Zyklus der Nebelreiche
Band 16
Roman-Reihe von
Renate Steinbach Otto-Stabel-Str.2 67059 Ludwigshafen Alle Rechte vorb...
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Zyklus der Nebelreiche
Band 16
Roman-Reihe von
Renate Steinbach Otto-Stabel-Str.2 67059 Ludwigshafen Alle Rechte vorbehalten © 1986 - 1998
B
urg Nodher zeigte sich als prachtvoller, hoher Bau, der aus festem Stein gefügt mehrere Stockwerke besaß. Die Wehrgänge und Türme verliehen der Burg ein trotziges Aussehen, die hohe Burgmauer ließ den Bau uneinnehmbar erscheinen. Doch nun, kurz vor der kalten Lichtgleiche im Jahr dreihundertsechsundzwanzig der Neuen Zeit standen die breiten, starken Burgtore ohnehin weit offen. Die Burg erschien riesig, aber jetzt konnte sie kaum die vielen Gäste beherbergen, die ohne Unterlaß eintrafen. Außerhalb der Burgmauer wurden bereits Zeltstädte errichtet, um die Menschen der Gefolge aufzunehmen. Nodhers Erbe, Prinz Ilkonys, hatte sich eine Gemahlin erwählt und zu seiner Hochzeit kamen unzählige geladene Gäste, vornehmlich die Herrscher der Nebelreiche mit ihren Familien. Sie alle mußten gebührend empfangen und begrüßt werden, erwarteten Zerstreuung und jene Annehmlichkeiten, die nur ein König bieten konnte. Schon Tage vor der Lichtgleiche gestaltete sich jeder Abend als ein vollkommenes Fest. Unermüdlich widmete sich der Prinz den Gästen. Er hatte das dreissigste Lebensjahr noch nicht vollendet. Seit zwei Jahren herrschte er gleichberechtigt an der Seite seines Vaters Ariston, mit dem ihn eine tiefe Liebe verband. Er wurde, wie alle Erben der Reiche, als Tempelkind gezeugt. Wer herrschen wollte, mußte Priester sein. Um ein Tempelkind ins Leben zu rufen, vereinten sich der Sitte gemäß Priesterin und Priester in tiefem Trance miteinan-
der. Wer so ins Leben kam, den zog keine Leidenschaft und den rief kein karmisches Band; er kam, weil er es wollte und weil er ein Werk in diesem neuen Leben zu tun gedachte. Diese Tempelkinder wuchsen im allgemeinen im einem Tempel des Lichts oder auf Amarra auf. Amarra, so nannte man den Inselstaat des Than, des obersten der Priester, der Macht auch über die Herrscher besaß. Irgendwie war es vor knapp dreissig Jahren König Ariston gelungen, dem damaligen Than Nymardos seinen Erben abzutrotzen. Ilkonys wuchs in Burg Nodher auf, die er erst vor fünf Jahren verließ, da er den Ruf zu den Weihen verspürte und nun Priester werden wollte. Ehe er vor zwei Jahren Amarra verließ, zeugte er dort seinen Erben. Manches Mal dachte er ein wenig wehmütig daran, daß er nicht einmal den Namen des Kindes wußte, das mit seiner Hilfe ins Leben fand. Früh am Tag stand er nun auf der kleinen Dachterasse, die vor seinen privaten Gemächern lag, und schaute dem Treiben im Burghof zu. Liebevoll lag sein Arm um die Seite seiner künftigen Gemahlin. Cynara war sicherlich eine starke Priesterin. Sie stand im vierten Grad und kannte die Ebene des Gottes Minosante, des Gottes der Kraft. Geboren wurde sie, wie auch ihr Bruder Mercur, im Königreich Thara, als Kind armer Leute. Wie ihr Bruder, der nun als des Prinzen Freund in der Burg lebte, so fand auch sie den Weg nach Amarra, wo sie viele Jahre blieb, bis unerwartet der Than Befehl erteilte, daß sie nun ins Waldreich Wyla zu gehen habe und dort in einem Tempel zu leben. Gegen sein Wort gab es keinen Einwand. Zu jener Zeit stillte sie noch ihren Tempelsohn, das Kind, das sie in Trance empfing. Mit dem kleinen Changanar und Mercur zusammen machte sie sich auf den Weg. Sie rasteten in dieser Burg, wo sie mehr als nur freundlich aufgenommen wurden. Prinz Ilkonys und dessen Schwester Aniela schlossen sich ihnen an. Sie verbrachten angenehme Tage und schoben die Abreise immer wieder hinaus. Ein Freund des Prinzen weilte dann für kurze Zeit in der Burg. Dieser Mann, Tibra, war einer der stärksten Magier jener Zeit und sollte demnach der
Priesterschaft gegenüber zumindest skeptisch eingestellt sein. Trotzdem achtete der Than selbst auf seinen Weg und sein Wort schützte diesen Mann in jedem der sieben Reiche. Tibra erlaubte ihr im Namen Amarras den weiteren Aufenthalt. So blieben Cynara und Mercur in der Burg. Ein ganzes Jahr verging. Mercur, als Priester des fünften Grades, wurde zum Lehrer des Prinzen auf dem priesterlichen Weg. Ilkonys erreichte die zweite Weihe. Und zwischen ihm und Cynara wuchs Liebe, die sie beide einander nicht eingestehen wollten, da der Befehl nach Wyla noch immer Gültigkeit besaß. Vor weniger als einem halben Jahr wollte Cynara diesen Befehl dann endlich ausführen. Ilkonys bedrängte sie, einen Umweg zu machen und in Rakkis Tempel in Nodher zu rasten. Er begleitete sie auf dem Weg. In dem Tempelbereich dort lebte Tibra. Der Prinz erhoffte sich Hilfe von diesem Freund und tatsächlich hob Tibra den Befehl des Than auf. Er trug inzwischen den Titel Pala des Than. Ein Pala, das war, je nach Betonung des Wortes, einfach ein hohes Amt, das bis zum Stellvertreter reichen konnte. Doch mit etwas anderer Betonung bedeutete es eine tiefe Liebe, ja, mehr noch, eine innere Einheit, die nur als die andere Hälfte der eigenen Seele verstanden werden konnte. Tibra besaß die Macht und das Recht, für den Than Seymas zu sprechen, auch wenn er diesen Titel nicht als Priester erhielt, sondern aufgrund einer persönlichen Freundschaft. Ilkonys streichelte versonnen das Gesicht des kleinen Changanar, während er Cynara liebevoll anlächelte. Er wußte, daß ihr all die Empfänge und Festlichkeiten als mühsam erschienen und sie sich wieder nach dem ruhigen Leben sehnte, das sie bisher führten. Einige Tage würde sie noch warten müssen. Er liebte sie, ihre Sanftmut, ihre weichen Züge, ihre Art, sich den Menschen zuzuwenden. Und er empfand etwas Stolz, weil es Cynara so leicht gelang, die Herzen der Menschen für sich zu gewinnen.
Posaunenklänge ertönten. Ilkonys seufzte unmerklich, während er sich etwas nach vorn neigte, um besser sehen zu können. "Das ist Sarais Banner," stellte er fest. "Komm, Liebes, wir kommen nicht umhin, König Wharhan und seinen Erben Delaros zu begrüßen." Cynara lächelte und schaute ihn bedauernd an. "Ich weiß wohl," sagte sie leise, "daß du nur einen einzigen Mann begrüßen möchtest. Auch ich wundere mich, daß Tibra noch nicht eintraf. Er wird doch kommen?" "Die Fallas des schwarzen Tempels sind seit drei Tagen hier," murmelte der Prinz, als sei dies eine Antwort. In Raakis Tempel, den man den schwarzen Tempel nannte, da Raaki als der dunkle Gott des Todes galt, herrschten Seryna und Gerrys als Fallas, als Vorsteher über hunderte von Menschen. Mit Gerrys verband ihn seit seiner Kindheit eine tiefe Freundschaft. Und da der Falla auch ein Freund des Magiers war, hatte er gehofft, sie kämen gemeinsam zur Burg. Doch Tibra befand sich auf Reisen und Gerrys wußte nicht einmal, wo er sich aufhielt. Sie begrüßten die Menschen aus dem Königreich Sarai. Delaros freute sich sichtlich, Ilkonys zu sehen. Er war dem Prinzen vor Jahren einmal in seinem Land begegnet. Sie wechselten damals nur wenige Worte und doch veränderte diese Begegnung das Leben des Erben der Macht, der erst danach die Kraft fand, sich auch gegen seinen Vater Wharhan zu behaupten.
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och jemand in der Burg wartete ausschließlich auf die Ankunft des Magiers. Prinzessin Aniela wich den Festlichkeiten fast durchgehend aus. Sie verharrte seit
Tagen an ihrem Fenster, von wo aus das Burgtor zu sehen war. So alt wie Cynara empfand sie die künftige Königin des Reiches als Freundin. Und Cynara war auch die einzige, die das Ausmaß ihres Kummers kannte. Im Grunde lebte Aniela als selbstbewußte, unabhängig denkende Frau, die jede Bindung scheute und das Studium der Wissenschaften einem locker-leichten Leben vorzog. Der Magier faszinierte sie, als er vor einem Jahr zur Burg kam. Und als sie vor einem knappen halben Jahr zusammen mit dem Bruder und der Freundin zum schwarzen Tempel ritt, wo sie ihm wieder begegnete, da empfand sie viel mehr für diesen Mann, der nahe des Tempels in einem einfachen Gasthaus lebte und seine Tage mit magischem Wirken und der Fürsorge für seinen kleinen Sohn Harkym und einen Jüngling namens Vogan, den er als Zögling bei sich aufnahm, füllte. Aniela empfand seine einfache Art des Lebens als ärmlich und die Nähe des Tempels als beklemmend. Sie wußte, daß sie so nicht leben wollte und auch nicht leben konnte. Tibra wußte es auch. Sie sprachen nicht von Liebe und beim Abschied ließ er sie einfach gehen. Als Tibra Cynara von der Ausführung des Befehls, nach Wyla zu gehen, befreite, bot ihm Ilkonys überglücklich das Amt des Statthalters in der größten Stadt des Reiches, in Salis an. Tibra lehnte lachend ab. Er mochte diese Stadt ohnehin nicht. Auch das Angebot, den Magier zum Pecha und damit zum Landesfürsten zu erheben, konnte Tibra nicht reizen. Aber nachdem Aniela ging, sprach er am nächsten Tag mit dem Prinzen über dieses Angebot. Er war bereit, sein ganzes gewohntes Leben aufzugeben, um eine Umgebung zu schaffen, in der Aniela glücklich sein konnte. Sie sprachen nun doch von Liebe und einer gemeinsamen Zukunft. Aniela verkrampfte sich ein wenig beim Gedanken an alles, was danach geschah. Überglücklich war sie mit dem Bruder und dessen Freunden zur Burg gekommen. Sie konnte es nicht erwarten, bis alles geregelt war. Doch als der Prinz mit
seinem Vater sprach, gab es harte Worte. König Ariston weigerte sich, der Erhöhung des Magiers zuzustimmen. Fast wäre es deshalb zum Zerwürfnis gekommen. Doch Tibra reagierte sehr gelassen auf den Boten, der ihn benachrichtigte. Er sandte ein Schreiben zur Burg, in dem er alles Aniela überließ. Aber er selbst kam nicht mehr. Doch er versprach, zur Hochzeit des Prinzen zu kommen. Er sollte der Ehrengast in diesen Tagen sein. Und noch immer blieb er fern. Sie dachte an Mercur. Der Freund des Bruders wartete sicherlich auch. Seine ganze Liebe galt Talima, doch er konnte sich dieser Frau nicht anvermählen, ehe der Magier nicht kam. Denn Talima war dessen Sklavin. Ein Fremder hatte sie dem Magier in Dienst gestellt. Vor einem halben Jahr besaß er ihr Sklavenpapier noch nicht. Doch es gab keinen Zweifel, daß er dieses zur heißen Lichtwende beim großen Treffen der Gilde der Magier auf der Insel Silsa erhielt. Und er hatte versprochen, Talima frei zu geben. Wenn er nicht kam, konnte Talima im Grunde nicht einmal am Fest teilnehmen.
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uch König Ariston wartete. Er hatte die sechzig überschritten. So manche graue Strähne zeigte sich in seinem Haar, doch sein Blick war wach und fest sein Schritt. Im allgemeinen Kommen und Gehen in der Burg fiel ein einzelner Reiter jetzt bestimmt nicht auf. So hatte er dem Führer der Burgwache, Ulander, den Befehl erteilt, gerade auf solche Reisenden zu achten. Als er nun, am Vortag der Hochzeit, Nachricht erhielt, daß ein solch einsamer Reiter gekommen sei, gab er Befehl, den Mann sofort zu ihm zu bringen. Er wollte die Sache mit Tibra unbedingt vor dem Fest abklären, um keine trüben Gedanken aufkommen zu lassen. Er erwartete den Besucher in einem seiner privaten Räume. In dieses kleine Zimmer zog er sich gern zurück, um zu lesen, zu ruhen, zu sinnieren oder auch eine priesterliche
Übung auszuführen. Seine Getreuen sorgten dafür, daß er hier nicht gestört wurde. Der Herrscher erhob sich, als die Tür geöffnet wurde. Dann zögerte er. Dieser Mann, der zu ihm kam, war nicht der Magier Tibra. Er kannte ihn, aber er wußte nicht genau, woher. Der Fremde, noch nicht ganz Mitte der dreissig, besaß ernste Züge und einen ungemein tiefen Blick. Das lange Haar trug er offen, wie dies nur Menschen der Macht zustand. Man hatte ihm keine Gelegenheit gegeben, sich den Staub der Reise abzuwaschen. Er trug noch die enge Reitkleidung mit den hohen Stulpenstiefeln. Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen, als er einen Schritt auf den Herrscher zutrat. "Ihr erkennt mich nicht mehr," stellte er mit ruhiger Stimme fest. "Wir sind uns zuletzt vor vier Jahren begegnet." Ariston grübelte noch und nahm dabei unbewußt eine sehr abwehrende Haltung ein. "Ich hatte einen anderen Gast erwartet," gab er fast unwillig zu. "Ich bedauere, daß ihr noch keinen Gastraum erhieltet." Er wollte schon das Triangel anschlagen, um Dienerschaft zu rufen und den Besucher zu entlassen. "Amarra grüßt Nodhers Herrn," sagte der Fremde da aber nicht ganz frei von Spott. Ariston hielt inne. Mißtrauisch musterte er sein Gegenüber. Und dann erinnerte er sich. Dieser Mann hieß Thyrian. Er trug den Titel Pala des Than, lebte auf Amarra und herrschte an Stelle des Thans Seymas wie ein König über dieses Reich, das immerhin größer als das Königreich Khyon durchaus gewaltig war. Thyrian besaß wirkliche Macht. Im Grunde schuldeten die Herrscher lediglich
Seymas selbst Gehorsam, doch der teilte seine Herrschaft so unbedingt mit Thyrian, daß sich jeder Anspruch auch auf diesen in Sarai geborenen Mann ausdehnte. Ariston kreuzte in grüßender Geste die Arme vor der Brust und überlegte zugleich, ob er vor dem Pala des Than knien mußte. Der Than selbst durfte völlige Unterwerfung fordern. Thyrian lächelte belustigt. Da entspannte sich der Herrscher, deutete auf die hohen Sessel und lud so den Gast ein, es sich bequem zu machen. Als Ariston durch einen Boten erfuhr, daß sich Ilkonys im schwarzen Tempel mit Cynara aussprach und sie zur Gemahlin wünschte, sandte er Reiter in alle Reiche, um die Gäste zur Hochzeit zu laden. Natürlich lud er auch Amarra ein und er hoffte, der Than werde den Sohn durch die Anwesenheit eines hohen Eingeweihten ehren. Daß er seinen Pala sandte, das war fast schon zu viel der Ehre. "Willkommen in Nodher," grüßte er, nachdem ihm zu Bewußtsein kam, wie lange er schon schwieg. "Wir haben nicht gehofft, so hohen Besuch aus Amarra zu empfangen." "Eure Freude ist nicht sehr aufrichtig," stellte Thyrian halb belustigt fest, denn er spürte, daß der König seinen Geist abschirmte. Ariston war Raakis Mann, er besaß die fünfte Weihe und galt als durchaus starker Priester. Aber Thyrian war Eingeweihter des Lichts; er kannte alle göttlichen Ebenen und besaß einen ungemein starken Geist. In vergangener Zeit hielt man ihn sogar für den neuen Than. Dieses Amt übte immer nur der aus, der von den vereinten Fallas als der stärkste, derzeit inkarnierte Geist erkannt wurde. Thyrian besaß die Fähigkeit, den Geist eines Menschen auch unbemerkt zu berühren und so seine vorherrschenden Gedanken zu erkennen. So wenig, wie man sich vor Seymas abschirmen durfte, so wenig war dies vor ihm als dessen Pala erlaubt.
Im Grund beleidigte ihn Ariston durch diese Geste. "Ihr irrt euch," versicherte der Herrscher rasch, während er die ablehnende Haltung aufgab. "Eure Anwesenheit ist eine große Ehre für Nodher." "Eine Ehre ist nicht dasselbe wie eine Freude," bemerkte Thyrian gelassen. Er versuchte nicht einmal, Aristons Geist zu berühren, was der Herrscher mit Erstaunen zur Kenntnis nahm. "Ich würde es begrüßen, wenn ihr euren Erben rufen wolltet. Er sollte nun hier sein, denke ich." Ariston ließ sofort nach Ilkonys schicken. Während sie auf seinen Sohn warteten, erzählte er auf Thyrians Wunsch hin, welche Gäste eingetroffen waren. Der Pala des Than schien sehr befriedigt, als er hörte, daß auch die Fallas aller Haupttempel des Nordreiches zur Burg kamen. Prinz Ilkonys überließ Cynara die Gäste und eilte zu seinem Vater. Er trug eine kostbare, reich bestickte Tunika, zeigte sich festlich gewandet und ganz im Bewußtsein seiner Macht und seines Reichtums. Als er Thyrian sah, stutzte auch er. Der Pala des Than erhob sich bei seinem Eintreten. Ilkonys zögerte nicht, die Arme zum Gruß vor der Brust zu kreuzen. Er wollte niederknien, aber da hielt ihm Thyrian bereits beide Hände entgegen. "Der Freund eines Freundes sollte niemals unterwürfig sein," riet er mit freundlicher Stimme. Ilkonys ergriff seine Hände und neigte sich zugleich ein wenig, bereit zum Kuß. Aber da ließ ihn Thyrian schon wieder los. "Ich freue mich sehr, euch zu sehen," versicherte der Prinz aufrichtig. "Eure Kleidung verrät, daß ihr eben erst eingetroffen seid. Ihr solltet wenigstens bewirtet werden," fügte er dann mit vorwurfsvollem Blick auf seinen Vater
hinzu. Er wartete auf keine Reaktion, sondern schickte sofort nach einem Mahl für den hohen Gast. Ariston staunte ein wenig, als er sah, wie arglos und wirklich erfreut Ilkonys auf diesen Besuch reagierte. Thyrian nannte den Prinzen den Freund eines Freundes. Der Herrscher wußte, daß er hier von Tibra sprach. Ilkonys hatte ihm angedeutet, daß der Pala des Than die Nähe des Magiers schätzte. "Tibra ist leider noch nicht hier," erzählte Ilkonys ohne jede Aufforderung. "Ich fürchte fast, er wird nicht kommen." Das klang ehrlich bedauernd. Er sprach davon, daß er ihn seit dem Frühjahr nicht mehr sah und fragte ungeniert, ob der Magier denn nach der heißen Lichtwende im Sommer auf Amarra gewesen sei. Ariston legte ihm mahnend die Hand auf den Unterarm. Diese Neugier stand dem Sohn nicht zu. Aber Thyrian sah in der Frage keine Unhöflichkeit. "Er kam nach dem Treffen der Magier," erzählte er gelassen. "Harkym war bei ihm. Er blieb fast drei Wochen. Eigentlich wollte er auf dem Rückweg zur Burg kommen. Aber wir erhielten Nachricht, daß sein Gefährte Bakaar erkrankte und Tibra wollte schnell zu ihm in den Tempel gelangen. So gaben wir ihm einen Segler, der ihn bis Nurs brachte. Da der Seeweg nicht an deiner Burg vorbei führt, schob er den Besuch wohl auf. Er wird sicher kommen." Ein Page brachte das Mahl für den Gast. Thyrian ließ sich nicht lange bitten, registrierte aber erfreut, daß der Herrscher den Diener entließ. Es war ihm lieb, jetzt ohne Zeugen reden zu können. "Ich fürchte, Tibra kommt nicht," gab Ilkonys traurig zu. "Ich hatte ihm versprochen, ihn zum Pecha zu erheben und kann dieses Wort jetzt nicht einlösen. Ich fühle mich schuldig und fürchte, er verübelt mir die Sache."
Thyrian warf Ariston einen kurzen Blick zu. Der Herrscher mahnte: "In dieser Sache, Sohn, entscheidet Nodher allein. Amarra steht bei der Wahl eines Pecha kein Mitspracherecht zu." Der Pala des Than überging diesen Einwurf. Er aß gelassen weiter, beruhigte den Prinzen aber dabei. "Tibra verübelt dir nichts, Ilkonys. Er würde es zweifellos vorziehen, wenn deine Schwester sein Leben teilen wollte. Er versteht natürlich, daß sie das nicht kann. Und er ist der Meinung, daß du dich deshalb nicht mit deinem Vater überwerfen solltest. Aniela will als Fürstin leben. Er zieht sein beschauliches Leben vor und sucht keine Macht." "Seid ihr so sicher?" warf Ariston skeptisch ein. Thyrian lächelte. Er beendete sein Mahl, neigte sich leicht dem König zu und sprach mit ruhiger Stimme weiter. "Tibra ist Pala des Than und er trägt diesen Titel im vollen Umfang und ohne jede Beschränkung. Ihr, Ariston, solltet wissen, daß er damit über fast unbegrenzte Macht verfügt. Als Seymas ihn zum Falla der Weisheit erhob, füllte er dieses Amt zwar aus, aber er scheute sich nicht, zuzugeben, daß er diese Verantwortung für so viele Menschen und die dadurch notwendige Arbeit als lästig empfand. Und immerhin ward ihr einer der wenigen Menschen, die seine Berufung nicht hinterfragten. Ich wundere mich ein wenig, daß ihr diesen Mann noch immer ablehnt." Ariston schüttelte unwillig den Kopf. Es gab wohl eine Zeit, in der er den Magier verfolgte, ihn geradezu haßte. Manche Magier schufen Miska. So nannte man den geistlosen Körper eines Menschen, aus dem durch Magie jede Art von Bewußtsein getrieben wurde. Miska konnte einfache Arbei-
ten ausführen, doch nicht wollen oder wünschen oder hoffen. Eigentlich war es ein Tod. Wegen diesem Wirken hatte er vor vier Jahren die Magier im ganzen Reich verfolgen lassen. Er gab Befehl, Tibra zu Tode zu peitschen. Nicht zuletzt dem Eingreifen seines Sohnes verdankte Tibra sein Leben. Doch er hatte sich inzwischen mit Tibra ausgesöhnt, nicht zuletzt, weil dieser Mann der einzige Magier war, der Miska wenden und einen solchen Körper wieder mit seinem Geist verbinden konnte. "Ich lehne ihn nicht ab," wehrte er sich, nun doch etwas unruhig, da Amarra so treu zu Tibra stand. "Ihr sagtet es, daß er diese Arbeit nie lieben wird. Ein Pecha steht in der Verantwortung. Er will nur den Titel, nicht das Werk." "Aniela würde als seine Gemahlin regieren," brummte Ilkonys mißmutig. "Es ist nicht üblich, daß Frauen das Amt versehen," wies ihn Ariston mit kühler Stimme zurück. "Wir haben schon zu oft darüber gesprochen. Tibra verlangt eine zu hohe Mitgift. Es wäre mir durchaus lieb, wenn er nicht käme und Aniela ihn vergessen wollte." "Siehst du denn nicht, wie unglücklich Aniela ist?" Ilkonys sah seinen Vater auf traurige Weise an. "Sie wird ihn nicht vergessen. Ihr gefällt der Tempel nicht, aber sie wird lieber an seiner Seite als ohne ihn unglücklich sein." "So will sie mit ihm gehen?" erkundigte sich Thyrian etwas nachdenklich. "Das wird sie nicht," vermutete Ariston. "Meine Tochter könnte nicht mit ihm leben. Sie ist Macht und Prunk gewohnt. Das Leben in der Burg hat sie geprägt." "Sie hat in letzter Zeit oft Cyprina besucht," erklärte Ilkonys, der sich nun nur an Thyrian wandte. "Ihr wißt
sicher, daß sie Gerrys' Tochter und Mutter meines Kindes ist. Sie lebt mit ihrem Gemahl Floryn nicht weit entfernt der Burg. Ich glaube, Aniela versucht dort, sich an ein Leben ohne Prunk zu gewöhnen." "Du liebst deine Schwester?" Nodhers Erbe nickte nur. Er liebte auch seinen jüngeren Bruder Willar, der jedoch nicht das Selbstbewußtsein der Schwester besaß und sich sicherer fühlte, wenn er wie ein Diener leben konnte. Thyrian lächelte auf verhaltene Art Ariston an. "Es ist, wie ihr sagt," meinte er ruhig, "Amarra steht hier kein Mitspracherecht zu." Der Herrscher atmete auf, aber Thyrian fuhr fort: "Doch Tibra ist Pala des Than und wer ihm wohl gesonnen ist, der kann gewiß sein, daß Amarra ihm dies nicht vergißt. Sarai und Sion zumindest wissen das." Er erhob sich, wandte sich an Ilkonys. "Zeige mir bitte ein Gastquartier, damit ich mich reinigen und umkleiden kann." Der Prinz führte ihn sofort durch die weiten Gänge der Burg. König Ariston blieb verunsichert zurück. Der Pala des Than deutete hier etwas an, das ihm nicht gefallen konnte. Amarra durfte hier nicht befehlen. Doch es war möglich, daß Sarai und Sion gern einem Wunsch des Than folgend dem Magier Land gewähren wollten. Wenn er dies zuließ, verlor er nicht nur die Tochter an ein anderes Reich, sondern vermutlich auch die Tiefe der Zuneigung seines Erben, der wohl kaum verstehen konnte, wie die Könige Wharhan und Thylenon gewährten, was er versagte. Ariston grübelte, bis das abendliche Fest nach seiner Anwesenheit verlangte. Er beobachtete Thyrian unmerklich. Der Mann aus Sarai war für die anwesenden Gäste nicht weniger wichtig als Ilkonys und Cynara. Herrscher wie Priester drängten in seine Nähe. Jeder wollte mit ihm reden. Vor allem Sarais Erbe
Delaros und Sions Erbe Allanon schienen ihn sehr zu schätzen.
T
ibra hatte nicht die Absicht, den Freund warten zu lassen. Vor einigen Tagen war ihm, als suche ein anderer Freund seine Hilfe. Er verließ mit seinem Sohn den schwarzen Tempel in der Hoffnung, rechtzeitig zurück zu sein. Er wurde jedoch aufgehalten. Die Sache zog sich in die Länge. Er mußte sich schon sehr beeilen, wenn er noch rechtzeitig die Burg erreichen wollte. Sehr spät am Abend traf er dann ein. Niemand rechnete jetzt mehr mit neuen Gästen. Zwar führte ein Stallbursche sein Pferd mit sich, doch er wurde nicht als Neuankömmling begrüßt. Die Nebel hüllten bereits das Land ein. Die Reiche kannten keinen Niederschlag. Alle notwendige Feuchtigkeit brachten die Nebel, die tags sehr hoch hingen und nachts das Erdreich bedeckten. Spärliche Feuer brannten, doch sie konnten kein Licht spenden, da die Nebel jeden Schein behinderten. Der Magier trat zum Brunnen im Burghof, griff nach der Schöpfkelle und schüttete sich einen Schwung Wasser über den Hinterkopf. Die kühle Frische vertrieb jede Erschöpfung des langen Rittes. Er lächelte, weil der schlafende Sohn im Arm ein paar Spritzer abgekam und jetzt unwillige Laute ausstieß. Sein Blick glitt zu den erhellten Fenstern der Burg. Tibra freute sich sehr darauf, den um zehn Jahre jüngeren Prinzen bald zu sehen. Und mit Aniela würde er reden müssen. Aber das hatte Zeit. Jetzt feierten die Menschen, die ihn wohl nicht mehr erwarteten. Er wollte sie morgen sehen. Tibra gähnte. Er war ein Mann der Macht und durfte das Haar offen tragen, doch für die Reise hielt er es gebunden, um nicht aufzufallen. Auch seine Kleidung verriet nicht seinen Rang. Harkym erwachte.
"Na, Söhnchen, ausgeschlafen?" Liebevoll hielt er den zweieinhalbjährigen Knaben, der bei seiner Geburt zur Waise wurde und den er als Sohn anerkannte. Inzwischen wußte er, daß Harkym ein Tempelkind war. Doch nach dem Gesetz galt er als sein Vater. Der Knabe besaß goldbraunes Haar, hellbraune Augen und lange Wimpern. Sie sahen sich ähnlich, Vater und Sohn. Nachdem ihn niemand begrüßte, schulterte der Magier achselzuckend sein Bündel und ging in die Burg, deren Tore weit geöffnet standen. Suchend sah er sich um. Vor über einem Jahr verbrachte er hier wenige Tage. Er entsann sich des Ganges, der eine Treppe hinauf zu den privaten Gemächern von Nodhers Erben führte, folgte ihm und fand sich wirklich zurecht. Erfreut sah er, daß vor seinem damaligen Gastquartier kein Page wartete. Also hatte Ilkonys, wie erwartet, ihm wieder diese Räume bereitet und sie nicht einem anderen Gast übereignet. Tibra schob sich durch die Tür, fand eine Kerze, entzündete sie und sah sich kurz um. Der Raum wirkte unbewohnt. Auch das angrenzende Schlafgemach schien unberührt. Tibra setzte den Sohn auf das breite Bett, kleidete sich und dann Harkym aus. Kurz überlegte er, ob er das Triangel im Wohnraum anschlagen sollte, um nach Waschwasser und einer kleinen Mahlzeit zu rufen. Dann ließ er es bleiben. Seit den frühen Morgenstunden ritt er ohne Unterbrechung. Er war mehr als nur müde. Tibra erstickte die Kerzenflamme mit der linken Hand, legte sich nieder. Harkym krabbelte in seine Armbeuge. Wenn der Vater schlief, so verhielt er sich stets still. Es dauerte lange, bis auch der Kleine wieder die Augen schloß.
Es gehörte zu den Eigenheiten des Magier, ungemein tief und lange zu schlafen. Wer ihn wecken wollte, mußte schon zumindest sanfte Gewalt anwenden. Die Tiefe dieses Schlafes ließ keine Störung ins Bewußtsein dringen. So erwachte Tibra auch nicht, als lange nach Mitternacht die Tür geöffnet wurde und das sanfte Licht eines Lebenden Kristalles den Raum hell ausleuchtete.
E
rstaunt und erfreut zugleich sah Thyrian die Schläfer. Er schickte den ihm zur Verfügung gestellten Pagen Ilka mit einer Handbewegung fort. Leise schloß er die Tür. Thyrian verstand, daß diese Räume von Ilkonys eigentlich für Tibra reserviert blieben. Als er ihm hier Quartier bot, hoffte er nicht mehr auf das Kommen des Magiers. Die Burg war in diesen Tagen überfüllt. Es würde schwer sein, jetzt, zumal in dieser späten Stunde, ein anderes Quartier zu finden. Thyrian rief das Licht des Kristalles etwas zurück. Im Königreich Moras wuchsen diese Sumpfkristalle, die auf Amarra dann zu Flammenden Kristallen wurden, welche aus sich selbst heraus leuchteten. Nur die Lebenden Kristalle jedoch ließen ihr Licht beeinflussen durch den in ihnen zentrierten Geist ihres Eigners. Diese Steine waren eine Seltenheit. Es gab in den Nebelreichen nur zehn Stück davon und sie alle blieben Eigentum des Than, der sie verdienten Menschen als Leihgabe überließ. Thyrian wandelte das Licht seines Steines zur schwachen Dämmerung. Er betrat den Wohnraum. Draußen hörte er Stimmen. Prinz Ilkonys weilte nun wieder in seinen Räumen und auf dem Gang hielt seine Garde beschützend Wache. Kurz überlegte der Mann aus Sarai, ob er versuchen sollte, zu Ilkonys vorzudringen. Dann verwarf er diesen Gedanken.
Er ging zurück in den Schlafraum, streifte die weiße Tunika der Lichtpriester, die er nun trug, ab und legte sich nieder. Er wußte, daß Tibra größere körperliche Nähe nicht schätzte und hoffte, der Freund würde bei seinem Erwachen trotz- dem eine erfreuliche Überraschung erleben.
H
arkym erwachte früh am Morgen. Er war es gewohnt, sich nun im Arm des Vaters still zu verhalten und auf ihn zu warten. Der Kleine setzte sich vorsichtig auf. Er wollte nichts weiter tun, als das geliebte Gesicht des Mannes betasten, der für ihn Geborgenheit und Sicherheit bedeutete. Er stieß einen entsetzten, furchtsamen Ausruf aus, als er begriff, daß er sich nicht über den Vater neigte. Tibra schreckte hoch. Noch ehe er auf die vermeindliche Gefahr reagieren konnte, flüchtete Harkym schon in seine Arme. Thyrian lag noch ganz ruhig, aber nun lächelte er den Freund an. Durch das muskovit-verglaste Fenster fiel schwach das Morgenlicht. Tibra hielt Harkym fest umfaßt, löste nun aber die Rechte von ihm und schob sie Thyrian zu, der sie erfreut ergriff. "Ich fürchtete schon, meine Gegenwart würde dir mißfallen," meinte der Priester heiter. "Als Ilkonys mir dieses Quartier zuwies, hoffte er wohl nicht mehr auf dein Kommen." "Die Räume sahen unbewohnt aus," entschuldigte sich Tibra. Dann lachte er leise auf, schüttelte damit alle Unsicherheit ab und legte sich wieder nieder. Thyrian hielt noch immer seine Hand. "Ich wußte nicht, daß du kommen wirst. Es ist schön, dich zu sehen." Harkym war wohl derselben Ansicht. Mit diesem Mann spielte er vor wenigen Wochen auf Amarra. Er erinnerte sich an ihn, entschied, daß er keine Gefahr sein konnte und begann, mit einem Zipfel der Decke zufrieden zu spielen.
"Willst du noch etwas schlafen?" "Nein, das nicht. Ich genieße es, dich hier zu wissen, aber ich bin es nicht gewohnt, so abrupt zu erwachen. Man sollte einen Tag langsam beginnen." "Was nicht ganz meinen Gewohnheiten entspricht," behauptete Thyrian vergnügt, ohne jedoch Anstalten zu machen, sich selbst zu erheben. "Seit wann bist du hier? Hast du mit Aniela gesprochen? Und..." Thyrian unterbrach ihn, indem er seine Hand etwas fester drückte. "Ich kam erst gestern an," erzählte er. "Aniela nahm am Fest nicht teil, wie sie allem Anschein nach nur dann zur Gesellschaft kommt, wenn es ihr befohlen wird. Da sich Ilkonys und Cynara heute vermählen, wird sie wohl dabei sein müssen. Ich hatte nur mit Ariston ein kurzes Gespräch." "Über mich?" forschte Tibra mißtrauisch. "Gewiß. Ich habe mir erlaubt, ihn ein wenig zu verunsichern. Er nimmt an, daß du ein sehr schlechter Pecha seist." "Seine Ansicht, mich betreffend, war immer richtig," stand der Magier seinem Herrscher bei. "Ich hoffe, ich bekomme Gelegenheit, mit Aniela zu reden. Wir werden irgendwo einen Platz für uns finden." Thyrian lächelte sacht. "Sion würde sich freuen, wenn du dort leben wolltest. Und Sarai bietet dir die weiten Steppen von Falfa. Das ist eine sehr schöne Gegend."
Tibra richtete sich überrascht auf. "Ich hoffe nicht, daß Seymas oder du versuchen, diese Herrscher für mich einzunehmen," brummte er. "Meine Freundschaft zu euch sucht keine weltlichen Vorteile." Thyrian lachte leise. "Du bist Pala des Than, Tibra. Wir müssen nichts für dich tun. Daß es heftige Worte zwischen Ilkonys und Ariston gab, bei denen die Pechas des Reiches sich ebenfalls gegen dich aussprachen, das ist weit bekannt. Solche Nachrichten verbreiten sich ohne Zutun. Und Wharhan wie auch Thylenon haben Amarra aus eigenem Antrieb wissen lassen, daß sie es als Ehre empfänden, wenn der Pala des Than in ihrem Reich leben wollte." Er erhob sich nun. "Gestern zumindest warst du das bevorzugte Gesprächsthema der Leute hier." "Ich habe nicht die Absicht, Nodher zu verlassen," versicherte Tibra etwas unwillig. "Das mußt du Ariston ja nicht unbedingt sagen," riet Thyrian fröhlich. Er kramte in einer Truhe, fand, was er suchte und warf Tibra eine einfache Haustunika zu. "Nun steh schon auf, Freund. Es würde meinem Ruf schaden, wenn man dich mit mir auf einem Lager fände." Der Page Ilka zeigte sich wenig später sehr verwirrt, als er Thyrian nicht allein fand. Er eilte, einen weiteren Pagen zu holen. Nach dem gemeinsamen Frühmahl entließ Thyrian die Pagen. Ein wenig wollte er noch mit Tibra plaudern, doch viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Der Thronsaal der Burg füllte sich bereits. Tibra hatte sich festlich, aber nicht prachtvoll gekleidet. Thyrian musterte ihn eingehend.
"Was gefällt dir nicht?" brummte Tibra, dem dies nicht entging. Der Freund lächelte amüsiert. Dann trat er zu einer Truhe und entnahm ihr so prachtvolle Gewandung, wie sie eines Königs würdig war. Tibra schob unwillig die Unterlippe vor, was Thyrian ein leises Lachen entlockte. "Das war nicht meine Idee," erklärte er rasch. "Seymas ist der Ansicht, daß Ariston heute eine gewaltige Überraschung erleben sollte. Er hat ja keine Ahnung, wie nahe du ihm stehst und wie sehr dich das bei vielen Leuten aufwertet. Spiele ein Spiel, Tibra." "Das ist Blendwerk." "Natürlich ist es das," gab der Pala des Than fröhlicher zu, als es eigentlich seiner Art entsprach. "Seymas würde sich königlich amüsieren, wenn er zuschauen könnte." Tibra grinste wider Willen. Der mächtigste Mann der Reiche, gerade sechsundzwanzig Jahre alt, war von heiterem, fröhlichen Wesen. Ihm würde es wirklich gefallen, wenn sein Freund bei einem solch offiziellen Anlaß wie ein Herrscher auftrat. Für einen Moment war ihm, als höre er das Lachen des fernen Freundes. Während er sich also noch einmal umkleidete, öffnete Thyrian, höchst zufrieden, die Truhe erneut. Seymas wollte, daß auch Harkym entsprechend gekleidet sein solle. Tibra stieß einen überraschten Pfiff aus, als er den Sohn sah. Der Kleine trug nun eine kurze Tunika aus sehr wertvollem Stoff, darunter Beinkleider und dazu sehr weiche Schuhe. Tibra hatte sich in eine weiche Tunika aus gelber und weißer Farbe gekleidet, überreich bestickt und mit silbern schimmernden Borten verziert. Das weich fließende Tuch umschmeichelte die Haut. In seiner Jugend lernte er das
Handwerk des Tuchmachers. Er konnte diesen Stoff beurteilen und er wußte, daß er sehr kostbar und teuer sein mußte. "Du siehst gut aus," schmeichelte Thyrian erheitert, während er zu ihm trat und ihm einen bodenlangen Umhang derselben Qualität um die Schultern legte. "Ich hoffe, du fühlst dich auch so." "Dada, schau," rief Harkym. Der Magier lachte. "Mein Sohn fühlt sich wie ein Prinz. Wenn es ihm gefällt, wird es mir auch gefallen." Er nahm den Kleinen auf den Arm. "Wir sollten den Thronsaal suchen."
S
ie verließen den Raum. Die Gardisten draußen neigten grüßend das Haupt. Sie kannten Tibra und sie wußten, wie Ilkonys zu ihm stand. Aus den Räumen des Prinzen ertönte leises Kinderweinen. Der Magier zögerte, sah fragend auf Thyrian. Als der nickte, trat er bei Nodhers Erben ein. Cynara und Ilkonys hatten sich sehr festlich gekleidet. Die Stunde ihrer Vermählung nahte. Die Priesterin zeigte sich etwas aufgeregt. Vor allem aber war sie nun besorgt. Ihr Sohn fremdete seit einigen Wochen, ließ keinen Menschen außer ihr und Ilkonys an sich heran und jetzt weinte er entrüstet, weil sie ihn einer Kinderfrau übergeben wollten. Beide hatten das Eintreten von Tibra und Thyrian nicht bemerkt. "Wir dürfen die Gäste nicht länger warten lassen," mahnte Cynara soeben. "Changanar wird sich beruhigen und sicher nicht den ganzen Tag weinen." Ilkonys hielt den Knaben auf dem Arm. Er wirkte unschlüssig.
"Ihn weinen lassen?" überlegte er, während der Kleine durch seine Nähe langsam ruhiger wurde. "Dein Sohn wird immer auch mein Kind sein, Cynara. Ich weiß nicht viel von Kindern und das wenige, das ich gelernt habe, habe ich Tibra abgeschaut. Er würde Harkym niemals weinen lassen. Wir nehmen Changanar einfach mit. Er wird den Festakt schon nicht stören." "Mein Sohn ist leider widersprach Cynara.
nicht
so still wie Harkym,"
Ilkonys bemerkte eine Bewegung hinter sich. Er fuhr herum und starrte Tibra an. Nodhers Erbe sagte kein Wort, doch seine ganze Haltung und die Art, wie er den Magier ansah, entdeckten seine Freude über dieses nicht mehr erhoffte Wiedersehen. Tibra stellte Harkym auf den Boden. Dann trat er zu Nodhers Erben und nahm ihm das Kind ab. Changanar starrte ihn mißtrauisch an, verzog das Gesicht. Aber er weinte nicht, sondern stieß einen zufriedenen Seufzer aus und machte es sich bequem auf den starken Armen dieses fremden Mannes. Cynara sah es mit großem Erstaunen. "Ich freue mich, daß ich dich etwas lehren durfte," sagte der Magier endlich zu Ilkonys. "Laß deine Kinder niemals weinen, Freund. Laß sie nie allein, wenn sie sich nach deiner Nähe sehnen." Er sah Cynara an. "Als mein Sohn keine Fremden duldete, ließ er sich doch von euch auf Amarra behüten. Vertraut mir nun Changanar an, wie ich euch Harkym anvertraute." "Du solltest dabei sein," murmelte Ilkonys. "Ich komme mit den Kindern später in den Thronsaal," versprach Tibra, "immer vorausgesetzt, daß ich ihn finde." Er hatte sich bereits einmal in der großen Burg verlaufen. "Geht nun und besiegelt euren Bund. Wir reden später miteinander."
Der Prinz zögerte immer noch, wenn auch nicht wegen dem Kind. Aber endlich war der Freund bei ihm und jetzt sollte er keine Zeit für ihn haben? Thyrian öffnete wortlos die Tür. Die Gäste warteten. Da ergriff Ilkonys die Hand der Geliebten, warf Tibra noch einen langen Blick zu und führte Cynara dann durch die weiten Gänge. Thyrian ging mit ihnen. Tibra sah ihnen nicht nach. Er begab sich in die Hocke, stellte Changanar auf die Füße und schaute dann den beiden Kindern zu, die sich vorsichtig einander annäherten und sehr rasch Zutrauen zueinander faßten. Es dauerte einige Zeit, bis die Knaben miteinander lachten. Da erst hob er sie auf und trug sie mit sich. Im Gang hatte einer der Gardisten auf ihn gewartet, zeigte ihm nun den Weg und führte ihn bis zum ebenerdig gelegenen großen Thronsaal, dessen Türen soeben geöffnet wurden. Der Magier lächelte. Er wußte, daß der Festakt der Anvermählung bereits beendet war. Ilkonys und Cynara waren nun Mann und Frau. Die Priesterin galt jetzt als Nodhers Königin.
C
ynara erblickte Tibra bei den großen Eingangstüren. Fast hastig machte sie Ilkonys auf ihn aufmerksam. Doch nun trat Cynesta, Aristons Gemahlin zu ihnen. Sie konnten nicht weg und sprachen mit ihr. Der Magier stellte Harkym auf den Boden, ergriff dessen Hand. Changanar hielt er weiter auf dem Arm, während er nun den Festsaal durchquerte. Ein wenig lag es sicher an seiner Gewandung, daß die Menschen vor ihm eine Gasse bildeten. Erfreut konnte Cynara wenig später ihren Sohn auf die Arme nehmen. Tibra wollte sich entfernen, doch Ilkonys griff rasch nach seiner Hand und hielt ihn zurück. "Mutter," wandte er sich an Cynesta, "du erinnerst dich sicher an Tibra. Er ist mein Freund."
Der Magier verweilte im Gespräch. Aber dann erinnerte er sich daran, daß Seymas sich wünschte, er würde ein Spiel spielen und Ariston verblüffen durch eine gelebte Macht, die er eigentlich gar nicht empfand. Unweit entfernt stand Thyrian und nickte ihm auffordernd zu. So hob er Harkym auf und begab sich in die Menge. Ariston Nodher schien ihn gar nicht zu beachten. Doch aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er den Magier sehr genau. Khyons Herrscher Mardones vertrat Tibra den Weg. Einst hatte dieser Magier in seinem Reich Raakis Tempel vor magischer Bedrängnis gerettet. Zuvor sprach er nie mit diesem Mann. Doch jetzt war Tibra ein Mann der Macht und Pala des Than. Es war Zeit, ihm für sein Wirken zu danken. Mardones galt nicht als sehr umgänglich. Daß er so lange und so freundlich mit Tibra sprach, machte auch den letzten der Gäste auf diesen Magier neugierig. Sarais Erbe Delaros verhielt sich fast scheu. Er hatte früher Thyrian verfolgt. Daß dieser Mann noch lebte, war mit Tibras Verdienst. Auch er dankte dem Magier und deutete dabei an, daß er in Sarai willkommen sei. Auch Sions Herrscher Thylenon näherte sich Tibra. Er kannte diesen Mann schon, der auf ihn eine seltsame Faszination ausübte. Er wollte einfach ein wenig mit ihm reden und die Art, wie er es tat, bewies Respekt und Achtung. Lyandros, der Falla der Weisheit in Nodher, kreuzte gar die Arme vor Tibra und kniete grüßend nieder. In den wenigen Wochen, in denen Tibra vor ihm diesen Tempel leitete, stand er ihm bei. Er wußte nicht, daß dieser Tempel magisch verseucht und dadurch unwirksam wurde. Er versuchte nur, einem Falla zu dienen, den der Than berief. Er hörte wohl, daß auf Amarra Tibras Wirken gelobt wurde und der Magier sein Amt freiwillig zurück gab. Lyandros
erhielt dieses hohe Amt wenig später. Zum ersten Mal seither sah er nun Tibra und sein demütiger Gruß sollte auch Ausdruck seiner Freude sein. Sie sprachen über Tempelangelegenheiten, als sei der Magier wirklich ein bewußter Priester. Endlich konnte Tibra auch Gerrys begrüßen und mit ihm Nymardos, dessen vertrautesten Freund, der vor Seymas als Than über die Reiche herrschte. Sie alle lebten in einem Tempel und der vertraute Umgang miteinander gehörte zu ihrem Alltag. Ungewöhnlich war nur, daß sich der Falla des Lichts zu ihnen gesellte und Tibra mit ausgesuchter Höflichkeit behandelte. Ariston entging nichts von alledem. Fast schien es, als sei den Gästen dieser Magier wichtiger als Ilkonys, den zu ehren sie doch gekommen waren. Er hoffte, der Sohn empfand all dies nicht als Kränkung. Wie wenig Anlaß zu dieser Sorge bestand, begriff er sehr schnell, als er zu seinem Erben trat und mahnte: "Du solltest Changanar jetzt entfernen lassen. Die Festtafel ist bereitet und das Mahl dauert sicher etwas länger." Ilkonys hielt den Knaben auf dem Arm und lächelte. "Als ich so klein war entfernen lassen, Vater?"
wie er, hast du mich da auch
"Ich habe dir jedenfalls keine langweiligen, ermüdenden, offiziellen Anlässe zugemutet," schmunzelte der Herrscher. "Es wird Changanar gefallen," erwiderte der Prinz aber nur. Im Speisesaal bestand er dann darauf, daß Tibra sehr nahe bei ihm sitzen solle. Diese unerwartete Erhöhung des Magiers mißfiel nicht nur Ariston. Doch er schwieg dazu. Während der Festtafel unterhielten Musikanten und
Schausteller die Gäste. Heiterkeit kam auf, fröhliches Lachen ertönte und manche lockere Plauderei ließ Festtagsstimmung entstehen. Tibra strahlte Heiterkeit und zugleich ein sehr großes Machtbewußtsein aus. Er wußte, daß ihn fast jeder der Gäste beobachtete und er spielte das Spiel, das Seymas ihm zudachte. Er fand sogar Gefallen daran. Nur vor Harkym spielte er nicht. Er fütterte den Sohn und zeigte ihm all die liebevolle Zuwendung, die der Kleine stets von ihm erhielt. Die Selbstverständlichkeit, mit der er sich gelassen um die Bedürfnisse und Wünsche des Sohnes kümmerte, half Cynara und Ilkonys, Changanar ebenso zu behandeln. Mercur hatte darauf bestanden, daß auch Talima am Fest teilnahm. Da der Magier so weit oben an der Tafel saß, nahm er mit ihr weit entfernt Platz. Er mußte das nicht tun, aber er mochte den Magier nicht und fühlte sich unwohl, da er dessen Sklavin liebte. Aniela blieb an ihrer Seite. Sie wich Tibras Blicken aus und wünschte, ihr sei ein Fernbleiben erlaubt worden.
D
en Mittag verbrachten die Menschen in lockeren Gruppen innerhalb der Festräume oder auch draußen im Garten und im Burghof. Jetzt konnte sich Aniela unbemerkt entfernen. Erst am Abend, zum offiziellen Fest, mußte sie wieder anwesend sein. Sie fürchtete sich ein wenig davor, daß Tibra sie aufsuchen würde, doch der Magier nahm an allen Festlichkeiten teil. Tibra hatte längst bemerkt, wie genau Ariston ihn beobachtete und er spürte auf intuitive Weise dessen nachdenkliches Unwohlsein. So spielte er das Spiel weiter, selbst erstaunt darüber, wie wichtig es den durchaus mächtigen Gästen des Herrschers war, mit ihm ein paar Worte zu wechseln.
Er sah Thyrian auf einer Decke im Garten lagern. Ein Page hatte ihm heißen Kräutertee und kleine Nußkuchen gebracht. Tibra atmete auf, als sich niemand nahte, da er sich zu Thyrian begab. "Gefällt es dir?" erkundigte sich der Freund, wähend er ihm einen Becher mit Tee reichte. "Es ist anstrengend," grinste Tibra. "Ich denke, die Hälfte der Leute habe ich jetzt gesprochen. Dabei sehne ich mich nur nach einem Gespräch mit Aniela." "Sei nicht ungeduldig. Sie muß eine schwere Entscheidung treffen und will damit fertig sein, ehe sie mit dir spricht." "Was meinst du?" "Sie weiß noch nicht, ob sie mit dir leben kann," stellte Thyrian gelassen fest. "Dann sollte sie zumindest wissen, daß ich zu Hause nicht mit ihr leben will," brummte Tibra mißmutig. "Sie wäre auf Dauer nicht glücklich im Tempel, Thyrian. Eine Trennung ist da wohl das kleinere Übel, denke ich." "Liebst du sie denn nicht?" "Was wäre das für eine Liebe, die das Geliebte in eine beengende Umgebung zwingt und dessen Unglück akzeptiert?" Thyrian lagerte sich bequemer hin, legte sich auf die Seite und sah Harkym schmunzelnd zu, der begann, den dritten Kuchen zu zerbröseln, um danach die Krümel zu verzehren. "Du hast meine gelassen fest.
Frage
nicht
beantwortet," stellte er
"Was willst du hören? Das Schwärmen eines Jünglings? Dazu bin ich zu alt. Aniela ist jung, schön und begehrenswert. Aber das sind viele Frauen." "Und was sind ihre Qualitäten?" erkundigte Thyrian mit unerwartetem Ernst in der Stimme.
sich
Tibra lächelte. Seine Stimme klang etwas wärmer, als er antwortete: "Aniela ist sehr selbstständig. Sie engt einen Mann nicht dadurch ein, daß sie beständig seine absolute Nähe und ungeteilte Aufmerksamkeit will. Sie denkt konsequent und hält an ihrem rationalen Weltbild fest, obwohl sie weiß, daß ich Magier bin und ein großer Teil meiner Freunde Priester sind. Sie verspottet diese für sie unverständlichen Wege nicht, aber sie versucht auch nicht, sie zu gehen, um gefällig zu sein. Sie besitzt geistige Stärke, Mut und Willenskraft. Ich würde sehr gerne mit ihr leben, Freund." "Und das kann nicht Sarai sein? Meine Heimat ist sehr schön." "Ich ließ sie wissen, daß alles in ihrem Ermessen liegt. Es ist ihre Entscheidung, Thyrian. Sie wird unser gemeinsames Umfeld wählen und sie weiß, daß ich alles außer der Burg oder einer großen Stadt akzeptiere." Harkym gewann nun die Überzeugung, daß all die andern Lagerplätze die besseren Leckerbissen besaßen. Also stapfte er mutig davon. Tibra seufzte leise. Er wollte lieber das Gespräch weiterführen, doch der Sohn ging natürlich vor. Thyrian sprang leichtfüßig auf und holte den Kleinen ein. Harkym verzog böse das Gesicht, als der Mann ihn aufhob. Er strampelte. "Laß ihn runter," rief Tibra, der sich bisher nicht erhob.
Als Harkym am Boden stand, rief er ihn zu sich. Der Kleine gehorchte, aber er wirkte nun sehr enttäuscht. Thyrian nahm mit einem Lächeln ein Stück Kuchen von der Gruppe auf, der Harkym zustrebte, brachte ihn dem Kleinen und versöhnte ihn damit. Harkym strahlte, plapperte, lachte und genoß die Stunden. "Ich habe das Gefühl, anstarrt," brummte Tibra.
als
wenn uns jeder heimlich
"Natürlich," erwiderte Thyrian voll Heiterkeit. "Man hat gehört, wie du mich angerufen hast." "Ja, und?" "Du hast mich geduzt." "Das ist nichts Neues," erinnerte Tibra, der den Zusammenhang noch nicht sah. "Für die Leute hier ist es etwas Neues," erklärte der Freund, dem die Situation sehr gefiel. "Man weiß, daß du Seymas nahe bist. Doch wie wir zueinander stehen, das ist nicht allgemein bekannt. Ich gelte immer noch als unnahbar. Jetzt ist auch der letzte Gast auf dich neugierig geworden." "Ich kann dir gar nicht sagen, wie gleichgültig mir das ist," brummte der Magier da nur mißmutig.
N
odhers Erbe weilte ebenfalls im Garten, doch fand er nicht die Zeit zu ruhigem Gespräch. Sein Vater führte ihm unermüdlich neue Gäste zu. Er hielt es für wichtig, daß der Sohn vor allem mit all jenen sprach, die eine weite Reise auf sich nahmen, um ihn zu sehen. Er sah den erstaunten Blick des Vaters, als Tibra den Pala des Than so vertraut anrief. Ilkonys lachte leise und fröhlich.
"Ich habe dir doch gesagt, daß sie sich mögen," erinnerte er den Herrscher vergnügt. "Wie ich dir auch sagte, daß ich diesen Magier liebe und seine Freundschaft mich sehr bereichert. Es kann nicht richtig sein, daß ich mit hundert fremden Menschen rede und einen Freund beharrlich übersehe." Er wartete keine Antwort ab, deutete eine Verneigung vor dem Vater an und entfernte sich hastig. Cynara kam ihm entgegen. Ilkonys nahm ihr den Sohn ab, doch er blieb nicht bei ihr. "Bitte, ich muß jetzt mit Tibra reden," erklärte er entschuldigend. "Halte mir, wenn du kannst, ein wenig die Störer fern." Die Gemahlin nickte ihm aufmunternd zu. Erst, als er zu dem Magier trat, zögerte er dann doch. Er wußte nicht so recht, ob er auch Thyrian willkommen war. Die Entscheidung traf Changanar, der unbedingt zu Harkym wollte. "Wenn du endlich ein wenig Zeit hast, dann setz dich zu uns," lud ihn Tibra ein. "Wenn du nur den Kleinen behütet wissen willst, ist es auch gut. Laß ihn hier." Harkym hatte sich den leeren Becher des Vaters gegriffen und begann, Grashalme auszurupfen und ihn damit zu füllen. Changanar schaute ihm kurz erstaunt zu, dann nahm er an diesem für ihn seltsamen Spiel teil. "In der ganzen Burg wird wohl niemand so schlecht bedient wie ihr beide," stellte Ilkonys mit Blick auf das leere Geschirr fest. Er gab wartenden Pagen einen Wink, lagerte sich dann nieder, wobei er Thyrian einen entschuldigenden Blick zuwarf, den dieser jedoch gleichmütig ignorierte. Nodhers Erbe begrüßte Tibra endlich und zeigte dabei offen die
Freude, die er über dessen Kommen empfand. Nachdem sie kühle Getränke und Obst erhielten, erzählte er ohne Aufforderung von seinen Versuchen, Tibra den versprochenen Titel des Pecha zukommen zu lassen. Er entschuldigte sich, ehrlich betrübt, weil er dieses Wort nicht halten konnte. Cynara versuchte wirklich, jeden Störer aufzuhalten. Sie stellte schnell fest, daß sie dieser Aufgabe wohl nicht ganz gewachsen war. Lächelnd trat da Ariston zu ihr und nun war er es, der dem Sohn den nötigen Freiraum auf unauffällige Art verschaffte. Ilkonys sprach von Aniela. Sie hoffte wirklich, daß sich der Vater umstimmen ließe. Doch er wie auch die Pechas des Reiches blieben bei ihrer Ablehnung. "Aniela war zuerst sehr wütend," berichtete er, bei allen Worten doch immer etwas besorgt wirkend. "Je mehr unsere Eltern gegen dich sprachen, desto entschlossener wurde sie. Schließlich hat sie erklärt, daß sie dann eben im Tempel mit dir leben werde. Mutter war entsetzt, Vater zornig. Aber Aniela blieb fest. Sie suchte fast täglich Cyprina auf. Ich glaube, sie lernte, wie eine Frau des Volkes ihre Arbeit tut." Ilkonys lächelte bei diesem Gedanken. Es fiel ihm durchaus schwer, sich die Schwester beim Kochen oder Waschen vorzustellen. "Als du auf dem Rückweg von Amarra nicht zu uns kamst, hat sie sich verändert, Tibra. Aniela wurde viel stiller, hat sich von allem zurück gezogen und wohl eingesehen, daß sie ein so einfaches Leben doch nicht führen kann." "Und es sollte nichts dazwischen geben?" warf Tibra nachdenklich ein. "Ich bin kein armer Mann, wie du weißt. Ein Landgut, ein Gestüt, würde ihr das nicht genügen?" "Ich sprach mit ihr darüber," gab Ilkonys betrübt zu. "Anfangs dachte ich, daß sie damit zufrieden sei. Aber es wäre ihr zu still, Tibra. Und in einer Stadt willst du ja nicht
leben. Seltsam ist nur, daß sie in letzter Zeit selbst nicht mehr gut von Städten sprach. Sie hat sich sehr verändert, mein Freund." "Inwiefern?" "Nun, sie war immer so stark und wußte stets, was sie wollte. Jetzt wirkt sie verunsichert. Manchmal ist sie fröhlich, um wenig später traurig zu sein und zu weinen. Dann schwärmt sie von deinem einfachen Leben und gleich darauf spricht sie nur von Reichtum, Ehrgeiz und Macht. Sie tafelt mit uns, lobt die Köche und verlangt dann plötzlich nach Nußbrei oder etwas, das sie von dir her kennt. Manchmal denke ich, sie weiß nicht, was sie will." Thyrian leerte seinen Becher. Er warf Ilkonys einen leicht erstaunten und Tibra einen höchst amüsierten Blick zu, ehe er sich erhob. Dann neigte er sich dem Magier zu. "Ich denke, sie benimmt sich den Umständen entsprechend völlig normal," meinte er bedeutsam, richtete sich auf und ging dem unweit gelegenen Weiher zu, wo einige hohe Priester lagerten. Verblüfft sahen sich Ilkonys und Tibra einen Augenblick lang an, dann schnellte der Magier förmlich auf die Beine. "Thyrian, warte!" Er rief es laut, eilte dem Freund nach, den er fast heftig bei den Schultern ergriff. "Was hast du eben angedeutet?" forschte er mit drängender Stimme. Thyrian lachte ganz leise. In seiner Stimme schwang viel Zuwendung, als er antwortete:
"Hast du deine Liebste beim Mahl nicht beobachtet, Freund? Man muß kein Priester sein, um sehen zu können. Aniela erwartet ein Kind und da sie es bis jetzt vor ihrer Familie verbergen konnte, läßt sich unschwer errechnen, wann es wohl gezeugt wurde. Und von wem," fügte er bedeutsam hinzu. "Du irrst dich nicht?" "So sehr, wie ich deiner Intuition vertraue, so sehr darfst du meiner Beobachtungsgabe trauen," versprach der Pala des Than. Tibra starrte ihn an, dabei den Griff fast schmerzhaft fest verkrampfend. Thyrian stand ungerührt. Er lächelte. Es gefiel ihm sehr, daß nun alle Blicke auf ihnen ruhten und vornehmlich Ariston unweit entfernt die Szene beobachtete. Nachdem der Magier noch immer nicht sprach, meinte er belustigt: "Du mußt dich jetzt entscheiden, ob du mich loslassen oder umarmen willst." Tibra zog ihn an sich. Er konnte sich nicht erinnern, Thyrian je umarmt zu haben, doch jetzt freute er sich über die Nähe dieses Freundes, der ihm die beste Nachricht brachte, die er sich denken konnte. "Mit wem willst du reden? Mit Sions Herrscher oder mit Sarais Herrn?" erkundigte sich Thyrian leise. Tibra löste sich halb von ihm, zog ihn erneut an sich. Seine Augen strahlten vor Freude. "Seymas wollte doch, daß ich ein Spiel spiele," erinnerte er den Freund. "Nun, ich habe noch nicht einmal damit angefangen und jetzt, denke ich, habe ich einen wundervollen Grund, gewinnen zu wollen."
Ein Page kam mit einem beladenen Tablett vorbei. Tibra löste sich rasch von Thyrian, ergriff zwei mit Wein gefüllte Achat-Pokale und reichte einen dem Pala des Than. Thyrian trank ein wenig, nickte dem Freund aufmunternd zu und setzte den begonnen Weg fort. Er war mit dem Verlauf der Dinge sehr zufrieden. Der Magier verhielt sich nicht mehr nur abwartend und nachgiebig, überließ seine Zukunft nicht mehr allein der Geliebten. Jetzt suchte er wieder, selbst sein Schicksal zu gestalten und er hatte dazu einen Anlaß, der ihn trefflich stärken und anspornen konnte.
Nodhers Erbe wunderte sich sehr über die Veränderung, die sich in dem Magier vollzog. Nachdem er Thyrian umarmte, zeigte er plötzlich großes Interesse an den Festgästen. Er drängte den Prinzen, ihm die Namen der Menschen zu nennen und mit einigen wenigen wollte er auch ins Gespräch gebracht werden. Während des lockeren Verweilens im Garten war dies noch kein Problem, doch beim abendlichen offiziellen Festempfang konnte sich der Prinz nicht mehr ausschließlich um diesen einen Gast kümmern. Tibra erwartete dies auch nicht. Es gab noch genug Gäste in der Burg, mit denen er reden wollte und jeder kannte nun sein Gesicht. Es war leicht, ins Gespräch zu finden. Als Harkym ermüdete, suchte er Cynaras Nähe. Sie verließen gemeinsam mit ihren Kindern das Fest, geleiteten die Söhne, die sie zueinander betteten, in den Schlaf. Auf dem Rückweg zum Festsaal meinte die junge Königin: "Aniela weicht euch aus, Tibra. Aber sie sehnt sich nach eurer Nähe. Kann ich euch irgendwie helfen?" "Steht ihr ein wenig zur Seite, Herrin," bat er da. "Sie braucht nun die Nähe einer Freundin." "Ihr solltet mich nicht Herrin nennen, Pala," lehnte sie diese Anrede ab, nicht zuletzt, weil sie sich noch viel mehr als Priesterin denn als Königin fühlte. Sie hielt ihn nun selbst einige Zeit an ihrer Seite und stellte ihm so manche der Frauen vor, die als Gäste in der Burg
weilten. Es sah nicht so aus, als wenn Tibra bewußt das Gespräch mit bestimmten Menschen suchte. Eher schien es, als kämen sie alle zu ihm. Doch noch bevor die Nacht ihren Höhepunkt erreichte, hatte er zumindest mit den Pechas des Reiches Nodher gesprochen. Diese Männer, die ihn ablehnten und nicht in ihrer Mitte wissen wollten, sie kannten nun zumindest sein Gesicht und sogar etwas mehr. Einer fehlte noch, doch an diesem Pecha war Tibra wirklich nicht interessiert. Er kannte Minas, die Gegend, über die dieser Mann herrschte und was er dort sah, gefiel ihm nicht. Zu seinem Erstaunen erwiesen sich die Fürsten von Nordass und Ambar als vortreffliche Unterhalter, mit denen sich herrlich plaudern ließ und die keinen Standesdünkel zeigten. Vandar, der Pecha von Ambar, sprach gern über seine Zeit als Priesterschüler. Er besaß die dritte Weihe. Seine Stimme besaß bei Hof durchaus Gewicht, zumal Ambar ein großes und reiches Gebiet umschloß. Dieser Mann, nur wenig älter als Tibra, nahm den Magier schließlich beiseite. "Nodhers Erbe hat tapfer für euch gestritten," sagte er dann unvermittelt, denn bisher sprachen sie nicht über dieses Thema. "Lastet ihm nicht an, daß ganz Nodher die Ansicht vertritt, daß man ein Volk nicht durch Magie regieren kann." "Ilkonys ist mein Freund," versicherte Tibra gelassen. "Aber ihr wißt, daß ich weitere Freunde habe, zu denen auch der Than gehört. Er herrscht nicht nur über Amarra, sondern auch als Souverän der Könige. Und er hat dieses Amt nicht gelernt. Verglichen mit ihm mag euch ein Falla gering erscheinen, doch auch die Tempelherren herrschen über viele hunderte von Menschen." "Ihr kennt viele von ihnen?"
"Einige," schränkte Tibra ein. "Bevor der Than sie in ihr Amt berief, haben sie einfache Berufe ausgeübt und dann sehr schnell ihr Amt gelernt." Vandar wurde nachdenklich. "Aber dies ist nicht die rechte Zeit, über solche Dinge zu reden, Pecha. Ihr habt Thyrian vorhin lange beobachtet. Wollt ihr ihn kennenlernen?" "Ich hörte viel über diesen Mann," wich Vandar aus. "Es gab eine kurze Zeit, in der man ihn für den neuen Than hielt, ehe die Fallas dann Seymas zu diesem Amt erkannten. Er regiert für ihn Amarra wie ein König und nach allem, was mir zu Ohren kam, ist ihm sein Volk treu ergeben." Tibra hatte Thyrian bereits gesehen und Handzeichen gebeten, zu ihnen zu kommen.
mit
einem
"Befremdet euch die Freundschaft, die mich mit dem Pala des Than verbindet?" erkundigte er sich offen. "Ihr seid ein Magier, Tibra," erwiderte der Pecha ohne jeden Vorwurf. "Es ist bekannt, daß ihr in eurer Gilde in hohem Ansehen steht. Daß ein Mann wie ihr zu hohen Eingeweihten der Priesterschaft steht, vertrauten Umgang pflegt mit ihnen, das ist womöglich etwas befremdlich. Ihr scheint aber ohnehin keine Probleme damit zu haben, mit den Menschen wahrer Macht umzugehen. Mein Gebieter Ilkonys ist euer Freund, doch ich habe gesehen, daß auch die Herrscher von Khyon, Sarai und Sion euch mit Respekt begegnen. Da ist es schon nicht mehr verwunderlich, wenn der heimliche König Amarras euch ebenfalls zugetan ist." Thyrian hörte im Näherkommen den letzten Satz. Er lächelte amüsiert, während ihm Tibra seinen Gesprächspartner vorstellte. "Ihr solltet mich nicht mit den Herrschern der Reiche auf eine Stufe stellen," wandte er sich nach einem Grußwort an den Pecha. "Sie alle kamen als Erben der Macht ins
Leben. Ich war nur ein Schafhirte, ehe ich nach Amarra kam." Der Pecha von Ambar wich überrascht einen Schritt zurück. Man dachte in den Reichen nicht über die Vergangenheit eines Than nach und weitete dieses Denken auch auf seinen Pala aus. Es erschien Vandar sehr unwahrscheinlich, daß ein Mann, der solche Macht besaß, zuvor seine Tage mit dem Hüten von Schafen füllte. "Ihr scherzt?" hoffte er, halb nachdenklich und halb ablehnend. Thyrian lachte leise, was Tibra ein Schmunzeln entlockte. Es war noch gar nicht so lange her, da zeigte Thyrian überhaupt keine Gefühle und sein Lachen war auf Amarra unbekannt. Jetzt plauderte er mit dem Pecha, als sei er ein vertrauter Freund. Er erzählte von seinen letzten beiden Jahren in Sarai, sprach von den Targa-Schafen, die ihm gehörten und der feinen Wolle, die sie lieferten.
T
ibra entfernte sich. Ilkonys war es gelungen, alle Gesprächspartner abzuschütteln und fast unbemerkt durch die Seitentür zum Garten hin zu schlüpfen. Der Magier folgte ihm. Nodhers Erbe seufzte leise, als er den Störer bemerkte. Dann entschuldigte er sich rasch. "Ich dachte, jemand anderes kommt. Es tut mir leid, daß ich mich dir nicht mehr widmen kann, Tibra." "Bei fast dreihundert Gästen hast du genug zu tun," wehrte der Magier heiter ab. "Das ist wohl anstrengend genug, wie? Wie lange dauert das Ganze noch?" "Das offizielle Fest währt noch vier volle Tage. Dann reisen die Ersten wohl ab, aber bis in der Burg wieder Ruhe einkehrt, das wird wohl zehn oder fünfzehn Tage dauern. Kannst du solange bleiben?"
"Ich bin Herr meiner Zeit," erinnerte der Freund. "Allerdings hängt das auch von Aniela ab. Sie hat das Fest verlassen, wie ich sah. Aber ich denke, sie sollte endlich mit mir reden." "Sie will aber nicht." "Na gut, dann sage mir, wo sie wohnt." Ilkonys lachte erheitert. "Du kannst unmöglich mitten in der Nacht bei meiner Schwester eindringen." Tibra grinste. "Gut, ich glaube dir, daß du es kannst. Aber ich fürchte, die Soldaten in den Gängen..." Er unterbrach sich. "Ich bringe dich später zu ihr und lasse sie wissen, daß sie auf mein Kommen zu warten hat. Nur jetzt kann ich das Fest noch nicht verlassen. Aber du scheinst dich ja durchaus zu amüsieren. Heute mittag hab ich noch gefürchtet, daß du dich sehr unwohl fühlst." "Das habe ich auch getan," gab Tibra zu. "Aber inzwischen stelle ich fest, daß ein paar durchaus interessante Menschen hier sind, deren Bekanntschaft bereichern kann." "Ich habe eher den Eindruck, als wenn du versuchen würdest, alle Pechas des Reiches für dich zu gewinnen." Tibra lachte herzlich bei diesen Worten. "Ich wollte sie alle kennenlernen," schränkte er ein. "Aber als interessant würde ich nur wenige von ihnen bezeichnen. Gespräche mit dem Herrn von Ambar sind durchaus anregend, aber das trifft nicht auf jeden Fürsten zu." Sie gingen zurück in die Halle, wo ein paar junge Männer sich sofort um den Prinzen scharten. Tibra ging weiter. Er sah entfernt den Prinzen Willar stehen und beschloß, ihn zu
begrüßen. Palsan, der Pecha von Minas, schob sich in seine Nähe. Tibra warf ihm einen kurzen Blick zu und sah dann demonstrativ in eine andere Richtung. Palsan herrschte seit knapp vier Jahren über die Gegend von Minas und zuvor verbrachte er achtundvierzig Jahre seines Lebens ausschließlich damit, sich nach oben zu dienern. Den Kopf hielt er immer noch ein wenig eingezogen und die Schultern nach vorn geneigt. Seine Gewandung hätte auch einem Herrscher zur Ehre gereicht, doch bewegte er sich in dieser zu betont vornehm, als daß es natürlich wirken konnte. Palsan war neugierig auf Tibra. Dieser Magier hatte ein wenig mit Vandar gesprochen und jetzt plauderte der Pala des Than mit diesem Mann, als seien sie lange miteinander bekannt. Es mußte wohl Vorteile bringen, wenn man gut mit Tibra stand und er gedachte durchaus, diese Vorteile auch für sich zu erringen. In den Händen trug er zwei wuchtige Achat-Pokale, fast bis zum Rand mit rotem Wein gefüllt. Er vertrat Tibra den Weg und hielt ihm einen von ihnen einladend entgegen. Eine Reihe von Gästen stand, in lockeren Gesprächsgruppen, um sie herum. Tibra konnte nicht einfach an Palsan vorbei gehen, dazu fand sich nun einfach nicht genug Raum. So blieb er stehen, verschränkte ganz langsam die Arme vor der Brust, lächelte auf zynische Art und erklärte mit ruhiger Stimme: "Ich trinke nicht mit euch, Pecha." Die Menschen ringsum verstummten. Palsan atmete tief durch. Er versuchte noch, gelassen zu wirken. "Ihr seid nicht sehr drohendem Unterton.
höflich, Tibra," warnte er mit
"Ach, wißt ihr," erwiderte der Magier leichthin, "pure Höflichkeit kann leicht verlogen sein. Ich bin zumindest
sehr ehrlich. Und ich habe euch nicht erlaubt, mich beim Namen zu nennen." "Jeder hier spricht euch so an." "Von euch, Pecha, will ich als Pala des Than geachtet und entsprechend tituliert werden," beharrte Tibra, der ansonsten diesen Titel nie erwähnte. Thyrian und Vandar wurden aufmerksam. Sie näherten sich ebenso wie König Ariston, der am andern Ende der Halle eben ein Gespräch unterbrach. Palsan zitterte nun fast vor Empörung. Tibra wirkte entspannt, fast heiter. Doch ihm entging keine Regung seines Gegenübers und als Palsan ihm wutentbrannt den Inhalt eines der Pokale ins Gesicht schütten wollte, wich er mit zwei knappen Schritten aus. Nicht ein Tropfen des Weines befleckte sein Gewand, aber drei edel gekleidete Frauen hinter ihm schrien nun entsetzt und beschämt auf. Fluchtartig strebten sie dem Ausgang zu, zumal Ariston nun nahte und sie sich so befleckt dem Herrscher keinesfalls zeigen wollten. Tibra grinste nur. Auch Thyrian war nun heran. Er nahm dem völlig überraschten Pecha wortlos den zweiten Achat-Pokal aus der Hand und übergab ihn einem in der Nähe stehenden Pagen. "Was gab es?" Ariston stellte diese Frage und erstaunlicherweise erwartete er die Antwort nicht von Palsan, sondern von Tibra, den er forschend ansah. "Nichts von Bedeutung, Gebieter," erwiderte der Magier mit fester Stimme. "Das nennt ihr ein Nichts, Pala?" forschte der Herrscher nachdenklich, während er die kleinen Weinpfützen auf dem Boden betrachtete, die ein Page eben hastig zu entfernten trachtete.
Ilkonys schob sich nun heran, doch Thyrian ergriff ihn still beim Unterarm und gab ihm ein Zeichen, sich jetzt nicht einzumischen. Ariston richtete den Blick auf Palsan, der hastig die Arme vor der Brust kreuzte und das Haupt vor ihm neigte. "Ich bedauere meine Unbeherrschtheit," behauptete der Pecha zerknirscht. "Ich wollte den Magier freundlich begrüßen und rechnete nicht damit, von ihm beleidigt zu werden." Tibra unterdrückte nur mangelhaft einen erheiterten Laut. Doch erst, nachdem ihm Ariston einen auffordernden Blick zuwarf, ergriff er das Wort. "Ein Freudentag für Nodher sollte nicht durch kleinliche Eitelkeiten getrübt werden, Gebieter. Erlaubt, daß ich mich entferne." Ilkonys ballte unmerklich die Hände zu Fäusten. Wenn Tibra nun ging, setzte er sich ins Unrecht und damit durfte er auch an den kommenden Festen nicht mehr teilnehmen. Ariston lächelte, während er liebevoll auf den besorgten Sohn schaute. Er wandte sich wieder Tibra zu. "Eitelkeit ist ein Wesenszug, den ich an euch niemals gesehen habe. Wenn diese Schwäche das Fest stört, dann ist es dem Pecha von Minas erlaubt, sich zu entfernen." Tibra bedankte sich durch ein sachtes Neigen des Kopfes. Palsan erbleichte. Und Ilkonys strahlte förmlich, froh darüber, daß der Vater den Freund vor Zeugen so hoch achtete. "Wenn ihr etwas wider mich habt, Tibra, so sagt es laut heraus!" rief der Pecha, um sein Ansehen fürchtend. "Jetzt? Hier?" Tibra lachte geringschätzig auf. "So bedeutsam ist meine persönliche Meinung nun auch wieder nicht. Es
wäre auch nicht angebracht, die Gäste hier zu langweilen mit der Geschichte eures Versagens." Er deutete vor Ariston eine Verneigung an, wandte sich um und trat zu Thyrian und Ilkonys. "Ich lasse euch nach dem Frühmahl rufen, Pecha," ließ der Herrscher den Fürsten wissen, der damit zunächst entlassen war und die Festgesellschaft verlassen mußte.
S
ehr viel später erst verließ die Herrscherfamilie das Fest und damit war es dann auch den Gästen erlaubt, sich zur Ruhe zu begeben. Tibra wartete gelassen, bis ihm Jerrad, der Sekundant des Prinzen, ein Zeichen gab und folgte diesem dann zum wartenden Ilkonys. Sie hatten bisher keine Gelegenheit mehr für ein vertrautes Gespräch gefunden und auch jetzt schien der Prinz in Eile zu sein. "Vater will um diese Stunde noch mit mir reden," erklärte er, während er den Freund durch die weiten Gänge der Burg führte. "Er wird leicht zornig, wenn man ihn warten läßt." "Du wirkst unruhig," stellte Tibra gelassen fest. "Weshalb?" "Ich fürchte ein wenig, daß er ungehalten ist wegen des Vorfalls mit dem Pecha von Minas. Aber ich bin ihm dankbar, daß er dich dabei nicht beschämte. Man könnte fast meinen, er schätzt dich." Mit einer fast flüchtigen Handbewegung scheuchte er die hier wachenden Soldaten zurück. Dann blieb er vor einer breiten Tür stehen. "Aniela erwartet mich, nicht dich," erinnerte er den Freund. "Sei nett zu ihr und verzeih ihre Launen, Tibra." Er schob den Freund durch die Tür, zog sie zu und winkte einen der Soldaten herbei, dem er mit leiser Stimme Anweisung gab, den Besucher gewähren zu lassen und auch
auf ihn zu achten.
K
önig Ariston hatte sich bereits bequem eingekleidet, als der Sohn zu ihm kam. Er wartete, mit geschlossenen Augen in einem hohen Sessel ruhend. Ilkonys trat rasch zu ihm, neigte sich leicht und wartete auf Weisung. "Warum so scheu?" wunderte sich der Herrscher. "Ich fürchte, du willst mir ein paar Vorhaltungen machen," gab der Sohn unumwunden zu, während er selbst Platz nahm. "Ich habe dich heute mittag wohl brüskiert, als ich darauf bestand, mit Tibra zu reden und mich zu lange mit ihm beschäftigt." "Wann ist er zur Burg gekommen?" "Ich weiß es nicht," gab Nodhers Erbe zu. "Er kam heute morgen in meine Räume und ich bin ihm dankbar, weil er Changanar behütete während des Festaktes." "Deine Mutter ist recht beeindruckt von seiner Art, mit Kindern umzugehen." Ariston lächelte den Sohn an. "Du bist unruhig seinetwegen. Dazu besteht kein Grund. Er weiß sich in Gesellschaft zu benehmen. Erstaunlich, daß Mardones aus Khyon sich seiner erinnert." "Trotzdem bist du verstimmt," erkannte der Prinz, den die Worte nicht täuschen konnten. "Nicht verstimmt, nur verwirrt," berichtigte der Vater. "Thyrian achtet auf seine Handzeichen. Er kommt, wenn Tibra ihn ruft; erweist den Menschen Freundlichkeit, die dem Magier gefallen. Wenn der Than ihm solches Verhalten befiehlt, bezweckt er etwas." "Thyrian handelt nicht auf Befehl," wehrte Ilkonys über-
zeugt ab. "Ich habe es dir doch erzählt. Als Harkym vor einem halben Jahr geraubt und nach Wyla verschleppt wurde, da waren Thyrian und Seymas da, um ihm zu helfen. Thyrian schätzt Tibra nicht weniger als ich. Wenn er ihn durch sein Verhalten aufwertet, so tut er es aus eigenem Antrieb und du kannst sicher sein, Seymas würde sich ebenso verhalten." "Thyrian sagte ja schon, daß Tibra den Titel Pala in vollem Unfang und ohne jede Beschränkung führt. Aber er wurde doch wohl aus Dankbarkeit für seine Verdienste so geehrt." "Das weiß ich besser, Vater. Und wenn du es mir nicht glauben willst, dann unterhalte dich mit Gerrys und Nymardos. Sage mir eines: warum hast du ihn vor Palsan erhöht?" "Weil ich ihn schätze," gab der Herrscher unumwunden zu. "Und warum bist du dann so dagegen, daß Aniela seine Gemahlin wird?" forschte Ilkonys angespannt. "Ich bin dagegen, ihm politische Macht und die Verantwortung über einen großen Teil unseres Volkes zu geben. Würde er Aniela lieben, gäbe es keine Bedingungen." Ilkonys sprang auf. Nun war er fast zornig. "Bedingungen?" rief er aus. "Wenn Tibra politische Macht wollte, würde ich ihn zu meinem Pala erheben und dagegen könntest nicht einmal du ein Wort sagen und es hindern. Als mein Pala stünde er über jedem Pecha. Aniela stellt Bedingungen, nicht er. Er würde lieber sein beschauliches Leben im Tempel weiterführen. Das einzige, was er fordert, das ist eine Zukunft außerhalb der Burg und außerhalb der großen Städte. Alles andere überläßt er deiner Tochter."
"Und das glaubst du?" erkundigte sich Ariston aufmerksam, doch sehr gelassen und ruhig. "Ich bin fest davon überzeugt, Vater." "Ich würde dir gern glauben, mein Sohn. Nur würde er dann nicht so erfolgreich versuchen, Eindruck beim Adel und den Herrschern zu schaffen. Er benahm sich heute abend auf dem Fest, als sei er ein Mann der Macht." "Genau das ist er," betonte Ilkonys nachdrücklich. Die späte Stunde verbot längeres Reden, abgesehen davon war ja alles schon oft genug gesagt zwischen ihnen. Sie begaben sich zur Ruhe, die ohnehin zu kurz ausfallen würde.
A
niela ärgerte sich, weil der Bruder ihr Warten verlangte. Sie fürchtete, er würde sie bedrängen, endlich mit Tibra zu reden. Sie las ein wenig und da es zu lange dauerte, kleidete sie sich endlich bequemer, kuschelte sich in einem der hohen Sessel und zog eine Decke über sich. Dann schlief sie ein. Tibra betrachtete sie still im Licht eines Flammenden Kristalles. Nach geraumer Zeit erst zog er einen Schemel in ihre Nähe, setzte sich und griff sanft nach ihrer Hand. Als er ihre Finger küßte, erwachte sie. Aniela stieß einen leisen Schreckensruf aus, starrte dann sofort etwas furchtsam zur Tür. "Es kommt niemand," versprach Tibra. "Ich habe meine Verbindungen einen wenig spielen lassen, um bei dir einzudringen." "Ilkonys wird kommen." Das klang nicht wie eine Warnung, sondern eher unwohl.
Aniela versuchte auch nicht, ihm die Hand zu entziehen. Tibra schüttelte sacht den Kopf. "Du bist zornig, weil ich auf dem Rückweg von Amarra nicht kam?" "Nein, ich bin nur müde, Tibra. Laß uns morgen reden." Da er schwieg, fuhr sie fort: "Du kannst dir nicht vorstellen, wie mühsam eine liebende Familie sein kann. Mutter ist entsetzt über unsere Beziehung. Sie meint, du seist viel zu alt für mich. Und Vater glaubt, du wollest durch mich Macht erhalten. Alle reden dagegen, sogar Willar schimpft. Wenn du nach der heißen Lichtwende gekommen wärst, wäre ich mit dir gegangen." "Ich hätte dich nicht mitgenommen." Lächelnd schaute er zu ihr auf. "Ich will eine glückliche Gemahlin an meiner Seite. Ein Opfer macht nie glücklich, Aniela." "Das habe ich erkannt. Ich weiß jetzt, daß es keinen Weg für uns gibt und beginne, mich damit abzufinden. Du hast mir die Entscheidung überlassen und mußt nun akzeptieren, daß es so ist." Tibra erhob sich. Er neigte sich langsam über sie. Aniela wandte das Gesicht beiseite, aber als er ihr Haupt umfaßte, hielt sie doch still und erwiderte seinen sanften Kuß. "Verzeihst du mir?" wollte er wissen. "Ich verstehe doch, daß es dir wichtiger war, zu deinem kranken Freund zu kommen." "Das meine ich nicht," wehrte er ab, während er sich auf die Armlehne des Sessel setzte. "Es war mir nicht wichtig, ein Umfeld zu schaffen, das dich glücklich machen kann. Darum habe ich alles dir und Ilkonys überlassen."
Aniela lächelte, doch eher wehmütig denn erfreut. "Ich habe inzwischen kochen und waschen gelernt und vieles von dem, was eine Frau des Volkes kann. Viele Tage verbrachte ich bei Cyprina und Floryn. Alles, was ich sah, das war ein Leben, das ich nicht führen will. Ich brauche eine Aufgabe im Leben, Tibra. Ich brauche das Gefühl, daß meine Arbeit wichtig ist und den Menschen etwas bedeutet. Und ich habe doch nichts anderes gelernt, als zu leiten, zu organisieren und das Recht zu vertreten. Ich habe meinem Bruder immer viel geholfen und sein Werk ist etwas, das ich als befriedigend empfinde. Wenn ich hier bleibe, kann ich noch viel tun. Verstehst du das?" Tibra nickte nur. Er verstand sie ja wirklich und er empfand bei ihren Worten sogar so etwas wie Erleichterung. Ilkonys sprach von ihren Launen, doch er spürte die Ernsthaftigkeit ihres Entschlusses. Es war ihm lieb, daß sie, genau wie er, die Werte ihres Leben nicht verraten wollte. "Wo ist eigentlich Harkym?" wollte sie wissen. "Er schläft. Er hält Changanar umschlungen und fühlt sich sehr wohl." Tibra legte ihr sacht die Hand auf den Bauch. "Mein Sohn war heute sehr glücklich im Spiel mit Changanar. Er möchte Geschwister haben." Aniela spannte sich etwas an. "Warum hast du es keinem gesagt?" Sie schloß die Augen, legte dabei ihre Rechte auf seine Hand. "Woher weißt du es?" "Thyrian hat dich bei der Festtafel beobachtet und dein Geheimnis erkannt. Weiß wirklich niemand davon?" "Noch kann ich es verbergen. Aber wohl nicht mehr lange. Ich erwarte nicht, daß du das Kind anerkennst, Tibra. Niemand muß wissen, wer sein Vater ist."
"Nach dem Gesetz würdest du dann das Kind verlieren und es müßte in einem Tempel aufwachsen." Tibra lächelte. "Keine Macht der Welt kann mich hindern, mein Kind zu bejahen. Und niemand kann mich hindern, seine Mutter zur Gemahlin zu nehmen." Sie wollte sich abwehrend aufrichten, doch er ließ dies nicht zu. "Thylenon bietet mir Land im Süden Sions. Und Sarai bietet die Steppen von Falfa, was mir bedeutend besser gefallen könnte." Er küßte sie sacht, ehe er fortfuhr: "Ich hatte keine Ahnung davon, Aniela. Die Herrscher haben Amarra dieses Angebot für den Pala des Than unterbreitet. Ich habe es erst heute erfahren." Aniela wich nun seinem Blick aus. Sie zitterte ein wenig, zwang die Erregung zurück und gestand mit leiser Stimme: "Ich liebe meine Heimat, Tibra. Ich gehe mit dir, wohin du willst und wann du es willst. Du mußt mir nur gestatten, daß ich manchmal meine Familie besuchen darf." "Gestatten?" Tibra lachte leise. "Ich werde dich nicht um Erlaubnis fragen, wenn ich zum Treffen meiner Gilde nach Silsa und danach auf Wochen nach Amarra reise. Ich werde auch nicht um Erlaubnis fragen, wenn ich den Schwarzen Tempel besuchen will oder meine Geschäfte auf Thara überprüfen. Du bist nicht minder frei als ich und je mehr du dein Leben lebst, desto näher werden wir einander sein." "Ich will dir nahe sein, ganz nahe," versprach sie. "Bleibe bei mir für den Rest der Nacht. Ich bin so froh, daß du endlich da bist. Halte mich fest." Aniela wollte ihn an sich ziehen, doch da fiel ihr sein Gewand auf und sie hielt inne. "Was für ein Spiel spielst du, Tibra? Du kleidest dich prachtvoller als Ilkonys, du plauderst mit den Königen wie ein Freund. Hast du dich so verändert?" Er lachte.
"Das Gewand hat mir Seymas gesandt. Ja, ich spiele, Aniela, und nun will ich auch das Spiel gewinnen. Laß uns etwas schlafen. Die Nacht ist kurz." "Vor allem für mich," seufzte sie in gespieltem Ernst. "Vater besteht natürlich darauf, daß die ganze Familie am Frühmahl teilnimmt. Willst du, daß er von unserem Kind erfährt?" "Erfahren muß er es. Aber nachdem du ihm nichts sagtest aus Furcht, er fühle sich durch das Kind erpreßt, schweigen wir noch ein wenig." "Das ist mir lieb." Mit einem Male wirkte sie wieder stark und selbstbewußt. "Weiß Sarais Herrscher, daß du bei ihm leben willst?" "Noch nicht. Gib mir noch zwei Tage Zeit, dann vergrößert sich die Auswahl. Ich denke, auch Mardones wird sich dann geehrt fühlen, wenn ich nach Khyon komme." "Khyon?" Das klang nicht sehr begeistert. "Wirbst du auch noch um Thara?" Er lachte erheitert. "Ich werbe um Nodher, Liebes. Aber der Gedanke an Thara ist gut." "Du wirbst um Nodher?" forschte sie mißtrauisch. "Natürlich. Sein künftiger König ist mein Freund. Überlaß jetzt alles mir, Aniela." Er zog sie auf die Beine. "Du solltest wissen, daß ich für meine Kinder das Unmögliche ermögliche. Und wir können nicht verlieren, Aniela, denn Sarai würde uns beiden gefallen." "Ich war nie in Sarai. Erzählst du mir von diesem Land?"
Ein wenig erzählte er wirklich von den weiten Steppen, den feurigen Pferden und dem wenigen, das er in Sarai sah. Doch als sie dann beisammen auf dem Lager lagen, interessierte ihn nur noch, wie sie die vergangene Zeit verlebte und die Schwangerschaft empfand. Aniela führte seine Hand auf ihren Leib. Als er da eine kleine Bewegung des Kindes spürte, fühlte er sich reicher als jeder Herrscher in der königlichen Burg.
N
odhers Herrscherfamilie traf sich später als gewöhnlich zum Frühmahl und ihnen allen fiel sofort auf, daß Aniela an diesem Morgen entschlossener und auch glücklicher wirkte. Auf Ilkonys' fragenden Blick hin lächelte sie dem Bruder zu und versicherte ihm so ohne Worte, wie froh sie war, daß er ihr den Geliebten brachte. Sie sprachen über die Gestaltung des Tages. Cynara empfand die ihr zugedachte Aufgabe als Bedrohung, denn sie sollte an diesem Vormittag die Stunden der Frauen der Herrscher gestalten. "Ich helfe dir," versprach Aniela, der all dies nichts Neues war. "Du wirst sehen, es ist gar nicht so schwierig." Während sie nun mit Nodhers neuer Königin redete, berichtete Ariston seinem Freund Orales und seinem Erben, daß er die Pechas zur Versammlung berief. Der kleine Vorfall zwischen Tibra und Palsan hatte den Unwillen manchen Pechas erregt, zumal ja der Fürst von Minas des Festes verwiesen wurde. Sie sahen darin eine ungerechtfertigte Erhöhung des Magiers. Andere aber, vornehmlich die Herren von Ambar und Nordass, wollten hören, was Tibra Minas vorwerfen konnte. "Das gefällt mir nicht." gestand Nodhers Erbe. "Die Fürsten erwarten, daß du meinen Freund abwertest vor ihnen. Wenn dich interessiert, was er zu sagen hat, kannst du ihn auch allein anhören." "Wenn er etwas zu sagen hat," mischte sich Aniela ein, die
erst jetzt von dem Zwischenfall erfuhr, "dann kann das durchaus ganz Nodher hören." "Es könnte beschämend für ihn sein," warnte Ilkonys rasch. "Nodher kann Tibra nicht demütigen," wehrte sie mit fester Stimme ab. "Er ist Pala des Than und damit darf er Respekt und Achtung erwarten. Die Anerkennung der Fürsten braucht er nicht." "Hast du nicht genau die zur Vorbedingung gemacht, ehe du dich ihm anvertrauen willst?" wunderte sich Cynesta. "Das habe ich, Mutter. Aber es war falsch und ich habe meinen Irrtum eingesehen. Ich liebe Tibra. Ich werde mit ihm gehen, wenn er nach dem Fest die Burg verläßt." "Wohin, Kind?" "Wohin immer er es will," betonte Aniela mit fester Stimme. "Du wirst im Tempel nicht glücklich sein," warnte Ariston die Tochter. "Auf Dauer wird es dir nicht genügen, ihn zu lieben. Du brauchst auch eine Aufgabe, die dich befriedigen kann. Ich habe dich nicht zu einem einfachen Leben auf dem Land erzogen." "Überlege es dir noch einmal," bat auch Cynesta. "Dieser Mann ist dreizehn Jahre älter als du." "Vater hat auch zehn Jahre mehr als du gesehen," wies sie Aniela ab. "Das hat eurer Liebe und eurem gemeinsamen Leben nicht geschadet." "Dein Vater ist ein Herrscher," beharrte sie. "Dieser Tibra übt nicht einmal einen Beruf aus. Man sagt, daß er auf Thara einen Sklavenhandel besitzt, aber er kümmert sich nicht einmal darum."
"Er ist Magier und dieses Werk führt er mit Ernst aus. Auf alle Fälle ist er nicht verarmt und was die materielle Sicherheit betrifft, so ist sie an seiner Seite keinen Gedanken wert." "Er hat ein Kind!" rief Cynesta nun aus, als sei dies ein Nachteil. "Das hat mich nicht gehindert, Ilkonys zum Gemahl zu nehmen," mischte sich Cynara da mit sanfter Stimme ein. "Daß er Cyprinas Tochter zeugte und auf Amarra seinen Erben, das ist nichts, das ich als Verlust betrachte. Warum sollte Aniela Harkym als Hindernis betrachten? Der Kleine ist eher ein Gewinn." Aniela lächelte der Freundin dankbar zu. Harkym war ihr noch fremd, wie es überhaupt der Gedanke an Mutterschaft war. Unbemerkt von allen legte sie Hand auf ihren Bauch. Sie würde es lernen, als Mutter zu leben und sie würde sich darin sehr bereichert fühlen. "Tibra ist der zärtlichste Vater, den ich mir denken kann," sagte sie nachdenklich. "Und als Gefährte wird er mich niemals einengen." "Trotzdem genügt Liebe nicht, um ein Leben zu füllen," mahnte Ariston. "Hast du nicht selbst bisher ein gemeinsames Leben mit ihm davon abhängig gemacht, daß er sein Leben für dich ändert?" "Ich sagte schon, daß ich im Unrecht war," wehrte sie unwirsch ab. Sanfter fuhr sie fort: "Ich weiß auch, daß Liebe nicht genügt und bisher dachte ich, ich müsse Bedingungen stellen, um diese Liebe zu schützen. Jetzt weiß ich, daß ich töricht war. Tibra liebt mich und er wird nie dulden, daß seine Gefährtin ein unerfülltes Leben führt. Er hat sich von seiner bisherigen Gefährtin Erynia getrennt, weil die an seiner Seite ihr eigenes Sein nicht mehr ausleben konnte.
Er wird dafür sorgen, daß ich glücklich bin." "Und wie?" forschte Ariston. "Wie soll er das machen, wenn er keine Möglichkeit bekommt, dir weltliche Macht zu bieten? Das ist es doch, was du willst." "Rede nicht gegen ihn, Vater," bat Aniela mit verlangendem Unterton. "Niemand wird mich hindern, ihm zu folgen. Auch du kannst nichts dagegen tun. Das Recht der Frau gewährt ihr Selbstbestimmung und die freie Wahl. Ich habe meine Wahl getroffen. Wenn dies etwas ist, das du Tibra anlasten willst und zum Anlaß nehmen, ihn vor den Pechas zu erniedrigen, dann verlasse ich die Burg in dieser Stunde." "Dein Trotz hilft weder dir noch ihm," mahnte Ariston. "Da du dich für ihn entschieden hast, werde ich euren Bund nicht hindern und wenn ich kann, will ich euer Leben gewiß auch erleichtern." "Du bist nicht böse?" Ariston lächelte. Es gefiel ihm sehr, daß die Tochter ihr Selbstbewußtsein wieder fand und ihren Weg verteidigte. Zwar verlor er sie nicht gern an Tibra, doch im Grunde wußte er sie an der Seite des Magiers sicherer als in der Nähe vieler der Adligen, die um sie warben und die Aniela nie beachtete. Er versicherte der Tochter mit nachdrücklichen Worten seine Bereitschaft, ihr in allem beizustehen. "Du willst deinen Einfluß auf mein Leben nicht verlieren," vermutete Aniela erstaunt. "Ich habe mich bisher deiner Führung gern anvertraut, Vater. Du hast mich geleitet und erzogen und ich hatte nie das Gefühl, als sei ich bevormundet oder eingeengt. Aber diesen Einfluß gestehe ich von nun an nur noch meinem Gemahl zu. Ich glaube nicht, daß er deine Hilfe braucht, zumal Sion und Sarai um ihn werben. Es ist allein seine Entscheidung, wo und wie wir leben; sei es im
Tempel oder anderswo." "Du willst dich ihm also völlig ausliefern," begriff Cynesta erschüttert. Ihre Augen wurden feucht. "Du suchst ja förmlich das Unglück." "Du übertreibst, Liebste," stand Ariston der Tochter bei. "Das sagst ausgerechnet du?" wunderte sich Cynesta. Sie hatten das Mahl inzwischen beendet. Ariston wandte sich an den Sohn: "Sende einen Boten zu Tibras Quartier, damit er ihn zur Versammlung führt." Ilkonys grinste. Tibra hatte bei der Schwester übernachtet und dorthin wollte er gewiß keinen Bediensteten senden. "Ich hole ihn selbst," versprach er. "Aber das wird etwas dauern, Vater. Da er nicht weiß, daß er zu Kommen hat, schläft er sicher noch. Du kannst die Pechas ja mit ein paar allgemeinen Themen hinhalten." Er erhob sich, neigte sich über Cynara und küßte sie. "Hab keine Furcht vor dem Empfang. Aniela wird dir helfen und du wirst sehen, daß es gar nicht so schwierig ist. Du bist jetzt Nodhers Königin und kannst dich gar nicht falsch verhalten."
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ibra schlief um diese Stunde wirklich noch. Ilkonys lächelte, weil der Freund auch nach dem dritten Rütteln an seinen Schultern noch nicht reagierte. Die Tiefe seines Schlafen hatte der Prinz stets mit Verwunderung registriert. "Nun wach' endlich auf," drängte er. "Harkym ist schon seit Stunden munter."
Der Name des Sohnes drang in Tibras Bewußtsein. Er schlug die Augen auf. "Wo ist er?" wollte er wissen. "Er spielt mit Changanar und ist sehr zufrieden," grinste der Prinz. "Talima behütet die Kinder. Wir sollten irgendwann noch über sie reden. Aber jetzt mußt du aufstehen und der Versammlung der Fürsten beiwohnen." Er zog Tibra die Decke weg. "Du kannst nicht den ganzen Adel warten lassen." Er hatte eine Haustunika mitgebracht, in die der Magier sich nun hüllte. Er schien noch nicht sehr munter zu sein. "Wo ist dein Quartier?" wollte Ilkonys wissen. "Anielas Hofdamen sind kaum geeignet, dir den Bart zu schaben und dich einzukleiden." "Mein Quartier?" Tibra lachte leise. "Ich wurde in deinem Haus nicht begrüßt." Ilkonys sah ihn zweifelnd an. Solche Unhöflichkeit gehörte nicht zu den Sitten der Burg. Als er dann erfuhr, daß Tibra bei Thyrian nächtigte, wirkte er unruhig. Er würde sich beim Pala des Than entschuldigen müssen. Doch als sie diese Räume betraten, weilte Thyrian irgendwo im Garten. Ilka bediente den Magier, brachte ihm ein kleines Mahl und entfernte sich auf Ilkonys' Wink hin. Tibra trug nun die Kleidung, die er selbst mit sich führte. Das Gewand, das Amarra ihm sandte, würde der Page reinigen. "Denke nicht nach über Thyrian," bat Tibra den Freund. "Ich glaube, ihm hat es sehr gefallen, daß ich bei ihm war. Und wenn ich ehrlich sein soll, mir gefiel es auch. Erzähle mir lieber, was ich bei der Versammlung soll."
Ilkonys berichtete ihm, was er vom Vater erfuhr. Deutlich war ihm anzuspüren, wie wenig ihm die Sache gefiel. Doch Tibra nahm sie von der heiteren Seite. "Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich mir nicht so viel Mühe geben müssen, die Pechas auf dem Fest kennen zu lernen," grinste er. "Jetzt bekomme ich alle dreissig Fürsten auf einmal serviert." "Das ist kein Scherz," warnte Ilkonys unwillig. "Du weißt, daß der Titel des Pecha nicht erblich ist. Wenn du jetzt einen der ihren verklagst und dieser womöglich sein Amt durch dich verliert, machst du dir den Adel zum Feind. Er erlaubt es nicht, vom Volk in Frage gestellt zu werden. Sei vorsichtig, Tibra. Wenn sich die Pechas einig sind, dann hat ihre Stimme Gewalt." "Fürchtest du um Palsan?" wunderte sich der Magier. "Wenn dir so viel an diesem Mann liegt, werde ich ihn schonen." Ilkonys grinste, weil der Freund so gelassen redete und sich nicht bedroht fühlte, sondern wie jemand sprach, der drohen konnte. "Niemand liegt etwas an Palsan," wehrte er fast heiter ab. "Er ist ziemlich arrogant und alles andere als ein guter Landesherr. Aber er hat es auch nicht leicht. Minas ist zwar ein großes Gebiet, doch nicht eine Siedlung dort besitzt das Stadtrecht. Es gibt keine Märkte und der Handel ist kaum vorhanden. Die Leute sind arm in Minas. Palsan schuldet uns seit Jahren einen großen Teil der uns zustehenden Steuern. Nun ja, seine Vorgänger waren auch nicht besser. Es liegt nicht am Mann, es liegt an der Gegend. Er ist auch nicht der einzige, der sein Amt schlecht versieht. Der Pecha von Lekkar ist nicht viel besser dran, allerdings herrscht er über das Gebiet der Tarden und dieser aufsässige Bergstamm ist wirklich schwer zu regieren. Trotzdem werden es
dir alle Fürsten verübeln, wenn du einen der ihren verklagst." "Damit kann ich leben," versprach Tibra grinsend. "Ich weiß, daß es dir gleichgültig ist, was die Menschen von dir denken," rief der Prinz unwillig aus. "Aber mir ist es nicht gleichgültig und Aniela bestimmt auch nicht. Wir lieben dich, Tibra. Und wir wollen, daß Nodher dich liebt." "Palsan ist ein Teil von Nodher," erinnerte der Magier. "Sollten du und dein Vater wirklich nicht wissen, was in Minas geschieht?" Er ignorierte den fragenden Blick des Freundes, da er ja ohnehin in Kürze über alles zu reden gedachte. "Ich erkaufe mir keine Achtung durch Lüge." "Das erwarte ich ja wenig an deine Zukunft."
auch
nicht. Aber denke doch ein
"Hey." Tibra faßte rasch nach seinen Händen, hielt sie fest. "Hey, Freund, du solltest doch wissen, daß ich nicht völlig unbedacht bin. Meine Zukunft, das ist Aniela. Und das sind auch meine Kinder, für die ich alles ermögliche." "Deine Kinder?" Ilkonys betrachtete ihn mißtrauisch, denn der Freund sprach in der Mehrzahl als von einer längst gegebenen Tatsache. "Meine Kinder," beharrte Tibra mit festem Händedruck. "Dein Bruder und deine Eltern sollten es noch nicht wissen. Aber vor dir gilt kein Geheimnis, Ilkonys. Aniela ist schwanger." Ilkonys zog ihn an sich, umarmte ihn voll Freude. Dieses Glück gönnte er dem Freund und der Schwester aus ganzem Herzen.
"Ich werde dir beistehen," versprach er dann mit fester Stimme. "Niemand kann dich gegen meinen Willen wirklich bedrohen, nicht einmal mein Vater. Ich bitte dich trotzdem, nicht den ganzen Adel gegen dich aufzubringen." "Nicht den Ganzen? Ich denke, das kann ich dir versprechen," grinste Tibra.
D
er Beratungs- und Versammlungsraum der Burg war nicht sonderlich groß und besaß keine prunkvolle Eintrichtung. Ein hölzerner, großer u-förmiger Tisch fand sich hier, an dessen Stirnseite Ariston, Orales und Ilkonys ihren Platz fanden. Rechts und links fanden sich je fünfzehn Stühle für die Landesfürsten. Die Pechas erhoben sich, als Ilkonys mit Tibra den Raum betrat. Sie neigten sich tief vor Nodhers Erben, der den Freund in die Mitte des Raumes führte und danach seinen Platz einnahm. Tibra trat nach vorn, kreuzte die Arme vor der Brust und verneigte sich vor Ariston, blieb ihm jedoch den Kniefall schuldig. "Der Mann hat kein Benehmen," murrte ein Pecha. Ariston lächelte nur. Dieser Magier rettete seinen Söhnen das Leben, bewahrte auch das von Thyrian und Seymas durch seine magische Kraft. Würde er die Macht, die Amarra ihm verlieh, ausleben, so müßten sich die Fürsten vor ihm neigen. "Wie wünscht der Pala des Than tituliert zu werden?" erkundigte er sich mit gelassener Stimme. Nun lächelte auch Tibra. Der Herrscher hatte nicht die Absicht, ihn zu bedrohen. Er wagte erst nun einen kurzen Rundblick und begriff, daß die Sitzordnung in etwa einer Rangordnung entsprach. Ambar saß nahe des Herrschers, Nordass immerhin noch im oberen Drittel. Minas fand ganz
am Ende des Tisches seinen Platz. "Von Palsan will ich meinem Rang entsprechend geachtet sein," erklärte er mit fester Stimme. "Die anderen mögen nach Gutdünken entscheiden. Nodhers Herrscher findet in mir einen gehorsamen Untertan." "Und Nodhers Erbe einen treuen Freund," ergänzte Ilkonys etwas trotzig. "Du solltest der Ehrengast bei meiner Vermählung sein, Tibra, und nicht vor einem Tribunal erscheinen." "Im Allgemeinen kommen Ehrengäste nicht in letzter Minute," warf der Pecha von Nordass etwas erstaunt ein. "Das ist schnell erklärt," erwiderte Tibra leichthin. "Ein Freund, der ungerechtfertigt eingekerkert wurde, bat mich um Hilfe und die Sache hielt mich etwas auf." "Hilferufe aus dem Kerker? Wie sollte das angehen?" "Ich bin Magier, Pecha. Jener Freund ist es auch und wir kennen Wege, einander zu rufen, die den priesterlichen Wegen nicht unähnlich sind." "Uns interessiert eure private Geschichte nicht, Tibra," rief Palsan erregt. "Ihr seid hier, um..." Tibra wirbelte herum. "Nennt mich noch ein einziges Mal beim Namen," drohte er, ihn unterbrechend, "und ihr habt Grund, mich zu fürchten." Palsan war bei diesen Worten aufgesprungen. Er setzte zu einer scharfen Erwiderung an, doch Ariston hob die Hand und gebot Schweigen. Durch eine Geste verbot er dem Pecha, sich wieder zu setzen. Sein Blick ruhte auf Tibra,
der sich ihm wieder zuwandte. "Ich bitte um Verzeihung, Gebieter," sagte der Magier gelassen. "Was des Pechas Wirken betrifft, so ist es nicht meine Aufgabe, ihn auch nur zu tadeln. Doch ich kann nicht dulden, daß er in mir auch Amarra kränkt und ihr könnt versichert sein, daß der Than diesem Mann keinerlei Zugeständnisse machen würde." "Was hat Amarra damit zu tun?" "Nichts," gab Tibra grinsend zu. "Das könnte sich allerdings schnell ändern, Gebieter. Wußtet ihr nicht, daß es in Minas den reisenden Priestern verboten ist, ihre Heilkunst auszuüben? Sie tun es ja meist unentgeltlich und darüber hinaus sind Priester nicht zu besteuern, was dem Pecha sehr mißfällt." "Lüge!" rief Palsan dazwischen. "Ich versuche nur, die gelernten Ärzte zu schützen. Priester werden nicht bedrängt, sie sind nur nicht gern gesehen." "Minas liegt an der Grenze zum Sumpfreich Moras," erwiderte Orales nachdenklich. "Zur Zeit der heißen Nebel zumindest müßte jede helfende Hand willkommen sein, die das Sumpffieber besiegen kann." Er stammte aus Moras und kannte die Auswirkungen des Fiebers genau, das jedes Jahr viele Todesopfer forderte. Palsan wagte es nicht, dem Pala seines Königs nun ein Widerwort zu geben. Ilkonys war sehr nachdenklich geworden. Er hatte kaum zugehört und schrak ein wenig zusammen, als der Vater sacht seine Hand berührte. "Was ist mit dir?" erkundigte sich der König besorgt. Nodhers Erbe erhob sich langsam. Er sah nur Tibra an, den er näher zu sich heranwinkte.
"Du hast von einem Freund gesprochen, einem Magier, der im Kerker ist. Hat dich dies nach Minas gerufen?" Tibra nickte nur. "Redest du von Farrak?" "Es freut mich, daß du den Magier nicht vergessen hast, der dir bei deiner Heimkehr nach Nodher das Leben rettete," erwiderte Tibra mit fester Stimme. "Kann ich daraus schließen, daß dein Wort diesen Mann noch immer beschützt?" "Weshalb zweifelst du?" "Weil es mich sehr Pecha in Nodher wohl sichtlich unruhig. "Es ist Farrak bedroht wurde in
verwundert, daß dein Wort einem nicht sehr viel gilt." Palsan wurde nicht das erste Mal gewesen, daß deinem Reich, mein Freund."
"Erzähle mir davon," verlangte der Prinz, der noch immer sehr nachdenklich wirkte. Er warf einen fast drohenden Blick auf die Männer. "Nur davon will ich jetzt hören." Ariston lehnte sich entspannt zurück und bedeutete so stumm, daß der Wunsch des Sohnes Vorrang besaß. Tibra lächelte. Dann erzählte er dem Prinzen von Farrak, der sich mit der Ziehtochter Vesna und in Gesellschaft der Priesterin Wana in einem dichten Forst in Minas niederließ. Wann immer in seiner Umgebung jemand erkrankte, Vieh starb, ein Feuer ausbrach oder eine Ernte verloren ging, wurde er des magischen Ursprungs der Sache verklagt und vors Tribunal gerufen. Da man ihm nichts beweisen konnte, gab es nie ein Urteil. "Ich wußte nichts davon," versprach Ilkonys betroffen. "Weshalb hat mich Farrak nicht benachrichtigt? Weshalb ist er in Minas geblieben?" "Er weiß wohl nicht, daß du ihn immer noch schützt," vermutete Tibra. "Und warum sollte er gehen? Er muß doch damit rechnen, daß es überall dasselbe ist. Außerdem liebt
Wana diesen Forst und die Menschen der nahen Siedlung schätzen die Nähe der Priesterin wie des Magiers." Er grinste. "Wana hat zumindest kein Opfer des Sumpffiebers dort erlaubt." "Ist Farrak noch eingekerkert?" "Wenn dem so wäre, hätte ich dich als Erstes um Beistand für diesen Mann gebeten," versprach Tibra. "Die Sache ist im Grunde lächerlich. Der Pecha von Minas ritt durch die Siedlung Quenal, die am Rand des Waldes liegt. Jemand warf einen Stein nach ihm. Er zog zu hart am Zügel, sein Pferd scheute und warf ihn ab, was den Leuten schadenfrohes Lachen entlockte. Palsan war wütend, knechtete die Menschen, preßte das Letzte aus ihnen heraus und richtete die kleinsten Vergehen mit großer Brutalität. Dabei ließ er sich reich bewirten auf dem Dorfplatz. Eine Stunde später wurde ihm übel und irgend jemand nannte die verdorbene Speise magisch manipuliert. Er schickte seine Soldaten nach Farrak, ließ ihn festsetzen und führte ihn gebunden mit sich. Er hatte ihm die Todesstrafe angedroht und das war wohl der Grund, warum Farrak bei dieser Anfeindung nach Hilfe suchte. Zwei Tage später habe ich ihn befreit. Der Pecha befand sich bei meiner Ankunft in Minas schon auf dem Weg zur Burg und weiß davon wohl nichts." Palsan war bleich geworden. Er stand noch, doch seine Hände krallten sich jetzt an der Tischkante fest. Tibra grinste böse, als er nun einige Schritte auf ihn zutrat. "Ihr werdet ein neues Tor für euren Kerker brauchen, Pecha." Das klang fast gutmütig. "Und wenn eure Leute euch berichten, daß mächtige Dämonen den Gefangenen raubten, dann tadelt sie nicht. So ganz falsch ist ihr Eindruck nicht gewesen." Er ignorierte die teils mißtrauischen, teils furchtsamen Blicke
der Pechas und er wandte dem Herrscher nun den Rücken zu. So sah er nicht, wie Ariston erheitert aufsah und Ilkonys nur mühsam ein kleines Lachen unterdrückte. Der Prinz wußte, welche Täuschungen Tibra beschwören konnte und er wußte auch, daß seine magische Macht wirkliche, gewaltige Kräfte beherrschte. "Ich hatte diesen Mann noch nicht verurteilt, Herr," wehrte sich Palsan schwach, der Tibra nun immerhin die schuldige Anrede zugestand. Tibra warf Ilkonys einen kurzen Blick zu, ehe er sich ganz Palsan zuwandte. "Oh, das konnte ich nicht ahnen," behauptete er spöttisch. "Foltert ihr eure Gefangenen immer, bevor ihr ein Urteil sprecht? Ist dies Sitte in Minas?" Er sah die Pechas an. "Es ist Sitte in Minas," behauptete er dann mit fester Stimme. Unruhe entstand. Ilkonys verlangte Stille. Dann kam er nach vorn, blieb ganz nahe bei Palsan stehen. "Folter?" forschte er. Er sah Tibra an. "Was geschah mit Farrak?" "Er war übel zugerichtet und ich fürchtete zunächst, ihn nicht lebend zu Wana bringen zu können. Ich blieb bei ihr, bis ich sicher sein durfte, daß Farrak genesen wird." "Er wird genesen?" Tibra nickte. "Ich werde ihn um Vergebung bitten für das, was ihm geschah." Mit einem Mal packte er Palsan am Unterarm, zerrte ihn vom Tisch weg und stieß ihn nahe vor Tibra zu Boden. "Dafür werdet ihr bezahlen, Pecha," drohte er. Vandar von Ambar erhob sich und ergriff das Wort.
"Da dieser Magier euer Freund ist, Tibra, ist es verständlich, daß ihr mit dem Pecha von Minas keine Gemeinschaft wünscht. Auf dem Fest hörte es sich jedoch so an, als wenn ihr ihn eines weitaus umfassenderen Versagens verklagen wollt. Ich bedauere, daß man euch wegen dieser Sache in die Versammlung berief, wo ihr annehmen müßt, euch verteidigen zu sollen. Ein offenes Wort mit unserem Gebieter würde euch diese ungute Stunde erspart haben." "Ihr solltet euch in Tibra nicht täuschen, Vandar," mahnte Ariston, halb amüsiert. "Ihm mißfällt nicht nur Farraks Behandlung. Es haben sich einige von euch über sein Verhalten empört und obwohl dieses jetzt bereits gerechtfertigt ist, will ich doch alles hören, was er zu sagen hat." Palsan wollte sich erheben, doch Ilkonys hinderte ihn mit einem kurzen Wort daran. So mußte der Pecha auf den Knien verharren, während der Magier mit stolz erhobenem Haupt neben ihm stand. Fragend sah Tibra den Prinzen an. "Laß uns wissen, was dir in Minas mißfiel," bat der um weitere Vorwürfe wider den Pecha. Tibra nickte nur. Während Ilkonys wieder seinen Platz einnahm, schilderte er schon seine Eindrücke auf der Reise durch diese Gegend. Er sprach von der Armut der Leute und dem Prunk in Palsans Palast. Er erzählte von den Hungertürmen, in denen jene litten, die ihre Abgaben nicht entrichten konnten. Er erzählte von der brutalen Macht, welche die Soldaten ausübten und dem Druck der Gebietsaufseher, die selbst kleine Kinder in die Feldarbeit zwangen. Er sprach von dem kleinen Tempelrundbau, den er sah und der Verwunderung über die mißbilligende Behandlung, welche die Priester dort erlebten. Er hatte Menschen gesehen, die ausgepeitscht wurden, weil sie in den Wäldern Früchte sammelten und deshalb des Diebstahls an ihrem Landesherrn bezichtigt wurden. Er
sah ärmliche Hütten, Not, Krankheit und Hunger ebenso wie Furcht, Hoffnungslosigkeit und stille Verzweiflung. Vandar stand noch immer unbewegt. Er lauschte dem Magier, bis dieser endlich schwieg. Dann schenkte er seinen Becher voll Pejuk-Saft, trug diesen zu Tibra und reichte ihm den Trank. Daß niemand diesen Pecha behinderte, bewies Tibra dessen Macht, die sicherlich auch einen gewissen Einfluß auf Ariston mit einschloß. "Ein Mann wie ihr kann so etwas wohl nicht beurteilen," mahnte er ohne jeden Vorwurf. "Minas ist eine karge Gegend und die Menschen dort werden nie in Wohlstand leben." Tibra nickte ihm dankbar zu, leerte den Becher und stellte ihn auf den Tisch. "Es ist ein weiter Weg von Armut zu Wohlstand," gab er zu. "Aber es ist beschämend für ganz Nodher, wenn man sich damit zufrieden geben will. Ich bin Magier, Pecha. Für mich ist das Land ein lebendiges Wesen und es leidet in Minas wie seine Bewohner." "Könnt ihr mir das aufrichtigem Interesse.
erklären?"
bat
Vandar
mit
"Ich kann es versuchen," erwiderte Tibra sehr freundlich. "Ein Mensch, dessen Arbeit niemals Erfolg bringt, fühlt sich unwert und leidet. Ein Land, das seine Menschen nicht ernähren kann, leidet ebenso. Und in Minas fühlt es sich zudem vergewaltigt, da es dort gezwungen wird, Früchte zur Reife zu bringen, für die es keine Nährstoffe besitzt. Ich bin weder Landmann noch Gärtner, Vandar. Aber ich denke, daß es unklug ist, Sajik zu pflanzen auf kargem Boden. Es gibt sicher Nahrung, die auch in Minas wachsen kann. In einem Tempel entscheidet der Falla, was wo gepflanzt wird. Gerrys läßt sich dabei von Gärtnern beraten. Ich denke, ein Pecha würde ebenfalls gut daran
tun, sich dort Rat zu holen, wo entsprechendes Wissen zu finden ist." "Ich sage meinen Bauern nicht, was sie zu pflanzen haben," versprach Vandar etwas erheitert. "Ambar ist reich und fruchtbar, da ist ein solcher Rat wohl auch nicht nötig. Minas braucht aber Hilfe und man kann auf diese Gegend nicht anwenden, was in eurem Gebiet Gültigkeit besitzt." Vandar zögerte. Er überlegte kurz, dann lächelte er diesen Mann, der ihm schon am vergangenen Abend sehr gefiel, sehr freundlich an. Ein paar überraschte Ausrufe ertönten, als der Pecha die Rechte auf die Brust legte und sich leicht vor Tibra verneigte. "Ich danke für diese Belehrung," sagte Vandar mit ernster Stimme. "Man vergißt zu leicht die einfachsten Wahrheiten." Er nahm seinen Platz wieder ein. Stille herrschte nun im Raum. Hätte nicht der Pecha von Ambar sich so verhalten, so würden andere, weniger mächtige Landesfürsten, jetzt nicht schweigen. Doch wenn sie sich gegen Tibra wandten, so forderten sie damit auch Vandar heraus und das wagten sie nicht. Ariston musterte nachdenklich den Fürsten. Nach geraumer Zeit erst wandte er sich wieder Tibra zu. "Habt ihr noch etwas zu sagen?" erkundigte er sich freundlich. "Nichts weiter in dieser Sache, Gebieter." "Dann danke ich für eure Offenheit," versicherte der Herrscher, sich erhebend. "Genießt nun die festlichen Tage und seid versichert, daß niemand euch in meinem Haus weiter abwerten wird."
Damit war Tibra entlassen. Er verneigte sich tief vor seinem König, warf dem Pecha von Ambar einen dankbaren Blick zu und verließ den Raum. Jerrard erwartete ihn draußen, um ihn nun endlich zu seinem Sohn zu führen.
Z
wei Tage vergingen. Ilkonys hatte für Tibra ein einfaches, kleineres Zimmer in der Nähe seiner eigenen Gemächer bereit gestellt. Er bedauerte, daß die überfüllte Burg ihm kein besseres Quartier bot, doch Tibra war es lieb, in Thyrians Nähe zu sein. Nodhers Erbe hatte nicht viel Zeit für ihn; es gab kaum ein vertrautes Gespräch in dieser Zeit. Tibra erfuhr lediglich, daß der Herrscher die Versammlung der Pechas auflöste, ohne über Palsan ein Urteil zu sprechen. Palsan befand sich noch in der Burg, nahm aber an keiner Festlichkeit mehr teil. Aniela weilte fast ausschließlich bei Cynara, der sie viel half bei ihren ersten Schritten in einem neuen Leben als Königin des Nordreiches. Die Prinzessin bewegte sich sicher zwischen all den vielen Gästen, führte angeregte Unterhaltungen und bestimmte die Gestaltung mancher geselliger Stunde. Thyrian widmete sich den Priestern unter den Gästen. Doch er fand auch Zeit für Tibra, ermöglichte sogar einen gemeinsamen Ausritt und zeigte sich dann, fern aller Beobachter, sehr ausgelassen und vergnügt. "Morgen ist der letzte offizielle Festtag," meinte er auf dem Rückweg. "Übermorgen verlasse ich Nodher. Auch Wharhan und Thylenon werden abreisen. Du wirst dich entscheiden müssen, wo du leben willst." Er lachte leise. "Mardones aus Khyon deutete an, daß du in seinem Land willkommen bist."
"Wenn drei Herrscher um mich werben," grinste Tibra, "dann werde ich zwei von ihnen brüskieren, egal, wie ich mich entscheide. Das gefällt mir nicht. Außerdem meint keiner von ihnen mich mit dem Angebot, sondern will Amarra schmeicheln. Also soll auch Seymas die Entscheidung treffen." "Das meinst du nicht wirklich!" "Nein, natürlich nicht.” Tibra lachte auf. “Hast du Aniela von Falfa erzählt?" "Nicht nur von dieser Gegend. Sie wollte vieles über Sarai wissen und ich kann mir denken, daß es ihr dort gefallen wird. Aber es ist ihr nicht wichtig. Sie wird dort leben, wo du es willst. Und wie du es willst," fügte er nach kurzer Pause hinzu. "Kein großes Zugeständis," lachte Tibra, "da sie weiß, daß ich will, daß sie glücklich ist. Ich habe noch einen ganzen Tag Zeit, um mich zu entscheiden. Ich denke, ich sollte die Sache mit Aniela beraten. Für sie ist das viel wichtiger als für mich." Sie erreichten die Burg in den sinkenden Nebeln. Aus dem Festsaal drang Musik. Sie kleideten sich um, gesellten sich dazu und ließen sich ins Gespräch ziehen. Im Laufe des Abends fand Aniela endlich Zeit, sich Tibra zu widmen. Sie faßte ihn bei der Hand, zog ihn hinaus in den Garten und küßte ihn dort voll verlangender Zärtlichkeit. "Ich liebe dich, Tibra. Ich werde auch Harkym lieben, das verspreche ich dir." "Du wirst auch Vogan und Bakaar ergänzte er heiter. "Beide gehören zu mir."
lieben müssen,"
"Bakaar ist Raakis Priester. Er bleibt nicht im Tempel?"
"Amarra hat ihn an meine Seite befohlen. Er ist mir seit Jahren ein treuer Gefährte. Ich suche nicht seinen Dienst, sondern seine Freundschaft. Als ich blind war, hat er mich durch halb Amarra geführt. Ich verdanke ihm viel, Aniela." "Dann hoffe ich nur, daß er mich mag," gestand sie. "Ich möchte so gern, daß unser Leben friedlich und harmonisch ist." Aniela schmiegte sich an ihn. "Kränkt es dich, wenn ich von Talima rede?" "Warum sollte es?" "Sie ist deine Sklavin. Du weißt, daß Mercur sie liebt, daß er Ilkonys' Freund ist und daß er dich nicht leiden kann. Mercur hat so gehofft, daß du ihm trotzdem ihr Sklavenpapier gibst und sie ihm übereignest." "Das Papier eines freigelassenen Sklaven bleibt in dem Tempel, in dem er die Freiheit erhielt," grinste Tibra. "Wenn er es sehen will, muß er sich an Gerrys wenden." Aniela hielt einen Moment ganz still, lauschte seinen Worten nach. "Sie ist frei?" vergewisserte sie sich. "Natürlich, Liebes. Ich habe es Ilkonys versprochen. Talima ist frei und wenn sie bei Mercur bleiben will, wird es niemand hindern. Will sie es nicht, so bietet ihr die Falla Seryna jede Hilfe des Tempels an, zu dem sie jederzeit kommen darf." Aniela brachte ihr Gesicht ganz nahe an das seine. "Weißt du nicht, wie sehr sie in der Ungewißheit leidet? Warum hast du es niemandem gesagt?" "Ich hoffte, Mercur würde mich fragen," gab er ruhig zu.
"Es wäre eine schöne Gelegenheit gewesen, seine Vorbehalte wider mich zu zerstreuen und ihn in Thyrians Achtung steigen zu lassen. Ilkonys hätte sich darüber sehr gefreut." "Darf ich es ihr sagen?" Tibra nickte nur. "Jetzt?" Er küßte sie zärtlich. Seine Hand ruhte dabei auf ihrem Leib, dessen Fruchtbarkeit noch niemand ahnte. Aniela lächelte ihm zu, dann aber ließ sie ihn allein und suchte im Festsaal nach Talima, der sie die freudige Botschaft bringen wollte.
T
ibra bleib in den wogenden Nebeln zurück. In einer Falte seines Gewandes barg er einen Flammenden Kristall. Er ließ ihn dort, da sein Licht zu schwach blieb, die Nebel zu durchdringen. Wie einen Schemen sah er den erleuchteten kleinen Rundtempel entfernt im Garten liegen. Tibra schloß die Augen. Die kurze Zeit seiner Blindheit hatte ihn gelehrt, auch im Dunkeln zu gehen. Er suchte den kleinen Weiher, dessen plätscherndes Geräusch ihm den Weg wies. Dort lehnte er sich gegen einen jungen Molbaum und lauschte den Stimmen der Nacht, die durch den Festlärm kaum zu vernehmen waren. Nach geraumer Zeit ließ ihn das Geräusch eines nahenden Schrittes herumfahren. Ariston stand vor ihm, dessen Flammender Kristall die Nebel sacht durchdrang. Rasch überkreuzte der Magier die Arme und kniete nieder. Ariston lachte leise. "Vor meinen Pechas achtet ihr mich weniger hoch," stellte er amüsiert fest. "Erhebt euch, Tibra. Ich bin nicht sicher, ob dieser Gruß mich ehren soll." "Es käme mir lächerlich vor, zu knien, wenn ein Tisch zwischen uns steht, Gebieter," erklärte der Magier, während er der Aufforderung nachkam. "Wenn es euch so wichtig ist, unterwerfe ich mich gern im Festsaal vor euch, wo
alle Gäste es sehen können." "Einschließlich Thyrian? Ich verzichte, Pala. Es könnte Amarra kränken. Ich bin etwas erstaunt, da Thyrian euch wirklich zugetan ist. Er liebt euch aufrichtig als ein treuer Freund." "Ihr habt also nochmals mit ihm gesprochen," stellte Tibra erheitert fest. "Nun," bestätigte Ariston, "wie ihr wißt, habe ich eure Berufung zum Falla der Weisheit nicht hinterfragt und euch in diesem Amt sogar den Wald von Nuur geschenkt. Ich wollte wissen, ob die Reiche auf diese Berufung so entsetzt reagierten wie mein Erbe." Tibra lachte erheitert. Außer Thyrian und Seymas wußte niemand, daß er dieses hohe priesterliche Amt nur erhielt, weil der Tempel der Weisheit magisch entartete und er als Magier versprach, diesen Zustand zu ändern. "Der Pala des Than," berichtete Ariston in aller Offenheit, "schilderte mir, wie sehr euer Werk und euer Tempelbericht dem Than gefiel. Ihr habt dieses Amt nicht geliebt, aber in allen Dingen voll ausgeübt. Weshalb habt ihr das getan?" "Ich wurde berufen," grinste Tibra fröhlich. "Und nachdem ihr so erfolgreich ward, habt ihr euer Amt einem andern überlassen. Wie geht das zusammen?" "Ich führte den Tempel aus einer Krise," gab der Magier leichthin zu. "Nachdem das geschah, war mein Wirken nicht mehr nötig. Der Falla Lyandros leistet, wie ich erfuhr, vorbildlichen Dienst."
"Und besitzt den Wald von Nuur," ergänzte Ariston amüsiert. "Der Tempel besitzt den Wald," schränkte Tibra ein. "Ihr seid ein starker Priester, Gebieter. Es muß in eurem Sinn sein, wenn in eurem Reich auch starke Tempel wirken." "Ich bin wohl nicht der einzige Mensch, der sich über einen Magier wundert, der so regen Anteil am Priestertum nimmt," vermutete der Herrscher leichthin. Er deutete zur Burg und als er den Weg aufnahm, blieb Tibra an seiner Seite. "Hat euch Ilkonys vom weiteren Verlauf der Versammlung der Fürsten berichtet?" "Viel ist ja nicht mehr geschehen," bejahte der Magier. "Palsan wurde nicht verurteilt und im Grunde war alles wohl überflüssig." "Das mißfällt euch? Der Pecha wird Farrak nicht mehr bedrohen." "Ein geringer Gewinn, da Minas keinen Nutzen davon hat." "Ich dachte, das Wort des Herrn von Ambar bedeutet euch etwas. Er hat euch doch gesagt, daß sich die Zustände in Minas nicht ändern lassen." "Er hat auch gesagt, daß er manche Wahrheit vergaß," ergänzte Tibra gelassen. "Ihr nehmt das Leid in Minas als unabänderliche Tatsache hin, Gebieter. Ihr habt Thyrians Sterben in Sarai auch so hingenommen. Man mußte Magier sein, um es zu hindern. Ihr habt die Verbannung eures Sohnes Willar auf die Insel der Läuterung hingenommen. Auch hier wehrte sich ein Magier dagegen und befreite ihn aus einem Grab, das hundert Menschen nicht hätten öffnen können. Ihr habt es hingenommen, daß Orales' Tochter Arisa Miska wurde. Als Magier habe ich dagegen gekämpft. Sie starb dabei, doch nie wieder muß ein Mensch in diesem
Zustand seither bleiben. Ihr akzeptiert zu leicht die Dinge als nicht änderbar. Magie bedeutet, die Dinge dem eigenen Willen zu unterjochen. Ich wünschte, ihr wäret nicht nur ein starker Priester, sondern ein wenig auch von dem beseelt, was mich bewegt." Sie standen unter der geöffneten Tür in vollem Licht des Festsaales. Nachdenklich und forschend ruhte der Blick des Herrschers auf dem Magier, der stolz erhoben vor ihm stand und keines seiner Worte abschwächte. "Vielleicht," führte Ariston nach geraumer Zeit des Schweigens diesen Gedanken fort, "muß man wirklich Magier sein, um Minas zu führen. Ilkonys hat darum gekämpft, euch Nordass zu geben, Tibra. Ich biete euch Minas, wenn ihr auf meine Bedingungen eingeht." Tibra riß die Augen auf bei diesem Angebot und trat überrascht einen halben Schritt zurück. "Welche Bedingungen?" forschte er angespannt. "Aniela bleibt in der Burg und unvermählt, bis ihr bewiesen habt, daß ihr dieses Amt selbst ausüben wollt und könnt," erwiderte der Herrscher bedacht. "Und wie immer ihr Minas regiert, ich verlange, daß es ohne magisches Wirken geschieht und euer innerer Weg kein Nachteil bedeutet für mein Volk. Seid ihr einverstanden?" Tibra lächelte. Er ergriff die Rechte seines König, zog sie an seine Lippen und neigte sich dabei. "Ihr habt mich nie höher geachtet als heute," erkannte er. "Ich bedauere fast, auf eure Bedingungen nicht eingehen zu können." "Ihr weigert euch?" wunderte sich Ariston.
"Das muß ich," bestätigte Tibra. Ein paar Gäste nahten sich, die Ariston mit einer herrischen Handbewegung wegscheuchte. Sie blieben unbelauscht. "Ihr könnt nicht versprechen, daß eure Magie meinem Volk keinen Schaden bringt?" forschte der König. "Dies ist die einzige Bedingung, die ich akzeptiere," widersprach Tibra gelassen. "Ich bin Magier, Herr. Bei all meinem Handeln ist Magie, wo nötig, für mich eine sehr natürliche Sache. Ihr seid Priester und wenn euch priesterliche Übungen bei der Ausübung eurer Pflicht helfen, so wendet ihr sie an. Niemand kann sein Sein verleugnen. Wenn eine Siedlung ihr Wasser nur aus einem schmutzigen kleinen Bach gewinnen kann und keine Zeigerpflanzen vorhanden sind, dann ist Magie ein durchaus gangbarer Weg, um die richtige Stelle zu finden, wo sich ein Brunnen graben läßt. Glaubt ihr wirklich, ich könnte mich da zurück halten? Es wäre noch nicht einmal angebracht, dies zu tun." Ariston atmete tief durch. "Wenn ich dies akzeptiere, werdet ihr dann noch für eine gewisse Zeit auf meine Tochter verzichten?" "Ihr glaubt noch immer, daß ich Macht suche," begriff Tibra da. "Ihr werdet für Minas bestimmt einen Herrn finden, der euer Volk dort besser leiten kann als Palsan. Denn ich liebe eure Tochter, Gebieter, und werde diese Liebe nicht um alles Land, das Nodher bieten kann, je verkaufen." Er lächelte fröhlich. "Die Wahl fällt mir natürlich leicht, da ein Verzicht auf Minas keinen wirklichen Nachteil bedeutet, sondern im Gegenteil nur Vorteile birgt. Minas wäre Last, Verantwortung und Arbeit. Es ist wie mit dem Tempel der Weisheit, Herr. Es würde mich reizen, zu zeigen, daß alles möglich ist. Aber es wird mir niemals gefallen, eine
Arbeit auch dann noch zu tun, wenn jedermann sie vollbringen kann. Oder eben auch jede Frau, vor allem die meine." Er verneigte sich tief. "Ich danke für das Angebot, Gebieter. Aber unter diesen Bedingungen werde ich es vorziehen, in Sarai zu leben, wo alles etwas einfacher ist." Er deutete nochmals eine Verneigung an und trat dann ins Innere des Saales. Tibra sah Aniela, die zusammen mit Cynara auf Talima einredeten. Er lachte leise, ging zu den Frauen. Talima errötete bei seinem Nahen, wollte niederknien und nur Cynaras schneller Griff hinderte sie. Tibra schmunzelte. "Ich bedauere es sehr, Talima, daß ihr so lange in Ungewißheit bleiben mußtet," versprach er, ihr bewußt die ehrende Anrede gebend, zu der er nicht verpflichtet war. "Mein Wort gab euch schon vor langer Zeit frei; der faktische Vollzug geschah vor Wochen im schwarzen Tempel." "Ich bin euch sehr dankbar, Herr," erwiderte sie furchtsam. "Eure Freiheit verdankt ihr allein Nodhers Erben," wehrte Tibra heiter ab. "Sie ist nicht mein Verdienst." Er spürte, daß sie ihn fürchtete und am liebsten aus seiner Nähe fliehen wollte. Darum wandte er sich nun allein Aniela zu, was Cynara die Möglichkeit gab, die Freundin wegzuführen. "Du bist ja so vergnügt," wunderte sich Aniela. "War Vater vorhin so freundlich zu dir?" "Er gab mir Gelgenheit, ihm zu beweisen, daß ich nur dich will und nichts weiter von ihm," grinste Tibra. "Ich habe große Lust, das ganz Nodher zu zeigen." Aniela faßte nach seinen Händen.
"Warum tust du es dann nicht?" lockte sie schmeichelnd. Tibra trat ganz nahe zu ihr, umfaßte sie zärtlich. Seine Hand fuhr durch ihr Haar, während sein Gesicht sich dem ihren näherte. Aniela schlang die Arme um seinen Hals, zog ihn ganz heran und küßte ihn lange und verhalten.
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ie Gäste hielten die Prinzessin bisher für ungebunden. Vornehmlich die jungen Männer, die Aniela die ganze Zeit über umschwärmten, sahen sehr betreten diese Zärtlichkeit. Es wurde auch unwillige Rufe laut, doch im Allgemeinen gab es nur ein aufgeregtes Getuschel, in dem der Klatsch endlich wirklich neue Nahrung fand. Ariston legte den Arm um die Seite seiner Gemahlin. Cynesta war den Tränen nahe. "Du solltest glücklich sein," mahnte er sie lächelnd, "da unsere Tochter einen solchen Gemahl fand." Ilkonys stand nur wenig abseits. Nun horchte er erstaunt auf, kam näher. "Glücklich?" Cynesta rang um Fassung. "Welche Vorzüge hat dieser Mann, die andere nicht weit übertreffen würden?" "Er ist stark, treu, von loyalen Freunden umgeben, ein zärtlicher Vater und durch und durch ein Ehrenmann. Vor allem aber liebt er Aniela und wird alles tun, um ihr Glück zu mehren." "Wenn dem so wäre, hätte er ihrem Wunsch entsprochen und ein Leben in der Burg akzeptiert." "Nein, Liebes. Wenn er sein eigenes Sein verrät und für sie aufgibt, dann kann das so wenig ein Glück sein, wie wenn er dies von ihr verlangen wollte. Hast du die ersten Jahre
unserer Ehe vergessen? Ich war mit Amarra verfeindet und duldete keine Priester in meiner Nähe. Du und auch Orales, ihr beide habt euren inneren Weg aus Liebe zu mir verleugnet und verheimlicht. War das ein Glück für euch? Zwischen Aniela und Tibra gibt es keine Täuschung und keine Lüge. Sie werden ihren Weg gehen. Es wird Zeit, daß ich mit Wharhan rede, in dessen Land meine Tochter leben wird." "So hat sich Tibra für Sarai entschieden?" erkundigte sich Ilkonys vorsichtig. "Du willst die beiden wirklich gehen lassen?" "Ich bot ihm Minas," erwiderte der Herrscher, sich nun dem Sohn zuwendend. "Er hat meine Bedingungen nicht akzeptiert, was ich ihm nicht verübeln kann. Er hat die bessere Wahl getroffen." "Minas wäre wirklich nichts, das ich ihm gönnen wollte," brummte der Prinz. "Das Angebot mußte ihn kränken." "Er fühlte sich geehrt," widersprach Ariston lächelnd. "Ich fürchte nur, es war töricht von mir, Bedingungen zu stellen, denn dadurch habe ich eine große Chance für Minas vertan." Ilkonys musterte ihn mißtrauisch. Solche Worte war er von seinem Vater nicht gewohnt. "Du nennst dich verlassen wird?"
töricht? Bedauerst du, daß er Nodher
"So ist es wohl, mein Sohn." "Weil du Aniela nicht aus deiner Nähe lassen willst?" "Weil Tibra vermutlich der einzige Mann der Macht ist, dem wirklich am Wohl des Volkes von Minas liegt und der mit dem Land dort leidet, was immer das auch bedeuten
mag. Du wolltest ihm mit Nordass schmeicheln und deiner Freundschaft Ausdruck verleihen. Das ist durchaus legitim, mein Sohn, auch wenn ich dem nie nachgeben werde." "Ich verstehe dich nicht, Vater." "Das ist doch ganz einfach," erklärte Ariston mit ernster Stimme. "Ich sprach lange mit Thyrian über Tibras Berufung zum Falla der Weisheit. Es besteht kein Zweifel, daß der Than den Magier liebt. Doch niemals würde er ihm, nur um ihm zu schmeicheln oder seine Freundschaft auszudrücken, deshalb einen Tempel übereignen. Der Tempel der Weisheit befand sich in einer Krise. Ich weiß nichts näheres darüber, Ilkonys. Doch Tibra wurde Falla, um diese Krise zu meistern. Indem Seymas ihm diesen Tempel gab, bewies er ihm sein Vertrauen, das Tibra nicht enttäuschte." "So habe ich das alles nie gesehen," murmelte der Prinz betroffen. "Ich dachte, du lehnst ihn ab. Und Tibra will ja auch nicht herrschen; er will das alles doch nur für Aniela." "Eben drum." Ariston lachte ganz leise auf. "Ich glaube, für Aniela würde er sogar die Zustände in Minas wenden können."
T
ibra und Aniela wußten, daß sie nun jeder im Festsaal beobachtete, doch sie störten sich nicht daran. Er hatte ihr von seinem Gespräch mit Ariston berichtet, worauf sie fast heftig reagierte. "Minas!" wehrte sie sich erregt. "Damit verhöhnt er dich also. Als wenn Minas eine Gegend wäre, wo man leben kann." "Wolltest du nicht mit mir überall hingehen?" erkundigte er sich amüsiert.
"Aber nicht nach Minas! Ach, ich bin wütend auf Vater. Daß er dich so beleidigt, das habe ich nicht erwartet." "Du bist schön, wenn du so zornig bist," lachte Tibra. "Sage mir, daß du abgelehnt hast," drängte Aniela, die seine Heiterkeit nicht teilte. "Ich habe abgelehnt," versprach er, sie dabei neckisch auf die Nase küssend. "Leider hatte ich keine andere Möglichkeit." "Leider? Du hättest Minas gewollt? Das würdest du mir nicht antun, nicht wahr? Da ziehe ich eher ein Leben im Tempel vor." Tibra lachte schallend. Er wußte, daß sie übertrieb. Sein Lachen ließ alle Gespräche ringsum verstummen. Aus dem heimlichen Beobachten wurde ein unverhohlenes Anstarren. Man tuschelte über sein unmögliches Benehmen. Als König Ariston nun den Weg zu ihm suchte, bildeten die Gäste eine Gasse und erwarteten einen harten Tadel für den Mann, der nicht verstand, sich in so hoher Gesellschaft diszipliniert zu verhalten. Bei seinem Nahen faßte Aniela fest die Hand des Geliebten und stellte sich demonstrativ neben ihn. Tibra fühlte sich nicht bedroht. Er lächelte seinen König an, während er beruhigend Anielas Hand drückte. "Hat mein Lachen euch gestört, Gebieter?" "Gewiß nicht," versicherte Ariston freundlich. "Ein glücklicher Mann sollte heiter sein." Er sah seine Tochter an. "Bist du auch glücklich, mein Kind?" "Das bin ich. Ich habe aus Liebe ihn gewählt, Vater. Ich wünsche mir nur so sehr deinen Segen für unseren Bund."
"Den habt ihr," versprach der Herrscher. "Wenn ihr euren Bund besiegeln wollt, so will ich ihn bestätigen." Tibra grinste. Dann neigte er sich zu Aniela und flüsterte nahe an ihrem Ohr: "Warum nicht jetzt?" Überrascht ließ sie ihn los, trat einen halben Schritt beiseite. "Jetzt?" wiederholte sie laut. "Warum nicht?" Er sprach sehr gelassen und in normaler Lautstärke. Wer in der Nähe stand, konnte ihn durchaus verstehen. "Es ist nicht mehr nötig als unser Wille, ein paar Zeugen, von denen du hier etwa dreihundert findest und ein Mann der Macht, der die Bestätigung vornimmt und in den Büchern verzeichnet. Wenn du mich willst, nun, hier bin ich." Aniela zögerte. Sie hatte sich die Eheschließlung etwas festlicher vorgestellt. Tibra grinste sie frech an. Sie sah die Mutter entfernt stehend, sah sie weinen und erblickte Willar, der sie zu trösten suchte. Dann schaute sie auf den Vater, sah seinen freundlichen Blick, der Tibra jeden Bruch des Zeremoniells verzieh. Da faßte sie wieder nach der Hand des Geliebten. Ihr Blick suchte den des Vaters und dann sprach sie mit deutlicher Stimme für all die Gäste völlig unerwartet die Formel der Eheschließung: "Ich, Aniela, bekunde vor euch, daß ich aus freiem Willen Tibra wählte und mich ihm anvermähle." Sie lächelte den Magier an. "Ich habe aus Liebe ihn gewählt und werde ihn in Liebe halten." Der erste Satz genügte für die Schließung des Bundes. Der zweite hingegen stellte als Liebesformel ein großes Zugeständnis dar. Wer ihn aussprach, verzichtete auf das Recht
zur Scheidung, die ansonsten in den Nebelreichen leicht vollzogen werden konnte. Tibra sprach nun dieselben Worte. Er legte den Arm um ihre Seite und zog sie an sich, als auch er die Liebesformel aussprach. Aniela versteifte sich ein wenig dabei; sie hatte mit diesen Worten nicht gerechnet. Aber Ariston gefiel es sehr, daß dieser Mann die Tochter so hoch ehrte. Er neigte sich nach vorn und flüsterte, nur Tibra und Aniela verständlich: "Da ihr nun zu meiner Familie gehört, hoffe ich, euch beim Frühmahl zu sehen, Tibra." Dann wandte er sich den Gästen zu, denen er die Freude Nodhers versicherte und die er einlud, nach dem Sohn und Erben nun auch die Tochter zu ehren, deren Glück nicht weniger groß als jenes Ilkonys' sein konnte.
T
ibra wie auch Aniela fanden nun keine Ruhe mehr. Unzählige Hände galt es zu schütteln und die Glückwünsche der Gäste hinzunehmen. Als sich Ariston und Cynesta und dann auch Ilkonys mit Cynara zurück zogen, war es endlich erlaubt, das Fest zu verlassen. Tibra wollte zunächst bei Aniela bleiben, doch eine der Kammerfrauen gab ihm Nachricht, daß Harkym erwachte und nach ihm weinte. Sie verließ er die Gemahlin, nahm seinen Sohn an sich und suchte das eigene Quartier auf. Hier erwartete ihn Thyrian. "Ich habe versäumt, dir in all dem Trubel zu gratulieren," erklärte er lächelnd. "Aber du weißt, wie sehr ich dir alles Glück wünsche." Tibra wußte es. Er war müde, doch er freute sich über die Gesellschaft des Freundes und die Gelegenheit, ihm von Aristons Angebot und den damit verknüpften Bedingungen zu erzählen, die er ablehnte.
"Du bist wahrlich ein sonderbarer Mensch," lächelte Thyrian, nachdem der Freund endete. "Du könntest ein geruhsames Leben in Prunk und Reichtum führen, aber es reizt dich viel mehr, das verarmte Minas neu zu gestalten. Ariston wird es dir kein zweites Mal anbieten. Du wirst es fordern müssen." "Aniela wäre nicht begeistert davon," brummte Tibra etwas mißmutig. "Sie ist deine Frau und geht mit dir, wohin du willst. Überdies ist sie stark und wird die Aufgabe, die sie findet, mit ganzer Kraft angehen. Sie will etwas leisten. Je größer die Aufgabe, desto größer ist auch der Erfolg." "Wenn er sich einstellt." Tibra lachte leise. "Wir reden, als sei dies allein meine Entscheidung. Ariston hat Palsan nicht einmal entmachtet, sondern ihm nur die Teilnahme am Fest untersagt." "Noch ist das Fest nicht zu Ende. Der morgige Tag kann durchaus bedeutsam werden." "Er fängt auf alle Fälle zu früh an, da ich gehalten bin, am Frühmahl des Herrschers teilzunehmen," brummte Tibra, der sich nur höchst ungern früh erhob. Thyrian lächelte nur. Er verstand die Anspielung und verließ bald den Freund, damit er noch etwas schlafen konnte.
D
er Page Ammak, den Ilkonys dem Magier zuwies, hatte erhebliche Mühe, seinen Herrn zu wecken. Harkym saß in Tibras Armbeuge und musterte den fremden Mann voll Mißtrauen, der immer wieder vorsichtig versuchte, Tibra anzustoßen. "Geh weg," rief der Kleine endlich, nach Ammak schlagend, "Dada schläft." Erschrocken wich der Page zurück. Er wußte nun nicht recht, wie er sich verhalten sollte, doch Harkyms Worte hatten Tibra schon erreicht. Der Magier stieß einen unwilligen Laut aus, aber er öffnete die Augen und fluchte, als er das helle Tageslicht bemerkte. "Wenn der König das Frühmahl schon beendet hat, kannst du mich auch schlafen lassen," warf er dem Pagen die Störung vor. Ammak kniete rasch nieder. "Vergebung, Herr, unser Gebieter wartet auf euch." "Das habe ich befürchtet," seufzte der Magier, der sich nun aber erhob und dem Sohn zuwandte. Erst, nachdem er Harkym reinigte und einkleidete, erlaubte er Ammak dessen Dienst. Der Page führte ihn durch die erwachende Burg. Die Familie des Herrschers wartete wirklich auf den Magier. Lediglich die Ziehschwester der
Königin, Dorina, welche die Gemahlin von des Königs Bruder Sonte war, blieb an diesem Morgen in ihren eigenen Gemächern. Tibra tötete ihre Tochter Arisa. Sie würde es nicht ertragen, mit ihm an einem Tisch zu sitzen. Tibra führte Harkym bei der Hand. Er verneigte sich tief, dann hielt er inne und kniete lächelnd nieder. Harkym legte den Kopf schief, sah ihn an und tat es ihm dann nach. "Zumindest euer Sohn weiß sich zu benehmen," lachte Orales. "Ihr irrt, Pala," erwiderte Tibra gleichmütig, während er sich erhob. "Ich bin in allem sein Vorbild und er handelt noch ohne Überlegung." "Mir scheint, ihr auch," wunderte sich Cynesta, "denn euer Sohn war nicht zum Mahl geladen und ihr führt ihn denoch mit euch." Tibra nahm Harkym auf den Arm. Er sah nur Ariston an. Aniela erhob sich und trat rasch zu ihm. "Harkym ist nun auch mein Sohn, Mutter," sagte sich betont nachdrücklich. "Setzt euch hin und streitet nicht," befahl Ilkonys etwas ungehalten. Versöhnlicher fügte er an: "Wenn Changanar nicht schliefe, wäre er ebenfalls hier." Cynesta schwieg. Es fiel ihr sehr viel leichter, Changanar als Familienmitglied zu betrachten, denn diesen Gedanken auf Harkym auszuweiten. Aber Cynara war ihr ja auch wie eine Tochter, während sie Tibra ablehnte. "Ihr seid sehr willkommen," versicherte Ariston dem Magier. Er reichte Harkym ein Stück geschnittenen Pejuk, den der Kleine mit den Fingern zermatschte, da er diesen
säuerlichen Geschmack nicht mochte. "Und du bist es auch, kleiner Mann. Ich hoffe, du wirst viele Geschwister bekommen." Tibra grinste, weil Aniela leicht errötete. Er ergriff ein Tuch, säuberte Harkyms Hände und begann dann, den Sohn zu füttern. Beim Frühmahl duldete Ariston keine Bedienung. Diese Stunde gehörte seiner Familie und sie sollte offene, auch intime Gespräche erlauben. So nahm er jetzt auch keine Rücksicht auf Tibra, den er nicht als Gast betrachten wollte, tadelte Willar, der seiner Ansicht nach seinen repräsentativen Pflichten zu wenig nachkam und ließ es zu, daß Sonte den jungen Prinzen in Schutz nahm. Währenddessen plauderte Aniela vergnügt mit Cynara, schilderte ihr, was sie über Thyrian von Sarai wußte und zeigte offen ihre Freude über den Beginn eines neuen Lebens. Orales sprach mit Ilkonys über die Zerstreuungen, die man an diesem letzten Festtag für die Gäste plante. Cynesta schwieg weitgehend. Sie beobachtete Tibra, der sich ganz dem kleinen Sohn widmete. Harkym schlang eben die dünnen Arme um den Hals des Vaters, zog sich auf seinem Schoß hoch und küßte ihn mit schmatzendem Geräusch. Tibra drückte ihn fest an sich. "Ihr kommt ja kaum zum Essen, Tibra," stellte Ariston fest. Er griff nach dem Knaben, hob ihn auf den eigenen Schoß. Harkym verzog unwillig den Mund, sah dann aber kleine Nußplätzchen und beschloß, statt zu weinen lieber noch etwas zu naschen. Ariston hatte Mühe, ihn daran zu hindern, auf den Tisch zu krabbeln. Tibra schmunzelte, als er die Schale mit dem Gebäck in Harkyms Nähe zog. "Ich muß meine Bemerkung über das Benehmen des Kleinen revidieren," lachte Orales. "Er ist ebenso respektlos wie sein Vater," bestätigte Ariston lächelnd, "und ebenso ehrlich in seinen Wünschen und
Handlungen." "War das ein Lob oder eine Kränkung?" wollte Ilkonys sofort wissen. "Das kommt auf die Situation an," gab der Herrscher zu. "Im Moment ist es ein Lob." "Und womit habe ich mir dies verdient?" erkundigte sich Tibra vorsichtig. "Mit eurer Kompromißlosigkeit und eurer Sturheit." Ariston wehrte Harkym ab, der ihn nun füttern wollte. "Ich habe noch einmal die Versammlung der Fürsten einberufen. Da es euch nicht genügt, Palsan ob seines Verhaltens gegenüber Farrak getadelt zu wissen, wird der Pecha sein Amt verlieren." "Das gefällt nochmals füllte.
mir,"
grinste
Tibra,
der seinen Teller
"Du hättest es mit mir besprechen müssen," warf Nodhers Erbe ein. "So bist du dagegen?" forschte Ariston sofort. "Das nicht," schränkte der Prinz ein. "Aber wir müssen uns überlegen, wem wir Minas geben wollen. Und das sollten wir tun, ehe die Fürsten ihre eigenen Vorschläge unterbreiten." "Sie werden Sarman oder Klados vorschlagen," vermutete Orales. Sie sprachen über die Vorzüge und Mängel dieser beiden Männer. Tibra hörte kaum zu. Er dachte an Thyrians Worte, daß er Minas fordern mußte, wenn er dort leben wollte. Und er dachte an Aniela, die sich schon auf Sarai
freute. Ariston stieß ihn sacht in die Seite. Da erst fiel ihm auf, daß er wirklich alle Aufmerksamkeit den andern entzog. "Vater hat dich gefragt, ob du dabei sein willst," lachte Ilkonys heiter. "Bei der Versammlung?" "Gewiß," bestätigte der Herrscher. "Ihr könnt hinter Ilkonys stehen und Zeuge sein. Aber ihr habt zu schweigen." Tibra grinste. "Weshalb, Gebieter, ist jedes eurer Angebote an Bedingungen geknüpft? Aber ich werde es versuchen." Ariston lächelte erheitert. Die direkte Art dieses Mannes gefiel ihm durchaus. "Mehr kann wohl niemand von euch erwarten," spöttelte er. Nun beendete auch Tibra sein Mahl. Ariston gab Harkym zu Aniela. Die Tochter konnte ruhig gleich beginnen, ihre Mutterrolle zu leben.
P
alsan erbleichte, als er sein vernichtendes Urteil vernahm. Ariston zeigte sich unnachgiebig hart, entzog dem Pecha sämtliche Rechte und befahl ihm, seinen Sitz in Minas sofort zu räumen. Er nannte zwei seiner Kämmerer, welche Palsan begleiten würden und darauf achten, daß er nichts mit sich nahm, das ihm nicht rechtmäßig gehörte. Es stand Palsan frei, in Nodher seine Wohnstatt zu suchen, doch er mußte die Gegend von Minas weiträumig meiden. Erschüttert verließ der Mann, dessen Zukunft an diesem Tag vernichtet wurde, den Versammlungsraum. Wie erwartet, so wurde nun sofort über einen neuen Herrn
für Minas gesprochen und tatsächlich diskutierten die Fürsten über Klados und Sarman, wobei letzterer durchaus die besseren Fürsprecher besaß. Tibra verhielt sich wirklich still, doch entging es ihm nicht, wie Vandar ihm hin und wieder einen fragenden Blick zuwarf. Ariston und Ilkonys hielten sich bei der Diskussion weitgehend zurück. Die Entscheidung lag ohnehin bei ihnen allein und sie hatten sich bereits auf Sarman geeinigt. Die Männer wurden langsam ruhiger. Einer nach dem andern verstummte, sah zu Vandar, der seit geraumer Zeit nichts mehr sagte, sondern nur noch Tibra ansah. "Vandar," mahnte Ariston, "wollt ihr uns nicht auch euren Rat gewähren?" Der Pecha sah seinen Gebieter an. "Sarman ist sicherlich das kleinere Übel," erwiderte er nachdenklich, sich danach wieder auf Tibra ausrichtend. "Es steht euch aber frei, den Gemahl eurer Tochter zu adeln, Gebieter. Dann käme auch Tibra in Frage, was für Minas gewiß von Vorteil wäre." "Nein!" rief Ilkonys aufspringend. "Verzeiht, Herr," sagte Vandar dieser Mann sei euer Freund."
da sofort, "ich dachte,
"Das ist er," versicherte der Prinz erregt. "Gerade deshalb würde ich ihm niemals Minas zumuten wollen." Die Fürsten sahen jetzt nur den Magier an, der noch immer schweigend verharrte. Ariston lächelte still. "Was sagt ihr dazu, Tibra?" wollte der Pecha von Lekkar wissen.
"Sagt mir, wie Sarman auf seine Erhebung zum Pecha reagieren wird?" bat der nachdenklich. "Es ist eine hohe Ehre, die ihm schmeichelt," erwiderte der Pecha von Nordass. "Sie bedeutet Macht und Reichtum." "Reichtum? Ich denke, Minas ist verschuldet an Nodher." "Das Land ist verschuldet. Für den Pecha bleibt genug übrig, da er nicht für die Schuld des Volkes einstehen muß." "Tibra," mahnte Ilkonys, "du solltest nicht darüber nachdenken. Du gewinnst nichts in Minas." "Wo hoch ist trotzdem wissen.
Minas
verschuldet?"
wollte
einmal
der Magier
Ilkonys seufzte. Er schwieg und nahm wieder Platz. Die Frage des Freundes bewies ihm zur Genüge, daß jeder vernünftige Einwand sinnlos blieb. Ariston öffnete die Mappe vor sich, entnahm ihr ein paar Dokumente und winkte Tibra an seine Seite. Er zeigte ihm wortlos ein Pergament nach dem anderen. Tibra erfuhr so, wie groß sich Minas zeigte, wieviele Menschen dort lebten und auch, wie hoch sich die Summe zeigte, die das Land seinem König an Abgaben inzwischen schuldete. "Eine gewaltige Summe," entfuhr es ihm. "Die Tochter eines Königs geht nicht ohne Mitgift in die Ehe," brummte Ilkonys, den Vater dabei fest ansehend. "Wir halbieren die Zahl." Ariston lächelte bei diesen fordernden Worten des Sohnes, schwieg aber dazu und dieses Schweigen bedeutete Zustimmung. "Und es erwartet niemand, daß die Schuld innerhalb eines
Jahres getilgt wird," mahnte Ariston. "Es wäre schon ein Erfolg, wenn sie sich nicht weiter vergrößert." "Gebt mir einen Moment Bedenkzeit," bat Tibra, der wirklich zögerte. Als Ariston nickte, trat er zum Fenster, öffnete es und sah auf den Burghof hinab. Seine Gedanken weilten bei Aniela, schweiften dann aber ab zum Tempel der Weisheit und allem, was er dort erlebte. Er dachte an das Kinderhaus dieses Tempels, in das er das Lachen und die Fröhlichkeit führte. Er dachte an die Helfer dort, die durch seine Führung zu selbstbewußten und zufriedenen Menschen wurden. Minas kam ihm in Erinnerung, Farrak, der Kerker, aus dem er ihn befreite. Und dann dachte er an einen kleinen Jungen, kaum älter als Harkym, der mit großen, traurigen Augen dem Vater half, Steine vom kargen Feld zu tragen. Bei diesem Gedanken strafften sich seine Schultern. Er wandte sich um und erklärte mit fester Stimme: "Minas bedeutet eine gewaltige Aufgabe, die zu übernehmen keine Ehrung, sondern eine große Verantwortung darstellt. Es wäre vermutlich klüger gewesen, mit Palsan zu trinken." Er trat zu Ariston. "Wenn ihr, Gebieter, mir diese Aufgabe übertragen wollt, werde ich euch nicht enttäuschen." Die Fürsten hatten sich, während er überlegte, leise miteinander unterhalten. Daß dieser Mann Bedenkzeit erbat und den Titel des Pecha nicht als pures Geschenk betrachtete, das überzeugte sie mehr von seinen möglichen Fähigkeiten, als es viele Worte vermochten. Als Ariston nun den Blick kreisen ließ, nickten sie ihm alle zu. Der Herrscher sah auf seinen Erben, doch der wich seinem Blick aus. Ariston lächelte. "Wenn es euch gelingt, meinen Sohn zu überzeugen, gehört Minas euch," versprach er dem Magier.
Ilkonys sah auf. Er trat zu Tibra und griff nach dessen Händen. "Willst du dir das wirklich antun?" "Es gibt in Minas einen kleinen Jungen," erwiderte Tibra fast erheitert, "mit großen, traurigen, dunklen Augen. Er hat in seinem Leben wohl noch nie gelacht." "Und das ist Grund genug, diese Bürde zu tragen?" "Kennst du einen Besseren?" Tibra lächelte. "Ich hätte ein anderes Gebiet niemals akzeptiert, Freund. Ich wollte nie ein Geschenk von dir. Eine Aufgabe werde ich aber gern übernehmen." Er lachte leise. "Inklusive der versprochenen Mitgift." Ilkonys drückte etwas betrübt seine Hände. Dann wandte er sich dem Vater zu. "Minas hat einen neuen Herrn," erklärte er, aber seine Stimme zitterte ein wenig dabei.
A
niela saß am Rand des Weihers, beobachtete Harkym, der fröhlich mit Changanar spielte und hörte Tibra ohne Unterbrechung zu. Nachdem er endete, legte sie sich zurück, bettete ihren Kopf in seinen Schoß und sah zu den hohen Nebeln auf. "Das ist keine leichte Aufgabe, Geliebter," sagte sie endlich, "und bis unser Kind geboren ist, werde ich dir nicht sehr viel helfen können." "Du bist nicht böse?" "Böse? Ich habe dich doch gezwungen, ein Leben der Macht zu suchen." Aniela kuschelte sich enger an ihn. "Und
es ist immerhin Nodher, unsere Heimat. Ich habe keine Furcht vor Arbeit, nicht vor dieser Art von Arbeit. Ich fürchte nur, du wirst die Schulden des Landes immer irgendwie als deine eigenen Schulden betrachten. Nun ja, wenn es unser Land ist, dann ist es wohl auch so." Tibra legte die Hand unter ihren Kopf, hob ihn ein wenig an, neigte sich über sie und dankte für ihren Beistand durch einen stillen Kuß. Als er sich von ihr löste, ruhte Thyrians Hand auf seiner Schulter. Er lächelte dem Freund zu, der sich nun neben ihn setzte. Aniela wollte sich aufrichten, doch Tibra hielt sie fest und ließ es nicht zu. Thyrian ersparte ihr jeden Gedanken über eine gebührende Haltung, indem er sich selbst auf den Rücken legte und seinen Kopf auf den eigenen Unterarm bettete. "Hat Minas einen neuen Herrn?" erkundigte er sich gelassen. "Einen, der erstaunlicherweise ohne jede Vorbedingung von allen Pechas des Reiches akzeptiert wurde," bestätigte Tibra. "Ich werde Hilfe brauchen, Freund." "Du trägst das Opalsiegel des Than," Thyrian amüsiert. "Du kannst alles fordern."
erinnerte
ihn
"Ich erwarte nicht, daß Amarra meine Schulden tilgt." "Das wäre aber kein Problem." "Es wäre auch kein Gewinn," behauptete Tibra, der Aniela an einem raschen Wort hinderte. Die Gemahlin konnte kaum fassen, daß der Pala des Than Tibra unbegrenzte finanzielle Hilfe zusagte. "Ich hoffe, meine eigenen Mittel reichen für den Anfang. Notfalls werde ich meinen Besitz in Thara auflösen." "Das wirst du nicht," wehrte Thyrian ab, ohne sich dabei
auch nur zu bewegen. "Die Sklaven, die dort durch die Hände deiner Händler gehen, sind etwas weniger stumpf als die anderen Sklaven Tharas. Irgendwann wird das durch dich erreichte Wirken Thara verändern. Minas ist nicht mehr als dieses Reich. Sage mir einfach, was du brauchst." "Eigentlich alles. Ich brauche Leute, die etwas vom Pflanzen verstehen und dem Volk sagen können, was reiche Frucht bringen wird. Und ich brauche natürlich das entsprechende Saatgut." "Was noch?" "Ärzte, Baumeister, Lehrer - für ein halbes Jahr brauche ich eine Menge Leute, von denen ich nicht einen bezahlen kann." "Auch das ist kein Problem." Thyrian lächelte. "Wenn der Pecha von Minas reisende Priester nicht behindert, werden Unzählige glücklich sein, dem Pala des Than, also dir, in Nodher zu dienen." Aniela lauschte angespannt. Jetzt richtete sie sich doch auf, drehte sich auf die Knie und starrte Thyrian in sprachlosem Erstaunen an. Tibra griff nach der Hand des Freundes, zog sie an seine Lippen. "Warum erst jetzt?" wollte er wissen. "Warum hat Amarra nicht schon viel früher den Menschen in Minas geholfen?" "Dazu hatten wir bisher kein Recht," erwiderte Thyrian gelassen. "Man würde solches Handeln als Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes verstehen und eine Beleidigung darin erblicken." Er richtete sich auf, lächelte. "Ihr solltet auch nicht darüber reden. Man wird unsere Boten nicht als Priester erkennen, sondern in ihnen
Gesandte des neuen Pechas sehen. Es wäre ganz gut, wenn du mir ein paar Vollmachten für diese Leute ausstellen würdest. Du wirst das Siegel von Minas ja wohl schon morgen erhalten." "Warum tut ihr das?" Aniela stellte diese Frage, da ihr Thyrians Angebot als zu groß und umfassend erschien. "Ich tue gar nichts," versprach er lächelnd. "Ich bin nicht Amarra, aber ich vermute, Seymas wird noch eine ganze Reihe von Ideen haben, wie man dem Pecha von Minas helfen kann." "Wenn ich so viel Hilfe bekomme, wird sich Minas sicher sehr schnell verändern," nahm Tibra an. "Das liegt allein an dir," behauptete Thyrian. "Du bist der Pecha und du entscheidest, was geschieht. Allein brauchst du vermutlich zehn Jahre, bis Minas so ist, wie du es willst. Wenn du ein bißchen Hilfe erlaubst, ist in zwei Jahren das meiste getan."
G
errys und Nymardos reagierten recht betrübt auf Tibras Eröffnung, daß er nun wirklich den Tempel verlassen und künftig in Minas leben wollte. Zwar sprachen sie in der vergangenen Zeit des öfteren über diese Möglichkeit, doch nun, da sie sich zur Tatsache wandelte, wirkte sie doch wie eine Bedrohung. "Ich werde mit dir gehen müssen," befürchtete Nymardos. "Du brauchst mich, um Miska zu wenden und Amarra wird verlangen, daß ich an deiner Seite bleibe." Tibra beruhigte ihn rasch:
"Ein guter Reiter, der sein Pferd nicht schont, ist in zwei Tagen die Strecke vom Tempel nach Minas geritten. Ich werde dich rufen lassen, wenn ich dich zu diesem Werk brauche. Seymas befahl Bakaar an meine Seite, damit der für mich die Rapportbrücke nach Amarra bildet. Er nimmt es dir etwas übel, daß du ihn nicht sofort gerufen als, als Harkym geraubt wurde. Er wird nichts dagegen haben, wenn du im Tempel bleibst, wohin du auch gehörst." Nymardos atmete insgeheim auf. Fast sein ganzes Leben lang wollte er in Gerrys' Nähe sein. Eine Trennung wäre ihm sehr schwer gefallen und doch gab es keine Möglichkeit, sich gegen das Wort des Than zu entscheiden. "Ich wünschte, du hättest dich anders entschieden," gab Gerrys mit leiser Stimme zu. Tibra lachte heiter. Seine Entscheidung, den Tempel zu verlassen, stand schon lange fest. Und er verstand es, auch Gerrys zu trösten. "Sieh es einfach so: ein Magier wie ich gehört ohnehin nicht in den Bereich eines Haupttempels. Und wenn ich nicht mehr dort lebe, ist dein Tempel auch nicht mehr so sehr im Blickfeld des Than. Die Probleme, die ihr zwei miteinander habt, werden dann hoffentlich geringer und du vor allem fühlst dich in deinem Handeln dann weniger beobachtet. Wir werden uns ohnehin oft sehen. Ich habe Freunde im Tempel und komme zu Besuch, so oft ich kann." Gerrys versprach, sein Haus nahe am Tempel zu verschließen, bis er selbst kam, um es auszuräumen. Der Falla wollte ihm dieses Heim aber auch weiterhin erhalten. Tibra verzichtete fröhlich darauf. Während seiner Besuche wollte er mit einem Gasthaus dann vorlieb nehmen und er hatte nicht die Absicht, in seinem alten Haus je wieder ganz zu wohnen. Sobald die Festlichkeiten in der Burg endeten und er offiziell zum Pecha erhoben war, wollte er nach Minas reiten.
Er bat Gerrys, ihm Bakaar und Vogan zu senden und Bakaar einen Wagen zu leihen, damit dieser gleich die wichtigsten Dinge mitbringen konnte.
T
hyrian verlängerte seinen Aufenthalt in der Burg um einen Tag, wartete, bis Tibra das Siegel von Minas erhielt und ihm einige Vollmachten für reisende Priester ausstellte. Tibra blieb drei weitere Tage. Die Zeremonie, die ihn adelte und zum Pecha erhob, brachte er ohne Formfehler hinter sich. Die Fürsten reisten ab. Nur Vandar verweilte und verbrachte seine Zeit fast ausschließlich mit Tibra, dem er so manchen guten Rat gab und den er mit vielen Hinweisen versah, wie er sein neues Amt versehen könne. Als Tibra ihm beim Abschied dankte, meinte er nur: "Wenn es irgendwann eure Zeit erlaubt, dann kommt zu mir nach Ambar und sagt mir, ob mein Land glücklich ist." Tibra lächelte. "Glückliche Erde sieht man in Amarra." "Das will ich euch gern glauben, doch leider hatte ich nie Gelegenheit, das Inselreich des Than zu sehen. Man sagt, daß es dort keine kalten Nebel gibt und alles wie ein großer, blühender Garten gestaltet sei. Leider kann niemand ungerufen nach Amarra kommen." "Nun," versprach Tibra da voll herzlicher Dankbarkeit, "ihr habt mir in den letzten Tagen sehr geholfen. Wenn ihr gerufen werdet, Vandar, dann seid gewiß, daß euch erholsame Tage auf Amarra erwarten." Er war sicher, daß Seymas ihm diesen kleinen Wunsch sicher gern erfüllte und diesem aufrechten Mann im kommenden Jahr sein Reich auf einige Zeit öffnete.
Auch Nodhers Erbe gab sich alle Mühe, Tibra die kommende Aufgabe zu erleichtern. Besser als jeder andere wußte ja er, was ein Herrscher von seinen Fürsten erwartete. Er war anfangs sehr unruhig, doch nachdem Tibra ihm mehrfach versicherte, daß er diese Aufgabe sicher lösen werde, fand der Prinz sogar Gefallen an dem Gedanken, daß der Freund, der ja der Sohn eines Landmanns war, den Fürsten zeigen wollte, wie man ein Volk regierte. "Ich fürchte," gab Ilkonys dann endlich zu, "viel mehr kann ich dir jetzt nicht mehr helfen. Es werden sicher viele Fragen kommen im Laufe der Zeit. Sei versichert, daß ich immer bereit bin, dich zu empfangen oder auch zu dir zu kommen, wenn du mich brauchst. Sage mir, ob ich jetzt noch etwas für dich tun kann." "Etwas gäbe es noch," erwiderte Tibra nachdenklich. "Die Soldaten in Minas erschienen mir sehr hart. Auch wenn sie mir jetzt unterstehen, so brauche wohl doch einen Offizier, der sie in meinem Sinn befehligt." "An wen denkst du?" "Es wird dir nicht gefallen," drohte Tibra lächelnd. Ilkonys nickte ihm aufmunternd zu. "Es wird vor allem Willar nicht gefallen," fuhr Tibra fort. "Ich würde es gern sehen, wenn Ulander aus Sion mit nach Minas käme." "Er befehligt die Burgwache." "Ich weiß. Macht er es gut?" "Ich bin durchaus zufrieden mit ihm. Er ist Willars Freund." "Schöne Freundschaft," lachte Tibra etwas geringschätzig auf. "Ulander hat während der ganzen Festtage Willar nicht einmal gesehen, geschweige denn, eine der Darbietungen zu Gesicht bekommen."
"Bei den vielen Gästen hatte er vermutlich nicht einmal eine freie Stunde," nahm Ilkonys den Bruder in Schutz. "Willar konnte ihn auch nicht einladen; das hätte ich tun müssen. Allerdings hat Willar auch nicht darum gebeten. Hast du schon mit Ulander darüber geredet?" "Ich werde mich hüten! Ehe ich deine Leute abwerbe, rede ich natürlich mit dir darüber." "Das hast du ja nun getan. Also rede mit Ulander. Wenn er nach Minas will, werde ich es nicht hindern. Ich hoffe nur, du verlangst jetzt nicht auch noch Jerrads Dienst." Der Prinz lachte vergnügt. Im Zweifelsfall würde er dem Freund auch diesen Gefährten abtreten. Er ließ noch nach Ulander schicken, begab sich aber dann an seine eigene Arbeit und ließ Tibra allein.
U
lander aus Sion wirkte übermüdet, als er zu Tibra kam, vor dem er sich tief verneigte. "Erlaubt, daß ich euch zu eurer Erhöhung gratuliere, Herr," sagte er, während er den Magier offen ansah. Tibra bot ihm Platz an, schenkte ihm Wein ein und erzählte dann ein wenig von Minas und den dort herrschenden Zuständen. Ulander lauschte, wenn auch mehr aus Höflichkeit denn Interesse. "Ich will euch nicht langweilen," versprach Tibra heiter, "zumal die letzten Tage für euch gewiß sehr anstrengend waren. Das könnte, wenn auch in anderem Sinn, eure Zukunft durchaus auch sein, wenn ihr euch entschließen wollt, mit mir als der Führer der Soldaten nach Minas zu gehen. Euer Lohn würde sich fast verdoppeln; vor allem aber hättet ihr bei aller Arbeit gewiß auch etwas mehr Zeit für euren Sohn."
Ulander schloß für einen Moment die Augen. Ylmir lebte in der Burg, wurde auch versorgt, doch im Grunde fehlte dem Kind jede intensive Zuwendung. Der Dienst ließ dem Mann nicht viel Zeit für den Knaben. "Der Teju eines Fürsten," sagte er langsam, "muß Tag und Nacht bereit sein." "Das muß der Fürst auch," lächelte Tibra. "Aber ihr werdet kaum bezweifeln, daß diese Bereitschaft die Nähe meines Sohnes nicht ausschließen kann. Dasselbe biete ich euch. Wenn die Arbeit euch heißt, quer durch Minas zu reiten, so wird sie nicht schlechter getan, wenn ihr Ylmir dabei vor euch im Sattel habt. Und wenn euer Verweilen im Landsitz nötig ist, so findet sich dort auch Raum für Ylmir, der überdies in meiner Nähe sicher viel mehr Möglichkeiten haben wird, fröhlich zu spielen und mit anderen Kindern seine Zeit zu verbringen. Außerdem würde sich Harkym sicher über einen fast gleichaltigen Gefährten freuen." "Aber, Herr," rief Ulander verstört, Fürsten spielt nicht mit Abhängigen."
"der Sohn eines
Tibra grinste. Ihm war schon aufgefallen, daß außer Harkym niemand mit Changanar spielen durfte. Vielleicht gehörte dieses Denken zum Adel; er würde ihm jedenfalls keine Gültigkeit verschaffen. "Ihr bringt mich in Versuchung," gab der Soldat zu. "Würde Nodhers Erbe mich aus dem Dienst entlassen? Ihm verdanke ich immerhin mein Amt." "Ich weiß wohl, daß Ilkonys, der euch nicht einmal sehr gewogen ist, viel mehr für euch tat als Willar. Nodhers Erbe wäre einverstanden. Wenn euch aber der Gedanke bedrückt, Willars Nähe zu verlieren, so werde ich dies verstehen und eine Ablehnung akzeptieren."
"Willars Nähe?" Ulander lächelte etwas wehmütig. "Als mein Gefangener war er mir nahe. Doch hier in der Burg sehe ich ihn nur selten. Ich hatte auf seine Freundschaft gehofft, doch ich fürchte, er ist noch nicht fähig, so etwas zu empfinden." Tibra schwieg dazu. Ulander lebte einst in Sion, erlernte das Waffenhandwerk und brachte es bis zum Festungs-Teju. Um des hohen Lohnes willen, mit dem er Ylmirs Zukunft sichern wollte, nahm er dann das Amt des Minen-Kustos auf der Insel der Läuterung an. Willar war einer jener Sträflinge, über deren Wohl und Wehe er autonom entscheiden konnte. Er stand dem jungen Mann bei, erleichterte sein Los und trotz der Abhängigkeit keimte so etwas wie Zuneigung und Freundschaft zwischen den beiden Männern. Tibra sah dies, als er kam, um Willar zu befreien. Nodhers Erbe suchte den Tod des Mannes, der seinen Bruder knechtete, doch Tibra setzte es durch, daß Ulander als freier Mann mit Willar gehen konnte. Seither lebte er in der Burg. Um des Bruders Willen sorgte Ilkonys für dessen Auskommen, doch Willar bemerkte dies nicht einmal und dachte nicht nach über den Alltag des Mannes, dem er Freundschaft bot und im Laufe der Zeit dann doch fast nur Gleichgültigkeit gab. Eine Trennung konnte für Ulander nicht wirklichen Verlust bedeuten. "Es ist mir eine Ehre, wenn ich euch dienen darf, Herr," versprach Ulander nach langer Überlegung mit fester Stimme. "Ich hoffe, ihr werdet es nie bedauern, mich in euren Dienst zu rufen."
I
lkonys versuchte, den Abschied hinaus zu zögern. Doch Aniela, die sich nun schon sehr auf die neue Heimat und die Herausforderung freute, drängte zum Aufbruch. Beim letzten gemeinsamen Frühmahl mit ihrer Familie, an dem auch Tibra teilnahm, sprach sie nur von all den Plänen und Reformen, die sie verwirklichen wollte. Ilkonys amüsierte sich köstlich über ihren Eifer und ärgerte sie mit gutmütigen Spötteleien. Willar saß still dabei, warf nur ab und zu Tibra einen vorwurfsvollen Blick zu. Er verübelte es dem Magier, daß er Ulander in Dienst nahm, sagte aber nichts dazu aus Furcht, Ilkonys könne ihm dies ungut vergelten. "Die Pferde sind bereits bepackt," versprach Ariston, der sein Mahl schon beendete. "Ihr werdet ein paar Tage unterwegs sein." Tibra lächelte Aniela an. Da war noch etwas, das der Herrscher nicht wissen konnte und das er nun endlich erfahren sollte. "Kannst du noch so weit reiten?" fragte er und versuchte, seiner Stimme einen besorgten Klang zu geben. Aniela durchschaute seinen Plan nicht. Arglos erwiderte sie: "Aber sicher, Tibra. Die nächsten Wochen brauche ich noch keine Schonung."
Ariston stellte den Becher abrupt zurück. Seine Hand schoß förmlich über den Tisch, umklammerte Tibras Handgelenk mit schmerzhaft festem Griff. "Aniela ist schwanger?" Tibra nickte lächelnd, was Ariston veranlasste, seinen Griff etwas zu lockern. "Seit wann?" Aniela gab die Antwort, aber sie richtete ihre Worte dabei an ihren Gemahl: "Seit dem Morgen in Wyla, an dem du das erste Mal zu mir kamst." "Du wußtest, daß deine Tage fruchtbar waren?" fragte er langsam im Erinnern an diese für ihn recht ungute Stunde. "Und trotzdem bist du dieses Risiko eingegangen?" "Es war kein Risiko." Aniela lächelte. "Es war eine Entscheidung, die ich traf und deshalb habe ich damals wohl gezögert. Aber ich wollte das Kind haben; dein Kind, Tibra. Ich dachte ja noch, daß du Erynia liebst und wir einander nie viel bedeuten werden. Ich wollte es trotzdem." "Wir waren auf der Suche nach Harkym," erklärte Ilkonys den jetzt etwas erregten Eltern. "Da in Wyla die Frauen herrschen, hat Aniela behauptet, Tibra gehöre zu ihr. In einer Siedlung fanden wir Erynia, die behauptete, Aniela lüge. Die Frauen wollten die Wahrheit wissen, schickten ihn in ihr Gasthaus und belauschten die beiden. Hätten sie erfahren, daß wir sie täuschen, würden sie uns alle umgebracht haben." "Das klingt so furchtbar entschuldigend," stellte Aniela leicht erheitert fest. "Ich habe das Kind gewollt und jetzt bin ich glücklich, weil ich auch seinen Vater bekam."
Ariston zog seine Hand zurück. Er wandte sich ganz der Tochter zu. "Warum hast du es uns nicht gesagt?" forschte er. "Das wollte ich ja. Aber als ich endlich sicher wußte, daß ich empfing, da gab es hier doch nur noch Streit wegen meinem Wunsch, mit Tibra zu leben. Du und Ilkonys, ihr habt euch fast entzweit deshalb. Mutter schimpfte nur noch über meine Dummheit und wenn ich es dann gesagt hätte, hättest du vielleicht nachgegeben, aber dich erpreßt gefühlt. Niemand hat es gewußt, bis Thyrian es erriet und Tibra entdeckte." "Ihr wußtet es auch nicht?" vergewisserte sich Ariston bei dem Magier. Cynesta hatte Anielas Hände ergriffen. Sie weinte wieder, doch jetzt waren es Tränen der Freude. "Wirst du nach Hause kommen, wenn deine Stunde naht?" bat sie. "Ich werde in Minas zu Hause sein, wenn es so weit ist," wehrte Aniela voll Zuneigung ab. "Dann ist es ohnehin die Zeit der kalten Nebel, wo man nicht reisen kann." "Du könntest so lange hierbleiben." "Ach, Mutter," rief Aniela, fröhlich aufspringend, "wenn es nach dir geht, werde ich die Burg nie verlassen." Auch Ariston erhob sich, womit die gemeinsame Stunde ihr Ende fand. Auf dem Weg zum Burghof nahm er Tibra kurz beiseite und bat: "Paßt auf mein Mädchen auf. Aniela wird sich in die Arbeit stürzen und dabei weder sich noch das Kind schonen.
Laßt nicht zu, daß sie sich übernimmt."
A
niela ritt lange Zeit in gestrecktem Galopp. Sie freute sich, jetzt endlich nach der langen Zeit des Wartens einen neuen Anfang zu finden und wollte einfach nur eine große Strecke zwischen sich und die elterliche Burg bringen. Tibra hielt sich mühelos an ihrer Seite. Harkym genoß es, vor ihm im Sattel zu sitzen und er fürchtete keinen schnellen Ritt, solange der Vater ihn hielt. Ulander aus Sion folgte ihnen langsamer. Er war erst Mitte der Zwanzig, doch er hatte schon zu viel erlebt, um zu glauben, ausgerechnet er könne die Welt verändern. Für ihn bedeutete Minas nicht Hoffnung, sondern Ungewißheit. Der vierjährige Ylmir weinte. Das Pferd und der Ritt ängstigten ihn und daß der Vater ihm mit bösen Worten Beherrschung befahl, wirkte nicht sehr beruhigend auf ihn. Endlich wurde Aniela langsamer. Auf dem breiten Pfad winkte Tibra den Soldaten an seine Seite. Harkym lachte noch, schaute dann aber stiller auf den weinenden Ylmir. Schließlich streckte er die Hände nach ihm aus. "Gib mir Ylmir rüber," verlangte Tibra, der Ulander nun, da er in seinem Dienst stand, auch duzte. Ulander wollte abwehren, wagte es dann aus einer seltsamen Scheu heraus nicht und gehorchte. Tibra hielt nun beide Knaben vor sich im Sattel. Lange würde er so nicht reiten können, doch die kurze Zeitspanne genügte Ylmir durchaus, um Harkym etwas Spaß am Reiten abzuschauen. Als er dann wieder vor seinem Vater saß, war er viel ruhiger. Sie ritten nicht allein. Aniela nahm zwei ihrer Bediensteten mit, Madina und Swetara, zwei Frauen ihres Alters, mit denen sie viel Zuneigung verband. Sie waren bisher nicht viel
gereist und es nicht gewohnt, lange Stunden im Sattel zu sitzen. Nicht zuletzt ihnen zuliebe wählte Tibra die kürzeste Route, doch er achtete auch darauf, daß sie nie im Freien übernachten mußten. Nach einigen Tagen erreichten sie ihr Ziel. Aniela zügelte überrascht ihr Tier, starrte verblüfft auf ihr neues Heim. "Gefällt es dir?" erkundigte sich Tibra grinsend. Sie nickte langsam. Vor ihr lag ein Steinbau, zweistöckig errichtet, mit muskovit-verglasten Fenstern und flachem Dach. Das war kein Haus, das war ein Palast. Ein großer Garten lag davor, durch den ein fein geschotteter Weg führte, umgeben von einer hüfthohen Mauer, innerhalb derer sich auch eine Stallung sowie zwei weitere, ebenerdig errichtete Häuser befanden, in denen wohl die Dienerschaft wohnte. Ein weiteres Haus, außerhalb der Mauer, bewies durch seine Bauart die Kaserne. "Es ist so groß," murmelte Aniela endlich. "Ich dachte, Minas sei verarmt, aber das hier ist ein Prunkbau. Es gefällt mir sehr, Tibra." Harkym wollte aus dem Sattel. Tibra stieg ab, stellte ihn auf die Beine und drehte sich zu Aniela, die schon aus dem Sattel glitt. Er küßte sie flüchtig. "Da kommt ein Lichtvogel," grinste er mit Blick auf einen fein herausgeputzten Mann. "Dann nimm du mal unser Heim in Beschlag." Er wartete keine Antwort ab, sondern folgte Harkym, der schon ein ganzes Stück in den Garten hinein lief. Der Mann, den er Lichtvogel nannte, winkte Bedienstete heran. "Fangt ihn," befahl er mit Blick auf den Knaben, der sich eben anschickte, mitten in ein Blumenbeet zu spazieren.
Aniela lachte fröhlich, während sie zu ihm trat. "Sieh dich vor," warnte sie den Mann, "dies ist der Sohn des Pechas. Ich bin seine Gemahlin." Ihr Gegenüber erschrak sichtlich, kreuzte rasch die Arme vor der Brust und kniete vor ihr nieder. Aniela schmunzelte, denn er beschmutzte jetzt sein weißes Gewand. "Erlaubt mir, Herrin, euch in Minas willkommen zu heißen. Mein Name ist Winno. Ich diene als euer Hofmeister." Palsan hatte seine persönlichen Habe bereits geholt und so wußten sie alle, daß ein neuer Herr in Minas herrschen sollte. Man erwartete sie, was Aniela unschwer daran erkannte, daß nun alle Bediensteten des Hauses ins Freie traten, wo sie sich in zwei Reihen aufstellten und so eine Gasse bildeten. Tibra kümmerte sich überhaupt nicht darum. Harkym stapfte mitten in die Blumen, wo er ein paar Blüten rupfte und an ihnen roch oder auch ein Blättchen abbiß. Zwei Männer wollten ihn ergreifen. "Wenn ihr ihn anrührt, seid ihr des Todes," drohte Tibra mit lauter Stimme. Sie wagten keinen weiteren Schritt mehr, wichen langsam zurück und reihten sich bei den anderen Vasallen ein. Tibra hob den Sohn auf die Arme, roch an den Blüten, die er ihm hinhielt, scherzte mit ihm. Er schien unendlich viel Zeit zu haben. "Onik!" Harkym rief es, deutete dabei auf einen kleinen MesaStrauch, der mitten auf dem Rasen wuchs. Der Vater drehte sich um, schaute in die Richtung und lachte dann leise,
während er dorthin ging. Der Sohn sah nicht die Onik-Viper, doch er wußte aus dem Tempel, daß sie in den Wurzeln des Mesa-Strauches nestete. Sie war das giftigste Tier der Reiche, doch sehr friedliebend und scheu. Ihr Biß traf nur jenen, der dem Strauch schadete. Ein Mann, dessen Kleidung ihn als Gärtner auswies, lief herbei, kniete nieder und entschuldigte sich rasch: "Wir wollten den Strauch ausreißen, doch die Viper hindert uns. Bisher konnten wir sie nicht erlegen, Herr." Die Mesa war Raaki geweiht. Als der dunkle Gott um die von der Kraft geknechtete Lichtgöttin Antares weinte, entsprang die Mesa der Legende nach aus dessen Tränen. Und als er sich selbst den Tod gab, um, von der Form befreit, das Licht nun zu retten, da wuchs die Onik aus seinem Blut. Auf Amarra wuchs der Strauch nicht selten über mannshoch, in den Tempeln der Reiche immer noch in Hüfthöhe. "Ein kümmerlicher Strauch," stellte Tibra fest. "Hast du nicht mehr gelernt?" Der Mann sank förmlich in sich zusammen. "Mesa gehört nicht in den Garten," wehrte er schwach ab. "In diesen Garten gehört sie." Das klang wie ein Befehl. "Raaki ist ein paar Mal sehr nett zu mir gewesen. Ich denke, ich schulde ihm Raum für seine Pflanze." "Die Viper tötet," Entscheidung.
flehte
der
Gärtner um eine andere
Tibra lachte leise. Er stellte Harkym auf die Beine und trat einen Schritt zurück. Der Kleine bückte sich ein wenig, schaute, ob er die Onik entdecken konnte. Doch die Viper verbarg sich vor ihm. Da verneigte sich der Knabe leicht
vor der Pflanze und trat neben seinen Vater, dessen Hand ergreifend. "Mein Sohn hat dir eben gezeigt, wie man Mesa begegnet," grinste Tibra. "Erweise der Mesa Ehrfurcht und die Onik rührt dich nicht an." Er führte Harkym mit sich. Zurück ließ er einen völlig verwirrten Gärtner, von dem bisher niemand verlangte, vor einer Pflanze Respekt zu haben. Harkym hielt Aniela eine der gepflückten Blüten entgegen. Er strahlte, als sie das Geschenk an ihrem Gewand befestigte und nun ergriff er auch ihre Hand und ging dann zwischen ihnen auf das Haus zu. Die Leute knieten nieder. Winno beeilte sich damit, sie vorzustellen, wobei er meist nicht ihre Namen, aber zumindest ihren Dienst wußte. Ab und zu stellten Tibra oder Aniela ihm oder den Leuten eine Frage, aber sie versuchten nicht, sich in der ersten Stunde jedes Gesicht zu merken. Aniela schickte die Menschen zurück an ihr Tagwerk. Sie befahl mit solcher Natürlichkeit, daß ihnen kaum auffiel, daß sie und nicht der Pecha selbst sprach. Winno gab sie Anweisung, ihren Gefährtinnen Räume zuzuweisen und auch für Ulander und dessen Sohn zu sorgen. Nachdem sich der Hofmeister entfernte, strahlte sie Tibra an. "Ich möchte das Haus sehen," gestand sie, "jeden einzelnen Raum." "Dann tun wir das doch," schlug Tibra vergnügt vor. Sie traten ein. Lachend und scherzend öffneten sie die Türen, schauten sie sich um. Sie fanden den großen Küchenraum. "Hier fühlst du dich bestimmt nicht wohl," spöttelte Tibra nahe an Anielas Ohr.
Sie lachte nur. Harkym hatte Leckereien entdeckt und jetzt war sie es, die den Knaben hoch hob und seine kleinen Wünsche erfüllte. Das Personal war scheu zurück gewichen. Etwas ungewöhnlich war es schon, daß der neue Pecha in ihre Töpfe und Schüsseln schaute. "Du wirkst nicht begeistert," stellte Aniela fest. "Zum einen habe ich Hunger," gab er heiter zu, "zum andern habe ich aber wirklich genug von all der Schlemmerei der letzten Zeit. Was meinst du, ist es sehr ungehörig, wenn ich..." Er redete nicht weiter, denn er fand schon, was er suchte. Aniela schaute ihm kopfschüttelnd zu. Ein paar Tage hindurch hatte sie ja erlebt, wie er in seinem Haus beim Tempel für das Mahl sorgte und wie natürlich ihm all dies erschien. Jetzt fand er Getreide, zerquetschte die Körner. Harkym jauchzte. Anscheinend hatte auch er zu viel Gekochtes und Gebackenes erhalten. Aniela hielt den Kleinen noch im Arm, aber er zappelte nun und sagte und zeigte, was er wollte. Tibra winkte einen Jungen heran. "Da," befahl er, "Nüsse knacken." Scheu gehorchte der Jüngling. Unsicher gab er Harkym ein Stück des Kerns, ehe er begann, den Rest zu hacken. Er schien solche Mischungen zu kennen, denn er reichte Tibra nun ohne Aufforderung, was den Körnerbrei geschmacklich abrunden konnte. Tibra füllte ein wenig des Breies in eine Schale, setzte Harkym auf den Tisch und gab sie ihm. Er Kleine begann sofort, wie heißhungrig die Speise zu nehmen. Auch Tibra aß. "Wie heißt du?" fragte er den Jungen nebenbei. "Man nennt mich Jimmad, Gebieter."
Er zitterte ein wenig furchtsam und wußte nicht, ob er nun knien mußte oder ob er den Pecha anschauen durfte. Er wollte nichts falsch machen, denn wenn er seine Arbeit verlor, wußte er nicht, wohin. Jimmad besaß keine Familie mehr. Mit seinen dreizehn Jahren mußte er für sich allein sorgen. "Gute Mischung," lobte der Pecha seine Auswahl der Zutaten. "Wo hast du das gelernt?" "Von Mutter, Herr. Wir hatten nie etwas anderes." Tibra stellte seine geleerte Schale zurück. Er grinste Aniela an, die sein Verhalten unmöglich fand, aber nur lächelnd dastand und wartete. Harkym hatte genug und wollte weiter. "Jimmad," wandte sich Tibra da noch einmal an den Jungen, "du wirst künftig das Frühmahl für mich und meinen Sohn bereiten. Wir schätzen diese Speise. Die Fürstin," fügte er dann mit Seitenblick auf Aniela hinzu, "hat einen etwas anderen Geschmack." Der Junge strahlte ihn glücklich an. Die Aufgabe bedeutete eine Auszeichnung. Jetzt durfte ihn niemand mehr hier schlagen und er mußte nicht mehr fürchten, daß man ihn wegschickte. Ungelenk verneigte er sich, was Tibra, schon im Gehen, nicht mehr sah. Draußen küßte der Magier seine Frau. "So," behauptete er dann, "das größte Problem in Minas ist schon mal behoben." Sie stromerten weiter durch das Haus, sahen in alle Räume, stiegen auch hinauf aufs Dach. Harkym wurde müde, aber er jammerte nicht, sondern war zufrieden, weil er auf dem Arm des Vaters einschlafen durfte. Sie hatten die fürstlichen Wohnräume schon gefunden, aber nicht näher beschaut. Jetzt gingen sie dorthin. Tibra legte den Sohn auf das breite
Bett, deckte ihn fürsorglich zu. Aniela schaute in die Nebenräume. "Kinderzimmer gibt es hier wohl nicht," stellte sie fest. "Dafür zwei Schlafzimmer. Fürsten halten wohl Abstand zueinander." Er nahm sie in die Arme, schmuste ein wenig. "In dieser Hinsicht werde ich bestimmt kein guter Fürst," versprach er. "Das zweite Schlafzimmer ist trotzdem praktisch, zumindest, solange die Kinder klein sind." "Dann hoffe ich," flüsterte Aniela lockend, "daß unsere Kinder es sehr lange brauchen werden und immer eines klein sein wird." Sie wollten an diesem Tag keinen Menschen mehr sehen. Die nächsten Stunden gehörten nur ihnen und ihrer Liebe. Spät in der Nacht unterhielten sie sich leise über die ersten Eindrücke, die sie in ihrem neuen Heim gewannen und sie waren sich einig in der Ansicht, daß das scheue Verhalten der Menschen ihnen nicht gefiel.
N
och vor dem Frühmahl rief Tibra nach Winno und informierte ihn über die erwartete Ankunft von Bakaar und Vogan. Der Hofmeister erbleichte. "Nun, da sie also schon da sind," stellte Tibra grinsend fest, "wünsche ich, daß sie mit uns das Frühmahl einnehmen." Eilig suchte Winno das kleine Gastzimmer auf, in dem er die Gäste unterbrachte. Bakaar und Vogan wachten schon. Sie wurden nicht sehr freundlich empfangen hier und man hielt sie wie Gefangene. Vogan fürchtete sich sehr, zumal sie den Raum nicht verlassen durften. Am vergangenen Tag sahen sie die Ankunft des neuen Pechas. Bakaar hatte den Jungen
ermahnt, sich still zu verhalten. Tibra würde gewiß bald nach ihnen fragen. Er war in Tibras Alter und hatte auf Wunsch des Than an der Seite des Magiers zu leben. Da er mit seinem einstigen Leiter zur fünften Weihe, Thyrian, noch immer in Rapport stand, konnte er auf geistigem Weg Amarra stets erreichen. Bakaar wußte, daß seine eigentliche Aufgabe darin bestand, den Kontakt nach Amarra zu halten. Auch Vogan kam aus Amarra. Mit seinen Eltern dort verstand er sich nicht. Man hatte ihn ausgewählt, während eines Besuches des Magiers auf der schönen Insel für Harkym zu sorgen. Da der Kleine den Jungen sofort mochte, fiel er Tibra natürlich auf. Er nahm den Jüngling mit sich nach Nodher, wo er ihn wie einen Sohn hielt, auch wenn es ihm nicht gelang, die letzte Scheu Vogans zu überwinden. Der Jüngling stand nun in seinem sechzehnten Jahr. Den Tempel, wo seine Freunde lebten, verließ er nicht gern. Er fürchtete eine Zukunft in Minas. Winno entschuldigte sich wortreich für die unfreundliche Begrüßung, die ihnen widerfuhr. "Wenn ein neuer Pecha ins Land kommt," erklärte er unbehaglich, "so kommen immer auch Fremde, die von seinem Reichtum profitieren wollen. Es ist meine Aufgabe, ihm die Bettler fern zu halten." "Wir sind nicht als Bettler gekommen, sondern mit einem beladenen Wagen," wies ihn Bakaar kühl zurück. "Da der Pecha von unserer Anwesenheit weiß, will er uns wohl auch sehen. Also führt uns zu ihm, Mann." "Ich weiß gar nicht, wie ich mich nun verhalten muß," gestand Vogan leise. "Tibra ist derselbe wie immer," behauptete Bakaar gelassen. "Ich freue mich auf ihn." Er
wartete
nicht
auf
eine weitere Einladung, sondern
verließ das kleine Zimmer. Vogan folgte ihm rasch und Winno hatte keine andere Wahl, als die Gäste nun zu führen. Es wäre ihm lieber gewesen, sie hätten sich zuerst umgekleidet.
D
er kleine Raum, in dem das Frühmahl bereits aufgetragen wurde, besaß eine Tür ins Freie. Tibra hatte sie geöffnet. Die kühle Morgenluft vertrieb den letzten Gedanken an Schlaf. Sie sahen den Bereich hinter dem Haus, wo ein großer See sich weit ins Land erstreckte, an dessen Ufer kleinere Ruderboote lagen. Eine Koppel hielt fünf edle Pferde; ein hübscher Pavillion lud zumindest in der warmen Zeit zum Verweilen. Aniela entließ die Dienerschaft. "Vater hat es immer so gehalten," erklärte sie Tibra danach entschuldigend. "Das Frühmahl war für meine Familie immer eine sehr vertraute Stunde. Ich würde es gern ebenso halten." Die Tür wurde geöffnet. Vogan kam nicht mehr dazu, sich über eine gebührende Haltung Gedanken zu machen. Harkym rief freudig seinen Namen und lief ihm dabei entgegen, ließ sich glücklich von dem Älteren umarmen. Tibra begrüßte Bakaar mit Handdruck. "Du trägst noch Reisekleidung," stellte er dabei mit Seitenblick auf Winno fest. "Mein Hofmeister scheint nicht zu wissen, wie er meine Freunde zu empfangen hat." Er schickte Winno mit einer Handbewegung hinaus. "Ich hoffe, du wirst dich hier trotzdem wohl fühlen, Bakaar." Auch Aniela begrüßte Bakaar. Sie kannte ihn aus der Zeit, da sie durch Wyla reisten, doch genügte dies nicht für ein näheres Begegnen. Beim gemeinsamen Frühmahl erwies sich Bakaar dann als angenehmer Gesprächspartner, der vieles über ihr Interesse der Wissenschaften kannte und dem ihre Art des Denkens sehr vertraut erschien.
Vogan hingegen blieb sehr still. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, ein Handwerk zu erlernen, hatte Tibra nahe beim Tempel einen Tischlermeister gefunden, der den Jungen ausbildete. Inzwischen stellten sich die ersten Erfolge ein und der Jüngling gewann Freude an seiner Arbeit. Jetzt fürchtete er, dies sei vorbei. Erst, als Tibra ihm versprach, nach einer gewissen Zeit der Eingewöhnung ihm auch in Minas wieder einen guten Meister zu finden, wo er seine Ausbildung vollenden konnte, wurde er zugänglich. Plötzlich hatte er viele Fragen und wollte möglichst alles über sein neues Leben wissen.
N
ach wenigen Tagen hatten sie sich eingerichtet, die nähere Umgebung erkundet, die eigene Dienerschaft gewählt und sich vertraut gemacht mit der neuen Umgebung. Auch Ulander bewohnte jetzt Räume innerhalb des Palastes. Seine Arbeit zwang ihn in die Kaserne, doch dort zu wohnen war nicht seine Pflicht. Vogan sorgte dafür, daß Ylmir viel Zeit mit Harkym verbrachte. Er spielte mit den kleinen Jungen und achtete in allem auf sie. Wie von Ariston vorausgesagt, stürzte sich Aniela in die Arbeit. Tibra überließ ihr die großen Arbeitsräume und die Initiative. Er selbst richtete sich am andern Ende des Ganges ein, wo er sich auch ein Studierzimmer gestaltete und eine kleine Bibliothek füllte. Für Minas selbst schien er sich überhaupt nicht zu interessieren. Doch auf die Belange und die Menschen des Palastes richtete er durchaus sein Augenmerk. Lange vor Aniela kannte er die Namen der Leute, wußte er ihr Tagwerk. Es entging ihm nicht, wie Winno die Leute knechtete und sie in einem Umfeld der Furcht hielt. Doch erst, als Bakaar einen heftigen Streit mit dem Hofmeister austrug, bei dem er Winno der Grausamkeit bezichtigte, griff Tibra ein. "Wenn dir der Hofmeister zuwider ist," wandte er sich,
ihren Wortwechsel unterbrechend, an den "dann ist er aus unserem Dienst entlassen."
Gefährten,
"Das wäre mir lieb," gab Bakaar unumwunden zu. Winno wehrte entsetzt ab. Er versuchte, den Anlaß des Zwistes anzuführen, doch Tibra interessierte sich nicht dafür. Es war ihm genug, daß Bakaar gegen den Mann stand. Winno mußte den Palast verlassen. Tags darauf wollte sich Bakaar für seine Einmischung entschuldigen, doch Tibra wehrte heiter ab. Er schätzte durchaus die aktive Mithilfe seines Gefährten. "Ich weiß wohl," gab er zu, "daß es für dich nicht einfach ist, abseits eines Tempels zu leben. Dort hast du deine Priesterschaft ausgelebt und deine Tage gefüllt. Was willst du hier tun? Immer nur warten, ob ich die Rapportbrücke nach Amarra brauche? Das kann dich nicht ausfüllen. Es ist mir lieb, wenn du dir eine Aufgabe wählst und wenn du dich in allem wie ein Freund verhältst. Wer dir zuwider ist, den werde ich nicht schützen." Er überließ es Bakaar, einen neuen Hofmeister zu finden und als der Gefährte ihm zwei Tage danach Ahykim zu diesem Amt vorschlug, stimmte Tibra sofort zu. Ahykim lebte seit Jahren im Palast, arbeitete als Winnos Gehilfe und wußte, was zu tun war. Nach diesem kleinen Ereignis begann Bakaar, seine Tage zu gestalten und aktiv Einfluß zu nehmen auf alles, was im Palast geschah. Es dauerte nicht lange, bis er für die Menschen hier wichtig wurde. Sie kamen mit ihren Fragen und Sorgen zu ihm, teilten ihre Freuden mit dem Gefährten des Pechas und suchten in vielem seinen Rat. Eine kleine Siedlung, zu Pferde in weniger als einer Stunde erreicht, besaß eine Tischlerwerkstatt. Bakaar fand
sie auf einem seiner Ausritte, nahm tags darauf Vogan mit und von da an arbeitete der Junge wieder an seiner Ausbildung. Tibra war sehr zufrieden mit dem Verlauf der Dinge. Eines Tages ruderte er mit Aniela und Harkym weit auf den See hinaus. Sie beklagte sich ein wenig, weil er sich nicht Minas widmete. "Das wichtigste ist in allem mein Heim," wehrte er vergnügt ab. "Erst, wenn die Dinge hier geordnet sind, ist es Zeit, sich um anderes zu kümmern." "Und was fehlt dir noch zu deiner Ordnung?" murrte sie ein wenig. "Nicht mehr viel, Liebes. Bakaar hat seine Heimat hier gefunden, Vogan lernt mit Eifer, Harkym spielt wie einst und ich fange an, meine Studien wieder zu lieben. Sogar du läßt in deinem Eifer nach und verbringst manche Stunde mit Madina. Langsam werden wir eine Familie." Er lachte leise. "Auch wenn ich dich mühsam überreden muß, ehe du bereit bist, mit mir eine sinnlose Stunde auf dem See zu verbringen." "Sie ist ja nicht sinnlos," lenkte Aniela ein. "Es ist nur so viel zu tun und ich habe immer das Gefühl, daß durch mein Säumen andere zu Schaden kommen könnten. Die Zeit der kalten Nebel naht. Wußtest du, daß die Vorräte in den Siedlungen viel zu knapp bemessen sind? Es wird schlimm für die Menschen." "Für gute Ernten können wir erst im nächsten Jahr sorgen. Ich hoffe, daß das gelingen wird.” Er zog die Ruder ein. Das Boot trieb ruhig auf dem See. Tibra sinnierte. Dann sah er seine Gemahlin entschlossen an.
“Wir sollten gemeinsam ein paar Tage durch Minas reiten, Aniela. Zum einen möchte ich unbedingt vor der kalten Zeit Farrak noch aufsuchen, zum andern könnten wir uns einen Eindruck über die Leute verschaffen und sehen, wie ihr Alltag aussieht. Würde dir das nicht gefallen?" Er mußte sie ein wenig überreden, aber sie gab nach, noch ehe das Boot wieder ans Ufer gelangte.
D
rei Jahre vergingen. Aniela gebar zuerst das Mädchen Antaya, ein Jahr später den Sohn Uhray. Jetzt ging sie wieder schwanger, doch sie vermochte es kaum, sich auf dieses dritte Kind zu freuen. Inzwischen gab es oft Streit mit Tibra, dem sie zu viel arbeitete. Seiner Ansicht nach widmete sie viel zu wenig Zeit ihrer Familie, galt ihr ganzes Interesse nur Minas und seinen Belangen. Sie hingegen hielt ihm Desinteresse vor und beklagte den mangelnden Erfolg, den er als Pecha aufwies. Sie schämte sich ein wenig vor ihrer Familie, da Minas nach wie vor wirtschaftlich viele Probleme besaß und noch immer nicht in die Lage kam, seine Schulden an den Herrscher zu begleichen. Seit einem Jahr wuchsen die Schulden zwar nicht mehr an, doch konnte damit niemand wirklich zufrieden sein. Mißmutig sah Tibra auf sein Leben. Nie wollte er Verantwortung und tätige Macht. Minas erstrebte er allein für Aniela und nun schien er sie an diese Gegend zu verlieren. Darüber hinaus fiel es ihm ungemein schwer, den Mißerfolg zu akzeptieren. Er war es gewohnt, den Belangen seines Lebens den eigenen Willen aufzuzwingen. Seine eigenen Interessen besaßen längst kein großes Gewicht mehr. Er hoffte noch auf Besserung, wenn Minas endlich gewann und dafür setzte er sich durchaus auch ein und arbeitete er. Was ihm am meisten mißfiel, daß war die Tatsache, daß der Herrscher die Pechas zur Versammlung berief. Die Zeit der kalten Nebel war vorbei, das Reisen wieder angenehm. Die Lichtgleiche lag lange zurück, die Nächte blieben angenehm warm und man konnte durchaus im Freien übernachten.
Aniela jedoch bestand wegen der Kinder auf der etwas längeren Route, welche an jedem Abend eine Herberge versprach. "Das ist einfach lächerlich," schimpfte Tibra. "Ich habe mit Harkym als Säugling schon oft im Freien übernachtet. Es hat ihm immer gefallen und es würde weder Antaya noch Uhray schaden, wenn sie die herrlichen Geräusche der Nacht hören könnten." "Kannst du nicht einmal ein wenig Rücksicht auf mich nehmen?" rief Aniela erbost. "Du bist Pecha, kein einfacher Bürger mehr. Es geziemt sich einfach...." "Was sind denn das für Worte?" Tibra wurde wirklich böse. "Selbst Ilkonys schätzt ein Lagerfeuer und er ist ein König. Schlimm genug, daß wir zu dieser Versammlung müssen." "Das gehört zu deinen Aufgaben! Willst du dein Leben nicht endlich bejahen? Außerdem ist schon alles vorbereitet, der Wagen und der Kutscher bereit und die Herbergen über unser Kommen informiert. Wenn du dich weigerst, machst du mich lächerlich." Nach diesen Worten gab ihr Tibra nach, wie so oft zuvor schon in ihren Disputen. Nicht zum ersten Mal überlegte er, ob er dieses Amt nicht zurück geben sollte. Er würde Aniela dadurch verlieren, aber die Ferne zwischen ihnen belastete ihn und schien unüberbrückbar, so daß der Verlust ohnehin kam. Die Reise selbst verlief dann fast angenehm. Aniela, nun nicht abgelenkt durch Bedienstete und Aufgaben, widmete sich intensiv den Kindern und dem Gemahl. Nur am Abend, in der Herberge, sprach sie von Minas. Sie ging mit Tibra die Zahlen durch, besprach alle Fakten, die für Ariston wichtig sein konnten. Dann wirkte sie ernst, abgespannt und sehr besorgt. Sie wünschte, es wäre ihr erlaubt, in der
Versammlung zu reden, doch sie durfte nicht einmal anwesend sein. Sie beide wußten, daß Aniela diese Stunde besser meistern würde als Tibra. Aber es war seine Aufgabe, für Minas einzustehen.
A
m Vorabend des befohlenen Tages erreichten sie die Burg. Ulander, der sie begleitete, freute sich auf eine Begegnung mit Willar und wurde für die Dauer des Aufenthaltes von jedem Dienst befreit. Seit er in Minas lebte und nur noch sehr selten zur Burg kam, widmete ihm der junge Prinz an solchen Tagen alle Zeit. Ulander würde jede Stunde in der Burg genießen. Auch Bakaar begleitete Tibra und seine Familie. Es war seine Aufgabe, in der Nähe des Magiers zu sein und so begegnete er bei Besuchen auf Burg Nodher zwangsläufig Mercur, mit dem ihn inzwischen eine gute Kameradschaft verband. Auch ihm mußte die Zeit in der Burg sehr angenehm sein. Ariston hatte einen geselligen Abend bestimmt. Niemand von seiner Familie mußte teilnehmen, doch jeder war willkommen. Willar ließ sich ebenso entschuldigen wie Dorina, die Ziehschwester der Königin. Aber Aniela, Tibra und die Kinder weilten ebenso beim Herrscherpaar wie Ilkonys, Cynara, deren gemeinsamer Sohn Maggalan und Changanar. Man sprach nicht über Minas, sondern nur über ganz private Dinge. Die Stunden wurden ohnehin durch das Spielen und Wünschen der Kinder bestimmt. Am Frühmahl dann nahm Tibra nicht teil. Er wollte vor den anderen Pechas nicht den Eindruck erwecken, bevorzugt zu sein und überdies diese Stunde nutzen, um das ganze Material nochmals durchzugehen. Harkym wollte bei ihm bleiben. Er wurde sehr traurig, als der Vater darauf bestand, daß er mit Aniela ging, doch er fügte sich auf seine stille Weise.
Beim Frühmahl saß der fünfjährige dann wortkarg, in sich gekehrt und unaufmerksam. Er aß, was man ihm zuschob, ohne die Speise auch nur zu bedenken. Vergeblich versuchte Cynesta, den Kleinen aufzumuntern. "Laß ihn nur, Mutter," riet Aniela lächelnd. "Harkym ist immer so, wenn Tibra keine Zeit für ihn hat." "Das wäre schlimm," vermutete Ilkonys nachdenklich. "Wenn er seine Arbeit als Pecha richtig tun will, wird er oft keine Zeit haben." Aniela senkte schweigend den Kopf. Der Gedanke, daß der Geliebte darunter vielleicht wie das Kind leiden könnte, beschäftigte sie. "Darf ich in den Garten, Niela?" fragte Harkym dann fast schüchtern, nachdem er seine Schale leerte. "Ich schlage vor, daß ihr alle etwas in den Garten geht," riet Ariston den Frauen. "Wenn die Kinder spielen, könnt ihr euch in Ruhe unterhalten." Die Idee gefiel. Während dann Changanar mit Antaya Ball spielte und die beiden darüber lachten, wie Uhray und Maggelan krabbelnd am Spiel teilnehmen wollten, hielt sich Harkym abseits. Ylmir kam zögernd zu ihnen. Er freute sich sehr, als Changanar ihn mit ins Spiel einbezog. Cynesta, Aniela und Cynara lagerten auf einer weichen Decke beieinander. "Harkym sagt nicht Mutter zu dir," wunderte sich Cynara. "Er weiß, daß ich es nicht bin," gab Aniela leichthin zu. "Meinen vollen Namen kann er noch nicht aussprechen, deshalb sagt er Niela."
"Als du ein kleines Mädchen warst, habe ich dich oft auch so genannt," erinnerte sich Cynesta lächelnd. Sie erzählte von den Streichen der Tochter aus jener Zeit. Die Frauen lachten zusammen. Harkym sah zu ihnen, zu den fröhlichen Kindern. Er fühlte sich einsam. Wie konnten sie alle so ausgelassen sein, wo den Vater doch wohl Sorgen drückten. Er war ja nicht unfreundlich gewesen, als er Harkym wegschickte. Der Knabe spürte genau des Vaters Anspannung. Er wünschte, er könnte ihm helfen. Er sah den kleinen Rundtempel, der im Garten lag. Harkym wußte, daß sie früher in Raakis Tempel lebten. Er erinnerte sich nicht wirklich daran, doch wenn er, was selten vorkam, mit dem Vater dorthin ritt, dann schien Tibra wie verwandelt. Niemals wirkte er dort bedrückt und niemals schickte er da den Sohn aus seiner Nähe. Unwillkürlich richtete der Knabe den Schritt dem hellen Bau zu. Die Tür des Tempels stand weit offen. Harkym sah Bakaar in der Halle, gekleidet in das Schwarz, das Raakis Priester trugen. Bei ihm stand Mercur, auf dieselbe Art gewandet. Die Männer unterhielten sich, bemerkten den Knaben nicht. Changanar kam gelaufen, faßte Harkyms Hand. "Da darfst du nicht rein," erklärte er eifrig. "Das ist nur für Priester." "Da ist Bakaar," wandte Harkym ein, der mit dem Freund des Vaters reden wollte. "Der ist ja auch Priester. Vater ist das auch. Du nicht." Harkym ließ sich mitziehen. Er schaute dabei die Fassade der Burg hinauf.
"Was macht Dada?" fragte er, hoffend, der kleine Prinz wisse die Antwort. "Er kniet jetzt vor Vater und wenn er was falsch gemacht hat, bekommt er geschimpft," antwortete Changanar, voll Stolz auf des Vaters Macht. "Dada macht nichts falsch." "Du sagst immer Niela statt Mutter und Dada statt Vater. Kannst du noch nicht richtig reden?" "Kann ich schon," wehrte Harkym beleidigt ab. "Dann tu's doch." Changanar stieß ihn bei dieser Aufforderung vor die Brust. Harkym taumelte ein paar Schritte zurück. "Niela ist nicht meine Mutter," rief er aus. "Niela ist Niela." "Und Tibra ist nicht dein Vater." Changanar wollte Harkym verletzen, dem er es verübelte, daß er am Spiel nicht teilnahm. "Er hat dich irgendwo gefunden und behalten. Dich wollte ja sonst niemand." "Du lügst!" "Ich bin ein Prinz. Prinzen lügen nicht." "Du bist, du bist nur gemein." "Mein Vater ist der König," triumpfierte Changanar. "Du darfst gar nicht du zu mir sagen. Und du mußt knien." Harkym legte den Kopf schief und überlegte. Changanar wirkte zornig, er meinte gewiß, was er sagte. Aber Harkym duzte noch alle Menschen. Am Abend zuvor hatte nicht
einmal Ariston, der wirkliche König, etwas anderes von ihm verlangt. Und das mit dem Kniefall erschien ihm mehr als nur suspekt. Manchmal knieten die Menschen vor dem Vater oder vor Aniela; aber die hatten dann meist auch etwas angestellt und fürchteten sich. Er hingegen war sich keiner Schuld bewußt. Vermutlich fühlte sich Changanar nicht wohl, war womöglich krank. Wie sonst könnte er behaupten, daß Tibra nicht sein Vater war? Vielleicht hatte er die Hitze im Leib? Harkym lächelte. "Hast du Fieber?" wollte er wissen, da ihm diese Erklärung am logischsten erschien. Der Prinz fühlte sich beleidigt. Er sprang Harkym an, packte ihn fest bei den Haaren und schlug mit der kleinen Faust nach ihm. Harkym strampelte sich frei. Changanar mochte in seinem Alter sein, er war entschieden kräftiger und seine Hiebe taten weh. Harkym lief weg, versuchte, die Burg zu erreichen. Aber Changanar holte ihn kurz vorher ein. Die beiden Kinder rangen miteinander, wobei Changanar voll Zorn zuschlug und Harkym das Gesicht zerkratzte.
S
hannar befand sich in einem kleinen, abseits gelegenen Zimmer, das zu verlassen ihm bei Todesstrafe verboten war. Er saß auf der Lagerstatt. Seine Hände umklammerten die breiten Kupferarmreifen an den Gelenken, die ihn für alle sichtbar als Sklaven auswiesen. Er war nun zwanzig Jahre alt. Sein leiblicher Vater weilte in der Burg und solange er hier blieb, durfte Shannar ihm nicht begegnen. Tibras erste Gefährtin Dimira hatte ihm diesen Sohn geboren, ihn jedoch vor langer Zeit mit dem damals Zweijährigen verlassen, weil ihr Gefährte zu wenig Ehrgeiz besaß. Shannar wuchs ohne Liebe auf. Er hoffte immer auf Erfolg und er prostitutierte sich ohne Bedenken, wenn dies Vorteile brachte. Er war ein Jüngling, als er seinen brutalen Dienstherrn Riccaro tötete. Ilkonys wurde Zeuge dieser Tat und Shannar versuchte aus Angst vor Entdeckung, den Prinzen zu töten.
Für dieses Vergehen wurde er auf die Insel der Läuterung verbannt, wo er die schlimmsten Qualen erduldete, bis auch Willar dort gefangen lag und von Tibra und Ilkonys befreit wurde. Willar bat für Shannar und so wurde er als Sklave mit nach Burg Nodher genommen. Tibra sprach nicht mit ihm. Er verachtete diesen Sohn und dies nicht nur um seiner Prostitution willen, sondern vornehmlich, weil er weder Treue noch Dankbarkeit empfand gegenüber jenen, die ihm halfen. Vor über drei Jahren entführte Shannar aus Eifersucht den kleinen Harkym nach Wyla. Tibra hätte ihn dafür getötet, doch Mercur, der den Magier offensichtlich ablehnte, trat vor Ilkonys für den Jüngling ein. Tibra verzichtete auf jede Rache, doch er verlangte, daß Shannar niemals wieder Harkym nahen dürfe. Shannar diente Mercur und er lernte sehr schnell, daß dieser Priester ihm wirklich wohl gesonnen war. Er empfand sogar so etwas wie Zuneigung zu Mercur, der ihn belehrte und sogar in die Schrift einwies, ohne dafür Gefälligkeiten von ihm zu erwarten. Shannar hörte streitende Kinder vor seinem Fenster. Dieses Eingesperrtsein belastete ihn. Er wollte nur ein wenig lauschen, nur etwas Abwechslung, als er das Fenster öffnete. Dann sah er Changanar und Harkym. Er kannte sie beide. Sie prügelten sich. Eben biß Harkym Changanar in die Wange. Ein feiner Blutfaden beschmutzte sein Gewand. Dieser Knabe war der Sohn von Nodhers Erben. Wenn er, Shannar, ihm nun beistand, so würde der Prinz ihn dafür gewiß wenn nicht belohnen, so doch wenigstens damit aufhören, ihn zu übersehen. Shannar kletterte aus dem Fenster. Draußen wuchsen grünende Büsche. Man würde ihn sicherlich nicht sehen. Der junge Mann griff zu, packte Harkym, hob ihn etwas hoch und hielt den strampelnden Jungen fest. Gleichzeitig kniete er aber nieder, was Harkym wieder in Bodenkontakt brachte. Changanar
hatte
Tränen in den Augen. Es waren Tränen
des Zorns und der Schmerzen. Die kleine Hand hielt er fest gegen die blutende Wange gepreßt. "Wollt ihr, daß ich die Wachen rufe, Herr?" bot Shannar zögernd an. Harkym gab seine Gegenwehr auf. Daß dieser Mann Changanar so fremd und furchtsam ansprach, verwirrte ihn. Und er kniete vor Changanar. War der kleine Prinz wirklich etwas so Besonderes? "Den kann ich allein verhauen," behauptete Changanar, noch immer heftig atmend. "Er ist bloß wütend, weil ich ihm gesagt habe, daß Tibra gar nicht sein Vater ist." "Lügen darf man nicht!" rief Harkym erbost und wollte sich Shannar entwinden. Der junge Mann hielt ihn aber unbarmherzig fest, verstärkte den Griff sogar bis ins Schmerzhafte. "Der Prinz lügt nicht," wies er Harkym zurecht. "Ja, sag's ihm," verlangte Changanar sofort. Shannar zögerte. Tibra hatte gedroht, ihn zu töten, sollte er sich Harkym nahen und jetzt hielt er den Knaben fest und sprach mit ihm. Changanar stapfte wütend mit dem Fuß auf. "Mach schon," drängte mußt mir gehorchen."
er. "Du bist nur ein Sklave. Du
"Tibra hat dich weit im Osten des Reiches gefunden, als du noch ein Baby warst," sagte Shannar da dem Kind die unbarmherzige Wahrheit. "Er wollte dich gar nicht behalten. Kinder, die niemandem gehören, müssen in einem Tempel bleiben. Dorthin wollte er dich bringen. Er behielt dich nur, weil Erynia dich wollte. Weißt du noch, wer Erynia ist?"
Harkym hing fast schlaff in seinem Griff. Er nickte, wenn auch mehr mechanisch. Dieser Mann sprach von der Frau, die er für seine Mutter hielt. Manchmal sah er sie, wenn er mit dem Vater zum schwarzen Tempel ritt. Aber das war ja gar nicht sein Vater. Und jetzt, wo Erynia nicht mehr bei ihnen lebte, sondern Aniela und deren Kinder da waren, da hatte er natürlich viel weniger Zeit für ihn. Deshalb durfte er also am Morgen nicht bei ihm bleiben. Er hatte ihn gar nicht wirklich lieb, sondern war immer nur wegen Erynia nett zu ihm gewesen. Harkym weinte nicht. Was er hier hörte und wie er es zuordnete, das tat so weh, daß keine Tränen helfen konnten. Er starrte Changanar an. Der junge Prinz schluckte. Er wollte Harkym weh tun, aber jetzt hatte er fast das Gefühl, den Jungen tödlich verletzt zu haben. "Laß ihn los," befahl er Shannar. Harkym stand unbewegt. Ganz langsam drehte er den Kopf, sah Shannar an. Seine braunen Augen wirkten fast schwarz. Shannar senkte den Kopf. Er wollte nicht in die großen Kinderaugen sehen, in denen jetzt eine unglaubliche Leere schimmerte. Harkym ging fort. Er lief nicht davon, sondern machte wie automatisch einen Schritt nach dem anderen, bis ihn niemand mehr sehen konnte.
A
uch für Tibra verlief der ganze Vormittag nicht gerade sehr erfreulich. Die Pechas des Reiches erwiesen sich in ihren Berichten als durchaus erfolgreich, was er für sich nicht in Anspruch nehmen konnte. Ariston war es zufrieden. Minas konnte sich wirtschaftlich nun selbst tragen und in seinen Augen war dies ein guter Anfang. Ilkonys hatte mehr erwartet. "Da ist ja Lekkar besser," murrte er.
Tibra verkniff sich jede Antwort. Der Pecha von Lekkar wurde eben laut gelobt, da es ihm gelang, mit dem Stamm der Tarden Abkommen zu treffen. Diese Leistung anerkannte auch er. "Ihr solltet Minas noch etwas Zeit geben," mahnte Vandar. Ariston lächelte. Dem Pecha von Ambar stand es zu, so auch in der Versammlung zu reden. Ilkonys würde ihm den ungebetenen Rat nicht verübeln. "Sind drei Jahre nicht genug?" wehrte der Prinz trotzdem ab. "Es geht ja nicht nur um den Handel in Minas. Wir hattem befohlen, daß alle Gebiete Soldaten rekrutieren sollen. Und was schickt uns Minas?" Er wurde zornig, als er nun mit der flachen Hand auf die Berichte aus den Festungen des Reiches schlug. "Das sind keine Kämpfer, sondern verweichlichte Schwächlinge." "Die Menge entspricht der geforderten Anzahl," wehrte sich Tibra nun aber doch. "Willst du mir anlasten, daß die Männer nicht durch Repressalien, durch Zwang oder im Rausch sich für den Dienst verpflichteten? Es sind alles Freiwillige, die gern fünf Jahre Dienst leisten werden." "Weil sie hoffen, in den Festungen ein besseres Leben als in Minas zu erhalten," hielt Ilkonys dem Freund mit lauter Stimme vor. "Weil sie ihrem König dienen wollen," widersprach der Magier. Ariston raffte sich zu spät zu einem vermittelnden Wort auf. Ilkonys bestand schon auf Respekt. "Steh auf, wenn du mit mir redest, Tibra," fuhr er den Freund an. Der Magier erhob sich wortlos. "Muß ich dir wirklich erklären, wie ein guter Soldat aussieht?"
"Einen kenne ich, Herr," entfuhr es Tibra zynisch. "Er ist nicht sehr groß, schmal, fast schmächtig und wirkt immer, als sei er eben erst von schwerer Krankheit genesen. Absolut untauglich zu deinem Dienst, nicht wahr? Und er hat immer davon geträumt, Soldat des Königs zu sein. Sein Traum wurde wahr. Er hat deinem Vater und wenig später deiner Mutter das Leben gerettet. Es gäbe dich gar nicht ohne ihn. Hingebungsvoller Dienst wiegt pure Körperkraft auf. Das zumindest hat Gerrys bewiesen." Ilkonys war schon etwas ruhiger geworden, denn er wußte bei Tibras ersten Worten, daß er von Raakis Falla und dessen Vergangenheit sprach. Er wollte trotzdem auf seinem Recht beharren. "Was Minas uns sandte, ist mit Gerrys nicht zu vergleichen," stellte er nun sachlicher fest. "Wir erwarten hundert weitere Mann von dir und dieses Mal sollten sie fähig sein, einen Säbel zu führen. Du hast Zeit bis zur Lichtwende. Dann erwarte ich deinen Bericht." "Den wirst du bekommen," versprach Tibra, der ihm jetzt viel lieber das Siegel von Minas vor die Füße geworfen hätte. "Schriftlich." "Du wirst hier sein, wenn ich es befehle." Die Pechas sahen recht betreten drein. Der Zwist belastete sie, zumal sie Minas in früheren Jahren schlechter geleitet wußten. Sie hofften, Tibra würde nun endlich nachgeben und man könnte dann wieder zur Tagesordnung übergehen. Doch der Magier enttäuschte sie alle. "Vor Nodher kommt Amarra," lehnte er mit kühler Stimme ab. "Der Segler des Thans erwartet mich zwei Tage nach der Lichtwende im Hafen von Smink. Der Weg ist von hier aus in dieser Zeit nicht zu schaffen."
"Du ziehst doch nur das Magiertreffen auf Silsa an diesem Tag deinem Amt als Pecha vor," hielt ihm Ilkonys entgegen. Tibra sah ihn nur still an. Darüber gab es nichts zu diskutieren. Er hatte seinen Weg nie verleugnet und er wollte jetzt nicht damit beginnen. Dieses wortlose Eingeständnis machte Ilkonys etwas hilflos. So konnte er mit Tibra nicht streiten. "Bist du dich deiner Pflichten entsinnst, bist du aus der Versammlung entlassen," erklärte er endlich. Die Männer zogen unwillkürlich die Köpfe ein. Dieses Urteil kam schon fast einer Entmachtung gleich. Tibra mußte nun um Verzeihung bitten, mußte nachgeben. Doch der Magier neigte nur wie ergeben das Haupt und verließ dann wortlos den Raum. Der Pecha von Ambar erhob sich. "Ich bitte um Verzeihung," erklärte er in verbindlichem Ton, ehe er Tibra mit großen Schritten folgte. Ilkonys wollte die Versammlung fortführen, doch die Männer zeigten sich nun abgelenkt und vor allem sehr scheu. So entschied Ariston, daß man zunächst gemeinsam speisen und erst danach in Ruhe wieder miteinander reden wolle.
V
andar holte Tibra noch auf dem Gang ein, legte ihm die Hand auf die Schulter und hielt ihn so auf. Der Magier lächelte etwas wehmütig. Von der ersten Stunde an war es der mächtigste Pecha des Reiches, der zu ihm hielt. Es gab keinen Grund, diesen Mann zu brüskieren. "Seid nicht unbedacht, Tibra," riet Vandar mit ruhiger Stimme. "Nodhers Erbe ist euer Freund. Er hatte euch Nordass zugedacht. Wahrscheinlich erwartete er Wunder von euch und versucht, durch Strenge seine Enttäuschung zu verbergen. Seid ein wenig nachsichtig. Er will euch nicht
schaden." "Und was ratet ihr mir? Ich kann zur Lichtwende nicht hier sein." "Gebt ihm die Männer, die er fordert." "Das wird ihm kaum genügen." "Sicher nicht," gab Vandar zu. "Bittet ihn für die aufbegehrende Haltung und für Amarras Vorrecht um Verzeihung. Letztlich wartet er doch nur auf einen Grund, um sich mit euch auszusöhnen." Tibra mußte unwillkürlich leise auflachen. "Es würde ihn nichts mehr erzürnen, als wenn ich jetzt kniefällig den Demütigen spiele," behauptete er. "Ihr sollt nicht demütig, sondern einsichtig sein." Sie sahen die Fürsten den Raum verlassen. "Ich bitte euch, Tibra, nehmt mit uns am gemeinsamen Mahl teil." "Er hat mir die Versammlung verboten," erwiderte der Magier etwas nachdenklich. "Aber nicht die Speise." Vandar sah ihn mit offenem, bittenden Blick an. Da gab Tibra nach. Der Pecha von Ambar lächelte. Er mochte den Magier und er vergaß ihm nicht, daß er ihm einen Besuch auf Amarra ermöglichte. Im Speisesaal gab es nicht die feste Sitzordnung wie im Versammlungsraum. Vandar beschloß, Tibra an seiner Seite zu halten. Dies würde auch Ilkonys deutlich machen, was er vom Pecha von Minas hielt und daß er diesen Mann schätzte. Die Männer standen noch in lockeren Gesprächsgruppen
beisammen. Solange Ariston und Ilkonys nicht Platz nahmen, galt es zu warten. Und Nodhers Erbe mußte sich eben die leise gesprochenen Vorwürfe des Vaters anhören, der sein Verhalten nicht billigte. "Du mußt nichts weiter sagen, Vater," erklärte er endlich etwas unruhig. "Ich bedauere es doch schon selbst, Tibra gekränkt zu haben." "Dann versöhne dich mit ihm," riet Ariston lächelnd. "Er ist dein Freund. Da wird das wohl nicht so schwer sein." "Du fürchtest doch nur, daß Aniela wütend wird, wenn sie von der Versammlung erfährt," grinste Ilkonys. "Aber ihre Beschimpfungen möchte ich mir auch nicht antun." Er lachte leise. Dieser Ton entkrampfte die Atmosphäre. Die Fürsten zeigten sich nun weniger angespannt. Vandar und Tibra betraten den Raum. Jeder sah jetzt auf den Magier, der den Blick nicht von Ilkonys löste. "Setz dich zu mir, Tibra," lud Ilkonys den Freund ein, als habe es nie böse Worte zwischen ihnen gegeben. Er verhielt sich ganz natürlich und völlig gelassen, machte es dem Freund so leicht, zu ihm zu gehen. Beim gemeinsamen Mahl erkundigte sich Tibra dann endlich: "Muß ich mich entschuldigen?" "Eigentlich schon," erwiderte Nodhers Erbe leichthin. "So darf ein Pecha nicht mit seinem Herrscher reden." Er sah Tibra an. "Ein Freund darf es schon. Ich habe manchmal Probleme damit, das eine mit dem andern zu verbinden." "Ich hätte Probleme, wenn ich den Herrscher vom Freund trennen sollte," grinste Tibra, jetzt doch sehr erleichtert. "Du bekommst deine Männer. Aber ich kann zur Lichtwende
nicht bei dir sein." "Das weiß ich doch. Silsa ist wichtig für dich und daß du danach immer nach Amarra gehst, das ist wohl für deine Freunde dort wichtig. Es ist schon in Ordnung so, Tibra. Ich verspreche dir, daß der Rest der Versammlung sachlicher abläuft. Aber jetzt haben wir Pause und reden nicht von der Arbeit. Erzähle mir von Aniela. Seit wann ist sie wieder schwanger?" Sie plauderten angeregt, bezogen Ariston und Vandar in ihre Gespräche mit ein und zogen die Zeit ein wenig hinaus. Als sie dann die Arbeit wieder aufnahmen und die Versammlung fortgeführt wurde, blieb Ilkonys wirklich bei allem sehr gefaßt, auch den andern Pechas gegenüber. Erst am Abend kamen sie zum Ende. Ariston löste die Versammlung auf, lobte dabei noch einmal das Wirken aller Pechas, wobei er seine Worte derart betonte, daß auch Tibra in dieses Lob eingeschlossen war. Die Fürsten waren damit entlassen und durften die Burg verlassen. Die meisten würden am kommenden Morgen abreisen.
D
ie Frauen weilten immer noch an diesem angenehm warmen Tag im Garten. Talima kam am Mittag zu ihnen; Bakaar und Mercur gesellten sich vor kurzem dazu. Uhray schlief in Anielas Schoß und Antaya spielte mit Maggalan, der eine Unmenge seiner Spielsachen um sich verstreut liegen hatte und nicht müde wurde, dem Mädchen seinen Reichtum zu zeigen. "Schön, daß ihr endlich kommt," begrüßte Cynesta den Gemahl und den Sohn, die mit Tibra den Garten betraten. "Wir dachten schon, ihr findet mit der Arbeit nie ein Ende." Auf einer Decke standen Schalen mit Früchten, Krüge mit Saft und Wein. Ilkonys schenkte sich einen Becher voll, gab ihn dann aber doch an Tibra weiter und bediente auch den Vater, ehe er selbst trank. Tibra begrüßte seine Familie, streichtelte sacht das Gesicht des schlafenden Sohnes. Dann sah er sich um. "Wo steckt Harkym?" "Er spielt schon den ganzen Tag mit Changanar," erklärte Aniela lächelnd. "Es ist schön, daß sich die beiden so gut verstehen." "Und wo sind sie?" "Sie stromern durch den Garten oder die Burg," erwiderte Cynara, die keinen Anlaß sah, weiter darüber nachzudenken.
"Wer ist bei ihnen?" "Hey, Tibra," mischte sich nun Ilkonys ein, "Changanar ist hier zu Hause. Er wird nicht bewacht. Durch das Tor geht er nicht und innerhalb der Burgmauer ist er völlig sicher. Und das ist Harkym auch, solange er bei ihm ist." Tibra musterte ihn forschend, gab sich aber zunächst damit zufrieden. Er lagerte sich nieder. Antaya wollte ihm endlich all die schönen Dinge zeigen, die Maggalan besaß. Nach einiger Zeit aber wandte er sich wieder Nodhers Erben zu. "Die Nebel sinken bald. Deine Leute werden wissen, wo die Kinder sind." "Du machst dir ja richtig Sorgen," wunderte sich Ilkonys. Aber er rief nach Bediensteten und gab Anweisung, Changanar und Harkym zu ihnen zu bringen. Die Zeit verging. Tibra verstand nicht, weshalb alle so gelassen und fröhlich blieben. Es erschien ihm unfaßbar, daß so kleine Kinder ohne Aufsicht blieben. Auch als die Bediensteten melden mußten, daß sie keines der Kinder finden konnten, erregte sich Ilkonys nicht. "Changanar hat ein geheimes Versteck hinten im Garten, nahe der Burgmauer," erklärte er dem nun sehr besorgten Freund. "Bestimmt spielen sie dort." "Dann laß sie holen," verlangte der Magier jetzt drängend. "Das muß ich schon selbst tun," lachte Nodhers Erbe. "Mein Sohn würde es mir sehr verübeln, wenn ich sein Geheimnis verriete." Aber er erhob sich und ging davon. Auch Ariston wunderte sich über die Sorge des Magiers. Er versuchte vergeblich, ihn
zu beruhigen. "Worüber erregst du dich?" Aniela war die Sache fast peinlich. "Denkst du denn, ich hatte immer einen Aufpasser neben mir in meines Vaters Haus? Als Kind kann man hier so schön spielen, so viele Abenteuer erleben und ist doch immer völlig sicher." "Mag sein. Aber ich habe Harkym den ganzen Tag nicht gesehen und heute morgen war er so traurig, weil er nicht bei mir bleiben konnte. Ich will ihn jetzt einfach in den Arm nehmen. Er hat lange genug darauf gewartet." Cynesta lächelte. Im Grunde war es die Zärtlichkeit, welche dieser Mann seinen Kindern gegenüber auslebte, die ihn ihr sympathisch machte. Daß er sich jetzt nach Harkym sehnte, das wertete ihn vor ihr auf. Als Ilkonys kam und nur Changanar bei der Hand führte, tastete Aniela rasch nach Tibras Hand, als wolle sie ihn so zur Besonnenheit ermahnen. Jetzt war sie selbst in Sorge und fragte drängend nach dem Verbleib des Jungen. Ilkonys setzte sich zu ihnen, zog Changanar mit sanftem Zwang an seine Seite, hielt aber den Arm um ihn gelegt, als wolle er ihn schützen. "Sie haben nicht zusammen gespielt," erklärte er unruhig. "Changanar sagt, daß er den ganzen Tag allein in seinem Versteck war. Harkym mag ihn wohl nicht und da war er traurig und hielt sich deshalb verborgen." Schweigend musterte Tibra mit eisigem Blick den kleinen Prinzen, der es nicht wagte, jetzt jemanden anzusehen. "Ihr glaubt unserem Sohn nicht?" vergewisserte sich Cynara des Eindrucks, den sie gewann. "Tust du es?" wollte Tibra von Ilkonys wissen.
Der hielt den Sohn etwas fester. Es entsprach nicht Changanars Wesen, einen ganzen Tag lang jede Gesellschaft zu meiden. Und ganz gewiß würde er eine Abweisung von Harkym nicht in stillem Beleidigtsein hinnehmen, sondern sich darüber beschweren und um die eigene Bevorzugung schmeicheln. "Harkym war sehr still heute morgen," gab Aniela zu. "Er wollte mit niemandem spielen." Cynara faßte zärtlich nach der Hand des Sohnes. "Aber du bist Harkym nachgelaufen, als er zum Tempel ging. Was war da?" Changanar schmiegte sich schutzsuchend an den Vater, als er leise antwortete: "Ich hab ihm nur gesagt, daß er nicht in den Tempel darf. Da dürfen nur Priester rein." "Und dann?" forschte Cynara mit sehr sanfter Stimme. "Weiß nicht, Mutter." "Hattet ihr Streit?" wollte sie ohne jeden Vorwurf wissen. Changanar preßte die Lippen zusammen, schüttelte aber den Kopf und verneinte so stumm die Frage. Ariston hatte schon nach der Burgwache gerufen und ließ sich nun versichern, daß kein Kind durch das Burgtor ging. Harkym mußte noch innerhalb der Burg sein. "Ich hätte nicht mit Mercur ausreiten sollen," murmelte Bakaar schuldbewußt. Tibra warf ihm nur einen kurzen Blick zu, schüttelte dabei den Kopf und nahm die Selbstanklage nicht an. Bakaar war
nicht für Harkym verantwortlich und hatte nicht auf ihn zu achten. "Was ist mit deiner Wange?" wollte er von dem Kind wissen. "Ein Dorn," erwiderte Changanar, dessen Stimme sehr unsicher klang und einen weinerlichen Unterton erhielt. Ariston neigte sich nach vorn, ergriff Changanars Oberarme und zog ihn trotz seines Widerstrebens zu sich. Nur kurz betrachtete er die kleine Wunde. "Hat Harkym dich gebissen?" Changanar weinte nun auf, flüchtete in die Arme des Vaters, der ihn sorgsam festhielt und dabei Tibra einen unsicheren Blick zuwarf. Als Harkym vor dreieinhalb Jahren entführt wurde, schrie der Freund und dann entfesselte er seine Magie, um den Sohn zu finden. Jetzt blieb er ganz ruhig und es war diese Ruhe, die Ilkonys das Schlimmste befürchten ließ. Tibra sah zu Mercur. "Ruft Shannar," verlangte er. Changanar weinte etwas lauter. Mercur sprang auf. "Euer Sohn steht..." "Nennt ihn nicht meinen Sohn," fuhr ihn Tibra wütend an. "Er ist es," beharrte Mercur mit fester Stimme. "Er steht, wie ihr es gewünscht habt, unter Arrest. Es ist schlimm genug, einen jungen Mann einzusperren, sobald sein Vater naht." Tibra erhob sich ganz langsam. Aniela wollte ihn festhalten, doch er gab ihr jetzt nicht nach. Nahe trat er zu Mercur. Dieser Priester leitete Ilkonys auf seinem inneren Weg, war
auch dessen Freund und dies respektierte er. Doch er war nicht gewillt, solche Rede zu dulden. "Vergeßt niemals, daß ihr Priester seid," warnte er mit leiser Stimme, "und daß ihr, sobald ihr mit mir redet, immer auch den Pala des Than vor euch habt." Ilkonys schluckte trocken. Diese Warnung betraf Mercur existenziell. Tibra hob niemals die Macht hervor, die Seymas ihm gab. Daß er sie nun erwähnte, das zeugte von einer übergroßen Kompromißlosigkeit. Nodhers Erbe winkte einen Pagen herbei und gab rasch Befehl, Shannar zu ihnen zu führen. Er wunderte sich aber, daß Changanar jetzt etwas zitterte und ahnte, daß der Sohn ihnen nicht die Wahrheit sagte. Shannar sah den Vater. Er fürchtete sich, aber er hoffte, daß er jetzt endlich mit ihm reden würde. Zitternd warf er sich vor Tibra, nicht vor seinem Herrscher, zu Boden, lag still mit ausgebreiteten Armen vor ihm und sehnte sich nach einem Wort des Erkennens. Doch der Vater würdigte ihn keines Blickes. Auffordernd nickte er Mercur zu. Als der Priester zögerte, grinste Tibra nur. "Auf die Knie, Shannar." Aniela befahl es, die sich nun aufrichtete. Der Gemahl schien so sicher und überzeugt von Shannars Beteiligung an Harkyms Verschwinden zu sein, daß sie sich nicht zurück halten konnte. Der junge Mann gehorchte ihrer befehlenden Stimme. "Was gab es zwischen Harkym und Changanar und was hast du damit zu tun?" verlangte sie eine Erklärung. Shannar suchte nach Worten, wagte die Rede dann doch nicht und schlug nur die Hände vors Gesicht. Tibra tastete nach seinem Dolch. Hastig schob ihn Mercur beiseite. Er
brachte ein Knie zu Boden, ergriff behutsam Shannars Hände und zog sie nach unten. "Sage uns, was geschah," verlangte nun er, doch nicht befehlend, sondern bittend. "Willst du durch dein Schweigen alles zerstören, was in den letzten drei Jahren errichtet wurde? Niemand rührt dich an, Shannar. Ich schütze dich. Aber du mußt uns Antwort geben." Talima warf Tibra einen scheuen Blick zu. Mercur versprach Schutz, doch sie wußte, daß er diesen gegen den Willen des Magiers nicht gewähren konnte. Sie fürchtete jetzt um Shannar wie um Mercur. "Ich wollte mein Zimmer nicht verlassen, Herr," versprach Shannar nun. Mercur hielt seine Hände noch fest und löste nicht den Blick aus seinen Augen. "Die Kinder rangen miteinander vor meinem Fenster. Harkym hat den Prinzen ins Gesicht gebissen. Er blutete. Ich mußte ihm doch helfen, nicht wahr?" "Das war deine Pflicht," bestätigte Mercur sanft, was Tibra einen geringschätzigen Laut entlockte, der Shannar erschaudern ließ. "Was geschah dann?" "Ich wollte die Wachen rufen, Herr." "Was du nicht getan hast," ergänzte Ilkonys mit harter Stimme. "Rede jetzt, oder ich lasse die Wahrheit mit der Peitsche aus dir holen." Shannar zitterte. Er versuchte, den Kopf zu wenden und Tibra anzusehen, wagte es dann aber nicht. "Der Prinz wollte keine Hilfe. Er hatte Harkym gesagt, daß Tibra nicht sein Vater ist und verlangte, daß ich das bestätige. Ich habe ihm gesagt, daß er ihn nur behielt, weil seine Gefährtin Erynia das so wollte."
"Bei allen Göttern." Bakaar erbleichte. "Wie kann man das einem Kind antun?" "Weiter!" verlangte Ilkonys herrisch, der nun den weinenden Sohn losließ und sich selbst erhob. Changanar flüchtete in Cynaras Arme, barg sein Gesicht an ihrer Brust und hoffte, daß niemand mit ihm böse sei. "Harkym hat nichts gesagt. Er hat auch nicht geweint. Er ging einfach fort, ganz langsam. Zwischen den OresunderBüschen ist er dann verschwunden und ich ging zurück in mein Zimmer. Mehr weiß ich nicht, Herr. Ich habe wirklich nicht mehr gesehen." Die Burgwache stand noch bereit. Ariston gab Befehl, daß jeder erwachsene Mensch in der Burg nach dem Kind suchen solle. Harkym verbarg sich gewiß vor allen Menschen. Rufen würde nichts nützen. Man mußte eben jeden Winkel durchsuchen und in jede Nische schauen. Sein Befehl wurde rasch befolgt. Wenig später schon suchte ein Heer von Bediensteten nach einem fünfjährigen Knaben, der nicht gefunden werden wollte. Tibra stand immer noch unbeweglich und wirkte auf unheimliche Art ruhig und gefaßt. "Bring die Kinder in unsere Räume," bat er Aniela. "Was willst du tun?" Aniela spürte, daß er die Sache nicht auf sich beruhen ließ. "Komm mit uns. Man wird uns rufen, wenn Harkym gefunden ist." Er sah sie erst jetzt an. Aniela sah den Schmerz in seinen Augen. "Bitte, bringe unsere Kinder weg," wiederholte er. "Ich komme später zu euch."
Da hob Aniela den schlafenden Uhray auf, ergriff Antayas Hand und ging langsam der Burg zu. Tibra wartete, bis sie durch die Tür trat. Er sah keinen der Menschen an, doch er verlangte: "Mercur, tretet zurück." Der Priester zuckte zusammen. Mit dieser Aufforderung konnte er nicht rechnen. Angstvoll krallte Shannar seine Hände in die seines Beschützers. "Rührt ihn nicht an," forderte Mercur, doch seine Stimme besaß keinen festen Klang. "Bestimmt nicht," versprach Tibra voll Hohn. "Er ist kein Wort, keinen Blick und keine Berührung wert." Wirklich sah er nicht einmal in Shannars Richtung. Doch der junge Mann zitterte nun mehr, sein Atem ging keuchend und stoßweise. Es war, als kralle sich eine unsichtbare Faust um seine Kehle. Röchelnd wand er sich am Erdboden. "Hört auf!" Mercur schrie es aufspringend. Tibra wirbelte herum, starrte ihn an. Shannar rang nach Atem, doch die Bedrohung war nur unterbrochen, begann schon von Neuem. Cynara preßte Changanar angstvoll an sich. Cynesta schloß entsetzt die Augen, während Talima aufweinte. Ilkonys regte sich nicht. Aber Ariston stand auf. In ruhig mahnender Geste legte er dem Magier die Hand auf die Schulter. Tibra unterbrach sein magisches Tun, das Shannar an den Rand des Sterbens brachte. "Ein Sklave hat keine Möglichkeit, einen Wunsch des Prinzen Changanar zu ignorieren," entschuldigte der Herrscher den jungen Mann.
"Er hat es gewußt, wie auch Ilkonys und Mercur es wußten," erwiderte Tibra mit leicht vibrierender Stimme. "Wenn er sich Harkym naht, töte ich ihn." "Er sah Changanar bedroht und wollte ihm helfen." "Aus Nächstenliebe gewiß nicht," entfuhr es dem Magier spöttisch. "Er hat mit dem Lohn gerechnet, Gebieter. Lehrt mich nicht das Wesen dieses Abschaums kennen." Shannar kauerte jetzt am Boden. Angstvoll hielt er die Beine Mercurs umklammert, wimmernd um Hilfe flehend. Cynara ertrug die Situation nicht mehr. Sie wollte fort. Auch Changanar sollte dies nicht erleben müssen. "Bleibt, Herrin," verlangte Tibra rasch. Er ging in die Hocke, faßte nach Changanars Armen und hielt ihn ohne jede Gewalt fest. "Du verwehrst Harkym den Tempel und nimmst ihm mit seinem Geburtsrecht auch den Vater und den Glauben an die Liebe. Wer hat dich gelehrt, grausam zu sein?" "Nur Priester dürfen in Tempel," beharrte Changanar stockend. "Ich denke, du bist so klug. Wenn du schon alles über Harkym weißt, warum bedenkst du es dann nicht? Er ist ein Tempelkind wie..." "Tibra!" Ilkonys unterbrach den Freund mit lautem Ruf, packte zugleich seine Schultern und zerrte ihn von Changanar weg. Er fürchtete, Tibra werde von Changanars Herkunft reden wollen. Der Junge hielt ihn für seinen Vater. Er wußte nicht, daß er als Cynaras Tempelkind ins Leben kam; in Trance gezeugt. Seine Mutter hob ihn auf die Arme. "Muß er denn auch verletzt werden?" fragte sie bang.
"Das werde ich nicht zulassen," versprach Ilkonys aggressiv. Er schob sich zwischen Tibra und die Gemahlin. Cynara nutzte den Moment und entfernte sich hastig, gefolgt von Cynesta, die Maggelan trug, und Talima. "Wie erziehst du deine Kinder?" Verwundert schaute Tibra Nodhers Erben an. "Zu feige, um zum eigenen Handeln zu stehen, lügt Changanar sogar den eigenen Vater an." "Er ist erst fünf Jahre alt, Tibra." "Genau wie Harkym." "Niemand hat gewollt, daß das geschieht," suchte Ilkonys ein Frieden schaffendes Wort. "Wir werden Harkym finden und dann kommt alles in Ordnung." Er warf Mercur einen bedauernden Blick zu. "Ich werde Shannar nicht vor dir schützen. Tue mit ihm, was du willst." "Dein Vater hat es schon gesagt: was geschah, das war der Befehl deines Sohnes," verzichtete Tibra mit kühler Stimme auf jede Rache an dem jungen Mann. Mercur atmete auf. Rasch zog er Shannar auf die Beine und befahl ihm mit leiser Stimme, in sein Zimmer zu gehen und dort zu bleiben. Shannar gehorchte. Einen versteckten Blick warf er noch auf den Vater, der ihn wieder nicht beachtete. Vielleicht, so dachte er dabei, wäre es doch klüger gewesen, Harkym zu helfen. Aber wie sollte der größere Gewinn in der Zuwendung derer liegen, die nicht die Macht in Händen hielten? "Wir haben Harkym sicher bald gefunden," hoffte Ilkonys. "Und dann?"
Tibra blieb abwehrend. "Was meinst du?" "Harkym ging fort, Ilkonys. Da hat sich nicht der kleine Körper abgewandt, sondern der ganze Mensch. Er ist im Tempel nicht willkommen, von mir nur geduldet - er hat keine Heimat mehr. Ich hätte ihm seine Herkunft nie verschweigen dürfen, aber ist noch so klein und er hat nie danach gefragt. Und ich habe wirklich immer nur als meinen Sohn an ihn gedacht." "Das ist er doch auch," mahnte Ariston. "Jetzt nicht mehr," murmelte Tibra verstört. "Wenn Harkym es nicht mehr denkt, dann ist es auch nicht mehr wahr." Er ging in die Burg. Aniela wartete voll Sorge und sie sollte wenigstens wissen, daß er Shannar nicht anrührte. Antaya und Uhray sehnten sich ebenfalls nach ihm. Diese zwei waren ja wirklich seine Kinder, die Anspruch hatten auf ein wenig Zuwendung. Tibra blieb bei seiner Familie. Er nahm an der Suche nach Harkym nicht teil. Der Befehl des Königs ließ jeden in der Burg suchen. Wenn diese Menschen Harkym nicht fanden, die sich doch in der Burg auskannten, so würde er nicht mehr erreichen können. Er blieb auch dem geselligen Abend fern, der den Fürsten des Reiches bereitet wurde. Seinen Sinnen war zu düster und zu angespannt. Er würde dort nur die Stimmung stören und das wollte er nicht.
C
hanganar kam nicht umhin, den Eltern ausführlich zu erzählen, was er Harkym sagte und wie sie miteinander rangen. Sie machten ihm keine Vorwürfe, doch ihr Schweigen hierzu belastete den Knaben weitaus mehr als es üble
Worte vermochten. Außerdem schmerzte die verletzte Wange unter dem Verband, den der Arzt anlegte. Changanar weinte. Cynara blieb bei ihm, behütete seinen unruhigen Schlaf. Ilkonys weilte bei den Pechas, wie es ihm die Pflicht gebot. Stunden später ließ Cynara den Gemahl zu sich bitten. Changanar lag mit keuchendem Atem in seltsamer Verkrümmung auf seinem Lager. Er wimmerte. Die weit aufgerissenen Augen blieben blickleer. Ilkonys starrte auf den Sohn. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Dann wandte er sich abrupt um. Ehe er Tibra aufsuchte, schnallte er den Waffengurt um. Er fand Tibra, der am geöffneten Fenster stand und in die dunklen Nebel starrte. Aniela und die Kinder schliefen im Nebenraum. Nur Bakaar wachte bei ihm. Er erhob sich rasch, als Nodhers Erbe eintrat, doch Ilkonys würdigte ihn keines Blickes. Er packte Tibra bei der Schulter und wirbelte ihn herum. "Laß Changanar los," verlangte er mit befehlender Stimme. "Ich töte dich, wenn du ihn nicht sofort losläßt." "Ich bedrohe ihn nicht," versicherte Tibra etwas feindselig. "Wenn er schlechte Träume hat, dann wecke ihn auf." "Er reagiert nicht," fuhr ihn Ilkonys an. "Dann nimm ihn in die Arme," schlug der Magier mit gleichgültiger Stimme vor. "Er wird die Geborgenheit spüren und ruhig werden." Erbost holte Ilkonys aus. Er hätte den Freund jetzt ins Gesicht geschlagen, doch Tibra reagierte sofort, umfaßte rasch mit festem Griff sein Handgelenk. Ilkonys winkelte das Knie an. Tibra stieß ihn schnell zurück.
"Ich schlage mich nicht mit dir," wehrte er ab. "Das wirst du müssen. Denn solange kannst du magisch nicht handeln." Tibra lachte spöttisch auf, ging aber nicht weiter darauf ein. Er strebte der Tür zu, ging auf den Gang. Er wußte, wo er suchen mußte und wenn Changanar Probleme hatte, so wollte er sie für den Kleinen lösen. Ilkonys folgte ihm rasch. Bakaar kam ihnen nur zögernd nach. In den Gängen, die zu den privaten Räumen der Herrscherfamilie führten, wachten stets Gardisten, um Feinde wie Störer aufzuhalten. Ilkonys gab den Männern einen Wink. Tibra wurde sofort von zwei Soldaten flankiert, deren Hände den Griff ihrer Säbel umfaßten. "Bringt ihn zurück," befahl Nodhers Erbe. Eine der vielen Türen öffnete sich. Cynara sah bleich auf die Männer. Tibra nickte Bakaar zu. Niemand hielt den Priester auf, als er an der Königin vorbei in das Gemach trat. Changanar wimmerte noch immer auf seinem Lager. Behutsam hob der Priester ihn auf die Arme, legte die kleine Brust frei und bedeckte sie dann mit seiner Hand. Bakaar wirkte versunken. Sein Geist suchte den des Kindes, ließ beruhigende Ströme überwechseln. Er trat dabei neben Cynara. Ilkonys starrte ihn an. Die Soldaten warteten noch. Schließlich seufzte Changanar im Schlaf auf, schloß die Augen. Die bösen Träume hatten ihn verlassen. Er schlief nun ruhig und zufrieden. Cynara sah Bakaar dankbar an, der ihr nun den Sohn in die Arme gab. Tibra grinste. "Schafft ihn weg," verlangte Ilkonys unruhig von den Soldaten. Tibra stieß die Männer beiseite, sprang zu Nodhers Erben.
"Was ist los mit dir?" fuhr er ihn an. "Glaubst du wirklich, daß ich deinen Jungen bedrohe? Wenn er üble Träume hat, kommen sie aus seinem schlechten Gewissen und dann ist es deine Aufgabe, ihm Klarheit zu verschaffen. Du könntest Bakaar zumindest danken." Er wandte sich um und ging davon. Betreten sahen die Soldaten auf ihren Herrn, der solche Behandlung wahrlich nicht gewohnt sein konnte. Sie erwarteten eine Reaktion von ihm, doch Ilkonys ging mit Cynara und dem Sohn wortlos in die Räume und schloß die Tür. Er wachte lange bei Changanar und war nicht sicher, ob der Kleine wirklich frei von magischer Bedrohung blieb.
B
eim gemeinsamen Frühmahl herrschte bedrückte Stimmung. Harkym war nicht gefunden. Aniela weinte aus Sorge, Changanar aus Furcht vor Vorwürfen. "Warum sucht ihr euren Sohn nicht selbst?" wollte Ariston von Tibra wissen. "Ilkonys erzählte mir, was ihr alles unternahmt, als er vor über drei Jahren nach Wyla verschwand. Und jetzt tut ihr gar nichts. Warum?" "Damals wurde er gegen seinen Willen entführt," erwiderte Tibra düster. "Er fürchtete sich und er sehnte sich nach mir. Ich war es ihm schuldig, alles zu tun, um ihn zu finden. Jetzt versteckt er sich vor mir. Also bin ich es ihm schuldig, ihn gehen zu lassen. Wenn ich der Burg fern bin, wird er sich zeigen." "Ihm schuldig? Er ist ein fünfjähriger Knabe," wandte Aniela ein. "Er kann nicht selbst über sein Leben entscheiden." "Das werden die großen Leute wohl verhindern," gab der Magier zu. Er sah Ariston an. "Mit eurer Erlaubnis bleibt Aniela hier, bis er gefunden ist. Wenn er nicht bei ihr bleiben
will, laßt ihn dann zu Gerrys bringen. Das ist alles." "Was willst du tun?" wunderte sich Ilkonys. Tibra warf Aniela einen traurigen Blick zu. In der vergangenen Nacht traf er eine Entscheidung und er würde diese nun ausführen, auch wenn er sie damit verlor. "Ich werde hundert kräftige Männer überreden, in deinen Dienst zu treten," erklärte er Nodhers Erben. "Danach löse ich mein Vermögen auf, auch in Thara, bezahle Minas' Schulden und gebe dir das Siegel zurück. Ich werde in Sarai siedeln, aber gewiß nicht als Pecha leben. Sobald ich einen Platz gefunden habe, sende ich Aniela Botschaft. Ich hoffe, sie kommt zu mir." Tibra erhob sich. Er hatte die Speise nicht angerührt. Aniela weinte auf. Jetzt verstand sie, weshalb der Gemahl zuvor so intensiv mit den Kindern spielte. Er nahm innerlich Abschied. Mit Harkym verlor er den Willen für eine Zukunft und die Bereitschaft, widrige Umstände zu bekämpfen. Der Magier wollte den Raum verlassen, doch als er nun die Tür öffnete, stand Ulander vor ihm. Der Soldat grüßte ehrerbietig. Er wirkte sehr besorgt. Bakaar stand an seiner Seite. Sein Blick bat um Entschuldigung. "Was ist?" erkundigte sich Tibra in der offenen Tür. "Ulander war früher Führer der Burgwache," erklärte Bakaar mit leiser Stimme. "Ich habe ihn überredet, nachzuforschen." Auf den fragenden Blick des Magiers hin erklärte sich Ulander. "Die meisten der Männer kenne ich noch, Herr. Es ist zwar richtig, daß niemand sah, wie ein Kind die Burg allein verließ. Aber es herrschte gestern doch ein reges Kommen
und Gehen. Es ist möglich, daß Harkym sich nicht mehr in der Burg befindet. Drei Handelswagen haben die Burg verlassen. Eine Jagdgesellschaft ritt aus; auch euer Gefährte Bakaar ist mit Mercur ausgeritten. Gegen Abend gingen auch viele Bedienstete, die nur tagsüber in der Burg arbeiten und deren Wohnung außerhalb der Mauer liegt. Wenn sich Harkym bei diesen Gruppen aufhielt, dann ist das keinem aufgefallen. Es wäre aber möglich, Herr." Tibra stand für einen Moment wie erstarrt. Dann straften sich seine Schultern. "Besorge mir einen Plan der Burg," verlangte er von Ulander. Der Soldat nickte nur. Er hatte mit diesem Befehl gerechnet; die Nacht über suchte er selbst anhand eines Lageplanes nach dem Kind. Er reichte Tibra ein gefaltetes Papier. Der Magier nahm es, entfaltete es. Seine Augen verengten sich, als er nun jeden Strich, jedes Detail auf eine Art betrachtete, als sähe er durch das Papier hindurch auf alles, was die Zeichnung zeigte. Die Herrscherfamilie war zu ihm getreten. Still beobachteten sie ihn. Es wurde ihnen fast ein wenig unheimlich zumute dabei. Nach geraumer Zeit erst ließ Tibra den Plan fallen. "Harkym ist nicht in der Burg," erklärte er mit tonloser Stimme. "Er hätte ihn jederzeit finden können," begriff Cynara da. Sie flüsterte nur, warf Ilkonys dabei einen wehen Blick zu. Changanar erinnerte sich an den Schmerz, den er in Harkym schaute. Wenn der Junge wirklich fortlief, dann würde er auch nicht mehr wiederkommen und dann gab es keine Vorwürfe und kein schlechtes Gewissen. Dann war alles
gut. Er atmete auf. "Hoffentlich ist er tot," murmelte er. Tibra zuckte zusammen. Seine Hand schnellte nach vorn, doch noch ehe er den Jungen greifen konnte, packte Ilkonys ihn schon am Gewand. Tibra stieß ihn zurück. Cynara hob Changanar hastig auf, doch der Magier kam ohnehin nicht dazu, den Kleinen zu bedrohen. Nodhers Erbe hieb ihm die Faust in die Magengegend und zog fast übergangslos den Dolch. Tibra trat ihm die Waffe aus der Hand, gab den Hieb zurück. Sie schlugen aufeinander ein. Ariston winkte Ulander und Bakaar in den Raum. Der Priester verstand, schloß die Tür. Diese Auseinandersetzung sollten Nodhers Soldaten nicht sehen. Der Herrscher wollte eingreifen, doch er sah, wie Bakaar zum Fenster trat und sich etwas anspannte. Ariston lebte seine Priesterschaft bewußt. Er spürte, wie dieser Mann einen Rapport belebte und schirmte nun dessen Geist ab, um ihn zu schützen. Als Bakaar sich umwandte, verlangte Ilkonys eben nach Degen. "Wir tragen es mit der Waffe in der Hand aus," verlangte er von Tibra. "Das muß warten," mischte sich Bakaar ein. Sein Blick fraß sich förmlich an Tibra fest, als er erklärte: "Ihr seid gerufen."
H
arkym verbarg sich hinter dichtem Blätterwerk vor allen Blicken. Er stand ganz still, hielt die Augen fest geschlossen. Die Lippen preßte er zusammen. Völlig angespannt versuchte er, sich zu erinnern. Es gab eine Zeit, da lebte Aniela noch nicht bei ihnen. Damals gab es auch Antaya und Uhray nicht. Der Vater hatte immer Zeit für ihn. Nichts konnte sie trennen. Harkym versuchte, sich Erynias Gesicht vorzustellen. Es gelang ihm nicht ganz. Aber das war seine Mutter. Er hatte sie nie vermißt. Wenn Tibra ihn wirklich nur wegen ihr behielt, dann mußte sie ihn doch lieb haben. Trotzdem betraf jede schöne Erinnerung, jedes Wissen um Sicherheit, Geborgenheit und Liebe nur den Magier. Natürlich gab es im schwarzen Tempel auch andere Menschen, an die sich der Junge erinnern konnte. Dort lebten Kinder, mit denen er gern spielte und auch Erwachsene, die immer nett zu ihm waren. Doch all dies war nicht mehr wichtig. Harkym entspannte sich etwas. Er mußte natürlich Eltern haben. Jeder Mensch hatte die. Aber die seinen gaben ihn fort, ließen ihn einfach allein. Er wurde gefunden, wie man einen Solar am Straßenrand fand, wenn man Glück hatte. Das allein war ja nicht schlimm, denn immerhin fand ihn Tibra und behielt ihn bei sich. Aber er tat es nicht für ihn, sondern für Erynia. Und seit Erynia nicht mehr bei ihnen lebte, änderte sich so vieles. Aniela war nett zu ihm, doch sie liebte Antaya und Uhray viel mehr. Harkym entsann sich, wie Tibra Antaya die Mesa zeigte und ihr erklärte, daß sie dem Strauch nicht nahen durfte. Jetzt, im Nachhinein, empfand er so etwas wie Eifersucht und Einsamkeit. Früher
erklärte ihm der Vater alles. Aber jetzt ließ er ihn immer mehr allein. Er hatte irgendwann aufgehört, ihn zu lieben. Vielleicht hatte er es nie getan und ihn wirklich nur wegen Erynia behalten. Schritte nahten. Harkym verbarg sich, schlich aus dem Garten. Im Burghof achtete niemand auf ihn. Der Kleine sah das große Tor. Dahinter begann die Fremde. Der Gedanke schreckte ihn nicht, denn ohne den Vater war ihm alles fremd. Er mußte nachdenken. Er war jetzt ganz allein. Es gab niemanden mehr, für den er wichtig war. Wenn er für Tibra nur eine Last darstellte, dann wollte er nicht bei ihm sein. Aber er wußte nicht, wohin er gehen könnte. Zuerst wollte er fort. Alles andere fand sich dann bestimmt. Harkym kletterte unbemerkt in einen der Handelswagen, verbarg sich zwischen leeren Kisten und verhielt sich still, als der Wagen das Tor passierte. Stunde um Stunde verging. Die Nebel sanken, als der Wagen endlich vor einer Herberge am Rand einer kleinen Siedlung hielt. Harkym wartete, bis es ganz still war. Dann kletterte aus dem Wagen und schlich in den Stall. Hier verbarg er sich im Stroh, bis die Männer, welche die Pferde versorgten, endlich gingen. Der Kleine stillte den Durst an der Pferdetränke, kaute das Korn, das den Tieren gehörte. Die Nacht verbrachte er wieder auf dem Wagen. Der neue Tag entfernte ihn weiter von der Burg.
T
ibra starrte Bakaar an. Jetzt interessierte ihn weder Ilkonys noch ein anderer im Raum. "Thyrian weiß doch sicher, was mit Harkym geschah?" vergewisserte er sich. Er wußte, daß Bakaar mit Thyrian in Rapport stand und daß er gehalten war, in dieser geistigen Verbindung wichtige Neuerungen mitzuteilen. Der Priester trat nahe
zu ihm. Er wirkte sehr unglücklich. "Nicht Thyrian rief," gestand er. "Seymas selbst hat deinen Geist berührt?" Bakaar nickte betreten. Der Than vermochte es, den Geist eines Menschen, den er kannte, auch ohne die zwingende Verbindung des Rapports zu erreichen. Die Gewalt dieses Rufes erschütterte Bakaar etwas. "Ihr sollt unverzüglich zu ihm kommen," bestätigte Bakaar. "Er kann nur Priester rufen," erwiderte Tibra nachdenklich. Dann lächelte er. Intuitiv erfaßte er, wie so oft schon, das Geschehen. "Du wolltest Thyrian von meinem Kampf mit Ilkonys berichten und Seymas hat sich in diese Verbindung eingeschaltet. Sobald ich weiß, daß Harkym in Sicherheit ist, werde ich kommen." "Ihr solltet ihn nicht warten lassen," riet Ariston. "Euren Sohn lasse ich durch meine Armeen suchen. Könnt ihr mehr tun?" "Das kann ich, Gebieter," versprach Tibra, der Dankbarkeit empfand, da Ariston auf sehr bedachte Weise zu ihm hielt. "Ich spüre durchaus, daß Harkym jetzt nicht in Gefahr ist. Doch ein so kleines Kind kann allein nicht bestehen. Gebt mir einen ungestörten Raum und einen Tag Zeit, damit ich bestimmen kann, wohin er ging." "Ich habe eure Magie immer gefürchtet. Aber ihr bekommt, was ihr benötigt," versprach der Herrscher. "Ich hoffe, der Than verzeiht ein Zögern. Kommt mit mir." Er führte Tibra durch die Burg in einen der Wehrtürme. Dort oben fand der Magier einen kleinen Raum, karg eingerichtet, doch frei von jeder möglichen Störung. Tibra dankte.
Er ging noch einmal zurück, entnahm seinem Gepäck einige magisch aufgeladene Gegenstände, die er stets bei sich führte. Dann schloß er sich oben im Wehrturm ein. Ariston gab Befehl, niemanden in den Turm zu lassen und hoffte, der Mann würde eine Spur seines Sohnes finden. Als er den Speiseraum wieder betrat, fand er die Kinder weinend. Aniela stritt mit dem Bruder und gab ihm böse Worte. Erst, als ihr Vater sie in die Arme schloß, verebbte ihr Zorn. "Er durfte nicht mit Tibra kämpfen," klagte sie leise. "Tibra hätte Changanar nichts getan und für so böse Worte hat er sicher einen Tadel verdient. Wie kann man einem Kind den Tod wünschen?" "Changanar weiß doch noch gar nicht, was der Tod bedeutet," sagte Ariston begütigend. "Er weiß auch nicht, was es bedeutet, ein Tempelkind zu sein," stieß Aniela böse aus. "Sei still," fuhr sie Ilkonys an. "Ach," rief sie, "ich soll still sein? Tibra ist mein Gemahl und damit ist Harkym auch mein Kind. Und da verlangst du, daß ich still bin, wenn man ihm weh tut?" "Es tut mir doch auch leid, was geschah," versprach der Bruder. "Wir werden Harkym schon finden." Aniela löste sich von Ariston. Sie sah nur Ilkonys an. "Du hast wirklich nichts begriffen," verstand sie. "Tibra findet Harkym ganz sicher, aber er wird ihn nicht zwingen, bei uns zu leben. Wenn uns Harkym unser Schweigen nicht verzeiht, was soll dann werden? Tibra wird Nodher verlassen."
"Nicht, wenn er dadurch verliert," hoffte Ilkonys.
auch
dich
und die Kinder
"Nachdem dein Sohn ihm Harkym nahm, soll ich ihm Antaya und Uhray nehmen?" "Du wirst dich doch nicht von deinen Kindern trennen?" wandte Cynesta ein. "Hier ist immer Platz für euch, Aniela. Wenn er Minas wirklich aufgibt, dann kommst du nach Hause, nicht wahr?" "Du hast ja nie etwas anderes gewollt, Mutter." Aniela schüttelte müde den Kopf. "Ich glaube nicht, daß ich hier noch leben wollte." "Darüber müssen wir jetzt nicht reden," entschied Ariston. Changanar spürte die Spannung, auch wenn er nicht wußte, wie sie entstand. Er wollte ihr nur entfliehen. Fast zaghaft griff er nach Antayas Hand. "Spielst du mit mir?" bat er. Aniela hob die Tochter rasch auf die Arme. "Sie hat noch nicht gelernt, einem Prinzen den nötigen Respekt zu erweisen," lehnte sie kühl jedes Zusammensein der Kinder ab. "Jetzt übertreibst du," hielt ihr Ilkonys vor. "Tue ich das?" Ihre Stimme klang spöttisch. "Du und Cynara habt mir doch ausführlich erzählt, was gestern wirklich geschah. Wenn ihr wirklich Changanar erlaubt, auf respektvoller Anrede und sogar einem Kniefall zu bestehen, dann sind meine Kinder nicht der richtige Umgang für euren Sohn. In etwa zwanzig Jahren werden sie sich Nodhers Erben unterwerfen. Bis dahin haben sie den nötigen
Respekt gelernt." "Nodhers Erbe?" Changanar fand, daß das hübsch klang. "Das bin ich." Cynara und Ilkonys tauschten einen raschen Blick. Bisher hatten sie beide nicht bedacht, daß der Knabe genau dies annehmen mußte. Ariston schüttelte still den Kopf. Er hatte manches Mal mit dem Sohn darüber gesprochen, der jedoch die Ansicht vertrat, daß Changanar viel zu jung sei, um mit ihm schon über solche Dinge reden zu können. Er hob Uhray auf. "Widmest du mir ein wenig deiner Zeit, Aniela? Ich möchte mit meinen Enkeln spielen und mich mit meiner Tochter unterhalten." Aniela lächelte. Den Vater hatte sie immer geliebt. Jetzt war sie froh, daß er sie mit sich führte und ihren Tag gestaltete. Er sprach weder von Minas noch von einer möglichen Zukunft, belastete ihr Denken nicht. Doch sehr behutsam lenkte er ihre Gedanken immer wieder zu Tibra. Dies war ihr Gemahl und er wünschte sich, die Tochter würde vorbehaltlos zu ihm stehen.
A
m andern Morgen kam Tibra überraschend zum Frühmahl der Herrscherfamilie. Er aß und trank. Fast wie nebenbei erzählte er, daß Harkyms Spur nach Osten führte. Irgendwie hatte er es fast erwartet. Shannar erzählte ihm ja, daß er dort geboren wurde. Vielleicht suchte der Kleine nach seinem Ursprung. "Kennst du ein genaues Ziel?" erkundigte sich Aniela. "Das nicht. Ich kann dir nur sagen, wo er in etwa in der Nacht gewesen ist. Ich werde Ulanders Pferd nehmen."
"Du willst allein reiten?" "Bakaar kommt mit mir," wehrte Tibra ab. "Sollte Amarra zu ungehalten sein, weil ich zuerst Harkym suche, muß ich das zumindest erfahren können." Er grinste. "Es wird mich nicht das Leben kosten." "Möchtest du, daß ich hier auf dich warte?" "Du willst zurück nach Minas? Es spricht nichts dagegen, Aniela. Vogan wird traurig sein, wenn du ohne mich und Bakaar kommst. Nimm dich seiner ein wenig an, ich bitte dich. Ich weiß nicht, wie lange ich brauche, bis ich kommen kann. Vielleicht beginnst du auch gleich, die hundert geforderten Soldaten zu rekrutieren." "Laß das doch jetzt," wirklich nicht wichtig."
bat
Ilkonys unruhig. "Das ist
"Es war wichtig genug, um mich deshalb vor allen Pechas zu demütigen," erwiderte Tibra finster, "also ist es auch wichtig genug, um getan zu werden." "Ich kümmere mich darum," versprach Aniela nachdrücklich. "Tue das," stimmte Ariston zu. "Nodhers Erbe hat die Männer bis zur Lichtwende gefordert und kann sein Wort ohnehin nicht zurück nehmen." Er lächelte Ilkonys zu. "Ein Herrscher sollte sich vor vorschnellem Zorn hüten." "Das sagst ausgerechnet du," brummte der Prinz, der genau wußte, daß auch der Vater nicht immer ruhig blieb. "Ich komme mit dir, Tibra," bot er dem Freund an. "Harkym will weder mich noch Changanars Vater sehen," wehrte der Magier ab. "Ich hoffe, er vertraut sich Bakaar an, sobald ich ihn finde. Immerhin wollte er zu ihm, als
ihm dein Sohn den Tempel verbot." "Kannst du dem Kleinen nicht verzeihen?" bat der Prinz da. "Ich kann seinem Vater nicht verzeihen, daß er die Sache auf sich beruhen lassen will," gab der Magier zu. "Was sollte Ilkonys denn tun?" wandte Cynara ein. "Changanar denselben Schmerz zufügen, den Harkym erleidet? Was würde das helfen?" "Davon ist nicht die Rede. Aber habt ihr oder Ilkonys eurem Sohn erklärt, was er angerichtet hat? Habt ihr ein Wort verloren über sein Lügen? Weiß er nun, was es bedeutet, jemandem den Tod zu wünschen? Ihr seid Priester. Muß euch wirklich ein Magier erklären, daß Gedanken wirksame Kräfte sind? Ihr lernt vor der ersten Weihe, die Kraft der Gedanken zu kontrollieren. Also wißt ihr es." "Das Wünschen eines Kindes..." "Verzeiht, Herrin," unterbrach sie Tibra in verbindlichem Ton, "aber ich habe nie daran geglaubt, daß ein Kind ein unfertiger Mensch sei. Sein Denken ist klarer und eindringlicher als das planlose Wollen eines Erwachsenen. Also ist es auch machtvoller." Er schaute auf den übermüdeten Changanar. "Machtvoll genug jedenfalls, um üble Träume zu rufen." "Damit habt ihr aber nichts zu tun," hoffte Ariston. "Gewiß nicht, Gebieter," versprach der Magier. "Ich fürchte, die Erinnerung an Harkym bewirkt dies. Changanar weiß tief im Innern, wie sehr er ihn verletzte. Er kann nicht darüber sprechen, also muß er es träumen. Die Dinge sind meist sehr einfach." Er beendete das Mahl, verabschiedete sich sehr liebevoll von
seinen Kindern und Allen andern gönnte Dann verließ er die Seite an Seite ritten
Aniela, sehr freundlich auch von Ariston. er nur ein kurzes Neigen des Kopfes. Burg. Bakaar wartete schon auf ihn. sie durch das Tor.
S
ie kamen nur langsam vorwärts. Nachdem sie einige Stunden ritten, glitt Tibra aus dem Sattel. Hier irgendwo war Harkym gewesen. Er wußte es, ohne dies begründen zu können. Entfernt von Bakaar suchte er erneut nach der Richtung. Diese Unterbrechungen gab es immer wieder. Tibra achtete darauf, daß der Priester nie Zeuge wurde, wenn er auf magischem Weg ein Ziel suchte. Bakaar würde ihn dabei nicht stören, doch sein Denken mußte dadurch beschwert werden. Magie bedeutete für Priester stets so etwas wie eine Bedrohung. Bakaar wußte zwar genau, wer er war und was er tat. Doch ihm war es lieb, die magischen Kräfte nicht spüren zu müssen. Sie übernachteten im Freien. Tibra zeigte sich nicht sehr gesprächig und so legte sich Bakaar bald nieder. Der Magier sinnierte. Daß Seymas ihn rief, gefiel ihm nicht. Man durfte den mächtigsten Mann der Reiche nicht warten lassen. Gewiß würde der Than sein Handeln verstehen. Ihre Freundschaft besaß durchaus Tiefe und sehr viel Liebe. Tibra wollte ihn nicht kränken. Doch Harkyms Sicherheit ging ihm über alles andere.
H
arkym fürchtete sich ein wenig. angehalten und draußen lärmte es war hungrig und durstig, aber vor allem Entdeckung rechnen. Ein Mann hatte geschoben.
Der Wagen hatte ununterbrochen. Er mußte er nun mit die Plane beiseite
"Ladet die Kisten aus," befahl er anderen Männern. Hastig kroch der Knabe in eine leere Kiste, krampfhaft hielt
er den Deckel zu. Fast hätte er aufgeschrien, als sein Versteck nach vorn gezogen und mit hartem Ruck auf den Boden gestellt wurde. Er hörte, wie die Männer eine Pause einlegten. Jemand setzte sich auf die Kiste. Harkym wartete. Die Zeit verging viel zu langsam. Aber irgendwann herrschte dann doch Stille und der Knabe wagte es, den Deckel etwas anzuheben. Ihn umgab Dunkelheit. Kein Mensch befand sich in der Nähe. Harkym krabbelte aus seinem Versteck. In den dichten Nebeln konnte er nicht weit gehen. Er fand einen Busch, kroch darunter und suchte den Schlaf. Der Morgen zeigte ihm dann seine Umgebung. Harkym befand sich in einer Siedlung. Die Häuser lagen weit verstreut. Aber ganz nahe sah er einen Fluß und hier konnte er endlich trinken. Er fand sogar einen Nußstrauch, doch trug der um diese Jahreszeit keine Früchte. Harkym sah sich um. Der Wagen, mit dem er kam, stand nahe bei einem Landungssteg. Männer trugen Kisten von einem Schiff und andere Leute verluden sie auf den Wagen. Jetzt, am Tag, würde er keine Gelegenheit mehr haben, dieses Versteck zu benutzen. Aber eigentlich war es ja auch egal, wohin er ging. Wichtiger war es, etwas zu essen zu finden. Der Hunger tat schon weh. Mißtrauisch betrachtete er die Pflanzen der Uferböschung. Der Vater hatte ihm erklärt, wie gefährlich es war, unbekannte Dinge zu essen. Vielleicht waren die Pflanzen giftig. Dann strahlte sein schmutziges Gesicht auf. Er sah gelbe Blüten, von denen er wußte, daß man mit ihnen manche Speise verfeinern konnte. Harkym aß. Das stillte den Hunger nicht wirklich, nahm ihm aber die Schärfe. Er wurde nun viel ruhiger, streifte die Tunika ab und badete im Fluß, wo er dann auch seine Kleidung etwas wusch. Die großen Leute waren zu sauberen Kindern viel freundlicher, das wußte er. So ganz irrig konnte seine Meinung nicht sein, denn als er gegen Mittag den Seeleuten zusah, die ihre Arbeit für ein einfaches Mahl unterbrachen, da gab ihm einer der Männer sogar ein Stück gebackenes Brot. Artig
bedankte sich der Knabe und gehorchte, als die Männer ihn dann aufforderten, ihren Arbeitsbereich zu verlassen. Das Kind kletterte über die Uferböschung. Ganz nahe am Wasser legte sich Harkym nieder. Die überhängenden Zweige eines Baumes verbargen ihn jedem Blick. Er wußte jetzt, was er tun wollte. Sobald es dunkel wurde, mußte es ihm gelingen, heimlich an Bord des Seglers zu gelangen. Wohin immer der Wind dieses Schiff trieb, es mußte weit entfernt sein. Vielleicht brachte es ihn sogar in ein anderes Land. Harkym überlegte. Shannar hatte gesagt, daß Kinder, die keine Eltern besaßen, in einem Tempel leben mußten. Aber Changanar sagte, daß nur Priester einen Tempel betreten durften. Der Kleine dachte an den Tempel des dunklen Gottes Raaki. Er hatte den hohen, weißen Bau nie betreten. Das durfte er sicher auch nicht. Aber in den Häusern umher lebten viele Menschen, auch Kinder. Die waren jedoch nicht allein. Jemand sorgte für sie. Er verstand es nicht. Plötzlich dachte er an Amarra. Wenn Tibra zum Magiertreffen nach Silsa ging, so wartete in der Nähe der Küste stets ein weißes Schiff, das aus Amarra kam. Harkym blieb auf diesem Segler, während der Vater auf der Insel weilte. Und danach reiste er mit ihm nach Amarra. Harkym rümpfte die Nase, drängte Traurigkeit und Tränen zurück. Tibra war nicht sein Vater. Er hatte ihn nicht einmal wirklich lieb. Es war besser, nicht an ihn zu denken. Und bestimmt war es ein Versehen, daß er ihn nach Amarra mitnahm. Harkym hatte doch gehört, daß in dem Inselreich nur Priester leben durften. Bis zum Abend dauerte es sicher noch furchtbar lange. Er wollte ein wenig schlafen und so den trüben Gedanken entfliehen. Ein Wasservogel flog auf. Harkym sah ihm nach. Und dann wurden seine Augen groß. Auf dem Fluß zog ein
weißer Segler stromaufwärts. Das Schiff war nicht sehr groß und besaß kaum Tiefgang. Ruhig lag es auf den Wellen. Harkym rappelte sich auf, spähte durch die Zweige. Der Segler näherte sich. Das Kind konnte nicht wissen, daß es sich am Oberlauf des Riatha befand und daß kein Schiff weiter stromaufwärts segeln konnte, da der Fluß bald abflachte und immer schmäler wurde. Der weiße Segler erregte Aufmerksamkeit. Man wußte allgemein, daß solche Schiffe nur aus Amarra kommen konnten. Sie trieben keinen Handel, aber meist brachten sie hohen Besuch. Doch das Schiff ankerte nur. Niemand ging von Bord. Harkym hatte sich genähert. Aus sicherer Deckung heraus sah er den Segler. An der Reeling standen ein paar Männer, deren Kleidung sie als Priester auswies. Sie schienen zu warten. Noch war es hell, hingen die Nebel hoch. Bestimmt würden diese Männer die ganze Nacht hindurch aufpassen. Harkym überlegte angestrengt, wie er unbemerkt von ihnen auf den anderen Segler kommen sollte, der doch nahe bei dem weißen Schiff ankerte. Das konnte nicht gelingen. Harkym fühlte sich hilflos und so furchtbar einsam. Wenn es doch nur einen Menschen gäbe, mit dem er reden könnte. Mit einem Mal waren Kinder um ihn herum. Die Jungen mußten etwa doppelt so alt sein wie er und sie waren nicht freundlich. "Wo kommt der denn her?" "Er ist fremd hier. Der gehört nicht zu uns." "Und er hat sich versteckt. Bestimmt hat er etwas angestellt." "Oder gestohlen."
Harkym hörte ihre Stimmen und fühlte sich bedroht durch die großen Jungen, die ihn umstanden und lachend auf ihn niedersahen. Er sprang auf, wollte fortlaufen. Doch sie stießen ihn vor die Brust. Er taumelte in ihrer Runde, mußte sich manchen Knuff gefallen lassen. Die Jungen lachten. Die Angst des Kindes gab ihnen ein Gefühl der Stärke. Harkym begriff, daß sie ihn nicht gehen ließen. Er versuchte keine Flucht mehr, sondern setzte sich einfach auf den Boden. Einer zog ihn hoch, stieß ihn einem Kameraden zu. Der wollte Harkym auffangen, um ihm den nächsten Knaben zuzustoßen, doch wurde er da mit hartem Griff beiseite geschoben. Harkym landete in den Armen eines Mannes, der ihn locker, aber beschirmend hielt. "Schämt ihr euch nicht, in der Überzahl einen Einzelnen zu bedrohen?" hielt er den Jungen vor. Die erschraken. Einer von ihnen lief rasch davon. Da wandten sie sich alle zur Flucht. Der Mann ging in die Hocke. Harkym hielt die Augen noch furchtsam geschlossen, öffnete sie nun blinzelnd. Er sah das freundliche Gesicht, lächelte unbeholfen. "Thyran?" Der Kleine war nicht ganz sicher, ob er diesen Priester, dessen Namen er nicht richtig aussprechen konnte, wirklich erkannte. "Schön, daß du noch weißt, wer ich bin," grüßte Thyrian freundlich. "Hab' keine Furcht, Harkym. Jetzt bist du in Sicherheit." Der Kleine preßte die Lippen zusammen. "Du mußt mir nichts erklären." Er erhob sich wieder, hielt Harkym nicht weiter fest. Der Knabe überlegte nicht lange. Dieser weiß gekleidete Priester war ein Freund des Vaters. Er würde ihn gewiß zu
Tibra bringen. Aber das wollte er nicht. Harkym drehte sich um, lief davon. Thyrian holte ihn mit wenigen Schritten ein, ließ seine Hand nun nicht mehr los. Harkym wehrte sich. Er strampelte, trat um sich, kämpfte um die verloren geglaubte Freiheit. Doch es half nichts. Thyrian hielt seine Hand und zog ihn mit sich. Erst an Bord des Seglers ließ er das Kind los, das sich nun in sein Schicksal ergab und mit hängenden Schultern stand, als erwarte es ein Todesurteil. Auf Thyrians Wink hin kam einer der Priester herbei und schob den Knaben durch eine niedere Tür des Kabinenaufbaus. Harkym sah ein an der Wand befestigtes Lager, einen Tisch und eine Truhe. In einer Ecke der kleinen Kabine kauerte er sich nieder und jetzt endlich weinte er, zum ersten Mal, seit Changanar ihm die grausame Wahrheit über seine Herkunft entdeckte. Ein Priester brachte Speisen und einen Krug mit heißem Tee. Harkym sah nicht einmal auf. Die Tür wurde geschlossen. Harkym erschrak, als er begriff, daß er nicht allein war. Thyrian kniete vor ihm, zog seine Hände mit behutsamen Griff nach unten. "Ich weiß, was geschehen ist," erklärte er Harkym mit sehr sanfter Stimme. "Warum weinst du denn, Kleiner? Niemand wird dir ein Leid zufügen." "Laß mich gehen," bat Harkym schluchzend. "Gehen? Wohin denn? Du bist ohnehin erstaunlich weit gekommen. Du solltest jetzt erst einmal essen und danach ein wenig schlafen. Tibra wird bald hier sein und dann wird alles gut." Bei diesen Worten weinte Harkym wieder auf. Er wollte sich Thyrian entziehen, der jedoch weiter seine Hände hielt.
"Er mag mich nicht," jammerte Harkym. "Ich will nicht zu ihm. Bitte, Thyran, nicht zu Dada. Bitte." Er wirkte so entschlossen und zugleich so verzweifelt, daß Thyrian ihn an sich zog und fest umarmte. Eigentlich wußte er mit Kindern nicht umzugehen, suchte er ihre Nähe auch nicht. Harkym kannte er und um Tibras Willen hatte er ihn auch immer beachtet, wenn er mit dem Vater nach Amarra kam. Doch das Denken eines Kindes war ihm ebenso fremd wie dieser seltsam tiefe Schmerz, der Harkym nun bewegte. Unter seinem Einfluß wurde das Kind etwas ruhiger. "Tibra ist schon sehr nahe," gab er mit beruhigender Stimme zu. "Spätestens morgen wird er an Bord kommen. Ich muß ihn mitnehmen, Harkym. Aber wenn du ihn wirklich nicht sehen willst, dann verspreche ich dir, daß du es auch nicht tun mußt. Er wird in einer anderen Kabine schlafen und diesen Raum nicht betreten." Harkym schluchte. Aber er hob den Kopf und sah Thyrian an. "Versprichst du es wirklich?" "Du hast mein Wort, Kleiner." "Danke." Harkym sagte nur dieses eine Wort, doch so erleichtert und erfreut, daß kein Zweifel bestehen konnte an der Tiefe, in der er es empfand. Er küßte Thyrian in seiner Freude zaghaft auf die Wange. Der Pala des Than erhob sich, führte ihn zum Tisch. Harkym aß mit Heißhunger, versuchte aber, dies sehr manierlich zu tun. Als sich Thyrian nach kurzem Warten neben ihn setzte und ebenfalls von der Speise nahm, lächelte der Knabe ein wenig. Später ließ Thyrian abräumen. Nur eine Schale mit frischem Obst ließ der Priester zurück, damit der Kleine etwas zu
naschen fand, sollte ihm der Sinn danach stehen. Thyrian erhob sich wieder, ging zur Tür. "Bitte, laß mich nicht allein," bat Harkym zaghaft, der es jetzt nicht wagte, den Mann anzuschauen. "Ich muß arbeiten." Harkym senkte den Kopf. Das hatte Tibra auch immer gesagt und die Erinnerung an den Vater tat sehr weh. "Und wenn ich ganz still bin und dich nicht störe?" Thyrian lächelte nur. Harkym hob scheu den Kopf. "Kommst du wieder?" "Ganz bestimmt," versprach der Priester da. "Es wird auch nicht lange dauern, Harkym. Leider haben wir nichts zum Spielen auf dem Schiff. Vielleicht schläfst du ein wenig. Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut werden." Harkym nickte, doch sein Blick verriet, daß er das nicht glauben konnte. Draußen winkte Thyrian einen seiner Männer heran. "Sieh zu, ob du in der Siedlung etwas Spielzeug für den Jungen besorgen kannst, Clandyl." Der junge Priester verneigte sich tief. "Was wünscht ihr, daß ich erwerben soll, Herr?" "Keine Ahnung," gab Thyrian lächelnd zu. "Ich fürchte, ich war niemals fünf Jahre alt." Jetzt lächelte auch Clandyl. Vor zwanzig Jahren war er in diesem Alter und er erinnerte sich durchaus an die Spiele seiner Kindheit. Er würde sicher etwas finden, das dem Knaben Freude machte. Thyrian vertraute darauf.
Er kümmerte sich jetzt auch nicht weiter darum, sondern trat in den Bug des Schiffes und suchte die geistige Verbindung nach Amarra.
T
ibra hatte den Lagerplatz bestimmt und Bakaar entfachte hier ein kleines Feuer. Sie brieten Wurzelknollen, plauderten ein wenig über Minas und die Menschen, die sie beide kannten. Mit einem Mal gab Bakaar dem Magier ein Zeichen. Tibra verstand. Der Rapport wurde geöffnet und der Priester durfte sich nicht sperren. Störungen konnten jetzt gefährlich sein, doch Tibra wußte dies und verhielt sich still. Thyrian fragte am Morgen und am Abend stets nach ihrem Verbleib. Er wollte sicher auch jetzt wissen, wo sie sich befanden. Doch dieses Mal besaß die Botschaft einen anderen Inhalt. Bakaar faßte nach Tibras Hand, hielt sie mit sanftem Druck. Dann sagte er: "Harkym ist gefunden. Er ist völlig unverseht, aber in seinem Sein noch sehr verletzt. Er will euch nicht sehen, Tibra." "Das habe ich auch nicht erwartet," versprach der Magier. Seine Augen leuchteten. Es gab nur die Sorge, Harkym könne in Gefahr geraten und nun, da er sich in Sicherheit befand, fühlte er sich über die Maßen erleichtert. "Wir sind nahe am Riatha," fuhr Bakaar fort. "Amarras Segler wartet dort. Sobald sich die Nebel heben, haben wir eilig zum Schiff zu kommen. Ihr seid immer noch gerufen." "Das klingt besorgt. Weshalb?"
"Harkym ist an Bord. Thyrian versprach ihm, daß er euch nicht sehen muß." "Thyrian ist in Nodher? Das ist eine gute Nachricht, Bakaar. Sei nur nicht besorgt wegen Harkym. Ich werde keine Begegnung erzwingen. Das würde ihn mir endgültig entfremden. Vielleicht, wenn ein wenig Zeit verging, vielleicht gibt er mir dann eine Chance. Ich bin froh, daß er in Thyrians Nähe ist. Und wenn er mit nach Amarra segelt, dann wird er dort zumindest nicht unglücklich sein. Mehr kann ich im Moment nicht erhoffen."
A
ls Thyrian seine Kabine betrat, fand er Harkym auf der Seite liegend. Der Kleine schien im Sitzen eingeschlafen zu sein. Thyrian stellte den Beutel mit den Spielwaren auf den Boden, bettete den Knaben sorgsam bequem nieder, hüllte ihn in eine Decke und betrachtete ihn im Licht seines Lebenden Kristalles. Harkym wirkte verkrampft; die kleinen Hände waren zur Faust geballt. Vorsichtig legte der Priester nach einiger Zeit seine Hand auf die Stirn des Kindes. Viel von ihm strömte sacht auf den Knaben über, der sich langsam entspannte und schließlich sehr friedlich wirkte. Thyrian ließ ihn allein. Der Segler besaß nicht viele Räume, doch für ihn fand sich schnell eine andere Lagerstatt. Als Harkym erwachte, saß der Mann aber an seiner Seite und begrüßte ihn mit einem Lächeln. Clandyl brachte ein Frühmahl. Thyrian stellte die beiden einander vor. Nachdem der Priester ging, erklärte er Harkym: "Clandyl wird bei dir sein, wenn ich keine Zeit habe und du nicht allein sein willst." "Gehört er zu dir?" "Ja." "Ist er dein Freund?"
Der Pala des Than lächelte. "Er hilft mir," schränkte er dann ein. "Du kannst ihm vertrauen." "Ich vertrau keinem mehr," murmelte der Knabe da. "Sogar Dada hat mich angelügt." "Er wird bald hier sein." Harkym warf ihm einen scheuen Blick zu. "Du hast es mir versprochen," erinnerte er den Priester. "Du mußt ihn nicht sehen," blieb Thyrian gelassen bei seinem Wort. "Tibra weiß, daß du das nicht willst. Er wird sich fügen." "Kannst du ihm befehlen, Thyrian?" Harkym lächelte scheu. "War das richtig? Ich hab die ganze Nacht deinen Namen geübt." "Es war perfekt." Der Pala des Than lachte leise. "Was deine Frage betrifft: nein, ich kann Tibra nicht befehlen. Wir sind Freunde." "Magst du ihn?" "Ich liebe ihn, Harkym. Ich weiß, daß du ihm böse bist. Aber er ist trotzdem einer der besten Männer, die es gibt. Und er liebt dich auch. Es ist ganz egal, wie du zu ihm gekommen bist. Wichtig ist doch nur, daß ihr zusammen seid." "Jetzt nicht mehr," beharrte das Kind etwas trotzig. "Sag, wird das Schiff wegfahren?" "Sobald Tibra an Bord ist, werden die Segel gesetzt. Dann geht es den Riatha hinab bis zum Meer und von dort nach
Amarra. In drei Tagen sind wir da." Ihm fiel auf, daß Harkym jetzt sehr traurig wurde. "Was gefällt dir daran nicht?" "Ich darf nicht mitkommen." Seine braunen Augen wurden feucht. "Nur Priester dürfen da hin." Thyrian lächelte sacht. "Amarra gehört Seymas, dem Than. Wenn er sagt, daß du kommen darfst, dann kann das niemand verhindern. Und er möchte, daß du mit uns nach Amarra gehst." "Wirklich?" Harkym schöpfte wieder Hoffnung. "Ich hab aber Angst. Hilfst du mir?" "Das werde ich bestimmt." Er hob den Kopf, da draußen Unruhe entstand. "Dein Dada kommt, Kleiner. Ich muß ihn begrüßen. Also bleibst du leider wieder allein. Schau, dort sind Spielsachen. Clandyl hat sie besorgt. Ich hoffe, sie gefallen dir." Harkym sah nicht einmal in die Richtung. "Komm bald wieder," bat er nur, hielt den Kopf dabei gesenkt und starrte auf die eigenen Hände. Thyrian warf ihm einen bedauernden Blick zu. Er fühlte die Einsamkeit, die Furcht und die Hilflosigkeit des Kindes und es mißfiel ihm sehr, daß er Harkym allein lassen mußte. Der Kleine hatte sein Vertrauen in alle Menschen verloren. Es war sehr verwunderlich, daß er bereit war, sich ihm anzuschließen. Und er konnte und wollte sich nicht ausschließlich um ein Kind kümmern, wollte diese Verantwortung nicht übernehmen und sich Harkym nicht einmal wirklich zuwenden. Er hoffte sehr, daß der Knabe bald nach Tibra verlangte.
D
en Magier begrüßte er dann sehr freundlich und offen. Tibra grinste, als er die Priester auf dem Schiff sah, von denen einige wie zufällig den Kabinenaufbau bewachten. "Ich freue mich wirklich, dich zu sehen, Thyrian. Ich würde mich noch mehr freuen, wenn Harkym mich sehen wollte. Aber ich akzeptiere seine derzeitige Ablehnung. Du mußt ihn nicht bewachen lassen. Ich gehe nicht zu ihm." "Ich hoffte, daß du das "Habt ihr schon gegessen?"
sagt," gestand der Freund.
"Bakaar war der Meinung, daß die Speise hier schmackhafter und reichlicher sei." Thyrian gab Clandyl einen Wink, der sich sofort um ein Frühmahl für die Neuankömmlinge kümmerte. Andere Männer setzten schon die Segel. "Ich habe nicht gehofft, daß du mich abholen wirst." "Das war auch nicht meine Absicht," versicherte der Pala des Than. "Bakaar ließ mich wissen, was Harkym geschah und ich hoffte, dir helfen zu können. Ich war schon unterwegs, als sich Seymas entschloß, dich zu rufen." "Ein Ruf, der mich sehr erstaunt," gab Tibra zu. "Ich bin kein Priester, denn die Weihen, die ich empfing, sind ohne Bedeutung. Seymas sagte mir, er könne nur Priester rufen und er versprach mir eigentlich auch, daß er mich nie rufen würde." Clandyl hatte schon eine Decke auf den Planken ausgebreitet und stellte nun die Speise bereit. Thyrian lud Tibra ein, es sich bequem zu machen; lagerte sich zu ihm. Der Magier sah sich nach Bakaar um, doch der vertiefte sich schon ins Gespräch mit seinen Kameraden von einst und aß auch mit ihnen. "Du
bist
Pala
des Than," nahm Thyrian das Gespräch
wieder auf, während Tibra seinen Hunger stillte. "Insofern ist ein Ruf auch für dich möglich. Abgesehen davon, nun, ich habe den Eindruck, als wenn Seymas recht ungehalten sei." "Du meinst, er ist wütend auf mich?" "Möglich. Er hat es mir nicht erklärt." Thyrian lächelte und die Art, wie er dies tat, bewies Tibra, daß es höchst ungewöhnlich blieb, wenn Thyrian nicht ganz über Seymas' Absichten informiert wurde. "Sagst du mir, wie es Harkym geht?" lenkte Tibra vorsichtig ab. Jetzt lachte Thyrian. "Manchmal bist du sehr leicht zu durchschauen," spöttelte er. "Es ist für mich nicht unangenehm, wenn sich Seymas mir nicht offenbart. Er will mit dir reden. Also schweigt er, damit ich ihm dies nicht vorweg nehme. Es ist in Ordnung, Tibra." "Gut." Tibra grinste. "Können wir jetzt von Harkym reden? Wo hast du ihn gefunden? Warst du auf dem Weg zur Burg?" "Er fand mich," wehrte Thyrian ab. "Er hat sich drei Tage in einem Handelswagen zwischen leeren Kisten versteckt. So kam er bis zum Riatha." "Und wie fühlt er sich?" "Einsam, verunsichert, verraten, enttäuscht." "Weint er?" "Nur wenig. Ich spüre seinen Schmerz, Freund. Aber er erlaubt meine Nähe und ich hoffe, ich kann ihm ein wenig helfen. Doch genug davon. Ich freue mich, daß wir
gemeinsam reisen und viel Zeit für einander haben. Gesprächsthemen werden wir uns aber suchen müssen, denn Seymas möchte, daß wir über zwei Dinge nicht reden: über Harkym und über Minas. Ich nehme an, das sind seine Themen. Und da ich in mancherlei Dingen eine andere Ansicht habe als er, soll ich wohl deine Meinung nicht beeinflussen." "Bist du immer so direkt?" "Ich bin äußerst diplomatisch und sage im Zweifelsfall nie, was ich denke." Thyrian lachte erheitert. "Freunde sind davon ausgenommen und ich sage dir lieber, was geschieht, als daß ich unsere Tage in mühsamem Vermeiden von Themen gestalte. Wir haben uns lange nicht gesehen. Da gibt es auch so viel zu erzählen." Tibra grinste. Er zog die Offenheit jeder Anspielung vor und akzeptierte Thyrians Entscheidung und Seymas' Wollen. Im Grunde war es ihm sogar lieb, nicht von Minas zu reden und an die alltäglichen Sorgen zu denken. Er lebte förmlich auf. Manchmal aber sah er zu der Tür, hinter der Harkym wartete. Gegen Mittag ging er in seine Kabine und bat Thyrian, den Sohn ein wenig an Deck zu holen. "Ich warte, bis du mich rufst. Du kannst ganz sicher sein, daß ich nicht unerwartet ins Freie komme," versprach er. Harkym hielt sich die ganze Zeit an Thyrians Hand fest, aber er genoß die Stunde, bewunderte die geblähten Segel und sah begeistert das Ufer des Riatha und die Tiere, die sich hier zeigten. Er wurde nicht fröhlich dabei, doch er zeigte reges Interesse an seiner Umwelt und schöpfte darin unbewußt ein wenig Hoffnung auf eine eigene Zukunft. Als Thyrian ihn zurück in die Kabine brachte, öffnete er endlich auch Clandyls Beutel. Der hölzerne Wagen und die Bauklötze wurden zu seiner Gegenwart. Ein kleines Hölzchen spielte ihn, der sich auf dem Wagen verbarg und in
eine neue Welt fuhr. Auch vor dem Abend zog sich Tibra wieder auf eine Stunde freiwillig zurück, damit Harkym nicht eingesperrt blieb. Als Thyrian den Knaben dann zurück in die Kabine brachte, blieb er ein wenig bei ihm. Harkym war bleich und still. Er empfand tiefes Mitleid für das Kind, das sich in allem fügsam zeigte und keine eigenen Wünsche mehr zu hegen schien. Auf sein Geheiß hin wusch sich der Knabe. Er hatte schon gegessen, wollte nichts weiter mehr. Thyrian bettete ihn auf das Lager, deckte ihn zu, setzte sich dann aber nach kurzem Zögern doch an seine Seite und hielt die kleine Hand ein wenig in der seinen. "Ich weiß wohl, daß dir diese Reise nicht gefallen kann," sagte er leise. "Du fühlst dich sicher eingesperrt. Wenn du bei Bakaar oder Clandyl sein willst, dann bleibe ich morgen mit Tibra in seiner Kabine und du kannst den ganzen Tag das Meer sehen. Möchtest du das?" Harkym schüttelte langsam den Kopf. "Kannst du nicht bei mir sein, Thyrian?" "Nicht die ganze Zeit, Kleiner. Magst du Bakaar nicht?" "Doch, früher schon. Er hat immer Zeit gehabt für mich. Aber Changanar sagt, ich darf nicht zu ihm." "In den Tempel, meinst du?" Harkym preßte die Lippen zusammen und nickte. Seine Augen schimmerten feucht. "Willst du darüber reden?" bot Thyrian ganz sanft an. Der Knabe schüttelte heftig den Kopf.
"Ich will nicht zu Bakaar. Bitte, Thyrian, laß mich hier. Ich bin doch ganz still und störe keinen." "Ich weiß nicht, ob ich das zulassen soll," gab Thyrian zu, während er ihm zärtlich durchs Haar fuhr. "Zwei Tage können furchtbar lange sein und es ist nicht gut, wenn du so viel allein bist. Ist es denn so schlimm, Tibra zu sehen?" Der Kleine verkrampfte sich. "Ich meine nur sehen, nicht reden." "Bitte nicht," jammerte der Kleine angstvoll. "Schon gut, du mußt nicht. Schlafe jetzt. Morgen früh komme ich zu dir." Harkym schloß gehorsam die Augen. Thyrian wartete noch ein wenig. Das Kind schlief nicht, doch es lag still. Da ging der Mann hinaus, um die Stunden mit dem Freund zu verbringen.
A
ls Thyrian früh am Morgen nach Harkym sah, fand er das Lager leer. Der Knabe konnte die Kabine nicht verlassen haben, das hätten die Männer auf dem Schiff bemerkt. Leise öffnete er die Truhe. Harkym mußte in der Nacht hinein geklettert sein und schlief nun eng zusammengerollt auf Thyrians Kleidung. Vorsichtig hob er Harkym auf, bettete ihn aufs Lager, hielt ihn aber nun im Arm und wartete auf sein Erwachen. Er fragte dann nicht nach dem Anlaß seines Handelns, tadelte den Kleinen auch nicht, sondern blieb einfach bei ihm, aß mit ihm und nahm sich vor, ihn weniger allein zu lassen. Doch nach einiger Zeit setzte sich Harkym ans oberste Ende des Lagers, kauerte sich förmlich zusammen und erklärte: "Du mußt jetzt gehen, Thyrian." "Bin ich dir denn lästig?" erkundigte sich der Priester erstaunt.
"Ich bin's, wenn du zu lange bei mir bleiben mußt. Es macht nichts, wenn du mich jetzt allein läßt." "Möchtest du noch etwas an Deck gehen?" Harkym schüttelte den Kopf. Er sah Thyrian jetzt nicht mehr an, sondern starrte auf seine Hände. Da ging der Mann hinaus.
S
päter leistete er Tibra bei dessen Frühmahl Gesellschaft. Der Magier trug nun eine lange, braune Tunika; ein einfaches Gewand, wie es Priesterschülern und Gästen auf Amarra zukam. Thyrian erwartete ihn auf dem Segler ja nicht, ansonsten hätte er ihm ein Gewand seiner Weihe gebracht. Tibra störte sich nicht daran. "Du hast mit Harkym gegessen?" wollte er wissen. "Er ist zu viel allein. Aber immerhin hat er mich weggeschickt." Thyrian lächelte etwas wehmütig. "Er fürchtet, ich werde seiner überdrüssig." Er kam sich wie ein Verräter vor, als er Tibra nun erzählte, wie er Harkym in der Truhe fand. Mißmutig starrte der Magier vor sich hin. "Er versucht, unauffällig zu sein, keinen Platz zu beanspruchen, einfach gar nicht da zu sein," vermutete er düster. "Ich muß mit ihm reden. Ich muß es ihm doch irgendwie erklären." "Er hat mein Wort, daß ihm kein Zwang begegnet," lehnte Thyrian sofort ab. "Er ist ein Kind." "Ich bin es nicht und mein Wort gilt, ob ich es einem Mann oder einem Knaben gebe."
"Es muß für ihn unerträglich sein, zu wissen, daß ich keine fünf Schritte entfernt bin," murmelte Tibra, den das Leid des Sohnes sehr belastete. "Da ist er so weit vor mir geflohen und es war doch alles vergeblich. Ich hätte ein Handelsschiff nach Amarra nehmen sollen." "Müßig, darüber nachzudenken. Morgen abend ankern wir in Amarras Hafen und für Harkym wird dann vieles einfacher." "Einfacher? Es ändert sich nichts." "Nicht im Hinblick auf dich, jedenfalls nicht sofort. Aber er ist dann nicht mehr eingeschlossen, findet andere Kinder und wird hoffentlich sehr schnell gelöster und etwas zuversichtlicher." "Du gibst ihn ins Kinderhaus?" "Natürlich." Der Magier brummte einen unverständlichen Laut. "Was soll ich sonst tun, Tibra? Ihm eine Familie suchen? Harkym wird keinen Menschen akzeptieren. Ihn in Raakis Tempel in Nodher schicken? Das ist zu nahe an Minas; er wird immer fürchten, daß du kommst. Tempelkinder wachsen in einem Kinderhaus auf. Man wird dort gut für ihn sorgen." "Und wie lange?" "Genau so lange, wie er das Kinderhaus deiner Nähe vorzieht. Und nun genug davon, Freund. Ich hätte das Thema gar nicht anschneiden sollen." Sehr nachdrücklich sprach er nun von anderen Dingen und Tibra ergab sich seufzend der Weisung, nicht über seinen Sohn zu reden. Es fiel ihm wirklich nicht leicht, zumal er hoffen konnte, gemeinsam mit Thyrian einen Weg zu Harkyms Verständnis zu finden. Daß Seymas sich dieses Thema
vorbehielt, gefiel ihm nicht, obgleich er nicht zu erspüren vermochte, woran dies lag.
D
er Kleine blieb den ganzen Tag über still, fast scheu. Auch wenn er an Thyrians Hand an der Reeling stand, verhielt er sich nicht anders. Thyrian versuchte vergeblich, ihn etwas aufzumuntern. Es gelang ihm nicht einmal, dem Kind ein kleines Lächeln zu entlocken. Eine Stunde, nachdem er am Abend Harkym niederbettete, sah er wieder in dessen Kabine. Er fürchtete, der Kleine sei erneut in die Truhe gekrochen, doch er fand ihn auf dem Lager sitzend. Leise, doch irgendwie trotzig, übte er, schwierige Worte richtig auszusprechen. "Niela, A-Niela, A-niela, Aniela. N-Taya, An-taya, Antaya." Er sah auf, weil er nun den Mann bemerkte und jetzt lächelte er etwas schüchtern im aufleuchtenden Schein von Thyrians Kristall. "Was machst du denn?" "Sprechen üben." Harkym schob die Unterlippe vor, überlegte, ob er die Sache erklären wollte und fuhr dann fort: "Changanar denkt, ich kann nicht richtig reden. Ich kann's aber wohl." Er zögerte. "Ich kann auch 'Vater' sagen. Aber Dada ist lieber. Jetzt brauch ich das Wort nicht mehr." "Ich denke, du solltest das Wort ruhig noch ein wenig aufbewahren," schlug Thyrian vor, während er das Kind wieder niederbettete. "Wenn du es später wirklich nicht mehr haben willst, schenkst du es mir." Harkym legte den Kopf ein wenig schief und fragte zweifelnd: "Möchtest du denn einen Dada haben?"
"Ich hatte nie einen; auch keinen Vater. Doch, ich glaube, mir würde das gefallen. Warum schläfst du nicht, Kleiner? Bist du nicht müde?" "Nein, gar nicht. Ich seh im Dunkeln ja auch nicht, wenn jemand kommt." "Soll ich dir meinen Lichtstein dalassen?" Harkym richtete sich halb auf. "Machst du das?" Das klang hoffend, erfreut und bittend zugleich. Es gab also doch etwas, an dem das Kind Interesse hatte und womit man es erfreuen konnte. Thyrian drückte ihn zurück, dämpfte das Licht seines Lebenden Kristalles ein wenig ab und schob den Stein dann unter Harkyms Decke. "Jetzt ist es dunkel genug, um zu schlafen und wenn doch jemand kommt, dann mußt du nur den Stein hochhalten und kannst alles sehen. Ist das gut so?" Harkym umfaßte den Kristall. Er schloß die Augen und schien sehr zufrieden. Thyrian war schon bei der Tür, als er ganz leise sagte: "Danke, Thyrian. Du bist lieb." Leise schloß der Pala des Than die Tür, etwas verwundert darüber, daß ihn dieses Lob so bewegte. Ein paar seiner Männer schliefen an Deck. Die Nacht zeigte sich angenehm warm. Die feuchten Nebel erfrischten die Haut. Langsam trat Thyrian in den Bug. Sie ankerten an Nodhers Küste; nicht weit entfernt lag der Tempel der Weisheit. Die hohen Klippen waren nicht zu sehen, doch die Brandung verriet durch ihr Rauschen, daß sie gegen Fels anrannte. Thyrians Geist suchte den Freund jenseits des Meeres.
"Deine Reise verläuft wohl verstand er Seymas sehr schnell.
nicht
sehr angenehm,"
"Tibra ist bedrückt und Harkym sehr einsam. Es ist nicht leicht, beiden nahe zu sein und sie doch getrennt zu halten." "Das habe ich nicht verlangt." "Harkym will Tibra nicht sehen und ich habe ihm versprochen, daß er nicht dazu gezwungen wird. Wir sind morgen bei dir und ich bitte dich sehr, mein Wort nicht zu brechen. Es würde das Kind verletzen. Laß dem Kleinen etwas Zeit." "Die hat er." Seymas schien sehr erheitert zu sein. "Wenn du ihn beschützt, spricht niemand dagegen. Aber sorge gut für ihn, Thyrian. Denn Tibra hat keine Gelegenheit dazu. Wenn ihr kommt, nehme ich ihn mit mir. Wir werden dann einige Zeit unterwegs sein." "Das ist nichts Neues. Bei Tibras Besuchen stromert ihr doch meist durch Amarra." "Aber dieses Mal will ich dich nicht dabei haben. Mir gefallen ein paar Dinge nicht und das klärt sich leichter ohne Zeugen. Sei also bitte nicht gekränkt, wenn ich nicht einmal an Bord komme, um Amarras Gäste zu begrüßen." "Das höre ich gern," ließ Thyrian den Freund wissen. "Ich habe doch wirklich schon überlegt, ob ich Harkym beibringen muß, wie man den Than formgerecht grüßt. Ich bin froh, wenn der Kleine im Kinderhaus ist." "Wirklich? So anstrengend habe ich ihn gar nicht in Erinnerung." "Du würdest ihn nicht wiedererkennen. Er ist noch viel stiller geworden, sehr verletzt und von einer Aura der Hoffnungslosigkeit umgeben. Er fürchtet sich im Dunkeln, was
er früher nie tat." "Zeig ihn mir," verlangte Seymas da. Thyrian rief bewußt in sich die Bilder der Erinnerung herbei, die Harkym umfingen. In der geistigen Verbindung war jeder Gedanke wie ein gesprochenes Wort, jede bewußte Vorstellung wie ein übermitteltes Bild. Seymas verstand, doch was er von alledem hielt, ließ er den Freund nicht wissen. "Segelt so früh als möglich," möchte Tibra recht bald sehen."
verlangte er noch. "Ich
Die Verbindung erlosch, doch Thyrian stand noch lange unbeweglich und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Sie kreisten erstaunlich viel um Harkym. Er hoffte wirklich, die Gesellschaft vieler Kinder würde dem Jungen helfen, sein eigenes Dasein wieder zu bejahen und nicht mehr nur still zu erdulden.
A
marras Küste kam in Sicht. Harkym befand sich in der Kabine, sah das nahende Land nicht. Aber Thyrian hatte ihm gesagt, daß sie ihr Ziel fast erreichten und daß Tibra dann zuerst von Bord gehen würde. Er mußte jetzt nur noch ein wenig warten, bis er sich wieder frei bewegen konnte. Tibra stand neben Thyrian an der Reeling. "Es tut mir leid," entschuldigte er sich, "wenn ich dir kein guter Gesellschafter war in den letzten Tagen. Ich hätte gern mit dir über Harkym gesprochen oder auch über meine Probleme mit Minas. Dein Rat wäre sehr wertvoll gewesen." "Das ist der seine sicher auch," lächelte Thyrian. "Kaum," vermutete der Magier offen. "Seymas ist gewiß ein guter Freund, aber politische Probleme oder Sorgen mit
Kindern, das sind nicht unbedingt Dinge, von denen er etwas versteht." Thyrian lachte leise, doch sehr heiter auf. "Seymas ist der mächtigste Mann der Nebelreiche. Politik gehört durchaus zu seinem Alltag. Und Kinder? Nun, er bestimmt, wie Tempelkinder aufwachsen und ich denke, er macht es gut." "Das kann ich nicht beurteilen. Ich weiß nur, daß man mit ihm über schwierige Dinge keine ernsten Gespräche führen kann. Nun, was soll's. Er rief mich, weil ich mit Ilkonys stritt. Also wird er mich ermahnen, meinen Herrscher mehr zu achten und das war es dann auch. In zwei, drei Tagen fahre ich zurück nach Nodher. Nach der Lichtwende hoffe ich dann, daß Harkym wieder mit mir reden will."
D
ie Männer holten die Segel ein. Die Fahrtgeschwindigkeit genügte, um jetzt noch dem Landungssteg zu nahen. Bald wurde der Anker geworfen. Thyrian stieß den Freund sacht in die Seite, deutete dann zum Strand. Tibra nickte nur. Er hatte die weiß gekleidete Gestalt schon gesehen. Der Than wartete auf ihn, sah aber nicht zum Segler, sondern sprach mit ein paar Leuten, die hier lebten. "Geh zu ihm," riet Thyrian. "So?" erkundigte sich Tibra mit skeptischem Blick auf seine braune Tunika. Man kannte ihn hier, der er ja auch den Titel des Pala trug. Die Kleidung der Priesterschüler konnte nicht angebracht sein und würde zumindest Erstaunen bewirken. Doch da Thyrian gelassen nickte, ging Tibra von Bord. Zwei
Schritte
von
Seymas
entfernt
wartete er, bis der
Than sein Gespräch beendete. Seymas warf ihm dann einen fröhlich frechen Blick zu, begrüßte ihn aber nicht, sondern wandte sich um und ging die wenigen Schritte bis zum Wasser. Hier lag, halb auf dem Sandstrand, ein kräftiger Katamaran, gefertigt aus relativ großem Kanu mit breitem Ausleger. Seymas trat ins Kanu, winkte Tibra heran. "Nimm die Führleine," verlangte er. Tibra zuckte nur mit den Schultern. Sie waren oft zusammen auf einem Katamaran an der Küste Amarras entlang gesegelt und er beherrschte dieses seltsame Fahrzeug durchaus. Als er das Gefährt betrat, schoben andere Männer den Katamaran aufs Wasser. Der Wind blähte rasch das Luggersegel. Seymas deutete in Richtung der Gastinseln. Tibra brachte das Segel vor den Wind, schlug die angegebene Richtung ein und wunderte sich still über diesen Weg, den sie bisher nicht zusammen segelten. Seymas ließ ihn die Inseln umschiffen. Er sagte nichts, während sie sich immer weiter vom Hafen entfernten.
C
landyl öffnete die Kabinentür und winkte Harkyms ins Freie. Der Knabe gehorchte nur zögernd, schaute vorsichtig um sich. Thyrian wandte sich ihm zu und lächelte. "Komm her," lud er ihn zur Reeling ein. "Dein Dada ist nicht mehr auf dem Schiff. Schau, dort vorn segelt er." Harkym kam zwar zu ihm, doch er sah demonstrativ in eine andere Richtung. Zaghaft tastete er nach der Hand des Mannes und atmete auf, als der ihn hielt. Thyrian führte ihn an Land. Als er den gewundenen Pfad erreichte, der nach einer knappen Stunde zum größten aller Tempel führte, wollte er das Kind loslassen, doch Harkym klammerte sich an seine Hand und so ließ er dessen Nähe zu. Er fühlte, wie die Angst des Kindes zunahm. Diese Schwingung belastete ihn. So ging er langsamer und erklärte Harkym, was er sah. Bald begann der Kleine, Fragen zu stellen. Hier wuchsen viele Pflanzen, die er nicht kannte und deren Namen er wissen wollte. Ein riesiger Tagfalter faszinierte das Kind. Thyrian ging in die Hocke, zog Harkym an seine Seite und gemeinsam beobachteten sie ihn, wie er den süßen Nektar blauer Blüten trank. Sie kamen nur langsam voran. Thyrian wußte gar nicht, daß es an diesem Pfad so viel zu sehen gab. Harkym entdeckte alle paar Schritte etwas Neues, das durchaus mehr als einen Blick verdiente. Aber es war nicht nur das Kind, das die Sehenswürdigkeiten entdeckte. Thyrian fand
bald Spaß daran, den Kleinen immer wieder auf eine verborgene Schönheit aufmerksam zu machen und mit ihm gemeinsam Blüten, Insekten und kleineres Getier zu bewundern. Seine Leute folgten zuerst mit etwas Abstand, doch irgendwann gab er ihnen ein Zeichen, daß sie voraus gehen durften. Nur Bakaar und Clandyl blieben in der Nähe. Die Nebel hingen schon tief, als sie endlich zum Tempelbereich gelangten. Thyrian führte Harkym durch den parkähnlichen Garten und nun verhielt er nicht mehr ständig den Schritt. Er deutete bald auf ein entfernt stehendes größeres Haus. "Dort wirst du wohnen," erklärte er dem Knaben. "Ich bringe dich hin und es wird jeder sehr nett zu dir sein." Harkym stemmte die Füße in den Boden. Er versuchte, seine Hand aus der des Mann zu ziehen, doch Thyrian hielt ihn fest. "Ich will nicht," gab er mit jammernder Stimme zu. "Laß mich nicht allein." Der Pala des Than warf den beiden Priestern, die ihn noch immer begleiteten einen kurzen Blick zu. Dann ignorierte er deren Beobachten, ging in die Hocke und faßte Harkym bei den schmalen Schultern. "Du wirst nicht allein sein," versprach der Mann mit fester Stimme. "Dort sind viele Kinder, freundliche Priesterinnen und sehr nette Priester. Und sie alle werden versuchen, dich glücklich zu machen. Du mußt den Menschen eine Chance geben." Völlig unerwartet schlang der Knabe da die Arme um den Hals des Mannes, schmiegte sich fest an ihn. Sein kleiner Leib bebte.
"Schick mich nicht weg," bettelte das Kind. "Ich hab so große Angst, Thyrian. Ich tu auch alles, was du sagst." Harkym war verzweifelt und wenn Thyrian ihn jetzt nicht festgehalten hätte, würde er laut geweint haben. Doch der Pala des Than streichelte seinen Rücken und duldete die kindliche Umarmung. Als er sich erhob, hielt er Harkym auf dem Arm. Er trat zu den Priestern. "Ich brauche dich heute nicht mehr, Clandyl. Und du, Bakaar, wirst die nächsten Tage nach deiner Neigung verbringen." Die Männer waren damit entlassen. Nach einer tiefen Verneigung entfernten sie sich. "So, Kleiner," wandte sich Thyrian dann an das Kind, "jetzt zu uns. Ich verstehe deine Furcht, aber ich billige sie nicht. Ich kann und will mich nicht um dich kümmern." Harkym erstarrte fast. "Magst du mich nicht?" "Ich will dich nicht immer um mich haben," schränkte Thyrian ein. "Ich verstehe ja, daß du verunsichert bist und die letzten Tage dir nicht gefielen. Wenn ich dich heute bei mir behalte, wirst du dich dann morgen meinen Wünschen fügen?" Morgen? Das war so weit weg. Harkym verstand nur, daß er jetzt nicht allein in dieses große Haus mußte und dieser sanfte Mann ihn nicht sofort wegschickte. Er hielt Thyrian fester. Seine Augen wurden groß, als er begriff, wohin der Mann nun ging. "Das ist doch der Tempel, Thyrian." "Da wohne ich." Harkym überlegte. Man mußte ein besonderer Priester sein, wenn man innerhalb des Tempelbaus seine Räume fand.
"Wie Gerrys? Bist du ein Falla?" "Nein." Thyrian lächelte nun. "Dieser Tempel hat keinen Falla. Er gehört dem Than und der ist mein Freund und möchte, daß ich in seiner Nähe wohne." "Er schimpft bestimmt, wenn du mich mitnimmst." Thyrian lachte erheitert, ehe er Harkym nun auf die Beine stellte, um ihn an der Hand zu führen. "Seymas ist nicht da," versprach er. "Er bleibt einige Tage fort. Du hast ohnehin keinen Grund, ihn zu fürchten. Erinnerst du dich nicht an ihn?" Harkym schüttelte betrübt den Kopf. Für ihn war es zu lange her, daß er auf Amarra weilte. "Du wirst ihn bestimmt mögen," versicherte Thyrian. Harkym ließ sich in den Tempel führen, doch er klammerte sich dabei angstvoll an Thyrians Hand und fürchtete bei jeder Begegnung, daß man ihm sein Eindringen verübeln würde. Doch wer immer Thyrian sah, er verneigte sich nur und zeigte durch keine Geste, daß etwas an seinem Handeln getadelt werden dürfe. Harkym wurde wieder ruhiger und als Thyrian hinter ihm die Tür seiner privaten Räume schloß, fragte er leise: "Sind das alles deine Diener?" "Mehr oder weniger," gab Thyrian leichthin zu. Er legte seinen Umhang ab, betrat einen Nebenraum und begann, sich umzukleiden. Harkym stand inzwischen nahe des Fensters und bestaunte die mannshohe klare Kristallspitze, die hier stand. Sie zeigte sich frei von Einschlüssen und Trübungen, wirkte völlig rein. Zaghaft fuhr der Kleine mit der Hand über die glatte Oberfläche. Das fühlte sich gut an. Dann sah er sich um. Der Raum war groß und hell, mit Teppichen auf dem Boden und Stoffen an den Wänden.
Die Sessel zeigten sich weich und tief. Auf dem Tisch stand eine kostbare Achatschale, deren verspielte Maserung in Harkyms Phantasie die schönsten Landschaften darstellte. Auf einem Regal lagen einige Schriften. Thyrian kam wieder, lächelte ihm kurz zu und betrat dann einen anderen Nebenraum. Hier stand ein gewaltiger Schreibtisch. Der Pala des Than neigte sich über Schriften, die darauf lagen. Er achtete jetzt nicht auf Harkym, sondern setzte sich und las. Seymas hatte ihm ein paar Anweisungen hinterlassen, andere Schriften betrafen Verwaltungsangelegenheiten Amarras. Lange beschäftigte sich Thyrian nun aber nicht damit. Das alles hatte Zeit bis zum andern Tag, wie er schnell feststellte. Er schlug das Triangel an. Fast sofort betrat ein junger Priester den Raum. Der Mann war keine zwanzig Jahre alt. Sein Gewand bewies, daß er die zweite Weihe besaß. "Harkym," wandte sich Thyrian an den Knaben, "dies ist Dalphan. Er wird dafür sorgen, daß du ein Nachtmahl bekomst, dich waschen und für die Nacht vorbereiten. Ich will, daß du ihn nicht abweist und seine Hilfe duldest." Harkym preßte die Lippen zusammen, starrte Thyrian nur an. Aber er wehrte sich nicht und als Dalphan nach seiner Hand griff, ging er mit ihm nach nebenan und ließ alles auf still vorwurfsvolle Art über sich ergehen. Als Thyrian zu ihnen kam, hatte er schon gegessen und war für die Nacht bereit. "Nun, willst du Dalphan nicht für seine Hilfe danken?" fragte der Pala des Than. Harkym schaute trotzig zu Boden und schwieg. Erst, als der junge Priester nach tiefer Verneigung vor Thyrian zur Tür ging, sah er auf und sagte hastig:
"Vielen Dank." Dalphan wandte sich nach ihm um, lächelte und neigte den Kopf, ehe er sie verließ. "Du bist sehr unhöflich," Stimme klang sanft dabei.
tadelte
Thyrian, doch seine
"Bist du böse mit mir?" "Das nicht, Harkym, denn wenn du dich so verhältst, verletzt du nur dich selbst damit und erreichst, daß irgendwann niemand mehr gern in deiner Nähe ist. Dalphan ist ein freundlicher Mann. Wenn du ihm seinen Dienst nicht erleichtern willst, wirst du morgen früh ohne Helfer auskommen müssen." "Ich hab doch nur Angst, daß du mich weggibst," gestand Harkym kleinlaut. Thyrian schloß für einen Moment die Augen und tadelte still sich selbst, weil er Harkym nicht doch ins Kinderhaus brachte. Er wollte keine falschen Hoffnungen in dem Kind wecken und ihm jede weitere Enttäuschung ersparen. Doch dies schien unmöglich zu sein. Er führte Harkym dann in sein Schlafgemach. Der Kleine staunte, als er das breite Lager sah. Nachdem Thyrian ihn niederbettete, bat er noch um etwas Gesellschaft und wollte eine Geschichte hören, einfach Zuwendung erfahren und nicht allein sein. Thyrian setzte sich zu ihm. "Ich kenne keine Kindergeschichten." gab er zu. "Soll ich dir erzählen, wie es in den Nebelreichen war, ehe die Menschen geboren wurden?" Er berichtete von den alten Legenden jener Zeit, in der die Götter noch menschengleich in den Reichen lebten, liebten und haßten und irgendwann die Menschen zeugten. Harkym
lauschte. Thyrian verstand es, spannend zu erzählen und die wenigen Zwischenfragen erschöpfend zu beantworten. Der Kleine wurde müde. Oben im Tempel ertönte der Ruf zum mitternächtlichen Ritual. "Ich werde dich jetzt etwas allein lassen," erklärte Thyrian. "Wenn du dich fürchtest, lasse ich meinen Lichtstein bei dir." "Ich hab jetzt keine Angst," versprach Harkym. "Das ist doch ein Tempel, da kann einem nichts passieren." "Dann schlafe gut." Der Mann fuhr dem Kind zärtlich übers Haar, deckte es nochmals sorgsam zu. Als Thyrian nach dem Ritual sein Schlafgemach aufsuchte, lag Harkym in tiefer Ruhe. Er legte sich neben ihn und stellte erleichtert fest, daß er den kleinen Schläfer nicht störte.
F
rüh am Mogen erwachte er. Harkym schlief noch, doch nun ruhte er in seinem Arm. Thyrian hatte ihn wohl im Schlaf an sich gezogen. Nachdenklich betrachtete er das schmale Kindergesicht. Es war ein gutes Gefühl, die Nähe und die Wärme des Kleinen zu spüren. Harkym lag ganz ruhig. Er schien sich geborgen zu fühlen und gerade dies beschäftigte Thyrian. Es war nicht gut, wenn sich das Kind zu sehr an ihn band. Leise erhob er sich. Nachdem er sich auf den Tag vorbereitete, rief er nach Dalphan. "Wache bei dem Kind," befahl er. "Nimmt er deinen Dienst freudig an, so hilf ihm; wenn nicht, genügt es, mir sein Erwachen sofort mitzuteilen." Er selbst ging in sein Arbeitszimmer. Caryll würde bald kommen, das wußte er. Unter Nymardos war Caryll schon Pala des Than. Er trug den Titel weiterhin, doch in Bezug auf
seine Person wurde er nur noch in der Betonung benutzt, welche ein Amt, nicht aber auch eine Liebe umschloß. Sie arbeiteten eng zusammen. Caryll schätzte Thyrian von der ersten Stunde der Begegnung an.
H
arkym erschrak ein wenig, als er bei seinem Erwachen den jungen Priester und nicht Thyrian sah. Er hatte den Tadel noch nicht vergessen. Unsicher lächelte er Dalphan an. Er nahm sich fest vor, sich etwas freundlicher zu geben und stellte dann schnell fest, daß dadurch alles etwas einfacher wurde. Dalphan empfand es ja als Auszeichnung, daß er, obgleich nur in die unteren Weihen eingeführt, dem Pala des Thans dienen durfte. Eine Ablehnung durch das Kind bedeutete für ihn ein Versagen. Da Harkym sich nun zugänglicher zeigte, fiel es leicht, dem Knaben zu helfen und dabei auf seine kleinen Wünsche einzugehen. Als Thyrian kam, wirkte Harkym fast gelöst, doch als er vom Kinderhaus sprach, weinte der Knabe. "Ich bleib da nicht," drohte er. "Ich lauf ganz weit weg." "Gut, und wohin willst du?" erkundigte sich Thyrian gelassen. Harkym schluckte. Er hatte gehofft, der Mann würde jetzt einlenken. Aber er ließ sich von dieser Drohung nicht einschüchtern und schien sogar bereit zu sein, ihn bis ans andere Ende der Reiche zu bringen. "Ich will bei dir sein," schluchzte der Kleine. "Ich kann dich jetzt nicht in meiner Nähe dulden. Ich habe zu arbeiten und es wäre unhöflich, wollte ich bei Empfängen ein Kind zugegen sein lassen." "Kann ich nicht hier auf dich warten?"
"Das könntest du. Aber ich will es nicht." Er neigte sich dem Knaben zu. "Solange du so furchtsam bist, habe ich Mitleid mit dir, Kleiner. Willst du denn bemitleidet werden?" Harkym dachte nach. Er hatte einmal ein verletztes Murro gefunden, so krank, daß es nicht zu retten war. Bakaar sagte, er habe Mitleid mit dem kleinen Nager und wolle ihm deshalb die Wunden verbinden und sein Sterben hinauszögern. Harkym versuchte trotzdem, dem Tier zu helfen und als es starb, war er traurig. Weil er Mitleid hatte, mußte das Tierchen länger leiden. Also konnte Mitleid auch nichts Gutes sein. Er schüttelte langsam den Kopf. Er wollte nicht leiden. "Dalphan bringt dich jetzt ins Kinderhaus," beschloß Thyrian zufrieden. "Wenn es dort wirklich unerträglich für dich wird oder du Schwierigkeiten bekommst, darfst du zu mir kommen. Aber gib dir ein wenig Mühe und es wird dir gefallen." Harkym nickte still. Er wirkte wieder sehr verletzt. "Wenn meine Pflichten getan sind, lasse ich dich holen," versprach Thyrian lächelnd. Hoffnung schimmerte nun in den Augen des Kindes, doch es zeigte keine Freude. So ganz konnte es nicht daran glauben. Harkym folgte Dalphan. Er ließ alles über sich ergehen, als dieser das Kind den Erwachsenen im Kinderhaus vorstellte und anbefahl. Mylena, eine freundliche Priesterin dieses Bereiches, brachte Harkym in den Garten. Hier sah er viele Kinder in kleinen Gruppen ihren Beschäftigungen nachgehen. "Du kannst wählen, wem du dich anschließen willst," erlaubte sie Harkym. "Die dort üben die Schrift. Dort drüben spielen sie, wie du siehst. Die Jungen hier basteln Spielzeug für die Kleineren. Was möchtest du denn tun?"
"Darf ich allein bleiben?" erkundigte sich das Kind schüchtern. "Ich lauf nicht weg, aber ich will nur zusehen." "Bleibe aber in der Nähe," gab Mylena nach. "Und wenn du eine helle Glocke hörst, kommst du hierher. Dann gibt es Speise." Harkym versprach es. Da ließ sie seine Hand los. Langsam schlenderte das Kind durch den Garten. Es fiel nicht auf, denn es trug dieselbe Kleidung wie die anderen. Mylena behielt ihn im Auge. Dalphan sagte, daß der Pala des Than auf das Kind achtete und sie wollte sicher sein, daß der Kleine nicht litt. Ein Mädchen zupfte Harkym am Gewand. Es war etwa so alt wie Antaya. Er half ihm, sein Püppchen richtig einzukleiden. Die Kleine strahlte und Harkym lächelte. Mylena wandte sich ihrer Arbeit zu. Dieser Knabe würde sicherlich leicht in die Gemeinschaft finden, wenn er es wollte. Ein etwa fünfjähriger Knabe saß abseits unter einem hohen Baum. Vor ihm ausgebreitet lagen viele kleine, bunt bemalte Holzstücke, in verschiedene Formen zersägt. Er versuchte, sie wieder zu ihrem ursprünglichen Bild zusammen zu legen. Harkym sah ihm lange zu. Schließlich bückte er sich, ergriff ein Teil des Puzzles und hielt es dem Jungen entgegen. Der schaute ihn erst böse an, dann lächelte er. "Stimmt, das paßt," lobte er. "Danke." "Wie heißt du denn?" "Andraag. Und du?" "Harkym. Ich komme aus Nodher." Andraag lud Harkym ein, ihm bei seinem Puzzle zu helfen und nebenbei ein wenig von dem fremden Land zu erzählen, aus dem er stammte. Die Zeit verging rasch. Als der helle
Glockenklang ertönte, blieben die beiden Knaben zum Mahl beisammen und widmeten sich danach wieder dem komplizierten Puzzle-Spiel. "Hast du keine Freunde?" wollte Harkym wissen. "Doch, viele. Aber sie mögen dieses Spiel nicht. Soll ich sie dir zeigen?" "Erst, wenn das Bild fertig ist," lehnte Harkym ab, der das Puzzle genau wie Andraag als Herausforderung sah. "Sag, bleibst du jetzt bei uns? Das wäre fein, denn dann könntest du bestimmt ein Lager neben mir bekommen und wir könnten uns noch viel erzählen." "Ich hatte Angst vor hier," gab Harkym nachdenklich zu. "Ich will auch nicht dableiben. Thyrian hat gesagt, daß er mich holt." "Thyrian? Du kennst den Pala des Than?" Harkym nickte, erstaunt, weil Andraag nun scheu erschien. "Amarra dient ihm. Nur der Than darf ihn duzen. Er ist ein Herr. Ich habe ihn schon gesehen. Man muß vor ihm knien." "Das hat Changanar auch gesagt," murmelte Harkym düster. "Wer ist das? Dient er dem Pala?" "Changanar ist ein Prinz in Nodher. Er hat gesagt, ich muß vor ihm knien. Ich mag ihn nicht. Thyrian ist lieb. Dich mag ich auch, Andraag. Schau, das Bild ist fertig." "Ohne dich hätte ich viel länger gebraucht," erkannte Andraag. "Das habt ihr wirklich gut gemacht."
Thyrian war unbemerkt zu ihnen getreten und sah das fertige Puzzle, vor allem aber das Einvernehmen zwischen den Kindern. Andraag saß neben Harkym. Jetzt erschrak er, drehte sich rasch auf die Knie und senkte den Kopf. So grüßten die Priester den Pala des Than und er wollte es ihnen gleich tun. Verwundert schaute Harkym auf den Kameraden, dann handelte er wie dieses Tempelkind. "Hast du einen Freund gefunden, Harkym?" erkundigte sich Thyrian lächelnd. "Wir haben zusammen das Bild gemacht. Andraag ist nett." Harkym zögerte merklich, dann fügte er hinzu: "Herr." Thyrian hob Andraag auf. "Ich danke dir, daß du Harkym den Tag mit Freude fülltest," versprach er. "Ich hoffe, du wirst auch morgen mit ihm spielen." Harkym stand auf und faßte langsam nach Thyrians Hand. "Dürfen wir dann zum Meer?" bat er. "Andraag hat gesagt, daß das Wasser dort ganz niedrig ist und es große Muscheln gibt." "Das wird sich wohl machen lassen. Kommst du nun mit mir?" Er führte Harkym mit sich, doch ehe er das Kinderhaus verließ, rief er nach Mylena und teilte ihr den Wunsch der Knaben mit. Ein Ausflug zum Meer würde sicher alle Kinder erfreuen und auch denen gefallen, die auf sie achteten. Mylena wollte alles vorbereiten.
H
arkym erwies sich zunächst als recht scheu. Auf Fragen antwortete er nur einsilbig und die Leckereien, die
Thyrian kommen ließ, beachtete er kaum. "Ich dachte, du freust dich, wenn ich dich hole," gab Thyrian zu. "Das scheint nicht der Fall zu sein. Möchtest du zurück zu Andraag?" "Ich hab bestimmt alles falsch gemacht," flüsterte Harkym da tränenerstickt. Er berichtete von Andraags Worten, nach denen der Pala des Than größten Respekt erfahren mußte. "Bitte, nicht böse sein. Aber jetzt weiß ich gar nicht mehr, was richtig ist." "Es war bisher alles richtig, Harkym. Du sollst keine Angst haben. Ich werde es dir sagen, wenn du einen Fehler machst und dir dann auch helfen, das Richtige zu erkennen. Erzählst du mir nun von deinem Tag?" Fast augenblicklich legte Harkym alle Scheu ab. Er naschte, plauderte und fand kein Ende in seinem Erzählen. Thyrian lauschte amüsiert. Die Lebendigkeit des Kindes gefiel ihm, aber auf Dauer strengte sie auch an. Doch er war sehr zufrieden. Harkym fürchtete sich nicht mehr, dachte auch an den kommenden Tag nicht nur voll Unbehagen. Er würde gewiß in Kürze auch den Gedanken an ein Leben im Kinderhaus akzeptieren.
A
m andern Morgen erwachte Harkym vor Thyrian. Er blieb ganz still liegen, rührte sich nicht, genoß jedoch die Wärme und die Nähe des Mannes, bei dem er sich geborgen wußte. "Ich hab auf dich gewartet," begrüßte er dann den Erwachenden. "Mußt du heute wieder arbeiten?" "Das muß ich jeden Tag," lächelte Thyrian, der in unbewußter Geste den Knaben enger an sich zog. "Für einen Mann ist Arbeit so wichtig wie das Spiel für ein Kind. Du
wirst nicht traurig sein, wenn Dalphan dich ins Kinderhaus bringt?" "Es ist ja nicht für immer." Harkym wandte den Kopf und küßte Thyrian unvermittelt auf den Mund. "Ich hab dich so lieb, Thyrian." Etwas zu schnell erhob sich der Priester nun. Es war nicht gut, wenn das Kind sich zu sehr an ihn band. Er hatte die Stunden am Abend mit Harkym genossen und er fühlte sich seltsam bereichert, als der Knabe in seinen Armen einschlief. Doch er wollte sich nicht binden und sein Amt erlaubte ihm auch nicht die volle Zuwendung an das Kind. Harkym hatte mehr verdient als die wenige Zeit, die er erübrigen konnte. Thyrian hoffte noch, daß er bald nach Tibra fragen würde. Am Abend erzählte Harkym dann mit Begeisterung vom Spielen am Meer. Andraags Freunde hatten ihn in ihrer Mitte aufgenommen. Er fühlte sich akzeptiert und genoß die Stunden. Als Thyrian aber vorsichtig davon sprach, daß er ganz ins Kinderhaus übersiedeln solle, wurde der Kleine sehr traurig. "Warum willst du mich nicht behalten, Thyrian? Du hast mich doch auch gefunden, genau wie Dada. Hast du mich nicht lieb?" "Ich fürchte, wenn ich mich nicht bald von dir trenne, habe ich dich viel zu lieb," gab der Priester zärtlich zu. "Auch dein Dada liebt dich." Harkym schob die Unterlippe vor, schaute jetzt sehr abweisend. Er wollte nicht über Tibra reden und die alte Furcht kam wieder zum Vorschein. "Mich will niemand haben," begriff er leise.
"Das ist Unsinn. Es ist nur nicht gut für dich, wenn..." Er unterbrach sich selbst. "Vermutlich ist es noch viel zu früh für Entscheidungen." Er griff nach Halpa-Stäbchen. Harkym war sofort wieder ganz offen. Dieses Stapel-Spiel kannte er, bei dem derjenige verlor, unter dessen Stäbchen der ganze Aufbau einstürzte. Sie spielten lange zusammen. Thyrian fühlte sich nicht minder wohl dabei wie Harkym, doch in der Nacht, als der Knabe schlief, suchte er im Geist nach dem Freund, um seine innere Unruhe zu teilen.
A
m nächsten Tag hielt er Harkym ganz in seiner Nähe. Er mußte eine etwas entfernt liegende Siedlung aufsuchen und erlaubte Harkyms Begleitung. Der Weg zeigte sich dem Kind voller Wunder, die sich erst durch dessen Augen auch den Priestern erschlossen, die Thyrian begleiteten. In der Siedlung selbst wartete Harkym dann still, aber keineswegs traurig, bis Thyrian seine Pflichten erledigte. Für ihn bedeutete es eine Freude, bei dem Pala des Than zu sein und daß er nun warten mußte, das belastete den Kleinen nicht. Thyrian aber fühlte sich durch sein Warten zur Eile genötigt. Er rief Harkym herbei, erklärte ihm dies. Der Knabe schien sogar zu verstehen, denn er suchte nun die Gesellschaft von Kindern der Siedlung und vertiefte sich in deren Spiel. Thyrian gefiel dies sehr. Er konnte nun ohne Ablenkung seiner Arbeit nachgehen. Am Ende des Tages wußte er, daß er unter diesen Umständen Harkym durchaus in seiner Nähe halten wollte. Um eine endgültige Lösung zu finden, würde er sich mit Seymas nach dessen Rückkehr zum Tempel besprechen. So lange wollte er Harkym in seinen Gemächern halten und sich nur stets auf kurze Zeit von ihm trennen. Andraag fürchtete schon, den neuen Freund nicht mehr zu sehen. Deutlich zeigte er seine Freude, als Harkym einen Tag später dann doch wieder ins Kinderhaus kam. Der
Junge aus Nodher veränderte sich. Er wurde fröhlicher, ausgelassener und viel, viel gesprächiger. Bis auf ein paar Jungen, die ihn eifersüchtig als Eindringling betrachteten, mochten ihn die Kinder und spielten gern mit ihm. Harkym begann, sein Leben wieder zu bejahen, doch noch immer weigerte er sich, an Tibra auch nur zu denken, geschweige denn, von ihm zu reden. Die Wunde in ihm blutete noch und er erlaubte keinem, an sie zu rühren. Am Abend weilte er mit Thyrian im Garten und ließ sich die vielen Pflanzen erklären, die hier wuchsen. Sie begegneten Bakaar. Der Priester kreuzte die Arme vor der Brust, verneigte sich tief von Thyrian, der keineswegs immer auf einem Kniefall bestand. Harkym löste sich von seinem Beschützer, trat nach vorn. "Geht's dir gut, Bakaar?" Fragend sah der Priester auf den Pala des Than und als dieser nickte, hob er das Kind auf die Arme. "Ich dachte schon, du hast mich vergessen, Harkym. Du siehst richtig gut aus. Gefällt es dir hier?" "Und wie." Harkym schlang die Arme um den Mann, der seit so vielen Jahren wie ein Freund zu ihm stand. "Ich muß dir so viel erzählen." Er plapperte fast ohne Unterlaß, erzählte von Andraag, den Kindern, der Siedlung, die er sah und so vielem anderen. Thyrian entfernte sich lächelnd. Es war gut, wenn der Knabe wenigstens einen kleinen Teil seiner Vergangenheit wieder beachtete. Irgendwann würde er dann sicher bereit sein, über alles zu reden, was ihn bewegte.
O
berhalb der Gastinseln wandelte sich das Bild der Küste Amarras, die nun nicht mehr als sanfter Strand die Brandung empfing, sondern schroffe Felsen bildete, gegen die die brausenden Wogen vergeblich anrannten. Die Wellen gingen hier höher. Es wurde schwieriger, den Katamaran zu lenken. Bisher stand Seymas unbeweglich vorn im Kanu, wandte Tibra den Rücken zu, schwieg und gab nur durch Handzeichen die gewünschte Richtung bekannt. Jetzt drehte er sich halb um. Er sah Tibra noch immer nicht an, als er den Ausleger des Katamarans mit den Augen fixierte und dann mit unglaublich schneller Bewegung auf diesen sprang. Seymas balancierte, bog sich und stand dann sicher wie auf festem Grund. Tibra hielt die Führleine fester. Ein kräftiger Windstoß, eine harte Bewegung des Segels würde genügen, um den Than ins Meer zu schleudern. Seymas lachte ihn an. In seinen wasserhellen Augen stand ein freudiges Erkennen. Er war nun fast dreissig Jahre alt und kannte keine Beschränkung, keine Einengung. Man nannte ihn den stärksten inkarnierten Geist und übergab ihm die gesamten Nebelreiche. Er liebte sein Amt, doch seine Pflichten betrachtete er als Spiel und mit Heiterkeit gestaltete er seine Tage. Die langen, goldblonden Locken wehten im Fahrtwind. Er sagte immer noch nichts. Nach geraumer Zeit sprang er zurück ins Kanu, wo er Tibra die Führleine aus der Hand nahm und ihn in den Bug des Kanus winkte. Er selbst blieb im Heck und lenkte ihr Gefährt.
Der Than deutete auf den Ausleger. Tibra schüttelte skeptisch den Kopf bei dieser Aufforderung. Er empfand die akrobatische Einlage des Freundes nicht als bewunderswert, sondern bei diesem Seegang eher als dumm und leichtsinnig. Seymas lachte vergnügt, als erriete er diese Gedanken. Tibra gab seinem Wünschen nach. Er sprang auf den Ausleger, bückte sich sofort und faßte mit beiden Händen nach dem Holz. Seymas lachte lauter. Langsam richtete sich der Magier auf. Es gelang ihm nicht, festen Stand zu erreichen. Der Katamaran ritt auf dem Kamm einer Welle. Eine kleine schaukelnde Bewegung genügte. Tibra rutschte ab, stürzte ins Meer. Seymas riß hart an der Leine. Das Gefährt schlug einen Bogen. Es dauerte geraume Zeit, bis es den Schwimmer erreichte und Tibra ins Kanu klettern konnte. Lachend lenkte der Than den Katamaran nun zur Küste, wo er wenig später eine kleine Bucht fand, an der sich gefahrlos das Land erreichen ließ. "Es ist schön, dich zu sehen, Tibra," grüßte Seymas, während er an Land sprang. "Es freut mich, obwohl du dein Gleichgewicht verloren hast." Der Magier zog mit ihm gemeinsam den Katamaran an Land. Ohne dieses Gefährt würden sie Schwierigkeiten haben, am nächsten Tag von hier wegzukommen. "Bei den hohen Wellen ist man kaum im Kanu sicher," brummte Tibra. "Auf den Seegang deines Lebens hast du freilich wenig Einfluß," spöttelte Seymas heiter. "Aber das innere Gleichgewicht ist deine Sache. Zieh die nassen Kleider aus." Tibra sah ihn mißmutig an. Seymas sprach gar nicht von seinem Sturz ins Meer, sondern nahm die Sache als Gleichnis und darin lag nun auch ein Vorwurf. Während er
die nasse Tunika abstreifte, entnahm Seymas dem Kanu ein Bündel und warf es ihm dann zu. Er hatte dem Freund passendere Kleidung gebracht. Die hellgrüne Tunika bewies die dritte Weihe, doch der bodenlange Umhang dazu stand eigentlich keinem Priester dieser Ebene zu. Seymas ehrte damit seit langem seinen Pala. "Thyrian hat mir schon gesagt, daß du wütend auf mich bist," gab Tibra nun gleichmütig zu. "Aber ich dachte nicht, daß es so schlimm sei, daß du mich gleich ertränken willst. Obwohl," fügte er nach kurzer Pause hinzu, "du hast mir einmal gesagt, daß ich Grund habe, dich zu fürchten, wenn du je zornig auf mich wirst." "Ich bin nicht wütend," versprach Seymas grinsend. "Und warum hast du mich dann gerufen?" "Damit ich es nicht werde." Der Than lachte. "Kränkt dich der Ruf? Ich habe dir erlaubt, jederzeit ungerufen zu kommen. Aber nie versprach ich dir, daß ich dich nicht rufen würde. Deine Erinnerung täuscht dich." Tibra sah ihn skeptisch an, was Seymas lauter lachen ließ. "Nein, ich berühre deinen Geist immer noch nicht," versprach er fröhlich. "Aber man sieht dir deine Gedanken förmlich an. Und nun sei nicht beleidigt, Tibra. Dort drüben wachsen reich tragende Beerensträucher. Hast du keinen Hunger?" Sie sättigten sich an der Fülle Amarras. Seymas plauderte vergnügt. Er wußte, daß er Tibra damit verwirrte, doch er schien sich darüber zu amüsieren und verlor kein Wort über den eigentlichen Anlaß des Rufes, der den Magier nach Amarra zwang.
A
m andern Morgen segelten sie noch ein ganzes Stück weit der Küste entlang. Die meiste Zeit lenkte Seymas selbst den Katamaran und er hielt das Segel dabei hart
vor dem Wind. Als er an Land steuerte, befanden sie sich weit entfernt von Amarras Haupthafen. Eine Siedlung lag vor ihnen. Der Than kümmerte sich nicht um seinen Freund, sondern widmete alle Aufmerksamkeit den Menschen, die hier lebten. Tibra blieb an seiner Seite. Er kannte dies alles schon; die tiefe Verehrung, die Seymas erfuhr, das unbedingte Vertrauen, das man ihm schenkte und die scheue Offenheit, die man ihm erwies. Der Than half, riet und beriet, gab Weisung, Lob und Anerkennung. Bei manchen Fragen verwies er an Thyrian oder versprach, daß sein Pala sich der Sache annähme. Meist aber traf er jede erforderliche Entscheidung ohne Überlegen und Zögern. Tibra hielt sich aus allem heraus. Genau das wurde auch von ihm erwartet. Sobald der Than seine Angelegenheiten regelte, würde er sich wieder ihm widmen. Eine Einmischung in sein Amt erlaubte er nie. Seymas sprach nicht von seinem Amt, als sie später durch hohe Wiesen gingen. Er plauderte vergnügt, erzählte von heiteren Erlebnissen und bezwang fast mühelos die angespannte Laune des Freundes. Am Abend endlich scherzte Tibra mit ihm, drängte die immer wieder auftauchenden trüben Gedanken an Harkym zurück und erwies sich als guter Gesellschafter. Ihr Weg führte durch eine kleine Sajik-Plantage. Den kräftigen Pflanzen war die kommende, sehr reiche Ernte schon anzusehen. Amarras Wein galt in den Nebelreichen als Köstlichkeit; nirgendwo konnte er süßer und schwerer gekeltert werden. "Du könntest ein Vermögen mit Sajik verdienen, wenn es mehr Plantagen gäbe. Alle Reiche wollen deinen Wein kaufen und empfinden es als ärgerlich, daß es so wenig davon gibt," erzählte Tibra. Seymas lachte auf.
"Soll ich dir ein Faß davon nach Minas schicken? Es ist genug da für mein Volk und meine Freunde. Du redest wie ein Kaufmann, Tibra. Wenn es nach Thyrian ginge, wäre halb Amarra eine Plantage. Er denkt wie du in mancher Hinsicht. Mir ist es lieber, wenn mein Land ein Garten ist." Fast versonnen strich er über eine kleine Blüte. "Für das Anlegen von Plantagen benötigt man meine Erlaubnis." Er lachte wieder. "In fast allen andern Dingen hat Thyrian aber freie Hand. Schließlich ist er der heimliche König Amarras." Frech zwinkerte er Tibra zu. Natürlich kannte er diese Bezeichnung des Freundes, der überall als der Mann galt, der Amarra regierte. Den Than hielt man als Priester für unübertrefflich, als Herrscher jedoch traute man ihm nicht all zu viel zu. Ihm fehlte die Würde, die Unnahbarkeit, der Ernst. Und er kannte Thyrians Qualitäten und wußte sehr genau, daß dieser Freund diesen Bereich seines Amtes sehr viel besser auszufüllen vermochte, als es ihm wohl je gelingen würde. So überließ er ihm die Macht gern. "Du weißt, daß meine Hauptaufgabe die Einheit der Reiche ist," fuhr er etwas nachdenklicher fort. "Man denkt, daß nur ich diese rein priesterliche Arbeit tun kann. Vielleicht stimmt es sogar. Was meinst du, was geschieht, wenn ich mir diese Aufgabe mit Thyrian teile?" "Das kann ich nicht beurteilen," gab der Magier zu. "Vermutlich dasselbe, als wenn ich mit Thyrian gemeinsam Amarra regieren wollte," meinte Seymas leichthin. "Es wäre nicht richtig getan. Jeder muß nach seinen Fähigkeiten leben." Und dann sprach er nicht mehr erlaubte kein weiteres Wort darüber.
O
von der Arbeit und
rales aus Moras lebte seit vielen Jahren in Burg Nodher. Er war Pala Aristons, doch er vergaß nie, daß er auch
Priester war. Ehe er Ariston begegnete, lebte er als Falla des Lichts in seinem Heimatland. Manches Mal nahm er sich die Zeit, für einige Tage den schwarzen Tempel aufzusuchen. Mit Gerrys verband ihn seit langem eine tiefe Freundschaft. Er schätzte den blassen Falla, dessen geistige Kraft er kannte. Als er zum Aufbruch rüstete, überredete er Gerrys und Nymardos, ihn zur Burg zu begleiten. Ariston würde sich freuen, diese Männer zu sehen. In der Burg speisten sie dann gemeinsam zu Abend. Außer Ilkonys weilte auch Ariston bei ihnen, doch nahm niemand sonst von der Herrscherfamilie an diesem Mahl teil. Es gab viel zu erzählen. Ariston hatte viele Fragen, den Tempel betreffend. "Mein König ist jederzeit willkommen, ein paar Tage im Tempel zu verbringen," meinte Gerrys endlich lächelnd. "Dein König hat deinen Tempel nie gesehen," mahnte Ariston. "Es war immer nur Raakis Priester, der in Raakis Tempel kam. Nach der Lichtwende werde ich, wie immer, auch deinen Tempel aufsuchen." "Wirst du dabei sein?" wandte sich der Falla an Nodhers Erbe. "Gewiß, wenn dir auch Cynara und Mercur willkommen sind." "Welche Frage!" Gerrys freute sich über die Zustimmung. "Es wird dich ein wenig deiner Arbeit entführen. Man spürt, daß sie dich belastet." "Nicht mein Amt," wehrte Nodhers Erbe düster ab. "Und was beschäftigt dich dann?" erkundigte sich der Falla vorsichtig.
Ariston gab die Antwort: "Bei der letzten Versammlung vor einigen Tagen gab es Zwist mit dem Pecha von Minas. Außerdem hat Changanar Harkym gesagt, daß Tibra nicht sein Vater ist. Harkym lief weg. Es gab Streit zwischen dem Magier und Ilkonys. Tibra wurde nach Amarra gerufen. Das ist schon alles, Freund." "Wo ist Harkym?" forschte Gerrys angespannt, der nun an den Schmerz dachte, den Tibra empfand, als sein Sohn nach Wyla entführt wurde. "Er ist inzwischen gefunden und wohl sicher auf Amarra geborgen," erwiderte Ilkonys. "Zumindest erhielt Mercur diese Nachricht durch seinen Rapport." "Mercur steht mit einem Freund dort in Rapport," sagte Nymardos nachdenklich. "Wenn er diese Botschaft erhielt, so muß sie eine Anweisung des Thans gewesen sein." "Oder Thyrians," ergänzte Gerrys. "Tibra wurde wirklich gerufen?" Ilkonys nickte. Er erzählte von seinem Kampf mit dem Freund und davon, daß der Ruf in dem Moment geschah, als er nach Degen verlangte. Gerrys warf Nymardos einen unglücklichen Blick zu, sah dann wieder Ilkonys an. "Das ist übel," befürchtete er. "Auch ich habe mich einmal gegen dich gestellt und wurde deshalb nach Amarra gerufen. Ich werde nie die Demütigung vergessen, die Seymas mir deshalb antat." "Das kann aber doch Tibra nicht passieren," hoffte Nodhers Erbe. "Er ist Seymas' Freund. Und er ist kein Falla." "Aber er ist Pala des Than," wandte Nymardos ein. "Von ihm kann solches Verhalten noch viel weniger geduldet wer-
den." "Welches Verhalten?" Ilkonys schien ärgerlich. "Ich habe ihn angegriffen. Wir haben uns geprügelt." Er starrte Gerrys finster an. "Das wollte ich damals mit dir auch tun. Es hätte uns beiden geholfen. Seymas wird daraus nicht gleich wieder eine große politische Sache machen. Nymardos, was denkt ihr?" "Ich kann es dir nicht sagen," gab der zu. "Seymas war mein Schützling, als ich als Than herrschte und danach ein enger Freund. Aber das ist lange her. Heute kann ich ihn nicht mehr einschätzen. Ich weiß nicht, was er tun wird. Ich hätte es früher für unmöglich gehalten, daß er Gerrys öffentlich demütigt. Ich halte es eigentlich auch für unmöglich, daß er dies mit Tibra tut. Aber ich weiß es nicht. Solange Tibra der einzige Mensch war, der das magische Werk, das Miska schafft, wenden konnte, war er wohl völlig sicher. Jetzt beherrscht auch Farrak diese Kunst. Letztlich darf Seymas einem Pala nicht erlauben, einen Herrscher anzugreifen." "Und was kann er mit ihm tun?" "Alles," kam die lakonische Antwort. "Hast du noch immer nicht begriffen, daß es für ihn keinerlei Grenzen gibt?" Ilkonys schwieg. Er wußte, was damals mit Gerrys geschah und er wollte einfach nicht glauben, daß dies auch Tibra widerfahren könne. Da aber Nymardos es für möglich hielt, mußte damit gerechnet werden. Als ob es nicht schlimm genug wäre, daß der Freund das Vertrauen seines Sohnes verlor.
I
n der Nacht, als sich die Gäste zur Ruhe begaben, ließ er Mercur zu sich rufen. Der Freund hatte schon geschlafen und zeigte sich entsprechend übellaunig.
"Du wirst richtig wütend sein, wenn du hörst, was ich von dir will," behauptete Ilkonys fröhlich. "Ich möchte Tibra helfen und deshalb sollst du deinen Repport nach Amarra beleben. Nodhers Erbe bittet darum, gerufen zu sein. Übermittle diesen Wunsch." "Das meinst du nicht wirklich," hoffte der Priester. "Es ist nicht erlaubt, den Rapport eigennützig zu beleben." "Du hast es schon einmal getan," erinnerte der Freund. "Damals wolltest du Tibra helfen. Soweit ich mich entsinne, hat Amarra dich deshalb nicht getadelt, sondern gelobt. Ich wünschte, du hättest danach nicht begonnen, Tibra so offen abzulehnen." "Ich kann nicht vergessen, daß Talima ihm gehörte und er alles mit ihr tun durfte." "Aber nichts mit ihr tat," rief Ilkonys fast zornig. "Und er gab sie frei. Du hast Grund, ihm dankbar zu sein. Ich will nun nicht mit dir streiten. Tue einfach, was ich verlange." Da Mercur trotzig schwieg, erkundigte er sich schließlich: "Soll ich Nymardos bitten? Er kann den Than selbst erreichen und wenn er das übel nimmt, hat er Grund dazu. Dein Rapportbruder wird nur Thyrian sprechen können." "Ich werde deinen Wunsch erfüllen," versprach Mercur da. "Aber ich tue es nicht gern, Ilkonys. Man wird mich tadeln dafür. Außerdem wird der Than deinem Wunsch nicht entsprechen. Wenn er dich sehen wollte, wüßtest du es bereits. Du kannst nicht einfach darum bitten, gerufen zu sein." Mercur versuchte noch in der Nacht, den Rapport zu schließen, hatte jedoch keinen Erfolg damit und begann den Ruf darum am Morgen erneut. Dieses Mal fand sein Geist Antwort. Er übermittelte die Botschaft, wartete dann auf Antwort. Erst am Mittag verspürte er selbst den Ruf, der
aber noch keine Antwort brachte. Anscheinend wollte Amarra Näheres wissen. Drei Stunden später dann wurde der Rapport von Amarras Seite aus erneut belebt. Mercur suchte den Freund im Garten auf, wo er mit seiner Familie und den Gästen weilte. Ilkonys lachte, als er sein betretenes Gesicht sah. "War es so schlimm?" erkundigte er sich offen. Da er anscheinend vor den Gästen hierüber keine Geheimnisse wollte, lagerte sich Mercur zu ihm und erzählte: "Ich habe deinen Wunsch am Morgen übermittelt. Am Mittag wollte man wissen, wie du auf diesen Gedanken kommst und wer bei dir ist. Ich vermute, mein Rapportbruder hat ein paar Stunden gebraucht, ehe er zu Thyrian gelangte." "Und wie ist die Antwort?" "Du bist Thyrian willkommen." Ilkonys stieß einen grunzenden Laut aus. Der Pala des Than hatte seinen Herrn also nicht über seine Bitte informiert, traf die Entscheidung aus sich selbst heraus und konnte damit nicht versprechen, daß Seymas ihn anhören wollte. "Was noch?" fragte er endlich. "Die Botschaft lautet: du bist mit deiner Gemahlin und Changanar auf Amarra willkommen, ebenso, wie es deine Gäste sind. Das ist alles." Nymardos und Gerrys sahen sich an. Es war über eineinhalb Jahre her, daß sie auf Amarra weilten. Damals wurde Gerrys zum Tempelbericht gerufen. Jetzt erlaubte Thyrian
ihre Begleitung und sie waren beide nicht sicher, ob die Reise ein guter Gedanke war. Doch Ilkonys freute sich sehr darüber, so daß sie schließlich einwilligten, mit ihm zu gehen.
S
eymas wußte noch nichts von alledem. Er streifte mit Tibra durch Amarra und zeigte ihm ohne viele Worte, wie er seinem Volk begegnete und welche Arbeit Thyrian hier tat. Der Magier versuchte nicht, den Anlaß des Rufes zu ergründen, der ihn nach Amarra brachte. Er genoß nun einfach die Nähe des Freundes, dessen Natürlichkeit und Heiterkeit. Es tat ihm gut, daß Seymas seine bedrückten Gedanken an Harkym nicht durch Worte vertiefte, sondern sie auf spielerische Art ihrer Schärfe beraubte. Der Than bestimmte den Weg und er lenkte den Schritt nun eine kleine Anhöhe hinauf. Von oben sahen sie auf einen sehr kleinen Rundtempel nieder. Frauenlachen drang zu ihnen. Nahe des Tempels standen einige Häuser. "Was ist das dort?" wollte Tibra wissen. "Antares' Reich," erwiderte wurde der Lichtgöttin geweiht."
Seymas. "Dieser
Tempel
"Ich sehe keine Kinder." "Du wirst auch keine Männer sehen. Das ist keine gewöhnliche Siedlung und es ist kein gewöhnlicher Tempel. Dort finden keine Rituale statt." Er lachte. "Das ist ein Ort, der Thyrians Macht entzogen ist. Diese Frauen erwecken das Licht in Moras' Sumpfkristallen und wenn sie ihr Werk taten, wurde aus einem trüben Quarz ein Flammender Kristall." "Darf ich das sehen?" "Aber natürlich. Die Siedlung, den Tempel und die Steine
kannst du sehen. Nur der Akt der Lichterweckung, der duldet uns Männer nicht." Er grinste. "Nicht einmal ich darf dabei sein. Also wundere dich nicht, wenn da unten alles etwas anders ist." Sie gingen zur Siedlung. Die Priesterinnen grüßen ihren Than ehrerbietig, doch nicht eine unterwarf sich und nur sehr wenige knieten nieder. Tibra staunte, doch er schwieg dazu. Diese Frauen besaßen alle die sechste und höchste Weihe. Sie sprachen mit Seymas, freuten sich über sein Hiersein. Und doch war es wirklich anders als in anderen Siedlungen, denn jede dieser Frauen benahm sich, als sei sie ihm völlig ebenbürtig. Es fehlte die unterwürfige Scheu, der verhaltende Respekt, die unterschwellige Ehrfurcht. Nachdem der Than seinen Begleiter vorstellte, zogen die Frauen auch Tibra mit ins Gespräch. Es gefiel ihm hier, weil er sich willkommen und gleichberechtigt fühlte. Sie wurden bewirtet, doch sie speisten nicht allein, sondern in Gesellschaft der Priesterinnen. "Ihr wollt unseren Tempel sehen, Pala?" begriff eine der Priesterinnen. "Kommt, ich zeige ihn euch." Sie führte Tibra ins Innere, zeigte ihm unerweckte Sumpfkristalle, erklärte mit einfachen Worten, wie diese Steinen von allen fremden Schwingungen gereinigt wurden und erzählte in wenigen Sätzen, wie sie mit ihren Freundinnen in gemeinsamem Wirken dann das Licht in diese Kristalle band. Schließlich führte sie ihn zu den erweckten Steinen. Tibra staunte. Er sah Flammende Kristalle aller Größen, aller Formen und von verschiedenster Leuchtkraft. Form, Größe und Leuchtkraft hatten dabei nichts miteinander zu tun. Große Steine konnten schwach leuchten und kleine Kristalle hell erstrahlen. Ein Kristall von der Form einer Doppelpyramide, kaum größer als Tibras Daumen, leuchtete ungewöhnlich stark. Der Magier streckte die Hand nach ihm aus, griff dann aber doch
nicht zu. Die Frau lächelte, als sie ihm den Kristall reichte. "Alle Kristalle gehören unserem Gebieter. Ihre Erweckung ist unser Dank für sein geistiges Wirken. Er bringt den Reichen die Einheit, wir bringen ihnen das Licht. Unser Gebieter hat gewiß nichts dagegen, wenn ihr einen der Kristalle näher betrachtet." "Es ist erstaunlich, daß ein so starker Geist in einem so kleinen Stein Raum findet," murmelte Tibra, der fasziniert das Licht betrachtete. "Wir binden unseren Geist nicht in die Kristalle," lächelte die Priesterin. Tibra sah auf, blickte sie offen an. "Ich meinte den Geist des Steines," erwiderte er freundlich. "Ihr erweckt wohl seine Kraft und die Stärke des Lichtes entspricht seiner Größe, nicht der des Minerals." Zu seinem Erstaunen kreuzte die Frau nun die Arme vor der Brust und verneigte sich tief vor ihm. "Man erzählt sich, daß ihr kein starker Priester, sondern Magier seid, Pala. Nun erkenne ich die Weisheit eures Geistes und danke den Göttern, daß eure Freundschaft unserem Herrn gehört. Nur wenige gestehen selbst einem Stein Geist zu." Tibra hielt den kleinen Flammenden Kristall weiter in der Hand, doch er trat nun zu den unerweckten Steinen. Mit geöffneter Handfläche strich er über die Steine. Schließlich lächelte er und sortierte drei Kristalle aus. "Es ist richtig," sagte er, "ich bin Magier und gewiß kein starker Priester. Der Geist der Dinge ist mir deshalb wohl vertrauter als jenen, die ihn nur im gleich Gearteten
sehen wollen. Seht diese Kristalle. Sie werden besondern hell leuchten, wenn ihr die Kraft ihres Geistes erweckt." Überrascht betrachtete die Frau die Steine, sah dann argwöhnisch zu ihm. Im Vorfeld war es den Priesterinnen nie möglich, die Stärke des noch unerweckten Lichtes zu erkennen. Dieser Magier schien zu den Steinen eine etwas andere Beziehung zu haben. Tibra trat ins Freie. Seymas lachte ihm entgegen, wartete, bis er zu ihm kam. Die Priesterin begleitete den Magier noch immer. "Verzeiht," wandte sich Tibra an die Frau, "ich wollte euch den Stein nicht entführen." Mit diesen Worten wollte er ihr den kleinen Kristall zurück geben, doch Seymas schüttelte sacht den Kopf und da griff die Priesterin nicht zu. "Wenn du bereit wärest, deinen eigenen Geist in einem Stein zu zentrieren," mahnte der Than mit erster Stimme, "dann gäbe ich dir einen Lebenden Kristall, Tibra. Behalte wenigstens den, den du hast, da er dir ja schon gefällt." Die Priesterin schien sehr erfreut zu sein, als sie die Worte vernahm. Sie brachte Tibra einen kleinen schwarzen Beutel, in dem er den Flammenden Kristall verwahren konnte. "Antares wird euren Weg erleuchten, Pala," sagte sie dabei feierlich.
I
m Weitergehen erklärte ihm Seymas dann, daß dieser Gruß nur wenigen Menschen gegeben wurde. Er wollte wissen, wodurch der Freund so großen Eindruck hinterließ und lachte herzlich, als er den Grund erfuhr. Tibra betrachtete dabei fasziniert die Lichtfülle des kleinen Steines. "Was ist der hier wohl wert?" wollte er wissen.
"Willst du ihn verkaufen?" Seymas lachte. "Wehe dir, Tibra. Ich möchte schon, daß du mein Geschenk behältst." "Ich hatte nichts anderes vor," versicherte der Freund rasch. "Das ist gut. Du hättest ohnehin fünfhundert Solare dafür bekommen."
nicht mehr als
"So viel?" Tibra blieb stehen, was Seymas erneut ein herzliches Lachen entlockte. Der Wert der Flammenden Kristalle richtete sich nach ihrer Lichtfülle. Für den kleinen Stein, den Tibra hielt, mußte ein einfacher Mann über zwei Jahre arbeiten. Er stellte durchaus ein kleines Vermögen dar. "Sage mir, Seymas, wieviel Flammenden Kristallen?"
verdient
Amarra mit den
"Du stellst Fragen," erwiderte Seymas amüsiert, während er den Weg wieder aufnahm. "Woher soll ich das wissen? Ich bin kein Buchhalter." "Dann sei froh, daß du niemandem Rechenschaft schuldig bist," grinste der Magier, den die eigentliche Zahl nicht wirklich interessierte. "Warum? Ich bin sicher, Thyrian führt genau Buch und wenn ich solche Dinge wissen wollte oder müßte, dann könnte er sie mir an einem Abend alle sagen. Ihm machen solche Dinge Spaß; sie gefallen ihm. Mich würden sie nur belasten und vermutlich sogar langweilen." Tibra wurde schweigsam. Seymas warf ihm einen Seitenblick zu, lächelte befriedigt und gönnte ihm einige Zeit der Stille. Der Magier zog Vergleiche. Aniela war ein wenig wie Thyrian. Auch sie fand Gefallen daran, mit Zahlen,
Vorschriften und Regeln umzugehen. Ihn belastete dies. Er würde viel lieber wie Seymas sein Land, Minas, um der Menschen Willen führen und nicht an Ergebnisse denken.
S
eymas hatte Tibra zu einer Siedlung gebracht, ihn dort aber allein gelassen. Das gab dem Magier Gelegenheit, mit den Menschen hier anders, offener und vertrauter zu reden. Sie erzählten recht freimütig, wie der Than mit seinem Pala Thyrian vor einigen Wochen hierher kam und wie selbstsicher und konsequent Thyrian manche Neuerung durchführte, während Seymas sich fast wie ein Gast verhielt und auf unbemerkte Art manche Härte abschwächte, ohne den Freund darin jedoch zu beschränken. Die Menschen, das merkte Tibra an jedem Wort, liebten beide, den Than und ihren heimlichen König. Als Seymas ihn am Morgen weckte, sagte er darum grinsend: "Falls du mich wegen Minas gerufen haben solltest, dann habe ich meine Lektion gelernt." Seymas lachte heiter. "Ich habe doch kein behauptete er vergnügt.
Wort
über Minas verloren,"
"Seltsamerweise habe ich in den letzten Tagen aber nichts anderes gehört." "Dann ist es gut," meinte Seymas nur. Beim Frühmahl erklärte er dann aber doch: "Aniela ist eine wunderbare, starke Frau. Sie kann Minas leiten; sie hat das auch gelernt. Du kannst in Minas durchaus glücklich sein, wenn du aufhörst, dich dafür aufzureiben."
"Also war Minas der Grund?" "Für den Ruf? Nein, du warst der Grund, Tibra. Ich wollte nicht weiter still mit ansehen, wie du alles zerstörst, was dir jemals wichtig war." "Wichtig war mir immer nur Harkym," brummte der Magier da mißmutig. "Früher schon." Seymas sah ihn liebevoll an. "Du warst fast schon eine Legende, Tibra. Man sprach darüber, wie zärtlich und geduldig du deinen Sohn überall hin mitgenommen hast, wie du stets Zeit für ihn hattest, alle seine Wünsche beachtetest und er dir nie zuviel wurde. Vor zwei, drei Jahren hätten Changanars dumme Worte Harkym nur erheitert. Sein Dada war schließlich immer für ihn da. Er hatte keinen Grund, an deiner Liebe zu zweifeln." "Vor zwei, drei Jahren hat er mich noch durchgehend gebraucht," brummte der Magier da. "Von einem Fünfjährigen kann man wohl erwarten, daß er sich ab und zu selbst beschäftigt." "Denkst du das wirklich?" wollte Seymas lächelnd wissen. "Die Pflichten, die Arbeit... da kann man nicht immer ein Kind um sich haben," schränkte Tibra ein. "Ich dachte, er versteht es." "Er hat es schon verstanden," behauptete der Than, der Harkym seit fast einem Jahr nicht mehr sah. "Er verstand, daß zu der Zeit, als Aniela und eure gemeinsamen Kinder in euer Leben kamen, er immer unwichtiger wurde. Einen anderen Zusammenhang kann er nicht sehen." "Ich werde es ihm erklären." Seymas warf ihm einen langen Blick zu.
"Er will dich nicht sehen." "Jetzt nicht, aber in ein paar Wochen freut er sich wohl darauf. Er muß erst seinen Schmerz überwinden." Der Than schwieg dazu. Erst, nachdem die Siedlung schon ein ganzes Stück hinter ihnen lag, ergriff er wieder das Wort. "Harkym verbringt viel Zeit im Kinderhaus. Er fand dort Freunde seines Alters, spielt mit den Kleineren, lernt von den Größeren. Es gefällt ihm. Aber er lebt nicht dort, Tibra. Er lebt bei Thyrian." Der Magier blieb stehen. Unwillkürlich zog er etwas den Kopf ein. Was Seymas da andeutete, konnte einfach nicht der Wahrheit entsprechen. "Thyrian hatte Mitleid mit ihm," fuhr Seymas mit leiser Stimme fort. "Die Angst und der Schmerz des Verlassenseins haben in Harkym tiefe Wunden gerissen. Thyrian will ihm helfen. Und inzwischen liebt er deinen Sohn und denkt über einen Weg nach, ihn dauerhaft in seiner Nähe zu halten. Es ist genau das, was Harkym will." "Thyrian sollte mir Harkyms Liebe gestohlen haben?" "Liebe kann man nicht stehlen, Tibra. Man kann sie gewinnen und verlieren. Du hast sie verloren, irgendwann in Minas. Und Thyrian hat sie gewonnen als der einzige Mensch, dessen Nähe Harkym wirklich wollte." "Du wirst es nicht zulassen," hoffte Tibra. Seymas griff nach seiner Hand, hielt sie sanft in der seinen. "Ihr seid beide meine Freunde," versicherte er mit bewegter Stimme. "Aber wenn ich wählen muß, dann ist Thyrian mir wichtiger. Das geht nicht gegen dich, Tibra. Doch
Thyrian ist immer um mich und in seinem Sein ist er mir unendlich viel näher, als du es je sein wirst. Harkym ist ein Tempelkind und damit gehört er mir. Ich entscheide nichts gegen seinen Willen, aber ich werde Thyrian immer in allem nachgeben, das nicht mein Amt betrifft." "Thyrian ist auch mein Freund," murmelte Tibra erschüttert. "Ich weiß wohl, daß er mich nicht verletzen will. Bitte, laß mich einige Zeit allein." Seymas nickte, entzog ihm die Hand und trat dann einen Schritt zurück. Da verließ der Magier den Weg, ging querfeldein weiter und achtete nicht einmal auf seinen Schritt. Seine Gedanken überschlugen sich. Er überdachte sein Leben, vor allem die letzten drei Jahre und er mußte mit brutaler Klarheit erkennen, wie sehr er sich in dieser Zeit veränderte. Nicht er beherrschte Minas, Minas beherrschte ihn. Zuvor war ihm wirklich Harkym das Wichtigste im Leben. Er schleppte den Kleinen ständig mit sich herum, zeigte ihm die Welt, ließ ihn ihre Wunder entdecken und achtete ohne Unterlaß auf ihn. So viel Nähe empfing Antaya niemals. Und Uhray wußte nicht einmal, wie es war, in den Armen des Vaters aufzuwachen. Natürlich widmete er den Kindern Zeit, aber eben nur jene Zeit, die er erübrigen konnte und das war wenig genug. Er wünschte, Seymas hätte ihn zwei Jahre früher gerufen und ihm seine Art der Machtausübung gezeigt. Aber vermutlich wäre er damals für diese Lektion noch nicht bereit gewesen. Er dachte an Thyrian. Der Freund hatte keinen Bezug zu Kindern. Wenn er mit Harkym nach Amarra kam, so beachtete er den Kleinen kaum. Das mußte sich geändert haben. Tibra atmete tief durch. Vermutlich konnte Harkym gar nichts Besseres passieren, als in der Obhut dieses Mannes aufzuwachsen. Er würde damit leben müssen und durfte bestenfalls hoffen, bei seinen Besuchen hier den Sohn irgendwann wie einen Freund zu sehen. Doch Antaya und Uhray blieben ihm, ebenso Aniela und das Kind, das sie in sich trug.
Für diese Menschen mußte er sein Leben ändern. Tibra war weit gelaufen. Nun blieb er stehen, lagerte sich ins Gras und grübelte weiter. Nach geraumer Zeit kam Seymas zu ihm, kniete an seiner Seite nieder. Forschend betrachtete er den Freund. "Ich kann es tragen," zerstreute Tibra seine Bedenken. "Aber ich will zumindest mit Thyrian reden dürfen, um sicher zu sein, daß es wirklich Harkym so will und den Kleinen nicht nur Enttäuschung treibt. Wann gehen wir zurück zum Tempel?" "Wir sind schon auf dem Weg," versprach der Than, sprang auf und zog den Freund auf die Beine. "Ich wollte, daß du zuerst verstehst, wie du in Minas leben sollst." "Zuerst? Was meinst du? Bevor ich Thyrian sehe?" "Nein, bevor du Ilkonys siehst." Seymas lachte erheitert. "Habe ich dir nicht gesagt, daß er darum bat, gerufen zu sein? Er wird warten müssen, denn wir haben noch weit zu gehen und er ist schon unterwegs." "Was will er denn?" wunderte sich Tibra nachdenklich. "Fürchtet er, ich will über dich Changanar schaden?" "Warum sollte ich seinen Sohn bedrohen?" "Er ist ein Tempelkind wie Harkym." "Er ist Ilkonys' Sohn," behauptete Seymas spitzbübisch. "Beachte sein Alter, Tibra. Er könnte Nodhers Erbe sein." "Ilkonys' Tempelsohn, den er hier zeugte? Das weiß er aber nicht. Darf er es nicht wissen?" "Du weißt es auch nicht," erwiderte Seymas amüsiert. "Ich
sagte: er könnte es sein. Denke nicht so abwertend über ihn, Freund. Du weißt nie, welcher Geist in einem Menschen lebt. Vielleicht wird Changanar Nodhers Erbe, vielleicht auch nur ein kleiner Priester. Das ist nicht zu wissen. Harkym erscheint dir besonders. Aber womöglich verbringt er sein Leben mit Nebensächlichkeiten. Du bist auch nur der Sohn eines einfachen Landmannes. Niemand hätte vor vielen Jahren geglaubt, daß du der stärkste Magier, Pala des Than und Pecha von Minas wirst. Wenn du den Geist schon nicht erkennen kannst, so achte wenigstens jeden als unbegrenzt." "Ist Changanar Nodhers Erbe?" drängte Tibra. "Er ist ein kleiner Junge," lachte Seymas. "Mehr mußt du nicht wissen. Und sein Vater ist dir ein treuer Freund, der nach Amarra kommt, um dir zu helfen." "Mir helfen? Vor dir?" "Gerrys und Nymardos besuchten die Burg," erzählte Seymas, was er über Thyrian erfuhr. "Es gab wohl Erinnerungen an die Zeit, als Gerrys Ilkonys bedrohte und nun fürchtet der Prinz, ich könne dir euren Zwist ebenso verübeln." Er grinste. "Dummerweise hat aber er dich angegriffen und ich kann natürlich auch nicht erlauben, daß ein Herrscher meinen Pala mißachtet." "Willst du ihm dann nicht auch gleich verbieten, mich auf Pecha-Versammlungen zu demütigen?" grinste Tibra. "Erzählst du mir davon?" Der Magier lachte. Er war es nicht gewohnt, daß Seymas über irgend etwas, das ihn interessierte, nicht informiert war. Aber der Freund achtete seinen Wunsch und berührte seinen Geist nicht. Das Geschehen der Versammlung würde er Ilkonys' Geist entnehmen können, doch den sah er ja noch nicht. Tibra erzählte ausführlich; nicht nur von der Versamm-
lung, sondern von allem, was sich auf der Burg zutrug. "Ich sollte Ariston wieder einmal rufen," bemerkte Seymas nachdenklich, nachdem Tibra endete. "Sein Verhalten ist mehr als lobenswert und wenn er mit Orales und Cynesta einige Zeit auf Amarra weilt, wird er mehr Erholung und Freude finden, als wenn er seinen ungestümen Sohn überwachen muß." "Ich denke, das würde ihm gefallen. Du wirst Ilkonys nicht tadeln, nicht wahr? Ich möchte nicht, daß er beschämt wird." "Wofür tadeln? Weil dich angefahren hat? Das hast du verdient, mein Freund. Du bist bisher ein miserabler Pecha gewesen. Er hat mehr von dir erwartet und ist nicht zu Unrecht enttäuscht." Er lachte. "Sei froh, daß du einen solchen Freund hast." "Das bin ich," versprach Tibra aufrichtig. "Das ist gut. Trotzdem hat er dich mehr als einmal angegriffen." "Na und?" Tibra blieb gelassen. "Ich ziehe aufrichtigen Zorn falscher Zurückhaltung vor. Wenn Ilkonys in mir nur noch deinen Pala sieht, verliere ich dabei. Daß er hierher kommt, um mir zu helfen, das zeigt doch wohl deutlich genug, wie er zu mir steht. Es ist nicht nötig, ihm in Bezug auf mich Vorschriften zu machen." "Wenn du das denkst," meinte Seymas heiter, "dann solltest du etwas schneller gehen. Ich hab das schon verstanden, aber ich bin nicht sicher, ob Thyrian es auch so sieht. Außerdem hat Ilkonys seine Gemahlin und Changanar bei sich und zumindest dem Jungen wird Thyrian wegen Harkym nicht gerade wohl gesonnen sein."
Tibra ging nun tatsächlich rascher, was Seymas ein leises Lachen entlockte. Wenn es notwendig wäre, Thyrian auszubremsen, so würde er ihn durchaus im Geist erreichen können. Doch der Magier kam nicht einmal auf diesen Gedanken.
T
hyrian nahm Harkym mit auf den Weg zum Hafen. Am Horizont war ein Segel gesichtet worden und dies konnte nur Nodhers Schiff sein. Der Pala des Than wollte die Gäste begrüßen. Dies gehörte zu seinen Aufgaben, zumal zumindest Ilkonys als hoher Besuch einzustufen war. Ein paar seiner Leute begleiteten ihn, um bei Bedarf seine Weisungen auszuführen. "Ich mag immer bei dir sein," schmeichelte der Knabe. "Das wirst du," versprach Thyrian bewegt. "Du schickst mich wirklich nie mehr fort?" vergewisserte sich Harkym, der nun nach Thyrians Hand faßte. "Du bleibst bei mir, solange du es willst. Und du hast keinen Grund, Changanar zu fürchten." "Changanar ist böse," brummte Harkym. "Er ist nur dumm," lächelte Thyrian. "Er weiß noch nicht, was er sagt." Harkym blieb stehen, hielt den großen Freund aber fest. Nachdenklich sah er den Pfad zurück. "Andraag ist nett," sagte er schließlich. "Die Kinder dort sind alle nett. Warum will sie niemand haben, Thyrian?" "Wie kommst du nur auf diesen Gedanken?" Thyrian
war
hoch
erfreut.
Endlich
schien
Harkym von
Changanars Vorwürfen reden zu wollen. Er winkte seinen Begleitern zu, damit diese weiter zum Hafen gingen. Dann führte er den Knaben vom Weg, um sich wenig später mit ihm zwischen blütenüberladene, halbhohe Sträucher zu lagern. "Weißt du denn schon, wo die kleinen Kinder herkommen?" erkundigte er sich, während er Harkym an seine Seite zog und den Arm um ihn legte. "Sie wachsen in Aniela," erklärte Harkym, als sei dies die natürlichste Sache der Welt. "Und warum?" Harkym überlegte. Dann fiel ihm die Antwort ein: "Dada sagt, er hat Aniela lieb. Und wenn jemand jemand ganz arg lieb hat, dann kommt ein Baby, das auch lieb haben will." "Das ist richtig," lobte Thyrian sacht. "Kinder kommen zu ihren Eltern, weil sie sie kennen und, meistens zumindest, auch lieben. Aber manchmal, da will jemand leben und kennt keinen, den er lieben will. Andraag und die anderen Kinder, sie kamen, weil sie es wollten. Alle Tempelkinder tun dies." "Was ist ein Tempelkind, Thyrian? Gehört das dem Tempel?" "Kein Mensch gehört jemandem. Antaya gehört nicht Aniela und Tibra. Sie hat ihre Eltern lieb und kam deshalb zu ihnen. Aber sie gehört nur sich selbst." "Und Tempelkinder haben die Tempel lieb? Ich mag den Tempel auch."
Thyrian hielt ihn nun etwas fester, als er sanft erwiderte: "Das weiß ich, Harkym. Auch du bist ein Tempelkind." Der Kleine hielt still, atmete kaum. Ganz langsam hob er den Kopf und sah Thyrian an. "Wie Andraag?" Thyrian nickte. "Warum bin ich dann nicht im Kinderhaus?" "Das war ein Versehen." Thyrian wollte den Kind jetzt nicht erklären, daß seine Mutter bei seiner Geburt starb. "Tibra hat dich wirklich gefunden. Ein Tempelkind kommt nicht ins Leben, weil es jemanden lieb hat. Aber es kann anderen Menschen begegnen, die es dann sehr, sehr liebt." "Bist du auch ein Tempelkind, Thyrian?" "Das bin ich." "Bist du traurig deshalb?" "Aber nein." Thyrian lächelte. "Ich habe es so gewollt. Das will ein Mensch, bevor er geboren wird. Du hast es auch gewollt." Für Harkym war das im Moment nicht so wichtig. "Changanar hat gesagt, ich darf nicht in den Tempel." "Er weiß wohl nicht, daß du ein Tempelkind bist und dir jeder Tempel offen steht." "Er hat auch gesagt, ich muß vor ihm knien," murmelte Harkym, dem dieser Gedanke gar nicht gefiel. "Muß ich das wirklich?" "In
Nodher
darf er das fordern, wenn Ilkonys es nicht
hindert," gab der Pala des Than zu. "Aber auf Amarra hat niemand Macht außer dem Than." Harkym atmete auf. "Dann ist es gut," stellte er fest. "Ich darf ja bei dir bleiben und muß nicht mehr nach Hause gehen. Muß ich vor dem Than knien?" Als Thyrian nickte, fügte er etwas furchtsam hinzu: "Da mach ich bestimmt alles falsch. Dann ist er böse mit mir." "Er wird dich lieben," versprach Thyrian mit leisem Lachen. "Ehe er kommt, zeige ich dir, wie du ihn begrüßen mußt." "Versprichst du es?" forschte Harkym etwas bang. "Läßt du mich dann auch nicht allein?" "Du wirst nie allein sein, solange du es nicht willst," versprach Thyrian ernsthaft. "Ich werde immer für dich da sein, Kleiner." Harkym schlang die Arme um ihn, küßte ihn feucht und intensiv. "Ich hab dich lieb, Thyrian." Der Mann hielt das Kind fest, schloß bewegt die Augen dabei und dachte daran, daß alle Macht, die er besaß, diese Kindesliebe nicht aufwog. Er fühlte sich reicher denn je.
C
ynara atmete tief durch. Den Duft Amarras hatte sie seit Jahren vermißt. Für sie war es wie eine Heimkehr, als sie mit den anderen das Schiff verließ. Ilkonys gab den Seeleuten Anweisung, zurück nach Nodher zu segeln. Sie sollten nicht auf ihn warten. Da der Than über sein Kommen vermutlich nicht einmal informiert wurde, mußte er wohl lange warten, bis er empfangen wurde. Falls Seymas über-
haupt bereit war, ihn zu sehen. Ihm erschien es jedenfalls höchst bedenklich, daß im Hafen zwar Priester auf sie warteten, doch weder Thyrian noch Caryll zu sehen waren. Als Nodhers Erbe durfte er höhere Begrüßung erwarten. Wirklich gekränkt war er jedoch nicht, denn er erkannte unter den Wartenden den Priester Sasaran, den er seit vielen Jahren kannte und durchaus auch schätzte. Sasaran verneigte sich tief, als er zu ihm trat. "Willkommen auf Amarra," sprach der Priester die Grußformel. Sein Blick erfaßte dabei auch Cynara, Nymardos und Gerrys, denen die Worte ebenso galten. "Es ist schön, euch zu sehen," erwiderte Ilkonys. "Wißt ihr, ob man mich empfangen wird?" Sasaran sah sich kurz suchend um, dann erklärte er: "Niemand mißachtet euch. Der Pala des Than war auf dem Weg zum Hafen. Er, nun, er wurde aufgehalten." Er sagte nicht, was Thyrian aufhielt, doch wenig später sahen sie den Pala nahen. Er führte Harkym an der Hand. Als der Kleine nun die Menschen, vor allem Changanar, sah, blieb er trotzig stehen. Thyrian neigte sich zu ihm, sprach mit ihm. Harkym schien sich zu wehren. Unwillkürlich griffen die Eltern nach Changanars Händen, hielten ihn fest, als brauche er Schutz. Thyrian winkte einen der Männer beiseite. Harkym nickte, lief dann zu ihm. Aus einiger Entfernung beobachtete der Knabe dann die Gäste. Thyrian trat nun zu ihnen. Ilkonys beschlich ein ungutes Gefühl. Der Pala des Than schien Tibras Sohn zu mögen und mußte deshalb einiges gegen Changanar empfinden. Langsam kreuzte er die Arme, kniete dann nieder. Cynara, Gerrys und Nymardos taten es ihm gleich. Staunend sah Changanar
die Eltern an. Thyrian lächelte. "Steht auf," verlangte er freundlich. "Ihr alle seid mir willkommen. Eure Gastquartiere sind vorbereitet und einige euch aus der Vergangenheit vertraute Menschen hoffen auf eure Gesellschaft. Das gilt für euch alle." Cynara hob er mit eigener Hand auf. "Deine Freundinnen sind schon begierig, alles über Nodher zu erfahren." "Ich danke, Herr," erwiderte sie ohne jede Scheu. "Es war sehr freundlich von euch, meine Begleitung zu erlauben. Ich freue mich sehr, hier zu sein." "Da bist du wohl die einzige," stellte Thyrian belustigt fest. Er führte die Gäste nun dem Pfad entlang. Seine Aufmerksamkeit galt vornehmlich Ilkonys und Cynara, wobei er vor allem mit der Frau sprach, deren Freude über ihr Verweilen auf Amarra ihm sehr gefiel. Ilkonys sorgte sich um Tibra, so war dessen ungutes Gefühl dem Pala des Than verständlich. Nymardos und Gerrys wußten wohl beide nicht, wie Seymas auf ihr Hiersein reagieren würde. "Unser Gebieter weilt derzeit nicht im Tempel," erklärte Thyrian gelassen. "Er weiß, daß wir kommen?" erkundigte sich Nymardos vorsichtig. "Er weiß immer, was er wissen muß," hielt ihm Thyrian entgegen. "Euer Freund Caryll freut sich zumindest sehr über euer Kommen und wird für die Dauer eures Aufenthalts keine Pflichten haben. Seine Zeit steht voll zu eurer Verfügung." "Ich danke euch," erwiderte Nymardos verblüfft, der diese Geste nicht erwartete und sehr genau wußte, daß dies Thyrians Verdienst war.
Sie erreichten den Tempelvorplatz, wo Thyrian den Gästen ihre Häuser zuwies. Jeder erhielt ein eigenes Quartier. Gerrys und Nymardos verabschiedeten sich, um sich in ihren Häusern nach der Reise nun zu erfrischen. Auch Cynara erhielt ein kleines Gasthaus. "Du bleibst bei deinem Vater," entschied Thyrian, Changanar nun zum ersten Mal beachtend. An Ilkonys gewandt, fuhr er fort: "Gönnt eurer Gemahlin ein paar Tage Ferien von Familie und Pflicht. Sie hat hier viele Jahre glücklich gelebt und sollte Zeit haben für ihre Freundinnen, ihre Freunde, für Tempeldienst und alles, was sie begehrt." "Ich gönne ihr jede Freiheit und jede Freude," versicherte Nodhers Erbe. Er sah auf den Knaben. "Bin ich von den Ritualen ausgeschlossen?" "Keineswegs. Changanar kann als Gastkind jederzeit im Kinderhaus verweilen, wenn ihr den Tempel aufsuchen wollt. Ihr werdet ihn kaum ohne Aufsicht lassen wollen." "Was erwartet unseren Sohn?" wollte Cynara da in aufkeimender Furcht wissen. Sie sah zu Harkym, der ihnen mit dem Priester folgte, jetzt aber nicht abseits wartete, sondern unweit entfernt mit dem Mann und einer Priesterschülerin spielte. "Das Kinderhaus war kein Befehl," lächelte Thyrian. "Ich habe euch Harkym auch nicht als Vorwurf gezeigt. Es ist nur so, daß der Knabe jetzt in meiner Nähe lebt, da er sich durch Tibra verraten glaubt. Die Wunde in ihm blutet noch. Haltet ihm Changanar fern. Mehr wird nicht erwartet." "Ihr wolltet, daß ich den Jungen mitbringe," erinnerte ihn Ilkonys düster. Thyrian
lächelte
nur
schweigend und verweigerte somit
jede Erklärung. Cynara sah Freundinnen von einst, lief ihnen nach kurzem Gruß an den Pala des Than entgegen und umarmte sie freudig. Ilkonys hob den Sohn auf die Arme. Da nickte ihm Thyrian zu und verließ ihn. Nodhers Erbe sah noch, wie Harkym zu ihm lief und freudig begrüßt wurde. Dann betrat er sein Gasthaus. Er fragte sich, ob es wirklich ein guter Gedanke war, nach Amarra zu kommen. Thyrian hatte nicht von Tibra gesprochen. Das konnte alles bedeuten. Der Freund befand sich in Sicherheit oder er wurde durch den Than sehr hart bedroht. Er hoffte, es bald zu erfahren. "Vater," riß ihn Changanar aus seinen Gedanken, "war das der Than?" "Wie?" Ilkonys hatte kaum hingehört. "Das war der Pala des Than." "Das ist doch Tibra." "Thyrian ist es auch. Seine Macht ist hier unbegrenzt, also gehorche ihm." "Ich muß niemand gehorchen. Ich bin ein Prinz." Ilkonys fuhr herum, faßte den Knaben hart bei den Schultern. "Sieh dich vor," schimpfte er. "Hier ist Thyrian ein König und du wirst ihm mit Respekt begegnen. Und nicht nur ihm, sondern jedem erwachsenen Menschen. Hast du das verstanden?" Changanar nickte zwar, doch er begriff nicht, weshalb der Vater sich so erregte. Er war doch Nodhers Herr und Nodher mußte in der Vorstellung des Kindes das größte aller Reiche sein. Amarra hielt er für eine kleine Insel. Changanar wußte noch nicht, daß das Reich des Than sich größer zeigte als das Königreich Khyon, seine Macht und sein Reichtum
aber unübertroffen blieben. "Hast du Harkym gesehen, Vater? Darf ich mit ihm spielen?" "Ich bezweifle, daß er mit dir spielen will," erwiderte Ilkonys düster, während er den Sohn wieder losließ. Er dachte an die Schwester, die ihre Kinder aus Changanars Nähe zog. "Du warst nicht sehr freundlich zu ihm." "Hat es hier auch andere Kinder?" "Sehr viele sogar," meinte Ilkonys nachdenklich. Vielleicht war es kein schlechter Gedanke, wenn der Sohn ohne jeden Machtanspruch mit anderen Kindern zusammen sein mußte. Am andern Tag brachte er Changanar ins Kinderhaus, um in der Stunde vor Mittag am Ritual der Kraft teilzunehmen.
M
ylena empfing das Gastkind, zeigte ihm die Gruppen im Garten und überließ ihm die Wahl, wem er sich anschließen wolle. Changanar sah sich neugierig um. Harkym befand sich nicht hier, was ihn doch etwas beruhigte. Die Kinder spielten und lernten. Es gab keine Vorschrift, welche die Zusammensetzung der einzelnen Gruppen bestimmte. Ganz kleine Kinder spielten mit Größeren, wenn sie dort geduldet wurden, doch meist schlossen sich Kinder desselben Alters zusammen. Changanar fühlte sich den Gleichaltrigen etwas überlegen, mußte aber schnell erkennen, daß die Größeren ihn nicht akzeptierten. So schlenderte er zu einigen Jungens, die zwischen drei und acht Jahren alt waren. "Wer bist du denn?" erkundigte sich ein größerer Knabe neugierig. "Bist du ein Gastkind oder bleibst du hier?" "Ich bin aus Nodher," erklärte Changanar selbstbewußt.
"Wie Harkym?" wollte da ein kleiner Junge wissen. Auch Andraag gehörte zu dieser Gruppe. Er legte den Kopf schief, musterte das fremde Kind und fragte dann arglos: "Du bist aber nicht Changanar?" "Doch, so heiße ich. Und wie heißt du?" Andraag gab ihm keine Antwort. Er lachte, während er in übertriebener Geste vor dem Gastkind niederkniete. "Was machst du denn?" wollte der Älteste wissen. "Changanar ist ein Prinz. Man muß vor ihm knien. Das hat er auch von Harkym verlangt." Die Kinder lachten. Für sie war es unsinnig, vor jemand anderem als vor hohen Priestern zu knien. Sie umringten Changanar, verspotteten ihn, knieten nieder, gaben sich unterwürfig und riefen durch ihr lautes Lachen andere Kinder herbei, die sich sofort diesem Spiel ergaben. Changanar weinte. "Was treibt ihr denn da?" wollte Mylena hinzutretend wissen. Da schwiegen sie alle und sahen betreten zur Seite. Nur Andraag gab Antwort: "Er will doch, daß man vor ihm kniet. Er hat das auch von Harkym verlangt und Harkym mag ihn nicht. Ich glaube, er ist schuld, daß Harkym manchmal weint." "Das ist kein Grund, daß so viele einen einzelnen beschämen," mahnte die Priesterin. Sie faßte Changanar bei der Hand. "Du kommst besser mit mir."
Mylena versuchte, das Gastkind in andere Gruppen einzugliedern. Doch unter den Kindern sprach sich sehr schnell herum, daß dieser fremde Junge Harkym kränkte. Und Harkym kannten sie schon. Sie wußten, daß er zwar still, aber freundlich war, daß der Pala des Than auf ihn achtete und daß er irgendwie zu ihnen gehörte. Changanar war fremd. Und er schien eingebildet zu sein. So wollte niemand mit ihm spielen und als Ilkonys ihn dann endlich holte, flüchtete er weinend in des Vaters Arme. Er beruhigte sich erst, als Ilkonys ihm versprach, daß er nicht wieder hierher kommen müsse. Dann erzählte er auch von der Ablehnung, auf die er traf und von seiner Verwunderung, weil jeder Harkym mochte und seine hohe Herkunft niemanden beeindruckte.
S
eymas und Tibra näherten sich dem Tempel. Der Magier erblickte Bakaar unweit entfernt, wollte ihn gern begrüßen. Seymas erspürte seinen Wunsch und verabschiedete ihn, ging allein weiter. Bald würden die Nebel sinken. Im Tempel klang soeben das Ritual der Weisheit aus. Als sich der Than schon weit näherte, kreuzte unvermittelt Gerrys seinen Pfad. Der Falla verhielt den Schritt. Er wußte nicht, ob er störte, doch da Seymas einfach stehen blieb, kreuzte er die Arme, kniete nieder und wollte sich ganz unterwerfen, was der Than jedoch durch eine rasche Bewegung verhinderte. "Du bist unruhig," stellte Seymas fest, während sich Gerrys erhob. "Warum?" "Ich bin nicht gerufen, Gebieter." "Aber doch durch Thyrian willkommen geheißen und damit ein gern gesehener Gast." Der Than lächelte. "Genieße es, ohne Anspruch an dich auf Amarra zu weilen." "Ihr erwartet keinen Bericht meines Tempels?" forschte Gerrys vorsichtig, da er wußte, daß ihm diese Frage nicht zustand. "Gewiß nicht." Seymas lachte. "Im Moment bin ich sehr zufrieden mit dir, Gerrys. Du hast also keinen Grund, besorgt zu sein. Wo ist Nymardos?" "Caryll gibt ein Fest für ihn," gab der Falla rasch Auskunft.
"Er hat die Menschen geladen, die früher in Nymardos' Nähe lebten. Wünscht ihr, daß ich ihn zu euch sende?" "Ich will ihn morgen oder übermorgen sehen und euer Fest nicht stören." "Herr..." Gerrys zögerte. "Ist es mir erlaubt, nach Tibra zu fragen?" "Mein Pala wird dich sicher bald begrüßen," versprach Seymas, wobei er das Wort Pala so nachdrücklich betonte, daß kein Zweifel an seiner Liebe zu dem Magier bestehen konnte. Der Falla atmete unmerklich auf. Er war froh, daß der Than ihn nun mit einem Kopfnicken entließ, denn es drängte ihn, Nymardos die gute Botschaft zu überbringen. Seymas ging weiter. Nahe des Tempels sah er Thyrian auf einem Stück freier Wiese. Der Freund hielt Harkym an beiden Händen fest, drehte sich rasch um die eigene Achse und wirbelte den Kleinen so durch die Luft. Beide lachten. Seymas sah einige Zeit hindurch unbemerkt zu. Selten sah er Thyrian so ausgelassen. Doch er war nicht der einzige, der das Spiel beobachtete. Priester warfen dem Pala des Than erstaunte, doch verstohlene Blicke zu. Ilkonys saß auf einer Bank vor seinem Haus, neben ihm Changanar und beide sahen sie ebenfalls in diese Richtung. Der Than lenkte den Schritt zu Nodhers Erben. Jetzt wurden sie alle auf ihn aufmerksam. Thyrians Hand lag auf Harkyms Schulter, als er zu seinem Freund blickte. Er kam aber nicht herbei. Ilkonys erhob sich hastig und kreuzte die Arme. Seymas winkte ab. Er wollte keine kniefällige Begrüßung. Langsam erhob sich Changanar. Mit großen Augen sah er den in glitzerndes Weiß gekleideten Mann an, der sehr fröhlich wirkte und dessen blonde Locken ihn sehr jung erscheinen ließen. Seymas betrachtete ihn kopfschüttelnd.
"Erwies dein Sohn dieselbe Respektlosigkeit auch meinem Pala?" wollte er von Ilkonys wissen, die Antwort schon kennend. "Gebieter," nahm Nodhers Erbe erschrocken den Sohn in Schutz, "er ist noch zu jung, um schon in die Regeln unterwiesen zu sein." "Du warst nur wenig älter, als du in Sion Nymardos begegnet bist und man hat mir berichtet, daß du dich durchaus zu benehmen wußtest. Hast du dich damals gefürchtet?" Ilkonys lächelte in der Erinnerung. "Ich war kaum sechs Jahre alt, Gebieter, und Nymardos verbannte eben Orales aus Nodher. Ich mochte ihn nicht und ich fürchtete mich sehr, aber ich war stolz, als er mich lobte." "Dein Sohn ist nicht warnte Seymas ruhig.
klug genug, um sich zu fürchten,"
Da trat Nodhers Erbe rasch hinter den Sohn, überkreuzte dessen Arme und preßte ihn auf die Knie. Changanars Augen füllten sich mit Tränen. "Genug für meinen Pala," blieb Seymas stur, "doch nicht genug für mich." Ilkonys preßte die Lippen zusammen, doch er wagte kein Widerwort. Fast behutsam zwang er den Sohn zu völliger Unterwerfung. Als Changanar längs vor Seymas am Boden lag, weinte der Kleine. Er fühlte sich nicht gedemütigt, doch mindestens ebenso verachtet wie von den Kindern Amarras. "Du bist hier, um Tibra zu helfen," wandte sich Seymas an Nodhers Erben, ohne das Kind zu beachten oder aus seiner Lage zu befreien. "Diese Haltung ehrt dich. Es wundert
mich nur sehr, daß du nicht einmal versuchst, deinen Edelmut und deine Treue auch deinen Sohn zu lehren. Das läßt mich zweifeln, ob ich dir weiterhin ein Tempelkind anvertrauen darf. Ich werde dich morgen zu mir rufen." Er nickte ihm grüßend zu und wandte sich ab, um nun endlich Thyrian zu begrüßen. Harkym und Thyrian hatten die Szene ja beobachtet. Als Ilkonys dem Sohn bei der Unterwerfung half, spottete Harkym leise: "Der ist aber dumm." Thyrian drückte nur still seine Schulter und hoffte, Harkym habe sich gemerkt, was er ihn lehrte. Doch hier war jede Sorge unbegründet. Als Seymas zu ihnen trat, kreuzte Harkym ohne Aufforderung die Arme und unterwarf sich ganz dem Than. Seymas lachte leise, als er einen knappen, nur angedeuteten Schritt auf Harkym zutrat. Der Kleine zögerte nun doch kurz, überlegte. Aber das mußte das Zeichen sein, sich auf die Knie zu erheben. Er tat es. Seymas hielt ihm die Hand entgegen. "Das ist nicht fair," murmelte Thyrian vorwurfsvoll. Woher sollte der Junge die Aufforderung zum Handkuß kennen; eine Geste, die auf Amarra fast vergessen war und kaum von einem der Herrscher benutzt wurde. Seymas lächelte nur. Da faßte Harkym nach seiner Hand und ließ sich auf die Beine ziehen. Seymas ließ die kleine Hand nicht los. Harkym sah an ihm vorbei, sah zu Changanar, der weinend am Boden saß und ihn beobachtete. "Schau mich an," verlangte Seymas mit freundlicher, sehr sanfter Stimme. Harkym hob den Kopf, doch er sah Seymas nicht in die Augen, sondern heftete den Blick fest auf dessen Nasenwurzel. Der Than lächelte erheitert. Tibra hatte den
Jungen wohl gelehrt, nicht vorschnell einen direkten Blick zu erlauben, der ja nicht nur Priestern Macht gewährte, sondern auch von manchem düsteren Magier mißbraucht werden konnte. "Ich möchte, daß du heute Nacht im Kinderhaus schläfst," erklärte der Than dem Kind. Unsicher sah Harkym zu Thyrian, ehe er ein leises ‘Warum’ fragte. "Ich war lange fort, Harkym. Ich möchte Thyrian jetzt für mich allein haben." "Es ist nur für diese Nacht," mahnte der Pala des Than. "Wirklich?" vergewisserte sich der Knabe, nun Seymas doch ansehend. Der Than nickte versprechend. "Soll ich dich hinbringen?" bot Thyrian rasch an. Seymas lachte leise. Er spürte, wie sein Freund jetzt ein wenig befürchtete, eine Weigerung des Kindes könne ihn erzürnen. "Das brauchst du nicht, Thyrian," versicherte der Kleine. "Ich kenne den Weg doch." Viel lieber würde er bleiben, doch er fürchtete noch immer, daß er lästig würde, wenn er Thyrian nicht immer wieder allein ließ. Erwachsene Menschen brauchten wohl Zeit, in denen keine Kinder störten. Sein Dada war ja auch nicht anders, obwohl er sich dunkel daran erinnerte, daß es eine Zeit gab, in der das nicht zutraf. Als Seymas seine Hand nun losließ, lief der Kleine rasch davon. "Unfair?" Seymas lachte. "Bist du so verliebt in den Kleinen, daß du mein Eingreifen fürchtest?" "Ich möchte nur nicht, daß Harkym erneut verletzt wird,"
murrte Thyrian unwillig. "Er leidet noch zu sehr unter der Enttäuschung, die Tibra ihm bereitete." "Tibra will mit dir reden," sagte Seymas da aber nur. Sie gingen bereits zusammen zum Tempel. Thyrian nickte. Er hatte damit gerechnet, daß der Freund nicht so einfach auf Harkym verzichten würde. Das Gespräch mußte unangenehm sein, doch er hoffte auf Tibras Verständnis und einen Erhalt ihrer Freundschaft. "Wie nimmt er es auf?" "Er leidet, was hast du gedacht? Aber er weiß, daß ich dich nicht hindern werde und akzeptiert es. Was sollte er sonst tun? Es ist allerdings nicht richtig, Thyrian," fügte er ernst hinzu. Sie betraten seine Gemächer, wo Seymas begann, sich umzukleiden und nun eine etwas bequemere Haustunika anzulegen. "Harkym will nicht mehr bei ihm bleiben und er fürchtet sich davor, im Kinderhaus zu sein," verteidigte Thyrian seinen Entschluß. "Harkym will nichts anderes, als bei ihm sein," widersprach der Than jedoch gelassen. "Tibra mußte nur erst neu lernen, wie er seine Arbeit tun und trotzdem ganz für seine Familie da sein kann. Er hat es gelernt. Auch du hast nicht unbegrenzt Zeit für den Kleinen." "Er fügt sich darein und es schadet ihm nicht, mit anderen Kindern zu spielen und nicht ständig um mich zu sein." Thyrian atmete tief durch. "Willst du, daß ich auf ihn verzichte?" "Nein, das ist allein deine Entscheidung. Falsch, es ist Harkyms Entscheidung, die er aber nicht treffen kann,
solange er Tibra ausweicht." "Ich weiß wohl, daß er erst dann mir gehört, wenn er nicht mehr nur vor Tibra flüchtet," murmelte Thyrian. "Ich versuche beständig, ihn zu einer Begegnung mit seinem Vater zu überreden. Er weigert sich konsequent und befehlen will ich es nicht. Vielleicht bei Tibras nächstem Besuch. Aber jetzt bin ich verunsichert, Seymas. Du hast bisher von kleinen Kindern keine Unterwerfung gefordert und wenn sich das ändern soll, muß ich doch annehmen, daß es dir mißfällt, wenn Harkym durch mich etwas mehr in deiner Nähe ist." "Die geforderte Unterwerfung sollte nur Ilkonys ermahnen, seinen Sohn besser zu erziehen," grinste Seymas. "Wo steckt eigentlich Cynara?" Ein Priester brachte ein Mahl. Die Freunde schwiegen, bis sie wieder allein waren, aßen gemeinsam. Thyrian gab Antwort. "Ich habe sie von Ilkonys getrennt," gab er freimütig zu. "Sie ist eine starke Priesterin, aber das lebt sie in der Burg nicht aus. Jetzt besinnt sie sich auf ihr Sein, dient den Göttern und gestaltet ihre Zeit mit ihren Freundinnen. Es ist gut für sie." "Zweifellos." Der Than lachte leise. "Aber Ilkonys fühlt sich nicht wohl, sondern durch die Fürsorge für Changanar behindert. Weshalb hast du Gerrys gerufen?" "Ich habe überhaupt niemanden gerufen," stellte Thyrian richtig. "Ich habe nur den Besuch erlaubt und da Gerrys ohnehin bei Ilkonys weilte, erschien es mir richtig, wenn die Freunde sich gegenseitig stärken." "Du entfernst einen Falla aus diesem Grund seinem Werk?" vergewisserte sich Seymas verblüfft.
"Anscheinend kann ich es dir derzeit überhaupt nicht recht machen," fauchte Thyrian, sich erhebend. Seymas faßte nach seiner Hand, zog ihn zurück auf den Stuhl. "Ich wundere mich nur," erklärte er vergnügt. "Du stellst Caryll von der Arbeit frei, rufst einen Falla nach Amarra, entfernst Nodhers Königin ihrem Gemahl und spielst lachend mit einem kleinen Kind vor vielen Zeugen. Das bist nicht mehr du, Thyrian. Ein Kind scheint einen Menschen doch sehr zu verändern." "Ist das ein Vorwurf?" forschte der Freund lauernd. "Wenn du es so empfindest, hast du ein schlechtes Gewissen," stellte der Than trocken fest. "Es gefällt mir nicht, Tibra zu berauben," gab Thyrian unruhig zu. "Harkym bereichert mich, aber diesen Reichtum raube ich einem Freund. Natürlich fühle ich mich nicht wohl dabei. Was soll ich tun?" "Gib Harkym zurück," kam die einfache Antwort. "Der Junge ist kein Ding, das man herumreichen kann," brauste Thyrian da erregt auf. "Ich werde natürlich tun, was du befiehlst. Aber wie kannst du Tibra dann sagen, daß du mich nicht hindern wirst? Warum hast du ihn nicht mit dem Versprechen getröstet, daß Harkym nicht bei mir bleiben darf? Und wie soll ich dem Kind erklären, daß all meine Versprechen von Sicherheit und Schutz nur leere Worte waren?" "Ich gab dir einen Rat, keinen Befehl." Seymas bleib völlig gelassen. "Wenn du nur die Nähe eines Kindes willst, dann ist hier Auswahl genug, Thyrian, und jeder Knabe wird glücklich sein, dem der Pala des Than seine Gunst schenkt. Muß es denn Harkym sein?"
"Du weißt, daß ich Kinder nicht mag und ihre Nähe mich eher verunsichert als erfreut. Harkym ist die Ausnahme." "Nun, dann behalte ihn und ertrage dein schlechtes Gewissen," grinste der Than. "Ich hoffe nur, Tibra wird dir das vergeben können." "Das hoffe ich auch," brummte Thyrian da unsicher. Im weiteren Verlauf ihres Gespräches gab ihm Seymas deutlich zu verstehen, daß er ihn zwar in keinster Weise behindern wolle, er diese Entscheidung jedoch nicht für gut hielt und es auch nicht dulden wollte, daß Harkym innerhalb des Tempels lebte. Wenn Thyrian den Kleinen bei sich behielt, mußte er ein Haus nahe des Tempels beziehen. Der Freund hatte nichts anderes erwartet. Für das Kind würde es auch sehr viel leichter sein, wenn es nicht innerhalb des mächtigen, aber doch auch einschüchternden Bauwerkes leben mußte.
N
ach dem Frühmahl schlenderte Tibra zu Ilkonys, wo er bestürzt von Seymas Überlegung erfuhr, Changanar von Nodhers Erben zu trennen. Es gefiel ihm nicht, das Verhalten des Kindes dem Vater anzulasten. Insgeheim beschloß er, mit Seymas darüber zu reden, doch Ilkonys gegenüber gab er kein vorschnelles Versprechen ab. Sie kamen auch nicht dazu, ausführlich über alles zu sprechen, denn unerwartet trat Thyrian in das Gasthaus. Rasch zwang Ilkonys den Knaben auf die Knie, was Tibra mit verkniffenem Gesichtsausdruck beobachtete. Thyrian winkte gelassen ab. Das ersparte Ilkonys die Unterwerfung und erlöste Changanar aus der demütigen Haltung. Der Kleine verbarg sich nun furchtsam hinter einem der hohen Sessel. "Unser Gebieter erwartet euch," wandte sich Thyrian mit belustigtem Lächeln an Ilkonys, nachdem er Tibra kurz grüßend zunickte. "Ihr findet ihn in der Empfangs-
halle des Tempels." Er bemerkte den Blick des Prinzen, der den Sohn suchte, und fügte hinzu: "Ihr solltet allein zu ihm gehen." "Sei unbesorgt," versprach Tibra rasch, "ich achte solange auf Changanar." Sie spürten, daß Ilkonys nichts Gutes von dieser Unterredung erwartete und nur ungern zum Tempel ging. Aber Nodhers Erbe sprach nicht darüber. Er nickte Tibra dankend zu, neigte sich leicht vor Thyrian und verließ sein Haus. Die Freunde sahen sich an. Thyrian wich jedoch sehr schnell Tibras Blick aus. Unruhig trat er zur offenen Tür, starrte hinaus und überlegte, wie er dem Freund erklären könne, was er empfand. Er hatte nicht erwartet, Tibra hier vorzufinden, wollte dem notwendigen Gespräch aber auch nicht ausweichen. Der Magier trat hinter ihn, legte ihm sacht die Hand auf die Schulter. "Wo ist Harkym?" wollte er leise wissen. "Er schlief diese Nacht im Kinderhaus und teilte das Lager mit seinem neuen Freund Andraag," erwiderte Thyrian langsam. "Ich war lange bei Seymas. Der Kleine sollte nicht allein sein." "Ansonsten schläft er bei dir?" "Ja, das tut er." "Dann ist es gut." Tibra zog seine Hand zurück. "Ich bin dir sehr dankbar, Thyrian, weil du dich um meinen Sohn kümmerst." Der Pala des Than fuhr herum, starrte den Freund an.
"Du, du bist mir dankbar?" "Natürlich," erwiderte Tibra einfach. "Für Harkym ist diese Zeit sehr schwierig. Er fühlt sich verlassen und wenn er nun in dir einen Freund fand, der ihn keine Einsamkeit fühlen läßt, so wird er seinen Schmerz ohne Schaden verwinden. Ich weiß wohl, daß ich versagt habe und an ihm schuldig werde. Laß ihn trotzdem immer wissen, daß ich ihn liebe." "Ich hatte nichts anderes vor. Es ist nur so, daß er sich immer noch weigert, über dich zu reden. Und keineswegs ist er bereit, dir zu begegnen. Ich habe es versucht, Tibra. Ich wollte, daß er sich mit dir ausspricht. Aber er ist noch zu verletzt." Sie setzten sich zueinander, um ausführlich miteinander zu reden. Changanar zog sich in das angrenzende Zimmer zurück, ließ aber auf Tibras Zuruf hin die Tür offen. Der Magier hielt Wort, achtete auf ihn, während er doch zugleich seine Aufmerksamkeit auf Thyrian ausrichtete.
U
nterdessen betrat Ilkonys die große Empfangshalle vom Garten her. Es mißfiel ihm, daß Seymas alles so offiziell gestalten wollte. Dann aber wunderte er sich, weil sich kein Mensch innerhalb der Halle befand. Sorgsam sah er sich um, fand jedoch keinen Hinweis, wie er sich nun verhalten solle. Fast hatte er den durch drei Stufen erhöhten Thron des Than erreicht, als sich die schmale Seitentür hinter diesem öffnete und Seymas sich zeigte. "Kommst du mit?" rief er Ilkonys fröhlich zu und verschwand, ehe der Prinz ihn auch nur grüßen konnte. Nodhers Erbe folgte ihm in seine eigenen Gemächer, wo sie ungestört blieben. "Ich muß Nodhers Erben natürlich in der Halle empfangen,"
grinste Seymas, "aber wo wir unser Gespräch fortsetzen, das interessiert dann schon keinen mehr. Es interessiert nicht einmal, ob wir es fortführen. Die Regeln sind befriedigt, da ich dich empfing. Wenn du also gehen willst, bin ich nicht gekränkt." Er lachte in der ihm eigenen, fröhlichen Art, während er sich in einen der hohen Sessel fallen ließ. Ilkonys beachtete er nicht weiter und Nodhers Erbe stand verkrampft und wußte nicht, wie er sich nun verhalten solle. Er hatte den Than nicht einmal formell begrüßt. "Ihr habt von Changanar gesprochen," rang er sich endlich ab. Seymas lächelte ihn an, während er zugleich eine einladende Handbwegung machte. Erst, nachdem Ilkonys Platz nahm, gab er Antwort. "Du willst ihn behalten, hhm?" Nodhers Erbe neigte sich ihm nickte er bejahend mit dem Kopf.
zu. Sichtlich angespannt
"Er ist mein Sohn, Gebieter, auch wenn ich ihn nicht zeugte. Ich liebe ihn. Ich mag in seiner Erziehung gesäumt haben und seine Worte an Harkym sind gewiß nicht zu entschuldigen." Er zögerte. "Ich kann mir nicht vorstellen, daß Tibra ihn zum Ersatz für Harkym haben will." "Ich auch nicht." Seymas lächelte amüsiert. "Tibra braucht keinen Ersatz; er hat eine Familie. Außerdem liebt er dich, Ilkonys. Auf alle Fälle hat dein Vater dich besser geführt, als du es mit Changanar tust. Der Kleine wird dir viel Mühe machen, wenn du ihn bei dir behältst." "Ihr nehmt ihn mir nicht?"
"Ich würde dir und vielleicht ganz Nodher einen Gefallen damit tun, aber ich zwinge dich nicht. Nur eines fordere ich: lehre ihn, und zwar schnell, wie er sich gegenüber einem Pala des Than zu benehmen hat und weite dies auch auf Tibras Familie aus." "Ihr habt mein Wort," versicherte Ilkonys rasch. Seymas lachte. "Sei nicht so furchtbar verkrampft," rief er vergnügt aus. "Ich bedrohe dich nicht. Das würde Tibra ohnehin nicht dulden. Und ich rechne es dir hoch an, daß du, um ihn zu schützen, zu mir gekommen bist." Jetzt lächelte Nodhers Erbe doch ein wenig und nun hob er auch den Blick und sah Seymas offen an. "Ich wußte nicht, wie wenig nötig diese Reise war." "Glaubtest du, ich würde Tibra bedrohen können?" erkundigte sich Seymas sehr sanft. Ilkonys dachte kurz nach, ehe er langsam den Kopf schüttelte. "Eigentlich nicht, Herr. Als man Harkym nach Wyla entführte, da sah ich, wie nahe ihr ihm seid und wie sehr ihr einander liebt. Es ist nur - ich bin nicht sicher, ob dies mehr bedeutet als Vorschriften und Regeln." "Ich weiß wohl, daß Nymardos dich verunsichert hat," gab Seymas gelassen zu. "Ich weiß auch, was auf der letzten Pecha-Versammlung geschah," fügte er dann unvermittelt hinzu. "Es wird sich nicht wiederholen." "Ich war sehr unbeherrscht," gestand der Prinz etwas zerknirscht.
"Du warst dummerweise im Recht, also kann ich dir keine Vorwürfe machen," grinste Seymas. "Aber du wirst mir erlauben, daß ich Minas' Schulden begleiche und damit den Anlaß für jede Kritik tilge." "Tibra will das nicht." "Ich werde auf seinen dummen Stolz keine Rücksicht nehmen. Er ist mein Pala. Davon abgesehen ist er ein großer Magier, dessen Forschen viele Erkenntnisse brachte. Er ist mir zu schade, um weiterhin seine Gedanken auf Solare auszurichten." "Er will es selbst schaffen, Gebieter." Seymas lächelte. Er verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich entspannt zurück und sprach völlig gelassen, wie von einer Nebensächlichkeit. "Als dein Herr befehle ich dir, die Summe von mir anzunehmen, Ilkonys. Du wirst es Tibra nicht sagen, ehe ihr Nodher erreicht habt." Nodhers Erbe preßte die Lippen zusammen, nickte aber nachgebend mit dem Haupt. "Nachdem das geklärt ist," fuhr Seymas da vergnügt fort, "reden wir über angenehmere Dinge. Du erlebst Amarra derzeit nicht so, wie ich es einem Priester wünschen mag. Cynara hingegen begegnet den Göttern nun sehr tief. Du solltest diese Begegnung ebenfalls suchen, Ilkonys. Aber du nimmst kaum an den Ritualen teil." "Ich möchte Changanar nicht allein lassen," gestand der Prinz mit vorsichtig klingender Stimme. "Im Kinderhaus ist er nicht sehr willkommen." Seymas lachte erheitert. Er konnte sich unschwer vorstellen, wie Harkyms neue Freunde dem Hochmut des kleinen Prinzen begegneten.
"Du hast Dienerschaft erhalten," meinte er leichthin. "Thyrian hat es wohl, hhm, versäumt, darauf zu achten, daß einer dieser Männer dir die Fürsorge für deinen Sohn abnehmen kann. Das ist leicht zu ändern und danach solltest du ein wenig deiner Zeit auch mit deiner Gemahlin verbringen, damit du siehst, wie sie als Priesterin leben möchte. Es wäre schade, wenn sie, wie deine Mutter, ihre Berufung innerhalb der Burg vergessen wollte." Ilkonys senkte den Blick. Er fühlte keinen Vorwurf bei diesen Worten, doch er wurde sehr nachdenklich dabei. Cynara befand sich viel weiter auf dem priesterlichen Pfad als er, aber sie lebte das zu Hause wirklich nicht aus und das konnte nicht gut sein. Es war seine Aufgabe, ihr auch dabei zu helfen. Seymas lachte leise auf. Nachdem auch dies geklärt war, sprach er nun mit Ilkonys wie mit einem Herrscher, redete von Belangen seines Reiches und erstaunte den Prinzen durch sein politisches Verständnis immer wieder. Erst zu Liaras Stunde entließ er Nodhers Erben, der nun den gewundenen Säulengang um den Tempel herum hinaufschritt, um am Ritual der Göttin teilzunehmen.
T
hyrian hatte sich verabschiedet, während Tibra seinem Wort gemäß im Gasthaus des Prinzen blieb und auf Changanar achtete. Der Knabe sah ihn nicht einmal an; saß stumm und unglücklich auf seinem Lager und haderte mit einem für ihn ungerechten Schicksal. Ein Mann in schwarzem Gewand betrat das Haus. Changanar verstand kaum, weshalb dieser schlanke, große Priester vor Tibra die Arme kreuzte und dann vor dem Pecha niederkniete. "Es wird noch dauern, bis Nodhers Erbe zurück kehrt," erklärte der Mann mit ruhiger Stimme. "Es kann nicht eure Aufgabe sein, Pala, auf einen kleinen Knaben zu achten."
Der Magier lächelte, was der Priester wohl als Aufforderung verstand, sich zu erheben. Seine grünen Augen suchten Changanar, der sich seltsam bedroht fühlte und hinter dem Lager auf den Boden kauerte. "Raakis Priester haben im allgemeinen auch andere Aufgaben," grinste Tibra erheitert. "Ilkonys ist mein Freund. Das erleichtert mir den Umgang mit diesem kleinen Tyrannen. Sagt ihr mir euren Namen?" "Man nennt mich Jiddan, Herr." Tibra verstand durchaus, weshalb der Priester diese Anrede so nachdrücklich betonte. Er war Pala des Than, er hatte die Priesterschaft eigentlich zu duzen und wurde so still an seine Macht erinnert. "Ihr seid hier geboren?" blieb der Magier dennoch bei der ehrenden Anrede. "Ich stamme aus Minas," erwiderte der Priester lächelnd. "Ich freue mich sehr, daß meine Heimat nun endlich einen gerechten Herrn erhielt. Ihr kennt nicht zufällig die Siedlung, die von ihren Bewohnern Quenal genannt wird? Dort lebt meine Familie." "Mit welchem Handwerk?" Unversehens gerieten die beiden Männer ins Erzählen. Nach einiger Zeit griff Jiddan nach Changanars Handgelenk, zog den Knaben ins Freie und zeigte ihm ein wenig entfernt stehendes Küchenhaus, während er ihm zugleich befahl, dort einen Krug Wein zu holen. Changanar wehrte sich, berief sich auf seine hohe Geburt und seinen Rang, was Jiddan aber nur ein Lachen entlockte. Tibra wollte eingreifen, doch der Priester winkte ihn fast herrisch zurück, während er den Knaben mit Worten bedrängte und schließlich so zum Gehorsam zwang. Als Changanar den
Botendienst ging, entschuldigte sich Jiddan: "Ich wünschte, unser Gebieter hätte mich in euren Dienst befohlen, Pala. Ich würde euch gern in allem gehorsam sein. Da er aber wünscht, daß ich dieses Kind behüte, erlaubt mir, dies auf meine Art zu tun. Es wird dem Kind hoffentlich nicht zum Schaden gereichen." "Ich bezweifle nur, daß ihr so Changanars Vertrauen gewinnen werdet." "Mir genügt sein Respekt," versicherte Jiddan. Und den erwarb er sehr schnell. Er behandelte den Prinzen weder wie einen Herrn noch wie einen Diener; eher so, wie auf Amarra ein Priesterschüler behandelt wurde. Jiddan erwartete Gehorsam und entlohnte diesen durch Belehrung und auch Aufmerksamkeit. Der Knabe verhielt sich scheu, doch sehr schnell nicht mehr furchtsam, sondern fast schon neugierig. Als Tibra dies sah, verließ er das Haus im sicheren Wissen, daß Ilkonys ihm dies nicht als Untreue auslegen würde.
A
m nächsten Tag drängte Tibra zur Abreise, doch Seymas bat ihn augenzwinkend um etwas Aufschub, ohne jedoch irgendeine Frage nach dessen Zweck zu beantworten. Achselzuckend gab der Magier nach. Es schmerzte ihn das Ausweichen Harkyms, der stets sofort aus seinem Gesichtsfeld floh. Doch er sah Gerrys sehr häufig und es fiel ihm durchaus auf, wie der Falla die Tage hier genoß und sich innerlich gänzlich mit Amarra und seinem Herrn aussöhnte. Er sah auch Cynara und deren zunehmende innere Festigkeit. Ilkonys verbrachte viel Zeit mit ihr und ihren Freundinnen. Und so manche Stunde verging im Gespräch zwischen ihm und Jiddan, der in Nodhers Erben fast unbemerkt eine größere Sehnsucht nach den Göttern verankerte. Auch Bakaar betrachtete jede Stunde hier wie ein Geschenk. Da war ein Kind, das sich immer wieder in Tibras Nähe stahl und ihn heimlich beachtete. Manchmal verfolgte ihn dieser Knabe stundenlang, wobei er sich stets unbemerkt wähnte. Der Magier hatte sich längst nach ihm erkundigt und wußte, daß dies Andraag, Harkyms neuer Freund war. Schmunzelnd ließ er sich diese Neugier gefallen, obgleich sie ihn auch ein wenig beunruhigte, da der Knabe sich durch diese Verfolgung nicht selten weit vom Tempelbereich entfernte. Einmal sprach er mit Mylena darüber. Die Priesterin beruhigte ihn, indem sie ihm erklärte, wie wenig die Kinder des Kinderhauses eingesperrt oder unter ständiger Aufsicht lebten und wie richtig es ihr erschien, wenn ein Knabe sich ausgerechnet den Pala des Than zum Vorbild erkor, von dem er beobachtend lernen wollte.
Für Andraag war es nicht wichtig, daß dieser Mann der Freund des mächtigen Than war. Harkym nannte ihn Dada, weinte manchmal, weil er sich von ihm ungeliebt glaubte und erzählte oft davon, daß sein Dada alles wußte und konnte. Für Harkym zentrierte sich in diesem Mann alles, was erstrebenswert sein konnte und Andraag war begierig, den Grund dafür zu erforschen. Als Tempelkind besaß er keinen Vater und die totale Ausrichtung auf einen einzigen Mann erschien ihm auch ein wenig seltsam. Trotzdem besaß sie etwas faszinierendes für das Kind, das nicht den Mut besaß, den Pala des Than einfach anzusprechen. Es war Changanar, der die eigentlich unumgängliche Begegnung dann erzwang. Ilkonys weilte bei Cynara und Tibra hatte Jiddan auf ein Gespräch besucht. Die beiden Männer saßen auf der Bank vor dem Gasthaus; Changanar spielte etwas entfernt und Andraag schlich sich, zunächst unbemerkt, ganz in die Nähe, wo er sich unter einem dichten Busch verbarg. Andraag fuhr herum, als Changanar sich unvermittelt nach einiger Zeit in sein Haar krallte. Gleich darauf rangen die beiden Knaben wütend im Gras miteinander. Jiddan wollte eingreifen, doch Tibra hielt ihn zurück. Der Priester wartete ab. Changanar trat nach Andraag, biß zu und schlug um sich. Jiddan trat schließlich hinzu und obwohl Tibra ein abwehrendes Wort rief, trennte er die beiden Knaben. "Das ist unser Haus," rief der kleine Prinz erbost. "Nur Diebe schleichen sich ein." "Ich bin kein Dieb," wehrte sich Andraag, der erneut nach Changanar schlug. Er blutete aus der Nase, doch er war nicht gewillt, aufzugeben. "Geh' zurück ins Kinderhaus," verlangte Jiddan.
Andraag zögerte. Er kämpfte sichtlich mit sich, ehe er endlich Tibra einen um Hilfe heischenden Blick zuwarf. "Das ist Andraag, Harkyms Freund," erklärte der Magier lächelnd dem Priester. "Und damit ist er auch mein Freund und gewiß kein Dieb. Ich hoffe, mein Wort genügt euch." "Verzeiht, Herr," bat Jiddan rasch, "aber solche Prügeleien sind auf Amarra nicht üblich." "Sie sind unter Kindern in allen Reichen üblich," widersprach der Magier gelassen. Er trat zu Andraag, ging in die Hocke und erklärte ihm mit ruhigen Worten, wie ein solcher Kampf auf faire Weise zu führen und wohl auch zu gewinnen war. Da riß sich Changanar von Jiddan los und stürzte sich erneut auf Andraag, der sich sofort heftig wehrte. Nun hinderte Tibra den Priester an weiterem Eingreifen, indem er seinen Ärmel festhielt. Der Magier sah dem Kampf zu, als gäbe es keine Schmerzen dabei. Hin und wieder gab er Andraag dabei einen Rat. Trotzdem konnte der Knabe nicht gewinnen, denn Changanar zeigte sich bedeutend kräftiger. Andraag weinte, als er keine Kraft zur Gegenwehr mehr besaß und die Angriffe des Prinzen nur noch schwach abzuwehren vermochte. Da erst ließ Tibra den Priester los, der sofort die beiden Knaben voneinander trennte. "Ich habe gewonnen," freute sich Changanar keuchend. "Und was beweist das?" wollte Tibra grinsend wissen. "Daß ich recht habe," behauptete das Kind. "Nein," widersprach der Magier. "Es beweist nur, daß du stärker bist als Andraag. Hey," wandte er sich dann an das Tempelkind, "du hast keinen Grund, zu weinen. Es ist keine
Schande, einen Zweikampf zu verlieren. Tut es sehr weh?" Andraag nickte nur. Es ärgerte ihn, daß die Tränen nicht versiegen wollten und er schämte sich, weil Changanar ihn besiegte. Gewiß würde ihn der Pala des Than nun verachten. "Du hast wirklich gut gekämpft," lobte ihn Tibra aber. "Komm, wir suchen einen Brunnen und waschen dich ein wenig." Er nahm Andraag einfach bei der Hand, nickte Jiddan kurz grüßend zu und ging dann mit dem Knaben davon. Den Rest des Tages verbrachte er mit Andraag, stromerte mit ihm durch den parkähnlichen, weiten Garten und gestaltete die Zeit aufs Angenehmste. Ob sie nun Käfer beobachteten oder fetten Raupen beim Mahl zusahen, ob sie gemeinsam Beeren naschten oder sich einfach unterhielten; für sie beide bedeuteten diese Stunden reichen Gewinn.
N
ymardos verbrachte sehr viel Zeit mit Caryll, dem Freund seiner Kindheit und Jugend, der später, als Nymardos zum Than erkannt wurde, keine Nähe mehr erlaubte und auch jetzt, nachdem ein anderer herrschte, eine gewisse Ferne nicht überbrückte. Trotzdem war ihre Freundschaft tief und echt und Nymardos freute sich, weil er nach so langer Zeit endlich wieder einmal vertraute Gespräche mit diesem Freund führen durfte. Sie hatten sich ein ganzes Stück vom Tempel entfernt. Caryll erzählte von seinem Alltag und es war ihm anzuspüren, wie gern er mit Thyrian arbeitete und wie sehr ihm Seymas' Herrschaft gefiel. Dieser junge, verspielte, fröhliche Than entsprach zwar in keinster Weise seinen Vorstellungen eines Herrschers, doch die offene, direkte Art, mit der Seymas auch ihm begegnete, nötigte Caryll fast schon Bewunderung ab.
Fast unvermittelt vertrat ihnen Seymas den Weg. Nymardos stand reglos, atmete tief durch und vergaß den schuldigen Gruß. "Laß uns allein, Caryll," sagte der Than. Es klang wie eine Bitte, doch gegen sein Wort gab es ohnehin keinen Einwand. Caryll verneigte sich tief, ehe er den Rückweg antrat. Seymas lächelte abwartend. Schließlich überkreuzte Nymardos die Arme, doch er neigte sich nicht. Sein Blick fraß sich förmlich an Seymas' Augen fest. Der Than lachte leise auf. "Ich habe nicht erwartet, daß du dich über unsere Begegnung freuen wirst," gab er offen zu. "Wir sind einander in all den Jahren so fremd geworden, daß fast vergessen ist, wie sehr du mein großes Vorbild und meine größte Liebe warst." "Du schuldest mir nichts," erwiderte Nymardos langsam und vorsichtig. "Oh, ich habe es nicht vergessen," lachte Seymas da heiter. "Du hast das getan. Meine glückliche Kindheit und meine unbeschwerte Jugend, ich weiß wohl, daß ich das allein dir verdanke und Dankbarkeit ist durchaus etwas, das ich für dich empfinde. Ich liebe dich übrigens immer noch." Fast unbekümmert nahm er den Weg auf und zwang den einstigen väterlichen Freund so, an seiner Seite zu gehen. "Ich bin dir dankbar, weil du Caryll von der Arbeit freistelltest," rang sich Nymardos endlich ab. "Das mußt du Thyrian sagen," wehrte Seymas heiter ab. "Ich habe ihn schon deshalb getadelt und es war allein seine Entscheidung. Aber natürlich widerrufe ich keine Weisung meines Pala. Außerdem ist es nicht wichtig."
"Aber?" "Du solltest nicht hier sein. Eigentlich sollte Ilkonys nicht hier sein und das wäre er auch nicht, wenn du ihn nicht mit Mißtrauen erfüllt hättest. Tibra ist mein Pala. Was bringt dich auf den Gedanken, ich könne ihn bedrohen?" "Du bist der Than," entfuhr es Nymardos da unwillig. "Deine Pflicht befiehlt dir...." Seymas unterbrach ihn durch ein lautes Lachen. "Pflicht? Das meinst du nicht wirklich! Du warst der Than und Gerrys dein Pala. Konnte es damals irgendeine Pflicht geben, die dich zwingt, ihm zu schaden?" "Er gab mir nie Anlaß dazu. Außerdem kannst du das, was mich mit Gerrys verbindet, nicht mit dem vergleichen, was zwischen dir und Tibra ist." "Nein?" erkundigte sich Seymas da, ein wenig zynisch und halb amüsiert. "Nein," beharrte Nymardos, mühsam aufkeimenden Zorn unterdrückend. "Gerrys ist Raakis Falla, vom dunklen Gott selbst erkannt. Tibra lebt nicht für die Götter. Davon abgesehen..." "Ja?" "Tibra duldet keine Nähe und schon gar keine Einheit." "Du meinst, seine Freundschaft ist weniger wahr?" grinste Seymas. "Das meine ich nicht," fauchte Nymardos nun doch. "Du weißt sehr wohl, daß ich Tibra liebe. Aber wenn es um Amarra geht, dann ist unbestritten, daß dies nichts ist, das
ihn wirklich betreffen kann." "Verstehe." Seymas schmunzelte. "Amarra betrifft ihn nicht, obwohl er unglaublich viel für dieses Reich, für alle Reiche getan hat. Er ist eben ein Magier. Wahre Priester achten natürlich eine Weihe sehr viel höher als den Mann, der sie empfing." "Ich achte Tibra sehr hoch," murrte Nymardos. "Aber nicht als meinen Pala," stellte Seymas gelassen fest. "Diesen Titel trägt Thyrian." "Und er muß ihn ohne jede Einschränkung mit Tibra teilen," grinste Seymas vergnügt. "Ginge es um Thyrian, hättest du Ilkonys beruhigt." Nymardos schwieg, doch nicht gekränkt, sondern diesen Worten nachlauschend und langsam deren Richtigkeit erkennend. Er selbst liebte Tibra, war seit vielen Jahren mit ihm befreundet und schätzte ihn wirklich hoch ein. Nie hielt er dem Magier seinen Weg vor; er betrachtete ihn nicht einmal als Nachteil. Nur Pala des Than, das konnte ein Magier nicht in vollem Umfang sein. Vielleicht hatten Tibra und er deshalb mit dem Beginn ihrer Freundschaft gewartet, bis Nymardos dieses Amt verlor? "Ilkonys ist Nodhers Herr," rang er sich endlich wieder Worte ab. "Wenn er sich wirklich mit Tibra verfeindet, mußt du auf seiner Seite stehen." Seymas warf ihm einen langen, halb erstaunten und halb gekränkten Blick zu, ehe er sehr sanft erwiderte: "Ich muß gar nichts, Nymardos. Alle Macht liegt in meinen Händen. Tibra ist mein Pala - wer sich gegen ihn stellt, stellt sich gegen mich. Das gilt für alle Menschen." Er lachte leise.
"Ilkonys ist eine Ausnahme, denn er ist Tibras Freund und wenn sie streiten, so tun sie das als Freunde, die sich wieder aussöhnen werden oder schlimmstenfalls Vermittlung brauchen. Ich wundere mich einfach, wie wenig du mich kennst und wie wenig du weißt, was mir wichtig ist. Und du könntest all das wissen, wenn du dich wieder an den Jungen erinnern wolltest, der ich war." "Der du aber nicht mehr bist, Seymas. Heute bist du ein Mann der Macht." "Das ist nur Fassade." Seymas lächelte . "Ein wenig Theater für die Mächtigen der Reiche, die lieber dem Rat der Macht als jenem des Lichtes sich beugen wollen. Tibra weiß das genau. Mit ihm kann ich lachen und ausgelassen sein. Er zeigt es andern nicht, aber eigentlich ist er so richtig respektlos. Er achtet mich als gleichwertig. Und genau das bin ich, Nymardos. Nicht mehr und nicht weniger." "Du meinst, er ist wie du?" "Nein," lachte der Than da fröhlich, "ich bin wie er genauso gewöhnlich, einfach nichts besonderes. Und das macht Spaß." "Du kannst dich nicht wirklich auf eine Stufe mit einem Magier stellen." Seymas verhielt den Schritt. Für einen Moment legte er den Kopf ein wenig schief, dann schüttelte er die blonden Locken. "Nimm nicht alles so übertrieben wörtlich," bat er dann auf seltsam schelmische Art. "Ich weiß schon, daß mir Tibra in manchem überlegen ist." "Er? Dir?" Nymardos
verhielt
überrascht den Schritt und starrte
seinen einstigen Schützling in sprachlosem Erstaunen an, was Seymas aber nur ein kleines Lachen entlockte. "Jetzt hast du es verstanden," freute sich der Than da. "Vergiß es nur nicht gleich wieder." Er wartete keine weitere Antwort ab, sondern wandte sich zur Seite und ging quer über eine reich blühende Wiese davon.
T
ibra hatte einige Stunden mit Andraag verbracht, wie er es auch schon in den vergangenen zwei Tagen tat. Der Kleine half ihm, den schmerzhaften Verlust von Harkym etwas leichter zu ertragen, obwohl er nicht über den Sohn sprach. Tibra sehnte sich inzwischen nach seiner Familie, nach Aniela, Antaya und Uhray. Die Zeit, die er mit Andraag verbrachte, sollte eigentlich seinen Kindern gehören. Trotzdem war er nicht unglücklich, nicht einmal unzufrieden. Es lebte sich gut auf Amarra, wo ihm jeder Mensch mit größtem Respekt begegnete und jeder danach trachtete, seine Wünsche zu erfüllen. Daß Harkym stets aus seinem Gesichtskreis floh und auch Thyrian ihm mehr oder weniger deutlich auswich, das mußte er ertragen. Der Weg zum Kinderhaus führte sie an jenem Gasthaus vorbei, welches Ilkonys bewohnte. Nodhers Erbe saß neben Jiddan auf einer Decke im Gras; sie unterhielten sich angeregt. Ihre Gestik verriet, wie sehr sie beide bei der Sache waren. Tibra nahm es mit einem Lächeln zur Kenntnis. Einige Schritte entfernt hockte Changanar am Fuß eines Obstbaumes. Er langweilte sich furchtbar und wünschte, endlich wieder nach Hause zu dürfen. "Ist das wirklich ein Prinz?" wollte Andraag wissen, der den Knaben ebenfalls sah. "Gewiß," bestätigte Tibra, "aber das besagt ja nur, welches Handwerk sein Vater ausübt und hat nichts mit ihm
zu tun." "Nodhers Herr ist euer Freund, Pala?" Als Tibra nickte, fragte der Kleine: "Ist er nett?" "Ich denke schon," lachte Tibra da, hielt den Knaben nun etwas fester und lenkte den Schritt dem Freund zu. Andraag wehrte sich etwas, zog in die andere Richtung, gab dann aber dem sanften Druck des Mannes nach und als er neben Tibra vor Ilkonys stand, hielt er Tibras Hand nur noch etwas furchtsam, zugleich neugierig den Mann betrachtend, der ein König war. Mit einer einladenden Geste bedeutete Ilkonys dem unerwarteten Besuch, es sich bequem zu machen. "Wir wollen nicht lange stören," versprach Tibra vergnügt. "Ich habe nur ein wenig Durst, mein Freund." Jiddan wollte sich erheben, um dem Pala des Than dienstbar zu sein, doch Ilkonys sprang schon auf die Beine und eilte ins Haus, um wenig später mit zwei Bechern und einem Krug erfrischenden Pejuk-Saft zurück zu sein. Andraag strahlte, als der mächtige Mann ihm einen halb gefüllten Becher reichte. Tibra trank im Stehen, reichte Ilkonys dann den Becher mit einem Augenzwinkern zurück und nahm mit Andraag den Weg wieder auf. "Ich glaube, er ist sehr nett," gab Andraag nach einiger Zeit des Schweigens zu. "Warum ist Changanar dann so böse?" "Ist er das denn?" "Er hat mich geschlagen," murrte der Knabe. "Und Harkym weint manchmal wegen ihm."
"Changanar weint bestimmt auch," vermutete Tibra mit freundlicher Stimme. "Weshalb denn?" "Nun, er ist sicherlich der erste Mensch, dem auf Amarra das Gastrecht verwehrt wird. Er lebt hier übersehen, verachtet und gemieden. Er wird sicherlich noch sehr lange mit Schrecken an Amarra denken und nicht mit Sehnsucht, wie es all die andern Menschen tun, welche diese schöne Insel sahen." "Mögt ihr ihn denn?" wollte Andraag da höchst erstaunt wissen. Er blieb nun stehen und schaute zu Tibra auf, dessen Antwort ihm sehr viel bedeutete. Der Magier lächelte. "Nein, eigentlich mag ich ihn überhaupt nicht. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die ich nicht mag. Aber das hindert mich nicht daran, ihnen mit etwas höflicher Freundlichkeit zu begegnen." "Soll ich etwa mit ihm spielen?" forschte Andraag da mißtrauisch, was Tibra ein herzliches Lachen entlockte. "Ich denke, es genügt schon, wenn du nicht alle anderen Kinder davon abhältst. Denke einfach darüber nach, hmm." Sie hatten das Kinderhaus ohnehin schon erreicht. "Wenn du willst, gehen wir morgen zum Meer." Diese Aussicht gefiel Andrrag sehr. Deutlich zeigte er seine Freude und in dieser frohen Erwartung fiel es ihm auch nicht schwer, nun Abschied von dem Magier zu nehmen.
I
rgendwo im Garten befand sich Seymas, dem nichts von allem entging, was in seiner Umgebung geschah. Er
ordnete an, daß Harkym in dieser Nacht wieder einmal im Kinderhaus schlafen solle, damit Thyrian mit ihm gemeinsam die notwendigen Gespräche mit Amarras Leuten führen konnte, die an diesem Tag zum Tempel kamen. Nymardos bemerkte die Lichtpriesterin zuerst, die sich an diesem Abend dem Tempel näherte. Die Frau sah Seymas und Thyrian. Beide sprachen mit einer kleinen Gruppe von Priestern, die weit entfernt ein großes Gebiet Amarras beherrschten. Der Than hob den Blick. Eine kleine Geste erlaubte der Priesterin ein Nahen. Wenige Schritte trennten die Priesterin jetzt nur noch von der Gesprächsgruppe, als Tibra sein Haus verließ. Sie bemerkte ihn, neigte in Richtung Seymas' grüßend das Haupt und änderte ihren Weg, nun zu dem Magier tretend, vor dem sie die Arme kreuzte und sich sehr tief verneigte. Nymardos spannte sich an, denn das Verhalten, das er hier sah und das ja zugleich den Than mißbilligte, konnte eigentlich nicht geduldet werden. Aber Seymas wandte sich einfach wieder seinen Gesprächspartnern zu und sogar Thyrian widmete der Sache keinerlei weitere Aufmerksamkeit. Tibra grinste. "Eure Geste ehrt mich. Dabei kenne ich nicht einmal euren Namen." Er freute sich jedoch, jene Lichtpriesterin wieder zu sehen, mit der er vor wenigen Tagen über die Kraft der Steine sprach. "Ich heiße Insanna, Pala," erwiderte sie mit vertrautem Klang in der Stimme, während sie zugleich ihr Bündel auf den niederen Tisch neben der Tür stellte. "Ich bin hier, um unserem Gebieter die neu erweckten Flammenden Kristalle zu bringen." Sie warf ihm einen offenen Blick zu, ehe sie die Schnur um das Bündel löste und so den Schatz offenlegte, den sie mit sich trug. "Euer Gespür ist
beachtlich," lobte sie dabei, Tibra zugleich jene drei Steine zeigend, die er vor ihrer Erweckung als sehr lichtstark erkannte. Fasziniert nahm er sie in die Hände und betrachtete ihr Leuchten mit Begeisterung. Wenig später saß er mit Insanna am Tisch. Sie redeten über Kristalle, über den Geist der Minerale und sehr viel mehr über das Werk der erweckenden Priesterinnen, als mit einem Mann und noch dazu mit einem Magier geredet werden sollte. Sie lachten und scherzten sogar dabei. Als sie miteinander aßen, lagen die Kristalle fast unbeachtet neben ihren Tellern. Erst später, den süßen Wein Amarras genießend, beschäftigten sie sich wieder mit ihnen. "Ich habe versucht, wie ihr im noch unerweckten Kristall die Stärke seines Geistes zu erkennen," gab Insanna zu, wobei sie nun leicht beschämt aussah. "Stört es euer Werk?" "Nein, eigentlich nicht." Sie wirkte nun doch verunsichert, was so gar nicht zu ihrem an sich starken und selbstbewußten Wesen paßte. "Dann versucht es weiter. Mit ein wenig Übung wird es euch gelingen," versprach Tibra gelassen. "Kein Vorwurf, Pala?" Tibra stutzte. Zu leicht vergaß er, daß er hier eine Macht besaß, die ihn über die Menschen erhob. Er hatte sich bisher ausschließlich auf Insanna ausgerichtet, aber nun weitete er seinen Sinn. Ihm fiel Nymardos und dessen angespanntes Beobachten auf, auch Thyrian und dessen halb unwillige Gedanken und ebenso Seymas mit seiner amüsierten Gleichgültigkeit, dessen Gesprächspartner immer wieder verstoh-
lene Blicke zu der Lichtpriesterin sandten. Die Situation schien mehr als nur außergewöhnlich zu sein und keineswegs den Sitten zu entsprechen. Tibra grinste. "Nein, kein Vorwurf, Insanna," wandte er sich wieder der Priesterin zu. "Und da ihr so verunsichert seid, nehme ich an, daß euer Versuch nicht ganz ohne Wirkung blieb. Wollt ihr darüber reden?" Ihr Blick flackerte, als er nun doch nach Seymas suchte. Tibra beugte sich vor, legte sacht die Hand auf ihren Unterarm. "Ich rufe ihn," versprach er. "Nein, Pala, tut das nicht. Ich hatte so sehr gehofft, mit euch reden zu können. Aber es wird unseren Gebieter kränken." "Weshalb?" "Die Kristalle gehören ihm, ihm allein. Die Sitte befiehlt, sie auch nur ihm zu übergeben." Insanna lächelte ein bißchen wehmütig. "Die Priesterin, welche die Ehre erhält, ihm die Steine zu bringen, darf, wenn er zufrieden ist, in dieser Nacht Antares' Ritual leiten. Es ist für uns etwas ganz Besonderes." "Und warum sollte er nicht zufrieden sein?" Insanna seufzte. Nach kurzem Zögern griff sie in eine Seitentasche ihres Bündels und entnahm ihm einen unerweckten Kristall, knapp faustgroß, sehr trübe und von vielerlei Schlieren durchzogen. "Ich hatte mit dem Versuch gespielt, im voraus die mögliche Lichtfülle zu erraten," gestand sie nun. "Ich empfand es wie ein Spiel. Es war nicht wirklich wichtig,
Pala, aber es gefiel mir. Dieser Stein hier, nun, er läßt sich nicht einschätzen. Er wirkt fast bedrohlich auf mich, Herr. Ich habe Furcht vor ihm." Die letzten Worte fielen ihr sehr schwer. Tibra hatte den Stein schon ergriffen, auf seine geöffnete Handfläche gelegt und betrachtete ihn nun halb forschend und halb nachdenklich. Insanna befürchtete ein spöttelndes Wort, doch der Magier hielt intuitive Gefühle für wahrhaftiger als nüchternes Überlegen. Er lächelte. "Wenn es nur nach Stärke geht, wird dieser Kristall sehr hell leuchten," vermutete er. "Aber Licht ist wohl viel mehr als Helligkeit, ansonsten gäbe es keine Göttin dafür. Dieser Stein ist anders als die anderen." "Habe ich Grund zur Furcht?" forschte die Frau da angespannt. "Das kann ich nicht beurteilen," gab Tibra gelassen zu, während er weiter den Kristall musterte. "Nymardos erzählte mir, wie vor Jahren ein Kristall auf magische Art erweckt wurde und wie der Geist dieses Kristalles verheerend in den Reichen wirkte. Er meint, es sei ein Lebender Kristall gewesen. Bei diesem Stein denke ich einfach, er gehört in die Sümpfe von Moras und sollte dort auch bleiben." "Und wenn unser Gebieter seine Erweckung verlangt?" Tibra schloß die Faust um den Stein, hob den Blick und sah Insanna gelassen an. "Dann werde ich dabei sein," versprach er. Sie lächelte etwas unsicher, als sie bemerkte: "Dies ist keinem Mann erlaubt."
"Dann stehe ich vor der unverschlossenen Tür und wenn etwas geschieht, das nicht geschehen sollte, wird die Regel, daß es keine Magie auf Amarra gibt, gebrochen sein." Er lächelte. "Seid unbesorgt, Insanna." "Ich danke euch, Pala," versicherte die Priesterin da aufatmend. "Werdet ihr mit dem Than über diesen Stein reden? Ich bitte euch sehr darum." Tibra nickte nur, während er den Kristall in einer Falte seines Gewandes barg. "Dann erweist mir nun die Ehre," fuhr Insanna fort, "in seinem Namen die Kristalle entgegen zu nehmen." Bei diesen Worten hielt sie ihm ein Pergament entgegen, das die Flammenden Kristalle verzeichnete und auf dem er den Empfang bestätigen sollte. "Ich trage kein Siegel Amarras," erinnerte er sie. "Euer Namenszug genügt, Herr." Achselzuckend erhob sich Tibra, holte Schreibzeug aus dem Haus und signierte das Papier. Die Priesterin erhob sich. "Es ist spät," verstand er. "Antares' Stunde beginnt bald und ihr wollt sicherlich in den Tempel." Thyrian enthob sie der Antwort. Bisher lagerte er bei Seymas und den Gästen im Schein eines Feuers; nun trat er zu ihnen und ergriff wortlos das Pergament. Erschreckt sah die Priesterin, wie er die verzeichnete Liste mit den Steinen verglich. Tibra grinste nur, während er spielerisch die Flammenden Kristalle durch seine Hände gleiten ließ und deren Licht bewunderte. Unbemerkt fand der Flammende Kristall, den Seymas ihm vor Kurzem schenkte, Platz zwischen diesen Steinen. Thyrian fand in der Stückzahl keine Abweichung. Auch Seymas bemerkte das Treiben und kam herbei.
"Was machst du denn da, Thyrian?" erkundigte er sich. "Zählst du etwa nach?" "Natürlich." Seymas lachte, während er zugleich dem Freund das Pergament aus der Hand nahm. "Tibra hat den Empfang schon bestätigt," meinte er leichthin, faltete das Papier und steckte es ein. Er wandte sich an Insanna: "Du hast das Recht, die Stunde des Lichts zu leiten." Sie dachte an den unerweckten Kristall, senkte beschämt das Haupt und schwieg. Seymas warf Tibra einen kurzen Blick zu. Dann griff er nach dem Stein, der dem Freund eigentlich schon gehörte. "Ein schönes Stück," meinte er dabei schelmisch. "Willst du es behalten, Tibra? Es wäre mir eine Freude." Dabei drückte er dem Magier den Kristall in die Hand. Überrascht sah Insanna dies. Ihr wurde klar, daß ihr Gebieter durchaus mehr wußte, als sie zunächst annahm. "Gebieter..." "Antares wartet," unterbrach sie Seymas sehr sanft. "Wenn mein Pala keine Kritik hegt an deiner Gabe und deinem Tun, dann solltest du jetzt in den Tempel gehen." "Keine Kritik," versprach Tibra rasch. "Nur bewunderndes Lob." Er meinte es aufrichtig und sie alle wußten das. Insanna kreuzte die Arme. Sie verneigte sich sehr tief, wobei ihr Blick an Tibra hing. Dann ging sie dem Tempel zu.
"Hast du etwas Zeit für mich?" wandte sich Tibra da an den Freund. "Soviel du willst," versprach Seymas heiter. "Aber ich bin mit den Leuten dort noch nicht fertig. Es eilt ja nicht, nicht wahr? Geselle dich einfach zu uns und hilf mir ein wenig bei den politischen Angelegenheiten Amarras." Er nahm Tibra mit zu seinen Gästen. Thyrian trug die Kristalle mit sich. In dieser Nacht fand Tibra keine Gelegenheit mehr, von dem unerweckten Kristall zu reden.
A
m andern Morgen erwachte Tibra ungewöhnlich früh und darum beschloß er, den Freunden beim Frühmahl Gesellschaft zu leisten. Gerrys freute sich sehr, ihn zu sehen. Diese Tage ohne jeglichen Anspruch an ihn taten dem Falla mehr als nur gut. Er fühlte sich wie befreit, wußte er doch nun, daß Seymas keinerlei Vorbehalte wider ihn hegte ob der Differenzen, die es einst zwischen ihnen gab. Nymardos zeigte sich weniger entspannt und es dauerte auch nicht lange, bis er von dem sprach, was ihn bewegte. "Die Erweckerin gestern," begann er unumwunden, "sie hat den Than schwer beleidigt durch ihr Verhalten. Du hättest das nicht dulden dürfen, Tibra." Tibra stutzte. Bisher war ihm nicht bekannt, daß Lichtpriesterinnen, welche die Kristalle erweckten, diesen Titel trugen. Dann lächelte er begreifend. "Du meinst Insanna? Seymas war nicht gekränkt." "Er sollte es aber sein. Die Kristalle müssen ihm persönlich überbracht werden. Nicht einmal Thyrian dürfte sie annehmen." "Denke nicht weiter darüber nach," schlug der Magier gemütlich vor. "Insanna kennt mich und empfindet es nicht als Nachteil, wenn der Pala des Than ein Magier ist." "Um so schlimmer," brummte Nymardos, schwieg nun aber.
Tibra schaute ihm einige Zeit zu, wie er den Teller leerte und dabei nicht einmal den Blick hob, sondern fast beleidigt sowohl ihn als auch Gerrys ignorierte. "Hey," lachte er dann, "du bist nicht mehr der Than und damit nicht mehr für Amarras Regeln verantwortlich." Nymardos schob den Teller zurück. In seinen dunklen Augen schimmerte fast Betrübnis. "Vielleicht freut dich das in Kürze weitaus weniger," warnte er. "Aus Rücksicht auf dich wird Seymas die Erweckerin wohl nicht belangen. Aber es dürfte ihm so wenig wie mir entgangen sein, daß du die Steine manipuliert hast. Irgendetwas geschah gestern, ich weiß es. Seymas wird es erfahren." "Freilich wird er das," versprach Tibra gelassen. "Er weiß auch so schon, daß ich einen Kristall wegnahm. Ich hatte nur noch keine Zeit zu einer Erklärung." "Er schenkte Gerrys ein.
dir
doch einen Kristall," mischte sich nun
Tibra schmunzelte. Dann erzählte er den Freunden, wie er diesen Kristall schon vor Tagen erhielt und wie wenig er daran zweifelte, daß Seymas diesen Stein erkannte. Fast fröhlich zeigte er den Freunden dann den unerweckten Kristall. Gerrys betrachtete den Stein mit Verwunderung, während Nymardos nun sehr erregt wurde. "Wie konntest hielt er Tibra vor.
du es wagen, einen Kristall zu stehlen?"
"Beruhige dich," mahnte Gerrys rasch und faßte nach Nymardos' Hand. "Hast du schon vergessen, wie man mir einmal einen solchen Diebstahl vorhielt?"
"Caryll?" erkundigte sich Tibra mit ehrlichem Interesse. Der Falla nickte. "Ich lebte als Priesterschüler hier," erzählte er. "Zu meinen Aufgaben gehörte es, die Fracht der Schiffe aus Moras zu kontrollieren und dabei fiel mir ein unerweckter Kristall auf, der mir anders erschien. Ich steckte ihn ein und vergaß ihn. Als Caryll davon erfuhr, wurde er sehr wütend." "Zu recht," brummte Nymardos. "Damals war er Pala des Than. Er verurteilte mich dazu, dreissig Tage in einer der Erdhöhlen zu verbringen, die einige Tagesreisen entfernt liegen. Ohne Licht sollte ich den Wert des Lichtes, auch in den Flammenden Kristallen, schätzen lernen." Der Falla lächelte bei der Erinnerung. "Nach nicht einmal der Hälfte der Zeit erkannte ich meine Berufung durch Raaki. In dieser Stunde kam Nymardos und befreite mich." "Diese Erdhöhlen wollte ich mir ohnehin einmal ansehen," grinste Tibra. "Aber ich bezweifle, daß Seymas mich dorthin schicken würde." Er sah Nymardos an. "Ich trage noch immer das Opalsiegel, das du mir gegeben hast, als die Macht noch dir gehörte. Du sagtest, daß mir dieses Siegel alles übereignet, was ich will. Also kann ich kein Dieb sein, wenn ich nehme, was mir zusteht." "Nimm die Sache nicht so leicht," murmelte Nymardos nachdenklich. "Amarra lebt vom Export seiner landwirtschaftlichen Güter. Die Früchte, der Wein, die Samen - das sichert den Unterhalt des Landes. Aber der Reichtum gründet in den Kristallen, die nur hier erweckt werden können. Seymas ist verpflichtet, dich zu tadeln. Ich hoffe nur, Thyrian erfährt nichts davon. Er würde auf einer harten Strafe bestehen."
"Häh?" Mehr als diesen erstaunten Laut brachte Tibra zunächst nicht heraus. "Thyrian steht nicht über mir." "Irgendwie schon. Er ist Priester und er ist es, der Amarra regiert. Wenn es darauf ankommt, hört Seymas auf ihn, nicht auf dich. Du solltest den Than schnellstmöglich um Verzeihung bitten." Nun verging auch Tibra der Appetit. Langsam schob er den Teller weit von sich. Nachdenklich sah er zu Gerrys, der ihm jedoch mit einer Geste zu verstehen gab, daß er sich außerstande fühlte, die Sachlage zu beurteilen. Ernst ruhte Nymardos' Blick auf dem Magier, der für einen kurzen Moment Seymas' Zorn für möglich hielt. Dann schüttelte sich Tibra, als könne er so jeden beklemmenden Gedanken abwerfen. "Ich liebe dich," mahnte Nymardos. "Du weißt, daß ich mich um dich sorge. Doch was Amarra betrifft, so kennt niemand besser als ich dessen Sitten und Regeln. Du hast einen Fehler gemacht, Tibra. Und Seymas darf das nicht einfach übergehen. Er muß reagieren und alles, was du hoffen kannst, das ist, daß er die Sache nicht in die Öffentlichkeit zerrt. Ich rate dir, dich ihm zu unterwerfen und jede geforderte Buße zu leisten." "Jetzt erst verstehe ich, weshalb Ilkonys hier ist," erwiderte der Magier langsam. "Du schaffst es wirklich, einen Menschen mißtrauisch zu machen, Nymardos. Machst du das Gleiche mit Caryll?" "Was meinst du? Sicher, Caryll neigt ein wenig dazu, die Macht seines Herrn zu übersehen. Aber..." "Schon gut," unterbrach ihn Tibra, nun doch etwas erregt, "ich verstehe es schon. Du solltest nicht hier sein, Nymardos. Du kannst einfach nicht vergessen, daß du der Than gewesen bist und die Ansprüche, die du an dich selbst gestellt hast, jetzt auf Seymas zu übertragen. Er ist nicht wie du. Er
hat es versucht, damals, als man ihm die Macht übergab. Es hat ihn fast zerbrochen. Er regiert auf seine Weise und die ist ebenso gut und richtig wie jede andere. Höre doch endlich auf damit, Mißtrauen gegen ihn zu säen." "Das ist nicht meine Absicht," verteidigte sich der Freund überraschend heftig. "Hast du noch immer nicht begriffen, daß Seymas nicht wirklich regiert; daß Thyrian die Fäden in der Hand hält und Seymas sich seinem Willen beugt. Und Thyrian besteht in allem auf der Einhaltung der Regeln. Das ist auch gut so. Amarra kann nicht existieren, wenn sein Herr ohne jeden Ernst spielerisch seine Tage verbringt." "Das ist Unsinn," stellte Tibra gelassen fest. "Amarra existiert sehr gut mit diesem Herrn. Ich begreife langsam, warum ich nicht um deine Freundschaft warb, solange du diese Macht inne hattest. Du hättest mich wegen einem solchen Kristall wirklich verurteilt." "Das wird Seymas auch tun," beharrte Nymardos mit ernster Stimme. "In ein paar Stunden werde ich ja wohl wissen, wie er reagierte." Tibra lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, diesen Worten nachlauschend und schon wieder einen Anflug des Gefühls verspürend, das Seymas' Zorn für möglich hielt. Ruckartig erhob er sich da. "Ich liebe dich, Nymardos," erklärte er mit fester Stimme. "Aber ich spreche dir jede Befugnis ab, das Handeln Seymas' zu beurteilen. Die Sturheit, mit der du Mißtrauen gegen ihn entstehen lassen willst, ist leider nicht ohne Kraft. Wenn ich dir noch eine Weile zuhöre, werde ich womöglich anfangen, dir zu glauben. Was, bei allen Göttern, können dir die Leute hier entgegen setzen, die Seymas weit weniger kennen als ich? Deine üble Saat muß in ihnen ja zwangsläufig aufgehen. Es ist nicht gut, daß du hier bist, Freund." Er atmete tief
durch. Dann strafften sich seine Schultern, seine Stimme gewann an Festigkeit. Er fuhr fort: "Wenn dein Mahl beendet ist, gehe zum Hafen. Ich werde dafür sorgen, daß dich ein Segler nach Nodher bringt." Überrascht sah Gerrys auf. "Du verweist Nymardos des Landes?" erkundigte er sich verblüfft. "Ich bin Pala des Than," bestätigte Tibra entschlossen, "ich habe das Recht dazu. Wenn du mit ihm gehen willst, wird dir das niemand verübeln, Gerrys. Ich besuche euch im Schwarzen Tempel, sobald ich kann. Dann reden wir in Ruhe darüber." Nymardos starrte den Freund ungläubig an. Doch von Tibra ging eine solche Entschlossenheit aus, daß er nicht zu diskutieren versuchte. So nickte er nur. Da ging der Magier nach kurzem Gruß hinaus.
D
raußen zögerte er dann doch. Es war weniger, weil er den Freund zum Hafen befahl, sondern mehr, da er nun nicht wußte, wie er dafür sorgen könne, daß sich ein Segler nach Nodher bereit fand. Einen vorbeieilenden Priester fragte er nach Sasaran, doch er mußte erfahren, daß sich dieser derzeit nicht beim Tempel befand. Sasaran hätte die Sache erleichtert. Tibra kannte diesen Priester, der sich oft genug als erfahrener Seemann bewährte. Achselzuckend begab sich der Magier nun zum Tempel. Niemand hinderte sein Eintreten und auch die Männer, die vor Seymas' Gemächern wachten, neigten nur grüßend das Haupt und traten beiseite. Thyrian und Seymas hatten ihr Frühmahl schon beendet, saßen aber noch beisammen und befanden sich in einem heftigen Disput, wobei es nicht gerade leise zuging. Sie verstummten jedoch beide, als sich die Tür öffnete und als
sie Tibra sahen, grinsten sie und vergaßen augenblicklich ihre Meinungsverschiedenheit, die ohnehin nicht viel bedeutete, da sie beide oft und gern über die Belange ihres Alltags stritten. "Ich will euch nicht lange stören," versprach der Magier, der sich jetzt wie ein Eindringling vorkam. "Ich brauche nur ein Schiff und weiß nicht, wie ich das machen soll." Seymas lachte leise, während Thyrian überrascht aufsah und fast besorgt fragte: "Willst du nach Hause?" "Schiffe findest du im Hafen," grinste Seymas, der diese Möglichkeit nicht in Betracht zog. "Wo ist dein Problem?" "Na ja," meinte Tibra, sich langsam setzend, "ich brauche ein Schiff, das sofort Segel setzt, um nach Nodher zu fahren. Es ist nicht für mich." "Dann sende einen Boten zum Hafen," schlug Thyrian vor. "Egal wen?" Seymas lächelte nur. Es gab für ihn wie auch für Thyrian durchaus priesterliche Wege, die einen telepathischen Kontakt zu ihren Leuten im Hafen ermöglichten und ihren Willen übermittelten. "Ich regle das für dich," versprach Thyrian. "Wenn du mir jetzt noch sagst, welche Passagiere aus Nodher geholt werden sollen und wo das Schiff ankern soll, leite ich alles in die Wege." Plötzlich kam sich Tibra etwas lächerlich und anmaßend vor. Er suchte förmlich nach Worten:
"Wenn die Hafenstadt Nurs zu weit entfernt ist, wäre dann der Oberlauf des Riatha möglich? Es soll ja niemand geholt werden." Er zögerte. "Ich habe Nymardos' Heimreise angeordnet." "Weshalb?" entfuhr es Thyrian verblüfft. "Weil er nicht vergessen kann, daß er einst der Than war," murrte Tibra etwas unwirsch, "und weil er sich einbildet, alles und jeden hier beurteilen zu müssen." "Vor allem mich," grinste Seymas. "Was immer es zwischen euch gab," blieb Thyrian ernst, "überlege dir genau, ob es deinen Entschluß rechtfertigt. Wenn Nymardos ohne Geleit zum Hafen und das Land verlassen muß, kommt das einer großen Demütigung gleich." Auf Tibras fragenden Blick hin fuhr er fort: "Gäste werden stets im Hafen begrüßt und dort auch verabschiedet. Wer auf diese Weise nicht geachtet wird, gilt auf Amarra als unwillkommen. Du kannst dir sicherlich vorstellen, wie schnell sich so etwas herumspricht und wie wenig ein solcher Mensch in den Tempeln dann noch Beachtung findet." Jetzt lächelte er doch. "Ich glaube, du kennst immer noch nicht alle Sitten Amarras. Hast du etwas dagegen, wenn ich Nymardos begleite?" Natürlich hatte Tibra keine Einwände. Er wollte Nymardos ja nicht ernstlich schaden, war er doch sein Freund und ihm durchaus auch sehr zugetan.
H
arkym hatte sich in der vergangenen Nacht doch sehr geärgert. Im Kinderhaus zu schlafen, das belastete ihn eigentlich nicht, erlaubte Mylena doch, daß er mit Andraag das Lager teilen durfte. Aber sein neuer Freund redete so viel von Tibra und erzählte mit Begeisterung von all dem Erleben, das der Magier mit ihm teilte. Da war so etwas wie
Eifersucht in Harkym, ein wenig Zorn und vor allem eine große Nachdenklichkeit. Er stand im Eingang des Hauses und hoffte, Thyrian würde ihn bald holen. Seine Gedanken weilten jedoch bei Andraags Erzählungen. Das waren keine großen Abenteuer, sondern nur kleine Erlebnisse. Doch Harkym kannte den Unterschied. Wenn er mit Thyrian zusammen einen Käfer beobachtete, so wußte Thyrian fast alles über das Leben des Tieres und seine Gewohnheiten. Aber Tibra erzählte Geschichten und schuf dadurch eine Faszination, die einen Käfer so wichtig wie einen Menschen werden ließ. Ein Leben mit Thyrian versprach Wissen, Einsicht und Klarheit; eines mit Tibra hingegen Bewußtsein, Kraft und Spannung. Er hatte sich ja eigentlich schon entschieden und doch wußte das Kind, daß sich seine Zukunft erst mit Tibras Abreise endgültig festlegte. Er sah Thyrian und lief ihm entgegen, mußte dann aber doch kräftig betteln, ehe dieser ihm die Begleitung gestattete. Eben verließ Nymardos, begleitet von Gerrys, sein Gasthaus. Ein kleiner Wink Thyrians genügte, um Priesterschüler herbei zu rufen, die sofort das Gepäck der beiden Männer aufnahmen. "Ich danke für die Ehre des Geleits," versicherte Nymardos nach kurzer Verneigung mit gequältem Lächeln. "Ich hatte, ehrlich gesagt, nicht damit gerechnet." "Tibra hatte nicht die Absicht, euch zu kränken," versicherte Thyrian gelassen, den Weg aufnehmend und die Gäste so zwingend, mit ihm zu gehen. Er schritt zwischen ihnen, führte Harkym bei der Hand und widmete sich zunächst nur Gerrys. Thyrian stellte mit großer Befriedigung fest, daß der Falla sich in den vergangenen Tagen ganz mit Amarra und seinem jungen Herrn aussöhnte. Und Gerrys begriff, daß der Pala die Freundestreue
durchaus achtete, welche ihn bewog, nun mit Nymardos zu gehen. Danach wandte sich Thyrian wieder Nymardos zu. "Es ist sicherlich mein Versäumnis," gestand er leichthin, "daß Tibra nicht alle Sitten dieses Reiches kennt. Er wußte nicht, daß das Geleit zum Hafen so wichtig ist. Der Gedanke eurer Abreise kam ihm wohl auch sehr spontan." "Das ändert nichts daran, daß er mich meiner Heimat verweist," erwiderte Nymardos düster. Sein Blick glitt wehmütig über die fruchtbare Landschaft. "Ich werde Amarra wohl nicht wiedersehen." "Das müßt ihr mit Tibra abklären. Ich werde mich hüten, seine Einscheidung zu bewerten." "Ihr meint, ihm stehen solche und noch weitreichendere Entscheidungen wirklich zu?" "Er ist Pala des Than," lächelte Thyrian, das Wort Pala bewußt in der Weise betonend, die nicht eine Freundschaft und Liebe, sondern ein hohes Amt bedeutete. Nymardos Fuß stockte. Da Thyrian sich aber nicht aufhielt, nahm er den Weg rasch wieder auf. "Ihr scherzt," hoffte er endlich. "Keineswegs, wenngleich ich bis vor einer Stunde eine andere Betonung seines Titels gewählt hätte." Thyrian wirkte erstaunlich heiter. "Ich liebe Tibra, wie ihr wißt. Aber ich hätte ihm eigentlich nie zugetraut, daß er ausgerechnet euch die Abreise befiehlt. Seymas nahm diese Entscheidung sehr gelassen hin. Mir hätte er sie nie gestattet." "Er achtet euch höher als Tibra," versicherte Nymardos eilig.
"Warum glaubt ihr nur, daß alles immer eine Sache der Wertung sei? Tibra durfte diese Entscheidung fällen, weil er euer Freund ist. Vermutlich fürchtete er, euer weiteres Verweilen könne ihm schaden und sein Vertrauen in Seymas gefährden." Er hielt Harkyms Hand etwas fester. "Ohne Vertrauen ist ein Leben sehr düster." "Ihr wißt, worüber wir sprachen?" Jetzt lachte Thyrian ganz leise auf. "Wir redeten nicht darüber; dazu war keine Zeit. Aber ich müßte ein Narr sein, wenn ich nicht auch ohne Worte wüßte, daß ihr euch über einen unerweckten Kristall erregt, der in Moras ein paar Solare kostet. Ein paar Solare sind keinen Zwist wert." "Ihr seid sicher, daß es sich um einen unerweckten Kristall handelt?" erkundigte sich Gerrys aufmerksam. "Ich nehme es an. Die Liste der Erweckerinnen vermerkt ja nicht nur die Anzahl der Kristalle, die sie bringen, sondern auch deren Lichtstärke. Ein Stein war mit Leuchtkraft Null markiert. Ein solcher Stein befand sich nicht bei der Lieferung; also nahm Tibra ihn an sich." "Er wird kaum in der Lage sein, einen unerweckten Kristall von einem Lebenden Stein zu unterscheiden," murrte Nymardos. "Ein Lebender Kristall kann Tibra aber nicht interessieren, denn wäre es anders, besäße er einen." Thyrian lächelte sacht. "Eigentlich interessieren ihn auch unerweckte Kristalle nicht, denn diese könnte er in Moras billig erwerben. Wenn eine Erweckerin einen Stein in seinem natürlichen Zustand bringt, ist das schon bedeutsam und wenn sie ihn einem Magier und nicht dem Than übergibt, dann gehört der Stein ganz sicher nicht nach Amarra. Also hat alles seine Ordnung
und ist keinen weiteren Gedanken wert." Jetzt blieb Nymardos doch stehen und da er den Weg nicht wieder aufnahm, verhielten auch die anderen den Schritt. "Ihr billigt auch das Verhalten der Erweckerin?" forschte Nymardos ungläubig. "Ich denke, sie hat sehr klug gehandelt," gab Thyrian gelassen zu. "Sie hat Seymas gekränkt." "Man kann ihn nicht kränken, indem man seine Freunde achtet," widersprach der Pala des Than mit ruhiger Stimme. "Kommt weiter, das Schiff wartet." Sie nahmen den Weg wieder auf. Thyrian sprach weiter über Tibra und er zeigte mit deutlichen Worten, daß nichts an seinem Handeln eine Kritik rechtfertigte. Harkym verhielt sich ganz still, doch er lauschte gebannt. Er verstand nicht alles, was die Erwachsenen sprachen, aber er begriff, daß es um seinen Dada ging und daß der nach Thyrians Meinung ein sehr besonderer Mensch sein mußte. "Tibra wirft mir vor, Mißtrauen gegen unseren Gebieter zu säen," gestand Nymardos, nachdem bereits das Meer in Sicht kam. "Aber ich habe stets nur versucht, ihm zu helfen. Amarra ist eine fremde Welt für ihn. Er kann die Gesetze hier nicht kennen und wenn er in seiner Unwissenheit Seymas oder euch erzürnt, verliert er viel." "Er kann nicht verlieren," widersprach Thyrian nachdrücklich. "Tibra ist nicht Gast hier, sondern Herr. Er ist Pala des Than."
"Ein Titel, den man durchaus auch verlieren kann," murmelte Nymardos in einem Anflug von Bitterkeit. "Gewiß," gab Thyrian lächelnd zu, "das kann man, da er ja eine Umschreibung für Liebe und Vertrauen ist. Beides gehört zusammen und ihr habt schon vor Jahren aufgehört, ihm zu vertrauen. Tibra schickt euch fort, weil ihr eben dieses Vertrauen in ihm erschüttern wollt." "Das will ich nicht," widersprach Nymardos heftiger, als es ihm eigentlich zukam. "Ich sehe durchaus, daß sich Tibra hier wie ein Herr benimmt und daß dies niemand hinterfragt. Er sollte nur nicht vergessen, daß er erst an zweiter Stelle kommt. Ich fürchte fast, diese Macht bedeutet ihm schon zu viel." Nymardos übersah Gerrys' warnenden Blick und fuhr fort: "Tibra muß doch wissen, daß ein Wort von Seymas über den Verbleib von Harkym entscheidet. Und er nimmt es schweigend hin, daß ihm der Sohn genommen wird, um dessetwillen er sich mit der ganzen Welt verfeinden würde. Nur gegen Seymas stellt er sich nicht. Und ich habe auch nicht gesehen, daß er euch diesen Raub verübelt. Mit jedem anderen würde er sich deshalb duellieren." Harkym senkte den Kopf. Er verstand, um was es bei diesen Worten ging. Jetzt versuchte er, sich von Thyrian zu lösen. "Ihr seid erstaunlich rücksichtslos," stellte dieser mit einem Blick auf den Knaben fest, den er etwas fester hielt. "Dabei entgeht euch fast, daß ihr nun versucht, Tibra vor mir abzuwerten. Ich hingegen bewundere einen Mann, der sogar einem Kind Selbstbestimmung zugesteht. Ich lerne viel von ihm - vor allen in jenen Bereichen, wo es um meine Macht und meine Möglichkeiten geht, Einfluß zu nehmen auf das Leben anderer." "Und diese Lernerfahrung ist den Schmerz wert, den ihr ihm zufügt? Habt ihr vergessen, wie er litt, als er Harkym in Wyla suchte?"
Thyrian schwieg, doch in diesem Schweigen lag keineswegs ein Schuldeingeständnis. Nymardos dachte an Tibras Schmerz, wenn er sich jener Reise entsann. Doch Thyrian erinnerte sich an anderes. Dort kam er Tibra näher, dort fand er auch durch diesen Freund zu einer inneren Heiterkeit, die er zuvor nicht kannte. Er lächelte, empfand dabei aber eine wehmütige Sehnsucht nach einem vertrauten Gespräch mit dem Magier, dem er in den letzten Tagen doch nur ausgewichen war. Nymardos deutete dieses Schweigen als Vorwurf, das in seinem Andauern recht zermürbend wirkte. Als sie den Hafen erreichten, neigte er sich tief vor Thyrian. "Ich bitte um Vergebung, Pala. Es steht mir nicht zu, euch Vorwürfe zu machen, noch, euch zu raten. Ich danke für das ehrende Geleit." "Mögen die Götter mit euch sein," antwortete Thyrian mit dem formellen Gruß, den er danach auch Gerrys gab. Er entließ die Freunde auf den Segler, der sofort danach aus dem Hafen glitt und Nodher zustrebte. Einige Zeit hindurch sah Thyrian dem sich entfernenden Segel nach, dann wandte er sich um und begann den Rückweg. Schweigsam ging Harkym neben ihm. Wenig später verhielt Thyrian den Schritt, sah lächelnd auf den Knaben nieder. Scheu erwiderte das Kind diese Geste.
T
ibra inzwischen hatte den unerweckten Kristall vor Seymas auf den Tisch gelegt und mit wenigen Worten berichtet, was Insanna beim Anblick dieses Steines fühlte. Seymas interessierte sich nicht dafür. Er wollte wissen, was es zwischen dem Freund und Nymardos gab und ließ sich dieses sehr ausführlich berichten. Danach schwieg er. "Es
gefällt
dir
nicht, was ich tat," begriff Tibra. "Du
kannst die Abfahrt des Seglers noch verhindern. Wenn du es willst, entschuldige ich mich bei Nymardos." "Ich hoffte, daß ich mich noch einmal mit ihm unterhalten kann," gab Seymas nachdenklich zu. "Ich werde wohl immer hoffen, die alte Nähe könne wieder entstehen." Er lächelte nun doch. "Du warst etwas anmaßend, Freund. Nymardos bleibt unantastbar, auch für jene, mit denen ich alles teile. Hat er dich so sehr verunsichert?" Tibra nickte langsam, ein beunruhigendes Gefühl empfindend. "Du bist immer noch unsicher," stellte Seymas fast erstaunt fest. Er lachte leise. "Nein, ich hole Nymardos nicht zurück. Er mußte sich jetzt das erste Mal deiner Macht beugen. Vielleicht lernt er etwas daraus." Er nahm den Kristall und warf ihn Tibra zu. "Soll ich mit Thyrian über den Stein reden?" erkundigte sich der Magier etwas verblüfft. "Wozu? Er weiß auch so schon, was geschah. Ein unerweckter Kristall besitzt keinen Wert für uns und da die Erweckerinnen ihn nicht erwecken wollen, brauchen wir ihn auch nicht." "Du könntest es befehlen," mahnte Tibra. "Ich könnte vieles befehlen," erwiderte Seymas, sich angespannt vorneigend. "Ich könnte befehlen, daß Nymardos das Land nicht verläßt; daß dieser Kristall unter allen Umständen erweckt wird und auch," er zögerte kurz, "daß Harkym bei dir bleiben muß. Die Priesterinnen des Lichts werden mir danach nicht mehr vertrauen, Nymardos wird dich vermutlich wirklich irgendwann gegen mich einnehmen, Thyrian fühlt sich danach verraten und Harkym vergewaltigt. Ich sehe keinen Gewinn darin."
Unvermittelt lachte er auf, Gedanken ab.
schüttelte
jeden bedrückenden
"Laß uns ein wenig durch die Gärten streifen," schlug er vor. "Wir nehmen Ilkonys mit. Er ist mir ein wenig fremd geworden und wir sollten etwas dagegen tun." Die kommenden Stunden gestalteten sich dann geradezu vergnüglich. Ilkonys fühlte sich sehr wohl in dieser Gesellschaft. Es dauerte nicht lange, bis er alle Scheu vor Seymas ablegte und sich offen an ihren Gesprächen beteiligte. Er sprach von Cynara, die er fast nicht wieder erkannte. Hier auf Amarra benahm sie sich so ganz anders als in Nodher, sie schien auch glücklicher zu sein, sehr viel stärker und selbstbewußter. "Du fühlst dich schuldig, weil deine Gemahlin in Nodher anders ist," stellte Seymas gelassen fest. "Du kannst ihr aber die Pflichten einer Königin nicht fernhalten." "Ich frage mich, ob es nur diese Pflichten sind, die ihre Lebensfreude etwas schmälern," gab Nodhers Erbe ruhig zu. "Wenn ich sie hier sehe, dann ist das eine gänzlich andere Frau als jene, die ich liebe." "Gefällt sie dir nicht?" erkundigte sich Tibra verblüfft. "Oh, sie gefällt mir sehr," lachte Ilkonys da. "Ich wünschte, sie würde so bleiben." "Dann mußt du ihr erlauben, ihre beiden engsten Freundinnen mitzunehmen," riet Seymas lächelnd. "Ich? Ihr erlauben? Ihr müßtet das gestatten, Gebieter, denn ihr entscheidet über die Orte, wo eure Menschen sind." "Ich habe nichts dagegen," versprach der Than und lenkte danach das Gespräch auf andere Themen.
Gegen Mittag kehrten sie zum Tempel zurück. Thyrian war noch nicht eingetroffen und er kam auch bis zum Abend nicht. Auch am nächsten Tag blieb er fern. Niemand wußte, wo er war.
F
ünf Tage vergingen. Changanar fand ein paar wenige Spielkameraden, die ihn im Gasthaus seines Vaters besuchten und den Aufenthalt für ihn angenehm gestalteten. Jiddan achtete auf den Knaben, von dem er inzwischen gehorsamen Respekt erhielt, der allerdings nicht auf Zuneigung, sondern auf Mißtrauen und Furcht basierte. Ilkonys schätzte diesen Priester nun sehr und es bereitete ihm sichtbar Freude, daß auch Cynara Jiddan mit ehrlicher und großer Freundlichkeit begegnete. Insanna war zwei Tage beim Tempel geblieben, verbrachte viel Zeit mit Tibra und hatte sich von ihm ein Stück auf dem Rückweg begleiten lassen. Seither gestaltete er seine Stunden viel mit Andraag, auch mit den anderen Bewohnern des Kinderhauses. Seymas hatte nicht viel Zeit für Tibra. Er nahm Thyrians Pflichten wahr, leitete Rituale, gab Anordnungen, Anweisungen, traf Entscheidungen und schien immer und überall präsent zu sein. Er schien ebenso unbeschwert wie unermüdlich. An diesem Tag lud er Tibra zum gemeinsamen Mittagsmahl und entschuldigte sich, weil die Pflichten ihn so oft dem Freund entfernten. "Wo steckt Thyrian eigentlich?" wollte der Magier wissen. "Ich habe keine Ahnung," noch nie seiner Arbeit fern."
grinste
Seymas.
"Er blieb
"Er hat sich nicht bei dir gemeldet?" Seymas schüttelte den Kopf. "Aber du kannst ihn doch im Geist erreichen?"
"Er mich auch, wenn er es will." Seymas lachte und wirkte sehr jungenhaft. "Er stromert mit Harkym durch das Land und tut damit genau das, was ich so oft mit dir tat, Freund. Ich habe ihn nie um Erlaubnis gefragt und er muß das auch nicht tun." "Aber er wußte stets, wo du bist," wandte Tibra nachdenklich ein. "Ich sorge mich um Thyrian. Bleibt er fern, weil ich hier bin?" "Vielleicht will er einfach ein paar unbeschwerte Tage verbringen," mutmaßte Seymas lächelnd. "Er wird es genießen, unbeschränkt Zeit für Harkym zu haben und wenn er mir deshalb Amarra überläßt, dann ist es ihm wohl auch wichtig." Er lachte heiter. "Ich glaube nicht, daß es direkt mit dir zu tun hat. Denke einfach nicht darüber nach." "Das fällt mir schwer," gab der Magier nachdenklich zu. "Nur das?" forschte Seymas grinsend. "Nun ja, ich würde es gern sehen, wenn du mir endlich die Heimreise gestattest. Ich akzeptiere, daß ich Harkym jetzt nicht gewinnen kann, aber ich sehne mich nach meiner Familie. Ich werde langsam unruhig." "Warte noch ein paar Tage," bat der Than da rasch. Auf Tibras Fragen hin gab er dann zu: "Ich möchte, daß sich Ilkonys und Jiddan näher kommen. Nodhers Erbe ist schon sehr angetan von Jiddan, aber der hat noch nicht ganz begriffen, daß auch ein König im Grunde nur ein Mann ist." Tibra lächelte entschuldigend. Er hätte wissen müssen, daß ihn Seymas nicht ohne Grund aufhielt. Daß sich Nodhers Erbe mit Jiddan sehr angeregt über priesterliche Dinge unterhielt, war ihm ja so wenig entgangen wie Ilkonys' neues Interesse an einem weiteren Fortschreiten auf diesem Weg. Mercur hatte den Prinzen geleitet, aber dieser
Weg schien für sie beide ein Ende gefunden zu haben. "Achtest du auch bei den anderen Erben der Macht so genau darauf, daß ihnen immer wieder mögliche Leiter begegnen?" erkundigte er sich spöttelnd. "Bei Sarais Erben Delaros schon," gab Seymas unumwunden zu. "Sions Erbe Allanon braucht meine Hilfe nicht; er hat seinen Weg nie aus den Augen verloren. Aber ich passe auf alle Reiche auf. Das ist mein Amt, Tibra." Er lachte leise. "Seit einigen Wochen ist übrigens auch ein sehr fähiger Priester zu Gast beim Pecha von Ambar." Dann lenkte er von diesem Thema ab und lud Tibra ein, ihm ein wenig bei seiner Arbeit zu helfen. Am späten Nachmittag meldete ihnen eine Priesterin, daß sich Thyrian dem Tempel nahte. Sie gingen hinaus, um ihn zu begrüßen. Als sie nahten, blieb Harkym stehen. Thyrian trat allein zu ihnen. "Schön, daß du wieder da bist," grüßte Seymas aufrichtig. "Wo bist du gewesen?" "Ich komme vom Hafen," erwiderte Thyrian mit dunklem Klang in der Stimme. Er sah nur Tibra an. "Ein Segler rüstet zur Reise. Ich möchte, daß du morgen Amarra verläßt." Tibras Blick glitt zu Harkym, der stur zu Boden starrte. Seymas ergriff die Hand des Magiers. Er sagte kein einziges Wort, doch forschend sah er Thyrian an, der nun seinen Geist abschirmte und jede Auskunft so verweigerte. "Du willst, daß ich gehe?" vergewisserte sich Tibra verblüfft.
"So ist es," bestätigte Thyrian. "Und bis dahin laßt mich bitte allein." Er wandte sich um, winkte Harkym herbei und ging mit dem Knaben davon. Seymas löste sich von Tibra. "Er ist unglücklich," stellte Tibra erstaunt fest. "Das hat er nicht gern gesagt. Und er will es nicht erklären. Wirst du es zulassen?" "Willst du gehen?" Tibra sah zum Gasthaus, das Ilkonys bewohnte. Eine so überstürzte Abreise störte Seymas' Pläne. "Das ist jetzt nicht wichtig," versicherte der Than. "Ich werde nur nicht zulassen, daß du verletzt bist. Es scheint Thyrian allerdings sehr wichtig zu sein. Soll ich mit ihm reden?" "Nein." Tibra verstand schon. "Es ist mein Sohn, den er haben will und meine Nähe wird unerträglich. Es ist gut, wenn wir uns trennen, zumindest jetzt und auf eine gewisse Zeit. Ich werde Ilkonys informieren. Jiddan stammt aus Minas. Vielleicht kommt er mit, wenn ich ihn einlade, seine Familie zu besuchen."
S
eymas gefiel der Gedanke. Er hielt den Freund nicht auf, der sich nun zum Gasthaus des Prinzen begab. Changanar spielte mit einigen Kindern im Garten. Er wurde leiser, als Tibra nahte und war froh, weil dieser Mann ihn nicht weiter beachtete. Jiddan, mit Ilkonys ins Gespräch vertieft, erhob sich beim Nahen des Magiers und verneigte sich mit erfreutem Lächeln. "Ich hoffe, du bleibst ein wenig," lud Ilkonys den Freund ein.
Tibra nahm Platz, erzählte dann in leichtem Plauderton, daß am Morgen ein Segler für sie nach Nodher fuhr. Nichts an seiner Stimmlage und seinen Gesten verriet, wer die Heimreise anordnete und ob sie ihm gefiel. Ilkonys wandte sich sofort an Jiddan. "Kommst du mit uns?" Das klang bittend. Der Priester wich seinem Blick aus. "Hier bist du ein Priester und Changanar nur ein Gastkind," erwiderte er leise. "Auf Burg Nodher sind die Dinge anders und es werden viele da sein, die auf deinen Sohn achten." "Ich habe nicht an Changanar gedacht," versicherte Ilkonys, der danach ins Haus eilte, um Tibra einen Becher zu holen. "Und wer achtet dort auf Nodhers Erben?" grinste der Magier in der kurzen Zeit der Abwesenheit des Prinzen. Jiddan warf ihm einen erstaunten Blick zu, schaute dann zum Haus und verstand. Er lächelte Tibra zu. Ilkonys kehrte schon zurück und reichte dem Magier den gefüllten Becher. Während Tibra trank, murmelte Jiddan zögernd: "Ich weiß nicht, ob mein Gebieter mir eine Reise erlaubt." Tibra leerte den Becher, gab ihn Ilkonys mit einem Augenzwinkern zurück. Da wußte der Prinz, daß niemand Jiddan aufhalten würde. Erfreut wandte er sich wieder dem Priester zu, kaum bemerkend, daß Tibra den Garten wieder verließ. Der Magier begab sich zum Kinderhaus, verabschiedete sich dort von Andraag, der sehr traurig wurde dabei. Als Tibra dann sein eigenes Haus betrat, fand er Seymas. Der Than
hatte auf ihn gewartet und ließ es sich nun nicht nehmen, die wenigen Stunden, die ihnen noch blieben, mit ihm zu teilen. Ihm gefiel Thyrians Entscheidung nicht, doch er nahm sie hin, wie er Tage zuvor Tibras Entscheidung hinnahm, die Nymardos die Heimreise gebot. Er schaffte es sogar, die Stunden frei von Betrübnis zu halten.
C
ynara freute sich auf Nodher. Daß ihre Freundinnen mit ihr kamen, ließ keinen Gedanken an Abschied in ihr aufkommen. Und Ilkonys freute sich über Jiddans Begleitung. Der Weg zum Hafen erschien ihnen allen kurz in ihren angeregten Gesprächen. Seymas ging mit Tibra voraus. Er hatte Thyrian nicht mehr gesehen und wußte auch nicht, ob er plante, den Freund zu verabschieden. Alles, was er wissen wollte, würde er bei seiner Rückkehr zum Tempel erfahren. Seymas sprach ein paar letzte Worte mit den Reisenden, gab jedem einen ehrlichen Gruß. Zuletzt wandte er sich an den etwas abseits stehenden Magier. "Du hast mein Wort, daß ich auf Harkym achten werde," versprach er mit ungewohntem Ernst. "Wenn du wieder kommst, wird er mit dir reden und nicht mehr an deiner Liebe zweifeln." Tibra setzte zu einer Erwiderung an, doch da sah er Thyrian auf dem Pfad und verstummte. Der Pala des Than führte Harkym mit sich. Er näherte sich bis auf wenige Schritte. Angstvoll klammerte sich Harkym an seiner Hand fest. Thyrian starrte in Tibras Augen. Er sah ihn intensiv an, versuchte jedoch nicht, seinen Geist zu berühren. "Harkym hat sich entschlossen, bei mir zu bleiben," erklärte er mit fast drohender Stimme. "Er will ein neues Leben beginnen und versteht, daß er dazu sein altes Leben zum Abschluß bringen muß. Er wird mit Bakaar nach Minas
gehen, um sich von Aniela und seinen Geschwistern zu verabschieden. Du wirst ihn nicht bedrängen, Tibra, und ihn nicht in deine Nähe zwingen. Nach der Lichtwende bringt ihn Bakaar zu mir." Er ging in die Hocke, umarmte Harkym. Der Kleine klammerte sich an ihm fest, bedeckte sein Gesicht mit Küssen. "Ich komme wieder," versprach er. "Das hoffe ich," erwiderte Thyrian lächelnd. "Nun geh zu Bakaar. Er wird dich beschützen." Harkym sog tief den Atem ein. Doch er gehorchte, löste sich von Thyrian und lief zu Bakaar, der ihn auf die Arme hob und festhielt. Tibra stand fassungslos. "Was tust du?" Thyrian sah ihn nur schweigend an. "Du glaubst doch nicht wirklich, daß du Harkym so behalten kannst. Noch ehe wir Minas erreichen, habe ich mich mit ihm ausgesöhnt." "Du wirst ihn nicht bedrängen," warnte Thyrian mit leicht drohendem Unterton. Tibra trat ganz nahe zu ihm. "Das habe ich bestimmt nicht nötig," erwiderte er leise. "Thyrian, du verlierst ihn. Weißt du das nicht? Du kannst nicht erwarten, daß ich hierin für dich arbeite." "Geh jetzt," antwortete der Freund jedoch nur. "Ich verstehe." Tibra begriff, daß Thyrian sehr wohl wußte, was geschehen würde. Der Freund gab ihm die Chance, den Sohn wieder für sich zu gewinnen. "Ich danke dir." Er wollte Thyrian umarmen, doch der trat einen raschen
Schritt zurück, wandte sich um und begann wortlos den Rückweg. Seymas ergriff Tibras Hand. "Ich umarme ihn für dich," versprach er mit leuchtendem Blick. "Das war nicht leicht für ihn, Tibra. Heute liebe ich ihn mehr denn je. Du verstehst, daß ich ihn jetzt nicht allein lassen will?" Er wartete keine Antwort ab, zog Tibra zu einer fast schon flüchtigen Umarmung an sich und eilte dann Thyrian nach, den er bald darauf einholte. Schweigend gingen sie ein Stück gemeinsam. Endlich fragte Thyrian: "Bist du zufrieden?" "Bist du es?" "Ich werde es sein, wenn ich erfahre, daß Harkym wieder ein fröhlicher kleiner Junge ist, dessen Vater ihm alle Zuwendung gibt, die er braucht. Ich habe dem Kleinen erklärt, daß Aniela ihn liebt. Ich erzählte ihm, daß Uhray in ihm seinen großen Beschützer sieht und er für Antaya das große Vorbild ist." Seine Stimme klang leicht bitter. "Im Weglaufen hat er die Liebe dieser Menschen verraten und er versteht nun, daß er ihnen einen Abschied schuldet. Er fürchtet sich vor Changanar." "Ilkonys wird darauf achten, daß die Kinder nicht streiten." Thyrian sagte nichts dazu. Seine Gedanken umkreisten Harkym. Schweigend erreichten sie den Tempel. Seymas blieb bei seinem Freund, der sein Arbeitszimmer aufsuchte und mit flüchtigem Blick die Papiere durchschaute, die auf dem Tisch lagen. Dann erst wandte sich Thyrian wieder an Seymas. "Ich habe nicht erwartet, daß du meine Arbeit tust," gab er mit unverhohlendem Erstaunen zu. "Ich habe mich nur
gewundert, weil du in den letzten Tagen nicht versucht hast, mich zu erreichen. Verzeih, daß ich dir letzte Nacht auswich. Ich wollte dir nichts erklären." "Das mußt du auch jetzt nicht tun," versprach Seymas. Thyrian lächelte dankbar. Und dann erzählte er doch von seinem Gespräch mit Nymardos und seinem plötzlichen Entschluß, dem Tempel fern zu bleiben. Die Tage mit Harkym gefielen ihm sehr. Irgendwann begann der Knabe dann, von zu Hause zu erzählen. Er redete von seinen Geschwistern, seinen Freunden. Er sprach nie über Tibra, doch gern über all die andern Menschen, die er in Minas kannte. Sie sprachen auch über Andraag. Da erst schob Thyrian alle Bedenken von sich. Er berührte den Geist des Knaben, unbemerkt und sehr sanft. Und dann begriff er, daß Harkym voll Eifersucht an Andraag dachte, daß er den Vater immer noch liebte und sich nichts mehr wünschte, als daß dessen ganze Zuneigung ihm gelten würde. "Ich war ein Narr, als ich dachte, daß er mich liebt." "Das warst du nicht," widersprach Seymas sehr sanft. "Man kann mehr als einen Menschen lieben und nach Tibra bist der einzige, dem sich Harkym anvertrauen möchte." Thyrian trat zum Fenster, gestand mit leiser Stimme:
starrte
reglos hinaus und
"Das ist es nicht allein. Ich habe Tibra verletzt und war bereit, ihm den Sohn zu nehmen. Er war nicht einmal zornig deshalb, eher dankbar. Bist du sicher, daß er mir verzeiht?" "Ich bin davon überzeugt, daß er im Moment voll Liebe und Dankbarkeit an dich denkt," versprach Seymas. "Und du?" Thyrian regte sich immer noch nicht. "Du wolltest nie, daß ich Harkym behalte. Ich habe deinen Rat
verworfen." Jetzt wandte er sich doch um und sah Seymas an. "In den letzten Tagen geschah vieles, das dir nicht gefallen konnte. Du hast alles geschehen lassen. Warum?" "Ich wollte weder dich noch Tibra verlieren," gab Seymas mit feinem Lächeln zu. "Und das ist mir ja auch gelungen. Ich habe gehofft, daß du so entscheiden wirst. Aber ich hätte auch jede andere Entscheidung mit dir durchgetragen. Dasselbe erwarte ich von dir." Thyrian warf einen raschen Blick zu seinem Schreibtisch. "Hast du etwa in den letzten fünf Tagen so viel Mist gebaut?" entfuhr es ihm. Seymas lachte heiter und da lächelte auch er. Es war schwer gewesen, diese Entscheidung zu treffen und Harkym zu seinem Vater zu bringen. Doch nun, da es geschah, fühlte er sich erleichtert, denn er wußte, daß er richtig entschied. Seymas' Heiterkeit würde nicht lange brauchen, um alle jetzt noch vorhandenen Gedanken von Bedauern und Betrübnis wegzuwischen.
H
arkym klammerte sich an Bakaar, als drohe ihm wirkliche Gefahr. Sehr schnell aber stellte er fest, daß der Vater nicht einmal versuchte, in seine Nähe zu gelangen. Tibra sprach mit den Seeleuten und freute sich sehr, daß Sasaran dieses Schiff befehligte. Harkym ließ ihn nicht aus den Augen. Irgendwie gefiel es ihm nun doch nicht, daß der Vater ihn nicht beachtete. "Thyrian hat gesagt, du mußt mich beschützen," erinnerte er Bakaar, der treu an seiner Seite blieb. "Es bedroht dich niemand," versprach der Priester.
Insgeheim aber fragte er sich, wem im Zweifelsfall sein Gehorsam gelten mußte, wenn sich Thyrian und Tibra nicht einig waren. "Dada ist bestimmt ganz furchtbar böse und schimpft fest mit mir," befürchtete das Kind. Was immer es dagegen für Einwände gab, Harkym ließ sich nicht überzeugen. Er wußte, daß er Tibra in seinem Weglaufen weh tat und er rechnete fest mit hartem Tadel. Das mußte schrecklich sein. Harkym konnte sich zwar an keine Szene erinnern, in der sein Vater wirklich wütend reagierte, aber bestimmt war das fürchterlich. Vielleicht schlug er ihn sogar. Jedenfalls erschien es Harkym besser, wenn er wirklich großen Abstand hielt zu Tibra. Changanar fand die Seereise recht langweilig. Die Eltern hatten neue Freunde gewonnen, mit denen sie sich ausführlich beschäftigten und die Priesterschaft des Seglers behandelte ihn zwar sehr freundlich, aber es spielte niemand mit ihm. Gegen Mittag stahl er sich in Harkyms Nähe. Der wartete auf keine Einladung zum Spiel. Finster starrte er Changanar an, ehe er drohend ausrief: "Geh weg, du bist böse." Ilkonys wurde sofort aufmerksam und rief den Sohn zurück, noch ehe die Kinder in Streit geraten konnten. Am Abend ankerte der Segler dann vor Nodhers Küste. Ilkonys zog Tibra nach dem gemeinsamen Mahl beiseite. "Was ist los mit dir? Du schaust Harkym nicht einmal an," mahnte der Prinz nicht ohne Vorwurf. "Ich bin nicht vor ihm weggelaufen," grinste der Magier gelöst. "Er lief fort, also muß er auch kommen."
"Du bist böse auf ihn? Ach, Tibra, er ist noch so klein und..." "Ich zwinge ihn nur nicht in meine Nähe," unterbrach ihn Tibra, wobei er vergnügt lächelte. "Thyrian versprach, daß alles seine Entscheidung sei. Nun laß ihm doch ein wenig Zeit, hhm?" "Er wirkt sehr verkrampft." "Das ist er ja auch. Und furchtsam. Und allein. Aber glaub' mir, ich wache über jeden seiner Schritte. Eile nützt nichts und es gibt auch keinen Grund dazu. Ich habe Zeit bis zur Lichtwende." "Ich hoffe nicht, daß du so lange brauchen wirst." "Bestimmt nicht," versprach Tibra grinsend. Seine Zurückhaltung war durchaus berechnend, aber sie erreichte auch ihr Ziel. Harkym fühlte sich schon am andern Morgen viel sicherer und manches mal schaute er nun auch zu seinem Vater, der seinen Blick zwar lächelnd erwiderte, ansonsten aber keine Nähe suchte. Changanar blieb ihm nun fern. Der Vater hatte ihn hart ermahnt und ihm verboten, mit Harkym zu streiten. Aber er war auch nicht mehr ganz sicher, ob er wirklich etwas besonderes war. Auf Amarra durfte nur Harkym in den großen Tempel gehen; ihm hatte man den Zutritt verwehrt. Und es waren dort die Mächtigen gewesen, die zu diesem Findelkind nett waren. Changanar versuchte noch, das alles einzuordnen und zu begreifen. Bakaar atmete auf. Harkyms angespannte Furchtsamkeit war gewichen. Er hatte nichts mehr dagegen, mit den Menschen zu reden. Ein paar der Seeleute kannte Bakaar aus früheren Zeiten und mit Sasaran zusammen hatte er einst den erblindeten Tibra durch Amarra bis in die
Gegend von Sinnar geführt. Für ihn war es eine Freude, mit diesen Menschen zu reden. Harkym gefiel dies und als Sasaran ihn, wenn auch nicht ohne Unterstützung, das Ruder halten ließ, lachte er sogar. Plötzlich war es nicht mehr wichtig, daß Bakaar ihn unablässig umgab. Harkym tollte über die Planken. Er empfand den Segler als einen großen Abenteuerspielplatz. Jeder Mensch hier achtete darauf, daß Tibras Sohn nicht in Gefahr geriet, doch geschah dies fast unbemerkt. Neidvoll sah ihm Changanar, den die Eltern behütend in ihrer Nähe hielten, zu.
A
m Abend ankerten sie im Mündungsgebiet des Riatha. Am Ufer zeigte sich zwischen dichtem Gebüsch ein Strauch, über und über mit schwarzen Zaunbeeren beladen. Unter der süßen Last beugten sich die Zweige bis zum Wasser hinab. Harkym klammerte sich an der Reeling fest. Keinen Blick ließ er von dieser Köstlichkeit. Er bemerkte kaum, wie Tibra hinter ihn trat. "Wir könnten hinschwimmen und sie alle holen," schlug der Magier mit leiser Stimme vor. Harkym verkrampfte sich etwas. "Die andern würden sich sicher freuen." "Ich geh nicht mit dir. Ich geh zu Thyrian," murmelte der Kleine da unsicher. "Aber erst nach der Lichtwende," erwiderte Tibra sehr sanft. "Das dauert zwar nicht sehr lange, aber eigentlich ist es unnötig, daß wir deshalb nicht miteinander reden. Ich mag Thyrian auch, Söhnchen. Ich kann es gut verstehen, daß du ihn liebst." "Du, du bist nicht böse?" Harkym wandte sich nicht um. Er starrte immer noch ans Ufer und fürchtete die Antwort.
"Ganz bestimmt nicht. Es ist gut, Harkym. Warte hier, ich hole dir von den Beeren." Der Kleine starrte noch immer zum Ufer. Das war nicht sonderlich weit und eigentlich konnte er recht gut schwimmen. Aber die Strömung erschien ihm stark. Langsam wandte er den Kopf. Mit dem Vater zusammen würde er keine Angst haben. Tibra hatte schon ein dicht geflochtenes Bastkörbchen geholt, das er mit einer dünnen Schnur an seinem Handgelenk befestigte. So konnte er schwimmen und seine Fracht doch mit sich führen. Er lächelte Harkym zu, als er die Tunika abstreifte. Zaghaft löste der Knabe seinen Gürtel. Tibra lachte leise, half ihm aus den Kleidern und über die Reeling. Bakaar stieß einen erschreckten Ruf aus, Ilkonys fluchte leise. Sie stürmten zur Reeling und sahen dem Kampf der beiden Schwimmer gegen die Strömung zu, die sie aufs Meer treiben wollte. Tibra hielt sich neben Harkym, half ihm aber erst, als der Kleine mehrfach Wasser schluckte. Lachend und prustend zugleich schob er den Knaben dann ans Ufer. Er selbst blieb im Wasser, ließ Harkym die Beeren sammeln und in das Körbchen werfen. "Das sind zu viele, Dada. Hilf mir doch," rief der Kleine endlich. Da erst sammelte er mit, bis das Körbchen unter seiner Last fast zu sinken drohte. Sie schwammen zurück. Sasaran sprang ins Wasser und half dem Kind an Bord, andere hüllten den Kleinen in eine trockene Decke. Tibras Augen leuchteten. Er wußte, daß er die Kluft zwischen sich und dem Sohn schon überwunden hatte und das Vertrauen des Kleinen noch immer besaß. Er reichte ihm den Korb. "Es sind deine Beeren," meinte er freundlich. "Teile, mit wem du willst."
Harkym strahlte stolzerfüllt. Er schob sich eine Beere in den Mund. Sie schmeckte noch süßer, als er erwartete. Es bereitete ihm große Freude, nun übers Schiff zu gehen und die Priesterschaft zu beschenken. Die ersten Beeren erhielt Bakaar. Und plötzlich waren nur noch wenige Beeren übrig. Tibra hatte nichts bekommen. Harkym zögerte. Dann trat er zu Changanar und gab ihm den Rest. Er selbst hatte nur eine einzige der schwarzen Früchte gegessen. Inzwischen aber hingen die Nebel schon zu tief, um nochmals ans Schwimmen zu denken. Sie waren erst zwei Tage unterwegs. An Bord befanden sich noch vielerlei Früchte Amarras. Tibra holte eine kleine Schale voll Nispen. Dieser süße Samen wuchs nur auf Amarra und obwohl er sehr lange gelagert werden konnte, schmeckte er doch frisch geerntet am Besten. Jetzt war seine Süße noch unübertrefflich. "Komm, Söhnchen," lud er Harkym ein, "naschen wir zum Ausgleich hiervon. Ich bin richtig stolz auf dich." Harkym setzte sich zu ihm auf das blanke Holz. Gern griff er zu, geschmeichelt vom Lob ob seines selbstlosen Teilens. Ein paar Priester gesellten sich zu ihnen. Harkym blieb neben Tibra, der sich mit den Männern unterhielt. Irgendwann kuschelte er sich an den Vater und wenig später schlief er ein.
F
rüh am Morgen erwachte Tibra auf seinem Lager im Kabinenaufbau. Harkym ruhte schlafend in seinem Arm. Er lächelte, verhielt sich aber ganz still, genau so, wie es Harkym früher immer tat. Als der Kleine dann endlich die Augen aufschlug, sah er den Vater fast furchtsam an. Er wollte sich erheben, doch Tibra hielt ihn, zwar sehr sanft, doch auch nachdrücklich fest. "Ich möchte nicht, daß wir Feinde sind," versicherte er
mit leiser Stimme. "Bis zur Lichtwende könnten wir beide wie gute Freunde zusammen sein. Ich werde dich nicht aufhalten, wenn du zu Thyrian willst, Söhnchen." "Bringst du mich hin?" "Das sollte Bakkar tun, nicht wahr? Aber wenn du es möchtest, tue ich es. Hat dir Thyrian erzählt, wie du zu mir gekommen bist?" Harkym sah den Vater nicht an, als er gestand: "Ich hab's aber nicht verstanden." "Er hat dir gesagt, daß du ein Tempelkind bist?" Harkym nickte zaghaft. "Das habe ich damals aber nicht gewußt." Jetzt drehte das Kind doch langsam den Kopf, um den Vater anzusehen. "Erzählst du es mir?" "Es war gar nicht weit von hier," kam Tibra dieser Aufforderung sofort nach, "etwa eine halbe Tagesreise flußaufwärts. Ich ritt mit Erynia nach Leris. Auf dem Weg hörten wir Schmerzenslaute und kamen hinzu, wie in einer Hütte deine Mutter in den Wehen lag. Das war die Stunde, in der du geboren wurdest. Deine Mutter starb dabei." "Wie die Feldkatze, die wir 'mal gefunden haben?" erkundigte sich Harkym vorsichtig. "Genau so," bestätigte der Magier. "Manchmal gescheiht so etwas und dann müssen sich andere um die Neugeborenen kümmern. So, wie wir damals die kleinen Katzen aufgezogen haben, so haben Erynia und ich versucht, dir die fehlende Mutter zu ersetzen."
"Changanar sagt, daß du mich nicht haben wolltest." "Kinder ohne Eltern werden einem Tempel übergeben, der für sie sorgt," gab Tibra zu. "Ich wollte dich in Raakis Tempel bringen. Aber ich habe dich geliebt, noch ehe wir den Riatha überquerten. Ich glaube, du liebtest mich auch, denn in meinen Armen hast du nie geweint." "Und da hast du mich einfach behalten?" Tibra zögerte. Er könnte jetzt bejahen und Harkym wäre es sicher zufrieden. Aber ganz so einfach war die Sache ja nicht gewesen. Der Kleine sollte alles wissen. Darum berichtete er davon, wie Dorina, die Ziehschwester der Königin, den Säugling Erynia wegnahm und ihn als eigenes Kind anerkennen wollte. Er erzählte andeutungsweise von seiner damaligen Feindschaft mit König Ariston, der in einer versöhnenden Geste dann doch ihm das Kind zusprach. Und er berichtete, wie Monate später der Than zum Schwarzen Tempel kam und in Harkym sofort ein Tempelkind erkannte, das er einem Magier zunächst nicht überlassen wollte. Daß Harkym dann doch bei Tibra blieb, war Nymardos' Fürsprache zu verdanken. "Ich habe dir das alles nie erzählt," schloß Tibra, "weil es nicht wichtig war für mich. Du bist mein Sohn, Harkym, und ich habe nie anders an dich gedacht." Harkym lag ganz still. Er verstand die Worte durchaus und begriff deren Inhalt. Aber das Wissen um dieses Geschehen half ihm nicht aus seinem Gefühl der Heimatlosigkeit. Der kleine Körper zitterte, als er die für ihn entscheidende Frage stellte: "Hast du mich noch lieb, Dada?" "Ich liebe dich, Harkym. Und es tut mir sehr leid, daß ich dir das in der vergangenen Zeit viel zu wenig gezeigt
habe." Tibra wußte, daß Worte diese Frage nicht endgültig beantworten konnten. Und bis zur Lichtwende war genug Zeit, die Antwort im Leben zu geben. Er lächelte sacht. "Wollen wir jetzt etwas essen?" Harkym bejahte laut und dieses Geräusch genügte, um die wartenden Priester herein zu rufen, die gehalten waren, dem Pala des Than zu dienen. Als sie die Kabine verließen, glitt der Segler schon einige Zeit flußaufwärts.
N
odhers Erbe konnte sein Erstaunen kaum verbergen, als ihn am Oberlauf des Riatha seine Garde erwartete. Tibra grinste nur. Amarra hatte Burg Nodher auf telepathischem Weg erreicht und ihr Kommen gekündet. Die Soldaten führten einen bequemen Reisewagen mit sich. Cynaras Freundinnen, des Reitens nicht kundig, sollten bequem zur Burg gelangen können. Die Besatzung des Seglers verabschiedete ihre Passagiere. Sie verließ das Schiff nicht. Die Reisenden aber ergaben sich der Führung der Garde, die eine knappe Wegstunde entfernt Zelte errichtete, wo man die Nacht verbringen wollte. Der Reisewagen verhinderte ein schnelles Vorankommen und so war noch eine weitere Übernachtung nötig, ehe Burg Nodher dann gegen Mittag des übernächsten Tages in Sicht kam. Harkym ritt manches Mal mit Bakaar, doch meist saß er vor Tibra im Sattel. Als er die Burgmauer sah, verkrampfte er sich. "Ich will da nicht hin," erklärte er protestierend. Der Magier ritt zwischen Jiddan und Nodhers Erben. Nun zügelte er sein Tier. "Dann reiten wir weiter," versprach er dem Sohn. "In ein paar Tagen sind wir zu Hause." Ilkonys gefiel das nicht. Er sprang aus dem Sattel und griff nach Harkym, der sich zwar wehrte, aber doch von ihm auf den Boden gehoben wurde. Tibra stellte sich rasch hinter
ihn, schützend seine Schultern erfassend. Lächelnd ging der Prinz vor dem Kind in die Hocke, faßte sanft dessen Hände. "Du willst nicht in mein Haus kommen?" erkundigte er sich sehr freundlich. "Warum nicht?" Harkym lehnte sich gegen Tibras Beine. Die Nähe des Vaters verhieß ihm Schutz und Bestand. "Ich hab Angst," gestand er trotzig. "Wovor? Jetzt höre mir gut zu, kleiner Mann, denn es ist wichtig, daß du verstehst, was ich sage." Lächelnd hielt er die kleinen Hände etwas fester. "Aniela, die jetzt deine Mutter ist, ist meine Schwester. Damit bin ich dein Oheim. Du bist ein Teil der königlichen Familie und diese Burg, die dir jetzt Angst einjagt, ist auch für dich immer, wenn du es willst, ein Zuhause. Da drin ist niemand, der dir schaden will und niemand, der dich bedrohen darf. Verstehst du das?" Harkym nickte zögernd. Unsicher glitt sein Blick zum wartenden Wagen, in dem auch Changanar neben seiner Mutter saß. "Ich hab trotzdem Angst," beharrte er. "Auch Changanar hat keine Macht über dich," versprach Ilkonys da sehr ruhig. "Er darf dir nicht befehlen und du mußt ihm nicht gehorchen. Nur König Ariston hat Macht in dieser Burg." Harkym legte den Kopf ein wenig schief. Das gefiel ihm schon besser. "Und ihr?" fragte er zaghaft. Ilkonys lachte leise.
"Fürchtest du etwa auch mich?" Er hob den Blick zu Tibra. "Ich bin deines Vaters Freund, Harkym." Tibra drückte aufmunternd die Schultern des Sohnes, der sich schon viel sicherer fühlte. Der Kleine sog hörbar den Atem ein. "Darf ich mit euch reiten?" bat er dann. Als er dann vor Ilkonys im Sattel saß, kannte er keine Furcht mehr. Wenn Nodhers Erbe als sein Oheim ihn beschützte, dann durfte ihn in der Burg bestimmt niemand bedrohen.
D
ie Ankömmlinge wurden schon Burghof freudig begrüßte. Ariston und Cynaste freuten sich über die Rückkehr des Sohnes und auch Orales, Willar und Mercur begrüßten den Prinzen voll Freude. Jiddan staunte. Er war aus dem Sattel gesprungen, hielt Tibras Pferd beim Zügel und half dem Pala des Than so. Er wunderte sich, weil selbst Nodhers Herrscher ein freundliches Wort für den Magier fand, während Mercur diesen Mann einfach ignorierte. Ilkonys hatte ihm von Mercur erzählt. Jiddan wußte, daß sie beide den fünften Grad erreichten und er wußte auch, daß Mercur Ilkonys einst leitete. Eigentlich hatte er sich auf diesen Mann gefreut, der dem Prinzen nahe stand. Wortlos griff er nach Tibras Bündel. "Laßt nur," riet der Magier, "hier gibt es ohnehin mehr Diener als Herren. Das besorgen die Pagen." Wirklich trat schon ein junger Page herbei, um sich des Gepäcks anzunehmen. Ilkonys gab schon Anweisung, Räume für Jiddan und Cynaras Freundinnen zu bereiten. Mercur wollte die Burg betreten, als Tibra ihn anrief. "Wo ist Shannar?"
"In seinem Zimmer," erhielt er sehr unfreundlich die Antwort. "Das genügt mir nicht," grinste der Magier. "Solange ich hier bin, ist er eingekerkert. Und bei verschlossenen Türen bewacht." "Ihr scherzt," entfuhr es Mercur. Er wollte sich einfach entfernen und die Sache nicht weiter bedenken, doch da schob sich Jiddan in seinen Weg und hielt ihn auf. "Der Pala des Than gab euch einen Befehl," mahnte er. Mercur warf unwillig den Kopf zurück. "Ihr seid Gast hier, Mann. Benehmt euch so." Er schob Jiddan einfach beiseite. Doch noch ehe er die Tür erreichte, hörte er, wie Ilkonys sich an seine Soldaten wandte: "Kerkert Shannar ein und bewacht ihn." Nodhers Erbe trat zu Jiddan und versprach: "Ich werde dir bei Gelegenheit von Shannar erzählen. Dann wirst du es verstehen." "Das bezweifle ich," wehrte der gelassen ab. "Der Pala des Than ist Herr zumindest über jeden Priester. Wenn dies in deinem Haus nicht gilt, ist hier sicherlich nicht der richtige Platz für mich." "Tibra herrscht nicht über meine Freunde," lächelte Ilkonys. "Das spricht für ihn. Aber er sollte es wohl tun, wenn er nur so den ihm gebührenden Respekt erfahren kann."
"Streitet nicht," mischte sich Tibra ein, der den Sohn bei der Hand führte. "Das ist die Sache nicht wert." Jiddan verneigte sich leicht vor ihm, als sei dies ein Befehl gewesen, dem er zu folgen hatte und gerade durch diese Geste erwirkte er in Nodhers Erben eine tiefe Nachdenklichkeit.
H
arkym wollte den Burgtempel sehen, den zu Betreten ihm Changanar verbot. Am Nachmittag führte ihn Tibra zu dem kleinen Rundbau. Die Tür stand weit offen, es befand sich niemand in der Halle. Außerhalb der rituellen Stunden waren die Hallen nicht verboten; Tempelhelfer und andere menschen durften sie da durchaus betreten, wenngleich dies die Ausnahme blieb. Auch Tibra mied die Hallen, wo er konnte. Jetzt blieb er in der Tür stehen und sah lächelnd dem Sohn zu, der still und mit großen Augen den großen, runden Bau besah. Orales trat zu ihm. Als Pala des König stand er über Tibra, als Priester jedoch schuldete er ihm Gehorsam. Doch Orales hatte nie einen Gedanken als solche Regeln, Tibra betreffend, gerichtet. Er achtete diesen Mann, obgleich er einst seine Tochter Arisa tötete im Versuch, sie dem magischen Tun, das man Miska nannte, zu entreißen. "Ariston möchte euch im Versammlungsraum."
sprechen,
Tibra.
Er
wartet
"Wie offiziell ist es?" erkundigte sich Tibra mißtrauisch. "Ich das so wichtig?" Orales lächelte erheitert. ""Was läßt euch zögern, wenn euer König ruft?" Er wußte die Antwort, weil Harkym nun gelaufen kam und nach Tibras Hand faßte. Bei einem offiziellen Anlaß konnte der Magier kaum ein kleines Kind mit sich führen.
König Ariston nahm Harkmys Anwesenheit mit einem Lächeln zur Kenntnis, aber er stutzte etwas, weil Tibra mit überkreuzten Armen vor ihm niederkniete und Harkym dies dem Vater gleichtat. "Es ist schön, daß du wieder da bist," meinte er, während er Harkym aufhob. "Warum kniest du denn nieder, hhm?" "Hab ich auch vor dem Than gemacht." "Der ist aber nicht dein Großvater," schmunzelte der König. Harkym schob die Unterlippe vor und grübelte. Ilkonys als Oheim war ihm schon etwas suspekt. Der König als Großvater war aber noch schwerer einzuordnen. "Ist Dada denn euer Sohn?" erkundigte er sich verwirrt. Tibra, der sich schon erhoben hatte, mußte wider Willen leise auflachen. Ariston lächelte. "Aniela ist meine Tochter," begann er eine Erklärung, unterbrach sich dann und meinte: "Irgendwie ist er es wohl." Harkyms wars zufrieden. Wenn es sich so verhielt, mußte ja alles in Ordnung sein. Neugierig sah er sich nun in dem großen Raum um, verhielt sich aber ganz still und versuchte, nicht zu stören. Ariston wandte sich an Tibra. "Ich habe mit Ilkonys gesprochen und verstehe, daß ihr ihn bis zur Lichtwende nicht allein lassen wollt," erklärte er. "Ich hoffe sehr, daß ihr ihn nicht verliert. Aniela hat übrigens bereits einen Teil der geforderten Soldaten rekrutiert. Sie ist in Minas." "Was wollt ihr mir sagen, Gebieter?" "Ihr wolltet das Siegel von Minas zurück geben, Pecha,
und hoffen, daß mein Mädchen euch irgendwann folgen wird. Nun," er lächelte, "Aniela geht mit euch, wohin immer ihr wollt. Was immer es in eurer Ehe gab, es ist nicht tief genug, um ihre Liebe zu euch auch nur zu gefährden. Wißt ihr überhaupt, wie reich ihr seid?" "Ich weiß es," versicherte der Magier erfreut. "Und was Minas betrifft, so würde ich es gern noch einmal versuchen, Gebieter. Ich glaube zuversichtlich, daß ich auf Amarra einen anderen Weg der Herrschaft lernte und ihr künftig zufriedener seid mit mir." "Ich bin nicht unzufrieden," erinnerte ihn der Herrscher. Er deutete auf die Stühle. "Es wäre auch ein schlechter Zeitpunkt, um aufzugeben. Minas ist in der Rangordnung gestiegen." Tibra bemerkte erst jetzt, daß der Stuhl, der dem Pecha von Minas zustand, nicht mehr am untersten Ende des Tisches stand. "Wie das?" wunderte er sich. "Minas ist inzwischen schuldenfrei," erklärte der Herrscher, wobei seine Stimme nun etwas unsicher wurde. "Amarra hat die volle Summe bezahlt." Tibras Blick verfinsterte sich. "Ilkonys konnte es nicht verhindern, glaubt mir. Ein Befehl des Than ist bindend." Er erwartete heftige Worte, doch sah er erstaunt, wie Tibra mit einem Mal fröhlich auflachte. "Ich hätte es nie geduldet," gab Tibra grinsend zu, "aber ich kann nicht sagen, daß es mir nicht gefällt." "Ich habe eine andere Reaktion befürchtet. Harkym wird es langweilig. Wir sollten vielleicht in den Garten gehen und uns dort weiter unterhalten."
Dem stimmte Tibra gern zu. Im Freien gab es viele Ablenkungen für den Knaben und dort konnte auch er sich leichter mit seinem König unterhalten, der seine nächsten Stunden gestaltend bestimmte.
D
as abendliche Mahl fand in großer Runde statt, dem sich dann gesellige Stunden anschlossen. Harkym mied weiterhin Changanars Nähe. Er spielte zuerst mit Bakaar, aber als Dorina nach den Hapla-Stäbchen griff, ließ er sie mitspielen. Er war neugierig auf die Frau, die ihn als Sohn haben wollte, obgleich er nicht darüber sprach. Sie ließ ihn im Spiel nicht gewinnen und daraus schloß er, daß Aniela ganz sicher viel netter war. Tibra gefiel es. Er plauderte vornehmlich mit Orales, Ariston und Ilkonys, doch widmete er sich auch Willar, Jerrard und anderen. Sogar mit Cynesta unterhielt er sich einige Zeit. Die Königin lehnte ihn weiterhin ab, doch gab es keine verhohlende Feindschaft, sondern nur ein wenig Enttäuschung, weil sie ihrer einzigen Tochter einen anderen Gemahl wünschte. Cynaras Freundinnen waren begeistert von dem Magier. Er war Pala des Than, doch er wirkte so ganz anders als Thyrian. Es war anregend und erfreulich, sich mit ihm zu unterhalten und Ansichten auszutauschen. Harkym hatte genug vom Spiel. Arglos lief er zu Talima. "Gibst du mir bitte zu trinken." Sie griff nach einem Becher, doch Mercur entwand ihn der Hand seiner Gemahlin. "Du bist keine Sklavin mehr und mußt niemandem dienen," mahnte er seine Frau. Talima zögerte. Sie mochte den Knaben nicht, der ihr in seinem kindlichen Trotz vor Jahren wie ein Tyrann erschien
und dem sie sich damals ausgeliefert glaubte. Jiddan wurde aufmerksam, doch Ilkonys reagierte schneller und reichte dem Kind einen Becher voll Sajik-Saft. "Danke." Harkym lächelte, ehe er etwas unsicher anfügte: "Oheim." Beschämt senkte Talima das Haupt, während Ilkonys den Freund nur frech angrinste und sich danach wieder Jiddan zuwandte. Der kleine Maggelan schlief schon friedlich auf einer Decke. Harkym setzte sich zu ihm, streichelte sacht das dünne Haar und dachte an Uhray. Es wäre schön, wenn er jetzt bei seinem kleinen Bruder sein könnte. Da er müde wurde, legte er sich einfach neben Maggelan und schlang die dünnen Arme um ihn. "Unverschämtheit," murmelte Mercur. "Man sollte das Kind in sein Quartier bringen." Wieder war es Jiddan, der sich sofort um alles kümmern wollte, aber nun griff Ilkonys nach seinem Arm und hielt ihn zurück. "Laß nur. Wenn sich meine Eltern nicht belästigt fühlen durch Harkym, dann ist es gut, wie es ist." "Es ist nicht gut," widersprach Jiddan, wobei er seine Stimme etwas anhob. "Dein Gefährte gibt sich alle Mühe, den Pala des Than bei jeder Gelegenheit zu kränken und er ist sich nicht einmal zu schade dafür, das auch in seinem Sohn zu tun. Es gefällt mir nicht, Ilkonys." "Nun ja," gab der Erbe der Macht zu, "sie sind nicht gerade Freunde. Das ist eine etwas längere Geschichte." "Die
mich aber nichts angeht," wehrte der Priester ab.
"Ich habe nicht erwartet, meinen Gebieter hier so mißachtet zu finden und ich bezweifle, daß ich damit leben kann." Orales stand nahe genug, um den Wortwechsel zu verstehen. Nun trat er zu ihnen. "Niemand mißachtet hier den Than," versprach er Jiddan. "Es ist nur einfach so, daß Tibra schwer einzuordnen ist." "Ich verstehe nicht." "Nun, er ist nicht nur Pala des Than. Er ist ebenso Pecha von Minas und als Landesfürst Herr weltlicher Macht. Nur dürfte das vor dem Herrscher Nodhers nicht viel zählen, denn diesem ist er untertan. Und als Magier ist er irgendwie sogar ein Störenfried in der bestehenden Ordnung. Zugleich sind Cynesta, Ariston, Cynara und Ilkonys, ja, zugleich bin auch ich Priester und als solche sind wir dem Than Gehorsam schuldig, der sich auch in der Begegnung mit seinem Pala auswirken sollte." Er lächelte. "Ihr seht, rein formell muß jede Begegnung in einem Formfehler enden." "Das entschuldigt euch," gab Jiddan zu, auf sehr direkte Art so auch Orales dessen Verhalten vorwerfend, "aber es entschuldigt nicht Mercur." Er wandte sich an Ilkonys. "Als Priester bist du deinem Leiter stets verpflichtet. Aber diese Pflicht gebietet dir nicht..." Auch Tibra hatte den Wortwechsel vernommen und still schmunzelnd bisher zugehört. Jetzt legte er Jiddan die Hand auf die Schulter und brachte ihn so zum Verstummen. Der Priester legte rasch die Rechte auf die Brust und neigte sich. Einen Kniefall verhinderte Tibra mit einer schnellen Bewegung. "So viel ehrende Anerkennung ist mir in Nodher wirklich noch nie begegnet," lächelte der Magier. "Ich würde sie hier auch nicht wollen, Jiddan."
Der Priester faßte diese Worte als Tadel auf. Er mischte sich in Dinge, die ihn nichts angingen und maßte sich hier ein Recht der Beurteilung an, das ihm nicht zustand. "Ich bitte um Vergebung," murmelte er unverbindlich, ohne sich dabei an einen der Männer direkt zu wenden. Mercur nickte befriedigt, was Tibra nicht entging. Jiddan hielt nun ausschließlich an Bakaars Seite auf, wich Ilkonys aus und richtete seine Aufmerksamkeit ansonsten nur auf Tibra, um ihm bei Bedarf dienstbar zu sein. Tibra gefiel das nicht. Er kam ins Grübeln. Schließlich trat er durch die Fenstertür ins Freie. Er befand sich auf einer kleinen Dachterasse. Die Feuchtigkeit der Nachtnebel wirkte erfrischend. Unverkennbar entstand eine Kluft zwischen Ilkonys und Jiddan, die Seymas' Pläne sicher störte. Der Than würde mit einem Lachen darüber hinweggehen und Ilkonys nie um den geistigen Verlust wissen, wenn er Jiddan gehen ließ. Tibra zweifelte nicht daran, daß dieser Priester nicht weiter auf Burg Nodher bleiben wollte. Als Tibra dann später davon sprach, am andern Tag den Weg nach Minas beginnen zu wollen, bat ihn Jiddan um die Erlaubnis der Begleitung, um dann zur Lichtwende an seiner Seite nach Amarra zu reisen. Ilkonys wirkte sehr enttäuscht. "Ihr seid mir in Minas immer willkommen," versprach Tibra dem Priester. "Wenn es euch aber nur um die Reise nach Amarra geht, so erhaltet ihr alle erforderlichen Mittel, um sie sofort anzutreten." Er hielt inne, zögerte. Dann fügte er mit fester Stimme hinzu: "Ihr könnt natürlich auch mit Mercur reisen. Er ist gerufen." Jiddans Kopf ruckte hoch, während sich Mercur wie unter einem Hieb duckte. "Ich bin vermählt und meine Gemahlin ist keine Priesterin," wehrte er schwach ab. "Sie kann mich nicht begleiten."
"Talima wird eine vorübergehende verkraften," spöttelte Tibra.
Trennung sicher
Sie weinte auf. Ilkonys drängte auf eine Erklärung, sah aber rasch ein, daß nicht einmal Tibra den Than nach dessen Motiven befragen durfte. Gern ließ er Mercur nicht gehen. Jiddan war verwirrt. Nodhers Erbe hinterfragte diesen Ruf nicht, den Tibra übermittelte und er bat den Freund auch nicht, für ein Aufheben dieses Rufen zu wirken. Das gefiel ihm. Als Ilkonys ihn dann bat, doch noch ein wenig zu bleiben, willigte der Priester ein.
F
rüh am Morgen ritt Tibra los. Er hatte sich erfolgreich gegen eine Eskorte aus der Burg gewehrt. Nur Bakaar und Harkym befanden sich bei ihm. Gegen Mittag rasteten sie fernab jeder Siedlung. Harkym lief über die Wiese auf der Suche nach saftigen Beeren. Er konnte den Vater nicht hören, der sich jetzt an Bakaar wandte. "Du solltest den Rapport mit Thyrian schließen und ihm sagen, daß Mercur kommen wird." "Er war nicht gerufen?" entfuhr es dem Priester verblüfft. Dann lächelte er verstehend. Tibra schaffte Mercur so aus der Burg, um Jiddan eine Chance zu geben. Amarra würde den Priester bestimmt einige Wochen aufhalten. Aber er wollte Thyrian noch mehr wissen lassen. Er sollte auch wissen, daß der Magier die Liebe seines Sohnes neu gewann. Doch Tibra gewann mehr. Sie erreichten Minas, wo er auf fast unbemerkte Weise eine neue Form der Herrschaft einführte, die Aniela alle Macht gewährte. Sie erstarkte darin, fühlte sich mehr geachtet denn je zuvor und mit einem Mal wurde es ihr sehr wichtig, viel Freiraum zu schaffen, der allein ihrer Familie gehörte.
Tibra warb nicht um Harkym und gab ihm keine Versprechen. Er führte nun einfach nur ein Leben, das ihm gefiel und dazu gehörte es, viel mit seinen Kindern zu unternehmen und ihnen die Welt mit seinen Augen zu zeigen. Er gewann eine ganz neue Art der Nähe zu Antaya und Uhray und er freute sich unbändig auf das Kind, das Aniela unter dem Herzen trug.
D
ie Lichtwende nahte. Tibra rüstete zum Aufbruch. Er freute sich auf das Treffen seiner Gilde und die wenigen Tage auf Silsa. Harkym hatte Thyrian nicht vergessen. Die Zeit des Abschieds nahte. Der Kleine wurde sehr still. Aniela begriff nicht, weshalb Tibra alles geschehen ließ und den Sohn nicht bedrängte, in Minas zu bleiben. Aber sie gab ihrem Gemahl nach, der wollte, daß Harkym diese schwere Entscheidung ganz allein und unbeeinflußt traf. Am Morgen der Abreise kam Harkym nicht zum gemeinsamen Frühmahl. Tibra fand ihn in seinem eigenen kleinen Zimmer. Der Sohn hatte alle Spielsachen auf dem Boden verstreut, saß inmitten seiner Schätze, eines seiner Holzpferdchen an sich gepreßt. Tibra setzte sich zu ihm. "Hast du keinen Hunger?" Harkym schüttelte den Kopf, sah aber nicht auf. "Und du weißt wohl auch nicht, was du mitnehmen willst, hhm? Es ist, glaube ich, gar nicht wichtig, Söhnchen. Es gibt viele Spielsachen auf Amarra." "Wenn ich fort bin, bekommt Uhray meine Sachen?" "Das kannst du selbst entscheiden, Harkym. Du kannst alles mitnehmen oder alles verschenken." "Darf ich dich auch mal besuchen kommen?" "Ich denke schon, daß Thyrian das erlauben wird."
"Und dürfen Antaya und Uhray und Aniela mich auch besuchen?" Tibra legte sanft den Arm um die Seite des Sohnes. "Das wird wohl nicht gehen, Söhnchen. Nach Amarra darf nur die Priesterschaft." "Und Vogan? Er hat doch dort gelebt." "Aber er hat sich entschieden, kein Priester zu sein. Auch er darf nicht mehr nach Amarra. Du wirst dort aber sehr schnell neue Freunde finden. Andraag wartet sicher auf dich." "Hast du Andraag lieb?" "Ja, Söhnchen, das habe ich. Er ist ein netter kleiner Kerl." "Und wenn ich weg bin, holtst du ihn zu dir?" Tibra lächelte und zog den Sohn enger an sich. "Wer hat dir denn diesen Unsinn erzählt? Wenn du fort gehst, gibt es keinen Ersatz für dich und in meinem Leben wird immer eine Lücke sein." "Bist du dann traurig?" Harkym wartete keine Antwort ab. Er richtete sich etwas auf, küßte Tibra auf den Mund und packte dann hastig einige ausgewählte Spielsachen zusammen. Danach ging er mit dem Vater ins Speisezimmer. Er wollte immer noch nichts essen. Seine Augen leuchteten, als er nun seine Schätze den Geschwistern gab. Er verschenkte genau das, was ihm bisher am Liebsten war. Aniela drückte er ein sorgsam gearbeitetes Stofftier in Form einer Feldkatze in die Hände.
"Das ist für das da," meinte er und deutete auf ihren Bauch. "Dann willst du also wirklich fortgehen?" vergewisserte sie sich, nur mühsam den Schmerz verbergend. "Thyrian ist bestimmt traurig, wenn ich es nicht tue." "Und wir alle sind traurig, wenn du es tust," mahnte sie. "Laß es gut sein," mischte sich Tibra rasch ein. "Es ist nur wichtig, daß Harkym glücklich ist." "Antaya und Uhray freuen sich," stellte der Kleine fest, der sah, wie die Geschwister begeistert mit den Geschenken spielten. "Dada, ich glaube, ich bin schon zu groß für diese Sachen. Kann ich ein eigenes Pferd haben?" "Du bist sicher alt genug, um reiten zu lernen. Aber auf Amarra gibt es keine Pferde, Sohn." Aniela stieß ihren Gemahl unwillig in die Seite. Begriff er denn nicht, was das Kind ihm sagen wollte? Tibra aber lachte nur ganz leise auf. Harkyms Augen wurden feucht. "Darf ich nicht mehr dableiben?" fragte er bang. "Ich will doch gar nicht fort. Dada, bitte, ich..." Tibra hatte nur auf diese Worte gewartet. Er ließ den Sohn nicht zu Ende sprechen, sondern riß ihn in seine Arme, hob ihn hoch und drückte ihn fest an sich. "Ich liebe dich," versprach er, die niedere Kinderstirn küssend.
I
n diesem Jahr ritt Tibra ohne jede Begleitung nach Silsa. Harkym wollte nicht mitkommen; er fürchtete eine
Begegnung mit Thyrian. So ließ der Magier auch Bakaar in Minas, der für den Sohn einen Menschen des Vertrauens darstellte. Nach dem Magiertreffen begab er sich für wenige Tage nach Amarra, um endlich auch Thyrian gebührend zu danken. Danach aber kehrte er nach Minas zurück, wo er seine Heimat, seine Familie und auch Harkym wußte, den er neu gewonnen hatte.