MIRABEAU ODER DER POLITIKER ____________________________________________________________________
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MIRABEAU ODER DER POLITIKER ____________________________________________________________________
Mirabeau o el político 1927 Aus: José Ortega y Gasset Ges. Werke Bd2, MCMLXXVIII DEUTSCHE VERLAGS-ANSTALT STUTTGART, 1978 Übers.: Ulrich Weber
I In der Erwartung, neuen Aufschluß über den großen Provenzalen zu erhalten, hatte ich Van Leisens Mirabeau-Büchlein (mit dem Vorwort von Jacques Bainville) gelesen1. Mirabeau war in meinen Augen stets der hervorragende Vertreter eines Menschentyps gewesen, der dem meinen diametral entgegengesetzt ist, und es gibt kaum etwas Wichtigeres, als daß wir uns über unsere Antipoden unterrichten. Das ist für uns die einzige Möglichkeit, ein bißchen vollkommener zu werden. Obwohl mir alle politische Begabung abgeht, ahne ich, daß in Mirabeau sich etwas verkörpert, das dem Urbild des Politikers ziemlich nahe kommt. Wohlgemerkt: dem Urbild, nicht dem Ideal. Wir sollten diese beiden Begriffe nicht verwechseln. Die großen Wehen, die Europa gegenwärtig durchmacht, rühren vielleicht daher, daß es um keinen Preis zwischen Urbildern und Idealen unterscheiden wollte. Ideale, das sind die Dinge, wie sie nach unserem Dafürhalten sein sollten; Urbilder, das sind die Dinge, wie sie auf Grund ihrer unabweisbaren Wirklichkeit sind. Würden wir uns daran gewöhnen, für jedes Ding das Urbild zu suchen, das heißt die Wesensstruktur, die, soweit man sieht, die Natur ihm hat geben wollen, so bliebe es vermieden, daß wir uns von diesem Ding ein absurdes Ideal bilden, das seinen elementarsten Gegebenheiten widerspricht. Man denkt zum Beispiel gemeinhin, der ideale Politiker sei nicht nur ein großer Staatsmann, sondern auch ein guter Mensch. Ist so etwas möglich? Ideale sind Dinge, wie unser Wunsch sie umgebildet hat, sind Desiderata. Was aber berechtigt 1
Herbert van Leisen: Mirabeau et la politique royale. Grasset, 1926. 373
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uns dazu, das Unmögliche, das runde Quadrat, als Ideal zu betrachten? Vor etlicher Zeit habe ich einmal eine Hygiene der Ideale, eine Logik des Wunsches gefordert. Der größte Unterschied zwischen dem Verstand eines Kindes und eines Erwachsenen ist vielleicht der, daß das Kind den Richterspruch der Realität nicht anerkennt und an die Stelle der wirklichen Dinge deren Wunschbilder treten läßt. Dem Kind kommt alles Wirkliche wie ein Stoff von magischer Geschmeidigkeit vor, der unserem jeweiligen Ansinnen gefügig ist. Unsere Reife setzt ein, wenn wir entdecken, daß die Welt fest gefügt ist, daß unseren Wünschen nur ein sehr knapper Spielraum zur Verfügung steht, hinter dem sich eine widerspenstige Materie von starrer, unerbittlicher Beschaffenheit erhebt. Da beginnt man denn die reinen Wunschideale zu verachten und die Urbilder höher zu schätzen, will sagen, die Wirklichkeit selber in allem, was ihr an Tiefem und Wesentlichem eigen ist, als Ideal anzusehen. Diese neuen Ideale stammen aus der Natur, nicht aus unserem Kopf: sie sind viel gehaltvoller, viel anmutiger als die frommen Wünsche. Halten wir also fest: Idealismus beruht auf einem Mangel an Phantasie. Wer imstande ist, sich genau vorzustellen, wie sein abstraktes Ideal verwirklicht aussehen würde, erlebt eine Enttäuschung; denn er erkennt dann, wie unansehnlich und kümmerlich es ist im Vergleich zu der unglaublichen Menge wünschenswerter Dinge, welche die Wirklichkeit ohne unser Zutun erfunden hat. Selbst so große Idealisten wie Platon und Kant kämen in Verlegenheit, wenn einmal ein schalkhafter Zauberer den wundervollen Einfall hätte, das Weltall ein paar Minuten lang nichts weiter sein zu lassen als das, was es nach dem schematischen Plane jener Philosophen sein sollte. Das landläufige Ideal ist weniger, nicht mehr als die Wirklichkeit. So kann man sich etwa das Attribut „guter Mensch“, das wir dem idealen Politiker beilegen, sehr leicht vorstellen und definieren, alles übrige aber, was den großen Politiker ausmacht, werden wir niemals mit unserer Weisheit ergründen; wir müssen vielmehr demütig warten, bis die Natur ihn zu erschaffen geruht, bis sie sich dazu entschließt, einem Titanen wie Mirabeau das Leben zu schenken. Nun er aber dank des gnadenreichen Willens der kosmischen Mächte wirklich da ist, haben wir un374
DIE KLARHEIT SEINER POLITIK
dankbaren, anmaßenden Leute nichts Eiligeres zu tun, als an diesem Geschöpf herumzukritteln, weil es nicht die Tugenden eines ehrbaren Alltagsbürgers hat. Die Menschheit ist wie jene Frau, die sich mit einem Künstler verheiratet hatte, eben weil er ein Künstler war, und die sich dann darüber beklagte, daß er sich nicht wie ein Geschäftsinhaber benahm. Van Leisens Büchlein ist weit davon entfernt, uns über Mirabeau in irgendeinem wesentlichen Punkt mehr Klarheit zu verschaffen. Es zählt zu einer Art von Druck-Erzeugnissen, die auf dem französischen Büchermarkt leider von Tag zu Tag häufiger wird; verschrobene Bücher mit beschränktem Horizont, die keinerlei Anspruch auf geistige Schärfe erheben dürfen. Dem Verfasser, einem Schüler von Charles Maurras, ist es – mit Bainvilles Einverständnis – um nichts anderes zu tun als um den Nachweis, daß Mirabeaus Politik im Grunde genommen dieselbe war wie die des Vierzehnten und Fünfzehnten Ludwig. Das ist die Zielsetzung des Buches; kein Wunder, wenn dieser Nachweis noch nicht einmal dem Anschein nach gelungen ist. In Mirabeaus Politik gibt es nichts Dunkles. Während eines ganzen Jahrhunderts haben die Tatsachen bestätigt, daß diese Politik das Klarste war, was die Französische Revolution geschaffen hat. Wenn etwas auf der Welt das Recht hat, Überraschung und Bewunderung hervorzurufen, so ist es die Tatsache, daß dieser Mann, der den Kanzleien und der Verwaltung als Fremdling gegenübersteht, der ständig in turbulente Liebesaffären, in Prozesse, in Intrigen verwikkelt ist, der von Kerker zu Kerker wandert, der Schulden auf Schulden häuft, der eine Flucht nach der anderen inszenieren muß, daß dieser Mann sich bei der Eröffnung der États Généraux mit einem Schlag in einen Staatsmann verwandelt und in wenigen Augenblikken eine ganz neue Politik improvisiert, welche die Politik des neunzehnten Jahrhunderts (die konstitutionelle Monarchie) sein wird; und dabei handelt es sich nicht um etwas Verschwommenes und gleichsam nur im Keime Vorhandenes, nein, es ist ganz und in allen Einzelheiten da; Mirabeau schafft nicht nur die Prinzipien, sondern auch die Gesten, die Terminologie, den Stil und die innere Bewegung des demokratischen Liberalismus festländischer An. Er übersieht mit einem Blicke die gesamte kommende Entwicklung dieser neuen Politik; 375
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aber er sieht noch weiter: er sieht ihre Grenzen, ihre Mängel, ihre Entartungsmöglichkeiten, er sieht die Gefahren, die ihrem Prestige drohen und denen dieses dann ja auch in der Tat hundertfünfzig Jahre später erlegen ist. Wer sich davon überzeugen will, daß diese wunderbare Hellsichtigkeit eine Tatsache war und daß es sich um kein Hirngespinst, keine nachträgliche Schönfärberei handelt, der braucht nur irgendein beliebiges Buch über Mirabeau1 aufzuschlagen, freilich nicht das Van Leisensche, das sich, offen gesagt, noch nicht einmal als eine rein historische Untersuchung der Gestalt Mirabeaus bezeichnen darf. Aber das politische Denken ist nur die eine Dimension der Politik, die andere ist die Verwirklichung der Idee durch die Tat. Unverhofft entdeckt Mirabeau in sich das gewaltige Werkzeug für die Schaffung einer neuen Form öffentlichen Lebens, entdeckt er die romantische Beredsamkeit, jene prachtvolle wortführende Muse der festländischen Volksvertretungen, die über der flüssigen Seele der Massen schwebt wie der Heilige Geist über den Wassern, Sturm entfesselnd oder Stille gebietend. Mirabeaus erste Rede wirkte elektrisierend. Einer, der dabei war, der nachdenkliche Dumont, sagt es uns: „während des gesamten, wildbewegten Vorspiels der Communes hatte man noch nie etwas gehört, das sich mit dieser Kraft und Würde hätte vergleichen lassen; es war ein noch nie erlebter Genuß; liegt doch in der Beredsamkeit der ganze Zauber der Männerversammlungen.“ Der riesenhafte Wuchs, der übergroße Kopf, die wallende Mähne, die diesen Kopf noch gewaltiger erscheinen ließ, gaben Mirabeau das Aussehen eines Löwen. Vielleicht wird man einwenden, dies alles, die Redegewalt, die Mähne, die Löwenähnlichkeit, sei nichts als Rhetorik. Selbst wenn es nur das wäre, so wäre es schon genug. Also nehmen wir einmal an, es sei wirklich nur Rhetorik; sicherlich keine Rhetorik ist
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Ich kenne kein gutes Buch über Mirabeau. Ich fürchte, es gibt auch keines. Um sich aber von dem hier Ausgeführten zu überzeugen, genügt es vollauf, in der MirabeauBiographie von Louis Barthou nachzulesen (Hachette, Paris 1913, Reihe Figures du passé), die die Ergebnisse der älteren Biographien von Lomenie und Stern zusammenfaßt und vervollständigt. 376
DIE NATION DURCH DIE NATION AUFBAUEN
dann aber der persönliche Mut, den er besitzt, jener ausgesprochene Politikermut angesichts der brodelnden Massen. Mag sich die gesamte Assemblée Nationale gegen ihn erheben, Mirabeau schwenkt nicht um, er verliert kein Gran von seiner inneren Ruhe. Im Gegenteil: sein Verstand wird um so schärfer, durchdringt um so gründlicher die Situation, verleiht ihr Transparenz, zerlegt sie in ihre Einzelheiten und zieht die nämliche Nationalversammlung, die noch vor wenigen Minuten so störrisch und ungebärdig war, freundlich auf die andere Seite hinüber. (Er nannte das déterminer le troupeau – die Herde lenken.) Vom Löwen also hätte er die Rhetorik und die Mähne, aber auch den Mut, die innere Sicherheit und die Klaue. (Der Löwe Mirabeau sagt in einer Rede zum Schakal Robespierre: „Junger Mann, die Erhabenheit der Grundsätze liegt nicht in deren Übertreibung.“) Durch das Wehklagen über Hunger und Teuerung, das in jener Zeit geradezu ein Gemeinplatz geworden war, ließ er sich nicht über den wahren Sachverhalt hinwegtäuschen und zeigte sich darin hellsichtiger als ein Jahrhundert später die Geschichtsschreiber, die das alles ernst nahmen und jene beiden Übelstände zum Rang von Revolutionsursachen erhoben. Frankreich ging es besser denn je; eben deshalb brauchte es einen großzügigeren Staat. Mirabeau sieht dies in aller Deutlichkeit und möchte, daß sich auch der König davon überzeugen läßt. Darum schreibt er an den Minister Montmorin: „Frankreich hat sich in seinem Innern noch niemals stärker und gesünder gefühlt; noch niemals ist es seiner vollen Entfaltung so nahe gekommen; das einzige Übel besteht in der zeitlich sehr begrenzten Unannehmlichkeit einer wenig geordneten Verwaltung und in der lächerlichen Scheu, beim Aufbau der Nation diese selbst zu Hilfe zu nehmen.“ Mirabeau weicht nicht von dieser Ansicht ab. Unwiderruflich war nun die Zeit gekommen, die Nation durch die Nation selbst aufzubauen, alles andere war sinnlos. Die Auskunftsmittel, die man Ludwig dem Sechzehnten vorschlug und die da hießen aufgeklärter Despotismus oder unaufgeklärte Tyrannei und Diktatur, kamen Mirabeau nicht nur zwecklos vor, sondern auch unheilvoll. Mit jener Sehergabe, die in seinen Aussprüchen so überreichlich zum Ausdruck kommt, sagt er zu den Höflingen: „Auf solche Weise bringt man einen König an den Galgen.“ 377
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Man begreift nicht, wie ein Mann von solch scharfem Verstande glauben konnte, der König würde die Lage überblicken. Den Schlüssel dazu liefert uns vielleicht die Tatsache, daß Mirabeau zwar den Geist eines liberalen Demokraten, aber die Seele eines Edelmannes hatte. Und der Aristokrat, so intelligent er ist und so frei von Vorurteilen er sich glaubt, erliegt doch in der Regel einem verhängnisvollen höfischen Mystizismus. Und doch konnte bei jenem geschichtlichen Stand der Dinge nur noch eine Lösung ernstlich erwogen werden: die konstitutionelle Monarchie. Mirabeau war der einzige, der das erkannte. Die übrigen Politiker waren entweder zu monarchisch oder zu konstitutionell. Nachdem die Volkswut jene ersten zum Abtreten genötigt hatte, spielten sich die zweiten als die Erzrevolutionäre und Radikalisten auf, und sie waren es schließlich, welche die Revolution zum Scheitern brachten. Denn man darf nicht übersehen, daß die Französische Revolution, eine der bewegtesten Episoden der Weltgeschichte, ein völliger Mißerfolg war. Fast ein Jahrhundert sollte es dauern, bis die Prinzipien, für die sie gekämpft hatte, sich in Ruhe annähernd durchgesetzt hatten. Die Revolution scheiterte, weil es in der Nationalversammlung nur einen einzigen echten Politiker gab, der obendrein bereits 1791 von der Bühne abtrat. Mit größter Verachtung begegnet Mirabeau gewissen definitionsbeflissenen Kollegen, regelrechten Staatsgeometern, die soviel lichtvolle Formeln im Kopfe tragen, daß sie bei der Berührung mit den wirklichen Dingen vor lauter Lichtfülle blind werden. Von ihnen sagt er: „Ich habe weder ihren Roman noch ihre Metaphysik noch ihre sinnlosen Verbrechen jemals gutgeheißen.“ Mit einer sagenhaften Arbeitskraft ausgestattet, war Mirabeau der geborene Organisator. Wohin er auch kam, überall schaffte er Ordnung, und das ist das vornehmste Kennzeichen eines großen Politikers. Er schaffte Ordnung im guten Sinn dieses Begriffes, in dem normalerweise weder Polizei noch Bajonette einen Platz haben. Ordnung ist kein Druck, den man von außen her auf die Gesellschaft ausübt, Ordnung ist Gleichgewicht, das in ihrem Inneren hergestellt wird. Wie immer, so ist es auch hier äußerst reizvoll, die Durchführung mitzuverfolgen; man liest mit viel Anteilnahme die Geschichte 378
DER GROSSE MANN UND DIE TUGEND
der ersten Revolutionszeit, jenes frühesten Abschnitts im Leben der Assemblée Nationale; denn da sieht man einen Mann, der das geistige Volumen seines Amtes nicht nur ausfüllt, sondern übertrifft, der geschmeidig und sieghaft einhertritt und eine jede Lage meistert. Angesichts der Suggestivwirkung, die dieser einzigartige Mann auf sie ausübte, fühlte sich die Assemblé zu Schutzmaßnahmen bewogen. Sein Tod wurde für ein nationales Unglück erklärt, und sein riesenhafter Leichnam inaugurierte das Pantheon der Großen Männer. Hernach allerdings stieß man auf Zeugnisse seiner Bestechlichkeit. Mirabeau war eben nicht nur der, den ich bisher schilderte, er war dazu noch ein ehrfurchtsloser Mensch. So meldete sich denn der Pedant, der in solchen Fällen immer zur Stelle ist (damals Joseph Chénier), in der Nationalversammlung zum Wort und beantragte, daß die sterblichen Überreste Mirabeaus aus dem Pantheon zu entfernen seien; denn es gebe keinen großen Mann ohne Tugend. Die große Sentenz! Sie stellt uns vor die Frage, weshalb die Geschichte Mirabeaus so sehr an jene Cäsars und – mutatis mutandis – fast aller großen Politiker erinnert. In seltsamer Gleichartigkeit wiederholt sich in jedem großen Politiker bis in die physiologischen Details hinein immer wieder der nämliche Menschentyp. II „Denn es gibt keinen großen Mann ohne Tugend“, sagte Joseph Chénier, als er das Andenken Mirabeaus trüben wollte. Wir begreifen, warum alle Welt diesem Ausspruch Beachtung schenkte: er war eine Sentenz, und lange Zeit hindurch brauchte der Abendländer die Sentenz zum Leben ebenso nötig wie den Sauerstoff1. Ich bitte nun den Leser, die vorliegende Sentenz eine Zeitlang im Auge zu behalten und sorgfältig ihrem Sinn nachzuspüren. Chénier meint mit dem „großen Mann“ vor allem den großen Poli1
Das Problem der Sentenzen ist heikler und wichtiger, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Ich muß es hier unberührt lassen, darf den Leser aber auf den Essay „Phrase und Aufrichtigkeit“ (Fraseología y sinceridad) hinweisen, der in Bd. V des Espectador (Bd. I dieser Ausgabe, S. 351) erschienen ist. 379
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tiker; so wird unser Denken, wenn wir die erste Hälfte von Chéniers Urteil hören und die Worte „großer Mann“ mit Bedeutung zu erfüllen suchen, unwillkürlich auf Realitäten wie Cäsar oder Mirabeau hingelenkt. Und die zyklopischen Charakterzüge dieser oder ähnlich gearteter Persönlichkeiten tauchen wie heroische Phantome vor uns auf. Wir sehen ihre unerschöpfliche Energie, ihr ständig angespanntes Wollen, die Durchschlagskraft und die monumentale Größe, die schnelle und wirksame Durchführung ihrer Pläne, die geniale Vorausschau künftiger Ereignisse, die Standhaftigkeit und innere Ruhe angesichts der Gefahr, die sieghaft-unbeirrte Haltung in jedweder Situation. Unterläuft uns einmal die abgeschmackte Leichtfertigkeit, die Handlungsweise dieser Männer als egoistisch zu bezeichnen, so lenken wir bereits im nächsten Augenblicke schamvoll ein; wir erkennen nämlich, daß bei solchen Menschen das Ich ja fast ganz mit unpersönlichen, oder besser gesagt, über das Persönliche hinausgehenden Aufgaben beschäftigt ist. Ist es sinnvoll, zu behaupten, Cäsar sei ein Egoist gewesen, er habe nur für sich selber gelebt? Worin bestand denn das Selbst, das Ich eines Julius Cäsar? In dem unbändigen Drang, Dinge zu schaffen, Geschichte zu machen. Und darum nimmt er die großen Ehren und die großen Bedrängnisse mit der gleichen Selbstverständlichkeit auf sich. Es geht nicht an, daß der Durchschnittsmensch, der sich niemals solche Mühen freiwillig aufgeladen hätte, dem großen Manne das Recht auf die großen Ehren und großen Genüsse absprechen will. Zwei Wörter gibt es, die unsere Zeit niemals hätte erfinden können: die Wörter Seelengröße und Seelenkleinheit. Dafür aber hat sie es zustande gebracht, diese beiden Wörter zu vergessen, weil ihr der Sinn für den fundamentalen Unterschied, der sich in ihnen ausdrückt, verlorengegangen ist. Seit eineinhalb Jahrhunderten verbirgt man uns auf Grund einer allgemeinen stillschweigenden Übereinkunft die Tatsache, daß auch im Bereich des Seelischen verschiedene Größenordnungen existieren, daß es große und kleine Seelen gibt; wobei groß und klein für uns kein Werturteil bedeutet, sondern einen wirklichen Unterschied in der Struktur, einen Gegensatz in der seelischen Verhaltensweise. Der seelisch Große und der seelisch Kleine sind zwei verschiedene Menschentypen, für deren jeden das Leben einen anderen Sinn hat und 380
SEELISCHE GRÖSSE UND KLEINHEIT
die zwei gegensätzliche Moralperspektiven in sich tragen. Wenn Nietzsche zwischen Herren- und Sklavenmoral unterscheidet, so drückt er mit dieser wenig ansprechenden, allzu engen und letztlich falschen Formel etwas aus, das eine unleugbare Tatsache ist. Die moralische Perspektive des seelisch Kleinen ist dann richtig, wenn er seinesgleichen zu beurteilen hat, ist aber verfehlt, wenn man sie auf den seelisch Großen anwendet. Falsch ist sie in diesem Falle, weil sie von irrigen Voraussetzungen ausgeht und weil es dem seelisch Kleinen im allgemeinen nicht gegeben ist, sich in das einzufühlen, was sich in einer großen Seele vollzieht. So ist es auch in unserem Zusammenhang. Der seelisch Große ist ein Mensch mit einem Schöpferauftrag; Leben, Dasein bedeutet für ihn große Dinge tun, Werke gewaltigen Ausmaßes vollbringen. Der seelisch Kleine hingegen entbehrt der Aufgabe: Leben heißt für ihn ganz einfach existieren, sich erhalten, sich zwischen bereits vorhandenen Dingen bewegen, die von anderen geschaffen worden sind, seien es nun Denksysteme, Kunststile, überlieferte Einrichtungen und Normen oder Beamtenstellen. Seine Handlungen entspringen keiner schöpferischen, ursprünglichen, beseelten und unumstößlichen Notwendigkeit, die unabweisbar wäre wie eine Geburt. Für den seelisch Kleinen gibt es nichts, was getan sein muß: ihm fehlen die Pläne und das unentwegte Streben, sie auszuführen. Und da er keine Aufgabe, keinen angeborenen, unüberwindlichen Schaffensdrang in sich trägt, so läßt er sich in seinem Handeln nur von subjektiven Anliegen bestimmen, von Lust und Schmerz. Er sucht jene und meidet diesen. Infolge dieser vitalen Verhaltensweise kommt bei ihm zum Beispiel die Meinung auf, ein Maler, der angestrengt arbeitet, tue das nur, um reich, berühmt usw. zu werden. Als ob zwischen dem Wunsch nach Reichtum, Berühmtheit, Genuß und der Fähigkeit, dieses oder jenes bedeutende Bild zu malen oder einen bestimmten Stil ins Leben zu rufen, auch nur der geringste Zusammenhang bestünde. Der seelisch Kleine müßte eigentlich dahintergekommen sein, daß der erste berühmte Maler sich gar nicht vornehmen konnte, ein solcher zu werden, sondern daß ihn nichts anderes zum Malen bewogen haben kann als die reine innere Notwendigkeit, plastische Schönheit zu schaffen. Erst auf Grund seines Lebens und Wirkens kam bei den andern, vor allem bei den seelisch Kleinen, 381
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der Gedanke auf, berühmte Maler zu werden. Und jetzt, erst jetzt begannen, verlockt durch die persönlichen Vorteile, die mit der Rolle des berühmten Malers verknüpft sind, auch die seelisch Kleinen, das heißt, die schlechten Maler, sich an der Staffelei zu betätigen. Klingt es nicht komisch, wenn man Cäsar ehrgeizig nennt, wenn man sagt, Cäsar wollte um jeden Preis ein Cäsar sein, und Napoleon war so vermessen, sein Lebtag lang die überragende Stellung eines Napoleon anzustreben? Solcher Widersinn kommt immer heraus, wenn man das Leben der großen, schöpferischen Persönlichkeit von der Moralperspektive und den psychischen Voraussetzungen des seelisch kleinen Menschen her betrachtet, dem kein Schöpferauftrag zuteil geworden ist. In Wahrheit verhält es sich ganz anders: Cäsars Seele ließ sich weder von der Hoffnung auf Genuß noch von der Furcht vor etwaigen Leiden beeinflussen. So wenig ihn der Wunsch, sich irgendwelche Leiden zu ersparen, von seinem Werke abbringen konnte, so wenig führte ihn die Hoffnung, sich irgendwelche Genüsse verschaffen zu können, zu diesem hin. Der seelisch Kleine wird eben niemals recht begreifen, daß für bestimmte Menschen der höchste aller Genüsse in einem unbändigen Schöpfertum besteht; für den Maler im Malen, für den Schriftsteller im Schreiben; für den Politiker im Errichten eines Staatswesens. Im Zusammenhang mit der großen Persönlichkeit verliert der Gegensatz zwischen Egoismus und Altruismus seinen Sinn; denn bei ihr ist das ego bis an die äußerste Grenze hin erfüllt mit dem alter: ihr ego ist ein alter: das Werk. Für sich selbst sorgen heißt bei ihr: für die Gesamtheit aller Dinge sorgen. Chénier spricht im zweiten Teil seiner Sentenz von den Tugenden. Aber damit sind keine Qualitäten gemeint, wie wir sie bei Cäsar oder Mirabeau gefunden haben, keine Tugenden großer Menschen. Gemeint sind vielmehr die normalen Verhaltensweisen der seelisch Kleinen. Chénier will von Mirabeau nicht nur, daß er ein Mirabeau, er will dazu noch, daß er ein Duval sei, einer von den Millionen und aber Millionen Duvals, die damals und immer das Durchschnittsmenschentum Frankreichs oder irgendeiner anderen Nation ausmachten. Diese Millionen sind in der Tat tugendhaft: sie betrügen nicht, sie lügen nicht, sie vergewal382
DIE KLEINEN TUGENDEN
tigen nicht. Ihr ganzer Wert beschränkt sich darauf, daß sie solche tatsächlich unmoralischen Dinge nicht tun. Das soll nun beileibe nicht heißen, daß ich der Ehrlichkeit, der Wahrhaftigkeit, der sexuellen Selbstbeherrschung das Prädikat von Tugenden absprechen will. Sie sind ohne jeden Zweifel Tugenden; aber sie sind kleine Tugenden, Tugenden des seelisch kleinen Menschen. Ihnen gegenüber stehen die schöpferischen Tugenden großen Ausmaßes, die seelengroßen Tugenden. Chénier bestreitet, daß diese einen echten Wert haben, wenn ihnen die anderen, kleineren Tugenden nicht zur Seite stehen. Das ist meines Erachtens eine unmoralische Parteinahme zugunsten des seelisch Kleinen. Denn unmoralisch ist es nicht nur, wenn man dem Guten das Schlechte vorzieht, unmoralisch ist es auch, wenn man das mindere Gut über das größere stellt. Wo das Minderwertige mit dem Mehrwertigen vertauscht wird, herrscht Perversion. Zweifellos ist es leichter, nicht zu lügen, als ein Cäsar oder ein Mirabeau zu sein. Es wäre durchaus nicht übertrieben, wenn man diese perverse Bevorzugung des Durchschnittlichen zu Ungunsten des Vortrefflichen als die größte Immoralität überhaupt bezeichnen würde. Denn wenn man sich für das Schlechte entscheidet, so tut man dies im allgemeinen, ohne dabei den Anspruch auf besondere Moralität zu erheben; dagegen geschieht jene andere Verkehrung der Werte fast immer im Namen einer – selbstverständlich falschen und widerwärtigen – Moral. Statt dem großen Manne vorzuwerfen, daß ihm die kleinen Tugenden fehlen und daß er an kleinen Mängeln leidet, statt zu behaupten, daß es keinen großen Mann ohne Tugend gibt, statt uns auf die Ebene unseres Kammerdieners hinabzubegeben, sollten wir lieber über die fast allgemein feststellbare Tatsache nachdenken, daß es keinen großen Mann mit Tugenden gibt, will sagen, mit den Tugenden der kleinen Seelen. Das lehrt uns die Geschichte in den verschiedensten Zusammenhängen mit einer geradezu ärgerniserregenden Beharrlichkeit. Und statt uns in den Hohlraum einer Phrase zu flüchten, sollten wir hier das Seziermesser der Analyse ansetzen. Das Denken ist uns nicht gegeben, um den unbequemen Fragen aus dem Wege zu gehen, sondern um ihnen zu Leibe zu rücken und sie bei den Hörnern zu packen. Mag sein, daß die Seelengröße den Menschen, vor allem den 383
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Staatsmann, zum Dienst an den kleineren Tugenden unfähig macht und von vornherein den Hang zu gewissen Lastern mit sich bringt. Das sieht man ziemlich klar bei Mirabeau. Den Spaniern muß der Blick für seelische Größe anerzogen werden; denn sie sind ein Volk, das in den Tugenden der kleinen Seelen nahezu erstickt. Mehr und mehr setzt sich die schwächliche Moral der Durchschnittsseelen bei uns durch, eine Moral, die vortrefflich ist, wenn an ihrer Seite große Seelen stolz und kraftvoll ihre Flügel entfalten, die aber tödlich wirkt, wenn sie die Herrschaft über ein Volk beansprucht, sämtliche strategisch wichtigen Positionen besetzt hält und alle Größe im Keim unterdrückt. Betrachten wir uns nun aber unsern Mirabeau etwas näher, zumal er im Zusammenhang unserer Fragestellung einen Extremfall bedeutet: den Extremfall des unmoralischsten unter allen großen Männern. III Betrachten wir also, was dieser Mirabeau als psychisch-physischer Apparat, als vitaler Mechanismus gewesen ist. Zu diesem Zwecke will ich in aller Kürze die wichtigsten Daten seines Lebens aufzählen und dabei auf solche Geschehnisse, auf die sich der Ruf seiner Immoralität gründen konnte, ganz besonderen Nachdruck legen. Er kommt 1749 in der Provence zur Welt. Mütterlicher- wie väterlicherseits hatte es in der Familie zahlreiche Geisteskranke gegeben. Vor allem die Mirabeau waren schon seit etlichen Generationen abwegige Naturen. Man könnte sie geradezu die Karamasoff der Gascogne nennen. Der Vater unseres Helden spricht von seiner Familie stets als von einem „stürmischen Menschenschlag“. Anno 1767 steckt Graf Mirabeau, der Ökonom, der Publizist, der „Menschenfreund“, der unruhige, absonderliche Charakter, seinen Sohn, den jugendlichen Riesen Gabriel, in ein Regiment. Gabriel bringt eben achtzehn Jährchen zusammen. Kaum angelangt, hat er bereits mit dem kommandierenden Oberst eine urgewaltige Auseinandersetzung. Vater Mirabeau beantragt gegen den Filius einen Haftbefehl, und der teuflische Erzengel Gabriel wandert ein erstes Mal ins Gefängnis. Er wird aber bald wieder auf freien Fuß gesetzt und kehrt nach Hause zurück. Dort 384
SEINE JUGEND
entwickelt er eine fieberhafte Aktivität. Er studiert die Ländereien von Mirabeau, entwirft Pläne für die Hochwasserverhütung, arbeitet, macht Aufzeichnungen über den Stand der Feldbestellung bei den Bauern, die ihn abgöttisch verehren. Der alte Graf heißt ihn Monsieur le Comte de Bourrasque (Graf Sausewind). Der Vater verachtet ihn, und er verachtet den Vater. Der Marquis entzweit sich mit seiner Frau, und es kommt zur Trennung. Man prozessiert. Vom Vater aufgehetzt, zieht Gabriel heftig gegen seine Mutter los. Der alte Ökonom wollte schon lange für die eigenen und die unmittelbar benachbarten Güter ein Schiedsamt einrichten, damit die Bauern im eigenen Hause ihre Händel schlichten konnten. Dieses Vorhaben, das immer für undurchführbar gegolten hatte, wird von Gabriel erfolgreich in die Tat umgesetzt. Er kommt und geht, beschwichtigt, versöhnt, überzeugt. Aber nebenbei macht er Schulden; denn er ist arm. Im Jahre 1772 heiratet er. Seine Schulden mehren sich. Er entdeckt einen Fehltritt seiner Frau, verzeiht ihr. Unter dem Druck seiner Gläubiger muß er abermals ins Gefängnis. Am 8. Juni 1774 wird er entlassen. Am 21. August wird die Ehre seiner Schwester angegriffen. Er schlägt sich für sie und sitzt schon am 20. September aufs neue im Kerker, diesmal im Château d’If, wo betreffs seiner Behandlung strengste Weisungen ergehen. Seine Frau will ihn nicht begleiten; so zankt er sich vom Gefängnis aus mit ihr. Es gelingt ihm, das Wohlwollen des Kommandanten, eines Monsieur d'Allègre, zu erwerben. Er wird Herr der Lage und – des einzigen weiblichen Wesens, das in der Festung lebt, der Frau des Kantinenwirtes. Unter nicht minder strengen Befehlen wird er nach dem Fort Joux überführt. Nichts ist ihm erlaubt, nicht einmal Bücher. Aber hier gewinnt er ebenfalls den Kommandanten, Monsieur de SaintMauris, und wahrscheinlich auch dessen Frau für sich. Er erhält Bücher, liest toll darauf los, macht Notizen, verfaßt Denkschriften, zum Beispiel eine über die Salinen der Franche Comté, also über eine Frage, welche die Gegend seines Zwangsaufenthaltes unmittelbar angeht. Kommandant Saint-Mauris macht einer Dame namens Sophie de Monnier den Hof. Er lädt sie zusammen mit seinem Häftling zum Essen ein. Sophie verliebt sich in den Ge-
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fangenen. Mirabeau kommt und geht, wie es ihm paßt. Er veröffentlicht in Neuchâtel seinen Essay über den Despotismus, ein phrasenhaftes Buch. Durch diese Publikation gerät er in neue Schulden. Saint-Mauris ist erbittert über den Nebenbuhler, durch den er sich überdies empfindlich bloßgestellt sieht, da infolge der erneuten Verschuldung weite Kreise auf die allzu große Bewegungsfreiheit des Häftlings aufmerksam geworden sind. Also schreibt er an Mirabeau, er möge sich in die Haft zurückbegeben. Mirabeau aber denkt gar nicht daran, er antwortet mit Schmähungen, geht über die Schweizer Grenze und nimmt in Verrières Aufenthalt. Was soll aus Sophie werden? Sophie ist rasend in ihn verliebt. Sie will seinetwegen alles im Stich lassen. Ihr Losungswort, vielleicht das erste der Romantik, lautet: Gabriel oder den Tod. Was soll aus Sophie werden, jetzt, da er über keinerlei finanzielle Mittel verfügt, ja eine Zentnerlast von Schulden mit sich schleppt? Seine Schwester und seine dreiundzwanzigjährige Nichte reisen ihm nach. Da läßt er es sich nicht entgehen, seine Nichte zu verführen. Er sagt später selbst einmal, daß er ein „Athlet der Liebe“ ist. Was soll aus Sophie werden, die er wirklich liebt? Er sieht ein, daß ihre Entführung eine Dummheit wäre, durch die seine ohnehin sehr schwierige Lage völlig unhaltbar werden könnte. Trotzdem ruft er Sophie zu sich. Das heißt, daß er sich darein schickt, sein Leben noch einmal von vorne zu beginnen. Die Familie Sophies fällt über ihn her: neue Prozesse. Man wirft ihm vor, er habe Sophie entführt, um ihr Geld an sich zu bringen. Sophie aber will gar kein Geld mitnehmen. Das geht eindeutig aus ihren Briefen hervor. Und tatsächlich haben sich die Liebenden auch ohne einen Heller auf die Flucht begeben, auf der sie schließlich in Amsterdam eintrafen. Mirabeau macht Übersetzungen, um Geld zu verdienen. Er hat ohne fremde Hilfe das Englische und vier oder fünf weitere Sprachen erlernt. Er arbeitet unverdrossen von morgens sechs Uhr an. Unterdessen aber verfolgen die staatlichen Organe, sein Vater und die Familie der Geliebten seine Spur. Außerdem zieht er einen wahren Rattenkönig von Prozessen hinter sich her. Aber nicht genug damit, daß er prozessiert, übersetzt und liebt: er widmet sich auch noch der Musik und schreibt über diese holde Kunst eine ästhetische Abhandlung, wohlgelungen dem Inhalt 386
VINCENNES
und dem Titel nach; dieser lautet nämlich: „Die Überschrift mag der Leser setzen.“ Das könnte von heute sein. War er zuvor gegen seine Mutter losgezogen, so verfaßt er nun eine Denkschrift gegen seinen Vater, der ihm unaufhörlich nachspürt. Die Folge von alledem ist ein Auslieferungsantrag. Man hetzt auf ihn den gefürchteten Polizeibeamten Brugnières, der aber umfällt und einer der treuesten und ergebensten Diener Mirabeaus wird. Mirabeau verstand es, selbst die Polizei auf seine Seite zu bringen. Zunächst allerdings muß er in die Burg von Vincennes einziehen, eines der französischen Staatsgefängnisse ersten Ranges. Mirabeau rückt in die Kategorie der ewigen Gefangenen ein. Jedesmal ist sein Gefängnis ein echteres, hochgradigeres Gefängnis, und jedesmal gibt es darin mehr Ketten. Die Haft dauert von 1777 bis 1780. Drei Jahre lang in einem nicht mehr als zehn Fuß breiten Verlies. Und was tut dort unser prächtiges Raubtier? Ohne Zweifel grollt es mächtig in seiner Großkatzenseele. Vorerst aber tröstet er sich damit, daß er an Sophie einen Brief um den andern schreibt. Als diese Briefe hernach veröffentlicht wurden, riefen sie einen ungeheuren Skandal hervor. Denn, in den nicht mehr als zehn Fuß breiten Kerker eingeschlossen, sucht Mirabeaus gewaltige Sinnlichkeit ihr Ausfallstor auf der literarischen Ebene. In den Briefen an Sophie behandelt er Themen aller Art; da trifft man rhetorische und lyrische Ergüsse, moralische Betrachtungen, aufrichtige Bekenntnisse, Pornographisches, ja sogar Auszüge aus Büchern und Zeitschriften, die er als seine eigenen Erzeugnisse ausgibt. „Höre, Liebste, ich werde Dir mein Herz ausschütten ...“ Was er aber ausschüttet, ist in Wirklichkeit ein Artikel aus dem Mercure de France1, der gar nicht von ihm selber stammt. Ich lege auf dieses Faktum besonderes Gewicht. Zu gleicher Zeit setzt er auch eine an seinen Vater gerichtete, ziemlich demütige Denkschrift auf, in der er sich rechtfertigt. Außerdem schreibt er Erzählungen, Dialoge, Tragödien; übersetzt er Tacitus, Tibull, Boccaccio; verfaßt er für Sophie eine Grammatik, ferner einen Aufsatz über die Veredelung von Obstbäu-
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So Barthou in seiner Biographie, S. 66. 387
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men; studiert er den Islam und den Koran; beginnt er eine Geschichte der Niederlande; braut er Pornographisches zusammen. Aber das ist noch nicht alles. Unter den Häftlingen befindet sich ein gewisser Herr Baudoin de Guémadeuc, der eine Geliebte hat, Mademoiselle Julie. Mirabeau hat sie noch niemals gesehen und wird sie auch niemals zu Gesicht bekommen. Nichtsdestoweniger beginnt er mit ihr eine ausgedehnte Korrespondenz voll Eleganz, Heiterkeit und Lügnerei. Er stellt sich als eine Persönlichkeit hin, die bei Hof großen Einfluß genießt. Mademoiselle Julie aber ist ein Wesen ohne alle Bedeutung. Warum dann diese Farce und all die Mühe, die auf sie verwandt wird? Der interessierte Leser wird auch diese Einzelheit im Auge behalten. Einem von den Büchern, die in Vincennes entstehen, ist besonderer Widerhall beschieden: Mirabeaus Studien über die „Siegelbriefe und die Staatsgefängnisse“. Der Häftling Mirabeau will eine regelrechte Neuorganisation des gesamten Gefängniswesens und eine Reform seiner Einrichtungen. Er nimmt mit dieser. Abhandlung die Politik der Assemblée Nationale vorweg. Während der Niederschrift heftige Nierenkoliken. „Nackt wie ein Wurm“ kommt Mirabeau 1780 aus dem Gefängnis. Er ist über Dreißig. Sollte er sich nicht ein wenig Ruhe gönnen? Ruhe? Am Gefängnistor lauern bereits seine beiden übelsten Prozesse auf ihn wie ahnungsvolle Wolfe. Den einen hat der Gatte der Sophie Monnier, den andern haben seine Schwiegereltern gegen ihn angestrengt. Zu den Verhandlungen, die öffentlich geführt werden, strömen Neugierige in hellen Haufen herbei. Und in allen vier Himmelsrichtungen wird seine ganze Vergangenheit ruchbar. Unnötig zu sagen, welch ein Aufsehen es in ganz Frankreich erregte, dieses ungestüme Leben, für dessen amtliches Bekanntwerden die – stets etwas pedantische – Justiz ausgiebig Sorge trug. Mirabeau gelangt durch seine vielen unüberlegten Streiche zu Ruhm, allerdings zu einem negativen Ruhm, der mit kapitalen Verfehlungen belastet ist. Es ist ein Aufstieg im umgekehrten Sinn. Aber in dem Prozeß kommt der Augenblick, da der Angeklagte das Wort erhält. Und der Zufall will es, daß der Angeklagte Mirabeau heißt und daß er ein Stück von jener magischen Sub-
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RUHM, ABER KEIN GELD
stanz in sich trägt, die wir mit einem dummen, kindischen Wort, das gerade für ein Ammenmärchen taugen würde, als Genie bezeichnen. Er tut, was er noch nie getan hat: er hält eine Gerichtsrede. Diese Ansprache ist ein vollkommenes Kunstwerk. Richter, Zeugen und Publikum hören etwas, das sie noch nie gehört haben, und erleben die schöpferische Kraft, die das Wort, dieses Nichts, dieses bißchen erschütterte Luft, seit dem chaotischen Morgen der Welterschaffung in sich trägt. Und so verwandelt sich mit einem Schlag die ganze unglückselige Lage in einen triumphalen Erfolg. Der negative Aufstieg ändert sein Vorzeichen, er wird positiv; und der negative Ruhm, mit all dem Schmutz, der ihm anhaftet, wird zu einer echten Glorie. Wir zählen das Jahr 1783. Ruhm, aber kein Geld. Der Ruhm hat – wie die ihm verschwisterten Erscheinungen des Sonnenauf- und -unterganges – zwar den gelben, funkelnden Schimmer des Goldes, nicht aber dessen inneren Gehalt. Mirabeau fängt zum dritten oder vierten Male von vorne an, berühmt und mittellos. Im Jahr 1784 versetzt er im Pfandhaus „seinen“ silberbestickten Rock samt Hose und Wintersachen. Kurz darauf nimmt er zu Wucherzinsen gemeinsam mit seiner Mutter ein Darlehen von 30 000 Libres auf: das ist eine weitere Unüberlegtheit. Und er beginnt sogleich ein üppiges Leben mit großem Gefolge, Karossen, Gastereien, ohne an das Haushalten zu denken. (Wir erinnern uns an Cäsar und Richard Wagner.) Er war nun einmal als Sinnenmensch auf die Welt gekommen und brauchte die Genüsse, wie die Lunge die Luft braucht. Im übrigen wollen wir nicht vergessen, daß er drei Jahre seines Lebens in einem nicht mehr als zehn Fuß breiten Kerker zu-gebracht hat, ohne alle Genüsse. Was tat da seine Lunge? Erstickte sie? Wir sahen, welch eine unglaubliche Aktivität er während dieser Gefangenschaft entwickelte. Woran nehmen wir also Anstoß? Der Widerspruch ist nur scheinbar. Eine starke Seele ist stark auch in ihren Gelüsten; sie braucht sehr viele Dinge sehr nötig, zu-gleich aber ist sie stark im Verzichten, in der Bedürfnislosigkeit, wenn die Umstände dies erfordern. In Mirabeaus Leben tritt jetzt Madame de Nehra, eine kleine Holländerin von siebzehn Jahren, sanft und gut, die etwas Ordnung und gesunden Menschenverstand in seine zerfahrenen Dinge bringt. Es folgen Reisejahre: England, Deutschland. Mirabeau 389
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beschäftigt sich mit dem europäischen Kontinent. Er unterrichtet sich über Politik und Wirtschaft, über schwebende Probleme und offene Möglichkeiten. Er schreibt über einschlägige Themen. Vor allem befaßt er sich mit Finanzfragen, zum Beispiel mit den Angelegenheiten der spanischen San Carlos-Bank. Diese Veröffentlichungen finden viel Beachtung, ja sie vermögen eines Tages sogar die Bilanz der europäischen Börsen zu beeinflussen. Die San CarlosBank wollte ihn und seine Publizistik kaufen; Mirabeau aber lehnte ab und blieb auch weiterhin arm. Denn in seinen Polemiken hatte er eine politische Idee entwickelt, und er war nicht bereit, diese seine eigene Idee nunmehr zu bekämpfen. Diese Tatsache gibt uns den Schlüssel zu dem, was man die Bestechlichkeit Mirabeaus genannt hat. Wir sehen schon, der große Vorwurf läuft auf ein hübsches Paradox hinaus, das man im voraus etwa so formulieren könnte: Mirabeau der Käufliche zählte zu den Männern, die am meisten der Bestechung ausgesetzt waren, war aber einer von denen, die ihr am seltensten unterlagen. Der seelisch Kleine, der mit einem großen Manne abrechnet, vergißt immer den einen sehr wesentlichen Umstand: daß es sich um einen großen Mann handelt. 1787 kehrt er nach Frankreich zurück. Die Nation geht mit großen Ereignissen schwanger. In der Gesellschaft herrscht allgemeine Unruhe. Alle, ob hoch oder niedrig, spüren, daß etwas geschehen muß, aber was geschehen muß, weiß niemand. Mirabeau sieht sofort mit unfehlbarer Sicherheit, daß sein Leben nun eins werden wird mit dem Leben Frankreichs. Die ganze individuelle Leidenschaft, die sich in zwanzig langen Jahren in ihm aufgespeichert hat, die ganzen angesammelten Kenntnisse, Aufzeichnungen, Pläne, die Energie, die Arbeitskraft, die Streitlust, die Stimme, die wie die Trompete des Jüngsten Gerichts dröhnt, die Beredsamkeit, dies alles wird nun an einem bestimmten Punkt in die Geschichte eingreifen. Mirabeau fordert die Einberufung der Etats Generaux für das Jahr 1789. Mit der ihm eigenen kosmisch-urgewaltigen Stimme eines diabolischen Erzengels kündet er den Jüngsten Tag des Ancien Régime an. Er ist vierzig Jahre alt. Ein beleibter Riese mit blatternarbigem Gesicht.
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IV Nachdem die Generalstände einberufen sind, wirbt Mirabeau in seiner provenzalischen Heimat um die Gunst der Wähler. Er reist nach Aix und Marseille und erlebt dort, welches Ausmaß seine Volkstümlichkeit angenommen hat. Trotzdem betrachten seine Standesgenossen, die Edelleute der Provence, kammerdienerhaft überempfindlich, wie sie sind, ihn als ein Ärgernis in ihren Reihen und stoßen ihn aus dem Adelsstande aus. Mirabeau kümmert das wenig. Ein paar Tage später kommt es in Marseille zu Ausschreitungen, und zu solch ernsthaften, daß die Behörden sich außerstande erklären, für Ordnung zu sorgen. Man ruft Mirabeau zu Hilfe, und die ihn rufen, sind die nämlichen Adeligen, die ihn „angesichts seiner die öffentliche Ordnung und die königliche Autorität gefährdenden Meinungen“ soeben aus ihren Reihen ausgestoßen haben. Was aber tut Mirabeau, als ihm die Aufgabe zufällt, nach Marseille zu gehen und dort dasselbe Volk, das ihm kurz zuvor noch zugejubelt hat und in dessen Zuneigung seine ganze Macht besteht, nun zu maßregeln, zur Ruhe zu bringen, zu züchtigen? Mirabeau ist ein Politiker von Gottes Gnaden, ein geborener Staatsmann, und als solcher kennt er keine Sekunde lang einen Zweifel. Er begibt sich nach Marseille und stellt, ohne auch nur einen Augenblick zu verlieren, aus jungen Bürgern und Arbeitern eine städtische Miliz zusammen, die in Bälde Ordnung schafft. Vier Tage hindurch verzichtet er auf jeglichen Schlaf. Als in Marseille Ruhe eingezogen ist, flammt die Revolte in Aix auf. Mirabeau reitet, ohne zu ruhen, im Galopp nach dieser Stadt, aus deren Adelslisten er gestrichen worden ist. Er wird zum Vertreter des Dritten Standes für das Departement Aix gewählt. Bei der ersten Sitzung der Etats Generaux bildet sich rings um Mirabeaus Platz ein Vakuum. Noch ist er verfemt. Wenige Tage hernach ist er der Führer der stürmischen Herde. Ihm war es zu verdanken, daß in die parlamentarische Arbeit Richtung und Regelmäßigkeit hineinkamen. Ähnliche Erfolge erzielt er mit seiner unglaublichen Arbeitskraft auch auf den anderen Gebieten. Doch dazu ist ihm ein Büro mit zahlreichen Sekretären nötig. Aber er ist noch immer völlig mittellos. Mit öffentlichen Angelegenheiten beschäftigt, kann er sich nicht um die Dinge seiner 391
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privaten Wirtschaft kümmern. Und dennoch bringt er sich durchs Leben, unterhält ein Heer von Mitarbeitern, produziert, schafft. Es ist geradezu ein Hexenwerk. Man munkelt von Zuwendungen aus trüben Quellen, und jeder von seinen politischen Schachzügen wird mit irgendeinem Bestechungsmanöver in Verbindung gebracht. Da niemand etwas Greifbares weiß, erdichtet man das Märchen von seiner Käuflichkeit. Ist nicht der reichste und ehrgeizigste Mann Frankreichs damals der Herzog von Orleans? Mirabeau hat sich dem Herzog von Orleans verkauft. Allein gerade hierzu sagt uns Comte de la Mark, der auf Grund seines Charakters und seiner Stellung sicherlich als Zeuge nicht überhört werden kann, daß der Mirabeau, dem man vorwarf, sich dem größten Geldsack Frankreichs verkauft zu haben, schüchtern zu diesem hingegangen ist, um ein paar Louisdor zu borgen. Aber wohlverstanden: er verschmäht das Gold des Herzogs nicht etwa aus Tugendhaftigkeit. Nein, von seiner Moralperspektive aus gesehen, wäre ein solcher edler Verzicht etwas Unmoralisches und zugleich eine Dummheit. Er hätte kein Recht dazu, sein öffentliches Wirken zu gefährden, nur weil es ihm Vergnügen bereiten könnte, an einer privaten edeln Handlung festzuhalten. Wenn er es unterließ, den Herzog von Orleans um Geld zu bitten, so nur deshalb, weil ihm dessen Persönlichkeit mit der eigenen Politik unvereinbar erschien. Die Bestechlichkeit Mirabeaus lag – und das ist wesentlich – immer in der Richtung seiner politischen Taktik und war nie etwas anderes als ein Teil dieser Taktik. Mirabeaus Politik war eine klare Politik. Sie war so klar, daß Europa ein ganzes Jahrhundert lang keine andere Politik treiben konnte als die, die er in genialer Weise vorweggenommen hatte. Eine Politik aber ist klar, wenn ihre Definition unklar ist. Man kann sich immer nur für eines entscheiden: entweder kommt man auf die Welt, um Politik zu treiben, oder, um Definitionen aufzustellen. Die Definition ist die klare, peinlich genaue, von allen Widersprüchen freie Idee, aber die Handlungen, zu denen sie Anlaß gibt, sind verworren, widersprüchlich. Die Politik hingegen ist klar in dem, was sie tut und erreicht, wird aber widersprüchlich, wenn man sie zu definieren sucht. Man erinnere sich
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POLITIK: VEREINIGUNG VON GEGENSÄTZEN
dessen, was Einstein über die Geometrie gesagt hat, die ja ein reines System von Definitionen ist: „Soweit die mathematischen Lehrsätze mit der Wirklichkeit zu tun haben, sind sie nicht sicher, soweit sie aber sicher sind, haben sie nichts mit der Wirklichkeit zu tun.“ Die Physik hat große Ähnlichkeit mit der Politik; denn in beiden Disziplinen steht das Ideelle, das rein Begriffliche unter der Befehlsgewalt des Wirklichen. Wie jede echte Politik, so erfordert auch die Mirabeausche eine Vereinigung von Kontrasten. Es bedarf zu gleicher Zeit eines Antriebs und eines Zügels, einer beschleunigenden Kraft, welche die soziale Umwälzung vorantreibt, und andererseits einer hemmenden, die vor Überstürzung bewahrt. Die Triebkraft von 1789 war das junge Bürgertum und sein Vernunftglaube; das retardierende Moment aber war die Vergangenheit Frankreichs, die sich in der königlichen Autorität verkörperte. Anläßlich der Verkündigung der Menschenrechte, jener prächtigen abstrakten Definition, welche die Frucht von zwei Jahrhunderten reiner Vernunft war, sagte Mirabeau: „Wir sind keine Wilden, die soeben von den Ufern des Orinoko kommen, um eine Gesellschaft zu bilden. Wir sind eine alte Nation, vielleicht zu alt für unsere Zeit. Wir haben bereits eine Regierung, bereits einen König, bereits Vorurteile. Diese Dinge müssen in den Grenzen des Möglichen in die Revolution hineingenommen werden, um so die Plötzlichkeit des Überganges zu vermeiden.“ Die Plötzlichkeit des Überganges: eine großartige Formulierung, in der die ganze Methode der Politik zusammengefaßt und der Methode der Magie gegenüber abgegrenzt ist1. Der Revolutionär ist der Antipode des Politikers; denn beim Handeln erzielt er das Gegenteil von dem, was er sich vorgenommen hat. Jede Revolution, ob rot oder weiß, ruft unausweichlich eine Gegenrevolution hervor. Politiker ist der, der dieser Entwicklung zuvorkommt und von sich aus Revolution und Gegenrevolution in einem macht.
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Auch hier sieht man die Ähnlichkeit mit der Physik. Newtons Schwerkraft ist ein Rest von Magie, weil sie plötzlich und ohne jede Übergangszeit wirkt. Die ganze moderne Physik – die relativistische – ist bestrebt, die Plötzlichkeit des Übergangs zu vermeiden. 393
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Die Revolution, das war die Nationalversammlung, und in ihr herrschte Mirabeau. Er mußte aber auch die Gegenrevolution beherrschen, sie in Schach halten. Er brauchte den König. Daher sein Bemühen, bei Hofe Zugang zu finden. Aber wie die Radikalen sind auch die Konservativen, der König und die Aristokraten, Männer der Definition und fühlen sich von Mirabeau abgestoßen. Wahrscheinlich hätten sich die Katastrophen der Folgezeit vermeiden lassen, wenn man eine recht simple Idee Mirabeaus sich hätte zu eigen machen wollen: die Idee einer Verbindung zwischen Hof und Assemblée in Gestalt eines Repräsentationsministeriums. Die Radikalen aber vereitelten diese Lösung, sie dekretierten die Unvereinbarkeit von Minister- und Abgeordnetenamt. Da der gerade Weg zum Hof versperrt war, mußte Mirabeau den krummen, heimlichen beschreiten. Und das war der Verkauf seiner Person. Den Sold, der ihm auf Grund eines historischen Rechts, einer höheren Verpflichtung als Minister zugestanden hätte, empfing er nun als privater Ratgeber. Das erste aber, was er, der leidenschaftliche Bücherfreund, mit diesem Gelde unternahm, war der Kauf der besten Privatbücherei Frankreichs, der Bibliothek Buffons. Kurz darauf, am 2. April 1791, starb er an einer Zwerchfellentzündung. Nun kam die Sintflut. Betrachten wir das Leben Mirabeaus vom psychologischen Gesichtspunkt aus, so fallen uns gewisse gleichbleibende Charakterzüge auf. Zunächst sein impulsives Wesen. Für Mirabeau bestand das Leben darin, daß er auf die Anregungen, die er von seiner Umwelt erhielt, sofort mit einer Tat antwortete. Er denkt erst nach, wenn er bereits aus sich herausgegangen ist, bereits sich durch eine Tat festgelegt hat. Beim nicht impulsiven Menschen geht dem Handeln das Denken voraus, will sagen, er diskutiert seine Handlung durch, indem er sie als Idee vorwegnimmt. Und so kommt es, daß eine Tat nur dann beschlossen und ausgeführt wird, wenn sie zuvor als Idee Billigung gefunden hat. Da die Beziehungen zwischen den Ideen ziemlich verwickelt sind, entscheidet sich der Nichtimpulsive, der Nachdenkliche, fast immer für die Unterlassung. Mirabeau aber dachte seine Handlungen erst durch, wenn er bereits in ihnen festlag, und sein Denken zielte
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EIN „EXEKUTIVES LEBEN“
einzig auf die Vervollkommnung der Ausführung ab. Sein zweiter Charakterzug ist das Tatmenschentum. Denn Impulsivität erzeugt ständig Tatendrang. Mirabeau sagte von sich, er könne nur ein „exekutives Leben“ führen. Leben heißt für ihn nicht denken, sondern tun. Was tun? Was gerade möglich ist: eine Dame entführen; die Salinen der Franche-Comté reorganisieren, nun man schon einmal in ihrer unmittelbaren Nähe gefangen sitzt; Windbeuteleien an Fräulein Julie schreiben; gegen die Agiotisten losziehen; Revolten unterdrükken; den Staat neu ordnen; oder, wenn gar nichts anderes möglich ist, abschreiben, einfach seitenweise Bücher abschreiben. Alles, nur nicht träumen; denn träumen hieße, sich etwas vorstellen, das man in Wirklichkeit gar nicht tut. Seelen wie die seine haben einen tiefen Abscheu vor dieser Ersetzung der Tat durch ihr Spukbild, die Idee. Der Sechsundzwanzigjährige schreibt aus der Festung Joux an seinen Onkel: „Die Zeiten erneuern sich; Ehrgeiz ist heute gestattet. Erlösen Sie mich, ich flehe Sie an, aus dem furchtbaren Gärungsprozeß, in dem ich mich befinde und der imstande wäre, all das, was das Nachdenken und die Schicksalsschläge in mir vermocht haben, zunichte zu machen. Es gibt Menschen, die beschäftigt sein müssen. Die Aktivität, die alles kann und ohne die nichts möglich ist, wird zur Turbulenz, wenn es für sie keine Verwendung und kein Ziel gibt.“ Dieses Bekenntnis offenbart, wie sehr er in sich das Bedürfnis verspülte, tätig zu sein. War er untätig, so erstickte er in seinem angestauten Aktivismus. Hier haben wir es mit dem vornehmsten Merkmal eines jeden großen Politikers zu tun. Der Intellektuelle empfindet nicht die Notwendigkeit des Handelns. Im Gegenteil: es kommt ihm wie etwas Störendes vor, das man fernhalten muß und zu dem man sich nur im Notfall knirschend ungern herbeilassen darf. Dafür aber macht es dem geistigen Menschen Spaß, zwischen Ansporn und Handlung allerlei Grübelei einzuschieben. Es gibt Menschen, von denen man keine Tat erwarten darf: die Intellektuellen. Das ist ihr Ruhmesblatt und der Grund ihrer Überlegenheit. Sie sind letztlich autark, leben von ihren eigenen Anlagen, ihrem glänzenden inneren Reichtum. Der wahre Intellektuelle braucht nichts und niemanden; er ist schon selber ein Mikrokosmos. Die Frau, die so viel 395
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Spürsinn für die vitalen Geheimnisse hat, ahnt, was für ein Fest das innere Leben eines Intellektuellen sein muß, jenes feenhafte Divertissement, wie man es in einem denkenden Kopfe antrifft. Und darum möchte die Frau dies alles näher kennenlernen, möchte den Kopf des Intellektuellen aufklappen, wie man eine Bonbonschachtel aufklappt, und möchte das heimliche Schauspiel der tanzenden Ideen miterleben. Gelingt ihr das nicht, so ist sie verdrossen, verlangt wie dereinst Salome vom Tetrarchen die Enthauptung und vollführt ihren Tanz mit dem abgeschlagenen Kopf, der selber so viel Tanz enthält. Es gibt also zwei Arten von Menschen: die Ausführenden und die Vorbedenkenden. Politiker und Intellektuelle. Denken heißt, sich mit einer Sache befassen, noch bevor man sie ausführt, heißt zwischen Wünsch und Ausführung Ideen einschalten. Im äußersten Fall führt dieses Vorbedenken zur Tatenlosigkeit, und das ist eine Krankheit. Der geistige Mensch ist fast immer etwas krank. Der Politiker hingegen – ein Mirabeau, ein Cäsar – ist zunächst einmal ein prachtvolles Tier, eine glänzend funktionierende Physiologie. Moral bedeutet psychologisch soviel wie Vorbedenken; denn zu ihr gehört, daß wir unseren Tatendrang zurückhalten, bis entschieden ist, ob er sich gebührt oder nicht. Beim normalen Menschen wird die Tat, ist einmal der Wunsch nach ihr wach geworden, nicht so schnell ausgeführt, daß nicht noch Zeit übrigbliebe, sie moralisch zu überprüfen, zu fragen, ob sie gut oder böse ist, nach ihrer ethischen Beschaffenheit zu sehen. Demgegenüber stelle man sich vor, wie eine impulsive Seele sich verhalten würde: ihr Erstes ist nicht der Blick nach der moralischen Beschaffenheit, ihr Erstes ist die Ausführung der Tat. Es ist also sehr ungerecht, wenn man eine solche Seele unmoralisch nennt, weil sie eine tadelnswerte Handlung gewollt habe. Hat sie diese wirklich gewollt? Dann hätte es einen Augenblick geben müssen, in dem sie sich diese Handlung vor Augen gestellt, in dem sie sie betrachtet hätte. Das aber tut nur der Intellektuelle, der moralische Mensch: er beschaut die eigenen Handlungen. Und darum läßt er sie gewöhnlich unausgeführt. Der Impulsive hingegen ergeht sich nicht in Betrachtungen. Für ihn ist die Durchführung das erste. Das einzige, was man vom Moralstandpunkt aus von ihm ver396
MORAL UND TAT
langen kann, ist, daß er nach vollbrachter Tat Reue empfinde; denn dann erst ist es ihm gegeben, seine Tat zu betrachten. Zeihen wir den großen Politiker nicht der Immoralität. Sagen wir lieber, er ist skrupellos. Ein Mensch mit Skrupeln aber kann kein Tatmensch sein. Nachdenklichkeit ist eine mathematische, intellektuelle Eigenschaft, ist Exaktheit, die auf die ethische Beweitung der Taten angewandt wird. Nimmt man das Leben Mirabeaus, Cäsars oder Napoleons sorgfältig unter die Lupe, so sieht man, daß ihre angebliche Schlechtigkeit nichts anderes war als Skrupellosigkeit, wie sie unausbleiblich einem jeden tatgerichteten und somit impulsiven Charakter eigen sein muß. Als die Antike, die ja in allem bis zur letzten Konsequenz ging, sich – im Stoizismus – für den Skrupel entschied, konnte sie nicht umhin, die Tatenlosigkeit, die ὲποχή, zur höchsten Norm zu machen. V Das Leben des großen Politikers bekommt in dem Augenblick, in dem sein öffentliches Wirken einsetzt, ein anderes Aussehen. Der Wildbach mündet nun in das Flußbett der Öffentlichkeit ein und findet dort die ihm angemessenen Proportionen, um in prächtigem Rhythmus breit, majestätisch und erfolgreich dahinströmen zu können. Jetzt beginnt der Zeitgenosse oder der Leser der Biographie, Beifall zu spenden; er ist begeistert von dem Mut und der Unverdrossenheit des Helden, von der Durchschlagskraft seiner Taten und Gesten, von seiner unentwegten Härte im Hinnehmen von Schmähungen, von seiner Widerstandskraft jedwedem Angriff gegenüber, von der Geistesgegenwart, mit der er seine Person durch den politischen Sturm hindurchsteuert. Aber diese späte Begeisterung ist ein wenig charakterlos; man lobt die Frucht, nachdem man das Samenkorn schlechtgemacht hat. Der Zeitgenosse oder der Leser der Biographie ist ungerecht gegenüber der Jugend des großen Politikers, die ja das Samenkorn und die Wurzel seiner so fruchtbaren Reifezeit ist. Anscheinend will man nicht zugeben, daß er nicht erst seit seinem öffentlichen Auftreten, sondern von jeher schon ein Staatsmann gewesen ist und daß er sich in seiner Jugend nur deshalb so wild und absurd gebärdet hat, weil er, der auf Grund seiner natürlichen Anlagen 397
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bereits ein Staatsmann war, sich in die Enge des Privatlebens eingezwängt sah. Bei Napoleon allerdings ist von dieser schmerzhaften Einengung nicht so viel zu bemerken, weil sein Leben in jenen Jahren im Schema der militärischen Disziplin verlief und ein schneller Aufstieg ihm die schrittweise Entfaltung seiner Anlagen ermöglichte. Doch rief schon eine kurze Verzögerung in der Karriere bei ihm eine solche Depression hervor, daß er einem vertrauten Freunde mitteilte, er sei entschlossen, aus der französischen Armee zu desertieren und in die Türkei zu gehen, um dort ein Königreich zu gründen. Dieser Gründer von türkischen Phantasiekönigreichen war damals ein armer Offizier mit abgetragener Uniform, krankem Körper, spitzem, grünlichem Wühlmausgesicht, das, wenn ich mich nicht täusche, obendrein noch durch ein hartnäckiges Ekzem entstellt war. Das Normale aber ist zweifellos, daß die großen Männer in ihrer Jugend ungebärdige Windhunde, manchmal fast Taugenichtse sind. So Themistokles, Alkibiades, Cäsar, Mirabeau. Das ausgehende Mittelalter, das in diesen Dingen klarer sah als wir, schuf für die dichterische Gestaltung der stürmischen Vorgeschichte großer Männer eine besondere Literaturgattung: die „Jugendjahre“; so etwa die Enfances Guillaume oder die Mocedades del Cid. Gewiß, all das Vortreffliche, das in der Stunde des Ruhmes bei dem großen Manne sichtbar wird, setzt Genialität voraus; es setzt aber auch eine Grundschicht von bestimmten natürlichen Anlagen voraus, die einem, würden sie einzeln auftreten, ungeheuerlich vorkämen. So die Impulsivität, der ständige Tatendrang, die ewige Unruhe, die Skrupellosigkeit. Auf ihnen beruht das Genie; ohne diese psychisch-physischen Fähigkeiten, die wie rohe Kräfte, wie urtümliche Gewalten sind – die Antike hätte sie dämonisch genannt – ist kein großer Politiker möglich. Die Geschichte sieht ihn sogleich als fertiges Reiterstandbild, und so macht er eine großartige Figur: ein Reiter aber war er bereits in seiner Jugend, allerdings ein Luftreiter, ein Reiter ohne Pferd und zugleich ein ausgelassenes Füllen ohne Reiter. Die beiden Teile der Reiterstatue sind, solange man sie noch nicht zusammengefügt hat, zwei monströse Gebilde. Es steht jedem frei, die Existenz großer Männer für unerwünscht zu halten und einer Menschheit den Vorzug zu geben, die flach
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DER POLITIKER UND DER INTELLEKTUELLE
wäre wie die Innenseite der Hand; wer aber große Männer wünscht, der darf von ihnen keine Alltagstugenden verlangen. Der Skrupel ist eine Form von Güte, aber nicht die einzige. Und es ist unangemessen, diese Art Güte vom Tatmenschen zu fordern, der erst durch seine Impulsivität zu einem solchen wird. Beim Handeln muß man es vermeiden, auf der Stelle zu treten. Auf der Stelle treten aber heißt Bedenken haben. Vom Tatmenschen können wir nur die Art Güte erwarten, die seinem Temperament entspricht. Das ist die andere Form der Güte, die impulsive, die nicht wie der Skrupel aus einer Überlegung, sondern aus einem angeborenen gesunden Instinkt hervorgeht. Und es ist reizvoll zu beobachten, daß diese Gesundheit des Instinkts, diese verschwenderische Seelengröße uns in allen Biographien großer Politiker entgegentritt und es uns ermöglicht, den falschen vom echten, einen Sulla von einem Cäsar, zu unterscheiden. Ebensowenig überraschen darf uns die Neigung zum Bluff, der wir in Mirabeaus Leben begegnen. Immer wieder ertappen wir ihn beim unverschämten Lügen. Der echte Intellektuelle ist stets aufs neue erschrocken über dieses Lügnertalent der großen Politiker. Im Grunde bewundert er vielleicht die herrliche Ruhe, mit der die Politiker das Gegenteil von dem sagen, was sie denken, oder das Gegenteil von dem denken, was sie mit eigenen Augen sehen. In diesem Neid offenbart sich ganz unbefangen ein spezifischer Vorzug des echten Intellektuellen. Sein Dasein gründet sich auf das ständige Bemühen, die Wahrheit zu denken und die einmal gedachte „Wahrheit, mag sie sein, wie sie wolle, auszusprechen, selbst wenn man ihn deshalb in Stücke reißen sollte. Das ist für den Intellektuellen das Maximum an Tat: ein Tun, das eigentlich ein Leiden ist. Der Denker kann und soll keine andere Form von Heldentum anstreben als das Martyrium. Der Schiffbruch ist für ihn, der wie ein Briggfahrer unablässig auf einem dreimastigen Golgatha den Ozean durchfurcht, der höchste Triumph. Umgekehrt wundert sich der große Politiker über den heldenhaften Dienst an der Wahrheit, der das Leben des wahren Intellektuellen ausmacht. Diese wechselseitige Bewunderung zweier so gegensätzlicher Gemüter ist sympathisch wie alles Großzügig-Verschwenderische, aber sie fußt auf einem Irrtum. Ein jeder von 399
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den beiden projiziert seine eigene Veranlagung auf den anderen, und wenn er sieht, daß sie bei jenem das gegenteilige Ergebnis zeitigt, so führt er das auf eine riesenhafte Mühewaltung zurück. In Wahrheit aber verhält es sich so, daß den Politiker die Lüge, den Intellektuellen die Wahrhaftigkeit keinerlei Mühe kostet; denn diese wie jene ist das natürliche Ergebnis einer unterschiedlichen Veranlagung. Der Intellektuelle lebt hauptsächlich ein innerliches Leben. Er lebt für sich, merkt nur auf das üppige Sprießen seiner Ideen und Emotionen. Nichts auf der Welt besitzt für ihn eine Wirklichkeit, die sich mit der Wirklichkeit dieser Dinge vergleichen ließe, und eben darum sieht und erkennt er sie mit unfehlbarer Klarheit. Er weiß in jedem Augenblick, was er denkt und weshalb er es denkt. Die wahre und die falsche Idee enthüllen vor seinem inneren Auge in aller Eindringlichkeit ihre gegensätzlichen Züge. Es ist klar, daß für ihn das Lügen eine ungeheure Anstrengung bedeutet; denn er muß ja das Unleugbare leugnen, er muß blind sein für das, was er in aller Klarheit sieht, und muß seine innere Wirklichkeit durch eine erdichtete ersetzen. Der Tatmensch hingegen ist für sich selber nicht vorhanden und sieht sich auch nicht. Der äußere Lärm, dem seine Seele von Natur aus zugewandt ist, läßt ihn die Laute seines Inneren überhören. Diesem Inneren wird zu wenig Aufmerksamkeit, zu wenig Pflege gewidmet, es wird stiefkindlich behandelt. Man macht die erstaunliche Feststellung, daß es allen großen Männern an Innerlichkeit gebricht. Es ist durchaus nicht widersinnig, wenn man sagt, daß es ihnen an Persönlichkeit fehlt; Persönlichkeit haben ihre Taten, ihre Werke, aber nicht sie selbst. Eben deshalb – und diese Erscheinung ist sehr merkwürdig – sind die großen Männer uninteressant. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur einmal den zuständigsten Richter in Sachen interessanter Männer anzurufen: die Frau. Ist es nicht seltsam, daß die großen Politiker, die doch schließlich Sieger über das Leben, Herren über Macht und Reichtum sind und, von einer Glorie umstrahlt, über den Rest der Männerwelt emporragen, niemals einen wirklichen Sieg über die Frau davongetragen haben? Auch Cäsar kann in dieser Hinsicht nicht als eine Ausnahme angesprochen werden. Das Beispiel Mirabeaus bestätigt diese Regel vollauf. Seine Sen400
„ALLES BIETET EINE HANDHABE“
sibilität führte ihn ohne Unterlaß zu den Frauen hin. Mit seiner Kühnheit und seinem Redeprunk vermochte er schnell die Frau zu erjagen, die dazu veranlagt war, sich erjagen zu lassen. Aber dieser Schürzenjäger hat nichts mit einem wirklichen Verführer zu tun. Beide sind grundverschieden, und grundverschieden sind auch die Frauentypen, auf die sie wirken. Die Gunst einer Frau zu erringen und sich völlig ihre Seele zu eigen machen, ist zweierlei. Wenn eine Frau dazu fähig ist, Gunst zu verschenken, so bringt sie es gewöhnlich nicht auch noch zustande, ihre ganze Seele hinzugeben, und umgekehrt. Diesen umgekehrten Fall aber repräsentiert die interessante Frau, die hermetisch abgeschlossen und auf sich selbst zurückgezogen lebt und nicht weniger zu geben vermag als ihr ganzes Leben. Abgesehen von Madame de Nehra, die ein kleines Mädchen war, machte Mirabeau nur mit Schürzen, mit sehr vielen Schürzen Bekanntschaft. Das Fehlen des Innenlebens verleiht dem Privatdasein des großen Politikers etwas verhältnismäßig Gewöhnliches, Rohes. Seine Ideen und sein Geschmack sind weder originell noch scharf umrissen noch raffiniert. Vom Blickpunkt des Intellektuellen aus gesehen, lebt der Tatmensch immer nur ein ungefähres Innenleben. Alles Innerliche gilt ihm mehr oder minder gleich, weil es ihm irreal vorkommt. Das Wichtige ist für ihn die Tat. Und wenn er lügt, so ist das eigentlich gar keine Lüge; denn er ist innerlich keiner bestimmten Sache verschrieben. Die Worte und die ihnen innewohnenden Begriffe sind für ihn nur Werkzeuge. Anders ausgedrückt: der Politiker ist nicht identisch mit seinen Ideen; täuscht er welche vor, so verleugnet er damit keineswegs sein eigenes Wesen; denn dieses liegt ja gar nicht in ihnen. Umgekehrt wird es ihm nie gelingen, die innere Wirklichkeit der übrigen Menschen zu erkennen: er wird an ihnen nur immer die nutzbare Seite wahrnehmen. „Ich kann niemanden verdammen“, sagte Mirabeau. „Denn in der Tat: alles erscheint mir gut: die Erfolge, die Menschen, die Dinge, die Meinungen; alles bietet einen Anhaltspunkt, eine Handhabe.“ Dieser Ausdruck ist treffend: der große Politiker sieht alles unter dem Blickpunkt der Handhabe. Nun er schon genötigt ist, äußere Konflikte zu lösen, wäre es gut, er hätte auch seine inneren Konflikte. Glücklicherweise gibt es das, was ich als die Epidermis der Großen bezeichne, eine Art 401
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menschlicher Dickhäutigkeit, die es verhindert, daß bedrohliche Verletzungen bis ins Innere dringen. Es wäre auch nicht richtig, wollte man dem Politiker die zarte Haut einer westfälischen Prinzessin oder einer Klarisse zumuten. Impulsives Wesen, Ungestüm, Komödiantentum, Mangel an Präzision und Innerlichkeit, dickes Fell, das sind die natürlichen Voraussetzungen des politischen Genies. Man kann hier nicht das eine wollen, das andere aber zurückweisen, und darum ist es ungerecht, einem großen Manne unentbehrliche Bestandteile seines Wesens als Fehler anzukreiden. Klar, daß diese Eigenschaften allein noch nicht hinreichen, um aus einem Menschen einen großen Politiker zu machen. Dazu gehört noch obendrein die Genialität. Wo sie fehlt, da hat man es mit einer Strohpuppe zu tun. Und in der Tat läßt nichts sich leichter vorspiegeln als politische Größe. Der Intellektuelle, der keine Ideen hat, wird es letztlich nicht (oder zumindest nicht gut) zustande bringen, über seinen Mangel an Geistigkeit hinwegzutäuschen. Aber der wirklich und der nur scheinbar große Politiker pflegen mit ein und derselben öffentlichen Gewalt in Händen sich der Allgemeinheit zu präsentieren. Ihr äußerer Glanz und ihre Erscheinung sind für den ungeschulten Blick die nämlichen. Woran läßt sich dann hier das Echte von dem Vorgetäuschten unterscheiden? Es gibt bestimmte Anzeichen, aber sie lassen sich schwer beschreiben, und es ist auch nicht meine Absicht, dies heute zu versuchen. Am gescheitesten ist es, sich auf keinen Fall irgendwelchen Illusionen hinzugeben, gerade weil man in der Politik so leicht versucht ist, sich Illusionen zu machen. Ich zum Beispiel vermag mich manchmal davon zu überzeugen, daß ich ein Napoleon bin, weil ich wie er nur sechzig Pulsschläge in der Minute habe. Die Verwechslung aber ist in meinem Falle nicht besonders schlimm, da ich ja wenigstens ein Schriftsteller bin. VI Politik ist eine so komplizierte Tätigkeit und schließt so viele unentbehrliche Teilhandlungen in sich, daß man sie schwerlich 402
WAS IST POLITIK?
definieren kann, ohne dabei diesen oder jenen wichtigen Bestandteil zu übergehen. Und aus demselben Grunde trifft es zu, daß es eine Politik im wahren Sinne dieses Wortes so gut wie niemals gibt. Fast alle Politiker verdienen diesen Namen nur zum Teil. Wenn es hoch kommt, besitzen sie voll bewußt nur die eine oder die andere Dimension eines Politikers, geben sich damit zufrieden und sind für die übrigen Dimensionen blind. Politik, so wird man landläufig sagen, heißt, bei den anderen Menschen mit Fingerspitzengefühl und Scharfsinn seine Wunsche durchsetzen; und tatsächlich läßt es sich nicht leugnen, daß es keine Politik ohne dieses Charakteristikum gibt. Aber offenbar bedarf es noch mehr. Für manche, die den sozialen Ungerechtigkeiten gegenüber allzu empfindlich sind, ist Politik soviel wie das Bekenntnis zu einer Gesellschaftsreform, die einen besseren Ausgleich im menschlichen Zusammenleben zustande bringen soll. Und es unterliegt auch keinem Zweifel, daß ohne angeborenen Gerechtigkeitssinn niemand ein großer Politiker zu sein vermag. Aber diese Qualität ist nichts mehr und nichts weniger als das Stück moralischer Vorbildlichkeit, das der Politiker zu seinem öffentlichen Wirken mitzubringen hat. Wollte man jedoch die gesamte Politik nur hierin bestehen lassen, so würde man sie ihres eigenen Wesens entleeren und statt dessen mit armseligem moralischem Mystizismus füllen. Mehr als ein Jahrhundert lang hat man sich in der Perspektive geirrt: man hat in den Mittelpunkt des politischen Programms eine Anzahl von Moraldogmen gestellt und dem eigentlich Politischen erst in zweiter Linie Beachtung geschenkt. Andere wiederum werden sagen, Politik sei nichts von alledem, sie beruhe auf einem administrativen Geschick, das die materiellen und geistigen Interessen einer Nation wie einen Industriebetrieb zu lenken verstehen müsse, usw. usw. Ich wiederhole: dies alles und noch viel mehr muß bei einem Menschen zusammenkommen, damit aus ihm ein großer Politiker wird. Und ein solcher ist wie ein hohes Gebäude, in dem ein jedes Stockwerk das nächstfolgende stützt. Die Politik aber ist der ganze Bau einschließlich der Untergewölbe. Auf den zurückliegenden Seiten habe ich darauf hingewiesen, bis zu welchem Grade der Politiker selbst die befremdlichsten Eigenschaften notwendig hat, darunter solche, die scheinbare oder auch wirkliche 403
MIRABEAU ODER DER POLITIKER
Laster sind. Das sind die unterirdischen Fundamente, die verborgenen Wurzeln, auf denen der riesenhafte Organismus des großen Politikers ruht. Es war mir daran gelegen zu zeigen, welche dämonischen, ja fast rein animalischen Kräfte die Energie für die Bewegung einer solch ungeheuren Maschine liefern, wie der geschichtemachende Mann sie darstellt. Bei keinem anderen Menschentyp treten so deutlich wie beim Politiker titanenhafte Züge hervor. Der Titan ist mehr und zugleich weniger als der Mensch. Er reicht tiefer als der Durchschnittsmensch in die Gründe des Kosmischen hinab, in den untermenschlichen Bereich, wo seine „wurzeln jene feurigen Stoffe in sich aufnehmen, von denen alles Leben sich nährt, solange es noch kein Leben, das heißt noch keine Organisation, keine Regel, keine Norm ist. Und diese Tiefgründigkeit seines Fundaments gibt ihm die Kraft, über die menschliche Grenze hinauszukommen, sich den Sternen zu nähern. An den Figuren des Michelangelo tritt dieses extreme Doppelwesen des Titanischen prächtig zutage: seine Menschen haben bereits etwas von Göttern, zugleich aber noch etwas von Ziegenböcken an sich. Halten wir also fest: es gibt kein Schöpfertum ohne eine gewisse Dosis Titanismus, der seinerseits allerdings Undosiertheit, reinen vitalen Überschwang bedeutet. Wie gesagt: es lag mir daran, dies nachdrücklich hervorzuheben; denn ich halte es für unmöglich, Europa zu retten, wenn die westliche Welt nicht die Vorurteile und Zierereien einer alten Zivilisation allesamt abtut und dazu entschlossen ist, mit der nacktesten Wirklichkeit des Lebens in Fühlung zu kommen, das heißt, das Leben in seinen gesamten Äußerungen hinzunehmen, ohne sich von einem affektierten Schamgefühl aus dem Konzept bringen zu lassen. Jahrhundertelang ist Europa dieser ehrlichen Einsicht beharrlich aus dem Wege gegangen. Aus einer tiefeingewurzelten Heuchelei heraus wollten wir die Seiten des Lebens, die von den verschiedenen Morallehren für unerwünscht erklärt wurden, einfach nicht sehen, als sei damit schon gesagt, daß sie entbehrlich seien. Wir dürfen nicht denken, daß alles, was ist, eben weil es ist, auch sein muß; nein, wir müssen diese beiden Dinge auseinanderhalten wie zwei verschiedene Welten. Denn das, was ist, muß nicht ohne weiteres sein; und umgekehrt: was nicht sein 404
EUROPA UND ASIEN
muß, ist darum noch lange nicht gezwungen, nicht zu sein. Kein anderer Kontinent hat sich so leichtsinnig, so frivol, so kindisch gezeigt wie der unsere, als er das vom Schicksal Verhängte für inexistent erklärte. Daher rührt zu einem guten Teil die ewige Unruhe der europäischen Geschichte. Nahm man eine Haltung ein, die nicht in den Rahmen der unerbittlichen Lebensumstände paßte, so wurde das Leben unmöglich, und man konnte nicht umhin, nach einer neuen Haltung zu suchen, und so weiter. Die Ruhe Asiens, die Tatsache, daß es auf der Fläche des Daseins gewichtiger aufliegt, ist zweifellos in einem Mangel an Heroismus und Begeisterung begründet, aber auch darin, daß es fester gefaßt ist und letztlich vom Leben getragen wird. Asien ist konformistisch: für Asien muß das sein, was ist. Europa ist reformistisch: für Europa existiert nicht, was nicht sein soll. Wenn der Tatsache der überkontinentalen Lebensgemeinschaft, die für unser gegenwärtiges Jahrhundert kennzeichnend ist, ein transzendenter Sinn innewohnt, dann zweifellos der, die gegenseitige Ergänzung zweier so exklusiver Tendenzen möglich zu machen, als da sind: die Reform, die von einer vorherigen Konformität mit dem Wirklichen ausgeht, und andererseits die ideelle Modifikation des Lebens, die davon ausgeht, daß sie dessen Umstände zuvor anerkannt hat. Und das ist auch der Grund, warum es mir geraten schien, den großen Mann aus seiner Haut herauszuschälen und gleichsam in anatomischer Darstellung seine roten Muskeln, seine blauen Adern, seine bleifarbenen Sehnen vorzuführen. Es ist indessen klar, daß keine von diesen rein animalischen Kräften, ohne die es keinen großen Politiker gibt, identisch ist mit seiner Politik. VII Das Wort Politik kann eine bestimmte Bedeutung annehmen, in der meines Empfindens der ganze komplizierte Inhalt dieser Vokabel gipfelt: dann bezeichnet sie das, was ich für die höchste Qualität des politischen Genies erachte und wodurch sich dieses vom gewöhnlichen Staatsmanne unterscheidet. Wäre ich genötigt, den Begriff Politik in einem einzigen Attribut zusammenzufassen, so würde ich mich unbedenklich für die folgende Formel entschei405
MIRABEAU ODER DER POLITIKER
den: Politik heißt, sich eine klare Vorstellung von den Dingen machen, die mit Hilfe des Staates bei einem Volke zu geschehen haben. Um uns nicht länger auf dem Gebiet der abstrakten Formulierungen zu bewegen, wollen wir Spanien als Beispiel heranziehen. Nehmen wir an, jemand würde uns sagen: In Spanien ist dem Prinzip der Autorität mehr Geltung zu verschaffen, außerdem sind Sparmaßnahmen zu treffen. Gut, ich leugne nicht, daß diese beiden Dinge zu tun sind, wohl aber bestreite ich, daß das Politik in des Wortes bestem Sinne ist. Ich berufe mich dabei auf ein Argument, das für mich entscheidende Bedeutung hat: Das Empfohlene – Festigung der Autorität und Erzielen von Ersparnissen – soll im spanischen Staat, nicht aber beim spanischen Volk stattfinden. Und dieser Unterschied gibt meines Erachtens den Ausschlag. Der Staat ist nichts weiter als eine Maschine, die innerhalb der Nation aufgebaut wurde, um ihr zu dienen. Der kleine Politiker neigt stets dazu, diesen elementaren Sachverhalt zu vergessen, und wenn er an das denkt, was in Spanien getan werden soll, so schweben ihm eigentlich nur Dinge vor, die im Staat und für ihn zu geschehen haben. Gespart wird nicht in Spanien, sondern im spanischen Staat, und so wichtig das Sparen auch sein mag, es entbehrt als solches doch des nationalen „Wertes. Ebenso ist die Autorität die notwendige Vorbedingung für ein reibungsloses Funktionieren des Staatsapparates; aber mit ihrem bloßen Vorhandensein ist noch nichts Bedeutsames erreicht. Die Problematik beginnt dort, wo wir uns zu der Frage veranlaßt fühlen: wie wird diese Staatsmaschine funktionieren mit ihren Sparmaßnahmen und ihrer Autorität, wie wird sie auf die Nation einwirken? Das ist das Entscheidende; denn nicht der Staat, sondern die Nation ist die eigentliche historische Realität. Der große Politiker sieht die Probleme des Staates immer durch die Probleme der Nation hindurch und in Abhängigkeit von diesen. Er weiß, der Staat ist nur ein Hilfsmittel für das Leben der Nation. Umgekehrt zeigt der kleine Politiker die Tendenz, den Staat, wenn er ihn einmal in Händen hält, allzu ernst zu nehmen, ihm absoluten Wert beizumessen, zu übersehen, daß er nur Werkzeug ist. Dieser Irrtum führt dann dazu, daß die wesentliche Frage von
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DER STAAT IST FÜR DIE NATION DA
der verkehrten Seite her aufgerollt wird. Wie ich nämlich sehe, bewegt man sich, ob autoritär oder radikal, fast allgemein in der falschen Richtung; denn man fragt: Wie läßt sich in Spanien ein denkbar vollkommener Staat schaffen? (Zwar besteht für den Autoritären und für den Radikalen die Vollkommenheit des Staates in grundverschiedenen Qualitäten, aber das Ziel ist in beiden Lagern das nämliche: man will den vollkommenen Staat.) Für den aber, der die anzustrebende Vollkommenheit in etwas Außerstaatlichem, nämlich in der Vollkommenheit des nationalen Lebens erblickt, muß die Frage umgekehrt lauten: Wie ist der Staat einzurichten, damit die Nation sich vervollkommne? Diese Unterscheidung ist weder belanglos noch utopisch. Wie die übrigen europäischen Nationen, so ist auch die unsere an einem Punkt angelangt, an dem sie sich zur Schaffung neuer Einrichtungen, das heißt einer Staatsform, gezwungen sieht. Die Lösung des Problems wird starken Schwankungen unterliegen, je nach der Art und Weise, wie das Problem gesehen wird. Rußland und Italien haben lieber den falschen Weg gewählt; statt eine tiefgehende innere Erneuerung1 durchzuführen, haben sie sich an die utopische Überlieferung der beiden letzten Jahrhunderte angeschlossen und einer kraftvollen und gesunden nationalen Zukunft das Phantom eines „vollkommenen Staates“ vorgezogen. Ich möchte für unser Spanien eine Lösung umgekehlter Art, eine vollständigere und auf längere Sicht berechnete Lösung. Denn das endgültig Lebendige ist die Nation, und selbst ein Staat, der noch so erfolgreich für sie zu wirken vermag, nährt sich auf die Dauer von ihren Säften. Die wirklich große Politik begnügt sich damit, die Nation zum fare da sè, zum selbständigen Handeln, fähig zu machen. Warten wir eine Weile: dann werden wir schon sehen, was bei den Lösungen herauskommt, die das Gegenteil wollen; fare dallo Stato, das heißt: jede selbständige Regierung der Nation unterbinden und das ganze Leben vom Staat abhängig machen.
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Je weniger Aufsehen die Neuerungen erregen, um so tiefer gehen sie, um so feiner ist ihre Wirkung, um so ernster wollen sie genommen werden. In der Politik ist das Aufsehenerregende zugleich das Romantische und bedeutet, daß man zum Vergangenen zurückkehrt oder noch in ihm verhaftet ist. 407
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Man könnte sagen: ein Staat ist vollkommen, wenn er sich selbst nur das unentbehrliche Mindestmaß von Vorteilen zugesteht und im übrigen dazu beiträgt, die Lebensfülle seiner Bürger zu mehren. Lassen wir diese Erwägungen außer acht und konstruieren wir einen in sich selbst vollkommenen Staat als ein abstraktes System von Institutionen, so kommt am Ende unfehlbar ein Apparat heraus, der das ganze nationale Leben zum Erliegen bringt. Wie immer, so klärt auch hier die reductio ad absurdum den Irrtum auf, der in dieser Art politischen Denkens liegt. In der Geschichte trägt die Lebenskraft der Nation, nicht die formale Vollkommenheit der Staaten, den Sieg davon. Was aber Spanien betrifft, so muß in einer Stunde wie der gegenwärtigen danach getrachtet werden, daß es öffentliche Einrichtungen erdenke, die ein Höchstmaß an vitaler (nicht ziviler) Ergiebigkeit für jeden unserer Bürger zu zeitigen vermögen. Man begreift nun aber auch, welch ungeheure Schwierigkeiten die Politik in sich birgt, wenn man ihr diesen vornehmen Sinn gibt. Voraussetzung ist dann, daß man einen klaren und genauen Begriff von der historischen Situation des Spaniers hat, von den Vorzügen, die ihm eignen, von denen, die ihm fehlen, von denen, die in überreichem Maße vorhanden sind, von der tatsächlichen Struktur der Gesellschaft unseres Landes. Vor solch heiklen Themen türmt sich die ganze Lawine der Wald- und Wiesenmeinungen, und es erschüttert einen, zu sehen, wie verschwindend wenig Leute ernst und unmittelbar darüber nachgedacht haben. VIII Man kann dem Verfasser dieses Aufsatzes nicht nachsagen, er habe den Politiker intellektualisieren wollen. Im Gegenteil: vielleicht habe ich gerade das, was aus dem Politiker einen dem Intellektuellen entgegengesetzten Menschentyp macht, nur allzu sehr herauszuarbeiten versucht. Wir haben ja bereits gesehen: seinen organischen Grundlagen und seinem seelischen Mechanismus nach ist der Politiker das Gegenteil des zur geistigen Tätigkeit bestimmten Menschen. Er wird nie ein großer Politiker werden, wenn seine Politik nicht aus dem vollen schöpft und eine Politik von mächtiger Tragweite ist und wenn er nicht offenbart bekommen hat, 408
CÄSAR
was mit Hilfe des Staates bei einem Volk unternommen werden muß. Dieser Klarblick aber ist eine Sache des Intellekts, und darum ist es eitel zu glauben, der Politiker könne darauf verzichten, zugleich auch – in einem nicht geringen Umfange – Intellektueller zu sein. Diese intellektuelle Gabe ist wie ein St.-Elms-Feuer, das am Scheitel der kraftvollen Gestalt des Tatmenschen aufglimmt, und bildet meines Erachtens das Kennzeichen, das den hervorragenden Staatsmann vom alltäglichen, banausenhaften Regierenden unterscheidet. Denn die übrigen, zweifelsohne ziemlich rohen Bestandteile seines Wesens, die seelisch-physiologischen Substruktionen, die seine Lebensgrundlage sind, treten noch bei vielen anderen Individuen auf. Fast alle Tatmenschen besitzen sie. Ein Irrtum aber scheint es mir, wenn man glaubt, der Politiker sei nichts weiteres als ein Tatmensch, und wenn man übersieht, daß er der seltenste Menschentyp ist, derjenige, der am schwersten zustandekommt, weil er die widerstrebendsten Merkmale in sich vereinigen muß: vitale Kraft mit Geistigkeit, Ungestüm mit Scharfsinn. Von dem klaren Verstand her strömt dann den minder edlen Kräften, die im Dienste der Tat stehen, ein merkwürdiges Fluidum zu, das sie schmeidigt und befruchtet, ihnen hohe Anmut und soviel Elastizität und sicheren Rhythmus verleiht, daß sie die Roheit und Barbarei, aus denen sie bestehen, weit von sich weisen. Hierfür und überhaupt für alles, was den Politiker angeht, ist das hervorragendste Beispiel Cäsar. Hinsichtlich der Art und der Dosierung jener Geistigkeit, die wir hier vom großen Politiker verlangen, kann seine prächtige Erscheinung als Muster gelten. Man vergleiche ihn mit Marius, Pompejus, Mark Anton, jener glänzenden Reihe hitziger Tiere in Menschengestalt. Ihnen allen fehlt das St.-ElmsFlämmlein, das über dem geistigen Verbrennungsprozeß aufflackert. Keine Vision, keine Vorausschau wird ihnen zuteil. Sie sind ungeheure Automaten im Schatten des Schicksals. Auf Cäsar fällt das Schicksal nicht von außen her, es ist inwendig in ihm; er ist sein Träger, und es ist mit ihm identisch. Denn hierauf beruht die höchste Herrschergewalt, die dem Geiste zugestanden ist. Wie alles auf der Welt, ist auch der Gang des Geistes dem Schicksal unterworfen. (Was nicht Schicksal ist, ist pure Nichtigkeit.) Aber der Geist sieht dieses Schicksal, trifft und durch409
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bohrt es mit dem Pfeil seines Begreifens. Begreifen heißt ergreifen. Begriffenes Schicksal, ergriffenes, bezwungenes Schicksal. Cäsar führt es neben sich her wie einen zahmen Hund. Cäsar ist ein Musterbeispiel für Geistesschärfe. Zu seiner Zeit sah jedermann ringsum nur unlösliche Probleme. Cäsar aber sah die Lösung, die klare, strahlende, erfolgreiche Lösung. Und diese ergab sich ganz einfach daraus, daß er streng analytisch durchdachte und begriff, was die römische Gesellschaft damals war, was sie noch und was sie bereits nicht mehr zu sein vermochte. Wie fast alle großen Lösungen hatte auch diese paradoxe Züge. Roms Mißstände – darauf bestand man allgemein, namentlich aber im Lager der Konservativen — rührten von der märchenhaften Ausbreitung der römischen Macht her. Darum forderten die Konservativen die Unterbindung jedes weiteren Wachstums. Cäsars Lösung aber – und eine tausendjährige Erfahrung hat sie inzwischen gutgeheißen – wollte das genaue Gegenteil: uneingeschränkte Ausdehnung, Weltreich, Einbeziehung des gesamten Abendlandes in die römische Welt, das für die Völker des alten Orients das Neuland, das Amerika der Antike war. Dieser Lösung aber, die sich in die Pille einer so simplen Formel zusammenpressen läßt, muß eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der historischen Situation des damaligen Rom voraufgegangen sein, ein feinfühliges Abschätzen der Kräfte, aus denen die Gesellschaft bestand, ein mutiger Blick, der ihn die noch gültige, überlieferte, geheiligte Form des römischen Staates als armselige, überlebte Vergangenheit betrachten ließ. Meines Empfindens ist die Fähigkeit, im scheinbar Lebendigen das Tote zu erkennen, das vornehmste Merkmal des politischen Genies. In Cäsar haben wir, ich wiederhole es, das prägnante Beispiel für die intuitive Erfassung dessen, was durch den Staat bei einer Nation gewirkt werden soll. Mirabeau, bei dem die titanischen Kräfte des Politikers so klar zutage treten, trägt dieses Stück Inspiration weniger sichtbar zur Schau. Nicht daß es ihm gefehlt hätte. Wir haben bereits gesehen, mit welch einer Sicherheit er sofort das Schicksal Frankreichs überblickt. Aber 1780 gab es der Dinge, die mit Hilfe des Staates bei der Nation zu verrichten waren, in Frankreich nicht eben viele. Das Volk durchlebte nachgerade einen Augenblick völliger 410
AUFGABE DES STAATS IN SPANIEN
Gesundheit, moralischen und materiellen Reichtums. Fünf, sechs Jahrhunderte der Beackerung hatten nahezu das ganze französische Volk zu einem historisch aktiven Gebilde werden lassen. Die Zivilisation war immer mehr durchgedrungen und hatte selbst die entlegensten Gesellschaftsschichten erreicht. Was mit dem Staat zu geschehen hatte, war sehr einfach: es galt, ihn fernzuhalten, seine Äußerungen auf ein Minimum zu beschränken, ihn möglichst wenig ins Leben der Individuen eingreifen zu lassen und ihn zum virtuellen Bild der Gesellschaft zu machen, die sich im großen Spiegel der Staatsautorität beschaute. Das aber war die Demokratie – die Selbstregierung der Gesellschaft. Cäsar hatte mehr zu tun, war doch zusammen mit dem Staate die Gesellschaft selbst zu reorganisieren. Infolge seines frühen Todes aber blieb die Linie, die ihm vorschwebte, unvollendet. Doch wurde mit diesen und jenen Abweichungen daraus die Politik des römischen Kaiserreichs, das nach und nach eine neue Gesellschaft herausbildete1. Für mich stellt das Spanien von heute ein ähnliches Problem dar. Hier geht es nicht so sehr und so ausschließlich wie zu Zeiten Mirabeaus um die Schaffung eines Staates ad hoc als um den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Hierzu braucht man offensichtlich einen neuen Staat. Die Aufgabe aber, der dieser Staat zu dienen hat und die man bei seiner Planung im Auge haben muß, liegt nicht in ihm selbst, sondern in seiner Wirkung auf die gegenwärtige Gesellschaft Spaniens, die so gut wie erstarrt ist und die es in eine neue, kraftvolle Gesellschaft umzuwandeln gilt. Diese Situation ist übrigens keineswegs typisch spanisch. Man trifft sie auch bei den anderen europäischen Völkern an; allerdings beruht sie dort auf Faktoren, die trotz aller Parallelität doch einige große Unterschiede erkennen lassen. Im Gegensatz zum Frankreich des Jahres 1780 ist bei keiner von diesen Nationen in der Gesellschaft sehr viel Kraft vorhanden, das gegenwärtige Dasein zu meistern. Es sind sehr alte Völker; und für das Alter
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Freilich waren Cäsars Nachfolger zu einer wirklich tiefgehenden Erneuerung der römischen Gesellschaft nicht fähig, und darum trug das Imperium schon bei seiner Geburt die Todeswunde in sich. Wenn das heutige Europa weiterleben will, so darf es nicht auf die Lösung verfallen, die das Römische Imperium getroffen hat. 411
MIRABEAU ODER DER POLITIKER
charakteristisch ist die Anhäufung von abgestorbenen Organen, von Hornsubstanz. Nägel und Haare, Horngebilde, gedeihen auf Kosten der Nerven und Muskeln. Ganze Partien des Organismus fallen der Erstarrung anheim. So ist unser Europa ein Schiff, belastet mit totem Zeug, das eine lange Vergangenheit in seinem Kiel und seinen Seiten abgeladen hat. Mühselige Fahrt! Das Schiff muß entlastet werden: es gilt, zurückzukehren zum Klaren und Wesentlichen, es gilt, reiner Muskel und reiner Nerv zu sein. Die Reform geht in erster Reihe die Gesellschaft an, auf daß ein durchaus geschmeidiger Körper entstehe, der fähig ist, über Kontinente hinwegzuspringen: Amerika, Asien, Afrika. Ist ein Unternehmen solcher Art überhaupt möglich? Eines stimmt allerdings: am Horizont Europas ist bis jetzt noch keine politische Figur aufgetaucht, die so vieler treffender Eingebungen fähig wäre, daß sie den Weg anbahnen könnte, den unser künftiges Handeln zu beschreiten hat. Je weiter die geschichtliche Entwicklung eines Volkes oder einer Gruppe von Völkern vorgerückt ist, um so seltener wird die Gestalt des echten Politikers. Der Grund hierfür ist keineswegs ein Geheimnis. In der Frühzeit ist die menschliche Gesellschaft, die ja noch keine Vergangenheit hinter sich hat, von einfacherem Bau und leichter zu überblicken. Der Tatmensch bedarf keiner großen Geisteskraft, um zu erkennen, was erkannt sein muß. Aber mit der Zeit kompliziert sich die Gesellschaft, und die Politiker müssen wohl oder übel in wachsendem Maße Intellektuelle sein. Und es wird immer schwerer, das eine mit dem andern zu vereinen, und immer unwahrscheinlicher, daß in einem Menschen sich beide Fähigkeiten miteinander verbinden, so daß sie gerade in jener letzten, schwersten Stunde, in der sie am allernotwendigsten wären, nirgends mehr zu finden sind. Wer die letzten Jahrhunderte des Römischen Reiches mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt hat, wird auf eine tragische Tatsache gestoßen sein: der große Politiker ist ausgeblieben. Statt einzusehen, daß die Verbindung von Kraft und Geist das Gebot der Stunde war, versuchte man es mit ausgesprochenen Einseitigkeiten, legte den stärksten Akzent auf die Gewalt und sah sich nach reinen Tatmenschen um. So kommt es, daß wir in jenem sterbenden Rom keinen Cäsar finden, der damals bitter nötig gewesen wäre, sondern nur Stilicho, den Soldaten. 412
DIE „HISTORISCHE INTUITION“
Das Bemühen, festgefahrene Nationen dadurch wieder flottzumachen, daß man aus ihrer Führung die Intelligenz ausschaltet, ist allemal zum Seheitern verurteilt, mag es sich nun um das Europa von heute oder um das Rom von damals handeln. Bei einem primitiven Stamm, einem gesund, urtümlich und barbarisch gebliebenen Volke hätte ein solcher Versuch vielleicht Erfolg, für alte Nationen aber ist die angestrebte Vereinfachung der Probleme und Methoden keinesfalls das beste Rezept. Es ist nun an der Zeit, jener bestimmten Form von Geistigkeit, die ein Wesensbestandteil des Politikers ist, einen Namen zu geben. Nennen wir sie historische Intuition. Im Grunde wäre es mit ihrem Besitz genug. Aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß sie in einem Verstande auftritt, der sich nicht zuvor an völlig andersgearteten Geistesformen geschult hat. Cäsar verfaßt, während er in seiner Sänfte über die Alpen getragen wird, eine Abhandlung über Analogie, Mirabeau schreibt im Gefängnis eine Grammatik, und Napoleon entwirft in seinem Feldherrnzelt auf dem Schnee Rußlands ein minutiöses Reglement für die Comédie Francaise. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß ich zu meinem Bedauern sagen: ich werde an die Gaben keines Politikers glauben können, von dem ich nicht ähnliches gehört habe. Warum? Sehr einfach: weil solche zusätzlichen und unnötigen Kreationen ein unverkennbares Zeichen dafür sind, daß ihre Schöpfer aufgeschlossen waren für den geistigen Genuß. Wenn ein Verstand an seiner eigenen Tätigkeit Freude hat und dem kühnen Sprung, den er tun muß, aus freien Stücken einen zweiten, nicht erforderlichen beigibt (so wie der Muskel des Jünglings das gewöhnliche Gehen durch einen Sprung kompliziert; nur weil es ihm Vergnügen bereitet, die eigene Elastizität zu erleben), dann steht er in der Fülle seiner Entfaltung und ist fähig zu einer jeden durchdringenden Kontemplation. Man behaupte nicht, die Theorie, die rein geistige Schau, habe nichts mit dem Politiker zu tun. Der Tat muß bei ihm eine wunderbare Schau vorangehen: nur so wird er zur gelenkten Kraft und ist nicht länger ein geistloser Wildbach, der im Talgrund Schaden anrichtet. Schön hat das vor fünf Jahrhunderten Meister Leonardo zum Ausdruck gebracht: „Die Theorie ist der Hauptmann, und die Praxis, das sind die Soldaten.“ 413