Miss Monster
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 132 von Jason Dark, erschienen am 31.03.1992, Titelbild: M. Maxwell
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Miss Monster
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 132 von Jason Dark, erschienen am 31.03.1992, Titelbild: M. Maxwell
Wiebke Crotano wurde verspottet, gedemütigt, körperlich und geistig gequält. Sie war diejenige Person, an der einige Lehrer des Internats ihren Frust ausließen. Wiebke hatte eben keine Lobby- bis zu dem Tag, als sich ihr die Kräfte aus dem nahen Sumpf offenbarten. Von nun an begann ihre Veränderung. Als der erste Tote mit zerrissener Kehle gefunden wurde, da wußte Wiebke, daß ihre Verwandlung vollendet war. Eine neue Person war geboren - Miss Monster...
Der alte Maschendrahtzaun glänzte in der Dunkelheit wie ein dichtes Spinnennetz! Bis hierher und nicht weiter, hieß es immer. Jenseits des Zaunes begann die andere Welt, da lag das Moor, der Sumpf mit all seinen Gefahren und Geheimnissen. Tagsüber düster, grau und von grünen, verschwommenen Farben durchzogen, in der Nacht aber war er eine schwarze, manchmal glänzende Fläche, über die hin und wieder geheimnisvolle Irrlichter tanzten, als wollten sie irgendwelche Botschaften vermitteln. Diese Nacht war eine besondere, denn es herrschte Vollmond. Der Erdtrabant stand bleich wie ein runder Ausschnitt inmitten der Schwärze. Es war kein Silberlicht, das er der Erde entgegenschickte, sondern ein fahler, unwirklich anmutender Schein, dessen Blässe sich auch auf der dunklen Fläche des Sumpfes widerspiegelte. Sie gab den zahlreichen Gräsern und Gewächsen einen leichenhaften Anstrich. Sie spiegelte sich auf den Tümpeln und Pfützen, als wären diese unheimliche Spiegel, die das Bild einer zum Sterben verurteilten Landschaft zurückgeben sollten. Bis hierher und nicht weiter! Niemand hatte ein Warnschild aufgestellt. Jeder wußte Bescheid, und jeder wußte auch, daß harte Strafen drohten, wenn diese Regel durchbrochen wurde. Einige hatte es getan, wenige taten es noch immer. Aber eine ließ sich durch nichts abschrecken. Keine Strafe konnte zu hart sein, denn sie wußte genau, wohin ihr Weg führte. Sie sah nicht die Verbote, sie sah das Ziel, allein das Ziel, das hinter allem stand. Auch in dieser Nacht. Schuhlos hatte sich Wiebke Crotano aus dem Internat geschlichen und die kräftigen Treter erst später übergestreift. Sie war dann auf leisen Sohlen bis zum Zaun gehuscht, stand jetzt vor ihm und preßte ihr Gesicht gegen das Metall. Sie starrte hinüber. Ihre Augen hatten einen ungewöhnlichen Glanz bekommen. In ihm spiegelten sich Freude, Erwartung und Hoffnung. Was andere abschreckte, zog sie an. Hinter dem Zaun lag die andere Welt, eine Welt, die ihr gehörte, in die sie eindrang, die sie gerufen hatte, denn sie war sicher, daß sie es in dieser Nacht finden würde. An die Schule verschwendete sie keinen Gedanken mehr. Das hatte die Schülerin weit zurückgedrückt. Aus Wiebke Crotano war eine andere geworden. Miss Monster! Den Namen hatte sie sich selbst gegeben und noch mit keinem darüber gesprochen. Möglicherweise würde sich das in dieser Nacht ändern, denn sie wollte endlich einen Erfolg erzielen. Der Sumpf stank nach Verwesung, einfach widerlich.
Sie aber liebte ihn. Abhalten konnte er sie nicht. Im Gegenteil, sie sah ihn als beruhigend an. Geschmeidig sprang sie am Außengitter in die Höhe. Blitzschnell faßten ihre kleinen, aber doch sehr kräftigen Hände zu. Die Finger fanden die richtigen Lücken. Auch wenn der Draht in die Haut drückte, es kümmerte Wiebke nicht. Sie mußte hoch, den Zaun überklettern, und war dann in ihrer Welt. Heimlich hatte sie sich für diesen nächtlichen Ausflug umgezogen. Sie trug Jeans, einen Pullover, feste Schuhe. Das lange Haar hatte sie im Nacken zusammengesteckt. Vier Klammern hielten es fest. Es war kühl geworden. Der nahe Herbst war bereits zu riechen. Die Natur zeigte sich irgendwie verändert. Feucht und absterbend, etwas traurig, angefüllt mit einer morbiden Melancholie. Sie erreichte das Ende des Zauns. Für einen Moment blieb sie auf der schmalen Kante hocken, drehte den Kopf und schaute zurück zum Internat. Dort lag die Schule. Ein altes, ein mächtiges Gemäuer, ein dunkler Kasten, in dem schon Generationen von Schülern zu >tüchtigen< Menschen erzogen worden waren. Wie sie das Wort erziehen haßte. Es war eine einzige Tortur. Sogar geschlagen wurde, und es gab da einige Lehrer, die es mit einer besonderen Freude taten. Wie Mister Redstone, zum Beispiel… Wiebke sprang. Sie hatte das oft genug geübt. Nie war ihr beim Aufprall etwas passiert, und auch in dieser so besonderen Nacht kam sie sicher auf. Der Boden war weich, er federte nach, und sie spürte in den Knien einen bissigen Schmerz. Das lag an ihrem Miniskus. Wenn sie einige Schritte gelaufen war, verschwand das Ziehen wieder. Warum sollte es heute nacht anders sein als sonst? Es war nicht anders als sonst. Es ging ihr gut, sie konnte sich wieder auf die Umgebung konzentrieren. Viel hatte sich nicht verändert. Der Untergrund zeigte noch immer eine Decke aus Hügeln, Mulden, kleinen Rinnen, in denen sich Schmutzwasser gesammelt hatte. Das Gras wuchs hier ziemlich hoch. Manchmal streiften die Spitzen an den Knien entlang, als wollten sie den sechzehnjährigen Neuankömmling begrüßen. Wiebke lief jetzt schneller. Ein Gefühl sagte ihr, daß es Zeit wurde. Sie mußte sich beeilen, wenn sie pünktlich um Mitternacht an dem Ort sein wollte, wo es passierte.
Auf ihr Gesicht trat ein Lächeln, als sie daran dachte. Alle sprachen über den Sumpf, jeder wußte etwas, aber es gab keinen, sie ausgenommen, der genau informiert war. Der Zaun lag bereits so weit zurück, daß er selbst im Mondlicht nicht mehr zu sehen war. Zudem veränderte sich der Untergrund. Er war nicht mehr so fest wie sonst, wurde weicher, an manchen Stellen sogar glatt und schlammig. Drei krumme Bäume wuchsen auf einem kleinen Hügel. Sie sahen aus wie alte Gespenster, die sich vor einem noch größeren Geist verbeugten. Das Trio der Bäume war für Wiebke ein Fixpunkt. Sie umrundete den Ort und sah vor sich eine dunkle, dennoch auf der Oberfläche geheimnisvoll schimmernde Fläche, auf die sich das bleiche Mondlicht wie ein Schleier verteilt hatte. Ein See. Sie nannte ihn so. Andere sagten verfluchter Tümpel dazu. Das Ufer war auch bei Tageslicht kaum zu erkennen, weil Schilfrohre, hohes Gras und anderes Buschwerk es verdeckten. Alles filzte ineinander und bot so gut wie kein Durchkommen. Doch es gab einen Weg, und Wiebke kannte ihn. Sie lief darauf zu, sprang über einen vorstehenden Buckel hinweg und landete in einer kleinen Mulde, die sich zum Gewässer hin verengte. Ein Steg war nicht vorhanden. Um das versteckte Boot zu erreichen, mußte sie schon in den Schilfgürtel hineingehen. Die Erde war sehr weich geworden. Wiebke sank ein. Der Rand schwappte bis zu den Rändern ihrer hohen Schuhe. Sie dachte daran, daß die Lehrer des öfteren die Schuhe der Schüler kontrollierten, um zu sehen, ob jemand in der Nacht ausgerissen war. Sollten sie, es störte sie nicht. Nicht mehr… Die Schilfrohre schienen von unsichtbaren Händen umklammert zu werden, die ihr einen gewissen Widerstand entgegensetzten. Sie waren sehr sperrig, und das junge Mädchen mußte sich schon anstrengen, um den richtigen Weg zu finden. Dann hatte es Wiebke geschafft! Sie sah das dunkle Wasser, die Blätter und die Seerosen darauf, die am nahen Ufer auf den leichten Wellen schwammen. Der Wind glitt wie der Atem eines fremden Wesens über die Wasserfläche hinweg. Wiebke bückte sich, mußte noch einen Schritt vorgehen, um das Boot zu erreichen. Ihre Beine patschten durch das Wasser. Sie lauschte den dabei entstehenden Geräuschen und blickte – noch in gebückter Haltung – über den kleinen See hinweg. Bis zur Mitte mußte sie rudern. Wenn alles gutging, würde er sich ihr dort offenbaren.
Sie stieg in den alten Kahn. Sein Holz war im Lauafe der Zeit weich geworden, und auch die Sitzbank in der Mitte war schon längst angefault. Ihr stand nur ein Paddel zur Verfügung. Nicht gerade einfach, damit den Kahn zu bewegen, aber Wiebke hatte schon oft genug üben können. Sie legte ab und stach dabei das Paddel in den Grund, der ihr kaum Widerstand entgegensetzte. Die Fläche war weich. Schlamm, Schlick, vielleicht auch Unrat bedeckten sie. Sie bewegte sich vom Ufer weg. Einige Schilfrohre bogen sich ächzend zur Seite, als der Bug des alten Kahns in die schmalen Lücken zwischen sie glitt. Sehr bald hatte Wiebke die Uferregion verlassen. Mit immer gleichen, rhythmischen Bewegungen tauchte sie das Paddel ins Wasser, sie wechselte dabei auch die Seiten, so daß sie nicht in Gefahr lief, in eine Richtung abzudriften. Je mehr sie sich der Mitte des Sees näherte, um so größer wurde ihre Spannung. Sie hatte in ihrem Körper ein Netz gewoben, brachte Hitze mit, die durch alle Adern flutete und auch hochstieg, bis sie ihren Kopf erreichte. Ich bin die Prinzessin, schoß es ihr durch den Kopf. Ich fahre über den verwunschenen See, in dem sich ein geheimnisvoller Prinz vor langer Zeit ertränkt hat und nun auf die Erlösung wartet. Auf einmal fühlte sie sich so frei. Selbst ihr Gesicht – tagsüber meist verschlossen und fast schon böse blickend – hellte sich auf, als wäre es von herrlichen Sonnenstrahlen gewärmt worden. Wiebke spürte die andere Energie in sich. Sie war einfach nicht zu beschreiben, sie beflügelte sie, gab ihr die nötige Kraft, um das Paddel noch schneller in das dunkle Wasser zu stechen. Sie schaute auf die Wellen. Deren Kämme hatten glitzernde Kanten bekommen und wurden vom Mondlicht bestrahlt. Diese Nacht war wie ein Wunder. Und ein noch größeres Wunder lag vor ihr. Es existierte kein Zeichen und keine Markierung, wo sich die Mitte des Sees befand. Wer ruderte, mußte sich entweder auf sein Gefühl verlassen oder – wie Wiebke – alles genau kennen. Noch einmal drückte sie das Paddel ins Wasser, zog es durch – und hielt es danach mit einer schwungvollen Bewegung ein, bevor sie es fast behutsam neben sich legte. Der alte Kahn lief schaukelnd aus, und Wiebke blieb auf der Holzplanke still sitzen. Ihre Haltung erinnerte dabei an die eines sehr braven Mädchens. Sie hatte die Beine angezogen und die Hände um ihre Knie geschlungen. Dabei den Kopf leicht gedreht und das Gesicht der vollen Scheibe des Mondes entgegengerichtet.
Minutenlang blieb sie so sitzen. Sie genoß die Stille, den Geruch, das fahle Licht und das leise Plätschern der Wellen, die erst nach einer geraumen Weile zur Ruhe kamen. Es wurde still. Sehr ruhig sogar, beinahe schon beängstigend. Jede Bewegung verursachte Geräusche, war zu hören. Auch die, als Wiebke sich umdrehte und dabei Stoff über Stoff schabte. Der kleine See wirkte wie ein dunkler Spiegel, auf dessen Fläche sich hin und wieder kleine Flecken verteilten. Es waren die Blätter der Seerosen, auch das alte Laub. Es war vom Wind auf das Wasser geflogen und lag dort noch aus dem letzten Jahr. Sie schaute auf die Uhr. Beinahe Mitternacht. Ein schmales Lächeln stahl sich um ihre Mundwinkel. Es machte das Gesicht des Mädchens weicher. Wiebke brauchte nicht mehr lange zu warten, gerade rechtzeitig noch hatte sie es geschafft. Sie ließ den Blick auf die Uhr gerichtet. Mit starren Blicken verfolgte sie den Sekundenzeiger der Uhr, der dünn wie ein Spinnenbein zuckend weiterwanderte. Noch drei Sekunden, noch zwei, dann eine. Mitternacht! Sie atmete tief durch. Ihr linker Arm sank nach unten. Jetzt brauchte sie nicht mehr auf die Uhr zu schauen. Die Umgebung war wichtiger. Wenn alles stimmte, wenn sie die Botschaften richtig verstanden hatte, mußte es jetzt passieren. Und sie behielt recht! Plötzlich bewegte sich der Kahn, ohne daß sie etwas dazu getan hätte. Er schaukelte so heftig, daß sich Wiebke an den Bordrändern festhalten mußte. Ihr Gesicht war angespannt, die Lippen lagen dicht aufeinander, sie fielen kaum mehr auf. Über die Haut rann ein Schauer, und einen Moment später vernahm sie das Brodeln. Ein unheimlich klingendes Geräusch. Wasser schäumte auf. Um das Boot herum bildete es eine schaumige Fläche, es kochte, gurgelte und brodelte, brachte den alten Kahn zum Zittern, spielte mit ihm, und das Mädchen konnte nicht anders, als sich zu verkrampfen. Ein Schüttelfrost durchrann ihren Körper. Jemand benutzte das Boot als Spielball. Es waren die Wasserströme unter dem Kiel, die in kreisförmige Bewegungen gerieten und den alten Kahn herumdrehten, so daß er in einen Kreisel geriet. Wie eine Figur saß Wiebke in ihrem Boot. Aus dem Mund drangen leise Schreie. Sie glaubte, sich in den Klauen eines Monstrums zu befinden, hatte den Eindruck, als wäre das Wasser zu einem Tier geworden, das mit seinen Schreien die Stille erstickte. Plötzlich war es vorbei.
Das Boot drehte sich zwar noch, aber seine Bewegungen waren langsamer geworden. Es schwankte, es krängte, kam irgendwann zur Ruhe, und wieder holte Wiebke tief Luft. Auf einmal fühlte sie sich gut. Den ersten Ansturm hatte sie lebend überstanden, die andere Kraft hatte nicht versucht, sie zu töten oder zu verletzen. Sie war akzeptiert worden! Wiebke lächelte. Noch war sie stumm, dann aber konnte sie das Lachen nicht mehr unterdrücken. Es war ihr auch egal, wie weit es über das Moor und in die Stille der Nacht hineinhallte, sie konnte es nicht mehr zurückhalten. Sie mußte lachen, nur lachen… Und es tat ihr so verdammt gut. Das mußte einfach raus, es tat ihr so gut. Das Wasser hatte sich wieder beruhigt. Spiegelglatt lag der See um sie herum. Nichts schien sich verändert zu haben – oder doch? Plötzlich weiteten sich ihre Augen, denn sie hatte den Eindruck, in ein großes Glasgefäß schauen zu können. In der Tiefe war etwas. Da hielt sich etwas verborgen, versteckt. Es war nicht zu beschreiben, es besaß keine Gestalt, nicht einmal eine richtige Form, es war einfach nur da… Wiebke schauderte. War es da, was sie in ihren Träumen verfolgt hatte? Lauerte da unten ein Stück Hölle, ein Teil der Verdammnis, das Böse, das Grauenvolle? War es der Tod? Sie starrte nicht auf einen bestimmten Fleck, sie schaute einfach in die Runde. Wer konnte das Wesen sein? War es nur ein Schatten? Hatte es einen Namen, oder war es einfach nur da? Manchmal sah es hell aus, dann wieder dunkel. Es flössen an verschiedenen Stellen die unterschiedlichen Farben zusammen und bildeten ein manieriertes Monstrum. Gedanken überfielen sie. Keine Erinnerungen, sondern Befehle. Hier wurde mit der Zukunft gespielt, man drückte sie ihr entgegen, man versuchte, ihr die Angst zu nehmen. Wiebke lächelte. Jetzt hatte es einen grausamen Ausdruck angenommen. Sie fühlte sich als Siegerin, sie hatte es geschafft, was ihr niemand zugetraut hätte. Wer konnte ihr jetzt noch Furcht einflößen? Keiner – auch ein Mister Redstone nicht. Als sie an ihn dachte, lachte sie auf. Er war ein Schwein, ein Sadist, ein gefürchteter Lehrer, ein Peitscher und dabei so widerlich freundlich, wenn er an Menschen geriet, die ihm überlegen waren oder zu seinen
Vorgesetzten zählten, wie Mrs. Paulsen, die Rektorin und Leiterin der Schule. Sie sahen zwar verschieden aus, aber irgendwo glichen sie sich. Sie gehörten einfach zusammen, sie bildeten auch ein Team. Keiner kämpfte gegen den anderen. Aber jetzt… »Ich zeige es euch!« flüsterte Wiebke. »Ich werde es euch allen zeigen, allen. Ich weiß, daß ihr ein Opfer braucht, aber ich werde es nicht mehr sein. Keine Bestrafung mehr, keine Dunkelkammer, keine Schläge. Ab heute schlage ich zurück…« Sie wollte nach dem Paddel greifen, als ihr etwas auffiel. Der Gegenstand war hell und schwamm dicht unter der Wasserfläche. Ein weißer Ball, der sich bewegte und allmählich seinen Weg änderte, so daß er auf ihren Kahn zutrieb. Noch konnte sie ihn nicht genau erkennen. Wiebke wußte nur, daß dieser Gegenstand einzig und allein für sie bestimmt war. Ein Geschenk aus der Tiefe, das Böse hatte ihr etwas überlassen. Es mochte sie, und das zeigte es auch. Der Gegenstand wanderte näher. Kleine Wellen schwemmten ihn an das Boot heran. Er hüpfte so nahe, daß sie nur den Arm auszustrecken brauchte, um ihn aus dem Wasser zu fischen. Das tat sie dann auch. Ein Griff reichte. Sie umfaßte den hellen Gegenstand, holte ihn hoch – und lachte plötzlich auf. Ihre Augen nahmen einen harten Glanz an, die Lippen zogen sich in die Breite, und sie preßte das nasse Fundstück hart gegen ihre Brust. Als kleines Kind und auch heute noch, wenn es ihr schlechtging, hielt sie ihre Puppen so fest, aber das hier war etwas anderes, es war von unten gekommen, aus einer Tiefe, die ihrer Meinung nach keinen Grund mehr besaß, die einfach ein Stück Hölle sein mußte. Wiebke atmete heftig. Sie nahm auch die andere Hand zu Hilfe. Es war eine symbolische Geste, denn niemand sollte ihr diesen Gegenstand je wegnehmen können. Niemand… Erst nach einer Weile war sie soweit, daß sie ihre Arme senken konnte. Jetzt lag der Gegenstand frei auf ihren Händen. Er war nicht einmal schwer und sehr glatt und hatte mehrere Löcher. Ihr Fundstück war ein bleicher Totenkopf! Wiebke Crotano dachte nicht über ihn nach. Sie hatte ihn nicht gefunden, er war ihr geschenkt worden, und er war gleichzeitig das Geschenk ihres Lebens. Nie zuvor hatte sie sich so gefreut wie in dieser Nacht. Der Totenkopf war nicht grundlos in ihren Besitz gelangt, man hatte ihn ihr geschenkt, es hatte ihr dieses Geschenk überbracht, und es war für sie das Böse.
Nun stand es auf ihrer Seite. Sie brauchte sich nicht zu fürchten. Es würde sie beschützen wie ein gewaltiger Mantel. Er würde seine Schwingen über sie ausbreiten, und die Menschen konnten ihr gestohlen bleiben. Die Träume, die Botschaften hatten recht behalten. Sie war dazu ausersehen worden, ein großes Erbe weiterzutragen. Es tat ihr leid, daß sie den Schädel abstellen mußte, wenn sie wieder zurückruderte. Aber sie stellte ihn so hin, daß sie ihn einfach anschauen mußte. Dieser Schädel ersetzte ihr Mutter und Vater, und es war ja nicht nur er, denn da stand noch etwas hinter ihm. Ein Symbol, eine Macht… Sie paddelte dem Ufer zu. Sehr ruhig und beherrscht. Angst würde sie von jetzt an nicht mehr kennen, und ihre Gedanken drehten sich um ein bestimmtes Thema. Sie beschäftigte sich mit ihrem Namen. Ändern konnte sie ihn nicht, obwohl sie es gern getan hätte, denn Wiebke Crotano gefiel ihr nicht. Dann hätte man sie auch Kretin oder Bastard nennen können. Sollten die anderen sie weiterhin so rufen, sie hatte sich einen anderen Namen ausgesucht. Miss Monster! Ja, so und nicht anders. Einen passenderen Namen konnte es gar nicht geben. Miss Monster! Wie sich das anhörte. Der Name verbreitete Angst und Schrecken, und sie würde dafür sorgen, daß er sich durchsetzte. Sie alle in der Schule sollten bald Bescheid wissen. Miss Monster… Immer wieder sprach sie ihn aus, um ihn sich nur tief und fest einzuprägen. Ja, die Welt würde noch von ihr hören, nicht von Wiebke Crotano, sondern von Miss Monster. Und keiner würde sie stoppen können. Sie würde eiskalt sein, sie würde alle Hindernisse aus dem Weg räumen, sie würde… Ihrer Gedanken stockten, ein Geräusch störte sie. Vor ihr knackte und schabte es. Sie schaute hoch und sah, wie der Bug des Kahns in den Schilfgürtel hineinschnitt. Sie hatte es geschafft. Den Totenschädel hob sie vorsichtig an. Sie wußte nicht, wo sie ihn hinstecken sollte, weil sie beim Aussteigen beide Hände brauchte. Sie wühlte in ihren Taschen nach, und es war wirklich ein Zufall, daß sie das dünne Netz fand mit den beiden verstärkten Ringen. Ein idealer Platz für den Totenkopf.
Wiebke ließ sich Zeit. Sie überstürzte nichts, sie war die Ruhe selbst. Bevor sie den alten Kahn verließ und ihn wieder in Deckung zerrte, befestigte sie das Netz an ihrem Gürtel. Sie brauchte das schmale Band nur durch die Griffe zu ziehen. Alles war okay. Wieder versank sie bis zu den Knöcheln im Dreck, als sie durch den nahen Uferschlick ging. Die starren Rohre störten sie nicht mehr. Es war ihr auch egal, ob die schmutzigen Schuhe jemandem auffielen, aber jetzt stellte sie ihre Bedingungen. Nun würden andere nach ihrer Pfeife tanzen müssen. Die Umgebung des nächtlichen Moores hatte für das Mädchen längst seinen schaurigen Touch verloren. Der Besitz des Totenschädels hatte ihr eine nie zuvor gekannte Sicherheit gegeben. Ob Nacht oder Tag, das war nicht mehr wichtig. Sie ging weiter und sah bereits den Zaun. Als im Mondlicht glänzendes Muster hob er sich vom Boden ab. Die Leiterin der Schule hatten ihn bauen lassen. Er sollte die Schüler abschrecken, doch Wiebke ließ sich von nichts in der Welt mehr abschrecken. Auch nicht von einem Mister Redstone. Der stand auf der anderen Seite des Zauns und wartete auf sie! *** Wiebke blieb stehen! Noch einmal klopfte ihr Herz schneller. Sie konnte die Erinnerung an ihr >erstes< Leben einfach nicht so schnell unterdrücken, aber das Gefühl der Angst kam erst gar nicht richtig auf. Sie war nicht mehr die Schülerin, die man prügeln und bestrafen konnte, sie war jetzt Miss Monster, und das sollte Redstone merken. Er hatte sich dicht vor das Gitter gestellt. Wie immer trug er seine Reithosen, die dicht über den schwarzen Stiefeln endeten. Über den Oberkörper hatte er eine enge Jacke gestreift, die über die Taille hinwegreichte und in deren Höhe von einem schwarzen Gürtel gehalten wurde. Schwarz war auch Redstones Haar. Er trug es stets korrekt geschnitten, sehr glatt gescheitelt, und seinen Nacken ließ er regelmäßig ausrasieren. Sein Gesicht sah kantig aus, die Nase war klein, schmal und leicht gekrümmt. Darunter zeigte der Mund einen scharfen Zug. Aus ihm sprach der reine Zynismus. Wie immer hielt er seine Reitgerte in der Hand. Jeder Schüler im Internat kannte das klackende Geräusch, wenn er mit der Gerte gegen seinen Stiefel schlug. Das tat er auch jetzt, während er Miss Monster aus kalten Augen anschaute.
Ihr entging nicht das Glitzern in seinen Pupillen. Dieses Zeichen war ihr ebenfalls bekannt. Es trat immer dann auf, wenn er sich auf etwas freute, wenn er andere bestrafen konnte. So wie jetzt… »Ich wußte, daß du weggelaufen bist, Wiebke, ich wußte es genau. Ich habe dich verfolgt, ich ahnte nur nicht, daß du schon so früh verschwunden bist. Aber das ist jetzt vorbei. Es war das letzte Mal, daß ich es zugelassen habe. Ab heute wirst du nicht mehr heimlich weggehen, das schwöre ich.« »Und wenn ich es doch tue?« Redstone lachte, und Wiebke wunderte sich, daß es jemand schaffte, so hämisch und trotzdem lautlos zu lachen. Er legte dabei den Kopf zurück, dann beugte er ihn wieder vor und wäre mit dem Gesicht beinahe gegen das Gitter geprallt. »Du wirst es nicht tun!« »Abwarten, Mister Redstone!« Unwirsch schüttelte er den Kopf. Der Mann haßte es, wenn ihm widersprochen wurde. »Hoch mit dir. Du wirst denselben Weg nehmen, den du heute schon einmal gegangen bist. Klettere am Zaun hoch, und dann kommst du zu mir.« »Ich könnte weglaufen!« »Ha, wohin denn? In den Sumpf? Willst du dort versinken und elendig ersticken? Es gibt keine Chance für dich, Wiebke. Wir werden dich immer fassen, wir sind stärker.« Nicht mehr, dachte sie und mußte sich abmühen, einen ängstlichen Eindruck zu hinterlassen. Dieser Kerl sollte nicht schon jetzt merken, wie es tatsächlich um sie stand. »Willst du kommen?« »Ja.« Mister Redstone lächelte zufrieden. Er gab sich selbstherrlich und eitel. Wieder klopfte er mit seiner Gerte gegen den Stiefel, als wollte er sich Mut machen. So kannten die Schüler ihn. Er war gefürchtet, da spielte es keine Rolle, ob es Mädchen oder Jungen waren. Und die verfluchte Rektorin ließ ihn gewähren. Sie war ja nicht besser. Auch ihr bereitete es Spaß, die Schüler zu unterdrücken. Wiebke kletterte am Zaun hoch. Es war ihr anzusehen, daß sie diesen ungewöhnlichen Weg schon öfter genommen hatte. Von der anderen Seite her schaute ihr der Lehrer zu. »Ja, das ist gut«, flüsterte er, »das ist sogar sehr gut. Du hättest eine gute Sportnote bekommen können.« Sie hockte auf dem Rand. Der Zaun schwankte. »Die habe ich sogar, Mister Redstone.«
»Tatsächlich?« Wiebke sprang. Sie hätte sich am liebsten gegen ihn fallen lassen, aber sie landete dicht neben ihm, sank in die Knie und lief einige Schritte, bis sie sich wieder gefangen hatte. »Lauf nur nicht weg, Kleine!« »Keine Sorge, Mister Redstone, ich bleibe.« »Das wollte ich dir auch geraten haben.« Er kam auf das Mädchen zu, das sich umgedreht hatte. Die beiden starrten sich an. Wieder lächelte Redstone. In seinen Augen lag auch weiterhin dieses eiskalte Leuchten. Die Reitgerte hielt er in der rechten Hand. Er schlug leicht damit auf den linken Handteller. »Du hast alles gewußt, Wiebke, dir sind die Regeln der Schule bekannt, aber du hast dich nicht an sie gehalten.« Sie hob die Schultern. »Ist das deine Antwort?« »Sie würden ja keine andere akzeptieren.« Er war stehengeblieben und nickte. »Ja, das stimmt, das würde ich nicht. Ich habe dir doch versprochen, daß du diesen Weg so schnell nicht mehr nehmen wirst, und ich verspreche dir jetzt, daß du zur Schule zurückkriechen wirst…« »Ich? Nein… Wieso?« »Doch!« flüsterte er. »Weil ich es so will. Und wenn ich mich einmal entschlossen habe, kann mich nichts und niemand mehr von diesem Entschluß abbringen. Das weißt du.« Sie nickte. Redstone aber lächelte. Wiederlag das eisige Funkeln in seinen Augen. »Schön, daß du das kapiert hast. Dann wirst du mir jetzt glauben, daß du zur Schule zurückkriechen mußt. Wir haben viel Zeit, wir beide, wir sind allein, ganz allein.« »Das schaffen Sie nicht, Mister Redstone.« »Doch!« »Wie denn?« »Du wirst gleich deine Schuhe ausziehen. Du weißt doch, daß ich Schüler mit schmutzigen Schuhen nicht mag. Schau mich an, sieh auf meine Stiefel. Sie sind nicht nur sauber, sie sind sogar perfekt. Und wenn du deine Schuhe ausgezogen hast, wirst du dich auf den Boden legen und mir deine nackten Füße zeigen. Du glaubst gar nicht, welch ein wunderbares Ziel sie abgeben. Deine Füße und meine Reitgerte. Zehn Schläge auf den rechten und zehn Schläge auf den linken werden reichen.« Wiebke schaute ihn an. »Und das wollen Sie wirklich tun, Mister Redstone?« »Das werde ich sogar.«
»Und das haben Sie sich auch gut überlegt?« Den Lehrer irritierte die Frage, denn so wie Wiebke hatte noch nie ein Schüler reagiert, wenn er bestraft werden sollte. »Meinst du, hier die Heldin spielen zu können?« »Nein.« »Was soll das Gerede?« »Ich möchte Sie warnen!« »Du mich?« »Ja!« Er schlug zu. Nicht auf die Füße, sondern auf ihr Gesicht. Sie zuckte mit dem Kopf zur Seite, deshalb traf die Peitsche nicht ihre Stirn, sondern die Seite und auch das rechte Ohr. Der Schlag brannte. Wiebke hatte das Gefühl, ihr Ohr wäre in heißes Öl getaucht worden. »Nun?« fragte er lachend. »Willst du deine verdammten Schuhe jetzt endlich ausziehen?« Sie schaute ihn an, dann sagte sie mit sehr leiser Stimme. »Das hätten Sie nicht tun dürfen, Redstone.« Sie ließ das Mister bewußt weg. »Nein, das hätten Sie nicht tun dürfen, in Ihrem eigenen Interesse schon nicht, glauben Sie mir.« Die Worte irritierten ihn. »Was redest du denn da? Ich bin dein Lehrer. Ich habe zu bestimmen, ich…« »Es war falsch für Sie, Redstone, denn jetzt werde ich Sie töten! Haben Sie gehört? Ich werde Sie töten!« Ja, Redstone hatte die Sätze gehört, und er wußte nicht, was er mit ihnen anfangen sollte. Ihm fehlten die Worte für eine Antwort. So hatte noch nie jemand mit ihm gesprochen. Er schaute Wiebke Crotano an. Vor ihm stand eine etwas pummelige Sechzehnjährige mit langen, fahlblonden Haaren. Sie war kleiner als er, ihm unterlegen, und deshalb war ihre Drohung eigentlich völlig absurd gewesen. Dann verfing sich sein Blick in ihren Augen. Und dort las er etwas, das ihm nicht gefiel. Es war eine Drohung, ein finsteres Versprechen, das ihre Worte unterstrich. Plötzlich kam er sich lächerlich vor, weil er die Reitgerte festhielt. Er bereute es, sie geschlagen zu haben. Tief in seinem Innern verbarg sich die Furcht, doch noch verlieren zu können. Redstone ging zurück. »Das hast du doch nicht im Ernst gemeint, verdammt.« »Doch, das habe ich!« Er bekam wieder Oberwasser. »Und… ahm,… wie willst du mich töten? Willst du etwa einem Sumpfmonster Bescheid sagen, daß es mich auffrißt?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. Aber nicht so, als würde sie die Frage verneinen. »Es hat mit einem Sumpfmonster nichts zu tun, überhaupt
nichts, denn was hier wohnt, sehe ich nicht als Monster an. Es ist das Böse, es ist…« »Rede keinen Schwachsinn…« »Es ist kein Schwachsinn, Redstone«, flüsterte sie und schaute gegen den Mond, der ihr vorkam wie ein guter Freund. Sie genoß sein Licht, sie merkte, daß sie die Strahlung noch nie so empfunden hatte wie in dieser Nacht. »Du darfst das Böse niemals als Schwachsinn bezeichnen. Du bist doch Lehrer, Redstone, und als Lehrer müßtest du eigentlich anders reden und mehr wissen. Tatsächlich aber weißt du überhaupt nichts. Du bist leer, du bist nur mehr eine Hülle, das ist alles. Eine leere Schote, die es nicht mehr wert ist zu leben. Du, die Paulsen und einige andere habt einen Zirkel aufgebaut, den ich zerstören werde. Ich habe mir in dieser Nacht die Kraft geholt, um es zu schaffen. Und ich werde dir jetzt zeigen, wer dich umbringt, wer mir dabei zur Seite steht, wer die immense Kraft hat, dich zu verlöschen.« »Hast du einen Helfer?« Sie nickte. Die rechte Hand hatte sie an ihren Rücken geführt, wo das Netz mit dem makabren Inhalt hing. Sie zog den Gürtel durch die Schlaufen, löste das Netz, in dem der bleiche Totenkopf lag. Mit einer lässigen Bewegung schwang sie es herum, fing den Schädel mit der anderen ab, während Restone noch weiter zurücktrat. Sekunden später lag der Totenkopf frei, und Redstone stierte ihn aus großen Augen an. »Nun?« »Was… was ist das…?« »Dein Mörder!« Er reagierte reflexartig und hob den rechten Arm. Die Gerte sirrte durch die Luft, er wollte nach dem Schädel schlagen, ihn Wiebke aus der Hand dreschen. Sie schleuderte ihm den bleichen Kopf entgegen. Über die Gerte wischte er hinweg, begleitet von einem schrillen Lachen des Mädchens. Wiebke hatte nicht einmal richtig gezielt, sie wußte, daß dieses Teil seinen Weg von sich aus fand. Plötzlich brüllte Redstone auf. Gleichzeitig gerieten seine Beine in heftige Zuckungen. Auf der Stelle führte er einen zuckenden wilden Tanz auf, er riß die Arme in die Höhe, und seine Hände umkrallten den bleichen Totenkopf. Am Hals hatte dieser sich festgebissen. Blut quoll aus der Wunde, rann über das bleiche Gebein, benetzte die Hände des Mannes, und Wiebke schaute diesem Kampf mit faszinierenden Blicken zu. Er schaffte es nicht mehr. Der Schädel ruckte einige Male, als er nachbiß. Er war wie von Sinnen, er wollte Blut, er wollte vernichten, und der Lehrer fiel auf die Knie. Noch einmal schaffte er es, den Kopf anzuheben.
Wiebke war zwei Schritte auf ihn zugegangen. Da er kniete, konnte sie auf ihn hinabschauen. Redstone hob den Kopf. In seinem Blick lagen Angst und Flehen. Er wollte nicht sterben. Er bat durch seine Augen um Rettung. Vergeblich. Er kippte zur Seite und blieb tot liegen… *** Das Mädchen stand vor der Leiche. Es lächelte, in den Augen zuckte Freude auf. Mit der Zunge fuhr es seine Lippen nach, dann nickte es der Leiche zu. Sie ging hin, bückte sich und nahm den Schädel von der Kehle weg, als wäre nichts geschehen. Er hatte sich auch nicht mehr festgebissen, sie konnte ihn ohne weiteres nehmen und wieder in das Netz legen. An seinem Maul klebte des Blut des Toten. Wiebke wollte dies nicht so lassen. Sie fand eine Pfütze und reinigte das Gebein. Erst dann war sie zufrieden und kehrte wieder zu dem Toten zurück. Er lag da, als würde er schlafen. Nur die zerbissene Kehle machte aus diesem Bild einen Alptraum. Liegenlassen konnte Wiebke die Leiche nicht. Man würde den Lehrer vermissen und natürlich zunächst am Sumpf nachschauen. Es war besser, wenn er für eine Weile verschwand, und da bot sich der See nahezu an. Sie machte sich noch nicht sofort an die Arbeit. Erst genoß sie ihre Freiheit, lachte, jubelte, schaute gegen den Mond und auch gegen die See, in dessen Tiefe das Böse lauerte. Dann erst wuchtete sie den Toten über den Zaun und schleifte ihn auf das Ufer zu. Sie hielt ihn an den Füßen umfaßt, ohne überhaupt Ehrfurcht vor dem Tod zu haben. Was schon lange in ihr geschlummert hatte, war jetzt voll zum Ausbruch gekommen. Sie war endlich diejenige, die sie schon immer hatte sein wollen. Sie war Miss Monster, und sie hatte es auch bewiesen. Es war nur der erste Schritt gewesen, weitere würden folgen, und sie würden sie immer näher an ihr Ziel heranbringen. Der sperrige Schilfgürtel setzte ihr schon Widerstand entgegen. Sie schimpfte, sie brach sich gewaltsam Bahn, und nur widerwillig taten sich Lücken auf, in die sie den schweren Körper hineinschieben konnte. Sie watete durch den dichten Bewuchs. Ihre Füße platschten längst durch das Wasser. Der Boden unter ihr war weich und nachgiebig. Sie drückte den Toten tiefer in den weichen Schlamm und schob den leblosen Körper dann so gegen das Schilf, daß er zwischen den Stäben in einer Lücke festklemmte.
Nun erst war sie zufrieden. Gemächlich verließ sie das Wasser, kletterte geschickt über den Zaun und fühlte sich noch immer gut. Wiebke schaute nicht zurück. Sie brauchte dieses Symbol nicht mehr, da sie sich für ein anderes entschieden hatte. Sie richtete den Blick nach vorn. Dort stand die Schule. Der mächtige Klotz, der selbst bei Tageslicht Unbehagen und Beklemmung produzierte. Alle Schüler dachten so. Es gab keine Ausnahmen, auch nicht bei denjenigen, die mit den Leuten, die sich Lehrer nannten, gut zurechtkamen. Das war keine Erziehung fürs Leben. Man verbreitete hier Angst und einen auf Gewalt basierenden Respekt. Aber nicht mehr bei ihr, nicht mehr bei Miss Monster! *** Eigentlich hätte es im Zimmer dunkel sein müssen. Das aber war es nicht, denn der Mond stand als bleiche Scheibe am Himmel und sandte ein fahles Licht in den Raum. Darin befanden sich zwei Personen. Eine davon schlief, die andere war wach. Der Schläfer hieß Barry F. Bracht, war Lektor in einem großen Verlag, ein netter Mann, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, den aber ein Geheimnis umgab, das auf der Welt einmalig war. Der zweite Mann war ich! Barry F. Bracht hatte mich geholt, damit ich in dieser Nacht bei ihm blieb. Einen direkten Grund hatte er mir nicht nennen können, er hatte nur davon gesprochen, daß etwas passieren könnte und daß er mich dann in der Nähe haben wollte. Ich wußte um sein Geheimnis. Wir hatten zusammen den mächtigen Knochenmond bekämpft und damals einen unheimlichen Fall erlebt.* Ob etwas Ahnliches passieren würde, konnte ich nicht sagen. Schaute ich aber aus dem Fenster, waren die Gegebenheiten schon zu erkennen, denn wieder stand der volle Mond am Himmel. Das Fenster war weder verschlossen noch verhängt. Barry F. Bracht hatte es so gewollt. Wenn ihn das Schicksal traf, dann mit der vollen Härte. Zum Glück war es ihm gelungen, mit seinem zweiten Dasein zu leben, mit seinen Träumen, in denen er ein anderer wurde. Da entwickelte sich aus dem fast schüchtern wirkenden Mann eine Gestalt, wie sie fast unerklärlich und unbegreifbar war. * Siehe Sinclair-Taschenbuch 73.118: »Knochenmond«
Da wurde er zu Zebuion, dem Schattenkrieger! Und seltsamerweise nicht nur im Traum, denn dieses Wesen blieb nicht allein feinstofflich. Durch fremde Kräfte gelang es ihm, sogar Gestalt anzunehmen. Zebuion existierte dann echt, er war zum Greifen, zum Anfassen, und das hatte ich am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Ich sollte nur warten. Kein angenehmer Job, eine langweilige Arbeit, denn auch ich gehöre zu den Menschen, die in der Nacht lieber schlafen, als an einem fremden Bett zu hocken und den Schlaf eines anderen Menschen zu überwachen. Deshalb fiel es mir einfach schwer, die Augen offenzuhalten, und ich versuchte es mit einigen Tricks, um mich wachzuhalten. Dazu gehörte die Riesenportion Kaffee. In der kleinen Küche hatte ich sie mir gekocht, die braune Brühe, danach in eine Thermoskanne gefüllt und sie mit in Brachts Schlafzimmer genommen. Es war sehr klein und eng, lag unter dem Dach. Durch das Fenster schien der Mond, und seine Strahlen berührten den auf dem Rücken liegenden Mann. Bracht war kein Muskelprotz, im Gegenteil. Ziemlich groß, dabei auch dünn oder hager. Auf seinem Kopf wuchs volles, dichtes, braunes Haar. Dieselbe Farbe hatte auch der Oberlippenbart, der wie eine fingerdicke Bürste über seiner leicht gekrümmten Nase wuchs. Noch schlief er ruhig, hielt die Augen fest geschlossen, da flatterte keine Wimper, die von einer inneren Unruhe sprach. Seine Lippen lagen aufeinander, er atmete allein durch die Nase. Ich hatte mir einen Stuhl geholt und mich neben das Bett gesetzt. Die Kanne stand auf einem zweiten Stuhl, umrahmt von der Tasse und dem Aschenbecher. Zwar hatte ich das Rauchen stark eingeschränkt, hin und wieder aber wurde ich schwach, worüber ich mich eigentlich selbst ärgerte, aber man ist eben nicht perfekt. Ich trank den Kaffee in kleinen Schlucken und dachte dabei an Glenda Perkins, meine Sekretärin, die für mich den besten Kaffee der Welt kochte. Ihre Klasse würde ich nie erreichen können. Ich hatte ihn sehr stark gemacht. Sirupgleich schien er meine Kehle hinabzurinnen. Aber er möbelte mich auf, vielleicht bildete ich mir dies auch ein. Ich schaute auf die Uhr. Ein Zufall, denn es war genau Mitternacht. Tageswende, eine ruhige Herbstnacht mit einem bleichen Mond, gegen den ich blickte. Die Luft war sehr klar, kein Dunst durchwehte sie. Ich
roch den Atem der Großstadt, der wie aus einem gewaltigen Trichter kommend in die Höhe stieg. Es bestand aus einem Konglomerat von Gerüchen, war aber nie so frei und atemfreudig. London stank, als wäre die Stadt dabei, zu verwesen. Die Experten hatten davon gesprochen, daß das Wetter bald kippen würde. Noch stand die Luft sehr klar, irgendwann aber würde der Wind die Wolken und den Regen herbeischaffen. Ich trank die zweite Tasse und zündete mir eine Zigarette an. Rauchend begab ich mich unter das Fenster, schaute gegen den Mond, der völlig normal aussah und nicht das Abbild eines Knochengesichts zeigte, wie wir es schon einmal erlebt hatten. Wenn ich ihn ansah, empfand ich keine Bedrückung. Ich war auch nicht mondsüchtig und hätte auch nicht behaupten können, daß seine Strahlung meinen Schlaf beeinflußte. Ich sah ihn einfach als einen neutralen Gegenstand an, als ein Gestirn, einen Begleiter des Planeten Erde. Andere mochten nicht so denken. Und dafür war Harry F. Bracht das beste Beispiel. Er litt unter dem Mond, denn seine Strahlen sorgten dafür, daß sein zweites Ich hervorkam und Gestalt annahm. Bracht spürte das Böse, er merkte genau, wenn es unterwegs war, hochsensibel überkam ihn dann die Müdigkeit, gegen die er auch nicht ankämpfen konnte. Er mußte die Augen schließen und schlafen, denn nur in diesem Zustand empfing er die ersten, wichtigen Botschaften. Ich wandte mich vom Fenster ab, drückte meinen Glimmstengel aus und trat wieder an das Bett. Bracht hatte sich noch nicht bewegt. Nach wie vor lag er auf dem Rücken, die Arme rechts und links an seinen Körper gelegt, aber dort hatte sich etwas verändert. Brachts Hände waren nicht mehr gestreckt. Er hatte sie zu Fäusten geballt, und zwar so stark, daß sogar die Knöchel weiß und scharfkantig hervortraten. Er träumte. Das Ballen der Hände war für mich der Beweis. Nur träumte Bracht noch nicht so intensiv, als daß er mir die Botschaft hätte mitteilen können. Obwohl ich es nicht erlebte oder sah, konnte ich mir vorstellen, was nun mit ihm passierte. Sein Traum hatte Gestalt angenommen und ein zweites Ich bekommen. Vor mir lag noch immer Barry F. Bracht, aber die zweite Person besaß einen anderen Namen. Als Zebuion, der Schattenkrieger, würde er durch Welten eilen, die noch keine Grenzen besaßen, weil sie eigentlich nur existieren konnten, wenn Menschen träumten. Dann entstanden sie aus dem Unterbewußtsein
und formierten sich zumeist zu Welten, wie sie schrecklicher nicht mehr sein konnten. Da waren sie dann die Gestalt gewordenen Ergebnisse menschlicher Alpträume. Er zuckte zusammen. Diesmal nicht nur an den Armen. Auch die Augenlider bewegten sich, und der Mund öffnete sich. Bracht träumte… Gleichzeitig mußte er sich als Zebuion sehen, wie diese Gestalt Traumwelten durcheilte, Eindrücke sammelte, sie registrierte und später an das Gehirn des normalen Menschen weitergab, damit er sie in Worte umsetzte. Was sich kompliziert anhörte, war im Prinzip ganz einfach, aber trotzdem schwer erklärbar. Als Zuschauer oder Helfer mußte man schon gedankliche Festungen einreißen und Kräfte akzeptieren, die von vielen Menschen abgestritten wurden. Aus seiner Kehle drang ein Röcheln, dann hüstelte er, als wollte er sich freie Bahn verschaffen, um reden zu können. Ich sprach ihn noch nicht an, da ich instinktiv wußte, daß dieser Zeitpunkt nicht gut war. Barry F. Bracht befand sich noch in einem Anfangsstadium. Wenn er soweit war, würde er sich melden. Dann transportierte sein Zweitkörper die Eindrücke in das Gehirn des ersten hinein, und noch im Schlaf würde er darüber berichten. Ich war gespannt. Von meiner Müdigkeit spürte ich nichts mehr. Jetzt ging es einzig und allein darum, Bracht nicht mehr aus den Augen zu lassen. Ich wollte jede Reaktion und jedes Wort mitbekommen, alles konnte wichtig sein in einem Fall, von dem ich so gut wie nichts wußte, denn auch Barry F. hatte nicht mit Informationen dienen können. Seine Unruhe stieg. Hoffentlich entwickelte sie sich nicht zur Panik, weil das, was sein zweites Ich erlebte, einfach so schrecklich und grauenvoll war. Als Barry F. Bracht konnte er nie im voraus sagen, was Zebuion, dem Schattenkrieger, widerfuhr. Er hob den rechten Arm. Dicht an meinem Gesicht wischte die Faust vorbei. Sie war noch geschlossen und auch dann, als er den Arm wieder nach unten drückte, änderte sich daran nichts. Sie federte auf dem Bett nach, dann lag sie still. Still wie er. Nur der Atem hatte sich gesteigert. Er war schwerer geworden und keuchender. Aus seinem Mund drang er wie ein Fluß, der Schweiß lag auf dem Gesicht des Schläfers, dessen Augen nicht mehr so stark geschlossen waren. Die Augenlider zuckten jetzt häufiger, und ich rechnete damit, daß Bracht erwachen würde. Das passierte jedoch nicht. Er schlief und träumte…
Bis er redete. Erste Worte strömten über seine Lippen. Sie klangen flüsternd und irgendwie auch gehetzt. Er konnte sie nicht in die richtige Reihenfolge bringen, sprach einiges durcheinander, fing sie aber wieder und sprach vom Licht des Mondes, das eine Stätte des Bösen überstrahlte, die lange im Verborgenen gelegen hatte. Ich spitzte die Ohren, aber die Worte waren einfach zu allgemein. Ein Bild konnte ich mir nicht machen. Barry blieb auch ruhig. Er zog nur ab und zu seine Beine an, um sie dann wieder auszustrecken, was durch ein hartes Vorschnellen geschah. Zwischendurch sprach er immer wieder einige Worte, die stets von einem Zischen begleitet wurden. Ich kam damit einfach nicht zurecht. Die Informationen wurden mir nur stoßweise zugetragen. Auch wenn ich mich noch so stark konzentrierte, hörte ich immer nur die Worte Sumpf, See und Haus. Jedesmal wenn er darüber sprach, steigerte sich seine Stimme. Ein Zeichen, daß er doch eine gewisse Angst verspürte. Dann drehte er sich wuchtig nach rechts. Das Bett stand so günstig, daß sein Blick durch das offene Fenster fallen konnte. Barry sah den Mond, der Mond sah ihn… Ich schaute als dritter gegen die Kugel, um zu sehen, ob sie sich verändert hatte. Nein, sie war dieselbe geblieben. Ich spürte auch nicht die leiseste Botschaft, die mir der Mond hätte überbringen können, er war und blieb für mich völlig normal. Anders Barry F. Bracht! Bei ihm war genau das eingetreten, womit ich schon gerechnet und was er befürchtet hatte. Der Lektor litt unter dem Einfluß der Strahlen. Es war ja nicht so, daß sie nur einfach über seine Gestalt hinwegflossen, sie brachten eine Welt der Träumenden in sein Unterbewußtsein, und eben darunter litt er so stark. Er sprach nicht mehr. Sein Atem allerdings hörte sich schrecklich an. Als wäre ein uralter Blasebalg noch einmal mit Luft gefüllt worden, wobei die Haut des Instruments zu viele Löcher aufwies, durch die sich die Luft mit pfeifend klingenden Geräuschen quälte. »Der Sumpf… der Sumpf… das alte Böse… Vorsichtig vor ihr… Vorsicht vor dem Mädchen…« Ich wollte ihn ansprechen, als er erwachte. Urplötzlich schlug er die Augen auf, rollte sich wieder auf den Rücken und starrte mich an. Ich nickte ihm zu. »Ist alles okay?«
Barry F. hob die Schultern, senkte den Kopf, ließ seinen Blick ins Leere gleiten. Mit beiden Händen wühlte er das dichte Haar auf; er stöhnte und sprach von einer Dusche. »Dann geh und denke über deinen Traum nach.« Mit schwerfälligen Bewegungen kam er auf die Füße. Seine Gelenke knackten. Als er sich streckte, lagen Speichelbläschen, die er ableckte, auf seinen Lippen. Ohne ein Wort zu sagen, schlich er an mir vorbei und verschwand in der Dusche. Ich kannte Barry F. Bracht noch nicht sehr lange. Vor allen Dingen kannte ich ihn nicht gut genug, um mir über sein Seelenleben ein Urteil bilden zu können. Eines aber stand fest. Barry F. litt unter dem Zustand der Doppelexistenz schwer. Er hatte ihn zwar als gegeben hinnehmen müssen, aber damit abfinden konnte er sich kaum. Das hatte er mir auch immer wieder gesagt. Ich rauchte noch eine Zigarette. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, daß bereits zwanzig Minuten vergangen waren. Ich hatte diese Distanz als zeitlos empfunden. Was hatte Barry gesehen? In welche Welt war er durch seine Träume eingedrungen? Wie hatte er Zebuion dirigieren können – oder war ihm dies nicht möglich gewesen. Eines stand fest: Barry F. Bracht hatte in den letzten Minuten bestimmte Botschaften empfangen, die er nicht vergessen und über die er mit mir reden würde. So hatte sich mein Besuch schon gelohnt. Ich hörte das Rauschen des Wassers. Ansonsten herrschte Stille vor. Wenig später hatte es der Lektor geschafft. Er zog sich an und kehrte mit zu mir zurück. Mit einem Handtuch rieb er durch sein nasses Haar. »Einen Kaffee?« fragte ich. »Gern.« Ich schenkte ihm die Tasse voll. Barry F. zitterte nicht mehr, er konnte die Tasse normal halten, trank einige Schlucke und bat um eine Zigarette. Er bekam sie und auch Feuer. »Willst du reden?« Bracht hob die Schultern. Wir saßen uns auf zwei Stühlen gegenüber. »Es ist nicht so einfach«, flüsterte er. »Ich muß zunächst meine Gedanken ordnen.« »War es sehr schlimm?« »Nein«, murmelte er, »eigentlich nicht. Ich hatte es mir auch schlimmer vorgestellt, aber das alles traf nicht ein. Es ist so seltsam gewesen, John.« »Inwiefern?« »Ich war nicht Zebuion!«
Dieses Geständnis haute mich fast vom Hocker. »Das begreife ich nicht, Barry. Du hast im Schlaf und während du träumtest, dein zweites Unterbewußtsein nicht erlebt?« »So ist es.« »Das verstehe ich nicht.« »Kann ich mir denken, John. Es ist auch für mich kaum zu begreifen, denn ich war die Hauptperson.« Ich räusperte mich. »Halten wir mal fest. Du hast geträumt, dein Unterbewußtsein sprach an. Du hast in deinen Träumen etwas erlebt, nehme ich an.« »Ja, ich. Aber nicht Zebuion.« »Dann ist er nicht entstanden?« »Richtig.« Ich hob die Augenbrauen. »So etwas ist schwer zu begreifen, Barry. Bist du auch nicht in die Traumwelten anderer Personen eingedrungen? Lief heute alles anders?« »Das kann man behaupten.« »Was und wie lief alles anders.« »Ich hatte einen Wahrtraum, John. Ich brauchte nicht Zebuion zu sein, ich habe auch keinen Knochenmond gespürt, es gab für mich keine anderen Welten, in die ich eindringen mußte. Einzig und allein die Welt meines Traums, und die existierte hier auf dieser Erde und nicht in aus Träumen geborenen Dimensionen. Ich habe hier etwas Böses festgestellt, etwas Fremdes, etwas Unheimliches, über das ich kaum reden kann, weil es nicht zu fassen ist. Es lauerte aber, und er verströmte sicherlich keine Liebe.« »Also das Gegenteil davon.« »So ist es.« »Tod, das Grauen, die Hölle.« Ich hob den Zeigefinger, weil ich sah, daß mir Barry ins Wort fallen wollte. »Ist es die Hölle, die hinter allem steht?« Er überlegte, dann fragte er: »Meinst du etwa damit den Teufel?« »So kannst du es auch sagen.« Wieder überlegte er, strich durch sein noch nasses Haar und schüttelte den Kopf. »Es ist nicht der Teufel, John, sondern etwas anderes, obwohl es auch sehr grauenhaft und absolut böse ist. Es hat sich lange versteckt…« »Entschuldige, wenn ich dich unterbreche. Aber du hast von einem Sumpf gesprochen.« »Ach ja?« »Das schwöre ich.« Barry F. Bracht nickte. »Dann muß es wohl so sein. Ja, ich habe einen Sumpf gesehen, ein düsteres, altes Moor. Nicht weit davon entfernt stand ein Haus. Alt und düster, zu groß nur für eine Familie. Kein Hotel, aber ein Haus mit vielen Zimmern.«
»Waren sie bewohnt?« »Sicher.« »Und wer lebte dort?« »Gute Frage«, flüsterte Barry F. Bracht. »Eine sehr gute sogar. Ich muß etwas nachdenken.« Ich half ihm auf die Sprünge. »Kann es sein, daß du von einem Mädchen gesprochen hast?« »Das mußt du besser wissen, John.« »Ich habe es gehört.« Er trank noch einen Schluck Kaffee, um seine Erinnerung zu wecken. »Ja, du hast dich nicht geirrt. Es war ein Mädchen, doch kein Kind mehr, ich würde von einer Jugendlichen sprechen.« »Die in diesem Haus lebte?« »Das ist möglich…« »Und was hatte die Existenz des Mädchens zu bedeuten? Kannst du da mehr darüber sagen?« »Das wird nicht einfach sein, John. Ich weiß einfach noch zuwenig. Der Sumpf, das Haus…« »Wir werden herausbekommen, wo dieses Haus steht. Ich hoffe nicht, daß wir es in einem anderen Erdteil suchen müssen.« »Das glaube ich nicht.« Er lächelte. »Die Umgebung sah mir schon sehr britisch aus.« »Kannst du etwas von ihr beschreiben? Von diesem Haus einmal abgesehen?« »Nur schlecht.« »Bitte.« »Es war ja Nacht, das Haus steht einsam…« »Gab es keinen Ort in der Nähe?« »In der Nähe nicht.« »Wie weit weg…?« »Ich habe nichts gesehen, John, eigentlich gar nichts von der Umgebung. Bei der Suche müssen wir uns auf das Haus konzentrieren.« Er klatschte in die Hände. »Nur auf das Haus, das von zahlreichen Personen bewohnt ist.« »Ein Hotel?« Barry F. wiegte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Wer übernachtet schon direkt am Moor. Wenn man das vorhat, geht man in ein Gasthaus, wo hin und wieder das eine oder andere Zimmer vermietet wird. Die bekamen das Haus ja nie voll.« Während er sprach hatte ich überlegt. Und dabei war mir etwas eingefallen. »Vielleicht ein Heim, eine Schule, ein Ferienhaus, ein Internat.« Barry F. Bracht schaute mich so starr an, daß ich mich beinahe vor meinen eigenen Worten erschrak. »Ja, John Sinclair, du bist gut. Das kann es sein. Das… das ist sogar so…«
Ich stand auf. »Okay, mein Freund. Jetzt kann ich mir dazu gratulieren, daß ich zum Yard gehöre, der angeblich besten Polizeitruppe der Welt…« »Du glaubst, daß wir es finden?« »Wenn es das Haus gibt, garantiere ich dafür…« *** In dieser Nacht schlief Wiebke Crotano nicht. Sie lag in ihrem Bett und lächelte vor sich hin. Es war ein böses Lächeln, sehr wissend, hinterlistig und auch gemein. Es stand jetzt fest, daß sie sich nie mehr terrorisieren lassen würde. Die Zeit des Drucks, der Schläge, der Restriktionen war vorbei. Das neue Zeitalter begann. Das der Rache! Sie war nicht mehr nur Wiebke Crotano, der andere Begriff gefiel ihr ausgezeichnet. Miss Monster! Wie sich das anhörte – hart und unbesiegbar. In Gedanken sprach sie den Namen einige Male vor sich hin, bis sie wechselte und damit begann, den Begriff zu flüstern. Sie mußte sich einfach daran gewöhnen, und die anderen Mädchen im Schlafzimmer störte sie nicht. Sie schliefen, atmeten ruhig, regelmäßig. Manche schnarchten auch, hin und wieder sprach eine der übrigen achtzehn Schülerinnen auch im Schlaf, zumeist seufzend und sehnsuchtsvoll, wahrscheinlich träumte die Schläferin von ihrem Zuhause, denn viele sehnten sich danach, aus dem alten Bau herauszukommen. Mit diesem Internat konnte kein Staat gemacht werden. Es zählte nicht zu den modernen Schulen. Die Methoden der Unterrichtung waren ebenso alt wie die Mauern des Hauses. Wiebke ballte die Hände zu Fäusten. Sie haßte den Bau, sie haßte alles, auch den Schlafsaal, der ihr vorkam wie ein Lager. So hatte man vor sechzig Jahren gelebt, aber nicht heute. Aber mit ihr konnte man es machen, sie war Vollwaise, im Gegensatz zu vielen anderen Schülern, deren Eltern einen Riß im Schädel haben mußten, wenn sie ihren Nachwuchs in ein Haus wie dieses steckten. Bald aber würden auch die anderen Schülerinnen Bescheid wissen, und dann gab es kein Halten mehr. Dann brach die neue Zeit an, und es würde sich alles ändern. Keine Mrs. Paulsen mehr, die ein straffes Regiment führte, unter dem sich auch die übrigen Lehrer duckten. Und den schlimmsten, Redstone, gab es nicht mehr. Sie kicherte leise vor sich hin, als sie daran dachte, und sie mußte sich den Mund zuhalten, um das Lachen nicht lauter werden zu lassen.
Dennoch hatte jemand etwas bemerkt. Rechts neben ihr bewegte sich ein Körper. »He, was ist, Wiebke?« Sie schaute nicht hin. »Schlaf weiter, Brenda.« »Das sagst du so.« »War die Paulsen schon durch?« »Weiß nicht.« »Dann ist es gut.« Brenda atmete laut. Sie hatte etwas auf dem Herzen, das spürte Wiebke sehr genau. Flüsternd hörte sie die Worte. »Mir kannst du es ja sagen, ich werde dich auch nicht verraten, aber ich habe das Gefühl, daß du verschwunden warst.« »Ach ja, hast du?« »Sicher.« »Und wenn schon…« Brenda drehte sich auf die Seite, und auch Wiebke bewegte ihren Körper. Allerdings in die entgegengesetzte Richtung, so daß sich beide anschauen konnten. Es war nicht zu dunkel im Schlafraum. Durch die hohen Fenster schien das bleiche Mondlicht. Das Metall an den Betträndern glänzte, und die Köpfe der Schülerinnen wirkten wie bleiche Gebilde, falls sie auf dem Rücken lagen und schliefen. Eine ungewöhnliche Atmosphäre beherrschte den Raum. Als hätte jemand dünne Tücher hineingehängt, die den Schlafsaal wie große Schleier durchzogen. »Wo warst du denn?« Wiebke schwieg. »Im Moor?« Brenda ließ nicht locker. »Kann sein.« »Das ist verboten.« »Was kümmerte es mich.« Brenda schluckte. »Ich würde mich nicht trauen. Ich habe gehört, daß Mister Redstone unterwegs sein soll. Hast du ihn nicht gesehen? Der geht doch bei seinen nächtlichen Touren auch immer bis ans Moor.« »Ach ja? Tatsächlich?« »Man hat darüber gesprochen.« »Ist mir egal, Brenda. Mir lief er jedenfalls nicht über den Weg.« Das andere Mädchen lachte. »Kann ich mir denken.« »Dann hättest du auch Stoff bekommen und würdest hier nicht so ruhig liegen. Redstone ist ja ein Schwein.« Innerlich lachte Wiebke. Wenn du wüßtest, dachte sie. Wenn du alles wüßtest… »Stimmt es denn?« »Sicher.« Wiebke schaffte es, ihrer Stimme einen müden Klang zu geben. Hoffentlich merkte Brenda dies, damit sie endlich in Ruhe gelassen wurde.
Es gelang ihr auch. Brenda murmelte noch was vor sich hin, und wenig später war sie eingeschlafen. Wiebke lächelte wieder. Sie hatte kein Lust gehabt, sich die nächsten Stunden noch zu unterhalten. Vielleicht konnte sie die Augen noch einmal schließen, denn die nächsten Tage würden sie sicherlich einiges an Kraft kosten. Sie atmete ruhig und gelassen. Die Augen hielten sie offen. Selbst an der Decke zeichnete sich der blasse Schimmer des Mondlichts ab. Ihr schien es, als wollte sie der Erdtrabant wie einen guten Freund extra begrüßen. Zeit verstrich. Ihre Gedanken gingen wieder auf Wanderschaft. Vor ihrem Auge breitete sich die düstere Moorlandschaft aus. Selbst am Tage wirkte sie abweisend und unheimlich. In der Nacht konzentrierte sich dies noch, da war dieser Eindruck mehr als furchtbar. Da war er so abweisend, hinzu kam der Geruch, und die Lehrpersonen hatten schon recht, wenn sie die Schüler davor warnten, das Moor zu betreten. Andererseits hatten Verbote schon oft genug das Gegenteil von dem bewirkt. Wie auch bei Wiebke, die ihre Hand ausstreckte und unter das Bett griff, wo der bleiche Totenschädel stand. Schon beim ersten Griff hatte sie ihn gefunden. Sie hob ihn an und stellte ihn sich auf die Brust. Zwischen ihr und dem Schädel lag nur mehr die dünne Decke. Wiebke starrte in sein Gesicht oder in das, was einmal ein Gesicht gewesen war. Jetzt wirkte es zerstört, aufgerissen. Sie aber empfand es trotzdem noch als schön, als herrlich und wertvoll. Das Mondlicht ließ das Gebein des Schädels leuchten. Ein heller Schimmer umgab den Kopf wie ein Kranz. Wiebke strich mit den Fingern darüber hinweg. Das Gebein kam ihr nicht einmal hart vor. Für sie war es weich, es gefiel ihr einfach, es war so glatt wie perfekt geschliffenes Holz. Einige Male klopfte sie mit dem Finger gegen das Gebein. Ein hohler Klang blieb zurück. Sie lächelte, dann lachte sie leise. »Ich weiß«, flüsterte sie, »ich weiß, daß du mich beschützen wirst. Du bist mir gegeben worden von einem Freund, den ich nicht kenne. Er lebt im Sumpf, er haust dort in der Tiefe, aber glaube nur nicht, daß ich mich vor ihm fürchte. Nein, das bestimmt nicht, denn…« Sie verstummte, weil sie ein typisches Geräusch vernommen hatte, das jede Schülerin kannte. Die Tür öffnete sich. Zwar schwang sie lautlos auf, hatte sie jedoch eine bestimmte Stelle erreicht, fing sie an zu quietschen.
Und es konnte nur eine Person geben, die mitten in der Nacht den Schlafsaal betrat. Sie brauchte auch nichts zu sagen, allein an der Schrittfolge hörte Wiebke, daß es die Leiterin, Mrs. Paulsen, war, die ihren Kontrollgang unternahm. Auf keinen Fall sollte sie schon jetzt den Totenschädel sehen! Wiebke versteckte ihn unter der Decke. Sie bewegte sich dabei vorsichtig, denn die Frau besaß Argusaugen. Sie merkte sehr schnell, ob jemand schlief oder nur markierte. Sie kam durch den Mittelgang. Jeder Schritt wirkte bei ihr wie eine Provokation. Sie setzte einen Fuß mit der Hacke auf, wobei ein hartes Geräusch erklang, das dann überging in ein sachtes Schleifen. Und wie immer hatte sie ihre Stableuchte mitgenommen, die mit dem breiten Strahl. Es tat ihr nicht leid, über die Betten der Schlafenden zu leuchten und dabei auch die Gesichter der Schülerinnen anzustrahlen. Vertrauen kannte sie nicht, nur die Kontrolle. Wiebke Crotano blieb ruhig liegen. Die Augen hielt sie spaltbreit offen, und sie hatte es auch geschafft, eine möglichst entspannte Schlafhaltung einzunehmen. Den rechten Arm hatte sie hochgelegt und angewinkelt, der linke lag ebenfalls so auf ihrer Brust. Auch dachte sie daran, daß Mrs. Paulsen kam, um die Schuhe der Schülerinnen zu kontrollieren. An Wiebkes würde sie bestimmt nicht vorbeigehen, das stand fest, denn sie gehörte zu den >Lieblingsschülern< der Mrs. Paulsen. Die Betten standen in zwei Reihen. Mrs. Paulsen blieb im Mittelgang, sie schwenkte die Lampe nur. Es sah so aus, als würde ein heller Arm lautlos durch die Dunkelheit wischen. Plötzlich blieb sie stehen. Sie war noch zwei Betten von Wiebke entfernt. Der Strahl blieb länger auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, ein Zeichen, daß ihr etwas aufgefallen war. So etwas ging nur selten gut aus. Sie sprach leise, aber auch dann hörte sich ihre Stimme wütend und böse an. »Du schläfst ja nicht, Muriel.« »Wieso?« »Jetzt hast du dich verraten!« »Bitte, Mrs. Paulsen…«. Aus Muriels Stimme klang die Angst durch. »Ich… ich konnte nicht schlafen. Diese Nacht ist so hell, verstehen Sie denn nicht? Es liegt am Mond, nur am Mond…« »Du schreibst morgen eine wichtige Klausur, kleine Muriel, und da ist es nicht gut, wenn man die Nacht über kein Auge zumacht. Hast du gehört?«
»Ja, Mrs. Paulsen. Wenn ich aber nicht schlafen kann…« »Du wirst es müssen. Hast du vergessen, daß wir für dich verantwortlich sind?« »Nein, Mrs. Paulsen…« Muriels Stimme versickerte. Wiebke konnte sich vorstellen, daß die Schülerin am liebsten in die Matratze hineingekrochen wäre, um sich zu verstecken. Es gab niemand, der keine Furcht vor dieser schrecklichen Person hatte. Unter der Decke ballte Wiebke die Hände zu Fäusten. Plötzlich haßte sie die Frau noch mehr, sie haßte alles, jeden Stein in diesem verdammten Bau, jedes Bett, jede Tasse, jede Tür… »Wir werden noch darüber reden, Muriel. Vor Unterrichtsbeginn meldest du dich bei Mister Redstone. Du wirst ihm sagen, daß du nicht geschlafen hast. Morgen ist auch noch Vollmond, dann darfst du sogar offiziell wachbleiben.« Wiebke Crotano verzog das Gesicht. Sie wußte genau, was das bedeutete. Man würde Muriel keinen Schlaf gönnen, man würde sie künstlich wachhalten und quälen. Am anderen Tag mußte sie dann antreten und auf dem Sportplatz ihre Übungen durchführen. Anschließend mußte sie dann am Unterricht teilnehmen. »Verstanden, Muriel?« »Ja, Mrs. Paulsen.« »Dann ist es gut.« Der lange Lichtfinger bewegte sich und glitt von dem Bett entlang, wo auch die Schuhe der Schülerin standen. Die Frau kontrollierte jetzt, ob sie sauber waren. Wenn sie eingetrocknete Schmutzränder zeigten, stand für die Internatsleiterin fest, daß sich die Schülerin heimlich verdrückt hatte. Wiebke dachte dabei an ihre eigenen Schuhe. Sie hatte diese bewußt nicht gereinigt und es darauf ankommen lassen. Aber sie hatte das Paar unter das Bett geschoben. Der Strahl wanderte wieder auf die andere Seite zu, erreichte die neben Wiebke schlafende Brenda. Miss Monster lauschte auf die Atemzüge. Brenda war tatsächlich wieder eingeschlafen, ein Glück für sie. Wiebke schielte zur Seite. Der helle Lichtarm wanderte über die Gestalt hinweg und erwischte auch das Gesicht, in dem sich nichts rührte, ein Zeichen, daß Brenda tatsächlich tief und fest schlief. Mrs. Paulsen atmete laut. Sie bereitete sich darauf vor, das nächste Bett zu kontrollieren, und dort genau lag ihre besondere Schülerin, die schon fast alle Strafen hinter sich hatte, die an der Schule vergeben wurden. Der Strahl wanderte langsam auf sie zu. Es sah so aus, als würde sich die Person bewußt Zeit lassen und die Sekunden davor noch genießen. Wiebke schloß die Augen. Sie merkte trotzdem, daß Mrs. Paulsen den Lichtkegel geradewegs auf ihr Gesicht richtete. Sekundenlang geschah nichts.
Entspanne dich, dachte Wiebke. Tu nichts, was ihre Aufmerksamkeit erregen könnte. Morgen ist auch noch ein Tag. Dann wird deine Stunde kommen. Sei ganz ruhig. Ob es ihr gelang, wußte sie nicht. Möglicherweise war die Frau auch bei ihr besonders mißtrauisch, denn sie sprach leise: »Du schläfst ja nicht, du kleine Hexe.« Fast wäre ihr ein »Doch, ich schlafe« entwischt, aber sie schaffte es, den Mund zu halten. »Okay, kleine Hexe, okay.« Wiebke hörte am Schaben der Kleidung, daß sich Mrs. Paulsen bewegte. Sie beugte sich zu Wiebke herab und faßte sie dann an. Zwei ihrer Finger berührten Wiebkes Wange, aber dabei blieb es nicht, denn sie kniffen zu. Wiebke Crotano stöhnte auf – und öffnete die Augen. Der Druck an ihrer Wange verschwand. Trotzdem glühte der Schmerz weiter nach. Die Paulsen lachte. Ihr Gesicht schwebte direkt über dem der Schülerin. Es war eine Physiognomie, die viele aus dem Internat abschreckten, einige Lieblinge ausgenommen. Da konnte die Sonne noch so stark scheinen, wie auch in diesem Sommer, die Haut der Frau blieb stets blaß. Manchmal sah die sogar aus wie gepudert. Zudem trug die Paulsen oft genug dunkle Kleidung, meist Jacken und lange Hosen. Auch in dieser Nacht hatte sie sich für diese Kleidung entschieden. Da wirkte die weiße Bluse unter der Jacke schon deplaziert. Ihr Gesicht war schmal, ebenso wie der Mund, die Nase, die Augen. Die Ohren waren klein und lagen dicht am Kopf. Das dunkle Haar hatte sie kurz geschnitten und streng gekämmt. Dabei trug sie es wie ein Mann gescheitelt, eine Seite länger. »Jetzt bin ich bei dir, Crotano.« Immer wenn sie Wiebke mit dem Nachnamen ansprach, war sie besonders schlecht auf die Schülerin zu sprechen. Miss Monster gab keine Antwort. Noch immer in derselben Haltung lag sie seelenruhig im Bett und schaute der Internatsleiterin entgegen. Wiebke verspürte auch keine Angst, sondern eine gewisse Sicherheit. Sie wußte ja, daß ihr die Paulsen nichts mehr antun konnte, denn sie stand unter einem besonderen Schutz. »Du warst weg, nicht?« »Nein!« Die Frau hob nur die Augenbrauen. Mehr tat sie nicht. Dann atmete sie tief ein. Es schien so, als wollte sie die muffige Luft des Schlafsaals besonders genießen. Für einen Moment schaute sie zur Seite. Ihr Gesicht geriet in das blasse Mondlicht, das die Haut noch durchscheinender aussehen ließ.
»Warum lügst du?« »Ich lüge nicht.« Die Frau lächelte eisig. Wiebke kannte dieses Lächeln. Sie haßte es, denn immer wenn sich die Lippen der Direktorin derart in die Breite zogen, lag etwas in der Luft. Dann hatte sie sich entschlossen, gewisse Dinge zu tun, die für die einzelne Schülerin sicherlich nicht positiv waren. »Wo sind deine Schuhe?« »Im Zimmer.« »Tatsächlich?« »Ja, Sie können hingehen und nachschauen.« »Das werde ich nicht.« Sie leuchtete direkt in das Gesicht der Schülerin. »Ich hasse es, wenn man mich anlügt. Ich hasse es wirklich, ich bin einfach sauer, daß du…« »Lassen Sie mich schlafen!« Die Paulsen zuckte zusammen. Sie konnte nicht fassen, daß jemand so mit ihr sprach. Sie hielt die Lippen zusammengepreßt, atmete schnaufend durch die Nase, schluckte und bewegte ihre freie Hand auf das Gesicht der Liegenden zu. Diesmal kniff sie sie nicht. Sie sprach nur sehr leise weiter. »Ich weiß, daß du lügst, verdammtes Scheusal, ich weiß es genau. Ich werde aber nicht unter dein Bett greifen und die Schuhe hervorholen. Ich weiß nur jetzt schon, daß dir noch heute ein besonderer Tag bevorsteht. Darauf kannst du dich verlassen.« »Stimmt, Mrs. Paulsen. Es wird ein besonderer Tag für mich werden. Aber anders, als Sie es sich vorgestellt haben.« »So…? Wie darf ich das denn verstehen?« »Nichts, Mrs. Paulsen.« Die Rektorin nickte, dann bewegte sie den rechten Arm und ließ den Strahl blitzartig über die anderen Betten huschen, um zu sehen, wie sich die Schülerinnen verhielten. Einige waren wach geworden, zuckten aber zurück, als der Lichtarm sie streifte. Mrs. Paulsen fluchte. »Legt euch hin, verdammt, und schließt die Augen! Ihr werdet morgen einen Tag erleben, wie es ihn selten gab, das kann ich euch schwören.« Keiner wagte den Widerspruch, bis auf Wiebke. »Ja, Mrs. Paulsen, der Tag wird wirklich besonders werden.« Sie lachte leise. »Ich verspreche es Ihnen.« Auch die Paulsen lachte. Sie leuchtete jetzt neben das Bett, und ihr Gesicht blieb ein blauschwarzer Schatten. »Keine Sorge, meine kleine Freundin, was morgen sein wird, hast du noch nie erlebt. Kennst du Mister Redstone?« »Ja, er ist ein Schwein!« Die Paulsen zuckte zurück. »Was hast du gesagt?«
»Sie haben es sehr wohl verstanden. Aber bitte, ich wiederhole es.« Wiebke richtete sich sogar auf. Dann rief sie mit einer lauten Stimme in den Schlafsaal hinein, damit jede Schülerin es hören konnte und auch aus dem Schlaf gerissen wurde. »Redstone ist ein Schwein. Er ist ein verfluchter Sadist, ein verdammter Teufel, eine Bestie. Das ist kein Mensch mehr, versteht ihr?« Sie saßen in ihren Betten und glaubten, sich verhört zu haben. Alle dachten gleich über Redstone, aber niemand hatte es bisher gewagt, ihn öffentlich und lauthals derartig zu beschimpfen. Wiebke Crotano machte die Ausnahme, und sie lachte sogar dabei, als würde sie sich darüber freuen. Die Paulsen war aufgesprungen. Sie stand dicht vor dem Platzen. Sogar ihr Gesicht zeigte Farbe, denn die Wangen waren dunkler geworden. Es bereitete ihr Mühe, Luft zu holen. So etwas hatte sie noch nie im Leben durchgemacht. Wiebke Crotano aber saß in ihrem Bett. Nie hatte sie sich gelassener und besser gefühlt als in diesem Augenblick. Sie kam sich vor wie die Gewinnerin. Heftig ging ihr Atem. Das Schreien hatte sie angestrengt. Jeder wußte nun Bescheid, auch die Paulsen. Sie verzog ihr Gesicht, machte aus der glatten Fassade eine häßliche Fratze. »Killen sollte man dich, du Kretin!« keuchte sie. »Aber das kann ich nicht. Ich werde aber etwas anderes tun, Crotano. Ich werde jetzt gehen und Mister Redstone holen. Er wird sich freuen, wenn er dich züchtigen kann. Die Stunden bis zum Aufgang der Sonne werden für dich zu einer Hölle werden!« Sie schaute Wiebke mit flammenden Blicken an und ärgerte sich gleichzeitig darüber, daß das sechzehnjährige Mädchen so gelassen blieb und nicht einmal etwas erwiderte. Auf dem Absatz machte sie kehrt, raste auf die Tür zu, wobei ihre Absätze harte Echos durch den Schlafraum warfen. Sie riß die Tür wütend auf, und ebenso wütend schmetterte sie diese wieder zu. Es klang wie ein gewaltiger Schuß. Dann war sie weg! *** Stille breitete sich aus! Es war keine normale, sondern eine bedrückende. Hin und wieder unterbrochen von schweren Atemzügen, die auch von den Ängsten der Mädchen sprachen. Wiebke wollte nicht mehr im Bett bleiben. Sie schwang sich zur Seite und stand auf.
Neben dem Bett blieb sie für einen Moment stehen und reckte sich. In dem ungewöhnlichen Licht sahen die anderen Mädchen aus wie gespenstische Gestalten, die es nicht wagten, sich überhaupt nur zu rühren. Bis auf Brenda, die Nachbarin. Sie faßte sich ein Herz und sprach Wiebke an. »Damit hast du so etwas wie ein Todesurteil über dich gesprochen. Glaub mir.« »Das habe ich nicht!« »Doch, Redstone ist ein Schwein, ein Sadist, du hast es selbst gesagt. Der macht dich fertig.« Wiebke lachte. »Bestimmt nicht. Glaubt nur nicht, daß er es schafft. Er nicht!« »Und was sollte ihn daran hindern?« »Er wird nicht kommen.« »Wie – nicht kommen?« »Was ich dir und euch sagte. Ihr könnt warten.« Wiebke trat in den Gang und schaute demonstrativ auf ihre Uhr. »Dieser Sadist wird nicht kommen. Wir können wetten. Er wird sich verziehen, er wird sich…« »Was redest du denn da?« rief jemand aus dem Hintergrund. »Redstone ist noch immer gekommen.« »Heute ist nicht immer, Mädchen. Heute ist der Beginn einer neuen Zeit. Hakt die alte ab. Ich werde euch sagen, daß dieser Terror ein Ende hat. Für immer!« Wiebke schwieg, die anderen ebenfalls. Sie dachten über die Worte nach, wobei sich niemand so recht damit anfreunden konnte. Sie hatten einfach schon zuviel hinter sich. Das konnte nicht glattgehen. »Nun?« »Ich glaube dir nicht!« rief Muriel. »Die sind doch einfach zu stark. Das waren sie immer.« Wiebke ging auf das Bett der Mitschülerin zu. Sie streichelte deren Wangen. »Wovor hast du Angst? Vor Redstone, vor der Paulsen? Hast du nicht erlebt, wie komisch sie plötzlich war? Auf einmal war ihre Sicherheit weg. Einfach verschwunden. Die kann gar nicht anders. Und es wird kein Redstone kommen.« Muriel schaute Wiebke noch immer ungläubig an. »Woher weißt du das denn so genau? Hast du ihn etwa weggehen sehen?« »So kann man es nennen.« Sie drehte sich und sagte laut genug, damit es alle hören konnten: »Eigentlich hätte Redstone doch schon hier sein müssen – oder?« Die Mädchen überlegten, nickten. »Er wäre hier hereingestürmt wie ein Bulle, der ein rotes Tuch gesehen hat. Und er hätte seine Reitpeitsche mitgebracht, um mich vor euren Augen zu züchtigen. Ist er gekommen?« Sie gab sich selbst die Antwort. »Nein, er kam nicht. Er wird auch nicht kommen, und auch die Paulsen
wird sich nicht mehr trauen. Ohne ihren Redstone, diesen Vasallen, ist die nämlich ein Nichts. Am besten ist es, wenn ihr euch wieder hinlegt und schlaft. Und denkt daran, die alte Zeit ist vorbei. Mit dieser Nacht ist eine neue Ära eingebrochen, freut euch darauf!« Wiebke stieg wieder in ihr Bett. Unter der Decke umfaßte sie den Totenschädel. Und wieder fühlte sie sich als Miss Monster… *** »Du hast schon mal besser ausgesehen«, sagte Glenda, als ich an diesem Morgen pünktlich das Büro betrat. »Ach ja? Man wird eben älter.« »So meine ich das nicht.« »Wie denn?« Sie schaute mich von oben bis unten an. »Es sieht so aus, als hättest du die Nacht durchgemacht.« »Stimmt fast.« »Und wo?« »Bei einem Mann.« Glenda verdrehte die Augen und erwiderte mit hoher, verdrehter Stimme: »Auch das noch…« »Willst du den Namen des Mannes wissen?« erkundigte ich mich grinsend. »Nein, ich möchte nicht, daß du dein Privatleben vor mir ausbreitest, John.« Ich schaute sie an. Glenda trug ein schickes Kostüm in einem Rostrot. Der Rock endete kurz über dem Knie, war eng geschnitten, und die dunklen Strümpfe besaßen an den Rückseiten eine Naht. »Neu?« fragte ich. »Nein, das habe ich mir schon vor einigen Monaten gekauft.« »Sieht gut aus.« »Daß du dafür überhaupt einen Blick hast«, sagte sie. »Ich dachte, du würdest mehr auf Männer stehen.« »Bestimmt nicht.« Ich wollte nach ihr fassen, aber sie entzog sich blitzschnell. »Soweit kommt es noch mit dir, daß du mich hier im Büro anmachst.« »Bei Barry F. Bracht habe ich es nicht versucht.« Glenda stand vor der Kaffeemaschine, drehte sich wieder und schaute mir ins Gesicht. »Ach so läuft das. Sieh einmal an. Das habe ich nicht gedacht.« »Manchmal irrt man sich eben.« »Was wolltest du denn von ihm?« »Er wollte etwas von mir.« »Und?«
»Gib mir erst einen Kaffee – bitte.« Glenda trank eine Tasse mit. Sie wußte über Barry F. Bracht Bescheid. Ich berichtete ihm von seinen Träumen, und sie wunderte sich auch, daß er nicht seine Zweitgestalt angenommen hatte. »Dann kann es so schlimm noch nicht sein«, bemerkte sie. »Ja, das denke ich auch.« Sie schaute in ihre Tasse. »Aber es könnte schlimm werden. Wenn mich nicht alles täuscht, bist du gekommen, um herauszufinden, wo sich das Haus möglicherweise befindet.« »Stimmt.« »Eine Idee hast du nicht?« Ich hob die Schultern. »Was heißt Idee? Ich weiß nur, daß es in der Höhe eines Moors steht.« »Davon gibt es in unserem Land viele. Ich würde mich an deiner Stelle auf das Haus konzentrieren.« »Das mache ich auch.« »Darf ich dir denn dabei helfen, großer Meister?« »Oh, ich bitte darum.« Ich erinnerte mich noch einmal daran, was mir Barry F. Bracht gesagt hatte. Er hatte ja in seinen Träumen nicht nur das Haus gesehen, sondern auch etwas über die dort lebenden Personen berichtet. Ein Hotel konnte es nicht sein, obwohl es zahlreiche Räume besaß. Glenda überlegte mit und meinte schließlich, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. »Da kommt doch eigentlich nur eine Schule in Frage.« Ich starrte sie an. Sie zuckte zurück. »Was ist? Habe ich etwas an mir?« »Nein, Glenda, du hast nichts an dir. Ich wollte dir nur sagen, daß du klasse bist.« »Geschenkt, das wußte ich auch so«, erwiderte sie und ließ ihre Stimme überheblich klingen. »Also konzentrieren wir uns auf die Suche nach einem bestimmten Internat.« »Sehr richtig.« Wir taten es nicht allein. Wozu hatten wir schließlich eine hervorragende Fahndung, die mit den neuesten Errungenschaften der Elektronik arbeitete? Sie schaltete ich ein. Als die Kollegen hörten, was ich von ihnen verlangte, murrten sie nicht einmal. Das wiederum machte mich mißtrauisch. Ich fragte nach, ob ich irgend etwas falsch gemacht hatte. »Hast du nicht. Wir wundern uns nur, wie relativ klein deine Probleme geworden sind.«
»Ganz klar, ich will euch doch nicht überfordern. Kann es lange dauern?« »Mittellange.« »Ich bin im Büro.« Nachdem der Hörer wieder lag, nickte ich Glenda zu. »Die Jungs werden so richtig reinhauen.« »Wie schön für uns.« Ich schenkte mir noch eine Tasse Kaffee ein. Sie war noch nicht voll, als ich Glendas Frage hörte: »Was ist denn mit Suko? Hat er noch immer seine…?« Ich drehte mich um. Mein Blick sagte alles. »Ja, Glenda, es ist noch immer das gleiche.« Sie schloß für einen Moment die Augen und faltete die Hände. Beide dachten wir an Suko, der in die Fänge des Teufels gelangt war und ein fürchterliches Schicksal durchlitt. Der Geist des Erwachsenen steckte dabei im Körper eines Kindes. Durch die Magie des Seelenschwerts war er verwandelt worden, und bisher hatten wir noch keine Möglichkeit gefunden, dies zu ändern. Vielleicht schafften wir es irgendwann einmal, dann aber hätten wir mit dem Teufel einen Kompromiß schließen müssen, und das wiederum ging mir gegen den Strich. Glenda Perkins blickte zu Boden. »Vielleicht«, sagte sie leise und hob dabei ihre Schultern. »Vielleicht gelingt uns irgendwann einmal der glückliche Griff.« »Ja, das hoffe ich auch.« Es war ein Thema, über das wir beide nicht gern sprachen, aber immer wieder darauf zurückkamen, weil es einfach zu einschneidend war, auch für uns, die nicht unmittelbar Beteiligten. Wenig später erlebten wir eine Überraschung, denn da erschien Barry F. Bracht. Er sah aus wie immer, ein wenig übermüdet, das Haar zerzaust, hatte noch nicht gefrühstückt, wie er sagte und bekam erst einmal eine Tasse Kaffee. »Wie kommt es, daß du so früh schon auf den Beinen bist?« wunderte ich mich. »Ich habe mir Urlaub genommen.« »Das ist richtig.« Er trank zwei, drei Schlucke. »Seid ihr denn mit euren Nachforschungen schon weitergekommen?« »Ja!« Diese schlichte Antwort ließ ihn so stark erschrecken, daß er Kaffee verschüttete. Aus großen Augen schaute er uns an. »Das… das ist ein Hammer«, flüsterte er, »so schnell?« »Genaues wissen wir nicht, aber wir gehen immerhin davon aus, daß es sich bei dem Haus um eine Schule oder ein Internat handelt.«
»Was übrigens meine Idee war!« meldete sich Glenda. Barry F. schabte mit dem Daumen über seine Nackenhaut. »Und gar keine schlechte«, sagte er. Ich nickte. »Der Ansicht sind wir auch. Ich habe die Kollegen von der Fahndung bereits angefordert. Die werden schon herausfinden, an welchem Sumpf sich das Haus befindet.« »Vielleicht in der Nähe von Dartmoor«, meinte Bracht. Ich widersprach. »Daran glaubte ich nicht, denn die Ecke kenne ich. Ein Internat habe ich nicht gesehen.« »Dann lassen wir uns eben überraschen.« »Meine ich auch.« Barry trank den Kaffee und bekam von Glenda noch ein Körnersandwich, das sie mit Putenfleisch belegt hatte. Es war ihr Mittagessen. Barry wollte es nicht annehmen, aber Glenda ließ nicht locker. »Los, iß es! Dir dringt der Hunger ja aus den Augen.« Barry lachte. »Sieht man das?« »Und ob.« »Dann bedanke ich mich.« In der nächsten Minute aß er mit einem kaum beschreiblichen Appetit. Es schmeckte ihm wunderbar, und er verdrehte einige Male die Augen dabei. Er lobte es auch, verstummte aber, als sich das Telefon meldete. Ich nahm ab. »Ja, Kollege Sinclair, da können Sie froh sein, daß es uns gibt. Wir haben etwas herausgefunden.« »Genaues?« »Eine Auswahl.« »O je.« »Können Sie notieren?« »Ungern, aber lassen Sie hören.« In den folgenden Minuten schrieb ich mit. Was ich an Stichworten bekam, mußte eigentlich ausreichen. Glenda Perkins und Barry F. Bracht schauten mir gespannt zu und wirkten beide erleichtert, als ich mich bei dem Kollegen bedankte. »Wer so lange schreibt, hat entweder viel mitbekommen oder gar nichts«, meinte Glenda. »Es hält sich die Waage.« »Dann laß mal hören.« »Drei stehen zur Auswahl.« Ich richtete mich bei der Beschreibung besonders an Barry F. Bracht, der mir zuhörte, als gäbe es etwas zu gewinnen, so konzentriert war er. Bei der Beschreibung des ersten Objekts zog er ein Gesicht, als würde er an einer Salzgurke kauen. Die zweite sah nicht viel besser aus, blieb die dritte als letzte Hoffnung.
Da verschwand der Gurkenausdruck aus seinem Gesicht. Er ließ mich die Worte noch einmal wiederholen und nickte zwischendurch. »Ich denke, das ist es.« »Denkst du das nur, oder weißt du es?« »Wissen ist Macht, John. In diesem Fall bin ich nicht machtlos. Du kannst davon ausgehen, daß das dritte Objekt zutrifft.« »Wunderbar.« »Jetzt müssen wir nur noch wissen, wo wir es finden können«, meinte Glenda. »Nicht in London, sondern zwischen Bristol und Glouchester. Der nächste Ort heißt Berkeley, aber der ist relativ weit von diesem Sumpfgebiet entfernt.« »Was ist es genau?« fragte Glenda. »Ein privates Internat. Es finanziert sich zum Teil aus einer Stiftung. Ansonsten wird Schulgeld bezahlt, aber es gibt auch einige Stipendiaten unter den Schülern.« »Wie heißt die Schule denn?« fragte Bracht. »Tornham College, nach dem Begründer und Stifter. Negative Dinge über die Schule sind nicht bekannt.« Bracht hob die Schultern. »Das glaube ich gern. Jedenfalls bin ich dafür, daß wir uns den Bau mal näher ansehen. Sehr weit ist es nicht. Das könnten wir bequem schaffen.« »Und was willst du tun?« fragte Glenda, an mich gewandt. »Wie willst du dich da einführen? Als Polizist oder…« »Das weiß ich noch nicht. Es wird sich ergeben, schätze ich. Zunächst sehen wir uns den Bau an.« »Dafür bin ich auch«, sagte Barry F. »Wollt ihr sofort los?« »Sicher.« Ich lächelte sie an. »Sümpfe oder Moore haben mich schon immer gereizt.« »Dann gib nur acht, daß du nicht versinkst, Alter.« »Danke für die Fürsorge.« »Bitte, gern geschehen. Das gilt auch für dich, Barry.« Bracht lachte. »Ich werde mich schon zurechtfinden, keine Sorge.« Er stand auf und bedankte sich noch einmal für das Frühstück, mit dem er gar nicht gerechnet hatte. »Du mußt nur öfter hier erscheinen.« »Ich werde es mir überlegen.« Glenda wollte Sir James unterrichten. Wir waren reisefertig. »Ich hasse eigentlich die Internate«, sagte Bracht, als wir im Lift standen. »Warum?« »Weil ich selbst dort erzogen wurde.« Die Betonung lag auf dem Wort erzogen. Im nachhinein bekam er noch eine Gänsehaut. Gut schien er es dort nicht gehabt zu haben.
Ich war darauf gespannt, wer es fertigbrachte, ein Internat dorthin zu bauen, wo ein gefährlicher Sumpf begann. Entweder hatte der nicht alle Tassen im Schrank, oder er war besonders raffiniert vorgegangen, weil er finstere Pläne verfolgte… *** Geschlafen hatten die Mädchen nicht. Im Waschraum trafen sie wieder zusammen, nachdem sie durch das schrille und laute Klingeln der Glocke geweckt worden waren. Nur Wiebke war fröhlich, auch wenn sie es nicht zeigte. Sie lächelte still vor sich hin. Brenda stand neben ihr unter der Dusche. Hastig seifte sie ihren Körper ein. Es war ihr dabei anzusehen, daß sie gern mit ihr gesprochen hätte, das schaffte sie erst, als sich die Mädchen ankleideten. Als Wiebke den Pullover überstreifte, sagte Brenda: »Du hast tatsächlich recht gehabt. Hätte ich nicht für möglich gehalten.« »Was denn?« »Daß Redstone nicht gekommen ist!« Wiebke schleuderte ihr Haar zurück. Sie wollte es heute offen tragen. »Ich habe es euch gesagt und sogar noch ruhig geschlafen.« Brenda war eine kleine Schönheit. Sie hatte eine tolle Figur und kleidete sich immer sehr modisch. Am meisten faszinierten ihre Augen mit dem grünen Schimmer. »Dann weißt du bestimmt mehr als wir.« »Kann sein.« Brenda ließ nicht locker. »Wenn er nicht in der Nacht gekommen ist, können wir ihn bald erwarten.« »Das glaube ich nicht.« Wiebke cremte ihr Gesicht ein. Sie mochte das Wasser nicht, das aus der Dusche strömte. Ihrer Meinung nach roch es muffig und nach Morast. Herrschte sonst lautstarker Stimmenwirrwarr in dem Waschraum, so war es zu dieser Zeit ziemlich leise geworden. Die Stimmung war gedrückt, sie hing wie eine schwere, unsichtbare Decke über den Köpfen der Mädchen. Auf Pünktlichkeit wurde viel Wert gelegt. Deshalb erschienen die Schüler auch pünktlich im großen Frühstückssaal. Er lag an der Rückseite des Gebäudes. Durch die großen Scheiben konnte man bis weit hinaus auf das Moor schauen. Brenda und Wiebke nahmen auf ihren Stammplätzen Platz. Heute mußten die Kleineren bedienen. Sie schleppten die Kannen mit dem Tee herbei und stellten sie auf die Holztische. Jede Klasse hatte ihren Tisch, wobei die Jungen weiter hinten im Raum saßen.
Das schöne Sommerwetter hatte sich verabschiedet. Der nahende Herbst schickte seine ersten Grüße. Gegen Nachmittag traten auch schon Nebel auf, besonders dort, wo die große Sumpf fläche lag. Zwei Lehrpersonen führten normalerweise immer Aufsicht. An diesem Morgen jedoch war keine da, was natürlich zu Spekulationen führte. Wiebke merkte, daß man ihr besonders viele fragende Blicke zuwarf, um die sie sich aber nicht kümmerte. Sie aß ihr Brot, trank ihren Tee und schälte in aller Gelassenheit einen der grünen Äpfel, den sie aus einer Schale geholt hatte. Die Schalen standen auf den Tischen verteilt. »Er ist noch immer nicht da!« flüsterte Brenda. Vor Aufregung bekam sie kaum einen Bissen herunter. »Ich weiß.« Wiebke reagierte gelassen. »Du weißt auch mehr.« »Kaum.« Sie zerknackte ein Stück Apfel zwischen ihren Zähnen und machte den Eindruck, als würde sie sich sehr wohl fühlen. Brenda stieß sie an. Sie richtete ihre grünen Augen auf die Freundin. »Weißt du, was ich für ein Gefühl habe?« »Nein.« »Daß mit Redstone irgend etwas passiert ist. Ich glaube fast, daß es ihn erwischt hat.« »Wie meinst du das denn?« »Kann ich dir auch nicht sagen. Ich habe auch weiterhin das Gefühl, daß die Schule für heute ausfällt.« »Wegen Redstone?« »Klar doch. Er hat die Flatter gemacht, die Fliege.« Sie wischte mit der Hand durch die Luft. »Ich trauere ihm bestimmt nicht nach.« Wer aus dem Fenster schaute, dem mußte auffallen, daß sich einige Lehrpersonen an der Rückseite des Hauses versammelt hatten und miteinander redeten. Einen glücklichen Eindruck machte keiner von ihnen. Männer und Frauen sahen eher ratlos aus. Mrs. Paulsen befand sich nicht unter ihnen, die erschien plötzlich im Speisesaal und hatte kaum die Schwelle übertreten, als die Gespräche verstummten. Die jüngeren Schüler hatten einen noch größeren Respekt vor ihr. Sie wußten genau, daß Mrs. Paulsen sehr sauer reagierte, wenn es in ihrer Gegenwart zu laut war. Alle Gespräche versickerten. Nur Brenda flüsterte: »Gleich geht es rund, Wiebke. Da können wir uns warm anziehen.« »Mal schauen.« Ohne auch nur einen Schüler anzusehen, ging Mrs. Paulsen bis nach vorn durch. Sie trug an diesem Tag ein strenggeschnittenes Kostüm aus
dunkelbraunem Stoff. In ihrem Gesicht regte sich kein Muskel, aber sie hatte etwas Rouge aufgelegt. Sie blieb stehen und drehte sich den Schülern zu. Dann schaute sie mit starren Augen in die gespannten Gesichter. Es kam nur selten vor, daß sie plötzlich nach dem Frühstück erschien. Wenn sie das tat, mußte ein besonderer Grund vorliegen. Die Rektorin ließ ihre Blicke schweifen, wartete, bis auch der letzte Schüler sich nicht mehr räusperte und sprach dann die ersten Worte in die Stille hinein, wobei sie abermals keinen anschaute. »Ich bin gekommen, um euch mitzuteilen, daß wir die Schule heute ausfallen lassen, was natürlich seinen Grund hat.« Keiner rührte sich. Selbst die Kleinen trauten sich nicht zu jubeln. Es blieb still, man wartete ab, und man wartete darauf, daß die Paulsen weitersprach. »Wie ich sagte, fällt die Schule heute aus, weil wir Lehrer mit einem anderen Problem beschäftigt sind. Einer unserer Kollegen ist verschwunden. Es ist der von uns allen geschätzte Mister Redstone.« Sie legte eine Pause ein, aber die Schüler reagierten nicht. Es gab nur wenige, die darüber nicht froh gewesen waren. Wiebke Crotano zeigte ein knappes Lächeln, was von Brenda und auch von der Rektorin genau registriert wurde. »Hat man denn schon eine Spur?« fragte ein Junge. »Nein, aber wir wissen, daß Mister Redstone in der Nacht des öfteren Spaziergänge unternahm, denn er ist ein Mensch, der diese Gegend hier liebt. Er ging häufig in der Dunkelheit in Richtung Moor, weil er die Stille liebte. Zudem muß ich sagen, daß er sich gut auskennt, so können wir einfach nicht glauben, daß er den falschen Weg eingeschlagen haben soll. Jedenfalls werden die Lehrer sich auf die Suche nach ihm begeben. Es kann natürlich sein, daß er sich einen Fuß verstaucht hat oder Ähnliches…« »Sollen wir mitsuchen?« rief ein Junge. »Nein!« Die Antwort klang hart wie ein Peitschenhieb. »Ihr werdet im Haus bleiben. Ich will keinen von euch draußen sehen. Wir übernehmen die Suche.« »Klettern Sie auch über den Zaun?« fragte ein Mädchen aus Wiebkes Klasse. »Das kann dir egal sein.« »Pardon, Mrs. Paulsen.« Die Rektorin räusperte sich. »Ich hoffe, ihr habt mich verstanden und richtet euch nach meinen Anweisungen. Wenn nicht, wird derjenige die Folgen zu tragen haben. Das war’s dann.« Sie nickte gegen die Gesichter der Schüler, drehte sich um und schritt zum Ausgang. Viele hielten die Köpfe gesenkt, damit man ihr Lächeln und ihre stille Freude nicht sah.
Wiebke Crotano gehörte nicht dazu. Das Mädchen schaute die Leiterin direkt an, und zwar so, daß diese es einfach nicht übersehen konnte. Feige war Mrs. Paulsen nicht. Sie blieb am Rand der Sitzreihe stehen und beugte sich leicht vor. »Du hast noch einmal Glück gehabt, Wiebke. Aber glaube nicht, daß es anhält. Die Befragung ist nicht aufgehoben, nur aufgeschoben. Wenn Mister Redstone zurückkehrt, dann…« »Falls er zurückkehrt, Mrs. Paulsen.« »Was soll das heißen?« »Ich habe nur so vor mich hingedacht.« »Laß es lieber«, flüsterte sie. »Laß es bleiben, ich warne dich, du kleine Hexe.« Wiebke spitzte die Lippen. »Schönen Tag noch, Mrs. Paulsen.« Sie erstickte beinahe an ihrer Wut, drehte sich dann um und ging mit schnellen Schritten hinaus. »Die hast du aber zur Weißglut gebracht«, sagte Brenda. »So… so kenne ich sie gar nicht.« »Ist mir egal.« »Überspanne den Bogen nicht.« »Keine Sorge.« »Und was hast du jetzt vor?« Wiebke streckte sich. »Ich werde auf mein Zimmer gehen. Du siehst, ich bin sehr folgsam.« »Kann ich dann mit?« »Wieso nicht? Du wohnst doch auch da.« »Ja, ja, ich meinte nur.« Wiebke stand auf. »Dann komm. Zum Glück liegt es nach hinten raus. Da können wir sehen, welche Überraschungen uns der Tag noch bringen wird. Ich bin gespannt.« Das war Brenda auch. Allerdings auf eine andere Art und Weise. Sie traute dem Frieden nicht, und sie traute auch ihrer besten Freundin nicht, bei der eine so ungewöhnliche Veränderung begonnen hatte. Sie war anders geworden, ganz anders. Und nicht zu ihrem Vorteil. Brenda kam sie regelrecht gefährlich vor… *** Normalerweise wohnten vier Mädchen in einem Zimmer. Das wäre auch bei Wiebke und Brenda so gewesen, allerdings war das Zimmer nur von zwei Personen belegt, aus Mangel an Schülern. Wiebke erreichte den Raum zuerst, schloß die Tür und lachte dabei. Sie trat ans Fenster, öffnete es, schaute hinaus, und da das Zimmer in der ersten Etage lag, konnte sie weit sehen, sogar hinein, bis in den Sumpf, der jenseits des Zauns lag.
Dort bewegten sich die Lehrer. Sie hatten sogar den Zaun durchgeschnitten, weil sie auch auf dem Sumpfgelände suchen wollten. Ausgerüstet waren sie mit Leitern, Seilen und Brettern. Sie gingen auch davon aus, daß Redstone irgendwo feststeckte. Sollten sie, sollten sie suchen, bis sie schwarz wurden. So leicht würden sie ihn nicht finden. Wiebke drehte sich wieder um. Brenda hockte auf ihrem Bett wie ein Häufchen Elend. Beide Hände hatte sie auf ihre Knie gelegt. »Was hast du denn?« »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Es ist alles so anders geworden.« »Das habe ich dir schon in der Nacht gesagt. Ab heute beginnt eine neue Zeit.« »Meinst du?« »Ja.« »Ich weiß nicht so recht. Weißt du, was für mich schon der Beginn einer neuen Zeit wäre?« »Nein.« »Wenn wir endlich in unseren Zimmern schlafen könnten und nicht in diesen alten Schlafsaal müßten, diesem verdammten Relikt aus früherer Zeit. Ich möchte gern hierbleiben.« »Gefällt es dir so gut?« »Nein, aber besser als in dieser großen Miefbude.« Das Zimmer war wirklich keine Offenbarung. Für vier Personen eigentlich viel zu klein. Für zwei ging es gerade noch. Die Betten standen paarweise dicht beisammen und sich auch gegenüber. Die Lücke wurde von einem Tisch ausgefüllt. Zwei Stühle waren nur vorhanden. Die vier engen Spinde schmiegten sich an die Wand. Unter der Decke bildete die Lampe eine weiße Kugel. Hin und wieder kam es vor, daß das Licht abgestellt wurde. Offiziell wurde es dann mit einem Meditationsabend begründet, für die Schüler war es die reinste Schikane. Poster durften nicht aufgehängt werden, weil die Rektorin diese haßte. »Was meinst du denn genau mit der neuen Zeit, Wiebke?« Miss Monster lächelte. Sie senkte den Blick und schaute die Freundin an. »Willst du das tatsächlich wissen?« »Wenn du nicht willst, dann laß es.« »Doch, ich will. Nur wollte ich noch einmal nachhaken.« »Ja, du hast mich neugierig gemacht. Ich weiß nicht so recht, ob das alles eintreffen wird. Irgendwo schwebe ich zwischen Glauben und Nichtglauben.« »Dann kann dir geholfen werden.« »Jetzt?« »Sicher.«
»Dann weißt du noch mehr.« »Warte es ab, Brenda.« »Bitte, wie du willst.« Wiebke drückte sich an den Beinen der Freundin vorbei und ging auf ihren schmalen Spind zu. Sie stellte sich so hin, daß ihre Freundin nicht in den Schrank hineinschauen konnte, wenn sie die Tür aufzog. Im Schrank hingen nur wenige Kleidungsstücke. Wer hier im Internat lebte, der brauchte nicht viel. Sie packte einige Pullover zur Seite, damit sie dorthin greifen konnte, wo der Gegenstand versteckt lag. Sie nahm ihn an sich, umschloß ihn aber mit beiden Händen, damit Brenda auch jetzt nicht sehen konnte, was sie trug. Wiebke ging zum Tisch. Mit dem Fuß rückte sie sich den Stuhl zurecht, um Platz zu nehmen. Brenda schaute sie an. Auch jetzt sah sie nicht genau, was die Freundin mit beiden Händen verdeckte. Wiebke legte sie auf die Tischplatte. Ein hintergründiges Lächeln umspielte ihre Lippen. Die Augen sahen plötzlich anders aus. In ihnen funkelten ein Wille und ein Wissen, das Brenda erschreckte. »Was ist denn los?« fragte sie leise. »Das wirst du gleich sehen.« Schwungvoll drückte Wiebke Crotano ihre Hände zur Seite. Und da lag er vor ihr. Bleich und makaber. Der Schädel aus dem Sumpf! Die Luft an diesem Morgen war kühl und nicht klar. Dunstschwaden lagen über dem Sumpf wie dünne Spinnennetzen. Mrs. Paulsen hatte einen Mantel über das Kostüm gestreift und die Hände in den Taschen vergraben. Sie bewegte sich etwas abseits der übrigen Kollegen und hatte schon längst das Loch im Zaun hinter sich gelassen. Vor ihr und den anderen lag die breite Sumpffläche, die an diesem Morgen schillerte, als wäre Öl hineingeleitet worden. Gras, Tümpel, braungrünes Wasser, kleine Hügel, auf denen verkrüppelte Bäume ihren Platz gefunden hatten. Weiter hinten war die Natur völlig abgestorben. Da hatten die Büsche ihre Blätter verloren und ragten wie dünne Totenarme in die Höhe. Der Suchtrupp wollte in breiter Front vorgehen, aber nur dort, wo es trocken war. Es gab einige Pfade durch den Sumpf, die aber waren nur den wenigsten bekannt. Auch die Rektorin wußte nicht so recht Bescheid und ging dementsprechend vorsichtig. Sie hatte die übrigen Kollegen eingeteilt und sich selbst ein bestimmtes Gebiet vorgenommen. Ihr ging es darum, den kleinen See abzusuchen.
Sie wußte, daß dort ein Kahn im Schilf versteckt lag. Das war nur wenigen bekannt, sie hatte es auch nur durch einen Zufall entdeckt. Nach der Rede hatte sie die Schuhe gewechselt. Sie trug halbhohe Stiefel, was zu ihrem Kostüm natürlich unmöglich aussah, aber mit diesen Tretern kam sie besser voran. Immer wieder drehten sich ihre Gedanken um den verschwundenen Kirk Restone. Er war nicht der Mensch, der so mir nichts dir nichts abhaute. Außerdem hatte er nichts mitgenommen, was sie bei einer Durchsuchung seines Zimmers festgestellt hatten. Warum war er gegangen? Hatte er es freiwillig getan, oder war er von einer unbekannten Kraft gelockt worden? Es konnte auch sein, daß sie ihn nicht fanden, daß ihn das Moor längst verschluckt hatte. Möglich war auch, daß er einen ganz anderen Weg eingeschlagen hatte, weg vom Moor, hinein nach Tornham, wo er mal richtig ausflippen konnte, was er hin und wieder brauchte. Was dort genau geschah, wollte seine Vorgesetzte nicht wissen, die nun stehenblieb und über den Moorsee schaute. Das Wasser war dunkel und besaß gleichzeitig einen grünen Schimmer. Blätter schwammen auf der Oberfläche, begleitet von vertrockneten Blüten oder einer grünlichen Planktonschicht. Das Wasser war durchsetzt von Schlamm und abgestorbenen Pflanzen. Kein Biotop, sondern ein totes Gewässer. Wie eine Mauer aus zahlreichen grünen Stäben wuchs der Schilfgürtel vor ihm hoch. Er hatte um den See einen Kreis gebildet und bewegte sich nur, wenn Wellen in ihn hineinliefen. Hin und wieder erzeugte sie der Wind, wenn er über das Gewässer fuhr. Lag Redstone im See? Mrs. Paulsen wußte es nicht. Es gab auch zu viele Möglichkeiten, hier für immer zu verschwinden. Sie hörte die Stimmen ihrer Kollegen, die weiter rechts suchten, weil dort ein schmaler Pfad begann, der angeblich bis zum Ende des Sumpfs führte. Mrs. Paulsen aber blieb zurück. Sie wußte auch nicht, weshalb der See eine dermaßen große Anziehungskraft auf sie ausübte. Jedenfalls dachte sie wieder an das alte Boot, das hier irgendwo im Schilfgürtel versteckt sein sollte. Sie ging nach links, den Blick ständig auf die ufernahe Region gerichtet. War ein Boot vorhanden, mußte es auch eine Lücke geben. So einfach war die Rechnung. Die Lücke sah sie. Scharf holte Mrs. Paulsen Luft, als sie sich bückte. Einige Rohre waren durch den äußeren Druck zur Seite gedrängt worden, wieder andere
hatten überhaupt nicht standhalten können und waren geknickt. Zudem sahen die Bruchstellen sehr frisch aus. Ihr Herz klopfte schneller. Obwohl sie noch keinen endgültigen Beweis erhalten hatte, wußte sie doch, daß sie sich die richtige Stelle ausgesucht hatte. Da sie die hohen Stiefel trug, konnte sie auch in das ufernahe Wasser hineinwaten. Auf dem weichen Grund sank sie mit den Sohlen tief ein, dann sah sie das Boot im Schilf. Ein Paddel lag darin, aber der Fund des alten Kahns war noch immer kein Beweis für das Verschwinden des Lehrers. Im Kahn jedenfalls lag er nicht. Vor Mrs. Paulsen lag der etwa zwei Yard breite Schilfgürtel, und sie sah auch, daß er nicht allzu weit entfernt eingedrückt worden war. Zufall oder nicht? Mrs. Paulsen schaute sich die Umgebung an, aber da war alles normal. Der Gürtel zeigte nicht die geringste Beschädigung, nur eben an dieser für sie ziemlich nahen Stelle. Da konnte sie sogar im Uferbereich bleiben und hinwaten. Mit beiden Armen schuf sie sich Platz, sie räumte sich den Weg frei. Unter den Füßen schmatzte und gurgelte es. Einige Wildenten fühlten sich gestört. Weiter entfernt flatterten sie schnatternd in die Höhe, um mit heftigen Flügelschlägen quer über das Gewässer zu fliegen. Angebrochen oder gebrochen waren die Rohre nicht. Nur eben zur Seite geschoben, als hätte jemand versucht, sich einen Weg durch diesen Wirrwarr zu bahnen. Auf einmal war sie aufgeregt. Ihr Herz klopfte schneller als sonst. Sie konnte es kaum erwarten, die Stelle zu erreichen, obwohl sie gleichzeitig davor eine gewisse Furcht spürte. Dann war es soweit! Sie stand davor, schaute über die Schilfrohre hinweg – und sagte nichts. Sehr langsam aber verlor ihr Gesicht auch den Rest an Farbe, so daß die Wangen wieder die übliche Farbe annahmen. Sie hatte Kirk Redstone gefunden. Er lag vor ihr, von den starren Schilfrohren eingeklemmt wie zwischen Gitterstäben. Und er war tot! Sie hatte es mit einem Blick erkannt, denn ein Mensch, dessen Kehle durch derart schlimme Verletzungen zerstört worden war, der konnte einfach nicht mehr leben. Sein Körper lag noch nicht lange im Wasser. Wenigstens war er nicht aufgeschwemmt, aber er sah sowieso schon schaurig genug aus, wenn Wellen über ihn hinwegrannen und dem starren Gesicht einen Ausdruck gaben, als wollten sie einen Teil der Organe wegschwemmen.
Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt. Immer wieder flüsterte sie einen Namen, obwohl sie sich selbst nicht zuhörte. Schließlich erwachte sie aus ihrer Trance und hauchte den Namen der verfluchten Schülerin zum letztenmal. »Wiebke Crotano…« Mrs. Paulsen hatte keinen Beweis. Sie ahnte nur, daß der Tod des Lehrers mit ihr in einem unmittelbaren Zusammenhang stand. Nur, wie hatte sie es fertiggebracht, ihm eine derartige Wunde zuzufügen, denn der Hals sah aus, als wäre er regelrecht zerbissen worden. Ihr wurde fast schlecht. Immer wieder mußte sie schlucken und gegen Anfälle von Übelkeit ankämpfen. Auf ihrem Nacken lag eine Gänsehaut, die auch den Rücken erfaßt hatte. Das Kribbeln erreichte sogar ihre Fingerspitzen, die sich anfühlten, als hätte sie diese in Eis getauscht. Langsam und wie in Trance drehte sich die Frau um. Sie schaute dorthin, wo sich die anderen Lehrer bewegten. Sie waren ziemlich weit entfernt und würden nicht mehr weiter zu suchen brauchen. Es hatte sich erledigt. Aus der Manteltasche holte sie eine Trillerpfeife hervor und steckte sie zwischen die Lippen. Ihr schriller Pfiff hetzte über das Wasser. Er wurde gehört. Die Kollegen drehten sich um. Mrs. Paulsen pfiff noch einmal, bevor sie mit beiden Armen winkte. Es war das Ziel zur Rückkehr. Dann sagte sie leise, aber haßerfüllt. »Wiebke Crotano, ich werde dich kriegen, darauf kannst du dich verlassen. Und dann wird dir niemand mehr beistehen. Selbst die Hölle nicht…« Mrs. Paulsen ahnte nicht, wie sehr sie sich doch irrte… *** Brenda stieß einen leisen Schrei aus. In ihn mischte sich ein gurgelndes Geräusch, als wäre ihr irgend etwas hochgekommen. Mit diesem Anblick hatte sie nicht gerechnet und auch nicht mit einer Wiebke Crotano, die sich völlig verändert hatte. Sie erinnerte in ihrer Haltung und mit dem veränderten Gesichtsausdruck an ein böses Mädchen, das eine furchtbare Lust auf Rache verspürte. Ihre Augen hatte sie verengt, den Ellbogen aufgestützt, die rechte Hand zur Faust geballt und sie gegen den Kopf gepreßt, wobei sie die Haut noch nach oben zog, so daß ihr rechtes Auge einen Schlitz bekam. Böse, sehr böse sah sie aus… Brendas Ruf war verklungen. Jetzt drang einzig und allein ihr schwerer Atem durch das Zimmer. Sie rang nach Worten, fand sie und flüsterte: »Der… der Schädel ist furchtbar. Der macht mir angst.« Wiebke schüttelte den Kopf. »Du brauchst keine Angst zu haben, Brenda. Nicht, wenn du auf meiner Seite stehst.«
Die Schülerin zwinkerte mit den Augen. »Ich begreife dich nicht. Was heißt das denn?« »Du mußt nur auf meiner Seite stehen.« »Bin ich das denn nicht? Wir waren oft zusammen, wir haben eine Gemeinschaft gebildet. Wir…« Wiebke schüttelte den Kopf. Diese Geste ließ Brenda verstummen. Miss Monster genoß es, die Schülerin etwas von ihrer Macht spüren zu lassen. Sie wollte sie mit hineinziehen in den Teufelskreis, denn es sollte auch so etwas wie eine kleine Genugtuung sein. Brenda sah besser aus. Sie hatte tolle Augen, ein feingeschnittenes Gesicht, eine kleine gerade Nase, einen wunderschönen Mund und auch eine klasse Figur. Manchmal kam Wiebke der Gedanke, daß sich Brenda nur mit ihr abgab, um abzustechen und bei den anderen noch mehr aufzufallen. Auf sie flogen die Jungen, auf Wiebke nicht. Nicht, daß sie gemieden wurde, sie war eben der gute Kumpel, mehr auch nicht. Das aber würde sich ändern, darauf baute Wiebke Crotano. »Ich weiß noch immer nicht, was du gemeint hast, Wiebke.« Die Angesprochene klopfte leicht mit dem Knöchel gegen den Schädel. Durch den Raum wehte ein hohl klingendes Geräusch. »Du mußt auf meiner Seite stehen, Brenda. Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und gegen ihn.« »Meinst du den Schädel?« »Wen sonst?« Brenda begriff die Freundin nicht. »Sony, aber ich kann dir nicht folgen. Ich weiß überhaupt nicht, was du damit meinst. Das ist doch nur ein alter Schädel, mehr nicht.« »Sag das nicht!« Sie gab die Antwort laut. »Es ist mehr als ein Schädel, viel mehr.« »Was denn?« »Das Böse, Brenda. Er ist das Böse, das uns umgibt, das auf uns lauert. Verstehst du mich nun?« »Nein, überhaupt nicht!« »Du bist dumm, Kind, sehr dumm. Warum willst du mich nicht verstehen? Was habe ich…?« »Ich kann es nicht!« schrie sie. Wiebke bewegte ihre Hand. »Leise, mein Schatz, leise. Es soll uns ja keiner hören.« Brenda Jackson atmete tief durch. »Okay, Wiebke, okay, ich bin ganz ruhig. Ich glaube dir auch, aber ich will, verdammt noch mal, wissen, woher du das Ding da hast.« »Aus dem Sumpf.« Sie erschrak. »Dann warst du in der Nacht dort?« »Sicher. Ich bin sogar Boot gefahren und habe dabei die Offenbarung bekommen. Ich weiß jetzt, daß dieser Sumpf bewohnt ist. Ein uraltes
Wesen lebt dort. Es hat sich dorthin zurückgezogen und mir diesen Schädel überlassen.« Brenda dachte zunächst über die Sätze nach. Zurecht kam sie damit noch immer nicht. »Ein alter Schädel. Was ist daran so Besonders?« »Er… lebt!« »Nein!« »Aber ja.« Wiebke lachte schrill. »Er steckt voller Leben, er ist wunderbar, er hat mir diesen verfluchten Lehrer vom Hals geschafft, der mich verfolgte.« Brenda sagte nichts mehr. Das letzte Geständnis hatte sie sprachlos gemacht. Plötzlich hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Eiskalte Würgehände legten sich um ihre Kehle, um ihr den Atem zu rauben. Etwas stimmte da nicht mehr, war zerbrochen wie altes Porzellan. »Was hast du, Brenda?« »Ich… ich habe gar nichts!« keuchte sie. »Überhaupt nichts, Wiebke. Ich kann nur nicht begreifen, auf was du dich da eingelassen hast. Weißt du denn, was du mir da gesagt hast? Weißt du das .genau?« »Die Wahrheit!« »Ja, und es war ein Mordgeständnis, Wiebke. Du hast mir gestanden, Mister Redstone umgebracht zu haben.« »Nein, nein, so ist das nicht.« Wiebke lehnte sich zurück. »Ich habe es nicht getan. Du hast nicht richtig zugehört. Es war ein anderer, der Redstone killte.« Sie streckte den Zeigefinger aus und deutete auf den Schädel. »Er und kein anderer. Er hat dieses verfluchte Schwein zur Hölle geschickt!« Brenda sprang auf. »Das war ein Mensch, Wiebke. Wie kannst du nur so davon reden.« »Setz dich«, sagte sie kalt und lachte dabei. »Und sag mir nur nicht, daß du ihn gemocht hast. Du hast ihn gehaßt, ich habe ihn gehaßt, fast alle haben diesen Bastard gehaßt. Und er hat nichts anderes bekommen als seine verdiente Strafe.« Sie lächelte wieder. »Er ist nicht mehr, kleine Brenda. Du brauchst keine Furcht vor ihm zu haben, ist das nicht toll?« »Er ist tot.« »Na und? Was regst du dich auf? Ich habe dir und allen anderen nur einen Gefallen getan.« »Für die anderen kann ich nicht sprechen, Wiebke, aber mir hast du keinen Gefallen getan.« »Hm, so ist das also. Dann möchte ich gern von dir wissen, auf welcher Seite du stehst.« Brenda Jackson schaute zur Seite. »Ich weiß es nicht. Sony, aber ich kann es dir nicht sagen.« »Entscheide dich!«
Brenda hob den Kopf. »Das hört sich an, als wolltest du mir ein Ultimatum stellen.« »Das ist auch eines.« »Und wenn ich nun nein sage?« Wiebke zeigte wieder ihr eisiges Lächeln. Sie streckte die Hand aus, ließ die Fläche sekundenlang über dem Schädel schweben und senkte sie sehr langsam nach unten. »Dann, meine liebe Brenda, kann ich für nichts garantieren.« »Ich verstehe«, flüsterte sie. »Ja, ich verstehe. Das heißt, ich würde dann denselben Weg gehen wie Mister Redstone.« Miss Monster wiegte den Kopf. »Nicht unbedingt. Ich könnte mir auch eine andere Todesart für dich vorstellen. Darüber müßte ich noch genauer nachdenken.« Brenda wußte nicht mehr, wie sie reagieren sollte. Für sie war in den vergangenen Minuten eine Welt zusammengestürzt, aber Wiebke ließ ihr viel Zeit, um nachzudenken. Sie pfiff leise vor sich hin und starrte dabei den Schädel unentwegt an, als wäre gerade er etwas Besonderes. Sie hob ihn hoch und balancierte ihn auf ihren Handflächen. »Er gehorcht mir, meine Liebe. Es ist, als hätte ich einen großartigen und treuen Diener bekommen. Immer habe ich auf so etwas gehofft. Es ist Wahnsinn.« »Hör auf!« »Nein, ich fange an, kleine Brenda. Ist dir eigentlich nicht klargeworden, daß sich die Zeiten an dieser verdammten Schule geändert haben? Daß es nun zur Sache geht? Daß ich die Macht übernommen habe? Keiner kann mir etwas anhaben, und ich habe mich entschlossen, im Tornham College das Zepter zu führen.« Brenda schlug gegen ihre Stirn. »Jetzt bist du ganz durchgedreht. Wie willst du das denn schaffen?« »Ganz einfach, meine Liebe. Ab jetzt wird der Lehrkörper nur noch mir gehorchen. Ich werde diejenige Person sein, die hier die Fäden zieht. In anderen Schulen existiert eine Schüler-Mitbestimmung. Ich werde sie auf meine Art und Weise regeln. Dann will ich dir noch etwas zeigen, kleine Brenda. Du hast dem Totenkopf doch so skeptisch gegenübergestanden. Schau mal her!« Bevor Brenda sich versah, hatte ihre Freundin den Kopf in die Luft geworfen. Er hätte eigentlich wieder zurück in ihre Hände fliegen müssen, was aber nicht geschah. Statt dessen zog er seine Bahnen durch das Zimmer. Er flog, als wäre er ein Vogel, verfolgt von den Blicken der Wiebke Crotano, die ihn unter ihrer Kontrolle hielt. Sie genau war es, die ihn leitete, die ihm den Weg vorgab und die dafür sorgte, daß er genau sein Ziel anvisierte. Es war Brenda!
Sie schrie nicht einmal, so geschockt war sie, aber sie spürte ihn plötzlich an ihrer Kehle, und seine noch im Maul steckenden Zähne wirkten wie kalte Messerspitzen. Über den Schädel hinweg starrte sie mit panikgroßen Augen auf ihre Mitschülerin, die es nicht mehr auf ihrem Platz gehalten hatten. Wiebke war aufgestanden, stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab und sah Brenda an. »Wie fühlst du dich?« fragte sie sarkastisch. Es war Brenda Jackson nicht möglich, zu antworten. Wie angenagelt saß sie auf ihrem Platz und spürte den Schweiß in kalten Bahnen den Rücken hinabrinnen. »So ist unser lieber Lehrer gekillt worden«, erklärte Wiebke. »So und nicht anders. Der Schädel hing an seiner Kehle. Bei ihm hat er zugebissen und ihm den Hals zerrissen. Soll er es bei dir auch tun, kleine Brenda? Soll ich ihm befehlen, daß er zubeißt?« Brenda wunderte sich darüber, daß sie es schaffte, den Kopf zu schütteln, aber der Schädel löste sich nicht von ihrem Hals. Nach wie vor bohrte er seine Zähne in ihr Fleisch, ohne jedoch richtig zuzubeißen. Dann zog er sich zurück. Sie schaute dem weißen Etwas nach, wie es auf Wiebke zuflog, von ihr aufgefangen wurde, um dann behutsam auf den Tisch gelegt zu werden. »Wunderbar – oder?« Brenda Jackson wollte in die Erde kriechen, so schlecht und schrecklich war ihr zumute. Sie weinte, senkte den Kopf, war einfach mit den Nerven fertig und hörte die Stimme ihrer Klassenkameradin wie durch einen Filter gedämpft. »Es ist die neue Zeit, die nun anbrach. Es ist das Böse, Brenda, du mußt es akzeptieren oder untergehen. Ich will deine Antwort, und zwar jetzt und hier.« Brenda holte tief Luft, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich… ich kann nicht.« Wiebke lachte. »Dein Pech, dann wirst du eben…« Es klopfte gegen die Tür. Nicht hart oder fordernd, eher schüchtern. Ein Lehrer konnte es nicht sein. »Kein Wort!« zischte Wiebke, bevor sie ein Tuch über den Totenkopf deckte. »Ja, schon gut.« »Komm rein!« Es war ein Schüler aus der unteren Klasse, der schüchtern die Tür öffnete. »Was willst du?« herrschte Wiebke ihn an. Der Junge zog eingeschüchtert den Kopf ein. »Mrs. Paulsen schickt mich.« »Na und?«
»Du möchtest zu ihr kommen.« Wiebke lachte. »Wann – jetzt?« »Ja.« Wiebke stand auf. Das Tuch mit dem darin eingewickelten Kopf nahm sie mit. »Ist okay, Kleiner, ich komme mit.« Sie wandte sich an ihre Freundin. »Und du bleibst hier, nicht wahr?« Brenda nickte nur. Wiebke verließ das Zimmer. Noch auf dem Gang hörte Brenda ihr Lachen. O Gott, dachte sie nur, o Gott. Das ist ja Wahnsinn, das ist furchtbar, das ist… Sie stand auf, brauchte Luft, mußte das Fenster öffnen und… Dazu kam es nicht mehr. Als sie nach unten schaute, sah sie die Lehrpersonen. Männer und Frauen verteilten sich oder hatten sich um jemand verteilt, der, gebettet auf eine alte Plane oder ein Tuch, zwischen ihnen lag. Es war der tote Mister Redstone. Und selbst aus dieser Höhe sah Brenda Jackson die schreckliche Halswunde… *** Wir hatten es geschafft, wir waren da, und wir waren auch beide froh darüber. Barry F. Bracht hatte des öfteren geschlafen, allerdings nie so direkt geträumt, wie er mir zwischen den einzelnen Wachphasen berichtet hatte. Selbst ein gutes Gefühl, auf der richtigen Fährte zu sein, war nicht über ihn gekommen. »Wir müssen eben abwarten«, hatte er gesagt. Daß der Sumpf in der Nähe lag, konnten wir riechen. Durch die offenen Seitenscheiben des Rover floß die typische Luft. Sie war etwas kühl und roch gleichzeitig faulig, als wäre die Natur dabei, nun für alle Zeiten abzusterben. Zudem war es eine landschaftlich stille Gegend, durch die wir rollten. Es gab keine breiten Straßen, demnach auch kaum Verkehr. Wenn wir einen Wald passiert hatten, dann wuchsen die Bäume so dicht beisammen, als wollten sie einen Tunnel bilden. Das Internat aber lag frei. Es gab keinen Wald, der den Bau deckte, nur einige Sträucher, die angepflanzt und künstlich beschnitten worden waren, so daß sie einen Tennis- und einen Sportplatz eingrenzen konnten. Vor dem Bau konnten wir den Wagen ausrollen lassen. Einige Fahrzeuge parkten hier, und wir fanden noch genügend Platz. Bracht stieg zuerst aus und schaute sich um. »Was bedeutet das?« fragte ich. »Ich spüre nichts.« »Keinen Hinweis auf deinen Traum?«
»So ist es.« »Hoffentlich ändert sich das bald, sonst sehen wir gelackmeiert aus, mein Lieber.« »Abwarten.« Ich ging noch nicht sofort auf das Internat zu, sondern schaute es mir zunächst einmal an. Es war wirklich ein alter Bau, dessen Fassade im Laufe der Zeit allmählich dunkel geworden war. Zudem hatte sie eine Schicht aus Moos und dünnen Pflanzen bekommen, die sich wie ein großer Film aus gefärbtem Schmand zwischen den einzelnen Fenstern verteilten. Eine sehr große Tür bildete den Eingang. Schon mehr ein Tor, dessen rechter Flügel offenstand. »Ist das das Haus aus deinem Traum?« erkundigte ich mich bei dem guten Barry. »Ja, das ist es.« »Wie schön, dann werden wir ja einen Erfolg verzeichnen können.« »Fällt dir nichts auf, John?« Seine Frage hielt mich zurück. »Was denn?« »Schau dir die Schüler an. Normalerweise müßten die Unterricht haben, sie hocken aber auf der Treppe, laufen draußen herum oder stehen im breiten Flur.« Da hatte er recht. Dieser Anblick war tatsächlich ungewöhnlich für eine Schule. »Die haben frei.« »Bestimmt. Aber mitten in der Woche und in den Ferien? Das kommt mir schon komisch vor.« »Dann wollen wir mal fragen.« »Das meine ich auch, John.« Ich schüttelte den Kopf. »Redest du immer wie im Comic, Barry?« Er grinste. »Du bist der Chef.« »Gut, als Chef kann ich ja bestimmen, daß der Mitarbeiter die Arbeit macht.« »Richtig. Aber vergiß eines nicht.« Bracht grinste mich an. »Die Verantwortung muß der Boß übernehmen. Mal ehrlich, John, würdest du für meine Aktionen die Verantwortung übernehmen?« »Das glaube ich kaum.« »Für Zebuion denn?« Ich wiegte den Kopf. »Auch nicht, denn ich kontrolliere ihn ja nicht, das bist du, der Schläfer.« »Nein, nein, der Schattenkrieger ist eine selbständige Figur. Die kann ich nicht leiten.« So ganz sicher war ich mir nicht. Bracht war ein liebenswertes Schlitzohr, ein wirklich harmloser Mensch, dem es eben dank seiner
außergewöhnlichen Fähigkeiten gestattet war, als Schattenkrieger in die dunklen Traumwelten der Menschen hineinzusteigen. Ich hatte auch während der Fahrt noch einmal kurz mit ihm darüber gesprochen und versucht herauszufinden, ob er während des Schlafs nicht doch als Zebu-Ion in eine dieser Traumwelten hineingestoßen war. Er behauptete das Gegenteil und war der festen Meinung, daß er sich möglicherweise neue Gebiete erschloß. Das aber mußten wir erst einmal abwarten. Zunächst mußten wir eine Spur finden. Und dafür war die Schule hier der richtige Platz. Dieser alte Bau hielt keinem Vergleich mit den historischen Gebäuden der großen Elite-Unis wie Oxford oder Cambridge stand. Er war einfach klotzig, miefig und auch irgendwo verkommen. Es konnte auch an der exponierten Lage liegen und ebenfalls am Geruch, denn der Sumpf stank. Der Luftdruck war gesunken, es wehte nur ein leichter Wind, und der wiederum brachte die dampfende Fäulnis mit, die vom Sumpf her gegen uns wehte. Die Schüler hatten sich daran gewöhnt, ihnen fiel es wahrscheinlich nicht mehr auf. Zwei Jungen warfen Steine auf eine alte Büchse. Um nicht gestört zu werden, hatten sie sich abseits hingestellt. Hin und wieder trafen sie, dann sprang die Büchse jedesmal ein Stück weiter. Wir blieben neben ihnen stehen. Sofort hörten sie auf mit ihrem Spiel. Ich grüßte freundlich und erkundigte mich danach, ob denn heute keine Schule wäre. »So ist es, Sir.« »Das wundert uns. Wir haben gehört, daß…« »Es kam auch plötzlich.« »Und was ist der Grund?« Ich lachte leise. »Hatten eure Lehrer keineXust mehr?« »Weiß nicht.« Dann sprach der andere. »Einer unserer Lehrer ist verschwunden, deshalb fiel die Schule aus.« Barry F. und ich wechselten einen raschen Blick. »Verschwunden?« hakte ich nach. »Einfach weggeblieben?« »Ja.« »Weiß man denn, wohin und wieso euer Lehrer verschwunden ist?« »Nein, wissen wir nicht. Mister Redstone war nicht mehr da. Die Rektorin, Mrs. Paulsen, hat uns heute beim Frühstück gesagt, daß die Schule ausfällt, weil Mister Redstone gesucht werden soll.«
»Da gibt es den Sumpf«, sagte Barry F. mit leiser Stimme. »Könnte es sein, daß Mister Redstone einen nicht ungefährlichen Ausflug dorthin unternommen hat?« Die beiden Jungen nickten. Sie antworteten auch gemeinsam. »Die anderen Lehrer suchen auch dort.« »Im Sumpf?« »Und davor, Sir.« Barry F. schaute mich an. »Das sieht nicht gut aus«, flüsterte er, »ich könnte mit meinem Traum richtiggelegen haben.« »Ja, möglich.« Wir hörten hastige Schritte. Ein dritter Junge lief auf uns zu. Er war aufgeregt, außer Atem. Als er stehenblieb, konnte er kaum reden, holte tief Luft und mußte sich zunächst einmal beruhigen. Dann aber sprudelte es aus ihm hervor. »Sie haben Mister Redstone gefunden, draußen im Sumpf!« »Was ist denn mit ihm?« fragte ich. Obwohl ich fremd war, gab mir der Schüler eine Antwort. Er war wohl so in Fahrt, daß er die Lage nicht überriß. »Sie… sie haben ihn hinter die Schule getragen. Gehen konnte er nicht. Ob er tot ist, weiß ich nicht. Ich habe es nur gehört…« Das reichte uns aus. Den Weg fanden wir auch ohne Beschreibung. Als wir den Bau umrundeten, merkten wir erst, wie groß er war. Wir sahen nur wenig Schüler, die meisten mußten sich in ihren Zimmern aufhalten, aber wir sahen endlich das, was uns interessierte. Die Lehrer standen zusammen. Es waren Männer und Frauen, die ihre Blicke gesenkt hielten und auf das schauten, was vor ihnen am Boden lag. »Ab jetzt bist du mein Assistent«, erklärte ich Barry F. »Danke, Meister.« Er blieb dicht hinter mir, als ich die Gruppe ansteuerte. Von hier aus hatte ich auch einen sehr guten Blick über das flache Sumpfgelände. Es sah traurig und sterbend aus. Der graue Himmel verstärkte diesen Eindruck noch. Die Lehrer hörten unsere Schritte, schauten auf oder drehten sich um. Wir sahen in abgespannte, fassungslose und auch entsetzte Gesichter. Wir merkten aber auch, daß es ihnen nicht paßte, plötzlich zwei völlig Fremden gegenüberzustehen. Aus der Gruppe löste sich ein bärtiger Mann, der Jeanskleidung trug. Seine halbhohen Stiefel waren bis dicht unter den Rändern beschmutzt. Das dunkle Haar wuchs struppig in seinen Nacken hinein, sein Kinn wurde durch einen Bart verdeckt. »Bitte, Sie können jetzt nicht…« Ich zeigte ihm meinen Ausweis.
Mit spitzen Fingern nahm er ihn entgegen, blickte in mein Gesicht und schüttelte den Kopf. »Scotland Yard?« flüsterte er. »Ist das ein Zufall…?« »Kann sein.« »Wohl kaum.« Seine Stimme klang bitter. »Wer sind Sie, Mister?« »Ich heiße Frank Hill und bin hier der Sportlehrer. Gerade haben wir einen Kollegen tot aus dem Sumpf gezogen.« »Ist es Mister Redstone?« Er nickte. »Ich möchte ihn sehen.« »Bitte.« Hill drehte sich und deutete zur Seite. Zuvor jedoch hatte ich noch eine Frage. »Wer leitet dieses Internat hier?« »Mrs. Paulsen.« Den Namen hatten wir auch schon gehört. »Wer von den Herrschaften ist Mrs. Paulsen?« »Sie ist nicht hier. Sie… sie ist in ihr Büro gegangen. Sie war bei uns, und sie hat den Toten entdeckt. Es geht ihr wohl nicht gut. Jedenfalls wollte sie allein bleiben.« »Danke.« Die übrigen Lehrpersonen hatten das Gespräch mitbekommen. Schweigend machten sie Platz, so daß wir sehr nahe an den Toten herangehen konnten. Sie hatten den Mann auf eine Plane gelegt. Er trug Reitkleidung, auch seine Stiefel reichten bis zu den Knien. Der Mann war völlig naß, das Gesicht sah aus wie weißer Pudding. Dann sahen wir die Kehle. Es gab sie nicht mehr. Wo sie einmal gewesen war, klaffte eine große Wunde. Blut strömte nicht mehr hervor, das Wasser hatte die Wunde ausgewaschen. »Wir fanden ihn im See. Er hing im nahen Uferschilf fest«, sagte Mister Hill. »Ein Mann, der ermordet wurde«, murmelte ich. »Ich frage Sie, ob Sie einen Verdacht haben?« »Nein, habe ich nicht.« Ich stellte die Frage noch einmal. Diesmal lauter, daß mich jeder hören konnte. Die Antwort war Schweigen. Niemand konnte sich vorstellen, wer diesen Mann umgebracht hatte. Bracht räusperte sich, bevor er sprach. »Wenn man sich die Kehle des Toten ansieht, kann man zu der Überzeugung gelangen, daß es ein Tier gewesen ist. Der Hals sieht ja regelrecht zerbissen aus. Das kann kein Mensch gewesen sein.« »Daran haben wir auch schon gedacht«, sagte Frank Hill. »Aber im Sumpf leben doch keine Raubtiere, denen so etwas zuzutrauen wäre.«
»Das bestimmt nicht.« Barry F. hob die Schultern. »Tja, John, der Mord wird wohl ein Problem werden.« »Für uns ja. Für einen Arzt nicht. Wir werden ihn holen müssen, damit er den Mann untersucht.« »Ich will mich ja nicht in Ihre Angelegenheiten mischen«, sagte Frank Hill, »aber wo wollen Sie den Arzt hernehmen? In dieser Umgebung gibt es keinen Polizeiarzt, wohl einen Landarzt, und der muß erst aus Berkeley kommen.« »Da hat er recht«, meinte Bracht. Ich wandte mich an die Lehrer. »Was hatten Sie denn mit der Leiche vorgehabt, meine Herrschaften?« Sie drucksten etwas herum. Schließlich sprach eine ältere Frau mit kurzen, grauen Haaren. »Ich bin Miss Winter und hatte eigentlich daran gedacht, daß wir den Toten in den Keller legen, bevor wir die Polizei informieren.« »Was nun nicht mehr nötig ist, da Sie ja von der Polizei sind«, sagte Frank Hill. »Nun ja, so dürfen Sie das nicht sehen. Ich finde den Vorschlag nicht schlecht. Ja, ich bin dafür, daß Sie den Toten in den Keller bringen und ihn dort zunächst liegen lassen, bis alles anders geregelt worden ist.« »Was denn geregelt?« »Sie haben doch nichts dagegen, daß wir beide uns hier einmal näher umschauen?« Er schluckte. »Heißt das, daß Sie sich auf die Suche nach dem Mörder begeben wollen?« »So ungefähr, Mister Hill.« Er machte einen Schritt auf mich zu. Seine Augen weiteten sich dabei. »Etwa hier?« Ich lachte leise. »Wo würden Sie denn anfangen?« »Weiß ich nicht«, gab er zu. »Aber Sie verdächtigen doch nicht etwa einen von uns?« Ich hob die Schultern. »Bisher habe ich noch keinen Verdacht. Oder sagen wir so. Alle sind verdächtig, Sie eingeschlossen, Mister Hill. Ich würde vorschlagen, daß die Leiche jetzt in den Keller gebracht wird und Sie sich dann auf Ihre Zimmer begeben, ebenso wie die Schüler. Es ist nicht gut, wenn man sich draußen aufhält.« »Mein Gott, was werden die Schüler dazu sagen?« Ich winkte ab. »Das hat sich bereits herumgesprochen. Wir haben es von einem Schüler. Sie sind natürlich beobachtet worden. Und schauen Sie mal hoch zu den Fenstern. Da werden Sie genug Gesichter sehen, die uns beobachten.« Er schluckte und nickte, fuhr über seinen Hals und sprach davon, daß ausgerechnet an dieser Schule ein Mord passieren mußte. »Was heißt das denn?« hakte Barry F. nach.
»Nun ja, ich will Sie nicht mit irgendwelchen internen Dingen langweilen, aber wir kämpfen finanziell ums Überleben. Schauen Sie sich um. Die Lage ist nicht eben ideal. Ein Wunder, daß wir überhaupt noch Schüler bekommen. Wäre da nicht die Stiftung, würde es uns noch schlechter gehen. Viele Eltern schicken uns auch ihre Kinder, weil wir eben so weit vom Schuß liegen. Manchmal habe ich das Gefühl, daß sie froh sind, sie los zu sein. Komisch – nicht?« Ich hob die Schultern. »Da ich keine Kinder habe, kann ich das nicht beurteilen. Noch eine Frage: Die Rektorin ist in ihrem Büro, wie ich hörte?« »Ja, das stimmt. Mrs. Paulsen hat den Toten auch gefunden. Während wir in den Sumpf hineingingen und dort suchten, blieb sie am See. Wie schon erwähnt, der Tote steckte im Uferschilf.« »Und wo liegt das Büro der Rektorin?« »Im ersten Stock. Ich kann Sie hinbringen.« »Nicht nötig, Mister Hill, den Weg finden wir bestimmt allein. Wir kommen dann auf Sie zurück.« »Ist gut.« Die Blicke der Lehrer brannten auf unseren Rücken, als wir gingen. Ich war nachdenklich geworden, was Barry F. Bracht auffiel. »Über was denkst du nach?« »Ich weiß es nicht so genau, Barry. Ich weiß es wirklich nicht.« »Wie verdächtig sind die Lehrer?« »Keine Ahnung. Sie schienen mir alle geschockt zu sein. Aber du kannst ja nur vor die Stirne schauen und nicht dahinter. Mir geht die Wunde nicht aus dem Kopf. Der Hals sah so zerbissen aus, wie es eigentlich nur ein Tier hinterlassen kann.« Barry F. gab keine direkte Antwort. Er sprach wieder von seinen Traumbildern und fügte hinzu: »Ich weiß nicht, ob es ein Tier gewesen ist, John.« »Was denn?« Er schaute die Treppe hoch, die zum Eingang führte. »Ein Wesen, würde ich sagen. Ja, ein Wesen, das Böse, John, einfach nur das verfluchte, verdammte Böse.« Ich gab keine Antwort und dachte nur daran, daß Barry F. Bracht möglicherweise nicht so daneben lag. Bevor ich die Türschwelle überschritt, stellte ich ihm noch eine Frage. »Hast du denn das Gefühl, daß wir hier an der richtigen Stelle sind?« »Das habe ich, John. Und ich habe ein verdammt ungutes Gefühl. Es kommt mir vor, als wären wir von Feinden umgeben, die sich noch zurückhalten. Ich hoffe, daß ich sie hervorlocken kann.« »Aber nicht als Barry F. Bracht – oder?« »Nein, als Zebuion, der Schattenkrieger!«
Die neue Zeit, die andere Zeit, die Zeit des Dunkels, der finsteren Mächte hatte bereits die Tür spaltbreit aufgestoßen. Aber sie würde sie noch viel weiter öffnen, um all das Grauen in diese Welt einfließen zu lassen, dessen war sich Wiebke Crotano sicher, als sie durch den breiten Flur ging, auf dem das Zimmer der Rektorin lag, nicht weit entfernt vom Sekretariat der Schule. Alles in diesem Gebäude war alt, hoch und breit. Die Gänge, die Decken, das Treppenhaus. Selbst der Handlauf des Geländers konnte nicht von einer Hand umfaßt werden, und die dicken Säulen besaßen den Umfang von Bodybuilder-Armen. Von den Decken hingen Kugellampen, die aussahen wie helle Köpfe. Sie warfen ihr Licht auf den glatten Steinboden, wo die Helligkeit reflektiert wurde und manchmal sogar blendete. Die Türen zu den einzelnen Klassenzimmern waren grün lackiert worden. Sie bestanden aus dickem Holz, das schon einige Schläge vertragen konnte. Miss Monster war dies nicht neu. Sie kannte hier jeden Fußbreit Boden, und sie dachte daran, wie oft sie mit einem ängstlichen Gefühl im Körper diesen Weg gegangen war. Oft genug war sie zu Mrs. Paulsen bestellt worden, die nie allein gewesen war, denn stets hatte der Zuchtmeister, dieser Kirk Redstone, neben ihr gestanden. Dieses Gefühl war nun verschwunden. Zum erstenmal ging sie den Weg nahezu locker und lässig. Sie wußte, daß sie stark war, stärker als die Paulsen, denn es gab Mächte, die Wiebke beschützten und von denen die Rektorin keine Ahnung hatte. Vor der entsprechenden Tür blieb sie stehen. Sie lächelte wieder böse und gleichzeitig voller Vorfreude, als sie daran dachte, wie das Gespräch verlaufen würde. Ohne anzuklopfen, betrat sie das leere Vorzimmer. Hinter dem alten Schreibtisch hockte ansonsten die Sekretärin, aber die befand sich, ebenso wie die anderen Lehrer, draußen. Links ging es zum Zimmer der Schulleiterin. Diese Tür stand offen, die andere schloß Wiebke hinter sich. Sie hatte den Totenschädel wieder in ihrem Netz verstaut. Wenn die Zeit reif war, würde sie ihn hervorholen, und dann konnte nichts und niemand dieses schreckliche Weib noch retten. »Komm ruhig her, ich habe dich gehört, Wiebke.« Miss Monster hob nur die Schultern. Gelassen ging sie weiter, und ebenso gelassen öffnete sie die Tür zum Zimmer der Mrs. Paulsen. Zwei Ledersessel mit sehr hohen Lehnen standen vor dem Schreibtisch. Wer sich dort hineinsetzte, versank, und dem Besucher kam Mrs. Paulsen dann noch größer vor, denn sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, sehr hoch zu sitzen.
Schränke, Regale vollgestopft mit Büchern und Akten bildeten die übrige Einrichtung. Hinter dem dunklen Schreibtisch thronte die Chefin. Sie sah aus wie eine Figur, denn sie rührte sich nicht vom Fleck. In ihrem bleichen Gesicht fielen die dunklen Augen noch stärker auf, die so starr waren, daß sie schon beinahe künstlich wirkten. »Komm ruhig näher, Wiebke.« »Natürlich.« »Du kannst dich setzen, wenn du willst.« Sie nickte. »Ist vielleicht nicht schlecht, Mrs. Paulsen. Die Unterredung könnte länger dauern.« »Das meine ich auch.« Wiebke nahm Platz. Sie überlegte, ob die Frau wohl etwas von ihrer Veränderung bemerkt hatte. Wenn ja, behielt sie sich gut unter Kontrolle, denn sie zeigte nicht die Spur eines Gefühls. Nur ein Bleistift wanderte zwischen ihren Fingern hin und her. Manchmal umfaßte sie ihn so fest, als wolle sie ihn zerbrechen. »Du weißt, daß Mister Redstone nicht mehr lebt?« Wiebke hob die Schultern. »Gerüchteweise. Man flüsterte sich hier und da etwas zu.« »Dann sage ich dir, daß er tot ist.« »Sein Pech.« Mrs. Paulsen ging nicht auf die Bemerkung ein. »Ich habe ihn gefunden, Wiebke, und zwar draußen im Sumpf. Seine Leiche klemmte zwischen den Schilfrohren im See, der Mörder muß sie dorthin geschleppt haben, und diesen Menschen suchen wir.« »Wollen Sie das nicht der Polizei überlassen?« Dünnlippig gab sie die Antwort. »Zunächst einmal versuchen wir, die Probleme selbst zu regeln. Wir gehen nämlich davon aus, daß sich der Täter unter uns befindet.« »Das kann ich nicht beurteilen.« Die Paulsen ließ den Bleistift fallen. Mit einem dürren Geräusch landete er auf dem Schreibtisch. »Es geht noch weiter, Wiebke. Mister Redstone muß in der vergangenen Nacht ums Leben gekommen sein.« »Ist es nicht gefährlich, bei Dunkelheit das Moor zu betreten?« fragte das Mädchen spöttisch. »Du hast recht. Deshalb warnen wir die Schüler auch immer davor. Aber Mister Redstone war kein Schüler. Er kannte sich aus, er hat an dieser Schule schon lange unterrichtet. Er hätte es eigentlich besser wissen müssen. Zumal er sich nicht zum erstenmal bei Dunkelheit durch das Gelände bewegte. Außerdem haben wir Vollmond, da ist die Nacht dann entsprechend hell. Nein, da muß etwas anderes passiert sein.« »Und was?« »Könnte es sein, daß du darüber Bescheid weißt, Wiebke?«
Sie lachte ihre Rektorin an. »Wieso gerade ich, Mrs. Paulsen? Wie kommen Sie auf mich?« »Du bist doch in der letzten Nacht verschwunden, warst nicht in deinem Zimmer.« »Wer sagt das?« »Auch ich habe meine Quellen.« Wiebke lachte scharf. »Dann soll ich Mister Redstone also umgebracht haben, nicht wahr?« »Das habe ich damit nicht gemeint. Sagen wir mal so, ich würde es nicht ausschließen. Redstone muß einen Grund gehabt haben, die Schule in der Nacht zu verlassen. Ich kenne diese Gründe. Er ging nie zum Spaß aus dem Haus, denn wir alle wissen, daß dieses Moor auch auf Schüler eine besondere Anziehungskraft ausübt. Da ist es so wunderbar ruhig, da ist man unter sich, da wird man nicht gestört, außerdem ist es spannend, Verbote zu umgehen, wie ich meine.« »Das sagen Sie.« »Und habe damit recht!« stellte die Rektorin fest. »Ich bin davon überzeugt, daß du in der Nacht ins Moor gegangen bist. Du hast die Schule verlassen, obwohl es verboten war.« Wiebke hob die Schultern. »Und wenn es so war?« »Du gibst es zu?« Sie lächelte eisig. »Ja, ich gebe es zu. Ich war im Moor. Ich war auch auf der anderen Seite des Zaunes.« Auffordernd schaute sie Mrs. Paulsen an. »Ist das denn so schlimm?« Die Rektorin lehnte sich zurück. Ihr Stuhl quietschte, als er sich bewegte. Es war das einzige Geräusch in dem Büro. »Ja, das ist schlimm«, sagte sie nach einer Weile. »Es ist immer schlimm, wenn man Verbote übertritt.« »Für mich nicht.« Sie beugte sich wieder vor. »Wenn du also in der vergangenen Nacht im Moor gewesen bist, könnte es dann sein, daß du jemanden getroffen hast, Mister Redstone, zum Beispiel?« »Das ist möglich.« »Du hast ihn getroffen!« zischte sie. »Ja.« Die Frau atmete tief durch. »Das habe ich mir gedacht. Er wird dich bei deinem unerlaubten Entfernen beobachtet haben.« Sie verzog die Lippen. »Sicherlich hat er auf dich gewartet und dich zur Rede gestellt, Wiebke.« »Auch das.« Lächelnd gab sie alles zu. Es tat ihr einfach gut, so zu sprechen. »Was geschah dann?« Die Rektorin flüsterte die Frage. »Können Sie sich das nicht denken?« »Hast du ihn getötet?«
»Nicht direkt, aber ich war dabei. Und ich habe mit großem Vergnügen zugesehen, wie dieser Bastard starb!« Sie hatte die letzten Worte besonders akzentuiert ausgesprochen und auch lauter, damit die Frau vor ihr auch alles mitbekam. Sie rührte sich nicht. Zum erstenmal sah Wiebke Crotano eine geschockte Mrs. Paulsen. Und es tat ihr gut, sie in diesem Zustand zu erleben. Das war natürlich schon der halbe Sieg, mit dem sich Wiebke nicht zufriedengeben würde. Sie wollte den ganzen, sie wollte alles. Sie wollte auch vernichten. Mrs. Paulsen schaute die Schülerin zwar an, ihr Blick glitt dennoch ins Leere. »Seine Kehle war nicht mehr vorhanden. Sie… sie war völlig zerfetzt.« »Ich weiß.« »Wie hast du es getan?« »Ich nicht.« »Aber ich verstehe nicht, daß…« »Es war ein anderer. Ich habe nur zugeschaut, und ich habe es genossen, begreifen Sie das endlich!« Sie räusperte sich. »Ich kann es einfach nicht fassen, es will nicht in meinen Kopf. Das ist verrückt, verstehst du? Ich habe die Kehle gesehen, sie sah aus, als wäre sie zerbissen worden.« »Das ist sie auch!« »Von wem denn?« schrie die Rektorin. »Verdammt noch mal, wer hat das getan?« »Das Böse, Mrs. Paulsen. Der Beginn einerneuen Zeit wurde mit Redstones Tod eingeläutet. Verstehen Sie das?« »Nein, nicht. Ich kann es nicht verstehen!« Sie beugte sich vor, ihre Augen zuckten. »Welche Bestie hält sich im Sumpf versteckt? Was, zum Teufel, lauert dort?« »Vielleicht ist es der Teufel, Mrs. Paulsen. Vielleicht ist es das Gestalt gewordene Böse, das sich dort versteckt hat? Möglich ist alles, Mrs. Paulsen.« »Ich will es genauer wissen.« »Das werden Sie auch. Deshalb bin ich ja so gern zu Ihnen gekommen.« Sie saß jetzt wie auf dem Sprung. Ihr Gesicht verzerrte sich mit jedem Wort. »Redstone war erst der Anfang, Mrs. Paulsen. Alle, die gegen mich sind, werden folgen. Ich habe hier lange genug gelitten. Ich wurde schikaniert, gequält. Ich hatte keine Lobby, ich als Vollwaise. An mir konnte man die perversen Gelüste auslassen. Niemand trat für mich ein, und Schweine wie Redstone hatten Spaß daran, mich zu prügeln. Mich und auch andere, die aber waren zu schwach. Deshalb habe ich das Zepter in die Hand genommen. Ich bin die Rächerin, ich werde die Rechnung schreiben, ich bin es, die hier den Ton angibt.«
»Soll das heißen, daß dem einen Mord noch weitere folgen werden, Wiebke?« »Sie haben es erfaßt, Mrs. Paulsen.« Die Schulleiterin nickte. »Ja«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ja, denn so ähnlich habe ich es mir vorgestellt. Ich hatte dich in Verdacht, ich brauchte nur noch den Beweis.« »Okay, den haben Sie jetzt.« »Aber ich wollte es nicht glauben. Ich glaubte einfach nicht, daß du so schlecht bist, Wiebke. Dabei gebe ich zu, daß auch Redstone und ich Fehler begangen haben. Aber niemand ist perfekt. Dafür sind wir alle nur Menschen.« »Er war ein Schwein. Er war kaputt, das haben Sie genau gewußt, Mrs. Paulsen. Und Sie sind es auch. Ja, Sie sind ebenfalls kaputt, das weiß ich.« »Du willst mich also töten?« Wiebke deutete mit der Fingerspitze auf sie. »Töten lassen ist richtiger.« Die Rektorin lächelte. Ihr Lächeln war aber mehr nach innen gekehrt. »Nun ja, wenn mich jemand töten will, dann muß ich mich wehren. Gestehst du mir das zu?« »Bitte.« Mit einer raschen Bewegung zog die Rektorin eine Schublade an ihrem Schreibtisch auf. Wie einen Klaue fuhr die Hand hinein, und als sie wieder zum Vorschein kam, hielt sie einen Revolver, dessen Mündung auf Wiebke zeigte. »Verstehst du diese Sprache?« Wiebke amüsierte sich. »Natürlich, Mrs. Paulsen. Ich habe auch damit gerechnet. Ich weiß, daß diesen Raum nur einer von uns lebend verläßt. Das ist mir klar.« »Mir aber nicht. Ich werde dich einsperren und der Polizei Bescheid geben. Du kannst bei den Beamten dann das wiederholen, was du mir eben gesagt hast.« »Soweit wird es nicht kommen.« »Steh auf!« Miss Monster nickte. »Ja, natürlich, gern. Ich werde aufstehen.« Sie drückte sich lächelnd in die Höhe. Auch wenn die Frau den Revolver hielt, Angst zeigte sie nicht. Aber sie hatte ihre Hände auf den Rücken gelegt, wo das Netz mit seinem makabren Inhalt befestigt war. Zuvor hatte sie schon geübt. Es war leicht, den Knoten zu lösen, auch wenn Mrs. Paulsen sie nicht aus den Augen ließ. »Was tust du da?« »Nichts weiter!« Zuerst zeigte sie ihre linke Hand, wenig später die rechte. In der hielt sie das Netz.
Die Rektorin senkte den Blick. Genau konnte sie nicht erkennen, was sich darin verbarg. Sie sah nur etwas Weißes, Bleiches durch die Maschen schimmern. »Was ist das, kleine Hexe?« Wiebke lächelte kalt. »Wollten Sie nicht den Mörder Ihres Mister Redstone sehen?« Mrs. Paulsen schüttelte den Kopf. Sie zeigte sich irritiert. »Was soll das denn wieder bedeuten?« »Es ist der Täter.« »Ach ja?« »Sie brauchen keine Furcht zu haben, Mrs. Paulsen. Ich zeige Ihnen den Killer. Ich präsentiere Ihnen das Gestalt gewordene Böse, und dann werden Sie nur noch staunen.« Die Frau staunte auch so, als das Mädchen seine Hand in das Netz hineinschob. Wiebke breitete die Finger aus, damit sie den Schädel umklammern konnte. Behutsam zog sie ihn hervor. Erst als er aus der Öffnung herausgeglitten war, da konnte ihn die Rektorin genau erkennen und bekam große Augen. Ihre Lippen bewegten sich, doch es dauerte Sekunden, bis sie einen Satz hervorbrachte, und den auch nur zerstückelt. »Das… ist… Totenkopf…?« »Ja, ein Schädel.« Wiebke warf das Netz hinter sich auf die Sitzfläche. »Toll, nicht wahr? Ein wunderschöner Totenschädel, beinahe schon ein Kunstwerk. Einfach wunderbar, kann ich Ihnen sagen. Ich liebe ihn, er ist mein Beschützer.« »Wer tötete Redstone?« »Der Schädel, wer sonst?« Die Frau sah so aus, als glaubte sie der Schülerin kein einziges Wort. Sie schüttelte den Kopf, sie holte tief Luft, sie spürte auf ihrer Haut den Schweiß. Und sie fing an zu zittern. Wiebke beobachtete sie haarscharf, deshalb entging ihr auch nicht, daß die Mündung nicht mehr starr gegen sie wies, sondern von einer Seite zur anderen schwankte. »Ich glaube es nicht!« »Doch, Mrs. Paulsen, geben Sie acht!« Als wäre er irgendein Stein, so locker warf Wiebke den Kopf in die Höhe. Er prallte nicht bis gegen die Decke, dicht davor kam er zur Ruhe, aber die Rektorin verfolgte den Weg genau mit den Augen. Miss Monster aber trat zur Seite. Sie konnte es sich erlauben, die Mündung der Waffe zeigte woanders hin. Und dann schrie sie den Befehl. »Jetzt!« Das Unheil nahm seinen Lauf…
Plötzlich änderte der Schädel seine Richtung. Er blieb nicht mehr in der Höhe, sondern jagte mit einem wahnsinnigen Tempo schräg auf die Rektorin zu. Miss Monster aber stand vor ihrem Sessel und beobachtete mit leuchtenden Augen das Schreckliche, das nicht mehr aufzuhalten war. Die Paulsen schrie! Dabei drehte sie die Waffe, denn sie wollte auf den Totenkopf schießen. Wäre sie schneller gewesen, hätte sie es möglicherweise geschafft, aber der Schädel war wie ein Blitz. Er biß zu. Diesmal traf Mrs. Paulsen der Schock so hart, daß sie keinen Ton hervorbrachte. Die Zähne des Totenschädels hatten sich in ihrem rechten Oberarm verbissen, rissen dort am Fleisch. Es entstand eine klaffende Wunde, aus der Blut fontänenartig sprudelte und in einem wahren Regen aus Tropfen auf die Schreibtischplatte klatschte. Die Waffe rutschte ihr aus der Hand. Wie ein Wiesel huschte Miss Monster hin und hob sie auf. Sie steckte sie in den Gürtel, kam wieder hoch und schaute weiter zu. Mrs. Paulsen wandte ihr den Rücken zu. Mit der rechten Hüfte berührte sie den Schreibtischrand. Sie hätte sicherlich laut geschrien, das aber ließ der Schädel nicht zu. Obwohl Miss Monster nichts sah, wußte sie doch, daß der Schädel ebenso reagierte wie bei Redstone. Er hatte sich in der Kehle der Frau verbissen und ruckte noch einige Male, weil eres perfekt durchführen wollte. Wiebke freute sich. Sie tat gar nichts. Sie wartete ab, bis die Frau in die Knie sank. Schwer fiel sie über ihren Stuhl, den sie durch ihr Gewicht noch ein Stück zur Seite schob. Und dort blieb sie auch liegen, ohne sich zu rühren. Der Schädel aber löste sich von ihrem Hals, als Miss Monster nur kurz mit den Fingern schnickte. Den Arm hatte sie ausgestreckt, die Hand geöffnet, um dem Totenkopf den neue Landeplatz zu präsentieren. Er sollte schließlich wissen, wo er hingehörte. Noch in der Luft schwebend drehte er sich. Wiebke schaute ihn jetzt direkt an. Sein offenes Maul war an den Rändern blutverschmiert. So stark, daß noch einige Tropfen zu Boden fielen und dort als Flecken liegenblieben. Es machte Wiebke nichts aus, daß sie den Schädel hier nicht reinigen konnte. Sie freute sich darüber, daß er zu ihr kam, auf der vorgetreckten Hand seinen Platz fand, und sie ihn wieder in dem dünnen Netz verschwinden lassen konnte. Sofort hakte sie es wieder an ihrem hinteren Gürtelteil fest und war sehr mit sich zufrieden.
Dann schaute sie auf den Körper. Auch wenn sie nur den Rücken sah, wußte sie doch, daß die Paulsen nicht mehr lebte. Aus der Halswunde rann noch Blut und tropfte in die Lache vor dem Stuhl. »Du wirst auch keinen mehr schikanieren!« flüsterte sie. Haß klang in ihrer Stimme durch, aber auch Zufriedenheit. Es bereitete ihr einfach Spaß, daß die anderen Kräfte ihr zur Seite standen, und wenn sie als Anstifterin feststand, dann mußten diejenigen, die sie jagten, zunächst einmal in den Sumpf, vor dem sie sich nicht fürchtete, denn er war so etwas wie zu einer zweiten Heimat geworden. Sie freute sich auf ihn und seine zahlreichen Verstecke. Wiebke wußte auch, daß sie nicht mehr lange im Zimmer der Toten bleiben konnte. Sicherlich wollte der eine oder andere mit ihr sprechen. Bevor sie den Raum verließ, warf sie noch einen Blick nach draußen, gegen die hintere Seite der Schule. Die Weite des Sumpfes interessierte sie nicht. Sie sah die versammelten Lehrer, sie sah den toten Redstone auf der Plane liegen, und sie entdeckte zwei Fremde unter den dort versammelten Personen. Der eine besaß blonde, der andere braune Haare. Wiebke kannte beide nicht, aber so etwas wie ein warnendes Gefühl durchströmte sie plötzlich. Sie spürte instinktiv, daß von diesen Männern eine gewisse Gefahr ausging und sie sich doch vorsehen mußte. Wer waren die beiden? Sie dachte an die Polizei, doch so schnell konnte die einfach nicht an der Schule sein. Zudem wären Uniformierte erschienen und keine Männer in Zivil. Wiebke schaute noch einmal nach unten. Da waren die beiden verschwunden. Wiebke Crotano schaute noch einmal nach, es blieb dabei, sie hatte sich nicht getäuscht. Die Männer waren wichtig. Von ihnen war etwas ausgegangen, das ihr nicht paßte. Sie spürte es, es war wie eine Warnung, die auf ihrem Körper kribbelte. Außerdem hatten sie gewirkt wie Menschen, die Fragen auf dem Herzen hatten. Wenn sie Antworten suchten, würden sie diese sicherlich auch woanders suchen. Bei der Rektorin, zum Beispiel… In ihrem Büro! Noch wollte Wiebke nicht entdeckt werden. Sie brauchte die Zeit, sie mußte noch einiges vorbereiten und würde sich wie ein Phantom durch die Schule bewegen. Mit leisen Schritten ging sie zur Tür und öffnete. Der Gang war leer, auch wenn die Stimmen der Schüler aus anderen Etagen durch das Treppenhaus hallten.
Als wäre nichts geschehen, verließ Miss Monster das Vorzimmer und ging eine Etage höher. Als sie ihr Zimmer betrat, fand sie es leer. Brenda Jackson war nicht mehr da. Und das beunruhigte sie. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, sie zu sehr einzuweihen. Wenn ja, dann würde sie diesen Fehler sobald wie möglich wieder rückgängig machen, und dabei vertraute sie voll und ganz auf ihren Freund, den Totenkopf… *** Bracht hatte ein bedenkliches Gesicht gezogen, als wir durch das Treppenhaus gingen und die Stufen zur ersten Etage hochstiegen, wo unser Ziel lag. »Hast du was?« fragte ich. »Ja. Wenn ich mir vorstelle, in diesem Bau lernen zu müssen, würde ich freiwillig verschwinden.« »Dann kannst du mich gleich mitnehmen.« Auch mir gefiel das Innere des Internats ebensowenig wie die äußere Fassade. Trotz der ziemlich großen Fenster würde es auch bei Sonnenschein immer düster bleiben, dafür sorgte allein die Bemalung der Flurwände. Sie waren nicht hell, sondern in einem blassen und gleichzeitig dunklem Grün gehalten, das etwa in Kopfhöhe aufhörte, denn dort begann der graue Stein. Er endete erst an der Decke. Wir erreichten die erste Etage. Dieser breite Flur lag leer vor uns. Kein Schüler hielt sich hier auf. Die Stimmen drangen meist aus den oberen beiden Etagen. »Den Weg zum Rektor bin ich auch früher nie gern gegangen«, sagte Bracht. »Immer wenn ich hingerufen wurde, gab es irgendwelchen Ärger. Ich war wieder nicht gut genug.« »Das Problem kenne ich.« Unsere Schritte hinterließen auf dem glatten Boden Echos. Die Lampen hingen an Metallstangen nach unten. Sie schwebten wie bleiche Monde auf halber Strecke zwischen dem Fußboden und der Decke. Links lagen die Türen. Hier hatten die Lehrer ihre Büros, hier würden wir auch das Zimmer der Rektorin finden. Wir waren gespannt auf sie. Wie mochte eine Frau aussehen, die eine derartige Schule leitete? Vor der Tür blieben wir stehen. Ich klopfte, erhielt keine Antwort, dann drückte ich die Klinke und stellte fest, daß die Tür verschlossen war. Barry F. war zur Seite gegangen und vor einer anderen Tür stehengeblieben. Er winkte mir zu. »Das ist das Vorzimmer, John. Ich versuche es mal hier.«
Wir hatten Glück. Barry F. drückte die Tür auf und betrat vor mir das Zimmer. Leer, kein Mensch zu sehen. Er ging einige Schritte vor, blieb stehen und drehte sich langsam um. Ich deutete auf eine zweite Tür, die zum Büro der Rektorin führte. »Da werden wir sie finden.« »Fragt sich nur wie.« Ich drehte mich um. Die Frage hatte mich etwas irritiert. »Was meinst du damit?« »Sie hätte uns schon hören müssen.« »Und?« Bracht hob die Schultern. »Geh hin und schau nach. Mal sehen, was wir dort finden.« Wir fanden das Grauen! Ich blieb dicht hinter der Tür stehen und schaute auf die Gestalt, die bäuchlings über dem Schreibtischstuhl lag, der ein Stück vom Schreibtisch weggerollt war, so daß wir die Tote sehr gut sehen konnten. Es mußte einfach Mrs. Paulsen sein. »Verdammt!« flüsterte Barry. »Verdammt auch…« Ich ging auf die Person zu. Gern tat ich es nicht, aber ich mußte einfach Gewißheit haben, deshalb faßte ich zu und drehte sie herum. Der Stuhl schwankte dabei, bewegte sich auch, ich stoppte ihn mit dem quergestellten Fuß, dann lag die Rektorin so, daß ich gegen ihren Hals schauen konnte. Es war wie bei Redstone. Jemand hatte ihr die Kehle zerbissen und der Frau keine Chance gelassen. Neben mir bewegte sich Barry F. Bracht. Er fuhr mit der Hand an seiner Kehle entlang, als würde er im nächsten Augenblick einen Angriff erwarten. »Das packe ich nicht«, hörte ich ihn flüstern. »Verflucht, das packe ich nicht. Ich bin nur ein einfacher Lektor und kein Profi. So etwas ist zuviel für mich.« Er drehte sich um. Ich hörte ihn würgen und konnte ihn verdammt gut verstehen. Auch mir war der Anblick unter die Haut gegangen, ich aber mußte mich ihm stellen, ich durfte nicht kneifen. Hier ging es um eine furchtbare Tat, die der Aufklärung bedurfte. Eines stand fest. Der Mörder dieser Frau befand sich in der Schule, möglicherweise noch auf derselben Etage, und das sorgte nicht eben für eine Beruhigung. Es konnte auch keine Urbestie aus dem Sumpf getan haben, denn ein Monster wäre bestimmt aufgefallen. In mir keimte ein furchtbarer Verdacht hoch. Die Lehrpersonen hielten sich allesamt hinter dem Schulgebäude auf. Ich hatte auch keinen in das Haus gehen sehen. Mußten wir den Täter möglicherweise unter den Schülern suchen?
Als ich daran dachte, überkam mich ein Schweißausbruch. Das wäre noch schlimmer gewesen. Ein jugendlicher Killer, möglicherweise unter einem fremden Einfluß stehend… »Hoffentlich war das nicht erst der Anfang einer grausamen Rachetour«, hörte ich Barry sprechen. »Ich habe einfach das Gefühl, daß es noch mehr Tote geben wird.« Mit gesenktem Kopf schritt ich auf ihn zu. »Wirst du denn etwas unternehmen können?« »Was?« rief er mir zu. »Was soll ich denn tun, zum Henker? Ich kann meinem zweiten Ich oder was immer dieser Schattenkrieger ist, nicht einfach befehlen, einzugreifen. Das mußt du begreifen, John. Das ist alles mit sehr komplizierten Regeln verbunden…« »Ich weiß, Barry, ich weiß.« Auf seine rechte Schulter legte ich meinen Arm und führte ihn aus dem Raum. Im Vorzimmer blieben wir stehen und schauten uns an. »Wie geht es weiter, John?« »Keine Ahnung, Barry. Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin im Moment am Ende.« Bracht drehte den Kopf, damit er aus dem Fenster schauen konnte. Hinter ihm lag das graue Tageslicht. »Dort liegt der Sumpf, John, der verfluchte Sumpf. Er hat eine nicht unwichtige Rolle in meinen Träumen gespielt, deshalb bin ich auch der Ansicht, daß wir das Rätsel möglicherweise dort lösen können.« »Du meinst, wir müßten einige Stunden im Sumpf verbringen.« Er hob die Schultern. »Vielleicht sogar die ganze Nacht. Wobei ich möchte, daß du an meiner Seite bleibst, wenn ich einschlafe. Ich kann mir vorstellen, daß ich, wenn ich am Ort des Geschehens bin, anfange zu träumen und in den Zustand hineingleite, um Zebulon entstehen zu lassen. Das ist die einzige Chance.« Ich ließ mir seine Erklärungen durch den Kopf gehen. »Ja, das könnte ich mir vorstellen.« »Dazu müßten wir die Schule hier verlassen.« »In der sich möglicherweise ein Mörder befindet.« »Genau.« Barry F. Bracht schüttelte den Kopf. »Der Mörder und der Sumpf stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Wer immer auch der Täter ist, er muß damit rechnen, daß die Tote hier gefunden wird. Er wird kaum die Nerven aufbringen, sich noch länger in der unmittelbaren Nähe des Geschehens aufzuhalten.« »Bist du sicher?« »Täuschen kann man sich immer und…« Bracht sprach nicht mehr weiter, er drehte sich um, weil er leise Schritte gehört hatte. Noch auf dem Gang, aber dann sehr nahe und einen Moment später im Raum.
Durch die offenstehende Tür war ein junges Mädchen getreten. Als sie uns sah, blieb sie stehen und fing an zu zittern. »Wer sind Sie?« fragte ich. »Brenda Jackson…« *** Wir führten sie nicht in den Nebenraum und erzählten ihr auch nichts von der Tat. Zunächst einmal mußte sie beruhigt werden, denn zwei fremden Männern gegenüberzustehen, ließ eine sehr verständliche Angst in ihr hochkeimen. Als sie dann erfuhr, von welch einer >Truppe< ich kam, ging es ihr wohler. »Und Sie wollten Mrs. Paulsen besuchen.« »Ja, das wollte ich. Aber Sie können ruhig du zu mir sagen. Ich bin ja erst sechzehn.« »Okay, Brenda, was trieb dich her?« »Die Sorge um Mrs. Paulsen«, flüsterte sie. »Mister Redstone ist schon getötet worden, da dachte ich, daß es sie möglicherweise auch erwischen könnte.« »Einfach so?« »Nein, das nicht, Mister Sinclair.« »Was war es dann?« »Es hängt ja auch mit Wiebke Crotano zusammen«, sagte sie leise. »Wer ist das?« »Eine Freundin. Wir wohnen im selben Zimmer, aber wir müssen alle im Saal schlafen, die reinste Schikane.« »Und was war mit Wiebke?« »Sie ist so verbohrt, so verhaßt. Sie hat viele Lehrer gehaßt, die sie schikanierten.« »Auch Redstone?« »Den am meisten. Sie glauben gar nicht, wie sie sich über seinen Tod freute. Ich habe Verständnis dafür, wenn man einen Menschen nicht mag, aber froh darüber zu sein, wenn er stirbt?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Mister Sinclair, das kann ich nicht unterschreiben.« »Und Wiebke war froh?« »Sehr sogar. Ich hatte sogar den Eindruck, daß sie am Tod dieses Mannes nicht ganz unschuldig war. Sie wußte sehr genau Bescheid, auch schon früher als der Suchtrupp. Sie hat es mir gesagt, und sie erklärte mir ferner, daß sie nun zu Mrs. Paulsen wollte.« »Da hattest du Angst davor, daß ihr dasselbe Schicksal widerfahren würde wie Mister Redstone.« »So war es.«
Barry und ich schauten uns an. Wir überlegten beide, ob wir mit der Wahrheit herausrücken sollten. Brenda war nicht dumm. Sie hatte unsere Blicke bemerkt. »Ist etwas mit Mrs. Paulsen geschehen?« Ich räusperte mich, um die Verlegenheit zu überbrücken, aber ich konnte das Mädchen nicht hinters Licht führen. »Was ist denn mit ihr?« Ich hob die Schultern. »Weißt du, Brenda, du hast irgendwo schon richtig gefolgert.« »Dann ist sie tot?« Ich nickte. Sie aber schrie auf, sie schwankte plötzlich. Barry lief hin, um sie abzustützen. Brenda drehte sich in seinen Arm hinein, preßte ihr Gesicht gegen den Körper und weinte. Etwas vorwurfsvoll schaute mich Bracht an, als wollte er fragen, ob dies sein mußte. »Sie hätte es doch erfahren«, sagte ich. »Unter dem Eindruck des Schocks wird sie uns möglicherweise mehr über ihre ungewöhnliche Freundin berichten.« »Wiebke Crotano.« »Kannst du mit dem Namen etwas anfangen?« »Nein, John, überhaupt nicht. Auch in meinem Traum habe ich keine Namen erlebt. Das ist erst hier geschehen. Wir werden uns mit dieser Wiebke beschäftigen müssen.« Brenda Jackson löste sich von Barry F. Bracht. Mit dem Taschentuch wischte sie die Tränen aus dem Gesicht und putzte auch ihre Nase. Sie machte auf uns einen so hilflosen Eindruck, als wäre eine Welt für sie zusammengebrochen. »Ich… ich hätte nie gedacht, daß Wiebke zu einer derartigen Tat hätte fähig sein können.« Ich wiegelte ab. »Noch steht nicht fest, daß Wiebke auch die Täterin gewesen ist.« »Wer dann?« Ich lächelte schmal und unecht. »Um dies herauszufinden, sind wir hergekommen.« Brenda kam nicht zurecht. Sie holte tief Luft. »Aber wie konnten Sie denn so schnell wissen, daß hier so etwas Furchtbares geschah? Das ist alles noch nicht lange her.« »Wir wissen es, Brenda, doch für uns gibt es ebenfalls Wege, über die wir nicht reden können.« »Das verstehe ich.« Ich legte meine Hände gegen ihre noch feuchten Wangen. »Du brauchst keine Angst zu haben, Brenda, wir…« »Habe ich aber, Mister Sinclair. Ich habe große Angst. Ich habe doch meine Freundin verraten. Wenn sie erfährt, daß ich es gewesen bin, wird
sie auch mich töten. Die ist doch wie von Sinnen, die räumt auf. Die will die ganze Welt hier vernichten. Ich komme da nicht mehr mit. Ich kann sie nicht begreifen.« »Du hast recht. Aber so weit lassen wir es nicht kommen. Ich möchte nur, daß du uns euer Zimmer zeigst. Wo befindet es sich? Eine Etage höher oder noch weiter oben?« »Nein, nein, eine Etage höher.« »Gut, dann gehen wir jetzt hin.« »Und… und was mache ich?« »Es reicht, Brenda, wenn du uns das Zimmer zeigst. Alles andere übernehmen wir.« Sie schaute mich an, hob die Schultern. Sie überlegte, dann nickte sie. »Okay, ich mache es. Wer weiß denn noch alles, daß Mrs. Paulsen tot ist?« »Nur wir drei.« »Ist gut.« Wir nahmen sie in die Mitte, als wir das Vorzimmer verließen. Unsere Formation behielten wir bei, als wir die Treppe hochgingen. Ich stellte noch eine Frage. »Sag mir, Brenda, wie alt ist deine Freundin Wiebke eigentlich?« »So alt wie ich – sechzehn.« Ich schluckte. Meine Güte, dann war Wiebke Crotano beinahe noch ein Kind. Aber auch eine Mörderin? Ich wollte es einfach nicht glauben… *** Miss Monster kam sich vor wie in einer Gefängniszelle. Nur daß das Fenster kein Gitter besaß. Sie ging auf und ab. Bis zur Tür, dann drehte sie sich und schritt denselben Weg wieder zurück. Immer wieder, immer öfter. Und dabei überlegte sie, wie es jetzt weitergehen sollte. Zweimal hatte sie zurückgeschlagen, sich gerächt. Aber hatte sie sich nicht auch in eine Klemme gebracht? Sie schaute durch das Fenster nach unten. Dort hatte man den toten Redstone mittlerweile weggeschafft. Es hielten sich nicht mehr alle Lehrpersonen auf, um zu diskutieren und sich gegenseitig mit ihren Vermutungen zu nerven. Sie würden natürlich nachforschen, sie würden mit Mrs. Paulsen reden wollen, und sie würden die Leiche der Frau auf ihrem Bürostuhl liegend finden. Und dann? Gab es eine Spur zu ihr?
Keine direkte, aber sie traute ihrer Freundin Brenda Jackson nicht über den Weg. Wieder bereute sie es, ihr zuviel erzählt zu haben. Sie war zu einem schwachen Punkt geworden. Wieder blieb Miss Monster vor dem Fenster stehen. Sie entdeckte schwach ihr Spiegelbild in der Scheibe. Selbst die Boshaftigkeit ihres Gesichtsausdrucks zeichnete sich dort ab. Sie war ein junger Mensch, aber sie fühlte sich nicht mehr zu den Menschen zugehörig. Sie hatte das Böse erlebt, es hatte sie fasziniert, aber dabei war es nicht geblieben. Diese andere, sehr mächtige Kraft war tief in sie eingedrungen und hielt nun ihre Seele umfangen. Sie war die neue Dienerin des Bösen, die es besonders gut machen wollte. Immerhin war es ihr gelungen, zwei ihrer schlimmsten Feinde auszuschalten. Damit hatte sie gewissermaßen die Feuerprobe bestanden, und sie dachte darüber nach, welche Feinde möglicherweise noch existieren. Ja, es gab da einige Lehrer, mit denen sie nicht so gut zurechtkam, aber das war kein Vergleich zu Mister Redstone oder Mrs. Paulsen gewesen. Noch immer hielt sie sich vor dem Fenster auf und verspürte den Drang, es zu öffnen. Die Luft im Raum wollte sie einfach nicht mehr atmen. Sie kam ihr so anders vor, so träge, so dick, als wollte sie bei jedem Atemzug ihr Inneres zusammenkleben. Sie öffnete das Fenster. Kühle strömte ihr entgegen. Eine wirklich besondere Luft, denn sie brachte den Geruch des Moores mit. Und er wirkte auf Miss Monster wie ein erfrischender Balsam. Das war die Luft, die sie brauchte. Vom Moor her wehte sie ihr entgegen. Genau dort hatte sie das Böse kennengelernt und war so fasziniert gewesen. Jetzt schickte es ihr einen Gruß. Tief saugte sie die schlechte Luft ein. Es war der Geruch von Verwesung und Fäulnis. Da unterschied sich der Geruch des Wassers kaum mehr von dem der allmählich in Humus übergehenden Pflanzen. Sie sah die graue Decke des Himmels über dem Moor und schaute aus glänzenden Augen gegen die Wolken. Plötzlich stellte sie fest, daß nicht mehr das Internat ihr Zuhause war, sondern der alte Sumpf. Ja, genau er, seine Landschaft, sein Geruch, seine Welt. Tief begraben, versteckt unter Erde und Wasser. Etwas Altes, etwas kaum Erfaßbares. Einfach etwas, das man erlebt haben mußte, denn zu erklären war es kaum.
Sie schloß für einen Moment die Augen. Das Bild wollte nicht verschwinden, es wirkte noch nach. Gleichzeitig vernahm sie auch die ungewöhnliche Lockung. Da war eine Stimme. Miss Monster wußte nicht, wem sie gehörte. Sie konnte sich auch bei ihrem Klang nicht vorstellen, wie der Rufer wohl aussah, und sehr bald schon stellte sie sich die Frage, wer da wohl hintersteckte. War es ein Mensch, eine Bestie, ein Wesen, oder war es einfach nur das Böse? Sie tippte auf das letztere. Ja, das Böse hatte mit ihr Kontakt aufgenommen. Wie schon einmal, als sie mit dem Kahn auf den kleinen Moorsee hinausgefahren war. Nicht grundlos war die Stimme aufgeklungen, denn sie erklärte ihr sehr deutlich, daß sie keine Furcht zu haben brauchte. Sie sprach davon, daß ihre Heimat von nun an woanders war und daß sie sich nicht zu sorgen brauchte, denn sie besaß den Trumpf überhaupt. Was immer sie auch vorhatte, der Schädel würde es ihr ermöglichen. >Denk an den Totenkopf! Er ist ein Stück von mir! Er ist deine Sicherheit, Miss Monster…< Sie öffnete die Augen. Die Landschaft flirrte ein wenig, und sie kam sich vor, als wäre sie aus einem tiefen Traum zurückgekehrt. Gleichzeitig fühlte sie sich befreit, denn nun wußte sie, welchen Weg sie zu gehen hatte. In dieser verfluchten Schule hatte sie die längste Zeit ihres Lebens verbracht, das war nun endgültig vorbei. Der Sumpf gehörte ihr… Wiebke lächelte, als sie daran dachte. Sie stellte sich vor, wie es sein würde, wenn sie ihn betrat. Das Böse und der Totenkopf gaben ihr den nötigen Schutz. Sie würde diese Landschaft beherrschen und andere anlocken können. Gab es eine bessere Zukunft für eine Miss Monster? Etwas bewegte sich in Höhe ihres rechten Außenschenkels, klopfte dagegen. Nach dem ersten Erschrecken stellte Wiebke fest, daß es der Totenkopf war, der sich in dem Netz selbständig gemacht hatte, als wollte er ihr durch diese Bewegung anzeigen, endlich aus seinem Gefängnis befreit zu werden. Wiebke Crotano zögerte keine Sekunde länger. Sie trat vom Fenster weg, löste das Netz und holte den so bleichen Totenkopf mit einer vorsichtigen Bewegung hervor. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Plötzlich strahlten ihre Augen. Sie atmete tief, sehr tief ein, und auch das Zimmer gefiel ihr wieder. Sie sah es an wie eine Startbahn, die sie in eine bestimmte Zukunft bringen würde.
Wiebke ging vor. Das Fenster lockte sie, aber auch die Luft dort draußen. Sie kam ihr vor, als hätte sie sich verändert, als wäre sie fest geworden. Sie brauchte nur noch das Bein zu heben, es auf die Fensterbank zu stellen, sich dort abzustemmen und dann hinauszufliegen in diese kühle Luft. Fliegen… Ein Traum erfüllte sich, einer, dem die Menschen schon seit Jahrtausenden nachhingen. Sie konnte es schaffen. Trotzdem zögerte sie. In den letzten Minuten war Wiebke hochsensibilisiert worden. Sie hatte sich nicht nur mit sich selbst beschäftigt, sie hörte auch, was sich in der Umgebung tat. Die Stimmen der anderen Schüler drangen nur bis zu ihr, wenn sie besonders laut waren. Das hatte sich geändert. Da waren neue Stimmen, fremde sogar… Männerstimmen… Sie starrte gegen die Tür. Leider konnte man sie nicht von innen abschließen, doch Wiebke wußte plötzlich, wer da draußen stand und zu ihr wollte. Sehr deutlich erinnerte sie sich an die beiden Fremden, die sich unter die Lehrpersonen gemischt hatten. Sie waren es, nur sie konnten die Spur gefunden haben. Was tun? Miss Monster starrte auf den Totenkopf, den sie mit beiden Händen hielt. Sie hoffte, von ihm einen Ratschlag zu bekommen. Sie wünschte sich wieder die ferne Stimme herbei, denn dann wäre sie beruhigt gewesen. Aber die Stimme meldete sich nicht, und Wiebke schritt rückwärts dem Fenster entgegen. Sie blieb erst stehen, als sie die kühle Luft spürte. Wie ein kalter Atem wehte sie über ihren Nacken. Dann war auch wieder die Stimme da. Sie hörte sie überdeutlich, als würde ein geheimnisvoller Geist dicht neben ihr stehen und die Botschaften zuflüstern. >Vertraue mir! Tu es! Du kannst es doch, meine kleine Freundin. Laß dich nicht beirren…< Der unbekannte Helfer hatte zwar nicht genau gesagt, was sie tun sollte. Wiebke wußte es trotzdem. Sie drehte sich, hob das rechte Bein und trat auf die Fensterbank. Ein Schwung reichte aus. Dann stand sie auf der Bank und hielt sich am Fensterrahmen fest. Sie schaute hinaus. Ein wenig schwummrig wurde ihr schon zumute, als sie in die Tiefe blickte. Diese zweite Etage lag höher als die bei einem normalen Haus. Dieses alte Gebäude besaß ganz andere Abmessungen, und sie sah auch noch drei Lehrer, die unten zusammenstanden. Keiner schaute zu ihr hoch. Das war gut.
Dann hörte sie ein Geräusch. Ihr Blick zuckte zurück in das Zimmer. Wiebke bekam mit, wie sich die Klinke nach unten bewegte. Nicht sehr schnell, als wollte jemand in das Zimmer hineinschleichen. Sie dachte dabei an Brenda Jackson und daran, daß diese sie verraten haben könnte. Dafür würde sie sich an ihr rächen. Das nächste Opfer auf der Liste stand fest. Der Blonde betrat den Raum. Zuerst schaute er auf das Bett, dann zum Fenster und entdeckte die Gestalt des Mädchens. »Nein!« schrie er, »nicht springen!« Miss Monster aber lachte nur – und schleuderte ihren Körper hinein ins Leere… Vielleicht hätte ich zunächst zum Fenster schauen sollen, es war nicht mehr zu ändern. Ich sah das Mädchen und schrie ihm eine Warnung zu. Als Antwort bekam ich das Lachen, und Wiebke stieß sich ab. Ich hechtete in den Raum hinein. Es war ein Sprung der Verzweiflung, ich wollte sie noch festhalten, doch bei einer doppelten Körpergröße hätte ich das nicht geschafft. Ich landete irgendwo auf dem Tisch, riß ihn noch um, schleuderte auch einen Stuhl zur Seite, bevor ich hart auf den Boden prallte und hinter mir Barrys Schritte hörte. Auch Bracht stürmte in den Raum. Da ich am Boden lag und es dauerte, bis ich in die Höhe kam, erlebte er das Unwahrscheinliche, wobei er blaß wurde und sich seine Augen so stark weiteten, daß sie schon schmerzten. Eigentlich hätte Wiebke nach dem Absprung in die Tiefe vor den Füßen der drei Lehrer landen müssen, das war nicht passiert. Statt dessen hielten sie andere Kräfte umfaßt, die mit ihr spielten, die sie auch retteten. Miss Monster war weit ins Freie hineingeschleudert worden. Sie schwebte und stand zugleich in der Luft, was ich dann auch sah, als ich mich endlich erhoben hatte. Es war ein Bild, das wir kaum glauben konnten. Sie hielt die Arme vorgestreckt. Ihre Hände umklammerten etwas Weißes. Von ihrer Freundin wußten wir, daß es nur der Totenschädel sein konnte, von dem Wiebke gesprochen hatte. Sie riß ihre Arme hoch, präsentierte uns den Schädel, der noch in Höhe seines klaffenden Mauls dunkle Flecken zeigte, wahrscheinlich die Blutreste des Opfers. Dann jagte sie davon. Noch einmal schleuderte sie uns das Gelächter entgegen. Ihre Haare jagten in die Höhe, flatterten wie eine Fahne im Wind, und die
unheimliche magische Kraft hielt sie umfangen und schleuderte sie dem Sumpf entgegen. Ihr Körper wurde kleiner und kleiner, er schien mit den grauen, tiefhängenden Wolken zu verschmelzen, dann war er nicht mehr zu sehen. Eine andere Dimension hatte ihn verschluckt. So jedenfalls hatte es für uns Beobachter ausgesehen. »Das… das ist ja wie ein Film von Steven Spielberg«, hörten wir hinter uns eine schwache Mädchenstimme. Als wir uns umdrehten, stand Brenda in der Tür. Sie blickte uns aus erstaunten Augen an und hatte auch gesehen, wie ihre Freundin aus dem Fenster gesprungen war. Ich lächelte ihr zu, um die Spannung zu lösen. »Schätze, daß wir es geschafft haben, Mädchen.« »Jetzt ist sie weg, nicht?« Brenda ging nicht auf meine Bemerkung ein. »Endlich weg.« »Ja. Und ich hoffe auch, das sie wegbleibt und nicht noch einmal zurückkehrt.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Wenn sie in den Sumpf fliegen kann, wird sie es auch schaffen, wieder zurückzukehren. Was machen Sie denn dann?« »Wir werden dafür sorgen, daß sie nie mehr zurückkehrt«, erklärte Barry Fi Bracht. Er lächelte und zwinkerte ihr zu. »Wir werden uns nämlich bei Anbruch der Dunkelheit und vielleicht auch schon früher im Sumpf aufhalten. Das ist jetzt ihr Gebiet. Ich kann mir kaum vorstellen, daß sie es zuläßt, daß ihr Reich von Fremden betreten wird.« »Meinen Sie?« »Darauf gebe ich Ihnen mein Wort als Zebuion.« »Was ist das denn?« »Vergessen Sie es. Sollte uns Wiebke angreifen, wissen wir uns schon zu wehren.« »Ja, das hoffe ich.« Nicht nur wir hatten den >Abflug< der Schülerin gesehen. Es war auch den drei Lehrern aufgefallen. Im Flur draußen hörten wir die hektisch klingenden Stimmen, dann stürmten mehrere Personen zugleich in das Zimmer, an der Spitze Frank Hill. »Haben Sie das alles gesehen?« rief er aufgeregt. »Das ist ja der reine Wahnsinn. Das kann man nicht packen, nicht begreifen. Da… da dreht man ja selbst durch.« »Wir haben es gesehen, Mister Hill«, sagte ich. »Und?« »Wo können wir in Ruhe reden?« Er wollte eine Antwort geben, als ein fürchterlicher Schrei durch das Treppenhaus der Schule gellte. Wir hörten, daß er eine Etage unter uns abgegeben worden war. Ich ahnte, was der Schrei bedeutete. Jemand mußte die Leiche der Rektorin entdeckt haben.
»Kommen Sie mit, Mister Hill«, sagte ich und ging mit raschen Schritten voran… *** Etwa eine Stunde später hatte sich zwar niemand beruhigt, aber wir hatten es geschafft, die Lehrer im Lehrerzimmer zu versammeln, weil wir die Lage dort besprechen wollten. Es herrschte eine Stimmung, wie sie auch bei einer Beerdigung nicht bedrückender hätte sein können. Wir saßen um einen langen Tisch herum, die meisten starrten vor sich hin oder in die Tassen, in denen der Kaffee dampfte. Es gab auch Whisky, den nur die wenigsten tranken, allerdings gönnte sich Barry F. Bracht einen kräftigen Schluck und leckte noch genießerisch über seine Lippen. Ich hatte sehr lange gesprochen und die anstehenden Fragen so gut wie möglich beantwortet. Die Leiche der Rektorin lag ebenfalls im Keller, neben dem starren Körper des Kirk Redstone. Jetzt ging es darum, wie wir – das heißt Barry F. und ich – die nächste Zukunft anpackten. Es war glücklicherweise gelungen, das große Grauen von den Schülern fernzuhalten. Brenda Jackson war von uns noch einmal extra dazu verdonnert worden, ihren Mund zu halten. Eine Lehrerin, die eine Brille mit blauem Gestell trug und so dünn wie eine Bohnenstange war, fragte mit leicht schriller Stimme. »Und Sie wollen uns weismachen, Mister Sinclair, daß die große Gefahr vorbei ist? Wollen Sie das wirklich?« »Wie kommen Sie darauf?« »Das haben Sie doch selbst gesagt.« Sie schaute sich um, keiner stimmte ihr zu. Deshalb übernahm ich wieder das Wort. »Nein, das habe ich nicht gesagt.« Ich sprach gegen den Rauch aus zahlreichen Zigaretten und Zigarren an. »Ich habe nur gesagt, daß die unmittelbare Gefahr nicht mehr vorhanden ist. Das ist schon ein Unterschied.« »Gut, einverstanden. Aber diese… diese… Schülerin existiert nach wie vor.« »Im Sumpf.« »Aus dem sie wieder hervorkommen kann.« »Das streite ich nicht ab.« »Dann befinden wir uns ja doch in großer Gefahr. Mister Sinclair. Was reden Sie denn da?« Ich winkte mit beiden Händen ab, auch deshalb, weil ich den Rauch vertreiben wollte, der von zwei Seiten auf mich zufloß. »Nein, das wird
nicht so leicht geschehen, weil Mister Bracht und ich in den Sumpf gehen werden, um diese Person zu stoppen.« Die dürre Paukerin lachte schrill. »Und das trauen Sie sich zu, Mister Sinclair? Haben Sie sich da nicht ein wenig viel vorgenommen, wie ich meine.« »Ganz und gar nicht. Es ist unser Job.« Sie bewegte sich ruckartig. »Ach ja, ich vergaß, Sie beschäftigen sich mit übernatürlichen Dingen.« »So ist es.« Die Fragerei der Frau fand nicht bei allen den nötigen Beifall. Besonders nicht bei Frank Hill, den ich als einen vernünftigen Mann ansah. Er hatte mich auch in Details eingeweiht, was die Suche anging. Wir wußten jetzt genau, wo die Leiche des Lehrers gefunden worden war und würden uns später auf diese Gegend konzentrieren. »Ich würde doch vorschlagen, Miss Frazer, daß Mister Sinclair und Mister Bracht die Sache allein durchziehen und wir so weit wie möglich aus dem Spiel bleiben.« »Dann brauche ich ja nicht mehr zuzuhören.« »Das steht Ihnen frei, Kollegin.« Mrs. Frazer stand auf. Sie trug schwarze Leggins und einen sehr langen grauen Pullover mit schmalen, aufgesetzten Seitentaschen. »Wenn man mich hier nicht mehr will, gehe ich.« »Bitte.« Niemand hielt sie auf, als sie aus dem Zimmer rauschte und die Tür hinter sich zuhämmerte. Die meisten waren wohl froh dabei, endlich vernünftig reden zu können. Ich wußte ja, daß die Lehrer nicht nur für sich selbst die Verantwortung trugen, sondern auch für die Schüler. Sie waren ihnen verpflichtet, und darauf wies ich hin. Niemand widersprach, bis Miss Winter fragte: »Wie wollen Sie denn die Schüler unter Kontrolle halten? Haben Sie dazu einen Vorschlag, Mister Sinclair?« »Ja, den habe ich.« Gespannt schaute sie mich an. »Wie wäre es, wenn sie alle in der Turnhalle versammeln. So etwas gibt es doch hier – oder?« »Natürlich, der Vorschlag ist gut.« »Nein, wir gehen in den Speisesaal, dem ist auch so etwas wie eine Kantine angeschlossen und ein Aufenthaltsraum mit einem Fernsehapparat. Nebenan können sie auch Billard und Tischtennis spielen. Ich schätze, daß dies die beste Lösung ist.« »Dagegen ist nichts einzuwenden«, sagte ich. »Dann rufe ich sie jetzt zusammen.« Frank Hill schaute auf die Uhr. »Es ist schon ziemlich spät geworden, wie ich meine.« Er blickte zum
Fenster. »Die Dämmerung kommt Ende September doch ziemlich früh.« Hill fragte uns. »Wann wollen Sie los?« »So rasch wie möglich.« »Gut, dann geben wir Ihnen Taschenlampen und ein Seil mit. Wie wäre es mit Planken und einer Leiter?« Ich schüttelte den Kopf. »Das mag zwar sehr nützlich sein, ich glaube aber, daß es uns einfach zu stark behindern würde. Darauf verzichten wir. Oder was meinst du, Barry?« »Einverstanden.« Ich stand auf, Bracht tat es mir nach. Dann nickte ich in die Runde. »Jetzt können Sie nur noch eines tun. Uns die Daumen drücken.« »Und ob wir das machen!« flüsterte Frank Hill. Er räusperte sich. »Viel Glück dann…« *** Wir hatten noch Stiefel in unserer Größe bekommen und auch Ersatzbatterien für die Lampen mitgenommen. Man konnte nie wissen, wie lang sich eine derartige Tour durch das Moor hinzog. Eine Karte von diesem Gebiet gab es nicht, doch Frank Hill hatte es sich nicht nehmen lassen, uns bis zu diesem ominösen Zaun zu begleiten, in den eine Lücke geschnitten worden war. Wie alte Lappen hingen die beiden Hälften nach rechts und links weg. Frank Hill fühlte sich nicht eben glücklich. Etwas skeptisch schaute er auf das Moor. Auf uns drei machte es den Eindruck einer künstlich angelegten Kulisse. Es war auch ein ungewöhnliches Bild, beinahe schon vergleichbar mit den Werken eines Caspar David Friedrich. Die Dämmerung hatte mittlerweile eingesetzt, aber noch nicht den gesamten sichtbaren Himmel erfaßt. Er zeigte sich uns in zwei Farben. Einem Mausgrau, das mit bleichen hellen Flecken vermischt war, die sich wie lange Zungen in das Grau hineingeschoben hatten, deren Lücken aber ständig kleiner wurden, denn am Abend hatte der Tag die Nacht nie besiegen können. Die Luft war noch sehr kalt. Es herrschte gute Sicht. Unsere Blicke glitten weit hinein in diese noch intakte Landschaft. Wir sahen auch den See. Sein Wasser sah aus wie ein großer dunkelgrün gefärbter Spiegel. Von Wiebke Crotano hatten wir bisher keine Spur gesehen. Irgendwo vor uns in der Weite mußte sie sich versteckt halten. Frank Hill war nervös. Immer wieder wischte er seine Handflächen an den Hosenbeinen ab. »Wollen Sie es sich nicht noch einmal überlegen? Das Moor ist gefährlich. Es bleibt auch tückisch selbst für diejenigen, die sich auskennen.« »Das wissen wir«, sagte ich. »Aber es ist sehr wichtig, diese Person zu stellen.«
»Dabei ist sie erst sechzehn!« flüsterte der Lehrer. Ich hob die Schultern. »Gewisse Kräfte nehmen keine Rücksicht auf das Alter ihrer Opfer.« »Wie meinen Sie das denn?« »Ach, vergessen Sie es, Mister Hill. Gehen Sie wieder zurück. Die Schüler brauchen Sie.« »Sicher, Sie haben recht.« Er reichte uns die Hand, wollte noch etwas sagen, hob dann die Schultern, drehte sich um und ging mit langen Schritten davon. »Bleibt es dabei?« fragte Barry F. Bracht. »Ja, zum See. Da hat Mrs. Paulsen die Leiche gefunden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es Zufall gewesen ist. Meiner Ansicht nach steckt Methode dahinter. Der Mörder hätte die Leiche auch irgendwo in den Sumpf werfen können, wo sie rasch verschlungen worden wäre.« »Gehen wir.« Der Untergrund wirkte wie ein dicker Teppich. Nur wuchs auf dem kein Gras. Hier schleifte es um Füße und Beine. Der faulige Geruch hatte sich intensiviert. Tot war der Sumpf nicht. Hin und wieder hörten wir ungewöhnliche Laute. Schreie irgendwelcher Tiere, die sich versteckt hielten und die wir nicht kannten. Manchmal überflogen dunkle Vögel das Gelände auf der Suche nach einem Schlafplatz für die Nacht. Hin und wieder durchbrachen Rinnsale den Untergrund. Sie kamen uns vor wie schmale Arme, die aus dem Nirgendwo kamen und ins Nirgendwo hineinführten. Die Zeiten der Blüte waren längst vorbei. Ende September schien der Sumpf zu drohen, als wollte er die dunkle Jahreszeit des langen Winters ankündigen. Der Wind war ebenfalls geblieben. Immerhin so stark, daß er auch die Schilfrohre am Seeufer bewegte. Sie schienen uns zuzuwinken. Starr und tot ragten sie aus dem flachen Wasser. In der Dunkelheit wirkten sie wie ein starkes Gitter aus Skelettarmen. »Da müssen wir die Lücke finden«, murmelte Barry. Ich hatte die Stablampe eingeschaltet. Der bleiche Lichtkreis wanderte wie ein Mond unter den Boden, und ich entdeckte tatsächlich noch Fußspuren. Das Wasser hatte die schmalen Rinnen und Eindrücke noch nicht wieder auffüllen können. Barry F. blieb mir auf den Fersen. Die Spuren führten bis zum Ufer, wo sie dann verschwanden. Die Lücke im Schilf war auch noch da. Ich leuchtete hinein, und Barry hörte mich lachen. »Hast du was gefunden, John?« »Zumindest ein Boot.« »Na und? Glaubst du, daß es etwas zu bedeuten hat?«
»Kann schon sein, mein Lieber. Es sieht jedenfalls nicht so aus, als wäre es jahrelang nicht benutzt worden. Sogar ein Paddel ist vorhanden. Ich schätze, wir werden eine kleine Tour unternehmen.« Bei ihm platschten die Schritte ebenso wie bei mir, als er durch das Wasser ging. Die hohen Schilfstangen störten uns beide. Barry räumte sie zur Seite. Dabei entstanden Geräusche, die den in der Nähe schlafenden Tieren überhaupt nicht gefielen. Nahezu wütend und aufgeschreckt stiegen sie hoch und flogen an sichere Stellen. Wir konnten noch sehen, daß es Sumpfenten waren. Ich hielt den Kahn am Heck gepackt und holte ihn herbei. Bracht schob sich an mir vorbei, betrat den Kahn, der stark anfing zu schwanken, so daß Barry sich gezwungen sah, schnell in die Hocke zu gehen. Er setzte sich nieder, ich stieg ebenfalls ein und faßte sofort nach dem Paddel. Barry saß mir gegenüber. Ich hatte meinen Platz am Heck gefunden, tauchte das Paddel ein, spürte auf dem schlammigen Boden kaum Widerstand, so daß es ziemlich viel Kraft kostete, den alten, weichen Kahn aus der Uferregion zu schaffen. Mehr kratzend als rudernd verließen wir den Bereich und drangen der dunkleren Seemitte entgegen, die wie ein geheimnisvoller Ort wirkte, an dem sich Geister und Dämonen aufhielten. Der Mond war noch nicht so voll durchgekommen. Er hielt sich nach wie vor hinter den dünnen Abendwolken versteckt. Ich ruderte. Das Wasser klatschte leise, wenn ich das Paddel eintauchte. Barry F. saß mir gegenüber, ohne sich zu rühren. Er hatte seine Hände flach auf die Knie gelegt. Sein Gesicht zeigte einen verschlossenen Ausdruck. Er wirkte wie ein Mensch, der über irgendein Problem nachdachte und es dabei schwer hatte, zu einem Resultat zu gelangen. »Nun, Barry? Merkst du schon etwas?« Er hob den Kopf. »Was sollte ich denn merken?« »Schon gut, vergiß es.« Er schaute mich skeptisch an und drehte sich um. Das Wasser war ruhig. Nur hin und wieder strich der Wind über die Fläche hinweg und ließ ein Wellenmuster entstehen. Kühl war es nicht. Mir kam die Luft eher dumpf und drückend vor. Aus der Ferne hörten wir einen Schrei, der uns leicht erschreckte. Es war nur ein Tier, das sich bemerkbar gemacht hatte. Wir glitten weiter durch das Wasser auf die Mitte des Sees zu. Der alte Kahn bewegte sich schwerfällig. Ich war längst ins Schwitzen gekommen, wollte mich aber nicht ablösen lassen. Ab und zu taucht etwas aus der Tiefe auf. Alte Pflanzen, vermischt mit Algen und Zweigen, die sich zu regelrechten Ballen zusammengeschlossen hatten.
Einmal verhedderte sich das Paddel darin. Als ich es hervorzog, hing eine grüne Schleimschicht daran, als hätte ein Riese dagegen gespuckt. »Wie weit willst du noch rudern?« fragte Barry F. »Nicht mehr weit.« »Du bist der Boß.« »Hör auf, denn so habe ich nie gedacht. Wir müssen uns nur überlegen, wie wir vorgehen wollen.« Er schaute mich skeptisch an. Sein Gesicht sah blaß aus. »Meinst du denn, daß wir diese Wiebke hier auf dem See finden?« »Das wohl kaum.« »Aber…?« Ich holte das Paddel ein und legte es quer vor meine Füße. »Eigentlich bin ich wegen dirauf den See hinausgefahren.« »Das ist mir ganz neu.« »Ich weiß es nicht genau, ich könnte mir nur vorstellen, daß sich hier so etwas wie ein Zentrum befindet. Ich denke dabei an unheimliche Kräfte, die sich ausgebreitet haben. Nicht grundlos ist der Tote am Seeufer gefunden worden. Und falls dies so ist, dann könntest du es herausfinden, Barry.« »Wie das denn?« »Muß ich dir das noch genauer sagen?« Er verdrehte die Augen. »Ja, ja, ich weiß schon. Du willst, daß ich einschlafe.« »Sehr richtig.« »Und du hoffst darauf, daß ich träume, daß ich dabei sehen kann.« Er drehte den Kopf und schaute hoch zum Mond. Der hatte an Farbe zugenommen, leuchtete nicht mehr ganz so bleich. »Auch das stimmt.« Bracht nickte. Er ließ seinen Blick über das ruhige Gewässer gleiten. Auf mich machte er einen sehr nachdenklichen Eindruck. Ich ließ ihn in Ruhe, vielleicht hatte er seine Sinne ausgestreckt, um danach zu forschen, ob sich in unserer unmittelbaren Umgebung ein Geheimnis versteckte. »Ich weiß, worauf du hinaus willst«, sagte er nach einer Weile. »Diese Wiebke Crotano hat von dem Bösen gesprochen, das sich hier im Moor befindet. Wenn das zutrifft, müßte es ja irgendwo sein.« »Genau.« Barry deutete auf das Wasser. »Dort meinst du?« »Möglich.« Er nickte, es sah nicht überzeugend aus. »Du kannst es wenigstens versuchen«, drängte ich ihn. »Du kennst dich doch besser. Wenn du schläfst und wenn du träumst, dann eröffnen sich dir Welten…«
»Nicht so schnell, John. Diese Welten werden von anderen Menschen geschaffen, denk daran. Ich kann erst zu Zebuion werden, wenn jemand in der Nähe ist und etwas Bestimmtes träumt. Dann bin ich der Schattenkrieger, der dem anderen zur Seite steht.« »Das war aber beim letztenmal nicht so.« »Stimmt.« »Mehr sagst du nicht?« Er hob die Schultern. »Ich weiß nicht, was da passiert ist. Das ist mir ein Rätsel. Ich bin nicht in die Träume anderer Menschen hineingelangt, du mußt es mir glauben.« »Ja, natürlich. Was allerdings nicht beweist, daß etwas Derartiges nicht wiederholbar ist.« Er holte durch die Nase Luft, schaute an mir vorbei und nickte dann. »Ich könnte es ja versuchen.« »Klar – und müde bist du doch immer.« »Ha, ha…« Ich wußte, daß es für Barry F. nicht einfach war. Was er erlebte, war praktisch Neuland. Ich aber ließ mich von meinem Plan nicht abbringen, weil ich einfach daran glaubte, daß auch die Schülerin durch andere Kräfte beeinflußt worden war. Und diese wiederum mußten wir finden und uns ihnen stellen. Mir würde dies nicht so leicht gelingen. Barry F. Bracht war da schon ein anderer Mensch. »Nichts zu merken?« fragte ich ihn, weil ich sah, wie stark er sich schon jetzt konzentrierte. »Nein, nicht in dem Zustand.« »Versuche es bitte.« Barry bewies Humor. »Und das ohne Schlaftabletten«, meinte er. »Und auch ohne eine weiche Unterlage. Du verlangst sehr viel von mir, alter Freund.« »Tja, das Leben ist nicht leicht.« Er stöhnte auf, als er sich zurücklehnte. »Stimmt, das merke ich immer wieder.« Dann schloß er die Augen. Ich schaute ihn an. Barry F. Bracht hatte es tatsächlich geschafft, sich zu entspannen. Wenn er nicht innerlich zu aufgeregt war, würde er den Schlaf sicherlich finden. Und hoffentlich gelang es ihm dann, in die unsichtbaren Welten hineinzugleiten, auch wenn kein Träumer sich in unserer unmittelbaren Nähe befand. Ich schaute gegen das Wasser. Sehr dunkel sah es aus. An einigen Stellen spiegelte sich das bleiche Licht des Mondes. Verbarg es ein Geheimnis? Ich rechnete fest damit. Und wenn, dann würde ich auch Wiebke Crotano hervorlocken können…
*** Brenda Jackson saß in ihrem Zimmer, das sie mit Wiebke teilen mußte. Sie hockte auf der Bettkante und sah aus wie jemand, der sich auf dem Sprung befand, um so schnell wie möglich den Platz und auch den Raum verlassen zu können. Sie wußte nicht, was mit ihr los war. Von einer direkten Angst konnte sie nicht sprechen. Es war ein anderes Gefühl, das sich in ihrem Innern ausgebreitet hatte. So etwas wie Erwartung und Beklemmung. Sie war Zeugin der Vorfälle gewesen und schaffte es noch immer nicht, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. Sie kam mit der Verwandlung ihrer Freundin einfach nicht zurecht. Was sie erlebt hatte, war praktisch unmöglich gewesen. Nicht zu fassen oder zu begreifen, es fehlte ihr jede rationale Erklärung, und sie konnte das Bild einfach nicht aus den Augen bekommen. Wiebke hatte draußen in der Luft geschwebt und sich an dem bleichen Schädel festgeklammert, als wäre er derjenige gewesen, der es geschafft hatte, sie in der Luft zu halten. Er war so etwas wie ein Motor, und natürlich fragte sich das Mädchen, wie so etwas nur möglich sein konnte. Zum Glück waren die beiden Polizisten aus London da. Ohne sie hätte es bestimmt anders ausgesehen. Jetzt waren sie weg. Sie hatte am Fenster gestanden und im letzten Licht des Tages gesehen, wie die beiden in Richtung Moor gelaufen waren. Sie wollten Wiebke fangen! Brenda Jackson wußte nicht, was sie davon halten sollte. Einerseits wünsche sie es sich, andererseits traute sie ihrer Freundin diese grauenvollen Taten nicht zu. Irgend etwas kam da zusammen, das sie nicht begreifen konnte. Sie stand auf. Es war einfach für sie zu warm im Zimmer. Außerdem konnte es sein, daß sie auch zu aufgeregt war und diese Wärme eben von innen her hochströmte. Als sie ging, hatte sie den Eindruck, über den Boden hinwegzuschweben. Gehörte das auch zu diesen Gefühlen? Ihr Ziel war das Fenster! Ob sie dorthin gehen wollte, wußte sie selbst nicht. Sie schritt der Scheibe einfach entgegen, als wäre genau sie etwas Besonderes. Als würde hinter ihr eine Welt liegen, die ihr auf alle Fragen Antworten gab. Dabei sah sie nur das Moor.
Breit, flach, auch düster, obwohl sich am Himmel noch einige helle Flecken zeigten, die aussahen wie die Teile eines Puzzles, die erst langsam zusammengeschoben wurden. Für viele war es sicherlich ein wildes, ein romantisches Bild, nicht für Brenda. Die Szenerie flößte ihr noch mehr Angst ein. Gleichzeitig spürte sie so etwas wie eine Lockung, die von dem Bild ausging. Eine Botschaft, die ausschließlich sie betraf. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Es war völlig neu und auch fremd für sie, und sie merkte auch, wie sich der Schweiß auf ihren Handflächen sammelte. Sie schluckte. Ihre Arme bewegten sich in die Höhe, obwohl sie es gar nicht wollte. Jemand schien ihr den Befehl gegeben zu haben. Einen Moment später umklammerte die Hand den Fenstergriff. Sie spürte das kühle Metall auf ihrer Haut. Der Griff gehörte noch zu den alten, die gedreht und nicht gekippt werden mußten. Wie immer mußte sie eine gewisse Kraft aufwenden, wie immer klemmte auch der untere Rahmen beim Aufziehen. Dann schaute sie hinaus. Sie freute sich über die kühlere Luft, auch wenn sie nach Fäulnis stank. Nicht hinter allen Fenstern brannte Licht. Auch Brenda hatte darauf verzichtet. Aber über ihr waren einige Scheiben erhellt. Aus ihnen flutete das warme, hellgelbe Licht und verteilte sich an der alten Hauswand, wo es die Blätter der hochwachsenen Pflanzen fast wertvoll aussehen ließ. Warum hatte die das Fenster überhaupt geöffnet? Darüber dachte sie noch immer nach. Eigentlich hatte kein Grund vorgelegen. Erst jetzt dachte sie richtig darüber nach und erschrak sogar. War sie nicht mehr Herrin ihrer Sinne? Und dann hörte sie etwas. Zuerst dachte sie an eine Täuschung. Nein, diese Stimme bildete sie sich ein, sie war das Produkt ihrer überreizten Nerven, aber sie war da und blieb auch. »Brenda…« Die Schülerin zuckte zusammen. Ihre Augen weiteten sich so weit, daß sie starr wurden. »Brenda…« Jetzt wieder. Und nun hatte sie die Stimme sehr deutlich erkannt. Sie wußte, wer da nach ihr gerufen hatte. Wiebke! Das Zittern überkam sie ohne Vorwarnung. Sie hatte die Hände auf den unteren Fensterrand gelegt und die Finger fast in das Holz hineingeklemmt. Eigentlich hätte sie jetzt weglaufen müssen, weil ihr danach auch zumute war, aber sie blieb stehen und kam sich vor, als hätte sie nicht mehr die Kontrolle über sich selbst. Und wieder der Ruf. Ein böses Flüstern, mehr nicht, aber immerhin laut genug. »Brenda… Schätzchen…«
»Wiebke…« »Ja, ich bin es.« Brenda Jackson verkrampfte sich. Jetzt wußte sie mit hundertprozentiger Sicherheit, daß sie sich die Stimme nicht eingebildet hatte. Wiebke war da, sie war zurückgekehrt, aber wo, zum Henker, hielt sie sich auf? Wo steckte sie? Mit schnellen Zungenbewegungen feuchtete Brenda Jackson ihre Lippen an. Das Herz schlug schneller als gewöhnlich, der Schweiß schmeckte nach Salz. »Bist du da?« »Ja, meine Kleine…« »Und wo?« »Bleib dort stehen. Ich werde zu dir kommen. Ich habe dich ja gelockt. Einen Moment noch.« Brenda war soweit, daß sie sich auf die Stimme voll und ganz hatte konzentrieren können. Wiebke Crotano mußte sich irgendwo über ihr befinden. In einem Raum mit offenem Fenster? Das wäre die normalste Möglichkeit gewesen, doch es stimmte nicht. Als Brenda sich drehte und den Kopf hob, da sah sie etwas ganz anderes. Wiebke schaute nicht aus einem Fenster hervor, sie schwebte schräg über ihr. Sie stand auch nicht auf einer Fensterbank, sondern hatte sich mit dem Rücken gegen den wilden Bewuchs gepreßt, und ihr Gesicht hob sich dort als bleiches Oval ab. »Mein Gott«, flüsterte sie. »Mein Gott, was habe ich nur getan. Ich… ich weiß es doch nicht.« »Hi, Brenda…« Wiebke sprach mit einer Stimme, die der Freundin überhaupt nicht gefiel. Sie klang so anders, so wissend, voller Erfahrung, war auch irgendwo rücksichtslos. Brenda verkrampfte sich. Wiebke aber senkte den Kopf. Dann drückte sie ihre Arme vor. Zwischen den Händen hielt sie den Totenschädel, dessen Gebein wie bleiches Eis schimmerte. »Was willst du denn?« »Dich holen…« »Aber ich…« »Warte nur ab, kleine Brenda. Einen Moment noch. Und schau bitte genau zu.« Brenda blieb nichts anderes übrig, als der Aufforderung nachzukommen. Sie sah, wie sich der Körper ihrer Freundin von der Hauswand löste und etwa ein Yard entfernt in der Luft stehenblieb. Wiebke trug noch immer dieselbe Kleidung, trotzdem wirkte sie auf Brenda wie ein unheimliches Gespenst, das sich langsam in Bewegung setzte und parallel zur Hauswand in die Tiefe glitt.
Ja, sie konnte nur staunen. Sie stand mit offenem Mund am Fenster und schaute das Phänomen staunend an. Brenda begriff nichts, ihre eigenen Gedanken waren ausgeschaltet, sie dachte nur daran, daß sie etwas so Außergewöhnliches erlebte wie keine Person vor ihr. Und sie kam damit nicht zurecht. Der Körper sank tiefer. Brenda sah das Gesicht. Wiebke hatte sich verändert. Sie lächelte jetzt. Allerdings nicht fröhlich, sondern wissend, vielleicht sogar ein wenig hinterlistig und gemein. Sie hielt den Mund offen, ohne ein Wort zu sagen. Immer tiefer glitt sie dem Fenster entgegen, bis sie es erreicht hatte und mit Brenda auf einer Höhe stand. Die beiden Mädchen schauten sich an. Ihre Augen befanden sich auf einer Ebene, aber keine wußte, was die andere dachte. Niemand sprach. Brenda Jackson suchte nach Worten. Es dauerte, bis es ihr gelang, sie zu formulieren. »Weshalb bist du denn zurückgekehrt, Wiebke? Weshalb bist du gekommen?« »Wegen dir.« Die Stimme der Mitschülerin durchdrang die Schale ihrer Betäubung. Sie dachte darüber nach. Es fiel ihr schwer, dabei zu einem Ergebnis zu gelangen, doch eines stand fest. Sie würde sich nicht wehren können! Wiebke bewegte sich. Sie streckte Brenda ihren Arm entgegen und winkte mit der Hand. »Bitte, meine Liebe, ich bitte dich. Komm zu mir. Dein Platz ist bei mir, nicht mehr hier. Ich möchte, daß du mich begleitest, denn auch du sollst die Welt kennenlernen, die mich so ungemein stark fasziniert hat.« »Nein, ich…« »Aber Brenda, du wirst dich doch nicht sträuben wollen? Hast du vergessen, was mit Redstone und mit der Paulsen geschah? Möchtest du auch dein eigenes Blut im Hals schmecken, wenn dir mein Helfer die Kehle zerreißt. Möchtest du das wirklich?« »Verrückt, du bist verrückt, Wiebke.« »Nur anders.« Die Gestalt schwebte noch näher an das Fenster heran. Sie blieb erst dann wieder stehen, als sie die äußere Kante der Fensterbank berührte. »So, und jetzt wirst du dieses Zimmer verlassen, das wir beide so gehaßt haben. Niemand wird dich sehen, keiner wird sich um dich kümmern. Vergiß die Schule, vergiß die verdammten Lehrer. Laß dich entführen in eine andere, neue, wunderbare Welt.« Es war Brenda nicht möglich, den lockenden Worten zu widerstehen. Sie ärgerte sich selbst darüber, als sie sich bewegte und das rechte Bein anhob.
»So ist es recht, meine kleine Freundin. Ja, das finde ich gut. Warte, ich helfe dir.« »Werde ich auch schweben können?« Wiebke Crotano lachte, als sie die Frage hörte. »Solange du bei mir bist, immer. Denn ich bin eine Beschützerin, ich gebe auch auf dich acht. Das gehört zu meinen Pflichten.« »Wovor willst du mich denn beschützen?« »Vor dir selbst.« Brenda hatte die Antwort nicht begriffen. Das aber war ihr jetzt egal. Sie war sowieso nicht mehr die Person, die sie einmal gewesen war. Brenda fühlte sich in ihrem eigenen Körper fremd. Sie hatte nichts mehr dagegen, daß eine andere Person die Kontrolle übernahm. Dann stand sie auf der Fensterbank. Ihr Blick glitt über den Kopf der Freundin hinweg, bis hin zum Moor, diesem unheimlichen Gelände aus düsteren Schatten. Sollte das bald ihre zweite Heimat werden? Vorstellen konnte sie es sich nicht, und sie schauderte zusammen. Dann zuckte sie, als Wiebke an ihrer linken Hand zog. Unwillkürlich stemmte sie sich gegen den Druck, aber Wiebke ließ nicht locker und zerrte sie mit einem Ruck nach vorn. Brenda fiel. Die Tiefe wartete auf sie wie ein dumpfer Schwamm, der alles schlucken wollte. Doch Brenda nicht. Wiebke sorgte vor. Sie fing sie auf, und Brenda spürte den plötzlichen Schwindel, der sie überkommen hatte. Sie hatte das Gefühl, in eine Spirale zu fallen, die sie gleichzeitig nach unten drückte. Statt dessen aber hörte sie Wiebkes Stimme dicht an ihrem Ohr. »Ich weiß, wie dir zumute ist, Brenda, ich weiß es genau. Auch ich habe erst lernen müssen, dir wird das gleiche Schicksal nicht erspart bleiben. Nur mußt du immer daran denken, daß ich an deiner Seite stehe. Ich achte auf dich, du bist nicht allein, meine Liebe. Ich werde mich immer um dich kümmern…« Brenda konnte nicht antworten. Die andere Kraft war wesentlich stärker als sie. Und beide glitten weg… Sie tauchten hinein in die andere Luft, in die Kühle aus dem Moor, und Brenda spürte den Wind, der wie mit sanften Händen ihr Gesicht streichelte. Sie schaute nicht mehr zurück. Wiebke hatte es tatsächlich geschafft, ihr anderes Leben wegtauchen zu lassen. Deshalb sah sie auch nicht, wie die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet wurde und Frank Hill den Raum betrat. Noch auf der Schwelle blieb er stehen. Sein erstaunter Blick richtete sich gegen das Fenster, dann suchte er in der Runde nach, aber von der Schülerin war nichts mehr zu sehen.
Er lief zum Fenster. Noch war die Luft klar. Der Nebel würde erst später aus dem Sumpf steigen. Trotz der Dunkelheit konnte er etwas erkennen und ballte vor Schreck die Hände zu Fäusten. »Das… das ist doch nicht möglich«, hauchte er, »mein Gott, das darf es nicht geben.« Er hatte die beiden Schülerinnen in der Luft schwebend gesehen und taumelte zurück, wie von einem kräftigen Hieb getroffen. Brenda Jackson war entführt worden. Frank Hill fühlte sich, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggerissen. Aus, schoß es durch seinen Kopf. Jetzt war es aus. Jetzt war alles vorbei… Völlig deprimiert verließ er den Raum. Im Flur blieb er stehen und drückte seine heiße Stirn gegen die kühle Wand… *** Barry F. Bracht hatte es tatsächlich geschafft. Es war ihm gelungen, einzuschlafen. Natürlich nicht sofort, auch nicht nach Minuten. Er hatte sich gequält, er hatte hin und wieder mit mir gesprochen, sich beschwert, mich einige Male verflucht, dann aber war es ihm doch gelungen, in den Schlaf zu tauchen. Und ich saß ihm noch immer gegenüber. Die Stille der vornächtlichen Sumpflandschaft umgab uns. Sie war wie ein großes Tuch, das einfach alles bedeckte. Nichts ließ es aus. Es überschattete uns, es flog über die Landschaft und sorgte dafür, daß nichts mehr klar hervorstechen konnte. Es gab keine Bäume, keine Sträucher, kein Buschwerk, es war einfach nichts vorhanden. Ich schaute immer wieder auf die Wasserfläche, weil ich einfach davon überzeugt war, daß die unergründlich scheinende Tiefe ein gefährliches Geheimnis barg. Nichts drang an die Oberfläche. Es blieb still, bis auf die üblichen nächtlichen Geräusche in einem Moor, das in Wirklichkeit nicht tot war. Manchmal drang ein leises Klatschen an meine Ohren, wenn etwas auf die Wasserfläche gefallen war. Dann entstanden irgendwo Blasen. Sie zerplatzten sehr schnell. Es hörte sich an, als hätte jemand mit einer spitzen Nadel in einen Luftballon gestochen. Auch der Wind frischte nicht auf. Er blieb so sanft und sacht, als wollte er uns streicheln. Ich hatte mich längst an den anderen Geruch gewöhnt. Ebenso wie an den ungewöhnlichen Himmel über unserem Boot. Trotz der Dunkelheit zeigte er ein bestimmtes Muster, denn da schoben sich
Wolken der unterschiedlichsten Grautöne ineinander, als wären sie dabei, allmählich eine riesige Plastik zu bilden. Ich wartete. Es blieb mir einfach nichts anderes übrig. Ich mußte auf Barry F. Bracht hoffen. Natürlich konnte er normalerweise nur in die Alpträume der anderen Menschen eindringen und diese als Zebuion, der Schattenkrieger, retten, aber hier war es einfach anders. Er war gewarnt worden, er hatte eine Botschaft empfangen, und er hatte sich mir offenbart. Das mußte sich wiederholen lassen, damit ich einen Erfolg erreichen konnte. Brachts Haltung konnte nur als ungewöhnlich angesehen werden. Er war nicht nach hinten gekippt – die Gefahr hätte durchaus bestanden – , sein Körper hatte sich im tiefen Schlaf entspannt und war nach vorn gebeugt. In dieser Haltung hielt er sich, ohne daß ich ihn hätte abstützen müssen. Eine halbe Stunde war vergangen. Immer wieder schaute ich auf die Uhr, lauschte auf meine Umgebung. Wie ein Fremdkörper kam ich mir vor, ein Eindringling, der diese so heile Welt zerstören wollte. Noch blieb sie ruhig… Und dann atmete Barry schneller. Bisher hatte er sehr ruhig geschlafen, plötzlich aber öffnete er seinen Mund. Sogar den Kopf hob er im Schlaf an, und seine Finger, die um den Rand der Sitzbank gekrallt waren, zuckten. Er würde kippen, wenn er sich nicht fing. Ich griff schnell zu und stützte ihn ab. Er schlief noch immer, aber in ihm steckte eine tiefe Unruhe. Ein unheimliches Erleben, das nur für ihn sieht- und bemerkbar war. Ich saß dabei wie ein Fremder. Mondlicht streute gegen unsere Körper, ließ sie blaß erscheinen und aussehen wie Leichen. Auf einmal redete er. Ich wollte es zuerst nicht glauben, denn ich konnte die geflüsterten Worte nicht verstehen. Sie hörten sich an wie das Zischen einer gereizten Schlange. »Barry?« Er hörte mich nicht, war tief in seiner Trance versunken, aber nicht so tief, als daß er mich nicht hätte aufklären können. »Das Böse ist da. Wir sind in seiner Nähe. Es lauert, es ist ein uralter Geist, ein Monstrum, ein Fresser von Menschen. Ja, es hat die Menschen gefressen.« »Wen denn?« »Alle, viele. Es ist uralt. In den Jahrhunderten ist es gewachsen, es hat sich immer wieder Opfer geholt. Es hat keine gute Seele, es ist ein
dämonischer Alptraum, der seinen Geist auch an die Oberfläche schickt und die sucht, die ihm hörig sind.« »Hat das Böse einen Namen?« »Nein… nein… es ist namenlos. Es ist einfach das Böse, mehr nicht. Du mußt es mir glauben, John. Du mußt es. Dieses Wesen ist zu grauenvoll. Man kann es nicht beschreiben. Es ist im Laufe der langen Zeit gewachsen. Es kennt keine Gnade, es ist…« »Bitte, Barry, du mußt…« »Es wird angreifen. Es beherrscht den See. Ein Dämon aus den Urzeiten. Es will weitere Opfer schlucken. Es zerreißt sie, es spielt mit ihren Gebeinen, und es sorgt dafür, daß sie mit seiner Kraft gefüllt werden. Vor allen Dingen die Schädel.« Die letzten Worte waren für mich sehr wichtig gewesen. Jetzt wußte ich auch über den Grund Bescheid, weshalb Wiebke Crotano hatte fliegen können. Ich wartete nicht länger, sondern ging in die Offensive. Mittlerweile fühlte ich mich auf dem See und in dem alten Kahn hockend noch weniger sicher als zuvor. »Was ist mit Zebuion, Barry, Was ist mit ihm? Kann er das alte Monster stoppen?« »Ich weiß es nicht.« »Doch, du mußt es wissen. Du mußt etwas dagegen tun, Freund. Du mußt dich in seine geistige Aura hineindrängen, denn nur so kannst du ihn stoppepn, das weißt du selbst.« »Er ist gefährlich, er ist grausam, es ist schwer…« »Zebuion ist besser!« drängte ich Barry. Wobei ich bei ihm nicht wußte, ob er schlief oder sich in Trance befand. »Ja, aber…« »Bitte…« Ich schwieg danach, weil ich ihn nicht ablenken durfte. Ich mußte ihn jetzt in Ruhe lalssen. Wenn er der Aura des alten Dämons zu nahe kam, dann gab es einfach keine Möglichkeit mehr für ihn. Dann entstand allein aus Gründen der Abwehr seine zweite Gestalt. Schaffte er es…? Ja, er packte es, Barry F. Bracht durchbrach die Mauer. Vor mir blieb er als normaler Mensch hocken. Woanders aber war der Kämpfer Zebuion entstanden, und ich wußte, das dieser See sehr bald zu einer Hölle werden konnte… *** Das genau geschah nicht! So angespannt ich auch im Boot hockte und darauf wartete, es trat einfach nicht ein. Uns umgab weiterhin die starre Ruhe, die von keiner Feindschaft sprach.
Auch der Himmel blieb normal, und der Mond schickte uns sein Silberlicht. Ich schaute gegen ihn, weil mich sein Anblick wieder an den Knochenmond erinnerte. Diesmal jedoch nicht. Keine Knochenfratze zeichnete sich in dem gelben Kreis ab. Der Mond blieb das, was er war. Barry sprach nicht mehr. Ich stützte ihn auch nicht ab. Er war mir aus dem Griff gerutscht, hatte noch für einen Moment vor meinen Füßen gekauert und sich dann auf die Seite gedreht. Soviel Platz bot der alte Kahn. Barry konnte mit angezogenen Beinen liegenbleiben und weiterhin seinen Träumen nachhängen. Das sanfte Wiegen machte auch mich schläfrig. Mir durfte alles passieren, nur das Einschlafen nicht, denn dann hätten andere Kräfte freie Bahn gehabt. Es kam anders. Natürlich hatte ich Wiebke Crotano nicht vergessen. Auch wenn eine gewisse Zeit vergangen war, mußte ich damit rechnen, daß sie irgendwann erschien. Sie tat mir den >GefallenLebenverstand< er etwas. Es waren Ströme aus Gedanken, die ihm entgegenwehten. Sie erzählten von einer unvorstellbar weit zurückliegenden Zeit und von Grausamkeiten, wie sie kaum faßbar waren. Zebuion war, als würde ihm jemand Geschichtsunterricht über die Urzeit erteilen. Das alles lenkte ihn von seinem eigentlichen Vorhaben in keiner Weise ab. Es hatte schon immer Gut und Böse gegeben, aber das Böse durfte nicht überleben, denn das wäre schlecht für diese Welt gewesen. Besonders kein Riesenghoul, der nur darauf wartete, seine Opfer mit Haut und Haaren zu verschlingen, um letztendlich die blanken Knochen oder Schädel wieder auszuspeien.
Die Masse konnte nicht weg. Sie konnte sich auch nicht verstecken, sie konnte nicht in den Boden hineindringen, für sie gab es überhaupt keinen Ausweg mehr. Das wußte Zebuion. Der Schattenkrieger schoß. Er jagte die Ladungen aus positiver Energie in die dunkle, quallig, schleimige Masse hinein und riß daraus Fetzen hervor, als hätte er damit Löcher in ein gewaltiges Tuch gebrannt. Die Gedanken rissen ab. Für einen Moment trat der Schock der Stille ein. Dann hörte Zebuion in seinem Hirn das Kreischen des Monsters, die wilden, ungezügelten Schreie, in die sich die reine Angst und Verzweiflung mit einmischten. Das Monstrum bewegte sich. Es tobte, es drückte sich zur Seite, es schlug plötzlich um sich wie ein überdimensionaler Rochen, und gleichzeitig spreizte Zebuion die Flügel, denen das Wasser keinen Widerstand entgegensetzte. Er schwebte in die Höhe. Zebuion war das Produkt eines Traumes. Es gab für ihn keine normalen Hindernisse wie Wände, Mauern oder Türen. Es kam überall durch und überall hin. Auch im Wasser. Beinahe gemächlich schwebte er in die Höhe, während er seine positive Energie auf dieses Monstrum verschoß. Die Lücken ließen sich nicht mehr schließen. Sie sahen aus wie von Riesenhänden geschaffen. Einfach hinein in die Masse gerissen, und es entstanden immer mehr. Dann hatte er seinen Platz erreicht. Er schwebte über dem Monstrum. Das Relikt aus der Urzeit hatte sich verändert. Jetzt erinnerte es immer mehr an einen Ghoul. Es war ihm gelungen, sich flach zu machen und auf den Boden zu drücken, so daß es aus der Höhe so aussah wie ein großer dunkler Teppich. Gut für Zebuion! Er sah ein Gesicht. Zum erstenmal erkannte er so etwas wie Augen und ein Maul. Aber nur in Ansätzen, als hätte es jemand mit einem großen Bleistift auf die Oberfläche gezeichnet. Dagegen zielte der Schattenkrieger. Wieder drückte er ab. Zwei Strahlen jagten gegen die Andeutung des Gesichts und erwischten es genau in die Mitte. Diese Treffer erinnerten an die Einschlagswucht von Explosionen, denn sie schafften es, die Fratze zu zerreißen.
Sie glühte nicht einmal auf, sie verging, als wäre sie vom Wasser weggespült worden. Es war ein irrsinniges Bild, kaum zu fassen. Schattenreste taumelten durch das Wasser. Sie zuckten an allen Seiten, wollten sich aus der Gefahrenzone bringen, aber sie lösten sich auf. Wie auch der Schattenkrieger. Zebuion hatte seine Pflicht getan und das böse Erbe der Urzeit vernichtet. Die Welt brauchte ihn nicht mehr, er löste sich auf, und ein Mann namens Barry F. Bracht erwachte abrupt… *** Wiebke Crotano hatte noch geschrien, als sie in die Tiefe gefallen war und auf die Oberfläche des Sees prallte. Brenda Jackson konnte nichts sagen, das Entsetzen hatte sie schlichtweg stumm werden lassen. Gemeinsam tauchten sie ein. Hoch spritzte das Wasser auf. Grüngläserne Wellen entstanden, fielen wieder zusammen und begruben beide Mädchen unter sich, als sie in die Tiefe tauchten. Wiebke fürchtete sich nicht. Sie vertraute voll und ganz dem Schädel, der wieder einmal ein Opfer reißen würde. Aber sie wurde enttäuscht. Kaum eingetaucht, da stellte sie fest, daß dieses Wasser voller Gedanken steckte. Botschaften, die sie einmal so aufgemuntert hatten, jetzt aber nur noch Signale der Angst waren. Das Böse besaß nicht mehr seine ursprüngliche Kraft. Es war dabei, vernichtet zu werden. Das wurde ihr sehr genau klar, und Wiebke wußte nicht, was sie noch machen sollte. Erst einmal auftauchen. Sie hatte Brenda losgelassen, die ebenfalls der Oberfläche entgegenstrebte. Beide Köpfe sprangen förmlich aus dem Wasser und nicht einmal weit voneinander entfernt. So nah, daß sie nur mehr eine Armlänge trennte und sie sich anschauen konnten. Auf Brendas Gesicht lag die Angst. Panik flackerte in ihren Augen. Sie bewegte sich zu hektisch, sackte dabei tiefer, geriet mit dem Kopf unter Wasser und hatte zuletzt das Bild der Wiebke Crotano im Gedächtnis. Schrecklich hatte das Mädchen ausgesehen. Wie eine zum Leben erwachte Wasserleiche. Die Haare hingen ihr strähnig in die Stirn und bis weit über die Augen wie Algen. Brenda wollte ihr Leben retten. Sie bekam keine Luft mehr, sie mußte auftauchen, ihr Kopf durchstieß die Wasserfläche. Da war auf einmal die Hand.
Schwer wie ein bleiernes Gewicht preßte sie sich auf Brendas Kopf und drückte ihn wieder zurück. Bevor sie das Wasser umschäumte, hörte sie noch die haßerfüllten Worte ihrer Zimmerkollegin. »Ich werde dich ertränken wie eine Ratte, hörst du? Wie eine verdammte Ratte…« *** Ich hatte auch ein zweites Mal geschossen und den verdammten Schädel wieder nicht erwischt. Als bleicher Killer raste er mir entgegen. In einem schrägen Winkel fiel er auf mich zu. Sein Sinnen und Trachten war danach gerichtet, mir die Kehle zu zerstören. Ich warf mich zur Seite. Aus dem Wasser hörte ich Wiebke Crotanos Schrei. Was sie sagte, konnte ich nicht verstehen, zudem mußte ich mich auf den Schädel konzentrieren. Er erwischte mich nicht. Neben mir schlug er auf die Planken. Die Wucht war so groß, daß er sie nicht nur aufkratzte, sondern ein Loch hineinbohrte, durch das Wasser strömte. Ich schlug mit dem Lauf der Beretta zu. Der Kahn schwankte, ich hatte den Schädel auf seiner oberen Seite erwischt, das Splittern des Gebeins war Musik in meinen Ohren, aber dieser verfluchte Totenkopf kam wieder hoch. Eine Welle packte das Boot, schleuderte es regelrecht zur Seite. Ich hatte Mühe, mich zu fangen, und dann tanzte der verdammte Schädel wieder vor mir. Das Kreuz konnte ich nicht mehr finden. Wahrscheinlich hatte ich es mit meinem Körper begraben. Mir blieb der Dolch. Bevor der Schädel wieder angriff, hatte ich ihn gezogen. Genau im letzten Moment, denn der Totenkopf jagte auf mich zu, er wollte nach meinem Hals schnappen. Blitzartig hob ich den Arm an. Vor meinem Hals kantete ich die Hand mit dem Dolch. Der Schädel biß in die Klinge! Beide Kiefernhälften hackten hinein. Ich hörte sogar das Knirschen und hoffte, daß es mir gelingen würde, die Waffe zu drehen, um den bleichen Totenkopf endlich zu zerstückeln. Das war nicht mehr nötig. Er kippte plötzlich weg, polterte auf die Planken und blieb liegen. Genau in dem Augenblick erwachte Barry F. Bracht…
Brenda Jackson erlebte eine Angst wie nie zuvor in ihrem Leben. Die wird dich umbringen, schoß es ihr durch den Kopf. Dieses verdammte Biest ertränkt dich. Wiebke Crotano hatte ihre Hände in die Haare der Freundin gekrallt und preßte noch immer den Kopf nach unten. Sie wollte, daß Brenda keine Luft mehr bekam, daß sie Wasser schluckte, daß sie einfach nicht mehr in die Höhe gespült wurde, denn der Haß auf sie war wie ein Stachel. Immer tiefer bohrte er sich. Aber auch Wiebke mußte hoch, um Luft zu bekommen. Sie ließ Brenda los und stellte noch fest, daß sie weggeschwemmt wurde. Dann brachte sie ihr Gesicht über die Oberfläche, schnappte nach Luft und beschloß, es beim nächsten Angriff anders zu machen. Dazu kam sie nicht mehr. Sie schwamm, und sie hatte plötzlich das Gefühl, daß jemand aus ihrem Körper eine Hülle gezerrt hatte. Sie wußte nicht, was sie denken und tun sollte, und sie wunderte sich auch, daß sie sich im Wasser befand. Nicht weit entfernt schaukelte ein Bootskörper auf den Wellen, und dann erschien Brenda Jackson aus der Tiefe. Sie bewegte sich kaum, trieb wie eine Tote an der Oberfläche entlang, und Wiebke brüllte den Namen ihrer Freundin. »Himmel, Brenda, was ist denn?« Sie wollte hinschwimmen, als plötzlich ein Körper über ihrem Kopf hinwegschwang und fast dort eintauchte, wo Brenda Jackson so leblos dicht unter der Oberfläche trieb. Für sie war dieser Mann ein Fremder. Es war ihr auch egal. Hauptsache, er rettete Brenda… *** Tropfnaß saß ich im Boot, und wir alle wußten nicht so recht, was wir sagen und wo wir beginnen sollten. Am schlechtesten ging es Wiebke Crotano, die mit dem Begriff Miss Monster überhaupt nichts anfangen kokonnte. Sie hatte ihn zwar von mir gehört, aber sie schaffte es nicht, ihn in einen gewissen Zusammenhang zu ihrem Schicksal zu bringen. Wie würde sie erst reagieren, wenn ich sie auf die beiden Morde ansprach. Die waren nun mal geschehen und konnten auch nicht mehr rückgängig gemacht werden. Der alte Kahn lag ziemlich tief im Wasser. Vier Personen waren fast zuviel für ihn. Wiebke weinte. Brenda versuchte sie zu trösten, und ich stach das Ruder in das dunkle Wasser. Sehr langsam ruderten wir dem Ufer entgegen. Barry F. Bracht murmelte immer wieder etwas vor sich hin, das ich aber nicht verstand.
Er jedenfalls hatte uns gerettet, und die Erinnerung an die Tat kehrte nur allmählich zurück. Jedenfalls war er Zebuion gewesen und in die Welt des Bösen eingedrungen. Für ihn war es eine neue Erfahrung gewesen. Bisher hatte er nur die Alptraumwelten der schlafenden Menschen besuchen können. Ich war gespannt, was er aus dieser neuen Perspektive machte. Als wir das Boot verlassen hatten, sprach Wiebke Crotano mich an. Sie hatte Mühe, die Sätze zu formulieren. »Brenda hat mir alles erzählt. Das… das ist ja schrecklich!« »Leider ja.« »Und jetzt?« Sie war stehengeblieben und schaute mich an. »Ich kann es dir nicht sagen. Wahrscheinlich wird dir nichts passieren, aber das müssen andere Stellen entscheiden.« »Mein Gott, die wissen doch nichts von diesem Schrecken.« »Keine Bange, Wiebke, sie werden davon erfahren. Dafür sorgen Barry F. Bracht und ich.« Was auch immer geschehen würde, eines stand fest: Auf der Schule würde die ehemalige Miss Monster nicht bleiben. Und das war auch sehr gut so…
ENDE