Kluun
Mitten ins Gesicht Roman
Aus dem Niederländischen von Alary und Erik Alder-Sijnions
Scherz Verlag
Dieses Buch widme ich Junt und Naat
www. fischerve rlage.de 2. Auflage 2005 Erschienen im Scherz Verlag, einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel ›Komt een vrouw bij de dokter‹ im Verlag Podium, Amsterdam © Kluun/Uitgeverij Podium 2003 Für die deutsche Ausgabe: © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2005 In den Kapitelüberschriften wurden für die deutsche Ausgabe einige Lyrics durch deutschsprachige Songs ersetzt. Dabei lässt sich nicht verhehlen, dass Kluun bekennender Neue-Deutsche-Welle-Fan ist. Gesamtherstellung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany 2005 0H
ISBN-13: 978-3-502-10030-0 ISBN-10: 3-502-10030-6
Inhalt Teil I Stijn & Carmen
8
Teil II Stijn & Carmen und Stijn & Roos Teil III Carmen
290
Epilog 359
141
»Wrample« von written sample: ein Musik- oder Textfragment, das einem geschriebenen Text eingefügt wird. Vgl. »wramplen«, wrampling«, Variante des in der Musik (besonders Hiphop und house) bekannten sample, ein bereits von Dritten verwendetes Musikfragment, das für ein neues Musikstück benützt wird. »Monophobie« : die (psych.) krankhafte Angst vor dem Alleinsein, der Einsamkeit. In diesem Buch: die krankhafte Angst vor einem sexuell) monogamen Leben und als Folge davon ein zwanghaftes Bedürfnis nach Fremdgehen.
Yesterday / all my troubles seemed so far away The Beatles, aus Yesterday (Help, 1965)
Teil I Stijn & Carmen
What the hell am I doing / I don’t belong here Radiohead, aus Creep (Pablo Honey. 1992)
EINS Der Durchschnitt steigt beträchtlich, denke ich, als ich zum dritten Mal in wenigen Tagen durch die Drehtür des LucasKrankenhauses gehe. Dieses Mal müssen wir in den ersten Stock, Zimmer 105 heißt es auf Carmens Terminkarte. Der Korridor ist voller Leute. Gerade, als wir uns einnisten wollen, zeigt ein älterer Mann – überdeutlich mit einem Toupet ausstaffiert – mit dem Spazierstock zur Tür. »Sie müssen sich zuerst drinnen melden.« Wir nicken und gehen etwas beklommen ins Zimmer 105. Frau Dr. W. H. F. Scheltema, Internistin lese ich auf dem Schild neben der Tür. Der Raum drinnen ist das richtige Wartezimmer – der Gang ist für den Overflow bestimmt, sehe ich jetzt. Als wir hineinkommen, sinkt das Durchschnittsalter der Anwesenden um einige Jahrzehnte. Wir werden von den anderen Patienten intensiv, fast mitleidsvoll gemustert. Auch ein Krankenhaus hat seine eigene Rangordnung. Wir sind hier unverkennbar neu, wir sind die Touristen des Wartezimmers, wir gehören nicht dazu. Doch der Krebs in Carmens Brust sieht das ganz anders. Eine etwa sechzigjährige Frau in einem Krankenhausrollstuhl, in ihren knochigen Händen die gleiche in eine Plastikhülle gesteckte Terminkarte wie Carmen, mustert uns schamlos von Kopf bis Fuß. Als ich es bemerke, versuche ich eine überlegene Haltung anzunehmen – meine Frau und ich sind jung, schön und gesund, und das kann man von euch
nicht sagen, ihr alten Klappergestelle; denkt nur nicht, dass wir hier bleiben, wir sind gleich wieder weg von dieser Krebsscheiße –, aber es funktioniert nicht, und meine Körpersprache verrät meine Unsicherheit. Wie wenn ich in Breda ins De Bommel gebe und an den spöttischen Blicken bemerke, dass ich eindeutig zu amsterdamisch overdressed bin, und es an Ort und Stelle bedaure, dass ich an dem Tag mein rosa Hemd und die snake leather-Stiefel angezogen habe. Carmen fühlt sich auch nicht wohl hier. Dies ist die Realität: Von jetzt an gehören wir einfach dazu. Im Zimmer 105 befindet sich auch eine Anmeldung. Die Krankenschwester hinter dem Schalter scheint unsere Gedanken lesen zu können. Sie fragt schnell, ob wir nicht lieber im Zimmer nebenan warten wollen. Gerade rechtzeitig, denn Carmens Augen laufen wieder über, sehe ich aus dem Augenwinkel. Ich bin erleichtert, dass ich nicht zwischen diesen Leichenkandidaten oder auf dem Gang Platz nehmen muss. »Es muss ein furchtbarer Schlag gewesen sein, vorgestern«, sagt die Schwester, als sie mit Kaffee zurückkommt. Es ist mir sofort klar, dass der Fall Carmen van Diepen während der Stationsbesprechung durchgenommen wurde. Sie blickt zu Carmen. Danach zu mir. Ich lasse mir nichts anmerken. Eine Krankenschwester, die ich bis vor fünf Minuten noch nie gesehen habe, braucht nicht zu merken, wie ich mich selber bemitleide.
Männer die einer Vielzahl von Frauen nachjagen, können wir leicht in zwei Kategorien einteilen. Die einen suchen in allen Frauen ihre eigene subjektive Traumfrau. Die anderen werden vom Verlangen getrieben, sich der unendlichen Vielfalt der objektiven Welt der Frau zu bemächtigen. Milan Kundera, aus Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins ( 1984)
ZWEI Ich bin ein Hedonist mit einer ausgeprägten Monophobie. Das Hedonistische gefiel Carmen – es schuf sofort einen Draht zwischen uns. Über meine panische Angst, monogam zu leben, war sie weniger glücklich. Anfangs meinte sie noch, es wäre schon nicht so schlimm. Sie fand die Geschichten meiner Beziehungen, eine Aneinanderreihung von Fremdgehen, amüsant, und sah es eher als zusätzliches Kaufargument denn als Warnung. Bis sie ein gutes Jahr später – wir waren gerade zusammengezogen – herausfand, dass ich Sharon, die Empfangsfrau von BBDvW&R/Bernilvy, der Werbeagentur, wo ich damals arbeitete, gevögelt hatte. Da wurde ihr klar, dass ich nie treu sein oder es auch nur versuchen würde. Jahre später erzählte sie mir, dass sie nach dieser Geschichte mit Sharon im Begriff gewesen sei, mich zu verlassen, mich dazu aber zu sehr liebte. Stattdessen nahm sie sich vor, meine Fremdgeherei sei stillschweigend zu dulden und als schlechte Eigenschaft zu betrachten, die leider zu mir gehörte. Der eine bohrt in der Nase, der andere geht fremd. Ungefähr so. Auf diese Art schirmte sie sich emotional ab
gegen den Gedanken, dass ihr Mann »seinen Schwanz mit schöner Regelmäßigkeit in die Fotzen anderer Weiber steckt«. Mir gegenüber behauptete sie jedoch die ganze Zeit, sie würde abhauen, falls ich jemals noch so etwas wie mit Sharon anzettelte. So wollte sie erreichen, dass ich in Zukunft wenigstens versuchen würde, meine Eskapaden vor ihr zu verbergen. Dies ist ihr gelungen. Die nächsten sieben Jahre hielten wir uns für das glücklichste Paar der westlichen Halbkugel und Umgebung. Bis vor drei Wochen, als Carmen mich anrief, während ich zusammen mit Frenk versuchte, mich beim Geschwafel des Productmanagers von Holland Casino wach zu halten.
It’s the end of the world as we know it REM, aus It’s The End Of The World As We Know it (Document, 1987)
DREI In Kasinos gehen Chinesen, Angeber und Damen in Wehkamp-Kleidern. Ich hab dort noch nie eine einzige tolle Frau gesehen. Grauenhaft. Als der Productmanager von Holland Casino uns anrief und mitteilte, er wolle vielleicht Kunde von Creative & Strategie Marketing Agency Merk in Uitvoering werden, habe ich ihm versichert, ich sei auf Kasinos versessen. Holland Casino wird nach unserer Erwartung ein paar hundert Stunden pro Jahr bringen. Heute Nachmittag treffen wir uns im Kasino auf dem Max-Euweplein in AnisterWir, das sind Frenk und ich, und Stunden, davon leben wir bei Merk in Uitvoering. Leute, die ein richtiges Handwerk gelernt haben, stellen Sachen her. Es gibt auch solche, die Sachen verkaufen. Weniger ehrenvoll, aber bestimmt auch nützlich. Frenk und ich verkaufen keine Sachen, sondern Stunden. Und die fertigen wir nicht mal selber an. Das Gros der Denkarbeit wird von sechs jungen Leuten zwischen zwanzig und dreißig Jahren erledigt, alles Sturm-Drang-Typen, genauso wie Frenk und ich früher, als wir uns noch nicht selbständig gemacht hatten. Die Denkarbeit unserer gescheiten Zwanziger wird von Frenk und mir etwas geschliffen; wir übertragen sie in eine Präsentation, beauftragen unsere Sekretärin Maud – ein wirklich, hübsches Ding –, sie schön einzufassen, und dann überreichen wir unser Gedankengut mit viel Aplomb unseren Kunden. Diese reagieren durchweg begeistert, gratulieren uns ausgiebig und machen schließlich nichts damit. Und dann machen wir weiter mit der nächsten kostspieligen Präsentation. So funktioniert unser Business-Modell.
dam. Der Productmanager will, dass wir mal einen Blick in die Küche eines seiner Shops werfen. Ja, Shops, ich kann auch nichts dafür, dass unsere Kunden ihren Betrieb so benennen. die reden auch manchmal von »Füße auf den Tisch und dann schön brainen«. Frenk stellt die Fragen, von denen er weiß, dass sie gut ankommen bei der Kundschaft; der Productmanager versucht Weltmeister in Informationsoverkill zu werden, und ich tue, als höre ich zu. Letzteres habe ich zur Kunst hochstilisiert. Der Kunde glaubt, ich martere mir das Gehirn ab wegen sei-°es Marketingproblems. In Wirklichkeit denke ich an Sex oder Ajax Amsterdam. Manchmal habe ich keine Ahnung, was ein Kunde gerade gesagt hat, doch das schadet kaum. Ein Image der Zerstreutheit – in Kombination mit einem Stirnrunzeln und langer, mysteriöser Nachdenklichkeit – ist in meinem Fach ein Muss. Es hilft sogar, das Stundenhonorar hoch zu halten. Ich muss nur wach bleiben, dann schaffen wir alles bestens, sagt Frenk immer. Das Wachbleiben kostet mich heute Mühe. Ich habe schon zweimal auffällig gegähnt, zum großen Arger von Frenk. Gerade als meine Augenlider wieder zuzufallen drohen, klingelt mein Telefon. Erleichtert entschuldige ich mich und fische mein Handy aus der Tasche, CARMEN MOB. »Hei, Angebetete«, sage ich und drehe mich vom Tisch Weg, Meine Angebetete weint. »Carm, was ist los?«, frage ich erschrocken. Frenk dreht sich um und schaut mich mit besorgtem Blick an. Der Productmanager schnattert fröhlich weiter. Ich mache Frenk eine don’t worry-Gebärde und entferne mich vom Tisch. »Ich bin im Krankenhaus. Sie befürchten, dass es nicht gut aussieht«, sagt sie weinend.
Das Krankenhaus. Ich hatte vergessen, dass sie heute hingehen würde. Vor zwei Tagen, als sie mich fragte, ob ich wirklich nichts Ungewöhnliches an ihrer Brustwarze sähe, die sich so brandig anfühlte, habe ich sie zu überzeugen versucht, es käme davon, dass sie bald ihre Tage bekommt. Genauso wie vor einem halben Jahr, als es sich auch als falscher Alarm herausstellte. Ich riet ihr, zu Doktor Wolters zu gehen, wenn sie der Sache nicht traue, damit sie wieder beruhigt wäre. Ich vertrage keine schlechten Nachrichten und reagiere gewöhnlich darauf, indem ich mir selbst und den Leuten um mich herum weismache, es werde sich schon geben. Als schämte ich mich dafür, dass bestimmte Sachen unwiderlegbar, unentrinnbar, unvermeidlich Scheiße sind. (Das war früher schon so, als mein Vater fragte, wie NAC gespielt hatte, und ich sagen musste, dass es 0:1 für Volendam ausgegangen war. Das zugeben zu müssen war, als hätte ich selber ein Eigentor geschossen. Schlechte Nachrichten zu bekommen oder weiterzugeben, vermiest einem den Tag.) »Carm, erzähl jetzt mal ganz ruhig, was sie gesagt haben«, verlange ich am Telefon, das Wort »Arzt« in Frenks Gegenwart sorgfältig vermeidend. »Er weiß es selber auch nicht genau. Er meint, die Brustwarze sieht merkwürdig aus und er traut der Sache nicht.« »Hm ...«, sage ich, ein für mich ungeheuer pessimistisches Statement. Für Carmen ein Zeichen, richtig in Panik zu geraten. »Ich hab doch gesagt, meine Brust fühlt sich so warm an!«, schreit sie mit sich überschlagender Stimme. »Ich wusste, dass es nicht in Ordnung ist, verdammt nochmal!« »Ruhig, ruhig, Schatz, das wissen wir doch noch gar nicht«, versuche ich. »Soll ich kommen?« Sie überlegt kurz. »Nein. Du kannst hier ja doch nichts
ausrichten. Es müssen Blutproben genommen werden, und ich muss Urin dalassen, und dann sagen sie mir noch, wann ein Termin für eine Biopsie frei ist, wie damals, erinnerst du dich?« Sie klingt etwas ruhiger. Reden über Sachliches hilft. »Ich wäre aber froh, wenn du Luna aus der Krippe abholst. Ich gehe auch nicht mehr zu Brokers. Brokers heißt mit vollem Namen Advertising Brokers. Es ist Carmens Firma. Sie kam auf die Idee, als ich bei BBDvW&R/Bernilvy – das Real Madrid der Werbewelt, wie wir uns nannten – arbeitete. Carmen ärgerte sich maßlos über diese kleine Welt. »Aufgeblasene Egoisten, die sich selber wichtiger finden als ihre Kunden, ihre Kollegen und Gott«, sagte sie. »Bisschen den Künstler spielen, aber trotzdem smarte Autos fahren und Spitzengehälter verdienen wollen.« Der Gedanke, dort ein wenig zu intrigieren, gefiel ihr. Bei einem Empfang von Bernilvy fragte sie heimlich einen unserer Kunden (Central B. in A.), warum sie die Rechte an ihren Werbspots und Anzeigen nicht an Firmen in anderen Ländern, die ja keine Konkurrenten waren, verkauften. »Eine Art Ideenmarkt, wie man es auch mit Büchern, Filmen und Fernsehprogrammen macht«, sagte sie. Der Kunde fand die Idee brillant und kam damit am Tag darauf sofort zu Ramon, dem Direktor von Bernilvy. Um des lieben Friedens willen war er murrend einverstanden. Carmen durfte die Sache angehen. Innerhalb eines halben Jahres hatte sie die Rechte an den Spots an Firmen in Südafrika, Malaysia und Chile verkauft. Die Werbewelt schrie Zeter und Mordio. Man fand es ordinär. Kuhhandel. Carmen war es schnuppe. Sie hatte eine Goldmine angebohrt. Auf einmal wollte jeder Kunde von Advertising Brokers werden. Die Agenturen sahen den Vorteil. Durch Carmen verdienten sie plötzlich vier- oder fünfmal an ihrem Gedankengut. Und den Kunden, die schon jahrelang zähneknirschend die Tarife der Spitzenwerbejungs bezahlt hatten, Stundenhonorare, die sie bei YabYum nicht zu zahlen brauchten, brachten ihre teuer bezahlten Kampagnen unvermittelt Geld ein, weil Carmen diese als Schnäppchen an irgendeine Firma in Fernweggistan weiterverkaufte. Innerhalb von zwei Jahren hatte Carmen zwanzig Angestellte und Kunden auf der ganzen Welt. Sie genießt ihren selfmade Weltjob, fliegt manchmal – wenn sie Lust hat – zu einem ihrer Kunden irgendwo auf der Welt und amüsiert sich köstlich. »Ein richtiger Jux, was?«, sagt sie bei jedem neuen Kunden.
Ich hab keine Lust, mich dort noch zu zeigen mit diesem verweinten Gesicht. Ich hoffe, ich bin hier vor sechs Uhr weg. Was machen wir mit dem Abendessen?« Ich muss lachen. Wir machen nie Aufhebens um die Mahlzeiten. Wir sind ein Paar, das jeden Abend erneut erstaunt konstatiert, dass nichts im Kühlschrank ist, außer einem Abteil voller Olvarit-Gläschen für Luna. Unsere Freunde verspotten uns für die Summen, die wir jede Woche bei Domino’s Pizza, dem chinesischen Take-away und dein Kiosk der Tankstelle lassen. »Das Essen ist kein Problem. Schau jetzt, dass du so schnell wie möglich wegkommst, damit ich dich trösten kann. Und vielleicht ist alles am Ende halb so schlimm«, sage ich so unbeschwert wie möglich und lege auf. Aber mein Rücken ist schweißbedeckt. Etwas sagt mir, dass sich ein Unheil in unser Leben eingeschlichen hat. Ich starre vor mich hin. Es muss etwas Positives geben. Später alles ruhig der Reihe nach überlegen. Lichtblicke suchen. Etwas, womit ich Carmen, die da ganz allein in diesem Scheißkrankenhaus hockt, trösten kann. Dann seufze ich tief und gehe zurück zum Tisch mit Frenk und dem Productmanager. Der erzählt gerade von den Problemen von Holland Casino, aus den first time visitors Stammkunden zu machen.
Ihr habt tierisch glücklich gelebt, aber damit ist Schluss Jan Wolkers, aus Türkische Früchte (1973)
VIER Ich parke meinen Chevrolet Blazer gegenüber unserem Haus auf dem Amstelveenseweg am Rande des Amsterdamse Bos. Ich hasse den Amsterdamse Bos, ich hasse den Amstelveenseweg, und ich hasse unser Haus. Fünf Jahre lang wohnten wir im Zentrum, in der Vondelstraat im ersten Stock. Zwei Monate nach der Geburt von Luna wollte Carmen weg von dort. Sie hatte es satt, zuerst zwanzig Minuten auf Parkplatzsuche rumzukurven und dann unseren hyper-
Unser Haus ist Nr. 872. Es ist ein charakteristisches Vorkriegshäuschen, von den vorherigen Bewohnern tadellos renoviert. Die Vorderseite ist schwarz gestrichen, und das Spitzdach aus Holz ist grün mit weißen Rändern. »Pittoresk« nannte der Makler das Dach. Was soll das, pittoresk, dachte ich, ich bin hier verdammt nochmal nicht in Zaandam. Doch Carmens Druck umzuziehen wurde von Tag zu Tag stärker, und ich bin schon froh,dass es uns nicht nach ‘t Gooi oder Almere verschlagen hat. Jetzt wohnen wir gerade noch in Amsterdam, aber die gefühlte Temperatur ist komplett Amstelveen. Ich habe mich von Anfang an nicht zu Hause gefühlt. Sobald ich vom Olympiastadion kommend unter dem Viadukt der A 10 durchfahre, komme ich mir vor wie auf Safari. »Guck mal, ein Zebra«, sagte ich, als wir das erste Mal für eine Besichtigung dorthin fuhren. Carmen tat, als fände sie es gar nicht lustig. Es fährt keine Straßenbahn, aber ein Bus an unserem Haus vorbei. Das sagt schon alles. Aber nun, es ist ja höchstens für ein paar Jahre, bis Merk in Uitvoering und Advertising Brokers einen Haufen Geld abwerfen und wir uns eine Parterre-Wohnung im Zentrum von Amsterdam leisten können, also nehmen wir das Zebra in Kauf.
modernen, aber wahnsinnig schweren Dreiradkinderwagen die Treppe hochzuschleppen. Und nach dem Vorfall, als wir uns im Vondelpark mit Picknickkorb und Flaschen Rosé auf einer Decke eingerichtet hatten und entdeckten, dass Carmen – »Nein, du wolltest sie mitnehmen, Stijn« – die Windeln vergessen hatte, startete ich eine Intensivkampagne für Amstelveen. Ein Haus mit eigenem Garten. Schließlich wurde es ein Haus am Amstelveenseweg. Am schwarzen Beetle, der etwa fünfzig Meter entfernt geparkt ist, sehe ich, dass Carmen schon zu Hause ist. Ich hebe Luna aus dem Wagen, gehe zur Haustür, atme tief ein und stecke den Schlüssel ins Schloss. Ich bin nervös, was mir zum letzten Mal 1995 passiert ist, als Ajax das 1:0 gegen AC Milan über die letzten Minuten retten musste. * Einen Moment lang ist es ein Abend wie alle anderen. Sobald Luna Carmen sieht, feixt sie über das ganze Gesicht. Carmen stößt ihr übliches gedehntes »LUUUNAÄA!« aus, macht Grimassen, imitiert Lunas wackelnden Kleinkindgang, geht in die Hocke und umarmt sie. Luna antwortet mit einem fröhlichen »MAMAAAAA!«. Heute Abend bewegt mich diese Szene mehr als sonst. 0F
»Hallo, meine Liebe«, sage ich, als Carmen aufsteht, und ich küsse sie auf den Mund. Wir umarmen uns, und sie fängt sofort zu weinen an. Weg ist der normale Abend. Ich halte sie fest und schaue über ihre Schulter ins Leere. Ich sage, dass am Ende bestimmt alles nicht so schlimm ist, genau wie vor einem halben Jahr. Etwas Besseres habe ich seit heute Nachmittag nicht ersinnen können. Finale Champions League, 24. Mai 1995, Wien, Ernst-Happel-Stadion. 1:0 (Kluivert). Van der Sar, Reiziger, Blind, F. de Boer, Rijkaard, Seedorf (Kanu), Litmanen (Kluivert), Davids, Finidi, R. de Boer, Overmars. *
Luna ist mein Sonnenschein. Sie hat am gleichen Tag wie ich Geburtstag. Durch ihre Geburt war ich mit einem Schlag sicher, dass meine Freunde auch noch zu meinem Geburtstag kommen, wenn ich sechzig bin. Sie wollen die hübschen, straffen Freundinnen meiner Tochter, die dann paradieren wer den, sicher nicht verpassen. Sie kriecht ins Bett, und ich ziehe sie zu mir. Wir küssen uns. Ihre Bewegungen zeigen mir, dass sie erregt ist. Ohne etwas zu sagen, senke ich den Kopf. Als sie kommt, drückt sie ihre mittlerweile klatschnasse Vulva an mein Gesicht. »Fick mich, jetzt!«, flüstert sie. Wir ficken hard. Sie spürt, dass ich fast komme, und sagt mit fiebernden Augen: »Komm nur, spritz mich voll«, und mit einigen letzten harten Stößen, auf die Lippen beißend wegen Luna im Zimmer nebenan, komme ich. Nach meinem Orgasmus fängt sie sofort wieder zu weinen an. »Oh, Liebling«, flüstere ich. Ich küsse ihre Haare und bleibe minutenlang auf und in ihr liegen. »Nächste Woche feiern wir ganz normal euren Geburtstag«, sagt sie etwas später, als ich das Licht gelöscht habe. »Vielleicht ist es das letzte Mal, dass ich dabei bin.« Als Carmen sich im Schlafzimmer auszieht, gucke ich auf ihre Brüste. Als ich sie zum ersten Mal nackt sah, schaute ich mit offenem Mund auf ihren Körper. Ich stammelte, ich hätte noch nie jemanden mit einem solchen Körper im Bett gehabt. Sie lachte und sagte, dass sie früher am Abend in Rosas Cantina sehr wohl gesehen hätte, dass mein Blick sich immer wieder nach unten, zum Canyon in ihrem schwarzen, tief ausgeschnittenen T-Shirt verirrt hatte. Nach der Geburt von Luna hängen ihre Brüste ein wenig; ich finde sie deswegen aber nicht weniger schön. Immer noch kann Carmen mich schon durch Ablegen der Kleider und Freigabe ihrer fantastischen Titten erregen. Jeden Abend wieder ist es ein Fest für mich. Das Leben mit Carmen ist ohnehin ein Fest für Körper und Geist.
Das Dumme an Reue ist / dass sie zwar prompt / aber immer erst nachher kommt Extince, aus Auf dem Dancepoor (Inländischer Funk, 1998)
FÜNF Um halb vier schlafe ich immer noch nicht. Ich sträube mich jetzt schon, unseren Freunden und Verwandten bald wieder schlechte Nachrichten zu überbringen. Als hätten wir sie vor einem halben Jahr getäuscht, als wir ihnen mitteilten, es sei falscher Alarm. Jetzt müssen wir sie bis zur Biopsie wieder in Unsicherheit wiegen. Die Untersuchung ist für Freitag nächster Woche angesetzt. In zehn Tagen. Zehn fucking days auf eine Biopsie warten. Vorher wäre es wirklich nicht möglich, hat Dr. Wolters Carmen mitgeteilt, und diese zehn Tage würden jetzt auch nicht mehr viel ausmachen, versicherte er. Als ich mich am Abend darüber aufregte, ereiferte Carmen sich wieder über mich. »Was hätte ich verdammt denn sonst sagen sollen, Stijn? Dass wir die Biopsie selber machen?« Danach hielt ich lieber den Mund. Doktor Wolters. Es ist ein halbes Jahr her, und ich habe ihn damals vielleicht eine halbe Stunde gesehen, aber ich sehe sein Gesicht gleich wieder vor mir. Etwa fünfundfünfzig, distinguiertes graues Haar, Seitenscheitel, Brille mit runden Gläsern, weißer Kittel. Vor einem halben Jahr hat der Albtraum etwas weniger als eine Woche gedauert. Es fing mit Carmens Besuch bei unserem Hausarzt, Dr. Bakker, an. Dieser riet, zur Sicherheit die Brust kurz im Krankenhaus untersuchen zu lassen. Das erschreckte uns natürlich. Im Lucas-Krankenhaus landeten wir bei Dr. Wolters. Der
schaute sie sich an und meinte, Carmen sollte sich vernünftigerweise einer Biopsie unterziehen. Das erschreckte uns noch mehr. Nicht, dass wir gewusst hätten, was eine Biopsie ist, doch wenn sie in einem Krankenhaus etwas tun wollen, wovon man noch nie gehört hat, ist das von vorneherein eine miese Sache. Am Abend vor der Biopsie habe ich im Dämmerlicht unseres Schlafzimmers versucht, Carmen nicht merken zu lassen, dass ich heulte. An jenem Abend hatte ich in ihren Augen Todesangst gesehen. Das verstand ich sehr wohl. Denn an Krebs stirbt man. Heute Abend fielen mir plötzlich Wolters’ Worte von damals, einige Stunden nach der Biopsie, wieder ein. »Die Zellen sind unruhig, wir wissen nicht genau, was es ist, aber auf jeden Fall nicht bösartig.« Ich erinnere mich, kaum hatte er es ausgesprochen, und wir waren schon aufgestanden. Wie erleichtert wir waren, und wie schnell wir weg wollten, weg, weg aus diesem Krankenhaus, zurück zu unserem beschwingten Leben, in dem wir normal, wie geplant, noch lange und glücklich weitermachen würden. Mit der Zeit auf unserer Seite und Plänen für mindestens hunderttausend Jahre. * Draußen sind wir uns in die Arme gefallen. Als hätten wir gerade ein gesundes Kind bekommen, so froh waren wir. Ich habe jubelnd Carmens Mutter, Thomas und Anne, Frenk und Maud angerufen, um zu sagen, dass gar nichts ist. Carmen war gesund. Nicht bösartig. Hätten wir Wolters nicht scharf ins Gebet nehmen sollen wegen seines »Wir-wissen-nicht-genau-wases-ist«? Hätten wir nicht doch eine zweite Meinung in einem anderen Krankenhaus einholen sollen? Sind wir rück1F
Wrample aus Ein Tag so schön von Trockener Kecks (Anderer Ort, andere Zeit, 1992) *
blickend nicht selber schuld? Haben wir uns nicht einfach abspeisen lassen? Es ist verständlich, dass Carmen in ihrer Erleichterung einfach froh war, aber hätte ich nicht weiterfragen sollen, fordern sollen, dass er weitersucht, bis er verdammt nochmal gewusst hätte, was es denn genau war? Nicht Wolters, sondern ich bin hier der letzte Trottel. Ich bin ihr Ehemann, ich muss sie doch beschützen. Alles wäre vielleicht zu verhindern gewesen, rauscht es mir durch den Kopf. Das wird mir dieses Mal nicht passieren. Wenn er uns Freitag in einer Woche wieder versichert, alles sei in Ordnung, ziehe ich ihn am Kittel über seinen Schreibtisch. Das kann ich ihm versichern.
Ich möchte ein Eisbär sein / am kalten Polar / dann müsste ich nicht mehr schrei’n / alles war so klar / Eisbären müssen nie weinen Grauzone, aus Eisbär (Grauzone, 1981 )
SECHS Onkologie heißt die Abteilung im Lucas-Krankenhaus, wo die Biopsie durchgeführt wird, lese ich auf dem Schild über der Schwingtür. Ich kannte das Wort vage, wusste aber nicht, dass es mit Krebs zu tun hat. Es klingt so unschuldig. Eher wie eine Wissenschaft, die Untersuchungen durchführt, warum die Mammuts ausgestorben sind. Das Lucas-Krankenhaus. Es gibt Leute, die das Europarking das deprimierendste Gebäude Amsterdams finden. Andere wiederum De Nederlandsche Bank. Oder die Wohnblöcke in der Bijlmer-Siedlung. Ich lade sie ein, das Lucas mal zu besichtigen. Wenn ich es an der A 10 liegen sehe, bekomme ich schon Knoten. Luna schwenkt Elmo herum, den sie letzte Woche zum Geburtstag bekommen hat. Carmen sitzt auf der Bettkante. Sie ist gerade eben gewogen worden, und man hat ihr Blut abgenommen. Die schwarze Tasche, in der sie heute Morgen ihre Toilettenartikel, die Pantoffeln, ein seidenes, violettes Nachthemd – das ich gar nicht kenne – und eine Marie Claire verstaut hat, liegt auf dem Bett. Ich sitze neben ihr, noch mit dem Mantel an, und nehme die beiden Faltblätter, die wir gerade bekommen haben. Ein grünes, Leben mit Krebs, und ein blaues, Brustkrebs. Auf beiden gibt’s ein Logo, das ich von den
Sammelbüchsen kenne. Het Koningin Wilhelmina Fonds, glaube ich. Ich fange im blauen Faltblatt zu blättern an, wie man im Flugzeug die Liste der Duty-free-Artikel liest, um in Stimmung zu geraten. Für wen ist diese Broschüre bestimmt? heißt die Aufschrift. Ich lese, dass Carmen und ich zur Zielgruppe dieser Broschüre gehören. Ich gehöre nicht gern zu einer Zielgruppe und schon gar nicht zur Zielgruppe dieser Broschüre. Im Inhaltsverzeichnis sehe ich Kapitel mit Titeln wie Was ist Krebs? Brustprothesen und Schmerzbekämpfung. Warum lesen wir diese erbauliche Lektüre eigentlich? Es ist doch nur eine Biopsie? Können wir nicht erst mal so tun, als komme alles wieder in Ordnung, als sei die eingezogene Warze auf dieser roten Brust – die während der letzten Tage übrigens röter und größer geworden ist, sogar für mein ungeübtes Auge – vielleicht durch was weiß ich verursacht, Hormone oder so? Es ist inzwischen neun Uhr, und eine Krankenschwester kommt herein. Sie hat eine Akte mit Carmens Namen bei sich. »Du gehörst schon richtig dazu, Carm«, sage ich, auf die Akte zeigend. Carmen lacht. Ein wenig. »Die Biopsie steht für zwölf Uhr auf dem Plan«, sagt die Schwester. Die Schwester ist etwa fünfzig Jahre alt. Sie bemüht sich, dieses Routinegespräch so persönlich wie möglich zu führen. Sie legt Carmen sogar einmal die Hand aufs Knie. Carmen ist freundlich, so wie sie immer zu allen freundlich ist. Ich fühle mich unbehaglich und will eigentlich so schnell wie möglich mit Luna zur Kinderkrippe und dann zu Merk in Uitvoering. Keine Ahnung, was ich dort an einem solchen Tag tun soll; wenn ich bloß weg kann aus diesem Scheißkrankenhaus. Einen so normal wie möglichen Tag draus machen. Carmen bemerkt es. »Geh nur, ich werde es schon schaf-
fen. Und der Kaffee bei Merk in Uitvoering ist sicher besser als hier«, lacht sie. »Wenn Frau van Diepen aus der Narkose aufwacht, rufen wir Sie an«, sagt die Schwester. Luna und ich küssen Carmen und ich flüstere, dass ich sie Hebe. Beim Verlassen des Zimmers werfe ich ihr Kusshände zu. Luna macht winke, winke. Carmen bemüht sich zu lächeln.
I hide my tears behind a painted smile Isle Brothers, aus I Hide My Tears behind A Painted Smile (Soul on the Rocks, 1967)
SIEBEN Um zehn Uhr öffne ich die Tür unseres Büros. Es befindet sich im Olympiastadion. Vom Tag an, als wir den Schlüssel in Empfang nehmen konnten, fühle ich mich dort mehr zu Hause als daheim. Ein Teil meiner Jugend liegt im Stadion. Als Bursche von sechzehn aus Breda fand ich das krawallige Amsterdam der frühen Achtziger megageil. So oft wie möglich fuhr ich sonntags mit dem Zug nach Amsterdam und konnte dann am Montag in der Schule von den Ausschreitungen bei Ajax erzählen und von den Zerstörungen unterwegs in der Tram Nr. 9 nach De Meer oder in der 16 zum Stadion. Von denen ich selber weit entfernt blieb, weil ich damals, wie in den Jahren vorher im B-Block von NAC, in die Hosen gemacht hätte vor Angst; doch das brauchten sie in der Schule nicht zu wissen. »Hallo«, sage ich, als ich hereinkomme. Alle sind schon da. Ich gehe gleich zur Kaffeemaschine in der kleinen Küche, außer Sichtweite der andern. Der Rest unseres Büros im Stadion ist derart offen, dass mal ungesehen in der Nase zu bohren nicht drin ist. Die Kaffeemaschine ist ein Kauf von Frenk, der Kaffee ist also legitim. Nach einem Knopfdruck dauert es eine halbe Minute, und du hast deinen Kaffe. Heute kann es mir nicht lange genug dauern. Als die Tasse voll ist, bleibe ich noch eine Zeit lang stehen. Ich nehme all
meinen Mut zusammen und gehe an Mauds Schreibtisch vorbei. Ich vermeide es, sie anzusehen. Frenk liebt alles Schöne, und ich liebe Ajax. Deshalb ist unser Büro – schräg unter Feld TT, wo der F-Block immer stand, wenn Ajax im Olympiastadion spielte – ein Kompromiss geworden. Ich habe mir ausbedungen, dass über die ganze Breite der Seitenwand ein Foto von sieben auf anderthalb Meter hängt. Darauf sieht man die Spieler des letzten ChampionsLeague-Spiels das Feld betreten *, umringt von einem Meer von Fackeln und rotem Rauch. Das Büro von Merk in Uitvoering gleicht meinem Zimmer, als ich fünfzehn war, nur zehnmal größer. Und um einiges trendiger. Das ist Frenks Einfluss und der des Designers, einer englischen Tunte mit einer zu stylischen Brille. Der Designer fand meinen Fußball-Fetisch nicht zum Ganzen passend. Ich sagte, das sei Pech und er könne sich kreativ ausleben, aber Hände weg von dem Foto. Wenn es sich um Fußball handelt, habe ich meine Prinzipien. Er gab sich murrend einverstanden, wollte dann aber für den Rest des Büros Carte Blanche. »Von mir aus«, sagte ich. Das habe ich büßen müssen. Er hat sich ausgedacht, dass im offenen Raum unseres Büros drei Schirme aus farbigem Plexiglas, zwei Meter breit und anderthalb hoch, aufgestellt werden. Ein roter, ein gelber und ein blauer. Weiter beschloss er, hinter den Schränken rosarotes Neonlicht leuchten zu lassen, eine fünf Meter hohe Wand apfelgrün zu streichen und eine andere Wand mit violettem Filz zu bedecken. Alles in allem eine farbige Sache. Und budgetär völlig unverantwortlich. Frenk sagte, ich sollte jetzt nicht meckern, ich hätte doch meinen Willen bekommen mit dem Ajax-Foto. Nachträglich zeigt sich, dass der Homo und Frenk doch nicht so daneben lagen. In den wenigen Wochen, die wir hier sind, konnte Frenk mir schmunzelnd den Besuch von Het Parool melden, von drei internationalen Zeitungen, allen Marketing- und Werbefachblättern, einer Architekturzeitung, zwei Exkursionen von Designer-Teams (unter ihnen eine Gruppe aus Dänemark mit einer so heißen Frau dabei, dass ich mich entschlossen habe, von nun an nicht mehr über die Budgetüberschreitung zu nörgeln, passiert ist passiert) und von einem neuen Kunden. Es ist gar nicht so schwierig, eine eigene Marketing-Firma aufzumachen. 2F
Ajax – Panathinaikos, 3. April 1996,0:1. Van der Sar, F. de Boer, Blind, Reizigen Bogarde, R. de Böen Litmanen, Davids, Finidi, Kanu, Overmans. Auswärts gewann Ajax problemlos mit 0:3. *
Frenk schaut mich forschend an, als ich mich setze. »Na ja ... sie ist jetzt also im Krankenhaus«, versuche ich so lakonisch wie möglich zu sagen. Maud ist auch dazugekommen, und ich spüre die Blicke der andern in meinem Rücken. »Tja. Nun, wir werden sehen«, sage ich und starte meinen PC. Ich kann die Tränen kaum zurückhalten. Maud legt mir eine Hand auf die Schulter. Ich lege meine Hand kurz auf ihre und schaue aus dem Fenster. Wäre ich doch ein Kind. Dann könnte ich mir vormachen, alles Elend würde von alleine aufhören, indem man nicht darüber redet.
It ought to be easy ought to be simple enough / man meets a woman and they fall in love / but the house ist haunted and the ride is rough Bruce Springsteen, aus Tunnel of Love (Tunnel of Love, 1992)
ACHT Um fünf Uhr nachmittags ruft Carmen an. Ich sitze gerade im Auto, unterwegs zur Kinderkrippe. Ich brauche nicht zu fragen, wie es ihr geht. Ich höre es an ihrer Stimme. »Der Arzt war da ... Es steht schlecht um mich, Stijn.« »Ich bin schon unterwegs. Schnell Luna abholen, und dann komme ich.« Ich traue mich nicht weiterzufragen. Mit klopfendem Herzen gehe ich, Luna auf dem Arm, durch den Gang der Onkologie. Ich betrete das Zimmer, wo ich Carmen heute Morgen allein zurückgelassen habe. Sie ist wieder angezogen, sitzt auf dem Bett mit einem zerknüllten Taschentuch in der Hand und schaut zum Fenster hinaus. Ihre Augen sind rot und geschwollen. Neben ihr liegen noch zwei weitere Taschentücher im gleichen Zustand. Sie sieht uns hereinkommen und schlägt die Hände vors Gesicht. Eine Geste, wie ich sie von ihr kenne, wenn etwas Schreckliches geschehen ist. Ohne etwas zu sagen, gehe ich zu ihr und umarme sie. Sie drückt den Kopf an meine Schulter und fängt haltlos an zu weinen. Ich traue mich immer noch nicht, etwas zu fragen. Ich kann auch nichts fragen. Ich kann kein Wort hervorbringen. Seit wir ins Krankenzimmer eintraten, hat Luna noch keinen Mucks von sich gegeben. Carmen küsst Luna und bringt es sogar fertig, ein Lächeln hervorzupressen.
»Tag, mein Liebling«, sagt sie, während sie Luna über den Kopf streichelt. Ich räuspere mich. »Erzähl«, sage ich. »Es muss sein.« »Krebs. Eine ganz gefährliche Art. Diffus, nannten sie ihn. Kein Knoten, aber eine Entzündungsform, und es hat sich schon über die ganze Brust verbreitet.« Bumm. »Sind sie sicher?« Mehr fällt mir nicht ein. Sie nickt und schnauzt die Nase ins Taschentuch, das nun wirklich keine Feuchtigkeit mehr aufnehmen kann. »Es heißt mastitis carci-irgendwas ...« – ich nicke, als verstünde ich es. »Wenn du willst, kannst du noch rasch bei Dr. Wolters hineinschauen, hat er gesagt. Sein Zimmer ist ein paar Türen weiter.« Wolters. Nur schon der Name. Vergangene Woche haben wir ihn totgeschwiegen. Fragen von Thomas und Anne und von Carmens Mutter, ob nicht vor einem halben Jahr ein enormer Fehler gemacht wurde, haben wir schnell abgeblockt. Vielleicht war er damals schon da, und wäre es damals auch schon zu spät gewesen, geben wir als Antwort. Ende der Diskussion. Nur schon der Gedanke, Carmen könnte wegen einer Fehldiagnose sterben ... Wolters sitzt hinter dem Schreibtisch. Ich erkenne ihn sofort von damals vor einem halben Jahr. Er mich nicht. Ich klopfe an die offen stehende Tür. »Hallo ...?«, sagt er stirnrunzelnd. »Tag«, sage ich kurz. Er soll nicht vergessen, dass er an allem schuld ist. »Ich bin der Ehemann von Carmen van Diepen.« »Oh, Entschuldigung, guten Abend Herr van Diepen«, sagt Wolters; er erhebt sich rasch und schüttelt mir die Hand. »Setzen Sie sich.« »Ich bleibe lieber stehen. Meine Frau wartet auf mich.«
»Genau. Sie kommen wegen des Resultats der Biopsie, nehme ich an.« Nein, wegen des Resultats von NAC – AJAX, was denn sonst. »Ja.« »Tja, das war nicht ganz so positiv.« »Nein. Das habe ich schon verstanden«, sage ich mit einem Zynismus, den er wahrscheinlich gar nicht bemerkt. »Können Sie mir erklären, was genau los ist?« Wolters erklärt, wieso es dieses Mal sehr wohl bösartig ist. Ich höre nur halb hin und kapiere noch weniger. Ich frage, wie sicher er ist. »Ziemlich sicher ... Wir müssen es noch weiter untersuchen, aber es sieht nach mastitis carcinomatosa aus. Mehr können wir jetzt nicht tun.« Ich nicke. Wolters schüttelt mir die Hand. »Tja, ich würde sagen, viel Kraft für Sie beide, morgen können Sie zu Dr. Scheltema. Sie ist Internistin und kann Ihnen alles erzählen über das Prozedere, das jetzt kommt. Einverstanden?« Ich nicke wieder. Und ich ziehe ihn nicht über den Schreibtisch. Schlimmer noch: Ich sage nichts. Nichts. Ich bringe kein Wort mehr heraus. Wenn ein Kunde auch nur einen Finger auf meine Strategie legt, hacke ich ihn ihm fast ab, doch gegenüber diesem Rindvieh, das durch einen Fehler unser Leben versaut hat, benehme ich mich wie ein Spieler eines Limburger Klubs, der zum ersten Mal in seinem Leben auswärts in der Arena spielt. Als ich wieder ins Zimmer gehe, hat Carmen Luna auf dem Schoß und schaut über den fast leeren Parkplatz des Krankenhauses. »Darfst du mit, oder gibt es hier noch etwas zu erledigen?«, frage ich. »Ich glaube, ich bin so weit«, sagt Carmen. Sie schaut im
Zimmer herum, mit den Augen die schwarze Tasche suchend. Ich gehe schweigend zu ihrem Mantel, der über einem Tisch liegt, und helfe ihr hinein, was ich sonst nie mache. Es ist ein Versuch, mir selber das Gefühl zu geben, doch noch etwas Nützliches zu tun. »Nicht so weit nach hinten«, sagt Carmen, als ich den Mantel offen halte. »Ich kann die Arme nicht so gut nach hinten bewegen, wegen der Wunde an der Brust.« »Oh, entschuldige. Komm, Luna, wir gehen«, sage ich und hebe sie vom Bett. Sie ist immer noch auffallend ruhig. Carmen steckt noch schnell den Kopf durch die Tür des Schwesternzimmers und ruft: »Tschüs dann.« Die Krankenschwester, dieselbe wie heute Morgen, schiebt schnell den Teller beiseite, steht vom Stuhl auf, nimmt mit beiden Händen Carmens Hand und wünscht uns guten Mut. »Schaffen Sie es zusammen, heute Abend?« »Bestimmt«, sage ich überbetont und blicke sie beruhigt an. Zu dritt gehen wir zum Lift. Wir sagen nichts.
The times are tough, just getting tougher/ I’ve seen enough, don’t wanna see anymore / turn out the light and block the door / come on and cover me Bruce Springsteen, aus Cover me (Born m the USA. 1985)
NEUN Zu Hause rufe ich Frenk an und sage ihm, Carmen habe Brustkrebs. »Gottverdammt«, fasst Frenk die Situation in einem Wort markig zusammen. Carmen ruft Anne an. Sie erzählt, was los ist. Binnen einer Stunde steht sie mit Thomas vor der Tür. Sie umarmt mich lange und geht dann, noch im Mantel, ins Wohnzimmr und nimmt Carmen in den Arm. Sie fangt sofort wieder zu weinen an. Thomas klopft mir verlegen auf die Schulter. »Es ist Scheiße, Kumpel«, murmelt er. Er geht hinein und wagt es kaum, Carmen anzublicken. Er starrt auf den Boden, mit hängenden Schultern, die Hände in den Taschen. Er ist noch in Anzug und Krawatte. Anne ist nüchtern. Sie empfiehlt, alle Fragen, die wir morgen dem Arzt stellen wollen, aufzuschreiben. Das finden wir eine gute Idee. Zu viert überlegen wir, was wir alles wissen wollen. Ich schreibe. Es klappt. Wir reduzieren den Krebs vorübergehend auf ein neutrales Objekt, das wir kritisch und fast sachlich analysieren. Carmen hat schon eine ganze Stunde nicht geweint. Um halb zehn verabschieden sich Thomas und Anne. Ich
rufe Frenk an, Carmen surft im Internet. Als ich aufgelegt habe, fragt sie, ob ich mich noch an den englischen Namen ihrer Art von Brustkrebs erinnere. »Das hat Wolters nicht gesagt. Den lateinischen aber, mastitis carci-dingsda ...« Thomas kommt auch aus Breda-Nord, und ich kenne ihn schon seit der Grundschule. »We liked the same music, we liked the same clothes, we liked the same bands«, singt Bruce*, und so war es auch mit Thomas und mir. Als wir zwölf waren, gingen wir zusammen zum NAC, mit sechzehn gingen wir zu den Punk-Bands in Para, und als wir achtzehn waren, gingen wir an Samstagabenden zusammen auf die Jagd im De Suykerkist. Thomas war dort sehr populär. Ich nicht. Ich hatte Pickel und eine so genannte Taucherbrille und musste mich mit den Überresten von Thomas begnügen. Nach der Mittelschule besuchten wir beide die Fachhochschule, wo wir Frenk kennen lernten.Thomas schaffte die Fachhochschule mit klatschnassen Achselhöhlen und Schweiß zwischen den Hinterbacken.Thomas war und ist nicht super intelligent. Er wurde Vertreter bei einer Firma, die Streusalz verkauft, und das ist er immer noch. Seine Kunden sind Beamte von Gemeinden und vom Straßen- und Wasseramt. Thomas ist dick befreundet mit ihnen, ich glaube, weil er, genau wie sie, Witze über Belgier, Neger, Blondinen und Frauen, die zum Arzt kommen, mag, und weil er auch pastellfarbige Button-down-Hemden von Kreymborg trägt. Thomas und ich telefonieren ab und zu. Wir sehen uns weniger als früher. Vom Karneval in Breda abgesehen, braucht er das Ausgehen nicht mehr so. Er sitzt am Wochenende lieber zu Hause bei Käse, einem Glas Wein und einem Film mit viel Schießereien, Titten und Helikoptern. Das abflauende Partybedürfnis hängt auch damit zusammen, dass sein Schädel vor einigen Jahren anfing, die Haare abzuwerfen, und sein Bauch Respekt einflößende Formen anzunehmen begann. »Verdammt, Stijn, ich bin wie Milch und du wie Wein«, sagte er irgendwann mal, als ihm klar wurde, dass seine sinkende Popularität bei den Frauen strukturelle Formen anzunehmen drohte. Pragmatisch, wie Thomas ist, trat er in Aktion. Als eines Tages, jetzt sechs Jahre her, bei seiner Firma eine hübsche junge Praktikantin hereinhüpfte, lud er sie sofort zum Essen ein und ließ sie nachher nie mehr gehen. * Wrample aus Bobby Jean (Born in the USA)
Diese Praktikantin war Anne. Thomas und Anne haben sich total gefunden. Anne ist allem, was trendy (heißt amsterdamisch) ist, abhold; auch sie ist vernarrt in Kinder, Wein und Käse und sieht wie Thomas aus, als sei sie ständig schwanger. Seit der Geburt ihrer Kinder, Kimberly (4), Lindsey (3) und Danny ( 1 ) ist Anne aus allen Nähten geplatzt. Anne sagt, sie finde ihre Familie und den Haushalt wichtiger als ihre äußere Erscheinung. Sie trägt Leggings und T-Shirts von Miss Etam. Carmen nennt das Verschlampen. Doch das weiß Anne nicht. Carmen würde sie nie verletzen. Und zu Recht. Denn Anne ist Carmens beste Freundin geworden. Sie rufen sich jeden Tag an, und als Carmen vor einem halben Jahr Todesängste vor der Biopsie ausstand, war Anne immer bei ihr. Obwohl ich mich jedes Mal, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, über ihre Anwesenheit ärgerte, musste ich zugeben, dass Anne weiß, was Freundschaft heißt. Carmen und Anne sind jetzt viel closer als Thomas und ich. Carmen erzählt Anne alles. Ich Thomas nicht. Wenigstens nicht mehr, seit ich weiß, dass er alles, was ich tue (und er gern tun würde), an Anne weitertratscht. Bevor man sich versieht, landet es wieder bei Carmen, und das ist natürlich nicht in meinem Sinn. Ehrlichkeit ist eine überschätzte Tugend. Anne denkt da ganz anders. Aber sie hat gut reden. Ihr Aussehen kann nicht gerade eine Einladung zum Geschlechtsverkehr genannt werden.* Anne könnte nicht einmal fremdgehen, selbst wenn sie es wollte. * Wrample aus Die Abende von Gerard Reve ( 1947) »Carcinomatosa, ja. Auf Englisch heißt es ...« – sie schaut auf den Bildschirm – »... Inflammatory Breast Cancer ... Inflammatory heißt, es ist eine Entzündungsform. Eine Art Geschwür, das – wenn man zu spät eingreift – in die Blutkörperchen eindringt. Das stimmt doch, oder?« »Hm ... ich glaube schon, ja«, antworte ich vorsichtig. »Tja, das ist dann saublöd, denn dann ist die Chance, dass ...« – ihre Stimme überschlägt sich – »... dass ich noch länger als fünf Jahre lebe, noch nicht einmal vierzig Prozent.« Vierzig Prozent. »Woher willst du denn wissen, dass es genau das ist?«, reagiere ich irritiert. »Bist du sicher, dass du richtig geguckt hast?«
»Ja, verdammt nochmal, ich bin doch nicht blöd, Stijn!«, schreit sie. »Das steht doch hier! Oder etwa nicht?« Ich blicke nicht auf den Bildschirm, aber schalte den iMac ab. »So, und jetzt ins Bett mit dir.« Sie schaut verdutzt auf den schwarzen Bildschirm und nachher auf mich. Zuerst mit einem tödlichen Blick, dann fängt sie unbeschreiblich laut zu weinen an. »Gottverdammt, wenn der Sauhund es damals richtig gesehen hätte, wäre es jetzt vielleicht nicht zu spät!« Ich nehme sie beim Arm und schleppe sie die Treppe hinauf. Nach einem Weinkrampf, der nicht aufzuhören scheint, schläft sie in meinen Armen ein. Ich bin hellwach und mir graut’s vor morgen früh. Im Moment, da ich aufwache und mir klar wird, dass ich nicht geträumt habe, ist es Wirklichkeit. Carmen hat Krebs.
Es regnet stärker; als ich ertragen kann BL0F, aus Stärker, als ich ertragen kann (Oben, 1999)
ZEHN Dr. Scheltema schüttelt uns die Hand, bedeutet uns, uns zu setzen, und nimmt selber wieder hinter ihrem Schreibtisch Platz. Sie studiert eine Akte. Es ist eine altmodische braune Mappe aus einer Hängeregistratur. Ich lese mit, auf dem Kopf, und sehe, dass es die gleiche ist, die die Krankenschwester vorgestern bei sich hatte. Es gibt zwei Röntgenaufnahmen (von Carmen, nehme ich an), und ich sehe einen langen handgeschriebenen Bericht (von Dr. Wolters) und die Zeichnung einer Brust, mit einem Pfeil und einem unleserlichen Text daneben. Scheltema liest das Dossier, als seien wir nicht da. Es ist unheimlich still in diesem Büro. Ich halte Carmens Hand. Sie zwinkert mir zu, und als Dr. Scheltema nach einer halben Minute immer noch ohne etwas zu sagen in der Akte liest, dann blättert, wieder zurückblättert und dann wieder weiterblättert, macht sie eine kopfnickende, Mr.-Bean-artige Bewegung. Ehe ich lachen muss, wende ich den Blick schnell von Carmen ab, denn ich vermute, dass es den Draht zwischen mir und der Ärztin nicht verstärken Dr. Scheltema ist nicht der Typ, von dem man vermutet: Da gibt’s was zu lachen. Graue Haare, Stifte in der Brusttasche, typisches Mathe-Leistungskurs-Gesicht. Dr. Scheltema und ich werden uns nicht verstehen. Ich sah es schon am Gesichtsausdruck, mit dem sie mich und meine kackbraune Seventi’es-Lederjacke musterte, als ich in ihr Büro eintrat.
würde. Ich schaue mich um. Hinter ihrem Schreibtisch hängt eine gerahmte Kopie eines impressionistischen Gemäldes (frag mich nicht von wem – ich komme aus Breda-Nord und finde es schon intelligent, dass ich weiß, dass es impressionistisch ist), und an der Wand bei der Tür hängt ein Regal mit Broschüren, in dem ich, neben für mich neuen Titeln wie Richtige Ernährung bei Krebs, Krebs und Sexualität und Schmerzbekämpfung bei Krebs, auch die mittlerweile vertraute Broschüre Brustkrebs entdecke. Dr. Scheltema schaut von der Akte hoch. »Wie ist es gegangen die letzten Tage?«, fängt sie an. »Nicht besonders«, fasst Carmen mit einem Sinn für Understatement zusammen. »Nein, das kann ich mir vorstellen«, bemerkt die Ärztin. »Es ist bitter, dass es damals so unglücklich gelaufen ist. Das war doch, tja ... außerordentlich nachlässig.« »Ja, denn jetzt ist es zu spät, oder?«, murmelt Carmen. »So dürfen Sie noch nicht denken«, reagiert Scheltema. »Wir haben noch einige Instrumente zur Verfügung. Zurückblicken hat keinen Sinn, wir müssen herausfinden, was jetzt möglich ist.« Verblüfft über den höhn Passiert-ist-passiert-Gehalt, mit dem sie über die Fehlleistung ihres Kollegen redet, schaue ich Cannen an. Sie scheint sich zu fügen. Ich halte mich zurück. »Was ich habe, heißt inflammatory breast cancer, oder?«, fragt Carmen. »Der offizielle Name ist mastitis carcinomatosa, aber inflammatory ist tatsächlich die englische Bezeichnung ... woher wissen Sie das eigentlich?« »Ich habe es gestern im Internet gesucht.« »Also, damit müssen Sie aufpassen«, sagt Scheltema mürrisch. Ja, ist doch logo, denke ich, denn dann wird es lästig für
dich. Ich schmunzle, und im Gegensatz zu gestern, als ich wütend auf Carmen war, weil sie sich nach dem Anschauen Dutzender Sites über alle denkbaren Formen von Brustkrebs das Schlimmste vom Schlimmsten eingeredet hatte, bin ich stolz auf sie, weil sie schon mehr weiß als der Ärztin lieb ist. »Und stimmt es, dass nur vierzig Prozent der Frauen, bei denen das konstatiert wird, die ersten fünf Jahre überleben?«, fährt Carmen fort. »Ich befürchte, es sind noch weniger«, sagt Scheltema eiskalt, in dem unverkennbaren Versuch, uns das Lesen derartiger Websites ein für alle Mal zu vergällen, »denn Sie sind noch jung, und dann teilen die Zellen sich schneller als bei älteren Menschen. Der Tumor in der linken Mamma ist jetzt dreizehn mal vier Zentimeter, und er ist wahrscheinlich in wenigen Monaten gewachsen.« Dreizehn mal vier? Eine Zucchini ist dreizehn mal vier! Und das in wenigen Monaten? Ja, bestimmt, das muss ja, so etwas hätte sogar Dr. Wolters damals nicht übersehen. »Kann man ihn nicht wegoperieren?«, fragt Carmen. »Nötigenfalls muss die Brust eben dran glauben.« Ich glaube, ich höre nicht recht. Ohne mit den Wimpern zu zucken, sagt sie, dass ihr ganzer Stolz, ihre Handelsmarke dann eben ampu ... Scheltema schüttelt verneinend den Kopf. »Operieren wäre in diesem Fall gefährlich«, erklärt sie. »Der Tumor ist zu groß. Wir können nicht genau sehen, wo sich die Zellen ausgebreitet haben. Wenn wir schneiden, laufen wir Gefahr, dass der Tumor in das vernarbte Gewebe der amputierten Brust gelangt, und dann ist der Teufel los. Erst wenn wir mit Sicherheit wissen, dass der Tumor in Ihrer Brust kleiner geworden ist, gehört eine Operation zu den Möglichkeiten.« Sie sagt das, als ob wir uns darüber freuen dürften.
»Ein anderes Mittel, das wir manchmal anwenden, um einen Tumor anzugreifen, ist eine Hormontherapie ...« – genau, eine Hormontherapie! Darüber habe ich etwas gelesen, erinnere ich mich –, »aber das geht auch nicht. Sie haben nämlich Pech. In Ihrem Blut haben wir gesehen, dass die Östrogen-Rezeptoren negativ sind. Ihre Tumorzellen würden nicht auf Hormone reagieren. Aber das Ärgerlichste ist, die Biopsie zeigt ...« – okay, mach nur weiter –, »dass der Tumor diffus ist, wodurch er ziemlich sicher bereits ins Blut eingedrungen ist, und dann wissen Sie Bescheid, oder ...« Nein, ich weiß nicht Bescheid, ich war immer nur in Laberfächern gut, und es ist komisch, aber bis vor kurzem gab es ganze Tage, an denen ich nicht über Krebs nachdachte. Weil auch Carmens Gesichtsausdruck verrät, dass sie sich nicht auskennt, macht Scheltema weiter, wie eine Nachrichtensprecherin des Jugendjournals, die erklärt, warum Erwachsene Krieg führen. »Schauen Sie, es verhält sich so: Blutkörperchen strömen durch den ganzen Körper. Und Ihre Krebszellen jetzt natürlich auch. Die Tumormarker in Ihrem Blut haben noch keine alarmierenden Werte, aber es ist dennoch wahrscheinlich, dass schon Zellen in Ihren Körper gelangt sind.« Carmen und ich schauen uns lange schweigend an. Ich reibe mit dem Daumen über ihre Hand. Auch Scheltema schweigt. Kurz. »Wenn wir jetzt nichts unternehmen, befürchte ich, dass nur noch einige Monate bleiben. Höchstens ein Jahr.« Die Bemerkung ist nur eine logische Folge der vorangehenden Informationen, kommt aber wie ein Schlag mit dem Holzhammer, jetzt ist es ausgesprochen. So geht das also. Kommt eine Frau zum Arzt und erfährt, dass sie nur noch einige Monate zu leben hat. Carmen fängt an zu zittern, schlägt die Hand vor den Mund und fängt mit bebenden Schultern zu
weinen an. Mir zieht es den Magen zusammen. Ich lege einen Arm um sie und nehme ihre Hand in meine. »Das ist hart, nicht wahr?«, konstatiert Scheltema scharf. Wir antworten nicht. Wir halten uns umschlungen. Carmen weinend, ich betäubt. »Und jetzt?«, frage ich nach einiger Zeit. »Ich rate, so schnell wie möglich eine Chemotherapie zu beginnen«, setzt Scheltema das Gespräch fort, sichtlich erleichtert, dass sie wieder geschäftlich werden kann. »Am liebsten noch diese Woche.« Chemotherapie. Das Wort war schon einige Minuten unterwegs, aber es ist doch ein Schlag. Chemotherapie. Heißt: kahl. Heißt: todkrank. Heißt: Wir-wissen-alle-es-nützt-keinen-Fuck-aber-irgendetwas-müssen-wir-unternehmen. Scheltema fährt fort: »Die Chemotherapie wirkt auf den ganzen Körper, darum haben wir damit am ehesten eine Chance, den Krebs anzugreifen.« »Und bestrahlen?«, frage ich. Carmen schaut auch auf. Ja, bestrahlen, das wird doch auch oft gemacht, denkt sie hoffnungsvoll. Irgendwie klingt bestrahlen weniger schlimm als Chemotherapie. Scheltema schüttelt verneinend den Kopf. Dumme Frage. »Bestrahlen erzielt nur eine lokale Wirkung. Auf der Brust also. Wir müssen aber versuchen, den Krebs aus dem Körper zu bekommen, deshalb ist Chemotherapie am besten«, sagt sie, sichtlich irritiert, weil sie es doch gerade erklärt hat. »Können Sie etwas mehr über die Chemotherapie erzählen?«, höre ich mich fragen, als informierte ich mich über das Navigationssystem des neuen Audi A 4. Scheltema blüht auf. Sie scheint entzückt, dass sie endlich von ihrem Lieblingsspielzeug erzählen darf. Wir erhalten
einen Schnellkurs in Chemotherapie. Das Prinzip ist offenbar simpel: Der Körper bekommt einen enormen Schlag, in der Absicht, den Krebszellen damit einen noch größeren Schlag zu versetzen. Die Krebszellen werden orientierungslos, taumeln in alle Richtungen, wie eine Mannschaft ohne Kapitän. Sie könnten sogar durch Knochen wachsen, sagt Scheltema voller Respekt, als sie sich kurz von ihrer Begeisterung mitreißen lässt. Doch dafür seien sie auch anfälliger für einen Angriff als die gesunden Zellen im Körper. Leider seien dabei alle gesunden Zellen, die sich schnell teilten, die Dummen. »Zum Beispiel Ihre Haare, Frau van Diepen, Sie werden an Haarausfall leiden.« Scheltema kommt jetzt so richtig in Fahrt. »Ich glaube, eine CAF-Therapie ist das Beste für Sie. CAF, das steht für Zyclophosphamid, Adriamyzin und 5-FU ...« – wir nicken, als ob wir kapierten, worüber diese Frau schwafelt – »... und etwas gegen das Erbrechen und die Übelkeit wegen der Chemotherapie ...« – wir nicken wieder – »... es gibt Leute, die sich trotzdem nach einigen Tagen öfters übergeben müssen. Aber als Gegenwirkung bekommen Sie Medikamente, die Sie nach jeder Kur schlucken können, wenn es nötig ist ...« – wir geraten langsam in einen Status der emotionalen Zersetzung – ».. . deshalb essen die meisten Leute weniger. Die Kombination von Übelkeit und mangelndem Geschmackssinn fördert den Appetit natürlich nicht ... weiterhin kann auch Diarrhö auftreten. Wenn es länger als zwei Tage andauert, müssen Sie Kontakt aufnehmen ...« – als rede sie über ein Leck in der Waschmaschine – »... außerdem kann die Mundschleimhaut sich entzünden, und die Menstruation kann unregelmäßig werden oder ganz ausbleiben. Schließlich müssen Sie sofort anrufen, auch wenn es mitten in der Nacht ist.« Ich will es nicht mehr hören, ich will nichts mehr hören.
Carmen war schon beim Wort Haarausfall abgesprungen. Doch Scheiterns fährt weiter fort. »Tja, und dann ist es möglich, dass die Krebszellen in Ihrem Körper auf die CAF-Therapie nicht positiv reagieren. Aber das gilt nur in fünfundzwanzig Prozent der Fälle.« »Und dann?« »Dann probieren wir eine andere Therapie.« »Oh.« »Aber damit rechnen wir nicht.« »Nein.« »Was ich noch für Sie habe, ist Folgendes«, sagt sie und nimmt eine gelbe Broschüre aus ihrer Schreibtischlade. »Wenn Sie wollen, können Sie die Psychotherapeutin hier im Lucas-Krankenhaus in Anspruch nehmen. Sie ist auf die Begleitung von Krebspatienten spezialisiert.« Carmen blickt kurz in das Faltblatt und sagt, dass wir das wahrscheinlich tun werden. Auch das noch. Wenn wir schon den Krebs in unserem Leben begrüßen, können wir es auch gleich richtig um, mit allem Drum und Dran. Ich prüfe unsere Frageliste. Scheltema sieht es und schaut auf die Uhr. Ich sehe noch eine Frage, die der Atmosphäre nicht dienlich sein wird. »Ist es nicht besser, wenn meine Frau im Antoni-vanLeeuwenhoek-Krankenhaus behandelt wird? Das ist doch auf Krebsbehandlung spezialisiert?« Scheltema reagiert wie unser Bundestrainer während einer Presskonferenz. »Das hat absolut keinen Sinn. Über jeden Patienten beraten wir uns mit dem Antoni-van-Leeuwenhoek. Wir beratschlagen jede Woche, und danach werden dann alle Akten besprochen.« Ich schaue Carmen an. Sie nickt hastig, es ist in Ordnung. Sie will es sich mit der Ärztin, die sie behandeln wird, nicht
verderben. Ich entschließe mich, die Sache nicht auf die Spitze zu treiben. Ich blicke nochmals auf unsern Zettel. Jetzt wird es gemütlich. »Letzte Frage. Ist man in Amerika nicht um einiges weiter als in Europa?« Scheltcma schaut mich an, als sei ich ein Schuljunge, der es gewagt hat, der Lehrerin unter den Rock zu gucken. »Ich meine, hm ... ich zweifle nicht an Ihrer Kompetenz«, beeile ich mich hinzuzufügen, auch wenn ich da natürlich meine Zweifel habe, aber ich muss doch etwas sagen, um nicht aus der Klasse zu fliegen, »aber wir wyollen nun mal das Beste für meine Frau, verstehen Sie?« Schelteina versteht mich nicht, ich sehe es an ihrem Blick, der keinen Zweifel bestehen lässt, dass sie schwer beleidigt ist. Sie seufzt, dann fängt sie an, uns in unterkühltem Ion zu belehren. »Jede Information über Krebs, die verfügbar ist, alle medizinischen Untersuchungen, die publiziert werden, lesen wir auch, Herr van Diepen. Was morgen in Chicago oder Los Angeles entdeckt wird, wissen wir am gleichen Tag. Und seit es das Internet gibt, ist alles zugänglich. Jedermann hat Zugriff. Ihre Frau hat das bereits entdeckt ...« Oh, wie ich diesen spöttischen Ton, die Arroganz, die Scheltema zur Schau trägt, hasse, und das Wissen um den Fehler, den ihr Kollege im gleichen Krankenhaus gemacht hat. »Sonst noch etwas?« Ja, hundert Gramm Roastbeef, du Trine. Ich werfe Carmen einen Blick zu, sie verneint. Sie will weg. Was gestern noch relevante Fragen waren, ist jetzt eine unangenehme Verlängerung des Krankenhausbesuchs. »Nein, das war es«, sage ich. Wir erheben uns und ziehen die Mäntel an.
»Ich höre noch von Ihnen, ob Sie mit der Chemotherapie anfangen. Ich würde es aber tun«, sagt Dr. Scheltema, als sie Carmen die Hand schüttelt, jetzt katzenfreundlich. »Ja ... gut. Wir werden morgen anrufen.« »Auch Ihnen auf Wiedersehen«, sagt sie, wieder kühl. Sie gibt mir sogar die Hand. »Besten Dank für Ihre Zeit. Bis zum nächsten Mal«, sage ich. Als wir durch den Gang gehen, halte ich Carmens Hand und schaue niemanden an. Ich spüre die Blicke der Menschen, die im Gang warten, bis die Reihe an ihnen ist, im Rücken. Als ob man mit einer schönen Frau mit zu kurzem Rock an einer Terrasse entlanggeht – man weiß, dass alle gucken, tut aber, als sei es einem egal. Carmen trägt heute keinen kurzen Rock, sie hat vielmehr rote Augen und ein Taschentuch in der Hand. Ich habe den Arm um sie gelegt, den Blick starr auf das Ende des Korridors gerichtet. Sie werden sich anstoßen, in unsere Richtung nicken, einander zuflüstern. Ach Gott, diese Frau, so jung noch, sieht so hübsch aus, wie sie da so läuft: bestimmt gerade vernommen, dass sie Krebs hat. Und dann der junge Mann, wie traurig. Ich spüre, wie das Mitleid, der Sensationshunger in meinen Rücken stechen. Schade für die Leute, dass Luna nicht dabei ist. Hätte das Bild noch schöner gemacht.
I don’t believe in magic / but for you I will / darlin’ for you / I’m counting on a miracle Bruce Springsteen, aus Countin’ On A Miracle (The Rising, 2002)
ELF Carmen liest aus der Broschüre vor, die Dr. Scheltema uns mitgegeben hat. Der Psychotherapeut arbeitet nach der Methode von Carl Simonton. Der Broschüre nach ist der Mann »ein Pionier auf dem Gebiet der Krebsbehandlung, wobei nicht nur der Körper, sondern auch der Geist eine wichtige Rolle spielt«. »Ein Neffe von Emile Ratelband ** also«, sage ich spöttisch. Eine halbe Stunde später verlassen wir die Buchhandlung mit zwei Büchern von Dr. Simonton. Als wir Luna ins Bett gebracht und das Telefon, das heute Abend dauernd klingelt, ausgestellt haben, nehmen wir jeder ein Buch von Dr. Simonton. Carmen schlägt Wieder gesund werden auf, ich fange Auf dem, Wege der Besserung an. »Manche Leute werden vielleicht besorgt sein, weil sie finden, wir gäben den Patienten ›falsche Hoffhung‹. Doch Hoffnung ist unserer Meinung nach in einer solchen Situation eine viel gesündere Haltung als Verzweiflung« ∗∗, lese ich. Wenig später fliegt Wieder gesund werden durchs Wohnzimmer. 3F
4F
niederländischer Motivationsguru und Medienstar, Anmerkung d. Verlags ∗∗ aus Auf dem Wege der Besserung, von Dr. O. Carl Simonton (1983) *
»Jetzt sitz ich hier und lese verdammt nochmal über Krebs! ICH WILL GAR NICHTS ÜBER KREBS LESEN!«, schreit Carmen, »ES KANN NICHT WAHR SEIN, ES DARF DOCH NICHT SEIN!« Ich stimme ihr in der Analyse zu, aber alles, was ich tun kann, ist, meine schreiende, zitternde Carmen in die Arme zu nehmen, zu streicheln, zu küssen und ihr »ruhig, Liebes, na, na, Liebling ...« zuzuflüstern. Es ist der Abend vor dem Geburtstag der Königin. Während die ganze Stadt sich um den Verstand säuft, klammern sich am Amstelveenseweg 872 zwei Häuflein Elend aneinander.
Dann will ich tanzen, tanzen, tanzen/tanzen auf dem Vulkan De Dijk, aus Tanzen auf dem Vulkan (Wach in einer fremden Welt. 1987)
ZWÖLF Um Viertel nach neun klingelt es, und Frenk steht vor der Tür. Ich bin maßlos erstaunt, weil Frenk an seinen freien Tagen den Tag vor zwölf Uhr mittags als nicht angefangen betrachtet. »Ich kann euch doch am ›Koninginnedag‹ nicht allein lassen?« Im Gegensatz zu Thomas geniert er sich nicht, mich zu umarmen und zu küssen. Wenn Frenk und ich nach den Ferien ins Büro zurückkommen, wenn wir Geburtstag feiern oder wir new business gewonnen haben, umarmen wir uns. Das mag ich. Es erinnert mich an Freundschaft, der man sonst nur in Bruee-Springsteen-Songs und Amstel-Spots begegnet. Die Stimmung im Hause Stijn & Carmen ist plötzlich heiter. Carmen ist angenehm überrascht, und Luna kräht vor Vergnügen. Sie ist in Frenk vernarrt und er in sie. Als wir am Küchentisch sitzen und Frenk Carmens Angebot, mit uns ein Croissant zu essen, gerne akzeptiert hat, fragt er, wie es geht. Carnien erzählt, hie und da von mir ergänzt, die Geschichte. Wenn es ihr schwer wird, legt er ihr die Hand auf den Arm. Frenk hört unserem Bericht aufmerksam zu. Die Erklärungen von Dr. Scheltema, die Chemotherapie, wie uns zumute war, als wir durch den Korridor das Krankenhaus verließen. Von Minute zu Minute werde ich stiller. Ich bin schon einmal aufgestanden und auf die Toilette gegangen, unnötigerweise, und jetzt weiß ich weder ein noch aus. Zum Glück kommt mir der Geruch von Kacke in die Nase.
Frenk ist faul, egozentrisch, ein Snob und mein bester Freund. Im Gegensatz zu Thomas weiß Frenk alles über mich. Wir arbeiten den ganzen Tag zusammen. Er weiß, was ich denke, was ich gern auf meinem Pausenbrot habe; er weiß, dass ich bei BBDvW&R/Bernilvy nicht nur mit Sharon, sondern auch mit Cindy und Dianne gevögelt habe, dass ich, als Carmen und ich noch nicht so lange etwas miteinander hatten, es immer noch regelmäßig mit Maud trieb und – weil er im Lauf der Jahre viele Hotelzimmer und Appartements mit mir geteilt hat – wie ich mich anhöre, wenn ich komme. Frenks Libido ist das genaue Negativ von meiner.Als ich ihn noch nicht so lange kannte, vermutete ich, dass er sich Sex in üblen Häusern holt; doch jetzt weiß ich, dass Vögeln ihn einfach nicht interessiert. Das scheint es zu geben. Ganz sporadisch gibt’s mal eine Frau, die ihn aktiv verführt, und dann hat er Sex. Das ist, soviel ich weiß, dreimal passiert in den fünfzehn Jahren, die ich ihn kenne. Ich glaube auch zu wissen, woher es kommt. Frenk hat sich selber in den Mittelpunkt des Universums gestellt, und das gefällt ihm außerordentlich. Da passt nichts mehr dazu. Keine Frau, keine Familie, nichts. Der Einzige, für den Frenk Geld ausgibt, ist Frenk. Und Frenk gibt verdammt viel Geld aus. Sturzbäche von Geld. Und immer mit Umsicht. Frenk hat Stil, und das soll jeder wissen. Frenk besucht die richtigen Theatervorstellungen. Geht in renommierte Restaurants. Und er hat die neuesten Pradas schon, bevor man sie beim Händler sieht (was er nicht versäumt, in der Mittagspause bei Merk in Uitvoering nebenbei zu erwähnen). Das meiste Geld verwendet er für die Einrichtung seines Penthouse an der Bloemgracht. Dieses Penthouse ist groß wie ein Ballsaal, und alles, was man dort vorfindet, ist teuer. Allein die Küche hat mehr gekostet als unser ganzer Hausrat am Amstelveenseweg. Nicht dass Frenk oft in dieser Küche wäre, denn Frenk kann nicht kochen. Frenk kann auch nicht bügeln. Keine Kleider waschen, keine Besorgungen machen und keinen Reifen flicken. Dazu kommt, dass Frenk keine Haushälterin hat, keinen Führerschein und keine Ahnung, wie man zu solchen irdischen Freuden kommt. Manchmal kommt sein Vater aus Breda und erledigt alles, was es im Penthouse zu tun gibt; seine Mutter putzt und macht ihm die Wäsche; zweimal in der Woche isst er bei Carmen und mir, und er betrachtet es als selbstverständlich, dass er immer mitfahren kann, wenn wir mit dem Auto irgendwo hinfahren. Er kommt mit allem gut weg, weil er etwas zurückgibt; Frenk ist ein Freund.
»Ich muss Luna wickeln.« Ich nehme sie auf den .Arm und gehe mir ihr hinauf. Mit Tränen in den Augen säubere ich Limas Po und wickle sie. Luna schaut mich von der Kommode erstaunt an. »Ach, lieber Schatz ... mein lieber, kleiner Schatz ...« Ich mache die Druckknöpfe ihres Bodys wieder zu. Ich hebe sie hoch, nehme sie fest in die Arme, und während mir die Tränen über die Wangen laufen, starre ich zum Fenster hinaus. Ich kann es immer noch nicht fassen. Wir sind Mitte dreißig, haben eine süße Tochter, beide eine eigene Firma; wir leben wde Gott in Amsterdam, wir haben haufenweise Freunde, wir machen alles, was uns gerade in den Sinn kommt, und jetzt, am Geburtstag der Königin, reden wir den ganzen Vormittag über Krebs. Als ich Frenk (der fragt, ob wir wirklich keine Lust haben, heute mitzukommen – Carmen gibt nicht nach) hinaus begleitet habe, fühle ich mich noch miserabler. Carmen hatte mir am Morgen schon zu verstehen gegeben, sie wäre nicht in der Stimmung, nachmittags irgendwo in einer johlenden Masse herumzulaufen. Das verstand ich natürlich, doch jetzt, wo die Aussicht, einen ganzen Nachmittag trauernd zu Hause zu hocken, konkret wird, werde ich schier verrückt. Stijn eine Party zu verwehren ist schlimmer, als Luna den Schnuller wegzunehmen. Und besonders jetzt. Ich will weg, ich will mich besaufen, ich will feiern, ich will alles, nur nicht weiter über Krebs sprechen. Ich seufze demonstrativ, als ich wieder am Küchentisch Platz nehme. »Du könntest auch etwas weniger deutlich zeigen, dass es dir stinkt«, schnauzt Carmen mich an. »Ich kann auch nichts dafür, dass ich Krebs habe.« »Nein, und ich auch nicht«, bemerke ich grimmig.
I want to run / I want to hide / I want to tear down the walls / that hold me inside U2,aus Where The Streets Have No Name (The Joshua Tree, 1937)
DREIZEHN Eine Stunde später halte ich es nicht mehr aus. Carmen sitzt da und blättert in Schöner Wohnen, und ich bin sicher, sie weiß nicht, was sie liest. »Verdammt nochmal, warum hocken wir hier eigentlich in Gottes Namen zu Hause?!«, rufe ich plötzlich. Sie schaut mich an und ist nahe dran zu flennen. Darauf hab ich natürlich Lust, ein Weinkrampf zum x-ten Mal in den letzten vierundzwanzig Stunden. Ich zwinge mich selbst zur Ruhe, gehe auf sie zu und nehme sie in die Arme. »Schatz, wenn du mich fragst, ist es wirklich besser, wir unternehmen etwas. So kommen wir nicht weiter. Wir können doch wenigstens mit Luna in den Vondelpark gehen.« Sie wischt die Tränen ab. »Okay ... Das ist vielleicht besser, ja.« Der Vondelpark gehört am »Koninginnedag« den Kindern aus Amsterdam-Süd, dem Luxusreservat der Stadt. Sogar die Aktionen sind speziell Amsterdam-Süd. Zwei Jungen im Rahmen der Veranstaltung Kinder-für-Kinder verkaufen selbst gemachte Oranientorte. Als Kind habe ich nie eine Torte gebacken, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass einer meiner Freunde aus Breda-Nord so was gemacht hat. Ein Kind mit einem für sein Alter viel zu ernsten Gesicht – »wenn ich so ein Kind hätte, würde ich eine postnatale Ab-
treibung erwägen«, sagt Carmen – deklamiert Gedichte. Wer erzieht sein Kind zu so was? Poesie ist wie sinfonischer Rock, wie 4-3-3, wie Essen beim Chinesen – außer meinem früheren Niederländischlehrer und dem Literaturkritiker von Het Parool kenne ich niemanden, der noch Gedichte liest. Carmen und ich finden es immer stupider – die Kinder, die dort deklamieren, violinicren, jonglieren und irritieren, beobachtet von ihren Eltern. Ein Mädchen mit einem Pferdeschwanz in einem orangen Kleidchen bringt zu Gehör, was sie in der Geigenstunde gelernt hat. »Ich möchte Luna später Heber von der Polizeiwache als von der Geigenstunde abholen«, flüstere ich Carmen ins Ohr. Sie prustet vor Lachen. Die Mutter des Kindes mit dem orangen Kleidchen findet uns nicht lustig. »Hat doch gut getan?«, frage ich, als wir, Luna bei mir auf den Schultern, durch die Cornelis Schuitstraat zur Bushaltestelle in der De Lairessestraat gehen. Carmen küsst mich auf die Wange und blinzelt mir zu.
Der schöne Sommer ist wieder vorbei / der Sommer der begann etwa im Mai / man dachte er würde kein Ende nehmen / aber bevor man sich versieht ist dieser ganze Sommer schon lange vorbei Gerard Cox, aus Er ist wieder vorbei der schöne Sommer (Das Beste von Gerard Cox. 1973)
VIERZEHN In drei Monaten werden der Sommer und die Chemotherapie vorbei sein und Carmen kahl. Im Auto auf dem Weg zum Krankenhaus zu Carmens erster Chemo fällt mir vor allem ein, was ich diesen Sommer vergessen kann. Sonntags nach Bloemendaal? Ja, dazu wird Carmen Lust haben, wenn sie kahl ist! Nach New York zu fliegen, das können wir auch getrost vergessen, wenn das Chemo-Zeug in ihrem Körper wütet. Fußball im Park am Dienstagabend? Forget it. Dann werde ich zu Hause sein müssen und Luna füttern, weil Carmen kotzend im Bett liegt. Und Frenk oder Maud fragen, ob sie zu uns kommen, und selber abhauen zum Fußball, hm ... Und dann habe ich noch nicht einmal nachgedacht über das Leben nach diesem Sommer, nach der Chemo. Was sich in den kommenden Monaten alles zutragen wird, ist schon nicht zu meistern – ich wage nicht, weiter zu schauen. Es ist wie Ajax –Juventus in der ArenA in der letzten Trainerphase von Louis von Gaal. In der Halbzeit schon 0:2, und dann muss ten wir noch drei Halbzeiten spielen. * 5F
9. April 1997. 1:2. Van der Sar, Melchiot, Blind, E. de Boer, Alusampa, Schölten, Litmanen, Witschge, Babangida, R. de Bocr, Overmars. 0:1 Amaruso, 0:2 Meri, 1:2 Litmanen. Auswärts war es überhaupt übel (Lombardu, Vieri, Amaruso, Zidane). *
Als wir auf die Ringstraße fahren, fängt es zu regnen an. Richtig so. Von mir aus darf es frieren diesen Sommer. Ich stelle das Radio ab. Edwin Evers ist mir heute etwas zu fröhlich aufgestanden. Ich drücke die CD-Taste. Michael Stipe singt, wir müssen durchhalten, wenn der Tag lange dauert, wir müssen durchhalten, wenn wir sicher sind, dass wir in diesem Leben nicht mehr weiterkönnen, wenn alles schief läuft. Wir sind still, beide. Carmen hört auch zu. Sie wischt eine Träne ab. Ich lege die Hand auf ihren Oberschenkel. No, no, no, you ‘re not alone. Hold on. Hold on. Carmen legt die Hand auf meine. Holdon. Hold on. * »Uff«, seufzt Carmen, als der Song zu Ende ist. Wir gehen an Scheltemas Büro vorbei zum Ende des Korridors. Zuerst Blut abnehmen. Wozu das nötig ist, weiß ich nicht mehr. Hat etwas zu tun mit weißen Blutkörperchen oder roten. Carmen wird gepiekst, bekommt etwas Watte darauf, und dann kehren wir wieder auf den Gang zurück. Warten. Was ich in einigen Wochen Krankenhaus gelernt habe, ist, dass Warten hier die normalste Sache der Welt ist. Der Zeitpunkt auf dem Terminkärtchen ist nichts anderes als eine »Ab-dann«-Zeit. De Volkskrant, die ich am Kiosk in der Halle des Krankenhauses gekauft habe, habe ich schon vor einer Viertelstunde zu Ende gelesen. Es liegt noch ein Voetbal International zwischen Storys und Margriet-lleften im Gang, habe ich gerade gesehen, doch das Ergebnis HollandArgentinien vom Worldcup in Frankreich letztes Jahr kenne ich bereits. Endlich werden wir zu Schelterna hereingerufen. Sie scheint sogar wach. »So, heute gehen wir zum Angriff über«, sagt sie wie eine Pfadfinder führerin, die mit ihrer Gruppe am Fuß eines Hü6F
*
aus Everybody Hurts von REM (Automatic For The People, 1992)
gels in den Ardennen steht. Carmens Blut ist in Ordnung. Die Chemo kann beginnen. Wir dürfen in das Chemozimmer im dritten Stock, sagt sie. Ich bin noch nie dort gewesen, aber etwas sagt mir, dass es nicht sehr lustig ist, eine Chemo mitzuerleben. Ich habe Carmen versprochen, ich würde jedes Mal mitkommen. Sie war erleichtert und sagte, es sei lieb von mir, dass ich das tun wolle. Nun ja, will, will, dachte ich, das Einzige, was ich noch weniger gern will, ist, dass Carmen allein dorthin muss. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemanden gibt, der gerne zu einer Chemotherapie mitkommt. Das erweist sich als richtig. Die Mehrzahl der Partner von Chemopatienten sitzt zu Hause, am Arbeitsplatz oder wo auch immer, jedoch nicht im Chemozimmer. Als wir den Raum betreten, öffnet sich uns eine neue Welt. Dies ist kein gewöhnliches Krankenzimmer, nein, hier hat deutlich ein Versuch zur Häuslichkeit stattgefunden. Am Fenster steht ein Tisch mit zwei Kaffeekannen und einem Teller mit Scheiben Honigkuchen. Die Hälfte davon ist mit Butter bestrichen, die andere Hälfte kahl, um in der Chemoatmosphäre zu bleiben. Es gibt zwei niedrige runde Tische mit Tüchern. Auf einem steht ein kleines Pflänzchen (frag mich nicht nach dem Namen), das etwas welk aussieht. An beiden Tischen stehen bequeme Stühle. Man bat sich jede Mühe gegeben, eine Wohnzimmer Stimmung zu schaffen. Schade, dass die Patienten etwas disharmonieren. Sie haben ernorme Pflaster auf den Händen, aus denen durchsichtige Schläuche kommen, die zu einer Art Kleiderständer auf Rädern fuhren, an denen Beutel mit roter und durchsichtiger Flüssigkeit hängen. Diese tropft durch die Schläuche hinunter, sehe ich jetzt, und verschwindet unter dem Pflaster – wie ich befürchte in den Körper. Es sieht nicht gesund aus und schon gar nicht gemütlich.
Drei von vier Patienten haben so einen Kleiderständer. Ein Mann, ein jovialer Typ mit kühnen, etwas verwaschenen Tätowierungen, hat keinen Kleiderständer und ist demnach so wie ich kein Patient, vermute ich. Er wird zu der älteren dicken Frau gehören, die neben ihm sitzt und deren Hand er hält. Seine Frau dagegen hat einen Ständer mit Beuteln voller Flüssigkeit. Und hauchdünne, dunkelrot gefärbte Haare. Man sieht die Kopfhaut durchschimmern. Im Stuhl neben ihr sitzt ein Mann Mitte fünfzig, der genauso kahl ist wie Couina, der italienische Schiedsrichter. Er hat auch genauso merkwürdig hervorquellende Augen. Und auch er ist an einen Kleiderständer gekoppelt. Als ich ihn genauer betrachte, sehe ich, dass er nicht wegen der Augen so sonderbar aussieht, sondern wegen der fehlenden Augenbrauen und Wimpern. Der dritte Kleiderständer gehört einem hippen Jungen mit einer Great-Gatsby-Mütze. Schätzungsweise Ende zwanzig. Letzte Woche, auf dem Gang bei Dr. Scheltema, war er auch da, erinnere ich mich. Damals war er mit seiner Freundin da, einem zierlichen Mädchen, italienischer Typ, schwarze halblange Locken. Hübsches Ding. Ich weiß noch, ich war froh, dass wir also nicht die einzigen jungen Leute waren, die Krebs hatten. Wo ist diese Freundin übrigens heute? Sie wird ihn wahrscheinlich verlassen haben, weil er Hodenkrebs oder so was hat. Und wenn sie ihn nicht verlassen hat, ist sie eine noch größere Zicke, denn wo ist sie jetzt, während ihr Freund seine Chemo bekommt? Nein, ich bin gar kein so schlechter Partner, stelle ich mit Genugtuung fest. »Guten Morgen, ich bin Janine«, sagt eine Krankenschwester, die schielt wie eine Gans, wenn’s donnert. »Hallo, ich bin Carmen«, sagt Carmen gewinnend. »Tag. Stijn«, sage ich kühl, während ich Janine die Hand schüttle.
Die schielende Krankenschwester zeigt auf eine ungelenke Person, etwa zwanzig Jahre alt, die auch einen weißen Kittel anhat. »Und das ist Jolanda, unsere Praktikantin.« Praktikantin. Praktikantin? Irgendeine zwanzigjährige Ziege wird gleich unsere Chemotaufe, die nicht ohne Tränen vonstatten gehen wird, wie mir der kleine Finger sagt, gemütlich im Rahmen eines Praktikums beobachten. Und dann wird sie bestimmt heute Abend in der Kneipe ihren Studienfreundinnen erzählen: »Heute ist so eine Frau in der Chemo gewesen, so’ne ganz Schöne, höchstens fünfunddreißig, Carmen oder so ähnlich hieß sie, sehr freundlich, mit ihrem Mann, einem arroganten Typen, der hat gar nichts gesagt. Diese Frau und ihr Mann waren zum ersten Mal da, und dann fing die Frau zu weinen an, und ich hatte solches Mitleid mit ihr ... Willst du noch ein Bier? Und wie geht’s bei dir im Praktikum, du bist doch im Rehabilitationszentrum?« Schlampe. Schiel-Janine erzählt, die Chemomischung für Carmen sei schon in der Krankenhausapotheke bestellt worden, und es werde nicht mehr lange dauern, denn es sei ruhig. Heute hätten nur vier Personen ihre Therapie, Carmen sei die Letzte, die andern säßen bereits da, sagt sie mit einem Kopfnicken in Richtung der drei Kleiderständer. Manchmal seien acht Personen gleichzeitig da, und dann werde es schon ärgerlich, denn in diesem Fall sei die Apotheke erst gegen Mittag mit dem Präparieren der letzten Chemo fertig. Ich verstehe das alles nicht so genau, doch das wird sich diesen Sommer zweifellos ändern. In drei Monaten wissen wir bestimmt, wie früh wir sein müssen, um schnell an die Reihe zu kommen, so wie ich genau weiß, wann ich nachts im Paradiso sein muss, damit ich nicht lange Schlange stehen muss, aber auch nicht in einen leeren Saal komme.
Das Telefon klingelt. Janine nimmt ab. »Die Chemo für Frau van Diepen ist fertig«, sagt sie zur Praktikantin, als sie aufgelegt hat. »Kannst du sie rasch holen?« Sie nickt und geht. »Ein gutes Mädchen«, sagt Janine zu uns, während sie den Kopf ein wenig zu uns neigt, »da gibt’s auch andere unter diesen Praktikantinnen.« »Ja«, sagt Carmen lächelnd, »das kenn’ ich.« »Sie haben auch manchmal Praktikantinnen?« Carmen und Janine plaudern fröhlich weiter über die Vorund Nachteile einer Beschäftigung von Praktikantinnen. Erneut erstaunt Carmen mich mit ihrer Fähigkeit, in jeder Situation freundliche, spontane, »Gar-nichts-los«-Gespräche zu fuhren. Ich weiß, sie ist todnervös, sieht der Chemotherapie mit größter Befürchtung entgegen; dennoch gelingt es ihr, der Geschichte über Janines letzte Praktikantin interessiert zuzuhören. Mir nicht. Ich will nicht bewusst rüde sein, aber jedes Mal, wenn ich in dieses Krankenhaus hineingehe, passiert es automatisch. Ich kann nichts dafür. Ich hasse den Krebs und was er mit unserem Leben macht. Ich hasse meinen neuen Status als Ehemann einer Krebspatientin. Ich bin wütend, frustriert, machtlos. Ich bin böse auf Dr. Wolters, auf die Krankenschwester, auf die Praktikantin und auf die andern Patienten, auf den Mann, der dieses gottvergessene, deprimierende Lucas-Krankenhaus gebaut hat, auf den Autofahrer, der heute Morgen in der Schlange vor der Ampel nicht gesehen hat, dass es schon eine Ewigkeit grün war, auf Janine, die so freundlich ist, dass ich sie beim besten Wellen nicht blöd finden kann. Und ich bin böse auf mich selber, weil ich so böse bin. Dass ich es nicht hinnehmen, nicht akzeptieren kann, dass
Carmen nun einmal Krebs hat, und dass ich nun einmal ihr Mann bin, in guten und in schlechten Zeiten. Natürlich begleite ich Carmen heute, und ja, natürlich war ich stolz auf mich, als ich Carmen gestern am Telefon zu ihrer Mutter und zu Anne sagen hörte, sie sei so froh, dass ich zur Therapie mitkomme. Und natürlich sage ich, wir werden zusammen diesem Krebs den Todesstoß versetzen, der wird uns nicht unterkriegen, NATÜRLICH sage ich all das! Was soll ich sonst sagen? Soll ich Carmen etwa erzählen, dass ich ihr die Umarmungen, die tröstenden Worte, die Küsse auf Wange und Kopf, das Streicheln mit dem Daumen über ihre Handfläche, wenn wir Hand in Hand durch den Gang gehen, nur gebe, weil ich mich bewusst anstrenge, lieb zu sein? Aus Pflichtgefühl: Du musst lieb sein zu deiner Frau, die Krebs hat. Es ist mein Ehrgefühl, mein »Es-gehört-sich-so«-Gefühl, das mich lieb macht. Es kommt nicht von selbst. Ich muss die Liebe aus meinen Zehen holen. Die Praktikantin kommt herein mit einer ausgewachsenen Tupperware-Dose, deren Deckel mit zwei Eisenklammern festgehalten wird. »Das ging ja schnell«, ruft Janine fröhlich. »Ich rufe gleich einen Arzt, um den Tropf anzulegen.« Der Arzt ist ein junger, schüchterner Mann in einem weißen Kittel. »Dieser Dame muss ein Tropf angelegt werden, Frans«, sagt Janine, auf Carmen zeigend. Frans, der Arzt, gibt Carmen die Hand und errötet. Ja, das ist mal etwas anderes als diese Runzelsäcke, wie? Frans kann froh sein, dass Carmen heute einen weiten Pullover trägt, sonst würde bestimmt seine Brille beschlagen. Wenn ich sehe, dass andere Männer Carmen schön finden, bin ich so stolz wie ein Hund mit sieben Schwänzen und trage dies auf typisch Stijnianische Weise zur Schau, indem ich die betreffende Per-
son so kühl wie möglich anblicke. Von der tollen Frau, die du da betrachtest, kannst du nur träumen, Trottel! Und dann platze ich fast vor Stolz, weil ich Carmens Ehemann bin. Ich schrecke aus dem Wachtraum auf, denn Carmen fängt an zu weinen, da Frans, der immer nervöser wird, sagt, er müsse noch mal einstechen. Das unmöglich dicke Röhrchen – bestimmt ein halber Zentimeter Durchmesser, sehe ich mit ängstlichem Blick – steckt nicht in einer guten Ader. Ich schaue Frans vernichtend an, doch er bemerkt es nicht, denn er ist zusammen mit Janine bemüht, die Blutung im Loch von Carmens Hand zu stoppen. Frans’ zweiter Versuch scheint zu gelingen. Das folgere ich aus seinem »das sieht besser aus«, während er Carmen sanft auf die Hand klopft. »Ja, es hat geklappt«, sagt Janine erleichtert. Sie hält Carmens linke Hand und streichelt sie, während ich – meine eigenen Tränen kaum bezwingend – an Carmens anderer Seite sitze und ihren Kopf an meine Brust drücke, damit sie das Stochern in ihrer Hand nicht ansehen muss. »Verzeihung, dass es so lange gedauert hat. Ihre Venen sind nicht leicht zu finden«, entschuldigt Frans sich. Er schüttelt Carmen ungeschickt die linke Hand, murmelt ohne uns anzusehen »auf Wiedersehen« und verzieht sich, so schnell er kann. Janine fragt, ob wir uns gleich zu den andern, die Carmens Weinkrampf nicht zu stören scheint – ein Krebspatient gewöhnt sich an alles –, an einen der beiden niedrigen Tische setzen wollen oder ob wir lieber im abgetrennten Raum nebenan Platz nehmen wollen. Ich blicke Carmen an, die mit der Röhrchen-freien Hand die letzten Tränen von der Wange wischt. »Nein, wir werden uns zu den anderen setzen. Ist gemütlicher«, lacht sie.
Ich weiß nicht, ob ich es so gemütlich finde. Ich schäme mich ein wenig vor den andern, bemerke ich. Der Junge mit der Great-Gatsby-Mütze, der Mann ohne Augenbrauen, die Frau mit dem weißen Pullover und ihr jovialer Mann haben ausgiebig zuschauen können, wie ich meiner weinenden Carmen Dutzende von Küssen auf den Kopf gegeben habe. Und sie haben bestimmt gesehen, dass ich alles daransetzen musste, an mich zu halten. Jemanden voller Hingabe zu trösten ist gleichbedeutend mit die Hosen herunterlassen. Du zeigst dich von der intimsten Seite. Aber wahrscheinlich hat Carmen Recht. Am besten mischen wir uns unter diese Gesellschaft. Wir müssen uns ohnehin daran gewöhnen. Wenn es nicht geht, wie es soll, dann soll es, wie es geht. * Ich gehe zum Tisch am Fenster mit dem Tee. Carmen stellt sich neben mich und wartet, bis ich eingeschenkt habe. Ich spüre, dass sie nicht allein zwischen den Krehspatienten Platz nehmen will. »Es ist nicht so einfach, was?«, sagt die dicke Frau mit dem weißen Pullover und dem schütteren Haar. Die rote Flüssigkeit tropft durch den Schlauch in ihre Hand. »Nein ...«, sagt Carmen. »Es ist wahrscheinlich das erste Mal, dass Sie Chemo bekommen?« »Ja.« »Man gewöhnt sich daran.« »Ich hoffe es ...« »Aber lustig wird es natürlich nie.« »Jesus, das kommt einem wie das Finanzamt vor«, sagt ihr Mann fröhlich mit starkem Amsterdamer Akzent. »Solange sie uns nur besser betreuen als die Pflanze«, sagt die dicke Frau und nickt in Richtung des armseligen Pflänz7F
*
Richard Krajicek
chens. Es wird gelacht. Carmen lacht mit, ich also auch. Ich schaue sie an und beschließe, heute einfach das Beste draus zu machen. Eine der Boxen, ich glaube, die von dem Jungen mit der Great-Gatsby-Mütze, piepst. »Hat jemand was in der Mikrowelle?«, versuche ich, der Art Humor des Mannes der dicken Frau so nahe wie möglich zu kommen. »Ja, ich! Kroketten und Käseauflauf«, stimmt er ein. Es gibt wieder Gelächter; auch Carmen lacht. Die Praktikantin geht zu dem Jungen mit der Kappe und befestigt einen der andern Schlauche am Apparat. Ich sehe, dass zwei der drei Beutel an seinem Kleiderständer leer sind. Carmen und ich setzen uns an den leeren Tisch. Die Stühle am andern Tisch sind alle besetzt. Schade. Es fing gerade an, gemütlich zu werden. Carmen bekommt einen eigenen Kleiderständer, zum Glück von Janine. Egal wie sehr sie schielt, lieber sie als die Praktikantin. Weiß Gott wie viele Fehler so ein Kind machen kann. Zuoberst hängt Janine zwei Beutel mit durchsichtiger Flüssigkeit (»Einer ist gegen das Erbrechen, damit fangen wir gleich an«) und einen Beutel mit rotem Gift (»das ist das Adriamyzin«). Das rote Zeug sieht so aus, wie ich es mir vorgestellt habe. Unheimlich. Giftig. Fehlt nur noch der Rauch. Das ist es also. Das Chemotherapeutikum. Dieses Zeug, das hier neben Carmen an einem Ständer hängt und gleich in ihren Körper strömen wird, dieses Zeug wird vielleicht den Krebs attackieren und ganz sicher für Haarausfall sorgen. Das Röhrchen in Carmens Hand wird am durchsichtigen Schlauch festgeschraubt, und dieser führt zu einer Box mit roten Digitalziffern und -pfeilen, irgendwo mitten auf dem Kleiderständer. An einem der beiden Beutel mit dem durchsichtigen Zeug wird ein durchsichtiger Schlauch befestigt,
und dieser geht in den Apparat mit den roten Zahlen. Janine sagt, dass die Salzlösung zwanzig Minuten brauche, und drückt einige Tasten auf der Box, die folgsam die Zahl 20 angibt. »Wenn es fertig ist, ertönt ein Piepsen, und dann müssen Sie mich rufen, falls ich es zufälligerweise selber nicht sehe.« Ich kenne die Prozedur bereits vom Ständer des Jungen mit der Kappe. »Cool. Mein eigenes Giftmobil«, sagt Carmen. Wir werden albern. »Meine Güte, was die schielt, oder?«, flüstere ich Carmen ins Ohr. Carmen nickt und verbeißt sich das Lachen. »Wollen wir sie ›Panorama-Janine‹ nennen?«, frage ich unschuldig. Carmen verschluckt sich am Tee und prustet vor Lachen. Ich tue, als stolpere ich vor Schrecken über die Räder ihres Kleiderständers. Gespielt irritiert drehe ich mich um, schneide ein Mr.-Bean-Gesicht und drohe dem Ding einen Schlag zu versetzen, als Janine gerade nicht hinschaut. »Bitte, Stijn!« Carmen brüllt vor Lachen. Janine lacht Carmen an. Sie ist froh, dass die Patientin lacht. »Scheint Ihnen ja schon ein bisschen besser zu gehen«, sagt sie zu Carmen und zwinkert mir zu. Ich werde rot, weil sie, glaube ich, durchschaut hat, dass mein geflüsterter Witz auf ihre Kosten ging. Und ich erkenne, dass die schielende Janine alles um würde, um das Elend im Leben ihrer Patienten etwas zu erleichtern, auch wenn es nur für einen Morgen, für eine Stunde, für eine Minute ist. Und wenn man deshalb zur Zielscheibe des Spottes werden muss, dann nimmt man’s einfach in Kauf. Neben der schieläugigen Janine komme ich mir klein vor.
Ich setze mich neben Carmen. Sie küsst mich und flüstert mir ins Ohr, sie liebe mich. Ich sehe sie verliebt an und bin stolz auf uns. Die erste Chemokrise ist vom Theater des Lächelns bezwungen worden.
Don’t speak / don’t tell me ‘cause it hurts No Doubt, aus Don’! Speak (Tragic Kingdom, 1996)
FÜNFZEHN Gleich als ich bei Merk in Uitvoering hereinkomme, fragt Maud, wie es heute Morgen gewesen sei.
Maud ist meine Ex. In der Saison ‘88/’89 hatte ich etwas mit ihr. Maud war mal Model, bis sie – einige Jahre später als ihr Agent – kapierte, dass sie den Durchbruch nie richtig schaffen würde. Sie hörte mit dem Modeln auf und achtete nicht mehr auf ihre Linie. Ihre Taille verschwand, ihre Cup-Größe verdoppelte sich, und Maud wechselte in die Gastronomie. Als Merk in Uitvoering eine Sekretärin suchte, überredete ich Frenk, ihr eine Chance zu geben. Maud ist spontan und nicht dumm, aber ihre Oberweite, die nicht einmal Frenk entging, gab schließlich den Ausschlag im Entscheidungsverfahren der Direktion der Firma Merk in Uitvoering. Maud wurde angestellt. In den Anfangsjahren von Carmen & Stijn machten Maud und ich es ab und an noch heimlich miteinander, doch eines Tages wollte sie damit aufhören. Sie fand Carmen zu nett. Jetzt geben wir uns manchmal noch for old times’ sake einen Kuss, und nach der Weihnachtsfeier letztes Jahr lief es auf den vom Engländer nicht vorgesehenen Designerkissen in unserer Bürolounge ein bisschen aus dem Ruder, aber dabei ist es auch geblieben. In letzter Zeit spricht sie mich sogar auf mein Fremdgehen an, was sie nicht einmal gemacht hat, als sie mit mir zusammen war. Sie hat Sharons weißen Rock mit einem Glas Rosé verschönert, als diese mich im De Pilsvogel etwas allzu körperlich begrüßte. An sich bin ich schon mit Mauds Argumenten einverstanden, weshalb diese Fremdgeherei mal aufhören sollte. Nach Maud setze ich damit die schönste Beziehung meines Lebens aufs Spiel. Aber nach erprobter Stijn-Gewohnheit belasse ich es dabei: Wir trinken ein Gläslein, wir machen ein Bächlein, und sonst lassen wir alles so sein. Ich bleibe monophob. Maud war zutiefst betroffen, als sie hörte, dass Carmen Brustkrebs hat.
»Nicht schlecht. Wir haben sogar gelacht.« »Zum Glück. Und wie fühlt Carmen sich jetzt?« »Es geht. Sie hat eine ganze Menge Pillen gegen die Übelkeit bekommen.« »Und wo ist sie jetzt?« »Zu Hause. Ihre Mutter ist da.« Inzwischen habe ich den PC gestartet. Ich will nicht mehr über Krebs reden. »Hat Holland Casino noch angerufen, ob sie mit dem Kostenvoranschlag einverstanden sind?« Frenk schüttelt verneinend den Kopf. Schön, das gibt mir Gelegenheit, mal herrlich jemanden anzuschnauzen. »Verdammt nochmal, dann ruf ihn an! Wir brauchen doch nicht auf diese Stümper zu warten. Ruf den Saukerl selber an, Mann! Jesus Maria, muss ich in dieser Scheißbude denn alles selber machen?« Frenk lässt die Kanonade über sich ergehen. Gleichzeitig öffne ich eine Mail von Carmen, die sie vor etwa zehn Minuten verschickt hat. Von:
[email protected] 1H
Dienstag, 4. Mai 1999 14.29 An:
[email protected] 2H
Betreff: Liebster ... Tag, Liebster, es ist mir jetzt schon etwas übel, aber es geht einigermaßen. Ich wollte noch sagen, ich bin so froh, dass du dabei bist, und ich nicht, wie die andern, bei der Chemo allein dasitze. Xxx Carmen. PS: Ich liebe dich. Liebster
Ich stehe rasch auf und gehe, ohne Frenk anzuschauen, zur Toilette. Dort bricht der Weinkrampf aus, den ich heute immer noch knapp zurückhalten konnte. Nach einigen Minuten wische ich die Tränen weg, schnauze mir die Nase, lasse Wasser übers Gesicht laufen, schaue, ob ich einigermaßen normal aussehe – nein –, betätige die Spülung, als hätte ich längere Zeit geschissen, seufze nochmal und gehe zurück. Acht Kollegen tun, als merkten sie nichts.
When I get old and lose my hair / Many years from now / Will you still be sending me a valentine / Birthday greetings, bottle of wine /Will you still need me / Will you still feed me /When I’m sixty-four The Beatles, aus When I’m Sixty Four (Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, 1967)
SECHZEHN Carmens Mutter nimmt das Telefon ab. »Hallo?« »Ja, hier Stijn. Wie geht’s Carm?« »Mittags hat sie sich entsetzlich übergeben müssen. Jetzt schläft sie.« »Prima. Ich werde gleich Luna von der Krippe abholen Carmens Mutter ist ein Schatz. Sie ist im Stadtteil Jordaan aufgewachsen und sieht aus wie die Schwiegermutter von Schlagersänger André Hazes, aber ohne diese Schweißbrille. Carmens Vater kenne ich nicht. Vor zehn Jahren ist er, nach einundzwanzigjähriger Ehe, abgehauen. Ein Zettel auf dem Küchentisch, diese Art. Carmens Mutter war baff über diesen Glücksfall. Innerhalb eines Monats hatte sie einen neuen Freund. Carmen meinte den Mann von einem Umbau am Haus zu erkennen. (Eine hübsche Anekdote: als Carmens Mutter, damals 54, Carmen (27) ihren neuen Freund (60) vorstellte, fragte Carmen ihn: »Was macht dein Vater?«) Bob der Baumeister ist inzwischen wieder passé. Einen Monat, nachdem das Haus, in das Carmens Mutter umgezogen war, von ihm ausgebaut und instand gesetzt war, kamen ihr Zweifel, ob sie ihn genügend liebte. Exit Bob. Carmens Mutter wohnt wieder allein im prächtig renovierten Haus in Purmerend. Sporadisch nimmt sie vielleicht noch eine fröhliche Mannsperson mit, doch öfter als bei einem Weihnachts- oder Geburtstagsessen hat noch niemand anrükken dürfen. »Mein Haus muss erst wieder in etwa zehn Jahren renoviert werden«, sagt Carmens Mutter.
und gehe dann bei Albert Heyn vorbei. Was möchtest du?« »Oh, einfach irgendwas, irgendein Fertiggericht.« »Glaubst du, dass Carmen vielleicht noch etwas will?« Carmens Mutter lacht. »Einen zusätzlichen Eimer?« Bei Albert Heyn am Groot Gelderlandplein beobachte ich einen Mann und eine Frau von etwa achtzig Jahren. Sie gehen Arm in Arm und schlurfen am Weinregal entlang. Er zeigt mit seinem Stock auf ein Rotwein-Sonderangebot. Seine Frau nimmt eine Flasche und legt sie in den Korb in ihrer Hand. Er sagt etwas zu ihr, das ich nicht verstehen kann. Die betagte Frau lacht auf und kneift ihren Mann in den Arm. Ich halte Limas Händchen etwas fester und gucke rasch in eine andere Richtung. Das verliebte ältere Paar macht mich maßlos eifersüchtig. Carmen und ich werden das nie zusammen erleben.
Now all them things that seemed so important / well, mister, they vanished right into the air Bruce Springsteen aos The River (The River 1980)
SIEBZEHN
Die Medikamente gegen die Übelkeit nützen nichts. Carmen ist zwei Tage lang todkrank. Erst am Donnerstagabend geht es besser. Der Abend geht sogar vorbei, ohne dass einer von uns beiden weint. Am Freitag geht Carmen wieder zu Advertising Brokers. Der Alltag geht weiter. Wir versuchen, bis zur nächsten Chemo in knapp zwei Wochen zu tun, als sei nichts, auch wenn wir beide wissen, dass wir uns etwas vormachen. Das Paradies ist verloren.
In your head do you feel / what you’re not supposed to feel Oasis, aus Sunduy Morning Call (Standing On The Shoulders of Giants 2000)
ACHTZEHN »Hallo, ich bin Gerda. Ihr seid nett zu zweit gekommen?«, fragt die Psychotherapeutin, als sie uns die Hand schüttelt und diese unheimlich lange festhält. Ich sehe es schon: Gerda ist so ein Typ, der sich immer auf den Tisch setzt, auch wenn es doch wirklich genügend Stühle im Raum gibt. »Ja, das fanden wir schön«, antwortet Carmen. Ich finde es überhaupt nicht schön. Ich finde es noch schlimmer als die Chemotherapie. Nie in meinem Leben habe ich auch nur eine Sekunde gedacht, jemals zu einem Psychotherapeuten zu gehen. Gerdas Sprechzimmer ist ein Verschlag von zwei auf drei Meter. Es gibt zwei niedrige Stühle – »es redet sich besser als auf hohen Stühlen« –, einen Hocker, eine alte Stehlampe und ein niedriges Tischchen. Darauf steht ein flacher, altmodischer Kassettenrecorder. Ein Yoko, wie ich glaube, derselbe wie mein allererster. Als Erstes habe ich damals, glaube ich, I Love The Sound Of Breaking Glass von Nick Lowe aufgenommen. Ja, und Psycho Killer von den Talking Heads. Gerda entschuldigt sich für den Verschlag. »Demnächst bekomme ich zum Glück ein anderes Zimmer, etwas größer, mit Tageslicht; das ist nämlich einiges angenehmer, doch vorläufig müssen wir hiermit vorlieb nehmen. Kaffee kann ich nicht anbieten, den habe ich selber nicht so gern, ich trinke lieber Tee. Zucker?«
Sie schenkt den Tee ein und setzt sich auf einen Stuhl neben dem Tischchen. Carmen sitzt auf dem andern Stuhl und ich auf dem Hocker. »So«, eröffnet Gerda, wie ich annehme, auf therapeutisch verantwortete Weise, das Gespräch. »Ja«, sagt Carmen. »Da sitzen wir nun, was?« »Ja, das kann man sagen.« Ich muss sagen, Carmen passt sich dem Gesprächsniveau gut an. Ich weniger. Ich bemühe mich, nicht allzu schroff zu sein, doch ich befürchte, man kann mir von der Stirn ablesen, dass Gerda von mir aus zum Teufel gehen kann. Aber Gerda kennt sich in diesen Dingen aus und ist nicht im Geringsten von meiner kaum verhohlenen Verachtung beeindruckt. Sie bleibt irritierend freundlich. »Ich schlage vor, dass wir uns duzen.« »Findest du es nicht schwierig, jetzt bei einer Psychotherapeutin zu sitzen und über eine Krankheit zu sprechen, an der du vielleicht sterben wirst? Daran denkt man doch nicht, wenn man in der Blüte seiner Jahre steht?« Hallo! Das rechte Wort zur rechten Zeit! Gerda weiß genau, welchen Knopf sie betätigen muss. Ich blicke erschrocken zu Carmen. Genau, da kommen die Tränen wieder. Sofort nehme ich ihre Hand und beginne sie zu streicheln. Ich habe in diesen wenigen Wochen, die Carmen Krebs hat, ihre Hand häufiger gestreichelt als in den sieben Jahren vorher. Gerda sagt nichts. Ich schaue auf Carmens Hand, die in meiner liegt. Ich fühle mich unwohl. Ich fühle mich, als müsse ich eine Prüfung ablegen, ob ich es schlimm genug finde, dass meine Frau Krebs hat und vielleicht sterben wird. Ich will sozialethisches Heulbenehmen zeigen, doch es gelingt mir nicht. Vornüber gebeugt zu Carmen hin, spüre ich die Augen der Psychotherapeutin, die bestimmt schon lange ihr
Urteil parat hat, im Rücken: Er liebt sie nicht, er vergießt keine Träne. »Du musst es aussprechen, Carmen«, sagt Gerda nach einiger Zeit. Carmen erzählt, wie wir in den letzten Wochen vom Himmel in der Hölle gelandet sind. Wie alles gut war und wir es so nett hatten zu dritt, dass wir glücklich waren und dass alles auf einmal patsch, bums vorbei ist. »Es vergeht keine Minute am Tag, ohne dass ich daran denke«, sagt sie zu Gerda. Das ist neu für mich, aber das sage ich Gerda natürlich nicht. Bei mir verstreichen ganze Stunden, ohne dass es mir durch den Kopf spukt. Den größten Teil des Tages, ab dem Moment, wo ich morgens bei Merk in Uitvoering reingehe, denke ich nicht daran. Ich dachte, es wäre bei Carmen auch so. Gestern zum Beispiel. Das schien mir doch ein Abend, wie wir sie in der Zeit vor dem Krebs hatten. Luna im Bett. »Kochst du den Tee?« Carmen ausgestreckt auf dem Dreiersofa mit ELLE, ich vor dem Fernseher, wunderbar wie früher, nichts fehlte. O.K., ich vermeide krampfhaft jedes heikle Thema und stelle nur emotional risikofreie Fragen. »Eine Honigwaffel oder ein Stück Cake, Schatz? Möchtest du Mineralwasser oder ein Glas Wein? Schauen wir gleich Sopranos oder diesen Film auf Canal Plus?« »Gibt’s etwas, das du in den letzten Tagen getan hast, bei dem du merkst, dass es dich beruhigt?«, fragt Gerda. Carmen denkt nach, »Vielleicht wenn du mit Luna spielst oder sie badest?«, probiere ich, in einem krankhaften Versuch, mich in Bezug auf Gerda vom Mann-der-keine-Träne-wegen-seiner-Frauvergießt zum konstruktiv mitdenkenden, liebevollen Lebenspartner neu zu positionieren. »Nein«, schüttelt Carmen fanatisch den Kopf, »dann
muss ich immer denken, dass ich mein Schätzchen vielleicht nie aufwachsen sehen werde.« Die Kleenexbox auf Gerdas Tisch macht Überstunden. Scheiße, wie kann ich so was Gefühlloses sagen. Ich schäme mich in Grund und Boden. Halt dich zurück, Stijn. »Obwohl, wenn ich überlege: Das letzte Wochenende, als ich ein bisschen Ordnung im Garten geschafft habe, war ich etwas ruhiger«, sagt Carmen. Jetzt ist Gerda wieder an der Reihe, Carmen zum Weinen zu bringen. Mit dem Unterschied, Gerda tut es bewusst und ich aus reiner Ungeschicklichkeit. »Aber dann denkst du bestimmt: Wenn ich die Pflanzen nächstes Jahr bloß noch wachsen sehen kann ...« Heiliger Strohsack. Carmens Schleusen öffnen sich jetzt ganz. Gerda spricht aus, woran wir nicht einmal zu denken wagen: Vielleicht ist Carmen in einem Jahr schon nicht mehr da. Dadurch, dass wir die Chemotherapie machen, haben wir dieses Katastrophen-Szenario nach der Vogel-Strauß-Politik weggedrängt. Jetzt bin ich an der Reihe. Gerda steuert auf Kollisionskurs. »Und du, Stijn, sag mal ehrlich, denkst du nicht: Womit habe ich das verdient?« Schock. Was Carmen, Frenk, Maud, Thomas und Anne nicht gelungen ist, gelingt Gerda mit der ersten Bemerkung, die sie direkt an mich richtet. Gerda trifft den Nagel auf die empfindliche Saite. * Ich habe es niemandem erzählt, ich zeige es niemandem, doch es stimmt: Ich spüre, dass der Krebs mich genauso fest im Griff hat wie Carmen. Ich fühle mich reingelegt. Ich beuge den Kopf, nicke und spüre, dass die Augen feucht werden. Shit. Warum jetzt, bei Gerdas allererstem 8F
*
Wrampled by Wim T. Schippers
Angriff auf mein Gemüt? Hätte ich doch verdammt nochmal vorher einen frommen Weinkrampf produziert, als es image technisch gut gepasst hätte. Als ich Gerda hätte zeigen können, wie sehr ich Carmen liebe. Warum schlage ich jetzt ans, wo Gerda anfängt, in meinen Empfindungen zu wühlen, warum kriege ich jetzt plötzlich eine verdammte Heulinkontinenz? Wetten, Gerda hält mich für einen egoistischen Sauhund, der behauptet, er finde es so schlimm für seine Frau, hier aber auf frischer Tat ertappt wird beim Verletzen des ungeschriebenen Ehrenkodexes für Partner von Krebspatienten: Du sollst kein Selbstmitleid haben. Mit gesenktem Kopf, ein von Carmen gereichtes Taschentuch in der Hand, vergieße ich heiße Tränen. »Fühlst du dich schuldig, weil du es auch für dich selbst schlimm findest?«, fragt Gerda. »Ja ... ein bisschen schon ...«, schluchze ich verschämt. Schon seit Wochen höre ich eine Stimme, die mich fortwährend quält, andauernd wiederholt, es zähle alles nicht, dass ich mitlese in diesen Scheißbüchern von Simonton, dass ich mitgehe zu diesen Gesprächen mit Ärzten und zu den zwei Chemos, die Carmen bis jetzt gehabt hat. Letztes Mal war außer mir kein einziger Partner dabei. Die Frau mit dem hauchdünnen Haar war nicht da – Urlaub? geheilt? Aufgegeben? tot? –, und ihr Mann folglich auch nicht. Und der Junge mit der Great-Gatsby-Mütze hatte das Mädchen wieder nicht dabei. Es kommt mir vor, als wögen alle Dinge, die ich richtig mache, trotzdem mein nicht abflauendes, unreines Bedürfnis mich zu amüsieren, nicht auf. Wie ein Pädophiler, dem es jahrelang gelingt, an sich zu halten, sich aber dennoch wegen seiner unflätigen Gedanken über Kinder weiterhin schuldig fühlt. »Das brauchst du nicht, Stijn. Für dich ist es vielleicht noch schlimmer als für mich«, reagiert Carmen plötzlich.
Es dauert einige Zeit, bis mir bewusst wird, was sie sagt. Ich blicke sie erstaunt an. »Ja«, fährt Carmen fort, »du bist gesund, du hast nicht darum gebeten, und jetzt hast du eine Frau am Hals, die den ganzen Tag heult, missmutig ist und ...« – sie schluckt und hält kurz inne – »... demnächst keine Haare mehr hat.« Ich sehe, dass es ihr ernst ist. Sie findet es furchtbar für mich. Für mich. Das ist ja wirklich das Allerletzte. Nach zwei Wochen Krebs sieht unser psycho-emo-relationaler Status demnach wie folgt aus: 1. Frau mit Krebs hat einen Schuldkomplex, weil sie ihrem Mann das antut. 2. Mann der krebskranken Frau hat einen Schuldkomplex, weil er meint, er habe zu viel Selbstmitleid. Und dann flennen wir wieder innig zu zweit und halten uns fest umschlungen. »Sehr gut«, sagt Gerda. Sie sagt, wir würden das nächste Mal mit den Meditationsübungen nach Simonton weitermachen. »Ich glaube, das ist gut fiir dich. Bei diesen Übungen lernst du, den Geist gegen den Körper einzusetzen.« Carmen nickt, als wäre das die normalste Sache der Welt. »Fs funktioniert mit Hilfe von Visualisierungstechniken«, fährt Gerda fort. Ich halte wohlweislich den Alund. »Sie wirken auch sehr beruhigend.« »Ja, das hört sich nicht schlecht an«, nickt Carmen. Ich nicke auch, obwohl mir Carmen nicht so ruhig vorkam, als sie das Buch von diesem Simonton durchs Wohnzimmer geworfen hat.
»Wenn wir die Übung machen, schneide ich mit, und dann kannst du das Band mitnehmen«, sagt Gerda und zeigt auf den Kassettenrecorder. »Dann kannst du die Woche danach auch zu Hause üben.« »Nun, eh ... hört sich gut an«, sagt Carmen. »Was ich euch noch bitten möchte, macht doch bis nächste Woche eine Zeichnung ...« – euch, sie sagt euch – ».. . in der du versuchst, den Tumor in der Brust zu visualisieren ...« – meine jahrelange Übung, keine Miene zu verziehen, einfältige Briefings und das Marketinggefasel von Kunden anzuhören, zahlt sich jetzt aus – »... Du kannst auch mitmachen, Stijn, stell dir einfach den Tumor in Carmens Brust vor ...« – einfach – »... und dann zeichnest du, wie das Chemotherapeutikum den Tumor attackiert ...« – Monty Python! Wie bei Monty Python! – »... und das zeichnest du, so wie es dir einfällt ...« – dass ich hier zum Narren gehalten werde, das fällt mir ein. »Spricht es dich an, Carmen?« »Ja, ich, hm ... glaube schon.« »Dich auch, Stijn?« »Ja, scheint mir eine gute Idee.« »Nun, dann bis nächste Woche!« »Ja, bis nächste Woche.« Sie schüttelt uns beiden die Hand. »Tschüüüs«, rufen wir über die Schultern. Im Lift schaue ich Carmen vorsichtig forschend an. Sie lacht schallend auf. Zum Glück. Ihr Gehirn arbeitet noch.
Seems kinda funny sir to me / That at the end of every hard day / People find some reason to believe Bruce Springsteen,aus Reason To Believe (Nebraska, 1982)
NEUNZEHN Ich muss zugeben, das Gespräch mit Gerda hat mir gut getan. Carmen und ich haben dadurch die brillante Eingebung gehabt, einander etwas mehr über unsere Gefühle auf dem Laufenden zu halten. So traue ich mich, Carmen zu erzählen, dass es mir stinkt, dass wir diesen Sommer kaum nach Bloemendaal fahren werden, dass ich Dr. Wolters die galoppierende arabische Schwindsucht an die linke Herzklappe wünsche und ich es herrlich finde, jeden Tag bei Merk in Uitvoering in eine krebsfreie Zone einzutreten. Und Carmen erzählt ehrlich, wenn sie mal wieder weder ein noch aus weiß, und dass sie bereits Tage vor der Chemotherapie der Stecherei mit Angst entgegensieht. Themen, die tabu bleiben, sind alle Sachen, die nach den Chemos Realität werden könnten – Metastasen, Brustamputation und Tod, um nur einige zu nennen. Ich erhalte dazu aus einer unerwarteten Ecke Unterstützung: Negatives Denken habe eine ungünstige Wirkung auf den Verlauf der Krankheit, schreibt Dr. O. Carl Simonton in seinem Buch. Simon, wie Carmen ihn getauft hat, duldet keinen Widerspruch; mit Kapitelüberschriften wie Psychische Kräfte können Krebs beeinflussen, Nimm die Führung deiner Krankheit selber in die Hand und Der wissenschaftliche Nachweis
für unsere Methode ist Simon der Louis van Gaal der medizinischen Wissenschaft. Doch manchmal ist das Leben einfach: Wenn alle Statistiken unser Feind sind, und Simon sich den amerikanischen Henker um Statistiken und Uberlebensprozentsätze schert, dann ist Simon unser Freund. Deshalb haben wir vergangene Woche jedem, der es hören wollte, erzählt, dass Simons Methode, mit positive thinking, Meditationsübungen und Visualisierungstechniken Krebs zu bekämpfen, wissenschaftlich bewiesen ist (auch wenn ich, ehrlich gesagt, niemandem von unserem Malauftrag bei Gerda erzählt habe). Und wenn jemand Meister in positive thinking ist, dann bestimmt Carmen. Da pflichten uns alle bei. Wenn jemand das kann, dann Carmen. Wir sagen allen, dass der Geist stärker als der Körper sein kann. Was sage ich – stärker ist als der Körper! Wir spannen alle Kräfte an! Wer uns lieb hat, folge uns in diesem Kampf wider besseres Wissen und klammere sich mit uns an den Strohhalm! Halleluja, Simon!
Blonde Haare, biaue Augen / aus einem Märchenbuch geflogen Bloem, aus Mal schnell meine Mutter fragen (Vor allem jung bleiben. 1980)
ZWANZIG Carmens Haare fallen jetzt gehörig aus. Morgens beim Aufwachen ist das ganze Kissen voll. Seit gestern kann sie, ohne dass es schmerzt, ganze Büschel aus dem Kopf ziehen. »Aufgepasst«, sagt sie ernst, als ich eines Abends nach Hause komme, »ich hab den ganzen Tag geübt ...« Sie stellt sich vor mich hin, macht eine Miene, als erschrecke sie furchtbar, schaut mich mit großen Augen an, beißt sich auf die Lippen, um einen gespielten Schrei zurückzudrängen, und zieht mit zwei Händen ein Büschel Haare aus dem Kopf. Eine neue Nummer in ihrem Mr.-Bean-Repertoire. »Der ist gut, oder?«, lacht sie schallend. Abends im Badezimmer blickt sie in den Spiegel, den Kopf ein wenig nach vorn gebeugt. »Jetzt wird’s aber sehr dünn, oder?« »Mwa. Es geht noch.« »Nein, es geht wirklich nicht mehr. Schau doch mal hier«, sagt sie und nimmt oben auf dem Kopf ein Büschel Haare zur Seite. Ich sehe eine Zentimeter große Stelle ohne Haar. »Ja, wenn du die Haare auseinander ziehst, dann sieht man es, ja ...« Sie hört kaum zu. »Ich finde, es geht nicht mehr. Ich habe solche Angst, dass
ich demnächst im Büro bin oder in der Kneipe, und die Leute sehen es.« Sie weiß nicht, ob sie böse werden oder weinen soll. Mr. Bean has left, the building. »Was willst du tun?«, frage ich. Der Moment, den ich schon wochenlang fürchte, kommt jetzt Angst erregend nah. »Was meinst du, wollen wir den Kahlschlag wagen?«, fragt sie zögernd. »Soll ich es für dich machen?«, frage ich, während ich sie im Spiegel anschaue. Schluck. Hab ich das gesagt? »Würdest ... würdest du das tun?«, fragt sie zaudernd, fast verlegen. Ich weiß nicht, wie ich es fertig bringe, aber ich nicke und lächle. »Natürlich tue ich es für dich.« Sie schaut sich noch einmal im Spiegel an, zögert kurz und sagt: »Dann tu’s.« »Gut«, sage ich und nehme den Rasierapparat aus dem Schränkchen neben dem Spiegel. »Wie willst du’s machen?«, fragt sie unsicher. »Zuerst auf Stufe Haarschneiden und nachher rasieren?« »Ja, das ist wohl das Beste, glaube ich, oder? Es muss aber glatt sein. Es darf unter einer Perücke nicht kribbeln.« Ich nehme ein weißes Handtuch und lege es ihr über die Schultern. Sie sieht sich immer noch im Spiegel an. Ich schaue kurz auf die Ober- und Hinterseite ihres Kopfes, wobei ich den Blick wie ein erprobter Friseur von links nach rechts und von oben nach unten gleiten lasse. Wo soll man in Gottes Namen anfangen, kann mir das jemand erzählen? Am besten am Hinterkopf, damit sie, wenn ich mit dem Ap-
parat darüberfahre, nicht sofort selber die erste Kopfhaut sieht? Ja, zuerst die Hinterseite. »Also. Los geht’s, Schatz.« Ich seufze tief, schalte den Rasierapparat ein und rasiere unten im Nacken einen Streifen von ungefähr 4 cm ab. Sofort küsse ich sie auf die Wange. Im Spiegel sieht sie die langen Haare auf das Handtuch fallen, schlägt die Hände vors Gesicht und fängt zu weinen an. Ich schlucke, rasiere jedoch unerbittlich weiter und küsse sie alle paar Sekunden auf den Kopf. Wir sagen nichts. Zehn Minuten später ist Carmen kahl.
You can hide ‘neath your covers and study your pain / waste your summer praying in vain Bruce Springsteen, aus Thunder Road (Born To Run. 1975)
EINUNDZWANZIG »Aaaarrrggghhh! Das Ding juckt, das macht mich wahnsinnig!« Ich schrecke aus meinem Musikmagazin auf. Es ist warm auf der Terrasse hinter unserm Haus. Wegen des Anbaus unserer Nachbarn auf der einen und der hohen Hecke auf der andern Seite ist es immer windstill. Nur ganz hinten im Garten, beim Bach, der die Stadt vom Amsterdamse Bos trennt, gibt es manchmal einen Windhauch, aber dort sitzen wir fast nie. Man hat das Gefühl, als sitze man dort mitten im Wald. Sehr unnatürlich. Ich gehe manchmal mit Luna dorthin, um Enten zu füttern, doch ansonsten hört der Garten für uns eigentlich schon auf, bevor er anfängt, am Rande der Lattenroste unserer Terrasse. Wir sitzen unter dem großen, rechteckigen Sonnenschirm. Sogar mir ist es warm, und ich trage keine Perücke. Prickel-Perücke nennt Carmen sie seit gestern. Sie trägt die Perücke bereits eine Woche, aber gestern war es zum ersten Mal über zwanzig Grad warm. Davor war es, perückentechnisch gesehen, ein herrlicher Sommer: höchstens siebzehn Grad, viel Regen und noch kein Strandtag dabei. »Du kannst sie doch abnehmen?« »Und Maud? Sie steht demnächst mit der Kleinen vor der Tür.« Luna hat bei Maud übernachtet, und heute durfte sie mit
in den Zoo. Ich war heilfroh, als Maud es vorschlug. Vergangenen Dienstag war wieder Chemotherapie, und bis zum Zeitpunkt, wo Carmen sich etwas besser fühlt, bin ich kaputt. Drei Tage Full-Time Carmen und Luna betreuen und zwischendurch noch einige Stunden zu Merk in Uitvoering liegt mir dann langsam auf dem Magen. Dank Maud konnte ich heute Morgen ausschlafen, und dadurch habe ich jetzt so viel Energie, dass ich heute Nachmittag vielleicht noch schnell ins Beachpop kann. Ich habe Carmen noch nicht von meinem verruchten Plan erzählt. »Na, und? Es ist doch dein Haus. Sie müssen sich eben alle daran gewöhnen, dass du kahl bist«, sage ich. Und dann, möglichst beiläufig: »Maud wird übrigens nicht so lange bleiben, sie wollte heute Nachmittag ins Beachpop. In Bloemendaal, du weißt schon. Das fängt heute wieder an.« »Ich darf nicht dran denken.« Carmen hat nicht ihren friedlichen Tag. »Und ich will auch nicht, dass du heute Nachmittag gehst. Sonst hocke ich hier nachher mit Luna.« »Nein, das hatte ich auch nicht vor, Schatz«, lüge ich. Scheiße. »Okay, nur dass du es weißt«, sagt sie, ohne aus ihrem Blvd-News aufzublicken. »Ja-haa. Ich hab doch gesagt, ich hab’s nicht vor?« Stille. »Oh, dieses MISTDING!«, schreit sie und kratzt mit den Fingern an der Perücke. »Gottverdammt, Carm, dann nimm das Ding einfach ab!« »Nein! Ich will mich nicht lächerlich machen. Verstell das doch!« Dann musst du es eben selber wissen, denke ich. Einige Minuten später läutet es. Ich stehe auf und gehe zur Haustür.
»Sie ist so eine Süße«, sagt Maud. Sie streicht Luna, die im Kinderwagen schläft, übers Köpfchen. Maud bleibt noch ein Weilchen. Sie will sich gleich zu Hause aufbrezeln. Sie sitzt wie auf glühenden Kohlen, um ins Beachpop loszukommen. Carmen plaudert und lacht fröhlich mit. Ich lächle. »Frenk und noch einige von Merk kommen auch«, sagt Maud. »Wir bleiben gemütlich zu Hause«, sagt Carmen.
Ich bin nichts und ich tu nichts / ich lunger nur herum / ich gucke aus dem Fenster/ kratze mich am Arsch didum / ich starre vor mich hin / den lieben langen Tag / ich nehme noch ein Bier / und spiel’ auf meinem Sack De Dijk, aus Blutendes Herv (De Dijk, 1982)
ZWEIUNDZWANZIG »Und jetzt?«, frage ich. Auf dem Bett liegen eine Schere, eine Art Pizzaschachtcl mit dicken Päckchen Gelverband und einige lose, zurechtgeschnittene Stücke. Und da liegt eine junge nackte, kahle Frau mit einer schönen, gesunden Brust und einer Brust voller Blasen, gelb, rosa, violett, rot und bordeaux. Die schwarzen Linien, die man vor fünf Wochen wegen der Bestrahlung aufgezeichnet hat, sind gerade noch in der Vulkanlandschaft sichtbar. Carmen hebt den Kopf und blickt auf den seitlichen Teil ihrer Brust, der noch nicht eingepackt ist. Der Verband ist an der Unterseite mit Gel bedeckt, damit beim nächsten Wechsel keine Fetzen verbrannter Haut hängen bleiben. Mit einer Hand hält sie das Stück, das bereits auf der Brust liegt, an Ort und Stelle, mit der andern zeigt sie auf den Verband. »Die Krankenschwester hat es da irgendwo, glaube ich, eingeschnitten. Sonst passt es nicht um die Brust. Dann wirft das Zeug Falten.« »Ja, stimmt. Wie weit muss ich es ungefähr einschneiden?« »Tja, so fünf Zentimeter, oder?«
Dr. Scheltema war nicht unzufrieden, als Carmen die Serie von vier Chemos hinter sich hatte. Die Tumormarker in Carmens Brust gäben Grund zur Hoffnung, und der Tumor hätte sich verkleinert. Sie wagte es sogar, das Wort Operation vorsichtig fallen zu lassen. »Doch zuerst müssen wir dafür sorgen, dass der Tumor noch kleiner wird, sonst gehen wir das Risiko ein, dass er in die Haut gelangt, wenn wir mit Schneiden anfangen. Und dann ist der Teufel los«, sagte sie. Man zog aus dem Antoni-van-Leeuwenhoek-Hospital einen Radiologen hinzu. Der war sich mit Scheltema einig. Bestrahlen. Siehen Wochen lang, jeden Tag ins Antoni van Leeuwcnhoek. Dann würden wir weiter sehen. Die ersten vier Wochen der Bestrahlung ging alles bestens, verglichen mit den Schwierigkeiten nach jeder Chemo. Doch nach zwanzig Bestrahlungen fing, gemäß den Voraussagen des Radiologen, die Haut an zu versagen. »Muss ich noch weiter einschneiden. Was meinst du?« »Nein ... so ist es richtig ...«, sagt Carmen ängstlich. »Stopp, hör auf!« Sie hat höllische Angst, dass ich versehentlich die schmerzende, verbrannte Haut ihrer Brust berühre. Ich lege die Schere weg, und mit der Zungenspitze zwischen den Lippen hebe ich das eine Segment des eingeschnittenen Verbandes hoch und lasse das andere ganz sachte, ohne es anzudrücken, auf die Brust fallen. Dann das zweite Segment schön daneben, und fertig ist die Laube. Die Brust ist hermetisch abgedeckt. Carmen inspiziert meine Bastelarbeit. »Ja«, nickt sie. »Gut. Danke vielmals.« Ich trockne mir den Schweiß von der Stirn, lege die Schutzfolie und einen Rest unbenutzten Verband in die Pizzaschachtel, gehe ins Badezimmer und werfe den Abfall in den Eimer. Als ich zurückkomme, schläft Carmen. Die Bestrahlungen werden langsam zur Belastung.
Auf dem Radiowecker sehe ich, dass es erst halb neun ist. Draußen ist es noch hell. Gestern ist sie um acht Uhr schla-
Frenk und ich kennen Ramon von BBDvW&R/Bernilvy. Dort fing Ramon als Assistenzrechnungsprüfer unter Frenk an. Was Frenk an Stil zu viel hat, hat Ramon zu wenig. Er ist breitschultrig wie ein Bodybuilder, und das sind nur Homos oder Proleten, und Ramon ist beileibe kein Homo. Er ist stolz auf seinen Körper, und ich muss gestehen, nicht zu Unrecht. Es gibt ihm mehr Selbstbewusstsein, als ihm gut tut. Er wird gern aggressiv, wenn er etwas getrunken hat und jemand ihn (oder sein Auto oder sein Bier) versehentlich berührt. Ramon tut, als gehöre ihm die ganze Welt, und die Welt fällt darauf meistens auch noch rein. Dazu hat er ein riesengroßes Maul, und das strahlt auch mehr Selbstvertrauen aus, als objektiv gesehen angebracht ist. Ein richtiger Freund wie Frenk und Thomas ist Ramon eigentlich nicht, aber wir gehören zur gleichen Blutgruppe. Ramon liebt Locations wie La Bastille, Het Feest van joop und die Surprise Bar. Ich kenne nur einen, der mit der gleichen Abnormalität belastet ist, und das bin ich. Eine andere gemeinsame Eigenschaft ist, dass Ramon wie ich ein Frauen-Omnivore ist. Wir nehmen, was unsern Weg kreuzt, und lassen uns durch persönliche Bindungen nicht stören. Ramon und ich sind der Meinung, Mäßigkeit sei eine Tugend, die nur von den ewig Zuspätkommenden ausgeübt wird.* Die letzte Übereinstimmung ist: Wir kommen beide aus dem Süden. Ich aus Breda, Ramon aus Chile. Als Ramon neun war, ist sein Vater mit der ganzen Familie in die Niederlande geflohen. Ramons Vater war Lehrer, und nach Meinung des Pinochet-Regimes zu clever. Die Familie landete in der Amsterdamer Vorstadt Bylmer. Seine Freunde wandten sich dem Koks und andern einschlägigen Sachen zu, entweder als Konsumenten oder als Dealer. Ramon fing ein Studium an. Er wolle Karriere machen, sagte er. Zehn Jahre später wurde nicht Frenk, sondern Ramon plötzlich zum Direktor der Werbeagentur BBDvW&R/Bernily ernannt. Frenk verstand nicht, dass ein Prolet wie Ramon jetzt auf einmal sein Vorgesetzter wurde, und ging. Seither kann er es nicht lassen, mit der Creative & Strategie Marketing Agency Merk in Uitvoering zu prahlen und über Werbung herzuziehen, wenn Ramon dabei ist. Ramon sagt, Frenk (oder wer auch immer auf diesem Planet) solle ihn doch lecken. *Boccaccio, vorher durch Ronald Giphart missbraucht in Ich umarme dich vieltausendmal
fen gegangen, eine Viertelstunde nach Luna. Ich fühlte mich mit ihr solidarisch und ging auch ins Bett. Um Mitternacht schlief ich noch nicht. Leise gehe ich zu ihr und küsse sie auf die Stirn. »Gute Nacht, Schatz«, flüstere ich. Sie schläft weiter. Unten nehme ich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Eigentlich habe ich mehr Lust auf Rosé. Ich stelle das Bier zurück und öffne eine Flasche. Aus dem Schrank nehme ich einen Beutel Japan-Mix. Ich schaue, ob noch SMS gekommen sind. Eine von Ramon. Ob wir uns am Freitag noch am Leidseplein treffen.
Meinen wöchentlichen Fußballabend im Vondelpark habe ich seit der Chemo ausfallen lassen, ich gehe nicht mehr nach der Arbeit einen trinken, aber Stijns freitäglicher Ausgehabend bleibt unangetastet. Nur ist es erst Dienstag, und ich sterbe vor Energie. Ich mache den Fernseher an. Auf Yorin die Wiederholung von Big Brother von heute Abend. Habe ich schon gesehen, das schauen wir im Moment jeden Abend um sieben. Man muss ja etwas machen. Auf RTL ein Film für Thomas. Ich schicke ihm eine SMS, ob er guckt. Auf SBS6 Everton – Southampton, FA-Cup. Ich schaue kurz. Scheißmatch. Auf Canal Plus ein französischer Film. Auch nichts. Dann eben MTV. Verdammt, R&B. Das Sportjournal auf 3 fängt erst um Viertel nach zehn an. Ich nehme Het Parool vom Boden und fange einen Artikel in der Beilage an. Ich komme bis zur Hälfte. In der Tischschublade liegt Die Entdeckung des Himmels, worin ich in den letzten Monaten 67 Seiten gelesen habe. Widerwillig schlage ich das Buch auf, lese bis Seite 71 und lege es seufzend
wieder weg. Ah, eine SMS! Thomas, er schaut den Film tatsächlich und fragt, wie es Carmen gehe. Ich tippe, sie liege bereits im Bett, weil sie kaputt sei von den Bestrahlungen, und dass ich mich zu Tode langweile. Bevor ich abschicke, lösche ich den Part über die Langeweile. Thomas hockt schon Jahre zu Hause auf dem Sofa. Und Anne würde es kein Jota verstehen. Ich schenke mir noch etwas Wein nach und schalte auf Videotext. Seite 601. Wenig Neues. 703. Es bleibt schönes Wetter diese Woche. Auch das noch. Zurück nach SBS. Noch immer 0:0. AT5 vielleicht? O Gott, eine Zicke, die alle Verkehrsbehinderungen wegen Bauarbeiten diese Woche in Amsterdam aufzählt. Inzwischen habe ich den Computer gestartet und Outlook geöffnet. Die vier Mails einer amerikanischen Chatgruppe über inflammatory breast cancer lasse ich sein. Ich öffne eine Mail von Anne. Wie es Carmen heute gehe. Das darf sie morgen selber beantworten. Hakan mailt Frenk, Ramon und mir, er fahre das letzte Oktoberwochenende auch mit nach Miami. Ein Reply von Frenk, dass wir jetzt aber sehr schnell buchen müssen und mal nachschauen sollen auf www.pelicanhotel.com, denn das sei das Hotel von Renzo Rosso von Diesel, und das sei das einzig Wahre. Die nächste Antwort ist wieder von Hakan. 3H
4H
Hakan. Türke zweiter Generation. Erfolgreich, and it shows. Dress to impress ist sein Lebensmotto. Unser gemeinsamer BBDvW&R/ Bernilvy-Hintergrund und ein übertriebenes Interesse an Fußball und Frauen ist alles, was wir teilen. Wie es sich für Männer schickt, genügend, um sich allen Ernstes als Freunde zu betrachten. Er hat vernommen, The Pelican sei bereits wieder out. Ich maile den beiden Männern, das Hotel sei mir wurscht, wenn wir nur fahren. Das Sportjounal verpasse ich, weil Carmens Mutter anruft und nach Carmen fragt. Erst Viertel vor elf.
Der Schlaf ist noch Meilen entfernt. Ich surfe auf Bol.com. Die neue Manie Street Preachers ist raus. Ich klicke Bestellen an. Ich lese eine Rezension von The Prodigy auf dem Schirm. Bestellen. Eine CD von Eagle Eye Cherry, von der Carmen einen bestimmten Song so gern hat. Bestellen. Ich nehme meine Kreditkarte und tippe die Angaben ein. Jetzt sieht man wieder einmal, ausgehen ist billiger als zu Hause bleiben. Ich schenke noch etwas Rosé nach und lege den japanischen Mix weg, bevor ich aus Langeweile den ganzen Beutel leer esse. Viertel nach elf. In einer halben Stunde fängt der Porno auf Canal Plus an. Ich blättere in einem alten HP/De Tijd und lese einen Teil aus Auf dem Wege der Besserung von Simonton. Ich halte eine Viertelstunde durch. Carmen hat schon beide Bücher gelesen. Ich stelle die Flasche Rosé, die zu drei Viertel leer ist, in den Kühlschrank, räume den Fisch ab, räume den Geschirrspüler aus, stelle Lunas Teller für morgen auf den Tisch und gehe zurück ins Wohnzimmer. Oh, es hat schon angefangen. Italienischer Porno heute Abend. Das sind meistens rechte Frauen mit echten Titten. Ich mag die aufgeblähten amerikanischen Pornotitten nicht. Carmen und ich sind uns, was das angeht, völlig einig: lieber große Titten, die echt sind und ein wenig hängen, als Nepptitten, die aufrecht stehen und sich beim Ficken nicht bewegen. Es ist schon Monate her, dass wir gemeinsam unsere wissenschaftliche Analyse der Fernsehtitten durchgeftihrt haben. Wenn Carmen beim Zappen jetzt zufällig in einen Porno auf Canal Plus gerät, zappt sie so schnell wie möglich weiter. Für Carmen ist Porno passé. Für mich nicht. Ich schaue zwei Szenen an, komme, nehme ein Stück Küchenpapier, wische mir den Bauch ab, werfe das nasse Papier unter einige Zeitungen in den Abfalleimer und gehe ins Bett. Nach etwa zehn Minuten schlafe ich neben Carmen ein. 5H
I do declare / there were times / when I was so lonesome/ I took some comfort there Simon and Garfun‹el, aus 7i"?e Boxer (Sound of Silence, 1970)
DREIUNDZWANZIG Carmen kennt Ramon kaum. Sie haben sich einige Male bei Empfängen von BBDvVV&R/Bernilvy getroffen. Ramon war schwer von Carmen beeindruckt. (»He, ami go, wir war’s gelegentlich mit Partnertausch?« »Ich bin doch nicht bekloppt – nur schon der Gedanke, dich zu nageln, uäh ...«) Er kommt nie zu uns nach Hause. Wir verabreden uns immer am Leidseplein, im Palladium. Dort plaudern wir eine halbe Stunde über Bernilvy und Merk in Uitvoering und besehen die jungen, straften Mädels, mit denen das Palladium übersät ist, und machen uns dann auf den Weg zum Jagdrevier, wo wir uns als gute Dreißiger mehr zu Hause fühlen: La Bastille. Palladium. Die Auswahl von Ajax holt sich dort schon seit Jahr und Tag ihre Freundinnen. Das Gerücht geht, dass sogar Wim Jonk* dort schon mal gescort hat. *Langweiligster Ajax-Spieler aller Zeiten.Bei PSV gefiehl’s ihm später besser
Gib mir jetzt die Nacht, ich gebe dir den Morgen zurück, tönt es draußen schon. In der Bastille erkennt man, dass nichts im Leben so wichtig ist wie Regelmäßigkeit, deshalb wird dort mindestens jedeViertel-stunde was von André Hazes aufgelegt. Das Publikum besteht vor allem aus Frauen der zweiten Runde (30-40, geschieden, erkennbar an großen Investitionen in Kosmetika und Solarium, um noch was draus zu machen). Hohe Trefferquote.
Einmal drin, gehen wir zur Tagesordnung über. Wir nehmen an der Theke eine Gruppe Cocktail trinkende Frauen ins Visier. Ramon unterhalt sich mit einer Frau mit einem Moschino-Gürtel. Ich mit einer, deren Bluse, nach Carmens Ansichten, zu viel Haut zeigt (nach meiner Meinung ist es halb so wild) und deren Hintern zu dick ist für den Rock, den sie trägt (das muss sogar ich zugeben). Aber auf BastilleNiveau bezogen ist es nicht mal besonders ordinär. Nach halbstündigem Gefasel knutschen wir. Nach einer Stunde frage ich zum dritten Mal nach ihrem Namen und zum zweiten Mal, ob sie in Amsterdam wohne. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass meine Popularität auf dem absteigenden Ast ist. Sie habe einen Freund, sagt sie plötzlich, und ihre Freundinnen seien auch da. Dann quatscht sie, es sei hier so blöde voll, und sie habe vorher zehn Minuten in der Toilette Schlange stehen und dann obendrein noch zahlen müssen. Geseich am Kopf habe ich schon genug. Ich frage Ramon, ob er und seine Klette Lust haben, in die Surprise zu gehen. Die Surprise ist die Vorhalle der Bastille. Wird die Bastille vor allem von Frauen der zweiten Runde bevölkert, liegt das Durchschnittsalter der Surprise zehn Jahre drunter. Frauen, deren Beziehung auseinander gegangen ist und die jetzt eine kurze, intensive Partyperiode beginnen. Immer mit einer Freundin, die meistens im gleichen PostBeziehungsboot sitzt. Zusammen gehen sie zwei-, dreimal pro Woche in die Surprise (und nach drei Uhr früh ins Cooldown oder Het Feest van Joop). Dort werden sie schon bald vom immer gut gelaunten Barpersonal erkannt, sichern sich einen Stammplatz an der Theke und – das Statussymbol für die weiblichen SurpriseBesucherinnen – dürfen ihre Handtaschen und Mäntel hinter die Bar legen. Der Barkeeper hofiert die Frau und ihre Freundin bei jedem Besuch mit Gratis-Shots und Augenzwinkern. Ein durchaus geschäftliches Vorgehen, denn je mehr Damen dieser Gattung an der Bar, desto mehr Männer. Die junge Frau verliebt sich darauf schon schnell in einen männlichen Surprise-Besucher, das Paar geht der Form halber noch eine Zeit lang in die Surprise und landet dann auf dem Sofa im neuen Haus in Almere. Nach einigen Jahren folgt die Scheidung, und dann ist die Reihe an der Bastille. Derart recycelt der Leidseplein auf ökonomische Art seine Kundschaft.
Er schüttelt verneinend den Kopf. Ich zucke mit der Schulter und verlasse La Bastille. In der Surprise-Bar halte ich es zehn Minuten aus. Offenbar sehe ich sogar nach Surprise-Begriffen wie ein brünstiger Pavian aus. Die Frauen reagieren nicht. Soll ich ins Paradiso gehen und gemütlich im Alleingang tanzen? Oder soll ich ... Warum nicht. »Ruysdaelkade«, sage ich zum Taxifahrer. Aus Scham lasse ich mich nicht auf der Hurenscite, sondern auf der andern Seite des Kanals absetzen und tue, als ginge ich in ein Wohnhaus. Als das Taxi außer Sichtweite ist, gehe ich rüber und komme nach dreimal Auf- und Abgehen zum Schluss, dass die Frauen, die zu dieser Stunde noch arbeiten, nicht gerade mehr die schönsten sind. Schließlich 6nde ich eine Afrikanerin. Sie trägt ein schwarzes Neglige, das zu klein ist für ihre fleischigen Brüste. Als sie sich auszieht, rutschen sie einen Dezimeter nach unten. Aber ja nun, es sind auf jeden Fall zwei, und sie sind nicht verbrannt. Eine halbe Stunde später ziehe ich mich zu Hause wieder aus. Ich lasse die Kleider im Wohnzimmer liegen und gehe so leise wie möglich die Treppe hinauf. Geräuschlos krieche ich ins Bett. »War es nett?«, fragt Carmen schläfrig. »Ja. Gemütlich gequatscht und getanzt. War nett mit Ramon.« »Mmmm«, sagt sie mit liebevoller Stimme. »Schön. Das hast du verdient.« Ich küsse sie im Dunkeln auf die Wange. »Schlaf gut, Liebe meines Lebens.« »Schlaf gut, allerbester Freund der ganzen Welt.«
Was haben Männer eigentlich immer mit Brüsten? Warum seid ihr so interessiert dran? Ernsthaft, es sind nur Brüste. Jeder Zweite auf der Welt hat welche. Sie sehen komisch aus, sie sind für Milch. Eure Mütter haben auch welche. Ihr müsst doch schon Tausende gesehen haben. Was soll das Getue? Notting Hill (1999) * 9F
VIERUNDZWANZIG Wer hätte je gedacht, dass ich irgendwann eine Woche in die Ferien in den Centerparc in Port Zélande fahren würde. Ich kann es jedermann und mir selber genau erklären, das schon. Wollen Sie unserer inescapable logic kurz folgen? 1. Es ist problematisch für Carmen, iveit weg zufahren, mit diesem ganzen Chemozeug, das immer noch in ihrem Körper steckt. 2. Wegen Carmens Perücke gilt für alle Bestimmungsorte mit einer zu erwartenden Temperatur von über fiinfundzwanzig Grad eine negative Reiseempfehlung. 3. Aktiv-, Wander-, Party- oder Kulturferien kommen wegen Limas Alter (eins) und Carmens Kondition (null) nicht in Frage. 4. Centerparcs ist ein Kunde von Merk in Uitvoering, und so kann ich einige Stunden unseres Aufenthaltes hier als field research verrechnen. Julia Roberts zu Hugh Grant. Wobei bemerkt werden muss, dass Julia selber keine Titten hat, wenigstens nicht mit bloßem Auge erkennbar. *
Außerdem fahre ich in einem guten Monat mit den Jungs nach Miami, also sollte ich eine Woche Port Zélande verkraften können, dachte ich. Falsch. Es ist nicht lustig in Port Zélande. Alles enttäuscht. Die Leute hier machen mich verrückt; das Wetter ist prächtig und daher viel zu warm für die Prickelperücke, Carmen ist genauso reizbar wie ihre Perücke, und zu allem Überfluss weigert sich Luna seit kurzem, tagsüber eine Stunde zu schlafen, sodass sie später am Nachmittag müde und ungenießbar ist, was einen negativen Multiplikatoreffekt auf den Rest der Familie hat. Schließlich trägt es auch nicht zur Stimmung bei, dass Carmen in drei Tagen Dr. Scheltema anrufen muss, damit sie weiß, ob ihre Brust jetzt definitiv amputiert werden darf oder doch nicht. So verhält sich die Sache. Dr. Scheltema hat es sich zusammen mit dem Radiologen und Dr. Wolters wie folgt ausgedacht: Vergleiche es am besten mit backburning, der Technik, mit der große Waldbrände bekämpft werden. Man brennt absichtlich ein Stück Wald ab, um ein etwas weiter entferntes Feuer zum Stillstand zu bringen. Sobald das gelungen ist, wird der ganze Wald dem Erdboden gleichgemacht. Mit der Bestrahlung von Carmens Brust wollen die drei Ärzte genau den gleichen Effekt erzielen. Die Chemotherapie hat bewirkt, dass der Tumor etwas kleiner geworden ist. Dann mussten die Bestrahlungen den Tumor derart weiter verkleinern, dass ohne ein zu großes Risiko die grand apotheose des Ganzen geplant werden konnte: die operative Entfernung des Tumors und das backburning von Carmens Brust. Dabei hat Carmen gemäß Scheltema den Vorteil, dass sie ziemlich große Brüste hat. Dann ist die Chance größer, dass der Chirurg beim Amputieren der Brust den Tumor, der bei der Warze anfängt, auch wirklich ganz entfernen kann.
In drei Tagen, am Donnerstagvormittag, tritt die Kommission Schelterna-Wolters mit dem Radiologen und dem Chirurgen ins Konklave. Nicht nur das ganze medizinische Amsterdam, sondern auch unser kompletter Freundeskreis und die ganze Verwandtschaft sind intensiv in die gesellschaftliche Diskussion über die Brust meiner Frau einbezogen. Alle hoffen, die Ärzte werden grünes Licht für die Operation geben (niemand nennt es Amputation). »Was habe ich gehört, kann Carmen vielleicht doch operiert werden?« »Ja ...« »Aber ... das ist doch ein gutes Zeichen, oder?« »Ja, an sich schon, denn zuerst haben sie es nicht gewagt, und jetzt wahrscheinlich doch, also ist es gut.« »Oooo, wie schön! Das war doch wirklich toll, oder?« Na, und ob! Mensch, wie toll das wäre, und wie erleichtert Carmen sein wird! Erleichtert, dass sie bald keine solchen Späße mehr machen kann wie damals, als ich aus dem Badezimmer kam und sie mit einem breiten Grinsen auf dein Gesicht nackt auf dem Bett lag, zwei gelbe Post-it-Zettel auf den Brustwarzen; auf dem einen stand »lecker« und auf dem andern »oder?«. Erleichtert, weil sie sich nicht mehr scherzend eine Kreuzung zwischen Blondie und Betty Boop nennen kann, weil sie nicht mehr blond und nicht mehr kess ist. Und dann ich erst. Ich werde auch soooo erleichtert sein! Erleichtert, weil außer ihrer Brust auch noch etwas anderes amputiert werden wird. Ihre Fähigkeit, ungehemmt und schamlos ordinär geil zu sein. Ein Prozess, der bereits angefangen hat, als Carmen die Haare ausgingen. Frag mich nicht warum, aber Carmen findet sich selbst um einiges weniger attraktiv, seit sie kahl ist. Auch wenn ich wiederholt be-
teuere, sie sei auch ohne Haare schön. Mehr noch, um ihre Kahlheit zu teiern, habe ich das wenige Schamhaar, das ihr nach der Chemotherapie noch verblieb, auch noch abrasiert und ihr unter Gelächter erzählt, wie verlockend ihre Muschel so ist. Auch Carmen erregte es. Wenigstens am ersten Abend. Nachher siegte im Bett der Unwillen wegen der Glatze über ihre Erregung durch die kahle Schamgegend. Ende Sex. Komisch, was? Nach der Brustamputation wird es überhaupt festlich zugehen im Schlafzimmer. Wie oft ich ihr auch sagen werde, dass ich sie immer noch anziehend finde: Jedes Mal, wenn sie in den Spiegel schaut, wird sie sehen, sie ist nicht mehr Carmen. Carmen hat Angst, ihre Brust zu verlieren; ich habe Angst, die Carmen, die ich kenne, zu verlieren. Eine Angst, die ich mit niemandem zu teilen wage. Man könnte denken, ich mäße Carmens Brust mehr Wert bei als Carmens Leben. Auch Carmen und ich sprechen kaum über die Operation, die immer näher zu kommen droht. Wir wissen beide, woran wir denken, wenn wir im Port-Zélande-Restaurant Miesmuscheln essen, wenn wir am Strand liegen, wenn wir mit Luna spielen, wenn wir über Belanglosigkeiten reden, wenn wir uns über Belanglosigkeiten streiten, wenn wir uns abends im Bungalow David Letterm.an anschauen, den ganzen Tag hindurch denken wir an die Brust. Und wenn wir schlafen, träumen wir von der Brust. Wir wissen es voneinander und verschweigen es voreinander. Am Abend vor dem Telefonat liegen wir im Bett. Ich küsse Carmen und drehe mich auf die Seite. »Soll ich das Licht ausmachen?« »Ja, okay.« »Gute Nacht, Schatz.« »Gute Nacht, mein Liebster.«
Klick. Es verstreichen einige Minuten. »Stijn?« »Ja?« »Schläfst du schon?« »Nein.« »Oh.« »Was ist?« »Was werden sie morgen sagen, glaubst du?« »Ich weiß es nicht, Schatz.« »Und was hoffst du?« »Ja, ich hoffe natürlich, dass sie es machen.« »Aber du bist ein Tittenliebhaber, Stijn. Und demnächst hast du eine Frau mit Glatze und nur einer Titte.« Ich drehe mich zu ihr und nehme sie fest in die Arme. »Ich hoffe wirklich, dass sie es machen, Carmen.« »Sicher?« »Sicher.« Ich spüre eine Träne auf meine Schulter fallen. »Und was hoffst du?« »Ich hoffe, sie können ihn wegholen.« »Dann ist es in Ordnung.« »Aber schlimm bleibt es, oder?« ». . .« »Stijn?« »Ja ... es ist furchtbar, Schatz. Doch ich habe lieber dich mit einer Brust als gar nicht mehr.« Am nächsten Tag liegen wir am Strand. Es ist schon um die Mittagszeit. Ich gucke ab und zu nach Carmen, traue mich aber nicht zu fragen, ob wir nicht anrufen sollen. »Ich gehe kurz in den Bungalow und rufe an«, sagt sie plötzlich.
»Willst du nicht lieber von hier anrufen?«, frage ich, auf mein Handy zeigend. Sie verneint. »Lieber nicht. Ich will genau hören, was Scheltema sagt, und hier weht es so stark.« Natürlich will sie hier nicht anrufen, Blödmann, denke ich. Wie schön, an einem belebten Strand zu hören, dass deine Brust abdarf. »Soll ich mitgehen?«, frage ich. »Nein, ich gehe lieber schnell allein. Bleib nur hier mit Luna.« Sie zieht ein Kleid über den Bikini und entfernt sich vom Strand. Ich verfolge sie mit den Augen, bis sie am Waldrand ist und aus der Sicht verschwindet. Es dauert beinahe eine Dreiviertelstunde, bis sie zurück ist. Ich habe Luna mit Schaufel, Eimer und Wasser unterhalten. Es ist, als säße ich im Wartezimmer, während meine Frau gebiert. »Hey«, tönt es unerwartet hinter mir. »Hey!«, sage ich und versuche von ihrem Gesichtsausdruck abzulesen, was Scheltema gesagt haben kann. »Sie wissen es noch nicht.« »Sie wissen es noch nicht?« »Nein. Scheltema sagt, der Chirurg will sich zuerst nochmal meine Brust anschauen, bevor er entscheidet, ob er’s macht.« »Jesus«, seufze ich, »wann will er das machen?« »Nächste Woche. Ich hab Alontag einen Termin bei ihm.« Wieder vier Tage länger in Spannung leben. »Hm. Wieso hat es eigentlich so lange gedauert? Du bist bestimmt eine Dreiviertelstunde weg gewesen.« »Scheltema hatte Mittagspause.«
Wir werden weitergehen / in einem Schützengraben ohne Licht/ um wieder weiterzugehen Ramses Shaffy, aus Wir werden weitergehen (Wir werden weitergehen, 1972)
FÜNFUNDZWANZIG Der Chirurg heißt Dr. Jonkman. Sein Büro liegt neben Wolters’ auf der Abteilung Onkologie. Guter Typ, ich sehe es an Carmen, die hinter seinem Rücken mit der Zunge ihre Lippen befeuchtet und mir zublinzelt. »Is’ er lecker?«, flüstere ich ihr leise ins Ohr. Sie nickt begeistert. »Wenn er deine Titten anfasst, kriegt er ein paar aufs Maul«, flüstere ich. Carmen lacht. Jonkman ist ein Doktor wie aus einem Arztroman. Um die vierzig, jungenhaftes Gesicht mit halblangen Haaren, an den Schlafen ergrauend. Steck ihn in einen Paul-Smith-Anzug, und er könnte ein Werbefuzzi sein. Er kann sich besser in unsere Lage versetzen als Dr. Scheltema und Dr. Wolters, die etwa fünfzehn Jahre älter sind. Er wird bestimmt auch eine Frau in Carmens Alter haben, und – so wie er aussieht – zweifellos auch eine sehr schöne. Das schafft eine Verbindung. Aber er bleibt ein Arzt. Sobald er Carmens Akte – die ich mittlerweile schon von außen erkenne – öffnet und vom Menschen Carmen auf die Patientin Frau C. van Dîepen umschaltet, beginnt er wie ein EU-Parlamentarier zu sprechen. Vorsichtig formulierend erklärt er, dass er nur dann zur Operation übergehe, wenn er sicher sei, dass sie die Überlebenschancen stark verbessere.
»Sie sind eine schöne, junge Frau, und nach der Ablatio ...« – wir schauen ihn verständnislos an – »... eh, der Operation, nach der Amputation, haben Sie eine zirka zehn Zentimeter große horizontale Narbe anstelle Ihrer Brust ...« – das scheint uns tatsächlich nicht schön, nein –, »und dann können wir vielleicht irgendwann mal ein Brustimplantat einsetzen, doch es wird nie mehr, wie es jetzt ist.« Er pausiert kurz und blickt Carmen direkt an. »Es ist eine abscheuliche Verstümmelung.« Abscheuliche Verstümmelung. Ich erschrecke von seinen Worten, realisiere aber, dass er bewusst so direkt ist. Er will wissen, ob Carmen dazu bereit ist. Ich mag ihn. Jonkman ist der Erste, der versteht, dass eine Brust für eine junge Frau und ihren Mann mehr ist als eine Ausstülpung mit – in Carmens Fall – einer Geschwulst darin. »Wollen wir die Brust mal anschauen?« Carmen zieht Bluse und BH aus und legt sich auf den schmalen Untersuchungstisch im Zimmer. Jonkman betastet die Brüste meiner Frau. Carmen blinzelt mir zu, ich lächle. »Tja ...«, sagt er nach einer Weile. »Tja. Sie können sich wieder anziehen.« Er wäscht sich die Hände. »Ich schätze den Tumor in diesem Moment auf sechs mal zwei Zentimeter.« »Das heißt...?« Carmen wagt es nicht, ihre Frage zu beenden. »Ich glaube, wir müssen das Risiko auf uns nehmen und jetzt doch zur Amputation der Brust schreiten, um Ihre Uberlebenschancen zu optimieren.« Carmen lässt sich äußerlich nichts anmerken, doch ich sehe, dass es sie hart trifft. Jonkman fährt schnell fort. »Die Ablatio kann in der dritten Oktoberwoche vorgenommen werden«, sagt er, während er einen Plan an der Wand stu-
diert, »auch wenn ich selber dann im Urlaub bin. Dann übernimmt Dr. Wolters die Operation.« Den Namen Wolters in einem Satz mit dem Wort Operation zu hören, genügt, um Carmen in Weinen ausbrechen zu lassen. »Kommt nicht in Frage«, sage ich verbissen. »Wieso nicht?«, fragte Jonkman erschrocken. Ich sehe ihm an, dass er von nichts weiß. Die Schufte. Wolters und Seheltema haben es vertuscht. »Dr. Wolters ist vor knapp einem Jahr eine Fehldiagnose unterlaufen. Deshalb sind wir jetzt hier. Meine Frau und ich wollen nicht, dass er ihren Körper nochmal berührt.« Carmen schaut schluchzend zu Boden. Jonkman findet schnell zur Professionalität zurück. »Gut. Dann operiere ich Sie eine Woche später«, sagt er, ohne weiter auf den Kalender zu schauen. Carmen nickt und flüstert kaum hörbar: »Gerne ... Danke.« »Meine Assistentin macht gleich das genaue Datum mit Ihnen ab.« Das Datum der Operation wird auf Donnerstag, den 31. Oktober, festgelegt. Vier Tage nach Miami, schießt es mir plötzlich durch den Kopf. Das kann ich in dem Fall vergessen. Scheißkrebs. In einem einzigen Gespräch eine Titte und das lustigste Weekend des Jahres futsch.
When I’m out in the streets / I talk the way I wanna talk / when I’m out in the streets / i don’t feel sad and blue / when I’m out in the streets / I never feel alone / when I’m out in the streets / in the crowds I feel at home Bruce Springsteen, aus Out in The Streets (The River 1980)
SECHSUNDZWANZIG Und am achten Tag schuf Gott Miami. Ja, ja, ich bin tatsächlich da! Ocean Drive, Miami Beach, Florida. Im Taxi auf dem Ocean Drive können Ramon, Hakan und ich unsere Hälse nicht schnell genug nach allen diesen Naschkätzchen drehen. Es sieht hier wie eine große Blechbüchse mit Süßigkeiten aus, gibt sogar Frenk zu. Carmen brachte es selber aufs Tapet. »Fahr doch einfach mit den Jungs, jetzt wo es noch geht. Demnächst kommt die Operation, und nachher werde ich dich dringend brauchen«, sagt sie. Ich sprang an die Decke vor Freude und kaufte am nächsten Tag alle Rosen vom Blumenstand gegenüber dem Olympiastadion auf. Carmen war dermaßen beeindruckt, dass sie fragte, ob ich nicht jeden Monat ein Wochenende wegwolle. Wir werden vorm Pelican Hotel abgesetzt. Das Hotel ist mintgrün, das nebenan rosa und das daneben hellblau. Eine dunkelblonde Serviererin mit enormen Kugeln in ihrem weißen T-Shirt mit V-Ausschnitt hüpft die Treppe zur Terrasse herunter. Sie sieht, dass ich gucke, lacht und sagt »Hi«. »Hi«, gebe ich zurück. Am Empfang sitzt ein puertoricanisches Mädchen. Mein Gott, solche bekommt man im Hans-
Brinker-Hotel nicht zu Gesicht. »Lord, I’m not worthy«, stammelt Ramon. Das Mädchen zeigt ein Zahnpastalächeln und gibt uns die Schlüssel. Ich fühle mich wie vor zwanzig Jahren, als ich zum ersten Mal in Lloret de Mar war. Weil Ramon und ich verdächtigt werden, dieselben nächtlichen Interessen zu haben, teilt Frenk uns zusammen ein Zimmer zu. Wir bekommen den Best Whorehouse Room zugewiesen. Die Zimmer sind nicht groß, aber es geht hier um den Stil, nicht um den Komfort, erklärt Frenk mir. Alle müssen schnell duschen, um in einer halben Stunde wieder unten zu sein. Frenk hat im Delano reserviert, und da muss man scheint’s pünktlich sein. Und gut gekleidet, stelle ich fest, als ich Frenk und Hakan sehe. Frenk trägt einen fein gestreiften, schwarzen Anzug, dessen Marke er stolz erwähnt – ein japanischer Designer, von dem ich noch nie gehört habe. Er erzählt wie nebenbei, dass er ihn an der Madison Avenue in Manhattan gekauft hat. Hakan sagt, es sei ein eleganter Anzug, doch die Anzüge einer anderen Marke – die ich auch nicht kenne, aber von der er zufälligerweise heute Abend selber ein Shirt und Schuhe trägt – seien dennoch einen Tick styliger. Es spricht für sich, dass ich bei meinen snake leathers bleibe. Auch wenn meine weißen Hosen und das violette Shirt in der Preisklasse nicht an Frenks Outfit herankommen, finde ich, dass The Delano – sprich Dèlano, und sicher nicht Delââàno, wie ich es tue – ist noch teurer als The Pelican. Das kommt daher, dass er eines von Jan Schagers Hotels ist, erklärt Hakan. Diesen Namen spricht er derart ehrfürchtig aus, dass ich lieber nicht frage, who-the-fuck das ist. Das Publikum im Delano setzt sich aus Ocean-Drive-Maklern, Werbeleuten und business groupies zusammen. Es wird nicht gelacht. Das Essen, die Cocktails, das Dekor und die Frauen im Delano sind unbezahlbar. Doch dieses Wochenende spielt Geld keine Rolle, haben wir entschieden.
ich cool genug aussehe, um meinen Marktwert bei den Frauen in Miami herauszufinden. Ramon trägt ein eng sitzendes T-Shirt. Es steht ihm verdammt gut. Im Hinblick auf den Konkurrenzkampf trägt er zum Glück wieder diese schwarzen Lederhosen, die Mode waren, als Ajax noch am alten Ort spielte. Während des Essens, draußen unter den Palmen am Pool vom Delano, folgen die ersten tiefgehenden Gespräche. Kann Holland Europameister werden (ich: ja, Ramon und Hakan: nein, Frenk: weiß nicht); wie geht es Merk in Uitvoering (Frenk: blendend, ich: es geht); wer hat es bei BBDvW&R/Bernilvy alles mit Sharon getrieben (ich: ich, Ramon: türlich, Hakan: nur oral, Frenk: bäh); ist das St. Martin’s Lane in London trendiger als das Delano (ich: weiß nicht, Frenk: nein, Hakan: ja) und ist das XTC, das Ramon mitgebracht hat, für heute Abend vorgesehen (ich: ja, Ramon: oh? Ich dachte, das wäre nicht so ein Ding? ich: mach mich nicht an und gib mir einfach so’n Ding, Hakan: heute Abend nicht, Frenk: natürlich nicht). Ramon gibt mir eine Pille. Ich bin ein bisschen nervös. Bis jetzt habe ich in meinem Leben nur Alkohol genommen. Carmen lehnt alles ab, was nach Drogen riecht. Ich spüle das E mit einem Schluck Bier hinunter. Frenk schaut mich kopfschüttelnd an. Wir gehen zur Washington Avenue, hinter dem Ocean Drive. Hier sind gemäß Frenk die meisten Clubs in Miami Beach angesiedelt; er weiß diese Dinge einfach. Woher, ist mir komplett rätselhaft, aber er weiß es. Offenbar sollen wir ins Chaos gehen, wo Frenk zufolge alles mega ist. Hakan muckt auf. Er meint, vom Barkeeper des Delano gehört zu haben, die Washington Avenue sei passé, und wir sollten zum Club Tantra, in einem ganz andern Viertel. Ramon und ich schieben Hakans Einwände beiseite, wir haben in der langen Warteschlange vorm Chaos entzückt scharen-
weise schöne Frauen konstatiert. Hinter einer Samtkordel hält ein Bruder von Mr. T. mit gekreuzten Armen Wache. Ich weiß nicht wieso, aber ich will da jetzt rein. Ramon offenbar auch. Er drängelt sich nach vorn und versucht gleich mal, seinen »I spin in Amsterdam at the RoXy«-Trick anzubringen. Ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, macht Mr. T. mit einer Kopfbewegung deutlich, dass ihm das scheißegal ist und wir uns ganz normal hinten anstellen müssen, und wenn wir schließlich vorne landen, ihn bitten können, ob wir hineindürfen. Dies dürfen wir, eine halbe Stunde später, nicht. »You guys four?« »Yes.« »No way.« Ramon will dem Mann zu Leibe gehen, kommt aber rechtzeitig zur Einsicht, dass dies nicht sehr vernünftig wäre. Ich finde es nicht zum Lachen. Ich muss irgendwo rein. Ich lasse mir nichts anmerken. Und schon gar nicht gegenüber Frenk, aber wenn ich nochmal irgendwo fünf Minuten Schlange stehen muss, gehe ich in die Luft. Das RoXy. Das RoXy selig. Der Marco van Basten des Nachtlebens. Wegen schwerer Verletzungen (ernsthafte Brandwunden) notgedrungen frühzeitig aufgehört. Hierdurch genau wie Marco einen Lorger-than-life-Stztus bekommen.* Ich habe das RoXy verpasst. Carmen hat noch nie House gemocht. Ich auch nicht, muss aber zugeben, dass mein Interesse geweckt wurde, als sogar Frenk von den leckeren Girlies berichtete. Auch Ramon ging allwöchentlich hin, nach seiner Leidseplein-Runde mit mir. Dann ging ich ins Paradiso, um zwischen den hässlichen Weibern zu The Cure zu tanzen. Jetzt ist es zu spät. Ich werde mit den Geschichten von Ramon und Frenk vorlieb nehmen müssen. * Wrample aus Der Videokaiser von Koot & Bie (Feine Herren. 1982)
In der Nähe vom Chaos befindet sich das Liquid. Dort gab’s nur etwa fünf Wartende, als wir mit dem Taxi ankamen, erinnert Frenk sich. Jetzt eine Reihe in der Länge des Kanals um das Feld der ArenA. Verflickt. Jesus, diese Pille manifestiert sich jetzt nachdrücklich. Hakan versucht, uns ein Taxi in Richtung Tantra aufzuschwatzen. Wir antworten nicht und gehen weiter, die Washington Avenue entlang. Bei jedem Club, den wir passieren, protestiert Hakan. Zu voll, zu wenig Leute, sieht nach nichts aus, wird wohl nichts sein, usw. Zum Glück droht Frenk, er würde heimgehen, wenn wir jetzt nicht in den nächstbesten Club reingehen. Das ist das Bash. Da wartet niemand, und Ramons DJ-Trick wirkt bei diesem Türsteher schon. Allerdings anders als beabsichtigt. »The RoXy?« »Yeah man! In Amsterdam.« »So what do you spin at the RoXy?« »Deep house. Every Thursday.« »Every Thursday?« »Yeah, I did a five-hour set last week!« »You did?« »Yeah!« »Didn’t the RoXy burn down a while ago?« »...« »Hahaha, come on, you cocksucking fucking motherfukkers.« Sogar Ramon bleibt die Sprache weg. Wir bezahlen gefügig die zwanzig Dollar Eintritt p.R, was für miamische Begriffe nicht übertrieben ist. Ein schlechtes Omen. Dass wir mit vier Männern mühelos reinkommen auch. Im Toilettenraum bringen wir noch die Kragen unserer Hemden in die richtige Position, prüfen von allen Seiten unsere Frisuren, klopfen uns ermunternd auf die Schulter und
schreiten voll guten Mutes und XTC durch die große, schwarze Tür zum main room. Ganze neun Personen sind drinnen, wir mitgezählt. Hakan reagiert sofort genervt, Ramon scannt die beiden Frauen an der Bar, ich betrete ganz allein den Dancefloor, und Frenk geht aufgebracht zum Fräulein an der Eingangstür zurück. In einer halben Stunde werde es voller, weiß er bei seiner Rückkehr zu berichten. Nach einer halben Stunde sind wir dreizehn Personen. Hakan übt mehr und mehr Druck aus, aus dieser Jammerbude abzuhauen. Frenk sagt, der Jetlag mache sich bei ihm bemerkbar. Bei Ramon und bei mir nicht. Wir laufen auf vollen Touren. Erst morgens um sieben Uhr wird im Bash wieder auf normale Beleuchtung geschaltet. Ramon verschwindet mit einer jungen Frau, ich gehe, komplett verschwitzt und mit einem smile von einem Ohr zum andern, von der Washington Avenue zum Ocean Drive. Ich bin fast dreißig Stunden auf den Beinen gewesen. Habe einen herrlichen Abend gehabt, bin nicht mal fremdgegangen und um geringe vierhundert Dollar leichter. What the fuck. Ich nehme ein Bier aus der Minibar und lasse mich aufs Bett fallen, wo ich einen OnanieVersuch mache. Bilder von mir mit Sharon, mit Maud und mit der Carmen von vor einem Jahr wechseln sich ab. Auf halbem Wege schlafe ich ein mit meinem halbsteifen Schwanz in der Hand und einer halb vollen Bierbüchse auf dem Designernachttisch neben dem Bett.
You think that I’m strong / you’re wrong Robbie Williams, aus Strong (The Ego Has Landed, 1999)
SIEBENUNDZWANZIG Anderthalb Stunden später bin ich schon wieder wach. Hellwach. Für mich kann der lag nicht schnell genug anfangen. Ramon ist noch nicht da. Ich nehme das Telefon und gehe auf die Nummer von Thomas und Anne, wo Carmen dieses Wochenende zu Gast ist. »Hier Anne.« »Hi, Anne, hier Stijn!«, rufe ich enthusiastisch. »Oh. Hallo, Stijn. Ich gebe dir Carmen«, sagt Anne weniger enthusiastisch. Habe ich sie vielleicht geweckt? Nein, es ist Nachmittag in den Niederlanden. »Hi«, sagt Carmen. Ich spüre eine Distanziertheit, tue aber, als merkte ich nichts und sage, das Hotel sei absolut crazy, den ganzen Tag über House, sogar in den Toiletten. Lachend erzähle ich vom Essen im Delano und vom Rumziehen und lüge, dass ich jetzt aber doch sehr müde bin. Sie reagiert kaum. Ich frage, wie es so bei Thomas und Anne ist. Mit einem Unterton, den ich von ihr nicht kenne, erzählt sie, sie hockten gemütlich zu Hause und würden sich gut unterhalten. Einen Moment frage ich mich, ob das vielleicht eine andere Anne war am Telefon vorhin. Ich kann nicht länger umhin und frage sie, was los ist und ob ich etwas Falsches gesagt oder getan habe. Sie fragt Thomas, ob sie das Telefon im Gästezimmer benutzen darf. Eine kurze Stille. Dann macht es klick, und sie ist wieder da. »Ich fühle mich saumies, Stijn ...«, sagt sie, die Nase schnäu-
zend. »Es ist schwerer, als ich gedacht habe ... Der Gedanke, dass du zwischen allen diesen geilen Weibern mit großen Titten rumläufst, und ich hocke hier mit einer Glatze und einer verbrannten Brust ...« Ich sage, dass es mir schwer fallt, etwas darauf zu antworten. Und dass ich keine Frau angerührt habe. »Du tust, als sei das eine Leistung«, bemerkt sie schnippisch. Ich höre einen Seufzer. Etwas freundlicher sagt sie: »Lass mich nur ... es wird schon gehen ... viel Spaß noch, und grüß Frenk von mir.« Sie versucht es so echt wie möglich klingen zu lassen. Ich sage, dass ich sie liebe und dass sie Thomas und Anne von mir grüßen soll. Sie hält kurz inne. »Ob das eine so gute Idee ist, weiß ich nicht, Stijn«, sagt sie und legt auf. Unten sind Hakan und Frenk in Badehosen bereits am Frühstück auf der Terrasse. Ich setze mich dazu. Wir essen zusammen und gehen dann zum Strand. Dort laufen wir Ramon in die irritierend trainierten Arme. Mit einem fetten Grinsen erzählt er uns, er habe seine Eroberung letzte Nacht und heute Morgen durchgehakt und keine Minute geschlafen. Am Strand liest Frenk in Wallpaper, einer Zeitschrift, von der ich noch nie gehört habe. Es sind aber lauter Sachen abgebildet, die ich aus seinem Penthouse kenne. Hakan, Ramon und ich reden von den Dingen des Lebens. Soll Ajax an 4–3–3 festhalten oder nicht, wie hoch ist der Prozentsatz an Frauen, die schlucken, der Prozentsatz an Männern und Frauen, die fremdgehen, weshalb Männer fremdgehen und warum Frauen es tun. Ich führe das große Wort und verkünde lauthals eine Stijn’ sche Theorie nach der andern. Dann wechselt Ramon das Gesprächsthema zu Sex mit unsern Frauen, wie oft wir Sex mit unsern Frauen haben. Ha-
kan kommt auf viermal die Woche, Ramon auf sechs (Hakan: »Nein, nur die Male mit der eigenen Frau, habe ich gesagt!«). Kurz bevor ich an der Reihe bin, sage ich, ich müsse dringend pissen, und tauche deshalb rasch ins Meer. »Stijn, wollen wir noch einen trinken?«, fragt Frenk, als wir ins Pelican zurückkommen. Ramon und Hakan entscheiden sich für ein Schönheitsschläfchen. Frenk bestellt zwei Margaritas bei unserer favorisierten Kellnerin. »Das ist gar nicht deine Art, einfach davonzulaufen, als du an der Reihe warst.« Ich gucke auf die Rundungen der Brüste der Serviererin, die sich bückt, um die Margaritas hinzustellen. »Ich habe keine Lust, hier in Miami über Krebs zu reden.« »Das verstehe ich. Hast du Carmen schon angerufen, seit du hier bist?« »Heute Morgen«, seufze ich. »Sie war nicht fröhlich. Anne übrigens auch nicht.« »Wundert mich nicht«, antwortet Frenk. »Anne fand es unmöglich, dass du einfach mir nichts, dir nichts mit nach Miami gefahren bist. Thomas auch. Er kann nicht begreifen, dass es dir nicht zu schaffen macht und dass es dir so gut geht.« »Gottverdammt!«, rufe ich aus. »Es geht mir überhaupt nicht gut!« Frenk legt einen Arm um mich. »Das brauchst du mir nicht zu erklären.« Plötzlich kommt alles aus mir raus. Ich erzähle Frenk, wie schlimm ich es finde, dass Carmen und ich nicht mehr zusammen ausgehen, nicht mehr auswärts essen und dass wir keinen Sex mehr haben. Er nickt. »Kannst du dir vorstellen, wie das demnächst wird, wenn sie ihre Brust verloren hat, Frenk?«, fahre ich fort. »Sogar
wenn der Krebs wegginge, wird Carmen nie mehr dieselbe sein. Und ich habe Angst, dass dann zwischen uns alles in die falsche Richtung läuft ...« Er nimmt meine Hand. Wir blicken uns an. Ich sehe, dass seine Augen feucht sind. Wir sagen nichts. Es ist der schönste Augenblick in Miami. Wir prosten uns zu und nehmen einen Schluck von der zweiten Margarita, die wir gerade, ungefragt, von Unserer Favorisierten Kellnerin vorgesetzt bekommen haben. »Sie ist schon lecker, aber Carmen hat die größeren Titten«, sage ich, als sie hüftenwiegend die Treppe zur Terrasse herunterkommt. »Wenigstens jetzt noch ...« Frenk prustet seine Margarita über den Tisch.
II be home on a Monday / somewhere around noon / Please don’t be angry The Little River Band, aus Home On A Monday (Diamantina Cocktail, 1977)
ACHTUNDZWANZIG Heute Abend haben wir durch die Leute vom Pelican einen Tisch im Tantra ergattern können. Dort wird türkisch gegessen, das sei in Miami total in, sagt der Barkeeper vom Pelican. Hakans Brust schwillt. Nach der dinner time scheint es heute Abend im Tantra richtig loszugehen. Roger Sanchez legt auf, sagt Hakan ausgelassen. Frenk reagiert begeistert. Ich habe noch nie von diesem Mann gehört. Ich weiß genauso viel von DJs wie Clarence Seedorf von Elfmetern.* Das Essen im Tantra ist spitze, das muss man schon sagen. Roger Sanchez auch. Die Frauen überhaupt. Und die Pillen runden die Sache ab. Ich bin noch ausgelassener als gestern. Ich sage den Männern, wie großartig ich es hier finde, dass wir das jedes Jahr machen müssen und nächstes Jahr nach Barcelona oder New York fahren könnten. Nein, nach Tel Aviv, sagt Hakan, das sei ein offenes Geheimnis. Nein, Rio, sagt Ramon. Ja, Rio, stimme ich zu. Dann behaupten wir, dass wir uns lieben und uns nie im Stich lassen werden, und darauf bemerkt Ramon, dass er sich mit dem weiblichen Wesen von gestern verabredet habe und jetzt gehe. Frenk zeigt ihm die kalte Schulter. Ich beobachte eine Mollige mit einer schwarzen, durchsich* Fußballer aus Surinam. Sein Ego ist das Einzige, was die Höhe, in der er Elfmeter übers Tor schießt, übertrifft.
tigen Bluse. Nachdem ich drei fröhliche Blicke mit ihr gewechselt habe, tänzle ich auf sie zu. Sie trägt einen schwarzen BH (Cup C) unter der Bluse. »Hi. What’s your name?«, frage ich, originell wie ich bin. »I’m Linda. And your« »Sten«, sage ich, und es fällt mir nichts ein, was ich sonst noch sagen könnte. Ich habe auch keine Ahnung, was ich von der Kleinen wissen möchte. »Where are you guys from?«, fragt sie. Oh ja, diese Art Fragen. »Amsterdam.« »My sister has been there! Denmark is such a nice country, she says.« »Yes it is ...«, antworte ich, schäme mich fremd und bin froh, dass die Jungs dieses Gespräch nicht hören. Aber eigentlich ist es mir recht, heute Abend hat was anderes als Intelligenz Vorrang. »And where are you from?«, frage ich. Warum soll ich Ideen haben. »North Carolina. But I moved to Miami this summer. Love the weather and the beach.« »O ... yeah!«, antworte ich. Was will ich hier? Unvermittelt fällt sie mir um den Hals und küsst mich voll auf die Schnauze. Ja, jetzt weiß ich es wieder. Das suche ich hier. Ich drücke sie fest an mich. Sie ist gut gepolstert. Ihre Freundin blinzelt voller Bewunderung. Der Check geht zu meinen Gunsten aus. Ob sie die Prüfung bei Hakan und Frenk bestehen wird, da bin ich nicht so sicher, deshalb schiebe ich sie rasch vor mir her in eine Fcke. Unterwegs sehe ich, dass sie einen Hintern hat, den zu umrunden man eine Woche Ferien braucht. Einmal außer Sicht, fange ich zu fummeln an. Meine Hand gleitet über den weichen Stoff ihrer schwarzen durchsichti-
gen Bluse. Sie löst sich kurz aus meiner Umarmung und sagt verschämt, sie sei nicht so schlank. Das stimmt, denke ich, sage aber, dass ich nicht so scharf auf skinny women sei, und kneife sie ins Gesäß. Sie lacht verlegen. Dann führe ich ihre Hand zu meinem Mund und schlecke ausführlich die Handfläche. Als sie kapiert, was ich mache, kichert sie. »You are dirty«, sagt sie kopfschüttelnd. »Thanks«, sage ich. Zeit aufzubrechen. »Are you married?«, fragt sie im Taxi zum Pelican. »No«, sage ich und halte die Hand mit dem Ehering hinter ihren Rücken. Dann stecke ich ihr die Zunge in den Mund, aus Angst, die Erregung abflauen zu lassen. Inzwischen fummle ich hinter ihrem Rücken an meinem Ehering, bis er ab ist, und stecke ihn in die Hosentasche. Im Lift knöpfe ich ihre Bluse auf und ziehe ihr den BH hoch. Linda hat große Warzenhöfe. Das liebe ich. Und Linda ist geil. Mag ich auch. Keuchend reißt sie mir die Hose auf und geht in die Knie. Als sie meinen Schwanz, der so hart wie die Stühle der ArenA geworden ist, tief im Mund hat, geht die Lifttür auf, und ich schaue Frenk direkt in die Augen. Linda bemerkt, dass ich erstarre, blickt erschrocken auf und errötet. Ich ziehe mit ungeschickten Bewegungen die Hosen hoch und packe meinen Steifen weg. »Linda, Frenk. Frenk, Linda.« »Hi, Linda«, sagt Frenk, Linda auf die Brüste starrend. »Hi, Frenk«, sagt Linda, ihre Bluse zuknöpfend. »So. Genug geredet«, sage ich schnell. »Wir sehen uns morgen, Frenk!« Frenk nickt. »Bye, Frenk«, sagt Linda. »Bye, ...« »Linda.« »Bye, Linda.«
Arm in Arm gehe ich mit Linda den Gang entlang. Ich spüre, dass Frenk uns nachschaut. Ich schließe die Tür meines Best-Whorehouse-Zimmers auf und nehme Linda aus Tampa, Florida, dort die ganze Nacht ran. Ich wache auf, als Ramon ins Zimmer kommt. Vorsichtig blicke ich neben mich. Zum Glück: Linda ist weg. Ramon hätte mir und der dicken Linda ins Gesicht gelacht. Er lässt sich aufs Bett fallen, wo Linda eben noch ihre und meine Säfte aus sich heraus hat fließen lassen. Ramon ist zu müde, die Nässe zu spüren, und schläft ein. Ich kann nicht mehr schlafen. Ich stehe auf, hebe meine Hose vom Boden auf und fühle in der linken Tasche. Der Schrecken fährt mir in die Glieder. Da ist kein Ring mehr. Die rechte Tasche. Nichts. Der Schweiß bricht mir aus. Die Gesäßtaschen. Auch nichts. Ich lege mich auf den Bauch und schaue unter das Bett und unter den Heizkörper. Ramon wacht auf und fragt, was ich mache. Ich sage, ich suchte meine Linsen. Er schläft wieder ein. Ich taste nochmals meine Taschen ab. Und nochmal. Die Schubladen des Nachtschränkchens. Wo kann ich ihn verloren haben – diese Tusse? Diese Linda. Die Schlampe hat meinen Ring geklaut! Oh, mein Gott! Oh, nein. Carmen. Ich lege mich wieder auf den Bauch und suche den ganzen Boden ab. Dann lege ich mich aufs Bett. Das ist eine Katastrophe. Das Ende von Carmen und Stijn. Ich bin imstande, Selbstmord zu begehen, doch das ist nicht nötig, Carmen wird mich ermorden. Mein Ehering futsch. Da rede ich mich nicht heraus. Unten sitzen Hakan und Frenk schon wieder beim Frühstück auf der Terrasse. »Ist es spät geworden?«, fragt Hakan. »Ich hab dich plötzlich aus den Augen verloren.«
Das ist nichts verglichen mit dem, was ich verloren habe, denke ich. »Mwa«, sage ich, erleichtert, dass Frenk offenbar nichts über die Szene im Fahrstuhl erzählt hat. Frenk sieht mich prüfend an. Ich stelle mich dumm. Ramon kommt herunter und erzählt in allen Einzelheiten, was er diese Nacht wieder mit seinem Date angestellt hat. Es gibt Gelächter. Ich lache mit, aber mir ist zum Heulen zumute. Was ist schlimmer? Ramon verrät seine Freunde, indem er sich das halbe Wochenende nicht zeigt, weil er lieber irgendeine Nutte vögelt, ich verrate Carmen, indem ich, aus Angst, eine Fickerei mit einer anderen Nutte zu verpassen, meinen Ehering abnehme. Kikeriki (3 x). Die letzten Stunden, bevor wir zum Flughafen müssen, wollen Hakan, Frenk und Ramon an den Strand gehen. Ich folge ihnen willenlos. Wir legen uns hin. Ramon und Hakan reden über Autos, Frenk liest in MAN. Ich schaue aufs Meer und habe Angst, gleich in Tränen auszubrechen. »Ich muss mir ein bisschen die Beine vertreten.« Ramon nickt, Hakan erzählt weiter, und Frenk sieht nicht von seiner Lektüre auf. Ahnt nicht mal er was? Vielleicht auch besser so. Ich will nicht reden. Hundert Meter weiter schaue ich, ob sie mich noch sehen können. Ich setze mich auf den heißen Sand und fühle mich als der einsamste, erbärmlichste Mann dieser Welt. Die drei tollen Tage mit den Jungs sind fast vorbei, Alkohol und XTC haben ihre Wirkung verloren, ich bin von einer Frau beklaut worden, die ich kurz davor bis zum Schreien befriedigt habe, und morgen werde ich zu Hause ermordet. Ich sehe die Tränen zwischen meinen Beinen in den Sand fallen. Am Flughafen Schiphol verabschieden wir uns. Im Taxi bricht mir der Angstschweiß aus. Noch zehn Minuten, dann
bin ich zu Hause. Was soll ich sagen? Ich habe ihn abgenommen, als ich ins Meer gegangen bin? Oder wegen eines Metalldetektors in einer Disco? Das Taxi nimmt die Ausfahrt beim VU-Krankenhaus. Noch ein paar Minuten. Zum Glück steht die Ampel auf Rot. Oder ich kann sagen, dass – Ich bekomme eine SMS. FRENK MOB.
Ich fühle schnell. Nichts. Wieder eine SMS.
Fieberhaft fühle ich in der andern Tasche. Ich fühle ... Ja! Mein Ring! MEIN RING! Mein eigener, lieber, schöner, guter Ehering. Noch eine SMS.
Mädchen / sie machen uns kaputt mein Herr / sie machen uns so dumm mein Herr / Mädchen Raymond van t Groenewoud, aus Mädchen (Nie mehrtnnken, 1977)
NEUNUNDZWANZIG Ich weiß nicht, ob die weibliche Intuition wirklich so gut entwickelt ist wie von Männern befürchtet. Carmen fragte nicht einmal nebenbei, ob ich untreu gewesen sei, als ich heimkam. Im Gegenteil, sie entschuldigte sich, dass sie am Telefon so kurz angebunden war. Einmal habe ich mich verraten. Damals mit Sharon. Ich war so dumm gewesen, an einem Abend, als ich »mit einem Kunden« aus war, eine Nummer ohne Namen in meinem Filofax zu notieren. Ein Anfängerfehler. Carmen hat am nächsten Tag die Nummer angerufen, »hier Sharon« gehört, aufgelegt, auf der Telefonliste in meinem Filofax nachgeschaut, ob eine Sharon bei Bernilvy arbeite, und die Nummern verglichen. Bingo. Abends fragte sie unerwartet, wer von diesen Bernilvy-Frauen nun wieder Sharon sei. Ich gab mein Bestes, Sharon sei diese Blonde am Empfang.
Sharon war Empfangsdame bei BBDvW&R/Bernilvy. Blond, ein bisschen herausfordernd, und sie hatte wirklich prächtige Brüste. Cup D, schwarze Piste.* Vom ersten Tag an gelüstete es mich, diese Brüste live zu ! sehen. Sharon hatte da kein Problem, Sharon hatte praktisch mit niemandem ein Problem. Auch nicht mit Ramon. Und auch nicht mit Hakan, wie ich seit kurzem weiß. Ach, wer bin ich, das zu verurteilen. * Wrampled von Youp van ‘t Hek. Silvesterkonferenz 2002.
»Nein, die nicht, oder?«, sagte sie und hielt mir mein Filofax mit Sharons Nummer unter die Nase. »Diese ordinäre Tusse mit den Riesentitten, die so hervorquellen. Und mit so einer warst du im Bett?« Ich erblasste. Ich konnte es nicht leugnen. »Hm ... Ja.« »Wie oft?« »... einmal.« Eine Clinton’sche Wahrheit. Das Büro meines Chefs, die Toilette vom Pilsvogel und das Sofa bei ihr zu Hause fallen nicht unter die Kategorie Bett. Carmen war fuchsteufelswild, was mich in meiner Naivität noch erstaunte. Hatte ich Carmen denn nie erzählt, dass ich regelmäßig fremdging? Okay, das war zwar bei unserm ersten Date, und danach hatte ich nie mehr davon geredet, aber sie wusste doch, wie ich veranlagt bin? Frenk hat mir mal vorgehalten, dass diese Argumentation nicht koscher ist. Eine Ansicht, die Maud unterstützt. Doch beide haben über alle meine Eskapaden, auch die nach Sharon, Carmen gegenüber den Mund gehalten. Mit Thomas bin ich in den letzten Jahren vorsichtiger geworden. Er weiß nicht, dass ein wenig Züngeln für mich noch immer zur wöchentlichen Kost gehört. Ganz zu schweigen vom regelmäßigen Vögeln. Nur über Sharon weiß er Bescheid, aber das stammt aus der Zeit, als er selber auch noch gelegentlich scorte. Anne ist übrigens auch über Sharon im Bild. Carmen hat, nachdem sie dahinterkam, ein paar Tage bei ihnen verbracht. De Pitsvogel. Eine richtige Schänke (als altmodische Kneipe getarntes Flirtlokal; hier kommen die Frauen aus dem Stadtteil De Pijp her), gute Terrasse (lunchen in der Sonne bis halb drei, zwischen fünf und sechs Uhr noch eine Stunde Sonne auf der andern Seite der Terrasse), gutes Publikum (aber den Freitag nach Büroschluss meiden, dann konfiszieren die Krawattenträger der Südachse den Pilsvogel).
Ramon leidet selber an Monophobie. Im Unterschied zu mir sieht er aber nicht, dass die Frequenz unserer Seitensprünge kein Hobby mehr ist, sondern eine Versklavung. Immer etwas zur Hand haben. Adresse, Telefonnummer, E-Mail-Adresse. Wie ein Alkoholiker, der nicht einsehen will, dass er süchtig ist, aber trotzdem eine Flasche Wodka in der Schublade hat, die er vor der Außenwelt verborgen hält. Genauso wenig wie Carmen weiß Ramons Frau, wie schlimm es um ihn steht. Monophobie macht süchtig nach dem Kick des Fremdgehens. Gefühle der Reue und Schuldbewusstsein – für normale Menschen eine eingebaute Bremse, die vor regelmäßiger Fremdgeherei schützt –, hat ein Abhängiger sich abgewöhnt. Er redet sich ein, dass er (oder sie, aber meistens er) dem Partner mit dem außerhäuslichen Bumsen nichts zuleide tut. Mit Ausreden wie »solange sie es nicht merkt«, »ich liebe sie nicht weniger, wenn ich jemand anders vögle«, und »ich kann zwischen Sex und Liebe unterscheiden« streut diese Person den Freunden – und sich selber – Sand in die Augen. Innerlich ist ihr klar, dass das nur ein Mittel ist, moralisch zu überleben, sich selbst auch weiterhin als guten Menschen betrachten zu können. Weil es niemandem gelingen würde, einen Lifestyle durchzuhalten, den er als absolut verwerflich betrachtet. Wer an Alonophobie leidet, denkt nicht schlecht von sich. Bei mir ändert sich das langsam. Die Eheringaktion ist das Unterste, was ich je getan habe. Meine Monophobie, die ich immer für eine angenehme, unschuldige, beherrschbare Abweichung gehalten habe, wird zur Obsession. Der Kick des Scorens macht süchtiger als die Frauen oder der Sex an sich. Die letzten Monate, seit Carmen und ich fast jeden Abend zu Hause sitzen, zähle ich jede Woche die Tage bis Freitag. Stijns Freitäglicher Ausgangsabend. Und wenn es dann so-
weit ist, und wir anfangs bei Merk in Uitvoering Budweiser trinken oder in einem Restaurant essen, bin ich unruhig und kann nicht erwarten, dass es endlich zwölf ist. Der Zeitpunkt, wo La Bastille, Paradiso und Hotel Arena sich bevölkern. Nur dann fühle ich mich wohl. Das Aufreißen wird zum Zwang und immer einfacher. Sogar Frenk, den ich jahrelang über jedes Abenteuer auf dem Laufenden hielt, weiß nicht mehr, wie schlimm es um mich bestellt ist. Deshalb gehe ich in letzter Zeit lieber mit Ramon aus. Nicht dass er mein bester Freund ist, aber ihm gegenüber brauche ich mich wenigstens nicht zu schämen.
Tränen auf den Wangen / Kummer auf dem Gesicht / ratlose Augen / glänzend im Licht / komm her und höre auf zu weinen / ich küsse deineTränen weg / sicher in meinen Armen / glaube mir wenn ich sage / wir haben immer noch einander /dann sagte sie ssssst / und flüsterte durch die Tränen hindurch / du hast alles schon gesagt Tröckener Kecks, aus In Tränen (Mit Heiz und Seele. 1990)
DREISSIG »Die Blasen sind fast weg.« Carmen besieht sich im Spiegel des Schlafzimmers. Sie hebt die Brust hoch, schiebt sie ein wenig nach links und rechts und untersucht sie von allen Seiten. Ich liege im Bett und schaue zu. Die schlimmsten Verbrennungen sind vorbei, die Haut der Brust erholt sich. Sie schaut nochmals genau, zieht den BH an und steigt, ansonsten nackt, neben mich ins Bett. Morgen muss sie sich im Lucas-Krankenhaus melden. Dann wird die Brust amputiert. Es ist der letzte Abend, den ich neben meiner Frau schlafe, während sie noch double-breasted ist. Wir wissen beide nicht recht, ob wir darüber sprechen sollen oder eher nicht. Auf jeden Fall fehlt auf beiden Seiten der Drang, die Abschiedsvorstellung ihrer Brust mit einer Sexdarbietung zu feiern. Carmen liegt still mit dem Kopf an meiner Schulter. Dann zieht sie geräuschvoll die Nase hoch. Es geht nicht lange, bis ich ihre Tränen, zum x-ten Mal, seit der Krebs
sich in unser Leben eingeschlichen hat, auf meine Schulter tropfen spüre. Ich drücke sie fest an mich, und wir schweigen. Es gibts nichts zu sagen. Dies ist Liebe in Zeiten des Krebses. * 10F
freier Wrample nach Liebe in Zeiten der Cholera von Gabriel Garcia Marquez (1985) *
I don’t want to spread any blasphemous rumours / but I think that God has a sick sense of humour Depeche Mode, aus Blasphemous Humour (Some Great Reward. 1984)
EINUNDDREISSIG Unter Lunas aufmerksamen Augen schmücke ich mit Maud das Wohnzimmer mit festlichen Girlanden. »Wie war es eigentlich, gestern?«, fragt Maud. »Sie hat unter einem hellblauen Bettlaken dagelegen wie ein Häuflein Mensch. Ein paar Mal ist sie kurz zu sich gekommen, meistens, um zu erbrechen. Ich habe ihr den Kopf gestützt und eine Schale hingehalten, du weißt schon, so ein ni er en förmiges Ding.« Maud legt ihre Arme um mich. »Hat sie ... hm ... schon gesehen, wie es aussieht?« »Nein. Der Arzt hat empfohlen, den Verband gemeinsam abzunehmen. Das ist offenbar gut für den Verarbeitungsprozess.« »Oh Gott ... schlägt es dir nicht furchtbar auf den Magen?« Ich nicke. »Ich habe solche Angst, dass ich mich zu Tode erschrecke vor dem, was ich erblicken werde, und Carmen das merkt.« Ich sehe Maud mit nassen Augen an. Sie zieht mich an sich und küsst mich auf die Stirn. Ich lege den Kopf kurz an ihre Schulter. Sie reibt mir den Rücken. »Ach Stijn ...«, flüstert sie leise, »komm, komm, mein Lieber ...« Nach einer Weile nehme ich mich zusammen und gebe ihr einen Kuss auf den Mund. Sie lacht, gibt mir gespielt böse einen Nasenstüber und wischt sich eine Träne von der Wange.
»Ich glaube, ich gehe«, sage ich. »Gibst du Luna gleich noch ein Gläschen Olvarit?« Carmen ist schon angezogen. Sie sitzt im Fernsehzimmer und trägt einen weiten schwarzen Rollkragenpullover. Der Unterschied zwischen dem linken und dem rechten Höcker ist auf den ersten Blick nicht so schlimm. Carmen merkt, dass ich hinschaue, und sagt, sie habe die brustlose Seite mit einer abgeschnittenen, mit drei Paar ineinander gerollten Socken ausgestopften Strumpfhose ausgefüllt. Bis sie den BH mit Prothese tragen darf, wird die Strumpfhose alles daransetzen, den Unterschied zwischen Cup D und Ground Zero so unauffällig wie möglich zu halten. Es ist eine Bastelarbeit und nicht einmal so übel. Die Operation ist erfolgreich verlaufen, sagt Dr. Jonkman. Wenn demnächst die Fäden gezogen sind, muss Carmen den neuen BH mit Prothese tragen. Dr. Jonkman sagt, sie müsse dies so schnell wie möglich tun, denn im Hinblick auf die Größe von Carmens Brüsten (er meint »Brust«, nehme ich an) bestehe das Risiko einer Rückgratverkrümmung wegen des Gewichtes. Man könnte sich wegen Krebs noch einen Bandscheibenschaden holen! Der BH hat einen mit Klettband verschließbaren Beutel, in dem die Prothese Platz hat. Diese selbst ist ein hautfarbenes Silikonkissen in Form eines entzwei geschnittenen Regentropfens. Wenn es Cup-D-Regentropfen geben würde, natürlich. In der Mitte des Tropfens befindet sich eine kleine Erhebung, die eine Brustwarze darstellen soll. Das Kissen fühlt sich wie ein mit Gelee gefüllter Luftballon an. Als Carmen es geholt hatte, warfen wir uns das Ding im Schlafzimmer brüllend vor Lachen einander zu, wie man es an heißen Sommertagen mit Wasserbomben macht.
Dr. Jonkman fragt, ob Carmen und ich zusammen den Verband von der Wund nehmen wollen, in einem Nebenraum des Krankenhauses. Ich sage ja. Ob ich darauf vorbereitet bin, fragt Carmen, bevor sie den BH lablegt. »Mach nur«, sage ich beruhigend. Ich traue mich fast nicht hinzuschauen. Gleich wird es passieren. Dann sehe ich meine Frau mit einer Brust. Sie öffnet den Verschluss des BHs und lässt die Träger herunter. Ich atme so unauffällig wie möglich tief ein. Da. Es ist furchtbar. Neben ihrer vertrauten, großen, oh so schönen Brust ist eine ebene Fläche mit einem großen Stück Verbandstoff entstanden. Es ist, wie ich mir eine ebene Fläche vorstellte, erschrecke jedoch, dies auf dem Brustkorb meiner Frau zu sehen. Große Brüste sind wunderbar, ein Frauenkörper mit einer großen Brust ist wie ein sadistischer Scherz des Schöpfers. Ich schaue ziemlich lange, einerseits, weil ich Carmen nicht den Eindruck geben will, dass ich nicht hinsehen will, anderseits, weil ich froh bin, dass ich ihr dann nicht in die Augen zu schauen brauche. Ich spüre, dass ich etwas sagen muss. »Was soll ich sagen, Carm ...« Auf jeden Fall nicht, dass es nur halb so schlimm ist, denn es ist schlimm. »Es ist, hm ... flach, nicht wahr?«, sagt sie, den Verband im Spiegel betrachtend. »Ja. Es ist flach.« Ich stehe neben ihr, während sie das Klebeband an den Randern des Verbands lockert. Langsam löst sich der Verband. Was da zum Vorschein kommt ist frau-entehrend hässlich. Es ist die größte Entstellung, die ich je live gesehen habe.
Ein großer Reißverschluss geht von links nach rechts über ihre Brust. Sicher zehn, zwölf Zentimeter lang. Beim Nähen wird die Haut ungleichmäßig zusammengezogen, wodurch an einigen Stellen Falten entstehen, wie die erste Stickerei eines Grundschülers. »Die Falten verschwinden wieder, wenn die Wunde verheilt ist«, sagt Carmen, die meine Gedanken liest. »...« »Es ist hässlich, was, Stijn?« Es bleibt mir nichts anderes übrig, als ehrlich zu sein. Ich denke fieberhaft über eine möglichst schmerzlose, aber dennoch ehrliche Formulierung nach. »Es ist nicht schön, nein.« »Nein, es ist nicht schön. Es ist schrecklich«, sagt sie, noch immer die eigene Exbrust betrachtend. Dann schaut sie mich an. Ich sehe ihrem Blick an, dass sie bis auf die Knochen blamiert ist. Blamiert durch den Krebs. Gott, es ist schlimm. Schönheit muss leiden. Wer am Leben bleiben will, muss offenbar hässlich sein. Es ist das Gesetz des Krebses.
So here it is / merry X-mas / everybody’s havin’ fun Slade, aus Merry X-mas Everybody (The X-mas Party Album, I 973)
ZWEIUNDDREISSIG Nachdem ich eine Stunde lang mit Luna ein Teletubby-Video angeschaut habe, reicht es mir. Bevor man sich’s versieht, redet man selber wie Tinky Winky. Es ist Weihnachtstag, halb elf. Ich schaue im Schlafzimmer nach. Carmen ist noch in tiefem Schlaf. »Luna, wollen wir zusammen baden?« »Jaaaahhhü!« Wir spielen mit Winnie auf meinem Schienbein Rutschbahn, bis das Wasser kalt wird. Ich trockne Luna und mich ab und ziehe ihr ein festliches Kleidchen an. Weihnachten bedeutet mir nicht so viel, doch heute will ich es uns gemütlich machen. Wenn wir das Leben nicht mehr außerhäuslich genießen können, dann eben zu Hause, habe ich mir vorgenommen. Ich habe für Carmen zwei Flaschen Badeöl von Kneipp gekauft. Die eine Flasche mit Melisse (»beruhigt Körper und Geist«), die andere mit OrangeLindenblüten (»totale Entspannung«). Von Luna bekommt sie die neue CD von Madonna. Ich mache zwei Zöpfchen in Lunas blonde Haare und die Haargummis mit Weihnachtsschmuck darum, die wir diese Woche gekauft haben. Luna ist entzückt. Als ich einen Blick in unser Schlafzimmer werfe, sehe ich zufrieden, dass Carmen nicht mehr im Bett liegt. »Komm, wir gehen hinunter zu Mama!«, sage ich fröhlich zu Luna.
»Ja! Zu Mama, zu Mama!« »Hältst du das Geschenk für Mama fest?« »Ja!«, girrt sie. »Und weißt du noch, was du sagen musst, wenn du es gibst?« »Frohe Wein-Nacht?« »So ungefähr, ja«, grinse ich und küsse sie gerührt. Unten sitzt Carmen in ihrem langen Morgenrock am Tisch und liest die Zeitung. Die Perücke hat sie noch nicht aufgesetzt, und ich sehe, dass sie auch den Prothesen-BH nicht anhat. Sie hat einen Joghurt vor sich. »Hast du schon angefangen?«, frage ich bestürzt. »Ja, ich hatte Hunger«, sagt Carmen ahnungslos. »Stimmt etwas nicht?«, fragt sie nach kurzer Stille und isst einen Löffel Joghurt. »Es ist Weihnachten ...«, sage ich betreten. Luna streckt ihr stolz die Armchen entgegen, um Mama die eingepackte CD und eine Zeichnung zu gehen. Ich habe die beiden Flaschen in der Hand. Sie sind in goldenes Geschenkpapier gewickelt, mit einer roten Schleife. Carmen erschrickt. »Oh ... ich hab gar nichts für euch ...« »Muss auch nicht«, lüge ich leise. Luna hilft, die CD auszupacken. Ich setze mich an den Tisch und schaue um mich. Es ist ein Saustall. Es liegen CDs, ein Magazine, ein Flair, eine Zeitung und die Terminkalender des Lucas-Krankenhauses herum. Auf dem Esstisch liegen ein halbes Schwarzbrot von gestern und zwei Papiertüten mit Aufschnitt von Albert Heyn. Dazu eine angefangene Milchpackung und ein Glas Erdnussbutter. Vor Elend nehme ich ein Stück Schwarzbrot, gehe zum Kühlschrank, hole Butter, bestreiche das Brot und werfe eine
Scheibe Hackbraten drauf. Während Carmen ihr Geschenk auspackt, schaut sie, was ich mache. Erst dann sieht sie, was ich sehe. »Ich hätte für ein weihnachtliches Frühstück sorgen können, oder?«, fragt sie schüchtern. Ich kann es nicht für mich behalten, die Tränen würden mich ohnehin verraten. »Ja ...«, murmle ich enttäuscht, den Mund voll von altem Brot und Hackbraten, »das wäre nett gewesen, ja ...« »Oh Gott ... wie blöd von mir ... oh, wie schlimm ...«, stammelt sie, jetzt auch völlig außer Fassung. »Oh ... sorry, Stijn ...« Ich bekomme Mitleid mit ihr, nehme sie am Arm und versichere, es sei nicht so schlimm. Wir umarmen und trösten uns. Luna sieht uns fröhlich zu. »Ich habe eine Idee«, sage ich. »Ich rufe Frenk an und frage, ob er Lust hat, heute zu kommen. Dann hole ich ihn ab, suche ein Geschäft, das offen hat, und bringe etwas Feines mit. Irgendein Geschäft hat immer auf. Dann komme ich zurück, und wir fangen den Tag nochmal an.« Frenk küsst mich dreimal, als ich in seinem Penthouse eintreffe. »Frohe Weihnachten, mein Freund!«, sagt er fröhlich. »Danke. Ebenfalls«, antworte ich matt. Frenk studiert mich. »Es geht nicht gut, was?« Ich schüttle den gesenkten Kopf. Ich weine mich an seiner Schulter aus. Im Auto stelle ich Right Here, Right Now von Fat Boy Slim auf Volume 18. In einem Laden in der Rijnstraat packen wir alles ein, auf das wir Lust haben. An der Ecke beim Blumenstand kaufe ich einen Strauß Rosen. Mit vier Händen voller Lebensmittel, Getränke und Blumen gehen wir singend ins Wohnzimmer.
Carmen hat die schwarze Hose und den weißen Pullover angezogen, in denen ich sie am schönsten finde. Sie hat sich geschminkt und die Perücke aufgesetzt. Sofort kommt sie zu mir und umarmt mich. »Fröhliche Weihnachten, Schatz«, sagt sie strahlend. »Und heute Abend werde ich dir einen blasen, wie noch nie jemand am Weihnachtstag verwöhnt worden ist«, flüstert sie hinzu.
They say two thousand zero zero / party over / oops Prince, aus 1999(1999, 1982)
DREIUNDDREISSIG Wir feiern das Millennium in Maarssen. Thomas und Anne geben eine Party. Ich habe absolut keine Lust darauf. Thomas hat mich seit Aliami nicht mehr angerufen, Anne kann nicht schnell genug Carmen verlangen, wenn sie mich ans Telefon bekommt. Zum Glück sind Alaud und Frenk auch da und noch ein paar alte Freunde aus Breda. Das Läuten der Glocken um Mitternacht weckt bei Carmen und mir Emotionen. Wir umarmen uns minutenlang. Wir wissen nicht, was wir uns wünschen sollen. Dann gehe ich zu Frenk und umarme ihn lange. Er wünscht mir ein besseres Jahr als das letzte. Maud küsst mich und streichelt mir die Wange. »Ich war stolz auf dich dieses Jahr, Stijnemann«, flüstert sie. Dann kommt Thomas zu mir. Er klopft mir auf die Schulter, wünscht mir ein glückliches neues Jahr und fragt, wie es mir gehe. Ich blicke ihn forschend an. Weiß er das wirklich nicht? Oder will er es nicht wissen? Ich zögere. Soll ich so tun, als sei alles in bester Ordnung, oder soll ich ihm mitteilen, dass zu Hause alles zum Teufel geht, und dass ich es zum Kotzen finde, dass er mich seit Miami nicht mehr angerufen hat? Wir kennen uns schon dreißig Jahre. Ich muss ihm doch deutlich machen können, wie ich mich fühle. »Es ist nicht immer einfach, Thomas«, fange ich an. »Nein, so ist das Lehen, was ... Schöne Weihnachten gehabt?«
Ich mache noch einen Versuch. »Nein, nicht gerade glänzend. Weihnachten hat uns richtig aufgewühlt. Es ist symbolischer, als ich dachte, und –« »Ja, diese Verpflichtungen gehören nun mal dazu, was?«, unterbricht er mich schnell. »Bei uns auch: erster Feiertag bei Annes Eltern, zweiter bei meinen. Ich nenne sie immer die nationalen Einschläfertage, hahaha.« »Tja, ich meinte eigentlich etwas anderes«, sage ich. Kurswechsel also. »Du, ich habe von Frenk gehört, du hättest es nicht gut gefunden, dass ich nach Miami gefahren bin, wo Carmen Krebs hat?« Er erschrickt. Nervös schaut er um sich. »Ähm ... ja nun, also ... Oh shit, ich muss schnell, hm ... die Krapfen aus der Friteuse holen. Sonst werden sie so schwarz wie Nwanko Kanu *, und dann will sie keiner mehr, hahaha. Sorry, bin gleich wieder da ...« Und weg ist er. Ich blicke ihm nach und zerdrücke fast mein Champagnerglas. Meine Frau hat keine Grippe, bei der man weiß, dass es in einer Woche wieder vorüber ist, und dann geht das Leben wieder weiter, sondern Krebs, du Trottel! K.R.E.B.S. SO wie in todkrank, Titte weg, Angst abzukratzen. Was glaubst du verdammt nochmal, wie es bei uns aussieht, du Blödmann!? Thomas kommt mit den Krapfen vorbei. Ich nehme einen, greife mir eine Flasche Champagner vom Tisch und fliehe nach draußen. Mit großer Wucht schmeiße ich den Krapfen an den Zaun. Durch das Fenster sehe ich Thomas mit fröhlichem Gesicht die Platte herumreichen. Ich setze mich auf eine Holzbank. Auf die letzten Feuerwerkskörper stierend, denke ich an das vergangene Krebsjahr. 11F
Nigerianischer Publikumsliebling bei De Meer. Machte unnachahmliche Bewegungen mit seinen Stelzenbeinen tind Pipo-Füßen. *
»Liebst du mich noch?«, fragte Carmen mich am Weihnachtsabend. »Natürlich liebe ich dich, Schatz«, habe ich lächelnd geantwortet. Gelogen. Die Wahrheit ist, dass ich gar nicht so sicher bin, ob ich sie noch liebe. Ja, es tut mir weh, wenn ich sehe, dass Carmen weint, wenn sie krank ist, Schmerzen hat, Angst hat. Aber ist das Liebe? Oder ist das einfach Mitleid? Nein, ich will sie nicht im Stich lassen. Aber ist das denn Liebe? Oder Ehrgefühl? Ach, wir könnten uns gar nicht trennen, auch wenn wir’s wollten. Wenn es Carmen wieder mal nicht gut geht, duldet sie nur mich und sonst niemanden um sich herum. Niemand versteht mich so wie du, sagt sie. Drinnen höre ich Prince singen, die Party sei over. Ja, ja, zahl es mir nur heim, murmle ich. Ich habe immer nach dem Stijn’schen Leitspruch gelebt: Wenn mir etwas im Leben nicht gefällt, dann ändere ich’s. Arbeit, Beziehungen, alles. Jetzt, am Anfang eines neuen Millenniums, bin ich zum ersten Mal in meinem Leben zutiefst unglücklich. Und ich kann überhaupt nichts daran ändern. Happy new year, Stijn.
Ich fühl’ mich famos, ich fühl’ mich famos / die Welt ist verrückt und ich trink ‘n Bit / hör mir auf mit Hunger Krebs und Gewalt / setz ‘n Hut auf und sing einfach mit/ ich fühl’ mich famos, ich fühl’ mich famos. Hans Teeuwen, aus Hart und Bedauernswert ( 1995)
VIERUNDDREISSIG »Jemine, Carm, ich finde es wirklich unglaublich, wie du damit umgehst«, höre ich Maud zu Carmen sagen, als ich wieder hineingehe. »Du machst alles, du bist so aufgeräumt, du arbeitest noch normal ...« Thomas nickt beipflichtend. »Ach, man kann natürlich in Melancholie versinken, doch das nützt einem auch nichts«, antwortet Carmen (was die Leute gerne hören). »Im Moment stört mich eigentlich nichts.« Heute Mittag war sie erst um halb eins im Land der Lebenden. »Du bist so positiv, bewundernswert, wirklich«, sagt Thomas. Frenk schaut mich an und blinzelt mir zu. Carmen unterstreicht die Sache noch ein bisschen. »Was soll man sonst machen? Je positiver man eingestellt ist, desto angenehmer ist das Leben.« Demnächst tanzt sie noch auf glühenden Kohlen. Heute Abend aber sicher nicht mehr. Ich sehe, dass sie von dem langen Abend erschöpft ist. »Du, Schatz, wollen wir langsam gehen?«, frage ich. Carmen ist froh, dass sie es nicht vorschlagen muss.
Luna schläft einfach weiter, als ich sie aus dem Bettchen hole und vorsichtig zum Auto trage. Frenk hilft mir mit den Sachen. »Toi, toi, toi, mein Lieber«, flüstert er. »Sie braucht dich.« »Warum tust du verdammt nochmal, als gehe es dir wunderbar, wenn du mit den andern darüber sprichst?«, frage ich sauer, noch bevor wir um die Ecke sind. »Die sitzen jetzt alle da und reden voller Bewunderung über dich. Dass du immer so optimistisch bist, dass du dich nie beklagst. Du musst es selber wissen, aber es sind schließlich unsere Freunde. Die dürfen wirklich wissen, dass es dir drei Viertel vom Tag gar nicht gut geht, verdammt!« Sie ist einen Augenblick still. Ich will gerade mit meiner Erörterung weiterfahren, als die Bombe platzt. Sie fängt plötzlich hysterisch zu weinen an und schlägt mit den Händen auf das Armaturenbrett. Ich bekomme einen Heidenschreck, biege schnell bei der Shell-Tankstelle ein, an der wir gerade vorbeifahren, und halte auf dem verlassenen Parkplatz an. Ich versuche, sie zu umarmen, doch sie schlägt meine Arme wild weg. Ich blicke auf Luna, die, Wunder über Wunder, weiterschläft. »Aber ich will gar nicht, dass die Leute denken, es gehe mir großartig! Es geht mir überhaupt nicht großartig! Es geht mir miserabel! Saumiserabel!!! Sehen die das denn nicht? Ich hab keine Haare, man hat mir verdammt nochmal eine Titte abgeschnitten und ... und ... ich habe solche Angst, dass es nie mehr gut wird ... und dass ich Schmerzen bekomme ... und dass ich sterbe ...! Ich will verdammt gar nicht sterben! Das müssen sie doch kapieren!« Sie weint in langgezogenen Schluchzern. »Nicht weinen, Liebling, nicht weinen«, sage ich leise. Jetzt lässt sie zu, dass ich sie in den Arm nehme.
»Ich weiß weder ein noch aus, Stijn ...«, schluchzt sie. »Soll ich denn immer nur jammern? Das ist besonders stimmungshebend ... Dann fragt bald niemand mehr, wie es mir geht ... dann denken alle: Oh Gott, da ist wieder die Jammerliese.« »Carm, du brauchst dich doch nicht zu schämen, dass es dir nicht immer gut geht! Du kannst keine Unterstützung von andern erwarten, wenn sie nicht wissen, wie es dir wirklich geht, was du wirklich empfindest.« »Hm ... Vielleicht muss ich andern gegenüber doch etwas ehrlicher sein ...« Sie schaut mich an. »Das ist wohl besser, was?« Ich nicke. Sie kuschelt sich an mich und legt den Kopf an meine Schulter. »Ich hab mich nicht getraut, es dir zu sagen«, bemerkt sie nach einer Weile, »aber ich, tja ... denke daran, bei Advertising Brokers aufzuhören.« »Du hast absolut Recht«, sage ich ohne zu zögern. Sie richtet sich auf und blickt mich erstaunt an. »Ja. Das hättest du schon längst tun sollen. Es ist deine Firma. Wenn du dich besser fühlst, kannst du wieder anfangen.« Sie starrt auf das Armaturenbrett. Ich sehe, wie sie nachdenkt. »Ja«, sagt sie plötzlich entschlossen, »dann werde ich etwas für die Fitness tun, und ... Luna einen zusätzlichen Tag zu Hause behalten, und ... shoppen gehen und lesen und ... einfach an mich selbst denken.« Sie gibt dem Armaturenbrett noch einen leichten Schlag. »Ja! Ich höre auf. Sie werden es schon hinkriegen!« Ich grinse zufrieden. Und so geschah es am ersten Tag des neuen Millenniums, dass Carmen (35) aufhörte zu arbeiten.
Teil II Stijn & Carmen und Stijn & Roo s
Es war Karneval, die Liebe rebellierte und spielte Kupplerin in der Stadt, als würden die Herzen der Menschen aufgehetzt und ruhelos gemacht Sàndor Màrai. aus Die Glut ( 1942)
EINS Die Straßen von Breda sind übersät mit betrunkenen Fröschen, singenden Pfarrern, hitzigen Hühnern, geilen Elfen und andern Typen, auf die man in Amsterdam nicht stößt. Maud und ich sind für drei Tage Remigranten. Carmen, Frenk und Ramon wollten nicht mitkommen. Carmen mag Karneval nicht (es wäre gelogen zu sagen, dass ich’s schade finde), Frenk hat Stil, und Ramon kommt aus Chile. Ob Thomas dieses Jahr kommt, interessiert mich nicht. Maud und ich freuen uns darauf. Auf dem Weg nach Süden haben wir Das Schlimmste von Huub Hangop * aufgelegt. Ich habe ein superslickes Tigeroutfit machen lassen, trage ein schwarzes Rüschenhemd und hab mir die Haare silbern gesprüht. Maud geht in einem Krankenschwesterkostüm mit einem Rock, den ich die Schwestern im Lucas-Krankenhaus noch nie habe tragen sehen. Wir laden unsere Sachen im Hotel Van Ham ab und machen uns schnell auf den Weg ins De Bommel. Roos ist auch wieder da. Sie hat ihr Hütchen wieder auf. Einen graublauen Soldatenhut. So einen wie die Sergeantfiguren in Stratego tragen. Nur sieht es bei ihr geiler aus. Letztes Jahr habe ich in einem angesäuselten Zustand eine 12F
*
siehe auch www.kluun.nl
De Bommel ist die beste Kneipe binnen unserer Landesgrenzen. Ausgehen nennt man in Breda Bommeln, ein kleines Glas ein Bommelchen, und der Barkeeper vom De Bommel genießt in Breda ein höheres Ansehen als der Mittelstürmer von NAC. Das wissen sie im Bommel auch: »Lass uns in Gottes Namen in Ruhe«, stand auf einem vorgedruckten Zettel, den man mir an einem Abend, als es brechend voll war, in die Hand drückte; ich hatte den Mumm gehabt, die Barkeeper mit so etwas Trivialem wie einer Bestellung zu belästigen. An Karneval kommt jeder sich selbst respektierende (Ex-)Bredaer hierher, um zu sehen und gesehen zu werden. Das Publikum ist an diesen Tagen schöner und geiler als in irgendeinem Lokal in Amsterdam, und es ist Brabant: Die Menschen sind unverfälscht. Geschichte über diesen Hut fabuliert. Ich hätte seit Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins nie mehr so einen geilen Hut gesehen. Es half wieder nichts. Dieses Jahr ist mein Outfit derart cool, dass ich heute Abend den Zeitpunkt für gekommen halte. Man muss sie greifen, wenn sie tief fliegen. »Abend, Roos.« – diese blonden Haare ... »Oh ...« – diese blauen Augen – »... oh ... Stijn, oder?« – diese Wimpern –»Yes.« – diese geilen Lippen ... »Stijn aus Amsterdam ...« – ich sehe, wie sie mein Kostüm begutachtet, es läuft wie am Schnürchen – »der verheiratet war.« Sie nimmt meine Hand und zeigt auf den Ehering. »Korrigiere: Verheiratet ist.« Oh ja. Das war es. Sie hat Prinzipien. Ich hasse Prinzipien. * 13F
Roos wohnt auch in Amsterdam, hat sie mir irgendwann erzählt. Ich habe sie dort noch nie gesehen, leider. Ich sehe sie nur an Karneval. Jedes Jahr bin ich dann wieder drei Tage ad interim in sie verliebt. Und jedes Jahr weist sie mich lachend zurück. Ich verstehe nicht, wieso.
*
Wrample aus Die Schlümpfe
»Und?«, fragt sie mich neckisch, »wirst du heut Abend wieder versuchen, mich zu vernaschen?« – Change of plans. »Nein, denn du stehst nicht auf Eheringe. Weißt du was, ich lade dich zu einem Drink in Amsterdam ein. Ich bin wirklich sehr sozial.« Ich verschränke die Arme demonstrativ hinter dem Rücken. »Und hundert Prozent sicher, rein platonisch.« Sie lacht auf. – Bingo. Ich nehme eine Visitenkarte aus meinem Tigeranzug, schreibe Gutschein für einen platonischen Drink und gebe sie ihr. Grinsend wegen meiner eigenen Coolheit gehe ich zu Maud zurück. Sie ist in eine Schleckpartie mit einem enormen Bär in einem NAC-Shirt verwickelt. Als sie die Zäpfchenuntersuchung beendet, sehe ich das Gesicht des Mannes. Thomas ist also auch da.
Ich bin so geil, ich bin so toll / Ich bin der Anton aus Tirol DJ Ötzi. aus Anton aus Tirol (Das Album. 1999)
ZWEI Der Rausch des Karnevals macht derart süchtig, dass es mir immer schon im Voraus vor dem Kater graut, den ich jetzt habe. Ich liege allein im Hotelzimmer. Mauds Bett ist unberührt. Ich kann dem Drang, Anne eine SMS zu schicken, dass sie, sollte sie ihren Mann suchen, jetzt am besten Maud auf ihrem Handy anruft, mit Grüßen von Stijn, kaum widerstehen. Ich stehe auf und schaue aus dem Fenster. Die Straße liegt voll von Umzugsrückständen. In einem Hauseingang liegt ein betrunkener Clown, und ich sehe eine Giraffe Arm in Arm mit ihrer gerade gevögelten Hexe vorbeigehen. Carmen habe ich mehr oder weniger versprochen, heute nach Hause zu kommen. Karnevalsdienstag in Breda ist eine twilight zone: Offiziell ist noch Karneval, doch die Stadt zeigt schon Abnutzungserscheinungen. Heute gehen nur noch diejenigen, die nie genug haben von der Sache, und solche, die am liebsten so wenig wie möglich zu Hause sind. Normalerweise falle ich unter die erste Kategorie, dieses Jahr unter beide. Ich will nicht zurück ins tägliche Leben. Ich will bleiben. Ich werde Carmen anrufen. »Hallo, Schatz!« »Hü« »Wie geht’s?« »Nicht schlecht.« Es klingt nicht unfreundlich. »Und die Kleine?«
»Sehr gut. Sie schläft gut die letzten Tage. Und wie war es in Breda?« »Absolut wunderbar. Es ist wieder so richtig schön dieses Jahr.« »Schön. Fein, dass es so herrlich war! Wann kommst du nach Hause?« »Tja ... ich habe gerade überlegt, noch einen Tag dranzuhängen. Ich werde erst am Mittwoch bei Merk in Uitvoering zurück erwartet. Ist es dir recht?« »...« »Carmen?« Tuuttuuttuut. Ich seufze auf. Schonfrist. Aber morgen wird’s schlimmer als am Tag nach dem Finale 1974.
I‘m so excited / I’m about to lose control / and I think I like it The Poster Sisters, aus So Exited (So Exited, 1982)
DREI Maud habe ich gestern Morgen noch kurz gesehen, als sie ihre Sachen holte. »Und?«, habe ich spöttisch gefragt, »ist Thomas noch in Schuss?« Sie zog die Schultern hoch. »Er hat mich angefleht, dir nicht zu sagen, dass ich mit ihm gegangen bin«, sagte sie. Die Geringschätzung in ihrer Stimme freute mich. Ich erzählte, dass ich Carmen überglücklich gemacht habe mit meiner Entscheidung, noch einen Tag hinzuzufügen. »Was machen wir hier nur?«, lachte Maud kopfschüttelnd und fahr dann mit dem Zug nach Amsterdam zurück. Eine Stunde später stand ich allein im De Bommel. Außer mir noch drei Männer und ein Giraffenkopf. Erst gegen Abend füllte sich das Lokal langsam zur Hälfte. Aus Langeweile habe ich ein wenig Mund-zu-Mund-Beatmung mit einem Mädchen mit einer enormen Hexennase gemacht. Und sie war nicht einmal als Hexe verkleidet. Jetzt ist Mittwoch. Ich befinde mich in einem verlassenen Frühstückszimmer, wo Putzfrauen die Überreste vom Karneval entfernen. Später allein zurück nach Amsterdam, und heute Abend Carmen wieder unter die Augen kommen. Ich habe ihr noch eine SMS geschickt, dass ich noch ein paar Stunden arbeiten werde und zirka um sechs Uhr zu Hause bin. Es kam keine SMS zurück. In Amsterdam fahre ich direkt zum Stadion. Bei Merk in Uitvoering ist gerade Mittagspause. Ich setze mich an den
Tisch und erzähle die Karncvalsgeschichten, soweit sie für ein gemischtes Puhlikum geeignet sind. Dann gehe ich zu meinem PC und öffne die Mails. Holland Casino, KPX, Centerparcs, viel Unsinn und eine Mail von jemandem, den ich nicht kenne.
[email protected]. Ich öffne sie und grinse. Roseanneverschueren ist Roos! 6H
Von:
[email protected] Gesendet: Mittwoch, 08. März 2000, 11:47 An:
[email protected] Betreff: ausgeschlafen? Hallo,Tiger, ich habe deine Karte gefunden ... Ich trinke Gerade mit zitternden Fingern meine vierte Tasse Kaffee und rauche die achtzigste Zigarette, um mich rum nur Nörgelfritzen und ernsthafte Leute. Ich will zurück in den Süden! Und, hast du es lustig gehabt? Noch Frauen gefunden, die dich küssen wollten? Grüße, Roos PS.: Du wolltest mich doch zu einem platonischen Drink einladen. Na schön. Passt es dir nächsten Freitag? 7H
8H
YEAH!
Target has been successfully hit! Der Tag ist gerettet. Ich lese die Mail dreimal durch und formuliere sorgfältig ein Replay. Jetzt nicht zu eager sein. Rendezvous bestätigen ohne zu großen Druck und Erwartungshaltung. Trotzdem sagen, dass ich sie ganz besonders finde. Ich brauche eine gute Dreiviertelstunde für den Gruß und glaube dann den richtigen Mix zwischen Nonchalance und Enthusiasmus, platonischer Freundlichkeit und harmloser Spannung gefunden zu haben. Ich lese die Mail noch dreimal durch, schleuse noch einen Rechtschreibfehler ein, damit es spontan aussieht, und drücke dann send.
Von:
[email protected] Gesendet: Mittwoch, 08. März 2000, 15:26 An:
[email protected] Betreff: aw: ausgeschlafen? Freitag ist in Ordnung! Gruß, Stijn 9H
10H
Danach gehe ich schweren Herzens nach Hause. Luna ist lieb zu mir. Carmen nicht. Am besten, ich fange noch nicht an mit meinen Ausgehplänen für nächsten Freitag.
I’m driving in my car / I’m pulling you close / you just say no / you say you don’t like it / but girl I know you’re a liar / ’cause when wie kiss ... fire Bruce Springsteen, aus Fire ( 1978, Live 1975-1985)
VIER »Ich treffe euch heute Abend erst nach dem Essen. Ein Cousin von mir aus Breda ist heute Nachmittag in Amsterdam, ich geh noch ein Bier mit ihm trinken«, sage ich mittags ganz beiläufig zu Frenk. »Lass uns simsen, damit ich weiß, wohin ihr nach dem Essen geht. Wann hast du mit Hakan und Ramon abgemacht?« »Sieben Uhr im Club Inez«, sagt Frenk. Club Inez. Das Essen ist dort so trendy, dass jedes Gericht auf der Menükarte mindestens eine Zutat enthält, von der ich noch nie gehört habe. Zum Glück ist Frenk meistens dabei. Ich schicke Roos eine Mail und frage, oh sie Lust habe, zuerst bei Merk in Uitvoering vorbeizu-kommen und sich unser Büro anzuschauen. Nachher könnten wir ins Vak Zuid gehen. Sie solle bitte so lieb sein und anrufen, falls sie früher kommen will. Nicht dass sie plötzlich um halb sieben vor der Tür steht und ich der Meute hier mit roter Birne erklären muss, wer jetzt diese Dame ist. Es klappt wie am Schnürchen. Es ist Viertel vor sieben, und alle sind schon nach Hause. Er gehe auch gleich, sagt Frenk. Dann ruft Roos an, sie komme eine halbe Stunde später. Das ist gut und schön, nur bin ich gerade auf der Toilette, und Frenk nimmt mein Telefon ab.
Frenk lacht kopfschüttelnd, während er den Alantel anzieht. »Viel Vergnügen mit deinem Cousin ...«, sagt er, als er zur Tür hinausgeht. Die Rote in meinem Gesicht lässt nach. Ich drehe Daft Punk laut auf und nehme ein Budweiser aus dem Kühlschrank. Ich frage mich, wie sie wohl ohne Karnevalskluft aussieht. Sie wird kaum enttäuschen. Das tut sie auch nicht. Es klingelt, ich gehe zur Tür, und dort steht die blonde Göttin aus Breda vor der Glastür unseres Büros. Sie trägt einen langen schwarzen Mantel und hat eine schwarze Alütze auf dem Kopf. Sie lacht. Ich grinse und öffne die Tür. »Abend, Frau Verschueren.« »Abend, Herr van Diepen.« Ich küsse sie so platonisch wie möglich auf die Wangen. Ich gebe ihr ein Bier, zeige unser Büro und erzähle quasi nonchalant von Alerk in Uitvoering. Es gefällt ihr. Es läuft gut. Vak Zuid. Tja.Weil es sich gegenüber Merk in Uitvoering befindet, ist es geographisch notgedrungen unsere Stammkneipe geworden. Freitagnachmittagsumtrunk-Lokal, jeden Freitag um fünf füllt es sich mit Männern in gestreiften Hemden mit weißen Kragen und Frauen in Kostümen. Fürchterlich fand ich es das erste Mal. Bis mir klar wurde, dass derart gekleidete Frauen nach fünf Breezern genauso geil sind wie die Durchschnitts-Nagelstudio-Blondine-mit-Moschinogürtel in der Bastille. Seither gefällt es mir dort ganz gut. Das Vak Zuid ist sehr belebt. Ich will so um neun Uhr bei Frenk und Konsorten sein, falls ich ahne, dass Roos nicht ins Bett zu kriegen ist. Diese Ahnung stellt sich bald ein. Das heißt, Roos ist zweifellos schon ins Bett zu kriegen, aber nicht durch mich und meinen Ehering. Ich erzähle ihr, dass ich befürchte, ihren Namen definitiv vom Fach to do zum Fach platonisch verschieben zu müssen.
»Du bist ein richtiger junger Hund«, lacht sie. »Ein junger Hund?« »Spielerisch an jedem hin aufspringen, an allem lecken ...« »Meiner Meinung nach hast du nichts gegen junge Hunde«, sage ich und blicke ihr direkt in die Augen. Sie errötet. Ich habe sie erwischt! »Hm ... ja, doch verheiratete junge Hunde sind mir zu falsch.« Ich glaube, ich gehe so langsam zu den Jungs. Was mache ich hier noch? Ich sage ihr einfach, ich müsse in einer halben Stunde zu Hause sein. Ja, das mache ich. »Roos ...« »Ja?« – Diese Haare. Diese Augen. Diese göttlichen Zähne. »Wollen wir etwas essen gehen?« Wir gehen ins De Knijp in der Van Baerlestraat. Dort verkehren nur Leute, die ins Concertgebouw gehen oder gerade von dort kommen, und ich glaube kaum, dass ich dort jemanden kenne. Wir bestellen zweimal Beefstaek mit Fritten. Sie erzählt von ihrer letzten Beziehung mit einem jungen Mann aus Friesland. Sie sagt, sie hoffe, es komme wieder in Ordung. »Und du, erzähl mal was von deiner Frau.« Du hast danach gefragt. »Bist du bereit, eine unangenehme Geschichte zu hören?« »Aber nicht so eine wie ›meine Frau versteht mich nicht‹, oder?« »Nein«, sage ich ein wenig irritiert. Ich fange zu erzählen an. über den Krebs. Über die Chemotherapie. Über die Angst. Die Brustamputation. Und über unsere Beziehung. Während sie zuhört, legt sie die Hand auf meine. Draußen sehe ich, dass Ramon eine SMS geschickt hat.
Ich texte, dass ich nicht mehr komme. Auch wenn ich weiß, die Chance, dass Zinedine Zidane * einen Vertrag bei Ajax unterzeichnet, ist größer als die Chance, dass ich heute Abend mit Roos bumse. »Lust auf Tanzen?«, frage ich. Sie sagt, dass sie fürs Leben gerne tanze. Ich seit Miami ebenfalls, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie House ohne XTC klingt. Ich bin noch nie im De More gewesen, traue mich aber nicht, das ist Frenks Lokal nach zwei Uhr früh. Ich sage, das Paradiso wäre nicht schlecht. 14F
Es gibt Leute, die immer noch nicht glauben, dass ein Mann auf dem Mond gewesen ist. So etwas empfinde ich beim Paradiso. Ich weigere mich konsequent zu glauben, dass die Stones und Prince und mein eigener Springsteen dort manchmal als Ulk nach einem Konzert auftreten, und habe jeden, der behauptet, bei einem solchen Konzert gewesen zu sein, im Verdacht, er wird vom Paradiso bezahlt, so einen Quatsch in die Welt zu posaunen. Oder mich zu piesacken. Ich bin verdammt nochmal schon aus dem Häuschen, wenn ich rechtzeitig Karten für De Dijk habe auftreiben können. In einer der kleinen Sitzecken oben im kleinen Saal reden wir weiter. Sie legt mir die Hand aufs Knie. Ganz natürlich, als ob wir uns schon seit Jahren kennen. Ich lege die Hand auf ihre und bemühe mich, dass es nicht nach Aufreißen aussieht. »Wollen wir ein bisschen tanzen?«, frage ich. Wir gehen zur Tanzfläche. Wir reden mehr, als dass wir uns bewegen. Bald stehen wir wieder am Rand und quatschen. Wir hören nicht auf zu plaudern. Über Gott und die Welt. Doch unsere Augen beteiligen sich schon lange nicht mehr am war mal Europas Fußballer des Jahres, fast so gut wie Rafael van der Vaart wird. *
Gespräch. Sie schmachten. Es ist nicht aufzuhalten. Es ist höhere Gewalt. Mitten in einem Satz drücke ich sie an die Wand und küsse sie. Sie erschlafft und fügt sich. Eins ergibt das andere. Wir küssen uns und küssen. Und küssen. Minutenlang. Dann schaue ich sie an und ziehe die Schulter hoch, als wisse ich nicht weiter. Sie schüttelt den Kopf. Sie weiß es auch nicht. Wir küssen uns wieder. Kurz danach gehen wir. Sie wohnt in der Eerste Helmerstraat im älteren Teil von Amsterdam-West. Ich stelle den Wagen an einem freien Parkplatz ab, öffne ihren Reißverschluss und gleite mit der Hand in ihre Hose. Sie ist feucht. Plötzlich zieht sie meine Hand weg. Sie schielt vor Geilheit. »Wir tun es nicht«, sagt sie. Ich lege ihre Hand auf meine Hose. Mein Schwanz springt fast heraus. Sie lacht und zieht die Hand zurück. Ich seufze tief. Die Zeit reicht nicht einmal. Es ist zehn nach vier. Ich komme nie später als Viertel nach vier nach Hause. Carmen weiß, dass alle Clubs, wo ich hingehe, um vier Uhr schließen. Ich küsse Roos noch einmal, sie steigt aus, ich blicke ihr nach, werfe ihr durchs Fenster eine Kusshand zu und fahre dann nach Hause. Ich bin komplett verloren.
Red alert red alert / it’s a catastrophe / but don’t worry / don’t panic Basement jaxx, aus Red Men (‘Remedy 1999)
FÜNF Ich sitze im Auto. Sie sei zu Hause, sagt sie. Wir haben diese Woche viel gemailt. Sie schrieb am Montag, sie habe es schön gefunden, hätte jedoch früher gehen sollen. Sie spüre keine Reue, wiederholte aber, sie wolle keine Affäre mit einem verheirateten Mann. Sie wisse nicht, ob es so vernünftig sei, mich wiederzusehen, schrieb sie. Ich nahm es nicht ernst, sagte aber per Mail nichts dagegen. Jetzt, wo ich sie anrufe, stelle ich fest, dass ich richtig lag. Sie freut sich, dass ich anrufe. Es ist Donnerstagabend. Wir plaudern über harmlose Dinge. Ich erzähle ein bisschen von meiner Arbeit und von Luma, sie von ihren Kollegen. Inzwischen steige ich mit den Blumen, die ich gerade beim Nightshop auf dem Stadionplein gekauft habe, aus dem Auto. »Welche Nummer in der Eerste Helmerstraat wohnst du auch nochmal?« »Ahm ... neunundsiebzig. Wieso?« Ich drücke auf den Klingelknopf. »Moment bitte. Es klingelt gerade.« »Ich warte.« Vom ersten Stock ruft sie durch die Gegensprechanlage: »Hallo?« Ich sage »hallo« durch Handy und Sprechanlage. Kurze Stille. »Was?!?«
»Mach schon auf.« »Bist ... du es?« »Nein, Harry Belafonte.« »Jesus ...« Sie drückt auf den Knopf, und ich öffne die Haustür. »Du bist verrückt ...«, sagt sie, als ich grinsend die Treppe hochgehe. Ihre Augen verraten, dass dies ein guter Schachzug ist. Ich lege die Blumen auf den Tisch und küsse sie. Sie ist im Bademantel, und ihre Haare sind nass. Während ich sie küsse, schiebe ich sie rückwärts, bis wir auf das Sofa fallen. Ihr Bademantel öffnet sich ein wenig. Sie sieht, wie ich schaue, schließt ihn lachend und kuschelt sich an mich. Ich streichle ihre Haare und küsse ihre Stirn. So habe ich mit Carmen lange nicht mehr gesessen. Ich genieße es. Wir küssen uns wieder, immer ungestümer jetzt. Meine Hand gleitet in ihren Bademantel. Sie hält mich nicht zurück. Ich knete ihre Brüste. Sie sind weich. Ich verliebe mich auf der Stelle in sie. Ich küsse sie in den Nacken und beiße sie spielerisch in den Hals. Plötzlich steht sie auf. »Du ... willst du Kaffee?«, fragt sie. »Wenn du nichts Besseres im Sinn hast, schon«, lache ich. Ich suche in ihrem CD-Regal und entdecke Ray of Light von Madonna. Sie schenkt zwei Becher ein und setzt sich, den Bademantel wieder anständig zugeknöpft, neben mich. Wir reden ein bisschen über Musik und sonstigen Unsinn. Ich ziehe sie wieder zu mir. Das Prozedere wiederholt sich. Madonna singt. Wanted it so badly, running rushing back for more...the face of you...my substitute for love. . . * Ich streichle sie zärtlich. Sie liegt jetzt der Länge nach auf dem Sofa, den 15F
*
aus Substitute For Love
Kopf an meiner Brust. Ich öffne den Knopf ihres Bademantels, wobei sie mit geschlossenen Augen »nicht ...« flüstert. Zwei Madonna-Nummern später küsst sie mich wieder. Meine Hand sucht wieder ihre Brüste. And I feel like I just got hon.* Und rutscht tiefer. Sie seufzt und wirft den Kopf zurück. Jetzt hält sie mich nicht zurück, als meine Hand über ihren Bauch nach unten gleitet. Put your hand on my skin ... I close my eyes ... I need to make a connection ... touch me I’m, trying ... to see inside of your soul... I close your eyes ... Do I know you from somewhere ...** Ich knie zwischen ihren Beinen. Ich stoße mit der Hüfte an ihren Schritt. Sie schüttelt den Kopf. »Ich kann die Finger nicht von dir lassen. Am besten, du schickst mich weg, sonst höre ich nicht auf«, seufze ich. Ich bin so geil wie Patrick Kluivert*** nach einem Abend im Simmers. **** Sie sieht mich kurz an. Dann fasst sie mich am Kragen meines Hemdes und zieht mich zu sich. Der Bademantel ist ihr von den Schultern gerutscht, sie ist jetzt ganz nackt. Sie knöpft mein Hemd auf, ich öffne meine Hose und schiebe ihre Beine auseinander. Ich bin nervös. Ich warte noch einen Moment, damit sie eine letzte Chance zu protestieren hat. – Watching the signs as they go ... – Sie protestiert nicht. Sie schaut mich mit trübem Blick an und nickt, kaum merklich. – I think I follow my heart... – Langsam gleite ich in sie. – ... It’s a very good place to start...**** Es ist himmlisch in Roos. * 16F
*
aus Skin
** aus Ray of Light ***Fußballer (Ajax, Barcelona), dessen Libido in seinen Teenagerjahren so hoch war wie seine Trefferquore. Beides hat sich in den letzten Jahren auf mittlere Proportionen reduziert.
***aus Sky
Das Gleiche koste ich danach nochmals auf ihrem Bett, und am darauf folgenden Samstagnachmittag erneut dreimal, als ich angeblich in der Stadt bin. Der Teufel ist los. Was habe ich in Gottes Namen angefangen?
****
She says her love for me could never die / that would change if she ever found out about you and I / oh, but it’s so damn easy making love to you / so when it gets too much /1 need to feel your touch / I’m gonna run to you Brian Adams, aus Run To You (Reckless, 1984)
SECHS Fremdgehen bedeutet gar nichts. Es ist wie masturbieren, mit dem einzigen Unterschied, dass da zufällig ein Frauenkörper im Spiel ist. Ein Verhältnis ist eine andere Sache. Dann heißt es statt bumsen making love. Es geht nicht mehr um irgendeinen weiblichen Körper, wo man gerne den Schwanz reinsteckt, es dreht sich unversehens um eine Frau. Das wollte ich immer vermeiden; mein zwanghaftes Bedürfnis, körperlich fremdzugehen, war schon schlimm genug. Andere Frauen dürfen alles berühren, außer meinem Herzen. Mein Körper und Geist mochten monophob sein, mein Herz war monogam. Es gehörte Carmen. Roos weiß, dass wir nie eine Beziehung angefangen hätten, wenn Carmen nicht krank wäre. Doch Carmen ist krank. Im Frühjahr 2000 wird
[email protected], Kosename Göttin, Rufname Roos, Handyeintrag Boris, das erste Verhältnis meines Lebens. Wir ergänzen uns perfekt. Ich bekomme bei Roos, was mir zu Hause fehlt, und erlange so – wenn auch nur parttime – meine Lebensfreude zurück. Sie verwöhnt mich mit allem Weiblichen, über das sie verfügt; sie ist genau die 11H
Frau, die ich in dieser Krebszeit brauche. Roos ist meine Ersatzkönigin. Meinerseits schenke ich ihr meine ganze Aufmerksamkeit. Stijns Highlights sind für sie, sie fühlt sich bei mir mehr Frau als je zuvor. »Du nennst mich Göttin, und so fühle ich mich auch bei dir«, sagt sie entzückt, wenn ich mit einer Rose und einem Gutschein aus einem Dessousladen ankomme. Sie genießt ihre Rolle und geht ganz darin auf. Sie lässt mich bestimmen, was wir tun und wo, wann und wie. Sie fragt mich, was sie anziehen soll, wenn wir ausgehen, nach der Farbe der Wäsche, die sie kaufen will, Sie rasiert sich so, wie ich’s geil finde. Das Verhältnis wirkt wie Heroin. Innerhalb weniger Wochen bin ich Roos völlig verfallen, dem Gefühl verfallen, das sie mir gibt. Ich versuche, so viel wie möglich bei ihr zu sein. Alle Alibiklischees werden rausgeholt. Manchmal fange ich morgens »früh mit der Arbeit an«. Ich gehe in die Stadt, um CDs zu hören. Ich benutze Stijns freitägliche Ausgehabende als Deckmantel. Oder ein Heimspiel von Ajax. Dann schaue ich mir im Videotext den Spielbericht an und lerne ihn auswendig, bevor ich nach Hause gehe. Wir sehen uns spätabends, nach einem Essen mit einem Kunden. Ein-, zweimal in der Woche sehen wir uns einen ganzen Abend. Dann gehen wir in eine Kneipe oder ein Restaurant, wo die Chance, Bekannte zu treffen, am geringsten ist, und reden den ganzen Abend. Meistens über Sex. Über den Sex, den wir gehabt haben, den Sex, den wir noch haben werden, über den Sex, von dem wir träumen. Und wenn wir mal nicht über Sex reden, praktizieren wir ihn. Wr vögeln bis zum Gehtnichtmehr. Bei ihr zu Hause, in meinem Auto, bei Merk in Uitvoering, im Vondelpark, im Amsterdamse Bos, überall. Tagsüber tun wir nichts als mailen. Dutzende Mails pro Tag. Wir erzählen uns, wie es mir zu Hause geht, von der
Arbeit, von ihrem Zug, der Verspätung hatte. Dinge, die man in einer normalen Beziehung während der Mahlzeiten bespricht. Die Hälfte der Zeit bin ich mit dem Checken meiner Mailbox beschäftigt. Meine Leistung bei Merk in Uitvoering sinkt auf Bryan-Roy-Niveau. * Am Wochenende, wenn ich keine E-Mails checken kann, schicke ich ihr SMS. Zehn, zwanzig am Tag. Wenn ich aufs Klo gehe, wenn Carmen aufs Klo geht, wenn ich rasch zum Auto laufe, weil ich »etwas vergessen habe«, wenn ich Luna bade, die Zähne putze. Jede Minute, die ich allein bin. 17F
Roos dagegen darf nichts tun als warten. Warten, bis ich anrufe, ob eine Verabredung stattfindet oder im letzten Moment doch noch abgesagt wird, warten, bis ich eine SMS schicke. Wir haben einen strikten Kodex vereinbart. Roos darf mich nie anrufen, und nur, wenn ich explizit am Ende einer SMS ein Fragezeichen setze, darf sie eine SMS zurückschicken, und nie später als fünf Minuten nach meiner.
Ehemaliger Ajax-Spieler, Anfang der Neunzigerjahre. SchönwetterLinksaußen mit individuellen Aktionen zum Ergötzen und einem Nutzeffekt zum Weinen. *
Ich habe eine Höllenangst, dass es rauskommt. Auf meinem Mobiltelefon heißt Roos einen Monat »Boris«, nach einem Praktikanten bei uns, und im nächsten »Arjan KPN«, nach einem Kunden von mir. Ich lösche nach jedem ‘lblefonat mit ihr meine Ruflisten. Und jede SMS von ihr. Etliche Male am Tag lösche ich die Mails, die ich von ihr bekomme. Ich schicke ihr nie eine Mail von unserem PC zu Hause. Wenn ich sie anrufe, kommt sie. Zu jedem Zeitpunkt, an jeden Ort, wo ich bin. Wenn ich von einem Kunden aus Eindhoven zurückkomme, fährt sie mit dem Zug nach Utrecht, damit wir dort eine Dreiviertelstunde in einem Café sitzen können, und dann fährt sie mit mir nach Amsterdam zurück. Sie sagt Verabredungen mit Freundinnen ab, weil sie nicht weiß, wie spät es bei meinem Essen mit einem Kunden wird und wir uns noch rasch sehen wollen. Das kann abends um halb elf Uhr sein, aber auch um halb eins. Die Treffen mit Roos enden immer gleich. Ich dusche, wasche mir gründlich den Schwanz und das Gesicht, und gehe dann aus der Wärme von Roos’ Bett in die Kälte der Nacht hinaus. Allein. Im Auto auf dem Weg nach Hause, nachglühend von der Spannung, der Leidenschaft und dem Sex mit Roos, sehe ich schweren Herzens meiner Heimkehr entgegen. Es sind die scheußlichsten Augenblicke der ganzen Woche. Mit einem Knoten im Magen suche ich einen Parkplatz am Amstelveenseweg. Bevor ich aus dem Auto steige, warte ich manchmal noch ein paar Minuten, um meine Geschichte nochmals zu checken, auf bugs zu kontrollieren und um sie nochmal durchzugehen. Aus Angst, man könnte in meinem Alibi für diesen Abend Lücken finden. Danach ziehe ich mich unten bereits aus, damit ich so
wenig Lärm wie möglich mache, schleiche die Teppe hinauf, putze die Zähne extra gut, krieche leise ins Bett und liege mindestens eine halbe Stunde wach, mit dem Rücken zu Carmen, die Augen weit geöffnet und fürchterlich nervös, dass ich etwas übersehen habe, noch nach Roos rieche. Vor allem, wenn ich an Wochentagen später als Viertel nach eins zu Hause bin und Carmen weiß, dass die Kneipen um 1.00 Uhr schließen. Morgens entspanne ich mich erst, wenn ich spüre, dass die Atmosphäre in Ordnung und mein Alibi offenbar akzeptiert worden ist. Dann bin ich in bester Verfassung. Ich bin lieb zu Carmen, spiele mit Luna, bin voller Energie und bin fröhlich, egal, wie viel ich getrunken habe und wie spät es auch geworden ist. Dann hat mein Schuss Lebensgenuss seine Wirkung erzielt.
It’s you and the things you do to me / now I’m living in ecstasy Sister Sledge. aus Thinking Of You (We Are Family. 1979)
SIEBEN Ich habe mich wochenlang darauf gefreut und alles tipptopp vorbereitet. Luna ist das Wochenende bei meiner Schwiegermutter, über Ramons Dealer habe ich einige Vitaminpillen aufgetrieben, und ich habe herausgefunden, wo Frenk, Maud und Ramon am Samstag hingehen und wo ich mit Roos also wegbleiben muss. Carmen verbringt den jährlichen Betriebsausflug mit Advertising Brokers in Monaco. Die Frauen waren aus dem Häuschen, als sie vernahmen, dass Carmen doch mitkäme. Wo Carmen ist, gibt’s Spaß, das weiß jede. Nachdem ich sie zum Flughafen gebracht habe, gehe ich direkt zu Roos. Als ich eintrete, ruft sie aus der Küche heraus, ich solle mich ins Bett legen. Das empfinde ich nicht als Strafe, ich lasse mich zur Abwechslung gerne herumkommandieren. Kurz darauf kommt sie ins Schlafzimmer. Sie trägt eine Hemdbluse ohne etwas drunter, und eine Platte, fast zu groß für die Türöffnung. Ich sehe Bagels, Lachs, Avocado, Käse, frischen Saft und eine Flasche Champagner, mit einer Schleife verziert. »Den Schampus gibt’s, weil du nächste Woche Geburtstag hast«, sagt sie. »Ich kann dir kein Geschenk machen, das du mit nach Hause nehmen kannst. Darum mache ich es einfach so ...« Sie guckt verschmitzt und knöpft langsam die Bluse auf. »Was möchtest du zuerst?«
Es rührt mich und macht mich gleichzeitig geil wie einen Affen. »Naschen«, sage ich und tauche mit dem Mund zwischen ihre Beine, von wo ich die nächsten Minuten nicht mehr hervorkomme. Nach einem genussreichen Vor- und Nachmittag, bestehend aus vögeln, essen, schlafen, reden, lachen, vögeln, schlafen und wieder vögeln, fühle ich mich wie der glücklichste Mann der Welt. Kurz bevor Roos und ich uns zu einem Stadtbummel aufmachen, bekomme ich eine SMS. Carmen. Sie schreibt, sie amüsiere sich wunderbar und habe in Monte Carlo ein Kleidchen für Luna, ein Paar sehr teure Stiefel und eine Diesel-Jeansjacke für sich gekauft. Ich grinse, erzähle Roos Weshalb – sie lacht gerührt – und simse Carmen zurück.
Begeistert zeige ich Roos, was ich Carmen geschrieben habe. Autsch. »Hm. Nett, dass du Carmen so nennst«, kommentiert sie bitter, »jetzt kenne ich wenigstens meinen Platz.« Jetzt könnte ich eine ganze Abhandlung über das Zeitprinzip anfangen, Carmen sei die Liebe meines Lebens bis jetzt, und man könne nie wissen, wie der Rest eines Lebens ablaufe, aber eine solche Erläuterung finde ich im Moment nicht sehr geschickt. Wie schaffe ich es, sie genau an diesem Wochenende, wo ich ganz ihr gehöre, von Wolke sieben zu ziehen? »Ach«, sagt sie scheinbar nonchalant, als wir bei Weber in der Marnixstraat sitzen, »so eine SMS ändert eigentlich nichts an der Sache. Ich weiß ja, ich werde nie das für dich bedeuten, was Carmen für dich ist.«
»Du weißt aber schon, dass du für mich sehr wichtig bist.« »Ich schon. Aber sonst niemand. Deine Freunde wissen nicht einmal, dass es mich gibt. Nicht als Frau, nicht als Person. Kannst du dir vorstellen, wie man sich da fühlt?« Sie schaut mich eindringlich an. »Und meinen Eltern traue ich’s mich auch nicht zu sagen. Eine Affäre mit einem verheirateten Mann, dessen Frau Krebs hat. Da würde ich schön ankommen. Meine Schwester wollte gar nichts hören, als ich vorsichtig davon anfing. Sie hat sofort das Gespräch beendet. Und eine Freundin, der ich es erzählt habe, findet es eine Schande. Sie versteht nicht, dass ich so was tue, und auch nicht, dass ein Mann so was tun kann, während seine Frau sterbenskrank ist.« »Pfff...«, sage ich und trinke den letzten Schluck Portwein. »Ja. Pfff. Das kann man wohl sagen. Und dann zeigst du mir noch so eine SMS an Carmen. Das ist kein richtiger Liebesdienst, meine Ratte ...«, sagt sie augenzwinkernd. »Also denk gar nicht erst dran, heute Abend früh nach Hause zu wollen. Endlich gehörst du mal mir.« Weil ich nicht um vier Uhr früh zu Hause sein muss, haben wir jede Menge Zeit. Wir gehen ins Lux, wo ich früher ab und zu mit Carmen war. Wir sehen dort, wie erwartet, keine Bekannten. In diesem Zusammenhang meide ich heute Abend lieber auch La Bastille. Ich habe keine Lust, Ramon in die Arme zu laufen. Als mein ständiges Alibi weiß er zwar, wie oft ich fremdgehe, aber nicht, dass es während der letzten MoLux und/oder Weber. Die Lounge-Cafés in der Marnixstraat. Ich weiß nie, in welchem ich bin, so ähnlich sehen sie aus. Ich komme immer wieder zum Schluss, dass ich es nicht verstehe. Wenn man auf einer Chaiselongue liegen will, bleibt man doch gemütlich zu Hause!
nate immer mit derselben Frau ist. Und das soll so bleiben. Zum Glück hat Roos mehr Lust auf Tanzen als auf André Hazes. Das Paradiso riskiere ich heute Abend nicht. Maud wollte vielleicht hin. Das More geht auch nicht, dort ist Frenk. Ich schlage das Hotel Arena vor. Da geht, soviel ich weiß, nie jemand von Merk in Uitvoering hin. »Was meinst du dazu, wo wir die ganze Nacht für uns haben?«, frage ich Roos und halte ihr eine Pille hin. »Oh? Mmmm. Gute Idee ...« Das Hotel Arena war bis vor ein paar Jahren eine no-go area für trendy Amsterdam. Musik aus den Eighties, Rucksacktouristen und Handtaschen-Frauen aus Purmerend. Ich war öfter da.Jetzt ist es , richtig aufgestylt; es wird House aufgelegt, und die Bierpreise haben sich verdoppelt. Da der Gehalt an leckeren Weibern der Metamorphose des Lokals entsprechend upgegradet wurde, habe ich mich entschlossen, das zu übersehen. Eine Stunde später ist DJ Roog Gott, und ich finde meine Göttin schöner als alle Ajax-Spielerfrauen zusammen. Das zeige ich ihr, indem ich pausenlos erigiert bin und ihr, in den wenigen Augenblicken, da meine Zunge nicht in ihrem Mund beschäftigt ist, ins Ohr flüstere, wie schön sie sei, wie seidenweich, wie weiblich, wie lieb, wie gescheit, und wie oft ich sie demnächst vögeln werde. Als ich auf die Uhr schaue, wird mein glückseliges Lächeln noch strahlender. Erst drei Uhr früh! Wenn man ein Verhältnis hat, weiß man, was der Luxusartikel Zeit bedeutet. Vor allem nachts. Normalerweise muss man sich zu dieser Zeit entscheiden: weiter saufen / tanzen / sinnlos quatschen oder vögeln, denn spätestens um Viertel nach vier heißt es zu Hause sein. Doch heute Nacht ist die Zeit auf unserer Seite. Erst gegen die Polizeistunde laufen wir schnell zu den bereitstehenden Taxen. Obwohl wir genügend Zeit haben, wollen wir keine verlieren. Kurz danach
kosten wir bei ihr zu Hause meine Erektion auf alle möglichen Arten aus, stundenlang. Es ist bereits hell, als ich am Morgen nicht müde, sondern zufrieden heimgehe. In einer Stunde kommt Carmens Mutter mît Luna. Nach vierundzwanzig Stunden Roos ist Stijn wieder Papa. Schlafen kann ich heute Abend wieder. Als ich zu Hause bin, rufe ich Carmen an. Sie ist gut drauf. »Es ist hier fan-tas-tisch«, girrt sie ins Telefon. Sie erzählt, sie würden gleich Mittag essen in den Gärten eines Kastells, mit Blick auf die Bucht von Monte Carlo, und nachmittags noch nach Cannes fahren. Ich erzähle, dass ich bis vier Uhr früh im Hotel Arena getanzt habe. Ich verschweige die Pille und Roos. Carmen hasst Drogen und Fremdgeherei. Als ich sie abends mit Luna im Flughafen abhole, sehe ich es sofort. Sie ist fertig. Beim Abschied von ihren Kollegen beherrscht sie sich noch. Sie küsst alle und macht Scherze über das Wochenende. Das Lachen verschwindet keinen Moment von ihrem Gesicht. Bis wir außer Sichtweite sind. »Oh Stijn, ich bin komplett erschöpft. Steht der Wagen weit weg?« Ich sage, dass ich ihn auf einem Behindertenparkplatz abgestellt habe, gleich beim Ausgang. Sie küsst mich. Am Abend liegt sie um halb neun Uhr im Bett. Das passt mir gar nicht schlecht. Ich lege mich auch schlafen. Am nächsten Morgen um neun wache ich auf. Carmen schläft bis in den Nachmittag hinein. Ihre Kollegen haben sich ein Wochenende an einer Carmen in Topform erfreuen können. Roos ist bei mir auf ihre Rechnung gekommen. Ich bei Roos. Ja, Carmen und ich genießen das Leben immer noch. Leider nicht mehr zusammen.
Now everyone dreams of a love lasting and true / But you and I know what this world can do Bruce Springsteen, aus If I Should Fall Behind (Lucky Town, 1992)
ACHT Carmen scheint sich damit abgefunden zu haben, dass ich mich in die Arbeit und aufs Weggehen stürze. Es macht sie nicht glücklich, doch sie akzeptiert es und hat eine Lösung gefunden. Sie tut genau das Gleiche. Ein paar Wochen vor Monaco hat sie ein Wochenende auf Schiermonnikoog relaxt. Die Woche davor ist sie mit ihrer Mutter nach London zum Shoppen geflogen. Und an Himmelfahrt war sie mit Maud in New York. Sie langweilt sich nie. Wenn Luna zu Hause ist, machen sie was Lustiges zusammen. An den Tagen, wo Luna in die Kinderkrippe geht, trinkt Carmen Kaffee bei Advertising Brokers oder luncht mit Maud. Oder sie fährt zu ihrer Mutter nach Purmerend. Und sie lenkt sich ab mit Shoppen. Shopping is healthy ist ihr Motto. Wahrscheinlich hängt Carmens Porträt in den Direktionszimmern von DKNY, Diesel, Replay und Gucci. An meinem zweiten Geburtstag seit dem Krebs habe ich von Carmen ein Fahrrad bekommen, aber keinen Sex. Nach ihrem Weihnachtsgeschenk haben wir es nicht mehr getan. Ich habe vergessen, wie es sich anfühlt, in Carmens Hand, Mund oder in Carmen selber zu sein. Und wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, ich gebe mir auch nicht viel Mühe. Wir haben beide nicht mehr so sehr das Bedürfnis danach. Carmen hat Krebs und nur eine Brust, und ich habe Roos.
Wir leben schon noch zusammen, aber mehr wie Geschwister. * Wir wissen, den gegebenen Umständen nach sind wir aufeinander angewiesen und versuchen, so wenig wie möglich Streit anzufangen. Carmen gibt ihr Bestes, den Krebs in unserem Leben nicht überhand nehmen zu lassen und auch zu Hause fröhlich zu sein. Dann und wann wird ihr der Krebs, die Brustprothese oder meine Weggeherei zu viel, und dann bin ich der Dumme. Ich verstehe es ja. Ich bin schon froh, dass sie mir den Spielraum gönnt, mir regelmäßig einen freien Abend zu leisten. Sei es auch mit Anschnauzen hier und da. Ich weiß, dass sie sich dazu überwinden muss. Ich meinerseits bemühe mich so gut wie möglich, Carmen nichts von dem merken zu lassen, was ich ausfresse, wenn ich nicht zu Hause bin. Ich weiß nicht, ob Carmen mir glaubt, wenn ich sage, ich war bis vier Uhr früh mit Ramon unterwegs, müsse schon wieder mit einem Kunden essen gehen, oder wenn ich öfters morgens schon um acht zur Arbeit gehe und abends zu einem Laden mit längeren Öffnungszeiten fahre; doch sie fragt selten weiter. Was ich aber weiß, ist, dass es so nicht weitergehen kann. Es wird zu viel. Merk in Uitvoering, Roos, Carmen, Luna, mein Schuldbewusstsein: Alles und jedes erfordert meine Aufmerksamkeit. Carmen und ich müssen reden, auch wenn ich nicht weiß, was ändern an der Situation. Ich kann sie nicht im Stich lassen, und ich kann auch nicht sagen, dass ich ein Verhältnis habe, denn dann muss ich es beenden. Und das würde mich kaputtmachen. Dennoch müssen wir reden. Vielleicht nächste Woche, wenn wir mit Luna eine Woche in den Club Med nach Südfrankreich fahren. Mal weg von Roos, mal weg von Amster18F
*
Wrample aus Redding von Trockener Kecks (Mit Herz und Seele, 1990)
dam, mal keine Dreifach-Verabredungen. Mal nur Carmen, Luna und ich. Ja. Nächste Woche soll das Gespräch stattfinden. Ich habe Angst vor einer Woche ohne Roos, aber ich will es so. Ich habe Angst, mit Carmen zu sprechen, weiß aber, es muss sein. Etwas muss sich ändern. Krebs oder kein Krebs. Scheißkrebs.
So need your love / so fuck you all Robbie Williams, aus Come Undone (Escapology, 2002)
NEUN Bevor ich mit Carmen und Luna zur Paartherapie in den Club Med fahre, steht noch ein Ausgehabend auf dem Plan. Der berühmte, periodische Merk-in-Uitvoering-Bummel, bei dem wir uns zusammen etwas zu feiern ausdenken. Dieses Mal ist es mein Geburtstag vom letzten Monat. Wir fahren nach Rotterdam und übernachten in einem Hotel. Es gibt jedoch ein Problem. Wegen dieses Ausflugs droht mir, Roos fast zehn Tage nicht mehr zu sehen. Ich muss mir was überlegen. Am Abend vorher weggehen kann ich mir nicht leisten. Damit punkte ich nicht bei Carmen. Ich überlege und sinniere ... und plötzlich habe ich es. Ich canck das Schlafen in der Nacht zum Samstag. Ich schicke Roos eine Mail, ein ganzer Abend sei diese Woche nicht möglich, doch ich würde Samstagfrüh extra wegen ihr nach Amsterdam fahren und morgens von ca. halb sechs Uhr bis Viertel vor neun fiir sie reservieren. Sie erklärt sich murrend einverstanden. Carmen verspreche ich, ich würde mindestens eine halbe Stunde, bevor wir zum Flughafen fahren, zu Hause sein. Auch sie ist nicht völlig glücklich mit meiner gedrängten Planung. Ich notiere mir im Kopf:
Tag/Stunde Aktivität Donnerstag Ehemann/Vater 19.00-22.00
22.00-08.00
vorschlafen
Ort Amstelveenseweg (Wohnzimmer) Amstelveenseweg (Bett)
Freitag arbeiten 08.30-18.00
Merk in Uitvoering
18.00-04.30
Rotterdam {Engel, Baya)
essen/ausgehen
mit Merk Samstag Autofahren/ Red 04.45-05.30 Bull trinken
A 4 Rotterdam-
05.30-08.45 Sex mit Roos/
Amsterdam-West (Bett)
Amsterdam (Auto)
frühstücken/duschen 08.45-09.00 Autofahren/ Overtoom/ Pfefferminz lutschen
Amstelveenseweg (Auto)
Koffer
Amstelveenseweg
09.00-09.45 packen/versöhnen 11.10
mit Carmen Abflug/Ruhe
(Wohnzimmer) Amsterdam-Nizza (Flugzeug)
Nach der Arbeit hole ich mit Frenk Luna aus der Kinderkrippe und packe zu Hause meine Sachen. Frenk unterhält sich mit Carmen, während ich meine Tasche packe. Ich fange Gesprächsfetzen auf. Ich höre Carmen sagen, sie mache sich Sorgen, weil ich heute Abend in Rotterdam in einem Hotel übernachte. Frenk beruhigt sie und versichert, er werde mit mir das Zimmer teilen. Ich küsse Luna und sage, dass Papa morgen wieder zu Hause ist und wir dann zu dritt in die Ferien fahren. Als ich Carmen küsse, schaut sie mich kaum an. »Bist du morgen rechtzeitig da? Es wäre schön, wenn wir das Flugzeug nicht verpassen«, sagt sie bissig. Einmal im Auto, stoße ich einen ähnlichen Seufzer aus
wie in der letzten Minute des UEFA-Cup-Finales gegen Turin 1992 **, als der Ball über Stanley Menzo †** via Latte aufs Feld zurückprallte. Frenk drückt meine Hand, ich drehe Fun Loving Criminals laut auf, und wir schließen uns der FreitagabendKolonne auf der A 4 an. I couldn’t care less. Ich bin weg von allem. Der Abend endet katastrophal. Ich habe mir wieder eine Pille genehmigt und bin geil. Alle Kollegen schauen genüsslich zu, wie ich Natasja mitten im Baya herzhaft knutsche. Maud flüstert mir ins Ohr, es wäre besser für mein Image, damit aufzuhören. Mir ist es recht. Es ist fast halb ftinf, und Roos wartet auf mich. Bevor sie realisiert, was ich mache, gebe ich ihr auch noch schnell einen Zungenkuss. Frenk zieht mich weg. Ich lache ihn aus. »Komm, wir gehen ins Hotel«, sagt er. »Ich gehe nicht ins Hotel. Ich fahre nach Amsterdam zurück.« »Du hast getrunken und eine Pille im Leib, Mann!« »Ich habe noch eine Verabredung.« Ich gucke Frenk herausfordernd an. »Mit einer Frau.« 19F
20F
Natasja (23) ist unsere neue Praktikantin. Sie hat ein Nabelpiercing, das ihr außerordentlich gut steht. Baya Beach Club. Das Barpersonal (m/w) mit miamischen Brustproportionen geht tagsüber ins Fitnessstudio und serviert abends im Strandoutfit Cocktails nach den strikten Hausregeln: Hände weg! Sogar nach Rotterdamer Auffassung ziemlich ordinär. Ajax-Turin 0:0, Olympiastadion, 13. Mai 1992. Hinspiel 2:2 (Tonk, Pettersson). Menzo, Siloov, Blind, F. de Boer, Allien, Winter, Jonk, Kreek (Yink), Van’t Schip, Pcttersson, Roy (Van Loen). †** Stanley war besser im Aufbau denn als Torhüter, und das ist nicht gerade günstig für einen Goalkeeper. War aber so ein netter Bursche, class ihm das niemand zu sagen wagte. Außer Louis van Gaal. Alle waren Louis insgeheim dankbar. *
»Darf ich raten? Du hast ein Verhältnis.« »Ja, schon seit vier Monaten. Und sie heißt Roos. Möchtest du noch mehr wissen?« »Nein. Ich weiß es bereits. Diese Frau, die ich am Telefon hatte bei Merk, als du auf der Toilette warst, und mit der du seitdem den ganzen Tag maiist.« »Ja. So what?« – Sag was, wenn du dich traust, Blödmann. Frenk schimpft mich nicht aus. »Ich hoffe, du bekommst von Roos, was du zum Überleben brauchst, Stijn.« Kurz darauf fahre ich mit 180 Sachen über die A 4 in Richtung Amsterdam-West. Auf halbem Wege kriege ich eine SMS. MAUD MOB.
God have mercy on the man / who doubts what he’s sure of Bruce Springsteen, aus Brilliant Disguise (Tunnel of Love. 1978)
ZEHN Mit einem Summton und einem frohen »Hallo!« geht die Haustür auf. Ich renne die Treppe hinauf und sehe, dass die Wohnungstür schon für mich geöffnet wurde. Als ich eintrete, liegt sie im Bett, die Arme zur Begrüßung ausgebreitet. Die weichen Brüste gucken unter der Decke hervor. In rasender Geschwindigkeit ziehe ich mich aus, unsere Augen lassen sich keine Sekunde los. Als ich auf sie krieche, fühle ich wieder, wie weich und warm sie ist. Wir tun es, ohne Zeit mit Vorspiel zu verlieren. Danach schmiegt sie den Kopf an meine Brust, und dann schlafen wir beide ein. Als ich aufwache, spüre ich, dass etwas aufs Bett gestellt wird. Ich öffne die Augen, noch schläfrig, und sehe, dass sie den Bademantel auszieht. Sie steigt wieder zu mir ins Bett und küsst mich auf die Stirn. Sie hat ein Tablett mit Croissants aufs Bett gestellt. Ich bin gerührt. »Was ist los mit dir, Schatz?«, fragt Roos. »Wenn ich sehe, was du alles für mich tust ... es ist so schön bei dir, so warm.« »Das verdienst du auch«, sagt sie leise. Mir kommen die Tränen. Mein Selbstmitleid wird ganz nach Wunsch gestärkt. Ich fange an zu heulen, zum ersten Mal vor Roos. Sie setzt sich neben mich, drückt mich und gibt mir den Tee. Ich traue mich nicht, ihr den wahren Grund meiner plötzlichen Verletzlichkeit zu nennen. Dass ich es sogar ihr gegenüber nicht fertig bringe, treu zu sein. Oder wenigstens ehrlich.
Ich erwähne die Praktikantin oder Maud mit keinem Wort. Stattdessen fange ich von Carmen an. »Ich glaube, ich werde Carmen diese Woche erzählen, wie unglücklich ich bin. Und vielleicht auch, dass ich während unserer ganzen Beziehung fremdgegangen bin. Ich kann es nicht länger für mich behalten, so geht es einfach nicht weiter. Ich kann mich selber immer weniger ausstehen.« Roos schaut nachdenklich auf ihre Tasse Tee. »Ich würde mir das nochmal genau überlegen, mit dem Ehrlichsein«, sagt sie nach einiger Zeit. »Soll Carmen sich darüber freuen, dass du deinem Herzen Luft machst, weil du jetzt, nach all diesen Jahren, plötzlich von Schuldgefühlen gequält wirst? Was soll sie damit anfangen? Das darfst du ihr nicht antun. Nicht jetzt.« Ich ziehe die Schultern hoch. »Vielleicht werde ich ihr sogar gestehen, dass ich ein Verhältnis habe. Dann hat sie wenigstens einen Grund, mich zu hassen.« Sie erschrickt. »Aber ... das kannst du auf keinen Fall machen! Das könnte ...« »Ja, das könnte das Ende meiner Ehe sein. Na und? Vielleicht will ich genau das. Ich glaube, ich liebe Carmen nicht mehr.« Ich habe es gesagt. Es ist das erste Mal, dass ich es laut ausspreche. Roos schaut mir direkt in die Augen. »Du liebst Carmen aber«, sagt sie ruhig. »Das sehe ich daran, wie du über sie redest, wie stolz du mir ihre SMS zeigst. Du verwechselst Liebe und Glück. Du bist momentan nicht glücklich, doch du liebst sie. Sonst könntest du nie die Kraft aufbringen, so viel für sie zu tun.« »Zum Beispiel ein Verhältnis mit dir haben«, sage ich zynisch. »Unsinn«, antwortet sie heftig. »Das sagt nichts über
deine Gefühle für Carmen. Du bekommst bei mir die Wärme, die Carmen dir nicht mehr geben kann. Deshalb fliehst du zu mir. Du brauchst diese Wärme.« Ich sehe, dass ihre Unterlippe zu zittern beginnt. »Und ich eigentlich auch immer mehr ... Am Anfang war es nicht so schlimm, diese Rolle im Hintergrund. Aber ich empfinde immer mehr für dich ...« Sie schluckt. »Ich glaube, wir müssen uns genau überlegen, ob wir nicht aufhören sollten, jetzt, wo es noch geht...« Sie legt den Kopf an mich. Ich fühle eine Träne auf meine Brust fallen. »Ich will dich nicht aufgeben, Roos«, sage ich leise. »Ich kann nicht ohne –« Plötzlich klingelt mein Telefon. Ich schaue nach und merke, dass mein Herz einen Sprung macht. CARM MOB. »Oh, Scheiße! Es ist Carmen!« Ich stoße Roos grob von mir. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, rufe ich. Mein Handy klingelt wieder. »Nimm doch ab!« »Nein! Ich weiß nicht, was ich sagen soll! ... Schnell nachdenken ...« Trrrrringg. »Warum sagst du nicht –« »Sei ruhig!«, schnauze ich sie an, »lass mich nachdenken ...« Mein Handy läutet zum vierten Mal. »Ich lass es klingeln! Ich ruf sie gleich zurück. Ich muss mir zuerst eine Geschichte überlegen.« Zum fünften Mal. Zum sechsten Mal. Jetzt hört es auf. Ich gehe rastlos nackt im Schlafzimmer auf und ab. Fieberhaft denke ich nach. Was jetzt... Ich erwarte jeden Moment ein Piepsen, dass ich eine Voicemail bekommen habe. Stattdessen klingelt das Handy wieder. Ich wage fast nicht nachzuschauen.
FRENK MOB, Pfiff.
»Frenk?« »Ja.« Er klingt angeschlagen. »Carmen hat gerade angerufen. Ich glaube, du solltest sie schnell zurückrufen, sonst hast du ein großes Problem.« »Was hast du gesagt?« »Dass ich noch geschlafen hätte und nicht wüsste, wann du weggegangen seist.« »Okay . .. merci! ... Wie spät ist es jetzt eigentlich?« »Kurz nach acht Uhr. Stijn ...« »Ja?« »Das ist nicht in Ordnung.« »Nein ... Entschuldigung.« Roos hat den Bademantel übergezogen. Ich sitze auf dem Bettrand und schaue apathisch vor mich hin, das Mobiltelefon in der Hand. »Ruf sie jetzt an!«, sagt Roos nervös. Ich stehe auf und schüttle den Kopf. »Nein. Ich gehe jetzt. Es fällt mir unterwegs schon was ein.« Unterdessen habe ich mich schon halb angezogen. »Willst du nicht lieber rasch duschen?«, fragt Roos vorsichtig. Bevor ich ins Auto steige, schaue ich noch hinauf. Roos steht im Morgenmantel auf dem Balkon. Sie wirft mir Kusshände zu; mit Angst in den Augen. Im Auto läuft mein Gehirn auf vollen Touren. Bevor ich in den Overtoom einbiege, habe ich meine Geschichte parat. Ich rufe Carmen an. »Hallo, Liebste! Hast du eben angerufen?«, sage ich so unbekümmert wie möglich. »Ja. Wo bist du gewesen? Ich habe Frenk auch schon angerufen.«
»Ich habe einen Kaffee getrunken an der Raststätte beim Flughafen. Ich bin fast eingeschlafen beim Fahren. Ich habe mein Telefon im Auto liegen gelassen.« »Hm.« »Es war wunderbar gestern! In Rotterdam ist wirklich was los.« »So. Schaffst du’s rechtzeitig?« »Ja, ich bin fast schon da. Ich fahre gerade am Flughafen vorbei«, sage ich, während ich über den Overtoom rase. »Bis gleich, Liebste!« »Ja. Bis gleich«, sagt sie barsch und legt auf.
Was tst los mit dir mein Schatz / geht es immer nur bergab / geht nur das was du verstehst / this is what you got to know / loved you though it didn’t show Trio, aus Da Da Do (Trio 1982)
ELF Überall sind wir zusammen gewesen. In Südafrika, Kenia, Mexiko, Kuba, Kalifornien, Indien, Vietnam, Malaysia und wo sonst nicht alles. Sogar als Luna gerade geboren war, sind wir noch mit Thomas und Anne in die Dominikanische Republik zum Tauchen geflogen. Seit dem Krebs ist Carmen ohne mich in New York und London gewesen. Und ich ohne sie in Miami. Wenn wir zusammen sind, scheuen wir die kleinste Anstrengung. Auch was die Ferienorte angeht. Die eine Woche Centerparc letztes Jahr und im Frühjahr noch ein Wochenende Texel oder Terschelling, ich weiß es nicht mehr. Auf jeden Fall gab es mehr Kühe als Menschen und einen langen, leeren Strand. Und jetzt hocken wir im Club Med. Nahe bei Cannes, das schon. Aber ich weiß jetzt schon, dass wir die ganze Woche nicht aus diesem Scheißclub rauskommen. Als wir die Koffer auf unser Zimmer bringen, sehen wir am Pool zwei GO’s * mit ein paar Leuten beim Aerobic. Alle gucken frohgemut. 21F
GO: Die Animateure von Club Med. Sprich djeee-ooo, wenn man mich fragt, eine Abkürzung für Gelackte Oberwitzbolde. *
Carmen nicht. Sie ist immer noch in einer Warum-sollte-ichnett-sein-zu-dir-mood. Ich bleibe unerschütterlich freundlich. Einfach wie ein Buddhist, immer lächeln, habe ich mir für heute eingeschärft. Und wenn sie dir auf den Kopf scheißen. Luna ist auch moody. Sie ist von der Reise erschöpft und so lästig wie Mido *. Zum Glück schläft sie im Zimmer schnell ein. Carmen und ich nehmen das Babyphon mit und gehen essen. Wir staunen über das Volk, das hier herumläuft. Wie in einem Vergnügungspark. Langsam taut Carmen auf. Zusammen lästern schafft eine Verbindung. Im Bett bekomme ich sogar einen Gutcnachtkuss. Der erste Tag hätte schlimmer sein können. Am zweiten Tag ist die Stimmung tatsächlich noch besser. Wir haben es uns auf den Liegen am Pool bequem gemacht, essen und spielen mit Luna. Es gibt ein paar nicht unappetitliche topless Frauen am Pool; visuell kann ich mich nicht beklagen. Als ich kurz aufs Zimmer gehe, um Lunas Badekappe zu holen, sende ich Roos schnell eine SMS. 22F
Ich habe auch eine SMS in der Inbox. Soso, von Thomas. Er wünscht uns schöne Ferien. Tja, immerhin nett von ihm. Ich kann ihn nach den Ferien ja mal anrufen. Abends schauen wir uns im Animationssaal eine beschämend schlechte Aufführung von Titanic an (Tietaaniic in der Aussprache der französischen GO’s). Luna ist enthusiastisch, Ägyptischer Ex-Ajax-Spiel er. Selbst ernanntes Supertalent. Schwer handbbar, Gebrauchsanleitung ist verloren gegangen. Wird zum Zeitpunkt, da Sie dies lesen, bei irgendeinem südeuropäischen Klub gegen ein fürstliches Salär verpflichtet worden sein *
Carmen und ich lassen uns stattdessen von einem Glas Wein begeistern. Wir sind nett zueinander. Mit der Hand suche ich hinter Lunas Rücken fortwährend Kontakt mit Carmen. Nach der Show legen wir Luna ins Bett, trinken noch etwas und schauen uns zusammen im Zimmer einen Film an. Ich halte Carmens Hand. Als wir uns schlafen legen, streichle ich ihr Gesicht. »War ein netter Abend, oder?« »Ja.« Sie streichelt meine Brust. »Gute Nacht, Liebes.« »Gute Nacht, Liebster.« Am dritten Tag fange ich an, mich zu langweilen; Carmen und Luna schlafen im Zimmer. Ich liege am Pool und schreibe mir mit Hakan SMS. Er benachrichtigt mich, wie die Nationalmannschaft gestern im Training gegen die Türkei gespielt hat – in zwei Wochen beginnt die Europameisterschaft. Aus Langeweile sende ich Ramon eine Zote, die ich letzten Freitag von einem der Merk-in-Uitvoering-Jungs gehört habe. Und, tja, auch an Thomas. Er mag derartigen Humor. Danach schicke ich Roos eine SMS.
Ich drücke mit dem Daumen auf Optionen, Suchen, Senden, O.k., und die SMS ist verschickt. An Thomas. Innerhalb einer Zchntelsekunde merke ich es. Holy fuck, nein. Ich werde rot. Das Herz klopft mir im Hals. Ich versuche, die Nachricht zurückzuhalten. Zu spät. Sie steht schon unter Gesendet, Mir bricht der Schweiß aus. Ich wäre am liebsten vom Erdboden verschluckt. Ich überlege mir, Thomas sofort anzurufen, er solle die
SMS nicht lesen, doch da bekomme ich selber eine,
THOMAS
MOB.
Ich lache. Der gutgläubige Thomas. Gleichzeitig sehe ich Carmen mit Luna in Richtung Pool kommen. Fröhlich lachend nach der Siesta. Ich schmunzle gerührt. Sie winken. Wir gleichen einer normalen, glücklichen, krebsfreien Familie. Carmen küsst mich und blinzelt mir zu, und einen Moment lang bin ich glücklich. Fs erschreckt mich beinah. Allmächtiger Gott, in Liebesnamen sollten wir Uns doch noch eine Chance einräumen? * Wir sind doch Stijn & Carmen! Wir lassen uns doch nicht durch meinen hemmungslosen Geschlechtstrieb oder ein bisschen Krebs unterkriegen? Oder? 23F
Als Luna im Bett liegt und wir das Babyphon installiert haben, gehen wir zur Poolbar. Ich bestelle einen Amaretto und einen Armagnac. Carmen nimmt einen Schluck Amaretto und sieht mich an. Ich spüre, was kommen wird. Jetzt ist es soweit. Jetzt kommt Das Gespräch. Ich wage kaum, den Blick auf sie zu richten. »Stijn, was ist in letzter Zeit los mit dir? Ich spüre, dass du mir entgleitest.« »Aber ich bin doch nicht öfter weg als früher, oder?« »Doch«, sagt sie ruhig, »du versuchst alles, um von zu Hause wegzukommen. Und wenn du weg bist, nutzt du’s sofort aus.« »Was meinst du denn damit?« *
Wrample aus In Liebesnamen von Arjan van der Veen (1975)
»Wer ist Natas?« Schock. »Natas? Oh ... Natasja. Das ist unsere neue Praktikantin. Wieso?« »Als du am Samstagmorgen nicht ans Telefon gegangen bist, hab ich der Sache nicht getraut. Als du dann deinen Koffer gepackt hast und ich hörte, dass du eine SMS bekamst, habe ich sie für dich gespeichert. Guck nach.« Mit zitternden Fingern blättere ich zu Nachrichten. Dort finde ich eine Nummer, die ich nicht kenne. Ich öffne die SMS und erröte.
Carmen deutet mein Erröten als Bestätigung, falls die SMS noch etwas an Deutlichkeit zu wünschen übrig ließ. Sie hat Tränen in den Augen. »Ist sie gut im Bett? Und hat sie schöne Titten?« »Carm, ich habe nicht mit Natasja geschlafen. Wirklich nicht.« »Hör doch auf«, sagt sie weinend, »ich verstehe es gottverdammt sogar noch. Natürlich vögelst du lieber mit einer leckeren Monica Lewinsky als mit einer Frau mit nur einer Titte und einer Glatze.« Ich will antworten, aber sie macht mir Zeichen, dass sie noch nicht fertig ist. »Das finde ich noch nicht einmal das Schlimmste«, fährt sie mit zitternder Stimme fort, »doch es tut mir weh, wenn ich sehe, dass du offenbar nur glücklich sein kannst, wenn ich nicht da bin. Ich weiß schon, mit mir zusammenzuleben ist nicht mehr so lustig. Ich wünsche, ich könnte dich wieder glücklich machen, aber es gelingt mir nicht, und das macht
mich verrückt. Und mürrisch. Das will ich nicht. Ich will kein Ekel sein.« »Du bist kein Ekel«, werfe ich ein. Sie hört kaum zu. »Woran es auch liegt, an dir, an mir oder an diesem Scheißkrebs: Du findest es furchtbar bei mir. Du fliehst. Kannst du mir in die Augen schauen und sagen, du liebst mich noch?« »Ich ... weiß nicht, Carm ...« Sie pausiert kurz. »Die Antwort habe ich erwartet. Hör zu, Stijn. Ich habe mir genau überlegt, was ich jetzt sage ...« Ich fühle mich minderwertig gegenüber so viel Mut. Das habe ich nicht erwartet. Es ist, als würde der Gegner plötzlich mit drei Stürmern statt der erwarteten zwei auf dem Feld stehen. Sie geht aufs Ganze. »Was du alles anstellst, wenn du bis halb fünf Uhr in Kneipen rumlungerst, will ich nicht mal wissen. Ich will nicht wissen, von wem du SMS bekommst, ich will nicht wissen, wo du bist, wenn du nicht ans Telefon gehst. Ich habe schon lange eine Ahnung, dass du regelmäßig fremdgehst. Wenn du krank wärst, würde ich vielleicht das Gleiche machen. Vielleicht hätte ich schon längst einen Liebhaber dazu.« Erschrocken schaue ich sie an. Weiß sie etwas? Ich suche in ihrem Gesichtsausdruck nach Spuren, die mir verraten, was sie weiß und was nicht. Doch sie lässt mir keine Zeit. Sie redet weiter. »Aber ich bin nicht du. Ich bin eine Frau mit Krebs und nur einer Brust, und ich habe vielleicht nur noch ein paar Jahre zu leben. Diese paar Jahre bin ich lieber allein als mit einem Mann, der sich nicht sicher ist, ob er mich noch liebt. Ich fände es furchtbar, aber ich werde es schaffen, ich ...« Sie hält kurz inne, schaut mich an, und dann spricht sie es aus.
»Vielleicht sollten wir uns scheiden lassen, Stijn.« Sie hat es ausgesprochen. Das S-Wort ist gefallen. Scheidung. Was ich immer als unmögliche Option verdrängt habe, schlägt nun die Gegenseite vor. Scheidung. Sie legt den Ball vor das offene Tor. Nichts steht mir mehr im Wege. Mir schießt alles durch den Kopf. Wie erleichtert ich jedes Mal bin, wenn ich die Tür hinter mir zumache und zu Merk in Uitvoering fahre. Wie froh, wenn ich ausgehen kann. Wie wohl ich mich fühle, wenn ich bei Roos bin. Wie schrecklich verkrampft ich bin, wenn ich nach Hause komme, weil ich nie weiß, wie die Stimmung dort ist. Wie oft ich nicht alles drum gegeben hätte, für immer fliehen zu können. Und jetzt ist es möglich. Wenn ich jetzt ja sage, bin ich bald von der Kälte erlöst. Vom Mangel an Intimität. Vom Krebs. »Nein.« Ich sage nein. – Ich sage NEIN!? »Nein, ich will mich nicht scheiden lassen.« – Du möchtest es schon! »Verdammt nochmal, dann sag, was du willst, Stijn! Willst du noch mehr Freiheit? Sag in Gottes Namen, was du willst!« – Ja! Sag doch, was du willst! »Ich weiß gar nicht, was ich will. Keinen Krebs, das will ich!«, antworte ich böse. »Wenn du mich los bist, bist du auch den Krebs los«, sagt sie trocken. »Nein, ich will nicht weg von dir!« Ich bin völlig sprachlos, denn ich spüre, es ist mir ernst, aus tiefstem Herzen. Carmen schweigt, dann nimmt sie meine Hand. »Überlege dir diese Woche genau, was du willst, Stijn. Ich möchte nicht ewig warten, bis du weißt, ob du mich noch liebst. Na-
türlich will ich bei dir bleiben, aber es muss sich etwas ändern. Sonst müssen wir beide eigene Wege gehen. Du und ich sind zu gut für diesen Jammer.« »Jesus, Carm«, sage ich leise, »dass es so weit kommen konnte.« Mir dem Daumen ziehe ich Kreise über ihre Handfläche. »Denken wir heute Abend nicht mehr daran und amüsieren wir uns einfach«, lächelt sie. »Mal sehen, ob wir das noch können.« »Ja«, grinse ich. »Gehen wir in die Clubdisco und saufen uns einen an.« »Good plan, Batman.« Es ist lange her, dass wir gemeinsam in einer Kneipe gewesen sind. Carmen entscheidet sich für Gin Tonic, und ich bleibe beim Kronenbourg. Wir haben Spaß. Zusammen. Wir schwanken zu unserem Apartment zurück. Auf einem mit Teppich ausgekleideten Treppenabsatz bei unserem Apartment zieht Carmen den Rock und Slip aus und setzte sich mit gespreizten Beinen auf die Treppe. Sie sieht mich mit einem Blick an, den ich lange nicht mehr bei ihr gesehen habe. Wir haben den geilsten Sex seit Jahren.
Have I got a little story for you / and I’m glad we talked Pearl Jam, aus Alive (Ten, 1992)
ZWÖLF Carmen ist gut drauf. Sie spielt andauernd auf den Sex an, den wir gestern Abend hatten, und sie tut nichts als mir zuzuzwinkern. Über das Gespräch von gestern haben wir geschwiegen. Auch jetzt, wo Luna im Bett liegt. Wir lesen auf der kleinen Terrasse vor unserem Apartment. Carmen hat meine Hand genommen und streichelt sie. Es ist für mich unvorstellbar, dass wir auseinander gehen. No fucking way! Dennoch bin ich angespannt. Ich habe noch eine Karte in der Hand behalten, die ich aufdecken muss, bevor wir weitermachen können. Jedes Mal, wenn sie mich ansieht, will ich anfangen, traue mich aber nicht. Auf einmal nehme ich all meinen Mut zusammen. »Eigentlich wollte ich mit dir noch etwas besprechen.« Nun kann ich nicht mehr zurück. »Meine, tja ... Fremdgeherei.« »Das habe ich kommen sehen«, lächelt sie. »Ich glaube, es ist gut, wir bereden es. Fang nur an.« Jesus, ist sie stark. Ich nicht. Die Nerven schnüren mit den Hals zu. Carmen richtet sich auf. »Also? Give it to me, baby!« Ich lache und entschließe mich, locker zu beginnen. »Du bist wahrscheinlich nie fremd gegangen?« »Willst du es wirklich wissen?«, fragt sie. »Ja«, sage ich nichts ahnend, in Gedanken bereits bei meinem eigenen Geständnis.
»Doch.« Sie sieht, es will mir nicht in den Kopf, was sie sagt. »Doch, ich bin schon mal fremdgegangen, Stijn.« Ich glaub’s nicht. Carmen, die seit Sharon immer gesagt hat, sie würde abhauen, wenn ich ihr nochmal so was antue, dieselbe Carmen antwortet, ohne eine iMiene zu verziehen, auf eine Frage, die bloß als warming up, als Höflichkeitsfrage diente, so wie man, um das Eis zu brechen, einen Bewerber fragt, ob er gut hergefunden habe, sie habe auch außerehelich gevögelt. »Ich ... hm .. . was soll ich sagen ... wann?«, stammle ich. »Vor ein paar Jahren abends am ›Koninginnedag‹. Ein junger Mann, den ich im Café Thyssen kennen gelernt habe. Niemand hat es mitbekommen. Wir sind rausgegangen und haben uns nur geküsst.« »Zum Glück.« »Aber mit Pim habe ich es getan.« »Was getan?« »Das.« »Oh, wann?« »Vor einigen Jahren. Er hatte mich schon öfters zum Essen eingeladen. Doch ich hatte es immer abgelehnt. Und als du in Thailand warst, habe ich ihn angerufen. Und dann ist es passiert.« »Bei uns zu Hause?« »Ja. Und in seinem Auto und ... einmal auf einer Toilette.« »Igittigitt.« – Wer sagt das – »Alles an einem Abend?« »Nein, wir haben uns noch zweimal getroffen.« »In den vier Wochen, als ich in Thailand war?« »Ja.« Sie sagt es, als berichte sie, dass sie gerade den Geschirrspüler ausgeräumt hat.
Ich hätte es wissen müssen. In Miami habe ich es notabene selber verkündet: Frauen tun es aus Rache. Ich wollte unbedingt einen Monat nach Ko Phangan, um mit Frenk zu feiern, bevor wir Merk in Uitvoering eröffneten. Carmen gefiel es nicht, weil ihr klar war, dass ich nicht dorthin fuhr, um Buddhastatuen zu putzen. Als ich sie nach vier Wochen am Flughafen sah, weinte sie und flog mir in die Arme. Eine Stunde später vögelten wir, und ich tat, als hätte ich seit Wochen keinen Sex gehabt. Carmen rückblickend also auch. Die Schlampe. »Und du?«, fragt sie. »Was?« »Wie oft?« »Oh.« Ich muss mich noch erholen von diesem dreckigen Pim, der es auf Toiletten und in Autos tut. Wie billig. Dass meine Frau sich dazu hergibt. Bah. »Hallo! Earth calling Stijn!«, sagt Carmen ungeduldig. Wie? Ob, ja. Jetzt ich. Wo soll ich anfangen? Zuerst meine Exen, mit denen ich es während der Carmen-Zeit noch getan habe. Einige Male mit Merel. Ein halbes Jahr lang jeden Freitag mit Emma, als ich sie auf Leidseplein traf. Ab und zu mit Maud nach Festen und Partys, wenn Carmen nicht dabei wrar. Tja ... und ... hm ... Jesus, da werde ich nie fertig. Wiederholungen zählen nicht, finde ich. Das macht die Sache um einiges einfacher. Drei also. Den Hurenbesuch zähle ich auch nicht. Das war höhere Gewalt. Aber die zwei, damals in der Sauna mit Ramon in Amsterdam-Noord, das waren keine berufsmäßigen Prostituierten; die muss ich also mitzählen. Macht fünf. Dann im Job. Lies und Cindy bei BBDvW&R/Bernilvy, und die Male mit Sharon. Oh ja, und Diannc. Fünf und vier ist neun. Bei Merk in Uitvoering bis jetzt nur Maud nach der Weihnachtsfeier. Doch sie habe ich bereits bei den Exen
mitgezählt. Und mit Natas habe ich es noch nicht getan. Immer noch neun. Shit, die Assistentin vor Maud, mit der Tätowierung in der Leiste, die wir nach drei Monaten entlassen mussten. Der Name fällt mir auf Anhieb nicht ein. Zehn. Im Urlaub. Die blöde Tusse aus den Haag, damals an dem Wochenende mit Ramon auf Gran Canaria vor einigen Jahren. Elf. Dann Thailand. Da muss ich nachdenken. Am besten ich gehe per Insel vor. Ko Sainui. Diese Irin mit dem Furunkel auf dem Hintern und die hässliche alte deutsche Frau. Oh, wie Frenk gelacht hat. Ich schäme mich immer noch. Dreizehn. Ko Samet. Die Schwedin. Nein, doch nicht, die wollte nur Oralsex. Dann Ko Phangan. Die Finnin. Macht vierzehn. Mmmm, das war ein herrliches W-. »Wie oft, Stijn?« »Ich zähle gerade.« Vierzehn also. Miami, Linda. Das sind fünfzehn. Sonst noch jemand? Damals, beim Skifahren mit Ramon, ist nichts passiert. Mit Frenk in New York? Nein, auch nicht. Oh ja, Türkei mit Hakan. Die Bedienung. Sechzehn. Hm. So far die Urlaube. Jetzt beim Ausgehn. Jesus, ich bin bereits bei sechzehn. Die junge Frau bei der Weihnachtsfeier im Vak Zuid. Siebzehn. Efje, die Schwester von Thomas, letztes Jahr an Karneval. Achtzehn. Das surinamische Mädchen avis dem Paradiso und die mit dem Brauenpiercing aus De Pilsvogel. Zwanzig. Die Knutscherei in der Bastille, im Surprise, De Bommel und Paradiso zähle ich nicht mit, sonst komme ich nirgends hin. Oh, warte, nach dem Konzert von Basement Jaxx bin ich mit einer nach Hause gegangen, shit, wie weit war ich schon wieder? Ja, zwanzig. Plus eine, macht einundzwanzig. Und vielleicht drei bis vier, die ich vergessen habe. Und Roos na-
türlich. Am besten wir runden auf fünfimdzramnzig auf. Ich schaue Carmen an. Fasten your seatbelts. Willkommen in Monophobien. »Und?« »Tja ... schon etwas mehr als die Finger an einer Hand.« »Mehr als die Finger einer Hand?« »Zwei Hände ...« – fünf Hände, Arschloch! – »Überrascht es dich?« »Ich habe gehofft, es wären weniger. Stijn, Stijn ...«, sagt sie kopfschüttelnd. Sie ist weniger zornig als erwartet. »Kenne ich sie?« Schluck. »Hm ... möchtest du das wirklich wissen?« »Ja.« »Nun ... einige Exen. Merel, Fmma –« »Genau!« Sie schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, fast triumphierend. »Ich habe es gewusst, ich habe es gewusst. Diese Emma mit ihrer scheinheiligen Physiognomie! Ich wusste schon, dass ihr noch etwas miteinander hattet! Und bei Merel wusste ich es auch. Gut, dass wir die nie mehr sehen.« – Maud verschweige ich bequemlichkeitshalber lieber. – »Wann war das alles?« »Beide am Anfang, als wir noch nicht zusammengezogen waren.« »Oh, oh, oh .. . Stijn! Jesus, Mann, damals haben wir bis zum Gehtnichtmehr gevögelt ... fast wie die Kaninchen! Warum denn zusätzlich die andern Frauen?« »Ich weiß es nicht. Ich konnte die Finger nicht davon lassen . . .« – konnte? Kann, Trottel! »Großer Gott, das ist eine Sucht, Stijn.« Ich nicke mit gesenktem Kopf. »Noch mehr Frauen, die ich kenne?« »Hm ... Eefje.« »Eefje?«
»Die Schwester von Thomas.« »WAS?! Eefje? Wann war das!?« »Letztes Jahr an Karneval ...« »Thomas hat hoffentlich nichts davon gemerkt, oder?« »Nein, natürlich nicht! Daraufhabe ich schon geachtet«, sage ich schnell. Ich höre ihn noch mit seiner Schwester schimpfen, als wir erst beim Zungenkuss waren. »Zum Glück. Sonst kannst du es genauso gut auf der Titelseite eines Boulevardblattes bringen. Frenk weiß sicher Bescheid?« »Im Großen und Ganzen, ja ...« »Shit. Verdammt, Stijn, das stinkt mir richtig.« »Frenk wird es nie weitererzählen.« »Das glaube ich, aber wie wäre es dir zu Mute, wenn deine Freunde wüssten, dass ich’s mit Pim gemacht hab? Wenigstens weiß Thomas nichts. Und Maud? Weiß sie was? Oder warte mal ...« – Oh, nein, frage es bitte nicht... – »Du hat es nicht auch mit ihr getan, oder?« – Au. – »Mit Maud? Nein!« »Zum Glück. Aber weiß sie von deinen Seitensprüngen?« »Ja. Das schon.« »Shit ... na ja, damals, als du mit Maud zusammen warst, bist du auch fremdgegangen, nicht wahr?« Ich nicke. »Und natürlich immer ohne Kondom?« »Fast immer mit«, lüge ich. »Und du, mit diesem Pim?« »Ohne.« »Scheiße.« »Du wirst jetzt doch nicht über mich herfallen?!«, flippt sie aus. Hastig schüttle ich den Kopf. Sie lacht auf. »Tja, du geiler Bock. Ich bin froh, dass du’s gesagt hat. Auch wenn ich sicher bin, dass du noch einige vergessen hast.« »So schlimm ist es nicht, glaube ich ...«
»Na ja. Lass. Aber eins musst du mir versprechen, Stijn.« »Und das wäre?« – Oh je, ich sehe das Unheil kommen. Nein, bitte nicht »Dass du ab jetzt nicht mehr fremdgehst, diese wenigen Jahre, die ich noch zu leben habe.« Shit. Shitshitshhshit. Tschüs, Roos. »Das verspreche ich«, sage ich scheinbar ohne zu zögern, mit einem beruhigenden Lächeln.
It’s raining but there ain’t a cloud in the sky / Must have been a tear from your eye Bruce Springsteen, aus Waiting On A Sunny Day (Rising, 2002)
DREIZEHN Carmen habe ich gesagt, ich ginge heute Abend mit Ramon aas. Sie hat mich geküsst und mir viel Vergnügen gewünscht. Nach dem Gespräch über unsere Seitensprünge hat sie am Tag danach nochmal ziemlich geweint, aber gesagt, dass sie drüber wegkommen werde. Sie sei stolz auf mich, weil ich mich getraut hätte, alles zu gestehen. Carmen traut mir wieder. Ich mir selber nicht. Deshalb habe ich mich mit Roos im Vertigo verabredet und nicht bei ihr zu Hause. Ich will tot umfallen, wenn ich weiß, wie dieser Abend endet. Habe ich den Mut, mich heute Abend zu verabschieden von meiner Sexmaschine, meinem periodischen Shot Lebensgenuss, meiner Croissantbäckerin, meiner Ersatzkönigin, meiner Therapeutin? Ein »AKEM« ist ein Ausdruck von Ramon. Es steht für »Angenehmer-Körper-Entsetzliches-Miststück«. Das Vertigo ist die Kneipenversion davon - »Angenehme-Kulisse-(im Vondelpark) Entsetzliche-Mistkneipe«. Es ist nicht mal eine Lounge, aber trotzdem langweilig. Stell es an einen andern Ort, und kein Mensch wird sich hineinverirren. Ich werde ganz kribbelig, als ich das Vertigo nach Roos absuche. Es ist wie bei einem ersten Date. Dort sitzt sie, an der Bar. Sie winkt und lacht nervös. Ich frage, was sie trinken will. »Ein Glas Weißwein vielleicht. Ich glaube, das wird unser letzter Abend, nicht wahr?«, fragt sie bange. »Trocken oder lieblich?«, frage ich.
Ich wage Roos nicht anzusehen. Roos mich schon. Ich spüre, dass sie die Augen stetig auf mich gerichtet hat, während ich zuschaue, wie der Barkeeper den Wein einschenkt. Für mich geht es zu schnell. Ich nehme mein Glas und stoße mit Roos an. »Prost.« »Du kannst mir das Urteil verkünden«, sagt Roos. »Carmen und ich wollen es noch einmal versuchen.« »Gut. Ich bin froh für euch. Wirklich.« »Und ich habe ihr gestanden, dass ich mein ganzes Leben schon fremdgegangen bin.« »Also doch. Wie hat sie reagiert?« »Nicht ganz so schlimm. Ich habe versprechen müssen, von jetzt an keine Seitensprünge mehr zu machen.« »Dann auf unsern letzten Abend, oder?«, sagt sie spöttisch und hebt das Glas. »Aber wir können uns doch weiterhin sehen?«, sage ich und versuche, geschickt wie ich bin im Überbringen von schlechten Nachrichten, der Sache eine leichte Note zu geben. »Jetzt haben wir es geschafft: Du hast eine heimliche Affäre mit einem verheirateten Mann, mit dem du nicht ins Bett darfst, ich eine Plauderfreundin, die ich auch verheimlichen muss, weil ich sonst zu Hause erklären müsste, wie wir uns kennen gelernt haben«, sage ich lachend. Roos lacht nicht. Roos ist not amused. Ihre Miene verfinstert sich. »Ich finde es gar nicht lustig, Stijn«, reagiert sie aggressiv. »Tu doch nicht so naiv! Verstehst du wirklich nicht, dass wir uns nicht mehr treffen können? Das kannst du dir doch ausrechnen. Du kannst nicht die Finger von mir lassen, und ich kann dir keinen Widerstand leisten. Dein ganzes Leben wäre mit Schuldgefühl belastet, und ich würde mich fühlen wie eine Schlampe.« Es gibt kein Argument dagegen. Sich nicht mehr sehen ist die einzige Möglichkeit, mein Versprechen zu halten. Ich
kenne mich. Eigentlich sollte ich noch froh sein. Ich lege die Hand auf ihr Bein. Sie nimmt sie und legt sie auf mein Bein zurück. »Es ist besser, wir gehen nach Hause, bevor wir Fehler machen.« »Darf ich dich aber ab und zu anrufen oder dir mailen?«, frage ich sie draußen neben meinem Fahrrad, verlegen wie ein Schuljunge. »Besser nicht«, flüstert sie, den Blick zum Boden gerichtet. Ich beuge mich zu ihr und gebe ihr einen letzten Zungenkuss. Dann steige ich auf das Fahrrad. Ich schaue mich nochmal um und sehe Roos mit der Hand am Lenker ihres Rads dastehen. Sie weint.
It’s the final countdown Europe, aus The Final Countdown (The final countdown. 1986)
VIERZEHN Eine Woche später wird uns mitgeteilt, dass Carmen sterben wird. »Zeigen Sie bitte mal, wo genau die Schmerzen sind«, sagt Dr. Scheltema. Carmen zeigt direkt unter den Rippen die Stelle, die sie mir am Tag zuvor gezeigt hat. Von der Mitte her ein wenig nach rechts. »Ist das nicht die Leber?«, hat sie gefragt. Was weiß ich schon. Ich weiß, wo ungefähr mein Herz und die Lungen sind, ich kann sagen, wo sich mein Magen befindet, weil er sich bemerkbar macht, wenn ich zu viel gegessen habe, aber ich habe keine Ahnung, wo der Rest liegt. »Hm«, sagt Scheltema, »ziehen Sie sich bitte im Nebenzimmer aus.« Ich bleibe sitzen. Scheltema blättert Carmens Akte durch. Es herrscht eine gedrückte Stille. Dann erhebt sie sich und sagt, ohne mich anzublicken: »Dann wollen wir mal sehen.« Sie schließt die Tür hinter sich; demnach nehme ich an, mit wir meint sie sich selber. Kurz danach kommt sie zurück, wäscht sich die Hände, setzt sich, sagt wiederum kein Wort und beginnt erneut zu blättern. Carmen kommt ebenfalls herein. Scheltema schlägt die Akte zu, nimmt die Brille ab und schaut uns an. »Was Sie spüren, ist tatsächlich die Leber«, fängt sie an. »Ich befürchte, dass sich dort eine Metastase befindet.«
Manchmal vernimmt man ein noch nie gehörtes Wort; dennoch weiß man sofort, was gemeint ist. »Es hat gestreut?« »Genau. Gestreut.« Carmen und ich sehen uns an. Einen Moment lang zuckt sie mit der Wimper. Dann fängt die Unterlippe zu zittern an, sie hält die Hand an den Mund, und dann kommen die Tränen. Ich nehme die andere Hand und blicke sie unentwegt an. Es ist ein Déjà-vu. Das gleiche Zimmer, dieselben Stühle, die gleiche schweigende Dr. Scheltema vor uns. Vor einem Jahr mussten wir vernehmen, dass die vierzig Prozent Überlebenschance, über die Carmen im Internet gelesen hatte, hoch gegriffen war. Jetzt, dass die Chance gleich null ist. »Sind Sie sicher, dass es eine Metastase ist?«, frage ich. »Am besten lassen Sie jetzt einen Ultraschall von der Leber machen. Danach kommen Sie wieder zu mir zurück.« Lammfromm lassen wir uns durch das Krankenhaus schicken. Auf der Ultraschallstation nehmen wir in der Warteecke Platz. Carmen sagt nichts. Sie schaut mit gesenktem Kopf auf das Taschentuch, das sie wie ein Zigarettenpapier zusammendreht und wieder auseinander faltet. Eine Krankenschwester kommt durch eine Schwingtür herein. Sie hat eine Akte in den Händen, schaut auf den Namen, sieht Carmen an und fragt: »Frau van Diepen?« Carmen nickt. »Soll ich mitkommen?«, frage ich. »Gerne«, sagt Carmen. Wir gehen ins Zimmer hinein. Carmen muss sieh ausziehen und auf ein schmales Bett legen. Die Krankenschwester streicht ihr ein hellblaues Gel auf den Bauch. Ich stehe neben ihr und halte ihre Hand. Mit der andern streichle ich ihre Schulter. Sie blickt mich an und beginnt wieder zu wei-
nen. Ich fühle, wie meine eigenen Augen feucht werden. Die Schwester nimmt einen Apparat, den ich vom Ultraschall kenne, den wir damals machen Keßen, als Carmen schwanger war. Damals spähten wir zusammen glückselig auf den Bildschirm und ließen uns von der Hebamme erklären, welche Körperteile bereits erkennbar waren bei dem Würmchen, das da auf dem Schirm einen Purzelbaum machte. Immer wieder. Wir fanden es enorm lustig und gaben dem Würmchen den Arbeitstitel »Juchei!«. Carmen fand, das passe am besten zur Bewegung. Heute sind wir weniger glückselig, und wir haben nicht das geringste Bedürfnis, auf dem Schirm mitzuschauen. Die Gesichter der beiden Krankenschwestern (oder Ärzte, ich kenne mich da nicht aus) sagen alles. Sie zeigen auf etwas am Schirm, murmeln Unverständliches, was eine von ihnen in Carmens Akte schreibt, ab und zu vom Schirm auf das Dossier blickend. »Sie dürfen sich wieder anziehen.« »Und?«, frage ich. »Dr. Scheltema wird Ihnen gleich Bescheid sagen«, antwortet sie. »Es sieht nicht gut aus«, bemerkt sie, als wir kaum Platz genommen haben. »Eine Metastase von drei mal vier Zentimetern, auf der Oberseite der Leber.« Ich gucke Carmen an, die erneut die Hand vor den Mund hält, als Zeichen eines bevorstehenden Weinkrampfes, und entscheide mich dennoch, Scheltema zu fragen. »Wie ... hm ... wie lange geben Sie meiner Frau noch?« »Wenn wir nicht schnell etwas unternehmen, höchstens zwei Monate.« »Und wenn wir etwas unternehmen?«, frage ich kämpferisch.
»Wenn ich ehrlich bin, wäre es nur noch eine Fristverlängerung. Einige Extramonate mit einer Taxotere-Therapie. Das ist eine andere Art Chemotherapie als CAF, die Sie das letzte Mal bekommen haben. Sie dürfen höchstens zwölf Behandlungen haben. Mehr verträgt der Körper nicht. Und die Metastase wird sofort wieder zu wachsen beginnen, wenn die Therapie aufhört. Wir können damit höchstens ein Jahr gewinnen.« »Werde ich viele Schmerzen haben?«, fragt Carmen wienend. »Nein, ziemlich sicher keine. Sie müssen sich Ihre Leber als eine Fabrik vorstellen, die den Körper von giftigen Stoffen befreit. Wegen des Tumors hört die Leber eines Tages zu arbeiten auf. Dann bekommen Sie immer weniger Energie, Sie werden öfters schlafen, und schließlich geraten Sie in ein Koma. Und dann sterben Sie. Alles sehr human.« »Nun, das ist wenigstens etwas Positives«, murmelt Carmen durch die Tränen hindurch. Ein Funke Hoffnung ist für eine Krebskranke schon viel. »Was sind die Nebenwirkungen von dieser Therapie?«, frage ich Schelteina. »Die gleichen wie bei der CAF-Therapie. Übelkeit, Abgespanntheit, Haarausfall, Verlust von Geschmacks- und Geruchssinn. Und bei dieser Therapie protestieren auch die Muskeln, und die Haut der Handflächen und Finger wird sehr empfindlich«, sagt Scheltema. »Doch, wir machen es«, sagt Carmen. »Oh, und die Nägel werden sich lösen«, sagt Scheltema. »Nur zu«, sage ich. Darf es ein bisschen mehr sein?
So viel zu tun / ich habe noch so viel zu tun Toontje Lager; aus So viel zu tun (Heimlich Tanzen, 1983)
FÜNFZEHN »So grotesk es auch klingen mag, ich bin sogar erleichtert«, sagt Carmen, noch bevor wir vom Parkplatz des LucasKrankenhauses weggefahren sind. »Jetzt wissen wir wenigstens Bescheid. Ich werde sterben.« »Carm, bitte . . .« Es sind die ersten Worte, die ich ausspreche, seit wir Scheltemas Sprechzimmer verlassen haben. »Es ist doch so. Letztes Jahr, als wir hier rauskamen, waren wir unversehens in einer ungewissen, ratlosen Situation. Jetzt haben wir Gewissheit.« Ich bin fassungslos; sie traut sich, das auszusprechen. Aber es ist schon etwas dran. Ich denke zurück an letztes Jahr. Damals war es ein arger Schlag ins Gesicht, schlimmer als jetzt. »Ich will verreisen«, sagt sie, einen scharfen Blick in den Augen. »So viel wie möglich. Ich will nach Irland. Und, ja ... Barcelona! Ja, ich will mit dir nach Barcelona.« Ich finde beinah Gefallen daran. »Ich kann Frenk fragen, ob er dort ein dekadentes Hotel kennt«, grinse ich. »Sonst noch etwas, Frau van Diepen?« »Mit allen meinen Freunden ein Wochenende in einem Schloss in den Ardennen«, sagt sie träumerisch. Auf einmal ist sie ein Ausbund an Lebenslust. »Oh, kannst du übrigens da bei dem lmbiss anhalten?« »Wieso?« »Zigaretten holen. Ich fange wieder mit Rauchen an.«
Ich lächle und halte bei dem marokkanischen Imbiss in der Zeilstraat an. »Marlboro normal oder light?«, frage ich, bevor ich aussteige. »Normal. Noch ein bisschen Lungenkrebs dazu ist jetzt auch egal.«
Ich tue was ich tue und frage nicht warum / ich tue was ich tue und vielleicht ist das dumm / wir tun was wir tun Aslrd Nigh, aus Ich tue was ich tue (Menschen sind deine besten Freunde. 1975)
SECHZEHN Lachend gehe ich in die Imbissbude. Zwei Leute sind vor mir. Ich blicke hinaus und sehe Carmen im Auto. Sie starrt leer vor sich hin. Betäubt. Als ich hinschaue, verflüchtigt sich mein Lachen. Was alles erwartet uns noch? Mich durchblitzen Gedanken. Ambulanzen in der Nacht. Eine dahinsiechende Carmen. Angst vor Schmerzen. Ein Sterbebett. Und Tod. Der Tod. Mein Magen verkrampft sich. Plötzlich gerate ich in Panik. Meine Erau wird sterben! Carmen wird jetzt tatsächlich sterben! Ich fühle Übelkeit aufkommen, so schlimm, dass ich fast kotzen muss. Ich werde ungeduldig, fange zu schwitzen an. »Du, Achmed, wird’s verdammt nochmal bald? Ich brauche nur Zigaretten«, fahre ich ihn unvermittelt an. »He, he, ich habe nur zwei Hände!«, antwortet der sonst so freundliche Mann erbost. Die zwei Personen vor mir drehen sich um und sehen mich vernichtend an. Ich verschwinde schnell ins WC. Dort nehme ich mein Handy:
Ich sammle schöne Momente Herman Brood, in einem Interview mit Henk Binnendijk (Fifty Fifty, EO, 1994)
SIEBZEHN Liebe Luna, in diesem Buch will ich viele Dinge aufschreiben, die wir zusammen tun oder erleben, damit du immer wissen wirst, wie sehr ich dich liebe. Ich bin krank. Ich habe Krebs, und wenn du das liest, bin ich nicht mehr da. Ich hoffe, dass dieses Buch eine schöne Erinnerung wird. Du bist erst zwei Jahre alt, aber manchmal bist du so weise, auch weil du schon so gut sprichst. Das letzte Jahr war manchmal sehr schwierig für uns, und als ich oder Papa mitunter weinten und du es gesehen hast, hast du dich an uns gekuschelt und die Tränen weggewischt. Dann fühlten wir uns gleich viel besser. Oft sagtest du dann etwas, und wir mussten trotz Tränen lachen und waren dann weniger betrübt. Es kommen viele Leute, die uns trösten und aufrnuntern, doch du kannst es am, besten. Als ich dich heute Abend vor dem Einschlafen nochmal drückte, sagte ich dir, wie sehr ich dich Hebe. Dann hast du gesagt, du liebst mich auch. Das erwärmt mein ganzes Ich. Papa und ich reden viel, weil wir jetzt schon wissen, dass ich in einer Weile nicht mehr da sein werde. Das ist sehr traurig, aber trotz allem unternehmen wir in der kurzen Zeitspanne, die uns zusammen noch bleibt, viele tolle Sachen zu dritt. Das genieße ich intensiv, und dann bin ich sehr froh mit meiner Familie. Ich könnte weinen vor Glück. Ich liebe dich! Mama XXX
Genau betrachtet, und wenn du mich fragst / sind sie selber nicht so froh Tol Hansse, aus Big City (Tol Hansse soll nicht nörgeln. 1978)
ACHTZEHN Carmen ist Mitglied einer Selbsthilfegruppe geworden. Sie nennt sie den Mufflon. Letzte Woche war der Mufflon bei uns zu Hause. Als ich mit Luna hereinkam, waren alle noch da. Ich war verlegen, als ich mich vorstellte, weil ich wusstc, dass sie manchmal auch von mir reden. »Wir haben unsere Männer heute Nachmittag benotet«, erzählt Carmen abends. »Von eins bis zehn. Wie sie mit der Tatsache, dass ihre Frauen Krebs haben, umgehen, ob sie immer ins Krankenhaus mitgehen, ob sie vernünftig darüber sprechen können, ob sie lieb bleiben, trotz allem Elend.« »Und welche Note bekam ich von dir?« »Eine Acht.« »Eine Acht?«, frage ich erstaunt. »Ja, jetzt, wo ich alle Geschichten der Mufflon-Frauen gehört habe, bin ich zu der Einsicht gekommen, dass du deine Sache nicht ganz so schlecht machst.« »Vielleicht sollten wir Thomas und Anne auch einmal Bericht über diese Versammlungen erstatten«, antworte ich. »Nicht nötig«, bemerkt Carmen. »Das habe ich ihnen schon erzählt.«
Der Mufflon steht für Tupperware, P&C, Centerparcs, Margriet, Schlecker und was sonst noch langweilig ist. Wenn sie keinen Brustkrebs gehabt hätte, wäre Carmen im Leben nicht in einer Gruppe wie Mufflon gelandet.Von Zeit zu Zeit lacht sie schallend, wenn sie mir erzähit, wie es bei diesen Zusammenkünften hergeht. »Den ganzen Nachmittag gemütlich mit fünf Frauen über Brustkrebs plaudern.« Die Einzige, die in Ordnung ist, ist Toos. Wie Carmen ist sie Mitte dreißig, wohnt in Amsterdam (die andern drei kommen aus Zaandam, Mijdrecht und einem mir unbekannten Dorf) und ist nicht hässlich. Ich würde sie sogar süß nennen, wüsste ich nicht, dass sie nur noch eine Brust hat. Bei allen Mufflon-Damen ist mittlerweile eine Brust amputiert worden. Bei einer hat es (noch) nicht gestreut, eine ist von den Ärzten bereits aufgegeben worden, und bei den andern ist es das Gleiche wie bei Carmen: Früher oder später geht es in die falsche Richtung. »So löst sich der Mufflon nach einiger Zeit auf natürliche Weise von selbst auf«, grinst Carmen. Auch hinsichtlich ihrer Beziehungen haben die Frauen viel zu berichten. Carmen erzählt, dass eine Mufflon-Frau schon geschieden ist, seit dieses Krebselend anfing. Ihr Mann konnte es nicht ertragen. Und dem Mann von Toos scheint es kaum möglich zu sein, darüber zu sprechen; er hockt ganze Abende in der Dachkammer hinter dem Computer. Bei einem dritten Mufflon-Mitglied war die Ehe schon im Eimer, bevor es mit dem Krebs anfing, also habe sich nichts geändert. Das hat ein allgemeines Gelächter ausgelöst. Sie verabreden sich der Reihe nach bei sich zu Hause, alle zwei Wochen. Die Männer scheinen ebenfalls gelegentlich miteinander zu reden, berichtet Carmen. Als ich das höre, setze ich eine Miene auf, die Carmen daran hindert, mich zu fragen, ob das vielleicht etwas für mich sei. Carmen bringt’s etwas. Beim Mufflon wird wenigstens offen darüber geredet, wie es ist, als Frau eine Brust hergeben zu müssen. Anne, Maud, ihre Mutter oder die jungen Frauen von Advertising Brokers trauen sich nicht, so etwas zur Sprache zu bringen.
For the ones who have a notion / a notion deep inside / that it ain’t sin to be glad you’re alive Bruce Springsteen, aus ßad.’ands (Darkness On the Edge Of Town, 1978)
NEUNZEHN Der Sommer ist ein Fest. Frenk war einverstanden, dass ich nur noch für dringende Arbeiten und wichtige Präsentationen zu Merk in Uitvoering komme. Sonst bin ich bei Carmen, solange die Möglichkeit noch besteht. Carmen und ich unternehmen alles, worauf wir Lust haben. Wir kaufen auf dem Schwarzmarkt Karten für jedes Spiel der Oranjes bei der EM. Bei den vier Treffern von Kluivert im Viertelfinale gegen Jugoslawien * gerät Carmen genauso aus dem Häuschen wie die andern fünfzigtausend Zuschauer. 24F
»Wäre schön zu sterben, wenn Holland Europameister wird, oder nicht? Dann höre ich auf dem Höhepunkt auf ...«, kichert sie. So weit kommt es nicht. Carmen hält länger durch als die niederländische Mannschaft. Aber der Vorteil von Krebs ist, dass er alles andere relativiert. Der 6:1. Viermal Kluivert, zweimal Overmars. 25. Juni 2000. Van der Sar, Stam, Reiziger, F. de Boer, Zenden, Van Bronckhorst, Davids, Cocu, Bergkamp, Kluivert, Overmars. *
Weltrekord im Elfmeter-Fehlschießen gegen Italien strapaziert unsere Lachmuskeln. Alan stirbt wirklich nicht, wenn sie verlieren. Fußball ist wieder ein Spiel geworden. Wir verreisen an den Wochenenden und steigen dann in den besten Hotels ab. In Barcelona entscheiden wir uns für das Hotel Arts. Im obersten Stock, mit Blick auf die Stadt und das Mittelmeer. Wir nehmen die größte Suite und spielen Verstecken. Carmen kann es am besten. Ich finde sie erst, als sie einen Lachkrampf bekommt, weil ich schon dreimal an dem Schrank, in dem sie versteckt ist, vorbeigegangen bin. Abends essen wir göttlich. Bei den Tapas in der Cervezen’a Catalunya auf der Avenue de Mallorca kommt es mir fast.
In Irland wählen wir die luxuriösesten Schlösser zum Dinieren und Übernachten. Carmen hat so wenig Energie, dass wir nur fürs Mittagessen in einem Pub und das Übernachten im nächsten Schloss aus dem Mietwagen steigen, aber wir haben eine Superwoche. Wir machen Videos für Luna, Leitmotiv: Der kindliche Humor von Carmen & Stijn. Carmen spielt How not to be seen hinter einer dicken Frau in der Lounge vom Alorrison Hotel in Dublin. Stijn spielt Red Hot Chili Peppers mit einer Duschhaube von Castle Ballymore überm Schwanz. Carmen spielt mit der Brustprothese auf dem Kopf einen Seehund. Stijn spielt Ray Charles auf den
Cliffs of Moher. Carmen moderiert das Was Ist Schlimmer Quiz. (Verbrennen oder ertrinken? Nie mehr sitzen oder nie mehr stehen? Nie mehr essen oder nie mehr kommen? Nie mehr pinkeln oder nie mehr kacken? Krebs oder Aids?) Carmen und Stijn üben Stijn & Carmen’sche Beugungen. (Wir dahren in Fublin ein. Cijn und Starmen. Was ginkt dieses Stuiness! Du bist mein loßer Griebling. Was ein Wausetter!)
Zurück in Amsterdam, fahren wir an jedem schönen Tag mit unserm Boot durch die Grachten. Mit Eltern, Freunden und viel Rose. Oft halten wir beim Amstel-Hotel und trinken Champagner auf der Terrasse. Oder wir fahren nach Ouderkerk und lunchen dekadent bei Klein Paardenburg. Als wir einmal an Zorgvlied vorbeifahren, sagt Carmen, sie wolle dort beerdigt werden.
Carmen lädt eine Menge Freunde ein, mit uns ein Wochenende in einem Schloss in Spa in den belgischen Ardennen zu verbringen. Es kommen dreiundzwanzig Gäste, eine Auswahl aus Carmens ganzem Leben. Hin und wieder regnet es drinnen stärker als draußen. Und wir gehen auf Häuserjagd. Eigentlich wollten wir etwa drei Jahre am Arnstelveenseweg wohnen bleiben, um uns danach mit vollem Geldbeutel, verdient bei Merk in
Uitvoering und Advertising Brokers, auf die Suche nach einem größeren Haus zu machen, doch die Metastase in der Leber hat unsere Pläne korrigiert. Es war meine Idee. Carmen musste sich zuerst daran gewöhnen, aber jetzt ist sie doch froh zu wissen, wo Luna und ich später wohnen werden. »Und vielleicht kann ich auch noch eine Zeit lang dort wohnen, wenn die Taxotere ihr Bestes tut«, meint sie hoffnungsvoll. Ich hoffe es nicht, denn falls Carmen noch lebt, wenn wir in ein neues Haus einziehen, bedeutet dies auch, dass sie dort sterben wird. Und ich habe Angst, dass dann auch das neue Haus, wie jetzt der Amstelveenseweg, Assoziationen an Krankheit und Tod wecken wird. Ich würde ein neues Haus so gern als symbolischen Neuanfang für Luna und mich sehen. Aber mir fehlt der Mut, mit Carmen über diese Gedanken zu reden. Dennoch sprechen wir viel über die Zukunft nach Carmens Tod. Stundenlang. Zu Hause, in der Kneipe, in unserm Boot, auf der Terrasse. Alles kommt aufs Tapet. Papa und ich haben schon von einer neuen Mama für dich später gesprochen. Ich finde es eine gute Idee. Für Papa natürlich, aber auch für dich ist es gut, eine liebe Person zu haben, mit der du reden, lachen, streiten und tolle Sachen unternehmen kannst. Auch wenn ich bald nicht mehr da bin, in Gedanken und in meinem Herzen bist du auf jeden Fall immer bei mir. Was auch immer geschehen tnag, du wirst immer mein lieber Schatz sein, auch wenn ich selber nicht mehr mit dir reden und schmusen kann ... Ich werde dich immer lieben, so wie ich Papa immer lieben werde. Durch die vielen Gespräche haben wir uns wieder ineinander verliebt. Wir freuen uns aneinander, an jedem Tag, den
wir noch zusammen verbringen können. Stijn und Carmen als ungekröntes Königspaar des Genießens. Und sie lebten noch kurz und glücklich.
Give me / Give me / give me the power Suede, aus The Power (Dog Man Star: 1994)
ZWANZIG Obwohl wir manchmal das Leben genießen, geht es Carmen miserabel. Die Nebenwirkungen der Taxotere sind furchtbar. Carmen ist deswegen etwa fünfzehn Jahre zu früh in die Wechseljahre gekommen. Sie bekam unversehens Hitzewallungen, ihre Periode blieb aus, und ihre Haare wurden grau. Nicht für lange übrigens, denn nach drei Behandlungen war sie wieder kahl. Die Prickel-Perücke wurde wieder hervorgeholt. Dieses Mal hat sie auch die Brauen und die Wimpern verloren. Sie hat einige Tage künstliche Wimpern angeklebt, doch das war nicht gerade ein Erfolg, denn die Augen tränen unaufhörlich wegen der Taxotere. Sie muss sie den ganzen Tag abtupfen. Eine weitere Nebenwirkung ist, dass alle ihre Fingerspitzen bepflastert sind, weil die Nägel sich lockern oder bereits gelöst haben. Die Fingerkuppen fühlen sich an, als habe man sie eingeklemmt, sagt sie. Heute Morgen weinte Carmen, weil sie Lunas Windel nicht mehr wechseln konnte. Ihr fehlt die Kraft in den Fingern, die Klebestreifen aufzureißen. Danach wurde sie böse auf sich selbst, auf Procter & Gamble, auf den Krebs und auf mich, weil ich ihr verärgert zurief, sie könne mich doch fragen, die Windeln zu wechseln. »Versteh doch, verdammt nochmal, dass ich es selber machen will«, schrie sie mich an. Ein weiteres Problem ist der Husten. Vor allem nachts. Manchmal habe ich Angst, dass sie daran erstickt. Doch ich
habe noch mehr Angst vor einer neuen Metastase. Auch Lungen sind bevorzugte Einnistungsorte eines metastasierenden Brustkrebses, habe ich in einer Broschüre gelesen. Der Arzt beruhigt uns: Es sei wahrscheinlich ein Brustfellödem – »Brustfellödem, Herr Doktor?« – es erweist sich als Nebenwirkung der Taxotere-Therapie. Anonsten kann Carmen fast nichts Anstrengendes tun. Sie hat kaum Energie. Stapeleffekt nannte Dr. Schelteina dies. Der Körper bäumt sich immer mehr gegen die Chemie auf. Er hat wohl Recht. Aber das größte Problem ist das Einsetzen des Röhrchens, durch das das Chemozeug über die Adern in ihrer Hand den gewünschten Körperteil erreicht. Dieses Anstechen wird zum Symbol des Krebselends. Carmens Adern liegen offenbar tiefer unter der Haut als bei den meisten Leuten. Es wird jedes Mal schwieriger und schmerzhafter, und sie stochern minutenlang, bis das Röhrchen sitzt. Carmen fürchtet sich maßlos, jede Woche mehr. Ich gehe jedes Mal mit und kann die Tranen kaum zurückhalten, wenn der Arzt in die Hand meiner weinenden Carmen sticht und sticht. Noch zweimal, dann sind die ersten sechs Behandlungen vorbei. Danach folgen drei chemiefreie Wochen, damit Carmens Körper sich etwas erholen kann, und dann fängt der Zirkus von neuem an. Wieder sechsmal. Carmen dreht schon durch, wenn sie daran denkt. »Wenn es nur etwas zum Einnehmen gäbe statt dieser Stecherei«, sagt sie, als wir bei Scheltema sind, wie jede Woche bevor die Chemotherapie anfängt. »Ich gäbe alles dafür.« Während sie es sagt, kann sie sich kaum beherrschen. Sie kämpft gegen die Tränen. »Ja«, sagt Scheltema kurz, »doch das gibt es leider nicht.« Und darum stütze ich meine weinende Carmen auf ihrem Gang ins Chemozimmer, zur fünften Taxotere-Sitzung.
Jetzt sind es nur noch sieben.
Was mich jetzt nach diesen Jahren noch wundert / dass ich es nie vergesse, werd ich auch hundert / du hast mich beschissen, du hast mich beschummelt Wim Sonnevelo. aus Tearoom Tango (Ein Abend mit Wim Sonneveld. 1996)
EINUNDZWANZIG Es gibt doch etwas zum Einnehmen. Carmen kommt durch Toos darauf. Im Antoni-van-Leeuwenhoek-Krankenhaus, wo Carmen bestrahlt woirde, wird laut Toos ein Test über orale Verabreichung von Chemotherapeutika durchgeführt. Schon monatelang. Ich kann es nicht glauben. Carmen bittet mich anzurufen. »Du kannst dich besser ausdrücken.« Der Arzt des Antoni-van-Leeuwenhoek-Krankenhauses, den ich in die Leitung bekomme, bestätigt die Geschichte von Toos. Man könne jedoch nichts für Frau van Diepen tun, solange diese Patientin einer Kollegin im Lucas-Krankenhaus sei. Ich sage, ich verstünde es und würde mit Dr. Scheltema Kontakt aufnehmen. Ich lege den Hörer auf. Carmen sieht mich an. »Es stimmt. Es gibt eine Möglichkeit.« Carmen bricht in Weinen aus. Ich bin imstande, zu diesem Scheißkrankenhaus zu fahren, Dr. Scheltemas Hände zu nehmen und diese mit dem Röhrchen, das Carmen jede Woche in die Hand bekommt, an den Schreibtisch zu nageln. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Sieben. Acht. Neun. Zehn. Ein tiefer Seufzer. Dann
rufe ich das Lucas-Krankenhaus an und verlange Scheltema. Sie ist im Urlaub. Dr. Tasmiel ist der Stellvertreter. Ich erkläre ihm so ruhig wie möglich, das wöchentliche Anbringen des Röhrchens bei meiner Fran sei dermaßen schwierig, dass es große psychische Probleme schaffe; dass Dr. Scheltema im Bilde sei, und ich ihn jetzt nur ersuche, seine formale Einwilligung zu geben, damit Frau van Diepen vom Arzt, der im Antoni-van-LeeuwenhoekKrankenhaus den Test durchführt, übernommen werden kann. Dr. Tasmiel sagt, er könne mir in dieser Sache nicht helfen. Er erklärt, er dürfe nicht ohne weiteres Patienten eines Kollegen an einen andern Arzt überweisen, und versichert, Dr. Scheltema sei in anderthalb Wochen wieder da. Ich koche vor Wut und mache ihm klar, ich wäre bis jetzt der naiven Meinung gewesen, dass Ärzte die Lebensqualität ihrer todkranken Patienten über alles stellten, dass die Lebensqualität meiner Frau aber nahe am Nullpunkt angelangt sei, weil sie jede Woche schon Tage vor der Therapie kontinuierlich weine, wegen ihrer großen Angst vor der Stecherei in ihrer Hand. Dann wärme ich alten – aber für mich relevanten – Kohl auf und sage, dass ich von Seiten der Ärzte etwas mehr Goodwill erwartet hätte, weil meine Frau durch einen zwei Jahre zurückliegenden Fehler eines andern Kollegen, Dr. Wolters, in diesen Zustand geraten sei. Dr. Tasmiel ist irritiert, bemerkt, dass er da nicht informiert sei, dass dies auch völlig außer dem Kontext dieses Gesprächs liege und er außerdem den von mir angeschlagenen Ton nicht normal finde. »Sind Sie fertig mit Ihrem Kommentar?«, frage ich ihn. »Ja.« »Schön. Dann bin ich jetzt dran: Ich habe mit Ihnen NICHTS zu tun!« Ich füge hinzu, er könne heute noch ein
flammendes Fax erwarten, mit Kopie an Dr. Scheltema und den Arzt im Antoni van Leeuwenhoek, weil ich das Wohl meiner Frau wichtiger fände als den gottvergessenen Scheißurlaub von Scheltema. Carmen fragt, ob wir es nicht dabei belassen wollen. Ich denke nicht im entferntesten daran. Ich bin wütend. Wir sind beschissen, beschummelt und zum Narren gehalten worden. Ich stürze mich auf meinen PC. Ich schreibe, ich würde diese Affäre wenn nötig der Presse zukommen lassen, wenn ich damit erzwingen könne, dass meine Frau an diesem Test teilnehmen kann; weiter behalte ich mir ausdrücklich das Recht vor, alle mir zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen. Ich habe zwar keine Ahnung, welche Mittel dies wären, aber als Drohung klingt es nicht schlecht, finde ich. Am Morgen nach dem Fax wird um neun Uhr angerufen. »Herr van Diepen, Sie sprechen mit Rodenbach, dem medizinischen Direktor des Antoni van Leeuwenhoek. Ich habe Ihre Nummer von Dr. Tasmiel bekommen.« Zwei Stunden später sitzen wir bei ihm. Rodenbach ist eine Oase. Ein Arzt, der seine Patienten ausreden lässt und zuhört. Er berichtet, dass die Resultate des oralen Tests noch unsicher seien und Carmen auf die Taxotere-Therapie bis jetzt gut anspreche. Er rät ihr ab, am Test teilzunehmen, und schlägt eine Alternative vor, um die Stecherei loszuwerden. Ein Port-a-Cath. Das klingt für mich nach chemischer Toilette, doch es erweist sich als praktisches kleines Gerät, das einmalig unter Narkose unter die Haut bei der Brust eingesetzt wird, eine unbedeutende Operation. Das Anstechen in das Gerät geschieht danach mit einer Nadel statt mit einer Kanüle, ist nahezu schmerzlos und gelingt immer sofort. Kein Herumstochern mehr in der Ader. Carmen sagt, sie wisse durch eine Chatgruppe im Internet bereits seit einem
halben Jahr von diesem Gerät. Sie habe es mal mit Scheltema besprochen, doch die hätte dringend davon abgeraten. Die Operation sei keine Kleinigkeit, das Gerät oft verstopft. Es lohne sich nicht, nach Scheltema. »Na ... hm ... unserer Meinung nach ist das gar nicht so schlimm.« Rodenbach bemüht sich, seine Amtskollegin vom LucasKrankenhaus nicht bloßzustellen. Dieselbe Scheltema, die ich damals gefragt habe, ob es nicht besser wäre, meine Frau im auf Krebs spezialisierten Antoni-van-Lccuwenhoek-Krankenhaus behandeln zu lassen. Dieselbe Scheltema, die sich damals schwer auf den Schlips getreten fühlte, weil alle Krebsinformationen, alle neuen Entwicklungen, alle neuen Methoden aus allen Krankenhäusern der Welt seit dem Aufkommen des Internets innerhalb weniger Stunden Gemeingut seien. Und dazu hatte sie uns versichert, dass sie sich alle zwei Wochen mit Ärzten des benachbarten Antoni van Leeuwcnhoek über ihre Patienten beraten würde. Diese Scheltema hat bestensfalls ihre Hausaufgaben seit Monaten nicht gemacht und schlimmstenfalls uns faustdick belogen, als Carmen weinend sagte, sie würde alles geben, wenn sie das Gesteche los wäre. Rodenbach sagt, er halte den Port-a-Cath für besser als die orale Verabreichung, aber Carmen könne wählen. Und er bietet ihr an, Patientin bei ihm zu werden. Carmen wählt den Port-a-Cath, Rodenbach und das Antoni van Leeuwenhoek. Ich sehe, dass sie zufrieden ist, und bin es auch. Die Operation, bei der der Port-a-Cath eingesetzt wird, ist tatsächlich eine Kleinigkeit, und Carmen geht beruhigt zu den restlichen Chemotherapien. Das Lucas-Krankenhaus sehen wir nie wieder; Scheltema
Das Antoni-van-Leeuwenhoek-Krankenhaus (AVL) ist auf die Behandlung von Krebs spezialisiert. Die Ärzte und das Pflegepersonal im AVL verstehen, was in den Menschen mit einer lebensbedrohenden oder – wie bei Carmen – tödlichen Krankheit vorgeht. Die Kehrseite der Medaille ist, dass alle, die dort herumlaufen, wissen, du bist nicht da, weil deine Frau gerade entbunden bat oder sich von einer Blinddarmoperation erholt; hier handelt es sich vielmehr um Krebs. Auch ich ertappe mich dabei, dass ich Leute, die Arm in Arm über den Korridor gehen oder schweigend an der Kaffeemaschine in der Halle hocken, mitleidvoll betrachte. Bestimmt ist ihnen gerade mitgeteilt worden, die Mutter habe Metastasen, es könne jeden Moment mit dem Großvater zu Ende gehen, die Ärzte hatten den Ehemann aufgegeben. Eigentlich gleicht das AVL einem Rotlichviertel. Man weiß von jedem, warum er kommt. meldet sich noch einmal auf unsere Mailbox und sagt, es tue ihr Leid, dass es während ihres Urlaubs so gelaufen sei, und sie wünsche uns aufrichtig alles Gute. Ich glaube ihr jedes Wort und lasse es dabei bewenden. Carmen auch. Ihr Leben wird sich dadurch nicht verlängern, jedoch angenehmer gestalten.
And when I get that feeling / I want sexual healing Marvin Gaye, aus Sexual Healing (Midnight Love, 1982)
ZWEIUNDZWANZIG Um auch mein Leben angenehmer zu gestalten, habe ich meine alte Gewohnheit wieder aufgegriffen. Ich bin Roos erneut verfallen. Am Tag nach dem Metastase-Elend haben wir zusammen bei der Coffee Company in De Pijp einen Kaffee getrunken, morgens, nachdem ich Luna in die Kinderkrippe gebracht hatte. Die Coffee Company. Aufreißen kann man hier, aber es ist eine Angelegenheit für Fortgeschrittene. Je aparter der Kaffee, desto höher der Status. Geben Sie sich als Connaisseur. Vergesen Sie Cappuccino und Espresso. Bestellen Sie, auch wenn Sie von Kaffee genauso viel verstehen wie eine Kuh vom Klettern, einen Americano oder Ristretto. Dann gehören Sie dazu, und das ist die Quintessenz. Monophobisch gesehen ein sicheres Lokal und ein sicherer Zeitpunkt, denn das Viertel De Pijp ist weit von Roos’ Haus entfernt. Roos hörte zu, und mein ganzer Frust und Kummer brach aus mir hervor. Danach habe ich mich den ganzen Sommer hindurch, zwischen den Urlauben und Bootsfahrten mit Carmen, heimlich mit Roos in Kneipen und Restaurants getroffen. Wir vermieden ängstlich die Kneipen bei ihr in der Nähe, damit wir kein Risiko liefen, bei ihr zu Hause zu landen und mein Versprechen an Carmen zu brechen. Ich hielt tatsächlich vier Monate durch, die Finger von Roos zu lassen. Seit ich Carmen kannte, war ich noch nie so lange monogam gewesen. Oder
besser gesagt zerogam – mit Carmen war es bei jenem einzigen Mai im Club Med geblieben. Gleich danach hatte die Taxotere ihre Lust auf Sex torpediert. Und so verschwand mein Sexleben, jedoch nicht die Schuldgefühle. Zum ersten Mal in meinem Leben verspottete meine Monophobie mich: Ich führte immer noch ein Doppelleben, hatte immer noch heimlich zwei Frauen, konnte aber mit beiden nicht ins Bett. Manchmal zerplatzte mein Penis fast vor Geilheit, wenn Roos mich in der Kneipe ein wenig zu intim knutschte. Dann ließ ich ihn, wenn ich heimkam, auf dem Klo oder unter der Dusche durch mein Fäustchen sausen und fantasierte von ihr. Eines Abends, nach einem der Chemodramas im Lucas, lief es aus dem Ruder. Ich rief Roos an. Sie war zu Hause, und binnen einer Viertelstunde war ich bei ihr. Sie tröstete mich. Das Trösten ging in Knutschen über und das Knutschen in Sex. Sie protestierte noch, doch ich war nicht mehr aufzuhalten. Wir taten es auf dem Teppich. Ich kam nach einer Minute, nachdem ich in sie geglitten war. Danach weinten wir zusammen. In den folgenden Wochen wurde ich abhängiger von ihr als je zuvor. Ich wollte jede Möglichkeit nutzen, bei ihr zu sein. Mein Filofax litt an einer unmenschlichen Form des Timemanagements. Carmen. Luna. Die Krankenhausbesuche. Die Besichtigung der Häuser, die der Makler für uns auswählte. Meine Arbeit. Auch wenn Letztere regelmäßig als Alibi herhielt, um Roos einen Blitzbesuch abzustatten. Dennoch gibt es einen Unterschied zum Verhältnis, wie wir es im Frühling hatten. Letzte Woche, als wir uns von einer Balgerei in ihrem Bett erholten, sprach Roos es unvermittelt aus. »Ich liebe dich, Stijn.« Seltsamerweise fühlte ich mich eher geschmeichelt, als
dass ich es als Problem sah. Zuerst begriff ich nicht genau weshalb. Mein Versprechen an Carmen hatte ich bereits gebrochen, und jetzt wurde es bestimmt nicht einfacher. Als ich kapierte, warum das »Ich liebe dich, Stijn« so schön war, erschrak ich selber. Die Liebeserklärung von Roos tut meinem Ego gut. Ich fühle mich wieder als Mann statt als lieber Freund. Es ist eine Kompensation für die Einbahnliebe zu Hause. Es ist mir klar, dass hier ein Schönheitsfehler vorliegt. Aber Liebe in Zeiten des Krebses verfügt über eigene Spielregeln, sage ich mir. Roos ist die Einzige, die mir Genuss verschafft, die Einzige, bei der ich mich wohl fühle. Und jetzt liebt sie mich auch. Da kommen weder Frenk, die Bastille, Alkohol noch XTC dagegen an.
It’s my baby calling’/ says I need you here Golden Earring, aus Radar Love (Moontan, (973)
DREIUNDZWANZIG Zuerst dachten wir, es wäre Einbildung, aber nach einigen Wochen gab es kein Entkommen mehr. Carmens Bauch wird dicker, obwohl sie bestimmt nicht schwanger ist und noch weniger isst als Luna. Dr. Rodenbach bestätigt unsere Vermutungen. Die Taxotere wirkt nicht mehr. Er nimmt sich Zeit, uns zu erklären, er könne an den Blutwerten ablesen, dass der Tumor wieder aktiv sei. Die Leber arbeite nicht mehr richtig und sondere so etwas wie Schweiß ah. Diesen Schweiß nennt man Ascitesflüssigkeit, und damit nimmt Carmens Bauch von jetzt an der Party teil, denn diese Flüssigkeit enthält bösartige Krebszellen. Rodenbach sagt, es gebe noch eine Möglichkeit, jetzt, wo die Taxotere nicht mehr wirke. Wieder eine andere Chemotherapie, und die heißt LV. Das L steht für Leucovorin, das V für 5-FU. Nahezu ohne Nebenwirkungen, wöchentlich durch den Port-a-Cath zu verabreichen. Wir schauen uns an und ziehen die Schultern hoch. Machen wir es! Auf gut Glück. Es sei jedoch alles nur ein Aufschub, warnt Rodenbach. Und hoffentlich komme die 5-FU-Tberapie nicht zu spät, denn damit könne man erst in einigen Wochen beginnen. Der Körper vertrage es nicht, wenn man ihm innerhalb kurzer Zeit zwei verschiedene Chemos zumute. Im Nu ist Carmens Bauch so dick wie der einer hoch-
schwangeren Frau. Nachdem sie fast nichts mehr zum Anziehen hat, setzt sich Carmen über ihre Scheu hinweg und kauft: sich bei Ruimschoots an der A.J. Ernststraat ein Kleid. Ein Umstandskleid. Als Carmen und ich einer ehemaligen Kollegin von BBDvVV&R/Bernilvy begegnen, sagt die: »Ach, wie schön! Ein Zweites unterwegs!« Carmen nickt begeistert. »Ja! Wir hoffen auf einen Jungen.« Aber sonst gibt es wenig zu lachen. Carmen platzt beinahe. Dr. Rodenbach sagt, man könne die Flüssigkeit zwar absaugen, er mache es jedoch am liebsten so selten wie möglich. Je häufiger man sie absauge, desto schneller komme sie zurück. Ob sie noch ein paar Tage durchhalten könne, bis zu dem Tag, wo die LV-Kur verabreicht werde? »Das werde ich schon schaffen«, versichert Carmen. Am Abend vor der ersten LV muss ich fort. Ich bin in letzter Zeit so wenig bei Merk in Uitvoering anwesend, dass ich Frenk vorgeschlagen habe, die dringenden Angelegenheiten einmal wöchentlich abends zu besprechen. Dann kann ich danach noch schnell zu Roos. »Hältst du es mit diesem Bauch sicher noch aus bis morgen?«, frage ich Carmen, bevor ich zu Merk in Uitvoering fahre. »Hm ... ja, es wird schon gehen.« Da ich weiß, dass meine Frau außer an Krebs noch an einer Überdosis Positivismus leidet, schenke ich ihr keinen Glauben. »Bist du sicher?« »Doch, doch, kein Problem.« Ich bin kaum eine Stunde im Stadion, als mein Handy klingelt. »Es geht nicht mehr, Stijn«, schluchzt Carmen. »Ich komme sofort.«
Frenk kommt mit. Zusammen rennen wir zu meinem Auto. Nach fünf Minuten sind wir zu Hause und ich rase hinauf. Ich sehe ihr an, dass sie fast vor Schmerzen stirbt. »Hast du schon im Krankenhaus angerufen?«, frage ich. »Nein ... ich traue mich nicht.« Ich tippe innerhalb 2,34 Sekunden Telefonliste – Suchen – A – Anzeigen – AVL – Start. »Guten Abend, Antoni van Leeuw-« »Hier van Diepen. Können Sie mich mit jemandem verbinden, der auf der Abteilung von Dr. Rodenbach Nachtdienst hat?« Nachdem ich die Frage des diensthabenden Arztes, ob meine Frau wirklich nicht bis morgen früh warten könne, mit einem kurzen und deutlichen »Nein, kann sie nicht« pariert habe, dürfen wir sofort kommen und Carmens Bauch absaugen lassen. Frenk bleibt bei Luna. Wir müssen in den vierten Stock. Das Antoni van Leeuwenhoek kann hinsichtlich Gemütlichkeit sonst schon nicht mit der Bastille konkurrieren und was Lichtshow betrifft nicht mit dem Hotel ArenA, aber am späten Abend ist es hier noch deprimierender. Oben erwartet uns schon der Arzt, der Carmens Bauch absaugen wird. Er ist höchstens acht- oder neunundzwanzig Jahre alt. »Sie kommen für die Ascitespunktion?«, fragt er. Schön, wieder ein neues Wort gelernt. Carmen nickt. Zusammen mit dem Arzt helfe ich ihr auf die Liege. Sie bekommt eine lokale Anästhesie, und dann wird ihr ein Schlauch von einem halben Zentimeter Durchmesser in den Bauch gesteckt. Auf die andere Seite des Schlauchs wird ein Eimer gestellt. Dieser füllt sich langsam mit einer gelben Flüssigkeit aus Carmens Bauch. Ein Liter, zwei, drei, vier Liter, viereinhalb Li-
ter. Carmen wird noch kurz auf die Seite gelegt und hin und her geschüttelt. 4,7 Liter. Carmen ist erleichtert. »Als ob man zum ersten Mal nach einer Woche hat pinkeln dürfen!« Da Carmens Bauch wieder ieer ist, kann sie wieder ein wenig gehen. Schweigend schlurfen wir den dunklen verlassenen Krankenhauskorridor entlang zum Ausgang. Um Viertel nach zwölf sind wir zu Hause. Frenk sitzt auf dem Sofa und sieht fern. Carmen und ich haben unterwegs fast nichts gesagt. »Wer möchte etwas trinken?«, frage ich. »Ein Glas Wasser«, sagt Carmen leise. »Ich genehmige mir einen Mega-Wodka«, sage ich zu Frenk. »Und du?« »Am liebsten ein Bier.« Ich setze mich und lasse den Abend an mir vorüberziehen. Das war der Abend, den ich immer gefürchtet habe, seit dem Tag, als an Carmen Krebs diagnostiziert wurde. Nachts panikartig ins Krankenhaus müssen. Dieser Abend hat sich sehr schnell als Nummer 2 auf der Traumatischen-Krebs-Top-5 etabliert, direkt hinter der unanfechtbaren Nummer 1, inzwischen ein alter Hut: das Kahlscheren meiner Frau. Ich breche in Tränen aus. Carmen macht gemütlich mit. Frenk umarmt und tröstet uns. »Ich hätte am Nachmittag sagen sollen, dass ich es nicht schaffe, oder?«, sagt sie schuldbewusst. »Ja«, bestätige ich verärgert. »Aber ich hasse es, mich ständig über diesen Bauch zu beklagen ...« »Mitten in der Nacht in blinder Panik ins Krankenhaus zu fahren ist viel schlimmer.« »Du musst ehrlieh sein, Carmen«, fügt Frenk hinzu, be-
vor er geht. »Dann weiß Stijn wenigstens, dass alles tatsächlich in Ordnung ist, wenn du es sagst ...« Carmen nickt einsichtig, umarmt Frenk und begleitet ihn hinaus. Kurz nachher höre ich sie plötzlich aus dem Bad schreien. »Schau mal hier!«, ruft sie erschrocken. Oberhalb iher linken Leiste befindet sich ein Knoten in der Größe eines Billardballs. Auch ich bekomme einen Heidenschreck. Eine Infektion? Ein Was-weiß-ich-was-da-indrei-Stnnden-von-Null-auf-Billardgröße-wachsen-kann? Ich täusche Ruhe vor. Wir rufen den diensthabenden Arzt im Krankenhaus an. Er hat keine Ahnung, was es sein könnte. Wir rufen Rodenbach an. Dieser erlöst uns telefonisch von unserm Leiden. Es sei nichts Ernsthaftes. Der Billardball sei die Folge der Punktion, wodurch in den verschiedenen Schichten der Bauchwand kleinste Löcher entstünden, und die im Bauch zurückgebliebene Flüssigkeit sei jetzt durch die Schwerkraft zum tiefsten Punkt im Bauch gesickert. »Dass wir da nicht drauf gekommen sind«, sagt Carmen trocken. Die Flüssigkeit werde sich beim Liegen wieder durch den ganzen Bauch verteilen, und morgen früh seien die Löcher wieder zugewachsen. Bevor der Morgen anbricht, habe ich Rodenbach erneut in der Leitung, weil Carmen mich wimmernd vor Schmerzen weckt. »Herr Doktor, wieder Stijn van Diepen!«, rufe ich jetzt auch in Panik. »Meine Frau liegt hier neben mir, vor Schmerzen zusammengekrümmt! Sie beschreibt es als eine Art von Wehen, aber das kann doch unmöglich sein.« Rodenbach bleibt ruhig. Er sagt, die Krämpfe würden sich in wenigen Minuten legen. Es sei ein bekanntes Symptom
nach Ascitespunktionen. Die Organe im Bauch wollten ihre ursprünglichen Plätze wieder einnehmen. »Mir dreht sich der Magen um«, sage ich zu Rodenbach. »Tatsächlich, so müssen Sie es sich vorstellen«, sagt er. Ich halte Carmens Hand und drücke sie fest, wie bei Lunas Geburt. Kurz darauf sind die Krämpfe vorbei. Es wird schon hell. In einer Stunde wird Luna aufwachen. Als sei nichts geschehen. Kurz bevor ich todmüde einschlafe, merke ich mit Schrecken, dass ich abends etwas vergessen habe. Mir bleibt das Herz stehen. Oh, Gott. Fuck. Oh, wie blöd. Fuckfuckfuck. Roos wartet noch immer auf mich.
Großes Maul hinterm Zaun / großes Maul hinterm Zaun Ajax B-Block * 25F
VIERUNDZWANZIG Erst nachdem ich die Hektik des nächtlichen Krankenhausbesuchs detailliert dargelegt und mich sechzehnmal entschuldigt habe, lenkt sie ein. Ich sitze bei ihr am Frühstückstisch. Roos hat den Morgenmantel noch an. Ich habe Luna in die Krippe gebracht und bin dann sofort zu Roos gefahren. Mein Pflänzchen in Amsterdam-West benötigte dringend Wasser. »Es wird immer schwieriger, Stijn ... jedes Mal diese Unsicherheit, du könntest im letzten Moment absagen. Jedes Mal Sorgen, es könnte bei dir daheim etwas schief gegangen sein, wenn du zehn Minuten später kommst. Jedes Mal diese panische Angst, Carmen wäre vielleicht dahintergekommen ...« »Möchtest du lieber aufhören?«, trumpfe ich auf. »Nein«, seufzt sie, »natürlich will ich nicht aufhören.« »Ich will nicht, dass du dich ausgenutzt fühlst. Jetzt nicht, aber demnächst, wenn Carmen ... hm ... nicht mehr da ist, auch nicht. Denn ich weiß jetzt schon, dass ich dann eine Zeit lang nur an Luna und an mich denken werde.« »Hör auf. Das weiß ich auch. Aber ich will es nicht hören.« »Doch. Du musst es hören.« Wrample aus dem Repertoire des B-Blocks. Melodie: When the Saints. Wenn die Schlachtenbummler der Gegner etwas Unfaires über Ajax oder seine Anhänger singen. *
Ich weiß, es ist gemein, ich sage es jedoch bewusst. Auch wenn es eine egoistische Ehrlichkeit ist, eine Ehrlichkeit, die hauptsächlich dazu dient, mein Gefühl, ich nütze sie vielleicht nur aus, um diese Zeit durchzustehen, zu mildern. Es ist ein großes Maul hinterm Zaun. Ich weiß, Roos wird mich nie im Stich lassen.
I wouldn’t wanna take everything out on you / though I know I do everytime I fall All Saints, aus Black Coffee (Saints and Sinners, 2000)
FÜNFUNDZWANZIG Wenn die LV-Therapie nicht schnell wirkt, wird Carmen Weihnachten nicht mehr erleben. Dann hat diese ScheißTaxotere mit allem Elend noch weniger als ein halbes Jahr Nachspiel eingebracht, verdammt. Carmens Leber ist so geschwollen, dass man sie als Verdickung an der Bauchseite sehen kann. Sie arbeitet kaum noch, schwitzt aber desto mehr. Seit der ersten Ascitespunktion muss Carmen jede Woche den Bauch entleeren lassen. Das letzte Mal war ein neuer persönlicher Rekord: 7,1 Liter. Ein niederländischer und europäischer Rekord würde mich hier nicht erstaunen, falls Carmen nicht wegen Doping disqualifiziert wird. Der Drang der Organe, nach jeder Punktion wieder die Normalposition einzunehmen, macht die Prozedur zur Qual. Manchmal versucht sie es tagelang auszuhalten, bis sie die Schmerzen nicht mehr vor mir verbergen kann. Und dann gehen wir wieder. Mit der Flüssigkeit verschwindet auch jedes Mal massenhaft Eiweiß aus dem Körper. Sie nimmt zusehends ab und hat jede Woche weniger Energie. An Tagen, wo der Bauch voll ist, kann sie keine hundert Meter gehen. Letztes Wochenende wollte sie trotzdem raus. Da haben wir mit einem Rollstuhl, den sie bekommen hat, einen Spaziergang gemacht. Ich log, es mache mir nichts aus, sie zu schieben. Die Wahrheit ist, dass ich mit den Tränen kämpfte.
Ich habe dir erzählt, dass ich nicht mehr so gut laufen kann und wir deshalb einen Rollstuhl haben. Da hast du gesagt., du würdest mich tragen. Ich fand es gleichzeitig so lieb und traurig, dass ich weinen musste; auch jetzt, wo ich es aufschreibe, kommen mir wieder die Tränen. Manchmal ist es sehr schwierig. Neulich kamst du zum ersten Mal selber zu mir und fragtest, ob ich noch krank wäre. Und als du diese Woche dabei warst im Krankenhaus und den Arzt sahst, war deine Frage: »Wird er dich wieder gesund machen, Mama?« Carmen will alles, doch sie bringt nichts zustande. Letzten Sonntag übernahm sie die Frühschicht mit Luna, damit ich einmal ausschlafen konnte. Um halb neun Uhr holte sie mich, weil sie sich schon zweimal übergeben musste. Erst gegen Mittag kommt sie langsam in Gang. Morgens ziehe ich Luna an, gebe ihr den Brei und bringe sie in die Krippe. Am Wochenende gehe ich morgens mit ihr zu den Ziegen im Amsterdamse Bos oder zum Spielplatz im Vondelpark. Manchmal bedaure ich Carmen so sehr, dass ich lieber nicht erzähle, wo Luna und ich gewesen sind. An den meisten Tagen kann ich erst gegen Mittag aus dem Bett kommen. Morgens fühle ich mich zu schlecht. Papa steht jeden Morgen mit dir auf und macht den Haushalt. Manchmal schreie ich Papa an, weil ich das alles nicht selber machen kann. Wer dir am nächsten steht, bekommt das meiste ab, auch wenn das noch so unfair ist. Ich habe trotzdem das Gefühl, dass Papa und ich jetzt noch unzertrennlicher sind, als wir es schon waren. Trotz allem versucht er immer noch, alles so viel wie möglich zu genießen, und das gibt mir auch wieder Kraft, und somit unternehmen wir nach Möglichkeit noch etwas Schönes, wenn ich mich gut fühle.
Doch die Tage, an denen sie sich gut fühlt, sind rar. Der Tiefpunkt ist erreicht, als Carmen nicht zur Nikolausfeier in die Kinderkrippe kann. Sie hat sich vom Bett aufgerafft, ist schon angezogen, aber sie schafft es nicht. Ihr ist kotzübel. In der Krippe sitze ich als einziger Mann – der Nikolaus (und der trägt auch ein Kleid) und die beiden Knechte nicht mitgerechnet – zwischen zwölf Müttern. »Wenn ich nicht mal mehr das mitmachen kann, hat das Leben keinen Sinn mehr«, schluchzt Carmen, als Luna und ich zurückkommen. Eine Überschwemmung berührt meine Wangen. * Ich spüre, dass auch Carmen fühlt, dass das Ende sich nähert. Im Eiltempo führt sie alle ihre Pläne, Vorhaben und Ideen aus. Sie hat Maud, Anne, Thomas und Fretik gesagt, sie möchten einen Ring anfertigen lassen. »Betrachte es als einen Erinnerungsring.« Selber habe ich auch einen machen lassen, der demnächst meinen Ehering ersetzen wird. Fur meine große Liebe, xxx Carmen lässt sie eingravieren. Als wir den Ring holen, fragt die Frau, die ihn geschmiedet hat, ob wir heiraten. »Nein, es ist für ein anderes besonderes Ereignis«, sagt Carmen leichthin. »Oh, dann weiß ich es schon«, sagt die Frau mit einem vielsagenden Blick auf Carmens Bauch. »So eine nette Idee, das mit einem Ring zu feiern!« In einer Mail an Freunde und Bekannte bittet Carmen, etwas über sie zu schreiben, für Luna. Die Briefe flattern herein. Wir kaufen ein Kistchen, in dem wir die Briefe aufbewahren, zusammen mit Carmens Tagebüchern und Fotos, und – eine Idee von Frenk – zwei Videos, auf denen Freunde 26F
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Wrample aus Der kleine blonde Tod von Boudewijn Büch (1985)
über Carmen reden. Luna wird demnächst keine Mutter mehr haben; doch wenn sie will, kann sie mehr über sie erfahren als ein Kind, dessen Mutter noch lebt. In einer Broschüre der Stiftung hinterm Regenbogen, die Carmen im Wartezimmer des Antoni-van-Leeuwenhoek-Krankenhauses liegen sieht, liest sie über Kinderpsycbologen, die auf »Trauerarbeit für Kinder« spezialisiert sind. Wir finden eine Psychologin in der Rapenburgerstraat. Ohne Luna, denn wir wollen frei reden. Das Sprechzimmer der Psychologin ist voller Spielsachen. An der Wand hängen Kinderzeichnungen. Auf einer ist ein großes Kreuz gezeichnet und eine Puppe mit Flügeln. »Meine Mama«, steht in Kinderhandschrift dabei. Ich hoffe, Carmen sieht die Zeichnung nicht. Die Psychologin erklärt, an was Kinder sich später von allem, was bis zu ihrem dritten Lebensjahr geschieht, erinnern können, was sie von der Problematik Tod begreifen, und welchen Effekt es auf ein Kind hat, mit nur einem Elternteil aufzuwachsen. Als wir erzählen, dass Carmen Briefe an Luna angefangen hat, findet die Psychologin das eine ausgezeichnete Idee. Luna wird sich später sonst gar nicht mehr an ihre Mama erinnern können. Carmen hört es und kann die Tränen nicht bezwingen. Die Psychologin wartet kurz und legt dar, dass drei Jahre alte Kinder gut auf den Tod eines Elternteils vorbereitet werden können. »Tun Sie es nicht zu schnell«, sagt sie, »aber verbergen Sie nicht, dass Mama krank ist und in einiger Zeit vielleicht nicht mehr da ist.« Sie gibt Tipps für die Art und Weise, wie wir es Luna sagen können, und warnt uns vor etwas, das sie »Entfremdungsverhalten« nennt. »Wenn Kinder hören oder merken, dass sie jemanden, den sie lieben, verlieren werden, sind sie manchmal weniger lieb oder sogar garstig zu dieser Person.
Das ist eine instinktive Reaktion, sich selber gegen den Schmerz, wenn diese Person demnächst wirklich nicht mehr da ist, zu schützen.« Ich erschrecke, aber nicht wegen Luna. Ich erkenne mein eigenes Benehmen. Meine Zweifel, ob ich Carmen noch liebte, meine Monophobie, die immer manischere Formen annahm. Das Kind Stijn zeigte Entfremdungsverhalten. Abends lese ich Luna vor aus Der Frosch und das Vögelchen, einem Buch, das die Kinderpsychologin uns mitgegeben hat. Der Vogel liegt auf dem Rücken, und einer denkt, er schlafe, der andere, er sei müde. Der Hase kniete beim Vogel nieder und schaute aufmerksam. »Der ist tot«, sagte er dann. »Tot«, sagte der Frosch, »was ist das?« Der Hase zeigte auf den blauen Himmel. »Jeder muss sterben«, erklärte er. »Wir auch?«, fragte der Frosch erstaunt. Das wusste der Hase nicht mit Sicherheit. »Wenn wir alt sind vielleicht«, sagte er. * 27F
Sie begraben den Vogel und sind sehr traurig. Danach beginnen sie miteinander fröhlich zu spielen. Während ich vorlese, streichelt Luna meinen Arm. Sie sieht, dass ich es schwer habe, und hat Mitleid mit mir. Ich auch mit ihr, denn Luna weiß nicht, dass das Vögelchen Mama ist. Carmen hat ihre eigene Art, es zu erzählen. Wir haben zwei Fische gekauft, die ich Elvis und Beavis genannt habe. Du mochtest sie beide. Vorige Woche trieb Elvis auf einmal *
Wrample aus Der Frosch und das Vögelchen von Max Velthuijs (1991)
im Fischglas, mausetot. Eigentlich fand ich es nicht so schlimm, denn jetzt hast du zum ersten Mal selber gesehen, dass Tiere und Menschen sterben. Du hast gefragt, warum, er nicht mehr lebt, und ich habe dir erklärt, er wäre vielleicht schwer krank und konnte nicht mehr gesund werden, wie es auch bei Menschen manchmal geschieht. Die würden dann auch sterben. Ich habe erzählt, Elvis käme jetzt, wahrscheinlich in den Fischhimmel. Es erschien dir ganz normal. Dann habe ich Elvis durchs Klo gespült. Papa kam abends heim, und du hast ihm erzählt, der Fisch wäre tot und jetzt im Fischhimmel. »Und der ist im Klo«, sagtest du. Mittlerweile hat auch Beavis den Tod gefunden und wir haben ihn zusammen weggespült, doch das fandest au nicht so schlimm, denn jetzt wäre er ja wieder bei seinem Freund Elvis. Wenn ich demnächst sterbe, gehe ich in den Menschenhimmel, und du hast selber gesagt, dass der zwischen den Wolken ist. Du verstehst es also schon ein bisschen.
Ein eigenes Haus, ein Fleckchen unter der Sonne / trotzdem wollt ich, ich wäre etwas öfter einfach glücklich Rene Froger, aus Ein eigenes Haus (1989)
SECHSUNDZWANZIG
Alt-Süd ist das Luxusviertel von Amsterdam. Ein kleiner Karton Trauben heim Gemüsejuwelier kostet mehr als einen Monat Miete am Bos en Lommerweg. Sie sind da so hochnäsig, dass sogar die Snackbar einen französischen Namen trägt, Le Sud. Carmen ist superenthusiastisch. Sie telefoniert und mailt mit allen wegen des Hauses. Anne und Thomas wollen es anschauen, und ich schäme mich ein bisschen. Das Haus ist wunderschön, aber lächerlich groß. Vier Stockwerke und dreimal so geräumig wie das, wo wir jetzt wohnen. Und demnächst wohnen dort nicht drei, sondern zwei Personen. Am Samstag, nachdem wir den Kaufvertrag unterschrieben haben, besuchen wir ein paar Einrichtungshäuser auf der KNSM-Insel. LautErenk gibt es dort eine Ausstellung von Poggenpohl, und er findet, wir sollten bei World of Woders und Pilat & Pilat vorbeischauen. Schon nach zwei Geschäften ist Carmen fertig. Der Bauch platzt wieder fast. Wir haben ein Riesenhaus, Zeit und Geld genug es einzurichten, aber keine Energie, die Geschäfte abzuklappern. Wir fahren direkt zu Frenk weiter und bitten ihn, uns zu helfen. Das tut er gerne. Er beißt sich in das Projekt fest.
Abend für Abend befühlen wir mit ihm Muster von Bodenbelägen (Holz und Kork), studieren Möbel- und Beleuchtungskataloge. Wir benehmen uns wie das Gewinnerpaar im Honeymoonquiz. An dem Sonntag, nachdem wir die Schlüssel erhalten haben, kommt Carmens Mutter das Haus besichtigen. Ich wusste, es musste so kommen; trotzdem erschrecke ich in dem Moment, als es passiert. Als wir beinahe das ganze Haus gezeigt haben und uns im dritten Stock im Raum, der Lunas Zimmer wird, befinden, schlägt Carmens Mutter die Hand vor den Mund. Ihre Schultern beben. Ich gehe auf sie zu und nehme sie in die Arme, im zukünftigen Schlafzimmer ihrer Enkelin. Wir wissen beide, dass Carmen dort nie mit Luna schmusen wird, so wie sie das früher mit ihrer Tochter tat.
Shiny happy people REM, aus Shiny Happy People (Out of Time, 199I)
SIEBENUNDZWANZIG Auf einmal zeigt die LV-Chemo Wirkung und es geht Carmen besser. Morgens ist es ihr zwar noch übel, aber nachmittags hat sie ein wenig Mumm und geht oft weg. Sie shoppt bis zum Gehtnichtmehr. Es ist gut, dass wir bald im neuen Haus wohnen. Dort haben wir wenigstens genügend Schränke für all die neuen Kleider. Mit dem neuen Haus verläuft alles glatt. Ich regle alles, die Sachen mit der Bank, mit dem Umzug, dem Notar und dem Verkauf unseres alten Hauses. Carmen braucht sich um nichts zu kümmern, und das ist gut so, denn seit sie mit der Arbeit aufgehört hat, gleicht ihr Gedächtnis einem Emmentaler. * Es kostet mich eine Menge Zeit, doch es sind wunderbare Pflichten. Wahrscheinlich, weil sie mit der Zukunft zu tun haben. Die Zukunft. Mmmh. Ich freue mich täglich darauf. 28F
Sämtliche Arbeit im Haus wird von den Alleskönnern verrichtet. Über das Tempo können wir uns nicht beklagen. Die Alleskönner eilen von einem Zimmer zum andern. Lunas Zimmer ist wie geplant als erstes fertig. Wenn die Alleskönner und die LVs so weitermachen wie jetzt, kann Carmen allem Anschein nach noch im neuen Haus wohnen.
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Ausspruch von Johan Cruyff: »Ihre Verteidigung ist ein Emmentaler.«
Die Alleskönner sind ein illustres Gelegenheitsduo, bestehend aus Rick und Ron. Selber mache ich nichts im Haus. Ich leide an Handwerkslegasthenie und vertrete das Johan-Cruyff-Prinzip, man solle seine starken Seiten entfalten und die schwachen tarnen. Ich kultiviere meine Unbeholfenheit ohne Scham. Alleskönner Rick hinterlasse regelmäßig Zettel wie: »Stijn, das ist ein Hammer.« Ich sage, sie sollen nicht so siebengescheit tun, sondern einfach hart weiterarbeiten, und dass ich sie schon wochenlang beobachten würde mithilfe einer Webcam, die ich in den Augen von Baby Bunnie installiert habe, Lunas Puppe, die zusammen mit Maf, dem Kuschelhund, im neuen Haus probeschlafen darf. Am Tag darauf sind Baby Bunnies Augen zugeklebt. Die Leute um uns herum werden nicht mehr klug daraus. Niemand sagt es, doch wir merken, dass in unsern Freunden leiser Zweifel aufsteigt, oh alles wirklich so dramatisch ist, wie wir immer behauptet hahen. Durch Maud und Frenk höre ich, dass jemand hei Merk in Uitvoering zu wetten wagt, Carmen werde noch siebzig. Thomas höre ich eines Tages zu Frenk sagen, Carmen sehe gegenwärtig »so schön straff« aus. Bei einem Betriebsfest bei Advertising Brokers fragt man Carmen, wann sie wieder zurückkomme. Nicht ob, sondern wann. Wir verstehen es ja. Vor anderthalb Jahren haben wir verkündet, dass Carmen an einer Krebsart leide, bei der die Überlebenschance nur sehr klein sei. Das haben wir ein Jahr lang behauptet. Dann sagten wir, Carmen würde mit Gewissheit sterben, weil sich Metastasen gebildet hatten. Anfang Dezember schien es so weit gekommen zu sein: Carmen ging es von Tag zu Tag schlechter. Jetzt sind wir einige Monate weiter, und Carmen läuft fröhlich hemm! Siehste, es wird sich schon alles geben. Carmen geht es total gut. Die Haare wachsen wieder nach, sie sieht gut aus, man merkt gar nichts von der Brustprothese, sie ist gut drauf und, ja nun, sie ist etwas mager, und dieser Bauch, der im-
mer wieder so dick wird, das ist natürlich nicht lustig, aber es geht ihr gut, oder? Freunde, Familie, Kollegen und Bekannte können sich nur begrenzt in jemanden, der eine lebensbedrohende Krankheit hat, hineinversetzen. Eine solche Person wird gesund, oder sie stirbt nach einiger Zeit; so einfach ist das. So einfach ist das nicht. »Es gibt Patienten, bei denen die LV-Therapie den Krebs jahrelang aufhält«, hat Rodenbach uns erklärt, »aber es ist auch möglich, dass sie nächste Woche nicht mehr wirkt. Wir wissen es nicht.« Die Ziellinie des Marathons ist wieder verschoben worden, die Anzahl der Kilometer unbekannt. Wir sind in die Unsicherheit des ersten Jahres, ab dem Moment, da der Krebs festgestellt wurde, zurückgeworfen. Vielen Dank auch, Herr Doktor.
Despite all my rage / I am still just a cat in a cage Smashing PUmkins, aus Bullet with Butterfly Wings (Mellon Collie And The Infinite Sadness, 1995)
ACHTUNDZWANZIG Jetzt, wo es Carmen besser ging, konnte sie natürlich nicht den ganzen Tag mit Shopping ausfüllen, obwohl sie sich bemühte. Sie fing wieder an, über andere Dinge nachzudenken. Wie über meine Geständnisse im Juni im Club Med. Anfangs hatte sie die Sache verdrängt. Wir waren glücklich zusammen und wollten die Zeit, die uns noch blieb, maximal nutzen, um das Leben zu genießen. Kurz darauf ließ ihr Körper sie dermaßen im Stich, dass ihre ganze Aufmerksamkeit und Energie aufs physische Überleben gerichtet war. Doch jetzt steht die Verarbeitung meiner monophoben Vergangenheit wieder auf Carmens Tagesplan. Sie ruft mich in letzter Zeit tagsüber immer öfter an, um zu kontrollieren, wo ich bin, und fragt viel intensiver nach, wenn ich eine Stunde fort bin. Und, sie hat es noch nicht gesagt, aber ich spüre es in der kleinen Zehe, Carmen wird Stijns Ausgehabend zur Diskussion stellen. Wenigstens zeitweilig. Ich werde schon stinksauer, bevor sie es aufs Tapet bringt. Nur schon der Gedanke! Ist denn verdammt nochmal nichts mehr heilig auf dieser Welt? Heute ist Freitag. Der Plan sieht vor, am Abend zuerst etwas mit Ramon zu essen und dann zu Roos zu gehen. Ich habe das rosa Hemd und die snake leathers angezogen und
gehe ins Wohnzimmer. Carmen liegt auf dem Sofa und sieht fern. Aus ihrem Blick lese ich, dass meine Vermutung stimmt. Ich stelle mich dumm und gebe ihr einen Kuss. »Bis heute Nacht, Schatz«, sage ich katzenfreundlich. »Eigentlich möchte ich nicht, dass du heute Abend weggehst.« »Schatz, wenn etwas passiert, bin ich doch in einer Viertelstunde zu Hause. Ich nehme das Handy mit.« »Das meine ich nicht. Ich will einfach, dass du zu Hause bleibst.« »Bitte? Ich bin in zehn Minuten mit Ramon verabredet. Das hattest du ja mal vorher sagen können! Ich hab mich den ganzen Tag auf diesen Abend gefreut. Es ist die einzige Entspannung während der Woche.« »Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du alle diese Weiber gevögelt hast«, sagt sie kühl. »Carm, das ist absurd! Das haben wir im Club Med ausführlich besprochen.« »Ja, und jetzt denke ich anders darüber. Wie kann ich sonst sicher sein, dass du nicht wieder fremdgehst?« Ich weiß nicht wie, aber es gelingt mir auch noch, empört zu sein. »Hab bitte ein Einsehen! Ich gehe mit zur Chemotherapie, zur Bestrahlung, ich streite mich für dich mit Ärzten, ich hole sie aus dem Bett für dich, ich ... ich ... tue alles für dich!« »Was du für mich tust, ist eine andere Geschichte. Das ist nicht mehr als normal. In guten und in schlechten Zeiten, kannst du dich erinnern, Stijn van Diepen?«, sagt sie bissig. Jetzt werde ich fuchsteufelswild. Das ist nicht ihr Ernst. Das kann nicht ihr Ernst sein. Ich warte kurz, um ihr Gelegenheit zu geben, die Worte zurückzunehmen. Stattdessen blickt sie mich herausfordernd an. »Gut«, sage ich mit überschlagender Stimme. Ich packe
das Telefon, schmeiße es aufs Sofa und sage: »Du kannst Anne oder Maud oder deine Mutter anrufen. Dann können sie dich von jetzt an umsorgen, wenn du alles so normal findest, was ich für dich tue. Ich geh in ein Hotel.« Ich stehe auf und laufe stampfend davon. Sie wirft mir das Telefon hinterher. »Ja, hau nur ab! Kannst wieder eine andere vögeln!«, schreit sie. »Scher dich zum Teufel! Ich brauche dich nicht!« Ich brauche dich nicht. Ich brauche dich nicht. Nach anderthalb Jahren gespickt mit Krankenhaus- und Arztbesuchen, Weinkrämpfen, Angst und Elend braucht sie mich nicht. Außer mir vor Wut reiße ich die Tür zur Diele auf. Ich brauche dich nicht. Dann kannst du verdammt nochmal selber sehen, wie du mit deinem Krebskram fertig wirst, Carmen van Diepen. Ich bin weg. Wütend ziehe ich den Mantel an und reiße fluchend die Haustür auf. Und dort bleibe ich stehen. Meine Frau hat Krebs und wird sterben. Ich kann nicht weggehen. Ich kann nicht weggehen. Ich schließe die Haustür und ziehe den Mantel wieder aus. Ich betrachte mich im Spiegel. Ich kann gar nicht weggehen. Aus dem Wohnzimmer höre ich Carmens Stimme. »Stijn ...?« Ich öffne die Zwischentür und gehe zum Wohnzimmer. Carmen steht schon in der Tür. »Entschuldigung ...«, sagt sie leise. »Entschuldigung, Stijn ... ,« Ich schaue sie verzweifelt an, gehe auf sie zu und schließe sie in die Arme. Sie hängt wie eine schlaffe Puppe in meinen Armen und fängt heftig zu weinen an.
Nach einer Stunde weinen, trösten und versöhnen beschließen wir, Frenk anzurufen, ob er Lust hat zu kommen. Ein bisschen Ablenkung. Er kann nicht. »Ich bin im Bep.« »Oh.« »Ist was passiert?« »Nein, nein. Lass nur. Have fun!« »Wir werden es versuchen!« Ich rufe Maud an. Ich höre es schon. Kneipenlärm. »Stijn?«, schreit sie in ihr Handy. »Ich höre dich nicht so gut. Ich bin im De Pilsvogel mit Natas.« Ich lege auf und simse, es sei nicht dringend. »Sie sind alle in der Stadt und saufen«, sage ich verärgert. Carmen wagt mich kaum anzuschauen. Ich bekomme Mitleid mit ihr. »Macht aber nichts, Liebste. Soll ich Anne anrufen?« »Tja«, lacht sie, »wenn wir ihr erzählen, worüber wir uns gestritten haben, wird sie sich persönlich um den nächsten Streit kümmern ...« Café Bep. Designerkneipe, wo man sich sogar über den Papierkorb Gedanken gemacht hat. Das Bep befindet sich auf dem Nieuwezijds Voorburgwal und ist seit etwa zehn Jahren die area to be für the hippy few. Es fing mit dem Seymore Likely und dem Schuim (um die Ecke in der Spuistraat) an, darauf folgten das Diep und das Bep. Wer in der Werbung einen Namen hatte (alle süßen Werbeassistentinnen, Radio- und Fernsehweibchen und Trafficerinnen) ging in einer gewissen Phase dorthin; deshalb konnten auch Ramon und ich uns eine Zeit lang nicht vom Bep trennen. Bis wir uns zu gestehen trauten, dass wir die Bastille viel lässiger fänden, und von da an wurde das Leben – Ordnung muss sein – wieder normal.
Ich rufe Carmens Mutter an. Sie spürt, dass etwas nicht stimmt, und bevor ich fragen kann, schlägt sie vor, vorbeizukommen. Tn einer halben Stunde ist sie da. Wir plaudern über dieses und jenes, aber nicht über die Misere am frühen Abend. Um halb elf geht Carmen todmüde ins Bett. Ich öffne noch eine Flasche Rotwein und bleibe mit Carmens Mutter unten. Als es oben ruhig ist, fragt sie, worüber Carmen und ich uns gestritten haben. »Woher weißt du das?«, frage ich erstaunt. »Das spüren Mütter doch«, sagt sie lachend. Sie schaut mich an. »Carmen hat mir vor einiger Zeit alles über deine Fremdgeherei erzählt.« »Oh?«, sage ich erschrocken. »Wenn du mein Sohn wärst, hätte ich dir den Hintern versohlt.« Ich grinse ein wenig und weiß nicht recht, wie ich mich verhalten soll. »Weißt du, Junge«, sagt meine Schwiegermutter, »ich liege nachts wach wegen diesem Scheißkrebs und dem, was er zwischen euch anrichtet. Ich wünschte, ich hätte diese Chemotherapien, die Brustamputation und all dieses Elend anstelle von Carmen durchmachen müssen. Ich verstehe, dass sie ab und zu ausrastet.« »Ich auch«, sage ich leise. »Aber dieser Hausarrest ist Blödsinn. Das werde ich Carmen morgen auch sagen. Ich sehe, wie schwierig es oft für dich ist. Und ich finde, du machst es fabelhaft.« Sie packt mich und drückt mich. »Ich bin stolz auf dich als Schwiegersohn.« Ich kuschle mich in die Arme meiner Schwiegermutter. »Wünschst du nicht ab und zu, es wäre alles vorbei?«, fragt sie.
»Ja. Wenn ich ehrlich sein muss, schon«, flüstere ich. »Ich verstehe es, lieber Junge«, sagt sie leise. »Ich verstehe es doch so gut. Du brauchst dich nicht zu schämen.« Sie küsst mich auf die Stirn und wischt die Tränen ab. »Und jetzt will ich Kaffee, du Mistkerl!«
Fuck you / I won’t do what you tell me Rage Against The Machine, aus Kiling In The Name Of (Rage Against The Machine, 1992)
NEUNUNDZWANZIG »Wie heißt Ramon mit Nachnamen?«, ruft Carmen. »Del Estrecho«, rufe ich zurück. »Del Estrecho ... Für zwei Personen?« Stille. »Okay. Nein, dann geht es in Ordnung, ich wollte nur checken. Vielen Dank.« »Glaubst du es jetzt?«, seufze ich, nicht von der Zeitung aufblickend. Sie seufzt und nickt. »Also dann.«
»Was?!! Wie lange schon, Mann?«, ruft Ramon, den Mund voller Steak Tartar. »Anderthalb Jahre«, antworte ich ruhig. »Schon anderthalb Jahre?«, brüllt er durchs Le Garage. »Ja.« »Sie hatte es schon, als wir in Miami waren?« »Ja.« »Warum hast du mir das nicht früher erzählt?« »Weil überall, wo ich hinkomme, über Carmen gesprochen wird. Immer wieder muss ich erzählen, wie es ihr geht. Le Garage. Männer vom Typ Der Vorsitzende* stochern hier mit der Gabel herum, in Begleitung von Frauen, die genauso appetitlich aussehen wie das Essen im Le Garage, aber weniger frisch sind und mehr Färb- und Duftstoffe und Konservierungsmittel enthalten. * Ronlid Giphart (1999)
Und bei dir war das nicht der Fall. Du warst für mich eine krebsfreie Enklave.« »Shit ...« Er starrt vor sich hin. »Shit ... ich dachte schon, dass etwas nicht stimmt«, sagt er auf einmal. Er schaut mich ernst an, wie ich es von ihm nicht kenne. »Ich wusste nur nicht, was. Du hast dich das letzte Jahr verändert, amigo. Du nimmst ab und zu E, du trägst plötzlich so schöne Hemden, so ‘ne teure Lederjacke, und dann die Haare noch wilder. Jetzt fällt der Groschen. Du wehrst dich einfach gegen diesen Scheiß daheim.« Ich schaue ihn mit offenem Mund an. Ramon, mit dem ich nur über Fußball und Scheißficksauhuren reden zu können glaubte, begreift binnen zwei Minuten, was Freunde wie Thomas einfach nicht verstehen wollen. »Als du letzte Woche plötzlich nicht kommen konntest, war da etwas mit Carmen?«, fragt er besorgt. Aus seinem Mund klingt es beinahe witzig. »Nein, das hatte mit meinen Seitensprüngen zu tun«, lache ich tapfer. »Bei Carmen herrscht momentan zero tolerance. Sie spürt allem nach, was ich tue.« »Recht hat sie mit so einem brünstigen Pavian als Mann«, sagt er, während er so unverschämt wie möglich den Mund am Ärmel abwischt. »Wenn du dich verrätst, dass du immer noch fremdgehst, während sie krank ist, hacke ich dir persönlich den Kopf ab, Scheißkerl. Das behältst du für dich und deine Freunde *, amigo. So, und jetzt gehen wir in die Bastille, schauen, ob es noch geile Weiber gibt.« Er ruft den Kellner für die Rechnung. »Ich gehe nicht mit«, antworte ich. »Ich bin mit einer 29F
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Wrample von Hans Teeuwen (aus Das dann schon wieder, 2001)
Frau verabredet und hätte schon vor einer Stunde hei ihr sein sollen.« Selbstverständlich gibt’s keinen Parkplatz in der Eerste Helmersstraat. Scheiße, schon halb zwölf. Warum hab ich das Auto genommen? Vom Le Garage zu Roos sind es drei Stationen mit der Straßenbahn.
Nachdem ich fluchend um zwei Häuserblocks gefahren bin, stelle ich den Wagen auf einen Behindertenparkplatz, wobei ich die Chance, dass er zu dieser nächtlichen Stunde abgeschleppt wird, auf weniger als fünfzig Prozent schätze. Um Viertel vor zwölf klingle ich bei ihr. »Hallo«, rufe ich durch die Gegensprechanlage neben dem Klingelknopf. Keine Antwort, nur der Türöffner. Als ich die drei Treppen zu ihrem Apartment hinaufgegangen bin, sehe ich, dass Roos so missmutig ist wie Louis van Gaal während einer Pressekonferenz. »Sony. Es zog sich in die Länge mit Ramon.« »Sorry?!«, faucht sie. »Das ist verdammt nochmal das zweite Mal in einer Woche, dass ich für die Katz warte. Am vergangenen Freitag den ganzen Abend und jetzt wieder anderthalb Stunden. Und ich kann verdammt nochmal bereitstehen oder –liegen, wenn es dem Herrn gerade in den Kram passt. Ich habe die Nase voll, Stijn!« Nein, das soll gemütlich sein! Ich sehe sie unverwandt an. »Vorwürfe kann ich zu Hause auch einstecken. Dazu brauche ich nicht hierher zu kommen«, sage ich unverfroren. »Oh, so also denkst du darüber?«
»Ja.« »Dann kannst du abhauen!«, schreit sie. Und das tue ich. Als Carmen mir das zurief, wurde mir an der Haustür bewusst, dass ich gar nicht weg konnte, doch bei Roos gibt es nichts, das mich zurückhält. Ich bin doch nicht schuld daran, dass sie mich liebt?
Völlig losgelöst / von der Erde Peter Schilling, aus Major Tom (1983)
DREISSIG Ich ziehe die Autotür geräuschvoll zu und rase wie verrückt durch die Eerste Helmersstraat, Constantijn-Huygen-Straat und dann links ab über den Overtoom. Ich erwäge einen Augenblick, ob ich nicht schnell eine Entschuldigung für Roos eintippen soll. Aber ich kann es nicht übers Herz bringen. Stattdessen schicke ich Ramon eine SMS.
Ich schicke sie auch an Maud. Ich habe Lust, sie zu sehen. Sie ist wenigstens nicht so kompliziert wie Roos. Auf der Stadhouderskade singe ich lauthals mit De Dijk »Auf einmal ist ein Gefühl da, dass da vielleicht noch was geht... nein, es ist nicht zu spät, wir gehören zu der Mehrheit, die nichts anderes will als den Kopf in der Sonne.« – Ramon schreibt: JA! Ich grinse von Ohr zu Ohr – »Alles wird sich finden, wir fangen erst an... wir fangen jetzt erst richtig an!« De Dijk hat Recht: Auch Maud sendet eine SMS. Sie sei mit Natasja – mmmh – im Pilsvogel. Sie wollten gerade ins More, könnten aber auch erst in die Bastille kommen. Nach einer Runde um die Lijnbaansgracht finde ich schräg gegenüber der Bastille einen Parkplatz. Ich muss mich zusammennehmen, um nicht zu rennen. An der Theke steht ein Mann, dessen Hemd zwei Knöpfe zu weit offen ist, um seine lächerlich muskulöse Brust optimal
zur Geltung zu bringen. An seinen Arm hat sich ein blondes Mädchen eingehängt, das mit enormen Zitzen gesegnet ist. Sie stellt sich als Debby vor. Wo Carmen sich eine Ex-Blon-dinemit-großen-Titten nennt, ist es bei Debby umgekehrt. Sie hatte vormals keine blonden Haare und auch keine großen Titten. Das kann Ramon den Spaß nicht verderben. »Change of plan, amigo?« Ich zucke die Achsel. »Du auch einen Wodka?« Ramon lacht schallend, umarmt mich und streicht mir dann unsanft über den Kopf. Er bietet mir eine kleine runde Pille an. Ach, warum auch nicht. Ich nicke und spüle sie mit einem Schluck Wodka hinunter. Gleich darauf kommen Maud und Natas johlend herein. Ausgelassen fallen sie mir um den Hals. Sie kreischen vor Spaß. Mein Gott, ich meinte, ich hätte schon gehörig gesoffen heute Abend. »Stijnemann, wie gestresst du aussiehst!«, sagt Maud. »Wo brennt’s?« »Nirgends. Wodka lime beide?« »Ich einen Breezer«, girrt Natas und schlingt einen Arm um mich. »Am liebsten einen roten. Davon bekommt man so eine süße Zunge. Darfst nachher probieren.« Ich lache verlegen. »Roos nicht da, übrigens?«, fragt Natas nebenbei, als ich ihr den Breezer gebe. »Woher kennst du Roos?«, frage ich verdutzt und blicke Maud grimmig an. Die schüttelt hastig den Kopf zum Zeichen, Natas habe es nicht von ihr vernommen. »Ja, hallo«, sagt Natasja achselzuckend, »dann solltest du dein Outlook eben ausschalten, wenn du vom Computer weggehst.« Ich kriege einen Kopf wie eine Tomate. Maud lacht aus vollem Hals. Ach, was kümmert es mich. Ich bin in La Bastille, bekomme gerade von Ramon meinen dritten Wodka
innerhalb einer halben Stunde, die Pille zeitigt Wirkung, nach Natas hat auch Maud einen Arm um mich geschlungen, ich gehe gleich mit zwei geilen Weibern in den Club More; in der Bastille erklingt Gib nur der Nacht die Schuld **, und das ist richtig so. Es ist drei Uhr, als wir den Club More betreten. Betreten ist gut: Es ist, als wolle ich mit einem Ajax-Schal in den Kuip hinein – ich werde verdammt nochmal bis auf den Schritt durchsucht. 30F
Wenn das RoXy der Marco van Basten des Nachtlebens war – dann ist das More der Ton Blanker*. Das Lokal hat die große Beteuerung nie wahr machen können, es würde das neue RoXy werden. Wenn ich Frenks Meinung richtig interpretiere, kann das More dem RoXy nicht mal das Wasser reichen. * Wurde Ende der Siebzigerjahre das größte Ajax-Talent seit Johan Cruyff genannt Dabei blieb es aber. So wie ich es sehe, ist die Chance, dass ich in einer Stunde nach Hause gehe, klein. Ich bin am Point of no return vorbei. Ramons Smartie und Natasjas Zunge sind unwiderstehlich. Nach einem weiteren Kuss schaue ich Maud schuldbewusst an. Sie reagiert anders als erwartet. Ich sehe an ihren Pupillen, dass sie auch so ein rundes Ding von Ramon geschluckt hat. Sie fasst mich an und will auch küssen. Wir lecken uns zu dritt auf der Tanzfläche vom More ab. Natasja flüstert Maud etwas ins Ohr. Diese sieht sie kurz an und nickt. »Lust auf etwas Aufregendes, Stijn?«, ruft Natas herausfordernd über den Lärm der Bässe. Ich hätte es wissen müssen. Wenn man immer vor halb fünf Uhr zu Hause ist und dann eines Morgens um halb sechs *
Robert Leroy (1996)
noch nichts von sich hat hören lassen, ruft man eine Reaktion hervor. Tring ... tring . .. tring. Ich gestikuliere zu Maud und Natasja, sie sollen still sein, »Wo bist du jetzt, Trottel?«, fragt Carmen weinend. »Ich ... ich komme jetzt ...« »Es ist verdammt nochmal Viertel vor sechs, Stijn«, sagt sie weinend. Mir rutscht das Herz in die Hose, Maud sitzt zitternd auf dem Bett. Natas zündet ungerührt eine Zigarette an. »Hals- und Beinbruch«, flüstert Maud, als ich zur Tür hinausgehe. Natas zwinkert nur. Ich renne zum Auto, das drei Straßen weiter auf der Ceintuurhaan geparkt ist. Ich schaue kurz, ob ich Polizei sehe, und fahre dann über die Straßenbahnschienen in Richtung Ilobbemakade. Die CD von De Dijk, die noch im CDPlayer steckt, wechsle ich für Bruce’ Live aus. Ich zappe durch die Songs, bis ich die schrille Mundharmonika von The Promised Land höre. Die Ampel bei der Roelof Hartstraat springt auf Gelb, als ich fünfzig Meter entfernt bin. Ich gebe Gas und sause bei Rot über die Kreuzung. Das Adrenalin jagt mir durch den Leib. Ich singe Springsteens verzweifelten Text laut mit. »Sometimes I feel so weak ...« – ich bremse ein bisschen vor der leichten Kurve bei der ShellTankstelle – »... I just wann a explode ...« – und gebe wieder Gas, als ich in die Kurve fahre – »... explode and tear this whole town apart ...« – wobei der Wagen nach links zieht. Mit einem Ruck am Lenkrad weiche ich der Verkehrsinsel aus – »... take a knife ...« – doch dann gerät der Chevy ins Schleudern – »... and cat this pain from my heart… « * – er kippt, und ich höre einen dumpfen Knall und ein Scheuern 31F
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aus The Promised Land (Darkness On The Edge of Town, 1978)
und Geklirr von Glas, und der Chevy und ich schlittern Meter für Meter seitwärts über den Asphalt. Dann ist es still. Ohrenbetäubend still. Kein Hazes mehr. Kein Dijk mehr. Kein House mehr. Kein Springsteen mehr. Ich hänge im Gurt zur Seite. Ein paar Sekunden bin ich wie betäubt. Dann durchblitzen mich auf einmal allerhand Gedanken. Ich lebe. Schmerzen? Keine Schmerzen. Bewegen. Gelingt. Glas. Überall Glas. Oh, Scheiße, Carmen! Feuergefahr? Raus! Mitten auf der Straße. Weg von hier! Kann er explodieren? Raus! Klettern. Schnell. Polizei. Getrunken. Shit. Oh, Shit, Shit, Shit. Ich stoße die Tür auf der Beifahrerseite auf und klettere aus dem Wagen. Ich bin fast erstaunt beim Anblick der Unterseite des Wagens. Da lässt mein Chevy sich hier mir nichts, dir nichts vor sechs Uhr morgens von der Unterseite betrachten, als übergebe er sich. Ich gehe zum Bürgersteig und lehne mich dort an das Brückengeländer. Langsam wird mir bewusst, was dies bedeutet. Hier ist eine Kernkatastrophe passiert. Mein Auto. Mein Führerschein. Es ist ein Wunder, wenn sie noch Blut in meinem Alkohol ** finden. Das kann mir Gefängnis einbrocken. Ich hätte tot sein können. Luna ... Oh, und Roos denkt, dass ich zu Hause bin. Mein Gott, was wird Carmen – Ich rufe sie an. Sie nimmt nicht ab. Ich spreche auf die Mailbox, ich sei in einen Autounfall verwickelt, sei selber zum Glück unverletzt, doch es werde noch eine Weile dauern, bis ich zu Hause bin. Ein Polizeiauto kommt mit Sirene herangefahren. Ich lutsche ein Pfefferminz. Auf der Wache muss ich Handy, Portemonnaie und Schlüssel abgeben, den Gürtel ablegen und 32F
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Mit etwas dichterischer Freiheit wrampled aus Leo von Ria Valk (1982)
die Schnürsenkel lösen. Ich möchte bitte in diesem Raum warten. Hinter mir wird eine Tür geschlossen. Der Raum ist eine Zelle. Die Tür eine schwere Stahltür mit vergitterter Öffnung. Ich setze mich auf ein an die Wand festgeschraubtes Bänkchen. Zu Hause wartet meine Frau, die demnächst sterben wird, die ganze Nacht, bis ich heimkomme. In Amsterdam-West weint eine Frau, die mir bereits monatelang durch alles hindurchhilft, wahrscheinlich schon die ganze Nacht. Und hier sitze ich. Es dauert eine Ewigkeit, bis ich die Zelle wieder verlassen darf. Es waren zwanzig Minuten. Danach gebe ich eine Erklärung ab und darf ein Taxi bestellen und nach Hause fahren. Es ist Viertel vor sieben. Carmen sitzt im Wohnzimmer, auf dem Krankenbett. Mit ihrer Glatze und dem grauen Bademantel schaut sie mich vernichtend an. »Wo warst du, als ich angerufen hab?« »Bei einer Frau.« Klatsch. Zum ersten Mal in meinem Leben schlägt eine Frau mich ins Gesicht. Ich kann ihr nicht Unrecht geben. »Und als wäre das noch nicht schlimm genug, nimmst du stinkbesoffen den Wagen!« Und dann sagt sie: »Demnächst hat Luna verdammt nochmal keine Mutter mehr, aber auch keinen Vater.«
I’m like fucking King Midas / Everything I touch turns to shit Aus den Sopranos (1999) ** 33F
EINUNDDREISSIG Als ich aufwache, liegt Carmen nicht mehr neben mir. Ich schaue auf mein Handy und finde eine SMS von Ramon. Zum Glück hat Carmen sie nicht geöffnet. Er fragt, ob es schön war mit den Frauen. Und ob! Wie ich mich amüsiert habe! Ich genieße immer noch. Ich stehe auf, dusche und gehe hinunter. Mit rot geränderten Augen füttert sie Luna. »Es ist Zeit, dass du zu einem Therapeuten gehst. Das geht so nicht weiter.« Ich schweige. Carmen geht hinauf; wie ein Zombie gebe ich Luna die letzten Löffel ihres Breis. Wenig später kommt Carmen mit einer großen Tasche in der Hand wieder herunter. »Ich gehe.« »Wohin?«, frage ich leise. »Zu Thomas und Anne.« »Wann kommst du zurück?« »Das weiß ich noch nicht«, sagt sie weinend, »das weiß ich noch nicht, Stijn.« Mit Luna auf dem Arm gehe ich mit ihr zur Haustür. Sie küsst Luna, sagt »Ich ruf an«, steigt in ihren Beetle und fährt weg, ohne sich umzuschauen. Luna gibt mir einen Kuss auf den Mund und streichelt
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Tony Soprano zu seinem Psychiater in Folge 12 (»Die schöne Isabella«)
mich. Ich erzähle ihr, dass ich sehr ungezogen gewesen sei. »Papa hat viel Bier getrunken, dann ist er mit dem Auto gefahren und dann mit dem Auto umgekippt.« »Mit dem Sjewie?« »Ja.« »Mama ist sehr böse mit dir, oder?« »Ja.« Wir umarmen uns. Ich singe leise unser eigenes Lied. Papa und Luna, das ist ein gutes Paar / Das sind enge Freunde, das sieht man fürwahr / Papa und Luna, das ist ein gutes Paar / Das sind enge Freunde, das sieht man fürwahr. * * 34F
Ich rufe Frenk an und sage, dass ich später komme. Ich nehme das Fahrrad und bringe Luna in die Kinderkrippe. Von dort radle ich zur Autowerkstatt, wo mein Chevy in den kommenden Monaten wohl bleiben wird. Es ist einfacher, den Kundendienst von Ajax ans Telefon zu kriegen als ein Chevorlet-Ersatzteil innerhalb eines Monats nach Bestellung. Meinen Führerschein erhalte ich übrigens frühestens zurück, wenn ich vor Gericht erschienen bin, es ist also eigentlich egal. Ich bekomme einen Mordsschreck, als ich das Auto sehe. Die ganze Fahrerseite sieht aus, als sei der Wagen auf die Grasdecke der ArenA geschlittert. »Dass Sie da rausgekommen sind«, sagt der Monteur kopfschüttelnd. Mein Versicherungsagent steht neben ihm und sagt, die Versicherungsgesellschaft habe sich selbstverständlich geweigert, den geschätzten Schaden von fünfundzwanzigtausend Gulden zu übernehmen, da Alkohol im Spiel war. Er werde sich jedoch * Text: Stijn. Melodie: PSV-Klublied. Autor unbekannt, und das soll auch bleiben. *
bemühen, die Leasing-Firma zu bewegen, mich weiterhin als Kunden zu akzeptieren. Bemerkt dann noch, er finde es reichlich dumm von mir. Ich sage, dass ich damit einverstanden bin. Der Monteur schmunzelt. Natas hat sich krankgemeldet. Maud ist aber da. Ich bitte sie, kurz herauszukommen. Ich berichte ihr den Unfallhergang und Carmens Entschluss. Sie wird blass. Danach geht sie zur Toilette und bleibt lange weg. Ich erzähle Frenk vom Unfall. »Carmen war bestimmt fuchsteufelswild?« »Sie ist heute Morgen gegangen.« »Jesus, Stijn ...« Ramon ruft an. Maud hat ihn benachrichtigt. Er nennt mich ein großes Rindvieh. »Wenn ich gewusst hätte, dass du mit dem Auto unterwegs warst, hätte ich persönlich deine Schlüssel in die Gracht gepfeffert, du Arschloch. Amigo, was ist mit dir los?« Kurz darauf erhalte ich eine Mail von Maud. Von:
[email protected] 12H
An:
[email protected] 13H
Gesendet: Donnerstag, 22. März 2001, 14:31 Betreff: Gestern Wir hätten das nie tun dürfen gestern. Erst heute Morgen wurde mir klar, wie verrückt wir waren von dieser Pille und dem Alkohol. Ich wage nicht mehr, Carmen unter die Augen zu kommen. Ich bin wütend auf Natas, auf dich und auf mich selber. Und ich mache mir Sorgen um dich. Du stürzest dich ins Verderben, Stijn. Ich verurteile dich nicht, aber geh zu einem Therapeuten. Du wirst nicht alleine damit fertig.
Maud PS.: Vielleicht kannst du mich mitnehmen. Bekommen wir Gruppenrabatt :-) Was ein Dreier nicht alles bewirken kann. * Seufzend drücke ich auf Löschen. Noch jemand, der anfängt, von wegen Therapie zu nerven. Hört doch auf. Was soll ich dem denn sagen? Ich habe mit 3,5 Promille einen Autounfall gebaut, weil ich wie ein Idiot gefahren bin, nachdem meine Frau mich angerufen hat, während ich mit einer Praktikantin und einer Ex- die übrigens auch eine gute Freundin meiner Frau ist – im Bett war, und das alles nur, weil ich mich früher am Abend gestritten habe mit meiner außerehelichen Freundin, die ich trotz Versprechen an meine Frau, bis zu ihrem Tod nicht mehr fremdzugehen (sie hat nämlich Krebs und wird in absehbarer Zeit sterben) immer noch vögle – vielleicht könne er mich auch dabei beraten? Und soll ich das auch gleich Carmen beichten, wo wir schon dabei sind? 35F
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Wrample aus Türkische Früchte von Jan Wolkers (1973)
You’re no good / you’re no good / you’re no good / baby you’re no good / I’m gonna say it again / you’re no good / you’re no good / you’re no good / baby you’re no good Linda Ronstadt. aus You’re No Good (You’re No Good, 1974)
ZWEIUNDDREISSIG Erst nach zwei Tagen, vier Stunden und achtzehn Minuten ruft Carmen an. Sie sagt, sie komme am Nachmittag nach Hause. Sie ist kurz angebunden, ruft aber immerhin an. Ich lasse mich anschnauzen, ohne etwas zu erwidern. Wer geschoren wird, muss sich ruhig verhalten. Außerdem schäme ich mich immer noch dermaßen, dass Carmens feindselige Haltung mir fast willkommen ist. Ich habe meine Selbstachtung vorübergehend freiwillig abgegeben. Und nach der halben Flasche Wodka von gestern Abend lässt sich ein solcher telefonischer Giftbecher schon verkraften. Der Wodka kam von Frenk. Der stand plötzlich bei mir vor der Tür. Wir hatten bei Merk in Uitvoering nicht mehr über den Unfall gesprochen. Gestern Abend habe ich ihm alles erzählt (auch wenn ich die Namen und Aktivitäten von Natas und Maud zensiert habe). Er hat den Arm um mich gelegt, und mir schossen die Tränen in die Augen. Nach zwei Tagen voller Erniedrigung zu Hause, auf der Polizeiwache, bei der Versicherungsgesellschaft und an meinem Arbeitsplatz habe ich in Frenks Armen geflennt. Am Ende des Abends fühlte ich mich um einiges besser. Heute Morgen nicht. Ich wachte von Lunas Weinen auf,
ich hatte einen Kater und eine schwere Depression. Ich konnte mich gerade noch aufrappeln, um Luna zu füttern, sie anzuziehen und in die Krippe zu bringen. Danach habe ich Maud angerufen und gesagt, ich könne heute nicht arbeiten, und bin wieder ins Bett gekrochen. Es ist ein Versteckspiel, wie Luna es spielt – mit den Händchen vor den Augen hoffen, dass niemand sie sieht. Mit Schlafen ist nichts mehr, und jetzt, eine Stunde nach Carmens Anruf, fühle ich mich noch elender. Ich habe Angst vor heute Nachmittag. Ich fühle mich wie der Junge, der von der ganzen Klasse gemobbt wird und am Montag aufwacht mit der Gewissheit, dass alles wieder aufs neue anfängt, sobald er den Schulhof betritt. Vielleicht hätte ich zur Kasteiung besser zwei Tage lang Strafarbeit geschrieben.
Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren.
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Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich darf keine andern Frauen vögeln und nicht mit 3,5 Promille fahren. Ich schaue auf den Radiowecker und sehe, es ist halb eins. In ein paar Stunden kommt Carmen heim. Ich sehe dem Moment mit immer größerem Schrecken entgegen. Ich will mein Bestes tun, für Carm da sein, habe es aber vollkommen verdorben mit ihr. Carmen versteht mich überhaupt nicht mehr. Niemand versteht mich. Maud ist wütend auf mich. Frenk wahrscheinlich auch, da ich mich heute krankgemeldct habe. Ramon nannte mich ein Arschloch. Und Thomas und Anne werden nach zwei Tagen Carmen trösten auch nicht gerade günstig über mich urteilen, schätze ich. Sogar Roos ist böse, und sie weiß nicht einmal, was die andern wissen. Oh ja, und selber finde ich mich auch einen Trottel. Ich fühle mich schuldig, in Katerstimmung, bedauernswert, wütend, ängstlich, depressiv, egoistisch, schwach, schlecht, benachteiligt, niederträchtig, heuchlerisch, unterbewertet, überanstrengt, gebrochen, un-
moralisch, asozial, unverstanden, feige, verlogen und unglücklich. Kurz und gut, es geht mir mies. Ich seufze tief und wälze mich im Bett herum. Ich gehe aufs Klo. Steige wieder ins Bett, steige aus dem Bett. Ich gucke aus dem Fenster. Ich gehe wieder ins Bett. Ich lege mich auf den Rücken. Ich lege mich auf den Bauch. Steige aus dem Bett. Ich trinke in der Küche ein Glas Milch. Gehe zurück ins Bett. Zwölf vor eins. Ich lege mich auf die linke Seite. Ich weine. Ich lege mich auf die rechte Seite. Die linke Seite. Die rechte Seite. Auf den Rücken. Ich rufe Roos an. Roos ist böse. »Zum Donnerwetter, warum hast du mich nicht früher angerufen? Ich habe zwei Tage und Nächte geheult und auf einen Anruf oder eine SMS von dir gewartet!« Ich erzähle ihr, dass ich noch in die Stadt gegangen bin und einen Unfall mit dem Auto gehabt habe, nach zu viel Alkohol. Roos erschrickt. »Was!? . .. Du bist so ein Idiot! Und ... ist dir was passiert?« »Nichts ...« »Zum Glück«, seufzt sie. Sie ist die Erste, die etwas Nettes sagt, heute. Die Dramatik des Unfalls ist viel weniger schlimm, wenn man den Teil Maud/Natasja und die Heimkehr zu Carmen weglässt, stelle ich fest. »Carmen ist schon zwei Tage weg, Roos.« »Was!?« »Sie war wütend wegen des Unfalls und des Alkohols, und weil ich schon Stunden vorher zu Hause hätte sein sollen ...« »Du bist so ein unbeschreiblicher Idiot, Stijn ... Du
kannst so lieb sein, aber wie du in letzter Zeit mit deinen Mitmenschen umgehst, ist nicht normal. Warum gehst du nicht zu einem Therapeuten?« »Fängst du jetzt auch noch an!? Nein! Ich gehe nicht zu einem Therapeuten!« Roos schweigt kurz. »Habe ich dir schon mal von Nora erzählt?«, fragt sie dann. »Nein. Wer ist das?« »Nora ist eine Frau, die spirituellen Rat erteilt.« »Schön für Nora.« »Vielleicht ist sie etwas für dich.« »Ich glaube nicht an Gott, glaube ich.« »Habe ich etwas von glauben gesagt?« »Nein, aber was soll ich mit einem Spiritusrat? Fragen, wie ich den Fonduekocher anzünden soll?« »Du kannst es ins Lächerliche ziehen, ich werde es dir aber trotzdem erzählen.« »Mach nur.« Roos macht sich nichts aus meinem Zynismus. »Du wirst es wohl zu nebulös finden, und wahrscheinlich ist es auch nichts für dich, doch Nora ist eine Frau mit einer Gabe. Sie ist keine Heilerin oder so, kein Guru, kein JehovaTyp, aber eine Art... tja, wie sagt man das, jemand, der spirituell begabt ist und damit Menschen hilft. Ihnen Antwort gibt auf Lebensfragen.« »Und woher kennt sie die Antworten?« »Die, ja ... werden ihr durchgesagt.« »Von wem?« »Aus der geistigen Welt.« »Na, da schau an.« Ich täusche Gleichgültigkeit vor, aber etwas an der Geschichte interessiert mich. Ich weiß nicht, wieso.
»Wenn du willst, kann ich dir gleich eine SMS mit der Nummer schicken.« »Von mir aus«, sage ich nonchalant. »Alles Gute, heute Nachmittag ...«
Ich stiere kurz auf die Nummer, zucke die Achsel und speichere sie auf mein Handy. Zur Sicherheit benutze ich den Kodenamen »SOS«. Ich habe keine Lust, Carmen später erklären zu müssen, wer Nora nun wieder ist, von wem ich ihre Nummer habe und dass ich nicht mit ihr gevögelt habe.
Stecktest du in meiner Haut / was hättest du gemacht / schlüpf in meine Haut De Dijk aus Schlüpf in meine Haut (Musikanten tanzen nicht. 2002)
DREIUNDDREISSIG Ich höre, wie die Haustür aufgeht. Sie kommt herein, stellt die Tasche ab, zieht den Mantel aus und setzt sich an den Küchentis eh. »Möchtest du Kaffee?« Sie verneint. »Ich schon, falls es dir recht ist.« Ich fühle, wie sie mir mit den Augen folgt, als ich Kaffee für mich koche. »Frenk hat mich heute Morgen angerufen«, sagt sie. »Er sagt, du hättest den Moralischen und hättest dich heute krankgemeldet.« »Um ... ja ...« »Hör mal, Stijn. Ich fühle mich von dir verraten. Und Anne und Thomas geben mir vollkommen Recht.« »So, das hätte ich von denen nicht erwartet«, murmle ich. »ES wäre nett, wenn du für deine Freunde ab und an ein wenig Kredit aufbringen würdest. Anne hat noch Partei für dich ergriffen. Sie hielt mir vor, ich wäre, wenn ich in deiner Haut gesteckt hätte, meinen Frust vielleicht auch losgeworden. Ich hätte uns vielleicht schon längst in den Konkurs getrieben, indem ich die ganze P.C. Hooftstraat leer gekauft hätte. Und es ist noch etwas passiert.« »Was denn?« »Toos hat sich von ihrem Mann getrennt. Von dem Mann,
der nie zu den Chemos mitgegangen ist, weil er es nicht ertragen konnte. Mit dem sie auch nicht mehr geredet hat. Das hat mir zu denken gegeben. Wir haben schon so viel zusammen mitgemacht; das hier soll uns nicht den Rest geben. Es ist passiert, und wir müssen weitermachen.« Ich nicke, froh wie ein Kind, dessen Mutter gerade gesagt hat, wir wollen wieder Freunde sein. »Komm, du Mistkerl«, sagt sie lächelnd und streicht mir durchs Haar. »Verzeihen gehört auch zur Liebe.« ** 36F
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Wrample aus Was ist denn Liebe von Andre Hazcs (Ein Freund, 1980)
Nicht für Geld noch guten Zweck / kriegt man aus Amsterdam mich weg / hier kann man noch lachen / hier gehör ich her / ich wüsste wirklich nicht / wo ich lieber war Danny de Munk aus Meine Stadt (Danny de Munk 1984)
VIERUNDDREISSIG Ich hab es befürchtet. Ich habe Carmen diese Woche dreimal gefragt, ob sie am Umzugstag nicht lieber bei Anne wäre. Dann könnte ich mit den Möbelpackern den ganzen Kram vom Amstelveenseweg in die Johannes-Verhurst-Straat transportieren, Schlaf- und Wohnzimmer einrichten, und Carmen würde dann abends in ein größtenteils eingeräumtes neues Haus kommen. Sie wollte nichts davon wissen. Die Möbelpacker kommen in einer Viertelstunde, und Carmen fühlt sich hundeelend. Nicht dass ich etwas anderes erwartet hätte; Carmens Körper ist am Vormittag immer nur pro forma anwesend. Solange sie schläft oder ruhig liegen bleibt, geht es gut; sobald sie sich auch nur ein klein wenig anstrengt, protestiert der Körper auf außergewöhnlich wirksame Weise gegen die Energieverschwendung und wirft alles, was in den letzten Stunden hereingekommen ist, einfach wieder raus. Sie hat in den letzten Stunden schon dreimal kotzend über dein Klo gehangen. Ich warte, bis die Packer kommen, sage, dass der Kaffee bereitstehe und sie die Apfeltaschen in der Tüte auf dem Tisch essen können, ich jetzt aber zuerst meine Frau und einen Kotzeimer transportieren würde. Ich helfe Carmen
mit dem Anziehen, stütze sie bis zum Auto, laufe ins Haus zurück, greife ein Kopfkissen, eine Decke und einen Eimer aus dem Schlafzimmer, werfe alles in den Opel Astra von Budget Rent-A-Car und fahre möglichst vorsichtig, scharfe Kurven und abrupte Richtungsänderungen vermeidend, zur Johannes-Verhulst-Straat. Dort spurte ich zuerst mit Decke und Kissen die Treppen zum Schlafzimmer hoch, lobe den lieben Gott und die Wasserbetten-Firma, dass sie rechtzeitig geliefert haben, renne wieder runter zum Auto und gehe dann mit Carmen in einem niedrigeren Gang wieder hinauf. Ich helfe ihr beim Ausziehen und decke sie im weichen Wasserbett zu. Da liegt sie: ein Häuflein Mensch, keine fünfzig Kilo, leichenblass, lächelnd in einem großen Wasserbett in einem noch größeren, abgesehen vom Kotzeimer, leeren Schlafzimmer. »So, während du jetzt schnell diesen Umzug erledigst, lege ich mich gemütlich schlafen, in unserem neuen Haus«, sagt sie kichernd. Ich lache auf. Wie ich diesen Humor vermissen werde.
Wie hässlich du bist von nahem Huub Hangop, aus Wie hässlich du bist von nahem (Die Allerschlimmste von Huub Hangop, 1993)
FÜNFUNDDREISSIG Unser Aupairmädchen ist eingetroffen. Auf Bestellung, aus Tschechien, mit dem Bus. Carmen und ich haben sie über die Website von World Wide Au Pair gefunden, bereits vor einigen Monaten. Zu dem Zeitpunkt konnten wir nicht davon ausgehen, dass Carmen das Aupair noch sehen würde, aber dank der LV ist dies nun doch der Fall. Carmen sagt, sie sei schon froh, das Mädchen noch zu erleben. Was Carmen auch gefällt: Das Mädchen ist in Wirklichkeit noch hässlicher als auf dem Foto. Du lieber Himmel, was für eine Schreckschraube haben wir da ins Haus geholt. Unser Aupair sieht aus wie eine Kreuzung zwischen der Sängerin einer Gothic-Rockband und Furby-mit-Piercing-in- der-Unterlippe. Aber Luna liebt Furbys, also ist sie glücklich. Carmen auch. Sie mailt ihren Freundinnen frohgemut, sie sei sicher, ich würde mich wenigstens nie an dem Aupairmädchen vergreifen. Und Alleskönner Rick, der die letzten Arbeiten im Haus verrichtet, schickt eine SMS und verlangt eine Gefahrenzulage, wegen des erhöhten Risikos, die Leiter hinunterzustürzen infolge einer unerwarteten Begegnung mit dem Aupair. Reibungslos läuft es nicht gerade. In der Zeit, die ich brauche, dem Mädchen zu erklären, was sie einkaufen soll, wie es auf Holländisch heißt, es für sie aufzuschreiben und es nochmal zu erklären, wäre ich schon dreimal zu Albert Heyn gegangen.
»What are Zwibollen, Stain?« »Zwibollen?« »Yes, Zwibollen, what you have written here.« »Oh, Zwiebeln!« »Oh, what are Tswibellen?« Und als sie endlich begreift, was dreihundert Gramm Rinder-hackfleisch ist, weigert sie sich, es zu kaufen. Es widere sie an, bei Albert Heyn durch die Fleischabteilung zu gehen. Sie sei Veganerin und kaufe oder koche nichts, was im Entferntesten nach einem Tier aussieht. Radfahren will sie auch nicht. Zuerst dachte ich, auch diesem Problem liege ein religiöses oder philosophisches Prinzip zugrunde; als ich sie jedoch eines Tage aufforderte, es zu versuchen, habe ich genug gesehen. Der reine Horror. Ich bringe Luna lieber selber in die Krippe. Schließlich gibt es zusätzlich zur Sprachbarriere, ihrer angeborenen Unbeholfenheit und Hässlichkeit sowie unserer Meinungsverschiedenheit über die kulinarische Art der Haushaltführung noch ein Problem. Wir entdecken schon bald, dass unser Aupair nicht unbedingt der Sonnenschein der Familie ist. Jeder Bitte folgt ein pikierter Seufzer, als hätte ich sie gebeten, ihr Piercing hinunterzuschlucken. Das Kind ist genauso depro wie Kurt Cobain. (Ich kann’s ja verstehen – ich meine, stelle dir vor, du stehst als Pubertierende in der Schule immer daneben, während deine Freundinnen mit den hübschen Jungs fummeln, das macht nicht gerade gute Laune.) Was sie tut – wenn auch seufzend – ist bügeln, putzen, fegen, saugen, und ich habe ihr die Verantwortung für den Geschirrspüler, die Waschmaschine, den Wäschetrockner und die Müllsäcke gegeben, sonst wäre ich wieder bei Punkt null angelangt: Ich verliere fast gleich viel Zeit wie vor ihrem Eintreffen und habe ein zusätzliches Problem im Haus.
Aber, ehrlich gesagt, durch die Ankunft des Aupairs bin ich flexibler als vorher. Am Wochenende übernimmt sie eine Morgenschicht von mir, und abends, wenn Carmen mit zwei Schlaftabletten im Koma liegt, ist sie zu Hause und passt auf Luna auf. Und dann kann ich mir ein paar freie Stunden leisten, bei Merk in Uitvoering etwas fertig machen oder Sex mit Roos haben.
Always look on the bright side of life Monty Python, aus Das Leben des Brian (1979)
SECHSUNDDREISSIG Ein weiterer Vorteil der deprimierenden Anwesenheit unseres Aupairmädchens ist, dass ich von Tag zu Tag stolzer auf Carmen werde. Sie setzt sich so wohltuend von ihr ab. Carmen kann ihrem Leben keine Tage hinzufügen, deshalb fügt sie ihren Tagen Leben hinzu. Unser Aupairmädchen weiß nicht einmal, was Leben ist. Sie hat nie Lust zu etwas. Nie. Carmen ist an Tagen, wo es ihr nur ein bisschen besser geht, immer noch voller Lebenslust. So hat sie sich diese Woche auf das Essen heute Abend bei Anne und Thomas gefreut. Ich nicht. Es passt mir deshalb nicht schlecht, dass Carmen sich heute hundeelend fühlt. Trotzdem will sie hingehen. In diesem Fall würe ich froh, ich hätte eine Frau, die lieber zu Hause bleiben will, wenn ihr etwas in die Quere kommt. Ich glaube, Carmen möchte noch weggehn, wenn sie schon längst tot und begraben ist. Ich habe seit der Sache mit dem Chevy nicht mehr mit Thomas gesprochen. Als ich aus dem Opel Astra steige, wage ich ihn kaum anzusehen. Carmen geht mir voraus ins Wohnzimmer. Thomas zieht mich zur Seite. »Nichts über Karneval, bitte!«, flüstert er mir nervös zu. Ich blicke ihn so einfältig wie möglich an. »Mein ... mein Rumgemache mit Maud.« Er spricht ihren Namen, als rede er von einer Kakerlake, doch sein Blick verrät, dass er die Bilder der Nacht vor sich hat. Es erscheint
sogar ein Lächeln auf seinem Gesicht. Ich mache eine Bewegung mit der Hand, als schlösse ich den Mund und schluckte die Schlüssel hinunter. Thomas zwinkert mir nudge nudge, wink wink zu. Das zeigt, dass die Vorteile des Fremdgehens schwer unterschätzt werden. Es macht einen zum Beispiel um einiges toleranter. Anne und Thomas haben alles Mögliche getan, uns jeden Wunsch zu erfüllen. Carmen und mir. Nicht mit Worten, nicht mit Berührungen wie bei Frenk, sondern auf ihre eigene Art. Indem sie nicht vom Unfall und dem Opel Astra reden. Indem Thomas speziell für mich eine Flasche Wodka und einen Limettensaft geholt hat. Indem Anne sich den ganzen Tag für uns in der Küche abgemüht hat. Sie wolle uns heute Abend verwöhnen, sagt sie. Carmen verschweigt, dass sie sich den ganzen Tag übergeben hat, und isst mit. Nach der Vorspeise geht sie zur Toilette. Die Vorspeise wird erbrochen. Nach dem Hauptgericht geht sie zur Toilette und übergibt sich. Nach dem Dessert geht sie zur Toilette und kotzt es aus. »Vielen Dank für den schönen Abend, meine Lieben«, sage ich. Anne küsst mich dreifach und blinzelt mir zu. Thomas klopft mir mit Kraft auf die Schulter. Carmen ist bleich, aber die Augen strahlen. »Herzlichen Dank, ihr Lieben. Ich habe den Abend genossen.« Thomas umarmt sie auf einmal, und es ist, als werde er sie nie mehr gehen lassen. Als wir wegfahren, sehe ich, dass Thomas Anne festhält und mit der freien Hand Tränen aus den Augen wischt.
Zwei Geburtstage und ein Todesfall * 37F
SIEBENUNDDREIßIG Die Erste der Mufflon-Gruppe, die stirbt, ist Toos. Carmen ist ganz kaputt. Toos hat man vor drei Wochen mitgeteilt, eine weitere Chemotherapie wäre zwecklos. Und jetzt ist sie tot. Ihr Exmann hat Toos seit der Scheidung nicht mehr gesehen. Er kann sie noch einmal sehen, im Sarg. »Können sie sich jedenfalls nicht streiten«, grinst Carmen. Sie wolle zur Beerdigung, sagt Carmen. Als ich höre, wann sie stattfindet, werde ich verrückt. Nächsten Dienstag. Da haben Luna und ich Geburtstag. Der dritte aufeinander folgende Geburtstag, der im Zeichen des Krebses steht. Und der letzte, das ist gewiss. Und da will Carmen zu einer Beerdigung! Wie wenn man sich die Vorschau der eigenen Bestattung ansehen möchte. »Glaubst du nicht, es wird zu schwer für dich?« »Wir feiern euren Geburtstag doch bereits am Sonntag. Am Dienstag kommt niemand. Und es sind nur ein paar Stunden.« Ich halte mich zurück, doch Carmen sieht, dass es mir nicht behagt. »Ich finde, ich kann es Toos gegenüber nicht verantworten wegzubleiben.« »Luna und mir gegenüber schon?« Es ist mir einfach so herausgerutscht. *
Freie Interpretation des Filmtitels Vier Hochzeiten und ein Todesfall (1994)
Am Sonntag ist das Haus voll. Freunde von mir, Verwandte, Freundinnen aus Lunas Kinderkrippe. Carmens Mutter erschrickt, als sie hereinkommt, sehe ich. Es sind drei Wochen her, dass sie ihre Tochter das letzte Mal gesehen hat. Mit dem dicken Bauch sieht Carmen wie eine schwangere Frau aus, die stark unterernährt ist. Wir plaudern ein wenig in der Küche. Luna kommt stolz herein mit ihrem neuen Prinzessinnenkleid und den Engelsflügeln. Carmen geht in die Hocke, um das Ganze genau zu besichtigen. »Wie schön«, sagt sie begeistert zu Luna, verliert das Gleichgewicht und fällt zusammen mit Luna um. Luna erschrickt und fängt zu weinen an. »Pass doch auf«, rufe ich erschrocken, »verdammt, Carm, du weißt doch, dass du keine Kraft mehr in den Beinen hast!« Carmen fühlt sich durch den Sturz und meine Reaktion gedemütigt und bricht auch in Tränen aus. Der Anfang des Festes ist nicht gerade ein Glückstreffer. »Unternehmt ihr Dienstag an eurem Geburtstag noch etwas Schönes?«, fragt Anne und nimmt einen Biss von der orangefarbigen Kindertorte. »Carmen schon. Sie geht zur Beerdigung von Toos, einer Frau aus ihrer Gesprächsgruppe.« »Diese Beerdigung ist am Dienstag?« »Ja.« Anne runzelt die Stirn. Abends nach dem Fest sagt Carmen, sie gehe am Dienstag doch nicht zur Beerdigung. »Anne hat es aufs Tapet gebracht. Ich stelle hier im Haus einen Blumenstrauß für Toos bin. Das gefällt mir. Ich glaube, Toos würde es verstehen.« »Ich bin sicher, dass Toos es versteht«, antworte ich erleichtert.
Hoch soll’n sie leben / hoch soll’n sie leben / dreimal hoch! / Sie leben hoch, sie leben hoch!
ACHTUNDDREISSIG Sie leben hoch. Du wirst es singen müssen, auch wenn du selber demnächst tot bist. Carmen tut es. Ich merke an allem, dass sie sich vorgenommen hat, sich zu revanchieren für den Plan, zu Toos’ Beerdigung zu gehen. Luna und ich bekommen das Frühstück im Bett. Carmen hat es für uns gerichtet und das Aupair gebeten, es hinaufzutragen. Luna isst strahlend ein Croissant mit Erdnussbutter und Kokosbrot, ich ein Croissant mit Brie, Carmen schluckt widerwillig sechs Löffel Kellog’s Fruit and Fibre hinunter. Es ist alles nicht so einfach heute. Bei allem werde ich emotional. Als Frenk eine SMS schickt, er sei froh, mich zum Freund zu haben und wolle dies noch viele Jahre bleiben. Als Anne eine SMS schickt, sie sei froh, dass Carmen, Luna und ich den Geburtstag zusammen feiern, trotz allem, was geschehen ist. Und als Carmen mir eine Vergrößerung von einer Serie Nacktfotos schenkt, die ich von ihr gemacht habe, als wir uns gerade kennen gelernt hatten. Nach dem Frühstück sehe ich, Carmen ist müde, und es ist ihr schlecht. »Ruh dich jetzt noch ein Stündchen aus«, sage ich. »Findest du es nicht ungemütlich?«, fragt sie zögernd. Ich verneine. »Leg dich doch etwas schlafen. Vielleicht gehe ich noch auf eine halbe Stunde in die Stadt. Ich habe letzten Sonntag von Maud einen Gutschein für eine CD bekommen.«
Ich spiele eine Stunde mit meinem Sonnenschein und bitte dann das Aupairmädchen, mit Luna Pfannkuchen zu backen. Ihr Ungeschicklichkeits-Image hat mittlerweile mythische Proportionen angenommen; deshalb lege ich ihr ans Herz, sie solle aufpassen, dass Luna nicht vom Hocker fällt. »Trust me«, sagt sie. Brrr. Ich kenne sie inzwischen, und es versetzt mich in Angst und Schrecken, wenn sie solche Sachen sagt. Doch ich kann schlecht den ganzen Tag damit verschwenden, dass dieser Trampel meine Tochter nicht verletzt. Ich gehe noch schnell hinauf. Carmen hat einen Eimer neben das Bett gestellt. Ich schaue hin und sehe: nicht umsonst. Die Cornflakes von heute Morgen, die waren schon umsonst. Wie der Blitz radle ich zum CD-Geschäft in der Van Baerlestraat. In weniger als einer Viertelstunde habe ich den Gutschein für eine CD von Coldplay eingelöst und damit mein Alibi erkauft. Danach fahre ich zu Roos. Sie hat sich als Geburtstagsgeschenk in rote Spitzen gehüllt.
What was that? /That was your life, mate / oh ... that was quick ... can ! get another one? * 38F
FawIty Towers ( 1976)
NEUNUNDDREISSIG Ich langweile mich ohne Ende im Wartezimmer bei Rodenbachs Büro. Das Gratismagazin Spits, das im Kasten beim Eingang lag, habe ich fertig gelesen. Ich blättere ein bisschen in Carmens Akte. Der Krankenpfleger, der gerade ihren Bauch leergesaugt hat, hat sie uns gegeben mit der Bitte, sie Dr. Rodenbach zu überreichen. Carmens Bauch ist seit November sechzehnmal geleert worden, lese ich. Ich zähle die Mengen zusammen. »Weißt du, wie viel Liter von dieser Flüssigkeit schon aus deinem Bauch geholt wurden?« »Keine Ahnung.« »Gut einundsiebzig Liter.« »Hahaha ... das ist mehr, als ich gewogen habe, bevor sie mit diesen Punktionen angefangen haben!« Carmen wiegt noch siebenundvierzig Kilo. Man sieht sie täglich dünner werden. Vor einem halben Jahr wog sie noch fast siebzig Kilo. Wegen Fettmangels friert sie in den letzten Wochen immer. Im Wohnzimmer haben wir den Thermostat den ganzen Tag auf vierundzwanzig Grad eingestellt, das Wasserbett ist vier Grad höher eingestellt als die empfohlene Temperatur. Es ist eine Glückssache, dass wir ein Wasserbett haben. Jede normale Matratze wäre zu hart. Zwi*
John Cleese philosophiert.
schen ihren Knochen und der Matratze gibt’s nur Haut, kein Fett mehr. Angesichts des bevorstehenden Gesprächs mit Rodenbach haben wir ein beklemmendes Gefühl. Die Punktionen, die zu Beginn der LV-Therapie alle zwei Wochen stattfanden, müssen inzwischen alle paar Tage gemacht werden. Und sie werden immer unangenehmer. Es scheint, als seien Carmens Organe matschig und schmerzten nach jeder Punktion stärker. Gerade eben war es furchtbar. Sogar nach einer Morphiumspritze musste Carmen sich noch erbrechen vor Schmerzen. Ich glaube, ich werde ein Trauma behalten vom Bild meiner Frau über einer Kotzschale, während durch einen Schlauch aus ihrem Bauch literweise eine trübe, gelbe Flüssigkeit rinnt, die langsam einen Eimer füllt. »Setzen Sie sich«, sagt Rodenbach freundlich. Wir haben ihn mittlerweile etwa sechsmal gesehen seit unserem Wechsel zum Antoni-van-Leeuwenhoek-Krankenhaus. Man kann von gegenseitigem Respekt sprechen. Er weiß, dass wir nicht jammern, was seine andern Patienten in der Regel schon tun; wir wissen, dass er uns nicht beschummelt und beschwindelt, was unsere früheren Ärzte in der Regel schon taten. Wir nehmen auf den Stühlen bei seinem Schreibtisch Platz. Ich nehme automatisch den linken Stuhl, Carmen den rechten. Es ist zur Gewohnheit geworden. Genauso wie ich in der Bastille immer hinten bei den Toiletten stehe, bei Konzerten im Paradiso auf der Treppe hinten im Saal bei der Bar und im De Bommel rechts vorne. Ein Mensch braucht gewisse Sicherheiten im Leben. Rodenbach steht im Begriff, uns eine neue Gewissheit zu geben.
»Die Werte der Tumormarker im Blut erhöhen sich wieder. Die LV-Therapien wirken nicht mehr.« »Und ... was ... bedeutet das?«, stammle ich. Ich weiß, was er sagen wird. »Ich befürchte, wir müssen den Kampf jetzt wirklich verloren geben.« Hier ist es also. Ende der Übung. Carmen wird aufgegeben. Toos war drei Wochen später tot. Carmen blickt mit der Hand vor dem Mund zu mir. Ich halte ihre andere Hand und schaue sie an. »Wollen wir gehen?«, frage ich vorsichtig. Sie nickt. Wir bekommen in drei Wochen wieder einen Termin bei Rodenbach. Einen Termin wider besseres Wissen, denn auch wenn Carmen zu diesem Zeitpunkt noch am Leben sein sollte, ist Rodenbachs Rolle ausgespielt. Das Einzige, was er für Carmen noch tun kann, ist, die Rezepte für Morphium, Kytril, Codein, Prednison und Temazepam zu unterschreiben. Schmerzpolitik. Ich starte den Wagen und stelle die CD ab. De Dijk hat Unrecht. Es wird sich nicht mehr finden.
Teil III Carmen
I’d tell all my friends but they’d never believe me / they’d think that I have finally lost it completely Radiohead, aus Subterranean Homesick Alien (OK Computer 1997)
EINS Ich habe Nora angerufen. Am Tag nach Rodenbachs Mitteilung. Nur Roos weiß davon. Zu Hause habe ich es vorläufig noch verschwiegen. Carmen würde es blödsinnig finden, dass ich meine Probleme einem Therapeuten nicht vorlegen will, wie sie schon oft vorgeschlagen hat, aber jemandem wie Nora schon. Ich weiß selber auch nicht genau, wieso ich angerufen habe. Ich glaube, der Autounfall hat den Ausschlag gegeben. Dass ich ohne eine Schramme davongekommen bin, obwohl die ganze Seite des Chevys ein Trümmerhaufen war, ist mindestens so verwunderlich wie der Treffer von Marco gegen Russland 1988. Auch Frenk und Maud wissen nicht, dass ich heute zu Nora gehe. Ich habe Natas beauftragt, in den gemeinsamen Terminkalender von Merk in Uitvoering einzutragen, dass ich einen freien Nachmittag nehme. Sie sah mich zwinkernd an und lächelte zweideutig. Ich habe nicht reagiert. Die spirituelle Ratgeberin hat ihre Praxis in einem Reihenhaus aus den Sechzigerjahren in Buitenveldert. Mit pochendem Herzen läute ich. Nora ist eine unauffällige, zarte Frau mit schwarzem Haar. Sie führt mich hinauf zu ihrem Sprechzimmer und
fragt, ob ich Tee wolle. Das möchte ich. Sie geht hinaus. Ich mustere das Ganze in aller Ruhe. Bemalte Steine, nach FengShui-Art geordnet. Räucherstäbchen, deren Geruch ich von einem Indienurlaub kenne. Musik, die vielleicht im Himalaja in den lop Ten ist. Flyer für den Workshop Träume erklären, den Nora nächste Woche durchführt. Der Ausblick von Noras Sprechzimmer auf ein Wohnhaus mit Laubengang dissoniert mit diesem weltfremden Ganzen. Man kann von Laubenganghäusern sagen, was man will, aber mysteriös sind sie nicht. Der Ausblick beruhigt mich ein wenig. Fr erinnert mich an Breda-Nord. Nora lacht freundlich, als sie mit einem Tablett hereinkommt. Wenn ich richtig sehe, ist es normaler Tee. »Du hattest das Bedürfnis, hierher zu kommen«, sagt sie. Plötzlich habe ich ein Déjà-vu. Die Gespräche mit der Psychotherapeutin vor fast zwei Jahren! Wo bin ich jetzt wieder gelandet? Das wird Monty Python, zweite Folge. »Wir fangen einfach an, oder?«, sagt sie, als sie meinen argwöhnischen Blick sieht. Sie erzählt, sie habe anhand meines Namens und Geburtsdatums, die ich ihr gegeben habe, als ich anrief, aus einer andern Welt Nachrichten für mich bekommen. Und diese stünden in einem Brief, den sie jetzt vorlesen wird. Ich sage nicht, dass ich eigentlich nicht an diese Art Quatsch glaube. Nora nimmt den Brief und liest. Der Mann, für den du diese Nachricht erhältst, hat eine große Spannkraft,, aber er muss in dieser Periode gut auf diese Kraft achten. Er muss jetzt eine Wahl treffen. Alles zu wollen, führt, ins Chaos, hat er bemerkt. Diese Einsicht ist gut. Das soll ihm bewusst werden, und er soll es verstehen. Es ist gut
In der kommenden Zeit wird viel von ihm verlangt werden. Jetzt kann er die Angelegenheiten nicht mehr anders regeln. Er muss da sein und die Verantwortung übernehmen. Er kann nicht mehr davor fliehen. Er ist dieser Aufgabe gewachsen, auch wenn er es nicht so sieht. Sage ihm, er soll seiner Intuition trauen. Er soll sich auf die Kraft seines Herzens verlassen. Das wird ihm helfen, wird ihm Energie verschaffen. Er ist dieser Sache gewachsen. Sage ihm., er soll zuversichtlich sein. Aus dieser Sphäre ist viel Hilfe um ihn herum. In Liebe ... Tatsächlich. Reines Geschwafel. Nora legt den Briet ruhig hin und wartet einen Augenblick. »Bezieht’s sich auf etwas?« »Tja, was soll ich sagen. Es kann sich auf irgendjemanden beziehen ...« »Findest du?«, lächelt sie. »Und dieses Chaos, das in dem Brief beschrieben wird?« Das sind doch keine Argumente. »Mwa. Das sind solche Horoskoptricks. Jeder gerät in Situationen, die man chaotisch nennen kann. Geh mal zu den ›Drei Tollen Tagen‹ bei De Bijenkorf.« Sie lacht laut auf. »Ich glaube, in diesem Brief ist ein anderes Chaos gemeint.« Ich entschließe mich, ihr eine Chance zu geben. »Ich habe vor kurzem Unangenehmes mit dem Auto erlebt; das könnte man ziemlich chaotisch nennen.« »Einen Unfall?« Ich nicke. Sie nickt auch. »Weißt du, dass wir Menschen durch Kräfte beschützt werden, von denen wir keine Ahnung haben?« – Oh, probieren wir es auf diese Art? – »Dieser Unfall
war ein Zeichen, dass der Schutz zu Ende geht.« * – Hm. Das gefällt mir weniger. Ich meine, auch wenn man nicht an Gott oder das Schicksal glaubt oder an weiß ich wer solche Dinge lenkt – zu vernehmen, dass man nicht mehr beschützt wird, ist das andere Extrem. »Aber du bist hier, weil jemand ernsthaft krank ist, oder?« – Schock. »... Ja. Meine Frau ...« »Wie ist der Name deiner Frau?« »Carmen.« »Carmen ist bereit für den Tod.« Ein kalter Schauder überläuft mich ... Dass Dr. Rodenbach verkündet, Carmen habe nicht mehr lange zu leben, geht noch an, aber eine unbekannte Frau in einem Reihenhaus aus den Sechzigerjahren in Buitenveldert ... »Du brauchst keine Angst zu haben. Sie hat auch keine. Es ist gut so.« Ich schlucke. Auch wenn ich noch immer nicht alles glaube, was sie sagt, Nora ist mir nahe gegangen. »Ich habe das Gefühl, ich müsste noch so viel mit ihr besprechen ...«, höre ich mich sagen. »Dazu bekommst du auch die Möglichkeit ...« Diese Nora wird doch nicht tatsächlich Verbindungen haben mit höheren ... wie sagt man ... Sphären? »Schau, dass du in der kommenden Zeit so viel wie möglich bei ihr bist ...« Ja, jetzt sind wir wieder so weit. Das hätte ich mir mit dem gesunden Menschenverstand, soweit ich diesen in letzter Zeit besessen habe, selber auch ausdenken können. Ich werde sie mal schocken. Das ertragen diese esoterischen Typen meistens nicht so gut. »Ich habe seit mehr als einem Jahr ein Verhältnis.« – 39F
*
Wrample aus Brücke zur Ewigkeit, Richard Bach (1984)
1:0 für Stijn! Das habe ich schon herausfordernd gesagt. So, jetzt bist du wieder an der Reihe. Nora bleibt die Ruhe selbst. Sie ermutigt mich weiterzureden. Einen Moment lang weiß ich nicht, was ich sagen soll. Oder, eigentlich schon. In meinem Herzen weiß ich ganz genau, warum ich gekommen bin. Ich lasse es darauf ankommen und frage es einfach. »Carmen hat keine Ahnung. Muss ich es ihr sagen, solange es noch möglich ist?« Nora wartet kurz. »Sie weiß es. Sie weiß es schon lange ...«Was? – »... wenn sie danach fragt, musst du die Wahrheit sagen ...«- brrr – »... doch sie wird nicht fragen ...« – das würde mir nicht, schlecht passen – »... sie wusste immer schon, wie du bist. Besser als du selber. Seit kurzem akzeptiert sie es ...« – ich mag diese Nora – »... wie heißt die Frau, mit der du ein Verhältnis hast?« »Roos.« »Es ist nicht umsonst, dass du Roos begegnet bist, während Carmen krank ist«, sagt sie mit ruhiger Stimme. »Es war nötig.« – Siehste! Ja, Nora sieht das richtig. Im Zweifel zu Gunsten des Angeklagten. Das ganze zynische Getue bringt den Menschen auch keinen Schritt weiter. »Ist Carmen eigentlich glücklich mit mir? Ich war nie treu, und ich bin eher ein ... Lebemann.« »Ohne deine Fähigkeit, locker zu leben, hätte sie ihre Krankheit nie ertragen können«, sagt sie plötzlich heftig. »Du brauchst dich nicht schuldig zu fühlen. Sie ist sehr froh mit dir. Und du brauchst dich nicht für deine Schwächen zu schämen ...« – Soll ich ihr die Handynwnmer von Thomas geben? – »... Carmen ist hier fertig, du noch nicht ...« – Das hoffe ich doch – »... Sie hat dir im Grunde des Herzens bereits verziehen ...« – Sie sagt das aber sehr bestimmt –
»... Aber jetzt musst du für sie noch eine Stütze sein. Stelle alles zur Seite und pflege sie mit aller Liebe, die du in dir fühlst ...« – ich, eine Florence Nightingale? Das kann ich nicht – »Überlasse den Haushalt andern. Geht das?« »Tja ... wir haben ein Aupair. Sie sorgt für meine Tochter und besorgt den Haushalt. Wenn ich sie dringend darum bitte.« »Prima. Genier dich nicht, ihr alle Arbeit, die nicht mit Carmen zusammenhängt, aufzutragen. Und wie heißt deine Tochter?« »Luna. Sie ist drei geworden. Sie hat am gleichen Tag Geburtstag wie ich«, sage ich so stolz, dass ich erröte. »Das erklärt vieles. Deine Tochter und du, ihr habt eine viel engere Beziehung, als du meinst...«- bah, jetzt wirst du aber wieder klebrig, liebe Nora – »... wenn deine Frau demnächst nicht mehr da ist, willst du das Aupairmädchen gar nicht mehr im Hause haben ...« Oh? Ob sie unser Aupair kennt? – »... dann möchtest du selber für deine Tochter sorgen ...« –forget it. Wer wird dann auf sie aufpassen, wenn ich arbeiten muss und die Krippe zu hat? Oder – schlimmer noch –wenn ich ausgehen will? – »... Bei dir ändert sich vieles ...« –Was meint sie jetzt wieder? – »... Du wirst eine andere Person werden ...« –Jetzt hör doch auf! – »... und wirst dabei von deiner Frau unterstützt. Auch wenn sie nicht mehr da ist.« –als Carmen, das kleine Gespenst, nicht wahr? Tu bitte nicht so unheimlich! – Nora sieht meinen angstvollen Blick und lacht. »Glaub mir«, sagt sie, »Carmen und du, ihr kennt einander schon viel länger als du denkst. Sie liebt dich. Von ganzem Herzen ...« ich kann nichts dafür, aber es rührt mich, und ich habe einen Kloß im. Hals – »... Ihr seid Seelenverwandte. Für immer.« Stille. Ich blinzle.
»Weiß Carmen, dass du hier bist?« »Nein. Sie ist nicht für solche ... verschwommenen Ideen.« »Sag es ihr nur. Es wird ihr gut tun.« »Ich weiß nicht ...«, sage ich zögernd, »vielleicht findet sie es lächerlich und regt sich auf. Es ist, als hätten wir uns auseinander gelebt, und sie ärgert sich in letzter Zeit über alles, was ich mache ...« Nora schüttelt heftig verneinend den Kopf. »Ich sage es dir nochmal: Carmen liebt dich von ganzem Herzen. Sie will von niemandem sonst gestützt werden ...« – bum – »... Ich würde gleich direkt nach Hause gehen. Es wird schneller gehen, als du denkst...« – BUM – »... sieh zu, dass du da bist, wenn es passiert...« – BUM – »... Sie wird dir sehr dankbar sein. Und du dir selber auch. Jetzt bekommst du die Chance, deiner Frau zurückzugeben, was du all diese Jahre von ihr bekommen hast...« Als ich im Auto sitze, dröhnt es mir durch den Kopf. »Jetzt bekommst du die Chance, deiner Frau zurückzugeben, was du all diese Jahre von ihr bekommen hast.« Ich verstelle den Rückspiegel und schaue mich selber an. Erstaunt sehe ich ein breites Lachen. Und ich fühle mich verdammt glücklich. »Jetzt bekommst du die Chance, deiner Frau zurückzugeben, was du all diese Jahre von ihr bekommen hast.« Ich bin mit einer Energie beseelt, auf die Edgar Davids * eifersüchtig wäre. Durch Nora und ihre Souffleure, whoever they may be. 40F
*
Der Molotowcocktail unter den Fußballern.
I was unrecognizable to myself/ saw my reflection in the mirror / didn’t know my own face / I can feel myself fading away / and my clothes don’t fit me no more Bruce Springsteen, aus The Streets of Philadelphia (Music Rom Trie Motion Picture Philadelphia, 1993)
ZWEI Ich schalte mein Handy wieder ein und sehe, dass ich eine Nachricht auf der Mailbox habe. Es ist Carmen. Ich soll sie bitte anrufen. Ich höre sofort, dass es ihr nicht gut geht. »Stijn, ich übergebe mich ununterbrochen«, sagt sie weinend. »Ich hab solche Angst...« »Ich komme sofort.« Vier Minuten und einundfünfzig Sekunden später renne ich die zwei Treppen hinauf zu unserem Schlafzimmer. Carmen macht über einem Eimer einen Versuch zu kotzen. Ich setze mich neben sie und streichle die kurzen rot gefärbten grauen Haare. »Ich bin so froh, dass du da bist«, sagt sie. Ihre Stimme klingt hohl wegen des Eimers, in dem sie halb mit dem Kopf hängt. »Mir ist schon den ganzen Morgen schlecht. Doch es kommt nichts mehr hoch.« Auf einmal muss sie heftig würgen und es kommt ihr doch ein wenig Erbrochenes aus dem Mund. Ich sehe, dass es Galle ist. Kein Essen. Essen kann nicht herauskommen, wenn sie nicht mehr isst. Dr. Bakker, unser Hausarzt, der eine Stunde später kommt, verschreibt ein flüssiges Nährpräparat, zwei Packungen
Primperan und eine Schachtel Kytril, um das Erbrechen zu stoppen. Als Carmen schläft, gehe ich zur Apotheke in der Cornelis-Schuyt-Straat, um die Sachen zu holen. Unterwegs rufe ich Roos an. Sie ist erleichtert, dass es bei Nora gut gegangen ist. Ich sage, dass es um Carmen schlecht steht und ich sie wahrscheinlich eine Zeit lang nicht mehr sehen kann. Unser Date am nächsten Freitag sage ich ab. Roos reagiert gelassen. Sie wünscht mir viel Kraft und sagt, sie werde ab heute auf einem Schränkchen in ihrem Wohnzimmer eine Kerze für Carmen brennen lassen. Für die Frau, der sie noch nie begegnet ist, von der sie jedoch inzwischen so viel weiß, als kenne sie sie schon Jahre. Abends kommt Carmens Mutter. Wir gehen zu viert zum King Arthur. Carmens Mutter trägt eine dünne Seidenbluse, Luna und ich sind im T-Shirt. Die Abendsonne ist herrlich. Es ist sogar warm. Carmen sitzt in einem Rollstuhl, mit Sonnenbrille und in einen dicken Mantel gehüllt. »Es ist aber doch etwas frisch, oder?«, fragt sie vorsichtig, als wir gerade die Getränke vor der Nase haben. »Das finde ich eigentlich auch«, lüge ich. Das King Arthur liegt in der Mitte unseres Luxusreservats, an der Kreuzung von Cornelis-Schuyt- und Johannes-Verhulst-Straat. Die männliche Klientel ist dort irritierender als sonst wo (Anwälte aus den Büros in der De Lairessestraat und englische Krawattenträger, die im Hilton logieren und mal weg sind von Weib und Kind), und wegen der Frauen lohnt es sich auch nicht zu kommen (Fossile aus der Gegend). Doch die Sonne scheint dort eine gute Stunde länger als auf der Terrasse im De Pijp oder sonst wo. Unser Viertel ist so bedeutend, dass sogar die Zahl der Sonnenstunden organisiert zu sein scheint.
»Ja, tatsächlich, die Sonne täuscht«, pflichtet Carmens Mutter mir bei. Fünf Minuten später sind wir wieder zu Hause. Gegen Haut und Knochen kann die Abendsonne nicht ankommen.
You’re packing a suitcase for a place none of us has been / a place that has to be believed to be seen U2, aus Walk On (All I hal You Can’t Leave Behind, 2000)
DREI »Ich hoffe so, dass es bald zu Ende geht«, sagt Carmens Mutter und weint, die Hände vor den Augen. Ich lege meinen Arm um sie und drücke sie an mich. Eine Mutter, die ihre Tochter verliert. Ihre Tochter, die sie wegen der Chemotherapie todkrank im Bett gesehen hat. Ihre Tochter, die ihr weinend die Stelle gezeigt hat, wo die Brust war und sich jetzt eine Naht wie ein Reißverschluss befindet. Ihre Tochter, fiir die sie nun hofft, dass sie nicht mehr lange leiden muss. Es sollte ein Gesetz verabschiedet werden, dass Mütter ihre Kinder nicht leiden sehen dürfen. Sie nimmt meine Hand und küsst mich. »Wir werden uns zusammen hindurchschleppen, oder?« Ich nicke. Frenk schaut sich die Szene ruhig an. Es geht uns schlecht, also ist Frenk da. Ein eisernes Gesetz. Anne ist auch schon da. Ich merke, dass ihre warme Umarmung mir wieder gut tut, genauso wie vor zwei Jahren, als sie mit Thomas am Amstelveenseweg vor der Tür stand. »Ich sehe noch schnell nach Carmen«, sage ich und gehe hinaus. Carmen döst noch etwas nach einem Schläfchen. Sie sieht mich hereinkommen und lächelt. »Tag, mein Liebster ...«, flüstert sie. »Wie geht’s?«, frage ich und setze mich neben sie aufs Bett. Ich nehme ihre Hand. Mein Gott, wie mager die ist.
»Ich mag nicht mehr, Stijn ... Wenn es so weitergeht, darf es meinetwegen bald zu Ende sein ...« Sie blickt auf meine Hand, die ihre streichelt. Ich sehe, dass sie etwas sagen will, es aber runterschluckt. »Was ist?« Ich weiß schon, was sie sagen will, halte aber den Mund. Ich möchte, dass sie selber den Anfang macht. »Ich wüsste gern, wie die Vorschriften sind, wenn ich ... aufhören möchte. Und wie du darüber denkst.« »Du meinst Sterbehîlfe?« »Ja«, sagt sie erleichtert, froh, dass ich die Sache beim Namen nenne. »Soll ich den Hausarzt anrufen und fragen, wie das vor sich geht?« Sie nickt. Ich nehme sie in die Arme. Sie fühlt sich zerbrechlicher an als ein Neugeborenes. »Ich rufe ihn an. Kann ich sonst noch etwas für dich tun?« »Es würde mich freuen, wenn morgen ein paar Leute kommen könnten.« »Sag an. Wer?« »Thomas und Anne, Maud, Frenk.« »Anne ist schon da, und Frenk auch.« »Oh! Sag ihnen doch, sie sollen heraufkommen, das wird die Stimmung verbessern.« »Gut, möchtest du etwas essen?« »Ich sollte eigentlich, oder?« »Ab heute musst du gar nichts mehr.«
Lass mich nur gewähren Ramses Shaffy, aus Lass mich (Tag und Nacht. 1978)
VIER Seit Luna versteht, was kuscheln ist, bilden wir jeden Morgen im Bett eine Kuschelgruppe. Ich bitte Frenk, der ebenso wie Carmens Mutter in der vergangenen Nacht hier übernachtet hat, diesen Morgen ein Foto von unserer Kuschelgruppe zu knipsen. Ich halte meinen strahlenden, vor Gesundheit strotzenden Sonnenschein (3) und meine spindeldürre, aber immer noch strahlende Frau (36) in den Armen. Carmen trägt einen violetten Seidenpyjama, Luna einen weißen Schlafanzug mit Bärchen. Sie lachen beide über das ganze Gesicht. Ich sehe, dass Frenk den Apparat kaum ruhig halten kann. Wir frühstücken mit Frenk und Carmens Mutter an Carmens Bett. Zum Mittagesscn ist auch Maud da. Als sie hereinkommt, drückt sie Carmen fest an sich und weint heftig. Anne und Thomas kommen auch. Und sogar unser Aupairmädchen hat sich aus eigener Initiative neben Carmens Bett eingenistet. Carmen genießt den Betrieb. Aber selber isst sie nichts. Ich glaube, sie hat wieder abgenommen. Ich schätze sie jetzt auf zweiundvierzig Kilo. Gleich kommt Dr. Bakker. Ich habe ihn gestern angerufen, und er hat genau erklärt, was zu geschehen hat. Carmen muss ein Schreiben aufsetzen und erklären, unter welchen Bedingungen sie Sterbehilfe verlangt. Dieses Schreiben muss sie unterzeichnen. Dann führt sie zuerst ein Gespräch mit ihm und danach noch eins mit einem unabhängigen
zweiten Arzt. Beide Ärzte müssen dann unterschreiben, dass es »eine aussichtslose Situation ist, begleitet, von unmenschlichem Leiden«. Und dass kein Zwang oder Druck von Verwandten oder Dritten existiert. Ab diesem Moment kann Carmen selber bestimmen, wann sie sterben will. Zumindest, wenn alles gut geht. Der Hausarzt ruft an, er habe einen Hexenschuss. Ob es wirklich nötig sei, dass er heute für das Gespräch mit Carmen vorbeikomme. Ich sage, es sei nötig. Keuchend kommt er ins Schlafzimmer. Er erzählt Carmen von seinem Rücken. Sie fragt besorgt, ob es sehr weh tue und ob er nicht lieber morgen gekommen wäre. »Mit Schmerzmitteln geht es gerade so«, sagt er. »Und du? Hast du viel Schmerzen?« »Immer mehr, ja ... und seit gestern auch im Rücken«, sagt sie zu meinem Erstaunen. Davon weiß ich nichts. Er untersucht die Stelle, die Carmen zeigt. »Ich vermute, es ist eine Metastase.« »Nur zu«, antwortet Carmen trocken. »Ich werde dir Morphium verschreiben. Ich habe von Stijn gehört, du möchtest alles in Ordnung bringen für den Fall, dass es dir zu viel wird?« Carmen nickt. Der Hausarzt sagt, er könne am Nachmittag noch einen Kollegen kommen lassen, damit die Sterbehilfe juristisch abgesichert wäre. »Gerne«, antwortet Carmen. Der zweite Arzt kommt am späten Nachmittag. Er ist ein formeller Mann. Ich frage, ob ich hinausgehen soll. Was weiß ich schon, wie so etwas vonstatten geht. Vielleicht so wie bei diesem Quiz früher, wo der Mann die Antworten seiner Frau nicht hören durfte und deshalb mit Kopfhörer in einem Verschlag warten musste. Ich darf bleiben. Carmen bekundet, sie wolle gerne selber
entscheiden, ob und wann sie ihrem Krankendasein ein Ende mache. Es ist, als führe sie ein Bewerbungsgespräch. Als müsse sie sich gut verkaufen. Der Arzt unterschreibt das Formular ohne weitere Fragen. Carmen dankt ihm. Sie ist froh, sehe ich. Als habe sie gerade die Schlüssel ihres neuen Autos bekommen. »Du bist wirklich froh, oder?«, frage ich, erstaunt über ihre Hochstimmung. »Ja. Jetzt habe ich wieder eine Wahl. Ich kann wieder selber bestimmen, was mit meinem Leben geschieht.«
What you don’t know you can feel it somehow U2, aus Beautiful Day (All That You Can’t Leave Behind, 2000)
FÜNF Neben Carmens Mutter und Frenk hat auch Maud sich entschlossen, im Rahmen des geistigen und organisatorischen Beistands in unserem Haus zu biwakieren, solange Carmen noch lebt. Frenk und Maud werden zusammen in einem Bett in einem der Gästezimmer schlafen. Carmen ergötzt sich daran, und als Frenk kurz fort ist, pusht sie Maud, ihn heute Nacht ordentlich ranzunehmen. »Du musst dich, wenn er schläft, einfach auf ihn setzen und dann schreien: Und jetzt wird gefickt, Faulpelzl« Sie lachen schallend. Carmen ist wieder aufgeweckt, heute. »Essen wir heute Abend wieder alle zusammen hier?«, fragt sie hoffnungsvoll. »Glaubst du nicht, dass dir kotzübel wird vom Essensgeruch um dich herum?« »Schon, aber dann kann ich mich vielleicht übergeben.« Unser Aupairmädchen kocht. Carmen isst nicht, die andern kaum. Das Essen riecht wie Carmens Eimer. Es gibt Reis mit etwas Grünem und Gelbem drin. Das Gelbe erkenne ich als Mais, das Grüne kann alles sein. Carmen sieht, wie wir essen und ab und zu einen flüchtigen Blick auf die Teller der andern werfen, und bekommt einen Lachkrampf. Unser Aupair hat so doch noch eine Funktion, als unfreiwillige Hofnärrin an Carmens Sterbebett. Nach dem Abendessen bleibe ich bei Carmen. Die andern gehen hinunter. »Stijn ... ich eh ... muss mal ...«
»Soll ich rausgehen?« Die Hauspflege hat heute eine Art Nachtstuhl gebracht. Er sieht aus wie ein Campingstuhl mit einer Klobrille. Unter der Brille hängt ein kleiner Eimer. »Wart mal ... Ich weiß nicht, ob ich selber aufstehen kann.« Ganz langsam versucht Carmen aus dem Bett zu kommen. Als sie fast steht, fällt sie zurück und weint. »Ich habe keine Kraft mehr in den Beinen ...«, schluchzt sie. »Komm«, sage ich. Ich stelle den Nachtstuhl noch näher ans Bett und hebe sie unter den Achseln hoch. Sie lässt selber die Hosen hinunter. Ich lasse sie langsam auf den Stuhl hinab. »He, he ... die Oma sitzt«, sagt sie. Als sie fertig ist, zögert sie. »Soll ich dich abwischen?« Sie nickt und wagt mich kaum anzublicken. »Ich hab Angst, dass ich umfalle ...« »Stütz dich auf mich. Kann ich wenigstens nochmal deinen Po betatschen, ohne dass du mir eine langen kannst«, sage ich zwinkernd. Sie lacht durch die Tränen hindurch. Das Gesicht mir zugewandt, die Arme um meinen Hals gelegt, flüstert sie »mein lieber Freund«. Mit dem einen Arm stütze ich sie unter den Achseln, mit der andern Hand säubere ich ihr das Gesäß. Danach gehe ich ein wenig in die Knie. Carmen hängt an meinem Nacken, sie stützt sich kaum noch auf die Beine. Mit der freien Hand zerre ich die Pyjamahosen hoch und ziehe sie über die Pobacken. »Gibt es eigentlich Dinge, von denen du willst, dass ich sie sein lasse, wenn du nicht mehr da bist?«, frage ich, als sie wieder im Bett liegt, keuchend vor Anstrengung.
»Nein.« »Wärst du froh, wenn ich eine Zeit lang warten würde, bevor ich wieder Sex habe?« »Nein«, lächelt sie, »mach einfach, wie du willst. Obwohl ... Ich hoffe, du machst es nie mehr mit Sharon. Die ist für mich das Symbol deiner Fremdgeherei. War sie die Erste, mit der du damals fremdgegangen bist?« »Nein ... das muss mit einer Ex gewesen sein. Ich glaube mit Merel. Oder mit Emma. Aber Sharon war die Erste, bei der du’s rausgefunden hast.«: Wir lachen beide. »Es bleiben noch genügend, mit denen du etwas anfangen kannst. Du wirst sehen, sie werden dich jagen wie wild. Du bist frei, du hast eine eigene Firma, ein schönes Haus und eine liebe Tochter. Eine begehrenswerte Partie. Ich habe Anne, Frenk und meiner Mutter schon erzählt, sie sollten sich nicht wundern, wenn du viel schneller eine neue Frau hast, als sie denken. So wärst du einfach.« »Oh!«, sage ich, ein wenig erschrocken. »Es macht nichts. Ich hoffe, du wirst bald wieder glücklich. Mit einer neuen Frau. Du brauchst jemanden, der dir gewachsen ist. Und sich nicht herumkommandieren lässt.« »Noch weitere Wünsche?« »Sie muss geil sein.« Ich lache wieder auf. »Aber an deiner Fremdgeherei musst du etwas ändern, Stijn.« »Monogam sein ...« »Nein, das gelingt fast niemandem ein ganzes Leben. Dir bestimmt nicht. Doch du darfst einer Frau nie mehr das Gefühl geben, sie sei der letzte Depp. Dass du halb Amsterdam und Breda vögelst, und nur sie weiß von nichts. Sieh zu, dass niemand etwas davon erfährt.«
»So wie du mit Pim ...« »Ja. Behalt es für dich. Ich glaube, niemand kann vom Gefühl her schaffen, Fremdgehen als etwas zu betrachten, das mit Liebe nichts zu tun hat. Ich wollte, ich hätte es gekonnt ...« Ich richte den Blick schuldbewusst zu Boden. Ich zögere, entschließe mich dennoch zu fragen, was mir immer noch auf dem Magen liegt. Ich frage es auf Umwegen. »Gibt es noch Dinge, die du von mir wissen willst? Dinge, die du dich nie zu fragen getraut hast?« Sie lächelt wieder. »Nein. Du brauchst dich nie schuldig zu fühlen. Ich weiß alles, was ich wissen möchte.« »Bist du sicher?« »Ja. Es ist gut so.« Ich fühle mich klein neben dieser Frau. Ich lächle und gehe dann zur Toilette, leere Nachtgeschirr und Kotzeimer und reinige beides. Als ich zurückkomme, schaut sie zu, wie ich den Topf wieder in den Stuhl schiebe. »Du hast so viel für mich getan, seit ich krank geworden bin«, sagt sie gerührt, »und jetzt auch wieder mit dieser widerlichen Pisse und Kacke ...« Ich denke an Noras Worte: Jetzt bekommst du die Chance, deiner Frau zurükzugeben, was du all diese Jahre von ihr bekommen hast. Einen Moment zögere ich. »Ich war gestern bei jemandem ... ich hab mich noch nicht getraut, dir davon zu erzählen.« »Oh? Erzähl«, bittet sie neugierig. Verlegen berichte ich von Nora, und wie ich es empfunden habe. Carmen hört aufmerksam zu, als ich den Brief, den ich von Nora bekommen habe, vorlese. Ich sehe, dass sie ergriffen ist.
»Ich finde es mutig, dass du dahin gegangen bist, und bin froh, dass es dir gut getan hat. Ich finde es sehr schön ...« »Sicher? Aber glaubst du denn an solche Sachen?«, frage ich erstaunt. »Ich weiß nicht, woran ich glaube, aber es ist kein Unsinn, was diese Nora dir mitgeteilt hat. Ich spüre immer mehr, es ist kein Zufall, dass ich sterbe. Es ist, als sei ich so weit.« »Glaubst du, wir werden auf irgendeine Art noch zusammengehören, wenn du nicht mehr da bist?« »Ja«, sagt sie sehr bestimmt. »Ich werde auch danach für dich und Luna da sein.« »Ich glaube es auch«, sage ich, »man hört aber auch, dass Menschen plötzlich an Gott oder das Jenseits glauben, weil sie am Ende ihres Lebens sind. Wie eine Art Selbstschutz ...« »Nein«, sagt sie entschieden, »es ist mehr. Es ist stärker. Ich spüre einfach, dass ich dann noch da bin. Es ist, wie wenn man fühlt, dass man jemanden liebt. Das weiß man einfach. Wie ich gewusst habe, dass es Unsinn ist, als du letztes Jahr im Club Med gedacht hast, dass du mich nicht mehr liebst. Es ist, als hätte ich dich immer geliebt, schon bevor ich dir begegnet bin ...« Ich lege mich neben sie aufs Bett. »Trotz meines egoistischen Einschlags?« »Du kümmerst dich immer gut um dich selbst«, lacht sie, »und das war tatsächlich nicht immer angenehm für mich. Erinnerst du dich, wie du mich vor zwei Jahren am Koninginnedag in den Vondelpark mitgeschleppt hast?« »Das habe ich vor allem für mich selbst getan«, grinse ich. »Das ist egal. Das war symbolisch. Ich habe oft daran gedacht, als ich den Moralischen hatte und mich zu nichts aufraffen konnte.« »Und wenn du im Voraus gewusst hättest, wie ich mich Frauen gegenüber verhalte«, frage ich, »hättest du mich trotzdem geheiratet?«
Sie blickt mich an, lächelt ihr eigenes Lächeln, das ich so gut kenne, die Oberlippe auf einer Seite ein wenig hochgezogen. »Ja. Sofort.« Wir liegen Hand in Hand, verliebt, ohne noch etwas zu sagen. Minutenlang liegen wir so. Ich sehe, dass sie die Augen geschlossen hat. Kurz danach schläft sie ein. Ich gehe hinunter, wo Maud, Frank und Carmens Mutter Rotwein trinken. Ich strahle von Ohr zu Ohr. »Du siehst glücklich aus«, sagt Maud. »Ja«, sage ich schmunzelnd. »Es war wunderschön.«
Wir zwei hier zusammen / dies könnte der Moment sein Trockener Kecks, aus Jetzt oder nie (Einer in einer Million, 1987)
SECHS Am nächsten Morgen liegt Luna neben mir im Bett. Carmen liegt auf der andern Seite in tiefem Schlaf. Ich flüstere Luna ins Ohr, es wäre vielleicht lustig, ins Gästezimmer zu gehen, weil Frenk und Maud dort schlafen. Begeistert springt sie aus dem Bett. »Ssshhht!«, flüstere ich erschrocken, »Mama muss noch schlafen!« »Oh, ja«, sagt sie leise, das Händchen vor dem Mund. Ich gehe mit ihr zum Zimmer, wo Frenk und Maud untergebracht sind. Frenk schläft noch. Maud trägt ein Maxi-T-Shirt und liest. Sieht nicht so aus, als hätten sie eine wilde Nacht gehabt. Schade. Carmen hätte sich gefreut. Maud winkt Luna, die fröhlich auf sie springt. Ich gehe wieder und krieche neben Carmen ins Bett. Sie schläft noch. Ich sehe sie verliebt an, nehme ihre Hand und halte sie, so ruhig wie möglich. Ihr Atem geht schwer. Langsam, mit unregelmäßigen Intervallen. Meine ich es nur, oder werden die Pausen länger? Wenn sie jetzt, im Schlaf, sterben würde, wäre das eigentlich sehr schön. Sie sieht friedlich aus. Plötzlich bedenke ich, dass ich überhaupt keine Erfahrung mit Sterbenden habe. Was passiert da? Wann entscheidet der Körper sich, mit der Herztätigkeit und der Atmung aufzuhören? Geht das allmählich vor sich? Sieht man es kommen? Geschieht noch etwas vorher? Muss man dann schnell den Arzt rufen, oder soll man es einfach ablaufen lassen? Ich
habe keine Ahnung, wie die Etikette des Sterbens, oder besser gesagt, des Sterbenlassens aussieht. Ich werde mich auf mein Gefühl verlassen, und dieses Gefühl sagt mir, Carmen ist jetzt so friedlich, sie darf, was mich betrifft, einschlafen. Zehn Minuten dauert dieses langsame Atmen. Dann atmet sie auf einmal wieder normal, so wie immer. Auch gut. Machen wir einfach wieder einen schönen Tag daraus.
I have become comfortably numb Pink Floyd, aus Comfortably Numb (The Wall, 1979)
SIEBEN Als Carmen aufwacht, frage ich, ob sie etwas essen will. »Ja. Eine halbe Morphium tablette.« »Hast du wieder Schmerzen?« Sie nickt. »Ziemlich. Im Rücken.« »Dann bekommst du eine ganze.« »Ist das vernünftig?« »Wie meinst du? Hast du Angst, daran zu sterben?« Sie lacht auf. »Wenn das möglich wäre ...« Auf einmal verfinstert sich ihr Gesicht. »Ist es nicht an der Zeit, Luna zu erzählen, dass ich bald wirklich nicht mehr da bin?« »Ich habe sie heute Nachmittag schon ein wenig vorbereitet.« »Was hat sie gesagt?« »Es ...« – schluck- »... wäre schön, wenn du bald keine Schmerzen mehr hättest und dich nicht mehr übergeben müsstest.« Zusammen weinen wir um unsern Sonnenschein. »Geht es wieder?«, frage ich nach einiger Zeit. Sie nickt. »Soll ich dir die Mails vorlesen, die du bekommen hast?« Sie nickt wieder. Wie ein richtiger Star antwortet sie ihren Fans. Wie eine richtige Sekretärin tippe ich die Antworten, die Carmen diktiert. In allen Antworten betont sie, wie glücklich sie jetzt sei. »Du hast in dein Tagebuch auch einen sehr schönen Pas-
sus an Luna geschrieben«, sage ich. »Ich will ihn bei der Trauerfeier in der Kirche vorlesen.« »Oh? Welcher Abschnitt?« Ich hole Carmens Tagebuch an Luna, öffne es dort, wo ich ein gelbes Memo eingeklebt habe, und lese vor: Ich hoffe sehr, dass ich bei den Leuten einen Eindruck hinterlasse, sodass sie dir später ein Bild von mir zeichnen. Ich glaube, und das ist nicht nur, weil ich jetzt krank bin, wenn man im heben etwas wirklich will, soll man es auch einfach ttm. Ich finde, man soll jeden Tag genießen, weil man nie weiß, was später alles geschieht. Das klingt schon klischeehaft, doch ich weiß nicht, wie ich es sonst sagen soll. Als ich in London als Aupair war, gingen wir öfters essen oder in den Tub. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich eines Tages nur noch ein Paar Schuhe hatte, mit durchlöcherten Sohlen. Ich hatte kein Geld, sie flicken zu lassen. Besser gesagt, als ich die Wahl hatte zwischen neuen Sohlen unter den Schuhen oder einem Abend gemütlich mit Freunden, wählte ich Letzteres. Ich dachte mir: Ich bin glücklicher, wenn ich schön mit andern etwas unternehme, als wenn ich mit neuen Sohlen allem zu Hause bleibe. Danach bin ich auf eine Weltreise gegangen. Viele Leute sagen mir, sie hätten das auch gern gemacht, aber es habe sich nicht ergeben. Luna, es gibt oft hundert Gründe, etwas nicht zu tun, aber genau dieser eine Grund, es doch zu tun, sollte schon genügen. Es wäre doch traurig, wenn man die Dinge, die man nicht verwirklicht hat, bedauern muss, demi nur aus dem, was man in die Tat umsetzt, kann man etwas lernen. »Hat etwas Wahres, auch wenn’s von mir ist«, meint sie errötend. Dann mache ich die Truhe für Luna mit Andenken an Carmen fertig. Ich lese noch einige Briefe vor, die Freunde, Verwandte und Kollegen an Luna geschrieben haben.
Ramon schreibt, er sei Carmen nur ein- oder zweimal begegnet, bei einer Party von der Werbefirma, wo Papa und er damals arbeiteten, und könne deshalb nicht so viel über Mamas Charakter schreiben; er erinnere sich aber noch genau an Carmen. »Ich weiß noch gut, wie stolz Papa auf sie war, als er uns bekannt machte. Und wie eifersüchtig ich auf ihn war. Luna, ich will nicht um den heißen Brei herumreden, sondern dir sagen, wie ich es empfinde: Deine Mama war ein Mordsweib. Ich werde Papa sagen, er dürfe dich diese Zeilen erst lesen lassen, wenn du alt genug dazu bist, aber deine Mutter hatte Tit-, oh, Brüste, nach denen sich jeder Mann umdrehte. So. Jetzt weißt du das wenigstens auch. X, Ramon, Papas amigo.« Carmen setzt ein breites Lachen auf. »Wie lieb, dass er das schreibt ...« Ich lese die E-Mails, die gestern und heute eingetroffen sind. Während ich laut lese, dämmert Carmen hie und da ein. Manchmal ist sie plötzlich wieder da. »Stijn, hast du unser Hochzeitsbild vergrößern lassen?« »Wie?« »Unser Hochzeitsbild. So groß. Auf dem Kaminsims.« »Nein ...« »Das dachte ich mir schon«, lächelte sie. »Starkes Zeug, dieses Morphium ...« Stille. »Was sagst du, Stijn?« »Nichts, Schatz ... wirklich nicht.« Sie seufzt. »Ich bin müde .. . Ich schlafe ein bisschen. Esst ihr später wieder schön hier?«
Dann wollen wir trinken / siebenTage lang/ dann wollen wirtrinken, so ein Durst/ es wird genug für alle sein /wir trinken zusammen / rollt das Fass herein /wir trinken zusammen, so ein Durst/ dann wollen wir essen, siebenTage lang, dann wollen wir essen .., Bots, aus Sieben Tage lang (Für Gott und Vaterland. 1976)
ACHT Der Mittelstand in der Cornelis-Schuyt-Straat reibt sich die Hände bei Carmens Lebensfinale. Es ist wie Catering für eine Armee. Nugteren, der Gemüsejuwelier, bringt sein Schäfchen ins Trockene mit Kästen sonnengetrockneter Tomaten, Trauben und Gemüse. Der Delikatessensupermarkt kann die tägliche Menge Milch, Pfefferpasteten, Roastbeef und Filet amércain (unter Protest vom Aupairmädchen eingekauft), Käse, Eiersalat, Brötchen für Frühstück und Mittagessen im Hause Stijn & Carmen & Luna & Maud & Frenk & Carmens Mutter & Co. kaum heranschleppen. Der Apotheker in der Cornelis-Schuyt-Straat hat uns im Verdacht, wir wollten selber eine Apotheke eröffnen oder eine Radsportmannschaft betreuen. Praktisch jeden Tag bringt jemand ein neues Rezept für Carmen van Diepen. Sie haben bestimmt Mühe, das ganze Prednison, Kytril, Paracetamol mit Codein, Temazepam, Primperan, Vitamingetränke, Morphium und die Zitronenwattestäbchen, um den Kotzgestank in Carmens Mund etwas erträglicher zu machen, bereitzustellen. Pasteuning fragt lachend, ob wir unaufhörlich Feste feiern, als ich anrufe, sie möchten erneut zwei Kisten
Rosé bringen. Jeden Abend werden mindestens vier Flaschen geleert. Und dabei habe ich den Nachmittag nicht mitgerechnet. Jedes Mal, wenn ich hin unterkomme, sitzen wieder neue Leute im Garten, im Wohnzimmer und in der Küche. Und alle wollen mitessen. ** So ein Sterbebett ist urgemütlich, kostet jedoch ein Vermögen. Jetzt verstehe ich erst, woher die Redensart »sterbensteuer« kommt. »Geld macht nicht glücklich, es kann einem aber verdammt viel Spaß bringen«, sagt Carmen. Sie genießt es, dass unser Haus als großzügiges Gästehaus dient. Alle wollen Carmen noch so viel wie möglich sehen. Niemand will etwas verpassen. Es hat etwas von Veranstaltungen wie Pinkpop, dem Dance Valley, einer Parade, Karneval oder dem Jazzfestival Breda. Ein Rausch. Man fängt fast an zu hoffen, es wäre ein jährlich wiederkehrendes Ereignis, so ein Sterbebett. Das Sterben dauert bereits eine Woche, aber Carmen geht es ganz toll. Besser sogar als anfangs der Woche. Mit Morphium schlägt sie sich nahezu schmerzfrei durch den Tag- »Und was man mit diesen Halluzinationen so zu sehen kriegt«, bemerkt sie. Auch das Erbrechen stört sie nicht mehr. Es ist so alltäglich geworden wie die Nase schnäuzen. »Also werde ich das Mittelchen von der Apotheke noch einige Tage hinausschieben, nicht wahr?«, fragt der Hausarzt. »Ja. Nennen wir es Verlängerung der Spielzeit«, sage ich. »Oder Verlängerung mit sudden death!«, ergänzt Carmen. Bakker sieht uns befremdet an, kommt jedoch auch zum Entschluss, dass Sterbehilfe in diesem Spaßpfuhl †** etwas verfrüht wäre. 41F
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Wrample von Wim Sonneveld aus Die Jungs (Conferences, 1970) Wrample von Henk Elsink, aus Harm auf der Harfe (1961)
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Carmen bittet mich, für die kommenden Tage einen Besucherplan aufzustellen. Neben einer Anzahl Wiederholungsbesuchc von ihrer Mutter und den besten Freundinnen möchte sie auch noch ihre Kollegen von Advertising Brokers, ein paar Freundinnen aus der Schulzeit und die Frauen vom Mufflon sehen. Ich rufe sie alle an und erstelle ein genaues Konzept. Als die Frauen von Advertising Brokers oben sind, höre ich ab und zu lautes Gelächter. Nach anderthalb Stunden gehe ich hinauf und melde, das meet and greet sei zu Ende. Der Star müsse ruhen. Nach einer Stunde stehen die Mufflon-Frauen (zumindest die, die noch am Leben sind) vor der Tür, und am Nachmittag kommt auch noch der Bestatter vorbei.
I never say die and I never take myself too seriously Fun Lovin’ Criminals, aus The Fun Lovin’ Criminals (Come Find Yourself, 1996)
NEUN Der Bestatter hat neben Carmens Bett Platz genommen. Sie wollte gern über ihr Abschiedsfest mitreden, also habe ich im Branchenverzeichnis nachgeschlagen und jemanden kommen lassen. Wir zeigen ihm Layout und Text für die Einladungen. »Schau, schau«, sagt der Mann erstaunt, »ihr habt den Entwurf für die Trauerkarte schon fertig.« »Die Einladungen«, korrigiert Carmen. »Oh, ja ... genau. Die Einladungen.« Wir erklären ihm, nach unserem Willen solle Carmen zu Hause aufgebahrt werden. Und wir wollten einen Gottesdienst in der Obrechtkirche, bei uns um die Ecke. Damit Luna und ich, solange wir hier wohnen, jede halbe Stunde durch »Mamas Glocken« an Carmen erinnert werden. Wir machen deutlich, dass wir mit Eltern und Freunden den Gottesdienst selber gestalten wollen. Wir zeigen ihm Carmens CD, die schon monatelang bereitliegt, und sagen ihm, welche Nummern wir in der Kirche hören wollen. Er sagt, er könne abklären, ob in der Kirche eine Lautsprecheranlage zur Verfügung stehe. Ich sage, das sei nicht nötig, wir würden alles selber regeln. Wir teilen mit, dass Carmen auf Zorgvlied beerdigt werden möchte und wir danach im De-Miranda-Pavillon etwas trinken wollen. »Und essen«, sagt Carmen. »Brownies, Lakritze, Honig-
waffeln, Bagels mit Lachs und Creamcheese und HäagenDazs-Eis. Macademia Nut Brittle.« »Das brauchen Sie nicht aufzuschreiben«, sage ich, als ich sehe, wie er zum Stift greift. »Zwei Freunde kümmern sich um das Essen.« Der Mann hat seine Freude an der Art und Weise, wie wir an die Sache herangehen. »Kann ich Ihnen vielleicht noch mit der Wahl eines Sargs behilflich sein, oder haben Sie das auch schon geregelt?«, fragt er amüsiert. »Zeigen Sie mal Ihr Angebot«, sagt Carmen. Wir wählen einen einfachen blanken Holzsarg, weiß ausgepolstert. »Da kommt mein blaues Replay-Kleid am besten zur Geltung«, sagt Carmen. Sie blickt mich an. »Wenigstens, wenn du es hübsch findest, wenn ich das trage.« Ich sage, das Kleid stehe ihr gut. Das Wort »hübsch« bringe ich nicht über die Lippen. »Und das Auto?«, fragt der Bestatter. »Weiß. Nicht zu protzig.« »Geht in Ordnung.« »Nun ... auf Wiedersehen kann ich nicht sagen, oder?«, meint Carmen. Der Mann lacht dämlich und geht. »Wäre humorvoll gewesen, wenn er mir einen guten Rutsch gewünscht hätte«, bemerkt Carmen, als er zur Tür hinaus ist. Abends essen wir wieder alle an Carmens Bett. Die übliche Pfanne Grünfutter, die unser Aupair uns schon eine ganze Woche aufgetischt hat, hing mir langsam zum Hals heraus. Heute Morgen sagte ich zur Meute bei uns zu Hause, ich würde einen Mord begehen für Frikadellen, für Pommes mit Salatsoße oder ein von Fett triefendes chinesisches Gericht.
Es waren noch mehrere der gleichen Meinung. Also habe ich dem Aupairmädchen heute Abend Ausgang gegeben. Maud und Frenk holen eine herrliche kalorienreiche Mahlzeit beim Asiaten. Es ist Tage her, dass wir Futter bekommen haben, das nicht grün oder gelb ist, und das Babi pangang und Koe loe yuk wird unter lautem Jauchzen im Schlafzimmer verspeist. Die Jubilarin, wie Carmen sich nennt, nimmt mit zwei Löffeln Joghurt vorlieb. Binnen weniger Minuten ist ihr übel. Sie versucht sich zu erbrechen, doch es gelingt nicht. Sie steckt sich den Finger in den Hals, muss heftig würgen, aber es kommt nichts. »Herrgott, warum will das Zeug nicht raus?«, flucht sie. Plötzlich kommt alles, inklusive der wenigen Löffel Fruit ’ n Fibre von heute Morgen. Wie in einem Joop-KlepzeikerCartoon. Während Carmen sich übergibt, küsse ich sie auf den Kopf Ich reiche ihr Taschentücher. Alle sind still. Nach einem letzten Strahl tönt ihre Stimme aus dem Eimer: »Jesus, wieso ist es hier so ruhig? Ist jemand gestorben?« Einen Moment lang bleibt es still. Dann prusten alle vor Lachen.
Though nothing / will keep us together / we could steal time / just for one day / I / I will be king / and you / you will be queen / we can be heroes / just for one day David Bowie, aus Heroes (Heroes, 1977)
ZEHN »Übers Kleid ziehe ich dann die neue Diesel-Jacke an«, sagt Carmen, als sie am Morgen aufwacht. »Ich bin mir nur noch nicht sicher, welche Schuhe ich dazu trage. Wahrscheinlich die Pumas.« Ich habe keine Ahnung, welche sie meint. Sie kam in den letzten Monaten jede Woche mit neuen Schuhen, Stiefeln oder Kleidern heim. »Und du? Du wirst doch auch etwas Neues kaufen?« »Ja. Ich weiß noch nicht genau. Ich hab neulich irgendwo einen sandfarbenen Anzug gesehen, den könnte ich auch zur Arbeit tragen. Oder einen glänzenden, weißen Joop!-Anzug, den ich in der PC Hoofstraat gesehen habe. Aber den kann ich nur zu Partys tragen.« »Nimm doch den«, sagt Carmen begeistert, »mir war es lieber, wenn du mich später mit Partys statt mit Arbeit assoziierst.« Ich lache gerührt und umarme sie. Sie riecht schlecht. Carmen hat schon seit einer Woche nicht mehr gebadet. »Ich werde dich verwöhnen. Du gehst in die Badewanne.« »Stijn, nein, das klappt nie.« »Vertrau mir«, sage ich und gehe ins Badezimmer. Ich lasse ein Bad einlaufen und schütte ein wenig von ihrem
Lieblingsbadeöl hinein. Ich nehme das weichste Handtuch, das ich finde, und lege zwei Waschlappen, einen Slip und einen sauberen Schlafanzug bereit. Um ihren spindeldürren Po zu schonen, lege ich unten in die Wanne drei gefaltete Handtücher. Danach gehe ich ins Schlafzimmer zurück. »Jetzt kurz den Po hoch.« Ich ziehe ihr die Pyjamahose aus und erschrecke. Sie ist in den letzten Tagen schon wieder magerer geworden. Die Pobacken sind verschwunden, und auch das typische V über der Gesäßfalte, das ich immer so geil fand, ist weg. Ich helfe ihr, sich aufzusetzen. Ich ziehe ihr die Pyjamajacke aus und erschrecke wieder. Die Rippen kann man mit bloßem Auge zählen. Die verbliebene Brust ist ein ausgelaufener Cup D. Sie zittert vor Kälte. Ich hülle sie rasch in einen Bademantel. Dann setze ich sie in den Rollstuhl und fahre sie ins Badezimmer. Ich stelle den Rollstuhl parallel zur Wanne. Sie hat Angst. »Immer mit der Ruhe. Ich lasse dich bestimmt nicht fallen.« Ich ziehe meine Jeans und Socken aus, setze einen Fuß in die Wanne und den andern daneben. Als ich festen Stand habe, hebe ich sie hoch und sage, sie solle nur ein Bein in die Wanne stellen und brauche sich nicht darauf zu stützen. Danach das andere Bein. Ich gehe in die Knie und weise Carmen an, dasselbe zu tun. Kurz darauf liegt sie im warmen Wasser. Vor Wonne kommen ihr die Tränen. Mit dem Waschlappen seife ich Carmen ein. »Oooh ... herrlich ...«, sagt sie, die Augen geschlossen. Todmüde, zutiefst zufrieden. Ich lasse den Waschlappen über ihren mageren Körper gleiten. Von den Füßen gehe ich zu den Beinen, über das Gesäß zum Bauch. Ich wasche die eine geschrumpfte Brust und gehe dann, tief atmend, nach rechts. Danach berühre ich zum ersten Mal jene Stelle, wo
vorher ihre Brust war. Mein Waschlappen berührt sie, als sei es irgendeine Stelle. Sie öffnet die Augen und sagt leise: »Komm mal ...« Ich beuge den Kopf zu ihr. Sie küsst mich auf den Mund. »Ich liebe dich«, flüstert sie. Als ich fertig bin, reibe ich sie trocken und verrichte das gleiche Prozedere in umgekehrter Reihenfolge. Im Schlafzimmer ziehe ich ihr den sauberen Pyjama an. Innerhalb von zwei Minuten schläft sie. Auf dem Klo tippe ich eine SMS.
Sie ruft sofort zurück. Ich erzähle, was ich gerade getan habe, und breche in Tränen aus. Roos tröstet mich und sagt, diese Wochen würden sich im Nachhinein als Geschenk für mein ganzes Leben erweisen. Und Frenk habe sie heute Nachmittag angerufen und ausführlich Bericht erstattet, wie es hier so gehe. Roos sagt, sie sei stolz auf mich. Als ich aufgelegt habe, gehe ich ins Schlafzimmer und küsse meine schlafende Carmen sanft auf die Stirn. Mit einem glückseligen Lächeln schlafe ich ein.
Baby, is there no chance / I can take you for a dance The Troggs. aus With A Girl Like You (With A Girl Like You, 1968)
ELF »Stijn?« »Ja?«, sage ich schläfrig. Das Licht brennt, bemerke ich. Ich schaue auf die Uhr. Es ist Viertel nach eins. Alle im Hause schlafen. »Ich habe Hunger ...« »Worauf hast du Lust?« »Auf... tja ... Pfannkuchen ...« »Na dann; ich komme gleich.« Kurz danach essen wir mitten in der Nacht Pfannkuchen im Bett. »Ich glaube, ich werde doch die Gucci-Turnschuhe statt der Pumas anziehen.« »Wie?« »Im Sarg. Zu meinem blauen Kleid.« Es dauert einen Moment, bis ich realisiere, was sie sagt. Dann breche ich in Gelächter aus. Ich kann nicht mehr aufhören. Auch Carmen bekommt einen Lachkrampf. »Hör auf, hör auf, ich mache mir in die Hose ...«, sagt sie und erstickt fast vor Lachen. Ihr Schließmuskel funktioniert nicht mehr gut. »Soll ich Musik auflegen?«, frage ich, als ich fertig gelacht habe. »Deine eigene CD? Kannst du das verkraften?« Sie nickt. Wir singen die Songs mit und essen zwischendurch Pfannkuchen. Nummer sechs ist der Eröffnungstanz unserer Hochzeit. »Wollen wir tanzen?«, frage ich.
»Du Kasper!« Ich hebe sie hoch. Ihre Füße berühren gerade noch den Boden. Sie hängt in meinen Armen, ich drehe sie langsam wiegend im Kreis. Wir tanzen langsamer als an unserem Hochzeitstag, aber wir tanzen. Ich in Unterhosen, Carmen in ihrem seidenen Pyjama. Ich singe den Text leise in ihr Ohr. I want to spend my life with a girl like you ... And do all the things that you want me to... I tell by the way you dress that you’re so real fine ... And by the way you talk that you’re just my kind... Till that time has come and we might live as one ... Can I dance with you ... ** Als das Lied zu Ende ist, gebe ich ihr einen Zungenkuss. Es ist intimer als Sex. Eine halbe Stunde später wache ich auf. Die Pfannkuchen kommen heraus. »Es geht mir aber gut«, sagt sie aus dem Eimer. »Sie waren wirklich lecker.« Sie nimmt ein Taschentuch und wischt den Mund ab. »So. Ich schlaf weiter. Schlaf du auch gut.« 43F
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aus With A Girl Like You von The Troggs (1968)
Gute Nacht Freunde / es ist Zeit für mich zu gehn / was ich noch zu sagen hätte / dauert eine Zigarette / und ein letztes Glas im Stehn Reinhard Mey, aus Gute Nacht Freunde (Mein Achtel Lorbeerblatt, 1972)
ZWÖLF Der achte und der neunte Tag gehen vorbei, seit Carmen aufgegeben wurde. Ab und zu weint sie. Wenn die Rückenschmerzen ihr zu viel werden. Als sie husten muss und bemerkt, dass sie ein bisschen Urin verliert. Als sie wieder Sachen vergisst wegen des Morphiums, von dem sie immer mehr braucht, um mehr oder weniger schmerzfrei zu bleiben. Den größten Teil des Tages ist sie so dumpf wie ein italienischer Coffeeshop-Tourist. Auch um Luna weint sie. Luna, die sie nur drei Jahre hat lieben und genießen dürfen. »Wenn sie doch nur ein unmögliches Kind wäre«, lacht sie durch die Tränen, als sie auf dem Bett, Luna an sich gedrückt, ein Sesamstraße-Video angeschaut hat. Abends im Bett, wenn der Rest der Gesellschaft unten Rosé trinkt, weinen wir manchmal zusammen. Wenn wir Erinnerungen an unsere Ferien auffrischen, an unsere Freunde, an die schönen gemeinsamen Erlebnisse. Aber öfter lachen wir. Jeden Morgen fragt Carmen aufgeregt nach dem Tagesprogramm. Wer alles kommt. Mittlerweile hat sie jeden gesehen, den sie sehen wollte. Ich habe sie gezählt, in neun Tagen sind sechsunddreißig Leute an ihrem Bett gewesen. Manche kamen einmal, andere konnten sich nicht von ihr trennen.
Freundinnen und Freunde kommen manchmal in Tränen aufgelöst herunter. »Sie findet es so schlimm, dass wir solchen Kummer haben«, schluchzt Anne, als sie eine Stunde bei Carmen war. Ich schaue rasch nach, ob Carmen auch so traurig ist. Als ich ins Schlafzimmer komme, sitzt sie auf dem Bettrand und raucht. Sie baumelt mit den dünnen Beinen; die Hand zittert derart, dass sie die Zigarette kaum zum Mund führen kann. Sie grinst über das ganze Gesicht. In ihren letzten Tagen ist sie mental die Stärkste von uns allen. Die Tage verlaufen nach dem gleichen Muster. Wir nehmen Mittag- und Abendessen alle oben ein, Carmen kotzt fröhlich weiter, das Aupair führt seufzend und stöhnend den Haushalt, Maud, Frenk und Carmens Mutter empfangen die Gäste und spielen mit Luna, und ich helfe Carmen einige Male pro Tag auf den Nachtstuhl und leere Fäkalien- und Kotzeimer ins Klo. Ihre Leber hat es jetzt auffallend satt: ihr Stuhl ist grau, der Urin dunkelbraun. Carmens Augen sind so gelb wie Post-its. Die Augen liegen tief in den Höhlen. Ich habe heute die Fotos geholt, die ich von Carmen mit allen, die diese Woche auf Besuch waren, geknipst habe. Ich glaube, niemand wird sie haben wollen. Auf nahezu allen Fotos, besonders auf denen der letzten zwei Tage, sieht Carmen schrecklich aus. Als wiege sie weniger als vierzig Kilo. Und ich glaube, das stimmt auch. Als ich zum sovielten Mal den Kotzeimer in die Toilette leere, höre ich, wie sie ruft. »Stijn! Bitte, schnell ... ich muss plötzlich furchtbar pinkeln ...« Die Tena Lady, die ich gestern für sie gekauft habe, schützen schon bei Husten- und Lach-Urin, aber nicht bei einem veritablen Bach. Ich haste zu ihr. »Bleib liegen, ich schiebe dir den Topf unter.«
»Nein ... ich kann es nicht mehr zurückhalten«, ruft sie in Panik. »Oh ... es kommt schon fast, Stijn ...« Ich greife rasch ein paar Handtücher, ziehe Carmens Pyjama herunter, schiebe ein zusammengefaltetes Handtuch unter ihren Po und drücke ein zweites an die Vagina. Sie nässt das ganze Zeug ein. Hier knie ich jetzt. Ein Handtuch an ihre Scheide gedrückt. Ihre Scheide, auf die ich immer so scharf war. Ihre Scheide, die ich Hunderte Male geleckt habe. In die ich meinen Schwanz gesteckt habe, die Finger, die Zunge, alles, was wir uns zusammen ausdenken konnten. Ihre Scheide, in die ich die erste Woche, die wir zusammen waren, immer wieder und wieder gekommen bin. Ihre Scheide, die sie mit zwei Händen für mich offen hielt, um mich noch geiler zu machen, als ich schon war. Ihre Scheide, die sie mich lauthals ermutigte, noch heftiger zu ficken. Diese Scheide tupfe ich jetzt mit einem großen Handtuch trocken, weil mein lieber Schatz den Urin nicht mehr zurückhalten kann. Carmen weint vor Scham. »Es macht nichts, Liebling ...«, flüstere ich. Ich nehme sie in die Arme und küsse sie überall. Mein Häufchen fantastischer Mensch. Als ich sie gewaschen habe, lege ich mich neben sie und streichle ihr Gesicht. Sie ist traurig. »Das kannst du doch auch nicht durchhalten, Stijn? Ich habe Angst, dass ich noch wochenlang so liegen muss und es immer schlechter geht«, schluchzt sie. »Ich weiß nicht, ob ich so noch weiter will...« Ein leichter Schock durchzuckt mich. Ich überlege mir, wie ich es sagen soll. »Liebste, ich konnte immer über alles mit dir nachdenken, doch das hier muss ganz deine eigene Entscheidung sein. Ich bin glücklich, dass ich für dich sorgen darf, und möchte es auch noch mehrere Wochen tun. Aber wenn du nicht mehr willst, verstehe ich es auch. Was immer du entscheidest, ich akzeptiere es.«
Sie nickt. »Zum Glück. Ich habe jetzt alle gesehen, die ich sehen wollte, und getan, was ich tun wollte. Ich habe alles gesagt, was ich sagen wollte. Ich will Schluss machen. Morgen.« »Bist du sicher?« »Ja.« »Dann werde ich jetzt den Arzt anrufen.«
I’‘ve lived a life that’s full / I travelled each and every highway Frank Sinatra, aus My Way (My Way, 1969)
DREIZEHN Langsam geht der Hausarzt vor mir die Treppe hinauf. Er reibt sich demonstrativ den Rücken. Ich denke nicht daran, etwas zu fragen. Das Seufzen unseres Aupairmädchens dulde ich, weil man mit Frenk, Maud und Carmens Mutter so herrlich darüber palavern und lästern kann, doch ein Arzt soll nicht jammern. Und schon gar nicht, wenn meine Frau mit Morphium voll gepumpt ist und morgen sterben wird. »Wie geht’s Ihrem Rücken?«, fragt Carmen, als er ins Schlafzimmer kommt. Bevor er antworten kann, blicke ich ihn mürrisch an. »Oh, es geht, danke. Aber mit dir geht es jetzt bergab, oder?«, fragt er Carmen hastig. »Ja, ich habe wieder mehr Schmerzen als gestern, und oft habe ich komplette Gedächtnislücken. Ich will nicht mehr. Morgen möchte ich aufhören«, sagt sie bestimmt. Bakker mustert sie eingehend. »Gut. Ich sage dir, wie es abläuft. Morgen bringe ich eine Flüssigkeit. Die musst du trinken. Danach bist du in einer halben Minute weg. Du spürst nichts.« »Klingt gut«, sagt Carmen. Der Hausarzt lacht. »Möchtest du, dass jemand anwesend ist, wenn es geschieht?« »Nur Stijn«, sagt Carmen ohne zu zögern. Ich strahle vor Stolz, als habe sie mich gerade eingeladen,
im VIP-Bereich dem Champions-League-Finale beizuwohnen. »Nun«, schließt der Hausarzt, »dann werde ich morgen früh nochmal anrufen, ob du bei deiner Entscheidung bleibst, und dann siehst du mich gegen Ende des Tages.« Ich sehe dem Augenblick, da morgen Abend die Türglocke läutet, jetzt schon mit Angst und Bangen entgegen. Als stehe der Henker vor der Tür. Unten verkünde ich, dass Carmen sich zur Sterbehilfe entschlossen hat. Morgen solle es geschehen. Alle sind erleichtert. Jetzt ist es gewiss. Frenk, Maud und Carmens Mutter beschäftigen sich mit dem Zimmer, in dem Carmen aufgebahrt werden soll. Anne nimmt Luna mit in die Stadt; sie will Sonnenblumen-Haarclips für Luna suchen. Ich setze mich mit dem Laptop in den Garten und versuche, mit Carmens Brief an Luna als Thema die schönste Rede, zu der ich fähig bin, aufzusetzen. Am späten Nachmittag gehe ich zum Schlafzimmer. »Ich hab meine Ansprache fertig ...« »Darf ich sie hören?«, fragt sie mit glänzenden Augen. »Ja.« Ich beginne zu lesen. Sie hört zu, mit geschlossenen Augen. ... Du wolltest Menschen etwas mitgeben, schreibst du an Luna. Nämlich, dass sie genießen sollen. Jeden Tag, deine Beerdigung, den Rest ihres Lebens, die Liebe, die Freundschaft, schöne Kleider, kleine Dinge, dekadente Dinge genießen. Genießen ist eine Lebenskunst. Du warst Lebenskünstlerin von Beruf. »Und danach lese ich den Text vor, den du an Luna geschrieben hast.« Ich blicke Carmen an. Sie wischt die Tränen weg. »Du bist mein Held ...«, flüstert sie.
When you’re chewing on life’s gristle / don’t grumble give a whistle / life’s a laugh and death’s a joke, it’s true. Monty Python, aus Always Look At The Bright Side of Life (Das Leben des Brian, 1979)
VIERZEHN Diese Nacht liege ich lange wach. Wegen dem, was ich niemandem zu erzählen wage. Ich scheue mich, zum ersten Mal in meinem Leben den Tod live mitzumachen. Ich habe schon tote Menschen gesehen. Zwei, die in einem Sarg lagen, und einmal jemanden auf der Straße, aber der lag zum Glück unter einem Auto, sodass ich ihn nicht gut sehen konnte. Das zählt eigentlich nicht. Diese zwei in den Sargen waren eine Tante von mir – vor der ich kaum erschrocken bin, weil sie sonst schon schrecklich anzusehen war – und meine Oma, die ich nicht ausstehen konnte. Aber dennoch machten mich diese Leichen, zu denen ich kaum eine Bindung empfand, auch nicht gerade fröhlich. Nein, ich bin kein Fan des Todes. Und jemanden live sterben zu sehen, scheint mir überhaupt keine Party. Nun finde ich diese Angst von mir ziemlich peinlich. Carmen hat keine Angst, und sie wird den Tod notabene erfahren. Ich werde ihn nur sehen. Doch es ist nicht einfach irgendein Tod. Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich jemanden sterben sehen, und dann ist es gleich meine Frau. Ich meine, beim Fußball übt man am Saisonanfang doch auch zuerst gegen Klokkentorense Boys oder so etwas. Warum kann ich mich nicht zuerst an den Anblick des Todes gewöhnen, indem ich jemanden, der mich nicht interessiert,
abkratzen sehe? Einfach einen Passanten auf der Straße oder jemanden auf der Tribüne bei Ajax, der einen Herzinfarkt hat? Warum muss es gleich Carmen sein, die ich morgen sterben sehe? Noch etwas anderes: Muss ich jetzt morgen das Beerdigungsinstitut anrufen und sagen, wir beabsichtigen tatsächlich von der Möglichkeit der Leichenbetreuung Gebrauch zu machen, am liebsten – aber dann ganz schnell – nach Carmens Tod, so zirka um sieben Uhr? Plus/minus eine Stunde, ist das möglich, oder ist das schwierig zu planen? Muss man so was im Voraus buchen? Nicht, dass ich ihn dann anrufe und hören muss, ich hätte natürlich vorher Bescheid geben sollen, jetzt seien sechs Tote vor uns, und wir seien frühestens Ende der Woche an der Reihe. Und danach? Soll ich mich zwei Stunden, nachdem Carmen in unserem Bett gestorben und gewaschen ist, in aller Seelenruhe ins gleiche Bett legen? Oder darf ich nicht sagen, dass ich das ein bisschen unheimlich finde? Tja, das erwähnen sie alles nicht auf der Sterbehilfe-Site.
And I know it aches / and your heart it breaks / and you can only take so much / walk on, walk on U2.aus Walk On (All That You Can’t Leave Behind, 2000)
FÜNFZEHN Carmen weckt mich. Es ist früher Morgen, halb sieben. Sie weint. Ich nehme sie in die Arme und drücke sie fest an mich. »Dies ist mein letzter Tag ...« »Möchtest du doch lieber weitermachen?« »Nein ... aber trotzdem ... es ist seltsam ... Kannst du noch etwas für mich tun?« »Was?« »jeden, der heute kommt, am Schluss wegschicken. Ich finde es selber so schwer ... aber ich möchte nicht, dass mir die Zeit fehlt für Luna und dich ...« Carmen hat gestern selber bestimmt, wie viel Zeit sie für jeden möchte, wer zusammen kommen soll und wer einzeln. Wie ein Rockstar mit Interviews umgeht. »Und rufst du den Arzt nochmal an? Sag ihm, es findet statt.«
Die Ersten, die hinaufgehen, sind Thomas und Anne. Sie bleiben eine gute Stunde bei Carmen. Dann kommen sie
herunter. Anne lässt sich nichts anmerken. Thomas bittet mich kurz mitzukommen. Wir stehen in der Küche. Seine Augen sind rot. »Ich vermisse sie verdammt jetzt schon.« Er legt einen Arm um mich, nimmt meinen Kopf in seine Hände und küsst mich auf die Stirn. Zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, küsst der Bär aus Maarssen mich. »Stijn, ich ... ich gebe zu, ich war im vergangenen Jahr nicht immer ein guter Freund. Ich bin kein großer Redner. Und ... vielleicht habe ich mich manchmal... ein bisschen in dir getäuscht ... Carmen hat mir von dieser, wie heißt sie, Toos von der Mufflon-Gruppe erzählt. Dass sie und ihr Mann geschieden sind. Und von den Chemotherapien, wo ihr immer die Einzigen wart, die zusammen hingegangen sind. Und wie du sie durch diese ganzen Jahre hindurchgeschleppt hat. Und wie glücklich du sie die letzten Wochen gemacht hast. Ich ... ich bin stolz auf dich, Mann.« Er umarmt mich so fest, dass ich fürchte, ich werde mir die gleiche Verletzung zuziehen wie unser Hausarzt, finde jedoch den Moment zu schön, um darüber zu meckern. Wir weinen. Beide. Und brechen dann in Lachen aus. »Jetzt reicht es, blöde Schwuchtel ...«, flenne ich lachend. »Ja. Blödmann.« »Scheißkerl.« »Trottel.« Mit den Armen um die Schultern gehen wir in den Garten. Maud schaut uns an, als wäre sie Zeuge, wie Louis von Gaal und Johan Cruyff ein Duett singen. Frenk hat ein glückliches Lächeln auf dem Gesicht, als er herunterkommt. »Sie war bewundernswert. Wir haben noch sehr gelacht.« Maud kommt schluchzend zurück. »Es war wunderbar. Sie schien fast erleichtert.«
Die meisten kommen nicht von sich aus herunter; ich muss sie mit sanfter Gewalt zwingen, der Sitzung ein Ende zu machen. Carmen genießt die lieben Worte, die man auf sie abfeuert, und die schönen Gespräche königlich. Schon bald sind wir anderthalb Stunden hinter dem Zeitplan. Ich bringe es nicht übers Herz, wie ein Polizist Leute aus dem Zimmer zu schicken, wenn sie dazu noch nicht bereit sind. Aber es gefällt mir auch nicht, wenn ich bald der Abschlussposten von Carmens Lebenszeit bin und dann nicht genügend Zeit mit ihr habe. »Ist es recht, wenn ich den Arzt anrufe und sage, dass es etwas später wird?«, frage ich. »Ja, okay. Es ist so nett. Es eilt doch nicht?« Ich rufe den Arzt an und bitte ihn, um halb acht statt um halb sechs Uhr zu kommen. »Sie findet es zu gemütlich.« Carmens Mutter kommt als Letzte vor Luna und mir. Sie ist innerhalb einer Viertelstunde zurück. Ich stehe bereit, sie aufzufangen, doch sie ist gefasst und sieht glücklich aus. »Wir hatten uns alles schon gesagt«, meint sie. »Sie sagte nur noch ›auf Wiedersehen am Freitag bei meiner Beerdigung‹.«
Never forget who you are / little star / never forget where you come from / from love Madonna, aus Little Star (Ray of Light, 1998)
SECHZEHN Heute Morgen war Luna einen halben Tag in der Kinderkrippe, Ich wollte sie nicht den ganzen Tag mit weinenden Menschen konfrontieren. Auf dem Hinweg habe ich ihr erklärt, die Ärzte könnten Mama jetzt nicht mehr gesund machen. Luna reagierte nüchtern mit »Oh«. Ich sagte ihr, sie werde Mama heute Nachmittag zum letzten Mal sehen. Dann werde sie sterben. »Wie das Vögelchen?«, wollte sie wissen. »Ja«, schluckte ich, »wie das Vögelchen.« »Und wie Elvis und Beavis?« »Ja«, lachte ich, »wie Elvis und Beavis.« »Aber Mama geht nicht in die Toilette. Nicht in den Fischhimmel.« »Mama geht in den Menschenhimmel. Dort wird sie das liebste Engelchen, das es gibt.« Ich habe sie gerade geholt. Die Erzieherinnen, die ich in den letzten Wochen über die Entwicklungen an der Front auf dem Lautenden gehalten habe, sagten, Luna habe den andern Kindern ganz stolz erzählt, ihre Mama werde heute Abend sterben und dann ein Engel werden. Dadurch wurde Luna auf einmal zum beliebtesten Knirps der Gruppe. Als ich mit Luna ins Schlafzimmer gehe, schlägt es mir auf den Magen. Carmen bricht gleich in Tränen aus, als sie uns sieht.
»Kannst du es erklären?«, bittet sie mit zitternder Stimme. Ich nicke. »Luna, kommst du zu mir auf den Schoß?«, schlage ich vor. Wir setzen uns nahe an Carmens Bett. Luna ist ganz ruhig. Intensiv studiert sie ihre Mama. Sie wendet den Blick nicht ab, sondern sieht Carmen unverwandt an. Ich fange an. »Ich habe erzählt, dass Mama sehr krank ist und heute stirbt, oder?« Luna nickt. »Bald kommt der Arzt, und er bringt eine Flüssigkeit mit. Mama darf sie trinken, und dann wird sie einschlafen. Aber es ist kein richtiger Schlaf, denn sie wird nicht mehr aufwachen. Dann hat sie keine Schmerzen mehr und ist nicht mehr krank.« »Muss sie sich dann nicht mehr übergeben?« »Nein. Dann ...« – ich muss kurz aufhören, denn ich sehe, wie Carmen die Tränen über die Wangen laufen –»... dann muss sie sich nicht mehr übergeben.« Inzwischen nimmt Carmen Lunas Händchen und streichelt es. »Und dann stirbt sie. Ganz ruhig.« »Und muss Mama dann in einen Sarg?« »Ja. Dann geht Mama in einen Sarg.« »Wie Schneewittchen?« »Ja. Aber noch schöner ...«, sage ich mit feuchten Wangen. Luna blickt zu mir und küsst mich auf die Backe. Ich fahre fort. »Und den Sarg stellen wir dann unten ins Wohnzimmer, mit einem Glasdeckel darauf. Wir ziehen Mama ihr schönstes Kleid an.«
»Welches Kleid?«, fragt Luna gespannt. »Das blaue«, sagt Carmen, »Warte, ich zeig es«, sage ich. Ich hole das Replay-Kleid, das schon tagelang am Schrank hinter ihrem Bett hängt. »Schön, oder?«, frage ich. Luna nickt. »Und dann können wir noch ein paar Tage nach Mama schauen, so viel wir wollen, aber sie sagt nichts mehr.« Luna nickt wieder. Sie findet es ziemlich logisch, scheint’s. »Wenn Mama dann einige Tage im Wohnzimmer gelegen hat, gehen wir zur Kirche und singen Lieder und erzählen schöne Geschichten über Mama. Und dann werden wir Mama beerdigen. Wie das Vögelchen, weißt du noch?« Ich sehe, dass sie ein bisschen enttäuscht ist. »Aber Mama soll doch in den Himmel gehen?« Carmen lacht. »Ja. Aber das ist schwierig zu erklären. Das verstehen Erwachsene auch nicht ganz genau«, sage ich. »Ich denke, Mamas Körper ist dann beerdigt, sie wird aber im Himmel einen neuen bekommen.« »Von einem Engel?«, ruft Luna begeistert. »Ja ...«, sage ich und beiße mir auf die Lippen. »Ich finde es aber schade, dass Mama stirbt.« »Ich auch, Schätzchen«, flüstert Carmen. »Ich auch.« »Kann ich dich dann nicht mehr sehen?« »Nein. Wenn du später, wenn du ganz alt bist, auch stirbst und auch ein Engel wirst, dann sehen wir uns, glaube ich, schon wieder«, sagt Carmen. »Oh ...« »Darum haben Mama und ich eine Menge Sachen von Mama in die Truhe dort gepackt. Die kannst du später, wenn du etwas größer bist, lesen und anschauen.«
»Und Papa wird immer alles über mich erzählen können. Und eine neue Mama demnächst auch«, sagt Carmen. Stille. »Was meinst du?«, frage ich Carmen, weil ich nicht weiß, wie ich sonst fragen soll, ob sie so weit sei, Abschied von ihrem Töchterchen zu nehmen. »Es muss«, weint Carmen. Sie streckt die Arme aus. Ich stelle Luna auf den Boden. Sie steht jetzt neben Carmens Bett. »Ich hab dich lieb, Schätzchen«, sagt Carmen. »Ich hab dich lieb«, sagt Luna betreten. Und dann küsst sie Carmen. Über das ganze Gesicht. Überall. So wie sie es noch nie getan hat. Luna küsst Carmens Wange, ihre Augen, die Stirn, die andere Wange, den Mund. Luna wischt eine Träne von Carmens Wange. Es tut mir im Herzen weh, ich würde alles geben, wenn ich hier etwas ändern könnte, ich würde ... ich würde ... Ich kann nichts machen. Außer neben Carmen und Luna hinknien und zum allerletzten Mal eine Kuschelgruppe bilden. »Ciao, mein kleines Schätzchen«, sagt sie nochmal, furchtbar traurig. Luna sagt nichts. Sie winkt Carmen zu, eine Hand in der meinen. Und wirft Carmen Kusshände zu. Carmen hält die Hand vor den Mund und weint. Luna und ich gehen zum Schlafzimmer hinaus. Carmen wird Luna nie mehr sehen. Gott, lasse es einen Himmel geben, wo wir einander wieder sehen werden. Bitte. Bitte. Bitte, Gott.
Geh nur / ich bleibe noch ein wenig hier / aber ich will dir noch danken / für was du getan hast / der Abschied kommt immer zu früh Trockener Kecks, aus Ein Tag so schön (Andere Orte, andere Zeiten, 1992)
SIEBZEHN Wir haben einander alles gesagt. Trotzdem haben wir jetzt noch anderthalb Stunden zusammen, bis der Arzt kommt. Wie wenn man in den Ferien ist und dann die letzte Stunde auf den Flughafenbus warten muss. Es soll ein Abschied in Carmens Stil werden. Ich nehme die Videokamera, schalte sie ein und filme den Text, den Maud und Frenk heute Morgen an die Wohnzimmerwand gemalt haben. Ich ziehe Jeans und T-Shirt aus und das blaue Hend an, das ich heute früh bereitgelegt habe. Die gleiche Farbe wie Carmens Kleid. Dann hole ich den perlweißen Anzug aus der Tragetasche von Oger und ziehe ihn an. Im Schlafzimmer stelle ich mich vors Bett und breite die Arme aus. »Guck. Shopping is healthy«, sage ich. Ihre Augen glänzen. »Du hast ihn gekauft!« »Für dich. Und?« »Wie schön ...« Sie ist gerührt. Sie lacht und weint gleichzeitig. Mit einer Geste bedeutet sie mir, ich solle mich umdrehen. »Er ist prächtig ... und steht dir großartig. Wirst du immer an mich denken, wenn du ihn trägst?« »Immer. Bei jedem Fest, wo ich hingehe.« »Dann bin ich sicher, dass du oft an mich denken wirst«, lacht sie.
Ich lege mich neben sie und umarme sie, so gut es geht. Minutenlang sagen wir nichts. »Ich bin gespannt auf die andere Seite«, sagt Carmen plötzlich. Sie sagt es, als sei sie im Begriff, einen Film anzuschauen, von dem sie viel gehört hat. »Ich bin froh, dass es so weit ist. Und wie sehr ich Luna und dich auch vermissen werde, bin ich doch froh, dass ich nicht in deiner Haut stecke. Allein mit Luna, ohne dich ... ich würde die Kraft nicht aufbringen. Ich möchte nicht mit dir tauschen ...« »Ich nicht mit dir . ..« »Wie gut wir’s doch haben, oder?«, lacht sie. Wir plaudern, wie so oft diese letzten Wochen, über Uns. Warum wir uns verliebt haben, was wir aneinander schätzen, was wir voneinander gelernt haben, was wir alles zusammen mitgemacht haben. Wir sind froh, dass wir ein Paar gewesen sind. Fuck alle Streitereien, fuck alle Probleme, fuck den Krebs, fuck den Abend des Autounfalls, fuck Pim, fuck Sharon und fuck alle Frauen, die ich gevögelt habe, außer Roos. Und Maud. »Wollen wir die Eheringe ablegen?«, frage ich vorsichtig. »Ja ...« Wir halten uns die Hand und wiederholen das Ritual unseres Hochzeitstags in entgegengesetzter Richtung. Ich lege die Ringe in ein silbernes Schmuckkästchen und packe es in die Truhe mit den Andenken für Luna. Carmen schaut auf den Ring, den ich am andern Ringfinger trage. »Darf ich ihn dir nochmal anstecken?«, fragt sie verlegen. Ich ziehe den Ring, den ich vor einem halben Jahr von ihr bekommen habe, vom Finger und gebe ihn Carmen. Sie versucht den Text, den sie hat hineingravieren lassen, zu lesen. Es gelingt ihr nicht. »Für meine große Liebe, xxx Carmen«, lese ich vor.
»Oh ja ...«, sagt sie, während sie zufrieden den Ring betrachtet. Sie versucht ihn mir an den Finger zu stecken; ihr fehlt die Kraft. Wir tun es zusammen. »Wirst du ihn weiterhin tragen?« »Immer.« »Gut«, sagt sie leise. Stille. »Ich habe noch etwas, um dich aufzuheitern«, sage ich. Ich nehme die Videokamera. Während der letzten Tage habe ich das ganze Haus aufgenommen. Das Haus, das wir zusammen gekauft haben und von dem Carmen in den letzten elf Tagen, außer einer Viertelstunde in der Badewanne, nur das Schlafzimmer gesehen hat. Meine Stimme auf dem Band gibt den Kommentar. »Tag, Carmen. Es ist schon einige Zeit her, also falls du ihn nicht mehr erkennst: Das ist unser Garten. Hier siehst du den neuen Sonnenschirm, unter dem auch heute Frenk, Maud und deine Mutter sich ab elf Uhr morgens voll laufen lassen, während ihre beste Freundin und Tochter sich oben im Bett im Tbdkranksein übt. – Gelächter – Könnt ihr vielleicht noch die Höflichkeit aufbringen, einen Trinkspruch auf Carmen auszubringen? – sie stoßen an, johlend – Du siehst auch, dass Maud ihr Glas kaum noch halten kann und dass deine Mutter vor lauter Alkohol kaum noch imstande ist zu sprechen – Getöse – ...« – Carmen lacht – »Jetzt gehen wir in die Diele, und siehe da: Der von Alleskönner Rick aufgehängte Kronleuchter, den du schon vor Wochen gekauft hast, aber den anzubringen er immer zu
faul war. Wir sehen – ich gehe die Treppe hinauf –, dass die schönen Fotos, die wir in Irland gekauft haben, endlich an der Stelle hängen, wo du sie nicht so passend fandest, aber ich schon – ich dachte, ich könnte es ausnützen, dass du nicht mehr aus dem Bett kommst.« – Carmen lacht laut auf – »... und jetzt sind wir im Wohnzimmer. Dort essen Anne und Thomas eine Krokette, oh, Berichtigung, Thomas hat zwei, sehe ich, vermutlich als Ergänzung zum gerade eingenommenen trockenen vegetarischen Imbiss, den unser Aupair uns aufgetischt hat. – »Tag, Carmen!!!«, brüllen sie mit vollem Mund in die Kamera – Wir sehen deutlich, das Viertel verlottert, seit unsere Freunde regelmäßig erscheinen; mit geschlossenem Mund zu essen ist in Maarssen noch immer nicht üblich. Dann haben wir hier noch das Nacktfoto, das ich von dir zum Geburtstag bekommen habe, von dem sogar Frenk geil zu werden droht.« – Carmen lacht kopfschüttelnd – »... Und dann, zum Schluss – die Kamera schwenkt zum andern Teil des L-förmigen Zimmers, wir sehen eine ausgeräumte Ecke, am Rand überall Blumenvasen, die Hälfte davon noch leer – siehst du hier den Ehreplatz, wo ... – die Stimme auf dem. Videoband stockt und wird leise – du demnächst liegen wirst ...« – Carmen schluckt und nimmt meine Hand, ich frage, ob ich das Band abstellen soll, sie verneint – »... hier sehen wir ein Foto von dir, mir und Luna, das wir machen ließen, kurz bevor du zum zweiten Mal die Haare
verloren hast. Ich habe es gestern hier im Wohnzimmer aufgehängt ...« – Carmen nickt zufrieden und sagt leise: »Schöner Platz.« – »... und dann, last but not least – die Kamera schwenkt von einer Wand über den Tisch vorm Fenster, wo die Blumenvasen bereitsehen, um gefüllt zu werden, zur andern Wand – ein Text, den Frenk und Maud auf meinen Wunsch heute Nachmittag an die Wand gemalt haben, und der mich immer an dich erinnern wird, solange Luna und ich in diesem Haus wohnen werden – die Kamera zoomt auf zwei Wörter, die über die ganze Länge der Wand mit silbergrauer Farbe in kräftigen Großbuchstaben gespritzt worden sind; die Stimme schweigt, als die Kamera die zwei Werter sekundenlang im Bild festhält —« »Carpe Diem ...«, flüstert Carmen, regungslos auf den Bildschirm starrend. Sie nickt und sieht mich gerührt an. »Wundervoll. Sogar das Haus ist fertig.« Es klingelt.
No alarms / no surprises / silence Radiohead, aus No Surprises (OK Computer 1997)
ACHTZEHN Der Hausarzt kommt herauf, eine Tasche in der Hand. Er ist gut gelaunt und gibt uns beiden fröhlich die Hand. »So«, sagt er und setzt sich auf einen Stuhl neben unserem Bett. »Geht es etwas besser mit dem Rücken?«, fragt Carmen. Er verliert sich in Ausführungen, wo es im Rücken sitzt, wie lange es dauern wird, bis es wieder okay ist, und wie lästig das alles sei. Carmen hört höflich zu. Ich lasse ihn schwätzen. Es lockert die Spannung ein wenig. »Aber es geht nicht um mich«, wechselt er das Thema, »Mädchen, Mädchen. So jung noch, und dann diese Art von Krebs, der begegnet man selten. Du hast enorm viel Pech gehabt...« »Tja. Vielleicht schon ...«, sagt Carmen, den Blick auf mich gerichtet. Wir glauben nicht mehr an Pech. Pech gibt es nicht. Zufall gibt es nicht. An Zufall zu glauben stellt eine Beleidigung des Lebens dar. Es kommt so, wie es kommt. Irgendeinmal werden wir erfahren, warum. Carmen weiß es vielleicht schon in einer Stunde. Ich bin beinah eifersüchtig. »Soll ich die Sache vorbereiten?«, fragt Dr. Bakkcr. Wir nicken. Er nimmt eine Flasche aus der Tasche. »Hast du ein großes Glas für mich, Stijn?« Ich gehe schnell hinunter zum Glasschrank und betrachte die Gläser. Tja ... welches Glas nimmt man in einem sol-
chen Fall? Ich nehme ein normales Longdrink-Glas und schärfe mir ein: NICHT VERGESSEN, DAS GLAS DANACH WEGZUWERFEN. Bevor man sich versieht, trinkt jemand zufällig heute Abend daraus, und ich kann plötzlich zwei Beerdigungen regeln. Bakker leert das Fläschchen sorgfältig ins Glas. Es ist halb voll. »Sieht aus wie Wasser«, sagt Carmen. »Es schmeckt nach Anis. Du musst es langsam auf einmal austrinken.« Carmen nickt. »Und dann wirst du in etwa zehn Sekunden spüren, dass du schläfrig wirst. Ihr werdet deshalb vor dem Trinken Abschied nehmen müssen. Denn manchmal geht es sehr schnell.« »In Ordnung.« »Bist du bereit, Carmen?«, fragt der Hausarzt feierlich. »Ganz und gar«, antwortet Carmen lächelnd. »Dann verabschiedet ihr euch jetzt am besten.« Ich liege auf der Seite neben Carmen und drehe den Kopf zu ihr. Wir kichern beide nervös. Wir flüstern. »Ich bin froh, dass ich deine Frau gewesen bin«, flüstert sie. »Ich bin jetzt glücklich.« »Leute, die uns nicht hier im Haus gesehen haben, werden es nie verstehen können ...« »Es ist aber so. Dank für alles, Stijn. Ich liebe dich. Auf ewig.« Ich muss schlucken. »Ich werde dich auch immer lieben, Carm.« Der Hausarzt schaut mit verschränkten Armen aus dem Fenster. »Genieße noch den Rest deines Lebens«, sagt sie leise und streichelt meine Wange.
»Werde ich tun. Und ich werde gut für deine Tochter sorgen.« »Auf Wiedersehen, meine große Liebe ...« »Auf Wiedersehen, Schatz ...« Wir küssen uns, und dann sagt Carmen zum Arzt, sie sei bereit. »Stijn, kannst du mir helfen, Carmen aufzurichten und ein paar Kissen hinter ihren Rücken zu legen? Dann kann sie bequem trinken.« Wir helfen Carmen hoch. Viel Kraft kostet es nicht. Der Arzt reicht ihr das Glas. Carmen blickt noch einmal zu mir. Sie lächelt. Ich nehme ihre Hand. »Auf uns beide«, sagt Carmen. Sie führt das Glas zum Mund und trinkt. Während der Arzt konzentriert zusieht und »ruhig weitertrinken ... weitertrinken ... weitertrinken« mahnt, bin ich zum x-ten Mal in den vergangenen zwei Jahren unbeschreiblich stolz auf den Mut meiner Frau. Das Glas ist leer. »Schmeckt nicht mal schlecht«, scherzt Carmen. »Ein bisschen wie Ouzo ...« »Stimmt«, sagt Dr. Bakker, der mittlerweile die Kissen in ihrem Rücken wegnimmt. Carmen liegt wieder. Sie blickt nochmal zu mir. Zufrieden, ruhig, liebevoll. »Mmmhh ... ein gutes Gefühl«, sagt sie nach wenigen Sekunden, als liege sie in einem warmen Bad. Die Augen sind geschlossen. Bakker blickt mich an und blinzelt mir zu. Ach, er meint es gut. Unablässig streichle ich Carmens Hand. Bakker hat den Puls ihres andern Arms genommen. Er schaut auf die Uhr.
»Schau, jetzt ist sie weg«, sagt er leise, die Augen auf Carmen gerichtet. Ich blicke zu Carmen. Meine Carmen. Sie rührt sich nicht mehr. »Nein, nein, ich bin noch da«, sagt sie plötzlich, leise, und sie öffnet kurz die Augen. Ich erschrecke nicht, sondern lächle. Danach sagt Carmen nichts mehr. Der Atem geht langsam. Der Puls auch, bemerkt der Arzt. »Jetzt ist sie binnen einer Minute weg«, meint er. Eine Minute vergeht. Carmens Atem stockt hie und da. »Nicht erschrecken«, sagt der Arzt. »Sie spürt nichts mehr.« Zwei Minuten verstreichen. Carmen atmet immer noch, ab und zu. »Komm, komm, Mädchen, gib es auf«, sagt der Hausarzt ermunternd. Wieder vergeht eine Minute. »Sie ist aber stark! Junge, Junge.« Wieder bin ich stolz auf Carmen, auch wenn ich nicht weiß, ob man stolz sein kann auf den Körper seiner Frau, der den Kampf nicht verloren geben will, während die Herrin jenes Körpers, Carmen selber, schon aufgegeben hat. Wieder verstreicht einige Zeit. Carmen atmet langsam. Sie röchelt. »Es sieht wirklich unheimlicher aus, als es ist«, beruhigt mich der Hausarzt. Ich finde es nicht unheimlich. Ich finde es nur schlimm für ihre Mutter, die sich unten im Garten zweifellos fragt, was um Himmels willen los ist. Wird Carmen sich anders bedacht haben? Fünf Minuten später – der Arzt redet inzwischen von den juristischen Aspekten der aktiven und passiven Sterbehilfe, von Hilfe zur Selbsttötung und andern belanglosen termina-
len Dingen; ich antworte nur halbwegs, verliere Carmen keine Sekunde aus den Augen – schlägt er vor, in einigen Minuten doch noch eine Injektion in die Vene zu verabreichen. »Spürt sie das nicht?« »Nein, gar nicht.« »Und dann kapituliert der Körper?« »Ja. Dann stirbt sie nahezu sofort.« »Also, machen Sie es.« Bakker sucht in der Tasche. Er nimmt eine Spritze hervor, füllt diese mit einer farblosen Flüssigkeit und legt sie auf das Tischchen neben dem Bett. Dann sucht er eine geeignete Vene. Die er nicht findet. Auf einmal fallen mit die Probleme mit dem Anstechen während der Chemotherapie ein. Carmens Venen liegen offenbar sehr tief. Bakker bindet Carmens Arm ab und sucht und sucht. Vergebens. »Kannst du etwas auf die Seite gehen?«, bittet er und kriecht auf die andere Seite von Carmen aufs Wasserbett, die Spritze in der einen Hand und sich mit dem vollen Körpergewicht auf die andere stützend. Ich finde es einen lebensgefährlichen Stunt und weiß nicht, ob ich ernst dreinblicken oder mich kaputtlachen soll. Wenn er das Gleichgewicht verliert, fällt er in die Sterbchilfespritze. Etwa wie: Wer andern eine Spritze gibt, fällt selbst hinein. Dann habe ich demnächst einen toten Arzt und Carmens fast-toten Körper am Hals. Erkläre das mal der Polizei. Bakker findet auch in Carmens anderem Arm keine Vene. Er versucht es einige Male, aber umsonst. Die Nadel findet keine Vene. Es ist schon ein wenig zum Lachen. Ihr Körper hat sich so an den Genuss des Lebens gewöhnt, dass er sich weigert, damit aufzuhören. »Dann vielleicht in die Leiste«, sagt Bakker. Seit dem Getränk sind bereits fünfundzwanzig Minuten vergangen. »Geschafft!«, sagt Bakker enthusiastisch.
Fünfzehn Sekunden später atmet Carmen nicht mehr. Ich streichle ihre Hand, küsse ihre Stirn und fühle eine Träne über meine Wange rollen. »Mach’s gut, mein lieber Schatz ...«, flüstere ich. Der Hausarzt hört es nicht mehr. Er telefoniert mit einem andern Arzt, der gleich kontrollieren muss, ob die Sterbc-hilfe technisch und juristisch verlaufen ist, wie es gesetzlich vorgesehen ist. Ich gehe in den Garten und teile mit, dass Carmen gestorben ist. Alle reagieren gelassen. Erleichtert, ohne dass man es zu sagen wagt. Frenk und Maud nicken nur. Thomas starrt vor sich hin. Anne hat seine Hand ergriffen. Luna ist fröhlich und kneift quiekend in Omas Nase. Ihre Mutter, Tochter, Freundin, meine Frau ist tot.
Liebe, was ist denn Liebe? André Hazes, aus Was ist denn Liebe (Ein Freund, 1980)
Manchmal ist es besser etwas Schönes zu verlieren / lieber verlieren als nie gehabt haben Rowwen Hèze. aus Heiliger Antonius (Wasser. Luft und Liebe, 1997)
EPILOG Wir betrachten alle The Artist Formerly Known As Carmen. * Tja, was soll ich sagen. Es gleicht nicht der Carmen, die sie war. Carmen ist verschwunden – Gott weiß wohin –, und ihren Leichnam hat sie zurückgelassen, achtlos. Wie man die Sache auch dreht und wendet – wir gehen schnell aus dem Zimmer, als die Angestellten des Bestattungsunternehmens mit ihren engen Handschuhen schamlos an die Arbeit gehen – dies ist ein Leichnam. Mausetot. Es ist gut, dass Carmen tot ist. Wenn sie die Männer, die jetzt ihren Körper – wie soll ich sagen – präparieren, gesehen hätte, wäre sie nachträglich einem Herzanfall erlegen. Als ich sie vorher in die Diele hereinkommen sah, fast geräuschlos hinter ihrem Chef, die Hände fromm vor dem Bauch gefaltet, überlief mich ein Schauder. Sie gaben mir und Carmens Mutter die Hand und sprachen uns berufsmäßig ihr Beileid aus. Der eine ist geradewegs aus Lucky Luke entlaufen. Eingefallene Wangen, kahl geschorener Schädel, Körperhaltung und Blick eines Aasgeiers. Gekrümmt, lauernd auf die Gelegenheit, an die Arbeit zu gehen. Sein Kollege gleicht dem Dicken aus der Adams Family. Er ist von Natur aus kahl, schwammig, und ich habe ihn im Verdacht, 44F
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abgeleitet aus TAFKAP, The Artist Formerly Known As Prince
sich vorhin gerade so zurückgehalten zu haben, sich bei der Aussicht, mit Carmens Leiche anfangen zu dürfen, die Lippen zu lecken. Ach, sie haben auf jeden Fall ihr Hobby zum Beruf gemacht. Während der Bestatter mir im Carpe-Diem-Teil unseres Wohnzimmers die Kühlanlage erklärt, auf welcher der Sarg mît Carmens Körper stehen wird, sehe ich den Aasgeier die Treppe herunterkommen. Ich sehe flüchtig die Tragbahre, die er mit dem dicken Mann trägt. Das will ich nicht sehen. Ich gehe schnell in den Garten. Schließlich dürfen Carmens Mutter und ich das Resultat anschauen. Wir seufzen tief und treten ins Wohnzimmer. Gleich werde ich den Körper meiner Frau in einem Sarg sehen. Es enttäuscht nicht. Ihr grellblaues Replay-Kleid mit der Diesel-Jeansjacke darüber stehen ihr gut. Morgen wird Anne ihr Make-up auftragen, hat sie versprochen. Wir nehmen an, dass Carmens Leiche genauso eitel ist wie Carmen selber war. Anne und Thomas verabschieden sich und fahren nach Maarssen zurück. Carmens Mutter geht zu Bett. Frenk, Maud und ich öffnen noch eine Flasche Wein. Wir besprechen, was wir in den nächsten Tagen alles regeln müssen. Die Beerdigung ist am Freitag. »Habt ihr alle benachrichtigt?«, frage ich. »Ja, Verwandte, Freunde, Kollegen: alle.« »Schön«, sage ich und blicke auf mein Glas Rosé. »Weiß Roos es schon?«, fragt Frenk. »Noch nicht, ich werde ihr gleich eine SMS schicken.« Frenk nickt. »Ich möchte euch etwas fragen«, sage ich, während ich Maud und Frenk nacheinander in die Augen schaue. »Ich will eine ehrliche Antwort.«
Sie nicken. »Ich überlege, Roos zur Beerdigung einzuladen.« Beide schweigen kurz. »Würde ich tun«, sagt Frenk. Maud überlegt und nickt dann. »Ja. Ich denke auch, das geht.« Um halb zwölf gehe ich ins Bett. Ich erschrecke ein wenig, als ich ins Schlafzimmer komme. Mein Blick richtet sich wie von selbst auf die Stelle im Bett, wo Carmen elf Tage hintereinander gelegen hat. Sie ist leer. Ich ziehe mich aus und lege mich ins Bett. Carmens Mutter hat es schon frisch bezogen und die alten Laken weggeworfen. Dennoch lege ich mich nicht in die Mitte, sondern auf meine Seite. Dann nehme ich mein Handy.
Dann nehme ich die Fernbedienung und suche im Videotext nach dem Wetter für morgen. Einundzwanzig Grad, sonnig. Mmhh. Morgen früh schön auf der Terrasse des Blauwe Theehuis ganz allein die Zeitung lesen und einen Cappuccino trinken. Als ich die Fernbedienung zurücklege, sehe ich in der Ecke des Zimmers ein Paar weiße Turnschuhe mit grünrotgrünen Schnürsenkeln stehen. Lachend schüttle ich den Kopf. Die Gucci-Turnschuhe, über die sie so lange nachgedacht hat. Morgen gleich den Bestatter anrufen, er soll sie ihr anziehen. Oder, was ein Quatsch. Ich steige aus dem Bett, ziehe den Bademantel über und nehme die Turn-
schuhe. Leise, um Luna nicht zu wecken, gehe ich hinunter. Mit den Turnschuhen in der Hand öffne ich, ein bisschen nervös, die Wohnzinimertür, wo die Kühlanlage unter Carmens Sarg ein leichtes Brummen von sich gibt.
You’re so vain / I’ll bet you think this book is about you / don’t you / don’t you / you’re so vain nach Carly Simon, aus You’’re So Vain, (No Secrets, 19/2)
VERANTWORTUNG Es ist nicht ausgeschlossen, dass Ärzte, Chirurgen, Psychotherapeuten und andersartige Heiler sich in bestimmten Figuren, Ereignissen oder Begegnungen erkannt haben. Das ist nicht für jeden von ihnen gleich angenehm. Ich würde mich trösten beim Gedanken, dass ein Roman per definitionem Fiktion ist. Die übrigen Figuren sind die Frucht meiner Interpretation und des Kombinierens existierender Personen. Dieses Kombinieren sei unbedingt notwendig, meinte meine Lektorin, als sie die Originalfassung meines Manuskriptes las. Siehe www.kluun.nl/hetboek/themakingof: gut vierhundert eng beschriebene A4-Seiten mit hoffnungslos vielen, absolut überflüssigen und überdies schlecht ausgearbeiteten Personen (mit all den Namen, die man sich merken musste, ähnelte es mitunter einer Familiengeschichte von Couperus, aber – zum Glück – viel lustiger und – leider – weniger gut geschrieben), ellenlange Schilderungen von unzähligen Krankenhausbesuchen, breit getretene, pubertär geschriebene Sexscenen und vor allem viel unverständliche Anfänger-Philosophiererei über den Sinn des Lebens. Die Krankenhäuser, die gastronomischen und sonstigen Lokalitäten existieren alle tatsächlich. Siehe auch www.kluun.nl/stijnsworld 14H
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DANK Brenda, Don, Kurt und Naat für ihr gnadenloses Mitlesen der Originalfassung des Manuskriptes. Bart H, Bart V, Engin, Eric II, Erik L, Geert, Hugo, Jan, Marco, Mars, Sieb, Sikko und Yonneke für eure Bemühungen bezüglich Manuskript, Musik, Website, Entwurf, Game und Präsentation. Janneke und Joost für ihr Vertrauen. André, Bono, Brett, Bruce, dem F-Block, Hans, Huub H, Huub vd L, Jan, Johan, Michael, Rick, Milan, Ramses, Ronald, Sândor, Thom und weitere Helden, die ich gewrampled habe, für die Inspiration. Juut für deine Einwilligung und Kraft. Naat für alles, was du für mich tust und lässt. Eva für Ich-will-dir-schnell-einen-Kuss-geben-Papa während des Schreibens. Fehlst du auf dieser Seite? Sieh nach unter www.kluun.nl Î hetboekÎ kluunbedankt. 16H
PS Das Spendenkonto der Deutschen Krebshilfe ist 90 90 93 bei der Sparkasse Köln, BLZ 380 500 00. Oder direkt auf der Website spenden: www.krebshilfe.de 17H
Zentaur2006-01-07