennung ereignen aber noch im direkten Bezug zur früheren Lebensgemeinschaft stehen (Bayerisches Staatsministerium des Inneren, 2002, S. 8). In der Praxis führt der Begri häusliche Gewalt häug noch zu Missverständnissen und Unklarheiten, da häusliche Gewalt als Fachbegri weder trennscharf formuliert noch als solcher in der breiten Fachöentlichkeit deutlich deniert worden ist. In seiner Denition als Partnerschaftsgewalt ist der Begri häusliche Gewalt bzw. seine englische Übersetzung domestic violence auch deshalb nicht unumstritten. Der Begri häusliche Gewalt beschreibt den Ort und die Privatheit der Gewalt sehr treend. Häusliche Gewalt ndet im Umfeld des eigenen Zuhauses statt. Unklar jedoch bleibt dabei, wer in diesem Umfeld gegen wen Gewalt ausübt und welche Formen familialer Gewalt gemeint sind. Begriich ist die
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Abgrenzung zu Kindesmisshandlung, Gewalt gegen ältere Menschen oder auch Gewalt unter Geschwistern nicht klar deniert. Auf der anderen Seite lässt die begriiche Beschreibung als häusliche Gewalt auf eine häusliche Lebensgemeinschaft schlieÿen, in der die Gewalt angewendet wird. Gewalt in Partnerschaften, die nicht zusammen in einem Haushalt leben oder sich bereits getrennt haben, fällt laut Denition unter häusliche Gewalt, ist aber sprachlich im Begri nicht beschrieben (vgl. Mullender & Morley, 1994; McGee, 1997). McGee (1997) erweitert deshalb ihre Denition des Begris domestic violence, die sich zunächst auf Gewalt im eigenen Zuhause bezieht, um folgenden Zusatz: (. . . ) or abuse which may not be happening in the home itself, but which means that the home is not a safe place (McGee, 1997, S. 15). Von Seiten der Frauenbewegung wird der Begri häusliche Gewalt kritisiert, da er weder die Verantwortung der Täter ausdrückt noch der Geschlechtsspezik des Phänomens häuslicher Gewalt als Gewalt von Männern gegen Frauen gerecht wird. Trotz dieser Kritikpunkte setzt sich der Begri häusliche Gewalt aktuell in Forschung und Literatur für die Beschreibung von Gewalt in Partnerschaften (und ebenso Gewalt während oder nach Trennungen) langsam durch und wird zunehmend klarer deniert. Mullender & Morley (1994) lösen die begriiche Problematik in ihren Veröentlichungen folgendermaÿen: The phrase men's abuse of women in intimate relationships` would perhaps oer the clearest description. Domestic violence` should be regarded throughout the book as a shorthand term for this (S. 11).
In der vorliegenden Studie soll der Begri häusliche Gewalt in eben dieser Denition verwendet werden, wobei auch Gewalt in und nach Trennungssituationen mit inbegrien sein soll.
2.1.3 Prävalenz häuslicher Gewalt Except for the police and the military, the family is perhaps the most violent social group and the home the most violent social setting in our society (Stith & Rosen, 1990, S. 2).
In der Diskussion um häusliche Gewalt geht es fast automatisch um Gewalt von Männern gegen Frauen. Dies liegt zum einen sicherlich in der Geschichte der Thematisierung häuslicher Gewalt begründet, die in erster Linie von der Frauenbewegung und deshalb mit dem Fokus auf Gewalt gegen Frauen vorangetrieben wurde. Zum anderen trägt jedoch auch das Männerbild unserer
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Gesellschaft, welches Gewalt im Leben von Männern einerseits eine sehr viel gröÿere Normalität einräumt, andererseits jedoch auch eine Opferrolle mit mangelnder Männlichkeit gleichsetzt, zur Diskussion häuslicher Gewalt als Gewalt gegen Frauen bei. Aufgrund der sehr geringen Literatur und Forschung zum Thema der Gewalt gegen Männer ist es kaum möglich, eine fundierte Aussage darüber zu treen welche Täter-Opfer-Konstellationen zahlenmäÿig häuger zu nden sind. In der Zahl der Forschungsarbeiten und der Präsenz in der öentlichen Diskussion steht eindeutig die Gewalt von Männern gegen Frauen im Mittelpunkt. Auch zur Frage der Gegenseitigkeit von Gewalt in Paarbeziehungen existiert bisher wenig Forschung. 3 Im Folgenden sollen beide Perspektiven in ihrer Prävalenz und dem aktuellen Forschungsstand kurz beleuchtet werden, wobei es immer zu berücksichtigen gilt: Es gibt nicht die` häusliche Gewalt und es gibt nicht das` Opfer (Helferich, 2005, S. 312, zitiert nach Lamnek et al., 2006, S. 111).
Häusliche Gewalt als Gewalt gegen Frauen Dobash & Dobash (2002) gehen von einer deutlichen Asymmetrie im Gewaltverhältnis der Geschlechter aus, insbesondere deshalb, weil die Verletzungsrate bei Frauen sehr viel höher ist und die Formen der psychischen und emotionalen Schädigung von Frauen als Opfer gravierender sind. Daher ist für sie das wesentliche soziale Problem die Gewalt von Männern gegen Frauen (vgl. S. 925). In den fünf Jahren der Laufzeit einer Studie von Wetzels & Pfeier (1995) wurden hochgerechnet 1,2 Millionen Frauen Opfer schwerer körperlicher Gewalt.4 Im Gesundheitsbericht der Stadt Bremen gaben mehr als die Hälfte der Frauen an, durch ihren (Ehe-)Partner körperlich misshandelt worden zu sein und ein Drittel der Frauen gab an, körperliche Gewalt in ihrem Elternhaus erfahren zu haben. In Fällen sexueller Gewalt waren die Täter zu 34% 3 Lediglich in einigen Studien wurden eigene Gewaltanteile abgefragt, wobei 1/7 geschlagener Frauen eigene Gewalttätigkeiten gegen den Partner einräumt (vgl. Schröttle et al., 2004). Im Bereich der Männer geben rund 50% derer, die Gewalt erlebt haben, an, sich nicht gewehrt zu haben. Über 50% der Männer erklären, nie mit körperlicher Gewalt begonnen zu haben (vgl. Jungnitz et al., 2004). 4 Die Ergebnisse der Studie von Wetzels & Pfeier (1995) ergaben im Detail folgende Prävalenzzahlen unterschiedlicher Gewaltformen im Leben von Frauen während der fünf Jahre Studienlaufzeit (1987-1991): Vergewaltigung: 2,5% Körperliche Gewalt: 16,1% Schwerwiegende körperliche Gewalt: 4,6%.
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Fremde, zu 29% (Ehe-) Partner und zu 23% Verwandte oder Freunde; 11% der Frauen erlebten sexuellen Missbrauch in ihrem Elternhaus (vgl. Senator für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales, 2001, S. 35). Deutsche Schätzungen gehen davon aus, dass etwa zwei Drittel aller Gewalttaten im sozialen Nahraum stattnden. Schröttle et al. (2004) nden in ihrer Untersuchung Partnergewalt bei 83% aller Frauen mit Gewalterfahrungen. Gewalt im sozialen Nahraum und insbesondere Gewalt innerhalb der eigenen Familie ist nach wie vor ein sehr schambesetztes und tabuisiertes Thema. Betroenen Frauen und Kindern fällt es nach wie vor schwer, die Gewalt öffentlich zu thematisieren oder sich an Hilfseinrichtungen zu wenden. Auch die Melde- und Anzeigebereitschaft ist in Fällen innerfamiliärer Gewalt sehr viel geringer als dies bei Fremdtätern der Fall ist, so dass von einem erheblichen Dunkelfeld auszugehen ist. Gründe betroener Frauen und Kinder für eine Geheimhaltung der Gewalt und die Scheu vor einer polizeilichen Anzeige können vielfältig sein: das Entschuldigen der Gewalt durch das Opfer, Angst vor dem gewalttätigen Partner oder die Befürchtung, dass eine Anzeige nutzlos ist und an der Lage nichts Wesentliches verändert (Lamnek et al., 2006, S. 103).
Beobachtet man die Statistiken des Landeskriminalamts, so zeigt sich in den letzten Jahren jedoch ein deutlicher Anstieg angezeigter Fälle häuslicher Gewalt, was sowohl durch eine erhöhte Sensibilität der Gesellschaft und das häugere Eingreifen öentlicher Stellen als auch durch die deutlich gröÿeren Handlungs- und Schutzmöglichkeiten der Frauen durch das Gewaltschutzgesetz begründet sein kann. Die Forschungstätigkeit im Dunkelfeld häuslicher Gewalt ist im deutschsprachigen Bereich nach wie vor relativ gering. In einzelnen Gesundheitsberichten nden sich jedoch bereits Kapitel zur Prävalenz von Gewalt gegen Frauen (vgl. Senator für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales, 2001). Seit 2004 liegt für Deutschland eine erste repräsentative Studie zu Gewalt gegen Frauen vor (vgl. Schröttle et al., 2004). In den wenigen Studien ist jedoch deutlich erkennbar, dass Gewalt gegen Mädchen und Frauen in allen Lebensbereichen und allen sozialen Schichten, vor allem aber im sozialen Nahbereich von Familie, Ehe und Partnerschaft, stattndet (vgl. Schröttle et al., 2004; Senator für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales, 2001). Die Zahlen der einzigen deutschlandweiten Repräsentativbefragung (vgl. Schröttle et al., 2004) besagen, dass 25% aller Frauen in ihrem bisherigen
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Leben Partnergewalt erlebt haben. 5 Die Intensität der Gewalterfahrungen war breit gestreut, ein Drittel der Frauen erlebte einmalige Gewalteskalationen und knapp ein Viertel war mehr als zehn gewalttätigen Übergrien des Partners ausgesetzt. Im Gesundheitsbericht der Stadt Bremen berichtet über alle Altersgruppen hinweg jede sechste Frau von Erfahrungen mit körperlicher Gewalt und jede zehnte von sexueller Gewalt, jede zwanzigste Frau hat beide Formen erlitten (vgl. Senator für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales, 2001, S. 31f). Benard et al. (1991) schätzen aufgrund der Ergebnisse ihrer Befragung in Österreich, dass mindestens jede fünfte Frau körperliche Gewalt innerhalb einer heterosexuellen Beziehung erlebt (S. 105). Die Schweizer Repräsentativbefragung von Gillioz et al. (1997) dagegen fand in Frankreich eine (Lebenszeit-)Prävalenz körperlicher Gewalt in einer Paarbeziehung von 12,6%. Unterschiede in den Ergebnissen der Studien sind mit Sicherheit vor dem Hintergrund verschiedener Denitionen von Gewalt, unterschiedlicher Erhebungsmethoden sowie stark divergierenden Untersuchungsgruppen erklärbar. Trotz dieser Unterschiede und Schwankungen in den Ergebnissen, wird dennoch zweifelsfrei deutlich, dass es sich bei Gewalt gegen Frauen im sozialen Nahraum nicht um eine gesellschaftliche Randerscheinung handelt wie in der öentlichen Diskussion gern vermutet wird sondern um ein alltägliches Phänomen im Zusammenleben von Familien aller Schichten und Milieus. Besonders hervorzuheben ist vor dem Hintergrund dieser Arbeit, die sich im Fokus mit der Betroenheit von Kindern beschäftigt, das steigende Risiko von Partnerschaftsgewalt im Kontext von Schwangerschaft und Geburt ebenso wie durch Trennungsabsichten oder erfolgte Trennung der Frau. Deutsche Studien belegen, dass Partnerschaftsgewalt häug mit einer Schwangerschaft oder der Geburt eines Kindes erstmals auftritt oder sich in ihrer Intensität steigert (vgl. Hagemann-White et al., 1981). Ebenso steigt das Risiko für Frauen und Kinder, misshandelt oder sogar getötet zu werden, mit der Äuÿerung von Trennungsabsichten oder der tatsächlichen Trennung vom Täter stark an (vgl. Brandau, 1990).
Häusliche Gewalt als Gewalt gegen Männer Wie schon zu Beginn des Abschnittes erwähnt, wurde das Thema häuslicher Gewalt in der Fachdiskussion ebenso wie in der Öentlichkeit lange als The5 In der Gruppe der Frauen mit türkischem Migrationshintergrund sind es sogar 38,3%.
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ma der Gewalt gegen Frauen behandelt. Forschungen zur Prävalenz häuslicher Gewalt gegen Männer gibt es daher kaum oder gar nicht. In Deutschland brachte eine Pilotstudie des Bundesministeriums 2004 erste Ergebnisse zur Prävalenz von Gewalt gegen Männer (Jungnitz et al., 2004). Die Ergebnisse dieser Studie sind aufgrund der kleinen Stichprobe sicher nicht völlig verallgemeinerbar, zeigen aber erste Tendenzen und Ergebnisse auf. Ein wichtiges Ergebnis der Befragung von Männern war, dass sich im Gegensatz zur Gewalt gegen Frauen zwei Drittel körperlicher Gewalterfahrungen von Männern in Öentlichkeit und Freizeit ereignen (vgl. Jungnitz et al., 2004). Im Bereich häuslicher Gewalt zeigt sich jedoch auch, dass hier jede Form der Gewalt gegen Männer bis hin zu systematischen Misshandlungsbeziehungen vorkommen kann (Jungnitz et al., 2004, S. 10). Jeder vierte Mann gab an, ein- oder mehrmals von seiner Partnerin körperlich angegrien worden zu sein, 6 und ca. 5% der Männer gaben an, schon einmal im Kontext häuslicher Gewalt verletzt worden zu sein. Eine wichtige Feststellung dabei ist, dass kein Einziger der Männer, die Gewalt in der Partnerschaft erlitten haben, die Polizei informiert hat (vgl. Jungnitz et al., 2004, S. 11), d.h. dass die Anzeigebereitschaft von Männern als Opfer häuslicher Gewalt gegen Null geht. Dies ist sicherlich ebenso wie bei den Frauen mit Angst vor den Folgen ebenso wie mit Schuld- und Schamgefühlen zu erklären. Wobei im Falle von männlichen Opfern das gesellschaftliche Bild von Männlichkeit dies noch einmal verschärft. Gewalt gegen Männer, so zeigt die Pilotstudie deutlich, ist ein ebenso wichtiges Thema wie Gewalt gegen Frauen, das jedoch noch sehr unter der gesellschaftlichen Tabuisierung leidet. Weitere Forschung ist hier unbedingt notwendig, um männlichen Opfern häuslicher Gewalt ebenso gerecht werden zu können, wie dies die Frauenbewegung für Frauen erkämpft hat.
2.1.4 Formen häuslicher Gewalt Häusliche Gewalt lässt sich auf unterschiedliche Arten in ihre Formen unterteilen. Zum einen lässt sie sich in die verschiedenen Formen von Gewaltausübung aufgliedern, das heiÿt also nach den eingesetzten Mitteln oder Tatbeständen. Zum anderen kann häusliche Gewalt jedoch auch in zwei Formen von gewalttätiger Beziehungsgestaltung unterteilt werden, die hier zunächst betrachtet werden soll. 6 Die Autoren selbst merken hier an, dass in diesen Angaben auch leichtere Akte enthalten sind, bei denen nicht eindeutig von Gewalt zu sprechen ist (vgl. Jungnitz et al., 2004, S. 10).
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Gloor & Meier (2004) teilen gewalttätige Beziehungen in Gewalt als systematisches Kontrollverhalten sowie Gewalt als spontanes Koniktverhalten ein. Während erstere Form immer in ein Muster von Macht und Kontrolle eingebettet und mit frauenfeindlichen Haltungen verknüpft ist, handelt es sich bei der zweiten Form um Gewalthandlungen in einzelnen eskalierten Koniktsituationen. Beide Formen von Gewalt haben unterschiedliche Auswirkungen und sollten daher getrennt voneinander untersucht werden. Häusliche Gewalt in dieser Forschungsarbeit meint die Form der Gewalt als systematisches Kontrollverhalten und alle geführten Interviews sind deutlich dieser Form von Gewalt zuzuordnen. Die zweite Möglichkeit der Einteilung häuslicher Gewalt in Arten der Gewalthandlungen ist in der Literatur nicht einheitlich. Narr (1988) beispielsweise teilt den Gewaltbegri in physische, psychische und bürokratisch-technische Gewalt ein. Lamnek et al. (2006) dagegen unterteilen Gewalt in physische, psychische und sexuelle Gewalt (vgl. S. 115f). Schröttle et al. (2004) unterteilen dabei sexuelle Gewalt noch einmal in direkte sexuelle Gewalt und sexuelle Belästigung. Ohl (2005) beschreibt zusätzlich zu körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt noch ökonomische, soziale und emotionale Gewalt gegen Frauen in der Partnerschaft. Während die emotionale Gewalt noch am ehesten unter psychischer Gewalt subsumiert werden kann, erscheinen die beiden anderen Formen im Kontext häuslicher Gewalt von Bedeutung und sollten daher gesondert genannt werden. Formen physischer Gewalt reichen von Schubsen, Ohrfeigen, über Schläge und Tritte bis hin zu lebensgefährlichen Körperverletzungen mit und ohne den Einsatz von Gegenständen. Manche Autoren subsumieren auch sexuelle Gewalt in Form von Vergewaltigung, sexueller Nötigung oder sexueller Belästigung unter physischer Gewalt (vgl. beispielsweise Narr, 1988). Unter psychischer Gewalt werden alle Arten von Bedrohung, Beleidigung, Demütigung, Isolation und Kontrolle subsumiert. Ökonomische Gewalt umfasst alle Arten der Kontrolle und Machtausübung über nanzielle Mittel, beispielsweise in Form von knappen Zuteilungen von Haushaltsgeld, fehlender Vollmacht für das Familienkonto und die damit verbundene wirtschaftliche Abhängigkeit vom Mann. Soziale Gewalt meint die Isolierung der Frauen von sozialen Kontakten und Teilhabe am öentlichen Leben (vgl. Ohl, 2005). Einen ausführlichen und detailierten Überblick über Formen und Ausprägungen der Gewaltausübung in Familien bzw. Partnerschaften ndet sich in den Item-Listen der Untersuchung von Schröttle et al. (2004). Die Women's Aid Federation England (WAFE) fasst die Arten häuslicher Gewalt folgendermaÿen zusammen:
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Domestic violence may, and often does, include a range of abusive behaviours, not all of which are, in themselves, inherently 'violent`. Violence can mean, among other things: threats, intimidation, manipulation, isolation, keeping [a] woman without money, locked in, deprived of food, or using (and abusing) her children in various ways to frighten her or enforce compliance. It can also include systematic criticism and belittling comments (e.g. 'You're so stupid and ugly no one else would want you`). Sometimes the abuser's behaviour uctuates wildly; he may oer 'rewards` on certain conditions, or in an attempt to persuade his partner that the abuse will never happen again. (Barron et al., 1992, para 2.2., zitiert nach Mullender & Morley, 1994, S. 6f ).
Auch wenn in diesen fachlich-wissenschaftlichen Einteilungen und Beschreibungen häuslicher Gewalt klar deutlich wird, dass sowohl Formen körperlicher als auch psychischer Gewalt von groÿer Bedeutung sind, ist die Berücksichtigung psychischer Gewalt und ihrer Folgen in unserer Gesellschaft nicht immer selbstverständlich. Die repräsentative Befragung von Honig (1992) hat ergeben, dass die Mehrzahl von Menschen Gewalt gegen Frauen und Kinder als körperliche Gewalt deniert. Dieses Bild von Gewalt in Familien drückt einerseits die gesellschaftliche Distanzierung und Verurteilung aus (vgl. Honig, 1992, S. 22), andererseits aber auch die Werte und Normen, die in unserer Gesellschaft herrschen sowie die Problematik psychische, ökonomische oder soziale Gewalt sichtbar zu machen. Sommer (2002) weist diesbezüglich auf die einerseits unzähligen Veröentlichungen zu körperlicher und sexueller Gewalt gegen Kinder und dem fast gänzlichen Fehlen von Literatur zu psychischer und seelischer Gewalt gegen Kinder andererseits hin (vgl. S. 13). Denition und Nachweis psychischer Gewalt sind hoch problematisch, da ein kausaler Zusammenhang von Ursache und Wirkung kaum nachweisbar und die Folgen schwer sicht- bzw. erkennbar sind. Insbesondere die Grenzziehung zwischen noch legitimem Verhalten im Umgang miteinander und Verhalten, das als psychische Gewalt zu werten ist, steht in einer groÿen Abhängigkeit von gesellschaftlichen zum Teil schichtoder milieuspezischen Werten und Normen.
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2 Kinder und häusliche Gewalt Theoretischer Kontext
2.1.5 Erklärungsansätze zur Entstehung häuslicher Gewalt Je spektakulärer die Tat, desto eindringlicher fragen wir nach dem Warum: Was sind die Ursachen dafür, dass ein Mensch einen anderen beleidigt, bedroht, schlägt, foltert oder umbringt? Die Ursachen interessieren besonders deshalb, weil wir hoen, mit den Ursachen für Gewalt und Aggression auch Kontrollmöglichkeiten, das heiÿt Mittel und Wege zur Verringerung der gefährlichen Verhaltensweisen zu nden (Mummendey, 1992, S. 275).
Die Frage nach der Entstehung von Gewalt ist in einer Vielzahl von Theorien zu beantworten versucht worden (vgl. z.B. Tedeschi, 2002; Eisner, 2002; Baumeister & Bushman, 2002; Albrecht, 2002). Neben den Erklärungsansätzen für Gewalt und Aggression im Allgemeinen, nden sich auch einige Theorien zur Entstehung von Gewalt in der Familie und häuslicher Gewalt im engeren Sinne (vgl. z.B. Lamnek et al., 2006; Gelles, 2002; Godenzi, 1993). Einige Aspekte dieser Erklärungsansätze, die für das Verständnis des Phänomens häuslicher Gewalt hilfreich erscheinen, sollen im folgenden kurz dargestellt werden.
Lerntheoretische Erklärungsansätze Das eigene Zuhause ist der wichtigste Ort, an dem man mit unterschiedlichen Stressfaktoren, Krisen und Frustrationen umzugehen lernt. In vielen Fällen ist das eigene Zuhause aber auch der Ort, an dem zum ersten Mal Gewalt erlebt wird (Gelles, 2002, S. 1068).
Dies ist der Kernpunkt einer weiteren Theorie zur Entstehung häuslicher Gewalt, der Lerntheorie. Gewalt wird hier als in der kindlichen Sozialisation erlebte und erlernte Form der Koniktlösung verstanden. Kinder, die häusliche oder familiäre Gewalt erlebt haben, neigen demzufolge sehr viel häuger zu Gewaltanwendung in ihrem Erwachsenenleben. Einige Studien belegen diese intergenerationale Weitergabe von Gewalt in Familien (vgl. Kindler, 2008, 2005; Schröttle et al., 2004; Cappell & Heiner, 1990; Kalmuss, 1984) und bestätigen damit auch lerntheoretische Erklärungsansätze zur Entstehung von Gewalt. Gewalterfahrung erhöht die Wahrscheinlichkeit von Delinquenz, und Delinquenz erhöht die Wahrscheinlichkeit von Gewalt in Beziehungen, in denen typischerweise Sozialisation erfolgt (Albrecht, 2002, S. 780).
Kinder lernen am Modell in ihren Familien, wie Konikte gelöst werden können und orientieren sich in ihrem Verhalten an ihren primären Bezugspersonen. Eltern sind dabei die wichtigsten Identikations- und Imitationsobjekte
2.1 Häusliche Gewalt Annäherung an ein alltägliches Phänomen
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für Kinder und haben mit ihrem Verhalten und Umgang miteinander einen entscheidenden Einuss auf die Verhaltensweisen und Einstellungen ihrer Kinder (vgl. Lamnek et al., 2006, S. 84).
Ressourcen- und Machttheorien Like all other social units or systems, the family is a power system. All rest to some degree on force or its threat, whatever else may be their foundation (Goode, 1971, zitiert nach Lamnek et al., 2006, S. 91).
Innerhalb von Familien sind nicht nur Rollen und Aufgaben häug klar verteilt, sondern auch Macht und Durchsetzungsvermögen. Diese zunächst natürlichen und sinnvollen Verteilungen innerhalb des sozialen Systems Familie können jedoch auch in Extreme ausschlagen, wovon eines gewalttätiges und kontrollierendes Verhalten sein kann. Ressourcentheorien gehen davon aus, dass innerhalb des Systems Familie sowohl materielle als auch emotionale und soziale Ressourcen verteilt sind. Je mehr Ressourcen einem Familienmitglied zur Verfügung stehen, desto mehr Macht- und Zwangsmittel stehen ihm oder ihr auch zur Verfügung. Andererseits erhöht jedoch die Nichtverfügbarkeit von Ressourcen, insbesondere auch von Koniktlösungsstrategien, die Wahrscheinlichkeit, mangels Alternativen tatsächlich Gewalt anzuwenden (vgl. Gelles, 2002). Gewalt kann so zu einer Strategie werden, sowohl mit Frustrationen umzugehen als auch eigene Bedürfnisse und Rechte durchzusetzen und auf diese Weise familiäre Konikte zu lösen. Feministische Theorien betonen die wirtschaftliche und soziale Abhängigkeit der Frau als Risikofaktor für Misshandlungen. Sowohl diese einseitige Abhängigkeit als auch die Überlegenheit bezüglich sozialer Kontakte von Frauen können die Gefährdung für Gewalt erhöhen. So wird ein Ehemann, dem wenige soziale und materielle Ressourcen zur Verfügung stehen, seiner Frau gegenüber möglicherweise zu Gewalthandeln greifen, um die erwünschte dominante Rolle dennoch erfüllen zu können. Jedoch auch bei ausgeglichen verteilten Ressourcen können Konikte auf normativer Ebene entstehen. Ein Mann mit wenig Ressourcen kann dennoch ein Patriarchat anstreben, während eine Frau in dieser Situation vielleicht die Egalität erwartet (Lamnek et al., 2006, S. 93f).
Feministische Theorien und Gender-Aspekte Feministische Theorien sehen den Grund häuslicher Gewalt in der gesellschaftlichen Unterstützung patriarchaler Strukturen und einer Asymmetrie
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2 Kinder und häusliche Gewalt Theoretischer Kontext
der Beziehungen zwischen den Geschlechtern (vgl. Dobash & Dobash, 2002). Insbesondere in der politischen Diskussion um Gewalt gegen Frauen geht es immer auch um gesellschaftliche Rollenzuschreibungen und Vorstellungen sozialer Ordnung innerhalb der Familie. Vor allem aber sind gesellschaftliche Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit der Institutionalisierung und Internalisierung gewaltfreier Umgangsformen abträglich, sofern den Idealen von Männlichkeit und Weiblichkeit so weit wie möglich zu entsprechen, je nach sozialem Milieu mehr oder minder als solches belohnend bzw. diesen nicht zu entsprechen, belastend ist (Lamnek et al., 2006, S. 86).
Noch immer herrschen in unserer Gesellschaft in vielen Familien Männerund Frauenbilder vor, die dem Mann Dominanz und Macht zuschreiben und von der Frau Unterordnung erwarten. Romito (2008) sieht in der patriarchalen Struktur unserer Gesellschaft einen Hauptgrund für die Häugkeit von Gewalt gegen Frauen und beschreibt die gesellschaftliche Legitimierung männlicher Dominanz als groÿe Hürde in der Bekämpfung häuslicher Gewalt. Die wichtigsten Strategien zur Maskierung männlicher Gewalt in unserer Gesellschaft sind in ihren Augen Verleugnung und Legitimierung. Diese Strategien funktionieren auf der Basis von unterschiedlichen, gesellschaftlich möglichen Taktiken, wie sie es nennt. Dazu gehören die sprachliche Undeutlichkeit (Euphemising ), die Verdinglichung von Frauen ( Dehumanising ), die Schuldzuschreibung an die Opfer ( Blaming the victim ), die psychologischen Erklärungen für Gewaltvorkommen ( Psychologising ), die natürliche Geschlechterordnung ( Naturalising ) und das Betrachten jeder Gewaltform als singuläres Problem ( Separating ). Die aktuelle feministische Diskussion beschäftigt sich jedoch nicht nur mit der Verankerung patriarchaler Herrschaftsverhältnisse in der weiblichen Subjektivität, sondern auch mit der teilweisen Einwilligung der Frauen in die eigene Unterdrückung (vgl. Benjamin, 1990). Über die Mittäterschaft der Frau an der Macht des Mannes sprechen wir schon lange. Gewalt ist ein Element in der Konstruktion von Geschlecht und Macht (Hagemann-White, 2005, S. 4).
Dieses von Macht und Dominanz geprägte Verhältnis von Mann und Frau, das eine extreme Ausprägung in häuslicher Gewalt ndet, wirkt sich sowohl auf die geschlechtsspezische Sozialisation als auch auf Geschlechtsrollenund Beziehungsvorstellungen von Kindern aus. Jungen werden in ihrer Sozialisation stärker aufgefordert, sich gegen Angrie und Ungerechtigkeiten zur Wehr zu setzen und Prügeleien unter gleichaltrigen Jungen werden in unserer Gesellschaft häug als normale Formen
2.1 Häusliche Gewalt Annäherung an ein alltägliches Phänomen
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der Auseinandersetzung toleriert und akzeptiert. Dobash & Dobash (2002) spitzen zu: Es ist denkbar, dass Männer, die ihre Partnerinnen durch Gewaltanwendung zu kontrollieren und zu beherrschen suchen, in einem kulturellen Umfeld leben, das die Gewalt als Problemlösetechnik unter einer ganzen Reihe von Umständen bejaht (S. 932).
Auch Böhnisch (2001) betont im Hinblick auf Gewalthandlungen die groÿe Bedeutung geschlechtsspezischer Sozialisation. Er beschreibt die nach wie vor gültigen gesellschaftlichen Anforderungen an Mädchen und Frauen und macht damit deutlich, warum häusliche Gewalt nach wie vor ein Tabuthema ist: Von Mädchen wird ein bestimmtes geschlechtertypisches und geschlechtsrollenstereotypes Verhalten in familiären Koniktsituationen analog der herrschenden Normalitätskonstruktion von Weiblichkeit erwartet. (. . . ) Mädchen haben im überkommenen Geschlechterrollenverständnis ihre familialen Konikte unauällig, privat und nach innen gerichtet zu bewältigen (Böhnisch, 2001, S. 111).
Die neuere feministische Forschung ist jedoch nicht mehr nur durch das Paradigma geprägt, männliche Gewalt diene primär deren Machtsicherung, sondern verfolgt auch hier sozialisationstheoretische Perspektiven der Machtdimension. Gewalt von Männern wird aus der Überforderung durch normative Dominanzansprüche abgeleitet, die Jungen und später Männer nicht real einlösen können (Hagemann-White, 1995, S. 134).
Der Wandel des Idealbildes von Familie von patriarchalen Strukturen hin zu egalitären Vorstellungen von Partnerschaft ist in unserer Gesellschaft noch nicht in allen Milieus vollzogen. Beide Idealbilder existieren in einer Art Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (Lamnek et al., 2006, S. 92) nebeneinander her. Diese Mischung patriarchaler und egalitärer Vorstellungen von Partnerschaft erhöht die Gefahr von häuslicher Gewalt, da Männer mit patriarchalen Männerbildern aufwachsen und deren Dominanzansprüche hegen, jedoch nicht mehr wie früher durch Einkommen und Status eine Art natürliche Autorität erhalten. Aufgrund dieser Diskrepanz können Statusinkonsistenz und Statusinkompatibilität entstehen, die von Männern scheinbar nur durch Gewalt aufgelöst werden können. Aufgrund eines niederen Status gegenüber dem Partner, aus Frustration über die Überlegenheit des anderen und dem gleichzeitigen normativ erwarteten Bemühen um Dominanz,
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2 Kinder und häusliche Gewalt Theoretischer Kontext
greifen Männer zu Gewalt gegen Frauen und Kinder als letztes Mittel der Durchsetzung (vgl. Lamnek et al., 2006; Hagemann-White, 1995; Godenzi, 1993).
Stresstheorien und Belastungsfaktoren Stresstheorien stellen in ihrer Erklärung häuslicher Gewalt zwei Faktoren in den Mittelpunkt. Zum einen sind das strukturbedingte Stressfaktoren, zum anderen ein Mangel an Bewältigungsstrategien. Das Individuum lernt, Gewalt als Ausdrucksmittel und als Instrument zur Bewältigung sich kumulierender stressreicher Ereignisse einzusetzen (Gelles, 2002, S. 1068). Eine Vielzahl empirischer Studien konnte belegen, dass bestimmte Stressfaktoren deutlich zur Entstehung häuslicher Gewalt beitragen. Insbesondere niedriges Einkommen, geringe Bildung, Arbeitslosigkeit, beengte Wohnverhältnisse, Probleme am Arbeitsplatz und in der Familie, ungewollte Schwangerschaft, Alkohol- und Drogenkonsum, Trennung oder Scheidung zählen ebenso zu äuÿeren Stressfaktoren wie das Phänomen der Statusinkonsistenz (vgl. Pegerl & Cizek, 2001). Ebenso erhöhen Risikonachbarschaften, gewaltane Norm- und Wertvorstellungen und soziale Abschottung der Familie die Gefahr des Auftretens häuslicher Gewalt (Lamnek et al., 2006, S. 38). Zudem sieht Böhnisch (2001) einen weiteren Grund für die Entstehung häuslicher Gewalt in einer strukturellen Überforderung der Familie. In unserer Gesellschaft stellt Familie den Gegenpol zu einer extrem rationalisierten und entemotionalisierten Arbeitswelt dar. Auf diese Weise wird Familie zum zentralen Ort der Befriedigung emotionaler Bedürfnisse, wie dem nach Bindung, Rückhalt, Intimität und Regeneration. Mangelnde Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung, fehlende alternative Entlastungsmechanismen und von der Gesellschaft nicht zur Verfügung gestellte Ressourcen können dann zu Gewalt in Familien führen. Verkürzt lautet die Stressgleichung: Je mehr Ereignisse oder Situationen eine Familie und ihre Mitglieder belasten, desto wahrscheinlicher ist das Vorkommen von Gewalthandlungen (Godenzi, 1993, S. 116).
Eine sehr treende Zusammenfassung der Entstehungsbedingungen von häuslicher Gewalt ndet sich im Aktionsplan I der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen: Gewalt gegen Frauen ist Ausdruck sowohl noch vorhandener Strukturen einer patriarchalen Gesellschaft als auch individueller Erfahrungen und Koniktlösungsmuster. Daneben spielen die konkreten Lebensbedingungen wie Armut, Arbeitslosigkeit, beengte Wohnverhältnis-
2.2 Kinder als Betroene häuslicher Gewalt
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se, ferner Alkoholmissbrauch sowie der Umgang mit und die Vorstellung von Gewalt in der Gesellschaft insgesamt eine nicht unerhebliche Rolle (Bundesministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend, 1999, S. 11).
2.2 Kinder als Betroene häuslicher Gewalt Even within the refuge movement, it is only in the last few years that children's experiences of domestic violence have been recognized as seperate from their mothers (McGee, 1997, S. 16).
2.2.1 Prävalenzzahlen betroener Kinder Der Aktionsplan II der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen fasst die Betroenheit von Kindern in Fällen häuslicher Gewalt aus der Studie von Schröttle et al. (2004) wie folgt zusammen: 60% der befragten Frauen, die über die letzte gewaltbelastete Paarbeziehung berichteten, gaben an, in dieser Paarbeziehung auch mit Kindern zusammengelebt zu haben. 57% der Befragten gaben an, die Kinder hätten die Situationen gehört, und 50%, sie hätten sie gesehen. Etwa 21% bis 25% gaben an, die Kinder seien in die Auseinandersetzungen mit hineingeraten oder hätten die Befragten zu verteidigen versucht. Jedes zehnte Kind wurde dabei selbst körperlich angegriffen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2007, S. 10).
Laut der Berliner Studie von Weinmann & Gramke (1998) sind in Fällen von polizeilicher Intervention bei häuslicher Gewalt in 6,8% der Einsätze Kinder betroen, in der Regel gemeinsam mit ihren Müttern. Die Studie des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen kommt zu dem Ergebnis, dass 21,3% der befragten Jugendlichen zwischen 16 und 29 Jahren mit elterlicher Partnergewalt konfrontiert gewesen sind (vgl. Wetzels, 1997). Weitere Studien zur Prävalenz des Miterlebens häuslicher Gewalt von Kindern kommen zum Groÿteil aus Amerika. Hier besagen die Zahlen, dass ein Drittel bis die Hälfte aller Kinder in ihrem Leben ein- oder mehrmals Gewalt zwischen nahen Bezugspersonen miterleben (vgl. Edleson, 1999, S. 842f). Diese Zahlen machen deutlich, dass Kinder in einer nicht zu unterschätzenden Anzahl Zeugen, Opfer oder Beteiligte häuslicher Gewalt sind und mit den Folgen zu kämpfen haben.
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2 Kinder und häusliche Gewalt Theoretischer Kontext
2.2.2 Formen von Betroenheit Das Miterleben von Gewalt liegt im Schnittpunkt zwischen Kindesmisshandlung und -vernachlässigung und häuslicher Gewalt (Gelles, 2002, S. 1058).
Kinder misshandelter Mütter 7 können in unterschiedlicher Weise von der Gewalt in der Familie betroen sein. Auch wenn viele Mütter der Ansicht sind, ihre Kinder seien nie dabei gewesen, hätten von der Gewalt nichts mitbekommen, weil sie geschlafen hätten oder zum Zeitpunkt der Gewalt nicht im Raum anwesend waren, ist in der Fachdiskussion heute völlig unumstritten, dass häusliche Gewalt immer auch die Kinder betrit. Häusliche Gewalt schat eine Atmosphäre in der Familie, die vor Kindern nicht versteckt werden kann und die in jedem Fall eine Belastung für Leben und Entwicklung der Kinder darstellt (vgl. Mullender & Morley, 1994, S. 7). Auch Interviews mit betroenen Kindern zeigen, dass die groÿe Mehrheit der Kinder Einzelheiten von Gewaltvorfällen in der Familie berichten kann, von denen Eltern häug annehmen, die Kinder hätten diese nicht mitbekommen (vgl. Jae et al., 1990, S. 20). Sommer (2002) zählt Streitigkeiten (Gewalt) unter den Eltern (S. 65) in seiner Untersuchung klar zu Aspekten psychischer Gewalt gegen Kinder. Kinder, die mit häuslicher Gewalt aufwachsen, sind in diesem Sinne nicht nur psychischer Gewalt ausgesetzt, sondern leiden auch häug unter der völligen Überlastung der Mutter, die bis hin zu Vernachlässigung der Kinder reichen kann. Ohne Hilfe ist es vielen misshandelten Frauen kaum möglich, die Interessen ihrer Kinder angemessen zu vertreten und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden (vgl. Mullender & Morley, 1994; McKay, 1994). Kinder können zudem in unterschiedlicher Weise selbst von Misshandlung betroen sein. Sie bekommen mehr oder weniger zufällig Gewalttaten ab, die eigentlich gegen die Mutter gerichtet waren oder der Vater schlägt die Kinder, die die Mutter nicht schützen kann. In manchen Fällen gibt die Mutter 7 Wie eben dargestellt ist der fachliche Diskurs zu häuslicher Gewalt stark geprägt durch die Diskussion von Gewalt gegen Frauen. Auch in Veröentlichungen und Forschungen zum Thema der Betroenheit von Kindern wird mehrheitlich davon ausgegangen, dass es sich um Gewalt der Väter oder Lebenspartner gegen die Mütter handelt. Dies ist wiederum auch aus der Praxis der Frauenhäuser heraus entstanden, die häug der erste Ort waren, in denen die Problematik der Kinder zu Tage trat. Auch die nach wie vor gültige Verteilung der Erziehungsverantwortung zum Groÿteil auf die Mütter macht diese Sichtweise aus der Praxis plausibel und sinnvoll. Aufgrund dieser Tatsache wird im Folgenden von Müttern die Rede sein, die Gewalt erlitten haben. Dies soll nicht ausschlieÿen, dass auch Väter der gewalterleidende Elternteil sein können und für sie und ihre Kinder ähnliche Problematiken gelten.
2.2 Kinder als Betroene häuslicher Gewalt
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Gewalt, die sie selbst erleidet, an die Kinder weiter oder überdiszipliniert ihre Kinder in gewalttätigen Dimensionen, um sie vor der Gewalt des Vaters zu schützen (vgl. McKay, 1994, S. 29). Heynen (2001) teilt die Betroenheit von Kindern in Fällen häuslicher Gewalt, in denen die Kinder selbst nicht direkt misshandelt werden, in vier Formen ein:
• Zeugung durch Vergewaltigung • Misshandlungen während der Schwangerschaft • direkte Gewalterfahrungen als Mitgeschlagene/Mitbetroene • Aufwachsen in einer Atmosphäre von Gewalt und Demütigung Das Aufwachsen in einer Atmosphäre von Gewalt in der Partnerschaft der Eltern, das im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, unterteilt McGee (1997) noch einmal in folgende Formen von Betroenheit:
• Anwesenheit im Raum während der Gewalttätigkeit • Mitanhören der gewalttätigen Auseinandersetzungen im Nebenraum • Erleben der Auswirkungen und Nachwirkungen der Gewalt in Form von Verletzungen oder Verzweiung der Mutter • Missbrauch der Kinder als Druckmittel gegenüber der Mutter • Kinder oder ihr Verhalten als auslösendes Moment für die Gewalt • Miterleben der emotionalen und psychischen Misshandlung der Mutter in Form von Demütigungen, Kontrolle oder Verachtung Kinder können auf eine oder mehrere Arten von der Gewalt mit betroen sein. Im Verlauf der Zeit können sich Formen der Betroenheit ebenso verändern wie auch steigern oder potenzieren. Jede Form der Betroenheit kann spezische Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder haben und jede erfordert von den Kindern eigene Strategien im Umgang mit ihr. Zusätzlich zur Zeugenschaft in den eben dargestellten Formen beschreibt Heynen (2001) weitere Kategorien der Betroenheit von Kindern, die durch
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2 Kinder und häusliche Gewalt Theoretischer Kontext
die Gewalt in der Partnerschaft der Eltern entstehen oder häug in Verbindung mit häuslicher Gewalt auftreten:
• Fehlende elterliche Kompetenz und Sicherheit • Rolle als Stütze der Mutter (häug im Sinne einer Parentizierung) • (Drohender) Verlust der Mutter durch Trennung, Mord oder Suizid • Anhaltende (häug gewalttätige) Konikte nach der Trennung der Eltern • Armut und soziale Benachteiligung
2.2.3 Häusliche Gewalt und Kindesmisshandlung Spouse abuse and child abuse have traditionally been examined as separate issues (McKay, 1994, S. 29).
Aufgrund der starken Trennung bzw. der unterschiedlichen Beheimatung von Forschung im Bereich Gewalt gegen Frauen und Forschung zum Thema Kindesmisshandlung (vgl. auch Kapitel 2.3.3) ist der enge Zusammenhang beider Gewaltformen in Familien lange nicht gezielt untersucht worden. Erst in den letzten Jahren ist das Thema Gewalt gegen Frauen langsam in die Praxis des Kinderschutzes eingegangen und umgekehrt. Obwohl heute in der Fachdiskussion der enge Zusammenhang beider Phänomene unumstritten ist, gibt es noch keine umfassende Forschung, insbesondere im deutschsprachigen Bereich, zu Art und Häugkeit des gleichzeitigen Auftretens von häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung. Kinder sind wie eben ausführlich dargestellt in unterschiedlicher Weise direkt oder indirekt von Misshandlung betroen. Kinder können für ihre Mütter sowohl Auslöser sein, den Partner zu verlassen, als auch in der gewalttätigen Beziehung auszuharren, um den Kindern den Vater nicht zu nehmen und sie nicht durch eine Trennung aus ihrem Umfeld zu reiÿen (vgl. McKay, 1994, S. 29). Die bisherige Forschung erbrachte erste Zahlen und Ergebnisse, die jedoch aufgrund ihrer jeweiligen Forschungsdesigns sehr unterschiedlich auselen. Schwerpunkt dabei war zunächst die Verbindung von häuslicher Gewalt und körperlicher Kindesmisshandlung. Die Gewaltstudie von Wetzels (1997) fand in Fällen miterlebter häuslicher Gewalt achtmal häuger Misshandlungen der Kinder durch Vater oder Mutter. Stark & Flitcraft (1988) stellten in ihrer Studie fest, dass zwei Drittel
2.2 Kinder als Betroene häuslicher Gewalt
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der misshandelten Kinder von Müttern erzogen wurden, die in einer gewalttätigen Partnerschaft leben. Weitere Studien fanden Überschneidungsraten von Kindesmisshandlung und häuslicher Gewalt von 5,6% bis zu 100% (vgl. Hazen et al., 2004; Maxwell, 1994; McKay, 1994; Sternberg et al., 1993; Kruttschnitt & Dorfeld, 1992; Gelles & Straus, 1988; Rosenbaum & O`Leary, 1981; Straus et al., 1980). Diese Breite an Forschungsergebnissen liegt zum Einen in der voneinander abweichenden Auswahl der Untersuchungsgruppen begründet (100% fanden sich in einer Untersuchung von Frauenhausklientel, 5,6% in einem national repräsentativen Sample, d.h. im Querschnitt der gesamten Bevölkerung), zum anderen aber auch in unterschiedlichen Denitionen von Gewalt sowie der Wahl von Methoden und Untersuchungszeiträumen. Appel & Holden (1998) nden bei ihrer Durchsicht amerikanischer Forschungsergebnisse und -daten den vermuteten engen Zusammenhang zwischen häuslicher Gewalt und körperlicher Kindesmisshandlung bestätigt. Nach ihren Einschätzungen liegt die Rate des gleichzeitigen Auftretens von häuslicher Gewalt und körperlicher Kindesmisshandlung bezogen auf die Gesamtbevölkerung bei ca. 6%. Geht es um Familien, in denen mindestens eine Form von Gewalt bekannt ist (entweder häusliche Gewalt oder körperliche Kindesmisshandlung) liegt die Rate des Auftretens beider Gewaltformen bei einem Median von ca. 40% (vgl. Appel & Holden, 1998, S. 578). Smith et al. (2005) nden in ihrer Meta-Analyse den Schwerpunkt der Forschungsergebnisse bezüglich des gleichzeitigen Auftretens von häuslicher Gewalt und körperlicher Kindesmisshandlung im Bereich von 30% bis 60%. Ross (1996) fand in seiner Studie mit steigender Häugkeit und Intensität der Gewaltausübung in der Partnerschaft ein deutlich erhöhtes Risiko für die körperliche Misshandlung der Kinder. Kindesmissbrauch und Zeugenschaft bei Gewalt zwischen den Eltern bezeichnen Hughes et al. (1989) als double whammy, was treend aussagt, dass Kinder mit beiden Belastungen einem höheren Risiko unterliegen, Verhaltensauffälligkeiten zu entwickeln (vgl. auch Edleson, 1999, S. 861). Wie schon gesagt, beschäftigen sich die eben dargestellten Studien alle mit dem Thema der körperlichen Kindesmisshandlung. Smith et al. (2005) stellen folgerichtig fest: Although the majority of prior studies have focused on the occurrence of child physical abuse, there is evidence that many of the children living in these homes are subjected to severe psychological abuse (S. 1245).
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2 Kinder und häusliche Gewalt Theoretischer Kontext
Einzelne Forschungen belegen, dass Eltern, die häusliche Gewalt erleben oder ausüben, emotional weniger feinfühlig und kommunikativ (vgl. Osofsky & Fenichel, 1994) und auch so sehr mit sich selbst und ihrer Beziehung beschäftigt sind (vgl. McKay, 1994), dass sie für ihre Kinder als Bindungspersonen kaum präsent sind. Daher, so der Ausgangspunkt der Studie von McGuigan & Pratt (2001), liegt die Vermutung nahe, dass in einer groÿen Anzahl von Familien, in denen Partnergewalt zum Alltag gehört, die Kinder entweder physische oder psychische Gewalt erleben oder eine Kindesvernachlässigung vorliegt. In ihrer Studie lassen sich signikante Zusammenhänge von häuslicher Gewalt in den ersten sechs Monaten der Elternschaft und allen drei Arten von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung in den ersten fünf Lebensjahren nachweisen. Für die hier vorliegende Untersuchung ist es wichtig festzustellen, dass Kinder, die in gewalttätigen Partnerschaften aufwachsen, ein erhöhtes Risiko haben, selbst Opfer körperlicher Gewalt zu werden, aber auch ca. 40% bis 60% der Kinder, die häusliche Gewalt miterleben, selbst nicht körperlich misshandelt werden. Psychische Misshandlung und Vernachlässigung spielen mit Sicherheit für fast alle Kinder eine mehr oder weniger groÿe Rolle.
2.3 Häusliche Gewalt in der Gesellschaft Häusliche Gewalt ist wie gezeigt werden konnte leider kein seltenes Phänomen in unserer Gesellschaft. Die Thematisierung des Tabuthemas von Gewalt im eigentlichen Schutzraum der Familie in unserer Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren ebenso wie deren öentliche Wahrnehmung stark gewandelt. Dies schlägt sich in unterschiedlichen Bereichen unserer Gesellschaft nieder. Lamnek et al. (2006) unterscheiden drei Diskurse zur sozialen Konstruktion von Gewalt in Familien (vgl. S. 43f). Der sozial-administrative Diskurs befasst sich mit der Frage, was Tatbestände häuslicher Gewalt sind und wie innerhalb der Gesellschaft darauf reagiert und interveniert wird. Der Diskurs der Helfer beschäftigt sich mit der Frage nach dem therapeutischen Zugang und der Behandlung von Tätern und Opfern. Und schlieÿlich der politische Diskurs der Frauenbewegung, der die gesellschaftliche Dimension von Gewalt gegen Frauen und den Zusammenhang mit Geschlechtsrollenbildern thematisiert. Im Folgenden soll die Geschichte des Themas häuslicher Gewalt aus unterschiedlichen Perspektiven kurz beleuchtet werden, um den gesellschaftlichen Rahmen, in dem häusliche Gewalt stattndet und thematisiert wird, zu ver-
2.3 Häusliche Gewalt in der Gesellschaft
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deutlichen. Während sich der erste Abschnitt mit der Perspektive auf das gesellschaftliche Bild von Familie als privaten Raum befasst, stehen im zweiten Abschnitt rechtliche Regelungen im Mittelpunkt. Im Anschluss werden politischen Diskurse, die Gewalt gegen Frauen in die öentliche Diskussion brachten, beleuchtet werden, gefolgt von einem kurzen Blick auf die Problematik von Forschung zum Thema häuslicher Gewalt.
2.3.1 Thematisierung häuslicher Gewalt in der Gesellschaft Von der Privatheit in die öentliche Diskussion Häusliche Gewalt ist ein gesellschaftliches Problem, das lange Zeit verschwiegen oder verharmlost wurde (Ohl, 2005, S. 8).
Gewalt in Familien und Paarbeziehungen hat es im Zusammenleben von Menschen vermutlich schon immer gegeben. Gewaltphänomene können jedoch erst dann in ihrem Auftreten wie in ihrer Bedeutung erkannt werden, wenn dies das politische, soziale und kulturelle Klima` einer Gesellschaft zulässt (Sommer, 2002, S. 79). Häusliche Gewalt galt in unserer Gesellschaft lange Zeit als absolute Privatangelegenheit. Die Familie stellt in unserer Gesellschaft den Bereich der Privatsphäre schlechthin dar und ein Einmischen der Öentlichkeit in familiäre Konikte oder Angelegenheiten wurde als Eingri in die private Intimsphäre bewertet und abgelehnt (vgl. Haller et al., 1998; Godenzi, 1993; Raucheisch, 1992). Die Öentlichkeit, der Staat, die Kontrollinstanzen, das soziale Umfeld, sie alle respektieren den Bezirk des ehelichen oder quasi-ehelichen Schlafzimmers. Was sich dort abspielt, ist Sache des Paares (Godenzi, 1993, S. 169).
In den letzten Jahrzehnten wurde die öentliche Problematisierung von Gewalt in der Familie und häuslicher Gewalt unter dem Druck von Frauen- und Kinderschutzbewegung mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen vorangetrieben, wobei häusliche Gewalt das wichtigste Thema der Frauenbewegung war. Mitte der 70er Jahre und insbesondere mit dem internationalen Jahr der Frau 1975 wurde Gewalt gegen Frauen zunehmend aus der Privatsphäre genommen und öentlich und politisch diskutiert (Bundesministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend, 1999, S. 4). Die Frauenbewegung sah ihre Aufgabe jedoch nicht nur auf politischer Ebene mit dem Ziel ein öffentliches Bewusstsein für die Problematik häuslicher Gewalt zu schaen,
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2 Kinder und häusliche Gewalt Theoretischer Kontext
sondern auch darin, betroenen Frauen Schutz und Unterstützung anzubieten. Am 01.11.1976 eröneten die ersten beiden Frauenhäuser in Berlin und Köln (vgl. Illigens, 2005), dem deutschlandweit viele Frauen- und Kinderschutzhäuser folgten. Hagemann-White et al. (1981) begleiteten die Arbeit der Frauenhäuser wissenschaftlich, so dass auch erste Forschungsergebnisse in die Diskussion der Gewalt gegen Frauen einieÿen konnten. Obwohl die Zahl der Frauen, die in den Frauenhäusern Schutz und Hilfe suchten, das Ausmaÿ häuslicher Gewalt sichtbar machte, reagierten Gesellschaft und Politik nur sehr langsam auf die Forderungen der Frauenbewegung. Gesellschaftlich und politisch wurde in Deutschland das Thema Gewalt gegen Frauen im Gegensatz zu anderen Gewaltphänomenen lange Zeit hingenommen. Gewalt schien untrennbar zum Verhältnis der Geschlechter zu gehören mit einer vermeintlich biologisch und gesellschaftlich determinierten Rollenverteilung: Der Mann schlägt, die Frau wird geschlagen, die Gesellschaft kann nichts tun auÿer der Bereitstellung von Frauenhäusern. Gewalt durch Beziehungspartner wurde so zum Schicksal von Frauen; die Frage nach Intervention und Recht stellte sich bei dieser Betrachtungsweise nicht (Schweikert, 2000, S. 51).
Erst mit der Einführung des Gewaltschutzgesetzes 2002 bekam der Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt einen rechtlichen Hintergrund. 8 Auch die Einführung des Straftatbestands der Vergewaltigung in der Ehe 1997 macht die akutellen Veränderungen in den Bewertungsmaÿstäben der Gesellschaft deutlich und ist als deren rechtliche Umsetzung zu betrachten. Häusliche Gewalt gilt seither nicht mehr als Privatsache und kann dem Eingri staatlicher Instanzen nicht länger entzogen bleiben. Schutz vor häuslicher Gewalt ist zur Aufgabe von Gesellschaft, Politik und deren ausführenden Institutionen wie Polizei und Justiz geworden. Der erste Aktionsplan der Bundesregierung von 1999 stellt klar fest: Häusliche Gewalt gegen Frauen ist keine innerfamiliäre Angelegenheit, in die sich der Staat nicht einzumischen hat (Bundesministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend, 1999, S. 19). Dies war der Beginn eines langsamen Para8 Das 2002 in Kraft getretene Gewaltschutzgesetz (GewSchG) regelt die Möglichkeiten von Frauen, Gewalttäter durch die Polizei aus der Wohnung entfernen zu lassen (Wegweisung), als auch per einstweiliger Verfügung durch das Gericht Annäherungsund Kontaktverbote zu erwirken oder die eheliche Wohnung zur alleinigen Nutzung zugewiesen zu bekommen (nähere Informationen siehe auch Kapitel 2.3.3).
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digmenwechsels, weg vom Schutz der Privatsphäre der Familie vor staatlichen Eingrien hin zum Schutz von Frauen und Kindern vor häuslicher Gewalt, der in der kurzen Formel von Wer schlägt, der geht (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2007, S. 30) seine Zusammenfassung fand. Wurde im Aktionsplan I der Bundesregierung noch bemängelt, dass der Staat Täter immer noch weniger als Straftäter, sondern als Beteiligte eines privaten Familienkoniktes (Bundesministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend, 1999, S. 35) behandelt, so sind heute durch das Gewaltschutzgesetz, aber auch die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe, klare strafrechtlich relevante Tatbestände in Fällen häuslicher Gewalt benannt worden. Ein Blick in die Geschichte der Kindheit zeigt, dass sich das gesellschaftliche Bild von Kindern ebenso gewandelt hat. Die einstige Vorstellung, Kinder seien das Eigentum ihrer Eltern, hat sich hin zu einer Betrachtung von Kindern als eigenständige Personen mit eigenen Rechten gewandelt. Es fand eine Entwicklung von Erziehung durch Strafe und Gewalt hin zur oenen Thematisierung familiärer Gewalt, insbesondere der Gewalt gegen Kinder statt. Was früher das Züchtigungsrecht der Eltern war, wird heute als Misshandlung eingestuft (vgl. Lamnek et al., 2006, S. 34). Schon mit dem ersten Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen sollten die mitbetroenen Kinder ins Blickfeld der Fachöentlichkeit gerückt werden: Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wird durch entsprechende Öentlichkeitsarbeit die Situation von Kindern, die Gewalt in ihrer Familie miterlebt haben, in den Blick rücken (Bundesministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend, 1999, S. 42).
Es wurden zunehmend Fachtage zum Thema Kinder und häusliche Gewalt abgehalten und nach und nach gab es einzelne Veröentlichungen zu Auswirkungen miterlebter häuslicher Gewalt (vgl. Heynen, 2001; Kindler, 2002; Kavemann, 2002). Erst in den letzten Jahren wurden neben den Unterstützungsangeboten für Kinder in Frauenhäusern auch spezielle Pilotprojekte für Kinder, die häusliche Gewalt miterlebt haben, konzipiert und in einer Studie von Kavemann & Seith (2007) evaluiert. Neben dieser öentlichen Diskussion häuslicher Gewalt, der zunehmenden Perspektive auf die Kinder und der gesellschaftlichen Legitimation öffentlicher Eingrie in familiäre Gewaltsituationen ist in unserer Gesellschaft auch eine stetig zunehmende Sensibilität für Gewalt im Allgemeinen wahr-
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nehmbar. Hagemann-White (2005) beschreibt dies als eine weitere Stufe im Prozess der Zivilisation im Sinne von Norbert Elias 9 : die gewachsene Sensibilität für Gewalt im Alltag und die Bereitschaft, auch für den privaten Umgang den Anspruch der sozialen Befriedung geltend zu machen, [ist] eine weitere Stufe im Prozess der Zivilisation (im Sinne von Norbert Elias). Dazu passt die Ausweitung des Gewaltbegris, um jedes wütende Zupacken, jede Drohung, psychische ebenso wie körperliche Aggressionen einzubeziehen; wir haben ein feineres Empnden und eine andere moralische Sensibilität für Übergriffe. Dazu passt auch, die Gewaltfreiheit auch für Männer als Betroene einzufordern, Einfühlsamkeit und solidarische Hilfe für jedes Opfer, ob jung oder alt, ob Frau oder Mann, ob Einheimischer oder Eingewanderter zu fordern (S. 7).
Trotz dieser Sensibilisierung, der öentlichen Wahrnehmung häuslicher Gewalt und der Bereitstellung von Schutz- und Interventionsmöglichkeiten, ist Gewalt in der Partnerschaft nach wie vor ein Tabuthema, das mit Schweigegeboten, Schamgefühlen und Isolierung verbunden ist. Häusliche Gewalt geht immer auch mit einer Stigmatisierung einher und ist in unserer Gesellschaft mit Vorstellungen von Anormalität, Asozialität und sozialen Problemfällen verknüpft. Tabuisierung und Stigmatisierung sowie schwer zugängliche Hilfesysteme [sind] für die Betroenen keine Relikte vergangener Zeiten, sondern zu oft Alltagsrealität (Moore et al., 2006, S. 5).
Romito (2008) setzt sich intensiv mit der Frage auseinander, wie Gewalt gegen Frauen und Kinder in der heutigen Gesellschaft nach wie vor ein Tabuthema sein kann. Auch heute, nachdem Frauenbewegung und Kinderschutzbewegung die Gewalt öentlich thematisiert haben, politische Kampagnen zum Brechen des Schweigens durchgeführt und viele Hilfsangebote etabliert wurden, ist es in ihren Augen immer noch nicht gelungen, zum Kern des Problems vorzudringen und Gewalt gegen Frauen und Kinder präventiv zu bekämpfen. Gründe dafür sieht sie in der Gesellschaft, die auch heute noch männliche Gewalt deckt, verharmlost oder nicht benennt. Dieses gesellschaftliche Schweigen erschwert es betroenen Frauen und Kindern zusätzlich zu vorhandenen Scham- und Schuldgefühlen sowie häug an Dro9 Die Zivilisationstheorie von Norbert Elias ist eine allgemeine Theorie der sozialen Evolution und der sozialen Entwicklung der Menschheit (Oesterdiekho, 2000, S. 23), die Elias in den zwei Bänden seines Werkes Über den Prozess der Zivilisation entwickelt hat. Näheres hierzu siehe Elias (1977) und Oesterdiekho (2000).
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hungen gebundenen Schweigegeboten, sich anderen Menschen anzuvertrauen und Hilfe zu suchen. Nicht vergessen werden darf an dieser Stelle das noch gröÿere Tabuthema männlicher Gewalterfahrungen. Aufgrund gesellschaftlicher Männerbilder und damit verbundener Tabuisierungs- und Stigmatisierungsprozesse rückt (weibliche) Gewalt gegen Männer erst sehr langsam ins Blickfeld der Öentlichkeit und wird Thema gesellschaftspolitischer Diskussion (vgl. Jungnitz et al., 2004).
2.3.2 Gesellschaftspolitische und rechtliche Aspekte Vom Schutz der Familie zum Gewaltschutzgesetz
Bis vor 30 Jahren war Gewalt gegen die Ehefrau für Gesetzgeber und Polizei kein Grund zur Intervention und galt als Form von Gewalt, mit der sich Polizei und Justiz besser nicht befassen sollten bzw. wollten (vgl. HagemannWhite, 2005, S. 6). Dieses Paradigma wurde mit dem Gewaltschutzgesetz 2002 endgültig abgelöst von der kurzen und prägnanten Formel: Wer schlägt, der geht. Am 01.01.2002 trat das Gewaltschutzgesetz 10 in Deutschland in Kraft und regelt seither die Möglichkeiten einer Wegweisung eines gewalttätigen Partners aus der gemeinsamen Wohnung. Von häuslicher Gewalt betroene Frauen haben die Möglichkeit, auf zivilrechtlichem 11 Wege die gemeinsame Wohnung zur alleinigen Nutzung zugewiesen zu bekommen, wobei der Partner keinen Zutritt mehr zur Wohnung hat. Dies ermöglicht den Frauen, sich und ihren Kindern ein gewaltfreies Lebensumfeld zu sichern, ohne in ein Frauenhaus iehen zu müssen (vgl. Illigens, 2005, S. 12). Viele Bundesländer haben ankierende polizeirechtliche Regelungen getroen, die die Lücke zwischen Polizeieinsatz und zivilrechtlichen Maÿnahmen schlieÿen (vgl. Hecht, 2005, S. 13). So kann die Polizei in Bayern einen gewalttätigen Mann sofort während des Polizeieinsatzes für eine gewisse Zeit 10 Gewaltschutzgesetz ist der in der Fachdiskussion gängige Name für das Gesetz zur Verbesserung des zivilgerichtlichen Schutzes bei Gewalttaten sowie zur Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung bei Trennung, das schriftlich häug mit GewSchG abgekürzt wird. 11 Derzeit fällt das GewSchG noch in den Zuständigkeitsbereich der Zivilgerichte. Mit der Reform des FGG (Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit) und dem neuen FamFG (Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit) werden Gewaltschutzsachen mit dessen in Kraft treten am 01.09.2009 unter Familiensachen subsumiert und damit an den Familiengerichten verhandelt.
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der Wohnung verweisen und ein Kontaktverbot verhängen, ohne dabei auf einen zivilgerichtlichen Beschluss angewiesen zu sein. Problematisch zeigt sich die Schnittstelle von Gewaltschutzgesetz und Kindschaftsrecht, insbesondere in Fragen des Sorge- und Umgangsrechts. Das geplante Gewaltschutzgesetz sieht vor, dass Frauen, die geschlagen wurden, eine vorläuge Wegweisung des Mannes aus der Wohnung und die Verfügung eines Kontaktverbotes erwirken können: Wer schlägt, der geht. Ungeregelt bleibt die Frage des Sorge- und Umgangsrechts für gemeinsame Kinder. Hier wird auf das Familienrecht verwiesen, wonach eine Übertragung des Sorgerechts auf die Mutter nur zum Wohle des Kindes und ein Ausschluss des Umgangsrechts nur als ultima ratio in Frage kommt. Bei einer Gefährdung der Mutter und/oder des Kindes soll der Umgang in einem geschützten Rahmen durchgeführt werden (Flügge, 2001, S. 115).
Auch das seit der Reform des Kindschaftsrechts 1998 als Regelfall geltende gemeinsame Sorgerecht kann in Fällen häuslicher Gewalt problematische Auswirkungen haben (vgl. Kavemann, 2002). Erste Erfahrungen mit der Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes haben diese Bedenken bestätigt. In vielen Fällen scheint dem Umgangsrecht Vorrang vor Schutzanordnungen eingeräumt zu werden und die Verbindung von Täterverhalten, Kindeswohl und Schutzanspruch der Frau wird häug bagatellisiert oder unterschätzt (vgl. Hecht, 2005, S. 14). Es bedarf in Anbetracht des Kindeswohls, des Rechts der Mutter auf ihren eigenen Schutz und des Rechts des Vaters auf Umgang, eines tragfähigen und für alle Seiten annehmbaren Kompromisses, was in vielen Fällen häuslicher Gewalt extrem problematisch erscheint. Dabei ist das Kindeswohl immer im Spannungsfeld von kindlichen Wünschen, Rechten des Vaters und der Problematik erneuter Übergrie auf die Mutter im Kontext von Umgangskontakten zu sehen. In der familienrichterlichen Praxis war lange Zeit umstritten, ob das Miterleben der Gewalt gegen die Mutter als Kindeswohlgefährdung zu werten ist. Lange Zeit galt hier die Annahme, Gewalt gegen die Partnerin habe keine oder kaum Auswirkungen auf die Beziehung der Kinder zum Vater, wenn dieser ihnen gegenüber nie gewalttätig geworden war. Durch die Gründung von Runden Tischen und Interventionsprojekten entstand Mitte der 90er Jahre ein erster fachlicher Austausch zwischen Frauenhäusern und Jugendämtern, Familiengerichten sowie Kinderschutzeinrichtungen (vgl. Kavemann, 2002, S. 267).
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Eine weitere für den Themenkomplex häuslicher Gewalt interessante Gesetzesänderung ist die formale Abschaung des Züchtigungsrechtes der Eltern 2000. Dies sicherte Kindern und Jugendlichen im Elternhaus ein elementares Recht zivilisierter Subjekte zu: keine Gewalt erfahren zu müssen (Lamnek et al., 2006, S. 37). Seit 02.11.2000 hat jedes Kind in Deutschland das Recht auf Gewaltfreiheit in der Erziehung, geregelt in 1631 BGB. Das Recht auf Gewaltfreiheit in der Erziehung schlieÿt meines Erachtens auch das Recht darauf ein, keine Gewalt gegen die eigene Mutter oder andere nahe Bezugspersonen miterleben zu müssen.
2.3.3 Frauenbewegung und Kinderschutz Geschichte einer Kooperation Die Thematik der Kinder, die häusliche Gewalt miterleben, steht im Schnittpunkt von Frauenbewegung und Kinderschutz. Die Frauenbewegung, die das Thema häuslicher Gewalt öentlich anprangerte, schuf parteiliche Hilfsangebote für Frauen und bekam über diesen Weg auch die Kinder und ihre Belastungen in den Blick. Im Gegensatz dazu kam die Kinderschutzbewegung über die Thematik körperlicher Kindesmisshandlung und den Begri der Kindeswohlgefährdung 12 zur Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Miterlebens häuslicher Gewalt auf die Entwicklung von Kindern. Beide Bewegungen kamen so aus einer anderen Perspektive. In diesem Spannungsfeld entwickelte sich auch die fachliche Diskussion um das kindliche Miterleben häuslicher Gewalt. In den Frauenhäusern entstanden schon früh eigene Unterstützungsangebote für Kinder, die stark von Gröÿe und Ausstattung der Häuser abhängig und inhaltlich sehr unterschiedlich konzipiert waren (vgl. Hagemann-White et al., 1981). Diese standen jedoch räumlich, personell und vor allem in ihrer Finanzierung weitgehend im Schatten der Frauenberatung (Kavemann, 2002, S. 266). Frauenhäuser arbeiteten parteilich mit den Frauen und versorgten anfangs nebenher auch die mitgebrachten Kinder. Die Vernachlässigung der Kinder oder die Überforderung der Mütter wurde immer auch im Kontext der Gewalterlebnisse und deren Folgen für die Frau betrachtet. 12 Der Begri der Kindeswohlgefährdung ist ein oener Rechtsbegri, der in 1666 BGB den Eingri des Staates in Familien zum Schutz des Kindeswohles regelt. Die inhaltliche Denition von Gefährdung ist dabei nicht festgelegt und an den aktuellen fachlichen Diskurs gebunden. So war das Miterleben häuslicher Gewalt lange Zeit nicht in Listen von Gefährdungslagen und Gefährdungseinschätzungen aufgenommen, wird jedoch heute klar als Risikofaktor für eine Kindeswohlgefährdung benannt.
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In der Kinderschutzbewegung stand dagegen von Beginn an das Wohl des Kindes im Mittelpunkt. Ziel war es, Kindeswohlgefährdungen zu erkennen und geeignete Hilfen für die Familien anzubieten, um die Gefährdung der kindlichen Entwicklung abzuwenden. Belastungen und Gewalterfahrungen der Mutter spielten dabei selten eine Rolle und wurden schon gar nicht systematisch erfragt. Insbesondere im Bereich der Täterbilder kam es zu starken Diskrepanzen zwischen Frauen- und Kinderschutzbewegung: Betonte die Frauenbewegung die Machtausübung des Täters, so betonte die Kinderschutzbewegung dessen Ohnmacht (Hagemann-White, 2005, S. 5).
So war auch der fachliche Arbeitsansatz ein anderer. Kinderschutzeinrichtungen arbeiteten oftmals mit der ganzen Familie, während die Frauenbewegung parteilich mit den Frauen arbeitete. Diese unterschiedlichen Perspektiven und Arbeitsansätze führten häug zu Problemen in der Kooperation und gegenseitigen Vorbehalten, die Hege (1999) treend zusammenfasst: Ich spitze zu: Frauen der Frauenbewegung unterstellen dem Kinderschutz, dass er der Kinder wegen die Frauen immer wieder in ihre alte Rolle zurückdrängen will. Der Kinderschutz unterstellt der Frauenbewegung, dass sie die Bedeutung der Entwicklung der Kinder auch ihre Beziehung zu ihren Vätern hinter der Entwicklung der Frau zurückstellt (S. 2).
Mit der zunehmenden Thematisierung der Zeugenschaft von Kindern in Fällen häuslicher Gewalt und der damit verbundenen Forschung zu Zusammenhängen von Kindesmisshandlung, Gewalt gegen Frauen und Kindeswohlgefährdung, kam Bewegung in die Auseinandersetzung von Frauen- und Kinderschutzbewegung. Auch die zunehmende fachliche Professionalisierung der Kinderbereichsarbeit in den Frauenhäusern trug ihren Teil dazu bei, Kinderschutzfragen in der parteilichen Frauenarbeit stärker aufzunehmen. Wir stehen im Moment an einer interessanten historischen Schwelle, was die Zusammenarbeit zwischen Frauenschutz und Kinderschutz betrit (Kavemann, 2002, S. 267).
Beide Bewegungen haben in ihrem Bereich die gesellschaftlich geltenden Normen verändert was sich gesetzlich in dem Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung und den Möglichkeiten für Frauen durch das Gewaltschutzgesetz spiegelt. Auch ist die Kooperation und Vernetzung durch Runde Tische und Interventionsprojekte enorm verbessert worden und sowohl Vorstellungen
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einseitiger Parteilichkeiten als auch Vorurteile bezüglich des fachlichen Handelns konnten vielerorts im Sinne einer oenen Kooperation im Einzelfall ausgeräumt werden. Häusliche Gewalt gegen Frauen wird nach und nach zu einem wichtigen Thema in Einrichtungen des Kinderschutzes und der Jugendhilfe, ebenso wie der Schutz der Kinder und notwendige Einschätzungen einer Kindeswohlgefährdung mehr Raum in der Arbeit mit misshandelten Frauen in Frauenhäusern oder Frauenberatungsstellen einnimmt. Im Zuge dieser Entwicklungen konnte eine groÿe Aufmerksamkeit aller im Hilfesystem Beteiligter für die Situation von Mädchen und Jungen, die häusliche Gewalt miterleben, geschaen werden. Erste Projekte sowohl in Trägerschaft von Kinderschutzeinrichtungen als auch von Frauenhäusern konnten als Pilotprojekte konzipiert und evaluiert werden (vgl. Kavemann & Seith, 2007).
2.3.4 Forschung im Dunkelfeld Problematiken des Forschungsthemas häuslicher Gewalt Gewaltforschung und insbesondere Forschung zu häuslicher Gewalt sieht sich vielen Schwierigkeiten gegenüber. Das erste Problem ist schon zu Beginn dieser Arbeit angeklungen: die Problematik der Denition von Gewalt. Jede Gewaltforschung ist immer auch von gesellschaftlichen Norm- und Wertvorstellungen geprägt. Die so beeinusste Denition von Gewalt, die einer Forschungsarbeit zugrunde liegt, hat wiederum direkte Auswirkungen auf Methodik, theoretische Zugänge und Ausrichtungen der Forschungsarbeit, die ihrerseits Auswirkungen von gesellschaftspraktischer Relevanz in Bereichen wie z.B. der Kriminologie hat (vgl. Lamnek et al., 2006, S. 71). Die Erforschung von Gewaltphänomenen ist nicht nur bezüglich ihrer Denitionen abhängig von Normen und Werten der Gesellschaft, in der sie durchgeführt wird, sondern auch hinsichtlich Methodik, Auswertung und Zielsetzung. Romito (2008) stellt die These auf, dass gesellschaftliche Normen und auch Tabuisierungen sich im Bereich häuslicher Gewalt direkt auf die Forschungstätigkeit niederschlagen: In fact, the lack of gures about violence represents a political choice and one of the means of hiding it (S. 11).
Die nach wie vor bestehende gesellschaftliche Tabuisierung häuslicher Gewalt erschwert die Forschung in diesem Bereich (vgl. Haller et al., 1998). Insbesondere die gesellschaftliche Vorstellung von Familie als privater und intimer Rückzugsort erschwert den Feldzugang und die Datenerhebung.
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Die starke Abgeschlossenheit der Familie gegenüber der weiteren Sozietät ist nicht zuletzt Ursache dafür, daÿ empirische Untersuchungen über die Gewalt in der Familie bisher nicht in ausreichendem Maÿe vorliegen. Wir sehen uns in diesem Feld einer hohen Dunkelzier gegenüber und sind vielfach auf Einzelbeobachtungen angewiesen, die lediglich die Spitze des Eisberges` ausmachen, und auf Hypothesen, die wir daraus ableiten können (Raucheisch, 1992, S. 64).
Scham- und Schuldgefühle verleiten ebenso wie die Angst vor Stigmatisierung oder das Wirken von Schweigegeboten die Erhebung von Daten im Themenbereich häuslicher Gewalt. Es ist immer davon auszugehen, dass ein erhebliches Dunkelfeld besteht, das der Forschung nicht oder nur sehr schwer zugänglich ist. Die Forschung muss intensiviert werden, um vor allem die Perspektive der Kinder in die Diskussion um Strategien gegen Partnergewalt aufzunehmen (Heynen, 2001, S. 96).
Die wachsende Aufmerksamkeit für die Situation von Kindern in Fällen häuslicher Gewalt hat in den USA, Groÿbritannien und Neuseeland jedoch bereits zu einer Reihe von quantitativer Studien geführt, die sich mit den Auswirkungen häuslicher Gewalt auf die Kinder beschäftigen. Weitere Forschung und Auseinandersetzung mit Mädchen und Jungen, die häusliche Gewalt erleben, ist jedoch unbedingt notwendig, um ihre Lebenslagen, Ressourcen, Zukunftsperspektiven und das jeweilige Gewalterleben dierenziert zu betrachten und die Resultate dieser Unterschiedlichkeiten für die Reaktionen und Angebote des Hilfesystems nutzbar zu machen (vgl. Kavemann, 2002, S. 268).
3 Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder Zum derzeitigen Stand der Forschung 3.1 Kindliches Erleben häuslicher Gewalt Eine familiendynamische Perspektive Es ist eine tragische Paradoxie, daÿ die Familie ein Ort ist, an dem die Menschen einerseits Liebe, Fürsorge, Zärtlichkeit und Geborgenheit nden. Andererseits aber gibt es kaum ein soziales Gebilde, das so viel an Unterdrückung, Haÿ und Gewalt beinhaltet wie die Familie (Raucheisch, 1992, S. 62).
Auch wenn Kinder im Kontext häuslicher Gewalt selbst nicht körperlich misshandelt werden, sind sie dennoch vielfältigen Belastungen ausgesetzt und wachsen in einer Atmosphäre von Gewalt auf. Diese Atmosphäre und die mit Gewalttätigkeiten häug verbundenen Familiendynamiken sind insbesondere in Erfahrungsberichten aus Frauenhäusern (vgl. z.B. Bingel & Selg, 1998; Winkels & Nawrath, 1990; Hagemann-White et al., 1981) oder Veröentlichungen aus dem Bereich des Kinderschutzes (vgl. z.B. Heynen, 2001; Kavemann, 2000) und in ersten Untersuchungen zum kindlichen Erleben häuslicher Gewalt (vgl. Mullender et al., 2002; Strasser, 2001) beschrieben worden. Im Folgenden sollen die Ergebnisse erster Studien zum kindlichen Erleben häuslicher Gewalt zusammengefasst werden. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass Kinder eine sehr individuelle Perspektive auf die Gewalt in der Partnerschaft der Eltern haben und ihr Erleben der Gewalt von vielfältigen Faktoren, wie beispielsweise Alter, Entwicklungsstand oder auch der Art der Betroenheit oder der Schwere der Gewalt abhängig ist. Winkels & Nawrath (1990) bezeichnen das gesamte Miÿhandlungsmilieu, d.h. die latente Bedrohung und gewalttätige Atmosphäre in der Familie (S. 57) das hier näher beschrieben werden soll als problematisch für die kindliche Entwicklung.
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Kinder in Misshandlungsfamilien leben in der ständigen Angst vor erneuten Gewaltausbrüchen des Vaters und in der ständigen Angst um das Leben ihrer Mutter. Sie können sich in ihrem Zuhause weder behütet noch beschützt fühlen und erfahren selten Ruhe, Sicherheit und Schutz durch die Eltern (vgl. Jae et al., 1990). Viele Kinder können sich in der Anwesenheit des Misshandlers kaum in der Wohnung bewegen, wagen nicht zu spielen oder gar zu toben. Der Versuch, immer alles richtig zu machen, setzt die Kinder ständig unter Druck und lässt, aus Angst zu scheitern oder Fehler zu machen, ein Experimentieren mit den eigenen Fähigkeiten kaum zu. Sehr früh begreifen die Mädchen und Jungen Miÿhandlung als Willkür, der jeder Anlaÿ recht ist. Das Wissen, daÿ das eigene Verhalten Anlaÿ bieten kann, zwingt dazu, alles zu vermeiden, was falsch sein könnte, sich zu kontrollieren, sich einzuschränken. Dazu ist die Erfahrung selbst geschlagen zu werden gar nicht nötig (Hagemann-White et al., 1981, S. 176).
Die Kinder erleben immer wieder direkt oder aus dem Nebenzimmer wie der Vater die Mutter behandelt und oft mit groÿer Brutalität schlägt. Sie sehen den kleinen Anlass, der die Wut auslöst und erleben die Steigerung des Streits bis hin zum Gewaltausbruch. Anschlieÿend bleiben sie meist mit der verletzten und verzweifelten Mutter zurück, wenn der Vater das Haus verlässt (vgl. Petri, 1995, S. 16). Sie haben die ganze Zeit dabeigestanden, keiner hat sie wahrgenommen, an sie gedacht, so blindwütig war der Kampf (Petri, 1995, S. 16). Hier ist es in der Regel wenig strittig, dass Kinder fast durchgängig mit Angst, Mitleid, Belastung und Hilosigkeit auf miterlebte Partnergewalt reagieren (Kindler, 2008, S. 13).
Dies bestätigen auch die Interview-Studien zum Erleben häuslicher Gewalt aus der Perspektive der Kinder von Strasser (2001) und Mullender et al. (2002) deutlich. Kinder haben in diesen Situationen nicht nur mit der existentiellen Angst um ihr eigenes Leben, sondern vielmehr auch mit der Angst um das Leben der Mutter zu kämpfen. Viele der Auseinandersetzungen erscheinen den Kindern extrem gefährlich und die Angst vor dem Verlust der Mutter ist groÿ (vgl. Petri, 1995, S. 17). Auch die Handlungsmöglichkeiten der Kinder sind sehr eingeschränkt. Sie können die Auseinandersetzungen der Eltern weder verhindern noch stoppen oder abschwächen, sondern sind diesen hilos ausgeliefert (vgl. McGee, 1997, S. 16). Eine Studie in Neuseeland ergab, dass 6% der anwesenden Kinder
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versuchten, Hilfe zu holen und 10% in den Streit der Eltern eingrien, um die Gewalt zu stoppen (vgl. Maxwell, 1994). Kinder wachsen im Umfeld häuslicher Gewalt mit dem Bewuÿtsein von eigener Ohnmacht und Abhängigkeit (Hagemann-White et al., 1981, S. 180), aber auch Gefühlen des Versagens und der Scham auf. Viele Kinder entwickeln Gefühle der Verantwortung für die Gewalt. If only they were better` children, their father would not get so upset and be violent towards their mother (Jae et al., 1990, S. 28). Sie fühlen sich schuldig, weil sie den Ärger des Vaters nicht verhindern und die Mutter nicht beschützen konnten. Die Kinder erleben diese Hilosigkeit häug als ihr eigenes Versagen und schämen sich dafür (vgl. Petri, 1995, S. 18). Miÿhandlung bedeutet immer auch Isolation und Zwang zur Lüge (Hagemann-White et al., 1981, S. 178). Dieser Satz gilt für Mütter ebenso wie für Kinder. Schweigegebote entstehen für Kinder im Kontext häuslicher Gewalt einerseits aus Scham und dem Wissen gesellschaftlicher Bewertungen der Erwachsenen, die deshalb den Kindern immer wieder vermitteln, dass es sich um eine familiäre Angelegenheit handelt, die niemand sonst etwas angeht. Andererseits entstehen diese Schweigegebote häug auch aus Kindern und Jugendlichen heraus, die sich aus Unsicherheit oder Angst vor Konsequenzen durch beispielsweise das Jugendamt oder auch durch ambivalente Gefühle dem Vater gegenüber nicht trauen, die Gewalt in der Familie nach auÿen anzusprechen (vgl. z.B. McGee, 1997). Zudem kontrolliert der Vater in vielen Fällen die Kontakte der Frauen und Kinder zu Familie, Freunden und Bekannten, um die Entdeckung der Gewalt ebenso zu verhindern wie Unterstützungsangebote Auÿenstehender. Nicht selten kommen Kinder im Kontakt mit anderen in die unangenehme Lage, ihr Familiengeheimnis hüten zu müssen (vgl. Jae et al., 1990, S. 27). So ist es für die Kinder fast unmöglich, auÿerhalb der Familie Unterstützung zu nden. Pizzey (1976) beschreibt die Isolation von Kindern im Umfeld häuslicher Gewalt folgendermaÿen: Zu Hause sind sie sehr oft die einzigen Zeugen der Miÿhandlungen, in der Schule kommen sie dann mit normalen Kindern zusammen. Die meisten lernen schon bald, daÿ es am klügsten ist, überhaupt nicht darüber zu reden, was sich zu Hause wirklich abspielt. Weil Kinder die Konformität brauchen, machen sie sich in der Phantasie ein Bild von ihren Eltern zurecht, das in etwa dem entspricht, was sie vom Familienleben ihrer Klassenkameraden und Freunde wissen. (. . . ) Sie geraten in einen verwirrenden Widerstreit zwischen den sozialisierenden Einüssen in der Schule und dem im Elternhaus herrschenden Chaos (S. 92).
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Häusliche Gewalt ist bis heute Tabuthema, über das die Betroenen zu schweigen gelernt haben. Häug kommt die Gewalt in der Familie erst an die Öentlichkeit, wenn die Frau mit ihren Kindern Schutz in einem Frauenhaus sucht und Anzeige gegen ihren Mann erstattet. Dazu kommt, dass viele Eltern, Lehrer und psychosoziale Fachkräfte zwar die Auälligkeiten und problematischen Verhaltensweisen von Kindern wahrnehmen, diese jedoch nur selten vor dem Hintergrund der erlebten Gewalt betrachtet und als Versuche der Kinder, die Erlebnisse und damit verbundenen Gefühle zu bewältigen, eingestuft werden. Die Ergebnisse der Studie von Brandon & Lewis (1996) in den USA zeigen eindrucksvoll die fehlende Berücksichtigung von Gewalterlebnissen in der Beurteilung kindlicher Verhaltensauälligkeiten, die so sicher auch in Deutschland anzutreen ist: Several of the children were described by their parents as disobedient, complaining, dicult, or playing up, and by their teachers as anxious and aggressive, displaying emotional outburst, and with low self-esteem. The backdrop of violence was ignored by most of the adults when explaining the children's behaviour. The children where labelled inaccurately as perverse rather than preceived as children struggling to deal with frightening and even terrorising experiences (Brandon & Lewis, 1996, S. 41).
Walker (1979) fasst die Betroenheit der Kinder von häuslicher Gewalt noch einmal sehr prägnant und treend zusammen: Children who live in a battering relationship experience the most insidious form of child abuse. Whether or not they are physically abused by either parent is less important than the psychological scars they bear from watching their fathers beat their mothers. They learn to become part of a dishonest conspiracy of silence. They learn to lie to prevent inappropriate behavior, and they learn to suspend fulllment of their needs rather than risk another confrontation. They do extend a lot of energy avoiding problems. They live in a world of make believe (S. 46).
3.2 Perspektiven Klinischer Entwicklungspsychologie
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3.2 Perspektiven Klinischer Entwicklungspsychologie 3.2.1 Einussfaktoren auf die Auswirkungen häuslicher Gewalt Kumulative Eekte Im Bereich klinisch-psychologischer Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder und ihre Entwicklung ndet sich eine steigende Zahl quantitativer Untersuchungen, die insbesondere das Risiko von Verhaltensauälligkeiten, kognitiven Entwicklungsverzögerungen und psychischen Beeinträchtigungen untersucht haben. Ein signikanter Zusammenhang zwischen dem Miterleben häuslicher Gewalt und der Entstehung von Entwicklungs- oder Verhaltensauälligkeiten konnte hier gut belegt werden. Übersichten über die bisherige Forschungstätigkeit, fast ausschlieÿlich in den USA, Neuseeland und Groÿbritannien, nden sich u.a. bei Kitzmann et al. (2003); Kindler (2002); Edleson (1999); Kolbo et al. (1996); Peled & Davis (1995). Die zum Teil enormen Unterschiede in den Ergebnissen einzelner Studien erklären sich einerseits durch forschungsmethodische Unterschiede, wie z.B. des Samplings, andererseits jedoch auch durch die starke Individualität der Kinder und ihrer Ressourcen, Schutzfaktoren und Bewältigungsstrategien. Die Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder sind ebenso wie das Erleben abhängig von einer Vielzahl von Faktoren. Zu den wichtigsten Einussfaktoren zählen unter anderem individuelle Eigenschaften und Charakterzüge des Kindes, wie z.B. Alter, Geschlecht, Entwicklungsstand, Selbstwertgefühl, Temperament und Fähigkeiten im Umgang mit Stress und Belastungen (vgl. Hughes & Luke, 1998, S. 206). Weitere Faktoren sind die Häugkeit und das Ausmaÿ der erlebten Gewalt, die ökonomische und soziale Situation der Familie, wiederholte Trennungen von Bezugspersonen oder häuge Umzüge sowie die individuellen Bedürfnisse und Charaktereigenschaften des Kindes (vgl. McGee, 1997). Zudem gibt es zahlreiche Einussfaktoren im Umfeld des Kindes, die seine Entwicklung beeinträchtigen können. Henning et al. (1996) fanden in ihrer Studie zu Langzeitfolgen häuslicher Gewalt einen deutlichen Zusammenhang zwischen einer höheren Zahl von Risikofaktoren im Umfeld der Kinder und einem steigenden Ausmaÿ ihrer Auälligkeiten. Zu diesen Risikofaktoren zählen unter anderem Häugkeit und Intensität der Gewalt, Zeitraum während dem die Kinder die Gewalt miterlebten sowie Erziehungsmethoden der Eltern und die Rolle der Kinder im Familienverbund (vgl. Edleson, 1999; Peled & Davis, 1995; Jae et al., 1990). Eben-
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so spielen emotionale Misshandlung (vgl. Graham-Bermann, 1998), Drogenoder Medikamentenmissbrauch der Eltern, Armut sowie ein niedriges Bildungsniveau der Familie (vgl. Fantuzzo & Boruch, 1997) eine Rolle. Hughes et al. (1989) stellten zudem fest, dass Kinder, die gleichzeitig Zeugen von Gewalt gegen die Mutter sowie selbst Opfer körperlicher Gewalt wurden, signikant höhere Verhaltensauälligkeiten zeigen, als Kinder, die nur Zeugen von Gewalt waren. In Anbetracht dieser vielfältigen Faktoren und Einüsse sind die häug sehr unterschiedlichen oder sogar konträren Ergebnisse einzelner Studien (vgl. Kolbo et al., 1996; Edleson, 1999) erklärbar und unterstützen die These von Edleson (1999), dass die Auswirkungen häuslicher Gewalt keinesfalls als Ursache-Wirkungs-Prinzip gesehen werden können. In reality, however, these studies reveal an association between the variables without predicting that one variable caused the other to occur or vice versa. (. . . ) We can only hypothesize that the cumulative eects may be devastating for some children (Edleson, 1999, S. 865).
Es ist durchaus möglich, dass Kinder mit ähnlichen häuslichen Gewalterfahrungen unterschiedliche Auälligkeiten und Beeinträchtigungen zeigen. Auch ndet man immer wieder Kinder, die das Aufwachsen in der Misshandlungsfamilie scheinbar unbeschadet überstehen und sich zu kompetenten Erwachsenen entwickeln. Kashani & Allan (1998) fassen zusammen: Nevertheless, we can say with condence that witnessing violence in the homes has clear untoward eects on children and adolescents that may be manifested in a variety of ways (S. 45).
3.2.2 Auswirkungen häuslicher Gewalt auf die kindliche Entwicklung Insgesamt liegt derzeit (..) eine Anzahl aussagekräftiger Belege für eine tatsächlich ursächliche und erhebliche Belastungswirkung des Miterlebens häuslicher Gewalt auf den psychosozialen Entwicklungsverlauf von Kindern vor (Kindler, 2005, S. 19).
Grundlage vieler Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung sind gesundheitliche Belastungen, wie beispielsweise fehlende Vorsorgeuntersuchungen. Diese entstehen häug durch die völlige Überlastung der Mutter durch die Gewalt in der Partnerschaft und daraus folgender mangelnder Versorgung oder Vernachlässigung der Kinder (vgl. Heynen, 2001).
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Aus dieser Vernachlässigung und der gesamten Atmosphäre häuslicher Gewalt in der Familie können Entwicklungsverzögerungen entstehen. Studien konnten ein deutlich erhöhtes Risiko einer Entwicklungsverzögerung sowohl im visuell-motorischen (vgl. Peled & Davis, 1995; Rossman, 2001) als auch im verbal-sprachlichen (vgl. Kashani & Allan, 1998; Bingel & Selg, 1998) und kognitiven Bereich feststellen. Insbesondere reduzierte Schulleistungen (vgl. Kolbo et al., 1996), Lernschwierigkeiten (vgl. Bingel & Selg, 1998) und eine geringe Konzentrationsfähigkeit (vgl. Rossman, 2001) belastet die geistige Entwicklung der Kinder. Alessi & Hearn (1984) fanden zudem in ihrer Untersuchung häug Entwicklungsrückschritte der Kinder, deren Auslöser meist häuge Umzüge beispielsweise ins Frauenhaus waren. Erste Studien belegen einen Zusammenhang frühkindlichen Miterlebens häuslicher Gewalt und Veränderungen im Stresshormonsystem sowie der Selbstregulation des autonomen Nervensystems (vgl. Saltzman et al., 2005). Neben der Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung zeigen einige Studien auch einen klaren Zusammenhang zur sozialen Entwicklung der Kinder. Im Sozialverhalten der Kinder und Jugendlichen zeigen sich insbesondere ein aggressiver Verhaltensstil (vgl. Graham-Bermann & Levendosky, 1997), Probleme einer angemessenen Koniktbewältigung (vgl. Ballif-Spanvill et al., 2003) sowie Schwierigkeiten im Aufbau von Freundschaften in der Peergroup (vgl. Moore & Pepler, 1998; McCloskey & Stuewig, 2001). Hinchey & Gavelek (1982) fanden deutliche Dezite bezüglich der Fähigkeit zur Empathie und zum Perspektivenwechsel, mit negativen Folgen für alle zwischenmenschlichen Beziehungen. Rossman (2001) beschreibt die sozialen Verhaltensprobleme und ihren Teufelskreis anschaulich an einem Beispiel: (. . . ) if an exposed child is fear conditioned to link a raised voice with a coming violent encounter when entering a rowdy peer group, then that child could respond with aggression or another preparation for danger, not noticing that the peers were only joking around. This could quickly earn the child a reputation of being socially dierent and lead to rejection. Such rejection could interfere with the successful completion of developmental tasks carried out with peers, such as the development of accurate social comparison skills or moving from earlier developmental egocentrism to learn accurate empathy and perspective taking (S. 49).
Zudem steigern kindliche Gewalterfahrungen das Risiko späterer eigener Gewalttätigkeit (vgl. Schröttle et al., 2004; Kindler, 2002; Bussmann, 2000) und insbesondere von Jugenddelinquenz (vgl. Enzmann & Wetzels, 2001).
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3 Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder
Neben den direkten Auswirkungen auf die Entwicklung kognitiver und sozialer Fähigkeiten fanden zahlreiche Studien einen signikanten Zusammenhang zwischen dem Erleben häuslicher Gewalt und dem Auftreten von sowohl externalisierten als auch internalisierten Verhaltensauälligkeiten und psychischen Symptomen (vgl. z.B. Kindler, 2008; Kitzmann et al., 2003; Kindler, 2002). In diesem Bereich zeigen zahlreiche Studien einen signikanten Zusammenhang des Miterlebens häuslicher Gewalt und der Entwicklung von depressiven und psychosomatischen Symptomen, erhöhter Aggressivität sowie extremer Ängstlichkeit und niedrigem Selbstwertgefühl (vgl. Kolbo et al., 1996; Fantuzzo et al., 1991; Hughes, 1988; Davis & Carlson, 1987; Hughes, 1986; Carlson, 1984). Insbesondere in den Frauenhäusern wurden die Auälligkeiten von Kindern häug beobachtet. Verschiedene Studien gehen von 30-60% der Kinder aus, die während ihres Aufenthaltes im Frauenhaus Verhaltensauälligkeiten zeigen (vgl. Wurdack & Rahn, 2001; Bingel & Selg, 1998; Winkels & Nawrath, 1990; Jae et al., 1990). Das Risiko der Entwicklung von Auälligkeiten vergleicht Kindler (2002) mit anderen gut erforschten Belastungsfaktoren im Leben von Kindern. Im Vergleich zu den Auswirkungen von körperlicher Kindesmisshandlung sind die Eekte miterlebter Partnergewalt geringer, im Vergleich zum Erleben von Armut oder der Scheidung der Eltern jedoch stärker. Ungefähr vergleichbar ist das Risiko der Entwicklung von psychischen Auälligkeiten nach dem Miterleben häuslicher Gewalt mit dem Aufwachsen mit ein oder zwei alkoholkranken Elternteilen.
3.2.3 Häusliche Gewalt als Trauma für Kinder Fischer & Riedesser (2003) denieren eine traumatische Erfahrung als ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, welches mit dem Gefühl der Hilosigkeit und schutzlosen Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt (S. 82).
Riedesser (2006) nennt in seiner Aufzählung von möglichen Traumatisierungen in der Kindheit neben Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung auch das Erleben schwerer Gewalttätigkeit und schwere eigene oder familiäre Erkrankungen, Tod (S. 161). Häusliche Gewalt ist jedoch nicht als eigene Art der Traumatisierung aufgeführt, obwohl sie sich mit Sicherheit vom Erleben von Gewalt gegen und durch unbekannte Menschen in der Öf-
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fentlichkeit unterscheidet. Häusliche Gewalt wird durch eine Bezugsperson (meist Vater oder Stiefvater) ausgeübt und bedroht eine enge Bezugsperson (meist die Mutter), der Verletzungen bis hin zum Tode drohen. Traumatische Erfahrungen zerstören die Bindungssicherheit und wirken sich besonders zerstörerisch auf die gesunde psychische Entwicklung aus, wenn das Trauma durch Bindungspersonen ausgeübt wird (Brisch, 2006, S. 114).
In welchem Ausmaÿ das Miterleben häuslicher Gewalt eine Traumatisierung für Kinder darstellt ist eine häug gestellte Frage. Kindler (2005) weiÿt darauf hin, dass diese Frage so schwer beantwortet werden kann, da der Traumabegri in seiner Denition eine Reihe konzeptueller Unschärfen (Kindler, 2005, S. 18) aufweist. Beantwortet werden konnte jedoch die Frage nach dem Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) 13 bzw. den drei Hauptsymptomen einer solchen: traumatisches Wiedererleben in Form von Flash-backs, Intrusionen oder Alpträumen, ein konstant erhöhtes Erregungsniveau sowie die Entwicklung von Vermeidungsverhalten. In den USA ndet sich eine zunehmende Zahl an Studien, die ein erhöhtes Risiko der Entwicklung von Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung durch das Miterleben häuslicher Gewalt belegen konnten (vgl. Rossman & Ho, 2000; Silvern et al., 1995; Silvern & Kaersvang, 1989). Graham-Bermann & Levendosky (1998) fanden in ihrem Sample von Kindern im Alter von sieben bis zwölf Jahren, die Gewalt gegen die Mutter miterlebt hatten, häug Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung. So hatten in diesem Altersspektrum ca. 50 % der Kinder Symptome traumatischen Wiedererlebens (Flashbacks, Albträume, Intrusionen), ca. 40 % ein erhöhtes Erregungsniveau und ca. 20 % zeigten deutliche Vermeidungsreaktionen. Im Vergleich dazu waren es laut einer Studie im Altersbereich von drei bis fünf Jahren ca. 80 % der Kinder, die Symptome traumatischen Wiedererlebens hatten, ca. 90 %, die ein erhöhtes Erregungsniveau aufwiesen, und ca. 3 %, die Vermeidungsreaktionen zeigten. Auch der Zusammenhang von kindlichem Erleben häuslicher Gewalt und Symptomen einer PTBS im Erwachsenenalter konnte als signikant belegt werden (Silvern et al., 1995). Strasser (2001) beschäftigte sich in ihrer qualitativen Untersuchung intensiv mit der Frage der Traumatisierung von Kindern durch häusliche Gewalt. Die Autorin betont die Besonderheit häuslicher Gewalt als Gewalt innerhalb 13 Je nach Herkunft der Studien lagen diesen entweder die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD 10 oder die der Posttraumatic Stress Disorder nach DSM IV zugrunde. Beiden Diagnoseschemata sind jedoch die drei Hauptsymptome gemeinsam (vgl. Fischer & Riedesser, 2003, S. 43).
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3 Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder
des komplexen familiären Beziehungsgeschehens und stellt so die Erfahrung einer Beziehungstraumatisierung (S. 144) in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. In ihren Interviews beschreibt eine Vielzahl von Kindern Merkmale einer Traumatisierung, wie beispielsweise Flucht- und Kampfreaktionen, Erstarrungszustände, dissoziative Phänomene und psychosomatische Reaktionen (vgl. S. 122). Sie erzählten von überwältigender Angst und Hilosigkeit gegenüber der Gewalt durch den Vater/Stiefvater und von der eigenen seelischen Verletzung durch die Demütigung der Mutter (Strasser, 2001, S. 122f ).
Die starke Betroenheit und direkte traumatische Reaktion der Kinder auf die miterlebte Gewalt gegen die Mutter erklärt sich durch eine starke Identikation mit der Mutter im Moment der gewalttätigen Eskalation. Die Kinder, die meist eine enge Bindung an die Mutter als primärer Bezugsperson haben, erleben die Gewalt gegen die Mutter in ihrer Identikation indirekt mit. Ein Zitat einer Zwölfjährigen aus der Untersuchung von Strasser (2001) illustriert dies deutlich: Die Schläge, die meine Mama bekam, spürte ich in meinem Bauch (S. 123). Osten (2008) beschreibt in seinem Überblick möglicher Formen von Traumatisierungen die in diesem Zusammenhang interessante Form der partizipativen Traumata: Die Partizipation an einer Situation, in der andere Personen (. . . ) in lebensbedrohlicher Weise zu Schaden kommen, löst bei der miterlebenden Person extremen Stress und Bedrohtheitsgefühle aus, die auf die Verarbeitungssysteme des Menschen traumatisierenden Charakter haben können (S. 49).
Der Autor beschreibt hier treend auch die Situation von Kindern in häuslichen Gewaltsituationen. Seine Einordnung dieser Art der Traumatisierung als weniger schädlich im Vergleich zu Erfahrungen eigener und direkter Bedrohung ist in diesem Zusammenhang jedoch fragwürdig. Dies belegen sowohl die eben dargestellten Ereignisse von Strasser (2001) als auch die Studie von Scheeringe & Zeanah (1995), die eine zum Teil wesentlich stärkere emotionale Reaktion von Kindern auf die Bedrohung einer Bindungsperson als auf eine gegen sie selbst gerichtete Gefahr beschreiben. Ob Kinder und Jugendliche aufgrund des Miterlebens häuslicher Gewalt anhaltende Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung entwickeln und/oder ob und in welchem Ausmaÿ sich die Erlebnisse traumatisierend auswirken, hängt ebenso wie alle anderen Folgen häuslicher Gewalt von einer Vielzahl von Faktoren ab:
3.2 Perspektiven Klinischer Entwicklungspsychologie
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Die beiden wichtigsten sind der Stand der kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung des Kindes und die Konstellation der traumatischen Situation, aber auch das Vorhandensein protektiver Faktoren und postexpositorische Einüsse bestimmen die traumatische Reaktion (Riedesser, 2006, S. 162).
In der Konstellation der traumatischen Situation sind hier insbesondere die Häugkeit und Intensität, aber auch die Nähe zum Geschehen, die (Un-) Berechenbarkeit der Ereignisse, die Beziehungsqualität zu Täter und Opfer sowie durch Hilosigkeit eventuell entstehende Schuld- oder Schamgefühle der Kinder zu nennen. Der Einuss protektiver Faktoren wird im folgenden Kapitel noch ausführlich erörtert werden.
3.2.4 Häusliche Gewalt und Bindungsforschung Hauptgefahr: Verlust der Mutter-Kind-Bindung (Hellbrügge, 2006, S. 36).
Diese Kapitelüberschrift von Theodor Hellbrügge beschreibt präzise die Bedeutung einer sicheren emotionalen Bindung an die Mutter bzw. eine nahe und konstante Bezugsperson. Das Fehlen oder der Verlust dieser Bindung gilt als ein Haupt-Risikofaktor für die Entwicklung von klinischen Auälligkeiten im Kindes- und Jugendalter. Oder andersherum formuliert: eine sichere Bindung an eine primäre Bezugsperson ist ein wichtiger Schutzfaktor in der Entwicklung von Resilienz. Die Bindungstheorie geht in ihrer Entstehung zurück auf John Bowlby 14 und dessen Mitarbeiterin Mary Ainsworth. Nach Bowlbys Auassung von Bindung ist diese ein Teil des komplexen Systems der Beziehung zwischen Mutter und Kind und entwickelt sich zunächst in den ersten Lebensmonaten. Bowlby betont jedoch auch, dass diese Bindung kein Fixum, sondern ein Kontinuum [darstellt], das sich durch emotionale Erfahrungen neuer Beziehungen zeitlebens in verschiedenste Richtungen verändern kann (Brisch, 2005, S. 34f). Mit Hilfe des Experiments der sogenannten Fremden Situation entwickelte Mary Ainsworth die bis heute übliche Klassikation von Bindungstypen in sichere, unsicher-vermeidende, unsicher ambivalente und desorganisierte Bindungen (vgl. Ainsworth et al., 1978). Im heutigen Verständnis der Bindungsforschung stellen die ersten drei genannten Bindungstypen Variationen 14 John Bowlby war Kinderpsychiater und Psychoanalytiker, der mit seiner Trilogie Bindung, Trennung und Verlust (vgl. Bowlby, 2006a,b,c) das Fundament der Bindungstheorie schuf.
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3 Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder
der Norm dar (wobei die sichere Bindung als gröÿter Resilienzfaktor gilt), während das desorganisierte Bindungsmuster den Übergang zu Pathologie und Bindungsstörung darstellt (vgl. Brisch, 2005). Für die Entstehung sicherer Bindungen entscheidend sind die Bindungserfahrungen der Mutter und eine feinfühlige Mutter-Kind-Interaktion. Das Konzept der Feinfühligkeit beinhaltet die Wahrnehmung und richtige Interpretation der Signale des Säuglings durch die Mutter und die prompte und angemessene Reaktion der Mutter darauf. Je feinfühliger die Mutter oder auch andere Bindungspersonen umso bindungsfördernder ist die Interaktion für das Kind (vlg. Brisch, 2005). Häusliche Gewalt hat immer auch Folgen für die Beziehung und Bindung der Kinder zu ihren Eltern, sowohl zum gewalttätigen Vater als auch zur gewalterleidenden Mutter (vgl. Bundesministerium für Frauen, Senioren, Familie und Jugend, 2000; Heynen, 2001). Kolbo et al. (1996) fanden in ihrer Untersuchung deutliche Anzeichen von Störungen des Bindungsverhaltens bei Kindern, die Gewalt zwischen den Eltern miterlebt hatten. Brisch (2005) weist auf eine besondere Häufung desorganisierter Bindungsmuster im Zusammenhang mit erlebter Kindesmisshandlung (S. 76) und unbearbeiteten Traumatisierungen der Bezugsperson (S. 48) hin. Der Säugling sucht besonders dann die Nähe seiner Mutter, wenn er Angst erlebt. (. . . ) Er erhot sich von der Nähe zu seiner Mutter Sicherheit, Schutz und Geborgenheit (Brisch, 2005, S. 36).
Auch in späteren Jahren suchen Kinder in Angstsituationen automatisch die Nähe von Bindungs- und Bezugspersonen, um dort Schutz und Unterstützung zu nden. In häuslichen Gewaltsituationen, die für Kinder deutlich angstbesetzt sind, ist jedoch die Mutter als Bindungsperson selbst Opfer der Gewalt und somit für die Kinder nicht erreichbar bzw. kann deren Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit nicht erfüllen. Gahleitner (2008) fasst die Folgen dessen sehr anschaulich zusammen: In Situationen von Verunsicherung wird das Bindungsverhalten aktiviert. Ist das Sicherheitsbedürfnis gestillt, kann Exploration stattnden. Die Abwesenheit stabiler Bindungspersonen behindert daher die Entwicklung emotionaler, kognitiver und sozialer Fähigkeiten (S. 155).
Misshandelte Mütter sind sowohl in akuten Gewaltsituationen als auch in den Zeiten dazwischen keine sicheren Anlaufstellen für ihre Kinder, die Exploration fördern und ermöglichen, sondern aufgrund ihrer eigenen Überforderung phasenweise nur eingeschränkt in der Lage, für ihre Kinder angemessen zu sorgen (Heynen, 2001, S. 87).
3.2 Perspektiven Klinischer Entwicklungspsychologie
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Auch das Thema von Gewalt der Mütter gegen ihre Kinder, darf in Kontexten häuslicher Gewalt nicht vergessen werden (vgl. Kavemann, 2002) und hat deutliche Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Beziehung und je nach Ausmaÿ der Misshandlungen auf das Bindungsmuster. Manche Mütter greifen aus Überforderung und Hilosigkeit zu Gewalt gegen ihre Kinder, andere versuchen durch strenge Disziplinierungen der Kinder das vom Mann geforderte Wohlverhalten zu erzwingen, um so Streitigkeiten und Gewaltausbrüche zu verhindern (vgl. Hagemann-White et al., 1981, S. 177). Im durchschnittlichen Familiensystem sind Väter meist die Bezugspersonen, zu denen die Kinder eine weitere intensive Bindung aufbauen. Im Falle häuslicher Gewalt sind die Väter für die Kinder jedoch oft unberechenbar. Viele können ihren Kindern gegenüber ebenso laut, aggressiv und brutal, wie auch ruhig, groÿzügig und liebevoll sein. Das ständig schwankende Verhalten des Vaters macht eine stabile Bindung und Beziehung zu ihm für die Kinder fast unmöglich. Untersuchungen zeigen, dass gewaltausübende Elternteile sich häug durch eine sehr hohe Selbstbezogenheit, übermäÿig autoritäre Erziehungsvorstellungen und Schwierigkeiten in der kindgerechten Kontaktgestaltung auszeichnen (vgl. dazu die Forschungsübersichten von Kindler & Werner, 2005; Schwabe-Höllein & Kindler, 2003). Zudem kommt es häug in Trennungssituationen zu Streitigkeiten in Bezug auf Sorge- und Umgangsrecht, in denen die Kinder allzuleicht zwischen die Fronten geraten. Manchen Kindern ist ein Kontakt zum Vater weiterhin wichtig, andere wünschen sich mehr Abstand und wehren sich gegen Umgangskontakte. Wallerstein et al. (2002) konnte in einer Langzeitstudie nachweisen, dass ein erzwungener Kontakt und Umgang keinesfalls zu einer tragfähigen Eltern-Kind-Beziehung führt. Der Vater wirkt auf die Kinder gefährlich und ängstigend, die Mutter erscheint ihnen überwältigt und selbst hilfsbedürftig. Beide Elternteile sind für die Kinder emotional unerreichbar (vgl. Margolin & John, 1997, S. 100). Viele Kinder in Misshandlungsfamilien erfahren von Vater und Mutter wenig Wärme, Zuneigung und Wertschätzung, da die Eltern mit sich, ihren Problemen und ihrer Beziehung zueinander beschäftigt sind (vgl. Buddeberg, 1983, S. 277). Enzmann & Wetzels (2001) weisen darauf hin, dass sowohl die Erziehungsfähigkeit der Eltern als auch die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung mit zunehmender Koniktbehaftung der elterlichen Paarbeziehung deutlich sinkt, was in ihrem Modell zu einem Teufelskreis führen kann: Das transaktionale Modell des Zusammenhangs von Gewalt in der elterlichen Partnerbeziehung und Problemen in der Eltern-Kind-Beziehung verdeutlicht auch, dass sich in belasteten Familien ein Teufelskreis
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3 Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder
von Problemen und Problemverhalten etablieren kann, der sich selbst aufrechterhält und verstärkt (Enzmann & Wetzels, 2001, S. 247).
Alle eben beschriebenen Verhaltensweisen und Problematiken beeinussen sowohl die Feinfühligkeit der Eltern als auch die Eltern-Kind-Beziehung. Folge kann ein desorganisiertes Bindungsmuster oder eine Bindungsstörung sein. Eine im Kontext häuslicher Gewalt besonders bedeutsame Bindungsstörung ist die Rollenumkehr (Parentizierung), die häug aus der realen Verlustangst der Kinder bzw. der Angst vor einer lebensbedrohlichen Verletzung der Mutter entsteht. Es fällt auf, wie ungewöhnlich feinfühlig das Kind um das Wohlergehen seiner Bindungsperson besorgt ist (Brisch, 2005, S. 89). Die Kinder übernehmen in der Umkehrung der Eltern-Kind-Beziehung die Sorge und Verantwortung für Eltern, Geschwister oder auch den Haushalt und stellen eigene Bedürfnisse in den Hintergrund. Weitere Bindungsstörungen, die im Kontext häuslicher Gewalt häug beobachtet werden können, sind übersteigertes Bindungsverhalten (exzessives Klammern), gehemmtes Bindungsverhalten (übermäÿige Anpassung), aggressives oder undierenziertes Bindungsverhalten (soziale Promiskuität). Ebenso zeigen sich häug psychosomatische Symptomatiken wie beispielsweise Wachstumsretardierungen oder Ess-, Schrei- bzw. Schlafstörungen (vgl. Brisch, 2005, S. 84).
3.3 Perspektiven der Resilienzforschung In fast allen Untersuchungen nden sich immer wieder auch Kinder, die sich trotz des Aufwachsens im Umfeld häuslicher Gewalt zu kompetenten Erwachsenen entwickeln (vgl. Kashani & Allan, 1998, S. 1), d.h. sich als resilient erweisen. Resilienz meint, die Fähigkeit, Entwicklungsrisiken zu mindern oder zu kompensieren, negative äuÿere Einüsse zu überwinden und sich gesundheitsförderliche Kompetenzen anzueignen (Laucht, 2006, S. 64). Welche Faktoren und Eigenschaften dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche sich trotz vielfältiger Belastungen resilient zeigen, ist Thema der Resilienzforschung. Die weitere Erforschung der Risikofaktoren und protektiven Einüsse ist für die Unterstützung von Kindern, die häusliche Gewalt miterlebt haben, von groÿer Bedeutung, da sie ein gezieltes Arbeiten an der Verbesserung der Risikofaktoren, am Erhalt von protektiven Einüssen und der Bereitstellung sinnvoller Unterstützungsmaÿnahmen im Leben der Kinder ermöglicht (vgl. Hughes et al., 2001, S. 83).
3.3 Perspektiven der Resilienzforschung
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Kinder und Jugendliche, die häusliche Gewalt miterleben, reagieren auf unterschiedliche Arten und entwickeln vielfältige Strategien, die erlebte Gewalt und Bedrohung zu bewältigen. Neben den bisher dargestellten Folgen und Auswirkungen häuslicher Gewalt auf die kindliche Entwicklung, die Bindungsfähigkeit und das Verhalten, sind Resilienzfaktoren, Ressourcen und Coping-Strategien die zweite bedeutende Perspektive auf die Folgen häuslicher Gewalt für Kinder. Neben dem Blick auf die Folgen häuslicher Gewalt sind es Ressourcen und protektive Einüsse, die in der bisherigen Forschung noch wenig Beachtung gefunden haben, für die Praxis im Hilfesystem jedoch besonders wichtig sind: The complexity involves not just problems associated with exposure to violence but also various moderating factors and coping strategies that children use. The current literature oers only glimpses of children's resilience and the factors in their environments that lessen or heighten the impact of the violent events swirling around them. It is these protective factors about which we know little that may lead us to design more eective interventions to minimize the impact of violence on children (Edleson, 1999, S. 865).
3.3.1 Ressourcen und Schutzfaktoren Die Forschungsliteratur zu Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder hat ihren Schwerpunkt deutlich im Bereich der Erforschung pathogener Folgen wie Verhaltensauälligkeiten und psychische Störungsbilder. Dennoch identizieren und nennen einige Autoren auch Schutzfaktoren und protektive Einüsse, die Kindern helfen, häusliche Gewalt zu bewältigen. Hier sind gute Familienbeziehungen, positive Kontakte zur Peergruppe, gute Schulleistungen, hohe Intelligenz, gute Gesundheit, positive Modelle in der realen und ktiven Umwelt und, bei älteren Jugendlichen, eine interessante Arbeitsstelle (vgl. Bingel & Selg, 1998, S. 26) ebenso zu nennen wie elterliche Kompetenz (vgl. Graham-Bermann & Levendosky, 1998) und psychische Gesundheit der Mutter (vgl. Hughes & Luke, 1998). Kolbo (1996) fand besonders positive Eekte verfügbarer sozialer Unterstützung auf das Selbstwertgefühl von Kindern, die häusliche Gewalt miterlebten. Ein Blick in die Resilienzforschung führt schnell zur entwicklungspsychologischen Langzeitstudie von Werner & Smith (1982), die einen Geburtenjahrgang der kleinen Insel Kauai in seiner Entwicklung genau beobachtete und unter anderem das Phänomen resilienter Kinder untersuchte, um die wichtigsten Faktoren für die Entwicklung von Resilienz herauszultern.
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3 Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder
Laucht (2006) fasst die Ergebnisse der Studie von Werner & Smith (1982) bezüglich grundliegender Resilienzfaktoren folgendermaÿen zusammen: 1. Eigenschaften des Kindes, die positive Reaktionen in seinem sozialen Umfeld auslösen, 2. emotionale Bindungen und Sozialisierungspraktiken der Familien, die Vertrauen, Selbstständigkeit und Initiative des Kindes verstärken, und 3. externale Unterstützungssysteme, die die Kompetenzen des Kindes und die Entwicklung positiver Wertvorstellungen fördern (S. 64).
Neben diesen grundlegenden Faktoren, die die Entwicklung von Resilienz ermöglichen, kommt zwei weiteren Faktoren für die Entstehung von Resilienz im Verlauf der kindlichen Entwicklung groÿe Bedeutung zu: 1. Erfahrungen gelungener Bewältigung (. . . ) 2. positive Bindungsbeziehungen (Laucht, 2006, S. 65).
Grossmann (2006) sieht den groÿen Verdienst der Kauai-Studie auch in der Entdeckung der hohen Bedeutung einer liebenden und wohlwollenden Bezugsperson für die Entwicklung von Kindern: Die Kraft der bedingungslosen Akzeptanz eines jeden Kindes, besonders aber der Kinder in physischer und psychischer Not, durch wenigstens eine liebende Person trägt entscheidend dazu bei, deren Leben lebenswerter zu gestalten. Sie [Emmy Werner, Anm. d. V.] hat das universelle Grundbedürfnis nach solchen Personen auf eine Weise belegt, die keine Kritik der Welt widerlegen kann (S. 17).
Auch die heutige Bindungsforschung betont immer wieder die groÿe Bedeutung einer sicheren Mutter-Kind-Bindung bzw. einer Bindung zu einer stabilen Bezugsperson als wichtigsten Schutzfaktor und wesentliche Grundlage für die Entwicklung kindlicher Bewältigungsstrategien (vgl. Papousek & Wollwerth de Chuquisengo, 2006; Laucht, 2006). Neben der Beziehung zu einer stabilen Bezugsperson gilt auch die Verfügbarkeit von Unterstützung und Hilfe in sozialen Netzwerken als gesundheitserhaltende und gesundheitsförderliche Ressource (vgl. Keupp & Röhrle, 1987). So kann für manche Kinder die Schule nicht nur Zuucht oder Auszeit sein, sondern auch ein Ort positiver Gegenerfahrungen zum Chaos in der Familie werden, die zur Entstehung von Resilienz beitragen (vgl. Opp & Wenzel, 2006, S. 92). Ebenso unterstützend wirken häug Vereine, Jugendgruppen oder auch Freundschaften innerhalb der Peergroup. Die bedeutende Ressource sozialer Unterstützung ist jedoch in Fällen häuslicher
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Gewalt besonders schwer zugänglich, da Gewalt in Familien immer auch mit Schweigegeboten und Schamgefühlen einhergeht. Eine weitere spannende Antwort auf die Frage, welche Faktoren gesundheitsfördernd und -erhaltend wirken und damit zur Entstehung von Resilienz beitragen, ndet sich im Salutogenese-Modell von Antonovsky (1981, 1997)15 . Im Mittelpunkt des Konzepts der Salutogenese steht die Frage, wie es Individuen gelingt, gesund zu bleiben und keine Auälligkeiten oder Krankheiten zu zeigen, obwohl sie mit Streÿ/Belastungen konfrontiert sind (Höfer, 2000, S. 75). In diesem Zusammenhang formuliert Antonovsky (1981) generalisierte Widerstandsressourcen (im Original: generalized resistance ressources, GRR), die für ihn groÿen Einuss darauf haben, an welchem Punkt auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum 16 sich ein Subjekt bendet. Generalisiert bedeutet, daÿ sie in Situationen aller Art wirksam werden; Widerstand meint hier, daÿ die Ressourcen die Widerstandsfähigkeit der Person erhöhen (Bengel et al., 1998, S. 34).
Zu diesen generalisierten Widerstandsressourcen zählt Antonovsky (1981) folgende Faktoren, die hier in der Übersetzung von Singer & Brähler (2007) dargestellt werden:
•
Materieller Wohlstand
Darunter fallen: money, physical strength, shelter, clothing, adequate food, and the like (Antonovsky, 1981, S. 107).
•
Wissen und Intelligenz
The broadest cognitive sense to encompass both a storehouse of in-
15 Aaron Antonovsky, jüdisch-amerikanischer Soziologe und Stressforscher, ist Begründer der Salutogenese, die in den letzten 30 Jahren zu einem zentralen Konzept der Gesundheitswissenschaften wurde. Seine zentralen Werke sind Stress, Health and Coping (Antonovsky, 1981) und Unreaveling the Mystery of Health (Antonovsky, 1987), das 1997 unter dem deutschen Titel Salutogenese. Zur Entmystizierung von Gesundheit (Antonovsky, 1997) erschienen ist. 16 Antonovsky (1981) kritisiert die klare Trennung des Gesundheitszustandes von Subjekten in gesund und krank, die im medizinischen Sektor stark verbreitet ist. Er setzt diesem Modell in seinem Konzept der Salutogenese die Vorstellung eines Kontinuums gegenüber, dessen Pole Gesundheit und Krankheit bzw. körperliches Wohlbenden und körperliches Missempnden sind. Subjekte können weder den Pol völliger Gesundheit noch den Pol völliger Krankheit erreichen, sondern nehmen eine Position innerhalb des Kontinuums zwischen den Polen ein. Überwiegend gesunde Menschen haben immer auch kranke Anteile und solange Menschen trotz überwiegender Krankheit am Leben sind, müssen sie auch gesunde Anteile haben (vgl. Bengel et al., 1998, S. 32).
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3 Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder
formation about the real world and skills that facilitate acquiring such knowledge (Antonovsky, 1981, S. 107).
• Ich-Identität Ich-Identität ist für Antonovsky (1981) ein Gefühl der inneren Person, das integriert und stabil, aber dennoch dynamisch und exibel ist, das auf die soziale und kulturelle Realität reagiert, aber doch unabhängig bleibt, so daÿ weder Narziÿmus noch eine Schablone für die äuÿere Realität benötigt werden (Antonovsky 1981, S. 109, Übersetzung nach Höfer, 2000, S. 81). • Copingstrategien Coping-Stile, die als eektive Widerstandsressourcen zu sehen sind, sind durch Rationalität, Flexibilität und Weitsicht gekennzeichnet (Höfer, 2000, S. 81). • Soziale Unterstützung: Engagement, Zufriedenheit, Zusammenhalt, Kontrolle
Antonovsky beschreibt soziale Unterstützung hier als deep, immediate interpersonal roots und nennt anhand des Konzepts von Commitment nach Kanter (1968) (hier übersetzt als Engagement 17 ) die drei Typen Zufriedenheit, Zusammenhalt und Kontrolle (vgl. Antonovsky, 1981, S. 116).
• Makrosoziokulturelle Widerstandsressourcen wie kulturelle Stabilität Magie, Zauber Religion, Philosophie, Kunst
Hier geht es darum, ob die Gesellschaft ein Orientierungssystem zur Verfügung stellt, das jeder Person eine bestimmte Position im sozialen Gefüge und das Gefühl von Geachtetsein und von Sinnfälligkeit des eigenen Handelns vermittelt (Höfer, 2000, S. 82). Dazu gehört auch ein stabiles Set an Antworten (Singer & Brähler, 2007, S. 11), das die Gesellschaft ihren Mitgliedern zur Verfügung stellt und das Antonovsky (1981) für besonders bedeutsam hält (vgl. S. 118f). 17 Im Gegensatz zur Übersetzung von Singer & Brähler (2007, S. 11), benennt Höfer (2000) Commitment als Zielgebundenheit (S. 82). Im Original deniert Kanter (1968) Commitment als: the process through which individual interests become attached to the carrying out of socially organized patterns of behavior which are seen as (. . . ) expressing the nature and needs of the person (S. 500).
3.3 Perspektiven der Resilienzforschung
•
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Präventive Gesundheitsorientierung
Diese Widerstandsressourcen wirken als Potential, das zur Bewältigung von Spannungen und Belastungssituationen aktiviert und genutzt werden kann (vgl. Bengel et al., 1998). Je mehr generalisierte Widerstandsressourcen einem Menschen zur Verfügung stehen, umso erfolgreicher gelingt es ihm, die allgegenwärtigen stressreichen Ereignissse im Leben zu bewältigen, d.h. ein eektives Spannungsmanagement zu entwickeln (vgl. Höfer, 2000, S. 80).
3.3.2 Das Belastungs-Bewältigungs-Konzept nach Lazarus Neben den allgemeinen Resilienzfaktoren, die die bisherige Resilienzforschung mit Kindern aus hoch belasteten Familien ergab, spielen gerade im Themenbereich häuslicher Gewalt die kindlichen Bewältigungs- bzw. CopingStrategien eine wichtige Rolle für den Umgang mit der Gewalt und den daraus resultierenden Folgen für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. In der Literatur zu Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder nden sich vielfältige Beschreibungen von kindlichen Reaktionen und Handlungsweisen im Umgang mit der Gewalt oder auch der gewalttätigen Atmosphäre in der Familie. Einige von ihnen nehmen direkten Bezug auf das Belastungs-Bewältigungskonzept von Lazarus (1966); Lazarus & Folkman (1984), das daher im folgenden Exkurs kurz dargestellt werden soll. Richard S. Lazarus entwickelte aus seinen Laborforschungen seit den 60er Jahren eine kognitiv-psychologische Stresskonzeption und eine darauf aufbauende prozessorientierte Coping-Theorie (vgl. Lazarus, 1966; Lazarus & Folkman, 1984). Grundlage dieser Stress- und Coping-Theorie ist eine transaktionale Denition von Stress, die Belastung als das Ungleichgewicht zwischen den externen und internen Anforderungen und den Reaktionskapazitäten einer Person bestimmt (Faltermaier, 1987, S. 305). Das bedeutet, Stress und Belastung entstehen für Menschen in solchen Situationen, in denen die Anforderungen durch entweder eine äuÿerlich gegebene Situation oder durch eigene innere Ansprüche der Person selbst so hoch sind, dass sie mit alltäglichen Reaktionsweisen oder Handlungsstrategien nicht gemeistert werden können oder die Handhabbarkeit der Situation dem Menschen subjektiv als unrealistisch erscheint. Stress entsteht also, wenn Anforderungen höher sind, als die Überzeugung des Menschen, diese problemlos meistern zu können. Diese Konzeption von Stress macht es unmittelbar notwendig, Belastun-
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3 Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder
gen in Abhängigkeit von der subjektiven Bewertung der Person zu erfassen, d.h. die persönliche Bedeutung einer belastenden Situation für das betroffene Subjekt muss eruiert und in ein Belastungs-Bewältigungs-Konzept mit einbezogen werden (vgl. Faltermaier, 1987, S. 305). Die Erfassung der individuellen Bedeutung eines Lebensereignisses (oder einer anderen Belastungsquelle) erfordert, es in seinem Kontext zu erfassen, d.h. sowohl in seinem sozialen Kontext (in welcher Lebenssituation bendet sich eine Person beim Eintreten eines Ereignisses?) als auch in seinem biographischen Kontext (in welcher Lebensphase, mit welchen Vorerfahrungen wird sie betroen?) (Faltermaier, 1987, S. 306).
Stress ist also für Lazarus & Folkman (1984) nicht nur ein äuÿerer Stimulus oder eine menschliche Reaktionsweise, sondern entsteht in einer engen Wechselbeziehung von Person und Umwelt (vgl. S. 21). Um diese bedeutende Komponente ihres Konzeptes deutlich zu machen, führen Lazarus & Folkman (1984) den Begri des Appraisal, der kognitiven Einschätzung ein, der genau diese subjektive Bewertung der Stresssituation durch das Individuum beschreibt. Auf Grund seiner kognitiv-psychologischen Ausrichtung ist Appraisal für Lazarus & Folkman (1984) eine kognitive Bewertungsleistung des Individuums, die ein immanenter Teil des emotionalen Erlebens der Situation ist und sowohl weitere Gefühle entstehen lässt als auch auf die bereits vorhandenen Emotionen reagiert (S. 284). Lazarus & Folkman (1984) denieren diese kognitive Einschätzung, das (cognitive) Appraisal, wie folgt: Cognitive Appraisal can be most readily understood as the process of categorizing an encounter, and its various facets, with respect to its signicance for well-being (Lazarus & Folkman, 1984, S. 31).
Appraisal meint also die kognitive Bewertung und Einordnung eines Ereignisses durch die Person selbst als für das eigene Wohlergehen relevant, irrelevant, bedrohlich oder förderlich. Dabei ist der Prozess des Appraisal sowohl durch unterschiedlichste individuelle Eigenschaften und frühere Erlebnisse der betroenen Person (Lazarus & Folkman, 1984, S. 55), als auch durch Merkmale und Faktoren der stressauslösenden Situation (Lazarus & Folkman, 1984, S. 82) beeinusst und muss nicht notwendigerweise bewusst ablaufen, sondern kann durchaus auch durch unbewusste Gedanken oder verinnerlichte Glaubenssätze geprägt sein (Lazarus & Folkman, 1984, S. 54). Diesen kognitiven Bewertungsprozess unterteilen Lazarus & Folkman (1984) in Primary und Secondary Appraisal. Primary Appraisal meint dabei die
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subjektive Bewertung und Einordnung einer Situation als für das Individuum bedeutsam, also die von Lazarus & Folkman (1984) formulierte Frage: Am I in trouble or being beneted, now or in future, and in what way? (S. 31).
Secondary Appraisal umfasst die hierauf folgende Frage nach den Handlungsoder Reaktionsmöglichkeiten, die dem Individuum in der Stress verursachenden Situation zur Verfügung stehen: What if anything can be done about it? (S. 31).
Eine Situation, in der sich ein Individuum bendet kann also im Sinne des Primary Appraisal sowohl als für das Individuum irrelevant, angenehmpositiv oder auch stressbelastet bewertet werden. Nach Lazarus & Folkman (1984) sind es vor allem Situationen, die mit der Gefahr von Verletzung oder Verlust (harm/loss ), einer Bedrohung (threat ) oder einer Herausforderung (challenge ) einhergehen, die als Stress bewertet werden (vgl. S. 32). Diese als stressbeladen bewerteten Situationen machen einen weiteren kognitiven Schritt notwendig. Dieser meint die Frage danach, was getan werden muss oder kann, um mit der Situation umgehen zu können, also in den Worten von Lazarus & Folkman (1984), das Secondary Appraisal. Dabei laufen die beiden in der Theorie unterschiedenen kognitiven Bewertungen des Primary und Secondary Appraisal keinesfalls unabhängig voneinander ab, sondern formen in ihrem engen Zusammenspiel das individuelle Erleben der Situation aus Sicht des Betroenen: Secondary appraisals of coping options and primary appraisals of what is at stake interact with each other in shaping the degree of stress and the strength and quality (or content) of the emotional reaction (Lazarus & Folkman, 1984, S. 35).
Diese Bewertungen und Einschätzungen, die ein Individuum in einer stressbeladenen Situation zunächst trit, können sich in Lazarus & Folkman (1984) transaktionalem Modell jedoch auch im Verlauf des Prozesses aufgrund neuer Informationen oder dem Erfolg erster Coping-Versuche jederzeit verändern. Diese veränderten Einschätzungen nennt Lazarus & Folkman (1984) Reappraisal (S. 38).
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3 Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder
Eine besondere Form des Reappraisal, die im folgenden empirischen Teil dieser Arbeit von Bedeutung sein wird, ist das defensive Reappraisal: A defensive reappraisal consists of any eort made to reinterpret the past more positively, or to deal with present harms and threats by viewing them in less damaging and/or threatening ways (Lazarus & Folkman, 1984, S. 38).
In ihrem Belastungs-Bewältigungs-Konzept weisen Lazarus & Folkman (1984) also auf die groÿe Bedeutung der Bewertung von Situationen durch das Individuum für dessen Erleben, die emotionale Reaktion und den folgenden Coping-Prozess hin (vgl. S. 45). Riedesser (2006) betont dies aus der Perspektive der Psychotraumatologie, insbesondere für Kinder. Wie traumatisch oder bedrohlich Kinder eine Situation erleben, ist in hohem Maÿe von ihrer kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklungsstufe zum Zeitpunkt des Erlebnisses abhängig. Auf der Grundlage seiner bisherigen Entwicklung, seinen Fähigkeiten und Erfahrungen schätzt das betroene Kind das aktuelle Erlebnis ein, wählt daraus resultierend seine Coping-Strategien, die wiederum groÿen Einuss auf die Folgen und Auswirkungen eines Ereignisses für die weitere Entwicklung des Kindes haben. Das Kind interpretiert die Situation sowohl bewuÿt als auch unbewuÿt, und diese Interpretation ist der Dreh- und Angelpunkt der Bewältigung: Sie bestimmt Auswahl und Einsatz von Bewältigungsstrategien und ist entscheidend dafür, ob eine Belastung zu Symptomen führt, die auch über lange Zeiträume andauern können (Riedesser, 2006, S. 162).
Auf den Prozess des Appraisal folgt im Belastungs-Bewältigungs-Konzept, wie eben schon angedeutet, der Prozess des Copings, d.h. der Auswahl und Umsetzung von Strategien, die dazu dienen, mit der Situation fertig zu werden bzw. die Gefahr oder Bedrohung für das eigene Wohlbenden abzuwenden. Coping, as I dene it, consists of cognitive and behavioral eorts to manage specic external or internal demands (and conicts between them) that are appraised as taxing or exceeding the ressources of the person (Lazarus, 1991, S. 112).
Die von einem Individuum eingesetzten kognitiven wie verhaltensorientierten Strategien, um mit einer Situation umgehen zu können, unterteilen Lazarus & Folkman (1984) in zwei Überkategorien: emotion-focused und problemfocused (S. 150). Dabei zielen problemfokussierte Strategien auf die reale
3.3 Perspektiven der Resilienzforschung
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Veränderung der als stressbeladen erlebten Situation, die emotionsfokussierten Strategien dagegen auf den eigenen Umgang damit und die Regulation der in der Situation entstandenen Gefühle. Faltermaier (1987) kritisiert am Modell von Lazarus dessen künstliche Trennung von Appraisal und Coping (insbesondere auf kognitiver Ebene), die in der Praxis bzw. auÿerhalb der Forschung im Labor schwer haltbar ist (vgl. S. 74). Die ieÿenden Grenzen und die problematische Trennung von Appraisal und insbesondere den kognitiven Coping-Versuchen thematisiert Lazarus (1991) selbst in einer seiner neueren Veröentlichungen: The reader should note, that there is some overlap between appraisal (. . . ) and cognitive coping. The overlap is that coping refers to what a person thinks and does to try to manage an emotional encounter; and appraisal is an evaluation of what might be thought or done in that encounter. Both change emotional meanings, so that the concepts are dicult to disentangle in practice, especially in the absence of a context to help us dierentiate them. Appraisal inunces the coping strategy, and coping changes appraisal by virtue of what it does to the person-environment relationship, the development of attention, or the appraises meaning of that relationship. Cognitive coping is, in eect, an appraisal in its own right, though it is self-generated and sometimes ego-defensive (S. 113).
Auch wenn eine empirische Trennung von Appraisal und Coping nicht oder nur ansatzweise möglich ist, kann das Modell von Lazarus & Folkman doch für den empirischen Teil der vorliegenden Arbeit von Nutzen sein, indem sie eine Trennung des Erlebens und Bewertens der Gewalt in der Partnerschaft der Eltern (im Sinne dieses Modells der Appraisal-Prozess) von den eingesetzten Coping-Strategien (bzw. in Lazarus' Worten dem Coping-Prozess) ebenso unterstützt wie die Unterteilung der Coping-Versuche in emotionsund problemzentriert, was im Folgenden für von häuslicher Gewalt betroene Kinder ausführlicher erläutert wird.
3.3.3 Kindliche Bewältigung häuslicher Gewalt Coping-Strategien und -Prozesse Dass Kinder häusliche Gewalterlebnisse als bedrohlich und für ihr eigenes Wohlergehen relevant einordnen und erleben, ist im vorangegangenen Teil dieser Arbeit aus Sicht der aktuellen Literatur bereits deutlich geworden. Das Primary Appraisal häuslicher Gewalt als Bedrohung scheint also fast allen Kindern gemeinsam. Deutliche Unterschiede zeigen sich jedoch im Bereich
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3 Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder
des Secondary Appraisal und den daraus entstehenden Coping-Strategien, die dann deutlich und beschreibbar werden. In der Literatur zu Auswirkungen häuslicher Gewalt teilt Peled (1993) die Coping-Strategien betroener Kinder in Anlehnung an Lazarus in emotionfocused und problem-focused ein (vgl. auch Edleson, 1999, S. 864). Hege (1999) untergliedert kindliche Coping-Strategien in Bezug auf häusliche Gewalt in zwei ähnliche Gruppen: die innerpsychischen Abwehrstrategien als auch die Handlungsstrategien(S. 17). Paralell dazu beschreibt auch Kindler (2002) Bewältigungsversuche von Kindern in häuslichen Gewaltsituationen in Anlehnung an Christian et al. (1997) als Distanzierungsreaktionen (. . . ) oder Interventionsversuche (S. 25). Zunächst ein Blick auf die problem-fokussierten Handlungsstrategien oder Interventionsversuche. These are in a sense action-centered forms of coping (Lazarus, 1991, S. 112). Gemeint sind also alle Strategien, die darauf zielen, die Situation aktiv zu verändern, die Bedrohung zu beenden oder Schutz herzustellen. Dazu zählen in erster Linie alle Versuche in das Gewaltgeschehen einzugreifen, es zu unterbrechen, die Mutter zu schützen oder auch Hilfe von auÿen (in Form von Nachbarn, Verwandten oder der Polizei) zu rufen (vgl. Kindler, 2002, S. 25). Eine Studie aus Neuseeland befasste sich mit der Frage der kindlichen Coping-Strategien und stellte fest, dass lediglich 6 % der betroenen Kinder in Gewaltsituationen Hilfe von auÿen holen und 10 % selbst in den Streit der Eltern eingreifen, um die Gewalt zu stoppen (vgl. Maxwell, 1994). Die zweite groÿe Gruppe der Coping-Strategien, als emotionsfokussierte, innerpsychische Abwehrstrategien oder Distanzierungsversuche beschrieben, deniert Lazarus (1991) folgendermaÿen: they involve mainly thinking rather than acting to change the personenviroment relationship. They are by no means passive, but have to do with internal restructuring, sometimes even to the point of changing a commitment pattern that can't be actualized. Even though they do not change the actual relationship, they change its meaning, and therefore the emotional reaction (S. 112).
Gemeint sind alle Reaktionen, die zur Regulation der eigenen Gefühlswelt dienen und die eine Distanzierung vom Gewaltgeschehen zum Ziel haben. Dazu zählen beispielsweise die Flucht ins Kinderzimmer oder nach drauÿen, alle Versuche sich abzulenken (vgl. Kindler, 2002) und das erstarrte Abwarten auf das Ende der Gewalt, meist begleitet von einer traumatischen Abspaltung der dazugehörigen Gefühle im Sinne einer Dissoziation (vgl. Strasser, 2001).
3.4 Häusliche Gewalt und Geschlecht
77
Schwierig wird es bei der Einordnung von Coping-Strategien wie beispielsweise der aktiven Sorge um jüngere Geschwister, da diese einerseits aktiv das Ziel verfolgen, Schutz für die Geschwister herzustellen, also als problemfokussiert bezeichnet werden können. Andererseits dienen diese Strategien jedoch häug auch der Regulation der eigenen Gefühle, insbesondere der Kompensation der eigenen Hilosigkeit, was als emotionsfokussiert zu bewerten wäre. Hier wird deutlich, dass diese Einteilung der Coping-Strategien zwar in vielerlei Hinsicht hilfreich ist, jedoch in der Realität eine klare Trennung der Strategien teilweise unmöglich ist. Dennoch sollen diese Begriichkeiten auch in der Auswertung der Interviews dieser Studie als hilfreiche Konstrukte Verwendung nden, um Coping-Strategien besser beschreiben und ihr Zusammenwirken darstellen zu können.
3.4 Häusliche Gewalt und Geschlecht 3.4.1 Geschlechtsspezische Auswirkungen und Geschlechtsrollenvorstellungen Das Miterleben häuslicher Gewalt führt nicht nur zu sichtbaren Verhaltensauffälligkeiten und fordert von den Kindern möglichst hilfreiche Coping-Strategien, sondern wirkt sich auch geschlechtsspezisch, insbesodnere auf die Entwicklung von Geschlechterrollenbildern und den eigenen Wert als Mann oder Frau, aus. Denn diese Gewalt basiert auf den noch immer gültigen, hierarchischen Bildern von Weiblichkeit und Männlichkeit und stellt eine extreme Konsequenz der vorherrschenden Konstruktion des Geschlechterverhältnisses dar (Brückner, 1998, S. 13).
Nicht nur die Modellfunktion der Eltern, sondern auch deren Bewertungen und Einschätzungen kindlichen Handelns tragen zur Verfestigung der Rollenzuschreibungen bei. Die eingeübte Praxis, Prügel unter Jungen als ganz normale Rangeleien und Rangordnungskämpfe abzutun, die Gewohnheit Mädchen und Frauen eher als Opfer zu sehen, tragen zur sozialen Praxis der Fortschreibung der traditionellen Macht- und Geschlechterordnung bei (Hagemann-White, 2005, S. 6f ).
Insgesamt zeigen Mädchen und Jungen, die im Umfeld häuslicher Gewalt aufwachsen, annähernd gleiche Belastungen (vgl. Kitzmann et al., 2003).
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3 Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder
Im Erleben von Mädchen steht allerdings laut Kerig (1998) die Verantwortungsübernahme für die Gewalt im Vordergrund, während für Jungen der Bedrohungsaspekt eine stärkere Rolle spielt. Auch die geschlechtsspezische neuropsychologische Forschung beschreibt unterschiedliche Reaktionen von Mädchen und Jungen auf verschiedene Stresssituationen: Männer und Frauen reagieren auch auf unterschiedliche Formen von Stress. Mädchen sind empndlicher, wenn es um Belastungen in zwischenmenschlichen Beziehungen geht, Jungen, wenn ihre Autorität angezweifelt wird. Beziehungskonikte bringen die Stressreaktionen eines Mädchens auf Hochtouren. Sie will gemocht werden und soziale Bindungen eingehen; ein halbwüchsiger Junge braucht Respekt und will in der männlichen Rangfolge aufsteigen (Brizendine, 2007, S. 65f ).
Das Erleben häuslicher Gewalt prägt in besonderem Maÿe die Entwicklung von Mutter- und Vaterbildern ebenso wie die der Geschlechterrollenvorstellungen (vgl. Kavemann, 2002; Bundesministerium für Frauen, Senioren, Familie und Jugend, 2000). So entwickeln Mädchen und Jungen im Umfeld häuslicher Gewalt sehr viel stereotypere Geschlechtsrollenbilder (vgl. Graham-Bermann & Brescoll, 2000) als ihre Peergroup. Eine ganze Reihe von Kindern, die häusliche Gewalt erlebt haben, kann sich aufgrund ihrer Unsicherheit ob der Vermeidbarkeit von Beziehungsgewalt eine eigene Familiengründung in der Zukunft zunächst nicht vorstellen (vgl. Mullender et al., 2002). Da Mädchen und Jungen sich selbst in einer Gesellschaft, in der das Geschlecht eines der dominantesten Ordnungsprinzipien ist, als weiblich oder männlich wahrnehmen und sich entsprechend mit anderen identizieren, hat Partnergewalt Auswirkungen auf die Entwicklung der eigenen Identität und auf den geschlechtsbezogenen Selbstwert (Heynen, 2001, S. 91).
Auf diese Weise verstärken häusliche Gewalterlebnisse die in unserer Gesellschaft bestehende patriarchale Geschlechterhierarchie (vgl. auch Hermann, 2003; Wetzels, 1997) und Kinder und Jugendliche verinnerlichen die Koppelung von Weiblickeit an die Opferrolle, bzw. von Männlichkeit an Dominanz und Täterverhalten. Dies hat wiederum Auswirkungen für die spätere Gestaltung eigner Paarbeziehungen, die Gefahr laufen, ebenso durch gewalttätige Strukturen geprägt zu sein.
3.4 Häusliche Gewalt und Geschlecht
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3.4.2 Die intergenerationale Übertragung häuslicher Gewalt Sowohl für männliche als auch weibliche Jugendliche erhöht sich durch das Miterleben häuslicher Gewalt das Risiko, in späteren Intimbeziehungen zu gewaltförmigen Koniktlösungsmustern zu greifen (vgl. Lamnek et al., 2006; Albrecht, 2002). Diese Übertragung gewalttätiger Beziehungsmuster von einer Generation auf die nächste wird häug als intergenerationale Übertragung (Intergenerational Transmission (Kalmuss, 1984)) bezeichnet. Einige empirische Studien belegen das signikant ansteigende Risiko nach erlebter häuslicher Gewalt in der Kindheit als Erwachsener selbst in einer gewalttätigen Beziehung (sowohl als gewaltausübender als auch als gewalterleidender Partner) zu leben (vgl. Kindler, 2008, 2005; Schröttle et al., 2004; Cappell & Heiner, 1990; Kalmuss, 1984). Buddeberg (1983) stellt ihre These eines typischen transgenerationalen Interaktionsmusters anhand der Partnerwahl von Frauen und Männern mit häuslichen Gewalterfahrungen folgendermaÿen dar: Da die Frau in ihrer Herkunftsfamilie häug parentiziert wurde oder gegenüber jüngeren Geschwistern Mutterfunktionen ausüben muÿte, sucht sie einen sich stark und überlegen fühlenden Mann, der ihr erlaubt, hilfsbedürftig und ohnmächtig zu sein. Im Gegensatz dazu erlebte sich der Mann in seiner Herkunftsfamilie häug hilos und ohnmächtig, wenn er seine Mutter vor dem gewalttätigen Vater beschützen wollte. Dieses Ohnmachtserleben versucht der Mann teilweise schon in der Jugendzeit durch pseudoprogressives Verhalten im Sinne einer Identikation mit dem Aggressor abzuwehren. Bei der Partnerwahl (. . . ) sucht der Mann eine Frau, die ihn in seinen Omnipotenzphantasien bestätigt und ihn im Ausleben seiner forciert progressiven Verhaltensweisen verstärkt (S. 274).
Mädchen sehen Gewalt seitens ihres Freundes nicht selten als unvermeidlich oder sogar als Ausdruck von Liebe an, denn sie haben sehr früh gelernt, dass geliebt zu werden gleichzeitig immer bedeutet, verletzt zu werden. Jungen identizieren sich im Laufe ihres Erwachsenwerdens oft zunehmend mit dem Vater und übernehmen sein gewalttätiges Verhalten gegenüber der Mutter und später gegenüber der eigenen Partnerin (vgl. Carlson, 1984, S. 155). In einer Studie von Straus et al. (1980) wurden Männer aus Misshandlungsfamilien dreimal so häug gegen ihre Frauen gewalttätig, als das bei Männern einer Kontrollgruppe der Fall war. Insgesamt waren es 35 % der Männer aus Misshandlungsfamilien, die in ihrer eigenen Partnerschaft gewalttätig wurden. Cappell & Heiner (1990) fanden in ihrer Studie ein höheres
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3 Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder
Risiko sowohl für Männer als auch für Frauen aus Misshandlungsfamilien, später in eigenen Partnerschaften Opfer von Gewalt zu werden. Die Kehrseite dieser Studien und des Wissens um das Risiko einer Wiederholung häuslicher Gewalt in der nächsten Generation liegt in der Gefahr einer Stigmatisierung betroener Mädchen und Jungen, die es zu vermeiden gilt. Wichtig ist deshalb in Bezug auf die intergenerationale Übertragung häuslicher Gewalt zu betonen, dass diese mit einer komplexen Reihe sozialer und psychologischer Prozesse (Gelles, 2002, S. 1063) verbunden ist. Dabei darf nicht übersehen werden, dass es eine groÿe Zahl an Betroenen gibt, die in ihren eigenen Partnerschaften weder Gewalt erleben noch ausüben. (. . . ) some individuals (. . . ) thoughtfully decide that they will refrain from abusive behaviors toward others because of their own personal experience with abuse (Carlson, 1991, S. 533).
Auch wenn das Miterleben von Gewalt durch die bisherige Forschung klar als Risikofaktor für spätere Gewalt in eigenen Beziehungen identiziert werden konnte, ist dennoch der tatsächliche Mechanismus der intergenerationalen Übertragung von Gewalt noch kaum erforscht (vgl. Gelles, 2002, S. 1063).
4 Methodik Researching children, then, raises interesting methodological and ethical issues that all researchers face, at least implicitly, when collecting people's stories: issues of appropriate ways of collecting data, appropriate ways of analysing and interpreting data and disseminating ndings, as well as issues of protection of research participants (Morrow, 1996, S. 103).
4.1 Forschungsinteresse Schon während des Studiums setzte ich mich im Rahmen meiner Diplomarbeit (vgl. Dlugosch, 2001) mit dem Thema der häuslichen Gewalt aus der Perspektive von Kindern auseinander. Fokus war damals die pädagogische Arbeit mit Kindern im Frauenhaus. Bei der Literaturrecherche stellte sich heraus, dass im deutschsprachigen Raum nur vereinzelt Literatur und Forschung existiert, die den Zusammenhang häuslicher Gewalt und kindlicher Entwicklung behandelt. Im englischsprachigen Raum dagegen gab es eine Vielzahl kleinerer Studien, insbesondere aus Amerika, Neuseeland und Groÿbritannien, die jedoch alle das Ziel verfolgen, einen quantitativen Zusammenhang von häuslicher Gewalt und klinisch relevanten Entwicklungsstörungen von Kindern zu belegen. Auch vier Jahre später, zu Beginn meiner Überlegungen bezüglich der hier vorliegenden Dissertation, musste ich erneut feststellen, dass nur wenige deutschsprachige Veröentlichungen und kaum Forschungsarbeiten hinzugekommen waren. Insbesondere die Perspektive der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen selbst ist weitgehend unberücksichtigt geblieben. Die wissenschaftlichen Veröentlichungen beschäftigen sich stattdessen mit dem Verhalten von Kindern im Frauenhaus aus der Perspektive von Müttern und Fachkräften (Bingel & Selg, 1998; Winkels & Nawrath, 1990) oder behandeln schwerpunktmäÿig körperliche Misshandlung oder sexuellen Missbrauch von Kindern (vgl. z.B. Egle et al., 1997; Enders, 2003; Bange & Körner, 2002). Die Zeugenschaft von Kindern in Fällen häuslicher Gewalt und das Aufwachsen in einer Atmosphäre der Gewalt waren in der Vergangenheit selten Gegenstand von Fachliteratur und Forschung. Erst in den letzten Jahren rückten Kinder, die häusliche Gewalt erleben, in den Fokus der Fachöent-
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4 Methodik
lichkeit. 2005 erschien das erste Handbuch zum Thema (vgl. Kavemann & Kreyssig, 2005), 2004 starteten in Baden-Württemberg erste Modellprojekte zur Unterstützung von Kindern in Fällen häuslicher Gewalt, deren Evaluation 2007 veröentlicht wurde (vgl. Kavemann & Seith, 2007). Im englischsprachigen Bereich gibt es bereits seit den 90er Jahren einige Veröentlichungen (vgl. z.B. Jae et al., 1990; Edleson, 1999), doch auch hier ist die Forschung wenig ausdierenziert. Insbesondere eine genaue Unterscheidung zwischen dem Miterleben häuslicher Gewalt und eigener körperlicher Misshandlung wurde häug versäumt. First, a signicant problem is that many researchers have failed to dierentiate abused children form those who are not themselves abused but who do witness domestic violence (Edleson, 1999, S. 844).
Silvern et al. (1995) warnen diesbezüglich auch vor einer Verzerrung von Forschungsergebnissen gerade dann, wenn Untersuchungen über Auälligkeiten bei Kindern in Frauenhäusern davon ausgehen, dass diese Folgen des Miterlebens von Partnergewalt sind, ohne die Frage zu berücksichtigen, ob die Gewalt primär gegen die Mütter oder auch die Kinder selbst gerichtet war (vgl. S. 195). Edleson (1999) kritisiert zudem an der englischsprachigen Forschungsliteratur das Fehlen vielseitiger und dierenzierter Perspektiven auf das Erleben und die Folgen häuslicher Gewalt. Die meisten Forschungen fuÿen auf Berichten der Mütter über die Probleme ihrer Kinder. Die Sichtweise der Betroenen selbst fehlt fast vollständig (S. 845). Wie im vorangegangenen Kapitel ausführlich dargestellt, befassen sich die meisten Studien mit Fragen der klinischen Entwicklungspsychologie, d.h. mit Auswirkungen und Folgen häuslicher Gewalt im Sinne psychopathologischer Entwicklungsbeeinträchtigungen. Kindler (2002) kritisiert in seiner Zuammenschau aktueller Forschungsliteratur: Insgesamt scheint die Literatur zu Formen kindlichen Erlebens von Partnerschaftsgewalt (. . . ) noch weitgehend atheoretisch zu sein, während in angrenzenden Forschungsbereichen, wie etwa dem Erleben körperlicher Misshandlung oder der Verarbeitung nicht gewalttätiger Partnerschaftskonikte bindungs-, coping- und attributionstheoretische Zugänge bereits weit entwickelt sind (Kindler, 2002, S. 26).
Als einzige Ausnahme diesbezüglich kann im deutschsprachigen Bereich die traumatheoretische Untersuchung von Strasser (2001) gelten. Insgesamt ist festzustellen, dass in der Forschung bis heute nur einzelne isolierte Perspektiven auf das Miterleben häuslicher Gewalt und seiner Folgen für die Kinder untersucht worden sind. Heynen (2001) fordert daher:
4.1 Forschungsinteresse
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Die Forschung muss intensiviert werden, um vor allem die Perspektive der Kinder in die Diskussion um Strategien gegen Partnergewalt aufzunehmen (S. 96).
Vor diesem Hintergrund ist der Schwerpunkt der vorliegenden Forschungsarbeit eine Betroenenperspektive, d.h. eine Darstellung des Erlebens von häuslicher Gewalt, der Copingstrategien und Ressourcen, der Erklärungsversuche und Bewertungen von Gewalt sowie der Geschlechtsidentität und den Beziehungsrepräsentationen aus der Perspektive betroener Kinder bzw. Jugendlichen selbst. Die inhaltlichen Schwerpunkte dieses Erkenntnisinteresses, die sich in ähnlicher Form im Interviewleitfaden (siehe Anhang 9) wiedernden, sollen nun aufgezeigt und kurz ausgeführt werden:
Fragen nach dem kindlichen Erleben häuslicher Gewalt Im Mittelpunkt des Interesses steht zunächst das Erleben der Kinder bzw. die retrospektiven Erinnerungen der jungen Erwachsenen an ihre Kindheit. In der Literatur nden sich immer wieder Beschreibungen von Gefühlen wie Ohnmacht, Hilosigkeit und Angst ebenso wie Überforderung, Schuld, Scham sowie Parentizierungen und Verantwortungsübernahme für die Geschwister (vgl. z.B. Jae et al., 1990; Petri, 1995; Kavemann, 2000; Kavemann & Kreyssig, 2005). Diese Beschreibungen basieren zumeist auf Beobachtungen oder Gesprächen von Fachkräften oder Müttern mit den Kindern, insbesondere im Bereich der Frauenhäuser. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ist es, der Frage nachzugehen, wie junge Erwachsene selbst retrospektiv ihr Erleben der Gewalt zwischen den Eltern in der Kindheit schildern. Leitende Fragen dabei waren:
• Wie erleben Kinder die Gewalt zwischen ihren Eltern aus ihrer Perspektive? • Was beobachten, hören oder sehen sie und mit welchen Gefühlen und Gedanken ist das für sie verbunden? • Wie erleben Kinder ihre Eltern oder Bezugspersonen während und zwischen den gewalttätigen Vorfällen? Und verändert sich dieses Bild mit dem Alter? • Wie beschreiben und erleben Kinder die Atmosphäre in der Familie vor, während und nach gewalttätigen Übergrien? • Wie beschreiben sie ihre Beziehung zu Mutter und Vater?
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4 Methodik
Fragen nach den Coping-Strategien Zweiter Schwerpunkt meines Interesses waren Coping-Strategien und Ressourcen, die den Kindern bzw. rückblickend den jungen Erwachsenen hilfreich und unterstützend erschienen. In der Literatur nden sich eine Vielzahl von Strategien, die in Fällen häuslicher Gewalt bei Kindern beobachtet wurden. Sie reichen von innerpsychischen Abwehrstrategien bis zu klaren Handlungsstrategien (Hege, 1999, S. 17) bzw. von Distanzierungsreaktionen bis zu Interventionsversuchen (Kindler, 2002, S. 25). Forschungsfragen in diesem Bereich waren:
• Wie reagieren Kinder vor, während und nach gewalttätigen Episoden zwischen ihren Eltern? • Welche Handlungsstrategien oder Abwehrmechanismen entwickeln sie? • Welche Handlungs- oder Fluchtspielräume nutzen sie und welche Aufgaben übernehmen sie? • Wie handlungsfähig erleben sich die Kinder und was können sie tatsächlich bewirken? • Was erleben sie als hilfreich und unterstützend? • Wie verändern sich solche Strategien mit zunehmendem Alter? • Welche Rolle spielen diese Strategien im späteren, von den Eltern unabhängigen Alltag?
Fragen nach Erklärungen und Bewertung von Gewalt Ein weiterer Aspekt ist die Bewertung und Erklärung von Gewalt. In der Literatur nden sich, wie bereits dargestellt, unterschiedliche Erklärungsmodelle für die Entstehung von häuslicher Gewalt. Das Forschungsinteresse dieser Arbeit ist es, die Erklärungen und Bewertungen betroener Kinder bzw. junger Erwachsener ebenso wie den eigenen Umgang mit Gewalt und Aggression genauer zu erfragen. Jae et al. (1990) stellen folgende These auf: A child who sees his mother hit by his father comes to the view hitting is the thing to do a means of getting what he wants (S. 29).
Ob diese These mit der Sicht der Betroenen übereinstimmt oder wie junge Erwachsene selbst ihre Bewertungen und den Nutzen von Gewalt beschreiben, soll die vorliegende Arbeit verdeutlichen:
4.1 Forschungsinteresse
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• Was verstehen Kinder unter Gewalt? • Wie bewerten und beschreiben sie diese? • Mit welchen Eigenschaften und Zuschreibungen verbinden sie Gewalt? • Wie erklären sich Kinder Gewalt zwischen ihren Eltern? • Wie nutzen sie selbst Gewalt in ihrer Peer-group? • Wie verändert sich dies im Laufe der Entwicklung? • Welche Rolle spielt bzw. welche Wertung erfährt Gewalt im Erwachsenenalter?
Fragen nach dem Zusammenhang von Gewalt und Geschlecht Ein weiterer bedeutsamer Themenbereich ist der Zusammenhang von häuslicher Gewalt und Geschlecht. Häusliche Gewalt steht immer auch im Zusammenhang mit familiären Rollenverteilungen und Beziehungsvorstellungen. Zeuge familiärer Gewalt zu sein ist ein Risikofaktor für die Fortsetzung familiärer Gewalt im Erwachsenenleben (van der Kolk & StreekFischer, 2002, S. 1026).
Diese Aussage über die transgenerationale Weitergabe häuslicher Gewalt und die wissenschatiche Beobachtung, dass von häuslicher Gewalt betroene Kinder jenseits des Grundschulalters jegliche Beziehungsgewalt ablehnen und manche sich infolge ihrer Verunsicherung bezüglich der Vermeidbarkeit von Gewalt in Beziehungen eine Familiengründung gar nicht vorstellen können (vgl. Kindler, 2002; Mullender et al., 2002), führten in dieser Arbeit zu einem weiteren Fragenkomplex. Zu untersuchen ist, wie junge Erwachsene, die häusliche Gewalt miterlebt haben, die Paarbeziehung ihrer Eltern schildern, was ihre eigenen Beziehungsvorstellungen sind und wie ihre Geschlechtsidentität von der erlebten Gewalt im Geschlechterverhältnis beeinusst wurde. Leitende Fragen waren hier:
• Wie beschreiben sie Mutter und Vater in ihren Rollen als Eltern und Paar? • Welche Ideal- und Wunschvorstellungen von Eltern haben sie? • Welche Rollenbilder sind ihnen vermittelt worden, welche übernehmen sie, welche nicht?
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4 Methodik
Welche Leitsätze und Bilder von Partnerschaft entwickeln sie und wie verändern sich diese mit dem Alter? • Welche Rolle spielt Gewalt in der Partnerschaft im späteren Erwachsenenleben? Diese Fragen aus der Perspektive der Betroenen zu beantworten und zu einem vollständigeren Bild der Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kindheit, Coping-Strategien, den Umgang mit Gewalt und die eigene Geschlechtsidentität zu erlangen, ist das Ziel dieser Dissertation. •
4.2 Qualitatives Forschungsdesign Too often violence has been quantied, whereas experience of violence is subjective (McGee, 1997, S. 21).
Aufgrund der gesellschaftlichen Tabuisierung des Themas häuslicher Gewalt und dem eben dargestellten Forschungsinteresse, erscheint ein qualitatives Forschungsdesign angemessen und sinnvoll (vgl. Lamnek et al., 2006, S. 64). In der aktuellen internationalen Gewaltforschung überwiegt noch immer eine quasi automatische Bevorzugung quantitativer Methoden. Böttger & Strobl (2002) kritisieren, dass dabei bisweilen übersehen wird, dass für Fragestellungen, bei denen es nicht um quantitative Anteile in der interessierenden Population, sondern um die Konstruktion und Überprüfung von theoretischen Erklärungen und Theorien geht, keine im statistischen Sinne repräsentativen Stichproben benötigt werden (S. 1498).
Zudem laufen quantitative Verfahren, die bei der Beschreibung häuslicher Gewalt auf Gewaltskalen zurückgreifen, wie beispielsweise Conict-TactisScales , Gefahr, die subjektiven Bedeutungen von Gewalt für die Betroenen selbst zu übersehen (vgl. Pegerl & Cizek, 2001). Das zentrale Anliegen dieser Forschungsarbeit ist, die Perspektive betroffener junger Erwachsener, ihr Erleben und ihre Bewältigungsstrategien in den Mittelpunkt zu stellen, d.h. die Sicht (...) der agierenden Subjekte 18
18 Die Conict Tactis Scales ist ein von Murray A. Straus und seinen Kollegen bereits 1972 entwickeltes Instrument zur Erhebung von Gewalterfahrungen, das versucht unterschiedliche Formen und Stärken von Gewalt anhand einer Skala zu operationalisieren. Näheres über Aufbau, Inhalt und Einsatz der aktuellen Version im Forschungkontext siehe Straus et al. (1996).
4.2 Das Sampling und seine Grenzen
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verstehen zu wollen (Bergold & Flick, 1987, S. 152). Für eine solche Annäherung an die Perspektive von häuslicher Gewalt betroener Subjekte ist sowohl ein qualitativer Forschungsansatz als auch ein Zugang über biographische Interviews angemessen. Sommer (2002) betont die Angemessenheit eines qualitativen Forschungsdesigns für den Forschungsgegenstand psychischer Gewalt, zu dem er explizit auch das Miterleben häuslicher Gewalt zählt. Psychische Gewalt ist schwer in Statistiken fassbar und wird erst über Biographien und die Perspektive der Betroenen beschreibbar. In autobiographischer Forschung sieht Sommer (2002) somit einen sinnvollen Weg, genau jene qualitativen Aspekte des Phänomens Gewalt erhellen zu können, die Fragen berühren im Zusammenhang mit der Bedeutung, die alltäglich erfahrene, unsensationelle Gewalt in ihren vielfältigen Ausdrucks- und Erscheinungsformen auf die weitere Gestaltung eines individuellen Lebens einnehmen kann (S. 127).
Neben der individuellen Sicht, die biographische Interviews der Forschung zugänglich machen, sieht Fuchs-Heinritz (1998) einen weiteren entscheidenden Vorteil von Biographieforschung in der Möglichkeit, Einblicke in die Komplexität der sozialen Wirklichkeit (S. 7) zu erhalten. Abschlieÿend unterstützt auch der Einsatz des Familienbrettes als Kommunikationsmittel und ergänzendes Datenmaterial die Entscheidung für ein qualitatives Forschungsdesign. So halten es Ludewig & Wilken (2000) für bedeutsam, die mittels des Familienbrettes gewonnenen weichen` Daten mit Hilfe einer weichen` qualitativen Methodologie zu behandeln, als sie einer künstlich quantizierenden, harten` Methodologie zu opfern (S. 35).
4.3 Auswahl der InterviewpartnerInnen Das Sampling und seine Grenzen 4.3.1 Auswahlverfahren und Vorgehensweisen Die Suche nach jungen Erwachsenen, die in ihrer Kindheit Gewalt zwischen ihren Eltern miterlebt haben, selbst jedoch nicht massiv körperlich misshandelt wurden und bereit sind, in einem Forschungsinterview von ihren Erfahrungen zu erzählen, gestaltete sich äuÿerst schwierig. Die erste Auswahl der Untersuchungsgruppe erfolgte nach äuÿeren Merkmalen (vgl. Fuchs-Heinritz, 1998, S. 10f). Wichtig war mir in der Auswahl der InterviewpartnerInnen eine möglichst klare Dierenzierung zwischen Zeugenschaft und eigener Misshandlung. D.h. die Betroenen haben in ihrer
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4 Methodik
Kindheit Gewalt zwischen ihren Eltern oder anderen primären Bezugspersonen miterlebt, sind selbst jedoch nicht Opfer massiver körperlicher Gewalt geworden. Zudem sollte der Schwerpunkt meines Samples im Alter von 18-28 Jahren sein, da in diesem Alter das Gewalterleben meist schon der Vergangenheit angehört, was eine Distanz im Erzählen ermöglicht, auf der anderen Seite jedoch noch nicht zu lange zurückliegt, so dass retrospektive Verzerrungen in der Erinnerung möglichst gering sind. Auch spielen in diesem Lebensabschnitt, entwicklungspsychologisch betrachtet, Themen wie Ablösung von der Herkunftsfamilie, Zukunftsperspektiven und eigene Beziehungsvorstellungen eine zentrale Rolle, die auch im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen sollen. Ein weiteres Ziel des Samplings war es, möglichst in gleicher Zahl Männer und Frauen zu befragen, um die bei der Thematik häuslicher Gewalt so wichtige Perspektive beider Geschlechter berücksichtigen zu können. Dies stellte sich leider als nicht erfüllbar heraus. Nach dieser Auswahl anhand äuÿerer Merkmale sollte die Untersuchungsgruppe weiter nach der Methode des theoretical sampling (Strauss & Corbin, 1996) zusammengestellt werden, was jedoch aufgrund der groÿen Problematik, überhaupt InterviewpartnerInnen zu nden, kaum möglich war. Die Methode des theoretical sampling meint die Suche nach InterviewpartnerInnen im Prozess der Analyse schon erhobener Daten bzw. der Weiterentwicklung sensibilisierender Konzepte. D.h. im Forschungsprozess zunächst erste Daten zu erheben, diese auszuwerten und die gewonnene Sensibilität für die weitere Auswahl an Daten zu nutzen (vgl. Strauss & Corbin, 1996, S. 152). Das Sampling ist beendet, wenn eine Sättigung der Theorie erreicht ist (Wiedemann, 1991, S. 443), d.h. wenn die Erhebung und Analyse weiterer Daten bzw. Interviews keine zusätzlichen Erkenntnisse weitere Kategorien, neue Daten innerhalb einer Kategorie oder Informationen über Beziehungen zwischen Kategorien mehr erbringt (vgl. auch Strauss & Corbin, 1996, S. 159). Versuche, ein theoretical sampling umzusetzen, waren das Vorgehen in mehreren Wellen der aktiven Suche und der Zugang über verschiedene Kooperationspartner wie Frauenhäuser, Jugendhilfeeinrichtungen und freie TherapeutInnen. Mit der Nutzung unterschiedlicher Zugangswege war die Honung verbunden, junge Menschen mit unterschiedlichen Coping-Strategien und Erfahrungen mit dem Hilfesystem als InterviewpartnerInnen zu gewinnen.
4.3 Das Sampling und seine Grenzen
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Um betroene junge Erwachsene zu erreichen, verfasste ich einen Informationsbrief (siehe Anhang 9), in dem sowohl der Forschungsgegenstand als auch Vorgehen und Interviewsituation beschrieben waren. Diesen Brief versandte ich, gemeinsam mit einem Anschreiben an psychosoziale Fachkräfte (siehe Anhang 9), in drei groÿen Wellen an soziale Einrichtungen und TherapeutInnen, die mit der Problematik häuslicher Gewalt arbeiten. In einer ersten Verschickung ging der Brief an alle Frauenhäuser in Bayern, Frauenberatungs- sowie Interventionsstellen für häusliche Gewalt. In vier Einrichtungen stellte ich mein Forschungsvorhaben persönlich vor. Der Rücklauf war trotz der erheblichen Unterstützung einiger Einrichtungen sehr gering. Es meldeten sich sieben junge Erwachsene, wobei nur mit drei von ihnen tatsächlich ein Interview zustande kam. In einer zweiten Welle schrieb ich ausgewählte Jugendhilfeeinrichtungen und Träger ambulanter Erziehungshilfen in Bayern an, da auch dort das Thema häusliche Gewalt von Bedeutung ist. Erneut war der Rücklauf spärlich, es meldeten sich drei junge Erwachsene, mit zwei von ihnen kamen Interviews zustande. Schlieÿlich weitete ich meine Suche nach InterviewpartnerInnen in einer dritten Welle auf den Groÿraum Berlin aus und schrieb dort noch einmal ca. 150 Einrichtungen der Frauen- und Jugendhilfe an. Auf diese Ausschreibungen kamen lediglich zwei Rückmeldungen von Einrichtungen, jedoch kam kein Kontakt zu Betroenen zustande. In einem kurzzeitigen Versuch setzte ich meinen Infobrief noch in einige Foren im Internet, die sich mit häuslicher oder familiärer Gewalt beschäftigten. Im spärlichen Rücklauf wurde schnell deutlich, dass sich dort häug Menschen informieren und austauschen, die vielfältigste Problemlagen aufweisen und psychisch stark belastet sind. Ein Interview über das Miterleben häuslicher Gewalt zu führen wäre in keinem Fall sinnvoll oder für die Betroffenen zumutbar gewesen. Aus diesem Grund wurde die Ausschreibung sehr zeitnah wieder aus dem Internet gelöscht. Wichtig war mir bei der Suche nach InterviewpartnerInnen immer auch die Problematik des Themas im Auge zu behalten. Insbesondere die vollständige Information über Durchführung und Ziel der Forschung als auch die absolute Freiwilligkeit der Teilnahme 19 waren mir ein groÿes Anliegen. 19 Dies fordern übrigens auch die ethischen Richtlinien der DGP und des BDP für jede psychologische Forschung am Menschen. Hier heiÿt es wörtlich: Die Teilnahme an psychologischen Versuchen erfolgt freiwillig. (. . . ) Die Versuchspersonen sind über alle Ziele, Einzelheiten, Belastungen und Risiken auf verständliche Weise zu informieren, die für ihre Teilnahmeentscheidung mutmaÿlich von Bedeutung sind (Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V., 1998, S. 10).
90
4 Methodik
Häusliche Gewalt ist ein Thema, das mit groÿen familiären, aber auch gesellschaftlichen Tabus belegt ist. Zudem ist die Thematisierung erlebter Gewalt für Betroene oft mit sehr viel Überwindung verbunden und kann bei mangelnder Vorsicht und Achtsamkeit in Einzelfällen zu Retraumatisierungen führen. Um dies zu vermeiden, 20 war es mir wichtig, den Betroenen zu jeder Zeit die Möglichkeit zu geben, sich gegen das Interview oder eine Verwendung in meiner Forschung zu entscheiden. Von diesen Möglichkeiten machten die Betroenen auch Gebrauch: drei junge Erwachsene sagten den Termin kurzfristig ab, zwei erschienen nicht zum vereinbarten Termin. Auch die Anzahl der befragten Männer zu erhöhen, ist trotz vielfältiger Bemühungen nicht gelungen. Von drei Männern, die sich auf die Ausschreibungen hin meldeten, kam nur ein Interview tatsächlich zustande.
4.3.2 Hypothesen zur Problematik des Samplings Natürlich stellt sich nun die Frage, warum es so schwierig war bzw. ist, junge Erwachsene zu nden, die in die Untersuchungsgruppe passen und bereit sind, an einem Interview teilzunehmen. Schon Devereux (1967) forderte einen oenen und reektierten Umgang mit Berührungsängsten, Widerständen und Hindernissen in der qualitativen Forschung. Dies gilt auch und besonders für die Auseinandersetzung mit Zugangsproblemen bei der Erforschung von Randgruppen oder gesellschaftlich stark tabuisierten Themen. Um mit solchen Schwierigkeiten überhaupt oen und konstruktiv umgehen zu können, täten gerade Projekte mit qualitativem Methodenanspruch gut daran, die anfangs erwähnten Einsichten von Devereux konsequenter zu befolgen als bisher. Die ungeschminkte Dokumentation von Zugangsproblemen in ihrem strukturellen und ihrem persönlichen Bedeutungsgehalt ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür ganz abgesehen davon, daÿ sie die Chance für Lernprozesse enthält, die sich in der Forschungsarbeit erst auf den zweiten Blick erschlieÿen (Wolersdorf-Ehlert, 1991, S. 391).
20 Auch hier weisen die Ethikrichtlinien der DGPs und des BDP explizit auf die Verantwortung der Forscher gegenüber den an der Studie teilnehmenden Menschen hin: Psychologen setzen ihre Versuchspersonen keinen psychisch oder physisch schädigenden Einüssen oder Gefährdungen aus. Versuche sind unverzüglich abzubrechen, wenn Versuchspersonen unerwartete Belastungsreaktionen zeigen. Treten unerwünschte Konsequenzen der Versuchsteilnahme auf, so hat der Psychologe diese zu beseitigen bzw. für ihre Beseitigung zu sorgen (Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V., 1998, S. 10).
4.3 Das Sampling und seine Grenzen
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Zunächst einmal gilt es zu überprüfen, ob die Mehrzahl von Kindern, die häusliche Gewalt miterleben, auch selbst körperlich misshandelt werden, so dass die Gruppe der jungen Erwachsenen, die im Mittelpunkt dieser Studie stehen, sehr klein und daher schwer erreichbar ist. Wie in Kapitel 2.2.3 bereits dargestellt, gibt es einen gesicherten Zusammenhang von Partnergewalt und Kindesmisshandlung. Viele Kinder sind doppelt betroen. Metaanalytische Schätzungen gehen jedoch im Mittel von ca. 30-60%, die sowohl häusliche Gewalt miterleben als auch selbst misshandelt werden. Somit sollte es dennoch eine ausreichend groÿe Gruppe an Kindern geben, die Gewalt miterlebt, selbst jedoch nicht körperlich misshandelt wurden. Zudem habe ich in der Ausschreibung, die sich direkt an Betroene richtete, bewusst darauf verzichtet, aufzunehmen, dass sie selbst nicht körperlich misshandelt worden sein sollten. Eventuell Interessierte sollten so nicht sofort mit der Prürage konfrontiert werden, ob sie selbst in erheblichem Maÿ körperlich misshandelt wurden. Nur im Begleitschreiben an die Einrichtungen und ihre Fachkräfte ist die eigene Misshandlung erwähnt. Trotz dieser Ausschreibung hat sich insgesamt nur eine junge Frau gemeldet, die selbst körperliche Gewalt durch die Mutter erlebt hat und somit noch einmal anders betroen ist. Alle anderen InterviewpartnerInnen schilderten keinerlei eigene körperliche Misshandlung oder betonten im Gegenteil sogar mehrfach, nicht betroen gewesen zu sein. Des Weiteren ist in Erwägung zu ziehen, ob die Zielgruppe dieser Forschung auf den von mir gewählten Wegen nicht erreicht werden konnte, da sie im Hilfesystem nicht im entsprechenden Maÿe auftaucht. Als weitere Hypothese kann formuliert werden, dass die Thematik in unserer Gesellschaft nach wie vor absolut tabuisiert ist, so dass es Betroenen extrem schwer fällt, sich einem solchen Interview zu stellen und über die Erlebnisse zu berichten. Auch das familiäre Schweigegebot und Loyalitätskonikte gegenüber den Eltern könnten junge Erwachsene davon abhalten, ihre Geschichte in einem Forschungsinterview zu erzählen. Das Gefühl die eigene Familie damit bloÿ zu stellen, Angst davor, für psychisch krank, Täter oder Opfer gehalten zu werden oder auch das nach wie vor wirkende Verbot, mit Auÿenstehenden zu sprechen, können Gründe sein, sich gegen ein Interview zu entscheiden. Ebenso kann die eigene Betroenheit, Angst vor Gefühlen, die im Erzählen aufkommen können, und eventuell vorliegende Traumafolgestörungen und damit verbundene Schutzmechanismen dazu führen, kein Interview geben zu wollen. In diesem Zusammenhang gab es auch auf Seiten der psychosozialen Fachkräfte Bedenken, ob und inwiefern ein solches Interview schädlich oder de-
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4 Methodik
stabilisierend für ihre KlientInnen sein könnte. Insbesondere in Bereichen der sozialen Arbeit, in denen die KlientInnen aktuell in krisenhaften Situationen leben oder starken Belastungen ausgesetzt sind, bedarf es einer sorgsamen Abwägung, ob ein Interview für eine KlientIn sinnvoll ist. Dennoch gab es auch aus vielen Praxisfeldern sehr positive Rückmeldungen von Fachkräften und es entstand in einigen Einrichtungen ein groÿes Bemühen, ehemalige KlientInnen zu erreichen und für die Teilnahme zu motivieren. Auch im Anschluss an die Interviews erreichte mich vereinzelt positives Feed-back über die hilfreiche Wirkung für KlientInnen, ihre Geschichte innerhalb des Interviews erzählt zu haben. Eine weitere Hypothese, warum es so problematisch war, betroene junge Erwachsene für Interviews zu gewinnen, könnte der Wunsch Betroener sein, die mit der Gewalt in Verbindung stehenden Erinnerungen und Gefühle verdrängen zu wollen und die Vorstellung in der adoleszenten Ablösung von den Eltern auch die Gewalterlebnisse zurücklassen zu können. Ebenso ist es möglich, dass viele junge Erwachsene sich selbst als wenig oder nicht betroen einstufen oder die Gewalt bagatellisieren. InterviewpartnerInnen thematisieren immer wieder ihre Unsicherheit, ob das Erlebte wirklich so schlimm war und wann Streitigkeiten als Gewalt zu denieren sind. Solche und ähnliche Überlegungen könnten junge Menschen schon im Vorfeld davon abgehalten haben, sich überhaupt zu melden. Interessant ist auch, dass sich gut dreimal so viele Frauen meldeten als Männer und dass nur ein einziges Interview mit einem jungen Mann tatsächlich zustande kam. Hypothesen für diese Verteilung könnten sein, dass es Frauen sehr viel leichter fällt, über erlebte häusliche Gewalt zu sprechen, da sie als Frau im gesellschaftlichen Bild klar der Opferrolle zugeordnet sind. Spricht man über häusliche Gewalt, so spricht man über Gewalt von Männern gegen Frauen. Männer werden somit häug schon allein durch ihr Geschlecht der Täterrolle zugeordnet. Zudem ist es für Männer aufgrund gesellschaftlicher Vorstellungen von Männlichkeit sehr viel problematischer sich in einer wehrlosen Position zu erleben und davon oen zu berichten, da Opferrollen und Hilosigkeit patriarchalen Vorstellungen von Männlichkeit widersprechen.
4.3.3 Kurzdarstellung der erreichten Stichprobe Die Stichprobe der vorliegenden Untersuchung (für eine Übersicht siehe Tabelle 4.1) umfasst insgesamt fünf Interviews, vier Frauen und ein Mann, im Alter zwischen 17 und 22 Jahren. In drei der sechs Familien der Interview-
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18
18
Lisa
Nina
Karina
Cemil
Anja
Name Alter
Schülerin
Schüler
Studentin
Schülerin
Auszubildende
1 Schwester (jünger)
1 Bruder (jünger)
2 Schwestern (älter und jünger)
2 Schwestern (beide älter)
2 Brüder, 1 Schwester (alle jünger)
Vater (primär), Mutter (reaktiv) Vater (starker Alkoholkonsum) Vater (phasenweise suizidal)
Mutter (psychisch krank)
Stiefvater (drogenabhängig)
Täter
3 Jahre (Alter: 13-16)
12 Jahre (Alter: 0-12)
17 Jahre (Alter: 0-17)
4 Jahre (Alter: 3-7)
12 Jahre (Alter: 4-16)
Zeitraum der Gewalt
Tabelle 4.1: Kurzdarstellung der erreichten Stichprobe
Polnisch (Vater)
Türkisch (beide Elternteile)
-
-
Arabisch (Stiefvater)
Migrationshinter- Tätigkeit Geschwister grund
physisch, psychisch, sexuell
physisch, psychisch
physisch, psychisch
Physisch, psychisch
Physisch, psychisch
Formen von Gewalt
Sehen, Hören, Umgang mit den Folgen
Sehen, Hören, Umgang mit den Folgen
Sehen, Hören, Umgang mit den Folgen
Sehen, Hören, Umgang mit den Folgen
Sehen, Hören, Umgang mit den Folgen
Formen des Miterlebens
4.3 Das Sampling und seine Grenzen
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94
4 Methodik
partnerInnen gab es einen Migrationshintergrund, der Wohnort variierte von ländlichen Gebieten bis hin zu Groÿstädten. In allen Familien wurde physische und psychische Gewalt ausgeübt, in einem Fall berichtete die Interviewpartnerin explizit auch von sexueller Gewalt gegen die Mutter. Der Zeitraum, über den die Gewalt ausgeübt wurde, erstreckte sich zwischen 3 und 17 Jahren. Die Gewalt wurde in drei Fällen vom Vater bzw. Stiefvater gegen die Mutter ausgeübt, in einem Fall war die Mutter der gewaltausübende Elternteil, in einem Fall wird die Gewalt als wechselseitig beschrieben, wobei die physische Gewalt deutlich stärker vom Vater ausging. Alle InterviewpartnerInnen sahen und hörten die gewalttätigen Auseinandersetzungen, waren mit deren Folgen konfrontiert und erfuhren durch Erzählungen der Mutter häug Details der Übergrie, die sie nicht direkt gesehen hatten.
4.4 Datenerhebung mittels halbstrukturierter Leitfadeninterviews Ein halbstrukturiertes Interview ist eine Form mündlicher Befragung, in der versucht wird, spezische Situationen, Ereignisse und Entwicklungen ausgehend von deren Repräsentanz im subjektiven Erleben des Gesprächspartners möglichst ganzheitlich und authentisch zu erfassen, wobei thematische Bereiche und prototypische Fragen in Form eines Interviewleitfadens vorgegeben sind, die je nach Verlauf des Interviews ergänzt und gegebenenfalls modiziert werden sollen (Kruse & Schmitt, 1998, S. 162).
Schon zu Beginn der Studie mit der Fokussierung auf eine Betroenenperspektive, lag die Entscheidung für eine Datenerhebung mittels persönlicher Interviews nahe. Um dem Forschungsinteresse gezielt nachgehen zu können, el die Wahl auf halbstrukturierte Leitfadeninterviews, da diese sowohl biographische Erzählungen ermöglichen als auch eine gewisse Konzentration auf einzelne Fragestellungen erlauben. Diese in der Literatur häug als Dilemma bezeichnete Gradwanderung zwischen dem Herstellen einer möglichst natürlichen Gesprächssituation, die spontane Erzählungen des Interviewten begünstigt und der unvermeidbaren Steuerung des Gesprächs durch das Erkenntnisinteresse und die daraus entstandenen gezielten Fragen des Forschers (vgl. Hopf, 1978), erweist sich für die vorliegende Forschungsarbeit jedoch auch als äuÿerst hilfreich.
4.4 Datenerhebung mittels Interviews
95
In Bezug auf das Thema häuslicher Gewalt erscheint es sinnvoll, die biographischen Erzählungen der InterviewpartnerInnen durch einen Leitfaden (vgl. Anhang 9) zu strukturieren und einzugrenzen, um einerseits nah an Fragestellung und Erkenntnisinteresse zu bleiben, andererseits jedoch auch den InterviewpartnerInnen Sicherheit zu vermitteln. 21 Neben der haltgebenden Struktur durch einen Leitfaden, war es jedoch ebenso wichtig, die Erzählungen so oen zu gestalten, dass die InterviewpartnerInnen die Gelegenheit hatten, ihre Lebensgeschichte und ihre Perspektive der Familiengeschichte zu schildern und das Gespräch auf diese Weise mit steuern zu können. Um genau dieses Gleichgewicht zwischen haltgebender Struktur und Fokussierung sowie oener und narrativer Gesprächssituation zu erreichen, stellen halbstrukturierte Interviews die passende Methode dar. Im Unterschied zum oenen Interview ist der Interviewer beim halbstrukturierten Interview an einen Leitfaden gebunden, in dem festgelegt wird, welche Informationen erhoben werden sollen. Im Unterschied zum vollstrukturierten Interview hat er die Aufgabe, auf ein im Idealfall gleichberechtigtes Gegenüber zu reagieren und den Gesprächsverlauf an eine sich aktuell entwickelnde Kommunikationssituation anzupassen (Kruse & Schmitt, 1998, S. 162).
Ein Nachteil von Leitfadeninterviews ist sicherlich, dass das Erzählen durch die Fokussierung auf eine Fragestellung eingeschränkt wird, d.h. die erzählten Biographien nicht vollständig sondern problemzentriert und damit selektiv sind, was zur Ausblendung wichtiger Themen führen kann. Insbesondere bei der Datenerhebung mit einmaligen Interviews fällt eine solche Entscheidung ins Gewicht (Flick, 1991a, S. 152). Dieser prinzipielle Nachteil kann jedoch für das Thema häuslicher Gewalt auch als Vorteil für die InterviewpartnerInnen gewertet werden, da es möglich ist, absolut tabuisierten oder mit starken Aekten besetzten Themen oder Fragen aus dem Weg zu gehen. Fehlende oder durch kurze bzw. ausweichende Antworten umgangene Themen können dann in der Auswertung nachträglich gesondert analysiert werden. 21 Ein geschützter und strukturierter Rahmen ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer möglichen Traumatisierung oder auch Traumafolgestörung von Bedeutung. Traumatische Erlebnisse gehen einher mit dem Verlust von Kontrolle, Struktur und dem Gefühl von Hilosigkeit und Chaos. Im Umgang mit Traumata ist es daher von groÿer Bedeutung, einen möglichst groÿen Kontrast zur traumatischen Situation herzustellen, d.h. im Fall der Interviews, den InterviewpartnerInnen über Struktur Sicherheit zu vermitteln, in der Oenheit des Gesprächs jedoch die Kontrolle auch so weit als möglich bei den Interviewten selbst zu belassen. Näheres zum Thema der Traumatherapie siehe beispielsweise: Reddemann (2001); Huber (2007, 2006).
96
4 Methodik
Ebenso können in der Auswertung Stellen in mehreren Interviews miteinander verglichen werden, weil sie durch die gleiche Frage des Leitfadens evoziert wurden (Fuchs-Heinritz, 1998, S. 11). Auch und besonders vor dem Hintergrund theoretischer Vorannahmen, die aufgrund des vorliegenden Wissens und der vorhandenen praktischen Erfahrung in das Forschungsdesign einossen, erschien die Erstellung eines Interviewleitfadens hilfreich. Witzel (1985) verwirft das Bild vom Forscher als tabula-rasa (. . . ), der die jeweiligen Äuÿerungen der Individuen sozusagen vorbehaltlos in sich aufnimmt (S. 231) und erhebt den Wissens- und Erfahrungshintergrund des Forschers ebenso wie dessen Oenlegung und Systematisierung zu einem wichtigen Teil seines methodischen Konzepts. Der Interviewleitfaden entsteht vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung des Forschers mit der von ihm wahrgenommenen gesellschaftlichen Problemstellung (hier dem Erleben häuslicher Gewalt) und seinen theoretischen Vorannahmen. Die Offenheit und Reexionsbereitschaft des Forschers ist an dieser Stelle von besonderer Bedeutung. Schon in der Entstehung des Interviewleitfadens ist es notwendig, die hinter der Entstehung der Fragen liegenden Annahmen und Konzepte zu identizieren, um sich vor diesem Hintergrund den Interviews möglichst oen und neutral zuwenden zu können.
4.4.1 Kontaktaufnahme und Rahmenbedingungen der Interviews Exploration und Interview sind (..) als Kommunikationsform anzusehen, die durch ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen den Partnern gekennzeichnet ist. Zur Herstellung dieses Vertrauens sind Vorgespräche notwendig, in denen das Interesse der Interviewer an der Lebenserfahrung der Gesprächspartner glaubhaft vermittelt wird (Thomae, 1998, S. 77).
Die Kontaktaufnahme erfolgte mittels der zuvor beschriebenen Informationsbriefe, die betroenen jungen Erwachsenen von Einrichtungen der Frauenund Jugendhilfe übergeben wurden. Die jungen Erwachsenen meldeten sich entweder per Telefon oder E-mail bei mir und es folgte ein erstes telefonisches Informationsgespräch, in dem in den meisten Fällen bereits der Termin für das Interview vereinbart wurde. Wie bereits erwähnt, war es mir immer wichtig, die freie Entscheidung zur Teilnahme zu betonen und jederzeit Rückzugsmöglichkeiten oen zu lassen, die auch von einigen Interessierten genutzt wurden.
4.4 Datenerhebung mittels Interviews
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Es wurde Wert darauf gelegt, vor jedem Interview noch einmal ein kurzes Gespräch zu führen, um auf die Möglichkeiten, das Interview abzubrechen, Pausen zu machen oder am Ende Passagen aus der Auswertung streichen zu lassen, hinzuweisen. Gerade bei heiklen Themen, wie dem der häuslichen Gewalt, ist es besonders notwendig, dass dem Interview ein ausführliches Vorgespräch vorausgeht, in dem noch einmal Erkenntnisinteresse und Vorgehen im Interview besprochen und sowohl Abbruchsmöglichkeiten als auch die Kontrolle des Interviewten über den Inhalt erklärt werden (vgl. Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V., 1998, S. 10). Durchgeführt wurden die Interviews in Beratungsstellen und Frauenhäusern. Vier der InterviewpartnerInnen war der Raum zuvor nicht bekannt. Ein Interview fand im Raum einer Beratungsstelle statt, in der die Interviewpartnerin aktuell betreut wurde, was sie selbst als angenehm beschrieb. Bis auf ein Interview, das durch extreme Hitze erschwert wurde, verliefen alle Interviews ohne Störungen und waren zwischen 90 und 150 Minuten lang. Keiner der InterviewpartnerInnen machte von den Möglichkeiten Gebrauch, das Interview vorzeitig abzubrechen oder im Anschluss Passagen von der Auswertung auszuschlieÿen. Alle erklärten sich mit der anonymisierten Verwendung ihrer Erzählungen in dieser Arbeit einverstanden.
4.4.2 Interviewgestaltung und Einsatz des Familienbretts Der Einstieg in die Interviews erfolgte immer mit der Eingangsfrage bzw. -bitte, sich kurz vorzustellen und die aktuelle Lebenssituation zu beschreiben. Bis auf ein Interview, in dem die Interviewpartnerin sofort in Erzählungen ihrer Vergangenheit einstieg, gestaltete sich die Annäherung an die Erinnerungen aus der Kindheit mit Hilfe eines Familienbrettes. 22 Die InterviewpartnerInnen wurden gebeten, mit Hilfe der Figuren die einzelnen Mitglieder ihrer Familie zur Zeit ihrer Kindheit symbolisch zu repräsentieren, kurz vorzustellen und auf dem Brett aufzustellen, so wie es ihrem Gefühl nach der Familiensituation in der Kindheit entspricht. 22 Die Wurzeln der Familienbretter sind in der Systemischen bzw. Familientherapie verortet, dort wurden unterschiedlichste Figurenskulpturverfahren, zu denen auch das Familienbrett zählt, entwickelt, um familiendynamische Fragen und Prozesse angemessen dokumentieren und erforschen zu können. Das Familienbrett selbst wurde 1978 in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Forschungsgruppe um Kurt Ludewig an der Universitätsklinik Hamburg entwickelt und zunächst in Forschungszusammenhängen erprobt. Es stellte sich heraus, dass diese Methode für Beratung und Therapie mit Familien ebenso hilfreich war wie für Supervision und Organisationsberatung (vgl. Ludewig, 2000).
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4 Methodik
Abbildung 4.1: Das eingesetzte Familienbrett vor der Aufstellung
Familienbretter existieren in unterschiedlichsten Ausführungen (vgl. Ludewig, 2000). Das hier verwendete Familienbrett (vgl. Abb. 4.1) ist eine sehr einfache Variante, bestehend aus einem quadratischen, in der Mitte einmal zusammengesetzten Holzbrett sowie Figuren in zwei Formen (rund, eckig), zwei Gröÿen und einem Set gleich groÿer Figuren in unterschiedlichen Farben. Es wurde bewusst ein sehr einfaches Brett gewählt, um viel Raum für Eigengestaltung bzw. Projektionen und Evokationen zu lassen. Die Methode des Familienbrettes ermöglicht den Interviewpartnern ein Bild ihrer bis dahin meistens nicht ausformulierten Ansichten über Struktur und Funktionsweise des betreenden Systems [hier ihrer Familie, Anm.d.V.] zu entwerfen und dabei ihren subjektiven Vorstellungen erstmalig eine mitteilbare Realität zu verleihen (Ludewig, 2000, S. 23). Insbesondere in retrospektiven Interviews eignet sich das Familienbrett damit sehr gut, um biographische und familiengeschichtliche Ereignisse zu rekonstruieren und einer erneuten Bewertung aus heutiger Sicht zugänglich zu machen (vgl. Ludewig, 2000, S. 35). Für die vorliegende Forschungsarbeit bot das Familienbrett die Möglichkeit, die Familienkonstellation der Kindheit zu rekonstruieren, in der Rückschau zu beschreiben und den heutigen Umgang damit sichtbar zu machen. Zum anderen ist die Aufstellung der Familie eine wertvolle Strukturhilfe und ein guter Überblick für die Interviewerin. Auf diese Weise konnten in-
4.4 Datenerhebung mittels Interviews
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teressante Konstellationen hinterfragt, unterstützende Personen im Umfeld identiziert und in ihrer Bedeutung erfragt werden. Neben diesen die Kommunikation über soziale Beziehung unmittelbar fördernden Aspekten des Familienbrettes war ein weiterer wichtiger Grund für dessen Einsatz die Unterstützung, die diese Methode den InterviewpartnerInnen bietet, um eine gewisse emotionale Distanz zum Geschehenen aufzubauen. Das Familienbrett erlaubt ein Sprechen über die auf dem Tisch aufgestellte Familie und stellt insofern eine Möglichkeit dar, die eigene Familie auf das Brett zu projizieren, über die dort aufgestellten Menschen zu sprechen und mehr Distanz zum eigenen Erleben aufzubauen. Auf diese Weise erönet das Familienbrett gewissermaÿen eine virtuelle Kommunikationsebene, die sich von der Ebene realer Personen deutlich unterscheidet und die emotionale Distanz zu wahren hilft (vgl. Ludewig, 2000, S. 14). Diese Möglichkeit der emotionalen Distanzierung ist insbesondere vor dem Hintergrund einer möglichen Traumatisierung durch die gewalttätigen Vorfälle in der Familie von besonderer Bedeutung. Innere Distanzierung und das Sprechen über etwas sind wichtige Methoden und Haltungen aus der Traumatherapie, hier beispielsweise in Form von Beobachter- oder ScreeningTechniken23 , die Traumatisierten helfen, sich vor überutenden Flashbacks und Retraumatisierungen zu schützen. Gedanken und Überlegungen der InterviewpartnerInnen während der Aufstellung wurden erfragt und aufgezeichnet, auällige Konstellationen und Besonderheiten in der Wahl der Figuren wurden thematisiert, um die subjektiven Bedeutungen zu erfragen. Ausgehend von der Aufstellung des Familienbrettes begannen alle InterviewpartnerInnen von ihrer Familie und ihrer Kindheit zu erzählen und schnitten dabei bereits die meisten Themen des Interviewleitfadens mit an. Der weitere Verlauf des Interviews wurde bewusst möglichst narrativ gehalten, um den InterviewpartnerInnen sowohl die Reihenfolge von Erzählungen und Themen als auch deren Tempo zu überlassen. Nachfragen wurden an in23 Die Beobachter- und die sehr ähnliche Screening-Technik zählen in der Traumatherapie zu den schonendsten Konfrontationstechniken mit dem Trauma. Sie basieren auf der Fähigkeit jedes Menschen, sich selbst zu beobachten und aus der Perspektive eines unbeteiligten Dritten Erinnerungen noch einmal zu betrachten oder zu erzählen. Das sprechen über sich selbst in der dritten Person ermöglicht ebenso wie die imaginative Vorstellung, eigene Erinnerungen auf einem Bildschirm in angemessener Entfernung zu betrachten, eine emotionale Distanz, die es ermöglicht, die damit verbundenen Emotionen stärker zu kontrollieren, was den maximalen Kontrast zur traumatischen Situation darstellt (die Überutung durch Hilosigkeit und Todesangst) und somit eine Bearbeitung und Integration ermöglicht. Für detailiertere Informationen dazu siehe: Reddemann (2001); Huber (2007, 2006).
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4 Methodik
teressanten und missverständlichen Stellen gestellt, Themen oder Fragen aus dem Interviewleitfaden, die in der freien Erzählung der InterviewpartnerInnen nicht aufgetaucht waren, wurden erst am Ende des Interviews gestellt, was nur in Einzelfällen explizit notwendig war. Während der gesamten Durchführung der Interviews war es mir besonders wichtig, auf Reaktionen und Benden der Betroenen zu achten, um Überforderungen oder Retraumatisierungen zu verhindern. Am Ende der Interviews stand immer ein Nachgespräch, das wie oben beschrieben sicherstellen sollte, dass die Betroenen gut in ihren Alltag zurückkehren konnten und mit der Verwendung des Interviews in der Auswertung einverstanden sind (vgl. Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V., 1998, S. 10).
4.4.3 Tonbandaufnahme und Transkription Schon in der Ausschreibung der Interviews war erklärt worden, dass diese auf Tonband aufgenommen werden würden. Nach einem ersten kurzen Vorgespräch waren alle InterviewpartnerInnen damit einverstanden, das Gespräch aufzuzeichnen. Nachdem die Beforschten zunächst über Sinn und Zweck der Aufzeichnung aufgeklärt wurden und ihre grundsätzliche Einwilligung gegeben haben, hot der Forscher, daÿ sie das mitlaufende Gerät einfach vergessen und das Gespräch natürlich` abläuft auch an heiklen Punkten (Flick, 1991a, S. 161).
Es zeigte sich in allen Interviews, dass das Aufnahmegerät schon nach wenigen Minuten keine sichtbaren Auswirkungen auf die Gesprächssituation hatte. Am Ende des Interviews, als das Tonbandgerät ausgeschaltet wurde, stand immer die Frage nach der aktuellen Bendlichkeit, den weiteren Planungen des Tages etc., um die Stabilität der InterviewpartnerInnen zu überprüfen und ggf. im Interview aufgetretene Belastungen noch besprechen zu können. Auch gab es zu diesem Zeitpunkt immer noch einmal die Frage an die Betroenen, ob es ein Thema im Interview gegeben habe, welches sie lieber aus der Forschungsarbeit ausklammern und somit aus dem auswertbaren Transkript streichen lassen möchten. Alle InterviewpartnerInnen waren nach dem Interview einverstanden, dass alles Gesagte anonymisiert in die Auswertung einieÿen kann.
4.5 Auswertung
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Insgesamt waren die Rückmeldungen aller TeilnehmerInnen positiv: sie hätten alles erzählen können und wären gehört worden und konnten zufrieden die Interviewsituation verlassen. Um alle Beobachtungen und Eindrücke des Interviews zu dokumentieren, wurden nach jedem Interview ausführliche Postskripte angefertigt. Insbesondere die Atmosphäre des Gesprächs, Beobachtungen bezüglich nonverbaler Kommunikation sowie Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene wurden ebenso verschriftlicht wie Inhalte der Vor- und Nachgespräche. Die Tonbandaufnahmen wurden alle vollständig nach einfachen Transkriptionsregeln wörtlich transkribiert. Dabei wurden insbesondere emotionale Äuÿerungen und Geräusche ebenso wie Gesprächspausen detailliert mit aufgenommen, da dies für den Auswertungsprozess von groÿer Bedeutung war. Ebenso sollten Dialekt, Stotterer und Wiederholungen für die Auswertung explizit erhalten bleiben. Gleichzeitig wurden alle persönlichen Daten der Interviewten anonymisiert. Nach dem Erstellen der Transkripte wurden die Tonbandaufnahmen gelöscht, um die mit ihnen verbundene Gefahr der Aufhebung der Anonymität (vgl. Flick, 1991a) auszuräumen.
4.5 Auswertung Für die im Anschluÿ an Mead entwickelte Konzeption des Symbolischen Interaktionismus gilt, daÿ sich das Sinnverstehen auf Erfahrungsund Symbolisierungsprozesse einer Gruppe bezieht und daÿ diese nur von ihr selbst her (und nicht anhand apriorischer, von auÿen an sie herangetragener Kategorien) erfaÿt werden müssen. Das bedeutet, daÿ die Forschung nicht hypothesentestend von auÿen diesen Prozeÿ erklären darf, sondern in einer beschreibenden und hypothesengenerierenden Einstellung an ihm selbst teilnehmen muss. Dabei wird sich die Forschung aufgrund möglicherweise vorsymbolischer Sinnkomplexe nicht allein auf die Methode des Interviews verlassen können, sondern auch durch formelle und informelle Beobachtungen Daten sammeln (Graumann et al., 1991, S. 71 f ).
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4 Methodik
4.5.1 Auswertung der Aufstellungen auf dem Familienbrett Neben der oben beschriebenen Funktionen im Interview (Struktur, Überblick und Distanzierung) sollte das Familienbrett von Anfang an in die Auswertung mit einieÿen. Auch in Bezug auf die Auswertung wurde bewusst ein sehr einfaches Familienbrett gewählt, das dem Brett von Ludewig (2000) sehr ähnlich ist und daher in seiner Nutzung und Auswertung ähnlich gehandhabt werden kann. Besonderheit des in dieser Forschung genutzten Familienbrettes ist die Teilung der Grundäche in zwei Hälften, die ursprünglich aus pragmatischen Gründen zustande kam, um die Holzplatte besser transportieren zu können. Dennoch bleibt die leicht wellenförmige vertikale Linie in der Mitte des Brettes auch nach dem Zusammensetzen sichtbar und für die AufstellerIn nutz- oder interpretierbar. In der Auswertung der Aufstellungen ist es möglich, diese Linie zur Interpretation heranzuziehen, als Trennungsoder Abstandslinie zu verstehen und wurde als solche in den Interviews auch häug benannt und genutzt. Die Frage, inwieweit die von Beginn an vorhandene Linie die AufstellerInnen beeinusst oder suggestiv eine Trennung der Hälften vermittelt hat, kann nicht abschlieÿend beantwortet werden und fordert in der Auswertung einen genauen Vergleich mit den im Transkript dokumentierten Kommentierungen der Aufstellung durch die InterviewpartnerInnen. In der Auswertung ist daher sehr darauf geachtet worden, diese Linie nur im Zusammenhang mit Beschreibungen oder Aussagen der Betroenen zu interpretieren und in die Auswertung aufzunehmen. Für die Interpretation und Auswertung von Aufstellungen auf dem Familienbrett gibt es laut Ludewig (2000) keine festen Regeln. Das Vorgehen in der Auswertung ist abhängig vom Untersuchungsziel und somit variabel zu gestalten (S. 20). Als mögliche variable Merkmale, die allein oder in Kombination auf Relationen zwischen den Figuren schlieÿen lassen, nennt Ludewig (2000):
• Entfernung zwischen den Figuren, • Blickrichtung,24 • Platzierung auf dem Brett, 24 Die in dieser Untersuchung genutzten Figuren besitzen zum Teil vereinfacht dargestellte und dünn aufgezeichnete Gesichter, die jedoch häug völlig übersehen werden. Nachdem die Blickrichtung und das angedeutete Gesicht der Figuren in keinem Interview thematisiert wurde, ieÿt dies nicht in die Auswertung der Aufstellungen mit ein, da davon ausgegangen werden kann, dass die unauälligen Gesichter in den meisten Fällen übersehen wurden.
4.5 Auswertung
103
• Reihenfolge der Aufstellung auf das Brett, • sowie die resultierende Gestalt der Anordnung (vgl. Ludewig, 2000, S. 21). Diese Merkmale dürfen jedoch nicht als objektiv interpretierbar gesehen werden, da die Methode des Familienbrettes, gerade in einer so einfachen und oenen Form wie der hier genutzten, individuelle Projektionen und Evokationen hervorruft. Die Zeichen des FB [Familienbrettes, Anm.d.V.] haben an sich keine eindeutige Bedeutung, sie sind allenfalls Medium, mit dessen Hilfe Sinn erzeugt werden kann. Daher ist eine klärende Kommunikation über die jeweils gewählten Bedeutungsgebungen angebracht, will man den Grad an Verständlichkeit der Aufstellung erhöhen (Ludewig, 2000, S. 24).
Um auch im Zuge der Auswertung möglichst nah am subjektiven Erleben und Erinnern der Betroenen bleiben zu können, wurden schon im Interview auällige Figuren oder Positionen thematisiert und hinterfragt. In der Auswertung selbst wurde das Familienbrett immer im Zusammenhang mit der Transkription des Interviews, also den Aussagen und Erzählungen der Betroenen, betrachtet, um besondere Gewichtungen oder auch Widersprüche herausarbeiten zu können. Die Auswertung der in den Interviews aufgestellten und besprochenen Familienbretter erfolgte in diesem Fall nicht nach festen Regeln oder Kategorien, sondern vielmehr nach oenen Fragen, die sich aus der Kombination des Erkenntnisinteresses der Forschung mit einigen der eben beschriebenen Merkmalen ergaben:
• Wie beschreiben junge Erwachsene die Familie ihrer Kindheit, bilden sich darin die Atmosphäre und die gewalttätigen Auseinandersetzungen ab? ⇒ Welche auälligen Konstellationen, Allianzen oder Distanzen zeigen sich in der Aufstellung der Figuren und wie werden diese beschrieben? • Wie sehen sich die InterviewpartnerInnen selbst im sozialen System ihrer Familie, welchen Platz nehmen sie ein und wie ist die Konstellation um sie herum beschaen? ⇒ Welche Figur stellt die AufstellerIn selbst dar, wo wird sie zu welchem Zeitpunkt aufgestellt und kommentiert?
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4 Methodik
• Wie eng, weit oder gespalten zeigt sich das System der gewaltbelasteten Familie aus Sicht der jungen Erwachsenen in ihrer Kindheit? ⇒ Wie verteilen sich die Figuren auf dem Brett, welche Bedeutung gibt die AufstellerIn dem Abstand der Figuren oder der Mittellinie des Familienbrettes? • Gab es hilfreiche Menschen auÿerhalb des Familiensystems und wie nah oder distanziert erinnern die jungen Erwachsenen diese? ⇒ Gibt es Figuren auf dem Brett, die nicht zum Familiensystem selbst gehören, wie nah oder fern stehen sie der Familie und der AufstellerIn und wie werden sie beschrieben oder kommentiert? Die Fotos der Familienbretter wurden gemeinsam mit den Transkripten der auf die Aufstellung des Familienbrettes bezogenen Teile des Interviews vor dem Hintergrund dieser Fragestellungen gesondert betrachtet, in Forschungskolloquium und Kleingruppe diskutiert und ausgewertet.
4.5.2 Zirkuläres Dekonstruieren Literatur zum kindlichen Erleben und den Folgen häuslicher Gewalt für die weitere Entwicklung bezieht sich bislang wenig auf die Perspektive der Betroenen und ist weitgehend atheoretisch (Kindler, 2002, S. 26). Vor diesem Hintergrund el nicht nur die Entscheidung für ein qualitatives Forschungsdesign, sondern auch die Auswahl der Grounded Theory 25 als methodische Grundlage der Auswertung. Die Forschungslogik der Grounded Theory (vgl. z.B. Strauss & Corbin, 1996; Strauss, 1998) fordert eine oene, theoriegenerierende Herangehensweise an das Forschungsfeld. Dabei wird dem Feld Priorität gegenüber theoretischen Annahmen eingeräumt. Diese sollen nicht an den untersuchten Gegenstand herangetragen werden, sondern in der Auseinandersetzung mit dem Feld und darin vorndlicher Empirie entdeckt und als Ergebnis formuliert werden (Flick, 1991a, S. 150).
25 Grundlage der Grounded Theory (übersetzbar in etwa mit gegenstandsnaher Theoriebildung) bildet das Werk von Glaser & Strauss (1967) und ist ihr Vorschlag für eine methodologische Verallgemeinerung (..) sozialwissenschaftlicher Forschungspraktiken (Breuer, 1996, S. 16). Strauss & Corbin (1996) erarbeiteten eine Formalisierung der Grounded Theory als methodisches Regelwerk mit klaren Handlungsanweisungen.
4.5 Auswertung
105
Theoretische Konzeptionen werden also nicht in hypothesentestender Form an das Datenmaterial herangetragen, sondern werden nachvollziehbar aus den erhobenen Daten abgeleitet bzw. konstruiert und überprüft. Zwar beginnt die Untersuchung mit einer Fragestellung bzw. einer Leitidee, jedoch verläuft die Auswertung der erhobenen Daten immer unter dem Prinzip der Oenheit, so dass im Verlauf der Datenerhebung ebenso wie während der Auswertung, immer neue theoretische Bezugsrahmen aus dem Material selbst entstehen, an Bedeutung gewinnen oder auch verworfen werden können. Der Forscher lässt sich dabei von der Praxis, d.h. seinem Untersuchungsfeld belehren (Wiedemann, 1991, S. 443). Das zirkuläre Dekonstruieren nach Jaeggi et al. (1998) baut auf eben dieser Forschungslogik der Grounded Theory auf und stellt somit eine überarbeitete und teilweise gekürzte Version (Mruck & Mey, 1998, S. 295) dieser dar. Aufgrund der klaren Struktur und Vorgehensweise des zirkulären Dekonstruierens bot sich dies als erster Auswertungsschritt an, um aus dem gewonnenen Datenmaterial erste Kategorien und Meta-Konstrukte zu generieren. Die Methode des zirkulären Dekonstruierens besteht im wesentlichen aus zwei Phasen: der Auswertung der Einzelinterviews und dem systematischen Vergleich (Jaeggi et al., 1998), wovon die erste Phase für die vorliegende Arbeit von besonderer Bedeutung war. In dieser ersten Phase schlagen die Autoren vor, jedes Interview nach folgender Vorgehensweise zu bearbeiten:
•
Formulierung eines Mottos Für jedes Interview soll gewissermaÿen eine Überschrift gefunden werden, die den Kern des Inhalts widerspiegelt. Dies kann ein Zitat aus dem Interview selbst ebenso sein wie eine neu formulierte Aussage oder Beschreibung. Dieses Motto wurde häug bereits kurze Zeit nach dem Interview in Form einer Überschrift vergeben.
•
Zusammenfassende Nacherzählung In einer Nacherzählung werden alle relevanten Inhalte des Interviews möglichst kurz zusammengefasst und nacherzählt. Durch diese Kürzung werden bereits erste inhaltliche Schwerpunkte gesetzt, die es zu reektieren gilt (vgl. Jaeggi et al., 1998, S. 8). In der vorliegenden Arbeit zeigte sich nach der Zusammenfassung der ersten Interviews, dass diese Nacherzählung auf den Versuch fokussierte, die Lebensgeschichten der InterviewpartnerInnen in chronologischer Reihenfolge aus dem
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4 Methodik
Interviewmaterial zu rekonstruieren, um einen Überblick über diese zu erhalten, der sich in tabellarischer Form für die weitere Auswertung als hilfreich erwies. Der extremen Kürzung der Interviews durch die zusammenfassende Nacherzählung elen Details zum Opfer, die in späteren Auswertungsschritten jedoch wieder als enorm wertvoll in Erscheinung traten. Infolgedessen habe ich die zusammenfassende Nacherzählung in der Auswertung der weiteren Interviews durch die gezielte Erstellung eines Lebenslaufs in tabellarischer Form ersetzt.
•
Erstellen einer Stichwortliste In einem weiteren Schritt schlagen Jaeggi et al. (1998) vor, eine Liste aller auälligen, gehaltvollen Worte oder Begrie des Textes (S. 9) anzufertigen, um den Inhalt des Interviews weiter zu straen und überschaubar zu machen. Diese, für Interviews von mindestens 1,5 Stunden Dauer, extrem langwierige Arbeit wurde für alle Interviews vollständig durchgeführt, da sie nicht nur die Inhalte des Interviews zu sortieren half, sondern auch erste sprachliche Besonderheiten zum Vorschein brachte, die für die weitere Auswertung hilfreich waren.
•
Erstellen eines Themenkatalogs Im folgenden Schritt werden die aus dem Interview gewonnenen Stichworte unter Oberbegrien subsummiert und abstrakter formulierten Themenbereichen zugeordnet. In diesem Arbeitsschritt gewinnen insbesondere in der Formulierung der Oberbegrie und Themenbereiche, die sogenannten sensibilisierenden Konzepte an Einuss. Jaeggi et al. (1998) verstehen darunter alle (Vor-)Urteile, Erlebnisse, Meinungen und Theoriebestandteile, die die Urteilsbildung der Auswertenden wesentlich beeinussen (S. 10). Im Fall dieser Untersuchung waren das die Kenntnisse aus dem vorangegangenen Literaturstudium ebenso wie praktische Erfahrungen aus der Arbeit mit Kindern, die häusliche Gewalt erlebt hatten. Zudem kamen im Verlauf des Auswertungsprozesses immer wieder neue theoretische Konstruktionen hinzu, die hilfreich erschienen, das vorliegende Interviewmaterial verstehen und darstellen zu können.
•
Paraphrasierung Unter Paraphrasierung verstehen Jaeggi et al. (1998) sowohl die Zusammenfassung einzelner Themenbereiche zu Meta-Themen als auch die Ausdierenzierung einzelner Oberbegrie (vgl. S. 12). Die Inhalte
4.5 Auswertung
107
und Themen des Interviews werden hier mit eigenen Worten zusammengefasst oder ausdierenziert und dabei durch eigene Interpretationen und Eindrücke ergänzt. Im Schritt der Paraphrasierung entstanden für diese Untersuchung kurze Texte zu den einzelnen Themenbereichen, die die Inhalte und Aussagen der InterviewpartnerInnen nicht nur übersichtlicher darstellten, sondern auch wesentlich zum Verständnis des gesamten Interviews beitrugen. Auf diese Weise führten Beschreibungen einzelner Themenbereiche eines Interviews auch zu neuen sensibilisierenden Konzepten, die für die weitere Auswertung von Bedeutung waren.
•
Zentrale Kategorien eines Interviews Aus den bisherigen Arbeitsschritten und deren Ergebnissen sollen im letzten Schritt der Einzelauswertung zentrale Kategorien formuliert werden, die dann zur Vergleichbarkeit der Interviews untereinander beitragen (vgl. Jaeggi et al., 1998, S. 13f). In der Auswertung der einzelnen Interviews der vorliegenden Untersuchung entstanden sowohl Kategorien, die sehr nah an der Fragestellung lagen und somit Ergebnisse brachten, die in den Interviews erfragt werden sollten. Aber auch Kategorien, die zunächst überraschten und so nicht erfragt worden waren. Diese zusätzlichen Kategorien, so zeigte sich in einem ersten Vergleich der Interviews, waren sehr unterschiedlich und zum Teil auch gegensätzlich.
Die zweite Phase der Auswertung nach der Methode des zirkulären Dekonstruierens wurde innerhalb dieser Untersuchung nur ansatzweise durchgeführt. Der Vergleich der Kategorien aller Interviews in einer Tabelle, wie ihn Jaeggi et al. (1998) vorschlagen, bestätigte den ersten Eindruck aus der Einzelauswertung. Es zeigten sich in allen Auswertungen Kategorien, die die im Interview erfragten Themen wie das Erleben der Gewalt, angewandte Coping-Strategien, die Beziehung zu den Eltern und das eigene Selbstbild beschrieben. Zusätzlich jedoch zeigten sich in allen Interviews Kategorien, die nicht in diese durch die Fragestellung der Forschung bereits angedachten theoretischen Konstrukte einzuordnen waren. Diese zum Teil sehr unterschiedlichen Kategorien schienen alle auch in Interaktion, Kommunikation und dem Eindruck des Interviews auf mich selbst aufzutauchen und sollten daher in weiteren Auswertungsschritten noch einmal gezielt untersucht werden.
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4 Methodik
4.5.3 Selbstreexivität als Methode In einem weiteren Auswertungsschritt sollte dann der Aspekt der Interaktion zwischen Forscherin und InterviewpartnerIn gezielt untersucht werden. Daÿ der Forscher als zentrales kommunikatives Erkenntnisinstrument` bei der qualitativen Forschung nicht als Neutrum` im Feld und im Kontakt mit den (zu befragenden oder zu beobachtenden etc.) Subjekten agieren kann, liegt auf der Hand. D.h. der Forscher nimmt eine bestimmte Rolle im Feld ein oder bekommt diese (teils ersatzweise und/oder unfreiwillig) zugewiesen (Flick, 1991a, S. 154).
Eine gute Grundlage für die Auswertung sowohl impliziter als auch expliziter Rollenverteilungen im Interview liefern Jensen & Welzer (2003). Die Autoren schlagen die Erweiterung von Auswertungsmethodiken um den gezielten Blick auf die situativ gegebenen Beiträge aller Akteure (Jensen & Welzer, 2003, S. 4) vor. D.h. in der Analyse einer Sequenz setzen sie zusätzlich den Fokus auf die Klärung der Funktion eines Interakts in der Verteilung der Interaktionsrollen (S. 4) und konzentrieren sich dabei nicht nur auf die Aussagen und Erzählungen der Interviewten, sondern analysieren die Interaktion als Paarsequenz mit Aktionen und Reaktionen auf beiden Seiten. Die zugrundeliegende Leitfrage der Analyse lautet folglich: Wie entwickelt sich situativ die Interaktion? (Jensen & Welzer, 2003, S. 4). Neben der intensiven Untersuchung der Rollenverteilung regen Jensen & Welzer (2003) an, Interaktionsprozesse auch deshalb gezielt in die Auswertung einieÿen zu lassen, da sich häug im Dialog des Interviews eben die gesellschaftlichen Phänomene zeigen, die untersucht werden sollen. Für ihre eigene Forschung im Themenbereich des Nationalsozialismus schreiben Jensen & Welzer (2003): In den Interviews reproduzieren sich doch notwendig genau jene Gesprächsrestriktionen, Stereotype und Tabuisierungen, die die gesellschaftliche Kommunikation über den Nationalsozialismus allgemein prägen (S. 8).
Dies kann durchaus in ähnlicher Form für die Thematik häuslicher Gewalt konstatiert werden. Ebenso wie in Studien zum Nationalsozialismus geht es auch bei der Thematik häuslicher Gewalt häug um Schuld, Verstrickung und Rechtfertigung sowie Vermutungen, Anklagen und Verurteilungen. Es gibt immer Täter und Opfer, es gibt immer moralisch vermeintlich richtiges und falsches Verhalten und von Auÿenstehenden häug sowohl Unverständnis als auch Mitleid. Daher sind in einem Interview, das eine biographische Erzählung des Aufwachsens in einer von häuslicher Gewalt geprägten Familie
4.5 Auswertung
109
zum Thema hat, immer auch explizite, implizite und gegenseitig antizipierte Gesprächserwartungen und Regeln von groÿer Bedeutung. Gespräche über häusliche Gewalt sind immer wieder auch von Tabus und Sprechverboten geprägt und in allen Kontexten von moralischen Bewertungen, Schuld- und Verantwortungsfragen ebenso beeinusst wie von individuellem Erleben und der eigenen Rolle. In einem solchen Themenkomplex existieren zahlreiche implizite und explizite Regeln, beispielsweise darüber, wie über bestimmte Themen gesprochen wird und welches Verhalten wie bewertet werden muss. Ebenso spielen sehr individuelle Formen des Erlebens und emotionale Reaktionen, die wiederum diese Regeln beeinussen, stützen oder ihnen widersprechen können, eine besondere Rolle. Interviewsequenzen, in denen diese Rollenzuschreibungen, formalen und inhaltlichen Interaktionsnormen oder gesellschaftliche Tabus zum Ausdruck kommen, wurden in der Methodenliteratur häug als Störungen des Forschungsprozesses oder Verunreinigung der Daten betrachtet, da in solchen Sequenzen häug das Postulat der Neutralität des Interviewers als nicht eingehalten erscheint. Jensen & Welzer (2003) lehnen diesen Anspruch auf Neutralität als für eine qualitative Datenerhebung mittels Interview nicht umsetzbar ab und fordern anstelle dessen eine selbstkritische Reexion der Interaktionsprozesse als Grundprinzipien der Kommunikation. Die vermeintliche Beeinträchtigung kann so im Auswertungsprozess produktiv im Sinne des Erkenntnisinteresses genutzt werden. Diese ergänzende Perspektive auf die Kommunikation und Interaktion stellt einen weiteren wichtigen Schritt in der Auswertung der vorliegenden Interviews dar, weil gerade bei einem hoch moralisch besetzten und tabuisierten Thema wie dem der häuslichen Gewalt die Reaktionen der ForscherInnen immer wieder auch direkte Auswirkungen auf die weiteren Äuÿerungen der Interviewten haben und somit eine wichtige Erkenntnisquelle darstellen, die eine zusätzliche Perspektive auf die Wahrnehmung und Interpretation häuslicher Gewalt und deren Schlussfolgerungen für das Handeln der Betroenen erlaubt. Insbesondere sollen hier Interviewsequenzen analysiert werden, die im Gesprächsverlauf Irritationen oder Erklärungsbedarf hervorgerufen haben, da in diesen Sequenzen häug implizite Erwartungen, Überzeugungen oder Interpretationen zutage treten können und meist in der Kommunikation ein Grund für diese Störungen gefunden werden kann. Die Nutzung von scheinbaren Kommunikationsstörungen als Quelle weiterer Erkenntnis und die Fokussierung auf die Bedingungen, unter denen die Aussagen der Interview-
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4 Methodik
ten und ihre biographischen Erzählungen interaktiv entstanden sind, fordern auch ein hohes Maÿ an kritischer Selbstreexion der Forschenden im Auswertungsprozess. Diese Selbstreexivität wurde in der vorliegenden Arbeit von mir immer wieder angestrebt und fortlaufend durch die Zusammenarbeit in einer Kleingruppe und im Austausch mit anderen ForscherInnen überprüft und verbessert.
4.5.4 Feinstrukturanalyse Ein (..) Vorwurf hebt heraus, daÿ die Daten der Biographieforschung unzuverlässig seien verfärbt durch Groÿtuerei und Lebenslügen, lückenhaft wegen des retrospektiv-erinnernden Charakters. (. . . ) Eine Feinanalyse kann viele der genannten Verzerrungen am Text identizieren; Versprecher, Unterbrechungen der syntaktischen Abfolge, unmotivierte Sprechpausen, erklärend-legitimierende Hintergrundgeschichten u.a.m. können als Versuche des Befragten gelesen werden, problematische oder leidvolle Erfahrungen zu übergehen, ein Thema zu vermeiden usw. (Fuchs-Heinritz, 1998, S. 8).
Um ein tieferes Verständnis von Interviewsequenzen zu erlangen, die im ersten Durchgehen des Datenmaterials besonders interessant oder heikel erschienen oder auch Fragen aufwarfen, wurden diese innerhalb der Arbeitsgruppe noch einmal mit Hilfe einer Feinstrukturanalyse in Anlehnung an Froschauer & Lueger (2003) genauer beleuchtet. Für diese Art der Feinanalyse werden kurze Textpassagen sowohl Aussagen der InterviewpartnerInnen als auch die Fragen oder Reaktionen der Interviewerin in einzelne Sinneinheiten zerlegt und analysiert. Neben der vordergründigen Information, die diese Sinneinheiten enthalten, beschäftigt sich die Feinstrukturanalyse auch mit folgenden Fragen: •
Funktionen könnte die Äuÿerung für die befragte Person haben bzw. welche Intentionen könnten sie angeregt
Welche
haben?
•
latenten Momente könnten der Sinneinheit zugrunde objektiven Konsequenzen für Handlungsund Denkweisen (. . . ) könnten sich daraus ergeben? Welche Rollenverteilung ergibt sich aus der Sinneinheit? Welche Optionen ergeben sich für die nächste Sinneinheit? Welche
liegen und welche
• •
(Froschauer & Lueger, 2003, S. 115, Hervorhebungen im Original).
4.6 Gütekriterien qualitativer Sozialforschung
111
Mit Hilfe dieser genauen Analyse der Textstellen sollte nochmals der Fokus auf Wortwahl, Formulierung und auch Interaktion im Interview gerichtet werden, um deren Bedeutungsverweise zu erfassen. Dabei sollte auch die Sensibilität in der Wahrnehmungsfähigkeit für alternative Bedeutungsmöglichkeiten (Froschauer & Lueger, 2003, S. 112) geschärft und eine reektierende Diskussion von Interpretationsmöglichkeiten der Interviews in der Kleingruppe gefördert werden.
4.6 Gütekriterien qualitativer Sozialforschung Die Übertragbarkeit der allgemein anerkannten Gütekriterien quantitativer Forschung Gültigkeit, Zuverlässigkeit und Objektivität auf qualitative Forschungsarbeiten ist in der Methodenliteratur umstritten. Während Lamnek (2005) fordert, diese Gütekriterien zu modizieren und auf qualitative Forschung anzuwenden, hält Mayring (2002) dies für nicht durchführbar und formuliert folgende mögliche Gütekriterien qualitativer Sozialforschung: Verfahrensdokumentation, argumentative Interpretationsabsicherung, Regelgeleitetheit, Nähe zum Gegenstand, kommunikative Validierung sowie Triangulation (vgl. S. 144). Ähnliche Qualitätsmerkmale qualitativer Forschung formulierte auch schon Faltermaier (1989) für den Bereich der Belastungs- und Gesundheitsforschung. Für die vorliegende Forschungsarbeit erscheinen mir Gütekriterien, wie sie Mayring (2002) oder Faltermaier (1989) formulieren, angemessen und sinnvoll, da die vorliegenden Daten sowohl als im Kontext einer Interviewsituation erhoben und damit als Produkt aller Beteiligten betrachtet (vgl. Jensen & Welzer, 2003), als auch aufgrund ihrer Retrospektivität und der inhaltlichen Ausrichtung auf Fragen der Selbst- und Fremdwahrnehmung als Momentaufnahme, d.h. eine zum Zeitpunkt des Interviews stimmige Darstellung des eigenen Lebens, gesehen werden müssen. Kriterien wie Reproduzierbarkeit oder Standardisierung erscheinen hier weder Forschungsgegenstand noch Methode gerecht zu werden. Um die Qualität der vorliegenden Arbeit zu gewährleisten, wurde neben der genauen Verfahrensdokumentation und einer gewissen Regelgeleitetheit insbesondere auf eine methodische Triangulation in der Auswertung sowie eine ständige Reexion und Überprüfung der Interpretationen Wert gelegt. Während für Denzin (1978) Triangulation noch eine Strategie der Validierung bedeutete, wird diese heute als Alternative dazu diskutiert (vgl. Flick, 1991b, S. 433).
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4 Methodik
Die Bedeutung von Triangulation für die Güte qualitativer Forschung fassen Fielding & Fielding (1986) zusammen: Es gibt gewichtige Gründe für Triangulation, aber nicht diejenigen, von denen Denzin ausgeht. Wir sollten Theorien und Methoden vorsichtig und zielbewuÿt in der Absicht kombinieren, unserer Analyse mehr Breite und Tiefe zu verleihen, aber nicht mit dem Ziel objektive` Wahrheit anzustreben (S. 33).
In der vorliegenden Arbeit wurden gezielt sowohl Erhebungs- als auch Auswertungsmethoden kombiniert, um ein möglichst umfassendes Bild zu erhalten und somit einen möglichst vielschichtigen Einblick in das Erleben und die Folgen häuslicher Gewalt im Jugendalter zu erhalten. Auch war es durch die Triangulation der Auswertungsmethoden möglich, Aussagen und Interpretationen unter verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Um subjektive Deutungen, eigene biographische Betroenheiten und unbewusste persönliche Hypothesen immer wieder zu reektieren und Perspektiven anderer ForscherInnen zu integrieren, ist ein regelmäÿiger Austausch und die Diskussion von Interviewmaterial in der Gruppe äuÿerst hilfreich (vgl. Mruck & Mey, 1998). Dies fand während des ganzen Forschungsprozesses im Rahmen des Doktoranden-Kolloquiums und einer daraus entstandenen Arbeitsgruppe statt, was für die Entstehung dieser Arbeit von groÿer Bedeutung war. Insbesondere die Diskussion von Interviewpassagen und deren Auswertungsmöglichkeiten brachten immer wieder neue Perspektiven in den Forschungsprozess mit ein und waren für ein möglichst umfassendes Verständnis der Interviews eine groÿe Hilfe. Ziel dieses regelmäÿigen Austauschs und der intensiven Diskussion der Interviews war es, möglichst sicherzustellen, dass sich die Auswertung nicht in persönlichen Verzerrungen und Interpretationen verliert (vgl. Flick, 1991a, S. 171). Auch für die Methode der Feinstrukturanalyse besonders interessanter Interviewpassagen war das Arbeiten in der Gruppe enorm wichtig und unterstützend, da diese Analyseform möglichst ohne Kenntnis des Gesamtinterviews vorgenommen werden sollte (vgl. Froschauer & Lueger, 2003, S. 110f). So konnten in der Arbeitsgruppe einzelne Interviewpassagen von unterschiedlichen Personen ohne Vorannahmen analysiert und dann die verschiedenen Perspektiven und Interpretationen gewinnbringend diskutiert werden. Auch die Diskussion von Methoden und Regeln in der Auswertung war für die vorliegende Arbeit sehr hilfreich, insbesondere um die Vorgehensweisen auch immer wieder dem Forschungsgegenstand und Erkenntnisinteresse
4.7 Darstellung der Ergebnisse
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anzupassen, um wie Rosenthal (1995) es ausdrückt eine Forschung zu machen, in der wir uns nicht einem festen Regelwerk unterwerfen, sondern sensibel sind für die Besonderheiten der Lebenswelten, die wir erforschen wollen (S. 12).
4.7 Darstellung der Ergebnisse Nach dem Abschluss des Auswertungsprozesses ergaben sich für die Darstellung der Ergebnisse zwei Bausteine, die auch den Prozess der Auswertung noch einmal widerspiegeln. Im ersten Teil der Auswertung stand die Beantwortung des Forschungsinteresses im Mittelpunkt, so dass sich eine Darstellung der Ergebnisse anhand einzelner Themenbereiche anbot. Diese Themen entstanden vor dem Hintergrund der theoretischen Auseinandersetzung mit häuslicher Gewalt und ihren Auswirkungen. Insbesondere das Konzept von Lazarus & Folkman (1984) bot sich als Strukturierungshilfe für den Bereich des Erlebens und der Coping-Strategien an. Weitere theoretische Bezugspunkte waren Salutogenese und Resilienzforschung ebenso wie Bindungstheorien und die Frage von Gewalt und Geschlecht. Anhand dieser Gliederung sind die Ergebnisse in Baustein I in vergleichender und konstrastierender Form dargestellt. Alle fünf Interviews werden unter den verschiedenen Perspektiven verglichen, zusammengefasst oder kontrastiert. Im weiteren Verlauf der Auswertung wurde immer deutlicher, dass neben den eben dargestellten Ergebnissen auch die Frage der Identitätskonstruktionen wichtig für das Verständnis der vorliegenden Interviews ist. Das Modell alltäglicher Identitätsarbeit zeigte sich als Hintergrund und Interpretationshilfe sinnvoll und wurde im Sinne eines analytischen und sensibilisierenden Konzeptes (vgl. Glaser & Strauss, 1967, S. 38) in Auswertung und Darstellung der Ergebnisse aufgenommen. Nach einem kurzen theoretischen Exkurs zur Identitätsforschung und dem Modell alltäglicher Identitätsarbeit, verläuft die Darstellung der Ergebnisse anhand von Einzelfallvignetten. Diese Art der Darstellung bot sich an, da die Interviews im Bereich der Identitätskonstruktionen sehr individuelle Muster und Strategien aufweisen. Durch die intensive Beschäftigung mit jedem Interview können die fünf Muster und Strategien in der Identitätskonstruktion der fünf interviewten jungen Erwachsenen in ihrem Zusammenhang mit den Erlebnissen häuslicher Gewalt analysiert werden.
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4 Methodik
Aufgrund der geringen Zahl der Interviews sind in der Darstellung der Ergebnisse keine verallgemeinernden Aussagen möglich. Die Darstellung der Ergebnisse dieser fünf Interviews stellt sicher nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit dar, der jedoch einen sehr intensiven Einblick in das Erleben, die Verarbeitung und die Folgen häuslicher Gewalt insbesondere auch auf für die Konstruktion der eigenen Identität haben kann. Auf diese Weise entsteht eine individuell geprägte Betroenenperspektive, die sicher nicht die Lage aller betroenen Kinder widerspiegelt, aber doch einen guten Einblick in die kindliche Perspektive während häuslicher Gewaltvorfälle erlaubt.
5 Die InterviewpartnerInnen und ihre Familien 5.1 Lisa Wenn Sprache fehlt
Lisa Alter: 22 Jahre Tätigkeit: Auszubildende Geschwister: 2 jüngere Brüder, 1 jüngere Schwester Kultureller Hintergrund: Stiefvater: arabisch; Mutter: deutsch Gewalterleben: Täter: Stiefvater (Alkoholiker) Zeitraum: 12 Jahre (Alter: ca. 3-15)
Formen: physische und psychische Gewalt
Miterleben: Gewalt gehört, gesehen;
Folgen erlebt und Erzählungen der Mutter gehört
5.1.1 Lisas Geschichte Lisa ist die Älteste von vier Kindern und lebt mit ihrer Familie am Rande einer Kleinstadt. Erst als sie 15 Jahre alt ist, erfährt sie zufällig durch einen Brief, dass ihr Vater ihr Stiefvater ist und ihr leiblicher Vater im Ausland lebt. Ihre drei jüngeren Geschwister (2 Brüder, 1 Schwester) sind alle drei leibliche Kinder ihres Stiefvaters. Als Lisa drei Jahre alt ist, heiratet ihre Mutter ihren Stiefvater und Lisa bekommt im Alter von ca. vier und sechs Jahren je einen Bruder und im Alter von acht Jahren eine kleine Schwester. Der Stiefvater ist lange Jahre arbeitslos und alkoholkrank. Lisa schildert dies als in ihrer Familie immer bekannte, jedoch nie benannte Tatsache. Seit sie sich bewusst erinnern kann, gibt es immer wieder gewalttätige Übergrie des Stiefvaters auf die Mutter,
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5 Die InterviewpartnerInnen und ihre Familien
insbesondere dann, wenn kein Geld für Alkohol im Haus oder der Stiefvater unzufrieden mit der Haushaltsführung ist. Die Atmosphäre in ihrer Familie ist geprägt von Unberechenbarkeit und der ständigen Gefahr erneuter Gewalttätigkeiten des Stiefvaters. Der Wunsch, ihre Mutter möge sich von ihrem Stiefvater trennen, entsteht nach ihrer Erinnerung schon sehr früh und wird zunehmend stärker. Als Lisa 15 Jahre alt ist, gibt es, kurz nachdem sie von ihrem leiblichen Vater erfährt, in ihrer Abwesenheit eine gewalttätige Auseinandersetzung zwischen den Eltern, die ihre Mutter schlieÿlich dazu veranlasst, über eine Trennung und einen Frauenhausaufenthalt nachzudenken. Lisa ergreift die Möglichkeit und organisiert die Aufnahme im Frauenhaus. Im Anschluss daran kehrt die Mutter mit ihren Kindern zurück in die Wohnung der Familie, die der Vater mittlerweile verlassen hat. Im Zuge der Trennung erstattet die Mutter Anzeige gegen ihren Mann und Lisa muss vor Gericht aussagen. Nach der Verhandlung geht der Stiefvater ins Ausland, kontaktiert und bedroht jedoch seine Familie weiterhin per Post, die immer wieder groÿe Ängste bei Lisa auslöst. Heute lebt Lisa nach wie vor bei ihrer Mutter, macht eine Ausbildung, die ihr enorm wichtig ist, und wünscht sich einen Umzug ihrer Mutter und aller Geschwister, um die Erinnerungen in der Wohnung hinter sich lassen zu können.
5.1.2 Lisa und ihre Familie Lisas Aufstellung ihrer Familie (vgl. Abb. 5.1 und 5.2) beginnt bei ihrer Mutter und den drei jüngeren Geschwistern, die sie auf einer Hälfte des Brettes in einer Art Kreis aufstellt. Dann nennt sie ihren Stiefvater, stellt ihn jedoch nicht aufs Brett. Weitere Verwandte seien in ihrer Kindheit aufgrund der räumlichen Entfernung nicht von Bedeutung oder für sie erreichbar gewesen. Erst auf Nachfrage, ob sie sich und ihren Stiefvater noch als Figuren dazu stellen möchte, stellt Lisa noch zwei Figuren auf, zuerst den Stiefvater, dann sich selbst. Beschreibungen oder Erklärungen zu Figuren oder Aufstellung gibt Lisa nicht. Auch auf Nachfrage benennt sie lediglich die groÿe rote Figur als ihren Stiefvater. Nachfragen beantwortet Lisa sehr knapp und stockend, meist in ein oder zwei Worten. Lisas Aufstellung wirkt zerstückelt und bleibt trotz Nachfragen gröÿtenteils unkommentiert. Lisa nutzt für ihre gesamte Familie nur eine Hälfte des Brettes und beginnt direkt vor sich mit der Aufstellung ihrer Mutter
5.1 Lisa Wenn Sprache fehlt
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Abbildung 5.1: Lisas Aufstellung ihrer Familie auf dem Familienbrett
und Geschwister. Deren Formation erinnert deutlich an einen Kreis, was nach Ludewig (2000) Ausdruck von Zusammengehörigkeit sein kann (vgl. S. 28). Weitere Figuren stellt Lisa erst auf Nachfrage auf, sie benennt zwar ihren Stiefvater sofort nach ihrer Mutter und Geschwistern als selbstverständlich anwesend distanziert sich jedoch sofort wieder: und dann mei mein Stiefvater eben, der lang bei uns gewohnt hat (Lisa, S. 2).
Dies wird zum einen in ihrer Formulierung des bei der Familie wohnens deutlich, die an den Status eines Gastes erinnert. Zum anderen stellt sie zunächst keine Figur für ihn auf. Auf Nachfrage wählt Lisa dann für ihren Stiefvater eine groÿe rote Figur und stellt sie etwas abseits auf Seiten der Mutter. Die Figur des Stiefvaters ist die einzig farbige in Lisas Aufstellung und sticht somit sofort ins Auge, was die Bedrohlichkeit seiner Anwesenheit zu spiegeln scheint, die Lisa im späteren Interview beschreibt. Sich selbst stellt Lisa erst ganz am Ende dazu. Sie wählt für sich eine identische, jedoch etwas kleinere Figur als ihre Mutter, beide sind eckig, die Geschwister viel kleiner und rund. Zum einen lässt dies vermuten, dass
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5 Die InterviewpartnerInnen und ihre Familien
Abbildung 5.2: Zeichnung des Familienbretts von Lisa Lisa sich stark mit ihrer Mutter identiziert und zugehörig fühlt, zum anderen setzt sie sich dadurch jedoch auch von ihren Geschwistern ab, was in Zusammenhang mit dem Wissen um ihren Vater stehen könnte. Besonders erstaunlich und interessant ist der Platz, an den Lisa ihre eigene Figur stellt: auÿerhalb des Kreises von Mutter und Geschwistern, in unmittelbare Nähe zum Stiefvater. Eine mögliche Lesart dieser Aufstellung könnte in Anlehnung an Ludewig (2000) (vgl. S. 28) Lisas langsam einsetzende Ablösung von der Mutter und den Geschwistern sein, die ihrem Alter angemessen wäre und im Interview durch Auszugsgedanken ihrerseits Unterstützung ndet. Eine weitere Lesart könnte vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Lisa einen anderen Vater hat und somit nur ein Halbgeschwister ist, auch ihre Distanzierung zur Gesamtfamilie sein. Die Nähe zur Figur des Vaters scheint einerseits ein Widerspruch zu ihrer im folgenden Interview starken Distanzierung und Abgrenzung ihm gegenüber zu sein, andererseits kann sie jedoch auch Ausdruck der gefühlten Bedrohung sein, die Lisa bis heute durch ihn erlebt. Nach wie vor hat Lisa starke Ängste, er könne aus dem Ausland zurückkehren und sie erneut bedrohen. Dieser Gefahr sieht sich Lisa schutzlos ausgeliefert, ihre Mutter oder ihre Familie bieten weder im Bild ihrer Aufstellung noch in späteren Schilderungen im Interview weder Schutz noch direkte Unterstützung.
5.2 Nina Auf der Suche nach Antworten
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Insgesamt ist in Lisas Aufstellung mit Ausnahme der Mutter und Geschwister kaum eine klare Zusammengehörigkeit zu spüren, der Stiefvater ist deutlich als problematisch und abweichend gekennzeichnet. Lisa selbst scheint eine unklare und alleinstehende Position zu haben.
5.2 Nina Auf der Suche nach Antworten
Nina Alter: 17 Jahre Tätigkeit: Schülerin Geschwister: 2 ältere Schwestern Kultureller Hintergrund: Eltern: deutsch
Gewalterleben: Täter: Mutter (psychisch krank, gegen Vater und Schwestern) Zeitraum: 4 Jahre (Alter: ca. 3-7) Formen: physische und psychische Gewalt Miterleben: Gewalt gehört, gesehen; Folgen erlebt und Erzählungen der Familie gehört
5.2.1 Ninas Geschichte Nina wird geboren, als ihre Schwestern bereits acht und zehn Jahre alt sind. Als sie ca. drei Jahre alt ist, gibt es immer wieder gewalttätige Übergrie ihrer Mutter auf ihren Vater und ihre Schwestern. Die Mutter beschreibt Nina als psychisch krank. Eine genaue Diagnose kann sie jedoch nicht nennen, da ihr die Informationen fehlen. Nina selbst kann sich nur an Bruchstücke der Geschehnisse erinnern und hat wieder andere Bruchstücke von ihrer Familie erzählt bekommen. Als Nina fünf Jahre alt ist, trennt sich ihr Vater von ihrer Mutter und diese zieht aus dem Haus der Familie aus. Nina ist die einzige ihrer drei Töchter, zu der sie weiterhin Besuchskontakt hat. Unmittelbar nachdem Nina ihren Eltern sagt, dass sie die Mutter vorerst nicht mehr besuchen möchte, suizidiert sich die Mutter. Nina hat eine sehr enge Beziehung zu einer ihrer Schwestern, die als damals 16-jährige versucht, Nina die Mutter zu ersetzen. Dennoch spürt Nina nicht nur die Lücke, die ihre Mutter hinterlassen hat, sondern trägt auch
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5 Die InterviewpartnerInnen und ihre Familien
enorme Schuldgefühle mit sich herum. In der Vorpubertät beginnt sie über die Ereignisse zu sprechen und Fragen zu stellen, die ihr Vater nur ungern und lückenhaft beantwortet. Damals sucht sie das erste Mal eine kurzzeitige professionelle Unterstützung in einer Beratungsstelle. Ihre Schwestern ziehen zu diesem Zeitpunkt beide von zuhause weg, ihr Vater hat wechselnde Freundinnen, die für Nina jedoch wenig Bedeutung haben. In der Pubertät spitzt sich ihre emotionale Situation durch den Tod eines Freundes so zu, dass ihr Vater Ängste hat, sie könne ebenfalls eine psychische Krankheit entwickeln und sie drängt, erneut professionelle Hilfe zu suchen. Mit dieser Unterstützung macht sich Nina auf die Suche nach ihrer Vergangenheit und versucht sich selbst ein Bild von den Ereignissen zu machen. Aktuell besucht Nina eine weiterführende Schule und ndet emotionale Unterstützung in ihrer Schwester und ihrer Nichte. Im Zuge des Interviews und der dafür notwendigen Einverständniserklärung von ihrem Vater, kommt sie erneut mit diesem ins Gespräch und beschreibt dies als sehr viel oener und für sie verständlicher als alle bisherigen Gespräche.
5.2.2 Nina und ihre Familie
Abbildung 5.3: Ninas Aufstellung ihrer Familie auf dem Familienbrett Nina nutzt die gesamte Fläche des Brettes für ihre Aufstellung (vgl. Abb. 5.3 und 5.4) und beginnt mit sich selbst, ihrer verstorbenen Mutter und ihrem
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5.2 Nina Auf der Suche nach Antworten
Abbildung 5.4: Zeichnung des Familienbretts von Nina
Vater, dem sie auch sofort die heutige Freundin dazu stellt. Danach stellt sie ihre zwei Schwestern in einiger Entfernung auf, die sie mit deren Auszug aus dem Elternhaus begründet. Auch ihren Schwestern stellt sie sofort ihre Familien zur Seite (Nichte und Mann bzw. Freund). Wichtig war für sie in der Kindheit noch ihre Oma, die sie auch aufstellt und somit die Gruppe der wichtigen Personen abschlieÿt. Nina schwankt in ihrer Aufstellung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sich selbst, ihre Mutter und ihren Vater stellt sie auf, während sie noch von der Vergangenheit spricht. Mit der Freundin des Vaters wechselt sie ins heute und stellt auch ihre Schwestern und deren Familien deutlich nach heutigem Familienstand auf. Als sie die Oma erwähnt, wechselt sie wieder in die Vergangenheit und betont deren Bedeutung in ihrer Kindheit. Nina benennt keine Bedeutung der Mittellinie des Familienbretts und begründet auch ihre zentrale Position auf der Linie nicht weiter. Würde man das Brett jedoch ein Stück auseinanderziehen, geriete die Figur von Nina stark ins Wanken. Auf den ersten Blick wirkt Ninas Aufstellung auf dem Brett sehr zerstreut. Denkt man sich jedoch konzentrische Kreise um die Figur von Nina herum, ähnlich einer Netzwerkkarte, so bildet sich Ninas familiäres Netzwerk und die Intensität ihrer Kontakte ab. Nina stellt sich dabei selbstbewusst in den Mittelpunkt, wählt auch für sich ihre Lieblingsfarbe, wie sie sagt.
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5 Die InterviewpartnerInnen und ihre Familien
Ebenso auällig ist auf den ersten Blick, die sich farblich stark abhebende Dreier-Konstellation von ihr, ihrem Vater und ihrer verstorbenen Mutter, die auch im Interview immer wieder eine Rolle spielt. Die Schwestern, die während der Kindheit eine groÿe Rolle für sie spielten und sehr unterstützend wirkten, sind in der heutigen Perspektive entfernter. Nina berichtet im Interview, dass ihre Schwestern sich aus ihren Fragen und ihrer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gröÿtenteils heraushalten und wenig von sich und ihrem damaligen Erleben erzählen. Auch die Oma steht in einiger Entfernung und fällt farblich wenig auf. Sie war in der Kindheit für Ninas Versorgung und Beaufsichtigung wichtig; in Ninas Erzählungen wird jedoch wenig emotionaler Bezug deutlich. Die schwarze Farbe der Figur für die Mutter symbolisiert ihren Tod, den Nina von Beginn an deutlich thematisiert. Die rote Farbe der Figur, die den Vater darstellt, kommentiert Nina nicht weiter. Bei Ludewig (2000) steht das Dreieck meist für Momente von Triangulierung, Gespanntheit und Rigidität (S. 28). In Ninas Geschichte scheint diese Aufstellung, das für sie in der frühen Kindheit spannungsgeladene Erleben der Vater-Mutter-KindTriangulation und die Gespanntheit, die diese Konstellation aufgrund ihrer eigenen Position zwischen den Eltern für sie bedeutete, widerzuspiegeln. Auch heute noch ist diese Spannung in ihrer Suche nach Erklärungen und Antworten für die Ereignisse ihrer frühen Kindheit zu spüren. Ninas zentrale, jedoch unsichere Position auf der Mittellinie, die durch die Bewegung des Brettes schnell zum Fallen der Figur führen könnte, erinnert im Laufe des Interviews an Ninas wackelige und unsichere Suche nach Erklärungen und Antworten bezüglich ihrer Vergangenheit, der Mutter und ihrer eigenen Rolle. Ninas Bild von sich, ihrer Familie und ihrer Vergangenheit besteht in ihrer eigenen Beschreibung aus einzelnen Puzzleteilen, die sie mühsam zusammensetzt und von denen sie nie mit Sicherheit sagen kann, die Wahrheit gefunden zu haben.
5.3 Karina Richtige und falsche Wahrnehmungen
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5.3 Karina Richtige und falsche Wahrnehmungen
Karina Alter: 21 Jahre Tätigkeit: Studentin Geschwister: 1 ältere und 1 jüngere Schwester Kultureller Hintergrund: Eltern: deutsch
Gewalterleben: Täter: Vater (physisch), Mutter (verbal, psychisch) Zeitraum: 17 Jahre (Alter: 0-17) Formen: physische und psychische Gewalt Miterleben: Gewalt gehört, gesehen; Folgen erlebt und Erzählungen von Mutter und Vater gehört
5.3.1 Karinas Geschichte Karina lebt bis kurz vor dem Interview mit ihrer Familie in einer Kleinstadt in Norddeutschland. Seit kurzem studiert sie und ist aus diesem Grund in eine andere Stadt gezogen. Ihre zwei Jahre ältere Schwester ist ebenfalls bereits von zuhause ausgezogen, ihre sechs Jahre jüngere Schwester wohnt noch bei der Mutter und deren neuem Lebensgefährten. Karina hat ein groÿes Bedürfnis zu erzählen und schon mit der Einstiegsfrage, sich doch kurz vorzustellen, beginnt sie, von der Problematik in ihrer Familie zu berichten. Bis zu ihrem 17. Lebensjahr lebt sie mit ihren Eltern und ihren Schwestern zusammen. Immer wieder kommt es zu handgreiichen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern, in denen Karina beide Elternteile als gewalttätig beschreibt, wobei ihr Vater mehr zu physischer Gewalt neigt und ihre Mutter zwar dagegenhält, aber doch unterlegen bleibt. In der Familie herrscht ein groÿer Druck, die Gewalt geheim zu halten und nach auÿen die Fassade einer perfekten Familie aufrecht zu erhalten. Karina ist so schon als Grundschulkind sehr darauf bedacht, alles richtig zu machen, ein Vorzeigekind darzustellen. Dies zeigt sich insbesondere in schulischen Leistungen.
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5 Die InterviewpartnerInnen und ihre Familien
Zu dieser Zeit nden die Auseinandersetzungen der Eltern hauptsächlich abends und nachts statt. Am nächsten Morgen ist wieder alles normal, was Karina an ihrer Wahrnehmung zweifeln lässt. Auch reagiert ihre groÿe Schwester mit Bagatellisierung und vermittelt Karina, sie übertreibe in ihrer Wahrnehmung. Mit der Zeit steigern sich die Streitpunkte und in Karinas Pubertät spitzt sich die Situation krisenhaft zu. Karina wird in der Schule zur Auÿenseiterin und entwickelt eine Magersucht. Seit dieser Zeit ist sie das Problemkind der Familie und häug auch Auslöser oder Schuldige an den Streitigkeiten der Eltern. Während eines Klinikaufenthaltes spricht Karina das erste Mal auÿerhalb der Familie über die Gewalt und ndet Verständnis für ihre Wahrnehmung. Als sie dann nach Hause zurückkehrt, spitzt sich die Gewalt weiter zu, so dass Karina ihre Eltern drängt, sich doch zu trennen. Nach ihrem Klinikaufenthalt und der Trennung der Eltern kann Karina sich einen unterstützenden Freundeskreis aufbauen und sie geht eine erste feste Beziehung zu einem jungen Mann ein. Nach der Scheidung zieht die Mutter mit Karina und ihrer kleinen Schwester in eine eigene Wohnung, der Vater bleibt im Haus der Familie wohnen. Die älteste Tochter ist zu diesem Zeitpunkt bereits ausgezogen. Heute studiert Karina, lebt in einer betreuten Wohnform der Jugendhilfe und hat beruiche Pläne für ihre Zukunft. Deutlich wird im Interview jedoch auch, dass sie nach wie vor sehr viel Bedarf an Bestätigung und Überprüfung ihrer Wahrnehmung hat und viel Unterstützung braucht.
5.3.2 Karina und ihre Familie Karina stellt auf ihr Familienbrett (vgl. Abb. 5.5 und 5.6) in der Reihenfolge ihrer Aufstellung Figuren für Vater, Mutter, die ältere Schwester, sich selbst und die jüngere Schwester. Als wichtige Personen stellt sie ohne Auorderung ihre eine Oma und ihre Tante (beide mütterlicherseits) auf. Ihre Oma väterlicherseits brauche sie nicht aufzustellen, da der Kontakt zu distanziert sei. Am Ende der Aufstellung überlegt sie, ob noch jemand fehlt und stellt fest, dass sie sonst eigentlich sehr isoliert gewesen seien. Karina betont die Position ihres Vaters als Mittelpunkt, der Rest der Familie scheint auf ihn ausgerichtet zu sein. Die Mittellinie scheint in Karinas Aufstellung keine Rolle zu spielen, vielmehr betont sie die Position des Vaters als Mittelpunkt des gesamten Brettes. Karinas Aufstellung ihrer Familie in ihrer Kindheit wirkt auf den ersten Blick sehr dicht gedrängt. Alle Figuren versammeln sich auf nur einem Vier-
5.3 Karina Richtige und falsche Wahrnehmungen
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Abbildung 5.5: Karinas Aufstellung ihrer Familie auf dem Familienbrett
tel des zur Verfügung stehenden Brettes und sind um Karina selbst herum dicht an dicht aufgestellt. Im Gesamtbild entstehen so zwei Linien entlang derer die Figuren in Verbindung zu stehen scheinen. Zum einen die auch farbig stark auällige Linie von Vater, groÿer Schwester und Mutter. Zum anderen die dazu um 90 ◦ versetzte Linie von Groÿmutter (mütterlicherseits), Karina, Mutter und Tante (Schwester der Mutter). Die kleine Schwester positioniert Karina auf Seiten des Vaters. Nach Ludewig (2000) können Linien auf dem Familienbrett einen Mangel an Kohäsion und Abgrenzung (S. 28) zum Ausdruck bringen. Karinas Aufstellung erinnert in der Linie von Vater Schwester Mutter eher locker und ohne festen Zusammenhalt (der nur über die Schwester zu bestehen scheint) und in der Linie um die Mutter und sie selbst sehr dicht und ohne jede Abgrenzung. Im Interview berichtet Karina von ihrer starken Identikation mit Mutter und Tante, was das Bild starker Nähe aber auch fehlender Abgrenzung unterstützt. Die gesamte Aufstellung Karinas erinnert vor diesem Hintergrund assoziativ an eine Waage, deren beide Seiten Vater und Mutter darstellen und auf deren Seiten ungleiche Gewichte an Unterstützung verteilt sind. Mittelpunkt der Waage in der Aufstellung ist die groÿe Schwester, von der Karina im Interview berichtet, sehr distanziert mit der Gewalt umgegangen zu sein und immer mit beiden Eltern in gutem Kontakt gestanden zu haben.
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5 Die InterviewpartnerInnen und ihre Familien
Abbildung 5.6: Zeichnung des Familienbretts von Karina
Karina beschreibt sich selbst zwar als ständig darum bemüht, beiden Eltern gerecht zu werden und zwischen beiden zu vermitteln, sieht sich in der Aufstellung jedoch als kleinste Figur an der Seite der Mutter. Dies passt zu ihren Berichten im Interview, dass sie trotz aller Bemühungen immer das Gefühl hatte, ihre groÿe Schwester könne sich besser um die Eltern kümmern. Dies bestätigt die zentrale Rolle der Schwester in der Familie, die in der Aufstellung der tatsächliche Mittelpunkt der Familie ist. Auällig ist auch die Wahl der Figur für sich selbst. Karina wählt für sich die mit Abstand kleinste Figur und scheint in der Linie zwischen Mutter und Groÿmutter fast unterzugehen. Die Beziehung zu ihrem Vater von der sie im Interview als durch dessen Dominanz stark geprägt berichtet erscheint hier stark distanziert. Im Interview beschreibt sich Karina als im Konikt der Eltern stark agierend und vermittelnd, jedoch ohne Erfolg. Karinas Versuch, doch noch Kontrolle zu erlangen, steigert sich zum Symptom einer Magersucht und macht sie damit zur Symptomträgerin und in den Augen der Familie Schuldigen an den Problemen der Familie. Im Interview beschreibt Karina zudem immer wieder die völlig andere Bewertung der Gewalt in der Familie durch Vater, Schwestern und teilweise die Mutter, im Gegensatz zu ihrer eigenen Wahrnehmung. Diese Hilosigkeit, Verunsicherung und Karinas Identikation mit der Mutter drängen sie in eine Opferrolle, die sich in der Aufstellung in ihrer Wahl der kleinsten Figur auszudrücken scheint.
5.4 Cemil Zwischen den Stühlen
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Karinas Aufstellung spiegelt den ständigen Kampf in ihrer Familie um Macht und Gleichgewicht wider, in dem sie sich selbst als Opfer verloren und hilos fühlt. Die Atmosphäre schwankt zwischen groÿer Distanz und erdrückender Nähe, zwischen Machtkampf und Harmonie, was für Karina eine enorme Verunsicherung zur Folge hat.
5.4 Cemil Zwischen den Stühlen
Cemil Alter: 18 Jahre Tätigkeit: Schüler Wohnort: Groÿstadt Geschwister: 1 jüngerer Bruder Kultureller Hintergrund: Eltern: türkisch
Gewalterleben: Täter: Vater (starker Alkoholkonsum) Zeitraum: 12 Jahre (Alter: 0-12) Formen: physische und psychische Gewalt Miterleben: Gewalt gehört, gesehen; Folgen erlebt und Erzählungen von Mutter und Vater gehört
5.4.1 Cemils Geschichte Cemil lebt bis zu seinem 12. Lebensjahr mit seinen Eltern zusammen. Als er ca. sieben Jahre alt ist, wird sein Bruder geboren. Seit er sich erinnern kann, gibt es immer wieder gewalttätige Eskalationen zwischen seinen Eltern, insbesondere wenn sein Vater Alkohol getrunken hat. Häugster Streitpunkt zwischen den Eltern ist das exzessive Putzen der Mutter, das an eine Zwangsstörung erinnert. In Cemils Erzählungen erscheint der Putzzwang seiner Mutter neben der Gewalt als zweites groÿes Belastungsmoment seiner Kindheit. Als Cemil zwölf Jahre alt ist, trennt sich seine Mutter nach zweimaligem Frauenhausaufenthalt von seinem Vater. Cemil beschreibt die Trennung als für ihn sehr schwierigen Prozess. Zunächst sei sein Wunsch nach Versöhnung
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5 Die InterviewpartnerInnen und ihre Familien
der Eltern sehr stark gewesen, bis er schlieÿlich in der Pubertät zu der Ansicht kommt, dass es besser ist, wenn seine Eltern getrennt bleiben. Auch nach der Trennung kommt es immer wieder zu Streit und gewalttätigen Eskalationen zwischen den Eltern. In der Vorpubertät beginnt Cemil viel Wert auf seinen Schulabschluss zu legen und arbeitet sich langsam von der Hauptschule bis auf eine weiterführende Schule vor. Schulabschluss und Bildung sind für ihn zentrale Werte im Leben. Auch seine Freundschaften und Beziehungen mit Mädchen beschreibt er als besonders bedeutsam für sein Selbstbild und seine Entwicklung. Heute lebt Cemil bei seiner Mutter und hat regelmäÿigen Kontakt zum Vater. Er besucht eine weiterführende Schule und hat klare Pläne für seine beruiche Zukunft.
5.4.2 Cemil und seine Familie
Abbildung 5.7: Cemils Aufstellung seiner Familie auf dem Familienbrett Cemil beginnt die Aufstellung seiner Familie (vgl. Abb. 5.7 und 5.8) mit sich selbst, dann seiner Mutter, seinem Bruder, der später dazukam und zum Schluss seinem Vater, den er etwas abseits plaziert, da er viel in der Arbeit war. Für seine Familie nutzt Cemil eine Hälfte des Familienbretts, sein Vater ist weit entfernt vom Rest der Familie. Als weitere hilfreiche Personen dieser Zeit stellt Cemil seinen Fuÿballtrainer und eine Figur für die Nachbarsfamilie
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5.4 Cemil Zwischen den Stühlen
Abbildung 5.8: Zeichnung des Familienbretts von Cemil auf der zweiten Hälfte des Brettes auf. Fuÿball war seine stärkste Ressource, die ihm Halt gab. Die Nachbarfamilie bot immer wieder Hilfe und Zuucht an, wenn es Streit zwischen den Eltern gab. Die Teilung des Brettes wirkt hier assoziativ wie eine Trennung der Familie von der Auÿenwelt, was Cemil selbst jedoch nicht als solches benennt, sich jedoch in seinen Erzählungen von der Isolation seiner Mutter widerspiegelt. Cemils Aufstellung wirkt zunächst in drei Teile zerfallen: das Dreieck von Mutter, Bruder und Cemil, der Vater und die hilfreichen Personen auÿerhalb der Familie. Diese drei Teile sind jeweils in einem Viertel des Brettes positioniert. Ein Dreieck kann laut Ludewig (2000) Momente von Triangulierung, Spannung und Rigidität (vgl. S. 28) verdeutlichen. Cemil berichtet von der Geburt seines Bruders deutlich als Triangulierung und betont im Interview, dass dieser erst später dazukam. Momente von Gespanntheit und Rigidität nden sich in Bezug auf seine Mutter im Interview häug, insbesondere wenn er über ihren Putzzwang berichtet, der die Beziehung zu ihr stark belastete. Die unterstützenden Menschen auÿerhalb der Familie, Fuÿballtrainer und Nachbarn, positioniert Cemil auf der zweiten Hälfte des Brettes, getrennt von der Familie, aber deutlich auf Seiten der Mutter. Die groÿe Distanz zu seinem Vater begründet Cemil in der Aufstellung damit, dass dieser in seiner Kindheit viel arbeiten musste und nur selten zuhause war. Wenn er zuhause war, war dies jedoch häug von Streit und
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5 Die InterviewpartnerInnen und ihre Familien
Gewalt begleitet. Zu berücksichtigen ist Cemils groÿes Bemühen, den sozialen Erwartungen an ihn, sich vom gewaltausübenden Vater zu distanzieren, gerecht zu werden. Auch dies kann ein Grund für die groÿe Distanz in der Aufstellung seiner Familie sein. Cemils Figur scheint in ihrer Position stark dem Vater zugewandt und wirkt vor dem Hintergrund des folgenden Interviews, leicht aus dem Dreieck mit der Mutter abgelöst und auf dem Weg zum Vater. Cemil beschreibt immer wieder seinen Wunsch nach mehr Kontakt zum Vater, seine Ambivalenzen bezüglich der Mutter und seine starken Loyalitätskonikte. Auch im Gesamtbild ist ein Dreieck von Vater, Mutter mit Söhnen und der Auÿenwelt erkennbar. Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich auch in den vielen Ambivalenzen, Widersprüchlichkeiten und Loyalitätsfragen, die Cemil im Interview aufwirft. Cemil steht in einer starken Spannung zwischen sozialen Erwartungen von auÿen, der Nähe zu seiner Mutter und dem Wunsch nach Identikation mit dem Vater.
5.5 Anja Klare Parteilichkeit
Anja Alter: 18 Jahre Tätigkeit: Schülerin
Wohnort: Stadt
Geschwister: 1 jüngere Schwester Kultureller Hintergrund: Vater: osteuropäisch; Mutter: deutsch Gewalterleben: Täter: Vater (phasenweise suizidal) Zeitraum: 3 Jahre (Alter: 13-16) Formen: physische, psychische und sexuelle Gewalt Miterleben: Gewalt gehört, gesehen; Folgen erlebt und Erzählungen der Mutter gehört
5.5 Anja Klare Parteilichkeit
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5.5.1 Anjas Geschichte Anja ist eine stark und selbstbewusst auftretende junge Frau, die sofort betont, dass sie das Interview gerne gibt, um damit zu helfen. Sie hat kein Problem über ihr Leben zu sprechen, ihre Vergangenheit sei ein Teil von ihr und dazu stehe sie vollkommen, so betont sie gleich zu Beginn. Anja lebt seit ihrer Geburt mit ihren Eltern in einer kleinen Stadt. Als sie sechs Jahre alt ist, wird ihre kleine Schwester geboren. Vier Jahre später belastet ein Gehirntumor der Groÿmutter die Familie nachhaltig. Anja erlebt die Gewalt zwischen ihren Eltern bewusst ab ca. ihrem 13. Lebensjahr, vermutet jedoch, dass das nur der Moment war, indem sie die Gewalt realisiert hat. Als Anja 15 Jahre alt ist, erlebt sie einen handgreiflichen Streit der Eltern mit, der sich bis zur Vergewaltigung der Mutter steigert. Anja wartet das Ende der Gewalt im Nebenzimmer ab und erfährt sofort anschlieÿend vom Ausmaÿ der Gewalt durch Erzählungen der Mutter und Aussagen des Vaters. Nach diesem Vorfall geht Anjas Mutter mit ihr und ihrer Schwester ins Frauenhaus, trennt sich endgültig von Anjas Vater und zieht schlieÿlich mit den beiden Kindern als der Vater ausgezogen ist wieder in die Wohnung der Familie. Anja erweist sich in der Phase der Trennung als starke Unterstützung der Mutter und entschlossene Verfechterin einer endgültigen Trennung. Während Mutter und Schwester ambivalente Gefühle gegenüber dem Vater haben und über eine Rückkehr nachdachten, war dies für Anja nie eine Option. Der Kontakt zum Vater ist nach der Trennung der Eltern sehr schwierig und von Suizidandrohungen des Vaters belastet. Unterstützung ndet Anja in ihrem damaligen Freund und ihrer eigenen Stärke und radikalen Abgrenzung vom Vater. Anja schildert den Wunsch ihrer Schwester nach Kontakt und auch eigene Versuche, wieder Kontakt aufzubauen, die jedoch aus Anjas Sicht am fehlenden Interesse ihres Vaters scheitern. Anja hat in der Pubertät groÿe Schwierigkeiten in der Schule, wiederholt schlieÿlich in der Zeit im Frauenhaus eine Klasse. Heute steht sie kurz vor ihrem Schulabschluss und hat beruiche Pläne für die Zukunft.
5.5.2 Anja und ihre Familie Anjas Aufstellung ihrer Familie auf dem Familienbrett (vgl. Abb. 5.9 und 5.10) umfasst in der Reihenfolge ihrer Auswahl ihren Vater, die Mutter, sich selbst und ihre kleine Schwester. Auf Nachfrage, ob es in der Zeit der gewalttätigen Auseinandersetzungen noch wichtige Menschen gab, fügt Anja ihre zu der Zeit beste Freundin hinzu, die ihr damals sehr nahe stand. Al-
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5 Die InterviewpartnerInnen und ihre Familien
Abbildung 5.9: Anjas Aufstellung ihrer Familie auf dem Familienbrett
lerdings ist diese Freundschaft zeitgleich mit den schlimmsten Eskalationen in der Familie auseinandergegangen, was Anja sehr enttäuscht hat. Anja nutzt nach eigenen Angaben die mittlere Linie des Brettes als Trennungslinie, stellt ihren Vater auf den äuÿersten Rand einer Seite, alle anderen Figuren (mit Ausnahme der Freundin) in einer Linie auf die andere Hälfte. Anja stellt ihren Vater als groÿe schwarze Figur, die, wie sie sagt, ihre Ablehnung symbolisieren soll, auf die eine Seite des Brettes. Direkt gegenüber positioniert sie die rote Figur der Mutter, die nach Anjas Beschreibungen für emotionale Nähe steht. Im Anschluss daran stellt Anja die Figur, die sie selbst darstellt, in gleicher Gröÿe direkt vor ihre Mutter, zwischen die Eltern. Ihre Figur wirkt vor dem Hintergrund des gesamten Interviews assoziativ wie ein Schutzwall ihrer Mutter. Für ihre Schwester, die den Kontakt zum Vater sucht und deshalb in Anjas Aufstellung zwischen ihr und ihrem Vater steht, hat Anja eine kleinere kindlichere Figur gewält. Dies lässt erste Schlüsse auf Anjas Rolle als Erwachsene und Unterstützerin der Mutter zu, die sich später im Interview bestätigen. Die Figur der Freundin ist weiÿ und Anja nimmt ihre Bedeutung schon während der Aufstellung zurück. Sie benennt die Freundin auf die Nachfrage nach unterstützenden Personen im Auÿen, berichtet jedoch auch sofort
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5.5 Anja Klare Parteilichkeit
Abbildung 5.10: Zeichnung des Familienbretts von Anja
von ihrer Enttäuschung, von dieser Freundin nicht ausreichend unterstützt worden zu sein. Im weiteren Interview spielt diese keine Rolle. Anja macht während ihrer Aufstellung sehr deutlich, dass sie die Mittellinie als Grenze zwischen Teilen ihrer Familie nutzt. Auf der einen Seite steht ihr Vater, auf der anderen sie, ihre Mutter und ihre Schwester. Aus dem weiteren Interview lässt sich im Zusammenhang mit der Aufstellung vermuten, dass Anja diese Grenze einerseits aufgrund ihres Bedürfnisses nach Abgrenzung von den Verhaltensweisen ihres Vaters, andererseits jedoch auch im Sinne von Schutz vor weiteren Enttäuschungen aufrecht erhält bzw. verteidigt. Das Gesamtbild von Anjas Aufstellung ähnelt mit Ausnahme der Freundin, die hier nicht zur Familie gezählt werden soll einer geraden Linie, die durch die Mittellinie wie Anja betont geteilt wird. Ludewig (2000) weist darauf hin, dass die Endanordnung in Form einer Linie auf einen Mangel an Kohäsion und Abgrenzung (S. 28) hindeuten kann, was für Anjas Familie passend erscheint. Anjas klare Trennung bzw. Grenzziehung zwischen ihrem Vater und dem Rest der Familie macht diesen Mangel an Kohäsion deutlich. Verbindungen und bestehenden Kontakt verneint Anja als von ihrem Vater nicht gewollt. Ein Mangel an Abgrenzung wird im Subsystem von Mutter und Tochter deutlich, wenn Anja ihre Mutter als beste Freundin versteht, sich mit ihr
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5 Die InterviewpartnerInnen und ihre Familien
auf einer Ebene deniert und die Rolle der verantwortlichen Erwachsenen im Sinne einer Parentizierung übernimmt. Anjas Aufstellung spiegelt ihre bewusste Positionierung auf Seiten der Mutter und ihre starke Distanzierung zum Vater deutlich wider und zeigt, in welcher Spannung von Identikation und Abgrenzung Anja ihre eigene Position verteidigt bzw. sucht.
6 Ergebnisbaustein I: Eine retrospektive Betroenenperspektive In diesem ersten Ergebnisbaustein nden sich Kapitel zu den von mir gezielt untersuchten Forschungsfragen wie dem Erleben häuslicher Gewalt aus Kinderperspektive, Coping-Strategien, Ressourcen, Bindungs- und Beziehungsgestaltung sowie das Erleben der Eltern als Paar und die Auswirkungen auf eigene Geschlechterrollenvorstellungen. Zudem rückte während der Auswertung der Interviews auch die Frage nach der Rolle der Kinder im Gewaltgeschehen in meinen Fokus, so dass der Selbstpositionierung der jungen Erwachsenen als Betroene häuslicher Gewalt ein Abschnitt am Ende dieses Kapitels gewidmet ist. Einige der im folgenden dargestellten Ergebnisse nden sich in paralellen Beschreibungen in der Literatur zum kindlichen Erleben und Coping in Fällen häuslicher Gewalt, die bereits in Kapitel 3 ausführlich dargestellt wurden. Andere erönen neue individuelle Perspektiven auf Strategien und Folgen des Miterlebens von Gewalt. Ich habe in diesem Teil bewusst darauf verzichtet, vorhandene Parallelen zur Literatur fortlaufend aufzuzeigen, um den Fokus der Darstellung klar auf die Perspektive der von mir interviewten jungen Erwachsenen zu legen und keinen Vergleich zwischen den Beschreibungen der jungen Erwachsenen und den in der Literatur häug zu ndenden Berichten von Müttern oder Fachfrauen aufkommen zu lassen.
6.1 Kindliches Erleben häuslicher Gewalt Der erste groÿe Punkt meines Forschungsinteresses war die Frage nach dem Erleben häuslicher Gewalt aus der Perspektive betroener Kinder. Eingeleitet wurde diese im Interview durch die Frage nach der Familienkonstellation in der Kindheit, der Aufstellung auf dem Familienbrett und der Frage nach der familiären Atmosphäre. Die Darstellung der Ergebnisse ist im folgenden Abschnitt in Anlehnung an Lazarus & Folkman (1984) in Primary und Secondary Appraisal unterteilt, d.h. zunächst steht das direkte Erleben, die emotionale Reaktion und die Bewertung der Situation im Mittelpunkt. Im Anschluss geht es dann um die erste kognitive Einschätzung der Handlungsmöglichkeiten. Zudem zeig-
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6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive
ten sich in den Interviews die Themenbereiche um die Bedeutsamkeit von Schweigegeboten und sozialer Isolation der Familien als bedeutsame Komponente des Erlebens häuslicher Gewalt. Diese werden daher anschlieÿend in einem weiteren Abschnitt dargestellt.
6.1.1 Primary Appraisal Das unmittelbare Erleben der gewalttätigen Situationen schildern alle InterviewpartnerInnen in ähnlicher Form als bedrohlich und mit der emotionalen Reaktion existentieller Angst verbunden. Das Erleben häuslicher Gewalt und die Atmosphäre in ihrer Familie beschreiben die jungen Erwachsenen als schlimm (Anja, S. 8; Lisa, S. 6; Karina, S. 41) und krass (Nina, S. 4; Karina, S. 42; Anja, S. 29) . In fast allen Interviews ist eine zunehmende Schwere im Raum zu spüren, das Gespräch ist von Pausen und anderen Auälligkeiten (wie unsicherem Lachen, Durchatmen, besonders leisem oder schnellem Sprechen etc.) geprägt, wenn das Thema der Gewalt in den Mittelpunkt rückt. Auch wenn alle Interviewten dieser Studie explizit darauf hinweisen, selbst keine körperliche Gewalt erfahren zu haben, so lassen sie doch keinen Zweifel an ihrer Betroenheit und ihrem Leiden unter der Gewalt gegen die Mutter. Die besondere Belastung und Bedrohung durch die Gewalt, die alle jungen Erwachsenen schildern, unterscheidet sich jedoch in ihrer Konnotation in den Einzelfällen. Während der für Lisa schwierigste Punkt die völlige Unberechenbarkeit der familiären Atmosphäre, dem, was Anja als psychischen Druck beschreibt, sehr ähnlich ist, bringt Cemil in seinen Erzählungen immer wieder Loyalitätskonikte und Ambivalenzen bezüglich Vater und Mutter zum Ausdruck. Karina beschreibt die belastende Unsicherheit durch den ständigen Wechsel von Gewalt und familiärer Harmonie, die insbesondere nach auÿen aufrechterhalten werden musste, als problematisches Moment in ihrem Erleben: Und dass mich des eigentlich am meisten gestört hat, weil ich (-) total unsicher war, weil ich überhaupt nich verstanden hab, erst (--) schlagen sie sich die Köppe ein (lacht) irgendwie und (-) am nächsten Tag äh (-) is irgendwie alles total toll und wir vestehn uns so gut und alle von auÿen denken, ihr seid ja so ne perfekte Familie und (..) (-) ja (-) des war mir natürlich nich vom Kopf her bewusst, aber (-) ich glaub, des hat mich gefühlsmäÿig ganz schön (-) durchnandergebracht irgendwie (-) (Karina, S. 7).
6.1 Kindliches Erleben häuslicher Gewalt
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Eine besondere Situation stellt die Geschichte von Nina dar, die aufgrund ihres jungen Alters nur noch sehr vereinzelte Erinnerungen an die Gewalttätigkeiten ihrer Mutter hat. Für sie ist der zentrale Belastungspunkt das immer noch lückenhafte Wissen um das, was tatsächlich passiert ist. Als belastend beschrieben die Interviewten auch die Unverständlichkeit der Auslöser, die zu Gewalttätigkeiten führten. Für die jungen Erwachsenen sind dies keine groÿen oder verständlichen Streitpunkte ihrer Eltern, sondern Kleinigkeiten (Cemil, S. 5; Lisa, S. 6), was es eigentlich nich sein (-) müsste (Cemil, S. 6) .
Ein weiterer Punkt, der mehrfach als Belastung beschrieben wurde, ist die zeitliche Perspektive. Die Gewalt in den hier untersuchten Familien dauerte in allen Fällen über mehrere Jahre an, und bis sich die Eltern trennten, waren die Kinder bis auf Nina bereits Teenager. Anja beschreibt diese Belastung als das Wissen, dass man noch so lang aushalten muss (S. 41) und auch Lisa betont retrospektiv immer wieder die groÿe Bedeutung der Zeitspanne: Nja, vor allem weil's auch so lang war. (S. 20) . Der Wunsch nach einer zeitlich wesentlich früheren Trennung spielt bei Lisa, Anja und Karina in ihrer Kindheit eine groÿe Rolle, während Cemil sehr ambivalent über die Beziehung seiner Eltern denkt und die Trennung erst retrospektiv als die bessere Lösung betrachtet. 26 In allen Interviews mit Ausnahme von Anja beschreiben die jungen Erwachsenen Angst als die primäre emotionale Reaktion auf die Gewalt und betonen die enorme Dimension dieser Angst: des war nur Angst (Lisa, S. 43) natürlich auch ziemliche Angst (Nina, S. 7) ich hatte sehr groÿe Angst (Cemil, S. 5) da hatt ich einfach Angst, da war ich hilos, da (-) war ich durcheinander irgendwie (Karina, S. 26)
Anja ist die einzige Interviewpartnerin, die zunächst Angst vor ihrem Vater verneint. Im Zuge ihrer Erzählung von der Anzeige, die sie und ihre Mutter zunächst erstattet hatten, spricht jedoch auch sie von der Angst vor ihrem Vater und seinen Reaktionen: Ähm (3s) natürlich kannst dann nich sagen, ähm ich zieh des zurück, weil ich hm noch mehr Angst vor den Konsequenzen hab, aber (-) ähm (-) in dem Fall war's so (Anja, S. 48).
26 Inwieweit dies ein geschlechtsspezischer Unterschied sein könnte, kann aufgrund des kleinen Samples dieser Untersuchung nicht beantwortet werden und wäre eine spannende Frage für weitere Forschungsarbeiten.
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6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive
Die existentielle Dimension dieser Angst wird deutlich, wenn die jungen Erwachsenen darüber sprechen, was ihre gröÿten Befürchtungen waren oder sind. Ähnlich wie Lisas gröÿte Angst, dass ihr Stiefvater einen mal wirklich ernsthaft verletzt (Lisa, S. 31), fürchtet Karina den völligen Kontrollverlust ihres Vaters und die damit verbundene Gefahr für die Familie. Cemils gröÿte Angst war, aufgrund der Gewalt, vom Jugendamt aus der Familie genommen zu werden: dann holt euch das Jugendamt. Ich hatte sehr groÿe Angst vor dem Jugendamt (Cemil, S. 13).
Alle diese Ängste und Phantasien existentieller Folgen der Gewalt sind Ängste vor dem Verlust der Mutter oder beider Eltern. Hier wird deutlich, wie sehr häusliche Gewalt sichere Bindungen der Kinder bedroht und die ständige Angst vor dem Verlust einer engen Bindungsperson den Alltag der InterviewpartnerInnen geprägt hat. Nahezu alle interviewten jungen Erwachsenen beschreiben auch die ständig vorhandene, latente Erwartungsangst, es könne wieder zu Gewalt zwischen den Eltern kommen, die Cemil als einen ständig präsenten Gedanken auf den Punkt bringt: ich hab halt (-) immer Angst und ich hab immer gedacht, oh mein Gott, jetz geht's wieder los (Cemil, S. 13).
Diese Erwartungsangst so beschreiben es Lisa, Karina und auch Cemil ging immer auch einher mit einer erhöhten Wachsamkeit, kleine Vorboten von Streit und Gewalt erkennen und sich für Eskalationen rüsten zu können. Eine weitere prägende Angst in Lisas Leben ist die vor einer eventuellen Rückkehr des Stiefvaters nach der Trennung. Bedenkt man die Tatsache, dass ihr Stiefvater aus rechtlichen Gründen Deutschland nicht mehr betreten darf und der letzte Kontakt bereits mehrere Jahre zurückliegt, wird deutlich, wie bedrohlich der Stiefvater für Lisa nach wie vor ist. Die starke emotionale Belastung der jungen Erwachsenen wird auch deutlich in der Art und Weise, wie sie über die gewalttätigen Erlebnisse in ihrer Familie sprechen. Neben kurzen Schilderungen gewalttätiger Eskalationen, die jedoch häug nur ansatzweise erzählt, angedeutet oder abgebrochen werden, ist in allen Interviews eine deutliche sprachliche Distanzierung zu den Geschehnissen zu spüren. So spricht Lisa beispielsweise von diese Handgreiichkeit (Lisa, S. 19) und verwendet in ihren Erzählungen häug es , wenn sie die Gewalt benennt, so z.B. ging's auf einmal los (Lisa, S. 6) oder war wieder was (Lisa, S. 32). Karina spricht immer wieder von Streit und was weiÿ ich
6.1 Kindliches Erleben häuslicher Gewalt
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was (Karina, S. 6), während Cemil seine Erlebnisse unter dem Begri Ärger ebenso subsummiert wie unter Gewalt . Anja beschreibt gewalttätige Momente in ihrer Familie mit den Worten:
dann eskaliert halt die Situation einfach (S. 40) . Zudem sind Anjas Schilderungen der gewalttätigen Auseinandersetzungen immer wieder geprägt von starken Distanzierungsbemühungen in Form von Sarkasmus oder der völligen Abwertung ihres Vaters. So beschreibt Anja ihre Interventionsversuche als sie Streitigkeiten der Eltern aus dem Nebenzimmer hört, mit groÿem Sarkasmus und lässt keinen Zweifel an ihrer Verachtung gegenüber ihrem Vater: höich wie ich bin, klopf ich und frag was da los is (Anja, S. 9). weil er einfach ned ganz sauber is (Anja, S. 10).
Diese sprachliche und inhaltliche Distanzierung dient den jungen Erwachsenen in der Interviewsituation vermutlich zur innerlichen Kontrolle der mit den Erlebnissen verbundenen überwältigenden Emotionen von Angst und drohendem Verlust. Das Erleben häuslicher Gewalt ist also für alle Interviewten mit einer enormen psychischen Belastung, existentieller Angst sowie dem ständig drohenden Verlust einer primären Bindungsperson verbunden und erschüttert so die gesamte emotionale Sicherheit der Kinder und Jugendlichen.
6.1.2 Secondary Appraisal Das Secondary Appraisal, die erste Einschätzung zur Verfügung stehender Handlungsmöglichkeiten, ist in retrospektiven Interviews nicht immer eindeutig fassbar, da die Einschätzung in der Situation selbst unter Umständen eine andere sein kann, als die durch den Coping-Prozess, Veränderungen in der Situation und auch Reappraisal-Prozesse veränderte, in der Retrospektive berichtete Einschätzung. In den von mir geführten Interviews nden sich sowohl Aussagen über die Einschätzung im Moment der gewalttätigen Situation selbst, als auch retrospektive Einschätzungen der damaligen Handlungsmöglichkeiten. In diesem Abschnitt sollen zunächst einmal die in der Situation entstandenen kindlichen Einschätzungen der eigenen Handlungsfähigkeit im Mittelpunkt stehen. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass diese nicht immer trennscharf formuliert werden können und immer auch Veränderungen durch die retrospektive Perspektive unterliegen. Alle jungen Erwachsenen beschreiben ihre Reaktionen im Moment gewalttätiger Auseinandersetzungen sehr unterschiedlich. Karina berichtet bezüg-
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lich ihrer ersten Reaktionen von Angst und Hilosigkeit, die von einem starken Handlungsdruck begleitet sind: oh Gott, du musst irgendwas tun (Karina, S. 26).
Nach ihrer ersten kognitiven Einschätzung sieht Karina Möglichkeiten zu intervenieren und versucht diese auch in Handlungen umzusetzen. Als diese Strategien jedoch fehlschlagen, entwickelt sie in der Folge die Einschätzung, nichts tun zu können und beschreibt sich als hilos und ohne Handlungsmöglichkeiten. Knapp und deutlich beschreibt Lisa ihre kognitiven Einschätzungsprozesse. Für sie gab es im Moment der Gewalt nur die Möglichkeit der Flucht. Handlungsmöglichkeiten zur Veränderung der Situation sah sie nicht: Ja, in dem Moment war einfach (-) weg. (lacht unsicher) (Lisa, S. 20).
Auch Nina reagiert als kleines Kind mit dem Impuls zur Flucht und versteckt sich unter einer Decke. Ein näherer Blick in das Interview mit Anja zeigt ein deutliches Bild ihrer Hilosigkeit in der Situation akuter Gewalthandlungen und den damit verbundenen Einschätzungen ihrer Handlungsmöglichkeiten. In der von Anja beschriebenen Situation steht sie vor der versperrten Schlafzimmertür, hinter der ihr Vater ihre Mutter schlägt, demütigt und zuletzt vergewaltigt: ich war in dem Moment einfach so (-) perplex oder keine Ahnung hab einfach vielleicht schon vorgedacht, ich weiÿ es ned, dass ich die Polizei nich angrufen hab, also (-) weil ich mir einfach denk (-) die sin da zusammen eingsperrt und wenn jetz da Polizei kommt, wer weiÿ was dann passiert (Anja, S. 9f ).
Anja beschreibt hier das einzige Mal eine direkte Reaktion ihrerseits auf die Gewalteskalation zwischen ihren Eltern, ohne diese schon zuvor explizit mit Deutungen und Erklärungen zu versehen, die ihr Verhalten rechtfertigen. Anja gibt hier keine kognitive Erklärung für ihr Verhalten, vielmehr spiegelt sich in ihren Formulierungen eine Mischung von Angst, Verwirrung, Befürchtungen und Unklarheit, von dem die Situation für sie bestimmt gewesen sein dürfte. Folgende Sequenz aus dem Interview mit Anja macht diese emotionale Überforderung deutlich spürbar: ich mein ich hätt auch die Tür eintreten können, habs aber nich gemacht (. . . ) ich frag mich schon oft, was gewesen wäre, wenn ich's gemacht hätte. Aber ich verwerf den Gedanken eigentlich sofort wieder,
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weil (--) bei mir dann kommt, es hätt noch schlimmer ausgehn können. (. . . ) Also ich bin eigentlich froh drum, dass ich's nich gmacht hab und (3s) jede Kleinigkeit hätte ein Fehler sein können und (-) in der Situation wollt ich einfach Fehler vermeiden, weil mein Dad halt wirklich unberechenbar ist (Anja, S. 42f). Unterzieht man diesen Absatz einer Feinstrukturanalyse (vgl. Froschauer & Lueger, 2003, S. 110), wird deutlich, dass hier weit mehr zum Ausdruck kommt, als Anjas heutige rationale Erklärung für ihr Abwarten in der Gewaltsituation. Insbesondere im Teil nach der kurzen Sprechpause ( und (3s) jede Kleinigkeit hätte ein Fehler sein können und (-) ) ist Anjas Hilosigkeit und Ohnmacht als 15-jährige Jugendliche direkt in der Situation zu spüren und macht deutlich, dass Anja vermutlich in ihrer Angst und Hilosigkeit wie erstarrt auf das Ende des Gewaltausbruchs gewartet hat. Sofort im nächsten Satz distanziert sich Anja wieder, begründet ihr Handeln völlig rational und spricht von der Unberechenbarkeit ihres Vaters. Cemil äuÿert im Interview wenig über seine kindliche Einschätzung möglicher Handlungsweisen. In einer Situation beschreibt er seine Hilosigkeit und seine einzige Reaktionsmöglichkeit des Abwartens, in anderen scheint sein vielleicht auch retrospektiver Wunsch, die Situation verändern zu können, durch und er erzählt von seinen inneren Vorsätzen beim nächsten Mal aktiv einzugreifen. Ähnlich wie hier bei Cemil die kognitive Einschätzung der Handlungsunfähigkeit zu Schuld- und Versagensgefühlen führt, die von dem Vorsatz in einer erneuten Situation anders zu handeln begleitet sind, berichtet auch Lisa von Schuldgefühlen aufgrund ihrer Fluchtreaktionen und der Unmöglichkeit ihrer Mutter zu helfen. Zusammenfassend wird deutlich, dass alle interviewten jungen Erwachsenen in ihrem Erleben häuslicher Gewalt wenn auch an unterschiedlichen Punkten immer auch zu einer Einschätzung von Hilosigkeit und Ohnmacht kommen. Zuvor oder auch begleitend nden sich Impulse von Flucht oder Handlung, wobei die Versuche des Eingreifens und Beendens der Gewalt nicht von Erfolg gekrönt waren.
6.1.3 Isolation und Schweigegebote Ein im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt sowohl in der Literatur als auch in den hier vorliegenden Interviews bedeutsames Thema sind die expliziten oder impliziten Schweigegebote und die damit verbundene Isolation der betroenen Familien.
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Karina schildert deutlich ihr Gefühl von Isolation und fehlenden sozialen Kontakten. Sie selbst tut sich in der Schule lange Zeit schwer, Freundschaften mit Gleichaltrigen zu knüpfen. Erst mit 15 oder 16, schildert sie, einen Freundeskreis aufgebaut zu haben, der unterstützend für sie war. In ihrer Kindheit dominierte das Gefühl der völligen Ausrichtung auf die Familie, das den Eltern sehr wichtig zu sein schien: Also ich hatte schon des Gefühl wir sind ziemlich alleine eigentlich, weil (-) (..) meine Eltern hatten nich wirklich viele Freunde (-) jedenfalls nich so die die, wo ich des Gefühl hab die sind wirklich wichtig. (-) Also kann ich mich nich dran erinnern. Die ham halt immer (-) mehr auf die Familie geachtet so (Karina, S. 14).
Auch Lisa und Anja berichten über die soziale Isolation ihrer Familien. Während Lisa das Problem in der räumlichen Distanz ihrer Verwandtschaft begründet sieht, berichtet Anja auch über emotionale Distanz, die auch aufgrund der gesundheitlichen Belastung ihrer Groÿeltern entstand: Also (-) wenn sie hier gewohnt hätten (-) glaub ich, hätte man auch ganz andern Kontakt gehabt, irgendwie viel intensiver (Lisa, S. 45). Ja, beim Umzug ham se geholfen, (..) des (-) is ja kein Thema, (-) aber ansonsten halt, warns halt nich da (sehr leise) (Anja, S. 20).
In Cemils Fall liegt die Isolation der Familie und insbesondere der Mutter auch in deren Migrationsgeschichte begründet. Cemils Mutter kam mit der Hochzeit nach Deutschland und fand hier neben ein paar Kontakten zu Verwandten nie richtig Anschluss. Seine Mutter begründet ihre Schwierigkeiten mit dem Verhalten des Vaters, während Cemil auch die mangelnde Motivation der Mutter als Grund für ihre wenigen Kontakte ansieht: Des war auch alles (-) des war (-) sie so, ja (-) ich bin nach Deutschland gekommen, war immer eingeschlossen in der Wohnung und so. (..) Obwohl (-) mein Vater hat sie auf Deu Dol ähh Deutschkurs und so angemeldet und so (-). Meine Mutter (-) hat's halt nich durchgezogen und so (Cemil, S. 6).
Eine besondere Einsamkeit beschreibt Cemil während seine Mutter für ein paar Wochen in die Türkei zurückkehrt. In dieser Zeit, so schildert er, gab es für ihn keinen stützenden Ansprechpartner: Aber sonst (--) war halt niemand, mit dem ich darüber reden konnte (Cemil, S. 11).
Das Fehlen einer Möglichkeit, die eigenen Erlebnisse, Sorgen und Bedürfnisse zu besprechen, schildern alle InterviewpartnerInnen gleichermaÿen. Innerhalb der Familie gab es groÿe Hemmungen, die Gewalt anzusprechen,
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einerseits, um weitere Eskalationen zu verhindern, andererseits aber auch, um die Mutter bzw. in Ninas Fall den Vater, nicht noch stärker zu belasten. Dieses innerfamiliäre Schweigen besteht in allen Familien auch nach einer Trennung weiter. Während Lisa und Karina berichten, dass die Gewalt in ihrer Familie immer weniger thematisiert wird, erzählt Nina von einer langsamen Annäherung an die Thematik im Gespräch mit ihrem Vater. Nach auÿen wirkte in allen Fällen eine Art Schweigegebot, das es den Jugendlichen fast unmöglich machte, sich Unterstützung zu holen oder jemandem von ihrer Situation zu berichten. Während Lisa von einem explizit ausgesprochenen Schweigegebot durch ihre Mutter berichtet, betont Anja ähnlich wie auch Nina von ihrem ganz eigenen Bedürfnis, die Probleme der Familie für sich zu behalten: Also da war'n (-) Vertrauenslehrer, (--) der is schon seit 40 Jahren oder so Vertrauenslehrer is (lacht), so n ganz netter und (-) aber ich hab nie mit dem geredet, ich hab's mir oft überlegt, aber (--) hab ich nie gemacht. (. . . ) Ich weiÿ nicht, meine Mam (-) meine Mutter hat uns damals auch immer gesagt, ja des (-) brauch niemanden zu interessieren was hier los is. (..) Und ich glaub des war auch so'n (-) (..) ja des hat ich immer im Hinterkopf und dann (-) hab ich s gelassen (Lisa, S. 18). (--) Hmm (-) ne ich hab mit niemandem drüber gredet, aber ich hatte auch nich des Bedürfnis, also (- ) (..) Es is, damals hab ich des auch so'n bisschen anders gsehn, also ( ) ich hab des einfach so gsehn, dass mein Dad einfach bissl gschubst is und (-) ja (-) des war also (-) mein Gott des hat zu unserm Alltag dazughört, sag ich mal. (-) Und des geht auch keinen irgendwas an, also so hab ich des damals gsehn (Anja, S. 28).
Anjas Mutter hält an diesem Schweigen aus Scham bis heute fest, während Anja selbst für sich einen sehr oenen Umgang mit ihrer Familiengeschichte gefunden hat. Und auch für Karina gab es immer ein deutliches Schweigegebot der Eltern, für die das Bild einer heilen Familie nach auÿen sehr wichtig war. Karina schildert ihren emotionalen Kampf mit sich und ihren Schuldgefühlen, als sie in der Klinik langsam beginnt, über ihre Probleme in der Familie zu sprechen: Später erst, als ich (--) ja eigentlich erst als ich des erste Mal so in der Klinik war. Und da weiÿ ich, dass es super schwierig für mich war, weil (-) weil ich immer des Gefühl hatte, oh Gott, ich verrat meine Familie, ich erzähl irgend'n Quatsch und die sind doch eigentlich alle so toll und die unterstützen mich so und (-) ja (-) (Karina, S. 16).
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Die Bedeutung der Fassade einer heilen Familie nach auÿen verstärkt die Schweigegebote und ist auch vielen Kindern selbst ein wichtiges Anliegen. Auf diese Weise nden sie wie auch Anja es hier schildert eine Möglichkeit, die eigene Familie gegen andere zu schützen und zu verteidigen: So war des nach auÿen hin und des war mir halt damals auch wichtig, dass ich halt diesen Schein gewahrt hab, dass wir halt irgendwo (-) dass wir a Familie sind, weil ich die andern (-) also die Verwandtschaft jetz schon auch als Konkurrenz gesehn hab irgendwo (Anja, S. 28).
Cemils Schweigen entsteht vor dem Hintergrund der Angst, vom Jugendamt aus der Familie genommen zu werden. Diese Angst entstand in Cemils Erinnerungen einerseits aus Äuÿerungen seiner Eltern, die diese in ihrer Überforderung zu nutzen versuchten, um sich und Cemil zu beruhigen, andererseits jedoch auch aus einem direkten Schweigegebot der Eltern, auf dessen Bruch die Inobhutnahme durch das Jugendamt folgen konnte: als mein Mutter halt gesagt hat, ja, keine Sorge und so, wenn's so weitergeht, dann holt euch des Jugendamt. Ich hatte sehr groÿe Angst vor dem Jugendamt, also (. . . ) (-) mein Vater hat auch zu mir gesagt und so, ja ich seh kein Sinn mehr (-) ich geb euch ans Jugendamt und so (Cemil, S. 13). Da war auch wieder (-) weil (-) andererseits ham sie auch immer meine Eltern gesagt, wenn erzählt es drauÿen niemandem und so, weil (..) wenn es jemand dann dem Jugendamt und so melden würde und so. (. . . ) Ja und da werden sie dich holen und so (Cemil, S. 43).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Schweigegebote und Isolation in den Familien der InterviewpartnerInnen auf unterschiedliche Weise entstanden und aufrecht erhalten wurden. Deutlich wird jedoch, dass die Kinder sowohl durch die Eltern aus Scham oder dem Wunsch eine gute Familie darzustellen, zum Schweigen angehalten werden, als auch selbst aus Scham- und Schuldgefühlen oder Angst vor Konsequenzen nicht die Möglichkeiten sehen, sich Auÿenstehenden anzuvertrauen.
6.2 Coping-Strategien Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen die unmittelbaren Reaktionen und Bewältigungsstrategien der Interviewten in ihrer Kindheit und Jugend. Unterteilt sind diese Strategien in Anlehnung an Lazarus & Folkman (1984) sowie Hege (1999) und Kindler (2002) in problemfokussierte Interventionsversuche und emotionsfokussierte Distanzierungsreaktionen.
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6.2.1 Problemfokussierte Interventionsversuche Wie in der bisherigen Darstellung deutlich wurde, beschreiben die jungen Erwachsenen ihr Erleben und ihre erste kognitive Einschätzung von Handlungsmöglichkeiten als stark von Gefühlen der Hilosigkeit und Ohnmacht begleitet. Dennoch berichten einige der InterviewpartnerInnen von direkten Interventionsversuchen, um gewalttätige Auseinandersetzungen zu stoppen. Gemeinsam ist ihnen, dass erste Interventionsversuche scheitern und diese Erfahrung zur Manifestierung des Gefühls von Hilosigkeit und Ohnmacht führt. Dies ist insbesondere in Karinas Schilderungen deutlich spürbar. Ihre ersten Versuche einzugreifen und ihre weiteren Überlegungen schildert Karina retrospektiv folgendermaÿen: also, manchmal bin ich schon auch dazwischen gegangen irgendwie und hab einfach gesagt, hör auf jetzt, z zu meim meim Vater irgendwie gesagt, hör einfach auf, weil (-) ich hab ihn nie angeschrien, ich musst halt einfach immer weinen und hab gedacht, wenn ich jetzt schon weine, dann (-) hört er doch auf irgendwie (lacht) weil, des kann er bestimmt nich haben, aber (-) des hat halt gar nichts gebracht, also die ham einfach weitergemacht (-) und (-) (..) Ja. (-) Auch im Urlaub oder so oder ich hab irgendwann gemerkt, wenn ich direkt eingreife, des bringt gar nichts (-) die hörn mir gar nich zu, die schrein einfach weiter, schubsen mich höchstens an die Seite und sagen geh ins Bett und (-) des is (-) oder sie sagen es is nichts, (lacht) (Karina, S. 26/27).
Hier zeigt sich ein deutlicher Prozess eines Reappraisals. Karinas erste Einschätzung durch ihre emotionale Reaktion des Weinens die Situation entschärfen zu können, weicht nach ihrer Erfahrung des Scheiterns im ersten Copingversuch einer Einschätzung von Hilosigkeit und Ohnmacht. Anja schildert vorsichtige Interventionsversuche, die schon im Keim erstickt werden, mit groÿem Sarkasmus, der ihr vermutlich die nötige Distanz verschat, von den Erlebnissen berichten zu können, ohne mit den damit verbundenen überwältigenden Gefühlen von Hilosigkeit in Kontakt zu kommen: auf jeden Fall (-) ging's halt dann total ab im Schlafzimmer und ich bin halt dann hin (-) zur Tür (-) und höich wie ich bin, klopf ich und frag was da los is, ah und da kommt er schon zur Tür gerannt und sperrt von innen zu (Anja, S. 10).
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Auf die Nachfrage, wie Anja weiter reagiert habe, kann sie zunächst nicht antworten, bzw. benennt das Fehlen einer Antwort, was ihre in der Situation entstandene Hilosigkeit widerspiegelt: Gute Frage, nächste Frage (--) weiÿ ich nich. (..) Was hab ich gemacht (--) keine Ahnung (Anja, S. 36).
Im Anschluss an diese von Pausen unterbrochenen Sätze nennt Anja emotionsfokussierte Strategien wie Ablenkung und den Gedanken daran, nach Ende der Eskalation helfen zu können. Eine in diesem Zusammenhang bedeutsame Perspektive in der Auswertung der Interviews war für mich die Berücksichtigung gesellschaftlicher Werte und Normen. Die in unserer Gesellschaft moralisch erwünschte Haltung von Zivilcourage fordert jeden von uns auf, in Fällen von gewalttätigen Übergrien einzugreifen oder Hilfe zu holen. Unterlässt man dies, kann das ein Tatbestand des Strafgesetzbuches sein: unterlassene Hilfeleistung. Trotz der Tatsache, dass Zivilcourage auch in der heutigen Öentlichkeit all zu oft fehlt, bleibt der moralische Anspruch und das normative Wissen um das richtige Verhalten der Hilfeleistung. Diesen moralischen Anspruch haben auch Kinder, die mit häuslicher Gewalt aufwachsen, in ihrer Sozialisation erfahren und gelernt. Deshalb entstehen aus der Unmöglichkeit der Mutter zu helfen, häug Schuld- und Schamgefühle oder eine Art Zwang zur Rechtfertigung. Dies ist auch in den hier untersuchten Interviews deutlich zu spüren. Schuldgefühle zeigen sich im Interview mit Lisa, in ihrem Vergleich ihrer Reaktion mit dem Verhalten ihres Bruders, der aktiv in die Auseinandersetzungen der Eltern eingreift: ich hab immer gedacht, warum bist Du nich dazwischen gegangen. (-) Da hab ich meinen Bruder immer bewundert. (. . . ) der (..) hat des irgendwie geschat und ich als Älteste nicht (Lisa, S. 20).
Lisa fühlt sich in der Retrospektive und vermutlich auch in der Situation selbst eigentlich in der Picht, Verantwortung zu übernehmen und zu handeln. Aufgrund ihrer Einschätzung der Situation sieht sie jedoch für sich keine Handlungsmöglichkeit und reagiert mit Flucht. Diese Reaktion führt bei Lisa zu Schuld- und Versagensgefühlen. Lisa bewundert ihren Bruder, der aktiv eingreifen konnte und stellt sich selbst die Frage, ob das nicht als älteste der Geschwister ihre Aufgabe gewesen wäre. Lisas retrospektive Einschätzung und Bewertung ihrer Handlungsmöglichkeiten bzw. ihrer Interventionsaufgabe, könnte im Sinne von Lazarus & Folkman (1984) als
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Reappraisal bezeichnet werden, das in Lisas Fall jedoch weniger einer hilfreichen Coping-Strategie dient, sondern eine zusätzliche Belastung in Form von Schuldgefühlen erzeugt. Der Zwang zur Rechtfertigung unterlassener Interventionsversuche wird besonders im Interview mit Anja sichtbar. Schon während des Interviews entstand bei mir als Interviewerin im Gespräch über ihre Reaktionen das Gefühl, sie explizit von Erwartungen und Schuldzuschreibungen entlasten zu müssen. In ihren Erzählungen schildert Anja immer wieder äuÿere Umstände, die unabhängig von ihrer Person waren und ihr ein Eingreifen unmöglich machten: Ähm ich hatte fast nie eine Möglichkeit (3s) hm (--) und wenn dann war s, ich weiÿ ned, des war a Sache irgendwo des Respekts, dass meine Eltern halt jetz streiten und deswegen soll ich wieder gehen, also (..) meine Mutter hat halt gesagt, ich soll gehen, weil sie nich wollte, dass ich's mitkrieg. (..) Und (-) mein Dad hat mich halt rausgschmissen also des war (..) des würde passiern zum Beispiel. (..) Und von daher wurde mir auch nich die Möglichkeit gegeben dazwischen zu gehen (Anja, S. 36).
Anja rechtfertigt ihre Tatenlosigkeit bzw. Hilosigkeit mit der Tatsache, weggeschickt worden zu sein. Anja sah in diesem Moment keine weiteren Handlungsmöglichkeiten und beendete an dieser Stelle ihre Interventionsversuche. Sie selbst begründet dies hier mit einem Gefühl von Respekt. Inwieweit dieser Respekt auch mit Gefühlen der Angst verbunden war, bleibt oen, ist aber stark zu vermuten. Während Nina und Lisa in diesem Punkt klar benennen, dass sie für sich keine Möglichkeiten sahen, die Gewalt zu beenden, ohne dies weiter zu rechtfertigen, spielt die Frage nach aktiven Interventionsversuchen im Interview mit Cemil retrospektiv eine groÿe Rolle. Dieser berichtet zunächst nur von Reaktionen der Angst und des Abwartens, wenn es um die Gewalt zwischen seinen Eltern geht. Nachgefragt, was er getan habe, schildert er zunächst, dass er keine Versuche unternommen habe, die Situation zu verbessern: (3s) Also (-) kein (--) damit es besser wird, hab ich halt eigntlich gar nichts also (-) m niemanden angerufn und so. Es (-) also ich wollt (--) also damals als wir noch (-) bevor wir äh ins (-) Frauenhaus gegang sind, hab ich mir gedacht, hoentlich hoentlich wird s bald besser und so. (..) Man hat halt immer Gedanken, mal wolltest du nichts m wolltest nich mehr m m dass sie zusamm sind, mal wolltest du dann wieder, dass sie zusamm sind und sich nie wieder streiten und so. (. . . ) Deswegen hab ich nie was unternommen (Cemil, S. 31).
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Cemil beschreibt hier sehr deutlich seine Ambivalenz bezüglich der Beziehung seiner Eltern und die damit verbundene Hilosigkeit. Einerseits möchte er das Ende der gewalttätigen Auseinandersetzungen, andererseits jedoch keine Trennung der Eltern. Diese Ambivalenz macht es ihm unmöglich, zu aktiven, problemfokussierten Strategien zu greifen, da er stark mit dem Chaos seiner eigenen Wünsche und Gefühle beschäftigt ist. Dennoch beginnt auch er seine Hilosigkeit zu verteidigen bzw. seine eigentliche Motivation, seiner Mutter aktiv zu helfen, darzustellen. Im Interview betont Cemil mehrfach, immer wieder über Möglichkeiten, seine Mutter zu verteidigen, nachgedacht und den Vorsatz gefasst zu haben, im nächsten Streit aktiv einzugreifen. Also ich hab's mir vorgenomm gehabt und so. Und (--) des war n des hab ich immer gedacht, also über die ganze Zeit und so des sind jetz sechs sieben Jahre (-) so ab seit drei, vier Jahren, hab ich mir des so richtig vorgenomm gehabt und so. Es is diesen Winter schon mal dazu gekomm und so (Cemil, S. 32).
Cemil berichtet hier von seinem langen Wunsch, die Gewalt gegen seine Mutter in Eskalationssituationen aktiv beenden zu wollen und betont, es vor kurzem auch geschat zu haben. Ebenso wie es Cemil nach der Trennung gelingt, aktiv in Gewaltsituationen einzugreifen, schildern Lisa und Anja auch ihre aktive Rolle im Trennungsprozess der Mutter. Hier fanden beide endlich ihren langen Wunsch nach Trennung erfüllt und begannen aktiv, die Mutter in ihrer Entscheidung zu unterstützen. So organisierte Lisa die Aufnahme im Frauenhaus und Anja bestärkte ihre Mutter immer wieder in der Überzeugung, dass Trennung die einzig richtige Entscheidung gewesen sei. Neben diesen Interventionsversuchen in akuten Gewaltsituationen oder während der Trennung beschreiben insbesondere Lisa und Karina auch ihre Versuche, aktiv die gesamte familiäre Atmosphäre zu beeinussen, um so präventiv weitere Gewalteskalationen zu vermeiden. Lisa schildert als Auslöser für Streitigkeiten häug Haushalt und Kindererziehung, was sich mit aktuellen Forschungsergebnissen deckt (vgl. Heynen, 2001; Kavemann & Kreyssig, 2005). Um diese Auslöser erst gar nicht entstehen zu lassen, unterstützte sie ihre Mutter aktiv im Haushalt, kümmerte sich um ihre kleine Schwester und war bemüht, Streitigkeiten ihrer Brüder möglichst schnell zu schlichten: Also ich war dann einfach nur froh, dass Ruhe war, (-) hab versucht ihn nich zu verärgern und meine Brüder (-) ausnanderzuhalten, dass die nich (lacht) (-) äh wieder streiten (Lisa, S. 24).
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Ähnlich schildert Karina ihre Versuche, die Gewalt in der Familie über ihr eigenes Verhalten zu beeinussen. Für sie war es wichtig, das nach auÿen hin von der ganzen Familie gewünschte Bild der Vorzeige-Familie zu erfüllen, um ihre Eltern nicht zu enttäuschen und so Auslöser für neue Streitigkeiten und schlechte Stimmung zu bieten: Aber des war eben halt auch so (-) dass ich gedacht hab, ok, wenn ich jetz nich mehr perfekt bin, wenn ich irgendwas falsch mache, dann (-) äh bricht des halt sofort ein. Und dann geht's meiner Mutter ganz schlecht und ja (-) dann is alles vorbei irgendwie (lacht), also es war schon n riesen Druck irgendwie. (..) Ich hab gedacht, ich muss des auch so aufrechterhalten, ich hab dann halt viel über (-) Leistung gemacht und (--) hatte tausend Hobbys irgendwie und (-) so dass meine Eltern einfach stolz auf uns sind und (-) ich hab gedacht, will ich des irgendwie ausgleichen so und (-) (Karina, S. 5).
Anja erwähnt nur kurz eine ähnliche Stimmung und Haltung innerhalb ihrer Familie, möglichst alle Wünsche und Vorstellungen des Vaters zu erfüllen, um keine weiteren Eskalationen zu provozieren. Also weil wenn wir alle nich so ticken, wie er will, dann (-) mein Gott, dann (--) eskaliert halt die Situation einfach. Und so was wird halt einfach vermieden und Ja-gsagt und gmacht und fertig (Anja, S. 40).
In ihrer Stimmlage, Betonung, Mimik und Formulierung scheint ihre Abwertung dieser Bewältigungsstrategie sehr deutlich, da sie nicht in ihr heutiges Bild von sich selbst als aktiv und autonom handelnder Person passt. Diese Strategien, durch Anpassung und Deeskalationsversuche weitere Gewalt zu vermeiden, sind in ihrem Kern aktive problemfokussierte Interventionsversuche, die jedoch auch häug zur Regulation der eigenen Gefühle beitragen, indem sie die Erwartungsangst vor weiteren Gewaltausbrüchen senken und das Gefühl vermitteln, diese doch wenigstens teilweise verhindern zu können. Hier zeigt sich schon der enge Zusammenhang beider Arten von Coping-Strategien, der auch im Bereich der emotionsfokussierten Reaktionen immer wieder deutlich werden wird.
6.2.2 Emotionsfokussierte Regulationsstrategien Der Blick auf innerpsychische Regulationsversuche bzw. emotionsfokussierte Coping-Strategien zeigt in den vorliegenden Interviews deutlich drei Typen von Reaktionen: zum einen aktive Distanzierungsstrategien von der Gewalt
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und den damit verbundenen Gefühlen, zum anderen kognitive Copingprozesse, die helfen, Gefühle zu kontrollieren oder Erlebnisse umzudeuten und zu guter Letzt die Regulation bzw. der Ausdruck der Gefühle auf körperlicher Ebene in Form von Symptombildung und Somatisierung. Aktive Distanzierungsstrategien zeigen sich durchgängig in allen Interviews. Die Jugendlichen berichten von Fluchtgedanken und -versuchen, dem Zimmer als Rückzugsort bei Gewalt, dem Wunsch viel Zeit auÿerhalb der Familie zu verbringen und vielfältigen Ablenkungsstrategien. Insbesondere bei Lisa und Anja führt der Wunsch nach Distanzierung bis hin zur klaren Überzeugung, dass die Trennung der Eltern der einzige und beste Weg zur Beendigung der Gewalt ist, was im Moment der Trennung bei beiden zu aktiven Interventionen führt. Obwohl sich Nina aufgrund ihres jungen Alters kaum mehr an ihre direkten Coping-Versuche erinnern kann, so weiÿ sie doch genau, während einer gewalttätigen Eskalation zwischen ihren Eltern, die ihr noch präsent ist, Schutz unter einer Decke gesucht zu haben. Sie benennt Verdrängung in diesem Zusammenhang auch als ihre vorrangige Strategie im Umgang mit der familiären Situation. Lisa beschreibt ihr Bedürfnis nach Distanzierung von der Gewalt sehr knapp und deutlich: in dem Moment war einfach (-) weg (. . . ) weg (Lisa, S. 20).
Ebenso wie Lisa, zieht sich auch Anja in ihrer Hilosigkeit während der Gewalt in ihr Zimmer zurück. Beide berichten davon, dass die Sorge um die jüngere Schwester einerseits der Ablenkung diente, andererseits jedoch auch ein Gefühl der aktiven Handlungsfähigkeit erbrachte und so die Gefühle von Hilosigkeit zu regulieren half: Und dann hab ich gmeint, sie soll sich hinlegen, sie soll sich keine Sorgen machen, ich krieg des schon, sie soll schlafen. Und sie hat sich hingelegt und hat geschlafen und des war halt schon irgendwie was, wo ich mir dacht hab, ja cool, sie vertraut ma soweit und (-) legt sich halt dann sag ma mal in meine Arme und (-) (..) (-) schläft ein (Anja, S. 20).
Lisa und Cemil berichten beide von Spaziergängen und Aufenthalten in der Umgebung der Wohnung, ohne dabei konkreten Beschäftigungen nachzugehen, sondern einfach, um nicht in der Familie sein zu müssen: Gar nicht weit, einfach nur einfach nur raus (lacht) (Lisa, S. 12).
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war ich eigentlich nich so der (-) jenige der immer sich mit Freunden getroen hat (-) sondern eher auch (-) ich bin alleine rausgegangn, bin einfach [. . . ], also rumgelaufen und so (Cemil, S. 10).
Anja dagegen berichtet von ihren Aktivitäten auÿerhalb der Familie und ablenkenden Hobbys, die hilfreich waren, sich von Gefühlen und Erlebnissen in der Familie zu distanzieren: Ich hab damals auch wahnsinnig viel Nachmittagsunterricht belegt, was mich vielleicht auch des eine Schuljahr gekostet hat. (-) Weil ich einfach nich daheim sein wollte, wenn mein Vater da is, also (-) (Anja, S. 29).
Karina reektiert und beschreibt die emotionsregulierende Funktion von Distanzierung und Ablenkung in ihrem Interview sehr anschaulich: ich weiÿ auch nich, was ich (-) ich hab schon dann (-) ganz viel einfach geüchtet, irgendwie in (-) weiÿ ich nich, dass ich gemerkt hab, ich lenk mich einfach ganz viel ab und (-) ich denk da nich drüber nach (-) dann war's auch nich so bedrohlich, weil ich glaub wenn ich mir viel Gedanken da drüber gemacht hätte, dann (-) hätt ich noch viel mehr Angst gehabt (Karina, S. 26).
Ablenkung erscheint, so wie Karina hier berichtet, als eine sehr wichtige und hilfreiche Coping-Strategie für alle InterviewpartnerInnen. Die vielfältigen Strategien, von denen die Jugendlichen berichten, stehen in engem Zusammenhang zu den ihnen verfügbaren Ressourcen. Karina berichtet von ihren phantasievollen Spielen und Geschichtenschreiben, Nina von ihrer Leidenschaft für Krimis und der entspannenden Wirkung einer Badewanne, während Cemil ebenso wie Anja eine enorme Begeisterung für Sport entwickeln. Lisa berichtet in diesem Zusammenhang von einer Freundin, die sie häug besuchen und dort allen Stress hinter sich lassen konnte. Der zweite groÿe Bereich emotionsregulierender Coping-Strategien ist der Bereich kognitiver Bewältigungsversuche, der insbesondere bei Anja und Lisa zu nden ist. Lisa berichtet im Zusammenhang mit hilfreichen Strategien von ihrem Versuch, in der unberechenbaren Atmosphäre ihrer Familie eine Orientierung zu nden: Meine Mutter hat immer auf ner Liege bei meim Bruder geschlafen und ich hab gedacht (-) ja, wenn sie sich hinlegt, dann passiert ja nichts mehr, dann schläft sie (-) und so. (-) (..) Und dann bin ich immer ewig wachgeblieben, hab wirklich gewartet bis sie dann auch ins Bett geht (Lisa, S. 21).
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Erst wenn die Mutter schlafen geht, kann Lisa sicher sein, dass es keine Auseinandersetzungen mehr geben wird. Bis die Mutter sich jedoch hinlegt, bleibt Lisa selbst wach, um von einer eventuell entstehenden Gewaltsituation nicht im Schlaf überrascht zu werden. Durch ihr Wissen um den Schlaf der Mutter kann Lisa ihre Angst vor erneuten Eskalationen so regulieren, dass sie selbst auch einschlafen kann. Ähnlich wie Lisa, die mit Hilfe dieser kognitiven Strategie ihre Gefühle reguliert und so zumindest ansatzweise Kontrolle über die Situation erhält, helfen Anjas kognitive Strategien ihr, mit ihrer Hilosigkeit besser umgehen und diese in einer für sie weniger passiven Weise betrachten zu können. Anja deutet ihre akute Hilosigkeit während der Gewalt in eine aktive Art des Da-seins um und reguliert so ihre damit zusammenhängenden Gefühle: von daher auch wenn ich jetz sag ma mal als Kind nix (-) ausrichten konnt oder so, aber ich war halt da und des hat für mich gezählt, dass ich einfach (-) da war. Also, ich weiÿ ned, dass (-) also für einfach irgendwo so des Ding, wo ich gsagt hab, hey du warst da, du warst jetz ned irgendwo drauÿen Fuÿballspielen oder so und (-) ähm (--) hast es halt mitkriegt, also (-) (Anja, S. 26).
Anja deutet hier ihr Abwarten und Aushalten der Situation als aktive Unterstützung der Mutter, was ihr Gefühl der Hilosigkeit zu bewältigen hilft. Anjas Gedanken an ihre Rolle als Trösterin und Unterstützerin nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen, sind ihre kognitiven Strategien, die akute Ohnmacht in der Situation selbst aushalten zu können. Inwieweit diese kognitive Strategie Anja schon in der Situation selbst zur Verfügung stand, in einer späteren Phase des Copings hinzukam oder auch eine von Anjas heutigen Strategien zur Intergration ihrer Vergangenheit in ihr aktuelles Selbstbild darstellt, bleibt unklar. Zu vermuten ist jedoch, dass Anja sich aufgrund ihrer starken Identikation mit der Mutter, bereits in der Gewaltsituation mit dieser eng verbunden fühlte und emotionale Unterstützung zu geben versuchte. Wann diese emotionale Nähe zur kognitiven Coping-Strategie wurde, bleibt oen. Zudem greift Anja zu einer weiteren kognitiven Strategie, um ihre Wut und ihren Hass auf den Vater zu regulieren und ihre Ohnmacht zumindest in der Phantasie zu überwinden: Ich mein (-) ich war (-) ich hatte dann a Zeit wo ich (-) so krank im Kopf war, dass ich mir überlegt hab, wie ich mein Dad aus'm Weg räum (-) ohne dass irgendjemand mitkriegt (Anja, S. 10). Ähm ich hab mir des einfach so (-) überlegt dass (-) zum Beispiel Variante: ihm irgend a Gift ins Essen mischen, so (Anja, S. 31).
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Auch Cemils Vorsatz, im nächsten Konikt aktiv einzugreifen und die Mutter zu schützen, kann als emotionsregulierende kognitive Bewältigungsstrategie betrachtet werden. Um seine erlebte Hilosigkeit besser aushalten und die Angst vor erneuter Gewalt regulieren zu können, fasst Cemil den Entschluss, in Zukunft aktiv in die Auseinandersetzungen einzugreifen und sieht seine steigenden Chancen, dass dies auch gelingen werde, in seiner zunehmenden körperlichen Stärke begründet: Na, ich hab mir auf jeden Fall vorgenommen gehabt, auch wenn mein Vater hier herkommt und so, (-) und sobald er irgendwie äh je älter ich gewordn bin, desto stärker ich mich gefühlt hab, (-) hab ich mir nur gedacht, sobald (-) er irgendwie dazu (--) s einfach sich nur traut meiner Mutter die Hand zu erheben, (-) werd ich ihn aus der Tür raus schmeissen (Cemil, S. 32).
Eine weitere spannende kognitive Coping-Strategie zeigt sich in den Interviews mit Anja, Lisa und Karina, die alle ihre jüngeren Schwestern mit versorgen und sich Gedanken über deren Erleben der Gewalt machen. Retrospektiv stellt Lisa sich ähnlich wie Anja und Karina im Interview die Frage, inwieweit ihre Schwester die Gewalt tatsächlich miterlebt hat: Und meine Schwester, die war damals sechs, ich weiÿ jetzt auch (-) ehrlich gsagt nich inwieweit sie des da alles mitgekriegt hat oder so (Lisa, S. 10). Meine Schwester hat des meistens ned mitgekriegt, erstens, wie gesagt, war se damals zu jung einfach (-) (..) (--) und ich glaub sie hat, ich weiÿ nich, (--) ja des warn die Jahre (--) da war se (4s) jetz muss ich rechnen, kurze Pause (-) ja zwischen sieben und neun sag ich mal. (..) Und ich glaub des (-) des checkst du als Kind dann noch nich so wirklich (-) (Anja, S. 37).
Diese Aussagen von Lisa und Anja erinnern stark an die Überzeugungen vieler misshandelter Mütter, die glauben, ihre Kinder hätten von der Gewalt wenig oder nichts mitbekommen (Jae et al., 1990) und kann hier, ebenso wie im Falle vieler Mütter, als eine kognitive Coping-Strategie im Sinne eines defensive Reappraisal (Lazarus & Folkman, 1984, S. 38) betrachtet werden. Lisa und Anja deuten parallel zu vielen Müttern die Betroenheit ihrer kleinen Schwestern aufgrund von deren jungem Alter zum Zeitpunkt der Gewalt als weniger dramatisch, um für sich besser damit umgehen zu können. In Anjas Interview dient diese Strategie auch der Distanzierung vom Verhalten der Schwester, die ganz im Gegensatz zu ihr Kontakt zum Vater hat und ihn nicht vollkommen ablehnt. Anja formuliert, sich nicht in das Erleben
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6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive
ihrer kleinen Schwester einfühlen zu können, was sowohl für das Gewalterleben, als auch für ihre heutige Beziehung zum Vater gilt. Für Anja ist die Deutung, ihre Schwester habe weniger mitbekommen, wichtig, um deren heutige Haltung dem Vater gegenüber wenigstens ansatzweise tolerieren zu können. Der dritte groÿe Bereich emotionsregulierender Coping-Strategien sind Symptombildungen und körperliche Beschwerden. Unverarbeitete und verdrängte Emotionen können immer auch in körperlichen Symptomen und psychischen Auälligkeiten zum Ausdruck kommen, was sich auch in der Darstellung der Folgen häuslicher Gewalt (vgl. Kapitel 3) deutlich gezeigt hat. Auch in den vorliegenden Interviews nden sich immer wieder Symptome und Auälligkeiten, die sowohl als pathologische Reaktionen als auch aus einer ressourcenorientierten salutogenetischen Perspektive als Bewältigungsversuche betrachtet werden können. Lisa betont ihre völlige Überforderung, sich in der Schule zu konzentrieren, also eine Konzentrationsstörung aus der Perspektive der Pathologie. Gleichzeitig bedeutet Schule für sie jedoch auch eine tägliche Auszeit von Gewalt und familiären Aufgaben, die im Sinne einer Distanzierungsmöglichkeit eine wichtige Bewältigungsstrategie Lisas unterstützte: Weil des war einfach so (--) ja (-) d diese paar Stunden vormittags warn eben die einzigen Stunden am Tag die ich da rausgekommen bin und da hab ich mich natürlich nich auf die Schule konzentriert (lacht) (Lisa, S. 17).
Karina erzählt in ihrem Interview immer wieder von ihrer Entwicklung einer Essstörung (Magersucht), die ihr im emotionalen Chaos ihrer Familie zumindest eine Art von Kontrolle ermöglichte: nämlich die über ihr eigenes Essverhalten. Karina selbst gibt eine spannende Erklärung vom Zusammenhang ihres Erlebens häuslicher Gewalt und der Entwicklung des Symptoms Magersucht: Weil ich hab's einfach nich mehr so mitgekriegt, ich hab ja den ganzen Tag nur irgendwie an's Essen gedacht (lacht) und keine Ahnung und (-) ja des war halt auch nich mehr so wichtig, da hatt ich dann auch n Halt wo ich mich mit beschäftigen konnte und wo (-) wo meine Eltern auch nich rein konnten einfach. Also die konnten sagen was sie wollten und es hat nix geändert, weil des war meins so und (-) (Karina, S. 20).
Nina berichtet von starkem Weinen ohne ersichtlichen oder bewussten Grund, Alpträumen und der Entwicklung von selbstverletzendem Verhalten in Form
6.3 Ressourcen und Schutzfaktoren
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von Ritzen.27 Karinas Magersucht kann ebenso als selbstschädigendes Verhalten betrachtet werden, wie auch Anjas selbstgewählte Kampfsport-Trainingsmethoden, die zu blutigen Knöcheln an den Händen führten. Selbstverletzendes Verhalten gilt allgemein als eine Art der Regulierung von emotionalem Druck und negativen Gefühlen, die einen wenn auch selbstschädigenden Bewältigungsversuch darstellt (vgl. Sachsse, 2002; Teuber, 1998).
6.3 Ressourcen und Schutzfaktoren Der folgende Abschnitt wendet sich nun dem Blick auf die Ressourcen und Schutzfaktoren oder in den Worten von Antonovsky (1981) den generalisierten Widerstandsressourcen zu, die den jungen Erwachsenen in ihrer Kindheit und Jugend zugänglich waren oder sind. Wieder sind die Berichte der Betroenen Maÿstab der Darstellung der Ergebnisse, so dass manche Ressourcen oder Widerstandsfaktoren stärker betont werden, während andere weniger Raum einnehmen. Unterteilt sind diese in die Resilienzfaktoren, die in Charakter, Eigenschaften und Fähigkeiten der jungen Erwachsenen selbst liegen, sowie Ressourcen, die im sozialen Umfeld zur Verfügung stehen und genutzt werden können. Im Anschluss daran wird die Nutzung professioneller Helfersysteme als Ressource für die Bewältigung häuslicher Gewalt beleuchtet werden.
6.3.1 Schutz- und Resilienzfaktoren der Betroenen Schon in der Atmosphäre der Interviews zeigen sich erste Resilienzfaktoren der betroenen Jugendlichen. So zeigen Lisa, Nina und Karina ein sehr ruhiges und auf Harmonie bedachtes Wesen, das auch in direktem Zusammenhang zu ihrer Coping-Strategie, keinen Streit aufkommen zu lassen, steht. Ob nun das ruhige und ausgleichende Temperament der jungen Frauen eine gute Vorraussetzung für ihre Bewältigung war oder ihr heutiges Auftreten aus der Lernerfahrung in der Familie stammt, ist nicht rekonstruierbar. Klar ist jedoch, dass sowohl ein erlerntes als auch ein angeborenes ruhiges und 27 Ritzen ist eine vor allem unter Mädchen im Teenageralter und Adoleszenz verbreitete Form der Selbstverletzung. Die Mädchen fügen sich selbst mit Rasierklingen, Messern oder auch Glasscherben mehr oder weniger tiefe Schnitte zu, um innerpsychischen Druck abzubauen, Schmerz spüren zu können oder sich selbst zu bestrafen. Teuber (1998) beschreibt in ihrem Buch mit dem passenden Titel Ich blute, also bin ich einfühlsam die Gründe und den Sinn des Symptoms ebenso wie die verborgene Not der Mädchen, die hinter dem Ritzen liegt.
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6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive
ausgleichendes Wesen einen deutlichen Resilienzfaktor darstellt (vgl. Werner & Smith, 1982; Laucht, 2006). Auch die Fähigkeiten, sich selbst zu beruhigen und eigene Gefühle gut zu regulieren, stellen eine wichtige innerpsychische Ressource dar, die eng an daraus entstehende Coping-Strategien geknüpft ist. So ist für Nina ihre Fähigkeit, sich durch Lesen oder ein Bad zu beruhigen, ein wichtiger Schutzfaktor, während für Anja und Cemil die Möglichkeit, Wut und Frust in sportlichen Aktivitäten auszuagieren, wichtige Ressourcen darstellen. Karina betont in diesem Zusammenhang die hohe Bedeutung ihrer Phantasie, die sie beim Lesen, Geschichten schreiben oder Puppenspielen ausleben konnte und die ihr eine gute Distanzierung von der bedrohlichen Realität ermöglichte. Anjas aus der Situation entwickelte Stärke bezeichnet sie selbst ebenso wie ihre optimistische Grundhaltung als groÿe Ressource. Sie spricht davon, sich selbst unterstützt (Anja, S. 21) zu haben, betont ihre mentale Überlegenheit (Anja, S. 35) gegenüber dem gewalttätigen Vater und weist immer wieder auf ihre Autonomie und Selbstständigkeit hin. Grundvoraussetzung dafür, so formuliert sie, sei die Tatsache, dass sie ned ganz so labil (Anja, S. 47) sei. Häug genannte Resilienzfaktoren oder Widerstandsressourcen in den Worten von Antonovsky (1981) sind Intelligenz und kognitive Fähigkeiten. Dies zeigt sich in den Interviews nur in indirekter Weise. Zum einen weisen alle InterviewpartnerInnen einen Schulabschluss auf, besuchen weiterführende Schulen oder haben einen Ausbildungsplatz gefunden. Zum anderen zeigen sich auch in den vielfältigen zuvor dargestellten Coping-Strategien kognitive Fähigkeiten der jungen Erwachsenen. Ebenso bestärken viele Erklärungen sowie Äuÿerungen und reektierte Erzählungen im Interview den Eindruck von guten kognitiven Fähigkeiten der jungen Erwachsenen. Weitere Ressourcen und Schutzfaktoren nden sich in Bindungsfähigkeit und dem sozialen Netz der jungen Erwachsenen und sollen im folgenden näher beleuchtet werden.
6.3.2 Ressourcen im sozialen Umfeld Die groÿe Bedeutung von Ressourcen im sozialen Umfeld zeigt sich in allen Interviews durchgehend. Alle Jugendlichen berichten von unterstützenden Beziehungen zu Einzelpersonen ebenso wie von der Bedeutung, in soziale Systeme eingebunden zu sein. So war für Nina ihre groÿe Schwester eine ebenso wichtige Bezugsperson wie für Karina ihre Groÿmutter und ihre Tante:
6.3 Ressourcen und Schutzfaktoren
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Ich denk, also wichtig is einfach ne Anlaufstelle, wo man auch hingehen kann, wenn man (-) wenn's ei'm einfach nich so gut geht. Also des war für mich immer meine Schwester (-) (Nina, S. 51). ich war halt (-) jede Woche bei ihr, als ich klein war (-) und des war so (-) ja da hab ich alles vergessen irgendwie, da hätt ich auch, also meine Oma hat (-) bis jetz des Gefühl so, oder die einzige Person so wo ich des Gefühl hab, die liebt mich wirklich so wie ich bin, egal was ich mache, also völlig wurscht irgendwie (Karina, S. 13).
In diesen Zitaten wird sehr deutlich, was auch die Bindungsforschung immer wieder betont: die groÿe Bedeutung einer Bindungsperson für Kinder, die als Ansprechpartner zur Verfügung steht und eine akzeptierende und wertschätzende Haltung vermittelt. Auch für Lisa waren ihre Geschwister eine wichtige Ressource, wenngleich sie wenig miteinander sprachen: Ich denk wir ham uns da schon gegenseitig Kraft gegeben (Lisa, S. 43).
Gespräche über die Gewalt, die Eltern oder auch ihre eigenen Reaktionen gab es unter den Geschwistern nicht. Das Wissen, mit der Situation nicht allein zu sein, kann jedoch schon allein stützend und hilfreich wirken. Die Studie von Kosonen (1996) bestätigt die groÿe Bedeutung von Geschwistern während der Kindheit als Quelle von Unterstützung und Hilfe (vgl. S. 267). Neben einer oder mehreren stabilen Bindungspersonen und der Unterstützung durch Geschwister tauchen in den Erzählungen der jungen Erwachsenen auch immer wieder unterstützende und hilfreiche Systeme und Kontakte im Auÿen auf. Cemil beschreibt beispielsweise ein lockeres Hilfsangebot der Nachbarn und deren aktives Nachfragen, wie es ihm geht, als enorm wichtig: Und wir hatten Nachbar(-)familie unten, des war'n Albaner (..) die ham (-) also weil es ja immer laut wurde und so, ham die uns halt (-) sind die hochgekommen, ham zu mir gesagt, ja wenn du Angst hast oder so, dann (-) komm, schlaf bei uns und so. Ich so, ne ich bleib bei m bei meiner Mutter. (. . . ) Ja, des war also (-) der Nachbar, des war eigentlich schon bisschen (--) ja (-) unsre Absicherung sozusagen, also (-) Schutz (Cemil, S. 3).
Von besonderer Bedeutung sind Kontakte, die den Kindern sowohl einen Abstand zur Herkunftsfamilie ermöglichen als auch in irgendeiner Art Unterstützung und Aktivität ermöglichen. So ist beispielsweise für Cemil sein Fuÿballverein ebenso wichtig wie für Anja das Kampfsportzentrum und für Lisa die Wochenendbesuche bei ihrer Freundin.
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6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive
Lisa beschreibt die hohe Bedeutung der Familie ihrer Freundin in kurzen und knappen Worten: Ja, also ich hab eigentlich die ganze Woche nur auf (-) mich auf Freitag gefreut. (lacht) (Lisa, S. 12). Ja, diese Wochenenden bei meiner Freundin ham mir sehr geholfen (Lisa, S. 28).
Für Cemil war der Fuÿballverein nicht nur eine gute Möglichkeit, seine Wut körperlich auszuagieren, sondern auch ein gutes Lernfeld, um soziale Fähigkeiten zu erproben: ich hab auch meine Wut damals, also es is auch immer noch so, ha hab ich halt beim Fuÿballtraining und so rausgelassen (Cemil, S. 12). Und (-) also Fuÿball hab ich mein ganzes Leben lang, des war wirklich (-) des einzige was mich (-) ganz von den Ge Gedanken befreit hat. Wo ich einfach nur (-) auf den Ball rum (-) gedroschen hab (Cemil, S. 42). Also (-) ich bin, des sagen auch wie ich gesagt hab, die bei Fuÿballverein, die Trainerin und so alle sagen zu mir (-) du bist sehr ruhig geworden. (..) Also früher hab ich auch auf dem Platz (-) hab meine Gegenmitspieler angeschrien und so. Hab in den Boden gestampft mit dem Fuÿ und so (Cemil, S. 48).
Im Fuÿballverein konnte Cemil seinen Umgang mit Ärger und Frust immer wieder trainieren und Alternativen zu gewalttätigen Mustern kennenlernen. Anerkennung dafür erhielt er, indem er zum Kapitän gewählt wurde. Anja beschreibt den Kampfsportverein ähnlich wie Cemil als Ort, an dem sie Unterstützung und die Möglichkeit sich selbst auszuprobieren erhält. Neben der Gelegenheit, Zeit auÿerhalb der Familie zu verbringen, ist für Anja auch die Tatsache wichtig, sich selbst im Zweifelsfall auch gegen den Vater verteidigen zu lernen und in einer Umgebung zu sein, in der es eine klare Orientierung an Werten und Normen gibt. Die Sicherheit vermittelnden Werte und die soziale Unterstützung im Kampfsportzentrum, bekommen für Anja noch einmal einen besonderen Wert, als ihr Vater nach der Trennung dort trainieren möchte und aufgrund von Anjas schon länger zurückliegenden Erzählungen im Zentrum, nicht aufgenommen wird: Und da ham se dann gsagt, sie wolln ned, dass mein Dad bei ihnen trainiert. Hm des war n guter Zug, weil des is, des wegen is mir des Karate auch sehr wichtig gewesen oder is es, weils einfach weils auf menschliche geht, also es geht halt ned bloÿ ums trainieren oder um
6.3 Ressourcen und Schutzfaktoren
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Wettkämpfe oder um sonst irgendwas, sondern es geht halt auch um ums menschliche und des fand ich schon toll und danach irgendwie (--) dann ja halt bei irgend am andern Verein trainiert, also (Anja, S. 33). Karina beschreibt die groÿe Bedeutung einer wertschätzenden und akzeptierenden Lehrerin, bei der sie sich sehr gefördert fühlte und so Schule als positive Erfahrung und Ressource kennenlernen konnte:
Dann hatt ich ne total tolle Klassenlehrerin, also mit denen sind wir auch jetz noch befreundet, weil (-) die war halt für mich genau richtig. Also äh irgendwie (-) war die halt (-) sie is immer auf mich eingegangen, die hat mich total gefördert ohne dass sie (-) dass ich irgendwie des Gefühl hatte, (-) ich wird jetz hier zum Streber oder (lacht) so was (Karina, S. 22).
Neben diesen zentralen sozialen Ressourcen nennen alle InterviewpartnerInnen auch immer wieder Freunde und Peers als unterstützende Kontakte. Karina benennt zudem ihr Kaninchen, das als ihr eigenes Haustier immer für sie da war. In allen Interviews wird sehr deutlich, welch hohen Stellenwert soziale Kontakte haben und wie wertvoll eine wertschätzende und unterstützende Bezugsperson für die Kinder und Jugendlichen ist. Auch wenn es den jungen Erwachsenen nicht, nur ansatzweise oder erst nach Beendigung der Gewalt möglich war, über ihre Erlebnisse zu sprechen, so waren doch alle Kontakte und alternativen Erfahrungen auÿerhalb der Familie von groÿer Bedeutung für die weitere Entwicklung der InterviewpartnerInnen.
6.3.3 Die Rolle der professionellen Helfer Alle InterviewpartnerInnen hatten in irgendeiner Weise Kontakt zu professionellen Hilfesystemen und berichten über zumindest einzelne positive Erfahrungen. Cemil, der während der Zeit im Frauenhaus Unterstützung im dortigen Kinderbereich erfuhr, schildert seine positiven Erinnerungen daran. In seinen Erzählungen stehen positive Erlebnisse von Aufmerksamkeit immer wieder im Mittelpunkt:
Es war halt kurz vor Weihnachten, bin ich halt dann noch zur Weihnachtsfeier, wir durften uns von der Kinderbetreuung aus Geschenke (-) halt wir durften uns was wünschen. Und ich bin halt dort (--) hin (-) ham sie mich halt eingeladn, mit'n Brief und so, ja (..) komm und
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6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive
so. Wir ham dein Geschenk und so. Und ich hatte halt damals (-) im meim Zettel halt auch ferngesteuertes Auto, hatt ich halt angegebn und (..) dann hab ich halt so eins bekomm (Cemil, S. 21).
Am wenigsten Kontakt mit professionellen HelferInnen hatte Lisa, die im Frauenhaus keinerlei Kontakt zu den Mitarbeiterinnen des Kinderbereichs aufnahm und sehr nah bei ihrer Mutter blieb. Sie kann sich kaum vorstellen, professionelle Hilfe für sich in Anspruch zu nehmen und betont ihren eigentlich für sie guten, alleinigen Umgang mit der Vergangenheit. Besonders abschreckend ndet Lisa die Vorstellung in einer Gruppe Hilfe zu suchen: ich weiÿ nich, so'n so ne Selbsthilfegruppe oder (-) (lacht) des wär (-) absolut nix (-) (Lisa, S. 28).
In ihrer Ablehnung einer Unterstützung innerhalb einer Gruppe sind sich Lisa und Nina sehr ähnlich. Auch Nina ndet diese Vorstellung erschreckend, sie begründet ihre Ablehnung gegenüber dem ihr gemachten Gruppenangebot folgendermaÿen: So zu dem Zeitpunkt war des für mich einfach nur ganz schrecklich zu wissen, dass dann andere Leute anscheinend über mich Bescheid wissen sollen und (-) (..) ich wollte des nich, ne (Nina, S. 52).
Im Gegensatz zu Lisa, hat Nina jedoch in einer Einzelberatung eine gute Unterstützung gefunden, die ihr wie sie es formuliert die Augen önet (Nina, S. 19), ihr hilft, die Vergangenheit einzuordnen und sie immer wieder von Schuldgefühlen entlastet. Ebenso wie für Nina die Beratung den Beginn ihrer aktiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit war, berichtet auch Karina, dass die Zeit, die sie wegen ihrer Magersucht in der Klinik verbrachte, der Startpunkt war, über ihre Erlebnisse und Gefühle zu sprechen. Karina beschreibt ihren Prozess in der Therapie als deutliche Distanzierung von ihrer Rolle als Vermittlerin in der Familie: ja dann (-) als ich dann mit der Therapie angefangen hab, hab ich dann schon gemerkt, irgendwie passt es nich, da hab ich aber dann noch ganz viel versucht zu vermitteln zwischen meinen Eltern (-) bestimmt noch n Jahr lang oder so. Und dann hab ich irgendwann gemerkt, ich kann mich nur entscheiden, entweder will ich jetz gesund werden (-) äh dann muss ich da irgendwie raus aus dem Kreislauf oder ich bleib jetz krank, weil ich mich da immer drum kümmer und (-) was weiÿ ich was versuche (-) was ja irgendwo auch umsonst is, ähm (--) komm ich da nich raus (Karina, S. 20).
6.3 Ressourcen und Schutzfaktoren
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Hilfreich ordnet sie dabei das Feedback der Therapeuten, deren Verständnis und Unterstützung ein. Insbesondere die Bestärkung, ihrer eigenen Wahrnehmung vertrauen zu können und die Akzeptanz dessen, was Karina über ihre Familie berichtete, als wahr und ihre Realität, war für Karina Kernstück positiver Erfahrungen im Hilfesystem. Auch Anja berichtet von ihrer Therapie als insgesamt positiv. In ihrem Fall war die Suche nach Unterstützung jedoch auch von einer negativen Erfahrung begleitet: scheinbar (-) vermittel ich so eine Fröhlichkeit über die Vorfälle und über mei Vergangenheit im Frauenhaus, ähm, dass eine Frau Doktor Therapeuten zu mir gesagt hat, a Psychiaterin oder was auch immer des war, zu mir gesagt hat, ich brauch keine Therapie, also ich mein (-) da bin ich nach dem Vorfall hin, also ich habs jetz nich angegrinst wie'n Mondkalb oder so (lacht) (..) aber ich hab halt einfach meine Geschichte erzählt und so (-) und sie hat gsagt, ja (-) du brauchst keine Therapie. Vielleicht wennst a mal an Rückfall hast, dann kannst dich ja melden bei mir. Und das nd ich halt dann schon übel so was, also (-) ähm (..) also von daher war ich dann doch froh, dass ich eben eine Therapeutin gefunden hab mit der ich (-) ähm einfach reden konnte (Anja, S. 46f ).
Hier wird Anjas Wunsch, trotz ihrer Stärke auch in ihrer Not ernst- und wahrgenommen zu werden, sehr deutlich. Diesen Wunsch äuÿern auch alle anderen InterviewpartnerInnen in irgendeiner Weise. Während Cemil und Nina dieses Bedürfnis indirekt durch ihre Freude, im Interview ihre Geschichte erzählen zu dürfen und damit ernstgenommen zu werden, ausdrücken, berichtet Karina von einer Erfahrung mit schulischer Gewaltprävention, die eine gegenteilige Wirkung hatte. Im Zuge einer Veranstaltung in der Schule wurde Hilfe und Unterstützung angeboten. Karina fühlte sich jedoch davon nicht angesprochen, da ihre Erlebnisse ihr im Gegensatz zu den präsentierten Fallbeispielen zu gering erschienen: Ja, weil wenn dann so was war, dann war'n halt immer gleich Extrembeispiele oder so was. Wo ich mir dann gedacht hab, na toll, da (..) super, da brauch ich ja gar nichts mehr sagen, des is ja lächerlich irgendwie. (..) Und, da kam ich mir dann halt immer total (-) nich ernst genommen vor, weil ich dachte, also (-) dagegen kannst du ja jetz gar nichts sagen (Karina, S. 45).
Hier wird unmittelbar deutlich, wie wichtig es ist, das Miterleben häuslicher Gewalt und die damit verbundene Belastung der Mädchen und Jungen
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ebenso ernst zu nehmen wie körperliche Misshandlungserfahrungen und diese Haltung sowohl im Alltag als auch in Präventionsarbeit, Beratung oder Therapie zu vermitteln. Auf die Frage, was die jungen Erwachsenen für wichtig halten, um andere Kinder, die häusliche Gewalt erleben, zu unterstützen, betonen alle die hohe Bedeutung einer Anlaufstelle bzw. AnsprechpartnerIn auÿerhalb der Familie, die nicht notwendigerweise aus dem professionellen Bereich kommen muss. Lisa und Karina formulieren klar ihren Wunsch nach aktiv angebotener Hilfe und machen damit auch deutlich, dass sie sich gewünscht hätten, gefragt zu werden: (4s) Hm (-) ja ich denk, wenn sie den Verdacht haben, dass da Gewalt in der Familie is, wirklich mal nachhaken. I: Mhm (-) ja. Also wirklich auch nachzufragen? L: Ja. Genau. (Lisa, S. 46). Ähm (--) ja und wenn sich einfach auch jemand vielleicht irgendwie eingemischt hätte, so also (-) (Karina, S. 40).
Anja äuÿert ihren Wunsch, mit ihren Problemen gesehen und danach gefragt zu werden, indirekt in ihrer Wut über ihre Nachbarn, die auf die Trennung der Eltern mit Unverständnis reagierten: Also auch damals unsere Hausbesitzer, also (-) wo wir die Wohnung drin hatten, (-) als wir dann die Sachen geholt ham, beim Umzug, äh als wir damals ausgezogen sind, ähm (-) die ham meine Mutter total blöd angeredet, also wirklich (-) total schro und (-) ja, unmöglich halt einfach, total unhöich. Ich sag jetz einfach mal unhöich, weil es einfach nich passend war und mein Dad war ja der (-) tolle Familienvater und wir sind so blöd, wir lassen ihn alleine und (-) und dann frag ich mich halt wirklich, hey Leute, schaut's ihr mal hinter die Kulissen oder (--) (Anja, S. 9).
Nina und Anja empfehlen deutlich eine Beratung oder Therapie, während Cemil die Bedeutung eines Vertrauensaufbaus in den Vordergrund stellt: Und (-) ähm (-) ich denk, dass a Therapie auf jeden Fall sinnvoll is und des würd ich auch jedem raten (Anja, S. 47). Also ich würd vielleicht dafür sorgen, einfach mal mit dem Kind (-) des Vertraun von dem Kind zu gewinn, mit dem da drüber zu reden. (. . . ) Und zeigen dass man wirklich für ihn da is (Cemil, S. 51).
6.4 Beziehungsgestaltung und Bindungsmuster
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Nina betont diesbezüglich die Bedeutung der Freiwilligkeit von Hilfsangeboten. Für sie ist entscheidend, dass es Angebote gibt, die jedoch auch die Wahl lassen, ob man erzählen möchte oder nicht: Und ähm (-) ja aber ich denk es is auf jeden Fall wichtig zu wissen, man kann irgendwo hingehen, wenn (-) wenn was is, oder (-) so. Aber man muss nicht, also man darf nicht unter Zwang stehen, (-) hab ich so des Gefühl (Nina, S. 51).
6.4 Beziehungsgestaltung und Bindungsmuster Häusliche Gewalt hat, wie schon in der Theorie dargestellt, immer auch Auswirkungen auf Bindungsmuster und Eltern-Kind-Beziehungen. Im folgenden Abschnitt geht es um Bindungsmuster und Beziehungen innerhalb der Familien, insbesondere zu Mutter und Vater als primäre Bezugspersonen. Nach der Analyse der Beziehungen zu Mutter und Vater sollen zwei besondere Merkmale der Beziehungsgestaltung, die in allen Interviews in unterschiedlicher Ausprägung beschrieben wurden, genauer betrachtet werden: Parentizierungen und Loyalitätskonikte.
6.4.1 Beziehung zur Mutter Alle interviewten jungen Erwachsenen beschreiben die Beziehung zu ihren Müttern als zunächst einmal gut (Lisa, S. 25), eng (Cemil, S. 7, Anja, S. 6) oder machen schon in der Aufstellung des Familienbrettes die Nähe zur Mutter deutlich (vgl. Karina, Anja, Cemil). Einzige Ausnahme ist hier Nina, die ihre Mutter als den gewalttätigen Elternteil erlebte und deren Beziehung deshalb stark von Angst geprägt war. Während Nina sich in dem Wunsch, niemals zu werden wie ihre Mutter, stark von dieser abgrenzt, beschreibt insbesondere Karina ihre starke Ähnlichkeit mit der Mutter. Auch Anja betont die emotionale Nähe zu ihrer Mutter und beschreibt diese als ihre beste Freundin (Anja, S. 6). Anja, Lisa und auch Karina identizieren sich stark mit ihren Müttern und übernehmen, nicht nur was die Betroenheit ihrer jüngeren Geschwister angeht (vgl. Kapitel 6.2), häug deren Perspektiven. Karina betont zudem die starke charakterliche Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, die ihre Beziehung so eng und bedeutsam macht: mit meiner Mutter kann ich schon sehr gut reden auch (-) ähm weil die (-) auch sehr viel versteht von dem was ich sage, eben weil weil sie mich so gut kennt, weil sie (-) mir sehr ähnlich is, so des (Karina, S. 32).
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Neben der grundsätzlich positiven Einschätzung der Beziehung zu ihren Müttern nden sich auch in allen Interviews Erzählungen von unerfüllten kindlichen Bedürfnissen und Enttäuschungen in Bezug auf das Verhalten der Mutter. Während diese im Interview mit Lisa unverbunden nebeneinander bestehen bleiben, äuÿert Karina auch Ärger und Wut über das Verhalten der Eltern, die sie heute empndet und schlägt selbst ausführlich den Bogen zwischen ihren früheren Erlebnissen und der heutigen Beziehung zu ihren Eltern. Anja dagegen äuÿert zwar vereinzelt Wünsche und Enttäuschungen, begründet jedoch das Verhalten ihrer Mutter aus deren Perspektive und wirbt um Verständnis dafür, so dass diese in ihren Augen keinen Einuss auf die Beziehung zu ihrer Mutter haben. Diese unterschiedlichen Beziehungsmuster sollen im folgenden kurz dargestellt werden. Auf die direkte Frage nach der Beziehung zu ihrer Mutter antwortet Lisa zwar spontan, aber stockend und es entsteht im Interview der Eindruck, als beantworte sie diese Frage zum ersten Mal und suche selbst gerade nach der richtigen oder passenden Antwort. Hm (-) also ich glaub hab zu meiner Mutter ne sehr gute Beziehung (3s) ja. Sonst würd ich auch nich mehr zuhause wohnen, glaub ich. (lacht) Ja. (Lisa, S. 25).
Lisa scheint sich hier aktuell eine Einschätzung der Beziehung zu ihrer Mutter zu erarbeiten und gibt aktiv eine Begründung ihrer Einschätzung. Eine Feinstrukturanalyse dieses Zitats lässt vermuten, dass Lisa spürt oder weiÿ, dass die Beziehung zu ihrer Mutter nicht nur durch positive Aspekte geprägt ist. So formuliert sie vorsichtig ich glaub und hängt ihrer Beschreibung der Beziehungsqualität sofort eine Art Beweis, nämlich ihr Zusammenleben mit der Mutter trotz ihres bereits erwachsenen Alters, an. Lisas Unsicherheit bezüglich ihrer Beziehung zu ihrer Mutter wird verständlich, wenn man diese in Bezug zu Lisas Wünschen oder Erwartungen an ihre Mutter setzt, die häug enttäuscht wurden oder werden und die Lisa im Interview klar formulieren kann. Und ich hab immer gedacht, warum warum haun wir nicht einfach ab, ich habs nie gesagt, aber ich habs mir immer gedacht. (-) (..) Und dann kam da so in die Richtung nix von ihr (Lisa, S. 7). dass sie ihm
[dem Stiefvater, Anm.d.V.]
nich alles geglaubt hätte
(Lisa, S. 24). früher gehen, denk ich (-) des nicht so weit kommen zu lassen (Lisa, S. 24).
Lisas Aussagen über Verhaltensweisen ihrer Mutter, die sie stören oder die sie sich anders gewünscht hätte, lassen die Enttäuschung oder auch Wut
6.4 Beziehungsgestaltung und Bindungsmuster
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auf ihre Mutter durch ihre Formulierungen ansatzweise spüren. Diese sind jedoch in der Interviewsituation weder in der Atmosphäre noch in Lisas Gestik, Mimik oder Konnotation deutlich zu spüren. Emotionale Reaktionen und Auswirkungen dieser Aussagen, die Lisa im Interview erstmals zu formulieren scheint, bleiben völlig unausgesprochen und sind nur durch ihre Formulierungen zu erahnen. Eine Stelle, an der Lisas Enttäuschung über das Verhalten ihrer Mutter sehr deutlich wird, steht im Zusammenhang mit ihrem starken innerlichen Wunsch, ihre Mutter möge ihre Situation verstehen, ihre Belastung erkennen und unterstützend handeln: Naja, ich denk ich hab einfach gedacht, sie kriegt es ja mit, sie weiÿ es ja (Lisa, S. 7).
Dieser kindliche Wunsch ist für Lisa bis heute unerfüllt, was in ihrer Aussage über den heutigen Umgang der Mutter mit der Betroenheit ihrer Kinder deutlich wird und in seiner Formulierung Lisas Enttäuschung darüber widerspiegelt: Ja, sagt bloÿ immer, ja (-) des muss so schlimm für euch gewesen sein (Lisa, S. 10).
Ebenso bleibt Lisas ganz aktueller Wunsch an ihre Mutter ohne konkrete Reaktion. Lisas Bedürfnis ist es, aus der Familienwohnung endlich umzuziehen in eine andere Wohnung, um die an den dortigen Räumlichkeiten haftenden Erinnerungen hinter sich lassen zu können: Nja, dass sie sich um ne andre Wohnung kümmert. (. . . ) Weil da is doch (-) ja (-) zu viel passiert. (Lisa, S. 27).
Im Zusammenhang mit diesem heute aktuellen Wunsch an ihre Mutter, äuÿert Lisa auch ihren Plan, noch dieses Jahr von zuhause auszuziehen: Also ich will jetzt auch ausziehen, dieses Jahr noch. (. . . ) einfach wegen den ganzen Erinnerungen. (Lisa, S. 27).
Lisas Wunsch auszuziehen ist einerseits sicherlich durch ihre langsam einsetzende adoleszente Ablösung von der Mutter zu begründen, andererseits lässt dieser jedoch auch vermuten, dass Lisa langsam beginnt, die Beziehung zu ihrer Mutter in Frage zu stellen, ihre Enttäuschungen gegenüber ihrer Mutter zuzulassen und mehr und mehr die Sorge für sich selbst zu übernehmen. Wenn ihre Mutter trotz ihres Wunsches und der Tatsache, dass Lisa sie im-
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mer wieder darauf anspricht ( des mit der Wohnung sag ich ihr schon öfter (lacht) (Lisa, S. 27) ) nicht nach einer anderen Wohnung sucht, übernimmt Lisa die Verantwortung und wird aktiv, diesmal jedoch nicht für die ganze Familie, wie sie es in Zusammenhang mit dem Umzug ins Frauenhaus getan hat, sondern für ihr eigenes Leben. Während in Lisas Interview keinerlei emotionale Reaktion von Wut, Ärger oder auch Traurigkeit bezüglich ihrer Enttäuschungen durch die Mutter zu spüren ist, äuÿert Karina retrospektiv auch Ärger und Wut über das Verhalten ihrer Eltern: Also des nd ich dann schon krass und (--) ja da bin ich mittlerweile schon richtig wütend, weil ich mir denke, meine kleine Schwester und ich ham da beide gestanden, wir ham beide geweint, es war mitten in der Nacht (-) ich hab gesagt ich schreib morgen meine Klausuren, ich kann jetz nich mehr und hört einfach auf zu streiten, macht des morgen, wenn wir in der Schule sind. (--) Und sie ham's einfach so ignoriert, des is irgendwie (-) (Karina, S. 29).
Die in ihrer Biographie in Form von Magersucht gegen sich selbst gerichtete Aggression kann Karina hier an ihre Eltern adressieren. Im tatsächlichen Gespräch mit den Eltern, so berichtet sie, ist dies jedoch nach wie vor schwierig: Ja und wenn ich jetz i ich kann schon mit ihnen einzeln manchmal reden, was ich nich in Ordnung fand, aber ich hab dann immer des Gefühl, ah sie nehmen's irgendwo als Anlass, dass sie wieder über den andern herziehen können und sagen können, ja genau, des is auch total blöd bei deim Vater, so hab ich mich dann auch gefühlt und so, wenn ich halt meiner Mutter sage, ja (-) was weiÿ ich was er jetz einfach gemacht hat irgendwie, dann (-) sagt sie, ja genau des hat er bei mir auch immer gemacht und dann hab ich schon wieder keine Lust mehr, weil ich dann denk, man kann ich nich einfach mal (-) selber irgend'n Problem haben, ohne dass du gleich wieder sagst, ja des s des is auch bei mir so gewesen und (-) (Karina, S. 30).
An dieser Stelle wird deutlich, wie Karina sich langsam aus der von ihr zu Beginn des Interviews beschriebenen Identikation mit der Mutter zu lösen und als eigenständig abzugrenzen versucht. Trotz ihrer heute gewonnenen Distanz zur Vergangenheit und ihren Versuchen sich der Dynamik ihrer Familie zu entziehen, beschreibt Karina die immer noch stark wirkende Identikation mit der Mutter: (--) Ja ich ich verteidig meine Mutter immer gegenüber meim Vater. Des mach ich andersrum nich, bei meiner Mutter, die unterstütz ich
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immer und sag, ja da hast auch echt recht und des is total scheiÿe, des macht der mit mir auch. Bei meim Vater sag ich (--) ne also des stimmt alles nich was du sagst (-) (Karina, S. 34). Obwohl ich jetz natürlich weiÿ, die ham beide ihre Anteile, was nich in Ordnung war und (-) trotzdem es geht schon immer meine Mutter, so dass ich denke, (-) ja sie hat mehr Recht als mein Vater (Karina, S. 32).
Karina äuÿert retrospektiv klar Wünsche und Bedürfnisse an ihre Eltern, die enttäuscht wurden und für sie zu einer hohen Belastung führten. Kritik und Wünsche formuliert Karina jedoch immer auf beide Eltern bezogen und dierenziert nicht zwischen dem Verhalten von Mutter und Vater. Dies kann zum einen darin begründet sein, dass es ihr aufgrund ihrer starken Identikation mit der Mutter leichter fällt, diese nur indirekt als Teil ihrer Eltern zu kritisieren. Zum anderen aber auch in Karinas Erleben der Gewalt zwischen ihren Eltern, als zwar vom Vater dominiert, aber doch wechselseitig eskalierend und somit von beiden Elternteilen ausgehend. Karina fühlt sich von ihren Eltern weder unterstützt noch in ihren Bedürfnissen ernst genommen. Ihr retrospektiv gröÿter Wunsch beinhaltet mehr Ehrlichkeit von Seiten der Eltern: ja meine Eltern hat's nich interessiert (lacht) irgendwie (Karina, S. 4). Also (-) mir hätt's auf jeden Fall geholfen, wenn meine Eltern irgendwo ehrlicher gewesen wären (Karina, S. 39).
Die groÿe Belastung, die Karina aufgrund der Gewalt und insbesondere deren Verleugnung durch die Eltern spürt, sieht sie weder von ihrer Mutter noch von ihrem Vater wahrgenommen. Trotz ihres Auszuges und der groÿen räumlichen Entfernung zu ihren Eltern fühlt sich Karina nach wie vor stark in die Familiendynamik eingebunden und gerät immer wieder in Loyalitätskonikte, die im Anschluss noch näher beleutet werden sollen. Anja äuÿert im Vergleich zu Lisa und Karina wesentlich weniger kindliche Wünsche und Bedürfnisse, die enttäuscht wurden. Vielmehr betont Anja immer wieder das enge und gute Verhältnis zu ihrer Mutter, das in ihren Erzählungen wie eine symbiotische Beziehung anmutet: Ähm (-) meine Mama war für mich (-) meine Mama und gleichzeitig eben beste Freundin. (-) Ich (-) bin schon irgendwo a Musterkind, also (-) ich häng verdammt an meiner Mutter, also (-) sie is mir sehr wichtig. (-) Ähm, des war schon immer so, s hat sich nie was dran
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6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive geändert und (-) ich hätt mei Mutter a nie allein glassen oder so, also immer, ja, also (-) (Anja, S. 26).
In ihrer starken Identikation mit der Mutter ist es Anja kaum möglich, von eigenen Enttäuschungen oder unerfüllten kindlichen Bedürfnissen zu sprechen. Anja berichtet nur kurz und nach zögerlicher Pause von ihrem Wunsch nach Trennung der Eltern: Also des (4s) also mein Wunsch wär damals gewesen, sie soll weggehen von ihm, ja (Anja, S. 30).
Anja betont jedoch sofort im Anschluss daran ihre gute Beziehung zu ihrer Mutter und deren mütterliche Kompetenzen. Die Enttäuschung ihres kindlichen Wunsches nach Trennung löst sich in der Identikation mit der Mutter auf. Anja übernimmt Perspektive und Begründung der Mutter und betont ihre vollkommene Übereinstimmung damit: (--) Also (--) ich weiÿ nich (-) ich hab bis jetz noch nie des Gefühl ghabt, wo ich sagen muss, hey, da hättst mehr Mama sein sollen, also (-) (..) ich muss sagen (-) meine Mama war immer top, also (-) (. . . ) des is (-) für mich ned irgendwie gewesen, hey jetz hättst halt n Schnitt gmacht Mum, oder so, sondern ich hab meine Mutter voll und ganz verstanden und von daher kann ich nich sagen, ich hätt von meiner Mutter in ner gewissen Situation mehr erwartet, also (-) ich glaub meine Mutter hat einfach so wie sie reagiert hat (-) bestens reagiert (Anja, S. 39f ).
An dieser Stelle wird sehr deutlich, dass es Anja auch im retrospektiven Blick auf die Vergangenheit nicht möglich ist, ihre eigene Perspektive einzunehmen und ihre damaligen Bedürfnisse oder Enttäuschungen wahrzunehmen. Anja ist so stark mit ihrer Mutter und deren Verhalten identiziert, dass sie zu eigenen Gefühlen und Bedürfnissen hier keinen Zugang hat, was für sie sicher auch einen eektiven Schutz vor überwältigenden Gefühlen darstellt. Die enge und gute Beziehung zu ihrer Mutter lässt in der Vergangenheit ebenso wie retrospektiv keine Kritik oder Enttäuschung gegenüber der Mutter zu, da diese die Identikation gefährden und damit die Beziehung in Frage stellen würde. Ein Verbundensein im Getrenntsein, wie Benjamin (1990) es formuliert, ist für Anja in diesem Punkt unmöglich: Es scheint keine gute Beziehung neben einer Kritik am Verhalten der Mutter bestehen bleiben zu können. Daher ist es für Anja so bedeutsam, die Mutter von jeder Kritik insbesondere in der Vergangenheit zu entlasten.
6.4 Beziehungsgestaltung und Bindungsmuster
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Im heutigen Umgang mit der erlebten Gewalt ist es Anja nur langsam möglich, von der Meinung der Mutter Abstand zu nehmen, was sicher auch durch die einsetzende adoleszente Ablösung möglich wird. Sichtbar wird dies in Anjas leiser Kritik am immer noch anhaltenden Schweigen der Mutter über die erlebte Gewalt. Anja selbst betont ihren oenen Umgang mit ihrer Vergangenheit und äuÿert dabei ihr Unverständnis für das Schweigen der Mutter: Wobei meine Mutter halt (--) was der Unterschied zu uns beiden is (-) meine Mutter hat n absolutes Problem über des zu reden was vorgefallen is, also (--) auch jetz irgendwie vor Fremden oder so, (. . . ) also (-) meine Mutter möchte des nich, dass des irgendjemand weiÿ. (..) Was ich nich versteh, weil (-) dadurch eben (-) so Gerüchte hochkommen, dass sie quasi die Schuldige is. (-) Und ich hab da absolut kein Problem drüber zu reden, also ich mein (-) ich respektier des und akzeptier des, wenn meine Mutter sagt, sie möchte des nich, dass ich des dem und dem und dem erzähl, dann tu ich des auch nich (-) aber so lang sie mir da keine Grenzen setzt hab ich auch kein Problem dadrüber zu reden (Anja, S. 27).
Diese Abgrenzung gegenüber der Meinung der Mutter dient hier jedoch auch ihrer Rolle als Beschützerin und Unterstützerin der Mutter und zeigt deutlich die immer noch bestehende Rollenverteilung zwischen Mutter und Tochter. Anja sieht einerseits für sich einen Gewinn im oenen Umgang mit ihrer Vergangenheit und grenzt sich somit von der Meinung der Mutter ab. Andererseits begründet sie diese Abgrenzung bzw. ihre von der Mutter abweichende Meinung auch mit ihrem Anliegen, diese vor Schuldzuweisungen durch Auÿenstehende schützen zu wollen, was einmal mehr ihre Rolle als starke Unterstützerin der Mutter deutlich macht. Im Gegensatz zur mehr oder weniger starken Identikation der jungen Frauen mit ihren Müttern beschreibt Cemil zwar eine enge Beziehung zur Mutter in der Kindheit, übernimmt jedoch in seinen Erzählungen auch stark die Perspektive des Vaters und identiziert sich mit diesem. Die Hypothese einer geschlechtsspezischen Perspektivübernahme kann hier nur vermutet werden und bleibt in weiteren Untersuchungen zu klären. Die Beziehung zu seiner Mutter in der frühen Kindheit beschreibt Cemil als sehr eng. Trotz der Gewalt und einiger Angebote von Bekannten und Verwandten bei ihnen übernachten zu können, blieb Cemil stets bei seiner Mutter: Ich so, ne ich bleib bei m bei meiner Mutter (Cemil, S. 3).
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6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive
Ein starker Bruch in der Beziehung zu seiner Mutter, war deren erster Trennungsversuch und der damit verbundene längere Aufenthalt in der Türkei. Für Cemil war lange unklar, ob und wann seine Mutter zurückkehren würde: Und dann ist sie dort (--) ich hab halt tagelang geweint, ich so, la lass mich in (-) lass mich nich alleine und so. (-) So ja, dein Vater is doch da und so, s is, ich will nich mit deim Vater bleiben und so. (--) Also ich war den ganzen Tag zuhause am weinen (Cemil, S. 7).
Nachdem die Mutter nach Deutschland zurückkehrt, scheint sich die Beziehung nicht wieder vollständig herzustellen. Als die Mutter sich erneut trennt und ins Frauenhaus geht, weigert sich Cemil sie zu begleiten und äuÿert den klaren Wunsch, bei seinem Vater zu bleiben. Cemils Beziehung zu seiner Mutter ist zudem stark geprägt durch deren Putzzwang, der auch häug Grund für Auseinandersetzungen in der Familie war. Da sie die meiste Zeit mit dem Putzen des Bades verbrachte, war seine Mutter für Cemil emotional nicht erreichbar. Cemil dierenziert klar zwischen seinem kindlichen Wunsch, der Putzzwang der Mutter möge aufhören, und retrospektiv verallgemeinerten Wünschen: (--) Also ich hab mir immer (-) bis also von meiner Mutter gewünscht, (-) dass sie echt ihren (-) diese Sturheit und so lassen würde (-) aber erst im nachhinein. Früher, in der Grundschule halt sozusagen immer, wenn ich nach Hause komm, dass sie nich im Bad drin is, so (Cemil, S. 40).
Cemil beschreibt hier starke Ambivalenzen gegenüber seiner Mutter. Einerseits sieht er sich als deren Beschützer, wünscht sich, sie gegen die Gewalt des Vaters verteidigen zu können. Andererseits jedoch macht das Verhalten der Mutter ihn aggressiv und er äuÿert Wut und Ärger, bis hin zur Aggression gegen seine Mutter: sogar ich denk mir manchmal ich würde ihr an die Gurgel gehen und so (Cemil, S. 36).
Als bedeutsamer Aspekt der Beziehung zur Mutter zeigt sich in allen Interviews auch eine mehr oder weniger starke Parentizierung, die aus dem Erleben der Mutter als hilos und ohnmächtig entsteht. Diese besondere Form der Beziehungsgestaltung, die eine starke Beeinträchtigung der Mutter-Kind-Bindung mit sich bringt, wird im Folgenden noch ausführlich angesprochen werden.
6.4 Beziehungsgestaltung und Bindungsmuster
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6.4.2 Beziehung zum Vater In den meisten Interviews ist der Vater bzw. in Lisas Fall der Stiefvater, der in erster Linie gewaltausübende Elternteil. Ausnahme ist hier wieder Nina, deren Mutter gewalttätig gegen ihren Vater und ihre Schwestern wurde. In ihrem Fall stellt der Vater den Elternteil dar, der ihr Sicherheit gibt. Ihre Beziehung zu ihrem Vater war emotional eher distanziert bzw. nich so innig (Nina, S. 8) , was Nina in seiner Belastung begründet sieht. Die Beziehung zu ihrem Vater war zwar von Sicherheit und Spaÿ geprägt, jedoch mit wenig emotionaler Wärme und Empathie verbunden. Eine Annäherung ndet erst in der letzten Zeit über Gespräche statt, die Ninas Fragen bezüglich ihrer Mutter beantworten sollen. Jedoch ist es Nina, die immer wieder die Beziehung zu ihrem Vater aufnimmt und sowohl Gespräche über die Vergangenheit als auch den Austausch von Alltagsinformationen forciert: Und auf Deutsch gesagt: ich muss es nich, aber ich mach es trotzdem. Also immer wenn ich irgendwo weggeh oder bei andern bin, dann sag ich, so ich geh jetz oder ich bin hier und dort (Nina, S. 44).
Im Gegensatz zu Ninas aktiver Beziehungsarbeit gegenüber ihrem Vater nden sich in den anderen Interviews eine groÿe Distanz zum Vater/Stiefvater und mehr oder weniger aktive Strategien der Abgrenzung. In den Familienbrettern wird deutlich, dass der Vater häug abseits (Cemil, S. 2) steht oder einen groÿen Abstand zur Familie hat. Dieser ist Ausdruck des von den meisten InterviewpartnerInnen beschriebenen fehlenden oder nicht gewünschten Kontaktes zum Vater: Also mein Vater hat uns dann (-) durch den Streit mit meiner Mutter hat er uns auch se (-) zwei meinen kleinen Bruder und mich sehr vernachlässigt (Cemil, S. 38). Ähm (-) ja wirklich was (-) also, ich weiÿ nix von ihm und er weiÿ eigentlich nix von mir, also so (Anja, S. 6).
Bei Nina ndet sich eine ähnliche Abgrenzung gegenüber der Mutter, wenn sie äuÿert, einfach niemals so werden (Nina, S. 16) zu wollen wie ihre Mutter. Lisa beschreibt diese von ihr auch aktiv hergestellte Distanz zu ihrem Stiefvater im Interview in einer spannenden Dialogsequenz im Zuge ihrer Hypothesen, warum ihr Stiefvater gewalttätig wurde: L: Obwohl des wahrscheinlich auch viel, ja (-) er hat immer gesagt, wir sollen Respekt vor ihm haben.
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6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive
I: Mhm (--) ja. (--) Was war für dich Respekt? L: (--) hm (--) I: Wenn er des von dir einfordert? L: Ja, des ging nich. Also ich hatte ich hatte nur Angst vor ihm. Und Respekt denk ich (-) hat was mit Anerkennung zu tun, (-) oder so (-) (Lisa, S. 36f ).
Lisa äuÿert im Zusammenhang mit der Nachfrage, welche Bedeutung bzw. welches Ziel der Einsatz von Gewalt in ihrer Familie hatte, die Erwartung ihres Stiefvaters an sie, Respekt vor ihm zu haben. Dieser Respekt war für Lisa jedoch so nicht möglich, da ihre Beziehung viel zu sehr von Angst geprägt war und Respekt für sie Anerkennung voraussetzt, die sie ihrem Stiefvater aufgrund seines Verhaltens nicht entgegenbringen konnte. Auf meine Nachfragen im Interview, welches Verhalten ihr Vater erwartete, wenn er Respekt einforderte, speziziert Lisa dies Stück für Stück als Erwartung mit ihm in Kommunikation zu treten und ihn einzubeziehen: Ja, also (-) ich hab (-) ja wenn ich irgendwas gefragt hab, (-) irgendwas, ich bin nie zu ihm gegangen (-) und des hat ihm halt nich gepasst. (. . . ) Also ich hab ihn (-) ganz in Ruhe gelassen. (. . . ) Ja (-) hm (--) Dass ich ihn qua (-) also ich denk er wollte dass ich (-) mit irgendwelchen Sachen zu ihm komm. (. . . ) Und dass ich ihn da irgendwie nich so auÿen vor lass. (Lisa, S. 37).
In dieser Sequenz beschreibt Lisa die Beziehung zu ihrem Stiefvater als sehr distanziert, immer auf den Sicherheit bringenden Abstand bedacht. Es war ihr nicht möglich mit ihrem Stiefvater Dinge des alltäglichen Lebens zu besprechen, da sie ihre Angst davon abhielt. Im Interview bringt sie dies in Zusammenhang mit der Forderung des Stiefvaters nach Respekt, den sie ihm nicht entgegenbringen konnte, da sie ihn nicht als Ansprechpartner akzeptieren und ihm Anerkennung entgegenbringen konnte. Auf diese Weise verleiht Lisa ihrer Beziehung bzw. der Distanz in der Beziehung zu ihrem Vater neben dem Aspekt der Angst auch den des Respekts und der Anerkennung, die sie ihrem Vater aktiv verweigert. Auch Anja grenzt sich durch ihre stark verachtende Haltung aktiv von ihrem Vater ab. So beschreibt sie ihn als einfach bloÿ lächerlich (Anja, S. 13) oder bissl gschubst (Anja, S. 28) bzw. ned ganz sauber (Anja, S. 10) , im Sinne von verrückt und lebenspraktisch unfähig. Diese Distanzierung ermöglicht es ihr, sich überlegen und weniger ausgeliefert zu fühlen: Aber was für mich gezählt hat, war halt des Mentale, also rein psychisch gesehen, hab ich mich überlegen und stärker gfühlt (Anja, S. 35).
6.4 Beziehungsgestaltung und Bindungsmuster
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Anja berichtet im Interview sehr deutlich von ihrem negativen Bild ihres Vaters und ihrer Verachtung für ihn. Lediglich an einer Stelle erscheint ihr Vater kurz in einer positiven und unterstützenden Rolle für Anja: A: Des [der Kampfsport, Anm.d.V.] war mir schon sehr wichtig, da (-) hatt ich dann auch meine Ruhe vor meim Vater (-) wobei er halt auch andererseits (-) damals ziemlich stolz auf mich war. (-) Weil ich eben ziemlich gut war. (--) Aber (--) hm (3s) I: Hast du des annehmen können, wenn er stolz auf dich is, hat dich des auch'n bisschen (--) A: Naja, eigentlich nich, weil ich wusste, wie hart ich gearbeitet hab und (-) dass ich's mir eigentlich auch verdient hab und des war mir eigentlich egal, ob er stolz auf mich is oder so (Anja, S. 32).
Hier wird deutlich, dass sich Anja scheinbar erst im Erzählen vom Kampfsport und in der Beschreibung dessen, was ihr daran gut tat, die Perspektive auf den Stolz ihres Vaters wieder erönet. Im Interview reagiere ich in der Rolle der Interviewerin auf diesen Stolz, indem ich von Anjas emotionaler Schilderung ihres Vaters überwältigt, deren Perspektive übernehme (vgl. Jensen & Welzer, 2003, S. 7) und nach der Möglichkeit frage, von ihrem Vater Stolz und Anerkennung positiv annehmen zu können. Anja hat ihren Vater bisher in Abwertung und Verachtung geschildert, so dass es mir in der Perspektive Anjas schwer fällt, von diesem Vater Stolz und Unterstützung anzunehmen. Dies spiegelt Anjas Bild ihres Vaters, dass sie zu vermitteln sucht. Ein Vater, der ihr nie hilfreich war, gegen den sie kämpfen und sich abgrenzen muss, da sein Verhalten zu keinem Zeitpunkt akzeptabel war. Auf in der Kindheit unter Umständen vorhandene Ambivalenzen gegenüber dem Vater gehe ich im Interview an dieser Stelle nicht ein, sondern bleibe, auf Grund emotionaler Überwältigung durch die zuvor geschilderte Gewalt des Vaters, in der Perspektive Anjas. Dies ist auch mit der moralisch begründeten Identikation mit Anja als Opfer und der Distanzierung vom Vater als Täter erklärbar. Um genau diese für Anja so notwendige Distanzierung und den damit verbundenen Schutz vor weiteren Enttäuschungen aufrecht erhalten zu können, blendet Anja positive Eigenschaften ihres Vaters, die in Zwischenbemerkungen durchaus auftauchen, möglichst aus. So auch in folgenden Beispielen: Also es war (--) war zwar ne Gemeinsamkeit, weil er mich ins Training gfahrn hat. (--) Aber (3s) naj, es is keine Gemeinsamkeit, wenn er mich ins Training bringt. (. . . ) Hin und wieder hat a zugschaut, klar. (Anja, S. 33). Wir konnten uns über gar nix unterhalten, ich mein (--) die einzigen Sätze warn halt, wie wars im Training und (-) wie kommst du
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6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive voran und bla. (-) Prrr (-) ja und so eigentlich nix, er hat mich halt auch nach der Schule gfragt, irgendwie hast Hausaufgaben gmacht oder mach Hausaufgaben oder wie war's in der Schule. Aber ich mein's is wie so a Schallplatte abglaufen also (-) jeden Tag gleich abglaufen und von daher ähm (-) mir hat des Gespräch mit ihm nix gebracht also wenn ma's denn als Gespräch bezeichnen kann. (Anja, S. 35).
Hier wird Anjas Sarkasmus in Bezug auf ihre Beziehung zu ihrem Vater deutlich, der eine weitere Strategie in der Herstellung von Distanz darstellt. Dieses Bedürfnis nach Abgrenzung steigert sich bis hin zu Todeswünschen und Mordphantasien, von denen sie sich retrospektiv klar distanziert. Dass er auf der Stelle tot umfallen soll (Anja, S. 31). Ich mein ich war ich hatte dann a Zeit wo ich (-) so krank im Kopf war, dass ich mir überlegt hab, wie ich mein Dad aus m Weg räum (-) ohne dass irgendjemand mitkriegt. Aber des war halt einfach a Spinnerei (Anja, S. 10).
Sowohl Lisa als auch Anja betonen ihre Erleichterung nach der Trennung der Eltern, die insbesondere in der räumlichen Distanz zum Vater/Stiefvater eine hohe Bedeutung hat: Ähm (-) und es war einfach für mich absolut die Befreiung (Anja, S. 24) riesen Erleichterung (Lisa, S. 30). aber ich (-) hm bin in erster Linie froh, dass ich (-) dass wir den los ham (..) Dass wir den nich mehr sehen müssen (Lisa, 43).
Diese Erleichterung zeigt sich bei Lisa auch in ihrer Erzählung über das Erscheinen ihres leiblichen Vaters. Dies beschreibt Lisa zunächst als total schlimm (Lisa, S. 38) und emotional belastend. In der Retrospektive verbindet Lisa die Tatsache, einen anderen Vater zu haben, als den Täter mit dem sie so lange zusammengelebt hat, jedoch auch mit einem Gefühl der Erleichterung: I: Was (-) mit was für'n Gefühl verbindest du diese Nachricht, er is nich dein Vater? L: (--) Hm mit Erleichterung. (lacht) (. . . ) Ja, dass ich mit dem nich verwandt bin, dass ich eigentlich mit dem gar nix zu tun hab (Lisa, S. 39).
An dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig die Distanzierung und Abgrenzung gegenüber ihrem Stiefvater und seinem Verhalten, dass sie zutiefst ablehnt, für sie ist. Auf Lisas Erleben der häuslichen Gewalt und ihren Umgang damit
6.4 Beziehungsgestaltung und Bindungsmuster
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hat das Wissen um ihren leiblichen Vater keinen Einuss, da sie während der Zeit der Gewalttätigkeiten in dem Glauben gelebt hat, ihr Stiefvater sei ihr Vater. Jedoch bewertet Lisa selbst die Nachricht über die Vaterschaft als eine Art Wendepunkt und deutet das freundliche Verhalten ihres Stiefvaters im Anschluss als Folge seiner Stiefvaterschaft: Und der war dann (-) nja von dem Moment an, wo ich eben diese Karte gekriegt hab, diesen Brief
[von ihrem leiblichen Vater, Anm.d.V.],
war der (-) mir gegenüber wie verwandelt, als hätte der Angst, dass ich (-) dass ich ihm damit jetz irgendwas antun kann, oder so (-) also der war (-) so was von freundlich und lieb und (-) (..) also mir gegenüber jetz. Also da hab ich (-) dann von heut auf morgen wieder alles machen dürfen (Lisa, S. 39).
Das Wissen um ihren leiblichen Vater bewirkte für Lisa in ihrem subjektiven Empnden die Aufhebung der psychischen Gewalt und Kontrolle ihres Stiefvaters ihr gegenüber. So äuÿert Lisa hier retrospektiv das Gefühl, durch die Nachricht ihres Vaters von der Kontrolle durch den Stiefvater befreit worden zu sein, was ihr sowohl Distanz zum Stiefvater als auch eine gröÿere Handlungsfähigkeit ermöglichte. Inwieweit dieses Verhalten tatsächlich auf die Vaterschaft zurückzuführen ist oder auch eine aktuelle Reaktion des Stiefvaters auf die emotional aufgeladene Situation ist, die der Brief des leiblichen Vaters in der Familie allgemein auslöst, bleibt oen. Die Mutter geht ein paar Wochen nach der Erönung der Vaterschaft mit ihren Kindern ins Frauenhaus. Lisa selbst thematisiert diese Frage im Interview nicht, was vermutlich darin begründet liegt, dass ein Zusammenhang zwischen der Vaterschaftsfrage und seinem veränderten Verhalten ihr selbst ein stärkeres Gefühl von Distanzierung und Handlungsfähigkeit gegenüber dem Stiefvater erlaubt. Cemil grenzt sich ebenfalls von seinem Vater ab und verurteilt dessen Gewalttätigkeit. Dies kommt in seinem kindlichen Wunsch, der Vater möge die Familie verlassen, deutlich zum Ausdruck: ich hab gedacht, ja (-) (leiser) (..) verpiss dich aus unserem Leben und so ej lass uns einfach in Ruhe (Cemil, S. 7). was soll des, mit welchen Recht hast du überhaupt (-) welches Recht hast du noch hier bei uns hierher zu komm (Cemil, S. 35).
Gleichzeitig zeigt sich im Interview jedoch im Gegensatz zu den jungen Frauen auch eine starke Identikation mit seinem Vater. So wünscht sich Cemil nicht nur mehr Kontakt und Unterstützung von seinem Vater, sondern ndet auch Verständnis für seine Perspektive auf die Gewalt in der Familie.
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6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive
Und (-) von meim Vater (--) hab ich mir gewünscht, dass er (-) viel mehr mit mir unter (-) viel mehr mit mir unternehmen würde. (..) Dass er auch wirklich zu meinen Spiel Fuÿballspielen kommen soll (Cemil, S. 40). also meine Mutter is auch (-) mein Mutter is stur, was auch (-) des dazu gebracht hat, dass mein (-) Vater, dann immer (-) au ausgeippt is (Cemil, S. 5). (--) Also ich hab auch ich ich war ja eigentlich (-) so (--) nich immer mein Vater schuld (Cemil, S. 11).
Cemil erklärt hier die Gewalt aus der Perspektive seines Vaters, die er durchaus nachvollziehen kann. In seiner Formulierung bekommt die Mutter den aktiven Part an der Auseinandersetzung, der Vater ist passiv und reagiert auf das Verhalten der Mutter. Auf diese Weise vertauschen sich für Cemil die Rollen von Täter und Opfer, so dass keine klare Bewertung der Gewalt mehr möglich ist. Cemils Identikation mit dem Vater schlieÿt auch seinen Umgang mit Aggression ein. Er sieht sich charakterlich sehr ähnlich zu seinem Vater und Onkel, die beide zu Gewaltausbrüchen neigen: ich bin halt auch so n Koleriker, ich kann auch sehr schnell (-) austicken (Cemil, S. 45).
In diesem Zusammenhang äuÿert Cemil auch die Gefahr, selbst ähnlich dem Vater, von einer Frau in die Situation gebracht werden zu können, dass er die Nerven verliert und gewalttätig wird. Hier sieht er sich ebenso wie den Vater in der Opferrolle und begründet Gewalt mit Hilosigkeit und fehlenden alternativen Handlungsmöglichkeiten. Cemil ist in seiner Beziehung zum Vater ebenso hoch ambivalent wie gegenüber der Mutter: Und man hat halt trotzdem noch (-) sehr viel Gefühle für den Vater, weil (-) (..) es is der Vater (Cemil, S. 17).
Einerseits bewundert und liebt er seinen Vater, identiziert sich mit ihm und erlebt ihn, insbesondere während seine Mutter in der Türkei ist, als Vater, der seinen Pichten in Cemils Augen voll nachkommt und an den er sich in seiner Beziehung annähert: Ja, des war eigentlich (3s) des war eigentlich gan dann war s eigentlich ganz normal, also (-) ganz normal hat er sein väterlichen (--) er hat mir halt immer Geld z zuhause gelassen (-). (..) Also des war
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dann halt wo du wieder n bisschen Kontakt zu deim Vater aufgebaut hast, aber trotzdem (-) daran gedacht hast, was hat er deiner Mutter angetan und so (Cemil, S. 9).
Für Cemil ist die nanzielle Versorgung der Familie scheinbar die Hauptaufgabe des Vaters, die sein Vater ihm gegenüber voll erfüllt. Diese Art der Versorgung und auch die Zeit ohne die Mutter schaen Nähe zwischen Vater und Sohn. Andererseits verurteilt er die Gewalt des Vaters, empndet Mitleid mit der Mutter und übernimmt eine Beschützerrolle für sie. Wie an dieser Stelle wechselt Cemil während des Interviews ständig die Perspektive, schildert die Gewalt aus Sicht der Mutter ebenso wie aus der Perspektive des Vaters und hat Verständnis für beide Seiten. Dieser ständige Perspektivwechsel spiegelt Cemils innere Konikte und Ambivalenzen und zeichnet ein deutliches Bild seiner Zerrissenheit. Während Lisa und Anja von ihren aktiven Distanzierungsstrategien berichten und Cemil seine starke Ambivalenz ausdrückt, bleibt Karina in der Beschreibung der Beziehung zu ihrem Vater stark in der Opferrolle verhaftet. Sie beschreibt ihre Hilosigkeit, sich gegen seine dominante Art der Kommunikation durchzusetzen: Er gewinnt zwar immer, weil er dann (-) sagt, ja und wir müssen uns ja auch drüber unterhalten und irgendwann halt ich's nich mehr aus, weil dann is er wieder so freundlich, da kann ich nix mehr machen (Karina, S. 31).
In ihrer Identikation mit der Mutter entsteht automatisch eine Distanz zu ihrem Vater, der ein völlig anderes Temperament besitzt. Diese Distanz ist jedoch auch an starke Verlustängste Karinas gekoppelt, gegen die sie anzukämpfen versucht: Ich hatte schon immer Angst, dass ich ihn verliere irgendwie, weil ich halt auch wusste, er versteht mich vom Gefühl her nich, er hat des nie ernst genommen, (-) dass ich so sensibel war und so und fand des immer eigentlich alles irgendwie blöd so (lacht), äh (-) und (-) da hatt ich dann eher des Gefühl, ich muss da ganz viel kompensiern und ich muss irgendwie (--) für ihn so die perfekte Tochter sein, damit er mich auch liebt, so und (-) (Karina, S. 21).
Diese mit Verlustängsten verbundene Distanz zu ihrem Vater versucht Karina über Leistung und schulischen Erfolg zu kompensieren, was wiederum auch zur Entstehungsdynamik von Essstörungen passend erscheint.
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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Beziehungen der jungen Erwachsenen zu ihren Eltern insgesamt im Spannungsfeld zwischen Identikation und Abgrenzung stehen. Heynen (2001) beschreibt diese beiden Pole als mögliche Bewältigungsstrategien häuslicher Gewalt: Identikation und Ablehnung von Vater und/oder Mutter werden zur wichtigen Strategie, die mit der Gewalt verbundenen Belastungen intrapsychisch zu bewältigen (Heynen, 2001, S. 92).
Identikation erscheint in den Interviews sowohl an Opfer- und Täterrollen als auch an das Geschlecht gebunden zu sein, was in Cemils Geschichte enorme Ambivalenzen in beiden Beziehungen hervorruft und für Nina einen Mangel einer nahen Identikationsgur bedeutet. Während Cemils Ambivalenz stark von Loyalitätskonikten geprägt ist, erleben die jungen Frauen in ihrer Identikation mit der Mutter auch immer eine Parentizierung. Beide Beziehungsmuster sollen im folgenden näher untersucht werden.
6.4.3 Parentizierung Parentizierung, d.h. die Rollenumkehr zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. die Übernahme einer Erwachsenenrolle gegenüber Geschwistern, spielt in allen Interviews eine mehr oder minder groÿe Rolle. Die häuge Beschreibung der Mutter als hilos, ohnmächtig und ohne Chance, sich gegen den Vater und dessen Gewalttätigkeit zu wehren, macht schnell deutlich, aus welcher Situation heraus diese Parentizierungen entstehen. Während bei Nina die Parentizierung ihrer Schwester als hilfreiche Ressource für sie selbst zum Thema wird, berichtet Cemil von vereinzelten Episoden in seiner Kindheit, in denen er viel Verantwortung für sich, seinen Bruder und seine Mutter übernehmen musste. Karina, Anja und Lisa berichten alle drei von intensiver Sorge um die Mutter, Verantwortungsübernahme bezüglich der Trennung und einer Elternrolle für jüngere Geschwister. In Cemils Interview zeigen sich einige Passagen, die eine frühe und intensive Verantwortungsübernahme seinerseits spiegeln. Eine völlige Rollenumkehr ist hier jedoch nicht wie in den anderen Interviews ständig spürbar. Cemil berichtet insbesondere von einer starken Selbstständigkeit, die er schon in der Grundschule entwickeln musste, da seine Mutter damals für ein paar Monate in der Türkei war. Während dieser Zeit sorgte er mehr oder minder selbst für sich, der Vater war wenig präsent. Bezüglich seines Bruders musste Cemil häug als Babysitter, wie er es selbst nennt, einspringen, damit die Mutter arbeiten gehen konnte. Eine emotionale Übernahme der Elternrolle wie sie bei Anja, Lisa und Karina deutlich spürbar wird erscheint jedoch
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hier nicht gegeben. Der Bruder spielt im Interview nur eine geringe Rolle. Die am stärksten an eine Parentizierung erinnernde Geschichte Cemils dreht sich um nanzielle Probleme seiner Mutter: Ja, also ich (--) war ja damals (-) als sie dann zerstritten war'n und so (-) mein (-) Bruder hat Windeln gebraucht (-) und ich war (-) ich hab's dem (-) in dem Jahr hab ich zum ersten Mal Faschingszoll gemacht. (..) Und (-) ich mei und zwei Freunde (-) sin wir ham Faschingszoll gemacht, wir ham wirklich sehr viel Geld also da an dem ein Tag hab ich (-) kann mich noch sehr gut erinnern, 28 Mark (--) 28 Mark wenn ich's mir so vorstellst, is schon Wahnsinn. (. . . ) Dann (-) hat meine Mutter gesagt, ja dein Bruder hat keine Windeln und so. Weil dein Vater hat kein Geld zuhause gelassen. (. . . ) Dann hab ich ihr des Geld gegeben und sie hat halt Windeln gekauft und so (Cemil, S. 37f ).
Inwieweit Cemil aufgrund seines Geschlechts und seiner bereits beschriebenen Auassung von väterlichen Pichten als nanzielle und materielle Versorgungsleistung (die auch in unserer Gesellschaft immer noch Unterstützung ndet) in dieser Weise Verantwortung übernimmt ist eine Hypothese, die hier nicht überprüft werden kann. Was jedoch sehr deutlich wird, ist der Stolz, mit dem Cemil diese Geschichte erzählt. Dieser Stolz auf die eigene Leistung innerhalb der Rolle als Erwachsener spiegelt sich auch im Interview mit Anja wider. So berichtet sie von ihrer Versorgung der kleinen Schwester während gewalttätigen Auseinandersetzungen und ihrer Rolle als Optimistin der Familie, in der sie insbesondere während der Trennung ihre Mutter unterstützt. In Momenten der Zweifel auf Seiten ihrer Mutter und damit verbundener Gedanken an Rückkehr zum Vater, übernimmt Anja für ihre Mutter klar die Rolle einer Erwachsenen, die ihrer Mutter vermittelt, welche Entscheidung die Richtige ist und dem Einuss Auÿenstehender klare Grenzen setzt: Und des war halt dann a Moment wo ich gsagt hab, hey, stopp stopp stopp (-) also so nich, also (-) so nich, weil (--) (..) des ham damals viele (-) auf sie eingredet und gsagt (-) du kannst dir, also mehrer Dinge, dass sie die Schuld bei sich suchen soll (Anja, S. 15).
Anja selbst bezeichnet ihre Rolle nach der Trennung der Eltern als eine Art Vaterrolle (Anja, S. 14) , die sie übernommen habe. Spannend ist hier ihre Übernahme der Rolle des Vaters trotz ihrer starken Identikation mit der Mutter. Anja identiziert sich mit der Mutter als Opfer der Gewalt und solidarisiert sich mit ihr. Im Gegensatz zu ihr bleibt Anja jedoch nicht in der Opferrolle verhaftet, sondern beginnt sich zu wehren und entwickelt eine
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gewisse Stärke aus der Situation. Aus dieser Stärke heraus übernimmt Anja nach der Trennung den Platz ihres Vaters, eine Rolle als Partnerersatz für die Mutter und Elterngur für die Schwester. Lisa berichtet im Gegensatz zu Anja weniger von Stolz erfüllt über ihre Verantwortungsübernahme, sondern begründet diese immer wieder mit der Hilosigkeit ihrer Mutter: Die war (-) hmm (-) ja, sie wusste selber nicht was sie machen soll (Lisa, S. 7). Hab gedacht, alleine schat sie des nich (Lisa, S. 25).
Lisa übernimmt die Sorge um ihre kleine Schwester ebenso wie Teile der Haushaltsführung. Neben dieser aktiven Übernahme von Aufgaben schildert Lisa auch ihre emotionale Übernahme der Erwachsenenrolle für ihre Schwester und auch für ihre Mutter. Dies zeigt sich in ihrer ständigen Sorge um das Wohlergehen der Mutter und dem damit verbundenen Zurückstellen eigener Bedürfnisse. Im Zusammenhang mit ihren Problemen in der Schule äuÿert sie, ihre Mutter nicht damit belasten zu wollen und macht an anderer Stelle ihre Sensibilität der Mutter gegenüber deutlich, ihr Anliegen sofort zurückzunehmen, wenn die Mutter belastet ist: dann (-) dann hab ich auch gemerkt, ich mein, (-) is klar sie hatte damals genug Probleme mit ihm, sag ich mal (-) (Lisa, S. 14).
Ähnlich schildert auch Karina ihre ständige Sorge um die Mutter, betont jedoch noch stärker das Gefühl für die Entlastung der Mutter verantwortlich zu sein: Ja, ich hatte halt immer des Gefühl, dass ich da noch ganz viel tun kann, weil ich hab mich halt sehr um meine Mutter gekümmert und hab gedacht, ja (-) wenn s der einigermaÿen gut geht, dann schat sie's vielleicht irgendwie und (-) klar mir war des nich so bewusst als Kind, wie des jetz alles so abläuft oder so, aber ich wusst einfach da is irgendwas nich in Ordnung und ich muss mich (-) total doll um meine Mutter kümmern, weil's der nich gut geht (Karina, S. 2).
Karina berichtet auch mehrfach, sowohl von ihrer Mutter als auch von ihrem Vater gefragt worden zu sein, was sie denn tun sollen und bekommt auf diese Weise die Rolle einer erwachsenen Ratgeberin zugewiesen. Besonders deutlich wird die Parentizierung von Karina in einem einzigen kurzen Satz: ja (-) ich muss mir dann immer wieder sagen, die sin jetz erwachsen, die können des selber und (-) des is nich meine Aufgabe so (Karina, S. 5).
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Die Feinstrukturanalyse dieses Satzes macht sehr deutlich, dass Karina aus der Rolle einer Erwachsenen, genauer einer Elternrolle heraus spricht: sie schildert den Prozess der Ablösung adoleszenter Kinder von den Eltern, wie es viele Mütter und Väter beschreiben würden. Das Wort jetz macht dies besonders deutlich, da es den Eltern ihr erwachsenes und selbstständiges Handeln in der Vergangenheit abspricht. Karina muss in ihrer Adoleszenz die Verantwortung für sich selbst übernehmen lernen, indem sie die Sorge um ihre Eltern an diese abgibt, nicht wie normalerweise, indem die Eltern die Sorge um ihr Kind an das erwachsen gewordene Kind abgeben. Die Rollen waren lange Zeit vertauscht und Karina fällt es sichtlich schwer, die lange ausgehaltene Verantwortung abzugeben. Diese Last der Parentizierung, die Karina in ihrem heutigen Kampf der Ablösung beschreibt, schildert Nina in Bezug auf die Elternrolle ihrer Schwester für sie in vorsichtigen Worten: Meine Schwester hat sich hat sich ins Zeug gelegt, dass ich auch so n ne schöne Kindheit noch hab (-) (Nina, S. 32) (-) mittlerweile hab ich so n bisschen des Gefühl, ich hätts vielleicht nicht machen sollen und sie damit so belasten, weil sie hat natürlich auch ihr (--) äh wie is der Begri jetz, also sie hat natürlich auch n schweres Leben hinter sich (Nina, S. 51).
Hier deutet Nina Schuldgefühle an, die es auch vielen Eltern unmöglich machen, die Belastung und Parentizierung ihrer Kinder überhaupt wahrzunehmen, ohne sich selbst Vorwürfe machen zu müssen. Nina hatte in ihrer Rolle als jüngste der Schwestern keine Wahl, denn sie war als Kind auf die Fürsorge der Schwester in ihrer Entwicklung angewiesen. Dennoch entstehen auch bei ihr Schuldgefühle und Zweifel, die sie hier vorsichtig anspricht. Deutlich wird in der Auseinandersetzung mit den Interviews, dass Parentizierungen immer aus mehreren Perspektiven betrachtet werden müssen: Für jüngere Geschwister stellen Geschwister, die eine fehlende Elterngur ersetzen, eine starke Ressource dar. Für diese parentizierten Kinder und auch jene, die für ihre Eltern die Rolle der Erwachsenen übernehmen müssen, ist dies jedoch eine enorme Belastung, die mit fehlenden feinfühligen Bindungserfahrungen einhergeht und eine spätere Beziehungen belastende Bindungsstörung sein kann. Trotz all der Belastung darf aber auch nicht vergessen werden, dass manchen Kindern und Jugendlichen aufgrund ihrer Parentizierung auch eine Art von Handlungsfähigkeit entsteht, die sie zunächst auch stärken, die Belastung jedoch meist nicht völlig aufwiegen kann.
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6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive
6.4.4 Loyalitätskonikte Loyalitätskonikte sind in allen Interviews auf unterschiedlichen Ebenen Thema. Auch hier stellt das Interview mit Nina eine Besonderheit dar, da diese ihre Mutter als so ängstigend erlebt, dass sie selbst im Alter von sechs Jahren äuÿert, diese nicht wieder besuchen zu wollen. Unmittelbar danach suizidiert sich die Mutter. Die Frage der Loyalität stellt sich für Nina so erst nach dem Tod der Mutter in Form von starken Schuldgefühlen, Auslöser für den Suizid gewesen zu sein. Bis heute kann Nina diesen Teil ihrer Geschichte für sich nicht einordnen und sucht verzweifelt nach Erklärungen. Während Cemil und Karina ihre Zerrissenheit zwischen den Eltern beschreiben, schildern Anja und Lisa ihre grundsätzliche Parteilichkeit für die Mutter. Dennoch beschreiben beide auch widerstreitende Gefühle und Erfahrungen mit dem Vater. So beschreibt Lisa ihren Stiefvater einerseits als total lieb (Lisa, S. 9), andererseits jedoch auch als sehr gewalttätig (Lisa, S. 4) . Welche der beiden Seiten zum Vorschein kam, war völlig unberechenbar. Für Lisa waren die Gewalttätigkeiten ihres Stiefvaters gerade auch aufgrund ihres Erlebens seiner positiven Eigenschaften als Kind ebenso wenig erklärbar wie heute. Insbesondere nach auÿen war ihr Stiefvater ein freundlicher und umgänglicher Mensch, was für Lisa zur Folge hatte, dass Auÿenstehende nicht glauben konnten, wie gewalttätig er sich innerhalb der Familie verhielt: Also (-) der (-) konnte total lieb sein und der hatte so ne Art, der konnte eigentlich jeden um Finger wickeln, des war wirklich so ne so (-) aber (--) na ja Auÿenstehende ham des dann nie verstanden, ham gesagt ja er doch nicht und so. (..) Ja er konnte halt auch anders. (Lisa, S. 9).
Ähnlich wie Lisa beschreibt Anja ihren Vater: als ob er wirklich äh (-) zwei Persönlichkeiten hätt (Anja, S. 8f ) . Für Anja, die sich klar auf Seiten der Mutter positioniert und ihren Vater verachtet, um Distanz zu seinem Verhalten zu gewinnen, ist es besonders verletzend, dass Nachbarn und Freunde nur die freundliche Seite ihres Vaters kennen und daher die Trennung ihrer Eltern nicht verstehen bzw. einordnen können. Anja und Lisa lösen ihr widersprüchliches Erleben ihres Vaters/Stiefvaters, indem sie die Gewalt klar verurteilen, sich auf Seiten der Mutter positionieren und die positiven Seiten des Vaters bzw. Stiefvaters geringschätzen oder ablehnen. Auf diese Weise entstehen für sie keine oder kaum Loyalitätskonikte.
6.4 Beziehungsgestaltung und Bindungsmuster
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In den Interviews mit Karina und Cemil dagegen werden die Loyalitätskonikte besonders deutlich und halten zum Teil auch bis heute an. Karina äuÿert ihre Schwierigkeiten schon in der Aufstellung auf dem Familienbrett sehr deutlich, entscheidet sich dann aber für den Platz neben der Mutter, mit der sie sich stark identiziert: Aber (-) ich weiÿ nich. (-) Hm (3s) wird's schwierig. Also eigentlich müsst ich ganz nah bei meiner Mutter stehn (-) ähm (-) aber dann bin ich zu weit von meim Vater entfernt irgendwie (lacht) (Karina, S. 13).
Diese Loyalitätskonikte erscheinen im Interview mit Karina immer wieder und Karina rechtfertigt jedes Mal ihre Entscheidung für ihre Mutter und ihre Angst, ihren Vater dadurch zu verletzen: Ja, also ich hatte des Gefühl, dass es meiner Mutter besser geht, wenn ich mich um sie kümmere (-) (..) ich hatte aber (-) andererseits des Gefühl, dass mein Vater total wütend auf mich is, weil weil ich halt so (-) auf meine Mutter xiert war irgendwie (Karina, S. 5).
Das Gefühl ihr Vater könne es ihr verübeln, dass sie sich in Konikten auf Seiten der Mutter stellt, führt bei ihr wiederrum dazu, dem Vater möglichst alles recht machen zu wollen, um ihn nicht zu verlieren. Ne, ich hatte eher immer des Gefühl (--) dass er sauer auf mich is, weil weil ich versuche meine Mutter zu schützen (-) und da hatt ich eher des Gefühl ich muss des jetz irgendwie wieder gut machen, ich muss zu ihm hingehen und (-) ihn beruhigen und ihm sagen, was er jetz machen soll und so (Karina, S. 21).
Ebenso wie Karina äuÿert Cemil starke Loyalitätskonikte, deren Schwerpunkt jedoch stark auf der Schuldfrage liegt. Cemil springt im Interview ständig zwischen den Perspektiven von Mutter und Vater, äuÿert Verständnis und Schuldzuweisungen bezüglich beider Elternteile. Genau, ich steh in der Mitte. U und w weil du halt genau weiÿt, in dem Punkt musst du ihm Recht geben, in dem Punkt ihr Recht geben. (-) Dann wieder () (Cemil, S. 36).
Einerseits sieht er die Schuld für die Probleme der Familie in der Gewalttätigkeit des Vaters, andererseits sieht er diese auch klar provoziert durch die Sturheit seiner Mutter. Er formuliert während des Interviews beide Perspektiven:
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6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive
also meine Mutter is auch (-) mein Mutter is stur, was auch (-) des dazu gebracht hat, dass mein (-) Vater, dann immer (-) au ausgeippt is (Cemil, S. 5). Mein Vater hat halt die (-) sozusagen des Problem gehabt, dass er halt äh gewalttätig dann gewordn is. (-) Dass er geschlagn hat. Aber meine Mutter, die is auch sehr sturköpg () (Cemil, S. 11).
Dieser ständige Wechsel zwischen den Perspektiven der Eltern und seine hoch ambivalenten Beziehungen zu beiden zeigen sich besonders in seiner Schilderung der Flucht ins Frauenhaus. Die Entscheidung der Mutter, sich zu trennen und in ein Frauenhaus zu gehen, aktualisiert für Cemil den Konikt, sich zwischen Vater und Mutter entscheiden zu müssen. Cemil schildert seine Reaktion auf den zweiten Umzug ins Frauenhaus: Dann Wochen (-) vielleicht zwei, ein zwei drei Monate oder so (--) simma (-) gings dann wieder nich (-) dann (-) hat meine Mutter gesagt wir gehn wieder ins Frauenhaus. Obwohl ich eigentlich keine schlechten (-) Erinnerungen ans Frauenhaus hatte und so (-) vor der Angst, dass ich dann wieder die Schule wechseln muss (..) weil ich dann doch wieder in die Schule bei unserer alten Wohnung gegang bin, als wir nach Hause zurückgezogn sin, (. . . ) hab ich sie halt (--) wollt ich halt wieder nich. (-) Es lag dort so'n gelber Zettel, des war des Schmierblatt aus meim Heft und so, (-) stand'n halt Sachen drauf (--) und die hat (-) auf den hab ich halt so, ohne dass es meine Mutter sieht halt als sie in den Zimmern hin und hergegang is, hab ich halt schnell noch hingeschrieb'n, Papa wir sind wieder ins Frauenhaus und so. (..) Ich will da nich hin und so, sorg dafür, dass ich da nich mehr hin muss (Cemil, S. 21).
Einerseits schildert Cemil im Anschluss seinen Wunsch, die Mutter nicht alleine zu lassen, andererseits seine Angst, den Vater nicht mehr zu sehen und wieder die Schule wechseln zu müssen. In seinem Konikt entscheidet sich Cemil, seine Mutter zu begleiten, gleichzeitig jedoch auch den Vater über ihren Aufenthaltsort zu informieren und ihn um Hilfe zu bitten. Loyalitätskonikte entstehen mit Sicherheit im Kontext häuslicher Gewalt für alle betroenen Kinder. In den vorliegenden Interviews zeigen sich diese verschieden ausgeprägt und vor allem auf unterschiedliche Arten gelöst bzw. ausgehalten: Einerseits werden Loyalitätskonikte in der völligen Distanzierung vom dominanteren gewaltausübenden Elternteil und der Positionierung auf Seiten des Elternteils in der Opferrolle aufgelöst (Anja, Lisa, Nina), andererseits bleiben Loyalitätskonikte in dem Versuch, beiden Perspektiven
6.5 Rollenverteilung und Geschlechterhierarchie
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gerecht zu werden mit einer starken Ambivalenz behaftet (Cemil) oder werden drittens in dem Versuch, einen ständigen Ausgleich und eine gleiche Verteilung der Zuwendung zwischen den Eltern zu erreichen, ausagiert (Karina).
6.5 Rollenverteilung und Geschlechterhierarchie die Eltern als Paar Häusliche Gewalt ist häug an Rollenverteilungen innerhalb der Familie und an das herrschende gesellschaftliche Bild der Geschlechterhierarchie gebunden. Das in unserer Gesellschaft nebeneinander existierende Bild von patriarchaler Männlichkeit und egalitären Beziehungsvorstellungen beeinusst nicht nur die Erklärungen zur Entstehung von Gewalt, sondern spielt auch eine wichtige Rolle im Erleben der Kinder, wie sich in den Interviews fast durchgängig zeigt. Groÿe Ausnahme ist auch in diesem Punkt das Interview mit Nina. Sie selbst thematisiert die Frage des Geschlechts überhaupt nicht und äuÿert sich auch zum Erleben ihrer Eltern als Paar nicht. Grund dafür ist sicher sowohl das Alter von Nina, die zum Zeitpunkt der Gewalt im Kindergartenalter ist, als auch die Tatsache, dass Nina die gewalttätigen Auseinandersetzungen der Eltern in der psychischen Erkrankung der Mutter begründet sieht. Für sie stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Gewalt und Geschlecht daher weniger als die Frage nach dem Zusammenhang von Gewalt und psychischer Krankheit. Direkt danach befragt, wie sie es einschätze, Gewalt innerhalb der Familie erlebt zu haben, die so eher selten zu nden ist, antwortet Nina sehr spontan: Mir fällt dazu ein, dass sich mein Papa natürlich auch gewehrt hat, gegen (-) sämtliche Angrie, des is klar und (-) ähm (-) ja des is schon nich so die klassische Rollenverteilung, is klar, aber (--) es war einfach so, also ich (--) musste damit irgendwie klarkommen. (. . . ) (-) Also bis grad eben hab ich mir da überhaupt keine Gedanken gemacht (lacht) (Nina, S. 42).
Die abweichende Rollenverteilung in der Gewaltausübung scheint Nina bis zum Zeitpunkt der Nachfrage nicht bewusst bzw. kein Thema für sie zu sein. Sie reagiert sofort mit der Klarstellung, dass ihr Vater keineswegs in die Opferrolle gegangen sei und stellt dann für sich fest, dass es für sie einfach die Situation war, mit der sie leben musste. Gleich im Anschluss
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6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive
geht sie noch einmal auf die psychische Erkrankung der Mutter und deren ursächliche Bedeutung für die Gewalt ein. Im Gegensatz zu Nina spielt in allen anderen Interviews die Frage nach der Rollen- und Geschlechterverteilung bezüglich der Gewalt eine wichtige Rolle. Alle befragten jungen Frauen beschreiben ihre Väter als dominant und überlegen sowie ihre Mütter als ohnmächtig und angepasst. So beschreibt Karina ihren Vater als sehr jähzornig (Karina, S. 16) und das Oberhaupt der Familie, der alles bestimmt (Karina, S. 12) . Ihre Mutter dagegen konnt sich halt gar nich wehren (Karina, S. 16) . Anja betont in der Rollenverteilung dabei die viele Arbeit die ihre Mutter damit hatte, die Ansprüche ihres Vaters zu erfüllen: Ja, es war schon so, dass mein Dad irgendwie so der König war, sag ich mal. (lacht) (..) Also er is halt auf seim Thron ghockt (--) und hat nichts gemacht und des einzige was er ausgübt hat war eigentlich Druck (Anja, S. 40). und die Frau (-) macht halt, mei Mum hat wie gsagt an Haushalt gschmissen, hat auch gearbeitet, ähm hat uns groÿgezogen, sag ich jetz mal hm (--) ja hat nanzielles und so weiter und so fort und halt solche Sachen auch geregelt und mein Dad hat halt gar nix gmacht. (..) Also (--) und es musst halt auch immer was gscheits zum Essen am Tisch sein, also des hätte sie sich nicht erlauben brauchen in Anführungszeichen, da mal (-) (Anja, S. 50).
Lisa beschreibt das Frauen- bzw. Männerbild, dass sie von ihrem Stiefvater vermittelt bekam, sehr klar: (--) Ja, ich wusste dass er so denkt, er ist der Mann, er hat das Sagen (Lisa, S. 32). (4s) Des hat sich immer so angehört, als wär meine Mutter nix wert (Lisa, S. 33).
Alle jungen Frauen grenzen sich von diesen Geschlechtsrollenzuschreibungen stark ab und wünschen sich für ihre Zukunft Beziehungen, die von Gleichberechtigung geprägt und vollkommen gewaltfrei sind. Während Karina ausführlich von ihrem Kampf berichtet, das in der Identikation mit der Mutter übernommene Frauenbild und die damit verknüpften Erwartungen an ihr Verhalten zu überprüfen und für sich neue Beziehungsmuster zu entwickeln, beschreibt Lisa ihre Beziehungsvorstellungen in einem knappen Satz: Nja, ich war damals schon mehr für die Gleichberechtigung (lacht) (Lisa, S. 32).
6.5 Rollenverteilung und Geschlechterhierarchie
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Was Lisa genau unter dem Schlagwort der Gleichberechtigung versteht, führt sie im Interview, auch bezüglich der Nachfragen nach Zukunftsplänen im Bereich Beziehung und Familie, nicht weiter aus. Anja beschreibt nicht nur ihre Ablehnung der in der Beziehung ihrer Eltern sichtbaren Rollenverteilung, sondern beschreibt in ihrer Beziehung zu Männern eine umgekehrte Machtverteilung: Ich hab Männern sehr gut geholfen, von daher (Anja, S. 51).
Anja sieht sich in der Beziehung zu Männern als der starke Teil in der Beziehung, der Hilfe und Unterstützung geben kann. Gleichzeitig betont sie die hohe Bedeutung der Anerkennung, die sie von Männern gegenüber Frauen erwartet. ich denk einfach, dass (-) man sich überlegen sollte, also grad als Mann, (-) dass ma seine Frau einfach mehr schätzt und des zu schätzen weiÿ. (..) Was sie alles leistet, also (Anja, S. 50).
Auch Cemil thematisiert die Geschlechterfrage von sich aus, formuliert jedoch den Vorwurf seiner Mutter an seinen Vater, eingeschränkt worden zu sein, nur kurz und beginnt dann sofort, seinen kulturellen Hintergrund ebenso wie die Haltung seines Vaters zu verteidigen und die Beteiligung der Mutter darzustellen. Obwohl (-) mein Vater hat sie auf Deu Dol ähh Deutschkurs und so angemeldet und so (-). Meine Mutter (-) hat's halt nich durchgezogen und so. (..) Aber trotzdem hat sie halt gesagt, ja dein Vater hat die Schuld und so. Sie hat mich halt nich in die Öentlichkeit so (-) gebracht, obwohl es eigentlich bei uns nich so is, üblich, dass (-) die Frau zuhause bleiben muss (Cemil, S. 6).
Dennoch sieht Cemil auch für seine eigenen Beziehungen die Gefahr, selbst gewalttätig zu werden. Er formuliert dies jedoch als Honung, die von der Angst begleitet ist, es nicht zu schaen: Des hab ich mir schon gedacht, dass die Frage kommen wird, aber (..) mein aller (-) ich werd (-) also ich hab's mir so vorgenomm, dass ich auf jeden Fall nie im Leben meine Freundin oder meiner (-) Frau gegenüber (-) Gewalt anwenden würde. (. . . ) Vielleicht dass mir mal (..) irgendwie was falsches passiern würde, aber (-) ich hab's mir so vorgenommen und (-) (..) ich hoe auch nur (Cemil, S. 45).
In dieser Aussage wird gleich zu Beginn deutlich, dass Cemil bereits mit der Frage der intergenerationalen Weitergabe von Gewalt konfrontiert war und
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6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive
die gesellschaftlich erwünschte Antwort kennt. Er betont stark, jede Gewalt in Beziehungen vermeiden zu wollen, ist sich jedoch mit sich selbst und seinem Aggressionspotential unsicher. In seinen Schilderungen wird deutlich, dass er den ehrlichen Wunsch hat, die Gewalt nicht zu wiederholen, jedoch über wenige Strategien verfügt, dies zu vermeiden. Für ihn liegen Gründe für Gewalt häug auÿerhalb des Einussbereichs des Täters, wie beispielsweise seine Mutter seinen Vater dazu gebracht hat, gewalttätig zu werden. So sieht er seine Veranlagung zur Aggression und fürchtet, diese nicht kontrollieren zu können oder Umständen ausgesetzt zu sein, die ihm keine alternativen Lösungen erönen.
6.6 Selbstpositionierung als Betroene häuslicher Gewalt Im Kontext häuslicher Gewalt geht es immer auch um die Verteilung klarer Rollen und Positionen innerhalb der Familie. So gibt es in Fällen von Gewalt immer einen Täter, ein Opfer und unter Umständen Zeugen, Mittäter, Schuldige oder auch Zuschauer. Alle diese Begrie beschreiben die in einer Gewaltsituation anwesenden Dritten, die weder Täter noch Opfer sind. Genau diese Rolle der Dritten ist die von Kindern, die Gewalt zwischen den Eltern miterleben. In der Literatur wird diese Rolle zum Teil als Zeugenschaft benannt, was jedoch der emotionalen Beteiligung der Kinder in keiner Weise gerecht werden kann. Andere Veröentlichungen benennen die Rolle der Kinder nicht weiter und sprechen von Kinder und häusliche Gewalt (vgl. Kavemann & Kreyssig, 2005). Im Folgenden soll die retrospektive Selbstpositionierung der betroenen jungen Erwachsenen genauer beleuchtet werden. Während die jungen Frauen alle betonen, von körperlicher Gewalt nicht direkt betroen gewesen zu sein, sehr wohl jedoch unter dem psychischen Druck gelitten zu haben, äuÿert sich Cemil nur indirekt zu diesem Thema. Er benennt sich weder als Opfer noch als Unbeteiligter oder Schuldiger, sondern beschreibt seine inneren Konikte und Ambivalenzen. Er positioniert sich klar als in seiner Kindheit von der Gewalt belastet und verurteilt jegliche Gewalt in Partnerschaften. Er stellt sich selbst als guter Mann dar, der nie gegen seine Frau gewalttätig werden möchte und die Gewalt seines Vaters auch moralisch verurteilt. Gleichzeitig äuÿert er jedoch auch seine Ängste und Bedenken, doch zu sein wie sein Vater oder in Situationen zu geraten, in denen er seine Aggression nicht kontrollieren kann. Deutlich
6.6 Selbstpositionierung als Betroene häuslicher Gewalt
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wird auch, dass Cemil die gesellschaftliche Erwartung die sich sicher in der Interviewsituation deutlich spiegelt Gewalt abzulehnen und als Mann Position dagegen zu beziehen verinnerlicht hat und versucht, dieser gerecht zu werden. Die jungen Frauen machen in den Interviews alle ihre Betroenheit von der Gewalt zum Thema und sehen sich in unterschiedlicher Weise als belastet und betroen. So beschreibt sich Anja durch ihre starke Identikation mit der Mutter als direkt durch jede Gewalt gegen die Mutter mit betroen. Körperliche Misshandlungen der Mutter erlebt Anja vor dem Hintergrund ihrer engen Beziehung zur Mutter als direkten psychischen Druck für sie selbst: Hmm (-) also ich nd (-) es war damals schon schlimm, also für mich war's damals schon schlimm, weils einfach (-) äh psychischer Druck war. Also wie gesagt, mei Mutter is äh irgendwo auch meine beste Freundin. Und (-) äh ja es (--) ja es is halt einfach losgangen mit Sachen wenn (--) prrr, wie fang ich da am besten an (Anja, S. 8).
Auch Karina positioniert sich in den Konikten der Eltern zunächst in ihrer Identikation mit der Mutter auf der Opferseite. Im Vergleich zu Anja, die diese Opferrolle durch die Übernahme von Verantwortung und Stärke bekämpft, übernimmt Karina eine generalisierte Opferrolle im Zuge ihrer Positionierung als Symptomträgerin, auch durch die Entwicklung ihrer Magersucht. Dabei beschreibt sie sich retrospektiv deutlich als Opfer ihres Familiensystems und positioniert sich weniger als Opfer der Gewalt an sich, sondern als Opfer der gewalttätigen Konikte der Eltern und den damit verbundenen Rollenverteilungen und Dynamiken in der Familie. Lisa formuliert die Tatsache, von körperlicher Gewalt nicht direkt betroen zu sein, aus ihrer Perspektive und beschreibt damit auch eine gröÿere Distanz zur Gewalt als Anja und Karina. Und er war eben auch sehr gewalttätig, wobei ich sagen muss, also ich hab jetzt (-) eigentlich (-) fast gar nix abbekommen (Lisa, S. 4).
Trotz dieser Betonung beschreibt Lisa immer wieder ihre Betroenheit von der Gewalt ihres Stiefvaters. Insbesondere in ihrer Rolle als Mädchen sah sie sich der Kontrolle und Willkür ihres Stiefvaters stark ausgesetzt und litt unter dieser psychischen Form von Gewalt. Spannend ist in Lisas Interview diesbezüglich auch ihre Denition von Gewalt, in der sie an erster Stelle die verbale und erst im Anschluss die körperliche Gewalt nennt und dies auch unmittelbar mit ihrer Betroenheit verknüpft:
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6 Ergebnisbaustein I Eine retrospektive Betroenenperspektive
Hm (-) na erstmal dieses Rumschreien auf jeden Fall und dann diese Handgreiichkeit (-) obwohl wie gesagt, also ich hab (--) also geschlagen hat er mich nie, (-) glaub ich (-) nur eben (-) ja verbal (..) angegrien (Lisa, S. 19).
Lisa betont zwar die Belastung durch den psychischen Druck in der Familie und beschreibt diesen an anderer Stelle ebenso wie Anja als das für sie schlimmste Moment der Gewalt, dennoch relativiert sie hier ihre Betroenheit durch ein nur und übernimmt die in unserer Gesellschaft verbreitete Überzeugung, körperliche Gewalt sei wesentlich belastender oder schlimmer einzuordnen als psychische Gewalt. Nina erzählt gegen Ende des Interviews, dass sie selbst sich von der Ausschreibung für die Interviews eigentlich nicht angesprochen gefühlt hatte. Gemeldet hat sie sich dann doch auf Grund der Empfehlung ihrer Therapeutin, die sie ebenso wie ich als Betroene einstuft. also weil ich einfach so des Gefühl hatte, ich bin da gar nich betroen (Nina, S. 42). (-) Irgendwie erstens weil da irgendwie stand junge Erwachsene (-) weil ich mir dachte öh ich bin doch noch ziemlich klein (-) oder so in der Richtung und (-) einfach auch weil ich da dran nich so viele Erinnerungen hab, also (-) (..) weil die Zeit für mich (-) also weil ich ja doch noch ziemlich klein war und (-) (. . . ) ich kann mich da an kaum noch Sachen erinnern (Nina, S. 43).
Nina teilt hier ähnlich wie Lisa und Anja in Bezug auf ihre jüngeren Geschwister stark die Einschätzung vieler misshandelter Mütter, jüngere Kinder würden weniger Gewalt bewusst miterleben. So betont Nina ihre geringere Betroenheit aufgrund ihres jungen Alters während der Gewalt in ihrer Familie. Auch die Tatsache, dass die Mutter gegen ihre Schwestern körperlich z.T. massiv gewalttätig wurde und sie selbst als die Kleinste in der Familie und Liebling der Mutter, deren Aggression nie direkt zu spüren bekam, schildert sie als wichtig im Zusammenhang mit ihrer Betroenheit. Einerseits war sie sehr klein und nicht direkt von körperlicher Gewalt betroffen, andererseits jedoch schildert sie auch ihre enorme Angst vor der Mutter und ihren Wunsch, diese nicht mehr allein besuchen zu müssen. Hinzu kommen ihre kindlichen Gedanken und Erklärungsversuche zur Entstehung der Gewalt, die ihr das Gefühl von Schuld vermitteln. Und äh ich hatte früher einfach immer des Gfühl, dass ich da dran Schuld bin, dass sie einfach todunglücklich war und (-) wegen mir nich mehr Arbeiten konnte und weiÿ ich nich was (Nina, S. 11).
6.6 Selbstpositionierung als Betroene häuslicher Gewalt
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Nina beschreibt hier ihr starkes Gefühl, Auslöser oder Schuldige für die Probleme und Aggressionen ihrer Mutter zu sein. Im Laufe des Interviews beschreibt sie in ihrer Suche nach Antworten auf ihre Fragen nach der Vergangenheit auch immer wieder ihre Auseinandersetzung mit diesen Schuldgefühlen, von denen sie besonders durch die Unterstützung ihrer Therapeutin Entlastung erfährt. Alle jungen Erwachsenen positionieren sich als in einer Art von Gewalt betroene Kinder, für die die indirekte Betroenheit von der Gewalt jedoch immer auch eine groÿe Rolle spielt. In ihrem Umfeld gab es immer Menschen die Mutter oder auch Geschwister die deutlich das Opfer der Gewalt waren und in ihren Augen sehr viel direkter und stärker betroen waren. Ihre eigene Position innerhalb der Gewalt beschreiben sie sehr unterschiedlich: als indirekte oder direkte Opfer, Opfer von Gewalt oder psychischem Druck, als Auslöser für die Probleme, die zur Gewalt führten oder auch als Opfer des gesamten Systems Familie. Diese Versuche von Selbstpositionierungen sind jedoch in allen Interviews immer wieder von Zweifeln, Ambivalenzen, Identikationen und Distanzierungen begleitet und beeinusst, sind somit sehr instabil und wage und haben direkte Auswirkungen auf Selbstbild und Identität der jungen Erwachsenen. Die Frage der Identität soll im Folgenden weiter untersucht werden, indem zunächst die theoretischen Annahmen alltäglicher Identitätsarbeit als ein Modell aktueller Identitätsforschung vorgestellt und in der Folge die Interviews anhand dieses sensibilisierenden Konzepts erneut analysiert werden.
7 Identitätstheorie ein sensibilisierendes Konzept Ich glaube, eine der wichtigsten Konsequenzen dieser Gewalt ist die Art und Weise, wie die Kinder ihre Identität entwickeln (Vortrag von Dr. Susanne Heynen in Ministerium für Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfahlen (Hrsg.), 2005).
Identität und Selbstbild der jungen Erwachsenen erscheinen in der Auswertung der Interviews an unterschiedlichen Stellen und der Blick auf die Identitätskonstruktionen erwies sich als wertvolle weitere Perspektive auf die Auswirkungen des Miterlebens häuslicher Gewalt für Kinder und Jugendliche. So zeigten sich in den Interviews verschiedenste Strategien der Interviewten, sich selbst darzustellen, von sich zu erzählen und ein möglichst kohärentes Bild von sich zu präsentieren, ebenso wie unterschiedliche Wahrnehmungen und Vorstellungen der eigenen Person als Subjekt in der Gesellschaft. Um diese Perspektive auf die Identitätskonstruktionen der jungen Erwachsenen in der weiteren Auswertung darstellen zu können, soll hier zunächst kurz auf den aktuellen Stand der Identitätsforschung eingegangen und dann das Modell alltäglicher Identitätsarbeit nach Keupp et al. (2002) sowie Straus & Höfer (1997) ausführlich dargestellt werden, da es sich als hilfreiches aktuelles Konzept für die Auswertung der vorliegenden Interviews erwiesen hat.
7.1 Zum aktuellen Stand der Identitätsforschung Die Frage Wer bin ich? beschreibt in einfachster Form den Identitätsbegri, der 1946 von Erik H. Erikson eingeführt wurde. Das Entwicklungskonzept von Erikson (1902-1994) beschreibt den komplexen Prozess der Selbstverortung von Subjekten in der sozialen Welt der Moderne als kontinuierliches Stufenmodell, welches im Laufe der Kindheit und Jugend durchlaufen wird und im besten Fall in der Adoleszenz einen stabilen Kern an Identität für das weitere Erwachsenenleben sichert.
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7 Identitätstheorie ein sensibilisierendes Konzept
Es sollte damit ein spezischer Zuwachs an Persönlichkeitsreife angedeutet werden, den das Individuum am Ende der Adoleszenz der Fülle seiner Kindheitserfahrungen entnommen haben muÿ, um für die Aufgaben des Erwachsenenlebens gerüstet zu sein (Erikson, 1998, S. 123).
Für Erikson (1998) führt das erfolgreiche Durchlaufen der Entwicklungsstufen bis zur Adoleszenz zur Ausbildung einer Identität, dem Kriterium relativer psychosozialer Gesundheit (S. 149). Dem gegenüber steht die Identitätsdiusion, ein Kriterium relativer psychosozialer Störung (S. 149). Das Stufenmodell Eriksons hatte und hat groÿen Einuss auf die weitere Identitätsforschung, blieb jedoch aufgrund seines stark linearen Aufbaus nicht ohne Kritik. In der weiteren Identitätsforschung stellte sich zunehmend die Frage, ob wir von Erikson und seinem Identitätskonzept nicht endgültig Abschied nehmen müssen, weil ihm die gesellschaftliche Basis abhanden gekommen ist (Keupp, 1988, S. 431). Keupp et al. (2002) verdichten ihre Analyse der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse in den Industrieländern zur Grunderfahrung einer radikalen Enttraditionalisierung, dem Verlust von unstrittig akzeptierten Lebenskonzepten, übernehmbaren Identitätsmustern und normativen Koordinaten (S. 53). Aktuelle Identitätsdiskurse verabschieden sich vor dem Hintergrund dieser Veränderungsprozesse deutlich von Identität als innerem Kern, der an einer bestimmten Entwicklungsstufe erworben wird und beschreiben Identitätsarbeit als ein kontinuierliches und andauerndes Prozessgeschehen, einen permanenten Passungsprozess zwischen inneren und äuÿeren Welten (vgl. Höfer, 2006, S. 59). Traditionelle biographische Entwurfsschablonen und Schnittmuster haben ihre Bedeutung verloren. Nun besteht die Anforderung darin, sich seine Behausung selbst zu konstruieren und zu bauen (Keupp, 1997, S. 16). Diesen kreativen Prozess der Identitätskonstruktion beschreibt Keupp (1989) in der Methapher der Patchwork-Identität (vgl. S. 64). Die Freiheit, die eigene Identität aus einer Vielzahl von Möglichkeiten und angebotenen Stilpaketen bzw. gesellschaftlich vorgegebenen Fertigpackungen (Keupp et al., 2002, S. 216) zu konstruieren, hat jedoch auch eine Kehrseite: Der Verlust sicherer und traditioneller Gefüge und Bindungen macht die kreative und beständige Arbeit an der eigenen Identität zur unausweichlichen Notwendigkeit. Subjekte sind ständig damit beschäftigt, ihre Identität zu konstruieren, die jedoch immer nur für den Augenblick passend
7.1 Zum aktuellen Stand der Identitätsforschung
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sind. Bauman (1993) beschreibt dies als ontologische Bodenlosigkeit der Postmoderne: Die Postmoderne ist der Punkt, wo das moderne Freisetzen aller gebundenen Identität zum Abschluÿ kommt. Es ist jetzt leicht, Identität zu wählen, aber nicht mehr möglich, sie festzuhalten. Im Augenblick des höchsten Triumphs muÿ Befreiung erleben, daÿ sie den Gegenstand der Befreiung vernichtet hat. Je freier die Entscheidung ist, desto weniger wird sie als Entscheidung empfunden. Jederzeit widerrufbar, mangelt es ihr an Gewicht und Festigkeit sie bindet niemanden, auch nicht den Entscheider selbst; sie hinterläÿt keine bleibende Spur, da sie weder Rechte verleiht noch Verantwortung fordert und ihre Folgen, als unangenehm empfunden und unbefriedigend geworden, nach Belieben kündbar sind. Freiheit gerät zur Beliebigkeit; das berühmte Zuallem-Befähigen, für das sie hochgelobt wird, hat den postmodernen Identitätssuchern alle Gewalt eines Sisiphos verliehen. Die Postmoderne ist jener Zustand der Beliebigkeit, von dem sich nun zeigt, daÿ er unheilbar ist. Nichts ist unmöglich, geschweige denn unvorstellbar. Alles, was ist, ist bis auf weiteres. Nichts, was war, ist für die Gegenwart verbindlich, während die Gegenwart nur wenig über die Zukunft vermag. Heutzutage scheint alles sich gegen ferne Ziele, lebenslange Entwürfe, dauerhafte Bindungen, ewige Bündnisse, unwandelbare Identitäten zu verschwören. Ich kann nicht langfristig auf meinen Arbeitsplatz, meinen Beruf, ja nicht einmal auf meine eigenen Fähigkeiten bauen (zitiert nach Keupp, 1996, S. 393f ).
Der Verlust traditioneller Schablonen und gesellschaftlich vorgegebener Identitäten macht nicht nur die alltägliche Arbeit an der Konstruktion der eigenen Identität notwendig, sondern stellt auch Zugehörigkeit und Anerkennung zunächst einmal in Frage. Die selbstverständliche Anerkennung, die gesellschaftlich abgeleitete traditionelle Identitäten innehatten, muss in der Postmoderne auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene erworben werden (vgl. Keupp, 1996, 1997). Identität, so die ins positive gewendete These, ist ein Konstruktionsprozess geworden, der sich in der dialogischen Erfahrung in sozialen Netzwerken vollzieht. In ihnen wird um soziale Anerkennung gerungen (Keupp et al., 2002, S. 99).
Diese Betrachtungsweise alltäglicher Identitätskonstruktion führt ebenso wie die Vorstellung von Identität als Passungsprozess zwischen innerer und äuÿerer Welt zu einer weiteren Wurzel aktueller Identitätsdiskurse, dem symbolischen Interaktionismus, dessen Begründer Herbert Mead war.
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7 Identitätstheorie ein sensibilisierendes Konzept
Meads Vorstellung von Identität geht davon aus, daÿ jeder sich nur mit den Augen der anderen sehen kann. Wer ich bin, erfahre ich durch die Reaktionen der anderen auf mein Verhalten (Krappmann, 1997, S. 79).
Identität entsteht hier ebenso aus den Erwartungen anderer an das Individuum wie auch den daraus entstehenden Antworten des Individuums. Die schwierige Verbindung eigener Vorstellungen und sozialer Erwartungen beschreibt Krappmann (1969) in dem Begri balancierende Identität: Gemeint ist nicht eine wohlbalancierte, fest etablierte Identität, sondern eine Identität, die aus ständiger Anstrengung um neue Vermittlung entsteht (Krappmann, 1997, S. 83).
Diese ständige Arbeit an der eigenen Identität und daran, sie dem Gegenüber verständlich zu machen, zu verteidigen oder auch sozialen Erwartungen anzupassen, hat Goman (1974) ausführlich geschildert. Auch im Entwicklungsmodell von Kegan (1986) spielen soziale Netzwerke, die er einbettende Kulturen nennt, eine wichtige Rolle. Für ihn kann Identität nur konstruiert werden, wenn die für jede Identitätsarbeit wichtigen Anderen vorhanden sind. Diese interaktionistisch-entwicklungspsychologische Sicht sieht folglich die entscheidenden Bedingungen für den Prozess der Identitätsbildung im sozialen Erfahrungsbereich der Heranwachsenden, da in ihm die Identitätsbalancen ko-konstruiert und evaluiert werden (Krappmann, 1997, S. 85).
Ein aktuelles Modell der Identitätsforschung, das auf den eben dargestellten Überlegungen aufbaut und für die vorliegende Forschungsarbeit hilfreich erscheint, ist das Modell alltäglicher Identitätsarbeit, welches im Folgenden näher dargestellt werden soll.
7.2 Konstruktionen alltäglicher Identitätsarbeit Das Modell alltäglicher Identitätsarbeit (vgl. Keupp et al., 2002; Höfer, 2000; Straus & Höfer, 1997) beschreibt eine Struktur von Elementen und Ebenen, auf denen sich der Prozess alltäglicher Identitätsarbeit abspielt (vgl. Abb. 7.1). Diese strukturellen Überlegungen basieren auf der Annahme, dass Subjekte nicht nur dann an ihrer Identität arbeiten, wenn sie gefragt werden, wer sie sind, sondern in ihren Handlungen permanente Identitätsarbeit leisten (Straus & Höfer, 1997, S. 273).
7.2 Konstruktionen alltäglicher Identitätsarbeit
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Unser Denken und Handeln ist kontinuierlich begleitet von situativen Selbstthematisierungen, die die Basis der Identitätsarbeit darstellen. Diese Selbstthematisierungen bzw. Selbstwahrnehmungen entstehen entlang von fünf Erfahrungsmodi28 und werden vom Individuum als Bilder von sich gespeichert. Auf diese Weise entsteht in jeder Situation eine kognitive, soziale, produktorientierte, emotionale und körperorientierte Wahrnehmung von uns selbst, die als situative Selbstthematisierung gespeichert wird.
Abbildung 7.1: Das Modell alltäglicher Identitätsarbeit (Höfer, 2000, S. 215) Diese Selbstwahrnehmungen bündeln Subjekte unter verschiedenen Perspektiven zu sogenannten Teilidentitäten. Situationale Selbstthematisierungen lassen sich jeweils mehreren Perspektiven zuordnen, das heiÿt, eine bestimmte Erfahrung der eigenen Person kann beispielsweise sowohl aus der Perspektive ich als Be-
28 In der Veröentlichung von Straus & Höfer (1997) nden sich nur 4 Erfahrungsmodi, die Höfer (2000) um die körperorientierte Perspektive ergänzt, da ihr diese zu wenig berücksichtigt erschien (vgl. S. 185).
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7 Identitätstheorie ein sensibilisierendes Konzept
rufstätige` als auch unter der Perspektive ich als Frau` oder ich als gesundes/krankes Individuum` herangezogen werden (Straus & Höfer, 1997, S. 277f).
Diese Teilidentitäten unterliegen wie der gesamte Prozess der Identitätskonstruktion einem fortlaufenden Veränderungsprozess, d.h. Teilidentitäten können sich substantiell verändern, sich auösen oder neu entstehen, aber auch in einzelnen Lebensphasen dominieren oder in den Hintergrund treten (Keupp et al., 2002, S. 217). Wichtige Teilidentitäten können u.a. die klassische Dreiteilung von Arbeit, Familie und Freizeit ebenso sein wie Gesundheit, Geschlecht oder kultureller Hintergrund. Selbstthematisierungen und Teilidentitäten verdichten Subjekte auf der Ebene der Meta-Identität zu Identitätsgefühl und biographischer Kernnarration. Dominierende Teilidentitäten können hier ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Das Identitätsgefühl beschreibt Bohleber (1997) als aktives inneres Regulationsprinzip (S. 113), das alle Erfahrungen unter der Fragestellung überprüft, ob diese in die zentralen Selbstrepräsentanzen integrierbar sind. Im Verständnis von Keupp et al. (2002) enthält das Identitätsgefühl sowohl Bewertungen über die Qualität und Art der Beziehung zu sich selbst (Selbstgefühl) als auch Bewertungen darüber, wie eine Person die Anforderungen des Alltags bewältigen kann (Kohärenzgefühl) (S. 226). Das Identitätsgefühl setzt sich also aus dem Selbst- und dem Kohärenzgefühl zusammen. Innenbeziehung und Beziehung zur Welt bilden zusammen die ineinander verschlungenen und einander bedingenden Bestandteile von Identität (Anselm, 1997, S. 138). Beide entstehen in Verdichtungsprozessen, die nicht in Form einfacher Generalisierungsvorgänge erfolgen, sondern entlang zentraler Identitätsziele, wie beispielsweise dem Ziel der sozialen Anerkennung, verlaufen. Das Kohärenzgefühl, welches in der Auswertung der vorliegenden Interviews eine wichtige Rolle spielt, wird in einem der folgenden Kapitel genauer beleuchtet werden (vgl. Kapitel 7.5). Neben dem Identitätsgefühl entstehen auf der Ebene der Meta-Identität auch biographische Kernnarrationen, in denen sich in aller Regel die dominierenden Teilidentitäten widerspiegeln. Bei den Kernnarrationen handelt es sich (..) um jene Teile der Identität, in denen das Subjekt einerseits für sich selbst die Dinge auf den Punkt` zu bringen versucht, zum anderen um jene Narrationen, mit denen jemand versucht, dies anderen mitzuteilen. Verkörpert sich im Identitätsgefühl das Vertrauen zu sich selbst, so handelt es sich bei
7.3 Prozess alltäglicher Identitätsarbeit
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den Kernnarrationen um die Ideologie von sich selbst, um den Versuch, sich und seinem Leben anderen mitteilbaren Sinn zu geben (Keupp et al., 2002, S. 229). Auch die narrative Konstruktion von Identität und der Stellenwert der Kernnarrationen innerhalb der Identitätskonstruktion sollen aufgrund ihrer Bedeutung für die vorliegende Forschungsarbeit im Anschluss genauer beschrieben werden. Diese drei Konstruktionen (Teilidentitäten, Kernnarration und Identitätsgefühl) bilden die Basis für ein Gefühl der Handlungsfähigkeit. In ihm drückt sich die Einschätzung einer Person aus, wie souverän sie sich fühlt, die eigenen Lebensbedingungen zu gestalten (Keupp et al., 2002, S. 242).
7.3 Prozess alltäglicher Identitätsarbeit Das Modell alltäglicher Identitätsarbeit beschreibt die Konstruktion von Identität als ständig fortlaufenden Prozess. Subjekte arbeiten täglich an ihrer Identität, indem sie handeln, Erfahrungen machen und Zukunftsvorstellungen entwickeln. Identität entsteht als permanente Verknüpfungsarbeit aller Selbsterfahrungen des Subjektes und als Passungsprozess an der Schnittstelle von Innen und Auÿen (vgl. Keupp et al., 2002, S. 190f). Den Herstellungsprozess von Identität beschreiben Keupp et al. (2002) anhand von vier Perspektiven: der retro- und prospektiven Identitätsarbeit, der Identität als Koniktaushandlung, der Ressourcen- sowie der Narrationsarbeit. Während die ersten drei Perspektiven hier kurz angesprochen werden, ndet die Perspektive auf Identität als Narrationsarbeit aufgrund ihrer zentralen Bedeutung für die Auswertung der vorliegenden Interviews im nachfolgenden Kapitel ihren Platz. Identität als retro- und prospektiver Reexionsprozess
In der zuvor dargestellten Struktur alltäglicher Identitätsarbeit entstehen Teilidentitäten auf der Basis von situationalen Selbstthematisierungen, d.h. aus einer retrospektiv-reexiven Perspektive. In erlebten Situationen entstehen entlang der zentralen Erfahrungsmodi Bilder von sich selbst, die rückblickend gebündelt und zu Teilidentitäten, Identitätsgefühl und Kernnarration verdichtet werden. Die Arbeit an der eigenen Identität bleibt jedoch nicht bei dieser retrospektiven Selbstreexion stehen.
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7 Identitätstheorie ein sensibilisierendes Konzept
In unserem Modell alltäglicher Identitätsarbeit tritt zur Integration (vergangener und aktueller) situationaler Selbstthematisierungen mit der Einbeziehung der Zukunftsorientierung ein weiteres Element hinzu, das versucht, die gestaltende Seite des Subjektes für seine Identitätsarbeit zu beschreiben (Keupp et al., 2002, S. 194).
Immer wenn Subjekte sich in die Zukunft entwerfen und sich selbst zum Gegenstand zukunftsbezogener Reexion machen, entwickeln sie Identitätsentwürfe und verdichten einzelne zu konkreten Identitätsprojekten. Während Identitätsentwürfe durchaus auch realitätsfern, utopisch oder überzogen sein und energetisierende Wirkung haben können, haben Identitätsprojekte ein Art inneren Beschlusscharakter, das heiÿt es setzt voraus, daÿ ein Reexionsprozess mit Blick auf die vorhandenen Ressourcen stattgefunden hat (Höfer, 2000, S. 190). Identitätsprojekte zielen immer auch auf die konkrete Realisation. Identitätsarbeit bedeutet also immer auch retro- und prospektive Verknüpfungsarbeit bzw. braucht die Reexion vergangener Erfahrungen und den Entwurf zukünftiger Identitätsprojekte. Im Modell der alltäglichen Identitätsarbeit werden diese retro- und prospektiven Prozesse als eng miteinander verbunden betrachtet, d.h. es gibt keine Erinnerung, die nicht in irgendeiner Weise auch auf die Zukunft gerichtet wäre und keinen Identitätsentwurf, der nicht auch vergangene Erfahrungen beinhalten würde. Keupp et al. (2002) gehen von einem gleichberechtigten Zusammenwirken und der wechselseitigen Verknüpfung retro- und prospektiver Reexion in der Identitätsarbeit aus (S. 195). Identität als Koniktaushandlungsprozess
In der alltäglichen Identitätsarbeit kommt es immer wieder zu Spannungszuständen, die auch eine motivationale Spannung für neue Handlungen und Identitätsentwürfe bilden. Grundspannungen werden in diesem Modell als Quelle der Dynamik im Identitätsprozeÿ (Keupp et al., 2002, S. 197) verstanden. Identitätsarbeit meint also immer auch die Aushandlung von Differenzen und stellt keinen spannungsfreien Balancezustand dar. Quellen für diese Spannungszustände liegen an unterschiedlichen Stellen im Prozess der Identitätskonstruktion. So können neue Selbsterfahrungen oder Selbstthematisierungen mit den bisherigen Vorstellungen der eigenen Identität übereinstimmen oder auch im Widerspruch dazu stehen. Schon innerhalb der fünf Erfahrungsmodi entlang derer situative Selbstthematisierungen entstehen, sind unterschiedliche und ambivalente Erfahrungen möglich. So kann eine Situation in ihrer Reexion auf emotionaler Ebene völlig
7.3 Prozess alltäglicher Identitätsarbeit
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anders eingeordnet werden als auf der kognitiven, körperlichen, produktorientierten oder sozialen Ebene, wodurch ein Spannungszustand entstehen kann (vgl. Höfer, 2000, S. 194f). Ein weiterer Entstehungspunkt von Spannung in der Identitätsarbeit liegt in der Einbeziehung der Zukunftsperspektive, d.h. im Spannungsfeld retround prospektiver Identitätsarbeit. Identitätsarbeit lebt auch von dem Spannungszustand zwischen dem, was man erreicht hat, und dem, was man erreichen möchte (Keupp et al., 2002, S. 197).
Identitätsarbeit bedeutet immer auch eine Passungsarbeit zwischen Innen und Auÿen, ein Balancieren zwischen sozialen, lebensweltspezizierten Anforderungen und eigenen, individuellen Selbstverwirklichungsentwürfen. Identität ist stets auch ein Aushandlungsprozess zwischen Subjekt und gesellschaftlicher Umwelt. Identität entwickelt und verändert sich in Feedbackschleifen beziehungsweise in einem systemisch zu sehenden Zusammenspiel von Auÿenanforderung und -wahrnehmung und Innenanforderung und -wahrnehmung (Straus & Höfer, 1997, S. 287).
Identitätsarbeit als Passungsarbeit meint dabei nicht reine Anpassung, sondern ist stets ein subjektiver Aushandlungsakt. Krappmann (1997) beschreibt Identität als sozialen Aushandlungsprozess aus einer interaktionistischen Perspektive: Da aber Identität die Anerkennung der anderen auf der Basis geteilten Sinns braucht, ist die Kompetenz herausgefordert, mit den anderen Identität auszuhandeln, Angebote aufzugreifen, eigene Bedürfnisse nicht aufzugeben, sondern eine Vermittlung der divergierenden Elemente zu versuchen und sich dabei von Rückschlägen und Verletzungen nicht hindern zu lassen. Nicht Rollen, Positionen, Laufbahnen oder irgendwelche Requisiten der Selbstdarstellung garantieren also Identität, sondern vor allem die Kompetenz, Sinn mit den anderen beharrlich auszuhandeln, oft auch auszustreiten (S. 80).
Identität meint hier also keinen Zustand von Gleichgewicht und Widerspruchsfreiheit, sondern beinhaltet immer auch ein subjektives Maÿ an Ambiguität und Spannung, ein Gefühl des Herausgefordertseins. Identität als Ressourcenarbeit
Der Aushandlungsprozess zwischen Subjekt und Umwelt, der Grundlage von Identitätsarbeit ist, ist immer auch abhängig von den Ressourcen, die dem
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7 Identitätstheorie ein sensibilisierendes Konzept
Individuum zur Verfügung stehen. In der sozialpsychologischen Analyse zeigt sich ein komplexer Zusammenhang zwischen alltäglicher Identitätsarbeit und der Ressourcenlage der Subjekte (Keupp et al., 2002, S. 198). Relevant sind dabei nicht nur die objektiv vorhandenen Ressourcen, sondern auch die Kompetenzen des Subjektes, sich Ressourcen zu erschlieÿen oder vorhandene Ressourcen zu nutzen. So kann auch ein Mangel an bestimmten Ressourcen identitätsbezogene Entwicklungsschritte initiieren und umgekehrt garantiert eine gute Ausstattung mit Ressourcen auch keine gelingende Identitätsentwicklung. Zur Präzisierung des Ressourcenbegris greifen (vgl. Keupp et al., 2002) auf die Kapitalsorten-Theorie von Bordieu (1983, 1992) zurück. Dabei sind drei von Bordieu als primäre Kapitalsorten bezeichneten Ressourcen von besonderer Bedeutung: das ökonomische, das soziale und das kulturelle Kapital. Ökonomisches Kapital meint dabei alle materiellen Ressourcen, die unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar (Bordieu, 1983, S. 185) sind. Dies sind insbesondere Geld, Aktien, Mieteinnahmen, Renten, Pachterträge, Grundbesitz sowie Produktionsmittel. Kulturelles Kapital wird noch einmal unterteilt:
• Inkorporiertes Kulturkapital: Dazu zählen verinnerlichte Fertigkeiten und Haltungen, die durch Bildung und Übung erworben werden müssen.
• Objektiviertes Kulturkapital: Dieses Kapital ist zwar materiell übertragbar (Bücher, Tonträger, Kunst etc.), erfordert jedoch ebenso wie das inkorporierte Kapital bei der Aneignung einen gewissen Aufwand.
• Institutionalisiertes Kulturkapital: Darunter sind staatlich anerkannte Abschlüsse und Titel zu verstehen, die einmal erworben, vom Nachweis des tatsächlich akkumulierten Kulturkapitals entlasten. Soziales Kapital beschreibt all jene Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu anderen Personen beruhen (Keupp et al., 2002, S. 200), also die sozialen Beziehungen und Netzwerke, die einem Subjekt sowohl als Ressource als auch zur Beschaung weiterer Ressourcen zur Verfügung stehen. Während soziales Kapital durch ständige Beziehungsarbeit aufgebaut und ständig neu bestätigt werden muss, wird das ökonomische Kapital meist
7.3 Prozess alltäglicher Identitätsarbeit
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durch die Herkunftsfamilie weitergegeben. Ebenso das kulturelle Kapital, wobei hier nicht nur die Existenz des kulturellen Kapitals sondern auch die zur Verfügung stehende Zeit und Motivation in der Familie darüber entscheidet, wie das Kapital weitergegeben wird. Für die alltägliche Identitätsarbeit ist jedoch weniger die bloÿe Existenz von Ressourcen bedeutsam, als vielmehr die Art und Weise, wie diese in identitätsrelevante Abläufe übersetzt werden können. Dabei ist nicht nur wichtig, dass eine Kapitalsorte in eine andere überführt werden kann (beispielsweise soziale Kontakte können genutzt werden, um auf zusätzliches Wissen, also kulturelles Kapital, zurückgreifen zu können), sondern auch, wie Kapitalien in identitätsrelevante Ressourcen übersetzt werden können. Keupp et al. (2002) beschreiben drei Übersetzungskategorien bzw. Qualitäten, in die Kapitalien umgewandelt werden können und die für die Identitätsentwicklung relevant sind: den Optionsraum, die subjektive Relevanzstruktur und die Bewältigungsressourcen. Am Beispiel des sozialen Kapitals bedeutet dies, dass soziale Netzwerke einen Optionsraum möglicher Identitätsentwürfe erönen, eine subjektive Relevanzstruktur (z.B. Bewertungen wie In oder Out) vermitteln und eine bedeutsame Ressource zur Bewältigung von Krisen darstellen. Alltägliche Identitätsarbeit ist also immer auch abhängig davon, welche Ressourcen einem Subjekt zur Verfügung stehen, welche davon es nutzen oder für sich zugänglich machen kann und wie diese in identitätsrelevante Ressourcen transformiert werden können. Alle Ressourcen und Kompetenzen haben ein Gefühl des Vertrauens in die Kontinuität des Lebens zur Bedingung, ein Urvertrauen zum Leben und seinen ökologischen Voraussetzungen (Keupp, 1997, S. 21). Fehlt dieses Vertrauen oder wird durch Erfahrungen der Demoralisierung und des Verlustes der Honung in Frage gestellt, entstehen fatale Bedingungen für gelernte Hilf- und Honungslosigkeit. Häusliche Gewalt kann eine solche Demoralisierungserfahrung darstellen, die Identitätsarbeit in ihren Grundbedingungen erschüttern und zu absoluter Hilosigkeit führen kann. Auch Höfer (2000) weist darauf hin, dass häug wiederkehrende gleiche negative Erfahrungen als Stressoren identitätsgefährdend wirken können (vgl. S. 207f). Ob und wie junge Erwachsene trotz häuslichen Gewalterlebens ein Vertrauen in die Gestaltbarkeit ihres eigenen Lebens aufbauen können und inwiefern ihre Identitätskonstruktionen von der erlebten Hilosigkeit geprägt sind, ist eine Perspektive, unter der die vorliegenden Interviews erneut ausgewertet werden sollen.
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7 Identitätstheorie ein sensibilisierendes Konzept
7.4 Narrative Konstruktion von Identität Neben Koniktaushandlung und Ressourcenarbeit beschreiben Keupp et al. (2002) Narrationsarbeit als einen weiteren wichtigen Prozess zur Konstruktion von Identität. Sprache ist ein grundlegender Modus zur sozialen Konstruktion von Wirklichkeit und ein wesentliches Instrument zur Aushandlung von Identität in sozialen Kontexten (vgl. Gergen, 2002; Kraus, 1996). Identitätsarbeit ist also stets auch Narrationsarbeit, d.h. Identität und Identitätskonstruktionen entstehen zu einem groÿen Teil mittels Sprache und Erzählung: Erzählend organisiert das Subjekt die Vielgestaltigkeit seines Erlebens in einen geschlossenen Verweisungszusammenhang (Kraus, 1996, S. 159f ).
Lucius-Hoene & Deppermann (2004) beschreiben die Bedeutung und den Gewinn biographischer Selbsterzählungen folgendermaÿen: Im Erzählen kann [der Erzähler] sich zugleich darstellen und über sich reektieren, er erarbeitet sich Bilder und Konzepte seiner Erfahrungen und seiner Person und lässt diese auf sich wirken. Indem er sich als handelnder, fühlender und erlebender Mensch zum Ausdruck bringt, nimmt er auch zu sich Stellung, er interpretiert und bewertet sich, dierenziert und vergleicht seine Erfahrungen und Erinnerungen. Damit vergewissert er sich seiner selbst und treibt gleichzeitig seine Selbsterkenntnis voran (Lucius-Hoene & Deppermann, 2004, S. 67).
Die Art und Weise wie ein Mensch von sich erzählt und dabei selbstrelevante Ereignisse seines Lebens aufeinander bezieht, bezeichnen Keupp et al. (2002) ebenso wie Gergen & Gergen (1988) als Selbstnarration. Im Modell der alltäglichen Identitätsarbeit verdichten sich Selbstnarrationen auf der Ebene der Meta-Identität im Konstrukt der biographischen Kernnarrationen, die eine Ideologie von sich selbst darstellen. Selbstnarrationen sollen Antworten auf die zentralen Fragen der Identität Wer bin ich? und Warum bin ich so? formulieren und diese für andere darstellbar machen. Dabei geht es nicht primär um Faktizität sondern vielmehr um meaning making, d.h. darum, die eigene Geschichte in einer Form zu erzählen, die sie für die Zukunft oen hält und ein psychisches Wohlbenden ermöglicht (vgl. Keupp et al., 2002, S. 210). Ob eine Geschichte wahr oder plausibel klingt, ist keine Frage von Objektivität. Wahrheit wird vielmehr ebenfalls narrativ konstruiert durch die Verwendung von Erzählkonventionen einer spezischen Kultur oder Subkultur
7.4 Narrative Konstruktion von Identität
205
(Kraus, 1996, S. 171). Als notwendige Charakteristika einer wohlgeformten Narration in der westlichen Kultur nennt Kraus (1996, S. 172f) in Anschluss an Gergen & Gergen (1988)
• einen sinnstiftenden Endpunkt, • die Einengung auf relevante Ereignisse, • die narrative Ordnung von Ereignissen, • die Herstellung von Kausalverbindungen, • und Grenzzeichen. Neben Erzählkonventionen, die Selbstnarrationen glaubhaft erscheinen lassen, gibt es spezische Formen und Verläufe von Selbsterzählungen. Diese teilt Kraus (1996) in drei Formen ein: Stabilitätserzählungen sowie progressive und regressive Narrationen. In der ersten Form bleibt das Individuum im Verlauf der Geschichte weitgehend unverändert, während sich in den beiden anderen die Position des Individuums auf der Evaluationsdimension mit dem Verlauf der Geschichte (positiv oder negativ) verändert (vgl. Kraus, 1996, S. 174). Diese Formen von Selbstnarrationen erweitert Gergen (2002) um die Varianten der Erzählung vom ewigen Glück, der Heldengeschichte sowie tragische und komödiantisch-romantische Erzählungen (vgl. S. 95f). Eine weitere Unterscheidung in der Gestaltung von Selbstnarrationen liegt in der Positionierung des Akteurs (vgl. Kraus, 1996), mit der auch das Erleben gesellschaftlicher Machtstrukturen deutlich wird. Ein Erzähler kann sich selbst in seiner Geschichte als stark oder schwach beschreiben, je nachdem, wem er die Kontrolle über sich zuschreibt: Habe ich etwas getan, oder ist mir etwas widerfahren, bin ich Akteur meiner Geschichte, oder bin ich Objekt in ihr? (Keupp et al., 2002, S. 209).
Selbstnarrationen bleiben über die Zeit keineswegs stabil, sie verändern und entwickeln sich im Kontext sozialer Aushandlungsprozesse. Sie sind durch gesellschaftlich anerkannte Identitätsbausteine, Fertigpackungen, wie Keupp et al. (2002, S. 216) sie nennen, und Machtstrukturen ebenso beeinusst wie durch die aktuelle Erzählsituation. Eine Selbsterzählung wird durch den Kontext, die institutionellen Merkmale der Erzählsituation und die damit verbundenen Erzählkonventionen ebenso beeinusst wie durch die
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7 Identitätstheorie ein sensibilisierendes Konzept
kommunikativen Ziele der Erzählung und die Erwartungen der Zuhörenden (vgl. Lucius-Hoene & Deppermann, 2004, S. 32). Insbesondere die Zuhörer haben aus einer interaktionistischen Perspektive betrachtet groÿen Einuss auf die Erzählung, die präsentiert wird. Bei Selbstnarrationen geht es immer auch um die strategische Wahl einer Selbstdarstellung (Keupp et al., 2002, S. 209). Zudem berichten Selbstnarrationen nicht ausschlieÿlich von eigenen Erlebnissen und Handlungen, sondern beziehen Handlungen und Reaktionen anderer mit ein. Eine Selbsterzählung kann daher nur so lange erfolgreich aufrecht erhalten werden, wie sie von den handlungsstützenden Rollenträgern mitgetragen wird (vgl. Kraus, 1996, S. 180f). Selbstnarration ist also ein bedeutendes Mittel zur Konstruktion und sozialen Aushandlung von Identität, das dem Subjekt ermöglicht, aus der eigenen Geschichte, den eigenen Erlebnissen und deren Bewertung eine stimmige Erzählung zu konstruieren, die es selbst als kohärent und passend erlebt und die in sozialer Interaktion möglichst auf Anerkennung stösst. Die Bedeutung von Narration beschreiben Hofmann & Besser (2006) auch in Bezug auf traumatherapeutische Prozesse innerhalb einer Falldarstellung: Die Schaung von Narrationen und damit von Verständnis für das, was passiert ist, was die Kleine [Patientin, 4 Jahre, Anm. d. V.] erlebt, körperlich empfunden, gefühlt und später gesehen hat, ist eine Voraussetzung für die Synthese und Integration einer fragmentierten Geschichte, die nun eine Neubewertung und Vergangenheitsqualität bekommen kann. (Hofmann & Besser, 2006, S. 184)
Eine kohärente Geschichte dessen was geschehen ist, ist Grundlage dafür, die Erlebnisse als Vergangenheit erinnern und integrieren zu können. Die Geschichte, die in dieser Falldarstellung der Therapeut dem kleinen Mädchen erzählt, da sie zu jung ist, diese selbst entwickeln zu können, verfolgt das Ziel, Erlebnisse, Gefühle und Gedanken verstehen und als Geschichten, die der Vergangenheit angehören, erinnern und erzählen zu können. Narrative Therapieverfahren ermuntern PatientInnen Lebensereignisse in Geschichten und Erzählungen zu formulieren, um diese so der Verarbeitung zugänglich machen und kohärent in die eigene Lebensgeschichte integrieren zu können. Die narrative Konstruktion von Identität dient also nicht nur der Vermittlung von Identität gegenüber anderen, also der Darstellung der eigenen Identität gegenüber den Zuhörenden, sondern auch der Konstruktion einer in sich stimmigen Lebensgeschichte und damit der Herstellung von Kohärenz. Insbesondere in narrativen Interviews spielt diese Art der Konstruktion natürlich eine entscheidende Rolle, da auch das Interview eine Selbstnarration
7.5 Identität und Kohärenz
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und eine narrative Konstruktion von Identität im Augenblick des Interviews beinhaltet. Aus diesem Grund werden die Selbstnarrationen in der weiteren Auswertung eine zentrale Rolle spielen.
7.5 Identität und Kohärenz Das Kohärenzgefühl erwies sich von ebenso groÿer Bedeutung in der Auswertung der Interviews wie die narrative Konstruktion von Identität. Kohärenz leitet sich aus dem Lateinischen von cohaerere ab, was ins Deutsche übersetzt zusammenhängen bedeutet und beschreibt den Zusammenhalt oder Zusammenhang von etwas. Im Modell der alltäglichen Identitätsarbeit stellt das Kohärenzgefühl wie oben beschrieben ein Konstrukt auf der Ebene der Meta-Identität dar und beschreibt das Gefühl des Subjekts, wie es die Anforderungen des Alltags bewältigen kann und sich dabei selbst als kohärent erlebt. Aufgrund des Verlustes kohärenzstiftender gesellschaftlicher Statuszuweisungen und Rollenangebote steigen sowohl das subjektive Bedürfnis nach Kohärenz als auch die Interiorisierung der Kohärenzproduktion zunehmend an (vgl. Kraus, 1996, S. 63). Angesichts dieser gesellschaftlichen Veränderungsprozesse ist auch die Vorstellung von Kohärenz zu überdenken. Es wäre gut, sich von einem Begri von Kohärenz zu verabschieden, der als innere Einheit, als Harmonie oder als geschlossene Erzählung verstanden wird. Kohärenz kann für Subjekte auch eine oene Struktur haben, in der zumindest in der Wahrnehmung anderer Kontingenz, Diusion im Sinne der Verweigerung von Commitment, Oenhalten von Optionen eine idiosynkratische Anarchie und die Verknüpfung scheinbar widersprüchlicher Fragmente sein dürfen (Keupp et al., 2002, S. 245).
In der alltäglichen Identitätsarbeit entsteht ein Gefühl von Kohärenz in einem Referenzrahmen von einerseits Kontinuität und Ähnlichkeit sowie andererseits Entwicklung und Flexibilität. Innere Vielfalt und Beweglichkeit sind eine notwendige Reaktion der Subjekte auf die Pluralisierung der Lebensformen, in denen wir uns bewegen. Vor diesem Hintergrund entsteht Kohärenz nicht mehr inhaltlich (beispielsweise durch Anpassung an gesellschaftliche Schnittmuster), sondern als prozessuales Ergebnis, als Gefühl eines trotz unterschiedlicher Entwicklungen zu mir passenden Prozesses (Höfer, 2000, S. 193).
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7 Identitätstheorie ein sensibilisierendes Konzept
In ihrer Beschreibung des Kohärenzgefühls greifen Keupp et al. (2002) auf das Konzept des sense of coherence (SOC; Kohärenzgefühl 29 ) zurück, welches Aaron Antonovsky (1981, 1997) im Rahmen seiner Überlegungen zur Salutogenese formuliert hat. Hier deniert Antonovsky (1981) Kohärenzgefühl wie folgt: The sense of coherence is a global orientation that expresses the extent of which one has a pervasive, enduring though dynamic feeling of condence that one's internal and external environments are predictable and that there is a high probability that things will work out as well as can reasonably be expected (Antonovsky, 1981, S. 123).
Das Kohärenzgefühl ist in Antonovskys Konzept der Salutogenese, neben den generalisierten Widerstandsressourcen, eine ausschlaggebende Komponente, an welcher Stelle auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum 30 sich ein Subjekt bendet und ob es sich in Richtung des gesunden Pols bewegt (vgl. Antonovsky, 1997, S. 33). Da Individuen in unserer Gesellschaft überall und ständig Anforderungen und Stressoren ausgesetzt sind, ist die Frage der Gesundheit auch immer eng verknüpft mit der Frage nach Ressourcen und Strategien zur Bewältigung von als Stress bewerteten Anforderungen. 31 Die zentrale Frage des Salutogenese-Konzeptes ist die, wie Subjekte es schaen, stressreiche Anforderungen zu bewältigen und trotz Belastungen und Risikofaktoren dennoch gesund zu bleiben oder sich auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum in Richtung des gesunden Pols zu bewegen. Die 29 In der Übersetzung des Begris sense of coherence herrscht in der deutschen Fachliteratur keine klare Einigkeit. Er wurde in Veröentlichungen als Kohärenzsinn, Kohärenzerleben oder Kohärenzempnden ebenso übersetzt wie mit dem Begri Kohärenzgefühl (vgl. Singer & Brähler, 2007, S. 14f). Für die vorliegende Arbeit soll der sense of coherence mit Kohärenzgefühl übersetzt werden, da dies der im Modell alltäglicher Identitätsarbeit gängige Begri ist. 30 Antonovsky (1981) kritisiert die klare Trennung des Gesundheitszustandes von Subjekten in gesund und krank, die im medizinischen Sektor stark verbreitet ist. Er setzt diesem Modell in seinem Konzept der Salutogenese die Vorstellung eines Kontinuums entgegen, dessen Pole Gesundheit und Krankheit bzw. körperliches Wohlbenden und körperliches Missempnden sind. Subjekte können weder den Pol völliger Gesundheit noch den Pol völliger Krankheit erreichen, sondern nehmen eine Position innerhalb des Kontinuums zwischen den Polen ein. Überwiegend gesunde Menschen haben immer auch kranke Anteile und solange Menschen trotz überwiegender Krankheit am Leben sind, müssen sie auch gesunde Anteile haben (vgl. Bengel et al., 1998, S. 32). 31 Antonovsky geht hier davon aus, dass auftretende Spannungszustände sehr individuell erlebt werden und die subjektive Bewertung darüber entscheidet, ob Stressoren als bedrohlich oder irrelevant erlebt werden. An dieser Stelle bezieht sich Antonovsky im wesentlichen auf das transaktionale Stressmodell von Lazarus & Folkman (1984) und ihre Vorstellungen von Appraisal.
7.5 Identität und Kohärenz
209
Antwort auf diese Frage sieht Antonovsky (1997) in seinem Konzept des Kohärenzgefühls, das er anhand von drei Komponenten speziziert:
• Verstehbarkeit (comprehensibility ) Sie bezieht sich auf das Ausmaÿ, in welchem man interne und externe Stimuli als kognitiv sinnhaft wahrnimmt, als geordnete, konsistente, strukturierte und klare Information und nicht als Rauschen chaotisch, ungeordnet, willkürlich, zufällig und unerklärlich (Antonovsky, 1997, S. 34). Verstehbarkeit entsteht nach Antonovsky (1997) aus Lebenserfahrungen der Konsistenz und Verlässlichkeit. 32 Identitätstheoretisch betrachtet entsteht Verstehbarkeit vor allem dann, wenn Subjekte den Prozess der Zielübersetzung in Identitätsentwürfe, Projekte und realisierte Projekte als zwar von auÿen beeinusst aber letztlich selbstbestimmt erleben (vgl. Keupp et al., 2002, S. 227).
• Handhabbarkeit (manageability ) Sie meint das Ausmaÿ, in dem man wahrnimmt, daÿ man geeignete Ressourcen zur Verfügung hat, um den Anforderungen zu begegnen, die von den Stimuli, mit denen man konfrontiert wird, ausgehen (Antonovsky, 1997, S. 35). Handhabbarkeit entsteht aus Lebenserfahrungen einer ausgeglichenen Balance zwischen Überlastung und Unterforderung. Identitätstheoretisch gesprochen ist ein Gefühl von Handhabbarkeit das Ergebnis, wenn aus Identitätsentwürfen Projekte und aus diesen realisierte Projekte entstanden sind (vgl. Keupp et al., 2002, S. 227).
• Bedeutsamkeit (meaningfulness ) Sie meint das Ausmaÿ, in dem man das Leben emotional als sinnvoll empndet: daÿ wenigstens einige der vom Leben gestellten Probleme und Anforderungen es wert sind, daÿ man Energie in sie investiert, daÿ man sich für sie einsetzt und sich ihnen verpichtet, daÿ sie eher willkommene Herausforderungen sind als Lasten, die man gerne los wäre (Antonovsky, 1997, S. 35f). Ein Gefühl der Bedeutsamkeit entsteht aus Lebenserfahrungen von Partizipation. Identitätstheoretisch betrachtet erleben Subjekte sich als bedeutsam, wenn es gelingt, Identitätsziele 32 In seiner Auseinandersetzung mit der Entstehung des Kohärenzgefühls im Verlauf des Lebens schlägt Antonovsky (1997) insbesondere bezüglich der Verstehbarkeit die Brücke zu Ergebnissen der Säuglingsforschung und Bindungstheorie (vgl. S. 96).
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7 Identitätstheorie ein sensibilisierendes Konzept
in Entwürfe und Projekte zu übersetzen, die von authentischer und positiver Selbstwertschätzung begleitet sind (vgl. Keupp et al., 2002, S. 227). Alle drei Komponenten sind eng miteinander verwoben, haben jedoch laut Antonovsky (1997) unterschiedlich zentrale Bedeutung für die Entstehung des Kohärenzgefühls. Als bedeutendste Komponente sieht er die Sinnkomponente`, da diese den Zugang zur Verstehbarkeit und zu den Ressourcen erönet. Die Sinnkomponente repräsentiert das motivationale Moment. (. . . ) Die zweit wichtigste Komponente sieht er in der Verstehbarkeit, da eine hohe Fähigkeit, Dinge zu bewältigen, von der Verstehbarkeit der Informationen abhängig ist (Höfer, 2000, S. 85).
Das Kohärenzgefühl ist eine wichtige Voraussetzung dafür, wie Menschen auf Anforderungen und Stressoren reagieren. Menschen mit einem starken Kohärenzgefühl verfügen über exiblere Strategien und können Ressourcen besser nutzen als Menschen mit schwachem Kohärenzgefühl. Auf diese Weise wirkt das Kohärenzgefühl als exibles Steuerungsprinzip, welches den Einsatz von Coping-Strategien und Bewältigungsmustern anregt. Das Kohärenzgefühl nimmt also gegenüber den Coping-Strategien eine übergeordnete und steuernde Funktion ein. Die Person mit einem starken SOC wählt die bestimmte Coping-Strategie aus, die am geeignetsten scheint, mit dem Stressor umzugehen, dem sie sich gegenüber sieht (Antonovsky, 1997, S. 130).
Zudem zeigen Studien zum Kohärenzgefühl (vgl. Höfer, 2000), dass Individuen mit einem hohen Kohärenzgefühl sehr viel eektiver alle Sorten von Ressourcen zu mobilisieren vermögen, Identitätsentwürfe und -projekte häuger realisieren und damit eine höhere Lebenszufriedenheit erzielen können. Im Gegenzug ermöglichen zur Verfügung stehende generalisierte Widerstandsressourcen Lebenserfahrungen, die die Entstehung und Erhaltung eines starken Kohärenzgefühls fördern (vlg. Antonovsky, 1997, S. 123). Das Modell des Kohärenzgefühls, wie es Antonovsky formuliert und Keupp et al. (2002) es in ihr Modell alltäglicher Identitätsarbeit aufnehmen, erscheint von groÿer Bedeutsamkeit für die Auswertung der vorliegenden Interviews im Zusammenhang von Identitätsentwicklung und dem Miterleben häuslicher Gewalt. Wie in Ergebnisbaustein I gezeigt werden konnte stellt häusliche Gewalt einen subjektiv als äuÿerst bedrohlich erlebten Stressor dar, der bis hin zu
7.6 Identität und Anerkennung
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traumatischen Erlebnissen reicht und weitere Risikofaktoren wie desorientierte Bindungen bzw. Bindungsstörungen ebenso zur Folge hat, wie pathologische Entwicklungen in Form von Verhaltensauälligkeiten, Entwicklungsverzögerungen oder Selbstwertproblematiken. Auch konnte gezeigt werden, dass häusliche Gewalt für die Kinder und Jugendlichen meist wenig erklärbar und handhabbar bleibt und häug ein Gefühl von Ohnmacht und Hilosigkeit entsteht. Die Frage, inwieweit es jungen Menschen trotz dieser Belastungen gelingt in ihrer Identitätsarbeit ein Gefühl von Kohärenz herzustellen und die eigene Geschichte ebenso wie Zukunft als verstehbar, handhabbar und bedeutsam zu erleben, soll innerhalb der weiteren Auswertung am Einzelfall herausgearbeitet werden.
7.6 Identität und Anerkennung Ein weiterer wichtiger Themenkomplex im Modell alltäglicher Identitätsarbeit, der für die weitere Auswertung der vorliegenden Interviews von groÿer Bedeutung ist, ist der Zusammenhang von Identität und Anerkennung. Soziale Anerkennung ist in der Spätmoderne ein bedeutsames Ziel alltäglicher Identitätsarbeit geworden, das auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene erworben werden muss. Identität ist ein Projekt, das zum Ziel hat, ein individuell gewünschtes oder notwendiges Gefühl von Identität` (sense of idenitity) zu erzeugen. Basale Voraussetzung für dieses Gefühl sind soziale Anerkennung und Zugehörigkeit (Keupp, 1997, S. 34).
Für Taylor (1993) ist Anerkennung ein menschliches Grundbedürfnis, das lange nicht als solches erkannt wurde. In einer Zeit, in der Identität auf gesellschaftlichen Kategorien beruhte und daher von niemandem angezweifelt wurde, war Anerkennung wie selbstverständlich mit dieser Identität verknüpft. Wer früher im Rahmen der Normalbiographie lebte und handelte, konnte sich einer entsprechenden Anerkennung sicher sein. Durch den Verlust gesellschaftlicher Schablonen und normativer Vorgaben in spätmodernen Gesellschaften gilt dies für die heutige Identitätsarbeit nicht mehr. Sie muÿ Anerkennung erst im Austausch gewinnen, und dabei kann sie scheitern (Taylor, 1993, S. 24f ). Taylor (1993) betont hier den dialogischen Charakter menschlicher Existenz (S. 21) und überwindet damit die bisherige Sichtweise von Identität als individuell-autonomen Prozess. Anerkennung muss im Austausch mit anderen verhandelt und erworben werden, d.h. für das Subjekt stellt sich in
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7 Identitätstheorie ein sensibilisierendes Konzept
seiner Identitätsarbeit die Frage, wie es mit seinen Handlungen und seiner Selbstdarstellung Anerkennung von anderen bekommen kann. Wichtige Voraussetzung für die Sicherung von Anerkennung ist daher ein tragfähiges Netz sozialer Beziehungen, welches das Grundbedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit befriedigen kann. Scheitert dieser Verhandlungsprozess um Anerkennung, hat dies negative Folgen für die Identität des Subjektes. Nichtanerkennung oder Verkennung kann menschliches Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschlieÿen (Taylor, 1993, S. 14).
Keupp et al. (2002) beschreiben drei Dimensionen von Anerkennung:
•
Aufmerksamkeit von anderen
•
Positive Bewertung durch andere
•
Selbstanerkennung
Anhand dieser drei Dimensionen werden Erfahrungen und situative Selbstthematisierungen zu einem Gefühl von Anerkennung verknüpft. So erzählen wir uns und anderen Geschichten, ob wir wahrgenommen werden, wie der/die anderen mich bewertet haben, wie ich mich selbst bewerte (Keupp et al., 2002, S. 256). Dieses Gefühl von Anerkennung bildet sich auch als generalisierte und verdichtete Erfahrung im Identitätsgefühl des Subjekts ab. Alle drei Dimensionen sind für die Entwicklung eines Gefühls von Anerkennung von groÿer Bedeutung. Fehlt eine dieser drei Dimensionen, so bleibt die Anerkennung unvollständig und es enstehen Gefährdungsvarianten in der Identitätsarbeit von Subjekten (vgl. Keupp et al., 2002, S. 256). Honneth (1992) beschreibt unter Rückgri auf Hegel und Mead drei Muster von Anerkennungsformen: Primärbeziehungen, Rechtsverhältnisse und Wertgemeinschaften. Auf der Ebene der Primärbeziehungen entsteht Anerkennung durch emotionale Zuwendung (Liebe, Freundschaft), während auf der Ebene von Rechtsverhältnissen die gegenseitige kognitive Achtung als Subjekte mit Rechten und gleichen sozialen Normen im Mittelpunkt steht. Auf der Ebene der Wertgemeinschaft geht es um soziale Wertschätzung und die Anerkennung individueller Leistungen. Diesen Anerkennungsformen stellt Honneth (1992) jeweils auch Missachtungsformen gegenüber, die den Bogen zur Thematik häuslicher Gewalt aufzeigen. Misshandlung und Vergewaltigung stehen der Anerkennung auf Ebene der Primärbeziehungen radikal entgegen und verletzen die physische Integrität des Subjekts. Auf Ebene der Rechtsverhältnisse stehen der kognitiven
7.7 Identität und Authentizität
213
Achtung die Entmachtung und Ausschlieÿung (im Sinne gesellschaftlicher Exklusion) gegenüber, die wiederum die soziale Integrität von Subjekten betreen. Entwürdigung und Beleidigung schlieÿlich stehen auf Ebene der Wertgemeinschaft der sozialen Wertschätzung gegenüber und beeinträchtigen Subjekte in ihrer Ehre und Würde. Alle diese Missachtungsformen spiegeln sich in Fällen häuslicher Gewalt wieder. Körperliche Gewalt, soziale Isolation und Entwertung der eigenen Person, sind Erfahrungen von denen nicht nur misshandelte Frauen, sondern auch deren Kinder berichten. Keupp (1996) sieht Gewalt und wachsende Gewaltbereitschaft als eine Form der Bewältigung gesellschaftlicher Anforderungen an die Identitätsarbeit von Subjekten in postmodernen Gesellschaften und die Sicherung sozialer Anerkennung. Gewalt schat eine Form von Eindeutigkeit, die die Last des riskanten Abwägens von Alternativen, den Zwang zur Reexion widersprüchlicher Optionen suspendiert, also all das, was das Leben unter gegenwärtigen Bedingungen so anstrengend machen kann. (. . . ) In diesem Sinne wird Gewalt eine stabile Identitätsplattform, und sie verschat Anerkennung, zumindest in spezischen Subkulturen und in heimlichem Einverständnis möglicherweise von realen oder imaginierten Bevölkerungskreisen (Keupp, 1996, S. 191f ).
Wie Kinder, die häusliche Gewalt miterleben, sich in ihrem Handeln und ihrer Selbstdarstellung Anerkennung sichern und in sozialen Kontexten aushandeln, ist vor diesem Hintergrund eine spannende Frage, die in der weiteren Auswertung der Interviews eine Rolle spielen wird.
7.7 Identität und Authentizität Wie schon erwähnt, geht es bei der alltäglichen Identitätsarbeit nicht darum, Ambivalenzen und Widersprüche aufzulösen, sondern diese in ein für das Subjekt angemessenes und akzeptables Spannungsverhältnis zu bringen. Das Gefühl, Prozess und Konstruktionen von Identitätsarbeit in ein stimmiges Passungsverhältnis zu bringen und selbst etwas Gelungenes geschaen zu haben, fassen Keupp et al. (2002) unter den Begri der Authentizität, die sie im Identitätsgefühl verankert sehen. So speichern Subjekte neben der Bewertung, ob und wie sie ihre Ziele erreicht haben, immer auch, wie sie sich damit fühlen (Keupp et al., 2002, S. 263f ).
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7 Identitätstheorie ein sensibilisierendes Konzept
Bestimmte Erfahrungen werden also immer auch dahingehend überprüft, ob sie zu den bisherigen Standards der Identität, den Vorstellungen von sich selbst und den eigenen Verhaltensweisen passen oder nicht, d.h. als authentisch oder nicht-authentisch bewertet werden. Diese Überprüfung folgt den Fragen: Habe ich mich so verhalten, wie ich es von mir erwartet habe, wie es für mich in solchen Situationen typisch ist und paÿt` dies für mich, oder fühle ich mich meiner eigenen Identität entfremdet? (Höfer, 2000, S. 202).
Identitätsarbeit verfolgt dabei nicht wie bereits oben erwähnt, die Auösung aller Widersprüche und Spannungen. Vielmehr geht es darum, diese im Sinne von Ambiguitätstoleranz auszuhalten oder zu verändern und dabei grundsätzlich authentisch gegenüber den eigenen Bedürfnissen und Identitätsentwürfen zu bleiben. Ein Gefühl der Entfremdung entsteht immer dann, wenn Anforderungen und Bedürfnisse nicht in ein angemessenes Spannungsverhältnis gebracht werden können und der Toleranzrahmen überschritten wird. Die enge Verknüpfung des Gefühls von Authentizität mit dem Selbst- und Kohärenzgefühl beschreiben Keupp et al. (2002) folgendermaÿen: Wenn das Selbst- und Kohärenzgefühl als eine Art Indikator des jeweils aktuellen Gefühls der Authentizität zu verstehen sind, dann in dem (. . . ) Sinn, daÿ ein hohes Selbst- und Kohärenzgefühl helfen kann, Identitätsentwürfe und Projekte zu realisieren, und umgekehrt ein niedriges Selbst- und Kohärenzgefühl das Subjekt eher zögern lässt. Ein zweiter Einuss besteht möglicherweise darin, daÿ Personen mit einem starken Selbst- und Kohärenzgefühl eher in der Lage sind, mehr Ambiguitätstoleranz bezüglich widerstreitender Teile im Identitätsprozeÿ auszuhalten (weil sie mehr Sicherheit verleihen, daÿ sinnvolle, gestaltbare und für das Subjekt verständliche Ergebnisse herauskommen und daÿ sie exibler mit den Anforderungen umgehen können) (S. 264).
Die besondere Qualität einer authentischen Identität sehen die Autoren in Anschluss an Ferrara (1998) sowohl im Zukunftsbezug selbstgewählter Identitätsprojekte, die realisiert und von anderen anerkannt werden, als auch in der Qualität des Passungsverhältnisses dieser Projekte mit hoch gewichteten Identitätszielen. Diese Qualität einer authentischen Identität erfordert die Fähigkeit von Subjekten, sich selbst zu positionieren (vgl. Keupp et al., 2002, S. 266).
7.7 Identität und Authentizität
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Für die Auseinandersetzung mit der Thematik des Miterlebens häuslicher Gewalt stellt sich hier die Frage, ob und wie junge Erwachsene im Umfeld häuslicher Gewalt widersprüchliche und ambivalente Erfahrungen sowie ihr eigenes Handeln bewerten und ein Gefühl von Authentizität entwickeln. Die Frage der Selbstpositionierung als Betroene häuslicher Gewalt ist bereits im Ergebnisbaustein I angesprochen worden und soll im folgenden in der genaueren Untersuchung der Identitätskonstruktionen nur am Rande thematisiert werden.
8 Ergebnisbaustein II: Perspektiven individueller Identitätskonstruktion nach häuslichem Gewalterleben Schon im Theorieteil über Identität wurde an vielen Stellen deutlich, wie eng verknüpft die einzelnen Aspekte von Identität und Identitätskonstruktionen mit dem Erleben häuslicher Gewalt sein können. Keupp et al. (2002) weisen darauf hin, dass die Familie in postmodernen Gesellschaften einen wachsenden Stellenwert als vergleichsweise verlässlicher Rahmen bekommen und damit an Identitätsrelevanz gewonnen hat. Wenn nun aber dieser vergleichsweise verlässliche Rahmen durch das Erleben häuslicher Gewalt erschüttert und der vermeintlich sichere Ort Familie bedrohlich und unsicher ist, muss dies folglich direkte Auswirkungen auf die Identitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen haben. Häusliche Gewalt wirkt sich auf Selbstnarrationen und Kohärenzgefühl ebenso aus wie auf die Sicherung von Anerkennung und die Entwicklung eigener Identitätsprojekte für die Zukunft. Blickt man vor dem Hintergrund der eben dargestelleten identitätstheoretischen Überlegungen erneut auf die Interviews, zeigen sich deutliche Zusammenhänge zu den von mir in jedem Interview entdeckten, über meine Fragestellung hinausgehenden Kategorien, die in irgendeiner Art quer zu allen anderen zu liegen schienen. Im Folgenden sollen diese Strategien und Muster entlang der alltäglichen Identitätarbeit vor dem Hintergrund des häuslichen Gewalterlebens im Einzelfall analysiert und dargestellt werden. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass es sich bei Identitätsarbeit um einen lebenslangen Prozess handelt und Identitätskontruktionen innerhalb dieses Prozesses einer ständigen Veränderung und Bearbeitung unterliegen. Die in den Interviews zu ndenden Selbstnarrationen sind also nur Momentaufnahmen der aktuellen Identitätskonstruktionen der jungen Erwachsenen, die im Verlauf der Zeit oder auch in einem anderen Erzählkontext anders aussehen können. Auch ist zu beachten, dass es sich um fünf Einzelfallanalysen handelt, die lediglich exemplarischen Charakter haben und keine verallgemeinerten Aussagen zulassen. Jedes der fünf Interviews zeigt
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen
eine Art der Identitätskonstruktion im Moment des Interviews und erlaubt damit eine spannende Perspektive auf individuelle Identitätsarbeit vor dem Hintergrund häuslichen Gewalterlebens.
8.1 Lisa:
was ich jetz dabei gefühlt hab, des
hab ich irgendwie, hab ich einfach nich gesagt
8.1.1 Lisas Selbstnarration Lisa erzählt sich selbst in wenigen und oft einfachen Worten als junge Auszubildende, die Wert auf ein geordnetes Leben legt und dies für sich selbst in die Hand nehmen möchte. Lisa ist in ihrer Erzählung scheinbar wenig auf Selbstdarstellung bedacht, wirkt bescheiden, zurückhaltend und wenig geübt, durch Erzählung ein Bild von sich selbst zu vermitteln. So generiert sie selbst keine vollständige oder üssige Geschichte ihres Lebens oder einzelner Teilbereiche, sondern beantwortet meist eher knapp die ihr gestellten Fragen. Auch oene Fragen, die in allen anderen Interviews zu zumindest kurzen Erzählungen führen, rufen bei Lisa nur kurze Äuÿerungen hervor. Lisas Aussagen über ihr Leben sind häug stockend, auf Nachfragen angewiesen und ohne direkt erkennbare Kausalzusammenhänge. Lisas Geschichte scheint im Interview dialogisch (re-)konstruiert zu werden, eine stimmige und durchgängige Selbstdarstellung ihrerseits fehlt fast vollständig. Dabei scheint Lisa in ihren Antworten und Schilderungen auch wenig auf meine Reaktionen zu achten, wirbt oensichtlich weder um Verständnis noch um Anerkennung. Durch ihre oft bruchstückhafte und wenig zusammenhängende Erzählweise entsteht der Eindruck fehlender Erzählstrategien, die auch in Fragen sozialer Macht begründet sein können: Die Frage sozialer Macht zeigt sich in Selbsterzählungen, die von Situationen handeln, in denen der Autor/Akteur zwar formal die Hauptgur ist, aber sich nicht als solche empndet. (. . . ) Keine Handlungsstrategien zu haben, zeigt sich hier im Fehlen von Erzählstrategien. (. . . ) Der Erzähler empndet sich nicht als Akteur. Er ndet sich in einem undurchschaubaren und fremdbestimmten Spiel (Keupp et al., 2002, S. 215).
8.1 Lisa - Identität und Sprachlosigkeit
219
Dieses Phänomen scheint auch auf Lisa zutreend. Sie hat in ihrer Kindheit wenig oder keine Handlungsmöglichkeiten, ist der Unberechenbarkeit ihres Stiefvaters ausgeliefert und konnte wenig Erfahrungen von Handhabbarkeit sammeln. Diese fehlenden Gestaltungsmöglichkeiten ihres eigenen Lebens spiegeln sich im Interview in fehlenden Erzählstrategien. Im Gegensatz zu dieser Beobachtung auf der Ebene ihrer Narration, beschreibt Lisa selbst sich an einem Punkt im Interview als zwar eingeschränkte aber dennoch handlungsfähige Akteurin, was für ihr heutiges Selbstbild von groÿer Bedeutung scheint. Sie betont, trotz aller Willkür und Einschränkungen in dem kleinen verbleibenden Rahmen dennoch auf eine Art frei gewesen zu sein: Also ich durfte (--) al (-) ich hab eigentlich immer (-) gemacht was ich wollte so quasi. (..) Also jetz (-) in diesem kleinen Rahmen, aber (-) (Lisa, S. 37).
An dieser Stelle wird deutlich, dass es Lisa wichtig ist, sich unabhängig und aktiv zu erzählen und sich gegen die Einschränkungen in der gewalttätigen Atmosphäre der Familie retrospektiv abzugrenzen. Die stockende und mit dem Eindruck von Bruchstückhaftigkeit verbundene Art der Kommunikation wirkt sich auch direkt auf die Gestaltung der Interviewsituation aus. So bin ich in der Rolle der Interviewerin verleitet, nicht nur viele Nachfragen zu stellen sondern auch häug Zusammenfassungen zu geben, was ich von ihren Aussagen verstanden habe oder welche Zusammenhänge zwischen ihren Schilderungen ich vermute oder erkennen konnte. Lisa bejaht viele dieser Nachfragen oder auch Aussagen. Einige jedoch verneint sie auch sehr deutlich, so dass davon ausgegangen werden kann, dass trotz der vielen Vorgaben an Formulierungen ein zumindest annäherndes Bild von Lisas Sicht im Interview gemeinsam in Worte gefasst werden konnte. Dennoch bleibt natürlich an vielen Stellen die Frage oen, wie Lisa auf eine andere Nachfrage oder Schwerpunktsetzung meinerseits reagiert und ob dies ein anderes Gesamtbild ergeben hätte. In der Atmosphäre des Interviews entsteht für mich der Eindruck, dass Lisa selbst häug Worte und Formulierungen fehlen, so dass manche meiner Formulierungsangebote für sie eine deutliche Erleichterung darstellen. Lisa selbst äuÿert im kurzen Gespräch nach dem Interview, dass sie zum ersten Mal über die Gewalt in ihrer Familie und ihre Gedanken dazu gesprochen habe. Dies war auch mein Eindruck während des gesamten Gesprächs. Lisa scheint immer wieder Zeit zum Nachdenken zu benötigen, antwortet teilweise abgehackt und entwickelt Antworten, Zusammenhänge und Sichtweisen ver-
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen
mutlich erst während des Sprechens. Hier wird deutlich, dass Lisa in wenigen Worten und teilweise ohne kausale Zusammenhänge berichtet und sich dabei schwer tut, in Worte zu fassen, was sie auszudrücken versucht. Es entsteht der Eindruck, Lisa konstruiere ihre Selbstnarration aktiv und im Moment der Interviewsituation, vielleicht zum allerersten Mal vor dem Hintergrund ihres Gewalterlebens in der Familie. Insgesamt wird im Interview mit Lisa deutlich, dass ihr wenig Worte, Formulierungen und Erzählstrategien zur Verfügung stehen, um ein Bild von sich zu entwerfen und anderen gegenüber darzustellen. Das Erzählen von sich ist für Lisa ebenso wie der Dialog über sich mit vielen Unsicherheiten und Anstrengungen verbunden. Schwierigkeiten in der Erzählung der eigenen Geschichte bedeuten auch immer Schwierigkeiten in der Konstruktion der eigenen Identität, da wie bereits dargestellt Identitätsarbeit stets auch Narrationsarbeit bedeutet.
8.1.2 Dominierende Teilidentität Ausbildung/Beruf Subjekte arbeiten nicht gleichwertig an allen Teilidentitäten, sondern selektiv (vgl. Straus & Höfer, 1997, S. 299).
In Lisas Erzählungen hat ihre Teilidentität als Auszubildende bzw. Arbeitnehmerin ein groÿes Gewicht, insbesondere auch in Abgrenzung zu ihrem Stiefvater, der arbeitslos und alkoholkrank war, und im Unterschied zu ihren Brüdern, die beide ohne Schulabschluss und Lehrstelle sind. Lisa berichtet schon im Vorgespräch kurz davon, dass sie eine Ausbildung macht, wann sie diese abschlieÿen wird und dass sie gerne arbeiten geht. Auch als sie zu Beginn des Interviews gebeten wird, sich kurz vorzustellen, nennt sie sofort nach kurzen Angaben zu ihrer Familie, ihre Ausbildung. Die hohe Bedeutung einer Ausbildung wird auch am Ende des Interviews noch einmal deutlich: I: Und für Dich? Was is dir für dich in deinem Leben wichtig? L: Ja, dass ich jetz erstmal die Ausbildung gut hinter mich bring (Lisa, S. 40).
Der Zusammenfassung, die ich im Interview in Bezug auf die Bedeutung von Arbeit und Ausbildung anbiete, stimmt Lisa deutlich zu: I: So'n geregeltes Leben (-) sag ich jetz mal? L: Mhm (-) genau (Lisa, S. 40).
8.1 Lisa - Identität und Sprachlosigkeit
221
Auch ihre Aussagen und Erzählungen bezüglich ihrer beiden Brüder drehen sich stark um deren Schul- bzw. Arbeitssituation und machen deutlich, welch hohen Stellenwert Lisa dem Thema Ausbildung und Erwerbstätigkeit im Leben einräumt: ja er arbeitet jetzt seit nem Jahr, also macht zwar keine Ausbildung, aber er arbeitet und des tut ihm schon (-) sehr gut (Lisa, S. 3). 'Und (-) des hab ich bei meinen Brüdern gemerkt, die ham jetzt beide kein Hauptschulabschluss. (..) Ich mein, der eine der arbeitet jetz wenigstens (Lisa, S. 25). (--) Ja, für meinen (-) kleineren (-) Bruder (-) wünsch ich mir erstmal, dass er irgendwie ne Ausbildung oder so macht. Weil der sitzt jetz auch nur zuhause und des (-) (..) (-) ja (Lisa, S. 40).
Ausbildung und Arbeit scheinen für Lisa eine starke Bedeutung im Zusammenhang mit ihren Gewalterlebnissen in der Familie zu haben. Ihr Stiefvater war arbeitslos und die meiste Zeit zuhause, es gab zeitweise kaum Geld und infolge dessen kommt es häug zu gewalttätigen Eskalationen. Arbeit sichert nicht nur die Finanzierung des Lebensunterhalts, sondern gibt dem Tag auch eine angemessene Struktur und positiven Sinn. Arbeit, nanzielle Sicherheit und Struktur im Leben scheinen für Lisa das erstrebenswerte Gegenteil zum erlebten Chaos in ihrer Familie. Lisa selbst deniert sich stark darüber, eine Ausbildung zu machen und wirkt im Interview auch sehr stolz und zufrieden damit. Arbeit und Ausbildung sind in der heutigen Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit mehr, so dass Lisa über diesen Weg auch gesicherte soziale Anerkennung erhält, die wiederum eines der wichtigsten Identitätsziele darstellt (vgl. Keupp et al., 2002, S. 261f). Die Identität als Auszubildende ist eine in unserer Gesellschaft angebotene Teilidentität, die Jugendliche für sich übernehmen oder auch ablehnen können, die jedoch mit ihrer Übernahme immer auch an soziale Anerkennung gekoppelt ist. Bauman (1995) formuliert diese Koppelung folgendermaÿen: Die käuichen Identitäten, die der Markt bietet, kommen komplett mit dem Etikett der sozialen Anerkennung, das ihnen schon vorweg verpaÿt worden ist. Die Ungewiÿheit hinsichtlich der Lebensfähigkeit der selbstkonstruierten Identität und die Qual der Suche nach Bestätigung werden einem dadurch erspart. Identi-kits und LebensstilSymbole werden durch Leute mit Autorität und durch Werbe-Information verstärkt, so daÿ eine eindrucksvoll groÿe Anzahl von Leuten sie anerkennt. Soziale Anerkennung muÿ deshalb nicht auf dem Verhandlungswege erzielt werden sie ist sozusagen von Anfang an in das auf dem Markt gehandelte Produkt eingebaut (S. 250).
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen
Im Bereich ihres Berufslebens ndet Lisa gesicherte soziale Anerkennung, indem sie sich für eine gesellschaftlich voll anerkannte Fertigpackung (Keupp et al., 2002, S. 216) entscheidet der einer Auszubildenden. Welchen Beruf sie erlernt und wie sie sich innerhalb dessen deniert, äuÿert Lisa im Interview nicht. Auch im Vorgespräch nennt sie lediglich ihre Ausbildung und erzählt, gerne arbeiten zu gehen. Eine Geschichte ihrer Ausbildungssuche oder dessen wie sie selbst sich in ihrem Beruf sieht und erlebt, gibt Lisa nicht. Berufliche Perspektiven, Karrierepläne oder damit verknüpfte Identitätsprojekte entwirft Lisa im Interview nicht. Ihr einziges Ziel ist aktuell der Abschluss ihrer Ausbildung, alles weitere scheint in ihrer Identität noch keine Rolle zu spielen. Möglich ist, dass Lisa aufgrund ihrer frühen und prägenden Erfahrungen von Unberechenbarkeit in ihren Zukunftsplanungen und Identitätsprojekten vorsichtig geworden ist und ihr Mut und Sprache fehlen, sich in Zukunftsvisionen zu erzählen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch auch den gesellschaftlichen Hintergrund zu beachten. In der Zeit, als Erikson (1998) sein Identitätskonzept entwickelte und die Adoleszenz die Zeit war, in der sich detaillierte Zukunftsvorstellungen herausbildeten und einen Indikator für eine stabile Identitätsentwicklung darstellten, gab es noch zahlreiche gesellschaftliche Angebote von Normalbiographien und Zukunftsvorstellungen. Gesellschaftliche Umbruchprozesse wie sie unter den Schlagworten Fragmentierung, Pluralisierung und Individualisierung beschrieben werden, haben die Lebenswelt Jugendlicher grundlegend verändert, was auch die Entwicklung von Zukunftsperspektiven und Identitätsprojekten betrit. So können in der postmodernen Gesellschaft gerade die Verkürzung von Perspektiven, das Oenhalten möglichst vieler Optionen und damit das Fehlen von detaillierten Zukunftsplänen eine sinnvolle Identitätsstrategie darstellen (vgl. Kraus, 1996, S. 94f). Lisa hält sich auf diese Weise ihre beruiche Biographie weiterhin oen und ist in ihrer Identitätsentwicklung und ihrem Erleben von sich als erfolgreiche Arbeitnehmerin nicht auf die Umsetzung eines Identitätsprojektes xiert. Neben dieser in unserer heutigen Gesellschaft sicher hilfreichen Oenheit, scheint Lisa jedoch auch in ihrer Identität als Arbeitnehmerin weniger Wert auf deren inhaltliche Füllung zu legen, als auf deren Struktur und Sicherheit gebende Wirkung für ihr gesamtes Leben.
8.1 Lisa - Identität und Sprachlosigkeit
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8.1.3 Lisas Identität als Frau Lisa schildert in ihren Erlebnissen der Gewalt und Kontrolle durch ihren Stiefvater auch ihre besondere Betroenheit als Mädchen. Von ihrem Stiefvater wird sie wesentlich stärker kontrolliert als ihre Brüder, die zudem noch den Auftrag haben, auf sie aufzupassen, obwohl sie die Älteste unter den Geschwistern ist: Also (-) weil ich mein ich bin die Älteste, s is nun mal so (lacht unsicher) und wenn dann (-) jemand sagt, m mein kleiner Bruder soll auf mich aufpassen, des war (-) des hab ich nie verstanden (Lisa, S. 5).
Für Lisa ist es als Kind nicht verständlich, warum ihr über 4 Jahre jüngerer Bruder auf sie aufpassen soll, eben nur weil sie ein Mädchen ist. Lisa schildert jedoch nicht nur ihre Zurücksetzung gegenüber den Brüdern, sondern auch direkte Beschimpfungen gegen sie oder ihre Mutter, die sie erlebt hat und die immer wieder auch an ihr Geschlecht als Mädchen bzw. Frau geknüpft sind: Des hat sich immer so angehört, als wär meine Mutter nix wert (Lisa, S. 33). Ja, ich wusste dass er so denkt, er ist der Mann, er hat das Sagen (Lisa, S. 32).
Ihr Stiefvater vermittelt Lisa die klare Haltung, er als Mann habe das Sagen und ihre Mutter und infolge auch Lisa hätten sich unterzuordnen. Für Lisa ist diese Überzeugung in ihrer Kindheit und Jugend schwer auszuhalten, da sie als Mädchen unter Einschränkungen und Demütigungen zu leiden hat, die ihre Brüder nicht kennen. Ihre Mutter versucht dabei scheinbar, Lisa als Mädchen und Frau zu stärken und ihr zu vermitteln, dass die abwertende Haltung des Stiefvaters gegenüber Frauen nicht persönlich zu nehmen ist, was Lisa selbst jedoch in ihrer Entwicklung einer weiblichen Identität als nicht besonders hilfreich einstuft: Nja, sie hat natürlich mitgekriegt, was er gesagt hat zu mir und sie hat dann schon immer gesagt, (-) hör nich drauf oder so (-) (..) (--) aber sie hat's halt auch nich rückgängig machen können, (..) (-) also (-) war halt (-) trotzdem ausgesprochen. (Lisa, S. 34).
Lisas Mutter hat der Einstellung des Stiefvaters wenig entgegenzusetzen. Dennoch benennt Lisa ihre Mutter als Vorbild, auch in ihrer Weiblichkeit, und begründet dies in deren Stärke, all die Probleme und Gewalttätigkeiten
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen
so lange ausgehalten zu haben. Obwohl Lisa diese Stärke an ihrer Mutter bewundert, äuÿert sie doch auch immer wieder ihr Unverständnis, warum sie sich nicht früher für eine Trennung entschieden hat. Für sich selbst vermutet und plant sie, eine solche Beziehung nicht aufrecht zu erhalten bzw. sich im Falle von Gewalttätigkeiten sofort zu trennen: Ja ich denk, (--) sobald ich merk, dass jemand gewalttätig is oder auch nur (-) annähernd, (--) dann (-) würd ich mich sowieso abwenden, denk ich (Lisa, S. 32).
Das Geschlechtsrollenbild, welches ihr Stiefvater vermittelt, lehnt Lisa für sich und ihr Leben klar ab. Sie bringt dies auch in Zusammenhang mit dem Migrationshintergrund ihres Vaters und ihren Erfahrungen mit ausländischen Jungen in ihrer Schule. Auch deren frauenverachtende Einstellung bezeichnet sie als völlig schwachsinnig (Lisa, S. 32) . Sie selbst, so formuliert sie mit einem Lächeln, sei damals schon mehr für die Gleichberechtigung (Lisa, S. 32) gewesen. Was Lisa genau unter dem Begri der Gleichberechtigung versteht, bzw. wie sie sich diese für ihre eigenen Beziehungen umgesetzt vorstellt, führt sie im Interview, auch auf Nachfragen nach ihren Wünschen und Beziehungsvorstellungen, nicht weiter aus. Ihre starke Betonung einer Ausbildung und die Bewunderung der Stärke ihrer Mutter lässt vermuten, dass es für sie wichtig ist, als Frau sowohl stark und ausdauernd zu sein, als auch unabhängig und selbstständig. Damit käme sie sehr nah an ein Frauenbild, wie es in den Medien gern als emanzipierte und gleichberechtigte Frau dargestellt wird. Nach ihren Vorstellungen und Wünschen im Bereich Partnerschaft und Familie befragt, bleibt Lisa sehr abstrakt. Sie will Familie haben, beschreibt jedoch bei dem Gedanken daran aufgrund ihrer Familiengeschichte auch ein komisches Gefühl (Lisa, S. 41) und verschiebt die weitere Auseinandersetzung damit in die Zukunft: Aber is ja noch Zeit, also (-) mal schaun (Lisa, S. 41).
Keupp et al. (2002) beschreiben in ihrer Studie ein Phänomen, das auf Lisa und ihre Zukunftsperspektive im Bereich Familie sehr gut zu passen scheint: Häug hatten die Interviewer auch den Eindruck, daÿ diese Erfahrung noch nicht gemacht ist, das Thema also 'in Arbeit` ist: Der Erzähler möchte deshalb noch nicht darüber sprechen, weil er seine Erzählung noch nicht fertig hat. Er ist erst am Erleben bzw. auf der Suche nach einer stimmigen Form der Präsentation (Keupp et al., 2002, S. 209).
8.1 Lisa - Identität und Sprachlosigkeit
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Dieser Eindruck, das Thema Partnerschaft und Familie in der Zukunft, ist für Lisa ein noch nicht bearbeitetes Feld der Identitätskonstruktion, entsteht auch bei mir im Interview. Eine eigene Erzählung über ihre Vorstellung einer Identität als Frau gibt Lisa nicht, auch auf Nachfragen entwirft Lisa kein Identitätsprojekt für die Zukunft, das ihre Weiblichkeit beinhaltet. Sie nennt lediglich kurz den Wunsch irgendwann einmal Mutter zu sein, betont aber gleichzeitig, diese Vorstellung bisher für sich nie konkretisiert zu haben. Eine Vorstellung wie es sein könnte oder wie sie sich wünschen würde, als Mutter und Frau zu sein, beschreibt Lisa nicht.
8.1.4 Sprachlosigkeit Auällig im ganzen Interview ist Lisas Sprachlosigkeit. Sowohl in dem was sie erzählt, spielt das Thema Sprachlosigkeit bzw. Schweigen immer wieder eine Rolle, als auch in der Kommunikation im Interview selbst, scheinen Worte und Sprache zu fehlen. In Lisas Familie wurde und wird wenig über die gewalttätigen Auseinandersetzungen und Eskalationen gesprochen. Ihr Stiefvater versteckte bzw. leugnete die Gewalt durch sein Verhalten, ihre Mutter betonte das Familiengeheimnis bzw. Schweigegebot gegenüber Auÿenstehenden und auch unter den Geschwistern gab es keinen Austausch: der hat immer so getan als ob nie was wär, so ungefähr. (. . . ) meine Mutter hat uns damals auch immer gesagt, ja des (-) brauch niemanden zu interessieren was hier los is (Lisa, S. 18).
Auch über ihre eigenen Bedürfnisse, Gefühle und Wünsche kann Lisa innerhalb der Familie nicht sprechen. Insbesondere der Mutter gegenüber hat Lisa zwar das Gefühl, alles sagen zu dürfen, äuÿert jedoch aus Rücksicht auf die Mutter und deren Belastungssituation nie eigene Sorgen, Bedürfnisse oder Wünsche: Ich konnte eigentlich mit ihr über alles reden. (..) Nur manchmal wenn's dann wirklich (-) zu schlimm wurde, dann (-) dann hab ich auch gemerkt, ich mein, (-) is klar sie hatte damals genug Probleme mit ihm, sag ich mal (Lisa, S. 13f ).
Lediglich ihrer Freundin gegenüber kann Lisa, ihren Erzählungen nach, einige ihrer Gedanken und Erlebnisse aussprechen, was für sie sehr hilfreich war. Der Austausch mit ihrer Freundin scheint der einzige Dialog über ihre Erlebnisse im Vorfeld des Interviews gewesen zu sein, denn in der Familie wird das Thema nach wie vor umgangen:
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Also, auf des Thema kommen wir eigentlich (-) oder des des vermeiden wir, sagen wir so (Lisa, S. 10).
Aus dieser Geschichte heraus wird Lisas oft langsam überlegendes und wortkarges Sprechen verständlich. Auch die Atmosphäre von gerade konstruierten und gemeinsam im Dialog gefundenen Aussagen und Sichtweisen kann dadurch erklärt bzw. bestätigt werden. Insbesondere an einer Interviewsequenz wird deutlich, wie sehr das Schweigen in der Familie auch Lisas heutiges Erzählen ihrer Geschichte beeinusst bzw. Lisa auch heute noch mit Sprachlosigkeit zu kämpfen hat, wenn sie darüber zu berichten versucht: I: Mhm ja (-) ja (--) Wie war des mit deinen Geschwistern, habt ihr über des gesprochen, was da passiert? L: Mm. I: Gar nicht? L: Ne (--) mm. I: Hast du ne Phantasie warum nicht? L: (--) Ich weiÿ es nicht. I: Mhm. L: (-) Keine Ahnung. I: Ging einfach nicht. L: Mm (-) (Lisa S. 9f ).
Vergleichbare Stellen, an denen Lisa in sehr knappen Sätzen antwortet, Fragen kurz bejaht oder verneint, gibt es im Verlauf des Interviews häug. Zudem stellt Lisa ihre Aussagen wenig in kausalen Zusammenhängen dar, so dass bei mir als Interviewerin immer wieder der Eindruck von Andeutungen entsteht. So entsteht im gesamten Interview vor dem Hintergrund kurzer Sätze, fehlender Kausalverbindungen ebenso wie der bruchstückhaften Erzählung von sich selbst und der stockenden Selbstnarration ein Gefühl aktueller Sprachlosigkeit. Die trotz dieser Sprachlosigkeit oft überraschend klaren Aussagen, die Lisa im Interview vereinzelt trit, lassen vermuten, dass Lisa zwar nie über die Gewalt in der Familie in Dialog trat und somit nie Worte für all das benutzt hat, in ihren Gedanken und Gefühlen jedoch sehr viel emotionale Be- und Verarbeitung stattgefunden hat, deren Ergebnis mehr oder weniger klare Positionierungen Lisas sind. Auch in ihrer Selbstdarstellung bleibt im Interview immer wieder der Eindruck von Sprachlosigkeit erhalten. Lisa äuÿert die hohe Bedeutung von Arbeit und Ausbildung und ihre klaren Vorstellungen scheinen gut durchdacht
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und eine deutliche Folge ihrer Familiengeschichte. Den Zusammenhang von geregeltem Leben durch Arbeit und Beruf als Prävention von Gewalt in der Familie, deutet Lisa jedoch nur an bzw. ist dieser zwischen den Zeilen zu erahnen, wird jedoch von ihr selbst nicht formuliert. Auch detailliertere Vorstellungen ihrer Zukunft und ihres Wunsches nach einem geregelten Leben, entwirft Lisa nicht. Trotz aller Reektiertheit bleibt Lisa in der Darstellung ihrer Identität häug wortkarg und viele Kausalzusammenhänge sind zwar spürbar, bleiben jedoch unausgesprochen. Lisa scheint an vielen Stellen die Sprache für die Erzählung ihrer Geschichte noch zu fehlen.
8.1.5 Zusammenfassung: Identitätskonstruktion ohne Sprache Lisas Konstruktion ihrer Identität scheint stark geprägt durch ihre Erfahrungen von Unberechenbarkeit und Sprachlosigkeit während ihrer Kindheit. Diese spiegeln sich einerseits in ihrem Wunsch nach geregeltem Leben, Ausbildung und klaren Strukturen und andererseits in ihren Schwierigkeiten sich selbst zu erzählen und Identitätsprojekte zu entwickeln. Lisa betont die hohe Bedeutung eines geregelten Lebens und den drängenden Wunsch, dies auch im Leben ihrer Geschwister erkennen zu können. Diese Struktur, die Arbeit und Ausbildung bieten, sichert einen starken Kontrast zum Chaos, das sie als Kind in ihrer Familie erlebt hat. Erwerbstätigkeit scheint für Lisa eine Grundvoraussetzung eines sinnvollen und strukturierten Lebens, die ihrem Stiefvater zumeist gefehlt hat. An ihren Brüdern sieht sie auch heute diese hilfreiche Struktur eines Arbeitsalltags bestätigt, da sie erlebt, wie einer ihrer Brüder durch die Aufnahme einer Arbeit den Kontakt zum gewalttätigen Freundeskreis verliert und ruhiger wird. Aufgrund dieser Erfahrungen und Erlebnisse eigener Handlungsfähigkeit im Bereich Schule und Ausbildung, räumt Lisa ihrer Ausbildung absolute Priorität in ihrem Leben ein. Diese wird damit zu einem wichtigen Pfeiler ihrer Identität und ermöglicht ihr den Aufbau von Kohärenzgefühl, indem Lisa diese als verstehbar, bedeutsam und handhabbar erlebt. Arbeit hat eine hohe gewaltpräventive Bedeutung, ist für sie mit Verstehbarkeit im Sinne von Berechenbarkeit (Anstrengung und Zuverlässigkeit bringen Erfolg) verbunden und somit in ihrem Erleben ein handhabbarer Teil ihres Lebens. Erfahrungen von Sprachlosigkeit scheinen die zweite Art prägender Erlebnisse in Lisas Leben, die ihre Identitätsarbeit entscheidend beeinussen. So erzählt sie sich selbst in wenigen Worten und präsentiert im Interview
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keine zusammenhängende Darstellung ihrer Identität. Lisa wirkt einerseits bescheiden und sehr reektiert, andererseits jedoch auch stark verunsichert und sprachlos. Einige Aspekte ihres Erlebens kann Lisa erstaunlich klar benennen, was auf eine hohe Reexionsfähigkeit schlieÿen lässt. Sie scheint jedoch mit dieser klaren Darstellung ebenso wie mit ihrer Selbstdarstellung weder Anerkennung noch Verständnis von mir als Gegenüber erreichen zu wollen, was deutlich macht, wie unabhängig sich Lisa von der Anerkennung anderer zu machen versucht. Keupp et al. (2002) beschreiben in ihrer Auseinandersetzung mit Anerkennungsformen und ihrer Identitätsrelevanz eine Gefährdung durch fehlende Aufmerksamkeit anderer, die für Lisa passend erscheint: Vielleicht kann man hier von einer Basisgefährdung sprechen. Zum einen, weil eine fehlenden Aufmerksamkeit in aller Regel dazu führt, daÿ die davon betroenen Subjekte kaum positive Bewertung erfahren bzw. positive Bewertungen nur oberächlich bleiben können. Schlimmer noch ist in der Regel die Erfahrung, daÿ niemand von einem Notiz nimmt bzw. es für notwendig hält, das, was man denkt und tut, zu bewerten (S. 256f ).
Diese fehlende Aufmerksamkeit und damit auch Anerkennung wiederum kann ihre Unsicherheit bezüglich der Bewertung und Beschreibung ihrer eigenen Vergangenheit noch einmal verstärken. Diese Unsicherheit zeigt sich im Interview in langen Pausen oder stockenden Erzählungen, die wiederum den Eindruck der Sprachlosigkeit vermitteln. Lisa reagiert auf viele der ihr angebotenen Formulierungsvorschläge positiv und wirkt erleichtert, ihre Gefühle in Worte gefasst und verstanden zu wissen, eine Erfahrung, die neu für sie zu sein scheint. Hier wird deutlich, wie sehr Lisa vor dem Hintergrund von Schweigegeboten und fehlender Aufmerksamkeit darum kämpft, ihr Leben und ihre Identität in Worte zu fassen. Die fehlenden Narrationen im Bereich ihrer Zukunftsvorstellungen zeigen ebenso die Schwierigkeiten, die Lisa aufgrund ihrer Sprachlosigkeit und fehlender Worte hat, sich selbst zu erzählen und so mittels Narration ihre Identität für sich und andere sichtbar zu konstruieren. Lisa erscheint in ihrer Identitätskonstruktion sehr verunsichert und wenig ausdrucksstark. Es fehlt ihr an Sprache, Erfahrungen von Aufmerksamkeit und Anerkennung sowie Vertrauen in sich selbst und die Realisierbarkeit ihrer Identitätsprojekte. Die Fähigkeit sich selbst, ihre Bedürfnisse und Grenzen mitzuteilen und ihren Aussagen auch Nachdruck zu verleihen, benennt Lisa selbst im Interview als ein Ziel ihrer weiteren Entwicklung:
8.1 Nina Identität als Puzzlearbeit
229
Ja ich denk (-) also is schwierig (-) zu sagen, was ich (-) was ich so denk und was ich fühl oder oder wirklich mal (-) die eigene Meinung zu vertreten oder auch mal laut zu werden des is (-) ja (-) des is nich so leicht (. . . ) Ich denk auch auch im Beruf braucht man des (Lisa, S. 35).
8.2 Nina:
sich selber so'n bisschen a Bild
verschaen oder ja ne Möglichkeit des einfach zu verstehen
8.2.1 Ninas Selbstnarration Nina erzählt sich als junge Frau auf der Suche nach Erklärungen für die Ereignisse in ihrer Vergangenheit und die Geschichte ihrer Familie. Ähnlich wie im Interview mit Lisa scheint auch Nina wenig Erfahrung darin zu haben, von sich und ihrem Leben zu erzählen. So scheint ihre narrative Konstruktion von sich an vielen Stellen ebenso direkt in der Interviewsituation zu entstehen. Im Vergleich zu Lisa erzählt sich Nina in vielen kurzen Geschichten ihres Alltags ebenso wie sie unfertige Überlegungen und Gedanken in Worte fassen und im Dialog vermitteln kann. Nina wirkt in ihrer Selbstnarration sehr bescheiden und beschreibt sich als ruhige und selbstständige junge Frau. In ihrer Erzählung ist sie auch verunsichert, ob sie überhaupt ausreichend und sinnvoll Informationen für die vorliegende Forschungsarbeit geben kann. Nina beschreibt sich als sowohl zum Zeitpunkt der Gewalt als auch heute noch recht klein (Nina, S. 43) und deshalb von der Gewalt wenig betroen und auch von der Suche nach InterviewpartnerInnen zunächst nicht angesprochen: Irgendwie erstens weil da irgendwie stand "junge Erwachsene", weil ich mir dachte öh ich bin doch noch ziemlich klein (-) oder so in der Richtung und (-) einfach auch weil ich da dran nich so viele Erinnerungen hab, also (-) (..) weil die Zeit für mich (-) also weil ich ja doch noch ziemlich klein war und (-) (. . . ) ich kann mich da an kaum noch Sachen erinnern (Nina, S. 43).
Erst die Aufmunterung ihrer Beraterin brachte sie dazu sich überhaupt für ein Interview zu melden. Im Vorfeld des Termins, so erzählt Nina, sammelt sie noch einmal viele Informationen über ihre Vergangenheit von ihrem Vater.
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen
Auf diese Weise bereitet sie sich auf das Interview vor und kämpft gegen ihre Befürchtungen an, zu wenig Erinnerungen und Erklärungen zur Verfügung zu haben: Also (räuspert sich) ich hab dran gedacht, dass ich hier herkommen sollte und des erzählen sollte und dann wollt ich ihn doch nochmal so'n bisschen ausfragen (grinst) nich dass dann unser Gespräch 10 Minuten dauert und dann is alles gesagt (Nina, S. 8).
In ihrer Betonung ihres fehlenden Wissens über viele Dinge in ihrer Vergangenheit und ihre damit verbundenen Unsicherheit, kein ausreichendes Interview geben zu können, wird deutlich, wie viele Antworten Nina in ihrer Vergangenheit fehlen und wie schwer es ihr infolge dessen fällt, sich selbst in einer Geschichte ihres Lebens zu erzählen. Die Frage nach der eigenen Herkunft ist ein zentraler Punkt in der Konstruktion der eigenen Identität, bei dem Nina auf viel Unwissenheit und wenig Verstehbarkeit bauen muss bzw. kann. Das Verhalten, die psychische Krankheit und vor allem der Suizid ihrer Mutter ist für sie nach wie vor unklar und nicht verständlich. Auch ihr Vater und ihre Schwestern können ihr nur bedingt Antworten geben. Im Interview beantwortet Nina die Frage nach ihrer Kindheit zunächst spontan damit, dass ihr nicht viel einfalle: Nich so viel, weil ich auch recht wenig Erinnerungen hab und ich denk ich hab auch vieles einfach verdrängt irgendwann (Nina, S. 28).
Im Verlauf des Interviews nden sich jedoch immer mehr Aspekte und Perspektiven auf ihre Vergangenheit, die Nina langsam zusammensetzt und daraus eine Narration ihrer Geschichte konstruiert. Während der ersten Hälfte des Interviews stehen immer wieder Ninas Fragen und ihre Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit im Mittelpunkt, die den unsicheren Boden für die Konstruktion ihrer Identität bilden. Im Verlauf des Interviews beginnt Nina zunehmend von sich zu erzählen, wirkt sicherer in ihrer Selbstdarstellung und scheint nach und nach ihre Identität als junge Frau zu konstruieren. Sie berichtet von ersten Ablösungsprozessen von ihrem Vater und entfaltet ein zunehmendes Bild von sich selbst. Besonders deutlich wird Ninas aktuelle Konstruktionsarbeit im Dialog des Interviews ganz am Ende, als sie die Frage nach Erfolgen in ihrem Leben mit der Geschichte ihrer schulischen Laufbahn verknüpft. Im Erzählen wird deutlich, wie wenig Nina diesen Erfolg bisher unter der Perspektive all ihrer Belastungen betrachtet hat und wie wenig Anerkennung sie sich selbst dafür geben konnte. Im Interview ist deutlich zu spüren, wie Nina aufblüht
8.2 Nina - Identität als Puzzlearbeit
231
und ihre Erfolge mehr und mehr sehen kann. Diese positive Wirkung eines Interviews und der aktiven Konstruktion von Selbstnarrationen beschreiben auch Keupp et al. (2002): Unterzieht man sich in einer solchen unfertigen` Situation dennoch der Erzählanstrengung, so kann das wie die Vertreter einer narrativen Therapie meinen eine überaus positive Wirkung haben (Keupp et al., 2002, S. 230).
Nina selbst bestätigt, sich und ihre Geschichte bisher nie so vollständig erzählt zu haben. Die positive Wirkung dieser Erzählanstrengung zeigt sich nicht nur im Interview selbst, sondern scheint Nina auch für ihre weitere Entwicklung eine völlig neue Perspektive auf ihr Leben als Gesamtbild ermöglicht zu haben.
8.2.2 Die Vergangenheit verstehen Nina berichtet von Beginn an von ihrer Unsicherheit, im Interview nicht ausreichend von ihrer Vergangenheit erzählen zu können, da sie sich wenig an diese erinnern und vor allem wenig verstehen kann, was passiert ist. Ninas wenige eigene Erinnerungen sind so ganz kleine Abschnitte (Nina, S. 4) bzw. Bruchstücke, die sie in ihrem Bild der Vergangenheit zusammenzusetzen versucht. Neben ihren eigenen Erinnerungen kennt Nina auch Geschichten, Erzählungen und Erklärungen von ihrem Vater und ihren Schwestern. Das Thema der Gewalt und des Suizids der Mutter kommt in ihrer Familie zwar selten zur Sprache und ist mit häug kurzen Antworten verbunden, dennoch fragt Nina immer wieder aktiv nach Informationen und Erzählungen. Trotz dieser Sammlung an Erklärungen bleibt die Vergangenheit für Nina in groÿen Teilen undurchschaubar: Also (-) meine Schwester und mein Papa, die ham mir des auch öfter schon erklärt und so, aber des bleibt nie alles hängen und irgendwie des is (-) ziemlich undurchschaubar (Nina, S. 4).
Zudem verunsichert die Mischung aus eigenen Erinnerungen und Erzählungen Nina zusätzlich in ihrer Suche nach ihrem eigenen Verständnis und ihrem Bild der Vergangenheit. So fragt sich Nina immer wieder, ob eine Information nun ihre Erinnerung oder eine Erzählung ihrer Familie ist und macht diese Unsicherheit im Interview vor vielen ihrer Erzählungen von der Vergangenheit deutlich:
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen
Ja also ich weiÿ nimmer so genau, ob des jetz tatsächlich Erinnerungen von mir sind oder ob mir des dann irgendjemand mal erzählt hat (Nina, S. 4).
Nina selbst beschreibt diese Unklarheiten bezüglich ihrer Vergangenheit im Interview mehrfach und betont auch immer wieder, dass die fehlenden Antworten auf ihre Fragen nach den Ereignissen in der Vergangenheit sie stark belasten: Und ich hab da auch heute noch dran zu knabbern (Nina, S. 18).
Diese Unsicherheit und Verwirrung bezüglich der Ereignisse in ihrer frühen Kindheit beschreibt auch McGee (1997) allgemein als Auswirkung des Aufwachsens mit häuslicher Gewalt: Living with domestic violence causes confusion and uncertainty for children particularly when they are unable to decipher a simple causeeect` relationship to explain the violence (S. 20).
Nina beschreibt ihre Erklärungsversuche der Gewalt vor dem Hintergrund der psychischen Krankheit ihrer Mutter. Für sie war dies unmittelbar miteinander verknüpft und entlastet ihre Mutter auch von Schuld und Verantwortung für die Gewalt: also (-) ich hab mir des irgendwann so erklärt, dass sie einfach krank war und des überhaupt ned anders konnte irgendwie (Nina, S. 42).
In Ninas Denken ist schon in der Kindheit die Krankheit der Mutter Auslöser und Grund für die Gewalt. Nina berichtet davon, dass ihre Mutter Medikamente nehmen musste und ihr ein Arzt nach dem Tod ihrer Mutter erklärt, dass die unregelmäÿige Einnahme dieser Tabletten zu aggressiven Schüben führen oder diese verstärken kann. Welche Krankheit bzw. Diagnose ihre Mutter genau hat, wie diese sich auswirkt und zu erklären ist, weiÿ Nina jedoch nicht. Die psychische Krankheit ihrer Mutter bleibt für Nina völlig im Nebel der Vergangenheit und ist scheinbar nie genauer benannt worden: Also ähm des is eigentlich alles in Bezug auf meine Mutter, die hatte ne psychische Krankheit, ma weiÿ es nimmer ganz genau, was des so war (Nina, S. 4).
Auch der Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und Suizid der Mutter ist für Nina nicht erkenn- oder verstehbar. Aus Ninas Perspektive ist der Freitod der Mutter nicht nachvollziehbar. Nina reagiert mit viel Unsicherheit, oenen Fragen und dem Gefühl eigener Schuld. Wut auf ihre Mutter und die Aggression, die auch ein Suizid der Umwelt gegenüber beinhaltet, entwickelt sie nicht:
8.2 Nina - Identität als Puzzlearbeit
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Also aber ich könnt mich da jetz ned irgendwie drüber ärgern oder ich hab da keine Wut dazu. (..) Ich versuch des irgendwie nur zu verstehen, dass (--) also es is schwierig zu verstehen, was jemanden so weit bringt, dass er so was durchzieht, aber (-) (. . . ) Deswegen ich weiÿ auch manchmal ned so genau was ich davon halten soll (Nina, S. 6).
An dieser Stelle wird Ninas tiefe Verunsicherung durch die traumatische Erfahrung des Suizids der Mutter deutlich. Dieser ist für Nina auch mit Fragen der eigenen Schuld verknüpft, die die Konstruktion ihrer Identität ebenfalls stark prägen (vgl. Kapitel 8.2.3). Aufgrund der vielen oenen Fragen und fehlenden Erinnerungen sowie Erklärungen, ist ihre eigene Geschichte für Nina mit wenig Bedeutsamkeit, Verstehbarkeit und in der Folge auch Handhabbarkeit im Sinne von Antonovskys Kohärenzgefühl verbunden. Sowohl die Gewalt als auch die psychische Krankheit und der Suizid der Mutter haben für Ninas Leben zunächst keine sinngebende Bedeutung und waren bzw. sind für sie zu keinem Zeitpunkt verstehbar. Handhabbarkeit entsteht für Nina in ihrer Vergangenheit auch aufgrund ihres jungen Alters nicht. Bis heute bleibt für Nina vieles in ihrer Geschichte unverständlich, ohne sinnvollen Zusammenhang und für sie kaum auösbar: Also ich hab so des Gefühl, ich werd des auf keinen Fall irgendwie zusammenkriegen, also es is auch ziemlich schwierig, weil mein Papa mir des natürlich auch ab und z ab und zu erzählt hat, wie die Zeit so war mit meiner Mama und (-) aber so richtig, n Zusammenhang krieg ich da eigentlich bis heute nich rein (Nina, S. 51).
Im Zuge des Interviews berichtet Nina jedoch auch von einer ersten, noch recht neuen, retrospektiven Bedeutsamkeit ihrer Erlebnisse, die sich ihr im Gespräch mit ihrem Vater erschlieÿt. Nina spricht im Vorfeld des Interviews ihren Vater noch einmal gezielt auf ihre Mutter und deren Tod an und berichtet im Interview von der Besonderheit dieses Gesprächs: Ähm (--) ja ich hab ihn zum Beispiel gefragt ob sie nich irgendwie nen Abschiedsbrief hinterlassen hätte oder weiÿ ich nich was und (-) er meinte es gab keinen, also beziehungsweise man hat keinen gefunden. Und (-) ja ich (--) er hat mich auch gefragt, wie des so war als ich dann damals diese Besuche immer bei ihr hatte, nach der Scheidung und (-) daraus hab ich auch noch so'n paar Erinnerungen gehabt und hab ihm des dann so erzählt und (--) ja also, des hat mich ganz verwundert, weil er eigentlich so nich so sehr viel Gefühle zeigt (-) (..) und er hat mich eigentlich ziemlich aufgebaut und (-) zum Beispiel zu mir
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen gesagt, dass ich halt stärker bin, als ich mir des vorstellen kann, weil ich einfach schon ein paar Sachen mitgemacht hab, ja (..) Und (-) ja ich fand des einfach schön von ihm zu hören, weil der einfach sonst so nie is (Nina, S. 9f ).
In diesem Gespräch und der Rückmeldung ihres Vaters entsteht für Nina eine Bedeutsamkeit der Vergangenheit für ihre eigene Identität, indem der Vater ihre persönliche Stärke, die er an ihr erlebt, mit ihren Erlebnissen aus der Vergangenheit in Verbindung setzt. Für Nina hat diese Rückmeldung eine ganz besondere Qualität, auch weil ihr Vater sonst nicht so oen mit ihr spricht. Für Nina erönet dies eine neue Perspektive auf die Gewalt in der Vergangenheit, die so eine positive Relevanz oder in den Worten Antonovskys, eine Bedeutsamkeit für ihre eigene Identität bekommt.
8.2.3 Die Frage der Schuld Neben der fehlenden Verstehbarkeit ist für Nina auch die Frage nach der Schuld lange Zeit ein wichtiges Thema: Ja es is für mich einfach schwierig auch zu verstehen, was da (-) (..) passiert is und (--) hmm ja also manchmal kommt schon immer noch so des Gefühl hoch, ich wär an allem Schuld gewesen und weiÿ ich nich was (Nina, S. 18).
Nina fühlt sich nicht nur ihrer Mutter gegenüber auf unterschiedlichen Ebenen schuldig. Zum einen fühlt sie sich schuldig, da sie kein Wunschkind war und ihre Mutter aufgrund ihrer Geburt nicht mehr arbeiten konnte. Auch ihre Stellung als Lieblingskind der Mutter und die Tatsache, dass sie als einzige nie direkt das Opfer von deren Aggressionen wurde, lassen bei Nina Schuldgefühle entstehen. Die jedoch deutlichste Quelle von Schuldgefühlen besteht in der Geschichte des Suizids der Mutter. Dieser steht zeitlich in einem engen Zusammenhang mit der Beendigung der Besuchskontakte bei der Mutter auf Ninas Wunsch hin. Für Nina entstand so als Kind der Eindruck, ihre Mutter habe sich infolge ihrer Aussage, nicht mit ihr zusammenleben zu wollen, das Leben genommen: auf der Heimfahrt hat sie mich gefragt, ob des nich schön wär, wenn ich zu ihr ziehen könnte und (-) also so von wegen wir baun uns'n neues Leben auf und weiÿ ich nich was und (-) ähm ich mit meinen 6 Jahren hab dann zu ihr gesagt, ne des will ich nich, ich will bei meim Papa bleiben (-) und ich hab ihr gsagt, dass ich Angst hab vor ihr und (-) so was alles (-) und da hat sie mich nach Hause gebracht und ich
8.2 Nina - Identität als Puzzlearbeit
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glaub des war an nem Sonntag, weil des warn ja immer die Wochenenden und Sonntagabend war ich dann zuhause (-) und am Donnerstag hat ich glaub ich die hat mir glaub ich mein Vater erzählt, dass sie sich jetz umgebracht hat, also (--) (..) Und wenn man berechnet, dass sie ja drei Tage in dem (-) Zimmer da gelegen war auch noch. (..) Haut des natürlich gut hin, ne (schnauft aus) (Nina, S. 14f ).
Für Nina war die Ursächlichkeit ihrer Aussage für den Suizid der Mutter eine belastende Tatsache. Sie schildert heute, als Kind immer gedacht zu haben, dass ihre Ablehnung die Mutter veranlasst hat, einen Schlussstrich unter ihr Leben zu ziehen. Heute betont Nina ihr Bewusstsein dafür, dass es ein Zusammenwirken vieler Faktoren gewesen sein muss und macht in ihrer Formulierung ich mit meinen 6 Jahren auch deutlich, dass sie sich als Kind sehen kann, das in einer überfordernden Situation steht und keine Verantwortung für den Tod der Mutter trägt. In diesem Zusammenhang schildert Nina die unterstützende Wirkung ihrer Beratung und die wichtige Rolle der Beraterin: ich bin zum Teil einfach auch froh, dass so Sachen, wie wo ich mir da eingeredet hab ich wär an allem schuld, dass des jetz einfach (-) weg is, dass sie mir so die Angst so'n bisschen auch nehmen konnte (Nina, S. 38).
Ninas Schuldgefühle wirken sich in ihrer Kindheit nicht nur auf ihr Selbstbild aus und beeinträchtigen sie in ihrer Identitätsentwicklung, sondern sie sind auch ein Auslöser für Ninas Entwicklung psychischer Symptome. Während sie in der Kindheit stark unter Heulkrämpfen und Albträumen leidet, manifestiert sich ihre Belastung in der Pubertät in depressiven Stimmungen und selbstverletzendem Verhalten. Diese Symptome sind es, die den Vater in groÿe Sorge versetzen und die psychische Krankheit der Mutter erneut zum Thema in der Familie machen: Und dadurch war halt auch mein Papa ziemlich alarmiert auch. (..) Also weil der dachte, es geht jetz alles von vorne los und (-) keine Ahnung was und (-) der hat mir sonst irgendwelche Krankheiten schon angedichtet (Nina, S. 17f ).
Neben dieser starken psychischen Belastung durch die Situation, entwickelt Nina auch Schamgefühle bezüglich ihrer Geschichte. Nina spricht lange Zeit mit niemandem über ihre familiäre Situation, bis heute hat sie Freunde, die nichts vom Tod ihrer Mutter wissen, geschweige denn, dass es sich um einen Suizid handelt.
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen
So zu dem Zeitpunkt war des für mich einfach nur ganz schrecklich zu wissen, dass dann andere Leute anscheinend über mich Bescheid wissen sollen und (-) (..) ich wollte des nich, ne (Nina, S. 52).
Ninas Schuld- und Schamgefühle zeigen sich in ihrer Identitätsentwicklung unter anderem in Form von Problemen der Selbstanerkennung. Nina sieht sich selbst nicht als Opfer oder belastetes Familienmitglied und beschreibt sich immer wieder als wenig betroen. In ihren Schuldgefühlen sieht sie sich vielmehr in der Rolle der Verantwortlichen für das Elend der Mutter. In der Folge entwickelt Nina viele Zweifel an sich und ihren Kompetenzen. Es fällt ihr sichtlich schwer, ihre eigene Belastung und ihr Leid anzuerkennen und dabei zu sehen, dass sie als Kind keine alternativen Handlungsmöglichkeiten hatte. Ihre eigene Leistung mit dieser Geschichte zu leben, beginnt Nina erst ganz am Ende des Interviews anzuerkennen. Keupp et al. (2002) sehen die Entstehung fehlender Selbstanerkennung vor dem Hintergrund früher traumatischer Erfahrungen begründet, die stärker wirken als positive Gegenerfahrungen (S. 257). Dies scheint auch für Nina und ihre Geschichte als Kind eine treende Hypothese zu sein. In ihrer weiteren Entwicklung und ihrer aktiven Konstruktion ihrer Identität im Interview zeigen sich jedoch auch erste Ansätze gelungener Selbstanerkennung, die den Eindruck vermitteln, gerade im Interview entstanden zu sein.
8.2.4 Selbstanerkennung der eigenen Stärke Neben all ihrer Unsicherheit und der Belastung durch die für sie oenen Fragen der Vergangenheit, entwickelt Nina im Interview zunehmend auch ein Bild von sich, das Stärke und aufkeimendes Selbstbewusstsein widerspiegelt. In ihrer Familie, so schildert Nina, ist und bleibt sie des kleine Mädchen (Nina, S. 23) , während sie sich in Schule und Praktika zunehmend als erwachsen und vor allem recht selbstständig (Nina, S. 54) erlebt und darstellt. Nina äuÿert auch mehrfach den Wunsch, trotz ihrer Familiengeschichte, normal und ohne Mitleid behandelt werden zu wollen. Um diese Normalität ringt Nina auch in der Frage, ob und wie sie mit Auÿenstehenden über den Tod ihrer Mutter spricht. Schon allein die Tatsache, dass ihre Mutter früh starb, löst häug Reaktionen insbesondere Mitleid aus, die Nina unangenehm sind. Sie vermeidet es daher, diesen Teil ihrer Vergangenheit anzusprechen, geschweige denn vom Suizid ihrer Mutter zu berichten.
8.2 Nina - Identität als Puzzlearbeit
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Nina schildert die Reaktionen, denen sie sich aufgrund ihrer Vergangenheit ausgesetzt sieht und ihren Wunsch nach Normalität deutlich: Dass ich manchmal so des Gefühl hab, wenn ich des irgendjemanden erzählt hab, dass meine Mutter gestorben is, ähm (-) dass dann manche auch sagen, ja wenn ich des gewusst hätte, dann hätt ich dich ganz anders behandelt. Also (-) so und (-) für mich is des immer so, ich will eigentlich keine Sonderbehandlung, also (-) ich bin eigentlich auch nur'n normaler Mensch (Nina, S. 53).
Dieses Ringen um Normalität wird auch im Verlauf des Interviews deutlich. Zunächst dreht sich alles um ihre Vergangenheit, die oenen Fragen und damit verbundene Belastungen. Im weiteren Gespräch und auf Nachfragen nach ihrem alltäglichen Leben entwickelt Nina zunehmend ein Bild ihrer heutigen Identität, in der sie um Normalität, Bedeutsamkeit und altersgemäÿe Ablösung von ihrer Herkunftsfamilie kämpft. So berichtet sie, sich zunehmend unabhängig von der Planung ihres Vaters zu fühlen und entwickelt Identitätsprojekte, die sie jedoch sehr vorsichtig formuliert: also ich denk ich hab jetz auch irgendwo mein eigenes Leben (Nina, S. 25). Also (-) aber ich denk wenn Familie, dann schon erst so in (-) is noch weiter weg, sag mas so (Nina, S. 26). Und ich denk auch so in meim Berufsleben oder so, ich würd auf jeden Fall gern was mit Kindern machen (..). Und (-) ja aber des schau ma jetz erst mal, also (-) was die Schule so macht und so (Nina, S. 26).
Nina erzählt hier, ähnlich wie auch Lisa, ihre Identitätsentwürfe sehr knapp und nur andeutungsweise. Ob das nun in Ninas Unsicherheit bezüglich ihrer Identitätskonstruktion und damit verbundenen Schwierigkeiten im Entwickeln von Projekten begründet liegt oder für Nina eine sinnvolle Strategie darstellt, sich für die Zukunft möglichst alle Optionen oen zu halten, ist unklar. Gegen Ende des Interviews entwickelt Nina auf Nachfrage eine neue Perspektive von sich selbst, in der sie sich als erfolgreiche junge Frau zu erzählen beginnt. Im Bereich ihrer Schullaufbahn konnte Nina Erfahrungen von Bedeutsamkeit, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit machen, die ihr ein während ihrer Erzählung scheinbar mehr und mehr wachsendes Kohärenzgefühl sichern. So berichtet Nina von ihrem Stolz auf ihren Realschulabschluss, den sie trotz aller Belastungen und wenig Unterstützung in schulischen Belangen, erreicht hat. Nina erlebt sich insbesondere während ihrem Wechsel auf die
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen
Realschule als selbst handlungsfähig und erfolgreich. Sie sieht in ihrem Schulabschluss eine wichtige Bedeutung für ihr weiteres Leben, weiÿ, wie das Schulsystem funktioniert und welche Wege für sie erfolgreich sein können und erlebt Schule in dieser Zeit als für sie gut handhabbar. Nina betont in ihrer Erzählung, dass es ihre eigene Leistung war, was diese zu etwas ganz Besonderem für sie macht: Ähm (-) ich weiÿ einfach auch, dass des durch meine eigenen Arbeit und (-) durch mein Talent dafür vielleicht (lacht), (..) dass des einfach des des ausschlaggebende war und dass ich keine Hilfe hatte und dass ich des einfach auch selber erreicht hab (. . . ) Und (-) des war auch so für mich der Punkt, wo ich dann gemerkt hab, ich bin eigentlich stärker als ich des bisher immer dachte (Nina, S. 55).
Aus dieser Erfahrung von Handlungsfähigkeit und Bewältigbarkeit der schulischen Anforderungen entsteht für Nina ein Gefühl von Identität, das sie selbst als starke und erfolgreiche junge Frau erscheinen lässt. Diesen positiven Blick auf sich selbst fasst Nina am Ende auch in Bezug auf andere Eigenschaften, die sie an sich wahrnimmt und auf ihre Geschichte zurückführt selbst prägnant zusammen: Und ich nd ich hab auch so schon viel erreicht und (-) auch wenn die Zeit schwierig war, ich denk ich hab auch positive Sachen davon mitgenommen, also auch grad dass ich (-) so mit meim Alkohol und mit dem Weggehen und so, dass ich da recht vernünftig bin und (-) es is klar, ich bin anders als andere in meinem Alter und (-) aber mittlerweile ich nds auch nich mehr schlimm (Nina, S. 54).
Für Nina erscheint ihre Besonderheit aufgrund ihrer Vergangenheit und auch ihre dadurch bedingte Andersartigkeit, wie sie selbst es beschreibt, nicht länger nur unter dem Blickwinkel von Belastung, sondern bekommt eine positive Bedeutung für ihre Identitätskonstruktion.
8.2.5 Zusammenfassung: Identitätskonstruktion als Puzzlearbeit Ninas Identitätskonstruktion ist stark geprägt von den vielen Fragezeichen in ihrer Vergangenheit. Die Frage der Herkunft und der eigenen Geschichte ist ein zentrales und grundlegendes Thema der Identität, das für Nina mit starken Unsicherheiten verbunden ist. Neben den vielen oenen Fragen in Bezug auf ihre Vergangenheit ndet Nina im Verlauf des Interviews jedoch auch einen guten Zugang zu Erzählungen ihres Gefühls von Verstehbarkeit, Bedeutsamkeit und Handhabbarkeit.
8.2 Nina - Identität als Puzzlearbeit
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Insbesondere im Bereich Schule erlebt sich Nina handlungsfähig und kann Erfahrungen machen, die ihr Kohärenzgefühl deutlich stärken. So erlebt sich Nina als schulisch erfolgreiche junge Frau, die ihren Weg diesbezüglich nicht ohne Stolz und in einer kohärenten Geschichte erzählt. Im Lichte ihres schulischen Erfolgs und auch in einer für Nina extrem wertvollen Rückmeldung ihres Vaters bekommt die miterlebte Gewalt in ihrer Kindheit ebenso wie der Suizid der Mutter eine retrospektive Bedeutsamkeit. Nina erlebt sich selbst als starke und selbstständige junge Frau, deren Leistungen und deren Energie vor dem Hintergrund ihrer traumatischen Erlebnisse, noch einmal bedeutsamer und anerkennenswerter erscheinen. Die Unsicherheit, die für Nina mit der fehlenden Verstehbarkeit des Verhaltens ihrer Mutter und damit auch ihrer eigenen Geschichte verbunden ist, prägt abgesehen von den kurzen Sequenzen positiver Selbstanerkennung am Ende des Interviews, die gesamte Gesprächssituation. Angefangen von Ninas Gefühl, eigentlich nicht die Zielgruppe zu sein, über ihre Angst, nicht genug erzählen zu können, bis hin zu ihren vielfältigen Äuÿerungen, keine Erklärungen oder Antworten zu haben und diese auch nicht so einfach bekommen zu können. Diese Verunsicherung in ihrer Identitätskonstruktion zeigt sich auch in ihren vorsichtigen Formulierungen ihrer Identitätsprojekte und Zukunftsvorstellungen. Während Nina den Bereich von Beziehung und Familie in der Zukunft noch auf später verschiebt und kaum etwas von ihren Wünschen und Vorstellungen erzählt, beginnt sie im Bereich Schule und Beruf vorsichtig über Perspektiven und Pläne zu sprechen, die sie jedoch zunächst auch noch in die Vergangenheit verschiebt und vom weiteren Erfolg in der Schule abhängig macht. Sowohl Ninas durchgängige Erzählung ihres Kampfes um Verständnis und Wissen über die Vergangenheit als auch ihr vorsichtiger Umgang mit Identitätsprojekten, machen ihre Verunsicherung deutlich. Ninas Erleben von Unberechenbarkeit und fehlender Verstehbarkeit, lassen viele oene Fragen entstehen, die Nina im Zuge ihrer Identitätsarbeit zu beantworten versucht. Diese mühsame Arbeit, einen Zugang zu ihrer Vergangenheit und damit auch zum Fundament ihrer Identitätsarbeit zu bekommen, beschreibt Nina gleich zu Beginn des Interviews: also an die Zeit direkt äh so richtig erinnern kann ich mich nich, aber ich hab manchmal so Auszüge (-) (..) also so ganz kleine Abschnitte, die ich dann irgendwie versuch zusammenzusetzen, aber für mich is des im Moment eigentlich auch noch ziemlich schwierig zu verstehen (Nina, S. 4).
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen
Am Ende des Interviews erscheint eben diese Beschreibung ihrer Suche nach Antworten erneut und im Dialog entsteht das Bild eines Puzzels. Diese Metapher scheint Ninas gesamte Identitätsarbeit passend zu umschreiben und wird von ihr selbst oen und auch dankbar aufgegrien: Ja. (-) Also puzzeln is glaub ich n gutes n guter Begri dafür, ja (Nina, S. 50).
8.3 Karina:
da hatt ich ja auch überhaupt
keine Chance irgendwie
8.3.1 Karinas Selbstnarration Karina erzählt sich selbst als junge Frau, die sehr sensibel, feinfühlig und stark mit ihrer Mutter und deren Hilosigkeit identiziert ist. Sie erlebt sich als dieser sehr ähnlich (Karina, S. 7) und in ihrer Opferrolle stark mit ihr verbunden. Karina geht in ihrer Selbstnarration jedoch noch einen Schritt weiter in eine Identität als Opfer der gesamten Familiendynamik, indem sie zwar die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter betont, jedoch auch deutlich macht, dass ihre eigene Position in der Familie, trotz der Nähe zur Mutter, sehr einsam ist: Ja, die sin sich halt auch ähnlicher als ich jetz so, weil (-) ich hab immer des Gefühl gehabt, ich fall da raus, also (--) ja meine Mutter is schon sehr ähnlich, aber die is halt noch n bisschen (-) ja da hatt ich immer des Gefühl, sie kriegt des besser hin als ich, sie zeigt's halt nich, wenn sie traurig is oder so (Karina, S. 19).
Karinas Erleben eigener Hilosigkeit, die starke Einsamkeit und das ständige Gefühl sich nur über Leistung Anerkennung und Zuneigung sichern zu können, drängen Karina in die Rolle der Symptomträgerin der Familie und lassen sie in dieser Rolle eine starke Opferidentität entwickeln. In der Erzählung ihrer Geschichte bezeichnet Karina ihren Lebensweg als bis heute immer wieder schwierig . Ihre Rolle in der Familie beschreibt sie mit den Worten Sandwich-Kind halt (Karina, S. 1) und berichtet häug, wie sie sich mit ihren Schwestern vergleicht, sich minderwertig fühlt und aufgrund ihrer Magersucht die Schuld an vielen Problemen zugewiesen bekommt. Karina erzählt sich retrospektiv als das Opfer ihres Familiensystems und sieht sich als Kind einer stark belastenden Situation gegenüber, in der sie keine oder kaum Unterstützung erhält und sich hilos und ohnmächtig erlebt:
8.3 Karina Identität und Selbstunsicherheit
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dann (-) is mir echt nix mehr eingefallen, wie (-) ich bin so hilos, ich kann mich überhaupt nich wehren gegen die (Karina, S. 18).
Karina beschreibt hier ihre Identität als Opfer, in die sie aufgrund der gesamten Familiendynamik gerät. Immer wieder betont sie auch, von ihrer Familie keine Unterstützung und kein Verständnis erhalten zu haben, beschreibt deren Haltung ihren Gefühlen gegenüber als ignorant (Karina, S. 30, 42) . Im Interview sind ihre heutige Wut auf diese Rollenzuschreibung und ihr Kampf um die Ablösung von ihrer Familie und den damit verbundenen Mustern deutlich spürbar: Und dann auch immer zu sagen, ja (-) ich bin halt schuld, weil ich (-) ess ja nich gescheit und ich mach des ja alles extra, des nd ich halt sehr einfach gedacht irgendwie (Karina, S. 30).
Im Zusammenhang mit ihrer heutigen Wut und Ablehnung dieser Schuldzuweisungen erzählt sich Karina in einer Identität als Opfer und Kämpferin gegen die ungerechte und belastende Situation, in der sie aufgewachsen ist. Bis heute erlebt sie sich in der Dynamik ihrer Familie, insbesondere der Beziehung ihrer Eltern, als Opfer von deren Beeinussung und Hilfsbedürftigkeit. Karina beschreibt ihre heutigen Besuche und Kontakte mit den Eltern als für sie anstrengend, da sie immer wieder zwischen die Fronten gerät und sich ständigen Manipulationsversuchen ausgesetzt sieht: Also des is ja ne Sache zwischen denen und (-) wenn ich dann zu ihm hinfahr, dann bin ich irgendwo total aggressiv und er sagt, ja was is'n jetz los und (-) da denk ich, des is eigentlich ungerecht, weil ich hab jetz eigentlich gar nicht ir irgendwie gegen ihn und des is nur, weil meine Mutter mir jetz irgendwas eingeredet hat, von dem ich ja nich weiÿ, ob's stimmt (Karina, S. 33).
Im Interview ist Karina auch sehr darauf bedacht, sich an meinen Reaktionen zu orientieren und sich in ihrer Erzählung meine Unterstützung bzw. mein Verständnis zu sichern. Für Karina ist das Erzählen ihrer Erlebnisse mit Rückmeldungen von Unglaubwürdigkeit und Bagatellisierung verbunden, was zu einem ständigen Bedürfnis nach Rückversicherung und Erlaubnis des Gegenübers, sich in dieser Form weitererzählen zu dürfen, führt. So reagiert sie auf Äuÿerungen von Empathie oder Verständnis für ihre Problematik mit starken Impulsen weiter zu erzählen und wirkt im Verlauf des Interviews zunehmend erleichtert, von ihrem Leben berichten zu können, ohne dabei in Frage gestellt oder nicht ernst genommen zu werden. Diese
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen
Erleichterung benennt Karina auch im Gespräch nach Ende des Interviews und betont ihre Freude über mein Interesse an der Perspektive der Kinder in Fällen häuslicher Gewalt.
8.3.2 Das Problem der Anerkennung Karina schildert immer wieder ihren Kampf um Anerkennung und das Gefühl, von ihrer Familie geliebt und gemocht zu werden. Der für sie von frühester Kindheit an einzige Weg, sich zumindest ein wenig Anerkennung zu sichern, ist Leistung: ich hab dann halt viel über (-) Leistung gemacht und () hatte tausend Hobbys irgendwie und (-) so dass meine Eltern einfach stolz auf uns sind und (-) ich hab gedacht, will ich des irgendwie ausgleichen so (Karina, S. 5).
Anerkennung und Zuneigung waren für Karina von Kindheit an immer auch an Leistung gekoppelt. Die Angst zu Versagen beinhaltet deshalb für sie auch immer die existenzielle Bedrohung durch Entzug von Zuneigung und daraus folgender Einsamkeit: Hmm (-) ja, dass ich also ich hatte ganz viel (-) so von Leistungsaspekt her Angst, dass ich irgendwie versagen kann oder so, weil ich dann dachte, dann werd ich nich mehr so gemocht wie vorher. Weil ich dacht einfach, (-) die lieben mich ja eh nur, weil ich toll Cello spielen kann oder was weiÿ ich was (Karina, S. 19).
Ihre emotionale Belastung durch die gewalttätigen Auseinandersetzungen der Eltern erlebt Karina als innerhalb der Familie bagatellisiert oder verleugnet. Ihre Probleme, so berichtet sie, wurden nicht als Folge der familiären Umstände anerkannt, sondern in ihre eigene Verantwortung übergeben: du spinnst, des bildst du dir alles nur ein und (--) äh du bist sowieso selber schuld an deiner (lacht) Krankheit so, also ich hab in der Familie keine Unterstützung und deswegen (--) ja jedenfalls in dem Punkt nich (Karina, S. 8).
Diese fehlende Anerkennung ihrer Belastung und Hilosigkeit im Umgang mit der häuslichen Gewalt, führt zu einer starken Verunsicherung und der ausgeprägten Übernahme einer durchgängigen Opferrolle. Die starken Auswirkungen fehlender Anerkennung auf die Identität betont auch Taylor (1993):
8.3 Karina Identität und Selbstunsicherheit
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Die These lautet, unsere Identität werde teilweise von der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung, oft auch von der Verkennung durch die anderen geprägt, so daÿ ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen wirklichen Schaden nehmen, eine wirkliche Deformation erleiden kann, wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt (S. 13f ).
Für Karina hat das beständige Feedback, sie übertreibe oder sei selbst Schuld an ihrer Situation, auch deshalb eine so tiefgreifende Verunsicherung und starke Selbstwertproblematik zur Folge, da diese Rückmeldungen von ihren engsten Bezugspersonen, also legitimierten wichtigen anderen (Höfer, 2000, S. 207), kommen. Vor diesem Hintergrund von Anerkennung durch Leistung und der völligen Verleugnung ihrer emotionalen Not, entwickelt Karina in der Pubertät eine Magersucht, die eine Form von Aggression gegen sich selbst darstellt. Diese Umkehr von Aggression gegen sich selbst, beschreibt Karina an anderer Stelle als Wut, die sie erst langsam lernt, gezielt zu adressieren: da wurd ich höchstens wütend auf mich selber, aber (-) irgendwie (-) und jetz kommt des schon, dass ich dann merke, irgendwo bin ich wütend, aber ich kann's überhaupt nich ausdrücken (Karina, S. 28).
Fehlende Anerkennung ihrer emotionalen Situation und die Gefahr, die wenige Anerkennung, die ihre Leistung ihr einbringt, aufgrund eigener Fehler zu verlieren, stellen den Hintergrund für Karinas starke Selbstunsicherheit und ihre Konstruktion ihrer Identität als Opfer dar. In ihrer heutigen Erzählung wird immer wieder deutlich, wie sehr Karina um ihre Ablösung vom Elternhaus ringt und versucht, die aktive Gestaltung ihres Lebens in die Hand zu nehmen.
8.3.3 Karinas Identität als Frau Karina schildert im Interview immer wieder ihre starke Ähnlichkeit mit ihrer Mutter und ihre Gemeinsamkeit in der Unterlegenheit ihrem Vater gegenüber. Diese starke Identikation mit der Mutter überträgt Karina zunächst auch auf ihre Rolle in der ersten eigenen Beziehung: n Freund so, den hatt ich mit 16 oder so, ähm aber ich hab mich schon sehr untergeordnet auch, also ich hab des schon bisschen übernommen wie meine Mutter des macht. (-) Äh dass ich gedacht hab, ich muss ja irgendwie (-) gut funktionieren (-) dann klappt das auch alles (Karina, S. 35).
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Karina überträgt hier ihre Unterlegenheit und ihre Strategie sich durch möglichst gute Leistungen Anerkennung und Zuneigung zu sichern, zunächst direkt in ihre Beziehungsgestaltung. In der Retrospektive beschreibt sie jedoch auch Erfahrungen innerhalb dieser Beziehung, die ihr gegenteilige Beziehungsmuster vermitteln: ich hab dann einfach andre Rückmeldungen gekriegt, also irgendwie und (-) hab halt gemerkt es kann auch anders sein und des is nich überall so, deswegen (-) des hat sich eigentlich nich so wirklich übertragen (Karina, S. 36).
Ebenso erlebt Karina am Beispiel einiger Freundinnen alternative Beziehungsmuster, die ihren Wunsch nach einer gleichberechtigten Partnerschaft stärken. Karina beschreibt ausführlich, wie sie gerne als Frau sein möchte und wie sehr sie aktuell gegen die negative Bewertung ihrer Sensibilität, die ihr in ihrer Familie vermittelt wird, ankämpft. Karinas Bild der Frau, die sie gern sein möchte, baut sehr stark auf Vorbildern in ihrer Peergroup und der Ablösung von ihrer Mutter als Identikationsgur auf: auch viele Leute hab, die mir irgendwo von von der Persönlichkeit her schon ähnlich sind, aber die immer so'n gewissen Tick Selbstvertrauen noch haben und (-) des dann einfach dadurch kompensiern und dann denk ich immer, des is genau die richtige Mischung, ich brauch gar nich so super stark sein und gar keine Gefühle haben, ich darf ruhig sensibel sein, wenn ich trotzdem (-) mich irgendwie (-) noch auf mich achten kann und mich durchsetzen kann. Und dann is des ja auch positiv (Karina, S. 38).
Neben dieser positiven Vision von sich als Frau, die sowohl über ausreichend Selbstvertrauen verfügt als auch ihre schwache, sensible Seite wertschätzen kann und der wachsenden Überzeugung, sich als Frau nicht unterordnen zu müssen, formuliert Karina ihre Angst, von Anderen dominiert zu werden in klarem Zusammenhang mit dem Geschlecht. Nach wie vor hat sie groÿe Bedenken, in Beziehungen zu Männern dominiert zu werden, die sie so in Freundschaften mit Frauen nicht kennt, da sie diese auf einer Ebene mit sich selbst erlebt: Aber ich hab schon Angst noch immer, dass ich (-) so dominiert werde oder so was. Deswegen hab ich auch viel mehr Freundinnen als Freunde, weil ich (-) da einfach weiÿ, d die steh'n irgendwie mit mir auf einer Ebene und (-) sonst hab ich vielleicht des Gefühl irgendwie, ich werd da untergebuttert, also (lacht) da bin ich schon sehr vorsichtig (Karina, S. 36).
8.3 Karina Identität und Selbstunsicherheit
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An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr Karina die Erfahrungen in ihrer Familie in ihrer Identität als Frau prägen und wie sehr sie befürchtet, selbst von einem Mann dominiert zu werden. Angesichts ihrer starken Identikation mit der Mutter und ihrer eigenen Verhaftung in der Identität als Opfer der Familie, erscheint ihre Angst, selbst in einer Beziehung in den Pol der Unterordnung zu geraten, nahe liegend. Karina kennt zwar alternative Modelle und hat eine eigene Vision von sich als selbstbewusster Frau, thematisiert jedoch auch das fehlende Selbstvertrauen als für sie noch weit entferntes Ziel. Um dies in die Realität umzusetzen bedarf es eines weiteren Ablösungsprozesses von ihrer Familie, insbesondere ihrer Identikation mit der Mutter und ihrer Aufgabe bzw. Überwindung ihrer Identität als Opfer.
8.3.4 Selbstunsicherheit und Selbstwertproblematik Karina beschreibt im Verlauf des Interviews immer wieder ihre starke Verunsicherung bezüglich ihrer eigenen Wahrnehmung, ihrer Gefühle und der Bewertungen häuslicher Gewalt in der Kindheit. Dabei schildert sie immer wieder das schon im Kontext der Anerkennung angesprochene Feedback ihrer Familie, sie übertreibe, dramatisiere oder erlebe etwas, was so nicht der Realität entspricht. Aufgrund dieser Rückmeldungen schildert Karina eine auch heute noch groÿe Unsicherheit bezüglich ihrer eigenen Wahrnehmung: deswegen bin ich mir selber oft sehr unsicher, ob ich des alles richtig sehe oder ob ich jetz irgendwie übertreibe oder so (Karina, S. 9). Also ich ich hab auch ne total komische Wahrnehmung, ich muss immer Leute fragen, ob des richtig is, wie ich's fühle (Karina, S. 28).
Diese Verunsicherung schlägt sich direkt auf Karinas Selbstwertgefühl nieder. Sie schildert ihre kindlichen Gedanken und Bewertungen von sich selbst, als ständigen Vergleich zu den Schwestern und das ständige Gefühl, den Anforderungen nicht gerecht werden zu können. So beschreibt sie sich als klein (Karina, S. 12), schlecht (Karina, S. 17) und hilos (Karina, S. 18) und erzählt davon, sich ihren Schwestern gegenüber unterlegen und weniger wertvoll gefühlt zu haben. Karinas geringes Selbstwertgefühl und ihre Identikation mit der Opferrolle lassen sie, nicht nur in intimen Beziehungen, rasch in einen Pol der Unterordnung verfallen. Subjektive Entwicklung, die nicht auf Dominanz oder Unterordnung hinauslaufen soll, erfordert die schwierige, immer wieder zusammenbrechende Balance von Autonomie und Verbindung oder wie Jessica
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Benjamin [(vgl. Benjamin, 1990), Anm.d.V.] sagt von Selbstbehauptung und Anerkennung der anderen Person als Subjekt, das gleich und verschieden von mir ist (Bilden, 1997, S. 235). Eben diese Balance von Autonomie und Verbindung ist für Karina sehr schwer zu erreichen, da Autonomie für sie immer auch mit dem Verlust von Beziehung und Zuwendung verbunden ist. Sich selbst zu behaupten und gleichzeitig ein Gegenüber als verschieden anzuerkennen, ist Karina aufgrund ihrer Kindheitserfahrungen kaum möglich: ich hab immer Stapel von Büchern gelesen und des fand sie halt total blöd, weil (-) ja (-) weil ich mich ja dann so zurückziehe. Und auch als ich dann versucht hab später (-) irgendwie mit Freunden halt irgendwas zu machen und mich da irgendwie mehr drauf einzulassen, als mich auf meine Familie zu xiern, (-) hat sie halt auch total schlecht reagiert und hat gesagt, ich ich vertrau ihr gar nich mehr und sie is ja wohl meine beste Freundin und ich soll nich immer Geheimnisse vor ihr haben und so (Karina, S. 24).
Sich von ihrer Mutter abzugrenzen, eigenen Bedürfnissen nachzugehen, war für Karina immer mit dem Verlust von Zuneigung und Vertrauen verbunden, was den heutigen adoleszenten Ablösungsprozess für Karina besonders schwierig macht. Karinas Übernahme einer Opferidentität vor dem Hintergrund ihres geringen Selbstwertgefühls und ihrer Ohnmacht gegenüber den familiären Bedingungen, manifestiert sich schlieÿlich im Symptom der Magersucht. Die Krankheit ermöglicht Karina der Ohnmacht in ihrer Rolle als Opfer der Familiendynamik eine Form von Macht gegenüber zu setzen: die Kontrolle ihres Essverhaltens. Auf diese Weise kann sich Karina mit Hilfe des Symptoms Magersucht von ihrer Familie abgrenzen, was sie selbst folgendermaÿen beschreibt: ich hab ja den ganzen Tag nur irgendwie an's Essen gedacht (lacht) und keine Ahnung und (-) ja des war halt auch nich mehr so wichtig, da hatt ich dann auch'n Halt wo ich mich mit beschäftigen konnte und wo (-) wo meine Eltern auch nich rein konnten einfach. Also die konnten sagen was sie wollten und es hat nix geändert, weil des war meins (Karina, S. 20).
Auch wenn die Krankheit für Karina einen subjektiven Sinn erfüllt, so führt sie doch innerhalb der Familie zu verstärkten Schuldzuschreibungen und steigendem Druck, den Anforderungen noch weniger gerecht werden zu können, was sich wiederum negativ auf Karinas Selbstwertgefühl auswirkt.
8.3 Karina Identität und Selbstunsicherheit
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8.3.5 Zusammenfassung: Identitätskonstruktion in Selbstunsicherheit Karinas Übernahme der Opferrolle und ihre tiefe Verunsicherung bezüglich ihrer Wahrnehmung und ihres Selbstwerts, wirkt sich direkt auf die Konstruktion ihrer Identität aus. Sie erzählt sich durchgängig als Opfer der familiären Dynamik und stellt ihren eigenen Wert immer wieder in Frage. Zugleich ist dies jedoch auch ihre Strategie sich Anerkennung, Verständnis und Unterstützung vom Gegenüber zu sichern, was sie noch stärker in der Opferidentität verbleiben lässt. Karina beschreibt sich selbst als wenig handlungsfähig und trotz aller Kämpfe und Bemühungen immer wieder in der Rolle der Verliererin, die ohne Macht und Kontrolle bleibt. Das Symptom der Magersucht stellt hier eine Art Gegengewicht dar, das Karina zumindest über ihr Essverhalten Macht und Kontrolle auszuüben erlaubt. Ihr Leben ist für Karina mit wenig Verstehbarkeit, Bedeutsamkeit und vor allem auch Handhabbarkeit verbunden und sie kann auf wenig Erfahrungen zurückgreifen, die ihr Kohärenzgefühl stärken. Lediglich in ihrer Identität als Opfer scheint sie sich selbst kohärent und sinnvoll erzählen zu können. Keupp et al. (2002) weisen auf die direkten Auswirkungen eines geringen Kohärenzgefühls auf Handlungsfähigkeit und Belastungs-Bewältigungshandeln hin: Wer sein Leben als wenig sinnerfüllt, versteh- und bewältigbar erlebt, wird auch in seinen Bewältigungs- und Handlungsmöglichkeiten eingeengt und wenig eektiv bleiben (Keupp et al., 2002, S. 269).
In ihrer Opferidentität erlebt Karina ihr Leben insbesondere innerhalb ihrer Familie als nur schwer bewältigbar. Ihr aktueller adoleszenter Ablösungsprozess gestaltet sich vor diesem Hintergrund ebenso schwierig und ist für Karina immer mit einem Gefühl von Kampf und der Gefahr des Versagens verbunden. Karina kann ihre Situation sehr klar reektieren und beschreiben, gibt jedoch in ihrer Opferidentität die Verantwortung für die Situation nach auÿen ab. So sieht sie im Verhalten ihrer Eltern immer wieder den Grund dafür, selbst in ihre Muster zurück zu fallen und sich in ihrer Ablösung so schwer zu tun: Also mittlerweile versuch ich einfach, dass ich sage, meinetwegen, wenn ihr des unbedingt loswerden müsst, erzählt's mir halt einfach, aber eigentlich interessiert's mich nich wirklich, weil ich glaub niemandem und (-) ihr könnt damit machen was ihr wollt, so und (-) ich
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen brauch mich da auch nich einmischen, also (-) ja aber, man kommt trotzdem immer wieder schnell rein, also wenn ich zu Hause bin und meine Mutter sagt, dein Vater hat des und des gemacht, dann (-) werd ich natürlich wütend auf mein Vater und im gleichen Moment denk ich, (-) des is ja jetz total bescheuert, ich hab mit ihm überhaupt kein Problem (Karina, S. 33).
Dieser Teufelskreis von Beziehungsmustern und der Manifestation ihrer Opferidentität lassen ebenso wie die fehlende Balance zwischen Autonomie und Verbindung die Gefahr steigen, dass Karina in ihren eigenen Beziehungen Muster von Dominanz und Unterordnung wiederholt und so in ihrem Erwachsenenleben erneut Opfer von Gewalt wird. Die Notwendigkeit, aus dieser familiären Dynamik und ihrer Rolle darin aussteigen zu müssen, um sich selbst weiterentwickeln und eine selbstbewusste Identität als junge Frau aufbauen zu können, beschreibt Karina in anderem Zusammenhang sehr treffend. Diese Schilderung ihrer Überlegungen in Bezug auf ihre Magersucht lässt sich jedoch auch auf die Herausforderung im Prozess der Ablösung und des Erwachsenwerdens für Karina übertragen: Und dann hab ich irgendwann gemerkt, ich kann mich nur entscheiden, entweder will ich jetz gesund werden (-) äh dann muss ich da irgendwie raus aus dem Kreislauf oder ich bleib jetz krank, weil ich mich da immer drum kümmer und (-) was weiÿ ich was versuche (-) was ja irgendwo auch umsonst is (Karina, S. 20).
8.4 Cemil:
also es gibt immer zwei Seiten
8.4.1 Cemils Selbstnarration Cemils narrative Darstellung seiner Geschichte und damit auch seiner Identität erinnert deutlich an eine Helden- bzw. Erfolgsgeschichte (vgl. Gergen, 2002). Er erzählt sich selbst als erfolgreichen und sozial anerkannten jungen Mann, der trotz starker Belastungen in der Vergangenheit sein Leben meistert, bereits viel erreicht und noch viel vor hat. Während Cemil sein Leben vor dem Hintergrund der miterlebten Gewalt bis zur Trennung der Eltern als schicksalhaft und unbeeinussbar beschreibt, erzählt er sich heute als aktiven Protagonisten seines Lebens: Ich danke Gott dafür, dass er es so weit gebracht hat. Dass ich jetz hier (..) lebe, dass ich alles in in den Gri bekomm hab und so (Cemil, S. 31).
8.4 Cemil Identität in Ambivalenz
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Insbesondere in der Teilidentität Schule bzw. Beruf erzählt sich Cemil als besonders handlungsfähig und erfolgreich. Aber auch in Bezug auf Beziehungen, Freundschaften und sein Selbstbild als Mann, sieht er vielfältige positive Eigenschaften und Lernerfolge. Er beschreibt sich als in Nachbarschaft und Freundeskreis gut integriert und im Fuÿballverein erfolgreich. Dabei erzählt er nicht nur von seiner Leidenschaft für Fuÿball, sondern auch von sozialen Lernprozessen, auf die er sehr stolz ist: Also früher hab ich auch auf dem Platz (-) hab meine Gegenmitspieler angeschrien und so. Hab in den Boden gestampft mit dem Fuÿ und so. (. . . ) Und ich bin halt jetz so geworden, (-) dass ich wirklich nur (-) dann meine Mitspieler, ich war ja sogar Kapitän (-), (. . . ) dass ich schon dafür sorge, dass ich sie sogar aufmunter, auf geht's Jungs, es geht schon noch und so (Cemil, S. 48).
Auch erscheint es ihm sehr wichtig zu sein, in seiner Selbsterzählung ein Bild von sich zu vermitteln, das den gesellschaftlichen Vorstellungen eines guten Mannes entspricht. Für Cemil bedeutet dies auch vor dem Hintergrund der miterlebten häuslichen Gewalt sich von einem auf Macht und Dominanz gestützten Männerbild abzugrenzen und sich als Mann darzustellen, der Eigenschaften besitzt, die Frauen, seiner Erfahrung nach, zu schätzen wissen. Trotz dieser deutlichen Darstellung seiner Lebensgeschichte als erfolgreich und kohärent, nden sich immer wieder auch Widersprüche, Spannungen oder Ambivalenzen in Cemils Aussagen. So wechselt er insbesondere in der Beschreibung der häuslichen Gewalterlebnisse ständig die Perspektiven, beschreibt die Vorfälle aus Sicht der Mutter oder des Vaters und zeigt für beide Seiten gleichermaÿen Verständnis. Diese Ambivalenz spiegelt sich direkt in seiner Beziehung zu beiden Eltern und wird besonders in der Beschreibung seiner Loyalitätskonikte während der Kindheit deutlich. Auch in seinen Erzählungen über sich selbst wechselt Cemil stark die Perspektiven. Er beschreibt sich nicht nur aus seiner Sicht, sondern berichtet häug von positivem Feedback, das er bekommen hat und das die soziale Anerkennung seines Verhaltens betont. Cemil bezieht die Darstellung seines Selbstbildes auf diese Weise stark aus der Perspektive Anderer und baut seinen Selbstwert auf der darin enthaltenen Anerkennung von Auÿen auf. Daraus resultiert für Cemil eine deutliche Spannung zwischen dem Wunsch, sich soziale Anerkennung durch die Erfüllung von Rollenerwartungen zu sichern und der realen Angst aufgrund seiner eigenen Bedürfnisse, Reaktionen und Eigenschaften scheitern zu können. Cemils Selbstnarration erzählt von seiner erfolgreichen Lebensgestaltung und vermittelt im ersten Eindruck ein starkes Gefühl von Handlungsfähig-
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen
keit. Durch die ständigen Wechsel der Perspektive zeigen sich inhaltlich ebenso wie auf Ebene der Erzählstruktur Ambivalenzen und Spannungen, von denen Cemils Identität stark geprägt ist. Im Bereich Schule beschreibt und erlebt Cemil sich deutlich handlungsfähig und kohärent, während er in Bezug auf Beziehungen und seine Identität als Mann sehr ambivalente Gefühle, Ängste und Wünsche äuÿert. Zwar ist er in seiner Selbstnarration sehr darauf bedacht, sich als guter Mann darzustellen, berichtet aber auch sehr oen von seinen Zweifeln, diesen Rollenerwartungen gerecht werden zu können und erlebt sich diesbezüglich weniger handlungsfähig. Zudem zeigen sich Ambivalenzen bezüglich seiner kulturellen Identität, in der er sich als junger Türke mit deutschen Geschlechtsrollenanforderungen ebenso wie einzelnen kulturellen Unterschieden auf Ebene der Werte und Normen konfrontiert sieht.
8.4.2 Teilidentität Schule und Beruf Schule ist für Cemil zunächst eine Möglichkeit, dem Chaos in der Familie zu entgehen und eine Zeit ohne Angst vor Gewalt verbringen zu können. Während seiner Zeit in der Grundschule, so berichtet er, geht er nur ungern von der Schule nach Hause und verbringt viel Zeit damit, in der Umgebung spazieren zu gehen: Da (-) hatt ich halt Angst, da hab ich manchmal nach der Schule gedacht, ich geh nich nach Hause und so. (..) Hab einfach meine Tasche genommen, bin wieder (. . . ) rumgelaufen (Cemil, S. 14).
Einen für sich bedeutsamen und damit identitätsrelevanten Sinn sieht Cemil im Besuch der Schule erst mit dem Wechsel auf die Hauptschule. Diesbezüglich schildert er ein Schlüsselerlebnis mit einem Freund, der ihm, anhand der Frage, wer bzw. was Cemil einmal werden möchte, aufzeigt, warum er die Schule für wichtig hält: ich bin bis zur vierten Klasse bin ich (--) haben wir gedacht, für was geh ich eigentlich in die Schule, was is'n des und so eigentlich (..) nich gelernt und so. Dann hat er mir mal (-) in der fünften Klasse so'n Gehirnwäsche gegebn, sozusagn (-) also we was weiÿt du für was wir in die Schule gehen und so. (..) Er hat's mir halt an Beispielen gezeigt, schau mal, (-) willst du so enden wie die Penner und willst du auf der Straÿe leben und so. (..) Und wenn du nich so e enden willst, dann musst du für die Schule lernen (-) dann musst du auf ne höhere Schule gehn, weil (-) die Hauptschule er hat halt gezeigt des Gymnasium is so, Realschule so (--) und des was wir hier machen,
8.4 Cemil Identität in Ambivalenz
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is nur die Hauptschule und so [deutet mit Gesten die Rangfolge der Schulen an]. Und man hat sich halt immer gedacht so wie beim Fuÿball auf den ersten Platz ganz hoch zu komm (Cemil, S. 23f ).
Ab diesem Moment, so schildert Cemil, ist für ihn die Bedeutung der Schule für sein eigenes Leben verständlich und er beginnt sich für seine schulischen Leistungen zu interessieren und einzusetzen. Cemil berichtet von seinem Plan auf die Realschule zu wechseln, den er trotz einiger Schwierigkeiten aus eigener Kraft in die Tat umsetzen kann. Heute besucht Cemil eine weiterführende Schule und hat realistische Ziele für seine beruiche Zukunft. Diese Erfahrungen im Schulsystem dürften für Cemil eine wichtige Erfahrung von Handlungsfähigkeit und damit eine bedeutende Quelle seines Selbst- und Kohärenzgefühls darstellen. Cemil kann bezüglich seiner schulischen Laufbahn deutliche Erfahrungen von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit machen, d.h. Erfahrungen, die sein Kohärenzgefühl stärken. Bedeutsamkeit erhält die Schule, indem Cemil in ihr einen Sinn für sein eigenes Leben entdecken kann und die nötigen Anstrengungen in Anbetracht der beruichen Perspektiven die die weiterführenden Schulen erönen, sinnvoll erscheinen. Das Schulsystem erweist sich für ihn als verstehbar und zuverlässig und er kann die Erfahrung machen, dass schulischer Erfolg in seiner Hand liegt. Das Identitätsprojekt Realschule kann von ihm in die Realität umgesetzt werden. Eine besondere Bedeutung erhält sein schulischer Erfolg auch vor dem Hintergrund der miterlebten häuslichen Gewalt. Cemil beschreibt den hohen Stellenwert guter Schulleistungen für sein Selbstwertgefühl und den Zusammenhang mit den Problemen in der Familie in Form eines Feedbacks seiner Lehrer: Und im Rahmen dass du so viele Probleme hast zuhause, weil die wussten des, ham halt von meim Vater gehört, vor allem die Lehrer in der Hauptschule. Du hast sehr viel Potential und wir beneiden dich wirklich, dass du im Gegensatz zu anderen Schülern obwohl du so viele Probleme hast, so eine Leistung bringst und so (Cemil, S. 50).
Für Cemil hat seine Leistung besonders in Anbetracht der familiären Situation ihren besonderen Wert. Dies lässt seine familiäre Situation nicht nur als Belastung sondern auch als Merkmal der Besonderheit erscheinen, was der Belastung eine Art retrospektiven Sinn verleiht. Diese Verknüpfung seiner schulischen Leistung mit den familiären Problemen und Gewalterfahrungen stärkt Cemils Selbstwertgefühl und vermehrt noch einmal die soziale Anerkennung, mit der gute Schulleistungen in unserer Gesellschaft einhergehen.
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Cemil berichtet hier von seinem Erfolg aus der Perspektive der Lehrer, indem er von Feedback bzw. sozialer Anerkennung berichtet, die seine Identität als besonders erfolgreicher Schüler stützt. In Cemils Teilidentität als Schüler ist ein starkes Selbst- und Kohärenzgefühl und damit eine groÿe Handlungsfähgikeit zu spüren, die es ihm wiederum möglich macht, realistische beruiche Identitätsprojekte zu entwerfen und in die Realität umzusetzen.
8.4.3 Kulturelle Identität Kulturelle Vielfalt geht immer auch mit Ambivalenzerfahrungen einher. Diese Ambivalenz kann nicht prinzipiell aufgehoben und integriert werden, sie kann nur ausgehalten werden (Keupp et al., 2002, S. 177).
Wie Keupp et al. (2002) beschreiben ist auch für Cemil das Leben zwischen der deutschen und türkischen Kultur mit Ambivalenzen und Spannungen verbunden. Cemil beschreibt seine Verwandtschaft in der Türkei als sehr harmonisch und von einem starken Zusammenhalt geprägt. Das Erleben seiner Kernfamilie steht dazu im absoluten Gegensatz. Die ohnehin ambivalenten Gefühle Cemils bezüglich einer Trennung der Eltern (einerseits der Wunsch nach Trennung und Beendigung der Gewalt, andererseits die Angst vor dem Verlust eines Elternteils), nden vor seinem kulturellen Hintergrund Verstärkung. Cemil schildert den Druck, der durch die Familie in der Türkei entsteht, retrospektiv als seinen heute gewonnenen Kampf um Verständnis für die Trennung der Eltern: Und schau, deine Eltern und so, (-) die sind (-) also dein Opa und so die hatten so super Verhältnis und wir, schau, wie wir uns fast die Köpfe einreissn und so. Nur nur wegen dein Vater, wegen deiner Mutter. Ich so, ich war (-) ich hab selber gesagt, ich bin selber sehr traurig darüber, (..) aber du weiÿt ja, wie's is und so. Ich, so, wir verstehn dich (Cemil, S. 31).
Cemil beschreibt hier das Unverständnis seiner Verwandtschaft für die Probleme seiner Eltern und den schwierigen Kampf um die Akzeptanz der Trennung und seine heutige positive Meinung darüber. Neben dieser kulturellen Verschärfung der Trennungsproblematik spielt auch das kulturell sehr verschiedene Bild von Ehe, Familie und Frauen eine groÿe Rolle. An zwei Stellen des Interviews wird deutlich, wie normal für Cemil die Unterordnung der Frau im türkischen Teil seiner Verwandtschaft ist und wie wichtig ihm im gleichzeitig ist, seine Kultur vor Vorwürfen bezüglich der Unterdrückung von Frauen zu schützen:
8.4 Cemil Identität in Ambivalenz
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Dann hat er halt bei denen [Verwandten in der Türkei, Anm. d. V.] angerufen (-) die ham halt gesagt, ja wir sch (--) wir schicken dir deine Frau wieder zurück und so (-) (Cemil, S. 8). [Der Vater, Anm. d. V.] hat mich halt nich in die Öentlichkeit so (-) gebracht, obwohl es eigentlich bei uns nich so is, üblich, dass (-) die Frau zuhause bleiben muss (Cemil, S. 6).
Im ersten Zitat berichtet Cemil über die erste Trennung und Rückkehr der Mutter in die Türkei. Bezüglich der Frage, ob sie nach Deutschland und damit in die Ehe zurückkehrt oder nicht, spielt der Wille seiner Mutter für ihn in seiner Erzählung ebenso wie für seinen Vater und seinen Onkel keine Rolle. Er berichtet wie selbstverständlich, dass sein Vater die Rückkehr seiner Frau nach Deutschland mit deren Brüdern bespricht. Im zweiten Zitat geht es um Vorwürfe seiner Mutter an seinen Vater, sie in Deutschland isoliert zu haben. Cemil äuÿert sofort, dass dies nicht kulturell bedingt sei, vermutlich da er bereits erlebt hat, wie schnell diese Verknüpfung entsteht und wie sie in unserer Gesellschaft bewertet wird. An diesen beiden Stellen wird deutlich, wie Cemil mit unterschiedlichen Normalitäten aufgewachsen ist und, gerade in Bezug auf Geschlechtsrollenvorstellungen, ein Spannungsfeld zwischen türkischen und deutschen Rollenerwartungen an Mann und Frau entsteht. Dies ist vor dem Hintergrund häuslicher Gewalt von besonderer Bedeutung, da es gerade hier um Macht und Dominanz in der Partnerschaft geht, die in der türkischen Kultur häug eine andere Bewertung erfährt als im deutschen Verständnis.
8.4.4 Cemils Identität als Mann Cemils Beschreibung von sich als Mann ist stark geprägt von seinem ambivalenten Erleben der Gewalt zwischen seinen Eltern und dem Wunsch, sozialen Rollenerwartungen der Gesellschaft, in der er lebt, gerecht zu werden. Wie schon in seiner Selbstnarration beschrieben, ist es ihm sehr wichtig, als guter Mann gesehen zu werden. Dies wird besonders deutlich, wenn er über sein Verhältnis zu Mädchen und jungen Frauen, aus deren Perspektive heraus, berichtet: Sie sagen s, du bist ganz anders als wie andere Jungs und so. (. . . ) du bist einfach viel zu guter Mensch und so. Du bist auch einer der's sich's wirklich ins Herz rein steckt und so deprimiert is darüber (Cemil, S. 46).
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An anderer Stelle vergleicht er sich in seiner Haltung Frauen gegenüber mit einem seiner Freunde: Also er würd's wirklich, er liebt seine Freunde, er is auch wirklich einer der (-) seine Freundin aufgeben würd für seine Freunde. Ich weiÿ nich, ich weiÿ wirklich nich, ob ich so (-) hart sein könnte zu ein Mädchen (Cemil, S. 53).
Cemil beschreibt hier emotionale Eigenschaften, die ihn als einfühlsamen, verletzlichen und weichen jungen Mann zeigen und die er als von Frauen sehr geschätzt erlebt. Neben dieser emotional einfühlsamen Art kennt Cemil von sich jedoch auch eine andere Seite, in der er sich stark mit seinem Vater und Onkel identiziert: Ja, also ich bin selber eigentlich auch schon Koleriker, also (..) ich kann halt (--) ich ärger mich schnell sehr schnell über etwas (-) (. . . ). Also ich hab (-) so die Gene von meim Vater und von meim Onkel, den ich halt sehr gern hab und so. Also sagen sie, du hast wirklich die Gene von denen geerbt und so. (--) Du ippst auch (--) bei den kleinsten Sachen (-) total schnell aus und so (Cemil, S. 54). So wie ihr mich kennt (-) so wie ihr wisst, in innerhalb von 5 Minuten kann ich alles fertig machen, alles kaputt machen und so. (..) Und (-) danach würd ich mir denken, was hab ich gemacht und so, aber (--) (Cemil, S. 35).
Im letzten Zitat beschreibt Cemil seine Aggression vor dem Hintergrund, seine Mutter mittels dieser schützen zu wollen. In diesem Zusammenhang präsentiert Cemil seine Wut und seine aggressiven Reaktionen nicht ohne Stolz und unter dem positiven Aspekt sich selbst und andere damit verteidigen zu können. Direkt nach seiner Vorstellung einer guten Beziehung zu einer Frau gefragt, äuÿert Cemil sofort, dass er diese Frage erwartet habe und bezieht sich in seiner Antwort weniger auf Wünsche oder Vorstellungen von Beziehung sondern geht ausschlieÿlich auf die Angst ein, selbst einmal gewalttätig zu werden. Diese Angst scheint er einerseits als gesellschaftliche Angst zu kennen, da die Frage nach eigener Gewalttätigkeit in Beziehungen für ihn eine vorhersehbare Frage ist. Andererseits wirkt er in den Schilderungen seiner Befürchtungen auch ehrlich und es scheint auch seine ganz eigene Angst zu sein, irgendwann einmal Gewalt einzusetzen: Des hab ich mir schon gedacht, dass die Frage kommen wird, aber (..) mein aller (-) ich werd (-) also ich hab's mir so vorgenomm, dass
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ich auf jeden Fall nie im Leben meine Freundin oder meiner (-) Frau gegenüber (-) Gewalt anwenden würde. (..) Und auch es (-) weil ich einfach es miterlebt hab, wie es is als Kind und so. Ich (-) also ich bin auf keinen Fall nich so äh nichts so haben, wie's meine Eltern gemacht haben und so. (..) Ich und (-) wovor ich halt sehr Angst hab, ich bin halt auch so'n Koleriker, ich kann auch sehr schnell (-) austicken. Vielleicht dass mir mal deswegen irgendwie was falsches passiern würde, aber (-) ich hab's mir so vorgenommen (Cemil, S. 45).
Cemil äuÿert hier deutlich seine Angst davor, selbst in Situationen zu geraten, in denen Gewalt für ihn die einzige zur Verfügung stehende Reaktionsmöglichkeit ist. Diese Angst wird verständlich, betrachtet man noch einmal Cemils extrem ambivalentes Erleben der Gewalt zwischen den Eltern. In seinen Erzählungen wechselt er ständig die Perspektive, identiziert sich mit der Mutter ebenso wie mit dem Vater und ndet für beide sowohl Verständnis als auch Vorwürfe und Schuld an der Gewalt. In seiner Identikation mit dem Vater und seiner Ablehnung der Sturheit seiner Mutter, kommt Cemil in seiner emotionalen Reaktion immer wieder an den Punkt, selbst aggressiv zu reagieren und Impulse von Gewalttätigkeit zu spüren: Hat halt mein Vater auch immer zum Wah Wahnsinn gebracht und so. (..) Aber (-) des was sie auch so gesagt hat, war eigentlich auch die Wahrheit, aber (--) der hat es, (-) sie hat es, also sie is halt jetz immer noch so. Also jetz halt bei mir, also (--) sie bringt mir auch schon immer manchmal zum Wahnsinn, also sie wiederholt sich die ganze Zeit und so (-). Man sagt es passt schon und so, fängt sie halt wieder mit dem Thema an und (-) (..) (--) und da hatt ich halt manchmal auch (-) Gefühl, hab mir gedacht, jetz h reicht's und so, jetz halt dein Maul, (..) lass ihn einfach in Ruh jetz, er is auch von der Arbeit gekomm. (..) Des (--) manchmal musst ich auch meim Vater schon rechtgeben. (. . . ) Aber nich (-) wegen der Gewalt, sondern (--) also ich hätte genauso, wer weiÿ also wenn ich (-) je hundert mal des Gleiche hö zu hörn, (--) immer des Gleiche hörn müsste, dann würd ich auch irgendwie vielleicht dann (3s) austicken (Cemil, S. 53f ).
Wie schon im Zitat zuvor durch die passive Formulierung der Gewalttätigkeit als etwas, was ihm passiern würde , wird auch hier deutlich, dass Cemil seinen Vater durch das Verhalten der Mutter provoziert und zur Gewalt getrieben erlebt. Er selbst kann sich vorstellen, in einer ähnlichen Situation ebenfalls so lange gereizt zu werden, bis Gewalt sein letzter Ausweg ist. Aus interaktionistischer Sicht betrachtet stellt meine Frage nach seinen Vorstellungen von Beziehung für Cemil vermutlich einen identitätsrelevanten Stressor wie Höfer (2000) es bezeichnet dar, da sie seine Identität
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des guten und einfühlsamen Mannes vor dem Hintergrund seiner aggressiven Seite in Frage stellt. Das Thema der Beziehungsvorstellungen schränkt Cemil sofort auf die Frage nach dem Umgang mit Aggression in Beziehungen ein und sieht sich einer Spannung zwischen seiner Teilidentität als (guter) Mann und seinem Umgang mit Impulsivität und Aggression ausgesetzt, deren Lösung er in der Auslagerung der Verantwortung für die Gewalt ins Auÿen ndet. Neben dieser bedenklichen Betrachtung von Gewalt als nicht vom Subjekt steuerbar, spiegelt sich in dieser Sequenz des Interviews ein Kernthema häuslicher Gewalt direkt wieder, nämlich die Koppelung von Weiblichkeit und Männlichkeit an Opfer- und Täterrollen: Die beiden Sprecher agieren hier nicht autonom, sondern auch vor dem Hintergrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Wir-Gruppe, also zu einer viel gröÿeren Interaktionsgemeinschaft. Kurz: Wir haben es in dieser Situation mit der Aktivierung kultureller Schemata zu tun, die sich unterhalb der Bewusstseinsschwelle abspielen (Jensen & Welzer, 2003, S. 7).
Meine Rolle als Interviewerin, Frau, Deutsche und Teil des Hilfesystems lässt Cemil als Mann, Türke und Betroener sofort in eine Art Rechtfertigungsdruck geraten, in der er versucht, mir glaubhaft zu vermitteln, dass er nicht zur Riege männlicher Täter gehört und es ihm absolut ernst ist, nicht gewalttätig werden zu wollen. Dabei lässt ihm jedoch seine Lösung der Ambivalenz durch Auslagerung der Verantwortung für Gewalt ins Auÿen die Möglichkeit, trotz eventueller Gewaltvorfälle seine Identität vom guten Mann aufrecht zu erhalten und stellt ein Rechtfertigungsmuster von Gewalt dar, das ihm eine weitere Identikation mit gewalttätigen Männern erlaubt, ohne deren Verhalten beurteilen zu müssen.
8.4.5 Ambivalenzen im Umgang mit Aggression Cemil beschreibt sich als jungen Mann, der Gewalt insgesamt prinzipiell ablehnt. Immer wieder betont er, seinen Vater zwar verstehen zu können, die Gewalt als solches jedoch als Problem zu sehen und abzulehnen. Auch in seiner ständigen Betonung seiner guten Vorsätze, in Beziehungen zu Frauen nie gewalttätig werden zu wollen, bezeichnet Cemil dies als etwas falsches . In seiner sofortigen Reaktion auf die Frage nach seinen Beziehungsvorstellungen, in der er seine Ablehnung von Gewalt erklärt, wird jedoch auch
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deutlich, dass Cemil die sozialen Werte und Normen und damit die Verurteilung von Gewalt ebenso kennt wie die Anforderungen an Männer in unserer Gesellschaft und bemüht ist, diese zu erfüllen. Eine ganz andere Einschätzung Cemils bezüglich Gewalt zeigt sich in einer Erzählung von seinem Groÿvater, den er sehr bewundert: mein Opa war 1984 Lehrer der Türkei, also bester Lehrer der Türkei (-) und (-) er war richtig streng, also vor allem meine Eltern is in der Türkei normal, dass du Schläge bekomm hast früher, also (-) und (-) die ham (-) Schläge bekomm, wie also s sin rot mit blauen Augen und so sin die wirklich in die Schule gegang. Aber sie sind wirklich aus in allem, auch andre Eltern ham zu meinem Opa gesagt, ja, (-) des (-) Hauptsache mein Sohn lernt, Hauptsache aus ihm wird was, du darfst ihn schlagen und so, mein Opa hat auch ganz auf normale Weise mit dem Stock also auf die Hände und so alles gehaun. (..) Aber die Schüler hatten sehr groÿen Respekt vor ihm und so. (..) Und (-) ham (-) die meisten von denen sin Rechtsanwalt und Lehrer, also alles sehr hohe Leute (Cemil, S. 30).
Für Cemil ist Gewalt auch mit durchaus positiven Attributen wie Respekt, Disziplin, Ansehen und guter Erziehung verbunden. Hier zeigt sich eine starke Ambivalenz in Cemils Bewertung von Gewalt. In Bezug auf Erziehung (vor dem kulturellen Hintergrund der Türkei ebenso wie der Vergangenheit) vermittelt sich Gewalt Cemil in Erzählungen seiner Familie als durchaus legitimes Mittel. In seinem Erleben häuslicher Gewalt, seinen Erfahrungen im Frauenhaus und der damit verbundenen gesellschaftlichen Bewertung von Gewalt im hier und jetzt, vermittelt sich Gewalt für Cemil als falsche und zu verachtende Verhaltensweise. Während Cemil seinen Groÿvater dafür bewundert, wie dieser sich auch mittels körperlicher Gewalt soziale Anerkennung sichern kann, ist sein eigener Weg soziale Anerkennung zu erreichen mit der Anpassung an gesellschaftliche Rollenerwartungen an ihn (als guten Mann) und damit auch der Verachtung von Gewalt verbunden.
8.4.6 Zusammenfassung: Identitätskonstruktion in Ambivalenzen Cemils Identitätskonstruktion ist stark geprägt durch vielfältig bedingte Ambivalenzen und Spannungen. Neben seinem Migrationshintergrund und der damit einhergehenden Herausforderung seine Identität zwischen zwei Kulturen zu konstruieren, erlebt Cemil sowohl die häusliche Gewalt als auch seine Beziehung zu seinen Eltern hoch ambivalent.
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen
In seiner Identitätskonstruktion manifestiert sich diese Ambivalenz insbesondere auf Ebene seines Selbstbildes als Mann. Während er in der Teilidentität Schule/Beruf Erfahrungen von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit machen konnte, die sein Kohärenzgefühl stärken und sein Selbstbild als erfolgreich untermauern, erscheint seine Identität als junger Mann unsicher und ambivalent. Einerseits erlebt und beschreibt er sich als einfühlsamer und guter Mann, der Beziehungsanforderungen von Frauen in unserer Gesellschaft gerecht werden möchte und kann. Andererseits kennt Cemil auch seine impulsive und aggressive Seite, in der er sich sehr mit seinem Vater und anderen männlichen Verwandten identiziert und die er sowohl als nur schwer kontrollierbar erlebt als auch mit durchaus positiven Aspekten wie beispielsweise der Möglichkeit, seine Mutter vor weiterer Gewalt zu schützen, verbindet. Cemil konnte sowohl im Fuÿballverein als auch in seiner Zeit im Frauenhaus deutlich erkennen, dass seine impulsive Seite mit wenig sozialer Anerkennung verknüpft und andere Rollenerwartungen an ihn als Mann gestellt werden. Während er im Fuÿballverein ein gutes Lernfeld für seinen Umgang mit Frustration nden und mit Anerkennung verknüpfte Verhaltensänderungen erreichen konnte, bleibt Cemil im Bereich der Beziehungsgestaltung unsicher. Er kennt die deutlichen Rollenerwartungen der Gesellschaft und möchte diesen gerne gerecht werden (um sich auf diesem Wege soziale Anerkennung zu sichern), sieht jedoch in seiner Impulsivität die Gefahr, an seine eigenen Grenzen zu stoÿen. Hier entsteht eine starke Ambivalenz zwischen der Anpassung an gesellschaftliche Rollenerwartungen, die soziale Anerkennung sichern, einerseits und dem Erleben seiner Impulsivität und Aggression, die ebenfalls seinen Wunsch nach Leistung, Erfolg und Anerkennung zu erfüllen helfen können, andererseits. In Cemils gesamter Selbstnarration wird deutlich, wie ehrlich er aktuell bemüht ist, den sozialen Anforderungen und Rollenerwartungen gerecht zu werden, um sich auf diesem Wege soziale Anerkennung zu sichern. Diese Anerkennung sucht er stark von Anderen, baut sein Selbstbild stark auf Erzählungen über Feedback Auÿenstehender auf und berichtet von wenig Selbstanerkennung seiner Leistungen. Stellenweise erinnert diese starke Orientierung an gesellschaftlichen Vorgaben an die von Camilleri (1990) beschriebene Strategie der maskierten Identität, die darauf aufbaut, das Subjekt hinter den Rollenerwartungen möglichst ganz verschwinden zu lassen (Straus & Höfer, 1997, S. 294). So betont Cemil im Interview durchaus glaubhaft seine Bemühungen, den sozialen Rollenerwartungen an ihn als Mann gerecht zu werden ebenso wie
8.4 Cemil Identität in Ambivalenz
259
seine prinzipielle Ablehnung von Gewalt. Dennoch erscheinen an einigen Stellen auch indirekte Äuÿerungen, die im Zusammenhang mit Cemils Schilderungen seiner Angst, gewalttätig werden zu können, die Gewalt zum einen positiv attribuieren und diese als durch das Subjekt wenig kontrollierbar darstellen. Die groÿe Gefahr dieser Ambivalenzen und Spannungen in der Konstruktion seiner Identität, liegt in der Verlagerung von Verantwortung für Gewalt ins Auÿen. Der Vater ist in eine Situation gebracht worden, in der er keine andere Möglichkeit als Gewalt mehr hatte und Cemil selbst befürchtet innerhalb von Beziehungen ebenfalls in ähnliche Situationen geraten zu können. Die Verantwortung für die Gewalt liegt dann in der Situation, nicht bei Cemil selbst, so dass sein Selbstbild vom guten und einfühlsamen Mann gleichzeitig bestehen bleiben kann. Die Ambivalenz ndet ihre Auösung, indem die Gewalt durch Situationen von auÿen verursacht wird und nicht der Kontrolle und Entscheidung des Individuums unterliegt. Diese Überzeugung, die bei Cemil in seinen passiven Formulierungen anklingt, birgt ein groÿes Gefahrenpotential, in Beziehungen selbst gewalttätig zu werden, da die Verantwortung für das eigene Handeln nicht vollständig übernommen wird und die Kontrolle über aggressive Impulse als auÿerhalb der eigenen Handlungsfähigkeit erlebt wird. Beginnt Cemil dieses Rechtfertigungsmuster von Gewalt für eigene aggressive Ausbrüche innerhalb von Beziehungen zu nutzen und erlebt dabei parallel auch die an seinem Groÿvater so bewunderte Autorität und Anerkennung, die mittels Gewalt entsteht, ist die Wahrscheinlichkeit der Entstehung häuslicher Gewalt in der nächsten Generation sehr groÿ. Cemils oener Umgang mit seiner Angst und sein glaubhafter Vorsatz, die Gewalt in der Beziehung der Eltern selbst nicht zu wiederholen, machen einerseits Honung, andererseits wird gleichzeitig deutlich, wie unkontrollierbar Cemil Aggression erlebt und wie wenig er sich in der Lage sieht, Verantwortung für eine gewaltfreie Beziehungsgestaltung zu übernehmen: also ich hab's mir so vorgenomm, dass ich auf jeden Fall nie im Leben meine Freundin oder meiner (-) Frau gegenüber (-) Gewalt anwenden würde. (..) Und auch es (-) weil ich einfach es miterlebt hab, wie es is als Kind und so. Ich (-) also ich bin auf keinen Fall nich so äh nichts so haben, wie's meine Eltern gemacht haben und so. (..) Ich und (-) wovor ich halt sehr Angst hab, ich bin halt auch so'n Koleriker, ich kann auch sehr schnell (-) austicken. Vielleicht dass mir mal deswegen irgendwie was falsches passiern würde, aber (-) ich hab's mir so vorgenommen und (-) (..) ich hoe auch nur (Cemil, S. 45).
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen
8.5 Anja:
ich bin eigentlich so der absolute
Optimist in der Familie
8.5.1 Anjas Selbstnarration Anja erzählt sich selbst als starke und autonome junge Frau und beschreibt schon im ersten Satz die groÿe Bedeutung ihres früheren Hobbys, dem Kampfsport, für ihr Selbstbild: ich denk ich bin recht aufgeweckt, selbstbewusst eigentlich a genug (lacht) (-) um Kontra zu geben. Hmm (-) hab früher n Kampfsport gemacht (Anja, S. 1).
Zu ihrem Selbstbild zählen für Anja nicht nur ehrgeizige beruiche Pläne und ihre Darstellung als selbstbewusste und unabhängige Frau, sondern ebenso ihre Gewalterfahrungen in der Vergangenheit und ihre Rolle als Unterstützerin der Mutter. Anja betont immer wieder, nicht ohne Stolz, ihre tragende Rolle im Trennungsprozess der Eltern und macht deutlich, wie sie die häusliche Gewalt und andere familiäre Belastungen insbesondere in ihrer Persönlichkeit durchaus auch positiv geprägt haben bzw. wie sie selbst diese Erlebnisse positiv nutzen konnte: eigentlich was was'n Tiefschlag war (-) aber es hat mir trotzdem Kraft gegeben, also ich hab des irgendwie umwandeln können (Anja, S. 23).
Anja beschreibt sich selbst als Härtefall im Hilfesystem, da sie sich selbst als ned ganz so labil (Anja, S. 47) erlebt. Vielmehr erzählt sie sich als durch die erlebte Gewalt in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt und um wertvolle Erfahrungen reicher. Insbesondere ihren Umgang mit den familiären Problemen beschreibt sie als einen wichtigen Baustein ihrer Identität. So erzählt Anja gegenüber vielen Menschen oen von ihrer familiären Vergangenheit mit dem Ziel, anderen Menschen ein gutes Bild von sich zu vermitteln: Hmm ich glaub einfach auch um (-) den Menschen zu zeigen (-) wie se mit mir umgehen können, also dass ich (-) trotzdem dem Vorfall ned einfach irgendwie (-) jetz total in Depressionen gfallen bin und total verschlossen geworden bin und so, sondern dass mich des einfach (-) immer noch mehr aufbaut aufgebaut hat und dass ich einfach (-) ich weiÿ nich, noch oener geworden bin (Anja, S. 44).
Anja macht hier sehr deutlich, wie sich ihre Identität auf ihren Umgang mit der Vergangenheit stützt und wie sie ihre Stärke auch in den Erlebnissen häuslicher Gewalt begründet sieht. Dies bekommt noch einmal eine starke
8.5 Anja Identität und Polaritäten
261
Bedeutung für ihre Selbstnarration, da sie in der Erzählung ihrer Vergangenheit eine gute Möglichkeit sieht, ihre Stärke als junge Frau, die häusliche Gewalt erlebt und dennoch nicht völlig gebrochen ist, für ihr Gegenüber nachvollziehbar und eindrucksvoll darstellen zu können. Neben ihrem Ziel, sich als junge Frau zu erzählen, die zwar häusliche Gewalt miterlebt hat, aber dennoch eine starke und autonome Persönlichkeit entwickeln konnte, erscheint Anja im Interview auch bemüht, ihre klare Positionierung bezüglich der Bewertung ihrer Vergangenheit sichtbar zu machen und sowohl Verständnis als auch Zustimmung von mir als Interviewerin zu erhalten. Anjas Wunsch ist, so scheint es, ihre Sicht der Dinge zu vermitteln und mich als Interviewerin damit auf ihre Seite im nach wie vor bestehenden Familienkonikt zu bringen. Dies spiegelt sich in der Kommunikation mit Anja in unterschiedlichen Formulierungen, die von mir als Interviewerin Reaktionen oder Zustimmung hervorrufen. Folgende Sequenz zeigt besonders deutlich, wie Anja im Interview versucht, mir ihre Geschichte aus ihrem Blickwinkel zu vermitteln und Parteilichkeit meinerseits zu mobilisieren: und dann ham se ihm a Wohnung angeboten, also sag ma mal so, ein Zimmer für 600 Euro kalt. (-) So ungefähr, also ich weiÿ ned wie's war, aber ich sag jetz einfach mal damit (-) du a Vorstellung davon hast, also (..) und er er sagt halt ja super, die nehm ich so ungefähr (Anja, S. 19).
Hier wird deutlich, wie Anja im Interview bemüht ist, mich als Interviewerin in ihre Perspektive zu holen und mir die Welt und ihre Familie aus ihren Augen zu zeigen. Dies gelingt Anja im Verlauf des Interviews, insbesondere was das Bild ihres Vaters anbelangt, zunehmend, bis hin zu einer Übernahme ihrer Perspektive meinerseits, wie sie in Kap 6.4.2. bereits beschrieben wurde.
8.5.2 Autonomie und objektive Hindernisse Anja erzählt sich selbst als autonome und handlungsfähige junge Frau. Die groÿe Bedeutung dieser Unabhängigkeit wird in ihrer Erzählung darüber, was sie mit einem Lottogewinn machen würde, sehr deutlich. Ihre Vorstellung eine Computer-Firma nur für Frauen zu erönen, ist von vornherein auf eine Selbstständigkeit ausgelegt, die sie stark betont: Wär auch ne Möglichkeit, aber dann wie gesagt, lieber selbstständig weil ich dann sagen kann, okay so und so will ich's haben (Anja, S. 4).
Anja ergänzt diesen beruichen Wunschtraum durch ihre realen Identitätsprojekte im Bereich des Berufs, in denen sie jedoch auch an Grenzen stöÿt.
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen
Anja erzählt, wie sie aktiv nach einem Ausbildungsplatz oder Praktikum sucht, diese Anstrengungen jedoch aufgrund einer Grenze von auÿen scheitern, da es die Art Praktika, die sie sucht, nicht gibt: Und von daher hab ich dann nach Ausbildungsplätzen gesucht, bzw. einfach nach Praktika. (-) Aber die meisten Firmen ham da zurück geschrieben, ja sie bilden ned aus, sie san besetzt ähm (-) Praktikas a ned. (. . . ) Ich frag mich wo die ihre Leute herham, aber (-) machen se nich (Anja, S. 3).
Aufgrund dieser von auÿen gesetzten Grenze entscheidet sich Anja, sich zunächst um einen Studienplatz zu bemühen, der in eine ähnliche Richtung geht. Dabei erlebt sie sich als autonom und aktiv und sieht ihre Pläne keinesfalls als gescheitert an, da diese ja an objektiven Hindernissen scheitern, die sie selbst nicht beeinussen kann. Diese Strategie Entscheidungen zu begründen beschreiben Keupp et al. (2002) auch in ihrer Studie: Begründungsstrategie ist das objektive Hindernis. Es erspart einem viele Erklärungen. In Selbstnarrationen taugt es hervorragend, um sich als autonom handelndes Subjekt darzustellen, das dennoch Grenzen seiner Autonomie anerkennen muÿ (S. 212).
Auch in ihren Schilderungen der Gewalt in der Familie und ihren eigenen Reaktionen und Handlungsmöglichkeiten wird deutlich, wie wichtig es für Anja ist, sich stark, autonom und handlungsfähig zu erzählen, auch wenn in ihren Schilderungen der Gewalteskalationen zwischen ihren Eltern Hilosigkeit und Ohnmacht durchschimmern. Diese Hilosigkeit begründet sie in ihrer heutigen Erzählung ihrer Lebensgeschichte mit objektiven bzw. sozial akzeptierten Hindernissen, die ihren Ursprung im Auÿen haben. Anja berichtet in ihrer heutigen Erzählung nicht von ihrer Hilosigkeit und Ohnmacht als Kind bzw. Jugendliche, sondern begründet ihr Abwarten und ihre Handlungsunfähigkeit in Momenten der Gewalt mit der Erhöhung der Gefahr einer Verletzung durch ihren Vater und dem nicht ausreichenden Schutz durch Polizei und/oder Justiz im Falle einer Handlung ihrerseits. Ihre Ohnmacht und Hilosigkeit ist somit für sie kein Zeichen ihrer eigenen Überforderung oder Handlungsunfähigkeit, sondern bedingt durch äuÿere Grenzen und drohende negative Konsequenzen im Falle einer Handlung: Also ich bin eigentlich froh drum, dass ich's nich gmacht hab und (3s) jede Kleinigkeit hätte ein Fehler sein können (Anja, S. 42).
8.5 Anja Identität und Polaritäten
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Die Begründung in dieser Situation einer gewalttätigen Eskalation zwischen ihren Eltern nicht zu handeln ist für jeden sofort verständlich und macht ihr Abwarten zur objektiv besten Entscheidung in dieser Situation. Diese Erklärungen und Begründungen machen es Anja als junger Frau heute möglich, ihr Verhalten in der Vergangenheit zu begründen und als sinnvoll und zusammenhängend erzählen und erleben zu können, was für ihre Identitätskonstruktion von groÿer Bedeutung ist. Durch diese Begründungsstrategie gewinnt ihre Selbstnarration für sie retrospektiv deutlich an Kohärenz, im Sinne von Antonovsky, d.h. an Handhabbarkeit, Bedeutsamkeit und Verstehbarkeit. Durch die Deutung der Hilosigkeit als durch objektive Hindernisse im Auÿen geschaen, entsteht für Anja ein Gefühl von Verstehbarkeit, Bedeutsamkeit und Handhabbarkeit. Handlungsunfähigkeit liegt nicht in ihr als Person, sondern in äuÿeren Umständen begründet und hat damit keine Relevanz für ihre Identitätskonstruktion. Ihr Kohärenzgefühl, also ihr Gefühl das Leben meistern zu können, beschreibt Anja eindrucksvoll anhand einer Metapher aus der Bibel, die sie als eine ihrer Kraftquellen erzählt: Und da war halt im Matthäus-Evangelium drin (-) ähm (-) ein Spruch und der hat mich einfach fasziniert und des is (-) den hab ich dann auch immer im Geldbeutel rum getragen (-) äh irgendwie (3s) wie wär des (-) also irgendwie dass ma nicht unbedingt den breiten Weg gehn muss um ans Ziel zu gelangen sondern man kann auch den engen Weg gehen, den steinigen und man kommt halt dann auch am Ziel an und (-) ähm (-) ja. Halt vielleicht mit n paar Hürden. Und damals war's ja dann so, dass des mein absolut mein (-) Lebensmotto so sag ich jetzt mal entsprochen hat, weil ich einfach des Leben, oder ich tus auch heut so (-) äh noch so (-) seh ich einfach so, ähm es is halt einfach wie so a Hürdenlauf (--) und jedes Problem is eine Hürde (-) also jede Hürde stellt'n Problem dar, mal sind halt die Hürden höher und mal (-) sins halt ganz leicht, manchmal kommt man allein drüber, manchmal braucht ma halt a bissl Hilfe (-) ähm (-) manchmal braucht ma einfach a bissl länger weil ma zu klein is für die Hürde oder so (-) aber irgendwann kommt ma halt am Ziel an. Des is so (-) so seh ich des (Anja, S. 22).
Jede Hürde, so berichtet Anja, hat sie gestärkt und ihr das Gefühl vermittelt, ihr Leben meistern zu können.
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen
8.5.3 Die Frage der Überlegenheit Anja erzählt sich selbst als autonome junge Frau, indem sie nicht nur ihre eigene Handlungsfähigkeit betont, sondern auch auf ihre Überlegenheit hinweist sowie ihre starke Selbstanerkennung deutlich macht. Für Anja ist ihre Stärke insbesondere vor dem Hintergrund häuslicher Gewalt eine Leistung, für die sie sich selbst viel Anerkennung gibt, auch wenn diese von auÿen nur teilweise Bestätigung ndet. Keupp et al. (2002) beschreiben diesen Typus von Anerkennung folgendermaÿen: Das Subjekt entwirft ein eher auf Konkurrenz aufgebautes und auf dem Gefühl der Überlegenheit beruhendes Selbstverständnis. So wenig Fremdbewertung wichtig ist, so sehr braucht dieses Modell jedoch die Aufmerksamkeit der anderen (S. 257f ).
Anja bekommt in ihrer Rolle als selbstbewusste junge Frau ausreichend Aufmerksamkeit und entwickelt so ein stark auf Überlegenheitsgefühlen gestütztes Selbstbild. Diese Überlegenheit wird ganz besonders in ihrer Beziehung zu ihrem Vater, den sie verachtet, deutlich. Sie spiegelt sich jedoch auch in kurzen Interviewsequenzen, in denen sie ihre Beziehungen zu ihrer Mutter und ihrer Schwester beschreibt. In der Beschreibung ihres Vaters lässt Anja während des gesamten Interviews sowohl in der Art ihrer Formulierungen als auch in ihren inhaltlichen Äuÿerungen keinen Zweifel daran, wie sehr sie ihn verachtet und ablehnt: Also ich nehm den schwarzen jetz einfach für mein Vater, weil ich ihn (-) hass (Anja, S. 5). weil er einfach ned ganz sauber is, sag ma so (Anja, S. 10). Des is (--) war nie irgendwie a richtiger Vater für mich (Anja, S. 12).
Diese Verachtung hilft Anja, sich trotz ihrer Erlebnisse von Unberechenbarkeit und Ohnmacht gegenüber der Gewalt des Vaters zumindest menschlich überlegen zu fühlen. Sie selbst beschreibt dies auch im Zusammenhang mit ihrem Kampfsporttraining: Aber so körperlich wär ich ihm natürlich also schätz ich mal nich überlegen gewesen, obwohl kamma nich sagen. Aber (-) rein vom von der Statur und vom Körperbau wär ich ihm wahrscheinlich nich überlegen gewesen. (..) Aber was für mich gezählt hat, war halt des mentale also rein psychisch gesehen, hab ich mich überlegen und stärker gfühlt und (-) also ich hab auch im Training mit ähm neunzig Kilo, einsachtzig gekämpft und des war halt dann kein Problem (Anja, S. 35).
8.5 Anja Identität und Polaritäten
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Diese Überlegenheit, die Anja hier aus der Verachtung gegenüber ihrem Vater und dessen Verhalten zieht, spiegelt sich in geringer Intensität und für Anja sicher weniger bewusst in ihren Beziehungen zu ihrer Mutter und ihrer Schwester. So beschreibt Anja sich als starke Unterstützerin der Mutter, die deren Entscheidungen und Meinungen zu jeder Zeit verstehen und mittragen kann. In ihrem heutigen Umgang mit der Gewalt in der Vergangenheit zeigt sich jedoch ein groÿer Unterschied im Verhalten der beiden. Während Anja sehr oen von ihren Erlebnissen erzählt, ist es ihrer Mutter nach wie vor unangenehm, wenn Fremde von ihren Gewalterfahrungen wissen. Anja schildert diesen Unterschied im Interview, kann jedoch die Bedürfnisse der Mutter schwer als solche anerkennen und stehen lassen: meine Mutter möchte des nich, dass des irgendjemand weiÿ. (..) Was ich nich versteh, weil (-) dadurch eben (-) so Gerüchte hochkommen, dass sie quasi die Schuldige is. (-) Und ich hab da absolut kein Problem drüber zu reden (Anja, S. 27).
In ihren weiteren Erzählungen macht Anja deutlich, dass sie auch deshalb so oen über ihre Vergangenheit spricht, um eben diese Fragen der Schuld eindeutig ausräumen zu können. In dieser Oenheit sieht sie sich in einer aktiven Rolle als Beschützerin der Mutter, der sie sich in ihrem Umgang mit der Vergangenheit durchaus auch überlegen fühlt. Eine ähnliche Situation zeigt sich in Anjas Schilderung der Beziehung zu ihrer Schwester. Diese geht mit ihrem Vater völlig anders um, verurteilt diesen nicht so radikal wie Anja dies tut und hat den Wunsch nach Kontakt zum Vater. Anja kann dieses Bedürfnis aufgrund ihrer eigenen Enttäuschung vom Vater nicht nachvollziehen und fühlt sich auch hier in ihrer Erkenntnis der Schwester überlegen: Hängt halt einfach noch'n bisschen an ihm. (--) (..) Aber ich glaub des gibt sich die nächsten Jahre auch, weil einfach (--) zum Geburtstag kei Anruf oder so kommt, da schmeiÿt a halt dann a (-) billige Karte rein, also ich mein, des is des wo i mir denk, hallo, des is (-) dei Tochter und (-) sucht den Kontakt und dann wirfst du halt irgend so a grintige Karte rein, (-) die nach nix ausschaut (Anja, S. 11f ).
Anja sieht sich in ihrer Einschätzung und Verachtung des Vaters auf der richtigen Seite und geht davon aus, ihre Schwester werde diese Erfahrung früher oder später auch teilen, da sie die Realität darstellt. Hier wird deutlich, wie sehr Anjas Beziehungsgestaltung und ihre Identitätskonstruktion auf Bewertungen von gut und böse, richtig und falsch
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8 Ergebnisbaustein II Identitätskonstruktionen
und der damit verbundenen Überlegenheit auf der richtigen Seite aufbaut. Diese polarisierte Betrachtung ihrer Familie verhilft Anja zu einem Gefühl von Stärke und Überlegenheit, das ihr ein hohes Selbst- und Kohärenzgefühl zu entwickeln erlaubt. Durch diese Polarisierung entsteht für Anja ein Gefühl von Bedeutsamkeit, Verstehbarkeit und im Gefühl ihrer Überlegenheit auch Handhabbarkeit. Die Bedeutsamkeit der Gewalterlebnisse liegt in ihrer Entwicklung eigener Stärke. Durch die klare Verachtung und Bewertung ihres Vaters als verrückt, entsteht für Anja eine Verstehbarkeit der Gewalt. Ein Gefühl von Handhabbarkeit entsteht für Anja wie bereits beschrieben aus ihrer Entscheidungsbegründung durch objektive Hindernisse. Dieser Aufbau ihrer Identität auf dem Gefühl von Überlegenheit lässt Anja jedoch nicht nur Kohärenzgefühl entwickeln, sondern macht eine angemessene Balance von Autonomie und Verbindung in den Worten von Benjamin (1990) eine Balance von Selbstbehauptung und Anerkennung der anderen Person in Anjas Beziehungsgestaltung schwierig. Anja nimmt klar eine mit Dominanz verbundene Position innerhalb ihrer Familie und anderer Beziehungen ein.
8.5.4 Anjas Identität als Frau Anjas starkes Gefühl der Überlegenheit spiegelt sich auch in ihren Erzählungen erster Beziehungserfahrungen. Ähnlich wie bei fast allen anderen InterviewpartnerInnen überträgt auch Anja ihre frühen Beziehungserfahrungen und -muster in erste eigene Beziehungen. Die Wiederholung und Übertragung von Beziehungsmustern der Kindheit in eigene intime Beziehungen wird schon lange diskutiert und ist auch aus identitätstheoretischer Sicht bedeutsam: Die Verankerung dieser frühen Erfahrungen in der Emotionalität einer Person führt zu einer Übertragung und Wiederholung dieser Beziehungsmuster in intimen Beziehungen, wie es Willi im Konzept der Kollusion (1975) beschrieben hat. Identitätstheoretisch interessant sind diese Ansätze vor allem deshalb, weil sie darauf aufmerksam machen, daÿ die Identitätsentwicklung einer Person von Anfang an als interdependent und intersubjektiv verstanden werden muÿ (Keupp et al., 2002, S. 137f ).
Anja wiederholt in ersten eigenen Beziehungen das Muster ihrer Beziehung zu ihrer Mutter, in der sie die Rolle der starke Unterstützerin inne hat. Dieses Beziehungsmuster wird in einem kurzen Satz deutlich, den Anja fast
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beiläug äuÿert, als sie davon berichtet, dass sich die Gewalterlebnisse ihrer Kindheit für sie keinesfalls auf ihr Männerbild ausgewirkt haben: Deswegen sag ich auch ähm mein Männerbild hat sich nich verändert, also. (..) Ich hab Männern sehr gut geholfen, von daher (Anja, S. 51).
In diesem kurzen Satz zeigt sich, dass Anja ihre Rolle innerhalb von Beziehungen ebenso wie ihrer Mutter gegenüber als starke Helferin deniert und daraus Bestätigung und Selbstwertgefühl zieht. Direkt nach ihren Vorstellungen von guter Beziehung gefragt, äuÿert Anja den Wunsch nach einer gleichberechtigten Partnerschaft, in der alle Aufgaben verteilt werden und auf keinen Fall Gewalt einen Platz hat. Trotz ihrer eigentlich prinzipiellen Ablehnung von Gewalt und ihren klaren Zukunftsvorstellungen keine Gewalt in der eigenen Partnerschaft oder Familie erleben zu wollen, räumt Anja ein, dass Kindererziehung für sie nicht auf die berühmte Ohrfeige verzichten kann. Diese Ambivalenz bezüglich ihrer Bewertung von Gewalt löst Anja, indem sie eine genaue Denition von Gewalt gibt, die eine Ohrfeige innerhalb der Erziehung nicht einschlieÿt: ich mein, wenns zviel is, dann gibts natürlich schon an Klaps auf 'n Hintern, aber des is für mich kei Gewalt, des is (--) Gewalt is für mich halt dann wenn (-) irgendwie a böse Absicht, nja, klingt dumm, ja (--) wenn man sieht dass Aggression dahinter is, also dass es (--) da sich einfach selber auch zu zügeln, nd ich. (..) Also (-) ned sofort austicken sondern halt einfach (--) durchschnaufen, bis zehn zählen und dann vielleicht nochmal drüber nachdenken. (..) Ja. Also (-) ich mein ich glaub keiner sagt was gegen an Klaps auf 'n Hintern oder so (lacht) von daher (Anja, S. 40).
Gewalt ist also für Anja immer auch mit Aggression und Kontrollverlust verbunden. Diese Gewaltdenition erlaubt Anja auch eine vehementere Selbstbehauptung, ohne diese als Gewalt zu denieren. Die Gefahr, selbst Opfer von Gewalt in einer Partnerschaft zu werden, sieht Anja für sich nicht, da dies ihrem Selbstbild völlig widerspricht. Anja sieht sich selbst als zu stark und vehement, als das ihr das passieren könnte: Ich glaub ich würd mich gar ned in die Situation bringen, weil ich einfach viel zu (-) vehement bin. (. . . ) Also (-) ich geb eigentlich schon ordentlich Gas, also von daher (..) glaub ich würd mir sowas nich passiern (Anja, S. 41).
Insgesamt fordert Anja von allen Männern mehr Anerkennung für die Leistung von Frauen in Haushalt und Familie und macht so ihr Frauenbild sehr
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deutlich. Für Anja sind Frauen das starke Geschlecht, ebenso wie sie selbst sich als stark, autonom und unabhängig erlebt und aus diesen für sie wertvollen Eigenschaften ihre Identität als Frau konstruiert.
8.5.5 Zusammenfassung: Identitätskonstruktion in Polaritäten Durch ihre stark polarisierende Betrachtungsweise der Welt, ihrer Familie und ihrer Geschichte ist es Anja möglich, sich selbst immer auf der richtigen Seite zu positionieren und daraus Stärke und Selbstwertgefühl zu schöpfen. Aufgrund dieser Polarisierung und ihrer Selbstpositionierung auf Seiten der Guten, entsteht in Anjas Identitätskonstruktion ein Gefühl von Überlegenheit, das auf einer starken Selbstanerkennung fuÿt. Überlegenheit und Polarisierung verhelfen Anja zu Erfahrungen, die ihr Selbst- und Kohärenzgefühl stärken. In ihrer polaren Betrachtungsweise der Vergangenheit entsteht für sie Bedeutsamkeit, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit, ebenso wie aus ihrem Gefühl von Überlegenheit ein Selbstbild einer starken und autonomen jungen Frau erwachsen kann. Anjas polarisierte Sicht der Welt führt jedoch auch dazu, dass bestimmte Attribute, wie beispielsweise Hilfe zu benötigen oder schwach zu sein, stark mit negativen Konnotationen verbunden sind. Was nach Höfer (2000) zu einem starken inneren Spannungsverhältnis führen kann, dessen Lösung nur möglich ist, indem Schwäche verboten ist (vgl. S. 207). So berichtet auch Anja, sich schwache Momente einfach nicht erlaubt zu haben und berichtet von ihrer Therapie als zwar hilfreich, aber eigentlich nicht notwendig. Um die für ihre Identitätskonstruktion notwendige Polarisierung und das Gefühl von Überlegenheit aufrecht erhalten zu können, lehnt Anja nicht nur Schwäche für sich kategorisch ab, sondern wiederholt in Beziehungen auch immer wieder ihr Muster von Dominanz und Überlegenheit. Eine Verunsicherung in ihren Bewertungen und ihrem Selbstbild, wehrt Anja mittels klarer Bewertungen als gut und böse, richtig und falsch völlig ab. Die psychische Voraussetzung für eine positive Verunsicherung ist das, was in meinem Fach Ambiguitätstoleranz` genannt wird. Sie meint die Fähigkeit, sich auf Menschen und Situationen oen einzulassen, sie zu erkunden, sie nicht nach einem Alles-oder-nichts`-Prinzip als nur gut oder nur böse zu beurteilen (Keupp, 1997, S. 21).
Ihre Mutter beschreibt Anja als nur gut, ihren Vater als nur böse und sich selbst als nur stark. Diese Konstruktion ihrer Identität erinnert stark an das Bild des rigiden Kohärenzgefühls, das Antonovsky (1997) beschreibt.
8.5 Anja Identität und Polaritäten
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Für ihn ist ein starkes Kohärenzgefühl geprägt durch eine Balance zwischen Regelhaftigkeit und Flexibilität. Rigidität entsteht durch das Festhalten an Regeln, wenn also kein Raum für Flexibilität bleibt (Singer & Brähler, 2007, S. 18).
Ein rigides Kohärenzgefühl kann auf den ersten Blick sehr stark wirken, ist aber auf den zweiten Blick durch fehlende Flexibilität und starres Festhalten an einmal aufgestellten Regeln oder Normen zu erkennen. Dieser Eindruck entsteht zum Teil im Interview mit Anja, die sehr rigide an ihrem Selbstbild als starke und hilfreich-unterstützende Frau haftet und wenig Flexibilität in der Betrachtung ihrer Familie aufweist. Während Anja selbst davon berichtet, im Frauenhaus auch Grautöne erlebt zu haben, bleibt sie doch in der Darstellung ihrer eigenen Familiengeschichte stark in Polaritäten verhaftet, die ihre aktuelle Identitätskonstruktion maÿgeblich prägen. Den Wert, die eigene Perspektive um Grautöne zu erweitern, formuliert Anja im Interview selbst sehr deutlich in Bezug auf ihre Erfahrungen im Frauenhaus: Hm, des hat mich halt einfach (-) des hat mich weitergebracht im Leben. Also (-) auch einfach alle (-) Dinge nich nur schwarz-weiÿ zu sehen sondern auch (-) dass halt grau dazwischen gibt (Anja, S. 13).
9 Wenn Kinder häusliche Gewalt erleben Zusammenfassung und Fazit Die Auswertung der vorliegenden qualitativen Interviews ziegt deutlich, wie sehr häusliche Gewalt das Leben und die Entwicklung der jungen Erwachsenen in ihrer Kindheit bestimmt und belastet hat. Die Auswirkungen häuslicher Gewalt, die damit verbundenen Beziehungsmuster, Geschlechtsrollenbilder und Attributionen von Gewalt manifestieren sich nicht nur in Verhaltensauälligkeiten, psychosomatischen Symptomen oder Bindungsstörungen, sondern ziehen sich durch die gesamte Konstruktion der eigenen Identität. Zusammenfassend wird in der retrospektiven Erzählung der Interviewten deutlich, wie existenziell bedrohlich diese die häusliche Gewalt in ihrer Kindheit erlebt haben. Versuche der Intervention sind zumeist zum Scheitern verurteilt, womit auch immer ein Gefühl von Hilosigkeit und Ohnmacht einhergeht. Coping-Strategien und Bewältigungsversuche sind vielfältig. Dabei ist festzustellen, wie bedeutsam alternative Räume und Beziehungen neben der Familie sind. Bestenfalls stellen diese Alternativen ein zweites Lernfeld dar, in dem die Kinder Erfahrungen von Verlässlichkeit, Partizipation und einer guten Balance zwischen Überlastung und Unterforderung machen können, die Grundlage der Entstehung von Kohärenzgefühl sind. In den Interviews zeigt sich, dass gerade Schule einen solchen Raum darstellen kann, der den Kindern die Möglichkeit wichtiger identitätsrelevanter Erfahrungen (von Verlässlichkeit, Partizipation und einer ausgewogenen Balance von Über- und Unterforderung) erönet. Für die Frage nach geeigneten Unterstützungsangeboten und Interventionsstrategien bedeutet dies, dass ein starkes Augenmerk auf den Sozialraum Schule gelegt werden muss. Präventionsveranstaltungen, Schulsozialarbeit, aber auch die Sensibilisierung der Lehrkräfte können Strategien sein, um insbesondere für Kinder mit familiären Belastungen und Gewalterfahrungen die Schule als Ort der Herstellung von Kohärenzgefühl, d.h. einem Gefühl von Verstehbarkeit, Bedeutsamkeit und Handhabbarkeit, zu fördern.
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9 Wenn Kinder häusliche Gewalt erleben Zusammenfassung und Fazit
Deutlich wird in den vorliegenden Interviews auch, dass sich die jungen Erwachsenen eine deutlich höhere Sensibilität von Erwachsenen in ihrem Umfeld gewünscht hätten. Neben den stark wirkenden Schweigegeboten berichten die Interviewten von ihren Wünschen, nach ihrer Situation gefragt und in ihrer Not gesehen zu werden. Besonders wichtig ist es, in diesem Zusammenhang keine Vergleiche oder Wertungen aufkommen zu lassen, hierarchische Betrachtungsweisen der Schädlichkeit verschiedener Gewaltformen zu vermeiden und die Kinder in ihrer jeweiligen Situation, mit ihren Bedürfnissen und Ressourcen ernst zu nehmen. Für die Praxis bedeutet dies, das Miterleben häuslicher Gewalt als Querschnittsthema in Konzepte der Prävention, Zielgruppenbeschreibungen von Beratungsstellen und alle Arbeitsfelder der Jugendhilfe aufzunehmen. Ebenso muss häusliche Gewalt in Fortbildungen für Fachkräfte und der öentlichen Diskussion von Kindeswohlgefährdung stärker thematisiert werden. Die weitere Sensibilisierung für die Belastungen, Bedürfnisse und Ressourcen von Kindern, die Gewalt in der Paarbeziehung der Eltern miterleben, ist unbedingt notwendig. Die Auswirkungen häuslicher Gewalt auf die Identitätsentwicklung, die im zweiten Teil dieser Arbeit aufgezeigt werden konnten, spiegeln die tiefe emotionale Verunsicherung wider, die in der Literatur häug für das Aufwachsen im Umfeld häuslicher Gewalt beschrieben wird (vgl. beispielsweise Kindler, 2002; Petri, 1995; Strasser, 2001). Auf der Basis dieser emotionalen Verunsicherung konstruieren die Interviewten ihre aktuelle Identität, die in der Folge häug brüchig, unsicher oder rigide zu sein scheint. In den fünf Einzelfällen dieser Studie zeigt sich diese emotionale Verunsicherung und die Belastung durch das Erleben häuslicher Gewalt in den Identitätskonstruktionen der jungen Erwachsenen in unterschiedlicher Weise. Während Cemil die Verunsicherung in Form starker Ambivalenzen spürt, erlebt Nina ihre Vergangenheit wie ein Puzzle, von dem sie nicht sicher ist, es je verstehen zu können. Im Interview mit Lisa spiegelt sich die Verunsicherung in fehlenden Erzählstrategien und einem Eindruck von Sprachlosigkeit wider. Anja löst die Unsicherheit ähnlich wie Karina durch eine klare Polarisierung in gut und böse auf. Beide erleben sich auf der Seite der Opfer, während Anja daraus jedoch Stärke im Kampf gegen die Täterseite entwickelt, sieht sich Karina beständig in der Rolle des unterlegenen Opfers. Auch die in den Interviews mit den jungen Erwachsenen deutlich spürbaren adoleszenten Ablöseprozesse scheinen durch das Erleben häuslicher Gewalt und die damit verbundenen Parentizierungen, Loyalitätskonikte oder auch Schuldfragen deutlich erschwert und belastet. Eine Auseinandersetzung
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mit der Vergangenheit, deren Bewertung und die Integration der erlebten Ohnmacht in die eigene Geschichte erscheint als eine besonders schwierige Aufgabe für alle jungen Erwachsenen dieser Untersuchung. Insbesondere die Klarheit darüber, wer die Verantwortung für die Gewalt und die Probleme in der Familie trägt, was die Aufgabe der Eltern ist und wo die eigene Rolle als Kind beginnt bzw. endet, verschwimmt vor dem Hintergrund häuslicher Gewalt. Deutlich wird neben problematischen Ablöseprozessen und einer starken Unsicherheit in den Identitätskonstruktionen auch die Gefahr der intergenerationalen Weitergabe von Gewalt. Die Übernahme von Opferrollen oder Rechtfertigungsmustern von Gewalt zeigt sich ebenso wie die Wiederholung frühkindlicher Beziehungsmuster in eigenen Beziehungen (Kollusion). Sowohl starke Identikation oder Distanzierung bezüglich eines Elternteils als auch die Versuche, Gewalt verstehen und erklären zu können, führen häug zur Übernahme der Opferrolle oder eines Rechtfertigungsmusters der Täterseite. In fast allen Identitätskonstruktionen waren Muster von Dominanz und Unterordung zu nden, die, wie Benjamin (1990) beschreibt, aus einer fehlenden Balance von Selbstbehauptung und Anerkennung der anderen Person als verschieden resultieren. Das Erreichen eines angemessenen Gleichgewichts von Autonomie und Verbindung scheint vor dem Hintergrund häuslichen Gewalterlebens in allen Interviews problematisch. Diese Ergebnisse zeigen die eindeutige Notwendigkeit therapeutischer und pädagogischer Unterstützung für Kinder, die häusliche Gewalt erleben. Klare Haltungen gegenüber der Bewertung von Gewalt, Verständnis für die ambivalenten Gefühle beiden Elternteilen gegenüber, Unterstützung in der Entwicklung von Ambiguitätstoleranz, Entlastung von Parentizierung und Schuldgefühlen sowie die Vermittlung gleichberechtigter Geschlechtsrollenbilder sind bedeutsame Grundlagen und Ziele für die Arbeit mit Kindern, die häusliche Gewalt miterlebt haben. Die besondere Relevanz dieser Punkte für die gesamte Identitätskonstruktion und den weiteren Lebensweg der Jugendlichen kann anhand dieser fünf Einzelfallgeschichten eindrucksvoll bestätigt werden. Die Interviews zeigen auch sehr anschaulich, wie individuell diese Identitätskonstruktionen aussehen können. Die vorgestellten fünf Interviews können sicher keineswegs die gesamte Bandbreite möglicher Muster und Strategien der Identitätsarbeit von Jugendlichen, die häusliche Gewalt miterlebt haben, abdecken. Aber sie geben als exemplarische Einzelfallvignetten einen guten Einblick in fünf verschiedene Arten der Identitätskonstruktion vor dem Hintergrund miterlebter häuslicher Gewalt.
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Es darf dabei nicht vergessen werden, dass eine polarisierte Betrachtungsweise der eigenen Familie oder die Auösung von Ambivalenzen durch die Verlagerung der Verantwortung für die Gewalt ins Auÿen auch wenn sie die Gefahr der intergenerationalen Weitergabe von Gewalt fördern und unter diesem Blickwinkel problematisch erscheinen auch Strategien und Bewältigungsversuche von Kindern darstellen, die sich einer überwältigenden und bedrohlichen Gewalt gegenüber sehen. Trotz der in einigen Interviews groÿen und berechtigten Sorge der Wiederholung gewaltförmiger Partnerschaften, ist doch auch in allen Interviews der Kampf der jungen Erwachsenen um die eigene Identität ebenso spürbar, wie der Wunsch nach Anerkennung und Unterstützung in der Konstruktion einer Identität auf dem Boden der emotionalen Unsicherheit, die häusliche Gewalterlebnisse vermitteln. Rückblickend auf die gesamte Forschungsarbeit zeigt sich, dass es sich im Sample dieser Arbeit vermutlich um ganz besondere junge Erwachsene handelt, die bereit waren, sich einem solchen Forschungsinterview zu stellen. Um von Gewalterfahrungen in der Kindheit berichten zu können, braucht es nicht nur wie in Kapitel 4 bereits ausführlich erläutert einer gewissen Distanzierungsfähigkeit, sondern auch einer groÿen Oenheit und Reexionsfähigkeit. Ist es aufgrund der Gewalterfahrungen nicht möglich, die eigene Geschichte in Worte zu fassen, oder ist die eigene Identitätskonstruktion kaum mit Erfahrungen von Anerkennung und Verständnis verbunden, so ist es nur verständlich, wenn Jugendliche sich einem solchen Interview nicht gewachsen fühlen. Der Problematik des Samplings kann hier also noch eine weitere Hypothese angefügt werden: Junge Erwachsene, die häusliche Gewalt erlebt haben, sind in ihrer Identitätskonstruktion stark verunsichert und scheuen vielleicht die Erzählung der eigenen Geschichte, da Worte fehlen oder die Angst besteht, im eigenen Erleben nicht anerkannt zu werden. Individuelle Unterstützungsangebote, die sich speziell an Kinder, die häusliche Gewalt miterlebt haben, richten, sind folglich ebenso von Bedeutung wie die Intensivierung der öentlichen Diskussion häuslicher Gewalt aus der Perspektive der Kinder. Im Bereich der individuellen Unterstützung zeigen die Ergebnisse dieser Studie, wie relevant Erfahrungen von Verlässlichkeit, Partizipation und einer ausgeglichenen Balance von Über- und Unterforderung und damit die Entwicklung des Kohärenzgefühls für die Identitätsarbeit sind. Das Gefühl von Kohärenz bzw. Identität wiederum zeigt sich als für die Prävention häuslicher Gewalt von besonderer Bedeutung, da Identität der Ort ist, an dem sich Opferrollen manifestieren und Rechtfertigungsmuster etabliert werden, die zur intergenerationalen Weitergabe von Gewalt führen. Die Anerkennung
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des individuellen Erlebens und der daraus resultierenden sehr unterschiedlichen Coping-Strategien ist ebenso wie die klare Adressierung der Kinder und Jugendlichen ein bedeutender Schlüssel, um den Zugang zu Hilfsangeboten zu erleichtern. Auf gesellschaftlicher Ebene ist es von absolut notwendig, die Sensibilisierung für häusliche Gewalt allgemein, aber auch speziell für die Perspektive der Kinder, weiter voranzutreiben. Dabei erscheint mir die Kooperation von Frauen- und Kinderschutzeinrichtungen ein wichtiger Bereich, in dem es nach wie vor gilt, Vorbehalte abzubauen, gemeinsame Ziele zu entwickeln und den Blickwinkel des jeweils anderen in die eigene Arbeit zu integrieren. Daneben stellen Fortbildungen für Lehrer, psychosoziale Fachkräfte und andere wichtige Bezugspersonen für Kinder wichtige Pfeiler im gesellschaftlichen Umgang mit häuslicher Gewalt dar. Ebenso ist eine Diskussion der rechtlichen Hintergründe, wie beispielsweise der familiengerichtlichen Regelungen von Sorgeund Umgangsrecht, in interdisziplinären Settings von groÿer Bedeutung. Alle diese Aspekte werden aktuell an vielen Stellen diskutiert und sollen hier nur kurz angerissen werden. Ziel dieser Arbeit ist es, die Perspektive der Kinder auf die Gewalt zwischen den Eltern darzustellen und so die Kinder und Jugendlichen für sich selbst sprechen zu lassen. Am Ende dieser Arbeit sollen daher noch einmal die prägnantesten Forderungen, Wünsche und Bedürfnisse der von mir interviewten jungen Erwachsenen im Sinne ihrer Expertenschaft für häusliche Gewalt stehen. Diese Aussagen geben wie auch die Ergebnisse dieser Arbeit einen Einblick in die Perspektive von fünf jungen Erwachsenen auf ihre Erlebnisse häuslicher Gewalt in unserer Gesellschaft und ihre Wünsche, Bedürfnisse und Forderungen ans Hilfesystem. Auch wenn diese Forderungen nicht ohne weiteres verallgemeinert werden können und auch keinen vollständigen Katalog bedeutsamer Aspekte darstellen, so sollen sie doch an dieser Stelle im Sinne anregender Einzelfallperspektiven die Diskussionen in der Praxis bereichern, neue Perspektiven erönen oder Bemühungen um angemessene Hilfen bestärken: Was ich mir halt einfach wünschen würde is, wenn in der Richtung die Gesetze einfach schärfer wärn. (. . . ) Weil (-) naja, dann darf er sich ned annähern, aber wer sagt dir, dass er ned hinter der Tür wartet, (. . . ) des is halt was, wo ich mir denk, mein Gott Leute (-) macht's was, weil so traun sich die Leut noch weniger wegzugehen (Anja, S. 48f ).
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Hm (--) also wo ich schon sehr erleichtert war, is eben als er dann (-) verhaftet wurde (..) wo wir's wirklich gewusst ham, weil dann (-) ja dann konnte man ja wieder raus ohne Angst zu haben (Lisa, S. 30). Und (-) ähm (-) ich denk, dass a Therapie auf jeden Fall sinnvoll is und des würd ich auch jedem raten (Anja, S. 47). Also ich würd vielleicht dafür sorgen, einfach mal mit dem Kind (-) des Vertraun von dem Kind zu gewinn, mit dem da drüber zu reden (. . . ) und den mal auf ganz andere Gedanken bringen. (. . . ) Und zeigen, dass man wirklich für ihn da is (Cemil, S. 51). Ich denk, es is auf jeden Fall wichtig zu wissen, man kann irgendwo hingehen, wenn (-) wenn was is (. . . ) Aber man muss nicht, also man darf nicht unter Zwang stehen, (-) hab ich so des Gefühl (Nina, S. 51). also ich hätte zum Beispiel als Kind überhaupt nich gewusst, an wen ich mich wenden sollte. (. . . ) Dass sie halt sagen, wenn ihr irgendwas habt, dann könnt ihr halt kommen (. . . ) und des nd ich is halt, grad in der Schule (. . . ) total wichtig, weil ich mein, da is man den gröÿten (-) Teil der Zeit (Karina, S. 42f ). Ja, ich denk (--) Kinder, die so was miterlebt haben, (-) geben sich immer ganz anders. (. . . ) ich denk, wenn sie den Verdacht haben, dass da Gewalt in der Familie is, wirklich mal nachhaken (Lisa, S. 46). wenn dann so was war [Prävention an der Schule, Anm. d. V.], dann war'n halt immer gleich Extrem-Beispiel oder so was. Wo ich mir dann gedacht hab, (. . . ) da brauch ich ja gar nichts mehr sagen, (. . . ) da kam ich mir dann halt immer total (-) nich erstgenommen vor (Karina, S. 45). ich nd'n bisschen, m es fehlt halt die Aufmerksamkeit dafür irgendwie. Weil es interessiert sich ja keiner, (. . . ) da sollte man schon mal nachfragen, (-) was los is (Karina, S. 42).
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A.1 Anschreiben zur Suche von InterviewpartnerInnen Sandra Dlugosch Dipl. Sozialpädagogin (FH) Gestalttherapeutin (i.A.)
Astallerstrasse 16 80339 München Tel.:
089/50222832 0177/8291803 e-mail:
[email protected] Liebe Leserin, lieber Leser, ich arbeite derzeit an meiner Dissertation an der Ludwig-Maximilans-Universität München zum Thema „Wenn Kinder zuschauen müssen… - häusliche Gewalt aus der Perspektive von Kindern“ und möchte dazu eine qualitative Forschung durchführen, d.h. mit Betroffenen, heute Erwachsenen, Interviews führen und so erfahren, wie sie Gewalt zwischen ihren Eltern miterlebt haben, was ihre Gedanken und Gefühle dazu waren und welche Bedeutung diese Erlebnisse in ihrem heutigen Leben haben.
Für dieses Vorhaben bin ich nun auf der Suche nach Interviewpartnerinnen und – partnern, die bereit sind, mir im Rahmen eines ca. 1-2 stündigen Interviews aus ihrer Kindheit und von ihrer Perspektive auf die Gewalt zwischen ihren Eltern oder auch anderen engen Bezugspersonen zu erzählen. Selbstverständlich werden die Interviews für die Auswertung und Veröffentlichung meiner Forschungsarbeit vollständig anonymisiert, so dass Sie nicht erkennbar sind. Auch ist es möglich, am Ende des Interviews Passagen streichen zu lassen, die zwar erzählt wurden, aber in meiner Arbeit nicht verwendet werden sollen. Ein solches Interview ist sehr offen, ähnlich einem Gespräch und orientiert sich sehr an Ihren Erzählungen, Erinnerungen und Ihrer Perspektive auf die Ereignisse und Ihre Geschichte. Ziel meiner Arbeit soll es sein, die Perspektive von Kindern, deren Strategien im Umgang mit der Gewalt zwischen ihren Eltern, aus der Sicht von Betroffenen besser verstehen zu können und sich im professionellen Helfersystem ein Bild davon zu machen, was für Kinder in Familien, in denen Gewalt jeglicher Art zwischen den Eltern oder anderen nahen Bezugspersonen herrscht, hilfreich und unterstützend wirkt. Wenn Sie sich von diesem Thema angesprochen fühlen und bereit sind, Ihre Erinnerungen dieser Forschung zur Verfügung zu stellen und aus ihrer Familie zu erzählen, würde ich mich sehr freuen, wenn Sie sich bei mir melden! Ich werde Sie sehr gern für ein kurzes telefonisches Vorgespräch zurückrufen, in dem wir noch offene Fragen und das weitere Vorgehen besprechen können, so dass Sie sich dann gut informiert entscheiden können, ob Sie teilnehmen möchten. Vielen Dank und mit freundlichen Grüssen
Sandra Dlugosch
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A.2 Anschreiben an psychosoziale Fachkräfte Sandra Dlugosch Dipl. Sozialpädagogin (FH) Gestalttherapeutin (i.A.)
Astallerstrasse 16 80339 München Tel.:
089/50222832 0177/8291803 e-mail:
[email protected] Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich arbeite derzeit an meiner Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit dem derzeitigen Arbeitstitel „Wenn Kinder zuschauen müssen… - häusliche Gewalt aus der Perspektive von Kindern“. Für dieses Forschungsvorhaben bin ich nun auf der Suche nach Interviewpartnerinnen und –partnern, die heute erwachsen sind und in ihrer Kindheit Gewalt jeglicher Art (– was unter Gewalt verstanden wird, möchte ich bewusst offenlassen, um die Definitionen der Betroffenen zu erfragen –) zwischen ihren Eltern oder anderen nahen Bezugspersonen auf irgendeine Weise (gesehen, gehört, Handlungen oder Auswirkungen etc.) miterlebt haben. Wenn möglich, möchte ich gerne die Gruppe der Betroffenen für meine Interviews herausfiltern, die selbst keine (oder nur in einzelnen Ausnahmesituationen) gegen sie gerichtete körperliche Gewalt erfahren haben. Es wäre mir eine große Hilfe, wenn Sie den mitgeschickten Flyer, der weitere Informationen zu mir und meinem Forschungsanliegen enthält, in Ihrer Praxis/Einrichtung auslegen bzw. weitergeben könnten. Sollten Sie in Ihrem Arbeitsfeld direkt Menschen betreuen, die solche Erfahrungen gemacht haben und von denen Sie glauben, sie wären bereit, im Rahmen eines 1-2 stündigen Forschungs-Interviews davon zu erzählen, wäre es schön, wenn Sie diesen den angehängten Brief und/oder Flyer geben könnten, der Informationen über meine Ziele und das Forschungsvorhaben sowie die Vorgehensweise enthält. Kurz zu mir: Ich bin Dipl. Sozialpädagogin, in Ausbildung zur Gestalttherapeutin und arbeite schwerpunktmäßig in der Kinder- und Jugendhilfe, immer wieder auch mit Kindern und Jugendlichen aus so genannten „Gewaltfamilien“. Dem Thema der häuslichen Gewalt bin ich immer wieder aus verschiedenen Perspektiven begegnet, so dass mein Interesse an dieser Forschung aus der Praxis heraus entstanden ist. Es wäre schön, wenn Sie mein Forschungsvorhaben durch das Weitergeben oder Auslegen meiner Flyer und Briefe unterstützen könnten. Sollten Sie noch Nachfragen haben, werde ich diese gern beantworten, oder bin gerne bereit, Ihnen mein Vorhaben noch einmal persönlich vorzustellen! Vielen Dank für Ihre Unterstützung! Mit freundlichen Grüssen Sandra Dlugosch
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A.3 Interviewleitfaden
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